Rosemarie von Schach
FRANZ SCHNEIDER VERLAG
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Schach, Rosemarie von:
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Rosemarie von Schach
FRANZ SCHNEIDER VERLAG
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Schach, Rosemarie von:
Der Sommer der silbernen Stute / Rosemarie von Schach. München: F. Schneider, 1989 (PferdeRoman) ISBN 3-505-04073-8
Hrsg.: Helga Wegener-Olbricht
© 1989 by Franz Schneider Verlag GmbH 8000 München 40 • Frankfurter Ring 150 Alle Rechte vorbehalten Umschlagbild: Ulrike Heyne Umschlaggestaltung: Claudia Böhmer Lektorat: Helga Wegener-Olbricht Herstellung: Manfred Prochnow Satz/Druck: Presse-Druck Augsburg ISBN: 3-50504073-8
Im Merfelder Bruch In einem der letzten Pferdeparadiese Europas, dem Merfelder Bruch im Münsterland, leben seit vielen Jahrhunderten die Dülmener Wildlinge, robuste, freilebende, kleine Pferde. Verfolgung und Toleranz bestimmten durch die Jahrhunderte gleichermaßen das Leben der Wildpferde. Ihre Nachkommen - Fachleute nennen sie lieber Primitivpferde, da sie zwar von wilder Abstammung sind, in ihren Adern aber auch das Blut von entlaufenen Hausund geflohenen Soldatenpferden fließt - leben in der Dülmener Wildbahn in Familienverbänden, Gruppen zwischen fünf und dreißig Tieren. Etwa 200 Wildlinge leben heute im Merfelder Bruch in einem Gebiet von etwa 200 Hektar. In einer Urkunde zum Westfälischen Landfrieden aus dem Jahre 1318 wird über die Wildpferde von Dülmen zum ersten Mal berichtet. Den Tieren wurde ein Schutzgebiet zugesichert, in dem sie in Freiheit leben sollten. Heide- und Grasboden, Torf- und Waldflächen, durchsetzt von Bächen und Moorseen, erwiesen sich zwar als ideales Gebiet zum Überleben, trotzdem aber wurden die zähen kleinen Pferde gejagt und verfolgt. Um 1850 ließ der Herzog von Croy die letzten 20 Ponys einfan-
gen, die überlebt hatten, und gab ihnen auf einem Teil seines Besitzes im Merfelder Bruch eine Heimat. Nur selten greift der Mensch, heute die Croysche Verwaltung, in das Leben der Wildponys ein. Mit Hitze und Frost, Geburt und Tod, Hunger und Überleben müssen die Tiere selbst fertig werden. Und die meisten schaffen es. Noch heute tragen sie die Abzeichen ihrer wilden Abkunft: Graue und Falben mit dem dunklen Aalstrich oder Zebrastreifen an den Beinen; Dunkelbraune mit hellem Milchmaul sowie Rappen, Füchse und Braune in vielen Schattierungen. Die meisten Wildlinge tragen weiße Abzeichen als Hinweis auf Hauspferdeahnen. Zur Vermeidung von Inzucht und zur Deckung von Unkosten in der Wildbahn werden jedes Jahr im Mai die Jährlingshengste aus der Herde gefangen, ein wildes, oft kritisiertes Schauspiel und ein Schock für die Wildlinge. Aber so ist der Fortbestand der Herde gesichert. Die jungen Gefangenen erwartet ein Leben fern ihrer Herde: als Arbeits- und Reitpferde werden die Jährlingshengste verkauft. Die klugen kleinen Pferde sind beliebt und überall geschätzt. Das Leben der Wildlinge im Familienverband mit ausgeprägter und feststehender Rangordnung aber geht weiter.
Man schrieb das Jahr 1538, als im Dülmener Land ein paar Männer, Handwerksmeister und Kaufleute zumeist, beim Bier zusammensaßen. Drückend lag die Schwüle über der niedrigen Gaststube, Fliegen surrten erregt gegen die staubblinden Fenster. Über dem glosen-den Torffeuer hing der Suppenkessel am Haken, Schwaden von Qualm zogen am Rauchloch vorbei in die Stube und lagerten um die geschwärzten Balken. Die Männer auf der Bank am Fenster blickten besorgt hinaus. Bei allen Heiligen, das dunkelt, als hätten wir Dezember! Laß gut sein, Kannenmacher, Gewitter im Mai bringt Früchte herbei. Die Erde braucht einen kräftigen Regen. Und deine Werkstatt wird der Blitz nicht gerade treffen wollen. Der Steinmetz zog ein Sacktuch aus dem Rock und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Ächzend reckte er die schmerzenden Schultern. Schankwirt! Noch einen Krug! Aber vollgeschenkt, bitte ich mir aus. Und laßt ein Licht bringen, wenn es schon Nacht wird mitten am hellen Nachmittag! Der Himmel bewahre uns, sagte Michael, der Hufschmied, leise, das sieht nach Hagel aus!
Es zieht weiter nach Norden hinüber, zum Merfelder Bruch hin, meinte der Bäcker, uns wird's nicht treffen. Aber niemand schien ihm zu glauben. Die Magd stellte hastig ein Talglicht auf die rissige Holzplatte des Tisches und lief nach draußen, um die Hühner in den Schuppen zu treiben. Im Stall brüllte das Vieh und riß unruhig an den Ketten. Wie mit einem Kanonenschlag setzte der Sturm ein, es war ein Brausen und Dröhnen in der Luft, als wolle die Erde bersten. Dichte Staubwolken wirbelten die Straße herauf, der erste Blitz zuckte über dem Horizont auf, gefolgt von drohendem Donner. Schwer klatscht en einzelne Regentropfen in den Sand, und dann brach es aus dem Himmel wie eine Sintflut. Blitz und Donner folgten schnell aufeinander, waren fast eins geworden. Steh der Allmächtige denen bei, die jetzt kein Dach über dem Kopf haben, dachte der Hufschmied. Aber seine Gedanken waren nicht bei den Tagelöhnern und Bauern auf den Feldern, sondern wanderten zum Merfelder Bruch hin, wo geduckt im Dickicht die Herde der Wildpferde stand und ängstlich wiehernd Schutz suchte vor den Naturgewalten. Die Liebe zu den Wildlingen war sein Geheimnis. Die anderen hätten ihn verspottet, hätten sie davon gewußt. Unwillkürlich legte Michael die Hände ineinander, um sie gleich darauf schnell auf den Tisch zu legen. Sollte doch niemand hier meinen, er bete um Schutz wie ein altes Weib. Vor vielen Jahren hatte ihn ein solches Unwetter im Bruch überrascht. Da war er noch ein junger Mann gewesen, als Pferdestricker im Dienst des Herzogs unterwegs. Ein paar kräftige, junge Hengste hatten sie fangen
sollen. Sie waren den ganzen Tag der Herde der Wildpferde gefolgt, hatten versucht, die Junghengste vom Troß zu trennen und in einen Engpaß zu treiben, um ihnen dort blitzschnell die Schlingen aus Strickseilen über den Kopf zu werfen. Über der Jagd hatten sie das Herannahen des bösen Wetters nicht bemerkt, und als es dann tosend über ihnen stand, hatte er gemeint, das göttliche Strafgericht sei über sie hereingebrochen. Wenig später war er vom Herzog aus der Leibeigenschaft entlassen worden. Der alte Jakob hatte gebeten, ihn in die Lehre nehmen zu dürfen. Dem betagten Hufschmied war Michaels Begabung für sein Handwerk nicht verborgen geblieben, wenn der ihm im Stall des Herzogs zur Hand ging, und da seine Ehe kinderlos war, hatte er beschlossen, sich mit dem geschickten jungen Burschen einen Nachfolger heranzuziehen. Michael liebte seine neue Arbeit vom ersten Tage an, so wie er die Pferde liebte, denen er die Eisen anmaß; und niemand im Umkreis von hundert Meilen ging kunstvoller mit dem Schmiedehammer um als er. Er wurde ein ge achteter Mann und vergaß nie, dem Himmel dafür zu danken, daß ihm ein so glückliches Schicksal beschieden worden war. Doch sobald ein Unwetter heraufzog, war da dieses dumpfe, ängstliche Ahnen, die göttlichen Mächte kämen, menschlichen Hochmut zu strafen. Beim Toben des Gewitters draußen waren die Männer still geworden. Stumm füllten sie ihre Becher aus dem großen Tonkrug und tranken hastig, jeden Augenblick gewärtig, den wimmernd-hellen Ton der Feuerglocke zu hören, der die Dülmener Bürger zu Löscharbeiten zusammenrief.
Ein Windstoß riß die Tür auf und schlug sie krachend gegen die Wand. Begleitet von einem Schwall Regenwasser stolperte ein Fremder herein. Er trug einen Reisesack und war offensichtlich erschöpft, die Schank-magd mußte hinzuspringen und ihm helfen, die Tür zu schließen. Mißtrauisch und dennoch neugierig betrachteten die Männer am Tisch den Gast, der jetzt halblaut mit dem Wirt um Kost und Logis für eine Nacht verhandelte. Ein gelehrter Mann, scheint mir, meinte der Kannenmacher, wenn er auch aussieht wie eine gebadete Ratte, die man eben aus dem Zuber gefischt hat. Was denkt Ihr, Dietbald? Sein Mantel und Rock sind vom feinsten Schnitt, bestätigte der Schneider fachmännisch. Doch ist alles ein wenig abgetragen, der Herr hat wohl bessere Tage gesehen. Gosbert, der Drechsler und der Jüngste unter ihnen, lachte dem Fremden ins Gesicht. Euer Reisesack ist so schwer, daß Ihr ihn kaum heben könnt, Herr! Wie viele Kutschen habt Ihr überfallen, daß Ihr so viel Gold und Geschmeide mit Euch führt? Gold, Geschmeide? Der Fremde lächelte gutmütig. Dann wäre ich jetzt nicht hier. Es sind Bücher. Und wissenschaftliche Schriften für des Herzogs Bibliothek. Wolle Gott, daß sie nicht alle verdorben sind vom Regen. Die Schankmagd brachte ein Tuch, und der Fremde trocknete sich Gesicht und Hände. Möchtet Ihr an unserem Tisch Platz nehmen, so seid uns willkommen, Herr! lud ihn der Bäcker ein. Wir sind gute Zuhörer, wenn es gilt, die Neuigkeiten aus der gro-
ßen Welt zu erfahren. Marthe, bring einen Becher für unseren Gast! Wenn es erlaubt ist! Der Fremde stellte sich vor. Ratmund heiße er und käme von Münster herauf. Schwerfällig ließ er sich auf dem angebotenen Stuhl nieder. Von Münster? Der Steinmetz, der bisher schweigend in seiner Ecke gesessen und in die Regenfluten hinausgestarrt hatte, fixierte den Fremden scharf. Ihr seid doch nicht etwa einer von des Jan Matthys Leuten? Kaum wahrnehmbar lief ein Zucken über das Gesicht des Fremden. Ich bin Bibliothekar, ich sagte es Euch schon. Ich lebe für meine Bücher, alles andere schert mich wenig. Schon recht. Der Steinmetz lehnte sich zufrieden zurück. Sind ein rechtes Ärgernis für einen kirchentreuen Christenmenschen, diese neuen Propheten! Stellen die alte Ordnung auf den Kopf, und alles geht drunter und drüber. Wiedertäufer! Verächtlich spie er das Wort den anderen vor die Füße. Ich weiß wohl, wem das gilt, Roland! Der Bäcker beugte sich vor und grinste über seinen Bierkrug hinweg den Steinmetz an. Du weißt recht gut, daß ich anderer Meinung bin! Es wird höchste Zeit, daß dem verdorbenen Pfaffenhaufen endlich der Garaus gemacht wird. Fett, gierig und lüstern sind sie, und nur auf ihre Macht aus. Das ganze Babylon muß ausgerottet werden! Jan Matthys und seine Getreuen, die sorgen für Gerechtigkeit. Keiner soll mehr besitzen als der andere, gleich ob reich oder arm geboren, so hat es unser Herr Jesus Christus gemeint. Liebe, Freundlichkeit und Frieden sollen
herrschen unter den Menschen, und jeder soll frei sein, wie Gott ihn schuf! Ketzerei! schnaufte der St einmetz. Die alten Ordnungen zerstören und selbst die Macht an sich bringen, darauf sind sie aus! Haben nicht schon Hunderte von Bürgern ohne ihr Hab und Gut die Stadt verlassen müssen? Eine schöne Freiheit! Seine Stimme grollte mit dem Donner um die Wette. Freiheit, sagte Michael versonnen. Wer ist schon frei? Der Leibeigene ist in der Hand des Bauern und der in der Hand seines Lehnsherrn. Wir sind in Abhängigkeit von denen, die uns Arbeit und Brot geben. Alle müssen wir dem Fürsten gehorsam sein und der wieder dem Kaiser. Von den Daumenschrauben der Kirche ganz zu schweigen. Und gar in der Familie! Die Ehefrau neigt sich unter die Herrschaft des Mannes, die Kinder zittern vor dem Zorn des Vaters. Und schließlich - auch der Mächtigste fürchtet Siechtum und Tod. Nein, niemand ist frei. Und wenn uns nichts sonst unsere Freiheit nähme, so täten wir es doch selbst, indem wir uns ängstlich vor der Meinung der Menge beugen. Der Hufschmied hob den Becher an die Lippen und nahm einen langen Schluck. Er schien in Gedanken weit fort zu sein, als er die Hand sinken ließ. Nein, fügte er leise hinzu, ich bin in meinem Leben nur einem einzigen freien Geschöpf begegnet. Einem einzigen freien Geschöpf? rief Gosbert, der Drechsler. Laß mich raten! Das war gewiß ein hübsches Mädchen, das dir einen Korb gegeben hat, Michael! Stimmt's? Der Hufschmied lächelte. Sein Blick ging durch die
Männer am Tisch hindurch, schien auch die Wand der Gaststube zu durchdringen und weit hinaus ins Dülme-ner Land zu schweifen. Das ist lange her, murmelte er. Kein Mädchen, nein, aber ein weibliches Wesen war es, von dieser geheimnisvollen Klugheit, wie sie vielleicht nur ein Weib besitzt. Eine hübsche junge Witwe also? Erzähle! ermunterte ihn Dietbald. Der Hufschmied sah ihn nachdenklich an. Es war ein Pferd, sagte er ruhig, eine Stute. Und das schönste Tier, das jemals auf Gottes Erdboden gelaufen ist. Aus der Ecke neben dem Feuer klang ein meckerndes Lachen herüber. Fast gespenstisch schälte sich aus einem Haufen Lumpen ein Kopf mit tiefliegenden Augen, das magere Gesicht gerahmt von verfilztem eisgrauem Haar, das dem Alten bis auf die Schultern hing. Ich weiß, wen du meinst, Michael, ich weiß es, als wäre es gestern gewesen. Selbst dem Herzog ist ihre Schönheit nicht verborgen geblieben, und er hat alle Welt aufgeboten, sie zu fangen! Aber es ist ihm nicht gelungen, so wahr ich hier sitze! Das dünne Lachen ging in einen quälenden Husten über. Ein Zauberpferd ist es gewesen, fuhr der Alte krächzend fort, eine von den Überirdischen aus dem Feenreich. Ihr streckt eure Hand nach ihnen aus, glaubt, ihr habt sie gefangen, und... husch! Eben noch da und jetzt davon, hat sich aufgelöst wie ein Nebelschleier. Wird eine Hexe gewesen sein, die sich die Gestalt einer hübschen Stute zulegte, um den Herzog zu narren, spottete Gosbert. Ausgeburt des Teufels, man kennt das. Nein, widersprach Michael, sie war ein Pferd aus
Fleisch und Blut, wie dein Roß oder das irgendeines anderen hier. Ich habe ihr lange nachgestellt, denn der Herzog wollte sie um jeden Preis besitzen. Einen ganzen Sommer lang haben wir sie vergeblich gejagt, aber sie war klüger als wir. Und sie wußte, was Freiheit bedeutet. Der Fremde sah dem Hufschmied aufmerksam ins Gesicht. Ihr müßt sie geliebt haben, Eurem Ausdruck nach zu schließen. Das hört sich nach einer geheimnisvollen Geschichte an! Wollt Ihr sie uns nicht erzählen? Michael sah auf seine Hände. Ach, sagte er, das ist lange her. Ich war sehr jung, der jüngste unter den leibeigenen Stallknechten des Herzogs. Nicht lange genug, daß Ihr sie hättet vergessen können, drängte Ratmund weiter. Macht mir die Freude, erzählt! Ja, erzähl, Michael, erzähl von deiner ersten Liebe! Gosbert hieb den Hufschmied freundschaftlich in die Seite. Wir wollen sie alle hören, deine Geschichte! Auch die anderen nickten ihm auffordernd zu. Auf einen Wink des Fremden stellte die Schankmagd einen weiteren Krug mit Bier auf den Tisch. Der Wirt kam heran, und auch der Alte rückte näher. Michael nahm einen kräftigen Zug und wischte sich mit dem Handrücken den Mund. Angefangen hat es eigentlich damit, daß dem Herzog die schönste Stute aus dem Stall gestohlen wurde, begann er. Fahrendes Volk hatte das Tier mitgenommen, während im Schloß ein großes Fest gefeiert wurde. Wir setzten den Dieben nach und erwischten die Burschen. Aber in dem heftigen Handgemenge, das dann folgte,
riß sich die Stute verängstigt los und floh in die Wälder. Ihr wißt, es ist nicht das erste Pferd, das in der Herde der Wildlinge untertauchte, manches Soldatenpferd hat sich, seines Herrn ledig, ihnen angeschlossen. Der Herzog war erzürnt, denn die Stute war das wertvolle Geschenk eines Fürsten, sie kam aus arabischer Zucht, ein Schimmel. Tagelang haben wir sie gesucht, aber es blieb vergebens. Manchmal erblickten wir ihr leuchtend weißes Fell zwischen all den Braunen und Falben, aber der Leithengst, ein kräftiger und kampflustiger Bursche und schlau wie ein Fuchs, hatte sie bald zu seiner Favoritin gemacht und trieb sie sofort davon, wenn wir am Horizont auftauchten. Wie gut wir uns auch verbargen, er witterte uns immer. Der Winter kam, und der Herzog ließ die Suche abbrechen, die hohe Politik brachte ihm Sorgen genug. Schließlich vergaß er die Stute. Doch ich, der ich als Pferdestricker immer wieder hinausgeschickt wurde, behielt sie im Auge. Im Frühjahr darauf brachte sie ihr erstes Fohlen zur Welt.
Es war hoch im Mai, als Aljanes bebende Flanken verrieten, daß die Zeit der Geburt ihres Fohlens gekommen war. Die Herde hatte sich zur Nachtruhe auf ein Stück Brachland zurückgezogen, das am Rande des Moores lag. Das Gras stand hoch zwischen verkohlten Baumstümpfen, Rispen und Blüten wiegten sich verträumt im Nachtwind. Vom Osten her begann der Himmel durchsichtiger zu werden, die Stunde brach an, in der die
Wildpferde sich schlaftrunken erhoben und weit verstreut gemächlich begannen, ihre Morgenmahlzeit einzunehmen, noch ungestört von lästigen Insekten. Aljanes Familie lagerte bei einer Gruppe von Birken, die auf einer kleinen Anhöhe im Kreise standen wie eine siebenzackige Krone. Nona, die Familienälteste, hatte es als erste bemerkt und fuhr der Gefährtin prüfend mit dem Maul über den unter Wehen erschauernden Leib. Dann trieb sie mit energischen Püffen die noch Schlafenden auf die Beine. Die Stuten der Familie, die bereits ein Fohlen führten, hielten sich abseits, während die Tanten, die älteren Stuten, einen schützenden Ring um die Gebärende bildeten, wie es ihre Aufgabe war, um Angreifer fernzuhalten. Nun rupfte Aljane sich Büschel um Büschel der würzigen Halme, als müsse sie sich bis zuletzt für das Kommende stärken. Erst als unter dem Schweif weißglänzend wie die Mondkugel die Fruchtblase erschien, zerriß und zwei winzige Hufe unter einem zierlichen Maul freigab, legte sie sich hin. Minuten später glitt der Körper des Fohlens neben ihr ins Gras. Aljane wandte sich ihrem Kind zu und beschnupperte es mit einem glücklichen Brummen. Sie begann, den Kopf des Fohlens mit kräftigen Zungenstrichen vom Schleim zu säubern. Nona trat heran und betrachtete das jüngste Mit glied ihrer Sippe aufmerksam, dann half sie der jungen Stute, den schwarzglänzenden Leib ihres Kindes zu reinigen und zu trocknen. Eine kleine Stute! schnaubte Orla und näherte sich unauffällig dem Pferdekind. Nona vertrieb sie mit einem ärgerlichen Biß. Niemand durfte in diesem Augenblick
Mutter und Kind zu nahe kommen, und jeder wußte, daß Orla, die nie ein eigenes Fohlen gebracht hatte, ständig danach trachtete, sich ein Neugeborenes zu nehmen. Sehr schön, sehr schön, ließ Orla die anderen wissen. Nur taugt sie leider nichts. Sie wird ein Schimmel werden wie ihre Mutter. Eine Gefahr für die Herde, wir sollten Weiße hier nicht dulden! Wenn sie wäre wie wir, braun oder grau wie die Erde, gelb wie das Korn im Sommer oder wie welke Blätter im Herbst! Wir können uns leicht verbergen. Schweig! befahl Nona. Kannst du dich vielleicht im Winter unsichtbar machen? Aljane ist weiß wie der Schnee. Und was das Fohlen betrifft, es hat auch das Steingrau des Vaters, warten wir ab, was daraus wird. Kräftig ist es und muskulös, es wird schneller laufen und weiter springen als wir alle. Das ist das Vorrecht der Jugend, schnaufte Orla. Ich habe schon viele Winter und Sommer vorübergehen sehen, da darf man ein wenig langsamer werden. Sie wandte sich ab und begann zu grasen. Die erste Wahrnehmung des Fohlens war die flaumzarte Berührung der mütterlichen Lippen, der warme Hauch, der seine Nüstern traf, als wolle er es zum Leben rufen, der süße und zugleich strenge Geruch, der dem mütterlichen Fell entströmte. Und das Entzücken, mit der Nase diesem Duft zu folgen, sie in das feuchtheiße Fell der Stute zu drücken, während ihre Zunge mit festen Strichen über seinen Körper fuhr. Es fühlte sich matt und geborgen. Dicht über ihm erwachte die Amsel. Sie hob den Kopf
unter dem Flügel hervor, blinzelte verschlafen, sträubte das Gefieder und probierte einen ersten zaghaften Morgenruf. Dann fiel ihr Blick auf das neugeborene Pferdekind am Fuß der Birke. Jilka, flötete die Amsel erstaunt, Jilka! Jilka! Aljane legte die Lippen an die Stirn ihrer Tochter, fuhr ihr über die Augen und blies sanft in die wolligen Ohren des Fohlens. Jilka, meine kleine Jilka, das bist du. Energisch stieß Nona die Stute an. Weiter, es wird Zeit. Viel zu lange schon hatte sie gelegen. Aljane sprang auf, und Jilka plumpste zur Seite. Wo war die Mutter? Warum war sie auf einmal so weit weg, stand dort oben über ihr? Sie mußte zu ihr, ihre Nähe spüren, ihre Nase unter das weiche Fell der Mutter schieben. Jilka stemmte die Vorderbeine weit gespreizt ins Gras und versuchte, sich hochzuziehen. Von hinten fühlte sie einen sanften Stoß, und ehe sie es selber begriff, stand sie auf schwankenden Beinen, atemlos und benommen. Schützend legte Aljane den Hals über ihre Tochter, drehte ihren runden Leib der suchenden Fohlennase entgegen, bis Jilka die Nahrungsquelle entdeckt hatte und gierig zu saugen begann, mit einem Gefühl unsagbaren Wohlbehagens. Um sie herum in Bäumen und Büschen begannen die Vögel ihr Morgenkonzert. Dem Jubelruf der Amsel folgte ein fragendes Zwitschern, und wie auf ein geheimes Signal setzte ein Flöten und Pfeifen, Trillern, Rufen und Locken ein, daß es die Pferde bedeckte wie ein vielfarbiger Teppich aus Gesang. Unter Jilka erzitterte der Boden. Aljane hob witternd den Kopf. Da stürmte er heran, der Graue, der Leit -
hengst der Herde, stellte imponierend den Schweif auf, wiegte sich in federndem Trab, als berühre er kaum die Erde. Wiehernd trieb er die Herde zusammen und drängte zum Aufbruch. Die Familien formierten sich zu einer Reihe. Dem Grauen nach wanderten sie dem Wald zu. Nona machte den Anfang, ihr folgten die Stuten mit ihren Fohlen. Auch Aljane durfte nun aufrücken an den Platz der Bevorzugten. Danach die Tanten, alte Stuten und solche, die güst geblieben waren. Als letzte fügten sich die Jungen in den Zug, Ein- und Zweijährige, die ihren Übermut kaum zu zähmen wußten und lebhaft um sich blickten. Eine Familie folgte der anderen, angeführt von der erfahrensten Stute. Jilka begriff von dem allen nichts. Die Nase eng an den Schenkel der Mutter gedrü ckt, tappte sie vorwärts, verwirrt von dem Stimmenschwall in den Wipfeln, dem schnarrenden Krächzen der Eichelhäher, dem Gurren der Wildtauben, dem Flöten, Zwitschern und Rufen der Waldvögel, die den neuen Morgen begrüßten. Langsam bekam der Tag Farbe. Die Spitzen der Kiefern färbten sich goldrot, als stünden sie in Flammen, die letzten Sterne am Himmel verblaßten. Das eben noch graue Gras am Boden leuchtete in frischem Grün, auf Buschwerk und Blüten blitzte der Tau wie Millionen winziger Spiegel. Jilkas Schritte wurden fester. Noch war der Blick ein wenig trüb, die Augen sahen blind ins Leere. Doch die Nüstern sogen mit dem Geruch der Mutter nun auch andere Düfte ein, den süßlichen der Schafgarbe und des Klees, den geheimnisvoll-würzigen des Wacholders,
den harzig-kräftigen der Kiefern. Und dann die anderen, die dem der Mutter ähnelten und sich doch unterschieden. Das war ein warmer Duft, ganz anders als der, der von der Erde aufstieg und kühl und feucht war, ein wenig faulig auch von verwesendem Herbstlaub. An einem Bach hielt der Graue an, spitzte die Ohren, nahm schnobernd die Witterung auf, dann begann er zu trinken. Die Herde tat es ihm nach. Dichtgedrängt standen die Pferdeleiber, Kopf senkte sich neben Kopf, mit gespitzten Lippen saugten sie schlürfend das quellfrische Wasser. Jilka verspürte Hunger, energisch drängte sie zum Euter der Mutter. Die Herde zog weiter. Sonnenstrahlen schössen wie Pfeile zwischen den Baumstämmen hindurch und überschwemmten mit Gold, worauf sie trafen. Die ersten Insekten taumelten durch die Luft. Auf einer Wiese dicht am Rande des Buchenwalds machten die Wildpferde halt. Nicht lange, und die Hitze würde sie unter die schützenden Bäume treiben, auf der Flucht vor Bremsen und Fliegen. Jilka stand bis an den Bauch in langem, seidig schimmerndem Gras. Um sie herum leuchteten Wiesenblumen weiß, rot, rosa, gelb und blau; Schmetterlinge schaukelten ihr um die Nase, als hielte es einige der Blumen nicht an ihrem Platz, und sie wirbelten einfach davon. Surrend stieß eine Hummel gegen die Fohlenstirn, die samtigen Höschen schwer von gelbem Blutenstaub. Dem Fohlen wurde ganz taumelig von dem allen. Erschöpft sank es neben der Mutter ins Gras und schlief ein.
Jilka lernte schnell. Mußte die Herde vor einer Gefahr die Flucht ergreifen, galoppierte sie in sicheren Sprüngen hinter der Mutter her. Sie lernte die Stimme Aljanes von denen der anderen Stuten zu unterscheiden und wußte nun, daß die Wechsel der Wildpferde in Schlangenlinien verliefen, damit der Blick zum Leithengst der Herde jederzeit unverstellt war. Sie kannte den Ruf des Grauen, wenn er zum Aufbruch drängte und lernte sich zu fügen, wenn er die Mutter schnorchelnd und wiehernd umkreiste und liebeshungrig von ihr forttrieb. Sie lief nun nicht mehr ständig neben der St ute, sondern fand sich mit den anderen Fohlen zum Spiel zusammen. Und sie machte die schmerzhafte Erfahrung, daß man nicht ungestraft an dem Euter einer fremden Stute saugt. Jilka begriff, daß man sich in der Tagesschwüle eng aneinanderdrängte, um den lästigen Stechmücken möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten, daß die Älteren, schon Erwachsenen, aus dem gleichen Grund ihr Futter vor Sonnenaufgang und nach Sonnenuntergang aufnahmen, und daß man sich vor drohenden Gewitterschauern ins dichteste Dickicht zurückziehen mußte. Daß es noch andere, schlimmere Gefahren gab, ahnte sie dunkel, wenn der Graue sie mit einem warnenden Schrei zur Flucht trieb und die Herde in breiter Front querfeldein davonstob, die Stuten mit den Fohlen schützend in die Mitte genommen. Bald versuchte sie es der Mutter gleichzutun und probierte spielerisch, ein paar Grashalme zu zermalmen. Es dauerte nicht lange, da kannte sie den Geschmack von süßem Klee und Luzerne, aller Arten von Wildkräutern und Gräsern, sie probierte Beeren und die Rinde von
Bäumen und Büschen. Auf den Feldern gab es junge Saat, aber diesen Leckerbissen zu erreichen, bedurfte es besonderer Vorsicht, und Aljane, von einer seltsamen Unruhe erfaßt, wann immer sie in die Nähe von Ackerland kam, hielt ihre Tochter davon fern. Jilka war nicht immer gehorsam, so konnte es geschehen, daß sie der Stute entwischte und den anderen hinaus aufs Feld folgte. Die jungen Halme schmeckten köstlich; Jilka meinte, noch nie so etwas Zartes, Saftiges gekostet zu haben. Sie war ihrer Tante Orla gefolgt und riß, ganz vertieft in die schmackhafte Mahlzeit, große Büschel der frischgrünen Halme aus. Aljanes warnende Rufe hörte sie nicht. Jilka fühlte sich inmitten der anderen sicher. Da zerriß ein grauenvoller, peitschender Knall den Abendfrieden. Tante Orla bäumte sich mit einem Entsetzensschrei auf, dann stob sie an Jilka vorüber zurück in den Wald, fast hätte sie das Fohlen umgeris sen. Auch die anderen flohen in wilder Panik. Eine Schrecksekunde lang stand Jilka wie gelähmt, dann folgte sie der Herde. Was war das? fragte sie zitternd die Mutter, als sie endlich atemlos anhielten. Das war einer der Menschen, antwortete Aljane und fuhr mit dem Maul zart über Jilkas Rücken, um sich zu vergewissern, daß ihr nichts zugestoßen war. Sie haben feuerspeiende Arme, mit denen sie töten können, wenn wir auf ihr Gebiet eindringen. Manchmal verwunden sie uns auch nur. Der feuerspeiende Arm schickt dann viele kleine fliegende Zähne durch die Luft, die sich in unser Fleisch bohren. Sind sie unsere Feinde? fragte Jilka verstört.
Aljane schwieg eine Weile. Nicht immer, sagte sie schließlich. Manche von ihnen sind sanft und gut und leben in Freundschaft mit uns. Aber alle wollen sie unsere Herren sein. Sie versuchen uns zu fangen, damit wir sie auf unserem Rücken tragen oder für sie arbeiten. Was ist das, arbeiten? Sie spannen uns vor einen Kasten mit Rädern und lassen ihn von uns ziehen. Manchmal ist das sehr schwer, denn sie beladen den Kasten hoch, oder sie setzen sich zu vielen hinein. Andere von uns müssen auf dem Feld arbeiten, sie müssen den Pflug ziehen, um die Erde aufzureißen. Warum reißen sie die Erde auf? wunderte sich Jilka. Damit sie den Samen für die neue Ernte aufnimmt und Korn daraus wachsen kann, erklärte Aljane. Ich habe es selbst gesehen, denn ich lebte einst bei den Menschen, bis mir die Flucht gelang. Mußtest du auch diesen schweren Pflug ziehen oder den hochbeladenen Kasten? fragte Jilka und drängte sich enger an die Mutterstute. Nein. Ich kam von weither und wurde liebevoll aufgenommen. Ich bekam gutes Futter, und mein Fell wurde nach jedem Sonnenaufgang gebürstet, bis es glänzte. Der, den sie als Gebieter verehren, setzte sich auf meinen Rücken und ließ sich weit über die Felder tragen. Dabei sah ich, wie meine Brüder und Schwestern arbeiten mußten. Sie haben mir alles erzählt, und sie berichteten mir, daß man sie aus der Herde der Wildpferde herausgefangen hatte. Manchmal sahen wir die Herde und mein Herr wies auf den einen und anderen, den er für
seinen Stall begehrte. Dann zogen seine Genossen am nächsten Tag aus, um sie zu überlisten. Fast immer waren es die jungen Hengste. Es war ein großer Jammer, wenn man sie mit Gewalt in den Stall brachte und ihnen Schlimmes antat, um sie gefügig zu machen. Schlimmes? Jilka schauderte. Werden die Menschen mich auch fangen? Nicht, wenn du klug und vorsichtig bist. Wenn du sie siehst, dann flieh, aber bemühe dich, kein Geräusch zu machen, denn ihr feuerspeiender Arm reicht weit, wenn sie dich erst einmal entdeckt haben. Warum machst du der Kleinen Angst, brummte Nona. Sie ist noch zu jung, um solche Dinge zu verstehen. Folge du nur deiner Mutter, Jilka, und lerne von den Älteren. Gebrauch deine Nase und deine Ohren, und bleib vorsichtig und aufmerksam, dann wird dir nichts geschehen. Die Unsichtbaren mögen dich geleiten und behüten. Die Unsichtbaren? stammelte Jilka. Aber Müdigkeit ließ ihr die Lider schwer werden, sie legte sich zu Füßen der Mutter nieder und nahm die Frage mit in den Schlaf.
