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Von Philip José Farmer erschienen in der Reihe HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Die Irrfahrten des Mr Green • 06/3127...
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Von Philip José Farmer erschienen in der Reihe HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Die Irrfahrten des Mr Green • 06/3127, auch / 06/1004 Das Tor der Zeit • 06/3144, auch / 06/1006 Als die Zeit stillstand • 06/3173, auch / 06/1011 Der Sonnenheld • 06/3265, auch / 06/3975 DerMondkrieg • 06/3302 Die synthetische Seele • 06/3326 Der Steingott erwacht • 06/3376, auch / 06/1005 Lord Tyger • 06/3450 Das echte Log des Phileas Fogg • 06/3494, auch / 06/3980 Die Flußwelt der Zeit • 06/3639 Auf dem Zeitstrom • 06/3653 Das dunkle Muster • 06/3693 Das magische Labyrinth • 06/3836 Die Götter der Flußwelt • 06/4256 Jenseits von Raum und Zeit • 06/4387 Fleisch • 06/4558 Das Dungeon: 1. Roman Der schwarze Turm (von Richard A. Lupoff) • 06/4750 2. Roman Der dunkle Abgrund (von Bruce Coville) • 06/4751 3. Roman Das Tal des Donners
(von Charles de Lint) • 06/4752
4. Roman Der See aus Feuer
(von Robin W. Bailey) • 06/4753
5. Roman Die verborgene Stadt
(von Charles de Lint) • 06/4754
6. Roman Das letzte Gefecht
(von Richard A. Lupoff) • 06/4755
Diese Liste ist eine Bibliographie erschienener Titel KEIN VERZEICHNIS LIEFERBARER BÜCHER!
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PHILIP JOSÉ FARMER
VIERTER ROMAN
DER SEE AUS FEUER von
ROBIN W. BAILEY
Deutsche Erstausgabe Fantasy
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
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HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY
Band 06/4753
Titel der amerikanischen Originalausgabe
PHILIP JOSÉ FARMER'S THE DUNGEON
BOOK 4: THE LAKE OF FIRE
Deutsche Übersetzung von Alfons Winkelmann
Das Umschlagbild schuf Robert Gould
Die Illustrationen im Anhang sind von Alex Jay
Redaktion: Irene Bonhorst
Copyright © 1989 by Byron Preiss Visual Publications, Inc.
Copyright © 1991 der deutschen Übersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München
Printed in Germany 1990
Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München
Satz: Schaber, Wels
Druck und Bindung: Eisnerdruck, Berlin
ISBN 3-453-04506-8
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INHALT
Vorwort ................................................................
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Kapitel 1 Abstieg und Fall ................................. Kapitel 2 Das Land der Dunkelheit ................... Kapitel 3 Inferno................................................. Kapitel 4 Ein Führer durch den See des
Feuers ................................................... Kapitel 5 Die Höhle der heimlichen Ängste ....... Kapitel 6 Tödliche Echos in den Hügeln der
Hölle..................................................... Kapitel 7 Die Goode-Kinder des Nebels .......... Kapitel 8 Der unerwartete Fährmann .............. Kapitel 9 Unter den Schatten des Todes ........... Kapitel 10 Über den schwarzen Abgrund ......... Kapitel 11 Shrieks Flug ................................... Kapitel 12 Annabelle im Wunderland ............... Kapitel 13 Im Palast des Morgensterns ............. Kapitel 14 Der Herr der Hölle .......................... Kapitel 15 Zu Hause .......................................... Kapitel 16 Blutsverwandte ................................. Kapitel 17 Kriegsrat ............................................ Kapitel 18 In der tödlichen Wüste ..................... Kapitel 79 Hinab in die Unterwelt ..................... Kapitel 20 Verzerrtes Selbst................................ Kapitel 21 Die schwarze Fabrik .......................... Kapitel 22 Die Klonbanken ................................ Kapitel 23 Durch das Spiegeltor ........................
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Auswahl aus dem Skizzenbuch des Major
Clive Folliot ........................................................ 351
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Vorwort
geht's nach unten. Dann nach oben. Zuerst Das ist das Gegenteil dessen, was Heraklit sagte, der alte griechische Philosoph: Es sei nämlich ein physi kalisches Gesetz, daß alles-was nach oben gehe, wieder hinab müsse. Wir wissen jetzt, daß das nicht ganz die Wahrheit ist. Eine Rakete, die aus dem Sonnensystem geschossen wird, wird nicht wieder herabfallen. Auch die ersten beiden Sätze dieses Textes stimmen nicht ganz. Es geht hier jedoch darum, wie sich Helden in Romanen im allgemeinen verhalten. (Mit Helden mei ne ich auch Heldinnen.) Sie steigen in die Hölle hinab und kämpfen sich, weil sie nun mal Kämpfer sind, ihren Weg nach oben — körperlich wie auch seelisch. »Leicht ist der Weg hinab in die Hölle.« Aber o je! — der Weg hinaus! So heißt es bei Virgil, dem alten römischen Schrift steller (70—19 v. Chr.). Facilis descensusAverni. Er meinte damit den Abstieg in die Unterwelt der alten Römer. Als er diese Worte schrieb, dachte er natürlich nicht daran, daß zweitausend Jahre später etwas Derartiges gesche hen könnte. Und damit meine ich den Abstieg in die Dungeonwelt und den Kampf eines heldenhaften Trupps darum, wieder hinauszuklettern. Wenigstens unterstelle ich ihm das. Ich wäre jedoch nicht weiter überrascht, wenn unser Trupp während der nächsten beiden Bände des Dungeon Virgil in die Arme liefe, der von den rätselhaften und böswilligen Herrschern des Dungeon aus seinem sonnigen Mittelmeer in die düstere und gefahrenvolle Unterwelt versetzt wurde. Und dann später in seine eigene Zeit zurückkehrt. Vielleicht könn te Virgil, dessen Geist Dante durch das Inferno geleiten mußte, unserem Trupp auf seiner Suche nach einer
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Fluchtmöglichkeit aus dem Dungeon helfen. Schließlich gibt es im Dungeon, entgegen Dantes Unterwelt, tat sächlich Hoffnung für diejenigen, die durch seine Elfen beintore treten. Unsere Helden gehen nach oben, wenngleich nicht nur in einem körperlichen Sinne. Im Sinne des Lichts, das auf die vielen Rätsel und Schwierigkeiten geworfen wird, denen sie begegnen, steigen sie ebenfalls auf. Aber dieses Licht bringt weitere Schatten mit sich. Jede Antwort wirft ihnen weitere Fragen ins Gesicht und trifft sie tief im Innern. Das weibliche und wissende Spinnenwesen Shriek, sowohl eine wandelnde pharma zeutische Fabrik als auch eine Speerwerferin, ist dar über hinaus noch telepathisch veranlagt. Sie entdeckt zwei mächtige telepathische Beobachter des Trupps, wenngleich sie nicht weiß, wer diese sind und wo sie sich aufhalten. Ebensowenig wie Shriek weiß ich, wer diese beiden sind. Aber ich habe den Verdacht, daß der eine der bei den Beobachter böse ist; der andere gut. Vielleicht gehö ren sie zu zwei Superrassen, den Boskonianern und den Arisiänern nicht unähnlich. Dies waren die höchsten bösen bzw. guten Mächte, die von Doc E. E. Smith in seiner Lensman-Reihe geschaffen wurden. Sie manipu lierten in ihrem Kampf gegeneinander die niederen We sen. Ich könnte mich irren. Vielleicht wird Richard Lupoff, der den ersten Band der Dungeon-Reihe schrieb und den letzten (den sechsten) schreiben wird, ein anderes Kon zept vorlegen. Wie es jedoch in Reihen auch zugehen mag, eines wissen wir auf jeden Fall: Wenn unser Held Clive Folliot die nächste Ebene der Dungeonwelt betritt, wird ihn das Tagebuch seines Zwillingsbruders Neville fragen: »Was wirst du tun, wenn du dem Herrscher der Hölle begegnest?« Also ist es Clives Bestimmung, daß er eine schreckliche Begegnung mit dem Prinzen der Unterwelt
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haben wird, entweder in diesem Band oder in einem späteren. Ob dieser überaus schreckliche Feind, der ge nauso mächtig und böse ist wie Satan in Person, ein Klon des Hauptübeltäters ist oder das Original, weiß ich nicht. Zu diesem Zeitpunkt bin ich mir angesichts des sen, was an Überraschungen bereits vorgefallen ist, nicht mehr sicher. Es ist möglich, daß Clive Folliot selbst, Benutzer Annie, Sergeant Smythe, Sidi Bombay und Shriek (und die anderen) Klone sind. Alles kann geschehen. Anders als die Hölle bei Dante ist die Dun geonwelt ein offenes, kein geschlossenes System. Aber so sicher wie eine Hölle hinterläßt es bei unseren Helden eine Menge schlimmer Eindrücke — Leiden und Enttäuschungen. Die Parallele dieser Unterwelt zu der von Dante ist of fensichtlich. Und wie ich bereits in vorangegangenen Vorworten sagte: Es bestehen gewisse Parallelen — kei ne unnatürlichen, erzwungenen — zwischen der Dun geonwelt und den Welten von Baum und Carroll. Die Hauptfiguren in The Wonderful Wizard ofOz suchen nach etwas, das ihnen fehlt oder von dem sie glauben, daß es ihnen fehlt. So auch unsere Helden. Und sie wollen, ganz wie Dorothy, wieder auf ihre Heimatwelten zu rückkehren. Und das Auftauchen und Verschwinden ei niger Leute und Dinge, denen unsere Helden begegnen, oder wie diese Leute sich in andere Leute und Dinge verwandeln, erinnert mich an Alice im Wunderland und Alice hinter den Spiegeln. Einer der Hauptunterschiede zwischen unseren Helden und denen bei Baum und Carroll besteht darin, daß letztere nicht bluten, schwitzen, furzen oder leiden. Sie denken auch nicht über sinnliche Lust, Sex, Sexismus oder Rassismus nach. Diese Elemente sind in ihren Werken nicht nötig und würden sie zerstören, falls sie sie enthielten. Aber wir schreiben das Jahr 1988, und Das Dungeon, wenn auch erfunden, spielt in der ›wirkli chen‹ Zeit.
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Die ›wirkliche‹ Zeit bedeutet das Abnutzen lebender und lebloser Dinge. Kurz gesagt, eine Erosion, so wie Winde oder Wellen Felsen abtragen. Diese zeitliche Ero sion täuscht und verwirrt uns. Wenn es die Zeit nicht gäbe, wären wir uns des unzerstörbaren Teils in uns selbst voll bewußt, desjenigen Teils, der bestehen bleibt, wenn die Zeit nicht mehr besteht. Wir werden unauf hörlich von Röntgen- und anderen Strahlen bombar diert, von Neutrinos durchschossen und von Gravito nen gefesselt. Die Chrononen jedoch, diese Wellenparti kel der.Zeit, die uns umgeben und uns durchdringen, verletzen uns am meisten. Chrononen tauchen jenes mental-spiritistische Licht in uns in Dunkelheit, das nichts von der Zeit weiß. Das echte Wesen der Zeit ist das unaufhörliche Bom bardement von Chronomen. Wir werden hilflos einen Pfad entlanggezerrt, der nicht existierte, wenn wir in je nem leuchtenden Ball von Zeitlosigkeit bestehen könn ten, den wir alle in uns tragen, dessen wir uns jedoch entweder gar nicht oder nur ganz schwach bewußt sind. Die Zeit wurde vom Teufel erfunden, zumindest von irgend etwas Bösem, und diese Erfindung hindert uns daran, von unserer Zeitlosigkeit Kenntnis zu nehmen und sie anzuwenden. Daher erodieren wir — in dieser Welt. Nichtsdestoweniger haben die zeitlosen Alice-Bücher die Fiktion unserer trügerischen Echtzeit-Welt stark be einflußt. Und zwar nicht nur deshalb, weil Leser mit größerer Wahrnehmungsfähigkeit ein Hemi-SemiDemi-Bewußtsein der Zeitlosigkeit hätten, die in diesen Büchern verborgen ist, sondern auch wegen all der dar in beschriebenen Abenteuer, jener Abenteuer, von de nen wir nichts wußten, ehe Carroll sie beschrieb. In den Alice-Büchern erlebt man die wilden und unverkennbar individuellen Charaktere. Und man erlebt, wie Alice und all die anderen Wesen in beiden Büchern das Ge fühl beschleicht, nichts weiter als Figuren auf einem
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gigantischen Schachbrett zu sein. Das bringt in uns die Saite jenes Gefühls zum Schwingen, das ich genauso habe wie vielleicht viele von Ihnen, nämlich Schachfigur zu sein. (Wenngleich wir Schachfiguren mit — mögli cherweise — freiem Willen sind.) Zugleich stellt sich die Frage nach der Identität und des Einsatzes, der Mittel der beiden Schachspieler. Carrolls Alice-Bücher und The Hunting on the Snark (Die Jagd nach dem Schnark) waren häufiger Gegenstand literarischer Anspielungen und beeinflußten häufiger dramatische Abläufe und Gestalten in der Literatur als fast jedes andere Werk — abgesehen von der Bibel und den Werken Shakespeares. In vielen Mainstream-, Science-Fiction-, Fantasy- und Mystery-Büchern findet man deutliche Anzeichen hiervon. In sämtliche Dunge onwelt-Bände sind Carrollsche Muster verwoben, man che bewußt dort hineingebracht. Zum Beispiel Clive und Neville Folliot, Zwillinge und so etwas wie nicht dumme Zwiddeldei und Zwiddeldum. Wenngleich man sagen muß, daß uns ihre Vorurteile ziemlich dumm er scheinen. Einigen von uns. Es gibt Millionen, vielleicht sogar Milliarden von Menschen, die im Jahre 1988 an der Prüderie, dem Rassismus, Sexismus und Aberglau ben von Clive und Neville festhalten. Neville mag ein böser Zwillingsbruder sein oder auch nicht, aber Amos und Lorena Ransome, gleichfalls Zwillinge, sind ganz unzweifelhaft böse. Wie könnten sie es auch nicht sein, da sie doch dem ironisch so genannten Philo B. Goode so nahe stehen? Von dem wir vielleicht erfahren wer den, daß er der wirkliche Höllenfürst ist, der in Nevilles Tagebuch genannt wird. Vielleicht ist er aber auch ein Zwilling (oder ein Klon) des Höllenfürsten. Eine weitere Parallele zu Carroll, die man in diesem Band findet, ist die Gegenwart der Froschdiener in Ba ron Tewkesburys elektronischem Hexenhaus. Erinnern Sie sich an den froschartigen Diener, den Alice an der Schwelle des Hauses der Herzogin traf? Baileys Diener
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sind jedoch Werkzeuge des Bösen. Genauso werden im letzten Band meiner Flußwelt-Reihe die Robotergestal ten des Wunderlands von einer Mörderin mißbraucht. Bailey mußte sich dessen sowie der vielen weiteren An spielungen a la Carroll in meine Arbeiten bewußt gewe sen sein. Weil er also diesen Dungeon-Roman im Geiste meiner Fiktion schreibt, bewegt Bailey seine Froschwe sen über ein Schachbrett, das sowohl von Carroll als auch von mir selbst beeinflußt worden ist. Aber sie wer den gleichfalls von Baileys eigener Inspiration bewegt und sind weit davon entfernt, lediglich Abklatsch zu sein. Im Geiste meiner eigenen Werke ist Das Dungeon ein Nabel, an dem Leute und Dinge aus allen Zeiten und Orten von einer unbekannten Macht aus unbekannten Gründen versammelt wurden. Das Konzept des Nabels ist mir vielleicht (ich weiß es wirklich nicht genau) we gen des Sargassomeers eingefallen, das in so vielen Ge schichten der Groschenhefte und Hardcover-Abenteuer des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahr hunderts eine Rolle spielte. (Die letzte Sargasso-Ge schichte, die ich mich erinnere gelesen zu haben, war ei ne Doc-Savage-Geschichte, The Sargasso Ogre, erstmals erschienen im Jahre 1933.) Für alle, die noch nie etwas vom Sargassomeer gehört haben, muß ich einfügen, daß es wirklich existiert. Es ist ein Gebiet im Atlantik, das die Bermuda-Inseln ein schließt. Dessen Oberfläche ist übersät von treibendem Seegras, und es ist eine biologische Wüste. In Legenden früherer Seeleute heißt es, daß dieses Meer in seinen glatten und grasbedeckten Wassern viele Schiffe gefan genhält, die sich dort hineingewagt hatten, und zwar von spanischen Galeonen aus dem fünfzehnten Jahr hundert bis hin zu jenen Schiffen, auf denen die gegen wärtigen Geschichtenerzähler segelten. In den Legen den des zwanzigsten Jahrhunderts hält dieses Meer auch aufgelassene Dampfschiffe in einem Gras gefangen.
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Als ich noch jung war, entzückten mich die Geschich ten vom Sargassomeer. Ich glaubte ihnen. Dann fand ich heraus, daß diese Geschichten nicht wahr waren, daß dieses Meer keine Schiffe einfing. Dies nahm den Geschichten jedoch ebensowenig ihren Reiz wie das Wissen, daß Burroughs' Barsoom (Mars) nicht existier te. Zumindest nicht in unserem Raum-Zeit-Kontinuum, und darauf kam's an. Es hielt neue Autoren auch nicht davon ab, irgendeine Form dieses Meers in ihrer Dra maturgie zu verwenden. Ich selbst benutzte das Motiv in Venus on the Half-Shell, wobei diese See ein Nabel im Raum war, der abgewrackte und aufgelassene Raum schiffe anzog. Die Autoren des Dungeon haben dem Geist meiner Werke vertraut und sowohl die Groschenhefte als auch die klassischen Themen benutzt, die in meinen Werken vorkommen. Aber ich muß nachdrücklich betonen, daß diese Autoren einen großen Teil ihrer eigenen Originali tät hinzufügten, während sie meinem Geist ihren Tribut zollten. Unser Motto lautet: Immer aufwärts, vorwärts und hinaus! Philip Jose Farmer
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KAPITEL l
Abstieg und Fall Folliot versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken, Cliye während der kleine pferdelose Wagen, der ihn und seine Gefährten trug, weiter und weiter den endlos erscheinenden Gang zwischen den Ebenen sechs und sieben hinabfuhr. Die Wände und Fußböden waren ein funkelndes, konturloses Weiß, genau wie der größte Teil der Decke. Er hatte längst den Versuch aufgegeben, die seltsamen Lichtpaneele über sich, deren Licht in den Augen schmerzte, zu zählen. Er hätte gern die Beine ausgestreckt, aber hier hinten auf dem kleinen Wagen war kein Platz dafür. Statt des sen bemühte er sich, den Krampf wegzumassieren. Wie lange mochte diese verfluchte Fahrt wohl noch dauern? Sein Magen knurrte. Jetzt nicht, sagte er schweigend und hatte keine Ahnung, wann er seine nächste Mahl zeit erhielte. Er blickte seine Gefährten an und stieß einen kleinen Seufzer aus. Sie hatten so vieles gemeinsam überstan den, während sie in die Ebenen des Dungeon hinabge stiegen waren, hatten einer Gefahr nach der anderen ins Auge geschaut. Erstaunlicherweise lebten sie noch im mer. Er sah auf Annabelle hinab. Sie schlief, den Kopf auf seine Schulter gelehnt, die Gesichtszüge friedlich. Es befriedigte ihn zu wissen, daß sie seine Ur-Ur-Enkelin war, und es erfüllte ihn zugleich mit Stolz. Sie hatte tap fer alle Zerreißproben bestanden. Dennoch verwirrte es ihn, daß sie ihn so sehr an Miß Annabelle Leighton er innerte, seine Geliebte, die er in Plantagenet Court zu rückgelassen hatte. In London. Auf der Erde. Wo immer das sein mochte.
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Er strich Annabelle eine Strähne des kurzen, dunklen Haars aus der Stirn und lächelte schwach. Ihm gegenüber in Lotusstellung saß Sidi Bombay, der indische Führer, der ihm zur Seite gestanden hatte, noch ehe sie das schimmernde Tor im äquatorialen Afri ka durchquert hatten. Nun, sein Nutzen als Führer war im Dungeon sehr gering gewesen, aber er hatte sich auf andere Art bewährt. Der Inder war jetzt ein seltsamer Anblick: Er hatte das Dungeon als alter Mann betreten, aber ein Zwischenfall auf der zweiten Ebene hatte ihn verjüngt. Sidi war jetzt in Clives Alter oder sogar etwas jünger. Und es machte Clive Sorgen, daß Annabelle und Sidi eine wachsende Zuneigung zueinander teilten. Neben Sidi saß Tomàs, der portugiesische Seemann aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Er hatte die Knie an gezogen, um den anderen mehr Platz zu lassen, und hielt die Arme darum geschlungen. Sein Kopf ruhte schon seit längerer Zeit auf den Knien, und Clive fragte sich, ob der Mann vielleicht in dieser Lage schlafen konnte. Clive hatte sich über Tomàs noch keine endgül tige Meinung gebildet. Er hatte mit ihnen am selben Strang gezogen und sich ein- oder zweimal als nützlich erwiesen. Dennoch wollte Clive diesen Mann nicht un bedingt im Rücken haben. Sein ehemaliger Bursche, Quartiermeister Sergeant Horace Hamilton Smythe, saß hinter dem Lenkrad auf einem der beiden Vordersitze. Der Mann war ein Fels. Er saß jetzt bestimmt schon seit Stunden klaglos und ohne Anzeichen von Beschwerden am Steuer. Auf der Erde hatte Smythe gemeinsam mit ihm eine Menge Schlachten im Dienste Ihrer Majestät geschlagen, aber erst hier unten, in den Schrecknissen des Dungeon, hat te Clive Folliot gelernt, ihn einen Freund zu nennen. Er schaute hinüber zu dem Passagier neben Smythe, und seine Lippen strafften sich. Chang Guafe war ein Cyborg, so hatte ihm Annabelle mit ihrem Wissen aus dem zwanzigsten Jahrhundert erklärt. Dennoch sah er
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für Clive keinem der anderen Cyborgs ähnlich, denen er auf der Ebene von Q'oonan begegnet war. Abgesehen von zwei Armen und Beinen, einem Rumpf und einem Kopf war an Chang nichts symmetrisch. Er war noch nicht einmal menschlich, sondern ein Fremdwesen von einem fernen Planeten. Chang Guafe blickte just in diesem Augenblick nach hinten, und ihre Blicke trafen sich. Für Clive waren die se rubinfarbenen Linsen, die als Augen dienten, völlig unergründlich, dennoch wartete er, bis der Cyborg weg schaute, ehe er einem Frösteln nachgab. Auf der Haube des Wagens hockte das sonderbarste Mitglied ihres Trupps: Shriek, wie sie jeder nannte, eine hochentwickelte Spinne einer weiteren fremden Rasse. Sie hatte vier Arme und vier Beine und sechs Augen so wie alle sonstigen Merkmale einer Spinne. Seltsamer weise hatte Clive eine Art Stolz auf dieses Wesen ent wickelt. Sie hatten einander in einer merkwürdigen mentalen Vereinigung mit dem Bewußtsein berührt und dabei die Geschichte und die Erlebnisse des anderen ge teilt, ihr wirkliches Wesen. Wenngleich für ihn die rät selhafteste ihres Trupps, war sie doch auch die aufrich tigste, und er vertraute ihr völlig. Er gähnte erneut und sah auf den Boden des Wagens hinab. Zwischen ihnen lag bewußtlos zusammenge krümmt sein Bruder, Neville Folliot, dessentwegen er so weit gekommen war und so viel durchgemacht hatte. Sein Zwillingsbruder, rief Clive sich ins Gedächtnis zu rück, obwohl er im Augenblick seinem Bruder gegen über nur eine große Distanz und Gleichgültigkeit emp fand. O ja, schlecht genug hatte er sich gefühlt, als er ei nen Klon getötet und dabei geglaubt hatte, es wäre Ne ville. Aber das war damals, und jetzt war jetzt. Neville hatte sie zu einer nicht gerade vergnüglichen Jagd ver anlaßt, und wenn der Bursche erwachte, würde er eini ge Antworten erhalten, selbst wenn er sie aus seinem Bruder herausquetschen mußte.
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Etwas berührte ihn am Ellbogen, der auf dem Rand des Wagens lag, und er hörte ein Schniefen. Clive hob den Kopf, schaute sich um und hob fragend eine Braue. Er hätte Finnbogg fast vergessen. »Nicht schlafen?« fragte Finnbogg mit rauher Stim me, wobei der zottelige Kopf auf- und niederging, wäh rend er neben dem Wagen hertrabte. »Mir geht's gut«, versicherte ihm Clive und kraulte Finnbogg kurz zwischen den Ohren. Das ließ Finnbogg lächeln. »Gut«, wiederholte er, und dann jagte er voraus, um den Späher zu spielen. Was es da in diesem konturlosen Gang zu spähen gäbe, konnte sich Clive nicht vorstellen, aber er schaute Smythe über die Schulter und sah dem Wesen nach, wie es voraus rannte. Trotz seiner Erschöpfung lächelte er vor sich hin. Wenn Shriek eine entwickelte Spinne war, dann war Finnbogg eine entwickelte Bulldogge. Mit seinen knapp eineinhalb Metern schierer Hundemuskeln hatte ihnen das wilde kleine Wesen mehr als einmal aus der Patsche geholfen. Und wenn sonst nichts weiter an ihm gewe sen wäre, so besaß er doch jenen Humor, den die Grup pe so dringend brauchte. Clive war schon seit langer Zeit der Ansicht, daß ein gesamter Planet von Finn boggs etwas wäre, das er, falls möglich, unbedingt ein mal sehen wollte. Aber er war Finnbogg noch auf andere Weise verbun den. So wie Clive ins Dungeon gekommen war, um sei nen verschollenen Bruder zu suchen, so war Finnbogg gekommen, um seine verschollenen Geschwister zu fin den, seinen eigenen Bruder. Clive machte sich über rascht klar, daß er sich glücklich schätzen konnte, Nevil le gefunden zu haben. Finnbogg war bereits seit zehn tausend Jahren auf der Suche. »Es läuft mal wieder was schief«, sagte Quartiermei ster Horace Hamilton Smythe ohne eine Spur von Ärger oder Panik in der Stimme.
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»Das können wir überhaupt nicht gebrauchen, Ho race«, entgegnete Clive und richtete sich auf, um zu se hen, wo die Schwierigkeiten lägen.- So sanft wie mög lich schob er Annabelles Kopf von seiner Schulter und weckte sie dabei unabsichtlich auf. Sie blinzelte, rieb sich dann mit einer Hand die Au gen und versuchte, sie gegen das Licht von der Decke abzuschirmen. »Was ist los?« fragte sie und setzte sich auf. Sidi öffnete die Augen und betrachtete sie gelassen; er redete nicht, sondern wartete. Clive beugte sich über den Fahrersitz und legte Smy the den Mund ans Ohr. Er beabsichtigte, ruhig zu blei ben, ganz gleich, was Smythe sagte. »Schiefgehen, sagte er? Schiefgehen?« Das kam von Tomàs hinten. Also hatte er doch nicht geschlafen, oder zumindest nicht sehr tief. »Madre, dein Mann hat viel leicht 'nen Sinn für Humor.« Clive überhörte das Gegrummel des Portugiesen. »Was ist los, Horace?« sagte Clive ruhig und spähte den langen Gang hinab. Er nahm überhaupt nichts Be drohliches wahr. »Spüren Sie es nicht, Sör?« sagte Horace Hamilton Smythe. »Wir werden langsamer, und wie sehr ich auch auf dieses Ding hier trete ...« er deutete auf ein flaches schwarzes Pedal unter seinem rechten Fuß. »... wir ver lieren an Geschwindigkeit.« Chang Guafe legte die linke Handfläche auf den Kot flügel. »Sensoren melden, daß die Batterie erschöpft ist«, verkündete der Cyborg kalt und mechanisch und, wie Clive fand, schaudererregend. Clive schürzte die Lippen und runzelte die Stirn. Die se verdammten mechanischen Apparate! Ein gutes Pferd, oder sogar ein Muli, hätte sie nicht vor Ende der Reise im Stich gelassen. Und Annabelle hatte das Fort schritt genannt? Nun, wie stand es dann um die Effekti vität und Zuverlässigkeit? Er hoffte, daß derlei Werte in
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ihrer Welt der Zukunft noch etwas zählten. »Dann schlage ich vor, daß wir zu Fuß gehen«, sagte er schließ lich etwas irritiert. »Und wenn wir das nächstemal ei nen Wagen stehlen, vergewissern wir uns, daß wir zu gleich auch etwas Vierbeiniges bekommen.« Daraufhin warf er einen verlegenen Blick nach vorn. »Oh, tut mir leid, Shriek.« Sie kletterten unter viel Ächzen und Stöhnen und Muskelknacken aus dem Wagen. Clive war boshafter weise fast erfreut zu entdecken, daß er nicht der einzige war, der sich wie gerädert fühlte. Er streckte sich, hob beide Arme über den Kopf, und die Wirbel sprangen gleichzeitig an ihren Platz. »Ein kleiner Kniff, den ich lernte, als ich in deinem Land Dienst tat«, erklärte er Si di Bombay, als ihn der Inder ansah. Sidi grinste breit und streckte den Rücken auf die gleiche Weise. »Jetzt reicht's mit diesem exotischen Macho-Scheiß«, grummelte Annabelle. »Jemand muß diesen Klotzkopf hier tragen.« Sie deutete auf den bewußtlosen Neville Folliot. Als wäre sein Name laut ausgesprochen worden, öff nete Neville Folliot die Augen und richtete sich auf. Er schaute sich um, und auf seinem Gesicht lag ein strah lendes Lächeln. »Sind wir jetzt da?« sagte er freundlich. »Ich hab' 'n verdammt gutes Nickerchen gemacht. Bin jetzt zu allen Schandtaten bereit!« »Neville!« rief Clive und wandte sich an seinen Bru der. Eine Woge der Erleichterung und Freude überspülte ihn, und ihr folgte eine noch heftigere Woge von Är ger. »Wette, dieser Hacker war die ganze Zeit über wach«, sagte Annabelle anklagend, verschränkte die Arme vor der Brust und sah Neville Folliot geringschätzig an. »Hab' ich doch richtig gemerkt, daß er sich ein- oder zweimal gerührt hat.« »Seu irmao — dein Bruder — er ist ein großer Heuch ler«, murmelte Tomàs, der etwas entfernt von den übri
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gen am Rand des Trupps stand. Die dunklen Augen sa hen einen nach dem anderen an, als suchte er nach einer Zustimmung für seine Bemerkung. Neville Folliot nickte und musterte sie. »Eine äußerst reizende Truppe, wirklich, kleiner Bruder«, sagte er grinsend zu Clive, »und äußerst reizende Gäste!« Er fuhr Annabelle mit dem Finger über die Wange, und das Lächeln wurde breiter, während er ihr in die Augen schaute. Auf einmal knisterten seine Haare und standen ker zengerade empor, er riß die Augen weit auf vor Überra schung und Schmerz, sein Körper versteifte sich, und er wurde einen halben Meter emporgeworfen. Er fiel zu Boden und blieb einen Augenblick lang wie betäubt lie gen. Dann hob er langsam den Kopf und starrte ver wirrt vor sich hin. »Eher frißt du Scheiße, als daß du mich noch mal an packst«, warnte ihn Annabelle mit einem schauderhaf ten kleinen Grinsen, während sie die kleinen Metallim plantate in ihrem linken Unterarm befingerte, die Kon trollen ihres Baalbec A-9. Wenngleich diese Einheit viele Funktionen besaß, war die Selbstverteidigungsfunktion die schrecklichste. »Du wirst noch herausfinden, daß deine Ur-UrGroßnichte nicht ganz wie die Frauen ist, an die du ge wöhnt bist«, sagte Clive Folliot mit einem gehörigen Anteil selbstgefälliger Befriedigung zu seinem Bruder. Neville sah in der Tat ganz entzückend aus — flach auf dem Rücken liegend und ein wenig zurechtgestutzt. Und es erfreute Clive, daß Annabelle die Ursache hier für war. Neville stand auf, rieb sich mit einer Hand das Hin terteil und sah Annabelle kläglich an. »Großnichte, sagst du? Also aus der Zukunft!« — womit er gleichzei tig unter Beweis stellte, daß er die Natur des Dungeon so gut wie jeder andere verstand. »Ich bin mir nicht ganz sicher, daß mir diese neue Erkenntnis gefällt.«
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Dennoch brachte er ein Zwinkern in Annabelles Rich tung zustande. »Andererseits vielleicht doch. Großnich te, sagst du? Der Teufel soll dich holen, kleiner Bruder! Wo ist deine Hand? Es ist gut, dich zu sehen!« Alarmiert vom peitschenden Geräusch des Baalbec A-9 sprang Finnbogg mitten unter sie. Er schaute Nevil le an, knurrte und hob sich auf die Hinterläufe. »Annie okay? Clive okay?« Er knurrte erneut, ohne die Augen von Neville abzuwenden. »Okay, okay?« Annabelle legte Finnbogg die Hand auf den Kopf und kraulte ihn. »Okay, Finnbogg«, sagte sie und beruhigte das Wesen. »Neville hat 'n Fehler im Programm, aber er ist jetzt benutzerfreundlich.« Sie sah Neville Folliot durchbohrend an. »Nicht wahr, Onkel Neville?« Neville verbeugte sich. »Wie Sie meinen, werte Da me.« Er wandte sich an Clive. »Nun, kleiner Bruder, dann wollen wir mal wieder zur Sache kommen, wie man so sagt, und du kannst die angemessene Vorstelle rei durchziehen, während wir weitergehen. Das wird helfen, die Zeit totzuschlagen.« Eine tiefe Furche formte sich zwischen Clives Brauen. Er kannte diesen Tonfall nur zu gut, und er gefiel ihm nicht besonders. Aber Neville hatte recht, sie konnten nicht gut hier stehenbleiben. Die übrigen sahen ihn er wartungsvoll an. Er schien zumindest ihre Unterstüt zung zu besitzen. »Sehr gut«, sagte er, »dann wollen wir mal.« »Ai! Hoffe, wir finden bald was zu essen«, knurrte Tomàs, der hinter den anderen folgte. »Und zu trinken. Ich habe Durst. Auch war der Wagen nicht gerade 'n be quemer Schlafplatz. Will nach Hause. Es geht doch nichts über die Heimat...« Clive schaltete ab. Clive erzählte seinem Bruder Neville all seine Abenteu er, beginnend mit der Reise ins äquatoriale Afrika, wo bei er erklärte, wie besorgt ihr Vater, Baron Tewkesbury,
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wegen seines verschollenen Sohns gewesen sei und wie er darauf gedrungen habe, daß ihn Clive finden sollte. Vater gehe es gut, bemerkte er nebenbei, und er sei kau zig wie immer. Er erzählte, wie er seine Gefährten ge troffen hatte, wobei er sie zugleich vorstellte, sowie von den verschiedenen Rassen und Leuten, denen sie be gegnet waren. Das einzige, was er ausließ, war das Du ell mit Nevilles Klon auf der Ebene, die sie gerade ver lassen hatten. Er hatte die Absicht, es völlig zu verges sen. Anschließend fragte er seinen Bruder aus. »Was geht hier eigentlich vor?« wollte er wissen. »Als Smythe, Sidi und ich hierherkamen, fanden wir deinen Körper in ei nem Sarg. Auf einer Brücke begegneten wir einem Monster mit deinem Gesicht. Wir trafen auf Leute, die vorgaben, du zu sein, und wir begegneten einem We sen, das ...« Er brach ab, weil er fast den Klon erwähnt hätte. »Wir haben dich ein halbdutzend Mal um die eine oder andere Ecke verschwinden sehen.« »Und wie erklärst du das?« fragte Annabelle argwöh nisch und holte Nevilles Tagebuch aus dem Innern ihrer Jacke. »Es tauchte an den seltsamsten Orten auf und sagte die merkwürdigsten Dinge.« »Es war die Quelle einer Menge Schwierigkeiten und Mißverständnisse«, pflichtete Chang Guafe bei, sah kurz hin und wieder weg. Neville Folliot warf einen Blick über die Schulter, wie er es schon mehrere Male zuvor getan hatte. »Ich würde mich glücklich schätzen, all eure Fragen zu beantwor ten, und ich verspreche, das bei passender Gelegenheit zu tun ...« »Neville!« stieß Clive hervor, ärgerlich darüber, daß er aus dem Konzept gebracht worden war. »Nun sieh mal, du Klotzkopf, wir sind müde ...« »Ja, sicherlich seid ihr müde«, beharrte Neville, als er sich erneut in die Richtung wandte, aus der sie gekom men waren, »aber kommt es euch nicht auch so vor, als
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näherte sich das andere Ende dieses Gangs schrecklich schnell?« Annabelle stieß einen kleinen Schrei aus. »Um Gottes willen!« schrie Clive. »Führe Scharfeinstellung der Sensoren durch«, mel dete Chang Guafe. »Bestätige Vermutung.« »Christo!« Tomàs drehte sich auf dem Absatz um und rannte ohne ein weiteres Wort zu den anderen. Clive blieb wie angewurzelt stehen und konnte kaum glauben, was er sah, trotz all der Zeit, die er schon im Dungeon verbracht hatte. Es konnte nicht dieselbe Tür sein, durch die sie gekommen waren! Doch es war so! Das Geräusch von riesigen hämmernden Fäusten über zeugte ihn. Es war dieselbe Tür, und die Herren des Donners schlugen dagegen, um hindurchzukommen. Die Herren des Donners waren noch immer hinter ih nen her! »Finnbogg, nimm Annabelle!« rief Clive und faßte Annabelle bei der Hand, als das Wesen neben ihm auf tauchte. »He, Cliveli, ich kann genausogut wie ...« »Mach nur weiter!« fauchte er und hob sie Finnbogg praktisch auf den Rücken, als sich Finnbogg auf alle vie re niederließ. »Los jetzt!« »Guter Rat für uns alle, Sör!« sagte Horace Hamilton Smythe und zog Clive am Ärmel. Clive zögerte lange genug, um einen weiteren panik erfüllten Blick auf die herannahende Tür zu werfen. »Seid verflucht!« rief er den Herren des Donners zu. »Seid verflucht!« Das galt den Herren des Dungeon, wo sich diese unbekannten, gesichtslosen Hurensöhne auch immer aufhalten mochten, die sie so manipulier ten. Er lief los. Weit vor sich erspähte er Finnbogg, an des sen Rücken sich Annabelle verzweifelt klammerte. Das Wesen hatte bereits Tomàs überholt. Wenn es vor aus eine Tür gab, einen Ausgang aus diesem Korri
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dor, dann erreichten Finnbogg und Annabelle ihn als erste. Shriek jagte mit spinnenhaftem Tempo voran. Chang Guafe rannte gleichfalls mit mechanischer Präzision, und niemand wußte, mit welcher Art von Energie seine Gliedmaßen versorgt wurden. Clive hatte den Cyborg oft genug kämpfen sehen, um zu wissen, daß er niemals ermüdete. Bald würden sie Tomàs überholen. Dann blieben noch die Menschen. Arme gebrechliche Menschen! Smythe rannte links neben Clive her, Sidi Bombay rechts. Clive wurde sich bewußt, daß ihm et was gegen das linke Bein schlug und ihn beim Laufen behinderte. Sein Degen! Er löste ihn und trug ihn in der Hand. Smythe tat es ihm gleich. Sie liefen mit raschem Schritt und ermunterten einan der dabei. Rasch hatten sie Tomàs eingeholt. »Los, los, Seemann!« rief Smythe verzweifelt, packte den kleinen Portugiesen am Arm und rannte weiter, ihn halb hinter sich herziehend. »Lauf! Zeig uns, daß ein Mann der Ma rine besser ist als ein gewöhnlicher Soldat der königli chen Armee!« Tomàs keuchte und hielt sich die Seite, aber er fand irgendwo in sich ein Kräftereservoir und paßte sich ih nen an. Mit seinem vor Furcht verzerrten Gesicht bot er jedoch einen erbarmungswürdigen Anblick. »Caminho cerrado! Caminho cerrado!« ächzte er zwischen einzelnen angestrengten Atemzügen, aber Clive verstand seine Sprache nicht. »Lauft!« kreischte Clive über das wütende Hämmern hinweg, das jetzt den Gang erfüllte. Weit vor sich sah er die anderen, und Freude und Er leichterung durchspülten ihn. Eine Tür, sie hatten die Tür gefunden, den Weg nach draußen! Er achtete nicht auf den Schmerz in der Seite und das Feuer in der Brust und erhöhte die Geschwindigkeit. Es war eine gewaltige Eisentür mit einem riesigen Ei senring. Shriek, Finnbogg und Chang Guafe strengten
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ihre vereinten Kräfte an, um sie zu öffnen, dennoch wi derstand sie all ihren Bemühungen, während Annabelle danebenstand, die Hände zu Fäusten ballte und wieder öffnete. Zu Clives Überraschung stand sein Bruder neben ihr. »Wie, zum Teufel, bist du so rasch hergekommen?« wollte Clive wissen, und es machte ihn verlegen, zuge ben zu müssen, daß er in der Panik, mit der er sich zuerst um das Wohlergehen seiner Gefährten, geküm mert hatte, seinen Bruder fast vergessen hatte. »Hab' mich an Shrieks Unterleib festgehalten«, sagte er selbstzufrieden. Unerträglich, dachte Clive, während er sich den Degen wieder um den Leib gürtete. »Werden deine Freunde imstande sein, die Tür rechtzeitig zu öff nen? Was meinst du?« Clive schoß ihm einen vernichtenden Blick zu und war unangenehm berührt von der Vorstellung, daß es sich Neville erlaubt hatte, von einer Dame getragen zu werden, selbst von einer fremdartigen Dame. Plötzlich ertönte das laute Knirschen von Metall, als sich eine Kante der riesigen Tür aus dem Rahmen löste. Shriek erhob sich zu ihrer vollen imponierenden Größe, ergriff die Kante mit ihren vier Händen und stemmte zwei Füße gegen die Mauer. Finnbogg tat einen mächti gen Satz, faßte die Oberkante und schwang die Füße gegen die Mauer oberhalb der Tür. Er benutzte den ei genen Körper als Hebel und drückte nach unten, wäh rend Shriek nach unten zog. Das Metall riß allmählich entzwei wie Papier. Chang Guafe steckte die Finger in einen gezackten Riß, der bis hinab zum Fußboden reich te. Ein nervenzerreißendes Geräusch zeigte den wach senden Erfolg an. »Beeilung!« schrie Annabelle, die den Gang hinab sah. »Sie zerschmettern uns! Madre! Sie zerschmettern uns!« Tomàs sank auf die Knie und umarmte sich selbst. »Traust du dich, einen Monatslohn zu verwetten, daß
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sie's schaffen, kleiner Bruder?« flüsterte Neville mit ei ner Leichtfertigkeit, die Clive unfaßbar erschien, also beachtete er seinen Bruder nicht. Mit einem letzten ohrenbetäubenden Quietschen brach die Tür zusammen. »Huuuch«, war das letzte, was Finnbogg sagte, ehe er durch die Öffnung in die Dunkelheit dahinter torkelte. »Finnbogg!« kreischte Annabelle und rannte zum Rand. Dann warf sie die Hände hoch, um das Gesicht zu schützen, stieß erneut einen überraschten Ruf aus und hätte fast das Gleichgewicht verloren. Chang Guafe packte sie um den Leib und zog sie vom Rand zurück. Clive eilte zur Tür und torkelte zurück. »Wie ein Hochofen!« rief er erbittert. Er kroch erneut zum Rand und schnitt einige Grimassen wegen der Hitze. »Finn bogg!« rief er. »Finnbogg!« Lediglich Schwärze und Hitze erfüllten die Türöff nung, eine gähnende weite Leere, furchterregend in ih ren Ausmaßen. »Sensorische Verwirrung!« stellte Chang Guafe fest. »Großartig!« schnappte Horace Hamilton Smythe. »Finnbogg is' verschwunden, und er is' jetzt blind.« »Nicht blind«, hielt Chang Guafe entgegen. »Nicht in der Lage, die physikalische Natur der Umgebung aus zumachen, der wir uns gegenüber sehen.« »Oh, entschuldige bitte«, entgegnete der Quartier meister sarkastisch. Clive starrte auf die Ebene sieben und schlug mit der Faust auf den Türrahmen. »Können wir dadrin überle ben?« überlegte er laut. Irgend etwas ließ sich sanft wie eine Feder auf seiner Schulter nieder, und er spürte Shrieks Gedankenüber tragung. Überleben ist immer möglich, Wesen Clive, beson ders mit einem Anführer wie dir. »Ich glaube nicht, daß wir eine großartige Wahl ha ben, Engländer«, sagte Sidi Bombay und trat zum Rand.
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Horace Hamilton Smythe gesellte sich zu ihnen und schirmte die Augen gegen die Hitze ab. »Er hat recht, Sör!« Er deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Es heißt jetzt, entweder springen oder hinausgeschos sen werden wie menschliche Kanonenkugeln! Das an dere Ende nähert sich uns rasch!« Clive schaute sich um und riß die Augen weit auf. Zum Zaudern blieb keine Zeit mehr. »Faßt euch an den Händen!« befahl er. »Wir gehen, und wir gehen alle auf einmal!« »Gut gemacht, kleiner Bruder!« sagte Neville und applaudierte ein wenig, ehe er Annabelle und Tomàs die Hand reichte. Sie kletterten gemeinsam durch den Riß und holten gemeinsam tief Atem. »Hallo, Finnbogg!« rief Neville heiter und versuchte wie immer, das letzte Wort zu behalten. »Wir kommen!« »Was für 'n Blödmann«, grummelte Annabelle. Und dann sprangen sie.
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KAPITEL 2
Das Land
der Dunkelheit
oder wie weit sie stürzten, konnte Clive Wienichtlangesagen. Er umklammerte jeweils eine Hand der beiden teuersten Wesen seines Lebens und hoffte, daß die übrigen desgleichen täten. Er hielt die Augen offen — wenigstens glaubte er das —, aber es gab nichts zu sehen, noch nicht einmal die Gefährten. Er horchte umher, aber es gab nichts zu hören. Außer dem Tastgefühl — er spürte, wie die Hände einander berühr ten — ließen ihn alle übrigen Sinne im Stich. Plötzlich hatte er festen Boden unter den Füßen. Er war nicht gelandet oder zu Boden gefallen. Der Boden war einfach nur da. Er knickte nicht bei einem Aufprall zusammen. Er war nirgendwo aufgeprallt, es erfolgte kein Stoß in den Knien oder im Rückgrat. Es war so, als wäre der Boden schon die ganze Zeit über dagewesen, als wäre er sich seiner erst jetzt bewußt geworden, und wenn er den Verlust seiner Sinneswahrnehmungen be rücksichtigte, konnte das tatsächlich der Fall sein. Aber seine Augen weigerten sich noch immer zu funktionieren. War er blind? Er drückte die Hände, die er hielt, um sich zu vergewissern. »Annabelle?« rief er sanft. Nach einem Augenblick entgegnete Annabelle seinen Druck. »Ich kann nichts sehen, Cliveli!« Sie versuchte, hoffnungsvoll zu klingen, aber eine Spur von Furcht färbte ihre Stimme. »Auch ich nicht, kleiner Bruder«, fügte Neville ge dämpft hinzu. Tomàs brummte in sich hinein: »Ai, bento Maria! Heilige Maria!«
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Clive suchte sich zu erinnern, wo in der Reihe sich der Cyborg befand, und er wandte den Kopf in diese Richtung. Vielleicht erwiesen sich ja die Sensoren des Cyborgs als verläßlicher denn menschliche Augen. »Chang Guafe, kannst du etwas sehen?« »Negativ, Clive Folliot. Visuelle Input-Systeme blei ben außer Funktion. Überprüfe gerade das gesamte Spektrum.« Was das auch immer hieß. Schweiß tropfte Clive in die Augen. Er versuchte, ihn durch Blinzeln zu entfernen, und schüttelte dann den Kopf, um die Tröpfchen weg zuschleudern. Zwecklos. Das Salz des Schweißes brannte wie Feuer. Er hätte fast Annabelles Hand losge lassen, aber er fürchtete sich davor. Bis sie wußten, wo sie waren und was sie erwartete, wollte er nicht, daß ei ner den anderen losließ. »Halt mal einen Augenblick fest«, sagte er zu Anna belle und schlang ihre Finger um einen seiner Hemdzip fel. Erst dann fuhr er sich mit dem Ärmel über die Augen. Er faßte sie erneut bei der Hand. »Hört mal her, ihr alle, haltet einander fest!« sagte er. »Laßt um keinen Preis los! Es muß hier unten irgendeinen Anhaltspunkt dafür geben, wohin wir uns wenden sollen.« »Aber wie sollen wir den in der Dunkelheit finden, kleiner Bruder?« Clive knurrte fast. Er sah das höhnische Grinsen auf dem Gesicht seines Bruders fast vor sich. Er hörte es si cher aus diesem verächtlichen Tonfall heraus. »Ich habe einen Vorschlag, Sör«, sagte Horace Hamil ton Smythe und drückte Clive die andere Hand. »Ja, Smythe, leg los!« Der gute alte Smythe — er hat te immer eine Idee. »Wir wollen Ihren Bruder auf den Rücken legen, Sör, ihn dann kreiseln lassen und anschließend in die Rich tung gehen, wohin sein Kopf zeigt, wenn die Drehung aufhört.« Annabelle kicherte.
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Nevilles Stimme klang mitnichten amüsiert. »Ich muß schon sagen, Smythe, du hast anscheinend deine guten Manieren vergessen, um nicht auf deine angemessene Stellung hinzuweisen. Für einen Botschafter der Köni gin bist du nicht in Form, sollte man meinen.« Annabelle kicherte erneut. »Du hast noch 'ne Menge zu lernen, alter Chipsfresser. Ein Gehabe wie das deine läßt sich zwar nur schwer ausrotten, aber bring mich nicht soweit, daß es mir leid tut, deinen Arsch da oben aus diesem Sarg rausgeholt zu haben. Vielleicht hätte ich dich für die Herren dalassen sollen.« Chang Guafe unterbrach das, von dem Clive gefürch tet hatte, daß es eine ernsthafte Auseinandersetzung würde. »Getroffen!« verkündete er. »Funktioniert im In frarotbereich.« Ein Doppelstrahl trat aus den optischen Linsen des Cyborgs heraus, der vielleicht einen bis ein einhalb Meter weit reichte, ehe er sich in der Dunkel heit verlor. »Zeigt jetzt die angemessene Richtung an.« Ein Chor dankbarer Stimmen erhob sich als Antwort auf Chang Guafes Strahlen. Wenigstens waren sie nicht blind! Chang sah einen nach dem anderen an und er leuchtete dabei das Gesicht eines jeden. Dennoch war es ringsumher noch immer dunkel. Sie waren sich noch nicht einmal sicher, worauf sie eigentlich standen. Der Boden war ebenso schwarz wie alles andere. »Obrigado, obrigado!« murmelte Tomàs, wobei er Shrieks Hand lang genug losließ, um sich zu bekreuzi gen. »Danke!« »Was siehst du genau, Chang?« fragte Clive, als sie sich wieder beruhigt hatten. »Eine größere Hitzequelle in der Entfernung«, ent gegnete er. Annabelle unterbrach ihn. »Die Ursache für diese Hitze hier, Blechmann? Ist hier wie im Juli im südlichen Kalifornien. Ich schmelze.« »Bestätigung!« antwortete er. »Auch eine kleinere Hitzequelle etwas näher.« Er richtete die Augenstrahlen
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in die entsprechende Richtung. »Schlage vor, wir schauen nach.« »Ich stimme zu«, sagte Clive. »Wir wollen das nicht im Rücken haben, ohne zu wissen, was es ist. Also los, Chang Guafe, führe uns!« »Was das auch immer bedeuten mag, führe uns!« pflichtete Neville bei. Sie gingen in einer Reihe, hielten einander an den Händen und schritten vorsichtig aus. Ihre Fußtritte ver ursachten keinerlei Geräusch, obgleich der Boden an scheinend völlig fest war. Das war das Wunderlichste, dem er je begegnet war, dachte Clive und widerstand dem Wunsch, die Hände vor sich auszustrecken, weil er befürchtete, jeden Augenblick mit etwas zusammenzu stoßen, auf etwas zu treten oder in etwas hineinzufal len. Neben den beiden leuchtenden Rubinpfeilen konn ten sich die Augen nur noch auf den geringen Teil von Changs Gesicht konzentrieren, auf den das Licht fiel. Clive vernahm ein Murmeln. Zunächst dachte er, es sei Tomàs mit seiner ewigen Litanei, aber dann wurde ihm klar, daß es Annabelle neben ihm war. »Löwen und Tiger und Bären, o ja!« flüsterte sie. »Lö wen und Tiger und Bären ...« »Was soll das?« fragte Clive, während er die Finger um die ihren laufen ließ und den Kopf etwas näher da hin beugte, wo sich ihr Mund befinden mußte. »O nichts«, sagte sie und hörte sich verlegen an, als wäre ihr nicht aufgefallen, daß sie laut redete. »Hab' nur 'nen Rappel gekriegt, das ist alles. Hier läuft's mir kalt 'n Rücken runter, Clive. Ist so, als spazierte man durch den Weltraum, nur daß es hier keine Sterne gibt.« Er drückte ihr erneut die Hand, strich ihr mit der Handfläche den Arm entlang nach oben — ohne dabei den Kontakt zwischen ihnen zu unterbrechen — und legte ihr den Arm um die Schultern. »Clive?« flüsterte sie erneut. »Ich glaube, daß uns der Baalbec 'n bißchen mehr Licht geben könnte.«
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»Nein!« befahl er streng. »Der wird von deiner Kör perwärme gespeist. Er könnte dich zu sehr erschöpfen. Kann sein, daß wir dieses Risiko später eingehen müs sen, aber jetzt folgen wir einfach Changs Licht.« »Jawohl, Großpapa«, entgegnete sie sanft. »Audiosensoren empfangen«, meldete Chang Guafe. Clive schreckte ein wenig zusammen. Die Stimme des Cyborgs rief bei ihm unwillkürlich diese Reaktion her vor, besonders in dieser höllischen Dunkelheit. Er holte tief Luft und nahm sich vor, die Nerven zu behalten. »Was ist es?« fragte er. »Was hörst du?« Chang Guafe modulierte seine Stimme. »Camptown races five miles long, doodah, doodah!« sang er in einer vertrauten Weise. »Finnbogg!« riefen Smythe und Annabelle gleichzei tig. »Das ist Finnboggs Stimme!« Und in der Tat: Augenblicke später vernahmen sie al le die bärbeißige Stimme des fremdartigen Hundewe sens, die aus dem Dämmerlicht vor ihnen das Lied brüllte, und sie stimmten alle ein. »Goin' to run all night«, sangen sie inbrünstig und schritten etwas ra scher aus, »goin' to run all day!« Nur Shriek sang nicht mit, weil ihr Stimmapparat nur über beschränkte Möglichkeiten verfügte. Aber ihre Ge danken berührten Clives Bewußtsein. Was für ein Ge räusch ist dies, Wesen Clive? fragte sie neugierig und amüsiert zugleich. Glückliches Gefühl spüre ich und Freu de. Ein ritueller Gesang? Ja, Shriek, antwortete er freudig, ein ritueller Gesang für den Freund, der verschollen war und dann wiedergefunden wurde. Freund? fragte sie. Das Wesen Finnbogg? Er vernahm das Echo ihres Lieds in Shrieks Bewußt sein, als sie die Melodie prüfte und versuchte, ihr einen Sinn abzugewinnen, und ihm wurde klar, daß sie auf ihre Weise eingestimmt hatte. Finnbogg brach ab. »Annie!« Sein Ruf erhob sich aus
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der Dunkelheit. »Rieche Annie! Rieche Clive! Rieche Horace!« Er sprach es aus wie ›horse‹, das englische Wort für Pferd. Er heulte lange und hielt dann inne. »Uu!« Seine Stimme hob sich erneut. »Rieche Neville!« »Das ist ja schön«, sagte Neville reserviert. »Immer hin brachte ich ihm dieses Lied bei! Schnappte es wäh rend einer Reise durch Amerika auf, jawohl!« Einen Augenblick lang glänzten ihnen zwei leuchtende Augen entgegen, als Chang Guafes Strahlen von Finnboggs Gesicht reflektiert wurden. Finnbogg warf die Arme hoch und stürzte auf sie zu. »Finnboggfreun de!« schrie er. »Glückliches Wiedersehen!« Er rieb sich an Annies Bein und leckte Clive die Hand. Sie ließen einander los und umringten das Hundewesen, wobei ihn alle gleichzeitig hätschelten und streichelten, und Finnbogg war stolz auf die Aufmerksamkeit, die er er regte. »Wußte Finnboggfreunde kommen!« sagte Finnbogg grinsend und nahm dankbar hin, daß ihn Sidi Bombay am linken Ohr kratzte. »Also setzt sich nur hin und singt Finnbogg! Freunde hören und kommen. Ihr hört Finnbogg singen? Singt gut!« »Sicher, sicher!« versicherte ihm Annabelle, während sie ihm den Hals streichelte. »Finnbogg hört Finn boggfreunde singen zurück?« »Hmmm. Annie streichelt gut. Annie riecht gut. Alle riechen gut!« Finnbogg ließ erneut ein langes Heulen er tönen, und sie lachten alle, alle außer Neville und To màs, die ein wenig abseits standen. »Basta!« sagte Tomàs abrupt. »Seht mal!« Clive richtete sich auf. Er konnte sich vorstellen, daß der kleine Portugiese irgendwohin deutete, aber er konnte den Arm nicht sehen. Er drehte sich langsam um sich selbst und durchsuchte die Dunkelheit. Weit ent fernt erspähte er einen orangefarbenen Glanz und einen schwachen Hinweis auf so etwas wie Flammen. Gleich falls war die Luft deutlich wärmer geworden.
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»Ich hab' 'n ganz schlechtes Gefühl dabei«, sagte An nabelle und trat wieder zu ihm. »Chang Guafe?« fragte Clive über die Schulter hirr weg. »Das ist die Haupthitzequelle, von der ich berichte te«, entgegnete der Cyborg. »Alles deutet darauf hin, daß Größe und Temperaturausstoß sich verdoppelt haben.« Clive wandte sich an seinen Bruder. Es ärgerte ihn, daß er Neville um Rat fragen mußte. Neville hatte ihn stets beherrscht, hatte den Überlegenen gespielt, und das alles, weil er ein paar Minuten früher geboren wor den war, nämlich auf der einen Seite vor Mitternacht und Clive auf der anderen. Aber jetzt stand womöglich das Leben seiner Freunde auf dem Spiel, und er schluckte seinen Stolz hinunter. »Weißt du was davon?« fragte er so höflich wie möglich. Chang Guafes Augenstrahlen glitten Neville zufällig übers Gesicht. Natürlich zeigte sich darauf ein sarkasti sches Lächeln. »Nein, nichts«, sagte er. »Du bist jetzt so tief im Dungeon, wie ich's gewesen bin, also ist das für uns alle was Neues, fürchte ich.« Sidi Bombay trat zwischen sie und sah Neville lange und fest an. Dann wandte er sich wieder an Clive. »Es ist nur so ein Einfall, Engländer«, sagte er ruhig, »aber überprüfe sein Tagebuch. Sieh nach, ob es da eine Ein tragung gibt.« »Was für ein Tagebuch?« fragte Neville mit vorge täuschter Erbitterung. »Ihr sprecht unaufhörlich von meinem Tagebuch. Ich habe niemals im Leben Tagebuch geführt! Und ich war hier unten sicherlich viel zu be schäftigt mit Überleben, um mit so was anzufangen!« Annabelle holte das Buch aus ihrer Jacke und über reichte es Clive. »Sicher, Chipsfresser«, sagte sie höh nisch. »Aus deinem Programm muß wohl mal wieder 'n Fehler rausgebaggert werden?« Sie ließ den Finger über die Implantate des Baalbec laufen. »Wenn du was über diesen Ort hier weißt, spuckst du's besser aus.«
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Finnbogg ließ ein tiefes Knurren ertönen. »Werde ich bedroht?« sagte Neville und legte mit ei ner übertriebenen Gebärde die Hand auf die Brust, als wäre er schockiert. »Annabelle«, sagte Clive. »Du sagtest, der Baalbec könne ein wenig Licht spenden. Changs Augenstrahlen reichen zum Lesen nicht aus.« Annabelle nickte. »Stimmt, Clive. Junge, ich kann's kaum glauben, daß du so weit gekommen bist, um die ses Miststück zu finden!« Sie berührte zwei der Implan tate am Unterarm. Einen Augenblick später glänzte sie wie ein menschlicher Leuchtkäfer in einem weichen grünen Licht. »Eignet sich gut dafür, Schlüssellöcher zu finden«, fügte sie mit einem Grinsen hinzu. »Komm dennoch nicht zu nah, er versetzt dir noch immer einen Schlag.« Clive schob sich an die Grenze des erhellten Bereichs, öffnete das Buch und blätterte die Seiten durch, bis er auf den letzten Eintrag stieß. Er zögerte einen Augen blick, warf seinem Bruder einen Blick zu und las dann laut: »Vom Regen in die Traufe; wie dem auch sei: Gut gemacht, kleiner Bruder, gut gemacht. Was fühlst du angesichts des Herrn der Hölle? Gut gemacht, kleiner Bruder, gut gemacht.« »Dat issen verdammter Dichter, und er sacht, er weiß dat nich!« sagte Smythe im schönsten Dialekt. »Aber ich habe das niemals geschrieben!« rief Neville Folliot offensichtlich entrüstet aus. »Komm, zeig mir mal dieses verfluchte Buch!« Er riß es Clive aus der Hand und hielt es so, daß Annabelles Licht die Seite be schien. »Nun, das ist sogar meine Handschrift! Aber ich schwöre, daß ich das niemals geschrieben habe.« Er reichte es seinem Bruder zurück. »Clive Folliot, das weißt du genau. Abgesehen davon — ich bin zweimal so gut im Dichten wie der Autor dieser Knittelverse!« Shriek schob sich ganz ruhig hinter den älteren Fol liot, und Chang Guafe stellte'sich rechts neben ihn. To
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màs und Smythe standen Schulter an Schulter zu Nevil les linker Seite und sahen dabei wie halbverhungerte Männer aus, die ein gutes Steak betrachten. Sidi Bombay ergriff das Wort. »Ich, Major Folliot, ich glaube wirklich Ihrem Bruder, Neville.« Aller Augen richteten sich auf den Inder. »Tatsächlich?« sagte Neville genauso überrascht wie die anderen. Sidi Bombay verschränkte die Arme vor der Brust, schloß die Augen und nickte. Er schürzte die Lippen, bis sie zu einer kleinen braunen Falte wurden, und berühr te sie mit einer Fingerkuppe. »Dieses Buch, von dem wir annehmen, daß es das Tagebuch von Neville Folliots Reisen ist, ist von Zeit zu Zeit an Orten aufgetaucht, wo dein Bruder eigentlich niemals gewesen sein konnte. Und bitte erinnert euch daran, wie es da jedesmal, wenn du es öffnetest — oder wenn es sich, wie manch mal, von selbst öffnete — eine neue Eintragung gab, gleich, ob es die Gruppe im Besitz gehabt hatte oder nicht. Daher gibt es keinen Grund für die Annahme, daß es authentisch ist.« »Ora Bolas!« schnappte Tomàs. »Was heißt das?« fragte Horace Hamilton Smythe und hob eine Braue. Tomàs deutete mit dem Daumen auf Annabelle. »Wie sie vielleicht sagen würde: ›Scheißdreck‹! Es ist seine Handschrift, oder etwa nicht?« Sidi Bombay öffnete die Augen. »Eine Handschrift kann gefälscht werden. Ich glaube, das ist hier der Fall. Die Frage ist jetzt von wem ? Wer tat das, und in welcher Absicht? Offensichtlich werden wir geführt.« »Wohin geführt?« knurrte Finnbogg. Neville deutete auf den Feuerschein in der Ferne. »Offensichtlich dorthin. Was sonst kann bedeuten an gesichts des Herrn der Hölle‹? Das ist eine Einladung, wenn ich je eine gehört habe.« »Und ich weiß, wie sehr du Feste liebst«, erwiderte
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Clive bissig. »Glaubst du, wir sollten an diesem teilneh men?« Nevilles saccharinsüßes Lächeln kehrte zurück. »Ha ben wir eine andere Wahl, kleiner Bruder? Nur dort gibt es etwas in dieser ansonsten reichlich öden Gegend zu sehen. Wenn es eine Schleuse oder ein Tor zur nächsten Ebene oder nach Hause gibt, dann muß es sich dort be finden.« Shrieks Gedanken blühten in Clives Kopf. Und wenn das Wesen Bombay recht hat, Wesen Clive? Wenn wir von ei nem verborgenen Herrn des Dungeon geführt werden, könn ten sie dann nicht auch in diesem seltsamen Feuerschein sein ? Du hast natürlich recht, Shriek, pflichtete Clive bei. Weil er wußte, daß Shriek ihn noch immer verstand, sagte er laut: »Ich bin's allmählich ein bißchen leid, ma nipuliert zu werden. Laßt sie uns doch mal unsererseits manipulieren.« »Muito falar e pouca acao«, knurrte Tomàs. »Viel Lärm um nichts«, übersetzte Annabelle, sehr zur Überraschung des Portugiesen. Sie blinzelte ihm zu. »Ich fang allmählich an, dein Programm zu knacken, Be nutzer.« Licht von Wesen Annabelle wird allmählich schwächer, wisperte Shriek Clive ins Bewußtsein. Das Spinnenwe sen hatte recht. Der Halo, der seine Ur-Ur-Enkelin um gab, glänzte jetzt nur noch halb so stark. »Annabelle, schalte den Baalbec ab!« wies Clive sie an. »Du ermüdest.« »Mir geht's gut, Cliveli«, sagte sie, aber sie schaltete dennoch ab und warf sie zurück in die Dunkelheit. »Er funktioniert mit meiner Körperwärme, erinnerst du dich? Je schwerer ich arbeite, desto mehr Wärme steht dem Baalbec zur Verfügung, um sie in Energie zu ver wandeln. Bis ich an diese Temperaturen hier gewöhnt bin, kann ich ihn sogar als Hitzeableiter benutzen.« Clive schüttelte den Kopf. »Je härter du arbeitest, de sto härter arbeitet der Baalbec. Das summiert sich zu
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einer Strapaze für dich, und das bedeutet Erschöp fung. Wir werden von nun an ohne ihn zurechtkom men.« Chang Guafes Augenstrahlen zeigten ihnen jetzt wie der den Weg, und der Feuerschein in der Ferne war ein leichtes Ziel. Dennoch bestand Clive darauf, daß sie sich an den Händen faßten, ehe sie losgingen. »Du sorgst dich allmählich wie 'ne Gouvernante, Großpapa«, sagte Annabelle und faßte ihn an der Hand. »Und du gehst ein bißchen freizügig mit dieser ›Großpapa‹-Sache um, meinst du nicht?« Sie nickte in Nevilles Richtung. »Bin mir neuerdings der familiären Beziehung ein ganzes Stück mehr be wußt«, gab sie zu. »Zuvor haben wir nur nach deinem Bruder und einem Weg aus diesem Schlamassel heraus gesucht. Jetzt scheint da mehr dran zu sein. Irgendeine — darf ich's sagen?« Sie drückte ihm spielerisch die Hand. »Verschwörung?« Sie gingen weiter. Der orangefarbene Glanz streckte sich ihnen über die weite dunkle Ebene entgegen. Sie erkannten jetzt deutlich die Flammen, die prasselnd und knatternd in die Höhe leckten, sengende weiße Feuerzungen, die vielleicht an den Sternen hätten lek ken können, wenn welche vorhanden gewesen wären. Ein heißer Wind, der nach Schwefel stank, blies ihnen ins Gesicht und peitschte ihre Kleider. Er brannte in den Augen, und die menschlichen Mitglieder der Gesell schaft gingen jetzt weit vornüber gebeugt, um sich vor dem sengenden Tosen zu schützen. Selbst Finnbogg kauerte sich auf alle viere. Nur Shriek und Guafe waren anscheinend völlig unberührt. Horace Hamilton Smythe blieb abrupt stehen. »Hört ihr das?« fragte er. Zunächst dachte Clive, es wäre ein Singen. »Bitte den Major um Entschuldigung, aber ich glaub's nicht, glaub's nicht«, entgegnete Smythe. Sie nahmen ihren Marsch wieder auf.
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Clive blieb als nächster stehen. »Was zum Teufel ist das?« fragte er mit uncharakteristischer Roheit. »Unverkennbar das eine, kleiner Bruder«, entgegnete Neville ruhig, »nämlich die Hölle, wie sie im Buche steht.« Sie blieben wie angewurzelt stehen und horchten auf das schreckliche Getöse, das zu ihnen herübertrieb. Kla gegesänge und Jammern, Rufe und Schreie, Schluchzen und Stöhnen und Kreischen: Es ließ Clive das Blut in den Adern gefrieren. Ein weiteres Stöhnen ertönte un mittelbar neben ihm, und er hätte fast einen Satz in die Höhe gemacht. »Du zerquetschst mir die Hand!« sagte Annabelle und riß sie los. »Entschuldige«, sagte er. »Dachte, es hätte mich er wischt.« »Sollte es wohl auch«, brummte Neville. »Jemand versucht, uns kleinzukriegen.« »Vielleicht Freunde von dir?« sagte Annabelle. Neville gab keine Antwort, und sie gingen wieder los. Das Licht des Feuers war nun hell genug, daß sie mü helos sehen konnten. Eine riesige schwarze Mauer um gab das Feuer, und sie reichte weiter, als sogar Chang Guafe erkennen konnte. Unmittelbar vor ihnen auf dem Weg erhob sich ein riesengroßes Tor mit zwei Flügeln. Das Tor stand einladend offen, und Clive und seine Freunde erblickten dahinter nur Feuer. Als sie näher kamen, wurde es jedoch deutlicher, daß sich ein Pfad zwischen den Flammen entlangschlängel te, ein Pfad aus schwarzverkohltem Stein, ein Pfad, an dessen Saum weißer Rauch wirbelte. Unmittelbar vor dem Tor blieben sie stehen. Annabelle schaute hinauf und ächzte. »Oh, gebt mir noch eine Chance!« Sie deutete nach oben auf die gro ßen Lettern in den Blöcken, die die Oberschwelle bilde ten. »Jemand in diesem verdammten Irrenhaus macht Überstunden! Soll das etwa 'n Witz sein?« Sie wirbelte
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um Clive herum, dann um Neville. »Ich hab gottver dammt noch mal keine Lust mehr, dauernd verarscht zu werden, Folliot!« Clive war auf ihren Ausbruch nicht vorbereitet, aber ehe er etwas sagen konnte, fiel Tomàs wie ein Häufchen Elend auf die Knie. »Ave Maria, cheia de graca!« betete der Portugiese mit weinerlicher Stimme in höchsten Tö nen, und Tränen strömten ihm das Gesicht hinab. »Ai, Christo, benedizo Christo!« Sidi Bombay lief zu dem kleinen Seemann hinüber und kniete sich neben ihn. Clive kam gleichfalls zur Hil fe. »Steh auf, Tomàs, steh auf! Es ist schon in Ordnung. Uns ist noch nichts passiert.« Er zerrte Tomàs erfolglos am Arm. »Analdicoado!« kreischte Tomàs vor Schreck. »Ver dammt!« »Was für ein Klotzkopf!« schrie Annabelle und warf die Arme hoch. »Du kannst doch nicht glauben, das da von etwas real ist. Komm schon!« Clive schnappte: »Annabelle, halt's Maul!« Er warf dem Inder einen Blick zu und flüsterte: »Sidi, kümmere dich um sie. Sie ist ebenso hysterisch wie Tomàs.« Sidi Bombay ging zu Annabelle hinüber und legte ihr den Arm um die Schulter. Sie schüttelte ihn ärgerlich ab und trat etwas zurück, aber sie beruhigte sich wenig stens. »Tomàs«, fuhr Clive fort, legte Tomàs eine Hand auf den Kopf und zauste ihm sanft das Haar. »Wir müssen weiter. Reiß dich zusammen!« Tomàs ergriff Clives Hände und umschloß sie mit den Fingern. »Mi alma!« murmelte er. »Meine Seele!« Er ließ sich auf die Füße ziehen, aber als er aufschaute, dachte Clive, noch niemals derartigen Schmerz und derartige Furcht im Blick eines Mannes gesehen zu haben. »Ich werde bei dir bleiben«, versicherte ihm Clive, »direkt bei dir.« Tomàs trat schwankend auf das Tor zu, und er zitterte
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am ganzen Körper wie ein Blatt im schlimmsten Hurri kan. Plötzlich verspürte Clive Shriek in seinem Bewußt sein. Ich bemerke menschliche Reaktion, Wesen Clive, sagte sie. Euch geht es allen gut? Ich bin ein Mann der Vernunft, Shriek, entgegnete er mit aller Ruhe, die er aufbieten konnte. Was ist dann an der Inschrift im Tor, das das Wesen Anna belle so bestürzt? Er sah auf und übersetzte für das Spinnenwesen: »Laßt alle Hoffnung fahren, ihr, die ihr hier eintretet.« Er sah sich nach seinem Bruder um. Neville stand im Eingang und wartete auf sie, die Hände in die Hüften gestützt, das vollkommene Abbild eines Soldaten der Königin. Der Feuerschein glänzte auf seinen Epauletten. Seine Haltung verriet mehrerlei Anzeichen von Unge duld, während er Clives Gesellschaft beobachtete. »Smythe?« rief Clive und sah sich um. »Hier, Sör.« »Finnbogg?« Das fremdartige Hundewesen trabte mit hängender Zunge heran. »Okay, Clive, okay, okay.« »Dann bleib bei Annie!« wies er es an. »Laß sie nicht aus den Augen!« »Laß sie nicht aus der Nase!« versicherte Finnbogg. »Annie riecht gut.« Clive rief die letzten beiden auf, die fremdartigsten Mitglieder seiner fremdartigen Gruppe. Chang Guafe und Shriek nickten beide und traten neben die Gefähr ten. »Dann los!« sagte Clive und holte tief Luft, wobei ihm die Lungen zu versengen drohten. Er schloß den Arm fester um Tomàs und zog den kleinen Mann näher zu sich heran. »Gehen wir gemeinsam los.«
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KAPITEL 3
Inferno rührt alles daher, daß ich meinen Tur Vielleicht ban verloren habe«, versuchte Sidi Bombay zu witzeln, während sie das Unheil verheißende Tor durchschritten. »Gott verabscheut einen unbedeckten Kopf.« Der Weg bestand aus zerbrochenen, schwärzlichen Steinplatten von vielleicht einem Meter Breite. Zu bei den Seiten schössen Flammen wie Geysire hoch und leckten und spien wie Sonnenprotuberanzen. Der Bo den selbst schien in einem schwachen blauen Feuer zu brennen, das hypnotisierend waberte. Nur die Straße bot Sicherheit. Weit entfernt bemerkte Clive einige Umrisse, die er rasch die Brennenden Berge taufte. Schrecklich und schön brachen sie am fernen Horizont hervor, gelb und orange und rot, und die Spitzen waren so scharf, daß sie die Dunkelheit zu durchbohren schienen. Sie waberten und tanzten gleichfalls mit einer solchen Hitze, daß es schwerfiel, sie lange anzusehen. Schweiß rann ihm übers Gesicht, dann Nacken und Brust hinunter, so daß seine Kleidung bald klitschnaß war. Er überlegte, ob er sich das Hemd ausziehen sollte, aber die Haut im Gesicht spannte bereits in der Hitze, und die Hände fühlten sich an, als würden sie langsam verbrutzeln. »Du scheinst nicht sehr viel zu sagen zu haben, Bru der«, sagte er zu Neville Folliot, während er sich über legte, daß sein Bruder in der steifen Militäruniform mit der roten Jacke, den Epauletten und Metallknöpfen fast lächerlich aussah. Er konnte nicht in dieser Aufma chung ins Dungeon gekommen sein, sondern mußte die
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Diener der Herren des Donners dazu gebracht haben, sie für ihn anzufertigen. Neville starrte nach vorn. »Dies ist ein Ehrfurcht ge bietender Anblick«, antwortete er ruhig. »Wenn wir in die Heimat zurückkommen, kleiner Bruder, werde ich vielleicht auf meinem Wege umkehren und in den Schoß der Heiligen Kirche zurückfinden.« »Bitte!« unterbrach Horace Hamilton Smythe. »Wie es aussieht, werden wir noch durstig genug werden. Bringen Sie mich also nicht dazu, das bißchen Spucke zu vergeuden, das ich noch habe.« Neville schoß dem Quartiermeister einen überrasch ten Blick zu und hob eine Braue. »Smythe!« sagte er. »Ich wußte wirklich nicht, daß du mich nicht ausstehen kannst.« »Sie nicht ausstehen können, Sör?« entgegnete Hora ce Hamilton Smythe mit uncharakteristischer Grobheit. »Ich kenne Sie nicht gut genug, um Sie nicht ausstehen zu können, bin ich Ihnen doch nur ein paar Mal als Bur sche Ihres Bruders begegnet. Aber das reicht hin, um Sie abzulehnen. Ich bin in den Diensten Ihrer Majestät herumgekommen, Sör, und ich kenne Ihren Ruf.« Neville sah seinen Bruder stirnrunzelnd an, sprach jedoch weiter zu Smythe. »Nun, es steht dir nicht zu, dein Mißfallen oder Wohlwollen zu äußern, oder etwa doch? Immerhin bin ich der Erbe von Tewkesbury, und was bist du? Nun ...« Neville rümpfte die Nase und hob die Schultern. »Laßt uns doch weitergehen«, schlug Clive vor. »Es hat keinen Zweck, hier herumzutrödeln.« Aber Nevilles Worte kreisten ihm immer und immer wieder im Be wußtsein. Es stimmte, daß Clive sich jetzt, nachdem er Neville lebend gefunden hatte, von der Erbfolge abge schnitten hatte. Neville war immer Vaters Hätschelkind gewesen, während Vater Clive immer gehaßt und für den Tod der Mutter verantwortlich gemacht hatte, weil er als letzter geboren worden war.
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Als er das alles jedoch ständig aufs neue in Gedanken wiederholte, erschien es ihm allmählich wie eine lang weilige alte Leier. Es kümmerte ihn nicht mehr weiter. Er hatte jetzt gute Freunde, die darauf zählten, daß er sie aus diesem Schlamassel hinausführte, und einer da von war seine Ur-Ur-Enkelin. Laß Neville doch das Geld behalten, soll doch der Vater selig werden, und da mit Schluß! Plötzlich vernahm Clive durch das Rauschen und Knistern der Flammen hindurch ein weiteres Geräusch und befahl einen Halt. Er spähte in die Höhe, aber es fiel schwer, etwas zu. er kennen. Das gleißende Feuer schmerzte ihn in den Augen, wenngleich er sie so gut abschirmte, wie er nur konnte. »Hörst du das, Chang Guafe?« fragte er. Die Senso ren des Cyborgs arbeiteten weit genauer als Clives menschliche Sinnesorgana »Bestätigung«, antwortete der Maschinenmann. »Nicht in der Lage zu identifizieren. Abwarten.« Er reckte den Hals und sah hinauf zum Himmel. »Etwas nähert sich von oben.« Sie kamen direkt aus den Flammen, riesige lederne Fledermausflügel, die in den Hitzeströmen schlugen, während sie sich auf die Gruppe hinabließen und über ihr kreisten. Dämonen war das einzige Wort, das Clive für diese schrecklichen Ungeheuer einfallen wollte, als er sich von Tomàs löste und den Degen aus der Scheide zog. »Mein Gott, Sör!« rief Horace Hamilton Smythe aus, als er sich rechts neben Clive stellte. Er hielt den eige nen Degen in der rechten Hand, während er in der lin ken die Stasisbox hielt, die er den Dienern der Herren des Donners abgenommen hatte. »Sieht so aus, als müßten wir uns auf 'ne Schlägerei vorbereiten«, sagte Neville und trat an Clives linke Sei te. Er zog ebenfalls den Degen und blinzelte Clive zu. Ohne die Augen von der geflügelten Bedrohung über
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ihnen abzuwenden, raunte Clive Smythe aus dem Mundwinkel zu: »Gib eine der Waffen jemandem, der keine hat«, sagte er. »Ich persönlich vertraue deinem Degen.« »Sidi?« sagte Smythe, ohne sich dabei umzuschauen, und hielt dem kleinen Inder die Stasisbox hin. Über ihnen trennte sich einer der Dämonen von den übrigen faltete die Schwingen zusammen, fiel mit den Füßen voraus zu Boden und blieb vor der Gruppe ste hen. Er wirkte anstößig in seiner ungeheuerlichen Nacktheit, und nur eine Haube verhüllte Kopf und Ge sicht. »Willkommen in der Hölle, Clive Folliot«, sagte die Kreatur, als sie das verhüllende Kleidungsstück zurück schlug. »Philo B. Goode!« Clive starrte das vertraute Gesicht an. Trotz der Fänge, die aus den Mundwinkeln ragten, und der Augen, die schlitzförmig waren wie die einer Katze, konnte man sich in dem Gesicht des Mannes un möglich täuschen; des Mannes, der versucht hatte, ihn auf der Reise nach Afrika an Bord der Empress Philippa mit Karten zu betrügen, und den er bei mehreren Gele genheiten frei im Dungeon hatte herumlaufen sehen. Philo B. Goode warf den Kopf zurück und ließ ein schreckliches Gelächter vernehmen. »Ah, aber hier un ten, mein guter Folliot, bin ich als Beelzebub bekannt!« »Der Herr der Lügen!« rief Horace Hamilton Smythe dazwischen. »Hmm! Das haut hin!« Beelzebub sah auf den kleineren Quartiermeister her ab und lächelte, wobei er die ganze Rasiermesserschärfe der Fänge zeigte. »Freut mich, auch Sie zu sehen, Ser geant Smythe. Ist schon 'ne Weile her seit New Orleans, nicht wahr?« »Ich dachte, ich hätte dich damals getötet«, sagte Smythe mit einiger Bitterkeit. Beelzebubs Lächeln wurde noch breiter, bis die Flam men von den perlmuttweißen Zähnen reflektiert wur
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den. »Das hast du auch getan, und daher bin ich jetzt in der Hölle. Und du mußt dich zu mir gesellen, sowohl mit dem Geist als auch mit dem Körper.« Er warf den Kopf zurück und stieß ein schrilles Krei schen aus, als er die Flügel ausbreitete und sich in die Luft warf; und er stieg weiter, selbst als die übrigen Dä monen die Schwingen zusammenfalteten und krei schend auf die Gruppe niederstießen. Clive wappnete sich und stieß den Degen durch die Brust des ersten Wesens, ehe dessen Klauenfüße den Boden berührt hatten. Sein Kreischen nahm einen ei genartig schrillen Ton des Schreckens an, als Clive ihn bis zum Unterleib aufschlitzte und die Klinge heraus zog. Zu seiner großen Erleichterung sackte die Kreatur vor seinen Füßen zusammen und blieb mit gespreizten Gliedern auf dem Weg liegen, wobei sie eine dicke schwarze Flüssigkeit absonderte. »Sie können verwundet werden!« rief er triumphie rend. Aber Smythe und Neville hatten das bereits ent deckt. Die anderen offensichtlich gleichfalls. Hinter sich hörte er das Summen von Sidis Stasisstrahlen und sah, wie einer der Dämonen auf halber Höhe verharrte. Zu seiner Überraschung war es Tomàs, der einen fürchterli chen Schrei ausstieß, vorsprang und das Ungeheuer in einen der Flammengeysire stieß, wo es zischte und ex plodierte. Der kleine Portugiese stand einen verhäng nisvollen Augenblick lang da und rief ihm in seiner Muttersprache Grobheiten hinterher. Das hätte ihn fast das Leben gekostet. Ein Dämon fiel hinter ihm vom Himmel und hob eine Klauenhand, die Tomàs viellleicht den Kopf von den Schultern getrennt hätte, aber ehe die Kreatur zuschlagen konnte, stachen jäh zwei vergiftete Stachelhaare aus ihrem Rücken heraus. Der Dämon stieß einen abscheulichen Schmer zensschrei aus und versuchte, zurückzugreifen und die Stachel herauszuziehen. Aber es war zu spät. Das Gift tat rasch seine Arbeit. Er fiel auf den Weg herab,
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schwoll an und wurde dunkler, während er zuckte und zappelte. Risse klafften in seinem Fleisch auf, und schwarzes Blut tropfte ihm aus Augen, Nase und Mund. Das Ungeheuer starb schrecklich, aber rasch. Clive und Neville und Smythe arbeiteten als einheit liche Frontlinie, die Degen hoben und senkten sich, stie ßen und schnitten, während die Dämonen über sie her fielen. Über ihren Köpfen rief das Ungeheuer, das sich Beelzebub nannte und aussah wie Philo B. Goode, sei nen Gefolgsleuten und Clives Trupp Flüche zu, wäh rend ihn mächtige Flügelschläge in sicherer Entfernung hielten. Ein lautes Knistern veranlaßte Clive, sich umzuwen den. Annabelle! schrie er innerlich und suchte in dem Tumult nach ihr, wobei er um seinen Nachkömmling fürchtete. Er hätte sie besser im Auge behalten sollen! Er hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen. Sie hatte sich viele Male während der Reise bewährt. Er sah, wie ein Dämon vom Himmel auf sie herabstürzte. Sie wartete, wartete, und im letzten Augenblick tippte sie auf eines der Implantate im Unterarm; der Baalbec A-9 sprang mit voller Kraft an und betäubte das Unge heuer. Finnbogg warf sich darauf und zerfleischte es mit den Klauenhänden und den entblößten Fängen. Sie wa ren ein hervorragendes Team, Annabelle und Finnbogg! Genauso wie Tomàs und Sidi. Und wie Sergeant Smy the und Neville und er selbst. Da blieb nur noch Shriek, eine tödliche Bedrohung für sich selbst. Sie wartete nicht, bis die Dämonen lan deten, sondern warf ganze Händevoll der Stachelhaare in die Luft, wobei sie einen vernichtenden Tribut forder te, indem sie Körper um Körper auf sich herabregnen ließ. Und Chang Guafe. Ein Berg von Dämonenleibern häufte sich ihm zu Füßen. Er besaß keinerlei Waffen au ßer der eigenen Kraft. Die Kreaturen fielen über ihn her, und die Klauen rutschten an dem stahlgepanzerten Kör per ab. Er fing sie mit den Händen und drehte ihnen die
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Hälse um, streifte ihnen die Schwingen vom Rücken und zerschmetterte ihnen die Schädel. Er bewegte sich wie ein Moloch, unaufhaltsam, wie der Golem in der alten hebräischen Legende. Als Clive seine Freunde so sah, durchspülte ihn eine Woge von Ärger. Er fühlte sich stärker und mächtiger denn je. Sie hatten bereits zuviel überstanden, hatten zuviel erlitten und erlebt. Und wenigstens für den Au genblick hatte Philo B. Goode die falsche Zeit für einen Angriff ausgesucht. Wie Annabelle gesagt hatte: Im Au genblick waren sie es leid, verarscht zu werden, was das auch immer bedeuten mochte. Er schüttelte den Degen gen Himmel. »Komm runter, Goode oder Beelzebub, oder wie du dich auch immer nennst! Komm runter!« Der Befehlshaber der Dämonen blickte finster drein und scharrte mit den Klauen durch die Luft. »Diese Runde geht an Sie, Major Folliot, an Sie und Ihren Bru der und Ihre Freunde! Aber die Gefolgsleute der Hölle sind zahllos, und der Weg zum Palast des Morgensterns ist weit! Wir werden uns wiedersehen!« Shriek beugte sich zurück und wollte ein Stachelhaar schleudern, aber ehe sie es loslassen konnte, wischte ein knurrender brauner Fleck hoch durch die Luft. Philo B. Goode kreischte überrascht auf, als ihm Finnbogg auf dem höchsten Punkt seines Sprungs mächtige Kiefer knochen in die Fußgelenke grub. Das Kreischen steiger te sich zu einem langen, schrillen Ton, als er versuchte, das Hundewesen abzuschütteln, wobei er hoch in der Luft einige Loopings vollführte, dann eine Reihe von Kurven drehte und schließlich mitten durch einen Feu ergeysir flog. Finnbogg jaulte, nachdem sie hindurch waren, ließ los und fiel unsanft direkt auf den Rand des Pfades. An nabelle und Smythe rannten zu ihm, und Annabelle warf die Arme um ihn. »Guter Finnbogg!« rief sie und streichelte ihn zwischen den Ohren.
