Mary-Ann Winter
Der tödliche Trank Irrlicht Band 087
»O mein Gott!« keucht Anne. Eine Weile steht sie ganz erstarrt ...
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Mary-Ann Winter
Der tödliche Trank Irrlicht Band 087
»O mein Gott!« keucht Anne. Eine Weile steht sie ganz erstarrt da, und kein klarer Gedanke kommt ihr in den Sinn, als wäre sie festgenagelt, um das grauenhafte Schauspiel der Zerstörung mitanzusehen. Und dann erkennt sie Percy, der mitten in der Diele steht und nicht mehr aus dem Feuer herausfindet. Er blickt zu ihr empor, und seine schwarzen Augen zeigen einen wilden irrsinnigen Ausdruck. Ein letzter Schrei – dann haben ihn die Flammen verschlungen.
Anne, poch atemlos vom Laufen, bleibt im Schatten der großen alten Kastanie stehen und lauscht. Das hastige Atmen hebt und senkt ihre Brust in dem hochgeschlossenen, züchtigen Mieder, ihre Hände krampfen sich zusammen. Gleich wird sie wieder Emilys schrillen Ruf: »Anne, wo steckst du denn?« vernehmen, der sie zu irgendeiner der nie endenden Pflichten und Arbeiten zurückruft, zum Scheuern und Putzen und Flicken und Bügeln… Wenn sie nur an den harten Klang von Emilys Stimme denkt, will ihr schon übel werden. Aber wider Erwarten bleibt es still. Sie lehnt erleichtert ihre Schultern an den rauhen Stamm des alten Baumes, der seine Äste wie einen schützenden Schirm weit ausbreitet. Wie wohl tut ihr der tiefe grüne Schatten. Der Pfarrgarten mit seinen schnurgeraden Kohl- und Kartoffelbeeten flimmert im Mittagslicht. Hinter der hohen Buchsbaumhecke, dort, wo das weite flache Land beginnt, brütet die Welt unter der Junihitze. Anne fühlt kleine Schweißtropfen auf ihrer Stirn perlen und wischt sie ärgerlich mit dem Handrücken ab. Was muß sie auch mitten im Sommer noch in den dunklen, schweren Gewändern herumlaufen, die ihr ein so sittsames, braves Aussehen geben und ihr die Hitze in den Kopf treiben, bis sie wie die kleinen Buben in den Dorfteich springen möchte. Bei der Vorstellung muß sie plötzlich auflachen. Das gäbe einen schönen Skandal, wenn die Schwester des Pfarrers im Teich baden würde. Welch ein Gezeter würde Emily, ihre Schwägerin, anstimmen. Na, einen Grund zum Jammern und Schelten findet sie sowieso immer. In einem heißen Gefühl von Trotz und Auflehnung beschließt Anne, diese gestohlene Stunde der Freiheit gut auszunutzen. Was später kommt, soll ihr egal sein. Sie kennt eine heimliche halb verrostete Pforte in der Hecke, die immer offensteht. Dort huscht sie hinaus. Es sind nur ein
paar Schritte von der ordentlichen Enge des Pfarrgartens bis an den Saum der fruchtbaren Weizenfelder. Das Korn steht schon hoch, grün wie das Meer wogt es im warmen Wind. Unendlich breitet sich die Ebene vor Annes entzückten Blicken. Sehnsucht und Freude füllen ihr empfindsames weiches Herz. Mit kräftigen, ausholenden Schritten geht sie einen Feldweg entlang und atmet in tiefen Zügen die würzige Luft. Anne weiß nicht, wie schön sie in Wirklichkeit ist. Selbst die verhaßten dunklen Kleider, die ihr Emily aufzwingt, können ihre schlanke, hochgewachsene Gestalt nicht entstellen. Ihre honigblonden Haare fallen reich und glänzend über ihre Schulter. In ihren veilchenblauen Augen steht ein trotziger Funke, der verrät, daß sie das unterdrückte Leben im Haus ihres Bruders nicht mehr lange ertragen kann… Im Gehen pflückt sie eine Kornblume vom Wegesrand und steckt sie an ihr düsteres Kleid. Ihre Stirn runzelt sich nachdenklich. Schon lange sucht sie nach einem Ausweg. Viele Möglichkeiten hat ein junges verwaistes Mädchen zu dieser Zeit nicht. Lernen, einen Beruf ausüben, selbständig leben – das alles schickt sich nicht. Die Frau gehört ins Haus, eine untertänige Dienerin ihres Mannes. Anne seufzt. Sie hätte gern Medizin studiert wie ihr Vater, ein unerfüllbarer Wunsch. Das Äußerste, was man ihr erlaubt hat, ist ein Kurs in Krankenpflege gewesen. Sie erreicht nun den Rand eines lichten Buchenwäldchens, durch das ein Bach murmelt. Scheu blickt sie sich um, kein Mensch ist zu sehen. Da rollt sie schnell ihre langen Strümpfe herunter und läßt die nackten Beine in das eisklare Wasser hängen. Welch eine Wohltat! Sie knöpft ihr Mieder ein wenig auf, und der Sommerwind weht kühlend über ihre junge Brust. Fern sieht sie das behäbige Dorf liegen mit seinen reichen, breit hingelagerten Fachwerkhäusern und dem schiefergedeckten Turm der protestantischen Kirche. Wie lange lebt sie jetzt schon hier? Fünf Jahre müssen es bald sein.
Sie nestelt ein kleines goldenes Medaillon aus ihrem Ausschnitt und öffnet es vorsichtig. Ein vergilbtes Bildchen ist darin, das einen älteren Mann mit gütigen Augen zeigt. Annes Vater. Er ist Arzt gewesen und ein bekannter Gelehrter, damals in Berlin. Wenn er am Leben geblieben wäre, hätte Anne vielleicht die Universität besuchen dürfen, als eine der wenigen ersten Frauen. Ja, wenn. Sie bewegt gedankenverloren ihre weißen Füße im klaren Wasser des Baches. Kleine, flinke Fischchen flitzen darüber hin, Sonnenkringel malen sich in den grünlichen Schatten der Buchen. Aber das Mädchen sieht und hört nichts, vergangene Tage werden in ihm wach. Jener schreckliche Winter, da kurz nacheinander Vater und Mutter von der Grippe hinweggerafft wurden… Nie vergißt sie den Tag, an dem die Möbelpacker in die weitläufige, vornehme Berliner Wohnung kamen, um all ihr Hab und Gut auf einen Speicher zu schaffen. Dann kam der Abschied von Berlin, von den vertrauten Straßen, dem Gewimmel der Droschken auf dem Alexanderplatz, den belebten Cafehäusern. Und dann… Emily, die ihr das Leben sauer macht, wo sie nur kann. Mit einem Ruck zieht Anne ihre kaltgewordenen Füße aus dem Wasser und reibt sie heftig, damit das Blut zurückströmt. Sie will nicht undankbar sein. Seit fünf Jahren lebt sie nun im Hause des so viel älteren Bruders, der sie nach dem Tod der Eltern sofort bei sich aufnahm. Sie hat nicht viel gegen den behäbigen, bequemen und wohlbeleibten Pastor einzuwenden. Ihr Kreuz ist die säuerliche Schwägerin, die keinen Tag verstreichen läßt, ohne der armen Verwandten klarzumachen, daß sie nur aus christlicher Nächstenliebe im Haus geduldet ist. Tägliche Plackerei in der Küche und im Garten wird selbstverständlich von Anne erwartet, jeden Abend sinkt sie todmüde ins Bett. Nun scheut sie keineswegs vor der Arbeit zurück, ihre Hände sind kräftig und zupackend. Aber sie ist
erst dreiundzwanzig Jahre alt, lebensvoll und neugierig auf die Welt – sie hat es satt, für Emily den Hampelmann zu spielen. In ihre Gedanken dringt jetzt der fremde, sonderbare Klang einer Flöte, dann das wilde Fideln einer Geige… Sie hebt überrascht den Kopf. Zigeuner. Das müssen die Zigeuner sein, von denen die Krämersfrau neulich geflüstert hat. Üble Dinge werden ihnen nachgesagt. Jeder verschließt seine Tür und birgt die Wäsche von der Leine. Schnell rollt sich Anne die Strümpfe wieder hoch und verschließt sorgsam ihr Mieder, so daß selbst Emily ihre Freude an ihr hätte. Halb macht sie sich schon auf den Heimweg, doch der lockende Klang der Geige ist stärker. Nur einen einzigen Blick will sie auf das bunte Völkchen werfen, die dunklen, wilden Gesichter sehen, die Frauen mit ihren Kindern im Arm. Leise schleicht sie durch den Wald, bis sie an eine Senke gelangt, in der ein Planwagen steht und ein Lagerfeuer züngelt. Anne, halb hinter dem dicken Stamm einer Eiche verborgen, muß ein wenig lächeln. Das Lager der Zigeuner hat nichts von dem verruchten, wilden Zauber, von dem die Dorfleute reden. Es wirkt eher ärmlich und schäbig. Eine dicke alte Frau in bunten schmutzigen Kleidern dreht einen Rost mit einem Stück Fleisch, von dem es fettig heruntertropft. Sie hebt plötzlich ihre Augen und bemerkt Anne, ein erstaunter Schrei entfährt ihrer Kehle, der ihre Stammesgenossen alarmiert. Dunkle Männer und Frauen stehen wie aus dem Boden gewachsen da und schauen in stummer Abwehr zu ihr hinüber, ihre regungslosen Mienen verraten nichts, weder Zorn noch Furcht. Sie warten. Annes Herz beginnt, heftig gegen die Rippen zu klopfen, aber sie ist kein Feigling. Mit ein paar mutigen Schritten geht sie zu der Gruppe hinüber und lächelt scheu in die vielen dunklen Augenpaare hinein. Eine Zigeunerin berührt bewundernd ihr blondes Haar und das
blaugestickte Haarband. Sie zieht es herunter und gibt es der Frau, froh, daß sie eine kleine Gabe mitbringt. Man fragt sie in sonderbarem, fremdartigen Dialekt, ob sie einen Blick in die Zukunft tun will? Anne nickt betäubt. In der kleinen Hütte aus Pappe und Stoffetzen ist es dämmerig. Nur mühsam gewöhnen sich die Augen des Mädchens an das Zwielicht, sie ist ganz allein mit einer sehr alten, hageren Zigeunerin, deren Gesicht aus lauter Runzeln besteht. Nur die schwarzen Augen wirken merkwürdig alterslos, sie starren auf eine Kugel aus Milchglas, starren und starren, bis die Gegenwart zu versinken scheint und die Zukunft heraufdämmert. Sie murmelt leise, beschwörende unverständliche Worte, bis es Anne sonderbar ums Herz wird und sie sich zu fürchten beginnt. Darf man das überhaupt – in seine Zukunft schauen? Ist es nicht besser, den Schleier des Geheimnisses über dem Leben zu lassen, nichts zu wissen von künftigen Freuden und Leiden – und vom Tod. Aber zu spät. Mit starren Augen, die nichts sehen, beginnt die Alte zu Anne zu sprechen. »Du wirst bald fortgehen. Weit, weit fort«, sagt sie in einem sonderbaren hohen Singsang. »Ich sehe ein Schloß auf deinem Weg, ein großes Schloß. Es ist voller dunkler Wege. Du bist in Gefahr, in großer Gefahr. Aber du bist auch stark und mutig, du wirst gegen das Böse ankämpfen. Am Ende des dunklen Weges steht ein liebendes Herz…« Die Zigeunerin kann ihre sonderbare, verworrene Prophezeiung nicht zu Ende aussprechen. Draußen vor der Hütte erheben sich Geschimpf und Geschrei. Die schwarzen Augen der Alten verlieren ihre Starre und bekommen einen wachsamen und verschlagenen Ausdruck. Mit einem Ruck schiebt sie den schmutzigen Türvorhang beiseite und tritt wie eine Königin hinaus. Das wütende Gekreisch ihrer Stammesgenossen verstummt
schlagartig, hilfesuchend und respektvoll wenden sich alle ihr zu. Doch die beiden Gendarmen machen sich nicht einmal die Mühe, von ihren Pferden herunterzusteigen. Mit dem dunklen Volk wollen sie nichts zu tun haben. Ihr Befehl ist kurz und bündig. »Packt euer Zeug zusammen und verschwindet. Wir wollen euch nicht in der Gemeinde haben«, sagt der eine. Der andere aber, ein junger baumlanger Kerl kriegt große, erstaunte Augen, als er bemerkt, wer sich vergebens im Halbdämmer der Hütte zu verstecken sucht: die Schwester des Pastors.
*
Rasend vor Zorn geht Emily im Wohnzimmer des Pfarrhauses auf und ab, ihre Hände zerren unablässig an einem kleinen bestickten Taschentuch. Man meint fast, daß sie es in Stücke zerfetzen möchte. Emily ist eine kleine, magere Frau mit scharfen Gesichtszügen, um einige Jahre älter als ihr Mann, der Pastor. Ihre dünnen, sandfarbenen Haare sind zu einem strengen Dutt zurückgezwirbelt, ihre Kleider stets hochgeschlossen und dunkel. In Fragen der Sitte und Moral gibt sie in der Gemeinde den Ton an, schon manches vernichtende Wort über einen leichtsinnigen Sünder kam von ihren schmalen Lippen. Ihr selbst kann man glücklicherweise keinerlei Verfehlung nachsagen, sie führt ein durch und durch gottgefälliges, christliches Leben, reibt sich auf mit rastloser Tätigkeit. Schließlich kann sie nichts dafür, daß sie ihrem Mann kein Kind schenken konnte, daß ihr Körper unfruchtbar ist wie ein trockenes Reis. Dieses Kreuz muß sie in Demut tragen. Gegen eine zweite Prüfung, die ihr auferlegt ist, verhält sich Emily weniger duldsam. Schon lange sucht sie nach einem
Weg, die ungeliebte Schwägerin aus ihrem Haus zu ekeln. Nun scheint ihr der passende Moment gekommen. »Du begreifst offensichtlich gar nicht, welchen Skandal du verursacht hast!« sagt sie scharf. Ihre Raubvogelaugen blitzen Anne wütend an. Das Mädchen sitzt müde auf dem Sofa und ordnet gelangweilt seinen langen Rock. »Doch, Emily, es tut mir leid.« »Es tut dir leid! Großartig! Und mehr hast du nicht dazu zu sagen? Ist dir eigentlich klar, daß die Familie des Pastors ein stetes Vorbild zu geben hat? Was sollen die Leute denken, wenn du dich bei den Zigeunern herumtreibst und dir die Zukunft weissagen läßt, als gäbe es kein Christentum und keinen Gott? Hast du vergessen, daß wir dich in unserer Güte bei uns aufgenommen und dir ein Heim gegeben haben?« »Wie könnte ich das je vergessen, du erinnerst mich ja täglich dran«, erwidert Anne bitter. Sie blickt zu ihrem Bruder hinüber, der behäbig in seinem Lehnstuhl sitzt und an seiner Feierabendpfeife zieht. Aber Wilhelm findet kein Wort der Verteidigung für seine Schwester. Er hat es längst aufgegeben, sich mit Emily herumzustreiten, seufzend nimmt er ihr ständiges Gezeter in Kauf, mit dem sie ihm das Leben versauert. Das Leben, das er recht gern hat mit all seinen Annehmlichkeiten, mit gutem Essen, gutem Wein und der Pfeife am Abend. In seiner Gemeinde ist der behäbige Pastor übrigens wohlgelitten, er findet für die Bauern den richtigen deftigen Ton und läßt auch mal Fünfe gerade sein. »Ist schon gut, Emily«, sucht er nun seine aufgebrachte Frau zu beschwichtigen. »Anne hat sich unklug benommen und wird das nächste mal zurückhaltender sein, nicht wahr?« Das Mädchen nickt dankbar. Im Schein der Petroleumlampe schimmert ihr reiches, blondes Haar wie reifer Weizen. Verflixt hübsch ist das Mädel geworden, eine Haut wie lauter Milch und Blut, muß Wilhelm plötzlich denken. Wenn Emily
doch nur eine Spur von diesem Liebreiz, dieser mädchenhaften Anmut hätte… Unwillig wandert sein Blick über die brettgerade, magere Gestalt seiner Frau, über ihr freudloses Gesicht. Die merkt gar nichts davon. Um keine Zeit unnütz zu vertun, nimmt sie sich ihren Nähkorb und beginnt mit emsigen Stichen eine grobe Wollsocke zu stopfen. »Nun gut«, sagte sie und beißt einen Faden mit ihren Zähnen ab. »Wir wollen dieses Thema jetzt ruhen lassen. Etwas anderes liegt mir auf dem Herzen. Nämlich deine Zukunft, Anne.« »Ach…« Das Mädchen richtet sich erstaunt hoch. Was mag sich Emily nun wieder ausgedacht haben an Schikane und freudloser Pflicht? Flüchtig denkt sie an die Prophezeiung der Zigeunerin und muß lächeln. So geheimnisvoll sich die Worte der Alten angehört haben – leider ist alles fauler Zauber. Sie wird gar nichts erleben, sondern ihre Tage als unbezahlte Spülmagd im Pfarrhaus beschließen. »Du lächelst?« meint ihre Schwägerin mit unterdrücktem Spott. »Nun, ich nehme deine Zukunft ernster. So geht es nicht weiter mit dir. Du bist schließlich schon dreiundzwanzig Jahre alt. Wir haben dich gern aufgenommen, aber nun solltest du allmählich auf eigenen Füßen stehen.« »Ich würde gern einen Beruf haben und arbeiten«, erwidert Anne mit hoffnungsloser Stimme. Sie weiß schon, was jetzt kommt. Unzählige Male hat sie erfolglos dieses Thema angeschnitten. »Kommt nicht in Frage«, erwidert Emily knapp. »Ein Mädchen aus guter Familie verdingt sich nicht irgendwo. Ich will nicht, daß die Leute mit Fingern auf uns zeigen, weil wir ein verwaistes Familienmitglied nicht durchfüttern. Nein, du solltest heiraten. Alt genug bist du wahrhaftig dafür.« »Und wen schlägst du vor, liebe Schwägerin?«
»Ich werde mich nach einer passenden Partie umsehen. Da sich offensichtlich niemand für dich interessiert, wird es nicht leicht sein.« Das klingt nach kaum unterdrücktem Triumph. Emily muß sich mit aller Kraft zurückhalten, um ihrer so viel hübscheren Schwägerin nicht alle Abneigung ins Gesicht zu schreien. Sie weiß sehr wohl, daß sich im Dorf jeder nach dem schönen, lebensvollen warmherzigen Mädchen umsieht. Daß Anne noch keinen Mann gefunden hat, liegt nur an einem Mangel von Gelegenheit – und an ihrem Stolz. Sie werde nur aus Liebe heiraten, wie sie mehrfach verkündet hat. Aus Liebe! So ein Unsinn! Die Pastorsfrau schürzt verächtlich ihre Lippen. Es kommt darauf an, versorgt zu sein und anständig zu leben. All das, was sich hinter dem Wort »Liebe« verbirgt, ekelt sie an… Mit wütenden Stichen fährt sie in der Wollsocke auf und ab. »Laß sie leben«, meint Anne freundlich und gelassen. Sie hat sich erhoben, man merkt plötzlich, wie groß und hochgewachsen sie ist – einer jungen, geraden Birke ähnlich. »Was meinst du?« »Die arme Socke. Du entwickelst einen so wütenden Eifer, liebste Schwägerin. Im übrigen kannst du beruhigt sein. Ich werde euch nicht mehr lange auf der Tasche liegen. Und jetzt möchte ich zu Bett gehen. Gute Nacht.« Sie küßt flüchtig die unwillig dargebotene Wange Emilys und etwas herzlicher ihren Bruder, der schweigend dasitzt und dicke, blaue Rauchwolken in die Luft pafft. Er gibt ihr schnell einen heimlichen, aufmunternden Klaps und zwinkert ihr zu. »Laß sie nur reden, unsere gute Emily. Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird«, soll das heißen. Aber Anne reagiert nicht auf diesen stummen Trost. Ihr Herz ist randvoll mit Auflehnung und Groll. Sie nimmt sich eine der Lampen, die in der kargen Diele bereitstehen und schraubt den Docht tiefer. Dann steigt sie die
Treppe ins Obergeschoß empor. Ihre kleine Schlafkammer ist der gemütlichste Raum des ganzen Hauses, heiter und bunt mit seinen vielen Büchern, Blumen und schönen Teppichen, die Anne von der Mutter geerbt hat. Lange Nächte hindurch liest sie hier beim Schein der Lampe, träumt vor sich hin, wie es alle jungen Mädchen tun. Hier kann sie die Quälerei ihres harten Alltags vergessen, wieder der heitere, lebenslustige Mensch werden, der sie in Wirklichkeit ist. Aber heute dauert es ein wenig länger, bis sie ihr Gleichgewicht wiederfindet. Schwer atmend lehnt sie am offenen Fenster, blickt zum klaren, bestirnten Himmel auf. Wie eine riesengroße Apfelsine hängt der volle Mond in der Schwärze der Nacht. Der Duft von getrocknetem Gras weht süß herein. Anne sehnt sich so – sie weiß selbst nicht, wonach. Vor dem ovalen Kippspiegel löst sie ihr schweres Haar. Verwundert bemerkt sie, wie schön sie aussieht, wie ihre Haut schimmert und blüht. Mit Genuß kühlt sie ihre heißen Glieder in dem Wasser, das kühl aus der Porzellankanne ihres Waschgeschirrs rinnt. Die Lampe flackert auf dem Tisch. Anne hüllt sich in ihr Nachthemd aus einfachem weißen Leinen, das bis auf den Boden herunterwallt. Wer sie jetzt sehen könnte, würde sie für einen Engel halten… Allerdings ist der Engel gerade dabei, die strengen Gesetze des Pfarrhauses zu durchbrechen. Aus den Tiefen ihres Kleiderschrankes angelt das Mädchen einen bunt eingebundenen Liebesroman hervor und macht sich mit glühenden Wangen und schuldbewußten Augen an die Lektüre. Emily erlaubt höchstens die Bibel und ein paar fromme Traktätchen als Lektüre. Was ahnt sie von Annes heißem, lebenshungrigen Herzen, vom schmerzlichsüßen Pulsen ihres Blutes in diesen heimlichen Lesestunden? Einmal läßt das Mädchen den Band sinken und starrt nachdenklich vor sich hin. Emily will, daß sie heiratet, um sie aus dem Haus zu haben. Heiraten? Vielleicht besser, als hier zu
verkümmern. Und vielleicht kommt einer, den sie wenigstens ein bißchen liebhaben und achten kann. Hitze brütet über dem Land, über der endlosen Ebene mit ihren Weizenfeldern und Kiefernwäldern, den stillen, grünen Seen. Im Wohnzimmer des Pfarrhauses hat man die Fenster weit geöffnet und die schweren Vorhänge vorgezogen, so daß trotz der strahlenden Sonne ein milchiges Dämmerlicht in dem kahlen Raum herrscht. Anne lehnt sich in ihrem Sessel zurück und bewegt einen elfenbeinernen Fächer hin und her, hin und her. Der leise Lufthauch kann die erregte Glut ihrer Wangen nicht kühlen. Ihre Augen hängen an der Schwägerin, die heute ein sonderbar kokettes, eilfertiges Wesen an den Tag legt. Das burgunderrote Sonntagskleid steht Emily überhaupt nicht, es vertieft noch ihre fahle, ungesunde Blässe. Aber der schwere, ältliche Mann an ihrer Seite tut so, als kümmere er sich nur um die Pastorsfrau und nicht um die schöne Anne, die aussieht wie eine vollerblühte, üppige Pfingstrose. Dennoch wandert sein Blick immer wieder rasch und verstohlen zu ihr hinüber. Er beglückwünscht sich selbst zu dieser Entdeckung. Dabei ist er Emilys Einladung nur zögernd gefolgt, hat er sich doch nach ihren Worten ein verhärmtes, armseliges Geschöpf unter Anne vorgestellt. Und nun findet er dieses blühende junge Leben, das ihm seine alten Tage versüßen soll… Unbegreiflich, daß die Schwester des Pastors in der nahen Kreisstadt schon als altes Mädchen, als unverbesserliche Jungfer gilt. Vielleicht liegt es daran, daß kaum einer das junge Ding überhaupt zu Gesicht bekommt. »Ich möchte Ihnen noch einmal für Ihre Einladung danken, gnädige Frau«, hört Albert Schumacher sich selbst sagen. »Sie ahnen ja nicht, wie glücklich ich darüber bin. Nach den langen Jahren, die ich in New York verbracht habe – mit Erfolg verbracht habe – möchte ich in der alten Heimat noch einmal seßhaft werden. An Geld fehlt es mir nicht. Aber nach dem
Tod meiner Frau vor langen Jahren bin ich doch recht einsam. Meine Kinder sind aus dem Haus, die Töchter verheiratet und die Söhne erfolgreich im Beruf. Wie Sie ja wissen, betreibt mein ältester Sohn in der Kreisstadt die Apotheke. Ein Grund für mich, hier ansässig zu werden. Und nun schickt mir der Himmel noch einmal ein so reizendes Geschöpf über den Weg…« »Sie sollten nicht nur nach Äußerlichkeiten urteilen«, versucht Emily eifersüchtig seine Begeisterung zu bremsen. »Anne ist ein schwieriges Mädchen, in der Großstadt aufgewachsen, was selten jemandem bekommt. Sie werden es nicht leicht mit ihr haben.« »Wir werden uns gewiß verstehen.« Sein werbender Blick streift das Mädchen, das apathisch im Sessel lehnt und mechanisch den Fächer bewegt. Es antwortet nicht. Wie er mich anstarrt, denkt Anne empört. Und wie sie über mich reden, als wäre ich gar nicht im Zimmer. So verkauft man ein Stück Vieh. Ihre blauen Augen werden dunkel vor Empörung, was den alternden Mann mit Entzücken erfüllt. Temperament hat sie auch, denkt er befriedigt. Ich werde dieses Füllen schon zähmen. Laut sagt er: »Aber liebe, gnädige Frau, wir wollen doch nichts übers Knie brechen. Fräulein Anne soll mich in aller Ruhe kennenlernen und dann selbst eine Entscheidung treffen. Bis dahin würde ich mich glücklich schätzen, wenn ich ab und zu Ihr Gast sein dürfte.« »Natürlich, mit der größten Freude«, erwidert Emily honigsüß. »Und nun wird mein Mann Sie ein wenig im Garten herumführen.« Sie nickt Wilhelm huldvoll zu, der eben erhitzt eintritt. »Anne und ich werden uns um das Mittagessen kümmern. Meine Schwägerin hat noch viel zu lernen, leider, wie ich sagen muß. Nun, wir werden uns die größte Mühe
geben.« Mit einem kleinen harten Stoß bewegt sie Anne, ihr in die Küche zu folgen. Eine Weile arbeiten die beiden Frauen schweigend. Von den heißen, brodelnden Tupfen steigen wohlriechende Dämpfe empor. Emily rührt verbissen in der Suppe. »Du könntest etwas freundlicher zu Herrn Schumacher sein«, meint sie plötzlich scharf. »Sei froh, daß sich ein so wohlsituierter Mann überhaupt um dich bemüht. Wenn er dich zur Frau nimmt, was noch gar nicht sicher ist, kannst du dem Herrgott auf Knien danken.« »Ich kenne ihn doch gar nicht. Ich brauche etwas Zeit«, murmelt Anne leise. Schon den ganzen Tag fühlt sie eine merkwürdige Trägheit in den Gliedern. Ihr fehlt jede Kraft zur Auflehnung, sie läßt sich ohne Widerstand in ein von Emily arrangiertes Schicksal treiben. »Eine anständige Frau lernt ihren Mann erst in der Ehe kennen. Du könntest etwas mehr Dankbarkeit zeigen, daß wir so viel für dich tun. Aber nein, du nimmst alles selbstverständlich hin, Essen, ein Dach über dem Kopf, dein Heim. Nun, damit wird bald Schluß sein.« Die Pastorin greift nach dem Salzfaß und würzt die Suppe nach. Ihre flaumdünnen Haare kleben schweißnaß an ihrem Kopf. Ihre hageren Hände arbeiten hastig. »Ich will Albert Schumacher nicht heiraten«, sagte Anne plötzlich wütend. Es klingt dennoch matt. Sie ist zu müde, um kämpfen. »Und warum nicht, wenn ich fragen darf?« Emily baut sich vor ihr auf, eine kleine, nervöse, magere Gestalt, die den Kopf in den Nacken legen muß, um zu dem Mädchen emporzusehen. »Weil er alt und dick und unsympathisch ist. Noch mehr: weil ich ihn niemals lieben kann.«
»Papperlapapp. Du mußt ihn nehmen, mein Kind. Und nun kein Wort mehr. Hilf mir, die Schüsseln aufzutragen.« »Aber…« Anne verstummt. Es ist sinnlos, Widerstand zu leisten. Wer wie sie abhängig und arm leben muß, kann sich nicht erlauben, wählerisch zu sein. Sie ergreift die Schüssel mit den Pellkartoffeln und geht gehorsam hinter der Schwägerin in das Eßzimmer hinüber. Die beiden Herren, Albert Schumacher und der Pastor, haben es sich dort bei einem Kognak bequem gemacht. Unter Emilys mißbilligendem Blick springen sie hastig auf. »Ihr Gatte hat mir den Garten gezeigt«, erklärt Albert zuvorkommend. »Ein so schönes, sorgsam bebautes Stück Land habe ich noch selten gesehen. Respekt, meine Gnädigste.« Er deutet eine leichte Verbeugung an. Aber in seinen vorstehenden gelblich verfärbten Augen steht etwas ganz anderes geschrieben. Die schielen ständig zu Anne hinüber – ganz und gar nicht höflich und respektvoll, sondern voller Begehren. Das Mädchen fühlt den Blick auf seinem Hals, seinem Ausschnitt ruhen und ein kalter Schauer läuft ihm den Rücken hinunter. Anne bringt es kaum fertig, ein paar Bissen zu essen. »Wir wollen nur dein Bestes, vergiß das nie«, sagt Wilhelm in das Klappern der Bestecke und Klirren der Gläser hinein. Ungeschickt berührt er die Hand seiner Schwester, die neben ihm sitzt. Anne antwortet nicht. Er versteht dennoch, was ihr flehender Blick will. Wenn es so ist, warum hilfst du mir dann nicht? Warum verkuppelst du mich dann an diesen schrecklichen alten Mann? Da schaut er ratlos beiseite. Schon lange wagt er um des lieben Friedens willen keinen Widerstand mehr gegen seine scharfzüngige Frau. Aber auch ihm ist der Appetit vergangen. Er legt den Dessertlöffel beiseite.
