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Seewölfe 149 1
Kelly Kevin 1.
Die Galeone „Isabella“ ächzte und stöhnte im abflauenden Sturm wie ein lebendes Wesen. Auf der Kuhl beschwor Ed Carberry, der narbige Profos, alle Dämonen von Wasser, Luft und Land und drohte der Crew sämtliche Höllenstrafen an, wenn sie nicht — beim gestreiften Wassermann — endlich die dreimal verdammte Fock klarierte. Philip Hasard Killigrew, den sie den Seewolf nannten, stand an der Schmuckbalustrade des Achterkastells und zeigte dem Wetter die Zähne. Tief im Bauch der „Isabella“ rumorte etwas -und Ferris Tucker, der riesige rothaarige Schiffszimmermann, war losgezogen, um dieses ungehörige Rumoren zu untersuchen. Seinem Gesichtsausdruck nach mußte jeden Augenblick das Kielschwein auseinanderbrechen oder der Großmast eine Verbeugung vollführen. Der schlaksige Schiffsjunge Bill bereitete sich keine übertriebenen Sorgen: er wußte inzwischen, daß der Schiffszimmermann in jedem Holzwurm den künftigen Ruin der „Isabella“ zu sehen pflegte. Ferris Tuckers zweiter Begleiter auf dem Inspektionsgang interessierte sich mehr für das Innenleben der Laderäume. Der Kutscher — denn Kutscher war er gewesen, bevor ihn vor Jahren eine Preßgang gewaltsam zum Seemann werden ließ - zeichnete als Koch und Feldscher für die Vorräte verantwortlich. Auch er blickte sorgenvoll drein. Der Sturm hatte die „Isabella“ kräftig durchgerüttelt. Und so ein Wetter, das wußte jeder, konnte auch straff durchgesetzte Taue lockern und in Laderäumen, die von den Augen eines Ferris Tucker überwacht wurden, Verheerungen anrichten. Nicht, daß der rothaarige Hüne tatsächlich solche Verheerungen befürchtet hätte. So etwas passierte bei ihm nicht. Er pflegte schwache Stellen frühzeitig zu entdecken. Zum Beispiel jetzt, da der Sturm die „Isabella“ geschüttelt hatte und man Vorsorge für den nächsten Sturm treffen
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mußte, der sicher nicht lange auf sich warten lassen würde. Ferris Tuckers dritter Begleiter hieß Arwenack und war kein Seemann, sondern ein Schimpanse -vermutlich der einzige salzgewässerte, seekriegserprobte Schimpanse der Welt. Arwenack hatte keine Pflichten, sondern hätte genauso gut in den Wanten schaukeln können. Aber die Gerüche der Laderäume zogen ihn magisch an. Vor allem die Gerüche nach Feigen, Datteln und getrockneten Weinbeeren! Doch all diese Herrlichkeiten waren in fest verschlossenen Säcken und Fässern verstaut, und der Schimpanse lebte schon lange genug auf der „Isabella“, um zu wissen, daß seine Chancen auf eine zusätzliche Mahlzeit unter diesen Umständen gleich Null waren. Also beschränkte er sich auf sein zweitgrößtes Vergnügen: das Nachahmen. Ferris Tucker durchmaß den Laderaum, zerrte an Tauen, prüfte Augbolzen und Belegklampen - und Arwenack, der Schimpanse, tat es genauso. War es seine Schuld, daß er schneller als Ferris, Bill und der Kutscher an die einzige schwache Stelle geriet? Es war ein Wasserfaß. Das letzte Wasserfaß, das mit der Hälfte des vorletzten eigentlich noch bis zu den bretonischen Häfen reichen sollte. Aber das konnte Arwenack natürlich nicht wissen. Genauso wenig, wie er wissen konnte, was man tat, wenn sich wegen eines ausgebrochenen Augbolzens ein Wasserfaß mitten im Sturm aus den Verankerungen zu lösen drohte - nämlich das Faß unter allen Umständen festhalten. Arwenack zerrte nur an den lockeren Tauen herum und keckerte triumphierend und Ferris Tucker, Bill und der Kutscher begriffen etwas zu spät, was vor ihren Augen geschah. Genaugenommen begriffen sie es erst, als das Wasserfaß zu Boden krachte. „Nein“, sagte der Kutscher. „Himmelarsch“, flüsterte Ferris Tucker ergriffen.
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Und der Schimpanse, stieß eine Folge von schrillen, triumphierenden Lauten aus, während das Wasserfaß quer durch den Laderaum polterte. „Haltet es!“ flüsterte Tucker -ziemlich leise und ohne große Überzeugungskraft, weil er nämlich sehr genau wußte, daß keine Macht der Welt das verdammte Faß mehr aufhalten konnte. „Krach“, sagte Bill. Noch bevor er aussprechen konnte, krachte es tatsächlich. Das Wasserfaß rammte einen Stapel anderer, kleinerer Fässer. Die waren zwar ordnungsgemäß festgezurrt, aber nicht für den Fall, den der Schiffsjunge sehr treffend als „Krach“ bezeichnet hatte. Zwei Dutzend kleiner, handlicher Fässer machten sich selbständig. Mindestens ein halbes Dutzend davon fegte über die Säcke mit den Kokosnüssen. Natürlich tat das den Kokosnüssen nicht besonders gut. Einige Säcke öffneten sich, die Nüsse begannen zu tanzen, und gleichzeitig breitete sich im Lagerraum ein Geruch aus, der sehr entfernt, aber auch nur sehr entfernt, an die Ausgabe von Zitronensaft gegen den Skorbut erinnerte. Das Wasserfaß hatte die Essigfässer in Bewegung gebracht, und die Essigfässer brachten so ziemlich alles in Bewegung, was sich in dem Laderaum überhaupt bewegen konnte. „Unser Öl!“ schrie der Kutscher verzweifelt. „Mann“, seufzte Ferris Tucker. „Der Mensch denkt an Öl, wenn die Rumfässer auslaufen!“ „Rum und Öl“, meinte der Schiffsjunge verächtlich. „Ich meine ...“ „Was?“ knirschte Ferris Tucker erbittert. „Na ja, die Mehlsäcke ...“ „Die Mehlsäcke!“ schrie der Kutscher im Tonfall eines Schwerkranken, dem man die lebensrettende Medizin geklaut hat. „Mann, oh Mann“, stöhnte Ferris Tucker. Währenddessen verwandelte sich der Inhalt der Mehlsäcke in einen gleichmäßigen Nebel, der zu allem möglichen geeignet war, nur nicht mehr zum Brotbacken.
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Für eine Weile standen die drei Männer still. So still, wie es auf einer Galeone im abflauenden Sturm überhaupt möglich war. „Wißt ihr was?“ fragte der Kutscher schließlich. „Nun“, sagte Ferris Tucker. „Was denn?“ „Wißt ihr, was ihr die nächste Zeit zu essen kriegen werdet?“ „Nein“, wiederholte Ferris Tucker. jetzt allerdings sehr interessiert. „Pfannkuchen mit Staub und Bilgewasser“, sagte der Kutscher erbittert. „Schwarzmehl-Pfannkuchen mit Linseneinlage und Essig-Aroma! Viel Vergnügen!“ Ferris Tucker schluckte. Bill, der Schiffsjunge, legte seinen Arm um den schuldbewußten Arwenack. Der Kutscher, der mit in die Hüften gestemmten Fäusten vor ihnen stand, schien ein gewisses Vergnügen daran zu finden, die zu erwartende Verpflegungssituation auszumalen. „Bilgewasserwasser-Suppe mit Kakerlaken“, behauptete er. „In Essig eingelegte Rosinen. Und Kokosmilch! Jede Menge Kokosmilch, weil wir ja kein Wasser mehr haben.“ Ferris Tucker warf noch einen schicksalsergebenen Blick auf das Chaos, dann wandte er sich Bill zu. „An Deck mit dir!“ knurrte er. „Ich brauche mindestens fünf Mann, um diesen Saustall aufzuräumen. Und ein bißchen plötzlich, du Hering, sonst gibt's Zunder!“ * Die spanische Galeone „Santa Lucia“ schwankte schwerfällig wie eine kranke Kuh in der hohen Dünung. Der Sturm war abgeflaut, die handige Brise trieb nur noch wenige Wolkenfetzen über den Himmel. Auf dem Achterdeck versuchte Mercedes del Rios ihr zerzaustes schwarzes Haar in Ordnung zu bringen. Unten in dem Laderaum, den man ihnen als provisorisches Quartier zugewiesen hatte, war die Luft kaum zu atmen. Zwanzig Frauen hatten sich während des
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Sturms zitternd vor Angst aneinandergeklammert. Frauen, die schon einmal einen Schiffbruch erlebt hatten und wußten, was sie erwartete, wenn die „Santa Lucia“ kenterte. Mercedes schlug schauernd die Arme um ihren Körper. Sie dachte an die „Regina Maris“, mit der sie vor Wochen in Spanien aufgebrochen waren. Sie und mehr als fünfzig andere Frauen, die meisten davon unterwegs, um ihren Männern oder Verlobten zu folgen, die in den Kolonien eine neue Existenz aufgebaut hatten. So optimistisch und voller Hoffnung waren sie gewesen! Auch Mercedes, obwohl auf sie in der neuen Welt niemand wartete. Sie war vor den Verhältnissen in Spanien geflohen, vor der Tyrannei ihrer alten, aber verarmten Familie, vor der Aussicht, ihr Leben im Kloster beschließen zu müssen, weil es ohne Mitgift keine standesgemäße Heirat gab und eine Frau aus guter Familie nur die Wahl zwischen Ehe und Kloster hatte. Die Neue Welt erschien Mercedes wie so vielen anderen als Versprechen, als Land, in den ihre Träume wahr werden konnten. Dann war die „Regina Maris“ in Sturm gekentert, und zwanzig Frauen und einige wenige Männer hatten tagelang in einem winzigen Rettungsboot ausharren müssen, bis die „Santa Lucia“ sie aufnahm. Jetzt waren sie auf dem Weg zurück nach Spanien: Menschen ohne Hoffnung, denn die wenigsten vor ihnen konnten noch genug Geld auf bringen, um eine zweite Passage zu bezahlen. Mercedes wandte sich um und ließ ihren Blick über das Schiff schweifen. Ihre großen, nachtdunklen Au gen leuchteten auf, als sie den jungen Mann erkannte, der auf sie zuging Diego Mantagua hatte Freiwache Aber er traf sich immer mit Mercedes, ehe er ins Logis hinunterstieg und sie dachte daran, wie glücklich sie sich schätzen konnte, daß sie ihn gefunden hatte. In Cadiz würde er abmustern, hatte er versprochen. Seine Eltern besaßen einen kleinen Bauernhof, und sie würden sich freuen,
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wenn ihr einziger Sohn, der aus Abenteuerlust davongelaufen war, nach Hause zurückkehren und eine Frau mitbringen würde. Mercedes seufzte glücklich, und ihre Augen leuchteten, als Diego den Arm um sie legte. Er wollte sie an sich ziehen, doch im nächsten Moment wurde die Idylle jäh gestört. „Deck!“ schrie der Ausguck im Hauptmars. „Schiff Steuerbord voraus! Eine Karavelle!“ Von einer Sekunde zur anderen wurde es auf der Galeone lebendig. „Alle Mann an Deck!“ scheuchte die Stimme des Capitans die erschöpften Männer auf. „Alle Mann an Deck!“ wiederholte der Profos lauthals. Flüche erklangen. Das Klatschen nackter Sohlen mischte sich mit dem Brüllen der Befehle, auf dem Achterkastell zog der Capitan das Fernrohr auseinander. Diego schob Mercedes rasch auf den Niedergang zu und wandte sich ab, fluchend, weil es wieder mal mit der Freiwache nichts werden würde. Der Capitan ließ die „Santa Lucia“ vorsorglich gefechtsklar machen. Leicht beunruhigt beobachtete er das fremde Schiff, das keine Flagge zeigte. Ein Spanier konnte es nicht sein, denn sonst wäre bereits das Holzkreuz zu sehen gewesen, das auf allen Schiffen seiner Allerkatholischsten Majestät, des Königs von Spanien, unter dem Bugspriet baumelte. Kamen eigentlich nur noch Araber in Frage: Barbaresken, die hier im Maghreb Seeräuberstaaten gegründet hatten. Der Capitan biß sich auf die Lippen. Seine „Santa Lucia“ war nicht gerade überragend bewaffnet. Aber eine einzelne Karavelle mit nicht mehr als drei Geschützen an jeder Seite und vielleicht noch zwei Drehbassen war eigentlich nicht so gefährlich. Das Schiffchen segelte beachtlich schnell auf. Wie ein zorniger Schwan rauschte es auf die „Santa Lucia“ zu, um ihren Kurs zu kreuzen und das Gefecht von der Luvseite
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her zu eröffnen. Und jetzt ging auch die Flagge am Stag hoch - eine schwarze Piratenflagge! Der Capitan glaubte immer noch, daß die Karavelle gegen die große „Santa Lucia“ keine Chance hätte. Er setzte das Fernrohr ab und lächelte überheblich. Zu diesem Zeitpunkt hatte er noch genau eine halbe Stunde zu leben. * Die Vorräte der „Isabella“ waren, bis auf die Kokosnüsse und wenige andere Dinge, nicht mehr zu gebrauchen. Der Seewolf fluchte beherrscht. Ed Carberry faßte sich an den Kopf und stöhnte, was Arwenack dazu veranlaßte, eilig in die Luvwanten zu entschwinden. „Bastard!“ kreischte der Papagei Sir John. Nicht, weil er etwas von der Debatte über die Vorräte verstanden hatte, sondern weil er die Luvwanten für sich beanspruchte. „Es hilft also alles nichts, wir müssen irgendwo Land anlaufen und Vorräte und Wasser an Bord nehmen“, knurrte Hasard. „Schnapp dir mal die Karten, Dan, und sieh nach, ob vor Casablanca noch irgendetwas liegt.“ Dan O'Flynn brauchte nur ein paar Minuten. Wie sich herausstellte, lag vor Casablanca tatsächlich noch etwas, nämlich ein winziges Nest mit dem Namen Sidi-alNarouz. Daß es auf der Karte eingezeichnet war, sprach immerhin dafür, daß es sich nicht um einen Seeräuberstützpunkt handelte. Die waren zwar zahlreich in dieser Gegend, wurden jedoch im allgemeinen geheim gehalten. Die Seewölfe waren nicht erpicht auf eine .Begegnung mit den legendären Barbaresken. Die „Isabella“ hatte die lange Reise nicht ganz unbeschadet überstanden: ihr Rumpf war eine Muschellandschaft, sie schleppte Tang hinter sich her, und das wirkte sich nicht unerheblich auf die Manövrierbarkeit aus. Ganz deutlich hatte Hasard das in dem hinter ihnen liegenden Sturm gemerkt. Ein Gefecht mit einer barbareskischen
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Seeräuberflotte war das letzte, was er sich im Augenblick wünschte. „Wir laufen also Sidi-al-Narouz an“, entschied er. „Eine Pause tut uns nach dem Sturm ohnehin gut. Ich hoffe ...“ „Deck!“ klang im selben Augenblick Jeff Bewies Stimme aus dem Großmars. „Mastspitzen über der Kimm! Genau voraus!“ Hasard runzelte die Stirn. Mechanisch griff er nach dem Kieker, enterte ein Stück in die Besanwanten und spähte nach vorn. Sie segelten mit halbem Wind über Steuerbordbug und gelangten rasch vorwärts. Die Mastspitzen schoben sich immer höher über die dünne Linie der Kimm, und nach einer Weile waren die beiden Schiffe zu sehen. Eine dickbauchige Galeone und ein kleinerer Zweimaster, eine Karavelle vermutlich. Noch waren sie zu weit entfernt, um Einzelheiten zu erkennen. Daß es sich um eine spanische Galeone hantelte und die Karavelle die Piratenflüge führte, wurde erst eine Viertelstände später deutlich. Genau in dem Augenblick, in dem das leichte, nur mit wenigen Kanonen bestückte Barbaresken-Schiff das Gefecht eröffnete. 2. Die Karavelle war höher an den Wind gegangen, als der Capitan der Galeone gerade ihren Namen lesen konnte: „ArRibat“. Es sah so aus, als hätten die Piraten Angst vor der eigenen Courage bekommen und versuchten nun, dem überlegenen Gegner auszuweichen. Der Capitan triumphierte und beschloß sofort, das SeeräuberGesindel nicht ungeschoren zu lassen. „Backbordkanonen Feuer!“ befahl er. Sechs schwere SiebzehnpfünderCulverinen spuckten ihren tödlichen Bleihagel aus. Aber die Breitseite lag zu kurz, die Kugeln platschten wirkungslos ins Wasser. Der Capitan fluchte — und bemerkte zu spät, daß der Piratensegler abfiel und halste.