Regentage folgten, und der Graue zog mit seiner Herde tiefer in den Wald. Von den Bäumen tropfte es schwer auf die braunen, grauen und gelben Felle, hinterließ Rinnsale und dunkle Flecken auf den Rücken und Hälsen der Pferde. Dampf stieg von den warmen Leibern auf, dunstete aus dem Boden unter ihnen und ließ das Atmen beschwerlich werden. Das gleichmäßige Rau-
sehen im Blätterdach über ihnen machte sie schläfrig, und sie standen dösend eng beieinander. Doch dann hallten Schüsse und Stimmen aus der Ferne herüber, und der Graue trieb sie tiefer ins Dickicht. Orla lief hinkend am Schluß. Einige der fliegenden Zähne aus dem feuerspeienden Arm hatten sich in ihr feistes Hinterteil gebohrt und das Fleisch entzündet. An zwei Stellen begann die Wunde zu eitern, und die metallenen Kugeln wurden herausgedrückt. Sie lahmte. Orla blieb immer wieder stehen und versuchte mit weit auseinandergespreizten Hinterbeinen den Körper so weit zu biegen, daß sie mit der Zunge die brennende Verletzung erreichen konnte. Sie versäumte nicht, bei jedem Schritt schmerzhaft aufzustöhnen, aber niemand beachtete sie. Orla war eine zähe, alte Stute und hatte schon viele Abenteuer heil überstanden. Dabei war sie boshaft und rechthaberisch mit den anderen und verstand es, sich überall einzumischen. Man konnte nicht behaupten, daß sie beliebt war. Als Jilka die Schüsse in der Ferne hörte, drängte sie sich ängstlich an die Mutter. Sind das die Menschen? Das sind sie. Sie jagen. Was ist das, jagen? Sie sind hinter Rehen oder Hirschen her, um sie zu töten und zu essen. Sie essen nicht Gras und Kräuter wie wir, sondern nähren sich von Fleisch wie der Wolf, der Fuchs oder die Wildkatze. Essen sie unser Fleisch auch? Manche von ihnen essen auch unser Fleisch. Vor langer, langer Zeit jagten sie uns nur um unseres Fleisches
willen. Später lernten sie, sich unsere Kraft zunutze zu machen und uns für sich arbeiten zu lassen. Seit dieser Zeit haben die meisten von ihnen aufgehört, unser Fleisch zu essen. Vor wie langer Zeit? fragte Jilka. Aljane fuhr schnobernd über den Kopf ihrer Tochter, berührte zärtlich den weichen Flaum ihrer Ohren. Du fragst viel, meine Kleine. Das sind Geheimnisse, die nur die Erwachsenen kennen. Vor wie langer Zeit? wiederholte Jilka unbeirrt ihre Frage. Vor vielen hundert Jahren, als unsere ältesten Vorfahren hier in den Sümpfen und Wäldern lebten. Damals wohnten auch die Menschen noch nicht in ihren Häusern aus Stein und Lehm und mächtigen Baumstämmen, die sie mit ihren Händen selbst errichteten, sondern mitten unter uns. Jilka dachte eine Weile nach. Dann stellte sie die Frage, die sie seit Tagen erzittern ließ. Wie sehen die Menschen aus, Mutter? Seltsam. Nichts kann man mit ihnen vergleichen. Sie gehen aufrecht auf ihren Hinterbeinen, nur auf dem Kopf haben sie ein wenig Fell. Und weil ihre Haut überall nackt ist, hüllen sie sich in etwas, das sie Kleider und Schuhe nennen. Sie bereiten sie aus der Wolle der Schafe und aus den Häuten der Tiere, die sie töten. Sie schmücken sich mit den Federn toter Vögel und hängen sich bunte Steine und glitzernde Dinge um den Hals. So gar diejenigen unter uns, die sie lieben, werden von den Menschen geschmückt. Aber es ist schmerzhaft. Sie fes seln uns mit Stangen und Riemen und treiben uns mit
scharf schneidenden runden Eisen an, die sie uns in die Flanken drücken. Schrecklich. Wie können sie uns lieben, wenn sie so etwas tun? Aljane gab keine Antwort. Nona, die in der Nähe ein paar Blätter von einem Wacholderstrauch rupfte, hob den Kopf. Es gibt viele Dinge, die wir nicht begreifen können, sagte sie. Der Regen rauschte stärker herab; Stille senkte sich über den Wald, selbst die Vögel schwiegen. Unter den gleichmäßig niederfallenden Perlenschnüren aus Was ser verharrte die Herde so reglos wie Bäume, Büsche und Halme. Aneinandergedrängt ließen sie die Köpfe hängen, die Ohren kippten zur Seite, die Lider blieben halb geschlossen. Jilka schob die Nase unter den warmen Bauch der Mutter, stieß energisch gegen das Euter und saugte traumverloren und erfüllt von einem süßen Gefühl der Geborgenheit. Aljane widmete sich der Fellpflege ihrer Tochter, benagte das regennasse, struppige Haar an Kruppe und Hinterteil und massierte mit gleichmäßigen Strichen ihrer Zunge den kräftigen kleinen Körper. Ein Windstoß ließ die Bäume auffahren wie aus tiefem Schlaf, sie bogen sich hierhin und dorthin und ließen die Tropfen prasseln, als schüttelten sie sich. Die Wildpferde hoben witternd die Köpfe. Der Graue wieherte auffordernd und schnaubte unternehmungslustig. Bald hatte der Regen aufgehört, und sie verteilten sich weit verstreut über die Heide, um ihre Abendmahlzeit aufzunehmen. Die Vögel begannen aufgeregt -fröhlich zu zwitschern, als seien sie einer Gefahr entronnen und
müßten es jedem erzählen. Eine Amsel flötete auf dem höchsten Wipfel der Fichten, und der Ruf eines Falken schrillte hell und gebieterisch aus der Höhe. Vom Boden stieg ein Duft nach grünem Holz und der Honigsüße des Heidekrauts auf, und nicht lange, da brach ein erster Sonnenstrahl durch die fliehenden Wolken und färbte die Herde goldrot. Mit rauschenden Schwingen zogen zwei Enten über ihren Köpfen zum Moorsee hinüber, und Jilka glaubte, mit ihnen fliegen zu müssen vor Glück und Lebenslust. In übermütigen Bocksprüngen galoppierte sie von der Mutter fort und zwickte das Fohlen der Schwarzbraunen, die sie die Windfüßige nannten, denn sie war die schnellste unter den Stuten, ins Hinterteil. Feder, das Fohlen, hatte die Leichtfüßigkeit der Mutter geerbt und war wie der Blitz davon. Eine wilde Jagd begann, an der sich bald auch die anderen Pferdekinder beteiligten. Sie stürmten bis zum Ende des Weideplatzes, blieben wie angewurzelt stehen, um gleich darauf wie auf ein geheimes Signal von neuem loszurennen. Gelbrock, das Hengstfohlen der alten Weißauge, die vor Jahren nach einem Sturz in eine Dornenhecke auf einem Auge erblindet war, war der älteste unter ihnen und von großer Respektlosigkeit den Erwachsenen gegenüber. Er rempelte die alten Stutentanten an oder zwängte sich zwischen einer Gruppe Beieinanderstehender hindurch, daß er manchen zornigen Schrei zu hören bekam, manch ärgerlichen Biß einstecken mußte. Doch oft wich er so geschickt aus, daß die ihm Nachfolgenden die Strafe für seinen Übermut zu fühlen bekamen. Jilkas besonderer Freund unter den Fohlen war Fleck,
ein kleiner Fuchshengst, der ein weißes Abzeichen auf der Stirn trug, kreisrund wie ein Schneeball. Seine Mutter ein entflohenes Soldatenpferd, trug ebenfalls diesen weißen Fleck auf der Stirn. Es war eine alte Stute, sie hatte schon dreiundzwanzig Sommer erlebt und war mager und grau geworden, döste gern schläfrig vor sich hin und war froh, wenn ihr temperamentvoller Sohn sie in Ruhe ließ. So fand man Fleck meistens an Jilkas Seite. Gemeinsam eroberten sie sich die Welt, gemeinsam lernten sie Tag für Tag, was es für ein Kind der Wildpferd-Herde zu wissen gab. Sie liefen um die Wette, stiegen spielerisch und bearbeiteten sich mit den Hufen, wie sie es bei den Großen beobachteten. Waren sie müde, legten sie die Hälse übereinander und benagten sich hinge bungsvoll die Kruppe. Oder sie lagerten dicht aneinan-dergeschmiegt im Schatten eines Baumes und schliefen. Waren sie zu ihren Müttern zu einer stärkenden Mahlzeit zurückgekehrt und trafen sich anschließend wieder, begrüßten sie sich mit einem zarten Kuß, indem sie sich gegenseitig in die Nüstern bliesen. Seite an Seite rupften sie Gräser und Kräuter und staunten miteinander über die seltsamen Wesen, die ihnen bei ihren Erkundungsgängen begegneten. Frösche, Libellen, Heuschrecken und flinke Wiesel. Kleine Schlangen, die blitzschnell im Gehölz verschwanden, und aufmerksam blickende Eidechsen. Über das nachdenkliche Gesicht der Häsin amüsierten sie sich, wenn sie auf den Hinterläufen sitzend mal den einen, mal den anderen ihrer Löffel glatt strich und sie dabei mit ihren großen, dunklen Augen anstarrte. Hast du gesehen, was sie mit ihrer Nase macht? fragte
Jilka und stülpte die Lippe auf, um die zuckende Bewegung nachzuahmen, was ihr jedoch nicht gelang. Die Häsin drehte sich abrupt um und verschwand in ihrem Bau in einer überwachsenen Erdfurche. Über ihren Köpfen kreiste lautlos der Bussard. Jilka und Fleck erschraken, als er plötzlich wie ein Stein zur Erde sauste und ein zappelndes graues Wesen packte. Ein feiner, klagender Ton drang zu ihnen herüber, brach ab, und der Bussard flog mit seiner Beute davon. Was war das? fragte Jilka erschrocken. Er hat eine Maus getötet. Er ist ein Räuber und lebt vom Fleisch kleiner Tiere, erklang es hinter ihnen. Fleck und Jilka fuhren herum. Einer der jungen Hengste war zu ihnen getreten und blickte sie freundlich an. Das war etwas Außerordentliches. Für gewöhnlich übersahen die ein- und zweijährigen Hengste die wenige Wochen alten Fohlen. Sie waren vollauf damit beschäftigt, ihre Kräfte aneinander zu messen, um die Wette zu laufen oder miteinander zu kämpfen. Oder sie paradierten vor ihren Altersgenossinnen, die allerdings ihrerseits durch sie hindurchblickten und lieber unter sich blieben, wenn sie nicht den Müttern folgten. Wer bist du? fragte Jilka neugierig. Ich bin Goldschweif, ein Sohn der Bajula. Ich lebe schon lange nicht mehr in eurer Familie, denn meine Mutter wollte sehr bald vor mir ihre Ruhe haben. So lernte ich früh, allein für mich zu sorgen und hatte Zeit, mir die Welt anzusehen. Und ich habe viele wunderbare Dinge gesehen. Fleck hatte in höchster Er regung zugehört. Dann bist du mein Bruder! Ich bin auch ein Sohn von
Bajula. Wir haben das gleiche fuchsfarbene Fell, und auch du hast einen weißen Fleck auf der Stirn! Wenn der deine auch so klein ist wie eine Wollgrasblüte. Ich weiß, wovon du sprichst, fügte er sehnsüchtig hinzu. Auch für mich hat Bajula kaum einmal Zeit, gerade so viel, daß sie mich ihre Milch trinken läßt und mir hilft, mein Fell sauberzuhalten. Sie ist alt, Kleiner, ihre Kraft ist verbraucht. Hat sie dir nie von ihrem Schicksal erzählt? Ihre Mutter stammte aus der Herde. Sie folgte einem Hengst, der einem Menschen gehörte und wurde gefangen und gezähmt. So wurde Bajula in Gefangenschaft geboren. Als sie drei Jahre alt war, kam sie zu Kriegsleuten. Das sind die, die mit ihren Musketen umherziehen, um einander zu töten und alles zu verbrennen. Bajula mußte ihnen dienen, mußte schwere Lasten tragen oder ziehen und bekam selten ausreichend Futter und Ruhe. Bis eines Tages ihr Herr vom Feuerstrahl eines anderen getroffen wurde und tot von ihrem Rücken sank. Da ist sie geflohen, so schnell sie konnte, und hat in den Wäldern endlich die Herde gefunden, von der ihre Mutter ihr erzählt hatte. Fleck hatte atemlos gelauscht, aber in Jilka brannte eine andere Frage: Was sind das für wunderbare Dinge, die du gesehen hast? Hinter Goldschweif drängten die jungen Hengste heran. Was tust du da, Roter? Du hast mir einen Kampf versprochen! schnaubte ein kräftiger Brauner mit blauschwarzer Mähne. Bist du plötzlich so feige geworden, daß du dich bei Kindern versteckst? Goldschweif richtete sich zu voller Größe auf und ließ ein streitlustiges Wiehern hören. Ich komme! rief er und
trabte mit schwingenden Tritten davon, als schwebe er über den Boden. Komm, wir wollen ihnen zusehen! sagte Jilka. Ich möchte wissen, wer der Stärkere von beiden ist! Ihr gefiel der herrische Braune nicht halb so gut wie der kluge Goldfuchs. Aber geh nicht zu nahe heran, mahnte Fleck, sie mö gen es nicht! Sie wollen uns nicht in ihrer Nähe haben. Das glaubst du nur. Hast du nicht gesehen, wie freundlich dein Bruder zu uns war? Trotzdem hielt sie gebührenden Abstand, als sie den jungen Hengsten folgte. Etwas abseits von den Älteren tummelten sich die Ein- und Zweijährigen am Rande des Brachlands, das der Graue heute seiner Herde als Weideplatz erkoren hatte. Hier gab es kleine geschützte Buchten, um die herum der Wald sich wie mit Fingern aus jungem Gehölz und dichten Sträuchern ins Land vorschob. Zwischen dem harten Gras fand sich eine Vielzahl würziger Krauter, Kamille, Brennessel und Goldwurz, Huflattich und Schachtelhalm und die kleinen Schoten des Hirtentäschels. Goldschweif und der Braune schritten zwischen den weidenden Altersgenossen hindurch und begannen spielerisch nacheinander zu schnappen. Schnorchelnd umkreisten sie einander: einmal mit imponierend gebogenem Hals hochaufgerichtet, dann wieder mit flach an den Schädel gelegten Ohren und geducktem Nacken, mit blitzschnellem Biß auf eine Blöße des Gegners zielend. Jetzt stellte sich Goldschweifhoch auf die Hinterhand und ließ die Hufe wirbelnd durch die Luft kreisen. Der Braune tat es ihm nach, und schon schlugen sie aufeinan-
der ein. Die nächste Runde trugen sie einander abgewandt aus, sie keilten kräftig in Richtung des Gegners aus, und der Braune wurde an der Flanke getroffen. Schrill schrie er auf und pfefferte so heftig zurück, daß Jilka erschrocken die Flucht ergriff. Doch nichts war geschehen. Geschickt wichen die jungen Hengste einander aus, und der scheinbar erbitterte Kampf war nichts als ein spielerisches Messen ihrer Kräfte, auch wenn es dabei den einen oder anderen Treffer gab. Wichtig allein war es, zu erproben, wie man den Angriffen des Gegners entkommen konnte, um ihn im richtigen Augenblick zu überwältigen. Nach einer Weile ließen sie voneinander ab und grasten friedlich Schulter an Schulter. Jilka und Fleck, des Zuschauens müde, kehrten zu ihren Müttern zurück.
Mit jedem neuen Tag wuchs Jilkas Wißbegierde. Bald kannte sie die Geschichte aller Pferde, die in der Herde des Grauen lebten. Sie kannte die Väter, die sich dem Willen des Grauen, des Leithengstes, unterordnen mußten und eines Tages um seine Nachfolge kämpfen würden, wenn er, alt und schwach geworden, sich zum Sterben ins Dickicht zurückzog; oder wenn er im Kampf mit dem Leithengst einer anderen Herde unterliegen sollte. Jilka lernte auch, daß nicht alle Fohlen dazu ausersehen waren, erwachsen zu werden, daß es Geschehnisse gab, die schmerzvoll und unbegreiflich waren. Wie das Schicksal des tolpatschigen, gutmütigen Hinker, der lahmte und nicht schnell genug laufen konnte und der sich auf der Flucht bei einem Sprung über den Graben
ein Bein gebrochen hatte. Er hatte jämmerlich geschrien, und Esa, seine Mutter, war aufgeregt hin und her gelaufen, aber der Graue hatte sie energisch weitergetrieben. Bald darauf war ein Schuß gefallen. Als sie das nächste Mal an der Stelle vorüberkamen, erinnerten an Hinker nur noch Reste übelriechender Eingeweide, um die sich krächzend ein paar Krähen stritten. Noch mehr erschreckte Jilka, was der zottigen kleinen Lupa geschah. Von Anfang an war sie schwächlich. Sie hatte Mühe zu saugen, so sehr Fenna, ihre Mutter, eine kräftige Braune, sich auch bemühte und sie wieder und wieder in die Richtung des prallgefüllten Euters schob. Lupa trank mit großer Mühe ein paar Schluck und gab auf, sobald der größte Hunger gestillt war. Als sie lernen sollte, Gras und Kräuter aufzunehmen, gelang es ihr wohl, ein paar Büschel des saftigen Grüns auszurupfen, aber es war ihr nicht möglich, die Nahrung zu zermalmen, ihre Zähne trafen beim Kauen nicht aufeinander. Sie magerte ab und wurde von Tag zu Tag schwächer. Da sie das Euter ihrer Mutter nicht leersaugen konnte, hatte Fenna bald keine Milch mehr für ihre Tochter. Und eines Morgens war Lupa so schwach, daß sie nicht mehr aufstehen konnte. Erschöpft blieb sie nach wenigen Versuchen am Rande des Rastplatzes liegen, während die Herde weiterzog. Jilka wollte nicht ohne die Gefährtin gehen und rief sie immer wieder, aber Lupa antwortete nicht und sprang auch nicht auf, um der Herde zu folgen. Laß sie, Jilka, sagte Aljane leise, du darfst sie jetzt nicht stören. Sie hat eine anstrengende Reise vor sich, in
ein fernes Land. In ein fernes Land? Aber sie kann doch nicht laufen? Wie soll sie dort hingelangen? fragte Jilka bestürzt. Auf dieser Reise braucht man die Kraft des Körpers nicht mehr. Man läßt ihn zurück, wie man sich im Frühjahr von seinem Winterfell trennt, erklärte die Mutter. Jilka hatte vom Winter erzählen gehört, in dem es kalt wurde, so daß einem ein dichter Pelz zum Schutz gegen die rauhe Witterung wuchs, der sich im Frühling, wenn die Kraft der Sonne zunahm, in dicken Flocken vom Körper löste. Aber wo geht Lupa hin, Mutter? Zu den Unsichtbaren, in die andere Welt. In die andere Welt? Eines Tages wirst du alles verstehen. Jetzt ist es noch zu früh. Aljane küßte ihre Tochter zärtlich, ihr Atem strich beruhigend über die erregt bebenden Nüstern des Fohlens. Es gibt auch in dieser Welt noch so viele Dinge, die du lernen mußt, meine Kleine. Plötzlich hatte die Stute die Ohren gespitzt. Mit dunklem, erwartungsvollem Wiehern blickte sie aufmerksam in die Richtung des Platzes, an dem sie Lupa zurückgelassen hatten. Und etwas Seltsames geschah. Aus der Ferne klang das Gebell von Füchsen herüber, und gleich darauf war es Jilka, als hätte Lupa sie berührt. Sie spürte den vertrauten Geruch der Gefährtin ganz deutlich in den Nüstern, und es war ihr, als dränge sich das zottige Fohlen an ihre Seite. Einen Augenblick nur, dann huschte sie wie ein Schatten vorbei, es war kaum mehr, als wenn eine Wolke sich einen Atemzug lang über die Sonne schob und das Licht sich verdunkelte. Aber Jilka
hatte Lupa genau erkannt. Lupa, wo bist du? Du kannst sie nicht sehen, Jilka. Aber sie ist da, Mutter? Ja, sie ist da. Ganz in deiner Nähe steht sie und schaut dich an. Seltsam. Sie kommt mir größer vor, auch stärker. Es geht ihr jetzt gut. Sie ist nicht mehr schwach und müde, auch nicht hungrig und durstig. Und sie ist schneller als der Wind.
Zwei Tage später kehrten sie an den Platz zurück, an dem sie Lupa zum letzten Mal gesehen hatten. Jilka erschrak sehr, denn sie hatte geglaubt, keine Spur mehr von dem zottigen Fohlen zu entdecken. Aber das Gras war aufgewühlt und verklebt von getrocknetem Blut, und Lupas zerfetzter Kadaver bot einen grauenvollen Anblick. Die Füchse! murmelte Aljane. Sie haben sich ihre Mahlzeit geholt. Jilka starrte stumm vor Entsetzen auf das Bild der Verwüstung, die bleichen Rippen, die unter Hautfetzen hervorstachen, die leeren Augenhöhlen, die von einem Schwärm schillernder Fliegen bedeckten Eingeweide, das gespenstische Aussehen der Zähne im lippenlosen Maul. Aljane schob Jilka sanft zur Seite und verstellte ihr den Blick. Das ist nicht Lupa. Erinnere dich an meine Worte. In der anderen Welt braucht sie diesen Körper nicht mehr, um zu leben. Und als wolle Lupa die Worte Aljanes be-
stätigen, berührte der Schatten des struppigen Fohlens Jilkas Hals, strich an ihr entlang und sprang voraus, als wolle sie sagen: Komm, spiel mit mir! Fang mich!
Der Gedanke an die Unsichtbaren ließ Jilka nicht los, auch wenn Aljane immer wieder beteuerte, sie sei noch zu jung, um diese Dinge zu begreifen. Jilka sah die Welt nun mit anderen Augen. Schon seit einiger Zeit hatte sich ihr Geruchssinn ständig verfeinert. Sie konnte nicht nur den Duft der Gräser und Kräuter, der vielerlei Blüten und Früchte genau unterscheiden, die unzähligen Arten von Holz und Rinde, Moos, Erde, Sand und Wasser in Moor, Heide, Mischwald und Tannendickicht, auf den Feldern und befestigten Wegen, die zum Herrschaftsbereich der Menschen gehörten, und in unzugänglichem Gestrüpp, nein, sie kannte nun auch die anderen Bewohner des Bruchs. Jilka witterte, ob Hirsche oder Rehe in der Nähe waren, ob der Fuchs sich in seinem Bau aufhielt, das Rascheln unter dem Laub eines Iltis verriet oder nur eine Maus. Sie erspürte die lautlose Wanderung der Schlange, die Behausung von Kaninchen und Hasen und den versteckten Bau des Dachses. Die gefiederten Gefährten in der Luft und auf dem Wasser unterschied sie nicht nur nach ihren Stimmen, sie konnte auch am Flügelschlag unterscheiden, ob eine Wildtaube im Geäst flatterte, ein Fasan über das Brachland strich oder eine Krähe sich auf der Saat niederließ. Jilka erkannte die Insekten an ihrem Gesang und verstand die vielen Sprachen, die um sie
herum die Luft erfüllten, wußte, wann der heisere Schrei des Hähers eine Gefahr ankündigte oder wann das empörte Keckem der Elster nur einem Familienstreit galt. Auch ihre Augen waren scharf geworden. Die Bewegung eines Blattes verriet ihr, ob es vom Wind bewegt wurde oder ob sich ein Wiesel auf der Suche nach fetter Beute darunter verbarg. Sie konnte den Falken hoch oben in den Wolken erkennen und die versteckte Straße der Ameisen zwischen trockenen Fichtennadeln und welkem Laub. Sogar den Menschen hatte sie nun gesehen, hatte seine Witterung aufgenommen, scharf und unangenehm und anders als alles, was sie kannte. Sie hatte seine Stimme gehört, ein kurzes, abgehacktes Schnattern. Ihr erster Impuls war es gewesen zu fliehen, obwohl die Herde sich gemächlich tiefer ins Dickicht zurückzog. Aljane war ohne ein Zeichen der Furcht neben sie getreten. Es sind Frauen, von ihnen droht uns keine Gefahr. Sie holen sich das Korn, um es in ihre Behausungen zu schaffen. Siehst du? Eine hat ein Kind dabei, es schreit. Jetzt läßt sie es trinken. Der Anblick hatte nichts Beunruhigendes, und doch zitterte Jilka am ganzen Körper und schnaubte erregt. Wenn nun ihr Anführer mit dem Gewehr kam, um seine Herde zu verteidigen? Mit steifen Beinen, die Augen starr auf die Gestalten im Feld gerichtet, wich Jilka zurück. Erst als sich ein dicht belaubter Holunderstrauch in ihr Blickfeld schob und nichts mehr von den Frauen zu sehen war, wandte sie sich um und galoppierte davon, tauchte ein in den schützenden Ring der Älteren. Jilka hatte mehr gelernt, als ein Fohlen ihres Alters für
gewöhnlich wußte. Ihre Ohren hörten schärfer, ihre Augen sahen besser als die der meisten erwachsenen Pferde. Doch Jilka genügte das nicht. Wie ist es möglich, Mutter, daß du die Unsichtbaren sehen kannst und ich nicht, so sehr ich mich auch bemühe? Alles hat seine Zeit, meine Kleine. Eines Tages wirst du sie sehen. Hab Geduld. Sind es Pferde wie wir? Nein. Aljane blies behutsam in die zerzauste Stirnlokke des ungebärdigen Fohlens. Jedes lebende Wesen in dieser Welt hat Brüder in der anderen. Es gibt unzählig viele, kleine und große. Sie tanzen über den Wassern und schaukeln in Grashalmen, sie schweben zwischen den Bäumen und verbergen sich unter den Steinen. Nur manche sind wie wir. Was tun sie den ganzen Tag? Nur spielen? Gewiß spielen sie und freuen sich ihres Lebens. Aber vor allem haben sie wichtige Aufgaben: zu bewahren und zu beschützen, über die geheime Ordnung der Dinge und Wesen zu wachen - und vieles mehr. Was mehr? Jilka schob sich unter dem Hals Aljanes hindurch, um sie am Weitergehen zu hindern. Alle Pferdekinder taten dies, wenn sie ihren Müttern anzeigen wollten, daß sie durstig waren und trinken wollten; aber Jilka benutzte das Zeichen, wann immer sie eine Frage hatte. Was mehr? wiederholte sie drängend. Es ist genug, sagte Aljane bestimmt. Ich habe dir schon sehr viel erzählt. Nun geh spielen! Ein wenig vorlaut, die Kleine! mischte sich Orla ein. Ich habe wahrhaftig noch kein Kind ihres Alters erlebt,
das so ununterbrochen plappert! Aljane schüttelte verärgert den Kopf, doch bevor sie antworten konnte, verteidigte Nona das Fohlen. Jilka ist hochbegabt und für ihr Alter weit entwickelt. Es können nicht alle so töricht sein wie du, Orla. Aus ihr wird einmal etwas Besonderes werden, wir können stolz auf sie sein. Nun, ich bin vielleicht töricht, aber was schlechte Manieren sind, kann ich recht gut unterscheiden, schnaubte Orla und zog sich beleidigt zurück.