»Schmeckt es dir nicht, Wilhelm? Ich habe mir so viel Mühe gegeben.« In Emilys sanfter Stimme spürt man tausend ungesagte Vorwürfe. »Natürlich, Liebes. Es schmeckt wundervoll.« »Ja, einfach großartig, gnädige Frau«, bekräftigt Albert Schumacher. Dabei weiß er kaum, was er ißt. Er wartet nur auf den Augenblick, da er sich die Lippen abtupfen und den Stuhl zurückschieben darf – und um ein paar Minuten des Alleinseins mit Anne bitten wird. Er muß sich dieses göttliche Geschöpf sichern. Endlich ist es soweit. Huldvoll wird ihm ein Spaziergang mit dem Mädchen im Garten gewährt. Stumm läßt es sich von ihm hinausführen, mechanisch setzt es einen Fuß vor den anderen. Die erbarmungslose heiße Mittagssonne raubt ihm die Besinnung, hinter seinen Schläfen beginnt ein leiser Schmerz zu rumoren. Von dem Druck seiner großen, fleischigen Hand auf ihrem Arm will ihm übel werden. »Ich möchte ein paar Worte mit Ihnen allein sprechen, liebes Fräulein Anne«, sagt Albert. Er führt sie zu der weißen Bank unter der Trauerweide. Von hier hat man einen weiten Blick über die Felder. Schwerfällig läßt sich das Mädchen nieder, ihm kommt es so vor, als hätte es Blei in den Gliedern. Wenn sie nur endlich dem forschenden, abtastenden Blick des Mannes entgehen könnte. Sie fühlt sich wie entblößt unter seinen Augen. »Vielleicht ahnen Sie schon, was ich Ihnen sagen will? Sie gefallen mir, Fräulein Anne, warum sollte ich zögern, um Ihre Hand zu bitten? Wenn Sie mir Hoffnung machen, spreche ich noch heute mit Ihrem Bruder. Wollen Sie meine Frau werden?« Die Frage klingt beinahe wie eine triumphierende Feststellung, Albert ist sich seiner Sache sicher. Welche Wahl bleibt dem Mädchen denn schon übrig? Er bildet sich keine Sekunde lang ein, daß sie ihn lieben könnte – darauf kommt es ihm gar nicht an. Annes Gefühle sind ihm gleichgültig, wenn
sie ihm nur eine gehorsame, willfährige Gattin wird. Und haben muß er sie, ihre unberührte jugendfrische Schönheit steigt ihm wie alter Wein zu Kopf. »Ja, ich werde Sie heiraten«, flüstert Anne mit tonloser Stimme. Ihr ist plötzlich alles egal. Alle Hoffnungen auf die Zukunft zerrinnen jäh zu nichts. Eine unendliche Folge von qualvollen, aschgrauen Tagen tut sich vor ihr auf. »Dann wollen wir unser Verlöbnis mit einem Kuß besiegeln.« Er beugt sich über sie, seine Lippen sind heiß und trocken und zudringlich. Sie möchte vor Zorn und Demütigung ihre Fingernägel in Alberts fleischige Wange krallen. Aber sie sitzt nur regungslos wie eine Wachspuppe da. So kommt es, daß Emily schon an diesem Tag den besten Wein aus dem Keller heraufholt, um Annes Verlobung gebührend zu feiern. Ihre kleinen, farblosen Augen glitzern vor Triumph. Endlich hat sie das stolze Mädchen auf die Knie gezwungen. Sie fühlt keine Gewissensbisse. Hat sie nicht die Dinge so geordnet, wie es jedermann für gut halten würde, für anständig und vernünftig? Wilhelm, der Pastor, beugt sich einmal zu seiner bleichen, stummen Schwester hinüber. Er prostet ihr zu und meint leise: »Du wirst sehen, Anne, es ist so am besten für dich!« Aber sie weicht seinem Blick aus und gibt keine Antwort.
*
In vier Wochen soll die Hochzeit sein. Das Hochzeitskleid aus weißem Satin hängt schon oben in Annes Zimmer. Sie verschwendet nie einen Blick darauf. Ebenso wenig kümmert sie sich um die Laken und Bezüge, um die Handtücher und Wäschestücke, mit denen Emily unermüdlich die
Aussteuertruhe füllt. Die Pastorin will sich nicht nachsagen lassen, daß sie die Schwägerin nicht ordentlich ausrüstet… Anne tat so, als gingen sie die Vorbereitungen gar nichts an. Sie vernachlässigt ihre Pflichten in Haus und Garten und treibt sich oft stundenlang auf den Feldern – und weiß Gott, wo, herum. Dabei vergißt sie ihren Sonnenhut, ihre schöne milchweiße Haut ist bald zigeunerhaft verbrannt. Sie magert ab, die dunklen Kleider schlottern nur so um die hochgewachsene Gestalt. Alles Licht in ihren weilchenblauen Augen ist erloschen. Emily stellt mit einer gewissen Befriedigung fest, daß das Mädchen überhaupt nicht so schön aussieht, wie die Leute immer behauptet haben. Für das arme, schweigsame Ding kann sie sogar einen Funken von Zuneigung empfinden. Wenn sie nur etwas mehr Dankbarkeit für ihre Bemühungen ernten würde! »Anne kann eigentlich froh sein, daß sich die Dinge so gewendet haben«, sagt Emily eines Abends im ehelichen Schlafzimmer zu ihrem Mann. Er liegt bereits im Bett und liest beim Schein der flackernden Lampe eine theologische Zeitung. Jetzt läßt er das Blatt sinken und blickt seine Frau erstaunt an. »Meinst du wirklich, sie wird an Alberts Seite ihr Glück finden?« »Ihr Glück? Was soll das schon heißen«, fährt sie ihn aufgebracht an. Ihr Kamm streicht ungeduldig durch die geöffneten Haare, die dünn und strähnig auf ihre knochigen Schultern fallen. »Darauf kommt es nicht an. Das Mädel ist endlich versorgt und hat eine gute Partie gemacht.« »Aber so ein junges, schönes Blut erwartet doch etwas mehr vom Leben, möchte lachen, tanzen und verliebt sein!« »Dergleichen habe ich nie für nötig erachtet. Man soll seine Pflicht tun und sich nicht leichtsinnig amüsieren.« »Ach, Emily… Ist dir nie der Gedanke gekommen, daß auch ich von meiner Frau ein wenig mehr Freude und Heiterkeit
erwartet habe?« Der Pastor redet sich in Zorn. Vieles, was sich seit langem in ihm aufgestaut hat, bricht nun hervor. Aber vergebens. Ihr hageres Gesicht färbt sich blutrot vor Entrüstung. »Ich habe mir nichts vorzuwerfen«, erwidert sie steif und legt sich neben ihm nieder. Da schweigt er resigniert. Aber in seinem Inneren formt sich ein Plan. Einmal, nur ein einziges Mal wird er ihr Widerstand leisten. Er will die schöne, lebensvolle Anne glücklich sehen, und wenn ihm Emily dafür ein Leben lang die Ohren vollklagt. Eine Woche später – nachdem Wilhelm eine plötzliche Dienstreise in die Kreisstadt antreten mußte – klopft es an Annes Zimmertür. Sie hat sich trotz der frühen Abendstunde bereits zurückgezogen, man sieht ihren geschwollenen Augen an, daß sie geweint hat. »Ich wußte nicht, daß du schon zurückgekehrt bist«, begrüßt sie Wilhelm matt. Vergeblich will sie ihn an einem Blick in ihr Zimmer hindern. Er sieht trotzdem, daß ein halbgepackter Koffer auf ihrem Bett steht. Da tritt er schnell herein und schließt leise die Tür. »Es hat keinen Sinn, auszureißen«, mahnt er milde. »Aber ich kann es hier nicht mehr aushalten«, schluchzt Anne auf. Heiße Tränen rollen über ihre Wangen. Der Bruder legt ungeschickt den Arm um sie, Zärtlichkeiten sind zwischen ihnen nicht üblich. Langsam atmet das Mädchen wieder ruhiger. Sanft löst es sich von ihm. »Ich kann Albert Schumacher nicht heiraten. Ich wollte es wirklich, um euch nicht länger auf der Tasche zu liegen. Aber ich verabscheue ihn, seine großen Hände, seine gelben Zähne, einfach alles. Bitte, Wilhelm, laß mich gehen. Ich kann arbeiten und werde mich schon durchschlagen.« Ihre schlanke Gestalt strafft sich, ihre Augen blitzen wieder voller Mut und Kraft. Sie hat sich entschieden.
»Ja, Liebes. Du sollst ja gehen. Ich bin nur deinetwegen in die Stadt gefahren und habe mich nach einer Möglichkeit umgehört.« Erschöpft wie nach einer großen Anstrengung läßt sich Wilhelm auf dem Sofa nieder. Schmerzlich wird ihm bewußt, wie sehr sein privates Leben verpfuscht ist, wie er vergeblich nach Liebe und Freude hungert. Aber Anne, das liebe, warmherzige Mädchen, soll es besser haben. Da spürt er ihren ungläubigen, fassungslosen Blick. Wilhelm will ihr helfen, wirklich helfen! Stets hat sie den Bruder für schwach und charakterlos gehalten – und nun wächst er über sich selbst hinaus. »Ich habe eine Stellung für dich gefunden«, sagt er sachlich und drängt seine Gefühle zurück. In ein paar dürren, nüchternen Worten erklärt er ihr die Sachlage. Eine adelige österreichische Familie sucht eine Krankenpflegerin und Gesellschafterin für die sieche Hausherrin. Mit der Schwester des Pastors wäre man einverstanden. Wenn Anne den Posten übernehmen will, kann sie schon in den nächsten Tagen nach Schloß Brunn abreisen. »Bist du einverstanden damit, Liebes?« »Ja, o ja!« Sie kann nur diese zwei Worte hervorstammeln. Der Bruder ist ihr nahe wie seit langem nicht. Mit scheuer Gebärde will sie ihn umarmen, aber Wilhelm wehrt sie freundlich ab. Er erhebt sich hastig, als schämte er sich seiner Gefühle und geht mit müden Schritten ins Wohnzimmer hinunter, um seiner Frau Bericht zu erstatten. Schmerzlich wird ihm bewußt, daß mit Anne alle Freude aus seinem Leben verschwindet. Trotzdem fühlt er die Ruhe dessen, der richtig gehandelt hat. Am Tag von Annes Abreise – sie zögert keine Sekunde länger, diesen Weg in ein neues Leben zu gehen – schließt sich Emily in ihr Schlafzimmer ein und reagiert auf kein Klopfen, Bitten und Rufen. Sie bringt es nicht fertig, auch nur ein
einziges vernünftiges Wort zum Abschied zu sprechen. Zu tief sitzt der Schock, daß in ihrem eigenen Heim die Revolte ausgebrochen ist und alle sich über ihre Wünsche hinwegsetzen. Wilhelm hat auf all ihre Vorhaltungen nur zu sagen gewußt, sie solle endlich mit dem Gezeter aufhören, der Herr im Haus sei immer noch er. Heimlich blickt sie vom Fenster aus dem Einspänner nach, der ihren Mann und Anne zum Bahnhof bringt. In diesem Augenblick fühlt sie weder Trotz noch Triumph, nur eine tiefe Traurigkeit breitet sich in ihr aus. Vielleicht war ihr Handeln doch nicht ganz richtig? Vielleicht hat Wilhelm doch ein wenig mehr Nachsicht verdient? Er ist ein guter Mensch, das weiß sie im Grunde ganz genau… Unruhig läuft sie in ihrem Zimmer auf und ab, ordnet und richtet mit nervösen Fingern die wenigen Gegenstände auf ihrem Toilettentisch. Sie streicht ihr Haar zurück, was ganz unnötig ist, denn kein Härlein wagt es aus der Reihe zu tanzen. Endlich, nach langer Zeit, hört sie den schweren Trab der alten Liese in der Einfahrt und das Rollen des Einspänners. Nichts hält Emily mehr in ihrem Zimmer zurück. Sie steht schon in der Haustür, als Wilhelm mit langsamen Schritten vom Pferdestall auf das Haus zukommt. Sie will ihm zulächeln, ein gutes Wort sagen, damit er sie in die Arme nimmt und über die sonderbare, zehrende Einsamkeit hinwegtröstet, die plötzlich ihr Herz abdrückt. Aber der Pastor begrüßt sie nicht einmal. »Jetzt hast du endlich deinen Willen bekommen«, sagt er ärgerlich, »und das arme Ding aus unserem Haus vertrieben. Wie leer wird es jetzt hier sein.« Er geht hinein und läßt sie einfach stehen. Inzwischen dampft der Zug, in dem Anne einem neuen Leben entgegenfährt, schon über die weite Ebene. Sie lehnt in ihrer Abteilecke und hält ein Buch in der Hand, das ihr der Bruder als Reiselektüre gekauft hat. Aber sie liest nicht, sondern schaut hinaus, wie die sommerlich strahlende Landschaft
dahinfliegt. Sie ist aufgeregt, glücklich, traurig – alles zugleich. Ihr Herz schlägt so laut, fast kann man es hören. Eine Dame, die mit ihr im Abteil sitzt, betrachtet sie lächelnd. Es ist eine ältere, sehr gepflegte Frau, der man die Dame von Welt ansehen kann. »Sie reisen wohl nicht allzuoft, liebes Fräulein?« erkundigt sie sich freundlich und bietet Anne ein Praline an. »Nein, eigentlich nie. Merkwürdig, daß Sie mir das ansehen können!« »Nichts leichter als das.« Die Dame lacht amüsiert auf. »Ihre Augen strahlen nämlich so begeistert… Erlauben Sie, daß ich Sie zum Tee in den Salonwagen einlade. Die Fahrt in den Süden dauert noch lange, wir wollen uns die Zeit so gut wie möglich vertreiben.« Schon bald erzählt Anne ihrer freundlichen Mitreisenden ihr ganzes Leben. Sie sprudelt beinahe über vor Mitteilungsdrang, lange genug hat sie ihr Herz nicht mehr ausschütten können. Doch als sie das Ziel ihrer Reise nennt, wird ihr Gegenüber plötzlich tiefernst. Ein Schatten fliegt über das mütterliche Gesicht. »Ich kenne die Baronin und auch Schloß Brunn recht gut«, meint sie zögernd. Sie greift nach Annes Hand und drückt sie warm. »Versprechen Sie mir, liebes Kind, meine Hilfe zu erbitten, wenn Sie einmal in Not geraten. Ich werde Ihnen helfen.« »Gewiß, gern. Aber warum sollte ich Hilfe nötig haben?« erkundigt sich das Mädchen beklommen. Die Landschaft vor den Zugfenstern verdüstert sich schon im Schatten des Abends. Ein Frösteln, das sie sich nicht erklären kann, läuft ihren Rücken hinunter. Jene geheimnisvollen Worte der alten Zigeunerin fallen ihr plötzlich ein. »Du bist in Gefahr, in großer Gefahr!« hat die Alte ihr prophezeit…
»Weil auf Schloß Brunn vielleicht nicht alles so ist, wie es sein sollte«, erwidert die Dame freundlich in ihre Gedanken hinein. Man sieht ihr an, daß sie ihre voreiligen Worte ein wenig bereut. »Haben Sie keine Angst«, versucht sie Anne zu beruhigen. »Nur… hüten Sie sich vor Baron Henry, er ist ein sonderbarer wilder Mann, über den allerlei Gerüchte kursieren. So, nun kommt schon München in Sicht, und ich muß mich zum Aussteigen fertigmachen. Gott mit Ihnen, liebes Kind!« Sie reicht dem Mädchen eine goldbedruckte Karte mit ihrer Adresse, da läuft der Zug schon in den Bahnhof ein. Noch ein kurzes Adieu, ein Winken – und schon verschwindet das freundliche, gütige Gesicht in der Menge der Reisenden, die sich auf dem Perron drängen und in allen Sprachen durcheinanderreden. Anne sieht ihrer Gefährtin lange nach, bis auch der letzte Zipfel ihres großen Federhutes und ihres braunen Reisekleides den Blicken entgleitet. Dann fährt der Zug zischend und dampfend weiter. Das Mädchen sitzt nun ganz allein im Abteil. Vor den Fenstern liegt eine rabenschwarze, sternlose dumpfe Nacht, die Fahrt scheint ins Ungewisse zu gehen… Mit einemmal steigen Angst und Beklommenheit erstickend in Anne hoch.
*
Vorsichtig öffnet Anne die Tür zum Schlafzimmer der Baronin, die auf ihr zaghaftes Klopfen nicht reagiert hat. Olivia liegt noch in tiefem Schlaf zwischen ihren seidenen Laken, von denen der Duft nach einem schweren, bitteren Parfüm aufsteigt. Anne sieht einen Augenblick lang ratlos auf die Kranke nieder. So zart und zerbrechlich schaut sie aus, als wäre sie nicht mehr ganz von dieser Welt. Ihr schwarzes Haar
umrahmt ein herzförmiges, liebliches Gesicht, in dem die Augenlider leise flattern, als gingen tausend Gedanken und Träume über die reglose, marmorweiße Stirn… Olivia ist auch im Zustand der Schwäche noch so schön, daß einem das Herz weh tun könnte. Anne wendet sich schnell ab. Eine Krankenschwester darf nicht gar zu mitleidig, nicht gar zu sentimental sein, wenn sie helfen will. Mit einem energischen Ruck zieht sie die Gardinen beiseite und bleibt eine Weile am offenen Fenster stehen. Licht flutet herein. Seit einer Woche lebt sie nun schon auf Schloß Brunn. Gefällt es ihr eigentlich hier? Sie weiß es selbst nicht zu sagen. Ihr Blick wandert über den einsamen Park bis hin zum kaltblauen, klaren See, hinter dem sich in der Ferne die Vorberge der Alpen staffeln. Das Schloß selbst ist ein verwinkeltes, graziöses Sandsteingebäude mit lieblich geschwungenen Erkern und Rosenspalieren, in denen die Spatzen tschilpen. Eigentlich kein Ort für düstere Geheimnisse. Dennoch liegt hier etwas Zwielichtiges, Sonderbares in der Luft, was man nicht recht zu deuten weiß. Weiter wandern Annes Blicke, ihre Finger trommeln unbewußt gegen das Holz des Fensterbrettes. Jenseits der Gewächshäuser und des Küchengartens liegt der älteste Teil von Schloß Brunn, ein mittelalterlicher düsterer Trakt mit einem runden Turm. Fast scheint es, als gehe von den rußgeschwärzten Mauern der Ruine jenes unbegreifliche Unbehagen, ein Hauch von Zweifel aus, die Anne sich nicht erklären kann. »Kann ich ein Glas Wasser bekommen, Schwester?« fragt jetzt eine leise Stimme. Olivia ist zu sich gekommen und richtet sich mühsam auf. Ihre schönen Haare hängen in wilden Strähnen über ihren zarten Rücken, ihre dunklen Augen sind blauumrändert. Mit zitternden Händen greift sie nach dem eisklaren Wasser, das ihr das Mädchen reicht, und trinkt in hastigen Schlucken. Dann läßt sie sich erschöpft zurücksinken.
»Wie geht es Ihnen heute, Baronin?« fragte Anne, während sie geschickt all die Handgriffe erledigt, die der Schwerkranken Erleichterung bringen sollen. Sie schüttelt die Kissen auf, kämmt mit behutsamen Strichen das schwarze Haar und tupft die schweißnasse bleiche Stirn sorgsam ab. Die Kranke lächelt hilflos auf ihre Frage. »Wie immer, Schwester. Ich fühle mich so schwach und elend, als wenn nach und nach alles Leben aus meinem armen Körper flieht. Geben Sie mir meinen Spiegel, damit ich mich ansehen kann!« Anne reicht ihr zögernd den kleinen silbergefaßten Handspiegel vom Toilettentisch, weil sie nicht weiß, wie man Olivia diese Bitte abschlagen könnte. Lange und aufmerksam betrachtet sich die Kranke. Ihre schwarzen Augen wirken riesengroß und undurchdringlich dabei wie ein See bei Nacht, der allerlei Geheimnisse auf seinem Grund birgt… Plötzlich entgleitet der Spiegel den schwachen Händen und zersplittert auf dem Boden. »Ich sehe aus wie jemand, der bald sterben muß.« »So dürfen Sie nicht sprechen, Baronin! Sie wollen doch leben und gesund und glücklich sein.« Anne beugt sich über die Glassplitter auf dem Boden und hebt sie sorgfältig auf. Mühsam kämpft sie gegen Angst und Schrecken, die in ihr entstehen wollen. Sie muß der Kranken doch ein frohes, optimistisches Gesicht zeigen. »Leben und glücklich sein?« Olivia läßt sich kraftlos zurücksinken. »Glück gibt es sowieso nicht mehr für mich. Ich bin ja so müde, Anne. Was hält mich noch auf der Welt? Mein Mann liebt mich nicht, hat mich niemals geliebt. Wo ist er jetzt, da ich so leide? Irgendwo in den Wäldern, wo er wie ein wildes Tier herumstreicht. Er hat mich meines Geldes wegen geheiratet. Er mußte es tun, weil ihn die eigenen Eltern dazu zwangen. Anderenfalls wäre Schloß Brunn unter den Hammer gekommen. Geben Sie mir Ihre Hand, Schwester. Es beruhigt
mich so, wenn Sie die meine halten.« Anne setzt sich schweigend auf einen Sessel neben dem Bett und nimmt die magere Hand Olivias. Ihre klaren Augen strahlen vor Mitleid und Zuneigung. »Es macht mir nichts mehr aus«, fährt die Kranke mit tonloser Stimme fort, als würde sie von einem inneren Zwang dazu getrieben. »Einmal war Henry mein ein und alles. Ich liebte ihn so sehr. Doch seine Kälte ließ schließlich jedes Gefühl in mir erstarren. Sagen Sie mir, Anne, wofür ich wohl leben sollte?« »Für Ihre Tochter, Baronin.« »Ja, vielleicht… Marie Elisabeth ist wie ein Lichtstrahl in all dieser Finsternis.« Olivia lächelt zärtlich. Wie zarte, weiße Vögel bewegen sich ihre Hände auf der seidenen Bettdecke. Ihr Kopf sinkt zur Seite, die Lider schließen sich über den schwarzen Augen, unruhig zuckt der feine, schmale Mund. Anne erhebt sich lautlos und verläßt das Zimmer, vorsichtig schließt sie die Tür. Im letzten Augenblick unterdrückt sie einen Schreckensschrei, als eine hohe, schlanke Gestalt plötzlich neben ihr auftaucht. Sie muß im Dämmer des Korridors eine Weile blinzeln, bis sie Percy erkennt, den Bruder des Hausherrn. »Nun, wie geht es unserer schönen Kranken?« fragte er flüsternd. »Unverändert«, murmelt das Mädchen. »Sie schläft, wir wollen sie nicht stören.« »Ich wollte ihr gerade ein wenig Konfekt bringen.« Er lächelt und angelt eine kleine, kostbar verpackte Bonbonniere aus der Tasche seines samtenen Jacketts. »Wie schön, daß wenigstens Sie sich um die arme Baronin kümmern«, meint Anne betont. Sie geht neben Percy den Korridor hinunter, der sich vor der Freitreppe zu einer geräumigen Diele verbreitert.
»Nicht wahr? Mein lieber Bruder Henry hält sich lieber bei der Jagd auf, statt sich um seine arme Frau zu kümmern. Ich fürchte, daß Olivia nicht mehr lange zu leben hat.« »Oh, so etwas dürfen Sie nicht sagen! Wo Leben ist, gibt es auch Hoffnung«, murmelt Anne unschlüssig und bleibt neben Percy stehen, der sich lässig auf die Lehne eines Korbsessels niedersetzt. »Sie müssen ja als Krankenschwester so reden, Anne. Aber ich möchte mal wissen, was wirklich in Ihrem hübschen Köpfchen vorgeht. Ehrlich gesagt, ich bin wirklich neugierig darauf.« Er blinzelt ihr zu, bis ihr eine verräterische Röte ins Gesicht steigt. Dem Blick seiner glänzenden Augen kann man nur schwer widerstehen. Percy ist ein sehr gut aussehender Mann. Dunkle kastanienfarbene Locken fallen in seine blasse Stirn. Er trägt die Haare sehr lang, ähnlich wie ein Künstler und Bohemien. Seine Lippen sind rot und voll und können manchmal fast grausam lächeln… Immer weiß er einen Scherz, eine Schmeichelei, ein flinkes, freches Wort. Anne fühlt sich ihm gegenüber hilflos. Im Pfarrhaus hat sie unter den kritischen Augen Emilys nie einen solchen Mann kennengelernt, bei dem man nicht genau weiß, woran man eigentlich ist. Scherz geht bei ihm unvermittelt in Ernst, Milde in Wut, Schmeichelei in boshaftes Sticheln über. Womit er seine Tage vertreibt, bleibt dem Mädchen ein Rätsel. Er gibt mit vollen Händen das Familienvermögen aus, liebt das gute Leben und den Wein. Ein Müßiggänger, gewiß. Trotzdem fühlt sie, wie unter seinem Blick ein Prickeln ihren Rücken hinunterläuft… »Ist die Musterung beendet?« fragte er lässig und lacht sie neckend an. »Gefalle ich Ihnen?« »Aber Herr Baron…« Anne windet sich vor Verlegenheit, sie versucht eine würdige, gesetzte Miene zu machen. Percy greift spielerisch nach ihrer Hand und zieht sie an seine Lippen.
Dann läßt er sie plötzlich wieder fallen, mit gleichgültigen Augen blickt er an dem Mädchen vorbei in irgendeine Ferne, die nur er selbst kennt. »Es tut mir leid, daß Sie Schloß Brunn unter diesen ungünstigen Umständen kennenlernen. Hier würde ein ganz anderes Leben herrschen, wenn nicht Henry, sondern ich der Erbe wäre. So muß ich mich leider dem Diktat meines finsteren gewalttätigen Bruders beugen… Arme Olivia, armes Brunn.« Er lacht heftig auf, es klingt schrill und haßerfüllt. Aber schnell hat er sich wieder in der Gewalt. »Ich will Sie nicht von der Arbeit abhalten, Anne«, meint er mit seiner verbindlichen, glatten Freundlichkeit. Er kneift ein Auge zu und zwinkert sie an – wieder ganz der charmante, lebenslustige Percy, für den ihn jeder hält. Bevor Anne sich diskret zurückziehen kann, öffnet sich die Tür des Schulzimmers, und die zehnjährige kleine, rundliche Marie Elisabeth kommt herausgestürzt, daß ihre braunen Zöpfe fliegen. Ihr Matrosenkleidchen wirbelt um die stämmigen Beine, sie lacht und strahlt und wirft sich begeistert in Annes Arme, die die Kleine zärtlich an sich zieht. »Na, ist der Unterricht schon zu Ende?« fragt sie und bindet die roten Zopfschleifen neu. Das Kind nickt. Grübchen bilden sich in den runden Wangen. Eine warme Hand legt sich in Annes. »Wir wollen zu Marthe gehen und Pudding essen«, bettelt Marie Elisabeth und wartet keine Antwort ab. Schon springt sie mit flinken Beinen die Freitreppe hinunter in Richtung Küche. Anne folgt ihr lächelnd. Sie bemerkt nicht, daß in der Tür des Schulzimmers nun auch die Gouvernante Vera erschienen ist, eine gebürtige Engländerin mit flammendroten Haaren und kalten Augen. Eine gute, tüchtige Lehrerin, der nur leider das aller wichtigste fehlt: Ein warmes Herz. Sie steht eine Weile unbeweglich da und blickt mit sonderbarem
Ausdruck hinter Anne her. Dann geht sie mit ihrem wiegenden Schritt zu Percy hinüber. Die beiden tauschen einen Blick. »Wie geht es der Frau Baronin heute?« fragt Vera mit ihrer tiefen, gleichgültigen Stimme. »Nicht gut«, erwidert Percy lächelnd. Sein brennender Blick unter den halbgeschlossenen schweren Lidern hängt an dem schönen Antlitz Veras. »Oh, das tut mir leid. Fast möchte man ihr wünschen, daß sie einmal von all ihren Leiden erlöst wird.« »Der Tag kommt gewiß. Er kommt für uns alle.« Percy lehnt sich im Sessel zurück. Ein kleines, kaum merkliches Lächeln umspielt sekundenlang seinen Mund.
*
Vielleicht liegt es an der Schwüle dieser Sommernacht, daß Anne nicht schlafen kann. Schwere Gewitterwolken hängen über dem See, kein Stern blinkt durch die tiefe Schwärze des Himmels. Sie entzündet die Lampe und versucht zu lesen, doch nach kurzer Zeit hat sie ihren Roman bereits zu Ende gebracht und legt ihn beiseite. Zu dumm, daß sie nicht rechtzeitig daran gedacht hat, sich aus der Bibliothek im Kaminzimmer neue Lektüre zu besorgen… Schlaflos wälzt sie sich in den heißen Kissen. Schließlich erhebt sie sich, nimmt ihren einfachen Batistmantel um die Schultern und geht mit der Lampe auf den Korridor hinaus. Schloß Brunn liegt in tiefer Stille. Leise tritt das Mädchen für einen Augenblick in das Zimmer der Baronin, die heute nachmittag einen schlimmen Anfall mit Magenkrämpfen und Ohnmacht erleiden mußte. Jetzt liegt Olivia still da, ihre Brust hebt und senkt sich in tiefem Erschöpfungsschlummer. Was hat der Arzt noch
gesagt? Daß die Kranke jede erdenkliche Schonung und Pflege brauche, um mit dem Leben davonzukommen. Merkwürdig, diese Magenkrämpfe! Wahrscheinlich schlägt sich die schlimme Krankheit auf alle Organe. Der Arzt tut das Menschenmögliche, aber es geht mit Olivias Kräften immer weiter bergab. Seufzend schließt Anne die Tür und huscht wieder auf den Korridor hinaus. Die Lampe in ihrer Hand wirft flackernde Schatten. Sie zögert eine Sekunde lang und wagt sich dann doch die dunkle Freitreppe hinab bis zum Kaminzimmer, das am anderen Ende des unteren Korridors liegt. Ihr Herz klopft aufgeregt in der Brust, ihr Atem geht schneller. Es ist so dunkel und still in dem alten Schloß, die Dielen knarren und knacken so sonderbar unter ihren Füßen. Im Kaminzimmer flackert noch leise das verlöschende Feuer. Und plötzlich sieht Anne die Gestalt, die reglos im Großvaterstuhl vor dem Kamin sitzt. »Wer sind Sie?« fragt sie mit zitternden Lippen. Die Gestalt fährt herum und erhebt sich überrascht. Es ist ein großer, kräftiger Mann in Jägerkleidung. Schwermütige, ernste Augen blicken aus einem kantigen, energischen Gesicht, das von Sonne und Wind gegerbt ist. Ein kaum merkliches amüsiertes Lächeln fliegt bei Annes Anblick um die leidenschaftlichen Lippen. Die ernsten Augen wandern über den dünnen Morgenmantel, die nackten Füße in den Pantoffeln, die gelösten blonden Haare, die wie eine üppige Welle über Annes Schultern fallen. Schnell nimmt sie mit einer verlegenen Geste den Mantel über der Brust zusammen. »Sie fragen, wer ich bin? Ein Einbrecher gewiß nicht, liebes Kind!« sagt er mit dröhnender Stimme. Und da weiß sie endlich, wen sie vor sich hat.
