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Der Seelensauger Ein Gespenster-Krimi von Logan Derek Coleman schluckte. Mit deutlichem Unbehagen musterte er das große, dunkle Backsteingebäude, das sich vor ihnen fast schattenhaft und kaum beleuchtet aus der Nacht schälte. »Ich weiß nicht so recht«, meinte er zögernd. »Blödsinn!« Kategorisch reckte Jackson das Kinn vor. »Das ist ein Auftrag wie jeder andere. Und schau dir doch mal das Haus an! Das wurde erbaut, als Queen Victoria noch das Sagen hatte. Ich glaube nicht, daß sie viel daran modernisiert haben bei den beschränkten Mitteln, die dem Staat heute zur Verfügung stehen. Ich sage dir, das ist eine ganz leichte Sache.« »Trotzdem...« Nur unwillig ließ sich Coleman von seinem Begleiter mitziehen. »Wohl ist mir dabei nicht. Schließlich brechen wir ja in eine Leichenhalle ein!« Jeder Bastei-Gespenster-Krimi ist eine deutsche Erstveröffentlichung »Na und?« Jackson grinste spöttisch. Unter dem schwachen Licht der Straßenlaterne verzerrten sich seine Züge zu einer fast monströsen Grimasse. Seine lange Narbe hatte Coleman immer schon gestört, auch wenn er das Jackson natürlich nie eingestanden hatte. »Fürchtest du dich etwa vor den Toten?« Der Narbige schüttelte den Kopf. »Wie ein kleines Kind, das Angst vor der Dunkelheit hat. Aber wir müssen doch gar nicht zu den Leichen hinein. Ihre Besitztümer werden in einem gesonderten Raum aufbewahrt, bis irgendwelche Verwandte ihre Ansprüche geltend machen. Und der Nachtwächter ist eine alte Pflaume. Ich kenne ihn von einem Bruch im Savoy. Da haben sie ihn gefeuert, weil er seine nächtlichen Runden immer verschlafen hat!« Zögernd blickte sich Coleman um. Die Straße war menschenleer, genau, wie man es zu dieser nachtschlafenden Zeit von einem alten Vorort Londons, der keinerlei Nachtleben und Touristenattraktionen aufzuweisen hatte, erwarten konnte.
Sie hatten sich dem kleinen Eingang der Leichenhalle bis auf wenige Schritte genähert. Wie Jackson behauptet hatte, bestand die Tür aus altem, morschen Holz, das schon seit Jahrzehnten nach einem neuen Anstrich schreien mochte. Das darin eingelassene Schloß konnte von seiner Bauweise her nur als vorsintflutlich bezeichnet werden; um es ohne Schlüssel aufspringen zu lassen, war noch nicht einmal ein Dietrich von Nöten; ein Stück Draht genügte. »Dann mach ich's eben allein«, sagte Jackson. »Allerdings teile ich dann auch nicht mit dir. Und denk an den Batzen Geld, den dieser komische Halbtote uns angeboten hat.« Coleman dachte an die Summe und fühlte, wie ihm ein wohliger Schauer den Rücken hinabrann. Zehnmal mehr, als man normalerweise für einen Bruch auf Bestellung bekam. »Warum willst du überhaupt, daß ich mitmache?« fragte er. »Du hast selbst Angst, Stimmts?« »Quatsch.« Jacksons Verneinung war jedoch mit zu wenig Nachdruck vorgetragen, um ernsthaft zu sein. »Und wenn, dann jedenfalls nicht vor einer Leichenhalle.« »Wovor denn?« Jackson zuckte die Achseln. »Vor dem Burschen, der uns zu dem Bruch angeheuert hat, nicht wahr?« »Kann schon sein.« Coleman nickte dumpf. Die Verhandlungen mit diesem Burschen hatte Jackson geführt; er selbst hatte ihn nur einmal ganz kurz zu Gesicht bekommen. Doch diese Begegnung reichte ihm. Der Mann, der ihnen den Einbruch aufgetragen hatte, war vielleicht einsachtzig gewesen und unglaublich hager. Seine pergamentgelbe, kränklich aussehende Haut schien wie ein zweiter Anzug um seinen Körper zu schlackern, hier und da eine Falte werfend, eine richtiggehende Falte in der Haut. Doch seine Augen... Seine Augen hatten Coleman sofort in Angst und Schrecken versetzt. In ihnen brannte ein glutrotes Feuer, und ein zwingender Druck ging von ihnen aus. Er fragte sich, wie Jackson die Summe so hochtreiben konnte; bei ihm hätte ein einziger Blick aus diesen fast hypnotischen Augen genügt und er hätte den Einbruch sogar umsonst durchgeführt, nur um aus dem Bann dieser Augen zu kommen. »Also gehen wir hinein«, sagte er.
Jackson hantierte an dem primitiven Schloß. Nach wenigen Handgriffen sprang es leise klickend auf. Kühle, etwas abgestandene Luft drang in ihre Nase. Coleman hatte fast erwartet, einen modrigen Fäulnisgestank aushalten zu müssen, aber seine Kenntnisse von Leichenhallen schien von zweitklassigen, alten Horrorfilmen her zu stammen. Der Gang, den sie betreten hatten, war jedenfalls' sauber, fast schon aseptisch rein. Wenn er erwartet hatte, über die aufeinander gestapelten Körper von Toten zu stolpern, sah er sich getäuscht. »Wo ist der Nachtwächter?« flüsterte er. »Keine Ahnung«, gab Jackson zurück. »Wahrscheinlich schläft er den Schlaf des pensionsberechtigten Staatsdieners.« Mehrere Türen führten von dem langen Gang ab. Coleman wollte die erste probieren. »Bist du verrückt?« zischte Jackson. Er deutete auf ein kleines Schild, das Coleman übersehen hatte. »Ich dachte, du willst nichts mit den Leichen zu tun haben, und jetzt spazierst du geradewegs zu ihnen hinein!« Coleman nahm die Hand von der Klinke, als bestände sie aus flüssigem Metall. Heftig zitternd wartete er, bis Jackson die mitgeführte Taschenlampe aufblitzen ließ. Der schwache Lichtfinger fuhr über die weiteren schmucklosen Aufschriften der Türen. »Hier ist es«, sagte er schließlich. Die Tür war versperrt; es bereitete Jackson jedoch keinerlei Mühe, sie mit einem grobschlächtigen Dietrich zu öffnen. Die Ebbe in der Staatskasse war wirklich gewaltig genug, um die fällige Modernisierung uralter Staatsbauten weiterhin zu verzögern. Leise glitt die Tür hinter ihnen zurück ins Schloß. Coleman wartete, bis sein Begleiter den Lichtstrahl der Taschenlampe durch den Raum streichen ließ, überzeugte sich davon, daß die beiden Fenster des Raumes durch Jalousien gesichert waren und kein Lichtschein nach außen dringen konnte, und tastete dann nach dem Lichtschalter. Erleichtert atmete er auf, als kalte Helligkeit den Raum erfüllte und das Gefühl verscheuchte, hinter ihm würden die Leichen aufmarschieren, um sich an ihnen gütlich zu tun. Das Mobiliar des Raumes bestand aus einem primitiven Holztisch mit drei Stühlen und aus metallenen Schränken. Schränke überall, an allen vier Wänden, selbst unter den beiden Fenstern. Sie waren markiert mit alphabetisch geordneten Buchstaben, je-
weils drei Stück an der Zahl, die für die ersten Buchstaben von Nachnamen standen. Mit seinen behandschuhten Fingern tastete Jackson die Schilder ab, die Buchstaben dabei leise vor sich hinmurmelnd. »Ora«, sagte er schließlich. »Hier muß es sein.« Er zerrte an dem Schrankfach; beharrlich widersetzte es sich jedoch seinen Öffnungsversuchen. Schließlich mußte er es mit seinem Dietrich aufbrechen; seine mitgeführten Schlüssel waren alle zu groß für das Schloß. Laut knirschend fuhr das Schrankfach auf gut geölten Rollen zurück und traf Jackson an der Schulter. Unflätig fluchend schrie der Mann auf, dämpfte jedoch sofort wieder seine Stimme. Hastig drückte er die genormten Kartons, die sich in dem Schrank aneinanderreihten, zurück. »Hier ist es!« sagte er. »Jill O'Ryan. Gerade erst gestorben. Es stand bestimmt noch keine Anzeige in der Zeitung. Woher wußte unser Auftraggeber eigentlich, daß sie nicht mehr unter uns weilt? < »Mir egal!« gab Coleman zurück. »Beeil dich lieber und red nicht soviel.« Jackson riß den Karton auf. Heraus purzelten einige weibliche Bekleidungsstücke und ein Buch, ein großer, anscheinend in echtes Leder gebundener Band. »Na also«, sagte er zufrieden. »Schon erledigt. Die Mäuse sind uns sicher.« Coleman betrachtete das Buch. Er schluckte; ein Kloß bildete sich in seiner Kehle. Er glaubte, eine ähnliche Ausstrahlung zu spüren, wie sie von dem hageren Mann ausgegangen war, der ihnen den Auftrag gegeben hatte, es aus der Leichenhalle zu schaffen. »Diese Nacht noch«, hatte er gesagt. »Morgen ist es zu spät.« Diese Ausstrahlung war... fremd. Irgendwie anders. Er konnte seine Gedanken nicht in Worte kleiden, doch er fühlte, daß das Buch ein Gegenstand war, der ganz und gar nicht in die heutige Welt paßte. Und die Aura des Buches war ganz einfach... bösartig. Er fühlte, wie das Buch ihn in seinen Bann schlug. Unwillkürlich trat er näher, um es genauer zu betrachten. Jackson mußte es ähnlich ergehen, denn er hielt das Buch mit einer unnatürlichen Vorsicht. Gebannt starrte er darauf hinab, streckte dann die Finger aus, um es zu öffnen.
»Nicht!« wisperte Coleman. Dennoch trat er selbst noch einen Schritt näher, um das Buch genauer begutachten zu können. Die Schriftzeichen auf dem Einband kamen ihm unbekannt vor; sie schienen einer arabischen oder fernöstlichen Sprache zu entstammen. »öffne es nicht!« wiederholte er. Doch gleichzeitig fühlte er, wie der Bann, den das Buch über ihn warf, sich verstärkte. »Hab' ich es mir doch gedacht!« sagte eine zittrige Stimme hinter ihm. »Ich wußte doch, daß ich ein Geräusch gehört habe!« * Der Bann brach. Coleman wirbelte herum und starrte sprachlos, mit weit aufgerissenem Mund, den Nachtwächter an, ein kleines, verhunzeltes Männlein, der seine Selbstsicherheit lediglich durch die Pistole gewann, die er in seiner rechten Hand hielt. »Ich glaube, ich rufe besser die Polizei!« sagte er und musterte Coleman. »Dich kenne ich doch irgendwoher...« Jackson drehte sich ganz langsam herum. Erst jetzt konnte der Nachtwächter das Buch sehen, das er krampfhaft umklammert hielt. Sein Blick glitt von Coleman ab und saugte sich an dem uralten Band fest. Ein Leuchten schien von den seltsamen Schriftzeichen auszugehen. Wirbelnd glitten sie durcheinander, formten noch fremdere Wortgruppen. Coleman mußte sich mit aller Kraft zwingen, seinen Blick von dem unerklärlichen Schauspiel loszureißen. Er machte einen Schritt auf den Nachtwächter zu. Der Alte starrte das Buch aus zusammengekniffenen Augen an, hatte seine Regung noch nicht einmal bemerkt. Noch einen Schritt. Der Nachtwächter starrte immer noch auf das Buch. Ein dritter Schritt, dann war Coleman nah genug heran. Er holte aus und setzte dem alten Mann die Faust ans Kinn. Für einen Moment stand der starr wie eine Statue, da, dann klappte er zusammen. Sein Kopf schlug hart gegen die Wand, bevor er den Boden erreicht hatte. Jackson ließ das Buch fallen, als habe er eine Schlange in den Händen. »Mist«, fluchte er. »Er hat uns erkannt!«
»Blödsinn! Der ist doch hinüber! Schnell weg hier!« »Und das Buch?« Zögernd starrte Jackson auf den Band, der nun wieder völlig normal wirkte. Auch seine unheilvolle Aura schien verschwunden zu sein. Kurzentschlossen packte Coleman zu und umklammerte das Buch. Es fühlte sich völlig normal an. Die beiden Männer wechselten einen Blick miteinander und begannen zu rennen. Sie hörten erst auf zu laufen, als sie den mit dem hageren Auftraggeber vereinbarten Treffpunkt erreicht hatten. * Die Luft brannte in Colemans Lungen. Während ihrer überstürzten Flucht waren seine Gedanken um den Nachtwächter gekreist, der mit seltsam verwinkeltem Körper liegen geblieben war. Lebte er noch, oder war er tot? Hatte er ihn ermordet? Nein, nicht ermordet... es war ein Unglücksfall gewesen, nur ein harmloser Schlag... Schuld daran trug das Buch! Genauso, wie es ihn innerlich aufzufressen drohte, hatte es auch von dem Nachtwächter Besitz ergriffen. Der alte Mann hatte jede Kontrolle über seinen Körper verloren. Wenn man geschlagen wird und stürzt, dann lenkt man instinktiv seinen Fall, sieht zu, daß man sich nicht verletzt; bei dem Nachtwächter jedoch war diese Reaktion ausgeblieben. Er war steif wie ein Brett zu Boden gefallen... Aber würde ein Richter ihm das auch glauben? Unsinn, sagte er sich und verscheuchte die schuldbewussten Gedanken, die sich hartnäckig in ihm festgesetzt hatten. Zum einen konnte der alte Mann ja noch leben, zum anderen mußte man ihn erst einmal erwischen, bevor sich ein Richter den Kopf darüber zerbrechen konnte, inwieweit das Buch eine Rolle gespielt hatte. Dieses verdammte Buch... Während er es nun vorsichtig hielt, seinen ausgemergelten Körper schwer atmend gegen eine Hauswand gelehnt, deren Kälte langsam seinen Rücken durchzog, fühlte es sich an wie jedes andere Buch auch. Die bösartige Aura war völlig verschwunden. Hatte er sich alles nur eingebildet?
»Wo bleibt er?« unterbrach die keuchende Stimme Jacksons seine im Kreis wandernden Gedanken. »Er mußte doch längst hier sein!« Coleman löste sich von der Wand und blickte sich um. Die Hauswand, an der er sich abgestützt hatte, gehörte zur Rückfront einer Schule. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite begann der Ausläufer eines kleinen Parks, der wenig später in einen Friedhof überging. Obwohl die Kings Road nur wenige Straßenzüge entfernt lag, war es um diese Zeit hier im Stadtteil Chelsea totenstill. Auch eine Weltstadt wie London schlief einmal. Und dieser Schlaf kam ihm normalerweise sehr gelegen, wenn es darum ging, sich den Lebensunterhalt zu »verdienen«. Diesmal jedoch bedrückte Coleman diese Stille. Fast unnatürlich kam sie ihm vor. Er kannte sich hier in Chelsea aus wie in seiner Westentasche; er kannte nicht nur die Straßen und Parks, sondern auch die Menschen, das Lebensgefühl, das in dieser Gegend vorherrschte, doch in dieser Nacht schien es völlig einer bleiernen, todesschlafähnlichen Betäubung Platz gemacht zu haben. Jackson packte ihn am Arm. »Ich glaube, da vorne kommt er!« Er deutete mit der Hand auf den kleinen Park. Coleman umklammerte das Buch unwillkürlich und kniff die Augen zusammen. Ja, dort, wo sich vereinzelt jetzt kahle, weiß schimmernde Bäume erhoben, konnte er eine Bewegung ausmachen, sanft und gleitend, fast überirdisch, geschmeidig und fließend. »Das... das ist er nicht!« stammelte er. Jackson fluchte neben ihm leise. Es war eine Frau. Sie trug eine Art hellen, weit fallenden Umhang. Während sie mit katzenhaft-anmutigen Schritten näher kam, konnte Coleman erkennen, daß der Stoff ihrer Bekleidung sehr dünn und fast durchsichtig war, trotz der frühherbstlichen Kälte dieser Nacht. Unter der Transparenz ihres Kleides schimmerten ihre vollen, fraulichen Formen deutlich durch. »Mist!« Jackson starrte sie gebannt an. »Was hat die um diese Zeit hier zu suchen? Hoffentlich verschwindet sie, bevor... bevor er kommt.« Doch die Frau machte keinerlei derartigen Anstalten. Zielsicher schritt sie aus. Coleman folgte ihr wie gebannt mit seinen Blicken,
bis er nur noch die Hand ausstrecken brauchte, um sie zu berühren. Sie sagte etwas in einer ihm unbekannten Sprache, weiche, melodische Laute, die fremder klangen als alles andere, was er bisher in seinem Leben gehört hatte. Während er sich vergeblich bemühte, den Sinn ihrer Worte zu verstehen, erkannte er, daß sie wesentlich jünger sein mußte, als er angenommen hatte, denn auch wenn ihre Formen aus der Ferne überaus gerundet gewirkt hatten, so kamen sie ihm nun aus der Nähe bei genauerem Hinsehen eher knabenhaft schlank vor. Aber es war ein Vollblut-Mädchen, das da vor ihm stand... Er mochte Mädchen, die so schlank und biegsam waren! Sie wich einen Schritt zurück, als habe sie die Reaktionen, die sich in seinem Körper abspielten, instinktiv erraten, und legte sich ihre schlanken, langen Finger auf die Stirn. Schwer atmend stand sie da, während die beiden Männer ihre Blicke noch immer nicht von ihr lösen konnten. »Das Buch!« sagte sie plötzlich; ihre Stimme klang etwas zu weich, zu undeutlich genuschelt, war aber durchaus verständlich. Coleman und Jackson starrten sie an. »Ihr habt das Buch!« sagte das Mädchen. »Gebt es mir, bevor es zu spät ist. Bitte!« Fordernd, fast flehend streckte sie die Hände aus. Unwillkürlich lockerte Coleman seinen Griff und war fast bereit, dem Mädchen den alten Band auszuhändigen. »Nein!« schrie Jackson da. »Bist du verrückt? Der andere bringt uns um!« Coleman erstarrte wieder zu seiner früheren Bewegungslosigkeit. Seine Nackenhaare richteten sich auf; eiskalt lief es seinen Rücken hinab. Er spürte plötzlich die Anwesenheit seines Auftraggebers überdeutlich. Langsam drehte er sich herum, blickte empor zu dem hageren Gesicht, in dem die tief in den Höhlen liegenden Augen mit unwiderstehlicher Macht flammten. Der großgewachsene Mann trug die gleiche Kleidung wie damals, als er ihnen den Auftrag gegeben hatte, das alte Buch aus der Leichenhalle zu stehlen. Und seine Augen strahlten mit der gleichen zwingenden Kraft. »In der Tat, meine Herren«, sagte er. Seine Stimme war scharf akzentuiert, die einzelnen Worte klangen allerdings abgehackt, so, als habe er die für ihn fremde Sprache, in der er sich nun
ausdrücken mußte, erst vor kurzem gelernt und sei nun darauf bedacht, ja keine Aussprachefehler zu begehen. Wo kommt er her? dachte Coleman. Wir hätten ihn doch sehen müssen! Er kann doch nicht aus der Luft aufgetaucht sein, einfach so, wie ein... wie ein Gespenst... »Ich sehe, wir haben Gesellschaft bekommen. Schade, daß die Übergabe des Buches auf diese Art und Weise gestört werden muß.« »Geben Sie mir das Buch!« sagte das Mädchen. »Schnell!« Ihre Stimme klang fast flehend. »Du hast dich mir entzogen!« sagte der Fremde. »Aber dieser Zustand wird natürlich nur vorübergehender Natur sein. Wie immer, wenn du vergeblich versuchst, dich gegen deinen Herren aufzulehnen!« »Bitte!« drängte das Mädchen. Coleman konnte sich nicht rühren. Das Mädchen sprang vorwärts. Ihre Bewegung kam blitzschnell, ohne jede Warnung. Coleman konnte ihr kaum mit den Augen folgen. Und doch zuckte die Hand des Fremden hoch und packte das Mädchen im Sprung am Hals. Mit einer spielerischen Geste warf er sie zurück auf den Boden. »Wenn du schon hier bist, kannst du auch einen der nächsten Geweihten für mich beanspruchen!« sagte der Fremde mit unbewegter Stimme. »Du wirst sehen, du kannst mir nicht entkommen. Eine Anstrengung, und du befindest dich wieder in meiner Gewalt.« Seine durchdringenden Augen fixierten das Mädchen. Für einen winzigen Moment konnte sie seinem Blick standhalten, dann sackte sie zusammen und kroch wimmernd zurück. »Das Buch!« Der Fremde streckte die Hand aus. »Na-natürlich«, stammelte Coleman und reichte dem Fremden den Band. Er ließ seine Finger darüber gleiten, fast zärtlich, wie über den Körper einer schönen Frau oder über einen Schatz, den er sein Leben lang gejagt und nun endlich gefunden hatte, dann straffte sich seine Gestalt, und er warf das Buch achtlos neben das Mädchen auf die Straße. »Nimm es! Du wolltest es ja unbedingt haben!« Das Mädchen kroch weiter zurück. »Nimm es!« donnerte der Fremde. Mit einem Aufschrei berührte das
Mädchen das alte Buch und warf sich herum. Ohne zurückzublicken floh sie in den Park hinein, aus dem sie gekommen war. Das Lachen des hageren Mannes hallte ihr hinterher. Das Buch blieb zurück. »Und nun zu uns!« sagte er ruhig. Die kurze Erheiterung war von ihm abgefallen wie ein schmutziges Hemd, das man einfach auszieht und, ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, in die Wäschetruhe wirft. Er nahm das alte Buch auf. »Die... die Bezahlung...« brachte Jackson zitternd hervor. »Wir... wir verzichten darauf. Wir...« Er verstummte. Er hatte den Augen des Fremden nichts entgegenzusetzen. »Natürlich!« sagte der Hagere. »Das habe ich nicht anders erwartet. Allerdings bedarf diese Begegnung keiner Zeugen.« »Nein!« Jackson wurde noch bleicher. »Wir werden nichts verraten! Wir...« Der Fremde packte ihn am Hals und hob ihn mühelos in die Luft. Jackson trat mit den Füßen um sich, wirbelte mit den Armen, konnte sich jedoch nicht befreien. Als der Hagere ihn endlich fallen ließ, war seine Haut pergamentartig dünn und gelb. Jacksons Gesichtszüge wirkten eingefallen. In wenigen Sekunden schien er um Jahre gealtert, um Jahrzehnte seiner Lebenskraft beraubt. Er blieb auf dem Boden liegen und rührte sich nicht mehr. »Und nun zu uns!« sagte der Hagere und wandte sich zu Coleman um. Flieh! schrie es in dem kleinen Dieb. Lauf davon! Renne, soweit dich die Beine tragen! Nur... steh nicht stocksteif herum! Beweg dich, beweg dich, bevor es zu spät ist... Dann spürte er die Hand des Fremden an seinem Hals, fühlte plötzlich gar keine Angst mehr, sondern nur noch eine tiefe, alles durchdringende Müdigkeit. Ein letzter Anflug von Entsetzen brandete noch kurz in ihm empor, dann war alles vorbei. Endgültig vorbei. * Peter Bryant nahm die Zigarette zwischen die Lippen, überflog kopfschüttelnd das Manuskript und besonders die mit rotem Stift verzeichneten Anmerkungen, deren sein Chefredakteur sich nicht
hatte enthalten können, schaltete die Typenradmaschine ein und begann, das Manuskript einschließlich der geforderten Veränderungen noch einmal abzutippen. London, 11.10. Gestern starb in den frühen Morgenstunden Jill O'Ryan (22), die sich seit einigen Tagen in psychiatrischer Behandlung befand. Während eines Mittelmeerurlaubs wurde Jill O'Ryan von einer Arachnoidea Araneae gestochen. Diese seltene Spinnenart legt ihre Eier in den Körpern von ihr erlegter Beutetiere ab; während der Wochen bis zum Schlüpfen ernähren sich die noch in der Entwicklung befindlichen Jungspinnen von dem Wirtstier, das ihnen genug Nahrung liefert, eine gewisse Größe zu erreichen, bevor sie den Kampf ums Überleben aufnehmen müssen. Der Fall der Jill O'Ryan gewinnt Bedeutung durch die Tatsache, daß zum ersten Mal ein lebendiges Säugetier die Brut der Spinne ernährte. Dieser Vorgang wird von Biologen aus aller Welt als Wunder und Perversion der Natur zugleich bezeichnet. Die bedauernswerte, bildhübsche Jill O'Ryan starb in geistiger Umnachtung. Die Erkenntnis, dutzende von Spinnen mit ihrem Körper ernährt zu haben, ließ sie in katatonische Schizophrenie stürzen. Der Leichnam wurde von den medizinischen Behörden zur Autopsie freigegeben. Dutzende von Medizinern aus aller Welt haben sich angeboten, die Sektion vorzunehmen. »Widerlich«, sagte Bryant zu sich selbst und setzte ein Namenskürzel unter die Meldung, das er immer verwendete, wenn sein Chefredakteur seine Artikel für den Daily Sketch so weit umgeschrieben hatte, daß er selbst inhaltlich dazu nicht mehr stehen konnte. So selten dies auch geschah, der Journalismus hatte eigene Gesetze, und nicht immer war Bryant bereit, diesen Gesetzen auch zu folgen. Bryants ursprüngliche Meldung war eine flammende Anklageschrift gegen die Ärztekammer gewesen, die das arme Mädchen achtlos hatte sterben lassen. Nun, wo es darum ging, ein »biologisches Wunder« zu begutachten, standen manche Mediziner jedoch Schlange. Schwarze Schafe gab es in jedem Beruf. Auch in seinem eigenen. Aber das war nur ein kleiner Trost.