Jilka hatte sich gelangweilt zu den jungen Hengsten getrollt. Vielleicht gab es dort etwas zu erleben, einen Kampf, ein Wettrennen oder auch nur ein wildes Spiel. Die Hengste grasten friedlich oder dösten im Schatten der Buchen, tiefe Ruhe lag über dem Wald. An manchen Bäumen schienen die Blätter das Sonnenlicht aufgesogen zu haben, so daß sie statt des satten Grüns nun ein lichtes Gelb zeigten. Im Unterholz lockten tiefblau und rubinrot leuchtende Beeren, und aus fernen Gärten wehte der süße Duft reifender Äpfel und Birnen herüber. Das Blau des Himmels war so unergründlich, daß die Erde vor Staunen den Atem anzuhalten schien. Kein Vogelruf, kein Insektenschwirren störte die Stille. Jilka sah sich nach Goldschweif um. Der junge Hengst knabberte gedankenverloren an einem Heidelbeerstrauch, ein Stück weit entfernt von der Herde. Jilka beobachtete, wie er witternd den Kopf hob und langsam tiefer in den Wald davonging. Wie magisch angezogen
folgte ihm das Fohlen in einigem Abstand. Wie es schien, hatte Goldschweif auf seinem Weg besonders köstliche Nahrung entdeckt, denn er bückte sich immer wieder und nahm etwas vom Boden auf, das er genießerisch verzehrte. Jilka reckte den Kopf und erkannte runde Früchte, die die Farbe eines Zitronenfalters hatten. Sie waren so groß wie das von Milch pralle Euter der Mutter, und ihr Duft glich jenem, der aus den fernen Gärten kam. Nur war dieser stark und süß und erfüllte sie mit heißem Verlangen. Ob Goldschweif bereit war, die Mahlzeit mit ihr zu teilen? Jilka stapfte zögernd näher und folgte dem jungen Fuchshengst auf seiner Spur, jeden Augenblick gewärtig, von ihm vertrieben zu werden. Sie hatten sich inzwischen weit von der Herde entfernt, aber Jilka bemerkte es nicht, auch nicht den warnenden Schrei der Eichelhä her, die in den Wipfeln über ihr kreischten. Goldschweifs Sorglosigkeit und der süße Duft der fremden Früchte ließen sie blind und taub sein für alles, was um sie her geschah. Goldschweif hatte tatsächlich eine der Früchte übersehen. Glücklich senkte Jilka den Kopf und schnupperte daran. Die Frucht war glatt und rund, und als Jilka ihre Zähne hineingrub, lief der Saft ihr entgegen. Das Fleisch der Frucht war so weich, daß sie es fast auf der Zunge zerdrücken konnte, es knackte leise, wenn man es zwischen die Zähne schob und zerbiß und der herbsäuerliche Geschmack der Schale sich mit der zarten Süße des Fruchtfleisches mischte. Jilka verlangte nach mehr und trabte an, um Goldschweif vorauszulaufen. In diesem Augenblick geschah etwas so Unerwartetes,
daß Jilka vor Schreck vergaß zu atmen. Vor ihr stand ein Wesen aus Licht, ein Hengst, wie sie noch nie zuvor einen gesehen hatte. Er war um vieles größer als der Graue, und sein Fell schimmerte in einem so blendenden Weiß, daß sie glaubte, die Augen schließen zu müssen. Zugleich ging ein Strahlen von ihm aus, als pulsiere sein durchsichtiger Körper in rhythmischen Schwüngen, breite sich aus und zöge sich gleich darauf zusammen. Lauf! befahl der Fremde. Lauf zurück zur Herde, Jilka! Jilka stolperte rückwärts. Sie wandte sich um und lief ein paar Schritte, doch etwas zwang sie, anzuhalten und sich noch einmal der seltsamen Erscheinung zuzuwenden. Der Fremde war verschwunden. Weit entfernt sah sie Goldschweif, der sich einer neuen Frucht zuwandte. Doch Sekunden später bäumte er sich auf, schrie vor Wut und Schmerz und galoppierte davon. Nur wenige Meter, denn etwas schien ihn zu halten, so daß er sich wieder aufbäumte und in wildem Entsetzen schüttelte, als müsse er einen Angreifer von sich schleudern. Zugleich sprang etwas aus dem Baum über ihm, Jilka glaubte an eine Wildkatze oder einen riesigen Raubvogel, aber es war kein Tier, das sich jetzt auf Goldschweifs Rücken schwang und seinen Hals umklammerte - es war ein Mensch. Er hatte ein Seil um den Hals des jungen Hengstes geschlungen, das sich enger und enger zusammenzog, so daß Goldschweif schließlich zitternd und röchelnd stillstand. Der Mann zerrte ihm etwas über den Kopf, das Jilka wie ein Geflecht aus weichen Ruten schien, dann zog er den jungen Fuchshengst mit sich fort. Jilka hatte wie erstarrt gestanden, jetzt wendete sie auf
der Hinterhand und raste davon, zurück zur Herde. Sie brauchte lange, bis sie fähig war, den anderen ihr Erlebnis zu schildern. Muß Goldschweif jetzt sterben, Mutter? fragte sie, und Kummer und Entsetzen schnürten ihr das Herz zusammen. Unsinn! mischt e sich Nona ein. Er hat sich von der Herde entfernt, das war eine große Dummheit. Daß er unvorsichtig war, eine noch größere, für die er büßen wird, indem er dem Menschen fortan dienen muß. Goldschweif ist hübsch und kräftig, vielleicht wird der Anführer der Menschen ihn nehmen, um sich von ihm tragen zu lassen. Dann wird er gutes Futter bekommen, und es wird ihm nicht schlechtgehen. Vielleicht hat auch er eines Tages die Möglichkeit zu fliehen und zur Herde zurückzukehren. Aber du, Jilka, nimm dir ein Beispiel daran. Laß dich nie verlocken, deine Aufmerksamkeit aufzugeben! Nein, älteste Mutter, das will ich nie mehr tun, versprach das Fohlen. Noch jetzt hatte Jilka die heiseren, aufgebrachten Warnungsschreie der Eichelhäher im Ohr, die sie so leichtsinnig mißachtet hatte. Nie wieder würde sie so unaufmerksam sein! Die Menschen haben einen Köder ausgelegt, verstehst du? erklärte Aljane ihrer Tochter. Eine besonders verlockende Mahlzeit, damit wir ihre Nähe nicht bemerken, denn der Duft der reifen Äpfel lenkt uns ab. Äpfel? So nennen sie diese Früchte. Sie pflanzen die Bäume in ihren Gärten und lagern im Herbst die Äpfel in ihren Häusern, damit sie im Winter davon essen können. Manchmal brachte mein Herr mir einen zum Lohn,
wenn er zufrieden mit mir gewesen war. Ich weiß, wie köstlich sie sind, und all die anderen Früchte, die in ihren Gärten wachsen. Armer Goldschweif, er konnte der Versuchung nicht widerstehen. Vielleicht sind die Menschen gut zu ihm und geben ihm jeden Tag von ihren Äpfeln, tröstete sich Jilka. Und eines Tages kehrt er zurück und wird mir alles erzählen. Gewiß kehrt er zurück, Mutter. Wir wollen die Unsichtbaren bitten, bei ihm zu sein und ihm Kraft zu geben, sagte Aljane und fuhr ihrer Tochter zärtlich schnobernd über den Rücken. Und wir wollen jeden Tag an ihn denken. Ich werde ihn nie vergessen, keinen Augenblick, sagte Jilka leise. In den ersten Tagen wurde das Fohlen oft an das erschreckende Erlebnis erinnert. Wenn in den Wipfeln der Kiefern plötzlich der schrille Schrei eines Hähers erklang, zuckte sie zusammen und nahm ängstlich die Wit terung auf. Raschelte über ihr unvermutet ein Zweig, erwartete sie, im nächsten Augenblick eine dunkle Gestalt auf ihrem Rücken zu spüren, die sich in ihr Fell krallte und ihr mit einem Seil den Hals zuschnürte, und sie floh in wildem Galopp. Doch der Graue führte seine Herde auf sicheren Wegen, und allmählich verblaßte der Eindruck des Schrekkens. Neues nahm Jilka gefangen, die rasch fortschreitende Veränderung ihrer Umwelt versetzte sie in fassungsloses Staunen. Wald, Moorland und Felder waren nicht wiederzuer-
kennen. Was in zahllosen Schattierungen von Grün geleuchtet hatte, schmückte sich jetzt mit brennendem Purpur, Safrangelb und tiefem Orange. In der Morgenfrühe hatte sich das Gras mit perlenbesetzten Schleiern bedeckt, von Halm zu Halm, Zweig zu Zweig waren die feinen Segel gespannt. Die Eichen warfen ihre Früchte ab, und im Dickicht leuchteten in flammendem Hellrot die Hagebutten. Den Menschen begegneten sie nun häufiger, wenn sie sich den Feldern näherten. Männer hackten die Erde auf und sammelten gelbliche Rüben und Kohl in Körbe aus Weidenruten. In großen Feuern verbrannten sie Reisig und trockenes Kraut und bereiteten sich ihre Nahrung, Dinge, die verheißungsvoll dufteten. Jilka lernte von Al-jane Wörter der menschlichen Sprache wie Brot oder Suppe oder eines, das ihr erregender erschien als alle anderen: Pflug. Es war ein blitzendes, leicht gebogenes Eisen mit hölzernen Griffen, das von zwei ehemaligen Söhnen der Herde gezogen wurde. Ein Mann ging hinter dem Pflug und trieb die Pferde mit einer Haselrute an, wenn ihre Schritte langsamer wurden. Unter dem Eisen bäumte sich ein Streifen Erde auf und sank zur Seite, glatt wie poliertes Holz. Jilka starrte fasziniert und voller Abscheu zugleich auf dieses Schauspiel; sie hörte das Schnauben und Keuchen der gefangenen Brüder, sah den Schaum auf dem schweißnassen Fell, dort, wo die ledernen Zugbänder auflagen, und lauschte erschauernd der Stimme des Menschen. Sie standen, vom Dickicht geschützt, nicht sehr weit entfernt, denn jetzt war der Mensch nicht gefährlich, das wußte Aljane.
Warum laufen unsere Brüder nicht einfach davon? fragte Jilka. Sie könnten die Bänder zerreißen, ihre Last abschütteln und den Mann mit ihren Hufen bedrohen! Er hat sie gelehrt, ihm zu gehorchen, antwortete Aljane. Kannst du die Eisenstange erkennen, die in ihrem Maul liegt? Es bereitet große Schmerzen, wenn man ihr nicht nachgibt. Sie müssen sehr unglücklich sein! Sie haben sich daran gewöhnt. Ich könnte mich nie daran gewöhnen. Niemals! schwor Jilka. Nachts wurde es kalt, und wenn sich die Wildpferde jetzt im ersten Frühlicht erhoben, sich schüttelten und schnaubten, quollen Wölkchen aus weißem Dampf aus ihren Nüstern, ein Spiel, das Jilka entzückte. Die bunten Blätter wurden braun und rollten sich knisternd zusammen, ihre Ränder waren mit Hunderten winziger Kristalle besetzt, die im ersten Sonnenlicht magisch aufblitzten, um gleich darauf in der Wärme zu schmelzen. Sacht fielen die Blätter zu Boden, und es raschelte geheimnisvoll, wenn Jilka durch die gelbbraune Flut watete. Aus der Höhe hallte der Abschiedsruf der Wildgänse, die in wärmere Gegenden zogen. Längst hatten sich die Völker der Stare in den Baumkronen gesammelt, hatten schwatzend ihre Reisevorbereitungen getroffen und waren davongeschwirrt. Das Volk der Krähen strich über die frischgepflügten Äcker und senkte sich hinter dem Pflug wie ein schwarzes Trauerlaken auf die Erde hinab, auf der Suche nach frischer Nahrung. Den Wildlingen wuchs der Winterpelz. Füchse und Braune erinnerten an zottige Bären, Mausgraue und Fal-
ben geriet der messerscharfe Aalstrich auf dem Rücken zu sanften Wellen, andere ähnelten zu groß geratenen Schafen. Der dichte, breitgewachsene Schweif, den nun auch Jilka bekam, schützte die empfindliche Rückseite vor Regen, Schnee und Wind, die buschige Mähne ließ Nässe und Kälte nicht bis zum Hals durchdringen. Mit der kalten Witterung kam eine ungewohnte Lebendigkeit in die Herde. Wie von einer geheimen Unruhe erfaßt, hielt der Graue sie ständig in Bewegung. Hatten sie im Sommer nur in den frühen Morgenstunden und in der Abenddämmerung Nahrung aufgenommen, so fraßen sie jetzt den ganzen Tag. Bald begriff Jilka, daß dies unumgänglich wurde, wollte man genug Nahrung finden, um seinen Hunger zu stillen. Das Gras wuchs spärlicher auf Wiesen und Brachland, Sträucher und Bäume waren entlaubt, und sie lernte, die Rinde von Zweigen und Bäumen zu knabbern. Noch hatte Aljane genügend Milch für ihre Tochter, doch Jilka wuchs ständig, und ihrem Appetit genügte die flüssige Nahrung nicht mehr. Nachts geschah es nun, daß der Graue sie in die Nähe menschlicher Behausungen führte. Da gab es Wiesen mit Apfelbäumen, an denen noch letzte Früchte hingen, Gemüsefelder und junge Wintersaat, die eben die ersten Spitzen aus dem Boden reckte. Sie mußten vorsichtig sein, denn die Kettenhunde im Dorf bellten wütend, und manchmal kam einer der Menschen heran und feuerte ins Dunkel. Nur in Nächten, in denen der Mond sich hinter dichten Wolken versteckte, führte der Graue sie hierher, und nur die Älteren durften nahe an die Behausungen der Menschen heran.
Beim ersten Mal hatte sich Jilka sehr gefürchtet, doch Aljane hatte ihr erklärt, was geschah, wie sie auch täglich neue Wörter der menschlichen Sprache lehrte und alles, was sie über das Leben der Menschen wußte. Wörter wie Haus, Stall, Dorf, Scheune, Wagen, Sattel und Geschirr. Und auch das Wort Peitsche, das Jilka besondere Furcht einflößte. Die Wörter waren etwas, von dem eine dunkle, unheimliche Kraft ausging. Sie waren es, die dem Menschen die Macht gaben, über alles zu herrschen. Lernte Jilka von Aljane das Wissen über ihren Feind, so wurde Nona ihre Lehrmeisterin in anderen Dingen. Von der klugen, alten Stute erfuhr das Fohlen alles über die heilenden Kräfte, die in Krautern, Früchten und Baumrinde verborgen waren, welche man fressen muß te, um Schmerzen aus dem Leib zu vertreiben, welche das Blut schneller durch den Körper fließen ließen oder welche Blick und Gehör schärften. Da gab es solche, die gegen den Husten schützten, und andere, die die Verdauung förderten. Daß das Bad im Moorsee nicht nur der Erfrischung diente, sondern auch der Gesundheit der Glieder, und daß junge Eichenrinde gegen den Wurmbefall half. Jilka lernte, Spuren zu lesen und aus der Beschaffenheit von Wolken, Luft und Wind zu erkennen, wie das Wetter zu werden versprach. Und eines Morgens erlebte sie das größte Wunder - den ersten Schnee. Schon am Abend zuvor hatte die Luft anders geschmeckt als sonst. Heute wird er kommen, hatten die Alten gesagt, und der eine oder andere hatte über Gliederschmerzen geklagt. Der Graue hatte sie auf eine Wie-
se getrieben und sie ermuntert, ordentlich von dem saftigen Gras zu fressen, so bald würden sie es nicht mehr so mühelos aufnehmen können. Jilka hatte es den anderen gleichgetan und kaum den Kopf gehoben. Als sie rundherum satt war - die Nacht neigte sich bereits ihrem Ende zu -, hatte sie sich in Aljanes Nähe zu einer kurzen Rast niedergelassen und war gleich darauf vor Erschöpfung fest eingeschlafen. Sie erwachte erst, als der Graue zum Aufbruch trieb. Schlaftrunken kam sie auf die Beine und trottete hinter der Mutter her. Auf einmal segelte ein winziger weißer Stern durch die Luft und setzte sich ihr auf die Nase. Gleich darauf ein zweiter und ein dritter, und bald wirbelte es um ihren Kopf, daß ihr schwindlig wurde. Immer dichter wurde das Treiben, sie hatte Mühe, die vor ihr Gehenden zu erkennen, und hielt sich mit der Nase dicht an Aljanes Hinterhand, wie zu der Zeit, als sie gerade erst geboren war. Sie brauchte nicht zu fragen, was es mit dieser neuen Erscheinung auf sich hatte, zu oft hatte sie davon erzählen gehört. Und doch war es aufregend und ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Schnee! Man konnte ihn aus dem Fell schütteln, ihn von der Nase blasen, und er hüllte einen in eine dichte Wolke aus winzigen Kristallen. Auf den Lippen schmolz er zu kleinen Rinnsalen. Er machte die Herde zu Schimmeln und verwandelte Bäume, Sträucher und Gras, als wäre ihnen ein weißer Pelz gewachsen. Die kahlen Zweige schmückten sich mit ihm wie mit neuen Blättern und Blüten, er dämpfte jedes Geräusch, als wolle er die Welt unter seiner Decke zum Schlafen bringen.
Als es hell wurde, war vom satten Braun der frisch gepflügten Äcker, dem fahlen Graugrün der Wiesen nichts mehr zu sehen. Der Schnee reichte den Wildlingen bereits bis unters Knie, und die Zweige rundum neigten sich tief unter der Last. Jilka konnte es nicht länger erwarten, sie lief aus der Reihe und ließ sich auf den Boden hinunter. Erst zögernd, bald immer wilder wälzte sie sich von einer Seite zur anderen. Dann sprang sie auf, schüttelte sich vor Begeisterung schnaubend und galoppierte der Mutter nach. Nona übersah es gutmütig, sie waren ohnehin fast am Ziel. Der Graue führte die Herde tief in ein Fichtendikkicht. Hier hielten die Baumkronen den Schnee vom Boden ab, nur eine dünne Schicht bedeckte Moos und Wildgrasbüschel. Auf den Ästen über ihnen fügten sich die Flocken zu einem festen Dach zusammen, still war es hier unten wie im Inneren eines Berges. Die Herde ruhte aus. Gegen Mittag hörte der Fall der Flocken auf, die Sonne brach durch die Wolken, und bald leuchtete der Himmel in durchsichtigem Blau. Die Wildpferde stillten ihren Hunger mit Moos, Rinde und Waldgras, dann trieb der Graue sie weiter zur Tränke am Moorsee. Noch war er nicht zugefroren, und das Wasser zu erreichen brachte keine Gefahr. Auf dem weiten Brachland vergnügten sich jetzt die Fohlen und Jungpferde im Schnee; sie tollten herum, wälzten sich oder stampften übermütig die weiße flauschige Decke. Die Luft war klar und prickelnd und verlockte zum Laufen und Springen, als wären ihnen über Nacht Flügel gewachsen. Junghengste riefen sich gegen-
seitig zu Kampfspielen herbei, und sogar die Alten ließen sich nieder, um sich genüßlich auf dem Rücken hin und her zu schaukeln. Jilka glaubte, sich noch nie so glücklich und lebendig gefühlt zu haben. Sie wurde nicht müde, mit den anderen um die Wette zu galoppieren, sich hoch auf die Hinterbeine zu erheben, zu buckeln und auszukeilen, um sich gleich darauf wieder in den Schnee fallen zu lassen. Aufgeregt schnaubend trabte sie zu Aljane hinüber, schob sich unter den Hals der Stute, um sie zum Stillstehen aufzufordern und einen Schluck zu trinken. Ist es nicht herrlich, Mutter? Gibt es auf der ganzen Welt etwas Schöneres als Schnee? In den ersten Tagen, gewiß. Aljane leckte ihrer Tochter das durchnäßte Fell. Aber wenn er zu lange bleibt, geschieht es auch, daß man ihn wieder fortwünscht. Soll er nur lange bleiben. Und schon sprang Jilka wieder davon zu den Spielkameraden.
In der Nacht kehrten sie in das Fichtendickicht zurück und ruhten eine Weile, bis sie sich weit verstreut in der Umgebung auf Nahrungssuche machten. Jilka und Aljane standen in der Nähe des Grauen, als der Hengst gegen Morgen witternd den Kopf hob. Gleich darauf hörten sie in der Ferne Hundegebell und Wiehern und einen seltsamen Ton, den Jilka noch nie vernommen hatte. Der Graue stieß einen gebieterischen Warnruf aus
und schnaubte erregt. Mit hochaufgestelltem Schweif begann er die Herde zusammenzutreiben, doch das war nicht nötig. Wer immer seinen Ruf gehört hatte, stob in wilder Flucht davon. Jilka hielt sich eng an Aljanes Seite, sie begriff nicht, was vor sich ging, und brauchte all ihre Aufmerksamkeit, um nicht zu stolpern und Hindernisse rechtzeitig zu erkennen. Querfeldein ging es, aus dem Wald heraus über Brachland und wieder in den Wald. Donnernd stampften die Hufe den Boden, die Luft war erfüllt vom rhythmischen Schnauben der galoppierenden Herde. Schnee stob auf und mischte sich mit dem aus Nüstern und Fell aufsteigenden Dampf. Es schien Jilka eine Ewigkeit vergangen zu sein, bis der Graue anhielt und erneut witterte. Was ist passiert, Mutter? Die Menschen jagen. Hörst du diesen grellen, kurzen Ton? Das sind Schüsse aus ihren Gewehren, die allen Wesen den Tod bringen. Jagen sie uns? Nein, meine Kleine. Sie jagen Hirsche, Rehe und Hasen. Vielleicht auch den Fuchs oder Enten über dem See. Aber es ist nicht gut, in der Nähe zu sein, wenn sie töten. Hier sind wir sicher. Doch noch einmal stieß der Graue seinen Warnruf aus. Aus dem Wald gegenüber brach fliehend eine rote Gestalt, hetzte hierhin und dorthin in panischer Angst, machte einen Satz in die Luft und brach gleich darauf im Schnee zusammen. Blut sickerte aus seinem Hals und einem seiner Vorderläufe. Jilka erkannte im Weiterstürmen einen der jungen Hirsche, die einsiedlerisch für sich lebend im Sommer hin und wieder in der Nähe der
Wildpferde geäst hatten. Der Graue hieß die Herde verharren. Weit entfernt hatten die Hunde ihre Beute erreicht und verkündeten es ihren Herren mit hellem Gebell. Warum haben die Menschen den Hirsch getötet, Mutter? Sein Fleisch dient ihnen zur Nahrung, und aus seinem Fell und seiner Haut schaffen sie die Dinge, mit denen sie ihren Körper bedecken. Sie besitzen selbst kein Fell und müssen sich vor der Kälte schützen, wie du weißt. Warum essen sie nicht die Früchte von ihren Bäumen und Feldern und bedecken ihre Haut mit Blättern und Zweigen, dann müßten sie nicht töten! Jilka blickte voller Kummer auf das schreckliche Schauspiel, das sich in der Ferne vollzog. Die Hunde umringten in wilder Gier und Ungeduld die noch zukkende Beute, ihr Gebell, heiser vor Erregung, schmerzte das Stutfohlen wie der Stich eines Doms. Jetzt traten zwei Männer aus dem Wald, sie herrschten die Hunde an, und die Meute machte ihnen grollend Platz. Der eine der Männer zückte einen im Morgenlicht hell aufblitzenden Gegenstand und stieß ihn auf den Hirsch nieder. Der bäumte sich ein letztes Mal auf. Dann war es Jilka, als hätte sich eine Schneewolke aus dem Wald genähert und ließe sich über dem sterbenden Tier nieder, eine Wolke aus wirbelndem Licht, so hell, daß man die Augen davor verschließen mußte. Einen Atemzug lang lag diese Wolke über der Gruppe, dann hob sie sich und bewegte sich tanzend weiter, kam auf die Herde zu und strich über die Köpfe der Wildlinge hinweg. Und nun erkannte Jilka, daß es Hirsche waren,
eine große Zahl weißer Hirsche, die ihren eben getöteten Bruder willkommen geheißen und in ihre Mitte aufgenommen hatten. Sie flogen so leicht und frei dahin wie ein Rauch, der sich im Wind auflöst und nicht mehr ist. Jilka blickte ihnen nach und wußte nicht, sah sie die majestätischen Tiere, oder war es nur noch das innere Bild der Erscheinung, das vor ihren Augen schwamm. Doch ein starkes Glücksgefühl überflutete sie, und sie konnte nun gefaßter zu der Gruppe hinüberschauen, zu den Männern, die ihre verendete Beute zerschnitten und den geifernden Hunden die Eingeweide hinwarfen. Dann schnürten sie den Kadaver zusammen, packten ihn an den Läufen und schleppten ihn davon. Er hat den Menschen durch seinen Tod gedient, wie alles ihnen dient, dachte Jilka. Nein, nicht er. Nur sein Körper. Er ist jetzt frei, er ist ihnen entkommen, und sie haben es nicht einmal bemerkt. Sie glauben, sie seien stark und mächtig, dabei sind sie schwach. Sie sind nichts ohne uns. Wir sind es, die ihnen Macht geben.
Als der Mond sein volles Rund fast vollendet hatte, kam der Frost. Die Herde rückte enger zusammen, wenn sie ruhte, kurze Zeit nur, dann wanderte sie weiter auf der Suche nach dem kärglichen Futter. Wer jetzt nicht stark war, für den hieß es Abschied nehmen. Tag für Tag blieb ein Fohlen erschöpft im Schnee liegen, um in die andere Welt hinüberzudämmern; von den Alten zog sich bald dieser, bald jener in das schützende Dickicht zurück, um sich auf die Reise
zu machen. Im Gesträuch lauerten die Wölfe auf so leichte Beute, warteten Füchse, Wildkatzen und Raubvögel auf ihre Nahrung. Daß man sich nicht nur gegen Hunger und Kälte, sondern auch gegen die Gier der Wölfe schützen mußte, mit heftigen Schlägen und Bissen oder durch schnelle Flucht, das lernte Jilka in diesem Winter. Wurde die Wildpferdherde von einem Rudel Wölfe angegriffen, oblag die Verteidigung allen voran dem Grauen und den übrigen Hengsten, aber auch den erfahrenen Stuten. Die Jüngeren und die Fohlen wurden schützend in die Mitte genommen. Doch meistens hatten sie Glück, und die Flucht gelang, oder die Klugheit des Grauen bewahrte sie vor dem Zusammentreffen mit dem gefährlichen Feind. Bäche und Moorseen waren nun zugefroren. Aber die spiegelnd glatte Fläche barg eine neue Gefahr. Wagte man sich hinauf, so war es, als zöge eine heimtückische Kraft die Beine fort, sie glitten, das eine hierhin, das andere dorthin, bis man stürzte. Geriet man dabei zu weit auf den See, brach das Eis splitternd unter den Hufen, und man sank in die gurgelnde Tiefe. Manchem der Pferde wurde der Moorsee zur Falle, wenn es mit gebrochenem Bein hilflos liegenblieb, bis der Tod es erlöste. Oder wenn das Eis bei dem Versuch, sich ein Wasserloch zu schlagen, eine kleine Öffnung nur, um den Durst zu stillen, plötzlich zerbarst und es sie hinunterzog in den eisigen Schlamm. Sie kämpften verzweifelt, schlugen mit den Hufen, stiegen, warfen sich mit letzter Kraft nach oben und gerieten doch nur tiefer in den See, bis sie endlich erschöpft aufgaben.
Jilka war auf der Hut. Sie lernte schnell, beim Gang auf den Moorsee jene Stellen zu wählen, an denen Gras büschel oder winzige Erdaufhäufungen aus dem hartgefrorenen Wasserspiegel ragten und den Hufen Halt gaben. Sie prüfte lange, ob der nächste Schritt hinaus gefahrlos war und die Eisfläche ihrem Gewicht standhielt. Aljane und Nona waren mit ihr zufrieden, und sogar Orla gestand, das müsse man den Mischlingen las sen, daß sie zuweilen über außergewöhnliche Begabungen verfügten. Jilka war zu einem mageren, hochbeinigen Geschöpf herangewachsen. Ihr steingrauer, zottiger Winterpelz trug erste Anzeichen des künftigen Schimmels, die helle Umrandung der Augen etwa, die ihrem Blick etwas Geheimnisvolles verlieh, oder der weiße Fesselbehang. Sie war größer als ihre Altersgenossen, besaß kräftige Hufe und schlanke, muskulöse Beine, und der Hals zeigte bereits den Ansatz einer edlen Rundung, wenn auch sonst an ihrem Körper noch nichts so recht zusammenzupas sen schien. Von den gleichaltrigen Spielkameraden wurde sie widerspruchslos als Anführer anerkannt, und hin und wieder kam es bereits vor, daß sie sich schützend vor einen der Schwächeren stellte. In Jilka paarte sich Mut mit Umsicht, und täglich lernte sie aus ihren Erfahrungen. Aljanes Bauch begann sich wieder kräftig zu runden, aber wann immer Jilka an die mütterliche Milchquelle zurückkehrte, stand die Stute bereitwillig still. Wenn Jilka dann die Nase unter den prall gespannten Leib der Mutter schob und mit gespitzten Lippen das Euter suchte, spürte sie die Bewegung des wachsenden Pferdekin-
des unter dem Fell wie einen Gruß. Sie lehnte sich zuweilen mit sanftem Druck dieser Berührung entgegen und verharrte so in stummer Zwiesprache. Die meisten der Stuten trugen nun sichtbar die Zeichen ihrer Trächtigkeit. Wie schwerbeladen trotteten sie mit wiegendem Schritt ihren Weg, den Blick gedankenvoll nach innen gerichtet. Orla hatte eine Zeitlang wie stets vorgegeben, ein Fohlen zu tragen, aber niemand hatte ihr geglaubt, und nun zeigte sich, daß ihr Leib mager blieb wie eh und je. Aus Höflichkeit sahen die anderen darüber hinweg, und Orla hörte nicht auf, von ihrem künftigen kleinen Prinzen zu schwärmen. Kräftig würde er sein und hübscher als jedes andere Fohlen. Die meisten wandten sich gelangweilt ab, wenn Orla damit begann, aber es gab eine junge Stute, nicht besonders klug, aber still und bescheiden, die hörte der Alten geduldig zu. Swala trug ihr erstes Fohlen aus. Sie war nicht sehr stark, und Nona beobachtete mit Sorge, wie die Kräfte der jungen Stute nachließen. Doch Swala war zäh und besaß einen unbeugsamen Lebenswillen. Entschlossen nahm sie Tag für Tag den Kampf gegen Hunger und Kälte auf. Orla gewöhnte sich an, ihr Futter in der Nähe Swalas zu suchen und sie auf Schritt und Tritt zu begleiten. War es nicht am gleichen Tag, als der Graue um uns warb? überlegte sie. Wir werden unsere Kinder miteinander zur Welt bringen, du und ich, drängte sie Swala. Und gewiß wird deines nicht weniger schön und stark sein. Es wird an einem sonnigen Frühlingstag geschehen, und sie werden die besten Freunde werden!
Gewiß, antwortete Swala gutmütig. Wenn nur erst der Winter vorüberginge! Wenn der Frühling kommt, wird alles gut. Immer sehnsüchtiger dachten auch die anderen Wildlinge an das Ende des Winters. Die Luft klirrte vor Kälte, der gefrorene Schnee schnitt in die Fesseln, wenn sie auf dem Brachland und in den Wiesen nach ein wenig Gras scharrten. Die kahlen Äste der Bäume boten keinen Schutz gegen den schneidenden Ostwind, und an den Wasserstellen ritzten schartige Eiskanten die emp findlichen Mäuler. Der Graue führte die Herde weiter denn je über Land und hielt sie stets in Bewegung. Nachts wagten sie sich nun öfter nahe an die Behausungen der Menschen heran. An Feldscheunen fanden sie Reste von Heu und Stroh oder Getreide, die vom Wagen gefallen waren. Das zottige Fell bereift, der Behang um Maul und Nüstern zu winzigen Eiszapfen gefroren, wühlten sie in Abfallhaufen nach verschimmeltem Brot und Kohlstrünken, stets gewärtig, im nächsten Augenblick fliehen zu müssen. Doch die Menschen blieben in ihren festen Häusern, und sogar die Hunde verkrochen sich vor der grimmigen Kälte. Nur selten ließ der Graue sie ausruhen. Dann zogen sie sich ins Dickicht zurück, drängten sich dicht aneinander, daß ihr Atem sich mischte und eine Wolke aus Dampf über den Pferdeleibern aufstieg. Sie träumten von den wärmenden Strahlen der Sonne, vom Aufbrechen des Frühlings und von hellen, blütenduftschweren Tagen. Sie raunten sich Mut zu und sprachen von uralten Geheimnissen. Und Jilka hörte zu.
Seht ihr das Glitzern dort drüben im Hochwald? Da grast die Herde der Unsichtbaren. Jetzt heben sie die Köpfe und schauen zu uns herüber. Sie galoppieren an und schwingen sich in die Lüfte. Sleipner, der Ewige, führt sie. Dort sehe ich Blaufuß und da den kleinen Hinker! Welch ein schönes junges Pferd er geworden ist, er springt so kräftig wie kein anderer! Ich spüre die Berührung ihrer Hufe, als hätten die Flügel eines Nachtvogels mich gestreift. Jetzt umkreisen sie uns. Sie bewachen uns, ich höre ihr helles Wiehern. Tief unterm Schnee, unter knisterndem Gras rührt sich etwas, vernehmt ihr das auch? Die Erdgeister sind am Werk. Unten im Erdreich schaffen sie, arbeiten für den Frühling, für die Wiedergeburt des Lebens. Bei den Wurzeln und Fasern, in Zellen und Adern der Pflanzen wirken sie, bewegen und mischen, dehnen aus und ziehen zusammen, verwandeln Flüssiges in Festes, Unsichtbares in Sichtbares, lassen wachsen und entfalten. Alles verändert sich, immerwährendes Schwingen, ewig fließender Atem, ein und aus, hinab und hinauf im steten Wechsel, nichts bleibt, wie es ist. Alles gebiert sich ständig neu, du und ich, die Gräser und Bäume, Steine und Moos, die Geschöpfe des Was sers, der Luft und der Erde. Vergeßt die Geister des Wassers nicht! Und nicht die Geister der Luft. Wasser und Wolken, Regen und Wind, ein Flug, ein Tanz, ein kreiselnder Wirbel. Aus der Helle ins Dunkel der Erde hinunter und wieder hinauf ans Licht, das ist der Weg der Geschöpfe. Im Kreislauf des Tages, im Kreislauf des Jahres und im großen Kreislauf des Lebens und des Todes und des Wiederlebens.