»Verzeihen Sie bitte, Herr Baron«, murmelt sie mit blassen Lippen und möchte am liebsten schnell davon huschen. Aber der ernste Blick seiner Augen hält sie fest. »Bleiben Sie nur einen Augenblick lang da!« sagt er mit einer Stimme, die keinen Widerstand duldet. »Aber ich… Ich bin nicht richtig bekleidet«, stottert Anne schamrot hervor. »Seien Sie nicht so kindisch. Ihre Bekleidung interessiert mich nicht im geringsten. Nehmen Sie dort auf dem Sofa Platz, ich will mit Ihnen reden.« Gehorsam setzt sich das Mädchen und versucht, die nackten Füße und roten Pantoffeln unter dem langen Morgenmantel zu verstecken. Was würde nur Emily denken, wenn sie Anne jetzt sehen könnte, die sich im Nachtgewand einem fremden Mann zeigt! »Machen Sie nicht ein so tugendhaftes Gesicht! Ich denke, Sie sind Krankenschwester, da sollte Ihnen nichts Menschliches fremd sein!« sagt dieser Mann spöttisch in ihre Gedanken hinein. Seine Lippen verziehen sich zu einem unangenehmen Lächeln, das flackernde Kaminfeuer spiegelt sich in seinen Augen. »Das Menschliche ist mir auch nicht fremd, nur das Unmenschliche!« »Oho! Eine kleine, mutige Frau. Respekt, Schwester.« Baron Henry lacht überrascht auf. »Darf ich Ihnen ein Glas Wein anbieten?« Ohne auf eine Antwort zu warten, greift er nach der geschliffenen Karaffe auf dem Kaminsims und gießt ihr ein großes Glas mit schwerem, gelblichrotem Portwein voll. Um seinen Spott nicht wieder herauszufordern, trinkt Anne davon, süß und betäubend rinnt das Getränk durch ihre Kehle. Mit einemmal erscheint ihr die ganze Szene wie ein sonderbarer Traum, aus dem sie gleich erwachen wird, um wieder Emilys schrille Befehle und Anklagen zu hören und den säuerlichen Geruch nach Bohnerwachs und Seifenlauge des Pfarrhauses zu
riechen… In diesem Augenblick erhebt sich die riesige Dogge, die reglos vor den Füßen ihres Herrn gelegen hat, tappt mit trägen Schritten zu Anne hinüber und beginnt, an ihrer Hand zu schnuppern. Die Angst vor dem großen, gefährlichen Tier holt das Mädchen in die Gegenwart zurück. Starr läßt sie die Berührung der Hundenase, das leise Japsen und Schnuppern über sich ergehen. Vor den aufmerksamen Augen des Barons mag sie sich keine Blöße geben. Merkwürdig, daß sie vor ihm auf keinen Fall ängstlich oder feige erscheinen möchte… »Komm zurück, Asta!« befiehlt nach endlosen Sekunden der Herr schließlich seinem Hund. Asta trottet gehorsam zurück und nimmt seinen alten Platz wieder ein. »Sie gefallen mir, Schwester. Sie haben Mut. Eine verzärtelte, feige Person kann ich in meinem Haus nicht brauchen. Wie geht es übrigens meiner Frau?« »Täglich schlechter. Verzeihen Sie mir, Herr Baron, wenn ich ganz offen bin.« »Ja?« Henrys Blick wird um eine Spur freundlicher und zugänglicher. Aber Anne sieht ihn gar nicht an, sondern blickt krampfhaft ins Kaminfeuer, damit sie die Worte herausbringen kann, die nun einmal gesagt werden müssen. »Sie sollten in der nächsten Zeit auf Brunn bleiben und sich um Ihre Frau kümmern. Ich befürchte das Schlimmste!« »Wer sind Sie denn, um mir Vorschriften zu machen?« braust der sonderbare Mann auf. Mit einem Satz ist er aufgesprungen und geht ruhelos vor dem Kamin auf und ab. Jetzt erscheint er Anne noch hochgewachsener. Sein Gang ist geschmeidig wie der eines Raubtieres. All die Gerüchte und üblen Andeutungen, die sie über ihn gehört hat, fallen ihr wieder ein. Henry muß wahrhaft böse und verantwortungslos sein… Da spürt sie den Blick seiner Augen, die einen ernsten, melancholischen Ausdruck haben – aber gewiß keine Spur von Brutalität und Wildheit.
»Merken Sie sich eines, mein Kind! Ich kann es nicht leiden, wenn man mich belehren will! Der Herr im Haus bin glücklicherweise ich!« Plötzlich steht Henry neben ihr und beugt sich über sie, so daß sie den Portwein in seinem Atem spüren kann. Er muß viel getrunken haben. »Nun gut.« Endlich wendet der Mann sich ab, fahrig und zärtlich zugleich streicheln seine Hände das glänzende Fell der Dogge. »Ich will Ihnen etwas verraten, Schwester, was Ihre Neugier stillen wird. Nur glaube ich nicht, daß es Ihnen gefällt. Olivia ist mir ebenso gleichgültig wie ich ihr. Wir sind zu dieser Heirat gezwungen worden und haben nie einen Funken Liebe füreinander empfunden. Was nutzt es also, wenn ich neben ihrem Krankenbett oder meinetwegen Sterbebett hocke und Gefühle heuchle, die sie mir doch nicht glaubt.« »Wie können Sie nur so abscheulich reden? Die Baronin hat Sie einst geliebt.« »Tatsächlich? Sagt sie das? Liebes Kind, das muß schon sehr lange her sein, denn unser gemeinsames Leben war die Hölle. Wenn nicht unsere Tochter wäre, dann…« Er bricht plötzlich ab, als hätte er längst zuviel gesagt, fahrig greifen seine Hände nach der Karaffe und schenken aufs neue sein Glas voll. »Wir haben einander täglich unser sinnloses Leben vorgeworfen. Bis ich es vorzog, meistens außer Haus zu sein und durch die Wälder zu streifen, wo die Luft rein und frei ist, wo man noch atmen kann, wo nicht in jeder Ecke Haß und Zwietracht lauern. Und nun gehen Sie, Schwester, Sie brauchen Ihren Schlaf. Ich will Ihr gutgläubiges, naives Herz nicht länger mit meiner Bösartigkeit verwirren.« Henry lacht bitter auf. Dann kümmert er sich nicht mehr um Anne, sondern wendet sein dunkles, verschlossenes Gesicht dem Feuer zu. Das Mädchen erhebt sich lautlos und huscht hinaus, leise drückt es die Tür hinter sich zu. Es atmet hastig, tief verstört von all dem Ungeheuerlichen, das es gehört hat… Niemals
hätte sie sich in der umfriedeten Abgeschiedenheit des Pfarrhauses vorstellen können, daß es in der Welt so gemein und böse zugehen kann. Emilys ewiges Gezeter scheint ihr geradezu harmlos gegen die unmenschlichen und grausamen Worte des Barons, der sich nicht darum kümmert, daß seine Frau todkrank auf ihrem Lager liegt, der sich betrinkt und unflätige Reden führt. Anne zittert vor Empörung. All die graziöse Heiterkeit des Schlosses, die antiken, zierlichen Möbel und Kristallüster scheinen ihr plötzlich wie von grauer Asche bestäubt, als sie durch die Gänge zu ihrem Zimmer zurückhuscht. Was nutzt alle Schönheit, aller Reichtum, wenn in einem Haus, in einem Herzen keine Liebe wohnt! Ohne Zweifel, all das Böse, alle Zwielichtigkeit, die sie vom ersten Tag an auf Schloß Brunn gespürt hat, gehen von Baron Henry aus. Sie wird sich vor ihm in acht nehmen… Aufatmend gelangt Anne endlich in ihr behagliches Zimmer, in ihr schützendes Bett. Sekunden, bevor sie in wirre Träume, in einen unruhigen Schlaf hinübergleitet, sieht sie das Bild des Barons vor sich, wie er einsam und verloren durch die Wälder streift. Ein Unglückler, Verdammter. Da kann sie sich gar nicht mehr über ihn empören, ein heißes Mitleid quillt in ihr hoch, sie ahnt nicht, daß sie leise seinen Namen vor sich hinmurmelt. Henry. Seine Augen sind ernst und gut, ganz anders als seine bösen Worte.
*
Die Wälder rund um den See fangen an, sich bunt zu färben. Das Laub prangt in roten, braunen, gelben Farben. Im Schloßgarten blühen Astern und Dahlien, die Obstbäume biegen sich unter der Last der Früchte. In den Weinbergen sind
seit Tagen die Saisonarbeiter mit der Lese beschäftigt. Sie bringen Unruhe und Leben in das stille Schloß. Anne ist herzlich froh darüber. Für Augenblicke weicht ihre geheime Bedrückung, wenn sie das frohe Lachen und Singen der Leute hört, das den lieben langen Tag von dem flachen Hügel herüberschallt. Übrigens scheint es der kleinen Marie Elisabeth ähnlich zu gehen. Wann immer sie dem dumpfen Schulzimmer mit seinem Geruch nach Kreide und Staub und den strengen, unerbittlichen Augen der Gouvernante entfliehen kann, läuft sie mit wehenden Zöpfen in den Weinberg hinauf, wo sie wie ein Wirbelwind herumtobt und mit den Leuten scherzt, die das Mädchen herzlich gern haben. Wer könnte sich auch dem Zauber seiner runden, blühenden Wangen mit den Grübchen darin entziehen, den flinken, lustigen Augen, in denen stets die Sonne scheint… Marie Elisabeth selbst ist ja die Sonne auf Schloß Brunn, ein heiteres strahlendes Geschöpf. Nur zögernd geht Anne durch den Garten auf den Weinberg zu, ihre langen Röcke rascheln leise auf dem Kies. Sie reißt das Kind ungern aus seinen harmlosen Spielen, aber die Baronin hat nach ihrer Tochter verlangt. Man kann der Kranken keinen Wunsch abschlagen. Flüchtig schießt dem Mädchen ein Gedanke durch den Kopf, der seit Tagen immer wieder in ihr aufflackert, der ihr keine Ruhe mehr läßt. Irgend etwas ist sonderbar mit Olivias Krankheit. Selbst der Arzt scheint manchmal ratlos: Die furchtbaren Magenkrämpfe, die dunklen Flecken im Gesicht der Baronin, ihre zunehmende Schwäche. Aber sie wehrt sich entschieden gegen die Überführung in ein Spital, wo es doch bessere Behandlungsmöglichkeiten gäbe. Ab und zu erholt sie sich auch ein wenig, ihre Augen glänzen hoffnungsvoller, sie hat Appetit und ißt mit Genuß all die Leckerbissen, die ihr von der ganzen Familie gebracht werden, um dann in der folgenden Nacht um so heftiger von Krämpfen und Erbrechen geschüttelt
zu werden… Olivias Körper ist schon so zart und mager wie der eines Kindes. Ohne Mühe kann man sie vom Bett zum Sessel tragen. Kein Mensch weiß, wie lange der geschwächte Organismus noch der furchtbaren Krankheit standhalten wird… Anne verhält ihren Schritt, sie gelangt jetzt in einen verlassenen, einsamen Teil des Gartens, wo sie noch nie gewesen ist. Sie muß – ganz in Gedanken – vom rechten Weg abgekommen sein. Über ihr ragt plötzlich düster und dunkel die mittelalterliche Schloßruine auf, gewaltig blickt der runde, trutzige Turm ins Land. Die alten Schloßmauern umschließen ein weitläufiges, von Unkraut überwuchertes Geviert. Nur der Turm scheint noch ganz erhalten, sie schwere Holztür aber ist verriegelt. Schaudernd geht Anne weiter. Die blasse Herbstsonne scheint ihr plötzlich verdunkelt. Ein schmaler Pfad führt sie am Seeufer entlang, kleine Wellen schlagen gegen die Steine der Böschung, weit breitet sich die klare Wasserfläche. Der Weg führt direkt auf einen von Zypressen umhegten kleinen Garten zu. Das Mädchen öffnet die rostige Tür, die in den Angeln kreischt. Mit leisem Schrecken erkennt sie, daß sie auf einen Friedhof gelangt ist… Es ist der Familienfriedhof der Barone und Fürsten von Brunn. Alte, von Efeu überwucherte Gräber reihen sich aneinander. Die Schrift auf den Marmordenkmälern ist kaum noch zu erkennen. Mit einem Gefühl der Rührung liest Anne die Namen von Menschen, an die sich längst keiner mehr erinnert. Ein betender, steinerner Engel mit dem schlichten Namen »Elise« darauf und den Lebensdaten 1790-1813 erregt ihre besondere Aufmerksamkeit. Wie mag sie gewesen sein, die unbekannte Tote? Warum mußte sie so früh sterben? Fast hundert Jahre liegt die Fremde nun schon unter der Erde… Gleich daneben befindet sich ein schlichter Erdhügel mit einem windschiefen, halbverfaulten Holzkreuz, auf dem nichts
geschrieben steht, weder ein Name, noch ein Datum, Anne wundert sich im stillen darüber. Mitleidig zupft sie eine üppige Unkrautstaude aus der Erde. Im selben Augenblick legen sich lautlos zwei Hände um ihre Augen. Zwei kräftige Arme pressen ihr die Luft ab. Sie will um Hilfe rufen, bringt aber nur ein Krächzen heraus. Eine endlose Sekunde lang scheint ihr Herz stillzustehen… Dann hört man Percys heiseres Lachen. »Habe ich Ihnen einen Schreck eingejagt, kleine Krankenschwester? Wie blaß Sie geworden sind! Übrigens: Was tun Sie hier in diesem gottverlassenen Winkel? Sind Sie nicht ein wenig neugierig?« Verwirrt dreht sich Anne um und ordnet ihr Haar. Percy steht dicht vor ihr, sie sieht, wie seine Augen boshaft funkeln, wie rot und genußsüchtig seine Lippen sind. »Sie haben mich erschreckt, Herr Baron«, meint sie schließlich zaghaft. »Ach, wirklich? Ich dachte, Sie sind nicht ängstlich, Anne. Spazieren Sie nicht nachts in Schloß Brunn herum und haben heimliche Rendezvous’ mit meinem Bruder, noch dazu im Nachtgewand?« Anne wird glühend rot. Woher wußte er von ihrem Treffen mit Henry? »Es war ein Zufall«, murmelt sie. »Ich wollte mir nur ein Buch aus der Bibliothek holen. Ich konnte nicht schlafen.« »Nein? Bedauerlich.« Percy lacht spöttisch auf, dann glättet sich seine Miene plötzlich und nimmt den freundlichen, charmanten Ausdruck an, den er meistens zur Schau trägt. Er droht schelmisch mit dem Finger. Seine glühenden Augen hängen bewundernd an dem Mädchen. »Sie sind schön, Anne, wissen Sie das eigentlich? Wenn Sie nur nicht diese schrecklichen dunklen Kleider tragen würden, in denen Sie so brav wirken. Dabei schlägt ein feuriges, leidenschaftliches Herz unter Ihrem Mieder, hab’ ich recht?« Er beugt sich lachend dicht über sie, sie spürt seinen warmen
Atem auf ihrem Gesicht, sieht die verlangenden Lippen, die ihr ganz nahe sind. Ein sonderbar süßes, schwaches Gefühl breitet sich in ihrem Körper aus, obwohl sie eigentlich Furcht vor Percy empfindet. »Ich frage mich, wer in jenem Grab liegt«, versucht sie schnell abzulenken. Sie weist zu dem schlichten Holzkreuz hinüber. Sofort tritt in die Augen das Barons ein wachsamer, verschlagener Ausdruck. »Kennen Sie die Tragödie des Hauses Brunn noch nicht?« fragt er und läßt sich auf einer verwitterten Steinbank nieder, als befände er sich auf einem Empfang – und nicht auf dem Friedhof seiner Ahnen. Man vermißt nur das Champagnerglas in seiner Hand. »Dort ruht Friedrich Baron von Brunn, der Gattenmörder. Er vergiftete seine dreiundzwanzigjährige Frau Elise, um sich in den Besitz ihres Vermögens zu setzen und um seine Maitresse heiraten zu können… Als man seinem Verbrechen auf die Schliche kam, nahm er sich im See selbst das Leben. Die Familie konnte die grauenvollen Vorgänge vertuschen und Friedrich wurde in geweihter Erde bestattet. Aber ein Marmordenkmal mochte man dem Mörder nicht errichten – und keine Inschrift sollte an seinen Namen erinnern. Dennoch weiß hier jeder um die Geschehnisse… Und keiner von Friedrichs Nachfahren ist auf Schloß Brunn jemals wieder so recht glücklich geworden. Sehen Sie nur meinen Bruder Henry an, wie dringend er schon auf das Hinscheiden Olivias wartet.« »Wie können Sie nur so etwas sagen!« ruft Anne empört aus. »Dabei ist der Baron jetzt täglich bei seiner Frau!« »Ja, er will den glücklichen Augenblick ihres Todes nicht verpassen«, erwidert Percy zynisch. »Wußten Sie, Schwester, daß Olivias riesiges Vermögen ihm erst nach ihrem Tod zur Verfügung steht? Noch ist Henry arm wie eine Kirchenmaus.«
»Sie… sollten nicht so schlecht von Ihrem Bruder sprechen«, sagt Anne zögernd. »Nein. Ich bin aber nicht der einzige, der Henry alles Mögliche zutraut. Machen Sie nicht ein so ungläubiges Gesicht, liebe Schwester. Die Welt ist schlecht.« »Die Welt nicht«, erwidert Anne still. »Aber manche Menschen. Und nun bitte ich um Verzeihung, Herr Baron, ich muß gehen und Marie Elisabeth im Weinberg suchen.« Sie nickt ihm kurz zu und spürt noch lange seinen verzehrenden Blick in ihrem Rücken. Hört sie nicht gar sein zynisches und amüsiertes Lachen hinter ihr herschallen? Er macht sich bestimmt über sie lustig, über das kleine unerfahrene Mädchen aus dem Pfarrhaus, das ein bißchen zu neugierig auf die Geheimnisse anderer Menschen ist… Plötzlich haßt sie Percy für all das Üble, was er über seinen Bruder gesagt hat. Haßt ihn noch mehr, weil seine Worte so glaubwürdig scheinen. Jeder redet schlecht über Henry. Mit großen, energischen Schritten klettert sie den Weinberg empor. Schon von weitem hört sie das Singen und Lachen der Tagelöhner und darüber Marie Elisabeths hohes, aufgeregtes Stimmchen. »Anne, Anne!« ruft das Kind begeistert und läuft ihr entgegen, um sich vergnügt in ihre Arme zu werfen. »Wie siehst du denn aus, Liebes? Dein Kleidchen ist ja ganz verdrückt und staubig!« »Ist das schlimm? Ich habe bei der Weinlese geholfen. Die Trauben schmecken so süß und gut. Hier, probier mal!« Sie steckt Anne mit ihren verschmierten Händchen eine Traube zwischen die Zähne. Süßer Saft spritzt aus der prallen Frucht. »Komm mit mir, Marie Elisabeth, wir müssen gehen. Deine Mama möchte dich sehen.« »Ja, sofort.« Die Zehnjährige wird plötzlich ernst, die heiteren Kinderaugen verdunkeln sich, sie kann einen Seufzer
nicht unterdrücken. Neuerdings fürchtet sie sich ein wenig vor der Mutter, die sich so verändert hat und kaum mehr wiederzuerkennen ist. Das eingefallene, blasse Gesicht, die übergroßen, glänzenden Augen haben mit der lieben, schönen Mama von früher nicht mehr viel zu tun. Marie Elisabeth klammert sich ängstlich an Annes warme, beruhigende Hand. Schweigend stapft sie neben ihr her auf das Schloß zu. »Du mußt immer bei mir bleiben, Anne!« sagt die Kleine plötzlich mit Leidenschaft. »Immer, immer, hörst du? Ohne dich habe ich so viel Angst.« »Ich verlasse dich nicht!« Anne schließt den rundlichen Kinderkörper ganz fest in ihre Arme. »Ich hab’ dich so lieb, mein Kleines.« »Wie lieb?« Die braunen Augen schauen schon wieder spitzbübisch aus dem blühenden Gesicht. »Am allerliebsten!« »Dann ist es gut«, seufzt Marie Elisabeth zufrieden auf.
*
Jeden Mittwochnachmittag fährt der brummige Kutscher Anne in den benachbarten Kurort, damit sie die Post abholen und einige Dinge für die Baronin einkaufen kann. Sie freut sich die ganze Woche auf die paar Stunden der Freiheit, auf das bunte Leben des kleinen Ortes, auf eine Tasse Tee im Cafe, wohin sich auch eine junge Dame ohne Begleitung wagen kann. Sie genießt die Fahrt in dem leichten Landauer, lehnt sich im Sitz zurück und blickt mit träumerischen Augen in den herbstlichen Wald. Manchmal läuft ihnen ein aufgeschrecktes Reh oder ein Hase über den Weg und blickt sich verdutzt nach ihnen um. Die beiden Kutschpferde traben gelassen dahin, Jean, der
Kutscher, mümmelt nur an seiner Pfeife und spricht kein Wort. Tiefer Frieden zieht in Anne ein. Im Ort erledigt sie rasch ein paar Gänge, holt Olivias Medizin von der Apotheke, außerdem eine neue Flasche ihres herbduftenden Orangenwassers und eine Dose mit feiner Gesichtscreme. »Wie geht es denn der Frau Baronin?« fragt der dürre Apotheker neugierig, während er die Waren zusammenpackt und Anne die Tüte überreicht. »Danke, schon viel besser«, lügt das Mädchen geschickt. Man muß jedes Gerede vermeiden. Aber sie sieht dem Mann an, daß er ihr doch nicht glaubt. Der Klatsch im Ort sagt etwas ganz anderes… Mit hocherhobenem Kopf geht Anne hinaus. Vor der spiegelnden Schaufensterscheibe rückt sie ein wenig ihren hübschen kleinen Hut zurecht. Der nächste Weg führt sie in die Konditorei, wo sie Marie Elisabeths Lieblingsnascherei ersteht. »Bitte sehr, Fräulein«, sagt die dicke Konditorsfrau freundlich und reicht die riesige Bonbonniere mit Mozartkugeln über die Theke. »Die werden der kleinen Baronesse aber schmecken. Ach… wie geht es denn der Baronin? Man sagt, daß sie auf dem Sterbebett liegen soll?« »Unsinn. Es geht ihr besser. Was die Leute so alles reden.« »Manchmal ist doch ein Körnchen Wahrheit darin«, lächelt die Konditorsfrau und streicht sich eine semmelblonde Strähne aus dem Gesicht zurück. »Heiß heute, nicht wahr? Viel zu schwül für die Jahreszeit. Hier, Fräulein, kosten Sie mal den Pflaumenkuchen!« Sie schiebt Anne ein großes Stück auf einem Tellerchen zu, und das Mädchen ißt gehorsam. Es ist die einzige Kundin in dem Laden. Wenn der Herbst beginnt, reisen die Kurgäste ab, und es wird überall still. »Der Baron soll sich ja kaum noch um seine Frau kümmern«, wispert die dicke Frau über den Ladentisch, während Anne
verzweifelt schluckt, damit sie aufbrechen und den Fragen entgehen kann. »Er hat sie nie recht leiden können, eigentlich unverständlich, die arme, gnädige Frau ist doch so hübsch und so freigebig. An allem ist nur das schlechte Weib schuld, diese englische Gouvernante. Jeder weiß, daß sich der Baron mit ihr eingelassen hat.« »Danke für den Kuchen«, sagt Anne laut und energisch, klirrend fällt die kleine Gabel auf den Teller. Nur fort von hier, fort aus dieser üblen Gerüchteküche… Der Stadtbesuch will ihr diesmal gar keine Freude machen. Auch als sie endlich in dem stillen Cafe sitzt, wo man auf den herbstlichen See blickt und wo keiner sie mit zudringlichen Fragen und Vermutungen belästigt, kreisen ihre Gedanken unaufhörlich um das Gehörte. Vera und Henry, kaum zu glauben… Der Gedanke tut ihr merkwürdig weh. Wie konnte der wilde, stolze Henry auf diese Frau hereinfallen, auf ihre grünen Katzenaugen und die hennaroten, gefärbten Haare? Anne merkt gar nicht, daß es sich bei ihrer Entrüstung eigentlich um Eifersucht handelt. So manchen Abend hat sie wider Willen von dem sonderbaren Baron geträumt, von seinem Mund, seinen ernsten Augen. Von der ganzen ungestümen, vereinsamten wilden Person. Und nun diese… »Er ist eben einfach nichts wert«, sagt sie unbedacht laut und wird rot, als sie die erstaunten Augen des Servierfräuleins bemerkt. Hastig rührt das Mädchen seinen Tee und greift nach dem Brief des Bruders, der heute auf der Post für sie gelegen hat. Wilhelm schreibt, ganz gegen seine sonstige Art, überschwenglich und gefühlvoll: »Liebe Anne! Ich schreibe diesen Brief an dich heut mit besonderer Freude. Du weißt, wie leer unser Haus war, als du fortgegangen bist. Ich zürnte lange Zeit mit Emily, aber ich muß sagen, daß sie sich viel Mühe gab, mich wieder zu versöhnen. Sie läßt dich
grüßen. Und nun kommt die große Neuigkeit: Der Himmel hat uns doch noch unseren Herzenswunsch erfüllt. Nach zehnjähriger Ehe erwartet Emily nun ein Baby. Ist das nicht wundervoll? Sie ist ganz verändert, viel fraulicher und weicher. Ich habe meine tiefe Zuneigung zu ihr wiedergefunden. Was sagst du zu den Neuigkeiten, Schwesterlein?« Anne läßt Wilhelms Brief sinken, die trüben Gedanken an Schloß Brunn schwinden, vor ihren inneren Augen entsteht das Bild des Pfarrhauses, der alten Heimat mit den weiten Feldern, den Seen, den schweren Wolken im Herbst. Heimweh verspürt sie nicht gerade, dazu hat Emil ihr zu sehr das Leben versauert. Aber sie fühlt eine tiefe Freude, daß das Leben manchmal so gut sein kann. Ein Kind für Wilhelm und seine Frau! Sie will ihnen bald einen lieben, langen Glückwunschbrief schreiben, der allen Groll der Vergangenheit begraben soll! Anne ahnt nicht, daß die sich überstürzenden Ereignisse ihr dafür keine Zeit lassen werden. Sie bestellt eine zweite Tasse Tee und ein Schinkenbrot dazu, weil ihr noch etwas Zeit bleibt, bis Jean sie wieder mit dem Zweispänner auf dem Marktplatz erwartet und nach Schloß Brunn zurückfährt. Gerade, als die Serviererin das leckere Brot vor sie hinstellt, treten zwei Herren ein und lassen sich in der Nische neben Annes Tisch nieder. Unwillkürlich lauscht sie auf die Worte der beiden, die sich gemütlich im Wiener Dialekt darüber unterhalten, daß sie morgen früh in ihre Heimat zurückkehren wollen. Das Gespräch geht so vom Hundertsten ins Tausendste, man redet hin und her, Anne rührt derweil in ihrer Teetasse und findet das Leben gar nicht übel. Nach Wien möchte sie auch einmal reisen, sie kennt ja so wenig von der Welt. Und dann fällt am Nebentisch ein Satz, bei dem das Mädchen aufhorcht.