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»Häh, häh, häh!« antwortete Finnbogg mit einem rauhen Gluckser. Und dann: »Pfui! Fliegding nicht schmeckt so gut, aber macht befriedigenden Schnapper, Krachen, plupp in Mund!« Hoch in der Luft funkelte Beelzebub/Goode zu ihnen hinab und strich sich über den gebrochenen Fuß. »Haut jetzt ab!« wütete er. »Aber ich habe noch viele Überra schungen für euch vorbereitet. Besonders für dich!« Er stach mit einem langen Finger in Richtung auf Annabelle und stieg daraufhin höher und höher in den Himmel, bis er verschwand. »Und auch für den kleinen Hund!« murmelte Anna belle, während sie Finnboggs rechtes Ohr kraulte und zusah, wie Philo B. Goode verschwand. »Die Hölle kennt keinen Zorn ...«, begann Neville und ließ das im Raum stehen. Er wandte sich an Clive. »Nun, kleiner Bruder, ich bin ganz schön beeindruckt. Ganz schön beeindruckt, wirklich. Das sind ein paar tol le Gefährten! Ich glaube wirklich, daß wir eine Chance haben, mit solchen Freunden den Weg zurück nach Hause zu finden!« »Du selbst hast dich ebenfalls prächtig geschlagen, Neville«, sagte Clive nur. Er wandte sich an seine Freunde. Alle schienen so weit in Ordnung zu sein, au ßer — zu seiner Überraschung und Bestürzung — Chang Guafe. Der Cyborg war nicht völlig von Metall bedeckt, und wo die Haut offen lag, war sie übersät von klaffenden Wunden. »Kein Grund zur Aufregung«, sagte der Cyborg, als Clive die Kratzer und Schnitte untersuchte. Einige da von schienen tief zu sein, und die Haut hing in Fetzen herab. »Verletzungen übersteigen die Design-Parameter nicht. Verletzungs-Kontrollsysteme sind funktionsfähig und arbeiten bereits.« Als sich die übrigen um ihn scharten, hörte das Blut bereits auf zu strömen und ge rann. »Antibiotika überschwemmen das System«, mel dete Chang Guafe. »Heilung schreitet fort.«
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Nun, dann ist ja alles in Ordnung. »Wir wollen uns wieder auf den Weg machen«, sagte Clive. »Ich glaube, ich habe Goode etwas über einen Palast des Morgen sterns sagen hören und daß er uns da nicht hingehen lassen will. Das scheint dann unser nächstes Ziel zu sein. Vielleicht finden wir dort ein weiteres Tor.« »Ich glaube, du solltest Miß Annabelle einmal unter suchen, Engländer«, flüsterte Sidi Bombay und lehnte sich dabei nahe an ihn heran. »Sie sieht gar nicht gut aus.« Clive durchfuhr ein heftiger Schreck, der ihm die Brust zuschnürte, als er die übrigen beiseitestieß. War ihm etwas entgangen? War Annabelle irgendwo ver wundet worden und hatte sich nichts anmerken lassen? Sie saß mit gekreuzten Beinen neben der Straße und hielt Finnboggs Kopf im Schoß, so, wie er sie zuletzt ge sehen hatte. Sie sah bleich aus und, wie sie gesagt hätte, »nicht ganz dabei«. Er berührte sie an der Schulter, dann an der Wange. Die Haut fühlte sich kühl an. »Geht's dir gut, Annabelle?« fragte er. Finnbogg rollte die großen braunen Augen nach oben, ohne dabei den Kopf zu heben. »Gut, Annie?« fiel er ein. »Annie geht's gut? Will, daß Finnbogg singt?« Annabelle zwang sich zu einem Lächeln. »Schon gut, Finnbogg, mir geht's gut.« Sie sah Clive an, und das Lä cheln erlosch. »Der Baalbec«, sagte sie leise. »Das hat mich einiges gekostet, ihn so lange auf diesem Energie level zu benutzen. Dennoch geht's mir gut. Ich fühl' mich jetzt nur ein bißchen wackelig.« Clive half ihr auf die Füße und stützte sie einen Au genblick lang. »Finnbogg, würdest du bitte Annie tra gen? Es wäre nicht klug hierzubleiben.« Finnbogg sprang auf, ließ sich dann wieder auf alle viere fallen und bot den Rücken an. »Glücklich, Annie zu tragen. Finnbogg stark, und Annie riecht gut, wie Geschwister.« »Na, fühlst du dich da nicht schon viel besser?« sagte
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Clive, während er Annabelle dabei half, sich auf Finn bogg zu setzen, und dafür sorgte, daß sie das Gleichge wicht gut halten könnte. »Du riechst genau wie seine Geschwister.« »Willst du wissen, wie du riechst, Cliveli?« sagte sie mit blitzenden Augen. Er wandte sich den anderen zu und winkte mit einem Arm. »Chang, kannst du den Himmel mit deinen Sen soren abtasten? Sie könnten uns auf diese Weise erneut überfallen.« »Ich bin voll funktionsfähig«, antwortete der Cyborg, »und ich taste ab.« Clive wandte sich an Tomàs, als sie losgingen. »Du hast dich sehr gut geschlagen, mein Freund«, sagte er. »Freu mich, dich wieder bei uns zu haben.« Der Gesichtsausdruck des kleinen Portugiesen be wegte sich hart am Rand des Ärgers. »Die Demonios blu teten und starben!« antwortete er mit zusammengebis senen Zähnen. »Wenn dies wirklich o Inferno wäre, könnte das nicht sein. Ehe ich durch das Dungeon ge gangen bin, habe ich die Dinge auf mich zukommen las sen. Aber jetzt glaube ich allmählich, daß irgend jemand absichtlich ein Spiel spielt.« Er starrte Clive an, daß es ihn fast fröstelte. »Ich mag keine Spiele, Engländer, be sonders wenn sie jemand mit meinem Glauben spielt.« Er sah zu Boden und schlug ein Kreuz, aber als Teil der letzten Bewegung zog er den Daumen über die Kehle und blickte erneut kalt und hart geradeaus. Clive nickte nur. Eine Weile lang gingen sie mit bereitgehaltenen Waf fen weiter. Smythe war der erste, der die seine wieder in die Scheide steckte, weil er bemerkt hatte, daß der Griff fast zu heiß war, um ihn länger zu halten. Clive war das während der Schlacht nicht aufgefallen, aber Smythe hatte recht. Das Metall war ziemlich warm. Tatsächlich war ihm gleichfalls sehr warm. Er befühlte mit der Zun ge seine Lippen. Sie waren gesprungen und trocken.
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Nun, warum hast du das getan? fragte er sich. Damit hast du nur erreicht, daß du jetzt an deinen Durst denkst. Die Szenerie vor ihm änderte sich, als wollte sie ihn quälen. Die riesigen brüllenden Feuerstreifen blieben, aber der brennende Boden hörte auf, und sie standen am Ufer eines riesigen Sees mit brackigem schwarzen Wasser. Die Oberfläche kräuselte sich und schimmerte im Licht des Feuers, und das Wasser blubberte, schäum te und dampfte. Die Luft wurde schwer und feucht — in gewisser Hinsicht eine willkommene Abwechslung zu dem ausdörrenden und trockenen Wind und der Hitze zuvor. Aber angesichts des Wassers wurde Clive noch dur stiger. Er konnte den gleichen Durst in den Augen sei ner menschlichen Kameraden erkennen. »Möchtest du das Wasser aus meinem Mund neh men?« fragte Chang Guafe und trat an ihn heran. »Was?« Clive war sich nicht sicher, was er damit meinte. Chang Guafe sagte nichts weiter, sondern kniete sich am Wegrand hin und tauchte den Kopf in den kochen den See. Clive Folliot ließ sich schreckerfüllt neben ihn fallen, packte ihn an der Schulter und versuchte ver zweifelt, ihn hochzuziehen. Der Cyborg schüttelte ihn einfach ab, und als er sich wieder erhob, glänzten die Metallplatten sauber. »Chang, bist du denn ganz ...!« Ehe er noch etwas sagen konnte, packte der Cyborg seinen Kopf wie mit einer Schraubzwinge und drückte die metallenen Lippen Clive auf den Mund. Clive wehr te sich einen Augenblick, weil er nichts verstand, bis er die Flüssigkeit schmeckte, die ihm über die Lippen rann. Es war warm, aber es war Wasser! Dennoch stieß er sich nervös weg und schoß den üb rigen mit hochrotem Kopf einen Blick zu. Auf den Ge sichtern von Neville und Smythe stand der nackte Schock an der Grenze zur Empörung. Annabelle kicher
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te, und weil sie's tat, kicherte Finnbogg gleichfalls. Nur Sidi, Tomàs und natürlich Shriek standen ruhig da. »Das Wasser ist trinkbar«, versicherte ihm Chang Guafe. »Ich habe seine verschiedenen Bestandteile ana lysiert. Der hohe Schwefelgehalt beeinträchtigt den Ge schmack ein wenig, aber er wird nicht schaden.« »Das hat damit überhaupt nichts zu tun!« rief Clive Folliot. »Ein Mann tut das nicht mit einem anderen Mann, selbst wenn er ein fremder Cyborg ist!« Chang Guafe blieb gelassen. »Deine Lebensform be nötigt flüssige Nahrung. Dein Fleisch kann jedoch diese extreme Temperatur nicht aushalten, und du hast in dir keinen Behälter, worin du das Wasser sammeln und ab kühlen könntest.« Er fuhr mit mechanischer Geduld fort. »Ich kann es mit meinem Mund aufnehmen und kühlen und es dir dann so weiterreichen, wie ich es vor geführt habe. Es gibt keine andere Möglichkeit.« Annabelle rutschte von Finnboggs Rücken herunter, trat zu Clive und stieß ihn beiseite. »O Clive, sei kein Klotzkopf! Das is' bestimmt was Lustiges und Irres.« Sie wandte sich an Chang Guafe. »Runter auf die Knie, Cowboy. Füll sie ab, und gib mir alles, was du hast.« Die rubinroten Augen des Cyborg richteten sich auf sie. »Du wirst flüssige Nahrung nehmen?« Annabelle grinste. »Ich denke, das hab' ich gerade ge sagt.« Er beugte sich hinab, tauchte den Kopf unter Wasser, kam dann wieder hoch und wartete einen Augenblick, während sich das Wasser im Mund abkühlte. Er nickte, als er bereit war. Annabelle streifte Clive mit einem Blick, und das Grinsen wurde breiter. Sie schlang dem Cyborg die Ar me um den Hals, zog ihn zu sich heran und setzte ihre Lippen genau auf die seinen. »Du brauchst kein Spektakel daraus zu machen!« schnappte Clive nervös. »Es ist heller Tag!« Nun, es war nicht wirklich Tageslicht, aber es war hell genug.
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Annabelle trat zurück und leckte sich die Lippen. Sie blinzelte Clive zu und sagte zu Chang Guafe: »Ich glau be, du hast das genossen, Blechmann.« »Ich registriere zelebrale Alphawellen, wenn ich gu ten Freunden diene«, antwortete der Cyborg. »Das glaube ich gern«, gab Annabelle zurück. Sidi Bombay trat als nächster heran. »Ich bin nur ein armseliger Wilder«, sagte er zu Clive. »Völlig unzivili siert, gemessen am Standard deines Reichs. Was kannst du von mir erwarten?« Clive mußte sich bei dem, was folgte, abwenden. Tomàs folgte als nächster, und Clive knurrte und schloß die Augen. Er war nur ein Seemann. Einem See mann konnte man ein solches Verhalten nachsehen. »Bitte den Major um Entschuldigung«, sagte Smythe höflich, »aber ich bin einfach zu durstig, um mir großar tig darüber Gedanken zu machen, wie ich 'nen guten Schluck kriege, ja.« Clive faßte ihn an der Schulter. »Nicht auch du noch, Horace!« Horace Hamilton Smythe hob nur die Schultern und trat näher an Chang Guafe heran. Neville folgte als nächster. »Du hältst mich sowieso für ein schwarzes Schaf, kleiner Bruder.« Chang Guafe wartete auf Clive. »Willst du nicht ver nünftig sein?« sagte der Cyborg. »Es gibt keine andere Möglichkeit, und meine Sensoren registrieren eine ge fährliche Dezimierung deiner körperlichen Reserven.« Clive knurrte erneut und sah die anderen an. Sie ver schränkten gleichzeitig die Arme und grinsten ihn an. Das war eine Verschwörung! Was sollte er tun? Er saß in der Falle! Er biß sich auf die Lippen und nickte. Aber er drückte die Augen fest zu, als sich beider Lippen trafen, und er versuchte, an seine Geliebte in Plantagenet Court zu denken, an Annabella Leighton. »So ist's richtig, kleiner Bruder«, wieherte Neville. »Schließ die Augen, und denk an England!«
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»Mach dir keine Sorgen«, sagte seine Enkelin lachend über die Schulter. »Das is' nur 'n Übergangszustand.« Ein herzliches Gelächter begrüßte ihn, als er von Chang Guafe wegtrat. Selbst Shriek kicherte mit den übrigen. Mit hochrotem Gesicht nahm er ihre Neckerei hin. Das Wasser hatte ihn erfrischt, das mußte er zuge ben. Als sie aufhörten zu lachen, wandte er sich wieder an Chang Guafe. »Wir sind nur gute Freunde«, sagte er fest. Dann lachte er gleichfalls kurz auf und faßte den Cyborg am Arm. »Du mußt etwas gegen deinen schlechten Atem tun«, flüsterte er gerade laut genug, daß es die anderen hören könnten. »Das sind die Antibiotika«, sagte Chang Guafe, und sogar der Cyborg lachte. Der weitere Weg schlängelte sich über den See und verschwand in wirbelndem Dampf und Nebel. Clive be stand darauf, daß Annabelle wieder ihren Platz auf Finnboggs Rücken einnahm, und sie gab schließlich nach. Finnbogg hatte absolut nichts dagegen. Er hob den Kopf und begann zu singen. »Oh, you take the high road, and I'll take the low road ...!« »Sieht mir hier nicht sehr nach Schottland aus, klei ner Bruder«, vertraute Neville Clive an. »Oh, sach dat ma nich, Scheff«, sagte Horace Hamil ton Smythe in seinem besten Dialekt. »Da sin son paar gute Kerle, die dat schon für möglich halten. Keine ein zige Kneipe hier in diesem verdammten Land, wenn de mich fragst, was de natürlich nich tus.« Der heiße und übersättigte Dunst wirbelte ihnen um die Füße, kroch ihnen in die Hosen, kondensierte und tropfte ihnen in die Schuhe. Clive stampfte auf, um sich zu vergewissern, daß er noch immer festen Boden unter den Füßen hatte, daß sie nicht in Sumpf oder Wasser wateten. Der Untergrund bestand jedoch noch immer aus hartem Fels.
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Während sie so weitergingen, machte der Weg eine jähe Wendung nach rechts, und sie folgten ihm, weil ih nen keine andere Wahl blieb. Dann wandte er sich nach links und kehrte wieder in die ursprüngliche Richtung zurück. Plötzlich erreichten sie eine Gabelung und blie ben stehen. »Finnbogg hat schlechtes Gefühl dabei!« Überrascht starrten sie das Hundewesen an; Anna belle stieß einen kleinen Schrei aus und hielt die Hand vor den Mund, wobei ihre Augen jedoch noch immer funkelten. Sie kraulte Finnbogg hinter den Ohren. »Ich hab auch ein schlechtes Gefühl dabei«, sagte sie. »Du glaubst doch nicht, daß das ein weiteres Laby rinth ist?« fragte Horace Hamilton Smythe stirnrun zelnd und kratzte sich die Bartstoppeln am Kinn. »Bitte nicht noch eins!« »Wenn es eins ist«, sagte Clive unsicher, »haben wir wenigstens Neville. Labyrinthe sind eine seiner Spezia litäten.« »Sie sind selbst ganz gut mit den Labyrinthen zu rechtgekommen, auf die wir getroffen sind, Sör«, kom mentierte Smythe. Neville sah sich ein wenig nervös um und schürzte die Lippen. »Meinst du etwa dieses Heckenlabyrinth, als wir Kinder waren? Ich muß dir ein Geständnis ma chen, kleiner Bruder. Ich habe sein Rätsel niemals ge löst. Ich bin einfach geradewegs zwischen den Büschen hindurchgekrochen. Wußte, daß mich das schließlich hinausbringen würde.« Clive fiel die Kinnlade herab. »Du hast geschwin delt?« Neville war peinlich berührt. »Nun, so würd ich's nicht nennen. Ich hab das Spiel halt nur nach meinen eigenen Regeln gespielt!« »Wir könnten vielleicht die gleichen Regeln anwen den, wenn dies hier ein Labyrinth ist«, holte sie Anna belle in die Gegenwart zurück. »Wir sind schon einmal
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alle mit dem Baalbec unter Wasser gegangen und haben dabei geatmet.« »Negativ«, warf Chang Guafe ein. »Der Baalbec kann Wasser in Sauerstoff und Wasserstoff elektrolysieren, ja, und dir so erlauben, unter Wasser zu gehen. Es ist ihm jedoch nicht möglich, Hitze abzuleiten. In diesem Was ser würdest du innerhalb seines Feldes im Dampf erstik ken.« »Keine angenehme Aussicht«, sagte Sidi Bombay. »Was dann?« fragte Clive erbittert. »Welcher Weg führt zum Palast des Morgensterns?« »Dieser Weg, Clive Folliot«, sagte jemand mit ras pelnder Stimme. Sie wandten sich um und starrten überrascht die lin ke Abzweigung hinab. Umhüllt von dem wirbelnden Dunst saß eine Gestalt mit gekreuzten Beinen mitten auf einer schmalen Brücke. Sie trug einen alten, fast völ lig zerfetzten Anzug und einen hohen Zylinderhut. Die Haut war sehr blaß, fast alabasterfarben, und die Ge stalt war dünn wie eine Bohnenstange. Die Hände be standen fast nur aus Knochen, die Knöchel waren dick geschwollen und die Füße bloß. Die rotglühende Spitze einer Zigarre leuchtete kurz auf, als sie sie an die Lippen hielt und inhalierte. »Muß das wohl aufgeben«, brumm te sie vor sich hin und betrachtete angeekelt das Ende. Sie schnippte sie davon, hob einen Arm und winkte sie mit einem gekrümmten Finger heran. Clive blieb stehen und legte eine Hand auf den Griff des Degens. »Wer bist du?« fragte er mit kaum ver nehmbarem Flüstern. Dann wiederholte er die Frage. Die Gestalt starrte ihn an und hielt den Finger noch immer einladend gekrümmt. »Ich werde Baron Samedi genannt.«
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KAPITEL 4
Ein Führer durch den See des Feuers Bursche«, sagte Neville scharf, »du bist Hörhiermal, 'n bißchen fehl am Platz, nicht wahr?« Er be wegte den Arm, womit er die Landschaft meinte, sofern man sie so nennen konnte. »Ich meine, eine VoodooGottheit in einer biblischen Hölle?« Samedi hob die Schultern, eine besonders schauerli che Geste, denn Clive konnte fast die Knochen in dieser vertrockneten fleischlichen Hülle rasseln hören. »He, Egon, das is' nich' mein Alptraum«, kam schnappend die Antwort, und das Ding lächelte ein Lächeln, das die Zahnwurzeln und das farblose, zurückweichende Zahn fleisch entblößte. »Kommt!« Er wandte sich um und ging den nebelverhangenen Weg entlang. Clive jedoch zögerte. »Was meinst du mit ›eine Voo doo-Gottheit‹?« fragte er seinen Bruder. »Wer ist das?« »Ich hab' einige Zeit in New Orleans verbracht«, ant wortete Neville, »und während meines Aufenthalts ein bißchen von den örtlichen Voodoo-Praktiken mitbekom men. Nur Neugier, wirklich, und die Tatsache, daß ich diesem wirklich hübschen Mädchen begegnet bin, das sich als Priesterin erwies, eine Mamaloi, wie sie sich nannte. Auf jeden Fall ist dieser Baron Samedi so was wie der Geist der Toten. Du triffst ihn auf Schritt und Tritt, wie man so sagt.« Er deutete auf die schmalen Pfa de, die sich über das Wasser schlängelten und in vier verschiedene Richtungen im Nebel verschwanden. »Ich glaube, dieser Ausdruck ist berechtigt.« Sergeant Horace Hamilton Smythe trat heran. »Ich hab' gleichfalls einige Zeit in New Orleans verbracht, Sör, und hab' gleichfalls über diesen Baron Samedi re
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den hören. Kein sehr angenehmer Zeitgenosse, wie ich so gehört hab'. Verwandelt Menschen in Zombies, echt.« »Was er auch immer sein mag«, sagte Annabelle und gesellte sich zu ihnen, »er ist eindeutig ein Fehler. Paßt nicht in dieses Programm. Irgend jemand hat was falsch gemacht.« »Aber ist es ein Fehler zu unseren Gunsten, schöne Frau?« fragte Sidi Bombay zweifelnd. Baron Samedi blieb erneut stehen, wandte sich lang sam um und winkte sie erneut heran, indem er den Fin ger krümmte und lächelte. Aus der Entfernung sah er fast komisch aus mit diesem nickenden Zylinderhut, wenn man seine blasse Haut nicht richtig sehen konnte, die sich straff über die Wangenknochen spannte. »Kommt!« rief er. Wesen Clive, Shrieks Gedanken berührten die seinen so sanft wie eine einzelne Schneeflocke. Die Wahl ist, das Labyrinth ohne das Wesen Samedi abzuschreiten und sich da bei vielleicht zu verirren, oder ihm zu folgen. Es muß ein be stimmtes Ziel haben. Daraufhin ergriff Chang Guafe das Wort. »Ich habe Shriek gehört und stimme ihr zu«, sagte er. »Wenn es dir bei deiner Entscheidung hilft, Clive Folliot: Meine Sensoren zeigen an, daß es kein Geist ist, der vor uns steht. Dieses zerlumpte Wesen hat einen fast menschli chen Herzschlag und strahlt eine Körpertemperatur von etwa sechzig Grad Celsius ab. Das ist höher als die menschliche Normaltemperatur, aber sie gestattet ihm zweifellos, in dieser extremen Hitze leichter zu funktio nieren. Ich kann noch tiefer gehen ...« »Nicht nötig«, sagte Clive und hielt die Hand hoch. »Ich bin überzeugt. Wie Shriek bereits sagte, wir haben wirklich keine Wahl. Aber bleibt nah beieinander und seid auf alles gefaßt.« »Vernünftiger Ratschlag«, pflichtete Neville Folliot bei.
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Sie folgten der dahinwatschelnden Gestalt von Baron Samedi durch den dünnen Nebel. Der Pfad wurde felsi ger. Zu beiden Seiten zweigten weitere Pfade ab, einige breiter, einige glatter, einladender, aber Samedi bewegte sich mit schlafwandlerischer Sicherheit und wählte oh ne zu zögern den Weg. Der Pfad wurde allmählich schmaler und stieg in scharfen Windungen an. Der Nebel machte den schwar zen Stein gelegentlich schlüpfrig, und das Gehen wurde unsicher. Sie mußten jetzt im Gänsemarsch laufen. Zu beiden Seiten des sich verrückt schlangelnden Wegs schlug kochendes Wasser an den Stein. Clives Khakikleidung klebte ihm am Körper; sie war naß vor Schweiß und der Feuchtigkeit des Nebels. Schließlich schrieb er alle Erziehung in den Wind und getraute sich, das Hemd bis zum Gürtel aufzuknöpfen. Er hätte es vielleicht völlig ausgezogen, aber das hätte bedeutet, die Grenzen des guten Geschmacks zu sehr zu strapazieren, vor allem da Annabelle und Shriek un mittelbar hinter ihm waren. Auf dem See explodierte ein Feuergeysir aus der Oberfläche. Ein Hitzesturm rollte über sie hinweg, und bei dessen jäher Helligkeit schrie Tomàs vor Erstaunen auf, während Neville sich den Arm über die Augen schlug. Der Nebel wirbelte wild im Kreis, und das Was ser klatschte ihnen über die Füße. Sidi Bombay, barfüßig, wie er war, stieß einen Schrek kensruf aus, aber ehe die Flüssigkeit ihn verbrühen konnte, nahm ihn Chang Guafe auf den Arm und hielt ihn zappelnd in der Luft. Die Wassertemperaturen schienen Shriek, deren vier Füße gleichfalls bloß waren, nichts weiter auszumachen. Auch nicht Finnbogg, der ein wenig höher stand. »Meine uneingeschränkte Dankbarkeit, edles Fremd wesen«, sagte Sidi Bombay, als die Wellen abflauten und der Geysir verschwunden war. Chang Guafe nickte nur und setzte ihn wieder zu Boden.
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»Kommt!« Baron Samedi stand auf einem Fels vor ih nen und winkte sie heran. »'n ziemlich begrenztes Vokabular hat dieser Bur sche«, murmelte Neville seinem Bruder zu, als sie wei tergingen. »Legt auch wenig Wert auf 'nen guten Schneider.« Der Pfad fiel auf einmal sehr steil ab, und einige von ihnen mußten den anderen helfen. Zur Abwechslung war es diesmal besonders Chang Guafe, der Hilfe benö tigte. Seine Metallfüße rutschten und scharrten über den feuchten Stein, der glatt wie ein Obsidian geworden war, und er fiel mehrmals auf die Knie. Clive entdeckte überrascht, wie ein enttäuschter Ausdruck auf einem Metallgesicht aussah. Es wäre vielleicht komisch gewe sen, wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre. »Schau mal, ist das nicht ein leichterer Weg?« rief Ne ville Folliot nach vorn. Samedi wandte sich mit einem breiten Grinsen auf dem aschfarbenen Gesicht um. »Ein leichter Weg durch die Hölle? Was für eine ungewöhnliche Vorstellung.« Das war eine derart vollkommene Nachahmung von Stimme und Tonfall seines Bruders, daß Clive die Hand über den Mund legen mußte, um nicht herauszulachen. »Sieh mal an«, sagte Annabelle mit einer gehörigen Spur von Sarkasmus, »sein Vokabular verbessert sich.« »Wenn auch nicht sein Benehmen«, antwortete Nevil le empört. Weitere Feuergeysire schossen links und rechts em por, aber jetzt war der Pfad zu hoch über dem See, als daß ihn die anschließenden Wellen hätten überspülen können. Heiße Winde peitschten ihnen ins Gesicht und zerrten an ihren Kleidern, und in dem seltsamen wilden Flackern waren sie in der Tat eine merkwürdige Gesell schaft. Am höchsten Punkt ihres Aufstiegs blieb Samedi ste hen und griff in die Tasche seines schlaffen alten An zugs. Die Finger öffneten sich und enthüllten einen gro
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ßen Klumpen schmutziges Wachs. »Nun, ihr Hübschen, nehmt das. Ihr steckt euch das Zeug in die Ohren, klar? Wir erreichen den See des Jammers, und ihr wollt dieses herzzerreißende Klagen doch nicht hören, sonst werdet ihr so schwermütig, daß ihr was völlig Bescheuertes tun wollt, wie zum Beispiel euch ins Wasser zu schmeißen oder so was, klar?« Clive sah sich belustigt um. »Was meint er?« »Die klassische Methode, muß ich sagen.« Neville nahm seine Portion Wachs und formte es zu kleinen Kü gelchen. »Schätze, das macht mich zu Odysseus, der Gefahren überwindet, während er versucht, den Weg nach Hause zu finden.« »Also gib das Wachs rüber, du Held«, schnappte An nabelle. »Du bist hier nicht der einzige an Bord, weißt du?« Clive achtete nicht auf die beiden, als er seinen Teil nahm. »Der See des Jammers?« fragte er Samedi. Er versuchte, sich an seine Bibellektüre zu erinnern, wenn gleich er derlei Dingen niemals sonderlich viel Auf merksamkeit geschenkt hatte. »Du meinst den See des Feuers?« Samedi vollführte eine ausladende Bewegung mit der Hand. »Das hier ist alles der See des Feuers, Bruder!« Er schlug sich auf den Schenkel. »Aber ein Teil davon ist gleichfalls der See des Jammers. Achtet auch nicht dar auf, was ihr da draußen sehen werdet, und schaltet eure Ohren völlig ab. Und das will ich euch auch noch sagen: Wenn ihr vom Weg abkommt, werdet ihr die Dummen sein! Es ist nicht mehr weit von dort, wo wir hinwollen, wenn wir auf der anderen Seite angekommen sind.« Clive dachte sofort an Chang Guafe. »Du hast keine Ohren für das Wachs«, sagte er. »Ich werde meine Audiosensoren deaktivieren«, ant wortete er. »Ich bin nicht gefährdet.« »Shriek, was ist mit dir?« Ich höre nicht in dem Sinne, wie es die Menschen tun. Ich
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werde auf meinen Stachelhaaren Schwingungen spüren. Wachs ist da keine Hilfe. Dennoch wird mir nichts gesche hen. Baron Samedi winkte ihnen zu und führte sie weiter. »Noch nicht!« rief Clive. Samedi blieb stehen und sah ihn geduldig an. Clive wandte sich wieder an Shriek. »Samedi sagte, wir dürfen nicht fehltreten, also möchte ich, daß sich je der für den anderen verantwortlich fühlt. Die Starken unterstützen die Schwachen, und die gesamte Gruppe unterstützt die Starken und so weiter. Kannst du uns aneinanderbinden?« Horace Hamilton Smythe schlug ihm auf die Schul ter. »Gute Idee, Sör! Eine Rettungsleine!« Spinne einen dünnen Faden, antwortete Shriek, wird stark genug sein, allen zu helfen. »Dann mach's auf der Stelle«, schlug Clive vor. Neville legte jedoch Protest ein. »Nun wart mal 'ne Minute. Ich ...« Annabelle war anscheinend dazu berufen, Neville ständig in Verlegenheit zu bringen. »Oh, halt's Maul, Neville«, sagte sie ätzend. »Selbst Odysseus gestattete, daß man ihn anseilte.« Shriek bewegte sich vorsichtig zwischen ihnen auf dem schmalen Pfad, umkreiste jeden einmal und spann ihnen dabei einen festen Faden um die Körper. Zu nächst war der Faden klebrig und naß, aber in dem hei ßen Wind trocknete er rasch aus und wurde zu einer fei nen, starken Leine. Zuletzt kam sie zu Baron Samedi, der eine Hand hochhielt und den Kopf schüttelte. Rasch und geschickt umwickelte sie ihn gleichfalls, ehe er weiter Protest einlegen konnte. Gehen wir unter, geht auch das Wesen Samedi unter, sagte sie. »Sieht so aus, als hättest du den Tod zu deinem Ge fangenen gemacht«, krächzte Baron Samedi ein wenig erheitert und zupfte dabei mit einem Finger an der Lei ne, als wäre sie eine Harfensaite.
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»Ist nur fair, muß ich sagen«, brummte Horace Ha milton Smythe hinter Clive unterdrückt. Die Straße wand sich hinab zur Oberfläche des Sees. Der Fels, der auf dem Weg hinauf so glatt gewesen war, war jetzt gespalten und zerklüftet, so daß sie besseren Halt fanden. Clive warf den kleinen Wachskügelchen in seiner Handfläche einen Blick zu und lauschte, während sie der Pfad fast zur Höhe des Sees hinabführte. Wenn ein Geysir ausbräche, würden sie sich mit Sicherheit alle samt die Füße verbrühen. Er schaute die Wachskügel chen erneut an. Die übrigen hatten sich die ihren bereits in die Ohren gesteckt. Ein Klang zitterte in der dunstigen Luft, ein hoher, klagender und sehr entfernter Schrei. Dennoch durch schnitt er ihn wie ein rostiges Sägeblatt. Ein weiterer folgte. Er erinnerte sich an die Schreie, die sie außerhalb des Danteschen Tors vernommen hatten, wie er es in zwischen nannte, an die schrillen Schreie, die die Grup pe so entsetzt hatten. Sie waren schließlich verschwun den, und er hatte sie fast vergessen. Diese hier waren bei weitem schlimmer. Sie schnitten ihm bis in die Seele hinein! Was für Wesen mochten das sein, die solche Qualen erlitten? Ein jähes Kreischen zerrte ihm an den Nerven. Er machte einen Satz, und ehe er's verhindern konnte, hatte er eines der kostbaren Wachskügelchen verloren. Es fiel auf den felsigen Pfad und hüpfte ins Wasser. Er starrte die kleinen Wellen an, aber die Leine zerrte ihn weiter. »Horace!« rief er über die Schulter. Aber Horace Ha milton Smythe hatte sich die Ohren bereits verstopft und gab keine Antwort. Ruhig, Wesen Clive! Shrieks Gedanken blühten be sänftigend in seinem Bewußtsein. Teile das, was übrig ist. Das mag genug sein. Sie hatte natürlich recht. Ihm blieb nichts anderes üb rig. Rasch zerpflückte er das Wachs und formte neue
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Kügelchen. Sie sahen so klein aus, und ihm zitterten die Hände, während er sie formte. Ein weiteres Kreischen schien unmittelbar neben ihm zu ertönen, und er mach te erneut einen Satz, hielt diesmal jedoch die Faust ge schlossen, und die Kügelchen sprangen nicht davon. So schnell er konnte, drückte er sie sich in die Ohren. Er konnte noch immer hören, aber er vernahm die Schreie zumindest nur noch gedämpft. Etwas brach durch die Oberfläche des Sees. Er fing die Bewegung aus dem Augenwinkel auf und starrte hin. Eine Hand! Es war eine Hand, die im Wasser um sich schlug! Und ein Kopf! Ein Gesicht erschien. Ein Mund öffnete sich zu einem fast lautlosen Schrei, ehe die Erscheinung wieder unterging. Er kannte das Gesicht! »Du Maurier!« schrie er, und der Schrecken wühlte ihm in der Brust. »George, o mein Gott!« Aber die Reihe zog ihn weiter. Er starrte über die Schulter dahin, wo sein alter Freund ohne Hilfe oder Hoffnung um sich geschlagen hatte und ertrunken war. Er glaubte es nicht, redete er sich ein. Er glaubte es verdammt noch mal nicht! Irgend jemand spielte ihm ei nen üblen Steich. George du Maurier saß zu Hause in seiner Londoner Wohnung, und er nippte Tee über sei nen Philosophiebüchern und Zeitungen. Das konnte nicht George gewesen sein! Eine weitere Bewegung erregte seine Aufmerksam keit. Ein Körper stieß unmittelbar neben dem Weg zu seinen Füßen durch die Oberfläche. Er funkelte das bär tige Gesicht an, als es den Mund öffnete und kreischte. Der schreckliche Laut schnitt sogar durch das Wachs in seinen Ohren. Clive wurde schwach, als ginge alle Spannkraft dahin, und er sank auf ein Knie, und einen Augenblick lang sah er sich Maurice Carstairs Auge in, Auge gegenüber, seinem ehemaligen Unterstützer vom London lllustrated Recorder and Dispatch, dem Mann, der den ersten Teil seiner Reise nach Afrika finanziert hatte.
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Aber die Reihe riß ihn weiter mit sich. Er warf einen Blick über die Schulter, wandte sich an seinen guten Freund Horace Hamilton Smythe um Hil fe, aber Smythe starrte nur hinaus übers Wasser, und Tränen liefen ihm das Gesicht hinab, als ob irgendein übermächtiges Gefühl ihn peinigte. Er rang immer wie der die Hände um die Leine, die ihn festband, als ob ein Teil seiner selbst entkommen wollte. Dennoch ging der Sergeant weiter und ließ zurück, was auch immer einen Teil seiner Seele rief. Clive richtete den Blick vorwärts und versuchte, seine Aufmerksamkeit auf Samedis Zylinderhut zu konzen trieren. Sieh nirgendwo hin! sagte er sich. Es ist alles nur Täuschung, es ist nicht real! Dann erfolgte ein kräftiger Zug an der Leine, gefolgt von einem jähen Klatschen. Er wurde zum See gezogen und balancierte auf einem Bein, bis er sich wieder ge fangen hatte. Ein Zeh rutschte ins Wasser, und nur sei ne Stiefel bewahrten ihn vor einer Verbrennung, als das Wasser hochkochte. Dennoch zitterte die Leine noch im mer und spannte sich ihm stramm um den Leib. »Finnbogg Geschwister!« Das Brüllen des Hundewe sens schnitt sogar durch das Wachs. »Anhalten! Finn bogg Geschwister! Brauchen Finnbogg!« Das klagende Heulen schmerzte Clive stärker, als er je für möglich gehalten hätte, und der Anblick, wie Chang Guafe und Shriek verzweifelt versuchten, Finn bogg auf den felsigen Pfad zurückzuziehen, verwandel te sein Mitleid in Ärger. Niemand hatte das Recht, so et was zu tun, niemand! Er warf Annabelle einen Blick zu, ehe er sich wieder umdrehte. In ihren Augen standen Furcht, Betrübnis und Verwirrung. Er fragte sich, was für Schrecken sie erleben mochte. Aber sie befand sich hinter Horace und hinter Neville, und er konnte nicht zu ihr gelangen, konnte nicht tröstend den Arm um sie legen. Ein Feuergeysir schoß zu seiner Rechten in die Höhe,
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eine röhrenförmige Flamme, die mit sich Tausende nackter Seelen trug, die übereinander rutschten und krochen wie Schlangen in einer Grube. Guter Gott! Er sah sie dort, wie sie schrie und kreisch te, und Tränen der Qual strömten ihr über das schöne Gesicht, als sie sich über die anderen drückte und schob, als die anderen sich über sie wälzten. Während er noch zusah, fing das Haar Feuer und setzte den Kopf in Brand. Die Haut schmolz und verbrannte, und die Augäpfel explodierten. Fleisch wurde schwarz, legte Knochen bloß, die auch schwarz wurden. Dennoch kämpf te sie mit den übrigen, kannte keine Ruhe, keine Erholung. »Annabella!« schluckte Clive. Er hatte gewußt, daß sie erscheinen würde. Die Oberfläche des Sees war glatt genug, daß man hindurchsehen konnte. Er plünderte die Erinnerungen an ihre Freunde und Geliebten aus. Ihm war das vom ersten Augenblick an klar gewesen, und er hatte sich auf diesen Moment vorbereitet. Anna bella Leighton befand sich heil und gesund in Plantage net Court, lehrte die höheren Töchter Literatur, aß Ge bäck und erwartete seine Rückkehr. Dieses Ding in der Flamme, was es auch immer sein mochte, war nicht sei ne süße Annbella Leighton. Dennoch schluckte er noch einmal und murmelte: »Annabella!« Wesen Clive? Shrieks Gedankenstimme unterbrach seinen Kummer. Das Finnbogg-Wesen hat schwere Ver brennungen erlitten. Ist in den heißen See gesprungen. Braucht Behandlung. Braucht Hilfe. Wir müssen rasch auf die andere Seite gelangen. Clive tat sein Bestes, um das aufzunehmen. Finnbogg war verwundet. Er mußte sich darauf konzentrieren. Al le seine Freunde waren in Gefahr, falls sie hier herum trödelten. Er riß sich vom Anblick des Geysirs los und preßte die Hände zu Fäusten zusammen. Sag es allen, Shriek, bat er, sag allen, daß sie laufen sollen. Sag ihnen, daß sie sich an der Leine festhalten und an nicht s anderes denken sollen, als zu laufen.
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Dies ist eine rutschige und nasse Straße. Kann verhängnis voll sein. Die größere Gefahr liegt hier, schnappte er zurück. Sag ihnen das!
Er sah auf die Gestalten vor sich. Baron Samedi be hielt seinen unbarmherzigen Watschelgang bei, hielt den Blick unablässig auf den Boden vor sich gerichtet und sah sich nicht um. »Samedi, du alter Saftsack!« schrie er, als die anderen sich an ihn drängten. »Wir werden dich mitzerren oder tragen, falls du nicht schneller gehen kannst. Wir wer den durchkommen!« Samedi warf einen erheiterten Blick über die dünne, schwarzgekleidete Schulter und machte dann ein aus gesprochen überraschtes Gesicht, als ihn Clive hochhob. »Du wirst uns den Weg sagen, und es sollte unbedingt der richtige sein, andernfalls werfe ich dich eigenhändig in den See und halte dich unter Wasser«, knurrte er das zerbrechliche, fast gewichtslose Wesen an. »Mami, wie ich dich liebhabe!« grinste Samedi und verschränkte die Arme, während die Fetzen seines An zugs um Clive schlugen. »Geh nur weiter, junger Mann! Magst du Hammelfleisch?« Sie liefen, so rasch sie es wagten, über eine Reihe schmaler gewundener Pfade, und das Wasser leckte ih nen an den Sohlen. Geysire, die mit Bildern gefüllt wa ren, brachen zu beiden Seiten aus, und Körper trieben zu ihren Füßen durchs Wasser. Dinge schlugen um sich und spritzten herum und schrien nach ihnen, aber sie liefen weiter, jeder vom nächsten gezogen, und Clive führte sie alle so rasch, wie er es sich zutraute. Samedi plapperte unaufhörlich bedeutungsloses Zeugs, aber die einzigen Worte, auf die Clive achtete, waren rechts oder links. Schneller als erwartet erreichten sie die andere Küste. Clive setzte Samedi zu Boden und sank atemlos in die Knie. Außer Chang Guafe und Shriek taten die anderen
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dasselbe. Ein Keuchen ließ Clive aufschauen. Finnbogg lag mit gespreizten Gliedern und hängender Zunge da, den Kopf in Annabelles Schoß gelegt. »Ich dachte, er wäre verwundet?« sagte Clive zu Shriek. Das Wesen Clive brauchte etwas, auf das es seine Energien konzentrieren konnte. In ihren Gedanken war Gelächter, gleichzeitig jedoch eine Entschuldigung und der Wunsch, daß er ihr vergeben möge. Die Sorge um Freunde ist stärker als Selbstmitleid. Sie zögerte, und er spürte, wie sie im Bewußtsein nach den rechten Worten suchte. Ich habe gelogen, fügte sie schließlich hinzu. Clive beugte sich vornüber und lachte schallend, ein Geräusch, das die anderen rasch ansteckte. Shriek ki cherte gleichfalls, und Chang Guafe gab jenes merk würdige metallische Geräusch von sich, das bei ihm ein Gelächter sein sollte. Finnbogg jaulte. Baron Samedi schaute auf sie herab. »Kommt!« sagte er und krümmte einen knochigen Finger. Sie standen wieder auf und folgten ihrem seltsamen Führer, während sie noch immer vor sich hinkicherten. Auf Samedis Anweisung hin entfernten sie das Wachs aus den Ohren. Clive warf das seine mit einer nachlässi gen Bewegung des Unterarms in den See und horchte auf das leichte Php, das niemals kam. Er kratzte sich das Kinn bei dieser weiteren kleinen unerwarteten Merk würdigkeit, die in diesem Dungeon kaum der Beach tung wert war. Die meiste Zeit über gingen sie schweigend dahin. Nur ein dünner Nebel lag über dem Land, der sich radi kal änderte, als sie weitergingen. Verschwunden waren die Flammen und die heißen Winde und das blubbernde Wasser. Eine konturlose Landschaft breitete sich jetzt vor ihm aus, dem Land nicht unähnlich, das Q'oorna auf der ersten Ebene umgeben hatte, wo sie das Dun geon betreten hatten. Gleichfalls verschwunden war das Licht, das die
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Flammen warfen. Ein graues, nebeliges Zwielicht lag über allem; es war hell genug, daß man dabei sehen konte; es legte sich jedoch schwer aufs Gemüt. Die Straße führte sie nun zu einem Gebiet mit niedri gen Bergen. Clive sah über die Schulter zurück und er innerte sich der wunderschönen Brennenden Berge, wie er sie am Danteschen Tor getauft hatte. Er konnte sie jetzt nicht mehr sehen, obwohl er nicht verstand, wieso das so war. Er hob nur die Schultern. Die Dinge hier un ten änderten sich zu rasch. Beim ersten Vorgebirge führte sie Samedi zu einer riesigen Höhle direkt an der Straße. »Kommt«, sagte er und winkte. Clive war einfach zu müde, um weiter miß trauisch zu sein. Er ging ohne Fragen mit. »Essen!« rief Neville. »Rieche Essen!« rief Finnbogg. Tief in der Höhle brannte ein Feuer am Herd und er füllte einen großen Stollen mit einem warmen Licht. Auf einem großen hölzernen Tisch davor war ein fürstli ches Mahl vorbereitet worden. Kerzen brannten in Mes singleuchtern, und weiche bequeme Stühle umringten die Tafel. »Laßt uns dieses Seil loswerden!« rief Tomàs und zerrte an der Leine um seinen Körper. »Pressa, ich kann sie nicht zerreißen!« Clive konnte sie gleichfalls nicht zerreißen. »Shriek, kannst du helfen?« Die Arachnida zog eines ihrer Stachelhaare heraus und trat zu einem nach dem anderen. Eine geruchlose Chemikalie ließ das Stachelhaar feucht glänzen; es löste die Leine rasch auf und befreite sie. Clive trug ein Glas Wein zu Samedi, der am Kamin lehnte und ihrem Festschmaus zusah. Er hatte selbst keinen Bissen gegessen, nahm jedoch den Wein an und stürzte ihn hinunter. »Unseren Dank, Baron«, sagte Clive höflich. »Ich will dir wat sagen, Egon«, sagte Samedi mit ei
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nem höhnischen Seitenblick. »Ich hab' keinen Bock mehr auf diesen ›Kommt‹-Scheiß, weißte? Ich mein', guck dir doch diese Klamotten an, Mensch! Wie würd' dir dat gefallen, wenn du mit so was in der Öffentlich keit rumlaufen müßtest? Mist! Je nu', is' halt mein Job, weißte. Darum hat man mich hierher versetzt. Was nich' heißen soll, daß ich innen drin nich' 'n guter Kerl war!« Clive zuckte verwirrt mit den Achseln. Er war sich nicht sicher, daß er die Hälfte dessen verstanden hatte, was sein Gastgeber gerade gesagt hatte. Er dachte einen Augenblick lang darüber nach und kratzte sich den all mählich länger werdenden Stoppelbart am Kinn. »Ich mag dich«, sagte er schließlich. »Das is' sehr nett von dir, Egon.« Samedi stellte das Weinglas umgekehrt auf die Herdeinfassung. »Jetzt geht ihr besser in die Heia, denn morgen müssen wir's bis zum Palast des Morgensterns schaffen. Der große Boß persönlich erwartet euch.« Clive fragte widerstrebend: »Gibt es hier Betten?« Baron Samedi verdrehte die Augen und krümmte ei nen Finger. »Kommt!« sagte er.
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KAPITEL 5
Die Höhle
der heimlichen Ängste
wußte bereits, daß Shriek nicht schlief, zumin Clive dest nicht so, wie es die Menschen taten, und er fühlte sich völlig sicher bei dem Wissen, daß sie Wache stand, während die übrigen sich ein wenig aufs Ohr leg ten. Auch hatte er sehr wohl mitbekommen, daß sie ein paar ausgewählte Fleischstücke von der Tafel beiseite genommen hatte, um sie zu sich zu nehmen, wenn sie allein war, denn sie weigerte sich, in Gegenwart anderer zu essen. Alles in allem schien sie ebenso glücklich dar über zu sein, sie zu Bett gehen zu sehen, wie sie es dar über waren, daß sie zu Bett gehen konnten. Samedi nahm ein Stück Feuerholz vom Herd und führte sie tiefer in die Höhle hinein. Zahllose kleinere Stollen zweigten vom Hauptweg ab, und in jedem fan den sie kleine Lager aus einem Haufen dicker, warmer Decken vor. Neben jedem Lager stand ein Leuchter von der gleichen Art wie die Leuchter auf dem Tisch. Same di entzündete jede Kerze mit dem Feuerholz, während die Mitglieder der Gruppe einer nach dem anderen ein ander eine gute Nacht wünschten. Clive begab sich in den letzten Stollen. Die Luft in der Höhle stand und war bedrückend, aber sein Bauch war voll und das Lager weicher, als er es sich vorgestellt hat te. Er zog die Stiefel aus und wackelte mit den Zehen, rümpfte daraufhin die Nase bei dem Geruch. Seine Fü ße waren in dem Leder naß geworden und mußten gut ausgelüftet werden. Er wandte sich um und wollte Samedi eine gute Nacht wünschen, aber sein Gastgeber hatte sich bereits entfernt. Clive zuckte mit den Achseln und streckte sich
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für die Nacht aus. Er dachte daran, die Kerze zu löschen, überlegte es sich dann jedoch anders. Das win zige Licht, das sie warf, würde ihn kaum am Schlaf hin dern. Er zog das Khakihemd aus und legte es beiseite. Dann legte er den Arm unter den Kopf und schloß die Augen. Als er jedoch in der Stille so dalag, beunruhigte es ihn allmählich, wie jeder seiner Freunde vom anderen ge trennt worden war. In jedem Stollen, gleich, wie klein er war, hätten zwei oder sogar drei von ihnen schlafen können. Er setzte sich auf, nagte an den Lippen und versuchte, die dunkelsten Ecken der Kammer, wohin die Flamme nicht reichte, mit den Blicken zu durchdringen. Er konnte nicht anders: Er zog sich schließlich das Hemd an, nahm die Kerze und ging barfuß den Weg zu rück, den sie gekommen waren. Finnbogg hatte sich um die einsame Flamme gerollt, die Decken des Lagers waren zu einer unförmigen Mas se zusammengeknüllt und bedeckten außer Kopf und Hüften nur wenig sonst. Das Hundewesen gähnte breit und blinzelte unter einem schlaffen Lid hervor. Clive schützte die Flamme und ging weiter. Neville schlief im nächsten Stollen. Sein Bruder hatte sich die Uniform ausgezogen und sie peinlich genau auf eine der Decken gelegt, die er offensichtlich zu diesem Zweck auf dem Boden ausgebreitet hatte. Er schlief nackt, eine Decke gesittet über die Leibesmitte gelegt, und zwar genauso geräuschvoll, als läge er im eigenen Bett in London. Das dicke blonde Haar lag ihm wie ein Mop ums Gesicht, und trotz der Größe der Muskeln sah er nur desto mehr wie ein kleiner Junge aus. Ganz kurz fühlte Clive einen Anflug von Bedauern und Enttäuschung, daß er und Neville einander niemals nahegestanden hatten, niemals Brüder in vollem Sinne gewesen waren. Aber zugleich schmeckte er auch Ärger und Bitterkeit. Neville hatte niemals auch nur die gering ste Anstrengung unternommen, den Spalt zwischen ih
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nen zu schließen, niemals etwas anderes getan als ihn zu übersehen, während ihn der Vater mit Zuneigung und Geschenken überschüttete. Ein Tropfen heißes Wachs fiel Clive auf die Hand, und er machte einen Satz und fluchte unterdrückt. Es war sein Fehler, sagte er sich, weil er seinen Gefühlen freien Lauf gelassen und dabei die Kerze zu fest mit einer Faust umklammert gehalten hatte, die er viel lieber da zu benutzt hätte, seinem Bruder jene Abreibung zu ver passen, die er verdiente. Aber das mußte warten, bis sie alle etwas weniger in der Klemme steckten. Er warf Ne ville einen letzten mißbilligenden Blick zu und ging dann weiter. Eines nach dem anderen besuchte er seine Schäflein. Tomàs war wie ein Fötus um die Kerze zusammenge rollt, fast so wie Finnbogg. Sidi lag wie ein Toter da, steif und ausgestreckt, die Hände auf der Brust gefaltet, und Clive nahm an, daß der Inder sich in einer seiner seltsamen Trancezustände befände. Annabelle warf sich unruhig auf ihrem Lager umher, aber sie öffnete nicht die Augen, als er stehenblieb, also ging er zum nächsten Stollen. Selbst sein alter Freund Horace Hamilton Smy the, von dem er vielleicht erwartet hätte, daß er eine ei gene zwanglose Wache hielte, war in Morpheus' Arme gesunken. Nur Chang Guafe war noch wach. »Kannst du nicht schlafen?« fragte Clive vom schma len Eingang des Stollens her. »Oder brauchst du keinen Schlaf?« Chang Guafe starrte Clive einen Augenblick lang an und richtete dann den Blick auf die eigene metallene Gestalt. »Nein, mein Körper braucht keinen Schlaf«, sagte er mit überraschend sanfter metallener Stimme. »Mein organisches Gehirn jedoch ja. Es läßt mich aber zur Zeit im Stich, wie du vielleicht vermutest.« Clive faßte das als Einladung auf einzutreten, und er dachte dabei über den unangemessenen Anblick nach,
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der sich ihm bot. Der mächtige Cyborg hatte sein Lager direkt an die Höhlenwand gezogen. Er saß mit dem Rücken dagegengelehnt da, die Beine gespreizt, die Ar me an den Seiten herabhängend, und er sah einer Pup pe sehr ähnlich, die ein Kind dorthingelegt und verges sen hatte. »Ah, ich kenne dieses Gefühl«, versicherte ihm Clive. »Manchmal findet man um so schwerer Schlaf, je mehr man's versucht. Aber kannst du dich nicht selbst in Schlaf versetzen? Mit Medikamenten, meine ich?« Clive zögerte, als ihn Chang Guafe lediglich anstarrte. »Ich meine, du hast doch Medikamente, in dir selbst, die dei ne Schnitte und Verletzungen heilten. Hast du da nichts, was dir beim Einschlafen helfen kann?« Jetzt war's an Chang Guafe zu zögern. Er warf den Kopf hin und her, und das Kerzenlicht spielte unheim lich auf seinem Gesicht. »Ich möchte es nicht«, sagte er schließlich. Dann griff er wieder auf seine übliche kalte Stimme zurück und fügte hinzu: »Wachsamkeit hat Priorität, Beobachten ist ein Imperativ.« Aber Clive ließ sich davon keineswegs zum Narren halten. Er war auf einmal gerührt. Von all seinen fremd artigen Freunden war Chang Guafe derjenige, der ihn am meisten durcheinanderbrachte. Dennoch ertappte er sich jetzt dabei, wie er eine Hand auf die Schulter des Cyborg legte. »Chang«, sagte er, nicht imstande, die Überraschung aus den Worten herauszuhalten, »fürch test du dich vor der Dunkelheit?« »Negativ!« antwortete der Cyborg und besänftigte sich gleich wieder. »Und ja. Fast nichts kann diese Ge stalt verletzen«, sagte er, während er mit metallenen Fingerknöcheln auf einen metallenen Oberschenkel klopfte. »Meine Sensoren wissen das. Die ComputerElemente meines Gehirns wissen das.« Er blickte Clive direkt an, und die rubinfarbenen Augen sahen irgendwie menschlicher aus. »Aber da ist noch immer das or ganische Gehirn, und tief dort drinnen, wohin der
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Computer und die Drogen nicht reichen, dort lauern all die archetypischen und rassischen Erinnerungen, die pri mitiven Ängste und Bedrohungen, die alle Wesen ken nen.« Er wandte sich ab und starrte ins Kerzenlicht. Die winzige Flamme spiegelte sich in den Linsen. »Ja, Clive Folliot, in ruhigen Augenblicken wie diesen hier kennt sogar ein Blechmann die Furcht.« Clive dachte einen langen Augenblick nach, rekapitu lierte im stillen all die Schrecken, denen er im Dungeon bereits begegnet war, und er war in der Lage, sie mit ei nem Gefühl der inneren Distanz zu betrachten, da sie bereits hinter ihm lagen. Dann schaute er nach vorn und wagte zu fragen, was ihn noch erwartete, und er biß sich auf die Lippen. Schließlich seufzte er auf, setzte sich neben Chang Guafe und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. »Nun, ich kann auch nicht schlafen«, sagte er und stellte seine Kerze auf den Boden neben die des Cyborg. »Also werden wir aufeinander aufpassen — was hältst du da von? Reich mir bitte eine Decke, ja?« Zwei Augenpaare trafen sich und schauten wieder weg, als die Decke von einer Hand in die andere wech selte, und zwei Köpfe lehnten sich wie einer an die Wand. Sie warteten wortlos auf die Morgendämme rung, oder was man in der Hölle dafür halten konnte. Clive schlief jedoch tatsächlich, und er wachte erschrok ken auf und schalt sich dafür. Er warf Chang Guafe ei nen Blick zu. Der Gyborg war gleichfalls eingeschlafen; er hatte sich an die Wand gestützt, und der Kopf war ihm zur Seite gerollt. Hinter den Rubinlinsen war jeder Glanz erloschen. Clive erhob sich so leise, wie er konnte, und streckte sich. Weil er im Sitzen geschlafen hatte, fühlte er sich ein wenig steif im Kreuz. Er rieb sich den Nacken, nahm den Stummel, der von der Kerze übriggeblieben war, und schlüpfte hinaus in die Höhle.
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Während er in den eigenen Stollen zurückkehrte, konnte er nicht widerstehen, seine schlafenden Freunde erneut zu überprüfen. Als er jedoch Annabelles Stollen erreichte, fiel sein schwaches Licht auf ein leeres Lager. Clive nagte gedankenvoll an der Lippe, kehrte zum eigenen Schlafplatz zurück und holte die Stiefel. Sie wa ren in der warmen Luft rasch getrocknet, und er zog sie an, knöpfte sich das Hemd zu und streifte die Hose über. Dann machte er sich mit dem Licht in der Hand, zur großen Haupthöhle auf. Die Überbleibsel des Herdfeuers warfen einen sanf ten rötlichen Schein. Er beschleunigte den Schritt in der Hoffnung, Annabelle dort zu finden. Seine Kerze er losch jäh, als ihm der Wind zwischen den Fingern hin durchschlüpfte, aber er brauchte sie jetzt nicht mehr. Er konzentrierte sich auf den Schimmer. Etwas streifte ihn am Knöchel, und ein großer, dunk ler Schatten versperrte ihm plötzlich den Weg. Clives Herz machte einen Sprung. Seine Hand tastete nach dem Griff des Degens und zog die Klinge halb heraus, als er zurücksprang. Wesen Clive.
Clive entfuhr ein Seufzter der Erleichterung, und er ließ den Degen zurück in die Scheide gleiten. Er hätte die Silhouette vor sich erkennen müssen. Er schloß ei nen Moment lang fest die Augen und rieb sich die Schläfen. »Meine Entschuldigung, Shriek«, sagte er schwach. »Ich schätze, ich bin ein bißchen von der Rolle.« Meine Entschuldigung für die Überraschung, sagte sie. Ich bin gleichfalls nervös, siehst du? Gewebe überall bereit. Ich bin auf Wache. Falls sich jemand bewegt, weiß ich's.
Clive senkte den Blick. Über den Durchgang zwi schen dem Stollen und der Haupthöhle war ein glit zernder Faden ausgespannt. Der hatte ihn am Fußknö chel berührt. Gleichartige Fäden waren an verschiede nen Punkten ausgespannt, und alle waren schließlich an
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einem von Shrieks Füßen befestigt. Wenn etwas die Stränge berührte, würden sie die Schwingungen sofort alarmieren. »Hast du Annabelle gesehen?« fragte er besorgt. Shriek reparierte den Schaden, den er dem Fallenge webe zugefügt hatte, und humpelte zurück ans Herd feuer. Im Licht der glühenden Holzkohle glitzerten ihre sechs Augen wie merkwürdige Juwelen. Wesen Annabelle ist hinausgegangen, antwortete sie. »Was?« Clives Hände schlossen sich zu Fäusten, und er schlug sich auf den Oberschenkel. »Du hast sie nicht daran gehindert?« Kein Wort, jedoch echte Überraschung blühte ihm in den Gedanken, als Shriek über die äußerst befremdliche Idee nachdachte, daß ein intelligentes Wesen versuchen könnte, die nichtgewalttätige Handlung eines anderen zu stören. Ist das Wesen Annbelle vielleicht frisch aus dem Ei geschlüpft? fragte Shriek schroff und versuchte verzwei felt, etwas zu verstehen. Ist es noch ganz jung? Clive knurrte vor Enttäuschung und ging zum Höh leneingang. Trotz seiner Irritation trat er sehr vorsichtig auf und vermied die Netzfallen. Es gab keinen Grund, Shrieks Arbeit zu zerstören, sagte er sich. Es war sein Fehler. Manchmal vergaß er, daß er es mit einem Fremd wesen zu tun hatte. Er durchschritt den kurzen Gang nach draußen. Selbst dort hatte Shriek ein Paar Gewebefäden gelegt, einen in Knöchel- und einen in Brusthöhe. Er konnte ihr kaum mangelnde Sorgfalt vorwerfen. Eine scharfe Brise warmer Luft begrüßte ihn, als er die Höhle verließ. Seine Ärmel flatterten, und das blon de Haar wurde zurückgepeitscht. In der Stille von Sa medis Höhle hatte er vergessen, wie stark der Wind draußen wehte. Er schaute den Pfad hinauf und hinunter, auf der Su che nach Annabelle, aber er fand keinerlei Hinweis auf sie. Er legte einen Augenblick lang die Hände auf die
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Hüften und fluchte. Was bildete sie sich eigentlich ein, sich so einfach von der Gruppe zu entfernen? Nachdem er sich überlegt hatte, daß sie kaum den Weg zurückge gangen wäre, den sie gekommen waren, machte er sich schließlich auf den Weg den Pfad hinauf. Höher und höher führte die Straße, und steiler wurde sie auch, während sie sich um das Vorgebirge wand. Er hörte sie, ehe er sie sah. Ihre Stimme klang zu ihm herab, klar und schmerzlich süß, und er blieb stehen. Oh, Kind des Glücks, wohin bist du? Oh, Kind des Glücks, wohin bist du? Würd' um dich weinen, doch weiß nicht wie, Oh, Kind des Glücks. Unglücklich's Kind, ich fuhr dahin, ich fuhr zur Hölle, wie Mama sagt'. Bist jetzt allein, das ist der Preis, du Kind eines unglücklichen Kinds. Ich denk' an dich an jedem Tag. macht' um dich weinen, unglücklich's Kind.
Clive fand sie auf einem kleinen schwarzen Findling sitzend, die Knie an die Brust gezogen, die Arme darum gelegt. Sie wiegte sich mit geschlossenen Augen, wäh rend sie sang, und der Wind wühlte ihr im kurzen schwarzen Haar. Er wußte, daß sie zu ihrer Zeit und in ihrer Welt Musikerin gewesen war, aber er hatte sie noch nie singen gehört, hatte sie überhaupt noch nicht über ihre Musik sprechen gehört. Er konnte sie einfach nicht unterbrechen, und seine Brust schnürte sich ihm zusammen, während er lauschte. Oh, Kind des Glücks, wohin bist du? Würd' um dich weinen, doch weiß nicht wie. Oh, Kind des Glücks ...
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Sie öffnete die Augen, als hätte sie gespürt, daß er dort stand. Einen Augenblick lang flackerte Furcht dar in, aber als sie ihn erkannte, schwächte die Furcht sich ab, und Clive erblickte so viel Schmerz in diesen Augen, daß er sich einfach neben sie setzen und sie in die Arme nehmen mußte. Sie weinte nicht, legte ihm nur den Kopf auf die Schulter und seufzte, und ihre Arme hingen schlaff her ab, ihre Beine spreizten sich langsam und glitten an der Seite des Findlings herab, so daß er jetzt ihr ganzes Ge wicht trug. Clive hielt sie im Arm und streichelte ihr das Haar, und keiner von beiden sprach ein Wort. Er erinnerte sich dunkel daran, wie sie ihm die Sinne verwirrt hatte, ehe er ihre verwandtschaftliche Beziehung entdeckt hat te. Aber sie war seine Ur-Ur-Enkelin, und das bedeutete ihm plötzlich mehr als alles andere in der Welt. Er ver mißte schmerzlich die eigene geliebte Annabella Leighton, und vielleicht würde er niemals mehr zu ihr zurückkehren. Aber ihre Liebe hatte zumindest dieses wundervolle Kind in seinen Armen hervorgebracht, und er würde es beschützen, beschützen mit all seiner Kraft. »Entschuldige«, sagte sie nach einer Weile und streck te sich. »Schätze, ich hab im Selbstmitleid geschwelgt.« Clive wollte sie nicht loslassen. »Du singst wunder schön«, sagte er sanft. »Ging's da um dich?« Sie schüttelte den Kopf, glitt von dem Findling herab und lehnte sich statt dessen dagegen, während sie in die Ferne schaute. »Um Amanda«, entgegnete sie. »Ich konnte nicht schlafen, weil ich immerzu an sie denken mußte.« Sie zögerte und schluckte. »Ich vermisse meine Tochter.« Und er vermißte Annabella. Er hatte sich bislang nicht wirklich gestattet, darüber nachzudenken, aber er vermißte sie schrecklich. Was mußte sie von ihm den ken? So lange schon verschwunden, und kein Wort.
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Und warum hatte sie ihm nichts von der Schwanger schaft gesagt, ehe er nach Afrika aufgebrochen war? Er ließ den Kopf hängen. Wenn das stimmte, was ihm seine Urenkelin gesagt hatte, dann sähe er seine Anna bella niemals wieder. Sie würde ihr Kind gebären und es in Armut allein aufziehen, würde niemals heiraten, wäre verbittert und einsam, würde vielleicht seinen Na men verfluchen. Wie könnte er das ertragen? Wie könnte er jemals wieder Achtung vor sich selbst haben? »Da liegt sogar etwas wie Schönheit drin«, sagte An nabelle plötzlich und deutete auf idie Aussicht, die sich ihnen darbot. »Du mußt dich ihr öffnen, aber sie ist da.« Sie standen hoch am Hang eines Hügels. Ein ständi ges Zwielicht lag über dem Land, aber sie vermochten noch immer weit zu schauen. Eine konturlose aschgraue Ebene erstreckte sich unter ihnen, aus der nur gelegent lich ein Felsen oder Findling herausragte. Dahinter glit zerte schwärzlich der See des Feuers, dünne Nebelfäden trieben wie geisterhafte Schlangen auf seiner Oberflä che. Feurige Gischt schoß hier und da im Wasser auf und warf rote Streifen, die über das Labyrinth der schmalen Pfade peitschten — in Wirklichkeit erhöhte Fußstege, die sich von Küste zu Küste erstreckten. .Weiter entfernt erleuchtete ein orangefarbener Glanz den Horizont, ein tanzender Schimmer von Hitze und Feuer, der das Ende der Welt dieser siebenten Ebene markierte. Wie die Sonne bei der Dämmerung, wenn sie gerade über den Rand der Erde lugte, konnte man ihn ohne weiteres ansehen. Es lag eine gewisse Schönheit in allem, eine schreckli che Schönheit, die ihn wie ein Eisennagel ins Herz traf. »Laß uns zurückgehen«, sagte er und griff nach An nabelles Hand. Aber sie schaute weiter in die Ferne. »Das muß der See des Jammers sein«, fuhr sie fort und deutete auf ei
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ne schmale Bucht in der Nähe, wo die Straße die Kü stenlinie traf. Sie sah ihn an und rasch wieder weg. »Was siehst du dort unten?« Er verschränkte die Arme, als ihm ein Klumpen in die Kehle stieg und er sich die Vision ins Gedächtnis zu rückrief, wie Annabella dort in dem Feuer zusammen mit einer sich windenden Masse von Seelen verloren war, wie sie verbrannte und sich wieder verjüngte, wie sie erneut verbrannte, während sie nach ihm schrie. Das war nicht real, ermahnte er sich. Annabella Leighton befand sich sicher in London, in ihrer Wohnung in Plan tagenet Court, wo sie vielleicht las und sich darum sorg te, was mit Clive Folliot geschehen wäre. Oder vielleicht verfluchte sie auch gerade seinen Namen. »Erinnerungen«, gab er mit unterdrückter Stimme zur Antwort. »An alte Freunde.« »Alte Liebe?« stichelte sie. »Hast du sie geliebt, Clive? Es steht mir vielleicht nicht zu, das zu fragen, aber es würde mir etwas bedeuten, wenn ich es wüßte.« »Aus ganzem Herzen«, gab er zu. »Ich wollte sie hei raten.« »Warum hast du's dann nicht getan?« Er mußte trotz allem über ihre Direktheit lächeln. »Die Dinge müssen im Jahre 1999 sehr einfach sein«, sagte er lachend. »Aber zu meiner Zeit gab es so etwas wie Eigentum und Verantwortung. Ein Mann heiratete nicht, bis er es sich nicht leisten konnte, und das Salär für einen Major des Fünften Königlichen Berittenen Re giments hat kaum mein Pferd satt und die Messing knöpfe glänzend gemacht.« »Aber du hast sie geliebt?« drängte Annabelle Leigh. Clive sah ihr direkt in die Augen und antwortete mit aller Ernsthaftigkeit. »Ich liebe sie. Präsens für mich, auf jeden Fall.« Sie lächelte und faßte ihn an der Hand. »Wir wollen zurückgehen, Clive Folliot.« Und fügte dann augen zwinkernd hinzu: »Großpapa.«
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Der Duft nach gutem englischen Tee begrüßte sie, als sie die Höhle erneut betraten. Clive wollte seiner Nase kaum trauen. Er vergaß Shrieks Fallengewebe, als er hineineilte, und er wäre fast mit der Arachnida zusam mengestoßen, als diese aufsprang, um nachzusehen, was los war. »Tut mir leid, Shriek«, sagte er und drückte sich an ihr vorbei, »aber ich dachte, ich hätte ...« »Jawohl, es ist Tee, kleiner Bruder!« rief Neville und hob dabei eine Tasse. »Es scheint, daß sogar die Hölle ihre kleinen Annehmlichkeiten zu bieten hat.« Die Knöpfe von Nevilles Uniform glänzten im Licht des Feuers, das ihr Gastgeber wieder im Herd entfacht hatte. Zum erstenmal fiel Clive auf, daß es nur Kohlen oder eine ähnliche Substanz waren, die dort brannten, kein Holz. Er brüstete sich normalerweise mit seiner Be obachtungsgabe, die noch jedes Detail mitbekam, und er sah es als Zeichen von Erschöpfung an, daß er das übersehen hatte. Er hätte länger schlafen sollen. Aber der Tee belebte ihn enorm, und Horace Hamil ton Smythe schüttete ihm eine zweite Portion dieses köstlichen Getränks in die feinen Porzellantassen, die so ungeheuer fehl am Platz wirkten auf einem rohen höl zernen Tisch in einer tiefen dunklen Höhle in den Tiefen eines Ortes, von dem sie glauben sollten, es wäre die Hölle. »Fast wie zu Hause, nicht wahr, Sör?« sagte Smythe und stellte die Kanne auf den Tisch zurück. »Ganz soweit würde ich nicht gehen, Horace«, sagte Clive. »Aber das ist sicherlich sehr willkommen, nicht wahr, Annabelle?« Sie schaute in ihre Tasse und runzelte die Stirn. »Al so, ich persönlich, Cliveli, ich gab alles für 'ne Coke.« Urenkelin oder nicht, Clive hatte seit langem den Ver such aufgegeben, alles zu verstehen, was Annabelle sagte. Er hob die Schultern, nahm einen weiteren Schluck des köstlichen Getränks und wandte sich an
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Samedi, der etwas abseits von den anderen am Herd stand. »Wie ist es dir bloß gelungen, so etwas hier zu be kommen?« fragte er, ohne die Tasse abzusetzen. »Oran ge Pekoe, glaube ich.« »Eh, Egon«, antwortete Samedi und schnippte mit den stockdürren Fingern, »wasse brauchs, ich habs.« Clive benötigte eine Sekunde, um herauszufinden, was das bedeuten sollte. Samedis Redeweise war eben so seltsam wie die von Annabelle. Natürlich, warum sollte das nicht so sein? Immerhin war das hier das Dungeon. »Aber woher hast du das bekommen?« drängte er. Samedi verdrehte die Augen und setzte dieses breite Grinsen auf, das alle Zahnwurzeln zeigte. »Freunde an hohen Stellen, Kleiner, und da hab' ich schon zuviel ge sagt. Frag mich was, was ich direkt sagen kann.« Aber Clive wollte nicht so einfach klein beigeben. »Was meinst du mit ›Freunde an hohen Stellen. Was für Freunde? Haben sie für das Essen von gestern gleichfalls gesorgt?« Samedi stemmte die Arme in die Seiten, beugte sich vor und tippte geschäftig mit dem Fuß auf den Höhlen boden. »Sieh mal, Mann. Was is' es, Zeit zum Pinkeln oder was? Juckste oder guckste? Entweder kratzte oder du haus' von mein' Rücken ab, Egon, weil ich näm'ich nix mehr sag', kapelaziert?« Clive schaute hilflos zu Annabelle hinüber. »Was hat er gesagt?« Annabelle grinste, während sie den restlichen Tee hinunterschluckte. »Er fährt 'n beschränktes Pro gramm«, sagte sie. »Keine Fragerei.« Clives Brauen zogen sich verwirrt zusammen. Er wandte sich an Horace Hamilton Smythe. »Was hat sie gesagt?« Horace Hamilton Smythe lehnte sich verschwörerisch vor. »Sie sagte: ›Lassen Sie uns die letzte Tasse dieses
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ausgezeichneten Tees austrinken und uns dann wieder auf diesen höllischen Weg machen.‹« Er nahm die Tasse hoch und hielt sie an die Lippen. »Wünschte trotzdem, ich hätt' 'nen Schuß Brandy — natürlich nur wegen dem Geschmack«, fügte er über den Rand der Tasse hinzu. Clive holte tief Luft und warf Shriek, Finnbogg und Chang Guafe einen Blick zu. Er fühlte sich ihnen manchmal wesentlich näher als der eigenen Spezies. Diese drei waren zwar Fremdwesen. Aber manchmal wollte er sich die anderen einfach nur mal vorknöpfen und ihnen das echte königliche Englisch beibringen! »Nur ganz nebenbei«, sagte er zu Samedi und war insgesamt ein wenig verdrossen. »Mein Name ist Clive, nicht Egon.« Samedi trat großspurig zurück und wiegte dabei nek kisch die knochigen Hüften. »Clive«, entgegnete er und streckte den Vokal bis zu dem Punkt, an dem er riß, »nicht reif!« Er schlenderte zum Eingang, blieb dort ste hen, um den Zylinderhut auf dem Kopf zu richten, und wandte ihnen wieder das Gesicht zu. Vom Höhleneingang eingerahmt, krümmte er einen Finger. »Kommt«, sagte er in singendem Tonfall.
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KAPITEL 6
Tödliche Echos in den
Hügeln der Hölle
und höher führte sie Samedi den schmalen Höher Bergpfad hinauf. Zerklüftete Spitzen erhoben sich wie abgebrochene Zähne zu allen Seiten. Manchmal war der Pfad nur wenig mehr als ein unebener Sims, der sich eng an den Berg schmiegte, und die winzigen Steinchen, die sie über den Rand stießen, schienen eine Ewigkeit lang in die weite und unendliche Dunkelheit zu fallen. Zu anderen Zeiten war er fast ein Weg, ein breites Band ebenholzschwarzen Felses, der sie durch Täler wie in den schottischen Highlands führte, die zwi schen den Spitzen eingebettet lagen. Welch Hügel, welch Hügel, so düster und niedrig? Das sind die Hügel der Hölle, mein Lieb, Dahin müssen wir, du und ich.
Das waren die Worte eines alten britischen Volks lieds, das Clive immer und immer wieder durch den Sinn ging, während er ihre Umgebung betrachtete. Er müßte es eines Tages Annabelle beibringen. Sie würde es wunderschön singen. Oder — dabei grinste er — er sollte es vielleicht Finnbogg lehren. Finnbogg verliehe ihm einen entschieden anderen Charakter. Er schaute auf Annabelle zurück, die unmittelbar hin ter ihm ging, und zwei weitere Zeilen fielen ihm ein. Und während sie des Weges gingen, sie schimmert' wie glitzerndes Gold.
Nun, vielleicht nicht golden, obgleich sie in den roten Lederjeans mit dem weißen T-Shirt, die schwarze Le
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derjacke über die Schulter geworfen, eine gute Figur machte. Ihm wurde auf einmal klar, daß sie in dieser Kleidung braten mußte, dennoch hatte sie sich nicht be klagt. Sie war stark, seine Enkelin, und er war stolz auf sie. Er griff in sein Hemd und zog Nevilles Tagebuch her aus. Es war von seiner Körperwärme erhitzt, und der Einband war naß vor Schweiß. Neville behauptete, das Buch sei nicht das seine, aber konnte er seinem Bruder glauben? Er drehte es immer und immer wieder in Händen, rieb die Feuchtigkeit ab, ließ den Daumen über die Einbanddecke gleiten, als könne er dadurch den Schlüssel zur Wahrheit in dieser Angelegenheit entdecken. Die Handschrift sah aus wie die von Neville, aber Sidis Argwohn ergab Sinn. Das Ding war einfach an zu vielen unwahrscheinlichen Or ten aufgetaucht. Also: Wessen Buch war das? Oder wenigstens: Wer sorgte für die Botschaften und Anweisungen, die immer wieder auf den Seiten auftauchten? Er starrte den Rücken ihres Führers an. Samedi hatte ›Freunde an hohen Stellen‹ erwähnt. Clive hatte ver sucht, die Schlußfolgerungen aus dieser Bemerkung ab zuwägen. Was für Freunde? Könnte er annehmen, daß irgend jemand irgendwo sie beobachtete? Waren sie die Herren des Dungeon? Waren also diese ›Wohlwollen den‹ diejenigen, die für die Eintragungen im Tagebuch sorgten? So viele Fragen! Er versuchte, diese Gedanken umzu kehren, dieselbe Frage von einem anderen Standpunkt aus zu betrachten. Was wäre, wenn diese ›Wohlwollenden‹, die Samedi erwähnt hatte, gar nicht die Herren des Dungeon wä ren? Deutete das auf eine weitere Fraktion innerhalb des Dungeon hin? Vielleicht Verbündete? Was wäre, wenn die Eintragungen im Tagebuch nicht das Werk der ›Wohlwollenden‹ wären? Was wäre, wenn ›Mißgünstige‹
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versuchten, sie in die Irre zu führen und sie zu manipu lieren? Er durchblätterte die Seiten mit der Daumenkan te. Könnten sie den Eintragungen insgesamt vertrauen, oder sollte er das verdammte Ding wegwerfen? Die Ren und die Chaffri: Zwei Namen, die er auf der zweiten Ebene gehört hatte, die Namen zweier mächti ger Rassen. Er hatte sie fast vergessen gehabt. Die Leute auf dieser Ebene hatten angenommen, daß eine von ih nen die Herren des Dungeon wären, und sie hatten von beiden in ängstlichem Flüsterton gesprochen. Aber er hatte von beiden Rassen nichts weiter mehr erfahren, noch hatte er die Namen auf irgendeiner anderen Ebene je wieder gehört. Waren sie dann also lediglich das Er gebnis eines lokalen Aberglaubens, oder waren sie tat sächlich die Architekten dieses teuflischen Ortes? Er überdachte diese Namen immer und immer wieder, während er versuchte, aus allem irgendeinen Sinn her auszufinden. Er war mehr denn je von einem überzeugt: Er war nicht zufällig in das Dungeon gestolpert. Er war ab sichtlich hierhergebracht worden. Desgleichen Neville. Desgleichen all die anderen, vermutlich jedenfalls. An nabelle zum Beispiel. Konnte es denn ein Zufall sein, daß er so bald nach seiner Ankunft eine Urenkelin ge funden hatte, von der er noch nicht einmal etwas ge wußt hatte? Er steckte das Buch ins Hemd zurück. Eine Frage schwebte mit Sicherheit über all den anderen, und diese beschäftigte ihn außerordentlich. Was ging hier vor? Er nahm einen Schluck aus der Feldflasche, die er jetzt bei sich trug. Samedi hatte sie mit einigen Feldfla schen aus seinen Vorräten in der Höhle versorgt. Clive trug eine, Smythe eine weitere. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn und leckte sich die Lippen. Er wür de nicht mehr aus dem Mund des Cyborg trinken müs sen, auch nicht aus dem eines anderen. Er nahm einen
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weiteren Schluck und steckte die Flasche weg. Die Hitze und der ausdörrende Wind waren nur wenig abgeklun gen, und die Strapazen des Anstiegs forderten gleich falls ihren Tribut. Die Muskeln in den Oberschenkeln schmerzten, und er war froh darum, daß die hohen Stiefel so fest anlagen, als er einen Fuß vor den anderen setzte. Welch Hügel welch Hügel, so bleich und hoch ? Das sind die Hügel des Himmels, mein Lieb, doch nicht für dich und mich.
Er versuchte erneut, dieses Lied aus seinen Gedanken zu drängen. Man mußte einfach an wichtigere Dinge denken als an Volkslieder! Zum Beispiel an Neville. Was sollte er mit Neville an fangen? Sein Bruder schien ruhig zu sein, fast einge schüchtert, überhaupt nicht der Neville, den er glaubte zu kennen. Nun, sein Neville wäre direkt vorn bei Baron Samedi, er würde versuchen, den Weg anzugeben, gleich, ob er ihn wüßte oder nicht, anstatt fügsam in der Reihe hinter Annabelle zu folgen. Und das erste, was er von Neville erwartet hätte, wäre gewesen, daß er ihm die Herrschaft über diese kleine Expedition entrissen hätte! Er warf einen Blick über die Schulter zurück. In ihm keimte jäher Argwohn auf, als er zu seinem Bruder zu rückrief: »Sag mir doch, Neville, erinnerst du dich? Wie war doch noch mal der Name des Schoßhündchens un seres Kindermädchens?« Neville warf ihm einen völlig überraschten Blick zu. »Was soll das? Tennyson natürlich! Hat immer gedacht, das Biest hätte 'ne Vorliebe für diesen alten Dichter, die Alte. Seltsame Idee, wenn du mich fragst. Warum, zum Teufel, denkst du denn jetzt gerade da dran?« Clive bemerkte den Ausdruck von Erleichterung auf dem Gesicht von Horace Hamilton Smythe. Der Quar
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tiermeister Sergeant stand unmittelbar hinter seinem Bruder. Smythe kannte die wahre Absicht hinter dieser Frage. Der Neville-Klon, dem sie auf der sechsten Ebene begegnet waren, war nicht imstande gewesen, diese einfache Frage zu beantworten, und so hatten sie des sen Betrug aufgedeckt. Aber dieser Neville hatte die Frage rasch und korrekt beantwortet. Danach fiel es schwer zu bezweifeln, daß er der wahre Neville Folliot war, Clives Bruder. Aber er schien so anders zu sein, fast unterwürfig. Clive biß sich auf die Lippen und grübelte unablässig. Nach und nach schwieg die Welt immer mehr. Das graue Fast-Licht eines ewigen Abends wandelte sich zu einem untergründigen und bedrückenden Schattenlicht, das nicht ganz Dunkelheit war. Die Berge ringsum drohten wie Riesen, die die Mücken nicht wahrnahmen, die sie bestiegen, und der Himmel über ihnen schloß sich wie eine Hand, die bereit zum Zuschlagen war. Dennoch führte sie Samedi ohne ein Wort weiter vor an, und er schaute sich niemals um, wie Orpheus, der neun Euridikes aus dem Innern des Hades heraus führte. »Wann werden wir endlich ankommen?« rief Clive plötzlich. »Wie weit ist es noch?« »Kommt«, antwortete Samedi verdrossen und sto isch, und er hob eines der dünnen Beine, setzte es nie der, hob das andere und setzte es gleichfalls vorsichtig nieder. Clive fragte sich, ob es wohl Tag oder Nacht sei. Es verwirrte ihn, aufzusehen und überhaupt nichts im Himmel zu erblicken, nur die leere Dunkelheit; keine Sonne, keinen Mond, keine Sterne, einfach nichts, an hand dessen er die vorübergehenden Stunden hätte ab schätzen können. Er versuchte, die Sekunden im Kopf zu zählen und diese Zählung in Minuten umzurechnen. Das war natürlich ein aussichtsloses Unterfangen, ei nes, das ihn enttäuscht und gereizt zurückließ.