Erzähl mir mehr von den Geistern der Erde, des Was sers und der Luft, Mutter, bat Jilka. Sie alle haben die gleiche Aufgabe, große und kleine Wesen der unsichtbaren Welt. Wenn du aufmerksam lauschst, hörst du sie wispern und lachen. Hast du dich nicht schon gefragt, wie es möglich ist, daß da aus einer Knospe ein hellgrünes winziges Blatt, aus dem kleinen ein großes in kräftigem Grün wird, das sich wiederum wandelt, im Herbst ein leuchtend gelbrotes Gewand trägt, dann ein braunes, bis es abgestorben zu Boden sinkt, um im Frühjahr neuen Knospen, neuen Blättern Platz zu machen? Sein abgestorbener Leib wird zur Erde, die Erde Nahrung für den Baum, wenn sie ihre Säfte hinaufschickt durch den Stamm in die kahlen Äste und Zweige. So lebt es von neuem. Und sie sind es, die Erdgeister, die die Verwandlung vollziehen, die die geheimen Gesetze kennen, nach denen eines ins andere greift, eines vom anderen abhängt. So ist es auch mit den Geistern des Wassers. Wenn das Naß dunstend aus der Erde aufsteigt, sich zu Wolken ballt und als Regen zur Erde zurückkehrt. Wenn es im eisigen Winter fest wird und hart, ein blitzender Spiegel, um sich unter den warmen Winden im Frühling zurückzuverwandeln in flüssige Form, ja vielleicht unter der Wucht des Sturms zu Wirbeln und Wellen erhebt, dann sind die Geister des Wassers am Werk. Und die Geister der Luft. Erzähl mir von ihnen. Sie sind die lustigsten. Sie kommen daher in Sturm und Wind, wiegen sich im Säuseln der Abendbrise in den Sträuchern, tanzen im Herbststurm mit den Blättern
durch den Himmel. Sie können Segen bringen, wenn sie uns Kühlung zufächeln und die Insekten vertreiben, wenn sie uns sanft flüsternd das schweißnasse Fell trocknen oder uns die Witterung von Nahrungsquellen zutragen, oder auch von Gefahr. Aber wehe, sie verbinden sich mit den Geistern des Feuers! Dann bringen sie Verderben und Tod und schreckliche Vernichtung aller Geschöpfe und Dinge. Wenn das geschieht, flieh, meine Kleine, so schnell du kannst. Die Menschen haben verstanden, das Feuer zu zähmen, und es dient ihnen in vielfacher Weise. Doch manchmal erheben sich die Feuergeister auch gegen die Menschen selbst und verschlingen sie und ihre Häuser und Ställe. Ich fürchte mich vor dem Feuer, Mutter. Wie kann ich mich vor ihm schützen, wenn es mich verfolgt? Flieh zum Wasser, sagte Nona. Ich entkam dem Feuer einst mit knapper Not. Mit gelbroten Zungen peitschten die Flammen mein Fell, und der beißende Qualm nahm mir den Atem und machte mich blind. Nur ein Sprung in den See rettete mich, wo ich tief in den Schlamm gedrückt lange ausharrte, Ohren, Augen und Nüstern der sengenden Hitze ausgesetzt. Noch heute glaube ich zu ersticken, wenn ich daran denke. Und wenn das Feuer mir den Weg zum Wasser abschneidet? Dann versuch, in die freie Ebene zu kommen, brummte Orla. Es wird dir die Hufe anschmoren, aber du wirst schneller sein und ihm bald entkommen. Auf weiten Grasflächen findet es zu wenig Nahrung. Ja, das große Feuer, murmelte Waska, die selten
sprach und so alt war, daß ihr graubrauner Rücken wie ein Bogen zur Erde durchhing. Das war ein böses Jahr. Die Menschen kämpften in den Wäldern und auf der Ebene gegeneinander. Es gab keine Ruhe, kein Verschnaufen für uns, stets waren wir auf der Flucht. Und mancher von uns geriet in Gefangenschaft. Es war ein bitteres Jahr. Ich weiß, seufzte Nona. Ich verlor mein Fohlen, als ein Blitz in die alte Eiche am Wolfspfad schlug und sie umstürzte. Es war, als hätten sich alle bösen Mächte ge gen uns verschworen. Dein Fohlen wurde von einem Baum erschlagen? fragte Jilka tonlos vor Schrecken. Mein Sohn, er ging, kaum daß ich ihn geboren hatte. Sieh mich nicht so entsetzt an, meine Kleine, die Unsichtbaren liebten ihn zu sehr, um ihn hier auf der Erde zu lassen, wo die Menschen in großen Scharen in den Wäldern kämpften und die Luft von dem Donner ihrer feuerspeienden Arme erfüllt war. Es gab keinen Frieden für uns, ständig mußten wir uns verbergen und waren doch nirgends sicher. Aber ein Jahr später hatte ich wieder einen Sohn. In der ersten kräftigen Frühlingssonne wurde er geboren, unter einem blühenden Hartriegelstrauch, und er war kräftig und gesund und so schwarz wie ein verkohlter Baumstamm. Was wurde aus ihm? Er verließ die Herde, als er erwachsen war, er wollte sich dem Grauen nicht unterordnen und gründete weit von uns eine eigene Herde. Glaubst du, daß Lupa und Hinker zurückkehren werden, älteste Mutter?
Gewiß, eines Tages. Wie die Blätter im Frühling. Das ist gut, murmelte Jilka schläfrig und schloß die Augen.
Die grimmige Kälte hielt an, und Jilka knurrte nun oft der Magen vor Hunger. Gleichzeitig tat es ihr leid, so erbarmungslos die Rinde von Bäumen und Sträuchern zu nagen. Verzeiht mir, Freunde, sagte sie, aber laßt mich nur ein wenig von euch essen. Ich tue es nicht, um euch zu verletzen, nur um den schlimmsten Hunger zu stillen! Und sie dankte allen Geschöpfen, die sich ihr zur Nahrung gaben. In schrundiger Borke, zwischen Moosen und Steinen, im Gewirr froststarrer Äste und in den geheimen Schriftzeichen, die Vogelkrallen in den Schnee gemalt hatten, sah das Stutfohlen die Gesichter der Unsichtbaren, spürte hier ein Vorüberhuschen, hörte dort ein Raunen oder helles Lachen. Der Vorhang, der die sichtbare Welt von der unsichtbaren trennte, wurde zum spinnennetzfeinen Schleier. Jenseits waren zahllose andere verborgen, Welt hinter Welt, immer neue, immer feinere Daseinsebenen. Jilka bekam Herzklopfen, wenn sie in Gedanken versuchte, diese Ebenen zu durchdringen, hinzuspüren bis zum verborgenen Grund aller Dinge. Und zugleich empfand sie ein verwirrendes Gefühl von sehnsüchtiger Trauer und Glück darüber, daß das Leben so groß und so voller Geheimnisse war. Warum sprichst du zum Gras? fragte Fleck erstaunt, als sie Schulter an Schulter im Schnee scharrten, was
jetzt seltener vorkam, denn er trollte sich meist zu der Schar der einjährigen Hengstfohlen. Ich danke ihm, weil es mir sein spärliches vertrocknetes Kleid zur Speise gibt. Und? Antwortet es dir? spottete Fleck. Jilka schwieg einen Augenblick nachdenklich. Ja, sagte sie ruhig. Hörst du seine Stimme nicht? Jilka, es ist meine Freude, euch zur Nahrung zu dienen. Je mehr du von mir nimmst, desto stärker wachse ich. Fleck schaute die Freundin ungläubig an. Ich möchte auch lernen, seine Sprache zu verstehen, sagte er schließlich. Ich möchte alle Sprachen lernen, denn ich will ein starker Leithengst werden, der Gefahren voraussieht, lange ehe seine Augen und Ohren und die witternden Nüstern sie wahrnehmen können. Du mußt es nur wirklich wollen, erklärte Jilka. Du mußt viel Geduld haben und sehr genau hinhören. Und ich glaube, fügte sie nachdenklich hinzu, es gehört noch etwas anderes dazu. Du mußt ihr Freund sein. Du mußt alle Dinge und Wesen gern haben. Dann ist es, als wenn sich ein Tor öffnete, und du kannst verstehen, was sie dir sagen wollen. Dann werde ich es lernen. Aufgeregt blähten sich Flecks Nüstern, als er den Kopf zu Boden neigte. Ich liebe dich, Gras, sagte er vergnügt, denn du polsterst das harte Erdreich unter meinen Hufen, daß sie wie auf einen weichen Teppich treten. Ich liebe dich, weil du hier unter dem Schnee ausgeharrt hast, bis ich komme und meinen Hunger stille. Ich liebe dich, weil du so stark bist und dabei so bescheiden.
Und? Hörst du, was es antwortet? fragte Jilka. Fleck spitzte die Ohren und lauschte angestrengt auf das leise Knistern und Rascheln der gefrorenen Halme. Es hat etwas gesagt, Jilka! Es hat tatsächlich gesprochen. Gut, Fleck, hat es gesagt, heute hast du viel gelernt. Eines Tages wirst du sein, was du dir wünschst. Jilka sah den Freund zärtlich an. Ich wußte es. Komm jetzt, der Graue ruft die Herde zusammen, sie machen sich schon auf den Weg. Der Graue war den ganzen Morgen von einer seltsamen Erregung erfüllt gewesen. Immer wieder hatte er fragend den Kopf gehoben und nach Westen hin die Witterung aufgenommen. Jetzt trieb er die Herde mit hocherhobenem Haupt, den Schweif wie eine Fahne aufgerichtet, gebieterisch zusammen. Dann trabte er an die Spitze der Kolonne, und die Wildlinge setzten sich in Bewegung. Nicht lange, und auch die anderen nahmen die feine Witterung auf, die mit jedem Schritt stärker und verlokkender wurde. Heu! Duftendes Heu, warm und süß zog ihnen der Geruch in die Nüstern. Die Jungen drängten schneller voran, doch der Graue blieb vorsichtig. Immer wieder stand er still, sah sich aufmerksam um und warnte unruhig schnorchelnd die Herde vor allzu großer Eile. Sie erreichten den Waldrand und hatten nun die freie Ebene vor sich. Nicht weit entfernt, an einer Biegung des Rains, stand eine nach Süden hin offene Feldscheune. In der Mitte, gut sichtbar, lag in einladenden Bündeln das Heu. Die Herde der Wildlinge verharrte. Es dauerte lange, bis der Graue den ersten Schritt hinaustrat und sich zö-
gernd der angebotenen Mahlzeit näherte. Ihm folgten einzeln die Hengste, jeden Augenblick zur Flucht bereit, falls ihr Mißtrauen geweckt werden würde. Doch alles blieb still. Nun hatte der Graue die Scheune erreicht. Mit steifen Beinen, vor Anspannung zitternd, den Kopf witternd vorgestreckt, setzte er Huf vor Huf. Lauerte da jemand unter dem Dachfirst? Hatte einer der Menschen sich hinter den Balken verborgen? Lagen verräterische Strik-ke am Boden? Endlich war der Graue beruhigt. Mit verhaltenem Wiehern rief er die Herde zur Äsung und machte sich über das würzige Heu her. Gemächlich folgten die Stuten dem Ruf. Ungeduldig trabten die Jungen an ihnen vorüber und mußten mit Bissen zur Ordnung gerufen werden, denn jeder hatte seinen vorgeschriebenen Rang und Platz. Jeder kam an die Reihe, konnte seinen Hunger stillen und zog sich dann eilig zurück in den Schutz des Waldes, denn nie konnte man den Menschen wirklich trauen. Auch in früheren Jahren war es vorgekommen, daß ein Mensch in besonders strengen Wintern den Wildlingen Futter brachte. Dafür fing er sich den Nachwuchs für seinen Stall, Reittiere und Pferde zur Arbeit und für den Kampf, wann immer er wollte. Er konnte keine halbverhungerten Diener gebrauchen und sorgte dafür, daß die Wildpferde aus dem Merfelder Bruch nicht vor Erschöpfung ausstarben. Die älteren Stuten und Hengste wußten das. Und sie wußten, daß sie nun für einige Zeit, solange die grimmige Kälte anhielt, mit der täglichen Mahlzeit rechnen
konnten, ohne allzu große Gefahr, schmählich in Strikken davongeschleppt zu werden. Für eine Weile herrschte Frieden zwischen Mensch und Tier. Für Jilka war es wie ein Fest, ein Geschenk der Unsichtbaren. Übermütig galoppierte sie Aljane voraus, als sie von der Mahlzeit in den Wald zurückkehrten. Sie spürte das Blut schneller durch die Adern fließen, fühlte die Kraft in ihren Muskeln wachsen, war unendlich stark und leicht und frei. Wind kam auf und trieb die Wolken schneller über den Himmel, schüttelte die Baumkronen über ihr, daß der Schnee wie Sprühregen auf sie niederfiel und aufblitzte in einem Bündel Sonnenstrahlen, die durch das fliehende Grau brachen. Was machte es schon, daß die Kälte mit scharfen Bissen nach ihren Nüstern schnappte, sich mit eisigem Hauch unter das wollige Fell schob und sie ansprang, daß es ihr den Atem raubte. Sie würde ihr trotzen, sie lebte und empfand dieses Lebendigsein in jeder Zelle ihres Körpers. Jeder Tag war ein neues Abenteuer, jede Herausforderung ein Auftrag zu siegen. Und sie wollte siegen, das wußte Jilka.
Der Winter hielt die Dülmener Wildpferde lange Zeit mit eiserner Umklammerung. Doch dann geschah es über Nacht, daß die Luft anders schmeckte, daß ein Wind aufkam, der zum Sturm wurde und Schnee brachte und bald darauf Regen. Die Bäume reckten sich ächzend wie jemand, der zu lange stillgesessen hat, sie probierten die Beweglichkeit von Ästen und Zweigen. Die Windgeister sangen dem Winter heulend ein Spottlied:
Pack dich, nimm deine weiße Decke und die Pelzmütze aus Schnee und laß dich hier nicht wieder blicken! Der Frühling ist nahe, es regt sich unter der Erde und allenthalben. Auf dem Moorsee brach rumpelnd und krachend das Eis. Der Schnee wurde naß und schwer, fiel klatschend von den Bäumen und schmolz am Boden zu einem schmutziggrauen Brei. Hatten sie der grimmigen Kälte getrotzt, so litten die Wildlinge jetzt unter der alles durchdringenden Feuchtigkeit, gegen die auch der dickste Winterpelz keinen Schutz bot. Ruhelos zogen sie umher, auf der Suche nach der immer knapper werdenden Nahrung. Die Stimmung war nicht gut in der Herde. Hunger und Nässe machten sie gereizt, und es kam jetzt öfter vor, daß sie einander mit der Hinterhand kräftig attakkierten, mit empörtem Quieken. Drohgebärden, Bisse und Gerangel gab es schon wegen geringster Anlässe. Auch Jilka mußte sich hin und wieder von Aljane gefallen lassen, ungeduldig abgewiesen zu werden, wenn sie sie mit Fragen bedrängte. Doch der Schnee verschwand, wurde fortgespült vom gleichmäßig fallenden warmen Regen, und nun begann sich das Gras aus der Erde zu wagen, geschützt von der Decke aus modrigem Laub. Auf den Feldern lockten die zarten Spitzen der Saat; Löwenzahn, Huflattich und Spitzwegerich streckten die ersten Triebe ans Licht, und das Moos leuchtete in saftigem, frischem Grün. In diesen Tagen geschah etwas, das Jilka in tiefe Verwirrung stürzte. Es ereignete sich am späten Nachmittag. Der Regen-
ström versiegte, feuchter Dunst stieg vom Boden auf, und die Wildpferdherde war in einen höher gelegenen Teil des Mischwalds gezogen, in dem das Wasser schneller nach unten abfloß. Jilka stand unter einer mächtigen Fichte und beobachtete zwei Spechte, die mit hellem Gelächter von Ast zu Ast flogen, um gleich darauf in einem Trommelwirbel von Schlägen die morsche Rinde des Baumstammes zu bearbeiten. Da rief Nona nicht weit von ihr die älteren Stuten zusammen. Bei Swala ist es soweit! Kommt dort hinüber, da ist das Moos trockener, und das dicht gewachsene Unterholz gibt Windschutz. Es geht ihr nicht gut, unserer Jüngsten. Jilka näherte sich der Gruppe vorsichtig. Die Tanten hatten Swala in die Mitte genommen und begleiteten sie zu der von Nona ausgewählten Stelle. Dann bildeten sie einen schützenden Kreis um die Erstgebärende, die Köpfe nach außen gerichtet. Nur Orla wandte sich gegen alle Gewohnheit der Stute zu. Für gewöhnlich, das wußte Jilka, brauchte ein Fohlen nur wenige Augenblicke, um auf die Welt zu kommen. Doch Swala ging es schlecht. Sie stöhnte, und ihre Augen glänzten vor Fieber. Vor Schwäche knickten die Beine unter ihr ein, und sie legte sich hin, lange bevor Maul und Hufe des Fohlens sichtbar wurden. Jilka zitterte beim Anblick der leidenden Stute; sie schwankte zwischen dem Wunsch zu fliehen und dem, die Geburt des Fohlens mitzuerleben. Als sie glaubte, Swalas Stöhnen nicht einen Augenblick länger ertragen zu können, glitt das Fohlen in einem wahren Sturzbach von Fruchtwasser und Blut ins Moos. Swala machte
einen schwachen Versuch, den Kopf zu heben, sank aber erschöpft zur Seite, Doch schon hatte sich Orla herangedrängt und machte sich daran, das Neugeborene abzulecken und liebevoll zu reinigen. Glücklich brummend begrüßte sie das Pferdekind, befreite Nüstern und Augen vom Schleim und massierte es kräftig mit ihrer Zunge. Mach, daß du wegkommst, brummte Nona, das ist Swalas Arbeit, es ist ihr Kind! Doch da geschah etwas Ungewöhnliches. Etwas, das Jilka mit lähmendem Entsetzen erfüllte. Ihr Kind? schnaubte Orla und trieb Nona wütend zurück. Es ist mein Kind, mein kleiner Sohn! Und wehe, eine von euch wagt, ihm zu nahe zu kommen! Er gehört mir, hört ihr? Mein Fohlen! Und nun verschwindet, alle zusammen! Das Kleine nieste, und sofort wandte Orla sich ihm zu. Mit unglaublicher Behutsamkeit versorgte sie das Hengstchen, säuberte ihn noch einmal gründlich und trieb ihn dann, aufzustehen. Es dauerte nicht lange, und das Pferdekind stand auf wackligen Beinen und sah, noch halbblind und verwirrt, um sich. Mein kleiner, mein hübscher Sohn, ist er nicht ein prächtiger Kerl? Die großen Augen! Wie klug er mich ansieht! Ja, mein Kleiner, ich bin deine Mutter. Zärtlich legte Orla den Hals über das gestohlene Fohlen, das jetzt begann, an ihrem Bauch nach der Nahrungsquelle zu suchen und sich an den trockenen Zitzen der alten Stute festsaugte. Armer Kerl, schnaubte Nona, so ein Unglück! Ich hoffte, ich müßte das in meiner Familie nie wieder
erleben! Aber älteste Mutter, fragte Jilka bestürzt, warum nimmt Tante Orla Swala ihr Fohlen weg? Muß es nicht verhungern? Das wird es, Jilka, unabänderlich. In wenigen Tagen, vielleicht auch nur Stunden wird es wieder Abschied nehmen müssen. Können wir denn gar nichts tun? drängte Jilka verzweifelt. Es ist zu spät. Das Fohlen hat Orla als seine Mutter erkannt, denn sie war es, die ihn auf der Erde begrüßte, die sich um ihn gekümmert hat. Swala ist wie eine Fremde für ihn. Komm jetzt, lassen wir die beiden allein. Es ist nicht gut, wenn solche Dinge geschehen, aber wir können es nicht ändern. In diesem Augenblick schien sich Swala ein wenig erholt zu haben, sie hob den Kopf, wieherte leise und sah sich unruhig um. Es kostete sie gewaltige Anstrengung, vom Boden hochzukommen, aber schließlich gelang es ihr, und sie stand so schwankend auf den Beinen wie vor kurzem ihr kleiner Sohn. Wieder wieherte Swala, dunkel und verhalten, fragend rief sie ihr Kind. Aber das hatte Orla inzwischen in sichere Entfernung getrieben, und selbst wenn das Kleine sie gehört hätte, ihr Ruf wäre unbeantwortet geblieben. Verwirrt und ruhelos wanderte Swala in den nächsten Stunden umher; sie versuchte immer wieder, sich Orla und dem Kleinen zu nähern, und wurde jedesmal wütend zurückgetrieben. Rühr meinen kleinen Sohn nicht an! schrie Orla. Niemand darf ihm zu nahe kommen, ich dulde es nicht.
Und du, kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten! Swalas Rufen und Locken verstummte allmählich. Immer wieder wurde sie von Fieberschauern geschüttelt sie fühlte sich so schwach, daß sie sich am liebsten fallengelassen hätte, in einen langen Schlaf. Aber etwas in ihr, die zäh war und tapfer, zwang sie, weiterzuwandern, der Herde zur Tränke zu folgen und an Gras und Kräutern zu rupfen. Viele Tage lang war Swala krank, doch mit eisernem Willen nahm sie Futter auf, kaute unter qualvoller Mühe winzige Bissen und trank große Mengen Wasser. Und eines Morgens, als der Himmel zum ersten Mal seit langer Zeit ein strahlendes, wolkenloses Blau zeigte und die Sonne die Erde kräftig zu wärmen begann, atmete sie freier und fühlte in ihren Adern und Muskeln wie ein Prickeln und leises Rauschen eine neue, beflügelnde Kraft, einen Hunger auf Leben, auf Nahrung und darauf, in einem wilden Galopp die Kraft ihres Körpers zu spüren. An diesem Morgen war das Hengstfohlen nur mehr der Schatten einer traurigen Erinnerung für Nonas Familie. Es war still und schnell gestorben, sich seiner selbst noch kaum bewußt. Orla sprach von ihm wie von einem Helden, erzählte Wunderdinge von seiner Klugheit und Stärke und behauptete, ein Schlangenbiß oder ein giftiges Insekt müsse ihren Sohn getötet haben. Aber niemand hörte ihr mehr zu, und so zog sie sich bald in enttäuschtes Schweigen zurück.
Die Wiederkehr von Sonne und Wärme, das neue Erwachen der Welt erfüllte Jilka mit einem Glücksgefühl, das sie fast zu zersprengen drohte: der erste zartgrüne Schimmer, der über Sträuchern und Bäumen lag, der Teppich aus Anemonen, der den Waldboden bedeckte, die Schlüsselblumen in den Wiesen und die zierlichen gelben Blüten des Hartriegels. Das gewaltige Jubelkonzert der Vögel am frühen Morgen, ehe der glutrote Sonnenball sich über den Horizont schob - das lockte und schmeichelte, trillerte und flötete, sang in Hecken und Zweigen, in den Baumkronen hoch über ihr und im dichten Unterholz zu ihren Füßen, daß ihr schwindlig wurde. Da war ein Schwirren und Flügelschlagen, da balgten sie sich in der Luft und jagten sich spielerisch im Liebestaumel und waren so emsig beschäftigt, daß sie alles um sich herum vergaßen. Jilka verlor nun zum erstenmal ihren Winterpelz; sie schabte und scheuerte sich an Baumstämmen und niedrig hängenden Ästen. In dicken Flocken löste sich das staubige Fell, blieb in den Zweigen hängen oder trieb mit dem Wind davon. Das Stutfohlen sah erstaunt, wie die wolligen Büschel vom Vogelvolk emsig davongetragen wurden, um beim Nestbau zur Polsterung zu dienen. Täglich wuchsen die Blätter, täglich öffneten sich neue Blüten: die goldgelben Sonnen des Löwenzahns, Gänseblümchen und im Moos versteckte Veilchen, wie winzige Kronen aus weißer Spitze die Schafgarbe; bald folgten Waldmeister und Maiglöckchen, an den dichtbewachsenen Rainen kamen Schlehenblüten, Weißdorn und Heckenrosen heraus. Eine Blüte schien die andere
übertrumpfen zu wollen. Am Moorsee wiegten sich wilde Orchideen. Versteckt im Schilf brüteten Enten und Rohrdommeln, und man mußte achtgeben, daß man sie nicht störte oder gar aus Versehen ein Gelege zertrat. In der Wildlingsherde gab es nun laufend Nachwuchs. Alle paar Tage zog sich eine Stute in das schützende Rund der Tantenstuten zurück, um sich später mit einem Fohlen in die Kolonne der anderen einzureihen, die wie auf einer Schnur gezogen den Wechsel zur nächsten Futterstelle entlangwanderte. Das Pferdekind mit dösigem Blick, noch nichts begreifend, den Kopf eng an der Hinterhand der Mutter, wie im Schlaf und doch ganz selbstverständlich mitmarschierend, als liefe es so seit jeher. An einem kühlen Tag im Mai kam Aljane zu Jilka herüber, die mit den Gleichaltrigen um die Wette gelaufen war und sich, erhitzt vom Spiel, schnaubend und prustend schüttelte. Es ist nun bald soweit, meine Kleine. Ich werde ein neues Fohlen bekommen, und du wirst einen Platz bei den Jüngsten der Familie einnehmen, sagte Aljane. Ich werde dann keine Zeit mehr für dich haben, du wirst allein für dich sorgen müssen. Aber du bist stark und schön und sehr klug, du wirst es weiter bringen als ich, fügte sie zärtlich hinzu, du brauchst meinen Schutz nicht mehr. Obgleich Jilka diesen Tag seit langem hatte kommen sehen, durchzuckte sie ein seltsamer Schmerz. Bis heute waren sie und die Mutter unzertrennlich gewesen. Selbst wenn sie sich tagsüber entfernt von Aljane aufhielt, um
ihre Kräfte im Spiel mit den anderen zu messen, in den Nächten hatten sie eng beieinander gestanden, die Mutter hatte erzählt und sie hatte Fragen über Fragen gestellt. Warum sagst du, ich würde es weiter bringen als du? widersprach Jilka leidenschaftlich. Du bist die Klügste von allen, selbst Nona hat nicht so viel von der Welt gesehen wie du! Nie wird dir eine gleichen, nicht bei den Wildpferden und auch nicht bei denen, die ihr Leben lang die Gefangenen der Menschen sind! Liebevoll fuhr Aljane ihrer Tochter über Hals und Rücken. Warte nur ab, Kind. Dein Leben beginnt erst, und so vieles wartet auf dich, von dem du jetzt noch nichts ahnst. Darf ich heute noch bei dir bleiben? fragte Jilka beklommen. Du sollst bei mir bleiben, bis das Fohlen sein Kommen ankündigt. Dann mußt du gehen. In dieser Nacht standen sie eng aneinanderge schmiegt, so daß sich Ohren und Nüstern fast berührten. Erzähl mir noch einmal von früher, Mutter, bat Jilka. Erzähl mir von den Steppen und Wüsten. Und Aljane erzählte. Sie erzählte von den Steppen und Wüsten ihrer arabischen Heimat, in der Beduinen in prächtigen Zelten lebten, mal hier, mal dort, ständig auf Wanderschaft. Von der Liebe, mit der diese Menschen an ihren vierbeinigen Genossen, den Pferden, hingen, aber auch von der Härte des Lebens in jenem fernen Land. Von der glühenden, flimmernden Hitze erzählte sie, die den Pferden nach stundenlangem Lauf am Horizont das Auftauchen einer fruchtbaren Oase mit kühlen Quellen und herrlichen Früchten vorgaukelte. Und von
eisigen Nächten, in denen sogar die Sterne vor Kälte zu zittern schienen. Sie sprach von Reiterspielen und kriegerischem Getümmel, von blitzenden Waffen und kunstvoll geschmiedetem Schmuck, mit dem auch ihr Geschirr verziert gewesen war. Und von seltsamen Tieren, Kamelen und Dromedaren, die ebenfalls als Reittiere dienten; sie waren sehr groß, mit platten Füßen und hängender Unterlippe, merkwürdig, aber schnell wie der Wind. Eines Tages wurden vier von uns Pferden einem fremden Herrn zum Geschenk gemacht, berichtete Aljane, und unsere große Reise begann. Geschmückt mit purpurfarbenen Decken und silberblitzendem Zaumzeug brachte man uns in die Stadt. Uns wurde wirr und bang in den lärmerfüllten Straßen und engen Gassen. Die bunten Märkte zwischen hohen Mauern aus Lehm, das Kreischen und Trommeln, Pfeifen und Flöten gellte schrill in unseren Ohren, und fremde Gerüche lagen in der Luft, süß und scharf. Beißender Qualm stieg von Feuerstellen auf, magere Hunde schlichen uns um die Beine und bellten uns an. Ich war voller Angst, doch wir wurden bald durch ein Tor in einen ruhigen Hof ge bracht. Dort war es kühl und schattig, in der Mitte sprang der Wasserstrahl einer Quelle hoch in die Luft und der Boden, auf dem wir standen, wie auch die Wände der Häuser, die uns umragten so hoch wie Zedern, waren aus bunten Steinen zusammengefügt, als liefe man über einen Blumenteppich und Blumenwände wüchsen in den Himmel. Wir wurden in einen festen Stall gebracht. Es war das erste Mal, daß ich in ein aus Lehm und Steinen gebautes
Haus trat, aber die Menschen dort waren freundlich zu uns und gaben uns gutes Futter. Wir durften von dem Quellwassertrinken und uns ausruhen. Am nächsten Tag wurden wir auf ein Schiff geführt. Du weißt, es ist wie ein großes Nest aus Holz, das auf dem Wasser schwimmt. Das Wasser war ruhig und endlos weit, die Sonne schien, und ein angenehmer Wind umspielte uns. Es war schön, so dahinzugleiten. Erst am Ende der Fahrt begannen sich Wellen zu erheben, und das Schiff geriet in Bewegung. Es wurde schwierig für uns, das Gleichgewicht zu halten. Zum Schutz band man uns mit Seilen fest. Wieder an Land, erwartete uns eine endlose Wanderung. Unser neuer Herr führte uns in seinem Troß mit. Wir wurden als große Kostbarkeit betrachtet, so ging es uns besser als unseren Genossen, die schwere Lasten schleppen oder hochbeladene Wagen ziehen mußten. Man bestaunte uns, wo immer wir auftauchten, und unser neuer Herr war sehr stolz auf uns und rühmte unsere Schönheit und Schnelligkeit. Einmal geschah es, daß er zu einem Wettrennen herausgefordert wurde. Er wählte mich zum Reittier, da ich von der Reise am wenigsten erschöpft war. Wir traten gegen ein mächtiges Kriegsroß an, es hatte fast meine doppelte Größe, und sein Fell war von schimmerndem Blauschwarz, ein gutmütiger Bursche mit gewaltigen Hufen und Muskeln wie Felsgestein, rund und hart. Ich muß ein wenig lächerlich neben ihm ausgesehen haben, und mein Herr mußte manchen Spott ertragen. Aber nur so lange, bis das Signal zum Aufbruch gegeben wurde. Ich flog davon, als hätte ich die heimische
Wüste unter mir. Meine Hufe berührten kaum den Boden, ich fühlte mich wie befreit, endlich einmal laufen zu können, laufen, laufen bis hinter den Horizont. Neben mir erzitterte der Boden unter den schweren Sprüngen des Rappen, doch nicht lange, und er blieb zurück, das Trommeln seiner Tritte wurde leiser und leiser, und schließlich waren wir allein. Allein zwischen Himmel und Erde, allein mit Wind, Wolken und Sonne. In diesem Augenblick waren wir eins, mein Herr und ich, denn ich spürte, wir fühlten und dachten gleich. Ich glaube, ich liebte ihn damals, und ich war bereit, ihm willig zu folgen, wo immer er mich hinführen würde. Als wir zurückkehrten, wurden wir mit großem Jubel empfangen, und meinem Herrn wurde viel Gold für mich geboten. Aber er trennte sich nicht von mir, ich blieb sein liebstes Reittier. So kamen wir schließlich in dieses Land. Ich wurde weiterhin gut versorgt und behandelt wie ein Juwel. Doch mein Herr zog bald wieder davon und ließ mich bei den anderen Pferden zurück. Er wolle nicht, daß mir etwas zustoße, flüsterte er mir zu, als er Abschied von mir nahm. Von nun an wurde mein Leben eintönig und grau. Fast ständig stand ich im Stall, gehalten wie eine Gefangene. Ich sehnte mich nach dem freien Himmel, nach heißen Sonnentagen und eiskalten Nächten, nach dem Leben mit meinen Gefährten, die so frei waren wie ich, in der Wüste geboren und aufgewachsen, bei karger Nahrung und wenig Wasser, doch unter den Hufen das ganze weite Land.