Er drückte die Zigarette aus, nachdem er sich im Aschenbecher mit der Kippe eine freie Stelle geschaffen hatte, und überlas die Meldung noch einmal. Wahrscheinlich würden sowieso nur die wenigsten Kenntnis davon nehmen; irgendwo auf der zwölften Seite vergraben, eine Spalte unter dem Foto der neuen »Miss London« hatte sie keine Chance; warum veranstaltete sein Chefredakteur dann solch einen Wirbel darum? Ächzend zog er das Manuskriptblatt aus der Maschine und spannte gerade ein neues ein, als die Tür zu seinem kleinen Büro aufgestoßen wurde. Frank Brunner, ein junger Kollege, mit dem zusammen er schon mehrere teilweise Aufsehen erregende Artikel geschrieben hatte, steckte den Kopf hinein. »Hast du den Polizeifunk nicht an?« Bryant schüttelte den Kopf. »Es ist verboten, den Polizeifunk zu hören«,, sagte er in gespielt strengem Tonfall. »Außerdem ist sowieso nichts los.« »Jeder hört den Polizeifunk. Zumindest jeder in unserem Gewerbe«, führte Brunner aus. »Und macht sich dadurch verdächtig, wenn er noch vor der Polizei am Tatort eintrifft. Oder auch kurz nach der Polizei.« »Die Polizei weiß, daß wir den Polizeifunk hören.« »Und wir wissen, daß die Polizei weiß, daß wir den Polizeifunk hören. Deshalb müssen wir nicht unbedingt straffrei ausgehen.« »Die Jungs vom Yard sind doch nur ärgerlich, wenn wir vor ihnen am Ort des Geschehens aufkreuzen«, lachte Brunner. »Aber deine Verbindungen zur Polizei sind doch gut genug, oder nicht? Dein Busenfreund Russ Manning ist doch ein hohes Tier beim Yard.« »So hoch nun auch wieder nicht. Außerdem hat Manning gerade mit einem Plagiatsfall zu tun. Irgendein Bursche namens Wolfe... nicht Virginia, sondern Thomas oder Winfred oder so... macht sich ein Vergnügen daraus, freischaffende Autoren um die Früchte ihrer Arbeit zu bringen.« Er steckte sich eine neue Zigarette an. »Aber was willst du überhaupt von mir um diese nachtschlafende Zeit? Stell dir mal vor, du wärst hier hereingeplatzt, und ich hätte ein kleines Nickerchen gemacht! Das hättest du dem Chef melden müssen, und ich wäre wieder dran gewesen. Noch eine Woche Nachtschicht, bis ich endlich mal wieder eine lohnende Sache zugeteilt bekomme, bei deren Recherchen ich mir die Zeit frei einteilen kann...«
»Du solltest öfter Polizeifunk hören, dann wüsstest du auch, daß London mit lohnenden Sachen nur so gepflastert ist«, grinste Brunner. »Ich hätte dir ja gar nicht Bescheid gegeben, wenn Manning mich nicht gebeten hätte, die Pressebetreuung dieser himmelschreienden Plagiatssache zu übernehmen. In Chelsea haben sie gerade zwei Leichen gefunden.« Sprach's und schlug die Tür hinter sich zu. »Was?« Bryant sprang auf und jagte hinter ihm her. Brunner stand immer noch grinsend an der Türschwelle gelehnt. »Und das sagst du mir erst jetzt? Die anderen Aasgeier haben's doch auch im Polizeifunk gehört! Jetzt kann ich mich durch meine Kollegen hindurchkämpfen...« »Es kam nicht im Polizeifunk. Mord. Die Meldung erfolgte verschlüsselt. Manning hat mich angerufen. Er wollte dir einen Fall zukommen lassen. Deine letzten Sachen haben ihm überhaupt nicht gefallen.« »Wo?« fragte Bryant knapp und schoß die anderen Fragen direkt hinterher. »Was? Wann? Wie? Warum?« »Keine Ahnung.« Brunner zuckte die Achseln. »In Chelsea, in der Nähe der St. Luke's Church. Du wirst die richtige Stelle schon an dem Polizeiaufgebot erkennen.« * Das Licht der Straßenlaternen erlosch gerade, als Peter Bryant die in der Nähe der St. Luke's Church gelegene Schule erreichte. Der Morgen brach gerade an; sein fahles Licht wirkte irgendwie unwirklich. Trotz der Emsigkeit, mit der die Polizeibeamten am Tatort durcheinander liefen wie Ameisen, deren Königin gestorben war und den Haufen nun nicht mehr in Ordnung halten konnte, lag eine tiefe Ruhe über der Straße. Bryant kannte dieses Gefühl. In diesen Stunden zwischen Licht und Dunkelheit, zwischen kommendem Tag und vergehender Nacht, schien die Welt neue Kraft zu schöpfen für die nächste Helligkeitsperiode. Nur Menschen, die wie Bryant des öfteren jene Minuten in wachem Zustand verbrachten, kannten dieses Gefühl des Friedens und der Ruhe.
Der Journalist bugsierte sich durch die erste Polizeiabsperrung. Der leitende Polizeibeamte nickte ihm freundlich zu; er kannte ihn von einigen früheren Zusammentreffen. Überhaupt hatte Bryant ein äußerst gutes Verhältnis zur Polizei. Er berichtete, soweit es sein Gewerbe gestattete, immer exakt; er hielt Nachrichten, die noch nicht freigegeben waren, auch wirklich zurück und ließ sie nicht »durchsickern«. Es hatte sich ein Vertrauensverhältnis entwickelt, von dem beide Seiten profitierten. Bryant konnte einen Blick auf die beiden Leichen erhaschen, die man bereits in einen Krankenwagen geschaffen hatte. Er zwang sich, genauer hinzuschauen: verdorrte, eingefallene Gesichter, papierne Haut, spindeldürre Extremitäten, magere, eingefallene Brustkörbe. Die beiden Leichen wirkten, als hätten sie mindestens einhundertundfünfzig Jahre auf der Erde verweilt, bevor der Tod sie schließlich doch eingeholt hatte. Ein Polizist zog weiße Laken über die von Entsetzen verzerrten Gesichter; ein Einsetzen, das sich auch im Tod noch nicht geglättet hatte. Bryant schritt sorgfältig um die Männer von der Spurensicherung herum. »Stehen die Identitäten schon fest?« fragte der den leitenden Beamten, einen Scotland-Yard-Diensthabenden im Range eines Sergeants. Sein Name war ihm allerdings entfallen. Der Sergeant schüttelte den Kopf. »Sie trugen keinerlei Papiere bei sich.« »Auch keine Vermutungen?« »Nun...« Der Sergeant fasste sich ein Herz. »Ihre Kleidung läßt darauf schließen, daß sie der Unterwelt angehören. Kleine Fische jedoch; berufsmäßige Einbrecher oder so.« »Strecken Sie Ihre Fühler aus!« »Wenn Sie bei uns in der Kartei erfasst sind, haben wir die Personalien schnell festgestellt. Wenn nicht...« Er zuckte die Achseln. »Rufen Sie mich an, wenn Sie etwas Genaueres wissen!« Er reichte dem Sergeant seine Karte. Der Mann zögerte offensichtlich. »Halten Sie ruhig Rückfrage bei Inspektor Manning«, sagte Bryant. »Er gehört ja zur Mordkommission.« »Das werde ich tun, Sir.« Erleichtert, nicht sofort eine Antwort geben zu müssen, steckte der Sergeant die Karte ein. »Haben Sie sonst etwas?«
»Nein, Sir. Eine seltsame Angelegenheit. Keine äußerlichen Verletzungen. Nur, daß die beiden Toten alt erscheinen... uralt.« »Sie sind uralt«, bestätigte Bryant. »Eigentlich viel zu alt, um... Kunden vom Yard zu sein. Ich habe noch nie gehört, daß neunzigjährige Greise des Nachts in öffentliche Schulen einsteigen wollen. Oder wurden sie gar nicht hier getötet?« fügte er schnell hinzu. Der Sergeant lachte, amüsiert über den etwas plump geratenen Versuch, weitere Informationen aus ihm herauszulocken. »Doch, Sir, soweit wir bis jetzt erkennen können, wurden Sie hier an Ort und Stelle getötet.« »Vielleicht sind sie auch einfach an Altersschwäche verschieden. Beide zugleich. Ein Veteranentreffen, bei dem ihre alten, verbrauchten Herzen die Erzählungen aus der guten alten Zeit nicht verkraftet haben.« Der Sergeant lachte pflichtschuldig über Bryants Versuch, mit dem Entsetzen Scherz zu treiben. Der Gedanke kam Bryant natürlich absurd vor! Zwei uralte Menschen sterben nicht gleichzeitig am gleichen Ort; in einem Krankenhaus vielleicht, aber nicht hier, des Nachts in einer einsamen Straße. Dahinter steckte mehr. Viel mehr. Nickend verabschiedete sich Bryant und beobachtete für einen kurzen Moment noch die Männer von der Spurensicherung. Zwei mit blauer Farbe gezogene Konturen zeigten an, wo man die beiden Leichen gefunden hatte: die eine auf dem Bürgersteig, die andere zwei Meter entfernt halb auf der Straße. Die Abteilung Spurensicherung hatte natürlich bereits die Tatortfotos geschossen und suchte nun in einem Umkreis von vielleicht einhundert Metern die Straße ab. Bryant würde hier mit Sicherheit nichts mehr finden; was immer man der englischen Polizei nachsagen mochte, sie arbeitete stets mit der gebotenen Sorgfalt. Was erwartete er überhaupt zu finden? Eine Spur des Täters? Ein abgerissenes Halstuch vielleicht, anhand dessen Etikett man den Laden feststellen konnte, wo es gekauft worden war und so schließlich auch den Täter? Nein, diese Zufälle waren viel zu selten. Bryant blickte sich um. In unmittelbarer Nähe des Tatortes erstreckte sich ein kleiner Park, zuerst nur Gras, dann mit spärlichem Baumbestand. Er versuchte sich in die Situation des Täters
hineinzudenken. Er hatte gerade einen Mord begangen, Panik strömte in ihm empor, er floh, bemüht, so schnell wie möglich unterzutauchen... Unwillkürlich schritt Bryant auf den Park zu. Er hielt nach Fußspuren Aussicht, konnte jedoch nichts Ungewöhnliches entdecken. Das Gras war nass und richtete sich sofort wieder, auf. Hier würde bestimmt keine Spur zurückbleiben. Ein weißer Schimmer leuchtete weit vor ihm durch die kahlen Bäume, strahlte schwach in einem unnatürlichen Licht. Bryant setzte sich in Trab, doch seine Hoffnung, einem mit einem Messer bewehrten, vor Panik fast gelähmten Mordverdächtigen zu begegnen, zerschlug sich sofort wieder. Es war eine junge Frau, die dort in dem nassen Gras lag, bekleidet mit einem dünnen, weit fallenden Gewand, von dem dieser helle Schimmer ausging. Hellblondes Haar fiel weich, wenn auch durchnässt und versträhnt, über ihre Schultern. Ihr Gesicht war ebenmäßig geschnitten, mit stark betonten Backenknochen und einem runden Mund. Ihr Körper wirkte knabenhaft schlank. Bryant kniete nieder und legte eine Hand auf ihre Schulter. Fast wäre er zurückgeschreckt, denn ihr Fleisch war durch den dünnen Stoff hindurch eiskalt. Noch ein Opfer des gleichen Mörders? Nein. Ihre Brust hob und senkte sich, schwach, aber gleichmäßig. Er rüttelte an ihrer Schulter. Sie öffnete die Augen, und für einen Sekundenbruchteil trafen sich ihre Blicke. Doch sofort warf sie sich mit einer Kraft, die Bryant gar nicht mehr in ihrem Körper vermutet hatte, herum und begann in einer fremden, weichen Sprache zu stammeln. »Ich verstehe Sie nicht«, sagte Bryant ruhig. »Kann ich Ihnen helfen? Verstehen Sie mich?« »Das Buch«, stöhnte sie. »Haben Sie das Buch gefunden?« Bryants Gedanken begannen zu rasen. »Nein«, entgegnete er sanft. »Welches Buch?« »Sie müssen das Buch finden!« überhörte das Mädchen seine Frage. »Ich war frei von ihm. Ich bin noch frei... aber bald wird er mich wieder in seiner Gewalt haben... er braucht nur zu rufen. Ich habe vergessen, aber er braucht mich nur zu rufen... ich weiß nicht, ob ich noch einmal so stark sein kann.« »Wer wird Sie rufen?«
Das Mädchen schwieg. »Haben Sie die beiden Männer getötet?« Schwach schüttelte sie den Kopf; instinktiv erkannte Bryant, daß ihr diese Geste im Prinzip nicht vertraut war, allerhöchstens angelernt. »Er hat sie getötet«, sagte sie dann. »Ich glaube«, meinte Bryant leise, »ich bringe Sie erst einmal von hier fort, bevor die Polizei auf die gleiche Idee kommt wie ich.« Er lächelte schwach. * Sophie schrie. Ob es an der Tonhöhe lag, an dem Crescendo oder dem Zittern ihrer Stimme, Charles Hammer wußte sofort, daß etwas nicht in Ordnung war. Dabei verfügte Sophie über ein recht großes Instrumentarium an Schreien - der kleine, spitze, etwa wenn sie eine Maus sieht; der hohe, lang gezogene, wenn das Omelett, das sie auf dem Ofen zieht, so flach wie eine Flunder ist; der tiefe, mittelange, wenn sie vor Wut zu platzen droht - und der durch Mark und Bein gehende, lang gezogene Schrei, der besagt, daß sie sich wirklich bedroht fühlt. Und solch einen Schrei vernahm Charles Hammer nun. Er ließ die Kiste mit den Büchern einfach fallen und stürmte ins Badezimmer, aus dem der Schrei gekommen war. Sophie stand kreidebleich in der Tür, die Augen weit aufgerissen, das hübsche Gesicht etwas verzerrt. »Was ist?« fragte Hammer besorgt. Sie deutete mit schwacher Geste auf die zugeschlagene Badezimmertür. »Da drinnen ist etwas«, hauchte sie. »Da drinnen, in der Wanne!« Hammer verfluchte die Möbelpacker, die mit vier Stunden Verspätung gekommen waren und ihren Zeitplan völlig durcheinander gebracht hatten und öffnete die Tür. Das Licht der unverhüllten Glühbirne, die an einem kurzen Kabel von der Decke baumelte, war so grell, daß es in seinen Augen schmerzte. Tatsächlich, in der schmutziggrau schimmernden Wanne war etwas. Hammer glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Ein kleiner, schwarzer Punkt floss träge an der Wand entlang, fiel tiefer und kämpfte sich wieder höher.
Bei näherem Hinsehen entpuppte sich der Punkt als winziger, schwarzsilberner Wurm, der durch den Abfluss in die Wanne geraten sein mußte. Interessiert beugte Hammer sich hinab. Das kleine Tier krümmte seinen weichen Körper und gelangte auf diese beschwerliche Art und Weise langsam vorwärts. Es kroch an der Wand der Wanne empor, rutschte an der glatten Oberfläche jedoch wieder hinab, bevor es den Rand der Wanne erreicht hatte. Kopfschüttelnd nestelte Hammer ein Papiertaschentuch hervor und zerquetschte den Störenfried, der für die sinnlose Angst seiner Göttergattin verantwortlich zeichnete. »Was sich alles in der Kanalisation herumtreibt«, versuchte er Sophie zu beruhigen. »Alligatoren, die ausgesetzt wurden, nachdem sie zum ersten Mal nach den lieben Kindchen gebissen haben, und nun auch kleine schwarze Würmer.« Mit der Wasserspülung der Toilette beförderte er den lästigen Wurm dorthin zurück, wo er hergekommen war. »Das war doch nur ein kleiner Wurm!« »Ich weiß«, entgegnete Sophie, »aber ich hasse diese Viecher!« In der Tat war sie ganz steif, als er sie in die Arme nahm. Ihre Verkrampfung löste sich erst, als er ihr einen Kuss auf die Stirn drückte. * Zwei Stunden später erinnerte nichts mehr an Sophies fast hysterischen Zusammenbruch vom frühen Morgen.. Die Sonne strahlte hell durch die Ritzen der Jalousien und warf eckige Schatten an den unzähligen Kisten und Kartons, deren Inhalt darauf wartete, in ihrer gerade bezogenen Wohnung an den angemessenen Ort gestellt zu werden. Hammer blinzelte träge in die strahlende Helligkeit. Er hob einen Karton von einem anderen, der in seiner kaum leserlichen Handschrift mit »BÜCHER« bezeichnet war, und riß den unteren auf. In der Küche trällerte Sophie ein kleines Liedchen. Verführerischer Kaffeeduft wehte hinüber. Während Hammer noch überlegte, ob er jetzt oder erst nach dem Auspacken dieser Kiste eine Pause einlegen sollte, kam Sophie auch schon umgezogen und
neu geschminkt ins Zimmer gestürmt. »Ich muß mich beeilen, Schatz«, sagte sie nach einem Kuss auf die Wange. »Um halb zehn erwartet mich Mr. Gordon aus dem Einrichtungsgeschäft.« »Und ich?« murrte Hammer. »Soll ich etwa hungrig...« »Das Frühstück steht in der Küche, Liebling. Und der Kaffee ist in einer Minute fertig.« Sie drückte ihm einen Abschiedskuss auf die Stirn. Im nächsten Moment schlug sie auch schon die Korridortür hinter sich zu. Murrend nahm Hammer sein Frühstück ein. Danach war nicht nur sein Magen, sondern auch seine Lebenseinstellung etwas besänftigt, und er fuhr unlustig damit fort, den Karton weiter auszupacken. Er nahm die Bücher, wie sie kamen, und räumte sie ins Regal ein. Ordnen konnte er sie später. Zuerst einmal die Kartons aus ihrem Wohnzimmer schaffen, damit man auch wirklich darin wohnen konnte. Ein großer, in Leder gebundener und irgendwie alt wirkender Band erregte seine Aufmerksamkeit. Zwar kannte er nicht genau seinen Besitzstand an gedruckter Literatur - Bücher waren für ihn Dinge, die man sich ins Regal stellen mußte, weil die Freunde und Nachbarn erwarteten, daß man sie im Regal stehen hatte - aber dieser prachtvoll eingebundene Schinken kam ihm völlig fremd vor. Achselzuckend stellte er ihn zu den anderen ins Regal. Plötzlich verlor er die Lust daran, allein für wohnliche Ordnung zu sorgen, und beschloss, sich erst einmal zu rasieren. Auch bei Tageslicht wirkte das Badezimmer kaum freundlicher als in der Nacht. Hammer beschloss, demnächst eine Lampe anzubringen, die den harten Schein der nackten Glühbirne etwas dämpfen sollte. Kaum hatte der Rasierapparat zu summen begonnen, da entdeckte er aus den Augenwinkeln zwei weitere jener kleinen Würmer, die seine Frau in helle Aufregung versetzt hatten. Wie die anderen krabbelten sie in der Wanne beflissen ihren sinnlosen Weg. Doch irgend etwas interessierte Hammer daran. Er schaltete den Rasierer aus und beobachtete sie genauer. Der vom Abfluss aus gesehen vordere Wurm war bemüht, die immer steiler ansteigende und dann senkrecht verlaufende Wand
der Wanne emporzuklimmen. Er versuchte es erneut und erneut, doch auf der Hälfte der Strecke erwies sich die Macht der Schwerkraft jedes Mal zu stark für ihn, und er rutschte an der glatten Wand wieder hinab. Dabei hinterließ er eine winzige, erst bei näherem Hinsehen sichtbare Schleimspur. Würde Sophie diese winzige Fährte entdecken, so würde keine Macht der Welt sich als stark genug erweisen, sie dazu zu bringen, sich noch einmal in diese Wanne zu setzen. Der zweite Wurm benahm sich ganz untypisch. Zwar war Hammer alles andere als ein Fachmann für das natürliche Verhalten von Gliederfüßlern oder wie immer diese Insekten - sind Würmer überhaupt Insekten?, fragte er sich - auch heißen mochten, doch im Gegensatz zu dem anderen wirkte er... Nun, es sah so aus, als versuche er, seinem Wurmgefährten den Rückzugsweg offen zu halten. Wie ein winziger Derwisch umkreiste er die Stelle, an der sein Gefährte versuchte, den Rand der Wanne zu erklimmen. Allerdings schien der Wurm nur ein zweidimensionales Bild von seiner Umgebung aufnehmen zu können. Doch diesmal kam die Gefahr für ihn nicht von einer Seite, sondern von oben. Mit einem Stück Toilettenpapier zerquetschte Hammer zuerst den einen, dann den anderen Eindringling in sein geheiligtes Badezimmer. Ekel stieg in ihm empor, als er, von irgendwelcher fremden Neugierde getrieben, das Toilettenpapier wieder auseinanderrollte und die Überbleibsel der kleinen Lebewesen genauer betrachtete. Im Tode schimmerte ihre Körpermasse hell silbern. Ein dicker Kloß bildete sich in seiner Kehle und veranlaßte ihn, das Papier schnellstens in die Toilette zu befördern. Hammer beschloss, mit dem Hausbesitzer ein ernstes Wort über die Hygienevorschriften zu führen, und wandte sich wieder den Paketen und Kisten zu, die noch immer darauf warteten, endlich ausgepackt zu werden. * Zwei Stunden später war Sophie von ihrem Gespräch mit Mr. Görden zurück. Mit Wohlgefallen betrachtete, sie die Fortschritte, die Hammer während ihrer Abwesenheit im Wohnzimmer erzielt hatte. »Jetzt sieht doch alles schon ganz anders aus«, meinte sie und streckte sich herausfordernd in dem einzig freien Sessel.
»Wahrscheinlich werden wir morgen mit dem Einräumen fertig sein, und dann...« »Dann haben wir noch zehn Tage von unserem Jahresurlaub«, ergänzte Hammer. Der türkische Kaffee, den er in übermäßigen Mengen geschlurft hatte, brannte in seinen Nieren. Faul erhob er sich von der Kiste, die er mangels anderer freigeräumter Sitzmöbel zu einem Ersatzsessel erkoren hatte. »Sextanerblase«, grinste er. Er sah die kleinen Biester, kaum daß er die Badezimmertür hinter sich geschlossen hatte. Es waren mindestens zwanzig, die sich in der Badewanne tummelten. Doch tummeln entsprach nicht ganz der Wirklichkeit. Sie hatten sich nacheinander angeordnet und bildeten so eine Kette, die vom kreisrunden Abfluss der Wanne bis zur vorderen Seite reichte. Ein Wurm befand sich auf der Hälfte der Höhe, die er überwinden mußte, um den oberen Rand der Wanne zu erreichen, hinter sich eine dünne Schleimspur zurücklassend. Der Wurm kroch noch einen Zentimeter in die Höhe, dann rutschte er hinab, nur um seinen sinnlosen Aufstieg wieder von vorn zu beginnen. Hammer kam diese Prozession fast generalstabsmäßig vor. Das erste Tier versuchte, aus der Wanne zu entkommen, während die anderen in genau den gleichen Abständen zurückblieben. Aber warum, fragte er sich. Konnte ein Wurm Neugier darauf verspüren, was sich hinter dem Rand der Wanne befand? Konnte er einen Gedanken fassen, der über das rein Instinktmäßige hinausging? Und die Würmer verhielten sich keineswegs so, wie man es von Würmern eigentlich erwarten sollte. Ihr ganzes Handeln war darauf ausgerichtet, dem Gefängnis, das die Wanne für sie darstellte, zu entkommen. Hammer schüttelte sich innerlich, nahm die Brause aus der Halterung und wirbelte einen kräftigen Wasserstrahl über die Wurmprozession. Die winzigen schwarz-silbernen Tiere wurden durcheinander gewirbelt und von den niederstürzenden Wassermassen zurück in den Abfluss getrieben. Mit diesem ersten Erfolg gab Hammer sich jedoch nicht zufrieden. Er kramte in den Ecken des Badezimmers, bis er eine Dose mit Abflussreiniger entdeckte. Um dem unheiligen Treiben ein für
alle Mal ein Ende zu bereiten, schüttete er drei Messbecher des stark ätzenden Mittels in den Abfluss. Dann kehrte er ins Wohnzimmer zurück. Sophie war schon wieder mit dem Auspacken beschäftigt. »Du, da ist mir was Komisches aufgefallen«, sagte er. »Hast du neulich ein Buch gekauft?« »Nein, wieso?« Unter unseren Büchern war eins, das ich noch nie gesehen habe, wollte er sagen, doch der Gedanke verlor sich irgendwie in seinem Unterbewusstsein. »Ach, nur so ein Gedanke«, meinte er achselzuckend. Aber da war noch etwas gewesen... Wenn er sich nur erinnern könnte... Als er kurz darauf noch einmal ins Badezimmer hineinschaute, war die Wanne gefüllt mit aufgeschwemmten, weiß schimmernden Körpern toter Würmer. Der Zerfallsprozeß schien bereits eingesetzt zu haben, denn die härtere Hautumhüllung, die die weichen Innenteile der Würmer zusammenhielt, war aufgeplatzt, und das Körperinnere der Würmer breitete sich, weiß gefärbt von dem ätzenden Mittel, das er in den Abfluss gekippt hatte, überall aus. * »Ist der Chef da?« fragte Peter Bryant. »Ich glaube schon«, gab Frank Brunner zurück. »Wir haben dich übrigens in der Redaktion vermisst. Hast du endlich etwas aufgetrieben?« »Was meinst du - eine neue Story?« »Was denn sonst?« »Kann schon sein«, meinte Bryant mürrisch. »Stellst du mich bitte durch?« »Dir fehlt wohl auch der Schlaf!« Brunner betätigte die Schaltung, und es knackte kurz in der Leitung, dann hatte Bryant seinen Chef am Apparat. »Chefredaktion Daily Sketch, am Apparat...« »Hier Bryant«, unterbrach er kurz angebunden. »Chef, ich glaube, ich bin da an einer heißen Sache dran. Stellen Sie mich frei?« »Wie üblich... Lohnfortzahlung,
Übernahme aller Spesen, und Sie leben in den lieben langen Tag hinein!« »Wie üblich«, sagte Bryant. »Ist an der Story etwas dran?« »Ich glaube schon.« »Lassen Sie sich nicht die Würmer einzeln aus der Nase ziehen. Der Mordfall, auf den Brunner Sie heute morgen angesetzt hat?« »Diese Nacht, meinen Sie wohl. Ich hatte Nachtdienst, und noch vor Morgengrauen...« »Schon gut, schon gut. Also, es ist dieser Mordfall?« »Ja.« »Und Sie haben eine heiße Spur?« »Kann man schon sagen. Zwar nicht direkt einen Tatverdächtigen, aber immerhin eine durchaus reizvolle junge Dame, die ihren eigenen Aussagen zufolge den Mörder kennt. Mehr konnte ich noch nicht aus ihr herauslocken.« »Und wie sind Sie auf diese reizende junge Dame gekommen?« Bryant konnte deutlich die Anzüglichkeit heraushören, mit der sein Chef diese drei Worte sprach. »Ich habe sie in unmittelbarer Nähe des Tatorts aufgegabelt. Unmittelbare Nähe ist vielleicht etwas übertrieben, aber es waren nur ein paar hundert Meter.« »Und die Polizei hat sie noch nicht gefunden?« »Natürlich nicht. Die Spurensicherung hat noch immer direkt am Tatort herumgewühlt.« »Dann ist das eine Exklusivstory?« »Aber sicher.« »Was haben Sie noch aus ihr herausbekommen? « »Momentan noch nichts. Sie schweigt wie ein Grab. Sie hat kaum ein Wort mit mir gewechselt, seitdem ich sie vom Tatort... nun, entfernt habe.« »Entfernt?« »Ich habe sie in einem Park gefunden. Auf der einen Seite trieb sich noch die Spurensicherung herum, also hab' ich sie mir geschnappt und zur anderen Seite geschleppt. Da haben wir dann ein Taxi genommen.« »Und sie hat noch keine Einzelheiten verlauten lassen?« »Keine. Ich sage doch, sie ist verschwiegen wie ein Grab.« »Und wo ist sie im Moment? Lassen Sie sie bloß nicht allein.«
»Keine Bange, Chef. Ich bin ja auch kein Anfänger mehr. Außerdem sitzt sie gerade bei mir in der Badewanne.« Bryant konnte den Chefredakteur laut und deutlich ausatmen hören. »Das sieht Ihnen ja mal wieder ähnlich, Bryant!« meinte er dann. »Über Ihre Recherchiermethoden schweigen wir lieber. Solange ich anständige Ergebnisse sehe...« »Sie war stark unterkühlt«, warf Bryant schwach ein, »und ich habe mir keinen besseren Rat gewußt, als sie in ein heißes Bad zu stecken.« Natürlich würde sein Chefredakteur keine einzige Silbe glauben, auch wenn er die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit sprach. »Das ist nicht meine Angelegenheit, Bryant. Also gut, Sie sind freigestellt für diese Story. Aber halten Sie mich auf dem Laufenden, hören Sie?« »Bestimmt, Chef. Und Sie werden mit den Ohren schlackern, wenn Sie meine Story zu lesen bekommen!« »Einzelheiten!« brüllte der Chefredakteur, aber Bryant hatte schon aufgelegt. Nachdenklich steckte er sich eine Zigarette an. Er konnte den -natürlich völlig unberechtigten! Argwohn seines Chefs durchaus verstehen. Ja, er war wirklich etwas schwach geworden, als das Mädchen ihre seltsame Robe abgelegt und nackt in die Wanne gestiegen war. Ihre Beine schienen bis zum Himmel zu reichen, ihr Po war überaus angenehm gerundet und fest... Er sog an der Zigarette und verdrängte den Gedanken. Sie hatte kein Wort mehr mit ihm gesprochen, war aber dankbar in das warme Wasser gestiegen. Und ihr Kleid... er hatte es mit aus dem Badezimmer genommen. Es war völlig sauber, ohne den geringsten Schmutzfleck, obwohl sie ihrer Unterkühlung zufolge damit geraume Zeit in dem Park gelegen haben mußte... Er hatte die Robe einer oberflächlichen Untersuchung unterzogen und auch versucht, sie mutwillig zu beschädigen, aber obwohl das Material so dünn war, gelang es ihm nicht, es auch nur einen Millimeter tief einzureißen. Und die Robe glättete sich automatisch, nahm ihre ursprüngliche Form an, egal, wie hart er sie auch anfasste. Er nahm den Aschenbecher mit und ging ins Bad zurück. Natürlich hatte er sie nicht angerührt... schließlich war sie ja zumindest eine Mordverdächtige. Sie machte nicht die geringsten Anstalten, ihre kleinen festen Brüste zu bedecken, unter denen sich der Badeschaum kräuselte,
als er sich auf den Wannenrand setzte. »Auch eine?« fragte er und reichte ihr die Zigarettenschachtel. Sie schüttelte den Kopf. »Ist auch gesünder so«, meinte er. »Also, versuchen wir es noch einmal: Wie heißen Sie?« Dreimal hatte er ihr diese Frage schon gestellt, dreimal keine Antwort bekommen. »Janice«, sagte sie diesmal zu seiner Überraschung. »Jenny? Jennifer?« Sie schüttelte erneut den Kopf. »Janice.« Dabei betonte sie jede Silbe, die erste freilich am stärksten. »Schon besser so. Wie geht es Ihnen übrigens? « »Ich fühle mich besser. Wärmer. Das Wasser hilft.« »Wie lange lagen Sie denn in dem Park?« »Einige Stunden.« Bryant fiel auf, daß ihre Worte, so weich und sanft sie auch gesprochen wurden, etwas fremdartig klangen, als spreche sie nicht in ihrer Muttersprache. Sie verwendete sehr viel Sorgfalt auf jede einzelne Silbe, viel mehr Beachtung als jemand, der in der Sprache spricht, mit der er aufgewachsen ist. »Und wie sind Sie in den Park gelangt?« »Er hat mich dorthin gejagt.« »Wer?« Sie senkte ihren Blick, schwieg. »Der Mann, der die beiden anderen... umgebracht hat?« Zögernd nickte sie. »Kennen Sie den Mann.« »Er ist mein Herr. Er kann mich jederzeit rufen.« Bryant drückte die Zigarette aus. »Trägt er auch einen Namen?« »Ja.« »Verraten Sie ihn mir?« »Ich darf nicht.« »Hat er es Ihnen verboten?« Seine Unsicherheit wuchs. So attraktiv dieses Mädchen auch sein mochte, so seltsam war es auch. Er hatte das Gefühl, als käme sie aus einer ganz anderen Welt, als fände sie sich hier in London nur mühsam zurecht. Auf jeden Fall war sie fremd hier. Das komplizierte die Angelegenheit natürlich. »Hat er es Ihnen verboten?« »Sie verstehen nicht. Ich kann nicht. Er ist mein Herr.« »Inwiefern? Hat er Sie auf dem Sklavenmarkt gekauft?« Unverständlich blickte sie ihn an.