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Er bemerkte zum erstenmal seinen Schatten als dün ne Linie vor sich und das sanfte Schimmern, das ihn verursachte. Er wandte sich fragend und ein wenig er leichtert um, da er um jede Lichtquelle froh war, die das unangenehme Dämmerlicht vertrieb. Annabelle lächelte ihm schwach aus einem blassen grünen Halo heraus zu. Sie hatte den Baalbec A-9 für diesen Effekt programmiert, trotz des Tributs, den sie dafür zahlen mußte, wenn sie ihn zu lange eingeschaltet ließ. Aber da die anderen gleichfalls froh um das Licht waren, legte er keinen Protest ein. Jeder wußte genü gend, daß er ihr nicht zu nahe kam, während der Baal bec arbeitete, und die Beleuchtung, gleich wie schwach sie auch war, munterte sie auf. Sie erreichten die höchste Stelle einer schmalen Fels spitze und rasteten eine Weile. Die Straße wand sich von diesem Punkt aus hinab in ein nebelerfülltes Tal. Clive sah dem Weg nach, hielt dabei die Hände in die Hüften gestützt und spitzte die Lippen. Er verspürte einfach den Drang zu rufen. Sie waren so weit gekom men, und sie mußten anscheinend noch so weit gehen, und um sie herum war nichts weiter als diese Eintönig keit — dieses Nichts! Nun, warum nicht? Er legte die Hände an den Mund, holte tief Atem und rief aus voller Lunge. Es befreite ihn etwas von der An spannung, sagte er sich, ehe er's ganz herausgebracht hatte. »Verdammt sollt ihr sein, ihr dort draußen, Ren oder Chaf fri oder wer ihr auch immer sein mögt!«
»Jetzt hast du's ihnen aber gegeben, Cliveli!« fiel An nabelle ein. »Gute Vorstellung, Sör!« pflichtete Smythe mur melnd bei. »Geben Sie ihnen, was sie verdienen!« Finnbogg warf den Kopf zurück und heulte einmal lang auf. Samedi eilte zu ihm und verdrehte die Augen. »Jetzt
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hastes hingekriegt, Scheff. Verdammt gut hingekriegt. Besser, ihr setzt jetz alle eure kleinen Arsche in Bewe gung, und zwar verdammt schnell, weil das Picknick vorüber is'!« Mit diesen Worten winkte Samedi den übrigen zu, drückte seinen Zylinderhut fest und lief los. »Picknick!« schrie Clive, und Wut stieg in ihm auf, als er den Rücken des sogenannten Voodoo-Gottes anstarr te. »Was, in Gottes Namen ...!« VERDAMMT SOLLT IHR SEIN Die Lautstärke riß Clive fast von den Füßen. Er legte die Hände über,die Ohren, um den Schmerz vom Schä del fernzuhalten, und blickte nach oben, fast in der Er wartung, dort die Gottheit zu finden, Ihn Selbst, der sich über sie beugte in all Seiner Pracht. IHR DORT DRAUSSEN Er taumelte auf die Knie. Hinter ihm wälzte sich To màs auf dem Boden, während er die Hände an den Kopf preßte. Sidi saß vornüber gebeugt, den Kopf zwischen den Knien. Annabelle sackte gleichfalls auf dem Weg zusammen, und Smythe beugte sich über sie und ver suchte, das mörderische Donnern zu überschreien, ver suchte, sie davon zu überzeugen, den Baalbec auszu schalten. Shriek hielt drei Arme um Chang Guafe ge legt, der sogar für einen Cyborg schrecklich aussah, und Clive fragte sich bei diesem Anblick, wie hoch der Cy borg seine Audiorezeptoren gedreht hatte. Finnbogg schien gleichfalls schreckliche Schmerzen zu erleiden. REN ODER CHAFFRI Neville sah geisterblaß aus, blieb jedoch stehen. Er drückte sich die Hände auf die Ohren und folgte blitz schnell dem fliehenden Samedi. Jetzt war's der Neville, den er kannte, dachte Clive bitter, während er seinem fliehenden Bruder nachsah. ODER WER IHR AUCH IMMER SEIN MÖGT Dies waren seine Worte, deren Echo furchterregend verstärkt zu ihnen zurückgeworfen wurde. Er spürte,
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wie die Knochen in ihm rasselten, als sie das Echo mit aller Kraft traf. JETZT HAST DU'S IHNEN ABER GEGEBEN Er kämpfte sich wieder auf die Füße. Er mußte aufste hen, mußte die übrigen zum Aufstehen und Weiterge hen bewegen. Aber dieser Schmerz! Sein Kopf fühlte sich an, als wollte er zerspringen! CLIVELI Halb stolperte er, halb kroch er zu Annabelle. Es war ihr gelungen, den Baalbec abzuschalten, und Smythe hatte die Arme um sie gelegt. »Zieh sie hoch!« befahl er seinem ehemaligen Burschen. Smythe schob seine Ar me unter den ihren durch und zog sie auf die Beine. »Den Berg runter!« rief Clive. »Los!« Sidi Bombay hatte den Befehl gehört und sich um To màs gekümmert. Er half dem kleinen Portugiesen auf, und sie folgten den übrigen. »Nao aguento mais!« rief Tomàs und schüttelte den Kopf in der vergeblichen Anstrengung, das Klingeln ab zuschütteln. »Das halte ich nicht aus!« »Halt’s Maul, Maul halten!« zischte Sidi Bombay. »Je des Geräusch, das du verursachst, wird zu einem Ge schoß, das zu uns zurückkehrt!« Er gab Tomàs einen Tritt in den Hintern und zog ihn den Abhang hinunter GUTE VORSTELLUNG »Oh, Halt’s ...!« wollte Clive dem unmöglichen.Echo zurufen. Er beherrschte sich noch rechtzeitig. Sidi hatte recht. Jedes Geräusch war eine tödliche Bedrohung. Shriek! rief er in Gedanken, wobei er hoffte, daß sie ihn hören könnte. Shriek! Kommst du mit Chang Guafe zu recht? Als Antwort barg die Arachnida den Cyborg in vier Armen und watschelte mit erstaunlicher Geschwindig keit den Hügel hinab. So blieb nur noch Finnbogg. Das arme Geschöpf lag wie ein Fötus zusammengerollt auf dem Boden, die Pfo ten fest an die Ohren gedrückt, und er gab ein dumpfes,
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mitleiderregendes Schmerzgeheul von sich. Clive kniete sich neben ihn und legte ihm einen Arm um die Schul ter. »Komm schon, Finnbogg, alter Junge!« drängte er. »Wir müssen von hier weg!« Er hielt die Stimme zu ei nem scharfen Flüstern abgesenkt, den Mund nahe an Finnboggs Gesicht. Er zwang das Hundewesen, ihn an zusehen. »Komm schon, Finnbogg!« »Geh weg! Laß Finnbogg in Ruhe!« schrie Finnbogg und stieß ihn mit einer kräftigen Hand weg. »Oooooh!« heulte er und bedeckte die Ohren erneut. »Clivefreund hat Finnbogg weh getan!« Clive rieb sich das geschundene Hinterteil und kroch erneut zu Finnbogg hinüber. »Das war ich nicht, Finn bogg!« zischte er und versuchte dabei, die Stimme ge dämpft zu halten. »Ich meine, ich war's schon, aber das bin nicht wirklich ich. Es ist ein Echo.« Er versuchte, Finnbogg eine Hand über den Mund zu drücken. »Hör auf zu heulen, Finnbogg!« rief er und vergaß sich selbst. »Das schadet nur uns selbst. Jedes Geräusch wendet sich unmittelbar gegen uns. Steh jetzt auf! Aufstehen!« Aber Finnbogg weigerte sich, und dicke Tränen liefen ihm die Wangen herab. »Zu schlimm weh getan! Laß Finnbogg in Ruhe, Clivefreund!« Er preßte die Hände fester auf die Ohren und kniff die Augen zu. Clive fluchte und rappelte sich ärgerlich auf. »Also gut, Hündchen!« fluchte er und gab sich nicht die Mühe, leise zu sprechen. »Ich gehe jetzt, und du auch! Leg die Hände auf die Ohren, wenn du's mußt. Das ist mir nur recht!« Mit diesen Worten packte er Finnbogg am Bein und begann, seinen wimmernden Kameraden wegzu ziehen, wobei er all seine Kräfte anstrengte. »Läßt Finnbogg nicht in Ruhe, Clivefreund?« jam merte das Hundewesen über die Schulter weg und ließ dabei eine Hand vom Ohr los. »Ich werd den Teufel tun!« zischte Clive zwischen den Zähnen, während er all seine Kräfte zusammennahm
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und erneut zog. Das Herz hämmerte ihm in der Brust bei dieser Anstrengung. Du lieber Gott, dachte Clive, wieviel kann dieses Geschöpf nur wiegen ? Finnbogg sprang auf. »Dann Finnbogg muß gehen! Clivefreund retten!« Er packte Clive mit den riesigen Armen, ehe Clive Protest anmelden konnte, und rannte die, Straße hinab. SEID VERDAMMT! begann das Echo erneut. »Laß mich runter!« foderte Clive wütend. »Ich bin durchaus dazu in der Lage, auf eigenen Beinen zu ren nen! Ich bin keine Puppe, weißt du!« Finnbogg drückte ihn nur fester an sich und lief schneller. »Retten Clive Folliot!« wiederholte Finnbogg keuchend. »Finnbogg ist guter Freund! Ju?« »Ju«, grummelte Clive hilflos zwischen den Zähnen und machte sich daran, sich zu entspannen und den Ritt zu genießen. Der Weg erweiterte sich, als sie hinabliefen. Ihre Stimmen rollten klangvoll über sie hinweg, erschütter ten ihre Stimme und stachen ihnen wie mit Nadeln in die Trommelfelle. Finnbogg heulte beim Laufen, gleich, wie sehr ihn Clive davon zu überzeugen suchte, daß er dadurch die Lage nur verschlimmerte. Es gab kein Anzeichen von den anderen weiter vorn, aber Clive war überzeugt davon, daß er sie irgendwo am Weg fände. Hinunter, hinunter ins Tal stiegen sie ab, und der Nebel, den Clive gesehen hatte, hob sich lang sam um sie herum. Es war ein warmer, feuchter Nebel, der rasch die Klei der durchdrang, ein zäher Nebel, der in dicken Ranken durch die Luft und über dem Weg wirbelte und ihn da bei einhüllte. Wenigstens dämpfte er die Stimmen ab, die anscheinend endlos zwischen den Felsspitzen hinund hergeschleudert wurden, dämpfte und schwächte sie ab, so daß die Ohren nicht länger schmerzten. Wie lange könnte das Echo da oben andauern? überlegte Clive. Er erinnerte sich daran, daß dies das Dungeon war,
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nicht die vertraute Erde. Wenn die Lautstärke schon so unnatürlich war, wie könnte er da erwarten, daß die Na turgesetze auch auf die Dauer des Echos anwendbar waren? Finnbogg verlangsamte seinen Lauf und ging jetzt, aber er weigerte sich noch immer, Clive abzusetzen. Ich bin für ihn eine Puppe, grummelte Clive innerlich, oder ei ne Schmusedecke. Der Nebel wurde zu einem Dampfbad. Die Khakiklei dung war rasch durchtränkt, und Clive klebte das Haar an der Stirn. Finnboggs Fell war gleichfalls vollgesogen, drehte sich allmählich zu Locken und hing in dicken gekringelten Strähnen herab. Clive wäre fast in lautes Gelächter ausgebrochen, als er in das Gesicht seines Freundes hinaufblickte, aber er hielt sich aus Höflichkeit zurück. Vor sich sahen sie nichts. Selbst die Straße unter Finnboggs Füßen war verschwunden. Die Luft bewegte sich wie etwas Lebendiges, wenn Clive ausatmete oder die Hand hinausstreckte. »Ekelhaftes Zeug«, grummelte Finnbogg. »Stimmt«, pflichtete Clive bei. Er zerteilte es mit dem Arm. Es schloß sich von selbst und ließ nur ei nen buschigen Dampf zurück, der einen Augenblick lang am Ärmel klebte, ehe er sich zerstreute. Es war der Nebel der Geistergeschichten seiner Kind heit, übertrieben in der Erzählung, surrealistisch. Un möglich, wie alles andere in diesem Dungeon. »Huch«, sagte Finnbogg. Clive flog plötzlich durch die Luft. Er drehte und wand sich, war sich nicht sicher, wo sich der Boden be fand. Er schlug auf dem Hintern auf, auf demselben blauen Fleck, wo er schon zuvor gelandet war, und er stieß ein Wimmern aus. Ganz unerwartet kam er ins Rutschen. Der Weg war steiler, als er von oben gewirkt hatte, und der Nebel hatte den glatten schwarzen Stein glitschig gemacht. Wo ist der Rand? kreischte ein Teil seines Bewußtseins.
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Gab es einen Rand? Er preßte die Stiefelabsätze auf den Boden, um die Geschwindigkeit zu verlangsamen, hatte jedoch nur geringen Erfolg dabei, bis der linke Absatz sich schließlich kurz in irgendeinem Baumstumpf ver hakte, Clive drehte sich hilflos um. »Finnboooogggg!« schrie er, aber der Nebel ver schluckte den Ruf, der kalt und unpersönlich verhallte. Er streckte die Hände nach beiden Seiten aus. Es gab nichts, woran er sich hätte festhalten können. Wie breit war hier der Pfad? Befand er sich noch immer auf dem richtigen Weg? Der Abhang endete abrupt, und Clive verlor an Schwung. Er drehte sich noch ein paarmal um sich selbst, ehe er zum Stillstand kam und einen Augenblick lang bewegungslos dalag. Das Herz hämmerte ihm ebenso laut in den Ohren wie alles andere oben auf der Felsspitze, und er wartete darauf, daß es zur Ruhe käme. Der Boden war noch immer glatt und schlüpfrig, und er richtete sich vorsichtig auf, als stünde er auf Eis, glitt beinahe aus und konnte nur dadurch ein Abrutschen verhindern, daß er einen weiteren Schritt nach vorn tat. Er streckte vorsichtshalber die Arme aus, um das Gleichgewicht zu halten. »Finnbogg?« rief er leise. Dann, etwas lauter: »Nevil le? Annabelle? Smythe?« Er wartete und horchte auf ei ne Antwort, dann versuchte er es erneut. »Ist jemand da?« fragte er hoffnungsvoll. Er überlegte, was zu tun wäre. Die Vernunft sagte ihm, daß zumindest Finnbogg in der Nähe sein müßte. Andererseits könnte das Gewicht des Geschöpfs seinen Schwung verstärkt haben, so daß es ihn womöglich weiter weggetragen hatte. Clive kratzte sich am Kopf und wünschte sich, er hätte während seiner Jahre in Cambridge seinen Physikstudien etwas mehr Aufmerk samkeit gewidmet. Aber es war jetzt sinnlos, das zu be dauern. Er mußte eine Entscheidung treffen. Er entschloß sich loszugehen. Ganz offensichtlich be
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fand sich niemand in Rufweite, wenngleich seine Stim me in diesem Nebel nicht weit trug. Auch konnte er nie manden sehen. Seine eigene Hand, auf Armeslänge ausgestreckt, war nur sehr undeutlich zu erkennen. Ge gen diese verdammte Zeug war Erbsensuppe die klarste Brühe! »Neville!« rief er erneut und wartete auf Antwort. Rufen war immer noch das beste! Vielleicht hörte ihn je mand, wenn er nah genug vorüberkäme. »Annabelle?« versuchte er es hoffnungsvoll. »Shriek!« Dann bremste er sich. Das konnte er auf ei ne bessere Art probieren. Vielleicht könnte er die Ge danken der Arachnida berühren, wenn er sich stark ge nug konzentrierte. Er kniff die Augen zusammen und rief aus ganzem Bewußtsein, Shriek! Keine Antwort. Dennoch rief er immer wieder die Namen seiner Freunde und hoffte, daß sie ihn hörten und ihm antworteten. Dennoch machte er sich allmäh lich Sorgen. Wohin konnten sie verschwunden sein? War es möglich, daß er ganz allein war? War er bereits in eine andere Ebene dieses Dungeon gefallen? Er taste te nach dem Knauf seines Degens. Wenigstens hatte er eine Waffe. Nach einer Weile würde er es müde, Namen zu rufen, also begann er zu singen. Ein altes Volkslied kam ihm in den Sinn, und er sang leicht befangen: 's ist schön, dich, mein Liebes, wiederzusehen, 's ist schön, dich zu sehen, rief er. Ich kehrte zurück vom weiten Meer, und alles aus Liebe zu dir.
Als ihm Annabelle auf die Schulter tippte, hätte er fast einen Satz gemacht. Er hatte keinerlei Fußtritt oder Atem oder irgend etwas anderes gehört, das ihn vor ih rer Ankunft gewarnt hätte. Natürlich nicht, bei seiner Singerei!
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»Schätze, ich hab' mein Talent von Oma«, sagte sie lächelnd. »Annabelle, Gott sei Dank!« Er drückte sie fest an sich, stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und er laubte sich dabei zuzugeben, wie sehr ihn der Gedanke, hier allein zu sein, zum Fürchten gebracht hatte. Er konnte das jetzt leicht zugeben, da es nicht der Fall war. »Das hat dem Miranda-Hinweis* wirklich 'ne völlig neue Bedeutung verliehen, nicht wahr?« Er sah ihr in die Augen und wollte sie nicht loslassen. »Was ist das denn?« »Der Miranda-Hinweis«, wiederholte sie und stieß mit dem Finger nach oben. »Da oben auf dem Felsen. Du weißt schon: ›Alles, was Sie jetzt sagen, kann gegen Sie verwendet wer den. ‹« »Oh«, sagte er, ohne etwas zu verstehen. Er merkte je doch an ihrem Tonfall, daß es als Witz gemeint war. »Ja, sehr lustig. War Sergeant Smythe nicht bei dir?« Sie löste sich aus seiner Umarmung. »Nun, lach dich nicht auf meine Kosten tot«, kicherte sie. »Wir wurden getrennt. Sind auf dem Weg ausgerutscht oder so was. Ein höllischer Ritt, wenn du's wissen willst, oder bist du auf dem gleichen Weg gekommen?« »Ja, auf dem gleichen Weg«, versicherte er ihr und rieb sich die Kehrseite. Sie fühlte sich durch die nasse Khakikleidung wund an. Annabelle kicherte und rieb sich die ihre gleichfalls, aber das Leder hatte mehr Schutz geboten. Dennoch hob das Gelächter ihre Lau ne. Wenn sie einander gefunden hatten, konnten sie ge nausogut den Rest finden. Er nahm sie fest bei der Hand. »Nicht loslassen!« warnte er sie. »Wir müssen die übrigen finden.« * Miranda-Hinweis: Eine Person, die verhaftet wird, muß über ihre gesetzlichen Rechte aufgeklärt werden; nach der Entscheidung des obersten (amerik.) Gerichtshofs im Jahre 1966; benannt nach dem Nachnamen des Beklagten im betreffenden Fall — Anm. d. Übers.
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»Hast du Lust, mir dieses Lied beizubringen?« schlug sie vor. »Du singst eigentlich gar nicht so übel.« Er grinste und fing von vorn an. Das war besser, als Namen zu rufen; es machte mehr Spaß, und Annabelle lernte rasch. Sie sangen gemeinsam, und sie gingen ge gen den Nebel mit der Kraft ihrer Stimmen an.
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KAPITEL 7
Die Goode-Kinder des Nebels — »Neville?« — »Major Folliot, Sör!« Clive?« Die Stimmen ihrer Freunde kamen wie von weit entfernt zu ihnen herüber, Geflüster, das geisterhaft durch den Nebel trieb. Clive und Annabelle riefen hoff nungsvoll zurück, aber die Stimmen verschwanden oh ne Antwort. Clive stellte sich vor, wie seine Kameraden herum wanderten, blindlings einander suchten und nicht in der Lage waren, den feuchten Nebel, der dieses Tal er füllte, mit den Blicken zu durchdringen. Er fragte sich, wie lange sie voneinander getrennt waren, wie sie ein ander finden würden, ob der Nebel sich jemals heben würde. Er fühlte sich wie ein Schatten des griechischen Hades. Annabelle drückte ihm die Hand. »Sing's noch ein mal, Cliveli«, sagte sie. Aber er war nicht mehr in der Stimmung zu singen. Sie hatten das Volkslied dreimal durchgesungen, bis sie's richtig konnte, und es hatte ihnen Auftrieb gege ben, während sie nach den Freunden suchten. Nach ei ner Weile jedoch stachen die Worte ein wenig, schnitten ein wenig zu tief, und Clive hörte auf. Sie waren vom Weg abgekommen, dessen war er sich sicher. Die Oberfläche unter den Füßen fühlte sich weich und staubig an wie Asche. Die Straße hatte aus hartem und glattem Stein bestanden, wie Basalt. Es be stand kein Zweifel daran, daß die übrigen die Straße ge nauso verloren hatten. Sie könnten sich jetzt überall im Tal aufhalten. Der verdammte Samedi, warum hatte er sie nicht vor
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den Echos und der Gefahr oben auf der Spitze gewarnt? Warum hatte er sie nicht vor diesem Tal gewarnt? Wo war er überhaupt? »Annie«, sagte er und benutzte die vertraute Kurz form ihres Namens, vielleicht weil er gerade an Finn bogg dachte, »wieviel Licht kannst du aus dem Baalbec herausholen?« Sie zog die Brauen zusammen. »Ich weiß es nicht, Cli veli. Ich hab' ihn noch nie ganz aufgedreht. Die Grenze dürfte wohl von der Körperwärme abhängen, die ich produziere. Dennoch hab' ich Lust, es auszuprobieren. Hier, halt mich an der Hand, und unterbrich nicht die Verbindung. So kriegst du einen Schlag.« Sie ergriff seine rechte Hand mit ihrer linken und ta stete dann an den Implantaten im linken Unterarm her um. Langsam schimmerten sie in einem grünlichen Licht. Clive verspürte das Pulsieren unter der Haut, als der Schimmer stärker wurde. Annabelle schaute zu ihm auf, und ihre Blicke trafen sich. Seine Lippen wurden schmal, als das Licht auf den Nebel traf. Aber der Nebel warf das Licht lediglich zu ihnen zu rück. Je stärker sie leuchteten, desto schlechter wurde die Sicht. »Laß gut sein«, sagte er entmutigt zu Anna belle. Sie hätte weiterhin schimmern und somit ein Leuchtfeuer für die anderen werden können, aber er hatte keinerlei Garantie dafür, daß sie ihr Licht über haupt sehen könnten, und für Annabelle wäre die An strengung zu groß gewesen. »Schalt ihn ab!« sagte er mit Bestimmtheit, als er sah, daß sie den gleichen Ge danken hegte, und nach und nach verdämmerte das Leuchten. »Engländer!« Das war Sidi Bombay! Clive wirbelte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, und zog Annabelle mit sich. »Sidi!« rief er. »Hier herüber! Annabelle ist auch da!« Er tastete sich mit ausgestreckten Händen durch den Nebel. Aber falls ihn Sidi gehört hatte, gab er
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keinerlei Zeichen von sich. Erneut ertönte der Ruf: »Engländer!« — aber von weiter entfernt. »Ich sterbe in diesen Lederhosen«, beklagte sich An nabelle melodramatisch. »Ich schwöre, daß diese Jeans von selbst laufen könnten.« »Dann zieh sie lieber nicht aus«, brummte Clive. »Das letzte, was wir jetzt noch brauchen, ist eine wei tere Lebensform, die in diesem Nebel herumtappt.« Sie stieß ihm leicht mit dem Ellbogen in die Seite. »Vorsicht, Großpapa. Du entwickelst allmählich einen Sinn für Humor.« »Ich würde momentan einen nützlicheren Sinn vor ziehen«, entgegnete er irritiert. »Wo wir gerade dabei sind, wo ist Chang Guafe? Sollte er uns nicht anhand unserer Körperwärme ausmachen können? Wie hast du das genannt?« »Infrarot«, erklärte sie ihm erneut. »Ich weiß nicht so recht. Vielleicht bringt dieser heiße Nebel seine Rezep toren durcheinander. Ist wie 'n Dampfbad. Muß fast hundert Grad sein.« Er blieb stehen, seufzte und biß sich auf die Lippen. »Ich weiß nicht, ob ich weitergehen oder einfach stehen bleiben soll. Möglicherweise entfernen wir uns immer weiter von der Straße.« Er wartete und hoffte, daß sie etwas Nützliches sagen würde, aber Annabelle blieb ruhig. Clive hätte gern mit dem Fuß gegen etwas getreten. Bislang hatte es noch keine Situation im Dungeon gegeben, von der er sich nicht hatte vorstellen können, wie er sich wieder hin auskämpfen könnte, aber dieser verdammte Nebel hatte ihn mattgesetzt. Er hatte so was noch nie zuvor gese hen! Seine Freunde waren jetzt voneinander getrennt, vielleicht in Gefahr, und es war alles seine Schuld. We gen seines kindischen Drangs, seine Enttäuschung da oben auf der Bergspitze zu zeigen, befanden sie sich jetzt in diesem Schlamassel. Fast hätte er erneut aufge schrien.
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Dann wich der Nebel zurück und ließ eine Gestalt er kennen, die auf sie zu kam. Zunächst war sie nur ein Schatten, kaum ein dunkler Umriß im Nebel. Sie näher te sich ihnen langsam, trug etwas über einem Arm und griff mit dem anderen nach ihnen. Clive glaubte, diese Silhouette zu erkennen. »Nevil le?« rief er zögernd. »Bist du's?« Annabelle faßte Clive fester an der Hand. Neville Folliot trat aus dem Nebel. Er hatte den Blick eines Toten. Seine Augen waren auf nichts gerichtet, und die Kinnlade hing herab. Tiefe Furchen zogen sich durch die Stelle, an der die Brauen zusammenliefen. Ströme von Schweiß und Feuchtigkeit liefen ihm übers Gesicht. Er hatte die Uniformjacke ausgezogen und trug sie über dem linken Unterarm. Die Manschetten der Är mel seines weißen Hemds hatte er ein gutes Stück über die Ellbogen geschoben und die Knöpfe bis zum Gürtel geöffnet. Als er sie endlich sah, entspannten sich die Gesichts züge wieder etwas. Die Furche auf der Stirn glättete sich, und der Glanz des Lebens kehrte in die Augen zu rück. Er lächelte plötzlich und schüttelte seinem Bruder die Hand. »Clive!« rief er aus. »Mein Gott, ich bin so froh, dich zu sehen. Froh, jeden zu sehen. Und du hast Annabelle gefunden!« »In Wirklichkeit hat sie mich gefunden«, gestand Cli ve, während er kühl die Hand zurückzog und über die Erscheinung seines Bruders die Stirn runzelte. Seine Khakikleidung war ebenfalls schweißgetränkt, und das Hemd klebte ihm unangenehm an Brust und Rücken, aber er hatte sich nicht auf solch ungehörige Weise ent blößt. Ihm war der Aufzug seines Bruders wegen Anna belle äußerst peinlich, wenngleich sie offensichtlich nicht verlegen war. »Hast du sonst jemanden getrof fen?« fuhr er fort. »Was ist mit den anderen gesche hen?« Neville wischte sich mit dem Ärmel über die Augen
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und starrte sie nacheinander an. »Ich hab' nicht die ne belhafteste Ahnung — du wirst den Ausdruck sicherlich entschuldigen. Hab' gerufen, bis ich heiser war, wirk lich.« Er rieb sich mit der Hand den Hals. »Bin noch im mer 'n bißchen heiser. Schlimmer als der verdammte Hafenbezirk, wenn du mich fragst.« »Paß auf, was du sagst!« schnappte Clive. Aber er mußte beipflichten, daß London so etwas nicht zu bie ten hatte. »Achten wir darauf, daß wir nicht wieder ge trennt werden.« »Meine entzückende Verwandte«, sagte Neville und hob Annabelles Finger an die Lippen. Er pflanzte einen zarten Kuß auf die Fingerknöchel, blinzelte und lächel te. »Du bist 'n Saftsack, aber du bist mein Saftsack«, ent gegnete Annabelle und gebrauchte ihren besten, ziem lich übertriebenen britischen Akzent. Sie ließ die Hände der Brüder los und schob statt dessen die ihren den bei den jeweils durch den Arm. »Nun«, verkündete sie, »dann wollen wir doch mal den Zauberer suchen.« Clive und Neville schauten sich über ihren Kopf hin weg an. Sie hoben gleichzeitig die Schultern. »Wer weiß?« sagte Neville. »Vielleicht gibt's hier unten ja tat sächlich einen.« Schön, dachte Clive, jetzt sind wir zu dritt. Drei weniger zu suchen, blieben noch sechs. Sieben, wenn er Samedi mitrechnete. Sie bewegten sich langsam, spähten dabei in den Nebel und suchten Schatten und Umrisse, horch ten nach Stimmen. Hin und wieder riefen sie einen Na men und warteten auf Antwort. Das einzige wahr nehmbare Geräusch war das leichte Scharren der eige nen Fußtritte auf dem Boden. Clive fühlte sich allmählich etwas benommen. Er wischte sich den Schweiß aus den Augen und aus dem Gesicht. Er wußte, daß er zu rasch an Feuchtigkeit ver lor und in der unablässigen großen Hitze allmählich austrocknete. Er holte erneut die Feldflasche hervor,
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nippte daran und bot sie den Gefährten an, die gleich falls tranken. Während Annabelle den Kopf zurückleg te, warf er seinem Bruder einen Blick zu. Ihre Blicke trafen sich, und eine Botschaft wurde zwischen ihnen ausgetauscht. Neville wußte gleichfalls, daß sie in Schwierigkeiten waren. »Habt ihr das gehört?« fragte Annabelle plötzlich, als sie Clive die Feldflasche zurückgab. »Was gehört?« entgegnete er. »Ich höre nichts.« »Moment«, sagte Neville und hob die Hand. »Ich dachte, ich ...« Sie erstarrten, strengten das Gehör an — da war's wieder, wie ein klagender Schrei. Das kleine Geräusch kam von außerhalb des Nebels, und bei seinem Klang lief es ihnen kalt den Rücken hinab. Es gab keinen Irr tum: Das war das winzige Stimmchen eines Kindes, schwach und unsicher und furchterfüllt. Und das einzi ge Wort, das es sprach war: »Mami?« Annabelle entzog Clive den Arm und legte die Hand über den Mund. Sie starrte in den Nebel, und ihre Au gen waren groß und glänzten vor Zweifel und Schrek ken. Sie schauderte und zog sich in sich selbst zusam men. Sie drückte sich die Ellbogen an die Rippen, ihre Schultern sackten nach vorn. Selbst ihre Knie waren zu sammengepreßt. Sie biß sich auf den Fingernägeln her um und hielt dann inne. »Amanda?« Es war ein leises Wispern, das rasch vom Nebel verschluckt wurde. »Sei nicht dumm, Annabelle«, begann Clive. »Es kann nicht...« Annabelle beugte sich in der verzweifelten Anstren gung vor, etwas durch den Nebelvorhang zu erkennen. »Amanda?« fragte sie erneut, lauter, sicherer. »Mami?« Vielleicht kam's direkt von vorn — Clive war sich nicht sicher. Ehe er jedoch etwas tun konnte, entzog Annbelle Neville den anderen Arm und lief auf den
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Laut zu, wobei sie rief: »Amanda, Kind! Hier bin ich, Amanda!« »Sie darf nicht verlorengehen!« rief Clive seinem Bru der zu und tat sein Bestes, um seine Ur-Ur-Enkelin nicht aus den Augen zu verlieren. Ein schwacher Umriß, ein jagender Schatten — das war alles, dem er folgen konnte, und der Nebel machte Anstalten, sogar das zu verwischen. Neville überholte ihn. Neville war immer der bessere Läufer gewesen, hatte Wettläufe und Hindernisläufe und dergleichen stets gewonnen. Er holte Annabelle leicht ein und packte sie äußerst unsanft. Einen Augen blick lang verschwanden beide, als sich der Nebel über sie wälzte, und Clives Herz setzte einen Schlag lang aus. Aber dann standen sie wieder auf den Füßen, kämpfend und um sich schlagend. Ein Schatten trat nach dem anderen und rief wütend mit Annabelles Stimme. Die kehligen Flüche stammten bestimmt von Neville. »Amanda! Amanda!« kreischte Annabelle hysterisch, während sie Neville immer wieder vors Schienbein trat. Er hielt sie mit eisernen Fäusten an beiden Handgelen ken fest, damit sie nicht den Baalbec A-9 anschaltete. Von dem hatte er bereits eine Kostprobe erhalten. »Entschuldigen Sie, meine Dame«, sagte er plötzlich, als Clive auftauchte. Er ließ Annabelles linken Arm ge rade lang genug los, daß er eine Hand heben und sie zu Boden schlagen konnte. »Neville!« schrie Clive wütend. »Verdammter Kerl!« Beide Männer knieten sich neben sie, als sie sich langsam aufrichtete. Clive bemerkte, daß Neville sorg sam darauf achtete, die Hand nicht loszulassen, die ihre Selbstverteidigungs-Einrichtung aktivieren könnte, und er war bereit, sie mit allen Mitteln am Gebrauch zu hin dern. »Es waren nicht deine Schienbeine, gegen die sie getreten hat, kleiner Bruder«, sagte Neville ungerührt. »Und sie ist, nebenbei gesagt, ganz schön stark. So wie
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sie sich wand, hätte sie sich fast lang genug freikämpfen können, um dieses Ding da anzuschalten. Wo wären wir dann alle? Ich sag' dir, wo sie wäre. Würde hier frei in dieser Erbsensuppe rumlaufen und verrückt werden, das war's.« Clive gefiel es gar nicht, beipflichten zu müssen, aber Neville hatte recht. Falls Annabelle den Baalbec benutzt hätte, wären sie nicht in der Lage gewesen, sie zu be rühren, und es wäre nur eine Sache von Augenblicken gewesen, bis sie sie verloren hätten. Er legte ihr einen Arm um die Schultern und beugte sich herab, um sie zu untersuchen. An der linken Wange zeigte sich ein blau er Fleck, wo Nevilles Schlag gelandet war. Tränen tropften Annabelle aus den Augen, als sie Cli ve ansah. »Ich war mir sicher, daß es Amanda war«, sagte sie schwach. »Ich hab sie gehört. Ich kenne ihre Stimme!« Clive legte die Arme um sie. Sie zitterte, und ihr Blick schoß unruhig umher. Eine Hand umklammerte seine Schulter, dann drückte sie das Gesicht dagegen und weinte. Neville ließ ihren Arm los und setzte sich seuf zend mit gekreuzten Beinen zurück. Clive sah seinen Bruder an, während er Annabelle wiegte, wobei er sie fest an sich drückte und darauf wartete, daß ihr Kum mer verginge. Er wollte ihr sagen, daß sie hier heraus kämen, daß sie den Weg nach Hause fänden und daß Amanda dort auf sie wartete. Aber er war sich seiner selbst nicht mehr sicher, und er wollte sie nicht anlügen. Statt dessen hielt er sie fest und gab vor, stark und ge lassen zu sein. Wenn er nichts sagte, könnte man auch nicht das Zittern des Zweifels in der Stimme verneh men. »Mami?« Er merkte, wie Annabelle taumelte, als sie den Kopf herumwarf. Neville sprang auf, hatte den Degen bereits halb aus der Scheide gezogen und starrte den Schatten an, der aus dem Nebel heraustrat.
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Das Kind mochte vielleicht vier Jahre alt sein, keines falls älter. Dunkles, schimmerndes Haar hing ihr über die Schulter und in die glitzernden, feuchten und weit geöffneten Augen. Der nackte kleine Körper leuchtete bleich in dem treibenden Dunst, als sie mit der plum pen, kurzfingrigen Hand nach Annabelle griff. Annabelle kreischte vor Freude. »Es war Amanda!« rief sie Clive zu, stieß ihn weg und faßte nach dem Kind. »Ich habe dir gesagt, ich kenne ihre Stimme!« »Mami!« sagte das Kind erneut. Als Annabelle dann die Arme um sie schlang, gab Amanda ein Geräusch wie eine zornige Katze von sich. Die kleine Hand, die sie wie in kindischer Scheu hinter dem Rücken gehalten hatte, schlug nach der Kehle ihrer Mutter. Annabelle kreischte und fiel zurück, und Blut spru delte dunkel zwischen den Fingern hervor, die sie auf die Wunde drückte. Amanda sprang auf ihre Mutter und spuckte und zischte wie in kleines wildes Tier. Im mer wieder schlugen diese winzigen Krallen zu, und Annabelle wälzte sich umher und kreischte und ver suchte, ihr Gesicht zu schützen. Dann packte Neville das Kind von hinten. Es spie nach ihm, gab dieses schreckliche katzenhafte Geräusch von sich und hackte nach den nackten Armen, während es gleichzeitig versuchte, nach ihm zu treten. Er schüt telte es ärgerlich und versuchte, es davon abzuhalten, aber es fuhr fort zu spucken und zu kratzen, und Blut rann Neville in die Ärmel und durchtränkte sein Hemd. Schließlich brüllte er wütend und warf die Kreatur von sich. »Tut mir leid!« rief Clive, dem das Herz in der Brust pochte, als er zu Neville trat. »Ich war einfach wie be täubt und konnte mich nicht bewegen. Es war ein Kind!« Er packte den Griff des Degens und warf einen Blick in den Nebel. Es gab kein Anzeichen mehr von dem Kind, wenn es denn überhaupt eines gewesen war. Neville stieß ein Wimmern aus und sackte in die
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Knie, wobei er die Arme schlaff vor sich hielt und einen Schwall von Flüchen und Verwünschungen ausstieß. Clive versuchte, die.Wunden zu untersuchen, weil er Angst hatte, eine Ader wäre verletzt. Aber Neville knurrte und stieß ihn weg. »Kümmere dich um Annabelle!« befahl er. »Das ver dammte Ding hat sie an der Kehle erwischt!« Annabelle lag schluchzend am Boden, in sich zusam mengerollt wie ein Fötus, und Clive benötigte einige Zeit, bis sie sich ausstreckte. Arme und Schultern waren eine einzige blutige Masse von Kratzern. Clive spürte, wie sich ihm die Eingeweide zusammenzogen, als er sich über sie beugte, und Tränen füllten ihm die Augen. Er wischte sie jedoch weg, riß ein Stück des Khakihem des ab und faltete es zu einem brauchbaren Rechteck. Aus vier unregelmäßigen Schnitten auf der rechten Sei te von Annabelles Kehle pulsierte Blut. Clive goß Was ser aus der Feldflasche über das Viereck und wischte die Schnitte weinend ab. Annabelle wimmerte und zuckte bei der Berührung des Tuchs zusammen, aber Clive be hielt den Druck bei. Neville kroch zu ihm. »Laß mich mal sehen«, sagte er, und Clive hob eine Ecke des nassen Vierecks an. »Gut.« Clive durchbohrte ihn mit einem Blick, der fragte, wie denn daran etwas gut sein könnte, und Neville erklärte es. »Die Halsschlagader befindet sich hier.« Er strich sich behutsam mit einem Finger selbst über den Hals. Clive sah erneut unter das Vierecktuch und bemerkte, daß die Schnitte vor der Schlagader endeten, aber nur um Haaresbreite. »Dennoch wird sie einige hübsche Narben behalten, kleiner Bruder, wenn du sie nicht vor her erwürgst.« Clive runzelte die Stirn und ließ mit dem Druck etwas nach. Die Blutung war schwächer geworden. Er schütte te noch etwas Wasser aus der Feldflasche über den Streifen Hemdstoff und versuchte, die übrigen Schnitte abzuwaschen. Glücklicherweise schien Annabelle be
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wußtlos geworden zu sein. Sie leistete keinen Wider stand mehr und half ihm auch nicht mehr bei der Ar beit, als es eine Puppe getan hätte. Als er nichts mehr für sie tun konnte, wandte er sich mit Wasser und Stoff Neville zu. In diesem Augenblick vernahmen sie ein weiteres, vertrauteres Geräusch, nämlich das Schlagen großer le derner Schwingen. Die Brüder schauten Seite an Seite auf, als Philo B. Goode, der sich jetzt Beelzebub nannte, vor ihnen herabkam. Der Fußknöchel schien völlig ver heilt zu sein, auch gab es keinerlei Anzeichen von Finn boggs Zähnen und Klauen auf der makellosen Haut. In den Armen wiegte er das Kind-Ungeheuer, das sie angegriffen hatte. Annabelle setzte sich auf. »Er hat Amanda erwischt«, sagte sie schmerzerfüllt. »Das ist nicht Amanda«, sagte Neville, noch immer kniend, fest zu ihr, während er Goode anschaute. Clive leckte sich die Lippen, als er bemerkte, wie Ne ville und Goode einander anstarrten. »Ich hab' nie dran gedacht, nach unserer letzten Begegnung danach zu fra gen«, sagte er, »aber seid ihr beiden euch auch schon mal begegnet?« »Er hat mir damals in Afrika einen Bärendienst erwie sen«, erklärte Neville, wobei er den Blick nicht von dem geflügelten Gegner abwandte. »Hat mir 'ne Notiz von Lady Baker zugespielt, der Frau eines Lord Samuel Ba ker, von dem du vielleicht schon gehört hast. Sie stehen auf der Fahndungsliste. Ein charmantes Paar, wirklich. Sie nahmen an einer Safari in Bukoba teil, und ich hatte die Gelegenheit, sie zu treffen. Wie dem auch sei, die Notiz schlug eine, nun, eine amouröse Liaison vor, auf die ich persönlich antwortete. Lord Baker erwischte uns und fühlte sich sehr in seiner Würde verletzt, wenn gleich ich dir versichere, daß bis dahin nichts passiert war. Nicht, daß es nicht hätte passieren können«, fügte er mit einem Augenzwinkern in Clives Richtung hinzu,
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»wenn wir mehr Zeit und eine gute Flasche Brandy ge habt hätten. Unnötig zu sagen, daß diese Notiz ein net ter Scherz war, eine der Fälschungen dieses Burschen. Darin ist er ganz gut.« Clive funkelte seinen Bruder an. »Du hast mit ihm Geschäfte gemacht?« Neville hob die Schultern. »Ich hab' ihn in 'ner Spe lunke im Hafenviertel getroffen, nachdem ich in Sansi bar das Schiff verlassen hatte, und wir haben 'n bißchen Karten gespielt. Einige Kerle haben uns auf der Straße ausgeraubt, nachdem alles vorbei war. Haben mir das ganze Geld abgeknöpft, wirklich.« Neville Folliot nickte Goode zu, der geduldig und breit grinsend zuhörte. »Goode hier hat mir dabei geholfen, dennoch die nötige Ausrüstung zu verschaffen, indem er sie an, öh, ge wisse andere wohlhabende Leute verriet.« »So jemanden wie den Sultan Seyyid Majid ben Said?« warf Clive ein, als er sich an eine unangenehme Episode seines eigenen Aufenthalts in Sansibar erin nerte. Neville hob erneut die Schultern. »Und ein paar sei ner Verwandten. Du hast den Burschen getroffen?« Clive verdrehte die Augen und wandte sich an Philo B. Goode. »In dieser Inkarnation siehst du besser aus, Goode«, sagte er. »Sie steht dir.« Ehe Goode antworten konnte, schlug sich Annabelle vor die Stirn. »Systemfehler! Ich war wirklich daneben! Ich kenne ihn auch!« Sie schoß dem Erzdämon einen anklagenden Blick zu. »Warst du nicht auf einer Tournee meiner Band ein Roadie? Natürlich, ich erinnere mich, Chipsfresser! Du hast das Equipment für die PiccadillyShow aufgebaut!« Philo B. Goode schlug mit den Schwingen, und der Nebel wirbelte heftig bei dieser Bewegung. Er warf den Kopf in den Nacken und lachte. »O ja, meine liebe Miß Leigh«, gab Goode zu. Er leckte sich die Lippen und ließ die Zungenspitze über die Fänge gleiten, während er sie
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von der Seite her ansah. »Ich bin ein Mann, der an vie len Orten und zu vielen Zeiten zugegen war. Aber sag mir doch schon, wie gefällt dir mein kleines Hätschel kind?« Er drehte das Kind in den Armen hin und her. Das Amanda-Ding streckte den Rücken und stieß ein tiefes Knurren aus, als Goode mit der Handfläche über die Wirbelsäule strich. »Mami«, sagte es, aber in dem Laut lag nichts Menschliches. »Hurensohn!« knurrte Annabelle, die sich kaum noch beherrschen konnte. Philo B. Goode gluckste. »Aber, aber, Miß Leigh, was für eine Sprache! Was müssen Ihr Großvater und Ihr Onkel von Ihnen denken?« »Nun, ich für meinen Teil denke, daß sie ganz recht hat«, sprang Neville freiwillig ein. »Laß sie in Ruhe, Goode«, drohte Clive mit drohender Stimme, während er sich langsam erhob und eine Hand auf den Griff des Degens legte. »Sie in Ruhe lassen?« Erneut lachte Goode und spreizte die Schwingen, rührte in dem Nebel und rief damit Wellen feuchter Hitze hervor, die über sie hin wegspülten. Er streichelte und hätschelte weiterhin auf fast obszöne Weise die Amanda-Kreatur in seinen Ar men. »Mein lieber Major Clive Folliot, Sie verstehen wohl nicht! Es war ein Fehler, der Sie hierherbrachte, ein Irrtum, den ich jetzt zu korrigieren gedenke.« Der katzengleiche Blick glitt von Clive zu Neville, und er leckte sich erneut die Fänge. »Und Sie, Major Neville Folliot, Sie haben sich als ungeheure Enttäuschung er wiesen. Kaum ein Vergnügen. Ihr armer kleiner Bruder, den Sie gelegentlich unserer Begegnung als ›unbeholfen und unsympathisch‹ schilderten, hat sich viel mehr als eine Herausforderung erwiesen.« Clive sah Neville an und hob eine Braue. »Unbehol fen und unsympathisch‹?« Neville hob die Schultern und neigte den Kopf. »Ich habe mich wohl versprochen.« Das kam einer Entschul
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digung näher als alles, was Clive je von ihm gehört hatte. Philo B. Goode machte einen Satz in die Luft. Seine Schwingen schlugen in kraftvollem Rhythmus, als er über ihren Köpfen schwebte und noch immer sein kost bares Hätschelkind an sich drückte. »Schachmatt, Clive Folliot. Selbst mit all deinen Freunden hast du niemals wirklich genügend Figuren gehabt, um das Spiel zu beenden.« »Was du auch immer denken magst, Goode«, sagte Clive und zog den Degen aus der Scheide, »das ist kein Spiel!« »O doch, Major!« brüllte Goode und lachte. »Und ich habe einen unerschöpflichen Vorrat an Bauern.« Ohne jede Warnung warf Philo B. Goode das Aman da-Ding Clive ins Gesicht. Es fiel kreischend und zi schend über ihn her, und die Klauen schlugen nach sei nen Augen. Clive sah es rechtzeitig und zog den Degen zurück. Denn es war noch immer das Gesicht eines Kindes, das er erblickte, und er brachte es einfach nicht übers Herz zuzustoßen. Im letzten Augenblick stieß er es weg. Es stieß ein ärgerliches Kreischen aus, drehte sich um und landete auf den Füßen. Kaum einen Herzschlag später sprang es ihn erneut an. Er warf den linken Arm hoch, um es abzufangen. Klauen gruben sich ihm ins Fleisch; Zähne zerrten an dem Khakiärmel. Mit einem Schmer zensschrei warf Clive das Ding weg. Über ihren Köpfen brüllte Philo B. Goode vor Lachen, als aus den Tiefen des Nebels weitere Schatten hervor kamen, die spien und zischten, alles Amanda-Dinger, alle identisch, alle mit rasiermesserscharfen Klauen. Cli ve starrte schreckerfüllt auf Dutzende kleiner Mädchen, die alle an Annabelle erinnerten und aus dem Nebel heranjagten. Annabelle stieß ein ärgerliches und entsetztes Krei schen aus.
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Der Schwärm der Kinder schlug wie eine Woge über ihnen zusammen; sie kratzten und zerrten, sie bissen wie kleine Tiere. Clive bemerkte, daß ihm die eigene Moral einen Streich spielte. Er stieß und trat nach den kleinen Angreifern, jedoch nur halbherzig. Er konnte sich nicht dazu überwinden, den Degen zu gebrauchen. »Sei nicht weichherzig, kleiner Bruder!« rief Neville, aber ehe er seinerseits die Klinge ins« Spiel bringen konnte, sprang eines der kleinen Biester hoch und schlug ihm die Zähne in den Leib. Neville kreischte und ließ den Degen fallen, ehe er sich freischütteln konnte. Er hörte Annabelles Schreie, sah, wie sie sich unter dem Gewicht eines halben Dutzend Amandas auf der Erde wälzte. Sie schlug nicht im geringsten nach ihnen, stieß sie noch nicht einmal davon. Sie versuchte ledig lich, Gesicht und Kopf zu schützen, als winzige Fäuste auf sie eintrommelten und winzige Klauen ihr die Haut aufrissen. Plötzlich wurde Clive von einem Angriff umgerissen. Sie zerrten ihm an den Haaren, krallten nach den Au gen. Winzige Zähne schlossen sich ihm um die Kehle. Der Degen war ihm aus der Hand gefallen. Mit einem wütenden Gebrüll schwang er die Arme und schickte seine Gegner zu Boden, aber andere nahmen deren Stelle ein, ehe er Atem holen konnte. Er kreischte un willkürlich vor Schmerz auf und warf einen Arm hoch, um die Augen zu schützen. Dann hörte er zum erstenmal den Baalbec. Dann ein zweites Mal, ein drittes. Annabelle schlug zurück! Er wußte, was es sie gekostet haben mußte, dieses Ent scheidung zu fällen, er erinnerte sich daran, wie schlecht er sich gefühlt hatte, als er dem Neville-Klon auf der sechsten Ebene gegenübergestanden und ihn niedergemacht hatte. Aber dies hier waren ihre Töchter — soll heißen Kreaturen, dazu geschaffen, sie an ihre Tochter zu erinnern. Dennoch, der emotionale Preis ... Mit einem Ruck machte er einen Arm frei, ergriff das
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Haar das Amanda-Dings vor seinem Gesicht und riß ihm den Kopf zurück. Es kreischte vor Qual, als er es davonschleuderte, und er griff nach dem nächsten, das dessen Stelle eingenommen hatte. Er stieß und schlug mit den Fäusten, den Ellbogen, mit jedem Teil des Kör pers, den er freibekommen konnte, und es gelang ihm, sich aufzusetzen. Betäubte kleine Körper häuften sich um Annabelle. Sie mußte nur den Baalbec aktivieren. Die Kinder übernahmen den Rest. Sie warfen sich Woge nach Woge blindlings gegen sie und berührten das Feld. Das peitschende Geräusch des Energiestoßes füllte ihm die Ohren. Neville stand direkt hinter ihr, warf die Kreaturen nach rechts und links, tobte wie ein Wahnsinniger. Er knurrte wie ein Tier, mit einem bestialischen Aus druck auf dem Gesicht. Das Hemd war ihm vom Körper gerissen worden, und die Hose hing in Fetzen herab. Während Clive zusah, hob er ein Kind an, zerbrach es über dem Knie und warf es mit aller Kraft weg. Philo B. Goode applaudierte begeistert. »Oh, das ist entzückend! Ist es nicht etwas ganz Besonderes, Anna belle Leigh, geradeso, wie ich's dir versprochen habe?« »Du Ungeheuer!« wütete Annabelle und schüttelte die Faust. Die Implantate des Baalbec A-9 glitzerten in einem Gemisch aus Blut und Schweiß auf dem hoch er hobenen Arm. »Du glaubst, dies ist ein Spiel? Das du mit uns spielen kannst?« In ihren Augen loderte Hyste rie auf. Fünf weitere Amandas sprangen sie an, kreisch ten gellend auf und fielen unerwartet zurück, zuckten und wanden sich, ehe sie bewußtlos zusammenbrachen. Goode hielt sich den Bauch vor Lachen, als immer mehr seiner Hätschelkinder aus dem Nebel hervorbra chen und sich auf Annabelle warfen. Das Geräusch des Baalbec wurde zu einem fortwährenden Stakkato, wäh rend sie nach ihr griffen. Aber Annabelle schenkte ihnen keine Beachtung. Ihr wütender Blick konzentrierte sich auf Philo B. Goode,
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als sie durch die Kinder hindurchwatete und vor ihm stehenblieb. »Du verdammtes Arschloch!« raste sie. »Ich werd dein ganzes beschissenes Programm zerstö ren!« Mit der rechten Hand schlug sie gegen die Implan tate. Clives entsetzter Aufschrei erstarb, ehe er ihn hervor bringen konnte, als jeder Zoll seiner Haut unter der jä hen elektrischen Einwirkung kribbelte und jeder Mus kel seines Körpers sich zusammenzog. Er stürzte zu Bo den, und der Sturz wurde nur durch die Körper einiger der Amanda-Dinger gedämpft, die der gleichen Kraft unterlagen. Die Brust brannte ihm, aber er verlor nicht das Be wußtsein. Er sah den Ausdruck auf Goodes Gesicht, als ihn die Kraft gleichfalls traf. Die riesigen ledernen Schwingen spreizten sich und verharrten so, und Philo B. Goode fiel wie ein sehr überraschter Stein zu Bo den. Annabelle hob Nevilles Degen auf und ging mit an gespannter Ruhe zu der betäubt daliegenden Gestalt ih res Peinigers. Clive erlangte genügend Herrschaft über die Muskeln zurück, daß er sich auf einen Ellbogen auf richten konnte, aber nicht mehr, um sonst noch etwas zu tun. Er konnte Annabelle auf keine Weise von dem abhalten, was sie offensichtlich im Sinn hatte. Sie setzte Goode die Spitze der Klinge aufs Herz, und ein Grollen kam ihr über die Lippen. »Schieb das in dein Diskettenlaufwerk, du Hurensohn!« zischte sie, als sie ihr ganzes Gewicht auf den Degen legte. Goode stieß einen scharfen Seufzer des Schmerzes aus. Sein Kopf hob sich und sank dann zurück. »När rin!« wisperte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Das Spiel geht weiter. Ich bin nur der Diener dessen, der vor dem Meister steht!« Ein weiterer Seufzer entfloh seinen Lippen, und mit ihm sein Leben. Annabelle sah nieder auf Goode. Langsam entglitt ihr
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der Degen, und sie starrte statt dessen ihre Hand an. Dann drehte sie sich um und starrte entsetzt auf all die winzigen Körper, die ihrer Tochter so ähnlich waren. Sie biß sich auf die Lippen, stieß ein schwaches Wimmern aus und sank bewußtlos zu Boden.
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KAPITEL 8
Der unerwartete
Fährmann
nicht klar, daß sie das Feld so weit über ih MirrenwarKörper hinaus ausdehnen könnte«, sagte Ne ville besorgt. »Mir auch nicht«, antwortete Clive grimmig, während er sich über sie beugte. »Ihre Haut ist kalt wie Eis.« Auch in seinem Körper brannte und schmerzte jeder Muskel, aber er rieb sie so kräftig, wie er nur konnte. Neville schloß sich ihm an. Der heiße Nebel sollte gleichfalls dabei helfen, ihre Körpertemperatur wieder anzuheben, wenn es dafür nicht schon zu spät war. Aber ein so gewaltiger Energieausstoß mußte eine über aus große Beanspruchung ihres Systems gewesen sein. »Gott sei Dank hat sich das Ding selbst abgeschaltet«, brummte Neville, während er arbeitete. »Es muß so was wie eine Sicherheitsschaltung geben, eine automatische Abschaltung.« Clive massierte ihr die linke Hand, schreckte dann entsetzt zurück, als er das Blut bemerkte, das über der bleichen Haut verschmiert war, sein Blut, das ihm über den Unterarm auf die Handfläche lief. Nun, er konnte sich jetzt nicht um die eigenen Verletzungen kümmern. Sowohl er als auch Neville waren mit Kratzern und Schnitten bedeckt. Desgleichen Annabelle. Er konnte jetzt einfach nichts dagegen unternehmen. Er beugte sich über Annabelle und horchte nach dem Herzschlag. »Ist vorhanden, wenngleich schwach.« »Zieh dein Hemd aus, Clive, oder was davon übrig ist. Wir müssen sie warmhalten.« Clive zog das zerrissene Kleidungsstück aus und brei tete es, so gut er konnte, Annabelle über Brust und
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Schultern, ging dann in die Hocke und sah seinen Bru der an. Neville war fast nackt. Nur die Stiefel und stra tegisch günstige Überbleibsel der Hose waren ihm ge blieben. Die Haut sah aus wie ein blutiges Spitzenmu ster, und Blut verknotete ihm das blonde Haar. Er wirk te ganz wie ein Wilder. Vielleicht war das auch gar nicht einmal eine so unangemessene Beschreibung. Clive er innerte sich, wie sein Bruder knurrend wie ein Tier die Angreifer links und rechts von sich geworfen hatte. Es war kein angenehmer Anblick gewesen. Neville setzte sich gleichfalls in die Hocke. »Jetzt liegt's an ihr«, verkündete er. »Die Luft ist heiß genug, um sie schnell zu erwärmen.« Er nahm den Arm mit den implantierten Kontrollapparaten für den Baalbec A-9 auf und wiegte ihn sanft. »Es sei denn, dieses ver dammte Ding hat einen Schaden angerichtet, von dem wir nichts wissen.« Die Zwillinge sahen einander an, ihre Blicke krallten sich ineinander und verweilten eine Zeitlang so. In die sen Blicken lag nichts von einer Herausforderung. Es war ein gegenseitiges Erforschen auf einer sehr unter gründigen Ebene. Clive hatte geglaubt, Neville zu ken nen. Aber er war sich nicht sicher, daß er den Mann ihm gegenüber kannte. Clive hatte geglaubt, Neville zu has sen. Aber er wußte nicht, ob er diesen Mann haßte. Cli ve hatte geglaubt, Neville zu beneiden. Aber er war sich nicht sicher, ob er diesen Mann beneidete. Alles, aber auch alles hatte ihm Neville in der Kind heit angetan, und all die Beleidigungen und Verletzun gen kehrten Clive jetzt ins Bewußtsein zurück, und er versuchte verzweifelt, sie dem Gesicht des Mannes zu zuordnen, den er da vor sich sah. Es gelang ihm nicht. Die Erinnerungen verflogen wie feiner Puder, wie Staub, den er sehen und riechen und schmecken konn te, der sich jedoch seinem Griff entzog. Er sah verwirrt beiseite. Neville sprach als erster. »Hallo, kleiner Bruder.«
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Clive schaute auf. »Ich bin nicht dein kleiner Bruder«, sagte er steif. Neville lächelte leicht, während er nickte. »Aber du bist mein Bruder«, bekräftigte er, »mein Zwillingsbru der.« Die Amanda-Kreaturen um sie herum erwachten. Die Brüder schreckten auf und griffen nach ihren Degen. Nevilles Hand griff ins Leere, und er warf einen kurzen Blick auf den toten Körper von Philo B. Goode. Seine Klinge steckte in der Brust des toten Mannes. Langsam setzten sich die Kleine-Mädchen-Dinger auf. Sie knurrten und zischten, während sie die Wir kung des Baalbec von sich abschüttelten. »Mami«, stie ßen sie mit leiser, unnatürlicher Stimme hervor. »Mami, Mami.« In dem Klang war keine Spur von Liebe. Es war ein Jagdschrei, ein Köder, nichts weiter. Sie schienen an Clive und Neville und Annabelle völlig desinteressiert zu sein, als sie sich jetzt rührten. Sie bogen die Rücken durch und streckten sich wie Katzen, erhoben sich auf winzige Füße, und sie torkelten auf die bewegungslose Gestalt ihres Meisters zu. »Mami«, flüsterten sie, und der Laut klang unheimlich durch den Nebel. Eine nach der anderen gingen sie zu Philo B. Goode, berührten ihn, erforschten ihn mit den Fingern, leckten ihm Ge sicht und Hände, Brust und Schwingen. Sie krabbelten mit langsamen Bewegungen wie Maden über ihn, und als er keinerlei Antwort gab, verloren sie sich schließlich im Nebel. »Was ist das für ein merkwürdiges Geräusch?« sagte Neville ein wenig verwirrt, während er sich den Nacken rieb. Clive war zu sehr vom Anblick der Kinder einge schüchtert gewesen, als daß er das ferne schrille Heulen gehört hätte, das den Nebel schwach durchdrang. »Das ist Shriek!« rief er aus, sprang auf und fiel gleich wieder um. Er sah überrascht sein rechtes Bein an. Ein langer Riß in der Hose zeigte eine tiefe, klaffende Wunde im
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Oberschenkel, aus der ein ständiger purpurroter Strom floß. Er preßte die Hand auf die Wunde und kniff die Au gen zusammen, um den jähen Schmerz zu unterdrük ken. Er mußte sich konzentrieren. Vielleicht war Shriek zu weit weg gewesen, als daß sie ihn früher hätte hören können, aber jetzt war sie näher. Er verschränkte die Hände. Shriek! rief er und feuerte die Gedanken wie Warn schüsse in alle Richtungen. So stellte er es sich jeden falls vor, daß er nämlich ein Jäger wäre, der seine Kame raden warnte, indem er in die Luft schoß. Shriek! rief er immer und immer wieder schweigend. Shriek! »Was machst du denn da?« fragte Neville drängend, während er um Annabelle herumtrat und sich neben Clive kniete. Er stieß die Hand seines Zwillingsbruders beiseite und sah auf die klaffende Wunde. Er verzog das Gesicht. »Ziemlich übel, das da«, sagte er. Er riß Clive das Ho senbein ab und machte daraus Verbandsstreifen. Ehe er jedoch die Verletzung verbinden konnte, schnappte ein weißer Seidenstreifen nach seinem Arm. Neville stieß einen überraschten Schrei aus, sprang auf und versuch te, den Arm loßzureißen. Ehe er das jedoch tun konnte, erschien Shriek. Der Ausdruck in ihren Augen war unergründlich, als sie die beiden Zwillingsbrüder mit einem Blick streifte und zu Annabelle eilte. Die Arachnida kniete sich auf die Vor derbeine und beugte sich über die bewußtlose mensch liche Frau, wobei sie mit den Kieferknochen klickte und klackte. Dann sah Clive die Gewebestränge, die ihr am linken rückwärtigen Fuß hafteten. Sie verschwanden hinter ihr im Nebel. Einen Augenblick später gesellte sich Tomàs zu ih nen. Der Strang lief ihm um den Leib und schlängelte sich weiter zurück in den Nebel. Er starrte sie einen Au
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genblick lang mit schreckerfülltem Gesicht an. »Senhor Clive! Senhor Neville! Ai, Christo! Was ist geschehen?« Er ließ den Blick in alle Richtungen schweifen, als ob er nach einer Gefahr Ausschau hielte, während er sich zwischen ihnen niederkniete. Er erspähte den Körper von Philo B. Goode, der jetzt teilweise vom treibenden Nebel verdeckt war. »Wer ist das?« »Der nette Herr Goode«, erklärte Neville mit zusam mengebissenen Zähnen. Er ließ jetzt eine Hand in der Gegend seiner Rippen ruhen. Sein Gesichtsausdruck zeigte deutlich den Schmerz, den er zu lange unter drückt hatte. Clive versuchte, sich aufzusetzen. »Wie hast du uns gefunden?« Tomàs erblickte die klaffende Wunde an Clives Bein und keuchte. Der kleine Portugiese sah das Häuflein Gewebestreifen, die Neville aus dem Khakimaterial an gefertigt hatte, erkannte deren Zweck und machte sich an die Arbeit. Er wusch die Wunde, indem er Wasser aus der eigenen Feldflasche darübergoß, faltete einen Streifen, drückte ihn auf den Schnitt und band einen weiteren darum. »Ich fand Shriek, als ich in diesem verfluchten Nebel herumwanderte«, erklärte er während der Arbeit. »Wir sind eine lange Zeit umhergewandert, weit weg von der Straße, und wir hörten manchmal Stimmen, haben je doch niemanden gefunden.« Clive dankte dem kleinen Seemann für den Verband, aber er hegte den Verdacht, daß es Shriek gewesen war, die Tomàs gefunden hatte. »Ai, ist das eine böse Geschichte, soviel Blut!« rief To màs aus, während er einen Streifen anfeuchtete und die Kratzer um die klaffende Wunde abwischte und mit sei ner Geschichte fortfuhr. »Plötzlich wurde Shriek demente! Verrückt!« Er warf die Hände hoch und schnitt ein Ge sicht. »Sie hat mich mit ihrem Netz gefangen und ist in den Nebel gelaufen. Ich folge ihr, so schnell ich kann,
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und sie schießt ihr Gewebe blindlings überallhin, schießt es einfach in den Nebel!« Er machte erneut eine Geste und verdrehte die Augen. »Einmal macht sie lang genug eine Pause, und ich kann sie einholen und spring ihr auf den Rücken. Sie schert sich nicht drum. Sie bleibt wieder stehen, als ob sie sich umgucken wollte. Ich erhole mich 'ne Minute lang, um Atem zu schöpfen, und ai de mim! sie läuft wieder los, und ich falle zurück.« Er schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn und lä chelte breit. »Aber hier bin ich!« Ein Schatten nahm am Rand des Nebels Gestalt an und ging in die vertrauten Umrisse von Chang Guafe über. Die Rubinlinsen der Augen brannten mit voller In tensität und warfen einen roten Glanz, der sich im Ne bel um ihn herum verlor. »Keine herannahenden Fein de«, berichtete er. »Alle Sensoren im Normalzustand.« Clive grinste, als er sich den vorangegangenen Abend und die Unterhaltung mit dem Cyborg ins Gedächtnis zurückrief. »Hallo, Chang. Freue mich, auch dich wie derzusehen.« Chang Guafe trat näher an die größer werdende Ver sammlung heran. »Beobachte beschleunigten Puls schlag in beiden Major Folliots«, meldete er, »begleitet von ineffizienter Atmungsfrequenz.« »Wir hatten einen kleinen Zusammenstoß«, erklärte Neville mit unangemessener Heiterkeit, wobei er Clive zublinzelte. »Aber du wirfst besser einen Blick auf Miß Leigh.« Shrieks Gedanken fuhren Clive durchs Bewußtsein. Ihr Köper ist nicht das Problem, trotz Verletzungen, sagte die Arachnida. In ihren Gedanken lag eine schneidende Furcht, die sich über die neuronale Verbindung Clive mitteilte. Ich kann dennoch nicht ihr Bewußtsein erreichen! Sie ist verschlossen! Clive stieß Tomàs beiseite und kroch auf den Knien hinüber zu Annabelle. Er sah zu Shriek auf. »Was fehlt ihr, Shriek? War das der Baalbec?«
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Shriek klickte mit den Kieferknochen und richtete drei Augen auf ihn. Die übrigen drei hielt sie weiterhin auf Annabelle gerichtet. Es ist der Schock, Wesen Clive, tie fer Schock. Selbst über die große Entfernung hinweg hörte ich ihren Bewußtseinsschrei. Kindchen sah ich. Ihr Kindchen. Dann Wahnsinn, Wahnsinn! Die Furcht von Wesen Annabel le ist — sie legte zwei der Hände auf den Kopf und schüttelte ihn hin und her — sehr mächtig. Clive legte Shriek beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Bist du in Ordnung?« Shriek schluckte, während sie nickte. Habe Angst ge habt. Die Bewußtseinsfurcht von Wesen Annabelle klingt nach, verschwindet jedoch langsam. Mehr geht's gut. Er deutete auf das Gewebe, das an ihrem Fuß befe stigt war. »Hast du alle unsere Freunde dabei?« Die Frage schien ihr Sorgen zu bereiten. Viele Wesen in dem Gewebe, antwortete sie. Das Glück hat mein Weben ge führt. Ich arbeitete blindlings, warf das Gewebe blindlings aus. Viel Kampf, viele Schwingungen. Zu viele Wesen, als daß es nur Freunde sein können. Clive rieb sich das Kinn und wimmerte, als er sogar auf dem Gesicht neue Schrammen entdeckte. »Du hast vielleicht einigen ihrer Kindchen eine Falle gestellt«, er klärte Clive. »Shriek, wir müssen uns um Annabelle kümmern. Kannst du zurückgehen und die übrigen fin den? Auch Samedi? Schneid die anderen los. Sie schei nen ohne Philo B. Goodes Führung harmlos zu sein.« Kann alle finden, antwortete Shriek und erhob sich. Die Schwingungen führen mich sehr rasch. Sie streifte ir gendwie die Gewebestränge vom Hinterfuß ab, drückte sie auf den Boden, drückte die Spinndrüsen dagegen und stellte so einen festen Anker her. Dann verschwand sie im Nebel. Im Nu war die gesamte Gruppe wieder beisammen. Finnbogg ließ ein schmerzliches Gebrüll ertönen, als er Annabelle erblickte. Die anderen scharten sich um sie. Schnitte und Kratzer wurden mit Streifen von Kleidern
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gewaschen und verbunden. Als die Khakistreifen ver braucht waren, stellte Smythe sein Hemd zur Verfü gung. Neville hatte einen tiefen und sehr schmerzhaften Riß quer über die Rippen sowie drei ernste Verwundun gen auf dem Rücken davongetragen. Es gab keine Mög lichkeit, Annabelle die Kehle zu verbinden, aber Arme und Rücken waren gleichfalls ernsthaft verletzt. Clive überspielte die eigenen Verwundungen und bezeichnete sie als geringfügig, aber die anderen drückten ihn wie der zurück, als er versuchte, sich aufzurichten. Baron Samedi stand mit dem Hut in der Hand schüchtern am Rand des Nebels. »Warum hast du uns vor diesem Ort nicht gewarnt, Samedi?« wollte Clive wissen. Samedi schaute den Hut an und hob die Schultern. »Hör mal, Egon, jeder macht hier un' da ma' 'n Ausrut scher, weißte? Bin in Panik geraten, nun gut, als du dei ne mickrige Weißen-Lippe da oben riskiert has, hm? Wer will sich also beschweren? Wenn wir alles hübsch eins nach 'm ändern erledigt hätten und zusammen ge blieben wären, war' nich' alles so holterdipolter gegan ge, is' doch klar.« Sidi runzelte die Stirn. »Mickrige Weißen-Lippe?« sagte er mit Nachdruck. »Wenngleich du mein wohlmei nender Gastgeber und Führer gewesen bist, muß ich darauf bestehen, daß du, edler Herr, genauso weiß bist wie meine Freunde. Eigentlich sogar weißer als jeder Mann, den ich je gesehen habe.« Samedi sah ihn mit schräggelegtem Kopf an und hob eine Braue. »Oh, 'tschuldigung!« Das war eine perfekte Nachahmung von Smythes Stimme und Akzent. Same di setzte den Hut auf und drückte ihn sich in die Stirn. Clive hob die Brauen. Dieses Wesen verwirrte ihn mit seiner seltsamen Redeweise, mehr noch mit seinem seh wer faßbaren Hintergrund. Er behauptete, daß er ausgeschickt worden sei, ihnen den Weg zu zeigen. Aber wer hatte ihn geschickt? Konnte Clive ihm ver
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trauen? Konnte er auch Samedis Auftraggebern ver trauen? Clive wußte, daß er die Antwort auf diese Fragen rasch erhalten mußte, aber jetzt war es das beste, erst einmal diesem Nebel zu entrinnen. Er fürchtete sich nicht mehr vor den Amanda-Dingern, aber andere Ge fahren mochten noch irgendwo lauern. »Laßt uns mal von hier verschwinden«, sagte er plötzlich. Er wollte sich erheben, aber Horace Hamilton Smythe drückte ihn zurück. »Nein, Sör«, beharrte Smythe. »Sie können noch nicht laufen. Diese Beinwunde ist zu tief, und sie braucht Zeit, um sich zu schließen.« Clive versuchte, ihn zurückzustoßen. »Sei nicht dumm, Sergeant«, entgegnete er. »Wir können nicht hier in diesem Schlamassel bleiben. Der Verband muß reichen. Hilf mir jetzt auf.« Aber Smythe blieb eisern. »Shriek oder Chang Guafe wird Sie tragen, Sör, und auch Major Neville. Finnbogg wird Miß Annabelle nehmen.« Finnbogg sah begeistert auf. »Okay, okay!« stimmte er zu. »Finnbogg trägt Annie sanft wie Geschwister chen!« »Mach dich doch nicht lächerlich, Horace!« schnappte Clive, der von der Vorstellung, wie eine Puppe getragen zu werden, entsetzt war. Er war schließlich ein erwach sener Mann und Offizier der Armee Ihrer Majestät. Ein wenig Würde mußte schon gewahrt bleiben. »Ich bin völlig dazu in der Lage, auf eigenen Füßen zu gehen.« Er stieß Smythe erneut zurück, setzte sich auf und woll te sich hinstellen. »Du gehorchst ihm besser, kleiner Bruder.« Neville grinste ihn schwach an. »Ich glaub' kaum, daß sie dir ei ne andere Wahl lassen.« Clive beachtete die Augen seines Bruders zu spät, sah zu spät, wie sie zu etwas hinter seinem Rücken hinüber flackerten. Er fuhr gerade rechtzeitig herum, um einen neuen Kratzer auf der rechten Schulter zu spüren, dem
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fast augenblicklich ein sich rasch ausbreitendes Gefühl der Taubheit folgte. Er fiel Smythe hilflos in die Arme. Ein Augenblick des Schreckens erfaßte ihn, während er den chemischen Effekten widerstand und sich nicht si cher war, was ihm denn nun wirklich angetan worden war. Shriek trat in sein Gesichtsfeld und hielt noch immer ein Stachelhaar in der Hand. Sie hatte ihn erneut unter Drogen gesetzt, wie sie es schon zweimal zuvor getan hatte. War das ein Lächeln auf dem fremden Gesicht? Das war schwer zu sagen. »Shriek ...« Sein Mund weigerte sich zu gehorchen, weigerte sich, die Worte, die er sagen wollte, zu formen, und er versuchte, die Gedanken genügend zu konzen trieren, daß sie ihn hören könnte . . . d u Verräterin. Irgend etwas kitzelte ihn im Gehirn, etwas, das Shrieks Gelächter sein mußte. Du brauchst keine Angst zu haben, Wesen Clive, sagte sie zu ihm. Ich habe ein mächti ges Betäubungsmittel hergestellt. Aber viel genauer als das letzte Mal, mehr für Menschen geeignet, keine schlimmen Ne benwirkungen. Ich probierte menschliches Blut von Wesen Annabelle. Es war auf meinen Händen, als ich sie untersuch te. Probierte Blut, mein Körper hat es analysiert, kenne jetzt neue Chemikalien und stelle sie her. Clive zwang sich zur Konzentration. Seine Gedanken schienen sich zu drehen und zu taumeln. Er mußte sich anstrengen, um einigermaßen klar zu denken. Was hast du mit mir gemacht? Wie aus weiter Entfernung fiel ihm auf, wieviel Furcht in seiner Entgegnung mitschwang. Er hatte die Auswirkung von Shrieks Stachelhaaren be reits zuvor erlebt. Ich habe dich beruhigt, antwortete sie, und dir ein Medi kament gegeben, um die Heilung zu beschleunigen. Das glei che werde ich mit dem Wesen Neville und dem Wesen Anna belle tun. Alle deine Freunde -Wesen werden sich um euch kümmern. Er starrte zu all denen hinauf, die sich um ihn ver
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sammelt hatten: Shriek und Sidi, Tomàs und Smythe. Auch Samedi, mit dem lustigen, schrägen Grinsen. Hin ter und über ihnen wirbelte der Nebel fast milchweiß. Zum erstenmal, dachte Clive, erlebte er echte Furcht. Wann immer zuvor Gefahr gedroht hatte, hatte er De gen oder Fäuste gehabt, oder auch die Füße zum Weg laufen, falls es sich als nötig erweisen sollte. Aber jetzt war er hilflos, völlig hilflos, und das gefiel ihm über haupt nicht. Benommen vernahm er einen Aufruhr und ein em pörtes Protestgeschrei, das von seinem Bruder stammen mußte. Das zumindest trug dazu bei, daß er sich ein we nig besser fühlte. Wenn er schon wie ein Kartoffelsack getragen werden mußte, munterte ihn das Wissen auf, daß Neville sich in der gleichen Verlegenheit befand. Erneut erschien Shrieks Gesicht über dem seinen, und er spürte, wie er von ihren unteren Armen angeho ben wurde. Mit der rechten oberen Hand strich sie ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Diese Geste traf in auf merkwürdige Weise, sie wirkte liebevoll menschlich auf ihn, aber er vergab Shriek noch immer nicht. Unwahrer vorgeschobener Gedanke, sagte sie tadelnd, fast mütterlich. Im tiefsten Innern vergibt Wesen Clive. Aus weiter Entfernung vernahm Clive ein vertrautes Wort, aber es tropfte ihm so langsam wie eine zähe Flüssigkeit in den Kopf. »Kooommmmt.« Das mußte Samedi sein. Horace Hamilton Smythe drückte ihm die Hand. »Machen Sie sich um nichts Sorgen, Sör«, versicherte er ihm vertrauensvoll. »Uns wird's schon wieder gut ge hen, uns allen. Sie ruhen sich einfach aus.« Tomàs trat gleichfalls näher. »Nao se afliga«, sagte er vertraulich, wie ein Verschwörer zum anderen. »Mach dir keine Sorgen. Ich hab' deinen Degen.« Er hielt die Klinge hoch, so daß Clive sie sehen konnte. »Ich geb' sie dir zurück, sobald du wieder gesund bist. Jetzt wird sie jedoch Tomàs behalten und seine Gefährten beschüt zen.«
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Clive sah Neville in den Armen des Cyborg Chang Guafe liegen. Sein Bruder sah völlig idiotisch aus, wie sein Kopf da so über dem riesigen Arm seines Trägers hing. Genauso trug Finnbogg Annabelle, aber es war Finnbogg, der diesen idiotischen Ausdruck zeigte, wäh rend er mit andächtiger Besorgnis seine Last anstarrte. »Dann also los.« Offensichtlich hatte Smythe die Führerrolle über nommen, weil Clive dazu nicht in der Lage war. Sie setzten sich in Bewegung. Shriek trug ihn überaus behutsam, und dennoch ärgerte ihn seine Machtlosig keit und Verwundbarkeit. Mit großer Anstrengung drehte er den Kopf nach vorn und versuchte, den Blick scharfzustellen. Samedi und Smythe gingen voran, wie er es sich vorgestellt hatte. Niemand ging vor ihnen. Wenigstens sah er ein wenig dessen, was vor ihnen lag. Im Augenblick war das nichts anderes als der Nebel. Shriek hatte den Weg zum Pfad zurück gesichert. Sie hatten sich tatsächlich weit von ihm entfernt, aber sie hatte einen Gewebestrang zurückgelassen, dem sie jetzt wie Theseus aus dem Labyrinth folgten. In kurzer Zeit waren sie zurück auf der glatten Oberfläche. Nach einer Weile glaubte Clive, den Geruch von Was ser in der Luft wahrzunehmen, und seine Ohren fingen ein dumpfes eilendes Tosen auf. Ein Fluß? Er sendete Shriek den Gedanken zu. Dort muß ein Fluß sein, bestätigte sie, und sie erreich ten in der Tat innerhalb kurzer Zeit dessen Ufer. Den Geräuschen nach hatte er ein rasch eilendes Ge wässer mit verräterischen Stromschnellen erwartet. Aber das ›Brausen‹ war nicht das Brausen einer Bewe gung, nicht das Brausen von Wasser zwischen zwei Ufern. Es war vielmehr Geblubber und wildes Schäu men, das er aus so weiter Entfernung gehört hatte, denn dieser Fluß kochte! Wie könnten sie ihn jemals überqueren? Die anderen scharten sich eng zusammen und starr
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ten benommen auf dieses neueste Hindernis. Da griff Samedi in die Jackentasche und zog eine kleine Pfeife heraus, die er an die Lippen setzte. Er ging so nah ans Flußufer, wie er sich getraute, und pfiff. Ein langes, ho hes Pfeifen strich gleichmäßig über die Flußoberfläche und verschwand irgendwo in der nebligen Ferne. Er kehrte dann zu der Gruppe zurück und verschränkte er wartungsvoll die Arme. Augenblicke später trieb ein ähnliches Pfeifen, nur ein wenig tiefer, als Antwort zu ihnen zurück. Sie starr ten in die Richtung des Lauts. Ein kleines Schiff kroch langsam aus dem milchigen Vorhang von Dampf, der über dem Fluß hing, ein Schiff, das von einem Paar schmaler Ruder vorangetrieben wurde, die sich mit me tronomhafter Regelmäßigkeit hoben und senkten. Lan ge Minuten verstrichen, ehe es schließlich die Küste be rührte. Der Ruderer saß mit dem Rücken zu ihnen, als der Bug gegen das steinige Ufer stieß. Erst nachdem er die Ruder sorgfältig eingezogen hatte, erhob er sich und wandte sich um. Tomàs und Smythe keuchten. Trotz des Beruhigungs mittels gelang es Clive zu blinzeln. »He, Egon!« sagte der Ruderer grinsend und hob den Zylinderhut. »Wie geht's, wie steht's?« Der Ruderer und Samedi schlugen einander laut klat schend in die Hände. Sie sahen einander völlig gleich.
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KAPITEL 9
Unter den Schatten des Todes Fahrt über den Fluß verlief dampfend und unbe Diehaglich. Clive, Annabelle und Neville wurden so bequem wie möglich auf den Boden des Schiffes gelegt, während die anderen sich auf schmale Bänke setzten. Die beiden Samedis stellten sich jeweils in Bug und Heck. Das Schiff erinnerte an ein Wikingerschiff. Der Schiffsschnabel schwang sich anmutig empor, und ein einzelner segelloser Mast bohrte sich in den schweren Nebel. Es war klein genug, um von einem Mann geru dert zu werden, enthielt jedoch nichtsdestoweniger Ru der für drei Männer. Jeder der Samedis hatte ein Paar Ruder genommen, Tomàs das dritte Paar. Das Material, aus dem das Fahrzeug hergestellt war, faszinierte Clive. Es war kein Holz, auch kein Metall. Es war vollkommen glatt und glänzte schwärzlich, und wenngleich die Hülle auch ziemlich dünn erschien, lei tete sie nichts von der schrecklichen Hitze des Wassers. Es gab keine sichtbaren Verbindungsstücke oder Schweißnähte. Das gesamte Schiff, sogar Bänke, Mast und Schiffsschnabel, erschien wie aus einem einzigen Stück gegossen. Shrieks kräftiges Betäubungsmittel ließ allmählich nach. Clive konnte sich wieder bewegen, aber nur schwach, und die Bewegungen erforderten Konzentra tion. Er strich mit den Händen über den Boden des Schiffs — man konnte nicht von einem Deck sprechen — und wunderte sich. Dann fielen ihm die übrigen auf. Essen! Sie aßen! Der Anblick machte ihn auf der Stelle gleichfalls hungrig. Er
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wollte sich aufsetzen, polterte jedoch nur mit Ellbogen und Schultern auf den Boden. Das Geräusch reichte im merhin aus, um Aufmerksamkeit zu erregen, und Hora ce Hamilton Smythe beugte sich rasch über ihn. »Tut mir leid, Sör!« entschuldigte sich Smythe. »Hab' angenommen, Sie schliefen noch, wie Ihr Bruder, Sör.« Smythe legte ihm einen Arm unter die Schulter und half ihm, sich aufzusetzen und sich an die Bootswand zu lehnen. »Sind Sie hungrig, Sör? Können Sie essen?« Clive bedachte seinen Sergeanten mit einem, wie er hoffte, vernichtenden Blick. Was war das denn für eine idiotische Frage? Er zwang sich dazu zu nicken und starrte betont auf das merkwürdige Zeug in Sidi Bom bays Hand, irgend etwas, das aussah wie Schinkenstük ke zwischen Brotscheiben. »Essen«, sagte er und stülpte dabei stark die Lippen vor. Sidi Bombay drehte sich um und griff in einen Behäl ter, der offensichtlich aus demselben Material wie das Schiff bestand, und holte ein Päckchen hervor. Er wik kelte es vorsichtig aus, und erstaunlicherweise stieg eine winzige Dampfwolke auf, die angenehm appetitlich duftete. Clive nahm es mit zitternden Händen entgegen. »Das nennt Samedi ein Sandwich«, erklärte ihm Smythe. Er deutete zum Bug. »Dieser Samedi da, der da«, fügte er hinzu. »Derjenige, der das Boot und den Essensbehälter gebracht hat. Wenigstens glaube ich das.« Er wandte sich wieder an Clive. »Sieht aber kei nem Sandwich ähnlich, das ich je in England gesehen hab, Sör. Was dieses Fleisch hier auch immer is', es is' nich' Schinken, weiß Gott nich'. Und, sehen Sie mal, da sin' zwei Scheiben Brot, und auf keiner is' 'n Klacks But ter. Außerdem ist's heiß. Schmeckt trotzdem, muß ich sagen.« Clive Folliot war's gleichgültig, von wem es wie ge nannt wurde. Er hielt das Sandwich an den Mund, biß vorsichtig hinein und schluckte langsam. Es schmeckte
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wundervoll, und sein Denken schien immer klarer zu werden. Im Moment scherte ihn nur sein Magen. Als er aufgegessen hatte, leckte er sich die Finger. Dann streckte er erneut die Hand aus, diesmal zu To màs. »Ich hätte gern meinen Degen zurück, wenn's dir nichts ausmacht«, sagte er. Tomàs fuhr fort zu rudern; die Klinge lag ihm schänd licherweise zu Füßen, zwischen Bank und Schott. Er stieß sie mit dem Zeh zu Clive hinüber. »Danke«, sagte Clive. Er sah wieder Smythe an. »Wie breit ist dieser Fluß? Hat die Droge mein Zeitgefühl verwirrrt oder fah ren wir jetzt schon eine gute Weile?« »Eine gute Weile, Sör, ja«, stimmte Smythe zu. »Für diese Berge scheint er unmöglich breit zu sein, nicht wahr? In diesem Blubbern und Schäumen sowie der Strömung des Flusses kommt man nur schwer voran. Aber Tomàs und unsere Zwillingsführer geben ihr Be stes.« »Annabelle und Neville?« fragte er, wobei er auf seine Verwandten hinabsah. Smythe schüttelte den Kopf. »Keine Änderung bei Miß Annabelle. Neville ist schließlich eingeschlafen. Zweifellos die Droge und das Wiegen des Boots. Wir dachten, Sie wären gleichfalls eingeschlafen. Um die Wahrheit zu sagen, ich war ein wenig neidisch.« Clive lächelte. »Müde, Horace?« Horace zögerte und grinste dann. »Des Dungeons mü de, Sör, das steht fest. Was gab ich nich' drum, es mir vor 'nem Feuer in einem Londoner Pub mit 'nem Glas Stout gemütlich zu machen.« Ein Vorhang warmen Nebels rollte über sie hinweg. Einen Augenblick lang war's sogar unmöglich, die Boots enden zu erkennen. Horace Hamilton Smythe rückte Clive ganz nah auf den Leib, und die beiden Männer starrten sich aus ungemütlich kurzer Entfernung an und warfen dann Blicke zu jeder Seite, überallhin, nur nicht einander zu.