Mein Herr kehrte zurück. Ich sah ihn nicht, ich hörte nur, wie die Knechte darüber sprachen. Sie feierten ein großes Fest, ich hörte Musik und Lachen. Als sich Schritte näherten, dachte ich, mein Herr käme mich zu begrüßen. Doch es waren Fremde, die sich flüsternd heranschlichen. Sie holten mich aus dem Stall und führten mich mit sich fort. Wir wanderten die ganze Nacht durch die Wälder. Gegen Morgen hatten die Knechte meines Herrn unsere Spur gefunden, und es gab einen heftigen Kampf. Da bin ich geflohen. Die Herde war nicht weit, sie stand im Schutz der Tannendickung und hatte meine Flucht beobachtet. Als ich endlich stillstand, um Atem zu schöpfen, trat der Graue heraus und begrüßte mich. Ich gefiel ihm, das spürte ich, er war zärtlich und behutsam und sprach lange zu mir, ehe er mich zu den anderen brachte. Nona nahm mich in ihre Familie auf. Geschichten aus der Herde interessierten Jilka nicht halb so sehr wie jene aus dem fernen Land. Erzähl mir von den fremden Früchten, bat sie. Erzähl mir von Dattelpalmen und Steineichen, von den Korkeichen und den riesigen Zedern. Erzähl mir vom Sandsturm, von den klaren Quellen, die aus den Bergen kommen, von den kühlen Schluchten und den unzugänglichen Gipfeln! Es ist genug. Aljane atmete schwerer, ihr Leib erschauerte unter einem jähen Schmerz. Nun dauert es nicht mehr lange. Schlaf jetzt. Wenn die Dämmerung hereinbricht, mußt du gehen. Doch Jilka konnte nicht schlafen. Eine seltsame Erre-
gung erfüllte sie, Trauer und zugleich freudige Ungeduld. Sie wartete auf die Geburt des Pferdekindes, als müsse sich ihr damit ein besonderes Geheimnis enthüllen. Jilka verhielt sich still, um die Mutter nicht zu stören, doch keinen Augenblick wandte sie die Aufmerksamkeit von der Stute. Sie lauschte den tiefen Atemzügen, spürte den nach innen gekehrten Blick, die entspannte Erwartung Aljanes, mit der sie den Weg des Fohlens in ihrem Leib verfolgte. Die Stute ruhte eine Weile, dann begann sie langsam zu fressen, malmte jeden Bissen lange und gründlich, als sei sie sich bewußt, daß er zu Nahrung werden sollte, die sich in dem Neugeborenen wiederum in Kraft, in Wachstum von Muskeln, Knochen und Sehnen verwandeln würde, in scharfsichtige Augen und hellhörige Ohren, in Schnelligkeit und Klugheit. Wie immer bemerkte Nona als erste, daß es bei der Schimmelstute soweit war. Energisch trieb sie die älteren Stuten hoch und erinnerte sie an ihre Pflichten. Jilka wich zurück, sie wußte, daß man sie in diesem Kreis nicht dulden würde. Nicht eher, bis sie stark und erfahren genug war, eine werfende Stute gegen Feinde zu verteidigen. Besorgt beobachtete Jilka Tante Orla. Aber die machte keine Anstalten, sich mit der Weißen anzulegen. Daß Aljane sich kein Fohlen wegnehmen lassen würde, hatte sie längst begriffen. Ohne Hast reihte sie sich in den Kreis der anderen ein und begann gleichmütig zu fressen. Es war nicht die erste Geburt, die Jilka miterlebte, sie
hatte diesen Vorgang nun schon oft beobachtet. Doch jedesmal war es wieder ein erregender Augenblick für sie, wenn sich die Umrisse von Maul und Vorderhufen des Fohlens unter dem Schweif der Stute abzeichneten. Jetzt legte Aljane sich ins Gras, Jilka war der Blick verstellt aber an dem erleichterten Aufstöhnen der Stute erkannte sie, daß das Pferdekind aus dem Mutterleib glitt, die Geburt vorüber war. Es ist wieder eine Tochter! schnaubte Nona munter. Und ihr Fell ist braun wie ein Tannenzapfen, nicht das kleinste weiße Fleckchen ist zu entdecken! Aljane hörte ihr nicht zu, sie war vollauf damit beschäftigt, ihr Kind zu versorgen und immer wieder mit zarten Küssen zu begrüßen. Jilka betrachtete ihre kleine Schwester neugierig. Es war ein auffallend kräftiges Stutfohlen, das zierliche Maul, die Mähne und auch die Fesseln waren kohlrabenschwarz. Jetzt stand Aljane auf, und sofort bemühte sich die Kleine, es der Mutter nachzutun. Das wollige Schwänzchen zuckte aufgeregt, als sie es geschafft hatte und leicht schwankend auf ihren weit gespreizten Beinen stand. Ohne Zeit zu verlieren, machte sie sich auf die Suche nach der Nahrungsquelle. Das ist ein echter Wildling, bemerkte Orla spitz, vielleicht nicht so hübsch und so vornehm, aber sie paßt in die Herde! Jilka hätte sie am liebsten in die Hinterbacke gezwickt. Hatte es je ein hübscheres Fohlenmädchen ge geben? Wie konnte Orla die Mutter so beleidigen! Doch Aljane hatte gar nicht hingehört, sie fuhr fort, das Fell der Kleinen zu reinigen und zu glätten. Die Tantenstuten hatten ihre Aufgabe erfüllt und
trollten sich, um sich anderswo ihrer Morgenmahlzeit zu widmen. Nur Nona blieb in der Nähe und begutachtete zufrieden das jüngste Mitglied der Sippe. Jetzt schien die Kleine gesättigt zu sein. Sie stakste mit steifen Beinen um die Mutter herum und schob sich unter den Hals der Stute, um sich, leicht an ihre Brust gelehnt, ein wenig auszuruhen. Dabei fiel ihr Blick zum erstenmal auf ihre Schwester. Aus großen verträumten Augen sah sie Jilka an. Jilka erbebte. Das war nicht der stumpfe, noch kaum etwas wahrnehmende Blick eines eben geborenen Fohlens. Es war wie ein Wiedererkennen, ein heiteres Begrüßen. In den dunklen Augen des Stutfohlens lag ein geheimnisvolles Wissen. Ihre Augen waren wie Lupas Augen. Durch die Baumwipfel brach ein Bündel rotgoldener Strahlen, ein Teppich aus Licht breitete sich um ihre Hufe. Wir wollen sie Shunya nennen, sagte Aljane.
Jilka fügte sich nun als letzte in die Reihe der Stuten und Jungpferde, wenn Nonas Familie sich mit der Herde auf den Weg machte, um einen neuen Futterplatz oder ein Versteck für die Nachtruhe aufzusuchen. In den ersten Tagen nach Shunyas Geburt verwirrte sie ein Gefühl der Trauer und Einsamkeit, das sie befiel, wenn Aljane sich zärtlich der kleinen Schwester widmete, ohne für Jilka auch nur einen Blick zu haben. Sie vermißte die wärmende Nähe des mütterlichen Körpers,
die Schutz und Trost zu geben vermochte. Und wer sollte ihr jetzt die Fragen beantworten, die sie bedrängten und beunruhigten? Doch diese Verwirrung hielt nicht lange an. Wann immer Jilka ihre kleine Schwester beobachtete, ihre Neugier und Fröhlichkeit, die Kraft ihrer Bewegungen und die Entschlossenheit, mit der sie strebte, ihre Umwelt kennenzulernen, empfand Jilka ein solches Entzücken, als sei die Kleine ihr eigenes Fohlen, und sie wußte sicher: eines Tages, wenn sie beide erwachsen waren, würde Shunya ihre engste Gefährtin sein. Bis dahin wollte sie die Jüngere beschützen und ihr beistehen, so gut sie konnte. In den folgenden Wochen wurde das Leben der Herde unruhig. Die Menschen kamen in Scharen; sie waren den Wildlingen auf der Spur, wohin die sich auch wandten. Sie lauerten an den Wechseln, verbargen sich im Dickicht oder im Blättergewirr der Baumkronen. Der Graue ruhte kaum, schnorchelnd umkreiste er die Herde, hob witternd den Kopf mit aufgeregt geweiteten Nüstern, sobald sich in der Ferne ein Vogel in die Luft erhob, ein trockener Zweig am Boden knackte. Die Menschen waren gekommen, sich die kräftigsten jungen Hengste zu fangen, und trotz aller Vorsicht ging manch einer in die Schlinge und mußte sich überwältigen lassen. Selbst der übermütige Gelbrock entkam ihnen nicht, wenn sein Verfolger diesen Fang auch mit Wunden und Prellungen bezahlen mußte. Jilka hatte den Kampf von weitem mit angesehen. Die Herde war zur Tränke gewandert, hatte an einem Bach
ihren Durst gestillt und sich dann, weit verstreut, über die zarten Grasbüschel am Waldboden hergemacht. Der Fänger mußte schon stundenlang regungslos in dem Baum gesessen haben. Der Wind trieb leichte Regenschauer vor ihnen her und wehte mit kräftigen Böen, so hatten sie seine Witterung nicht aufnehmen können. Gelbrock trabte unvermutet ein Stück von den anderen fort, als habe er etwas besonders Köstliches unter der alten Eiche entdeckt. Jilka sah, wie er den Hals danach reckte und ihm im gleichen Augenblick wie ein Blitz die Schlinge über den Kopf fuhr. Gelbrock bäumte sich auf, er wieherte empört, sein schriller Schrei ließ alles im Umkreis entsetzt den Atem anhalten. Dann schoß er davon. Aus dem Blätterdach fiel wie eine schwere Frucht sein Verfolger. Der Mann hatte sich den Strick im Vertrauen auf seine Kraft um den Leib gebunden, nicht ahnend, mit wem er den Zweikampf aufnahm. Vergeblich versuchte er, auf die Füße zu kommen, klammerte sich mit beiden Händen an das Seil, um dem jungen Hengst die Luft abzuschnüren und ihn so zum Stillstehen zu bringen. Doch Gelbrock kämpfte um sein Leben. Je ärger der Strick ihn einschnürte, desto wilder floh er vorwärts und zog seinen Feind über Steine, Wurzeln und trockenes Holz, durch Dornengestrüpp und die peitschenden Stämme junger Fichten und Buchen, bis er endlich erschöpft stillstand. Der Pferdefänger hatte nicht losgelassen. Brummend und stöhnend kroch er näher, zog sich an dem schweißnassen, zitternden Tier empor und schwang sich mit letzter Anstrengung auf seinen Rücken. Lange starrte Jilka in die Richtung, in die Gelbrock
mit seinem Fänger verschwunden war. In den wilden Zorn, der sie erfüllte, mischte sich so etwas wie Neugierde. Was würde mit Gelbrock geschehen? Würde sie ihn wiedersehen? Vielleicht auf dem Feld, vor den Pflug oder einen der Erntewagen gespannt? Oder unterm Sat tel, als Reittier jenes Herrn, dem Aljane einst gedient hatte? Würde er Goldschweif begegnen, vielleicht mit ihm den Stall teilen, ihm von der Herde erzählen können? Wenn ihm nur die Flucht gelänge! dachte sie. Er ist stark und schlau und läßt sich nicht so leicht einschüchtern. Wenn er erst zu Atem gekommen ist, kann er den Mann abwerfen und davonlaufen. Eine Weile wartete Jilka voll Vertrauen darauf, daß Gelbrock zurückkehrte. Doch Gelbrock kam nicht zurück, und in Jilka wuchs die bange Frage, wer das nächste Opfer menschlicher Nachstellungen sein würde. Von nun an tat sie kaum einen Schritt mehr, ohne sich zu vergewissern, daß keine Gefahr drohte. Sie mied die Nähe undurchsichtigen Strauchwerks und dichtbelaubter Bäume, sie untersuchte den Boden nach menschlichen Spuren, wo immer sie ging, und warnte die anderen, wenn etwas sie mißtrauisch machte. Das Erlebnis mit Gelbrock hatte Jilka gelehrt, daß der Wind sich mit dem Feind verbünden konnte und menschliche Witterung in eine andere Richtung davontrug, wenn man mit dem Wind wanderte. Es war also wichtig, ihm möglichst entgegenzugehen, damit man auch die entfernteste Bedrohung aus seinem Hauch herauslesen konnte. Du bist klüger als mancher Leithengst, Kleine! sagte Nona anerkennend. Eines Tages wirst du meinen Platz einnehmen und für die Sicherheit der Familie sorgen.
Jilka freute sich über das Lob und bemühte sich eifriger denn je, sich die Anerkennung der alten Stute zu erringen. Und es kam der Tag, an dem sie ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen konnte. Wieder war es ein windiger, regnerischer Morgen, an dem der Graue die Herde von der Tränke weg auf ein von einem Fichtendickicht geschütztes Stück Brachland führte. Der Wechsel lief in weiten Kurven durch das Gewirr aus verfilztem Unterholz und Gesträuch, doch die schlanken Stämme der Nadelbäume mit den hochsitzenden Kronen gaben nach oben die Sicht frei. Jilka war ein wenig zurückgeblieben und sah sich nach Fleck um, der als erster der Gruppe der Junghengste ihres Alters Nonas Familie folgte. Sie hätte nicht sagen können, was es war, das sie plötzlich beunruhigt den Kopf heben ließ. Über ihr pfiff der Wind in den Zweigen, Regenböen trieben wie Schleier heran, es war ein Rauschen und Tosen in der Luft, daß man kaum den Ruf eines Vogels vernommen hätte. Und doch war da etwas an Jilkas Ohren gedrungen, das sie augenblicklich alarmierte, ein leises Keuchen, kaum mehr als ein rasches Atemholen, das nicht in den Wald gehörte, sondern fremd und feindlich klang. Jilka versuchte die Witterung aufzunehmen, doch der Wind stand ihr im Rücken, wehte alles fort, was aus dem dichten Buschwerk vor ihr zu ihr hätte dringen können. Nervös wich sie zurück und durchsuchte mit den Augen jede Stelle des Gewirrs aus Blättern und Ranken. Da! Eine winzige Bewegung, wie ein dunkler Schatten nur, aber Jilka erkannte den Feind. Zurück, Fleck! Lauf, schnell!
Sie warf sich auf der Hinterhand herum und trieb die jungen Hengste ein Stück weit vor sich her. Die flohen in wildem Galopp. Dann, als packten sie Zweifel, ob sie nicht doch einer Täuschung erlegen sei, wandte sie sich noch einmal um. Da stand ein junger Mann. Er war sehr groß; helles Haar loderte wie Flammen um seinen Kopf. Seine Kleider hatten die Farbe der Erde und des Blattwerks rundum, sein Hut lag am Boden, in den Händen hielt er den Strick mit der Schlinge. Doch dies alles war es nicht, was Jilka so bannte, daß sie wie angewurzelt stehenblieb. Es waren seine Augen, die die Farbe des Himmels besaßen oder die Farbe des Wassers, wenn der Abendhimmel sich in ihm spiegelte. Und dann hörte sie seine Stimme, er sprach leise und freundlich. Nichts Niederträchtiges ging von dieser Stimme aus, nur Ruhe und Wärme. Er ließ den Strick zu Boden fallen und streckte die Hand nach ihr aus. Komm, meine Kleine, ich tue dir nichts. Meine Schöne, ich möchte wetten, daß du eine Tochter unserer Araberstute bist! Jilka verstand seine Worte nicht, doch sie spürte die Zuneigung, die von ihnen ausging. Immer noch stand sie reglos und blickte in die so fremdartig hellen Augen. Im dichten Unterholz hinter ihm wurde es unruhig, trockene Äste knackten, Zweige bogen sich raschelnd zur Seite und fuhren peitschend zurück. Hast du ihn, Michael? Hast du einen erwischt? Lauf, meine kleine Wilde, flüsterte der Mann, lauf und gib gut auf dich acht!
Wieder war es der Ton der Stimme, den Jilka verstand. Sie drehte sich mit einem Satz um und galoppierte davon. Von diesem Tage an besaß Aljanes älteste Tochter einen geheimen Beschützer, Michael, der die Wildpferde liebte.
Der Sommer verging und der Winter, und weitere Sommer und weitere Winter. Jilka wuchs zu einer Stute heran, deren Schönheit ihresgleichen suchte. Sie überragte die meisten der Wildlinge, besaß den edlen kleinen Kopf der Araber mit großen dunklen Augen und weit geöffneten Nüstern, ihr Fell hatte die Farbe flüssigen Silbers angenommen, die etwas dunklere Mähne schien aus Fäden edelsten Metalls gesponnen zu sein. Und so hatte man ihr in der Herde den Beinamen Die Silberne gegeben. Mehrere Male hatte Jilka nun das Scheiden des Winters erlebt, hatte sich an Sträuchern und Bäumen des Winterpelzes entledigt und den Hunger an den ersten zart sprießenden Gräsern und Krautern gestillt. Sie hat te die ahnungsvolle Freude gespürt, die der über Nacht aufspringende Frühlingssturm in der Herde der Wildlinge weckte, und das Wohlbehagen, wenn die Sonne an Kraft gewann, den letzten Schnee aus Mulden und schattigen Winkeln leckte und die Wildpferde sich in der Mittagswärme in schläfriger Trägheit in ihren Strahlen baden konnten. Doch in diesem Jahr schien alles anders zu sein. Eine
seltsame Unruhe fiel über Jilka, eine Überwachheit, die sie ihre Umwelt wie mit neuen Sinnen erfahren ließ. Das Gras schien tiefer zu leuchten, die grünlichfeuchten Stämme der Espen und Buchen geheimnisvoller zu schimmern. Das Weiß der Anemonen, das Gelb der Schlüsselblumen hatte sie nie so strahlend gesehen. Der weithin hallende Kehlton der Kraniche, die in Schwärmen hoch am Himmel dahinzogen und seltsame Zeichen in das tiefe Blau malten, schien eine geheime Botschaft zu enthalten, die ihr Herz schneller schlagen ließ. Das Flöten der Drosseln, der Lockruf der Goldammer, das Zetern der Amsel im Unterholz oder das laute Gerassel des Schwarzspechts, das ganze gewaltige Vogelkonzert sprach von Geheimnissen, deren nahe Enthüllung sie ahnungsvoll erzittern ließ. Jilka trug den Kopf höher, ihre Ohren spielten unruhiger, die Nüstern gerötet, den Schweif aufgestellt, trabte sie umher, als berührten ihre Hufe kaum den Boden. Die Hengste der Herde begannen sie zu bedrängen, doch mit Bissen und Schlägen entzog sich Jilka ihren Annäherungsversuchen. Zudem wachte der Graue eifersüchtig über sie; er trieb sie von den anderen fort und machte ihr den Hof. Aber Jilka wich ihm aus, und er beharrte nicht weiter auf seinen Rechten. Der Graue war alt geworden, und die Zahl der liebeshungrigen Stuten der Herde war groß. Immer wieder hatten die jungen Hengste ihn zum Kampf aufgefordert, um einen neuen Leithengst zu bestimmen, doch noch siegten Erfahrung und Schlauheit des Alten, wenn einer seiner Söhne gegen ihn antrat. Keiner war ihm ebenbürtig, denn die Menschen hatten die besten unter ihnen Jahr für Jahr gefangen.
Es war ein Frühlingstag, an dem die Luft vor Frische zu perlen schien, ein leichter Wind strich durch das Wollgras im Moor, schaukelte die goldgelben Sterne der Sumpfdotterblumen. Weiße Wolkengebirge spiegelten sich in Tümpeln und Seen, das leuchtende Blau des Himmels darüber lieh dem schwarzen Wasser seine strahlende Farbe, wie lachende Augen glänzten sie aus dem Dunkel. Der Graue hatte die Herde der Wildlinge hier zur Tränke geführt, denn Fänger mit ihren Helfern waren in der Nähe; er hatte ihre Witterung aufgenommen und die fernen Stimmen gehört. Hier im Moor hatten die Wildpferde weite Sicht und kannten die Pfade, auf denen sie den schwankenden, schwappenden Boden sicher überqueren konnten. Der Graue stellte die Ohren auf und prüfte die Lage sorgfältig, ehe er das Signal zum Aufbruch gab. Sie durchwanderten das dicht mit Wacholder und Heide bewachsene Brachland, wandten sich am Erlengrund südwärts, durchschritten ein Stück Hochwald, bis sie auf einer weiten Lichtung haltmachten. Hier gab es junges Gras, dessen lange, dünne Halme wie seidiges Haar schimmerten. Dazwischen leuchteten blau und lila die feinen Blüten von Ehrenpreis und Salbei, die zartrosigen des Sauerklees. Ein köstliches Morgenmahl, dem sich die Herde mit Lust zuwandte. Jilka hatte ihren Hunger gestillt und hob träumend den Kopf dem sanften Wind entgegen, der ihr durch die Stirnlocke strich, als wolle er sie liebkosen. Insekten summten um ihre Beine, sie ließen sich bei ihrer Suche nach Nektar nicht stören. Im Wald rief der Kuckuck.
Jilka blickte zu den Buchen hinüber, deren glänzende Blätter das Sonnenlicht widerspiegelten. Da trat er aus dem Wald heraus. Zunächst meinte Jilka, einer Täuschung erlegen zu sein, aber er kam näher: ein goldroter, junger Hengst, den Schweif imponierend aufgestellt, den Hals stolz gerundet, trabte er heran. Sehr langsam, jeden Muskel angespannt, näherte er sich, sein Rücken schwang bei jedem Schritt, als stieße er sich vom Boden ab wie zum Sprung. Jetzt hatte ihn auch die Herde bemerkt, die Köpfe flogen hinauf, mit gespitzten Ohren sahen sie dem Fremden entgegen. Der Graue, der an der anderen Seite der Lichtung gegrast und der Herde von dort aus Rückendeckung gegeben hatte, galoppierte herbei und stieß ein fanfarenhelles Wiehern in die Luft, Der Wald gab das Echo zurück. Wer bist du? Was willst du hier? Noch ehe der Rote antworten konnte, hatte Jilka ihn erkannt. Goldschweif! Goldschweif, bist du den Menschen endlich entflohen? Zurück, Jilka, Goldschweif gehört nicht mehr zur Herde! Der Graue schob sich mit einer raschen Wendung zwischen den Fuchshengst und die silberne Stute. Geh, gründe dir deine eigene Herde! herrschte er den jungen Hengst an, hier ist kein Platz mehr für dich. Darüber denke ich anders, Grauer. Ich will meine Kräfte mit dir messen. Besiegst du mich, werde ich gehen. Du willst kämpfen, Roter? Der Graue prustete und senkte den Kopf. Du, der du in menschlichen Ställen verwöhnt und gepflegt worden bist, weder Hunger noch
Kälte gekannt hast? Weißt du überhaupt, was kämpfen heißt? Du irrst dich, Grauer. Zwei Jahre habe ich in einer fremden Herde gelebt. Der Mensch hat mich verkauft, und mein neuer Herr gab mich den Wildlingen in seinem Revier zum Leithengst. Meine Herde grast nicht weit von hier. Sie ist klein, aber ich weiß sie zu verteidigen und habe in manchem Kampf gesiegt. Dann komm her, worauf wartest du? Goldschweif trabte nahe an den Grauen heran. Obwohl er den Kopf stolz erhoben hielt und angriffslustig schnorchelte, hatte Jilka den Eindruck, als begegne er dem Älteren mit Ehrfurcht. Eine Weile standen sie sich reglos gegenüber und sahen sich an. Die Herde rückte zusammen. Wie gebannt starrten Stuten, Junghengste und Fohlen auf die beiden Gegner, die Luft vibrierte vor Spannung. Der Graue begann, den Boden zu stampfen. Dann umkreisten die Gegner sich langsam, mit lauernden Blicken, noch sah es aus wie ein Tanz, ein Spiel. Goldschweif wartete ab, er überließ dem Alten den ersten Angriff. Der riß jetzt den Kopf zurück und stieß einen wilden Kampfschrei aus, sein Wiehern klang böse und traurig zugleich. Er bäumte sich auf, hoch in die Luft, und stieß seine Hufe in einem drohenden Wirbel ins Leere. Noch immer ließ Goldschweif sich Zeit, als könne er sich nicht überwinden, den alten Hengst ernsthaft anzugreifen. Doch der wollte jetzt kämpfen, rückte näher heran und stieg noch einmal. Diesmal richtete sich auch Goldschweif hoch auf, fast eine Kopflänge überragte er den alten Wildhengst, und seine Hufe kreisten so schnell durch die Luft, daß Jilka
vom Zusehen schwindlig wurde. Mit einem scharfen Schlag traf er den Grauen, der vor Schmerz und Wut aufschrie und zurückwich. Wieder umkreisten die beiden einander. Der Graue lahmte deutlich. Jetzt ließ er sich auf die Knie hinunter und schnappte nach der Brust des anderen. Doch der war schneller, beugte sich ebenfalls und erwischte den Alten am Hals. Blut floß aus einer klaffenden Wunde, das Fell beider Kämpfer war jetzt vor Erregung durchnäßt von Schweiß, Schaumflocken lösten sich von den Mäulern und flogen durch die Luft. Der alte Hengst hatte sich blitzschnell gewendet und feuerte seine Hinterhand auf den Gegner ab. Er traf Goldschweif, der dem Angriff geschickt auswich, nur leicht, und der Graue mußte gleich darauf selbst einen harten Schlag in die Rippen einstecken. Gezielt keilte der Rote gleich noch einmal und versetzte dem Grauen einen so heftigen Schlag vor die Brust, daß der einen Augenblick wie benommen nach Luft rang. Goldschweif wich abwartend zurück, doch nun griff der alte Wildhengst mit doppelter Wut an. Wie ein Gewitter gingen die Schläge hin und her, der Alte schien weder Schmerz noch das ständig aus seiner Wunde fließende Blut zu spüren, seine zornigen Schreie schrillten durch die Luft und ließen nichts von Schwäche erkennen, seine Hufe pflügten den Boden. Wieder stieg Goldschweif, reckte sich hoch hinauf, als wolle er einen Sprung in den Himmel wagen, und ließ sich mit seinem vollen Gewicht auf den Rücken des Grauen fallen. Der ging in die Knie, sank zu Boden, als sei auf einmal alle Kraft aus seinem Körper gewichen.
Benommen schüttelte er den Kopf und sah fast erstaunt auf den Fuchshengst, der ruhig, wenn auch schwer atmend neben ihm stand. Ihm war nicht die leiseste Er schöpfung anzumerken. Noch einmal sammelte der alte Wildhengst seine Kräfte, zog sich vom Boden hoch und attackierte den Gegner mit angelegten Ohren und entblößtem Gebiß, schnappte nach seinem Hals, seinem Bauch und den Beinen. Goldschweif wich leichtfüßig aus, gerade so viel, daß die Angriffe des Alten ihn um Zentimeter verfehlten. Der Graue schwankte. Der Blutverlust schwächte ihn mit jedem Augenblick mehr, das Bild des Roten begann vor seinen Augen zu verfließen, der Boden bewegte sich wie Wellengang unter seinen Hufen. Noch einmal versuchte er zu steigen, aber sein Wiehern erstarb in einem Röcheln, es gelang ihm gerade noch, sich aufzufangen, um nicht seitlich wegzukippen. Er senkte den Kopf und schritt langsam auf den Wald zu. Die Herde sah ihm nach, bis sich das Buschwerk hinter ihm schloß. Nur eine dünne Perlenschnur aus hellroten Blutstropfen gab an, welchen Weg er gegangen war. Über den Bäumen tanzte ein Wirbel aus Wolkenschleiern, da folgten die Boten der anderen Welt seinen Spuren, scharten sich um sein verstecktes Lager, um ihn zu schützen, wie es einst die Stuten bei seiner Geburt getan hatten. Goldschweif schickte dem alten Wildhengst ein letztes Wiehern nach, nicht mehr kämpferisch und siegesstolz, es klang wie ein Abschiedsgruß. Totenstille legte sich über die Lichtung. Der harte Flügelschlag eines Ringeltäubers, der aus dem Wald aufstieg, löste die Spannung. Goldschweif
schnaubte und schüttelte das schmutzige, schweißverklebte Fell, dann begann er, die Herde tänzelnd zu umkreisen. Aus dem Buchenschlag traten jetzt einzeln seine Stuten heraus, neun waren es, die auf halbem Wege abwartend stehenblieben, bis der Fuchshengst sie abholte und zur Herde hinübertrieb. Drei von ihnen führten Fohlen mit, die zwei anderen eine Jungstute und ein einjähriges Hengstfohlen, vier weitere waren hochträchtig. Nona begrüßte die Neuen und wies ihnen ihren Platz zu. Wer zögerte, wurde von Goldschweif mit leichten Bissen in die Beine zurechtgewiesen. Jilka stand immer noch wie gelähmt. Während die anderen allmählich begannen, die Nasen wieder in das duftende Gras zu versenken, ließ sie Goldschweif nicht aus den Augen. Endlich kam er zu ihr herüber. Sie erzitterte, als er auf sie zutrat und sie mit einem zarten Kuß begrüßte, mit den Lippen sanft an Kopf und Körper entlangfuhr und ihr spielerisch in die Mähne blies. Ein Schauer des Entzückens überlief sie unter der warmen Berührung seines Atems. Sie war so verwirrt, daß sie ihm quiekend auswich und wie zur Warnung einen Hinterhuf hob. Zugleich sehnte sie sich nach der Nähe seines Körpers. Du bist schön geworden, kleine Jilka, sagte Goldschweif und rieb seine Nase zärtlich an ihrem Hals. Nur deinetwegen bin ich zurückgekommen. Ich will, daß du meine Gefährtin wirst, unter allen Stuten der Herde meine liebste Gespielin! Jilka wandte sich ihm zu und sah ihn an. Du warst schon zu der Zeit mein liebster Freund, als ich noch ein Fohlen war. Ich habe dich bewundert, und
ich habe lange auf dich gewartet, Goldschweif. Jetzt will ich deine Gefährtin werden. Sanft drängte der junge Fuchshengst die silberne Stute von der Herde fort. Die Sonne sank bereits, als die beiden von ihrem Liebesspiel abließen und zur Herde zurückkehrten. Von diesem Tage an weidete Jilka Seite an Seite mit Goldschweif. Nachts ruhten sie eng aneinandergeschmiegt und spürten noch im Traum die beglückende Nähe des anderen. Erwachten sie vor Sonnenaufgang, schritten sie Schulter an Schulter zur Tränke, widmeten sich gegenseitig der Fellpflege, immer wieder unterbrochen von übermütigem Liebesspiel. Goldschweif war der Herde ein aufmerksamer und kluger Leithengst; er tat seine Pflicht bei den anderen Stuten, wie es ihm zukam. Aber gleich darauf kehrte er zu Jilka zurück, begrüßte sie mit einem zärtlichen Brummen, umkreiste sie in Besitzerstolz und hörte nicht auf, sie zu liebkosen. Für Jilka waren es Wochen eines erregenden Glücksgefühls, das sie taumelig machte, wenn die Mittagshitze flirrend über dem Weidegrund stand und es um sie her nichts gab als Blütenduft und Stille, die Berührung des lautlosen Sommerwinds und den endlosen Himmel über ihr. Und nicht weit von ihr auf der Anhöhe stand Goldschweif, der über die Herde wachte, reglos wie ein Standbild dort unter den Birken im Schattenspiel der silbrig belaubten Zweige. Im satten Grün standen oder lagerten die Wildpferde, die grauen, braunen und gelben Felle verschwanden fast im blühenden Wildwuchs von Gräsern, Feldblumen und
Kräutern. Hier sah man einen schwarzen Aalstrich zwischen Schafgarbe und Wiesenschaumkraut, dort das struppige Fell eines Fohlens, das den heller getönten Bauch der Sonne zudrehte und sich genüßlich wälzte. Da hob sich das Rot der ersten Mohnblumen gegen das steingraue Fell eines jungen Hengstes ab, der mit hängenden Ohren und schlaffer Unterlippe in der Sonne döste. Jilka liebte sie alle, wie sie die Bäume und Blüten liebte, die dicken Hummeln, taumelnden Schmetterlinge und blitzschnellen Heupferdchen, den schläfrigen Ruf eines Waldvogels oder den klagenden Schrei des Bussards hoch über ihr. Sie alle waren Teil dieses lustvollen, schwindelerregenden Gefühls, das sie beherrschte, seit Goldschweif gekommen war und sie zu seiner Gefährtin gemacht hatte. Hatte sie sich einst in den Nächten mit Aljane unterhalten, so war es jetzt der junge Fuchshengst, der ihre Fragen beantwortete, wenn der sternklare Himmel sich wie ein Zelt über dem Bruch spannte und vom Dorf her der Duft blühender Linden herüberwehte. Im Schilf der Moorseen gaben die Frösche ihr nächtliches Konzert, mit aufgeregtem Rufen huschte das Käuzchen vorüber. Ein plötzlicher Todesschrei zerriß die Stille und erstarb, der Räuber zog mit der Beute davon. Erzähl mir von den Menschen, bat Jilka. Erzähl mir davon, wie es dir dort ergangen ist. Sprechen sie noch von Aljane, die ihnen entkommen ist? Goldschweif fuhr ihr behutsam über die Augen. Sie sprechen von ihr - und sie sprechen von ihrer ältesten Tochter, der schönsten Stute in der Herde der Wildlinge. Sie kennen mich?
Sie beobachten dich seit langem, sagte Goldschweif ernst. Und du solltest stets größte Vorsicht üben, denn es könnte sein, daß sie dir nachstellen. Wenn der Herzog dich sieht... Der Herzog? Ihr oberster Herr, dem das Land ringsum gehört. Und auch die Herde. Seine Fänger sprachen von dir, lobten deine Schönheit und Klugheit und beschworen ihn, alles zu tun, um Aljane und dich einzufangen und in seinen Stall zu bringen. Er winkte ab, hatte andere Dinge im Kopf, die Jagd oder den Kampf. Aber hüte dich, wenn er dir eines Tages begegnet. Niemals wird mich einer der Menschen überwältigen, beteuerte Jilka. Ich wittere sie aus großer Ferne, und ich weiß, wie man sie täuscht und ihnen ausweicht. Ja, du bist klug und ahnst die Gefahr, lange bevor deine Augen, Ohren und Nüstern sie erkennen, meine schöne Freundin. Und du hast mich, der dich beschützen wird, wenn sie ausziehen, um dich zu überlisten. Warst du sehr unglücklich bei den Menschen? fragte Jilka. Es ist furchtbar, die Freiheit zu verlieren, selbst wenn es einem an nichts mangelt. Aber ich habe viel gelernt. Über die Menschen und über mich selbst. Die Erfahrung hat mich stark gemacht. Jilka lehnte sich zärtlich an ihren Gefährten. Alles war gut, wie es war. Das Leben, die Liebe, die auf geheimnisvolle Weise alles miteinander verband... und auch der Tod.
