Timothy Boggs
THE BURNING ZONE Der schwarze Turm
Version 1.0, Juli 2004 Dieses eBook ist nicht zum Verkauf bestimmt!
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Timothy Boggs
THE BURNING ZONE Der schwarze Turm
Version 1.0, Juli 2004 Dieses eBook ist nicht zum Verkauf bestimmt!
Viren sind auf dem Vormarsch im endlosen Krieg mit der Wissenschaft und Medizin. Eine Gruppe hochspezialisierter Experten unter der Leitung von Dr. Daniel Cassian bildet ein Einsatzteam, das von Regierungen in aller Welt zur Hilfe gerufen wird, wann immer die Dinge in einer „brennenden Zone“ außer Kontrolle geraten. In einem neu erbauten Hochhaus in San Francisco sterben innerhalb kürzester Zeit fast achtzig Menschen, wie es scheint durch Selbstmord. Marcase, Shiroma und Hailey dringen in das hermetisch abgeriegelte Gebäude ein, um der Ursache auf den Grund zu gehen. Doch bevor die Lösung gefunden ist, wird Marcase von einem Eindringling, der von Wahnvorstellungen verfolgt wird, niedergeschlagen und sein Schutzanzug beschädigt. Kurz darauf beginnt auch er an Verfolgungswahn zu leiden. In letzter Sekunde kann Hailey verhindern, daß der Mediziner sich in seiner Panik vom Dach des Hochhauses stürzt. Kimberley und Dr. Cassian gelingt es den mysteriösen Stoff, der die Wahnvorstellungen auslöst, rechtzeitig zu identifizieren, um Dr. Marcase ein Gegenmittel verabreichen zu können. Das Team findet heraus, daß die gefährliche Substanz Jahrzehnte zuvor in einem unterirdischen Raum deponiert wurde und nach dem Neubau des Hochhauses in dessen Fundament eingedrungen ist. Und es scheint, als ob hinter diesen Vorgängen eine geheimnisvolle Organisation namens „The Dawn“ steckt... Kaum hat Dr. Marcase sich halbwegs erholt, bahnt sich schon die nächste Katastrophe an. In einer High School kommt ein Junge vor den Augen eines Mitschülers durch spontane Selbstentzündung ums Leben. Es gibt Hinweise auf einen Zusammenhang mit den Todesfällen in dem Hochhaus. Hat auch hier „The Dawn“ seine Hand im Spiel?
TIMOTHY BOGGS
THE
BURNING ZONE Der schwarze Turm Roman
Auf Basis der gleichnamigen Fernsehserie von Coleman Luck
Aus dem Amerikanischen von Christian Rendel
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Boggs, Timothy: The burning zone / Timothy Boggs. – Köln: vgs Der schwarze Turm: Roman / auf Basis der gleichnamigen Fernsehserie von Coleman Luck. Aus dem Amerikan. von Christian Rendel. – 1. Aufl.– 1998 ISBN 3-8025-2524-8
The Burning Zone Ein Roman von Timothy Boggs Auf Basis der gleichnamigen Universal Fernsehserie von Coleman Luck unter Verwendung der Drehbücher zu den Episoden: „Arms of Fire“ von Coleman Luck III., „Night Flight“ von Carleton Eastlake und „Silent Tower“ von Coleman Luck. Titel der amerikanischen Originalausgabe: The Burning Zone – Into the fire © 1997 MCA Publishing Rights, a Division of Universal Studios., Inc. All Rights Reserved.
1. Auflage 1998 © der deutschsprachigen Übersetzung vgs Verlagsgesellschaft, Köln 1998 Umschlaggestaltung der deutschen Ausgabe: Papen Werbeagentur, Köln Lektorat: Gerhard Lubich, Köln Redaktion: Christina Deniz Medizinisches Fachlektorat: Oliver Stern, Hamburg Logo © RTL Television Merchandising / Licensing 1997 Satz: Wolframs Direkt Medienvertriebs GmbH, Attenkirchen Druck: Freiburger Graphische Betriebe, Freiburg Printed in Germany ISBN 3-8025-2524-8 Besuchen Sie unsere Homepage im WWW: http://www.vgs.de
Am Anfang Dr. Edward Marcase saß auf dem Kopilotensitz der Transcom 747 und starrte in den Nachthimmel. Einige Meilen unter ihm erstreckte sich die endlose Fläche des Pazifischen Ozeans; mehrere hundert Meilen vor ihm lag Hawaii. Neben ihm auf dem Pilotensitz saß der Erste Offizier Espinosa. Und hinter ihm in der Hauptkabine spielte sich ein Alptraum ab. So hatte es nicht kommen sollen. Noch vor ein paar Stunden hatte sich Marcase mit den anderen Mitgliedern seines medizinischen Spezialteams, Dr. Kimberly Shiroma und Sicherheitsoffizier Michael Hailey, auf der Y-förmigen, bergigen Insel Malcupali befunden. Tagelang hatten sie sich durch die Hitze und die erstickende Feuchtigkeit geschleppt, durch Reisfelder und Bergdschungel, abgelegene Dörfer und kleine Städte, die den Namen kaum verdienten, und nach einem möglicherweise neuen Virus gesucht, das einem Gerücht zufolge unter der örtlichen Bevölkerung grassierte. Doch außer den üblichen kleineren Malariaepidemien – die leicht einzugrenzen und zu behandeln waren – und anderen, weniger bekannten tropischen Infektionskrankheiten, die sich ebenfalls leicht eindämmen ließen, hatten sie nichts gefunden. Schließlich hatte er, ohne allzu großen Widerwillen, die Entscheidung getroffen, nach Hause zurückzukehren, und niemand hatte dagegen auch nur den geringsten Einwand erhoben. Die ganze Sache war ein fruchtloses Unterfangen gewesen, und er hatte Besseres zu tun, als der ansässigen Moskitopopulation als Nahrung zu dienen. Die übrigens, wie er
mißmutig jedem, der ihm zuhörte, mitgeteilt hatte, weit mehr Interesse an ihm zeigte als an seinen Begleitern. Während der nötigen Vorbereitungen für die Heimreise in die Vereinigten Staaten hatte er sich auf einen ereignislosen Flug zurück nach San Francisco, eine langweilige und unergiebige Abschlußbesprechung mit dem wortkargen und bisweilen streitlustigen Leiter des Teams, Dr. Daniel Cassian, und einen ausgedehnten Zug durch die besten Nachtlokale, die die kalifornische Stadt zu bieten hatte, eingerichtet. So hatte es wirklich nicht kommen sollen. Er blickte nervös zu dem Ersten Offizier hinüber. „Wie geht es Ihnen?“ Espinosa zuckte die Achseln, so gut es ihm in dem unförmigen Bio-Schutzanzug, den er trug, möglich war. Vor nicht allzu langer Zeit hatte ihn noch der Pilot getragen. „Ich werd’s überleben.“ Und er lachte leise. Marcase wandte rasch den Blick ab und starrte wieder in die Nacht. Das war das Problem: Espinosa würde es wahrscheinlich nicht überleben. Und auch sonst niemand an Bord der Maschine, falls dieser Mann, der klaglos die anhaltenden Schmerzen ertrug, die 747 nicht sicher auf Hawaii landen konnte. Er sah über die Schulter zu Kimberly, die hinter dem Piloten kauerte. Die Lichter der Instrumententafel spiegelten sich unheimlich verzerrt in der klaren Gesichtsmaske ihres BioAnzuges. In einer Hand hielt sie die Düse einer Pumpe, die, wenn sie ausgelöst wurde, ihren Anti-Viren-Wirkstoff über Espinosas Anzug in seinen Blutkreislauf schicken würde. Das einzige, was den Mann bis zur Landung aufrecht halten konnte. Vielleicht. Vielleicht würde ihn das Mittel aber auch umbringen.
Plötzlich begann Espinosa heftig zu zittern, und das Steuer in seinen behandschuhten Händen vibrierte mit ihm. Marcase hielt den Atem an, bis der Krampf vorüberging. „Hören Sie...“, begann er. „Nein“, fuhr ihn Espinosa an, ohne seinen Blick von den Instrumenten abzuwenden. „Wir haben keine andere Wahl. Sie wissen das. Ich weiß es.“ Darauf hatte Marcase nichts zu erwidern. Es klopfte zaghaft an der Kabinentür. Marcase fuhr herum, zornig über die unerwünschte Störung, und fing sich gerade rechtzeitig, als Hailey, das dritte Mitglied seines Teams, seinen Kopf hereinsteckte und sich in dem engen Cockpit umsah. „Sie sind bereit“, sagte er leise. Marcase nickte. „Wir auch. Schätze ich.“ Hailey hob eine Augenbraue und wünschte ihm und Kimberly mit einem Handzeichen viel Glück, bevor er sich zurückzog und die Tür wieder schloß. Jetzt war nichts mehr zu hören außer dem immer mühsameren Atmen des Ersten Offiziers und dem gedämpften Dröhnen der Flugzeugmotoren. Nein, dachte Marcase, während er seine Aufmerksamkeit wieder der Frontscheibe zuwandte, so hatte es ganz und gar nicht kommen sollen... Sie waren kaum länger als eine Stunde in der Luft gewesen, als der Flugkapitän über die Lautsprecheranlage angefragt hatte, ob ein Arzt an Bord sei, und wenn ja, daß dieser sich bitte bei einer der Stewardessen melden möge. Marcase tat es nach kurzem Zögern, in dem Glauben, einer der Passagiere habe einen Herzanfall erlitten. Ohne Erklärung wurde er zu einem der Waschräume im Heck geführt. Er mußte nicht erst fragen, wie ernst es war; das entsetzte Gesicht der Stewardeß sprach Bände. Und es war ernst.
Ein junger Mann lag zusammengerollt auf dem Boden, die Haut, wo sie nicht mit Blut bedeckt war, unnatürlich blaß, Ohne Frage litt dieser Mensch an einem ansteckenden hämorrhagischen Fieber. Wahrscheinlich desjenigen, das er und sein Team zu finden versucht hatten. Sofort gewann seine Routine die Oberhand. Da er für das Opfer offensichtlich nichts mehr tun konnte, ermittelte er zunächst alle Personen, die mit dem Mann in Berührung gekommen waren, und befahl ihnen, sich Gesicht und Hände mit der schärfsten Seife und den hochprozentigsten Alkoholika zu waschen, die an Bord aufzutreiben waren. Dann, nachdem er sich dem Kapitän als Mediziner und Spezialist für solche Fälle zu erkennen gegeben und dessen Genehmigung eingeholt hatte, gab er Hailey den Auftrag, die Passagiere so weit wie möglich nach vorn umzusetzen, während der Bordingenieur versuchte, die Luftzufuhr so umzuleiten, daß es auf diesem Wege möglichst nicht zu weiteren Infektionen kam. Sobald das erledigt war, installierten er und Kimberly im Frachtraum ihr tragbares Labor und versuchten, das Virus zu identifizieren und, wenn möglich, mittels ihrer Kommunikationsverbindung zu Dr. Cassians Labor etwas ausfindig zu machen, das das Fieber entweder kurieren oder wenigstens seine Ausbreitungsgeschwindigkeit verlangsamen würde, bis sie Einrichtungen erreicht hatten, die über eine bessere Ausrüstung verfügten als die, die sie hier an Bord hatten. Das war der leichte Teil. Der schwierige Teil war, die Passagiere ruhig zu halten. Was sie nicht waren. Der schwierige Teil war, mit den Behörden auf Malcupali zu verhandeln, die, als sie von dem Notfall hörten, der Linienmaschine die Rückkehrund Landeerlaubnis verweigerten und dabei sogar so weit gingen, auf den heftigen Widerspruch des Flugkapitäns mit ein paar Kampfflugzeugen
zu antworten, um sicherzustellen, daß die Anweisung befolgt wurde. Offensichtlich waren die Verantwortlichen mit dem Virus bereits vertraut und hatten versucht, es totzuschweigen, damit die Touristen nicht ausblieben. Der schwierige Teil war, Kimberly, eine brillante Forscherin und Ärztin, fieberhaft daran arbeiten zu sehen, aus nichts ein Wunderheilmittel zu erzeugen. Als schließlich von Cassian die Rückmeldung kam, daß sie es mit einem mutierten südostasiatischen Hanta-Virus zu tun hatten, war das ein Anfang. Und als es Kimberly mit Hilfe eines der Passagiere gelang, ausgerechnet aus Mandeln und Nagellackentferner eine kleine Dosis Antibiotikum herzustellen, sah die Situation schon fast vielversprechend aus. Bis die erste Versuchsperson starb. „Es beschleunigt den Puls“, sagte Kimberly und kämpfte gegen die Tränen an. „Das Antibiotikum ist...“ Sie konnte nicht weitersprechen. Dann waren unter Krämpfen und blutigen Hustenanfällen der Kapitän und der Bordingenieur gestorben, und Espinosa hatte Marcase mitgeteilt, daß der Flug zur Marinestation in Barber’s Point auf Hawaii vermutlich mehr Treibstoff erfordern würde, als sie hatten. Aber es war ihre einzige Chance. Espinosa, der bereits schwer erkrankt war und Blut erbrach, wurde in den letzten verfügbaren Bio-Anzug gesteckt und auf den Pilotensessel gehievt. Kimberly hatte immer noch Skrupel, ihm das neue Medikament zu verabreichen. Schließlich hatte das Antibiotikum bereits den Tod eines Opfers beschleunigt. Espinosa bedrängte sie. „Sie waren doch der Meinung, die Behandlung hätte angeschlagen. Warum?“ Sie zögerte, bevor sie antwortete. „Das Mädchen war für eine Weile wieder fast voll funktionsfähig...“ „Wie lange?“
„Zehn, vielleicht fünfzehn Minuten.“ „Zeit genug, die Maschine zu landen.“ Shiroma schluckte schwer. „Aber es hat... sie umgebracht!“ Der Erste Offizier lächelte sie wehmütig an. „Vielleicht bin ich aus härterem Holz geschnitzt.“ An dieser Stelle hatte sich Marcase eingeschaltet und argumentiert, daß noch nicht alles verloren war, wenn sie nur irgendwie den Boden erreichten. Doch als Espinosa wissen wollte, wer denn die Maschine landen sollte, wenn er selbst außer Gefecht war, wußte Marcase, daß er die Debatte verloren hatte. Der Mann hatte recht. Dies hier war kein HollywoodKatastrophenfilm, in dem einer der Passagiere zufälligerweise wußte, wie man einen riesigen Linienjet flog. Espinosa brauchte das Medikament, wenn irgend jemand an Bord eine Chance zum Überleben haben sollte. „Ich kann nicht“, protestierte Kimberly unter Tränen. „Ich... kann nicht.“ Espinosa hatte sie tapfer angelächelt. „Wir alle müssen unseren Job machen, Doktor. Meiner ist es, dieses Flugzeug zu landen.“ Er hustete, keuchte und versuchte zu grinsen. „Wissen Sie eigentlich, warum die uns immer an die Spitze der Maschine setzen?“ Kimberly lächelte angestrengt zurück. „Damit Sie sehen, wohin Sie fliegen?“ „Nein. Damit es uns als erste erwischt, wenn wir etwas falsch machen.“ Er holte tief Luft und sagte mit fester Stimme. „Doktor, geben Sie mir das Medikament.“ Das Geräusch der Motoren steigerte sich zu einem schrillen Heulen, als die Maschine ihren mühsamen Abstieg begann. Da sie den Anzeigen zufolge kaum oder gar keinen Treibstoff mehr hatten, gab es für sie nur eine Möglichkeit, es bis zur Landebahn zu schaffen, und Marcase hatte keine Ahnung, ob die Chance überhaupt bestand. Dennoch hatte er in seiner
neuen Funktion als Kopilot Espinosas barsche Anweisungen befolgt, so gut er konnte, die Landeklappen eingestellt, die Luftbremsen vorbereitet und die Augen zu einem kurzen Gebet geschlossen, als der Erste Offizier nach einer weiteren Dosis des Medikamentes verlangte. „Ich brauche meine Hände!“ sagte der Mann fast brüllend, als Kimberly wieder zögerte. „Keine Diskussionen, Doktor! Nicht jetzt. Ich muß meine Hände benutzen können!“ Marcase war kein Pilot, doch als die Lichter der Landebahn in der Ferne auftauchten, wußte er, daß sie jeden Zoll Asphalt brauchen würden. Die Maschine fiel herunter wie ein Stein, und seine Schultern sprangen fast aus ihren Gelenken, als er dem heftig kämpfenden Espinosa half, die herabsackende Nase des Jets oben zu halten. Als sie hart auf den Asphalt aufsetzten, hörte er hinter sich die Schreie aus dem Passagierraum. Und als die Lichter der Landebahn zu beiden Seiten an ihnen vorbeijagten, war ihm selbst zum Schreien zumute. Und nachdem die Maschine wenige Meter vor dem Gestade des Pazifiks zitternd zum Stehen kam, wollte er nichts mehr als seinen Jubel herauszuschreien, Kimberly einen dicken Kuß aufzudrücken und sich auf die Suche nach dem Champagner zu machen. Statt dessen wandte er sich zu Espinosa und sagte: „Wir sind da. Wir sind da.“ Wie betäubt begann er, die Instrumente abzuschalten, während er fast unbeteiligt zusah, wie draußen der Tumult ausbrach. Krankenwagen und Löschzüge; Männer in BioSchutzanzügen, die auf die Maschine zuschwärmten; wirbelnde Warnlichter, die ihm für einen Augenblick schwindelig werden ließen. Er hörte nicht, wie die Kabinentür geöffnet wurde, nahm kaum wahr, wie der Marinearzt sich vorstellte und ihnen zu ihrem gut gemachten, gefährlichen Job gratulierte.
Erschöpft, eine Hand auf Espinosas Schulter, wandte er sich um und sagte: „Wir müssen diesen Mann in die...“ Er sprach nicht weiter. Es war nicht nötig. Er sah die Tränen auf Kimberlys Gesicht und wußte Bescheid. Der Marinearzt schüttelte den Kopf, während er Espinosas Schutzanzug teilweise öffnete. „Tut mir leid, Leute. Dieser Mann ist verblutet. Wo der Anzug ihn berührt hat, ist der Hautverlust... schwer.“ Marcase seufzte, rieb sich erschöpft mit beiden Händen das Gesicht und protestierte nicht, als das Marineteam ihn und die anderen Überlebenden aus der Katastrophenmaschine und in die Quarantänestation des Marinekrankenhauses führte. In den nächsten Tagen sprach er wenig und schlief noch weniger, während an ihnen immer neue Tests durchgeführt wurden, die sicherstellen sollten, daß sie sich nicht selbst infiziert hatten. Er fragte sich, was er hätte anders machen können, was das Team hätte tun können, um das Leben der dreizehn Menschen zu retten, die trotz all ihrer Bemühungen gestorben waren. Um das Leben von Alan Espinosa zu retten. Die Antwort war jedesmal dieselbe: Du hast getan, was du konntest, mehr war nicht möglich. Doch es war nicht genug. Gelegentlich sah er Hailey, doch Kimberly schien ihm aus dem Weg zu gehen, und er glaubte zu wissen, was ihr zu schaffen machte. Schließlich war seine eigene Familie auf ähnlich entsetzliche Weise umgekommen. Seine Eltern hatten allein im Inneren Afrikas gearbeitet und versucht, denen zu helfen, die von dem damals noch unbekannten Ebola-Virus befallen waren. Schließlich hatten sie sich, vielleicht unvermeidlicherweise, selbst infiziert und waren gestorben. Auch er hatte sich angesteckt, aber er hatte überlebt.