»Da hat es neulich in meiner Praxis einen ganz sonderbaren Fall gegeben, Herr Geheimrat«, erzählt der eine der beiden Herren mit dem Gleichmut des altgedienten Arztes. »Eine junge Frau, die langsam aber sicher an Magenkrämpfen und Schwäche zugrunde ging. Na, ich vermutete schließlich einen Tumor, der nicht zu heilen war. Dabei hätte ich die verdächtigen Anzeichen doch bemerken müssen: die Flecken auf der Haut z. B. und die übermäßig glänzenden Augen und Haare. Man wollte die Arme so peu à peu vergiften.« »Arsen, nehme ich an?« fragt der andere Herr voller Gemütsruhe und sein Gegenüber nickt. Beide wundern sich sehr, als das nette junge Ding, das am Nebentisch gesessen hat, plötzlich wie von Furien gehetzt aufspringt und davonjagt. Nicht mal das appetitliche Schinkenbrot hat sie aufgegessen. In der nächsten halben Stunde weiß Anne in der Tat kaum, was sie tut. Mit zitternden Händen zahlt sie ihre bescheidene Zeche. Sie hetzt zu dem idyllischen Marktplatz hinüber, aber Jean ist weit und breit noch nicht zu sehen. Schließlich stöbert sie ihn in einer Schankstube auf, er folgt ihr brummend und murrend und sieht auch nicht recht ein, warum er die Pferde auf dem Heimweg so antreiben soll. »Ich muß mich um die Frau Baronin kümmern«, sagt Anne entschieden. »Es könnte ihr ja schlechter gehen.« »Papperlapapp«, brummt der Kutscher leise in seinen Bart. Aber er läßt die Peitsche doch heftiger auf die Pferderücken heruntersausen. Anne sieht und hört diesmal nichts von der Schönheit des herbstlichen Waldes. Monoton, wie auf einer gesprungenen Schallplatte, wiederholt sich in ihrem Herzen das Wort, das schreckliche Wort »Arsen«. Olivias Krankheit heißt Gift. Man will die Baronin so nach und nach zu Tode bringen, Anne weiß es plötzlich mit tödlicher Sicherheit. Hat sie es nicht längst geahnt, hat sie nicht längst den Hauch des
Verbrechens über Schloß Brunn gewittert? Nur hat sie stets gezögert, ihren Verdacht zu Ende zu denken… Die Nacht sinkt schon herein, als sie die Kiesauffahrt des Schlosses hinaufjagen, das verschwiegen und geheimnisvoll im Dämmerlicht daliegt. Anne verliert keine Zeit. Sie springt vom Landauer herunter und eilt mit fliegenden Kleidern die Freitreppe empor. Die Tür zu Olivias Zimmer steht weit offen, aus dem Raum selbst hört man leises Murmeln und das Schluchzen der Bedienerin Marthe. Das Mädchen fühlt sich wie in einem Alptraum, mechanisch setzt sie einen Schritt vor den anderen und wundert sich, daß ihre Füße sie überhaupt noch tragen. An der Tür wollen ihre Kräfte versagen, sie muß sich an die Wand anlehnen, um den Anblick zu ertragen, der sich hier bietet. Im Zimmer brennen flackernde Kerzen rund um Olivias Bett. Die Decke ist übersät mit Herbstblumen, die ihren mürben Friedhofsgeruch verströmen. Die Baronin liegt mit wachsbleichen Wangen da, man hat ihr die Hände über der Brust gefaltet, die keinen Atemzug mehr tun wird. Olivia ist tot. Henry, Percy, die Gouvernante Vera und Marthe stehen um das Bett. Nur Marthe schluchzt, die anderen zeigen regungslose, versteinerte Mienen, in denen es sonderbar flackert. »Ich komme zu spät. Sie ist tot«, sagt Anne in die Stille hinein. Sie erkennt ihre eigene Stimme kaum wieder. »Ja, zu spät«, erwidert Henry. Tiefe Reue schwingt in seinen Worten mit. Marie Elisabeth klammert sich angstvoll an Anne, die das Kind mit ein paar geflüsterten Worten zu beruhigen sucht. Dabei ist sie selbst randvoll mit Furcht und Sorge. Warum, warum nur schreit sie nicht in alle Welt hinaus, daß man die arme Olivia umgebracht hat, daß der Mörder hier unter der Trauergemeinde steht und fromme Gebete für die Seelenruhe
der Toten spricht wie alle anderen, die schuldlos sind. Der Mörder. Einer von ihnen muß es sein … Anne steckt ihren schwarzen Hut fester, der kühle Wind weht vom See herüber, Regenschauer gehen auf den kleinen Friedhof derer von Brunn nieder. Merkwürdig, daß sie gerade in diesem Augenblick an die Worte jener alten Zigeunerin denken muß, die ihr »einen langen, dunklen, gefahrvollen Weg« prophezeit hat. Sie wird ihn gehen bis zum Schluß und tun, was sie tun muß. Anne weiß es genau. Sie läuft nicht vor dem Schicksal fort. Dennoch pocht ihr gequältes Herz gegen die Rippen… Kaum vernimmt sie die Worte des Segens, die jetzt der Priester über dem frischen Erdhügel spricht. Sie spürt nur Marie Elisabeths Zittern und preßt sie enger an sich. Als sie aufschaut, fühlt sie den fragenden Blick des Baron auf ihrem Gesicht ruhen. Henry steht ein wenig abseits von den übrigen Trauergästen und hält seinen Zylinder in unruhigen Händen. Seinem starren Gesicht merkt man keine Regung an, aber scharfe Linien kerben sich neuerdings um seinen harten Mund. Durch Olivias Tod ist er ein schwerreicher Mann geworden, unumschränkter Herrscher über Schloß Brunn. Schon lange träumt er von Modernisierungen und großangelegten Änderungen. Olivia hat ihn niemals gewähren lassen und stets darauf hingewiesen, daß nur ihr Geld ihm den Sitz der Väter erhalten hat… Allein dafür hat er sie gehaßt. Armes Ding. Und nun ist sie tot. Warum haben sie einander nur so sehr das Leben verdorben? Er kann es hier, an ihrem Grab, nicht mehr begreifen und verflucht die vergeblichen, verdorbenen Jahre. Hätte er doch ein Mädchen wir Anne getroffen! Wieder wandert sein Blick zu ihr hinüber. Sie ist so warmherzig und unschuldig, dazu schön wie der lichte Morgen. Man muß sie lieben. Da bemerkt er, daß ihr Gesicht blutrot anläuft vor Verlegenheit, und er blickt schnell beiseite.
Nur langsam nimmt Annes Gesicht wieder eine normale Farbe an. Sie schämt sich schrecklich. Wie kann der Baron so geschmacklos sein, bei der Beerdigung seiner Frau solche Blicke zu versenden? Gerade er, der das größte Interesse an Olivias Tod besaß. Er, der sie vielleicht vergiftet hat… Eigentlich kommt niemand anderes für den Mord in Frage. Trotzdem bäumt sich alles in Anne gegen diesen schrecklichen Gedanken auf. Henry, der einsame, unverstandene Fremde, der durch die Wälder streift… Wie schmal sein Gesicht geworden ist, wie straff und schlank seine Gestalt. Alles, was an seinem Bruder Percy weich und schwach erscheint, ist bei ihm gespannte Kraft. Du Lieber… muß Anne plötzlich denken und erschrickt zu Tode darüber. Schnell wendet sie ihre Augen ab und läßt sie ziellos über die Gruppe der Gäste streifen. Percy steht dicht neben der Gouvernante Vera, die selbst in dunklen Kleidern noch aufreizend und verführerisch wirkt. Ihr rotes Haar weht wie eine Flamme unter dem großen Hut hervor. Ihre Miene wirkt kalt und ungerührt, dennoch stützt sie sich leicht auf Percys Arm, als hätte sie irgendeinen Beistand nötig. Der Mann neben ihr wirft ihr ungeniert feurige, ja gierige Blicke zu, die Anne plötzlich anekeln. Schamlos, diese beiden! Im selben Augenblick spricht der Pfarrer den letzten Segen, die Trauergemeinde zerstreute sich langsam, um im Schloß eine Mahlzeit einzunehmen. Anne schickt das Kind mit der Bedienerin Marthe vor und versucht, den alten Arzt abzupassen, der noch bei dem frischen Grabhügel verweilt. »Sie war noch so jung – und ich konnte ihr nicht helfen. Dergleichen ist für einen Arzt immer schrecklich, selbst wenn er so viele Jahre auf dem Buckel hat wie ich«, murmelt er dem Mädchen zu. »Herr Doktor, ich muß Ihnen etwas sagen, etwas Schreckliches!«
»Was gibt es denn, mein Kind?« Der weißhaarige Mann blickt auf, gütige Augen mustern Anne und erforschen ihr Gesicht. »Ich glaube, daß die Baronin vergiftet worden ist.« »Was reden Sie da?« Seine Hände packen sie fest und schmerzhaft bei den Oberarmen. »Ja, alles paßt zusammen, die sonderbaren Magenkrämpfe, die Flecken im Gesicht.« »Und wen halten Sie für den Mörder?« kommt die spöttische Frage. »Sie meinen gewiß, daß es nur der Baron sein kann, der ja alles erbt. Ich will Ihnen mal was sagen, mein Kind: behalten Sie ihre Ansicht lieber für sich, sonst könnte es Ihnen schlecht ergehen. Sie haben wohl zuviel Phantasie und möchten gern mal etwas Aufregendes erleben. Merken Sie sich, das ich etwas mehr ärztliche Erfahrung besitze und den Totenschein mit bestem Gewissen unterzeichnet habe. Die Baronin ist an einem lange unerkannten Tumor verschieden. Und nun belästigen Sie mich nicht länger!« Mit sichtlicher Empörung stapfte der Arzt davon und läßt Anne allein am Grab zurück. Der Wind pfeift jetzt kälter über den verlassenen Ort, dicke Regenwolken ballen sich am Himmel zusammen. Von den Kränzen steigt ein mürber, trockener Herbstgeruch auf. Dem Mädchen schaudert es, schnell läuft es los, aber auf dem Weg zum Schloß bricht eine solche Sturzflut vom Himmel los, daß es erschrocken im Bootshaus Deckung sucht. In dem alten Holzschuppen ist es dämmerig, leise schwappt das Wasser gegen die Pfähle, die Ruderboote tanzen auf und ab. Es riecht nach Feuchtigkeit und Moder. Anne atmet schwer, sie beobachtet den Regen, der in langen Schnüren in den aufgewühlten See klatscht. »Ein richtiges Friedhofswetter, nicht wahr?« sagt eine sarkastische Stimme hinter ihr. Das Mädchen fährt erschrocken
herum. Henry steht ganz dicht bei ihr, er muß lautlos herangekommen sein. Ein sonderbares Flämmchen tanzt in seinen grauen Augen. »Warum schauen Sie so erschrocken wie ein Hase? Ich tue Ihnen nichts!« Er lächelt unerwartet, was sein kantiges Gesicht wie ein Sonnenstrahl erhellt. »Ich hatte Sie gar nicht bemerkt«, murmelt das Mädchen scheu. Fürchtet sie sich eigentlich vor ihm, der ein Mörder sein könnte? Sie weiß es selbst nicht zu sagen. Sie muß ihn immer ansehen, seine zerrissenen Züge deuten… »Ich habe dort im Boot gesessen«, erklärt er ihr ruhig. »Ein guter Platz zum Nachdenken. Kommen Sie, wir wollen dort den Regen abwarten.« Er hilft ihr mit fester Hand auf die schwankenden Planken und auf die schmale Bank, wo sie dicht beieinander hocken. So nah sind sie sich noch nie gewesen, und Anne fühlt erschüttert das Entzücken, das ihr diese Nähe bereitet. Scheu lächelt sie ihn an. »Was denken Sie eigentlich von mir?« fragt Henry unerwartet. »Ich… weiß nicht. Ich kenne Sie kaum, Herr Baron!« »Nun, die Gerüchte über mich haben Sie bestimmt schon gehört. Lassen wir dieses unerfreuliche Thema! Reden wir lieber über Sie, damit uns das Herz ein wenig wärmer wird an diesem schrecklichen, traurigen Tag. Ich möchte, daß Sie auf Schloß Brunn bleiben und sich um Marie Elisabeth kümmern. Das Kind liebt Sie – und ich habe Vertrauen zu Ihnen. Vera ist zwar eine gute Lehrerin, aber ein etwas kalter Mensch.« »So? Ich dachte, Sie hätten mit ihr die Ehe gebrochen?« Es fährt Anne gegen ihren Willen heraus. Am liebsten möchte sie die Worte in ihren Mund zurückzaubern, aber das geht leider nicht. Henry lacht kurz und böse auf. »So, das wissen Sie also auch schon. Respekt! Und jetzt wollen Sie von mir hören, daß es nicht stimmt, nicht wahr? Den Gefallen kann ich Ihnen nicht tun. Vera ist einmal meine
Geliebte gewesen, für kurze Zeit. Ich war ja so ausgehungert nach ein wenig Liebe und Zärtlichkeit, die mir Olivia immer öfter versagte…« »Bitte, sprechen Sie nicht weiter…«, flüstert Anne schamrot. Wie kann er so offen über diese intimen Dinge reden! »Sei nicht so zimperlich!« fährt er sie plötzlich grob und böse an. »Als wüßtest du nicht, wie Mann und Frau einander liebhaben. Du bist kein Kind mehr, wetten?« Jäh und unbeherrscht reißt er sie in seine Arme und küßt sie so erstickend, daß Anne meint, der Boden versänke unter ihr. Endlich kann sie sich freimachen, ihr Mund brennt von seinen schamlosen Küssen. Sie möchte fortlaufen, aber die Beine wollen sie nicht tragen. Schwach und kraftlos lehnt sie in der Bootsecke. »Es tut mir leid«, sagt der Baron ruhig. In seinen Augen, ist das schwelende Feuer verloschen. »Bitte, verzeihen Sie mir. Ein verzweifelter Mann kann wie ein reißendes Tier sein, vielleicht können Sie das begreifen, liebe Anne!« »Sind Sie denn verzweifelt?« »Vielleicht ein wenig?« Er lacht kurz und bitter auf. Da tut sie etwas, worüber sie selbst sich am meisten verwundert. Mit einer raschen, zarten Geste streicht sie über seine Wange. Dann zieht sie erschrocken ihre Hand zurück. »Ich muß jetzt gehen«, stottert sie rasch, mit hochroten Wangen. Sie blickt den schweigsamen Mann nicht an dabei. Sie rafft hastig ihre langen Röcke zusammen und läuft rasch davon, in den strömenden Regen hinaus, den sie gar nicht wahrnimmt. Ihr Herz klopft einen aufgeregten Takt. Wie kann sie Henry jemals wieder unter die Augen treten, nach allem, was heute im Bootshaus passiert ist? Aber wie entsetzlich, wenn sie ihn niemals wiedersehen dürfte! Wie stark und gut seine Hände sind, wie süß und wild seine verbotenen Küsse! Anne kennt sich selbst nicht mehr wieder. Er mag ein Mörder
sein, ein ehrloser, auf ewig verdammter Mensch. Aber sie liebt ihn. Oh, Gott, wie sehr sie ihn liebt. Als sie in der großen Halle des Schlosses eintrifft, sind ihre schwarzen Kleider schwer vor Nässe. Anne hat keine Ahnung, daß ihre schönen Augen strahlen, daß ihr weicher Mund lächelt daß ihr ganzes Gesicht von ihren erwachten Gefühlen spricht. Aber die Gouvernante Vera hat scharfe Augen. Sie steht wie aus dem Boden gewachsen da und fragt unfreundlich: »Wo kommen Sie eigentlich her, Schwester? Man hat Sie an der Tafel vermißt. Schließlich wird es auch Zeit für Sie Ihre Sachen zusammenzupacken. Sie werden sich gewiß eine andere Stellung suchen, nun, da Ihre Patientin unter der Erde liegt.« »Nein, der Baron hat mich gebeten, hierzubleiben und mich um Marie Elisabeth zu kümmern.« »Ach… Davon weiß ich ja gar nichts.« »Er hat es mir eben erst angeboten. Ich traf ihn zufällig im Bootshaus, wo wir Schutz vor dem Regen gesucht haben. Verzeihen Sie mir, Vera, ich muß meine Kleidung wechseln.« Anne geht traumverloren die große Treppe hinauf und bemerkt nicht, daß Vera ihr einen kalten, haßerfüllten Blick nachsendet.
*
Seit Wochen hat man den Baron nicht mehr auf Schloß Brunn gesehen. Bei Nacht und Nebel ist er abgereist, mit unbekanntem Ziel. Keiner weiß, wo er sich aufhält, ob er als einsamer Jäger durch die dichten, dunklen Tannenwälder schweift – oder im turbulenten Wien seinen Lastern frönt, wie man sich hinter vorgehaltener Hand erzählt… Jetzt kann er sich schließlich jeden erdenklichen Luxus, jegliche
Ausschweifung erlauben, da er Olivias Bankkonto, ihre Ländereien, ihre Schmuckschatulle geerbt hat. Gerüchte gehen heimlich um von dem gewaltigen Reichtum, der alle Erwartungen noch übertreffen soll. Olivia hat sich ausgeschwiegen über die Größe ihres Vermögens. Keiner hat geahnt, daß ihr Schmuck einer Kaiserin Ehre machen würde. Anne tut so, ais könnte sie das Getuschel der Dienstboten nicht hören, als sei sie blind und taub dafür. Dennoch gelangen die vergifteten Worte in ihr Ohr und beginnen ihr zerstörerisches Werk. Was soll sie von Henry denken, den sie heimlich liebt – der ihr dennoch fremd, zwielichtig und unbegreiflich bleibt… Ein Blick seiner Augen könnte vielleicht ihre Zweifel zerstreuen, aber er ist nicht da. Und draußen auf dem Friedhof liegt eine arme Tote unter kaum verwelkten Kränzen. Ihr frischer Grabhügel ist Anne eine ständige Mahnung. Sie darf den Geliebten nicht schützen, sondern muß die Wahrheit herausfinden. Es läßt ihr keine Ruhe mehr. Als Pflegerin Olivias obliegt es ihr, Ordnung im Sterbezimmer zu schaffen. Das Mädchen schaudert, als sie den verdunkelten Raum betritt, in dem noch die dumpfe Süße der Herbstblumen hängt, die das Todeslager geschmückt haben. Schnell reißt Anne die Gardinen auf und läßt frische Luft durch die Fenster hereinströmen. Aber der dunkle Raum erhellt sich nur ein wenig, kein Sonnenstrahl dringt durch den trüben, trostlos schweren Novemberhimmel. Anne beginnt, den Kleiderschrank der Toten auszuräumen und die kostbaren Gewänder zwischen Seidenpapier und Mottenkugeln in eine Truhe zu packen. Bewundernd fahren ihre Hände über die schönen dünnen Stoffe, über die aufgestickten Perlen und die gelbliche Brüsseler Spitze. Sie hält sich ein goldgesäumtes, leuchtend rotes Gewand vor dem Spiegel an und träumt eine Sekunde
lang davon, es wäre das ihre. Wunderbar paßt die Seide zu ihren honigblonden Haaren und den frischen Tönen ihrer Haut. Schön, wunderschön könnte Anne aussehen, wenn sie ein Kleid wie dieses besäße und nicht nur die verhaßten dunklen und kratzigen Röcke im Stile Emilys. Sie stößt einen halb sehnsüchtigen, halb schamvollen Seufzer aus, weil sie sich im Zimmer einer Toten von solcher Eitelkeit leiten läßt. Aber sie ist auch nur eine Frau. Mit hastigen, verstohlenen Bewegungen steift sie das Gewand über und löst die Haare, die glänzend und reich über ihren Rücken fluten. Sie hält den Atem an bei ihrem eigenen Anblick. Mit heißer, vergeblicher Sehnsucht wünscht sie, daß Henry sie so sehen könnte, die zarte, weiße Haut ihrer nackten Schultern, die gertenschmale Taille. Mit weitausholender Bewegung legt sie sich eine Spitzenmantilla um. Dabei stößt sie an den Toilettentisch, auf dem die Medizinfläschchen leise gegeneinander klirren. Die Medizinflaschen. Gebannt bleibt ihr Blick an dieser Kompanie von Dragees und Tropfen und Salben hängen. Vor ihrem Herzen steht groß und unausweichlich mit schwarzen Lettern das Wort »Gift« geschrieben. Schnell schraubt sie einige Deckel und Verschlüsse ab. Bitterer Arzneigeruch strömt ihr entgegen. Gleichzeitig steigt eine Erinnerung in Anne auf. Hat sie Baron Henry nicht einmal dabei beobachtet, wie er der schwerkranken Olivia einen Löffel mit Tropfen einflößte? Nie wird sie den Ausdruck von Abscheu und Widerwillen in seinem Gesicht vergessen, diese lieblosen Augen, die groben Hände, die nur eine äußerst unbequeme Pflicht erfüllten. Und dazu die sarkastischen, boshaften Worte der Kranken: »Am liebsten würdest du mich auf der Stelle vergiften, nicht wahr, Henry? Wie gern möchtest du mich los sein! Aber diesen Gefallen tue ich dir nicht.« Wie leicht hätte der Baron das tödliche Gift in die Fläschchen praktizieren können, um
dann wochenlang in den Wäldern unterzutauchen. Die tägliche tödliche Dosis war Olivia dennoch gewiß. Entsetzt betrachtet Anne eine große Flasche mit einer ekelhaft grünen milchigen Flüssigkeit. Im gleichen Augenblick meint sie ein Geräusch hinter dem chinesischen Lackparavent zu hören. Aber sie beruhigt sich selbst. Gespenster gibt es nun einmal nicht, auch nicht hier in diesem Raum, der so viele Qualen, so viel Böses gekannt hat. Sie will hinter den Wandschirm sehen. Und da bleibt ihr nun doch das Herz beinahe stehen. Unter dem Schirm sehen die Spitzen zweier eleganter schwarzer Herrenschuhe hervor, die den allerbesten Schuster verraten. Anne ringt nach Luft. »Kommen Sie hinter dem Paravent hervor«, kann sie schließlich stammeln, »oder ich rufe die Polizei.« »Das würde ich nicht tun, mein Kleine!« Der Schirm wird zur Seite geschoben, und Percy tritt hervor, ein boshaftes Lächeln liegt um seinen weichlichen Mund. Er trägt eine rotsamtene Hausjoppe, die ihm ein sonderbares, theatralisches Air gibt. Seine dunklen Locken stehen wirr um das totenbleiche Gesicht. »Was tun Sie denn hier, Herr Baron?« stottert Anne. »Das könnte ich auch Sie fragen. Was mich betrifft – ich habe mich königlich amüsiert. Selten sieht man ein so schönes Mädchen wie Sie, liebste Anne!« Er steht dicht vor ihr, sein Atem geht schwer. Anne spürt den warmen Hauch auf ihrem bloßen Ausschnitt, den sie mit den Händen zu verdecken sucht. Percys Lächeln, seine begierigen Augen scheinen ihr plötzlich abstoßend. Kaum zu begreifen, daß sie ihn einmal anziehend gefunden hat… »Ich mache mir nämlich einen Spaß daraus, mich in heimlichen Winkeln zu verstecken und dann die Leute zu beobachten«, fährt der Baron mit gespenstischer Munterkeit fort. »Man sieht dabei die erstaunlichsten Dinge und erkennt
die Menschen endlich so, wie sie wirklich sind. Sie zum Beispiel sind eine richtige Vollblutfrau. Dazu etwas neugierig. Warum schnuppern Sie nur an sämtlichen Medizinflaschen der armen Olivia?« Spielerisch greift er nach der großen Flasche mit grünlicher Flüssigkeit, die Anne noch immer in den Händen hält. Willenlos läßt sie es geschehen. »Merkwürdig, wie diese Medizin riecht«, stellt Percy mit gerunzelter Nase fest. »Geholfen hat sie auch nichts, im Gegenteil, obwohl mein Bruder Henry ihre Heilkraft geradezu beschwor. Hat er die Flasche doch selbst besorgt, irgendwo in Wien. Jedenfalls behauptet er das. Wer will das jetzt noch nachprüfen. Die Tote liegt begraben, und Henry ist ein reicher Mann. Alles wunschgemäß.« »Sie müssen Ihren Bruder sehr hassen«, erwidert Anne still. Percy wendet sich ihr erstaunt zu, als hätte er ihre Gegenwart längst vergessen. Seine Augen wirken ganz leer. »Hassen? Oh, nein. Wie könnte man jemanden hassen, der so vortrefflich und charaktervoll ist, wie schon unsere Eltern fanden? Er wurde mir stets als leuchtendes Vorbild vorgehalten. Meine eigene Mutter fand stets, ich sei ein Schwächling. Henry dagegen hat sie angebetet.« Aus Percys Stimme spricht nun der alte Haß, seine weichen, liebenswürdigen Züge verdunkeln sich jäh. Plötzlich bemerkt er Annes erschrockenen Blick. »Ich will Sie nicht mit Familienangelegenheiten belästigen, Schwester. Diese sonderbare Medizin nehme ich allerdings an mich, um sie gut zu verwahren. Noch etwas: seien Sie nicht gar zu neugierig, das ist schon manchem schlecht bekommen!« Lässig steckt er die grüne Flasche in eine Innentasche seiner weiten Samtjoppe. Dann schlendert er aus dem Zimmer hinaus, nicht ohne dem Mädchen noch eine schwungvolle Kußhand zuzuwerfen.
Rasch zieht Anne das rote Kleid aus, das ihr geradezu auf dem Körper brennt. Nun ist sie von Herzen froh, daß sie in ihre alten, schlichten Kleider schlüpfen kann, in ihr einfaches, klares gradliniges Selbst. Sie beneidet die arme Olivia nicht mehr um ihren Reichtum, um die paar kostbaren Fetzen. Kälte, Lieblosigkeit, ein dunkler Fluch wohnen in Schloß Brunn. Die Herzen der Bewohner sind vergiftet… Rasch erledigt das Mädchen seine Arbeit. Schließlich sind die persönlichen Habseligkeiten der Toten verstaut und weggepackt. Das Zimmer wirkt leer wie ein Hotelzimmer. Olivias Spuren in diesem Leben sind wie ausradiert. Um alle Schatten zu vergessen, huscht Anne in das Kinderzimmer hinüber, wo Marie Elisabeth auf dem Boden vor ihrer Puppenstube hockt und selbstvergessen spielt. Die braunen Zöpfe hängen unordentlich um das heiße, liebe Gesichtchen. »Spielst du mit mir, Anne?« fragte die Kleine strahlend. »Wenn ich darf?« »Natürlich! Du mußt die Mutter sein und ich das Kind!« Plötzlich legen sich zwei weiche Kinderarme um ihren Hals, ein kleiner Mund drückt ihr einen verrutschten Kuß auf die Wange. »Rate, was ich bin!« »Du bist der Sonnenschein persönlich, Marie Elisabeth. Ohne dich wäre es hier ganz dunkel.« Die quälenden Fragen lassen Anne nicht mehr los. Oft findet sie erst tief in der Nacht ein wenig Schlaf. Sie wirft sich hin und her auf ihrem zerwühlten Lager, ohne Ruhe zu finden. Oft träumt sie davon, daß Henry endlich wiederkommt, aber sie fürchtet sich auch vor seiner gewalttätigen Art. In einer der ersten Schneenächte liegt sie wieder schlaflos da. Die Turmuhr hat schon drei geschlagen, kein Laut ist im ganzen Haus zu hören. Vor den Fenstern rieselt der Schnee auf die
schweigende Welt. Ob sie etwas im Zimmer des Barons finden könnte, irgendeinen Anhaltspunkt für Henrys Unschuld – oder für sein Verbrechen? Wenn Anne nur wüßte, ob sie einen Mörder liebt! Wie von magischen Kräften bewegt, erhebt sie sich, kleidet sich warm an und huscht auf den dunklen Korridor hinaus. Die Lampe flackert unruhig in ihrer Hand. In allen Ecken scheinen dunkle Gestalten zu lauern. Lange Schatten malen sich auf die verputzten Wände. Die alten Dielen knacken, als gingen da geheimnisvolle, unsichtbare Füße. Anne fühlt, wie kalte Schauer ihren Rücken hinunterjagen, wie die Furcht ihr Herz abpreßt. Endlich ist sie am Ende des Flures angelangt und legt ihre kalte Hand auf die Klinke. Leise öffnet sich die Zimmertür des Barons. Der Raum liegt verlassen und friedlich da. Es muß an den kargen Möbeln, den Büchern und einfachen Gebrauchsgegenständen Hegen, daß Anne sich hier sofort wohl fühlt. Henry liebt offensichtlich keinen Luxus und Prunk, sondern eine Atmosphäre voller Luft und strenger Ordnung. Das Mädchen fühlt sich beinahe schlecht und treulos, als es nun beginnt, sorgsam Henrys Sachen zu durchstöbern. Aber sie muß es tun, kein Weg führt daran vorbei. Sie darf nicht Auge und Ohr verschließen, als hätte es auf Schloß Brunn nie einen sonderbaren Todesfall gegeben… Erstaunt stellt sie fest, daß Henry offensichtlich die klassischen Dichter liest und liebt, die zerlesenen Bände sind dicht bedeckt mit seinen klugen Anmerkungen. Auch scheint er sich mit allerlei Künsten und Wissensgebieten zu befassen, mit der Astronomie und Biologie, mit Baukunde und Medizin. Hochachtung keimt in ihr auf. Der Baron scheint gar nicht der einsiedlerische Naturbursche zu sein, für den ihn alle Welt zu halten pflegt.