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Clive war ziemlich unbehaglich zumute, und als sich der Nebel so jäh verdichtet hatte, hatte er innerlich ei nen Satz gemacht. Er wußte, daß sein Sergeant das kur ze Aufflackern von Furcht in seinen Augen gesehen hat te, ehe er sie hatte unterdrücken können. Zu seiner Überraschung hatten Smythes Augen dieselbe vorüber gehende Furcht gezeigt. Es war für sie beide eine peinli che Angelegenheit. Ein unterdrückter Fluch auf portugiesisch veranlaßte Clive, zu Tomàs hinüberzuschauen. Neben Smythe war der kleine Seemann die Person, die ihm am nächsten saß, und dennoch sah er lediglich eine verschwommene Gestalt im Nebel. Sie beugte sich über die Ruder und zog sie mit einer sicheren, leichten Bewegung zurück, aber es hätte auch ein Geist sein können, der dort ru derte. »Wenn wir hier heraus sind, Horace«, sagte Clive schließlich und wischte sich mit der Hand über das klitschnasse Gesicht, »werd' ich mich gern in deinem Pub zu dir setzen. Verdammt, Mann, ich geb' dir sogar einen aus. Aber ich warne dich, ich werd' mehr als nur ein einziges Glas trinken, 'ne Menge mehr.« »Vorsicht, kleiner Bruder. Du wirst dein Image ruinie ren.« Das war kaum ein Flüstern, aber Clive vernahm es deutlich. Ein gedämpftes Schlurfen folgte den Worten, das Geräusch von rücksichtslosen Ellbogen und Absät zen, die über die Hülle kratzten. »Bleib liegen, Neville«, befahl Clive. »Es schwächt sich zunächst langsam ab, dann immer rascher. Wenn sich der Nebel wieder lichtet, werden wir dich aufsetzen und dir einen Bissen zukommen lassen, aber im Augen blick sollte sich niemand bewegen, sonst fällt er viel leicht über Bord.« »Danke, Bruder«, antwortete Neville steif, »aber ich sitze bereits.« Clive spähte durch den Nebel und sah die ver
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schwommene Gestalt seines Zwillingsbruders, der an die andere Bordwand des Schiffs gelehnt saß. Er konnte ein Stirnrunzeln nicht unterdrücken. Neville hatte die Nachwirkungen von Shrieks Arznei einfach selbst abge schüttelt, ohne Hilfe von außen. Neville benötigte nie mals Hilfe. Neville machte einfach alles richtig. Clive versuchte, das verletzte Bein zu strecken, und ein scharfer Schmerz schoß ihm durch den Oberschen kel. Er holte tief Luft, und Smythe war alarmiert, aber Clive stieß ihn sanft zurück, als der Sergeant sich her überbeugte, um zu sehen, was los war. Shrieks Gedanken trafen die seinen. Dein schmerzli ches Lied hörte ich, Wesen Clive. Brauchst du weiteres Heil mittel? »Nein, Shriek«, schnappte er laut zurück. »Was ich brauche, ist ein klarer Kopf und ein gesundes Bein!« Heilmittel wird das Bein in kurzer Zeit gesund machen. Die Durchsichtigkeit der Gehirnfenster kann ich nicht erreichen. Unterdrücktes Kichern folgte, und Clive bemerkte ein wenig irritiert, daß Shriek ihre Antwort an alle gesendet hatte. Alle hatten sie's gehört. Nun, alle hatten auch ge hört, wie er sie zurechtgewiesen hatte. Er seufzte und legte den Kopf an die Bootswand. Sie kamen aus dem dichtesten Nebel heraus, und Au genblicke später stieß der Bug fest ans Ufer. Sie hatten das andere Ufer erreicht. Der Samedi vorn im Boot klet terte aufs feste Land und hielt das Boot so ruhig wie möglich. Sidi und Tomàs folgten. Clive wollte sich gleichfalls erheben, trotz des Schmerzes, der ihm durchs Bein schoß. Daraufhin hob ihn Shriek auf und trug ihn an Land. Chang brachte Ne ville, und Finnbogg barg ganz sanft Annabelle. In den Augenwinkeln glitzerten dick die Hundetränen. Der andere Baron Samedi kam als letzter, wobei er das trug, was im Essensbehälter noch übrriggeblieben war. Er setzte den Behälter zu Boden und winkte sei nem Spiegelbild zu, und sie zogen das Boot gemeinsam
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aus dem Wasser. Clive vergaß den Schmerz lange ge nug, um sich darüber zu wundern, wie leicht das Schiff sein mußte, und er fragte sich erneut, aus was für einem Material es wohl bestehen mochte. »Ich will mich ja nicht aufdrängen, alter Junge«, sagte Neville mit höflicher Geduld, »aber ich könnte 'n biß chen von dem gebrauchen, was da so gut in dem Behäl ter riecht.« Clive nickte und machte eine Handbewegung in Rich tung des Behälters. Sidi Bombay zog ihn näher heran, und sie alle setzten sich im Kreis herum. Nur Shriek hielt sich im Hintergrund, als der Inder den Inhalt her vorholte. Finnbogg nahm ein Stück Fleisch und mampfte unglücklich, während er Annabellas Kopf im Schoß wiegte und ihr wie abwesend mit den Fingern einer Hand übers Haar strich. Tomàs aß wortlos seine Por tion, leckte sich die Finger, schmatzte und wollte mehr. Neville Folliot aß mit einer natürlichen Eleganz, die Clive verwirrte. Als er den letzten Bissen gegessen und die Krümel von Mund und Schnurrbart abgewischt hat te, sagte er: »Darf ich den Vorschlag machen, daß wir einfach ein wenig für später aufheben?« Neville sah sie alle mit einem Ausdruck an, der be sagte: Das ist doch nur vernünftig!, und Clive hätte sich innerlich dafür treten können, daß er nicht zuerst daran gedacht hatte. Er starrte das unberührte Sandwich in der Hand an und wollte es stirnrunzelnd zurück in den Behälter legen. »Du bis' ganz nach mei'm Geschmack«, sagte einer der Samedis und schlug sich ans Bein. »Wa, Bruder? Is ser nich' ganz nach unserm Geschmack?« Der andere Samedi nickte und lächelte. »Denkt immer mit!« fuhr der erste fort, wobei er Neville begeistert anstarrte. »Aber du mußt schon 'n bißchen Vertrauen hab'n, Mann! Der Palast is' überhaupt nich' weit weg, und der Große Boß selbst wartet. Iß, wennste mags, Mann. Schweine backe!«
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Der zweite Samedi beugte sich zu Clive herüber und klopfte ihm mitfühlend auf die Schulter. »So, du ißt jetz brav und mach's dir keine Gedanken von wegen was Aufheben. Mußt wieder zu Kräften komm'n Egon.« Horace Hamilton Smythe eilte zu Clive. »Soll ich trotzdem 'n paar Brote aufheben, Sör, nur für den Fall der Fälle?« Er nickte leicht zu Neville hinüber. »Der Bru der des Majors hat nich' so ganz unrecht.« Clive dachte darüber nach und schüttelte den Kopf. Nicht aus Gehässigkeit Neville gegenüber, sagte er sich, und auch nicht, um einen Augenblick lang die Opposi tion zu ergreifen. »Nein, Sergeant. Samedi hat uns bis lang nicht hintergangen, und ich denke, wir sollten Ver trauen zu dem haben, was er sagt.« Er hob das Sand wich zum Mund und biß herzhaft hinein. Nevilles Blick streifte kurz den seinen. Dann hob sein Zwillingsbruder die Schultern und versorgte sich gleichfalls mit einem zweiten Sandwich. Während sie aßen, füllte Shriek die Feldflaschen am Fluß und stellte sie beiseite, bis sich das Wasser genü gend abgekühlt hatte, daß man es trinken konnte. Als alle gesättigt und gestärkt waren, machte sich die Ge sellschaft wieder auf den Weg. Shriek beugte sich über Clive, aber er hielt eine Hand hoch. »Einen Moment«, sagte er. »Wenn du weiterhin darauf bestehst, mich zu tragen, muß es eine andere Möglichkeit geben. Ich bin kein Kartoffelsack, meine Dame.« Das kurze Gezwitscher der Arachnida klang beschä mend nach einem Kichern, als sie Clive mit den beiden oberen Händen ergriff und ihn sich auf die Schulter setzte. Zwei Hände faßten ihn an den Oberschenkeln, wobei sie sorgfältig die schlimme Verwundung mieden, und die anderen beiden schlossen sich ihm um die Fuß knöchel. Er holte tief Luft und stieß sie dann wieder aus. Das war immerhin besser als wie ein Baby getragen zu werden.
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Chang Guafe hob Neville hoch und setzte ihn sich genauso auf die Schultern. Clive sah sehr wohl, wie sein Bruder zusammenzuckte und sich die Rippen hielt, und er spürte, wie ein Schuldgefühl an ihm nagte wegen ei niger Gedanken, die er Neville gegenüber gehegt hatte. »Wohin, Samedi?« fragte Clive. Beide Wesen wandten sich um und lächelten. »Geh'n weiter nach oben«, sagte einer von ihnen. »Aus diesem Tal raus und rüber zum Schatten des Todes, Mann«, sagte der andere. Beide hoben einen Arm, sahen einan der einen Augenblick lang an und grinsten. »Kommt«, sagten sie unisono und winkten. Clive verdrehte die Augen, als Shriek unter ihm hochtaumelte, und die beiden Führer gingen los. Er starrte beider Rücken an, die zerrissenen Anzüge und die abgetragenen alten Zylinderhüte. Es mußte eine Möglichkeit geben, sie auseinanderzuhalten, aber er fand sie nicht. Sie waren gleich groß, sahen gleich aus und sprachen auf die gleiche'Weise, gingen sogar auf die gleiche Weise. Auch ihre Kleidung war exakt iden tisch. Klone. Er verstand nicht, wie es so etwas geben konn te. Zwei lebende Wesen, aus demselben Gewebe ge wachsen. Er und Neville waren aus dem gleichen Mut terleib gekommen, aber das war nicht dasselbe, hatte ihm Annabelle erklärt. Aber was wäre, wenn sie einei ige Zwillinge wären? Hätte dasselbe Ei, das bei der Be fruchtung durch irgendeinen rätselhaften Vorgang ge teilt worden war, sie zu Klonen gemacht? Annabelle sagte nein. Er verstand es noch immer nicht, gab er sich selbst zu, und er entschloß sich, seine Ur-Ur-Enkelin deswegen später noch einmal zu befragen. Er verrenkte sich den Hals, so daß er Annabelle in Finnboggs Armen sehen konnte. Sie hatte sich, seitdem sie Philo B. Goode getötet hatte, nicht sehr häufig ge regt. Finnbogg hatte ihr die Lippen befeuchtet, und fuhr jetzt damit fort, ihr zärtlich etwas zuzuflüstern, als
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könnte sie ihn hören, aber bislang hatte nichts sie er reicht. Shriek, flüsterte Clive in Gedanken, würdest du's noch mal versuchen, bitte? Ihr Bewußtsein zu berühren habe ich versucht, entgegnete die Arachnida, und ihre Gedanken waren von Kummer und Sorge gefärbt. Das Wesen Annabelle hat sich tief in sich selbst zurückgezogen. Ich kann es nicht finden, Wesen Clive. Er schaute Annabelle an und biß sich auf die Lippen. Es mußte einen Weg geben, ihr zu helfen, und er mußte ihn finden. »Achte auf sie, Finnbogg«, sagte er besorgt. Das Hundewesen schaute mit traurigen Augen zu ihm auf. »Okay, okay«, antwortete es. »Finnbogg hier, hab' keine Angst. Möchtest du, daß singen?« Clive schüttelte den Kopf. »Jetzt nicht, Finnbogg. Man kann nie wissen, ob uns nicht noch etwas in die sem verdammten Nebel droht. Wir wollen nicht mehr Aufmerksamkeit auf uns ziehen als nötig.« »Okay, okay«, stimmte Finnbogg zu. Er sah die Frau in seinen Armen an und wiegte sie wie ein Kind. »Laß Annie dann ruhig schlafen.« Sie trotteten weiter, und der Boden bewegte sich all mählich sachte nach oben. Bald wurde der Nebel dün ner und der Pfad steiler. Clive verschränkte die Finger unter Shrieks Kinn, um das Gleichgewicht zu wahren. Als sie schließlich eine Stelle oberhalb des Nebels er reicht hatten, blieben sie stehen und schauten sich um. Eine dichte weiße See erstreckte sich unter ihnen, be deckte Tal und Fluß und wogte langsam auf und nieder. Samedi rief ihnen zu, sie sollten auf die höchste Fels spitze schauen, die sich in der Entfernung erhob, und wies in die entsprechende Richtung. »Dort liegt der Pa last des Morgensterns«, sagte er ungewöhnlich formell. Sie kletterten weiter, und zwar sehr vorsichtig, denn der Pfad war noch immer rutschig. Clive hatte gehofft, daß er, sobald sie den Nebel einmal hinter sich gelassen
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hatten, über sich wieder den blauen Himmel sähe oder wenigstens einen normalen Himmel voller Sterne. Aber es gab nur eine schwarze Ebene. Wie der Himmel von Q'oorna auf der ersten Ebene, erinnerte er sich, doch ohne die Spiralsterne, um die Eintönigkeit zu durchbrechen. Während des Aufstiegs wurde es auch immer dunk ler. Die Kammlinie des Gebirges hinter ihnen verdeckte jetzt den Feuerschein im Osten, der den ersten Teil ihrer Reise erhellt hatte. Vielleicht würden sie irgendwann darüber hinaussteigen, aber im Augenblick gab es kei nerlei Anzeichen dafür. Die beiden Samedis schienen unbesorgt zu sein, als ob sie in der Dunkelheit sehen könnten, und vielleicht konnten sie's ja auch. Aber Clive machte sich Sorgen. Er wollte nicht, daß in dieser Dunkelheit irgend jemand in der Gruppe vom anderen getrennt würde. Da Annabelle bewußtlos war, konnte der Baalbec A-9 keine Beleuchtung liefern. Viel leicht sollte er Shriek darum bitten, sie alle wieder zu sammenzuweben? Er verfolgte auch diese Überlegung nicht weiter. Selbst wenn Philo B. Goode tot war, konn te er die mögliche Bedrohung eines Angriffs noch im mer nicht ganz ausschließen. Er wollte nicht an jeman den angebunden sein, wenn er fliehen mußte. »Chang?« sagte er über die Schulter und durchbrach damit das Schweigen, das sich über die Gruppe gelegt hatte. Der Cyborg beschleunigte seinen Schritt und hol te auf. Clive warf seinem Zwillingsbruder einen kurzen Blick zu, ehe er fortfuhr: »Wir könnten ein bißchen Licht gebrauchen.« Die Augen des Cyborgs glühten in dem vertrauten roten Licht. Es war nicht viel, aber die anderen konnten es wenigstens sehen und ihm folgen und also wissen, daß sie noch immer alle beisammen waren. »Vielleicht sollten wir eine Weile lang anhalten«, schlug Neville vor. »Vielleicht ist jetzt gerade Nacht, und es wird etwas heller, wenn der Morgen anbricht.« Sidi ergriff das Wort. »Wir haben keinerlei Hinweise
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darauf, daß es auf dieser Ebene so etwas wie Nacht und Tag gibt, Engländer. Lediglich immerwährende Dunkel heit, in der die Flammen ein wenig Erleichterung bo ten.« »Erinnert ihr euch, wie es auf der anderen Seite des Danteschen Tors war? Vielleicht kommt's wieder so weit«, pflichtete Clive bei. »Nao aguento mais!« grummelte Tomàs. »Nichts mehr davon!« Horace Hamilton Smythe grinste affektiert. »Ach? Du ziehst also das Feuer vor? Oder den See des Jammers?« Tomàs murmelte etwas Unverständliches, wenngleich unzweifelhaft Rüdes. »Kommt!« drängten die Samedis im Chor. »Nicht weit mehr ist der versprochene Ort«, sangen sie und schlugen die Handflächen aufeinander, »wo Milch und Honig fließen in einem fort!« Clive benutzte seinen Aussichtspunkt hoch droben auf Shrieks Schultern dazu, ständig nach vorn zu schauen. Wenngleich es da wenig zu sehen gab. Die Berggipfel waren tiefe Schatten gegen die allgemeine Schwärze, konturlos und nicht unterscheidbar, abgese hen vom größten, ihrem Ziel. Um gegen die Eintönig keit anzugehen, versuchte er, seine Schritte zu zählen, aber das wurde gleichfalls langweilig. Am Ende versuchte er es mit einer Unterhaltung. Shriek? Sie gab nicht sogleich Antwort, und er rief sie erneut mit dem Bewußtsein. Was ist? Die Worte krachten ihm wie ein Pistolenschuß ins Be wußtsein. Clive legte die Hände an die Schläfen und wartete, bis der Schock vorüberging. Tut mir leid, Wesen Clive, entschuldigte sich Shriek. Ich war abgelenkt. Aber Clive spürte nichts hinter den Worten, keinerlei Verwirrung oder Sorge, die ihre Gedanken färbte. Stimmt was nicht, Shriek?
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Die Arachnida schüttelte den Kopf. Weiß ich nicht. Bin angespannt. Sie kicherte, aber Clive wußte genau, daß sie nicht wirklich erheitert war. Tief in deinem Bewußtsein liegt ein Sprichwort, das paßt, Wesen Clive. Sie zögerte, ehe sie fortfuhr. Es juckt mich, aber ich kann mich nicht krat zen. Sie runzelte mental die Stirn, und Clive zog sich zu rück. Was sie auch immer besorgt machte, er spürte je denfalls ihren Wunsch nach Zurückgezogenheit. Der Boden wurde plötzlich eben, und sie befanden sich auf einem hohen Plateau. Der warme Wind blies ihnen so heftig entgegen, wie er's schon lange Zeit nicht mehr getan hatte. Er blies Clive das Haar zurück, und Clive wagte zu hoffen, daß er ihm die zerrissene Kleidung trocknete, die von Schweiß und von dem Dampfbad durchtränkt war, das sie hinter sich gelassen hatten. Die Samedis führten sie zum Rand gegenüber. Ein tiefer schwarzer Abgrund gähnte an der Kante des Pla teaus, und Clive fühlte einen kurzzeitigen Schwindel, als er von Shrieks Schulter, aus hinabspähte. Smythe beugte sich vorsichtig hinaus und starrte, sich das Kinn reibend, hinab. »Frag' mich, wie tief es wohl is?« sagte er. »Also, ich persönlich würd' mich nicht auf die Suche nach 'nem runtergefallenen Steinchen machen«, sagte Neville belustigt. »Warum sich mit 'nem Stein die Mühe machen?« gab Smythe zurück. »Wir könnten doch Sie runterschmei ßen.« Chang Guafe ging auf den Rand zu. Neville stieß ein unerwartetes Winseln aus. »Halt, halt! Ich bin mir sicher, daß er das nicht so meinte!« Selbst Clive stieß einen Ruf aus. »Chang!« Der Cyborg stand direkt am Rand und streckte eine Hand aus. Ein schwaches grünes Licht schimmerte kurz auf der Handfläche, und ein winziges schrilles Piep er
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tönte. Er balancierte einen Augenblick und trat dann zurück. Er sah Horace Hamilton Smythe an. »Zu deiner Frage: Meine Sensoren haben überhaupt keine Antwort auf den Signalton aufgefangen.« Smythe sah sich bei den anderen nach Hilfe um. Der verwirrte Ausdruck auf seinem Gesicht war fast ko misch. »Willst du damit etwa sagen, daß es verflucht noch mal keinen Grund gibt?« »Bestätigung«, entgegnete Chang Guafe, »oder falls es einen Grund gibt, ist er zu weit entfernt, als daß ihn die Sensoren erkennen könnten.« »Was bedeutet, daß er tief ist«, warf Neville höhnisch ein. »Mach dich nicht über meinen Freund lustig, Senhor«, ergriff Tomàs schroff das Wort. »Denn noch vor einem Augenblick glaubtest du, daß Chang Guafe dich hinunterwerfen würde. Dein kleines Winseln hat deine Furcht gezeigt. Du bist selbstgefällig, aber du bist nicht besser als wir anderen.« Clive grinste innerlich. Eins zu null für den kleinen Portugiesen! Neville zog sich noch nicht einmal würde voll aus der Affäre. Er schaute von seinem Bruder weg und starrte über den Abgrund hinaus. Ein riesiger Schatten drohte über ihnen, der Gipfel, zu dem sie wollten. Am höchsten Punkt würden sie den Palast des Morgensterns vorfinden und demjenigen be gegnen, der Samedi ausgeschickt hatte — die Samedis, korrigierte er sich —, die sie führen sollten. Er überleg te erneut, daß es zwei widerstreitende Parteien im Dun geon geben könnte, von denen zumindest eine freund lich gesinnt sein mochte. Aber welche von beiden? Die Ren? Oder die Chaffri? Oder eine völlig andere Grup pierung? Vielleicht würde er in diesem Palast neue Anhalts punkte finden. Er überdachte erneut dessen Namen, überdachte ihn immer und immer wieder. Clive kannte sich in den Mythologien gut aus, und ihm war die ein
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zig mögliche Bedeutung dieses Namens an diesem ster nenlosen Ort sehr wohl klar. Er fragte sich, ob er sie den anderen mitteilen sollte. Finnbogg ließ ein tiefes Knurren ertönen, bei dem sich Clive umdrehte. »Finnbogg?« Finnbogg starrte hinauf in den leeren Himmel und ließ ein weiteres kehliges Knurren ertönen. Dann bückte er sich langsam, ohne den Blick vom Himmel über ih nen abzuwenden, und legte Annabelle zu Boden. Clive zog den Degen. »Setz mich ab«, sagte er zu Shriek. »Setz mich ab.« Zu spät hörte er das Sausen in der Luft. Clive warf sich zurück, um die Berührung mit den herabschwin genden Lederflügeln zu vermeiden, und er brachte so wohl sich als auch Shriek aus dem Gleichgewicht. Sie stolperten, fielen zu Boden und verhedderten sich dabei ineinander. Clive gelang es, den Griff des Degens nicht loszulassen, aber die Luft wurde ihm aus den Lungen gedrückt. Er versuchte dennoch, auf die Füße zu kom men. Zwei schrille Schreie entrissen sich den Samedis, die sich am Rand des Plateaus hingeduckt hatten. Aber die beiden gräßlichen Kreaturen senkten die Klauenkrallen in die Schultern der Klone, und die zusammengefalte ten Flügel öffneten sich jäh und schlugen in der Luft. Die Klone kämpften verzweifelt, als die Ungeheuer sie in den Himmel rissen. Sie hämmerten mit den Fäusten, sie stießen und schlugen wild um sich, als sie über dem Abgrund hingen, und sie kreischten und flehten um Hilfe. Clive stand hilflos und fluchend am Rand, und Trä nen brannten ihm auf den Wangen, während er zusah. Der Kampf spielte sich weit jenseits seiner Reichweite ab. Es gab nichts, das er noch tun konnte, außer die Fäuste in bitterster Enttäuschung zu ballen und entsetzt vor sich hin zu starren. Shriek wollte ein vergiftetes Stachelhaar werfen, aber
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er hinderte sie daran. »Was würdest du schon errei chen?« Gab er verzweifelt zu Bedenken. »Wenn du die Kreaturen tötetest, würden sie unsere Freunde fallenlas sen.« Einen raschen Tod könnte ich geben, beharrte Shriek, zog sich zurück und zielte erneut. Besser als endlos zu fallen. Clive faßte sie erneut am Arm und klammerte sich an die winzige Hoffnung. »Vielleicht sollen sie sie nur ent führen!« Shriek zögerte, ihr Körper zitterte vor Unentschlos senheit. In diesem Augenblick ertönten die beiden lan gen verzweifelten Schreie, die rasch in den Tiefen ver schwanden. Clives eigener Schrei folgte, lang und voll Qual und Zorn, als ihnen die geflügelten Dämonen den Rücken zukehrten und davonflogen. Er trat vor und schüttelte eine leere Faust, rief ihnen Verwünschungen zu, und die Beine gaben unter ihm nach, und er fiel auf die gähnen de Schwärze zu. Smythe bewahrte ihn davor, über den Rand zu stür zen, und zog ihn auf sicheren Boden. Die übrigen schar ten sich rasch um sie. Nur Tomàs blieb da stehen, wo er war. Etwas an der Art und Weise, wie der kleine Seemann dort stand, machte Clive aufmerksam. »Was ist los, To màs? Was fehlt dir, Mann?« Er stieß all die Hände, die ihn daran zu hindern versuchten, beiseite und setzte sich auf. »Tomàs?« »Ihre Gesichter!« sagte der Portugiese und war nicht in der Lage, ein Zittern aus seiner Stimme herauszuhal ten. »Ich mußte sie ansehen! Impossive!, aber ich kenne diese Gesichter! Ein Mann und eine Frau, sie standen in dem spanischen Hafen, als die Pinta die Segel hißte. Nur sahen sie damals normal aus. Ich erinnere mich! Sie starrten mich direkt an!« Clive umklammerte sein Bein und beugte sich wim mernd vor. »Tomàs, bist du dir sicher ...!«
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Neville Folliot unterbrach sie von seinem Thron auf den Schultern von Chang Guafe. Der Cyborg hatte noch nicht einmal die Zeit gefunden, ihn abzusetzen. »Ich hab ihre Gesichter gleichfalls gesehen, kleiner Bruder, und ich kenne sie. Sie sind eine Weile mit dem guten Herrn Goode gereist, als ich ihnen zum erstenmal be gegnete. Bruder und Schwester, glaube ich. Zwillinge, genau wie du und ich. Ransome war der Name, Amos und Lorena.« Neville kratzte sich am Kinn und runzelte die Stirn. »Wenngleich ich sagen muß, daß sich ihr Aus sehen zum Schlimmeren hin gewendet hat.«
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KAPITEL 10
Über den schwarzen Abgrund Verlust der beiden Samedis warf einen dunklen DerSchatten über die Gruppe. Die schwarze Land schaft schien doppelt so schwarz zu sein, und der Berg gipfel, ihr Ziel, schien doppelt so weit entfernt zu sein. Chang Guafe stand am Rand des Abgrunds und hielt nach den beiden Dämonen Ausschau, alle Sensoren auf Maximaleinstellung. Er fühlte sich für den Tod der bei den Anführer verantwortlich. Hätte er die Audiosenso ren angepaßt, behauptete er, hätte er den Angriff recht zeitig vernommen, um jeden zu warnen, aber er hatte törichterweise seine Aufmerksamkeit der Diskussion zwischen Horace Hamilton Smythe und Neville Folliot gewidmet. Clive verfluchte abwechselnd die Ransome-Zwillinge, die Seele von Philo B. Goode und die unbekannten Her ren des Dungeon. Das Kreischen der Samedi-Klone tön te ihm noch immer in den Ohren, und der Anblick, wie die beiden in die Tiefe taumelten, brannte ihm noch im mer in den Gedanken. Vielleicht verstand er nicht, was ein Klon genau war, aber diese letzten Schreie waren menschlich gewesen. Und was bedeutete das überhaupt? Würde er sich in irgendeiner Weise besser fühlen, wenn Shriek getötet worden wäre? Oder Finnbogg? Oder Chang Guafe? Wenngleich sie Fremdwesen waren, waren sie nichtsde stoweniger seine Freunde. Ihre Seelen waren genauso ehrenhaft, ihre Haltung genauso fest, ihre Loyalität ge nauso stark wie die eines jeden Mannes. Er sah in diesem Augenblick Sidi Bombay an, als sähe er zum erstenmal den schwarzen Mann aus Indien, und
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er verstand endlich die Tiefe seiner englischen Vorurtei le. Dunkle Haut oder weiße Haut, vier Arme oder Me tallarme — was hatte das denn zu bedeuten! Und warum hatte es des Todes dieser beiden Wesen — er verstand jetzt das Ehrenhafte und die Ehre, die Shrieks Form und Anrede in sich barg — bedurft, um ihm diese so deutliche Lektion zu erteilen? Langsam und schmerzhaft zog er einen Fuß ein. Er richtete sich mit einer wiegenden Bewegung auf und streckte sich, wobei er gerade genügend Gewicht auf das verletzte Bein legte, um das Gleichgewicht zu hal ten. Der Muskel im Oberschenkel kreischte vor Schmerz, und er schlug eine Hand über den Verband; anstatt daß er sich jedoch entspannte, legte er nur um so mehr Gewicht darauf und humpelte in einem kleinen Kreis umher. Er kniff die Augen einen Augenblick lang zusammen, um die Tränen zurückzuhalten, die zu rin nen drohten. Dann öffnete er sie erneut und zwang den Schmerz in irgendeine entfernte Ecke seines Bewußt seins zurück. Er sah sich unter den anderen um und war nicht überrascht, daß Neville gleichfalls seiner Beschwerden Herr geworden war. Sein Zwillingsbruder hielt sich die Seite, während er umherging, aber er humpelte zielstre big am Rand des Abgrunds entlang, als suchte er etwas. »Wesen Shriek«, rief Clive laut, und die Arachnida eilte hastig zu ihm. »Unsere Führer sind verschwunden. Wir müssen also selbst unseren Weg zum Berggipfel finden.« Ehe Shriek antworten konnte, rief Neville etwas. Er hatte sich weit von der Gruppe entfernt, und er stand jetzt kaum noch sichtbar in der Dunkelheit, am anderen Ende des Plateaus. »Hierher, kleiner Bruder! Ich glaub', ich hab's für dich gefunden!« Clive runzelte die Stirn und schalt sich selbst für die Rivalität, die er seinem Bruder gegenüber empfand und die so völlig fehl am Platz war. Das war jetzt nicht die
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Zeit für kindische Mißgunst zwischen erwachsenen Männern. Das Leben seiner Freunde war einen jeden Augenblick in Gefahr, in dem sie sich auf diesem offe nen Plateau aufhielten. Er löste den Gürtel, der Degen und Scheide hielt, schlang sich den Lederstrang einoder zweimal um die Hand und stützte sich darauf. Die Scheidenspitze war zur Zierde mit Stahl beschlagen, der sie vor Abnutzung schützte, andererseits jedoch da zu führte, daß sie auf dem harten Stein etwas instabil wurde, wenn er sie als Stock benutzte. Trotzdem würde sie den Zweck erfüllen, wenn er vorsichtig wäre, und sie war schließlich alles, was ihm zur Verfügung stand. Er humpelte zu seinem Bruder hinüber, um zu sehen, was er gefunden hatte. »Oh, nicht gut«, sagte Finnbogg, der neben sie gekro chen war und Annabelle in den Armen hielt. »Nicht meine Vorstellung von Spaßhaben, o nein.« Horace Hamilton Smythe tauchte auf Clives anderer Seite auf, starrte hinab und verzog das Gesicht. Mein Gott, Sör! Ich hasse diesen Ort allmählich wirklich!« schimpfte der Sergeant angewidert. Die anderen scharten sich rasch um sie. »Meinst du, wenn wir weitere fünf oder zehn Minu ten warten, daß du dann eine andere Route finden wür dest?« sagte Clive mit einigem Sarkasmus zu Neville. Trotz seiner Verletzung stellte Neville sein übliches Grinsen zur Schau und richtete sich auf. »Komm, komm, alter Junge, wo bleibt der Mut? Es wäre sehr un höflich von uns, nicht das in Anspruch zu nehmen, was unsere Gastgeber für uns vorbereitet haben.« »Davon weiß ich nichts, Engländer«, sagte Sidi Bom bay unglücklich, »aber Baron Samedi hat uns sicherlich deshalb hierher gebracht. Das muß der Weg zum Palast des Morgensterns sein, wenn das noch immer unser Ziel ist.« »Ich sehe wirklich keine Alternative«, sagte Neville und beendete damit jegliche Diskussion. »Die Ranso
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me-Zwillinge oder Dämonen oder was sie auch immer sein mögen, haben uns gezielt unserer Führer beraubt, also wollen sie nicht, daß wir zu diesem Palast kommen. Das ist ein Grund, weswegen ich sage, daß wir weiter machen sollen. Der wichtigste Grund jedoch ist der, daß wir, wenn es hier eine Schleuse zur nächsten Ebene und hoffentlich auch nach Hause gibt, die besten Chancen haben, dort etwas darüber zu erfahren. Vielleicht befin det sie sich sogar dort.« Clive starrte über den Rand des Plateaus und wandte sich ab. Ihm gefiel der Gedanke nicht, aber Neville hatte recht. Und ganz nebenbei war er auch zu ärgerlich und zu neugierig auf die Erbauer dieses Dungeon. Er und seine Freunde waren blindlings durch die oberen Ebe nen gegangen, waren von den Autoren des sogenann ten Tagebuchs geführt oder manipuliert worden, waren einer Bedrohung nach der nächsten entronnen, ohne je mals wirklich etwas über diesen seltsamen Ort zu erfah ren, an dem sie sich aufhielten. Aber hier auf dieser siebten Ebene schien es eine Möglichkeit zu geben, das zu ändern, schien es möglich zu sein, ein gewisses Verständnis dafür zu gewinnen, was vor sich ging. Clive ging rasch auf, daß ein solches Verständnis entscheidend war, wenn sie jemals heim kehren wollten. »Mir war nicht klar, daß die Ransomes Zwillinge wa ren«, flüsterte er seinem Bruder zu. »Das ist interessant, ein weiteres Puzzleteil.« Neville nickte und antwortete ruhig: »Sie haben in der Tat viel Aufhebens darum gemacht, als ich sie traf. Sie sind Zwillinge, und wir sind Zwillinge. Darüber möchte ich wirklich gerne ein wenig mit ihnen plau schen.« Clive stieß einen Seufzer aus, als er sich an die übri gen Gefährten wandte. »Ich denke, Neville hat recht«, sagte er schließlich. »Wir haben wirklich keine andere Wahl, als weiterzugehen.«
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Tomàs verdrehte die Augen. »Por que, Christo, por que?« Clive blickte ein weiteres Mal über den Rand. Eine schmale Treppe aus behauenem schwarzen Stein führte in den Abgrund hinab. Jede Stufe schien kaum so breit wie der Fuß eines Mannes zu sein, und es war kein En de dieses halsbrecherischen Abstiegs abzusehen. Die Wand des Abgrunds lief linkerhand hinab, aber ein un vorsichtiger Fehltritt bedeutete das Verhängnis. Ein kleiner Zweifel nagte an ihm. Was, wenn sie sich irrten? Was, wenn dies nicht der Weg wäre, den die Samedis sie hatten führen wollen? Was, wenn die Treppe nir gendwo hinführte, sondern mittendrin aufhörte? Und überhaupt, wenn sie ihr Gewicht nicht trüge? »Dann also los!« sagte Neville und stieg die erste Stu fe hinab. »Noch nicht!« Clive faßte seinen Bruder am Arm und zog ihn zurück, wobei er den Ausdruck von Schmerz auf dem Gesicht des Bruders übersah. Er wandte sich besorgt an Shriek. Die schmalen Stufen könnten für ih re vier Füße und ihre Größe ein Problem darstellen. »Wesen Shriek«, sagte er formal, »kannst du dich da si cher hinunterbewegen?« Ich werde mich sehr in acht nehmen, Wesen Clive. Vielen Dank für deine Sorge. Clive nahm sich dennoch vor, ein Auge auf sie zu hal ten. Er wandte sich wieder an seinen Bruder. »Tritt zu rück, Neville. Du wirst nicht als erster gehen. Chang Guafes Sensoren können sehen, wo du es nicht kannst. Wenn die Stiege einfach aufhört, will ich's wissen, ehe jemand hinunterfällt. Und wenn der Stein nicht unser aller Gewicht trägt, bieten seine Sensoren erneut die be ste Möglichkeit, Anzeichen von Materialschwäche zu erkennen.« Chang Guafe trat vor. »Du hast logisch gedacht, Mensch. Ich werde den Weg testen.« »Jeder geht langsam und hält sich dicht an der
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Wand«, befahl Clive ruhig, als Chang den ersten Schritt tat. Sie sahen dem Cyborg zu, wie er hinabstieg, wobei die Rubinlinsen in der Dunkelheit brannten. »Haltet auch vom Rand fern und achtet auf die Aufwinde«, er innerte Clive. »Für einen Bruder«, unterbrach Neville leichthin, »bist du eine gute Mutter.« »Und du bist eine gute ...« Clive unterbrach sich und sah weg. Kindheitsrivalitäten überließ man am besten Kindern. »Eine gute zweite Wahl. Runter mit dir.« Er tippte seinem Bruder auf die Schulter und deutete auf die Treppe. Als nächster ging Sidi Bombay, gefolgt von Finnbogg, der Annabelle in den Armen hielt. Tomàs wartete, schluckte schwer und bekreuzigte sich, stieg dann hin ter ihnen hinab. »Nach Ihnen, Sör«, bot Horace Hamilton Smythe mit einer kurzen Verbeugung an. »Und achten Sie auf Ihr Bein. Ich werd' auf sie achtgeben, jawohl.« Clive hatte jedoch eine andere Vorstellung. Er wollte unmittelbar bei Shriek bleiben, so daß er ein Auge auf sie werfen konnte. Trotz ihrer gegenteiligen Versicherung waren derartig schmale Stufen nicht für die Füße einer Arachnida gedacht. »Nein, alter Freund«, sagte er zu seinem Sergeanten, »du gehst zuerst, und falls ich stolpere, habe ich dich zur Unterstützung, wie es immer gewesen war.« Smythe versteifte sich, als wäre er beleidigt worden. »Wenn es Ihnen recht ist, Sör, bei diesen Stufen ist es das letzte, was wir brauchen, ein Ausrutscher.« Er blick te Clive fest an und grinste dann rasch, um ihn wissen zu lassen, daß er spaßte. »Ganz nebenbei, Major, Sie sind noch nie ausgerutscht, aber was, wenn Sie sich nicht wieder gescheit aufrappeln?« »Wer macht jetzt den Ausrutscher?« entgegnete Clive und grinste zurück. »Also los!« Nach dir gehe ich. Shrieks Gedanken trafen die von
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Clive, aber mit einem merkwürdigen Unterton, den er nie zuvor gespürt hatte. Sie versuchte erfolglos, eine Verwirrung zu übertünchen, indem sie sie einfach über ging. Das Wesen Smythe wird von vorn auf dich achtgeben, und ich werde es von hinten tun. Clive zog eine Braue hoch, legte das Gewicht auf den Degen in der Scheide, um den Schmerz im Oberschen kel zu lindern, und fragte sich, was Shriek so besorgt machte. »Halt mal«, sagte er mit einem vorsichtigen Grinsen. »Wer wacht hier über wen?« Er spürte das Kitzeln eines Gelächters. Wir wachen al le, alle wachen wir, entgegnete sie, also sind alle in Sicher heit. Clive betrachtete sie einen Augenblick lang und kratzte sich am Kopf. Das klang verdächtig vertraut. Gab es auf ihrem Planeten etwa das Arachnida-Äquiva lent zu Alexandre Dumas? »Sagen wir's so«, meinte er. »Alle für einen und einer für alle.« Alle einer, einer alle, kam die Antwort. Nein, nein, dachte er. Das war zu existentiell. Voltai re, nicht Dumas. Aber das mußte er ihr später beibrin gen. Die übrigen waren allmählich schon zu weit vor aus. Er betrat die erste Stufe und machte sich an einen vorsichtigen Abstieg. Wenn es nur etwas gegeben hätte, woraus man eine Fackel hätte anfertigen können! Nachdem sie sich un terhalb des Plateaus befanden, umgab sie allmählich wieder die Dunkelheit der anderen Seite des Dante schen Tors. Clive drückte die linke Schulter an die Wand und nahm eine Stufe nach der anderen, indem er mit dem rechten Fuß abstieg und dann den linken daneben setzte, um anschließend wieder den rechten Fuß aufzu setzen. Seine Verletzung wurde auf diese Weise etwas weniger beansprucht. Ein paar Stufen weiter unten sah er Horace. Tomàs davor war jedoch nur ein schwacher Schatten, der leicht anhand des fremden Wortschwalls zu identifizieren
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war, der ihm entströmte. Hinter Tomàs konnte er nie manden ausmachen, wenngleich er das Scharren der Füße hörte und somit wußte, daß die anderen da wa ren. Er warf einen Blick zurück auf Shriek. Sie hielt drei Hände an die Wand gedrückt und benutzte sie dazu, das Gleichgewicht zu halten, während sie die schmalen Stufen hinabkletterte. Die beiden vorderen Füße beweg ten sich gemeinsam und nahmen drei Stufen auf ein mal, während die rückwärtigen Füße ihr Gewicht tru gen. Dann legte sie ihr Gewicht nach vorn und zog die Hinterfüße nach. Die Stufen waren ganz klar nicht für sie gebaut. Sie waren zu schmal für ihre Füße und brachten sie ständig in die Gefahr auszurutschen, und Clive überlegte, daß er vielleicht einen Fehler begangen hätte, als er sie an die letzte Stelle gesetzt hatte, denn falls sie nach vorn fiele, würde sie sie vielleicht alle in die Tiefe fegen. Die Stufen waren auch zu schmal für ih ren Körperumfang. Obgleich sie sich eng an die Wand drückte, hingen der rechte Arm und die rechte Schulter im freien Raum. Sie blieb jäh stehen und spähte nach oben. Clive blieb gleichfalls stehen. Wesen Shriek? rief er schweigend. Sie gab keine Antwort, doch sie setzte ihren Weg die Stufen hinab fort. Allerdings schienen nur zwei der sechs Augen auf den Weg gerichtet zu sein. Die übrigen gingen nach oben, wanderten umher, als suchte sie et was in der Dunkelheit. Sie runzelte anscheinend die Stirn. Geht's dir nicht gut? wollte Clive besorgt wissen, wäh rend er seinen Abstieg wieder aufnahm. Sie zögerte, ehe sie eine Antwort sendete, und als sie's tat, war sie gefärbt von Verwirrung. Ich verstehe nicht, Wesen Clive, sagte sie schließlich. Irgend etwas ... Sie winkte mit der freien Hand zum Himmel, runzelte dann erneut die Stirn und berührte ihre Schläfe.
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Oh, großartig, dachte Clive, eine Arachnida mit Kopf schmerzen. Er schlug sich mit der Hand auf den Mund, als hätte er die Worte laut gesprochen und wollte sie zu rückhalten, ehe sie herauskamen. Aber Shriek las Ge danken. Sie reagierte dennoch nicht. Entweder hatte sie ihn nicht gehört, oder sie verstand den Bezug nicht, oder sie zog es einfach vor, ihn nicht zu beachten. Sollen wir zurückgehen ? fragte er. Wir können nach einem anderen Weg hinüber suchen. Nein, antwortete sie fest. Das ist der einzige Weg. Dessen bin ich sicher, oder die Samedi-Wesen ... Sie hielt erneut in ne, schüttelte den Kopf, rieb sich die Schläfe und riß sich dann zusammen. Ich habe einen Kratzer, und ich kann mich nicht jucken, sagte sie, als erklärte das alles. Einen Kratzer kannst du nicht jucken, korrigierte er sie, und ihm fiel ein, daß sie zuvor schon von so etwas ge sprochen hatte. Bist du krank? Kannst du mir ein bißchen mehr von diesem Juckreiz sagen? Sie hob alle vier Schultern, eine wellenförmige Bewe gung, die den Leib hinauf- und hinunterlief, und schüt telte erneut den Kopf. Ihre Enttäuschung ließ das neu ronale Gewebe zittern, das sie verband. Er biß sich auf die Lippen und konzentrierte sich dann wieder auf die Stufen. Er war erneut hinter der übrigen Gruppe zurückgefallen. Smythes Rücken war kaum mehr zu erkennen. Clive beschleunigte den Schritt, wenngleich das schmerzte. Er stützte sich schwer auf die Scheide und an die Wand. Nach einer Weile sah er das Plateau nicht mehr. Erin nerungen an die bedrohliche Dunkelheit, der sie auf dieser Ebene zuerst begegnet waren, nagten allmählich wieder an ihm. Ihm war nicht klar gewesen, oder er hat te es sich zuvor auch nicht eingestehen wollen, wie sehr ihn die Zeit, die sie auf der anderen Seite des Dante schen Tors verbracht hatten, beunruhigt hatte. Es war eben alles geschehen, und er hatte es überlebt, und das war's auch schon gewesen. Aber jetzt, da ihm die Mög
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lichkeit bewußt wurde, wieder in der gleichen Lage zu stecken, beunruhigte ihn das um so mehr. Es war für ei nen erwachsenen Mann beschämend, sich vor der Dun kelheit zu fürchten, und er war ja auch nicht wirklich ängstlich. Sie machte ihn nur nervös. Nicht weil er ir gendeine Phantasie-Horrorgestalt fürchtete, sondern weil er die äußerst realen Dinge gesehen hatte, die in diesem Dungeon herumkrochen. Er wurde von einem Stimmengewirr aus den Träume reien gerissen. Horace Hamilton Smythe hatte ihn beim Namen gerufen, und die übrigen weiter voraus murmel ten und flüsterten aufgeregt. »Achten Sie auf Ihre Schritte, Sör«, flüsterte Smythe. »Es wird ganz plötzlich eben, wirklich!« Der Sergeant hatte recht. Clive wäre fast gestolpert, als er versuchte, eine weitere Stufe hinabzusteigen und keine da war. Die Treppe war zu einem schmalen Pfad geworden, der sich um die Wand des Abgrunds herum fortsetzte. Wenigstens hoffte Clive, daß er sich fortsetz te und nicht einfach irgendwo aufhörte. Er drückte den Rücken fest an die Wand und tastete mit der Degenspit ze nach dem Rand. Dann tastete er mit den Zehen da nach, und ihm stockte der Atem. Der Pfad war keinen halben Meter breit! »Shriek!« rief er zurück. Die Arachnida war gerade über ihm an der untersten Stufe stehengeblieben. »Um Gottes willen, sei vorsichtig!« Die Arachnida nickte, als sie vorsichtig an den jäh ab fallenden Abgrund herantrat. Clive dachte plötzlich auch an Finnbogg. Finnbogg konnte gleichfalls nicht wesentlich mehr Spielraum ha ben, und er trug darüber hinaus noch die Bürde Anna belle. Nun, er hatte wenigstens nur zwei Füße, um die er sich kümmern mußte, und wenn er sich eng an die Wand drückte, käme er schon durch. Sie setzten sich wieder in Bewegung. Dieses Mal blieb er jedoch in Reichweite der anderen, und sie
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schlurften im Schneckentempo seitlich über den Weg, das Gesicht dem Fels zugewandt. Ein metallisches Krat zen begleitete sie einen Teil des Wegs, bis Sidi Bombay lange genug anhielt, um die Feldflasche zu verschieben, die er am Gürtel trug. Neville und Smythe nutzten die Gelegenheit, die Degengurte zu lösen, denn sie hielten es für sinnvoller, die Waffen in der Hand zu halten als das Risiko einzugehen, daß sie ihnen zwischen die Beine geriet und sie stolperten, wie unwahrscheinlich das auch sein mochte. Neville durchbrach als erster das lange Schweigen. »Hat jemand von den Anwesenden mal ein gutes Buch gelesen?« Clive merkte, daß das ein galanter Versuch war, das Gefühl von Bedrohung zu durchbrechen, das sich über sie gelegt hatte, aber niemand antwortete. »Hmmm«, fuhr Neville fort. »Eine unliterarische Ban de, was? Nun, vielleicht finden wir eine andere gemein same Ebene, auf der wir uns unterhalten und die Zeit totschlagen können, hm?« Er schnippte mit den Fin gern. »Ich weiß was.« Er legte eine Pause ein, räusperte sich theatralisch und begann: »Da war mal 'n Mädel in Cuxhaven ...« Clive spürte, wie ihm die Röte in die Wangen stieg. Wenn er den Blick seines Bruders einfangen könnte, könnte er ihn vielleicht mit einem mißbilligenden Blick zum Schweigen bringen. Natürlich sah er seinen Zwil lingsbruder im Dunkeln nicht, und er hatte keinerlei Absicht, den Versuch zu unternehmen, sich hinauszu lehnen und es zu tun. »Neville!« zischte er. » . . . mit dem sich die Männer gern trafen, denn sie war nicht sehr prüde, nur immerzu müde ...« Clives Gesicht brannte. »Neville«, versuchte er's noch einmal empört und war äußerst dankbar dafür, daß we nigstens Annabelle nicht mithörte. »... und träumte dann immer von Schafen.«
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»Was?« stotterte Clive überrascht. »Nun, ich hab die letzte Zeile immer ganz anders gehört!« Horace Hamilton Smythe kicherte. »So was wie ›und wollte allein nicht gern schlafen, Sör? Haben Sie's nicht so gehört?« »Sergeant!« fauchte Clive. Neville schnalzte mit der Zunge. »Ich bin schockiert, kleiner Bruder, und ich bin mir sicher, Vater war's auch. Du treibst dich einfach in zu schlechter Gesellschaft her um.« »Da war mal 'ne Dame in Riga«, begann Sidi Bombay, »die ritt lächelnd hinweg auf 'nem Tiga. Zurück kehr'n se auch, mit der Dame im Bauch. Und lächeln, das tat jetzt der Tiga.« Der Inder stieß ein kleines Gekicher aus und rief Clive zu: »Eine universelle Versform, Englän der.« Clive knurrte unterdrückt, runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Zu seiner großen Überraschung fing Chang Guafe an. O nein, doch nicht auch noch die Fremdwesen ? »Ein Cyborg mit Namen Gertraude«, rezitierte er mit seiner kältesten mechanischen Stimme, »wollt unbe dingt unter die Haube. Sie schluchzte und weinte, doch jeder Mann meinte: Bei der, da fehlt doch 'ne Schrau be.« Changs Gelächter hörte sich mehr an wie das Ge knatter im Lautsprecher eines Radios, aber die anderen stimmten aus vollem Herzen ein. Selbst Clive mußte zu geben, daß ihm dieser Limerick gefallen hatte. »Siehst du, Engländer?« sagte Sidi Bombay, nachdem das Gelächter ein wenig nachgelassen hatte. »Es ist wirklich eine universelle Form.« Sie setzten den Weg fort, tauschten alte Limericks aus und erfanden neue, und Clive vergaß nach und nach seine Furcht und ließ sich von dem fröhlichen Spiel an stecken. Es fühlte sich gut an, die Freunde wieder la chen zu hören. Es ermunterte ihn, und der Schmerz im
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Bein schien nachzulassen. Die Medizin der Götter, so hatte irgendein Dichter das Gelächter genannt, und vielleicht war's auch so. Der Pfad wand sich langsam nach unten, und sie be wegten sich mit äußerster Vorsicht, bis es wieder gera deaus ging. Sergeant Smythe hatte gerade mit einem neuen Limerick begonnen, als Chang Guafe sie mit ei nem Wort zum Schweigen brachte. »Achtung!« sagte der Cyborg. Sie blieben mucksmäuschenstill stehen. Clive horchte auf das bedrohliche Geräusch von Lederschwingen in der Dunkelheit über ihnen, war sich jäh bewußt, wie verwundbar sie in der jetzigen Lage waren, und seine Hand schloß sich um den Degenknauf. Er zog den De gen jedoch nicht. Es gab noch nicht einmal genügend Platz zum Fechten. Er starrte nach vorn, strengte sich an, einen Schimmer von Chang Guafe zu erhäschen, und er konnte den Cyborg kaum ausmachen, wie er da direkt am Rand stand und nach unten sah. »Visuelle Rezeptoren ertasten Infrarotstrahlung«, meldete Chang Guafe, als ihn Clive beim Namen rief. Der Cyborg zögerte, während er weiter in den Abgrund spähte, und ergriff dann wieder das Wort. »Hitzequel len unbekannten Ursprungs und Zwecks erscheinen unten an der Wand gegenüber.« Er legte erneut eine Pause ein. »Berechne Wahrscheinlichkeit.« Eine weitere Pause. »Bei dieser Entfernung muß die Analyse mit lo gischen Annahmen kombiniert werden. Es sind Entlüf tungsschächte.« »Was du nicht sagst, Entlüftungsschächte?« unter brach Neville. »Was sollte denn jemand hier unten ent lüften wollen?« »Hitze«, wiederholte Chang Guafe und sah Neville an, als wäre er ein unaufmerksamer Schuljunge. »Meine Skalen, wenngleich ein gewisser subjektiver Irrtum möglich ist, deuten die Möglichkeit einer unterirdischen Industrie an.«
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Clive schürzte die Lippen und spähte hinab. Der hei ße Aufwind zerrte an seinen Haaren und stach ihm in den Augen, aber er sah nichts in der gähnenden Schwärze. Dennoch hatte er keinen Zweifel daran, daß der Cyborg die Wahrheit sagte. »Wie weit unter uns sind diese Entlüftungsschächte?« »So wie ich eure Maßeinheiten verstehe«, antwortete Chang Guafe geduldig, »schätzungsweise siebenhun dert Meter.« Clive biß sich auf die Lippen. Diese neue Entdeckung machte ihn ungeheuer neugierig. Aber es war unmög lich, die Entlüftungsschächte vom Pfad aus zu errei chen, und selbst wenn, dann bestünde noch immer die Möglichkeit, daß es für sie gefährlich wäre. Sie mochten sogar die Heimat der Dämonen sein, denen sie begeg net waren. »Zu weit unten, als daß sie uns interessieren sollten«, sagte Clive wenig begeistert. »Wir wollen weiterge hen.« »Sim, adiante!« stimmte Tomàs zu. »Aber ruhig, ami gos, damit wir unsere Nachbarn nicht stören.« »Das ist vernünftig«, pflichtete Neville bei. Es gab keine weiteren Limericks mehr, keine Witze. Sie setzten den Weg auf dem Pfad fort und hielten dabei die Rücken an die Wand gedrückt, als wollten sie sich vor unsichtbaren Augen verstecken, die sie von unten beobachten mochten. Sie gingen zentimeterweise wei ter, und das einzig vernehmbare Geräusch war das Scharren der Schuhe auf dem Stein. Clive beobachtete den Himmel und erwartete halb, die Flügelschläge ihrer Feinde zu hören. Dann blieben sie wieder stehen. »Oh, das hier wird dir gefallen, Clive, alter Junge«, sagte Neville mißmutig. »Vielleicht ist es gut, daß Miß Annabelle während dieses Teils der Reise nicht wach ist«, fügte Sidi Bombay hinzu. »Was ist's?« flüsterte Clive ein wenig verstört, weil er
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nicht erkennen konnte, wovon sie sprachen. »Können wir nun weitergehen oder nicht?« »Bestätigung!« entgegnete Chang Guafe. »Wir könn ten weitergehen. Der Pfad setzt sich fort, so weit meine Rezeptoren ausmachen können. Jedoch bietet dieser Übergang einen Weg auf die andere Seite.« »Übergang?« sagte Clive und beugte sich vor. »Du meinst, da ist eine Brücke?« Neville rümpfte die Nase. »Wenn du sie mit dieser Bezeichnung ehren willst. Für mich sieht das aus wie vier Stricke und 'ne Menge alter Bretter. Warum, zum Teufel, haben sie sie ausgerechnet hier hingehängt?« »Ich hab aufgehört, bei vielen Dingen in diesem Dun geon ›warum‹ zu fragen«, antwortete Clive glatt. »Aber wenn sie zur anderen Seite führt, sollten wir sie neh men.« »Würde es dir etwas ausmachen, als erster zu gehen, kleiner Bruder?« Chang Guafe unterbrach sie, während er mit dem metallenen Absatz über das Holz inmitten der quiet schenden und knarrenden alten Seile scharrte. »Ich bin dafür ausgewählt worden, den Weg zu testen«, sagte Chang ernst zu Neville. Weitere Schritte ertönten auf den Brettern. Die Seile knarrten entsetzlich, und dann hörte das Knarren auf. »Sollst du nicht als zweiter kom men?« In der Stimme des Cyborg lag eine unausgesprochene Sorge, bei der Clive fast grinsen mußte. Changs Rubin linsen und der Doppelstrahl Licht, den er aussandte, er leuchteten nur einen kleinen Teil der Brücke, dennoch verstand er, warum sein Bruder zögerte. Clive hatte der lei Brücken bislang nur in Bilderbüchern gesehen, und ein Teil seiner Person verlor fast den Mut bei der Vor stellung, diese hier zu überqueren. Die Haltetaue sahen reichlich antiquiert aus, und die Bretter waren verrottet und von Wurmlöchern durchsetzt. Und dennoch erhob sich in einem anderen Teil seiner Person eine jungenhaf
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te Aufregung. Er hielt diesen Teil in Schach. Dies war noch immer das Dungeon, und auf der Brücke wären sie noch verwundbarer, als sie's jetzt schon waren. Dennoch war's der Weg nach drüben. »Entweder gehst du jetzt los oder aus dem Weg«, sag te Clive bestimmt. »Ich geh ja schon, ich geh ja schon«, maulte Neville. »Du wirst allmählich 'n bißchen zum Sklaventreiber, Clive.« Clive überhörte das. Es war nur Nevilles Art, sich Mut zu machen, und Clive horchte lediglich auf den Klang, den Nevilles Stiefel auf den Brettern erzeugten. Chang Guafe wandte sich um und ging weiter den Übergang entlang. Seine Augen brannten wie zwei glü hende Kohlen, die in der dunklen Leere über dem Ab grund trieben. Die Reihe bewegte sich weiter, nachdem Sidi, dann Finnbogg, der Annabelle trug, dann Tomàs und Smythe die Brücke betreten hatten. Die Taue knirschten wie dissonante Musik. Clive nutzte die Zeit, um den Degen wieder umzugürten, griff sich mit jeder Hand ein Tau und trat auf die Bretter. Ei nen Augenblick lang war er aus der Fassung gebracht, als sie unter ihm einsanken und der Aufwind jäh über ihm zusammenschlug. Er faßte die Taue fester, biß die Zähne zusammen, tat einen weiteren Schritt und lang sam noch einen. Das Herz raste ihm in der Brust, weil es ihm so vorkam, als neigte die Brücke sich merkwürdig, und er richtete sich auf. Die Bretter unter ihm knarrten, von den Fußtritten der anderen in Schwingungen ver setzt, und die ganze Konstruktion schwankte erschrek kend in den heißen aufsteigenden Winden. Dann berührte sein Fuß wieder festen Boden, und Horace Hamilton Smythe packte ihn, um ihm festen Halt zu verschaffen. »Auch wieder ein sehr schmaler Pfad, Sör«, sagte der Sergeant, aber Clive war auf jeden Fall dankbar darum. Er mochte ja schmal sein, aber er schwankte oder bockte oder quietschte nicht.
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Sie krochen den Pfad entlang, und der Weg hob sich schließlich und wand sich sacht zum oberen Rand des Abgrunds empor. Auf dieser Stelle blies der Wind je doch stärker, und sie drückten sich eng an die Felsober fläche. Erneut löste Clive den Degen und zog es vor, ihn zu tragen, um zu verhindern, daß er ihm um die Beine schlug. Aber als er dieses Mal den Gürtel löste, spürte er, wie ihm etwas über die Haut rutschte und sich in ei nem Riß an der einen Hemdseite verfing. Nevilles Tagebuch! Er griff danach, aber der Degen rutschte aus dem Gürtel, und er griff nach ihm. Er woll te den Degen nicht verlieren. Diese Bewegung jedoch löste das Tagebuch aus dem Riß, und das Buch fiel hin aus. »Haltet es!« rief er. Shriek machte einen Satz. Es fiel ihr aus der oberen rechten Hand und stürzte wirbelnd herab, wobei die Seiten flatterten und sich wie die Flügel eines seltenen Vogels öffneten, als sich ihre rechte untere Hand nach der Beute ausstreckte. Dann stieß die Arachnida einen Schrei aus und tau melte in den Abgrund. Sie schlug mit allen vier Armen um sich und kämpfte darum, das Gleichgewicht auf ei nem Pfad wiederzuerlangen, der kaum groß genug für sie war. Clive ließ den Degen fallen und versuchte, sie zurückzureißen. Die Scheide fiel ihm direkt in den Weg, und sie stürzte mit einer Drehung um sich selbst in die Dunkelheit. Seine Fingerspitzen streiften die von Shriek, aber es war zu spät. Sie kreischte und fiel rücklings über den Rand, folgte Buch und Klinge in die schwarze Leere, während Clive und seine Gefährten ihr von Entsetzen betäubt nachschauten.
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KAPITEL 11
Shrieks Flug nebelhafte weiße Substanz erblühte weit drun Eine ten in den Tiefen des Abgrunds. Augenblicke später trieb Shriek nach oben, hochgetragen von den heißen Aufwinden, die die sich wellenden durchsichtigen Stränge eines riesengroßen Gewebes erfüllten. Sie hing schlaff herab, und die Winde trieben und wirbelten und bliesen sie von der Felsoberfläche weg dahin, wo sie niemand erreichen konnte. Clive kreischte ihren Namen, als sie immer höher hinaufgetrieben wurde. Mir geht es gut, Wesen Clive, antwortete die Arachnida, ohne einen Muskel zu bewegen, wenngleich ich noch im mer stürzen könnte. Diese Winde sind kräftig. Können viel leicht mein Segel zerreißen. »Wirf ein Seil aus!« rief Clive. »Wir werden dich ein holen!« Ich kann kein weiteres Gewebe mehr spinnen, entgegnete sie, und eine Spur Besorgnis durchzog ihre Gedanken. Ich muß dieses Segel halten, oder ich falle. Horace Hamilton Smythe berührte ihn am Arm. »Aber wohin wird sie treiben, Sör? Und wie hoch?« Shriek hatte also allen ihre Gedanken gesendet. Clive öffnete sich ein wenig und spürte ein Zerren an dem neuronalen Gewebe, in das sie Shriek bei ihrer ersten Begegnung eingesponnen hatte. Das war weder ihm noch vielen der anderen besonders angenehm. Es er laubte weit mehr als das stumme Gespräch, wenn man nicht sorgfältig auf sich achtete. Aber er griff jetzt hin aus und spürte seine Freunde, alle außer Annabelle, deren Bewußtsein fest verschlossen war, und alle außer Neville und Sidi Bombay, die nicht an dem
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Bewußtseinsgeschenk der Arachnida teilgehabt hat ten. Ich gehe, wohin die Winde mich treiben, sagte Shriek zu Smythe, während sie sich mit ihrem seltsamen Schirm immer höher und höher hob. Fliege, wohin die heißen Lüf te wehen. Lasse Land und See unter mir zurück. Ich werde die Freiheit erfahren. Ein Gedicht? Clive war überrascht, während Shriek allmählich verschwand. Übersetzung, kam die Antwort der Arachnida. Die Sorge schien aus ihren Gedanken geschwunden zu sein. Eine untergründige Freude erfüllte ihr Bewußtsein. Ein Lied, das meine Leute singen, wenn sie ausschwärmen, eine besondere Zeit für uns. Nicht ganz genau wiedergegeben, aber nahe daran. Sie machte eine Pause, und alle spürten die Ehrfurcht, die sie erfüllte, während sie die Winde weiter und weiter wegtrugen. Ich treibe zum Berg, Wesen Clive. Wir werden uns wiedersehen. Wir werden uns wiedersehen, ihr Freund-Wesen. Clive wußte nicht, ob sie einfach aufgehört hatte zu antworten, oder ob sie zu weit weggetrieben worden war, um ihn zu hören. Er rief und rief hinaus, aber Shriek gab keine Antwort. Er sah hilflos zu, wie sie in die Dunkelheit davontrieb und verschwand. Horace Hamilton Smythe legte ihm einen Arm um die Schulter. »Ist schon gut, Sör, sie da draußen. Sie wird uns oben auf dem Gipfel treffen, Sie werden se hen, genau wie sie gesagt hat.« Clive Folliot sah seinem Sergeanten eindringlich in die Augen, blinzelte dann und schaute weg. Er stieß ei nen Seufzer aus. »Ich dachte, ich hätte sie verloren, Ho race, genauso, wie ich die Samedis verloren habe und wie ich vielleicht Annabelle verloren habe.« Er holte tief Luft und stieß sie mit einem Seufzer aus. »Ich sollte die sen Ausflug nicht anführen. Neville sollte das tun. Er ist von Natur aus ein Anführer.« »Er is' 'n Saftarsch, wenn Sie den Ausdruck entschul
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digen wollen, Sör!« flüsterte Smythe kurz und bündig. »Außerdem haben Sie niemanden verloren. Die Ranso me-Zwillinge — oder irgendeine Karikatur der Ranso me-Zwillinge — haben die Samedis getötet. Und was Annabelle betrifft, sie ist hier, und wir werden einen Weg finden, sie gesund zu machen, wenn sie nicht von allein wieder rauskommt, was ich erwarte, wenn sie da zu bereit ist. Und Shriek ist auch nicht tot. Sie lebt, weil sie den Mumm hatte, sich auf die Art zu helfen, wie sie's getan hat. Das haben wir alle, unseren Witz und Verstand. Nun, und es ist Ihr Witz und Verstand, der uns aus diesem Schlamassel wieder rausbringen wird. Nicht Nevilles. Er mag Ihr Bruder sein und so, aber ver gessen Sie nicht, er ließ sich von den Herren des Don ners fangen, und er wäre jetzt Schnee von gestern, wenn Sie den Ausdruck entschuldigen wollen, wenn nicht Sie und Miß Annabelle dagewesen wären, die so rasch gedacht und gehandelt haben, um seinen Arsch zu retten.« Clive war noch immer nicht überzeugt, aber er setzte ein schwaches Lächeln auf. »Guter alter Horace«, sagte er, »immer bereit, mir einen Tritt in den Hintern zu ver passen.« »Nur, wenn so was nötig ist«, antwortete Smythe mit Nachdruck. Clive schaute erneut nach oben, wobei er hoffte, ei nen Blick auf Shriek zu erhaschen, aber die Dunkelheit war makellos. Nun, es hatte keinen Sinn, hier auf die sem Pfad herumzustehen und die genaueren Einzelhei ten der Anführerschaft mit Horace Hamilton Smythe durchzuhecheln. »Also los«, sagte er schließlich. »Wir haben einen Freund, der uns oben erwartet.« Sie nahmen ihre vorsichtige Wanderung wieder auf und erreichten eine weitere Treppe mit Stufen, die ge nauso steil und halsbrecherisch waren wie die, die sie zum Pfad hinabgeführt hatten. Nach langem und mühsamem Abstieg fanden sie sich auf der ande
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ren Seite des Abgrunds, im Schatten des Berges, ihrem Ziel. »Okay, okay!« sagte Finnbogg mit gedämpftem En thusiasmus. »Nicht so dunkel wie die große Grube. Leichter zu sehen.« Er rückte Annabelle zurecht, wäh rend er auf den Berg starrte. Es gab eine schwache Abweichung in der Dunkelheit, und die Ursache hierfür schien der Berg selbst zu sein. Ein nebelhafter Halo umgab ihn, als löschte der Berg ir gendein größeres Licht aus, das bleich dahinter brannte. Der Glanz drang noch immer durch, und sie konnten einander zumindest sehen, und sie konnten zumindest den Weg erkennen. Trotzdem: Warum hatten sie ihn nicht zuvor von der anderen Seite des Abgrunds aus be merkt? Der Berg war genauso deutlich zu sehen gewe sen. Auf Clives Vorschlag hin suchte Chang Guafe mit sei nen elektronischen Sinnen nach einem Anzeichen von Shriek. Der Cyborg fand gleichwohl keine Spur von ihr. Wer mochte wissen, wohin sie die Winde trugen oder wo sie wieder herabkäme oder ob sie's in ihrer seltsa men Ekstase überhaupt wollte? Er griff mit den Gedan ken aus und rief sie beim Namen, aber nur Schweigen hallte zurück und trug eine merkwürdige Einsamkeit mit sich. Die Feldflaschen wurden herumgereicht, und jeder trank. Clives Bein fühlte sich steif und wund an, und es trug dennoch sein Gewicht besser als zuvor. Er humpel te den anderen voraus und blieb stehen, und der Berg erfüllte sein Sichtfeld. Auf dessen Gipfel ruhte der Pa last des Morgensterns. Das bedeutete Essen, hoffte er, und vielleicht auch Schlaf. Vielleicht würden sie gleich falls das Tor zur nächsten Ebene finden. Er würde die Möglichkeit begrüßen, diese hier zu verlassen. Aber würde es dort Freunde geben? Vielleicht Fein de? Samedi hatte behauptet, er wäre ausgeschickt wor den, sie zum Palast zu führen. Philo B. Goode und die
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Ransome-Zwillinge hatten anscheinend versucht, das zu verhindern. Warum? Eine Seite für sie, die andere gegen sie. Was bedeutete das? Clive fühlte sich allmählich immer mehr wie ein Bau er in irgendeinem Schachspiel, und dieses Gefühl gefiel ihm nicht besonders. Er wandte sich um und winkte den anderen, ihm zu folgen. »Kommt«, sagte er automatisch. Ein kurzer Marsch über eine vergleichsweise flache Gegend brachte sie zum Fuß des Berges. Während die anderen eine kurze Rast einlegten, wanderte Clive ein wenig umher und suchte erfolglos nach Shriek. Nach dem er zurückgekehrt war, kniete er sich neben Anna belle nieder und nahm sie bei der Hand. Sie zeigte noch immer keine Anzeichen des Wachwerdens. Er hob eines der Augenlider. Die Iris war weit nach oben verdreht, und die erweiterte Pupille war ein leerer Brunnen von Schwärze. Er küßte sie leicht auf die Stirn und schlug dann Finnbogg auf den Arm. »Kümmere dich um sie«, flüsterte er. »Annie okay, wird okay sein«, antwortete Finnbogg zuversichtlich. Sergeant Smythe erhob sich und trat zu ihm. »Sie sollten mich den Verband überprüfen lassen, Major, Sör«, sagte er. Clive winkte ihn beiseite. »Ist in Ordnung, Sergeant.« Aber als sein Bursche wegschaute, drückte er die Hand auf die Wunde und wimmerte. Der Schmerz war noch immer da, wie auch das Gefühl von Steifheit. Es war ihm gelungen, den Schmerz eine kleine Weile lang zu verdrängen, und er mußte das einfach noch eine Weile länger tun. Wenn er sich niedersetzte und sich ausruhte wie die übrigen, würde er nicht wieder aufstehen kön nen; das spürte er. Zunächst fiel das Steigen leicht. Der sanfte Abhang erforderte ein Minimum an Anstrengung, und der Tritt war sicher. Sie gingen nicht mehr in einer Reihe, da je
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der seinen eigenen Weg den Hügel hinauf fand. Horace Hamilton Smythe blieb jedoch nahe bei Clive, und Clive bemerkte mit etwas widerstrebender Dankbarkeit, wie Chang Guafe auf Neville aufpaßte. Das schwache Licht, das den Berg umgab, wurde auf untergründige Weise stärker und erleuchtete die Risse und Spalten, über die sie vielleicht hätten stolpern kön nen, die Felsbrocken, die sich vielleicht unter ihnen weggedreht hätten. Clive überlegte, daß er auf dieser Ebene keinen Grashalm gesehen hatte, und auch kein lebendes Wesen, außer den Dämonen-Dingern, die sie angegriffen hatten. Die anderen Ebenen waren mit We sen aller Arten aus verschiedenen Zeiten und Orten be völkert gewesen. Diese jedoch offensichtlich nicht. War um? Der Aufstieg wurde steiler. Jetzt spürte Clive die An spannung im verwundeten Oberschenkel. Er berührte den Verband mit den Fingerspitzen und fühlte eine war me Feuchtigkeit. Blut. Die Wunde leckte. Er bedeckte sie mit der Hand, um diese Tatsache vor Smythe zu verber gen, und stieg weiter. Manchmal wurde der Anstieg so steil, daß er sich vorbeugen und auf allen vieren hinauf kriechen mußte. Er versuchte dabei jedoch immer, sich so zu halten, daß der Sergeant das verletzte Bein nicht sehen konnte. Auf halber Höhe ruhten sie erneut aus. Chang Guafe und Finnbogg zeigten kaum Anzeichen von Erschöp fung, wenngleich dem Hundewesen die Zunge ein we nig aus dem Mund hing, während er Annabelle im Schoß wiegte. Sidi Bombay schien gleichfalls munter und bereit zum Weitergehen zu sein, und Clive fragte sich, ob er während seiner Karriere als Führer und Waf fenträger vielleicht einige Zeit in den Bergen des nördli chen Indien verbracht hatte, oder auch in den mehr zer klüfteten Gegenden Afrikas. Andererseits sah Tomàs bereits so aus, als wäre er zum Umfallen erschöpft, was er auch genau tat, als sie
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anhielten: Er fiel auf den Rücken und warf einen Arm über die Augen. Er stieß ein langes, jämmerliches Grei nen aus und verfiel dann in Schweigen. Neville war derjenige, um den er sich am meisten sorgte. Sein Bruder wehrte sich dagegen, weiter getra gen zu werden, aber er sah bleich aus, und sein Mund war eine lippenlose Linie. Die rechte Hand blieb ständig auf den Rippen liegen, und er hatte einige Schwierigkei ten mit dem Atmen. Sergeant Smythe und Sidi Bombay hatten ihn jedoch beide untersucht, und sie hatten ihm versichert, daß keine der Rippen gebrochen wäre. Chang Guafe streckte ein schmales Tentakel aus ei nem Fach in der Brust heraus und hielt es Neville nahe an die Rippen. Wenngleich er zahllose solcher Anhäng sel besaß, schien der Cyborg sie immer weniger zu be nutzen, und Clive hielt lange genug inne, um sich zu fragen, ob es einen latenteren Einfluß auf Changs An passungsvermögen hätte, wenn er immer mehr auf die menschliche Form vertraute, während er immer mehr Zeit mit Menschen verbrachte. Ein winziges rötliches Licht blinkte rasch am äußer sten Ende des Tentakels, während er sich vor und zu rück über Nevilles Rippen bewegte. »Schwierig, genau zu sein«, meldete der Cyborg, während er das Tentakel in den Körper zurückzog. »Dieser Sensor ist für das Studium fremder Flora gedacht. Wenn man das jedoch berücksichtigt, deutete die Analyse mit mehr als hoher Wahrscheinlichkeit darauf hin, daß Neville einen Knor pel zwischen den Rippen hat, der schmerzhaft ist, aber leicht heilen wird, wenn Zeit und Ruhe vorhanden sind.« Clive kratzte sich am Kinn und überlegte, wie sehr er der Diagnose eines Fremdwesens vertrauen konnte, das eine menschliche Verletzung untersuchte. Andererseits gab es nichts, was er sonst hätte tun können, zumindest in bezug auf Nevilles Rippen. Viele der Schnitte und Schrammen auf Schulter und Rücken seines Zwillings
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bruders sahen jedoch fast so häßlich aus wie der Schnitt auf seinem eigenen Oberschenkel. Sie beide hätten viel leicht genäht werden müssen, aber daran war natürlich nicht zu denken. Sie nippten erneut an den Feldflaschen und setzten den Aufstieg wieder fort, nachdem sie mit Betteln und Drohen Tomàs wieder auf die Beine gebracht hatten. Sie stiegen zu einem weiteren flachen Plateau auf und blickten den Weg zurück, den sie gekommen waren. Viel gab's da nicht zu sehen. Die Berge, die sie bereits überquert hatten, sahen gegen einen nächtlichen Hin tergrund aus wie gezackte Schatten, starrer und ge heimnisvoller als zu dem Zeitpunkt, da sie darauf ge standen hatten. Das nebelerfüllte Tal und der Fluß, der es durchschnitt, waren nicht zu erkennen. Auch nicht Shriek. Überall hielt Clive nach der Arach nida Ausschau. Er vermißte ihre ruhige Gegenwart im Bewußtsein, und er vermißte die Sicherheit ihres Kamp fesmuts. Er durchsuchte das Plateau, dachte, daß sie vielleicht imstande gewesen wäre, hier sicher zu landen, aber er fand keine Spur von ihr. Horace Hamilton Smythe trat an ihn heran. »Sie blu ten, Sör«, sagte er. »Sie hätten etwas sagen sollen.« »Hau ab, Horace«, flüsterte Clive. »Du bist manchmal wie eine Mutter. Und sei leise. Wir sind zwar ziemlich hoch, und ich weiß nicht, ob es hier ein Echo oder so was gibt, aber wir wollen's nicht ausprobieren, hm?« »Aber Ihr Bein, Sör ...« »Ist schon in Ordnung«, versicherte Clive beharrlich. »Ich halt ein Auge drauf, und es ist in Ordnung, sag ich dir.« Sie überquerten das Plateau und kletterten wieder. Der Berg wurde jetzt steiniger. Schwarze Felsen schös sen empor wie Knochensplitter. Aus keinem ersichtli chen Grund türmten sich Steine wie Stalagmiten in ei ner Höhle. Nacktes Gestein lag drohend vor ihnen. Aber jedes Mal, wenn der Pfad zu rauh erschien, um
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ihm folgen zu können, fand jemand einen brauchbaren Weg unmittelbar in der Nähe. Tomàs beklagte sich über Blasen und massierte sich die Füße. Smythe rieb sich gleichzeitig die Hände und wimmerte. Die Hände aller waren wund vom Klettern. Clive spürte gleichfalls Anzeichen von Blasen in den Stiefeln. Er wackelte mit den Zehen und stieß einen lan gen, lautlosen Fluch aus, und er gebrauchte Worte, die kein echter englischer Gentleman überhaupt kennen durfte. Ein rüdes Erwachen, Wesen Clive. Einen Augenblick lang dachte Clive, er hätte sich das eingebildet. Dann wurde er ruckartig wach. Er hätte beinahe gerufen, überlegte es sich dann jedoch besser. »Shriek!« zischte er und starrte wild umher. »Du lebst! Wo zum Teufel bist du?« Die übrigen hörten ihn und betrachteten ihn mit dem Argwohn, dem man einem Idioten entgegenbringt, der einem auf der Straße entgegenkommt. Hier oben, Wesen Clive, entgegnete sie mit einem An flug schläfriger Heiterkeit. Über dir bin ich. Clive sah atemlos hinauf. Ausgestreckt zwischen ei ner hohen, nadelscharfen Felsspitze und einer Felswand hing das riesigste Gewebe, das er je gesehen hatte, und Shriek baumelte mittendrin im sanften Wind, der es wiegte. Er zeigte dorthin, und die übrigen schauten mit gleichem Erstaunen ebenfalls hinauf. »Kaum ein Anzeichen von Licht auf den Strängen«, sagte Sidi Bombay ehrfürchtig. »Dies ist ein Kunstwerk, meine Freunde, ein gewebtes Kunstwerk.« Shriek reckte und streckte sich in ihrem Gewebe. Das Wesen Sidi ist sehr freundlich. Primitiv, abstoßend wäre dies auf Shrieks Heimatwelt. Wir fliegen nicht auf der Heimat welt. Dort fliegen nur Wahnsinnige oder schlecht erzogene Junge. Sie legte eine Pause ein, zog mit zwei Armen an den Strängen des Gewebes und ließ es vibrieren, wobei es zu Clives Überraschung tönte. Zwei verschiedene
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Klänge erfüllten die Luft. Sie zog an zwei kürzeren Strängen, und das Ergebnis waren zwei höhere Töne. Dann streiften ihn erneut ihre Gedanken. Dennoch lerne ich allmählich, wieviel wir während unsere r Evolution von unserer Vergangenheit zurückgelassen haben. Für die Heu chelei der Zivilisation geopfert. Vielleicht haben wir die ur sprüngliche Natur unseres Selbst von uns gestoßen. Clive spürte jedoch etwas Tieferes unter den Gedan ken. Die Vor- und Zurückbewegung des Gewebes, wenn der Wind hindurchblies, erinnerte ihn plötzlich an eine Mutter, die tröstend ihr Kind wiegte. Er griff statt mit Worten mit Gedanken hinaus. Was ist los, Wesen Shriek? Was fehlt dir? Nach einigem Zögern antwortete sie. Ich fürchte mich, Wesen Clive, und ich überlege. Kann ich heimkehren? Werde ich dorthin passen? Ich habe viel in diesem Dungeon gelernt. Viel änderte sich. Clive lief es kalt den Rücken hinab, und er sah die üb rigen an. Sie hatten alle ihre Arachnida-Freundin ge hört, und er las es ihnen an den Gesichtern ab, daß sie alle das gleiche Frösteln verspürten. Nur Chang Guafe reagierte anders. »Der Wechsel ist die Natur aller Dinge«, sagte er kühl. »Auf meinem Pla neten absorbieren wir alles, was wir berühren. Es wird in körperlichem Sinne ein Teil von uns. Alles Neue, das wir erfahren, veranlaßt uns zu einer Änderung. Noch nicht einmal unser Aussehen bleibt gleich, sondern wir tragen unsere Veränderungen sowie das Erlernte wie ei ne zweite Haut.« Die übrigen wandten sich ihm lang sam zu und sahen ihn an, wobei sie sich zweifellos sei ner Geschichte über die Evolution seines Planeten erin nerten, wie das Leben dort zunächst lediglich aus Ur substanz bestanden hatte, bis das erste Raumschiff lan dete und sowohl Schiff als auch Besatzung absorbiert wurden, wodurch eine Intelligenz und eine Gestalt ent stand, die sowohl mechanisch als auch organisch war. »Ich reise mit euch, kämpfe mit euch«, fuhr er fort, »weil
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die Herren des Dungeon mir die Kraft zum Wechsel ent rissen haben, die Kraft zu wachsen und mich zu entwik keln. Ich will sie zurückhaben.« »Vielleicht ist es nicht die Veränderung, die wir fürch ten.« Sidi Bombay sprach mit weiser Gelassenheit. Der kleine Inder wandte das schmale dunkle Gesicht einem jeden von ihnen zu, und die Augen glitzerten traurig und mitfühlend. »Sondern die Einsamkeit. Die Mauern von Sitten und Gebräuchen schließen uns in gewisse Bereiche des erlaubten Benehmens ein. Shriek fürchtet, durch diese Mauern hindurchgesehen zu haben, sie fürchtet, diese Mauern nicht mehr akzeptieren zu kön nen.« Er sah erneut einen nach dem anderen an. »Und so, glaube ich, geht es vielen von uns. Und wenn wir diese Mauern nicht achten, seien es nun gemäß den englischen Sitten oder im Hinduglauben, sehen wir uns der Tatsache gegenüber, daß wir von unseren eigenen Leuten abgewiesen und verbannt, vielleicht sogar ein gekerkert werden.« »Oder sie sperren uns in eine verdammte Klapsmüh le«, fügte Horace Hamilton Smythe hinzu. »Wie unlogisch und beschränkt«, entgegnete Chang Guafe. »Ihr seid wirklich fremdartige Wesen!« Clive hörte mit einem Ohr der Diskussion zu, aber es war noch immer Shrieks einfache Feststellung, die ihn zutiefst getroffen hatte, vielleicht weil er zusammen mit der Gedankenberührung etwas von der Komplexität ih rer Furcht aufgefangen hatte, während Chang Guafe und Sidi versuchten, sie mit Worten zu vereinfachen. Das war etwas Wichtiges, das man verstehen mußte, ging ihm jäh auf: Daß nämlich Sprache nur verschleiern konnte. Sie konnte niemals etwas vollkommen ausdrük ken. Er fragte sich, wie er jemals wieder in die viktoriani sche Gesellschaft passen könnte, wo er doch wußte, daß es andere Planeten gab, die Leben in solch großer Viel falt beherbergten. Was besagte dies über die Stellung
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des Menschen im Universum und seine Beziehung zu Gott? Wer von ihnen, Clive, Shriek, Chang Guafe oder Finnbogg war nun das wahre Ebenbild Gottes? Das war nicht die einzige Frage, wenngleich sie allein hinreichte, die Grundlagen seiner Zivilisation zu erschüttern, sollte ihm jemand wirklich Glauben schenken und etwas dar um geben, die Sache ernstlich zu debattieren. Wie würde er dort hineinpassen mit dem Wissen — Wissen, nicht nur der Spekulation, wie sein Freund George du Maurier —, daß ein Wesen mit dem anderen allein durch die Kraft der Gedanken reden konnte? Wie würde er dorthin passen mit dem Wissen von der nahen Zukunft, mit dem Wissen von einer Alptraum welt, die von Dingen beherrscht wurde, die man Com puter nannte, und von Leuten bewohnt wurde, die sich in einer anstößigen Symbiose mit seltsamen Maschinen wie dem Baalbec A-9 schützten? Chang Guafe war nicht der einzige Cyborg, den er im Dungeon getroffen hatte. Chang kam wenigstens von einer anderen Welt, wo an dere Sitten und Gebräuche herrschten. Es war nicht an Clive, Changs Welt zu beurteilen. Aber er hatte gleich falls menschliche Cyborgs getroffen. Annabelles Baal bec war ein fast harmloses Exempel. Und was sie betraf: Wie würde er hineinpassen, nachdem er erkannt hatte, daß Frauen nicht die zer brechlichen Geschöpfe waren, wie man es ihn gelehrt hatte, daß sie planen und handeln und neben einem Mann kämpfen konnten, falls sie sich dazu entschlos sen, daß sie den Schutz des Mannes nicht benötigten, seiner Überwachung'nicht bedurften? Annabelle hatte ihm soviel beigebracht — die eigene Ur-Ur-Enkelin! Dennoch, als er jetzt seine Nachfahrin ansah, erblick te er auf einmal nicht das traurige Gesicht von Annabelle Leigh, sondern von Annabella Leighton, der Frau, die er geliebt und unwissentlich in unglücklichen Umstän den in einer Londoner Mansarde zurückgelassen hatte. Er holte tief Atem und bestärkte so seinen Entschluß.