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„Klar bei Backbordkanonen!“ schrie der Capitan erschrocken. Die Geschützmannschaften schufteten wie die Wilden. Die Karavelle lag jetzt über Steuerbordbug und rauschte mit Backstagbrise wie ein zorniger Schwan auf den schwerfälligen Gegner zu. Das Achterkastell war leer. Vor dem Bugkastell drängten sich Gestalten — und im nächsten Moment spuckte die Serpentine in der drehbaren Gabellafette Feuer.' Holz splitterte. Die Galeone lief aus dem Kurs, die. Marssegel begannen zu killen. „Treffer am Ruderkopf!“ schrie jemand, und der Capitan wurde bleich wie ein Laken. Drüben auf der Karavelle richtete sich der Piratenkapitän auf, der diesen Meisterschuß eigenhändig abgefeuert hatte. Abu Ben Rachid war groß und hager, hatte ein scharfgeschnittenes Gesicht. tiefliegende Augen und eine Adlernase. Das Tuch, das er um den Kopf trug, flatterte im Wind. Mit ein paar langen Schritten erreichte er die Kuhl. enterte zum Achterkastell auf und warf einen prüfenden Blick über das Geschützdeck. Die „Ar-Ribat“ war ausgesprochen schwach armiert. Je eine Serpentine an Bug und Heck, dazu an Backbord und Steuerbord je drei leichte Geschütze mit gegossenen Bronzerohren, sogenannten Minions. Hätte der Piratensegler das Gefecht mit einer Breitseite aus der Luvposition eröffnet, wäre er vermutlich im nächsten Augenblick zerfetzt worden. Stattdessen hatte der Barbaresken-Kapitän mit einem präzisen Schuß das Ruder des Gegners lahmgelegt, die Galeone war manövrierunfähig -und jetzt schor die Karavelle an ihrer Backbordseite vorbei. noch bevor die Geschützmannschaften dort die Kanonen wieder nachgeladen hatten. Donnernd entluden sich die Vierpfünder der Karavelle. Alle drei Kugeln durchschlugen in Höhe der Wasserlinie die Bordwand der Galeone. Gleichzeitig zischte ein Hagel von Brandpfeilen in die Takelage. Der
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Capitan brüllte mit sich überschlagender Stimme seinen Feuerbefehl, doch als sich die zweite Breitseite entlud, hatte die Karavelle schon wieder hochgedreht und entschwand aus der Reichweite der Kanonen. Die „Santa Lucia“ nahm Wasser. Der Capitan scheuchte Männer an die Pumpen, die Geschützmannschaften arbeiteten in fieberhafter Eile, denn die Karavelle wendete schon wieder. Hoch aufgerichtet stand Abu Ben Rachid auf dem Achterkastell und gab mit peitschender Stimme seine Befehle. Auch diesmal stieß er auf seine Beute, bevor die Backbordkanonen der Galeone wieder feuerbereit waren, und wieder lagen die Treffer präzise auf der Wasserlinie. Die Segel der „Santa Lucia“ standen in hellen Flammen. Glimmendes Tuch fiel überall auf die Planken, verzweifelt pützten die Männer Seewasser, um die Brandnester zu löschen. Unterdessen ging die Karavelle schon wieder an den Wind - und die achtere Serpentine spuckte Feuer. Sekunden später krachte der Fockmast der „Santa Lucia“ auf das Schanzkleid, die Galeone holte schwer nach Steuerbord über, und ein Regen tanzender Funken hüllte sie ein. Unaufhaltsam sackte das schwer angeschlagene Schiff über den Bug weg. „Die Santa Lucia“ war nicht mehr zu retten. Mit verschränkten Armen beobachtete Abu Ben Rachid die verzweifelten Bemühungen seiner Gegner, Boote abzufieren, Die Karavelle hielt sich in sicherer Entfernung, und die Männer auf dem Geschützdeck stimmten ein wildes Siegesgeheul an. Abu Ben Rachid lächelte mitleidlos. Seine Augen funkelten auf, als er die Gestalten erkannte, die jetzt drüben auf der Galeone an Deck erschienen. Frauen! Etwa zwanzig Frauen, die in panischer Angst durcheinanderliefen. Auf dem Achterkastell fuchtelte der spanische Capitan hysterisch mit den Armen. Aber wenigstens sein Steuermann behielt die Nerven, gab vernünftige Befehle und
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schaffte es, die Boote mit den Frauen sicher aufs Wasser zu bringen. Minuten später schwappten die ersten Seen über den Bug der „Santa Lucia“, und der Bootsmann schrie: „Rette sich, wer kann!“ Abu Ben Rachid wartete in aller Ruhe, bis die Galeone gesunken war. Danach ließ er halsen und lief vor dem Wind zwischen Boote, Wrackteile und schwimmend um ihr Leben kämpfende Menschen. Die Boote verbuchten zu entkommen: die Küste war nah, und was es hieß, den Piraten in die Hände zu fallen, könnte sich jeder ausmalen. Eiskalt brachte Abu Ben Rachid die „Ar-Ribat“ auf Kollisionskurs — und nachdem er das erste Boot gerammt hatte, zogen es die Insassen der anderen vor, sich freiwillig zu ergeben. Etwa zwanzig Überlebende nahm die „ArRibat“ an Bord, davon zwölf Frauen. Sie wurden auf der Kuhl zusammengetrieben, klammerten sich aneinander und starrten verängstigt in die wilden Gesichter der Barbaresken. Ein halbes Dutzend Musketen zielten auf die Männer, die aus dem Wasser gefischt worden waren. Sie ließen sich freiwillig entwaffnen und fesseln. Abu Ben Rachid baute sich vor ihnen auf, musterte sie prüfend und nickte zufrieden. „In die Vorpiek!“ befahl er. „Die Frauen in den achteren Laderaum. Füttert sie gut! Und rührt sie nicht an, unsere Freunde nehmen keine beschädigte Ware.“ Er sprach Arabisch. Die Frauen verstanden ihn nicht, und das war gut so. Denn was für ein Schicksal ihnen drohte, würden sie noch früh genug erfahren. * „Verrückt“, sagte Ben Brighton, der Bootsmann und erste Offizier der „Isabella“. Hasard wandte den Kopf. Sie hatten den Kampf und den Untergang. der Galeone aus der Ferne beobachtet, ohne eine Chance, einzugreifen. Jetzt setzte die Piraten-Karavelle alle Segel und rauschte
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mit. halbem Wind unter Vollzeug nach Norden davon. „Was hat er nun davon?“ fragte Ben Brighton. „Warum greift er überhaupt erst an, wenn er den Kahn nicht entern und ausplündern will? Will er die Leute, die er aufgefischt hat, zum Borddienst pressen?“ „Nein“, sagte Hasard knapp. „Aber vermutlich als Sklaven verkaufen.“ „Als — o verdammt!“ Der Seewolf hob die Schultern. Die Praktiken der barbareskischen Seeräuber waren allgemein bekannt. Natürlich hatten sie nichts dagegen, Prisen zu nehmen und Schätze zusammenzurauben, aber sie schlugen auch noch Gewinn aus den Gefangenen, die ihnen in die Hände fielen. „Arme Teufel“, murmelte Ben Brighton. „Aber eine verdammte Glanzleistung war es doch:“ „Ja, das war es. Oder eine verdammte Idiotie von dem, spanischen Kapitän, wie man's nimmt. Wer einen Gegner unterschätzt, ist selbst schuld. Als die Karavelle halste, hätte er sofort an den Wind gehen müssen und ...“ „Deck ho!“ unterbrach ihn Jeff Bowies Stimme aus dem Großmars. „Da treibt etwas Backbord voraus. Ein Mann, glaube ich.“ Kannst du die Klüsen nicht aufreißen, du karierter Decksaffe?“ brüllte Ed Carberry von der Kuhl her. Jeff antwortete nicht, sondern spähte nach Norden. Die treibende Gestalt war jetzt deutlicher zu erkennen: ein Spanier wahrscheinlich, den die Piraten übersehen hatten. Hasard ließ bereits das Beiboot klarmachen und etwas anluven, um den Mann über die Leeseite an Bord nehmen zu können. Minuten später klatschte das Boot aufs Wasser. Ferris Tucker, Smoky, der riesige GambiaNeger Batuti und der blonde Schwede Stenmark pullten, was das Zeug hielt. Matt Davies beugte sich über die Ducht. Er benötigte keinen Enterhaken, um den Mann aus dem Wasser zu fischen: die stählerne Hakenprothese. die ihm die
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fehlende rechte Hand ersetzte, genügte völlig. Der Spanier war halb ertrunken, aber er lebte noch. Matt drückte ihm das Knie in den Leib, bis er ein paar Eimer Meerwasser ausspuckte und röchelnd nach Atem rang. An Bord der „Isabella“ fiel er wie ein nasser Sack auf die Planken, doch er regte sich schon wieder. „Hol mal eine Pütz Rum her, Kutscher“, befahl Hasard. „Aye, aye, Sir.“ Der Kutscher verschwand in Richtung Kombüsenschott. Fast gleichzeitig kam Leben in den halb ertrunkenen Spanier. Er krümmte sich und dann sprang er plötzlich auf wie ein Kastenteufel. Der völlig verblüffte Seewolf kassierte einen Tritt vors Schienbein, Matt Davies einen Boxhieb, der ihn rückwärts gegen das Schanzkleid beförderte. Auf eben dieses Schanzkleid torkelte der Spanier zu. Kein Zweifel, daß er wieder über Bord springen wollte. Matt Davies erholte sich gerade noch rechtzeitig von seiner Überraschung, um den Burschen mit seinem Haken am Kragen zu nehmen. Er warf ihn Ferris Tucker zu. Der drehte ihm kurzerhand die Arme auf den Rücken. Ed Carberry schüttelte den Kopf und schob sein zernarbtes Rammkinn vor. „Du hast wohl Kakerlaken im Hirn!“ fauchte er. „Dir ziehe ich die Haut in Streifen von deinem verdammten ...“ „Kannst du mir erklären, warum du so wild aufs Ertrinken bist?“ fragte Hasard trocken. Der Spanier starrte ihn an. Er war jung, kaum über zwanzig. Blut sickerte. aus seinem Haar: dort hatte ihn beim Untergang der Galeone vermutlich ein Trümmerstück getroffen. Seine Augen funkelten wild, aber es gelang ihm nicht ganz, seine -Furcht zu verbergen. „Ihr seid Engländer“ stieß er hervor. „Ehe ich auf diesem Kahn als Sklave schufte, sterbe ich lieber.“ „Ah ja“, sagte Hasard gedehnt. „Du nimmst also an, wir würden so mit dir
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verfahren, wie das deine Landsleute mit gefangenen Engländern zu tun pflegen, stimmt's?“ Der Spanier antwortete nicht. Er wußte nur zu genau, was gefangenen englischen Freibeutern in seinem Heimatland geschah: sie wurden entweder hingerichtet oder auf Galeeren verschleppt oder zum Borddienst auf irgendeinem Segler gepreßt. Und von diesen drei Möglichkeiten war im allgemeinen die Sofortige Hinrichtung noch die gnädigste. „Wir setzen dich in Sidi-al-Narouz an Land“, sagte Hasard ruhig. „Ich schätze. irgendwann wird dort auch ein spanisches Schiff erscheinen.“ Der Junge schluckte. „Ihr - ihr wollt mich laufenlassen?“ „Ja. Was ist jetzt? Willst du immer noch über Bord springen?“ „N-nein, Senor.“ „Hast du einen Namen?“ „Diego Mantagua. Und - und Sie wollen wirklich Sidi-al-Narouz anlaufen?“ „Sicher. Hast du etwas gegen das Nest?“ Der Spanier schüttelte den Kopf. Aber seine Augen hatten sich verdüstert und Hasard war fast sicher, daß das Fischerdorf an der Küste des Maghreb irgendeine besondere Bedeutung für den Jungen hatte. 3. Sie erreichten Sidi-al-Narouz am Mittag des folgenden Tages. Das Dorf lag an einer Bucht: eine Ansammlung weißer, verschachtelter Häuser vor dem Hintergrund eines Palmengürtels. Viel schien hier nicht los zu sein: die wenigen Fischerei-Logger, die zum Trocknen ausgespannten Netze hinter den Häusern, die Männer, die im Schatten der Gassen kauerten, redeten oder Tricktrack spielten, das alles wirkte eher schläfrig. Aber es gab immerhin eine hölzerne Dalbenpier, und wenn die Zeit der größten mittäglichen Hitze vorbei war, mochte es wohl auch etwas geschäftiger zugehen.
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Unter Fock und Besan rauschte die „Isabella“ raumschots auf das Nest zu. Hasards Kommandos hallten über die Decks, die Segel wurden gegen gebraßt; mit der letzten Fahrt glitt die Galeone an die Pier. Im Dorf rührte sich immer noch nichts, die Männer spähten nur mißtrauisch aus dem Schatten. Notgedrungen mußten Stenmark und Sam Roskill sich als Artisten betätigen und über das Schanzkleid auf die Pier springen, um die Leinen wahrzunehmen, die vorn und achtern klargelegt worden waren. Minuten später lag die „Isabella“ sicher wie in Abrahams Schoß an der Pier. und der Holzsteg der Gangway wurde ausgefahren. „Nicht gerade gastlich, das Kaff“, brummte Ed Carberry. „Vielleicht haben sie schlechte Erfahrungen. Die Barbaresken sind bestimmt nicht zimperlich.“ Hasard sah sich nach dem jungen Spanier um, der auf der Kuhl stand. „Wenn du etwas brauchst, sag es jetzt. Es wird nicht so leicht sein, sich hier durchzuschlagen.“ „Ich habe ein paar Goldstücke“, murmelte Diego Mantagua. „Es. geht schon. Ich möchte mich bedanken und ...“ „Schon gut.“ Hasard grinste matt, dann wurde seine Aufmerksamkeit abgelenkt. Jetzt endlich rührte sich etwas in dem verschlafenen Dorf. Die einheimischen Fischer hockten immer noch stumm im Schatten ihrer Häuser, aber dafür erklang in einer der Gassen Hufgetrappel. Es war ein merkwürdiger Zug, der sich da näherte. Hasard wußte sofort, daß er keinen von den hart schuftenden Fischern vor sich hatte. Und keine barbareskischen Piraten. Der Araber, der da stolz wie ein Reiterdenkmal auf einem prachtvollen schneeweißen Hengst saß, trug kostbare Kleidung, eine Menge glitzernden Schmuck und strahlte Selbstsicherheit, fast Hochmut, und eine keinen Widerspruch duldende Autorität aus. Die Männer hinter ihm, ebenfalls beritten, mußten eine Art Leibgarde sein. Alle vier wirkten hart und verwegen in ihren weißen Burnussen, und
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alle vier trugen gekrümmte, gefährlich glitzernde Sarazenen-Säbel an den Gürteln. Vor der Pier verhielten sie. Die vier Burnusträger saßen ab, einer von ihnen verbeugte sich, und der reichgekleidete Araber benutzte mit schöner Selbstverständlichkeit den gekrümmten Rücken des anderen, um bequemer aus dem Sattel steigen zu können. Scharfe schwarze Augen glitten über die „Isabella“ und die Seewölfe an Deck. Hasard hatte den Eindruck, daß der Knabe da drüben auch symbolisch von. einem ziemlich hohen Roß geklettert war, um die Fremden solchermaßen zu begrüßen, und daß es die Höflichkeit gebot, ihm ein Stück entgegenzugehen. Der' Seewolf nickte Ben Brighton, Big Old Shane und Dan O'Flynn zu. Zu viert marschierten sie über den Steg auf die hölzerne Pier. Der Araber verneigte sich leicht und lächelte. „Salem aleikum“, sagte er. Und fügte in gutem Englisch und der blumigen Ausdrucksweise seiner Muttersprache hinzu: „Mögen euch die Elemente wohlgesonnen sein und das Geschick euch Glück und ein langes Leben bescheren. Ich bin Karim Hosnani und zufällig in diesem bescheidenen Dorf anwesend, dessen unwissende Einwohner der Ehre Eures Besuchs nicht wert sind. Die Leute von Sidi-al-Narouz fürchten alle Fremden, wie Ihr vielleicht schon bemerkt habt. Ich schätze mich glücklich, gerade rechtzeitig hier zu sein, um Euch im Rahmen meiner bescheidenen Möglichkeiten zu helfen.“ „Wir danken Euch, Karim Hosnani.“ Der Seewolf übernahm die Vorstellung, wünschte dem anderen ebenfalls ein langes Leben voller glücklicher Tage und schloß ein paar freundliche Bemerkungen über die Vorsehung, an, die sie hatte zusammentreffen lassen. Ben Brighton blieb fast der Mund offenstehen. Aber Hasard wußte, daß es jeder Araber als sehr unhöflich empfunden hätte, bei einem Gespräch ohne ausgedehntes, blumiges' Vorgeplänkel zur Sache zu kommen. Und wahrscheinlich war dieser Karim Hosnani in der Tat ein Geschenk der Vorsehung,
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auch wenn irgendetwas an ihm Hasard nicht gefiel. Er war zu freundlich, er schien sich sogar in der Rolle des selbstlosen Helfers zu sonnen. Aber wie auch immer: er würde vermutlich die mißtrauischen Fischer auf Trab bringen und das ganze Verfahren abkürzen. Hasard erzählte, daß sie Engländer seien, Karim Hosnani behauptete, die Engländer zu lieben, und erzählte seinerseits, daß er Kaufmann sei und mit einer kleinen Karawane am Rande des Ortes lagere. Was Hasard wiederum zu einigen Bemerkungen über die Segnungen von Handel und Wandel veranlaßte und es ihm gestattete, elegant auf den Kern der Dinge zuzusteuern, nämlich auf die Vorräte, die sie dringend brauchten. Daraufhin verwandelte sich der Kaufmann Karim Hosnani umgehend in ein Energiebündel, gab dutzendweise. arabische Befehle und ruhte nicht eher, bis seine Leute alles herbeigeschafft hatten, was benötigt wurde. Hasard unterhielt sich mit dem vornehmen Araber -weitschweifig über die Probleme der Ausrüstung von Karawanen und Schiffen, während die Seewölfe Kisten, Säcke und Wasserfässer an Bord mannten. Auch eine Karawane sei ein Schiff, behauptete Karim Hosnani. Ein einsames Schiff, das durch die endlosen Meere der Wüste ziehe, Stürmen zu trotzen habe und seinen Weg nach den geheimnisvollen Bahnen der Gestirne richte. Es klang alles sehr poetisch. Und für einen Araber vornehmer Herkunft und Erziehung klang es nicht einmal ungewöhnlich. Trotzdem fand Hasard, daß es zu dem Wüstensohn, dessen Hilfsbereitschaft da wie eine Sturzsee über sie geschwemmt war, nicht recht paßte. War er zu mißtrauisch? Oder lag es daran, daß die blumigen Wendungen des Arabischen mit seinen gefühlvollen Ausdrücken ins spröde Englisch übertragen einfach unecht wirken mußten, auch wenn sie noch so ehrlich gemeint waren? Ganz davon abgesehen, daß man sie ohnehin nicht wörtlich nehmen dürfte.
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Auch ein Araber, der einem Gast anbot, über seinen Besitz zu verfügen, wäre wohl äußerst befremdet gewesen, wenn der Gast das tatsächlich getan hätte. Karim Hosnanis Weigerung, irgendeine Bezahlung anzunehmen, lag auf der gleichen Linie. Aber er ließ sich gern dazu überreden, die Perlen, die den Gegenwert für Vorräte und Ausrüstung darstellten, als Geschenk zu akzeptieren. Das Glas Wein, das er in der Kapitänskammer der „Isabella“ zu sich nahm, hatte prompt eine Gegeneinladung zur Folge. Der fabelhafte Mister Hosnani war entschlossen, in seiner Zeltstadt am Rande des Dorfes ein Fest für die gesamte Crew zu geben. Ablehnung wäre eine Beleidigung gewesen. Hasard hatte es eilig, der Aufenthalt in Sidi-al-Narouz war ohnehin nicht geplant gewesen, aber ein Blick auf seine Männer zeigte ziemlich deutlich, wie die Meinung der überwältigenden Mehrheit aussah. Nach allem, was hinter ihnen lag. hatten sie ein wenig Abwechslung und Vergnügen verdient. Und das würde das Fest im Lager der Kaufmanns-Karawane zweifellos bieten. Karim Hosnani hatte bereits bewiesen, daß er es bei den leiblichen, speziell den alkoholhaltigen Genüssen mit den strengen Vorschriften des Koran nicht so genau nahm. Außerdem würden sie vermutlich so schnell keine neue Gelegenheit zum Feiern finden. Denn auf dem Weg nach England mußten sie Spanien umsegeln. Daß das ohne Probleme abgehen würde, konnte selbst ein notorischer Optimist nicht ernsthaft annehmen. Hasard bedankte sich mit der landesüblichen Weitschweifigkeit für die Einladung. Karim Hosnani verabschiedete sich, schritt über die Pier und ließ sich wieder auf seinen prachtvollen Schimmel heben. Der ganze Trupp preschte davon. Die Seewölfe sahen ihm nach. Ben Brighton rieb sich mit dem Handrücken über das Kinn und zog die Brauen zusammen.
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„Ich weiß nicht“, sagte er in seiner bedächtigen Art. Hasard lächelte. „Was weißt du nicht, Ben?“ „Ob mir der Bursche gefällt. Irgendwie ist er zu gut, um wahr zu sein.“ „Auf jeden Fall wären die Verhandlungen mit den Einheimischen ohne ihn schwieriger geworden. Hast du übrigens gesehen, wo der kleine Spanier abgeblieben ist?“ Niemand hatte ihn gesehen. Diego Mantagua mußte sich ziemlich eilig abgesetzt haben. Aber das war schließlich sein gutes Hecht, und keiner der Seewölfe sah einen Grund, sich sonderlich darüber zu wundern. * Diego Mantagua hatte die fünf Jahre, die er schon zur See fuhr, größtenteils auf den Schiffen von Kaufleuten verbracht, die Handel mit dem Orient trieben. Er sprach genug Arabisch, um sich. zu verständigen. Er kannte alle wilden Gerüchte über die barbareskischen Seeräuber, und er wußte einiges über sie aus eigener Erfahrung. Nach dem Untergang der „Santa Lucia“ hatte er zunächst verzweifelt nach Mercedes gesucht, aber er entdeckte sie erst, als sie bereits an Bord des Piratenschiffes gezogen wurde. Danach war Diego geschwommen, so schnell und so weit er konnte. Er wußte, wie verschwindend gering seine Chance war, die Küste zu erreichen. Aber er wollte lieber sterben, als den Piraten in die Hände zu fallen und sein Leben in der Sklaverei zu beschließen. Er wollte auch lieber sterben, als zum Borddienst auf einem englischen Schiff gepreßt zu werden. Nur zu genau erinnerte er sich an seine erste Fahrt als Schiffsjunge. Damals waren ein paar gefangene Engländer an Bord gewesen, die noch schlechter behandelt wurden als der Moses, dem es schon schlimm genug erging. Sie hatten die Hölle auf Erden erlebt, und seither fürchtete sich
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Diego davor, daß ihm etwas Ähnliches geschehen könne. Aber die Engländer an Bord der „Isabella“ waren ganz anders. Schon die kurze Zeit seines Aufenthalts an Bord hatte genügt, um ihm zu zeigen, daß dort zwar Disziplin herrschte, aber keine Brutalität, daß niemand herumgestoßen und schikaniert wurde, nicht einmal der Schiffsjunge. Diego war drauf und dran gewesen, die Seewölfe um Hilfe zu bitten und ihnen alles zu erzählen, was er wußte. Aber dann hätte doch das Mißtrauen gegen alle Engländer gesiegt, das zu tief in ihm steckte, um sich so einfach zu überwinden. Diego streifte den ganzen Nachmittag durch den Ort, kaufte ein paar Früchte, trank starken, süßen Kaffee und mischte sich stumm und beharrlich unter die Einheimischen, bis sie schließlich begannen, seine Anwesenheit zu akzeptieren. Vielleicht war es auch das Goldstück, mit dem er bezahlte, das das Mißtrauen in zögerndes Interesse umschlagen ließ. Diego wußte, daß er sich mit Geduld wappnen mußte. Er wechselte zwei, drei Sätze mit seinen Nachbarn in dem Kaffeehaus - ob es gestattet sei, sich zu setzen, ob er nicht störe - und wartete endlos auf das nächste Wort. Schließlich wurde er nach dem fremden Schiff gefragt, mit dem er gekommen war. Er begann zu erzählen, fand Zuhörer - und nach Stunden war er so weit, daß man ihm das Haus eines Mannes beschrieb, bei dem er, wenn auch zu einem Wahnsinnspreis, einen Dolch und eine uralte SteinschloßPistole kaufen konnte. Danach fühlte sich Diego Mantagua wieder etwas zuversichtlicher. Er dachte an Mercedes. Irgendwann, das wußte er, würde sie hierhergebracht werden. Dann würde er da sein, um sie zu befreien. Und danach? Über das Danach dachte Diego Mantagua noch nicht nach. Denn tief in seinem Innern wußte er, daß es bedeutet hätte, die ganze Hoffnungslosigkeit seiner Lage einzusehen.
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Big Old Shane, Ferris Tucker, Batuti, Jeff Bowie und Blacky blieben als Bordwache auf der „Isabella“ zurück. Ferris, Shane und Batuti hatten sich freiwillig gemeldet: der hünenhafte Gambia-Neger, weil er von den Einheimischen schon genug angestaunt worden war, die beiden anderen, weil sie ganz einfach dem Frieden nicht trauten. Auf Jeff und Blacky war das Los gefallen, und sie schnitten ziemlich unglückliche Gesichter. Die Aussicht, daß sie bei der nächsten ähnlichen Gelegenheit dafür wieder zu den Begünstigten gehören würden, konnte sie im Augenblick auch nicht trösten. Bei Einbruch der Dämmerung erschien eine farbenprächtige Eskorte am Schiff, die die Seewölfe quer durch den Ort ins Lager der Karawane geleitete. Es war ein malerisches Bild: bunte Zelte, die im letzten Licht der Abendsonne leuchteten, lange Tische und niedrige Sitzkissen im Freien, friedlich grasende Pferde in der Seilkoppel, sanftäugige Kamele, die am Rand des Platzes lagerten und das unverständliche Treiben der Menschen mit philosophischer Ruhe betrachteten. Die Tageshitze klang ab, doch hier in der Nähe des Meeres machte sich die Kälte, die die Nächte in der Wüste bestimmte, nur schwach bemerkbar. Karim Hosnani trat strahlend und mit ausgestreckten Händen auf seine Gäste zu - und wieder stellte Hasard fest, daß ihn irgendetwas am Gehaben dieses Mannes störte, obwohl er nicht genau zu sagen gewußt hätte, was es war. Er beschloß, auf der Hut zu sein. Auch Ed Carberrys wüstes Narbengesicht zeigte einen wachsamen Zug. Ben Brighton hatte ohnehin schon ausgesprochen, was er von Karim Hosnani hielt: zu gut, um wahr zu sein. Und Dan O'Flynn kostete es offenbar Mühe, nicht die Augen zu verdrehen ob des frommen Wunsches, die glücklichen Tage seines Lebens und die Zahl seiner männlichen
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Nachkommen möchten die Menge der Kiesel im Bach erreichen. Das Begrüßungszeremoniell war endlos und schloß ein halbes. Dutzend Brüder, Vettern und Neffen des Gastgebers mit ein, die alle Hosnani hießen und teilweise wahre Zungenbrecher von Vornamen trugen, die man sich beim besten Willen nicht, merken konnte. Eine halbe Stunde später saß Hasard neben Karim Hosnani auf dem Ehrenplatz am Kopfende der langen Tafel. Diener trugen dampfende Schüsseln und Platten auf, und irgendwo im Hintergrund spielten fremdartige Instrumente Musik in schrillen Vierteltönen, deren Monotonie etwas Aufpeitschendes hatte. Karim Hosnani und seine Sippe beschränkten sich auf Quellwasser zum Essen. Den Gästen wurde ein frisches, nur leicht alkoholisches Getränk von undefinierbar säuerlichem Geschmack serviert, dazu etwas, das in winzigen Schälchen gereicht wurde und ebenso süß wie hochprozentig schmeckte. Hasard nippte nur daran. Ein Seitenblick zeigte ihm, daß auch Ben Brighton. Ed Carberry, Dan O'Flynn und einige andere bei weitem nicht das gewohnte Trinktempo zeigten. Vorsicht war bisweilen der bessere Teil des Genusses. Das wußten sie spätestens, seit sich im Lande des großen Chan ein paar von den Seewölfen mal eine ganz normale Tabakspfeife hatten genehmigen wollen — nicht ahnend, daß sie in eine Opiumhöhle geraten waren. Karim Hosnani schien etwas erstaunt darüber, daß seine Gäste keine Anstalten zeigten, sich schnellstens in Schnapsleichen zu verwandeln. Aber in diesem Fall, fand Hasard, genügte es durchaus, die Qualität des Gebotenen mehr mit Worten, denn mit kräftigen Schlucken zu loben.' 4. „Schiff ho!“ Jeff Bowies Stimme klang gedämpft. Er war in die Besanwanten geentert, spähte
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über das dunkle Wasser und hielt sich mit seiner Hakenprothese an einer Webleine fest. Batuti stand am achteren Schanzkleid. Seine Hünengestalt verschmolz fast mit der Dunkelheit, und als er sich umwandte, schimmerte das Weiß seiner Augäpfel in dem schwarzen Gesicht. „Karavelle“, verkündete er. „Piraten. verdammtes!“ „Ha! Woher willst du wissen. Jeff Bowie verstummte, da er die Flagge der Karavelle im selben Augenblick erkannte. Das Schiff hatte platt vor dem Wind gelegen, jetzt luvte es etwas an und ging auf Steuerbordbug. Ohne Positionslichter, 'wie die Seewölfe feststellten. Und es steuerte auch nicht die Dalbenpier an, sondern hielt mit raumem Wind auf eine Stelle etwas nördlich des Fischerdorfs zu — einen Platz, den man von der „Isabella“ aus gerade noch beobachten konnte. Jeff Bowie in den Besanwanten und Batuti, Big Old Shane, Ferris Tucker und Blacky am Schanzkleid beobachteten das Ankermanöver. Genau wie Arwenack, der es sich in der Fockmars bequem gemacht hatte. und der Papagei Sir John hoch oben in den Toppen. Die Piraten dort drüben gaben sich Mühe, leise zu sein, aber ihre Vorsicht ging nicht so weit, daß sie zum Beispiel außer Sichtweite des Ortes in der nächsten Bucht geankert hätten. Offenbar fühlten sie sich sicher und wollten lediglich überflüssiges Aufsehen vermeiden. Eine einzelne Sturmlampe wurde jetzt an Bord entzündet, und Gestalten bewegten sich an Deck. „Sie machen das Beiboot klar“, stellte Blacky fest. „Was du nicht sagst!“ knurrte Jeff Bowie auf seinem luftigen Posten. „Zwei Beiboote, du Decksaffe mit Blindheit geschlagenes!“ Das war Batuti, der immer noch manchmal in sein schauderhaftes Englisch zurückfiel, vor allem dann, wenn er sich aufregte oder sehr gespannt war. Jetzt war er vor allem neugierig, genau wie die anderen.