»Nur ein Scherz«, erklärte er. »Warum hat er die beiden Männer getötet?« »Das Buch... sie haben das Buch für ihn gestohlen.« Also doch Gestalten aus der Unterwelt, wie der leitende Sergeant vermutet hatte! »Das ist aber noch kein Grund, jemanden umzubringen, nicht wahr?« »Er hat gesagt, er wolle keine Zeugen.« »Was ist das für ein Buch?« Wieder dieser Blick, der reines Unverständnis ausdrückte. »Das Buch«, gab sie zurück. »So kommen wir nicht weiter«, sagte Bryant. »Ich habe... Hunger«, meinte Janice plötzlich. »Hunger?« Wie auf ein Stichwort begann auch Bryants Magen zu knurren. Er blickte auf die Uhr. Es war in der Tat schon einige Stunden her, seitdem er zuletzt gegessen hatte, und da auch nur einen kleinen Imbiss in der Redaktion. »War das das falsche Wort?« fragte Janice besorgt. »Ich meine, Menschen haben doch Hunger?« »Menschen?« »Ja. Du... wir sind doch Menschen, oder?« Bryant runzelte die Stirn. Hatte er es mit einer Verrückten zu tun? Oder mit einem ausgeflippten Mädchen, das von zu Hause abgehauen war und nun hoffte, bei ihm unterzukommen und ihm deshalb ihre phantastische Geschichte auftischte? »Wie alt bist du überhaupt?« fragte er. »Ich war einundzwanzig, als ich... einundzwanzig.« Unwillkürlich huschte sein Blick über ihre kleinen, festen Brüste. Langsam wurde ihm in seiner Haut äußerst unbehaglich zumute. Wenn sie noch minderjährig war und von der Polizei gesucht wurde... Er dachte an die Story, zu der sie ihm vielleicht verhelfen konnte. »Ich mache uns etwas zu essen«, sagte er. »Oder besser« es war fast Mittag -»ich rufe in einem chinesischen Restaurant an und lasse uns etwas bringen.« Er grinste. Sehr gezwungen, wie er sich eingestand. *
Nur langsam arbeitete sich Hammers Unterbewusstsein durch die nebligen Abgründe des sanften Schlummers empor. Sophie und er hatten das Wohnzimmer fast vollständig eingeräumt... Seit über sechsunddreißig Stunden waren sie auf den Beinen, und auf einmal waren sie müde geworden... Müde... er war immer noch müde. Sie hatten sich auf den Sesseln schlafen gelegt. Die verschwommenen Abgründe wurden von einem Schrei zerrissen. Von einem Moment zum anderen war Hammer hellwach. Er fuhr aus seinem Sessel hoch. Sophie saß neben ihm, die Augen weit aufgerissen, das Gesicht verzerrt. »Was ist denn?« fragte er unfreundlicher, als er es eigentlich beabsichtigt hatte. Hoch aufgerichtet blieb Sophie starr sitzen. Ihr Gesicht wirkte wie das einer Mumie, kalt, leblos, bleich wie der Tod. »Ich... ich habe geträumt«, sagte sie schließlich. Hammer erkannte ihre Stimme kaum wieder. Die Anspannung saß noch so stark in ihr, daß es ihr unmöglich war, sich durch Weinen Erleichterung zu verschaffen. »Was hast du geträumt, Liebling?« fragte Hammer und legte sanft den Arm um ihre Schulter. »Ein Wurm«, entgegnete sie mit erstickter Stimme. »Ein riesiger, übermannsgroßer Wurm. Ich stand da und konnte mich nicht bewegen, und er kroch auf mich zu, Zentimeter um Zentimeter kam er mir näher. Alles in mir schrie danach, einfach fortzulaufen, doch meine Glieder gehorchten mir nicht mehr. Der Wurm hinterließ eine mannsbreite Schleimspur, und aus seinem zahnbesetzten Maul troff ätzender Speichel, gelb und stinkend wie die Pest. Der Wurm kam immer näher, ich spürte schon den ekelhaften Pesthauch aus seinem Maul, da...« »Da was?« fragte Hammer. »Da wachte ich auf.« »Nur ein Traum, Sophie!« erklärte Hammer mit der gleichen Strenge, mit der ein Vater seiner kleinen Tochter erklärt, daß im Halbdunkel oder gar in der Dunkelheit, kurz vor dem Einschlafen, keine Hexen und böse Männer unter dem Bett oder hinter dem Schrank lauern, die kleine Kinder in die Hölle verschleppen wollen. »Du hast nur geträumt«, sagte er sanft. »Ein Traum«, wiederholte sie zaghaft, wie um es sich selbst zu bestätigen. »Aber er war so real, so wirklich...«
»Das sind alle Träume, kurz nachdem man aufgewacht ist.« »Charles... Charles, der Wurm kam aus unserem Badezimmer!« Hammer ließ die Schultern sinken. »Würde es dich beruhigen, wenn ich einmal nachschaue?« »Es war doch nur ein Traum...« »Ich sehe nach«, bekräftigte Hammer und erhob sich aus dem Sessel. Seine Muskeln schmerzten von der ungewohnten Haltung, in der er geruht hatte. Er lachte innerlich auf. Sophie hatte nur geträumt... kein Zweifel. Dennoch drückte er den Lichtschalter im fensterlosen Badezimmer nur sehr zaghaft. In der Wanne kroch ein einzelner, kleiner Wurm auf und ab. Er tänzelte herum, als habe er Hammers Kommen bemerkt, und huschte zurück zur Abflußöffnung. Dort verbarg er sich unter dem Gummistöpsel, wie der Kundschafter einer großen Armee, der seinen Haupttrupp nicht verraten will. Mit dem Daumen drückte Hammer den Stöpsel gegen die Wanne, dann hob er ihn hoch und spülte den schwarz-silbrigen Fleck, der von dem kleinen Wurm übrig geblieben war, in den Abfluss. »Nur ein kleiner Wurm«, sagte er, nachdem er ins Wohnzimmer zurückgekehrt war. »Ich habe Angst, Charles«, wisperte Sophie. »Ganz schreckliche Angst. Am liebsten möchte ich wieder ausziehen.« »Unsinn«, meinte er und legte ihr beruhigend den Arm um die Schulter. »Der Hausbesitzer hat mir gesagt, er wolle etwas gegen diese Plage unternehmen. Ein wenig Insektengift, und das Rohrsystem ist wieder frei von jeglichem Ungeziefer.« »Trotzdem habe ich Angst, Charles«, beharrte sie. »Weißt du, wie ich mir vorkomme? Ich habe den Eindruck, jemand beobachtet mich, immer wenn ich einen Fuß ins Badezimmer setze. Er beobachtet mich und wartet nur darauf, im geeigneten Moment loszuschlagen.« »Es war nur ein kleiner Wurm«, wiederholte Hammer. »Und weißt du was? Ich gehe gleich etwas einkaufen, und heute abend machen wir es uns so richtig gemütlich, mit einer Flasche Wein und so... nur wir beide. Na, was hältst du davon?« Sie nickte schwach. Ihre Äugen verrieten Hammer jedoch, daß sie sich noch immer nicht beruhigt hatte.
* Nackt wie Gott sie geschaffen hatte, stieg Janice aus der Wanne. Bryant konnte kaum den Blick von ihr abwenden. »Hast du etwas zum Anziehen für mich«, fragte sie beiläufig, als würde ihr unbekleideter Zustand sie nicht im geringsten bekümmern. »Natürlich.« Gewaltsam wandte Bryant sich um und holte aus seinem Schlafzimmerschrank Hose und Hemd. »Unterwäsche für dich habe ich leider nicht. Aber ich kann welche kommen lassen.« Achselzuckend schlüpfte sie in die Hose. Sie paßte wie angegossen, war nicht die Spur zu lang. Ihre Beine, dachte Bryant. Wollen die gar nicht mehr aufhören zu wachsen? Sie zog das Hemd über und ließ die oberen Knöpfe offen. Bryant boten sich ganz bezaubernde Einblicke. Es klingelte. Der Bote aus dem chinesischen Restaurant brachte das bestellte Essen, eine Reistafel für zwei Personen. Bryant bezahlte ihn, gab ein angemessenes Trinkgeld und riß dann die Verpackung auf. Neugierig betrachtete Janice das Gericht. Bryant holte Bestecke und eine Flasche Wein, ein herbes rotes Gewächs. Er begann zu essen. Janice betrachtete ihn neugierig und probierte dann ebenfalls. Vorsichtig lud sie Reis und Fleisch auf die Gabel. »Hast du noch nie chinesisch gegessen?« fragte Bryant mit vollem Mund. »Einfach köstlich.« Erst jetzt spürte er, wie hungrig er wirklich war. Sie schüttelte den Kopf. »Noch nie.« »Dort, wo du herkommst, gibt's wohl kein chinesisches Essen?« »Nein.« »Wo kommst du eigentlich her?« Janice öffnete den Mund, als wolle sie etwas sagen, schnappte nach Luft, bekam keine Silbe über die Lippen. Ihr Gesicht verzerrte sich vor Anstrengung, doch sie blieb stumm wie ein Fisch. Ein heftiger Anfall schüttelte sie, warf sie fast von dem Stuhl. Bryant sprang herbei und hielt sie fest. »Schon gut«, redete er beruhigend auf sie ein. »Du brauchst es mir nicht zu sagen, wenn du nicht willst.« »Ich... ich will«, sagte sie zögernd, »aber ich kann nicht. Er hat es mir verboten.«
»Dein Herr?« Janice nickte stumm. Sie spielt mir nichts vor, dachte Bryant. Irgendein Geheimnis umgibt sie, und ich werde es herausbekommen. Allerdings hatte er nicht das Gefühl, der Lösung dieses Geheimnisses auch nur einen einzigen Schritt näher gekommen zu sein. »Was willst du jetzt machen?« fragte er. »Wo wohnst du? Hast du Verwandte? Oder Freunde?« »Nein.« Sie schaute zu ihm auf. »Kann ich nicht hier bleiben? Bis...« »Bis?« »Er mich ruft.« »Wie ruft er dich? Mit dem Telefon? Und wenn er dich ruft, kann ich dann mit dir kommen?« »Er wird dich töten.« »Wie er die beiden anderen Männer getötet hat?« Janice nickte. Schweigend aßen sie weiter. Die Stille lastete fast körperlich auf ihnen, wie eine unausgesprochene, aber dennoch deutlich spürbare Bedrohung. Bryant war fast erleichtert, als das Telefon schrill klingelte und ihm einen Grund gab, sich vom Tisch zu erheben. Russ Manning, Inspektor bei Scotland Yard, war am anderen Ende der Leitung. »Ich habe gehört, du bist an dieser Mordsache interessiert«, sagte er nach einer kurzen Begrüßung. Die beiden Männer kannten sich schon seit geraumen Jahren, und wenn Bryant eins von Manning wußte, dann, daß er das Telefonieren hasste und sich immer so kurz wie möglich fasste. »Gibt es etwas neues?« fragte Bryant. »Allerdings. Wir haben die beiden Toten identifizieren können. Alan Coleman, 38, und Berny Jackson, 42L Beide sind keine unbeschriebenen Blätter bei uns. Eine ganze Reihe kleinerer Einbrüche gehen auf ihr Konto, ein versuchter Totschlag in Tateinheit mit bewaffnetem Raub... Sie arbeiten meistens zusammen.« »Aber die beiden Leichen, die ich gesehen habe, waren mindestens dreimal so alt!« »Genau das macht auch uns Kopfzerbrechen. Wir haben sie aber eindeutig anhand ihrer Zahnbilder identifiziert. Jeder Zweifel ist ausgeschlossen.«
»Danke«, sagte Bryant mürrisch und etwas schuldbewusst. Schließlich beherbergte er ja eine Person, die eventuell nähere Einzelheiten über die Morde verlauten lassen konnte. »Wie sind sie gestorben?« Manning zögerte einen Moment. »An Altersschwäche«, sagte er dann. Bryant fragte sicherheitshalber noch einmal zurück. »Ja, Altersschwäche«, bestätigte der Inspektor. »Sie hatten ganz einfach keine Kraft mehr zum Weiterleben. Jemand - der Mörder! - hat ihnen sämtliche Körperenergien entzogen und nur eine leere Hülle zurückgelassen.« Unwillkürlich begann Bryant zu frösteln. »Wie ist so etwas möglich?« fragte er. »Wenn ich das wüsste! Aber wir haben noch etwas ermittelt, Peter.« Bryant schob eine spöttische Erwiderung über die unbestreitbaren Qualitäten des Yards beiseite und wartete, bis Manning von sich aus fortfuhr. »Kurz vor ihrem Ableben haben die beiden Toten noch einen Einbruch verübt - und zwar in einer Leichenhalle. Ein Nachtwächter hat sie überrascht und konnte einen von ihnen zweifelsfrei identifizieren. Er war früher im Savoy angestellt und hatte dort schon einmal mit ihm zu tun gehabt. Kurz nach seiner Aussage ist er allerdings verstorben.« »In einer Leichenhalle eingebrochen?« fragte Bryant zweifelnd. »Du hast ganz richtig gehört. Sie haben einen Schrank aufgebrochen, in der die Besitztümer einer Frau aufbewahrt wurden, deren Leichnam auf Anordnung von oben zur Obduktion freigegeben wurde.« Bryant betrachtete die Namen der beiden Toten, die er in seiner gestochen scharfen Handschrift notiert hatte, und zog einen Strich darunter. »Ich höre«, sagte er. »Jetzt bist du an der Reihe mit Informationen«, sagte der Inspektor. »Ich? Wieso?« »Du kennst die Frau. Ich habe im Sketch gerade eine Meldung über ihren Tod gelesen, die mit deinem Pseudonymskürzel unterzeichnet war. Also?« »Ich habe keine Ahnung. Das muß ein Zufall sein! Du meinst doch nicht etwa...«
»So viele Zufälle gibt es nicht. Ja, ich meine Jill O'Ryan.« Die Frau, die mit ihrem Körper eine Spinnenbrut ernährt hatte und dann in geistiger Umnachtung gestorben war... »Ich habe in dieser Sache nichts recherchiert. Der Chef hat mich an die Meldung drangesetzt und sie dann auch noch umgeschrieben.« »Du hältst nichts zurück?« »Mein Ehrenwort.« »Dem man glauben kann«, bemerkte Manning trocken. »Noch etwas«, sagte Bryant. »Was haben die beiden gestohlen, bevor sie ermordet wurden? Du sprachst nicht vom Leichnam selbst, sondern von den Besitztümern der Toten.« »Ein Buch«, sagte Manning. »Nur ein Buch.« * Charles Hammer verfluchte die kleine Feier, die er selbst vorgeschlagen hatte, noch bevor sie begonnen hatte. Schwer atmend ließ er drei von seinen vier Einkaufstüten sinken, setzte sie vorsichtig, sorgsam darauf achtend, daß die Weinflaschen nicht umkippen konnten, ab und drückte die Klingel. Laut schallte der Summer; selbst durch die geschlossene Korridortür konnte er das Geräusch noch vernehmen. Doch Sophies leise Schritte blieben aus. Leise fluchend drückte er den Summer erneut, diesmal länger. Warum öffnete sie ihm nicht? Das Geräusch klang zornig in seinen Ohren. Sophie mußte zu Hause sein, er wußte es genau, und dennoch kam sie nicht zur Tür. Auch sein drittes Klingeln blieb unbeantwortet. Ächzend ließ er die restliche Tüte sinken und kramte nach seinen Schlüsseln. Von der anderen Seite der Tür erklang ein leises Geräusch, ein unterdrücktes Scharren, als zerre man einen schweren Körper über den Boden. Er zog die Augenbrauen hoch. Endlich fand er den Schlüsselbund. Mit zitternden Fingern versuchte er die Tür zu öffnen, doch sie war von innen versperrt. Der Schlüssel steckte im Schloß. »Sophie?« rief er leise. »Sophie, bist du da?« Sie mußte in der Wohnung sein, sonst könnte nicht von innen abgeschlossen sein. Aber warum öffnete sie nicht?
»Sophie?« rief er erneut, diesmal lauter, und seine Stimme hallte durch das Treppenhaus. »Ist irgendwas nicht in Ordnung?« fragte eine Stimme hinter Hammer. Er fuhr herum. Ein kleiner, schmächtiger Mann, der aussah, als könne er keiner Fliege etwas zuleide tun, stand dort, verlegen lächelnd. »Ich bin Reeves, der Hausmeister. Kann ich Ihnen helfen?« Hammer zuckte hilflos die Achseln. »Meine Frau«, sagte er, wußte dann aber nicht mehr weiter. »Sie öffnet nicht. Es muß etwas passiert sein, sonst würde sie doch öffnen...« »Ich habe einen Dietrich«, sagte der Hausmeister. »Zwecklos«, entgegnete Hammer. »Sie hat von innen abgeschlossen.« »Mal sehen«, meinte das Männlein und kniete vor der Tür nieder. Der Hausmeister begann mit seinem Dietrich herumzuhantieren, und endlich erklang von der anderen Seite der Tür ein lautes, schepperndes Geräusch. »Ich habe den Schlüssel aus dem Schloß gestoßen«, sagte er. »Nun können Sie öffnen.« Neugierig blieb er neben Hammer stehen und ging auch nicht, als der ein recht unfreundliches »Danke!« über die Lippen brachte. Hammer schloß auf. Wohn- und Schlafzimmer waren leer, wie er auf den ersten Blick erkannte. Er durchquerte das Wohnzimmer, schaute dann in der Küche, dem Kinderzimmer und seinem Arbeitsraum nach. »Sophie?« rief er. Keine Antwort. »Vielleicht ist sie im Badezimmer«, sagte der Hausmeister neben ihm. Erschrocken fuhr er zusammen. Er hatte gar nicht bemerkt, daß der kleine Mann ebenfalls die Wohnung betreten hatte. »Vielleicht«, knurrte Hammer unfreundlich. Die Badezimmertür war verschlossen. Vorsichtig drückte Hammer die Klinke hinab. Zuerst kam es ihm vor, als würde ihm ein wenig Widerstand entgegengesetzt werden, doch dann glitt die Tür vollends zurück. Hammer starrte in die grelle Helligkeit des Badezimmers, und das Blut in seinem Kopf schien unendlich schwer zu werden, so schwer, daß es niedersackte, Herz und Magen mit bleierner Schwere umspülte. Der scharfe Geruch von Galle stieg ihm in die Nase; er hatte sich übergeben, ohne es bemerkt zu haben.
Sophie lag auf dem Boden. Sie war tot. Eine Horde von kleinen Würmern, Tausende, nein Millionen, quoll über ihren Körper, drang aus dem weit aufgerissenen Mund, den Augenhöhlen, den Ohren, schlängelte sich durch das Blut, das überall im Zimmer klebte, huschten zurück zur Badewanne. Die Würmer bildeten eine Pyramide. Über die Körper ihrer Artgenossen kriechend, erreichten sie den Rand der Wanne und ließen sich an der Innenseite hinabgleiten. Der ganze Spuk dauerte nur Sekunden, dann war das Badezimmer leer. Nur ein millimeterdicker Schleim zeugte von der Anwesenheit der Würmer. Hammer schrie auf und begann auf denen herumzutrampeln, die die Badewanne nicht erreicht hatten, schlug sich die Fäuste wund an dem kalt strahlenden Emaille. Dann erstarrte er. Einer der Würmer huschte wie eine Nachhut, die sich davon überzeugen mußte, daß keiner von der Truppe zurückgeblieben war und nun dem Feind in die Hände fallen konnte, um den Abfluss der Wanne herum. Hammer glaubte, die Augen des Wurms sehen zu können, obwohl er noch nicht einmal wußte, ob er überhaupt welche an seinem kleinen, wurstförmigen Körper besaß. Die Augen schienen zu glänzen, zu lächeln, als ob sie sagen wollten: »Siehst du, ich bin nur ein kleiner Wurm, aber du hast einige von uns getötet, und dafür mußte sie sterben. Allein sind wir schwach - aber zusammen stark!« Wie erstarrt stand Hammer da, bis auch dieser Wurm in dem Abfluss verschwand, nun völlig sicher, daß kein Artgenosse mehr kommen würde. Langsam drehte sich Hammer um und betrachtete den Hausmeister aus wissenden Augen. »Sie haben sie getötet«, sagte er. »Die Würmer. Er hat es mir soeben gesagt.« Unwillkürlich wich der Hausmeister einen Schritt zurück. »Das war doch nur ein kleiner Wurm«, flüsterte er heiser. »Zusammen sind sie stark!« preßte Hammer über die Lippen. Seine Stimme war kaum verständlich. »Allein... nur ein kleiner Wurm... nur ein kleiner Wurm...« Dann begann er zu schreien. *
Der hagere, großgewachsene Mann, der in dem Anzug, der um seinen ausgemergelten Körper schlotterte, wie ein lebendiger Leichnam aussah, begann zu lächeln. Alles war erwartungsgemäß verlaufen. Er spürte die Kraft und Stärke, die doppelte Stärke, die in seinen Körper hineinfloss. Wie lächerlich waren im Vergleich dazu doch die Energien gewesen, die er den beiden Tagelöhnern entzogen hatte, die ihm das Buch zurückgebracht hatten - das Buch, das sich nun in dem Gebäude befand, aus dem das Schreien kam. Gewaltsam zwang er sich zur Ruhe. Seine Stärke hatte zwar zugenommen, doch der endgültige Durchbruch war noch nicht erzielt. Noch war er verletzlich. Noch konnte sein Plan scheitern wenngleich er selbst nicht mehr daran glauben mochte. Und Janice... sie hatte sich von ihm befreit, als er die ersten kraftspendenden Energien in sich aufgesaugt hatte. Für einen kurzen Moment hatte der Rausch ihn gepackt, seine Aufmerksamkeit nachgelassen. Doch er hatte Janice bewiesen, daß sie sich schon wieder in seiner Gewalt befand. Er brauchte nur zu rufen, und sie würde gehorchen. Und bald, bald würde er rufen. Er überdachte die weiteren Schritte seines Planes. Ein Heiterkeitsausbruch schüttelte seinen Körper. Wenn er den Mann, bei dem Janice Schutz gesucht hatte, in sein Spiel einbezog, dann würde er seinen nächsten Kräfteschub auf wesentlich elegantere Art und Weise einholen als zuvor. Dann brauchte er das Buch nicht mehr selbst zu verstecken, keine simple Verzögerung von primitiven Möbelpackern einrichten, die es ihm erlaubte, seine Fäden zu ziehen. Vor seinem geistigen Auge rollte der Plan sanft schnurrend ab. Er brauchte nur den Bann um Janice ein wenig zu lockern, gerade soviel, daß sie alles weitere in die richtigen Bahnen lenkte. Sein Lächeln verstärkte sich. Aber nun war es an der Zeit, wieder an die Gegenwart zu denken. Er hatte neue Kraft aufgenommen, neue Kraft für den endgültigen Durchbruch in diese Welt. Sein weiteres Verweilen an diesem Ort war überflüssig, wenn nicht sogar gefährlich. Er zog sich zurück.