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Dieses Mal sprach er so, daß ihm die anderen zuhörten. »Es ist eine Furcht, der wir alle ins Auge sehen müssen, Wesen Shriek, alle auf unsere eigene Art und Weise und so gut wir's können. Aber wir müssen nach Hause.« Warum, Wesen Clive? entgegnete Shriek, wobei der Zweifel in ihren Gedanken leicht zu ahnen war. Viel leicht gehören wir jetzt hierher. »Dann laß mich das berichtigen«, antwortete Clive störrisch, ging zu Annabelle hinüber und tätschelte Finnbogg zwischen den Ohren. Finnbogg knurrte dank bar. »Ich muß nach Hause. Ein paar Angelegenheiten zwingen mich dazu.« »Vater?« fragte Neville zweifelnd. »Vater soll verdammt sein«, entgegnete Clive offen. »Ich muß aus eigenen Gründen zurück, nicht aus den seinen. Ich hab' zum letzten Mal für ihn das Hündchen gespielt.« »Hündchen?« fragte Neville. »Das ist aber 'n bißchen respektlos, nicht wahr? Er hat dich ausgeschickt, mich zu finden.« »Und ich hab' dich gefunden«, entgegnete Clive schroff. »Jetzt ist es an der Zeit, nach Hause zu gehen.« Er wandte sich den übrigen zu. »Für uns alle.« »Bom idéia«, murmelte Tomàs. »Sofern wir's können.«
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KAPITEL 12
Annabelle
im Wunderland
des schwachen Lichts war kein Rätsel Diemehr.Quelle Der Berg selbst hatte eine vertraute Sternen spirale verdeckt, die von irgendeinem unsichtbaren Ho rizont immer höher in den Himmel getrieben worden war. Es war jedoch nicht die gleiche Spirale wie die, die über Q'oorna geleuchtet hatte. Jene dort hatte kalt und pitoresk und unbestimmt wie eine weit entfernte Gala xis aus eisigen Diamanten in der Nacht gehangen. Diese hier leuchtete mit dem gleichen kühlen Licht, aber die Sterne wirbelten und tanzten in einer Wolke wogender Gase. Die gesamte Masse kochte mit einer enervierenden und geräuschlosen Wut in der Dunkelheit. Ihr Licht fiel auf ein gleichermaßen unnatürliches Bauwerk, das auf dem Gipfel des Berges stand. Die Spitze des Bergs selbst hatte eine große, ungeheuerliche Maschine weggeschnitten und dabei eine glatte Ober fläche zurückgelassen, die poliertem Onyx ähnelte und im Schimmer der Spirale glänzte. Im Zentrum dieser Oberfläche stand drohend ein äußerst seltsames Gebäu de, ein riesengroßes Wohnhaus, dessen Linien und Winkel alle auf irgendeine untergründige Art falsch wa ren. Es schien sich in drei oder vier verschiedene Rich tungen zugleich auszudehnen, und das Dach fiel an eini gen Stellen zusammen, wölbte sich aber an anderen Stellen seltsam nach außen. Die verschiedenen Kamine ragten links und rechts hervor und weigerten sich, gera de zu stehen. Keines der Fenster war quadratisch oder rechteckig, sondern an der einen oder anderen Ecke ein gedrückt. »Also, der Architekt muß seine Pläne in einer Kneipe
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auf die Serviette gezeichnet haben«, flüsterte Neville Folliot seinem Bruder zu. »Du meinst, nach einem Kneipenbesuch«, schlug Cli ve vor. Sie kauerten sich am Rand des Bergs zusammen und kamen sich dabei völlig den Blicken aus allen Richtun gen ausgesetzt vor, so daß sie fast Angst hatten, sich aufzurichten. Die heißen Winde bliesen in ruppigen Böen, die stark genug waren, sie vom Rand zu fegen, falls jemand unvorsichtig wurde. Der letzte Teil des Aufstiegs hatte sie einige Anstrengung gekostet, denn es war der steilste und schwerste Teil gewesen; der Pfad hatte im Zickzack über eine Felsoberfläche hin und her geführt. In Clives Oberschenkel pochte es schmerzhaft, und der Muskel zitterte und bebte jedesmal, wenn er das Bein aufsetzte. Eine dünne Blutspur war ihm hinunter in den Stiefel gelaufen, dann hatte das Blut jedoch zum Glück gestockt. Dennoch war der Verband um die Wun de blutdurchtränkt. Alle weniger schlimmen Schnitte und Kratzer schmerzten und brannten gleichfalls von der Anstrengung und dem Schweiß, der unaufhörlich darüber hinweggelaufen war. Neville sah nicht im geringsten besser aus. Keiner der beiden Zwillinge sagte jedoch etwas oder beklagte sich. Sie sahen einander von Zeit zu Zeit aus dem Augenwin kel an, als wollten sie einander erforschen. Es war fast so, als bestritten sie einen Wettbewerb, um zu sehen, wer am längsten durchhielte, wer der starke Mann wäre und wer zusammenbräche. Annabelle hatte dafür eine Bezeichnung gebraucht, irgend etwas Schockierendes, aber Clive konnte sich nicht daran erinnern. Macho-Scheiß, meinte Shriek in Clives Gedanken. Clive fuhr erschrocken herum. »Danke sehr«, sagte er unbestimmt. »Wer lebt dort wohl, Sör?« fragte Horace Hamilton Smythe flüsternd, als er sich neben Clive kauerte.
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»O, ich glaube, das ist ziemlich offensichtlich, Ser geant«, unterbrach Neville Folliot. Clive unterbrach jedoch seinerseits seinen Zwillings bruder. Er hatte dieses Rätsel vor einiger Zeit gelöst, und er sollte verdammt sein, wenn er sich die Butter vom Brot nehmen und Neville die Lorbeeren ernten lie ße. »Wir hatten zwei sehr gute Anhaltspunkte gehabt, Horace. Zunächst die Eintragung im Tagebuch, als wir hierherkamen. ›Was fühlst du angesichts des Herrn der Hölle?‹ stand darin. Dann ist da der Name dieses Ortes, der ›Palast des Morgensterns‹.« Neville fiel ein. »Offensichtlich ist's ...« »Luzifer«, schnappte Clive, ehe sein Bruder ausreden konnte. »Zumindest sollen wir das offenbar glauben.« Tomàs kniete nieder und schlug das Kreuzzeichen. »Ave Maria, cheia de graca . . . « Clive runzelte die Stirn und hieß ihn schweigen. »Herr der Hölle ist ein deutlicher Bezug«, stimmte Chang Guafe bei, »aber mein Gedächtnisindex enthält keinerlei Daten über das zweite.« Clive erklärte es ihm. »Sowohl mein Bruder als auch ich haben eine solide Ausbildung erhalten, was die Klassiker betrifft. Unter den alten Römern, einer blü henden Kultur der Vergangenheit unserer Welt, trug der Morgenstern den Namen Luzifer oder Lichtbringer. Später wurde dieser Name dem Engel zugeschrieben, der die Revolte gegen Gott anführte und dafür vom Himmel abfiel. Er wurde der Beherrscher der Hölle, ei nem Ort, der speziell zu seiner Bestrafung erschaffen wurde.« »Euer Gott bestrafte ihn, indem er ihm einen Ort gab, den er beherrschen durfte?« Chang Guafe sah von Clive zu Neville und wieder zurück. »Er war dann in der Re volte siegreich?« Clive und Neville sahen einander an. Neville konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. »Du mußt ihn einmal in das Werk Miltons einführen, wenn wir hier draußen sind.«
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Chang Guafe sah erneut jeden von ihnen an. »Ich re gistriere Verwirrung«, sagte er. Sidi Bombay tätschelte ihm tröstend die Schulter. »Ihr Glaube hat mich gleichfalls stets verwirrt, mein Freund.« Er neigte den Kopf und schnitt ein spöttisch mitleidiges Gesicht. »Aber das ist englisch.« Chang Guafe richtete die Rubinaugen auf Sidi. »Bist du nicht einer von ihnen?« fragte er gleichmütig. Sidi drückte sich die Hände aufs Herz und sah so un glaublich schockiert und beleidigt drein, daß sie wuß ten, er wollte Chang zum Narren halten. »Ich bin ein Hindu!« entgegnete er mit übertriebener Würde. Dann winkte er mit der Hand, als wollte er jemanden entlas sen, und rümpfte die Nase. »Sie sind Christen.« Chang Guafe sah sie alle zugleich an, wobei seine Augen heller und dunkler wurden, heller und dunkler. »Ich registriere Verwirrung«, wiederholte er. »Es würde zu lang dauern, um das zu erklären«, ent gegnete Clive und grinste über Sidis Mätzchen. »Laß damit genug sein zu sagen, daß die Menschen, obschon sie für dich alle gleich aussehen mögen, genausoviel Unterschiede untereinander aufweisen wie deine Leute. Aber keiner davon zählt jetzt.« Er erhob sich langsam mit Hilfe der Degenscheide und trat einen halben Schritt zurück, um das Gleichgewicht zurückzugewin nen. »Dies ist der Ort, wohin uns Baron Samedi bringen wollte. Und ich sage euch, wir klopfen an und sehen mal, wer uns öffnet.« »Und wenn's der alte Satan selber ist?« fragte Neville, während er sich erhob. Clive warf ihrem portugiesischen Gefährten, der noch immer kniete und mit gefalteten Händen betete, einen Blick zu. »Dafür haben wir Tomàs, damit er ihn mit Gebeten verschreckt.« Die Gruppe scharte sich um Clive und ging auf das Haus zu. »Essen, okay?« wollte Finnbogg wissen. »Es sen für Annie, Essen für Finnbogg, Essen für alle?«
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»Wir hoffen es schwer«, versicherte ihm Clive. »Vielleicht Teufelskuchen*«, nörgelte Horace Hamil ton Smythe. »Oder Himmelsbrot«, schlug Neville vor. Sidi fiel ein. »Oder Christstollen.« »Zweifelsohne irgend etwas aus dem Ofen«, pflichte te Clive bei. Er schaute hinauf zu den erleuchteten Fen stern, die zu ihnen herabschienen, und er spürte, wie sich ihm die Eingeweide zusammenzogen. Er suchte nach Schatten, die sich im Innern bewegten, nach einem Gesicht, das hinter einem Vorhang hervorlugte. Sah niemand, daß sie kamen? Er glaubte einfach nicht, daß sie nicht beobachtet wurden. Er glaubte allmählich, daß jede Bewegung, die sie seit ihrem Eintritt ins Dungeon getan hatten, von jemandem beobachtet worden war. Er fühlte sich wie ein Käfer unterm Mikroskop. Oder wie ein Student, der eine Prüfung machte. Je näher sie kamen, desto größer schien das Haus zu werden. Die Fenster und das Dachgesims waren mit Kreisen und Spiralen verziert. Wasserspeier ragten be drohlich aus den Dachrinnen. Eine Art versteinerter Hecke sproß zu beiden Seiten des Wegs bis zum Ein gang, mit ebenholzfarbenen Blättern und Ästen, die im Licht funkelten und bei der Berührung zersprangen. An der Tür hing ein riesiger Türklopfer aus Eisen oder ei nem anderen schwarzen Metall. Clive griff danach und zögerte. Er sah auf die Gesichter seiner Freunde zurück und erblickte in jedem die gleiche Mischung aus Hoff nung und Furcht. Nur Chang Guafes Gesicht blieb un bewegt, aber Clive hatte in der Nacht in Samedis Höhle gelernt, das Gesicht des Cyborgfreunds zu lesen. Er faßte den Anklopfer und schlug ihn zweimal an die Tür. Die Tür schwang auf. Ein kleines, froschgesichtiges Wesen von etwas über einem Meter Größe spähte arg * amerik.: Devilscake, schwere Schokoladentorte — Anm. d. Übers.
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wöhnisch aus einem hell erleuchteten Eingang heraus. Über einem Paar großer runder Augen lagen durch schimmernde Nickhäute, und die Augen richteten sich zunächst auf Clives Gesicht, dann auf das Gesicht von Neville. Ein riesiges zahnloses Lächeln zerteilte das merkwürdige kleine Gesicht fast in zwei Hälften, und dann schwang das Wesen die Tür weit auf. »Ihr seid angekommen, angekommen!« Das Wesen hüpfte auf kräftigen Beinen auf und nieder. »Wir wuß ten nicht, wann wir euch erwarten konnten, erwarten konnten! Kommen Sie herein, Clive Folliot! Kommen Sie herein, Neville Folliot! Ihr alle seid willkommen! Willkommen, willkommen, willkommen!« Die beiden Zwillingsbrüder tauschten Blicke aus. »Kaum meine Vorstellung von Luzifer, kleiner Bru der«, kommentierte Neville trocken. »Vielleicht der Froschprinz der Dunkelheit?« Clive schüttelte den Kopf. Sie folgten dem Wesen die Halle hinunter. Ihr Führer bewegte sich mit einem schlingernden Hüpfen voran, wobei er den halslosen Kopf drehte und ihnen zulächelte und ununterbrochen schnatterte. An seinen Handgelenken baumelten goldene Armreife, und eine purpurrote Seidenrobe flatterte ihm um die Beine. Horace Hamilton Smythe schaute diese Beine mit ei nem Leuchten in den Augen an und leckte sich die Lip pen, bis ihn Clive Folliot streng ansah. »Das ist Teufels kuchen für dich, denkst du daran?« erinnerte er seinen ehemaligen Burschen. »Darf ich dich fragen, ob du einen Namen oder so et was hast?« unterbrach Neville den Wortschwall ihres Führers. »Herkimer«, kam die Antwort wie aus der Pistole ge schossen. »Ich bin Herkimer, Herkimer. Jetzt hier ent lang, bitte. Wir haben Zimmer für euch alle sowie ein heißes Bad vorbereitet und frische Kleidung und alles, damit ihr es bequem haben sollt, haben sollt! Und spä
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ter, wenn ihr euch ausgeruht habt, gibt es Abendessen. Der Meister wird dann erwacht sein, erwacht sein. Er freut sich so darauf, euch endlich zu sehen. Er hat in letzter Zeit nur von euch gesprochen, wißt ihr, von euch gesprochen. Dann müßt ihr uns all eure Abenteuer er zählen. Der Meister wird sie natürlich kennen. Er weiß alles. Aber er will eure Geschichte mit euren eigenen Worten hören, eigenen Worten hören. Das wird ein Rie senspaß werden!« Clive folgte ihm, schaltete jedoch bei Herkimers Ge schnatter fast ab. Es überraschte ihn, während sie von einem Korridor zum nächsten gingen, wie sehr das Mo biliar dem seines Zeitalters glich. Hier und dort standen zwei zueinander gehörige Polsterstühle, manchmal ein zierliches Tischchen oder ein gerahmter Spiegel. Gas licht erhellte die Umgebung. Die Wände waren mit ge blümten Tapeten bedeckt, die denen in seiner Heimat nicht unähnlich waren. Wie seltsam, dachte er, einen solch viktorianischen Geschmack an einem solch entlegenen Ort vorzufinden. Auf vielerlei Art erinnerte es ihn an das eigene Zuhau se, und ein Anflug von Heimweh stahl sich in seine Ge danken. Sie stiegen eine Treppenflucht zu einem Korridor em por, in dessen Wänden sich Tür an Tür reihte. Herkimer deutete mit einer grün und braun gesprenkelten Hand auf die erste Türe. »Das ist Ihr Zimmer, Ihr Zimmer, Herr Chang Guafe, und dort ist das Ihre, Miß Shriek.« Er zeigte auf die Tür, die der ersten gegenüberlag. Überra schenderweise kannte er sie alle beim Namen, während er sie zu ihren Zimmern führte und ihnen die Türen öff nete. »Bitte«, sagte Clive plötzlich, als Herkimer Annabel les Zimmer zeigte. »Mir wäre es lieb, wenn Annabelle entweder das Zimmer direkt neben dem meinen oder direkt gegenüber bekäme.« »Natürlich«, sagte Herkimer lächelnd. »Das ist leicht
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arrangiert, arrangiert. Wir tauschen nur ihr Zimmer, ihr Zimmer, mit dem von Herrn Smythe.« Er wandte sich lächelnd an den Sergeanten. »Da ihr beide von der glei chen Art seid, sollte es da keine Probleme geben, Pro bleme geben.« Sergeant Smythe ging auf den Eingang zu, blieb je doch auf der Türschwelle stehen, genau wie Shriek und Chang Guafe, Sidi Bombay und Tomàs. Finnbogg nahm das ihm zugedachte Zimmer zur Kenntnis, folgte je doch, Annabelle in den Armen, weiter Clive und Nevil le. Es gab genau die entsprechende Anzahl von Räumen, um sie alle zu beherbergen. Clive und Neville nahmen die letzten beiden Zimmer am entferntesten Ende des Korridors. Diese lagen einander gegenüber, und Herki mer schlug die Türflügel zurück und gestattete damit ei nen Blick auf ein üppig möbliertes Schlafzimmer. Herkimer machte eine höfliche Verbeugung, und sein froschähnliches Lächeln schwand. »Sie werden beide ein heißes Bad vorfinden, vorfinden«, sagte er, »sowie frische Kleidung im Kleiderschrank, Kleiderschrank. Keine Sorge, die Größe stimmt. Mein Meister hat sich darum gekümmert, darum gekümmert.« »Ich dachte, ihr hättet nicht gewußt, wann ihr uns er warten konntet«, sagte Clive argwöhnisch. »Haben wir auch nicht!« beharrte Herkimer. »Aber keine Angst, das Wasser wird heiß sein, heiß sein. Ver traut meinem Meister. Und wenn ihr gebadet, angezo gen und ausgeruht seid, wird das Abendessen fertig sein, fertig sein.« »Werden wir dann deinen Meister treffen?« fragte Neville beiläufig, während er um die Tür herumsah, den Blick durch das Zimmer schweifen ließ und dabei über die Schulter sprach. »Ganz bestimmt«, antwortete Herkimer, während er zur Treppe zurückhüpfte. »Ganz bestimmt.« Clive sah ihm nach, sah, wie seine Freunde ihm mit
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den Blicken folgten und dann in ihre Zimmer schlüpf ten. Er horchte auf das leise Zuschnappen der Türen, bis er sich allein im Korridor fand. Er ging zu Annabel les Tür, öffnete sie und trat ein. Der Raum war ziemlich spartanisch ausgestattet und erinnerte an ein Offiziersquartier, und ihm fiel ein, daß er ursprünglich für Horace Hamilton Smythe gedacht war. Ein kahler Schreibtisch mit Tintenfaß stand samt Stuhl da. In einer Ecke war eine Garderobe aufgestellt, und ein hölzerner Kasten für persönliche Dinge stand am Fußende des Betts. Der Geruch nach warmem, aro matisiertem Wasser drang aus einem winzigen Neben zimmer. Annabelle lag so auf dem Bett, wie Finnbogg sie hin gelegt hatte. Clive setzte sich auf die Bettkante, sah sie einen langen Augenblick an und ließ dann den Finger über die glatte Wange gleiten. Wohin auch immer sich ihr Bewußtsein zurückgezogen haben mochte, sie sah überaus friedlich drein. Er drehte ihren Kopf ein wenig hin und her. Die Wunden an der Kehle hatten sich ver krustet, aber er fürchtete, sie würden vernarben und drei feine Linien zurücklassen. Die übrigen Kratzer wa ren vergleichsweise geringfügig. Clive spürte, wie ihn eine jähe Woge der Erschöpfung überlief und ein vertrautes Schuldgefühl mit sich brach te. Wenngleich ein Teil seiner selbst es mittlerweile bes ser wußte, schalt ihn ein anderer Teil einen Versager. Er hätte besser auf sie aufpassen müssen, hätte genauer auf sie achten müssen, hätte sie beschützen müssen! Es hätte seine eigene Hand sein müssen, die den Degen gehalten hatte, der Philo B. Goode getötet hatte! Er hät te ihr diesen Schock ersparen sollen! Er holte tief Atem, wiegte den Kopf in einer Hand und schloß die Augen. Nein, selbst dann war's zu spät gewesen. Er erinnerte sich an den Ausdruck in ihren Augen, den Ausdruck des Entsetzens, als Annabelle durch die Kreaturen watete, die das Antlitz ihrer Toch
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ter trugen, während sie sie rechts und links von sich warf und sie mit der Maschine zurückstieß, die Teil ihres Körpers war. Schon ehe sie Philo getötet hatte, hatte ihr Bewußtsein den Rückzug angetreten. Nun, wenn er nicht in der Lage gewesen war, ihr da mals zu helfen, könnte er vielleicht jetzt etwas für sie tun. Er mußte es tun, sie war immerhin seine Urenkelin und darüber hinaus die einzige Verbindung zu einer weiteren Frau, die er in einer Welt liebte, in die er viel leicht niemals mehr zurückkehrte. Shriek hatte ihm den Weg ermöglicht. Bei ihrer ersten Begegnung hatte die Arachnida jeden von ihnen in ihr psychisches Gewebe verwoben, so daß sie mit ihr auf einer wortlosen Ebene kommunizieren konnten, oder indem sie einander berührten, falls sie es wollten. Sie taten das allerdings nicht sehr häufig. Shriek, für die ei ne derartige Telepathie völlig natürlich war, war in der Lage, die Wege, die zu ihren tieferliegenden Gedanken und Gefühlen führten, abzuschirmen, und ihr Geschick oder ihre Höflichkeit war groß genug, daß sie nicht zu tief in ein anderes Bewußtsein eindrang, wenn sie eine derartige Kommunikation in die Wege leitete. Aber alle anderen scheuten davor zurück, diese Kraft ohne Anleitung zu benutzen. Es war zu einfach, in die persönlichsten und geheimsten Gedanken von jeman dem zu stolpern, wenn man nur ›guten Tag‹ sagen woll te. Ehe sie der Schock dazu veranlaßt hatte, sich zurück zuziehen, hatte Clive bei jener ersten Begegnung nicht nur auf die Erinnerungen und persönlichen Erfahrungen all seiner Kameraden einen Blick werfen können, son dern auch auf deren Vorlieben und Wünsche, ja sogar auf Teile ihrer jeweiligen Kulturen, wie sie sie durch die eigenen Augen sahen. Es war alles ein wenig zu persönlich gewesen, und aufgrund einer unausgesprochenen Übereinkunft hat ten sie davon Abstand genommen, es erneut zu versu chen, es sei denn unter extremen Umständen.
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Er berührte Annabelle erneut an der Wange und spürte dabei die Wärme und das Wallen des eigenen Bluts unter ihrer bleichen Haut. Dies war ein derartiger Umstand, sagte er sich. Vielleicht wäre Annabelle ande rer Meinung, vielleicht betrachtete sie es als die rüdeste Art des Eindringens. Aber er wollte sie nicht für den Rest ihres Lebens so daliegen lassen. Er würde sie finden. Er nahm sie bei der Hand und drückte sie fest, dann schloß er erneut die Augen. Annabelle, rief er leise, An nabelle. Aber keine Gedankenantwort brandete ihm ent gegen, keine Stimme hallte sanft aus dem tiefen dunk len Brunnen, der alles war, was er wahrnahm. Clive öffnete die Augen und sah sie entschlossen an. Er war noch nicht bereit aufzugeben. Er erhob sich, ging zur anderen Seite des Betts und streckte sich neben ihr aus, wobei er den Körper so auf die Matratze legte, daß sie sich an den Schultern berührten. Er drückte ihr er neut die Hand und schob sie zwischen ihre beiden Kör per. Und wieder schloß er die Augen. Annabelle, rief er, ging zum Brunnenrand, beugte sich darüber und rief schweigend hinab. Annabelle, ich bin's, Clive. Er wartete und starrte hinab in die Leere. Noch immer keine Antwort. Also gut, Enkelin, dann komme ich zu dir. Er zögerte ganz kurz, dann trat er über den Rand. Ein unheimlicher Wind strich ihm ums Gesicht, als er direkt hinab in den Brunnen fiel, tiefer und tiefer, schneller und schneller. Er taumelte kopfüber. Annabelles gesam te Erinnerungen, all ihre Wünsche blitzten zu rasch vor über, als daß er sie hätte erahnen können, all die ver wischten, all die winzigen Bilder, die in den Zellen und den niedrigen Tunneln in den Wänden des Brunnens hockten und zitterten. Entweder fiel er eine sehr lange Zeit, oder er fiel trotz gegenteiliger Eindrücke sehr langsam. Hinab, hinab, hinab — wollte der Sturz denn niemals enden? Annabel
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le, rief er und sah zwischen seinen Füßen hindurch hin unter in die Dunkelheit, wenngleich er in Wahrheit viel leicht auch hinauf in die Dunkelheit blickte — er ver mochte es nicht mehr zu sagen. Annabelle, wenn du da unten bist, schau hoch! Und dann plötzlich, bumm, bumrn!, landete er auf et was Weichem und Festem. Unverletzt stand er auf. Annabelle stand mit dem Rücken zu ihm zusammen gesunken da, und ihre Finger waren wie Klauen ge spreizt. Die Kleidung hing ihr in Fetzen herab, und das Haar stand ihr in wilden Büscheln vom Kopf. Nach einem solchen Sturz macht es mir bestimmt nichts mehr aus, wenn ich einmal die Treppe hinunterfalle, sagte Clive zu ihr und versuchte dabei, gutgelaunt und freundlich zu klingen. Sie wandte sich noch nicht ein mal um, ihn zu begrüßen. Ein tierischer Laut entfloh ih ren Lippen. Annabelle! rief Clive. Es ist alles in Ordnung. Alles ist in Ordnung. Ich bin gekommen, dich zu holen. Du kannst jetzt erwachen. Dann wirbelte sie herum, und ein katzengleiches Kreischen entrang sich ihrem Mund. Plötzlich drangen aus der Dunkelheit Haufen der wilden kleinen Wesen, die alle so süß und kindlich aussahen, und sie zischten und spien und kratzten und bissen. Annabelle warf sie beiseite, als sie sie angriffen. Sie benutzte dazu die Energie des Baalbec und verbrannte sie zu Asche. Sie spaltete sie mit einem Degen, der in ihrer Hand erschien und wieder verschwand, in zwei Hälften. Dann verschwanden die Kreaturen einfach. Annabelle verharrte in genau derselben zusammengekrümmten Haltung, in der Clive sie vorgefunden hatte. Er rief sie jetzt nicht noch einmal beim Namen. Sie wandte sich um und kreischte genauso, wie sie's zuvor getan hatte. Alles begann von neuem. Annabelle, nicht! rief er. Das ist nicht wirklich, es ist ein Traum! Es ist alles vorüber! Wach auf! Aber sie hörte nicht oder antwortete nicht. Wieder
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und wieder focht sie die gleiche Schlacht, schlachtete Wesen ab, die genauso aussahen wie ihre kleine Toch ter; manchmal mit dem Degen, manchmal mit ihrer Ma schine, manchmal mit den eigenen blutigen bloßen Händen. Clive konnte sie nicht erreichen, konnte sie nicht be rühren oder zu ihr hinüberlaufen. Gleich, wie sehr er lief oder ging oder sprang, er schien auf der Stelle zu verharren. Er konnte sich zwar bewegen, doch er schien nirgendwohin zu kommen! Aber er mußte etwas unternehmen. Er dachte daran, zurückzugehen und Hilfe zu holen. Vielleicht wußte Shriek, was zu tun wäre. Als er jedoch hinaufschaute, ging ihm mit einem Schlag auf, daß er nicht die leiseste Ahnung hatte, wie er zurückkehren sollte. Er versuchte, sich selbst wieder in seinem eigenen Körper vorzustel len, aber es funktionierte nicht. Er versuchte, sich einen Brunnen oder Tunnel vorzustellen, der ihn in die Reali tät zurückbrächte, irgendeinen Rückweg, der ihn aus Annabelles Alptraum zurückbrächte, aber auch das funktionierte nicht. Er saß in der Falle! Mit einem jähen furchterfüllten Frösteln fiel ihm auf, daß ihn die Amanda-Wesen zum erstenmal bemerkten. Sie griffen ihn noch nicht an, sie beobachteten erst ein mal. Aber ihm wurde intuitiv klar, daß seine Furcht, je länger er hierbliebe, desto stärker werden und daß, je stärker die Furcht würde, Annabelles Alptraum für ihn gleichfalls immer realer würde. Dann würden die Krea turen sich auf ihn stürzen. Nein, Wesen Clive, das wird nicht geschehen.
Die Gedanken brandeten ihm mit ruhiger Zuversicht entgegen, und sein Herz schlug augenblicklich ruhiger, als er Shrieks Nähe verspürte. Plötzlich stand sie neben ihm. Negativ, kam gleichzeitig ein weiterer Gedanke, und Chang Guafe war gleichfalls da.
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Finnbogg beißt Fies-Dinger. Rettet Annie, okay? Clive fand sich von den Kameraden umgeben. Sidi und Tomàs und Horace Hamilton Smythe mit gezoge nem Degen waren gleichfalls da. Sie umringten ihn ganz dicht, und sogleich verloren die Amanda-Kreatu ren jegliches Interesse an ihm. Wo ist Neville? fragte er abrupt und fuhr herum. Dein verdammter Bruder is' nich' Teil von dem Gedanken netz, entgegnete Smythe im besten Dialekt. Clive fand jedoch die Zeit für ein derartig närrisches Benehmen ziemlich unangemessen. Shrieks Idee, Engländer, sagte Sidi Bombay, womit er Clive daran erinnerte, daß jetzt jeder Gedanke offenlag. Wir müssen bei guter Laune bleiben und keinerlei Furcht zu lassen. Dann müssen wir Miß Annabelle umringen. Clive starrte den Inder an. Aber du bist doch nicht Teil des Gedankengewebes, sagte er verwirrt. Du warst in die sem verdammten Eier-Dingsbums gefangen, als wir Shriek trafen. Wie kannst du hier unten sein ? Shriek hat ihn eigens für diesen Zweck mit runtergebracht, Sör, erklärte Smythe eilig. Kann das zwar nich' von Neville behaupten, aber wir alle vertrauen Sidi Bombay. Noch wichti ger, Annabelle vertraut ihm und macht sich etwas aus ihm. Shriek sagt, daß uns Annabelle gerade jetzt alle braucht. Die Arachnida unterbrach ihn. Das Wesen Annabelle ist in einer Gedächtnisschleife gefangen. Finden konnte ich sie nicht. Nur für dich hielt sie einen Weg offen. Sie vertraut dir am meisten. Wie hast du uns gefunden ? fragte Clive, dessen Lebens geister angesichts der Freunde Auftrieb erhielten. Du bist hier fast in eine Falle geraten, Wesen Clive. Du hast nach mir gerufen. Dein Bewußtsein war nicht verschlossen, also folgte ich und brachte alle Freundwesen mit. Wegen der Freundwesen können wir Wesen Annabelle jetzt retten. Wie? Wir müssen die Senhorita umzingeln, sprang Tomàs eif rig ein. Shriek hat es uns erklärt. Die Monstros würden dich
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nicht angreifen, und sie werden uns nicht angreifen. Wenn sie sie nicht erreichen könne n, wird ... Der kleine Portugiese zögerte und sah Shriek an. Die Gedankenschleife, ergänzte sie. ... sie, die Gedankenschleife, das Muster, zerbrechen. Dann wird sie vielleicht erwachen. Clive wandte sich an Shriek. Vielleicht? Sie hob hilflos die vier Sch ultern. Versuche und hoffe. Mehr können wir nicht tun. Clive nickte und legte die Arme um so viele von ih nen, wie er konnte, und zog sie näher heran. Nun, dann wollen wir wenigstens so viel tun. Mit Shriek zur Seite, die seine und ihrer aller Schritte überwachte, konnte Clive zu Annabelle gelangen. Er schob den rechten Arm durch einen der ihren und den linken Arm durch den von Smythe. Jeder verband sich mit irgendeinem anderen, und sie marschierten auf An nabelle zu, umzingelten sie und schlossen sich zu einem festen Kreis zusammen. Die Amandawesen sprangen heran, vollführten ihren abstoßenden animalischen Lärm, schnitten mit Klauen durch die Luft. Sie liefen aufgeregt um den Kreis herum, die langen schwarzen Haare flogen, zerrissene blaue Trägerkleidchen flatterten ihnen um die Beine. Aber sie vermochten Annabelle nicht zu erreichen. Eins nach dem anderen verschwand. Zunächst nur ein Arm oder ein Bein, gefolgt von einem weiteren, dann ein Auge oder eine Nase. Immer blieb als letztes ein Mund übrig. Dann verschwand dieser gleichfalls. Ich glaube, sie hat Lewis Carrolls neues Buch gelesen, Sör, sagte Horace Hamilton Smythe mit einem Grinsen. Clive Folliot nickte seinem alten Freund zu. Horace Hamilton Smythe hörte niemals auf, ihn zu überra schen. Ich wußte nicht, daß du's gelesen hast, Sergeant, sag te er. Es ist wirklich ziemlich neu. Smythe grinste breiter, und er blinzelte ihm zu. Ein Mann muß auf dem laufenden bleiben, Sör.
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Clive blinzelte zurück, wobei er sich der Geschicklich keit des anderen im Verkleiden und der Aktivitäten in den Diensten der Königin als Agent Provpcateur erin nerte. Besonders ein Mann wie du, hm, Sergeant? Ich schät ze, da ist so 'n kleines bißchen von Alice in uns allen. Er wandte sich Annabelle zu, aber ehe er die Bewegung vollendet hatte, verschwanden seine Beine und ließen ihn mitten in der Luft hängen. Er sah Horace erstaunt an. Seh Sie wie von oben, Sör. Von Horace war nur der Kopf übriggeblieben, und der verschwand nach und nach wie ein Geist. Hab mich schon immer gefrag t, was 'ne Edamer Katze überhaupt is'. Der Sergeant setzte das breiteste Lä cheln auf. Die Mundwinkel zogen sich in Richtung auf die Ohrläppchen, und er hielt diese Grimasse spiele risch bei. Es war der letzte Teil von ihm, der ver schwand. Clive schaute Annabelle über die Schulter an. Sie stand mit geschlossenen Augen da, aber das Entsetzen war aus ihrem Gesicht geschwunden. Statt dessen hatte sich dort der gleiche friedliche Ausdruck ausgebreitet, den ihr wirklicher Körper in der wirklichen Welt zeigte. Er hatte das Gefühl, als wäre sie wieder gesund. Er hat te sie letztendlich durchgebracht. Sie alle hatten's getan. Ich auch, Horace, gab Clive zu und setzte das breiteste Grinsen auf, als der rechte Arm allmählich verschwand. Die anderen starrten ihn verständnislos an. Wie seltsam sahen sie aus, halb vorhanden, halb verschwunden! Chang Guafe hatte überhaupt keinen Rumpf mehr, nur noch zwei Beine, zwei Arme und einen Kopf mit einer Menge leeren Raums dazwischen. Clive lachte. Das Ul kigste, was ich je im Leben gesehen habe! Ai de mim! rief Tomàs und schlug das Kreuzzeichen mit lediglich drei Fingern und stellte dabei ein Lächeln zur Schau. Es sah aus, als neckten drei kleine Würst chen ein hungriges Maul. Wirklich, lachte Clive erneut. Ulkiger und ulkiger. Dann war er gleichfalls verschwunden.
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KAPITEL 13
Im Palast
des Morgensterns
öffnete die Augen und war sich sofort der Wär Clive me von Annabelles Hand und der Weichheit des Betts bewußt, auf dem er lag. Er wandte den Kopf zur Seite und betrachtete seine Enkelin. Sie hatte ein hüb sches Profil und ein liebenswertes Gesicht. Er sprang hastig auf. Was dachte er da nur? Sie lagen schließlich in einem Bett, und sie war eine Dame, und er war ein Herr. Es war wirklich kein angemessener Ort für Geschäfte, oder zumindest keiner, worin man nach Erledigung der Geschäfte noch herumlungern sollte. »Siehst süß aus, so rosig im Gesicht, Scheff, aber du brauchs' nich' verlegen zu sein.« Horace Hamilton Smy the sah ihn vom Boden aus an und grinste. Clive wäre fast auf ihn getreten. »Sie haben das Richtige für sie ge tan, bestimmt.« Alle Gefährten, abgesehen von Neville, saßen auf dem Fußboden ums Bett und hielten die Hände noch immer ineinander verschränkt. »Geht's der Senhorita gut?« fragte Tomàs, während er Sidi Bombays und Finnboggs Hände losließ. Er stand langsam auf. Offenbar hatte er einen Wadenkrampf be kommen. Erwachen wird sie bald, Freundewesen, sagte Shriek zu allen, als das Bewußtsein wieder in die sechs Augen zu rückkehrte. Sie ließ die Hände von Chang Guafe und Smythe los und richtete sich gleichfalls zu ihrer vollen Zweimetergröße auf. Sie legte Clive sanft die Hand auf die Schulter. Aber unbewußt ließ sie einen geheimen Pfad für dich allein offen, Wesen Clive. Hättest du diesen tapferen Ver
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such nicht unternommen, wäre sie noch immer verloren, viel leicht sogar für immer.
»Beobachtung«, meldete Chang Guafe mit kühler me tallener Stimme. »Du bist ein Held.« »Allons enfants de la patrie ...!« grölte Finnbogg aus voller Lunge die französische Nationalhymne, und Cli ve entschloß sich auf der Stelle, Neville einen Verweis für die Auswahl der Lieder zu erteilen, die er dem Hun dewesen bei deren erstem Zusammentreffen beige bracht hatte. Ehe er jedoch direkt etwas zu Finnbogg hätte sagen können, beugte sich Tomàs hinüber und schlug Finnbogg die Hand übers Maul. Finnboggs Au gen verdrehten sich zu dem Portugiesen, und die beiden sahen einander einen Augenblick lang an. Dann lächel ten beide, und Finnbogg hielt den Mund. »Oh, ich hatte einen merkwürdigen Traum!« Beim Klang von Annabelles Stimme sahen sie alle zum Bett. Annabelle stützte sich auf die Ellbogen und sah sie strahlend vor Freude an. Sidi und Finnbogg und Chang Guafe rappelten sich auf und beugten sich übers Bett. Annabelle blinzelte sie einen Augenblick lang an, und dann blitzten ihre Augen. »Nun, da sind sie ja, die Vogelscheuche, der Löwe und der Blechmann!« rief sie aus und setzte sich rasch mit gekreuzten Beinen aufs Bett. »Aber das ist eine an dere Geschichte.« Sie tätschelte Finnbogg den Kopf, und er stellte die Ohren auf. »Abgesehen davon könn test du auch Toto sein«, sagte sie zu ihm. »Ich weiß nichts von dieser anderen Geschichte«, sag te Horace Hamilton Smythe und trat näher ans Bett. »Aber Carroll scheint auf dich einen ziemlich starken Eindruck gemacht zu haben. Der Major und ich haben beide sein neuestes Buch gelesen, und es freut mich zu sehen, daß es zu deiner Zeit noch immer populär sein muß.« »Ist eines meiner Lieblingsbücher«, gab Annabelle zu. »Aber du würdest Baum nicht kennen. Als Kind hab'
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ich beide Geschichten immer und immer wieder gele sen, und später hab' ich sie immer und immer wieder Amanda vorgelesen.« Sie senkte jäh den Blick, und ihr Gesicht umwölkte sich. Zum Teufel mit dem Anstand, dachte Clive und setzte sich neben sie aufs Bett, legte ihr einen Arm um die Schulter und zog sie an sich. »Schätze, ich bin diesmal in 'n eigenes Loch ge plumpst«, sagte sie, sah sie erneut alle an und zwang sich zu einem kleinen Lächeln. »Danke schön, euch al len.« Sie drückte Clive die Hand und küßte ihn auf die Wange. »Danke schön, Großpapa.« Clive errötete erneut und stand auf. Innerlich fühlte er sich jedoch besser und größer denn je in seinem Le ben, als hätte er auf irgendeine Weise ein unausgespro chenes Versprechen eingelöst, das er einer einsamen Frau in einer Londoner Mansarde gegeben hatte. Die Gefühle überfluteten ihn gewaltig, und er wußte, daß er jetzt allen aus dem Weg gehen mußte. »Wenn du's fertigbringst«, sagte er rasch zu Annabelle, »wir sind zum Abendessen eingeladen. Ein heißes Bad wartet dort auf dich« — er deutete auf den kleinen Nebenraum — »und Kleidung in der Garderobe.« Mit diesen Worten schlängelte er sich zwischen den anderen hindurch und ging zur Tür. »Übrigens, wo sind wir eigentlich?« fragte sie, aber Clive wandte sich nicht um. Chang Guafe antwortete für ihn. »Im Palast des Mor gensterns.« Während er durch den Eingang trat, hörte Clive ihren Seufzer und ihren Kommentar: »Hab' ich mir schon ge dacht, daß wir nicht in Kansas sind.« Er schloß die Tür und eilte zu seinem Zimmer. Dort ließ er sich schwer aufs Bett fallen und hielt den Kopf in den Händen. Langsam bekam er die Gefühle unter Kon trolle, die ihn fast zu etwas Unschicklichem hingerissen hätten.
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Jemand klopfte an die Tür. Er zögerte einen Augenblick, stand dann auf und wandte sich um. »Komm rein!« rief er und erwartete Horace Hamilton Smythe. Sein Sergeant hatte einen Hang, sich übertrieben um ihn zu kümmern, ihn zu »bemuddeln«, wie er sich manchmal bei seinem Freund beklagte. Es war Shriek, die die Tür öffnete und eintrat. Sie schloß sie ruhig hinter sich. Ein weiteres Problem gibt es, informierte sie ihn. »Aber natürlich«, antwortete er laut. Ein hämisches Lächeln glitt über sein Gesicht. »Schließlich ist das hier das Dungeon.« Ihre Kieferknochen öffneten sich weit zu etwas, das vielleicht ihre Nachahmung eines menschlichen Lä chelns sein sollte, und sie hob die vier Schultern. Clive wollte sie schon auf einen der beiden Stühle winken, die im Zimmer standen, aber dann wurde ihm klar, daß sie nicht zu ihrer vierbeinigen Gestalt paßten. Was das be traf, so hatte er sie überhaupt noch nicht sitzen sehen. »Nun ...« Er schaute sich hilflos um und gab dann auf. So weit also die viktorianische Gastfreundschaft. »Was gibt's denn?« Shriek schritt zum anderen Ende des Zimmers, sah sich um und schritt dann wieder zurück. Keine Fenster, Wesen Clive, zeigte sie. Keins in meinem Zimmer. Keins im Zimmer von Wesen Annabelle, Sie hatte recht. Clive war es nicht aufgefallen, aber sie hatte recht. Die Brauen sträubten sich ihm, und er ließ die Zunge über die Rückseite der Zähne gleiten. Keine Fenster, und nur eine Tür aus dem Raum hinaus oder in ihn hinein. Die Nackenhaare richteten sich langsam auf. Vielleicht waren wir unvorsichtig gewesen, Wesen Shriek. Er sendete ihr den Gedanken zu. Niemand konnte ihre pri vaten Gedanken abhören. Und da ist noch mehr, fuhr sie fort. Irritiert bin ich ge wesen. Abgelenkt.
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Die Schramme, die du nicht jucken konntest? Identifizieren konnte ich es nicht, bis ich das psionisc he Ge webe mit allen Freundwesen verbunden hatte. Nicht in mir selbst konnte ich es sehen. Zu gut war es versteckt. Aber es brennt in euch allen, funkelt mir in die Sinne. Clive ließ unbewußt die Hand über die Brust laufen. In uns allen? Was? Sehr vorsichtig werden wir abgetastet, von mächtigen tele pathischen Wesen. »Wer, zum Teufel, sind sie?« rief Clive und ballte die Fäuste. Er war von ihrer Enthüllung so vor den Kopf ge stoßen und verärgert, daß er sich vergaß und ins laute Sprechen verfiel. Nicht, daß es auf irgendeine gottver dammte Weise etwas ausmachte, wenn jemand seine Gedanken genausogut hören konnte wie seine Worte! Ein Mann hatte überhaupt keine Privatsphäre mehr! Kennen tu ich sie nicht, antwortete Shriek, wobei sie Ruhe ausstrahlte. Finden kann ich sie nicht. Weit entfernt sind sie und gut abgeschirmt. Aber wir können nicht sicher sein, daß wir ein Geheimnis wahren können. Das, dachte ich, solltest du wissen. Clive dachte nach. »Tasten sie uns im Augenblick ab?« Shriek schüttelte den Kopf. »Dann ist es keine permanente Überwachung«, sagte er. Er ging unruhig im Zimmer auf und ab. Selbst wenn Shriek sagte, daß sie nicht überwacht wurden, fühlte er sich dennoch wie ein Insekt unter Beobachtung oder unter dem Schatten eines Absatzes. »Gibt's da irgend etwas Besonderes? Irgend etwas Bestimmtes, an dem sie interessiert zu sein scheinen?« Er kratzte sich beim Umhergehen das stoppelige Kinn. »Könnten es die Her ren des Dungeon sein — die Ren oder die Chaffri —, die diesen Ort beherrschen?« Keine Zeit hatte ich, diese Dinge zu ergründen, entschul digte sich die Arachnida. Jenseits meiner schwachen Kräfte sind diese Telepathwesen, aber versuchen werde ich es.
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Er trat zu ihr und klopfte ihr voll Zuneigung auf die obere linke Schulter. Merkwürdig, wie sie ihm einmal häßlich und fremdartig vorgekommen war. Davon sah er jetzt nichts mehr. Sie besaß für ihn eine einzigartige Schönheit, eine fremdartige Schönheit, sicherlich, aber eine, die sogar menschliche Sinne ansprechen und der sie vertrauen konnten. Und überdies strahlte sie eine Ruhe aus, eine Ge mütsruhe, der er versuchte nachzueifern. »Dann kön nen wir nichts weiter tun, als zu baden und uns anzu kleiden und hinunter zum Abendessen zu gehen. Du bist dir sicher, daß unsere Telepathen sich nicht hier be finden?« Sie drückte ihm eine Hand und löste dann den Griff. Weit entfernt, versicherte sie ihm. Aber es gibt noch mehr zu tun. Sie deutete mit einem Finger auf die Wun de an seinem Bein. Das Blut war geronnen, aber Spuren frischen Rots leckten um die Ränder des Schorfs. Helfen kann ich, besser denn je. Sie zog eines der Stachelhaare aus dem Körper und hielt es hoch. An der Spitze glänz te ein Tropfen einer klaren Flüssigkeit in dem Gaslicht, das das Zimmer erhellte. Medikament für Blut der mensch lichen Wesen. Mehr Zeit hatte ich, mich dem Blut von Wesen Annabelle anzupassen. Einer Infektion kann ich vorbeu gen,und zum erstenmal den Schmerz lindern ... »... mit 'nem K.o.-Tropfen im Drink«, unterbrach er, wobei er sich eines Ausdrucks erinnerte, den er von An nabelle gelernt hatte. Er verschränkte die Arme und hob eine Braue. Schmerz wird dies erneut lindern, fuhr sie fort. Und Schmerzen hast du, wenngleich du sie leugnest. Hinter jedem deiner Gedanken spüre ich ihn. Aber heilen wird dies Tröpf chen gleichfalls, und rasch. Deine Blutung aufhalten, deine Wunde verschließen, die Kratzer heilen. »Kannst du das gleiche für Annabelle und Neville tun?« fragte er, zögerte und streckte dann einen Arm aus.
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Geeignetes Medikament hat Wesen Annabelle berei ts er halten, sagte sie zu ihm. Wesen Neville kann es gleichfalls bekommen, wenn er gestattet. Sie piekste ihn rasch mit dem Stachelhaar. Ein Tropfen Blut quoll aus dem Einstich am Unterarm hervor und vermischte sich mit dem klaren Tröpfchen. »Ich kann mich nicht daran erinnern, daß du ihn das erstemal gefragt hättest«, sagte Clive mit einem spötti schen Grinsen. Er schnippte den Blutstropfen beiseite. Ein winziges Loch war auf der Haut darunter zu sehen, aber kein weiteres Blut trat aus. Damals drängte die Zeit, wir mußten rasch weitergehen, sagte sie, sah ihn schief an und hob die Schultern. Für Diskussionen keine Zeit. Clive hörte kaum hin. Der Schmerz floß ihm aus dem Körper, als wäre er ein Glasgefäß, das im Fuß einen Sprung hatte. Mit ihm verschwand all seine Erschöp fung. Die Spannung im Nacken und in den Schultern löste sich. Das Brennen der Kratzer erlosch. Er streckte den Oberschenkel. Er war noch immer ein wenig steif, und Clive verspürte ein leichtes Zerren, aber selbst das ließ nach, als er den Muskel erprobte. Er strahlte Shriek an. »Nun, frag ihn dann höflich und mit aller Etikette, aber falls er sich weigert...«, er zwinkerte ihr zu — »spritz ihm gleichwohl was ein.« Die Tür öffnete sich, und Annabelle trat ein; sie trug einen angewiderten Ausdruck zur Schau und hatte ein großes Badetuch um sich gewickelt. Nun, in Wirklich keit war das Badetuch nicht gar so groß. Clive entfuhr ein Stöhnen, und er kniff die Augen zusammen. »Oh, werd doch endlich erwachsen, Cliveli!« schnapp te sie. »Und hilf mir!« Mit einem geduldigen Seufzer öffnete er wieder die Augen und sah hin. Auf dem einen Arm hielt sie die Khakikleidung eines Mannes. Auf dem anderen trug sie die volle Uniform für einen Quartiermeistersergeanten im Regiment Ihrer Majestät, den Fifth Imperial Horse
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Guards. Das kurze schwarze Haar klebte ihr feucht im Gesicht, und die Beine schienen niemals aufzuhören, und das Handtuch schien frei zu schweben. »Meine ganze Garderobe besteht aus so 'nem Müll wie dem hier!« beklagte sie sich. »Vielleicht würde das besser zu dir passen, Miß.« Horace Hamilton Smythe tauchte hinter ihr auf. Er hielt ein weißes Baumwollkleid in der einen und eine Lederhose in der anderen Hand. Clive rieb sich Augen und Nasenrücken und setzte sich, schwach geworden, auf einen Bettpfosten. Seine eigene Annabella hatte niemals gewagt, mit so wenig Kleidung in solch hellem Licht vor ihm zu erscheinen! Nun, das stimmte nicht so ganz, gestand er sich bitter ein. Es hatte da eine sehr denkwürdige Nacht in ihrer Mansarde gegeben, kurz bevor er London verlassen hatte. Aber da hatte nur eine einzige Kerze geleuchtet, und Annabella war sicherlich nicht so schamlos frech gewesen. Seine Urenkelin machte jedoch deutlich, daß die Dinge in ihrem Jahrhundert anders waren, aber wie anders, hatte er nicht abschätzen können. Na ja, es war noch immer ihr Leben; das hatte sie ihm gleichfalls nachdrücklich klargemacht. Er stieß langsam die Luft aus. »Nimm deine Sachen«, sagte Smythe, »und die Aus wahl is' noch riesengroß. Wir haben die Zimmer ge tauscht, während du ...« Er legte eine Pause ein und suchte dabei nach einem passenden Wort. »... geschla fen hast. Wir können wieder zurücktauschen, wenn du möchtest.« Annabelle drückte Horace die Männerkleidung in die Hand und betrachtete Kleid und Hose aus der Nähe. »Ich will nur was anderes zum Anziehen holen ...« Bitte! dachte Clive. »... und nach dem Abendessen werden wir tauschen. Ich hab' das Bad schon benutzt, und ich seh' daß du's noch nich' getan has', Sergeant.« Sie tätschelte ihn mit
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spöttischer Herablassung auf dem Scheitel und mar schierte aus dem Zimmer. Smythe folgte ihr. »Tja, sie ist anscheinend wieder völlig normal«, sagte Clive zu Shriek. Er erhob sich. »Ich schätze, wir machen uns besser fürs Abendessen zurecht. Ich bin plötzlich ganz begierig darauf, den Herrn dieses Hauses kennen zulernen.« Er runzelte die Stirn. »Wenn man's genau überlegt, scheint ›Herr‹ nicht ganz der treffende Aus druck zu sein. Nun, macht nichts. Ich hoffe nur, daß das Essen gut ist.« Shriek ging zur Tür und betrachtete ihn von der Schwelle her. Daß er den Weg zur achten Ebene weiß, hoffe ich, sagte sie. »Du hast einen erfreulichen Sinn fürs Praktische, meine Liebe«, antwortete er und verbeugte sich kurz. Dann wurde er wieder ernst. »Laß es mich wissen, wenn du etwas mehr über unsere mysteriösen Überwa cher herausgefunden hast. Wenn sie so mächtig sind, wie du sagst, könnten sie den Schlüssel zu diesem ge samten Dungeon in Händen halten.« Dann grinste er wieder. »Jetzt mach Neville die Hölle heiß.« Er tat so, als stäche er mit einer Spitze zu. Shriek ließ ein leises Kichern ertönen und schloß die Tür hinter sich. Nachdem er jetzt allein war, wandte sich Clive um und durchsuchte erneut das Zimmer. Wenn es eine Zelle sein sollte, war's eine mit Samt ausgeschlagene Zelle, und im Augenblick wenigstens hatte er die Absicht, daraus Nutzen zu ziehen. Er streifte die Lumpen ab, die einst seine Kleider gewesen waren, und schleuderte sie mit einem Fußtritt in eine Ecke in der Nähe der Garde robe. Er stellte sich vor einen hohen Spiegel in einem kunstvoll geschnitzten Holzrahmen und drehte ihn so, daß er den Körper optimal wiedergab. Er hatte seit sei ner Ankunft im Dungeon an Gewicht verloren. Nicht, daß er je fett gewesen wäre, aber das leichte Polster um
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die Hüften herum war verschwunden. Er war während seines Aufenthalts hier schlank und geschmeidig, und die dürren Muskeln waren kräftiger geworden. Er untersuchte einige der Schrammen. Sie waren nicht mehr gegen Berührung empfindlich, und als er mit der Fingerspitze darüberkratzte, fiel der Schorf leicht herab und zeigte Flecken frischer rosafarbener Haut. Der Oberschenkel war nicht mehr steif, und ein harter Schorf lag über der Wunde. Danke, Shriek, dachte er lautlos. Gern geschehen, Wesen Clive.
Er fuhr herum, bedeckte die Geschlechtsteile mit bei den Händen und wurde puterrot, aber es war niemand sonst im Zimmer. Er entspannte sich, ließ die Hände je doch unten. Das ist nicht fair! protestierte er. Aber sie war sowohl aus seinem Kopf als auch außer halb des Kopfes verschwunden, ehe er sich dessen recht bewußt geworden war. Nun, nun, alter Junge, du warst dir ihrer überhaupt nicht bewußt, gestand er sich ein. Und wenn sonst jemand in seinem Kopf herumstöberte, war er sich dessen auch nicht bewußt, aber für den Fall der Fälle widmete er dem Betreffenden einen harschen Ge danken, der etwas mit dem Lebenswandel von dessen Mutter zu tun hatte, und trollte sich dann ins Bad. Das Badewasser war noch immer heiß. Er ließ sich vorsichtig in die Wanne gleiten und erwartete dabei, daß die Kratzer brennen würden, trotz Shrieks Medika ment, aber er spürte lediglich die angenehme Wärme des Wassers. Er zog die Knie an und rutschte bis zum Hals in das behagliche Naß. Das hier war unzweifelhaft etwas von den Dingen dieser Hölle, die dem Himmel am nächsten kamen. Auf einem kleinen Tischchen am Fußende der Wanne fand er ein Stück parfümierter Seife sowie ein wenig Duftöl vor. Er strafte die Öle mit Verachtung, aber den Sandelholzduft der Seife erachtete er als nicht zu un
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männlich, und er seifte sich ein. Auf dem Tisch fand er gleichfalls einen kleinen Rasierer nebst Handspiegel. Sein Gastgeber hatte tatsächlich für alles, was er brauchte, gesorgt. Als er schließlich wieder aufstand, entdeckte er wie der neue Flecken frischer Haut. Beim Abrubbeln mit dem Handtuch löste sich weiterer Schorf. Er staunte, wie rasch sein Körper heilte! Er hielt sich jedoch nicht sehr lange mit dem Staunen auf. Sein Magen knurrte bedrohlich. Er hatte sich vor dem Bad schon hungrig gefühlt, aber jetzt war er nahe am Verhungern! Ein Nebeneffekt des Medikaments der Arachnida? fragte er sich. Macht nichts. Er eilte zur Garderobe, wählte eine solide Khaki-Dschungelhose und ein loses Hemd aus weißer Baumwolle. Alles saß perfekt, selbst die Stiefel, die er unten in der Garderobe vorfand. Im Spiegel überprüfte er sein Erscheinungsbild. Er erkannte den Mann kaum wieder, der ihn ansah. Er hat te fast vergessen, wie blond sein Haar war, so lange hat te er es nicht mehr gewaschen. Es glänzte jetzt, genauso wie der goldfarbene Schnauzbart, die einzige Gesichts behaarung, die er sich gestattete. Er fuhr sich mit den Fingern hindurch und überlegte, wie es aussähe, wenn er ihn ein wenig länger wachsen ließe. Nein, entschied er. Dann würde er an den Enden kauen, und ein Gentle man tat so etwas nicht. Er hielt ihn besser kurz ge trimmt! Er reckte sich ein letztes Mal vor dem Spiegel und fühlte sich besser als seit einigen Zeitaltern, wollte das Zimmer verlassen und sich zu den übrigen gesellen. Er blieb jedoch stehen, als er einen neuen Degen auf dem Bett entdeckte. Er nahm ihn und untersuchte ihn vorsichtig. Das war ein außergewöhnlich großzügiges Geschenk, eine sorg fältig hergestellte Klinge. Ein Gentleman würde seinen Gastgeber jedoch nicht dadurch beleidigen, daß er zum
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Abendessen eine Waffe trug. Das wäre nicht korrekt, nicht einmal dann, wenn der Gastgeber Luzifer persön lich wäre. Falls irgend etwas schiefginge, müßte er sich einfach auf seine Fäuste und auf die Gefährten verlas sen. Er legte den Degen aufs Bett zurück, trat durch die Tür und schloß sie rasch, ehe er's sich doch noch anders überlegte. Sergeant Smythe ging im Korridor auf und ab und wartete offenbar auf ihn. Er machte eine gute Figur in der Regimentsuniform. »Ich hatte gehofft, dich im kleinen Weißen zu sehen, Horace!« scherzte Clive und schlug seinem Burschen auf die Schulter. »Hätte bei meinen Knien nicht sonderlich gut ausge sehen«, antwortete Smythe schlagfertig, »und es zwick te auch ein bißchen um den Bauch, wirklich. Also muß das hier genügen.« Sidi Bombay verließ sein Zimmer. Der Inder sah in den weiten weißen Beinkleidern und dem weißen be stickten Hemd fast königlich aus. Eine Schärpe aus wei cher blauer Seide schlang sich ihm um den Körper, und ein Turban aus dem gleichen Stoff türmte sich auf dem Kopf. Eine kleine silberne Brosche glitzerte mitten dar auf. »Ah, Engländer!« sagte er als eine Art Gruß. »Mein Kopf ist wieder bedeckt. Vielleicht wird Gott mir wieder gewogen sein.« »Hier an diesem Ort, alter Freund?« spottete Smythe. »Du bist vielleicht ein Optimist.« »Gehe ich recht in der Annahme«, fragte Clive schnell, »daß wir drei das erstemal wieder für uns sind, seitdem wir den schimmernden Nebel durchquert und uns in Q'oorna gefunden hatten?« Die drei Männer sahen einander überrascht an. »Ich denke, daß du recht hast, Engländer«, pflichtete Sidi bei. Ein verlegenes Schweigen. Dann ergriff Clive das Wort. »Ich möchte euch beiden danken. Ihr wart gute
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Freunde und beherzte Gefährten. Ich erachte es als größte Ehre, euch zu kennen.« Ein weiteres verlegenes Schweigen, bis er sie bat, ihnen die Hände schütteln zu dürfen. »Ich erachte es gleichfalls als eine Ehre, dich zu ken nen, Clive Folliot«, sagte Sidi Bombay. »Du bist wirklich eine Zierde deiner Rasse.« Er grinste breit und zeigte dabei eine Menge Zähne. Horace warf einen Arm um Sidi, klopfte ihm auf den Rücken und drückte ihn spielerisch an sich, womit er Clive daran erinnerte, daß die beiden länger, als er wuß te, Freunde waren. »Vergeben Sie ihm, Sör«, bat Horace, wobei er das gleiche Grinsen zeigte. »Er ist kein so ein schlechter Kerl wie die schmutzigen kleinen Fakire.« »Ich bin nach dem Bad völlig sauber«, verteidigte sich Sidi. Smythe schnüffelte und rümpfte die Nase. »Du hät test dir das Parfüm schenken können.« Auch Sidi schnüffelte. »Wir Inder sind nicht mit eu ren englischen Vorstellungen von Männlichkeit belastet. Ich finde die Blütendüfte ganz angenehm.« Er schnüf felte erneut. »Dir hätten sie vielleicht auch ganz gutge tan.« »Genug!« befahl Clive kichernd. Er genoß jedoch ihre kleine Rangelei, und es war angenehm, wieder einmal zu lachen. Dennoch war's Zeit zum Abendessen, und er war hungrig. »Wo sind die anderen?« »Bereits nach unten gegangen, Sör«, informierte ihn Horace. »Worauf warten wir also?« Clive verbeugte sich und winkte zur Treppe. »Meine Herren?« Sie stiegen gemeinsam hinab. Am Fuß der Treppe schauten sie den Gang hinauf und hinunter. Nicht weit entfernt stand Herkirner neben einer zweiflügeligen Ei chentür. Der Frosch verbeugte sich tief, als sie näher ka men, und stieß die Tür mit einer Hand weit auf. Ein ro
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ter Teppich führte zu einem kunstvoll geschnitzten Eß tisch. Mitten auf dem Teppich stand ein weiterer Frosch, der sich verbeugte und sie dann anlächelte. »Hier ent lang, bitte!« sagte er und deutete zum Tisch, an dem die übrigen Gefährten bereits saßen. »Wer bist du?« fragte Clive den zweiten Frosch. »Herkimer, Sir«, entgegnete der Frosch höflich. »Wählen Sie bitte Ihren Platz, Ihren Platz. Möchten Sie Wein zum Essen, meine Herren?« Clive grinste Horace und Sidi an. »Das wäre entzük kend, Herkimer, Herkimer«, antwortete er für sie alle. »Wir haben einen vorzüglichen Keller, Sir«, fuhr Her kimer fort. »Darf ich einen roten Bordeaux vorschlagen, vorschlagen?« Clive zögerte. »Ich vertraue deinem Urteil, Herki mer.« Der Frosch trat beiseite und verbeugte sich erneut, als Clive, Horace und Sidi ihre Plätze an der Tafel einnah men. Es gab genau die passende Anzahl von Stühlen für sie alle, bemerkte Clive, plus einem weiteren am Kopf der Tafel für ihren Gastgeber, der bislang noch nicht erschienen war. Dann zählte er erneut. »Wo ist Shriek?« fragte er, plötzlich besorgt. Annabelle winkte ihn zu dem Stuhl, den sie links von sich freigehalten hatte. »Sie möchte sich entschuldigen lassen«, sagte seine Enkelin. »Du weißt schon, sie mag es nicht, in der Öffentlichkeit zu essen.« Clive rückte sich den Stuhl zurecht und setzte sich. Das Tischgeschirr war in jeder Hinsicht äußerst vor nehm. Das Silber war auf Hochglanz poliert. In dem Porzellan konnte er sich spiegeln. Die Kandelaber schie nen aus Gold zu sein, wie auch die Butterdosen, die Sahnekännchen und die Zuckerdosen. Er wandte sich an Annabelle. Sie hatte schließlich doch das weiße Baumwollkleid gewählt und sah bezau bernd darin aus. »Du siehst gleichfalls nett aus, Großpapa«, flüsterte sie.
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Zwei weitere Frösche erschienen in einem Seitenein gang. Einer schob eine kleine Metallkarre mit verschie denen bedeckten Tellern vor sich her. Der andere trug ein Tablett mit drei Gläsern tiefroten Weins. Clive be merkte rasch, daß die übrigen bereits Gläser vor sich stehen hatten. »Herkimer, nehme ich an?« fragte er, als der Frosch das Glas auf den Tisch setzte. »Natürlich, Sir, Sir, Sir«, kam die kehlige Antwort, und der Frosch widmete sich anderen Pflichten. Neville saß Clive direkt gegenüber. Er beugte sich jetzt vor und stützte sich dabei auf unziemliche Weise mit den Ellbogen auf dem Tisch ab. »Und wo«, murmel te er verschwörerisch, »schätzt du, ist unser Gastgeber? Ich hab schon immer erwartet, eines Tages dem Teufel zu begegnen, weißt du.« »Das hab' ich von dir auch erwartet«, gab Clive zu. Wie aufs Stichwort schwangen die Flügel der Tür wieder auf. Clive stieß seinen Stuhl zurück und stand auf. Alle anderen außer Annabelle folgten sofort seinem Beispiel und sahen zum Eingang, als ihr Gastgeber auf der Türschwelle erschien, zögerte und dann auf sie zu trat. Clive fiel die Kinnlade herab, und Neville war, wenig stens einmal, sprachlos. Herkimer trat zur Seite. »Mein Meister, Meister!« rief das kleine Wesen mit seiner besten Froschstimme, »und der Herr dieses Hauses. Gleichfalls euer Gastgeber, euer Gastgeber!« Dann legte er, ehe er den Namen ausrief, eine dramatische Pause ein, was jedoch völlig nutzlos war. Denn schließlich kannte Clive seinen eigenen Vater!
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KAPITEL 14
Der Herr der Hölle sieht mir nicht sehr wie el diablo aus«, brummte DasTomàs. »Sieh noch mal hin«, flüsterte Neville. »Das ist der Teufel persönlich!« Clive warf seinem Zwillingsbruder einen giftigen Blick zu; er war überrascht von dem Ärger in Nevilles Stimme sowie der kaum verhüllten Verachtung auf des sen Gesicht. Solch einen Blick hatte er nie zuvor gese hen! Neville war Vaters Liebling, der erwählte Erbe des Familienbesitzes genauso wie der rechtmäßige Erbe des Titels der Tewkesburys! Er verstand die Reaktion seines Bruders überhaupt nicht. Neville jedoch bemerkte Clives Reaktion, und sein Gesicht wurde zunächst steinern dann anschließend wieder völlig ausdruckslos, als wäre nichts zwischen ih nen vorgefallen. Baron Tewkesbury trat heran, beschleunigte den Schritt und strahlte vor väterlichem Stolz und väterli cher Freude, während er sich der Tafel näherte. Er war schon eine imposante Erscheinung in der braunen Samtjacke und dem seidenen Rüschenhemd. Er war größer als jeder seiner Söhne, und die Jahre hatten we der alles Blond aus der Masse dicker Locken noch aus dem sorgfältig gestutzten Bart vertrieben. Er bewegte den massigen Körper noch immer mit Kraft und Ele ganz. Clive trat von der Tafel weg. »Vater, was tust du denn hier?« Er hätte eigentlich nicht im geringsten überrascht darüber sein dürfen, daß Baron Tewkesburry seine Fra ge überhörte und auf Nevilles Seite der Tafel ging. Er
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war sein ganzes Leben lang so behandelt worden. Den noch schmerzte es ihn, als der alte Mann mit vorge streckten Armen seinen Lieblingssohn umarmte und ihm hocherfreut auf den Rücken schlug. Clives Hände hatten sich um die Stuhllehne geschlossen, und er um klammerte sie so fest, daß die Knöchel weiß wurden. Ihm wurde kaum bewußt, daß Annabelles Hand die sei ne bedeckte. »Mein Sohn!« rief der Baron. »Mein verlorener Sohn ist gefunden!« Er umarmte Neville erneut mit den bä renstarken Armen. »Mein lieber Neville, ich glaubte, ich würde dich niemals mehr wiedersehen! Aber jetzt bist du hier!« »Also schlachte das gemästete Kalb«, brummte Nevil le halbherzig über die Schulter seines Vaters. Er starrte Clive an. Nichts als Kälte sprach aus seinem Blick. »Setz dich, setz dich!« Baron Tewkesbury hielt Nevil le den Stuhl hin und schob ihn seinem Sohn unter, als Neville zur Tafel zurückkehrte. Der alte Mann tätschelte ihm beide Schultern und drückte ihm einen Kuß auf den Scheitel, was bei Neville ein ärgerliches Stirnrunzeln hervorrief. Wenngleich es sein Vater nicht sehen konnte, entging es jedoch nicht Clives Aufmerksamkeit. Er konnte jetzt nicht mehr länger warten. »Vater, wie bist du hierhergekommen?« brach es aus ihm hervor. »Ich versteh nicht...« »Natürlich nicht, Clive.« Schließlich hatte der Vater seine Anwesenheit zur Kenntnis genommen. Der alte Mann sah ihn merkwürdig an, während er Nevilles Stuhllehne umklammerte, und Clive zitterte innerlich bei diesem prüfenden Blick, ein altes Gefühl, das er nur zu gut kannte. Automatisch straffte Clive die Schultern und zog den Bauch ein. »Clive, Clive!« sagte der Baron. Er schritt gemessen um den Tisch herum und öffnete erneut die Arme, dies mal für Clive. Clive spürte, wie er an der Brust das Va ters fast zerdrückt wurde. Er stotterte. Er konnte sich
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nicht daran erinnern, daß ihn der Vater jemals umarmt hätte, ihm überhaupt jemals Zuneigung gezeigt hätte! »Clive, kannst du mir je vergeben?« Sein Vater hielt ihn um Armeslänge vor sich und schaute ihn an. »Ich bin ein alter Narr gewesen. All die Jahre habe ich dir die Schuld am Tod deiner Mutter gegeben, aber ich habe mich geirrt, Sohn.« Kaum unterdrückte Tränen blinkten in den Augenwinkeln des Vaters. Clive wußte nicht, was er sagen sollte. Wie sollte er auf so ein Verhalten reagieren? Er wollte seit so langer Zeit die Liebe des Vaters, hatte so lange so hart dafür gearbeitet, bis er es schließlich aufgegeben hatte. Nun wurde sie ihm endlich bedingungslos angeboten. Der Vater hatte sogar um Vergebung gebeten! Aber konnte man so viele Jahre und so viel Gleichgültigkeit so leicht vergeben? Baron Tewkesbury hielt einen Arm um Clives Schul tern gelegt, als er sich umwandte und Neville und die übrigen ansah. Er vollführte mit dem freien Arm eine Bewegung, die sie alle umfaßte. »Meine Söhne sind heimgekehrt! Ich hätte niemals gedacht, diesen Tag zu erleben! Willkommen, seid willkommen, ihr alle!« Er umarmte Clive erneut und ging dann zu seinem Platz am Kopf der Tafel zwischen seinen Söhnen. Er setzte sich mit großer Würde nieder und sammelte sich. »Herkimer!« rief er dem Frosch zu, der ihn angekündigt hatte. »Du kannst jetzt servieren.« Herkimer verbeugte sich und klatschte in die Hände mit den Schwimmhäuten. Sogleich traten drei weitere Frösche, alle genau gleich aussehend, durch den Seiten eingang. Zwei schoben kleine Karren vor sich her, die sie neben die ersten stellten. Der dritte trug Tabletts mit kleinen dampfenden Schalen, die, wie sich herausstell te, Reis enthielten. Ein Klacks grüner Sauce lag oben auf jeder Schale, umgeben von mehreren kleinen Shrimps. Der köstliche Duft stieg Clive in die Nase und erin nerte ihn daran, wie hungrig er war. Er konnte noch im
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mer nicht glauben, daß sein Vater tatsächlich hier im Dungeon war. Er stützte sich auf die Ellbogen und beugte sich vor. »Vater, wie zum Teufel...« Sein Vater schnalzte mit der Zunge und blickte ihn streng an. »Wo sind deine Manieren, Sohn?« Clive verzog das Gesicht zu einer törichten Grimasse und nahm sofort die Ellbogen vom Tisch. »Das ist schon besser«, sagte sein Vater und lächelte erneut. »Stelle mir jetzt deine Freunde vor. Übrigens, fehlt nicht jemand?« »Unsere Freundin Shriek«, ergriff Annabelle das Wort. »Sie zog es vor, in ihrem Zimmer zu bleiben.« Der Baron runzelte die Stirn und hob dann die Schul tern. »Ah, ja. Ich werde sehen, daß ein Mahl zu ihr hin aufgeschickt wird.« Horace Hamilton Smythe räusperte sich und warf Clive einen Blick zu. »Öh, sie hat ihre ganz speziellen Bedürfnisse, Mylord, in der Tat.« »Keine, die wir nicht erfüllen könnten«, versicherte der Baron. Er nahm einen Löffel und probierte den Reis teller. Einer der Frösche stand in der Nähe und erwar tete seine Billigung. Der alte Mann kaute sorgfältig und lächelte dann. »Bitte, werte Gäste, wir können uns wäh rend des Essens unterhalten.« Clive stellte rasch die übrigen vor und nahm dann ei nige Bissen aus seiner Schale. Er hatte so etwas noch nie zuvor gekostet, aber es war ein Genuß. Tewkesbury legte mit einem Ruck den Löffel nieder. »Findet der Reis nicht Ihren Gefallen, Herr Guafe? Sie essen ja gar nicht.« Der Cyborg hatte weder das Gedeck noch den Wein berührt. Er sah seinen Gastgeber kühl an, und die Ru binlinsen glühten. »Ich brauche keine organische Materie zu mir zu nehmen«, konstatierte er. »Dieser Körper ent zieht der Luft einzelne Atome und wandelt sie in die für mich notwendige Energie um.« Clive sah Chang über den Rand seines Glases hinweg
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an. Er wußte, daß sein Cyborgfreund essen und trinken konnte, wenn er wollte. Er hatte ihn schon dabei gese hen; manchmal, weil er einfach das Vergnügen des Schmeckens erfahren wollte, manchmal zum Zweck der Analyse. Aber er sagte jetzt nichts, weil er Guafe nicht bloßstellen wollte, beobachtete ihn jedoch sorgfältig. Der Cyborg legte die Hände in den Schoß und sprach noch eintöniger als sonst. »Sie haben wiederholt die Frage Ihres Sohnes, Clive Folliot, überhört. Antworten Sie mir bitte auf meine Frage.« Die Augen des Barons wurden schmal, und Clive sah den Vater, an den er sich erinnerte, direkt neben sich sit zen. Tewkesburys starrer Blick war nicht weniger eisig als die Kälte des Cyborg, während er sich zurücklehnte und die Hände über dem Bauch faltete. Er sprach kein Wort, sondern wartete darauf, daß der Cyborg fortfuhr. »Warum unternehmen Sie diesen Täuschungsver such?« fragte Chang. »Dieses Wohngebäude stimmt äu ßerlich mit den Konventionen der Epoche überein, die Ihr Sohn als die viktorianische Epoche beschrieb.« Er berührte mit dem Finger den Rand der Reisschale. »Dennoch weist dieses Essen schwache Spuren von Mi krowellen auf.« Er berührte das Weinglas. »Dieses Ge fäß enthält nur wenige der Mineralien, aus denen Glas gewöhnlich hergestellt wird.« Er winkte ganz allgemein mit der Hand. »Das Gebäude selbst, die Wände und Fußböden, die Decke — alles ist fugenlos zusammenge fügt, unmöglich für die Technologie, die Clive Folliot be schrieb. Nichts ist hier das, was es zu sein scheint.« Der Baron entspannte sich etwas. »Und woher wis sen Sie das, mein Herr?« »Seine Sensoren sind ganz bemerkenswert, Vater«, mischte sich Clive ein, »weit feiner als Augen und Oh ren.« Er ließ den Blick über die Freunde an der Tafel schweifen. Alle hörten auf zu essen, und alle Löffel wurden beiseite gelegt, während sie darauf warteten, daß ihnen ihr Gastgeber Rede und Antwort stünde.
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Tewkesbury nahm sein Glas und nippte langsam an der roten Flüssigkeit. Er setzte das Glas äußerst bedäch tig wieder ab. »Sie haben ganz recht, Chang Guafe«, sagte er. »Und wenn wir mit dem Essen fortfahren, wer de ich erklären, warum ich mich hier befinde. Wir haben ein wirklich exzellentes Roastbeef hier, und meine Die ner wären ziemlich bestürzt, wenn sie nicht ihren Pflichten nachkommen dürften. Sie sind ziemlich ner vöse Wesen, wirklich.« Auf seinen Befehl hin rollten die Froschwesen die Karren heran und zeigten ihnen Platten mit dampfen den Scheiben von Roastbeef, roh und medium gebraten. Clive spürte, wie sich alles bei dem phantastischen Duft um ihn herum drehte, und er nahm Gabel und Messer, sobald die Platte ihm vorgelegt wurde. Am Rand der Platte lagen kleine Kartoffeln in der Schale, die mit Pe tersilie serviert wurden. Von einer anderen Karre kamen Schüsseln mit ge schmorten Tomaten, Mais und Erbsen. Eine weitere Schüssel mit Äpfeln und Orangen folgte als nächstes. Und noch eine weitere Karre stand am anderen Ende des Tisches mit drei verschiedenen Sorten von Pasteten. Zwei weitere Diener, zweifellos Herkimer und Herki mer, warteten, um mit Wein und Eiswasser zu Diensten zu sein. Eiswasser in der Hölle, dachte Clive mit einem ziemlich frechen Feixen, während er kaute und schluckte. Dann versteifte er sich ein wenig, als Annabelle ihm unter dem Tisch die Hand auf den Oberschenkel legte. »Sie waren dabei, uns zu erzählen, wie Sie hierherka men, Herr Folliot«, sagte sie und gebrauchte eine unan gemessene Form der Anrede. Der Baron gab vor, es nicht bemerkt zu haben. »Dank dir, meine Liebe.« Er lächelte sie an, faßte dann die Hände seiner Söhne und lächelte sie gleichfalls warm an. »Ich verstehe es selbst überhaupt nicht, aber ich werde euch sagen, was ich euch sagen kann.«
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Tewkesbury setzte sich zurück und drehte das Wein glas zwischen den Handflächen. Er schien seine Gedan ken zu sammeln, ehe er sprach. Dann schaute er Neville an. »Als du nicht von Afrika zurückkehrtest, sandte ich deinen Bruder Clive aus, dich zu suchen und nach Hau se zu bringen. Du warst ein Jahr verschwunden, und niemand wußte, ob du noch lebtest oder tot warst.« Er wandte sich an seinen anderen Sohn. »Zu meiner gro ßen Beschämung, Clive, wartete ich zwei Jahre, nach dem wir von dir jede Spur verloren hatten. Dann kam uns zu Ohren, daß jemand einiges von deiner Habe auf einem Wrack an der Küste von Sansibar gefunden hätte, einen Koffer oder etwas Ähnliches mit einigen der Arti kel, die du für dieses unsägliche Schmierblatt geschrie ben hattest, das dein Freund — Carstairs — heraus gab.« Sein Vater legte eine Pause ein und nahm einen Schluck Wein, um sich die Kehle zu befeuchten. Clive machte sich nicht die Mühe zu erklären, daß Carstairs keiner seiner Freunde war, daß ihn der Mann für diese Artikel bezahlt hatte, und zwar gerade genügend, um die ungenügende Summe zu ergänzen, die der Baron selbst für die Ausrüstung der Expedition bereitgestellt hatte. Nach einer kurzen Weile fuhr der Vater fort. »Ich ha be keine Hemmungen, euch zu sagen, daß ich, als ich mit dem Verlust beider Söhne konfrontiert war, mich daran machte, mein gesamtes Leben zu überdenken. Kurz danach brach ich persönlich mit dem festen Ent schluß nach Afrika auf, alles zu tun, was ich tun könnte, um euch beide zu finden.« Clive spürte, wie sich Annabelles Hand um sein Bein schloß, und er ergriff sie mit der eigenen Hand. Jeder andere mochte ihre Bewegung falsch verstehen, aber er wußte, daß sie ihn lediglich unterstützen wollte. Den noch vermochte er kaum zu glauben, was er da gerade gehört hatte! Sein Vater, ein hochangesehener Adeliger
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der obersten Kreise, stahl sich durch den stinkenden Dschungel wie ein gewöhnlicher Abenteurer? Sicherlich hatten andere Lords und Ladies desgleichen getan. Aber sein Vater? Er warf einen Blick über den Tisch, um zu sehen, wie sein Bruder das aufnahm, aber Neville war ungewöhn lich ruhig. Er hörte höflich zu, aber sein Gesicht blieb unergründlich, und er tat so, als äße er, ohne dabei je doch viel zu sich zu nehmen. »Mit einigen Schwierigkeiten folgte ich eurer Spur, bis ich in Bagomoyo einem Vater Timothy O'Hara be gegnete, der sich an euch beide erinnerte.« Er wandte Neville den Blick zu und drohte mit dem Finger. »An dich mit ein wenig Bestürzung«, sagte er zu seinem Sohn. »Er sagte nichts Genaues, aber er deutete zumin dest einiges an, das auf ein höchst ungehöriges Beneh men deinerseits schließen ließ.« Er nippte erneut an sei nem Glas und winkte den Froschdiener mit dem Wein heran. »Danke, Herkimer«, sagte er. »Vater O'Hara«, sagte Neville mit einem schrägen Lä cheln, als er sich im Stuhl zurücklehnte. »Ja, das ist ein Mann, der mehr über diesen Ort hier weiß, als er zu gibt.« Clive stimmte ihm mit einem kaum sichtbaren Nicken zu. »Ich nehme das gleiche an«, sagte er. Dann nickte er, legte den Kopf schief und wandte sich an seinen Vater, indem er hinzufügte: »Wenngleich ich damit nichts Be stimmtes sagen will.« Aber der Baron schien die Bemerkung zu überhören, so verloren war er in der eigenen Geschichte. »Etwas Merkwürdiges hat es mit Bagomoyo auf sich«, fuhr er fort. »Sah niemals in meinem Leben derlei Lichter im Himmel.« Er dachte einen Augenblick lang nach, erin nerte sich und hob dann die Schultern. »Wie dem auch sei, es war dieser Vater O'Hara, der mir alles über den Sudd erzählte. Er sagte, das wäre der letzte Ort gewe sen, wo euch irgend jemand gesehen hätte.«
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»Du bist dem schimmernden Nebel begegnet«, unter brach Clive aufgeregt. Der Baron nickte. »Aber nicht beim erstenmal. Nach dem ich den Sumpf durchquert hatte — scheußlicher Ort —, fragte ich in einem Dorf auf der anderen Seite nach euch und fand heraus, daß keiner von euch beiden so weit gekommen war. Ich brauche euch nicht zu sa gen, daß ich daraufhin das Schlimmste befürchtete. Wenn der Sudd euch beide verschlungen hätte, gäbe es niemals einen Hinweis auf euch. Ich kehrte in der Ab sicht um, den Priester oder sonst jemanden in Bagomoyo zu befragen, der euch vielleicht gesehen hätte.« Er nahm erneut einen Schluck Wein und betupfte die Mundwinkel mit dem Taschentuch. »Ich bin niemals zu rückgekehrt.« »Du hast den Nebel nicht beim erstenmal gesehen?« fragte Clive. Er hatte das Mahl vergessen, während er der Geschichte seines Vaters lauschte. Die Vorstellung, daß er wirklich nach ihm gesucht hatte, erfüllte ihn mit einer selten verspürten, angenehmen Wärme. »Nicht beim erstenmal, aber jetzt, beim zweitenmal. Ich und zwei Träger stakten mit einem kleinen Boot durch den Sumpf, als sich das Zeug plötzlich um uns legte. Ich sage dir, es kam schneller als der Londoner Nebel.« »Was wurde aus den Trägern, Lord Folliot?« wollte Sido Bombay wissen, womit er zum erstenmal das Wort ergriff. »Sie gerieten in Panik und sprangen über Bord, fürch te ich. Ob sie den Sumpf verlassen konnten oder dort umkamen, weiß ich nicht. Vielleicht erwischte sie der Nebel und trug sie zu einem anderen Teil des Dungeon. Ich habe mich allein hier herauf gewunden. Als der Ne bel sich aufklarte, fand ich mich an der Küste vom See des Jammers wieder.« Clive war nur wenigen Leuten im Dungeon begegnet, die nicht in Q'oorna angekommen waren und sich von
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dort aus zu den anderen Ebenen hochgearbeitet hatten. Dennoch schien niemand eine Ahnung zu haben, war um sie dort gelandet waren, wo sie's getan hatten. Sergeant Smythe stieß mit dem Glas an den Rand sei nes Tellers, als er es niedersetzte. Er warf Clive einen Blick zu, dann dem Baron Tewkesbury. »Entschuldigen Sie mich, Eure Lordschaft, aber Sie sagten, Sie warteten zwei Jahre, nachdem Clive verschwand, ehe Sie nach ihm suchten? Aber wir können unmöglich schon so lan ge hier sein!« »Ich fürchte, das ist die Wahrheit«, antwortete der Ba ron. »Sicherlich habt ihr schon bemerkt, daß die Zeit im Dungeon ihre eigene Natur besitzt. Sie unterscheidet sich mit Sicherheit von der Zeit auf der Erde. Sie mag sich sogar von einer Ebene zur nächsten unterscheiden. Ich selbst bin schon eine Weile hier, das brauche ich euch kaum zu sagen.« Er winkte mit der Hand zum an deren Ende der Tafel. »Wie war's mit etwas Pastete, meine Lieben! Herkimer ist wirklich ein sehr guter Koch.« »Herkimer? Wirklich?« sagte Neville sarkastisch. »Welcher Herkimer?« Der Baron sah seinen Sohn mit einem Stirnrunzeln an. Niemandem an der Tafel war die unfreundliche No te entgangen, und allen war aufgefallen, wie wenig Ne ville während der Mahlzeit gesprochen hatte. »Alle von ihnen oder jeder von ihnen«, antwortete sein Vater ruhig. »Sie sind sehr begabte Wesen, und sie lernen rasch.« »Für mich sehen sie alle gleich aus«, sagte Neville barsch. Er stieß seinen Stuhl zurück und erhob sich. »Ich hoffe, du wirst mich entschuldigen, aber ich bin ziemlich müde. Das Essen war ausgezeichnet.« Clive sah zu, wie sein Bruder steif davonging. Herki mer griff nach der Tür, aber Neville stieß den kleinen Frosch dagegen, drückte die Hand auf das schwarze Holz und stieß die Tür auf. Clive warf daraufhin Anna
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belle einen Blick zu, und sie erwiderte ihn. In ihren Au gen lag eine Besorgnis, die er gelernt hatte zu erkennen. Sie drückte ihm unter dem Tisch erneut den Oberschen kel. Finnbogg schob den Stuhl zurück und erhob sich gleichfalls. »Finnbogg geht sicherstellen, Neville okay. Vielleicht lernen neue Lieder.« Er folgte Neville. Der Baron starrte zur Tür, als Finnbogg verschwand. Dann rieb er sich die Augen und stand auf. »Ich denke, daß ich mich gleichfalls zur Ruhe begebe«, sagte er. Sei ne Gesichtszüge waren schwer und schlaff, als er den Stuhl zurückschob. »Das war vielleicht ein Tag; beide Söhne wiederzusehen! Ein alter Mann ermüdet leicht. Aber bitte, fahrt ohne mich fort.« Er deutete auf die Karre mit dem Dessert und zwang sich zu einem Lä cheln. »Da steht noch immer die Pastete. Herkimer wäre enttäuscht, wenn sie niemand kostete.« Keiner sprach ein Wort, bis Clives Vater verschwun den war. Dann schoben sie einer nach dem anderen die Stühle zurück und erhoben sich. Nur Tomàs blieb sit zen. Der kleine Portugiese spießte das restliche Roast beef von Nevilles Teller auf und aß dies und alles übrige in Reichweite auf. »Beobachtung«, sagte Chang Guafe und wandte sich an Clive. »Er hat meine Frage nicht beantwortet. Diese Technologie bleibt unerklärt.« »Es hat vielleicht nichts zu bedeuten, Engländer«, sagte Sidi Bombay gelassen, »aber je tiefer wir in die Ebenen des Dungeon vorstießen, desto komplexer wur de die Technologie.« Horace Hamilton Smythe knurrte. »Du hörst dich schon an wie unser Cyborgfreund.« »Aber er hat recht, Hacker«, pflichtete Annabelle bei. »Es hätte uns schon eher auffallen müssen. Chang, was hast du sonst noch beobachtet?« Der Cyborg antwortete, ohne zu zögern. »Das Gas licht ist überhaupt kein Gaslicht. Das Essen wurde auf
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molekularer Basis aus irgendeinem organischen Mate rial zusammengesetzt...« »Du meinst, es war nicht echt?« platzte Horace her aus und rieb sich den Magen. »Echt?« Der Cyborg hob die Schultern. »Die Nähr stoffe sind vollkommen ausgewogen und ohne jede Spur von Konservierungsstoffen oder Pestiziden oder irgendeinem fremden chemischen Zusatz. Es war echt, Horace Hamilton Smythe. Es ist gesund. Es ist vollkom men. So etwas kann nur durch eine hochentwickelte Nährstoff Zusammenstellung erreicht werden.« »Surrogat!« rief Annabelle aus. »Kein Wunder, daß das Fleisch ein wenig fade schmeckte. Das Gemüse war jedoch großartig. Wißt ihr, zu meiner Zeit haben sie erst angefangen, mit diesem Zeug herumzuexperimentie ren.« »Was sonst?« fragte Clive Chang Guafe. »Außerdem gibt es viele Energiequellen«, antwortete er. Er wandte sich um, und das Kerzenlicht der Tafel machte aus seinem gepanzerten Körper einen blitzen den Leuchter. »Die Wände sind voll von Stromkreisen, einige jenseits meiner analytischen Kapazität.« »Ich denke, wir sollten auf der Hut sein, Sör«, sagte Smythe ruhig. »Aber es ist mein Vater!« protestierte Clive. »Sicher, er muß einiges erklären, aber ihr seht alle so aus, als wäret ihr wieder bereit zum Kriegführen. Laßt uns ein wenig darüber schlafen und dann weitersehen, was wir morgen erfahren können, wenn wir alle frisch und aus geruht sind. Kommst du, Tomàs?« Der kleine Portugiese sah Clive kauend an und blickte sich daraufhin stirnrunzelnd auf dem Tisch um. Schließlich stand er auf, schnappte sich eine ganze Pa stete vom Dessertwagen und lächelte. »Sim, ich komme, ja«, antwortete er. Sie marschierten nacheinander aus dem Speisezim mer und überließen es den Froschdienern sauberzuma
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chen. Zweifellos war ihnen gerade eines der köstlich sten Essen serviert worden, seitdem sie ins Dungeon ge kommen waren, und dennoch lag eine seltsam ruhige Stimmung über ihnen, als sie sich auf die Zimmer bega ben. Herkimer, oder zumindest ein Herkimer, wartete am Fuß der Treppe auf sie. Aus dem adretten Dinnerjacket, das er trug, schloß Clive, daß es der gleiche war, der als Türsteher zum Speisezimmer gedient und seinen Vater angekündigt hatte. Er sah auf das kleine Wesen herab. Nichts als ihre Kleidung unterschied die Wesen vonein ander. Sie waren identisch. Klone, ging ihm auf. »Entschuldige bitte«, sagte Annabelle zu dem gedul dig wartenden Diener. »Aber ich hab' mich gerade ge fragt, ob's noch 'n Programm oder so was gibt, das ich abspielen kann, ehe ich abschalte. Auf meiner Festplatte is' noch 'ne Menge Platz.« Der Frosch setzte ein breites Lächeln auf, das rasch verschwand. »Programm? Abspielen? Festplatte, Fest platte, Festplatte?« Er hüpfte mit bestürztem Gesichts ausdruck auf und nieder. »Mein Meister befiehlt mir, euch jeden Gefallen zu tun, aber ich kenne diese Dinge nicht, kenne diese Dinge nicht.« Clive war sowohl berührt als auch amüsiert von der Fast-Panik des niedlichen Wesens. Er hörte fast das Herz des kleinen Wesens hämmern. »Ruhig, ruhig, Her kimer!« sagte er und legte ihm die Hand auf den Kopf, so daß er nicht mehr hochspringen konnte. »Sie meint, sie ist noch nicht müde, und ob sie hier vielleicht ein Buch lesen könnte.« »Buch?« Annabelle schnitt eine Grimasse. »Na ja, das wird's auch tun.« »Buch! Buch!« wiederholte Herkimer aufgeregt. »Viele Bücher. Der Meister besitzt eine Bibliothek. Sehen wollen?« Die anderen waren bereits die Stufen hinaufgestie gen, also entschloß sich Clive, Annabelle und Herkimer
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zu begleiten. Der Frosch führte sie durch den Korridor zurück, am Speisezimmer vorüber. Sie gingen um eine Ecke und durchschritten einen zweiten Korridor. Auf halbem Weg blieb Herkimer stehen und stieß eine wei tere zweiflügelige Eichentür auf. Er verbeugte sich zwei mal und winkte mit der Hand. »Die Bibliothek des Mei sters, des Meisters!« verkündete er großartig, und eine Hand mit Schwimmhäuten lud sie zum Eintreten ein. An den Wänden reihten sich Bücher vom Boden bis zur Decke. Die Einbanddecken sahen alt und wurmsti chig aus, und Staub füllte die Luft. Eine alte hölzerne Leiter hing mit zwei Haken an einer eisernen Stange, die an den Regalen entlanglief und den Zugriff zu den höhergelegenen Bänden gestattete. Mitten im Raum standen zwei gepolsterte Ledersessel zu beiden Seiten eines niedrigen hölzernen Tischs. »Soll ich ein wenig Brandy bringen, Brandy bringen?« fragte Herkimer. »Oder eine Kanne Kaffee, Kanne Kaf fee?« Annabelle und Clive gingen zu verschiedenen Stellen des Raums und begutachteten die Titel. Beide murmel ten: »Nein, danke schön!«, und Herkimer entschuldigte sich und ließ die Türe offen stehen. Sie hörten das Ge räusch, das seine Plattfüße verursachten, als er den Kor ridor zurückwatschelte. »Er erinnerte mich an ein Wippchen«, gluckste Anna belle quer durch den Raum. Clive wandte sich mit einem Buch in den Händen um. Er warf dem Titel auf der Rückseite einen Blick zu, dann Annabelle. »Ein was?« »Ein Wippchen«, wiederholte sie. »Zu meiner Zeit ein kleines Figürchen an einer Feder. Die Leute hängen sich das vor die Windschutzscheiben ihrer Fahrzeuge, und es baumelt halt da herum.« Clive schob den Band ins Regal zurück. »Wozu?« rief er über die Schulter, wählte ein weiteres Buch und öff nete es vorsichtig. Es gab ein vernehmbares ›Ratsch‹, als
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sich die trockenen Seiten voneinander lösten. Er warf einen schuldbewußten Blick über beide Schultern und zur offenstehenden Tür, schloß dann das Buch, schob es zurück ins Regal und ging weg. »Ich hab die Dinger gesehen«, sagte Annabelle ver ächtlich und fuhr fort: »Einen tieferen Sinn hat das nicht. Eine Menge Leute zu meiner Zeit sind ziemlich beschränkt. Leicht zu unterhalten, weißt du.« »Du meinst, ihre Programme sind fehlerhaft«, bot Clive an, während er die Leiter aus dem Weg schob. Sie kratzte über die Schiene, als wäre sie eingerostet und als müßte sie mal wieder geölt werden. »He, jetzt bist du aber richtig am Hacken, Cliveli, geh mal wieder zurück zu BASIC!« Sie reckte den Hals, um die Buchrücken zu lesen, während sie im Raum umherging. »Das ist wunderbares Zeug«, murmelte sie, als sie die Titel untersuchte. »Ge nau wie zu Hause, als ich noch 'n kleines Benutzerchen war. Mutter hat Stapel von Büchern in jeder Ecke des Hauses aufbewahrt, und sie hat dafür gesorgt, daß ich sie auch lese. Keine Disketten, sonderen echte Bücher. Und alte Videos. Sie liebte die alten klassischen Vide os.« Sie blieb plötzlich stehen und zog ein Buch aus dem Regal. Liebevoll strich sie mit der Hand über die Vorder seite, sah daraufhin ihre Handfläche an und verzog das Gesicht. »Uh-jui«, murmelte sie, während sie sich die Hand am Kleid abwischte, was dicke Schmutzstreifen auf dem Oberteil hinterließ. »Du hast dein schönes Kleid ruiniert«, tadelte Clive, während er ein weiteres Buch auswählte und es an schließend zurückstellte. »Na und? Was soll's!« entgegnete sie und ging mit dem Buch zu einem der Ledersessel. »Es gibt 'nen gan zen Schrank voll davon. Dein lieber alter Herr Papa hat wirklich 'ne Schwäche für unschuldiges Weiß, weißt du? Und nicht viel Sinn für Mode.« Sie setzte sich zurück und legte die Füße auf den
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niedrigen Tisch, während Clive weiterhin die Titel durchforstete. Es gab Bücher über Weltgeschichte, eng lische Geschichte, Militärgeschichte, klassische Ge schichte. Alle Klassiker waren vorhanden, sowie die Werke von Plato, Aristoteles und Der Peleponnesische Krieg von Thukydides, ein weiteres Geschichtsbuch. Er fand die Schauspiele von Shakespeare und Marlowe und eine Sammlung von Gedichten aller Romantiker. Es gab ein Buch mit kolorierten Abbildungen von William Blake, und gleich daneben einen Band seiner Gedichte. In einer anderen Abteilung fand er Homer und Virgil und Ovid, die nordischen Sagas, Chaucer und Bunyan und Jean de Meun. Er trat ehrfürchtig zurück und legte einen Finger auf die Lippen. Er hatte noch nicht ein Viertel des Raumes hinter sich gebracht. Seufzend wandte er sich zurück zu Annabelle. Sie bemerkte es nicht, so tief war sie in die Lektüre des offenen Buches auf ihrem Schoß versunken. Er bekam keine Gelegenheit, sie zu fragen, was es war. »Es war vor so manchem und manchem Jahr«, sagte die Stimme seines Vaters vom Eingang her. »... in dem Seereich, nicht weit von hier, daß ein Mädchen dort lebte, wunderbar, mit Namen Annabel Lee: und dies Mädchen es lebte dem einzigen Sinn, mich zu lieben, wie ich liebte sie.«
Der Baron betrat die Bibliothek, und ein schwaches Lächeln huschte ihm übers Gesicht. Er hatte die braune Samtjacke gegen einen Smoking aus weicher, strahlend blauer Seide vertauscht. In der einen Hand hielt er eine noch nicht entzündete Pfeife, in der anderen einen klei nen Tabaksbeutel. Annabelle schloß das Buch, das sie in der Hand hielt, und markierte dabei die Seite mit dem Zeigefinger, dann wandte sie ihrem Gastgeber mit eisi ger Miene das Gesicht zu. Sie machte sich jedoch nicht die Mühe, die Füße vom Tisch zu nehmen.