Hinter einem vielbändigen, gelehrten Lexikon entdeckt Anne einen schmalen braunen Band. Ohne Interesse und sonderliche Erwartung greift sie danach und blättert ihn auf. »Handbuch der Gifte und ihrer Wirkungen«, liest sie mit großen Augen. Der Artikel über Arsen ist mit Rotstift einrahmt und unterstrichen. Es ist der Beweis, nach dem sie gesucht hat. Aber Anne will und kann es nicht glauben. Mit zitternden Händen stöbert sie weiter, vielleicht findet sich etwas, ach, irgendein Ding, eine Niederschrift, ein Zeichen, das Henry entlastet. Er soll und kann kein Mörder sein… In der Schublade des hochbeinigen Nachtschränkchens entdeckt sie ein paar lose Blätter, die über und über mit einer zügellosen Schrift bedeckt sind. Nur mühsam kann sie die ungebärdigen Ziffern lesen. Plötzlich wird ihr bewußt, daß sie eine Art Tagebuch vor sich hat, auch wenn auf keiner Seite ein Datum angegeben ist. Annes Wangen brennen vor Scham, aber sie kann dennoch nicht mit dem Lesen aufhören. »Ich hasse Olivia!« steht da an einer Stelle geschrieben. »Unsere erzwungene Heirat hat mich auf ewig ins Unglück gestürzt. Täglich will sie meinen Stolz brechen, indem sie mir ihren Reichtum vorhält. Doch weiß ich genau, daß ihre Bosheit nur von unserem liebelosen, verdorbenen Leben herrührt. Ich habe ihre Erwartung auf Glück nicht erfüllt. Arme Olivia! Dennoch wünschte ich, sie wäre nicht mehr. Ein schrecklicher Wunsch. Ich würde mit meiner Tochter weit fortziehen, fort von dem verfluchten Schloß, fort von Percy, der mich verabscheut, fort von Vera, mit der ich Ehebruch begangen habe. Was ist aus mir geworden? Ein Unglücklicher, ein Gehetzter. Nur in den Wäldern, bei der unschuldigen Kreatur, finde ich noch zu mir selbst. Gott helfe mir!« Annes Wangen brennen vor Mitleid. Kaum vermag sie die Seiten umzublättern. Es kommt ihr vor, als stünde Henry neben ihr und sagte mit seiner heiseren Stimme
all diese verzweifelten, schrecklichen Worte. Mit großen Augen liest sie weiter: »Warum habe ich nicht den Mut, Brunn zu verlassen und ein besseres, reineres Leben zu suchen? Warum nur? Weil mir kein einziger Pfennig bliebe? Bin ich so abhängig von Olivias Geld, das ich dreimal verfluche? Es hat mich zur Marionette gemacht. Ich hasse sie so sehr, daß ich ihren Tod wünsche. Vielleicht soll es geschehen. Sie kränkelt mehr und mehr.« Hier verwischen sich die Buchstaben und sind völlig unleserlich. Nur ein einziges Wort steht klar in dem Wust. Es ist das Wort »Gift«. Dann scheint sich Henry auch über seinen Bruder Percy auszulassen. Ganz am Ende der Aufzeichnungen stehen wieder ein paar klare Zeilen. Anne errötet tief. Sie handeln vor ihr selbst. »Ich habe eine Krankenschwester für Olivia engagiert«, schreibt Henry. »Ein junges, liebreizendes Ding. Ich finde sie bezaubernd. In ihrem klaren Gesicht erkenne ich die Unschuld wieder, an die ich nicht mehr glauben konnte. Süße Anne… Sie weiß gar nicht, wie schön sie ist. Wie liebe ich ihre schlichten dunklen Kleider, ihr einfaches Wesen, ihr warmes Lächeln. Oh, Gott, einmal so ein Wesen lieben dürfen – und das Leben hätte sich doch noch gelohnt. Sie könnte wieder einen guten Menschen aus mir machen.« Hier brechen die Aufzeichnungen ab. Anne läßt das Blatt sinken. Kein Mensch könnte die rechten Worte finden für das, was jetzt an Gefühlen in ihrem Herzen brennt. Nie hat sie gedacht, daß Liebe so viel Leid und Qual bedeuten kann. Hätte sie doch nie diese Worte gelesen! Nun ist sie endgültig eingelangen im Netz von Schuld, Gefühl und Sühne. Oh, Gott, und ausgerechnet sie muß den Geliebten ans Messer liefern, ausgerechnet sie. Nein, das kann sie nicht, niemals. Schweißperlen stehen auf Annes blasser Stirn, ihr schwindelt, Abgründe tun sich vor ihr auf.
Man wird Henry hängen. Auf Gattenmord steht die Todesstrafe. Mechanisch legt sie die Papiere an ihren alten Platz zurück Sie nimmt die Lampe, um hinauszugehen. Plötzlich besinnt sie sich anders. Sie birgt das Buch über die Gifte und die verräterischen Aufzeichnungen unter ihrem Mantel. Dann huscht sie endlich hinaus. Als sie an eine Kehre des Flures kommt, hört sie plötzlich leises Flüstern. Schnell verbirgt sie sich in einer Nische und löscht ihre Lampe. Sie zittert am ganzen Leibe. Vorsichtig wagt sie einen Blick um den Mauervorsprung. Im Dämmern erkennt das Mädchen Percy, der sich leise mit der Gouvernante Vera unterhält. Sie trägt nur ein offenherziges, dünnes Nachtgewand und wirkt mit ihren roten Haaren lockend und verführerisch. Sie lehnt in ihrer Zimmertür und kokettiert mit dem Baron, der sie mit seinen Augen verschlingt. »Laß mich in dein Zimmer kommen, Vera!« bittet er mit verschleierter, gepreßter Stimme und streichelt leise ihren bloßen, weißen Hals. »Nein, jetzt nicht. Noch nicht.« Sie lächelt, aber in ihren grünen Augen funkelt eine wachsame Härte. »Was muß ich noch für dich tun, damit du endlich mir gehörst, Liebste? Bei meinem Bruder warst du nicht so zimperlich. Ich will dich endlich küssen, in den Armen halten. Findest du nicht, daß ich etwas mehr Entgegenkommen verdiene?« »Wir müssen vorsichtig sein, Percy! Sonst verderben wir alles.« »Ach was. Einmal möchte ich den Lohn meiner Mühen einkassieren!« Er lacht höhnisch auf, ein Lachen, das Anne in ihrem Lauscherposten erstarren läßt und ihr den kalten Schweiß den Rücken hinuntertreibt. Hat sie vor Schrecken eine
unbedachte Bewegung gemacht, hat vielleicht ihr Kleid geknistert? Jedenfalls hört sie Vera plötzlich sagen: »Sei still, Percy! Hörst du nichts? Da muß jemand im Korridor sein!« »Unsinn, meine Süße. Du willst mich nur ablenken. Aber so ein Trick verfängt bei mir nicht.« »Da muß jemand sein und uns nachspionieren, glaub mir. Ich habe etwas gehört. Gib mir die Lampe, dann werde ich den Eindringling schon aufstöbern. Und Gnade ihm Gott! Ich habe auch eine Ahnung, wer es sein könnte.« Sie nimmt die flackernde Lampe und beginnt, den Flur abzusuchen. Ihr zu Gefallen geht Percy mit und schaut flüchtig hinter ein paar Samtportieren, in ein paar dunklen Winkeln nach. Einmal kommt er Anne so nahe, daß sie seinen Atem auf der Haut spürt. Sie hat ein Gefühl, als würge ihr eine riesige Faust das Herz ab. Gleich wird er sie bemerken… »Komisch. Ich könnte schwören, daß ich ein Geräusch gehört habe!« läßt sich Vera im selben Augenblick vernehmen. »Hast du dort in dem Winkel schon nachgesehen?« »Ja. Und nun will ich meine Belohnung für all die Mühe!« Er reißt Vera in die Arme und küßt sie mit schamloser Gier. Endlich kann die Gouvernante sich befreien, ein kleiner, kaum merklicher Zug von Widerwillen und Abwehr liegt um ihren Mund. »Vergiß nicht, Percy, es gibt noch viel für dich zu tun. Und nun gute Nacht!« Rasch schlüpft sie in ihr Zimmer, man hört, wie sich der Schlüssel hastig im Schloß dreht. Eine Weile bleibt Percy noch im dunklen Flur stehen, nur vom fahlen Mondlicht beleuchtet. Düster glimmen seine Augen, sein weicher, leidenschaftlicher Mund lächelt böse und verzerrt. Anne kommt es vor, als hätte sie noch nie ein so schreckliches Antlitz gesehen. Auch als der Baron endlich gegangen ist,
wagt sie sich noch nicht aus ihrem Winkel hervor. Sie steht dort, erstarrt vor Schrecken und Einsamkeit.
*
Kurz vor Weihnachten kehrt Henry nach Schloß Brunn zurück. Niemand weiß, woher er kommt. Aber sein hageres, straffes Gesicht ist tief gebräunt. Er wirkt gar nicht so, als hätte er die Nächte in anrüchigen Wiener Lokalen zugebracht, wie man tuschelt, der verquälte Zug ist aus seinem Gesicht verschwunden, die hellen Augen strahlen ruhig und ernst. Eines Morgens tritt er mit seinem gelassenen Schritt in den kleinen Salon, wo Anne mit dem Kind Marie Elisabeth beim Frühstück sitzt. Der ganze Raum ist durchflutet von der hellen Wintersonne. Vor den Fenstern glitzert der reine Schnee. Ein schönes, friedliches Bild, wie die liebreizende Anne dem Kind die Kakaotasse füllt, ihm zulächelt und eine rote Zopfschleife neu bindet. Henry verharrt eine Sekunde schweigend in der Tür, um den Anblick zu genießen. Eine tiefe Freude durchflutet ihn, wie er sie lange nicht mehr gekannt hat. Im selben Augenblick entdeckt ihn seine Tochter und springt mit wehenden Zöpfen zu ihm hinüber. »Vater, Vater! Bist du endlich wieder da?« Wie ein kleiner Frosch hängt sich Marie Elisabeth an seine Schultern, und er schwenkt sie lachend und übermütig herum. Anne ist vom Tisch aufgesprungen, ihr Herz klopft aufgeregt. Henry. Dieser eine Name umfaßt ja alle ihre tiefen Gefühle, ihre Liebe, ihre Qual. Er ist ein Mörder – und steht dennoch ganz ruhig da und lächelt sie mit seinen guten Augen an. Ein Mörder, wirklich? Könnte sie ihre Zweifel doch nur einen einzigen Tag lang vergessen…
»Möchten Sie eine Tasse Kaffee mit uns trinken? Es ist noch etwas in der Kanne!« sagt sie schließlich ein wenig töricht. Ihre Hand zittert, als sie ihm eine Tasse vollschenkt. »Sie waren lange nicht hier, Herr Baron!« meint sie zögernd. »Ich glaube nicht, daß man mich besonders vermißt hat«, lacht er ironisch auf. »Vielleicht doch? Marie Elisabeth hat jeden Abend gebetet, daß Sie endlich wiederkommen. Die Kleine hat ja nur noch Sie, nach dem Tod der Mutter.« »Und Sie, liebste Anne?« Er berührt leicht ihre Hand. »Ich erkenne meine Tochter kaum wieder, so sehr ist sie aufgeblüht. Sie wären eine wunderbare Mutter, Anne. Wissen Sie das eigentlich?« Seine Agen hängen an ihrem schönen, zarten Gesicht. »Ich… Nein, das hat mir noch niemand gesagt.« »Dann bin ich der erste. Vielleicht werden wir eines Tages…« Er bricht erschrocken ab. Sein Gesicht bewölkt sich schlagartig. Das Mädchen fragt sich, was er denken mag. Vielleicht, daß es kein Glück mehr für ihn geben wird, weil er einen Mord begangen hat? Wann wird er bemerken, daß seine Tagebuchaufzeichnungen und die Giftkunde aus seinem Zimmer verschwunden sind? Vielleicht wird er dann das Spiel verloren geben – und sie braucht ihn nicht selbst ans Messer zu liefern. Ihr Herz krampft sich erschrocken und leidvoll zusammen bei diesem Gedanken. »Haben Sie eigentlich Vertrauen zu mir?« fragt Henry plötzlich. Ein wachsamer Zug ist in seine Augen getreten. Seine Worte klingen so bedeutsam, als stünde eine ganz andere Frage dahinter. Kann er Gedanken lesen? »Ich möchte es gern«, erwidert Anne zögernd. »Ich gebe mir die größte Mühe. Aber Schloß Brunn ist voller dunkler Geheimnisse.«
»Wie meinen Sie das?« Er beugt sich erregt vor, seine Augen lodern dunkel. »Was wissen Sie, mein Kind?« »Nichts, gar nichts. Nur ist die Stimmung auf Brunn manchmal etwas unfreundlich.« »Sie lügen schlecht, Anne. Warum verraten Sie nicht Ihre wahren Gedanken? Haben Sie Angst vor mir?« »Ich… Ich kann nichts sagen«, stößt sie gequält hervor. »Wenn der richtige Augenblick kommt, werden Sie mir dann glauben und vertrauen, Liebste?« fragt er ganz leise. Sie kann seine Worte kaum verstehen. Auch ihre Antwort ist nur ein Flüstern. »Ja, das werde ich«, erwidert sie. Da nimmt er ihre Hand und drückt einen leichten Kuß darauf. Im selben Augenblick kommt Marie Elisabeth aus ihrem Spielzimmer herbeigelaufen, wo sie ihren großen Teddybären gesucht hat, um ihn dem Vater zu zeigen. Der Bär ist schon alt, ein Ohr hängt abgerissen herunter, ein schwarzes Knopfauge fehlt. Aber die Kleine preßt ihn zärtlich an sich. »Ich glaube, wir müssen den Armen zum Arzt bringen«, lacht Henry heiter, »und ihm ein neues Auge besorgen. Wie wäre es, wenn du heute die Schule schwänzt und mit deinem alten Vater in die Stadt fährst? Anne kommt natürlich auch mit. Wir werden Weihnachtseinkäufe machen und Kuchen essen.« Marie Elisabeth jubelt, sie hängt sich abwechselnd an die beiden Erwachsenen und erstickt sie fast mit ihren ungeschickten Zärtlichkeiten. »Was fällt dir ein? Der Unterricht sollte schon längst anfangen. Ich warte seit zehn Minuten im Schulzimmer auf dich. Komm sofort mit!« sagt plötzlich eine kühle, herrische Stimme. Vera ist unbemerkt hereingekommen und steht trotzig da, ihre grünen Augen flimmern sonderbar. Sie blickt Marie Elisabeth gar nicht an, sondern läßt den Baron nicht aus den
Augen. Ein kleines, lockendes Lächeln liegt in ihren Mundwinkeln. Sieh mich an, wie schön ich bin, denkt sie. Noch ebenso schön wie damals, als du mich in deinen Armen gehalten hast. Es könnte wieder so mit uns werden! Sie wiegt sich ein wenig in den Hüften und zupft den Ausschnitt ihres gelben Kleides zurecht, der viel von ihrer weißen, schimmernden Haut freigibt. Anne weiß selbst nicht, warum sie die Gouvernante wegen dieser koketten Bewegung plötzlich haßt. »Der Unterricht fällt heute aus, Vera«, erwidert der Baron mit gleichgültiger Stimme. »Ich nehme Marie Elisabeth mit in die Stadt.« »In Ordnung. Ich hole nur meinen Pelz, dann können wir starten«, sagt Vera erfreut. Ihre Augen strahlen entzückt auf. Sie wird mit Henry allein sein, endlich! Wie geschickt hat er dieses Treffen eingefädelt. Selbst Percy wird keinen Verdacht dabei schöpfen. »Ich nehme Anne mit, sie kann sich um meine Tochter kümmern. Ihnen gebe ich heute frei.« Henry erhebt sich, um die Kutsche zu beordern. Veras betroffenes und schließlich haßerfülltes Gesicht bemerkt er gar nicht. Er ist schon nach draußen gegangen, als die Gouvernante sich zu Anne herabbeugt und mit gefährlich leiser Stimme zischt: »Das werden Sie mir büßen, meine Teuerste!« Als die Kutsche dann durch den Winterwald rollt, als der Schnee unter den Hufen der Pferde aufstiebt und ein strahlend blauer Himmel über der schimmernden Welt liegt, kann Anne für Stunden alles Bedrückende vergessen. Schloß Brunn liegt hinter ihnen. Sie haben das Verdeck zurückgeklappt, warm scheint die Sonne auf ihre Köpfe. Unter der Felldecke ist es herrlich behaglich, Marie Elisabeth schmiegt sich wie ein Kätzchen an Anne. Ab und zu dreht sich Henry vom Kutschbock her zu ihnen um, er führt selbst die Pferde und läßt
die Peitsche mit scharfem Knall heruntersausen. Sein Gesicht ist so heiter, wie das Mädchen es noch niemals gesehen hat. So kann er also aussehen, der verschlossene, zwielichtige sonderbare Mann. Als Marie Elisabeth ein Liedchen anstimmt, singen sie alle lachend mit. Der kleine Ort wirkt wie ein Wintermärchen. Schneehauben bedecken die Giebel, Tannengirlanden spannen sich schon über die Straßen, eben ist ein Trupp Arbeiter damit beschäftigt, die Kerzen zu befestigen. Die Schaufenster glänzen vor Flittergold und Wachsengeln. An jeder Ecke bleibt Marie Elisabeth stehen und bekommt große runde Augen vor Entzücken. Die Erwachsener halten sich ein wenig im Hintergrund und lassen die Kleine gewähren. Manchmal lächeln sie einander vertraut zu, als wären sie Vater und Mutter des kleinen Mädchens, als wären sie eine ganz normale, glückliche Familie, die sich auf Weihnachten freut… Schließlich, als der Abend schor dämmert und die Gaslaternen angezündet werden, kehren sie in einer gemütlichen Teestube ein. Berge von Päckchen und geheimnisvollen Schachteln türmen sich neben ihnen. Marie Elisabeth sieht mit sehnsüchtigen Augen darauf. »Muß ich wirklich bis Weihnachten warten?« fragt sie. »Ich möchte so gern jetzt schon alles sehen.« »Die Freude ist viel größer, wenn du Geduld hast«, erklärt Anne ihr und fährt mit den Händen zärtlich über den neuen Pelzkragen, den Henry ihr geschenkt hat. Ein wunderbarer weicher Biberkragen. Plötzlich muß sie daran denken, daß er mit Olivias Geld bezahlt ist, und ihre Freude verfliegt. »Was haben Sie?« fragt Henry. »Warum sind Sie plötzlich so traurig?« »Ich mußte an etwas denken. Daran, daß wir hier so fröhlich sitzen, während Ihre arme Frau in der kalten Erde liegen muß!«
»Anne, bitte…« Sein kantiges Gesicht wirkt eine Sekunde lang verletzt und hilflos. Dann straffen sich seine Züge. Auch aus seinem Gesicht schwindet die Freude. Hart setzt er seine Teetasse ab. »Es wird Zeit. Wir müssen heimfahren, es wird sonst zu dunkel. Komm, Marie Elisabeth!« »Aber Vater, ich will meinen Kuchen noch aufessen!« mault die Kleine unwillig. »Nimm ihn mit. Du kannst ihn daheim essen. Komm jetzt.« »Es tut mir leid«, flüstert Anne, als sie draußen vor der Teestube stehen und Henry die Pferde anschirrt. »Wirklich? Schon gut!« erwidert er mit verschlossener Miene. Seine Augen sind ganz hell und kalt, so kalt, wie der winterliche Sternenhimmel, der jetzt über ihnen auffunkelt. Die Pferde traben rasch durch den stillen Wald, ihr Atem steht wie eine kleine Wolke in der Luft, die jetzt eisigkalt ist. Anne vergräbt sich tief in der Felldecke, neben sich spürt sie Marie Elisabeths kleinen Körper. Dennoch fröstelt sie. Der Baron auf dem Kutschbock wirkt wie ein Fremder. Er dreht sich nicht mehr nach ihnen um. Und endlich liegt auch Schloß Brunn wieder vor ihnen, das in der Dämmerung geheimnisvoll und düster wirkt. Schloß Brunn, das ihr Schicksal ist.
*
Das Weihnachtsfest vergeht scheinbar friedlich und still. Man feiert in der großen Halle, unter einer riesigen, buntgeschmückten Tanne, deren Wipfel fast bis zur holzgetäfelten Decke hinaufreicht. Das Festmahl wird wie üblich gemeinsam mit dem gesamten Personal eingenommen. Auf Henrys Bitte vertritt Anne die Hausfrau und verteilt auch die Geschenke. Jeder dankt ihr freudig, sie ist im Haus
allgemein beliebt. Nur Vera kämpft um eine gleichmütige Miene. Später zieht sich die Familie in den kleinen Salon zurück, auch Anne und die Gouvernante sind dabei. Marie Elisabeth bekommt bereits kleine Augen vor Müdigkeit, hält aber tapfer ihr Sektglas fest, das man ihr zur Feier des Tages in die Hand gedrückt hat. Sie will nicht zugeben, daß ihr eine Limonade bedeutend besser schmeckt… Henry hebt sein Glas und prostet der kleinen Gesellschaft zu. »Ich möchte an die erinnern, die heute nicht bei uns sein kann«, sagt er ernst. »Wir wollen bei aller Weihnachtsfreude nicht vergessen, daß Olivia so früh von uns gegangen ist. Sie hat keine Chance mehr gehabt, ein glücklicheres Leben zu führen – und wenn es auch fern von Brunn gewesen wäre.« »Hättest du sie denn ziehen lassen?« fragt Percy mit leisem Sarkasmus. Er lehnt in seinem eleganten Smoking am Kamin und betrachtet den Bruder durch sein Monokel, das er sich erst kürzlich zugelegt hat. Sein Fuß in dem schmalen Lackschuh wippt vor und zurück, vor und zurück. »Wenn sie mich darum gebeten hätte, ganz gewiß!« »Das glaube ich sogar«, lächelt Vera falsch. Ihre weißen Zähne blitzen. Sie nimmt die Champagnerflasche und geht zu Henry hinüber, um ihm nachzuschenken. »Wir wollen heute ausnahmsweise einmal friedlich sein, nicht wahr! Liebet einander, wie es in der Bibel steht. Was halten Sie davon, Baron?« »Sehr viel«, erwidert er. Sein Blick wandert zu Anne hinüber, die sich gerade über das Kind beugt und ihm zärtlich die Haare zurückstreicht. Vera bemerkt es genau, ihre Augen verengen sich zu schillernden, schmalen Schlitzen. Aber sie hört nicht auf, einen krampfhaften, aufgedrehten Frohsinn zu verströmen. Hastig leert sie ein Glas Sekt nach dem anderen, bis hektische rote Flecken auf ihren Wangen brennen.
Alle lächeln einander zu, plaudern über belanglose Dinge oder schweigen einfach und lauschen dem Knistern des Kaminfeuers. Aber hinter den lächelnden Gesichtern sieht es dunkel und trübe aus. Wieviel Haß, Angst und Verzweiflung wohnen dort. Die einzige, die sich heute aus vollem Herzen gefreut hat, ist die kleine Marie Elisabeth. Aber jetzt fallen ihr allmählich die Augen zu, ihre neue blonde Puppe will ihr aus der Hand gleiten. »Komm, ich bringe dich zu Bett, Liebes«, sagt Anne und ist froh, daß sie sich endlich erheben kann. Sie steht auf und streicht ihr neues taubenblaues Kleid glatt, in dem sie so jung und mädchenhaft aussieht. »Ich trage das Kind nach oben«, Henry steht plötzlich neben ihr und hebt seine schlaftrunkene Tochter auf seinen Arm. Anne nimmt die Puppe, die ihr selbst so ähnlich sieht. Vielleicht hat das Kind sich deshalb gerade diese so heiß gewünscht… Endlich liegt Marie Elisabeth in ihrem Bettchen und preßt ihre Faust gegen die rosige Wange. Ihre Brust hebt und senkt sich in friedlichem Schlummer. Anne dreht den Docht der Lampe kleiner und folgt dem Baron hinaus. »Wie gut, daß ich Sie einen Augenblick allein sprechen kann«, sagt er leise. Sein Gesicht wirkt ernst und verschlossen. »Ich wollte Ihnen noch etwas geben!« Er zieht ein kleines rotverschnürtes Päckchen aus der Jackentasche. Anne knüpft mit zitternden Händen das Band auf. Aus dem Seidenpapier leuchtet ihr eine zierliche Silberbrosche mit einem großen, glattgeschliffenen Rosenquarz entgegen. Ein einfaches, aber anmutiges Schmuckstück. Das Mädchen wird rot vor Freude. »Sie dürfen mir so etwas nicht schenken«, murmelt sie verlegen. »Warum denn nicht? Keine Angst, es ist nicht mit Olivias Geld gekauft«, gibt er spöttisch zurück. »Die Brosche hat
einmal meiner Mutter gehört, die niemals reich gewesen ist. Sie paßt auch zu Ihnen, Anne. Sie sind ebenso schlicht und anmutig«, fährt er mit rauher Stimme fort. In dem dämmerigen Korridor kann sie sein Gesicht kaum erkennen, sonst würde sie sehen, daß es erfüllt ist mit Qual und Liebe. »Sie müssen mir vertrauen, Anne«, flüstert die eindringliche Stimme weiter. »Ich liebe Sie.« Plötzlich legen sich seine Arme um ihre Schultern, sein trockener, heißer Mund preßt sich auf den ihren. Diesmal ist sein Kuß zärtlich und leidenschaftlich gleichzeitig, er nimmt Anne alle Kraft, allen Widerstand. Da läßt er sie los, dreht sich um und geht ohne ein Wort die Treppe hinunter. Seine Schritte klingen schwer und laut in dem stillen Haus. Anne preßt ihre Hand auf ihr heftig klopfendes Herz. Sie ist zu verwirrt, um Vera zu bemerken, die vom Fuß der Treppe zu ihr emporblickt und die Fäuste ballt, bis sich ihre spitzen Nägel in ihr weißes Fleisch krallen. Am nächsten Morgen verläßt Baron Henry in aller Frühe Schloß Brunn. Keiner weiß, wann er wiederkommen wird. Als Anne voller Vorfreude, voll zitternder Erwartung den Frühstücksraum betritt, ist er bereits fort. Ohne ein Wort! Die freudige Gewißheit erlischt in ihr. Mit zitternden Händen nestelt sie die Brosche von ihrem Kragen los. Zweifel und Furcht kriechen wieder in ihr hoch. Mit mutloser Geste birgt sie die Brosche in ihrer Rocktasche. Oft berühren ihre Finger in der nächsten Zeit heimlich das Silber und den glatten, kühlen Stein. Immer wachen dann all die qualvollen Fragen und Vermutungen wieder in ihr auf. Zwei Tage nach Weihnachten geht Anne gegen Abend in den stiebenden Schnee hinaus. Der scharfe, kalte Wind schneidet in ihre Haut und treibt ihr die Tränen in den Augen. Dennoch tut die frische Luft so wohl, die Weite des eisgrauen Sees, hinter dem man die schneebedeckten Gipfel der Alpen nur ahnen kann. Sie gräbt ihre Hände tief in ihre Manteltaschen und geht
mit weitausholendem Schritt dahin, ihr Atem bildet kleine Wölkchen vor ihrem Mund. Die ganze Welt scheint heute so still und grau, kein Mensch läßt sich sehen. Fast durch Zufall gerät Anne in die Nähe des ältesten Schloßtraktes. Mit einem leisen Schaudern betrachtet sie die Ruine, die heute einen trostlosen und verlassenen Eindruck macht. Wie eh und je steht der trutzige Turm da. Doch etwas ist anders als sonst: die Tür steht offen. Anne ist nicht der Mensch, der vor Abenteuer und Gefahr ängstlich davonläuft. Die Dunkelheit hinter der Tür zieht sie mit magischer Gewalt an, einmal nur möchte sie sehen, was sich im Innern des Turmes verbirgt. Mutig drückt sie die Pforte ganz zur Seite. Vor ihren Augen schwingt sich eine schmale, ausgetretene Wendeltreppe in die Höhe. Von einer unsichtbaren Lichtquelle fällt ein schwacher Dämmer auf die Stufen. Genug, um den Weg nach oben zu finden… Sonderbar hallen ihre Schritte in dem verlassenen Gebäude. Man hört das Huschen und Piepsen von Mäusen, das hohle Pfeifen des Windes. Jetzt würde Anne ganz gern umkehren, aber sie schämt sich vor sich selbst. Ihre Hand tastet nach der Brosche in der Rocktasche. Eine merkwürdige Beruhigung geht jetzt von dem Schmuckstück aus. Nachdem sie einige Windungen der Treppe erklommen hat, kommt sie auf eine Art Vorplatz und dann in eine rundes Turmzimmer, das von zwei schmalen Fensterschlitzen eine notdürftige Beleuchtung erhält. Hier scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Spinnenweben spannen sich über antike, staubige Möbel, auf dem Teppich liegt ein zerbrochenes Kinderspielzeug und wirkt in der verlassenen, todesstarren Atmosphäre unendlich rührend. Anne bückt sich danach. Es ist ein hölzerner Hampelmann mit verblaßten Farben. Sie will die Glieder bewegen, aber die Schnur reißt
beim ersten Ziehen. Traurig blickt sie auf die Bruchstücke nieder. Durch eines der Fenster wandert nun ein schwacher Sonnenstrahl herein und fällt auf ein großes, goldgerahmtes Bild an der Wand, das Anne erst jetzt auffällt. Es zeigt eine schöne, blasse junge Frau, die den Beschauer mit dunklen, melancholischen Augen anblickt. »Elise« steht in eine kleine Messingplatte unter dem Bild eingraviert. Elise – an wen erinnert sie nur dieser Name? Ach ja, so hieß ja jene Tote da draußen auf dem Friedhof derer von Brunn. Man hat wohl ihr Bild hier in den Turm verbannt, um nicht an die schrecklichen Geschehnisse erinnert zu werden, an jenen unseligen Mord. Und nun liegt schon eine zweite Baronin von Brunn auf dem Friedhof, die man ermordet hat. Anne fragt sich in diesem Augenblick, ob sie sich alles nicht nur einbildet. Vielleicht ist Olivia doch eines natürlichen Todes gestorben? Als sie den Turm weiter emporsteigt, klammert sie sich an diesen Gedanken. Aber nur zu bald fällt ihr all das Sonderbare ein, das sie auf Schloß Brunn beobachtet hat… Die Treppe macht eine letzte Wendung, dann gelangt das Mädchen auf die oberste Plattform des Turmes, die von Zinnen bekrönt ist. Der eisige Wind fegt darüber hin, man blickt weit über den See, den Park und die verschneiten Wälder. Anne atmet in tiefen, durstigen Zügen die schneidend frische Luft. Plötzlich sieht sie eine Gestalt durch den Küchengarten auf das Schloß zueilen. Sie scheint direkt vom Turm herzukommen. Anne meint, das rote Haar Veras zu erkennen, aber sie ist sich nicht ganz sicher. Es kann sich auch um eines der Hausmädchen handeln. Eine unerklärliche Beklemmung beim Anblick der laufenden Person dort unten ergreift ihr Herz. Schnell macht, sie sich wieder an den Abstieg. Nur fort von diesem verwunschenen Ort. Im Vorbeilaufen wirft sie noch
einen Blick auf das Bild der Elise. Todtraurig blicken die dunklen Augen sie an. Endlich gelangt sie am Fuß der Treppe an, wo jetzt eine tiefe Finsternis herrscht. Vielleicht hat der Wind die Pforte zugeweht. Anne rüttelt an der schweren Klinke. Aber vergebens. Die Tür ist verschlossen.
*
»Vielleicht hat sie einen Geliebten und ist mit ihm auf und davon?« Percy lächelt schief. Er sitzt mit Vera im kleinen Salon beim Abendbrot. Speisereste und benutzte Teller sind in eine Ecke des Tisches geschoben. Percy schenkt jetzt vorsichtig den Portwein ein und läßt die schwere, gelblichrote Flüssigkeit im Glas kreisen. »Einen Geliebten? Dafür ist diese fade Person doch wohl nicht der richtige Typ«, spottet Vera. »Da bin ich anderer Ansicht. Anne ist ein entzückendes Ding. Bloß du willst das nicht wahrhaben, meine Teuerste. Du möchtest nämlich lieber selbst die Schönste auf Erden sein. Aber im Ernst: Es wäre sehr ärgerlich, wenn dem Mädchen etwas zugestoßen wäre. Wir können kein weiteres Aufsehen gebrauchen.« »Ach, es ist ihr sicher nichts passiert. Wir vermissen sie ja erst einen Tag lang. Sie taucht bestimmt wieder auf. Und wenn nicht, soll es mir nur recht sein. Sie geht mir schon lange auf die Nerven«, erwidert Vera gleichgültig und zerkrümelt ein Brotstück zwischen den Fingern. Percy blickt sie aufmerksam an. Das sonderbar triumphierende Funkeln in ihren Augen gefällt ihm gar nicht. Ein Verdacht keimt in ihm auf.