Jahre voller Schuldgefühle waren schließlich dem Zorn und einem überwältigenden Drang gewichen, die Welt von allem biologischen Grauen dieser Art zu befreien. Koste es, was es wolle. Allein ein Menschenleben zählte. Als das Team endlich aus der Quarantäne entlassen wurde, packte er seine Sachen, verabschiedete sich vom Personal und traf Kimberly in dem kleinen Garten hinter dem Krankenhaus. Er ging zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter. Mehrere Sekunden vergingen, bevor sie zu ihm aufblickte, und wieder einmal wurde ihm bewußt, wie hübsch sie war, wie gut ihr das japanische Erbe stand. „Wie...“ Sie schüttelte den Kopf und versuchte es noch einmal. „Wie hast du dich gefühlt, nachdem deine Familie gestorben war?“ Die Frage beunruhigte ihn, obwohl er sie seit ihrer ersten Begegnung hatte kommen sehen. „Willst du wissen, ob ich mich schuldig gefühlt habe, weil ich überlebt hatte? Ob ich das Gefühl hatte, ich hätte nicht das Recht zu leben, wenn andere starben?“ Sie nickte. Er lächelte wehmütig. „Die Seelenklempner meinten ja. Eine hat mir sogar gesagt, das sei letztlich der Grund, warum ich so viele Risiken eingehe.“ „Wie hast du das aufgenommen?“ Er zuckte die Achseln. „Nicht besonders gut. Ich habe mit ihr Schluß gemacht.“ Als er merkte, daß sie nicht wußte, ob sie grinsen oder ihm eine herunterhauen sollte, fügte er hinzu: „Die Frage ist, was empfindest du?“ „Schuld“, gab sie zu. „Und Zorn.“ „Ja.“ Er nickte mitfühlend. „Schuldgefühle sind unvermeidlich. Und diesen Zorn brauchen wir. Aber da muß noch etwas sein.“ „Ich glaube nicht.“
„Nein, komm schon, Kim, sag es. Du hast ein Recht, das zu empfinden, sonst hat die Krankheit gewonnen.“ Sie schaute weg, und Schuld und Zorn und das andere, das noch da sein mußte, verfinsterten ihr Gesicht. „Okay.“ Sie schniefte, und als sie ihn wieder anschaute, sah er die Tränen in ihren Augen. „Die Wahrheit ist, daß ich vor allem sehr, sehr froh bin, am Leben zu sein.“ Die Tränen fielen. Ohne nachzudenken, nahm er sie sacht in die Arme und ließ sie weinen. „Willkommen, Kim“, flüsterte er. „Willkommen daheim.“ Am folgenden Tag kam Daniel Cassian zu ihnen in den Garten, auf den ersten Blick ein ganz gewöhnlicher Mann. Doch Marcase wußte immer noch nicht, was er von ihm zu halten hatte. Cassian war angeblich der Leiter einer geheimen staatlichen Gruppe, die den Auftrag hatte, Ausbrüche von Viruserkrankungen ausfindig zu machen und zu bekämpfen, wie das bösartige Hanta in der Linienmaschine. Doch es schien noch mehr dahinterzustecken – offenbar unbegrenzte Mittel, Zugang zu höchsten Regierungsstellen und ein Einsatz-Team, das aus nur drei Leuten bestand. Doch Hailey, ein muskulöser Schwarzer mit beißend trockenem Humor, war nicht einmal Arzt. Der ehemalige Marineoffizier wurde vage als Sicherheitsbeauftragter des Teams beschrieben, doch es bestand kein Zweifel, daß er letzten Endes Cassians Mann war. Zu viert wanderten sie langsam den Pfad entlang, der sich durch den Garten wand. „Wir haben ein Problem“, sagte Cassian. „Ach was“, sagte Marcase. „Und was gibt’s sonst Neues?“ Kimberly verdrehte die Augen, und Cassian ignorierte ihn. „Auf dem Festland“, fuhr er fort, „geht etwas Merkwürdiges vor. In einem Gebäude. Wir müssen Untersuchungen anstellen.“
Marcase blieb stehen, so daß die anderen sich umdrehen mußten. „Wovon reden Sie? Ein Gebäude? Was ist mit dem Zentrum für Seuchenkontrolle? Das ist doch ein Job für das CDC, oder nicht?“ „Nicht mehr“, sagte Cassian ungerührt. Kimberly schüttelte den Kopf. „Das verstehe ich nicht. Das ist nicht –“ „Vorschriftsmäßig?“ sagte Cassian. „Natürlich nicht. Aber es ist unser Job.“ Marcase, der noch immer unter den Nachwirkungen des grauenhaften Erlebnisses litt, einen tapferen Mann sterben gesehen zu haben, vermochte sein Temperament kaum zu zügeln. „Wissen Sie, Sie haben uns immer noch nicht gesagt, was unser Job eigentlich ist. Unser wirklicher Job.“ Er sah Kimberly und Hailey an, um sich ihrer Unterstützung zu versichern. „Und ich glaube, nach allem, was wir für Sie getan haben, haben wir ein Recht, es zu erfahren.“ Cassian schüttelte den Kopf. Marcase zuckte die Achseln. „Okay. In diesem Fall rechnen Sie besser nicht mit mir.“ „Seien Sie kein Narr, Doktor!“ „Dann reden Sie“, fuhr Marcase ihn an. „Reden Sie mit uns. Wir sind keine Kinder, wissen Sie. Wir haben keine Angst vorm Schwarzen Mann.“ Er holte langsam Luft. „Und wie ich die Sache sehe, brauchen Sie uns im Augenblick mehr als wir Sie.“ Er breitete die Arme aus und lächelte. „Also, reden Sie, Doktor.“ Cassian steckte seine Hände in die Taschen und starrte lange zum blauen Himmel über Hawaii hinauf. Dann sagte er mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken: „Sind Sie sicher?“ „Ja“, antwortete Kimberly rasch. Marcase starrte ihn nur an. „Na schön. Aber seien Sie sich über eines im klaren, meine Freunde.“ Er senkte seine Stimme und erwiderte fest ihren
Blick. „Nichts von dem, was ich Ihnen sage, wird die Wahrheit sein.“
1 Wie ein Monolith ragte er in den Nachthimmel. Der schwarze Büroturm, in dessen dunkel verglasten Fenstern sich die Lichter der Stadt ringsum spiegelten. Und das gelegentliche Aufleuchten der Blitze in dem Gewitter, das am Horizont lauerte und dessen fernes Donnergrollen um seine Fundamente schlich. Neben ihm wirkten die Gebäude ringsum zierlich und unbedeutend. Doch immerhin war in ihnen noch hier und da Licht zu sehen, und während der Geschäftszeiten waren sie erfüllt von Aktivität. Nicht so der schwarz verglaste Turm. Er war menschenleer. Keine Lichter in seinem Innern, kein Fußgänger auf der geräumigen Plaza vor seinem verschlossenen und versiegelten Eingang; nicht einmal eine streunende Katze machte ihre Runde im Wartungsbereich an seiner Rückseite. Ein Kettenzaun umgab das Gebäude, schnitt es ab vom Rest der Stadt, und warnte alle Näherkommenden, daß in ihm Gefahr lauerte, daß der Turm verflucht war. Eine neu errichtete Aufsichtsbaracke an der Vorderseite machte deutlich, daß die Verantwortlichen, wer immer sie sein mochten, diese Warnungen ernst nahmen. Die Leute auf der Straße machten einen Bogen um das Gebäude, als ob es in ihm spukte. Es gab sogar solche, die behaupteten, daß genau das der Fall sei. Für Raf Williams hingegen bedeutete es einfach nur einen Riesenspaß, um den unheimlichen Bunker herumzuschleichen und nach einem Weg hinein zu suchen, ohne den Wachmann auf sich aufmerksam zu machen. Es war mehr als ein Riesenspaß, es war eine Herausforderung, und Raf war dafür
bekannt, daß er einer Herausforderung niemals den Rücken zukehrte. Sein bester Kumpel, D-Ray Drummond, war der Meinung, daß Raf einen an der Waffel hatte, aber im Moment war er zu nervös, um ihm das zu sagen. Die beiden kauerten hinter einem leeren Ölfaß und warteten, bis der Sicherheitsmann auf seiner regelmäßigen, voraussehbaren Runde an ihnen vorbei war, ein älterer Mann, der, so fand Raf, auch nicht besonders begeistert darüber aussah, hier zu sein. Schließlich: „Okay, er ist weg.“ D-Ray seufzte, als er zweifelnd das Gebäude betrachtete. „Wenn die dich erwischen, Mann, dann machen die dir Feuer unterm Arsch.“ Raf lachte spöttisch auf. „Die kriegen mich nicht.“ D-Ray warf die Arme empor. „Komm schon, Mann, du hast doch keine Ahnung, was da drinnen los ist. Das sind achtzig Stockwerke, verdammt. Blasen wir’s ab!“ „Keine Chance. Wir haben ‘ne Wette laufen. Jetzt gibt’s kein Zurück mehr. Achte auf mein Lichtsignal vom Dach.“ D-Ray kannte Raf zu gut, um es noch einmal zu versuchen. Raf war ein sturer Narr, wenn es um eine Wette ging. Er würde sich von einer verdammten Klippe stürzen, nur um zu beweisen, daß er kein Feigling war. Freilich nannte Raf es nicht immer eine Wette. Meistens nannte er es eine Herausforderung. Ob nun Wette oder Herausforderung, die Idee blieb idiotisch. Während Raf sich auf sein Vorhaben einstellte, beschloß DRay, doch noch einmal zu versuchen, ihn davon abzuhalten, und sei es auch nur, um sein Gewissen reinzuwaschen. „Raf –“ Zu spät. Wie ein Pfeil schoß Raf hinter dem Ölfaß hervor, jagte über den offenen Platz, sprang auf den Zaun, zog sich hoch und war drüben, bevor sein Kumpel Luft holen konnte.
Scheiße, dachte D-Ray angewidert, verdammter Idiot. Hat den Kopf voll in der Schlinge und merkt es nicht einmal. Raf sprintete mit Vollgas auf das Gebäude zu und ignorierte den Donner, der auf seinem Dach zu reiten schien. Er hielt auf das nächstbeste Fenster im Erdgeschoß zu, nicht weit von der verlassenen Laderampe, zog einen langen Schraubenzieher aus der Gesäßtasche und wußte im gleichen Moment, daß das Fenster ringsum versiegelt sein und sich nicht so ohne weiteres aufhebeln lassen würde. Dann blieb nur eins. Er wartete den nächsten Donnerschlag ab, und als dieser widerhallend durch die Stadt rollte, schlug er mit dem Griff des Schraubenziehers ein Loch durch das Glas, verharrte in der Bewegung und lauschte, ob man ihn gehört hatte. Dann steckte er seine Hand durch die Öffnung und entriegelte das Fenster. Idioten, dachte er höhnisch, während er unbeholfen durch die Luke kletterte; so viel Aufwand für dieses blödes Gebäude, und dann bricht ein Kerl mit einem Schraubenzieher ein. Mitunter hatten diese Typen nicht mehr Verstand als bei ihrer Geburt. Er grinste, wartete, bis sein Herz zu rasen aufhörte, und zog dann die Taschenlampe hervor. In diesem Raum hatte sich offensichtlich eine Kindertagesstätte befunden, und er sperrte leicht überrascht die Augen auf, als er ein paar verschimmelte, angebissene Sandwiches auf einem der staubbedeckten Tische sah. Er wußte nicht, warum dieser Bunker verlassen worden war, das wußte niemand, aber offenbar hatten es seine Bewohner ziemlich eilig gehabt. Ein grellweißes Leuchten erfüllte den Raum, und der Donner rüttelte an dem eingeschlagenen Fenster. Er zuckte zusammen, verfluchte seine Nervosität und ging hinaus auf den Flur, wo er sich erst einmal in beiden Richtungen umsah, für den Fall, daß dieser fette Arsch von
einem Wachmann die Idee gehabt haben sollte, hier hereinzukommen. Das Gebäude schien ihm zu lauschen. Auf ihn zu warten. Er schüttelte sich, verzog das Gesicht über das unbehagliche Gefühl, das ihm sein Abenteuer zu ruinieren drohte, und stieß die Tür zum Treppenhaus auf. Ein Blick nach oben brachte ihm die Größe seiner Aufgabe zu Bewußtsein – aufs Dach gelangen, mit der Lampe herunterleuchten, beweisen, daß er dort stand. Achtzig Stockwerke, ohne Aufzug. Du Schwachkopf, sagte er sich. Du bist hoffnungslos, Mann, völlig hoffnungslos. Als nächstes wirst du barfuß auf irgend so einen verdammten Berg steigen. Mit einer Augenbinde. Aber die Jungs in der Schule würden sich nie wieder über ihn lustig machen. Er war Raf Williams. Er war cool. Er laberte nicht nur ‘rum, er machte was los. Und heute nacht würde er über der ganzen verdammten Welt thronen. Nach einem tiefen Atemzug und einem Straffen seiner Schultern tat er den ersten Schritt und stieg hinauf. Er pfiff vor sich hin, um sich Gesellschaft zu leisten; summte die Takte irgendeines Songs, der ihm in den Sinn kam; wünschte, er hätte sich eine andere Nacht ausgesucht, eine, in der seine Parade nicht in einem Gewitter unterging. Selbst hier drinnen, umgeben von Stahl und Beton und dickem, gefärbtem Glas, dröhnte der Donner kaum gedämpft. Er stieg höher. Immer weiter trieb er sich an, atmete im Rhythmus seiner Schritte und kümmerte sich nicht weiter darum, als seine Beine ein wenig zu protestieren begannen und Schweißtropfen auf seine Stirn traten. Er würde es schaffen. Keine Frage.
Er war prima in Form, nahm nie Drogen, rauchte selten und spielte Basketball, wann immer er Gelegenheit dazu hatte. Super in Form. Er würde es schaffen, Kleinigkeit. Auf halbem Weg nach oben brach das Gewitter plötzlich wütend direkt über dem Turm herein. Er konnte die Vibrationen in seinen Sohlen und an seinen Armen spüren. Und in der Stille zwischen den Explosionen glaubte er noch etwas anderes zu hören – ein leises Klopfen. Metall gegen Metall. Er blieb stehen und blickte am unruhigen Strahl der Taschenlampe ins Treppenhaus hinab; dann hinauf, doch das Licht reichte nicht bis ganz nach oben. Etwas veranlaßte ihn, noch einmal hinunterzuspähen, doch er sah nichts, außer... Er rieb sich heftig die Augen. Müde, Mann, ich bin müde, das ist alles. Das da unten konnte kein... Nebel sein, der die Stufen hinaufkroch. Konnte nicht sein. Das war unmöglich. Er war nur müde und sah Gespenster. Als er sich erneut die Augen rieb, war der Nebel verschwunden. Also weiter hinauf. Der Donner. Und darunter das beharrliche, rhythmische Klopfen. Irgend etwas Loses, dachte er; das Gewitter hat irgend etwas losgeschlagen, das jetzt gegen eine Wand knallt. Ein Kabel oder so etwas; eine Tür, irgendwas in der Art. Das ist es, was D-Ray vermuten würde, also mußte es so etwas sein. Höher. Sein rechtes Bein begann sich zu verkrampfen, und er massierte es wütend, während er sich den Schweiß aus den Augen wischte. Er würde nicht aufgeben. Er wußte nicht, was es mit diesem verdammten Geräusch auf sich hatte, aber jetzt waren es nur noch ein paar Stockwerke bis zum Dach, und er
würde nicht aufgeben, selbst wenn es die Bullen waren, die noch ein paar dämliche Spielchen mit ihm spielten, bevor sie seinen schwarzen Arsch festnagelten. Zwei Stockwerke später begann er zu taumeln, stützte sich schwer gegen das Geländer, kaum noch in der Lage, vernünftig Luft zu holen; plötzlich hatte er das üble Gefühl, den Rest des Weges kriechen zu müssen. Bis er den Nebel sah. Er erstarrte und riß die Augen auf. Der Nebel brodelte direkt über ihm auf dem Treppenabsatz und waberte in dicken, wirbelnden Wellen die Stufen herab. Diesmal verschwand er nicht, als er sich die Augen rieb. Und das Klopfen fing wieder an. Lauter, schmerzhaft laut, als ob ein Riese aus Stahl unbeholfen zu ihm herauf stapfte. „D-Ray?“ flüsterte er. Der Nebel verdichtete sich um ihn herum. Das Klopfen wurde zu einem Hämmern, das selbst den Donner zu übertönen schien. Dann verlor er die Nerven. Er schrie auf und sprang vorwärts, so schnell er konnte, zog sich am Geländer entlang, bis er den obersten Absatz erreicht hatte, rammte mit der Schulter gegen die Notfalltür und brach hinaus in das Gewitter. Blitze zuckten über ihm und wuschen alle Farbe aus der Nacht; der Donner ließ ihn beinahe auf die Knie sinken; der Wind schob ihn fast über die niedrige Mauer, die um den Rand des Daches lief. Aber er hatte es geschafft. Verdammt, er hatte es geschafft! Er hetzte zu der Mauer an der Rückseite und ließ seine Lampe aufblitzen, wartete, bis D-Ray das Signal erwiderte, und beschloß, sofort wieder von hier zu verschwinden. Es gab
keinen Grund, herumzulungern und die Aussicht zu genießen, nichts wie hinunter, hinaus. Er würde keine Minute verlieren. Er rannte. Durch den Nebel hindurch, das Klopfen, nahm immer zwei oder drei Stufen auf einmal. Er flog fast, ohne eine Atempause einzulegen, ließ Etage für Etage hinter sich, bis er etwas anderes hinter sich hörte. Ein Blick über seine Schulter ließ ihn aufschreien. Dort im Nebel standen drei Gestalten. Ihre Gesichter konnte er nicht erkennen, aber er sah ihre Farben – es waren „Leoparden“, die mächtigste Gang in der Nachbarschaft, und sie hatten automatische Waffen. Er hatte keine Ahnung, wie sie hier hereingekommen waren, aber er hatte auch nicht vor, sie zu fragen. Er wußte, was sie wollten. Als sie ohne ein Wort der Warnung das Feuer eröffneten, rannte er weiter, betete zum ersten Mal seit Jahren, zog die Schultern ein, als Kugeln rings um ihn in die Wände schlugen und Bruchstücke aus Beton und Kacheln auf ihn herabregnen ließen, als der Sturm das Gebäude schüttelte und ihn fast aus dem Gleichgewicht warf... als der dichter werdende Nebel aufstieg, um ihn zu begraben, und freizulassen, und wieder zu begraben. Beinahe hätte er laut geweint, als er wieder die Kindertagesstätte erreichte, immer noch am Leben, immer noch unverletzt; er schämte sich nicht im geringsten, als ein paar Tränen sich Bahn brachen, während er durch das offene Fenster kletterte und auf den Zaun zutaumelte. Seine Arme brachten ihn auf die andere Seite, sonst funktionierte nichts mehr. D-Ray war noch immer da, kauerte hinter dem Ölfaß und rauchte. Er sprang auf, als er ihn sah. „He, Mann! He –, was’n los?“
Wild gestikulierend rannte Raf weiter, ohne stehenzubleiben, achtete nicht auf die verdutzten Rufe seines Freundes. Er wußte, daß er am Ende doch ein Feigling war, und wollte DRay seine Demütigung nicht sehen lassen. Da hinten waren die „Leoparden“; sie hatten ihn gejagt, als wäre er nicht mehr als ein kleines Kind. Es spielte keine Rolle, daß sie versucht hatten, ihn zu töten. Sie hatten ihn gejagt, und er hatte sich nicht die Mühe gemacht, auch nur zu versuchen, sich zum Kampf zu stellen. Einen Straßenzug weiter stolperte er in eine Quergasse und ließ sich gegen die Mauer sinken. Keuchend, jeder Zoll seines Körpers voller Schmerz, die Kehle wund und die Lungen voller Feuer. Feigling! Er war ein Feigling. „Nein“, krächzte er wütend einem Schatten in der Gasse zu. „Nein.“ Als der Regen endlich zu fallen begann, richtete er sich auf und wußte, was er zu tun hatte. D-Ray würde es verstehen. D-Ray war sein Freund. Als Raf zu dem schwarzen Turm zurückkehrte, erreichte das Gewitter seinen Höhepunkt.