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»Denn der Mond mir nicht blinkt, ohn' daß Träume er bringt...« Sie sprach gleichmütig und begegnete dem Blick des Barons ohne zu blinzeln. »... von der lieblichen Annabel Lee; in den Sternen gewahr ich die Augen klar meiner lieblichen Annabel Lee; und so lieg alle Nachtzeit ich wachend zur Seit' meiner Lieb', der ich lebte, die einst ich gefreit, in dem Grabe, nicht weit von hie — in der Gruft,nicht weit von hie.«*
Sie nahm daraufhin die Füße vom Tisch und stand auf. »Ich hab' mir nie viel aus Poe gemacht«, verkündete sie, »und besonders wenig aus diesem Gedicht.« Baron Tewkesbury ließ sich schwer in dem anderen Ledersessel nieder und legte den Tabaksbeutel auf den Tisch. Er beugte sich vor, tippte mit dem Pfeifenkopf auf die Handfläche und griff nach dem Beutel. »Aber es ist ein wunderschönes Gedicht, meine Liebe, voll von Ro mantik und Geheimnis.« »Diese Annabel stirbt«, erklärte Annabelle und warf Clive einen Seitenblick zu, als er sich ihr gegenüber an die Seite seines Vaters stellte. »Und der Freund tickt doch nich' richtig. Legt sich zu ihrem toten Körper ins Grab? Daß ich nicht lache! Außerdem werden unsere Namen unterschiedlich geschrieben.« Sie zog sich zur Tür zurück und drückte dabei das Buch mit beiden Ar men an die Brust. »Nun, wenn ihr mich entschuldigen wollt, ich bin mir sicher, daß ihr beide über allen mögli chen Vater-Sohn-Mist zu sprechen habt, also putz' ich die Platte.« * Alle Poe-Zitate aus: Edgar Allan Poe, Gedichte — Poems. Vollstän dige zweisprachige Ausgabe. Deutsch von Arno Schmidt und Hans Wollschläger. DTV, München 1986; Copyright Walter-Verlag AG, Ölten 1973
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Sie zog die Tür zu, nachdem sie gegangen war. Clive nahm den leeren Sessel. Die Kinnlade seines Vaters hing noch immer herab, während er dort die lee re Luft anstarrte, wo Annabelle sich befunden hatte. Seine Hand war auf halbem Weg stehengeblieben, hatte die Bewegung hin zum Tabaksbeutel nicht ganz vollen det. Langsam richtete er den Blick auf Clive, der sich zu einem breiten Lächeln zwang. »Das ist ein Mädchen, was?« sagte Clive ganz un schuldig. Sein Vater schluckte. »Ohm, ja«, stimmte er zu. »Sehr farbenreiche Sprache. Sehr...« Er schluckte erneut. Dann warf er den Kopf spöttisch herum und klopfte die Pfeife aus. »Sie wird sich an dich gewöhnen«, versicherte ihm Clive. »Sie ist deine Enkelin, diverse ›Ur‹ weggelassen.« Sein Vater schaute ihn an. Die Kinnlade fiel erneut herab, und die Hand zögerte erneut, als sie nach dem Tabak griff. »Was du nicht sagst«, brachte der Baron schließlich hervor. »Das Ergebnis von Nevilles Eskapa den?«
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KAPITEL 15
Zu Hause nie im Leben hatte Clive eine solche Nacht mit Noch seinem Vater verbracht. Herkimer brachte eine kleine Flasche Brandy und zwei Gläser mit feinen Goldrändern und verließ sie wie der, während sie einander gegenübersaßen und sich über den Bibliothekstisch hinweg ansahen, dabei am Brandy nippten und über Clives Mutter sprachen. Er er zählte seinem Sohn jetzt alles, was dieser wissen wollte: Die Farbe ihres Haares, ihre Lieblingsblume, wie die El tern einander kennengelernt hatten, was sie gemeinsam vom Leben erhofft hatten. Lord Folliot beschrieb ihre Hochzeit. Sie hatten auf dem Rasen des Landsitzes der Tewkesburys geheiratet, vor Hunderten von Gästen und nicht weniger als fünf Hochzeitstorten, und all die Notablen der besseren Kreise waren anwesend, sogar der Prinz von Wales, der einen kurzen Glückwunsch der Königin persönlich überbrachte. Ihre Hochzeitsreise hatte sie in die Schweiz, nach Lausanne, geführt, und sie hatten einen ganzen Monat in dieser verschlafenen kleinen Stadt verbracht, einem hübsch gelegenen Ort an den Hängen schneebedeckter Berge. Daraufhin hatten sie eine Blitztour durch sämtliche europäischen Haupt städte unternommen, ehe sie erschöpft nach Erigland zurückgekehrt waren und damit begonnen hatten, sich ihren Haushalt einzurichten. Es war während der Rückkehr nach London gewesen, als die Braut ihm die glückliche Mitteilung gemacht hat te. Sie hätte nicht freudiger erregt über die Neuigkeit sein können und hatten sich auf ein langes und zufrie denes Familienleben eingerichtet, wie es stets die Art der Folliots gewesen war. An diesem Punkt war die
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Brandyflasche halb geleert. Clive starrte in sein Glas, er war wie hypnotisiert von dem bernsteinfarbenen Inhalt, während er das Getränk immer und immer wieder in dem Kristallschwenker kreisen ließ, und er war wie hypnotisiert von dem ruhigen Klang der Stimme seines Vaters. Er fühlte sich unglaublich warm und war tief be wegt. Ein halbes Leben lang hatte er sich gefragt, wie es wohl wäre, tatsächlich seinem Vater so nahe zu sein, zu spüren, daß sich sein Vater um ihn genauso sorgte wie um den anderen Sohn. Clive konnte sich nicht erinnern, daß sich sein Vater ein einziges Mal mehr als zehn Mi nuten lang mit ihm unterhalten hatte, ehe er ihn wegen einer schlechten Note getadelt oder aufgrund eines an deren echten oder scheinbaren Pflichtversäumnisses be straft hätte. Aber jetzt schienen alle Barrikaden zwi schen ihnen auf einmal niedergerissen zu sein, und sie sprachen zum erstenmal von Mann zu Mann, vom Vater zum Sohn, und das Herz wurde ihm plötzlich weit in der Brust. Er wollte den Tisch beiseitestoßen, damit noch nicht einmal diese Barriere zwischen ihnen stand. Er hielt sich jedoch zurück. Sie mußten trotz allem noch etwas die Form wahren. Sein Vater beugte sich vor und füllte erneut die Glä ser, dann lehnte er sich zurück und starrte seinen Sohn einen langen schweigenden Augenblick an. Der Baron nahm einen Schluck, und dann begannen sie erneut. Clive wußte instinktiv, daß noch nicht einmal Neville Folliot das Privileg erhalten hatte, das zu hören, was jetzt zwischen ihnen besprochen wurde. Es konnte nur der Brandy sein, der seinem Vater die Zunge gelöst hat te. Er sprach flüsternd von dem Schmerz, den ihm der Verlust der jungen Braut im ersten Jahr ihres Zusam menlebens bereitet hatte, er sprach davon, wie häufig er nach all den langen Jahren von ihr träumte und wie es ihn in den Nächten nach ihr verlangte. Er hatte niemals eine andere Frau berührt, noch nicht einmal für eine einzige Nacht des Vergnügens, sondern hatte sich allein
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für sie aufgehoben, wenn sie sich im Himmel wieder be gegneten. Er streckte beim Reden die Hände aus. Eine Hand hielt das Glas, während die andere sich sanft in der Luft bewegte, als liebkoste sie das Gesicht eines Geistes, den Clive nicht sehen konnte. Es war eine selt same Pantomime, bei der sich Clive vorbeugte, einen Ellbogen auf das Knie gestützt; und dann sah er die Trä nen, die dem alten Mann die Wangen herabliefen. Clive stockte fast der Atem, und der Schwenker wäre fast seinen betäubten Fingern entglitten. Er hatte seinen Vater niemals weinen sehen, und der Anblick ernüch terte ihn fünf oder sechs Herzschläge lang. Dann tau melte er über die schmale Grenze der Selbstkontrolle, setzte das Glas täppisch nieder und eilte gerade in dem Augenblick um den Tisch, um seinen Vater zu umar men, als der ältere Folliot sich erhob, dasselbe zu tun. Vor der Feuerstelle klammerten sie sich weinend anein ander. »Ich war solch ein Narr!« schluchzte der Baron. »Ver gib mir, mein Sohn, sag, daß du mir vergibst!« »Ich tu's!« schluchzte Clive an der Schulter des Va ters. »Ich vergebe dir! Ich vergebe dir, daß du mich so beschämend betrunken gemacht hast!« Der Baron tät schelte Clive den Rücken, hielt ihn jedoch noch immer eng an sich gedrückt und weigerte sich, ihn jetzt schon loszulassen. »Ja, wir Folliots hatten schon immer einen Hang zur Traube, fürchte ich.« Er schniefte und fuhr Clive mit einer Hand durchs Haar. »Welcher Gedanke, daß es der Flasche bedurfte, uns soweit zu bringen! Ich hielt dich niemals in den Armen, als du noch klein warst. Du wolltest immer, daß ich dich halte. Ich sah es deinen Augen an. Aber ich tat es niemals!« Er legte das Gesicht an das Gesicht seines Sohnes, so daß sich die feuchten Wangen berührten. »Ist schon gut«, flüsterte Clive, als er endlich die Wor te durch die Kehle quetschen konnte, die so zuge schwollen von Gefühl war. Wie merkwürdig fühlte es
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sich an, daß er seinen Vater nach so vielen Jahren trö sten sollte. »Ist schon gut«, wiederholte er. »Wir müssen nicht mehr von der Vergangenheit reden. Wir können gerade hier und jetzt neu beginnen, Vater!« Der Baron hob den Kopf, schniefte erneut und sah ins Feuer. »Ja, wir können von vorn beginnen«, stimmte er zu, »gleich hier.« Er trat ein wenig zurück, zog ein Spit zentaschtuch aus der Jackentasche und wischte sich Au gen und Nase. »Das würde mir gefallen, Sohn.« »Es würde mir gleichfalls gefallen«, sagte Clive und zog sich etwas zurück. »Es muß sehr spät sein«, wurde der alte Mann wieder vernünftig. »Ich hole besser Herkimer, damit er mich zu Bett geleitet.« Er schaute Clive nicht wieder an, sondern stolperte zur Bibliothekstüre. Herkimer stand bereits dort, ohne daß er hätte gerufen werden müssen. Der kleine Frosch diener faßte den Baron beim Arm und half ihm den Kor ridor entlang. Clive stand eine lange Zeit beim Kaminfeuer und ver suchte, das Gewirr von Gefühlen zu sortieren, die ihm im Kopf herumwirbelten. Er fühlte sich wie ein kleiner Junge, der gerade die Anerkennung seines Vaters er rungen hatte, und er fühlte sich wie ein alter Mann, der sich unnötig in Verlegenheit gebracht hatte. Sein ganzes Leben war ein einziger Wettkampf mit seinem Bruder Neville um die Aufmerksamkeit des alten Herrn gewe sen, und er hatte immer verloren. Aber das war vergan gen, vorüber, und der alte Ärger schmolz dahin, als er das Glas aufnahm und den Rest des Brandy austrank. Das Glas seines Vaters stand geleert an der Tischkan te neben der leeren Flasche. Aus einem Impuls heraus, den er nie hätte erklären können, beugte er sich hinüber und stieß damit an. Ein angenehmes Klingen trieb em por, eine süße kristallene Note, die in seine Gefühle ein drang und dort steckenblieb. Er lächelte, und der Raum drehte sich ein wenig, und
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er wußte, daß er etwas zuviel intus hatte. Er mußte wirklich zu Bett, ehe ihn die anderen zu Gesicht beka men. Aber zuerst würde er sich nur einen Augenblick lang hinsetzen. Als er erwachte, pochte es dumpf in seinem Schädel. Er öffnete langsam die verklebten Augen und erkannte das Zimmer als das eigene. Wer hatte ihn zu Bett gebracht? Verschwommene Erinnerungen an einen geduldigen Smythe tauchten auf. Sein ehemaliger Bursche hatte ihn nach oben gebracht, wenn er sich recht erinnerte. Er faßte sich an den Kopf und wimmerte. Er taumelte aus dem Bett und hinüber ins Bad. Zu seiner Überraschung war die Wanne wieder gefüllt, und das Wasser war heiß. Er glitt vorsichtig hinein, kniete sich hin und atmete tief ein. Dann tauchte er den Kopf unter Wasser. Fünfzehn Minuten Waschen und Schrubben sorgten dafür, daß er sich fast wieder menschlich fühlte. Ein sanftes Abrubbeln mit dem Handtuch und eine Rasur taten ihr übriges. Er überprüfte sein Erscheinungsbild in einem Handspiegel, der neben der Wanne lag, und glättete die Haare seines allmählich dichter werdenden Schnurrbarts. Fast wie nebenbei überprüfte er die Wunde am Ober schenkel und erlebte die zweite Überraschung des Mor gens. Da war nichts weiters als eine rosafarbene Narbe quer über dem Muskel, und die Schmerzen waren völlig verschwunden. Er erinnerte sich jetzt wieder daran, wie ihm Annabelle unter dem Tisch das Bein gedrückt hatte, was überhaupt nicht geschmerzt hatte. Er eilte ins Zim mer und stellte sich vor den großen Spiegel. Die meisten der Schrammen waren spurlos verschwunden. Er entnahm dem Schrank frische Kleidung, zog sich an und ging nach unten. Im Korridor fand er Herkimer vor. Der kleine Frosch trug eine Schürze und fuhrwerkte mit einem Federwisch herum. »Sie müssen hungrig
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sein, hungrig sein, Clive Folliot«, sagte das Wesen. »Ich werde das Frühstück ins Speisezimmer bringen, ins Speisezimmer bringen.« Mit diesen Worten hüpfte Her kimer davon. Clive fand das Speisezimmer mühelos und setzte sich. Herkimer trat durch die Seitentür ein und trug ein Tablett mit warmen Brötchen, Butter und Marmelade, einer Käseplatte und einer Kanne heißen Tees. Es war jedoch ein anderer Herkimer, der ihn bediente, zumin dest der weißen Bäckerkleidung und der Mütze nach zu urteilen, die der kleine Frosch trug. Er sah zu, wie der unbeholfene kleine Diener verschwand, und schmierte sich das erste Brötchen. »Also sind Sie schließlich doch aufgewacht, Sör.« Ho race Hamilton Smythe sah ihn von der Türschwelle aus an und wagte sich dann hinein. Clive winkte ihm mit dem Buttermesser zu.» Ich erin nere mich dunkel daran, daß du mich zu Bett gebracht hast, Horace«, sagte er leicht beschämt. »Hoffe, ich war nicht zu schwer.« »Ein paar Liter mehr als gewöhnlich, Sör«, entgegne te Smythe munter. »Nicht der Rede wert.« »Du bist ein Vorbild, Horace«, antwortete Clive. Er zeigte auf die Brötchen. »Bitte, bedien dich.« Horace erklärte, daß sie schon gefrühstückt hätten, ein weit umfangreicheres Mahl als das, das vor Clive stand. Er steigerte sich in die Beschreibung der Mengen von saftigem Schinken und Würstchen, von Eiern, Bröt chen und Soßen hinein, bis Clive ihn zum Schweigen brachte. Allein bei der Beschreibung eines dermaßen schweren Essens wurde ihm übel. »Wo sind die anderen heute morgen?« fragte er plötz lich. Herkimer und Horace waren die einzigen, die er bis jetzt gesehen hatte. »Nun, Sör, also ›morgen‹ ist ein relativer Ausdruck, in der Tat.« Er erhob sich, ging zu dem Fenster am anderen Ende des Speisezimmers und zog einen Vorhang zu
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rück. Draußen war es so schwarz wie eh und je. »Was die anderen betrifft«, fuhr Smythe fort, »sie sind alle mit ganz verschiedenen Dingen beschäftigt, um sich die Zeit zu vertreiben. Sidi und Tomàs wandern draußen herum. Finnbogg ist bei ihnen. Chang Guafe erzählte was davon, daß er einen Systemcheck mit seinen Sen sor-Stromkreisen durchführen wollte, was das auch im mer heißen mag, und er hält sich in seinem Zimmer auf. Shriek und Neville befinden sich ebenfalls in ihren Zim mern. Neville war ziemlich ruhig, wirklich, und Shriek ist seit dem Essen vom vergangenen Abend nicht her ausgekommen.« »Laßt sie in Ruhe«, sagte Clive ruhig. »Sie unter nimmt etwas für mich.« Er hatte bereits entschieden, daß es nicht gut wäre, den anderen von Shrieks Entdek kung zu erzählen. Sie konnten nichts gegen einen Feind unternehmen, den sie nicht sehen konnten, und sie wä ren alle weniger gereizt, wenn sie nichts davon wüßten. Gerade jetzt war's an der Zeit, sich zu entspannen, die erste Gelegenheit hierfür seit langem auszunutzen. Er würde es ihnen bald sagen, aber nicht jetzt. »Was ist mit Annabelle?« fragte er. Horace tunkte einen Finger in die Marmelade und steckte ihn in den Mund. Er schmatzte. »Schmeckt so gut wie alles in London«, bemerkte er. »Kann mir nicht vorstellen, wie er das hierherkriegt.« Er probierte noch einmal, sah sich dann hastig um und wischte sich die Hand am Tischtuch ab. »Annabelle, nun ja, sie is' in der Bibliothek, seitdem sie aufgewacht is', Sör. Sie hat tat sächlich dort ihr Frühstück eingenommen. Un sie is' im mer noch da, soweit ich weiß. Verliebt in all diese Bü cher, ja.« Clive schmierte sich ein weiteres Brötchen und trank etwas Tee. »Hast du meinen Vater gesehen?« fragte er. »Nein, Sör, aber ich geh' davon aus, daß er auch sei nen Teil von dem Brandy intus hatte, un' er is' nich' so jung wie Sie, auch wenn er das von mir gar nich' gern
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hören würd'.« Smythe zögerte, setzte die Ellbogen auf den Tisch, verschränkte die Hände und legte das Kinn darauf. »Haben Sie ihn wegen dem Tor gefragt, Sör? Sie wissen, wegen der nächsten Ebene?« »Nein«, antwortete Clive zögernd. »Noch nicht. Aber wir haben noch Zeit. Wir werden wohl eine Weile lang hierbleiben, Horace. Nicht lange, aber lange genug, daß wir uns ein wenig ausruhen können. Wir sind alle mü de, und bislang hatten wir nur einen Kampf nach dem anderen durchzustehen. Wir können ein ruhiges Zwi schenspiel gebrauchen. Ich frag' ihn jedoch heute abend.« Kurz danach trennten sie sich. Da Ruhe ange sagt war, beabsichtigte Horace, etwas davon mitzube kommen, und er ließ Clive am Fuß der Treppe stehen. Clive seinerseits ergriff die Gelegenheit, das übrige Haus zu erkunden. Er fand ein wunderschönes Wohn zimmer mit Möbeln aus der Zeit von Königin Anne. Ei ne schwere Brokattapete mit Pfirsichblütenmuster be deckte die Wände. Ein großes Fenster erregte seine Auf merksamkeit, und er zog die Vorhänge zurück. Draußen trieb die ruhig schimmernde Spirale über den Himmel. Er ließ den Vorhang Herab und wandte sich um. Der Ge ruch nach einer Mischung aus Gewürznelken und Zimt waberte im Zimmer, und er sog den schweren Duft ein. Neben dem Wohnzimmer lag ein Musikzimmer. Vier Konzertharfen standen mitten im Raum. In einer Ecke stand ein Klavier. Er durchblätterte die Notenstapel, die offen auf dem Deckel lagen. Chopin, Brahms, Beetho ven. Er ließ die Finger über die Tasten laufen. Es war so lange her, daß er zuletzt gespielt hatte. Er wußte, daß er nicht besonders gut war. Nichtsdestoweniger setzte er sich hin und unternahm einige Anläufe zu Beethovens Klavierkonzert Nr. 3 in C-Dur, ehe er entmutigt aufgab. Er sah sich beschämt um, um sich zu vergewissern, daß ihm niemand zugehört hatte, schloß dann ruhig den Deckel über den Tasten und verließ das Zimmer.
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Danach kehrte er ins eigene Zimmer zurück. Das Hämmern im Kopf war zu einem leichten, wenngleich ständigen Druck geworden. Ein Nickerchen, dachte er, würde Erleichterung verschaffen. Herkimer weckte ihn mit einem Klopfen an der Tür auf. Sein Nickerchen hatte bis zur Essenszeit gedauert. Er ging nach unten, begierig darauf, seinen Vater erneut wiederzusehen. Das Mahl verlief ziemlich wortkarg. Fast jeder war während des Essens mit den eigenen Gedanken be schäftigt. Annabelle hielt die ganze Zeit über ein Buch auf dem Schoß und beantwortete Fragen lediglich ein silbig oder mit einem Grunzen. Neville sah verdrossen drein und sprach so gut wie kein Wort. Tomàs, Sidi und Finnbogg unterhielten sich miteinander, genau wie Cli ve und Baron Tewkesbury, während Chang Guafe jedes Wort einsaugte, das der alte Mann sprach. Shriek aß auch diesmal wieder in ihrem Zimmer. »Heute abend wird es ein wenig Unterhaltung ge ben«, kündigte der Baron an, nachdem der letzte Bissen verspeist war. Auf seine Anweisung hin trugen sie ihre Teetassen oder Weingläser in das Musikzimmer und setzten sich auf die Sessel, die offensichtlich erst kürz lich aufgestellt worden waren. Als es sich alle gemütlich gemacht hatten, kamen die vier völlig gleich aussehenden Herkimers in Reih und Glied herein. Sie trugen identische Dinnerjackets und setzten sich hinter die vier Harfen. Die Instrumente sa hen im Vergleich zu ihnen riesig aus, aber sie berührten im Gleichtakt die Saiten, und die süßen Töne von Beet hovens Sonata Nummer 14 in Cis-Moll erfüllten den Raum. Die Musik entzückte Clive, der seit langem die Mond schein-Sonate zu seinen Lieblingsstücken zählte, aber Annabelle neben ihm legte das Buch nieder und barg die untere Gesichtshälfte in den hohlen Händen. Sie kämpfte dagegen an, laut aufzulachen, und zuckte da
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bei unter kaum zurückgehaltenen Ausbrüchen von Ge kicher. »Magst du Beethoven nicht?« fragte Clive flüsternd, während er sich zu seiner Enkelin hinüberbeugte. »Ich habe ihn zuvor noch nie auf Harfen gehört. Es ist ent zückend!« Ein weiterer Anfall packte Annabelle, als sie ihn mit weitgeöffneten Augen ansah und dabei die Hand fest über den Mund gelegt hielt. Belustigung flackerte in ih ren dunklen Augen. »Entzückend?« wagte sie zu mur meln. »Das ist's, Cliveli!« Sie sah zu den vier Ausfüh renden hinüber und löste die Finger lange genug, daß er sie verstehen konnte. »Zupf dein magisch' Quaken, Fröschlein!« flüsterte sie. Sie nahm rasch das Buch vom Schoß und barg das ganze Gesicht dahinter, während es sie vor unterdrückter Heiterkeit schüttelte. Der Baron zu Clives rechter Seite tippte ihm mit der Fingerspitze auf den Handrücken und warf ihm einen ernsten Blick zu. Danach achtete Clive nicht mehr auf Annabelle und setzte sich zurecht, um das Konzert zu genießen. Mittendrin stand Neville plötzlich auf und verließ das Zimmer. Clive biß sich auf die Lippen, während er Neville nachsah, aber bei den ersten Tönen von Bachs Arioso vergaß er seinen Zwillingsbruder. Nach Ende des Konzerts kehrte jeder in das Speise zimmer zurück, zum Dessert und zu weiterer Unterhal tung. Anschließend nahm sie der Baron alle mit zu einer Führung durch das Haus, wobei er sich entschuldigte, daß er das nicht schon früher getan hatte. Leichte Kopf schmerzen, erklärte er. Smythe hustete und grinste Cli ve an, und Tomàs kicherte ganz offen. Nach dem Rundgang lösten sich Clive und sein Vater von den übrigen. Sie sprachen erneut miteinander, während sie ziellos durch die Korridore und Zimmer des Familiensitzes wanderten, diesmal ohne die Unter stützung von Alkohol. Clive erzählte seinem Vater von
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den Jahren in Sandhurst, von den Freundschaften, die er dort geschlossen hatte, und von seinen Studien in Li teratur und Geschichte. Dann sprach er über sein Leben beim Militär, über seine Karriere bei der Armee, über die Zeit, die er in Madagaskar verbracht hatte, und über die Beförderung zum Rang eines Majors. Der Baron hörte aufmerksam zu wie ein freundlicher Vater, schüttelte regelmäßig den Kopf und schalt sich selbst dafür, daß er seinen Sohn für so lange Zeit unbe achtet gelassen hatte. Nach einer Weile wanderten sie hinaus in die Dunkel heit. Die Spirale über ihren Köpfen erleuchtete den Weg, während sie zum Rand des Gipfels gingen. Der Wind blies ihnen ins Gesicht, als wollte er sie zurück treiben, aber sie blieben fest und starrten hinaus. In weiter, weiter Ferne glaubte Clive, den verschwomme nen orangefarbenen Schein des feurigen Landes auszu machen, das sie durchquert hatten. Eine weite See von Dunkelheit breitete sich zwischen diesem Land und dem Berggipfel aus. Schließlich berichtete Clive seinem Vater von Miß Annabella Leighton und wie er in ihr die Liebe seines Lebens gefunden hatte. Sie stammte aus guter Familie, erklärte er, wenngleich sie nicht von adeliger Herkunft war. Ihm machte das nichts aus. Sie ernährte sich, in dem sie Literatur an einer Schule für wohlhabende Mädchen von Adel unterrichtete, sie wohnte in einer kleine Mansarde in Plantagenet Court, und Clive hatte sie vor langer Zeit heiraten wollen. Nur seine Armut hatte ihn daran gehindert, denn er fühlte, daß das schmale Salär eines Majors zu viele Opfer von einer jungen Dame erfordert hätte. »Und du hast eine Liebschaft mit dieser Frau unter halten?« fragte sein Vater mit hochgezogenen Brauen. Clive wußte, worauf er hinauswollte, und er hob stolz den Kopf, wenngleich auch ein wenig trotzig. »Wir lieb ten einander«, sagte er verteidigend. »In dem, was wir
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taten, war keine Sünde und mit Sicherheit keine Schan de.« Dann senkte er den Kopf. »Die Schande liegt darin, daß ich sie verließ, um Neville zu suchen. Ich wußte nicht, daß sie unser Kind trug, ich schwöre es, ich wußte es nicht, und ich gebe auch zu, daß ich sogar begierig darauf war, die Reise zu unternehmen, denn sie bot mir die Möglichkeit, eine Weile lang von England wegzu kommen. Ich dachte, ich wäre vielleicht in der Lage, mein Glück zu machen und mit genügend Geld zu ihr zurückzukehren und sie dann zu heiraten.« Er sah weg und schüttelte traurig den Kopf. »Es hat nicht so sein sollen. Zumindest nach dem, was Annabelle erzählt.« »Deine Ur-Ur-Enkelin?« fragte sein Vater. »Deine Ur-Ur-Ur-Enkelin«, entgegnete Clive. Er starrte hinauf zu der Spirale, nahm dabei in Kauf, daß die wirbelnden Gase und die verwirrenden Sterne ihm die Sinne rauben könnten. Er hoffte fast, daß sie dabei Glück hätten und den Schmerz in ihm betäuben wür den, der ihn plötzlich erfüllte. »Sie sagt, daß es mir nie mals gelungen ist, nach London zurückzukehren, sie sagt, daß ich genau wie Neville in Afrika verschwunden bin. Keiner von uns ist je zurückgekehrt.« Der Baron legte Clive sanft die Hand auf die Schulter. Dann zog er seinen Sohn näher zu sich heran und um armte ihn. »Weil du dein Zuhause hier gefunden hast«, flüsterte er Clive ins Ohr. »Wir sind jetzt zusammen, Neville und du und ich. Das allein zählt. Es gibt keinen Weg aus dem Dungeon. Ich weiß es. Ich habe ihn zu fin den versucht. Das hier ist jetzt unser Zuhause, Clive, genau hier, und wir müssen das Beste daraus machen.« Er hielt Clive auf Armeslänge vor sich und sah seinen Sohn lange an. »Dies ist unser Zuhause«, wiederholte er mit Nachdruck. Clive umarmte zitternd seinen Vater. »Unser Zuhau se!« stieß er hervor und wünschte sich, er könnte es glauben.
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KAPITEL 16
Blutsverwandte und Land draußen blieben schwarz und be Himmel drohlich. Nur die bleiche Spirale spendete ein we nig Licht, während sie sich langsam, so langsam am Himmel dahinbewegte. Clive lernte, die Tage anhand der Essens- und Schlafenszeit zu zählen. Er verbrachte immer mehr Zeit mit dem Vater. Sie sprachen miteinander und spielten Schach im Wohn zimmer, oder er spielte Klavier, während ihm sein Vater zuhörte und erfreut darüber war, wie rasch er zu impro visieren verstand. Manchmal tranken sie in der Biblio thek am Kamin ein Glas Wein miteinander oder sie sa ßen bei Tee und Gebäck im Speisezimmer. Manchmal gingen sie Seite an Seite am Rand des Berggipfels ent lang oder einen der leichteren Pfade an der anderen Sei te hinab. »Ich kann jetzt viel weiter sehen«, vertraute ihm der Vater an. »Bis zum Rand der Welt, wenn ich mich kon zentriere. So sah ich euch, wie ihr euch dem Danteschen Tor nähertet. Das ich persönlich errichtet habe, weißt du. Eine Art Scherz, um die Einsamkeit etwas zu lin dern, die ich verspürte, als ich zuerst hierherkam.« Er berührte seinen Sohn am Arm. »Jetzt werde ich niemals mehr einsam sein.« Clive sah immer weniger von seinen Freunden. Ne ville hielt sich zumeist in seinem Zimmer auf und kam nur zum Essen heraus, oder um ein wenig mit Annabelle in der Bibliothek zu plaudern, oder um für sich allein draußen vor dem Haus umherzuwandern. Wenn er überhaupt mit seinem Vater sprach, war's mit brüsker Gleichgültigkeit oder kaum verhohlenem Ärger. Annabelle vergrub sich in der Suche nach irgend et
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was. Sie zeigte sich zu den Mahlzeiten gewöhnlich mit einem Buch in der Hand. Sonst konnte man sie lesend in der Bibliothek oder auf ihrem Zimmer finden. Shriek zeigte sich überhaupt nicht. Die Arachnida versagte es sich sogar, die Mahlzeiten zu sich zu neh men, die Herkimer ihr vors Zimmer stellte. Clive wagte es einmal, bei ihr vorbeizuschauen, und er fand sie tief in Trance versunken. Sie erhob sich lange genug, um ihm zu versichern, daß mit ihr alles in Ordnung wäre, und sie bat ihn zu gehen. Er belästigte sie nicht mehr. Was die übrigen betraf, so wußte er wirklich nicht, wie sie die Zeit verbrachten. Sie irrten teilnahmslos um her, und Clive verspürte allmählich eine allgemeine Rastlosigkeit bei seinen Freunden. Dennoch verschwen dete er noch immer wenig Gedanken an diese Angele genheit, und als ihn Horace Hamilton Smythe eines Abends nach dem Essen auf seinem Zimmer aufsuchte und ihm mitteilte, er wäre jetzt wahrscheinlich für eine Weile verschwunden und er solle sich keine Sorgen ma chen, hob Clive nur die Schultern. Wenn sein Sergeant einige der anderen Bergpfade erkunden wollte, sah er keinen Grund, warum er's nicht tun sollte. Smythe war ein fähiger Mann. Beim Abendessen des folgenden Tages drückte Chang Guafe seine stille Unzufriedenheit über die Ent scheidung, Smythe gehen zu lassen, in Worten aus. »Da ist noch immer die Angelegenheit mit Sergeant Smy thes Kopf«, erinnerte er sie. »Wir sind damit noch im mer nicht völlig fertig. Statt dessen haben wir ohne Be weis des Gegenteils angenommen, daß ihm allein das Wissen um die Implantate ermöglichte, Einflüssen von außerhalb zu widerstehen. Aber wie können wir uns si cher sein, daß er uns aus eigenen Beweggründen verlas sen hat? Wir wissen nicht, wer ihm die Gründe in den Kopf gepflanzt hat, oder warum.« Als Clive den Einwand beiseite wischte, brachte der Cyborg einen weiteren, heikleren Streitpunkt ins Spiel,
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indem er nämlich offen die Frage zur Debatte stellte, ob Clives Entscheidung sinnvoll gewesen war. »Vielleicht, Clive Folliot«, forderte er ihn heraus, »geht es dir hier allmählich zu gut.« Der Baron trat jedoch dazwischen, um einer Diskus sion vorzubeugen, und er befahl Herkimer, die beson dere Überraschung zu servieren, die er vorbereitet hatte — heiße Schokolade mit Konfekt. Es schmälerte den Genuß nicht, daß die Lufttemperatur ungemütlich warm war. Es war einfach eine Köstlichkeit. Am folgenden Morgen gingen Clive und sein Vater in der Nähe der Bibliothek an Neville vorüber. Neville schloß das Buch, das er in der Hand hielt, und warf dem Baron einen neugierigen Blick zu. »Kannst du mir mal helfen, Vater«, sagte er mit einer Leichtigkeit, die Clive darauf hoffen ließ, daß sich die Laune seines Bruders gehoben hätte und daß sie alle drei eine nette Zeit mit einander verbringen könnten. »Ich versuche, mich an den Namen des Hundes unseres Kindermädchens zu erinnern.« Clive stieg bei der Anspielung seines Bruders vor Entsetzen die Hitze in die Wangen, aber der Baron ant wortete gleichgültig: »Also, du überraschst mich sehr, Neville. Wie kannst du so etwas vergessen? Die arme Frau hat dir die ersten Windeln angelegt! Er war natür lich Tennyson.« Beider Blicke schlossen sich einen Augenblick lang fest ineinander. »O ja, natürlich«, sagte Neville und be rührte das Kinn mit einem Finger, während er einen ge dankenvollen Blick vortäuschte, als er das Buch unter den Arm klemmte. »Wie dumm von mir!« Sein Blick flackerte hinüber zu Clive, und es lag etwas darin, das sein Bruder nicht verstand. Dann wandte sich Neville ab und ging die Treppe hinauf. Später ging Clive mit seinem Vater an der versteiner ten Hecke entlang. »Ich sandte Samedi aus, euch durch alle Gefahren zu mir zu führen«, sagte der Baron. »Ich
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werde den kleinen Mann vermissen. Weil ich ein Baron war, wollte er gleichfalls einer sein. Baron Samedi nann te er sich, aber ich nehme an, daß du das weißt. Und was soll's auch? Was bedeutet so etwas im Dungeon?« Er sah bei der Erinnerung traurig aus. »Woher kam er?« fragte Clive nebenbei. Der Baron hob die Schultern. »Wir sind hier nicht al lein, Clive. Da gibt es weitere Wesen.« »Die Dämonen?« Tewkesbury nickte und flüsterte: »Und nicht nur die. Aber sie halten sich fern. Sie lassen mich in Ruhe.« War es wegen der Dunkelheit, fragte sich Clive und schlug die Arme um sich, daß der Mann flüsterte? Er trat einen Schritt zurück, sah seinen Vater an und maß die riesige Silhouette gegen die Schatten der drohenden Berggipfel. Als sich der alte Mann ihm zuwandte, fing sich das Licht der Spirale in seinen Augen und verlieh ihnen einen merkwürdigen katzenähnlichen Glanz, bei dem es Clive unerwartet schauderte. Der Vater mußte seine Reaktion gesehen haben. »Ich bin jetzt Teil dieser Welt, Sohn. Ich will noch nicht ein mal mehr nach London zurückkehren. Ich habe mich völlig verändert, und dort gibt es keinen Platz mehr für mich.« Sie standen am Rand des hohen Berggipfels, und der heiße Wind blies ihnen ins Gesicht, während der Baron die Hand spreizte. »Deine armseligen Augen können nicht sehen«, sagte er, »aber unter uns liegen Welten. Du hast die Hölle des Feuers und die Vorhölle des Ne bels gesehen, und du hast den kochenden Fluß Phlege ton überquert, um zu mir zu kommen. Aber unter uns liegen das Königreich des Eises, die Hölle des Sumpf landes und die Hölle des Schlamms und mehr Höllen, als sich selbst ein Dante erträumt oder vorgestellt hat.« Er faßte seinen Sohn bei der Hand und zog ihn näher zum Rand. Die Dunkelheit wirbelte um sie her, als wäre sie lebendig, und der Wind rauschte Clive in den Ohren.
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»Das gehört dir, mein Sohn. Uns, denn wem ich es ge ben will, dem gebe ich's.« Clive trat zitternd zurück, war sich der Worte nicht si cher, die ihm in den Ohren brannten. War's die Stimme des Vaters, oder war's der Wind? Warum vermochte er nicht zu denken? Er mußte denken! Er löste die Finger aus dem Griff des Vaters. »Laß uns wieder hineingehen!« sagte er. »Natürlich«, antwortete der Vater. »Ich bin mir sicher, daß noch ein wenig Schokolade übriggeblieben ist.« Clive fühlte sich jedoch seltsam müde nach der Scho kolade. Er kehrte wortlos in sein Zimmer zurück und schlief bis zum Abendessen. Nur einmal erwachte er. Die Laken waren schweißdurchtränkt, und in seinem Kopf pochte es wegen eines Traumes, an den er sich nicht mehr erinnern konnte. Zum Glück weckte ihn ein Klopfen an der Tür. Er rief, und Finnbogg spähte um den Türrahmen herum. »Cli vefreund wach?« fragte er völlig überflüssigerweise. Clive stützte den Rücken am Kopfteil des Betts ab und winkte den Freund herein. Finnbogg benahm sich sehr merkwürdig, als er sich auf einen der Stühle setzte. Er sah von einer Seite zur anderen, als wollte er Clives Blick ausweichen. Er klopf te mit dem Fuß auf den Boden und zog die Spitze einer Klaue nervös über den Bezug der Armlehne des Stuhls. »Was ist los, alter Freund?« fragte Clive, denn Finn bogg hatte ganz offensichtlich etwas auf dem Herzen. Das Hundewesen rieb sich mit dem Rücken einer Klaue die Nase und räusperte sich mit einem heftigen Äähämmm. »Okay«, sagte er schließlich. »Finnbogg versprach Clivefreund helfen finden Clivefreunds Ge schwister, Neville Folliot. Neville Folliot jetzt gefunden, okay?« Er machte eine Pause und räusperte sich erneut. »Aber wir finden nicht nur Clivefreunds Geschwister, sondern Clivefreunds Herr. Glücklich für Clivefreund ist Finnbogg bei diesem frohen Wiedersehen!« Er stand
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auf und ging am Fußende des Betts auf und ab. »Aber jetzt Finnbogg denkt an Finnbogg Geschwister. Finn bogg ist auch einsam! Wo sind Finnbogg Geschwister?« Er blieb direkt vor Clive stehen. Der Ausdruck auf dem Gesicht war so traurig und ergreifend, daß Clive schließlich beiseite sah. »Wann gehen wir endlich, Clivefreund?« bat Finn bogg inständig. »Wann gehen wir?« Clive verließ das Bett, ging zu seinem Freund und legte Finnbogg beide Hände auf die muskulösen Schultern. »Bald, Finnbogg, bald«, antwortete er und spürte, wie sich ihm beim Sprechen die Brust zuschnürte. »Aber jetzt noch nicht«, fügte er hinzu. »Nur noch ein wenig Zeit. Nur noch ein wenig Zeit.« Finnbogg akzeptierte das und ging. Clive ging ins Bad und wusch sich das Gesicht. Dann nahm er den Handspiegel und betrachtete lange Zeit sein Spiegel bild. Der Schnauzbart war voll und hübsch ausgewach sen. Dennoch mißfiel ihm das Gesicht. Aus einem Im puls heraus griff er nach dem Rasierapparat und wollte sich die Oberlippe rasieren. Er schaute erneut sein Spie gelbild an und prüfte genau, was er da sah. Es fühlte sich falsch an. Alles fühlte sich falsch an! Er warf den unbenutzten Rasierer und den Spiegel zu Boden und zerbrach beides. Er zog sich um, wählte weiche Khakihosen und ein weißes Hemd und zog die Stiefel über. Ohne es zu wol len, schlug er beim Hinausgehen die Tür hinter sich zu. Annabelle befand sich auf halben Weg den Korridor hinunter, und sie trug einen Stapel Bücher. »Clive!« rief sie ihm mit gedämpfter Stimme zu. »Wir müssen jetzt miteinander reden. Ich hab meine Platte überladen, und du hörst jetzt besser dem Output zu.« »Jetzt nicht«, murmelte er und ging hinüber zur Tür seines Bruders. »Clive!« beharrte sie.
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Er fuhr herum. »Ich hab' gesagt: ›Jetzt nicht! ‹, ver dammt noch mal!« Mit diesen Worten stieß er die Tür zu Nevilles Zim mer auf, ohne sich mit Anklopfen aufzuhalten, und warf sie wieder hinter sich zu. Neville saß im Bett mit dem Rücken ans Kopfteil ge lehnt, fast so wie Clive zuvor. Aber er hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt, während er in die Luft starrte, und ein Buch mit Gedichten lag offen auf sei nem Schoß. Mit verblüffender Selbstsicherheit und Ru he drehte er langsam den Kopf zur Seite und sah seinen Zwillingsbruder an. »Nun, kleiner Bruder ...« Clive ließ ihm keine Möglichkeit zu sprechen. »Was, in Gottes Namen, ist los mit dir?« wütete er. »Was hast du eigentlich gegen Vater? Du hast für ihn kein einziges nettes Wort übrig, kein einziges! Du beleidigst ihn bei Tisch, und du bist rüde ihm gegenüber, wo du nur kannst! Und ich möchte wissen, warum!« Neville schloß geduldig das Buch und legte es beisei te. Er schwang die Beine aus dem Bett und stand auf. »Ich versteh dich einfach nicht, Neville!« fuhr Clive wutentbrannt fort. »Er hat dir alles gegeben, und du be handelst ihn so? Du warst immer sein Liebling. Er gab dir alles, was du ...« »Hör auf, Clive. Du hast keine Ahnung, wovon du re dest.« Aber Clive wollte nicht aufhören. Sein Kopf fühlte sich an, als wäre er dabei zu explodieren, und das Ge sicht brannte, während er die Faust unter der Nase des Bruders schüttelte. »Er hat dir gottverdammt noch mal alles gegeben!« fuhr er fort. »Und ich habe nichts be kommen! Ich hatte keinen Vater, und ich hatte auch kei nen Bruder! Ihr beide wart viel zu sehr damit beschäf tigt, es euch gutgehen zu lassen, als daß ihr euch meiner Gegenwart erinnert hättet! Jetzt finden wir ihn hier. Er hat uns erwartet, um Gottes willen! Und schließlich
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nimmt er zum erstenmal in meinem Leben meine Exi stenz zur Kenntnis, und du benimmst dich bei allem wie ein selbstgefälliger Idiot!« Nevilles zur Schau gestellte Geduld schmolz allmäh lich dahin. Er ballte die Fäuste zu beiden Seiten, und sein Gesicht färbte sich. »Du willst ihn so verteufelt gern haben?« fragte er, während er versuchte, den Är ger aus der Stimme zu halten. »Dann nimm ihn doch! Behalt ihn! Es wurde auf jeden Fall Zeit, daß ich gehe. Aber ich sag dir, kleiner Bruder, du warst besser dran, als er dich nicht beachtete. Du mußtest nicht spüren, wie dir sein Arm fest um die Kehle lag!« »Und ich mußte auch nicht spüren, wie meine Hand auf seiner verdammten Brieftasche lag!« schoß Clive zu rück. »Er ist ein Hurensohn, Clive, aber du bist zu dämlich, um das zu begreifen! Er kratzt dir jetzt ein bißchen hin ter den Ohren, und du meinst, daß sich das verdammt gut anfühlt, und vielleicht tut's das ja auch für 'nen Hund, der nach Aufmerksamkeit hechelt. Aber du tust verdammt gut daran, rasch zu lernen, ihm das Stöck chen zu bringen, wenn er dir's befiehlt, und du wirst ihm verdammt schnell seine Hausschuhe apportieren!« Neville schritt zum anderen Ende des Zimmers und brachte so etwas Entfernung zwischen sie beide. »Du hast keine Ahnung, wie er wirklich ist, kleiner Bruder!« rief Neville. »Du hast ja nur die Vergünstigungen gese hen, von denen du geglaubt hast, daß er sie mir ver schafft hätte! Du weißt ja gar nicht, wie sehr er einen Mann stoßen und antreiben und erdrücken kann! Si cherlich, er hat dich nach Sandhurst und mich nach Ox ford geschickt. Ich hab' die bessere Schule bekommen, und das liegt dir im Magen, zweifellos. Aber er hat diese gottverfluchte Schule für mich ausgesucht, ohne mich jemals um meine Meinung zu fragen! Er hat meine Un terrichtsfächer für mich ausgesucht und meine Lehrer. Ich studierte das, was er wollte! Und als die Schule vor
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bei war, hat er mich in die Armee gesteckt. Er hat sogar das Regiment ausgesucht und an den Strängen gezo gen, um zu sehen, wie ich mich da wieder rauswinde. Es spielte keine Rolle, was ich wollte! Du denkst, du kennst mich? Du hast ja keine Ahnung, wie mein Leben aus sah. Du weißt überhaupt nichts? Du bist nur 'n kleiner blöder Furz, der glaubt, um was betrogen worden zu sein!« Clive zitterte vor Wut, als er da seinem Bruder gegen überstand. Schön, er wußte zumindest etwas, er wußte nämlich, daß das hier einmal kommen mußte, und er hatte nicht die Absicht, sich jetzt zurückzuhalten. »Ich wurde betrogen!« schrie er zurück, und die Wor te stachen wie scharfe Messer. »Du hättest dich jederzeit umdrehen und sagen können: ›Vater, laß uns Clive doch auch zum Fischen mitnehmen.‹ Aber du hast das nie mals getan. Du mochtest es, wenn du ihn ganz für dich hattest!« Neville stieß mit dem Finger nach ihm. »Du hast Glück gehabt, daß er dich links liegengelassen hat, Bru der! Er hat dich in Ruhe gelassen. Ja, ich hab' vielleicht 'n bißchen mit der Verwandtschaft geprotzt, das streite ich nicht ab. Aber das war, weil ich dich um deine Frei heit beneidete! Du konntest doch praktisch tun und las sen, was du wolltest! Es hat ihn überhaupt nicht ge kümmert. Aber er saß mir ständig im Nacken. Warum, glaubst du, hab' ich angefangen, soviel zu reisen? Selbst in der Armee konnte ich ihn nicht loswerden. Nicht, bis ich mich freiwillig nach Indien meldete. Nicht, bis ich nach Amerika ging. Die Welt war das einzige, was ich zwischen ihn und mich legen konnte! Warum, glaubst du, bin ich nach Afrika gegangen, du dummer Sack?« »Nenn mich nicht einen dummen Sack!« Ehe Clive überhaupt wußte, was er da tat, schlug er seinen Bru der. Die Erschütterung des Aufpralls fuhr ihm durch die Faust den Arm hinauf, als Neville über einen Tisch stürzte und Blut aus den geplatzten Lippen spritzte.
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Dann fiel Neville über ihn her. Der Schwung der Be wegung warf sie gegen eine Wand, die unter der Wucht ihres Aufpralls zitterte. Sie stürzten über einen Polster stuhl und wälzten sich am Fußboden. Sterne blitzten Clive vor den Augen, und er spürte den Geschmack des eigenen Bluts im Mund. Er fuhr wild mit beiden Fäusten in die Höhe und hämmerte auf das Gesicht seines Bru ders ein, während er darum kämpfte, Neville von sich wegzustoßen. Irgendwie kamen beide auf die Beine. Clives Herz pochte wütend in der Brust, und ein roter Schleier legte sich ihm über die Augen, aber er sah noch immer gut genug. Als sich Neville reckte, schlug Clive erneut zu und schickte ihn auf die Knie. Aber als er nachrückte, schlug Neville zu. Ein unglaublicher Schmerz explodier te zwischen Clives Beinen, und er sackte am Boden zu sammen. »Ich bin nicht der Marquis von Queensberry, kleiner Bruder!«* zischte Neville, und das Blut sprühte ihm von den Lippen. »Steh auf! Zeig mal, was sie einem heutzutage so in Sandhurst beibringen!« Clives Hand streifte etwas, und er packte und warf es. Die Blätter des Gedichtbandes flatterten wie die Flü gel eines aufgeschreckten Vogels, während es durch die Luft flog und seinen Bruder im Gesicht erwischte. Das gab Clive Zeit zum Aufstehen. Neville, vom Buch un verletzt, warf sich erneut nach vorn und griff nach ihm. Clive packte den nächstbesten Gegenstand, ein Kis sen vom Bett hinter sich, und schwang es mit aller Macht. Neville krachte zur Seite gegen den Schrank, prallte zurück und brach erneut am Boden zusammen, inmitten eines Schauers von Daunen, die in der Luft * Marquess von Queensberry J1844—1900]; überwachte die Erstel lung der ersten Regeln des Boxkampfes, wodurch der Gebrauch von Handschuhen, die Aufteilung des Kampfs in Runden etc. festgelegt wurde — Anm. d. Übers.
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umherwirbelten. Clive sah bestürzt auf das ruinierte Kissen und spuckte aus. Neville wälzte sich gerade rechtzeitig zur Seite, ehe der gerahmte große Spiegel aus dem Gleichgewicht ge riet und auf ihn stürzte. Er schob ihn mit dem Arm zur Seite, und versilbertes Glas zerbarst klirrend. Das Geräusch des Splitterns reichte, um sie zum Auf hören zu bewegen. Der Ärger schwand aus Nevilles Ge sicht. Er hob sich auf einen Ellbogen und schaute sich die Zerstörung an. »Nun, das bedeutet sieben Jahre Un glück«, sagte er, und ein schwaches Grinsen legte sich auf die blutigen Lippen. Clive war völlig außer Atem und kam sich plötzlich töricht vor, während er die umherwirbelnden Federn mit der Hand beiseite wedelte. Dann grinste er gleich falls. »So merkwürdig, wie die Zeit im Dungeon ver geht, mag das schon bald genug der Fall sein. Und es stimmt auch. Bislang waren es sieben Ebenen Un glück.« Beider Blicke trafen sich. Sie schauten weg, schauten einander wieder an und grinsten. »Hat fast Spaß gemacht, hm?« meinte Neville. Er hob ein Stück Spiegel auf, überprüfte sein Erscheinungsbild, glättete sich das Haar und warf das Stück über die Schulter. Es zerbrach klirrend. »Fast Spaß«, pflichtete Clive bei. Er beugte sich nie der und hob das Buch auf, das er nach seinem Zwil lingsbruder geworfen hatte. Er durchblätterte die Seiten und warf dann einen Blick auf den Rücken. »Hätt nich' gedacht, daß du der Typ für Gedichte bist, großer Bru der.« Er sackte auf dem Bett zusammen, und sein Atem ging allmählich wieder normal. Ich werde noch mal ein biß chen von Shrieks Medikament benötigen, dachte er. Ich bin an Hunderten von Stellen verletzt. »Eine kleine Beeinträchtigung meiner ansonsten un gebrochenen Männlichkeit«, witzelte Neville mit einer ausladenden Handbewegung. Er stand langsam auf und
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stieß ein unterdrücktes Wimmern aus. Dann betupfte er sich die Lippen mit dem Handrücken. »Ich frage mich, ob Shriek in einer fürsorglichen Laune ist? Ich bin über all verletzt. Nicht schlecht für Sandhurst.« Clive nahm das Kompliment nickend zur Kenntnis. »Nicht schlecht für einen Oxford-Schlaffi«, gab er zu rück. »Sollen wir runter zum Abendessen?« »Los!« »Du weißt, daß du wie der Teufel persönlich aus siehst?« Clive betrachtete den Riß an der Vorderseite des Hemds sowie den Ärmel, der nur noch an einem Faden hing. Alle Knöpfe von Nevilles Hemd waren davonge flogen, und die Hose war am Knie aufgerissen. Und was ihre Gesichter betraf: Nevilles Lippe verfärbte sich zu einem einzigen Purpurrot, das gleiche galt jedoch — wie Clive annahm — für sein, Clives, linkes Auge. »Ich seh' nicht anders aus als du«, entgegnete Clive blinzelnd, »und ich bin am Verhungern.« Sie standen auf und gingen zur Tür, und sie trugen die Risse und Schrammen wie eine Auszeichnung. Die Kameraden warteten bereits im Korridor auf sie. Shriek hatte sich aus ihrer Trance gelöst. Sie sahen alle sehr be sorgt aus. Annabelle war die einzige Ausnahme. Sie stand mit verschränkten Armen mitten in der Tür und betrachtete die beiden. »Nun, wenigstens steht ihr beide noch auf den Bei nen«, sagte sie mit amüsierter Geringschätzung. »Habt ihr diesen Macho-Scheiß hinter euch gebracht?« Clive schaute Neville an. Neville schaute Clive an. »Wie sie redet!« sagte Neville und schnalzte mit der Zunge. »Du hättest sie wirklich besser erziehen sollen!« »Daran ist ihre Mutter schuld«, antwortete Clive schulterzuckend. »Ich hatte bei ihr einfach nichts zu sa gen.« Annabelle wandte sich halb um und sagte über die
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Schulter zu Shriek: »Ist das nicht putzig? Sie schwim men voll im rötlichen Glanz ihrer Männlichkeit?« Ich dachte, es wäre Beschämung. Shrieks Antwort hör ten alle. Annabelle verschränkte erneut die Arme und tippte mit dem Fuß auf den Boden. »Wenn ihr eure Sandka stenspiele beendet habt, hab' ich 'ne interessante Neu igkeit für euch.« Sie sah sie erwartungsvoll und unge duldig an. Clive fiel auf, daß er sie das erstemal seit Tagen ohne Buch in der Hand erblickte. Sie wirkte ohne Buch fast unnatürlich. »Was in der Bibliothek herausgefunden?« fragte er ernst. Er kannte den Ausdruck in Annabelles Augen. »Ich hab' mir den Arsch abrecherchiert«, entgegnete sie und wurde wieder eifrig. »Da unten gibt's 'ne Menge Zeug über die Familie Folliot: Historien, Genealogien, Biographien, all dieser Mist. Nun, ich hab' das jetzt alles gelesen, und ich hab' mir 'ne Menge Notizen gemacht und alles überprüft. Mit 'nem Computer hätt ich's schneller hingekriegt, aber ich bin mir schließlich sicher, daß ich recht habe.« Neville lehnte sich an den Türrahmen und ver schränkte wie sie die Arme vor der Brust. »Und?« fragte er. Herkimer erschien auf der Treppe, eine makellose Er scheinung in seinem neuen Smoking. Er hüpfte unge duldig auf und nieder und rief ihnen zu: »Abendessen! Es ist Zeit fürs Abendessen! Mein Meister wartet, war tet!« »Verpiß dich, Frosch!« schnappte Annabelle. Herkimer sah aus wie vom Schlag getroffen. Die rie sige Kinnlade fiel herab, und die Zunge hing schlaff heraus, während die Augen runder und runder wurden und die Schultern herabsackten. Er reckte komisch den Kopf, wandte sich dann um und hüpfte die Stufen hin ab.
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Annabelle sah zu, wie er ging, und wandte sich dann wieder den anderen zu. »Ich wollte nicht, daß der kleine Bursche zuhört«, flüsterte sie. »Ihr beiden könnt ent scheiden, ob ihr's eurem Vater sagt oder nicht.« »Was?« fragte Clive ein wenig aufgebracht. Er mochte Herkimer einigermaßen, und Annabelle hatte ganz of fensichtlich die Gefühle des kleinen Wesens verletzt. Sie faßte Tomàs beim Arm und zog ihn vor. Am Aus druck ihrer Augen konnte er nicht erkennen, was ei gentlich los war. Die anderen scharten sich enger um sie, als sich Annabelle darauf vorbereitete, ihr neuent decktes Geheimnis zu offenbaren. »Senhor e Senhor«, wandte sie sich an Clive und Nevil le, wobei sie eine Hand aufs Herz drückte. »Eu apresen to. . . « Dann glitt ein Ausdruck tiefster Enttäuschung über ihr Gesicht, und sie schlug sich auf den Schenkel. »O verdammt!« murrte sie in Tomàs' Richtung und warf hilflos die Hände in die Höhe. »Ich kann eure Verbfor men einfach nicht knacken! Nun, macht nichts.« Sie wandte sich zurück an Clive und Neville und stieß einen Seufzer aus. »Jetzt sagt schön ›guten Tag‹ zu eurem langgesuchten Vetter.« Clive sah Neville an. Neville sah Tomàs an. Tomàs sah Clive an. Dann sahen alle Annabelle an. »Was?« »Was?« »Que?« Annabelle grinste. »Tja, es ist wahr. Der kleine Klotz kopf ist ein Verwandter. Ich werd' euch die Ergebnisse nach dem Abendessen zeigen.« Ihr Grinsen schwand, und sie wurde wieder ernst. »Bringt uns irgendwie zu rück zu 'ner alten Frage, stimmt's? Wer mag bloß der maßen interessiert an den Folliots sein?« Clive musterte Tomàs von oben bis unten und nickte bedeutungsvoll, als er hinzufügte: »Und warum?«
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KAPITEL 17
Kriegsrat ihr wollt, zeige ich euch die Einzelheiten spä Wenn ter«, sagte Annabelle. »Aber einer eurer Vorfah ren heiratete im Jahre 1463 eine junge Frau aus einer ar men bürgerlichen spanischen Familie und nahm sie mit nach England. Sie paßte jedoch nicht besonders gut da hin. Ehe ein Jahr vorüber war, rannte sie mit einem klei nen Jungen zu Papi und Mami nach Hause. Da sie die Familie dadurch entehrt hatte, daß sie einen der verhaß ten Engländer geheiratet hatte, wollten sie natürlich nichts mit ihr und dem Kind zu tun haben, zumal sie auch nicht die Mittel besaßen, das Kind mit durchzufüt tern. Schließlich schlug sie sich also bei entfernten Ver wandten durchs Leben.« Tomàs sah wie betäubt Annabelle über die Schulter und auf das beschriebene Papier. »Pobre mãe!« murmelte er. »Meine arme Mutter! Sie hat mir nie davon erzählt!« Neville zeigte mit dem Finger auf Clive. »Muß deine Seite der Familie gewesen dein«, warf er ihm sarka stisch vor. Clive blieb einen langen Augenblick ruhig, während er und Tomàs einander ansahen. Er konnte den Aus druck auf dem Gesicht des kleinen Portugiesen nicht deuten, aber er selbst war zweifellos verwirrt. Er brauchte Zeit zum Nachdenken, zum Verstehen. »Laßt uns nach unten zum Abendessen gehen«, sagte er ru hig. »Wir werden später darüber sprechen, wollen es je doch im Augenblick für uns behalten.« Auch wir müssen reden, Wesen Clive, sagte Shriek nur für ihn hörbar. Informationen muß ich mitteilen. Nach dem Essen, bitte, Wesen Shriek, entgegnete er. Dann werden wir reden. Wirst du uns jetzt begleiten?
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Nein, Wesen Clive, antwortete sie. Abstoßend findest du meine Eßgewohnheiten. Aber dankbar bin ich. Shriek ging auf ihr Zimmer zurück, und die übrigen begaben sich zum Abendessen. Die Herkimers servier ten einen weiteren üppigen Schmaus, aber das Mahl verlief schweigend. Clive und Neville wichen eifrig dem Blick ihres Vaters aus, während sie einander verstohlene Blicke über den Tisch zuwarfen. »Du scheinst einen Riß im Ärmel zu haben, Clive, mein Junge«, sagte der Baron schließlich zwischen zwei Bissen. Clive trank einen Schluck Wein. »Ohm, ich bin die Treppe hinuntergefallen, fürchte ich«, log er. Um dem Blick des Vaters auszuweichen, sah er Annabelle an. Die Narben auf ihrer Kehle waren fast verschwunden. Der Baron rieb sich das Kinn und warf beiden Söhnen Blicke zu. »Aha. Du hast gleichfalls dein Hemd ruiniert, Neville. Bist du auch die Treppe hinuntergefallen?« Neville legte Messer und Gabel beiseite und lächelte treuherzig, während er seinem Vater direkt ins Auge sah. »Aber ja. Bin ich. Bin verdammt noch mal fast auf Clive gelandet, wirklich.« Der Baron wurde bei Nevilles Redeweise purpurrot und beugte sich vor, um ihm einen Verweis zu erteilen, schien es sich jedoch im letzten Augenblick anders zu überlegen und setzte sich mit finsterem Blick wieder im Stuhl zurecht. Während des restlichen Abends beobach tete er sie über den Rand seines Glases hinweg. Wieder mal war Tomàs der letzte der noch aß. Die Neuigkeiten über seine Familienbande hatten seinem Appetit keinen Abbruch getan. Clive konnte nur amü siert und anerkennend zusehen, wie sein portugiesi scher Vetter eine halbe Pastete hinunterschlang und mit Wasser nachspülte. Glücklicherweise hatte sonst nie mand etwas vom Dessert haben wollen. »Tomàsfreund essen wie Finnbogg Geschwister!« be merkte Finnbogg. »Warum wächst Tomàs nicht?«
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»Er ist dort groß, wo's drauf ankommt«, antwortete Annabelle von der anderen Seite der Tafel her. Clive, der gerade trank, bekam einen Hustenanfall und kniff die Lippen zusammen, da er den Wein nicht im hohen Bogen ausspeien wollte. Unerwartet stieg ihm der Wein jedoch die Nase hinauf und den Hals hinab, und er verschluckte sich. Er verschüttete den Inhalt des Glases, als er versuchte, es hinzustellen und rechtzeitig ein Taschentuch hervorzuziehen, aber etwas tropfte ihm doch auf den Schnauzbart, ehe er es zu fassen bekam. Er hustete, rang nach Luft und hustete erneut. Annabelle beobachtete ihn grinsend und tippte sich mit dem Finger auf die Brust. »Das Herz«, versicherte sie ihm reumütig. »Er hat ein großes Herz!« Danach endete das Abendessen sehr rasch. Die ande ren zogen sich auf ihre Zimmer zurück, während Clive mit dem Vater nach draußen ging. Die Spirale stand jetzt tief in Richtung auf das Dantesche Tor. Clive ver mied es, sie anzusehen, da er ihre hypnotisierende Wir kung fürchtete. Er fühlte sich merkwürdig unwohl in Gegenwart des Vaters, während sie zwischen den versteinerten Hecken entlanggingen. Sie plauderten über nebensächliche Din ge, ehe sie sich mehr persönlichen Angelegenheiten widmeten. Aber diesmal spürte Clive, wie sich die alten Barrieren wieder aufrichteten. Er sah seinen Vater von der Seite her an, als sie zum Rand des Berggipfels gin gen, wo ihnen der Wind ins Gesicht blies. Als sein Vater das Wort ergriff, hörte Clive kaum zu. »Clive?« wiederholte der Baron und berührte seinen Sohn am Arm. »Vater«, sagte Clive, wobei er sich von seinem alten Herrn abwandte und hinaus in die weite Dunkelheit blickte, die diese Welt verhüllte. Dunkelheit, überall Dunkelheit. Ich bin halb krank vor Schatten, zitierte er im Geiste eine Zeile seines Lieblingsgedichtes. Die Liebe zu diesem Gedicht war eines der wenigen Dinge, die ihm
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sein Vater je vermacht hatte. »Vater«, begann er erneut, »als ich noch Kind war, hast du mir und Neville ge wöhnlich ›The Lady of Shalott‹ zitiert, und du hast da bei diesen völlig abwesenden Ausdruck im Gesicht ge habt.« Clive zögerte wegen der plötzlichen Erkenntnis. »Es war Mutter, an die du dachtest, nicht wahr? Sie war deine Lady von Shalott.« Baron Tewkesbury trat unmittelbar an den Rand. Ein jäher Windstoß hätte ihn vielleicht zu Tode stürzen las sen, dennoch blieb er dort stehen, als forderte er ein derartiges Schicksal heraus, und das einzige, an dem der Wind heftig zerrte, waren Haare und Jackenauf schäge. Er sagte nichts, stand nur da; Herr all dessen, was er überblickte — oder zumindest behauptete er das. »Trage es mir jetzt vor, Vater«, bat Clive. Er wollte plötzlich den alten Mann vom Abgrund zurückziehen, die Arme um ihn schlingen, während er diese tiefe Stimme vernahm, die jene Zeilen sprach, die er so sehr geliebt hatte, als er klein war, und die er noch immer liebte. »Bitte!« drängte er und trat einen Schritt näher an den Vater heran, und seine Hände zitterten vor Ver langen und wollten ihn am Jackenärmel packen; sie blie ben jedoch wie Fremdkörper an den Seiten hängen. »Wie ging die erste Zeile? Wie ging sie?« Der Baron bewegte sich nicht, wandte sich nicht um, um Clive anzusehen, er hob noch nicht einmal die Schultern. Er hätte so, wie er dort stand, ein weiterer ferner und schattiger Berg sein können, ein abgesplit tertes Fragment der Dunkelheit selbst. Dann hob der Baron Tewkesbury die Hand und streckte sie der Unendlichkeit entgegen, und die Stim me dröhnte tief und voll wie ein Donner, obgleich er nur flüsterte. »Wem ich will, dem werde ich es geben. Bleibe bei mir, Sohn. Bleibe hier bei mir.« Clive starrte den Rücken der hohen Gestalt an. Er zit terte jetzt am ganzen Körper, und selbst seine Augen
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brannten, als er wütend blinzelte. »Wie ging es, Vater?« Seine Stimme war angestrengt und voll von Furcht, und er dachte an Neville und an ihr Zuhause und an das Kindermädchen und deren Hund, Tennyson, und an ih re Mutter, die er niemals gekannt hatte. »Wie ging sie, verdammt noch mal?« Seine Stimme wurde lauter und zitterte vor Erregung. »Erinnerst du dich nicht? Weißt du's nicht mehr? ›Zu jeder Seit' des Flusses liegen die Felder, und die Halme wiegen die Ähren, die zum Him mel fliegen.‹ Du erinnerst dich, nicht wahr? Es war dein Lieblingsgedicht. Du hast es mich gelehrt. Du kannst es nicht vergessen haben!« Langsam wandte sich der Berg um und streckte ihm eine Hand entgegen. »Bleibe bei mir, Clive«, sagte er. »Wir brauchen Neville nicht. Wir brauchen die anderen nicht. Laß sie gehen. Nur wir beide werden bleiben, wie du es immer gewollt hast. Bleibe bei mir!« ›»Und durch das Feld die Straße führt zum Hohen Schlosse Camelot‹!« rief Clive und ballte die Fäuste zu beiden Seiten. »Du kennst es! Warum willst du es nicht sagen? Warum?« Noch während er den Vater anflehte, wich er allmählich zurück. »Ich liebe dich, Sohn.« Die Worte trafen Clive wie eine schmerzliche Böe und ließen ihn weiter zurücktaumeln. »Ich brauche dich. Bleibe bei mir. Bleibe hier!« Clive spürte nicht länger mehr Ärger oder Verzweif lung. Er fühlte sich nur leer und ein wenig schmutzig. Es gab nichts weiter zu sagen, denn er wußte jetzt die Wahrheit. Neville hatte es schon vor ihm angenommen. Er wandte dem Baron den Rücken zu und ging traurig zum Haus. Als er die versteinerte Hecke erreichte, blieb er lange genug stehen, um die merkwürdige Struktur zu betrachten. Vier graue Mauern und vier graue Türme, rief er sich erschöpft weitere Zeilen aus dem Gedicht, das ihn sein Vater gelehrt hatte, ins Gedächtnis zurück. Dann seufzte er und machte sich auf den langen Weg
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zur Tür. »Ich bin halbkrank vor Schatten«, murmelte er vor sich hin und trat ein. Er kroch die Treppen hinauf auf sein Zimmer. Dort streifte er die Kleider ab und kletterte in die Wanne. Das Wasser war jetzt kalt, aber das störte ihn nicht. Er war sich noch nicht einmal sicher, ob es gewechselt worden oder ob es das gleiche Badewasser war wie zuvor. Er ließ sich das Wasser über den Körper rinnen und ver suchte verzweifelt, an nichts zu denken, wollte nur ein paar Augenblicke völliger Betäubung, ehe er einige Ent scheidungen treffen mußte. Als er bereit war, erhob er sich, trocknete sich ab und zog frische Khakihosen aus dem Kleiderschrank an. Er verzichtete auf das neue Schuhwerk, das er die vergan genen Tage über getragen hatte, und griff nach seinen alten Stiefeln. Sie waren abgenutzt und zerrissen, aber sie waren gut eingelaufen und würden ihm auf den rau hen Wegen bessere Dienste leisten. Nach dem Anziehen stahl er sich aus dem Zimmer, durchquerte den Korridor und rüttelte vorsichtig an Ne villes Tür. Als Neville keine Antwort gab, drehte er den Knauf und ließ ihn vorsichtig aufschnappen. Ein Licht strahl stach durch die Düsternis des unbeleuchteten Zimmers und berührte Nevilles leeres Bett. Clive schloß die Tür und fragte sich, wohin sein Bruder verschwun den sein mochte. Dann wandte er sich Annabelles Tür zu. Diesmal öff nete sich die Tür, als er klopfte. Annabelle zog ihn rasch hinein und schloß sie wieder. Die anderen waren auch alle da. »Was hat das zu bedeuten?« fragte er. Annabelle hieß ihn schweigen, indem sie sich einen Finger auf die Lippen legte. »Leise sein, Hacker!« warn te sie ihn. »Das ist ein Kriegsrat. Wir vergleichen unsere Beobachtungen, und keiner von uns scheint großartig auf das geachtet zu haben, was wir in Erfahrung brach ten.« Finnbogg stand von seinem Platz am Fußende des
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Bettes auf. Sein Gesicht zeigte den besorgten Ausdruck eines Kindes, was Clive rührend fand. »Smythefreund ist weg«, sagte das Hundewesen. »Das weiß ich«, antwortete Clive und trat in ihre Mit te. Es gab keine weiteren Sitzplätze, also blieb er stehen und lehnte sich an die Wand. »Er sagte, er würde ein wenig nachforschen gehen. Ich nehme an, er hatte dabei die Bergpfade im Sinn.« »Seitdem sind drei Tage verstrichen«, sagte Chang Guafe ungerührt, »da du darauf bestehst, die Zeit in Pe rioden von Sonnenaufgang und Sonnenuntergang zu messen. Wir müssen in Betracht ziehen, daß die Im plantate in seinem Kopf ihn unter die Kontrolle von je mand anderem gebracht haben.« »Irgendwas ist Smythefreund geschehen!« beharrte Finnbogg. »Finnbogg sagt, wir gehen Smythefreund su chen, okay?« Annabelle nahm ihren Sitzplatz auf der Bettkante ne ben Finnbogg wieder ein. Sie kraulte ihm den Rücken. Das schien das nervöse Geschöpf immer zu beruhigen. »Es geht um mehr als nur Smythe«, berichtete sie mit unterdrückter Stimme. Sie schien diese Zusammen kunft zu leiten und sie hatte sie wohl auch einberufen, ohne großartig auf ihn zu warten. »Chang?« sagte sie und wandte sich an den Cyborg. »Primäre Anomalien, erster Bericht«, entgegnete er und richtete die Rubinlinsen auf Clive. »Seitdem wir dieses Gebäude betraten, befand ich mich in permanen tem Überwachungs- und Analysezustand. Obgleich die künstlichen Gebilde des Interieurs in Form und Gestalt deinen Augen vertraut scheinen, sind sie in ihrem mole kularen Aufbau völlig fremdartig. Sie widersetzen sich einer Analyse des Materials und der Zusammenset zung. Es sind alles künstliche Gegenstände!« bekräftigte er. »Bett oder Bettlaken, Kleider, Stühle, Bücher, Wände. Alle aus unbekanntem Material zusammengesetzt. Primäre Anomalien, Bericht zwei«, fuhr er fort. »Das
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Ambiente dieses Gebäudes zeigt das Erscheinungsbild des sogenannten viktorianischen Zeitalters. Dennoch entdeckte ich Strahlen und Energieflüsse, die mit einem solchen Erscheinungsbild inkongruent sind. Die Wän de, Decken und Fußböden sind mit elektronischen Stromkreisen von unbekanntem Zweck durchsetzt. Die ses Gebäude ist möglicherweise eine Art Energieauf nahme-Umwandlerstation. Aber das ist lediglich Spe kulation.« Er machte eine Pause und ließ die Fingerspit zen einer Hand die Wand in seinem Rücken entlanglau fen. Clive wußte, daß der Cyborg den Impuls des Stromkreises hinter dem Stuck spürte. »Bericht Zusammenfassung«, sagte Chang Guafe for mell. »Auf jeder Ebene des Dungeon sind wir in wach sendem Ausmaß fortschrittlicherer Technologie begeg net, gleichzeitig komplizierteren kulturellen Gruppie rungen. Vieles von der Technologie dieser siebten Ebene reicht sogar jenseits meines eigenen Wissens, obgleich jemand den tölpelhaften Versuch unternommen hat, sie hinter einer vertrauten Fassade oder hinter vertrauten Formen zu verstecken. Von den kulturellen Gruppierun gen beobachteten wir nur ein paar. Vielleicht rührt das daher, daß nur wenige Gefangene des Dungeon jemals so lange überleben, daß sie diese Ebene erreichen, wo hingegen die Schleusen zu den übrigen Ebenen ver gleichsweise leicht zu überwinden sind.« Der Glanz sei ner Linsen schwächte sich etwas ab. »Das ist die allge meine Zusammenfassung des ersten Anomalienreports. Details können zu bestimmten Zeiten bereitgestellt wer den.« »Das reicht für den Augenblick, Chang«, sagte Anna belle. Sie nahm die andere Seite des Raums in Augen schein. »Shriek?« Die Arachnida hatte sich in einer Ecke verkrochen. Alle sechs Augen schienen auf Clive gerichtet zu sein, aber er wußte, daß sie ihre Gedanken allen zusendete. Unter ständiger telepathischer Überwachung stehen wir.