Als die Polizeifahrzeuge mit ihren gellenden Sirenen anrollten und die alarmierten Beamten hinaussprangen, um den Tod von Sophie Hammer zu untersuchen, war er nicht mehr zu sehen. * Noch im Halbschlaf kreisten Peter Bryants Gedanken um das Geheimnis, das zu lösen er sich vorgenommen hatte. Jill O'Ryan... das Buch, das ihr gehört hatte und aus der Leichenhalle gestohlen worden war... der Fremde, der, wie Janice gesagt hatte, die beiden Morde an den kleinen Dieben begangen hatte, um wieder in den Besitz des Buches zu gelangen... und schließlich Janice selbst, deren Aura des Geheimnisvollen, Überirdischen sich eher noch verstärkt hatte. Welche Rolle spielte dieses ominöse Buch? Eine zentrale, das war sicher. Es nutzt nichts, wenn ich mir den Kopf zermartere, sagte sich Bryant. Ich weiß ganz einfach zu wenig. Den ganzen Nachmittag über hatte er versucht, Janice neue Informationen zu entlocken, doch sie hatte auf seine immer drängenderen Fragen nicht geantwortet, bis er schließlich bemerkte, daß er auf diese Art und Weise nicht voran kommen konnte. Irgend etwas blockierte das hübsche Mädchen. Ihr Herr, der ihr ganz nach Belieben befehlen konnte? Woraus bestand die Macht dieses Mannes über sie? Er wußte es nicht, und er konnte es auch nicht in Erfahrung bringen. Dann waren sie schlafen gegangen, Janice in seinem Bett und er ganz sittsam auf der Couch im Wohnzimmer. Trotz seiner Müdigkeit wollte der Schlaf jedoch nicht kommen. Seine Gedanken trieben im Kreis, von Janice zu dem Buch, von dem Buch zu dem Fremden, von dem Fremden wieder zu Janice. Irgendwann schlief er dennoch ein. Und erwachte übergangslos. Er fühlte sich wie gerädert, glaubte, kaum drei Minuten geschlafen zu haben. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm jedoch, daß Mitternacht längst verstrichen war. Obwohl er die Heizung hochgeschaltet hatte, um sein kleines Apartment gegen die durchdringende Herbstkälte zu wappnen, fröstelte er plötzlich. Immer noch nicht vollends wach, zog er sich
die Decke über den Leib und fühlte sofort, wie seine Körperwärme von dem dünnen Bett-Tuch gestaut wurde. Mit einemmal schwitzte er. Was war los mit ihm? Hatte er sich eine Erkältung zugezogen, eine Herbstgrippe? In den letzten Tagen war das Wetter nasskalt gewesen, doch aus irgendeinem Grund lief er immer noch in einer dünnen Jacke herum anstatt in einem dicken Wintermantel. Bekam er gar Fieber? Plötzlich dachte er an das Mädchen, das in seinem Bett schlief, und erwachte vollends. Seine Hand fand den Lichtschalter und betätigte ihn. Die kleine Beistellampe flammte auf. Bryant kniff die Augen zusammen. Obwohl das Licht nur schwach und gedämpft war, schmerzte es nach der Dunkelheit des Schlafes in seinen Pupillen. Auf einmal wußte er, warum er erwacht war. Irgend etwas hatte sich plötzlich verändert, war nicht mehr so, wie es eigentlich sein sollte. Der Hauch einer nicht näher bestimmbaren Aktivität hing in seinem Apartment. Er schlug die Decke zurück und schlich fröstelnd zur Schlafzimmertür. Leise glitt sie vor ihm zurück. Der Lichtschein der kleinen Lampe fiel auf sein breites französisches Bett. Es war nicht nur leer, sondern auch völlig durchgeschwitzt. Deutlich konnte er die Konturen von Janices Körper erkennen. Da hatte sie gelegen, bis sie aufgestanden war. Doch wo war sie nun? Die Toilette war dunkel, sein Arbeitszimmer auch. Bryant hielt nach der Hose und dem Hemd Ausschau, das er ihr geliehen hatte, konnte es aber nirgendwo sehen. Hatte Janice etwa mitten in der Nacht seine Wohnung verlassen? Nein, nicht um drei Uhr fünfzehn, sagte seine Logik, nur mit diesen zwei Bekleidungsstücken hinaus in die kalte Nacht... Aber Logik war etwas, was man auf Janice nicht anwenden konnte, soviel hatte er in den fast vierundzwanzig Stunden, seit er sie im Park aufgelesen hatte, inzwischen herausbekommen. Doch da blieb noch dieses Gefühl... etwas war hier nicht in Ordnung. Plötzlich bekam er es etwas mit der Angst zu tun. Er hatte nur Janices Wort, daß es einen Fremden gab, den sie als ihren Herren bezeichnete und der die beiden kleinen Einbrecher getötet hatte. Genauso gut konnte sie sie selbst umgebracht haben...
Er fuhr herum. Fast hatte er damit gerechnet, sie mit einem langen, blitzenden Küchenmesser hinter ihm stehen zu sehen, doch da war natürlich niemand. »Janice?« rief er leise und ohne viel Hoffnung auf Antwort. Und noch einmal: »Janice?« Er öffnete die Tür zu seinem Arbeitszimmer. Etwas hielt ihn davon ab, das Licht einzuschalten; außerdem stand der Mond bleich und voll am Himmel und spendete durch die unverhangenen Fenster eine nebulöse Helligkeit. Bryant glaubte, eine Anwesenheit zu fühlen, obwohl er nichts ausmachen konnte. Plötzlich begriff er seine Zurückhaltung: Er hatte Angst, einen Vorgang zu unterbrechen oder zu stören. Diese Störung war dann nicht mehr rückgängig zu machen... Er begann leicht zu zittern. Seine nackte Brust hob und senkte sich immer schneller. Seine Beunruhigung wuchs. Er drückte sich an die Wand, setzte einen Fuß vor den anderen, langsam, völlig bewußt, als wäre er des Gehens nicht wirklich fähig. Elfenbeinern schimmerten seine nackten Füße im Licht des Vollmonds. Sein Blick fiel auf einen großen Umschlag auf seinem Schreibtisch. Er hatte den Tag zuvor noch aufgeräumt und konnte mit Sicherheit sagen, daß sich dieser Umschlag am Abend noch nicht auf der Schreibtischplatte befunden hatte. Er trat näher heran. »Fred Lovell«, las er, und dann eine Adresse aus einem Außenbezirk Londons. Die Schrift war ihm nicht vertraut; die Buchstaben waren fast kunstvoll ausgemalt, mit Häkchen und Anhängseln verziert. Irgendwie wirkte sie antiquiert. »Janice!« rief er. »Janice, um Gottes willen, ich bin's Peter Bryant!« Wie zur Entgegnung klang in dem halbdunklen Raum ein unterdrücktes Stöhnen auf. Die Stimme war verzerrt, doch er erkannte sie sofort: Janice! »Janice«, flüsterte er, und seine eigene Stimme kam ihm völlig fremd vor. »Janice, wo bist du?« Das Stöhnen wurde lauter, rasselnder. Als ob sie durch irgendeinen Filter atmet, dachte Bryant. Er machte einen Schritt, dann noch einen, die Augen auf den Boden gerichtet. Verwundert stellte er fest, daß er darauf achtete, wie tief sich seine Zehen in den weichen, grünen Teppichboden senkten.
»Janice?« flüsterte er atemlos. Vor ihm wuchs eine Gestalt in die Höhe, das Gesicht schimmernd in einem blutroten Schein, die Augen weit aufgerissen, aber blicklos, wie leere Glasmurmeln, mit denen er als Kind immer gespielt hatte. Bryants Anspannung löste sich in einem kurzen Aufschrei. * Das Geräusch schien Janice wieder zur Besinnung zu bringen. Sie kniff die Augen zusammen, und das Leben kehrte langsam in sie zurück. Sie taumelte vor, und er umfasste sie, als sie zu stürzen drohte. Immer noch etwas zitternd hob sich seine Hand, fuhr ihr übers Haar. »Janice«, murmelte er, »ganz ruhig, Janice.« Tatsächlich besänftigte seine Berührung sie. Hatte sie gerade noch am gesamten Leib gezittert, so wich nun langsam die Anspannung aus ihrem Körper. »Was ist geschehen?« fragte er sanft. Ihr Gesicht wirkte nun wieder fast normal; nur noch eine winzige Spur des blutroten, überirdischen Schimmers lag darauf, und auch sie verblich zusehends. Janice starrte ihn nur an und schwieg. Sie trug seine Hose und das Hemd, letzteres allerdings nicht zugeknöpft. »Ich bringe dich zurück ins Bett!« drängte Bryant, als sie immer noch keine Antwort gab. »Aber Vorsicht!« warnte sein Unterbewusstsein. »Sie ist verdammt reizvoll!« Wie ein kleines Kind führte er sie; ihre Knie zitterten, und dann und wann bewegte sich unkontrolliert ein Muskel in ihrem Körper und ließ sie zusammenzucken, wie von einem Krampf erschüttert. Jetzt hast du deine Chance, dachte er. Sie ist geschwächt! Knalle ihr die Fragen an den Hals, daß es nur so kracht! Aber er brachte kein Wort über die Lippen. Endlich erreichten sie das Bett. Schwer atmend ließ Janice sich auf die weichen Polster fallen. Bryant tupfte ihr Schweiß von der jetzt wieder völlig normal gefärbten Stirn. »Was ist geschehen, Janice?« fragte er dann wieder. »Willst du es mir nicht sagen? Oder - kannst du nicht?« Janice blickte ihn fast hilflos an. »Ich weiß nicht...« Sie schüttelte den Kopf. »Ich entsinne mich nur, daß ich auf einmal zu mir
kam... ich lag auf dem Boden, und dann standest du plötzlich vor mir, und ich habe mich erhoben.« »Bist du etwa eine Schlafwandlerin?« versuchte Bryant die Situation durch einen Scherz zu entkrampfen, was ihm aber völlig misslang. Janice blickte weiterhin starr geradeaus. Bryant befürchtete schon, ihr Trance-Zustand würde wieder einsetzen, da brach die Erinnerung auf einmal aus ihm hervor. »Ich habe geträumt«, stammelte sie. »Und dann... dann hat er mich plötzlich gerufen. Ich habe dagegen angekämpft, doch ich unterlag. Er hat mir etwas aufgetragen, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern.« »Du hast einen Umschlag beschriftet.« Verständnislos blickte sie ihn an. »Ich weiß es nicht mehr.« »Warte, ich werde ihn dir zeigen.« Er erhob sich und ging ins Arbeitszimmer. Der Umschlag lag nicht mehr auf dem Schreibtisch. Nur das Licht des Mondes schien ihn auf der kahlen Platte höhnisch anzugrinsen. Fluchend kehrte er ins Schlafzimmer zurück. Seine Enttäuschung schwappte über. »Kennst du einen Lovell?« brüllte er sie an. »Ein... Verbrecher«, flüsterte sie. »Du kennst ihn also?« »Nein, ich habe den Namen nie gehört. Ich kenne ihn nicht. Ich habe ihn nie gesehen.« »Aber du hast doch gesagt, er sei ein Verbrecher!« »Habe ich das?« Verstört blickte sie ihn an. Bryant entschloss sich dazu, seinen letzten Trumpf auszuspielen. Er hatte Janice nichts von Mannings Anruf erzählt, auch nichts von dem, was der Inspektor ihm mitgeteilt hatte. Es war möglich, daß Janices Verwirrung sich inzwischen so weit gelegt hatte, daß sie sich durch seine Fragen nicht mehr aus der Fassung bringen ließ. Aber versuchen mußte er es auf jeden Fall. »Jill O'Ryan!« schrie er. »Kennst du Jill O'Ryan?« »Ja«, gab sie zu seiner Verwunderung zurück. »Woher kennst du sie?« »Mit ihrer Hilfe sind wir... übergewechselt. Sie gab die erste Energie dazu. Mein Herr hat mich mitgenommen, doch dann erkannte ich sein Vorhaben und habe mich von ihm befreit. Er bringt Unglück über andere Menschen, nur um den Durchbruch zu
schaffen. Endgültig zu schaffen. Das darf ich nicht dulden.« Ihre Stimme wurde leiser, verzweifelter. »Aber ich bin so schwach. Ich kann mich ihm nicht widersetzen. Er hat die Macht über mich.« Bryant schüttelte den Kopf. Mit dieser nebulösen Aussage konnte er gar nichts anfangen. »Wer ist dein Herr?« Ihr Mund öffnete sich. Für eine Ewigkeit schien sie ihn so anzustarren, dann schlossen sich ihre Lippen wieder. »Was hat das Buch damit zu tun?« »Das Buch trägt die Energien. Meinem Herrn gelang es, es zu materialisieren.« »Und Jill O'Ryan hat das Buch gefunden? Später hat dein Herr es dann wieder an sich gebracht?« »Jill O'Ryan hat das Buch gefunden.« »Was war mit Jill O'Ryan? Wieso mußte sie sterben?« »Sterben? Ist sie... tot?« Janice schwieg einen Moment, fuhr dann fort: »Natürlich ist sie tot. Sie mußte sterben. Für meinen Herren. Ich weiß, wie sie starb.« »Erzähle mir, wie sie starb!« »Das... kann ich nicht.« »Doch, du kannst!« brüllte Bryant. »Ja, ich kann«, sagte Janice. Ihr Körper richtete sich auf, versteifte sich. Ihre Augen blickten ins Leere. Plötzlich war es eiskalt in dem Raum. Bryant hatte das Gefühl, als wäre gerade irgendeine unsichtbare Schranke gebrochen und überschütte das Zimmer nun mit ihrer Kälte. Janices Stimme klang völlig fremd, als sie sagte: »Jill O'Ryan ist tot... ich weiß, warum sie starb. Mehr noch. Ich bin Jill O'Ryan. Ich habe in ihr gelebt. Ich weiß alles. Ich...« Dann veränderte sich ihre Stimme erneut. Sie war nun weicher geworden, fraulicher. Sie paßte nicht mehr zu Janices schlanker, knabenhafter Gestalt, eher zu einer wohlproportionierten, vollbusigen, reiferen Frau. »Ich bin Jill O'Ryan«, sagte Janice. Und plötzlich wußte Bryant, daß die Stimme, mit der Janice sprach, tatsächlich die von Jill O'Ryan war. *
»Meine Welt ist klein«, sagte Jill O'Ryan durch den Körper von Janice. Bilder überfluteten Bryants Verstand. Er begriff nicht, was mit ihm vorging, er wußte nur, er war dabei, hautnah, wie ein unsichtbar in der Luft schwebender Beobachter. Er nahm die Gedanken Jill O'Ryans direkt in sich auf. * Meine Welt ist klein. Viel zu klein. Sie besteht aus einem runden Tisch, einem weichen Stuhl, der mein Gewicht gerade noch tragen kann, aus einem Bett, das mir Schutz vor dem Licht und den Erinnerungen bietet, und einer Toilette, die zweimal täglich von den Weißgekleideten gesäubert wird. Die Wände meiner Welt sind mit einem weichen, anschmiegsamen Stoff bezogen, der meine Körperwärme speichert und mich immer, wenn ich mich dagegenwerfe, sanft zurückdrängt. Damit ich mich nicht verletzen kann, sagt der Doktor immer, wenn ich ihn frage, warum meine Welt so weich, warm und rund ist. Wenn ich an meinem Körper hinabschaue, muß ich selbstzufrieden lächeln, denn meine Beine sind lang, die Schenkel schlank, die Hüften schmal, die Brüste groß und fest, die Schultern zart und mein Gesicht - das ich manchmal in einem kleinen Spiegel sehen kann, den die Weißgekleideten mir auf meine Bitte hin aushändigen - mein Gesicht ist schön wie eh und je. Manchmal streichle ich selbstvergessen über die gerade Nase, die fein geschwungenen, vollen Lippen, durchkämme mit den Fingern das schwarze Haar, das mir früher bis auf den Rücken reichte, nun aber kurzgeschoren ist - damit ich nicht auf dumme Gedanken komme, sagt der Doktor - und manchmal beginnt sich das Spiel meiner Finger zu verselbständigen, gerät außer Kontrolle. Die gleitenden Finger lassen mich erschaudern. Früher war es anders. Früher waren es nicht meine Finger, die über meinen Körper glitten. Früher waren es andere Finger gewesen. Doch immer, wenn ich versuche, mich an jene Finger zu erinnern, kommen die Wolken und drängen sich zwischen meine Erinnerungen.
Inzwischen habe ich gelernt, die Wolken als Freunde zu akzeptieren. Früher war dem nicht so gewesen. Früher... früher glitten meine Gedanken unweigerlich ab, kehrten zurück zu jenen Vorkommnissen, die ich inzwischen längst... längst... Die Sonne prallte heiß auf den Sandstrand. Jill O'Ryan räkelte sich müde, cremte sich mit Sonnenöl ein und ließ sich wieder auf die Strohmatte zurücksinken. Einige Kinder, denen die gnadenlose Hitze anscheinend nichts anhaben konnte, jagten einem Ball hinterher. Ihre kleinen Füßchen spritzten den Sand auf, und feine Körnchen setzten sich auf Jills Haut und verursachten ein unangenehmes Jucken. Seufzend erhob sich das Mädchen und schlenderte zum Meer. An ihrem Urlaubsort war das Wasser noch nicht so verdreckt wie an anderen Badestränden des Mittelmeers; die blauen Fluten wogten regelmäßig auf und ab, schimmerten transparent. Die glühende Hitze machte einen jeden Schritt zur Qual. Jill dachte darüber nach, wie dumm doch eigentlich die Einstellung war, wegen einer knackigen Sonnenbräune solche Unannehmlichkeiten auf sich zu laden, schüttelte die sowieso nur schwach vorgebrachten Selbstvorwürfe jedoch ab und schritt langsam in die Fluten. Das Wasser kühlte sie ein wenig ab; sie erfrischte sich, kehrte zurück zu ihrer Matte und cremte sich erneut ein. Patrick, ihr Freund, wachte kurz aus seinem ausgedehnten Mittagsschlaf auf, blinzelte in die grelle Sonne, schloß die Augen wieder und drehte sich auf den Bauch. Achselzuckend griff Jill zu ihrem Heftchen mit Kreuzworträtseln. Immer wenn ich an Jill denke, kommen die Wolken und stellen sich zwischen das Bild, das in meinem inneren Auge gerade entstanden ist. (Du bist Jill, schrie Peter Bryant im Geiste, aber natürlich erreichte er sie nicht.) Diese Jill kommt mir sehr bekannt vor mit ihrem langen schwarzen Haar, der üppigen Figur und dem schönen Gesicht, doch ich kann sie nicht richtig einordnen; die Wolken nahen, zuerst sehe ich sie in weiter Entfernung, dann werden sie immer größer. Sie sind so schwarz wie mein Haar, bauschen sich auf, verformen sich, quellen auseinander, ohne jedoch an Konsistenz zu verlieren; ihre Masse nimmt entsprechend ihrer Ausdehnung einfach zu. Die Wolken helfen mir wirklich. Denn immer, wenn ich an Jill denke, beginnt mein Herz schneller zu schlagen, mein Körper zu
zittern. Ich liege ganz ruhig da und lausche dem Hämmern meines Herzens: Bomm-bomm-bomm-einundzwanzig, bomm-bommbomm-zweiundzwanzig, bomm-bomm-bomm-dreiundzwanzig. Wie oft schlägt das Herz eines Menschen in der Minute? Zwanzig mal? Dreißig mal? Ich habe nachgezählt. Einmal, als ich an Jill dachte, schlug mein Herz über einhundert Mal, bevor ich bis sechzig gezählt hatte. Das ist zu viel, sagte der Doktor. Meist beginne ich zu schreien, wenn mein Herz so oft schlägt. Ich liege in meinem warmen Bett, und mein Körper scheint zu explodieren. Nein, explodieren ist eigentlich der falsche Ausdruck. Mein Körper dehnt sich aus, wird unendlich groß. Ich brauche Ewigkeiten, um meine Gedanken zu meinen Beinen schicken zu können. Ewigkeiten, bis sie zurückkehren. Mein Körper verschwimmt in einem pulsierenden Nichts, und ich schreie, bis der Doktor kommt und mich mit einer langen Spritze sticht. Es tut weh, wenn er mir eine Spritze! gibt. Deshalb versuche ich, mich selbst zu beruhigen, wenn ich an Jill denke und mein Herz wie rasend zu schlagen beginnt. Doch meistens merkt er das und wird böse. Ich bekomme es mit der Angst zu tun, wenn er böse wird. Warum zürnt er mir überhaupt? Ich habe ihm doch Arbeit abgenommen, er braucht mir keine Spritze zu geben, ich habe Jill selbst vertrieben, indem ich mit dem Kopf immer wieder gegen die weiche Wand meiner Welt schlage, ohne seine Hilfe. Wenn er mich böse ansieht, lassen seine Blicke alles in mir zusammenkrampfen. Ich kann es mir nicht erklären, aber diese Blicke... diese Blicke... Jill lachte glockenhell, als Patricks Blicke an ihrem gut gebauten Körper hängen blieb, der in ständigem Kampf mit dem kleinen, engen Bikini zu liegen schien. »Entweder du schläfst«, sagte sie, »oder du hast unanständige Gedanken. Mit dir fahre ich nie wieder in Urlaub.« »Was ist denn daran unanständig?« fragte Patrick und beugte sich zu ihr herab. Er küsste sie, und sie erwiderte den Kuss. »Gehen wir?« meinte er dann. »Wohin?« erwiderte sie, doch ihr Lächeln bewies, daß sie seine Antwort schon kannte. »Doch nicht auf unser Zimmer?« Nun lächelte auch Patrick. »Diese Bucht ist viel schöner, meinst du nicht auch? Und dort sind wir völlig ungestört.«
Jill rekelte sich provozierend. Das Spiel ihrer Beinmuskeln, die ein wenig zitterten, als säße ein Tick darin, verfehlte seine Wirkung nicht. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Gehen wir«, sagte sie und sprang mit katzenhafter Gewandtheit auf. »Worauf warten wir noch?« Mir scheint, ein Teufel sitzt in meinem Kopf und wartet nur darauf, mich dazu verführen zu können, die Wolken, die sich um mich herum aufbauschen, niederzureißen und sie durchdringen, um zu erfahren, was hinter ihnen liegt. Weshalb ist meine Neugierde nur so stark, so mächtig, weshalb lassen mich die Gedanken an das Unbekannte nicht kalt, sondern erregen mich, lockend und drängend? In immer kürzeren Abständen beginnt dieser Teufel mit seinem höllischen Spiel. Ich höre sein heiseres Lachen, und wie um meine Neugierde anzustacheln, reißt er ein Loch in die Wolken und läßt mich hindurchspähen. Doch immer, wenn mir solch ein Blick erlaubt wird, beginnt mein Körper mir nicht mehr zu gehorchen. Meine Arme entwickeln ein Eigenleben, zucken, als säße der Teufel in ihnen und nicht in meinem Kopf. Krampfartige Bewegungen zwingen meinen Körper nieder, ich schlage um mich, unfähig, meinen Speichel und meinen Mageninhalt in mir zu behalten, und auch meine Blase scheint in einem Flammeninferno zu explodieren. Dann beginne ich zu schreien, und ich erkenne meine Stimme nicht mehr: Sie ist guttural, tief, unterdrückt, und aus ihr spricht ein Schmerz, den nur wenige Menschen je gespürt haben. Meine Knie können das Gewicht des auf ihnen lastenden Körpers nicht mehr ertragen, und ich krieche über den Boden, und mir wird schlecht, ich übergebe mich wieder und glaube, daran ersticken zu müssen, und der Weißgekleidete kommt und... Gehen; wir! Worauf warten wir noch! Ein feiner Schweißfilm hatte sich auf «Jills Körper gebildet. Zielbewusst hakte sie ihr knappes Bikini-Oberteil auf. Die kleine Bucht war menschenleer. Hier war das Meer schmutzig, und spitze, übermannshohe Steinbrocken, die im Wasser schimmerten wie kleine, graue Pyramiden, machten das Schwimmen an dieser Stelle gefährlich. Hierher kam niemand, nur die Liebespaare, die es im Freien schöner fanden als in den
engen, heißen, stickigen Hotelzimmern, deren Betten sowieso größtenteils aus Sperrholz bestanden. Obwohl Jill jetzt aus ihrem Tanga-Höschen glitt, waren Patricks Blicke von ihr abgefallen. »Was ist?« maulte sie. »Interessiere ich dich nicht mehr?« »Was?« meinte er geistesabwesend. »Oh«, riß er sich zusammen und deutete mit dem Finger auf eine Stelle hinter ihrem Rücken. »Sieh doch mal!« Hinter ihr hatte die Luft über dem mit Steinen durchsetzten Sand zu flimmern begonnen. Jill kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Unwillkürlich machte sie einige Schritte vorwärts. Dort, wo eine Luftschicht sich wie ein Vorhang über eine zweite gelegt hatte, schälte sich etwas aus dem Nichts heraus, ein massiver, quadratischer Gegenstand... Patrick setzte sich in Bewegung. Sie raffte ihre beiden Bekleidungsstücke an sich und folgte ihm. Der seltsame Vorgang war fast abgeschlossen. Das Flimmern verschwand, und auf dem Sand lag ein Buch, ein großes, in Leder gebundenes Buch mit fremdartigen Schriftzeichen auf dem Einband. Ras a Ghoul, konnte sie die Buchstaben lesen, doch dann begannen sie zu verschwimmen, flössen durcheinander und formten sich zu anderen, völlig unlesbaren Schriftzeichen. »Komisch.« Sie trat einen Schritt zurück, spürte plötzlich eine unerklärliche, tiefsitzende Furcht. Patrick kniete im Sand nieder und starrte auf das Buch. Der Sand brach auf, und der fette Körper einer Spinne kroch empor und setzte sich mitten auf das Buch. Jill schrie auf und warf sich herum. Ihr nackter Fuß schlug gegen einen im Sand verborgenen Stein, und sie knickte ein. An ihrer Schulter spürte sie einen heftigen Stich, als wäre ein Stilett bis zu den Spitzen ihrer Nerven vorgedrungen und wühlte dort nun wie eine Lanze aus Feuer. Sie rollte sich herum, suchte mit ihren Blicken das Buch. Die Spinne darauf war verschwunden. »Ist das Untier weg?« sagte sie mit schriller Stimme. Patrick blickte sie aus großen Augen an. »Die Spinne«, machte sie klar.