2 Nichts von dem, was ich Ihnen sage, wird die Wahrheit sein. Der unauffällige graue Lieferwagen rollte unbemerkt durch die vom Regen gewaschene Stadt, und seine Reifen durchpflügten zischend die öligen Pfützen, die das Gewitter der vergangenen Nacht hinterlassen hatte. Der Wagen hatte an den Seiten und am Heck keine Fenster und keine besonderen Vorrichtungen auf dem Dach; das einzige, was ihn von Dutzenden ähnlicher Wagen auf den Straßen unterschied, waren die Worte Environmental Health – Umwelt-Gesundheit – die auf den Seiten prangten. In seinem Innern jedoch befand sich ein komplettes Minilabor, hermetisch abgeriegelt von der Fahrerkabine, wo Michael Hailey den Wagen steuerte. Marcase und Kimberly saßen, bereits in ihre Bio-Anzüge gekleidet, mit Daniel Cassian hinten. Sie studierten einen Bauplan vom Inneren des schwarzen Turms. „Sie sagten, das CDC sei hiergewesen, richtig?“ Marcase blickte auf einen Computerbildschirm über seiner rechten Schulter. „Die müssen doch eine vorläufige Analyse angestellt haben. Wo ist der Bericht?“ Widerwille schwang in Cassians Stimme. „Er existiert nicht mehr.“ „Was ist damit passiert?“ Cassian wedelte abweisend mit der Hand. „Ein sehr gelegener Computerabsturz, nachdem die Leute abgezogen worden waren.“ Marcase nickte ohne Überraschung. „Natürlich. Die wollen uns leimen.“
„Höchstwahrscheinlich“, stimmte Cassian leichthin zu. Er sah Kimberly an. „Hatten Sie Gelegenheit, sich die pathologischen Berichte anzusehen?“ Trotz aller Erfahrung mit ansteckenden Krankheiten, die er persönlich wie beruflich gesammelt hatte, konnte Marcase den Schauder nicht abschütteln, der ihm die Wirbelsäule heraufkroch. Nach allen Hinweisen, die er bisher gesehen hatte, handelte es sich bei dieser Sache um etwas, das weit außerhalb seiner Erfahrung lag. Er hatte das unbehagliche Gefühl, daß er hier auf etwas stoßen würde, von dem er wirklich nichts wissen wollte. Im Laufe weniger Tage waren neunundsiebzig Menschen in den Büros und Wohnungen des Hochhauses gestorben, die meisten von ihnen durch Selbstmord, die übrigen durch merkwürdige Unfälle, die bei einer gründlichen Untersuchung zweifellos ebenfalls als Selbstmorde eingestuft werden würden: Da hatte man beispielsweise eine junge Frau an ihrem Computer vorgefunden, fieberhaft arbeitend, während ihr das Blut aus den aufgeschnittenen Pulsadern spritzte; ein Arbeiter war offenkundig mit Absicht in einen leeren Aufzugschacht getreten; ein Bankangestellter hatte sich im Waschraum der Geschäftsführung erschossen. Die anderen Vorfälle waren ebenso beunruhigend und ebenso unerklärlich. Blinzelnd kehrte er in den Lieferwagen zurück, als er Kimberlys Stimme hörte: „Die Gehirnmasse aller Opfer zeigt akute Entzündungen der Temporallappen, die vermutlich zu Halluzinationen und psychotischem Verhalten führten.“ „Mit anderen Worten“, sagte Marcase müde, „bevor die Leute Selbstmord begingen, schnappten sie völlig über.“ Kimberly ignorierte ihn. „Einiges hier deutet auch darauf hin, daß sie kurz vor ihrem Tod vor einem totalen Versagen des Atmungssystems standen.“
Dies, dachte Marcase, ist nicht nur eine Seuche, verursacht durch Ebola oder einen seiner tödlichen Vettern; dies ist etwas anderes. Etwas, das Cassian ihnen offenbar nicht sagen wollte. „So“, sagte er mit gespieltem Eifer, „wie sieht unser Angriffsplan gegen dieses Monster aus?“ „Ganz einfach“, antwortete Cassian und fuhr mit einem behandschuhten Finger über die Zeichnung. „Wir arbeiten uns von unten nach oben vor, zunächst durch jedes zweite Stockwerk. Edward, wie wär’s, fangen Sie mit dem Heizungskeller an?“ Marcase grunzte. „Genau meine Kragenweite. Stockdunkel, keine Fenster.“ Kimberly grinste. Cassian nickte nur. „Ich übernehme das Erdgeschoß. Kimberly, kümmern Sie sich um das dritte?“ Sie stimmte zu und wollte gerade eine Frage stellen, als sie Haileys enervierend gelassene Stimme über ihre Helmfunkgeräte hörten: „Die Party kann beginnen!“ Marcase war als erster draußen, nachdem der Wagen vor der Sicherheitsbaracke zum Stehen gekommen war. Er blickte an dem schwarzen Turm empor und schüttelte in stummem Staunen den Kopf. Achtzig Stockwerke. Drei Leute; vier, wenn man Hailey mitzählte, der schon unterwegs zu dem Wachmann war, um sich die Aufzeichnungen über die Ein- und Ausgänge geben zu lassen. Achtzig Stockwerke, und Gott wußte, wie viele Unterstockwerke; ganz zu schweigen von Hunderten von Räumen und Kammern. Vermutlich würde er reif für die Rente sein, wenn sie das letzte erreicht hatten. Das Gebäude schien ihn anzustarren. Ihn herauszufordern. Zu verhöhnen.
Stumm folgte er den anderen in das riesige Atrium gleich hinter der Plaza. Es war mehrere Stockwerke hoch und mußte, wenn es beleuchtet und voller Menschen war, ziemlich beeindruckend wirken. So jedoch war es durch den hohlen Widerhall ihrer Schritte und das schwache Echo eines leisen Windes um die Marmorsäulen und Art-Déco-Statuen nur deprimierend. Er blickte hinauf zur Decke, zu den grauen Staubteilchen im trüben Licht, das schwach durch die getönten Scheiben hereinfiel. „Warum“, fragte er, „kriegen wir immer die coolsten Aufträge?“ „Weil Sie“, antwortete Cassian heiter, „jung, brillant und... entbehrlich sind.“ Marcase sah ihn säuerlich an. „Oh, vielen Dank.“ „Keine Ursache. Also, bitte halten Sie zu allen Zeiten Funkkontakt, ohne Ausnahme. Wenn Sie irgend etwas Ungewöhnliches beobachten, melden Sie es sofort.“ Marcase wollte gerade fragen, was er mit „ungewöhnlich“ meinte, doch er überlegte es sich anders. Diese ganze Sache war ungewöhnlich; diese ganze Sache, wenn er es recht bedachte, stank. Nichts stimmte; Cassian wußte wahrscheinlich, daß er und Kimberly Argwohn verspürten, aber es gab nichts, was sie dagegen tun konnten. Jedenfalls nicht jetzt. Mit einem fröhlichen Winken machte er sich auf den Weg zur Kellertreppe, während Kimberly über den schimmernden, kahlen Boden in die entgegengesetzte Richtung ging. Für einen Moment, als sie den Rand des Lichtkegels erreichte, sah sie aus wie ein Geist, körperlos, und er wollte zurückrennen und sie berühren, nur um sicherzugehen, daß sie wirklich war. Er schüttelte sich.
Verdammt, diese Gebäude zerrte bereits jetzt an seinen Nerven, und dabei hatte er noch nicht einmal mit der Arbeit begonnen. Die Heizungsanlage war nicht schwer zu finden, und mit Hilfe der starken Taschenlampe bahnte er sich seinen Weg durch das Labyrinth der Rohre und Versorgungskästen. Abgesehen von dem Staub und der Stille schien hier nichts aus dem Lot zu sein. Nichts, was fast hundert Leute hätte veranlassen können, sich das Leben zu nehmen. Es ergab keinen Sinn. Doch er hatte einen Verdacht, und der gefiel ihm überhaupt nicht. Plötzlich blieb er stehen, wirbelte herum und starrte hinter sich in die Dunkelheit. War da jemand...? Er lauschte angestrengt und zog konzentriert die Brauen zusammen. Die Nerven, dachte er; nichts als die Nerven. Und die Erinnerung an das, was Cassian ihnen auf Hawaii gesagt hatte, nachdem er sie auf seine typische, sarkastische Art gewarnt hatte, daß nichts von dem, was er sagen würde, die Wahrheit sein würde – daß es da draußen eine Organisation gab, eine Gruppe von Wissenschaftlern, die, aus welchem bizarren, perversen Grund auch immer, die menschliche Rasse vom Angesicht der Erde verschwinden lassen wollten. Nicht durch Krieg, nicht durch politische oder wirtschaftliche Mittel, sondern durch die mächtigsten Feinde, denen die Menschheit je gegenübergestanden hatte – Viren. Die Gruppe nannte sich „The Dawn“ – die Morgenröte. Auch das ergab keinen Sinn. Aber er hatte das Gefühl, daß dieser Fall auf das Konto von „The Dawn“ ging.
Hailey starrte finster ins Leere, während er außerhalb des Gebäudes seine Runde machte. Der verdammte Wachmann war ihm nicht die geringste Hilfe gewesen. Die Aufzeichnungen waren eine Katastrophe. Jedermann konnte ohne Vollmacht in diesen Glas-Bunker gelangen; jeder. Seine militärische Ausbildung ließ ihn angesichts solcher Schlamperei in Rage geraten, und er hatte den Mann ohne Zögern zusammengestaucht. Er grinste. Okay, er hatte dem Kerl eine Höllenangst eingejagt. Das war dasselbe. Es führte zum gleichen Ergebnis. Er bog um eine Ecke und blieb stehen, überblickte das Gelände und schüttelte den Kopf über den erbärmlichen Zaun, der Eindringlinge abhalten sollte. Zur Hölle, jedes Kind konnte dieses Ding mit auf dem Rücken gefesselten Händen übersteigen. Im nächsten Moment entdeckte er das eingeschlagene Fenster. Dann, als er hinabsah, fand er eine Brieftasche, die in den Schlamm getreten war. Er hob sie auf, drehte sie ein paarmal in seinen Händen und öffnete sie. Sie gehörte einem Raf Williams. Nachdenklich blickte Hailey zu dem Gebäude auf. Okay, Raf, dachte er; dann warst du also da drinnen, Junge, aber was zur Hölle hast du dort gemacht? Marcase ließ eine Phiole in den Beutel an seinem Gürtel gleiten. Er hatte jetzt schon seit einiger Zeit Luft- und Staubproben gesammelt und konnte es nicht erwarten, aus diesem Loch herauszukommen. Er würde es niemals offen zugeben, besonders nicht vor Shiroma, aber es war verdammt unheimlich hier unten. Zu unheimlich. Zu still. Nur der leise Hauch seines Atems. Nur das Schleifen seiner Stiefel auf dem Fußboden.
Er hatte sich bereits zweimal bei Cassian gemeldet und dabei mitangehört, wie Shiroma ihm mitteilte, daß sie gerade Proben in einem der Büros auf der Westseite des Gebäudes nahm. Sie hatte sich völlig gelassen angehört, doch obwohl sie erst kurze Zeit zusammenarbeiteten, spürte er die Nervosität in ihrem Tonfall. Ich weiß, wie du dich fühlst, Kim, dachte er; ich weiß, wie du dich fühlst. In diesem Moment bat Cassian ihn um einen neuen Bericht, und seine Stimme ließ ihn zusammenzucken und lautlos fluchen. „Ich stecke immer noch mitten in dieser Heizungsanlage. Bisher nichts Interessantes.“ „Ziemlich beeindruckend hier bei mir“, antwortete Cassian. „Sehr gut ausgestattet. Auch hier nichts zu berichten. Alle Kontakt halten.“ Klar, dachte Marcase; natürlich. Er kam in eine Ecke, sah nichts und beschloß, sich auf den Weg zurück zum Ausgang zu machen. Ein sich bewegender Schatten stoppte ihn. „He“, flüsterte er und wartete, bis er sicher war, daß er hier unten allein war. Wieder die Nerven. Noch ein paar Proben, dann weg hier. Dies mochte Zeitverschwendung sein oder auch nicht – das würden sie erst wissen, wenn sie die Proben im Labor untersucht hatten – aber er würde auf keinen Fall länger hierbleiben, als es unbedingt nötig war. Dann hörte er ein schwaches Geräusch und drehte sich um. Er erhaschte noch einen kurzen Blick auf einen schwarzen Jungen, noch keine zwanzig, in Straßenkleidern und mit einem Stück Rohr in der Hand. Dann wurde es dunkel um ihn.
Daniel Cassian war froh, daß er allein war. Das würde ihm Zeit verschaffen, sich wieder zu beruhigen und unter Kontrolle zu bringen. Erst am Abend zuvor hatte er vor dem Komitee gestanden, den Männern – Militärs und Zivilisten – die glaubten, seine Auftraggeber zu sein. Sie hatten über den Wahnsinn gestritten, drei Leute in ein Gebäude zu schicken, das nicht nur achtzig Stockwerke hoch war, sondern auch Wohnungen und Theater und sogar ein Einkaufszentrum beherbergte. Er hatte sich bemüht, seinen Einfluß in die Waagschale zu werfen, hatte versucht, mit seiner Dienstaufkündigung zu drohen, hatte sogar angedeutet, er werde den Präsidenten selbst kontaktieren, wenn sie ihre Meinung nicht änderten. Insbesondere der Vorsitzende hatte sich höhnisch unbeeindruckt gezeigt. Dann hatten sie ihm einen Brief gezeigt, und die Debatte war zu einem abrupten Ende gekommen. Daß „The Dawn“ in diese Sache verwickelt war, hatte ihn keineswegs beschwichtigt, und er kochte innerlich noch immer. Selbst die Tatsache, daß sein Team etwas über diese Wahnsinnigen wußte, hatte nicht geholfen. Weder Marcase noch Shiroma, nicht einmal Hailey, hatten eine Ahnung, wie groß der Einflußbereich von „The Dawn“ wirklich war. Erahnten nicht das ganze Ausmaß ihrer Macht. Er sah sich in dem Büro um, das er gerade durchsucht hatte, und wollte schon zu einer neuen Meldung aufrufen, als er über das Funkgerät eigenartige, ominöse Geräusche hörte. „Marcase? Shiroma?“ „Hier“, meldete sich Shiroma. „Was waren das für Geräusche?“ „Ich weiß nicht. Von meinem Standort kamen sie nicht.“ „Marcase?“ Er wartete und schluckte schwer. „Edward? Kommen, Edward!“
Plötzlich spürte er das Gewicht des Gebäudes; ihm wurde schlagartig bewußt, wie verwundbar er und die anderen waren. Lautlos verfluchte er sich selbst. „Kimberly, bitte verlassen Sie das Gebäude. Wir sehen uns am Lieferwagen.“ „Was ist los?“ Er ignorierte sie. „Michael, hören Sie mich?“ „Laut und deutlich.“ Cassian antwortete nicht sofort. Haileys Stimme klang ausdruckslos. Professionell. „Ich komme rein.“ Cassian nickte, als ob der Mann ihn sehen könnte; gleichzeitig hörte der das unverkennbare Geräusch, das verriet, daß Hailey seine Waffe überprüfte. Wenig später trafen sie sich im Atrium und wandten sich, ohne ein Wort zu wechseln, direkt der Heizungsanlage zu. Hailey, die Waffe im Anschlag, ging zuerst hinein und ließ die Schatten über die Wand und den Boden tanzen, als er den Raum durchleuchtete. Cassian folgte ihm vorsichtig. Die Gelassenheit, die er sonst nach außen hin zeigte, war verflogen. Er hatte keine Ahnung, was passiert war, aber wenn er Marcase jetzt verloren hatten, wo sie erst die Spitze des Dawn-Eisberges angekratzt hatten, dann wäre das – Hailey grunzte. Cassian eilte nach vorn und hielt den Atem an. Auf dem Boden lag Edwards Probenkoffer. Und sein Helm. Er mußte nicht zweimal hinschauen, um das auf dem Visier verschmierte Blut zu erkennen.
3 Kimberly hatte ihren Bio-Anzug im hinteren Teil des Wagens verstaut und saß angespannt auf dem Beifahrersitz. Die Sorge grub tiefe Linien um ihre dunklen Augen, und ihre Lippen waren vor Empörung aufeinandergepreßt. „Wir können nicht einfach wegfahren“, protestierte sie. „Wir müssen die Polizei rufen.“ Cassian steuerte den Lieferwagen elegant um einen eingekeilten Bus. „Wir fahren nicht einfach weg, Kimberly. Und Michael ist weitaus besser qualifiziert als irgendein gewöhnlicher Polizist. Deshalb gehört er ja zum Team.“ Sie schüttelte wütend den Kopf. „Aber er ist allein. Wir brauchen Unterstützung.“ Cassian hob einen Finger. „Sie kennen die Abmachung. Was wir tun ist mehr als streng geheim. Suche und Rettung sind unsere Sache.“ Ihr lagen verschiedene erlesene Ausdrücke für streng geheime Dinge auf der Zunge, aber sie schluckte sie herunter. „Zur Hölle mit der Abmachung. Edward stirbt vielleicht.“ Cassian bog in eine Seitenstraße ein und steuerte, wie sie bemerkte, auf etwas zu, das wie ein heruntergekommenes Parkhaus aussah. „Die Polizei zu rufen wäre das Gefährlichste, was wir im Moment tun könnten“, argumentierte er, ohne seine Stimme zu erheben. „Die haben nicht die richtige Ausrüstung für eine derartige biologische Gefährdung. Und selbst wenn, so könnte eine Hundertschaft, die durch das Gebäude stampft, Edwards Angreifer dazu veranlassen, etwas noch Schlimmeres zu tun als das, was er bereits getan hat.“ „Dann lassen Sie uns zurückfahren und selbst nach ihm suchen.“
Ihr Tonfall ließ klar erkennen, daß sie der Meinung war, daß ihm Marcases Leben offensichtlich nicht halb so wichtig war wie ihr. Er antwortete nicht sofort. Statt dessen bog er in das Parkhaus ein und rollte die abwärts führende Rampe hinunter, ohne merklich zu verlangsamen. „Hören Sie“, sagte er endlich. „Ich mache mir genauso große Sorgen um Edward wie Sie. Aber das hier muß meine Entscheidung bleiben. Die Suche nach ihm ist Michaels Sache, und er verfügt über die Ausrüstung, um diesen Job zu erledigen. Offen gesagt, wir wären ihm nur im Weg.“ Kimberly zögerte, bevor sie sich ihm zuwandte. „Dann haben Sie also die Wahrheit gesagt. Wir sind entbehrlich.“ „Nein. Wir sind nur die Vorhut in einem Krieg, Kimberly.“ Er bog in eine unmarkierte Parklücke ein und schaltete den Motor ab. „Irgend etwas Seltsames ist in diesem Gebäude im Gange, Kim. Bevor wir es besiegen können, muß der Feind identifiziert werden... und das ist unser Job.“ Falls sie etwas hätte antworten wollen, kam er ihr zuvor, indem er die Tür öffnete und ausstieg. Nachdem sie noch eine Sekunde mit ihrem Zorn gekämpft hatte, stieg sie ebenfalls aus, schaute sich um und fragte sich nicht zum ersten Mal, auf was sie sich da eingelassen hatte. Die Tiefgarage war leer, bis auf ein paar verbeulte Autos hier und da, und sie stank nach faulendem Müll, Urin und anderen Dingen, über die sie keinesfalls genauer Bescheid wissen wollte. Ein Mann trat aus dem Schatten, in schwarzes Leder gekleidet. Allem Anschein nach ein Motorradfahrer. Sie machte unwillkürlich einen Schritt rückwärts, als er näherkam. Cassian dagegen lächelte dem Mann grüßend zu und warf ihm die Schlüssel zu. „Guten Morgen, Harold. Das ist Dr. Shiroma. Sie hat vollen Zugang.“ Er deutete auf den Wagen. „Wir haben Proben mitgebracht. Bitte bringen Sie sie nach unten.“
Dann nahm er ihren Arm und führte sie zu einem Aufzug, dessen Tür und Seitenwände mit Graffiti bedeckt waren. „Lassen Sie sich nicht von Äußerlichkeiten täuschen“, sagte er. „Harold ist einer der besten Techniker, die wir haben.“ „Wo sind wir?“ wollte sie wissen, als die Tür aufglitt, nachdem er seine Handfläche auf eine dunkle Platte daneben gelegt hatte. „In einem unserer zahlreichen Stützpunkte“, antwortete er, während er sie hineinführte. „Wir haben in jeder größeren Stadt einen... in Vorbereitung auf all das Grauen, das noch kommen wird.“ „Welch positive Einstellung.“ Er lächelte. „Sie ist wirklich ziemlich positiv. Sie geht davon aus, daß es Leute geben wird, die überleben und diese Einrichtungen benutzen können.“ Bevor ihr eine Antwort dazu einfiel, blieb der Aufzug stehen, und sie fand sich in einem vollständigen, gesicherten Labor wieder, wie sie noch nie zuvor eines gesehen hatte. Offensichtlich waren keine Ausgaben gescheut worden. Die modernsten Geräte waren vollständig versammelt, und sie zweifelte nicht, daß, sobald etwas Besseres entwickelt wurde, auch das hier seinen Platz haben würde. Cassian reichte ihr einen Bio-Anzug und deutete auf die Luftschleuse, die als Eingang und Entseuchungs-Ausgang diente. „So. Wie wäre es, wenn Sie sich an die Arbeit mit den Luftproben machten und ich mich um den Teppichstaub kümmere?“ Es blieb kein Raum für eine Debatte. Doch während sie arbeitete, kam sie ins Grübeln. Edward war ein umgänglicher Mensch, wenn er auch nicht leicht zu verstehen war – seine Familiengeschichte erklärte eine Menge, besonders seine rückhaltlose Hingabe. Nicht nur an die Ausschaltung tödlicher Krankheiten, sondern vielleicht stärker noch an die Menschen, die von ihnen befallen waren.