Allmählich fühlte Jilka sich träger werden. Die Zeit der wilden Liebesspiele war vorüber, dem Frühling folgte der Sommer. Und eines Tages spürte Jilka eine Bewegung in ihrem Leib wie eine Botschaft, die Botschaft eines anderen, selbständigen Geschöpfs - ihres ersten Fohlens. Goldschweif hatte begonnen, die Herde zu neuen Weidegründen zu führen, die er in den Jahren seiner Wanderschaft kennengelernt hatte. Es war eine große Sippschaft, deren Herrscher und Beschützer er nun war, und er zeigte ihr saftige Wiesen, fern von menschlichen Siedlungen. Breite Wasserläufe und Seen lagen eingebettet in undurchdringlichen Wald oder Brachland. Hier gab es Äsung genug und köstlich klares Wasser. Freilich hatten sie nun Feinde anderer Art. In Felsenhöhlen hausten Bären, in der Dämmerung streiften Luchse und Wölfe umher auf der Suche nach Nahrung. Sie waren es, die eine Wende in Jilkas Leben brachten. Es war die Zeit des Sonnenuntergangs. Von Westen her hatten sich bleigraue Wolken über den Himmel geschoben, fernes Wetterleuchten kündigte ein Gewitter an. Vor dem drohenden Unwetter zogen sich die Wildlinge aus der weiten Ebene in den Wald zurück. Unruhig schlugen sie mit den Köpfen gegen die lästigen Mückenschwärme an. Sie waren gereizt, und Goldschweif hatte alle Mühe, die widerspenstige Herde zusammenzuhalten. War es der grollende Donner in der Ferne oder die drückende Hitze, die sie träge gemacht hatte, sie waren unaufmerksam geworden. Niemand bemerkte den alten Wolf, der, hungrig und ausgestoßen vom Rudel, durch den Wald trottete und sich angesichts der Herde vom
Unterholz verborgen auf die Lauer legte. Goldschweif hatte begonnen, die Herde zum Fluß hinüberzutreiben. Weit verstreut trotteten die Wildlinge dem Wasser zu, dösig im Kopf von der drückenden Schwüle. Jilka hatte sich Nonas Familie angeschlossen, sie folgte Swala, die in diesem Jahr ein kräftiges Hengstfohlen geworfen hatte. Plötzlich hob sie beunruhigt den Kopf. Brennend scharf war ihr die Witterung des Raubtiers in die Nüstern gedrungen, wenn auch nur einen Atemzug lang und aus großer Entfernung. Jilka stieß ein schrilles Wiehern aus. Doch im gleichen Augenblick stürmte der Feind heran, seine gelben Augen blitzten vor verzweifelter Entschlossenheit, er hatte seit Tagen nichts in den Fang bekommen. Die Herde floh in wildem Entsetzen. Die jungen Hengste gaben ihr Rückendeckung, Goldschweif selbst versuchte, die Stuten mit den jüngsten Fohlen zu schützen. Abwechselnd trieb er sie zusammen und stellte sich dann wieder mit zornigem Aufschrei dem Verfolger. Der jagte unschlüssig mal hierhin, mal dorthin, schwankend, ob er sich Swalas Fohlen oder die alte Nona zum Opfer wählten sollte. Zum Fluß hinunter, Swala! rief Jilka und stellte sich der heiser knurrenden Bestie in den Weg, um sie mit scharfen Huftritten abzuwehren, während die Stute sich mit ihrem Fohlen entfernte. Der Wolf erkannte, daß ihm hier kein Erfolg beschieden sein würde und wandte sich nun der alten Stute zu, die offensichtlich nicht mehr schnell genug war, um sich seinem Angriff entziehen zu können. Jilka bäumte sich
auf und machte eine halbe Drehung in der Luft, dann stürmte sie in die andere Richtung, um Nona zu Hilfe zu kommen. Mit einem riesigen Satz sprang sie zwischen das Raubtier und die alte Stute. Zum Wasser hinunter und den Fluß durchschwimmen! keuchte sie und pfefferte mit ihren Hinterhufen auf den Verfolger, daß er winselnd zurückwich. Aber schon setzte er von neuem zum Angriff an, rückte näher und näher, während die Stuten wild auf das rettende Wasser zugaloppierten. Jilka hielt sich ein Stück weit hinter Nona. Hin und wieder stoppte sie ihren Lauf, um sich blitzschnell dem Verfolger entgegenzuwerfen und ihn mit ihren Vorderhufen zu attackieren. Es gelang ihr nicht, ihn zu treffen, denn er warf sich auf die Seite, rollte ein-, zweimal um die eigene Achse und war wieder auf den Beinen. Immerhin gewann sie ein paar Sekunden, denn der Wolf versuchte jetzt in einer weiten Kurve die offensichtlich zum Zweikampf entschlossene Schimmelstute zu umgehen und sich seit lich auf die geschwächte Alte zu stürzen. Doch schon war Jilka ihm wieder auf den Fersen, überholte ihn auf der Innenseite, so daß sie Nona schützend abdeckte. Die alte Stute lief, was Beine und Herz hergaben. Jetzt war Jilka dicht an ihrer Seite. Ein paar Sprünge noch, dann sind wir im Wasser, dort kann er uns nicht so schnell folgen! Auch der Wolf sammelte all seine Kraft zum letzten, entscheidenden Angriff. Jilka hörte sein Hecheln und heiseres Knurren gefährlich nahe hinter sich. Wieder schlug er einen Haken und versuchte Nona von der anderen Seite her zu erreichen. Er schnappte, doch verfehlte sie, hart schlugen seine Zähne aufeinander. Wieder schnappte er, doch jetzt hatten sie das rettende Wasser erreicht; Schul-
ter an Schulter sprangen Jilka und die alte Stute in den Fluß, stießen sich ein paarmal vom Untergrund ab, dann mußten sie schwimmen. Geschafft, keuchte Nona, ich glaubte, ich könnte es nicht mehr durchhalten. Hab Dank, Jilka, ohne dich wäre ich verloren ... Das letzte Wort ging in einem Strudel unter. Mit einem Ausdruck ungläubigen Erstaunens warf Nona einen letzten Blick empor, dann verlor sie das Bewußtsein. Ihr altes Herz hatte zu schlagen aufgehört, die greise Stute verschwand in den Fluten, wurde sanft fortgetragen und Jil-kas Blicken entzogen. Der Wolf stand bis zum Bauch im Wasser, erschöpft und enttäuscht heulte er zu den Wolken hinauf, die mit polterndem Donner antworteten. Jilka schwamm kräftig und hatte bald das andere Ufer erreicht. Sie kletterte die Böschung hinauf und verfolgte mit den Augen den Weg der Strömung, so weit sie sehen konnte. Vergeblich. Der Körper der alten Stute war bis zur Biegung des Flusses gereist, dort fingen sie Wurzeln und Algen wie geöffnete Arme auf, die strähnigen Zweige einer Trauerweide schmückten sie mit ihrem Grün für die Reise zu den Unsichtbaren. Als Jilka einen Windhauch spürte wie eine Liebkosung, wußte sie - Nona war angekommen. Hinter dem Wald zuckte der erste Blitz, der Donner folgte schnell, es war höchste Zeit, sich in Sicherheit zu bringen. Jilka stob am Ufer flußaufwärts, bis das schützende Dickicht sie aufnahm. Hier wartete sie das Gewitter ab. Am jenseitigen Ufer, geschützt von hohen Buchen, erkannte sie dichtgedrängt die Herde im Gewirr von Brombeerranken und dichten Sträuchern. Gold-
schweif wieherte beunruhigt zu ihr herüber, und sobald das Unwetter weitergezogen war, ließ sich Jilka noch einmal ins Wasser gleiten und schwamm zu den Ihren zurück. Goldschweif umkreiste sie erregt; zärtlich schnobernd fuhr er ihr über Kopf und Rücken, als müsse er sich vergewissern, daß sie unverletzt war. Dann trat Weißauge heran. Ihr folgten die anderen Stuten aus Nonas Familie. Hör mir zu, Jilka, sagte sie ernst. Du weißt, ich bin diejenige, die in der Nachfolge als erste hinter Nona ihren Platz hatte. Ich bin zwar noch kräftig, aber auf einem Auge blind, und es fehlt mir an Klugheit und Schnelligkeit, wenn auch wohl nicht an Mut. Aljane, deine Mutter, fühlt sich nicht stark und entschlossen genug, uns zu führen. Ähnlich ist es mit Waska und Fenna und all den anderen. Niemand von uns besitzt die Gaben, die eine Leitstute auszeichnen sollten. Niemand außer dir, das hast du heute einmal wieder bewiesen. Und nachdem nun Nona zu den Unsichtbaren gegangen ist, haben wir beschlossen, dich trotz deiner Jugend zur Leitstute zu ernennen. Du wirst erst im kommenden Sommer ein Fohlen führen. Aber schon jetzt bist du uns an Erfahrung weit überlegen. Wir vertrauen darauf, daß du diesen Platz würdig ausfüllen wirst. Jilka stand verwirrt an Goldschweifs Seite und blickte einmal ihn, dann wieder die Stuten an. Der Fuchshengst stupste sie auffordernd in die Seite. Seid ihr alle dieser Meinung? fragte Jilka schließlich zögernd. Nun ja, antwortete Orla gedehnt, Nona ist gewiß so
leicht nicht zu ersetzen. Man darf nicht zu anspruchsvoll sein und muß sich den Gegebenheiten anpassen. Wir haben es einstimmig beschlossen, sagte Waska mit Nachdruck. Du hast bewiesen, daß du der Aufgabe würdig bist. Nona selbst hätte so entschieden. Ja, dachte Jilka, das ist wahr. Sie hat es mir wieder und wieder gesagt: Eines Tages wirst du die Leitstute sein. Meine Nachfolgerin. Ich habe nur nicht geglaubt, daß es so bald geschehen würde. Jilka trat einen Schritt vor und senkte leicht den Kopf. Ich danke euch, sagte sie. Ich nehme eure Wahl an.
Der Sommer neigte sich dem Ende zu. Die Felder waren abgeerntet, an den Bäumen neigten sich die Äste unter der Last der Früchte. Jilka ging nun nicht mehr ständig an Goldschweifs Seite, sie nahm ihren Platz an der Spit ze ihrer Familie ein und war eine wachsame Hüterin der Stuten, Jungtiere und Fohlen. Eine besondere Liebe verband sie mit Shunya, ihrer nachgeborenen Schwester, die zu einem kräftigen, hübschen Mischling herangewachsen war. Sie war kleiner als Jilka, schmal gebaut, dabei muskulös, und hatte den edlen Kopf ihrer Mutter. Ihr Fell allerdings war das eines echten Wildpferdes, ein stumpfes, leicht ins Grau spielendes Braun zu schwarzer Mähne und schwarzem Schweif, bis zu den Knien war sie schwarz gestiefelt. Was Shunya aber vor allem auszeichnete, war ihre Friedfertigkeit und Fröhlichkeit. Jeder hatte sie gern. Die Junghengste stritten um ihre Gunst, und unter den
Älteren gab es keinen, der sie je hätte zurechtweisen müssen. Jilka lehrte die Schwester alles, was sie an Wissen besaß, und Shunya war eine intelligente Schülerin. Eines Tages wirst du Leitstute sein, kleine Schwester, sagte Jilka, wenn Shunya sie einmal wieder mit einer besonders klugen Bemerkung überrascht hatte, du bist nicht nur stark und mutig, sondern besitzt die Gabe, andere zu führen und vor Unheil zu bewahren. Ich, Leitstute? Wie sollte das geschehen, da du uns führst und selbst noch so jung bist. Ich bin zufrieden mit meinem Platz in deiner Nähe. Ich könnte nicht glücklicher sein. Stille Herbsttage zogen ins Land, der Wind wurde leiser, als wolle er die Feierlichkeit nicht stören, mit der die Sonne ihr farbenprächtiges Schauspiel inszenierte. Wieder wetteiferten Bäume und Buschwerk um die leuchtendsten Töne von hellem Gelb bis Himbeerrot, um das originellste Muster auf den sich langsam verfärbenden Blättern. Wieder war das Blau des Himmels so unergründlich wie nie sonst im Jahr, bot die Erde ihre ganze Fülle auf für ein letztes großes Fest vor der Zeit der Entbehrung. Es waren Tage des Träumens, Stunden, in denen die Herde fast aufhörte, an Gefahr und Verfolgung zu glauben. Nichts schien ihre Ruhe zu stören. Sie waren näher an die Niederlassungen des Menschen herangezogen. An den Feldrainen gab es nun Überreste der eingebrachten Ernte, Rübenkraut, Reste vom Heu der letzten Mahd, von den Fuhrwerken herabgefallenes Obst und Gemüse. In der Dämmerung und am frühen Morgen holten sich die Wildlinge diese Köst-
lichkeiten, während sie sich tagsüber in den nahen Wäldern verbargen. Freilich konnte es vorkommen, daß ein furchtloser Junghengst oder ein übermütiges Fohlen sich verlocken ließen, auch am hellen Mittag auf menschliches Gebiet vorzudringen, wenn ihr Appetit durch einen besonders verführerischen Duft angeregt wurde. Die lautlose Stille umher ließ sie alle Vorsicht vergessen. So konnte es geschehen, daß Falkenfeder, das Fohlen von Swala, sich von ein paar gelben Rüben, die verges sen auf dem Acker lagen, unwiderstehlich angezogen fühlte, während die Mutterstuten hinterm Schlehendik-kicht auf einem Stück Brachland in der Sonne dösten. Nur Jilka bemerkte den Kleinen, der sich mit weit vorgestrecktem Kopf und staksigen Schritten aufs Feld hinauswagte. Falkenfeder, zurück! Jilkas Wiehern hallte bis zu der verfallenen Scheune hinüber, die jenseits des Feldes stand, doch der Kleine schien es nicht zu hören. Mit wenigen Sprüngen war die silberne Stute bei ihm und trieb ihn mit energischen Knüffen dem Dickicht zu. Da drang das Klappern von Hufen an ihr Ohr. Jilka hob den Kopf und sog aufmerksam die Luft ein, doch der leichte Wind stand ihr im Rücken, nichts als der Duft des abgeernteten Feldes und ein paar angefaulter gelber Rüben stieg ihr in die Nüstern. Das Geräusch hatte sich entfernt, klang nur noch dumpf von der Rückseite der Feldscheune herüber. Schon wollte sie beruhigt dem Fohlen nachlaufen. Aber das hatte den Augenblick ihrer Unaufmerksamkeit benutzt, um - einem Hasen gleich einen Haken zu schlagen und ein paar Rüben weiter
draußen auf dem Acker anzusteuern. Jilka trabte hinterher und rief ihn zur Ordnung. In diesem Augenblick bog ein Reiter um die Ecke des verfallenen Gebäudes. Er ritt einen blau schimmernden Rapphengst und war prächtig gekleidet, auf dem Kopf trug er einen breiten, mit langen Federn besetzten Hut. Jilka war so überrascht von der Erscheinung, daß sie wie ein Standbild auf der Anhöhe verharrte, die das Feld zum Brachland hin abgrenzte. Als wäre einer der Unsichtbaren herabgestiegen, so stand sie da, eine Gestalt aus Licht, aus flirrendem, silbrigem Weiß, mit wehender Mähne und stolz aufgestelltem Schweif. Ganz Wachheit, ganz Aufmerksamkeit bot sie sich dar, ein Bild vollendeter Schönheit vor dem endlosen Blau des Himmels. Bei Gott, das muß sie sein! Aus dem Klang seiner Worte hörte sie Erstaunen und Entzücken. Langsam ritt er näher heran. Bleib stehen, meine Schöne, lauf nicht fort! Nur einen Augenblick laß dich noch anschauen. Welch ein Bild von einem Pferd, kein Maler wäre imstande, so etwas darzustellen! Ich muß dich haben, du wirst in meinem Stall Einzug halten, das schwöre ich! Jilka löste sich aus ihrer Erstarrung. Sie bäumte sich auf, wendete auf der Hinterhand und stürmte davon, trieb mit hellem Warnruf die Herde zur Flucht und hielt nicht eher an, bis sie tief im Wald untergetaucht waren. Wer war das? fragte sie atemlos Goldschweif, der hinter ihr die Herde zusammengetrieben hatte. Goldschweif sah sie lange an. Es war der Herzog. Jetzt ist es geschehen. Nie hätte er dich sehen dürfen. Er wird nicht ruhen, bis er dich ge-
fangen hat. Doch eher sterbe ich, bevor ich dich ihm überlasse. Die Unsichtbaren werden nicht zulassen, daß ich in seine Gewalt komme. Ich werde nicht in ihre Fallen gehen, ich weiß, wie man sich vor ihnen schützen kann, beteuerte Jilka. Trotzdem beschloß Goldschweif noch an diesem Abend, mit der Herde in ein anderes Gebiet zu ziehen. Die Pferdestricker des Herzogs suchten wochenlang vergebens nach der silbernen Stute. Schließlich gaben sie auf.
Sie waren tief bis in die dichteste Wildnis des Waldes vorgedrungen. Hier war das Gehen mühsam; umge stürzte Bäume behinderten ihre Wanderung, der Boden war kniehoch mit einem dichten Filz aus verrottendem Holz, Schlinggewächsen und Farn bewachsen, Fels brocken versperrten den Weg, und das ineinander verschlungene Dach aus Fichtenkronen ließ nur spärliches Licht bis auf den Boden fallen. Doch schließlich wurde es heller, und sie näherten sich einer Lichtung. Goldschweif befahl der erschöpften Herde Halt. Ihr bleibt hier und ruht euch aus. Jilka und ich werden allein weitergehen und prüfen, ob der Platz dort vorn sicher ist. Seht euch um, wo ihr etwas zu fressen findet. Sie waren nicht weit gegangen, als Jilka aufhorchte. Aus der Lichtung klang Hundegebell herüber. Sie blieben stehen und lauschten angestrengt. Er liegt an einer Kette, du hörst das Klirren des Me-
talls, und daß er sich nicht weit vom Platz weg bewegen kann, sagte Goldschweif. Laß uns vorsichtig näher gehen. Behutsam taten sie Schritt für Schritt, sorgten, daß sich kein Zweig bewegte, kein trockener Ast am Boden knackte. Endlich hatten sie den Waldrand erreicht. Jilka hob erstaunt den Kopf, die Nüstern weit gebläht, nahm sie die Witterung auf. Nicht weit von ihnen stand unter einer verkrüppelten, halbvertrockneten Eiche ein Pferd. Es war vor einen Karren gespannt und schien zu schlafen, der Kopf berührte fast den Boden, die Unterlippe hing schlaff herunter, und sein rechtes Hinterbein ruhte leicht angezogen auf der Spitze des Hufs. Er stand gut im Futter und besaß kräftig ausgebildete Muskeln, auch sein Fell war gepflegt, wenn auch die Beine jetzt von Schlammspritzern übersät waren. Jilka schnoberte erregt, dann wieherte sie leise. Das Pferd dort drüben vor seinem Karren hob den Kopf und wandte sich in ihre Richtung. Gelbrock! Es ist Gelbrock, rief Jilka überrascht. Obgleich sie von dichtem Buschwerk und Ranken verdeckt waren, hatte auch er sie erkannt. Jilka! Goldschweif! Wie seid ihr hierhergekommen? Habt ihr die Herde verlassen? Kommt näher, ich bin allein, ihr braucht keine Gefahr zu fürchten. Gelbrock machte einen Schritt auf sie zu, und erst jetzt bemerkte Jilka, daß er nicht angebunden war. Die Deichsel des Wagens lag am Boden, die ledernen Seile, mit denen er hätte angebunden sein sollen, waren lose über seinen Rücken geworfen, und am Kopf trug er nur ein leichtes Halfter aus geflochtenen Hanfseilen. Kommt nur! Es ist Vesperzeit, da ist mein Herr im
Haus, um zu essen und zu trinken. Er kehrt nicht so schnell zurück, sagte Gelbrock heiter. Es ist schön, euch wiederzusehen! Aber Gelbrock, drängte Jilka, hast du es denn nicht bemerkt, du bist gar nicht festgebunden! Du mußt fliehen, sofort! Fliehen? Gelbrock sah sie erstaunt an. Warum? Was fragst du! Wie kannst du es auch nur eine Minute freiwillig in Gefangenschaft bei Menschen aushalten? Jilka blickte unruhig zu der kleinen Kate hinüber, die auf der anderen Seite der Lichtung im Schutz der Bäume stand und sich mit dem weit überstehenden Schilfdach tief in den Boden zu ducken schien. Eine dünne Rauchsäule stieg aus dem Schornstein empor und vereinte sich mit dem Nebel, der in dunstigen Schwaden über den Himmel zog und eine kalte Nacht ankündigte. Macht euch keine Sorgen um mich, sagte Gelbrock. Es geht nicht. Ich kann nicht mit euch fliehen. Glaubst du, du kannst dich aus diesen Schnüren und Seilen nicht befreien? Es ist nicht schwerer, als seinen Winterpelz abzustreifen. Versuch es! Nein. Du hast mich nicht verstanden. Ich diene ihm. Ich helfe ihm bei der Arbeit und tue die Dinge, für die seine Kraft nicht ausreicht. Ohne mich wäre er verloren. Was redest du für einen Unsinn! Ich bin froh, daß wir dich heute hier gefunden haben, und dies in so einem günstigen Augenblick, da er vergessen hat, dich festzubinden. Gelbrock sah Jilka nachdenklich an. Du hast mich immer noch nicht verstanden. Ich diene ihm, weil ich es will. Er braucht mich nicht anzubinden, ich laufe nicht
fort. Er ist mein Freund. Im Winter teilt er den letzten Bissen Brot mit mir, er sorgt für mich wie ein Vater. Ich bin alles, was er besitzt, und ohne meine Hilfe müßte seine Familie verhungern. Es ist gut, frei in der Herde zu leben für euch und für die anderen. Doch für mich ist es gut, hier meine Arbeit zu tun und damit meinem Herrn zu dienen, verstehst du? So ist es mir bestimmt. Ich weiß nicht, ob ich das je begreifen kann, sagte Jil-ka traurig. Leb wohl, Gelbrock, mögen die Unsichtbaren mit dir sein. Ja, leb wohl, Freund, sagte auch Goldschweif. Sag uns noch, wo sollen wir mit der Herde hinziehen, wo finden wir hier ausreichend Nahrung? Folgt dem Sonnenuntergang. Dort hinterm Horizont gibt es weite Flächen Brachland, dazwischen Waldstük-ke wie kleine Inseln, die den Wind abfangen und euch schützen. Das Land ist von Bächen durchzogen. Wenn es kalt wird, bleibt euch allerdings nur der große Fluß als Tränke. Goldschweif und Jilka dankten dem Freund und liefen zur Herde zurück. Gelbrock sah ihnen lange nach, dann senkte er den Kopf und begann, sich ein paar Grasbüschel und trockene Kräuter zu rupfen.
Es wurde ein grimmig kalter Winter, der viele Opfer forderte. Sie mußten Abschied von Weißauge nehmen; von den drei Hengstfohlen der Familie überlebte nur Falkenfeder die entbehrungsreichen Monate. Als dann endlich der Frühling kam, geschah es, als
hätten unsichtbare Mächte einen Zauberteppich über das Land gebreitet. Über Nacht verschwanden Schneeregen und Wolkenberge, ein blaßblauer Himmel stand hoch über dem Land, und die Sonne wärmte so kräftig, daß den Wildpferden vom Merfelder Bruch ganz taumelig und wirr im Kopf wurde. Wie in einer Explosion sprangen die Knospen auf, schoß das Grün aus dem Boden, als wäre es allzulange mit Gewalt im Dunkel festge halten worden. Wiesen und Waldboden glichen den Teppichen aus arabischen Zelten, von denen Aljane zuweilen erzählte; Blüte stand an Blüte, ein wogendes Meer aus weißen, gelben, blauen und rosafarbenen Sternen. Die Wildpferde schwitzten in der unerwarteten Hitze und hatten es eilig, ihre Winterpelze vom Körper zu streifen. Fellflocken hingen wie kleine Fahnen an Zweigen und Dornengesträuch oder trieben wie Bälle vor dem Wind her über die Wiesen. Weiden und Äcker dampften unter der Sonne, und aus blühenden Sträuchern stieg ein betäubender Duft auf. Die ganze Natur schien in einen geheimen Wettlauf eingetreten zu sein: wer reckte sich am höchsten der Sonne entgegen, wer breitete seine Blätter am weitesten aus; war es der Giersch mit dem dichten Teppich seiner handförmigen Blätter, war es der Urwald aus Brennesseln am Rande des Brachlands, oder trugen die aufstrebenden Dolden des Bärenklaus den Sieg davon? Nicht nacheinander wie in anderen Jahren, fast alle zugleich schienen blü hen zu wollen, als hätten sie Versäumtes nachzuholen. Jeden Tag kam nun ein Fohlen zur Welt, die Herde gewann ihre frühere Stärke zurück. Fenna war die erste,
sie brachte einen Sohn zur Welt, der dem Grauen aufs Haar zu gleichen schien. Graufell nannten sie ihn. Zwei Tage später folgte Swala mit einer Tochter, die die Vaterschaft des Grauen ebenfalls nicht verleugnen konnte. Sie erhielt den Namen Gaiana. Jilkas Leib war in den letzten Wochen schwer und rund geworden. Trotzdem bewegte sie sich so leichtfü ßig wie zuvor und ließ durch die wache Aufmerksamkeit, mit der sie ihre Familie betreute, fast vergessen, daß auch sie nun bald ein Fohlen zur Welt bringen würde. Zuweilen wurde sie daran erinnert, wenn das Kleine in ihrem Leib sich allzu heftig bewegte, aber dann vergaß sie es wieder. Und dann - an einem hellen Morgen, die Sonne war schon aufgegangen, und das Morgenkonzert der Vögel auf seinem Höhepunkt - war der Augenblick gekommen. Sie spürte das heftige Zusammenziehen und Lösen der Muskeln, die drängende Bewegung in ihrem Leib, die ihr Kind dem Geburtsweg entgegenschob, Schweiß trat ihr aus der Haut, und sie atmete tiefer. Bajula fiel es zu, die Tantenstuten zusammenzurufen, nur mehr vier waren es. Zu ihnen gesellte sich schweigend Shunya, und niemand vertrieb sie. Als sie spürte, daß es Zeit war, legte sich Jilka ins Gras. Sie hatte sich einen Platz nicht weit vom Ufer des Baches gewählt, eine Einbuchtung wie ein Nest, von Weiden umringt, an denen die aufgeblühten Kätzchen wie gelbe, plustrige Hummeln an den Zweigen saßen. Vom Wasser her kam eine kühle Brise herüber und vertrieb die immer noch ungewohnte Hitze. Jilkas Atem ging in heftigen Stößen, schien etwas zu sein, das nicht
mehr zu ihr gehörte, sowenig, wie die Kraft, die sich ihres Körpers bemächtigt hatte und alles, was in ihr war, mit ungeheurer Gewalt aus ihr hinauszudrücken schien. Als das Fohlen aus ihrem Leib glitt, hatte Jilka einen Augenblick das Gefühl, vollkommen leer zu sein, ausgehöhlt und unfähig, sich zu bewegen. Aber dann richtete sie sich auf und wandte sich ihrem Kind zu. Es strampelte heftig, schlug mit dem Kopf, als müsse es sich gegen jemanden wehren, der es festzuhalten versuchte, und Jilka beeilte sich, den zierlichen Kopf von der zähen Eihaut zu befreien. Mit der Zunge reinigte sie Nüstern und Augen und schließlich das samtige Maul; und das Fohlen nieste kräftig, es klang, als habe es aufgelacht. Jilka küßte es zärtlich und wandte sich dann Ohren und Hals ihres Kindes zu. Eine Tochter! bemerkte Orla. Goldrot wie die Morgensonne. Ganz der Vater. Und so groß und kräftig. Nun ja, wenn beide Eltern Mischlinge sind ... Jilka ließ sich nicht beirren, sie reinigte die Kleine gründlich, dann sprang sie auf die Beine, fuhr noch ein paarmal mit der Zunge über den Rücken des Stutfohlens und stupste es auffordernd an. Mit erstaunlicher Geschicklichkeit erhob sich das Neugeborene, fest stemmten sich die langen Beine in den Boden, gerade so viel auseinandergespreizt, daß sie Halt gaben. Jilka beobachtete es stolz. Geschickt wie eine Katze, sie weiß genau, was sie zu tun hat, meinte Shunya und schüttelte sich vergnügt. Wie soll sie heißen? Felidia, sagte Jilka. Felidia. Mögest du so klug und so mutig werden, wie
du geschickt bist. Willkommen in unserer Familie! begrüßte Bajula das Pferdekind feierlich. Wir freuen uns über deine Ankunft. Doch Felidia hielt nicht viel von feierlichen Reden, sie drehte den Erwachsenen ihre Kehrseite zu und hatte binnen kurzem das mütterliche Euter gefunden. Jilka spürte die erste Berührung der weichen Lippen, der gespitzten kleinen Zunge, das kräftige Saugen wie einen leichten elektrischen Schlag. Ein Zittern flog durch ihren Körper, dann gab sie sich ganz diesem neuen, ungeahnten Gefühl hin.
Felidia zeigte sich der Rolle als Tochter der Leitstute ihrer Familie würdig. Sie war ein aufmerksames und intelligentes Fohlen und setzte sich unter den Altersgenossen bald als Anführerin durch. Sie war nicht nur größer, sondern auch kräftiger und schneller als die meisten und vereinte in sich die Genügsamkeit und Robustheit des Wildlings mit der Schnelligkeit und Ausdauer des Wü stenpferdes. An ihre arabischen Vorfahren erinnerte der kleine, edel geformte Kopf mit den großen, lebendigen Augen. Körperbau und Farbton des Felles dagegen glichen vollkommen dem Goldschweifs. Jilkas Leben war in diesen Wochen vollkommen. Das üppige Wachsen und Blühen um sie herum, die sonnigen Tage und milden Nächte schienen nur für sie gemacht, als würdiger Rahmen für ihr Glück als Mutter eines so hübschen Pferdekindes und als Lieblingsstute eines von allen bewunderten Hengstes. Denn auch in
diesem Frühjahr hatte Goldschweif sie zu seiner Favoritin erkoren. Über all dem vergaß sie ihre Pflichten als Leitstute nicht. Im Gegenteil, die Schar übermütiger Fohlen, die nun wieder zur Familie gehörten, machte sie aufmerksamer und vorsichtiger denn je. Und das war notwendig, denn wie immer zu dieser Jahreszeit begann der Herzog, seine Fänger auszusenden, um die Junghengste aufzuspüren und seinen Stall mit Arbeits- und Reitpferden zu versorgen. Goldschweif war mit der Herde schon vor Wochen in das altvertraute Gebiet zurückgekehrt, in dem sie jedes Versteck, jeden einsamen Pfad kannten. Hatte der Graue es schon verstanden, seine Herde vor Gefahren zu schützen, so war Goldschweif ein Meister darin, die Absichten ihrer Verfolger im voraus zu erspüren. Aber all seine Aufmerksamkeit hätte nicht erreicht, was Jilka gelang: jeden Fang eines Junghengstes zu vereiteln. Woher hast du gewußt, daß dort in der Eiche jemand lauert? fragte Goldschweif dann erstaunt. Ich habe weder ein Geräusch gehört, noch die Spur einer Witterung aufgenommen, die mich gewarnt hätte. Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es einer der Unsichtbaren, der mich warnt. Es ist, als stieße ich gegen eine Mauer, die mich daran hindert, weiterzugehen. Manchmal auch ist es ein Empfinden, als dränge mich jemand ab oder stieße mich. Sehr selten, nur bei großer Gefahr, zeigen sie sich mir, verstellen mir den Weg oder bäumen sich auf, als wollten sie uns zur Flucht treiben. So ergab es sich, daß Jilka stets ein Stück vor Goldschweif lief, wenn die Herde auf ihren Wechseln unter-
wegs war. Dicht hinter ihr, gehorsam und mit wachen Augen und Ohren ging Felidia, jeden Augenblick darauf gefaßt, von der Mutter zurückgetrieben zu werden. Jilka konnte nicht ahnen, wie groß der Zorn des Herzogs und die Verzweiflung seiner Helfer über die andauernden Mißerfolge war. So blieb es nicht aus, daß sie sich zu einem entscheidenden Schlag gegen die Herde der Wildlinge rüsteten. Zwei Wochen lang blieb alles still. Die Männer schienen den aussichtslosen Kampf aufgegeben zu haben. Am fünfzehnten Tag brach ein schweres Gewitter nieder, und die Herde zog sich in undurchdringliches Dikkicht zurück. Im Lauf der Nacht gingen Sturm und Hagelschauer in einen gleichmäßigen Landregen über. Die Herde verharrte eng aneinandergedrängt, bis es hell wurde und die Zeit für das Morgenmahl gekommen war. Goldschweif rief die Wildlinge zusammen, und Jilka schritt voran, der Tränke an einem nahe gelegenen Bach zu, der durch den Gewitterregen zu einem durch die Niederung rauschenden Flüßchen angeschwollen war. Sie hörte nichts als das Gurgeln des Wassers und das gleichmäßige Niederfallen der Regenschnüre, die mit hellem Trommeln auf das junge Buchengrün aufklatschten. Plötzlich hob Jilka den Kopf und stieß einen verhaltenen Warnruf aus. Direkt vor uns sind sie, paßt auf, zieht euch ins Dickicht zurück, aber bleibt dort nicht stehen, lauft weiter, zum Jungwald hinüber und über die Ebene bis zum Moor. Es sind viele! Doch kaum hatte sich die Herde abgewandt, spürte Jilka die Gefahr auch von jenseits des Dickichts und
gleich darauf von beiden Seiten. Sie waren umzingelt. Mit lauten Rufen und Peitschenknallen drangen die Männer gegen die Herde vor. Es mußten Hunderte sein, eine unabsehbare Menge, so schien es Jilka, die nun den Kreis immer enger zog. Ängstlich wiehernd rannten Stuten und Fohlen hin und her. Goldschweif und die jungen Hengste umringten sie aufgeregt schnaubend, ihre Schreie klangen zornig und schrill. Bleibt ruhig, rief Jilka, ich bitte euch! Das ist unsere einzige Rettung! Geh in den Kreis zu den anderen, Felidia, tu, was ich dir sage! Die silberne Stute trabte um den äußeren Kreis herum, wie Goldschweif es tat, und versuchte die von panischer Angst erfüllte Herde zu beruhigen. Hört auf mich! Bleibt ruhig und achtet auf das, was ich tue. Bleibt stehen, so können wir sie täuschen. Wenn ich losgaloppiere, folgt ihr mir, so schnell ihr könnt! Bleibt dicht beieinander, als seien wir ein einziger Leib. Wehrt sie ab, als wäre es ein Rudel Wölfe, das euch angreift! Allmählich gelang es ihr, die vor Angst zitternden Wildlinge so weit zu beruhigen, daß sie angespannt stillstanden. Der Kreis ihrer Jäger schloß sich enger zusammen und rückte bedrohlich näher. Jilka hörte nicht auf, die Herde zu umrunden, dabei sah sie sich aufmerksam um. Plötzlich verharrte sie und wieherte leise. Nur wenige Meter vor ihr stand eine vertraute Gestalt, jener hochgewachsene, junge Mann mit den flammenden Haaren und den hellblauen Augen. Er hielt wie die anderen die Arme weit ausgebreitet, verlängert durch Peitschen, die sich mit den Ruten der Nachbarn zu einem Zaun fügten.