»Hast du etwas damit zu tun?« herrscht er sie mißtrauisch an. Er weiß ja, daß sie zu allem fähig und völlig skrupellos ist. »Ich? Bestimmt nicht.« Vera lächelt hintergründig. Ihre Linke tastet sich behutsam in ihre Rocktasche und befühlt zufrieden den schweren, kalten Metallgegenstand, der seit gestern darin liegt. Es ist ein alter großer Schlüssel. Nicht weit vom Schloß und dem reichgedeckten, behaglichen Abendbrottisch verzehrt sich Anne in Furcht und Schwäche. Eine zweite Nacht in dem eisigkalten, unheimlichen Gebäude wird sie nicht überleben. Um sich wachzuhalten, geht sie unablässig treppauf und treppab. Zwischendurch schlägt sie mit kraftlosen Fäusten gegen die Holzpforte. Niemand hört sie. Wie hat sie die vielen Stunden in dem verlassenen Gemäuer überhaupt ertragen können? Es ist das schrecklichste Erlebnis ihres Lebens, eine Hölle aus Qual und Todesangst. Noch Jahre später vermag sie nicht, davon zu sprechen. Niemand, selbst der allerliebste Mensch nicht, wird je erfahren, was sie in den endlosen Stunden der Einkerkerung gefühlt und gefürchtet hat. Aber eins weiß sie genau: Wenn sie je dieser Hölle entrinnt, wird sie mitleidlos das Böse auf Schloß Brunn entlarven und… Es ist ein Zufall, daß ihr Fuß auf der dunklen Treppe ausgleitet und sie ein paar Meter in die Finsternis stürzt. Sie tastet sich vorwärts und bemerkt einen schmalen Schlitz in der Wand, durch den etwas Licht sickert. Ihre suchenden Hände berühren einen Vorhang aus dichtem, schweren Gewebe. Sie reißt ihn beiseite und schrickt zurück, als eine Fledermaus auffliegt. Hinter dem Vorhang befindet sich ein größeres Fenster, das sie bisher nicht bemerkt hat. Mit letzter Kraft zwängt sich Anne durch den Spalt. Es gelingt. Draußen fällt sie metertief, aber der dicke Schnee fängt sie auf wie ein weiches Kissen. Es dauert eine Weile, bis sie sich vom Boden aufrappeln kann. Dann klopft sie mit kraftlosen Fingern den Schnee aus ihren klammen Kleidern,
blickt zum Himmel empor, an dem jetzt der Abendstern funkelt und macht sich schließlich auf den Weg zum Schloß. Auf den Fluren von Schloß Brunn trifft sie niemanden an, das Personal sitzt in der Küche beim Essen. Aus dem kleinen Salon dringen die Stimmen Percys und Veras, die sich über irgend etwas königlich belustigen. Anne reißt die Tür auf und blickt Vera ohne ein Wort in die harten kalten Augen. Dann sinkt sie auf der Schwelle in eine tiefe Ohnmacht. Tagelang liegt Anne mit Schüttelfrost im Bett. In all den schlimmen Fieberträumen hat sie nur den einen Wunsch: Henry soll zurückkommen, an ihrem Bett sitzen und wieder mit seiner verschleierten, tiefen Stimme sagen: Ich liebe dich. Er soll sie in seine Arme nehmen, sie beschützen und wegführen von diesem Ort des Schreckens. Wenn sie dann aufwacht, sich die schmerzende Stirn reibt und ihren Puls mit kaltem Wasser kühlt, fällt ihr die Wahrheit wieder ein. Auch Henry ist ja verstrickt in dies undurchdringliche Netz von Grauen und Schuld… Mehr und mehr begreift Anne, daß sie ganz allein gegen das Böse kämpfen muß. Langsam geht es ihr wieder besser. Einmal, als sie ein wenig gelangweilt in ihrer Nachttischschublade kramt, fällt ihr eine goldgeränderte Visitenkarte entgegen. »Baronin Marie von Esch, München, Amalienstraße 7«, steht darauf. Anne muß lange überlegen, bis ihr einfällt, wer das sein könnte. Endlich erinnert sie sich schwach an jene ältere, gepflegte Dame, die das Zugabteil mit ihr geteilt hat, als sie sich nach Schloß Brunn aufmachte. Hat sie nicht so freundlich ihre Hilfe angeboten, wenn das junge Mädchen einmal in Not geriete? Der Notfall ist da, kein Zweifel. Zwei Tage später sitzt Anne in dem Zug nach München. Auf Brunn hat sie angegeben, sie wolle sich mit Verwandten treffen. Es dämmert schon, als die Droschke in Richtung Schwabing fährt, die Gaslaternen flammen eben auf. Der
Wagen hält vor einem großen, vornehmen Gebäude. Das Mädchen kramt eifrig in ihrer Börse nach einigen Geldstücken, um den Kutscher zu entlohnen. Dann steht sie mit ihrer Reisetasche vor dem Portal und wagt nicht, den Klingelzug zu betätigen. Mehr und mehr fühlt sie sich wie ein ungeladener Gast, der noch nicht recht weiß, wo er die Nacht verbringen soll. Für ein Hotel reicht ihr Geld nicht, außerdem kommt sie ohne Begleitung nicht in einem anständigen Haus unter. Als der schmutzige Schnee der Gosse langsam ihre Schuhe durchweicht, betätigt Anne endlich die Klingel. Ein Diener in Livree öffnet und bittet das Mädchen erst nach langem Hin und Her herein. Sie muß sich in der Diele auf einem zierlichen, unbequemen Stühlchen niederlassen und warten. An der Garderobe hängen dicht an dicht kostbare Pelze und Überzieher. Von fern hört man Klaviermusik und das Lachen und Plaudern einer großen Gesellschaft. Es dauert endlos, bis die Baronin endlich mit energischem Schritt in die Diele hinauskommt. Ihr Gesicht ist nicht unfreundlich, aber kühl. In ihren Ohren glitzern große Brillanten. Graue Seide umhüllt ihre imposante Figur. Sie nestelt nach ihrem Kneifer, dann erst erkennt sie ihre Reisegefährtin. Ihr Lächeln gewinnt sofort an Wärme. »Ach Sie sind das, mein Kind! Schade, daß Sie sich den unpassendsten Augenblick für Ihren Besuch ausgewählt haben. Ich habe Gäste. Aber vielleicht mögen Sie morgen zum Tee zu mir kommen?« »Verzeihen Sie, Frau Baronin, ich muß Sie unbedingt heute noch sprechen! Sie waren so gütig, mir Ihre Hilfe für den Notfall anzubieten. Ich brauche sie jetzt dringend.« »Nun, wenn das so ist…« Marie von Esch betrachtet ihr junges Gegenüber mit prüfenden Augen. »Kommen Sie hier herein. Ich lasse Ihnen einen Tee bringen, mein Kind. Sie
sehen ganz durchfroren aus. Sobald ich etwas Zeit finde, spreche ich mit Ihnen.« Sie führt Anne in ihr behagliches Frühstückszimmer und läßt eine kleine Mahlzeit servieren. Einige Zeit später kommt auch sie selbst zurück. »Sprechen Sie ohne Scheu«, bittet sie. Aber ein klein wenig merkt man ihr doch an, daß Annes Besuch nicht sehr gelegen kommt. »Sie haben mich damals im Zug vor Schloß Brunn gewarnt«, beginnt das Mädchen hastig zu sprechen. »Sie hatten recht. Es ist nicht geheuer auf dem Schloß. Ich wage es kaum auszusprechen, aber der Tod der Baronin Olivia erscheint mir nicht ganz… natürlich gewesen zu sein.« »Wie meinen Sie da?« fragt Marie von Esch mit undurchdringlichem Gesicht und hebt den Kneifer vor ihre Augen. »Wollen Sie damit andeuten, daß man die arme Olivia ermordet hat? Wie kommen Sie zu dieser ungeheuerlichen Behauptung, liebes Kind?« »Ich habe viel beobachtet auf Schloß Brunn. Glauben Sie mir Baronin, ich habe beinahe Beweise.« »Und was sagt der Arzt dazu?« Marie von Eschs Kneifergläser funkeln. Der Ausdruck ihrer Augen dahinter ist nicht zu erkennen. »Er glaubt mir nicht«, flüsterte Anne. »Sehen Sie? Und er müßte es eigentlich am besten wissen, nicht wahr? Sagen Sie mir, wen Sie auf Brunn eines solchen Verbrechens für fähig halten?« »Ich… weiß nicht.« Das Mädchen senkt den Kopf. Nun ist der schreckliche Moment gekommen, da sie den Geliebten verraten muß. Henry, liebster Henry! Hätte sie doch nie sein Tagebuch gelesen, nie sein Zimmer auf der Suche nach Beweisen durchstöbert. »Es kann nur der Baron selbst gewesen sein«, flüstert sie schließlich kaum hörbar. Eine Weile bleibt es
ganz still in dem Zimmer. Von irgendwo hört man ein Frauenlachen, das Klingen von Gläsern. »Nun hören Sie mir einmal gut zu!« sagt Marie von Esch schließlich mütterlich und legt ihre feine, gepflegte Hand auf Annes. »Ich habe Ihnen damals im Zug das Herz schwer gemacht mit meinen dunklen Andeutungen über Henry und Schloß Brunn. Das habe ich seitdem oft bereut. Man soll keinen Klatsch weitergeben. Sie haben meine Worte nicht vergessen können und eine Phantasiegeschichte darum gedichtet. Lassen Sie die Toten in Frieden ruhen, liebe Anne. Übrigens habe ich inzwischen meine Meinung über den Baron grundlegend geändert. Ich hatte Gelegenheit, ihn näher kennenzulernen. Er ist hier.« »In München?« fragt Anne erstaunt und überrumpelt. »Und in meinem Hause.« Im selben Augenblick öffnet sich eine Schiebetür, ein großer Mann im Frack steht darin. Es ist Henry. Über sein kantiges, männliches Gesicht fliegt ein Ausdruck der höchsten Überraschung, als er Anne erkennt. »Was tun Sie denn hier?« entfährt es ihm. »Sie hat mir erklärt, Sie seien der Mörder Ihrer Frau, Henry«, antwortet Marie von Esch mit leiser Ironie. Anne wird für diese Nacht im Gästezimmer einquartiert, weil man das Mädchen nicht ohne Schutz in die Großstadtstraßen schicken mag. Morgen hat sie unverzüglich nach Schloß Brunn zurückzukehren, um dort ihren Pflichten nachzukommen. So lautet jedenfalls Henrys strikter Befehl. Er hat sie nicht angesehen dabei. Sein ganzes Gesicht ist nichts als Kälte und Abwehr gewesen. Wenn Anne daran denkt, könnte sie in Tränen ausbrechen. Kein persönliches Wort, keine Geste haben daran erinnert, daß er einmal »Ich liebe dich« gesagt hat. Dabei zittert sie vor Sehnsucht und Qual, wenn sie an den ernsten Mann denkt, der jetzt im Frack mit den anderen Gästen
feiert. Da klopft es an ihre Tür. Schnell zieht sie einen Mantel über das Nachthemd und öffnet. Henry steht draußen, mit unbewegtem, dunklem Gesicht blickt er auf Anne nieder. Fast fürchtet sie sich vor seinem brennenden Blick, vor den harten, zynischen, leidenschaftlichen Lippen. Mit rascher Gebärde legt er seine großen Hände um ihren Hals, bis ihr die Luft knapp wird. »Dafür hältst du mich also? Für einen kaltblütigen Mörder? Hast du keine Angst, daß es dir ebenso gehen könnte wie Olivia, weil du zuviel weißt und zu neugierig bist? Weißt du, was ich hier in München tue? Ich habe mit meinem Notar gesprochen, um endlich mein Erbe einzukassieren. So bin ich, ein herzloser, kaltblütiger Mörder…« Müde nimmt er seine Hände von Annes Hals, der rote Flecken zeigt. Sein Gesicht sieht jetzt eingefallen und mutlos aus. Er will sich umdrehen und fortgehen. In diesem Augenblick verliert Anne die Nerven. Die Erlebnisse der letzten Zeit waren zuviel für sie. Tränen fließen in wahren Sturzbächen über ihr Gesicht, ihre Lippen zittern haltlos. Sie muß sich am Türpfosten festklammern, so sehr übermannen sie Schwäche und Verzweiflung. »Anne, Liebes, du darfst nicht weinen. Sei still. Sei nur still.« Mit den Händen, mit denen er sie eben noch gewürgt hat, streichelt und beruhigt Henry sie, nimmt sie in die Arme, als wäre sie ein kleines, hilfloses Kind. »Es wird alles gut, glaub mir«, flüstert er in ihre seidigen Haare. Es klingt, als müßte er sich auch selbst davon überzeugen. Am nächsten Tag fährt Anne allein nach Brunn zurück. Ihr Herz ist schwer. Die Hilfe, auf die sie hoffte, hat sie nicht gefunden. Im Gegenteil, die Geschehnisse erscheinen ihr jetzt noch bedrohlicher und verworrener als zuvor. Sie weiß nur eines gewiß: daß sie Henry liebt wie noch nie einen Menschen. Als sie abends aus der Droschke klettert, den Weg nach Brunn
hinaufgeht und sich in der Diele den Schnee abklopft, ist sie voller Zweifel. Vielleicht hat ihr wirklich ihre blühende Phantasie einen Streich gespielt? Vielleicht sind all ihre Befürchtungen nichts als Einbildung? Da sieht sie die Köchin Marthe mit ernstem Gesicht in der Halle stehen. »Kommen Sie schnell, Anne«, flüstert die alte Frau aufgeregt. »Marie Elisabeth ist krank. Sie weint so nach Ihnen. Sie kann das Essen nicht mehr bei sich behalten, das arme Ding. Furchtbar schlecht ist ihr geworden.« »Mein Gott!« sagt Anne und wird aschfahl vor Schreck. Dann läuft sie mit wehenden Röcken die Treppen empor. Die Tür zum Kinderzimmer ist angelehnt. Marie Elisabeth sitzt bleich und elend in ihrem Bettchen. Neben ihr liegt die Puppe, an der sie jetzt gar kein Interesse hat. »Was machst du nur für Sachen?« fragt Anne erschrocken und legt ihre Hand auf die aschfahle, schweißbedeckte Stirn des Kindes. »Mir ist so schlecht«, wimmert die Kleine und läßt sich in die Kissen zurückfallen. »Was hast du heute gegessen. Marie Elisabeth?« »Ich weiß nicht mehr… nichts Besonderes.« »Und von wem sind diese Pralinen?« »Von Papa. Ich habe viel davon gegessen, weil ich sie so gern mag. Und plötzlich konnte ich nicht mehr, mir wurde übel und elend.« »Schon gut, Liebes. Du sollst jetzt schlafen. Ich bleibe bei dir und gebe auf dich acht.« »Ja. Du darfst nicht weggehen. Bitte, bitte, bleib immer bei mir.« Das Kind umklammert mit schwachen Händen Annes Handgelenk.
Es dauert lange, bis Marie Elisabeth endlich zur Ruhe kommt. Immer wieder schreckt sie aus ihrem Halbschlaf hoch, von schweren Träumen gequält und geängstigt. Am nächsten Morgen scheint es ihr ein wenig besser zu gehen, obwohl sie bleich und schmal in den Kissen liegt und nur ein paar Schlucke schwarzen Tee zu sich nimmt. Am dritten Tag darf das Kind schon wieder aufstehen, es spielt im Schnee draußen und nimmt an den Mahlzeiten teil. Gegen Abend ist Marie Elisabeth nirgends zu finden. »Ich mache mir solche Sorgen«, sagte Anne zu der Bedienerin Marthe. Die ältliche Frau wiegt ihren Kopf. Sie sucht nach einer Antwort, aber auch ihr will keine Beruhigung einfallen. In ihren guten Augen steht die Unruhe und noch etwas anderes, das man nicht recht deuten kann. »Es geht nicht ganz mit rechten Dingen in diesem Haus zu«, murmelt sie schließlich. »Hier ist nicht gut sein. Etwas stimmt nicht. Hoffentlich kommt der gnädige Herr bald wieder. Ich habe Vertrauen zu ihm.« »Wirklich? Aber alle reden so schlecht von ihm«, flüstert Anne. »Glauben Sie nicht den Gerüchten. Kommen Sie, wir wollen die Kleine suchen! Vielleicht ist ihr wieder schlecht geworden, und sie weiß sich nicht zu helfen.« Marthe zieht das Mädchen mit sich, und sie suchen das ganze Schloß ab. In ihrer Furcht scheinen sich die Korridore endlos zu dehnen. Sie gelangen in Kammern, die schon seit Jahrzehnten nicht mehr benutzt werden und vor sich hindämmern. Plötzlich hören sie ein schwaches Stimmchen rufen. »Anne, Anne, wo bist du? Komm doch und hilf mir!« Die beiden Frauen laufen wie von Sinnen auf ein kleines Gelaß zu, das sich ganz am Ende eines dunklen, engen Ganges befindet. Marthe reißt die Tür auf. Vor ihnen auf dem staubigen Teppich hockt Marie Elisabeth, bleich und spitz im Gesicht. Um sie her
türmt sich ein buntes Durcheinander von Spielsachen, die sie aus einer Kiste gekramt hat. »Aber Kleines, was machst du nur hier? Wir haben uns schon solche Sorgen um dich gemacht. Es ist ja längst Abendbrotzeit.« Anne kniet sich zu dem Kind und zieht es in ihre Arme. »Ich habe eine alte Puppe gesucht und mich erinnert, daß sie hier sein muß.« Marie Elisabeth hält ein jämmerlich verblichenes, zerfetztes Puppengeschöpf mit traurigen Augen in die Höhe. »Und dann ist mir wieder so schlecht geworden, daß ich umgefallen bin und nicht weglaufen konnte. Ich habe gerufen – aber niemand hat mich gehört.« »Kannst du gehen?« fragt Anne zu Tode erschrocken. Marie Elisabeth probiert es vorsichtig, wird aber sofort aschfahl im Gesicht und droht umzusinken. »Ich trage das Kind!« Die kräftige Bedienerin hebt die Kleine sogleich auf ihre Arme und bringt sie zurück in ihr Zimmer und in das schützende Bett. Marie Elisabeth scheint sehr zu leiden, ihr Atem geht stoßweise, ihre Stirn ist schweißnaß und kalt. Sie wird von Magenkrämpfen geschüttelt. Endlich, nach bangen Stunden, schläft sie erschöpft ein. »Es ist genauso wie bei der armen Frau Baronin«, sagt Marthe zögernd, als die beiden Frauen das Krankenzimmer verlassen. »Dieselben Krämpfe und Schwächeanfälle. Vielleicht eine ererbte Krankheit?« In ihrer Frage scheint ein unausgesprochener Hintersinn zu lauern: »Ich werde den Arzt morgen fragen«, verspricht Anne. Die beiden Frauen blicken sich stumm an und denken das gleiche. Etwas liegt wie ein Verhängnis über Schloß Brunn, wie eine dunkle Gewitterwolke. Man kann hier nicht mehr frei atmen. Und nun scheint es ein zweites Opfer zu geben: Marie Elisabeth.
»Ein kleiner Feierabendklatsch?« Percy kommt mit seinen leisen, wiegenden Schritten heran und lächelt schief auf die beiden Frauen herunter. Sein Gesicht wirkt rot und erhitzt vom Portwein, seine braunen Locken hängen wirr in seine Stirn. Seine dunklen Augen flackern. »Wir sprechen gerade über das Kind«, erwidert Anne streng. »Es geht ihm schlecht. Der Arzt muß morgen unbedingt kommen.« »Ach, du meine Güte! Machen Sie nicht aus einer Mücke einen Elefanten? Kinder sind leicht einmal krank – und am nächsten Tag springen sie wieder munter herum. Das kennt man doch.« »So? Es scheint aber ernster zu sein. Ich bestehe darauf, daß der Doktor geholt wird.« »Na, meinetwegen.« Percy lächelt ironisch. »Ich habe wahrhaftig nichts dagegen. Tun Sie nur Ihre Pflicht.« »Das werde ich! Verzeihen Sie, Herr Baron, wissen Sie, wann Ihr Bruder zurückkehrt?« »Keine Ahnung! Er ist in München und erledigt Erbschaftsangelegenheiten. Wie ich Henry kenne, wird er sich lange dabei aufhalten. Er wartet schließlich schon Jahre auf diese angenehme Beschäftigung!« Es klingt häßlich und gemein. Percy hat sich offensichtlich nicht mehr ganz in der Gewalt. Alkoholdunst strömt aus einem Mund, er plaudert Dinge aus, die er sonst für sich behielte. »Es wäre besser, Baron Henry käme und kümmerte sich um seine Tochter«, erwidert Anne erregt und angeekelt. »Ich glaube nicht, daß ihn ihr Wohlergehen besonders interessiert. Oder zu sehr, wie man es nimmt. Hat nicht Olivia ein ähnliches Leiden gehabt wie die bedauernswerte Kleine? Bestimmt ein Zufall. Nur werden die meisten Leute das sonderbar finden. Und es kommt der Tag, da…« Er kann nicht zu Ende sprechen.
»Haben Sie eine Minute Zeit für mich, Herr Baron?« sagt eine scharfe Stimme hinter ihm. Die Gouvernante Vera kommt heran, ihre langen Röcke fegen den Korridor, ihr schöner Kopf ist stolz erhoben. Aber hinter all dieser kunstvollen Beherrschung merkt man doch eine unbändige Wut, die sie nur mit Mühe zügeln kann. »Eigentlich nicht, Teuerste«, lacht Percy sinnlos. Er schwankt und muß sich an der Wand abstützen, so betrunken ist er. »Ich unterhalte mich gerade mit diesen beiden Damen und erkläre ihnen, daß mein Bruder Henry vor nichts zurückschrecken würde. Vor gar nichts. Selbst seine Tochter scheint nicht sicher vor ihm…« »Herr Baron!« Veras Stimme klingt so scharf wie ein Peitschenknall. »Ich muß Sie unbedingt sofort sprechen. Haben Sie die Güte und folgen Sie mir, bitte.« »Schön, schön. Ich komme ja. Wohin du willst, Süße. Vielleicht läßt du mich endlich in dein Gemach…« Er muß sich schwer auf den Arm der Gouvernante stützen, um nicht die Balance zu verlieren. »Ihr werdet schon sehen, was geschieht!« ruft er den beiden erstarrten Frauen noch mit überschlagender Stimme zu. »Ihr werdet noch alle begreifen, was für ein Mensch Henry in Wirklichkeit ist!«
*
Wider alles Erwarten geht es Marie Elisabeth am nächsten Tag schon viel besser. Anne fällt ein Stein vom Herzen. Diesmal scheinen ihre Befürchtungen nicht einzutreffen. Gegen Abend wird die Kleine recht munter und verlangt nach ihrer neuen Puppe und dem Märchenbuch. Sie hat sogar ein wenig Appetit
und läßt sich geduldig mit Hühnersuppe füttern. Dennoch hat man für alle Fälle den Arzt gerufen. Nach der Untersuchung kommt er auf den Gang hinaus, wo Anne wartet. »Sie können beruhigt sein, liebes Fräulein«, sagt der weißhaarige Mann mit einem ironischen Funkeln in seinen gütigen Augen. »Es handelt sich nur um eine Magenverstimmung, wie sie bei Kindern häufig sind. Die Kleine wird bald wieder herumtoben können.« »Oh, da bin ich sehr froh«, seufzt das Mädchen auf. »Ich dachte schon…« »Was denn?« unterbricht der Arzt sie. »Haben Sie wieder dunkle Geheimnisse gewittert? Aber wer sollte einem so Hebreizenden Geschöpf schon Böses antun!« »Man muß vorsichtig sein. Es könnte sich ja auch um eine vererbte Krankheit handeln.« »Ach, das ist ziemlich ausgeschlossen, mein Kind. Marie Elisabeth hat irgend etwas gegessen, das ihr nicht bekommen ist.« »Ja, die Pralinen von ihrem Papa.« »Na also. Dann ist dieses düstere Geheimnis geklärt. Leben Sie wohl. Ich muß jetzt gehen, es warten noch andere Kranke auf mich.« Er nickt Anne kurz zu, die er für ein überspanntes Mädchen hält, das sich allerlei phantastische Dinge einbildet und zuviel Schauermärchen gelesen hat. Mord auf Schloß Brunn! Welch absurder Gedanke… Tatsächlich zieht jetzt ein trügerischer Frieden auf Brunn ein. Der Winter geht zu Ende, der Schnee schmilzt. Manchmal liegt in der kühlen Luft schon ein Hauch von Frühling, der das Herz weit und sehnsüchtig macht. Oft steht Anne abends an ihrem Fenster und blickt über den Schloßpark bis zum weiten See, über den die Wolken ziehen. Sie lebt noch kein Jahr lang hier, aber es kommt ihr vor wie eine kleine Ewigkeit. Eine Ewigkeit
aus Furcht und Schrecken – und aus Liebe. Was hat sie überhaupt vom Leben gewußt, als sie noch bei Emily und Wilhelm zu Hause war? Gar nichts! Und jetzt weiß sie viel, mein Gatt, wieviel! Bei dem Gedanken an den Bruder und seine Frau muß Anne leise lächeln. Sie haben kürzlich ein kleines Mädchen bekommen und scheinen die glücklichsten Menschen der Welt zu sein. So entsteht manchmal noch an einem verdorrten Reis eine Frucht und macht das Leben wieder reich. Und sie? Was soll aus ihr werden? Ist ihre Liebe zu Henry nicht ganz sinnlos und überschattet von einer dunklen Schuld? Ach, alles wäre ihr gleich, wenn er nur wiederkäme. Wie sehnt sie sich nach seinem dunklen, zerrissenen Gesicht mit den müden, guten Augen darin! Nach seinen Lippen… Anne lächelt ratlos und schließt das offene Fenster. Die Luft wird abends noch immer sehr kühl. Bevor sie sich zur Ruhe begibt, will sie noch einmal nach ihrem Schützling schauen. Aus Marie Elisabeths Zimmer hört sie leise Stimmen und unterdrücktes Weinen. Schnell öffnet sie die Tür. Das Kind liegt totenblaß auf dem Bett und zuckt vor Schmerzen, daneben kniet Baron Henry und tupft die kleine, schweißnasse Stirn trocken. Die Bedienerin Marthe huscht eilig herum und hantiert mit frischen Laken und einer Schüssel mit klarem Wasser. Henry hebt nur flüchtig den Kopf. »Großartig, daß Sie endlich kommen«, sagt er scharf, ohne dem Mädchen in die Augen zu blicken. »Eigentlich sind Sie hier, um sich um meine Tochter zu kümmern. Nur merkt man nicht viel davon!« »Sie sind ungerecht, Herr Baron! Noch heute nachmittag ging es Marie Elisabeth ganz gut, sie hat nur ein wenig über Mattigkeit geklagt. Da brachte ich sie zu Bett«, erwidert Anne tonlos. Dann beugt auch sie sich über die Kleine und versucht, ihr soweit wie möglich Erleichterung zu verschaffen.
»Bist du da?« fragt Marie Elisabeth flehend. Sie schiebt ihr kraftloses Händchen über die Bettdecke und berührt Annes Arm. »Ja, Liebes. Ich bin da. Und dein Papa auch. Du sollst ganz schnell wieder gesund werden.« »Ich möchte meine Puppe haben!« »Natürlich. Wir legen sie in deinen Arm!« Sie nimmt das blonde Puppenkind von der Kommode und legt sie in das Kinderbett. Aber Marie Elisabeth lächelt nur schwach und rührt das Spielzeug gar nicht an. Apathisch starrt sie in die seidenen Vorhänge ihres Himmelbettes. Endlich dämmert sie in einen erschöpften Halbschlaf hinüber. »Kommen Sie mit«, sagt Henry kühl. »Ich muß Sie sprechen!« Er zieht Anne auf den Gang hinaus und führt sie in sein Arbeitszimmer, wo die Fenster weit offen stehen und eine kalte Nachtluft hereinlassen. Lange Zeit steht der Baron dort und sieht schweigend hinaus. Dann wendet er sich heftig um. »Warum wurde ich nicht benachrichtigt, daß es meinem Kind schlecht geht?« »Wir hielten den ersten Anfall nur für eine kleine Magenverstimmung. Auch der Arzt hat uns beruhigt. Seit zwei Monaten ging es Marie Elisabeth ganz gut, nur wirkte sie manchmal ein wenig matt und abgeschlagen. Doch den heutigen Anfall kann ich mir ebenso wenig wie Sie erklären. Ich bin ganz erschrocken darüber. Kein freundliches Willkommen für Sie, Herr Baron!« »Das finde ich hier selten.« Henry lacht heiser auf. »Man mag mich nicht besonders in meinem eigenen Haus. Kein Wunder, daß ich meistens anderswo lebe. Heute wollte ich endlich einmal wieder nach dem Rechten sehen – und nun finde ich dies!« »Gibt es sonst noch etwas?« fragt Anne ruhig. Ihre Miene verrät kein Gefühl. Nichts von dem Aufruhr, der in ihr tobt.