Cassian dagegen war ein Rätsel. Ein guter Arzt, keine Frage; er kannte sich aus. Aber diese Schattengestalten, für die er arbeitete... nun, wie Edward es einmal ausgedrückt hatte, sie mochten vielleicht die Guten sein, aber sie standen nicht immer auf derselben Seite. Ein Rätsel. Aber eines, das sie später würde lösen müssen. Im Moment hatte sie herauszufinden, was diese Selbstmordwelle ausgelöst hatte. Sie mußte. Edward war dort drinnen, und wenn Hailey ihn nicht bald fand, würde er vielleicht das nächste Opfer werden. Er hatte in seinem Leben vermutlich schon schlimmere Kopfschmerzen gehabt, aber im Moment konnte er sich nicht erinnern, wann. Alles tat ihm weh – sein Kopf, seine Arme, seine Beine. Er fühlte sich, als hätte man ihn zehn Meilen weit über eine Straße voller Schlaglöcher geschleift. Marcase schlug die Augen auf und wartete, bis seine Augen sich an das trübe Licht gewöhnt hatten, in dem er sich befand. Er trug noch seinen Bio-Anzug, doch der Schutzhelm mit seinem unentbehrlichen Funkgerät fehlte, und er schien auf einer Art Podest zu sitzen. Eine Wartungsplattform wahrscheinlich, nach dem Schutt zu urteilen, den er um sich herum entdeckte. Dann schaute er nach rechts und wurde beinahe ohnmächtig. Er befand sich in einem Fahrstuhlschacht, mindestens vier Stockwerke hoch, und war an ein dickes Kabel gefesselt. Die Plattform erstreckte sich quer über den Schacht. Er wand sich kurz hin und her und stellte fest, daß er sich in absehbarer Zeit nicht würde befreien können; dann ließ ihn ein scharfes Geräusch aufblicken. Jemand stand auf einer Leiter, nicht weit über ihm auf der anderen Seite. Ein schwarzer Junge, das Gesicht glänzend vor
Schweiß, die Kleidung schmutzig und zerrissen. In der Linken hielt er ein Stück Rohr. Er zitterte so heftig, daß Marcase unwillkürlich an die Opfer schwerer Malariainfektionen denken mußte. Der Junge war offensichtlich in mehr als einer Hinsicht ziemlich fertig. „Nicht bewegen“, sagte der Junge. Stimme und Kopf zitterten. „Wenn du dich bewegst, schlage ich dir den Kopf ab.“ Marcase verzog das Gesicht. „Ich glaube, das hast du schon.“ Er versuchte sich mit der Schulter frisches Blut vom Gesicht zu wischen. „Nicht bewegen, Mann! Ich hab gesagt, du sollst dich nicht bewegen!“ „Hör mal, ich gehe nirgendwohin.“ Er deutete mit einem Kopfnicken auf das Rohr. „Warum legst du das Ding nicht einfach weg?“ Ohne Vorwarnung holte der Junge aus und rammte das Rohr keinen Zoll von Marcases Kopf entfernt gegen die Wand. „Okay, dann eben nicht.“ Ich sitze drin, dachte er; tief drin. Er zuckte zusammen, als ein feuriger Blitz durch seinen Schädel fuhr. „Bin ich... bin ich dir in letzter Zeit irgendwie zu nahe getreten?“ „Du wolltest mich erwischen“, sagte der Junge. „Aber ich habe dich zuerst erwischt. Keiner von euch wird mich jemals erwischen!“ Marcase beobachtete, wie die Krämpfe heftiger wurden. Das war kein Drogensüchtiger, der unter Entzugserscheinungen litt; das hier war unendlich viel schlimmer. Der Junge war vermutlich wahnsinnig vor Schmerzen, woher auch immer sie rührten. „Dir geht’s nicht besonders, was? Wie heißt du?“ Der Junge sprang von der Leiter, schwankte und keuchte. „Nein. Nein. Nein! Laß mich in Ruhe. Hör auf, mit mir zu reden.“
Ein Krampf schüttelte ihn, und er taumelte beinahe von der Plattform. „He, paß auf“, warnte Marcase und hielt den Atem an, bis der Junge sich wieder gefangen hatte. „Hör zu... du mußt mir zuhören, okay? Komm schon, Junge, sieh mich an.“ Als der Junge gehorchte und ihn wild blinzelnd anstarrte, mit schweißtriefendem Gesicht, nickte er. „Gut. Gut. Hör zu, ich bin Arzt. Edward Marcase. Mit dir ist etwas passiert. Ich kann dir helfen, Junge, aber du mußt mich zuerst losbinden.“ Der Junge schüttelte heftig den Kopf. „Nein. Du lügst. Du willst mich umbringen. Du gehörst zu denen.“ Marcase gab sich Mühe, seine Stimme ruhig zu halten. „Sei einfach mal eine Minute still und hör mir zu, okay? In diesem Gebäude ist etwas, das Leute krank macht. Was immer es ist, es sieht so aus, als ob es dich erwischt hätte. Ich bin mit einem Ärzteteam hier, und wir versuchen herauszufinden, was es ist. Ich sage dir die Wahrheit. Hör auf mich. Wir können dir helfen.“ Er unterdrückte ein Stöhnen. Der Junge achtete nicht auf ihn. Statt dessen starrte er durch den Schacht empor, und seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. „Sie kommen...“ Ohne nachzudenken, blickte Marcase ebenfalls hinauf und konnte nichts entdecken. Doch der Junge sah offensichtlich etwas. Er stöhnte. „Sie kommen!“ Er stöhnte wieder und begann zurückzuweichen. „Paß auf“, warnte Marcase scharf. „Sie kommen, aber sie werden mich nicht erwischen“, sagte der Junge und wich noch einen Schritt zurück. „Junge, nein –“ „Mich kriegt ihr nicht!“ Er drehte sich um, warf Marcase einen letzten Blick zu und sprang. „Oh Gott“, flüsterte Marcase. Eine Sekunde lang schloß er fest die Augen, dann verdoppelte er seine Anstrengungen, sich
zu befreien. Zum Glück war das Seil, das ihn an das Kabel fesselte, nicht so gut verknotet, wie er gedacht hatte, und er schleuderte es wütend zur Seite. Er hatte keine Ahnung, was für Dämonen der Junge gesehen hatte, aber jetzt hatte er eine Vorstellung davon, wie die anderen Opfer gestorben waren. In absolutem Entsetzen. Okay, sagte er sich; schon gut, alles okay. Sieh nur zu, daß du möglichst schnell aus diesem Schlamassel herauskommst und ins Freie gelangst. Bevor es dich auch erwischt, was immer es ist. Ein kurzer Rundblick verriet ihm, daß der beste, der einzige Weg nach draußen darin bestand, die Leiter hinaufzusteigen. Nicht weit über ihm rechts konnte er eine offene Tür sehen. Es würde nicht leicht sein, dorthin zu gelangen, aber es war machbar. Wenn nur sein Kopf aufhören würde, so weh zu tun. Er mußte nachdenken, und der Schmerz war ihm dabei keine Hilfe. Der Schmerz brachte ihn sogar dazu, seltsame Dinge zu hören. Er rieb sich mit schwerfälliger Hand das Gesicht und hörte es wieder. Ein Stöhnen. Oh Gott, dachte er. Er wagte es nicht zu hoffen. Er kroch zum Rand der Plattform und spähte hinab. „He!“ rief er. „He, kannst du mich hören?“ Wieder ein Stöhnen. Keine Frage, es war der Junge. „Halte durch!“ rief er, während er sich hektisch den BioAnzug abstreifte. Zweimal mußte er innehalten, weil ihm schwindelig wurde, und zweimal mußte er ein unerwartetes Aufsteigen der Galle unterdrücken. Doch als er sich befreit hatte, rief er noch einmal nach unten und bekam wieder ein Stöhnen zur Antwort.
„Ich hole Hilfe! Halte durch, Junge. Ich hole Hilfe für uns beide.“ Gegen die Übelkeit ankämpfend, fluchend über die Schwäche, die seine Gliedmaßen befallen zu haben schien, taumelte er hinüber zu der Leiter und begann, nach einem Stoßgebet um Kraft, zu klettern. Er wollte sich beeilen, aber es ging nur langsam voran, er mußte eine Sprosse nach der anderen nehmen, sonst würde er abstürzen und vielleicht nicht solches Glück haben, wenn er schließlich auf dem Boden auftraf. Eine Sprosse nach der anderen. Als er auf gleicher Höhe mit der offenen Tür war, griff er hinüber und packte die Zarge. Seine Hände waren verschwitzt, seine Augen brannten von der Mischung aus Blut und Schweiß, die ständig in sie hineintropfte, aber er würde seinen Griff nicht lockern. Es würde schnell gehen müssen. Festhalten, ausholen und hochschwingen. Mehr als eine Chance würde er nicht haben. Er grinste – wenn er es nicht schaffte, würde Cassian schwarz werden vor Ärger. Das war fast Grund genug zu scheitern. Du spielst auf Zeit, Marcase, sagte er sich; du spielst auf Zeit. Tu es einfach. Er tat es. Er dachte nicht einmal darüber nach. Eben noch war er auf der Leiter, im nächsten Moment schob er sich grunzend durch die Tür auf einen herrlich kühlen Boden, wo er für ein paar kostbare Sekunden ausgestreckt liegenblieb, Atem schöpfte und wartete, bis seine Lungen und sein Herz ihn eingeholt hatten. „Mann“, stieß er hervor. „Oh Mann!“ Er wälzte sich auf den Rücken, zuckte bei dem leichten Schmerz in seinem Hinterkopf zusammen und setzte sich auf,
mit dem Gesicht zum offenen Schacht. Der Gedanke an das, was da unten war, ließ ihn erschauern und den Blick abwenden. Als er das Gefühl hatte, stehen zu können, ohne umzufallen, benutzte er die Wand als Stütze und hievte sich auf die Beine. „Das Treppenhaus“, flüsterte er. „Das Treppenhaus finden, und dann hinunter und Hilfe holen.“ Er hatte erst einen Schritt gemacht, als er die Trommeln hörte. Er war sicher, sich eine Gehirnerschütterung geholt zu haben, vermutlich eine recht heftige, als der Junge ihm das Rohr übergezogen hatte. Das mußte in seinem Kopf etwas durcheinandergebracht haben. Desorientierung. Anders ließ sich nicht erklären, was er sah: Der Flur hatte begonnen, sich mit einem wabernden, wogenden Nebel zu füllen, der vom Fußboden bis zur Decke reichte. Lichtfunken blitzten auf in dem Dunst, und der gleichmäßige Rhythmus der Trommeln schien diese Blitze, diese farblosen, hellen Funken, zu steuern. Der Anblick wäre leichter zu verkraften gewesen, wenn er nicht die Botschaft wiedererkannt hätte, die Botschaft, die die Trommeln ihm sandten. Afrika. Es waren die Trommeln, die den Tod seiner Eltern verkündet hatten, dieselben Trommeln, die die Dorfbewohner benutzt hatten, um den Totenfresser zu rufen, den Geist, der seine Eltern und all die anderen Opfer in die Geisterwelt führen würde. Aber das war unmöglich. Er befand sich in einem Hochhaus voller Büros und Wohnungen, verdammt noch mal; er war nicht in Afrika, und er war ganz sicher nicht an dem Ort, wo Ebola seine Mutter und seinen Vater dahingerafft hatte.
Trotzdem hörte er die Trommeln, und er sah den Nebel. Und aus dem Nebel heraus kam ein erbärmlich dünner Mann zum Vorschein, der nichts am Leib trug außer einem Lendenschurz und einer Halskette aus winzigen Knochen, ein Mann, dessen dunkle Haut weiß bemalt war, die riesigen, starrenden Augen schwarz umrandet. „Unmöglich“, flüsterte Marcase. Er lauschte den Trommeln. Sah den Mann durch den Nebel auf sich zukommen. „Unmöglich.“ Es war... der Totenfresser. Er kam, um ihn zu holen. Marcase starrte der Erscheinung ungläubig entgegen, solange er konnte. Bis der Totenfresser eine Fackel über seinen Kopf erhob, das Licht, das ihm den Weg in die Unterwelt zeigen würde. Da begann er zu rennen. Und die Trommeln und der Nebel folgten ihm.
4 Der Nebel wurde dichter, während Marcase rannte und ohne Orientierung verzweifelt nach den Treppen suchte, die ihn nach unten und hinaus aus diesem höllischen Ort führen würden. Er wußte, daß sich das alles nur in seinem Gehirn abspielte. Es mußte so sein. Dennoch rannte er, unfähig, den Nebel oder die Trommeln zu erklären... oder den Umstand, daß die Luft plötzlich unverkennbar, bedrückend tropisch geworden war. Natürlich alles nur in seinem Gehirn. Das hielt ihn nicht auf. Und der Totenfresser folgte ihm. Angestrengt starrte Kimberly noch einen Augenblick länger in das Mikroskop, dann lehnte sie sich mit einem Seufzen zurück und wünschte, sie könnte sich durch das Visier des BioAnzuges hindurch die Augen reiben. Sie waren müde und trocken, und ihr blieb nichts übrig, als rasch zu blinzeln, um wieder einen klaren Blick zu bekommen, bevor sie weiterarbeitete. Was die Sache noch schlimmer machte, war, daß sie fühlte, wie Cassian sie scharf beobachtete und wie Edwards unsichtbare Gegenwart sie zur Eile drängte. Sie hatten nicht viel Zeit. Sie spürte das alles und tat ihr Bestes, um es von sich zu schieben, bevor es ihre Arbeit beeinträchtigen konnte. Unter Druck zu arbeiten war nichts Neues für sie; sie war daran gewöhnt. Diesmal jedoch war es anders. Zum Teil war es Edward, zum Teil das, was sie gerade durch die Linse gesehen hatte. Sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, in einen Alptraum hinabgesogen zu werden wie in einen Strudel.
Über einen verborgenen Lautsprecher in der Wand des Labors hörte sie Haileys klare, emotionslose Stimme. „Ich bin jetzt am westlichen Ende der Heizungsanlage. Ich folge der Spur. Es sieht aus, als hätte man ihn hinauf und durch die Gänge geschleift, aber es wird kein Muster erkennbar.“ „Passen Sie auf sich auf, Michael“, sagte Cassian. „Das tue ich immer.“ Kimberly runzelte die Stirn. „Was für eine Ausrüstung benutzt er?“ Cassian antwortete nicht sofort. Dann: „Es nennt sich BioTracker. Ein Suchgerät. Rein experimentell. Es spürt selbst mikroskopisch kleine Mengen von menschlichem Material auf, zum Beispiel Fette und Hautschuppen. Das Gerät ist auf jeden von uns programmiert.“ Auf diese Information vermochte sie nichts zu erwidern. Im Grunde konnte Cassian ihr nichts mehr zeigen, was sie noch überraschen würde. Jedesmal, wenn sie etwas benötigte, von dem sie sicher war, daß es eigentlich nicht existieren konnte, hatte er es ihr gegeben, ihr gezeigt, wie es funktionierte, und hatte sich zurückgezogen, als ob nichts Ungewöhnliches geschehen sei, mit einem Gesichtsausdruck, der ihr dringend nahelegte, keine Fragen zu stellen. Und sie ließ es dabei bewenden. Wieder wünschte sie, sie könnte sich unter dem Helm die Augen reiben, und kehrte an ihre Arbeit zurück. Sie blinzelte, justierte die Tiefenschärfe des Mikroskops und sah noch einmal hindurch, bevor sie sich aufrichtete. „Sie sollten sich das hier lieber mal ansehen.“ Sie warf einen Blick auf den Computermonitor, der an das Mikroskop angeschlossen war. Die Kurve, die dort angezeigt wurde, ließ sie frösteln. Als Cassian zu ihr trat, deutete sie mit dem Finger darauf. „Ich habe hier ein paar sehr seltsame Werte am oberen Ende des Spektrums. Irgend etwas ist da in der Luft des Gebäudes, aber es wird auf keiner der normalen Skalen
angezeigt. Ich glaube... ich glaube, es ist mir gelungen, es zu isolieren.“ Cassian sah durch das Mikroskop. „Was ist es?“ Kimberly zögerte und nahm sich einen langen Augenblick Zeit zum Nachdenken, bevor sie antwortete. „Es scheint... es scheint ein synthetisch erzeugtes Partikel zu sein. Etwas Derartiges habe ich noch nie gesehen... außer, als ich für meine Doktorarbeit chemische Kampfstoffe untersuchte.“ Cassians Kopf fuhr herum, und er starrte sie an. „Was“, fragte sie langsam, „hat ein... chemischer Kampfstoff in diesem Gebäude zu suchen, Dr. Cassian?“ Zum ersten Mal, seit sie sich kennengelernt hatten, registrierte sie bei ihm eine gewisse Beunruhigung. „Das weiß ich nicht“, gab er schließlich zu, „aber ich glaube, es wird höchste Zeit, es herauszufinden.“ Er eilte auf die andere Seite des Raumes, setzte sich an einen Computer, dachte eine Weile nach und begann schließlich zu tippen. Das Klappern der Tastatur wirkte merkwürdig störend in dem sonst so stillen Raum. „Holen Sie sich die Meßwerte Ihrer Probe und halten Sie sich bereit, sie einzugeben, wenn ich es Ihnen sage.“ Haben wir Zeit? dachte sie. Hat Edward Zeit? Sie tat, was er ihr gesagt hatte. Die Trommeln folgten Marcase, wie schnell er auch rannte. Und in dem ständigen Nebel pirschte sich der Totenfresser an ihn heran. Unaufhaltsam. Lautlos. Kimberly trat vor das Terminal und hielt die Daten zur Eingabe bereit. Während sie wartete, beobachtete sie Cassians Bildschirm und runzelte verwirrt die Stirn. Was immer er zu tun versuchte, der Computer wollte es ihm offenbar verweigern. Obwohl die Textzeilen schnell über den
Bildschirm huschten, fing sie Bruchstücke davon auf und wünschte, sie hätte es nicht getan. PENTAGON SICHERHEITSNETZ 66612. MILITÄRISCHE AUFKLÄRUNG – EBENE 8. ZUGRIFF VERWEIGERT. Cassian fluchte und versuchte es noch einmal. ZUGRIFF VERWEIGERT. Sie schwieg, um seine Konzentration nicht zu stören, doch sie konnte nicht umhin, die Schweißtropfen zu bemerken, die nun auf seinem sonst so coolen Gesicht erschienen. Und je öfter er es versuchte und scheiterte, desto nervöser wurde sie. „So lange dürfte es eigentlich nicht dauern“, sagte er, ohne aufzublicken, während seine Finge die Tastatur bearbeiteten. ZUGRIFF VERWEIGERT. „Was machen Sie da?“ Er tat die Frage mit einem Achselzucken ab. „Sind Ihre Daten fertig?“ „Ja.“ „Dann halten Sie sich bereit.“ VORGANG WIRD BEARBEITET, meldete der Computer. VORGANG WIRD BEARBEITET, BITTE WARTEN. Er grunzte zufrieden, als eine Meldung besagte, daß seine Identifikation überprüft werde. Er lehnte sich zurück und atmete mehrmals tief durch. Kimberly wollte gerade ihre Frage wiederholen, als ohne Vorwarnung der Bildschirm schwarz wurde. Fünf Sekunden vergingen. Zehn. Cassian beugte sich gespannt vor. Dann erschien ein Wirbel von Farben, drehte sich und verdichtete sich zu einer verzerrten Version des Symbols für biologische Gefährdung, was durch das Gesicht eines hübschen kleinen Mädchens in dessen Zentrum noch verschlimmert
wurde. In diesem Moment drang eine unheimliche, computergenerierte weibliche Stimme aus dem Lautsprecher: „Identifikation bestätigt. Dr. Alice Williamson. Sie greifen auf ‚The Dawn’ zu. Dateneingabe vorbereiten.“ Cassian seufzte laut. Kimberly schüttelte den Kopf. „Dieses Symbol. Was ist das? Es sieht grauenhaft aus.“ „Geben Sie Ihre Daten ein... rasch“, befahl er. Sie gehorchte unverzüglich. Als sie fertig war, gab er selbst noch einige Befehle ein und sagte: „Jetzt treten Sie zurück, Doktor. Bitte. Man sucht nach einer Übereinstimmung.“ Keine zehn Sekunden später meldete der Computer: „Anfrage akzeptiert. Datei wird geladen. Vielen Dank, Dr. Alice Williamson.“ Kimberly wartete auf eine Erklärung– an diesem Punkt hätte ihr jede Art von Erklärung gereicht – doch Cassian ignorierte sie und fixierte statt dessen weiterhin den Monitor, auf dem nun eine Reihe von Ziffern und Buchstaben vorüberliefen, zu schnell, um sie zu lesen. Neben dem Terminal begann ein Laserdrucker zu arbeiten. Plötzlich durchdrang Michaels Stimme den Raum. „Cassian?“ „Hier, Michael. Was gibt’s?“ Es folgte eine Pause. Beide blickten zur Wand hinüber und sahen sich dann an. „Sie sollten lieber beide sofort hierherkommen. Ich glaube, wir haben ein Problem.“ Marcase lehnte schwer an einer Wand, zu erschöpft, um noch weiterzugehen. Sein Haar klebte ihm feucht am Schädel, und seine Kleidung fühlte sich an, als käme er gerade aus einem tropischen Wolkenbruch. Als er versuchte, einen Schritt zu gehen, knickte sein linkes Bein ein; als er sich über die Augen wischen wollte, zitterte seine rechte Hand.