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Nicht Wort-Gedanken, sondern Bilder lösen sie aus unserem Bewußtsein. Sie richtete drei ihrer Augen auf Chang Guafe. Ich glaube an das Netzwerk des Wesen Chang. Ich nehme an, daß es die telepathischen Kräfte unserer Überwa cher verstärkt. Dann zögerte sie, aber Clive kannte sie jetzt gut ge nug, und er spürte, ehe sie's verbergen konnte, daß es da noch etwas gab. »Nun, alles heraus«, sagte er laut, damit es die übrigen ebenfalls hören konnten, »nichts zurückhalten!« Sehr schwer war es für mich, fuhr sie schließlich fort, aber soviel mehr weiß ich. Es sind zwei, unsere Beobachter. Sie zögerte erneut und hob dann widerstrebend die Schultern. Und am meisten interessiert sind sie an den We sen Clive, Neville, Annabelle und Tomàs. Neville saß am Kopfende des Betts, den Rücken an das Kopfteil gelehnt, doch jetzt setzte er sich auf. »An uns vieren, sagst du?« Er tippte Annabelle auf die Schulter, und sie fuhr herum. »Ich hatte die Absicht zu fragen: Da alles an diesem verfluchten Ort Schwindel zu sein scheint, wie kannst du dem vertrauen, was du in diesen Büchern liest? Woher können wir wissen, daß der kleine Seemann tatsächlich mit uns verwandt ist? Was ist, wenn wir das nur glauben sollen, weil das je mand so möchte?« Annabelle hob die Schultern. »Wir können uns nich' sicher sein, Hacker. Aber derjenige, der uns 'nen Mo dem-Anker in die Köpfe gepflanzt hat, scheint an ihm genauso interessiert zu sein wie an uns, und das ver leiht dem Ganzen etwas Glaubwürdigkeit.« Sidi Bombay ergriff zum erstenmal das Wort und er hob sich aus der Lotusstellung. »Einige Menschen in meinem Land glauben, daß Gott gewisse Männer für ei ne besondere Prüfung auswählt.« Neville hielt eine Hand hoch und verdrehte die Au gen. »Bitte, ich glaube, wir haben genügend religiösen Unsinn ...«
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Aber Sidi blieb fest. »Als ob du bitten würdest, Eng länder! Ich habe das nur als Beispiel gebracht. Ich habe darüber meditiert. Es ist jetzt an der Zeit in Betracht zu ziehen, daß dieses Abenteuer — vielleicht das gesamte Dungeon selbst — als Prüfung für die Familie der Fol liots gedacht ist.« »Eine Prüfung?« fragte Tomàs. Er saß auf der Seite des Betts zwischen Chang Guafe und Annabelle. »De qûe, amigo.« Sidi Bombay hob die Schultern. »Vielleicht deines Charakters. Oder deines Mutes. Oder deiner Intelli genz. Oder vielleicht durch euch für die gesamte Menschheit.« »Das ist eine schrecklich schwere Last für vier Schul terpaare«, meinte Annabelle zweifelnd. »Abgesehen da von, wo würden da Shriek und Chang und Finnbogg bleiben, nicht zu vergessen du selbst, Sidi? Sollt ihr nur Wegbegleiter sein?« Sidi hob erneut die Schultern. »Wer bin ich, daß ich die Wege der Götter verstehe?« »Wer diese Herren des Dungeon auch immer sein mögen, es sind keine Götter!« schimpfte Neville verhal ten. »Sie sind Fremdwesen! Vielleicht Ren, vielleicht Chaffri, oder vielleicht noch etwas anderes. Aber es sind keine Götter. Nur verfluchte unerforschliche Fremdwe sen!« Annabelle sprang auf und ging am Fußende des Betts hin und her. Sie hielt die Finger einer Hand hoch und zählte sie beim Sprechen der Reihe nach ab. »Okay, hier also das Menü, wie ich es lese. Erstens: Sergeant Smy the ist überfällig. Zweitens: Hinter diesem Ort hier steckt mehr, als der Anschein vermuten läßt. Drittens: Jemand außer Shriek ist in der Lage, uns ins Bewußtsein zu sehen.« Sie blieb mitten im Zimmer stehen, ver schränkte die Arme vor der Brust und sah sie alle der Reihe nach an. »Ich denke, wir haben lange genug auf unseren Ärschen gesessen. Wir wollen ein paar Ant
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werten aus Großpapa Folliot herauskitzeln und uns dann nach dem Sergeanten umsehen. Wie findet ihr das?« Clive rutschte unruhig an der Wand hin und her. »Ich fürchte, du würdest von ihm nicht sehr viele Antworten erhalten«, sagte er ruhig. »Großpapa ist ein Klon.« Neville richtete sich auf und schlug sich auf den Schenkel. »Ich wußte es, alter Junge, ich hatte so das Gefühl. Aber er hat mich eingelullt, als er die Sache mit dem Hund von unserem Kindermädchen wußte. Wie hat er das hingekriegt, was meinst du?« »Wenn unsere Gedanken gelesen werden«, gab Clive zu bedenken, »konnten unsere Beobachter möglicher weise die Antwort gehört haben, die du mir auf die glei che Frage gegeben hast. Vielleicht haben sie's dem Klon eingespeist.« »Wie hast du ihn dann erwischt, kleiner Bruder?« Clives Lippen wurden ganz schmal, als er sich an die Szene auf dem Berg erinnerte. »Mit einer anderen Fra ge«, sagte er knapp. Er hatte nicht den Eindruck, weiter etwas erklären zu müssen. Seine Gefühle waren noch immer zu verletzlich, um weiter darin zu bohren, selbst hier unter Freunden. Finnbogg sprang auf. »Okay, wir gehen dann. Kein sicherer Ort hier. Gehen finden Smythefreund.« »Ich schätze, das ist eine Stimme«, sagte Annabelle, »und ich füge die meine hinzu.« Sie stimmten alle zu. »Dann packte jeder ein leichtes Bündel mit den not wendigen Sachen«, sagte Clive und nahm damit seine Rolle als Anführer wieder ein. »Neville, du und Finn bogg, ihr schleicht euch nach unten und seht nach, ob ihr etwas Proviant organisieren könnt. Wir treffen uns in der Halle. Also los!« Einige Minuten später schlüpfte Annabelle zu Clive ins Zimmer. Sie trug jetzt schwarze Jeans mit einem Gürtel mit Metallschließe und ein weißes ärmelloses
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Baumwollhemd. Über der Schulter hing die vertraute Lederjacke. »Wie oft ich auch diesen Schrank öffne«, sagte sie, »immer ist was Neues drin, und ganz nach meinem Geschmack. Ich wünschte, ich könnte sie mit nehmen.« »Wir wollen zu den anderen hinunter«, sagte Clive. Er hatte wirklich nichts zu packen. Er war nur in sein Zimmer zurückgekehrt, um den Degen zu holen. Er leg te den Gurt um den Leib und rückte die Scheide zu recht. Aber Annabelle legte eine Hand auf die Tür. »Warte«, sagte sie leise. »Cliveli, ich weiß, das du's zu verbergen glaubst, aber der Schmerz liegt so offen auf deinem Ge sicht wie eine Warze zwischen den Augen.« Sie ergriff ihn bei der Hand und verschränkte die Finger mit den seinen. »Ich weiß nicht, was zwischen dir und dei nem...«, sie unterbrach sich, ehe sie Vater sagte. »Ich meine, ich weiß nicht, was dir nach dem Essen zugesto ßen ist.« Sie zögerte und biß sich auf die Lippen, wäh rend sie ihn beobachtete, und er spürte, wie sich ihre Finger fester um die seinen schlossen. »Aber Clive, wie konnten sie einen Klon aus deinem Vater herstellen? Ich meine, wie haben sie dafür Gewebeproben oder Zell kulturen erhalten? Ich meine, er ist doch heil und ge sund in England, oder nicht?« Er hatte diese Frage selbst schon immer und immer wieder im Kopf gewälzt, und er wußte noch immer nur eine Antwort. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ich weiß es nicht.«
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KAPITEL 18
In der tödlichen
Wüste
Tewkesbury erwartete sie an der untersten Baron Treppenstufe. Flankiert von den vier Herkimern blockierte er die Tür. In der Hand hielt er ein seltsames Gewehr, dessen Lauf mit einem Smaragd verstopft zu sein schien. Es war auf Neville und Finnbogg gerichtet. Clive verspürte kalten Ärger und blieb zögernd auf halber Höhe der Treppe stehen. Annabelle hinter ihm hielt gleichfalls an. »Bitte, Sohn«, sagte der Baron gleichmütig, »kehrt um und geht zurück in eure Zimmer. Ihr solltet euch dort ganz sicher fühlen. Ich hatte gehofft, euch zum freiwilligen Bleiben bewegen zu können. Aber bleiben werdet ihr!« »Wer du auch immer sein magst, du hast gute Arbeit geleistet«, entgegnete Clive ätzend. »Du hast mir alles gesagt, was ich hören wollte, hast deine Rolle gut ge spielt, du Hurensohn!« Der Baron winkte schmerzerfüllt mit der Waffe. »Nein, ich bin nicht dein Vater. Aber ich hätte es sein können. Vielleicht wirst du mich irgendwann einmal verstehen. Jetzt jedoch kehrt bitte in eure Zimmer zu rück!« Finnbogg knurrte unterdrückt und ließ das Bündel fallen, ein gestohlenes Tischtuch voll Proviant, den er auf Clives Wunsch hin mitgenommen hatte. Ehe Finn bogg jedoch eine Bewegung machten konnte, schwenk te das Gewehr herum. Ein greller grüner Lichtstrahl zischte für den Bruchteil einer Sekunde aus dem Lauf und hinterließ nahe zu Finnboggs Füßen ein rauchendes schwarzes Loch im Boden.
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»Huch!« sagte Finnbogg, berührte das Loch mit der Spitze einer Zehe und zog sie rasch zurück. Er zwang sich zu einem breiten Lächeln, das eine Menge Hunde zähne zeigte. »Der Strahl ist absolut tödlich, kann ich dir versi chern«, warnte der Baron. »Wir wollen jetzt aber weiter keine Schwierigkeiten machen, oder?« Angesichts des unerschütterlichen Gesichtsausdrucks des Barons wurde Clive immer ärgerlicher, denn die Ähnlichkeit mit seinem Vater wurde immer stärker. Der gleiche Ausdruck und die gleiche Grausamkeit lagen in der Stimme, die Clive so gut kannte. Er zweifelte nicht, daß diese Imitation imstande wäre, das Gewehr auch zu gebrauchen. »Bitte sag deiner Arachnida-Freundin, sie möge nicht nach einem Stachelhaar greifen.« Der Baron hob den Lauf der Waffe nur ganz wenig. Clive biß die Zähne zuammen. Er hätte nichts tun können. Gefangen auf dieser Treppe gaben sie ein leich tes Ziel für den seltsamen Brennstrahl ab. Mit einer ein zigen Armbewegung könnte der Baron sie alle umbrin gen. Sie könnten den Rückzug nicht rasch genug antre ten, noch konnten sie weiter hinabsteigen, sondern nur direkt in den Strahl hinein. Irgend jemand würde ge troffen werden, selbst wenn die übrigen ihren Gastge ber überwältigen könnten. Er war nicht gewillt, diese Möglichkeit in die Tat umzusetzen. »Rauf!« befahl er über die Schulter hinweg, aber sein Blick ließ den Baron nicht los. So langsam, wie die ande ren den Weg freigaben, stieg er die Stufen empor. Der Baron bewegte den Lauf, damit Neville und Finn bogg folgen sollten. Neville legte die Hand aufs Gelän der und setzte den Fuß auf die unterste Stufe. »Das ist jetzt der Vater, an den ich mich erinnere, alter Knabe«, sagte er und blinzelte seinen Zwillingsbruder an. »Nur daß er mir keinen Gewehrlauf auf den Kopf gerichtet, sondern die Geldbörse um den Hals geschlungen hat.«
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Finnbogg warf dem dunklen Fleck auf dem Boden ei nen weiteren bestürzten Blick zu und stieg behutsam darüber. Das Lächeln schwand aus seinem Gesicht, als er auf die Stufen zuging. Der Baron kam hinter ihm her. Mit einer Geschwindigkeit, die seinen vierschrötigen Körper Lügen strafte, wirbelte Finnbogg herum. Seine Hand schloß sich rasch um die Faust des Barons, und das Krachen eines Knochens war über dem Knistern ei nes Strahls, der einen Fleck in die Decke brannte, deut lich zu hören. Der Baron stieß einen lauten Schmerzens schrei aus und starrte mit vor Überraschung weitgeöff neten Augen vor sich hin. »Da, du Arsch!« knurrte Finnbogg, als er das Gewehr dem Baron aus den betäubten Fingern riß. Er reichte es Neville. Er zog das Gesicht des Barons nahe an das sei ne und zeigte erneut die Zähne. »Okay?« fragte er. »Von mir aus okay«, meinte Neville leichthin. Finnbogg hob die Faust und schickte den Baron mit ten unter seine Herkimer, die umherspritzten wie Kegel in Dienstkleidung. Die Froschwesen schlugen um sich und formierten sich dann neu, und der Baron erhob sich und lehnte sich an die Tür, ihren Fluchtweg. »Liebster Vater«, sagte Neville leutselig und winkte mit dem Gewehr, während er zu Finnbogg hinüberging. »Ich freue mich, daß wir diese Zeit zusammen verbrin gen durften ...« »Räum ihn doch einfach aus dem Weg, Hacker!« un terbrach Annabelle, stieß Clive beiseite und eilte die Treppe hinab. »Und dann raus hier!« Der Baron sah bittend zu Clive hinauf. »Sohn«, bat er und brachte erneut Clives innere Saiten zum Klingen, »laß nicht zu, daß er mich umbringt!« Neville blickte über die Schulter zurück und wollte et was sagen. In diesem Augenblick öffnete der nächstste hende Herkimer das Maul. Eine lange schleimige Zunge schoß hervor und wickelte sich Neville ums Handge
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lenk. Der Frosch zog den Kopf zurück, und die Waffe flog durch die Halle. Neville sprang über das Wesen weg, als es das Handgelenk freigab, und hechtete auf die Waffe zu. Der Baron hatte das Gewehr erspäht und stürmte um das Wirrwarr von raufenden Armen und Beinen herum, das Neville und die Frösche darstellten. Aus halber Hö he der Treppe sprang Clive übers Geländer und landete zusammengekrümmt am Boden. Ehe er jedoch seinem Vater nachjagen konnte, zischte ihm etwas Rosafarbe nes und Schleimiges ums Fußgelenk und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Er fiel mit Gepolter zu Boden und sah Sterne vor den Augen. Zur gleichen Zeit vernahm er ein anderes Krachen, ei nen Fluch und ein Knurren. Aus dem Augenwinkel sah er Finnbogg auf dem Baron hocken, der vergebens zap pelnd nach dem Gewehr griff, das gerade außerhalb sei ner Reichweite lag. Finnbogg kicherte und gab seinem Gefangenen einen spielerischen Klaps auf den Kopf. Clive erhob sich auf Hände und Knie, und irgend et was sprang ihm auf den Rücken. Er sah vorsichtig über die Schulter und schaute in die Augen eines der Herki mers. Dessen Zunge peitschte auf seine Augen zu. Re flexartig warf er eine Hand hoch, um das Gesicht zu schützen, und packte das kleine glibberige Organ mit festem Griff. Der Frosch sah ihn mit vor Panik weitge öffneten Augen an und wurde ganz still. »Uu ii nii!« bat er inständig. Clive hielt die Zunge fest, als war sie eine Leine. Er sah sich um, während die übrigen die Treppe hin unterkamen. In der Ecke neben der Türe krümmten sich Seite an Seite die beiden übrigen Herkimers, hielten sich hinter den vorgehaltenen Händen das Maul und sahen aus, als hätten sie etwas Gräßliches verschluckt. »Was ist mit ihnen geschehen?« fragte Clive, als Anna belle zu ihm trat. Sie kicherte und fingerte an den Kontrollen des Baal
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bec A-9 herum. »Sie versuchten, mich auf die gleiche Weise zu packen, wie sie dich gepackt haben«, sagte sie, »aber ich hatte ein schwaches Energiefeld eingeschal tet.« »Eujeu!« murmelte Clive. »Da hast du ja 'n nettes Schoßtier«, sagte sie und leg te die Hand auf den Kopf des Herkimer neben Clive. Das Wesen stand völlig ergeben da, als sie sich hinknie te und es mitleidig streichelte. »Sie sind so süß in ihren winzigen Smokings. Was sollen wir mit ihnen machen?« »Ich hab 'nen Schlüssel an der Bibliothekstür gese hen!« rief Neville quer durch die Halle. Er stellte sich breitbeinig über die Brust seines Herkimer und griff sich dessen Hände mit einer Hand. Die andere Hand hielt das Maul verschlossen. Ein Paar kleiner Füße strampelte auf dem Fußboden, während die Kreatur hilflos kämpf te. »Wir könnten sie dort einschließen.« »Ora bolas!« grinste Tomàs höhnisch. Er hatte bereits eine Hand auf den Türknauf gelegt. »Schneidet ihnen die Hälse durch und dann los, amigos!« Clive warf Annabelle einen Blick zu. »Ora bolas?« fragte er. »Ist das eine Beleidigung?« Sie runzelte ungeduldig die Stirn. »Roh übersetzt heißt das ›Quatsch mit Sauce‹«, log sie grinsend. »Du kennst ihn doch jetzt. Er denkt nur ans Fressen.« Clive dachte einen Augenblick lang nach. Er wollte niemanden töten, insbesondere nicht den Baron. Es be reitete ihm noch immer Schwierigkeiten, wie leicht er den anderen Klon hatte töten können, der seinem Bru der ähnelte. Er fühlte dabei noch immer eine seltsam schleichende Schuld. Er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, daß es genauso einfach sein könnte, das Ebenbild seines Vaters zu töten. »Stell ihn auf die Beine, Finnbogg!« befahl Clive. »Wir werden sie einschließen, wie es Neville vorge schlagen hat.« Er führte sie zur Bibliothek mit seinem Herkimer im
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Schlepptau. Finnbogg folgte mit dem Baron, dessen Ar me das Hundewesen auf den Rücken gedreht hatte und dort festhielt. Als nächste folgten Neville, Chang Guafe und Shriek, die jeder einen der sich jetzt sehr passiv verhaltenden Herkimers trugen. Als der Baron und seine Froschdiener sicher verstaut waren, zog Clive den Schlüssel aus dem Schloß und machte sich daran, die Tür zu verschließen. Sein Vater appellierte ein letztes Mal an ihn. »Bleibe bei mir, Sohn«, sagte er mit einer Stimme voll Bedauern und Verzweiflung. Clive zögerte, während in seinem Innern widerstrei tende Gefühle tobten. »Ich wünschte, du wärst mein Vater gewesen«, sagte er leise. »Vielleicht wäre ich ge blieben. Oder ich wäre vielleicht zurückgekehrt.« Er schloß die Tür, ehe noch etwas hätte gesagt werden können, steckte den Schlüssel ins Schlüsselloch und drehte ihn um. Das Schloß klickte hörbar, als sich der Bolzen vorschob. Clive ließ den Schlüssel einen Augen blick lang auf der Handfläche hüpfen, überlegte und schloß dann die Faust darum. Finnbogg hatte sein Bündel wieder aufgenommen, und Annabelle hatte die Waffe des Barons zurückge bracht. Sie bot sie Clive an, aber er schüttelte den Kopf und sagte ihr, sie solle sie jetzt behalten. Als sie alle draußen waren, holte er aus und warf den Schlüssel so weit weg, wie er nur konnte. In der Dunkelheit hatte er keine Vorstellung davon, wie weit weg das war. Clive wischte sich die Hände an der Hose ab. Die Hände waren glitschig wie der Teufel vom Schleim der Zunge von Herkimer. Er warf dem merkwürdigen alten Haus einen letzten Blick zu, wo sich für ihn eine kurze Zeit lang ein Traum verwirklicht hatte: Er hatte seinen Vater so kennenge lernt, wie er ihn nie zuvor kennengelernt hatte. Nur daß es eben nicht sein Vater gewesen und daß der Traum ein weiterer Alptraum des Dungeon geworden war. Ir
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gend jemand hatte in seinem Kopf herumgegraben, seinen Herzenswunsch entdeckt und ihn gegen ihn be nutzt. Jemand schuldete ihm etwas dafür, und er hatte vor, diese Schuld in voller Höhe einzutreiben. Er rief Finnbogg zu: »Kannst du den Geruch von Ser geant Smythe aufnehmen?« Finnbogg strahlte über das ganze Gesicht. »Nachse hen nach Smythefreund? Smythegeruch Finnbogg kennt!« Das Hundewesen setzte das Bündel mit den Vorräten ab, fiel auf alle viere und schnüffelte am Bo den. Einige Minuten lang rannte er zwischen Tür und versteinerter Hecke hierhin und dorthin, rümpfte die Nase und schnüffelte. Clive bückte sich, hob das Bündel auf und schlang es sich um die Schultern. »Ich werde es nehmen, Clive Folliot«, sagte Chang Guafe, und er nahm das Bündel, ehe Clive Widerspruch einlegen konnte. »Ich ermüde nicht wie ihr Menschen.« »Smythegeruch!« verkündete Finnbogg plötzlich, stellte sich wieder aufrecht und winkte mit den Armen, um die Aufmerksamkeit der anderen zu erregen. Er war weit weggelaufen, ans andere Ende des Bergrahds hin zu einem Pfad, den Clive von seinen Spaziergängen mit seinem Vater her kannte. Nicht mit meinem Vater, ermahnte er sich bitter. Mit dem Klon. Clive hatte auf dieser Ebene überhaupt kein Gefühl für die Richtung. Aber er wußte, daß das Dantesche Tor hinter ihm lag, also nannte er diese Richtung torwärts. Was auch immer vor ihnen liegen mochte, es lag im Dunkeln, also nannte er diese Richtung dunkelwärts. Alles übrige war links oder rechts der Spirale, die einen geraden Streifen aus der Dunkelheit schnitt und zum Tor hinabstieg. Auf dieser Seite war der Pfad nach unten nicht so steil und kurvig wie der, der von unten heraufführte.
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Sie verloren dennoch das wenige Licht, das von der Spi ralformation hinter ihnen gespendet wurde, als sie un ter den Rand abstiegen. Also übernahm Annabelle die Führung und benutzte den Baalbec dazu, für eine schwache Beleuchtung zu sorgen. Da der Pfad selbst den Weg vorgab, den Smythe benutzt haben mußte, schnüffelte Finnbogg nur sporadisch und nickte als Be stätigung. Immerhin hatten sie die Möglichkeit zum Ausrut schen gehabt, überlegte Clive, während sie immer tiefer und tiefer kletterten. Er fühlte sich frischer, stärker, und er war fast froh darum, sich wieder zu bewegen. Sie hatten sich alle von ihren Verwundungen und Verlet zungen erholt. Sie hatten Zeit gehabt zu baden und sich zu entspannen. Sie hatten zur Abwechslung einmal gut gegessen. Und es war sehr nett, einmal etwas anderes als Lumpen zu tragen. Vielleicht waren sie alles in allem doch nicht zu schlecht vom Palast des Morgensterns weggekommen. Vielleicht. Am Fuß des Berges legten sie eine Rast ein und nipp ten an dem Wasser aus den Feldflaschen, die Neville ge füllt hatte. Auf Clives Vorschlag hin schaltete Annabelle den Baalbec ab. Er würde sie zu rasch ermüden. Hügel und Berge drohten unheimlich in der Dunkel heit. Die höheren Gipfel glitzerten noch immer im Licht der Spirale, aber Clive und seine Gefährten befanden sich tief in den Schatten, wohin kein Lichtschein reichte. Der Wind wisperte durch das Tal, in dem sie sich auf hielten; ein sanftes Rascheln, das Clive an trockenes Herbstlaub erinnerte. Doch hier gab es weder Blätter noch Jahreszeiten, nur Dunkelheit und den Wind, der an den Steinen scharrte. »Smythegeruch!« verkündete Finnbogg. Während die übrigen gerastet hatten, hatte er eine Weile lang herum geschnüffelt. »Wir gehen, okay?« Annabelle wollte nach den Kontrollapparaturen des
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Baalbec in ihrem linken Unterarm greifen, Clive hielt sie jedoch davon ab. Der Pfad war hier glatter und weniger gefährlich als der Abstieg vom Berg. Es gab weniger Veranlassung für das energiezehrende Licht. Statt dessen wandte er sich an den Cyborg. »Chang, kannst du ...« »Bestätigung«, antwortete Chang Guafe. Auf der Stelle begannen die Rubinlinsen heller zu leuchten, und das Metall im Gesicht und auf der Brust glänzte rötlich, als es das neue Licht reflektierte. Wohin er auch den Blick richtete, wurde der schwarze Boden blutrot. Es war ein armseliger Ersatz für Annabelles reineres Licht, aber es war brauchbar, und es würde den Cyborg nichts kosten, wenn er es angeschaltet ließe. Sie nahmen ihren Marsch wieder auf, mit Finnbogg an der Spitze, der sie führte. Ein schmaler natürlicher Pfad wand sich zwischen den Hügeln dahin, und sie folgten ihm, wie es Smythe zuvor schon getan hatte. An einigen Stellen wurde der Boden weicher, fast aschen, und erinnerte Clive an das Ufer des Flusses, den sie überquert hatten. Es war gleichfalls wie Asche gewesen. Vielleicht waren dies uralte Flußbetten, alles, was von den Wassern zurückgeblieben war, die diese Berge aus geschnitten hatten. »Warum nimmst du eigentlich an, daß dein Mann so weit gekommen ist?« fragte Neville einmal, als sie nach einem ziemlich ermüdenden Anstieg eine Bergkuppe erreicht hatten. »Er ist nicht ›mein Mann‹«, entgegnete Clive gedul dig. Nevilles großspuriges Gehabe konnte noch immer sehr ärgerlich sein. »Und warum?« Clive hob die Schul tern. »Du hattest deine Gedichte, dir die Zeit zu vertrei ben. Annabelle ihre Untersuchung. Sidi seine Medita tion, und Tomàs war damit beschäftigt, sich vollzustop fen. Shriek und Chang Guafe hatten gleichfalls Ge heimnisse zu ergründen, was sie beschäftigt gehalten hatte. Aber Horace ist Soldat. Er hatte vielleicht auf ein
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mal zuviel Zeit zur Verfügung und er hat sich daher wie jeder gute Soldat dazu entschlossen, das Terrain zu son dieren.« Annabelle trat heran und faßte Clive bei der Hand. »Glaubst du, daß ihm etwas zugestoßen ist?« »Er ist überfällig«, antwortete Clive knapp. »Gute Soldaten sind niemals grundlos überfällig. Wenn ich nicht so beschäftigt damit gewesen wäre, einen Narren aus mir zu machen, wäre es mir eher aufgefallen.« Sie sah ihn mitfühlend an. »He, Hacker, du hast kei nen Narren aus dir gemacht! Es is' noch nie 'n Mensch geboren worden, der nicht den Wunsch verspürt hätte, sich mit den Eltern irgendwo hinzusetzen und sich aus zusprechen, weißt du?« Er lächelte heimlich über ihre Ausdrucksweise, ent hielt sich jedoch jedes weiteren Kommentars. Diese Epi sode war vorüber. Es war besser, wenn er das alles ab hakte. »Huch, schlechte Neuigkeiten!« Finnbogg stand plötzlich aufrecht und schnüffelte. Er spähte scharf in alle Richtungen, beugte sich dann wieder zum Boden hinunter und schnüffelte erneut. »Mehr Gerüche, viele Gerüche, okay. Alle vermengt mit Shmythegeruch.« Der Glanz von Chang Guafes Rubinlinsen konzen trierte sich auf Finnbogg und verlieh der Bulldoggestalt einen seltsamen Ausdruck. »Er ist anderen Wesen be gegnet?« wollte der Cyborg wissen. »Viele Gerüche, ja!« wiederholte Finnbogg erregt. »Sie gehen zusammen diesen Weg, alle Gerüche. Wir folgen, okay?« Sie gingen weiterhin dunkelwärts, und schneller, als sie erwartet hatten, entdeckten sie am Ende des Vorge birges eine weite Ebene. Sie glaubten wenigstens, daß es eine Ebene wäre. In dem samtigen Dämmer war's unmöglich abzuschätzen, wie weit sie sich wirklich er streckte. »Die tödliche Wüste«, flüsterte Annabelle sich selbst
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zu. In ihrer Stimme lag eine Mischung aus Ehrfurcht und Angst. Nach kurzer Debatte entschlossen sie sich, etwas vom Proviant zu sich zu nehmen und am Rand der Ebene zu rasten. Nach etwas Schlaf wollten sie dann die Suche nach Smythe wieder aufnehmen. Es war ein ganz schö ner Weg von den Bergen gewesen, und sie hatten ihn in einer guten Zeit zurückgelegt, aber Clive wollte die Ge fährten nicht zu sehr ermüden. Sie knabberten an Selle rie, Äpfeln und Käse, ein wenig Brot, und spülten alles mit einer Flasche Rotwein hinunter, die Finnbogg gleichfalls herausgab. Schlafen alle, sagte Shriek, als das Mahl beendet war. Wachen werde ich. Sie kuschelten sich eng auf dem harten Stein zusam men. Nach den weichen Betten, in denen sie im Palast des Morgensterns geschlafen hatten, erwartete niemand einen angenehmen Schlaf. »Ai de mim!« grummelte Tomàs. Er faßte unter seinen Gürtel und zog eine kleine hölzerne Schachtel hervor. »Warum habe ich diese Streichhölzer gestohlen? Hier gibt's nichts, um auch nur ein kleines Feuer zu entfa chen!« »Pequeno incendio?« grinste Annabelle, zog die Knie an die Brust und wiegte sich vor und zurück. »Ein klei nes Feuer?« Tomàs erwiderte das Grinsen und steckte die Hölzer in die Hose zurück. »Incendio pequeno«, korrigierte er. »Du lernst rasch, Senhorita«, meinte er anerkennend und klatschte ein wenig ausgelassen in die Hände. »Muito rapidamente!« Annabelle stieß ein leichtes Gelächter aus. »Sehr rasch«, übersetzte sie und legte den Kopf schief. »Obri gado, senhor!« Der kleine Portugiese lächelte verschmitzt und blin zelte, als er scheu mit seinem besonderen Akzent ent gegnete: »Du hast 'ne Menge High-Speed-Ram in dei
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nem Hard-Drive, Hacker.« Damit rollte er sich zusam men und legte sich auf den harten Boden zum Schlafen. Annabelle starrte ihn einen Augenblick lang an, barg dann den Mund hinter der vorgehaltenen Hand und ki cherte verhalten. »Für so einen kleinen Schleimer ist er süß!« flüsterte sie Clive zu, während sie sich zudeckte. »Glaubst du, daß er wirklich ein Verwandter sein kann?« Clive hob die Schultern. »Da ich niemals erwartet hatte zu erben, habe ich mich auch niemals viel um Fa miliengeschichte gekümmert. Über meinen Großvater hinaus weiß ich sehr wenig davon, wer was mit wem wann getan hat, wenn du verstehst, was ich meine.« Sie legte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf, und Clive setzte sich neben sie. Dann wälzte sie sich zur Seite und rollte sich eng zusammen. Dann wälzte sie sich wieder auf den Rücken. Schließlich setzte sie sich auf und sah die anderen an. Nur sie, Clive und Shriek blieben wach. »Ich denk immerzu über Sidis Idee nach«, sagte sie leise, »daß das alles hier 'ne Art Test ist. Warum? War um sollte eine Rasse von Wesen, die mächtig genug sind, das hier alles zu erbauen, auch nur im geringsten an uns interessiert sein?« Clive zuckte mit den Schultern. Tomàs hatte recht ge habt. Er wünschte, es gäbe ein Lagerfeuer; nicht wegen der Wärme, sondern wegen der beruhigenden Behag lichkeit des flackernden Scheins. »Und wenn sie an uns interessiert sind«, fuhr Anna belle mit unterdrückter Stimme fort, »an den Folliots und deren Nachkommen und Vorfahren, was sind dann die übrigen für sie: Bauern? Werkzeuge?« Clive holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. »Vielleicht ist's Shriek oder Chang Guafe oder Finn bogg, an der oder dem sie interessiert sind«, schlug er vor, während er ihr den Arm um die Schultern legte. Es lag eine gewisse Behaglichkeit und Sicherheit in der Be
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rührung einer anderen Person, die er niemals zuvor so geschätzt hatte, und er zog sie nahe an sich heran. Viel leicht war das sogar besser als ein Feuer. Es hielt die un angenehme Dunkelheit nicht fern, aber er mußte ihr nicht allein gegenübertreten. »Vielleicht sind wir die Bauern.« Sie sagte weiter nichts, aber er spürte, wie ihr ein leichtes Zittern durch den Körper lief. Nach einer Weile legten sich beide nieder. Sie legte ihm den Kopf auf die Schulter, und er legte sich eine Hand als Kopfkissen un ter den Kopf, und sie starrten beide mit offenen Augen in den konturlosen Himmel. Außer dem geisterhaften Wispern des Winds gab es keinen weiteren Laut auf der Welt, und das Wispern lullte sie schließlich beide in den Schlaf.
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KAPITEL 19
Hinab in die
Unterwelt
dir sicher, daß Smythe so weit gekommen Bistist?«dufragte Neville nörgelnd. Weil er auf dem har ten Stein ohne Decke oder Kissen geschlafen hatte, war er steif in den Gliedern und mißmutig. Seine Stimme klang dumpf, und er war mürrisch und gereizt. Finnbogg hob lange genug die Nase vom Boden, unr zu antworten. »Ja«, sagte er, »Nase hat's. Smythefreund hat ganz bestimmten Geruch.« »Er wird sich glücklich schätzen, das zu erfahren«, witzelte Annabelle. Sie warf den Kopf zurück und lach te ein wenig, wobei sie Sidi Bombay auf die Schulter klopfte. »Er ist dein Freund«, sagte sie, »du wirst es ihm sicherlich sagen.« »Das ist wohl kaum was, um Witze drüber zu ma chen«, fauchte Neville. »Wir könnten völlig falsch liegen.« Annabelle faßte Tomàs bei der Hand und zog ihn zu sich heran, so daß sie, Sidi und Tomàs Arm in Arm gin gen. »Nun, du liegst mit Sicherheit daneben, Hacker«, entgegnete sie. »Du mußt dein System neu laden.« Tomàs murmelte unterdrückt: »Sim, sonst werd' ich dich verladen!« »Ich will euch ja nicht stören«, sagte Clive geduldig, »aber hat irgend jemand außer mir die Blitze da rechts bemerkt? Ihr müßt sorgfältig hinsehen, sie kommen nicht sehr regelmäßig.« Sie blieben stehen und sahen in die Richtung, in die Clive zeigte. Nach einigen Augenblicken erhellte das kurze Aufflackern eines blauen Lichts die Dunkelheit. Sie warteten, bis es sich wiederholte, ein Blitz, zwei, ei ne einzelne Lichtfontäne, dann nichts, und Clive gab
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Zeichen, daß sie weitergehen, dabei jedoch ihre Blicke auf das Phänomen gerichtet halten sollten. »Was hältst du davon, Blechmann?« fragte Annabelle nebenbei. Sie hatte Tomas und Sidi losgelassen, als ihr Interesse an dem Flackern gewachsen war. Chang Guafe sah starr geradeaus, während er neben Clive herging. Das Licht seiner Linsen erleuchtete den Boden zu ihren Füßen und floß um Finnbogg herum, der abseits vom Weg herumschnüffelte. »Alle Sensoren auf Überprüfung«, berichtete er, ohne sich dabei nach Annabelle oder dem Phänomen umzudrehen. Er zöger te und fügte dann hinzu: »Zeigt einen geringfügigen Anstieg in der Zahl negativer Ionen in der Luft.« »Danke sehr«, sagte sie ungeduldig, »und was bedeu tet das?« »Plötzliche und heftige elektrische Entladungen«, fuhr Chang Guafe fort. Etliche seiner Tentakel kamen aus kleinen Laden in Gesicht, Brust und der linken Schulter hervor. An jeder Spitze wurden winzige Lich ter aktiviert und drehten sich in Richtung auf das Phä nomen. »Glänzende Lichtquellen«, berichtete er. »Elek trische Entladungen in einem Ausmaß von zwanzig Ki loampere. Spezifische Entladungstemperatur variiert zwischen zweimal zehn hoch drei und zweimal zehn hoch vier eurer Kelvingrade.« »Schon gut!« murmelte Annabelle und schnitt ihm mit einem Seufzer das Wort ab. »Was es auch immer sein mag, es ist wunderschön!« »Sieht für mich aus wie ein Blitz«, sagte Neville. Chang Guafe hob den Blick für einen Moment vom Boden und richtete ihn auf Neville. »Das habe ich ja ge rade gesagt.« Die Sensortentakel zogen sich in den Kör per zurück, und die Türen der Laden, hinter denen sie verborgen waren, schlossen sich nahtlos. »Kommt es uns entgegen?« fragte Clive in jäher Be sorgnis. »Bestätigung.«
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Clive atmete langsam aus. »Und ich ohne Regen schirm! Können wir ein bißchen rascher vorankommen, Finnbogg?« Finnbogg blieb stehen, hob sich zu seiner vollen Ein meterfünfzig-Größe und wölbte die beachtliche Brust. »Sehr starker Wind macht Aufgabe verwirrend, okay?« knurrte er. »Muß Nase sehr dicht am Boden halten und viele Gerüche auseinanderhalten. Nicht einfach. Nicht menschliche Arbeit. Laß Finnbogg tun, okay?« »Reizbares kleines Biest!« murmelte Neville zwischen zusammengepreßten Zähnen. Annabelle funkelte ihn an. »Mein Blick fällt gerade auf das einzige Biest hier in der Gegend, Hacker!« »Ich entschuldige mich, Finnbogg«, sagte Clive höf lich. »Ich weiß, daß du dein Bestes tust. Warum legen wir nicht eine Pause ein und trinken jeder einen Schluck Wasser?« »Wenn das ein Gewitter ist«, sagte Sidi Bombay, »werden wir bald mehr Wasser als genug haben.« Das Flackern in der Ferne verstärkte sich. Es konnte nun kein Zweifel mehr daran bestehen, daß es sich um ein Gewitter handelte und daß es auf sie zukam. Der Wind tobte um sie her und bewarf sie mit Asche und Staubteilchen. Ein dumpfes Dröhnen grollte unheilvoll aus dem Himmel. Finnbogg führte sie in gerader Richtung über die Ebe ne. Sie gingen raschen Schritts und kämpften gegen den Wind an. Mehr als einmal hätte Clive fast das Gleichgewicht verloren, als ihn eine unerwartete Böe mitten im Schritt erwischte. Einmal stöhnte Annabelle auf und blieb plötzlich stehen, um etwas aus dem Auge zu entfernen. Anschließend ging sie weiter und schirm te dabei das Gesicht mit einer Hand ab. Das Gewitter kam näher. Es war jetzt nicht mehr eine Feuerwand am entfernten Horizont. Blauweiße Schlan gen zischten mit elektrischer Grazie durch die Dunkel heit. Winzige pfeilartige Zungen leckten über den Bö
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den, was Clive mit wachsender Besorgnis erfüllte. Jede elektrische Entladung schien ein Augenpaar zu haben, das ihn anstarrte. Chang Guafe blieb so abrupt stehen, daß Tomàs und Sidi von hinten auf ihn prallten. »Ertaste einen Hitze flecken unmittelbar vor uns«, verkündete der Cyborg, wobei er Tomàs' unterdrücktes Fluchen überhörte. »Was ist das?« fragte Clive knapp, während er dafür sorgte, daß jeder in Bewegung blieb. »Wie weit vor uns?« »Unbekannt, aber der Fleck ähnelt denen, die ich am Abgrund gesehen habe«, anwortete Chang Guafe. »Entfernung annähernd eintausend irdische Meter.« »Die Lüftungsschächte?« Chang Guafe hob die Schultern. »Unsicher. Aber der Fleck ist ähnlich.« Clive blickte erneut mit bedenklichem Gesicht zum Himmel. Die cyanblauen Borten wurden von den glat ten Steinhaufen, die über die Oberfläche diese Welt ver streut lagen, seltsam reflektiert, und sie bildeten flüchti ge Seen eines blauen Feuers, die innerhalb eines menschlichen Herzschlags geboren wurden und wieder starben. Reine elektrische Wut brach über sie herab, und sie würde sie ohne jede Hoffnung auf Schutz erreichen, lange bevor sie die tausend Meter überwunden hätten. Clive kaute sich besorgt auf den Lippen herum, wäh rend sich ihm die Nackenhaare aufrichteten. Er war nicht so töricht, auf irgend etwas im Dungeon zu ver trauen, auch nicht dem Wetter. »Finnbogg!« rief er über den anschwellenden Wind hinweg. »Besteht die Mög lichkeit, daß Smythe diese Hitzequelle zum Ziel genom men hat?« Finnbogg blieb nicht stehen und hielt die Nase eng an den Boden gedrückt, als er antwortete. »Smythefreund und viele Gerüche bewegen sich lange Zeit immer ge radeaus. Nase sagt, immer geradeaus okay!« Clive rief Chang Guafe zu: »Deine Hitzequelle ist gleichfalls direkt vor uns?«
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»Bestätigung!« versicherte ihm der Cyborg. Plötzlich zischte die Luft um sie her, und die Welt un ter ihnen bebte und wurde vollkommen weiß. Donner dröhnte mit einem ohrenbetäubenden Krach und der Boden bebte, als ein kobaltfarbener Hammer krachend gegen einen Stein schlug und Splitter und Teilchen durch die Luft sausten. Clive schlug sich beide Hände vors Gesicht. Das Brennen hinter seinen Augen war ein ganz besonderer Schmerz, und als er zwischen den Fingern hindurchlug te, tanzte die Welt in schimmernden Nachbildern. »Ich hab' keinen Blitzableiter, verdammt noch mal!« kreischte Annabelle. »Das war verflucht nah!« Die Welt kreischte in einem harten und schrecklichen Weiß. Clive warf die Hände hoch, um sein Gesicht zu schützen, und er spürte, wie die Haut auf seinen Armen bei einer galvanischen Entladung kribbelte. Der Donner wurde zu einer Welle, die ihn hochhob und auf den Rücken warf. »Lauft!« schrie Clive, während er sich wieder aufrap pelte und nach Annabelles Hand griff. »Chang über nimmt die Führung. Haltet euch in Richtung auf die Hitzequelle!« Er winkte den anderen zu. »Folgt Chang!« Finnbogg reckte sich traurig. »Huch, Finnbogg unter Feuer!« »Ai, Christo!« schimpfte Tomàs, bekreuzigte sich und sah den Cyborg an. »Adiante! Los, los!« Der nächste Donnerschlag krachte wie ein Pistolen schuß. Chang Guafe führte sie an, während sie über die Ebene hetzten. Der Himmel schleuderte ein weißes Messer nach dem anderen hinab, die die schwarzen Steine entzweischnitten und verbrannten, die ihre Sicht durchbohrten und die Dunkelheit von der Welt wegmei ßelten. Sie liefen halb blind, sahen kaum den Rücken des Cyborgs vor ihnen, dessen Metallkörper im Sturm blau, weiß und rot gestreift schimmerte. Ein Blitzschlag fuhr rechts neben ihnen in die Erde.
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Tomàs kreischte auf und stolperte. Ehe Clive und Anna belle ihn erreichten, schoß Shriek zwischen ihnen her vor und schnappte sich den kleinen Portugiesen. Weiter! drängte die Arachnida. Ich werde ihn tragen! Dann fiel sie wieder zurück und bildete die Nachhut, während Tomàs fluchte und sich die blutende Wange hielt. Da Clive nicht sah, wohin sie liefen, war es für ihn nicht möglich zu beurteilen, wie weit sie noch zu laufen hatten. Das Herz hämmerte ihm in der Brust, und der Atem kam keuchend und stoßweise. Seine Beine fühlten sich an wie aus Blei, und er merkte, daß er nur zu bald aufgeben maßte. Dennoch kämpfte er sich weiter, for derte von den Gliedmaßen noch größere Anstrengung, während er versuchte, mit der unermüdlich laufenden Annabelle mitzuhalten. Dann stolperte Neville. Ohne darüber nachzudenken, faßte Clive seinen Bruder beim Arm und zog ihn wieder hoch. »Wir sind fast da!« sprach er ihm aufmunternd zu. Er hatte keine Ahnung, ob das wirklich zutraf. Die Blitzschläge krachten mit wachsender Wut. Die Welt brüllte in Donner und Wind. Chang Guafe und Finnbogg blieben stehen. Sidi holte sie einen Augenblick später ein und sackte atemlos in die Knie. Als nächste kamen Clive und Annabelle zusam men mit Neville an, und dann schlossen Shriek und To màs auf. Clive ergriff den Cyborg beim Arm und stützte sich für einen Augenblick darauf. »Was ist los?« fragte er keuchend. »Warum bleiben wir stehen? Sind wir da?« Chang Guafe zeigte nach vorn. Im Licht der Blitze er spähte Clive einen dunklen Fleck, der selbst im strah lendsten Blitzlicht nicht hell wurde. Sie standen zehn Meter von dessen Rand entfernt. Er kroch vorsichtig darauf zu. Es war anscheinend ein Loch im Boden, von vielleicht fünf Metern Durchmesser und kreisrund, und als er über den Rand spähte, er
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leuchtete eine rasche Folge von Blitzen die schmale Me talleiter, die hinab in die Tiefe führte. Finnbogg schnüffelte am Rand herum. »Smythe freund und viele Gerüche gehen nach unten!« rief er be geistert vom oberen Rand der Leiter her. »Finnbogg nicht gefehlt! Smythefreund diesen Weg gekommen!« Clive holte tief Luft und stieß sie wieder aus. »Dann werden wir das gleichfalls tun«, sagte er, trat vorsichtig über den Rand und setzte den Fuß auf die erste Sprosse der Leiter. »Wirf den Sack da weg, Finnbogg. Du kannst nicht mit vollen Händen absteigen!« »Warte verdammt noch mal 'ne Minute!« hielt Neville entgegen. »Meinst du nicht, wir sollten das erst einmal besprechen? Ich meine, wir haben keinen blassen Schim mer, wohin das hier geht oder ob es überhaupt irgend wohin geht!« Annabelle schob Neville mit den Schultern beiseite und folgte Clive den Schacht hinab. »Du willst also draußen bleiben und 'nen galvanischen Haarschnitt ver paßt kriegen, Klotzkopf, gut, das ist deine Sache. Du und der Friseur können alles besprechen, was ihr wollt. Aber geh mir aus dem Weg!« Sie ließ sich auf Hände und Knie fallen und untersuchte die erste Sprosse sorg fältig mit den Zehen. »Erinnere dich, Nevillefreund, was du Finnbogg ge lehrt hast!« Finnbogg klopfte Neville kräftig auf den Rücken und stieß den armen Mann damit praktisch über den Rand. »Heho, und God Save the Queen und halt die Ohren steif! Los! Finnbogg und Annie!« Sie kletterten in die Dunkelheit hinab, bis von dem Gewittersturm über ihnen nichts mehr sichtbar war als ein runder blitzender Mond, eine silberblaue Scheibe, die immer kleiner wurde, je weiter sie abstiegen. Kein bedrohlicher Wind blies im Schacht, obgleich die Luft warm und stickig war. »Ein derartiges Unwetter habe ich noch nie erlebt«, sagte Sidi Bombay irgendwo über Clive. »Keine Wolken,
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kein Regen. Es war, als hätte die Hand Shivas nach uns gegriffen!« Ein Schweigen legte sich über sie, und sie konzen trierten sich auf den Abstieg. Clive tastete behutsam je weils nach der nächsten Sprosse, er überzeugte sich vor jedem Schritt davon, daß die Leiter weiterführte. Eine Weile später durchbrach Neville das Schweigen. »Glaubt ihr, das hier ist der Weg zur nächsten Ebene?« Keiner gab Antwort. Sie hatten keine Möglichkeit, das zu erkunden, doch Clive bezweifelte es. Je tiefer sie in die Ebenen des Dungeon abgestiegen war, desto ver wirrender waren die Schleusen geworden. Eine simple Leiter von einer Ebene zur nächsten -war einfach zu we nig. »Ich glaube, ich sehe ein Licht!« sagte er schließlich gedämpft und hoffte dabei, daß die anderen den Hin weis verstünden. Wenn es am Ende des Tunnels ein Licht gab, mochte es gleichfalls jemanden geben, der sie dort erwartete. Chang hatte damals am Abgrund die Möglichkeit einer unterirdischen Industrie erwähnt. Er horchte nach dem Geräusch von Pumpen, von irgend welchen Maschinen, vernahm jedoch nichts derglei chen. Als er weiter hinabkletterte, machte ihn die Stille nervös. Er kam sich wie ein Opfer vor. Er verspürte fast die Gewehrläufe, die auf seinen Nacken gerichtet wa ren. Es war Licht — künstliches Licht. Der Schacht durch brach die Decke eines weiteren Tunnels. »Bleibt hier!« befahl Clive den anderen, als nach seiner Schätzung nicht mehr als zwanzig Stufen blieben, bis sie den Schacht verließen. So leise, wie er konnte, bewegte er sich auf die Öffnung zu. Die Leiter endete am Rand des Luftschachts. Clive hielt erneut inne und horchte. Er ergriff den Degen und ließ sich sacht zu Boden gleiten. Er blinzelte, schirmte die Augen vor der schmerzhaften Helligkeit ab und wartete, bis seine Augen sich daran gewöhnt hatten.
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Es war überhaupt kein Tunnel, sondern ein riesiger Gang. In regelmäßigen Abständen waren Leuchtkörper in die Decke eingelassen und spendeten ein Licht, das nach einigen Augenblicken ganz sanft und angenehm war. Die Wände waren völlig glatt, und der Boden war mit großen polierten Steinplatten ausgelegt. Zur Rech ten führte der Korridor eine kurze Strecke weiter und endete dann in einem blinden Gang. Zur Linken befand sich eine Kreuzung. Er bewegte sich noch immer leise, nervös, und er hielt eine Hand auf den Knauf des Degens gelegt, wäh rend er sich zu der Kreuzung schlich und in alle Rich tungen spähte. Beide Gänge machten eine Biegung und versperrten die weitere Sicht. Großartig, dachte er. Ein weiteres verfluchtes Labyrinth! Er ging auf Zehenspitzen zum Luftschacht zurück und flüsterte den anderen zu, daß der Abstieg unge fährlich sei. Sobald sie einmal unten waren, stellte sich Annabelle direkt neben ihn, und Finnbogg schnüffelte herum. »Oh!« sagte er entschuldigend, »kein Geruch auf diesen merkwürdigen Steinen.« Shriek kam als letzte aus dem Luftschacht heraus. Sie schaute in beide Richtungen und kicherte leise und an erkennend. »He, hier unten ist es kühler!« bemerkte Annabelle und rieb sich energisch die Arme. »Das ist eine ange nehme Überraschung!« »Air-conditioned!« meldete Chang Guafe. »Ge ruchssensoren entdecken sehr schwache Spuren von chemischem Kühlmittel.« »Schön, sehr schön!« entgegnete Annabelle strah lend. »Zivilisation!« Clive sah sich unbehaglich um. »Das ist ein Begriff mit vielen Bedeutungen«, warnte er. »Wir wollen kein voreiliges Urteil fällen!« Plötzlich lag ein leises, schnurrendes Geräusch in der Luft. Die Gruppe drehte sich wie ein Mann um und sah,
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wie sich ein Teil der Wand nach außen drehte. Clive und Neville reagierten gleichzeitig und zogen die Degen. Annabelle duckte sich und brachte die merkwürdige Lichtstrahlwaffe des Baron Tewkesbury in Anschlag. Shriek zog ein Stachelhaar heraus und bereitete sich darauf vor, es zu werfen. Hinter dem Wandabschnitt bewegte sich jemand. »He, Egon! Diese Stimme kenn' ich doch! Ei-reif, das is' Clive, wie er leibt und lebt! Leg dir mal 'n dickeres Fell zu, Mann!« Baron Samedi schob sich den Zylinderhut flott zu recht, als er in das Licht des Korridors trat und dabei das breite ansteckende Lächeln aufsetzte.
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KAPITEL 20
Verzerrtes Selbst mir dafür, daß ich undankbar scheine, Sa Vergib medi«, sagte Clive und hielt die Degenspitze weiterhin auf ihn gerichtet, »aber bleib bitte, wo du bist, bis du erklärt hast, wie du hier hergekommen bist. Wir sahen dich sterben.« Neville hielt die Klinge gleichfalls hoch. »Wir sahen euch beide sterben.« »Aber seht ihr denn nicht?« sagte Annabelle, senkte das Gewehr und entspannte sich. »Das ist die Antwort. Dies muß ein weiterer Klon sein.« Samedi stieß einen melodramatischen Seufzer aus. »Der letzte in der Linie, fürcht ich, Egon.« Clive senkte vorsichtig die Klinge. »Was meinst du damit?« Samedi seufzte erneut. »Damit mein' ich, irgend je mand hat die Datenbank mit dem Programm für mei nen genetischen Code und meine Persönlichkeit ge löscht. Es kann keine weiteren Samedis mehr geben. Und dann gibt's noch einiges andere, was ihr wissen solltet, aber nich' hier. Is' nich' sicher.« Aber Clive konnte sich noch nicht ganz dazu durch ringen, ihm Vertrauen zu schenken. »Woher wußtest du, daß wir gerade hier auftauchen würden? Es gibt doch noch andere Schächte, warum hast du ausgerech net hier gewartet?« Samedi zog eine Schnute und stützte die Hände auf die knochigen Hüften. »He, ich hab' mich hier unten 'ne lange Zeit als einer der Defekten versteckt, und ich hab' die Rattenfänger an der Nase rumgeführt und so, und ich hab' die Augen aufgehalten. Ich hab' sie gesehen, als sie euren Freund reingebracht ham. Sie wandern
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manchmal oben auffer Oberfläche rum, aber sie kom men zurück, weil's da oben nix zu fressen gibt. Ich hab' mir an den Fingern abgezählt, daß ihr bald vorbeirau schen würdet, um ihn zu retten. Ihr habt allerdings ganz schön lang gebraucht. Ich dachte schon, ich würd' in der Kammer da ersticken.« Bei der Erwähnung des Sergeanten zogen sich Clives Brauen zusammen. Er senkte die Waffe. »Smythe ret ten? Wovor? Wer hat ihn in der Gewalt?« »'ne Bande von Defekten«, antwortete Samedi ge ringschätzig, »un' ihr rettet ihn am besten schnell. Is' nich' gerade angenehm, was die mit ihm machen.« Er warf einen Blick in den Gang zurück. »Is' auch nich' an genehm, was mit uns passiert, wenn wir hier stehnblei ben.« Clive steckte den Degen in die Scheide und bedeutete Neville, das gleiche zu tun. Annabelle schob das Ge wehr unter den Gürtel ihrer Jeans und zog das Hemd darüber, so daß man's nicht sah. »Kannst du uns zu Smythe führen?« fragte Clive. »Kommt drauf an«, antwortete Samedi und starrte mit weitgeöffneten Augen an der Gruppe vorbei. »Worauf?« schnappte Clive. Samedi zeigte an ihm vorbei. »Ob ihr dem Rattenfän ger entkommen könnt, Egon. Tschüs!« Mit diesen Wor ten drehte er sich um und rannte davon. Clive wirbelte gerade rechtzeitig herum, um einen leuchtenden Blitz zu sehen. Gleichzeitig breitete Chang Guafe die Arme aus und fegte sie zu Boden, als der sen gende Strahl durch die Luft brannte und sie nur knapp verfehlte. Clive kämpfte sich aus dem Gemenge von Körpern heraus und beachtete den Schmerz in der Seite nicht weiter, wo ihm jemand mit dem Ellbogen die Rip pen zerdrückt hatte. Er duckte sich, um einen Blick auf den Angreifer zu werfen. Der Rattenfänger war ein Roboter, ein beinloses me tallenes Ungeheuer, das sich nahezu lautlos auf Ketten
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bewegte, wie ein kleiner Panzer. Die Arme endeten nicht in Fingern, sondern in gelb glänzenden Linsen, aus denen es die Strahlen gefeuert hatte, die sie fast das Leben gekostet hätten. Während er noch hinsah, leuch teten die Linsen erneut auf, und das riesige einzelne Auge der Kreatur richtete sich direkt auf sie. »Achtung!« rief Annabelle und stieß Tomàs mit dem Fuß beiseite, während sie das Gewehr aus dem Gürtel zerrte. »Aus dem Weg!« Sie stieß Finnbogg aus der Sichtlinie, hob das Gewehr und richtete es auf den Ro boter. Der smaragdgrüne Strahl schoß hervor und zerstörte die Augenlinsen des Roboters. Annabelle feuerte erneut und schwang verzweifelt den Strahl in einem weiten Bogen. Metall kreischte und zischte, als gebündelte Energie die Kehle des Ungeheuers zerschnitt. Der Kopf taumelte einen Augenblick lang, fiel nach vorn und bau melte an einem Gewirr aus farbigen Drähten und Ka beln. Der Rattenfänger drehte total durch, wirbelte wie wild auf den Ketten umher, wedelte mit den Armen und erfüllte dabei den Gang mit tödlichen Energiestrahlen. Die Mitglieder der Gruppe krochen um ihr Leben, wan den sich, duckten sich und wälzten sich umher, um dem Tod zu entrinnen. Dann stieß Shriek ihren furchtbaren Kampfschrei aus und warf sich auf den Rattenfänger. Ihr siebenfüßiger Körper traf die Maschine an der Seite und warf sie um. Die Ketten surrten nutzlos umher, während sie mit zwei Füßen auf einem der Arme stand und den anderen Arm aus der Halterung riß. Wütend riß und zerrte sie an der Maschine, bis sie unter ihren Fäusten wie eine Dose zu sammengeknüllt dalag. Drähte und Schaltung brachen hervor und verursachten einen Kurzschluß nach dem anderen, Funken sprühten, und Rauch stieg aus den Verbindungen und den Rissen in der Panzerung hervor. Shriek stieß einen enttäuschten Schrei aus, hob den Ro
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boter mit den vier mächtigen Armen hoch und warf ihn an die Wand. Der Aufprall verursachte ein gräßliches Geräusch, und von dem Rattenfänger blieb nur noch ein Haufen Müll übrig. Shriek stand siegesbewußt über dem Schrott und at mete schwer. Langsam sah sie sich nach den anderen um und teilte die Kieferknochen zu einem Grinsen, und Clive spürte sie im Bewußtsein. Gut fühlt sich das an. »He, Süße, ich bin ja sooo beeindruckt!« Samedi späh te weit unten im Korridor um eine Ecke herum. »Ich hab' noch nie gesehen, daß jemand so was mit 'nem Rattenfänger gemacht hat. Aber ihr nehmt jetzt besser die Beine in die Hand. Krach zieht sie an. So orten sie die Defekten, und so ham sie uns vielleicht hier gefunden.« »Dann bring uns zu Smythe!« befahl Clive und unter drückte das Bedürfnis, ihn ärgerlich anzuschreien. Die anderen scharten sich um ihn. Samedi grinste und winkte. »Kommt!« sagte er. Sie gingen rasch, aber leise, durch einen Gang nach dem anderen, durch Räume von der Größe eines Wand schranks und Säle so groß wie ein Warenhaus. Je tiefer sie in den Komplex eindrangen, desto rätselhafter wur de der Ort. Kristallröhren verschiedener Größen hingen von der Decke herab. Darinnen kreisten seltsame Che mikalien und zähe Flüssigkeiten. Einige strömten in ste tem Fluß dahin, andere pulsierten, als würden sie von einenrriesigen verborgenen Herzen angetrieben. Einige strahlten einen weichen goldfarbenen Glanz aus. In einem Saal gab es zahllose viereckige Plastik schachteln, die ordentlich vom Fußboden bis zur Decke gestapelt waren. Auf jeder standen eine Reihe unleserli cher Symbole, und Clive nahm an, daß es sich um Nummern von Partien handele. Die nahtlosen Schach teln widersetzten sich allen Versuchen, sie zu öffnen, bis Samedi ihnen zeigte, wie man's anfangen mußte. Er berührte gleichzeitig die ersten beiden Symbole auf ei nem Behälter, und der Deckel öffnete sich langsam.
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»Was ist das?« fragte Clive, als er im Innern eine farb lose Masse erblickte. Chang Guafe beugte sich vor und steckte die Hand in die Masse. »In einfachster Beschreibung«, antwortete er nach einem Augenblick, »rohe organische Masse. Möchtest du eine detaillierte Analyse?« Clive lehnte höflich ab, und sie gingen weiter. Kurz darauf entdeckten sie einen weiteren Saal mit den gleichen Kartons, aber einige davon waren geöff net. Leere Behälter lagen überall verstreut, und schmie riger Schleim klebte auf dem Fußboden und an den Wänden, so hoch Clive reichen konnte. Ein ziemlich un angenehmer Geruch hing in der Luft. Ein altes Hemd lag zusammengeknüllt in einer Ecke; ein rostiger Schlüsselbund daneben. Neville fand einen alten Schuh. Annabelle rutschte auf einem zerbroche nen Bleistift aus, Sidi Bombay auf etwas anderem. »Huch!« machte Finnbogg naserümpfend. »Paß auf deinen Arsch auf, Egon!« flüsterte Samedi. »Die Defekten, die du erwähntest?« wollte Clive wis sen, und Samedi nickte. »Was sind sie?« »Defekte«, wiederholte Samedi und strich beschämt die zerlumpte Jacke glatt. »Klone, die nicht in die wirkli che Welt passen, weißt du? Klone, die nicht richtig ge wachsen sind oder deren Programmierung nicht richtig funktioniert.« Er hob die Schultern und stieß einen der leeren Kartons mit der Fußspitze beiseite. »Nur Fleisch, das sind sie, manchmal zerkocht, manchmal zu roh, aber nicht geeignet zum Dienen.« »Du meinst, die Herren des Dungeon machen Fehler, Hacker?« fragte Annabelle. Sie hielt noch immer das Gewehr in der Hand, und ihr Blick flackerte hinüber zu den Schatten. Samedi hob erneut die Schultern und sah sie an. »Je des Fließband liefert ein gewisses Maß an Ausschuß«, sagte er und führte sie aus dem Saal hinaus. »Aber 'n Teil von dem Ausschuß kann noch immer denken, un'
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die Typen kriegen's hin, nicht den üblichen Weg in die Entsorgung zu gehen, 'türlich könn'n se sich nur hier draußen verstecken. Auffer Oberfläche gibt's nix zu es sen, sie können auch nich' nah' anne Schleuse ran.« »Schleuse?« fragte Clive, faßte Samedi am Arm und zog ihn herum. »Das Tor zur nächsten Ebene? Ebene acht? Ist das hier?« »Genau, Scheff. Das hättste auch im Palast vom Mor genstern rausgekriegt, aber ich schätz' ma, das war auch was ziemlich Übles, wa?« Clive schnappte sich Samedis Zylinderhut und rieb den Ärmel daran. Er zögerte und gab ihn zurück. »Du hast das so höflich gesagt«, meinte er zu dem Klon. »Du wußtest wohl nicht, daß wir meinen Vater dort gefun den haben, oder zumindest seinen Doppelgänger.« »Weiß nich', was ihr gefunden habt, nachdem ich ab gekratzt bin«, antwortete Samedi aufrichtig. »Na ja, ihr hättet noch so einen wie mich finden sollen, besser an gezogen natürlich, wie jemand halt, der in so 'nem Pa last lebt und gebildet daherredet. Aber jemand hat ihn umme Ecke gebracht, genau wie sie die beiden anderen Samedis in den Abgrund geschmissen haben, die glei chen Leute, die meine Genbank gelöscht haben. Hab' ich gefühlt, wißt ihr?« »Du hast das gefühlt?« fragte Sidi Bombay. »'türlich, Mann!« antwortete Samedi. »Wie kannse so was nich' fühlen, wenn deine gesamte Programmierung un' all deine Kopien gelöscht werd'n! Ich mein', du kanns' das Kreischen hier drin hör'n!« Er tippte sich an die Schläfe. »Interessant«, meinte Sidi. »Als wärst du mit all dei nen Leben in Berührung, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Mein Glaube spricht von etwas Ähnli chem.« Finnbogg kroch heran und mischte sich in die Unter haltung. »Okay, wie kommt, Samedifreund lebt noch immer, wenn Geschwister alle sterben?«
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»Weil ich meinen Arsch versteckt gehalten hab', Egon«, antwortete Samedi aufrichtig. »Ich sollte euch vom Palast zum Tor im zentralen Saal bringen un' euch auffen Weg zur nächsten Ebene schicken, aber ich bin jetz nur noch 'ne wandelnde Leiche, 'n Zombie. Aber Zombie oder nich', ich hatte keine Lust, in irgend 'ne Falle zu rennen, die im Palast auf mich gewartet hat. Ich hab statt dessen die eigene Haut gerettet.« Clive starrte in die hohlen Augen des Wesens und trat einen Schritt zurück. »Stimmt schon, Clive Folliot«, sagte Samedi und be gegnete gleichmütig dessen Blick. »Ich habe mich mei ner programmierten Aufgabe verweigert. Ich bin jetzt auch ein Defekter.« »Ich geb' den Teufel drum, ob du die Königin Viktoria in Lumpen bist«, sagte Neville ungeduldig. »Bring uns nur zu Smythe und zu dem Tor, damit wir hier heraus kommen!« »Warte!« beharrte Clive und schnitt seinem Zwil lingsbruder mit einem Wink das Wort ab. Er wandte sich wieder an Samedi. Was der Klon gesagt hatte, hatte ihn nur um so mehr davon überzeugt, daß es zwei ein ander bekämpfende Fraktionen im Dungeon gab. »Wer hat deine Genbank gelöscht? Weißt du das?« Samedi schüttelte den Kopf, und über das bleiche Ge sicht flackerte so etwas wie Enttäuschung. »Zunächst zieh'n se uns in 'nem verdammten Tempo auf«, entgeg nete er und fiel in seinen Jargon zurück, »dann füll'n se uns die Koppe mit vorprogrammierter Bioware-Persön lichkeit un' was wir sons' noch wissen sollen. Aber je mehr ich drauf bestanden hab', meine eigenen Gedan ken zu denken und selbständig zu handeln —, desto ra scher verschwindet ihr Zeugs, 'türlich isses möglich, daß die Antwort auf deine Frage überhaupt nie in mei'm Programm dringewesen is.« »Dann laßt uns mal von hier abhauen!« schlug Anna belle vor.
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Sie gingen hinüber zu der offenen Tür auf der ande ren Seite des Saals. Die Lichter erloschen auf einen Schlag, und sie hielten mitten in der Bewegung inne. Es war nicht völlig dunkel. Genügend Licht sickerte durch die Eingänge vor und hinter ihnen, daß sie sehen konn ten, wohin sie gehen mußten. Sie gingen vorsichtig wei ter. Eine riesige ungeschlachte Gestalt versperrte jäh die Tür und warf einen grotesken Schatten bis zu ihnen hin. Zwei rote Augen glühten, und das Licht des Korri dors glitzerte auf mächtigen metallenen Schultern. »Zurück!« sagte Clive, ohne die Augen von der Ge stalt vor ihnen abzuwenden. Sie sah irgendwie vertraut aus. »Is' nich', Hacker!« sagte Annabelle. »Is auch ver sperrt.« Clive zog den Degen und riskierte einen raschen Blick über die Schulter. Vier Gestalten schlurften durch die rückwärtige Tür. Zwei davon waren so groß wie Shriek. Eine war wesentlich kleiner, etwa so groß wie Finnbogg. Die letzte war vernünftiger proportioniert. »Dann vorwärts!« entschied Clive. »Da steht nur ei ner.« Er hatte zu voreilig gesprochen. Zwei weitere Wesen gesellten sich zu der großen Silhouette. Und noch schlimmer: Clive entdeckte eine Bewegung im Gang da hinter, und da sich keiner der drei umsah, mußten es weitere Verbündete von ihnen sein. »Sieht nach Essenszeit aus«, sagte Neville und trat zu Clive. Er zog gleichfalls den Degen. »Ich will euch ja nicht deprimieren«, murmelte Anna belle, »aber habt ihr euch schon mal vorgestellt, ihr wärt rohe organische Materie?« »Sie werden euch nicht fressen«, versicherte ihnen Samedi. »Das is' 'ne Erleichterung, amigo«, knurrte Tomàs. »Sie werden euch das genetische Material entnehmen
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und eure Teile an die Maschinen verfüttern«, fuhr der Klon erneut akzentfrei fort, »nachdem sie euch die Psy-* ehe abgesaugt, alle Erinnerungen aufgezeichnet und sie in Datenbanken eingespeist haben.« »Warum sollten sie das tun?« wollte Sidi Bombay wissen. »Wenn ihre Schöpfer versuchen, sie zu zerstö ren?« »Sie bringen se nich' alle umme Ecke, Egon«, antwor tete Samedi rasch. »Sie halten nur die Zahl gering, 'n paar Defekte verrichten untergeordnete Dienste, ob gleich der größte Teil der Klonbank automatisiert is'. Aber um euch zu den Analysegeräten zu zerren, müs sen die Maschinen ihnen gleichfalls den Zugriff zum Zentralprozessor gestatten, und da können sie, wenn sie fix sind und wissen, was zu tun is, 'ne weitere Kopie von sich herstellen. Meistens erkennen die Maschinen den falschen Befehl und verweigern sich, aber nich' im mer.« »Reproduktion mit 'nem Kuchenmesser«, kommen tierte Annabelle trocken. »Ich will ja nich' drängen, Hacker, aber es is' wohl Zeit zu verschwinden. Ich hab den Baalbec, also nimmt Tomàs besser das hier.« Sie reichte ihm die Strahlenwaffe. Tomàs umschloß sie mit der Hand und sah kalt auf. »Obrigado. Dann werd' ich mal das große Ungeheuer umlegen.« Er hob die Waffe und richtete sie auf die rie sige Silhoutte im Eingang. »Nein!« Chang Guafe schloß fest die Hand um To màs' Unterarm und drückte den Lauf nach unten. »Er muß mein sein!« Natürlich, dachte Clive. Kein Wunder, daß der Umriß so vertraut war. Chang Guafes visuelle Sensoren muß ten sich sofort sicher gewesen sein. »Das bist du, nicht wahr?« fragte Clive besorgt. »Sie haben einen Klon von dir gemacht.« »Oh, die Herren des Dungeon besitzen jetzt mit Si cherheit genetische Proben von euch allen. Blutstropfen
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kleine Hautproben. Leicht genug zu kriegen, wißt ihr, besonders bei all euren Schrammen. Sin' eure Erinne rungen un' eure Persönlichkeiten, hinter denen se be sonders her sind.« Wesen Clive, sagte Shriek. Sie hatte eine ganze Weile in Schweigen verharrt, aber in ihren Gedanken lag jetzt so etwas wie Nachdruck. Hinter uns sind weitere Wesen. Zahl nimmt zu. »Also los, dann wollen wir mal!« sagte Clive mit grimmiger Entschlossenheit. Clive, Neville und Chang Guafe gingen in einer Linie vor. Aber sobald sie sich in Bewegung gesetzt hatten, griffen die Defekten sie von beiden Seiten her an. Shriek stieß jenen schrecklichen Laut aus, nach dem sie sie benannt hatten, und schleuderte eine Handvoll Sta chelhaare auf die rückwärtigen Angreifer. Fünf Körper stießen gleichzeitig gräßliche Schmerzensschreie aus und stürzten zu Boden, und die Körper schwollen schaudererregend an, wurden rot und platzten auf, und Blut leckte heraus. Im selben Moment stieß Tomàs einen hastigen Fluch aus, sprang zur Seite und hob die Waffe. Der Smaragdstrahl blitzte auf, doch das Ziel war ver schwunden. Der tödliche Strahl verfehlte den ChangKlon, trennte jedoch der Kreatur dahinter einen Arm ab. Deren Kreischen hallte durch den riesigen Saal. Chang Guafe und der Klon krachten aufeinander. Sie fielen in einem Gewirr von Armen und Beinen zu Boden und schlugen aufeinander ein, bis einer der beiden plötzlich einen Vorteil errang, den gepanzerten Fuß auf die Brust des anderen setzte und zutrat. Eine schwere Gestalt schoß zurück in einen der Stapel von Plastikkar tons und wurde rasch von den herabstürzenden Teilen begraben. Auf der Stelle jedoch flogen die Behälter in alle Richtungen beiseite, als sich der Cyborg freikämpfte und erneut angriff. Für Clive waren Chang Guafe und der Chang-Klon völlig identisch, und er hatte nicht die Zeit, den einen,
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vom anderen zu unterscheiden. Er hob den Arm, um ei nen der leeren Kartons beiseite zu schieben, der gerade auf ihn zugeflogen kam. Den Defekten, der ihm folgte, sah er zu spät. Arme schlossen sich ihm um den Leib, nagelten seine Arme fest und hoben ihn von den Füßen. Er sah in ein Gesicht, das fast menschlich war, außer dem einen Auge, das gut drei Zentimeter tiefer saß als das andere, als wäre das Fleisch auf der einen Seite et was geschmolzen. Die Gestalt verfügte jedoch über übermenschliche Kräfte. Clive wurde der Atem aus den Lungen gepreßt, als ihn die Kreatur drückte, und seine Rippen drohten nachzugeben. Verzweifelt hämmerte er mit aller Kraft mit dem Kopf gegen die für ihn erreichbare Nase und hörte, wie sie zerbrach. Blut spritzte hervor, und sein Gegner lockerte den Griff, als er den Kopf mit einem gurgelnden Aufschrei zurückwarf. Clive wiederholte den Trick, hieb ein zweitesmal auf die mißhandelte Na se ein und rief damit ein erneutes Wimmern hervor. Die Kreatur ließ ihn los und schlug sich die Hände vors Ge sicht. Clive sprang mit dem Degen in der Hand zurück und bereitete sich darauf vor, seinen Gegner ins Jenseits zu befördern. Aber im letzten Augenblick stieß er einen unterdrückten Fluch aus, schlug die Faust auf den be reitwillig dargebotenen Kiefer und schickte das Wesen zu Boden, wo es bewußtlos liegenblieb. Er sah sich ha stig um, wer von den anderen Hilfe benötigte. Vier Kreaturen hatten Neville gegen einen Stapel Kartons gedrängt. Unbelastet von Clives Hochachtung vor den Regeln von Queensberry schlitzte Neville zwei von ihnen mit raschen und glatten Streichen die Einge weide auf und trat einem dritten zwischen die Beine, was ihm Zeit gab, die Brust des vierten zu durchstoßen. Er atmete noch nicht einmal schwer, als er den dritten erledigte, der auf dem Boden zusammengesackt war und das Geschlechtsteil umklammert hielt. Tomàs' grüner Strahl blitzte durch die Dunkelheit, als
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weitere Defekte durch die Eingänge strömten. Der klei ne Portugiese hatte für sich einen Thronsitz auf einem Stapel von Behältern gefunden und ließ den tödlichen Strahl vor und zurück über die Eingänge gleiten, wobei er portugiesische Flüche und Kraftausdrücke von sich schleuderte. Viele der Kreaturen kamen dennoch durch, weil sie sich unter dem Strahl wegduckten, aber der Sta pel der Leichname wurde rasch größer, und Tomàs feu erte und feuerte noch immer. Dann hielten die beiden Chang Guafes einander fest in den Armen, umschlungen von einem Gewirr schnap pender Tentakel, die aus allen Teilen der Körper ragten; sie taumelten rückwärts wie zwei wütende Schwerlaster und stolperten gegen Tomàs' Haufen. Kartons und To màs fielen zu Boden. Clive fand keine Gelegenheit, ihm zu helfen, da sich ein wahres Ungeheuer auf ihn stürzte. Es erinnerte an eine Qualle auf Beinen, und stachelbewehrte Tentakel schlugen wie Peitschen nach seinem Gesicht. Er hob rasch den Degen in einem Bogen hoch, schnitt die tödli chen Gliedmaßen durch, trennte einige ab, die sich ihm zu Füßen kringelten. Aber das Untier stürzte weiter auf ihn zu, zwang ihn zum Zurückweichen, selbst als er wieder und wieder zuschlug. Kalte und böswillige Au gen funkelten ihn aus der Masse des Dings an. Plötzlich ließ Clive sich fallen, fegte mit dem einen Knie buchstäblich den Boden und schwang die Klinge mit aller Macht. Die rasiermesserscharfe Schneide zog eine tiefe blutige Linie quer über das Knie der Kreatur. Sie stieß einen unmenschlichen Schmerzensschrei aus und hielt inne. Einen Augenblick lang starrte sie Clive unsicher an, dann kam sie erneut auf ihn zu. Aber sie bewegte sich jetzt langsamer, vorsichtiger. Clive stieß einen Karton beiseite, hakte dann den Fuß in die offene Seite und trat ihn seinem unnatürlichen Angreifer ent gegen. Er segnete seinen Glücksstern, als das Tentakel hochfuhr, um den fliegenden Karton abzufangen. Er
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trat ganz dicht heran, trieb die Klinge tief in die Kreatur hinein und riß sie mit einer wütenden Bewegung nach unten, ehe er sie wieder herauszog. Eine bleiche ölige Flüssigkeit floß durch den Schlitz in dem Hautsack, das Ding entleerte sich wie eine zerrissene Blase und schlug im Todeskampf schrecklich um sich. Ein weiterer Karton flog auf ihn zu. Er wollte ihn ver ärgert beiseite schlagen. Unerwartet traf ihn das volle Gewicht eines unzerstörten Kartons mitten ins Gesicht. Leuchtende Sterne explodierten in seinem Schädel, und er stürzte zu Boden. Der Degen entglitt seinen Händen. Er kämpfte benommen darum, ihn zu fassen, aber ein Fuß in einem Stiefel trat ihn weiter weg. Er schaute hoch in die Augen von Baron Tewkesbury. »Vater!« schrie Clive entsetzt auf. Der Klon lachte höhnisch, als er mit der riesigen Hand Clive an die Kehle ging. »Laß gut sein, Mensch«, sagte er mit schrecklicher schnarrender Stimme, die in keiner Weise an die des Vaters erinnerte. »Die Program mierung ist fehlgeschlagen! Du bist für mich nichts an deres als Fleisch für den Wolf!« Clive kroch einen Schritt weit zurück und versuchte, der zufassenden Hand und den fast hypnotischen Au gen zu entkommen. Dann trat Annabelle dazwischen und strich mit den Fingerspitzen über diese Hand. Der Baron stieß einen kurzen, - halbverschluckten Schrei aus, als ihn der Stromstoß des Baalbec A-9 von den Füßen hob. Sofort warf sich Finnbogg auf ihn und schloß mit einem furcht erregenden Knurren die Kieferknochen um den Hals des alten Mannes. Etwas Purpurrotes spritzte über den Boden, und Cli ve kniff stöhnend die Augen fest zusammen. »Geht's dir gut, Cliveli?« fragte Annabelle und wand te sich um. »Ich kann das Feld abschalten, falls du Hilfe benötigst.« »Du läßt das Ding an!« rief Clive und taumelte hoch.
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Er sah sich nach dem Degen um, erspähte ihn und griff danach. »Sie ziehen sich zurück«, informierte ihn Annabelle, »das Fleisch erweist sich als ein wenig zäh.« »Finnbogg hört, Annie!« sagte das Hundewesen, das hinter ihnen auftauchte. Von den besudelten Kieferkno chen tropfte das Blut. »Wir haben ihnen was gegeben, an dem sie sich die Zähne ausbeißen können!« Sie schnitt ein Gesicht. »Sieht so aus, als hättest du das Beißen übernommen, Hacker!« Finnbogg wandte sich ab und fuhr sich durchs Ge sicht. Dann wischte er sich die Hand am Fell ab. Es war manchmal beunruhigend, daß Finnbogg es vorzog, im Kampf die Zähne und die mächtigen Kieferknochen zu gebrauchen anstatt der gleichfalls kräftigen Hände. Aber über seinen Erfolg und seinen Mut ließ sich nicht streiten. Ein lautes Krachen ließ sie alle herumfahren. Chang Guafe oder der Chang-Klon sauste durch einen weite ren Stapel Behälter, von einem unglaublich kräftigen Schlag seines Gegners von den Füßen gerissen. Ohne zu zögern, warf sich der Gegner auf seine Beute. Leere Kartons flogen umher. Volle Kartons platzten auf, als sich die Kämpfer auf dem Boden wälzten und einen Vorteil zu erringen suchten. Erneut schüttelte einer den anderen ab, und beide standen wieder auf. Arme und Tentakel griffen nacheinander. Plötzlich tauchte Sidi Bombay zwischen den beiden auf. Annabelle stieß einen Warnschrei aus, aber der In der überhörte sie. Statt dessen zeigte er mit einer klei nen Schachtel auf einen der beiden Cyborgkämpfer und lahmte ihn bis zur völligen Bewegungslosigkeit, einen Fuß vorgestellt, die mächtige Faust mitten im Schwung. Das Bild erinnerte an eine schreckliche Skulptur eines namenlosen Kriegsgottes. Clive hatte die Stasisbox vergessen, die Sidi den Her ren des Donners gestohlen hatte, und er wunderte sich,
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als der Hindu wegtauchte und sich elegant aus dem Weg wälzte. Der unverletzte Cyborg schloß die Hände zusammen, holte aus und hieb sie in das Gesicht des bewegungsun fähigen Gegners. Zu Clives Entsetzen drückten sich Fleisch und Knochen und Metall unter dem Stoß nach innen, wie das Fleisch einer Melone. Die Kreatur tau melte einen Augenblick lang und stürzte zu Boden, die Gliedmaßen noch immer wie eingefroren in der letzten Haltung. Der noch stehende Cyborg wandte sich ihnen lang sam zu, wobei er die Tentakel in den Körper zurückzog. Dann sackten die Schultern ein wenig zusammen, als er zu Sidi Bombay ging, die Hand ausstreckte und ihm aufhalf. »Woher wußtest du, wer wer war?« rief Annabelle aus. »Ich konnte sie nicht auseinanderhalten!« Shriek kam zu ihnen, und alle sechs Augen glühten vor Aufregung und kalter Wut. Sie hielt noch immer ei ne Menge Stachelhaare in der Hand, und das rauhe At men klang wie Steine in einer Trommel. »Ich habe gewartet und genau hingesehen«, antwor tete sie. Er berührte Chang Guafe als Geste der Freund schaft am Arm. »Dieser hier hat im letzten Augenblick einen Blick riskiert, um zu vermeiden, daß er auf Tomàs fiel. Daran habe ich den Unterschied erkannt. Der Fal sche hätte derlei Bedenken nicht gehabt.« »Tomàsfreund?« fragte Finnbogg besorgt. »Wo ist To màsfreund? Wo ist Samedifreund?« »Bin hier, Egon«, sagte Samedi und kroch aus den Kartons hervor, wo er sich versteckt gehalten hatte. »He, guck mich nich' so an. Ich hab' keine Waffe gehabt, un' diese spröden Knochen zerbrechen wirklich leicht. Abgesehen davon, wenn mir was passiert war', wo bliebt ihr Überlebenden dann ohne Führer?« »Schon gut«, sagte Clive. »Wo ist Tomàs?« Sidi Bombay führte sie zu einer entfernten Ecke, wo
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der kleine Seemann bewußtlos auf einem Berg zertrüm merter Behälter lag. Clive erinnerte sich an seinen Sturz, als sein Thron unter ihm weggestoßen worden war. Er mußte seitdem bewußtlos gewesen sein. Es war ein Glück, daß ihn die Behälter vor den Blicken ge schützt hatten. Sidi Bombay ließ sich neben ihn niederfallen, beugte sich über ihn und massierte ihm die Schläfen. Fast auf der Stelle öffnete Tomàs die Augen. Zunächst bedeckte ein Schleier die schwarzen Pupillen, dann klarten sie sich jedoch auf, als er das volle Bewußtsein wiederer langte. »Mein Gewehr!« waren seine ersten Worte. Er stand auf und suchte nach der fehlenden Waffe. Er fand sie gleich in der Nähe unter einem weiteren Karton und steckte sie in den Gürtel, während er sich argwöhnisch umsah. »Haben wir gewonnen, amigos?« Dann trat er einen Schritt zurück und legte die Hand auf den Griff der Waffe. »Christo! Seid ihr meine amigos?« Clive runzelte die Stirn. »Was meinst du damit? Na türlich sind wir deine Freunde!« Aber Annabelle berührte ihn an der Schulter. »Ich versteh' schon«, sagte sie und winkte ihnen zu folgen. Während sie dahingingen, zeigte sie auf die Körper der verschiedenen Klone. »Vielleicht wart ihr zu sehr mit dem Kampf beschäftigt, um das zu bemerken. Einer der Vorteile dieses Dings hier« — sie tippte auf die Kontrol len des Baalbec in ihrem linken Unterarm — »ist, daß ich nicht kämpfen muß. Also kann ich die Sinne beiein anderhalten. Aber seht mal hin. Schaut euch die Ge sichter an. Fast alle, denen wir im Dungeon begegnet sind, sind hier, manchmal in mehreren Kopien. Auch fast alle fremden Rassen. Dieses Quallending, das dich angegriffen hat, Clive. Erinnerst du dich an das Monster auf der Brücke von Q'oorna, wo du Finnbogg gefunden hast? Das mag damals ein früher Prototyp gewesen sein.« Sidi Bombay räusperte sich. »Kommt zum Vorderein gang«, sagte er, und sie folgten ihm. In der Dunkelheit
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neben dem Eingang standen ein Dutzend oder noch mehr Klone, alle vom Stasisfeld eingefroren. Sie hätte eine hübsche Bereicherung einer Skulpturensammlurig abgegeben. »Ich habe mich kurz hier hingehockt«, er klärte Sidi. »Das sind die, die durch die Tür kamen und mir über den Weg liefen. Aber seht genau hin. Beson ders du, Miß Annabelle.« »Nun, das bin ich!« rief Neville aus, der vor seinem Ebenbild stand. Er legte Daumen und Zeigefinger zu sammen und musterte das Gesicht mit übertrieben kri tischem Blick. »Die Technik ist jedoch ein bißchen roh. Meine Kieferknochen sind kräftiger, und meine Nase ist viel edler geformt, meint ihr nicht? Diese verdammten Impressionisten müssen heutzutage überall mitmi schen! Manet, du Hund!« Annabelle ging von Gesicht zu Gesicht und sah ge nau hin. Dann bemerkte sie tief versteckt in der Dunkel heit die beiden puppengleichen Klone. Sie kniete nieder und hielt den Atem an, wobei sie sich die Hand vor den Mund schlug. »Amanda!« flüsterte sie entsetzt durch die Finger. »Aber nein, Miß«, versicherte ihr Sidi, trat zu ihr und beugte sich herab. »Sieh genau hin. Zuerst diese hier« — er deutete auf das Ebenbild von Amanda —7 »und dann diese hier drüben.« Er zog sie zu einem zweiten Klon. In dem Dämmerlicht fiel es schwer, etwas zu erken nen. Annabelle drückte Sidi ein bißchen zurück und schaltete dann den Baalbec an, so daß er einen schwa chen Glanz von sich gab und das winzige Gesicht be leuchtete. Das Haar war schwarz wie das von Amanda, aber es war dünn und glatt und nicht lockig. Die Augen erwiesen sich bei sehr genauem Hinsehen gleichfalls als falsch, und die Lippen waren zu dünn. »Nun, das bin ich, oder so was Ähnliches jedenfalls!« Sie sah Sidi an, dann die übrigen, die sich alle um sie scharten. »Ich ver steh' das nicht.«
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Chang Guafe beugte sich nieder, als Annabelle zur Seite wich. Die Rubinlinsen warfen ein rötliches Licht auf das Puppengesicht. Dann richtete er sich auf. »Mi kroskopische Untersuchung entdeckt schwache Spuren von Narben an Schlüsselstellen des Gesichts und deutet somit auf kosmetische Veränderung hin.« Er sah Anna belle direkt an, als er fortfuhr. »Theorie: Keiner von die sen ist ein echter Klon deines Kindes. Es sind Klone von dir, Annabelle Leigh, aufgewachsen oder nachgebildet aus deinem genetischen Material. Dein Muster wäre ähnlich, jedoch nicht identisch mit dem deiner Tochter. Kosmetische Chirurgie, mit großer Sorgfalt ausgeführt und hohem technischen Standard entsprechend, korri giert den Unterschied.« »Dann ist es möglich, daß die Klone meines Vaters auch nicht aus ihm hergestellt worden sind?« unter brach Clive erregt, während er den Degen in die Scheide steckte. »Das Gewebe könnte von Neville stammen. Er sieht Vater ähnlich genug. Und die Chirurgie hat den Rest erledigt.« »Oder sogar von dir, Clive Folliot«, erinnerte ihn Chang Guafe. »Aber ich bin mir nicht sicher. Ich habe an dem Klon im Palast keinerlei Narben entdeckt, was ich auch nicht erwarte, wenn ich deinen Gegner unter suche.« Er deutete mit einer Handbewegung auf die Amanda-Dinger. »Diese hier wurden offensichtlich in großer Eile hergestellt, vielleicht als Experiment für das endgültige Modell.« »Das ist nicht Amanda«, sagte Annabelle mit großer Erleichterung. Sie schloß die Augen und tat einen lang samen Atemzug, ehe sie sie wieder öffnete. »Gott, ich wäre allmählich fast wahnsinnig geworden vor Angst, daß sie sie irgendwie erwischt hätten, daß auch sie ir gendwo hier unten im Dungeon wäre.« Sie wischte sich mit der Hand über den linken Unterarm und schaltete den Baalbec ab. Das Licht, das sie umgeben hatte, er losch.