Henry ist also wieder da. Er kommt und geht – wie es ihm gerade paßt. Einmal sagt er: »Ich liebe dich«, und dann, behandelt er sie wieder wie die letzte seiner Mägde. Oh, langsam kann sie begreifen, daß man ihn hassen kann! »Ich möchte mich nämlich um Marie Elisabeth kümmern. Mit gelegentlichen Besuchen ist dem Kind nicht gedient«, fährt sie scharf fort. »Danke für die Zurechtweisung! Ich habe sie wohl verdient, auch wenn ich es nicht gern zugebe«, erwidert Henry sehr leise. Sein Gesicht wirkt plötzlich müde und um Jahre gealtert. Er ist kein junger Mann mehr. Der Zenit seines Lebens ist überschritten. Was erwartet ihn noch außer trostloser, aschgrauer Verzweiflung? Er wendet sich ab. »Gehen Sie nur und tun Sie ihre Pflicht«, sagt er mit heiserer Stimme. »Henry…« »Oh, mein Gott, Anne! Endlich ein menschliches Wort in diesem Haus!« Heftig umfaßt er ihre Handgelenke. »Wie oft habe ich an dich gedacht! An deine herrlichen Haare, dein warmes Lächeln. Du weißt ja gar nicht, was für ein wunderbares Geschöpf du bist! In den kommenden schweren Zeiten brauche ich deine Hilfe, deinen Beistand!« »Woher wissen Sie, daß schwere Zeiten kommen?« fragt Anne stockend. Seine Hände tun ihr weh. Trotzdem wünscht sie, daß er sie eine Ewigkeit so halten soll… »Ja, weißt du denn nicht, was man über mich redet? Welchen Schmutz man über Schloß Brunn ausgießen will?« »Ich…« »Siehst du! Du hast auch davon gehört. Du zweifelst selbst an mir. Bist du nicht extra nach München gefahren, um mich des Mordes an meiner Frau zu beschuldigen? Und nun Marie Elisabeths Krankheit. Versprich mir das eine, Liebste! Gib gut auf die Kleine acht. Ich liebe sie mehr als mein Leben, auch
wenn du mir solche Gefühle nicht zutraust. Sie ist das einzige Gute, was ich je von Olivia empfing.« »Sie sollten nicht so von einer Toten sprechen!« sagt Anne und befreit sich aus seinem Griff. Henrys Hände sinken mutlos herab. »Na gut. Ich sollte es nicht. Es wäre besser zu lügen. Und doch werde ich der Welt die Wahrheit ins Gesicht schreien! Und nun gehen Sie, Anne! Gehen Sie schnell. Ich kann Ihre Zweifel, Ihre vorwurfsvollen Augen keine Sekunde länger ertragen!« »Jawohl, Herr Baron.« Sie dreht sich auf dem Absatz um und verläßt den Raum. Leise gleitet die Tür ins Schloß. Eine Weile steht Anne ganz still in dem dämmerigen Korridor. Aus. Alles ist aus. Ist das noch der Mensch, den sie einmal geliebt hat – dieser Wilde da drinnen? Wie verzweifelt und gehetzt er ihr vorkommt… Aber in ihrem tiefverletzten Herzen keimt kein Funken Mitleid auf. Mit schweren Schritten will sie nach oben gehen, um bei Marie Elisabeth zu wachen. Sie kommt am Speiseraum der Dienstboten vorbei, aus dem ein heftiges Stimmengewirr herausdringt. Die Tür steht halboffen. Anne ist gewiß nicht der Mensch, der an Türen lauscht. Rein zufällig erhascht sie einige Worte. Und dann kann sie nicht mehr weitergehen. »Jeder spricht schon davon«, sagt eben die grobe Stimme des Gärtners. »Er soll tatsächlich seine eigene Frau vergiftet haben. Und wenn ihr mich fragt – ich kann es mir vorstellen. Wer so hochmütig und sonderbar wie Baron Henry ist, bringt auch einen Mord zuwege.« »Red kein dummes Zeug«, erwidert die Bedienerin Marthe heftig. »Unser Herr ist nie und nimmer ein Mörder! Wie kommst du nur zu einer solch ungeheuerlichen Anschuldigung?«
»Die ganze Stadt spricht schon davon. Man will bald eine Gerichtsverhandlung einberufen. Sogar Baron Percy beschuldigt seinen Bruder in aller Öffentlichkeit.«
*
An einem der nächsten Tage entdeckt Anne im Gesicht ihres Schützlings ein paar sonderbare dunkle Flecken. »Was hast du denn da, Marie Elisabeth?« fragt sie erschrocken. Die Kleine richtet sich matt auf ihrem Krankenlager hoch. »Ich weiß nicht«, erwidert sie teilnahmslos. »Etwas Schlimmes?« »Nein, gewiß nicht. Leg dich wieder hin, Liebes. Du mußt bald gesund werden. Hier, nimm deine Tropfen.« Anne gießt ein wenig von der Medizin auf einen Löffel. Plötzlich hält sie inne. Sonderbar riecht diese Arznei. Der Geruch kommt ihr bekannt vor. Auch die dunklen Hautflecken im Gesicht des Kindes. Oh, mein Gott, Marie Elisabeths Krankheit ähnelt der ihrer Mutter auf ein Haar. Bebend verschließt das Mädchen wieder die Flasche. »Keine Tropfen heute«, murmelt sie leise. »Fein.« Das Kind lächelt matt und streckt sich erleichtert in den Kissen aus. »Ich mag gar nichts mehr essen. Onkel Percy hat mir Pralinen gebracht und nun bin ich satt.« »Eigentlich darfst du noch keine Süßigkeiten essen.« »Nein? Aber sie schmecken so gut. Und ich möchte den Onkel nicht beleidigen. Er freut sich so, wenn es mir schmeckt.« »Natürlich. Trotzdem solltest du mich in Zukunft fragen was du essen darfst. Einverstanden?« Das Kind nickt und läßt sich
matt zurücksinken. Anne beginnt geräuschlos, das Zimmer aufzuräumen, die Kissen aufzuschütteln und ein frisches, mit Röschen bedrucktes Nachthemd herauszuziehen. »Ist es eigentlich schlimm zu sterben?« fragt Marie Elisabeth plötzlich. Ihr kleines Gesicht wirkt ganz ernsthaft und erwachsen dabei. »Aber Liebes, warum fragst du das?« Anne läßt vor Schreck das Nachthemd fallen. »Weil ich so krank bin. Und Onkel Percy hat zu mir gesagt, es sei so schön im Himmel bei Mama. Aber ich möchte lieber bei dir bleiben!« »Das wirst du ganz bestimmt. Ich passe auf dich auf. Dir geschieht nichts Böses.« Sie nimmt das Kind in die Arme und preßt es fest an sich. Sie weiß nicht, daß ihr dabei Tränen in den Augen stehen. Gegen Mittag kommt wieder einmal der Arzt vorbei, der zum ständigen Besucher auf Brunn geworden ist. Auch in seinen Augen steht jetzt eine tiefe Besorgnis, die verrät, daß er sich Marie Elisabeths Zustand nicht recht erklären kann. Nach der Untersuchung bleibt er noch eine Weile ratlos im Kinderzimmer stehen. Baron Henry, der auf eine Beruhigung, ein ärztliches Trostwort wartet, wird blaß. »Ist es denn so schlimm, Herr Doktor?« »Nun, es gibt immer Hoffnung. Allerdings bereitet mir die Krankheit Ihrer Tochter einiges Kopfzerbrechen. Wir sollten vielleicht einen Spezialisten aus Wien hinzuziehen.« »Warum bringen wir die Kleine nicht in ein Krankenhaus?« mischt sich Anne ein. Sie hat das unbestimmte Gefühl, daß Marie Elisabeth fern von Schloß Brunn bald genesen würde. »Wenn sich ihr Zustand weiter verschlechtert, wäre ich auch dafür. Aber lassen Sie mich ganz offen sein, Herr Baron. Es gehen in der Stadt einige ungeheuerliche Gerüchte über Sie um. Ich bin weit davon entfernt, das üble Gerede zu glauben.
Aber man soll nicht noch zusätzlich Öl ins Feuer gießen. So würde ich an Ihrer Stelle Marie Elisabeths Krankheit geheimhalten. Es sieht ein wenig merkwürdig aus – dieses Leiden, das schon ihre Frau hinweggerafft hat.« »Wie meinen Sie das?« fragt Henry aschfahl im Gesicht. Sein Ton ist eisig. Aber nun gerät auch der alte Doktor in einen gesunden Zorn. »Herr im Himmel, das wissen Sie doch selbst! Ich glaube wahrhaftig nicht, daß Sie ein Mörder sind, Baron! Aber es gibt Umstände, die auch ich mir nicht mehr erklären kann. Machen Sie sich darauf gefaßt, daß es bald zu einer Untersuchung kommen wird – wie mir einer der Ratsherren beim Stammtisch verraten hat. Und nun muß ich gehen. Habe die Ehre, Herr Baron! Ich schicke bald den Spezialisten aus Wien.« Er nimmt seine Arzttasche, schaut noch einmal zu einem Abschiedsgruß in das Kinderzimmer und verschwindet dann wortlos. Anne und Henry stehen sich stumm gegenüber. »Bitte, paß auf mein Kind auf!« sagt der Baron schließlich leise. »Kontrolliere alles, was es zu sich nimmt. Es darf ihr nichts geschehen. Ich könnte nicht weiter leben ohne Marie Elisabeth. Glaubst du mir das, Anne?« »Ich möchte es gern…«, erwidert sie zögernd. »Also auch du zweifelst an mir. Oh, mein Gott!« Er bedeckt eine Sekunde lang mit den Händen seine müden Augen. Da fühlt er eine leise Berührung. »Ich muß Ihnen etwas geben, das ich aus Ihrem Zimmer genommen habe. Ich weiß, ich durfte es nicht tun. Noch weniger kann ich diese Dinge gegen Sie ausspielen, wenn es wirklich zu einer Untersuchung kommen sollte. Warten Sie einen Augenblick, bitte.« Anne huscht schnell in ihr Zimmer hinüber und kramt aus dem hintersten Fach ihres Schrankes ein kleines Bündel von beschriebenem Papier und das Buch über die Wirkung von Giften hervor.
»Also deshalb…«, sagt Henry, er ist ihr geräuschlos gefolgt. »Nun verstehe ich. Sie haben meine Aufzeichnungen gelesen. Wer so etwas schreibt, muß seine Haßgefühle dann auch in die Tat umsetzen. Das glauben Sie doch, oder?« »Ich… Ich weiß nicht«, murmelt das Mädchen. Der Baron steht jetzt ganz dicht vor ihr und blickt mit sonderbaren Augen auf sie herunter. »Und warum wollen Sie mir jetzt dieses großartige Beweismaterial aushändigen? Haben Sie keine Angst, daß ich alles vernichte? Warum tun Sie das, Anne?« »Weil ich Sie liebe.« »Ja, das ist der einzig mögliche Grund«, erwidert Henry sachlich – und dann schießt eine freudige Röte in sein Gesicht. Mit wilder Heftigkeit zieht er Anne in seine Arme und preßt seinen Mund auf den ihren. Unablässig murmelt er leise Koseworte vor sich hin. »Du Süße du… Wie lange habe ich auf ein Wort von dir gewartet. Du ahnst ja nicht, wie lange schon! Wenn einmal all dieses Grauen durchgestanden ist, wollen wir glücklich sein, nicht wahr? Du sollst mir gehören, Liebste! Wie schön du bist!« Er lockert ihr honigblondes Haar und greift bewundernd eine der seidigen Strähnen. Anne ist nun die ganze Welt gleichgültig geworden – sie will nur noch das eine: bei ihm sein, seine Arme, seinen Mund fühlen. Seine zärtlichen Worte hören. Wie zärtlich kann dieser ungebärdige, wilde Mann sein, wie behutsam! Diese tanzende Flamme in seinen Augen! All ihr Widerstand schwindet, sie möchte in seine Arme sinken – und schrickt doch zurück, als im gleichen Augenblick der tiefe Gong durch das Haus dröhnt und zum Essen ruft. Die beiden Liebenden blicken einander verlegen an. Jäh hat der dunkle Ton sie aus ihrer Verzückung gerissen. Jetzt finden sie keine Worte… »Komm, Anne, man erwartet uns bei Tisch!«
»Ja, Herr Baron.« »Ach, Liebste, einmal sollst du vor aller Welt die meine sein.« »Das wäre schön.« Annes Stimme klingt hoffnungslos. Sie haben ja keine Chance. Als sie das Speisezimmer betreten, versucht sie, eine gleichmütige Miene aufzusetzen. Drei Augenpaare blicken ihnen in sonderbarer Spannung entgegen. Percy nickt lächelnd, aber in seinen dunklen Augen funkelt die Bosheit. Vera wirkt geschmeidig und kampfbereit wie eine schillernde Schlange. Der ältere Herr neben ihnen macht einen sichtlich verlegenen und unbehaglichen Eindruck. Rasch erhebt er sich, um dem Baron die Hand zu drücken. »Es ist mir sehr peinlich«, sagt er höflich, »Sie mit dieser unerquicklichen Untersuchung zu belästigen, fällt mir nicht leicht. Dennoch wollte ich Sie über die… nun, über die allgemeine Stimmung informieren. Es gehen Gerüchte um, die wir bald aus der Welt schaffen sollten, bevor Sie Ihrem Ansehen schaden.« »Ich weiß Bescheid«, erwidert Henry langsam. »Nehmen Sie doch Platz, Herr Amtsrichter. Ich hoffe, Sie sind unser Gast beim Essen.« »Ja, danke! Sehr gern.« Sie löffeln schweigend die Suppe. Keinem ist recht behaglich zumute. »Wie geht es Ihrer Tochter?« fragt der Richter schließlich, als sie beim Mokka angelangt sind. »Noch immer nicht besser, leider.« »Man spricht davon, daß sie dieselbe Krankheit wie ihre bedauernswerte Mutter haben soll?« »Ach… Spricht man schon davon?« erwidert Henry langsam. Sein Löffel klirrt gegen die kleine Mokkatasse. »Wer hat eigentlich den größten Vorteil vom Tod der armen Baronin Olivia? Leider muß ich diese Frage stellen.«
»Na, wer wohl? Natürlich mein Bruder. Und in nächster Linie seine Tochter.« Percy lacht schrill auf. Die Augen des alten Amtsrichters wenden sich ihm mit einem nachdenklichen Ausdruck zu. »Ja? Übrigens war ich etwas erstaunt darüber, daß Sie Ihren Bruder Henry in aller Öffentlichkeit als Gattenmörder bezeichneten. Haben nicht Sie diese Untersuchung überhaupt erst in Gang gebracht?« »Das können Sie ihm nicht ankreiden. Recht muß Recht bleiben, auch wenn es um die eigene Familie geht«, mischt sich Vera mit scharfer Stimme ein. Sie wirft einen drohenden Blick in Percys Richtung, damit er sich nicht zu unbedachten Äußerungen hinreißen läßt. »Liebes Fräulein, hier geht es weniger um die Familie, als, Pardon, um Geld«, erwidert der Amtsrichter. »Percy! Du also hast das Gerede über mich in Gang gebracht! Wie sehr mußt du mich hassen«, sagt Henry still. Sein Gesicht ist aschfahl dabei. Seine Hand mit dem Mokkalöffel zittert.
*
Wieder vergehen ein oder zwei Wochen. Der Frühling zieht prunkend ins Land ein, die Kirschbäume blühen, die Kastanien setzen dicke Knospen an. Eine Zeit der Hoffnung. Auf Schloß Brunn aber herrscht eine sonderbare Grabesstille, als hielte jedermann den Atem an. Jeder fühlt, daß bald schreckliche Dinge geschehen müssen… Das Kind Marie Elisabeth liegt noch immer krank zu Bett. Sein Zustand wechselt, aber insgesamt nimmt seine Schwäche zu. Das runde Kindergesicht ist abgemagert, die strahlenden, lustigen Augen haben jeden Glanz verloren. Wenn Anne in ihr Zimmer kommt, ringt sie
sich ein kleines, mattes Lächeln ab. Es ist, als triebe Marie Elisabeth mehr und mehr einem jenseitigen Ufer zu. Die zarten weißen Hände, der zerbrechliche Körper sind schon nicht mehr ganz von dieser Welt. Eines Abends geht Anne tiefbetrübt im Schloßpark spazieren. In den Hecken jubilieren die Nachtigallen, schwer duften die lila Fliederdolden, ein schläfriger, süßer Frühlingsfrieden liegt über dem Land. Aber das Mädchen bemerkt all diese Schönheit kaum. Seine Gedanken gehen immer wieder die gleichen quälenden Wege. Wie kann sie nur dem Kind helfen? Wie ein unausweichliches Schicksal abwenden? Ach, es gibt keine Antwort darauf… Langsam geht sie den Weg zum See hinunter. Sie setzt sich auf die Bank neben dem alten Bootshaus, um ein wenig zu rasten. Ringsherum blühen die Ginsterbüsche und verbergen das Mädchen vor allen Blicken. Aber sie selbst sieht ganz genau, daß jetzt zwei engumschlungene Gestalten die Uferpromenade entlangkommen. Anne traut ihren Augen nicht. Es sind Henry und die Gouvernante Vera, die sich jetzt gemeinsam ins Bootshaus begeben und in ein Boot setzen. Leise schwappt das Wasser gegen die hölzernen Wände. Durch eine Lücke in dem fauligen Holz sieht man, wie sich jetzt der Baron über Vera beugt und ihre Lippen mit heftigen Küssen bedeckt. Man sieht sogar das triumphierende Glänzen in den Augen der schönen Frau. »Oh, du«, murmelt sie leidenschaftlich. »Wie lange habe ich deine Küsse entbehren müssen. Ich glaubte schon, daß du mich vergessen hast, Liebster. Dabei tue ich doch alles für dich.« »Ich mußte vorsichtig sein. Du weißt, welcher Verdacht auf mir lastet. Ich mußte meine Liebe zu dir verleugnen und verbergen, damit ich mich nicht noch verdächtiger machte. Die ganze Zeit habe ich gehofft, du würdest mich trotzdem begreifen.«
»Aber du hättest mir alles sagen können, Liebster«, erwidert Vera mit leisem Mißtrauen und preßt sich an den Baron. »Selbst wenn du ein Mörder wärest, würde ich dich lieben.« »Vielleicht habe ich es getan, damit ich für dich frei bin?« fragt Henry mit seiner heiseren Stimme. Vera lacht auf. »Du Schmeichler! Das soll ich dir glauben? Schön wäre es ja, wenn ich dir soviel bedeuten würde. Aber leider weiß ich ganz genau, daß…« Sie bricht erschrocken ab, als hätte sie schon viel zuviel gesagt. »Was weißt du?« fragt er seltsam drängend. »Wir sollten uns alles gestehen, die ganze Wahrheit. Nichts kann unserer Liebe schaden.« »Oh, nein, Henry. Warum alles ausbreiten? Aber eines Tages wirst du begreifen, was ich für dich – für uns – getan habe, obwohl es eine Zeitlang so schien, als hättest du dich in diese kleine Krankenschwester verliebt.« »Unsinn! Ein unbedeutendes, braves Ding! Man kann sie gar nicht mit dir vergleichen, Vera. Du bist eine Frau, die den Männern das Blut aufpeitscht. Du machst mich ganz und gar verrückt.« Er küßt sie wieder mit wachsender Leidenschaft. Im nächsten Augenblick fährt er zusammen und läßt von der Frau ab. Er hat ein Geräusch gehört. »Ist da jemand?« ruft er. Aber auch außerhalb des Bootshauses ist alles totenstill, kein Mensch ist zu sehen. Denn Anne ist längst auf leisen Sohlen fortgehuscht. Keine Sekunde länger kann sie es in dem unfreiwilligen Lauscherposten aushalten. Atemlos vom Laufen gelangt sie zum Schloßhof. Ihr Herz schlägt schwer gegen ihre Rippen. Noch kann sie keinen klaren Gedanken über das fassen, was sie eben gehört hat. Nur allmählich wird ihr bewußt, daß eine ganze Welt in ihr eingestürzt ist…
»Sie wirken ja so erhitzt, Teuerste?« fragt Percy, der eben aus dem Portal heraustritt und sich unruhig umblickt. »Was ist Ihnen denn zugestoßen?« »Gar nichts«, keucht das Mädchen. »Ich… Ich habe mir nur ein wenig Bewegung gemacht.« »Offensichtlich. Sie sind ja ganz außer sich. Haben Sie übrigens zufällig meinen Bruder gesehen?« »Ja, er ist unten im Bootshaus. Die Gouvernante ist bei ihm.« »So?« Percys Augen werden ganz schmal und glitzern seltsam. Anne könnte sich die Zunge abbeißen, so sehr ärgert sie sich über ihre Bemerkung. Muß sie über den größten Kummer ihres Lebens tratschen wie ein altes Waschweib? Percy steht ganz dicht vor ihr und blickt prüfend auf sie herab. Sie spürt den unvermeidlichen Alkoholdunst, der jetzt fast ständig von ihm ausgeht. Plötzlich zuckt ein böses Begreifen über sein Gesicht. »Ach, so ist das«, sagt er mit eisiger Ruhe, hinter der die Wut lauert. »Ich verstehe. Henry und Vera wieder traut vereint. Aber Sie brauchten sich wahrhaftig nicht darüber aufregen, Anne. Mein Bruder ist sowieso nichts wert.« »Sie haben mich falsch verstanden, Herr Baron«, erwidert das Mädchen zögernd. Irgend etwas treibt sie dazu, ihn anzulügen. »Ihr Bruder hat sich mit Vera nur über die Krankheit seiner Tochter unterhalten. Die Gouvernante versuchte, ihn zu beruhigen.« »Ach, wirklich?« Percy blickt sie mißtrauisch an, aber allmählich schimmert Erleichterung in seinen Augen auf. Anne nickt ihm kurz zu und läuft dann eilends in ihr Zimmer, um heimlich die Koffer zu packen. Wie ein Dieb will sie bei Nacht und Nebel Schloß Brunn verlassen. Und langsam beginnt die entsetzliche Enttäuschung mit voller Wucht ihr Herz zu treffen.
Anne findet nicht einmal Tränen, so sehr ist sie verletzt. Wenn auch alles unklar und zwielichtig war auf Brunn – so hat sie doch stets an Henrys aufrichtige Gefühle geglaubt. Und nun brennen ihr seine abfälligen Worte wie Feuer im Herzen. Eine Tarnung hat sie für ihn abgegeben, ein Werkzeug für seine dunklen, undurchsichtigen Pläne. All seine Schwüre und Zärtlichkeiten waren nichts als Lüge… Noch immer fällt es ihr schwer, an das zu glauben, was sie mit eigenen Augen gesehen, mit eigenen Ohren gehört hat. Endlich ist ihre geringe Habe verstaut und zusammengepackt. Nun muß sie warten, bis es dunkel wird. Sie will heimlich die Kutsche aus dem Stall holen und ein Pferd anschirren. Vor der Fahrt durch den finsteren Wald graut ihr schon jetzt. Aber sie kann niemanden in ihren Plan einweihen. Wem kann man denn trauen? Keinem einzigen Menschen… Womöglich hielte man sie mit Gewalt zurück. Endlich sinkt schwer und mild die Frühlingsnacht hernieder. Die Vögel in den Bäumen schweigen. Ein leiser Wind bewegt die Äste. Vom Rasen steigt der Geruch nach frischem Gras und dunstigem Tau empor. Zum letztenmal huscht Anne in das Kinderzimmer, um nach Marie Elisabeth zu sehen. Neben dem Himmelbett flackert eine Lampe. Das Kind schläft, es wirft sich unruhig in den naßgeschwitzten Kissen herum. Das Gesichtchen wirkt aschfahl und bleich, die Haare hängen strähnig herunter. »Liebes…«, flüstert Anne und drückt ihr einen Kuß auf die Stirn. »Gott befohlen.« »Wer ist da?« murmelt die Kleine und schlägt die übergroßen schwarzen Augen auf. »Ich bin es.« Anne tupft ihr mit einem Tüchlein die hellen Schweißperlen ab. »Ja? Schön. Gib mir deine Hand. Wenn du da bist, habe ich keine Angst mehr.«
»Wovor fürchtest du dich denn, Marie Elisabeth?« »Ich weiß nicht. Vor etwas Dunklem. Ich träume so schlimm. Bleib neben meinem Bett sitzen, dann können die bösen Träume nicht kommen. Bitte, bitte, bleib hier!« »Ja, Liebes. Schlaf nur wieder ein. Ich verlasse dich nicht. Ich gebe auf dich acht.« Minuten später erfüllen die ruhigen kindlichen Atemzüge das Zimmer. Marie Elisabeth schläft. Draußen steht jetzt der Mond am nacht dunklen Himmel. Anne sitzt ganz ruhig da. Sie wird die ganze Nacht hier wachen. Einmal muß sie an den gepackten Koffer denken, der in ihrem Zimmer wartet. Sie lächelt leise – und fühlt sich alt und müde dabei. Sie kann ja nicht einfach fortlaufen von Schloß Brunn, wie sie gemeint hat. Dort liegt das arme, kranke Kind, das man ihr anvertraut hat, das sie liebt. Wie könnte sie es in diesem Zustand alleinlassen und einer dunklen Macht ausliefern? In all dem Grauen und der bitteren Enttäuschung kann Anne doch noch einen hoffnungsvollen Schimmer des Lichtes entdecken. Dieses Kind ist ihrer Obhut anvertraut. Und sie wird es schützen wie eine Löwin ihr Junges.
*
»Anne, ich muß dich sprechen!« »Herr Baron? Was gibt es denn?« Das Mädchen wendet sich unwillig auf dem Gang um. Es trägt eine Schale mit kaltem Wasser in den Händen und will eben in Marie Elisabeths Zimmer eilen. Sein Gesicht wirkt kühl und starr wie selten. Henry betrachtet sie erstaunt, dann versteinert auch seine Miene.
»Ich will Sie nicht von Ihren Pflichten abhalten«, sagt er mit einem bösen Funkeln in den Augen. »Ich möchte Sie nur darauf hinweisen, daß heute abend der Amtsrichter und einige Polizeibeamte nach Brunn kommen, um den Tod meiner Frau zu untersuchen. Offensichtlich sind Beweisstücke aufgetaucht, die auf ein Verbrechen hindeuten. Halten Sie sich bereit, Sie müssen bei der Befragung dabeisein.« »Jawohl. Ich komme«, erwidert sie knapp. »Ich brauche wohl nicht mehr zu fragen, ob Sie als einzige zu mir halten. Sie sind genau wie alle anderen – mißtrauisch und feige.« Henrys Stimme klingt schneidend. Aber seine Augen wirken traurig und todmüde dabei. Anne merkt nichts davon. Sie weicht seinem fragenden Blick aus. »Und Sie, Herr Baron? Wer sind Sie in Wirklichkeit?« fragt das Mädchen leise und wendet sich ab. Ein wenig kühles Wasser schwappt dabei aus der Schale. »Anne, Liebes…«, murmelt Henry unhörbar. Seine Arme sinken mutlos herab. Er hat zum erstenmal ein Gefühl, das er sonst nicht kennt: Angst. Gegen Abend versammelt sich eine schweigende Gesellschaft im Kaminzimmer. Die Fenster stehen offen, die Frühlingsluft weht herein, unendlich sehnsüchtig klingt das Lied einer Nachtigall. Alles ist in ihrem Trillern: Schmerz und Freude und Schönheit… Aber keiner gibt darauf acht. Hier geht es um ein schmutziges Geschäft: Um Mord. Henry Baron von Brunn sitzt starr aufgerichtet in seinem Lehnstuhl. In seinem kantigen, kühnen Gesicht zuckt kein einziger Muskel. Die Augen blicken kühl und gleichmütig vor sich hin, als wüßten sie längst alles, was jetzt kommt. Der alte Amtsrichter betrachtet den Baron mit einer gewissen Hochachtung. Nie war ihm eine Aufgabe so zuwider wie die heutige. Unruhig dreht er seine Pfeife zwischen den Händen. Er wagt den Arzt, der ihm gegenüber sitzt und sich verlegen räuspert, nicht anzusehen.