Er war krank. Es gab keinen Zweifel – was immer dieses Gebäude infiziert hatte, infizierte jetzt auch ihn. Erschöpft fächerte er sich den Nebel aus dem Gesichtsfeld und verharrte in der Bewegung, als er den Totenfresser keine drei Meter entfernt stehen sah und ihn beobachtete... Wieder gewann die Furcht Oberhand über seine Erschöpfung, und er schleppte sich weiter, mehr stolpernd als rennend, und irgendein Teil seines Verstandes nahm wahr, daß der Flur verschwunden war. Der Nebel wurde dichter. Er reagierte kaum, als Strahlen des Mondlichts die Dunkelheit durchdrangen. Ein vertrautes Mondlicht, und er runzelte die Stirn, als er versuchte, sich zu erinnern, wo er es schon einmal gesehen hatte. Die Trommeln wurden lauter, der Rhythmus stetig; der Widerhall ebbte durch das Gebäude. Hinter ihm begann ein kaum hörbarer Singsang, ein Chor von mehreren Dutzend Stimmen, Frauen und Männer, die Worte unverständlich, aber darum nicht weniger beängstigend. Die Geräuschkulisse trieb ihn weiter, vorbei an offenen Ladenbaracken, in denen er Leute stehen sah, die ihn ausdruckslos anstarrten. Afrikaner aller Art, und alle trugen Leichentücher. Kimberly, dachte er; Cassian, Michael, wo zum Teufel seid ihr? Holt mich hier heraus, verdammt noch mal! Er stolperte über etwas auf dem Boden und stürzte vornüber in den Nebel. Der Aufschlag trieb ihm alle Luft aus den Lungen, er rang nach Atem, wälzte sich langsam herum und stemmte sich mühsam auf Hände und Knie hoch. Mit hängendem Kopf versuchte er, sich auf das bißchen Kraft, das er noch hatte, zu konzentrieren, und bemühte sich vergeblich, den Singsang und die Trommeln zu ignorieren. So
verdammt vertraut, daß er schreien wollte. So schrecklich vertraut, daß er beinahe weinte. Immer lauter donnerten die Trommeln, und der Singsang heulte. Er kam taumelnd auf die Beine und ging mit schlaff herabhängenden Armen und schlurfenden Füßen weiter. Dann hörte es auf. Der Singsang und die Trommeln verstummten. Es war, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Er blieb abrupt stehen, und nachdem er sich ermahnt hatte, es nicht zu tun, drehte er sich um. Der Totenfresser war da. Marcase starrte ihn an. Dann hob der Totenfresser seine linke Hand und deutete nach oben. Unwillkürlich folgte Marcase der Bewegung, und als er es tat, hörte er, wie eine Stimme leise seinen Namen rief. Eindringlich. Er schüttelte den Kopf; es war unmöglich. Zum zweiten Mal hörte er seinen Namen. Gegen seinen Willen blickte er sich über die Schulter um und sah einen Mann im wabernden Nebel stehen. Er war Mitte bis Ende vierzig; dunkles graumeliertes Haar hing ihm in die Stirn, und er trug ein zerknittertes weißes Hemd mit aufgerollten Ärmeln und schlecht sitzende Hosen, die an einem Knie aufgerissen waren. Marcase schluchzte laut auf. „Oh Gott...“ Der Mann hob eine Hand. „Edward... deine Mutter möchte dich sehen.“ Marcase schwankte unter dem ansteigenden Fieber. Wütend wischte er sich den Schweiß aus den Augen. Der Mann winkte ihm. „Das ist alles nicht wirklich“, flüsterte Marcase.
Die Gesten des Mannes wurden drängender. „Mein Sohn... wir haben nicht viel Zeit.“ Sohn. Dort im Nebel, inmitten eines schwarz verglasten Hochhauses mitten in der Stadt, drängte William Marcase seinen Sohn, mit ihm zu seiner Mutter zu gehen, die krank in ihrer Hütte lag. „Nein“, sagte Marcase nachdrücklich. „Nein! Du bist tot! Geh weg!“ Er wirbelte herum und rannte, und der Totenfresser stand vor ihm und zeigte immer noch nach oben. Er wechselte die Richtung und rannte weiter, ohne sich umzusehen. Tot; sie sind tot! Als ob das alles noch nicht schlimm genug gewesen wäre, wurde er jetzt auch noch von Geistern verfolgt. Er hatte keine Ahnung, wann genau sich alles veränderte. Plötzlich waren die Trommeln wieder da, lauter als zuvor, und der Singsang ertönte von neuem, zornig und eindringlich. Und obwohl der Nebel sich gelichtet hatte, war noch viel davon da; glitzernd im Mondlicht waberte er um die Wurzeln, die aus dem Boden ragten, fing sich in den Zweigen der großen Baumkronen... verschleierte die Gesichter der Menschen in den Leichentüchern, die ihn aus der Ferne beobachteten. Das Hochhaus war verschwunden. Edward Marcase stieß einen lautlosen Schrei aus und floh vor seinen Alpträumen durch die dunkle afrikanische Nacht...
5 Der Raum, der an das Hauptlabor des örtlichen Stützpunktes angrenzte, war ein abgesicherter Untersuchungs- und im Notfall auch Operationsraum. Monitore für die Lebensfunktionen und andere Überwachungseinrichtungen hingen lautlos arbeitend an den dunklen Wänden aufgereiht und zeigten in sich ständig bewegenden Kurven und fließenden Zahlenkolonnen ihre Daten an; die indirekte Beleuchtung war weich und sollte beruhigend wirken; das Krankenbett in der Mitte war im Fußboden verschraubt. Auf dem Bett lag ein junger Schwarzer, dem erst kürzlich das getrocknete Blut aus dem Gesicht gewischt worden war. Nase und Mund waren mit einer durchsichtigen, anatomisch geformten Sauerstoffmaske bedeckt. Unter dem Bett kamen Kabel zum Vorschein, die zu den Monitoren führten. Der Junge war angeschnallt, um ihn daran zu hindern, sich selbst Schaden zuzufügen oder zu fliehen. Doch die dicken, gepolsterten Riemen hinderten ihn nicht daran, ununterbrochen zu stammeln, die blutunterlaufenen Augen voller Schrecken weit aufgerissen, während er den Kopf hin und her warf und zu begreifen versuchte, was mit ihm geschah. Kimberly wußte, daß seine Angst ganz gewiß nicht gelindert wurde durch ihren und Cassians Anblick, wie sie in voller BioSchutzausrüstung neben seinem Bett standen. Auf ihn wirkten sie vermutlich wie Marsianer der Sorte, die Menschen entführte, um Experimente mit ihnen anzustellen. „Bitte bringen Sie mich nicht um“, flehte Raf Williams, und eine Träne rann aus seinem Augenwinkel. Sie beugte sich über ihn, damit er ihr Gesicht und ihr Lächeln erkennen konnte. „Es ist schon gut. Wir werden dir nicht weh tun.“
Seine Augen weiteten sich noch mehr, wenn dies überhaupt noch möglich war. „Dein Name ist Raf Williams“, sagte sie freundlich. „Das stimmt doch, oder? Ich bin Kimberly.“ Raf starrte sie an und seufzte – fast ein Stöhnen – als sie ihm das verschwitzte Gesicht mit einem kühlen, feuchten Tuch abwischte. Sein Atem beruhigte ich etwas; ein Blick auf die Monitore verriet ihr, daß sein Puls sich meßbar verlangsamt hatte. „Ich bin Ärztin“, erklärte sie, immer noch lächelnd. „Hab keine Angst, okay? Wir werden dir helfen. Du wirst wieder in Ordnung kommen.“ Rafs Mund öffnete und schloß sich; seine Lippen zitterten. „Es wird alles gut.“ Obwohl Hailey ihn auf dem Boden eines Fahrstuhlschachtes gefunden hatte, schien er erstaunlicherweise nicht sehr schwer verletzt zu sein und keine inneren Blutungen zu haben, und sie war versucht, ihn zu fragen, ob er vielleicht wußte, wo Edward war. Plötzlich bäumte er sich gegen die Riemen auf und schrie: „Laßt mich gehen! Laßt mich gehen! Die kommen und bringen mich um!“ Hilflos sah sie, wie die Anzeigen wieder wild ausschlugen und Werte erreichten, die normalerweise tödlich gewesen wären. Cassian berührte den Jungen am Arm und sagte mit professionell ruhiger Stimme: „Wer will dich umbringen?“ „Die Leoparden!“ keuchte Raf und kämpfte gegen die Riemen an. „Laßt – mich – gehen!“ Cassians Stimme blieb unbewegt: „Aber warum wollen sie dich umbringen?“ Rafs Entsetzen kehrte mit voller Gewalt zurück: „Weil ich sie bei den Bullen verpfiffen habe. Kapierst du das nicht, Mann? Ich hab sie bei den Bullen verpfiffen!“ Er sah sich
verzweifelt um und schrie wieder. „Oh Gott, sie sind hier! Sie sind hier!“ Bevor Kimberly sich rühren oder etwas sagen konnte, verlor Raf mit einem stoßartigen Seufzen das Bewußtsein. Die plötzliche Stille war enervierend. „Der Sauerstoff hilft ihm nicht“, sagte sie. „Er zeigt keine Wirkung. Er erstickt langsam.“ Ihre Hände tasteten über die reglose Gestalt des Jungen und suchten nach einem Weg, seinen Schmerz und sein Entsetzen zu lindern. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie dort stand, aber sie erhob keine Einwände, als Cassian sie sanft am Ellbogen nahm und aus dem Zimmer in einen verglasten Beobachtungsraum führte, wo sie Raf sehen konnten, ohne daß er ihr Gespräch hörte. „Hören Sie“, sagte Cassian, „wie wär’s, wenn Sie wieder an Ihre Tests gehen? Wir können nicht viel für ihn tun, solange wir den Wirkstoff nicht identifiziert haben.“ Kimberly sah ihn an. „Ich möchte sehen, was in dieser Computerdatei steht.“ „Ich auch“, antwortete er sanft, „aber bitte warten Sie, bis wir sie zusammen lesen können. Ich möchte Mr. Williams noch ein paar Minuten überwachen.“ Der Drang zu widersprechen ließ ihre Augen zu schmalen Schlitzen werden, aber er wich ihrem Blick aus. Mit einem scharfen Nicken – na schön, wie Sie wollen – verließ sie den Raum. Aber sie würde nicht warten. Nicht, wenn das, was in dieser Datei stand, Raf Williams das Leben retten konnte. Der Dschungel nahm kein Ende. Wie schnell er auch rannte, welche Richtung auch immer er einschlug, der Dschungel nahm kein Ende. Und die Trommeln und der Singsang hörten nicht auf.
Cassian wartete, bis Shiroma den Raum verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatte. Es gefiel ihm nicht, Dinge auf diese Art zu machen, besonders mit jemandem wie ihr, aber das verdammte Komitee und sein verdammter Vorsitzender hatten ihn dazu gezwungen. Ein rascher Griff zu der Schalttafel unter dem Beobachtungsglas, dann sprach er in das Funkgerät seines Anzugs. „Michael? Sind Sie da?“ „Hier.“ „Bestätigen Sie Beta-Kodierung.“ „Bestätige Beta.“ Cassian starrte den bewußtlosen Jungen an, ohne ihn richtig zu sehen. „In Ordnung, Michael, wir können offen sprechen. Die Messungen, die ich von unserem Patienten bekomme, zeigen, daß wir es in diesem Gebäude definitiv mit Malochrinat zu tun haben.“ Erst nach einer Pause antwortete Hailey. „Wunderbar.“ „Es geht seinen vorhersehbaren Gang, Michael. Keine Abweichungen. Schwere Magenkrämpfe, dann immer stärker werdende Halluzinationen über einen Zeitraum von vierundzwanzig Stunden. Schließlich leidet das Opfer unter immer größerer Atemnot.“ Er überlegte einen Moment und rieb sich mit dem Finger übers Handgelenk. „Der Wirkstoff hat eine höhere Affinität zu roten Blutkörperchen als das sauerstofftragende Hämoglobin und verursacht Ersticken, falls das Opfer keine hohen Sauerstoffdosen bekommt.“ „Also je mehr verseuchte Luft man einatmet, desto verrückter wird man, richtig?“ „Korrekt“, antwortete Cassian grimmig. Er sah Raf Williams an, und seine Kiefermuskeln traten hervor. „Malochrinat beeinflußt vermutlich den Teil des Gehirns, der die Angst steuert. Was immer das Opfer am meisten fürchtet... wird für ihn Wirklichkeit.“ „Wieviel weiß Kimberly darüber?“
Cassian erlaubte sich ein kleines, selbstzufriedenes Lächeln. „Ich habe die Datei heruntergeladen. Ich bin sicher, daß sie gerade dabei ist, alles herauszufinden.“ Hailey reagierte nicht. Williams regte sich und stöhnte in einem unruhigen Schlaf, und Cassians Tonfall wurde knapp. „Finden Sie Marcase, so schnell Sie können, Michael. Und passen Sie auf sich auf. Das Szenario, das wir vorausgesehen haben, hat sich bestätigt.“ So sehr sich Marcase auch bemühte, sich klarzumachen, wie unmöglich das alles war, stand doch außer Frage, daß er diesen Ort wirklich kannte. Es war das Afrika seiner Kindheit. Der Ort, wo er und seine Eltern all jene Monate gelebt und mit den Dorfbewohnern gearbeitet hatten, wo sie gegen alle Wahrscheinlichkeit darum gekämpft hatten, ihnen Gesundheit und Leben zu erhalten. Der Ort, wo William und Rachel allen Widrigkeiten getrotzt hatten, wo sie in dem Wissen, daß sie verlieren würden, dennoch weitergekämpft hatten. Und da drüben, in den Schatten neben dem knorrigen Stamm eines vom Blitz getroffenen Baumes, stand sein Vater. „Edward.“ Marcase rührte sich nicht. Vielleicht war es ein Geist, vielleicht auch nicht, aber der Mann war ohne Frage sein Vater. „Edward.“ Es überraschte ihn kaum noch, als sich sein Körper plötzlich zu teilen schien. Der erwachsene Marcase konnte sich nicht rühren; doch sein jüngeres Ich rannte vorwärts, auf seinen Vater zu. Sie sahen einander angstvoll an, bevor der Vater seinen Arm um die Schulter des Jungen legte und ihn fortführte. Der erwachsene Marcase folgte ihnen in ein paar Metern Abstand.
„Deine Mutter ist sehr krank“, sagte William ernst zu seinem kleinen Sohn. „Sie möchte dich sehen.“ Marcase spürte, wie seine Wangen sich mit Tränen benetzten. Genauso war es gewesen. Mit genau diesen Worten hatte ihm sein Vater damals die schreckliche Nachricht überbracht. William drückte den Jungen kurz an seine Seite. „Ich weiß, das wird sehr schwer für dich, mein Sohn. Du bist noch so jung... aber was auch immer geschieht... sei stark... sei tapfer.“ Ein kleines Feuer brannte schwächlich inmitten eines Kreises aus großen Steinen. Auf der andere Seite stand eine baufällige Hütte mit verrostetem Blechdach. Neben der Tür stand ein grob gezimmerter Holzstuhl, und der Boden ringsum war übersät mit Zigarettenstummeln und Essensresten, Blechtellern, einer verbeulten Blechtasse, den zerknüllten Resten einer alten Zeitung. Marcase konnte sich kaum überwinden hinzuschauen. Dies war sein Zuhause gewesen. Seine Heimat. Es war so lange her, daß der Anblick ihm jetzt schier den Atem in den Lungen gefrieren ließ. Der Junge sträubte sich, als William sich anschickte, ihn in die Hütte hineinzuführen, und schüttelte die Hand seines Vaters ab. „Warum ist sie da drin?“ wollte er wissen. „Sie sollte lieber im Krankenhaus sein.“ „Weil“, flüsterte Marcase, „im Krankenhaus alle tot sind.“ William seufzte und wischte sich mit einer müden Hand über sein ausgemergeltes Gesicht. „Alle Leute im Krankenhaus sind tot, mein Sohn.“ Er hob zur Betonung die Hand und ließ sie schlaff wieder herabfallen. „Ich habe getan, was ich konnte. Jetzt liegt alles in Gottes Hand.“ Sie starrten einander an, für eine Ewigkeit, wie es schien, bevor der junge Edward schließlich mit einem Nicken zu
erkennen gab, daß er verstand. Er folgte seinem Vater in die Hütte. Marcase, der wußte, was sie vorfinden würden, konnte nicht anders, als mit ihnen zu gehen. Der Alptraum war nicht vorüber; im Gegenteil, er hatte gerade erst begonnen. Mein Gott, dachte Kimberly, als sie die Datei durchgesehen hatte und sich auf ihrem Stuhl zurücklehnte; mein Gott, wie kann das sein? Wie konnten sie das zulassen? Sie sah sich im Labor um, als ob die Antwort hier irgendwo zu finden sei, starrte dann wieder auf die Datei und befeuchtete ihre Lippen. Wie konnten sie das zulassen? Die Hütte war größer, als sie von der Lichtung aus gewirkt hatte. Auf dem Boden vor den schiefen, verwitterten Holzwänden lagen frische Leichen, in Tücher gehüllt, die meisten verschmiert mit altem Blut und anderen Körperflüssigkeiten. Ein flacher Stapel frischer Tücher lag auf einem Stück Pappe nahe der Tür. Auf einem niedrigen Tisch in der Mitte des Raumes stand eine alte Arzttasche, geöffnet und leer; daneben ein Holzbecher und eine leere Ampulle, die auf der Seite lag. Der Fußboden bestand aus festgestampfter Erde; Fenster gab es keine, nur eine Öffnung in der Decke, um die abgestandene Luft herauszulassen. Im Dunkel der hintersten Ecke, auf einer Pritsche, die aussah, als könnte sie nicht einmal das Gewicht einer Puppe tragen, geschweige denn das einer erwachsenen Frau, lag Rachel Marcase. Das Tuch, das sie bis zum Hals bedeckte, war steif vor Schmutz; ein Glas Wasser stand neben ihr auf dem Boden, so daß sie es erreichen konnte.
Doch mehr noch als die Erinnerung an diesen schrecklichen Ort war es ihr Gesicht, das Marcase frische Tränen in die Augen trieb. Von der stillen Schönheit, die Rachel einst besessen hatte, war nur noch wenig geblieben. Die Haut spannte sich wie Papier über ihren Schädel, ihre Lippen waren dünn und bleich, und aus den Winkeln ihrer geschlossenen Augen glitten kleine Blutströpfchen wie Tränen auf das strohgefüllte Kissen unter ihrem Kopf. So jung er noch war, hatte Edward sofort erkannt, daß er hier einen Menschen im Endstadium der Ebola-Infektion vor sich hatte. „Rachel“, flüsterte William. Er wartete. „Rachel, er ist hier.“ Seine Mutter schlug ihre einst leuchtenden Augen auf und brachte mit Mühe ein Lächeln zustande. Der Junge versteifte sich für eine Sekunde, dann ging er langsam zu ihr hinüber und kniete sich neben ihr Lager. Er gab sich keine Mühe, sich die Tränen abzuwischen, die über sein Gesicht strömten. „Edward...“ Ihre Stimme klang schwach, kaum hörbar. William stand über ihnen beiden. „Er hat es auch, Rachel. Wir alle haben es.“ Marcase, unfähig, weiter zu gehen als bis zur Tür, nickte bei diesen Worten. „Ja“, flüsterte er. „Wir alle haben es. Aber ich werde überleben... und ich werde keinen von euch je wiedersehen.“ „Edward“, sagte Rachel fest, „du wirst nicht sterben.“ Sie streichelte ihm übers Haar und strich ihm mit einer vertrauten, automatischen, liebevollen Geste eine Strähne aus der Stirn. „Ich habe für dich zu Jesus gebetet. Gerade eben noch stand er genau hier. Er hat mir versprochen, daß du aufwachsen... und ein guter Mann werden wirst. Du wirst... vielen Menschen helfen, Edward. Was immer geschieht, vertraue... und hab keine Angst.“
Der Junge sackte in sich zusammen. Rachel lächelte wieder. „Ich liebe dich, Edward. Ich liebe dich.“ Dann schloß sie die Augen. Draußen ertönten erneut die Trommeln, und endlich begriff Marcase ihre Botschaft – sie gaben die Namen der Toten von Dorf zu Dorf weiter, von Farm zu Farm. Er hatte das Gefühl, daß der Name seiner Mutter bereits darunter war. „Nein“, sagte er. „Nein, ich halte das nicht aus.“ Von Panik ergriffen rannte er aus der Hütte, vorbei an der niedrigen Feuerstelle, sprintete über die Lichtung und verschwand zwischen den Bäumen. Und fand sich in dem Hochhaus wieder. Keine Trommeln. Kein Singsang. Kein Dschungel. Keine Eltern. Er war allein. Er wollte sich hinlegen, wollte seine Augen schließen und warten, bis jemand kam und ihn fortbrachte. Statt dessen sah er den Totenfresser aus den Schatten auf sich zukommen. „Nein!“ schrie er. „Bleib weg von mir. Bleib weg!“ Und er rannte.