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Sie konnten natürlich nicht wissen, daß es sich bei dem Schiff um dieselbe Karavelle handelte, die sie am Tag zuvor im Kampf mit der spanischen Galeone beobachtet hatten. Aber sie begannen es zu ahnen, als sie die Menschen sahen, die in die beiden Beiboote verfrachtet wurden. Gefangene, kein Zweifel. Das bewiesen ihre gefesselten Hände und mehr noch die Hoffnungslosigkeit ihrer Haltung, diese schleppenden Schritte und hängenden Köpfe. Einzelheiten ließen sich aus der Entfernung beim besten Willen nicht wahrnehmen, aber die Seewölfe hatten den Eindruck, daß zumindest ein paar von den Gefangenen Frauen waren. „Verdammt“, sagte Jeff Bowie. Es klang kampflustig, und er betrachtete dabei seinen Haken, wie um die Schärfe der Spitze zu prüfen. Big Old Shane kratzte sich in seinem grauen Bartgestrüpp, und Batuti rollte mit den Augen. „Piratengesindel bringt Gefangene an Land, um als Sklaven zu verkaufen, eh?“ fragte er. „Klar“, sagte Blacky beklommen. „Wir hingehen und schmeißen Piratengesindel ins Meer?“ Batuti sah sich auffordernd um. Sein schwarzes, sonst eher gutmütiges Gesicht hatte sich vor Zorn verhärtet, und die anderen kannten den Grund. Der riesige Gambia-Neger wußte, was es bedeutete, Sklavenhändlern in die Hände zu fallen. Damals, als er zur „Isabella“-Crew gestoßen war, hatten ihn die Seewölfe im Frachtraum einer spanischen BeuteGaleone gefunden, zusammengepfercht mit zahllosen Leidensgefährten. die in ihrer Heimat wie Vieh zusammengetrieben und zur menschlichen Ware erniedrigt worden waren. Und Batuti war dann bei seinen Befreiern geblieben, während seine Stammesgenossen mit einem eroberten spanischen Schiff nach Afrika zurücksegelten. „Wie stellst du dir das vor?“ knurrte Ferris Tucker. Normalerweise hätte er ein paar drastische Bemerkungen über Batutis Geisteszustand angefügt, doch diesmal drückte er sich sehr zahm aus. „Der
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Seewolf reißt uns den Kopf ab, wenn wir zu fünf Mann einen Krieg mit drei Dutzend Barbaresken anfangen. „Ha! Einem Dutzend haue ich meinen Morgenstern um die Ohren, zweites Dutzend legt Shane mit der Eisenstange flach, drittes Dutzend du mit Axt. Ist doch ganz einfach!“ „Und mein Haken? Ist der nichts?“ empörte sich Jeff Bowie. „Blödsinn!” brummte der ehemalige Schmied von Arwenack in seinen Bart. „Mir gefällt das alles auch nicht, aber ... Weiter gelangte er nicht. Dort, wo in diesem Augenblick die Kiele der Beiboote über den Sand knirschten, richtete sich mit jäher Plötzlichkeit eine Gestalt auf. Waffenstahl blinkte - und fassungslos erkannten die Seewölfe das Gesicht des jungen Spaniers Diego Mantagua im Mondlicht. „Hände hoch!“ schrie er. „Der erste, der eine Bewegung versucht, ist ein toter Mann! Lauf, Mercedes!“ Eine Sekunde lang wirkte die Szene wie gefroren. Weder die Gefangenen in den Booten noch ihre Bewacher rührten sich. Diego Mantaguas Züge waren weiß und .verzerrt vor Anspannung. Die Seewölfe begriffen, daß der Junge eine der Gefangenen befreien wollte, daß das ein Wahnsinnsunternehmen ohne jede Chance war - und im selben Moment passierte es auch schon. An Bord der Karavelle blitzte eine Muskete auf. Diego taumelte, wurde von der Wucht des Treffers zurückgeschleudert und feuerte noch im Sturz seine Waffe ab. Er traf nicht, konnte nicht treffen, da die Mündung der Steinschloß-Pistole in den Nachthimmel zeigte: Jemand lachte roh. Eine Frauenstimme schrie verzweifelt auf und dann ging alles sehr schnell. Brutal wurden die Gefangenen aus den Booten gezerrt und über den Strandstreifen getrieben. Die Dunkelheit einer Hügelfalte nahm sie auf, noch ehe die fünf Männer an Bord der „Isabella“ recht begriffen hatten. Ein paar
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von den Barbaresken blieben zurück. Einer von ihnen beugte sich über den Verwundeten. Er knurrte etwas in seiner Heimatsprache, dann stieß er den Wehrlosen mit dem Fuß an und verfiel ins Spanische. „Wer bist du, ungläubiger Hund? Was hattest du vor? Wer hat dich bezahlt? Rede!“ Diego schwieg. Dann stöhnte er gequält, als ihn ein Tritt in die Seite traf. Big Old Shane sog scharf die Luft durch. die Zähne, und Jeff Bowie enterte ab und sprang auf die Planken. Seine grauen Augen funkelten. Die anderen kannten ihn: er war meist der erste, wenn es galt, Bedrängten beizuspringen, und dabei konnte er gelegentlich jede Vernunft vergessen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie sicher schon bedenkenlos die Hauptstreitmacht der Barbaresken angegriffen. Aber jetzt hatten sie es nur noch mit-fünf Mann zu tun, wenn man von der Bordwache absah, Und Jeff brauchte gar nichts mehr zu sagen. „Dann mal los“, brummte Big Old Shane. „Aber gebärdet euch nicht so, als wollten wir die Hölle mit einem Eimer Wasser angreifen. Wir können es ja erst mal in aller Ruhe versuchen.“ * Philip Hasard Killigrew lauschte den blumigen Redewendungen seines Gastgebers, lächelte, nickte und warf dabei ab und zu einen Blick über seine Männer. Das Fest war nach dem umfangreichen Mahl mit der Vorführung von wilden Reiterspielen weitergegangen und hatte seinen vorläufigen Höhepunkt gefunden, als drei glutäugige, verschleierte Bauchtänzerinnen das Blut der Zuschauer in Wallung brachten. Den Männern wurde heiß. Hitze erzeugt Durst, und dem war nur mit dem alkoholischen Gebräu der Araber abzuhelfen. Hasard selbst und Ben Brighton blieben stocknüchtern. Bei Dan O'Flynn mochte der leichte Glanz auf den Augen noch vom Anblick der hübschen
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Bauchnabel herrühren. Ed Carberry vertrug ohnehin mehr, als der undurchsichtige Mister Hosnani vermutlich in seiner ganzen Karawane mitführte. Und die anderen - nun -ja, sie waren kein Kirchenchor, aber sie hatten noch längst nicht den Pegel erreicht, bei dem sie an Bord die Brassen und Fallen doppelt gesehen hätten. Old Donegal Daniel O'Flynn erzählte gerade hingebungsvoll die Story, wie er einmal in der irischen See zur Geisterstunde sein Holzbein abgeschnallt und einem Wassermann um die Ohren geschlagen hätte. Matt Davies erläuterte einem neugierigen Vertreter der Hosnani-Sippe mittels Zeichensprache die Funktion seiner furchterregenden Hakenprothese. Der Kutscher interessierte sich lebhaft für die Geheimnisse der arabischen Küche, da die Mahlzeit in der Tat vorzüglich gewesen war. Und Stenmark, Smoky und Sam Roskill, von einem menschlichen Bedürfnis geeint, hatten sich etwas schwankend von ihren Plätzen erhoben und schlugen sich mal eben seitwärts in die Büsche. Die nächsten Büsche lagen ein Stück entfernt und schirmten den Lagerplatz der Karawane gegen das Dorf ab. Irgendwo heulte ein Hund den Mond an. Die Zweige raschelten. Smoky stolperte über eine Wurzel, schoß vorwärts und rettete sich mit einem langen Schritt quer durch die Buschkette vor einer Bauchlandung. „Wo willst'n hin?“ erkundigte sich Sam Roskill und zwängte sich ebenfalls durch die Sträucher. „Blödmann!“ sagte Smoky. „Wer? Ich?“ fragte der blonde Stenmark mit einem drohenden Blick in die Runde. Jetzt standen sie alle drei auf der falschen Seite der langgestreckten Buschinsel. Das Dorf mit seinen weißen, verschachtelten Häusern war nur noch wenige Schritte entfernt. Smoky gähnte und kratzte sich die breite Brust. Er brauchte ein paar Sekunden, bis ihm wieder einfiel, daß die vollen Becher nicht vor, sondern hinter ihm warteten, und in
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diesen Sekunden ließ er die Augen müßig über eine der schmalen, nur von einzelnen Lichtern erhellten Gassen gleiten. „He!“ sagte er überrascht, „Wir kriegen Besuch, Leute!“ „Siehst du Wassermänner oder ...“ Stenmark verstummte. Jetzt erblickte auch er die Gestalt, die durch die Gasse kam - taumelnd, gehetzt, offenbar am Ende ihrer Kraft. Eine Frau! Ein junges Mädchen noch, schwarzhaarig und zerbrechlich schlank. Daß sie keine Araberin war, verriet die europäische Kleidung. Zerfetzte Kleidung -so, als habe sich die Trägerin mit aller Macht den Griffen brutaler Fäuste entwunden. Ihr Haar war wirr und aufgelöst, das hübsche Gesicht verzerrt vor Furcht. Von ihren Verfolgern war noch nichts zu sehen, aber sie befand sich offenbar in einem Zustand solcher Panik, daß sie nur noch blindlings floh und ihre Umgebung nicht wahrnahm. Stenmark wurde schlagartig nüchtern. Für ihn war der Fall klar: ein hilfloses junges Mädchen, das bedroht wurde, konnte seiner Unterstützung sicher sein, ganz gleich, was anlag. Den anderen ging es genauso. Wie auf ein geheimes Kommando setzten sie sich in Bewegung und die flüchtende Frau prallte erschrocken zurück. Ein schluchzender Laut drang über ihre Lippen. „Keine Angst, Lady ...“ begann Sam Roskill beruhigend, aber da hafte sie sich schon herumgeworfen und hastete den Weg zurück, den sie gekommen war. Sechs, sieben Schritte. Dann prallte sie wieder zurück. Lärm erklang am Ende der Gasse, das Geräusch von eiligen Schritten und durcheinanderrufenden Stimmen ertönte. Das Mädchen duckte sich zusammen wie ein Tier in der Falle, drehte sich um die eigene Achse und lief dann blindlings auf eine der anderen Gassen zu. Die Seewölfe folgten ihr, ohne lange zu überlegen. Das Mädchen rannte viel zu kopf-. los herum, sie hatte überhaupt keine Chance, ihren Verfolgern zu entwischen. Was für
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Verfolger das waren, darüber dachten Stenmark, Smoky und Sam im Moment nicht nach. Ihnen genügte die Gewißheit, daß es dreimal verdammte Schweinehunde sein mußten, denn nur ein dreimal verdammter Schweinehund vergriff sich an einer Frau. Zwei Minuten später war die Hetzjagd zu Ende. Das Mädchen stolperte, fiel gegen eine weiße Mauer und schloß erschöpft die Augen. Der Ausdruck des schmalen, bleichen Gesichts ging den Männern durch und durch: ein Ausdruck jenseits aller Furcht. hoffnungslos, ergeben in das Unabwendbare. Sam Roskill schüttelte den Kopf und berührte sanft die Schultern des Mädchens. „Keine Angst. Senorita“. sagte er auf Spanisch, denn es bestand kein Zweifel daran, daß sie nur eine Spanierin sein konnte. „Wir wollen Ihnen helfen. Wir haben Sie zufällig flüchten sehen, aber vor uns brauchen Sie bestimmt nicht davonzulaufen.“ Sie schlug die Augen auf. Im ersten Moment preßte sie den Rücken nur noch fester gegen die gekalkte Wand, dann glitt ihr Blick über die drei Männer. Sam Roskill, der ehemalige Karibik-Pirat, schwarzhaarig, schlank und geschmeidig, mochte sie an ihre Landsleute erinnern. Smoky, dieser Bulle von einem Kerl, sah zwar zum Fürchten aus, bemühte sich aber jetzt um ein beruhigendes Lächeln. Und daß er auf jeden Fall nicht zu den barbareskischen Seeräubern zählte, sah man ihm genauso deutlich an wie dem langen blonden Stenmark. Das Mädchen schluckte. „Ich bin geflohen“, flüsterte sie. „Ich ...“ „Das haben wir uns gedacht“, sagte Sam Roskill, der am besten Spanisch sprach. „Aber vor wem. Senorita?“ „Piraten! Sie haben unser Schiff versenkt und uns gefangengenommen. Ich heiße Mercedes del Rios.“ Ihre Stimme brach, die schmalen Schultern schauerten. „Sie wollen uns als Sklaven verkaufen“, brachte sie heraus.
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„Was sagt sie?“ fragte Smoky, dem es einige Mühe gekostet hatte. Segelkommandos und ein paar andere Brocken der fremden Sprache zu lernen für den Fall, daß sie die gute alte „Isabella“ einmal als spanisches Schiff ausgeben mußten. Sam Roskill erklärte es ihm. „Hundesöhne!“ sagte Smoky grimmig. Und dann griff er entschlossen nach seinem Entermesser, weil er die Schritte der „Hundesöhne“ schon ganz in der Nähe hörte. 5. „Aufhören!“ donnerte Big Old Shane mit einer Stimme, die einen Toten aus dem ewigen Schlaf gerissen hätte. Er donnerte es auf Englisch, aber das spielte keine Rolle. Die fünf barbareskischen Piraten ließen trotzdem von ihrem Opfer ab. Der schwerverletzte Diego Mantagua fiel schlaff in den Sand, und die Araber blickten der Gruppe entgegen, die auf sie zumarschierte. ' Nicht gerade ein beruhigender Anblick. Auch nicht für einen hartgesottenen Barbaresken, der schon mehr als einmal dem Teufel — oder dem Scheitan, in diesem Falle — ins Maul gespuckt hatte. Der kräftige schwarzhaarige Kerl, der da lässig heranschlenderte und mit seinem Entermesser spielte, mochte ja noch angehen. Aber der stämmige Bursche mit dem mörderischen Eisenhaken statt der linken Hand gehörte schon zu dem Kaliber, um das man besser von vornherein einen Bogen schlug. Neben ihm marschierte ein rothaariger Riese mit einem Kreuz so breit wie ein Rahsegel und einem Ungetüm von Zimmermanns-Axt in der Faust. Die Spitze hatte ein graubärtiges, urwüchsiges Gebirge von Mann, in dessen mächtigen Fäusten sich die Eisenstange beinahe wie ein Spielzeug ausnahm. Und hinter ihm ... „Der Scheitan!“ flüsterte einer der Araber entsetzt. Und auch die anderen starrten erschrocken auf die schwarze Hünengestalt von Batuti, der sein Raubtiergebiß fletschte,
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furchterregend mit den Augen rollte und dabei geradezu liebevoll die eisernen Zacken des schweren Morgensterns streichelte. „Englisch verstehst du wohl nicht, du von einem Kameltreiber gezeugter Sohn einer syrischen Wanderhure“, knurrte Blacky tief in der Kehle. „Aber vielleicht Spanisch?“ fragte Jeff Bowie und fügte ebenfalls einige Bemerkungen über die Abstammung des Mannes hinzu. Allerdings auf Englisch, denn sie hatten sich ja vorgenommen, möglichst keinen Krieg anzufangen. Spanisch verstanden die Barbaresken. Wenigstens einige von ihnen. Und da sich im selben Moment von der Bordwand der Karavelle ein weiteres Boot löste, wurden sie sofort wieder mutig. „Was willst du?“ fauchte der Wortführer. Was danach folgte, war ein spanischarabisches Gemisch. Jeff Bowie verstand es nicht, aber er knirschte mit den Zähnen, weil er sehr richtig vermutete, daß es sich um Beleidigungen handelte. Big Old Shane schob Jeff zur Seite, bevor der anfangen konnte, den Beleidiger mit dem Stahlhaken aufzuschlitzen. „Was hat euch der Mann getan?“ donnerte der ehemalige Schmied von Arwenack. „Der räudige Hund wollte uns umbringen!“ brüllte der Araber zurück. Man hörte, daß er es ebenfalls gewöhnt war, Sturm und Unwetter zu übertönen. „Haha!“ meldete sich Ferris Tucker. Ziemlich reise, was zur Abwechslung umso eindrucksvoller klang. „Mit einer einschüssigen Steinschloß-Pistole wollte er zwanzig Männer umbringen. Ihr wart doch zwanzig Männer, oder?“ Genau das schien der Punkt zu sein, der auch dem Araber nicht in den Kopf wollte. Er schwieg sekundenlang, dann wandte er sich hilfesuchend dem Boot zu, das die Seewölfe schon die ganze Zeit über aus den Augenwinkeln beobachteten. Der Mann, der aufrecht im Bug stand, mußte der Kapitän sein. Er war groß und drahtig, hatte ein dunkelbraun verbranntes, verwegenes Gesicht, scharfe schwarze Augen und eine Haltung, die
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selbstverständliche Autorität ausstrahlte. Geschmeidig schwang er sich über die Ducht, sprang an Land und blieb mit zusammengezogenen Brauen stehen. „Was geht hier vor?“ fragte er gefährlich leise. Die Seewölfe wandten die Köpfe. Drei Mann saßen außer dem Kapitän im Boot, das hatten sie schon vorher festgestellt. Damit stand es neun gegen fünf. Das hätte sie an sich nicht weiter gestört. aber sie wollten ja nicht eigenmächtig einen Krieg mit den Barbaresken anfangen und unter Umständen einen Haufen Schwierigkeiten für die „Isabella“ heraufbeschwören. Big Old Shane lächelte. Und. wenn er wollte, konnte er lächeln wie ein freundlicher Großvater. „Haben Sie ihm das Ding verpaßt?“ erkundigte er sich mit einer Kopfbewegung auf den jungen Spanier. „Ich bin Abu Ben Rachid“, sagte der Pirat schneidend. „Dein Ton gefällt mir nicht! Eure Unverschämtheit gefällt mir nicht! Und ich dulde nicht, daß irgendein Narr auf meine Männer schießt, verstanden?“ Big Old Shane kochte innerlich. Aber er lächelte immer noch wie ein freundlicher Großvater. „Da haben Sie ganz recht, Kapitän“, meinte er. „Aber der arme Junge da ist ein bißchen verrückt, müssen Sie wissen. Hat im Sturm eine Spiere auf den Kopf gekriegt, und nun dreht er manchmal durch. Vor allem, wenn er Frauen sieht. Aber wir werden ihn schon wieder hinkriegen.“ „Er gehört zu euch?“ „Sicher doch“, behauptete Shane. „Und wir lassen unsere Leute natürlich auch nicht so einfach im Stich. Nicht mal, wenn sie vorübergehend einen kleinen Dachschaden haben.“ Abu Ben Rachid kniff die Augen zusammen. Er war ein gefährlicher Mann, darüber gaben sich die Seewölfe keinen Illusionen hin. Aber er war auch ein Mann mit einem scharfen Blick, ein Mann, der einen harten Kämpfer erkannte, wenn er ihn vor sich
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sah. Wenn er es zum Kampf kommen ließ, würde er vielleicht gewinnen, aber mindestens fünf Männer verlieren. Mindestens! Abu Ben Rachids Augen glitten über Batutis Morgenstern, Ferris Tuckers Axt, Jeff Bowies mörderischen Haken, Big Old Shanes Eisenstange, und er gestand sich ein, daß er einen Fehler begangen hatte, als er sich an Land pullen ließ, ohne vorher einen eingehenden Blick durch das Fernrohr zu werfen. Außerdem hatte der Pirat - was die Seewölfe nicht wissen konnten - etwas Wichtiges vor, das keinen Aufschub duldete. Er lächelte. Ein ziemlich schmales, ziemlich giftiges Lächeln, aber es signalisierte die Bereitschaft zum Nachgeben. „Wir sind nicht rachsüchtig“, erklärte er aalglatt. „Aber ich empfehle Ihnen, in Zukunft besser auf Ihren Mann aufzupassen.“ „Das werden wir“, brummte Shane. „Das werden wir bestimmt. Blacky, Ferris, auf was wartet ihr?“ „Darauf, daß diese hakennasigen Bilgengespenster verschwinden“, brummelte Blacky auf Englisch. Aber das taten die „Bilgengespenster“ im selben Augenblick von selbst, und die Seewölfe konnten unbehindert den Verletzten aufheben, um ihn vorsichtig an Bord der „Isabella“ zu schaffen. Was die barbareskischen Piraten an Land zu tun hatten, kümmerte sie nicht weiter. Sie konnten ja auch nicht ahnen, daß es etwas war, das sie alle unmittelbar und höchst unangenehm betreffen würde. * Ben Rachid war mit seinen Leuten unterwegs, um zu seinem Partner zu stoßen. Genauer gesagt: um diesem Partner beizuspringen, da er offenbar in einer Situation steckte, die er allein nicht bewältigen konnte. Das jedenfalls hatte der Bote gefaselt, der plötzlich aufgetaucht war, als der barbareskische Pirat seine
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Gefangenen zu einem seiner zahlreichen Stützpunkte trieb. Normalerweise pflegte sich Ben Rachid nur um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Aber diesmal winkte Gewinn. Sein Partner hatte ihm einen fetten Anteil an der Ware versprochen, die es zu erobern galt, und angeblich handelte es sich um wertvolle Ware. Ben Rachids Partner hieß Karim Hosnani. Und er log nicht einmal, wenn er sich als Kaufmann bezeichnete. Karim Hosnani war wesentlich bekannter unter dem Spitznamen „der Geier“ - und er war der mit Abstand gefürchtetste und skrupelloseste Sklavenhändler des Maghreb. Während er mit seinen Leuten durch die dunklen Gassen von Sidi-al-Narouz eilte. überlegte der Piratenkapitän, da ß die _Ware“ tatsächlich von besonderem Kaliber sein mußte, wenn es sich sein Partner nicht zutraute, sie allein zu vereinnahmen. Ben Rachid ahnte bereits, über welcher Beute der „Geier“ kreiste. Hosnani hatte selten Gelegenheit, seine „Ware“ praktisch umsonst zu erhalten. Die Fischer und Fellachen mußte er ungeschoren lassen, weil er sie brauchte, und die Gefangenen der Barbaresken mußte er teuer bezahlen. Jetzt hatte er offenbar ein Geschäft eingefädelt, das er allein nicht bewältigte. Ben Rachid lächelte. Ein wenig schadenfroh. aber vor allem zufrieden, weil etwas von dem Brocken für ihn und seine Mannschaft abfallen würde. Sehr vorsichtig pirschten sich die neun Männer an das -Lager der Karawane heran. Feuer prasselten, der würzige Duft nach gebratenem Hammel hing in der Luft. Musik und Gelächter erklangen. Offenbar war ein Fest im Gange - und Abu Ben Rachid runzelte verständnislos die Stirn. Wo, beim Scheitan, konnten da die Schwierigkeiten liegen? Nichts war doch einfacher, als eine Horde von Seeleuten sinnlos betrunken zu machen! Wenn es gar nicht anders ging, mischte man ihnen eben ein paar Tropfen
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Gift ins Glas, das sie betäubte. Genau das hatte Hosnani zweifellos vorgehabt. Es klappte immer. Es sei denn, dieser Narr hatte sich nicht mit irgendwelchen normalen Seeleuten angelegt, sondern mit dem Scheitan persönlich und sämtlichen Dschinn der Hölle. Mit zusammengekniffenen Lidern musterte Abu Ben Rachid den großen, schwarzhaarigen Mann mit den eisblauen Augen, der neben Kahm Hosnani am Kopfende der Tafel saß. Der Bursche lächelte. Eigentlich ganz freundlich. Aber sein hartes, braungebranntes Gesicht mit der Narbe wirkte wild und verwegen, und als er jetzt zwei Reihen blitzender. blendend weißer Zähne zeigte, sah er tatsächlich wie ein schwarzhaariger Scheitan aus. Und Abu Ben Rachid, der BarbareskenKapitän, hatte plötzlich ein kaltes Gefühl im Nacken. * Um dieselbe Zeit traf Karim Hosnani eine Entscheidung. Es war sinnlos. darauf zu warten, da ß sich seine Gäste betranken, bis sie von selbst umkippten. Diese Kerle kippten einfach nicht. Und mindestens vier von ihnen waren überhaupt nüchtern - oder so gut wie nüchtern. Der schwarzhaarige Teufel von Kapitän plauderte, lächelte liebenswürdig und war dabei die Wachsamkeit selber. Völlig ausgeschlossen, ihm heimlich ein paar Tropfen Betäubungsgift ins Glas zu praktizieren! Genauso ausgeschlossen wie bei dem ruhigen. schweigsamen Bootsmann neben ihm, dem blonden Jungen mit den Falkenaugen und dem Hünen mit dem wüsten Narbengesicht und dem Rammkinn, der den Eindruck erweckte. als könne er ein Faß Rum allein aussaufen, ohne daß ihm auch nur das geringste in seiner Umgebung entging. Karim Hosnani hätte sich am liebsten die Haare gerauft, aber er blieb in der Rolle des freundlichen Gastgebers.