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»Ich weiß«, vertraute ihr Clive unsicher an. »Ich frag mich das gleiche wegen meines Vaters.« Er biß sich auf die Lippen und warf seinem Bruder einen Blick zu, weil er irgendwie spürte, daß er zuviel gesagt hätte. Aber Nevilles Blick verriet überhaupt nichts, kein Gefühl, in das sich Clive einhängen und das er teilen konnte. Wie könnte er sich nur an die Schulter des Bruders lehnen, wenn diese kalt wie Stein war? Er hätte vielleicht etwas Respekt vor Neville gewinnen können, aber er wußte jetzt besser denn je, daß er bei seinem Zwillingsbruder auf derlei Unterstützung nicht rechnen konnte. »Laßt uns hier rausgehen!« sagte er.
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KAPITEL 21
Die schwarze Fabrik sie in den unterirdischen Komplex vordran Jegen,weiter desto phantastischer wurden die Säle. Die Kri stallröhren, in denen Chemikalien flössen, formten ein Netzwerk über ihren Köpfen. Farbensprühende Flüssig keiten von rätselhafter Natur jagten einem unbekann ten Ziel entgegen. Sie fingen das Licht ein, zerstreuten es und warfen Regenbögen an die Wände, überschütte ten Fußböden und Decken mit Streifen und Seen von Blau, Grün, Rot und Gold. Während die äußeren Säle Vorräte enthalten hatten, standen in denen, durch die sie jetzt kamen, überall Ma schinen. Das unterdrückte Summen kraftvoller Motoren schwang in der Luft, und das stetige Bumm-Bumm von Pumpen und Kompressoren erzeugte einen konstanten und monotonen Rhythmus. Automatische Transporter brachten die vertrauten Kartons aus den äußeren Sälen an ihren Bestimmungsort. Roboterarme an den Verbin dungsteilen prüften die Symbole der Schachteln und reichten sie zu den entsprechenden Zonen für den näch sten Abschnitt ihrer Reise weiter. Ein hohes Winseln ertönte plötzlich, und Samedi wir belte erschrocken herum. »Zurück, Egon!« sagte er und winkte sie hinter das Unterteil von etwas, das Clive mit seiner beschränkten Erfahrung als einen riesigen elek trischen Generator identifizierte. Sobald sie in Deckung waren, wagte er einen Blick über Samedis Schulter. Vier kleine panzerähnliche Fahrzeuge rollten heran. Zunächst nahm Clive an, daß es Rattenfänger wären, aber es waren wohl doch nur Transport wagen. Vier schmale metallene Greifarme ragten aus den Körpern heraus und hielten einen riesigen Apparat empor, des
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sen Zweck Clive nicht einmal erahnte. Auf glatten Ket ten rollten sie durch den Saal und zum jenseitigen Aus gang wieder hinaus. »Warum haben wir uns versteckt?« flüsterte Clive, als die vier Fahrzeuge verschwunden waren. »Können sie uns spüren?« »Glaub' ja«, entgegnete ihr Führer. »Sie lassen die Rattenfänger lediglich wissen, daß wir hier sin', un' nor malerweise kannste abhauen, bevor sie kommen. Aber wozu der Ärger?« »Stimmt«, pflichtete Clive bei, »wozu der Ärger!« Samedi kroch in die Mitte des Saals, sah sich nach beiden Seiten um und winkte sie aus dem Versteck. Sie stahlen sich still und heimlich hinaus in den nächsten Raum. Eine Flammenwand schoß rechts empor. Clive warf instinktiv einen Arm hoch, um das Gesicht zu schützen, und sprang zu einer nahegelegenen Wand, als das Feuer ebenso rasch wieder verschwand. Annabelle sah ihn besorgt an, trat dann nach links, griff über eine Konsole weg und klopfte mit den Finger knöcheln an die durchsichtige Substanz, aus der die an dere Wand bestand. »Sicherheitsglas, nehm ich an, Hak ker«, sagte sie. »Unzerstörbar.« Sie wandte sich um, stützte sich auf die Konsole und sah hinaus. »Das is' mal 'ne Aussicht!« Die übrigen traten näher und sahen gleichfalls hin aus. Sie befanden sich auf einem Aussichtsdeck und schauten aus einer verwirrenden Höhe hinab, aber wor auf, das blieb Clive völlig schleierhaft. Der Saal unten war riesig, sofern es sich tatsächlich um einen weiteren Saal handelte. Wegen des fauligen Dampfs und Smogs, der über allem lag, war die andere Seite nicht zu sehen, ebensowenig der Boden. Hunderte von Schornsteinen ragten aus dem Dunst, den Flammen und dem giftigen dichten Rauch empor. Immer wieder brachen feurige Geysire aus. Offenbar stand ein derartiger Geysir un
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mittelbar unter dem Aussichtsfenster, denn alle paar Augenblicke gab es einen Ausbruch wie den, der Clive so erschreckt hatte. »Das is' wie 'ne industrielle Version der Hölle, Clive li«, sagte Annabelle. »In meiner Zeit gibt's 'ne Menge Städte, die so aussehen, ganze Metropolen, die in Fabri ken verwandelt worden sind.« »Das da unten kann keine Stadt sein!« spottete Nevil le, aber der Zweifel in seiner Stimme strafte ihn Lügen. »Niemand könnte da leben.« Annabelle trat ein wenig zurück und untersuchte die Konsole, die sich über die ganze Länge des Fensters und des Raums erstreckte. Auf Leuchtanzeigern und Moni toren erschienen Symbole, die denen auf den Kartons ähnelten. »Seht mal!« sagte sie und zeigte auf eine Rei he von Skalen, die in regelmäßigen Abständen oberhalb der Konsole angebracht waren. »Diese Nadeln zittern immer dann, wenn ein Geysir ausgeht.« »Ich habe einmal eine Fabrik gesehen«, bemerkte Sidi Bombay leise, während er weiterhin aus dem Fenster sah. Finnbogg ging zu Sidi und legte einen Arm um die Schulter des Inders, und sie schauten gemeinsam hinab. »Erinnert Finnbogg an ekelhaften Ort, den Clivefreund nannte Dantesches Tor, okay?« Clive fühlte sich, als wäre ein Vorschlaghammer auf ihn niedergesaust, und bemerkte dann, daß es nicht die eigene Überraschung gewesen war, sondern die von Shriek, die durch das sie verbindende Neuronengewebe zitterte. Offensichtlich hatten alle anderen außer Neville die gleiche Erfahrung gemacht, denn sie wandten sich ihr zu. Die Arachnida hielt alle vier Hände an das Ple xiglas gedrückt, und während einige ihrer Augen auf das schmutzige Panorama unten fixiert blieben, waren die anderen auf Clive gerichtet. Wesen Finnbogg spricht korrekt, sendete sie ihnen zu und konnte die Aufregung und das Gefühl von Beklem
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mung nicht unterdrücken, das die Sendung begleitete. Könnte es sein, daß Ebene sieben die Versorgungsstati on für das Dungeon ist? Daß die ganze Welt eine große Fabrik ist? Clive kratzte sich am Kinn. »Ich weiß es nicht, Shriek; vielleicht ein Teil davon. Aber das erklärte nicht das, was wir am See des Jammers sahen, oder? Und seitdem du mir gesagt hast, daß jemand Bilder aus unserem Be wußtsein holt, frage ich mich die ganze Zeit über, ob wir überhaupt irgendeiner unserer Wahrnehmungen trauen können. Was, wenn sie uns diese Bilder vorgaukeln?« »Da soll doch ...!« entfuhr es Annabelle. »Das wäre die Erklärung! Erinnert ihr euch, wie Finnbogg in den See gesprungen ist, als er seinen Bruder zu sehen glaubte, und wie wir ihn herausziehen mußten? Aber er war nicht verbrannt oder verletzt oder so was. Das Was ser kochte!« »Und unser guter Freund Philo B. Goode zog ihn di rekt durch eines dieser Feuer, als er versuchte, Finnbogg vom Fußknöchel abzuschütteln!« fügte Neville hinzu, und die Augen wurden schmal vor Ärger und Argwohn. »Vielleicht war auch dieses Feuer nicht wirklich. Viel leicht ist nichts hiervon real.« »Sim, stupido«, knurrte Tomàs wenig zivilisiert. »Viel leicht liegen wir zu Hause in unseren Betten. Vielleicht ist das alles ein Traum.« Er hielt zwei Finger ausge streckt vor die Augen und funkelte Neville an. »Ich hab' nur das hier, Senhor. Ich traue nur den Dingen, die ich sehe. Wenn die Feuer hochgehen, kannst du stehenblei ben, wenn du möchtest. Tomàs wird rasch beiseitesprin gen.« »Eine sehr praktische Herangehensweise ans Leben«, sagte Sidi Bombay, als er Finnboggs Arm abschüttelte und sich vom Fenster abwandte. »Wenn du nicht zwi schen echt und falsch unterscheiden kannst, handle so, als wäre alles real.« Er verschränkte die Hände und be rührte die Lippe mit den Spitzen der Zeigefinger, als er Tomàs ansah. »Das liefert dich jedoch völlig der Gnade
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der Herren des Dungeon aus. Wir müssen statt dessen durch die Illusion hindurchsehen und herausfinden, was real ist, müssen das Unmögliche abschälen, um das Mögliche zu finden.« Annabelle tippte mit der Fußspitze auf den Boden und runzelte die Stirn. »Ja, ja, das ist sehr wie Zen, Si di«, sagte sie ungeduldig. »Diese Phrasendrescherei macht sich auf einem Berggipfel zu Hause ganz großar tig. Aber hier unten in einer fremden Welt mit merk würdigen Fremdwesen, hier läßt sich nur schwer beur teilen, was möglich ist und was nicht.« Ein leises Schlurfen hinter ihnen im Saal brachte sie zum Schweigen. Sie hörten das Geräusch jetzt deutli cher — bloße Füße, die sich ihnen näherten. Clive wink te mit dem Finger, und sie huschten aus dem Beobach tungsdeck in den nächsten Saal. Dieser war dem ande ren sehr ähnlich. Riesige Generatoren und große Ma schinen standen überall, und der Trupp drängte sich rasch in den Schatten, um zu sehen, was ihnen da folgte. Clive war noch immer ganz ruhig und zog den Degen heraus. »Sei vorsichtig damit, Egon!« flüsterte Samedi aus der Dunkelheit neben ihm. »Bei mir braucht nix 'ne Ent lüftung!« »Beruhig dich!« Das war Ännabelle, und sie stieß Sa medi in die Seite. »Wenn er mit dem Degen herumfuch telt, nennen wir ihn das alte Musketier. Du wirst dich voll Begeisterung regen, durchsticht er dich mit seinem Degen.« Samedi verrenkte den Hals, um sie zu betrachten. Dann tippte er Clive auf die Schulter und fragte ganz neugierig: »Gilt sie da, wo sie herkommt, auch als De fekte?« Clive warf Annabelle einen Blick zu und wandte sich rasch wieder ab, weil er befürchtete, sie könne sein Grinsen sogar in diesem Dämmerlicht erkennen. Es wä re wohl das Klügste, sich nicht an die feine Lebensart zu
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halten, also überhaupt nichts zu sagen. Es war auch gleichgültig. Als einige Augenblicke verstrichen waren und er keine Antwort gegeben hatte, versetzte sie ihm einen Fußtritt. »Flegel!« schimpfte sie. Mit einer jähen Handbewegung schnitt er jegliche weitere Unterhaltung ab. Vom Beobachtungsdeck hall ten ganz deutlich vernehmbar Fußtritte herüber. Sie drückten sich tiefer in den Schatten und warteten. Vier Dämonen wanderten durch die Tür, Defekte, de ren Schwingen sich unvollständig entwickelt hatten. Als sie vorübergingen, sah Clive deutlich die verdrehten Spitzen der Flügel auf dem Rücken, Flügel, die zum Ausspreizen zu klein oder zu mißgestaltet waren. In dem schwachen Licht glänzten jedoch trotzdem scharfe Klauen und Fänge, und die Wesen strotzten offenbar vor tierischer Kraft. »Ob sie nach uns suchen?« fragte Clive Samedi, als die Defekten vorübergegangen waren. »He, wer bin ich denn, der Auskunftsbeamte?« Sa medi hob die Schultern und drückte Clives Klinge, die ihm wohl ein wenig zu nah gekommen war, mit der Handfläche beiseite. »Anscheinend ist jeder im Dun geon hinter euch her.« »Ist doch nett, so populär zu sein«, grummelte Finn bogg unerwartet aus dem Schatten. Er scharrte unge duldig mit den Klauen über den Boden. »Aber während alle nach Finnbogg suchen, Finnbogg sollte nach Smy thefreund suchen!« Er stand auf und drückte sich hin aus in den Saal. »Warum verstecken sich Finn boggfreunde? Kämpfen! Beißen, kauen und kratzen, um Smythefreund zu finden! Nicht mehr verstecken!« Annabelle quetschte sich hinter Clive hinaus und tät schelte Finnbogg mitfühlend zwischen den Ohren. Das zwergenhafte Hundewesen runzelte die Stirn, ließ sich jedoch die Berührung fast ohne Knurren gefallen. »Finnbogg«, fragte sie sanft, »warum nennst du mich
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immer Annie, nicht Anniefreund oder Annabelle freund?« Finnbogg rückte unbehaglich hin und her, als die üb rigen das Versteck verließen. Es sah fast komisch aus, wie die mächtigen vierschrötigen Muskeln zusammen sackten und Annabelle ihn noch mehr als sonst über ragte. Er sah aus wie ein Schuljunge, der ausgeschimpft wurde. »Annie ist mehr als Freund für Finnbogg«, ant wortete er schwach. »Annie ist wie kleines Geschwister chen. Nicht nur Freund, mehr als Freund. Riecht gut. Riecht besser als alles im Dungeon.« Er sah mit großen runden und wilden Augen zu ihr auf. »Sie riecht wirklich, stimmt's, Finnbogg, alter Kna be?« Neville lehnte mit gekreuzten Armen und Beinen am Generator, ein mächtiges hämisches Grinsen im Ge sicht. Er schob eine Strähne des blonden Haars zurück, die ihm über die Augen gefallen war. »Welch edel Werk ist die Frau«, fuhr er grinsend fort, »wie ehrenhaft mit dem Wort, wie ausdrucksvoll und wohlriechend.« Das Grinsen wurde breiter. »Ich glaub', das Zitat stimmt, ja. Hab' Shakespeare immer gemocht, wißt ihr!« »Was birgt des Mannes inner's Reich, von außen nur dem Engel gleich!« zitierte Annabelle und wandte sich Neville zu, stützte die Hände auf die Hüften und zwang ihn, den Blick zu senken. »Jene Insel England bringt tapfre Geschöpfe hervor: Ihre Bulldoggen sind gar un übertrefflichen Mutes.« Sie trat einen weiteren Schritt an Neville heran und schleuderte ihm eine weitere Be leidigung entgegen. »Lieber war' ich nicht«, sagte sie, »als Ehrfurcht in mir zu tragen vor etwas wie mir selbst.« Neville starrte steif an den Generator gelehnt vor sich hin, und das Grinsen verschwand, während sich die Hände langsam senkten. »In der eigenen Falle gefangen, Bruder!« lachte Clive und steckte den Degen zurück in die Scheide. »Sie kennt den Dichter besser als du.« Immer noch grinsend erklärte er den anderen: »Sie nannte ihn in einem Atem
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zug einen Heuchler, einen Feigling und einen eitlen Fatzken.« Er verbeugte sich anerkennend vor Annabelle. »Das war Poesie, wirklich, wenn auch ein wenig harsch. Er könnte an derlei Wunden verbluten.« Annabelle setzte ein breites Lächeln auf und tätschel te Neville freundlich die Wange. »Vielleicht war ich zu harsch«, stimmte sie zu, »aber irgendeiner muß dem Kind beibringen, wo sein Platz ist, meinst du nicht auch?« »Allerdings«, antwortete Clive und verbeugte sich er neut, wobei er seinen Bruder amüsiert aus dem Augen winkel ansah. Neville hatte natürlich die Fassung zu rückgewonnen. Sein Bruder landete stets auf den Fü ßen, wie alle Kater. Dennoch machte es Spaß, wenn er manchmal aus dem Gleichgewicht gebracht wurde. Was jedoch für ihn sprach: Neville war gutmütig genug, um ein gewisses Quantum an Spott zu ertragen, wenn er nur mit ein wenig Stil vorgebracht wurde. »Und ich glaube«, fuhr Clive fort und deutete auf das andere En de des Saals, wo die Dämonen verschwunden waren, »daß unser Ziel irgendwo dahinten liegt.« »Nicht mehr verstecken?« knurrte Finnbogg. Er rieb sich dabei die Klauenspitzen, was ein häßliches kleines Kratzen erzeugte, das seiner Frage eine gewisse Bedeu tung verlieh. Annabelle kehrte zu Finnbogg zurück und faßte ihn bei den Händen. »Wir verstecken uns nur, wenn's sein muß«, versicherte sie ihm. »Wir müssen aber auf jeden Fall lang genug am Leben bleiben, daß wir unseren Smythefreund finden, hm?« Finnboggs einzige Antwort war ein tiefes und unan genehmes Knurren. »Kommt!« sagte Samedi und übernahm die Führung. Der nächste Saal war dunkel, aber ihr Führer kannte den Weg hindurch. Annabelle ging etwas abseits und benutzte den Baalbec, um ein wenig dämmriges Licht zu erzeugen. Clive hatte die Sorge, daß sie dadurch für
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einen unsichtbaren Angreifer zu einem zu einfachen Ziel würde, aber sie war zu neugierig auf alles, was je der Saal brachte, um ihn abzuschalten. Dieser Saal, indem sie sich gegenwärtig befanden, stellte keine Ausnahme dar. Sie spähte neugierig nach allen Seiten, als ihr Schimmern auf Reihen um Reihen hoher Glaszylinder fiel, die in einer unerklärlichen Wei se angeordnet waren, als sollten sie ein Labyrinth zur anderen Seite hin bilden. Clive warf einen Blick zur Decke und sah, daß die seltsamen Chemikalienröhren, die an den Decken der anderen Säle gehangen hatten, offensichtlich einen anderen Weg genommen hatten. »Es kommt jemand!« flüsterte Samedi panikerfüllt und blieb so abrupt stehen, daß Clive in ihn hineinlief, als das zerlumpte Wesen herumwirbelte. »Zurück! Run ter!« »Leck mich am Arsch!« brummte Finnbogg rüde. Er hechtete auf einen der Zylinder, rang einen Augenblick ums Gleichgewicht und sprang dann hinüber zum nächsten. Er war rasch verschwunden. Clive faßte Annabelle am Arm, als sie den Baalbec abgeschaltet hatte, und zog sie in einen schmalen Gang zurück, der von den Zylindern gebildet wurde. Die an deren warteten dort bereits gehorsam. »Ich hatte die Absicht, mich mal mit dir über deine Ausdrucksweise zu unterhalten«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Finnbogg nimmt ein paar schlechte Angewohnheiten an.« Er schaute über die Schulter und zählte hastig. »He, wo ist denn Shriek?« fragte er. Tomàs zeigte mit dem Gewehrlauf der Strahlenwaffe nach oben. »Sie ist mit dem cachorro nach oben gegan gen.« Annabelle funkelte ihn an. »Finnbogg ist kein Hund, du Klotzkopf. Paß auf, was du sagst!« Sie berührte Clive an der Schulter und zog sein Ohr nahe an ihren Mund. »Vielleicht helfen wir diesmal besser, Hacker.« »Halt den Kopf unten, Egon!« wies Samedi sie an,
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nahm den Zylinderhut ab und drückte ihn an die Brust. »Okay, okay, hier gibt's 'ne sehr lebendige Nachbar schaft, aber sie wird uns ungeschoren lassen, wenn wir' nur ein bißchen vorsichtig sind.« Ehe Clive eine Entscheidung treffen mußte, ertönte ganz aus der Nähe der Lärm eines Tumults, aus dem sich Finnboggs Knurren und ein unterdrücktes Wim mern heraushoben. Das war genug für Clive. Er sprang auf und lief in den Gang hinaus, ohne auf die eigene Si cherheit zu achten. Er zog erneut den Degen, als er um eine Ecke bog und einen weiteren Gang hinabstarrte. Nichts zu sehen. Er ging schneller und war sich dabei bewußt, daß seine Freunde jetzt hinter ihm waren. Der Gang machte eine Biegung, und Clive verfluchte denje nigen, der diese Zylinder auf solch unmögliche Weise angeordnet hatte. Finnbogg hatte es richtig gemacht, in dem er obendrauf gegangen war. Dann blieb er wie angewurzelt stehen, als das Ge räusch eines Glasdeckels, der sich klirrend schloß, durch die Dunkelheit drang. Er drückte sich an einen Zylinder, holte tief Atem und konzentrierte sich. Shriek? rief er lautlos. Ihre Antwort erfolgte fast sofort. Weiter, Wesen Clive. Es ist sicher. Er sah die anderen an und wies sie mit einer Kopfbe wegung an, daß sie ihm folgen sollten. »Wir haben's gehört«, sagte Annabelle und faßte sich an die Schläfe. Ein paar Meter weiter erwarteten sie Finnbogg und Shriek in einem der Seitengänge. Finnbogg hockte oben auf einem Zylinder, ließ die Beine vor- und zurückbau meln, schlug mit den Hacken an die Flanken seines lufti gen Sitzes und sah sehr zufrieden mit sich aus. Der Sei tengang war zu schmal, als daß Annabelle den Baalbec hätte benutzen können, also schaltete Chang Guafe auf Shrieks Anweisung die Rubinlinsen ein. Das rote Licht schimmerte seltsam zwischen den Zylindern.
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»Herkimer!« rief Sidi Bombay aus und drückte die Handflächen flach an den Zylinder, auf dem Finnbogg saß. Innendrin hockte einer der froschgleichen Klone und sah erbarmungswürdig und verlassen aus. Die großen runden Augen sahen sie jämmerlich und voll Furcht an, und er zitterte sichtlich, als er sich auf das nackte Hin terteil setzte und die halbe Hand in den Mund steckte. Sidi drückte das Gesicht an die Außenwand, um besser sehen zu können. Dann zuckte er reflexartig zurück, als eine lange und dünne Zunge mit erstaunlicher Ge schwindigkeit und Kraft hervorschnellte und an das Glas klatschte, wobei eine Spur klebriger Spucke zu rückblieb. Der Herkimer nahm daraufhin sofort wieder seine Pose von pathetischer Niedergeschlagenheit ein. Finnbogg sprang auf und nieder und streckte die Ar me aus. Selbst in dem schwachen Licht von Chang Gua fe sahen sie die blutigen Säume an Handgelenk und Bi zeps. »Ekelhafte Zunge«, murmelte Finnbogg, »aber Finnbogg würgte Herkimerding etwas und setzte es in großes Gefäß. Okay?« Clive nickte und schüttelte Finnbogg die Hand. »Mehr als okay, mein Freund. Hast du gut gemacht. Kann es herauskommen?«» Finnbogg zeigte alle Zähne, als er das Geschöpf im Gefäß anknurrte. Es duckte sich in die entfernteste Ek ke, zog die Knie an den Mund und zitterte. »Deckel ist sehr schwer und paßt genau. Aber Löcher hier oben drin, so daß Herkimer nicht sterben wird.« »Löcher?« wollte Chang Guafe wissen. Der Cyborg trat an den Zylinder heran und berührte ihn mit der Handfläche. Er spähte hinauf. Löcher und Ventile, antwortete Shriek. Röhren eingesetzt durch den Deckel. Alle Zylinder haben anscheinend derlei Deckel.
»Theorie«, sagte Chang Guafe. Er richtete die Linsen auf Shrieks Gesicht, und vier der Facettenaygen glitzer
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ten in dem blutroten Schein. »Das sind Tanks zum Aus brüten und Entwickeln der Klone.« »Raus hier!« schnappte Clive. Er verspürte plötzlich einen tiefgreifenden Ekel bei dieser Vorstellung. Wesen, die andere Wesen künstlich erzeugten und ihnen ihre Rollen und Aufgaben einprogrammierten! Das roch nach Sklaverei und Sklavenhaltern, verdammt noch mal! Und davon hatte er genug an Orten wie Sansibar und Indien gesehen. Er haßte das! Als sie schließlich den Ausgang erreichten, hatte sich Clive in eine stille moralische Entrüstung hineingestei gert. »Gib mir das Gewehr!« verlangte er von Tomàs, und als der kleine Portugiese es ihm aushändigte, faßte er es mit beiden Händen, wandte sich zum Saal zurück und schwang einen dauerhaften smaragdfarbenen Strahl hin und her. In einer Orgie der Zerstörung schmolzen oder zerbrachen Zylinder, und der Saal glit zerte, als silbrige Splitter und Scherben das Licht des Strahls einfingen und zurückwarfen. Es gab keine Hoff nung, sie alle zu zerstören, dazu waren es viel zu viele. Aber er spielte mit dem Strahl, so lange er reichte. Dann ertönte plötzlich ein schrilles Kreischen, und der Strahl erlosch. Clive zielte erneut und feuerte, aber nichts geschah. In der unbewußten Hitze seines Ärgers verfluchte er sich selbst und das Gewehr. Die Finger zo gen vergebens am Abzug. »Asno!« schrie Tomàs verärgert. Seine Hände schlös sen sich zu Fäusten. »Du hast mein Gewehr kaputtge macht!« Chang Guafe ergriff die Waffe und untersuchte sie, während Tomàs sprach. Er hob sie an die Rubinlinsen, nahm sie mehrmals von einer Hand in die andere und ließ die Fingerspitzen über die Konturen und Ränder laufen. »Der Ton hat vielleicht eine Sicherheitseinrich tung aktiviert, um einer Energieüberladung vorzubeu gen«, konstatierte er nüchtern. »Oder vielleicht hat er auch angezeigt, daß die Energiequelle erschöpft ist.
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Dann wäre sie jetzt nutzlos. Ich kann keine Entschei dung fällen, ohne sie zu öffnen.« »Behalt sie!« befahl Clive und gab Tomàs die Waffe zurück. Er ging los. »Wenn's nur eine Sicherheitsein richtung oder eine automatische Sperre war, wird sie vielleicht wieder funktionieren. Wenn nicht...« Er zö gerte und hob dann die Schultern. »Schlag sie jeman dem über den Schädel!« Er faßte Samedi beim Arm. »Keine weiteren Verzögerungen«, sagte er und trieb den Anführer weiter. »Ich möchte wissen, wo Smythe ist, und zwar rasch!« Samedi schüttelte seine Handgelenke. »Oooh, wie ich autoritäre Leute liebe!« schnurrte er sarkastisch, aber er beschleunigte wie befohlen den Schritt.
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KAPITEL 22
Die Klonbanken ging's durch Reihen von Sälen, einer kompli Weiter zierter und rätselhafter als der letzte, dann eine lange spiralförmige Rampe hinab zur nächsten Ebene des Komplexes. Erneut bildeten Kristallröhren ein kom pliziertes Litzenwerk an der Decke und zu beiden Sei ten an den Wänden. Einige der Röhren strahlten Wärme aus. Andere fühlten sich kalt an. Eine kurze Strecke hinweg folgten sie einem breiten Gang. Auf Samedis Anweisung hin drückten sie sich eng an die Wand und bewegten sich so schnell wie mög lich vorwärts. »Rattenfänger«, sagte er. »Sie mögen hier keine Defekten.« Nachdem sie den halben Korridor hin abgegangen waren, führte er sie in einen weiteren Saal. Annabelle hielt den Atem an. »Computer!« keuchte sie. Tausende von Monitoren erfüllten den Raum mit ei nem flimmernden Licht. Clive fiel die Kinnlade herab. Derartige Maschinen hatte er noch nie gesehen. Er konnte sich die Funktion der meisten Maschinen noch nicht einmal vorstellen! Worte und Zahlen und Graphi ken bildeten sich mit einer Schnelligkeit, der es keine menschliche Hand gleichtun konnte. Er sah fasziniert und zutiefst erschrocken zu und kam sich zum ersten mal im Leben unwissend, unzeitgemäß und primitiv vor, was nicht daran lag, daß er die Sprache nicht hätte lesen können — was de facto zutraf — oder daß er die fremdartigen Symbole nicht entziffern konnte, von de nen er annahm, daß es sich wie bei denen auf den Kar tons um Zahlen handelte. Er verstand nur nicht, wie sich Worte auf so kleinen Bildschirmen formen konnten oder wie farbiges Licht Tinte ersetzen konnte. Er ver stand nicht, woher die Informationen kamen, und es er
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schreckte ihn zu sehen, wie sich Annabelle auf einmal so wohl fühlte und so aufgeregt war. »Dies sind die Überwachungsgeräte für die Lebens funktionen!« verkündete Chang Guafe plötzlich, als er vor einer der vielen Konsolen stehenblieb. »Elektroen zephalogramme«, sagte er und deutete auf eine Reihe von Bildschirmen. »Kardiographische, galvanische Mes sung, Atmungsüberwachung.« Er machte eine Pause und beugte sich näher heran, bis sich die roten Linsen in den Bildschirmen widerspiegelten. »Kann die Funk tionen der übrigen Monitore nicht ableiten.« Annabelle ging zu dem Cyborg hinüber und beugte sich neben ihm herab. »Zeitmesser«, sagte sie ein paar Augenblicke später. Sie tippte mit den Fingerspitzen auf eine Reihe von Symbolen. »Siehst du, wie sich das letz te Zeichen hier rasch verändert? Zweiundzwanzig Sym bole, ehe sich dieses hier ändert.« Sie zeigte auf eine an dere Reihe. »Und genau zweiundzwanzig von diesen hier, ehe sich die Reihe da verändert. Wenn wir lange genug hierblieben, könnte ich vielleicht herausfinden, wie die Herren des Dungeon die Zeit einteilen.« Sie blickte einen Augenblick länger auf die Bildschir me, richtete sich dann plötzlich auf und bedeckte den Mund mit einer Hand. Sie wandte sich mit weit geöff neten Augen an Clive. »Mein Gott, Hacker!« rief sie un terdrückt aus. »Ich weiß, wo wir sind!« Sie ging zur nächsten Konsole. »Jede Station hat genau die gleiche Anordnung von Monitoren. Temperatur, Puls, EEG, al les immer gleich.« Sie ging mit offensichtlicher Ehr furcht langsam im Kreis herum. »Das ist das Nerven zentrum. Wie eine Überwachungsstation in einem Krankenhaus. Von hier aus können sie Wachstum und Entwicklung eines Klons überwachen.« Sie wandte sich wieder an Clive. »Aber hier gibt's Tausende von Statio nen, Cliveli, und alle davon sind aktiviert. Verstehst du? Tausende von Klonen wachsen just in diesem Augen blick irgendwo heran!«
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Tausende Versionen seines Vaters. Vielleicht Tausen de von Nevilles oder Chang Guafes oder Amandas. Cli ve fand den Gedanken widerwärtig, und er erfüllte ihn mit Ärger. Vielleicht gab es irgendwo auch einen Klon von Clive Folliot, ein vollkommenes Duplikat, aber ein Duplikat, dessen Bewußtsein verdreht und verändert worden war, das sich auf Befehl eines anderen hin be wegte, mit nur wenig eigenem Willen. Die Herren des Dungeon waren Ungeheuer. Es be deutete ihm jetzt nichts mehr, wieviel Fraktionen es ge ben mochte oder was deren Absichten gewesen sein mochten, als sie ihn hierhergebracht hatten. Gute Kerle oder schlechte Kerle, es war ihm jetzt egal. Beide Seiten benutzten und manipulierten diese armen Geschöpfe. Irgend jemand hatte Dämonen ausgeschickt, ihnen zu helfen. Aber selbst Samedi war programmiert wor den. War dies das Geschenk wissenschaftlichen Fort schritts? High-Tech-Sklaverei? Das Wort kehrte immer wieder zu ihm zurück. Sklaverei! »Vielleicht können wir herausfinden, wo sie sich auf halten«, sagte Annabelle aufgeregt. Sie wirbelte herum und beugte sich über die Konsole. »Ich kenne mich mit Computern aus, und wenn ich nur die Bedeutung dieser Symbole herausbekomme...« Sie berührte ver suchsweise die Tastatur. »Nein!« schrie Samedi und eilte hin, um ihr die Hand wegzureißen. Aber es war zu spät. Der Bildschirm flak kerte und wurde schwarz. »Jetz hasses geschafft, Mäd chen. Jetz is' das Essen mit Sicherheit angebrannt.« Er wandte sich panikerfüllt an Clive. »Alles funktioniert hier automatisch, Egon. Jetz' hatse hier rumgefummelt un' sich da reingemischt, un' die Rattenfänger wer'n wissen, daß hier jemand is', un' sie wer'n gleich ange rast kommen!« Annabelle sah schuldbewußt auf. »Aber wir können hier nich' weg! Clive, wir sind auf 'nen Schatz gestoßen!
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Alles, was wir über das Dungeon wissen wollen, is' vielleicht in diesen Computern vergraben!« »Alles, was ich wissen will, amigos«, warf Tomàs mür risch ein und drückte sich zusammen mit Samedi hin aus, »ist, wie man hier rauskommt.« Mehr als alles andere verlangte es Clive, diesen Saal zu zerschmettern, die Geräte vor sich zu zerstören und diesen fürchterlichen Ort zu vernichten. Was er zuvor getan hatte, war eine sinnlose Geste gewesen, ein kindi sches Zerschlagen von Flaschen, um sein Mütchen zu kühlen. Aber die Zerstörung dieser Maschinen hier mochte einen wirklichen Schlag gegen die Herren des Dungeon bedeuten! Es war jedoch nicht genügend Zeit dafür. Er mußte an seine Freunde denken, und er mußte Smythe retten. Ohne die Strahlenwaffe war es bestimmt nicht so leicht, einen Rattenfänger zu bekämpfen. »Raus!« befahl er. Sie schlängelten sich um die Konsolen herum und lie fen auf die andere Seite des Saals zu. Ehe sie jedoch die Hälfte des Wegs zurückgelegt hatten, vernahmen sie das glatte weiche Surren der Ketten der Rattenfänger. Sie sahen sich um und erblickten den metallenen Rumpf eines der Ungeheuer, das in den Raum jagte. Ein zwei tes folgte dicht dahinter. »Lauft!« rief Samedi. »Sie werden hierdrin nicht feu ern! Die Computer könnten beschädigt werden!« Sie liefen, aber ehe sie den Ausgang erreichten, kam ihnen ein weiterer Rattenfänger entgegen und schnitt ihnen den Fluchtweg ab. Er hob die handlosen Arme und zielte auf sie. Goldfarbene Energie blitzte hinter den Linsen, während die Kreatur auf eine gute Treffpo sition wartete. Shriek kreischte in wilder Wut und riß eine ganze Konsole aus der Tür heraus. Rauchende Drähte und zer brochene Schaltkreise spien feurige Funken, als sie das Ding über den Kopf hob und durch die Luft schleuderte.
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Sie krachte in den Rattenfänger, warf ihn um und zer trümmerte ihn. »Achtung!« schrie Neville und fegte Tomàs und Sidi Bombay zu Boden, als ein goldfarbener Strahl dort durch die Luft zischte, wo sie noch Augenblicke zuvor gestanden hatten. Er traf eine Konsole, und eine Explo sion erschütterte den Raum und warf jeden von den Fü ßen. Sie erfüllte die Luft mit Rauch und einem fürchter lichen sauren Gestank. Trümmer regneten auf sie herab, als eine zweite Explosion folgte, dann eine dritte. Shrieks Konsole hatte aus dem Rattenfänger eine formlose Masse gemacht. Obgleich er jedoch halbbegra ben von den Trümmern war, lag ein Arm in einem ver drehten Winkel frei, und dessen Energiestrahl zog eine gerade Linie der Zerstörung von einer Seite des Saals zur anderen, und Konsole auf Konsole flog in die Luft. Clive hatte eine Wolke Rauch erwischt, erhob sich hu stend und zog Annabelle mit sich hoch. Die beiden Rat tenfänger auf der anderen Seite näherten sich ihnen; sie waren noch immer nicht gewillt zu feuern und weitere Teile der kostbaren Geräte zu beschädigen. Shriek zerr te Neville, Sidi und Tomàs hoch. Mit der vierten Hand packte sie eine zerbrochene Tastatur und warf sie auf ei nen der Angreifer. Sie prallte harmlos ab, ohne daß der Rattenfänger auch nur langsamer wurde. Sie rannten zum Ausgang, aber Clive blieb lang ge nug neben dem Wrack des ruinierten Rattenfängers ste hen, um dem noch immer feuernden Waffenarm ein paar feste Tritte zu versetzen, und es gelang ihm, ihn so weit zu verschieben, daß sich der Strahl auf eine weitere Reihe der Konsolen richtete. Die rasch folgende Serie von Explosionen erfüllte ihn mit einer grimmigen Be friedigung. »Die Tür am Ende!« rief Samedi hastig, als sie wieder draußen im Gang waren. »Dort durch!« Sie liefen in einem halsbrecherischen Schritt den Gang hinab und dachten dabei unablässig an die Rat
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tenfänger hinter sich. Diese Robotermörder würden nicht allzu lange benötigen, um sich durch das Tohuwa bohu durchzupflügen, und in diesem Gang gab es kei nerlei Deckung. Wenn sie im Freien erwischt würden, könnte ein einziger Strahl sie alle erledigen. Plötzlich glitt ein Stück der Korridorwand zurück. Ein weiterer Rattenfänger surrte heran. Als sich die Arme hoben, schoß Finnbogg wie ein Wilder vor, prallte von einer Wand ab und sprang mit den Füßen voran in die todbringende Maschine. Sie schwankte bedenklich und stürzte schließlich um. Finnbogg senkte ihr auf der Stel le wild knurrend die Zähne in die metallene Kehle. Er schüttelte sie heftig. Metall riß, und ein blauweißes elektrisches Feuer knisterte. Jedes Haar von Finnboggs Körper war steil aufgerich tet, und die Augen wurden vor Überraschung ganz weit. Er versuchte, die Kieferknochen zu öffnen und sich zu lösen, aber vergebens. Etwas längliches mit Turban wischte durch die Luft, und ein Paar Arme umfaßte Finnboggs zitternden Kör per. Allein die schiere Wucht von Sidi Bombays Aufprall riß seinen Hundefreund los. Sie schlugen einen Purzel baum und blieben schließlich flach auf dem Rücken lie gen. Ein schimmernder Bogen umtanzte die Kehle des Rattenfängers. Die Ketten wirbelten umher. Er unter nahm jedoch keine Anstrengung, sich aufzurichten, noch vollführte er eine einzige Bewegung mit den Ar men. Chang Guafe überließ jedoch nichts dem Zufall. Er bückte sich weit hinunter, holte tief Atem und schlug die linke Faust durch den Panzer in der Brust des Rat tenfängers. Fast augenblicklich wurden die Ketten lang samer und blieben schließlich stehen. Am Ende des Korridors schlug Samedi die Hand an eine Tür, und sie glitt schließlich zurück. Sie eilten atemlos in einen schwach erleuchteten Raum. Fünf überraschte Dämonen wirbelten herum und sahen sie an.
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»Verdammt!« fluchte Clive laut und warf sich auf den ersten Defekten, der gerade die Klauen heben wollte. Er schlug ihm mit aller Kraft die Faust ans Kinn. Er fiel auf einen seiner Kameraden. Zu spät sah Clive aus dem Au genwinkel, wie sich Klauen auf sein Gesicht senkten. Dann glitt die Spitze von Nevilles Degen über Clives Schulter. Die Klauen zögerten, zitterten, und Clive sprang beiseite. Neville warf Ihm einen Blick zu, als er die Klinge aus der Kehle eines weiteren Dämons zu rückzog und sich eilig nach den beiden anderen umsah. Er hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen. Die beiden lagen bewußtlos Chang Guafe zu Füßen. »Dort durch!« Samedi zeigte auf eine Tür, die die fünf Dämonen offenbar bewacht hatten. Er drängte sich zwi schen Annabelle und Finnbogg hindurch, trat über die gefallenen Defekten und drückte gegen die Tür. Sie öff nete sich bei der Berührung, und alle eilten hindurch. Horace Hamilton Smythe hing mit gespreizten Glie dern an einem Kreuz und wurde von etwas Unsichtba rem gehalten. Er war völlig nackt. Kopf und Bart waren geschoren. Die Venen im Körper traten vor Anspan nung bläulich hervor, und wenngleich seine Augen ge schlossen waren, war das Gesicht zu einem lautlosen Kreischen verzerrt. Dünne silbrige Drähte streckten sich von der Haut aus, drei von der Stirn, zwei gerade unter halb der Ohren, einer von den Gelenken an Ellbogen und Knien. Zwei waren zu beiden Seiten des Ge schlechtsteils befestigt, zwei am Unterleib und einer ge rade oberhalb des Herzens. Auch aus den Handflächen traten Drähte aus. Die Drähte liefen zu einer riesigen Maschine unmit telbar hinter ihm und herab zu kleineren Konsolen zu beiden Seiten. Monitore zeigten Gehirn- und Herzfunk tion, und englischgeschriebene Daten liefen flackernd über ein weiteres Paar Bildschirme. »Mein Gott!« keuchte Clive entsetzt. »Holt ihn da runter! Was haben sie mit ihm gemacht?«
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»Seine Erinnerungen werden aufgezeichnet und Pro ben der Persönlichkeit genommen«, erklärte Samedi. Clive, Neville und Tomàs zogen Smythe die Drähte aus der Brust und den Gliedmaßen, während Shriek die höhergelegenen vom Kopf abstreifte. »Ich dachte, sie könnten keine Erinnerungen aufzeichnen!« murmelte Clive während der Arbeit. »Keine tieferliegenden Erinnerungen, nein«, antwor tete Samedi. Er sprach erneut völlig akzentfrei. Er ging zur Konsole rechts von Smythe. »Keine Einzelheiten. Aber die oberflächlichen Erinnerungen. Ihr wißt schon, Gewohnheiten, Gehabe, Dinge, die man tut, ohne dar über nachzudenken. Sprachmuster und dergleichen. Die Maschine sondiert sie, zeichnet sie auf und füttert sie in die zentralen Banken.« »Um weitere Smythe-Klone zu programmieren«, sag te Annabelle. »Irgendeinen Klon«, verbesserte Samedi. »Sobald einmal eine Aufzeichnung erfolgt ist, können die ober flächlichen Erinnerungen jedem Klon eingedrückt wer den, ob er nun wie Smythe aussieht oder nicht. Oder je der Teil der Persönlichkeit. Mischmasch also.« »Auxilio!« rief Tomàs. »Hilfe! Wir können ihn nicht runter kriegen!« Sie mochten anstellen, was sie wollten, der kleine Portugiese, Sidi und Shriek konnten Sergeant Smythe nicht von dem seltsamen Kreuz herabziehen. »Oh, entschuldigt!« sagte Samedi und wandte sich wieder zur Konsole. »Muß zuerst die hier rumwerfen.« Er bewegte ein Paar Schalter, und das Kreuz sank all mählich zu Boden. »Da ist so ein Druckfeld, das ihn auf der Plattform festhält«, fügte er hinzu. »Haltet euch be reit, ihn aufzufangen!« Das Kreuz hatte kaum den Boden berührt, da fiel Smythe auch schon nach vorn. Tbmäs und Sidi fingen ihn auf und legten ihn hin. Smythe zuckte kurz mit den Lidern und öffnete sie dann langsam. Er sah zu Tomàs hinauf und wimmerte kurz.
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»Hast du Schmerzen, amigo«, fragte der kleine See mann, »oder gefällt dir mein hübsches Gesicht nicht?« Smythe rieb sich die Schläfen und wimmerte erneut, als er sich mühsam aufrichtete. »Warum habt ihr so lang gebraucht?« fragte er und sah sich unter seinen Freun den um. Dann fiel sein Blick auf Annabelle, und er warf Shriek einen langen Blick zu. »Mein Gott!« rief er auf einmal, weil er sich seines unbekleideten Zustands erirr nerte. Er versuchte verzweifelt, sich mit den Händen zu bedecken. »Meine Damen, bitte!« »Bitte was?« fragte Annabelle zuckersüß, und Clive stellte sich rasch zwischen sie, weil ihm plötzlich der Grund für Smythes Erröten aufging. »Dreht euch um, um der guten Sitten willen!« bat Horace Hamilton Smythe inständig. »Ich bin unbeklei det!« »Aber Shriek besitzt sechs Augen um den Kopf her um«, erinnerte ihn Neville grinsend von einer der Kon solen her. Er verschränkte die Arme, grinste geziert und war offensichtlich gewillt, Smythes Verlegenheit zu ge nießen. »Es änderte nichts, wenn sie sich umdrehte, sie sähe dich auf jeden Fall!« »Nun, dann mach die Augen zu!« schnappte Smythe und starrte die Arachnida an, während seine Wangen immer mehr erröteten. Ich habe keine Lider, antwortete Shriek für alle hörbar, und Annabelle kicherte. Samedi eilte zur Rettung herbei. »Hier, nimm das, Egon!« sagte der Klon, zog den Hut ab und bot ihn Smythe an. »Du siehst einfach bescheuert aus ohne Haare!« Smythe wurde noch röter, und die Röte breitete sich über die Stirn hinaus auf dem Kopf aus. Er schenk te Samedi einen Dafür-werd-ich-dich-kriegen-Blick, schnappte sich jedoch den Hut und bedeckte damit die Genitalien. »Dann nimmst du das hier besser auch«, fuhr Samedi
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fort, und das immer breiter werdende Grinsen enthüllte all seine Zähne. Er schlüpfte aus der zerlumpten Jacke, schüttelte ein wenig Staub daraus und warf sie Smythe zu. »Meinen Dank!« stieß Smythe zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor, als er die Ärmel um den Leib schlang und versuchte, das Kleidungsstück so zu arrangieren, daß es ein Maximum an Bedeckung ergab. Und das war nicht gerade viel, bemerkte Clive. Den noch würde es genug sein müssen. Sie konnten es sich nicht leisten, hier noch länger herumzulungern. Clive ging zu seinem ehemaligen Burschen, legte ihm die Arme um die Schultern und drückte ihn erleichtert an sich. »Du hast uns ein bißchen Angst eingejagt, Ho race, wie du so davongewandert bist!« »Tut mir leid, Sör«, antwortete Smythe zerknirscht. »Wollte nur 'nen Spaziergang draus machen, keinen blutigen Urlaub.« »'n paar Ferientage, hm?« erwiderte Clive. Er wandte sich Samedi zu. »Du hast gesagt, du könntest uns zur Schleuse führen. Ist das weit weg?« »Ganz nah, Egon«, antwortete Samedi und rieb sich die Arme. Die dünne, durchscheinende Haut sah in dem schwachen Licht bläulich aus, und die Rippen standen unnatürlich weit vor. Ohne die Jacke sah er noch mehr wie ein wandelnder Leichnam aus, wie der echte Baron Samedi. »Dann wollen wir gehen. Aber zunächst«, fügte Clive hinzu und wandte sich an seine Freunde, insbesondere an Shriek, Finnbogg und Chang Guafe, »macht aus die sem Raum Kleinholz!« Es war eine reine und bittere Freude für Clive zu se hen, wie die drei so starken Wesen sich ans Werk mach ten. Und sie genossen gleichfalls ihre Arbeit. Im Nu lag der Raum in Schutt und Asche. Im äußeren Raum hatten zwei der Dämonen das Be wußtsein wiedererlangt und waren davongehuscht. Sie
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waren jedoch nicht weit gekommen. Clive trat in den Gang hinaus und sah, daß zwei der Rattenfänger den Computerraum verlassen hatten. Die mechanischen Kil ler zogen sich gerade in diesen Raum zurück, zerrten je doch an kurzen Tentakeln, die sich um die Fußknöchel der Dämonen schlangen, das häßliche Paar hinter sich her. Ein breiter blutiger Streifen legte Zeugnis von der Wirksamkeit der Roboter ab. Sie waren offenbar mit jedem Mord zufrieden. Clive duckte sich, bis die Ungeheuer sich verzogen hatten. Dann führte er den Trupp in die Halle. »Wo hin?« fragte er Samedi, und der Klon ging den halben Korridor hinauf. »Hierhin«, gab Samedi zur Antwort. Aber Clive sah überhaupt keine Tür oder Öffnung. Er warf dem Anführer einen argwöhnischen Blick zu und berührte die Wand da, wo Samedi hindeutete. Ein Ab schnitt bewegte sich. »Erinnert ihr euch an meine Vorratskammer?« fragte Samedi. »Da kannst du die Tür auch nicht sehen. Die Herren des Dungeon wollen nicht, daß die Defekten überall herumwandern, weißt du. So versuchen sie, ei nige Eingänge zu verstecken. Die meisten von uns ar men Leuten kennen sie trotzdem.« Er drückte weiter, und die Tür öffnete sich in einen Gang, der breit genug war, um zwei von ihnen gleichzeitig den Durchgang zu gestatten. Sie krochen hinein. Clive wußte sofort, wo sie sich befanden. Der weite Saal war dunkel, aber Tausende und Abertausende von kristallenen Tanks strahlten einen blaßblauen Glanz aus, und an der Decke liefen kristallene Röhren entlang, die sich in jedes Gefäß senkten und unter den farben sprühenden Chemikalien schimmerten. »Ist das schön!« flüsterte Annabelle ehrfürchtig. Clive schüttelte den Kopf. »Das ist ungeheuerlich!« antwortete er. Sie gingen langsam weiter und spähten in die Tanks
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und auf die Lebensformen darin. Einige waren erst Em brios, die friedlich im Fruchtwasser trieben. Dennoch vermochte Clive selbst in diesem einfachen Stadium zu bestimmen, welche menschlich oder humanoid und welche die geklonten Nachfahren von fremdartigen Spezies waren. Einige der Tanks enthielten kleine Kin der. Oben auf jeder der Maschinen standen kleine schachtelähnliche Maschinen. Von jeder dieser Schach teln liefen Drähte durch die gläsernen Deckel in die Kör per der Wesen hinab. In einem solch frühen Lebensalter begann die Pro grammierung! Es machte Clive krank. An einem der Tanks, an dem er ganz nah vorbeiging, setzte sein Herz einen Schlag lang aus, und er sprang zu Annabelle zurück. »Was ist los?« fragte sie besorgt, und er zeigte hin. Eine affenähnliche Kreatur trieb in dem Tank, aber die Augen standen offen und beobachteten sie. Die Au gen waren in der Tat beunruhigend. Das Wesen funkelte sie mit einem deutlichen Haß an, der Clive einen Schau der den Rücken hinabjagte. Es bewegte sich nicht, es drohte nicht und vollführte keinerlei Bewegung. Das Gesicht war völlig passiv. Aber diese Augen! »Ein Defekter«, kommentierte Samedi ruhig. »Woher kannst du das wissen?« fragte Sidi Bombay. Samedi sah erst ihn und dann die Kreatur in dem Tank gleichgültig an. Mit flacher Stimme entgegnete er: »Das sieht man, Egon.« Neville trat neben Clive, als die Gruppe weiterging. »Ich komm' mir vor wie in einem Zoo«, flüsterte er, wo bei er unruhig von einer Seite zur anderen sah. Nevilles Hand verließ niemals den Griff des Degens, und seine Anspannung war fast fühlbar. »Kein Zoo«, entgegnete Clive, obgleich er kaum spre chen konnte. Er bemerkte jetzt, wie lange es her war, daß er einen Schluck Wasser erhalten hatte. »Ein Gar ten«, fuhr er fort. »Ein Garten.« Er blieb vor einem Tank
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stehen. Darin trieb der vollendete Körper eines Jungen von vielleicht siebzehn Jahren, dessen vollendete briti sche Züge gekrönt wurden von einem glatten blonden Haarschopf. Clive schloß die Augen, holte tief Luft und ließ sie langsam entströmen. Er sah sich um. Tanks, so weit das Auge reichte. »Ein Garten«, wiederholte er noch einmal, »und die hier warten nur auf die Ernte.« Er schluckte. »Das ist widerwärtig.« Er faßte Annabelle fest an der Hand. Ihre Haut war warm, wirklich, Teil seiner selbst. Sein Blut kreiste in ih ren Adern, seine Geschichte schlug in ihrem Herzen und ihrer Seele. Sie sah zu ihm auf, schenkte ihm ein dünnes, unsi cheres kleines Lächeln und ging dann allein weiter. An nabelle war real, sein Kind, zumindest seine Nachfah rin. Er liebte sie, seine Ur-Ur-Enkelin. Er konnte daran nichts ändern. Er spürte dieses Band, und er wußte, wie stark es war, wie unzertrennbar. Aber das Ding da in dem Tank mit dem jungenhaften Körper und dem blonden Haar. Ein Klon, unbestreitbar, aber von Vater oder von Neville? Oder war es Clive Fol liot? Was, wenn es der seine wäre? Was folgte daraus? Sohn? Neffe? Vetter? Wie würde ein echter Engländer eine solche Verwandtschaft definieren? Welche Ver pflichtungen hätte er ihm gegenüber? Gäbe es über haupt eine Verpflichtung? War es überhaupt wirkliches Leben oder nur eine Ansammlung von Zellen mit ver trauter Form, ohne eigenes Bewußtsein, bis eine Ma schine ihm eines schenkte? Er fühlte sich krank. Er fühlte sich wütend. »Ich hab' mal so 'nen Pub wie den hier gekannt, Sör«, sagte Smythe auf einmal und trat an ihn heran. »In Liverpool war's. Sie würden nich' glauben, was für merk würdige Gestalten sich da rumtrieben und 'n bißchen Nährlösung einsaugten, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
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KAPITEL 23
Durch das Spiegeltor empfangen Tumult!« meldete Audiosensoren Chang Guafe plötzlich. »Annähernd zwanzig Me ter links!« Die Gefährten waren nach und nach enger aneinan der gerückt, während sie zwischen den Klontanks ent langgingen. Die Gesichter glühten in den merkwürdi gen weichen Farbtönen, die von dem flüssigen Funkeln der Chemikalien hervorgerufen wurden und die sie ge nauso fremdartig aussehen ließen wie die Kreaturen in den Behältern. Bei Chang Guafes Warnung blieben sie stehen und horchten. »Fürchte, ich hör' überhaupt nichts, alter Knabe!« sagte Neville, wobei er die Stimme jedoch zu einem Flü stern absenkte. Samedi zerrte beharrlich Clive am Ärmel. »Macht nix, Egon«, sagte er und warf einen verstohlenen Blick in die Richtung, aus der die bedrohlichen Geräusche kamen. »Unser Weg führt geradeaus weiter. Wir ham nix damit zu tun.« Clive drückte Samedis Hand sanft, aber bestimmt beiseite. Ihm war längst aufgefallen, daß der Akzent ih res Anführers schlimmer wurde, wenn er nervös war, und man konnte die Furcht in Samedis Blick kaum miß verstehen. Abgesehen davon hätte sie Chang Guafe auch nicht ohne guten Grund gewarnt. »Was für ein Tumult?« fragte Clive. Der Cyborg zögerte, als horchte er erneut. »Schüsse, Rufe von vielen verschiedenen Stimmen, Schmerzens schreie, im Hintergrund Geräusche von Zerstörung.« Er legte wieder eine Pause ein. »Analyse: Heftiger Kampf beachtlichen Ausmaßes.«
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»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, daß ich's so aus drücke, Sör«, flüsterte Sergeant Smythe, »wenn es da in solcher Nähe Schwierigkeiten gibt, war's nicht gut, sie im Rücken zu haben.« »Aber wenn sie so nah sind, amigo«, unterbrach To màs, »warum hören wir anderen nichts davon?« »Entschuldigung, Mensch«, sagte der Cyborg. »Mei ne Rezeptoren sind auf höchste Stufe gestellt. Du hast recht, wenn du auf diesen Unterschied hinweist. Nichtsdestoweniger ist der Tumult so nah, wie ich fest gestellt habe.« Er sah von Tomàs zu Clive. »Es ist eine Anomalie.« Clive seufzte. Er wollte eigentlich nur das Tor finden, aber Smythe hatte recht. Er mußte wissen, was da hin ter ihnen vor sich ging. »Wir wollen nachsehen«, ent schied er. »Aber haltet euch geduckt. Wenn sie nicht wissen, daß wir hier herumschwirren, soll das auch so bleiben.« Chang Guafe führte sie durch ein Labyrinth von Tanks und suchte den Weg mit den Sensoren. Clive hielt die Augen auf seinen Cyborgfreund gerichtet und sah von den Tanks weg, weil ihn deren Inhalt so verstörte. Niemand gab einen Laut von sich, nicht nur um Chang Guafe zu unterstützen, sondern auch aus Furcht, von einem unbekannten Feind entdeckt zu werden. Als sie vielleicht zehn Meter weit gegangen waren, glaubte Clive, ein schwaches Geräusch gerade voraus zu ver nehmen. Daraufhin folgte ein kräftiges Wumm, bei dem der Boden unter ihren Füßen vibrierte. Der Trupp erstarrte, und sie sahen einander an. Dann gingen sie auf Clives Anweisung hin weiter. Jeder hörte jetzt die Geräusche, wenngleich nur schwach. Die südliche Wand des riesiggroßen Klonsaals be stand aus durchsichtigem Plexiglas, das einen Blick auf einen weiteren Saal weit unter ihnen erlaubte. Obwohl der Lärm stark gedämpft zu ihnen drang, hörten und sahen sie jetzt, vor was sie Chang Guafe gewarnt hatte.
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»Mein Gott!« murmelte Annabelle und drückte die Stirn an das Glas, während sie hinabsah. Niemand sonst sprach ein Wort. In die unteren Wände waren Beleuchtungskörper ein gelassen, so daß man sehen konnte. Es gab jedoch keine Ausgänge. Offensichtlich waren alle Türen verschlossen worden. Vielleicht eintausend Defekte flüchteten in hilf losem Schrecken vor den Rattenfängern, die sie umzin gelt hatten. Energiestrahlen rissen Fleisch auf. Körper explodierten buchstäblich bei der Berührung mit dem goldfarbenen Licht. Es gab keinerlei Deckung, nichts, unter oder hinter dem man sich hätte verstecken kön nen, außer einem Haufen offener Kartons genau in der Mitte des Saals. Rohes organisches Material, rief sich Clive bitter ins Ge dächtnis zurück, und in einer jähen, entsetzlichen Er kenntnis wandte er sich an Samedi. »Was tun sie mit den Körpern?« »Recyclen sie, Egon«, kam die schreckliche Antwort. »Null Bock auf Müll.« »Das widerliche Zeug in den Kartons?« fragte Anna belle sehr bleich. Samedi nickte, »'n paar davon.« Ehe Clive eine weitere Frage stellen konnte, wandte sich eine Anzahl der Defekten um und griff den nächst stehenden Rattenfänger an. Einige ergriffen ihn bei den Armen und versuchten, sie festzuhalten. Andere klet terten ihm auf den Rücken und schlugen mit den Fäu sten auf den metallenen Kopf. Hände packten die Ket ten zu beiden Seiten. Sie hoben die Maschine gleichzei tig an, und sie fiel krachend zur Seite. Ein Triumphge schrei stieg auf. Aber der Sieg war nur von kurzer Dauer, da ihre Handlung die Aufmerksamkeit der übrigen Rattenfän ger auf sich gezogen hatte. Einen Augenblick lang wur de dieser Teil des Saals zu einer kleinen leuchtenden Sonne, als sich alle Strahlen auf die Gruppe richteten.
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Annabelle fuhr herum und schlug sich die Hand vor die Augen. Tomàs hämmerte schwerfällig mit den Fäusten auf das Glas. »Ich hasse diesen Ort!« zischte er wie ein Mann, der über dem Abgrund zum Wahnsinn taumelte. »Ich hasse diesen Ort!« Clive wandte sich erneut an Samedi. Der Klon hatte sich fortgestohlen und lehnte jetzt schwer am nächstste henden Tank. Darin trieb eine große anmutige Kreatur mit spitzen Ohren in einem offenbar glückseligen Schlaf. Aber die Hände schienen fast nach Samedis Hals zu greifen. »Was geht dort unten vor sich?« fragte Clive beharr lich und machte sich nicht mehr die Mühe zu flüstern. Neville wandte sich gleichfalls um. »Sieht aus wie ein Viehauftrieb, wie ich ihn drüben in den Staaten gesehen hab'.« »Das ist's auch, Egon«, antwortete Samedi mit zit ternder Stimme. »Das ist's auch. Siehste, wir sin' Defek te, aber 'n paar von uns können denken, un' alle könn'n sich versteck'n. Aber sie müssen uns kriegen, damit wir uns nich' zu schnell vermehren. Also tun se was in die Freßkartons rein. Je mehr du davon ißt, desto mehr will ste davon, bis du's haben muß, un' du tus' alles, um's zu kriegen.« »Drogen?« fragte Annabelle ungläubig. Samedi nickte erneut. »Sie tun 'n großen Vorrat in 'n großen Raum wie den da. Niemals zweimal denselben Raum. Un' jeder weiß, es is' 'ne Falle, aber du muß den Stoff haben. Un' am ersten Tag kommen die Rattenfän ger nich', un' am zweiten kommen se auch nich', und vielleicht kommen se 'n paar Tage lang nich', und du glaubs', es i s wirklich sicher, un' viele von uns kommen schließlich, um sich den Stoff zu holen, 'türlich komme'n dann die Rattenfänger doch, weil se 'türlich die ganze Zeit gewartet haben, nur um 'ne Menge von uns auf einmal zu kriegen.«
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Plötzlich strömten Samedi Tränen aus den Augen und über die Wangen hinab. Er sank mit dem Rücken zum Tank zu Boden und weinte. Dann wurde das Wei nen zu einem leisen traurigen Gelächter. Er faßte sich ins Gesicht, fing eine Träne mit der Fingerspitze auf und starrte sie an. »Ich bin frei!« sagte er völlig akzentfrei. »Ich bin frei von meiner Programmierung. Wie sie euch eure tiefen Erinnerungen nicht stehlen konnten, so kön nen sie uns auch nicht die tieferen Gefühle geben wie Liebe oder Kummer oder Loyalität oder Mitleid.« Er wischte sich eine weitere Träne ab und hielt sie hoch. Sie funkelte in dem bleichen blauen lumineszierenden Licht aus dem Tank hinter ihm. »Wir müssen sie selbst finden, und wir können das nur dann tun, wenn uns die Programmierung nicht mehr antreibt.« Er sah auf, und die Spur eines Lächelns flackerte ihm übers Gesicht. »Ich kann jetzt weinen, wie ich's zuvor nicht konnte!« Er saß einen weiteren Augenblick da, die Hände im Schoß verschränkt. Schließlich stand er auf. »Für die da unten könnt ihr nichts mehr tun, Clive Folliot. Auch für mich nicht. Siehst du, ich habe ebenfalls davon geges sen. Aber vielleicht findet ihr die Herren des Dungeon, und dann denkt an uns. Also, jetzt wollen wir euch mal zum Tor bringen!« Er winkte den kleinen Portugiesen heran. »Komm her, Tomàs. Ich hasse diesen Ort ge nauso wie du. Geh neben mir her.« Er legte Tomàs den Arm um die Schulter, als er sie weiterführte. »Aber Clive!« rief Annabelle, als der Trupp weiterge hen wollte. »Wir können sie nicht da unten lassen! Das ist die reinste Metzelei! Wir müssen was unternehmen!« »Wir können nichts tun«, antwortete Clive ruhig. »Hast du Samedi nicht gehört? So funktioniert die Welt hier unten eben.« »Wenn du das beenden willst«, sagte Sidi Bombay und zog sie sanft von der Glaswand weg. Er sprach so eindringlich, daß sie ihn ansehen mußte. »Dann mußt du die Herren des Dungeon aufhalten.«
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Sie sah Sidi an, dann Clive, dann die übrigen. »Ich will es!« sagte sie mit einer Festigkeit, die sie frösteln ließ. »Ihre Seelen sollen verdammt sein! Ich will's.« »Wir alle wollen's«, pflichtete Clive bei und faßte sie bei der Hand. Mit diesem Kontakt öffnete er die neuro nale Verbindung zwischen ihnen und gestattete ihr ei nen Blick darauf, wie stolz er auf sie war und wieviel Liebe er für sie empfand. Als Gegenleistung schmeckte er den Geruch der Angst, die sie noch nicht gemeistert hatte. Er zog sich aus Annabelles Bewußtsein zurück, und die Gruppe folgte Samedi ein zweitesmal zwischen den Tanks hindurch. Shriek, rief Clive schweigend, und die Gedanken der Arachnida öffneten sich zu einer Umar mung. Ja, Wesen Clive? Wenn sich die Dinge etwas beruhigen, sagte er, müssen wir Neville ins Netz bringen.
Samedi blieb erneut abrupt stehen. Ein riesiger me tallener Zylinder stand rechts neben ihm, und er sah ihn gedankenvoll an. Vertraute Kristallröhren ragten aus dem Deckel hervor und vereinigten sich mit dem Netz werk von Röhren, in denen die chemischen Lösungen für die Versorgung der Klontanks flössen. Er wandte sich an Chang Guafe. »Ich habe gesehen, wie stark du bist«, sagte er vorsichtig. »Glaubst du, du kannst das hier durchschlagen?« Der Cyborg näherte sich dem Zylinder und berührte ihn mit der Handfläche. Ein schwacher hoher Piepston ertönte, und unter seinen Fingerspitzen flackerte ein schwaches grünes Licht. Chang Guafe senkte die Hand. »Er ist nur zweieinhalb Zentimeter dick«, meldete er. »Ich kann ihn durchschlagen.« Samedi trat zurück und winkte einladend mit der Hand. »Dann bitte«, forderte er ihn auf. Aber Clive unterbrach. »Samedi, was ist das?« Samedi lächelte, aber Clive gefiel das Lächeln über
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haupt nicht. Irgend etwas Unbestimmtes lag in den Au gen des Klons. »Ich habe euch gut gedient«, sagte Samedi überhaupt nicht drohend. »Und wenn ich es auch nicht persönlich tat, so hat es doch mein genetisches Material getan. Drei von mir sind für euch gestorben, Clive Folliot. Wenn du mir jetzt nicht vertrauen kannst, dann tu mir wenig stens den Gefallen. Es ist für euch nicht weiter schlimm.« Chang Guafe hob die Schulter und sah Clive an. »Es ist ein dehnbares Material von nicht allzu großer Festig keit. Ich kann's ohne Schaden für mich durchbrechen.« Clive nickte stirnrunzelnd. Alle außer dem Cyborg traten einen Schritt zurück. Chang schloß die Hand zur Faust. Mit einem einzigen kräfitgen Hieb durchschlug er den Zylinder. Eine dünne Flüssigkeit spritzte um seinen Arm herum, und als er ihn zurückzog, folgte ein steter Fluß, und die Flüssigkeit breitete sich rasch auf dem Bo den aus. »Bäh, ekelhaftes nasses Zeug!« winselte Finnbogg und sprang beiseite, um nicht mit der Flüssigkeit in Be rührung zu kommen. »Nicht okay!« Samedi hob die Schulter, wandte sich um und führte sie weiter. »Ist nur eine Nährlösung«, sagte er über die Schulter. »Du meinst, die Klone in den Tanks werden ohne sie verhungern?« wollte Annabelle wissen. Samedi verlangsamte den Schritt nicht, als er antwor tete. »Das ist sehr unwahrscheinlich. Die Monitore wer den den Schaden aufzeichnen und Reparaturmaschinen schicken. Es wird ihnen — wie drückt ihr das aus? — ei nen Strich durch die Rechnung machen. Vielleicht wer den sie die Defekten für diesmal sogar vergessen und uns Rattenfänger hinterherschicken.« »Kein sehr angenehmer Gedanke«, höhnte Neville. »Wenn das geschieht, werden wir längst verschwun den sein und uns in Sicherheit befinden. Ihr durch euer
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Tor und ich ...« Er zuckte mit den Schultern. »Übri gens, Chang Guafe, hier ist ein weiterer.« Er blieb vor einem Zylinder stehen, der genauso aussah wie der er ste. »Wenn ich bitten darf?« Vier weitere Male durchschlug Chang Guafe auf Sa medis Drängen hin Nährtanks. Der Boden wurde schlüpfrig von der auslaufenden Flüssigkeit. Ein ziem lich unangenehmer Geruch lag in der Luft. Finnbogg hielt sich die Nase zu und versuchte erfolglos, auf Ze henspitzen von einer trockenen Stelle zur nächsten zu staken. »Bäh!« wiederholte er angeekelt. »Ist doch nicht so schlimm!« tadelte Annabelle und kraulte ihn zwischen den Ohren, aber der Ausdruck auf ihrem Gesicht sprach eine andere Sprache. Finnbogg drehte die großen braunen Augen zu ihr hinauf. »Annie hat tote menschliche Nase«, sagte er verteidigend. »Finnbogg hat sehr empfindliche Nase. Alle Finnboggs haben empfindliche Nasen.« Er hielt sich die empfindliche Nase fest zu und sagte fest und entschieden: »Bäh!« Samedi blieb erneut vor etlichen Türen stehen. Sie hatten die westliche Wand erreicht. »Hinter diesen Tü ren befindet sich das Nervenzentrum der Klonbank«, verkündete er. »Es gibt dort viele Computer und Ma schinen, aber die Schleuse zur nächsten Ebene ist gleichfalls hier irgendwo.« Er berührte den Wandab schnitt mit der Handfläche. Nichts geschah. »Sie ist verschlossen!« rief er überrascht aus. »Kein Problem!« entgegnete Clive resolut. Er war be gierig darauf, diesen Ort zu verlassen, und kein schwa ches Schloß sollte ihn daran hindern. »Chang? Shriek?« Die Tür hätte genausogut aus Seidenpapier bestehen können. Die beiden Fremdwesen rissen sie einfach her aus, und die Gruppe eilte hindurch. Da waren keine Computer und keine Maschinen. In Wirklichkeit war dieses Zimmer ziemlich klein und wie ein viktorianischer Salon möbliert, mit dicken Teppi
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eben und Polsterstühlen, Bildern an den Wänden und einem Kamin mit einem warmen knisternden Feuer. Ei ne Uhr mit einem freundlichen Großvatergesicht tickte laut auf der Kamineinfassung, und dahinter stand ein großer Spiegel, der den gesamten Raum reflektierte. Zwei Gestalten beugten sich vor dem Feuer über ei nen Tisch, zwischen sich ein Schachspiel. Hinter ihnen standen zwei weitere Gestalten in schweren Mänteln. Das Paar im Mantel sah gleichzeitig auf und erblickte Clive. »Verdammt noch mal!« rief die dunkelhaarige Frau. »Oh, Mist!» sagte ihr Bruder. »Die Ransome-Zwillinge!« rief Sergeant Smythe, aber ehe irgend jemand sich auch nur bewegen konnte, warf das Paar die Mäntel ab und verschwand mit einem erstaunlichen Satz durch den Spiegel. Tomàs eilte hinüber. »Pressa! Das muß das Tor sein!« Aber Clive hielt ihn am Arm zurück. »Warte!« sagte er und näherte sich den beiden Gestalten, die noch nicht von ihrem Schachspiel aufgeblickt hatten. Sie schienen vom Spiel völlig gefangen zu sein. Einer hob eine Figur und setzte sie sorgfältig auf ein anderes Feld. Der ande re hatte den Gegenzug bereits vorbereitet und führte ihn jetzt durch. Dann erst nahmen sie die Eindringlinge zur Kenntnis. Sie sahen langsam von dem Spiel hoch. Clive blieb stehen und starrte Philo B. Goode, wieder einmal in menschlicher Gestalt, und seinen Vater, Baron Tewkesbury, an. »Also bist du doch so weit gekommen«, sagte Goode geringschätzig. Annabelle zerrte Clive am Arm. »Klone«, flüsterte sie. »Wirklich?« sagte Goode amüsiert, verschränkte die Arme vor der gewölbten Brust und grinste zu seinem Mitspieler hinüber. Der Baron erwiderte traurig den Blick. »Also kannst du jetzt das Echte vom Falschen un terscheiden, ja? Die Illusion von der Wahrheit? Hast du so viel gelernt?«
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»Ja!« brauste Annabelle auf. »Du bist ein Klon, Philo Goode. Ihr seid beide Klone! Und dieser Raum ist gleichfalls Schwindel, eine Illusion. Ihr nehmt Bilder aus unserem Bewußtsein! Shriek hat das herausgefun den. Und dieses Bild hier stammt aus dem meinen. Ich habe Alice hinter den Spiegeln gelesen. Es fehlen nur die Kätzchen!« Miauu! Miauul Sie wandten sich in die Richtung, aus der der Laut kam. Auf einem der Polsterstühle lag zusammengerollt eine große weiße Katze, die geduldig das Gesicht eines kleinen weißen Kätzchens säuberte. Am Fuß des Stuhls spielte ein schwarzes Kätzchen ausgelassen mit einem Knäuel blauer Wolle. »Ihr habt gelernt«, gab Philo B. Goode widerwillig zu, »aber ihr habt noch nicht genug gelernt.« Neville trat vor und ließ drohend den Degen wippen. »Dann können wir vielleicht ein paar Antworten aus dir herausschneiden, du blutiger Stümper!« »Sie, Major, haben allerdings überhaupt nichts ge lernt.« Goode griff in die Tasche seiner Weste und zog eine Stasisbox heraus. Er zielte damit auf Neville und drückte den Auslöser. Neville Folliot erstarrte mitten in der Bewegung. »Das ist der Grund, weshalb wir's mit Ihnen aufgaben.« Er sah Clive an und setzte erneut sein haßerfülltes Grinsen auf. »Bitte greift nicht nach euren Waffen. Ihr seht, meine Freunde, das Spiel ist absolut noch nicht vorüber.« Er starrte an ihnen vorbei, und das Grinsen wurde breiter. »Aha. Da kommen sie, um euch mitzunehmen!« Clive fuhr auf dem Absatz herum. Vom Klonsaal drau ßen rasten drei Rattenfänger mit angehobenen glänzen den Armen, die gerade dabei waren, das goldene Feuer aufzubauen, auf sie zu. Dann drehten die Ketten plötz lich durch, als sie den Schleim auf dem Fußboden er reicht hatten. »Sie haben recht, Sir«, sagte Samedi mit spöttischer
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Höflichkeit und lehnte sich wie beiläufig an den zerstör ten Eingang. »Das Spiel ist noch nicht vorüber.« Er öff nete eine kleine Schachtel, die er in der Hand gehalten hatte. »Dieb!« rief Tomàs und klopfte sich auf die Taschen. »Er hat meine Streichhölzer gestohlen!« Samedi zog ein Hölzchen an der Seite der Schachtel entlang. Eine winzige Flamme flackerte, und ein kleines Rauch Wölkchen wirbelte ihm ums Gesicht. Er trat einen Schritt in den Klonsaal zurück, und in seinen Augen lag etwas, bei dem Clive zitterte. »Wenn ihr den Herren des Dungeon schließlich Auge in Auge gegenübersteht, Clive Folliot«, sagte Samedi bedeutungsvoll, »dann erinnert euch unser. Erinnert euch meiner.« Er sah erneut hinüber zu Philo B. Goode, und Haß füllte die dunklen eingefallenen Augen. »Schachmatt!« sagte er. Das Hölzchen fiel Samedi zu Füßen. Sogleich fing die schleimige Flüssigkeit Feuer. Mit einem einzigen Auf brüllen wurde der äußere Saal zur Flammenhölle. Sa medi kreischte noch nicht einmal, als das Feuer über ihn hinwegglitt. Er stand einen Augenblick lang da wie eine leuchtende Säule, dann explodierte genau hinter ihm der nächststehende Klontank in einem weißen Feuer ball, der jeden zu Boden warf. Ein Schauer brennender Flüssigkeit regnete durch den Eingang. Smythe stieß einen Schrei aus, als sie ihn auf dem nackten Rücken traf. Er wälzte sich verzweifelt umher und schlug auf sich ein. Finnbogg stieß gleich falls einen überraschten Schrei aus, als ein Büschel Haa re auf seinem Rumpf zu schmoren begann. Annabelle rappelte sich auf, packte ihn, riß sich die Bluse vom Leib und schlug ihm damit auf den Rücken. Eine Explosion nach der anderen erschütterte den äu ßeren Saal, als ein Tank nach dem anderen in die Luft flog. Wo die Flüssigkeit den Teppich berührt hatte, lo derten helle Flammen auf.
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»Ich glaube nicht, daß es Nährlösung war«, sagte Chang Guafe. »Entwickelst du etwa plötzlich einen Sinn für Hu mor?« fragte Neville, während er versuchte, Shriek hochzuziehen. »Ich war dabei, die notwendigen Elemente zu analy sieren«, antwortete Chang Guafe trocken. »Analysiere sie später!« drängte Clive. »Unsere Freunde haben sich für das Gegenteil des Heldenmuts entschieden. Wir sollten das gleiche tun.« Es stimmte. In der allgemeinen Verwirrung hatten Philo B. Goode und der Baron die Flucht ergriffen, ver mutlich durch den Spiegel. Selbst die Kätzchen waren verschwunden, wenn sie jemals wirklich vorhanden ge wesen waren. So schnell er konnte, dirigierte Clive sie zum Kamin. Während er einen Stuhl vom Tisch heranzog, um ihn als Stufe zum Spiegel zu benutzen, erhaschte er zufällig einen Blick auf das Schachspiel, und sein Herz setzte ei nen Schlag lang aus. Feuer und Gefahr schwanden aus dem Bewußtsein. Ihm wurde ganz kalt. Es war überhaupt kein normales Schachspiel. Mitten unter die weißen Steine gemischt waren kleine Nachbil dungen seiner selbst und aller Freunde. Aber unter den schwarzen Steinen standen Miniaturausgaben von Sidi Bombay und Chang Guafe. Plötzlich erinnerte er sich eines weiteren-Schachspiels auf einer der oberen Ebenen — Greens Spiel. Bei jenem waren Figuren nach Horace und Sidi modelliert worden. Und — wie er sich genau erinnerte — nach seiner Mut ter. Was bedeutete das? Besaß jenes Spiel irgendeine Ver bindung zu diesem hier? Als den anderen sein seltsames Verhalten auffiel, beugten sie sich näher an ihn heran. Mit einem Wut schrei fegte er mit dem Arm übers Brett, und die Figu ren flogen in alle Richtungen. Hatte er rasch genug ge
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handelt? Hatten sie es alle gesehen? Schweratmend wandte er sich vom Tisch ab. Ohne es zu wollen, starrte er Sidi Bombay an, dann Chang Guafe. Sidi bemerkte es. »Was ist los, Engländer?« fragte er neugierig. Clive biß sich auf die Lippen. Dann zitterte der Boden bedrohlich. Wie er sich erinnerte, gab es Tausende von diesen Klontanks und unzählige dieser ChemikalienVorratskammern, die sie versorgten. »Nichts!« rief Clive über das wachsende Chaos hin weg. Er weigerte sich, den Gedanken ernstzunehmen, der ihm durchs Gehirn geschossen war. Vielleicht konn te er nicht Wirklichkeit von Unwirklichkeit unterschei den, aber er kannte seine Freunde. Er gab einen ver fluchten Dreck um irgendwelche Figuren auf einem Schachbrett! Es war nur ein weiterer Trick von Goode, der ihn verwirren sollte. Nun, das ließ er nicht zu. Er kannte seine Freunde! »Durch die Schleuse!« befahl er und riß sich zusam men. »Raus hier!« »Durch den Spiegel, meinst du«, knurrte Annabelle, als sie auf den Stuhl kletterte. »Los, Finnbogg, geh'n wir gemeinsam!« Finnbogg kletterte neben sie auf den Stuhl, und sie setzten jeder einen Fuß auf die Einfassung. »Eine gute Idee«, pflichtete Clive bei. »Jeder nimmt einen Partner. Auf diese Art werden wir, falls wir von einander getrennt werden, auf der anderen Seite zu mindest jemanden haben, dem wir vertrauen dürfen.« Er wandte sich an seinen ehemaligen Burschen und leg te ihm die Hand auf die Schulter. »Würdest du bitte mit Annabelle und Finnbogg gehen? Hältst du für mich ein Auge auf sie?« »Natürlich, Sör!« stimmte Smythe zu. »Obgleich ich mir sicher bin, daß wir auf der anderen Seite alle zu sammen sein werden.«
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»Hört sich 'n bißchen zu sehr beschwörend an, Ser geant«, sagte Neville verdrossen. »Soll das vielleicht ein Witz sein?« Smythe seufzte wie ein geduldiger Vater über einen reizbaren Sohn. »Ich will nur versuchen, Sör, diesen Mantel aufzuheben und meine Blöße damit bedecken. Wenn Sie bitte Ihren großen Fuß beiseite nähmen?« Ehe Neville sich bewegen konnte, beugte sich Smythe nie der und griff nach einem der Mäntel, die die RansomeZwillinge fallengelassen hatten, und zog ihn unter Ne villes Fuß weg, womit er Neville fast ins Stolpern brach te. Er überhörte Nevilles Schimpfen, legte sich den Mantel um den Hals und schlug ihn um sich. »Das fühlt sich etwas besser an«, sagte er mit einem verlegenen kleinen Grinsen. Dann kletterte er zusammen mit Annabelle und Finn bogg auf den Stuhl und auf die Kamineinfassung. Jeder hielt eine Hand ausgestreckt, und dann lehnten sie sich ans Glas und taumelten hindurch. Tomàs und Sidi Bombay gingen als nächste. Sie tauschten Blicke aus und ließen los. Neville nahm eine von Shrieks Händen und trat auf den Stuhl. Er wollte galant der zwei Meter großen Arachnida ein wenig Platz machen. »Sie wird's nicht brauchen«, sagte Clive zu sei nem Bruder, während er Shrieks Spott über das Neuro nengewebe spürte. Sie sprang los und zog einen ver dutzten Neville mit sich. »Wir gehen zusammen, Clive Folliot«, sagte Chang Guafe und trat an den Stuhl. Clive sah den Cyborg an und faßte dessen Hand. »Das ist richtig, Chang. Niemand anderen hätte ich lie ber an meiner Seite als dich.« Ich geb' einen Scheißdreck um ein Schachspiel fügte er schweigend hinzu. Sie kletterten auf den Stuhl und auf die Einfassung. Das Feuer war jetzt halb im Raum, der Teppich an der Tür brannte heftig. Weitere Explosionen erschütterten den Komplex, und überall stieg Rauch auf.
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»Ich werde mich erinnern, Samedi«, versprach er flü sternd. »Ich schwöre, ich werd's tun!« »Wir werden's tun«, verbesserte Chang Guafe. Clive sah in das Gesicht des Cyborg. Trotz des Me talls fand er nichts Erschreckendes darin. Die Rubinlin sen waren noch immer Fenster zur Seele der Gefährten, einer Seele, die er kannte und der er vertraute. »Diesmal verlierst du, Philo B. Goode«, sagte er laut, »und nicht nur diesmal!« »Ist dies eine angemessene Gelegenheit für Humor?« wollte Chang Guafe wissen. Clive rieb sich mit der Hand die Stirn, um den Schweiß abzuwischen, der ihm in die Augen zu rinnen drohte. »Lachen ist Medizin für Menschen und Cy borgs«, räumte er ein. Changs Linsen glänzten auf untergründige Art heller. »Also: ›Ein Cyborg, er hieß glaub' ich Jule dessen Bru der war sicherlich schwul.. .‹« »O nein!« knurrte Clive, und ehe Chang Guafe noch einen weiteren Laut von sich geben konnte, zog er ihn durch den Spiegel. Es war ein langer, langer, langer Weg nach unten.
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¦ AUSWAHL ¦
AUS DEM SKIZZENBUCH VON MAJOR CLIVE FOLLIOT
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Die folgenden Zeichnungen entstammen Major Clive Folliots privatem Skizzenbuch, das auf mysteriöse Weise auf der Schwelle des London Illustrated Recorder and Dispatch zurückgelassen wurde, jener Zeitung, die einige Mittel für seine Expedition bereitgestellt hatte. In dem Paket fand sich keine Erklärung, abgesehen von einer rätselhaften Eintragung von der Hand Major Folliots selbst. Nachdem unsere Gruppe wieder beisammen war, führen wir aus dem schreckerregenden Saal der Herren des Donners weiter und torkelten in eine weitere Ebene dieses verfluchten Dungeon! Diese Ebene ist äußerst faszinierend. Hier gibt es Klone von uns selbst und allen Wesen, denen wir begegnet sind. Jetzt, da ich den echten Neville gefunden habe, ist unser Hauptziel die Rückkehr zu Heim und Herd. Aber ehe wir das tun können, müssen noch zwei Dinge erledigt werden — Finnboggs Geschwister finden und Rache nehmen an den Herren dieses höllischen Orts!
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