6 Der Vergleich kam Kimberly in den Sinn, während sie den Computerbildschirm anstarrte und vor Zorn beinahe zitterte. Ein Freund aus längst vergangenen Tagen hatte einmal gesagt: „Ich bin so wütend, daß ich Nägel kauen und Rost spucken könnte.“ Genauso fühlte sie sich jetzt. Auf dem Bildschirm hatte sich das Foto eines Mannes aufgebaut, offenbar in seinen Dreißigern. Kein Lächeln für den Fotografen, überhaupt keine Andeutung von Humor in seinem Ausdruck. Er hatte die kältesten Augen, die sie je gesehen hatte. Dr. Wilson Pride war ein Mensch, der nichts von Empathie verstand, vielleicht nicht einmal etwas von Sympathie. „So“, ertönte Cassians Stimme hinter ihr, „Sie haben also nicht gewartet.“ Sie drehte sich langsam um und wünschte, sie könnte ihm den Helm vom Kopf reißen und ihn damit erschlagen. „Der chemische Wirkstoff heißt Malochrinat“, stieß sie mit rasiermesserscharfer Stimme hervor. „Er wurde 1966 von diesem Mann erfunden, Wilson Pride, einem Professor an der Universität von Chicago, der nebenbei für die CIA arbeitete. Malochrinat war dazu bestimmt...“ Sie holte schaudernd Atem. „Es war dazu bestimmt, von niedrig fliegenden Flugzeugen oder Raketen über Städten ausgestreut zu werden. Der Tod war diesem Mann nicht gut genug. Er wollte Terror. Massenwahnsinn. Selbstmord.“ Cassian blinzelte langsam. Sie deutete mit dem Daumen auf den Bildschirm. „Sie hätten sich diese Datei jederzeit holen können.“
„Und wie hätte ich das tun sollen?“ antwortete er leise. „Unsere Suche basierte auf Ihren chemischen Analysen, wissen Sie noch?“ Er spähte zum Bildschirm hinüber. „Also, was ist aus ihm geworden? Was sagt die Datei?“ Du lügst, dachte sie, du lügst, ohne rot zu werden. Sie beschloß, trotzdem mitzuspielen, und sei es nur, um zu sehen, ob sie seine Gründe herausfinden könnte. „Nachdem Pride seinen ersten Bericht eingereicht hatte, verschwand er mit seinen sämtlichen Forschungsunterlagen. Demzufolge hat es seit 1966 kein Malochrinat mehr gegeben.“ Als er nicht reagierte, fügte sie hinzu: „Warum aber sterben dann daran Leute in einem Wolkenkratzer, der vor anderthalb Jahren noch gar nicht existiert hat?“ „Genau das müssen wir herausfinden.“ Kein Wort über Edward. Kein Wort über den armen Raf Williams. Sie starrte auf den Monitor, tippte sich mit einem Finger aufs Bein, stand plötzlich auf und ging geradewegs auf die Entseuchungskammer zu. „Wo wollen Sie hin?“ fragte Cassian. Sie sah sich nicht um. „Ich will selbst ein bißchen recherchieren.“ Und auch das, vermutete sie, wußte er bereits. Wenn er so gut war wie er behauptete, überlegte sie, während sie ihren Bio-Anzug absprühen und wieder trocknen ließ, würde er sich vermutlich die Datei ansehen, während sie hier drinnen war. Und wenn er das tat, würde er auch das zweite digitalisierte Foto sehen, das sie entdeckt hatte: das von Emily Pride, der Witwe des wackeren Arztes. Sie war noch am Leben. Hier in der Stadt. Pech, dachte sie; soll er doch versuchen, mich aufzuhalten.
Hinauf, dachte Marcase im Rennen; ich muß nach oben. Das ist der einzige Weg hier heraus. Es ist der einzige Weg, um zu überleben. Der Totenfresser folgte ihm. Und ebenso die Trommeln... Das kleine Haus war so alt und heruntergekommen wie die Wohngegend, in der es stand. Die Wandfarbe blätterte ab, der winzige Aufgang und das Dach waren offensichtlich reparaturbedürftig, in dem briefmarkengroßen Garten sproß mehr Unkraut als Gras, und neben den Steinstufen wuchsen zwei Rosenbüsche, die jeder nur eine einzige Blüte trugen. Kimberly wartete geduldig vor dem Eingang. Sie hatte bereits zweimal geklopft und wußte, daß jemand zu Hause war; sie sah den zögernden Schatten durch die Gardinen vor der schmalen Glasscheibe der Tür. Kommen Sie schon, dachte sie und pflegte innerlich ihren Groll gegen Cassian, kommen Sie schon, Lady, ich beiße nicht. Als sie sich anschickte, zum dritten Mal zu klopfen, bewegte sich der Schatten, und die Tür wurde geöffnet. Die Frau war klein und dünn, auch ihr graues Haar war dünn und ebenso leblos wie ihr Gesicht. Das Alter hatte Emily Pride nicht gut behandelt. Kimberly konnte den Gedanken nicht abschütteln, daß die alte Frau nur noch auf den Tod wartete. „Mrs. Pride“, sagte sie und setzte ihr artigstes Lächeln auf, „mein Name ist Kimberly Shiroma. Danke, daß Sie mir erlaubt haben, Sie so spät noch aufzusuchen.“ Mrs. Pride erwiderte das Lächeln nicht. „Seit über fünfundzwanzig Jahren hat mich niemand mehr nach meinem Mann gefragt.“ „Nun, wie ich am Telephon schon erwähnt habe, arbeite ich an einem Bericht, und ich bin an der Universität von Chicago auf einige seiner Forschungsergebnisse gestoßen.“ Ihr Lächeln wurde noch strahlender. „Darf ich hereinkommen?“
Als die alte Frau widerwillig zur Seite trat, schritt Kimberly rasch an ihr vorbei und betrat das Haus, während sie das Lächeln krampfhaft auf ihren Lippen hielt. Sie sah sich in dem Wohnzimmer um. Hier war seit einer Ewigkeit nichts Neues mehr hinzugekommen, registrierte sie. Das Zimmer strahlte dieselbe Depressivität aus, die auch Mrs. Prides Schultern herabzog. Natürlich durfte sie auf keinen Fall das immer stärker werdende Gefühl der Dringlichkeit verraten. Wenn die Antwort hier war, mußte sie sie jetzt finden, sonst würde es für Edward zu spät sein. Michael hatte sich nicht noch einmal gemeldet, bevor sie das geheime Labor verlassen hatte, und das machte sie noch nervöser. Die Frau bot ihr weder Tee oder Kaffee noch einen Stuhl an. „Wonach genau suchen Sie eigentlich?“ fragte sie. „Wissen Sie, es würde für mich schon einen echten Fund bedeuten, wenn ich einen Blick auf irgendwelche Papiere werfen könnte, die Ihr Mann möglicherweise hinterlassen hatte.“ Die alte Frau starrte Kimberly argwöhnisch an. Das Lächeln hielt. „Na schön“, sagte die alte Frau schließlich desinteressiert. „Kommen Sie mit.“ Sie gingen durch das Haus und zur Hintertür hinaus. Am Ende der Kieseinfahrt kauerte eine Garage, die verblaßten Wände von Sträuchern und hohem Gras überwuchert. Im Innern war der Bau nur mit einer einzigen Glühbirne an der Decke beleuchtet, die für Kimberlys Geschmack zu viele Schatten warf, als daß sie sich hier wohl in ihrer Haut hätte fühlen können. Ohne ein Wort hob die alte Frau einen durchfeuchteten Karton vom Boden auf und setzte ihn auf einem wackeligen Tisch ab. „Da“, sagte sie. „Das ist alles, was ich noch habe. Alles andere habe ich weggeworfen.“
Kimberly versuchte, gelassen zu bleiben. „So“, fragte sie, so beiläufig sie konnte, während sie Papiere und Notizbücher aus dem Karton nahm und zur Seite legte, „er ist also einfach aus dem Haus gegangen und niemals zurückgekommen?“ Sie warf Mrs. Pride einen mitleidigen Blick von Frau zu Frau zu. „Das muß furchtbar gewesen sein.“ Mrs. Pride verschränkte die Arme vor der Brust, schniefte und starrte den Karton an. „Nein. Eigentlich war es der wunderbarste Abend meines Lebens.“ Kimberly blieb vor Überraschung der Mund offen stehen. „Wie meinen Sie das?“ Mrs. Pride legte den Kopf schief und lachte leise auf. „Ganz einfach. Ich habe ihn gehaßt.“ Für einen kurzen Moment fürchtete Kimberly, sie hätte sich zu weit vorgewagt, aber jetzt war es zu spät, um zurückzuweichen. „Warum?“ fragte sie. „War er etwa... gewalttätig?“ „Oh nein, Miss Shiroma.“ Die alte Frau hob eine Schulter und ließ sie wieder fallen. „Er war ein vollkommener Gentleman.“ Kimberly runzelte verwirrt die Stirn. „Es... es tut mir leid, aber das verstehe ich nicht.“ Mit einer Stimme, die durch ihre vollkommene Emotionslosigkeit beängstigend wirkte, sagte die alte Frau: „Ich habe ihn gehaßt, weil er... böse war, Miss Shiroma. Nicht wegen irgend etwas, das er tat, obwohl ich nie Einblick in seine Forschungen hatte. Sondern wegen dem, was er war.“ Unbehaglich sah sie sich in der dunklen Garage um und schlang sich die Arme um den Leib. „Wissen Sie, seine größte Freude war die... Zerstörung der menschlichen Seele.“ Kimberly konnte sie nicht länger ansehen und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Inhalt des Kartons zu. „An dem Abend, als er verschwand... wußten Sie, wohin er ging?“
Die alte Frau trat von einem Bein aufs andere, und Kimberly hatte das Gefühl, zu weit gegangen zu sein. Schließlich ging es ihr angeblich um die Arbeit des Mannes, nicht um den Mann selbst. „Er hatte ein privates Büro“, sagte Mrs. Pride. „Außerhalb der Universität. Zumindest sagte er, daß er dorthin wolle, als er ging. Aber er kam nicht wieder. Und am nächsten Morgen fiel das FBI über mich her. Sie durchsuchten jeden Zoll dieses Hauses und seine beiden Büros.“ Wieder zuckte sie die Achseln. „Sie fanden nicht das geringste.“ Draußen auf der Straße gellte eine Autohupe und ließ Kimberly zusammenfahren. Diese Frau war seltsam... sehr, sehr seltsam. Eine Katze heulte, und die Hupe ertönte wieder. „Dieses private Büro“, fragte sie, während sie wahllos nach einem Notizbuch griff und seine vergilbten Seiten durchblätterte. „Wissen Sie noch, wo das war?“ „In einem alten Gebäude in der Nähe des Sees. Es wurde schon vor langer Zeit abgerissen, weil man dort einen Parkplatz bauen wollte.“ Sie kniff ein Auge zu, als könnte sie sich so besser erinnern. „Dann, vor ein paar Jahren, haben sie einen Wolkenkratzer darauf errichtet. Dieses riesige Hochhaus, wissen Sie, welches ich meine? Das, welches geschlossen wurde, weil in ihm so viele Leute Selbstmord begangen haben.“ Kimberly sah sie die alte Frau an; ihre Augen waren fast geschlossen. Plötzlich öffneten sie sich und starrten sie an. „Wilson“, sagte sie mit erschreckend ausdrucksloser Stimme, „hätte sich dafür interessiert. Er war immer fasziniert vom... Schmerz.“ Hinauf, dachte Marcase; ich muß weiter hinauf. Er hustete, spie aus und starrte das Blut auf dem Boden an. Es faszinierte ihn.
Er wußte nicht, was es bedeutete, aber es faszinierte ihn. Erst als der Totenfresser wieder hinauf deutete, ging er weiter. Hinauf. Immer weiter hinauf. Kimberly wußte, daß sie sich eine Menge Ärger einhandeln konnte. Ernsthaften Ärger. Doch jedesmal, wenn sie eine Antwort gefunden zu haben schien oder eine benötigte, hatte Cassian sie abgeblockt oder angelogen, und sie konnte keine weitere Zeit vergeuden. Edwards Leben hing davon ab. Sie fuhr den Lieferwagen des Labors, so schnell sie konnte, ohne die unerwünschte Aufmerksamkeit der Polizei auf sich zu ziehen. Zum Glück waren die Straßen, die sie wählte, jetzt nach Sonnenuntergang nahezu verlassen, und sie wurde auch von keiner roten Ampel aufgehalten. Das Problem war das Wetter. Als sie aufgebrochen war, waren am Himmel schon ein paar Sterne und der Mond zu sehen gewesen. Jetzt zogen über ihr schwarze Wolken zusammen, und die Luft war feucht geworden. Ein Gewitter war im Anzug. Genau das, was sie jetzt brauchte. Obwohl es nicht mehr als ein paar Minuten dauerte, schien fast ein Jahrhundert vergangen zu sein, bis sie endlich den schwarz verglasten Turm erreichte. Dort angekommen, kletterte sie nach hinten und zog ihren Bio-Anzug an. Dann, nachdem sie ein kleines elektronisches Instrument eingestellt hatte, ähnlich dem, das Hailey benutzt hatte, um Raf Williams zu finden, berührte sie einen Knopf an dem Anzug in Höhe ihres Halsansatzes. Sie mußte sich zweimal räuspern, um ihre plötzlich trockene Kehle freizubekommen, bevor sie sprechen konnte, und auch
dann gelang es ihr nicht, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. „Aufzeichnung von Kimberly Shiroma, zehnter September, zwei Uhr fünfzehn. Nachdem ich Mrs. Emily Pride befragt habe, bin ich überzeugt, daß an dieser Stelle eine gewisse Menge Malochrinat unterirdisch versteckt wurde, und zwar an der Stelle, wo der Wolkenkratzer erbaut worden ist. Ich stellte das Molekular-Suchgerät auf die Suche nach dem chemischen Wirkstoff ein. Ich werde draußen mit meiner Suche beginnen, und zwar an der Basis des Gebäudes.“ Sie hielt inne und holte langsam Luft. „Ich habe niemanden von dieser Aktion unterrichtet, weil... es im Moment niemanden gibt, dem ich vertrauen kann.“ Außer, fügte sie im Stillen hinzu, Edward Marcase, und wenn er nicht bereits tot ist, schwebt er sicherlich in Lebensgefahr. Es dauerte noch eine Minute, bis sie sicher war, daß das Suchgerät tun würde, was sie wollte. Dann nahm sie den Plan des Hochhauses zur Hand, den das Team am Morgen benutzt hatte, und studierte ihn sorgfältig, überrascht, wieviel sie noch in Erinnerung hatte. Als sie triumphierend feststellte, daß sie ihn nicht brauchen würde, legte sie ihn zurück an seinen Platz, nur für den Fall, daß Cassian den Lieferwagen fand und danach suchte. Schließlich, und bevor ihre Nerven und ihr gesunder Menschenverstand sie von ihrem Vorhaben abbringen konnten, kletterte sie aus dem Wagen, verschloß ihn und schaltete den grell strahlenden Scheinwerfer ein, der über dem Visier an ihrem Helm angebracht war. Das Hochhaus ragte vor ihr auf. In der Nachbarschaft war alles still. Die Septembernacht war mild, trotz des bevorstehenden Gewitters, doch selbst die eingebaute Klimaanlage des Anzugs
konnte nicht verhindern, daß sich ein Film aus kühlem Schweiß über ihren Haaransatz legte. Ein letzter beruhigender Atemzug, und die Suche konnte beginnen. Sie bewegte sich so langsam über das freie Gelände, daß es ihr beinahe körperlich weh tat. Dies war nötig, da das Suchgerät andernfalls vielleicht die chemischen Spuren, nach denen sie suchte, übersehen könnte und damit ihre Chancen ruiniert wären, Edwards Leben zu retten. Schon zweimal war sie abrupt stehengeblieben und herumgewirbelt, überzeugt, nicht allein zu sein. Und jedes Mal hatte sie sich ermahnt, sich zusammenzureißen, und sich vergegenwärtigt, daß hier nichts war außer ihr selbst und dem, was in ihrer Phantasie umging. Hailey war da drinnen und suchte nach Edward, und Cassian war im Labor und zweifellos mit irgend etwas beschäftigt, das ihr das Leben schwer machen würde. Sie war allein. Niemand war ihr gefolgt; niemand beobachtete sie. Sie wünschte nur, sie könnte das wirklich glauben. Der Totenfresser deutete hinauf. Marcase rang nach Atem und kletterte die Stufen empor. Irgend etwas war mit ihm nicht in Ordnung. Irgend etwas hatte angefangen, innerlich an ihm zu fressen, und obwohl er wußte, daß er sich eigentlich hätte erinnern müssen, was das war, entglitt ihm die Erkenntnis jedesmal, wenn er dachte, jetzt hätte er sie. Jedesmal, wenn er hustete, benetzten kleine Blutspritzer die Wände. Alles, woran er denken konnte, war Ebola. Und alles, was er tun konnte, war, den Befehlen des Totenfressers zu folgen... und hinaufzusteigen. Hinauf zum Dach.
Kimberly knirschte vor Frustration mit den Zähnen und stieß ein paar Worte hervor, die ihre Mutter zweifellos mißbilligt hätte. Sie hatte eine weitere Ecke des Gebäudes erreicht, ohne etwas zu finden, und nur ihre Entschlossenheit, herauszufinden, was hier wirklich los war, trieb sie weiter. Als das Suchgerät ein schwaches Summen von sich gab, hätte sie es beinahe überhört. Sie lächelte freudlos. Es war hier; sie hatte es gefunden; und nun mußte sie nur noch herausfinden... was? Sie beugte sich vornüber und suchte den Boden ab, während das Suchgerät weiterhin sein leises Signal von sich gab. Als sie sich wieder aufrichtete, entdeckte sie wenige Meter entfernt das Gitter. Ja! dachte sie. Der perfekte Platz. Sie eilte hinüber, ohne auf die Stimme zu achten, die ihr einzureden versuchte, daß jemand hinter ihr im Schatten lauerte. Zum Glück war das Gitter schon alt und fast durchgerostet, und es machte ihr keine Schwierigkeiten, es anzuheben und zur Seite zu schieben. Ein flüchtiger Blick über die Schulter, nur zur Sicherheit, und sie stieg über die an der gemauerten Wand verschraubte Leiter ein. Hinab in den U-Bahn-Tunnel, der unter dem schwarzen Turm hindurchführte.
7 Wenn ich es bis zum Dach schaffe, dachte Marcase, wird alles gut. Alles wird vorbei sein, und ich werde wieder in Ordnung kommen. Alles, was ich tun muß, ist, weiter hinaufzusteigen. Die Trommeln und der Singsang waren nicht verstummt, aber er fürchtete sie nicht mehr. Auf unerklärliche Weise klangen sie jetzt irgendwie tröstlich für ihn. Nicht einmal der an ihm hängende Nebel störte ihn mehr. Er war zu einem Freund geworden, zu etwas, das ihn beschützte vor allem, was jenseits seiner Grenzen lauerte. Wenn es nur nicht so heiß und kalt gleichzeitig wäre. Seine Zähne hatten unkontrollierbar zu klappern begonnen, und er hatte so sehr geschwitzt, daß er kaum glauben konnte, daß sein Körper noch Flüssigkeit enthielt. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schmeckte Salz. Als er in seine Hand hustete, sah er die feinen Blutströpfchen. Kein Problem; alles, was er tun mußte, war, hinaufzusteigen. Bis ganz nach oben. Und der Totenfresser folgte ihm. Kimberly ging rasch zwischen den Schienen entlang und hielt sorgfältig Abstand zu dem stromführenden dritten Gleis. Der Helmscheinwerfer zeigte ihr mehr von dem Tunnel, als sie eigentlich sehen wollte: schwarz verfärbte Wände, die sich oben in einem Bogen trafen, Wasser, das aus irgendeiner unsichtbaren Quelle hinter ihr herabtropfte, Rattenkot, hin und wieder das Skelett eines kleinen Tieres. In der Ferne leuchteten
trübe ein paar Signallichter. An der gegenüberliegenden Wand lag ein Haufen Lumpen. Es fiel ihr nicht schwer, sich tausend Orte vorzustellen, wo sie jetzt lieber gewesen wäre. Doch sie ging weiter und kämpfte gegen den verzweifelten Drang an loszurennen. Der Zeichnung und dem Suchgerät nach zu urteilen, bewegte sie sich in der richtigen Richtung. Sie grinste, als sie endlich die verrostete Eisentür in der Wand zu ihrer Linken entdeckte. Sie ließ sich überraschend leicht öffnen und durchschreiten, aber weit weniger einfach war es, den seit langem verlassenen Tunnel in Angriff zu nehmen, den sie auf der anderen Seite fand, der sich nach links und rechts in die unberührte Dunkelheit erstreckte. Was sie im Scheinwerferlicht sah, verursachte ihr plötzlich deutliches Unbehagen: die riesigen Steinquader des Tunnels, glänzend von phosphoreszierendem Schimmel und zitterndem Schleim, die dichten Spinnweben, an verfaulenden Holzpfosten wehend in einem Luftzug, den sie nicht spüren konnte, und die fetten Ratten, die laut protestierend davonhuschten, wann immer der grelle Lichtschein über sie hinwegglitt. Mut, Mädchen, sagte sie sich; fast da, du bist fast da. Doch sie konnte das hartnäckige Gefühl nicht abschütteln, daß jeden Augenblick ein Geisterzug hier hindurchdonnern und den uralten Tunnel über ihrem Kopf zusammenstürzen lassen würde. Sie schüttelte sich entschlossen und konzentrierte sich auf ihre Aufgabe; die Geister, so denn welche hier waren, würden sich etwas gedulden müssen. Nach ein paar Schritte wurde das Summen ihres Suchgeräts eine Spur lauter und dann wieder schwächer, als sie das Gerät erst nach links und dann nach rechts schwenkte. Geradeaus also.