»Das war keine Spinne«, sagte Patrick, »ich habe jedenfalls keine gesehen.« Aber das Buch... das Buch war noch da. Hatte sie nur geträumt? Hatte sie sich zu lange der prallen Sonne ausgesetzt? Patrick hob das Buch auf. »Wir nehmen es mit«, sagte er. Die Spritze brennt in meinem Körper wie glühende Lava, das Medikament ätzt sich wie Säure durch meine Blutgefäße, doch fast augenblicklich tritt eine Linderung ein. Der Druck, der mich am Atmen hindern wollte, weicht von meinen Lungen, die nun nicht mehr den Schmerz meines Körpers hinausschreien, ich bekomme wieder Luft, stickige, verbrauchte, muffige und nichtsdestotrotz köstliche Luft, und in meinem Geist breitet sich eine wohlige Dunkelheit aus, die das Vergessen mit sich bringen wird, genauso, wie sie es immer getan hat. Doch diesmal ist es anders. Jills Bild will nicht vor meinem inneren Auge verschwinden, bleibt haften. Ich sehe sie deutlich vor mir, ihr sonnengebräuntes, schönes Gesicht umschattet von Sorgen und Schmerzen. Der Arzt kommt... der Arzt... »Ich kann mir nicht helfen, Doktor«, sagte Jill mürrisch dreinblickend, »verstehen Sie mich bitte richtig, ohne Misstrauen auf die Medikamente, die Sie mir verschreiben...« »Sehen wir uns die Sache doch einmal an«, schlug Dr. Raimer vor und wies die junge Frau an, sich des weit fallenden Pullovers zu entledigen. Ohne falsche Scham entkleidete sich Jill. Zögernd, als befürchte sie, von einer Giftschlange gebissen zu werden, tastete sie mit den Fingerspitzen der rechten Hand über ihre Schulter. »Diese... Blase ist noch weiter angeschwollen«, sagte sie. »Nun, Miss O'Ryan«, beschwichtigte der Arzt, »es könnte sich doch um eine Allergie handeln...« Eine rötlich gefärbte, aufgedunsene, einer Pestbeule nicht unähnliche Schwellung zeigte sich auf Jills linker Schulter. Die Beule wirkte doppelt obszön: Zum ersten war sie widerlich anzusehen, glänzte heftig, als sondere sie einen unheiligen, ekelhaften Schleim ab, zum anderen zerstörte sie durch ihre bloße Existenz die perfekte Harmonie des jungen Frauenkörpers. Vorsichtig betastete der Arzt die Schwellung. »Man könnte in der Tat schon Beule dazu sagen«, murmelte er und erschrak im nächsten Moment über seine Worte, da sie ihm nicht allzu geeignet erschienen, die Patienten zu beruhigen. Im Stillen gestand er
sich ein, solch ein Krankheitsbild im Laufe seiner langjährigen Praxis noch nie gesehen zu haben. In seiner unleserlichen Handschrift kritzelte er etwas auf einen Verschreibungsblock. »Wenn diese Salbe auch nicht helfen sollte«, sagte er, sich mühsam ein Lächeln abringend, »werde ich Sie wohl besser an einen Spezialisten überweisen.« Diese Nacht bildeten die Wolken um mein Denken herum ein Bild. Ich erwachte schweißgebadet und schrie, doch es dauerte fast eine Viertelstunde, bis der Arzt kam und mich mit seiner Nadel stach. Ich glaube, ich gewinne meine Fähigkeit, wieder klar zu denken, in dem gleichen Maß zurück, da die Spritzen des Arztes an beruhigender Kraft verlieren. Zumindest weiß ich jetzt, daß ich krank sein muß, wenngleich Grund, Ursache und Auswirkung meiner Krankheit für mich noch völlig im Dunkeln liegen. Unruhig wälzte ich mich auf meinem Bett von einer Seite zur anderen. Die Wolken erschienen mir so dünn, so transparent wie nie zuvor, und ich bemühte mich mit aller Kraft, sie zu durchdringen, den Schleier um meine Erinnerungen zu zerreißen. Doch die schwarze, unregelmäßig geformte Wand gab nicht nach, wich bei jedem Stoß meines Geistes zurück, ohne zu zerplatzen, nur um wie zähes Gummi wieder vorzuschießen und die Einbuchtung zu begradigen. Die Wolken trieben zurück, wie von einem heftigen Sturm gejagt, der sie durcheinander wirbelte, ihnen von Sekunde zu Sekunde ein anderes Aussehen verlieh. Und schließlich formten sie sich, wie von der Hand eines Giganten zusammengeballt. Sie schrumpften, und mein Herz setzte für einen Schlag aus, als ich ein ekliges, haariges Ungetüm mit acht Beinen, einem linsenförmigen Körper und einem kleinen, zusammengepressten Kopf erkannte. Das Ungeheuer kroch behende auf mich zu, erfasste mich mit den tückischen Augen; der kalte Blick schoß mir durch Mark und Bein, ließ mich aufstöhnen. Ich wälzte mich herum, um dem Untier zu entkommen, doch wieselflink huschte es ebenfalls zur Seite, es schien jede meiner Bewegungen im voraus zu erkennen. Es öffnete das mit scharfen Zähnen besetzte Maul, und eitriger Speichel troff hervor. Er traf auf meine Hand und ätzte sich tief in das Fleisch. Ich schrie. Mit jeder Faser meines Körpers wollte ich aufspringen, doch die kalten Augen hielten mich in ihrem Bann; mein
Schrei erstarb auf den Lippen, verwandelte sich im Dunkel meiner Seele zu einem Hauch aus Eis. Das Untier kam immer näher. Das Maul weit aufgerissen, umkreiste es mich, und im nächsten Moment spürte ich einen stechenden Schmerz an meiner Schulter. Helligkeit überflutete den Raum, und ich mußte die Augen schließen. Ich spürte, wie der Inhalt einer Spritze in meinen Körper schoß, schrie und schrie und schrie... »Wir werden die Beule aufschneiden müssen«, sagte Dr. Raimer. »Ich sehe keine andere Möglichkeit.« Die Geschwulst hob sich inzwischen gut faustdick von Jills Schulter. Sie leuchtete in schmutzigem Rot und wirkte ganz einfach krank. Ein anderer Begriff fiel dem Arzt nicht ein; das Geschwür - falls es überhaupt ein solches sein mochte - wirkte wie ein Fremdkörper auf dem ansonsten völlig gesunden, vor Leben nur so strotzenden Leib der jungen Frau. Es war in den letzten Tagen weiter angeschwollen. »Wie eine Pestbeule«, flüsterte der Arzt so leise, daß seine Patientin ihn nicht verstehen konnte. Verstohlen kratzte sich Dr. Raimer am Hinterkopf. Jill O'Ryan litt an einer Krankheit, die in keinem medizinischen Lexikon verzeichnet war. »Bitte nicht«, wisperte die junge Frau. Sie zitterte fast vor dem, was die Geschwulst enthüllen könnte. »Aber Sie haben mir selbst gesagt, daß Sie nun Schmerzen verspüren, als würde...« »Als würde man mir mit einem glühenden Messer in eine Wunde bohren«, bestätigte Miss O'Ryan. »Aber wenn es sich vermeiden läßt...« »Nun gut«, willigte Dr. Raimer schließlich ein. »Der nächste Termin ist ohnehin erst in zwei Tagen frei. Doch sollte sich bis dahin kein Anzeichen einer Besserung eingestellt haben...« »Noch zwei Tage«, nickte Jill O'Ryan erleichtert. Heute war der Arzt ganz besonders erzürnt über mich. Dabei ist der Vorfall, der ihn dermaßen in Rage versetzt hat, eigentlich nicht des Erwähnens wert. Irgendwie hatte es eine kleine Spinne geschafft, in meine aseptische Krankenhauszelle einzudringen.
Der Anblick versetzte mich sofort in Panik. In dem kleinen Insekt erkannte ich das Ungetüm wieder, das aus meinen Traumwolken entstanden war. Der Doktor hat den kleinen Vorfall mit besonderem Groll aufgenommen, da er einen Rückfall darstelle. Mein Gesundheitszustand habe sich sehr gebessert, meinte er, doch nun sei meine Amnesie stärker denn je. Er hat mir auch verraten, was »Amnesie« ist. Irgendein Ereignis in der Vergangenheit hat bewirkt, daß ich meine Erinnerung daran völlig verloren habe und in einen zeitweiligen Zustand katatonischer Schizophrenie, gefallen war. Doch mittlerweile habe sich mein Krankheitsbild so sehr gebessert, daß ich zumindest weiß, daß ich krank und in psychotherapeutischer Behandlung bin. Man hat mir auch gesagt, es gäbe die Wolken gar nicht wirklich. Ich bildete sie mir nur ein, sehe sie nur als Sinnbild für die Blockade, die sich in meinem Unterbewusstsein gebildet hat und mich vor den Erinnerungen an das Ereignis schützt, das die Schuld an meiner Krankheit trägt. Und dennoch sehe ich die Wolken, als wären sie real. So deutlich wie nun habe ich sie eigentlich noch nie gesehen. Sie stehen mitten in meinem Krankenzimmer, der Gummizelle, wie der Volksmund zu sagen pflegt, mannsgroß, schwarz wie die Nacht, so unwirkliche Gebilde, ein Loch in der Welt der Wirklichkeit, wie ich sie sehe. Langsam geraten die Wolken in Bewegung, treiben auf und ab, brodeln geradezu. Ich weiß, etwas entscheidendes wird geschehen, wenn ich sie durchdringe, und ich weiß nicht, ob es mir zum Vorteil geraten wird. Dennoch beginnt mein Geist, sie so sanft zu durchtrennen wie ein Messer die weiche Butter. Schweißtropfen perlten auf meiner Stirn, als mir der Gedanke kommt, jetzt könne der Augenblick eingetroffen sein, auf den ich so sehr warte, den ich mit allem Drängen meines Körpers ersehne, und vor dem ich mich dennoch fürchte. Auf meinen geistigen Befehl treiben die Wolken nun auseinander, enthüllen... »örtliche Betäubung«, sagte Dr. Raimer. »Sie werden von dem Schnitt nichts spüren.« «Jills Gesicht war vor Schmerz verzerrt. »Irgend etwas ist da«, sagte sie gepresst, mühsam um ihre Selbstbeherrschung kämpfend, »frisst sich durch meinen Körper, ernährt sich von ihm...«
»Wir werden sehen«, gab Dr. Raimer beruhigend zurück. »Warten Sie nur ab.« Ängstlich blickte Jill hoch. Sie sah, wie der Arzt das Skalpell zum Schnitt ansetzte. Ihr Körper verkrampfte sich instinktiv, doch sie verspürte keinen Schmerz. Das Skalpell glitt durch die Geschwulst, trennte die Hautschichten, drang tiefer in das Körperfleisch... Mit einem Aufschrei zuckte Dr. Raimer zurück.«Jills Kopf fuhr herum, stand in einem fast unnatürlichen Winkel zum Körper. Ihr Mund öffnete sich, doch der Schrei blieb aus. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Jill auf die Horde von winzig kleinen Spinnen, die aus der offenen Beule drängten, ein Meer winziger Körper, die auf ihrer Haut ein leichtes Kribbeln verursachten, Leib neben Leib, nebeneinander, aufeinander, untereinander, eine braunschwarze Flut, die unter pestilenzartigem Gestank ans Licht drängte, tausender winziger Beine, hunderter gefräßiger Mäuler, die sich am Fleisch ihres Körpers genährt hatten. Dann endlich drang ihr Schrei heraus, hallte durch die Praxis, wurde von den kalten Wänden zurückgeworfen und zerrte sie hinab in die tiefen, unerforschten Regionen ihres Unterbewusstseins. * Peter Bryant schlug sich die Hände auf die Ohren. Dieser Schrei... er glaubte, ihn wirklich zu hören. Dabei waren es teilweise nur Bilder, die er gesehen hatte, Bilder, die an seinem geistigen Auge vorüberzogen, so lebensecht, so glaubhaft, daß er sich wie ein unsichtbarer Beobachter vorgekommen war, Bilder vom Strand und aus der Arztpraxis. Jill O'Ryans Stimme war nur dann aus Janices Mund gekommen, wenn die Frau von ihrem Aufenthalt in der Krankenanstalt berichtete, von den Wolken, den düsteren Wolken um ihren Verstand... Er lehnte sich zurück, betrachtete nachdenklich Janice, die völlig erschöpft in ihrem Sessel lag. Draußen dämmerte es schon. Ich kenne Janice jetzt etwas mehr als vierundzwanzig Stunden, dachte Bryant, und zu den Rätseln, die ich an ihr lösen wollte, sind immer neue hinzugekommen.
Das schlanke Mädchen schlug mühsam die Augen auf. »Ich bin müde«, sagte es, »so furchtbar müde!« Bryant hob sie hoch wie ein Kind. »Warum hast du mir berichtet, was mit Jill O'Ryan geschehen ist?« fragte er, während er sie wieder zum Bett trug. »Mein Herr...« flüsterte sie noch, dann war sie eingeschlafen. Vorsichtig legte er sich auf das Polster und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ihm war klar, daß er nun nicht mehr schlafen konnte. Sein Geist hatte die Sinneseindrücke, die auf ihn eingeflossen waren, noch nicht verkraftet. Er kochte sich einen frischen Kaffee und klemmte sich hinter das Telefon. Nach einer halben Stunde hatte er über seine vielkanaligen Beziehungen herausbekommen, daß Jill O'Ryans Freund, mit dem sie in Urlaub gefahren war und von dem er nur den Vornamen Patrick - kannte, kurz nach ihrer Einweisung in eine psychiatrische Klinik an den Folgen eines nicht geklärten Autounfalls gestorben war. Fluchend knallte er den Telefonhörer auf die Gabel. Er hatte vorgehabt, mit jenem Patrick zu reden, Informationen aus ihm herauszulocken, Einzelheiten über das ominöse Buch, das einfach aus der Luft aufgetaucht zu sein schien. Der Fall schlug Wellen. Bryant wurde klar, daß wesentlich mehr dahintersteckte als nur der Tod zweier kleiner Diebe. Jill O'Ryan und Patrick... alles deutete darauf hin, daß dieses geheimnisvolle Buch eine zentrale Stellung besaß, die er nur noch nicht durchschaute. Und dieser genauso geheimnisvolle Fremde, Janices Herr... wenn er wirklich existierte, mochte er der Drahtzieher sein. Aber an welchen Fäden zog er? Fragen über Fragen. Und keine Antworten. Während er die Müdigkeit in sich emporsteigen fühlte, rief er in der Redaktion an und ließ sich mit Frank Brunner verbinden. »Etwas neues?« fragte er. »Kaum«, gab Brunner zurück. »Das interessanteste dürfte ein Todesfall sein, eine junge Frau. Crispin hängt an der Sache dran. Scotland Yard hat eine totale Nachrichtensperre verhängen lassen, aber immerhin ist durchgesickert, daß ihr Tod etwas mit Würmern zu tun hat und ihr Mann in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurde.«
Ganz träge setzte sich Bryants Verstand in Bewegung. Jill O'Ryan war nach einem Spinnenbiß gestorben, vorher dem Wahnsinn verfallen... dann zwängten sich die Parallelen des Falles geradezu in seine Überlegungen. Die Müdigkeit fiel von ihm ab wie ein Tuch. »Wer vom Yard arbeitet daran? Manning?« »Keine Ahnung«, sagte Brunner. »Egal. Manning hat genug Vollmachten. Rufe bei ihm an und bitte ihn, mir die Genehmigung zu verschaffen, mich am Tatort umzusehen. Deute ruhig an, daß sich vielleicht ein gemeinsamer Nenner mit den beiden kleinen Gangstern ergibt. Ich fahre direkt in seinem Büro vorbei und hole mir die Genehmigung ab.« Während er seinen restlichen Kaffee hinunterstürzte, dachte er verwundert, daß seine Müdigkeit wie verflogen war. * »Ich weiß nicht so recht«, sagte das kleine Männlein, das als Hausmeister in dem großen Wohngebäude arbeitete. »Hier ist meine Genehmigung«, entgegnete Bryant und hielt ihm das Dokument vor die Nase. »Unterzeichnet von Inspektor Manning, Mordkommission. Was wollen Sie mehr?« »Das ist es nicht«, gab der Hausmeister etwas verlegen zurück. »Ich glaube Ihnen gern, daß Sie die Wohnung betreten dürfen. Sie ist ja noch nicht einmal verplombt. Nur...« »Nur was?« fragte Bryant unfreundlicher, als er es eigentlich beabsichtigt hatte. Aber der Hausmeister brauchte gar nichts zu erwidern. Bryant wußte auch so, wo ihn der Schuh drückte. Die Angst stand ihm deutlich im Gesicht geschrieben. »Sie brauchen ja nicht mit hineinzugehen.« »Ehrlich, es war furchtbar«, sprudelte es erleichtert aus dem Mann heraus. »Die Millionen Würmer... sie waren überall...« »Klar.« Bryant spürte deutlich, daß der Mann übertrieb, einerseits, um eine Entschuldigung für seine Angst zu finden, andererseits, weil er die Geschichte wohl schon hundert Mal erzählt hatte, jedes Mal ein wenig mehr ausgeschmückt, bis er schließlich selbst an die »Millionen Würmer« glaubte.
Während der Hausmeister mit seinen Nachschlüsseln rasselte, las Bryant das kleine, ordentliche getippte Türschild: Charles & Sophie Hammer. Ein ungewöhnlicher Name, dachte er. Der Schlüssel knackte im Schloß, die Tür schwang einige Zentimeter zurück, und der Hausmeister spähte trotz seiner Furcht neugierig durch den Türspalt. »Sehen Sie irgendwelche Würmer?« fragte Bryant spöttisch. Er hatte sich von Inspektor Manning den Polizeibericht aushändigen lassen; die Todesursache von Sophie Hammer war noch nicht mit endgültiger Sicherheit festgestellt, hieß es darin. Der Journalist hatte jedoch das Gefühl bekommen, daß die Polizeibehörden, das, was sie als Todesursache festgestellt hatten, nicht in den Bericht eingetragen hatten, vielleicht, weil sie selbst nicht daran glaubten. Der kleine Mann erbleichte und trat einige Schritte zurück. Bryant ließ die Tür vollends aufschwingen und betrat die Wohnung. Mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, sah er sich um. Keine Spur von Würmern oder sonstigen Untieren. Es roch abgestanden und muffig; kein Wunder, niemand hatte gelüftet. Von der Diele aus konnte man ins Badezimmer einblicken. Bryant schluckte, als er die rotgezeichneten Körperkonturen sah. Hier also hatte man die beklagenswerte Tote gefunden. Er überzeugte sich davon, daß das Badezimmer frei von jedwedem Ungeziefer war und durchsuchte dann rasch die anderen Räume. Das Schlafzimmer war noch nicht eingeräumt; wie er verstanden hatte, waren die Hammers erst vor einigen Tagen hier eingezogen. Im Wohnzimmer herrschte ein regelrechtes Chaos. Eine Sitzgruppe war freigeräumt, ansonsten stapelten sich überall Kisten und Kartons. Die Türen des Wohnzimmerschrankes standen weit offen; einzelne Fächer waren bereits mit Porzellan und anderen häuslichen Gegenständen gefüllt, und in zwei Regalen standen ordentlich mehrere Buchreihen nebeneinander. Was suchte er hier überhaupt? Wäre es nicht viel sinnvoller, mit Charles Hammer selbst zu sprechen? Aber der bedauernswerte Mann war zu keiner Auskunft fähig; die Ärzte kämpften um seine geistige Gesundheit. Sein Schockzustand war in eine akute Nervenentzündung umgeschlagen, und ein EEG hatte Störungen der Gehirnströme ergeben. Was aus ihm werden würde, konnte noch niemand sagen.
Plötzlich wußte er, was er hier suchte. Sein Blick glitt über die Regale. Jill O'Ryan war gestorben, nachdem ein Buch aus dem Nichts aufgetaucht war. Die beiden kleinen Gangster waren gestorben, weil sie eben dieses Buch aus der Leichenhalle gestohlen hatten. Und Sophie Hammer... Er sah das Buch, alt, groß und schwer, in Leder eingebunden. Er hatte es nur ganz kurz gesehen, in den Bildern aus Jill O'Ryans Unterbewusstsein, die Janice ihm auf unerklärliche Weise direkt in seinen Verstand gespielt hatte. Er brauchte es noch nicht einmal wieder zu erkennen, er wußte sofort, daß es sich um den gleichen Band handelte. Angst wallte in ihm empor. Nur mit Widerwillen streckte er die Hand aus und zog das Buch hervor. Es unterschied sich in nichts von den anderen, die auf dem Regal standen, nur der Einband kam ihm seltsam vor: Er war übersät mit fremdartigen Schriftzeichen, die er nicht entziffern konnte. Arabische Schriftzeichen. Genau. Er mußte sie von einem Fachmann übersetzen lassen... Zögernd schlug er den schweren Band auf. Das alte, vergilbte Papier knisterte unter jeder Berührung. Die Schriftzeichen auf der Seite, die er durch Zufall aufgeschlagen hatte, waren verschwommen; er hatte den Eindruck, daß sie sich unter seinem Blick veränderten. Er schlug die Seite um. Die darauf folgende Seite war leer. Schnell blätterte er zurück. Nun war auch diese Seite unbedruckt. Bryant kniff die Augen zusammen. Träumte er, oder...? Er klappte das Buch zu. Für einen Moment glaubte er, die Schrift auf dem Einband erkennen zu können: Ras a Ghoul. Dann war sie wieder völlig unleserlich. In diesem Moment wußte er, daß alles, was das Buch betraf, nicht mit rechten Dingen zuging. Er warf sich herum und rannte aus der Wohnung. Im Treppenhaus kam es ihm so vor, als sei er geflohen. Aber das Buch hatte er mitgenommen. *
Julien Fontenay klappte den Fotokopierer zu. »Sehr befremdlich«, sagte er, und das nicht zum ersten Mal. Fontenay war eine anerkannte Kapazität auf dem Sektor alter, untergegangener Sprachen aus dem Orient; zwar besaß er noch einen Lehrstuhl an der Universität, doch der Großteil seiner Zeit wurde von Forschungsprojekten in Anspruch genommen. Bryant hatte dem Professor vor Jahren einmal einen Gefallen erwiesen; dennoch hatte er wie mit Engelszungen auf seine Sekretärin einreden müssen, um ohne vorher ausgemachten Termin zu ihm vorgelassen zu werden. Anfangs hatte sich Professor Fontenay äußerst unwirsch über die Störung gezeigt. Er hatte das Buch nicht einmal anschauen wollen. Doch nachdem er einen Blick hineingeworfen hatte, hatte er Bryant auf der Stelle vergessen und leise Bemerkungen gemurmelt, die der Journalist allerdings nicht entschlüsseln konnte. Dann hatte er das Buch fotokopiert; nicht einmal, sondern dreimal, jede Seite hintereinander. »Sehr befremdlich«, sagte er nun. »Aber auch äußerst interessant. Ich möchte Sie noch einmal ersuchen, Mr. Bryant, dieses Buch unter meiner Obhut zu lassen.« Er sprach so hastig weiter, daß sich seine Stimme überschlug; Bryant verstand nur einzelne Bruchstücke wie »unschätzbarer Fund für die Wissenschaft« und »herber Verlust« und »Pflicht als britischer Staatsbürger« und konnte sich den Sinn so in groben Zügen zusammenreimen. »Es tut mir leid, Sir«, erwiderte Bryant. »Dieses Buch ist ein Beweisstück in einem Mordfall. Ich muß es den Behörden übergeben; im Interesse und aus Rücksicht auf die Wissenschaft habe ich mir erlaubt, es Ihnen zu zeigen, bevor ich...« »Ich verstehe, ich verstehe«, murmelte der Professor und wandte sich den Kopien zu. »Sehen Sie?« sagte er. »Keine einzige Seite ist mit den beiden anderen Kopien, die ich gemacht habe, völlig identisch. Sinn und Aussage unterscheiden sich beträchtlich.« »Können Sie eine Aussage über den Inhalt des Buches machen?« »Für Sie als Laie... aber ja, erste Erkenntnisse kann ich durchaus weitergeben. Das Buch ist ein okkultes Schriftstück, wie so viele aus dieser Epoche... es nimmt Bezug auf andere okkulte Schriften noch früherer Zeiten, wie etwa das Necronomicon; es wird bezeichnet als Energiespeicher für einen transzendentalen
Durchbruch... Aber Sie müssen verstehen, genaue Einzelheiten können Sie nicht von mir erwarten, nicht in diesem frühen Stadium meiner Untersuchungen.« »Wann, Professor?« fragte Bryant. Fontenay war jedoch schon so in seine Lektüre vertieft, daß der Journalist ein zweites Mal die Frage stellen mußte. »Wann können Sie mir nähere Einzelheiten mitteilen, Professor Fontenay?« Der Wissenschaftler blickte kurz auf zu ihm. »Erkundigen Sie sich in einer Woche noch mal«, sagte er und blätterte dann wieder in den Kopien. Bryant packte sich das Buch unter den Arm und ging. * Janice hockte vor dem Fernseher, als Peter Bryant sein Apartment betrat. Sie verfolgte eine Sendung des Kinderfunks mit so hingebungsvoller Aufmerksamkeit, daß sich Bryant erst zweimal räuspern mußte, bevor sie ihn bemerkte. Bryant setzte Kaffeewasser auf. Dann packte er das Buch aus der Stahlkassette, die Professor Fontenays Sekretärin ihm geradezu aufgedrängt hatte. Janice erstarrte. Sie konnte nicht gesehen haben, wie er das Buch auspackte, dennoch mußte sie seine Anwesenheit gespürt haben. Ganz langsam drehte sie sich zu ihm herum. »Das Buch«, flüsterte sie. »Du hast das Buch.« »Allerdings!« sagte Bryant laut - zu laut. Vielleicht wollte er seine eigene Unsicherheit, seine Angst damit überspielen, vielleicht wollte er Janice auch nur verdeutlichen, daß er die Fäden in die Hand genommen hatte, er wußte es nicht. »Du hast es geholt«, sagte sie. »Für ihn.« »Nein, für mich!« Er begann das Buch durchzublättern. Aus den Augenwinkeln behielt er sie im Blick. Die Anspannung in ihrem Körper verstärkte sich noch. Bryant erschien sie in diesem Moment wie eine hungrige Katze, bereit zum Sprung - oder zur augenblicklichen Flucht. Zögernd kam sie näher. »Bitte bringe es...« begann sie, doch dann packte sie sich an den Hals. Gurgelnd brachte sie noch einige Silben heraus, von denen Bryant jedoch keine verstand.