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Philip Hasard Killigrew allerdings spürte die verhaltene Spannung des Mannes mit jeder Faser. Er spürte sie, so wie er ein heranziehendes Wetter spürte, bevor sich am Himmel auch nur das geringste veränderte. Der Seewolf war von Anfang an auf der Hut gewesen und deshalb entging ihm auch nicht das geheime Zeichen, das Karim Hosnani einem seiner Diener gab. Was dieses Zeichen allerdings bewirkte oder bewirken sollte, ließ sich vorerst beim besten Willen nicht erkennen. Hasards Kopfhaut kribbelte. Seit einigen Minuten vermißte er Stenmark, Sam Roskill und Smoky. Außerdem spürte er, daß sich etwas zusammenbraute. daß irgendetwas unter der Oberfläche vorging. Er hatte plötzlich das verdammte Gefühl, daß die Falle bereits zugeschnappt war und er den entscheidenden Fehler bereits begangen hatte. als er den hilfsbereiten Wüstensohn nicht gleich bei der ersten Begegnung vierkant ins Wasser befördert hatte. Aber das waren müßige Gedanken. Was im nächsten Moment geschah, erfolgte so plötzlich, so heimtückisch und auf eine so teuflische Art, daß auch ein Seewolf dem nichts entgegenzusetzen hatte. Hosnani hob sein Glas. „Auf Ihre Heimat!“ rief er. „Auf England und seine ruhmreiche Flotte!“ Und damit war das Verhängnis nicht mehr aufzuhalten. Fast ein Dutzend Seewölfe leerte begeistert die Gläser bis zur Neige. „Auf England!“ dröhnten ihre Stimmen. „Arwenack!“ brüllte Old O'Flynn mit dem Holzbein, der anscheinend nicht mehr so ganz durchblickte. Dabei fiel ihm das Glas aus der Hand -und im nächsten Moment kippte er um, als sei nicht nur sein Bein, sondern der ganze Mann ein Stück Holz. „Wetten, daß er morgen früh noch pennt?“ fragte O'Flynn junior. Hasard antwortete nicht. Er starrte Will Thorne an, den weißhaarigen Segelmacher, der durchaus maßvoll getrunken und trotzdem plötzlich glasige Augen hatte. Schlagartig begriff
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der Seewolf, was gespielt wurde - und in derselben Sekunde spürte er die jähe Bewegung neben sich. Karim Hosnani schnellte von seinem Sitzkissen hoch und lief - weg von diesem schwarzhaarigen Teufel, das war im Moment sein einziger Gedanke. Hasard war aufgesprungen und hielt bereits den Degen in der Faust. Er hatte nur den Bruchteil einer Sekunde gebraucht, um sich darüber klarzuwerden, daß ihre einzige Chance darin bestand, Hosnani als Faustpfand zu nehmen, doch er hatte nicht mit dessen feigem Ratteninstinkt gerechnet. „Arwenack!“ peitschte Hasards Stimme in dem vergeblichen Bemühen, seine schon halb betäubten Männer aufzurütteln. „Arwenack!“ brüllten Ben Brighton, Ed Carberry und Dan O'Flynn, die als einzige ungeschoren geblieben waren und das teuflische Spiel inzwischen auch durchschauter; Aber es nützte nichts. Das Gift wirkte schlagartig. Die Männer sackten zusammen, ließen die Köpfe auf die Tischplatte sinken oder fielen einfach zur Seite, und die arabischen Angreifer stießen ein schrilles Triumphgeheul aus. Sie hatten gesiegt. Knüppel wurden unter Burnussen hervorgezerrt, Fäuste geschwungen. Die ganze Meute stürzte sich auf den kläglichen Rest der Gegner, den man bei der Verteilung des Giftes ausgespart hatte, und im nächsten Augenblick prallte die ganze Meute aufheulend zurück, weil der „klägliche Rest“ wie durch Zauberei zu einer kämpfenden, waffenstarrenden, klingenwirbelnden Einheit geworden war, die sich wie ein leibhaftiger Taifun gebärdete. Ein zielbewußter Taifun, denn auch Ben Brighton, Ed Carberry und Dan O'Flynn wußten genau, wie man die Hölle mit einem Eimer Wasser angreift: indem man droht, den Oberteufel darin zu ersäufen. Karim Hosnani wich mit bleichem Gesicht zurück. Seine Leute reagierten völlig kopflos, sie hatten das Gefühl, als sei eine Horde
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wilder Dschinn unter sie gefahren. Die Seewölfe hätten durchaus noch eine Chance gehabt - wenn die ohnehin erdrückende Übermacht nicht im selben Augenblick noch Verstärkung erhalten hätte. Abu Ben Rachid und seine Barbaresken brachen mit Gebrüll aus den Büschen. Wie ein Keil schoben sie sich zwischen die Seewölfe und ihren hinterhältigen „Gastgeber“. Und Hasard wußte sofort, daß das die Entscheidung war. Auch mit diesen Kerlen hätten sie notfalls aufräumen können. aber während sie das versuchten, hatte die Übermacht in ihrem Rücken Gelegenheit, sich von dem Schrecken zu erholen. Hasard fand gerade noch die Zeit, sich zu fragen, wieso die Angreifer nicht einfach schossen. Er schaffte es sogar noch, einem der Burschen den Degen in die Schulter zu stoßen. Dann hörte er schräg hinter sich Ed Carberrys wahrhaft lästerlichen Fluch und im nächsten Augenblick krachte ein Holzknüppel auf seinen Schädel und ließ ihn vornüberfallen. Sein letzter Gedanke galt Karim Hosnani. Es war kein menschenfreundlicher Gedanke. Aber dazu bestand ja auch absolut kein Anlaß. 6. In dem Torweg lag die Dunkelheit wie schwarzer Schlamm. Sam Roskill hatte tröstend den Arm um die zitternde Mercedes gelegt und streichelte ihr Haar. Der kann's auch nicht lassen, dachte Stenmark erbittert, während er sich vorsichtig an der gekalkten Wand vorbeischob. um auf die Gasse zu spähen. Die Barbaresken hatten sich verteilt und durchkämmten das Dorf. Die Seewölfe schätzten sie auf mindestens zwölf bis fünfzehn Mann -eine Menge Aufwand, um ein verstörtes junges Mädchen wieder einzufangen. Nun ja: Mercedes war eine Schönheit, und die Kerle mochten sich ein besonders gutes Geschäft versprechen.
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Im Augenblick sah und hörte man nichts mehr von ihnen. Wahrscheinlich hatten sie sich irgendwo gesammelt und beratschlagten im Flüsterton. Die Leute des Dorfs, denen die nächtliche Hetzjagd natürlich nicht entgangen sein konnte, blieben in ihren Häusern und verschlossen Augen und Ohren. Feiglinge, dachte Stenmark. Aber dann sagte er sich, daß die harmlosen Fischer wohl wußten, wie wenig sie gegen die Barbaresken ausrichten konnten. „He!“ flüsterte Smoky, der sich auf der anderen Seite des Torwegs an die Wand preßte. Stenmark kniff die Augen zusammen. Er wußte sofort, was Smoky meinte. Auch er hatte die ganze Zeit über aus der Ferne die Geräuschkulisse des Festes gehört. Eine Geräuschkulisse, die sich nun plötzlich veränderte. Mit einem schrillen Mißklang brach die Musik ab. Irgendetwas polterte, es klang, als sei ein Tisch umgefallen, doch aus der Entfernung ließ sich das nicht so genau feststellen. Stenmark zog die Unterlippe zwischen die Zähne, lauschte - und dann zuckte er zusammen, als habe man ihm eins mit der Neunschwänzigen übergezogen. „Arwenack!“ Dünn und verweht, aber ganz deutlich! Arwenack - der Name der Stammfeste der Killigrews in Falmouth, der schon vor langer Zeit zum Schlachtruf der Seewölfe geworden war. Jemand hatte ihn ausgestoßen, und jetzt, viel lauter, wurde er von mehreren Stimmen wiederholt. „Arwenack! Ar-we-nack !“ „Himmelarsch!“ flüsterte Smoky erschrocken. Stenmark warf den Kopf herum. „Hast du's gehört, Sam? Wir müssen hin!“ Natürlich hatte Sam Roskill es gehört. Er packte Mercedes am Arm. „Kommen Sie, Senorita! Wir nehmen Sie mit. Wahrscheinlich wird es ganz schön rundgehen, dann müssen Sie sich eine Weile verstecken. Aber wir werden uns bestimmt um Sie kümmern.“
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Mercedes war alles gleich, wenn sie nur nicht wieder in die Hände der Barbaresken fiel. Stumm und zitternd ließ sie sich von Sam mitziehen. Smoky Und Stenmark eilten bereits über die Gasse. Sie hörten Waffenklirren und Geschrei, die entfernten Geräusche eines Kampfes, und dann brach plötzlich auch unmittelbar vor ihnen die Hölle los. Im ungeeignetsten Moment hatten die Verfolger ihre Beute wieder erspäht. Wie eine Horde entfesselter Wilder brachen sie aus der dunklen Einmündung einer Gasse hervor, brüllend, säbelschwingend - eine erdrückende Übermacht. Vielleicht glaubten sie, ihre Gegner durch bloßes Geschrei in die Flucht schlagen zu können. In neun von zehn Fällen mochte ihnen das sogar gelingen, wild genug dazu sahen sie aus, aber in diesem einen Fall erlebten sie eine Enttäuschung. Die Seewölfe prallten zurück, doch ihre Überraschung dauerte nur eine Sekunde. „Arwenack!“ dröhnte es dreistimmig. Sam Roskill beförderte Mercedes mit einem Stoß hinter sich und zog die Pistole mit dem Miquelet-Schloß aus dem Gürtel. Auch die beiden anderen hielten plötzlich Schußwaffen in den Fäusten. „Zurück!“ brüllte Smoky, aber fünfzehn kampferprobte Barbaresken ließen sich natürlich so leicht nicht einschüchtern. Der Vorderste feuerte eine schwere Steinschloß-Pistole ab. Sam Roskill schoß ebenfalls, traf den Araber in den Kopf und hatte gleichzeitig das Gefühl, als ob sein eigener Schädel zerplatzte. Er fiel vornüber und verlor das Bewußtsein. Smoky erwischte einen Gegner an der Schulter, Stenmark wurde die Waffe von einer feindlichen Kugel aus der Hand geprellt, und dann stießen die beiden Gruppen auch schon im Nahkampf aufeinander. Die Barbaresken sparten den Rest ihrer Munition. Zwei von ihnen waren kampfunfähig, drei stürzten sich auf das zitternde, von Entsetzen gelähmte Mädchen. Blieben
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noch zehn - und die hatten in den nächsten fünf Minuten den. Eindruck, eine völlig neue Sorte Mensch kennenzulernen. Smoky und Stenmark wüteten wie die leibhaftigen Teufel, bevor sie mit fliegenden Fahnen untergingen. Drei Araber sackten blutend zusammen, bevor es ihren Kumpanen auch nur gelang, den beiden Männern, die sie für wehrlose Opfer gehalten hatten, die Entermesser aus den Händen zu schlagen. Smoky kämpfte mit dem Dolch weiter und erledigte einen weiteren Mann, was ihn allerdings die Waffe kostete. Stenmark krümmte sich unter einem Hagel von Faust- und Knüppelhieben, aber er krümmte sich nur, um ein Messer aus dem Stiefel zu zaubern. Noch während ein Stück soliden Holzes auf seinen Schädel krachte, schnellte er hoch, rammte das Messer in einen weißen Burnus, und erst der dritte Schlag auf den Kopf brachte ihn endgültig zu Boden. Bei Smoky mußten sie fünfmal zuhauen und der Mann, dem er währenddessen an der Gurgel gehangen hatte, war danach nicht mehr zu gebrauchen. Der klägliche Rest der Barbaresken prügelte auf den Bewußtlosen herum, bis zwar nicht die Wut, aber der Atem ausging. Mercedes schluchzte haltlos beim Anblick der blutenden, zerschundenen Gestalten. Die Araber rangen nach Atem, faßten sich und sammelten ihre Toten und Verwundeten auf. Den drei Bewußtlosen widmeten sie keinen Blick mehr. Auf die Idee, sie mitzuschleppen, um sie ebenfalls als Sklaven zu verkaufen, kamen -sie nicht. Sam Roskill hielten sie für tot, und die beiden anderen, so glaubten sie. waren nach der brutalen Behandlung bestimmt nicht mehr zu gebrauchen. Die Barbaresken irrten. Denn aus welchen Holz die Seewölfe wirklich geschnitzt waren, hatten die Kerle immer noch nicht begriffen. *
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Philip Hasard Killigrew hatte das Gefühl, daß ein verrückt gewordener Schiffszimmermann seinen Kopf mit einem Kalfathammer bearbeitete. Er stöhnte gepreßt und wollte den Verrückten mit einer rechten Geraden zur Vernunft bringen. Bei dieser Gelegenheit stellte er fest, daß seine Hände gefesselt waren. Seine Füße ebenfalls. Unter sich fühlte er Bretter, die für Schiffsplanken zu rauh und uneben waren, und gleichzeitig wurde ihm klar, daß das Dröhnen in seinen Ohren nur zum Teil aus seinem eigenen Schädel stammte und im übrigen aus irgendwelchen gleichmäßigen, sägenden Geräuschen bestand, die er im ersten Moment nicht zu deuten wußte. Dann erkannte er sie. Schnarchgeräusche! Und nicht nur vereinzelt, sondern gleich im Dutzend. Hasard hielt die Augen geschlossen und rührte sich nicht, weil er aus Erfahrung wußte, daß überstürzte Aktionen meistens nichts brachten. Vor allem nicht, wenn man an Händen und Füßen gefesselt war und nicht wußte, wo man sich befand. Der verrückte Schiffszimmermann mit seinem Kalfathammer schien allmählich zu ermüden, die Erinnerung setzte ein, und Hasard knirschte mit den Zähnen. Hosnani! Dieser verdammte, heuchlerische Bastard! Hasards Magen krampfte sich zusammen, als er sich an das gespenstische Bild erinnerte: seine Männer, die plötzlich wie vom Blitz getroffen umgefallen waren. Hatte dieser Teufel sie vergiften lassen? Mühsam öffnete der Seewolf die Augen, hob ein Stück den Kopf und ignorierte den Schmerz, der von seinem Nacken her wie mit hundert Stichflammen in alle Richtungen zuckte. Das Bild vor seinen Augen verschwamm, aber er erkannte immerhin, daß es seine Leute waren, die da friedlich um die Wette schnarchten. Erleichtert ließ er den Kopf zurücksinken. Sie lebten! Das Gift, das zweifellos in ihren Gläsern gewesen war, hatte sie nur betäubt. Und auch diejenigen, bei denen Hosnani seinen miesen Trick nicht gewagt
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hatte, weil sie noch zu nüchtern und aufmerksam gewesen waren, hatten es vermutlich überstanden. Hasard erinnerte sich deutlich, daß die Übermacht der Araber nur mit Knüppeln und den flachen Klingen über sie hergefallen war. Warum die Kerle sie unbedingt lebend haben wollten, konnte der Seewolf nur ahnen, aber diese Ahnung war alles andere als angenehm. Er drehte den Kopf, ließ die Augen schweifen und stellte fest, daß er mitsamt den anderen auf einem flachen, altersschwachen Holzkarren lag. Mit dem Ding waren sie wohl transportiert worden. Aber wohin zum Teufel? Hasard zog die Beine an, stemmte die Absätze in die Ritze zwischen zwei Holzbrettern und schob seinen Körper über den Wagenboden, bis er die seitliche Umrandung im Rücken hatte. Mühsam richtete er sich auf. An der anderen Seite des Wagens erwachte gerade Dan O'Flynn aus seiner Bewußtlosigkeit. Irgendwo gab Ed Carberry Flüche von sich, die sich mit dem edelsten Körperteil der Affen beschäftigten. Es war dunkel. Mondsichel und Sterne ließen nur Umrisse erkennen und verhinderten, die teilweise kreuz und quer übereinanderliegenden Bewußtlosen genau zu erkennen. Und es war kalt, stellte Hasard fest — was darauf schließen ließ, daß die Wüste ziemlich nah sein mußte. Wenn er den Hals reckte, konnte der Seewolf über den Rand des Karrens schauen. Was er sah, wirkte nicht gerade ermutigend. Im Westen eine Art Steppe, mit Dornbüschen bewachsen, von einer Hügelkette begrenzt. Keine Spur vom Meer, kein Lichtschimmer, der auf die Nähe des Fischerdorfs oder einer anderen Ansiedlung hingewiesen hätte. Im Norden und Süden sah die Landschaft ganz ähnlich aus - und was sich in einiger Entfernung abzeichnete, war zweifellos die sanft geschwungene Linie von Sanddünen. Sie befanden sich meilenweit im Landinneren, unmittelbar am Rand der Wüste.