Vorsichtig umging sie den schleimüberzogenen Schutt, der auf dem Boden herumlag, wo einst die alten Gleise gewesen waren, und durchquerte den Tunnel, ohne auf die quietschenden Ratten zu achten, die sich direkt hinter ihr zusammenzurotten schienen. Das Summen wurde lauter. Erleichtert, daß der Anzug ihr zumindest einen gewissen Schutz bot, schob sie mit einem Arm die allgegenwärtigen Spinnweben zur Seite und bahnte sich einen Weg zur gegenüberliegenden Wand. Als sie schwer atmend dort ankam, starrte sie die Mauer an. Sie hörte, wie die Stimme des Suchgeräts stärker wurde. Okay, dachte sie, Schritt zwei. Sie riß sich zusammen, verzog aber dennoch das Gesicht, als sie mit ihrer freien Hand weitere Spinnweben zur Seite schlug, und erschauderte beim Anblick der Kolonie fetter, schwarzer Spinnen, die sie aufgestört hatte. Ein weiterer Handgriff entfernte etwas von dem brackigen Schlamm von der Wand. Sie grinste. „Ja!“ flüsterte sie. „Ja!“ Dort war eine Tür. Rasch befestigte sie das Suchgerät an ihrem Gürtel und ergriff den angefressenen Eisenknauf mit beiden Händen. Einen Fuß gegen den Ansatz der geschwungenen Wand gestemmt, zog sie mit aller Kraft daran... und nichts geschah. „Komm schon“, murmelte sie, und versuchte es noch einmal. „Komm schon!“ Sie hatte den Eindruck, daß die Tür diesmal ein wenig nachgegeben hatte. Sie wischte sich die Hände am Anzug ab und packte den Knauf erneut. Noch einmal kräftig ziehen, sagte sie sich zuversichtlich, und ich bin durch. Das Geräusch der sich biegenden alten Scharniere hallte quietschend durch den Tunnel; das Kratzen der Tür auf der
Schwelle klang, als ob eine Messerklinge über einen Knochen schabte. Die Tür ging auf, und sie verlor keine Zeit... Das Dach! Fast da... am Ziel. Dann bin ich frei. Dann werde ich fliegen. Der Singsang stimmte ihm zu, und er kämpfte sich weiter und kroch im Rhythmus der Trommelschläge die Stufen empor. Kimberlys Verstand registrierte mehrere Dinge zugleich, als sie den Lichtkegel durch den Raum wandern ließ: Zu ihrer Linken lag an der Wand des kleinen Raumes ein Skelett, bedeckt mit Staub und denselben schwarzen Spinnen, die sie im Tunnel gesehen hatte. Der größte Teil der Kleidung war verfault oder weggefressen; einer seiner Schuhe fehlte, der andere befand sich noch am Fuß. Sie mußte nicht näher heran, um das Einschußloch in seinem Schädel zu sehen, direkt zwischen den Augen, und die Pistole, die seine rechte Hand immer noch umklammert hielt. Dr. Wilson Pride, genau, wie sie vermutet hatte. Selbstmord? Mord? Ein Anschlag? Im Moment war ihr das völlig egal. Neben dem Skelett lag eine alte Aktentasche aus Leder, die aussah, als wäre sie mit einer Peitsche durchgeprügelt worden. Die Lasche war noch verschlossen, doch die Oberfläche war größtenteils zerfetzt. Zu ihrer Rechten erkannte sie einen umgestürzten Tisch, bei dem ein Bein zersplittert war und ein anderes völlig fehlte. Weiter vorne befand sich eine Wand aus einer Art verstärktem Beton, wie sie ihn als Teil des Fundamentes des schwarz verglasten Hochhauses kannte. Ein langer, zerklüfteter Spalt, fast einen halben Zoll breit, verlief von halber Höhe bis zum Boden herab. Unweit davon lagen zwei Ampullen auf dem Boden.
Sie eilte hinüber, kauerte sich hin. Eine der Ampullen war noch mit einer hellblauen Flüssigkeit gefüllt, die im Licht der Helmlampe schimmerte – Malochrinat. Die andere war zerbrochen. Man mußte kein Genie sein, um zu schlußfolgern, daß der Inhalt wahrscheinlich, höchstwahrscheinlich, in das Fundament des Gebäudes eingesickert war. Oder in das, was immer hinter diesem Spalt liegen mochte. Doch das war etwas, das sie später herausfinden konnte. Im Moment gab es wichtigere Dinge, um die sie sich kümmern mußte. Rasch wandte sie sich dem Skelett zu und hob vorsichtig die Aktentasche auf, wobei sie sich bemühte, keinen Knochen zu berühren. Trotz der starken Versuchung, die Aktentasche sofort zu öffnen, zwang sich Kimberley zu warten, bis sie wieder im Wagen und damit in Sicherheit war. Dort würde sie den Inhalt in Ruhe untersuchen und mit etwas Glück einen Weg finden, ein Mittel herzustellen, das Edward helfen würde. Vorausgesetzt natürlich, Hailey konnte ihn rechtzeitig finden. Sie schüttelte heftig den Kopf, um sich für ihre leisen Zweifel zurechtzuweisen. Natürlich würde er Edward finden. Schließlich hatte er auch Raf Williams auf dem Boden des Fahrstuhlschachtes aufgespürt, verdammt. Er würde ihn finden. Er mußte. Er mußte unbedingt. Und wenn er ihn fand, mußte sie bereit sein. Mit einem halb erstickten Stöhnen richtete sie sich auf und hielt sich die Aktentasche schützend vor die Brust. In diesem Augenblick sagte eine leise Stimme hinter ihr: „Geben Sie mir die Aktentasche, Dr. Shiroma. Machen Sie keine Schwierigkeiten. Geben Sie sie einfach her.“ Kimberley erstarrte vor Schrecken.
„Die Aktentasche“, wiederholte die Stimme in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Langsam drehte sie sich um und schrie leise auf, als sie eine Gestalt in einem nicht reflektierenden schwarzen Bio-Anzug keinen Meter weit hinter sich stehen sah. Auch das Visier war schwarz eingefärbt, so daß sie sein Gesicht nicht erkennen konnte. In der linken Hand hielt der Mann eine Pistole, an der ein Schalldämpfer angebracht war, der dafür sorgen würde, daß niemand den Schuß hörte... Ungeduldig gestikulierte er mit seiner freien Hand. „Geben Sie her!“ Da sie selbst keine Waffe bei sich trug, blieb ihr keine Wahl. Sie streckte ihren Arm aus, und er riß ihr die Tasche aus der Hand. Dann hob er die Pistole und zielte auf ihren Kopf. „Vielen Dank“, sagte er. Sie wollte ihre Augen nicht schließen. Wenn er es tat, sollte er sehen, daß sie bis zuletzt nicht aufgab. Ein gedämpfter Knall ließ sie zusammenfahren, und sie wich einen Schritt zurück, als sich die Gestalt plötzlich zusammenkrümmte, eine halbe Drehung vollzog und dann zusammenbrach. Das Visier war gesprungen, und in seiner Mitte prangte ein unregelmäßiges Loch. Benommen machte sie einen vorsichtigen Schritt vorwärts und traute ihren Augen nicht, als Michael Hailey in seinem Bio-Anzug aus dem Schatten trat, eine Waffe in der Hand, auf deren Lauf ebenfalls ein Schalldämpfer aufgeschraubt war. Bevor sie irgend etwas sagen konnte, tauchte Cassian hinter ihm auf. „Sie...“ Es verblüffte sie, daß sie überhaupt noch eine Stimme hatte, und mehr noch, daß sie sie sogar benutzen konnte. „Sie sind mir gefolgt.“ „Ja“, antwortete Cassian, während er hinüber zu dem Skelett ging.
Kimberly konnte keinen klaren Gedanken fassen. „Wer ist das?“ fragte sie und deutete auf den Mann, den Hailey gerade getötet hatte. „Niemand, den Sie kennen“, sagte Cassian, während er den Toten betrachtete. „Nur ein Soldat der anderen Seite in diesem Krieg.“ Dann sah er über seine Schulter zu ihr hinauf. „Hervorragende Recherche, Kimberly.“ In ihrer Empörung und ihrem Schrecken fiel ihr keine Antwort ein, auch nicht, als er merkwürdigerweise den Schuh des Skeletts aufhob und in seinen Gürtel steckte. Doch als sie die Aktentasche aus der schlaffen Hand des anderen Toten nahm, erhob sich Cassian und streckte seine Hand aus. „Das nehme ich.“ „Den Teufel tun Sie“, fuhr sie ihn an. Eine Sekunde lang, nur eine Sekunde, glaubte sie tatsächlich, er würde Hailey anweisen, sie ihr abzunehmen. Dann zuckte er die Achseln. „Na schön. Dann tragen Sie sie eben.“ Und er trat aus dem Raum in den Tunnel, ohne sich umzusehen. Sie wollte ihm gerade folgen, als sie sah, wie Hailey sich über den Toten beugte. Er hatte dem Mann einen Handschuh abgenommen, und in dem kurzen Augenblick, bevor er ihr mit seinem Körper die Sicht versperrte, sah sie eine Tätowierung auf der Handfläche des Mannes. Es war dasselbe Symbol, das sie vor wenigen Stunden auf dem Computerbildschirm gesehen hatte. Ein warmer, feuchter Wind begann durch den Korridor zu wehen und rührte den Nebel zu wirbelnden Schwaden auf. Marcase kroch jetzt auf Händen und Knien. Seine Beine trugen ihn nicht mehr, und seine Arme konnten ihn kaum halten. Der Totenfresser war direkt vor ihm. Kein Ausdruck auf seinem Gesicht. Er winkte.
Und immer noch sprachen die Trommeln, und immer noch heulte der Singsang. „Ich weiß“, flüsterte Marcase qualvoll. „Ich weiß.“ Bald würde es soweit sein. Sehr bald. Der Schmerz und das Bluten würden aufhören, sein Alptraum würde vorüber sein, und vielleicht, wenn er Glück hatte, würde er wieder mit seinen Eltern vereint sein. „Ich weiß.“ Er kroch weiter. „Ich weiß.“ Kimberly war immer stolz darauf gewesen, daß sie selbst unter extremsten Umständen in der Lage war, ihr Temperament im Zaum zu halten. Doch so streng wie heute war sie noch nie geprüft worden. Cassian hatte auf dem Weg zurück ins Labor kaum zwei Worte mit ihr gesprochen, und überhaupt keines, während sie frische Ausrüstung anlegten und den Inhalt der Aktentasche auf dem Tisch in der Mitte des Hauptlaborraums ausbreiteten. Die meisten der Papiere waren unwiederbringlich verrottet, einige waren bereits zur Restauration in ein anderes Labor geschickt worden, und der Rest reichte aus, um Kimberly klarzumachen, daß sie recht gehabt hatte. Jedenfalls weigerte sie sich, den Fund mit ihm zu untersuchen, bevor sie nicht nach Raf gesehen hatte. Er lebte noch, gerade eben, und war immer noch bewußtlos. Auf keinem der Monitore war irgendeine Besserung seines Zustandes zu erkennen. Als sie zurückkehrte, fragte Cassian nicht nach, und sie sagte ihm nichts, aus reinem Trotz. Sie deutete auf eine Seite, die größtenteils zerrissen oder zerfressen war. „Also, an dem Abend, als er verschwand, nahm er seine Formeln und alles Malochrinat, das er gemischt hatte,
ging hinab in einen geheimen Raum bei den Tunnels... und brachte sich um.“ Cassian nickte. „So sieht es aus.“ Er zog eine Seite auf sich zu und musterte sie. „Als das Fundament des neuen Gebäudes gelegt wurde, erbrach eines der Fläschchen, und die Chemikalie drang in die unterirdischen elektrischen Anlagen ein.“ Ergibt fast einen Sinn, dachte sie. Fast. „Wie viel davon haben Sie schon gewußt, bevor wir angefangen haben?“ „Nicht genug“, antwortete er mit einem Ton, aus dem sie zu ihrer Verblüffung echtes Bedauern heraushörte. „Aber doch genug“, beharrte sie, „um zu erkennen, daß wir benutzt wurden. Wer immer hinter dieser Sache steckt, den wollte das CDC nicht dabei haben, weil sonst zu viele Leute davon wüßten.“ „Deren Teams hätten das Zeug nie gefunden“, sagte er. „Aber Sie wußten“, beharrte sie, „aber Sie wußten, daß uns dort ein Killer erwarten würde.“ Wieder war sie verblüfft, als er entschuldigend den Kopf schüttele. „Sie waren in Sicherheit, Kimberly, vollkommen in Sicherheit, bis Sie die Entdeckung machten. Die andere Seite mußte in dem Glauben belassen werden, daß wir nichts von ihnen wüßten.“ „Und wer genau ist diese andere Seite, Dr. Cassian?“ fragte sie kalt. Er hob ein Blatt auf, drehte es um und lächelte. „Nun, zumindest kann man Dr. Pride keinen Mangel an Gründlichkeit vorwerfen. Er begann, an einem Gegenmittel zu arbeiten, sobald das Malochrinat fertig war. Leider wurde es nie getestet.“ Kimberly packte ihn am Arm und zwang ihn, sie anzusehen. „Wer ist die andere Seite, Doktor? Dieses schreckliche Symbol... gehört es zu denen?“
„Wenn Sie über Seiten nachdenken, Kimberly, denken Sie an ein einzelnes Blatt Papier wie dieses. Wenn Sie eine Seite von der anderen abreißen wollten, wo würden Sie anfangen?“ Sie riß ihren Arm zurück und hob die Hand, als wollte sie ihm ins Gesicht schlagen. Er rührte sich nicht. Sie senkte ihren Arm, doch ihr Zorn ließ nicht nach. „The Dawn“, sagte sie gepreßt. „Ist dies dasselbe –“ „Cassian“, unterbrach sie Haileys Stimme über Funk. „Cassian.“ „Kommen, Michael. Haben Sie Edward gefunden?“ „Noch nicht“, antwortete die Stimme des Mannes, nicht annähernd so ruhig wie sonst. „Aber ich habe eine Spur. Und ich glaube, er erbricht Blut.“
8 Marcase war verschwunden. Statt seiner war der Junge namens Edward da, mit zerrissenen, schmutzigen Kleidern, die Hände blutig, wo die rauhen Kanten der Treppenstufen sie aufscheuerten. Grauenhafter Schmerz dröhnte in seinen Schädel, feurige Pfeile schossen durch seinen Bauch. Es war fast zuviel für ihn, und mehr als einmal schluchzte er laut auf. Die Trommeln donnerten durch das Gebäude. Im Nebel zuckten gespaltene Blitze, die von den verschleierten Wänden abprallten und gegen die unsichtbare Decke knallten. Er schluckte schwer und massierte mit einer Hand seinen Hals. Er wollte nicht weitergehen, doch der Totenfresser winkte, seine Lippen bewegten sich tonlos. Seine schwarz umrandeten Augen blickten weder freundlich noch grausam. „Kann nicht“, flüsterte Edward hilflos. „Kann nicht.“ Der Totenfresser winkte. „Nein. Kann nicht.“ Der Totenfresser schleuderte einen Arm zur Seite, und der Nebel waberte von ihm weg, riß auf und verschwand in Schwaden, als ein nicht fühlbarer Wind ihn davontrieb. Edward blickte auf. Er sah die Tür, die aufs Dach hinausführte. Frischer Nebel kräuselte sich darunter hervor und ergoß sich über die Stufen wie ein stiller, weißer Wasserfall. Der Singsang wurde zu einem Trauergesang; nicht mehr Dutzende von Stimmen, sondern Hunderte. Der Totenfresser starrte ihn an. Der kleine Edward schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Zweck, er würde es nicht schaffen.
Ein Donnerschlag explodierte, und die Tür flog auf und schlug funkenschlagend gegen die Wand. „Kann nicht“, beharrte er und starrte die geisterhafte Gestalt an, die nicht auf seinen Protest hören wollte. „Kann nicht.“ Wieder schüttelte er den Kopf. „Geht nicht.“ Im nächsten Moment sprang der Totenfresser neben ihn, ergriff ihn unter den Armen, als wiege er nicht mehr als eine Feder, und trug ihn mit einem einzigen Satz die letzten Stufen empor. Bevor Edward auch nur anfangen konnte, sich zu wehren, grunzte der Totenfresser und schleuderte ihn durch die offene Tür. „Verdammt“, flüsterte Hailey heiser, während er immer zwei Stufen auf einmal die Treppe emporhastete. „Verdammt, Marcase, wo zur Hölle steckst du?“ Das einzige Anzeichen, daß er auf der richtigen Spur war, waren die Blutspuren, die er auf den Stufen erkennen konnte. „Komm schon, Mann“, flehte er, als ob Edward ihn hören konnte. „Mach jetzt keine Dummheiten. Verlier nicht den Kopf, Marcase, verlier nicht den Kopf.“ Er wünschte sich verzweifelt, er könnte sich diesen verdammten Bio-Anzug vom Leib reißen, um schneller voranzukommen; er wünschte sich, er könnte glauben, daß die Blutspur, der er folgte, nicht von dem jungen Arzt stammte. Er wünschte sich eine Menge Dinge, aber keines davon würde eintreffen. „Halte durch“, sagte er, während er um den nächsten Treppenabsatz schwenkte. „Halte durch, Mann, gib mir wenigstens eine Chance.“ Edward schrie auf, als der Totenfresser ihn packte, und er schrie wieder, als er auf dem Dach landete und auf seine Seite rollte. Das war nicht fair. Er war verletzt, konnte das denn keiner sehen? Er war verletzt, und er wollte, daß sich jemand
um ihn kümmerte. Daß jemand den Schmerz wegnahm. Daß jemand ihm half, nicht mehr zu weinen. Er wollte das ständige Trommeln nicht mehr hören, aber es hörte nicht auf; das Singen machte ihm angst, aber es wurde nur immer lauter. Und er verstand nicht, was mit dem Dschungel passiert war, was mit Afrika passiert war. Plötzlich war er an einem fremden Ort, einem Ort, den er nicht kannte und der ihm nicht gefiel. Er gefiel ihm überhaupt nicht. Ein Windstoß schlug ihm ins Gesicht und trieb ihm ein Büschel Haare ins Gesicht. Das machte ihn wütend. Er wischte die Haare zur Seite, kehrte dem Wind den Rücken zu und konzentrierte sich darauf, aufzustehen. Es war heiß hier, es war kalt hier, und er wollte nach Hause. Die Trommeln hörten nicht auf ihn. Nach mehreren Versuchen schaffte er es, sich aufzusetzen, wischte sich mit einem Ärmel das Gesicht ab und sah sich um. Ein Dach; er befand sich auf dem Dach eines Gebäudes, das mindestens eine Meile hoch sein mußte. Der Wind zerrte an ihm, brachte ihn beinahe zu Fall. Er blinzelte und schützte seine Augen mit der linken Hand. Soweit er sehen konnte, leuchteten keine Sterne über den Lichtern der Stadt, die er dort unten bis zum Horizont ausgebreitet sah; statt dessen braute sich ein heftiges Gewitter zusammen, und der Himmel war nur von den Salven des Donners und dem blendenden Gleißen der Blitze erfüllt. Er war nicht allein. Er zog die Schultern hoch, blickte sich um und sah die Gestalt hinter sich stehen. Hoch aufgerichtet stand sie da, unangefochten vom Wind, und starrte ihn an. Nach einem beängstigend langen Moment beugte sich der Totenfresser über ihn und flüsterte ihm ins Ohr: „Weißt du, wer ich bin?“
Edward begann zu zittern. Tiefe Furcht und innere Kälte ergriffen seine Knochen, sein Herz und seine Lungen. Er kniff die Augen zu, und kleine Lichtkreise schwammen durch sein Gesichtsfeld. „Junge, hörst du mir zu?“ Gegen seinen Willen öffnete er die Augen und sah, daß er sich am Ende eines langen Pfades quer über das Dach befand. Eines Pfades aus im Wind flatternden Fackeln, der direkt an den Rand des Daches und zu den Lichtern der Stadt dahinter führte. „Weißt du, wer ich bin?“ Er unterdrückte ein Schluchzen. „Ich bin der Totenfresser.“ Edward schlang sich die Arme um den Leib und begann zu schaukeln. Vor und zurück. Hin und her. Der Wind jagte brüllend über das Gebäude hinweg, doch er hörte die Stimme trotzdem. „Ich bin der Totenfresser. Ich fresse die Sünden meines Volkes. Deine Eltern haben einen fremden Gott und seine Medizin in unser Land gebracht. Darum ist die Blutkrankheit gekommen. Die Alten haben uns Ebola geschickt, um uns zu reinigen.“ Edward duckte sich, als eine Hand ihm über den Kopf strich. Ihre Haut war rauh wie Sandpapier, und die Knochen traten hart und scharf hervor. „Dein Leib ist voller Schmerzen, Kleiner.“ Er konnte nicht anders – er nickte. Er spürte die Schmerzen überall in seinem Körper gleichzeitig. Niemand schien ihm etwas davon abnehmen zu wollen. Wieder berührte der Totenfresser sein Haar. „Dann krieche doch an den Rand. Krieche an den Rand, Kleiner, und deine Schmerzen werden vorbei sein.“ Der Gesang drängte ihn sanft und behutsam; die Trommeln trieben ihn laut und stark.