Schnell schloß Bryant das Buch wieder in die Stahlkassette ein. Sofort beruhigte sich Janice, ihr Atem glättete sich, und ihr Gesicht bekam wieder Farbe. »Also?« fragte Bryant. »Was hast du mir zu sagen?« »Ich kann nicht«, erwiderte Janice drängend. »Bitte glaube mir, ich kann dir nichts sagen.« »Dein Herr, ich weiß.« Bryant winkte ab. Er schloß die Kassette mit dem Buch in seinen Dokumentenschrank ein und zog den Schlüssel ab. »Ich gebe dir Zeit bis zum Abend«, sagte er, den Schlüssel in der Hand wiegend. »Dann werde ich dich den Polizeibehörden übergeben - außer, du schenkst mir reinen Wein ein.« Er trank seinen Kaffee aus, steckte den Schlüssel in die Sakkotasche und verließ die Wohnung. * »Du strapazierst meine Geduld gewaltig«, sagte Russ Manning. Der Inspektor war ein großgewachsener, schlanker Mann, dem man ansah, daß er sein wöchentliches Trainingsprogramm beharrlich durchführte: Sein Körper war muskulös, ohne muskulös zu wirken, und so sehr sich Bryant bemühte, er konnte kein Gramm Fett zuviel an Manning entdecken. »Warum kommst du nicht sofort zu, uns?« fuhr der Inspektor fort. »Ich glaube, du würdest dich in unserer Abteilung gut machen.« »Beim Daily Sketch verdiene ich gut das Fünffache«, sagte Bryant mit aller Ehrlichkeit, die er sich bei Manning erlauben konnte. »Also, was ist? Bis heute abend nur... dann bekommst du alle meine Fakten auf die Hand, schön säuberlich verpackt mit einem rosaroten Schleifchen darumherum.« »Wenn du Informationen zurückhältst, kann ich dich in Beugehaft nehmen...« »Die Pressefreiheit ist heilig. Jedenfalls war sie das vor zwei Minuten noch. Heilig und unantastbar.« »Ich komme in Teufels Küche, wenn die Jungs in den höheren Etagen herausfinden, welches Spiel wir treiben.« »Sie werden es nicht herausfinden.« »Bis heute abend, sagst du?« »Keine Stunde länger.«
»Na gut.« Seufzend reichte der Inspektor Bryant die Legitimation herüber. »Ein weiterer Nagel zu meinem Sarg«, sagte er. »Sei dankbar, daß ich mit dem Hämmern noch warte«, grinste Bryant zurück. * Das Krankenhaus, in das man Charles Hammer nach seinem Zusammenbruch eingeliefert hatte, war das gleiche, in dem Jill O'Ryan gestorben war. Bryant spukte diese Duplizität der Ereignisse im Kopf herum, während er im Privatraum des Chefarztes auf dessen Eintreffen wartete. Er mußte sich nicht lange in Geduld fassen, dann erschien Dr. Chapmann. Da seine Chefsekretärin schon Bryants Legitimation geprüft hatte, konnte der Journalist sofort zum Kernpunkt übergehen. Seine Bitte, mit Charles Hammer sprechen zu können, wurde jedoch abschlägig beantwortet. »Charles Hammer ist vor einer Stunde gestorben«, erklärte der Chefarzt. Sein Gesicht zeigte nicht die geringste Regung; es erinnerte Bryant an eine steinerne Maske. Wahrscheinlich muß man sich in seinem Beruf solch eine geistige Maske zulegen, dachte Bryant bei sich. »Darf ich seine Leiche sehen?« bat er. Er brauchte noch einen Beweis für die Unschuld Janices; die beiden Diebe waren an Altersschwäche gestorben, und wenn mit Hammers Leichnam ein ähnlicher Prozess vonstatten gegangen war, hatte er noch ein Indiz, das er Manning auf den Tisch knallen konnte, wenn er Janice den Polizeibehörden übergab. Egal, wie tief sich das Mädchen in diese Angelegenheit verstrickt hatte, er wollte, daß sie so ungeschoren wie möglich aus ihr herauskam. Hatte er sich in sie verliebt? Er lachte innerlich über sich; er kannte das Mädchen kaum, und wenn es auch ganz reizvoll war, so... »Natürlich«, riß ihn Dr. Chapmann aus seinen Gedanken. »Wenn Sie mir bitte folgen würden.« Während sie durch die hellerleuchteten, aber kalten Gänge schritten, fragte Bryant: »Haben Sie die Todesursache schon feststellen können?«
»Totale Entkräftung«, gab der Arzt zurück. »Warten Sie, bis Sie die Leiche sehen. Ich hoffe, Sie sind nicht allzu zart besaitet.« Bryant lächelte schwach. »Eine wahre Epidemie«, fuhr Dr. Chapmann fort. »Auf seinem Totenschein steht der gleiche Todesgrund wie bei seiner Frau.« »Sophie Hammer?« fragte Bryant überrascht. »Ja. Sie wurde auch hier eingeliefert. Wir konnten allerdings nichts mehr für sie tun. Ihrer Geburtsurkunde zufolge war sie vierundzwanzig, aber ihr Körper war verfallen wie der einer Hundertjährigen. Medizinisch gesehen stehen wir völlig ratlos vor diesem Rätsel.« Trotz der schrecklichen Nachricht verspürte Bryant so etwas wie Befriedigung. Die beiden Hammers und die beiden ermordeten Diebe... alle hatten sie das Buch besessen, zumindest für kurze Zeit, alle waren sie auf die gleiche Art und Weise gestorben. Und jetzt habe ich das Buch, dachte er betroffen. »Warum wurde Jill O'Ryans Leiche eigentlich zur Obduktion freigegeben? Ist dies nicht ungewöhnlich in solch einem Fall?« »Jill O'Ryan?« Der Arzt zog die Augenbrauen hoch. »Wie kommen Sie auf Jill O'Ryan?« »Woran genau ist sie eigentlich gestorben? « »Auch das können wir uns nicht genau erklären. Jill O'Ryan litt an einer Amnesie; sie hatte eine schreckliche Erinnerung aus ihrem Gedächtnis verbannt...« »Ich bin darüber informiert«, nickte Bryant. »Sie starb... ja, sie starb auch an einem Schock, möchte ich behaupten. Plötzlich schwand diese Amnesie; sie erinnerte sich wieder an den Vorfall und starb an Herzversagen. Bringen Sie den Tod von Jill O'Ryan in einem Zusammenhang mit dem beklagenswerten Schicksal des Ehepaars Hammer?« »Schon möglich«, nickte Bryant. »Ich bin gerade dabei, das herauszufinden.« Er besaß Scotland Yard gegenüber einen Informationsvorsprung; er wußte von dem Buch, Scotland Yard aber nicht. Der Polizei war nur bekannt, daß es aus der Leichenhalle gestohlen worden war. »Hier hinein bitte.« Der Raum, den sie betraten, war nicht beheizt; Bryant begann heftig zu frösteln. Er war sauber ausgekachelt; ein etwa zwei Meter tiefer Stahlschrank wies quadratische Schubfächer auf. »Sie sind sich völlig sicher, daß Sie die Leichen sehen wollen?«
»Ja.« Innerlich war sich Bryant gar nicht so sicher. »Nun gut.« Dr. Chapmann öffnete eins der Fächer, dann ein zweites. Auf Rollen fuhren Bahren heraus, bedeckt mit weißen Tüchern. Der Arzt schlug das erste Tuch zurück. »Sophie Hammer«, sagte er. Eine Frau mit vergilbter Haut, eingefallenen Wangen, zahnlosem Mund. Bryant hatte schon einmal eine Hundertjährige gesehen, und die hatte nicht so alt wie diese Leiche gewirkt. Das zweite Tuch enthüllte einen Mann, genauso verfallen in Körper und Gesicht. Bryant fühlte sich an eine Mumie erinnert, im Verlauf der Jahrhunderte ausgetrocknet, völlig wasserlos. »Ich glaube, ich habe eine Überraschung für Sie«, sagte Dr. Chapmann und öffnete ein drittes Leichenfach. Erneut schlug er das Tuch zurück. »Das ist Jill O'Ryan. Nach dem Tod der Sophie Hammer habe ich ihre Leiche hierher zurücküberführen lassen.« Bryant fühlte, wie sich sein Herz zu einem wild pumpenden Klumpen zusammenballte und das Blut aus seinem Gesicht wich. Jill O'Ryans Leiche sah genauso aus wie die beiden anderen. »Und noch eine Überraschung. Patrick Duvaillier, der Mann, mit dem Jill O'Ryan in Urlaub gefahren ist. Er ist bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.« Der Arzt öffnete ein weiteres Fach. Bryant brauchte erst gar nicht hinzusehen. Eine weitere Mumie lag darin, verfallen, vorzeitig gealtert, als ob jemand alle Lebenskraft aus dem Körper herausgezogen hatte. * »Janice?« rief Peter Bryant. »Janice, bist du da?« Keine Antwort. Er durcheilte sein Apartment im Spurtlauf. Keine Spur von dem Mädchen. Sie war spurlos verschwunden. Laut fluchend zwängte er sich aus seinem Sakko und warf es auf einen Sessel. Dann überprüfte er den Dokumentenschrank; er war noch verschlossen, und die Stahlkassette mit dem Buch befand sich darin.
Erleichtert schloß er die Schublade wieder ab. Wenigstens war er so vorausschauend gewesen, das Buch einzuschließen. Janice... er fühlte Verbitterung. Also steckte sie doch bis über beide Ohren in diesem Fall, und sie hatte seine Abwesenheit dazu benutzt, sich aus dem Staub zu machen. Aber warum war sie nicht schon vorher geflohen; er hatte sie schon einmal allein gelassen, und brav hatte sie in seinem Apartment gewartet und sich das Kinderprogramm im Fernsehen angeschaut, als enthalte es alle Offenbarungen, die man einem Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts noch bieten konnte... Einem Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts, hallte der Gedanke durch sein Unterbewusstsein. Da klopfte es an der Tür. Es klingelte nicht, wie man es eigentlich erwarten konnte, es klopfte. Bryant ging zur Tür und öffnete. Überrascht sog er die Luft ein. Janice stand draußen. Sie trug immer noch die Hose und das Hemd, das er ihr geliehen hatte, darüber hinaus jetzt aber Schuhe, modische, halbhohe Stiefel. Und auch sonst hatte sie sich verändert. Sie trug ihr Haar jetzt kurz geschnitten, nur noch streichholzlang. Ihr Gesicht wirkte dadurch noch eindrucksvoller. Stumm sah sie ihn an. »Komm herein«, sagte Bryant schließlich. »Woher hast du die Stiefel? Und wer hat dir die Haare geschnitten? Hast du Geld gestohlen?« »Gestohlen?« Überrascht sah sie ihn an. »Ich brauche nicht zu stehlen. Ich habe herausgefunden, daß ich von Männern all das bekomme, was ich will.« Aber nicht von mir, dachte Bryant bei sich. Nicht mehr. Als ich dich im Park aufgegabelt habe, ja, wenn du es da darauf angelegt hättest... aber jetzt nicht mehr. Er schloß die Tür. »Verzeih' mir«, sagte Janice. »Verstehst du? Ich mußte es tun.« Sie trat an ihn heran und legte einen Arm um seine Schulter. Schnell drückte sie ihm einen Kuss auf die Wange. »Ich mag dich«, flüsterte sie leise, »aber seine Macht über mich ist einfach zu groß. Er hat es mir befohlen, und ich konnte nicht anders. Und dich hat er auch zu einer Puppe in seinem Spiel verwandelt. Jetzt, wo er sein Ziel fast erreicht hat, muß er sich auf andere Belange konzentrieren. Sein Griff um meinen Geist ist nicht mehr so stark, sonst könnte ich dir auch das nicht mitteilen.«
»Was meinst du?« fragte Bryant. Ein fürchterlicher Verdacht stieg in ihm empor. Janice nickte. Bryant öffnete seinen Dokumentenschrank, nahm den Stahlkoffer heraus, nestelte mit unruhigen Fingern an dem Verschluss. Endlich klappte er auf. Das Buch war nicht mehr darin. * Wulff heulte den Mond an, letzter Abschaum seiner Rasse, niederträchtiger Dieb und Schmarotzer, der sich von den Früchten redlicher, harter Arbeit anderer Menschen in verbrecherischer Art und Weise nährte... Ächzend lehnte sich Fred Lovell in seinem Stuhl zurück und überflog den letzten Absatz seines neuen Romans noch einmal. Er war ein verhältnismäßig großgewachsener Mann Anfang der Fünfziger, doch auch sein langes, bis zu den Schultern herabfallendes braunes Haar konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich an seiner Stirn langsam aber sicher eine Glatze bildete. Er wurde eben alt. Lovell schüttelte zweifelnd den Kopf. Dieser Termindruck! Er nahm sich vor, das gesamte Schlusskapitel noch einmal neu zu schreiben, wußte aber gleichzeitig, daß er dafür wohl weder Zeit noch Energie aufbringen würde. Außerdem hatte er den Vertrag längst unterzeichnet, und den Vorschuss hatte er auch kassiert und ausgegeben! Nein, er würde den Text ohne weitere Änderungen an seinen Verleger schicken, und der würde ihn auch akzeptieren, weil der Name Fred Lovell Garantie für einen gewissen Umsatz war. Und bislang hatte noch niemand zu klagen gehabt, was die Verkaufszahlen betrafen. Er konzentrierte sich auf den Handlungsfaden, doch da vernahm er das charakteristische Brummen. Es war eine einfache Schmeißfliege, wie er schon an dem Geräusch erkannte. Er fragte sich, wie sie die Fallen in seinem Garten wohl überwunden haben mochte, die Schüsseln mit der verlockenden Zuckerlösung, die Lampen, die - er ließ sie unablässig Tag und Nacht brennen - eine bestimmte Wellenlänge ausstrahlten, so daß die Insekten von ihnen angezogen und dann von den stromdurchflossenen Dräh-
ten, die sich um die eigentlichen Leuchtkörper schlängelten, zu schwarzen, verkohlten Materieklümpchen verbrannt wurden. Seine Haushälterin sammelte jeden Morgen Hunderte verdorrter Insektenkörper ein, an guten Tagen sogar an die tausend. Im Prinzip hielt sich Lovell für normal. Nur eine einzige Schwäche hatte er, eine begreifbare, verzeihliche Schwäche, wie er meinte: Er hasste Insekten wie die Pest. Alles, was zirpte, brummte, summte, klein war und flog, brachte er so schnell wie möglich um. Manchmal bekam er sogar schon einen rötlichen, fürchterlich brennenden Ausschlag, wenn ein Insekt nur in seiner Nähe war, mußte sich am ganzen Leib kratzen und jucken. Natürlich war er auch für die Fliege in seinem Arbeitszimmer ausgerüstet. Auf einem Regal neben seinem Schreibtisch standen dutzende verschiedener Dosen mit Insektenspray, lagen Fliegenpatschen und kleine, von ihm selbst konstruierte Schäufelchen, mit denen er die verendeten Insekten aus dem Zimmer befördern konnte, ohne ihnen zu nahe zu kommen. Noch während er sich nach dem kleinen Biest umschaute, hatte er bereits eine gelbrote Dose Insektenspray ergriffen. Dann suchte er die Fliege, die vereinsamt in seinem fast aseptisch sauberen Arbeitsraum ihre sinnlosen Bahnen zog, dabei leise vor sich hinbrummend. Endlich erspähte er sie und zielte. Zischend entlud sich die Spraydose, der Strahl der trüb kondensierenden Chemikalientropfen erfasste das Insekt, und augenblicklich stürzte es steil zu Boden. Fasziniert beobachtete er, wie die kleinen Beine noch zuckten, dann gab die Fliege ihren sowieso nicht vorhandenen Geist auf, und die Bewegungen erstarben. Lovell spürte plötzlich den Drang, sich an der Schulter zu kratzen. Auch jene ihm so gut bekannte Stelle etwas unterhalb seiner Kniekehle begann zu brennen. Er nahm einen der kleinen Greifer, zog damit den schwarzen Störenfried auf die Plastikunterlage und beförderte ihn in hohem Schwung durch die offene Tür hinaus in den Garten. Das war die einfachste Art, ein lästiges Insekt umzubringen. Natürlich gab es noch sicherere, noch komplizierter, er hatte schon oft genug experimentiert, dabei immer wieder neue Methoden ersonnen. Wie ein gewissenhafter Forscher trug er sie alle sorgfältig in ein eigens dafür angelegtes Buch ein, notierte sorgfältig
die Spezies, das angewandte Mittel und die Zeitdauer, die bis zum Erfolg verstrich. Viel versprechende Tötungsarten markierte er rot, Misserfolge wurden mit einer blauen Linie versehen. Hummeln zum Beispiel sprachen auf normales Haarspray oder Deodorant an, verloren ihre Orientierung, konnten nicht mehr herumschwirren. Gewöhnlich zog er dann einen dicken Lederhandschuh über, der schon völlig verschmutzt war, und erlöste sie schnell. Er steckte sich eine Zigarre an, sog den Rauch begierig ein und versuchte, sich etwas zu entspannen. Manchmal hatte er auch schon Fliegen und Wespen lebendig gefangen, oder auch Spinnen, um sie mit noch ausgeklügelteren Methoden um ihr bisschen Leben zu bringen. Während er diese Methoden Revue passieren ließ, vernahm er im Unterbewusstsein, wie ein Wagen vor seinem Haus anhielt und kurz darauf wieder wegfuhr. Es klingelte; der harte, rasselnde Ton riß ihn vollends aus seinen Überlegungen. Mechanisch schritt er zur Tür. Er erwartete seine Haushälterin, eine dicke, gutmütige Frau, die seinen Hass auf die Insekten tolerierte, zumindest nie mit ihm darüber sprach - von einem unbezahlten Urlaub zurück. Sie hatte für ein paar Tage ihre kranke Tante in London betreut. Doch als er öffnete, wurde er angenehm überrascht. Die Frau, die vor der Tür stand und ihn herausfordernd lächelnd ansah, mochte die Dreißig vielleicht schon überschritten haben, war jedoch äußerst attraktiv. Langgelocktes braunes Haar fiel ihr bis auf die Schultern. Sie hatte ein hübsches, gekonnt geschminktes Gesicht, einen runden Busen, der sich unter ihrem orangenen TShirt gut abzeichnete, eine noch schmale Taille, und in den Jeans steckten verdammt lange Beine. In den Händen trug sie einen großen braunen und einen kleinen weißen Umschlag. »Der Postbeamte in Corner's Grove hat mich gebeten, Ihnen das mitzubringen«, sagte sie, ohne sich vorzustellen. »Mitzubringen?« fragte er überrascht. »Ja. Sie sind doch Fred Lovell, nicht wahr?« Er nickte verwirrt, und sie schob sich schnell an ihm vorbei ins Haus. Unwillkürlich atmete er schneller, als er ihr Parfüm in die Nase bekam.
Verwirrt schloß er die Tür und blickte sie an. Sie drehte sich, noch immer lächelnd, zu ihm um, ging dann voraus in sein Arbeitszimmer. »Hier also schreiben Sie«, meinte sie. Er konnte sich nicht helfen, irgendwie kam ihm ihre Stimme ergriffen, fast andächtig vor. Sie setzte sich auf den Drehstuhl vor seinem Schreibtisch und stieß sich ab. Ihre Haare wirbelten umher, als sie sich schnell um die eigene Achse drehte, dabei durch das halbe Zimmer rollend. Prustend drückte sie dann die Füße auf den Boden und blieb, so abgebremst, still sitzen. »Wissen Sie«, sagte sie fröhlich, als würde sie sich mit einem alten, nach zehn langen Jahren zufällig auf der Straße getroffenen Bekannten unterhalten, »ich habe gerade Ihre neueste Erzählung gelesen. Faszinierend, einfach faszinierend. Nur die Idee kam mir ein wenig geklaut vor?« »Ach ja?« meinte er schwach lächelnd. »Mir lief ein eiskalter Schauer den Rücken hinab. Wie eindringlich Sie die Zivilisation dieser Riesenbienen beschrieben haben; die ganze Natur kam mir gleichzeitig ameisenhaft vor, alles ist genau durchgeplant, durchkonstruiert. Nichts geschieht umsonst, einfach aus einer Laune heraus. Sie haben deutlich gemacht, daß die Natur denkt, zielstrebig ihre Pläne verfolgt...« »So?« machte er langsam. »Ist die Geschichte denn überhaupt schon erschienen? Ich habe noch gar keine Exemplare davon erhalten...« »Eigentlich ist sie auch noch gar nicht heraus.« Ihr Lächeln wurde etwas verlegen. »Aber ich habe das Magazin, in dem sie erschienen ist, abonniert. Ich bekomme die neue Ausgabe immer, sobald sie aus der Druckerpresse kommt, noch bevor der Verlagsleiter ein Exemplar erhält.« »Wie haben Sie denn das geschafft?« meinte er amüsiert. »Ich habe einen Mann aus der Druckerei ver... bestochen. Jetzt schickt er mir ein halbes Jahr alle Ausgaben sofort zu.« »Und wenn das halbe Jahr vorüber ist?« Sie zuckte die Achseln. »Dann besteche ich ihn erneut. Wenn nicht vorher...« »Was?« Sie machte eine vage Geste. »Schon gut.« Lovell fiel nichts ein, was er darauf entgegnen konnte, und riß den Umschlag auf. Es war ein Telegramm.
»Was steht denn da?« erkundigte sich die Frau ungezwungen. »Meine Haushälterin«, murmelte er. »Sie will noch eine Woche Urlaub haben, ihre Tante ist krank...« »Die Ärmste!« Lovell konnte allerdings nicht das geringste Mitgefühl heraushören, nur eine seltsame Art der Freude. »Kann ich bleiben?« Überrascht sah er sie an. »Was wollen Sie eigentlich von mir?« fragte er dann. Sie erwiderte seinen Blick, schaute fest in seine Augen. »Ich bin siebenhundert Kilometer vom Kontinent hinübergeflogen, nur um Sie zu sehen, und jetzt wollen Sie mich hinauswerfen? Einfach so?« Irgendwie fühlte Lovell sich überfordert. »Nein«, sagte er zögernd, »natürlich nicht...« »Wie schön!« rief sie aus, und diesmal schien ihre Freude echt zu sein. »Sie werden mich kaum bemerken. Wenn Sie arbeiten, bin ich ganz still. Und ich koche für uns. Wenn Ihre Haushälterin sowieso nicht kommen kann...« »Wie heißen Sie eigentlich?« fragte er aus dem Gefühl heraus, irgend etwas sagen zu müssen, um sich nicht völlig das Heft aus der Hand nehmen zu lassen. »Das spielt doch keine Rolle. Nennen Sie mich, wie es Ihnen gefällt. Geben Sie mir einen Namen, den Sie mögen!« Lovell knurrte verdrießlich eine Antwort, nahm sich vor, ihre Tasche zu durchsuchen, sobald sich eine Gelegenheit dazu ergab. Vielleicht war sie eine Steuerfahnderin oder so? Aber nein, er konnte sich nicht vorstellen, daß die Steuerfahndung mit solchen Tricks arbeitete... und die Polizei auch nicht! Sie lachte lauthals, und er fiel in ihr Lachen ein. »Na gut«, meinte er schließlich. »Wie wäre es mit Eva?« »Ich hole meine Tasche«, stimmte sie zu. Er sah ihr nach, wie sie mit geschmeidigen Schritten durch das Zimmer ging, konnte den Blick nicht von ihren festen Hinterbacken lösen, die unter der engen Jeans im Takt ihrer Schritte wackelten. Gewaltsam zwang er sich dazu, starrte auf den braunen Umschlag, den sie ihm in die Hand gedrückt hatte. Seine Adresse stand in einer antiquiert aussehenden Handschrift oben rechts; eine seltsame Art, ein Päckchen zu adressieren, dachte er. Er riß den Umschlag auf. Darin befand sich ein schweres, in Leder gebundenes Buch.