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Karim Hosnani hatte offenbar seine ganze Zeltstadt hierher verlagert. Allerdings sah sie jetzt überhaupt nicht mehr festlich aus. Auch die Pferde fehlten, waren entweder zurückgelassen oder von irgendwelchen Begleitern inzwischen weggebracht worden. Und auch diese Tatsache wirkte alles andere als ermutigend, denn sie bewies, daß die Karawane quer durch die .Wüste weiterziehen wollte. Hasard biß die Zähne zusammen. Sein Blick glitt über die weißen Schatten, die sich mit gleichmäßigem Schritt am Rand des Lagers bewegten: arabische Wächter in Burnussen, mit geschulterten Musketen. Karim Hosnani und ein paar von seinen Brüdern, Vettern, oder was immer sie in Wirklichkeit waren, saßen um ein behaglich flackerndes Feuer. Die restlichen Gefangenen hatten es nicht so bequem. Etwas mehr als ein Dutzend Gestalten kauerten oder lagen im Sand. Hasard sah die dünne Kette, die die Fesseln an ihren Handgelenken untereinander verband und zu beiden Seiten an dicken, tief in die Erde gerammten Holzpflöcken befestigt war und dann hatte er das Gefühl, einen Tritt in den Magen zu erhalten. Mindestens zehn von den Gefangenen waren Frauen! Spanierinnen offenbar. Frauen mit zerfetzten Kleidern und wirrem Haar, hoffnungslos, apathisch in ihr Schicksal ergeben - und zweifellos war es das gleiche Schicksal, das Karim Hosnani auch den Seewölfen zugedacht hatte. Sklaverei! Dieser Bastard von einem mißratenen Wüstensohn war ein Sklavenhändler! Wahrscheinlich kaufte er normalerweise die Gefangenen auf, die die barbareskischen Piraten bei ihren Raubzügen machten. Nebenbei versuchte er einzusacken, was immer sich in seinem Revier an ahnungslosen Fremden sehen ließ. Und er, Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, war diesem heuchlerischen Hund in die Falle gegangen wie - wie... Das passende Wort fiel ihm nicht ein.
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Und im Augenblick war er auch nicht in der Stimmung, sich klar zu sagen, daß er die Falle unmöglich hatte wittern können und es unsinnig war, sich etwas vorzuwerfen. Er war in der Stimmung, sich selbst unangespitzt in den Boden zu rammen, eine Flotte zu versenken oder wenigstens Karim Hosnani zu Haferbrei zu verarbeiten, und da er ein Ventil brauchte, begann er wie wild, an den Fesseln zu zerren. Zwecklos. Das hatte er schon vorher gewußt. Er erreichte lediglich, daß der Sklavenhändler aufmerksam wurde, sich geschmeidig erhob und zu dem Karren ging. „Ausgeschlafen, mein Freund?“ fragte er spöttisch. Hasard starrte ihn an und zeigte in einem wilden Grinsen die Zähne, weil er dem Kerl nicht die Genugtuung gönnte, seinen ohnmächtigen Zorn zu erleben. „Salem aleikum, du Enkel eines räudigen Schakals“, sagte er genußvoll. „Möge das Schicksal dir Krätze, Pestilenz und schwachsinnige Söhne bescheren und der Scheitan deine schwarze Eunuchenseele holen.“ Krätze, Pestilenz und schwachsinnige Söhne schluckte der Sklavenhändler mit einem höhnischen Lächeln. Die „Eunuchenseele“ war zu viel. Ein Wutschrei brach über Karim Hosnanis Lippen, mit einem Sprung war er auf dem Wagen und drosch dem wehrlosen Gefangenen die Faust an die Schläfe. * „Da stimmt was nicht“, sagte Ferris Tucker entschieden. Die anderen nickten dazu. Sie hatten Diego Mantagua verarztet, so gut es ging: die Musketenkugel war ihm zum Glück nur über die Rippen gefahren, und die tiefe Fleischwunde würde wieder heilen. Jetzt schlief der Junge – nach einer ordentlichen Ration Whisky zur Bekämpfung der Schmerzen. Vor zwei Stunden waren auch die barbareskischen Piraten zurückgekehrt, an Bord ihrer Karavelle gegangen und
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davongesegelt, ohne sich weiter um die „Isabella“ zu kümmern. Aber Hasard und die restlichen Seewölfe hatten sich noch nicht sehen lassen, und die Zurückgebliebenen wurden allmählich unruhig. „Sollen wir nicht lieber mal nachsehen?“ schlug Blacky vor. Big Old Shane zögerte einen Moment, dann nickte er. Minuten später turnten Ferris Tucker und Jeff Bowie über den schmalen Steg, liefen über die Dalbenpier und schlugen die Richtung ein, in der das Lager der Karawane liegen mußte. Im Dorf war alles still. „Merkwürdig“, sagte Tucker. „Die Fischer fahren doch sonst in aller Herrgottsfrühe 'raus.“ „Vielleicht verkriechen sie sich, weil irgendetwas passiert ist“, meinte Jeff Bowie. „Quatsch mit Bilgenwasser! Glaubst du, hier gehen Wassermänner um, du dämliche Kanalratte?“ „Nee, aber vielleicht Dschinn. So nennen die Araber nämlich ihre komischen Dämonen.“ Ferris grunzte nur wütend. Er wollte einfach nicht wahrhaben, daß etwas passiert sein könne. Mit langen Schritten marschierte er durch die Gassen, der kleinere, stämmige Jeff Bowie mußte ab und zu einen Laufschritt einlegen, um auf gleicher Höhe zu bleiben. Sie erreichten das Ende des Dorfs, durchbrachen eine Buschkette – und blieben stehen wie vom Donner gerührt. Die Spuren im weichen Boden verrieten noch, daß hier bis vor kurzem Zelte gestanden und Tiere gegrast hatten. Ein umgestürzter Tisch war zurückgeblieben, die Glut in der Feuergrube, über der der Hammel gebraten worden war, und eine Menge Scherben. Kein Zweifel, genau hier hatte die Karawane gelagert. Jetzt glich der Platz einem Trümmerfeld —und mittendrin lag ausgestreckt eine Gestalt, die die Seewölfe sofort erkannten. Donegal Daniel O'Flynn. Old O'Flynn mit dem Holzbein.
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Er lag friedlich da, umarmte seine Krücken und schnarchte, was das Zeug hielt. Ferris Tucker und Jeff Bowie brauchten volle fünf Minuten, um ihn auch nur einigermaßen wachzukriegen. „Arwenack“, grummelte er. „Der Teufel soll den verdammten Schnaps holen. He! Ho ...“ Erschrocken fuhr er hoch und sah sich um. Die graue Morgendämmerung, die leere Feststätte, die von Sorge und Erregung verzerrten Gesichter — das alles versetzte ihn schlagartig in Alarmstimmung. Und da ihn Ferris Tucker zudem noch wie einen Bettsack schüttelte, gelang es ihm, die Nachwirkungen von Alkohol und Gift ziemlich schnell aus seinem Gehirn zu vertreiben. Seine Flüche hätten den Teufel selber erröten lassen. Er klappte erst den Mund zu, als Ferris ihn anbrüllte, er solle endlich, in drei Teufels Namen, sein ungewaschenes Schandmaul halten, wenn er nicht demnächst das Pökelfleisch im Magen kauen wolle, wohin er ihm nämlich sonst die Zähne schlagen werde. Old O'Flynn revanchierte sich mit einer Bemerkung über Tuckers Großmutter, die demnach eine triefäugige Gewitterziege gewesen sein mußte. Dann bemühte sich der alte Haudegen, seinen Grips anzustrengen — mit dem Ergebnis, daß er keine blasse Ahnung hatte, was passiert war. Er entsann sich noch schwach, daß Karim Hosnani einen Toast auf England ausgebracht hatte. Danach klaffte eine große Gedächtnislücke. Old O'Flynn nahm an, daß er sanft entschlummert war. Aber wieso man ihn hier zurückgelassen hatte und wo die Seewölfe steckten, wußte er beim besten Willen nicht zu sagen. Ferris Tucker und Jeff Bowie konnten sich auch keinen Reim auf die Sache bilden. Aber die Ahnungen, die in ihnen keimten, waren reichlich düster. 7.
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Stenmark, Sam Roskill und Smoky waren alle drei aus dem gleichen harten Holz geschnitzt, und deshalb erwachten sie auch ungefähr gleichzeitig aus der tiefen Ohnmacht. Sie erwachten nicht auf der schmutzigen Gasse, sondern auf einem weichen Teppichlager in einer Fischerhütte, aber das begriffen sie erst etwas später, Sam Roskill wunderte sich, daß er noch lebte, da er sich doch dunkel zu erinnern glaubte, daß er eine Kugel in den Kopf gekriegt hatte. Aber im besseren Jenseits roch es nicht nach Fisch, in der Hölle bestimmt auch nicht, also mußte die Kugel wohl an seinem Kopf vorbeigeflogen sein. Stöhnend hob Sam die Lider —und blickte in die dunklen Glutaugen eines verschleierten Mädchens. Gingen Engel verschleiert? Möglich. Aber sie sprachen ganz sicher nicht das holprige Englisch, das jetzt an sein Ohr schlug. „Du still liegen. Beinahe Kopf kaputt. Kameraden auch.“ Sams Blick wanderte und erfaßte einen hageren Araber mit verwitterten Zügen und zerlumpter Kleidung. Zwei jüngere Männer standen hinter ihm, ein halbes Dutzend Kinder spähten mit neugierigen Augen aus dem Schatten. Sam begriff, daß irgendwelche einheimischen Samariter sie von der Straße aufgesammelt hatten, und sah sich nach Smoky und Stenmark um, die sich gerade ächzend und fluchend ins Bewußtsein zurückkämpften. Ein paar Minuten später hockten sie alle drei mit schmerzenden Knochen und höllisch brummenden Schädeln auf dem Teppichlager, tranken herrlich kühles Quellwasser und bedankten sich bei ihren Rettern. Frauen und Kinder waren davongescheucht worden, wie es landesüblich war, wenn sich Männer unterhielten. Das Familienoberhaupt verneigte sich und klopfte sich auf die Brust. „Ich Achmed! Ihr meine Freunde, weil Feinde von Piraten und Sklavenhändlern. Ich zur See gefahren auf Schiff von England. Piraten töten Bruder und
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schleppen zwei Söhne in Sklaverei. Ich hier versteckt leben, bis ich kann töten Feinde.“ „Wo ist Mercedes?“ fragte Sam Roskill. „Das Mädchen?“ „Armes Mädchen geholt von Geier.“ „Geier?“ echote Stenmark verblüfft. „Sklavenhändler! Hund! Vielleicht ihr ihn könnt töten! Er gelockt euren Kapitän und Kameraden in Falle.“ Mit ihren brummenden Schädeln konnten Smoky, Sam und Stenmark nicht gerade schnell denken. Sie brauchten ein paar Sekunden, um die Worte des alten Fischers zu begreifen. Dann aber dämmerte es ihnen. Smoky und Stenmark wechselten einen erschrockenen Blick. Sam Roskill wurde so weiß wie die Gischtkämme der See bei Orkanböen. „Sag mal“, flüsterte er. „Dein Geier von einem Sklavenhändler – der heißt doch nicht etwa Karim Hosnani?“ Achmed, der Fischer, ballte die Hände und nickte. „Karim Hosnani“, bestätigte er hart. „Geier wird verkaufen spanische Frau und englische Seeleute auf Sklavenmarkt in Hassi Dschebel. Ihr ihn töten! Wenn ihr braucht Hilfe –ich bereit sein!“ Smoky, Stenmark und Sam Roskill sprangen auf. Sie schwankten. Sam hatte das Gefühl, als wühle ein glühendes Messer in seinem Gehirn. Smokys Magen zeigte die Neigung, sich umzudrehen, und Stenmark sah einen wunderschönen bunten Sternenregen. Nach allen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit hätten sie sofort wieder umkippen müssen, aber dafür hatten sie jetzt keine Zeit mehr. * Früh am Morgen brach Karim Hosnanis Sklavenkarawane auf. Im ersten Grau der Dämmerung wurden die Kamele bepackt, Wassersäcke und Ausrüstung überprüft und die unglücklichen spanischen Frauen hochgetrieben. Immerhin hatten sie einen
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Vorteil gegenüber den männlichen Gefangenen sie durften reiten. Aber die Seewölfe wußten nur zu gut, daß Hosnani den Spanierinnen diese Vergünstigung nicht aus Menschlichkeit gewährte, sondern daß es ihm nur darum zu tun war, seine weibliche „Ware“ in einem möglichst ansehnlichen Zustand ans Ziel zu bringen, damit er sie so teuer wie möglich verkaufen konnte. Für die gefangenen Männer war kein Platz mehr auf den bunten Kamelsätteln. Einer nach dem anderen wurde brutal von dem Karren heruntergezerrt. Dreizehn Seewölfe. Sam Roskill, Stenmark und Smoky mußten den Kerlen irgendwie entwischt sein, sie waren ja schon während des Festes eine Weile verschwunden gewesen. Das Fehlen Old O'Flynns hatte Hasard Sorgen bereitet, aber Ed Carberry beruhigte ihn. Der eiserne Profos war nur halb bewußtlos gewesen und hatte noch mitgekriegt, wie die Araber den alten Mann einfach liegenließen – wahrscheinlich, weil er mit seinem Holzbein wertlos für sie war. Karim Hosnani hatte bei dem Kampf vier Männer verloren. Jetzt war er vorsichtig geworden. Einzeln wurden die Gefangenen zu Boden geworfen. Einer der Burnusträger drückte ihnen jeweils die Spitze eines mörderischen Krummsäbels an die Kehle, zwei andere schnitten ihnen die Fesseln durch, schnürten ihnen die Hände wieder zusammen, diesmal vor dem Körper, und banden jeden mit einem knapp drei Yards langen Seil an einen der Kamelsättel. Hasard war als letzter an der Reihe. Ihn hielten sie bei der Prozedur gleich zu viert am Boden, und zwei Säbelspitzen drückten sich in die Haut an seinem Hals. Die dünnen, geflochtenen Lederriemen schnitten schmerzhaft in seine Gelenke. Er wunderte sich nicht, daß er an Karim Hosnanis Reittier gebunden wurde. Der Sklavenhändler saß bereits im Sattel und lächelte höhnisch. „Es wird ein langer Weg, Bastard!“ kündigte er an. „Du wirst deine Unverschämtheit und deinen Stolz noch
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vergessen. Spätestens dann, wenn dich der Durst quält. Und du wirst schnell Durst haben.“ Hasard spuckte aus. „Feiger Schakal“, sagte er kalt. „Gestern abend bist du wie ein räudiger Straßenköter davongerannt. Wenn du ein Mann wärst ...“ Fauchend vor Wut riß Karim Hosnani die schwere schwarze Nilpferdpeitsche aus der Lederschlaufe. Ein brennender Schmerz zuckte über Hasards Brust. Hemd und Haut zerrissen, er spürte das Rieseln von Blut und sekundenlang wurde ihm fast schwarz vor Augen. Im nächsten Moment hatte er genug damit zu tun, Karim Hosnanis Reittier zu folgen, das sich zu schneller Gangart in Bewegung setzte. * Die ersten Strahlen der Morgensonne tasteten über die Hügel im Osten, ließen die weißen Häuser von Sidi-al-Narouz aufleuchten und vergoldeten die Mastspitze der „Isabella“. Die Versammlung fand auf dem Achterkastell statt. Arwenack, der Schimpanse, beäugte aus der sicheren Entfernung vom Großmars aus den fremden Besucher in seinem merkwürdigen weißen Gewand. Der Papagei Sir John kletterte auf dem Bugspriet herum und hielt Ausschau, ob sein Herr und Meister, der Profos, nicht endlich zurückkehrte. Ausschau hielt auch Jeff Bowie. Er war in die Besanwanten geentert, wo er die Pier und das Dorf im Auge behalten und trotzdem mithören konnte, was besprochen wurde. Diego Mantagua, der junge Spanier, war in den Schatten des Schanzkleids gebettet worden. Es ging ihm etwas besser, und wie er zu dem Mädchen Mercedes stand, hatten sich die Seewölfe inzwischen zusammenreimen können. Sie sahen überhaupt ziemlich klar. Die Ereignisse selbst sprachen eine deutliche Sprache, und die Informationen. die ihnen noch fehlten,
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hatten sie von dem Fischer Achmed erhalten, der die Piraten und die Sklavenhändler wie die leibhaftige Pest haßte. Diesen Achmed, darüber waren sich die Seewölfe einig, mußte ihnen die Vorsehung geschickt haben. Er kannte den Weg zu der Oase Hassi Dschebel, wo in drei Tagen der monatliche Sklavenmarkt begann, und er würde sie hinführen. Kein anderer Einheimischer hätte es gewagt, ihnen zu helfen. Und ohne Führer den Weg quer durch die Wüste zu finden — selbst die tollkühnsten Draufgänger unter den Seewölfen hatten ihre geheimen Zweifel, ob das möglich gewesen wäre. „Zuerst einmal brauchen wir Kamele“, stellte Big Old Shane fest. Er wandte sich dem Fischer zu. „Weißt du, wo wir diese Biester kaufen könnten?“ Der Araber breitete die Arme aus. „Achmed weiß. Aber Kamele viel teuer.“ „Macht nix! Englisches Freibeuter viel reich“, erklärte Batuti und grinste. „Stimmt“, sagte Shane trocken. „Jeff und Blacky, ihr werdet Achmed begleiten und Kamele kaufen.“ „Aye, aye. Und wie viele?“ fragte Blacky unbeeindruckt. Shane sah Achmed an. Der Fischer schürzte die Lippen. „Fünf“, sagte er entschieden. „Viel Kamele, viel auffällig. Kein weiter Weg, und nachher können kaufen Pferde von Achmeds Freund in Hassi Dschebel.“ „Und wie wär's mit ein paar Burnussen?“ fragte Sam Roskill. „Ich meine, wenn wir schon Karawane spielen, dann auch richtig, oder?“ „Stimmt.“ Big Old Shane lächelte durch sein Bartgestrüpp. „Ferris, was schlägst du als Ausrüstung vor? Wir werden wahrscheinlich gegen eine ziemliche Übermacht kämpfen müssen.“ Der rothaarige Schiffszimmermann nickte gelassen. „Musketen, Pistolen und die üblichen Waffen“, zählte er auf. „Außerdem Flaschenbomben, Pulver, ein paar Brandsätze für den Notfall und — ja, einen
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Haufen von diesem fabelhaften chinesischen Feuerwerk, das wir aus dem Land des großen Chan mitgebracht haben. Der bloße Anblick wird die Araber das Laufen lehren, schätze ich.“ „Gut“, sagte Shane. „Dann müssen wir uns mit der ‚Isabella' an einen geschützten Platz verholen. Wenn sie hier mit noch kleinerer Besatzung als jetzt liegenbleibt, ist sie eine glatte Einladung für die barbareskischen Piraten.“ Wie sich herausstellte, kannte der Fischer Achmed eine Bucht in der Nähe, die sich ausgezeichnet als Versteck eignete. Damit war auch dieser Punkt geklärt. Big Old Shane atmete tief durch und dehnte den mächtigen Brustkasten. „Also dann“, sagte er. „Blacky, Jeff und Achmed besorgen alles, was wir brauchen, und stoßen in der Bucht zu uns. Old O'Flynn, Smoky, Sam und Stenmark bleiben auf der ‚Isabella' und ...“ Ein vierstimmiger Protestschrei unterbrach ihn. Nein, fünfstimmig, auch wenn die fünfte Stimme reichlich schwach klang. Diego Mantagua hatte sich auf einen Ellenbogen gestützt. Selbst er schien sich die Wahnsinnsidee in den Kopf gesetzt zu haben, bei dem Unternehmen dabei zu sein. Big Old Shane seufzte tief. Er sprach erst gar nicht von Old O'Flynns Holzbein, Diegos Verletzung und der Tatsache, daß Sam Roskill, Stenmark und Smoky so zerschlagen waren, daß sie sich nur mit äußerster Mühe auf den Beinen halten konnten. „Ihr karierten Narren!“ donnerte er stattdessen. „Versteck hin, Versteck her — die Barbaresken sind keine Sonntagsschüler! Könnt ihr mir verraten, wer im Notfall die alte ‚Isabella' verteidigen soll? Die Kakerlaken etwa?“ „Hm“, meinte Stenmark. „Na ja“, brummte Smoky. „Die sollen nur aufkreuzen, die Brüder!“ ereiferte sich Old O'Flynn. „Denen hau ich mein Holzbein um die Ohren, daß es nur so rappelt!“
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Und damit stand dem Start Unternehmens nichts mehr im Wege.