Hohoho! hallten die Rufe der anderen, doch der Mann vor ihr schwieg und starrte sie an, für Sekunden versanken ihre Blicke ineinander. Greif sie dir, Michael! Das wird dir eine saftige Belohnung einbringen! Der junge Mann tat, als habe er die Zurufe nicht gehört. Langsam ging er auf Jilka zu, und sie sah, daß sein Gesicht freundlich war, und daß eine große Ruhe von ihm ausging. Hinter ihm erschien jetzt wie ein Sonnenstrahl mitten im dichten Regen der durchsichtig schimmernde Körper einer der Unsichtbaren, der auffordernd den Kopf hob. Folgt mir! rief Jilka, ihr trompetengleiches Wiehern kam als Echo von allen Seiten zurück. Dann sprang sie mit einem Satz auf den Mann zu und galoppierte dicht an ihm vorüber aus dem Kreis der Fänger hinaus, ihr folgte die Herde. Wie eine Brandungswelle ergoß sich der Strom dahinstürmender Pferdeleiber durch die Lük-ke, die Jilka in die Umzingelung gerissen hatte. Niemand außer ihr hatte gesehen, daß der große Mann beim Ansatz ihres Sprunges bereits die Peitschen gesenkt hatte und zur Seite gewichen war. Gegen die Gewalt der flüchtenden Herde waren die Männer machtlos. Brüllend und mit Drohgebärden versuchten sie den einen oder anderen zu greifen, vergeblich. Goldschweif bildete die Nachhut und sorgte dafür, daß niemand seitlich ausscherte oder zurückblieb. Nicht ein einziges Pferd blieb in den Händen der Fänger. Die Herde floh weit in die Wälder und ließ sich wochenlang auf dem Gebiet des Herzogs nicht mehr blikken. Aber die Wildlinge hatten nichts zu befürchten.
Mehr denn je waren ihre Verfolger davon überzeugt, daß sie es hier mit geheimnisvollen Mächten zu tun hatten und daß die silberne Stute über die Kraft verfüge, ihre Herde vor jedem Anschlag zu schützen.
In diesem Sommer geschah es, daß die Herde auf ihrer Wanderung an die große Straße der Menschen kam. Sie führte in gerader Linie durch dichten Hochwald, tief eingefahrene Rinnen kündeten von schwerbeladenen Kutschen und Kampfgerät wie Kanonen auf Rädern, von denen Bajula zuweilen erzählte. Es war heller Mittag, aber hier gingen sie im kühlen Schatten der Bäume wie unter einem smaragdgrünen Zeltdach dahin. Der Boden aus einem Teppich von altem Laub und dicken Moospolstern federte bei jedem Schritt, und sie bewegten sich fast lautlos vorwärts. Hin und wieder drang der verträumte Ruf einer Amsel, das verschlafene Gurren eines Ringeltäubers durch die Stille, oder eine Maus huschte durch knisterndes Laub. Alles schien sich der Mittagsruhe hinzugeben. Plötzlich zerrissen krachende Schläge den Frieden, gefolgt von hellem Splittern, Bersten und Rauschen und schließlich einem dumpfen Fall, der den Boden unter ihren Hufen erzittern ließ. Jilka hatte schon eine Zeitlang mißtrauisch zu der schnurgeraden Schneise hinübergewittert und der Herde befohlen, stillzustehen. Es waren drei oder vier Gestalten, die sich dort drüben mit Werkzeug in den Händen zu schaffen machten und jetzt geduckt
davonliefen. Jilka hatte Männer mit Äxten schon öfter gesehen. Sie wußte von Aljane und anderen, die bei den Menschen gelebt hatten, daß sie Bäume abschlugen, um sich im Winter Feuer machen und sich vor der Kälte schützen zu können. Aber warum ließen diese hier den Baum quer über die Straße stürzen? Keine Kutsche, kein schwerbeladener Wagen würde die überspringen können. Noch während sie ratlos zu dem ungewöhnlichen Bild hinüberstarrte, trat Bajula heran. Es sind Straßenräuber, sie sind auf Beute aus wie gefährliche Raubtiere. Wir brauchen sie nicht zu fürchten, sie haben anderes im Sinn, du wirst sehen. Ich habe solche erlebt, als ich noch dem Kriegsvolk dienen mußte und wir stets auf Wanderung waren. Sie stehlen wie die Elstern und stürzen sich auf ihre Opfer wie der Fuchs zwischen das ahnungslose Hühnervolk. Noch während Bajula sprach, näherte sich das Geräusch eines Wagens. Räder knirschten schwerfällig im Kies, Pferde schnaubten und schüttelten die Köpfe unwillig gegen die lästigen Fliegenschwärme, daß die Zuggeschirre klirrten. Das Dach der dunkelbraunen Kut sche war hoch mit Kisten und Säcken beladen, auf dem Bock saß ein rotgesichtiger Mann mit einem großen Hut und schwang eine Peitsche. Im Innern des Wagens saßen zwei Frauen. Jetzt! raunte Bajula. Die vorderen Kutschpferde bäumten sich erschrocken vor dem unerwarteten Hindernis auf. Im gleichen Augenblick stürmten die Straßenräuber aus ihrem Versteck, sie schwangen blitzende Waffen und brüllten
furchterregend. Einer befreite die vier Pferde aus ihrem Geschirr und führte sie zur Seite, die anderen zerrten die Insassen des Wagens ins Freie und rissen an ihren Kleidern. Die Frauen schrien auf, dann sank eine bewußtlos zu Boden. Der Kutscher hatte seinen Hut verloren und reckte zitternd die Arme in die Höhe. Die Straßenräuber wickelten ihn in seine Leine, daß er aussah wie eine verpuppte Raupe, dann begannen sie, sich die Kästen und Säcke aufzuladen. Sie haben ihre eigenen Pferde auf der anderen Seite hinter dem Felsvorsprung versteckt, siehst du? sagte die alte Bajula vergnügt, als habe sie schon lange nicht mehr so etwas Erfreuliches erlebt. Jilka ahnte, daß es etwas mit ihrer eigenen Flucht vor vielen Jahren zu tun haben müsse. Tatsächlich holte jetzt einer der Räuber zwei struppige kleine Pferde aus dem Versteck und belud sie mit den geraubten Schätzen. Eine gute Beute, bemerkte Bajula zufrieden. Dann sah sie Jilka fragend von der Seite an. Sie werden heute abend ein Freudenfeuer anzünden und von dem Wasser trinken, das sie verrückt im Kopf macht. Eine gute Gelegenheit, unsere Brüder aus ihrer Hand zu befreien, wenn wir herausfinden, wo sie ihr Versteck haben. Wollen wir ihnen folgen? Gut, folgt ihnen, wir bleiben mit der Herde hier, sagte Goldschweif an Jilkas Stelle. Aber haltet Abstand. Die alte Bajula schien um Jahre verjüngt zu sein. Ohne sich um Jilka zu kümmern, überquerte sie oberhalb des Baumstamms die Straße und tauchte im Dunkel eines Tannendickichts ein, das sich an dieser Stelle
bis zur Schneise vorschob. Jilka folgte wachsam. Die Straßenräuber hatten ihre Beute auf den Sätteln der Packpferde befestigt und schwangen sich auf die Rücken der Kutschpferde. Sie bogen auf einen versteckten Pfad ein, der so dicht überwachsen war, daß sie die Köpfe eng auf die Pferdehälse drücken mußten, um nicht von den Zweigen gepeitscht zu werden. Hinter ihnen schob sich das Grün wieder zu einer undurchsichtigen Mauer zusammen. Für Bajula und Jilka bildete das kein Hindernis, die Nasen weit vorgestreckt folgten sie in gebührendem Abstand dem Trupp. Bald lichtete sich das Dickicht, und die Reiter trieben ihre Pferde in einen leichten Galopp. Bajula und Jilka vergrößerten den Abstand, um nicht entdeckt zu werden, doch die Räuber schienen sich sicher zu fühlen, keiner von ihnen sah sich um. Sie waren lange unterwegs. Gerade als Jilka begann, unruhig zu werden, hielten die Reiter vor einer Gruppe mit Moos und Ranken bewachsener Felsen und sprangen ab. Von hier an führten sie die Pferde am Zügel. Als sie außer Sicht waren, wagte sich Bajula nahe bis an den Durchgang heran und betrat zögernd den schmalen Pfad, der sich geheimnisvoll im Dunkel verlor. Nicht einmal ein Fohlen hätte sich hier umdrehen können. In engen Kurven ging es zwischen steilen Felswänden hindurch, über denen sich Krüppelholz und Schlinggewächse zu einem dichten Dach verfilzt hatten. Der Ausgang war durch einen breiten Holunderstrauch versperrt. Schob man sich an ihm vorbei, stand man vor einer fast kreisrunden Lichtung, die mit seidigem Waldgras bewachsen war. Einen Teil dieser saftigen Wiese
hatten die Straßenräuber mit einem Zaun aus geflochtenen Weidenruten versehen, ein ausgehöhlter Stein diente als Tränke. Ein wenig abseits lag ihre Behausung, eine mit Grassoden gedeckte niedrige Hütte, halb unter Fichten und Lärchen verborgen. Bajula beobachtete, wie die Pferde abgesattelt und in die Umzäunung getrieben wurden, dann zog sie sich leise zurück. Sich den Weg einzuprägen fiel ihnen nicht schwer. Bei der Herde angekommen, berichteten sie, was sie beobachtet hatten. Einige von uns werden sie heute Nacht besuchen, beschloß Goldschweif. Vielleicht haben sie den Wunsch, sich unserer Herde anzuschließen. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit begab sich die Herde in die Nähe des Räuberlagers. Es war eine sternklare Nacht, und der abnehmende Mond gab ausreichend Licht für eine bequeme Wanderung. Vor dem versteckten Felsenpfad machten sie halt. Die Nacht war inzwischen weit vorgeschritten, und die Fohlen begannen, vor Müdigkeit über die eigenen Beine zu stolpern. Ruht euch jetzt aus, befahl Goldschweif. Fleck, Alja-ne und Haselbraune werden Wache halten. Ich gehe mit Jilka und Bajula, es wird nicht lange dauern. Sie betraten in großen Abständen den schmalen, gewundenen Pfad, um dem Vorausgehenden die schnelle Flucht zu ermöglichen. Bajula schob sich als erste an den weit ausladenden Zweigen des Holunderbusches vorbei, ihr folgten zuerst Goldschweif, dann Jilka. Die Pferde in ihrem Pferch aus Weidenruten hoben die Köpfe, aber noch verharrten die Besucher regungslos und
witterten zur Hütte der Straßenräuber hinüber. Schwaches Lallen und Brummen war zu hören, hin und wieder unterbrochen von einem Liedfetzen oder schnell verklingendem Gelächter. Wie ich vermutete, sagte Bajula. Sie haben sehr viel von dem Wasser getrunken, das verdreht im Kopf macht, sie werden ihre Beine kaum gebrauchen können. Kommt! Jilka und Goldschweif folgten der alten Stute zum Zaun. Jenseits des Weidengeflechts drängten sich die Pferde der Straßenräuber, sechs kräftige, zottige Braune, die in ihrer frühesten Jugend aus einer Herde von Wildlingen herausgefangen worden waren, und die vier prächtigen Rappen, die die Kutsche gezogen hatten. Sie ließen sich Zeit zur Begrüßung, da aus der Hütte nur mehr wändeerschütterndes Schnarchen tönte und Bajula nochmals versicherte, die Straßenräuber würden für Stunden in einem todesähnlichen Schlaf liegen. Dann brachte Goldschweif seine Einladung vor: die Freiheit im Schutz der Herde um den Preis, sich seine Nahrung selbst suchen zu müssen. Es wird ein leichtes sein, den Weidenzaun niederzutrampeln, wenn wir es gemeinsam tun, fügte er hinzu. Oder was schlagt ihr vor? Der Pferch ist von außen nur mit einem einfachen Pflock verschlossen, sagte Rollo, der älteste unter den Räuberpferden. Versucht ihn herauszuschlagen! Schulter an Schulter, nur getrennt durch die miteinander verflochtenen Ruten, trabten Goldschweif und Rollo zum Einlaß des Geheges. Goldschweif drehte dem wackligen Tor seine Kehrseite zu und keilte blitzschnell aus. Beim erstenmal traf er den Rahmen aus grob zuge-
hauenen jungen Baumstämmen, so daß das Holz splitterte. Doch der zweite Schlag saß, der Pflock sauste wie eine aufschießende Schwalbe in die Lüfte und verlor sich im Dunkeln. Die Pferde drängten heraus. Leise, mahnte Bajula, man weiß nie, ob nicht einer von ihnen plötzlich erwacht. Und geht dicht hintereinander, wie sich das in einer Herde gehört! Die Entflohenen bezähmten nur schwer ihre Ungeduld, diesen gefährlichen Ort so schnell wie möglich zu verlassen. Einer nach dem anderen folgte Jilka, die die Führung übernommen hatte. Als letzte verließen Bajula und Goldschweif den Platz. Die Herde stand schlafend beieinander, nur Fleck und Aljane blickten ihnen leise wiehernd entgegen. Aufwachen, wir müss en hier fort! befahl Goldschweif. Ausruhen müßt ihr euch später, sie dürfen uns hier nicht finden. Nehmt die Neuen in die Mitte, wir kehren zurück auf die andere Seite der großen Straße und wandern ins Moorland hinüber. So ein Unfug! brummte Orla. Solche Strapazen kann man den Kindern nicht zumuten! Und wofür? Für ein paar dahergelaufene Fremde. Dabei ist die Herde schon längst viel zu groß. Wie sollen wir alle im Winter satt werden? Aber niemand hörte auf sie und so trottete sie ärgerlich schnaubend an ihren Platz in der Reihe und lief in dem endlos langen Band aus Pferdeleibern den vertrauten Moorweiden zu.
Fleck war zu einem kräftigen und intelligenten jungen Hengst herangewachsen, der nach und nach alle Konkurrenz aus dem Felde geschlagen hatte. Alle - bis auf einen: Goldschweif. Mit ihm sich im Zweikampf zu messen, wäre Fleck nicht im Traum eingefallen: daß Goldschweif der Leithengst der Herde sein mußte und bleiben würde, war unumstritten. Trotzdem war Fleck nicht glücklich in seiner Rolle als jüngerer Bruder. Was die Gunst der Stuten anging, so gab es einige, die allein ihm zugetan waren und sich dem Leithengst nur fügten, weil es so Gesetz war. Flecks Favoritin war Shunya, und sie war es auch, die ihn immer wieder drängte, von der Herde Abschied zu nehmen und eine eigene Familie zu gründen. Eines Tages sprach sie mit Jilka darüber. Ich habe lange darauf gewartet, daß ihr euch zu diesem Schritt entschließt, sagte Jilka und legte der jüngeren Schwester leicht den Kopf auf den Widerrist. Shunya tat das gleiche, und so standen sie wie in einer zärtlichen Umarmung. Ich werde dich vermissen, aber es ist gut, wenn ihr geht. Fleck steht Goldschweif an Mut und Kraft in nichts nach, vor allem ist er besonnen und weiß sein Temperament zu zügeln. Und du bist zur Leitstute geboren, das habe ich dir schon oft gesagt. Orla hat recht, unsere Herde ist zu groß geworden, und es ist schwierig, sie bei Gefahr zusammenzuhalten. Wohin wollt ihr gehen? In das Land jenseits der Räuberhütte. Dort soll es weite, von Menschen wenig bewohnte Gebiete geben. Rollo sagte es uns, er will sich uns anschließen. Auch die drei anderen. Und ein paar junge Stuten und Hengste
aus der Herde, denen es hier zu eng wird. Du wirst nächstes Jahr ein Fohlen haben, nicht wahr? Ja. Fleck ist sein Vater. Ich hätte es gerne gesehen. Ich fühle, es wird ein Sohn werden. Eines Tages werden wir uns wieder begegnen. Vielleicht werden wir beide dann schon viele Söhne und viele Töchter haben. Felidia drängte sich an die Mutter heran, um zu trinken. Shunya löste sich von Jilka. Du hast mich alles gelehrt, was du weißt, nun wird deine Tochter dir Fragen über Fragen stellen. Das hat sie vom ersten Augenblick an getan, darin gleicht sie mir, erwiderte Jilka. Und sie begreift schnell. Die Unsichtbaren haben sie mit dem Blick gesegnet, der hinter die Dinge sieht, so wie sie dich und mich ausgewählt haben, die Wahrheit zu erkennen und weiterzugeben. Und vor uns Aljane, unsere Mutter. Und vor ihr die alte Nona. Und so immer weiter zurück bis zu der Zeit, als das Hier und das Dort noch DAS EINE waren. Shunya sah eine Weile schweigend dem Fohlen zu, das traumverloren mit halbgeschlossenen Augen saugte. Wie werdet ihr mir alle fehlen, sagte sie leise. In den langen Winternächten, wenn der Schnee uns von allem Leben zu trennen scheint und der Sturm in den Bäumen singt. Fleck ist bei dir. Und ich bin es auch. Ein Rufen von dir, nur ein leiser Wunsch, und ich bin an deiner Seite. Du weißt doch, daß unser wahres Ich in Gedan-
kenschnelle von einem Ort zum anderen wechseln kann und daß nichts uns wirklich trennt. Du kennst die Gesetze. Du hast recht. Ich werde es nicht vergessen. Und in den langen, kalten Nächten werden wir beieinander sein und miteinander sprechen, wie weit unsere Körper auch voneinander entfernt sind. So wird es sein. Goldschweif und Fleck kamen herüber, und Jilka sah, daß alles besprochen war. Wann werdet ihr gehen? Morgen früh, antwortete Fleck. Kurz vor Sonnenaufgang machen wir uns auf den Weg. Viel Glück, kleiner Bruder. Du wirst bald eine stolze Herde haben, dessen bin ich gewiß, sagte Goldschweif. Mögen die Unsichtbaren mit euch sein, wo immer ihr hingeht. Der Leithengst wandte sich um und begann, die Herde zusammenzutreiben, um sie zur abendlichen Tränke zu führen. Die Sonne tauchte eben unter den Horizont, nur ein heller Streifen klaffte noch zwischen der gezackten Linie des buschigen Gehölzes und der dunkelvioletten Wolkenbank, die sich über den Himmel schob. Sacht schloß sich der Spalt, und die Dämmerung legte ihren schützenden Mantel über die Herde. Shunya und Fleck fügten sich in die Reihe der Wildlinge, wie jeden Tag. Alles war gesagt. Morgen würden andere an ihren Platz aufrücken.
Es war ein glücklicher Sommer, und er blieb lange. Fast unmerklich ging er in den Herbst über, und ebenso leise kam der Winter. Eine dünne Schneedecke überzog das Land, Schicht um Schicht baute sich darüber milchiger Nebel auf. Die Welt veränderte ihr Gesicht. Wie fremdartige Tiere ragten strähnige, fahlgelbe Grasbüschel aus dem wabernden Nebelmeer auf, vertrocknete Schafgarbenstengel reckten ihre riesigen Fühler zwischen moosüberwachsenen Baumstümpfen empor. Als letzte Boten des Sommers leuchteten die rotvioletten Blätter der Brombeerranken aus dem Grau. Noch gab es für die Herde reichlich Nahrung. Die vom Frost gehärtete Schneedecke ließ sich leicht mit den Hufen zur Seite kratzen, und an den Sträuchern gab es hier und dort verschrumpelte Beeren. Bucheckern lagen in Fülle am Boden, wenn sie das fleckige, ein wenig bitter riechende Herbstlaub zur Seite schoben. Die Wildlinge standen gut im Futter. Nur die alte Orla war in den letzten Monaten stark abgemagert. Ihre Zähne waren stumpf geworden, sie hörte nicht mehr gut, und die Augen begannen, sich mit einem grauen Schleier zu überziehen. Das auffallendste aber war ihr seltsames Verhalten. Offensichtlich gerieten ihr Wirklichkeit und Traum ständig durcheinander. Erinnerungen stiegen auf und wurden lebendiger, als es die sichtbare Umgebung war. Wenn die anderen unermüdlich mit den Hufen den Schnee zur Seite scharrten und beharrlich fraßen, hielt sie mitten im Kauen inne und starrte mit gesenktem Kopf vor sich hin. Zuweilen ermunterte Jilka sie, sich Kraft für die entbehrungsreiche Zeit anzufressen, die
nun bald anbrechen würde, zeigte ihr auch Stellen, an denen das Gras besonders üppig aus der weißen Decke ragte. Dann brummte Orla ärgerlich, das könne sie selbst sehen, sie hätte es längst entdeckt und sich nur ein wenig ausruhen wollen. Sie rupfte auch wohl ein paar Büschel aus, aber gleich darauf hatte sie ihr Vorhaben wieder vergessen. Sie wird die Wiederkehr der Sonne wohl nicht mehr erleben, sagten die anderen. Arme Orla. Sie hatte kein leichtes Leben. Und immer noch ist sie stolz, will sich keine Schwäche anmerken lassen. Eines Tages wird sie sich leise davonmachen, um versteckt im Dickicht ihre letzte Reise anzutreten. Sie konnten nicht ahnen, daß Orla ein Abgang beschieden sein würde, der ihrem eigenwilligen Leben entsprach. Es geschah in der Zeit, in der die Sonne schon ein wenig höher über den Horizont stieg, auch wenn sie nicht die Kraft hatte, zu wärmen. Die Wildlinge hielten sich am Rand eines Dickichts auf, denn ein kalter Wind fegte über die kahlen Felder. Hier nagten sie die Rinde vom Jungholz, knabberten Sträucher, Moose und Flechten. Die Sonne warf einen letzten Schwall rötlicher Strahlen über die Ebene wie eine heranschwappende Woge flüssigen Goldes, eine Weile noch loderte der Himmel in allen Farben des Feuers, wurde zur dunklen Glut, dann verlosch sie zu graublauer Asche. Goldschweif begann gerade, die Herde zum Aufbruch zu treiben, da sprangen sie seitlich aus dem Gehölz heraus: ein Rudel Wölfe, nicht groß, aber alte, erfahrene Tiere. Sie mußten sich dem Wind entgegen langsam her-
angeschlichen haben, bäuchlings, mit großer Vorsicht, kein Zweig hatte geknackt, kein Keuchen, kein Hecheln war zu hören gewesen. Graufell, den Sohn Fennas, hat ten sie sich als Beute ausgewählt, denn er hatte ein wenig abseits gedankenverloren an dem borkigen, flechtenbewachsenen Stamm eines toten Baumes genagt. Einen Atemzug lang stand die Herde wie erstarrt. Doch noch ehe sie recht begriffen hatte, welche Gefahr dort nahte, löste sich Orla aus ihrer Mitte und stürzte auf die Wölfe zu. Ihr schrilles Wiehern verriet Zorn und Empörung, die alte Stute schien auf einmal von einer ungeahnten Kraft beflügelt zu sein. Rührt meinen Sohn nicht an, ihr Ungeheuer, wagt es nicht, mein Kind zu verletzen! schrie sie und begann das Rudel anzugreifen. Lauf! Lauf schnell zur Herde, mein Kleiner, gab sie dem Fohlen zu verstehen, während sie nach allen Seiten schlug und auskeilte. Das Rudel wandte sich nun ihr allein zu. Mit heiserem Bellen und wütendem Knurren umringten sie die alte Stute und versuchten sie zu packen. Orla sah weder die geifernd entblößten Gebisse, noch nahm sie den Lärm wahr, sie empfand keine Furcht, war nur von einem erfüllt: ihren Sohn zu retten. Da tauchte er ein in die schützende Herde, die jetzt wild davongaloppierte, gedeckt von Goldschweif, den Junghengsten und Jilka, die abwechselnd Stuten und Fohlen zur Eile antrieb und dann wieder fassungslos zu Orla und dem Rudel hinüberstarrte. War es möglich, ihr noch zu helfen? Jilka spürte, daß sich hier ein Schicksal nach Gesetzen vollzog, die unabänderlich waren - und wohl auch weise. Denn hätte man Orla einen besseren Tod wünschen können als die-
sen Tod im Kampf? Die greise Stute blutete aus mehreren Wunden, aber sie empfand kaum Schmerz. Immer noch kämpfte sie, schrie und schlug mit den Vorderhufen, drehte sich im Kreis und keilte besinnungslos vor Wut in alle Richtungen. Noch einmal stellte sie sich hoch auf die Hinterbeine, da machte das Leittier des Rudels einen gewaltigen Satz und packte sie an der Kehle. Orla brach in die Knie. Die Umgebung begann sich in rasender Geschwindigkeit um sie zu drehen, etwas Nasses rann ihr über die Brust hinunter, dann sank sie wie in endlose Tiefe, alles wurde dunkel und sehr still. Komm, sagte Goldschweif zu Jilka. Sie hat es geschafft. Jetzt kann sie ausruhen. Wenigstens im Sterben hat sie bekommen, was sie sich am meisten wünschte - einen Sohn. Sie hat ihm das Leben geschenkt.
Im Frühjahr brachte Jilka ein Stutfohlen zur Welt. Sein Fell war rötlich, aber es zeigte die Anzeichen des zukünftigen Schimmels. Alles an ihm glich einem Araberfohlen, und wie Felidia bewies es vom ersten Augenblick an ungewöhnliches Temperament. Katjana nannten sie die kleine Stute. Jilka versorgte ihre jüngste Tochter mit großer Zärt lichkeit. Wenn sie ihr das struppige Fell glättete, meinte sie oft, Orlas Stimme zu hören. Ein Fuchsschimmel! hätte Orla verächtlich gesagt, so etwas hat es bei uns noch
nie gegeben! Aber insgeheim hätte sie mit so großer argwöhnischer Sorgfalt über das Pferdekind gewacht, als wäre es ihr eigenes gewesen. Für die Wildpferde aus dem Merfelder Bruch wurde es ein ruhiger Sommer. Der Herzog hielt sich fern seiner Ländereien auf, und seine Fänger gaben sich keine allzu große Mühe, den Bestand an jungen Pferden zu vergrößern. Sie schienen von einer lähmenden Mutlosigkeit befallen, da es der silbernen Stute stets gelang, die Herde vor ihren Angriffen zu schützen. So lebten die Wildlinge fast unbehelligt, bis auf ein paar Zusammenstöße mit zornigen Bauern, auf deren Felder sie vorgedrungen waren. Als im Herbst die Jagden begannen, wichen sie in das unwegsame Moorgebiet aus, das von den Jagdgä sten des Herzogs wegen seiner Gefährlichkeit gemieden wurde. Aber auch jetzt wurden sie kaum in ihrer Ruhe gestört, und die Alten raunten, so viel Frieden sei bedenklich, und bestimmt stünden besonders unruhige Zeiten bevor. Selbst der Winter ging sanft mit ihnen um. Er plagte sie zwar mit durchdringender Nässe, aber es schneite selten, und sie fanden Äsung genug und mußten nicht hungern. Erst als der Frühling bereits vor der Tür stand, erstickte das Land in Bergen nassen Schnees. Doch bald brach die Sonne durch die Wolken, und der Spuk war vorüber. In diesen Tagen geschah es, daß der Herzog von seinen Reisen zurückkehrte, als die Herde sich nahe bei der großen Straße im Hochwald aufhielt. Da die Wildlinge schon längere Zeit keiner Verfolgung seiner Fänger mehr ausgesetzt gewesen waren, zogen sie sich nur ein
wenig tiefer zwischen die schlanken Stämme zurück, ohne ihre Mahlzeit zu unterbrechen. Jilka umkreiste ihre Familie mit hocherhobenem Kopf und sah zu dem Vierergespann hinüber, das jetzt angehalten wurde. Die Tür des Wagens wurde aufgestoßen und der Herzog sprang heraus. Wie gebannt starrte er sie an. Jilka blieb stehen, bereit, jeden Augenblick das Signal zur Flucht zu geben, doch ihr Feind rührte sich nicht von der Stelle; er ging nicht auf sie zu und kehrte auch nicht in den Wagen zurück. Nach sehr langer Zeit bewegten sich seine Lippen, leise sprach er zu sich; und wenn Jilka die Worte auch nicht verstand, empfing ihr wacher Geist die beunruhigende Botschaft: In diesem Jahr werde ich dich bekommen, und du wirst mir noch ein Dutzend herrlicher Fohlen gebären, das schwöre ich! Ein plötzlicher Windstoß fuhr durch die Baumkronen, wie eine galoppierende Herde trieben bleigraue Wolken über den Himmel. Jilka erschauerte. Der Herzog warf das wehende Ende seines weiten Mantels über die Schulter und drehte sich abrupt um. Heftig zog er die Tür hinter sich zu, und das Gespann setzte sich in Bewegung. Da Jilka ruhig blieb, hatte die Herde kaum bemerkt, was geschehen war. Und niemand ahnte, was die silberne Stute von diesem Augenblick an wußte: daß die Zeit des Friedens vorüber war.
Wenige Wochen später brachte Jilka ihren Sohn zur Welt. Es war eine stürmische, warme Nacht, sie roch bit-
ter nach vermodertem Laub und süß nach ersten Blüten. Der brausende Wind hoch über ihr in den Bäumen sang Jilka ein Lied. Es klang, als hätten sich die Unsichtbaren im Kreis um sie versammelt und mischten ihre Stimmen geheimnisvoll in den Gesang der Natur. Auch nach Sonnenaufgang ließ der Sturm nicht nach, als die Herde Goldschweifs jüngsten Sohn begrüßte. Sein goldfarbenes Fell glich dem des Vaters, doch er trug den Kopf eines edlen Araberhengstes. So beschlossen sie, ihn Wüstensturm zu nennen. Hing Jilka auch mit zärtlicher Liebe an ihren Töchtern, dieser Sohn, der in ihren Augen ein Abbild des Vaters war, ein würdiger Kronprinz, geeignet, eines Tages Leithengst zu werden, erfüllte sie mit einem nie gekannten Gefühl des Glücks. Es war ihr, als sei die Geburt dieses Hengstfohlens ein Beweis, den sie der Herde hatte erbringen müssen, daß sie nicht nur Favoritin ihres Hüters war, sondern auch die Fähigkeit besaß, ihm einen Nachfolger zu schenken. Wüstensturm war ein kräftiges Fohlen, und bald ließ er erkennen, daß er seinen Namen zu Recht trug, denn er war der schnellste unter seinen Altersgenossen. Zu Kämpfen war er selten aufgelegt, er besaß ein friedliches, ruhiges Gemüt und eine Verträumtheit, die kaum zu seinem imponierenden Äußeren zu passen schien. Trotzdem wirkte seine sanfte Art auf die anderen Pferdekinder nicht aufreizend, er wurde nur selten angegriffen, sondern eher mit einer unbestimmten Scheu gemieden, als gehöre er nicht wirklich hierher, ein verwunschener Prinz, ein Gast aus einer anderen Welt. Jilka sah es mit Unruhe.