* »Wo ist das Buch?« brüllte Peter Bryant. »Verdammt noch mal, was ist mit dem Buch geschehen?« Janice blickte zu Boden, schwieg, stand da wie eine unglaublich menschenähnliche Statue, zwar aus Fleisch und Blut, aber dennoch so unbeweglich, so leblos wie ein steinernes Abbild. Wie hatte sie das Buch aus dem Dokumentenschrank herausnehmen können? Er überprüfte das Schloß; es war nicht beschädigt. Auch das Schloß der kleinen Stahlkassette war völlig in Ordnung. Und doch war das Buch aus dem Schrank verschwunden, wie durch Magie... Magie! Zauberei! Bryant hatte schon einmal Bekanntschaft mit dem Übersinnlichen geschlossen. Damals hatte eine Meer-Bestie ganz London in Angst und Schrecken versetzt, und doch hatten die Ereignisse schlussendlich eine verhältnismäßig natürliche Erklärung gefunden. Aber diesmal war dem nicht so. Der Journalist spürte es fast in den Knochen. Diesmal würde sich das Geschehen nicht so einfach erklären lassen. Janice war der Schlüssel und gleichzeitig die einzige Spur, die er noch verfolgen konnte. Und wenn es ihm nicht gelang, ihren Starrsinn und Widerstand zu brechen, dann mußte es eben Inspektor Manning vom Yard versuchen. Aber eine letzte Chance wollte er ihr noch geben. Und dazu mußte er eine neue Karte ausspielen. »Ich habe das Buch von einem Experten untersuchen lassen«, sagte er. »Es ist ein sehr kostbares okkultes Werk.« Janice schlug die Augen empor. »Ein Energieträger für einen transzendentalen Durchbruch«, wiederholte er die Worte Professor Fontenays. »Was ist ein transzendentaler Durchbruch, Janice?« Das Mädchen begann sich auf ihrem Sessel zu winden. Sie packte sich an den Leib, als hätten sich plötzlich starke Magenschmerzen eingestellt. »Ein Überwechseln«, fuhr Bryant fort. »Durch Magie. Von einer Zeit in
die andere, von einer Dimension in die andere, was weiß ich. Wer bist du, Janice?« Ihr Körper begann zu zittern, wie durch einen heftigen Fieberanfall. Schweiß stand auf ihrer Stirn. Wieder öffnete und schloß sich ihr Mund, ohne daß ein Wort über ihre Lippen kam. Dann schrie sie auf, schnellte aus dem Sessel, wandte sich zur Tür um und brach zusammen, kaum daß sie den ersten Schritt getan hatte. Bryant packte sie an den Armen, drückte sie auf den Teppichboden. »Janice!« schrie er. »Was hast du mit dem Buch angestellt, Janice?« Sie stammelte unverständliche Worte. Schaum trat vor ihren Mund, und sie begann, mit den Zähnen nach ihm zu schnappen. Er versetzte ihr eine leichte Ohrfeige. »Das Buch, Janice! Wo ist das Buch?« Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Er erinnerte sich an den Umschlag, den er letzte Nacht auf seinem Schreibtisch gesehen hatte und der dann verschwunden war, so spurlos wie jetzt dieses ominöse Buch. Ein Name hatte auf dem Umschlag gestanden... Jill O'Ryan hatte das Buch gefunden und war gestorben. Die beiden Diebe, die es an sich gebracht hatten, hatten das gleiche Schicksal erleiden müssen. Dann war das Buch in der Wohnung der Hammers aufgetaucht, und auch diese beiden Menschen hatten es nicht überlebt, das Buch in ihrem Besitz zu haben. Und nun war das Buch verschwunden, zusammen mit einem adressierten Umschlag. Eine Puppe, an deren Fäden ein anderer zieht... Bryant erschauderte, als er an die unheimliche Geistesübertragung dachte, die er erlebt hatte. Janice war kurzzeitig Jill O'Ryan gewesen, hatte ihm Bilder aus Jill O'Ryans Erinnerung überspielt. Warum? Damit er ahnen konnte, daß die Hammers das Buch besaßen. Beide, Jill O'Ryan als auch die Hammers, waren, wenn auch nicht unmittelbar, durch Insekten zu Tode gebracht worden. Die beiden Diebe hatten das Buch gestohlen, damit die Hammers sterben mussten, dann hatte er es an sich gebracht. Er hatte den Tod eines weiteren Menschen in die Wege geleitet. Er hatte das Buch geholt, und Janice hatte es weitergeleitet. Bryant zermarterte sich den Kopf, doch der Name, der auf dem Umschlag gestanden hatte, wollte ihm nicht mehr einfallen.
»Wo ist das Buch jetzt, Janice?« fragte er eindringlich. »Weitere Menschen werden sterben, wenn ich es nicht zurückbekomme. Willst du das, Janice? Willst du für den Tod weiterer Menschen verantwortlich sein? Niemand kann das von dir verlangen, auch dein Herr nicht!« »Sterben...« stammelte das Mädchen. »Müssen sterben für den...« »Weshalb müssen sie sterben, Janice?« Ein heftiger Anfall schüttelte ihren Körper. Ihr Leib zuckte und tanzte nach einem inneren Rhythmus. Bryant mußte all seine Energie aufbieten, um sie zu zähmen. »Herr... noch nicht ganz... auf dieser Welt... Buch... Leben... die Energie...« »Wo ist das Buch jetzt, Janice? Wohin hast du es gebracht?« Plötzlich schüttelte sie ihn mit spielerischer Leichtigkeit ab. Dann war sie über ihm, ihr Gesicht zu einer Furienmaske verzerrt. Ihre Hände griffen nach seiner Kehle. Er versetzte ihr einen Tritt, packte sie an dem Hemd, warf sie zurück. Das Hemd riß auf, entblößte ihren Körper. Ihre Arme schnellten wieder empor. In diesem Moment wußte er, daß er um sein Leben kämpfte. »Das Buch, Janice!« schrie er, umklammerte sie und drückte sie mit seinem ganzen Körpergewicht zu Boden. »Wer hat es jetzt?« Sie wand sich unter ihm wie eine Schlange, trommelte mit ihrer freien Faust gegen seinen Rücken. Ein entsetzliches Stöhnen entrang sich ihrer Kehle. »Wer hat das Buch?« Sie schrie auf, wischte sich den Schaum von ihrem Mund, gab ihren Widerstand auf, starrte ihn aus ihren Augen an. Bryant glaubte, in unergründlich tiefe Bergseen zu blicken, blauschwarz und geheimnisvoll. Und in diesem Moment, als Janice den Kampf aufgab, wußte er den Namen wieder. Und als würde sie seine Gedanken lesen können, sagte sie leise und erschöpft: »Lovell.« In diesem Augenblick klingelte das Telefon. *
»Woran arbeiten Sie eigentlich gerade?« fragte die Frau, die er Eva genannt hatte. »Ich muß einige Kapitel umschreiben«, erklärte er und atmete tief ein. »Ändern Sie Ihre Geschichten oft? Ich finde Sie großartig, so wie sie sind.« »Sie bekommen ja auch nur die korrigierten Endfassungen zu lesen«, entgegnete Lovell seufzend. Sein Termin brannte ihm immer heißer auf den Nägeln, und er ließ sich von einer Frau stören, die er so gut wie nicht kannte. Sie beugte sich über ihn, und er spürte ihren Atem an seinem Nacken, den Druck ihrer Brust an seiner Schulter. »Darf ich es lesen?« bat sie. »Was?« »Die Geschichte. Das Originalmanuskript. Bevor sie es umändern und wegschicken.« Er drückte sich hoch. »Woher wissen Sie, daß ich meine Romane mit der Post schicke und nicht selbst zu meinem Verleger bringe? Von welcher Zeitung kommen Sie?« Er spürte, wie sie zurückwich. »Was denken Sie eigentlich von mir?« sagte sie beleidigt. »Ich weiß alles über Sie, alles was es zu wissen gibt. Ich habe alle Angaben von Ihnen gesammelt, zu einer Biographie verarbeitet, ich habe alle Ihre Fotos ausgeschnitten. Ich weiß, was Ihr Lieblingsgericht ist, wann Sie am liebsten arbeiten, welche Preise Sie schon gewonnen haben.« »So?« fauchte Lovell. Das Essen, das sie gekocht hatte, war scheußlich gewesen. Danach hatte sie all seine Belegexemplare durchgestöbert und in Unordnung gebracht. Und jetzt störte sie ihn bei seiner Arbeit! Wenn der Termin nicht so nah gewesen wäre, hätte es ihm nichts ausgemacht, so aber... wenn er den Scheck nicht zurückerstatten wollte, mußte er sich beeilen. »Was schreiben Sie als nächstes?« überging die Frau seine Frage einfach. Lovell war verunsichert. Er wußte nicht, wie er sie einschätzen, was er von ihr halten sollte. »Insekten«, sagte er. »Mantis. Eine ganz besonders scheußliche Art.« Er fühlte, wie auf diesem vertrauten Terrain seine Selbstsicherheit zurückkehrte.
Sie erwiderte nichts, also fuhr er fort: »Bei der Paarung fressen die Weibchen die Männchen auf. Oder sie töten sie und legen dann ihre Eier in sie, so daß sich die Brut an ihnen ernähren kann, bis sie ausschlüpft.« »Sie interessieren sich sehr für Insekten, nicht wahr?« fragte Eva unschuldig. Wenn sie wirklich soviel über ihn wissen wollte, konnte ihr das nicht verborgen geblieben sein, dachte Lovell. »Ich hasse Insekten«, sagte er. »Ich interessiere mich nicht für sie, ich hasse sie. Insekten sind für mich der Inbegriff des körperlichen Abscheus.« Sie mußte lachen. »Was sind Sie nur für ein Mensch!« rief sie aus. »Deshalb also die Insektensprays, die Honigschalen draußen im Garten. Jetzt wird mir alles klar.« »Warum fragen Sie mich überhaupt danach? Wenn Sie wirklich soviel über mich wissen...« »Es ist heiß hier, nicht wahr?« überging sie seine Frage. Er spürte ihren Körper an dem seinen. »So kann ich nicht arbeiten«, sagte er und mußte sich dabei räuspern. »Wer redet denn von Arbeit?« Lovell schaltete die Schreibmaschine aus. Bevor er sich zu ihr umdrehte, fiel sein Blick auf das Buch, das sie mitgebracht hatte. Auf dem braunen Umschlag war kein Absender gewesen. Nachdem er nichts aus dem Buch entziffern konnte, hatte er es achtlos auf ein Regal gelegt, zu anderen Nachschlagewerken, die sich dort aneinanderreihten. Aber irgendwie war dieses Buch anders. Er konnte sich nicht helfen, er hatte den Eindruck, als säße Leben in diesen vergilbten Seiten, eigenständiges, handelndes oder zumindest manipulierendes Leben, das auf ein bestimmtes Ziel hinsteuerte., Lächerlich, sagte er sich und schob den Gedanken beiseite. Doch auch als er sich voll und ganz Eva widmete, lauerte dieser Gedanke irgendwo tief in seinem Unterbewusstsein. * Bryant hob ab, Janice aus den Augenwinkeln beobachtend. Sie lag jetzt ganz ruhig da, atmete langsam wieder ruhiger.
»Sekretariat Professor Fontenay, ich verbinde«, sagte eine angenehme weibliche Stimme. Im nächsten Moment war der Professor auch schon am Apparat. »Mr. Bryant«, sagte er ohne jede Begrüßung, »Mr. Bryant, ich muß darauf bestehen, noch einmal das Buch ausgehändigt zu bekommen.« »Aber Sie haben es doch fotokopiert.« »Allerdings. Sie dürfen sich die Kopien auch gerne betrachten. Alle Seiten bestehen mittlerweile aus blütenreinem weißem Papier.« »Oh«, machte Bryant. »Sie meinen...« »Jawohl. Die Qualität der Kopien wurde von Stunde zu Stunde schlechter, bis schließlich alle Buchstaben verblichen. Die Kopien haben sich sozusagen aufgelöst, Mr. Bryant!« »Ich verstehe...« »Wann bringen Sie das Buch vorbei, Sir? Ich kann es auch gerne durch einen absolut vertrauenswürdigen Boten abholen lassen. Bitte verstehen Sie meine Erregung, aber ich wage durchaus und vollen Ernstes zu behaupten, daß dieses Buch einen unschätzbaren Wert für die Forschung besitzt.« »Haben Sie denn schon etwas entschlüsseln können, bevor die Schrift verblich?« »Allerdings.« Bryant hörte deutlich den Stolz aus der Stimme des Professors heraus. »Dieser Band beinhaltet eine Sammlung von okkulten Formeln. Lachen Sie nicht, mein Herr, im Arabien der vorchristlichen Zeit beinhaltete der Begriff Magie ein größeres Spektrum, als dies heute der Fall ist.« Nun war der Professor nicht mehr zu bremsen. »Es handelt sich um eine Beschwörungssammlung des Ras a Ghoul, eine der schillerndsten und zugleich geheimnisvollsten Gestalten dieser Epochen, die sogar Zugang in der Astronomie gefunden hat. Ein genaues, in allen Fällen exaktes Bild habe ich mir natürlich noch nicht machen können, aber ich wage zu behaupten, daß Ras a Ghoul eine Möglichkeit gefunden hat, aus dem Totenreich zu den Lebenden zurückzukehren.« Bryant verschlug es den Atem. Wahnsinn, sagte er sich, reiner Irrsinn! Aber dann dachte er an die mumifizierten Leichen, deren Todesursache ganz einfach nicht natürlich sein konnte, und an das Buch, das spurlos verschwunden war.
»Bitte fahren Sie fort, Professor. Ich finde Ihre Ausführungen keineswegs phantastisch, aber sehr interessant!« »Um diesen transzendentalen Durchbruch bewerkstelligen zu können, benötigt Ras a Ghoul die Lebensessenz von mindestens drei Menschen, die gewisse Voraussetzungen zu erfüllen haben, um als Daseinsspender in Betracht zu kommen. Soweit ich es verstanden habe, muß es sich dabei um zwei Personen weiblichen und einer männlichen Geschlechts handeln.« Jill O'Ryan, Sophie Hammer und... Lovell, dachte Bryant. »Darüber hinaus braucht er sieben den Vorgang unterstützende Personen. Die Zahl sieben leitet sich aus den vier Himmelsrichtungen und den vier Elementen ab, wobei zu dieser Zeit ein Element noch nicht als solches erkannt war.« »Bitte nicht zu viele Details, Professor. Nur die großen Züge!« »Die Beschwörungsformeln versetzen Ras a Ghoul in die Möglichkeit, aus dem Totenreich auszubrechen. So jedenfalls drückt es das Buch aus, und so habe ich es auch verstanden. Um sich aber nun in der Welt der Lebenden vollends zu etablieren, braucht er also diese insgesamt zehn Menschen. Erst wenn er die Energien aller zehn in sich aufgenommen hat, ist der Durchbruch ins Jenseits endgültig vollzogen. Vorher kann er noch zurückgestoßen werden. Dabei nimmt das Buch eine zentrale Rolle ein. Soweit ich es verstanden habe - und ich habe mir erst einen sehr groben Überblick verschaffen können - braucht er diese Kräfte, um sich zu verankern, und das Buch ist sozusagen sein Anker in dieser Welt.« »Wenn ich das Buch also vernichten würde...« »Das dürfen Sie nicht!« Nun klang Professor Fontenay erbost, fast sogar beleidigt. »Ich sagte doch, es besitzt einen unschätzbaren Wert...« »Nur theoretisch gesehen, Professor! « »Ach so. Ja, ich glaube, wenn man das Buch vernichtet, bevor Ras a Ghoul sämtliche Energien in sich aufgenommen hat, dann wird er zurückgestoßen. Aber was gäbe ich darum, diesem Mann Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen! Er könnte sämtliche ungeklärten Fragen beantworten, die die Wissenschaft an dieses Zeitalter zu stellen hat...« Und unschuldigen Menschen Energie zu entnehmen, dachte Bryant bei sich. Laut fragte er: »Bei dieser Energie, die Sie er-
wähnt haben - handelt es sich dabei um das, was man im allgemeinen als Lebenskraft, als Lebensenergie versteht?« »Dieser Ausdruck ist ein wenig verschwommen, aber ich bin geneigt, ihm zuzustimmen. Ja, diese Energien bezeichnen das, was man unter Lebenskraft versteht.« »Und wenn sie entnommen wird, dann bleibt nur noch eine leere, mumifizierte Hülle zurück?« »Ich bin kein Mediziner, Mr. Bryant!« Nein, das allerdings nicht, dachte der Journalist. Also hatte Janice die Wahrheit gesprochen. Also existierte jener Herr, in dessen Macht sie stand, wirklich. Oder... oder konnte Janice selbst der Magier sein, der als Ras a Ghoul bekannt war? »Sind Sie noch am Apparat, Mr. Bryant?« fragte der Professor. »Ja.« »Und wann bekomme ich das Buch?« »Eine Frage noch, Professor. Wird in diesem Buch eine Frau erwähnt... eine Frau namens Janice?« »Janice?« Bryant wiederholte den Namen. »Nicht direkt. Es ist jedoch die Rede davon, daß Ras a Ghoul eine Helferin besitzt, die mit ihm zusammen den Durchbruch von der transzendentalen zur wirklichen Welt vollziehen soll. Diese Frau ist in Wirklichkeit ein Dschinn, ein Geist also, der beschworen wurde und nun voll und ganz dem Wort seines Herren gehorchen muß. Wenn Sie den Namen Dschinn ins Englische übertragen, ergibt sich Jeanie, eine Ableitung vom Namen Jean. Und Janice stammt aus der gleichen entymologischen Sprachwurzel. Es ist durchaus möglich, daß dieser Dschinn unter dem Namen Janice auftritt, sehr wahrscheinlich sogar, wie ich annehmen möchte.« Unwillkürlich fühlte sich Bryant erleichtert. Janice war also wirklich die, für die sie sich ausgab. Selbst wenn sie an den entsetzlichen Morden eine Mitschuld trug, verantwortlich machen konnte man sie nicht. Doch seine Erleichterung wich sofort einer neuen Sorge. »Rein hypothetisch«, sagte er. »Wenn man Ras a Ghoul zurückstößt was geschieht dann mit diesem hilfreichen Geist, dem Dschinn? Fällt er ebenfalls zurück ins...« - das Wort wollte ihm kaum über die Lippen - »... Totenreich?«
»Nicht unbedingt. Dieser Dschinn steht zwar unter der Gewalt des Herren, der ihn beschworen hat, ist aber ungleich schwächer. Wenn der Herr des Dschinns genug Energie für seinen hilfreichen Geist abgezweigt hat, kann dieser durchaus in der Welt des Jenseits bestehen bleiben, vorausgesetzt, es gelingt ihm, sich rechtzeitig von seinem Herren zu lösen.« »Danke, Professor«, sagte Bryant. »Und das Buch?« »Das besitze ich nicht mehr«, erwiderte er und legte auf. Einen Moment betrachtete er nachdenklich Janice, die immer noch auf dem Boden hockte, dann wählte er seinerseits eine Nummer. * Lovell bot ihr eine Zigarette an, doch sie lehnte ab. Er selbst rauchte in tiefen Zügen, genoss das Nikotin und ließ es noch etwas zu seiner körperlichen Entspannung beitragen. Das war besser gelaufen, als er gedacht hatte. »Gehen wir hinaus in den Garten«, schlug Eva vor und schlüpfte in ihre Jeans. »Warum läßt du die Lampen eigentlich brennen?« fragte sie. »Es ist doch noch hell.« »Sie strahlen ein gewisses Lichtspektrum aus, das die Insekten unwiderstehlich anlockt«, erklärte Lovell und atmete tief die würzige Luft ein. »Die Biester fliegen in Scharen zu den Lampen, berühren die winzigen Drähte, die schwach unter Strom stehen, und werden so sauber und schmerzlos ausgelöscht.« »Sie fliegen zum Licht, und alles, was sie erwartet, ist ewige Dunkelheit«, sagte Eva traurig. »Richtig«, bestätigte Lovell hart. »Wenn du bei mir bleiben willst, mußt du dich daran gewöhnen. Du weißt, daß ich...« Eva schluckte trocken, unterbrach ihn dann heftig. »Hast du denn gar kein Mitleid?« Ihre Stimme zitterte. »Tun dir die Tierchen gar nicht leid, Fred?« Er sah sie kalt an. »Es gibt Millionen Arten von Insekten. Sie sind Schädlinge, übertragen Krankheiten, vernichten Ernten, verfügen über Körpergifte, die bei einem Stich schmerzhaft brennen. Wenn sich alle Insekten verbünden würden, könnten sie die Menschheit mit Leichtigkeit auslöschen. Gott sei Dank haben sie nicht annähernd genug Verstand dazu.«
»Und was meint der Psychiater?« Er machte eine heftige Handbewegung, schüttelte sich unwillig. Natürlich würde er diese Frage überhören, überhören müssen, wollte er sie nicht jetzt schon aus seinem Haus werfen. »Gott hat die Insekten geschaffen, genau wie die Menschen. Und du nimmst dir das Recht heraus, sie gnadenlos zu vernichten.« Lovell lachte heiser. »Das Gesetz des Stärkeren, das ist es, was zählt, sonst nichts.« Eva spürte seine Gereiztheit. »Gehen wir weiter«, schlug sie einlenkend vor. Über den asphaltierten Weg huschte ein kleiner Käfer, ziellos sein kurzes Leben lebend, ohne daß er je begreifen würde, daß er überhaupt existiert. Lovell beobachtete ihn, wie er auf seinen sechs Beinen lief, den Sträuchern, die den Weg säumten, entgegen, sich dann wieder umdrehte, einen Moment stehen blieb, fast verwirrt, wie es schien. »Ziellos, ohne Verstand«, murmelte er. »Wie manche Menschen.« Eva beugte sich nieder, streckte den Arm aus, und der Käfer krabbelte über ihre Handfläche, den Unterarm empor, berührte mit seinen dünnen Beinen das weiche, warme Fleisch, ihre helle Haut. Eva lachte auf. Ihre Haut! Gerade noch hatte er sie liebkost! Als Lovell sah, wie der Käfer die Schulter entlangkrabbelte und die Brust der Frau erreichte, wurde ihm schlecht. Er schrie auf, wischte mit dem Handrücken über ihre Brust, fühlte die ekelerregende Berührung der kalten Chitinhaut des Käfers, schlug ihn zu Boden. Das Tier landete auf dem Rücken und begann hilflos zu strampeln. Es knackte hässlich, als Lovell den Käfer mit der Ferse zertrat. Für einen Moment glaubte er zu wissen, wieso er die Insekten so sehr hasste. Fürchtete er, so zu leben wie sie? Sinnlos in den Tag hinein, die Kürze der Existenz, die ihm gewährt war, nicht begreifend, animalisch zu existieren, ohne eigentlich zu wissen, warum es ihn überhaupt gab? »Gehen wir hinein«, sagte er dumpf. »Du mußt duschen.« Ihm wurde wieder übel, als er sich vorstellte, noch einmal die Brust der Frau zu berühren, auf der der Käfer gesessen hatte.
Im Zimmer fiel sein Blick auf das Buch. Es lag an der gleichen Stelle, wo er es platziert hatte, wie jedes normale Buch auch, und dennoch glaubte er, es würde ihn mit einer Mischung aus Spott und Verachtung betrachten. * »Manning.« »Hier Peter Bryant. Hör gut zu, Russ, die Zeit drängt. Ich suche einen Mann, der in einem Vorort von London wohnt. Sein Name ist Lovell. Es ist lebenswichtig, daß du seine genaue Adresse sofort heraussuchst.« »Lovell? Etwa Fred Lovell?« »Ja, genau.« Jetzt fiel Bryant wieder der vollständige Name ein, und die Adresse, die auf dem Umschlag gestanden hatte. »Corner's Grove«, sagte Manning da. »Das ist kein Vorort von London, sondern ein kleines Dorf, einige Meilen von den Stadtgrenzen von Greater London gelegen.« »Du kennst ihn?« fragte Bryant überrascht. »Allerdings. Das ist mein Plagiator, du weißt ja, dieser Fall, der mich seit einiger Zeit beschäftigt.« »Ich weiß... aber ich denke, du gehörst zur Mordkommission?« »Gehöre ich auch. Lovell steht unter Verdacht, seine Haushälterin ermordet zu haben. Sie hatte Kenntnis über seine dunklen Geschäfte und wollte ihre Rente etwas aufbessern. Wir haben ihre Leiche heute Mittag gefunden.« Der Inspektor legte eine Kunstpause ein, dann fuhr er fort: »Mumifiziert. Total ausgelaugt. Wie die beiden kleinen Diebe, an deren Fall du dranhängst.« Bryant rechnete fieberhaft nach. Drei Tote, die gewisse Bedingungen erfüllen mussten, um Ras a Ghoul den Durchbruch zu ermöglichen - das waren Jill O'Ryan, Sophie Hammer und wahrscheinlich Lovell. Dann noch sieben weitere Menschen, die sterben mussten, damit Ras a Ghoul genug Lebensenergie für seinen Wechsel in die Welt der Lebenden bekam: Patrick, Jill O'Ryans Freund, Charles Hammer, die beiden Diebe, die Haushälterin das waren fünf. »Aber wie kommst du auf den Mann?« riß Manning ihn aus seinen Gedanken. »Ich habe den Bericht gerade erst erhalten; als ich von dem mumifizierten Zustand der Leiche erfuhr, habe ich
mir gedacht, daß es einen Zusammenhang geben könnte, aber genaues weiß ich nicht.« »Wenn mich nicht alles täuscht, wird Lovell der nächste auf der Liste des Killers sein. Ich glaube, ich habe den Fall endgültig aufgerollt; er ist jedoch zu phantastisch, als daß ich ihn dir am Telefon erklären könnte.« »Dann müssen wir zu ihm...« »Wenn es noch nicht zu spät ist. Russ, ich habe eine Zeugin hier bei mir in der Wohnung; sie ist über die Morde informiert, kann aber von keinem Gericht der Welt zur Verantwortung gezogen werden. Sicherst du mir zu, ein Wort für sie einzulegen, wenn es zu einem Prozess kommen sollte?« »Wenn der Tatbestand sich so verhält, wie du es andeutest, ja.« »Dann schicke einen Wagen bei mir vorbei. Noch besser, du kommst selbst und holst uns ab. Informiere die Polizei von Corner's Grove, sie soll einen Wagen zu Lovell schicken und ihn nicht aus den Augen lassen, falls er noch lebt!« »Polizei von Corner's Grove? Das ist ein Nest mit ein paar Dutzend Einwohnern, und Lovell wohnt auch noch außerhalb. Wir fahren am besten selbst zu ihm.« »Um Himmels willen, beeile dich!« bat Bryant. * Als Eva aus dem Badezimmer trat, war ihr Gesicht hellrosa von dem heißen Wasser. Die Farbe stand ihr gut; nun, ohne Make-up, sah sie eigentlich noch besser aus, natürlicher, aufgeblühter. Ja, sie mochte die Dreißig durchaus schon überschritten haben, doch die Blüte der ganz frühen Jugend war einer Reife und Schönheit gewichen, die sie nur noch attraktiver machte. Der Bademantel, den er ihr geliehen hatte, klaffte dann und wann einmal auf. Er versuchte erst gar nicht vorzugeben, er würde dann wegsehen. »Es ist spät«, sagte sie lakonisch. »Ich mache uns ein paar Sandwiches.« Während sie in der Küche hantierte, entdeckte er eine weitere Fliege. Die zweite, die heute schon die Fallen im Garten überwunden hatte, sich nicht von arsendurchtränkten, mit Zucker be-
schmierten Fliegenfängern, nicht vom Honig oder vom Licht locken ließ, die ihren Tod noch hinauszögerte. Plötzlich bedauerte er die Dummheit des Insekts, das gegen die starre Glasscheibe anflog, nervös summend immer wieder dagegen anrannte und nicht begreifen konnte, daß der Weg in die Freiheit hier versperrt war, während nur einen halben Meter rechts von ihr die Tür zum Garten weit offen stand. Seine Fliegenpatsche - welch ein primitiver, - einfallsloser Name für solch ein wichtiges, unersetzliches Gerät! - lag griffbereit auf dem Regal -dicht neben dem Buch. Seltsam, dachte er, während er auf den Umschlag starrte, in den es verpackt gewesen war. Der Umschlag war nicht frankiert, und dennoch hatte er keine Nachgebühr entrichten müssen. Vielleicht hatte Eva die Nachgebühr unten im Dorf bezahlt. Lovell konzentrierte sich auf die Fliege. Der Zorn auf den Käfer, den das Mädchen berührt hatte, war noch nicht verflogen; deshalb verzichtete er auf das Spray, das natürlich sauberer und schneller wirkte. Ihm war bekannt, daß übermäßige Hast nur schaden konnte; geduldig wartete er, bis die Fliege ihr sinnloses Unterfangen, durch das Glas in die Freiheit zu entkommen, für einen Moment einstellte und sich mit ihren Saugnäpfen an die Scheibe haftete. In diesem Moment schnellte sein Arm vor. Das Plastikgerät machte ein zischendes Geräusch. Zerquetscht blieb die Fliege an der Fensterscheibe haften, klebrige weiße Flüssigkeit quoll aus dem winzigen zerrissenen Leib, vermischt mit ein paar roten Pünktchen. Ob das Blut der Fliegen identisch mit dem der Menschen ist? fragte er sich. Und: Haben Fliegen überhaupt Blut? Überrascht darüber, daß er es nicht wußte, runzelte er die Stirn. »Fred!« rief Eva aus der Küche und riß ihn so von dem Anblick los. »Die Sandwiches sind soweit!« Er vergaß die Fliege, ging zur Küche und schlang zwei der belegten Brote herunter, trank dazu den dünnen Kaffee, den sie gekocht hatte und der es nicht verdiente, diesen Namen zu tragen. Während des Essens mußte er immer wieder an das Buch denken. Jetzt wußte er, wie er das - wenn man sich so ausdrücken wollte - Verhalten des Buches bezeichnen konnte. Es wartete. Die Frage war nur - worauf?