Die Gouvernante Vera aber lächelt verstohlen über all die beklommenen Gesichter ringsherum. Sie lehnt sich lässig in ihrem Stuhl zurück. Ihre roten Haare fallen in einer dichten seidigen Welle über ihre bloßen Schultern. Die grüne Seide ihres engen Kleides wirkt aufreizend und schillernd wie eine Schlangenhaut. In ihren wissenden Augen funkelt eine versteckte Bosheit – und ein unverhüllter Triumph. Percy, der dicht beim Kaminfeuer Platz genommen hat, verzehrt sie mit seinen Blicken. Aber sie nimmt ihn gar nicht zur Kenntnis. Sie muß etwas wissen, denkt Anne. Eifersucht flammt in ihr auf. Vergeblich sagt sie sich, daß die Gouvernante eine leichtfertige, charakterlose Frau ist. Was bedeutet das schon, da ihr Henrys Liebe gehört? Henry, den Anne nie mehr geliebt hat, als in diesen schicksalsträchtigen Minuten. »Fangen Sie ruhig mit Ihrer Untersuchung an«, sagt Percy in diesem Augenblick. Sein schmales, bleiches Gesicht wird von den Flammen des Kaminfeuers unruhig erhellt. Sonderbar flackern seine schwarzen, leidenschaftlichen Augen. »Sie geben mir das Stichwort, Herr Baron!« erwidert der alte Amtsrichter würdevoll und strafft sich. Unwillkürlich greift seine Hand nach der großen Ledermappe, die vor ihm liegt. »Wir alle wissen, worum es sich handelt. Seit längerer Zeit gehen im Ort Gerüchte um, daß die selige Frau Baronin keines natürlichen Todes gestorben ist. Auch die Krankheit der Erbin Marie Elisabeth scheint manchen Leuten verdächtig zu sein. Ich verfüge daher als erstes, daß das Kind morgen in eine Klinik gebracht wird, bis zur Aufklärung der Vorkommnisse. Sind Sie einverstanden, Herr Doktor?« Der alte Arzt nickt bestätigend. »Ich muß meine Zustimmung geben, obwohl ich all die Anschuldigungen noch immer nicht glauben kann.« »Sie kennen noch nicht alle Beweise, Doktor.« Wieder greift die Hand des Richters zu seiner Tasche. Aber er zieht sie
nachdenklich zurück. »Ich habe nun einige Fragen an Sie, Herr Baron.« »Gut. Ich werde alles beantworten«, erwidert Henry heiser. Sein Gesicht bleibt unbewegt dabei. Nur seine Hand krampft sich heftig um die hölzerne Stuhllehne. »Haben Sie mit Ihrer Frau eine glückliche Ehe geführt?« »Jeder weiß, daß ich Olivia gehaßt habe und ihr aus dem Weg gegangen bin.« »Dennoch sind Sie der Erbe ihres riesigen Vermögens. Ist es wahr, daß Sie sich hauptsächlich über Geld mit der Baronin gestritten haben?« »Das ist wahr.« »Und Sie haben die Ehe gebrochen – mit der Frau, die hier vor Ihnen sitzt?« »Ja.« »Haben Sie Ihrer Frau manchmal den Tod gewünscht, damit Sie endlich frei sein konnten?« Der alte Amtsrichter sitzt jetzt hochaufgerichtet da. Seine weißen Haare lodern über dem strengen, anklagenden Gesicht. Seine prüfenden Augen lassen Henry nicht los, der lange um eine Antwort kämpft. »Auch das muß ich zugeben – und Gott möge mir verzeihen. Ich habe manchmal Olivias Tod gewünscht.« »Ihre Tochter Marie Elisabeth ist – außer Ihnen – die Haupterbin, nichtwahr? Wie stehen Sie zu dem Kind?« »Ich liebe es von Herzen.« »Wissen Sie, daß Ihr Bruder Percy ausgesagt hat, Sie würden das Kind nicht ausstehen können und sich selten darum kümmern?« »Mein Bruder haßt mich von Kindertagen an.« »Ich glaube, das ist keine befriedigende Antwort, Herr Baron. Wer einen Mord begeht, wird auch zu einem zweiten fähig sein.«
»Und Sie glauben, daß ich dazu imstande bin, Herr Richter?« fragt Henry scharf. »Nein. Ich kann und will es nicht glauben. Wir sind alte Freunde, Henry. Trotz allen Geredes habe ich stets Achtung für Sie empfunden. Ich tue es noch immer. Dennoch erhebe ich Anklage gegen Sie wegen des Mordes an Ihrer Frau Olivia und des Mordversuches an Ihrer Tochter Marie Elisabeth.« Müde läßt sich der alte Mann in seinen Stuhl zurücksinken. Mit fahrigen Händen zieht er seine Pfeife hervor, um sie dann doch achtlos beiseite zu legen. Im Kamin knackt ein Scheit und sprüht glühende Funken. Draußen vor den Fenstern singt die Nachtigall. Hier im Zimmer spricht niemand ein Wort. Die Stille legt sich wie ein erstickender Aschenregen auf die kleine Gesellschaft. Anne blickt zu Henry hinüber, mit einem Herzen voller Mitleid und Liebe. Alles spricht gegen ihn, alles. Dennoch kann sie in diesem Augenblick nicht glauben, daß er wirklich ein Mörder ist… Er hat sie tief enttäuscht. Aber ist das nicht ganz gleichgültig vor diesem Tribunal über Leben und Tod? Sie liebt ihn doch. »Ich nehme an, Sie haben auch Beweise für Ihre ungeheuerliche Behauptung?« fragt Henry beherrscht. Der Richter nickt. »Ja. Beweise – und einen Zeugen.« »Einen Zeugen für etwas, das ich nicht getan habe? Das kann nicht sein.« »Oh, doch, Herr Baron. Der Zeuge sitzt dort drüben am Kamin. Es ist ihr Bruder Percy.« »Percy? Oh, mein Gott… Ich hätte nicht gedacht, daß er mich so sehr haßt.« »Kennen Sie diese Medikamente?« Der Richter öffnet seine Ledermappe und zieht zwei Fläschchen mit einer milchigen, trüben Arznei hervor.
»Gewiß. Ich habe sie für meine Frau – und später für meine Tochter – in Wien besorgt.« »Danke für diese klare Antwort. Wir haben die Medikamente untersuchen lassen. Sie enthalten hohe Dosen von Arsen, einem tödlichen Gift, wie Sie wissen. So nahmen die armen Opfer mit ihrer täglichen Medizin auch stets etwas Gift ein, das sie nach und nach unter die Erde bringen sollte. Eine raffinierte Methode.« »Und woher wissen Sie, daß ich der Giftmischer bin?« fragt Henry langsam. Sein Gesicht ist aschfahl dabei. »Hatten Sie nicht als einzige Person auf Schloß Brunn einen Grund zum Mord?« »Da bin ich seit heute nicht mehr so sicher…« »Dann hören Sie weiter, Herr Baron. Ihr Bruder Percy hat Sie nämlich beobachtet, wie Sie ein weißes Pulver mit dem Inhalt der Medizinflaschen vermischten.« »Er lügt!« erwidert Henry hart. Sein erbitterter Blick sucht den des Bruders, doch Percy weicht ihm aus. Mit einem leisen, spöttischen Lächeln erhebt er sich. Seine schmale, weiße Hand stützt sich am Kaminsims ab, seine Augen wirken sonderbar leer und ausdruckslos. »Ich schwöre, daß ich die Wahrheit spreche«, erklärt er gleichgültig. »Und warum haben Sie Ihre Beobachtung so lange verschwiegen?« »Weil ich keinerlei Verdacht hegte. Erst nach und nach ist mir alles klargeworden. Übrigens bin ich nicht der einzige Zeuge. Die Gouvernante Vera hat ähnliche Beobachtungen gemacht. Henry hat einmal zu ihr geäußert, er wäre bald frei für sie, es dauerte nicht mehr lange. Er hätte nur noch ein paar Dinge zu erledigen. Ja, ja, so herzlos drückte sich mein vielgeliebter Bruder aus. Und vor zwei Tagen hat er Vera sein Verbrechen gestanden.«
»Was reden Sie da?« fährt der Amtsrichter auf. Eine unerträgliche Spannung herrscht plötzlich im Raum. Henry bedeckt seine Augen mit den Händen. Anne klammert sich an ihrem Stuhl fest, totenbleich im Gesicht. Sie kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Selbst in Percys schiefem Lächeln steht etwas wie Angst geschrieben. Nur Vera erscheint von der Eröffnung gänzlich unberührt zu bleiben. Sie streicht sich eine Strähne ihres roten Haares zurück, dann erhebt sie sich langsam. Ihr Seidenkleid schimmert im Licht des Kaminfeuers. Sie wirft Henry einen kurzen, undeutbaren Blick zu, um sich dann mit träger, schleppender Stimme an den Amtsrichter zu wenden. Was mag in dieser Frau vorgehen? Kein Muskel in ihrem schönen Gesicht verzieht sich, als sie jetzt einige ungeheuerliche Worte ausspricht. Nur ihr Atem scheint ein wenig schneller zu gehen, ihre üppige Brust hebt und senkt sich rasch. Wie ein rotes Schlänglein fährt ihre Zunge über die vollen Lippen. »Ich kann die Aussage Percys nicht bestätigen«, sagt sie langsam. »Er lügt mit jedem Wort. Doch auch mit seinen Drohungen kann er mich nicht zu seiner Komplicin machen. Wenn Sie den wahren Mörder suchen: Er steht dort drüben am Kamin. Es ist Percy selbst!« »Du verlogene Schlange, du Biest«, zischt Percy hervor, mit einer Stimme, die halb wahnsinnig klingt. Er will sich auf Vera stürzen und legt ihr schon die Hände um den blütenweißen Hals. Da sieht er die Polizisten, die von der Tür her auf ihn zulaufen. Mit einer raschen Drehung wendet er sich zur Wand, drückt eine verborgene Stelle der Täfelung, ein schmaler Schlitz öffnet sich. Blitzartig verschwindet er dahinter. Wie von Geisterhand schließt sich die Geheimtür wieder. Von irgendwo hört man noch ein irres Lachen. Dann ist alles still. Totenstill.
*
Es vergehen viele Stunden einer fieberhaften Suche. Der Mond steht schon hoch am Nachthimmel, da betritt der alte Amtsrichter wieder müde das Kaminzimmer. Henry sitzt noch immer dort im Lehnstuhl, hochaufgerichtet und starr. Sein kantiges Gesicht ist blaß und wirkt wie aus Holz geschnitzt. Er hat sich seit Stunden nicht vom Fleck gerührt. »Ihr Bruder muß das Schloß verlassen haben und sich in den Wäldern verbergen«, sagt der Richter zögernd und streicht sich die weißen Haare zurück. Der Baron erwidert eine Weile nichts. »Ja? Das sollte mich wundern«, sagt er schließlich. »Brunn hat viele geheime Winkel.« »Meine Polizisten haben alles durchsucht. Wirklich alles. Sogar die mittelalterliche Ruine am See. Aber wir werden ihn schon noch fassen.« »Sie erwarten hoffentlich nicht, daß ich darüber in Jubel ausbreche.« »Gewiß nicht, Herr Baron. Ich kann Ihre Gefühle wahrhaftig verstehen. Dennoch bin ich sehr erleichtert, daß nicht Sie der Mörder sind. Ich konnte es mir nie vorstellen, um ehrlich zu sein. Sie sind nicht der Mensch, der ein Verbrechen begehen kann.« »Das hilft mir und meiner Familie nicht mehr viel. Unser aller Glück ist zerstört. Mir bleibt nichts, als in die Fremde zu ziehen, wo man unseren mit Schande bedeckten Namen noch nicht kennt.« »Sie vergessen Ihre Tochter. Marie Elisabeth wird die Zukunft gehören. Denken Sie an das Kind, Henry!«
»Ich kann gar nichts mehr denken. Ich fühle mich wie ausgepreßt. Glauben Sie, ich möchte meinen Bruder am Galgen sehen? Ich bin wahrhaftig kein Mörder, aber auch ich habe viel Schuld auf mich geladen.« Endlich merkt man Henry all die furchtbare Anspannung an. Einen schwachen Augenblick lang birgt er sein Gesicht zwischen den Händen. Der Richter legt leicht seine Hand auf die Schulter des Barons. »Alle Menschen machen sich schuldig. Niemand ist ein Engel oder Heiliger. Und Sie haben doch noch viel Zeit zu sühnen. Sie sind doch noch jung. – Und nun leben Sie wohl. Wir setzen unsere Suche morgen fort. Alle müssen sich für neue Vernehmungen bereithalten. Glauben Sie mir, Henry, ich bin Ihr Freund. Auch die kommenden schweren Zeiten gehen vorüber!« »Ja, vielleicht. Ich danke Ihnen«, sagt Henry, der seine Fassung wiederfindet. Seinem verschlossenen Gesicht merkt man keine Regung mehr an. Als der Richter gegangen ist, bleibt er noch lange in dem Sessel am Kaminfeuer sitzen und stützt nachdenklich den Kopf in die Hand. Einen gibt es, der noch durch geheime Gänge streift und mit irren Blicken halbe Worte und Sätze des Hasses hervorstößt. Percy hat das Schloß keine Sekunde lang verlassen, sondern sich in einem geheimen Winkel verborgen, den nur er selbst kennt. Mehrmals sind die Polizisten dicht an seinem Versteck vorbeigekommen, er hätte sie mit der Hand berühren können. Sie haben ihn nicht gefunden. Ihn, der zum Mörder geworden ist. Plötzlich geht seinem kranken Hirn auf, was er getan hat – und was ihn dafür erwartet… Und alles, alles vergebens. Die eine, der er ein Königreich zu Füßen gelegt hätte, hat ihn verraten. Sie soll ihm dafür büßen. Alle sollen ihm büßen. Seine Gedanken verwirren sich. Wie im Traum schleicht er sich im Schutze der Nacht zu den Ställen hinüber, wo eine große Kanne mit Petroleum steht. Ist es wirklich er selbst, der
ein paar alte Lappen mit der öligen Flüssigkeit tränkt und schließlich eine brennende Fackel daran hält? In der großen Diele schaut er befriedigt zu, wie sich das Feuer langsam die hölzerne Täfelung entlangfrißt. Das Feuer, das auch seine Schuld mit wegbrennen soll… Es mag gegen drei oder vier Uhr morgens sein, da erwacht Anne von einem sonderbaren Brausen und Knacken. Verschlafen schiebt sie die Bettdecke beiseite und tappt zum Fenster hinüber. Aber die Welt draußen liegt ganz friedlich da, der Morgen dämmert schon. Es riecht nach dem frischgemähten Rasen und den ersten Rosen. Sonderbar. Ein Windstoß bläst ihr auch eine Rauchwolke ins Gesicht. Ob es irgendwo brennt? Sie zieht sich einen Morgenmantel über und schließt ihre Tür auf. Es ist besser, einmal nach dem Rechten zu sehen. Knirschend dreht sich der Schlüssel im Schloß. Der Korridor scheint verlassen und dunkel. Aber feine Rauschschwaden ziehen ihr entgegen und nehmen ihr den Atem. Als sie dann um eine Ecke biegt, sieht sie das Schreckliche. Die große Freitreppe steht gänzlich in Flammen. Hell lodert das Feuer bis zum Dach empor. Balken krachen glühend und rauchend herunter. Anne weicht entsetzt zurück. »O mein Gott!« keucht sie. Eine Weile steht sie ganz erstarrt da und kein klarer Gedanke kommt ihr in den Sinn, als wäre sie festgenagelt, um das grauenhafte Schauspiel der Zerstörung mitanzusehen. Und dann erkennt sie Percy, der mitten in der Diele steht und nicht mehr aus dem Feuer herausfindet. Er blickt zu ihr empor, seine schwarzen Augen zeigen einen wilden, irrsinnigen Ausdruck. Ein letzter Schrei – dann haben ihn die Flammen verschlungen. Endlich kommt Anne wieder zu sich. Sie denkt nicht einmal an sich selbst – sondern nur an ihren Schützling, den sie aus den Flammen retten muß. Sie stürzt zu Marie Elisabeths
Zimmer. Hier merkt man noch nichts von dem Brand, wenn auch von fern das schreckliche Brausen herübertönt. »Wach auf, Liebes!« Anne schüttelt das Kind, aber es dauert quälend lange, bis die Kleine endlich zu sich kommt und verstört die Augen aufschlägt. »Ist es denn schon Morgen?« murmelt Marie Elisabeth und blickt verschlafen um sich. »Ich bin noch so müde!« »Aber du mußt ganz, ganz schnell aufstehen, weil es in der Halle ein wenig brennt. Keine Angst, ich bringe dich schon heil heraus.« Von ferne hört man das eintönige Bimmeln der Feuerglocke. »Siehst du, sie haben den Brand schon entdeckt!« erklärt Anne. »Nun wird die Feuerwehr bald hier sein!« Sie warten und warten. Sie hören auch das Knirschen des Kieses, Rufen und Schreien, das Rollen der Wagenräder. Aber niemand blickt zu ihnen empor. Die Feuerwehrleute scheinen sich ganz auf die Vorderfront des Schlosses zu konzentrieren. Hier hinten bleibt alles still. »Schau nur! Der Rauch kommt schon durch die Türritze!« schreit Marie Elisabeth plötzlich auf. »Unsinn! Du träumst!« Aber es ist kein Traum. Hinter der verschlossenen Tür scheint schon die Flammenhölle zu toben. Man hört das Brausen des Feuers, das Krachen der Balken. Trotz der offenen Fenster wird ihnen langsam die Luft knapp. In wenigen Minuten werden sie verloren sein. »Anne! Marie Elisabeth!« hören sie plötzlich einen Mann tief unter ihnen schreien. Es ist der Baron. Er steht im Garten und winkt jetzt einen Feuerwehrmann mit einer langen Leiter herbei. Doch die Leiter reicht nicht bis zum Kinderzimmerfenster hinauf, sondern endet an einem Gesims fünf Meter darunter. Dennoch beginnt Henry jetzt die Sprossen zu erklettern.
»Habt keine Angst!« ruft er zum Fenster hinauf. »Ich hole euch heraus.« »Vati, Vati!« schreit Marie Elisabeth in Tränen aufgelöst. »Ich komme ja, mein Kleines!« Die große Leiter schwankt hin und her, aber beherzt klettert Henry empor. Nun ist er schon am Gesims angelangt und blickt zögernd um sich. Dann greift er nach einem Mauervorsprung und zieht sich hoch. Einen Augenblick lang sieht es so aus, als würde er das Gleichgewicht verlieren und in die Tiefe stürzen… Aber sein Fuß findet doch noch einen festen Halt. Mit der einen Hand klammert er sich an einer Regenrinne fest, die andere streckt sich Marie Elisabeth entgegen, die eben von Anne aus dem Fenster gehoben wird. »Keine Angst, ich halte dich fest!« ruft er der zitternden Kleinen zu, die ängstlich die Augen schließt. Aber es vergehen noch bange Sekunden, bis sie auf der schwankenden Leiter den Weg abwärts – und in die Sicherheit – finden. Im Kinderzimmer zerfressen die Flammen derweil die massive Eichentür. Anne blickt sich entsetzt um. Eine brausende Feuerhölle tobt ihr entgegen. Erstickende Rauchschwaden quellen aus den Flammen. Sie hustet und schluckt und ringt nach Luft. Nur wenige Minuten muß sie noch aushalten, dann ist auch sie gerettet! Aber zu spät. Bewußtlos von Rauch und Hitze sinkt sie zu Boden. Im Garten des Spitals blühen die Kastanien. Die ersten Rosen entfalten ihren süßen Duft. Eine weiße Batistgardine weht am offenen Fenster. So muß der Himmel sein, denkt Anne, bevor sie richtig erwacht. Dann fällt ihr Blick auf ihre dickverbundenen Hände und auf ihr weißbezogenes Eisenbett, neben dem eine Nonne in einem Büchlein liest. »Wo bin ich hier?« fragt das Mädchen und wundert sich, daß ihre Zunge ihr kaum gehorchen will. Die Schwester blickt
hoch. Die steif gestärkte Flügelhaube rahmt ein ruhiges erstes Gesicht ein. »Im Krankenhaus, meine Liebe«, erwidert sie mit einer sanften Stimme. »Ich dachte schon, im Paradies!« Die Schwester lächelt. »Nicht ganz. Aber Sie können glücklich sein, daß Sie in letzter Sekunde aus dem Feuer gerettet wurden!« »Aus dem Feuer? Ach ja…« Langsam kehrt die Erinnerung an die schrecklichen Stunden zurück. Anne schaudert es noch nachträglich. Zaghaft betrachtet sie ihre verbundenen Hände. Gleichzeitig wird ihr bewußt, daß auch ihre Beine in Binden eingewickelt sind. »Bin ich sehr verletzt?« fragt sie zaghaft. »Es könnte schlimmer sein«, erwidert die freundliche Nonne und streicht ihr die Kissen glatt. »Ein paar Wochen lang müssen Sie freilich noch liegen und sich schonen. Die Brandwunden sind nicht so schlimm. Aber Sie haben auch einen üblen Schock erlitten.« »War ich lange bewußtlos?« »Drei Tage, meine Liebe. Aber Sie sollten nicht soviel sprechen, das bekommt Ihnen nicht.« »Sagen Sie mir nur noch, Schwester, wie es auf Brunn steht?« »Ich weiß gar nicht, ob ich das darf. Na, schön. Besser, Sie wissen alles! Das Schloß ist vollkommen niedergebrannt. Der Bruder des Barons kam in den Flammen um. Aber der Baron selbst und seine Tochter sind wohlauf.« »Gott sei Dank!« lächelt Anne. Dann wird ihr wieder sonderbar schwach und elend zumute, und sie legt sich schnell zurück. Ein unruhiger Schlaf kommt, ein sonderbarer Traum, sie kann tagelang zwischen Wachen und Schlafen nicht unterscheiden. Ab und zu tritt jemand im weißen Kittel in ihr Zimmer und huscht auf leisen Sohlen wieder hinaus. Die
Nonne mit ihrer gestärkten Flügelhaube aber sitzt ständig neben ihrem Bett. Eines Nachmittags geht es Anne wieder besser. Schwach, aber bei klarem Bewußtsein, blickt sie sich im Zimmer um. Sie ist ganz allein. Roter Abendsonnenschein liegt über den weißen Wänden. Der Duft der Rosen im Spitalgarten scheint ihr süß und berauschend. Sie lebt! Eine strahlende Freude steigt in ihr auf. Was hat jene Zigeunerin vor langer Zeit in Annes Heimatdorf prophezeit? Sie würde einen langen, dunklen Weg gehen müssen… Weiß Gott, sie ist ihn gegangen. Sie hat gegen das Böse gekämpft, ohne zu zaudern. Es klopft leise an ihre Tür. Auf ihr schwaches »Herein« kommt Henry Baron von Brunn zögernd näher. Er findet keine Worte, sondern bleibt stumm an Annes Bett stehen. In seinen klugen Augen steht soviel geschrieben, daß sie errötet und sich die Bettdecke bis zur Nasenspitze hochzieht. Plötzlich bemerkt sie die lange, blutrote Schramme, die sich von seinem Kinn bis zur Augenbraue hochzieht. »Was haben Sie denn da?« ruft sie erschrocken aus. »Oh, nur eine kleine Verletzung!« Er lacht und setzt sich auf einen Stuhl neben das Bett. »Das macht weiter nichts aus. Meine Kletterpartie zum Kinderzimmerfenster hätte schlimmer ausgehen können.« »Sie haben mich gerettet, nicht währ? Ich muß Ihnen noch dafür danken!« »Liebste Anne, was hätte ich denn ohne dich getan? Ich mußte dich retten«, erwidert er scherzend. Aber seine Augen bleiben ganz ernst dabei. »Wie geht es Marie Elisabeth?« fragt das Mädchen verlegen. »Sehr gut. Sie hat schon große Sehnsucht nach dir und wird dich bald besuchen. Du hast ihr ganzes Herz erobert.« »Ich möchte sie auch bald sehen. Gibt Vera auf sie acht?«
»Vera ist eben hier im Krankenhaus gestorben«, sagt der Baron. »Das Feuer hat ihr Gesicht zerstört. Es ist so am besten für sie. Ich konnte noch mit ihr sprechen.« »O mein Gott«, flüstert Anne erschrocken. »Es tut mir so leid. Wie sehr müssen Sie trauern, Herr Baron.« »Warum meinst du, daß ich um Vera trauere?« fragt er erstaunt und beugt sich gespannt vor. Seine Augen blicken sie wachsam und fragend an. »Sie haben Vera doch geliebt. Ich weiß es, weil ich Sie durch Zufall gesehen habe – damals im Bootshaus. Ich werde aber nie verstehen, warum Sie solch ein falsches Spiel mit mir getrieben haben.« »Anne… hör mir zu«, flüstert er und seine Stimme zittert vor Zärtlichkeit. Seine Hand streicht leise über ihre Haare. »Nun verstehe ich langsam, warum du mir ausgewichen bist, mich abgewiesen hast, an meiner Unschuld zweifeln mußtest. Alles wird mir nun klar. Glaub mir, ich habe immer nur dich geliebt, dich allein. Ich erinnere mich noch an den ersten Abend, da ich dich gesehen habe. Deine unschuldige Schönheit traf mich wie ein Blitzschlag, denn ich lebte in einer Atmosphäre von Haß und Neid und Verzweiflung. Du lehrtest mich, wieder an das Gute zu glauben.« »Henry…«, flüstert das Mädchen kaum hörbar. Anne begreift noch nicht ganz, was er ihr sagen will. Nur das eine strömt wie eine wunderbare Freude in ihr Herz: er liebt sie. »Ich bemerkte bald, daß etwas Furchtbares auf Schloß Brunn geschah«, fährt er mit heiserer Stimme fort. »Als auch Marie Elisabeth erkrankte, war ich meiner Sache beinahe sicher. Man hatte Olivia ermordet und wollte auch meine Tochter beseitigen. Ich mußte den Täter herausfinden. Natürlich hatte ich Percy in Verdacht, der mich von Kindertagen an gehaßt hat. Aber ich traute ihm ein Verbrechen, das mich belasten mußte, nicht zu. Er ist zu schwach gewesen, um irgend etwas
mit Mut und Kühnheit zu planen und durchzuführen. Er war verweichlicht vom jahrelangen Müßiggang. Nein, hinter den Verbrechen mußte ein stärkerer Wille stehen. Ich setzte alles daran, den Täter herauszufinden.« »Du hättest mit mir darüber sprechen können«, flüstert Anne. Das vertraute »Du« fällt ihr noch schwer. Henry beugt sich über ihre verletzte Hand und küßt sie. »Wie konnte ich dich mit all dem Grauen belasten? Ich wußte ja nicht, daß du den gleichen Verdacht gefaßt hattest und in großer Gefahr schwebtest.« »Ja, man hat versucht, auch mich aus dem Weg zu räumen«, erwidert das Mädchen schlicht. »Aber ich blieb trotzdem auf Schloß Brunn. Ich mußte doch auf Marie Elisabeth achtgeben. Und ich liebte dich so sehr, Henry – bis ich dein Schäferstündchen mit Vera belauschte.« »Liebste, ich spielte nur Theater, um herauszufinden, was in meinem Haus vorging. Ich mußte Vera in Sicherheit wiegen, ihr beweisen, daß ich sie noch immer liebte. Doch in Wirklichkeit zitterte ich vor Abscheu.« »Vor Abscheu? Ich verstehe nicht ganz… Was hat sie denn getan?« »Sie hat den Mord an meiner Frau und meiner Tochter geplant – und dann Percy zu der Tat angestiftet. Er tat alles, was sie wollte, so blind hat er sie geliebt.« »Vera? O mein Gott! Das hätte ich niemals vermutet!« »Ich ahnte es seit langem. Und nun – auf dem Totenbett – hat sie mir alles gestanden. Vielleicht gibt es ja noch eine Vergebung für ihr abscheuliches Verbrechen… Am Schlimmsten war wohl ihr Doppelspiel. Sie versprach Percy alles, was sie zu geben hatte – wenn er nur erst den Weg zum Vermögen der Brunns freiräumte. Gemeinsam wollten sie mich beschuldigen, damit auch ich ausgeschaltet würde. Alles geschah wie geplant. Percy sah sein Spiel schon gewonnen. Ich
sollte eingekerkert werden. Aber da offenbarte Vera, was sie wirklich wollte: Nämlich mich. Mein armer Bruder war nur ihr Wegzeug gewesen, das ihr brav und gehorsam den Weg freigeräumt hatte. Er hatte vergebens für sie gemordet. Über dieser Erkenntnis muß Percy den Verstand verloren haben. Er zündete Schloß Brunn an, das bis auf die Grundmauern niedergebrannt ist.« »Vielleicht ist es gut so«, flüstert Anne erschüttert. »Vielleicht sind damit auch die dunklen Schatten verschwunden.« »Ich weiß es noch, Liebes. Ich werde viel Zeit brauchen, dies alles zu vergessen. Viel Zeit, Güte und Verständnis. Ich bin ein geschlagener Mann, vom Leben zerbrochen. Darf ich dich überhaupt bitten, daß du…« Er kann nicht zu Ende sprechen. Plötzlich öffnet sich die Tür des Krankenzimmers und Marie Elisabeth kommt herein. Das Kind ist noch ein wenig blaß um die Nase, aber schon wieder munter und gesund. Es läuft zu Annes Bett und schlingt die Arme mit heftiger Zärtlichkeit um ihren Hals. Tränen fließen aus ihren Augen und die kindlichen Wangen hinunter. »Wein doch nicht, Marie Elisabeth! Alles ist jetzt gut.« »Bleibst du bei uns, Anne?« »Ich…« »Doch! Du mußt bei uns bleiben. Du sollst meine Mutter sein.« »Aber Kind, das können wir zwei nicht entscheiden!« »Sag ja, Liebes. Ich bitte dich von Herzen darum!« sagt Henry mit heiserer Stimme. »Du würdest uns so glücklich machen.« »Dann bleibe ich bei euch – für immer.«
*
Über der Ebene flimmert die Hitze des Augusttages. Das reife Korn wiegt sich im Wind wie ein gelbes Meer. Das Pfarrhaus liegt behäbig in all der Pracht dieses Sommers. Emily, die Frau des Pastors, läuft eifrig zwischen der Küche und dem Pfarrgarten hin und her. Auf der rosenumkränzten Veranda ist ein Tisch mit weißem Damast und dem alten Silber festlich gedeckt. Jetzt trägt Emily ein schweres Tablett mit dampfenden Schüsseln hinaus. Kleine Schweißperlen stehen auf ihrer bleichen Stirn. Aus ihrem dünnen, sandfarbenen Knoten hat sich eine Strähne gelöst und flattert unordentlich über den Kragen ihres strengen, hochgeschlossenen Kleides. Sie ist noch immer keine Schönheit, die Gute. Ihr brettgerader Körper wirkt hager wie eh und je. Sie neigt wie üblich zu sauren Bemerkungen und kleinen Spitzen. Dennoch wirkt ihr Wesen um vieles friedlicher und angenehmer, was sie ganz allein dem späten Sprößling verdankt, der heiter und pausbäckig auf einer Wolldecke im Schatten schläft… »Soll ich dir nicht helfen?« fragt Anne ihre erhitzte Schwägerin. »Heute? Nein, heute ist doch dein Hochzeitstag. Da darfst du nicht in der Küche stehen. Außerdem habe ich schon alles herausgetragen«, erwidert die Pastorsfrau mit leisem Vorwurf. Sie beginnt die Teller mit dem guten Braten zu füllen. Wilhelm, ihr Mann, entkorkt derweil den Wein. »Wie schön, daß du wieder da bist!« Er lächelt seine Schwester an – und Anne strahlt von Herzen zurück. Sie hat tatsächlich das Gefühl, daß sie heimgekehrt ist. Merkwürdig. Sie ist im Pastorhaus doch nie recht glücklich gewesen… Und nun scheint ihr jedes Kohlbeet im Garten, jeder Stein des schlichten Hauses so lieb und vertraut. Leise drückt sie die Hand ihres Mannes, der neben ihr sitzt. Henry erwidert den
Druck. Seine Augen hängen zärtlich an dem lieblichen Antlitz seiner jungen Frau unter dem weißen Spitzenschleier. »Liebste…«, flüstert er ihr zu. »Bist du glücklich?« »Unsagbar glücklich«, antwortet sie leise. Aber Emily hat scharfe Ohren. Sie wirft dem verliebten Brautpaar einen mißbilligenden Blick zu. »Wo werdet ihr denn wohnen?« fragt sie schnell, um das unschickliche Getuschel zu unterbrechen. »In Wien. Unsere Villa wird bald fertig sein. Ein helles und modernes Haus, in dem es keine“ dunklen, unheimlichen Ecken gibt!« erwidert Henry. »Und keine Schatten der Vergangenheit«, fügt Anne leise hinzu. »Aber ein großes Kinderzimmer für mich«, kräht Marie Elisabeth dazwischen und alle lachen.