Sie war es auch, die als erste spürte, wie die Welt um sie herum sich langsam zu wandeln begann. Es lag etwas wie ein Fieber in der Luft, die Farben des Frühlings schienen greller als sonst, die Stimmen der Vögel erregter. Immer öfter tauchten auf den Wegen der Menschen kleine Gruppen oder ganze Züge auf, bepackt mit Lasten, die sie teils auf dem Rücken trugen, teils in zwei-rädrigen Karren hinter sich herzogen. Einige suchten sich Behausungen im Wald, Felshöhlen oder verlassene Hütten, oder sie bauten sich einen Unterschlupf aus Ästen, Rinde und Moos. Um die Wildlinge kümmerten sie sich nicht weiter, aber sie jagten mit Fallen und Net zen und suchten sich ihre Nahrung auf den Weideplätzen der Herde. Dann wieder schwärmten die Soldaten des Herzogs durch das Land und vertrieben alle, die in der Wildnis Schutz gesucht hatten. Doch die kehrten zurück, drangen tiefer in den Wald ein, versteckten ihre einfachen Unterkünfte geschickter. Ruhelosigkeit breitete sich aus wie ein schleichender, unsichtbarer Nebel; die Herde blieb in Bewegung, wie sie es sonst nur in der Zeit des Winters tat. Der Herzog selbst war täglich auf seinem Rapphengst unterwegs; er trieb ihn in scharfem Galopp über die Felder, streifte durchs Moor und über das Brachland, tauchte unvermut et hinter den Hügeln auf oder trabte auf schmalen Waldwegen dahin. Eine seltsame Erregung ging von ihm aus, Jilka spürte die Gefahr, doch es geschah nichts. Kein Fänger lauerte im dichten Blätterdach über ihnen, keine Stricke oder Netze waren im Dickicht verborgen. Dennoch war es, als beobachtete sie der Wald mit tausend lauernden Augen, lägen riesige
Raubtiere sprungbereit im wogenden Gras. Zunächst schien mit der sommerlichen Hitze die Ruhe zurückzukehren. Auf den Feldern reifte die Ernte, es gab Arbeit genug für die Ansässigen wie für die Geflüchteten. Den Wildlingen wuchs das Futter reichlich, wo immer sie sich aufhielten, und die Fohlen entwickelten sich schneller und kräftiger als in anderen Jahren. Goldschweif umwarb Jilka mit großer Zärtlichkeit. Die Stute war zu einer Schönheit erblüht, die sie wie mit einer geheimnisvollen Aura umgab, und der Hengst verbrachte seine Zeit fast nur noch mit ihr und vernachlässigte das Volk seiner Stuten. Sie blieben den Jüngeren überlassen. Es wurde ein sorgloser Sommer für die Herde, auch wenn sie darauf achten mußte, sonst beliebte Weideflä chen zu meiden, weil sich dort nun die versteckten Behausungen der Flüchtlinge befanden. Es war besser, ihnen aus dem Wege zu gehen, selbst wenn sie nur Hirschen, Rehen und Hasen nachstellten, um sie in ihre Schlingen oder Fallgruben zu treiben, oder Vögel in ihren Netzen fingen. Der Herzog schien es aufgegeben zu haben, die Eindringlinge vertreiben zu lassen. Manche waren inzwischen in seine Dienste getreten, man sah sie vor Morgengrauen schweigend dem Hof zuwandern und am Abend müde in ihre Hütten zurückkehren. Sie waren es auch, die damit begannen, um ihre Behausungen herum Bäume zu schlagen und kleine Gärten anzulegen. Die anderen, die sich ihre Nahrung durch die Jagd verschafften, zogen tiefer in den Wald, um sich ihren Unterschlupf im undurchdringlichen Dickicht zu suchen, außerhalb des
Gebiets, in dem die Untergebenen des Herzogs umherstreiften. Allmählich gewöhnte sich die Herde an die Fremdlinge, die an den Wildpferden kein Interesse zeigten. Beeren und Waldfrüchte gab es reichlich, es war für alle genug, und keiner machte dem anderen etwas streitig. Selbst Jilka verlor nach und nach ihre Unruhe und begann, dem Frieden zu vertrauen. Einem trügerischen Frieden. Doch die Hitze machte die Herde der Wildpferde so träge wie die übrige Welt, spann sie ein in einen Traum von Überfluß und Glück, in dem kein Platz war für Kälte und Hunger, Gefahr und Verfolgung.
Das Unheil brach über sie herein, als sie es am wenigsten erwarteten. Stille Wochen lagen hinter ihnen, Wochen tiefer Zufriedenheit. Wüstensturm nährte sich längst von Gräsern, Kräutern und süßen Beeren und kehrte nur selten zu Jilka zurück, um ein wenig Milch zu saugen. Es war, als fände er es unter der Würde eines jungen Kronprinzen, allzulange in der Obhut der Mutter zu bleiben, und Jilka ließ es geschehen. Sie freute sich an der Sicherheit seiner Sprünge, an der Harmonie und Gelöstheit seiner Bewegungen und an seiner Neugier, mit der er von ihr wegstrebte, um sich die Welt zu erobern. Mehr und mehr glich er seinem Vater, dessen Freiheitsdrang ihn schon in früher Jugend immer wieder von der Herde fortgetrieben hatte, und sie hörte nicht auf, ihren Sohn vor den Fangstricken der Menschen zu warnen.
An diesem Morgen war das Gras schwer von Regentropfen, als sie sich erhoben und zu den Moorseen hinüberwanderten, um zu trinken. In der Nacht hatte es ein Gewitter gegeben, nicht schwer. Wie die Hand eines Sämanns, der sein Korn ausstreut, war eine Wolkenwand über den Himmel gezogen, hatte Regentropfen herniederprasseln lassen und war gleich darauf weitergezogen. Die Luft prickelte vor Frische, sie machte die Lungen weit und frei, den Blick klarer. Die stickige Schwüle der vergangenen Tage schien für immer vertrieben zu sein. Übermut machte sich in der Herde breit, sie drängten zur Tränke, brachen ungeduldig aus dem Wechsel aus, überholten sich spielerisch, schnaubend und prustend vor Lebensfreude. Jilka folgte Goldschweif, dem Leithengst. An ihrer Seite sprang ungeduldig das Fohlen, hüpfte auf der Stelle, stupste sie an, blieb ein wenig zurück, um gleich darauf mit ein paar wilden Bocksprüngen wieder neben ihr aufzutauchen. Jilka konnte es ihm nicht verdenken, sie sehnte sich nach einem raumgreifenden Galopp über eine endlose Ebene. Deshalb hielt sie ihn auch nicht zurück, als er unvermutet an Goldschweif vorbeipreschte und vor der Herde herrannte. Sie hatten den See fast erreicht. Der Leithengst wieherte ärgerlich, um den Ausreißer zur Ordnung zu rufen, aber besonders ernst schien auch er es nicht zu meinen. Da geschah das Unfaßbare. Mit einem erschreckten Aufschrei verschwand das Fohlen in der Tiefe. Blätter rauschten, Zweige brachen knackend ein. Wüstensturm war in eine der Fallgruben geraten, dumpf drang sein angstvolles Wiehern aus der Tiefe.
Goldschweif stand wie erstarrt. Einen Atemzug lang nur, dann wendete er auf der Hinterhand und schrie ein aufgebrachtes „Zurück!" über die Köpfe der Herde. Die ersten waren bereits auf der Flucht, entsetzt stoben sie davon. Wie ein Unwetter brachen sie in breiter Front durch das Dickicht, ungeachtet der peitschenden Zweige und der Dornen, die schmerzhaft die Haut ritzten. Wenige Augenblicke später war nicht eines der braunen und gelben Felle mehr zwischen Gesträuch und Bäumen zu sehen. Nur die silberne Stute umkreiste mit verzweifeltem, leisem Wiehern die Grube, Jilka wollte nicht von der Seite ihres Sohnes weichen. Zweimal kehrte Goldschweif um und versuchte sie von der Unglücksstelle fortzutreiben; er wurde schließlich grob und traktierte sie mit leichten Bissen. Doch es nützte nichts. Du mußt ihn verlassen, er ist verloren! Komm! Ich bleibe. Sie werden dich gefangennehmen! Du kannst ihm nicht helfen! Jilka antwortete nicht. Dann bleib. Ich muß euch verlassen, das weißt du. Die Herde braucht mich. Ich weiß. Geh nur. Goldschweif machte ein paar zögernde Schritte, immer wieder sah er sich um. Dann trabte er zügig davon, den ängstlich im Versteck ausharrenden Wildlingen entgegen. Jilka neigte tief den Kopf und versuchte, im Dunkel der Grube etwas zu erkennen. Tastend und schnobernd gelang es ihr, fast bis nahe an die Ohren des Fohlens heranzukommen.
Bleib ruhig, mein Kleiner. Bist du verletzt? Ich weiß es nicht, ich bin eingeklemmt. Es tut weh, aber ich kann meine Füße bewegen. Versuch, dich aufzurichten! Es geht nicht, es ist zu eng. Wieder umkreiste Jilka die Fallgrube, aufgeregt wiehernd. Dann begann sie, mit den Vorderhufen den Boden am Rand zu bearbeiten und Erde beiseite zu schieben. Sie war so vertieft in diese Arbeit, daß sie das Herannahen der Reiter überhörte. Erst als deren Stimmen ganz nahe waren, horchte sie auf. Und wenn sie auch die Worte nicht verstand, so erfaßte sie doch den Sinn dessen, was da einer dem anderen zurief. Es ist die silberne Stute, Michael! Allein? Da muß etwas geschehen sein. Hier, halt die Zügel, ich will nachsehen! Jilka galoppierte davon, gerade so weit, daß sie aus sicherer Entfernung beobachten konnte, was vor sich ging. Sie kannte den Reiter, der nun aus dem Sattel sprang und mit großen Schritten zur Falle hinüberlief. Sie kannte die lodernden, hellen Haare, die sich um seinen Kopf und bis um die Lippen zogen, und vor allem die hellblauen Augen. Jetzt beugte er sich nieder und starrte in die tiefe Grube hinunter. Dann stieß er einen Wutschrei aus. Diese gottverdammten Diebe! Das Fohlen der Silbernen hat sich in der Fallgrube gefangen! Dafür werden sie uns büßen! Kommt, helft mir, schnell! Aber macht keinen Lärm, damit es sich nicht fürchtet. Hoffentlich hat es sich nichts gebrochen. Das schönste Fohlen der Herde in diesem Sommer!
Nun sprangen auch die übrigen Reiter aus den Sätteln und banden ihre Pferde an die umstehenden Bäume. Mit allerlei Geräten und mit bloßen Händen schaufelten sie um die Wette einen schmalen Gang in die Tiefe, auf dem sie das Fohlen schließlich behutsam nach oben führten. Der, den sie Michael riefen, nahm Wüstensturm sanft am Kopf und hielt den von Schmerzen und Angst erschöpften kleinen Hengst, bis einer ein Halfter brachte, das er ihm vorsichtig umlegte. Wüstensturm lahmte stark, aber er trat trotzdem auf. Keines seiner Beine war gebrochen, wenn er auch aus mehreren Wunden an Hals und Flanken heftig blutete, dort, wo ihn splitternde Äste verletzt hatten. Reitet zurück und laßt einen Wagen bringen! rief der blonde Mann. Der weite Weg ist zuviel für den Kleinen. Ich bleibe solange hier. Und wenn die Wilddiebe kommen? Am hellichten Tage? Sie sollen's nur wagen! Ich werde mich schon zu wehren wissen, wenn mir einer zu nahe kommt! Beeilt euch. Die Reiter banden hastig ihre Pferde los und sprangen in die Sättel. Einer wandte sich um. Wie war's, wenn wir dem Herzog auch gleich die Stute brächten? rief er lachend. Jetzt wird es ein leichtes sein, sie zu fangen, und für jeden von uns gäbe es eine gute Belohnung! Michael antwortete nicht, er sprach leise zu dem Fohlen und strich ihm über den Kopf. Jilka beobachtete, wie er aus einem Behälter, den er an seinem Sattel befestigt trug, Wasser nahm. Er goß es auf ein Sacktuch und begann, behutsam Wüstensturms Wunden auszuwaschen.
Das Hengstfohlen hielt zitternd still, dabei spitzte es die Ohren und rief leise in Jilkas Richtung hinüber. Die Stute schwieg, um sich nicht zu verraten, und Wü stensturm begriff, daß sie nicht anders handeln konnte, wenn sie sich nicht in Gefahr begeben wollte. Doch Michael verstand sich auch auf die stumme Zwiesprache der Pferde. Ich weiß, daß du da bist, Silberne. Fürchte dich nicht, ich werde deinen Sohn behüten wie meinen Augapfel. Wie ein Juwel werden wir ihn halten in unserem Stall, und dich dazu, wenn du mir nur folgen wolltest! Jilka verharrte regungslos in ihrem Versteck, bis die Reiter zurückkehrten. Einer von ihnen saß nun auf einem Kastenwagen, der mit Stroh ausgelegt war. Wüstensturm wehrte sich heftig, als sie zu viert zupackten und ihn auf den Wagen hoben, aber er war zu geschwächt, um sich befreien zu können. Das Gefährt fuhr davon, und die Reiter schlössen sich ihm an. Was ist nun mit der Stute? rief der auf dem Wagen. Vielleicht wird sie uns folgen, gab Michael zur Antwort, wenn ihr sie in Ruhe laßt und sie nicht vertreibt. Du kennst dich am besten aus, du wirst es wissen. Am Ende frißt sie dir noch aus der Hand! sagte lachend der andere. Jilka spürte die Spannung und Unruhe der Männer auf ihren Pferden, die darauf lauerten, daß die Stute ihrem Fohlen nachlaufen würde. Deshalb wartete sie lange, ehe sie ihr Versteck verließ. Sie brauchte ohnehin nur den Furchen nachzugehen, die die Räder des Wagens in dem regenfeuchten Boden hinterlassen hatten, um Wü stensturms Spur nicht zu verlieren. Und auch wo seine
Fahrt enden würde, wußte sie, denn es gab ein Stück Buchenwald, das sich wie eine schmale Zunge ins Land vorstreckte und an seiner äußersten Spitze in einen Hügel auslief. Gleich unterhalb dieses Hügels lag ein künstlicher Graben, der die äußere Begrenzung der Herzoglichen Gärten und Stallungen bildete. Geschützt von dichtgewachsenem Jungholz konnte sie dort beobachten, wie Wüstensturm im Stall des Herzogs Einzug hielt. In den folgenden Tagen hielt sich Jilka ständig in der Nähe der Stallungen auf, in der Hoffnung, man würde ihren Sohn auf eine der weiten Weideflächen bringen, die an die Gärten des Schlosses grenzten und auf denen sich die edelsten der Reit- und Wagenpferde des Herzogs tummeln durften. Während sie ruhelos durch den Wald streifte, gepeinigt von der schmerzhaften Sehnsucht nach den saugenden Lippen ihres kleinen Sohnes, dem Duft seines Felles, wenn er sich an sie drängte, rief sie die Unsichtbaren voller Zorn und Verzweiflung. Warum habt ihr mich nicht gewarnt, warum habt ihr mich im Stich gelassen, gerade dieses eine Mal? Sie ließen sich nicht blicken, doch ihr war, als höre sie tief in ihrem Inneren eine Stimme: Du weißt es, Jilka. Es war ihm bestimmt. Du kannst sein Schicksal nicht ändern. Hab Vertrauen. Nachts wagte sie sich dicht an die Ställe heran und sprach mit dem Hengstfohlen durch eines der vergitterten Fenster. Hab Geduld, kleiner Sohn, eines Tages werden sie dich ins Freie lassen, und dann wirst du ihnen entkommen. Sei jetzt klug und folgsam, damit sie nicht mißtrauisch werden, aber übe das Laufen und Springen. Du wirst die Kraft deiner Lungen brauchen und länger und
schneller dahinfliegen müssen als ihre Pferde, wenn sie dich verfolgen. Ich werde da sein und dir helfen, wenn es soweit ist. Wüstensturm versprach, alles zu befolgen, was sie sagte. Aber eines Tages fügte er hinzu: Lauf zurück zur Herde, Mutter. Wenn die Sonne aufgeht, wollen sie ausziehen, um dich zu fangen! Du bist in Gefahr! Ich weiß es. Der Herzog sah mich gestern hier oben im Wald. Ich werde mich gut verbergen. Lauf zurück zur Herde, Mutter! flehte Wüstensturm noch einmal. Ich will nicht, daß du gefangen leben mußt wie ich! Sei unbesorgt, das wird nie geschehen. Versprich mir, daß du an alles denken wirst, was ich dich gelehrt habe. Ich verspreche es dir. Leb wohl, kleiner Sohn. Ich werde bei dir sein, wann immer du mich rufst. Jilka trabte durch das Dunkel davon. Sie trat so leise auf, als husche eine Katze über das Feld, auf dem Heimweg nach erfolgreicher Jagd. Mit gellendem Ruf begleitete ein Käuzchen ihren Weg und ließ sich mit knatterndem Flügelschlag über ihr in einer Eiche nieder. Am Wegrand schnürte der Fuchs vorbei, im Fang eine fette Taube. Geschützt vom hohen Gras schmatzte und schnaufte eine Igelfamilie dicht neben Jilkas Hufen. Die silberne Stute zog sich ins Dickicht zurück, um ein wenig auszuruhen. Bald darauf, noch bevor der Himmel im Osten heller wurde, machte sie sich auf den Weg, die Herde zu suchen.
Als Jilka gegen Sonnenaufgang das Brachland hinter dem Jungwald überquerte, um zu den Moorseen zu gelangen, hörte sie sie kommen. Es mußten viele sein, und sie führten Hunde mit sich. Die Stute verharrte und hob witternd den Kopf. Dann kehrte sie um und zog sich in den Sichtschutz der Bäume zurück. Sie würde einen Umweg durch das Dickicht machen. Behutsam setzte sie die Hufe, Moospolster und feuchtes Gras verschluckten jeden Laut. Der Wind stand günstig, er kam von der Abendseite und trieb ihre Witterung von den Hunden fort. Doch dann waren sie plötzlich vor ihr. Die von hinten rückten näher, zugleich etliche von der Seite. Es blieb ihr nur das freie Stück Brachland, um auszuweichen. Die Stute warf sich herum und galoppierte davon. Die Verfolger blieben ihr in einem weiten Halbkreis auf der Spur. Unendlich groß war ihre Zahl, und sie schienen von allen Seiten heranzudrängen. Jilka erhöhte das Tempo, sie hatte keine Wahl. Sie mußte die Kette durchbrechen, wo immer sich ihr die Fänger entgegenstellten. Sie war jetzt ganz ruhig. Gleichmäßig trommelten die Hufe den Boden, federten leichtfüßig ab und glichen weich jede Unebenheit aus. Die tiefgeröteten Nüstern weiteten sich unter den heftigen Atemstößen, aber sie fühlte sich frei von Angst, in einem Zustand geschärfter Wahrnehmung, überwach. Fast war es wie ein Wettkampf, ausgetragen zwischen ihr und jenem ihrer Verfolger, der weit hinten seine Scharen antrieb oder zurückhielt, wie es die Situation erforderte, von dem einen Ziel getrieben: sie zu besitzen.
Nach einer Weile wurde es Jilka bewußt, daß sie nicht versuchten, sie einzuholen und zu umkreisen, um sie in ihren Stricken fangen zu können. Sie bildeten weiterhin ein offenes Rund und trieben sie vorwärts, um sie allmählich zu ermüden. Der Herzog hatte seine besten Pferde und Reiter aufgeboten, und wer erschöpft zurückblieb, wurde durch einen anderen ersetzt. Die Hunde wurden dicht bei den Reitern gehalten und sollten offensichtlich nur die Kette verstärken, wenn die Stute versuchte, seitlich durchzubrechen. Sie hatten jetzt die Moorweiden hinter sich gelassen und durchquerten den Hochwald. Hier war Jilka im Vorteil, sie kannte jeden Tritt; jeder Baumstumpf, jedes Erdloch waren ihr vertraut. Hinter dem Wald versuchte sie, nach der Seite hin zu entkommen, doch eine dichtgedrängte Gruppe von Reitern trieb sie zurück. Jilka warf sich erneut herum und flog über den Acker, die harten Stoppeln sirrten unter ihren Hufen, Erdbrocken wirbelten durch die Luft. Sie erreichte das Tannendickicht. Einen Augenblick zögerte die Stute, dann stürmte sie in den schmalen Pfad hinein, der leicht abwärts in eine enge Schlucht führte. An seinem Ende lag ein Moorsee, nicht sehr groß, doch gefährlich und tief, und es gab keinen Weg an ihm vorbei, es sei denn, es gelänge ihr, über das steile Ufer zu klettern. Sie hatte keine Wahl. Mit ein wenig Glück konnte sie hier ihre Verfolger abschütteln, denn es war unmöglich, in der schmalen Furt nebeneinander herzureiten. Die Kühle im Halbdunkel des sanft abfallenden Pfades tat ihr gut, sie schnaubte heftig und schüttelte wild die Mähne. Schwärme von Stechmücken hefteten
sich auf ihr schweißverklebtes Fell, saugten sich an Brust und Flanken fest, Jilka nahm es kaum wahr. Sie erreichte den Moorsee. Noch lag der Frühnebel über dem Wasser, nur an einigen Stellen spiegelte sich der tiefblaue Spätsommerhimmel und verbarg trügerisch das todbringende Schwarzbraun des Sumpfes. Als Jilka heranstürmte, floh mit empörtem Schrei ein Birkhuhn aus dem Schilf. Warnend tönte der Ruf eines Brachvogels herüber. Die Fläche am Ufer, die den Pfad vom Wasser trennte, war nur wenige Schritt breit, bewachsen von Hasel- und Erlengestrüpp und begrenzt vom Steilufer. Hinter Jilka näherte sich dumpfes Hufgetrappel, überschlugen sich in heiserem Gebell die Stimmen der Hunde. Dort mußte sie hinauf, wo sich die Böschung, ausgewaschen vom Regen, ein wenig abgesenkt hatte. Jilka spannte ihre Kräfte an und arbeitete sich über den bei jedem Schritt nachrutschenden Kies in die Höhe. Oben angekommen, stand sie einen Augenblick still, schüttelte sich schnaubend und hob dann witternd den Kopf. Der Herzog stand ihr gegenüber. Er hatte sie hier erwartet, hatte sie mit Absicht in diese Falle treiben lassen und gewußt, welchen Fluchtweg sie nehmen mußte. Er saß im Sattel seines Rapphengstes. Bewegungslos sah er sie an, so als erwarte er, daß sie mit einer Kopfneigung sich geschlagen geben würde in diesem Zweikampf. Hinter ihm standen Schulter an Schulter seine Jäger und Fänger, mit Netzen und Seilen, Peitschen und drohend erhobenen Stöcken, die Gesichter erhitzt von der Jagd, in den Augen Triumph und die Gier, die Beute endlich fesseln und fortführen zu können. Zu ihren Fü-
ßen die vor Ungeduld bebenden, winselnden Hunde. Jilka stand wie erstarrt. Ihre Flanken hoben und senkten sich heftig unter schweren Atemzügen, doch Erschöpfung war ihr nicht anzumerken. Die dunklen Augen der Stute schienen zu glühen, als sie nun stolz den Kopf zurückwarf und ihre Verfolger musterte, mit einem Ausdruck tiefer Verachtung. Der Herzog ritt auf sie zu und streckte die Hand aus. Ruhig, meine Schöne, fürchte dich nicht, laß uns Freunde werden! Der Rapphengst grüßte sie mit einem werbenden Wiehern. Hinter dem Herzog schlössen die Fänger dichter auf. Auch den jungen, blonden Mann entdeckte sie. Komm, meine Silberne, dein kleiner Sohn wartet auf dich! Es wird dir gutgehen in unserem Stall, du wirst nichts entbehren! Jilka sah dem jungen Mann ins Gesicht, spürte die Zuneigung und Wärme, die ihr entgegenkamen. Doch dann streifte ihr Blick die anderen, fiel auf die Stöcke und Peitschen, das Zaumzeug des Rapphengstes und die eisernen Sporen, mit denen der Herzog ihm seinen Willen aufzwang. Und sie wußte, daß sie niemals den Kopf unter der Einwirkung des Zügels beugen würde, niemals das Gewicht eines Mannes auf ihrem Rücken dulden könnte. Nicht einmal, wenn ihr als Ausweg nur der Tod blieb. Und als der Herzog langsam auf sie zuritt, bäumte sich Jilka mit einem Schrei auf... Sehnsüchtig und wild klang er über das Wasser und über die Ebene, so daß die ferne Herde aufhorchte, mit gespitzten Ohren die Köpfe hob und laut rufend Antwort gab. Dann drehte sie sich blitzschnell auf der Hinterhand, schien davonzufliegen, als sie sich abstieß und
weit in den Moorsee hinaussprang. Von der Sonne geblendet rieben sich ihre Verfolger die Augen. Als sie an den Rand der Böschung traten, war die silberne Stute verschwunden. Nur eine leichte Bewegung des Nebels über dem See verriet, wo Jilka versunken war.
Das schlammige Wasser hatte sich über ihrem Kopf ge schlossen wie ein schweres Tor, das mit dumpfem Schlag dröhnend ins Schloß fällt. Sie sank schnell. Der zähe Morast hüllte sie ein, drückte sie wie die schweren Leiber der Herde, wenn sie in eisigen Winternächten eng beieinanderstand, um sich gegen die Kälte zu schützen. Jilka fühlte eine große Erschöpfung. Mechanisch bewegten sich die Hufe im Takt der Galoppsprünge. Sie befand sich in einem dunklen Gang, qualvoll eng, es erfüllte sie mit Angst, und sie erinnerte sich, dies schon einmal erlebt zu haben, nach Atem ringend und durch einen sehr engen Ausgang gepreßt - der Augenblick ihrer Geburt. Sie wußte, es gab nur ein Vorwärts, kein Zurück, und gerade als sie meinte, es nicht länger ertragen zu können, wurde sie in einem gewaltigen Wirbel ins Licht gezogen. Alle Schwere blieb im Dunkel hinter ihr zurück, der erschöpfte Leib löste sich von ihr wie ein allzu enges Gewand. Jilka fühlte sich unsagbar leicht und frei, noch nie zuvor hatte sie ein solches Glück empfunden. Sie tauchte ein in eine Welt schattenlosen Lichtes. Es war so strahlend, wie sie es nie zuvor gesehen hatte,
doch es blendete nicht. Auch ihr neuer Körper bestand aus diesem Licht, und Jilka spürte, wie sie sich in Gedankenschnelle vorwärtsbewegen konnte; als sie am Horizont Gestalten gewahrte, die ihr aufmerksam entgegenblickten, war sie im gleichen Augenblick bei ihnen. Es waren Nona, Orla, Hinker und viele andere aus der Herde der Wildlinge, die vor ihr in die andere Welt hinübergegangen waren. Auch der Graue kam mit wehender Mähne heran, sie hätte ihn fast nicht wiedererkannt, denn sie alle trugen nun diesen Leib aus strahlendem Licht, von einer Schönheit und Vollkommenheit, die mit nichts auf der irdischen Welt zu vergleichen war. Und ein Strom von Heiterkeit, Frieden und Zärtlichkeit ging von ihnen aus, so daß Jilka begriff: hier war ihre wirkliche Heimat, das wahre Leben, das nicht mehr verunstaltet wurde von Haß, Gier, Neid oder Angst, Hunger und Entbehrungen. Willkommen! Wir haben dich schon erwartet, Jilka, sagte Orla fröhlich. Du wirst müde sein, ruh dich aus. Später werde ich, wenn du willst, deine Fragen beantworten. Nichts an Orla erinnerte mehr an die mißgelaunte, besserwisserische Stute, die sie auf Erden gewesen war. Orla hat hier die Aufgabe übernommen, den Neuankömmlingen zu helfen, erklärte Nona und begrüßte Jilka ebenfalls. Ich bin nicht müde, beteuerte Jilka. Es ist alles so wunderbar... Erst allmählich wurde ihr bewußt, daß sie in eine Welt nie gekannter Farben eingetreten war, Farben von einer Leuchtkraft, die alles überstieg, was sie je gesehen hatte.
Sie befanden sich auf einem unendlichen Weidegrund, blauschimmerndes, seidiges Gras umspielte ihre Beine, Inseln blühender Bäume und Sträucher ragten aus der sanft geschwungenen Fläche, nicht weit von ihr lag ein See mit kristallklarem Wasser. Dies alles war wirklich, war sichtbar und fühlbar und doch durchsichtig wie eine Luftspiegelung, aus unendlich feinerem Stoff, als es die Erde war. Goldschweif! dachte Jilka sehnsüchtig. Wenn er hier wäre! Im gleichen Augenblick schwebte sie über der Herde der Wildlinge dahin. Si e weidete auf einem Stück Brachland, und der Leithengst stand ein wenig abseits bei einer höher gelegenen Baumgruppe, seine Haltung drückte tiefe Niedergeschlagenheit aus. Jilka berührte zart seinen Kopf. Der Hengst spitzte die Ohren, ein Schauer der Erregung lief über seinen Rücken. Sei nicht traurig, mein Freund, eine kleine Zeit noch, und wir werden wieder beisammen sein. Bis dahin werde ich dich begleiten und schützen, wann immer du mich brauchst. Da war es, als wenn Müdigkeit und Betrübnis den Hengst verließen. Er wieherte laut zum Himmel hinauf und begann, seine Herde stolz zu umkreisen. Jilka aber war schon bei Wüstensturm. Das Hengstfohlen spürte ihre Nähe sofort und begrüßte sie mit aufgeregtem Schnauben. Ich bin heute über die Hecke gesprungen, Mutter, hast du es gesehen? Paß nur auf, du wirst stolz auf mich sein, wenn ich eines Tages in die Freiheit springe!
Das werde ich, raunte Jilka und dachte: die Freiheit, mein Kleiner, wirst du erst finden, wenn du eines Tages den Sprung in unsere Welt tust. Doch bis dahin sei glücklich und tapfer.
Das Gewitter hatte sich verzogen. Wie eine drohende Faust schlug eine letzte Regenbö gegen das Fenster der Wirtsstube. Die Männer am Tisch schwiegen. Das war die Geschichte der silbernen Stute, sagte Michael leise. Manch einer von denen, die dabei waren bei der Jagd, hat damals gedacht, sie sei eine Überirdische gewesen. Sag ich doch! Gosbert lachte ein wenig zu laut, man sah ihm das Unbehagen an. Teufelsspuk, Zauberei wird's gewesen sein, was euch das Hirn vernebelt hat! Und wie hat der Herzog die Sache aufgenommen? erkundigte sich Ratmund, der Fremde. Der Herzog? Wer weiß es. Er sprach kein Wort und stob auf seinem Rapphengst davon. Vielleicht hatte er -zu spät - begriffen, daß er dieses Wesen nicht fangen durfte. Nie wieder ist er in die Nähe des Moorsees gerit ten. Der kleine Hengst aber, das rote Fohlen, stand bei ihm in hoher Gunst und ist später als Zuchthengst wieder in die Herde entlassen worden. Es war ein trauriger Tag für mich, denn ich hing an ihm wie an einem eigenen Kind. Hab ihn gepflegt und gehegt. Es war eine glückliche Zeit für mich, seltsam, just als wenn von dem Tage an ein besonderer Segen auf meiner Arbeit gelegen hätte, ein Schutz, was immer mir auch geschah. Bald
darauf widerfuhr es mir ja, daß der Hufschmied, der alte Jakob, mich zu sich in die Lehre nahm und mich später an Sohnes Stelle zu seinem Nachfolger machte. Ratmund lächelte. Ein solches Glück hat freilich nicht jeder. Ihr werdet es verdient haben. Verdient oder nicht, ich hab es gespürt, wie die silberne Stute... Michael verstummte. Was er erfahren hatte, ging die anderen nichts an, ebensowenig wie seine Liebe zu den Wildlingen im Merfelder Bruch. Sie hätten ihn nur verspottet. Draußen verblaßte langsam der glühende Sonnenball und sank schnell unter den Horizont. Die letzten Strahlen fielen auf das regennasse Fenster der Wirtsstube, brachen sich in den rinnenden Tropfen und warfen einen Schimmer von Gold auf die Gesichter der Männer. Über den Abendhimmel beim Merfelder Bruch jagten weiße und graue Wolken, einer wilden Herde galoppierender Pferde gleich.