* Janice atmete schwer. »Ich komme nicht mit«, sagte sie. Ihr Körper begann langsam wieder zu zittern. »Und ob du mitkommen wirst!« Bryant packte sie am Handgelenk. »Begreifst du denn nicht, was der Professor gesagt hat? Du hast die Chance, dich von deinem Herren zu befreien!« Unglaublich, dachte er, daß dieses hübsche Mädchen ein uralter Geist sein sollte, ein Dschinn. »Er wird mich töten!« schrie Janice mit schriller Stimme. »Er wird uns alle töten! Seine Verbindung zu mir ist abgerissen! Verstehst du, was das heißt? Es ist zu spät! Er hat sich voll und ganz auf sein letztes Opfer konzentriert! Und wenn wir dazu kommen, wird er uns auch als Opfer akzeptieren! Seine Macht ist zu groß...« Resignierend ließ sie sich von Bryant in den Hausflur führen. »Du bist ein Dschinn!« sagte der Journalist. »Du hast auch Macht! Kämpfe gegen ihn an! Befreie dich von ihm!« Janice lachte. »Wenn du seine wirkliche Macht kennen würdest, dann würdest du anders sprechen. Er berührt dich, und dann bist du tot! Schneller, als du es dir vorstellen kannst!« Das Buch, dachte Bryant. Nicht, wenn ich vorher das Buch benutze. »Schnell«, sagte er. »Inspektor Manning wird bald eintreffen.« Sein Wagen stand in der Tiefgarage. Er öffnete den Kofferraum und holte den fünf Liter fassenden Ersatzkanister hervor. Dann stiegen sie gemeinsam hinauf zur Straße und warteten auf Manning. Sie brauchten nicht lange zu warten, hatten kaum den ebenen Erdboden erreicht, als auch schon der Lärm einer Sirene zu ihnen hinüberdrang. Das schrille, durch Mark und Bein gehende Heulen wurde lauter, dann stoppte auch schon die große Limousine mit quietschenden Reifen an der Bordsteinkante. Bryant zerrte Janice hinein. Es war eng in dem Wagen: zwei uniformierte Beamte saßen vorne, Manning neben ihnen auf dem Rücksitz. »Ist das deine Zeugin?« fragte der Inspektor und begutachtete Janice eingehend. Er schloß die Überprüfung mit einem anerkennenden Nicken ab.
Janice saß da und starrte zu Boden, sagte kein Wort. »Dieser Lovell ist ein Verrückter«, erklärte Manning. »Er hat einen durchgehenden Abscheu vor Insekten.« Insekten! Die Spinne bei Jill O'Ryan, die Würmer bei Sophie Hammer... nun wußte Bryant mit Sicherheit, daß sein Gedankengebäude stimmig war und bestehen bleiben würde. Er konnte sich nicht irren. Lovell war das nächste Opfer. Und bei ihm war Ras a Ghoul! »Ich habe mit dem Dorfpolizisten von Corner's Grove gesprochen«, fuhr Manning fort und erklärte auf Bryants fragenden Blick: »Über Funk natürlich. Lovell ist nicht allein. Er hat heute morgen Besuch bekommen, eine gut aussehende Frau in den Dreißigern, die vom Kontinent stammt, ihrem Akzent nach zu schließen. Der Dorfpolizist meint, sie gehört zu seiner Anhängerschaft. Als Schriftsteller beehren ihn des öfteren mal seine Fans.« Eine Frau! Immer waren es Paare gewesen, die durch den Fluch des Ras a Ghoul gestorben waren. »Schneller«, sagte Bryant. »Können Sie nicht schneller fahren?« »Sie wissen doch selbst, was auf den Straßen Londons los ist, zumal zu dieser Zeit!« sagte der Fahrer. Langsam setzte die Dämmerung ein, und die Straßen waren verstopft von den Wagen der Bürohengste, die sich nach Hause quälten, einer neben dem anderen, im Schritt-Tempo. Selbst mit eingeschalteter Sirene kam das Polizeifahrzeug nur langsam voran, quälte sich geradezu durch den dichten Verkehr. »Diese Frau hat Lovell die Post mitgebracht«, erläuterte Manning. »Ein Telegramm. Wir haben herausgefunden, daß Lovell es selbst aufgegeben hat, sozusagen als Alibi. Angeblich stammt es von seiner Haushälterin, die um Urlaub bittet, weil eine Verwandte erkrankt ist. Ich habe einen Haftbefehl für Lovell in der Tasche.« »Tote brauchen keine Haftbefehle mehr!« gab Bryant zurück. »Und jetzt möchte ich etwas von dir hören«, überging der Inspektor den Einwand. »Also - was hast du herausgefunden?« Während die Limousine sich immer noch mit geradezu quälend langsamer Geschwindigkeit durch den Verkehr kämpfte, berichtete Bryant dem Inspektor die Hintergründe von dem, was er ermit-
telt hatte. Manning nickte dann und wann einmal und hörte konzentriert zu. Endlich erreichte die Limousine die Außenbezirke der Weltstadt und konnte beschleunigen. Nun jagte die immer ländlicher werdende Szenerie geradezu an ihnen vorbei. Bryant schaute auf die Uhr. Bald würde es dunkel werden. Und die Dunkelheit bot Ras a Ghoul noch mehr Gelegenheit, seinen Plan auszuführen und nachher unerkannt zu entkommen. Der Journalist beendete seinen Bericht. Er fragte sich, wozu das Wesen, das ihm als Ras a Ghoul bekannt war, fähig sein mochte, sobald es erst den Vollbesitz seiner Kräfte zurückerlangt hatte und in London untergetaucht war. Er sah die Schlagzeilen vor seinem inneren Auge: Weitere Morde mit mumifizierten Opfern, denen man einfach die Lebenskraft entzogen hatte... Wieder bedrängte er den Fahrer, die Geschwindigkeit weiter zu steigern. Die Außenbezirke Londons lagen nun schon hinter ihnen. »Wie weit ist es noch bis Corner's Grove?« fragte er Manning. »Einige Meilen.« Der Inspektor schien die Ruhe selbst. Bryant wußte, daß er sich bereits auf die zu erwartende Auseinandersetzung konzentrierte. Plötzlich regte sich Janice. Ihr Körper erstarrte, wie er es in den letzten Tagen so oft gesehen hatte, doch diesmal lockerte er sich augenblicklich. Janice drückte sich von dem Polster ab und bekam den Fahrer an der Schulter zu fassen. Für einen Moment verlor der Mann die Kontrolle über den Wagen, und die Limousine schlingerte gefährlich auf die Gegenfahrbahn, dann hatte Bryant das Mädchen gepackt und zurück in den Sitz gerissen. Sie sagte kein Wort, starrte im gleichen dumpfen Schweigen wieder zu Boden. »Er weiß, daß wir kommen!« vermutete Bryant. »Er ist gewarnt.« »Und sie kann nichts dagegen tun?« »Nein. Sie steht völlig in seiner Gewalt. Er hat versucht, uns aufzuhalten. Wahrscheinlich haben wir nur überlebt, weil er nur eine geringe Menge seiner geraubten Energie für Janice aufwenden konnte. Er ist anderweitig beschäftigt.« »Du meinst, er bringt Lovell gerade um?« Bryant zuckte die Achseln. »Wir sind da«, sagte Manning.
* »Eva!« sagte Lovell erzürnt. »Was starrst du diese Fliege so an?« Er schüttelte den Kopf, als die Frau ihr Gesicht ganz nah an die Scheibe drückte, ihren Mund auf die gleiche Höhe brachte mit dem toten, zerquetschten Insekt. »Ich finde das furchtbar«, sagte sie. »Weshalb konntest du die Fliege nicht wenigstens auf humane Weise umbringen, wenn du es schon nicht lassen konntest?« »Ich weiß nicht«, log er, fügte dann schnell hinzu: »Vielleicht aus Rache.« »Wegen des Käfers?« Er zuckte die Achseln. Als er wieder hinblickte, war die Fliege verschwunden. Nur ein schmieriger weißer Fleck auf dem sonst völlig sauberen Glas zeugte noch davon, daß er sie dort getötet hatte. Eva befeuchtete mit der Zunge die Oberlippe. Lovell konnte plötzlich nicht mehr atmen. Wirre Gedanken schössen rasend schnell durch seinen Kopf. »Ich habe sie hinausgeworfen«, erklärte die Frau. »Sonst hätte sie dich eventuell noch gestört.« »Gestört? Wobei?« Er erkannte seine Stimme kaum wieder. Seine Kehle war trocken, seine Zunge fühlte sich geschwollen an. Ihr Bademantel glitt etwas auf. Lovell fuhr herum. Seine Blicke brannten sich auf dem Buch fest. Es lag nicht mehr auf dem Regal. Der Umschlag schon, aber nicht das Buch selbst. Es lag auf dem Boden. Aber er hatte es nicht hinuntergenommen, und gefallen war es auch nicht. »Wobei schon?« hörte er Eva wie aus weiter Ferne. Er spürte die Wärme ihres Körpers. »Stimmt etwas nicht?« fragte sie sanft, langsam näher kommend. »Hast du das Buch vom Regal genommen?« »Nein«, flüsterte sie. Er drehte sich wieder zu ihr um. Gebannt starrte er auf ihren Mund, auf die vollen Lippen. »Die... die Fliege...« stöhnte er auf.
Sie umarmte ihn, drückte ihn zu Boden. Plötzlich schrie das Buch auf. Lovell versuchte sie abzuschütteln, wandte den Kopf dem Buch zu, doch ihr Körper nahm ihm die Sicht. Er spürte eine Bewegung an seinem Rücken, dann auf seinem Arm. Eine kleine Ameise hockte auf seinem Handrücken und schien ihn mit wissenden Augen zu betrachten. »Das Buch!« schrie Lovell und kämpfte gegen Evas Umklammerung an. Sie lachte, hielt alles für ein Spiel. »Mantis«, gurrte sie mit sanfter, fordernder Stimme. Da wußte er Bescheid. Der Druck ihrer Hände um seinen Hals wurde stärker. Zu der einen Ameise gesellte sich eine zweite, eine dritte. Mit letzter Kraft wandte er den Kopf zur Seite und sah den Strom der kleinen Insekten, der sich durch die Tür zum Garten ergoss und gegen ihn aufmarschierte. Er wollte wieder schreien, doch seine Stimmbänder versagten ihm den Dienst. Alle Sinneswahrnehmungen verschmolzen zu einer. Eva, die Ameisen, und über allem das Buch, das Buch, dessen Geheimnis er jetzt kannte. Doch er würde keinen Nutzen mehr daraus schlagen. Er kämpfte gegen das Buch an, bis sein Geist, sein Körper, zu geschwächt waren und sich die Dunkelheit kalt und feucht auf ihn senkte. * Das Haus des Schriftstellers lag friedlich in der Abenddämmerung; Bryant wußte jedoch, daß dieser Friede höchst trügerisch war. Er folgte Manning zur Tür. Die beiden uniformierten Polizisten blieben, Janice in ihrer Mitte, etwas zurück. Ihr Klingeln blieb unbeantwortet. Der Inspektor zog seine Pistole aus dem Schulterhalfter. »Wir versuchen es hinten herum!« rief er den beiden Beamten zu. »Gebt gut auf die Kleine acht!« Die Mauer, die das Grundstück umzog und dem Haus den Anschein einer Festung gab, stellte für Manning kein Problem dar, für Bryant jedoch schon eher. Der Inspektor mußte den Journalisten halbwegs hochziehen.
Gemeinsam sprangen sie ab. Sie landeten zwar auf weichem Rasen, dennoch spürte Bryant einen zuckenden Schmerz durch seinen Knöchel fahren. Unterdrückt stöhnte er auf. Manning strafte ihn mit einem verärgerten Blick und wies ihn durch Gesten an, hinter ihm zu bleiben. Leise schlichen sie weiter. Kopfschüttelnd betrachtete Bryant die hell leuchtenden, mit Drähten umzogenen Lampen, die überall im Garten verteilt waren. Hunderte toter Insekten lagen um sie herum auf der Erde. Ein Verrückter, fielen ihm die Worte des Inspektors wieder ein. Dann erreichten sie eine Position, die ihnen einen guten Einblick auf die Hinterfront des Hauses bot. Bryant fühlte, wie sein Herz für einen Moment aussetzte und dann laut hämmernd weiterschlug. Er glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können. * Zwei Gestalten lagen auf dem Boden, bedeckt von Tausenden von Ameisen, die die Leichen langsam freigaben und in fünf oder sechs großen Strömen zurück in den Garten krabbelten. Über den beiden Toten - Bryant erkannte einen Mann und eine Frau - kniete eine weitere Gestalt, unglaublich groß und hager, das von pergamentartiger, gelblich-kranker Haut überspannte Gesicht zu den beiden Leichen geneigt. Ras a Ghoul, wußte Bryant sofort. Der Magier berührte mit je einer Hand die Köpfe der beiden Toten. Und in dem Maß, da seine Haut eine gesündere Färbung annahm, zerfielen die beiden Leichen, schrumpelten ein, alterten zusehends, auch jetzt noch, wo der Tod sie ereilt hatte. Einige Schritte hinter dem Magier lag das Buch. Erst jetzt vernahm Bryant ein leises, singendes Geräusch. Es schien fast, als würde das Buch die Lebensenergie der beiden Leichen aufnehmen und jauchzend weitergeben an seinen Herrn. Ein durcheinander wirbelndes Spektrum aller Farben des Regenbogens tanzte auf dem lederbezogenen Einband, erfüllt von unheiligem Eigenleben. Bryants Hand umklammerte den Kanister fester. »Hände hoch!« schrie Manning in diesem Moment. »Hände hoch, oder ich schieße!«
Der Magier blickte empor, ohne die Finger von den beiden Toten zu nehmen. Um seine Handwurzeln zuckten irrlichternde Elmsfeuer empor. Dann lachte der hagere, irgendwie uralt wirkende Mann. Das Geräusch war irgendwie überirdisch und fuhr Bryant durch Mark und Bein. Plötzlich hatte er entsetzliche Angst. »Schieß doch!« raunte er Manning zu. Der Inspektor schoß. Die Kugel schlug auf den Körper des Magiers ein und prallte ab, ohne auch nur die geringste Wunde zu hinterlassen. Wieder lachte Ras a Ghoul auf. Manning rannte los, bekam den Magier an der Schulter zu fassen. Mit aller Kraft versuchte er, ihn zur Seite zu drücken, konnte ihn jedoch um keinen Zentimeter bewegen. Dann endete das Spiel der Energien. So abrupt, wie sie um Ras a Ghouls Hände erloschen, verblichen sie auch über dem Buch. »Vorsicht!« schrie Bryant - keine Sekunde zu früh. Manning fuhr herum und konnte so einem mächtigen Hieb des Magiers ausweichen, der ihm ansonsten den Schädelknochen gebrochen hätte. Er schoß erneut, und diesmal prallte die Kugel vom Gesicht des Magiers ab und jaulte als Querschläger davon, ehe sie irgendwo einschlug. Während der Magier sich langsam erhob und auf Manning zuschritt, rannte Bryant um ihn herum, kam der Hintertür näher, die ins Haus führte. Er blickte auf die beiden Leichen, die im Eingang lagen, und konnte keinen Unterschied zu denen erkennen, die er im Leichenschauraum des Krankenhauses gesehen hatte. Nun wußte er, woher der mumifizierte Zustand der Körper ruhte. Fieberhaft zählte er nach. Neun Opfer hatte das Erscheinen des Magiers bislang gefordert, die Haushälterin ein- und den nicht mumifizierten Nachtwächter der Leichenhalle ausgeschlossen. Neun Tote! Noch einer, und Ras a Ghoul hatte sich endgültig in der Welt des Diesseits manifestiert, war aus dem Jenseits entkommen. Aus den Augenwinkeln konnte er beobachten, wie der Magier Manning immer näher kam. Der Inspektor wich zurück, bis er mit dem Rücken an die Hauswand gepresst stand. Langsam streckte Ras a Ghoul die Hand aus. Manning schoß erneut, doch der Aufprall der Kugeln warf den Magier nicht einmal zurück.
Natürlich, dachte der Journalist. Er ist noch nicht endgültig auf dieser Welt manifest geworden, erst nach dem Tod seines zehnten Opfers. Kugeln können ihm nichts anhaben. Konnte ihn überhaupt irgend etwas verletzen? Wie aus weiter Ferne hörte Bryant ein krachendes Splittern im Haus. Die beiden uniformierten Beamten mussten die Schüsse gehört und sich gewaltsam Einlass verschafft haben. »Vorsicht!« schrie Bryant. »Er darf dich nicht berühren, sonst ist es aus mit dir!« Vor seinem geistigen Auge zog ein schreckliches Bild vorbei, Inspektor Manning als mumifizierte, ausgetrocknete Leiche, seine Lebensenergie gespeichert in dem Magier aus alten Zeiten, der so seine Wiedergeburt sicherte. Dann hatte Ras a Ghoul den Inspektor erreicht. Einen Millimeterbruchteil noch, eine winzige Berührung, und Mannings Lebenskraft würde in den Magier fließen. * Ein schriller Schrei gellte durch das Haus, schien alle Menschen erstarren zu lassen. Bryant blickte an dem Magier vorbei zu dem Buch, das hinter den beiden Leichen in der Nähe der weit geöffneten Tür lag. Er mußte das Buch erreichen, sonst war ihr aller Leben verspielt. Ras a Ghoul würde keine Zeugen zurücklassen, die von seiner Wiedergeburt berichten konnten. Manning nutzte den Sekundenbruchteil der Lähmung und tauchte unter den ausgestreckten Armen des Magiers hinweg. Aus den Augenwinkeln sah Bryant, wie die beiden uniformierten Polizisten in dem Zimmer erschienen, gefolgt von Janice. Die Beamten begannen zu schießen, bis ihre Magazine leer waren. »Bleibt zurück!« schrie Manning ihnen zu. Ras a Ghoul wich von der Hauswand zurück und drehte sich langsam um, Ausschau nach einem neuen Opfer haltend. Der Magier hatte die Zeit auf seiner Seite: Kugeln konnten ihn nicht verletzen, und früher oder später würde er sein letztes Opfer zu packen bekommen. Während die beiden uniformierten Polizisten wie angewurzelt verharrten, sprang Janice vorwärts. »Du hast genug getötet!« schrie sie. »Ich mache mich von dir frei!«
Hallend gellte das Gelächter von Ras a Ghoul durch den Raum. Janice krümmte sich zusammen, schlug die Arme an den Kopf und stürzte wie vom Blitz gefällt zu Boden. Sie bewegte sich nur noch schwach, hatte ihren Widerstand jedoch noch nicht aufgegeben. Langsam kroch sie auf das Buch zu. In diesem Moment trafen die Augen des Magiers auf die von Bryant. Der Journalist fühlte einen kalten Schauer über seinen Rücken rinnen, bemerkte, wie seine Bewegungen langsamer wurden. Mit letzter Kraft drückte er sich an Ras a Ghoul vorbei in das Zimmer. »Peter! Vorsicht!« vernahm er verschwommen den Warnruf Mannings. Er fuhr herum - blitzschnell, wie er meinte, aber in Wirklichkeit langsam, in Zeitlupentempo. Der Magier hatte die Arme ausgestreckt und berührte ihn fast am Nacken. Bryant ließ sich fallen und kroch auf das Buch zu. Laut schepperte der Kanister über den Boden. »Janice!« flüsterte er. »Janice, das Buch!« Sie hatte den alten Band erreicht. Mit letzter Kraft stieß sie das Buch an, und es schlitterte in seine Richtung über den Boden. »Ich gehe mit ihm!« hörte Bryant sie keuchen. »Nein!« schrie er. »Mache dich von ihm frei! Du kannst es schaffen. Fontenay hat gesagt, du kannst es schaffen!« Mit zitternden Fingern nestelte er an dem Verschluss des Kanisters, drehte ihn langsam auf. Irgendwo peitschte ein Schuß. Manning, dachte Bryant. Er versucht immer noch, mit Kugeln gegen den Magier anzukämpfen. Der Kanister kippte um. Eindringlicher, fast betäubender Benzingestank stieg Bryant in die Nase. Jetzt schien der Magier seine Absicht erkannt zu haben. Plötzlich bewegte er sich schneller, packte wieder mit seinen langen, hageren Armen nach ihm. Bryant wühlte in seiner Jackentasche, fand endlich das kleine Einwegfeuerzeug. Er drehte die Reibfläche, doch der Feuerstein zündete nicht. Er versuchte es noch einmal, dann hatte Ras a Ghoul ihn erreicht. *
Eisige Kälte umschloss ihn. Bryant fühlte eine entsetzliche, unendliche Leere, in die er immer schneller hineinstürzte. Irgendwo in diesem gähnenden Abgrund traf er auf Janice. Sie kämpfte, versuchte, die Macht des Magiers zu durchbrechen. Doch ihre Kräfte waren zu schwach. Dann spürte Bryant den Schmerz. Es war ein hartnäckiges Saugen in seinem Innersten. Er fühlte, wie sein Verstand überschwappte, durch eine brennende Hölle ging, wie die unerträgliche Hitze langsam auf seinen Körper übergriff. Vor ihm erschien ein gewaltiger Schlund, ein Mahlstrom, auf den sein Innerstes zujagte. Meine Seele, dachte er, bevor der Schmerz übermächtig wurde. Ras a Ghoul saugt meine Seele aus meinem Körper! Dann ließ der Schmerz so schnell nach, wie er gekommen war. * Das Feuerzeug zündete. Plötzlich war Bryant frei von dem Sog an seiner Seele. Schnell warf er sich zurück. Die Flamme des Feuerzeuges ließ das Benzin explodieren. Eine Glutwand baute sich auf und hüllte das Buch ein. Penetranter Fäulnisgestank erfüllte den Raum. Bryant starrte zu dem Magier hinüber. Während das Buch lichterloh brannte, zerfiel sein Körper, alterte zusehends. Jede Sekunde ein Jahrzehnt, dachte Bryant. Oder geht es noch schneller? Die pergamentene Haut riß auf, enthüllte verfaulendes Fleisch, zertrümmerte Organe. Pechschwarzes Blut sickerte zu Boden, löste sich aber auf, kaum daß es ihn erreicht hatte. Der Magier schrie. Bryant glaubte, das ganze Haus müsse zusammenbrechen, so laut war dieser durchdringende Schrei. Und dann erkannte er so laut und deutlich seine Gedanken, als habe er sie hinausgebrüllt. Es ist noch nicht vorbei. Ich werde wiederkommen. Mit einem lauten Knall erlosch das Feuer. Bryant wirbelte herum. Dort, wo es gebrannt hatte, war der Parkettboden völlig unbeschädigt, noch nicht einmal angekohlt. Nichts, aber auch
nicht die geringste Spur, deutete darauf hin, daß gerade noch ein Feuer gewütet hatte. Nur das Buch war verschwunden, hatte sich aufgelöst, als habe es gar nicht existiert. Und Janice? »Janice!« schrie er und rannte auf sie zu. Blaue Flammen umgaben ihren schlanken, jungen Körper. Bryant berührte sie. Die Flammen waren völlig kalt. Für einen Moment glaubte er, eine zweite Dimension hinter der Wirklichkeit zu sehen. Janice war kein junges, hübsches Mädchen, sondern irgend etwas anderes, altes, so unfassbar wie die Luft selbst, dann war es vorbei. Die Flammen verblichen, und ihr Körper nahm wieder feste Formen an. »Ich habe es geschafft«, stöhnte sie. »Ich habe mich rechtzeitig von ihm gelöst.« »Und ich glaube, ich habe mich in einen jungen, hübschen Luftgeist verliebt, dem man das Leben zurückgeschenkt hatte«, sagte Bryant. ENDE Lesen Sie in der kommenden Woche den neuen GespensterKrimi von A. F. Morland Die Bruderschaft der Hölle Wir rechneten damit, daß wir es eines Tages wieder mit den gefährlichen Drachenmonstern zu tun kriegen würden, aber wir ahnten nicht, daß es schon so bald sein würde. Die finsteren Mächte des Schattenreichs versahen die Drachen mit gefährlichen Kräften, die gegen Mr. Silver und mich, Tony Ballard, den Dämonenhasser, zum Einsatz kommen sollten. Wir wussten es nicht, aber sie war nahe - die Rache der DrachenBande! Die Bruderschaft der Hölle Merken Sie sich diesen Titel! Sie erhalten den neuen Gespenster-Krimi in acht Tagen bei Ihrem Zeitschriftenhändler sowie im Bahnhofsbuchhandel. DM 1,60