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8. Die Oase Hassi Dschebel war ein verschlafenes Nest, das nur einmal im Monat während des Sklavenmarkts zum Leben erwachte. Zu dieser Zeit verschwanden die weißen Häuser und die armseligen Fellachenhütten fast hinter bunten Zelten, Beduinenlagern und eilig aufgebauten Verkaufsständen. Von früh bis spät wimmelten Menschen und Tiere herum, herrschten emsige Geschäftigkeit und die ganze Farbenpracht des Orients. Die Oase verdankte ihren relativen Wohlstand der Tatsache, daß sie günstig lag. Günstig zu den Seeräuberstaaten des Maghreb, günstig zu den wilden Bergstämmen im Atlas — und weit genug abseits von all den Mächten, die vielleicht danach hätten trachten können, dem Piratenund Rebellenunwesen oder dem Größenwahn der Wüstenscheiks ein Ende zu bereiten. Die Seewölfe hatten nur noch wenig Sinn für das malerische Bild, als Hosnanis Karawane Hassi Dschebel am Morgen erreichte. Ein mörderischer Tag und eine nicht viel angenehmere Nacht lagen hinter ihnen. Hasard bereute inzwischen, daß er sich hatte hinreißen lassen, den Sklavenhändler zu reizen. Er bereute es nicht seinetwegen, aber, er ärgerte sich, weil er nicht daran gedacht hatte, daß er auch die anderen mit hineinziehen würde. Ihn hatte es nicht weiter überrascht, daß Hosnani seine Wut an ihm ausließ. Unter anderem dadurch, daß er ihn dauernd absichtlich zu Fall brachte und ihm jeden Tropfen Wasser vorenthielt. Aber Luke Morgan, der vor ihm durch den Staub trottete, hatte sich nicht verkneifen können, Hosnani lauthals einen „verdammten Eunuchen“ zu nennen. Das hatte ihm die Bekanntschaft mit Hosnanis Peitsche eingetragen — und Dan O'Flynn zu der Bemerkung veranlaßt, daß der Kerl wohl wirklich ein Eunuche sein müsse,
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wenn er so hysterisch reagiere. Natürlich hatten sie das alles auf Spanisch gesagt, damit der Sklavenhändler es auch ja verstand. Und als der Kerl Dan O'Flynn die Peitsche durchs Gesicht ziehen wollte, waren prompt noch jemandem die Pferde durchgegangen. Nämlich Philip Hasard Killigrew, der Hosnani am Burnus aus dem Kamelsattel zerrte und ihn mit gefesselten Händen erwürgt hätte, wenn nicht ein halbes Dutzend anderer Wüstensöhne über ihn hergefallen wären. Als er wieder zu sich gekommen war, mußte inzwischen jeder einzelne der Crew den Sklavenhändler einen verdammten Eunuchen genannt haben, denn sie waren alle leicht lädiert und erhielten während der Mittagsrast kein Wasser. Hasard wurde eine halbe Stunde lang kreuz und quer durch die Wüste geschleift — mit gefesselten Füßen und an einem verlängerten Seil, damit seine Peiniger mehr Spaß daran hatten. Danach ging es ihm ziemlich mäßig, aber er erreichte Hassi Dschebel immerhin noch auf eigenen Beinen. Jetzt lag er zwischen den anderen gefesselt in einem Zelt, und ein Araber brachte ihnen Wasser — mit der stoischen Miene eines Mannes, der Vieh tränkt. So ähnlich kam es dem Burschen wohl auch vor. Vier vermummte Wüstensöhne mit Musketen und Säbeln paßten auf, denn die Behandlung ging noch weiter. Einem Gefangenen nach dem anderen wurde das Hemd heruntergerissen, und dann wurden sie zu ihrem ungläubigen Staunen auch noch gewaschen. Sehr fürsorglich, dachte Hasard, dem es wieder etwas besser ging. Aber er wußte genau, zu was die Fürsorglichkeit diente. Die reichen Wüstensöhne, die sich hier ihre Sklaven aussuchten, wollten kräftige Exemplare in gutem Zustand, keine verstaubten, erschöpften, halb verdursteten Elendsgestalten. Hasard knirschte mit den Zähnen. Bisher war er, genau wie die anderen, viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, den mörderischen Marsch durchzustehen, um
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sich wirklich klar zu machen, was vor ihnen lag. Erst jetzt begannen sich seine Gedanken mit der Ausweglosigkeit der Lage zu befassen. Und doch konnte er sich nicht recht vorstellen, wie es weitergehen würde. Alles war zu schnell gegangen, war zu unwirklich — er empfand es auch jetzt noch eher als einen aberwitzigen Alptraum, denn als reale Bedrohung. In der nächsten halben Stunde unterhielten sie sich im Flüsterton darüber, daß ihre Kameraden sie vermissen und suchen würden. Und finden! Das stand so fest, daß sie erst gar keine großen Worte darüber verloren. Dan O'Flynn malte sich aus, wie Batutis Morgenstern, Ferris Tuckers Axt, Shanes Eisenstange und Jeff Bowies Haken unter den Wüstensöhnen wüteten. Ed Carberry schwor, daß er Karim Hosnanis Haut demnächst in Streifen an die Kombüse der „Isabella“ nageln würde. Der Kutscher fauchte, daß er, verdammt noch mal, die Haut von diesem Affenarsch nicht an seiner Kombüse haben wolle, und Hasard registrierte, daß die Stimmung gar nicht mal so schlecht war. Sie hatten schon ganz andere Stürme überstanden. Wer den Teufel fürchtet. den holt er, das war ihre Devise. In zahllosen Gefechten, in Kugelhagel und Bleigewitter hatten sie gelernt, dem Sensenmann eine lange Nase zu drehen, wenn er sie angrinste, und die Hölle hatte sie schon oft genug wieder ausgespuckt, weil sie zu unverdaulich waren. Im Augenblick hatten die Wüstensöhne die besseren Karten, aber zusammengezählt wurde unter dem Strich, und bis jetzt war das Spiel noch lange nicht zu Ende. Die Seewölfe verstummten erst, als sie die Geräusche aus dem Nachbarzelt hörten: Frauenstimmen, verzweifeltes Schluchzen, ein heftiges Handgemenge. Hasard knirschte mit den Zähnen - und ein paar Minuten später waren sie dann selbst an der Reihe. Bevor die Sklaven am nächsten Tag versteigert wurden, sollten sie offenbar erst mal zur allgemeinen Besichtigung ausgestellt werden.
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Ein großer, sandiger Platz am Rand der Oase diente diesem Zweck. Die Frauen waren in ein rundes, an einer Seite offenes Zelt gebracht worden. Die Männer wurden auf ein überdachtes und damit immerhin schattiges Holzpodest getrieben und mit den gefesselten Händen an ein stabiles Geländer in ihrem Rücken gebunden. Hasard landete auf dem Platz zwischen Luke Morgan und Ben Brighton. Das Gesicht des Bootsmanns glich einer steinernen Maske. Luke Morgans blaue Augen funkelten gefährlich. Er war der hitzköpfigste Mann der Crew und verlor leicht die Beherrschung –vermutlich der Grund dafür, daß er das Leben in der englischen Armee nicht ertragen hatte und vor Jahren desertiert war. Inzwischen hatte er sich längst geändert, hatte ihn die See zurechtgeschliffen –und vor allem das Beispiel des Seewolfs, der es nicht nötig hatte, Disziplin zu erzwingen, weil er der geborene Führer war. Aber trotz allem neigte Luke immer noch dazu, schneller zu explodieren als alle anderen. „Reiß dich zusammen“, warnte Hasard leise. „Du hilfst niemandem, wenn du die Kerle dazu bringst, dich aufzuschlitzen.“ „Diese Drecksäcke!“ fauchte Luke. „Als ob wir Schlachtvieh wären! Als ob wir ...“ „Reiß dich zusammen! Das ist ein Befehl, verdammt!“ „Aye, aye, Sir“, murmelte Luke. Aber das Funkeln stand immer noch in seinen Augen und wurde zu einem rebellischen Feuer, als die ersten Kunden auf dem Platz erschienen, um die „Ware“ zu begutachten. Karim Hosnani stand mit verschränkten Armen in der Nähe, verfolgte den Gang der Geschäfte und plauderte mit den potentiellen Käufern: Zuerst strebten die meisten dem Zelt zu, in dem die unglücklichen Frauen zusammengetrieben worden waren. Ein paar, die wieder erschienen, zeigten ein so schmieriges Grinsen, daß sich Hasard fast der Magen umdrehte. Dann erkletterte der erste das Podest: ein hochgewachsener, sehniger Mann mit
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Falkenaugen und einem Gesicht wie aus dunklem Leder. Dem hageren Gary Andrews und dem schmalbrüstigen Kutscher warf er nur, einen flüchtigen Blick zu. Neugierig beugte er sich zu dem Geländer, um Matt Davies' Hakenprothese zu untersuchen. Vor Ed Carberry wich er unwillkürlich einen halben Schritt zurück, weil der Profos ein Gesicht schnitt wie ein Menschenfresser mit Vorliebe für zähe Araber. Hasard beherrschte sich eisern. Er starrte in die schwarzen Augen unter dem Kopftuch des Burnus. Zu seiner Überraschung lächelte der Araber und sagte etwas in, seiner Heimatsprache zu Karim Hosnani, bevor er weiterging. Der Sklavenhändler zog die Lippen von den Zähnen. „Ich hätte dich auch noch den Rest des Weges schleifen lassen sollen, um dich zu zähmen“, erklärte er auf Spanisch. „Der ehrwürdige Scheik meint, mit einem Sklaven wie dir hätte er für den Rest seines Lebens Ärger.“ „Da liegt er richtig“, sagte Hasard trocken. Im nächsten Moment wurde seine Aufmerksamkeit abgelenkt, da die Holzbohlen unter seinen Füßen vibrierten. Ein weiterer Kunde hatte den Podest betreten, ein kleiner, unglaublich fetter Mann in Begleitung zweier vermummter Hünen. Noch ein ehrwürdiger Scheik, vermutete Hasard. Aber einer von der widerlichen Sorte, obwohl das spöttische Lächeln des Drahtigen auch nicht gerade die feine Art gewesen war. Aber der ehrwürdige Scheik Nummer eins schien immerhin noch gewußt zu haben, daß es sich bei der angebotenen „Ware“ um Menschen mit menschlichen Eigenschaften handelte. Oder auch nicht, dachte Hasard sarkastisch. Bei der Auswahl seiner Pferde legte der Bursche vermutlich ganz ähnliche Maßstäbe an. Der Dicke, der jetzt über den Podest watschelte, war jedenfalls garantiert auch für seine Pferde eine Strafe des Himmels. Der Seewolf biß die Zähne zusammen, starrte geradeaus und versuchte, nicht daran zu denken, daß der
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Kerl vielleicht gerade ein paar von den bedauernswerten Frauen betatscht hatte, um die eine oder andere für seinen Harem auszuwählen. „Du Sohn einer schwanzlosen Steppensau“, flüsterte jemand — zum Glück auf Englisch. Hasard hatte die Stimme des Schiffsjungen Bill erkannt, eine erstickte, verzweifelte Stimme. Ed Carberry sah immer noch aus wie ein Menschenfresser, diesmal mit einer Vorliebe für fette ehrwürdige Scheiks. Der Wüstensohn ließ sich dadurch nicht beirren. Er betastete ausgiebig Ed Carberrys Muskeln, betrachtete dessen Schulterbreite und den Brustkasten, der das Ausmaß eines Bierfasses hatte, und nickte zufrieden. Ben Brighton starrte ein Loch in den blauen Himmel, als die Reihe an ihn kam. Hasard kannte seinen Bootsmann und spürte, wie es in ihm kochte. Auf die Dauer würde diese ganze Prozedur sicher auch einen ruhigen, besonnenen Mann wie Ben Brighton die Beherrschung kosten. Der Seewolf hätte dem fetten Scheik gern ins Gesicht gegrinst, auf die Art, von der die Crew einhellig behauptete, daß selbst der Sensenmann davor Reißaus nehmen würde, doch er bezwang sich. Eine feuchte, fleischige Hand betastete seine Oberarmmuskeln, zwei Finger bohrten sich in seinen Magen. Schwungvoll. Aber beim nächsten Mal würde sich der ehrwürdige Scheik sicher zu bremsen wissen. Er mußte das Gefühl haben, sich die Finger an einer Stahlplatte gestaucht zu haben. Schnaufend wandte er sich Luke Morgan zu. Luke war klein, eher schmal gebaut¬, alles andere als ein Kraftprotz, aber man sah ihm an, daß er zäh und widerstandsfähig wie ein federnder Stahl war. Ausgerechnet das schien dem fetten Scheik zu imponieren. Der Himmel mochte wissen, für welchen speziellen Zweck er Sklaven kaufen wollte. Jedenfalls tatschte er gründlich auf Luke Morgans nacktem Oberkörper herum, befühlte die Armmuskeln, tastete
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schließlich nach dem Gesicht — und Hasard wußte von Anfang an, daß das nicht gut gehen würde. Er sagte nichts. Er selbst war ziemlich sicher, daß er dem ehrwürdigen Scheik den Finger abgebissen hätte. Luke riß den Kopf zurück, und Karim Hosnani produzierte mal wieder sein leises, spöttisches Gelächter: „Mach den Mund auf“, befahl er. „Der ehrwürdige Scheik will dein Gebiß sehen.“ Grundgütiger Himmel, dachte Hasard. Und Luke Morgan atmete tief, öffnete gehorsam den Mund und spuckte dem ehrwürdigen Scheik mitten in das feiste Gesicht. Stille. Die ganze Oase schien den Atem anzuhalten. Der Scheik brauchte eine volle Minute, um zu begreifen, was ihm da passiert war. Dann stieß er einen Schrei aus, der für einen Mann zwei Oktaven zu hoch lag, und riß den Krummsäbel aus der Scheide. „Halt!“ schrie Karim Hosnani. Genutzt hätte es nichts mehr. Aber Hasard hatte die Beine frei und dachte nicht daran, tatenlos zuzusehen, wie Luke Morgan massakriert wurde. Sein Fuß zuckte hoch. Die Hand mit dem Säbel konnte er nicht erreichen, also trat er dahin, wohin es sich gerade ergab. Es ergab sich so, daß der ehrwürdige Scheik rückwärts von dem Podest fiel, sich am Boden krümmte und die Hände auf eine Stelle preßte, an der Tritte besonders wehtun. Seine Leibwächter griffen zu den Säbeln, um nunmehr Hasard zu massakrieren, doch inzwischen hatte Karim Hosnani den Podest geentert. Mit ausgebreiteten Armen warf er sich zwischen den Seewolf und die angriffslustigen Leibwächter und brüllte etwas auf Arabisch. Hasard verstand die Worte nicht, aber der Sinn war eindeutig: Karim Hosnani duldete nicht, daß irgendjemand seine kostbare Ware beschädigte, bevor er dafür bezahlt hatte. Der lädierte Scheik rappelte sich verblüffend schnell wieder auf:
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Er zeigte auf Hasard und sprudelte eine Flut von arabischen Wendungen hervor. Hosnani lächelte, nickte ein paarmal und wandte sich dann dem Seewolf zu. „Er will dich kaufen, bevor der Markt überhaupt anfängt“, erklärte er mit einem niederträchtigen Grinsen. „Um dich auf unterhaltsame Art zu massakrieren, wie du dir sicher denken kannst. Ich glaube, das wird das Geschäft meines Lebens!“ * Sie waren abwechselnd marschiert und geritten. Im Augenblick gingen Ferris Tucker und der Fischer Achmed voran. Ein Kamel trug die Ausrüstung, die vier anderen Tiere schaukelten ihre Reiter im Paßgang durch die Wüste. Die Männer trugen bodenlange, wallende Burnusse, die sie vor der sengenden Sonne schützten. Batutis schwarzes Gesicht wirkte fast unheimlich unter dem weißen Kopftuch. Big Old Shane hatte sich bemüht, seinen wilden grauen Bart wenigstens einigermaßen zu verhüllen. Wenn man nicht zu genau hinschaute, wirkte alles ungemein stilecht, und wer sie von weitem sah, zweifelte sicher nicht daran, daß da eine ganz normale kleine Karawane zu dem berüchtigten Sklavenmarkt von Hassi Dschebel zog. Die Sonne hatte den Zenit bereits überschritten, als Achmed anhielt. „Jetzt Vorsicht“, verkündete er. „Oase hinter nächstes Hügel.“ „Kann man sich irgendwo verstecken?“ fragte Ferris Tucker. „Verstecken schlecht. Aber tun, als wenn schlagen Lager auf in kleines Sandmulde. Bauen Sonnendach, machen Deckenrolle mit Burnus, das aussieht wie krankes Mann. Dann die anderen wegbleiben.“ „Gute Idee“, sagte Ferris anerkennend. „Aber zuerst sollten wir mal einen Blick auf die Oase werfen. Kommst du mit, Blacky?“ Minuten später klommen sie den steilen, sandigen Hang hinauf, erreichten die
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Hügelkuppe und robbten das letzte Stück auf Händen und Knien. Hassi Dschebel lag unter ihnen. Weiße Häuser, Zelte, Pferde, Kamele, ein buntes Menschengewimmel. Achmed hatte gesagt, der Sklavenmarkt werde erst morgen beginnen, aber offensichtlich stellte Karim Hosnani seine „Ware“ auch heute schon zur allgemeinen Begutachtung aus. Ferris Tucker und Blacky sahen ihre Kameraden wie Vieh auf einem hölzernen Podest festgebunden. Und noch etwas sahen sie: daß von den Burnusträgern dort unten mehr als die Hälfte mit Musketen bewaffnet waren und einen ausgesprochen kriegerischen Eindruck erweckten. „Meine Fresse“, sagte Blacky ergriffen. Ferris Tucker schnaufte nur. Es war in der Tat ein niederschmetterndes Bild, das sich da bot, aber schließlich hatten sie vorher gewußt, daß sie keinen Sonntagsspaziergang unternahmen. 9. „Es ist meine Schuld“, sagte Luke Morgan heiser. Hasard warf ihm einen Blick zu. „Quatsch“, sagte er trocken. „Ich an deiner Stelle hätte dem Kerl den Finger abgebissen.“ Luke schluckte hoffnungsvoll. „Wirklich?“ „Wirklich“, bestätigte der Seewolf. Und er meinte es auch so. Vernunft hin, Beherrschung her, er war ziemlich sicher, daß er sich von diesem widerlichen Fettwanst nicht an den Zähnen hätte herumfummeln lassen. Luke grinste erleichtert. Auf der anderen Seite kaute Ben Brighton an der Unterlippe. „Ich glaube, die handeln deinen Preis aus“, murmelte er. Den Eindruck hatte Hasard auch. Seit einer geschlagenen Stunde standen Karim Hosnani und der fette Scheik zusammen, redeten aufeinander ein und konnten oder wollten: sich nicht einigen.
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Hosnanis Gesten waren sprechend. Er lobte den Seewolf über den grünen Klee, dichtete ihm wer weiß welche preistreibenden Eigenschaften an und weigerte sich, von seinen Forderungen herunterzugehen, die ziemlich abenteuerlich sein mußten. Inzwischen hatte sich ein Kreis neugieriger Zuschauer eingefunden. Hasard entdeckte den hageren Typ mit den Falkenaugen darunter, der ihm vorhin auf den ersten Blick die Schwierigkeiten angesehen hatte, die er bereiten würde. Jetzt wandte sich der Bursche um. trat dicht an den Podest und produzierte Wieder sein spöttisches Lächeln. „Sie haben alle Aussicht. der teuerste Sklave zu werden, der hier je verkauft wurde, mein Freund“, sagte er in fast akzentfreiem Spanisch. „Seit wann sind wir Freunde?“ erkundigte sich Hasard sarkastisch. Der Araber lachte leise. „Sind Sie wirklich ein verkappter englischer Adliger, wie Hosnani eben behauptete?“ „Sicher. Ich bin der illegitime Sohn des Weihnachtsmanns. Sieht man das nicht an dem Heiligenschein?“ „Mein Freund Al-Hassan wird Sie umbringen lassen“, sagte der Araber unbeeindruckt. „Eigentlich schade.“ Er stockte und drehte sich halb um. „Ah, endlich! Jetzt haben sie sich geeinigt. Interessiert es Sie, wie viel Al-Hassan für Ihren Tod zu zahlen bereit ist?“ „Rutschen Sie mir den Buckel 'runter“, sagte Hasard freundlich. Dabei sah er an dem Drahtigen vorbei zu Hosnani und dem fetten Scheik, die das Geschäft mit reichlichem Händeschütteln besiegelten. Die Zuschauer begannen ziemlich aufgeregt zu debattieren, und Karim Hosnani“ gab seinen Dienern einen Wink. Die Ausstellung menschlicher Ware sollte offenbar zugunsten einer unterhaltsameren Veranstaltung unterbrochen werden. Am Ende der Reihe begannen die Burnusträger, die Gefangenen von dem Geländer zu binden und in das Zelt zurückzuschleppen, wo man ihnen
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vermutlich auch wieder die Füße zusammenschnüren würde. Hasard hörte den Profos fluchen und die helle Stimme von Bill, der sich abwechselnd auf Englisch und Spanisch über die niederträchtige Gemeinheit der ganzen Versammlung empörte. Matt Davies empfing ein paar brutale Knüppelhiebe, weil er es offenbar nicht hatte lassen können, jemanden mit seinem Haken zu pieken. Ernsthaft wehren konnte sich niemand, denn ihre Hände blieben auf den Rücken gefesselt, und stets waren mindestens drei, vier Kerle mit schußbereiten Musketen in der Nähe. „Drecksbande“, knurrte Ben Brighton. „Vielleicht können wir das ganze Gerüst in Trümmer legen und ...“ „Zwecklos“, sagte Hasard. „Versucht lieber, euch von den verdammten Fesseln zu lösen. Ben, falls wir uns nicht wiedersehen, übernimmst du das Kommando über die ‚Isabella' und ...“ „Was soll der Quatsch?“ fauchte der Bootsmann. Dann schluckte er erschrocken, wollte eine Entschuldigung stammeln und wurde im nächsten Moment von den Kerlen vorwärtsgestoßen, die ihn losgebunden hatten. Hasard blieb allein zurück. Verrückt, dachte er. Da stand er nun gefesselt, ziemlich wehrlos, mit dem Tod vor Augen, und war immer noch nicht bereit, aufzugeben. Vielleicht lag es daran, daß er den Teufel schon zu oft am Schwanz gezogen hatte. Er starrte seinen fetten „Besitzer“ an, zog die Lippen von den Zähnen und hatte immerhin die Genugtuung, daß der ehrwürdige Scheik etwas blaß um die Nase wurde. * „Nicht, Ed!“ zischte Ben Brighton beschwörend. Edwin Carberry stöhnte vor Wut, aber er ließ den Fuß wieder sinken, mit dem er dem unvorsichtigen Wüstensohn hatte ins Gesicht treten wollen. Die Narben im
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Gesicht des Profos zuckten, während seine Beine wieder aneinandergefesselt wurden. Wie gern hätte er seinem Gegner zu einer platten Nase oder einer gebrochenen Kinnlade verholfen! Auch wenn ihm einer der anderen Kerle dafür mit der Muskete das Hirn aus dem Schädel geblasen hätte. Aber er biß die Zähne zusammen und bezwang sich. Neben ihm lag der sechzehnjährige Bill, der dem eisernen Profos hingebungsvoll in allem nacheiferte. Wenn Carberry um sich trat, würde auch Bill um sich treten. Und wenn sich jemand an Bill vergriff, würden sich die Männer, die schon an Händen und Füßen gefesselt waren, notfalls mit den Zähnen auf ihre Bewacher stürzen. Al Conroy, der stämmige Schwarzhaarige Stückmeister, war der letzte, der hereingeschleift und verschnürt wurde. Die Araber verließen das Zelt. Draußen warf die tiefstehende Sonne ihre Schatten gegen die Leinwand. Sie hielten Wache, natürlich, aber es erschien ihnen offenbar unnötig, die Gefangenen dabei ständig zu beobachten. „Wenn der Fettsack den Seewolf umbringt, gehe ich ihm an die Gurgel“, verkündete Carberry düster. „Wie denn?“ fragte Bill erstickt. „Mit den Zähnen, was sonst? Verdammt, wir müssen hier 'raus!“ „Dan?“ ließ sich Ben Brightons beherrschte Stimme vernehmen. „Ja?“ „Kannst du dich noch an die ,Santa Barbara' erinnern?“ Dan O'Flynn richtete sich auf. Klar konnte er sich an die „Santa Barbara“ erinnern. Das war das erste spanische Beuteschiff gewesen, das der Seewolf nach England gesegelt hatte, als er noch unter Francis Drake gefahren war. Die Dons hatten sie überrumpelt, und Dan wußte noch genau, wie er in der Finsternis des Laderaums versucht hatte, Hasards Fesseln durchzunagen. Er grinste. „Na sicher! He, Pete, dreh dich auf den Bauch, damit ich an die Stricke 'rankomme.“
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„Moment mal“, meldete sich Matt Davies. „Ich glaube, mein Haken ist schärfer als Dans Zähne.“ Bewegung geriet in die Männer. Oder nein, nicht Bewegung: sie versuchten alle, sich möglichst ruhig zu verhalten. Aber ihre Augen funkelten, ihre Gesichter spannten sich, es war, als sei ein Funke übergesprungen und habe ein Feuer entfacht. Sie alle glaubten plötzlich wieder daran, daß sie eine Chance hatten. Die Wüstensöhne, die da mit ihren Musketen vor dem Zelt hin und her patrouillierten, würden sich noch wundern. 10. Wie ein glutroter Ball versank die Sonne im Westen. Fackeln spendeten Licht, ein brennender Holzstoß prasselte am Rand des staubigen Platzes. Irgendwo außerhalb von Hasards Blickfeld drehten sich Hammel über offenen Feuergruben. Es sah ganz so aus, als sollte seine bevorstehende Hinrichtung zum öffentlichen Fest werden. Karim Hosnani, der fette Al-Hassan, die anderen ehrwürdigen Scheiks und sonstigen hohen Herrschaften saßen bequem auf reichverzierten Kissen, in farbige Umhänge gehüllt, die sie vor der Kälte der Wüstennacht schützten. Hasard stand immer noch mit nacktem Oberkörper an das Geländer des Holzpodestes gefesselt. Er fror, aber er tröstete sich damit, daß es ein schlechtes Zeichen gewesen wäre, wenn er geschwitzt hätte. Den Vorbereitungen nach plante der fette Scheik etwas Dramatisches. Da Hasard die Hauptrolle spielen sollte, würde man ihn wohl zumindest von dem Geländer losbinden. Seine Handgelenke bluteten. Er hatte es geschafft, die Stricke um eine Winzigkeit zu lockern, doch um sie ganz loszuwerden, würde er noch Stunden brauchen. Er wandte den Kopf, als er Karim Hosnanis Blick spürte. Der Sklavenhändler grinste höhnisch.
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„Es geht los!“ rief er auf Spanisch. „Du wirst jetzt das Vergnügen haben, gegen echte Eunuchen zu kämpfen.“ Hasard atmete tief durch. Kämpfen, klang es in ihm nach. Ein Tod im Kampf – damit mußte ein Mann wie er immer rechnen, das war ein Tod, der ihn nicht schreckte, weil er ihm schon zu oft ins Auge gesehen hatte. „Was denn?“ fragte er laut. „Du willst selbst kämpfen, Hosnani? Und noch ein paar von deiner Sorte?“ Der Sklavenhändler blieb ungerührt, weil er kein Spanisch verstand. Er klatschte in seine fetten Hände, und Hasard blickte dorthin, wo jetzt am Rand des Platzes Bewegung entstand. Mit gemessenen Schritten gingen fünf Gestalten durch die Gasse in der Menge. Eunuchen, ja. Braunhäutige, kahlköpfige Hünen von jenem Riesenwuchs, den der Verlust der Männlichkeit schon im frühen Jünglingsalter oder in der Kindheit erzeugt. Jeder einzelne der fünf überragte Hasard um einen halben Kopf. Mächtige Muskelwülste spielten unter der fettglänzenden Haut der nackten Oberkörper, rote Schärpen zierten die weißen Pluderhosen, die Füße steckten in geschnürten Sandalen ähnlich denen, wie sie Thorfin Njal auf dem Schwarzen Segler zu tragen pflegte. Feierlich verneigten sich die fünf Riesen vor dem fetten Scheik. Auf ein neuerliches Händeklatschen traten sie zu einem lockeren Halbkreis auseinander. Wenn Hasard allerdings geglaubt hatte, sie würden nur mit ihren ankerklüsengroßen Fäusten kämpfen, sah er sich getäuscht. Mit gemessenen, wie einstudiert wirkenden Bewegungen griffen sie unter die roten Schärpen. Ebenso exakt und einstudiert zogen sie etwas darunter hervor, vollführten eine knappe Geste mit der Rechten – und einen Moment sah es so aus, als würden sich fünf lange schwarze Schlangen entrollen. Nilpferdpeitschen! Mordinstrumente, die mit einem einzigen Hieb eine 'Kehle aufreißen oder bis auf die Knochen schneiden konnten. Manche Araber, hieß es, brachten es mit diesen
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Dingern fertig, eine Fliege in der Luft zu töten. Die fünf Eunuchen sahen zwar nicht gerade so aus, als ob sie sich auf Feinarbeit verstünden, aber Hasard spürte trotzdem ein kühles Prickeln im Nacken. Er rührte sich nicht, als ein drahtiger Bursche in weißem Burnus von der Seite an ihn herantrat und den Strick zerschnitt, der ihn mit dem Geländer verband. Seine Hände waren immer noch gefesselt. Die Spitze des Sarazenensäbels drückte in seinen Rücken, und er sprang achselzuckend von dem Podest hinunter. Der Burnus-Mensch sprang ebenfalls. Er folgte Hasard bis zur Mitte des Platzes. Erst dort zertrennte er die Handfesseln und sprang hastig zurück, als ahne er, daß der Gefangene nur darauf wartete, sich des Säbels bemächtigen zu können. Das war schon mal danebengegangen, dachte der Seewolf sarkastisch. Wenn er sich seine Gegner so ansah, hatte er das Gefühl, daß unter Umständen noch mehr danebengehen könnte. Noch standen die Eunuchen mit gesenkten Peitschen da wie Kriegerdenkmäler. Wahrscheinlich Warteten sie darauf,, daß der fette Scheik wieder in die Hände klatschte. Hasard wippte leicht auf den Ballen, massierte mit provozierender Lässigkeit seine blutenden Gelenke und rief sich alles. ins Gedächtnis, was er über die geheimnisvollen chinesischen Kampftechniken der Mönche von Formosa wußte. Der fette Scheik hob langsam die Hände, um das Zeichen zum Beginn des Kampfes zu geben. Gleichzeitig gab es hinter ihm eine jähe Bewegung. Ganz kurz erblickte Hasard das Gesicht des hageren Arabers, der ihn auf Spanisch angesprochen hatte - Und dann sah er etwas Blitzendes durch die Luft auf sich zufliegen. Seine Faust zuckte hoch. Mit traumwandlerischer Sicherheit fing er die Waffe im Flug auf. Ein SarazenenSäbel, kostbar, rasiermesserscharf, der Griff mit Juwelen besetzt. Prüfend ließ Hasard die Klinge durch die Luft pfeifen und stellte fest, daß die Waffe ausgezeichnet in der Hand lag.
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Der Araber, dem sie gehörte, lächelte. Ein ironisches Lächeln, das der Seewolf mit einer ebenso ironischen Verbeugung beantwortete. Nur das feiste Gesicht des Scheiks hatte sich vor Wut verzerrt, als er endlich in die Hände klatschte. * „Himmel, Arsch und Wolkenbruch“, flüsterte Jeff Bowie. Er lag bäuchlings auf der Dünenkuppe und spähte zwischen ein paar Palmsprößlingen hindurch. Schräg hinter ihm hantierte Ferris Tucker mit. dem Bronzegestell, mit dem sie —notfalls — ein paar Brandsätze abschießen konnten. Schweiß lief über das Gesicht des Schiffszimmermanns. Sein Blick folgte dem Gewirr von Zündschnüren, das sich durch den Sand zog. Wer sie jetzt entdeckte, soviel stand fest, würde sie trotz der Burnusse nicht mehr für eine friedliche Karawane halten. „Ha!“ zischte Jeff Bowie triumphierend. „Was ist, verdammt?“ „Jemand hat Hasard 'nen Säbel zugeworfen! Wetten, daß er die Eunuchen in Scheiben schneidet?“ „Hoffentlich“, knirschte Ferris, während er dorthin spähte, wo im selben Augenblick Batutis Hünengestalt hinter einer Dünenfalte auftauchte. Geduckt hetzte der schwarze Herkules heran. „Jeff!“ flüsterte er atemlos. „Shane sagt, du sollst dreimal verdammtes Hakenhand bei dir behalten. Verdammtes Hakenhand glitzert.“ Erschrocken zog Jeff Bowie seine Prothese zurück. „Mist“, fluchte er, während Batuti bereits weiterhuschte. Jenseits der Hügelflanke mußte Blacky stecken. Achmed, der Fischer, hatte sich zur anderen Seite der Oase vorgearbeitet. Lautlos, in fiebernder Hast, ständig mit der Entdeckung rechnend, schufteten die Männer, verteilten chinesische Feuerwerkskörper, brachten Pulverfäßchen in Stellung und verlegten Zündschnüre. Ein paar Minuten noch, dann
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war es so weit. An fünf verschiedenen Stellen Würde jemand mit dem Feuerstein Funken schlagen, vorsichtig gegen das glimmende Stück Zunder blasen und eine Lunte in das Glutnest drücken. Und dann folgt der große Krach, dachte Ferris Tucker. Ein ungeheuer großer Krach, wenn alles nach Plan lief. Sie konnten nur hoffen, daß sich die Araber tatsächlich so verhalten würden, wie sie es erwarteten. * Atemlose Stille hatte sich über den Platz gesenkt. Hasard hielt den Säbel in der Faust und beobachtete die fünf Eunuchen, die ihn umschlichen wie Tiger ihre Beute. Sie wollten ihn einkreisen. Noch stand der Seewolf leicht geduckt an seinem Platz, aber er dachte nicht daran, den Kerlen das Gesetz des Handelns zu überlassen. Er konzentrierte sich auf den Kerl, der ihm am nächsten war. Zum Schein! Auf fünf, sechs Schritte ließ er den Burschen an sich heran —dann explodierte er. Mit einem wilden Kampfschrei stürzte er sich auf seinen Gegner. Der Eunuche riß die Peitsche hoch, doch da schlug Hasard einen Haken. Blitzartig fegte er ein paar Schritte zur Seite, warf sich in einem langen Hechtsprung vorwärts — und befand sich im Rücken seiner Gegner, ehe die ganz begriffen hatten, daß ihr Opfer tatsächlich den Nerv hatte, anzugreifen. Was dann folgte, ging so schnell, daß die Zuschauer es kaum mit den Augen verfolgen konnten. Der Riese, der schon die Peitsche hochgerissen hatte, wirbelte als erster herum. Mit einem scharfen Knall zischte der schwärze, sich verjüngende Lederriemen durch die Luft, darauf gezielt, sich um die Beine des Opfers zu wickeln. Hasard schnellte hoch wie ein Kastenteufel, der Säbel blitzte - und der Eunuche hatte nur noch eine halbe Peitsche.
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An der Stelle, wo der Rest lag, wirbelten zwei klatschende Lederschnüre den Sand auf. Hasard stand längst nicht mehr dort. Geschmeidig hatte er sich zur Seite geworfen, überschlug sich am Boden und schnellte wieder hoch. Eine Peitsche knallte über ihm, doch er federte tief in die Hocke und unterlief den Schlag mit einem neuen Hechtsprung. Der Eunuche schrie, als sich der Säbel in seine Brust bohrte. Wie ein gefällter Baum stürzte er rückwärts, Hasard fiel über ihn, und ein glühender Schmerz zuckte über seinen nackten Rücken. Er hatte vorher gewußt, daß er diesen Schlag nehmen mußte. Blitzartig riß er die Waffe zurück und schnellte mit einer einzigen fließenden Bewegung nach links. Ganz knapp konnte er die zurückzuckende Spitze der Peitsche unter sich begraben. Seine Linke schloß sich um den schwarzen Lederriemen. Ein wilder Ruck - 'und der Eunuche, der nicht darauf vorbereitet war, torkelte haltlos vorwärts. Die Peitsche entglitt ihm. Aus der Hockstellung sprang Hasard auf, knallte dem überraschten Riesen den Kopf unter das Kinn und packte ihn an der Schulter. Der Kerl war schon bewußtlos, als ein eisenharter Griff ihn herumwirbelte. Ein Tritt gab ihm die nötige Fahrt - mit voller Wucht rammte er seine beiden anstürmenden Kumpane. Hasard setzte sofort nach, obwohl er den Burschen mit der halbierten Peitsche hinter sich hörte. Für die Zuschauer sah es so aus, als sei auf dem Platz ein Sturm losgebrochen. Mitten in einer Sandwolke funkelte der Säbel, zuckten Peitschen, wirbelte dieser große, schlanke Mann mit den eisblauen Augen auf eine Art herum, die seine Gegner als plumpe, unbewegliche Klötze erschienen ließ. Aufbrüllend brach einer der Eunuchen zusammen. Der Riese mit der halbierten Peitsche torkelte zurück, an der Kehle getroffen. Die letzte Peitsche glitt hoch in die Luft wie eine sich aufbäumende
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Schlange - und dann erklang ein schauerliches Geheul, als der Säbel den hochgerissenen Arm des Eunuchen vom Gelenk bis zur Schulter aufschlitzte. Daß der Kampf noch nicht vorbei war, daß sich dieser schwarzhaarige Teufel nicht damit begnügte, fünf als unbesiegbar geltende Eunuchen geschlagen zu haben das begriffen die Zuschauer erst, als Hasard mit drei, vier Sprüngen Karim Hosnani erreichte. Der Sklavenhändler kauerte bleich vor Schrecken neben dem fetten Scheik. Seine Lippen zuckten. Er brauchte Sekunden, um die Lähmung abzuschütteln - doch da hatte ihn Hasard längst gepackt, riß ihn hoch und zerrte ihn ein Stück zur Mitte des Platzes. Hosnani versteinerte, als er die Spitze des Sarazenensäbels an der Kehle spürte. Hasard biß die. Zähne zusammen. Sein Rücken brannte, Blut rann über die Haut, ein metallischer Geschmack war in seiner Kehle. Er wußte, daß er noch nicht gewonnen hatte, dass er vielleicht gar nicht gewinnen konnte. „Bring sie zur Vernunft!“ zischte er auf Spanisch. „Wenn sich jemand rührt, bist du tot. Verstanden?“ „Ja“, flüsterte Karim Hosnani mit bleichen Lippen. „Ja ...“ Er holte Atem, wollte etwas rufen -und in derselben Sekunde schien buchstäblich die Hölle loszubrechen. 11. Ein dumpfer Krach zerriß die Stille. Erschrocken ruckten die Köpfe der Zuschauer herum. Hinter ihnen, genau vor Hasards Augen, flammte ein Blitz auf. Etwas löste sieh von der Kuppe einer Sanddüne und stieg in den Himmel. Etwas, das brannte, einen Feuerschweif hinter sich herzog 'und über den Köpfen der Zuschauer mit einem Donnerschlag explodierte. Es regnete Flammen. Dutzende von weißglühenden Sonnen schienen aus dem Nichts zu erscheinen, zerplatzten von neuem, lösten sich auf in
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vielfarbigen, blendenden Strahlenkränzen. Zwei, drei Sekunden lang waren die Menschen ringsum erstarrt vor Entsetzen, dann vereinigten sich ihre Stimmen zu einem einzigen heulenden Schreckensschrei. Panik brach aus. Das Gebrüll verschluckte die nächsten Explosionen, aber die aufsteigenden Feuerstrahlen waren nicht zu übersehen. Krachend zerplatzten sie, schillernde Kugeln in allen Farben des Regenbogens breiteten sich über den Himmel aus und erblühten zu phantastischen Feuerblumen. Der Himmel schien zu brennen - und die verwirrten, völlig geschockten Menschen flohen in panischer Todesangst. Hasard lächelte. Eisern hielt er Karim Hosnani im Griff. Der Sklavenhändler zitterte an allen Gliedern. Für ihn war das Schauspiel eine entsetzliche Naturkatastrophe, vielleicht der Weltuntergang - und die Knie hätten unter ihm nachgegeben ohne den eisernen Griff, der ihn hielt. Der Seewolf wußte, was sich da spielte. 'Feuerwerk! Chinesisches Feuerwerk harmlos, aber ungeheuer eindrucksvoll für jeden, der es nicht kannte. Big Old Shane, Ferris Tucker und die anderen waren da und sie hatten mal wieder genau die richtige Lösung für die Probleme gefunden. Die Söhne der Wüste rannten wie Kaninchen, in deren Stall der Fuchs eingefallen ist. Zelte wurden niedergewalzt, Verkaufsstände kippten um, das Geschrei war ohrenbetäubend. Wieder und wieder stiegen Raketen in den Himmel, dazwischen zuckten heulende rote Schlangen wie Ungeheuer, die sich im nächsten Moment auf ihre Opfer stürzen würden. Jetzt mischte sich auch noch das Krachen von Musketen und Pistolen in den Donner — und Karim Hosnani begann in panischer Angst zu wimmern. „Gnade! Gnade! Wir müssen fliehen! Laß mich los, ich flehe dich an ...“ Er verstummte.
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Denn im selben Augenblick geschah noch etwas Unerwartetes: das Zelt, in dem die Gefangenen untergebracht waren, schien von innen her auseinanderzuplatzen. Wilde Gestalten tauchten aus der Dunkelheit auf, stürmten durch die Trümmer - und für Sekunden übertönte ein donnernder Schrei den Lärm des Hexenkessels. „Arwenack!“ dröhnte es aus rauhen Kehlen. „Arwenack! Ar-we-nack!“ Der fette Scheik, der vom Sitzkissen gefallen war und sich eben wieder aufrappeln wollte, sackte erneut zusammen. Mit funkelnden Augen sah der Seewolf, wie sich seine Leute mit bloßen Fäusten ins Getümmel stürzten. Ben Brighton und der kleine Bill hatten im Nu den dicken Scheik am Wickel. Über die Sandhügel stürmten mit beträchtlichem Geschrei die Männer von der Bordwache der „Isabella“, die das Feuerwerk veranstaltet hatten. Immer noch zerplatzten Raketen und regneten Flammen, und das wüste Narbengesicht des Profos', der sich wutschnaubend nach einem Gegner umsah, wurde gespenstisch angestrahlt. „Mister Carberry!“ peitschte Hasards Stimme durch den Lärm. Gleichzeitig packte er Karim Hosnani am Burnus, schleuderte ihn in Carberrys Richtung - und der eiserne Profos empfing den heimtückischen Halunken im wahrsten Sinne des Wortes mit offenen Armen. An die Brust drückte er ihn allerdings nicht. Stattdessen beutelte er ihn wie einen Bettsack, bediente ihn mit einer Serie Maulschellen allererster Qualität und brüllte dabei Matt Davies und den Kutscher an, sich doch. verdammt und zugenäht, endlich um die Ladys zu kümmern, oder der Satan werde sie lotweise holen. Die gefangenen Spanierinnen drängten sich zitternd vor Angst in ihrem Zelt zusammen. Hasard stellte mit einem Blick fest, daß sie bei Matt Davies, dem Kutscher, Al Conroy und dem weißhaarigen Segelmacher Will
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Thorne bereits bestens aufgehoben waren. Ein zweiter Blick zeigte ihm, daß sich eine Gruppe kriegerischer Wüstensöhne ermannt hatte, nachdem ihnen erst einmal klar geworden war, daß die Hölle wohl doch keine Anstalten zeigte, die Oase Hassi Dschebel zu verschlingen. Der Seewolf packte seinen Sarazenensäbel fester, wechselte die Richtung, und im vollen Lauf schlug er dem zu ihm stoßenden Ben Brighton auf die Schulter. Der Bootsmann strahlte. Schräg hinter ihnen beförderte Ed Carberry den wimmernden Sklavenhändler in das Gewirr von Hockern und Sitzkissen, wo bereits der fette Scheik von drei Seewölfen bewacht wurde. Bill, der Schiffsjunge, fuchtelte drohend mit einem Ungetüm von Krummsäbel, den er irgendwo erbeutet haben mußte. Der Profos wandte sich dorthin, wo es interessant zu werden versprach, weil die Fetzen flogen. Inzwischen waren auch Big Old Shane, Jeff Bowie, Ferris Tucker, Blacky und Batuti zur Hauptstreitmacht gestoßen -und die Wüstensöhne standen unversehens der fast kompletten „Isabella“-Crew gegenüber. Ein paar waren auf der Galeone zurückgeblieben, drei bewachten den Scheik und den Sklavenhändler, einige kümmerten sich um die Frauen, aber was tat das schon! Auch die Hälfte der „Isabella“-Crew war ein Haufen, der den Satan samt aller Unterteufel das Fürchten lehren konnte. Die Wüstensöhne in ihren wehenden Burnussen unternahmen einen mannhaften Versuch, sich der anrollenden Sturmflut entgegenzuwerfen - und dann zogen sie es doch vor, lieber die Beine in die Hand zu nehmen. Hasard sah gerade noch, wie Batuti wutschnaubend seinen Morgenstern über dem Kopf schwenkte. „Halt!“ schrie der Seewolf - und rettete damit einem hochgewachsenen, hageren Burnusträger das Leben. Der Mann war nur mit einem Dolch bewaffnet. An seinem Gürtel hing eine leere, kunstvoll gearbeitete Lederscheide, und als er sich umwandte, konnte Hasard
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auch das scharf geschnittene Gesicht mit den dunklen Falkenaugen erkennen. Mit einer ruhigen Bewegung reichte ihm der Seewolf den kostbaren Säbel zurück. „Ich habe zu danken“, sagte er. „Ohne die Waffe hätte es leicht sein können, daß meine Freunde zu spät erschienen wären.“ „Ah! Ich habe zu danken. Einen solchen Kampf sieht man nur einmal im Leben. Und ich habe recht behalten. Ich wußte sofort, daß sich ein Sklavenhändler mit Ihnen nur Ärger einhandeln konnte.“ Er lächelte. Das gleiche spöttische, jetzt etwas dünne Lächeln wie vorhin - und Hasard antwortete mit der gleichen, ein wenig ironischen Verbeugung. Er hätte gern mehr über diesen Mann gewußt, aber er ahnte, daß sich ihre Wege wohl nie mehr kreuzen würden. * Eine halbe Stunde später war die Oase Hassi Dschebel praktisch entvölkert. Die reichen Kaufleute, Scheiks und Würdenträger beeilten sich, mit ihrem Anhang das Weite zu suchen. Die Einwohner waren in die Wüste geflohen, um erst einmal abzuwarten, ob der Weltuntergang bevorstand oder vielleicht doch nicht. Sicher gab es auch noch angriffslustige Männer, denen es gegen den Strich ging, sich so einfach vertreiben zu lassen, aber ausgerechnet die hörten zum größten Teil auf das Kommando des Drahtigen mit den Falkenaugen, dessen Namen Hasard immer noch nicht wußte. Die Seewölfe fühlten sich sicher. Mit Karim Hosnani und dem fetten Scheik als Geiseln konnten sie ihre Gegner unter Kontrolle halten. Der Sklavenhändler hatte nach der Behandlung durch den Profos immer noch glasige Augen. Der Scheik schwitzte Blut und Wasser, weil er auf die Rache seiner Opfer wartete, aber weder Hasard noch einer seiner Männer dachten daran, sich an dem widerlichen Kerl die Hände zu beschmutzen. Inzwischen war wieder etwas Ordnung in das Chaos gekommen.
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Die Frauen fühlten nichts als Erleichterung, nachdem sie erfahren hätten, daß sie nicht vom Regen in die Traufe geraten waren, sondern freigelassen werden würden. Die wenigen spanischen Männer, die bei dem Piratenüberfall in Gefangenschaft geraten waren, brauchten ihre Zeit, um dem Frieden zu trauen. Erst als sie hörten, daß ihr Kamerad Diego Mantagua auf der „Isabella“ gesund gepflegt wurde, tauten sie etwas auf, und von da an bestand die Hauptschwierigkeit darin, sie und den Fischer Achmed daran zu hindern, den wehrlosen Karim Hosnani unter ausgesuchten Foltern vom Leben zum Tode zu befördern. Achmed hatte tatsächlich einen Freund unter den Oasen-Bewohnern. Er schleppte ihn herbei, überzeugte ihn davon, daß wirklich nicht der Scheitan in Hassi Dschebel eingefallen sei, und schließlich war der Mann bereit, Pferde, Kamele und die nötigen Vorräte zu verkaufen. Big Old Shane und Ferris Tucker hatten bereits Übung darin, eine Karawane auszurüsten. Sie brauchten keine Stunde, um alles Notwendige zu organisieren, und noch am Abend brachen die Seewölfe mit Achmed, den befreiten spanischen Gefangenen und den beiden Geiseln auf. Hasard fand es angenehm, sich im sanften Paßgang auf einem Kamel schaukeln zu lassen. Die Worte ihres heuchlerischen Gastgebers fielen ihm ein: daß auch eine Karawane eine Art Schiff sei, das unter den Sternen durch die Endlosigkeit der Wüste ziehe. So ganz unrecht, dachte der Seewolf, hat dieser Hund von einem Sklavenhändler doch nicht. 12. Am Morgen des übernächsten Tages erreichten sie Sidi-al-Narouz. Das heißt: sie schlugen einen Bogen um das Dorf und lenkten ihre Karawane der Bucht zu, in der - hoffentlich - immer noch die „Isabella“ versteckt lag.
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Vor dem letzten Hügel hielten sie an, um erst einmal die Lage zu peilen. Hasard, Ben Brighton und Ed Carberry kletterten den grünen Hang hinauf und verharrten im Schatten einer Palmengruppe. Die „Isabella“ dümpelte friedlich in der Bucht. Stenmark und Smoky gingen an Deck Wache, und es sprach für ihre Aufmerksamkeit, daß sie die Männer auf dem Hügel sofort entdeckten. Eine Viertelstunde später hatte sich der Begrüßungssturm wieder einigermaßen gelegt. Auf der Kuhl der „Isabella“ herrschte ungewohntes Gedränge, Rumflaschen kreisten, der Papagei Sir John ließ sich unter krächzenden „AlleMann-an-Deck !-Schreien auf der breiten Schulter des Profos nieder. Stenmark, Smoky, Sam Roskill und Old O'Flynn lauschten hingerissen dem Bericht über das Feuerwerk in der Oase Hassi Dschebel. und auf dem Achterdeck bemühte sich eine Gruppe Seewölfe unter Führung .des Kutschers, die verstörten spanischen Ladys mit original spanischem Rotwein aus den Beutebeständen der „Isabella“ etwas aufzuheitern. . Hasard lächelte still vor sich hin, als sein Blick auf den jungen Diego Mantagua fiel, der schon wieder auf den Beinen war und Mercedes del Rios im Arm hielt. Das Grüppchen der befreiten spanischen Gefangenen stand etwas verloren am Schanzkleid. Schließlich drängte sich der Wortführer, ein gewisser -Carlos Diaz, zu Hasard durch und verbeugte sich. „Ich möchte mich im Namen meiner Kameraden bei Ihnen bedanken, Senor Killigrew“, sagte er. „Wir verdanken Ihnen unsere Freiheit, und Ihre Männer haben Diego das Leben gerettet. Ich — ich weiß nicht, ob wir in einer ähnlichen Situation das gleiche für einen Engländer getan hätten“. „Vielleicht tun Sie es das nächste Mal“, sagte der Seewolf lächelnd. „Ja, das werden wir. Und in Zukunft wird es ein paar Spanier mehr geben, die wissen, daß El Lobo del Mar kein
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blutrünstiger Teufel ist, sondern ein Ehrenmann.“ Hasard nickte nur. Sie hatten ihn also erkannt. Das konnte Schwierigkeiten geben, später, wenn sie an der spanischen Küste vorbeisegeln mußten, aber so weit war es noch nicht. „Was werden Sie jetzt tun, Senor Diaz?“ erkundigte er sich. Der Spanier zuckte mit den Schultern. „Wenn wir nicht warten wollen, bis ein spanisches Schiff vorbeisegelt, müssen wir wohl ein Boot kaufen. Das wäre an sich nicht schwierig. Nur werden wir natürlich hoffnungslos unterbemannt sein.“ Der Seewolf grinste plötzlich. „Sie brauchen jeden Mann, den Sie kriegen können. nicht wahr?“ fragte er. „Ja, allerdings ...“ „Dann nehmen Sie doch den ehrenwerten Senor Hosnani mit auf die Reise. Er wollte Sie skrupellos in die Sklaverei verkaufen. Vielleicht geht er in sich, wenn er erst einmal eine Weile Borddienst geleistet hat.“ Genauso wurde es gemacht. Die Spanier kauften in Sidi-al-Narouz ein seetüchtiges Boot, und Hosnani half all sein Gezeter nichts: er durfte gleich damit anfangen, das Deck zu schrubben. Carlos Diaz und seine Kameraden hätten am liebsten auch noch den fetten Scheik zum Borddienst gepreßt, doch sie ließen sich schließlich überzeugen, daß sie sich dadurch nur einen Haufen Schwierigkeiten einhandeln würden. Dafür erhielten sie noch einen anderen Mann. Achmed, der Fischer, war zu dem Ergebnis gelangt, daß es in der Nähe von Sidi-al-Narouz in Zukunft zu viele Leute geben würde, die Grund hatten, sich an ihm zu rächen. Er heuerte bei den Spaniern an, und da er reichlich seemännische Erfahrung hatte, war er eine echte Verstärkung der Mannschaft. Carlos Diaz und seine Kameraden würden noch ein paar Tage brauchen, um ihre Ausrüstung zusammenzukriegen. So lange wollten sie auch noch den fetten Scheik als Geisel behalten, denn sie hatten keine Lust, sich von einer Horde
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rachsüchtiger Wüstensöhne massakrieren zu lassen. Inzwischen lag auch die „Isabella“ wieder an der Dalbenpier vor Sidi-al-Narouz, und der Abschied zwischen den Seewölfen und den Spaniern fiel recht freundschaftlich aus. „Merkwürdig“, brummte Smoky, der am Schanzkleid stand und zu dem kleinen Boot an der Pier peilte. „Was?“ fragte Ed Carberry neugierig. „Die Dons! Ein paar von ihnen sind doch direkt anständige Kerle.“ „Na klar, du Rübenschwein! Schließlich gibt's auch in England ein paar dreimal verdammte Halunken, oder?“ „Schon. Aber daß wir mal einem Haufen Dons auf der alten ‚Isabella' die Hände schütteln würden, statt ihnen aufs Haupt zu hauen ...“ „Klar bei Vor- und Achterleine!“ unterbrach ihn Hasards Stimme. „Sonst alle Leinen los und ein! Wir gehen unter Fock und Besan 'raus! Verdammt noch mal, Pete, glaubst du, der Kasten steuert von allein?“ Pete Ballie flitzte ans Ruder. Ed Carberry drehte sich ruckartig um, reckte die mächtigen Schultern und holte tief Luft. „Klar bei Vor- und Achterleine, ihr müden Säcke!“ tobte er. „Habt ihr Seetang in den Ohren, was, wie? Gary, ist die gottverdammte Fock immer noch nicht gesetzt? Hoch mit dem Besan, in drei Teufels Namen, oder glaubt ihr, heute sei Weihnachten?“ Die Männer grinsten. Ed Carberry fluchte noch wüster. Aber wenn der Profos fluchte, dann war das ein Zeichen dafür, daß alles zum besten stand. * Eine halbe Stunde später rauschte die „Isabella“ mit halbem Wind unter dem strahlend blauen Himmel nach Norden. Dan O'Flynn hockte im Großmars. Er hatte die schärfsten Augen der Crew. Und die brauchten sie jetzt. Mit dem Gedanken an das, was hinter ihnen lag, konnten sie sich nicht lange aufhalten - nicht in diesen von
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Spaniern und barbareskischen Seeräubern verseuchten Gewässern. Am Nachmittag frischte der Wind etwas auf, und Ed Carberry tat seine Befriedigung kund, indem er im Bogen leewärts spuckte. „Schiff ho!“ schrie Dan O'Flynn aus dem Mars. „Backbord voraus, vier Strich vorlicher als dwars!“ „Frage Kurs?“ „Genau Südost! Wenn du mich fragst, Sir, hat es der Pott auf uns abgesehen.“ „Fragt dich einer, du Hering?“ brüllte Carberry, der es nun mal nicht lassen konnte. Aber dabei rieb er sich die Hände, grinste von einem Ohr bis zum anderen und stand sozusagen in Bereitschaft, weil er wußte, was jetzt folgen würde. Philip Hasard Killigrew warf das lange schwarze Haar zurück. Seine Stimme klang ruhig und gelassen. „Klar Schiff zum Gefecht! Kanonen bemannen! Klar bei Kugeln und Kartuschen, aber ein bißchen plötzlich ...“ * „Da wird doch die Kakerlake in der Pfanne verrückt!“ jubelte Blacky eine Viertelstunde später. „Wer wird verrückt?“ raunzte ihn Carberry an. „Du bist wohl vom wilden Affen gebissen, hier herumzubrüllen wie „Es ist die ,Ar-Ribat', du Blindschleiche! Die ,Ar-Ribat`, kapierst du? Es ist der Kahn von dem Mistkerl. der euch bei dem sogenannten Fest den Rest gegeben hat.“ „Waaas?“ fragte Carberry andächtig. Blacky spuckte in die Hände. Big Old Shane reckte 'die mächtigen Schultern, Jeff Bowie und Ferris Tucker peilten über das Backbord-Schanzkleid und versuchten, auf dem Achterkastell der Karavelle den Piraten Abu Ben Rachid zu entdecken. Selbst Hasard grinste vergnügt. Mit Ben Rachid hatten sie alle noch ein Hühnchen zu rupfen — und es war seine eigene Schuld, wenn er ihnen den Gefallen tat, die „Isabella“ anzugreifen. „Das wird ein Fest“, sagte Ferris Tucker.
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„Pirat wird absaufen, gluck-gluck!“ verkündete Batuti. Noch schwamm die „Ar-Ribat“ und schien die Absicht zu haben, Flagge zu zeigen, aber daß sie besser daran getan hätte. sich zu verholen, stand außer Zweifel. Hasard beobachtete aus zusammengekniffenen Augen, wie das schwarze Tuch flatternd am Stag hochstieg. „Deck!“ schrie Dan O'Flynn aus dem Mars. „Der Kerl ist größenwahnsinnig. An Steuerbord hat er nur drei Minions, am Bug sehe ich eine einzige mickrige Serpentine, und da er keine Schlagseite hat, kann es an Backbord und achtern nicht viel besser aussehen.“ „Mist!“ brummte Al Conroy. „Da fühlt man sich ja wie ein Kinderfresser.“ „Mir egal! Ich fresse die' Kerle trotzdem ...“ Gespannt sahen die Seewölfe der Karavelle entgegen, die inzwischen mit raumem Wind über Backbordbug auf Kollisionskurs lag. Ben Brighton, der neben Hasard auf dem Achterkastell stand, rieb sich das Kinn mit dem Handrücken. „Ich verstehe das nicht“, sagte er in seiner bedächtigen Art. „Der Bursche muß wirklich den Verstand verloren haben. Er kann doch zählen! Und er kann sich, verdammt noch mal, denken, daß wir keine Kinderschleudern hinter den Stückpforten haben!“ Hasard hob die Schultern. Der Bootsmann hatte recht: es war Wahnsinn, mit der Karavelle ein Schiff wie die „Isabella“ anzugreifen. Aber schließlich hatte Abu Ben Rachid ja vor ihren Augen die spanische Galeone versenkt, und deren Armierung war auch nicht zu verachten gewesen. „Runter vom Mars. Dan!“ befahl der Seewolf. „Batuti, Shane — klar bei Brandpfeile! Ein bißchen Tempo, wenn ich bitten darf! Ihr scheint zu glauben, die Minions schießen mit Erbsen.“ Die Männer flitzten, der Profos brüllte in bekannter Manier herum. Al Conroy lüftete die Geschützmannschaften an, bis alles bereit war, um die schweren
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Siebzehnpfünder-Culverinen auszurennen. Der Stückmeister selbst übernahm eine Bugdrehbasse, mit denen er wie kaum ein anderer umgehen konnte. Die „Isabella“ war gefechtsklar, für alle Eventualitäten gerüstet — und damit hatten die Seewölfe, ohne es zu wissen, die Rechnung der Piraten bereits durcheinandergebracht. „Stückpforten Backbord und Steuerbord auf!“ rief Hasard. Krachend und rasselnd öffneten sich die Luken. Alle sechzehn Kanonen quietschten in ihren Lafetten, und die „Isabella“ VIII.“ zeigte die Zähne. Auf der „Ar-Ribat“ erklangen arabische Segelkommandos. Die Karavelle luvte an. Sehr plötzlich. Jetzt wandte sie der „Isabella“ die Backbordseite zu, und überrascht starrten die Seewölfe auf das Schiff, das nun hart am Wind auf Südwest-Kurs lag. „Die hauen ab!“ schrie Carberry empört. „Die feigen Kanalratten haben kalte Füße gekriegt, verdammt!“ „O Mann!“ stöhnte Smoky. „Sollen wir ihnen wenigstens 'ne Breitseite hinterherschicken und ...“ „Den Teufel tun wir“, sagte Hasard trocken. „Darauf warten die Kerle doch nur —falls das in deinen Schädel geht.“ „Eh?“ fragte Smoky verdutzt. „Ha!“. schrie der Profos. „Meinst du wirklich, die Affenärsche versuchen ne ganz krumme Tour? Da! Sie fallen ab und halsen!“ „Klar bei den achteren Drehbassen!“ rief Hasard ruhig. „Sten, Blacky — auf Bogenschützen achten! Batuti, du schickst ihnen die Brandpfeile über das Steuerbordschanzkleid nach, aber erst, wenn sie an unserem Heck vorbeigelaufen sind.“ „Klar Drehbassen!“ ertönte es zweistimmig. „Aye, aye, Sir“, erklang Batutis gutturaler Baß. Ben Brighton wollte etwas sagen, verschluckte es jedoch.
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Er stellte fest, daß der Seewolf mal wieder einen ganzen Schritt weiter vorausgedacht hatte als alle anderen. Was für eine Sorte Trick der Piratenkapitän versucht hatte, war klar: zum Schein die Flucht ergreifen, den Gegner zu einer überstürzten Breitseite verleiten, die bei der Schnelligkeit der Karavelle nicht viel Schaden anrichten konnte, dann halsen und an der Backbordseite der „Isabella“ vorbeilaufen, bevor die Kanonen wieder schußbereit waren. Auf die Tour hatten sie die Spanier hereinlegen können, aber nicht die Seewölfe. Die dachten gar nicht daran. dem vermeintlich flüchtenden Gegner ein paar eiserne Grüße nachzuschicken — und wenn die Piraten bei ihrem ursprünglichen Plan blieben, würden sie in eine volle Breitseite laufen. Was sie natürlich nicht taten, denn Abu Ben Rachid war zwar ein hinterhältiger Hundesohn, aber ein guter Seemann. Hasard behielt recht: die Karavelle vollendete die Halse nicht, sondern legte sich platt vor den Wind, um am Heck der „Isabella“ vorbeizuscheren. Und um ihr das Rigg zu ruinieren, wie man wenig später sehen konnte. Tatsächlich kauerten Bogenschützen hinter dem Backbordschanzkleid. Wenn sie zum Schuß gelangten, konnten ihre Brandpfeile eine Menge Unheil anrichten, auch wenn die mit halbem Wind über Steuerbordbug liegende „Isabella“ ihnen wenig Segelfläche als Ziel bot. Und die Minions hätten, wie gesagt, auch nicht mit Erbsen geschossen, sondern mit soliden Vierpfündern. Wenn! Hätten! „Achtere Drehbassen — Feuer !“ peitschte Hasards Stimme. Und Blacky und Stenmark verständigten sich mit einem Blick darüber, wer wen wegzuputzen hatte. Donnernd entluden sich die Geschütze in ihren drehbaren Gabellafetten. Den Bogenschützen auf der Karavelle flog das Schanzkleid um die Ohren. Schreie erklangen. Eine der Minions mit ihren gegossenen Bronzerohren erwischte einen Treffer, riß aus den Brooktauen und fegte
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quer über das Deck. Blackys zweite Kugel bereitete den Bogenschützen endgültig den Garaus - und in der Sekunde, in der die beiden restlichen Geschütze der Karavelle feuerten, drückte auch Stenmark zum zweitenmal die Lunte in die Pulverpfanne. Zwei vierpfündige Eisenkugeln klatschten in die grüne See. Pech für die Barbaresken: sie hätten bedenken müssen, daß die „Isabella“ eine ziemlich muntere Fahrt lief, bevor sie auf die Wasserlinie des Hecks zielten. Wieder donnerte die Drehbasse. Stenmark traf das Kanönchen nicht, auf das er gezielt hatte. aber er traf immerhin das Besanfall, und das hatte verheerende Folgen. Die schräge Gaffelrute krachte wie ein morscher Ast auf das Achterdeck der Karavelle. Sie verlor sofort an Fahrt - und jetzt schnellte Batuti hinter dem SteuerbordSchanzkleid der „Isabella“ hoch und spannte den Bogen mit dem Brandpfeil. Da die Karavelle immer noch platt vor dem Wind lag und ihnen das Heck zuwandte, konnte der schwarze Herkules das Großsegel überhaupt nicht verfehlen. Flammen loderten auf. Sekunden später zerriß das weiße Tuch unter dem Winddruck von der Rah bis zum Unterliek. Die Karavelle lief unter Marssegel und Blinde - und jetzt konnte ihr auch die achterliche Brise nicht mehr zu einer hinreichend schnellen Flucht verhelfen. Auf dem Achterkastell der „Ar-Ribat“ stand Abu Ben Rachid und sah mit bleichem Gesicht der unabwendbaren Niederlage entgegen. Er war unfähig, irgendeine Entscheidung zu treffen. Es gab auch nichts mehr zu entscheiden: die lahmgeschossene, so gut wie manövrierunfähige Karavelle würde dem -Gegner wie eine überreife Frucht in den Schoß fallen. Abu Ben Rachid konnte nur noch hoffen, daß die Engländer ihn laufenlassen würden, aber die Seewölfe dachten gar nicht daran. „Abfallen!“ hallte Hasards Stimme, über die Decks. „Klar bei Bugdrehbassen! Al, Smoky - ihr zieht ihnen die beiden letzten Zähne.“
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Al Conroy zeigte klar. Die „Isabella“ fiel ab, ging mit dem Heck durch den Wind und luvte auf den neuen Bug an. So rauschte sie auf die flügellahme Karavelle zu, und wieder feuerten die Piraten zu überhastet. Der eine Treffer im Vorschiff richtete keinen Schaden an, den Ferris Tucker nicht im Handumdrehen wieder reparieren konnte. Der Krach der Schüsse war noch nicht verhallt, als die Bugdrehbassen der „Isabella“ loshämmerten. Binnen zwei Minuten hatte die Karavelle keine funktionsfähigen Backbordkanonen mehr, und Abu Ben Rachid konnte nur noch auf den Fangschuß warten. „Vor den Wind mit dem Schiff“, befahl Hasard gelassen. „Klar bei Steuerbordkanonen! Acht saubere Löcher in die Wasserlinie. wenn ich bitten darf!“ Die „Isabella“ fiel ab. Unter Vollzeug vor dem Wind brauchte sie nur Sekunden, um sich neben die Karavelle zu schieben. Der Profos fluchte und schnitt ein unzufriedenes Gesicht. weil das ganze viel zu einfach war, um ihm Spaß zu bereiten. „Steuerbordkanonen, Feuer!“ Krachend entlud sich die Breitseite. Die Karavelle taumelte wie eine kranke Kuh und legte sich schwer nach Backbord über. Wasser gluckerte durch acht sauber gestanzte Löcher in den Schiffsleib, und an Deck rannten die verstörten Barbaresken wie aufgescheuchte Hühner durcheinander, um Boote abzufieren. „Das reicht“, sagte Ben Brighton zufrieden. Hasard nickte nur. Die „Ar-Ribat“ würde auf Tiefe gehen, mehr hatten sie nicht gewollt. Mochten die Barbaresken mit ihren Booten zurück zur Küste pullen. Von dieser vernichtenden Niederlage würden sie sich nicht so schnell erholen, und das reichte auch nach Meinung des Seewolfs. „Anluven!“ befahl er. „An die Brassen, ihr Hammel!“ brüllte Ed Carberry. „Herum mit dem Kahn! Hopp-
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hopp, oder wollt ihr die alte ,Isabella` in den Sand setzen, was, wie?“ Elegant schwang die Galeone nach Backbord herum, bis sie wieder mit halbem Wind auf Nordkurs lag. Die Karavelle blieb achteraus. In den Booten pullten die barbareskischen Piraten wie wahnsinnig, um rechtzeitig aus dem Sog des sinkenden Schiffs zu gelangen. Selbst auf der „Isabella“ war das unheimliche Saugen und Gurgeln zu hören, mit dem die „Ar-Ribat“ auf Tiefe ging, und
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Minuten später war nicht einmal mehr eine Mastspitze zu sehen. Die Boote der Araber tanzten als winzige Punkte auf der gleißenden See. Spätestens jetzt wußte Abu Ren Rachid, daß es ein Fehler gewesen war, sich mit den Seewölfen anzulegen. Er fluchte erbittert, schüttelte in ohnmächtiger Wut die Fäuste, aber der „Isabella“, die unter Vollzeug ihrem Ziel entgegenglitt, konnte das nichts mehr anhaben.
ENDE