Er litt. Oh Gott, wie er litt. „Krieche, Kleiner.“ Er wollte nur, daß alles vorbei war, mehr nicht. Er war so müde, so voller Schmerz und Verwirrung, daß er nur noch alles hinter sich haben wollte. „Krieche.“ Er schaukelte zurück auf seine Schenkel, dann vorwärts auf seine Hände und Knie. „So ist es gut, Kleiner. So ist es gut.“ Edward kroch. Durch den Wind und den Donner, durch das grelle Gleißen der Blitze. Langsam, Zoll für Zoll, gegen die bitteren Tränen ankämpfend, die ihm der Schmerz in die Augen trieb. Langsam, die Augen mühsam gegen den Sturm offenhaltend, damit er die tanzenden Lichter nicht aus den Augen verlor, die er draußen in der Dunkelheit sah. Sie waren da draußen, das wußte er – seine Eltern waren da draußen. Und sie warteten auf ihn. Der Totenfresser blieb an seiner Seite. Der Gesang lächelte ihn an, während der Donner ihm zurief, sich zu beeilen, bevor es zu spät war. Er konnte sich nicht schneller bewegen; keines seiner Glieder schien richtig zu funktionieren. Doch er kroch weiter, scheinbar stundenlang, und jetzt spürte er nichts mehr außer dem Wind in seinem Gesicht und dem Trost, den er verhieß. Okay, dachte er; okay, es ist gut. Auf dem Treppenabsatz des neunundsiebzigsten Stockwerks machte Hailey halt, um Atem zu schöpfen. Selbst sein BioAnzug wurde mit seinem Schweiß nicht mehr fertig, und er fühlte sich, als ob er in einer Glasschüssel ertrinken müßte.
Plötzlich gaben seine Beine nach, und er setzte sich hin. Hart. Nach Luft ringend und trocken schluckend. Er bewegte sich erst wieder, als er den Schrei hörte. Eine Mauer lief um den Rand des Daches. Sechzig Zentimeter hoch, breit genug, daß ein erwachsener Mann darauf stehen oder ein kleiner Junge darauf knien konnte. Der kleine Edward erreichte sie mit einem letzten Aufschrei und einem Hechtsprung und klammerte sich daran, um nicht zurückzugleiten. Er langte über die Kante und preßte seine Wange auf die Oberseite der Mauer. Keuchend hob er den Kopf, um darüber hinweg zu spähen. Er lächelte, als er all die Sterne sah, all die schönen bunten Sterne da draußen. Sie warteten nur auf ihn. Die Trommeln steigerten ihr Tempo, trieben ihn an, ermutigten ihn; der Gesang wurde süß und liebevoll, es sei alles in Ordnung, schien er zu sagen, bald würde alles gut sein. Als er sich wieder bewegen konnte, war der Totenfresser an seiner Seite. „Nun krieche in die Dunkelheit, Kleiner.“ Edward zog sich auf die Mauer hoch. „Krieche in die Dunkelheit der Nacht. Flieg in die Sterne, Kleiner.“ Edward begann, vor und zurück zu schaukeln. „Flieg in die Sterne, dann bist du wieder bei deinen Eltern.“ Ja, dachte Edward; ja. Er schloß die Augen. Und lächelte. „In die Sterne, Kleiner. In die Sterne.“ Er kroch. Es spielte keine Rolle, daß er nichts unter seinen Händen spürte. Er würde nicht fallen, er flog schon fast. Dann, mitten aus dem Donner und dem Gesang heraus, hörte er eine Stimme und hielt inne.
Es war seine Mutter: „Edward“, sagte sie, „ich habe für dich gebetet.“ Plötzlich war der ganze Himmel über der Stadt voller knisternder, knatternder Blitze; der Hall des Donners, der darauf antwortete, erschreckte ihn... und die Trommeln und der Gesang und der Totenfresser waren verschwunden. Als es vorbei war, war auch der junge Edward verschwunden, und Marcase fand sich an den Händen vom Dach herabhängend, achtzig Stockwerke über dem Boden. Seine Finger waren aufgeschürft und bluteten, und sie hatten kaum noch Kraft, um ihn zu halten. Erst glitt einer ab, dann noch einer, und seine Füße fanden keinen Halt an der glatten Glaswand des Gebäudes. „Oh Gott“, schrie er. „Hilf mir!“ Als er zu fallen begann, sprang der Totenfresser auf ihn zu, packte ihn an einem Handgelenk und riß ihn mit einer verzweifelten Kraftanstrengung zurück aufs Dach. „Edward“, sagte Michael Hailey und setzte sich keuchend, nach Luft ringend, neben ihn. Marcase hatte keine Kraft mehr, irgend etwas zu tun, geschweige denn zu sprechen. Alles, was er noch fertig brachte, war, einmal dankbar zu nicken, bevor er das Bewußtsein verlor.
9 Daniel Cassian wurde ungeduldig. Doch er konnte das Labor nicht verlassen, solange er nicht sicher wußte, daß Marcase sich wieder erholen würde. Er stand mit Hailey im Behandlungsraum, während Kimberly sich um Edward und den Jungen kümmerte und immer wieder ihre Vitalfunktionen überprüfte. Hailey sprach als erster: „Kommt er wieder auf die Beine?“ Cassian nickte. „Theoretisch müßte das Gegenmittel wirken, aber es wird ein paar Tage dauern, das herauszufinden.“ „Zumindest“, sagte Kimberly, „hat sich ihr Puls wieder gesenkt, und sie atmen normale Luft.“ „Und was wird jetzt aus dem Gebäude?“ wollte Hailey wissen. Cassian wandte sich zum Gehen und sagte: „Im Moment ist ein Spezialteam dort. Ihrer Schätzung nach wird es sechs Jahre dauern, bis es wieder benutzbar ist.“ Niemand fragte ihn, wohin er wollte, und er war froh über diese kleine Gunst. Was er jetzt tun mußte, sollte niemand wissen, nicht einmal sein alter Freund Hailey. Je weniger daran beteiligt waren, desto weniger Köpfe würden rollen, falls er nicht zurückkehrte. Sobald die Dekontaminierung abgeschlossen war, eilte er nach draußen und füllte seine Lungen mit der nächtlichen Stadtluft. Sie war alles andere als vollkommen, aber für den Augenblick besser als nichts. Eine halbe Stunde später trat er durch eine Tür mit der Aufschrift Center For Strategic Health in den Konferenzraum des Komitees. Es gab keine allgemeine Beleuchtung; statt dessen war der Platz jedes Mitglieds an dem langen polierten Tisch in einen kleinen Lichtkreis getaucht.
Heute nacht jedoch saß dort nur ein Mann – der Vorsitzende. Cassian lächelte, als er die verrottete Aktentasche auf die glatte Oberfläche stellte. „Ich dachte mir, Sie würden das hier gerne haben.“ Der Vorsitzende, dessen Gesicht von Schatten verhüllt war, rührte sie nicht an. „Ich nehme an, Sie waren vorsichtig bei der Beseitigung des chemischen Wirkstoffs?“ „Sehr vorsichtig“, versicherte ihm Cassian. „Und die Leiche von Wilson Pride?“ „Die Gebeine wurden gestern in einer privaten Zeremonie beigesetzt.“ Der Vorsitzende nickte. „Dann hat seine Witwe also endlich ihre Genugtuung.“ „Erleichterung wäre ein passenderes Wort.“ Cassian trat näher an den Tisch, doch das Gesicht des anderen Mannes konnte er immer noch nicht ganz deutlich sehen. „Aber wir beide wissen, daß diese Knochen nicht die des wackeren Professors waren.“ Ein scharfer Atemzug verriet ihm, daß er richtig lag. „Wie zur Hölle meinen Sie das?“ Cassian griff kommentarlos nach der Aktentasche und öffnete sie. Aus dem Innern zog er den Schuh, den er aus dem unterirdischen Raum mitgebracht hatte. „Ein interessantes Detail“, sagte er beiläufig, als redete er über das Wetter. „Während des Kalten Krieges waren sowjetische Spione, die sich nur kurz im Land aufhielten, von normalen Amerikanern nicht zu unterscheiden, bis auf ein einziges Kleidungsstück.“ Sein Grinsen sah alles andere als freundlich aus. „Ihre Schuhe. Merkwürdigerweise kamen sie alle aus ein und derselben Fabrik in Osteuropa.“ Er sah hinab. „Derselben Fabrik, in der dieser Schuh hergestellt wurde.“ Der Vorsitzende rutschte unbehaglich auf seinem Sessel hin und her. „Ich verstehe nicht.“
Cassian nahm seine Verwirrung mit einem nachdenklichen Nicken zur Kenntnis. „Ich glaube, daß Dr. Pride einen Handel abgeschlossen hatte, um seinen neuen chemischen Kampfstoff an die Sowjets zu verkaufen. Doch in der Nacht, als die Transaktion vonstatten gehen sollte, ging etwas schief. Er tötete den Abgesandten der sowjetischen Seite. Dann versteckte er in seiner Verzweiflung alles in einem geheimen Tunnelraum und floh.“ Er begann im Raum herumzuschlendern, wohl wissend, daß der Vorsitzende seinen Blick nicht von ihm abwenden konnte. „Dann“, fuhr er fort, „trat er an seine Kontaktleute innerhalb der CIA heran und sagte ihnen, er sei in Gefahr. Wegen des Wertes, den er für unsere Regierung hatte, verschafften sie ihm eine neue Identität – was schon damals eine Kleinigkeit war – und er setzte seine Forschungen fort... und sein Leben.“ Er kratzte sich am Kopf. „Alles war sicher verborgen, bis jemand beschloß, ein Hochhaus zu bauen.“ Der Vorsitzende lachte leise. „Sie sollten überlegen, ob Sie nicht Agentenromane schreiben wollen.“ Cassian ignorierte ihn. Er griff in den Schuh und brachte eine Handvoll kleiner menschlicher Knochen zum Vorschein. „Wir haben nicht alle Knochen begraben, die wir gefunden haben“, sagte er. „Einen Fuß habe ich behalten. Ich könnte jederzeit die DNS analysieren.“ „Und sie womit vergleichen?“ fragte der andere Mann spöttisch. Cassian breitete die Arme aus. „Na, mit Ihrer, Dr. Pride. Ich würde sie mit Ihrer DNS vergleichen.“ Das Schweigen, das nun den Raum erfüllte, brachte Cassian nicht im geringsten aus der Ruhe, doch zu seiner Befriedigung nahm es der Vorsitzende weniger gelassen. Deutlich weniger. Und er machte keine Anstalten, das Schweigen zu brechen. „Sie“, sagte der Vorsitzende schließlich, „sind ein... sehr gefährlicher Mann.“
„Sie können noch nicht einmal ansatzweise ermessen, wie gefährlich“, antwortete Cassian, und seine Stimme wurde stahlhart. „Was wollen Sie von mir?“ „Ah.“ Er tat so, als ob er über die Frage nachdachte, während er sein Gegenüber nicht aus den Augen ließ. „Eine kleine Gefälligkeit. Ihren persönlichen Zugangscode zu der globalen Datenbank, die als ‚The Dawn’ bekannt ist.“ Der Vorsitzende wurde blaß. „Das... das ist unmöglich.“ Cassian nahm die Knochen und den Schuh und stopfte sie zurück in die Aktentasche, die er sich unter den Arm klemmte. „Dies hier ist keine Verhandlung“, sagte er, während er sich zur Tür wandte. „Ich gebe Ihnen bis drei Uhr heute nachmittag Zeit.“ Als er ging, war das Grinsen auf seinem Gesicht echt. Und erleichtert. Einen Moment lang blieb er im Flur stehen und kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe herum. Es dauerte nicht lange. Die Tür war dick und schwer, aber weder schwer noch dick genug, um das Geräusch des Schusses völlig zu verschlucken. Gut, dachte Cassian mit grimmiger Befriedigung; gut. Und er ging davon. Marcase fühlte sich immer noch ein wenig wackelig auf den Beinen, aber es gefiel ihm erheblich besser, hier draußen vor dem Parkhaus in der warmen Sonne zu stehen als in diesem Bett zu liegen. Raf war immer noch dort unten; es würde noch eine Weile dauern, bevor der Junge halbwegs wiederhergestellt war, und danach wer weiß wie lange, bis Cassian ihn davon überzeugt hatte, daß es weder ihn noch irgend jemanden sonst dort unten wirklich gab. Zum eigenen Besten des Jungen.
Ein paar Minuten später gesellte sich Kimberly zu ihm, wieder einmal in ihrer gewohnten Kleidung – einem alten Hemd, bequemen Schuhen und einem Paar abgetragener Jeans. Eine Weile lang sprach keiner von ihnen. Dann: „Hast du neulich abends mit Cassian gesprochen? Nach seiner Besprechung?“ „Ja“, sagte sie und strich sich eine windzerzauste Strähne schwarzen Haars aus der Stirn. „Er sagte, es sei alles glatt gegangen, alle hätten sich für die sogenannten Probleme in dem Hochhaus entschuldigt, und wir könnten sicher sein, daß etwas Derartiges nie wieder geschehen wird.“ Marcase vergrub die Hände in den Taschen und lehnte sich gegen die Wand. „Glaubst du ihm?“ „Keine Sekunde lang.“ Sie grinsten sich an. „So.“ Er kratzte sich an der Schläfe und trat mit dem Fuß nach einem Kieselstein. „Ich habe mich noch gar nicht bei dir bedankt, weißt du. Für alles, was du getan hast.“ „Schon gut.“ „Ich meine“, fuhr er fort, nicht daran gewöhnt, sich so unbeholfen zu fühlen, „du hättest dabei... na ja, du weißt schon, getötet werden können.“ Er starrte seine Schuhe an. „Es war... na ja, danke.“ Sie warf ihm einen Seitenblick zu. „Aber Dr. Marcase, bedeutet Ihnen das denn wirklich etwas?“ „Oh nein“, sagte er rasch. „Aber es wäre unangenehm gewesen, Sie ersetzen zu müssen.“ Sie lachte leise und hätte vielleicht noch etwas gesagt, wenn nicht in diesem Moment Cassian mit dem Lieferwagen des Labors vorgefahren wäre. Er stieg aus und sah die beiden fragend an. Kimberly zuckte die Achseln. Marcase sagte nur: „Wir sprachen gerade darüber, daß wir Ihnen eigentlich nicht trauen, Doktor. Letzte Woche waren eine
Menge Lügen und Halbwahrheiten im Umlauf, und ich glaube nicht, daß wir diejenigen waren, die sie fabriziert haben.“ „Marcase“, warnte Kimberly, wie immer überrascht von seiner impulsiven Angriffslust. „Schon gut“, sagte Cassian zu ihr. Dann verschränkte er die Hände vor sich. „Also, wo sollen wir anfangen, Doktor?“ „Wie wäre es mit The Dawn?“ Cassians Lippen öffneten sich zu einem kaum merklichen Lächeln. „Wissen Sie noch, was ich Ihnen auf Hawaii gesagt habe?“ „Ich weiß, ich weiß. Nichts von dem, was ich Ihnen sage, wird die Wahrheit sein, besonders über einen Haufen Verrückter, größtenteils Mediziner, die die Welt vernichten wollen.“ „Warum fragen Sie dann?“ „Weil ich verdammt nahe dran war, draufzugehen, darum“, fuhr er ihn an. „Und ich möchte gerne wissen, was diese Leute damit zu tun hatten.“ Cassian sagte nichts. Marcase lachte beinahe laut auf. Der Mann war unglaublich. Absolut unglaublich. Und er hatte Nerven – mehr als genug davon, wenn er so dastehen und sich einen Lügner nennen lassen konnte, ohne auch nur mit einer Wimper zu zucken. „Außerdem“, murmelte er, „kann ich ziemlich nerven.“ Cassian blickte zum Himmel auf, sah sich nach hinten auf der Straße um und trat dann näher heran. „Das können Sie, Dr. Marcase. Das können Sie wirklich.“ Marcase setzte das unverschämteste Grinsen auf, das er aufbringen konnte. Ein Lügner und ein Kreuzritter. Volles Vertrauen hatte er immer noch nicht und würde es vielleicht auch niemals haben, aber er konnte nicht leugnen, daß der Mann unter großen Risiken geholfen hatte, sein Leben zu retten.
Ohne irgendeinen Beweis zu erhalten, glaubte er es sogar, als Cassian das Versprechen wiederholte, daß das mysteriöse Komitee ihnen nie wieder Schwierigkeiten machen würde. Er glaubte nur nicht, daß er wissen wollte, wie der Mann das zustande gebracht hatte. „So“, sagte Kimberly und rieb sich die Hände, „kriegen wir zur Abwechslung mal ein paar Tage frei? Marcase braucht Erholung, wie Sie ja wissen, und dieser Junge braucht ständige Überwachung. Das können die anderen Mitarbeiter bewältigen, denke ich. Falls es nicht zu einem regelrechten Notfall kommt, meine ich.“ Sie lächelte einnehmend. „Und wenn es dazu kommen sollte, werden Sie damit ja wohl vorzüglich zurecht kommen.“ „Glauben Sie mir“, sagte Cassian, „ich würde Ihnen beiden gerne die Zeit geben, die Sie verdient haben. Sie haben wunderbare Arbeit geleistet, Kimberly. Ich wünschte wirklich, die Lage wäre anders, und Ihnen würde die entsprechende Anerkennung zuteil werden.“ Marcase konnte es einfach nicht glauben: Erst ein nahezu überschwengliches Kompliment von Cassian; und dann, wenn er seinen Augen schon wieder trauen konnte, schien Kimberley doch tatsächlich rot zu werden,. Doch als er den Mund aufmachte, um etwas zu sagen, brachte sie ihn mit einem Blick zum Schweigen. „Leider“, sagte Cassian, während Hailey aus dem Parkhaus trat, „haben wir ein neues Problem. Ich fürchte, es steht im Zusammenhang mit Mr. Williams da drinnen. Und es ist mehr als nur ein bißchen dringlich.“ „Oh mein Gott“, sagte Kimberly. „Schon wieder Malochrinat?“ „The Dawn“, erriet Marcase grimmig. „Nein“, sagte Cassian zu ihr, und „Höchstwahrscheinlich“ zu ihm. „Also, worum geht es?“ fragte Marcase.
„Das wissen wir noch nicht genau. Vielleicht ist meine Reaktion übertrieben.“ Klar, dachte Marcase; als ob Sie jemals in Ihrem Leben auf irgend etwas übertrieben reagieren würden. Hailey stieg in den Wagen und ließ den Motor an. „Jetzt?“ fragte Marcase. „Wir brechen jetzt auf?“ „Wir müssen“, sage Cassian, während er sich dem Wagen zuwandte. „Wir haben keine Zeit zu verlieren.“ Kimberly folgte ihm ohne Frage, doch Marcase gefiel die Sache nicht, und er blieb zurück. „Wovon reden wir hier eigentlich? Wieder eine Epidemie?“ „Feuer“, sagte Cassian und öffnete die Beifahrertür. „Feuer?“ Cassian zögerte. „Nun... so etwas Ähnliches. Kommen Sie, Doktor, wir vergeuden Zeit. Ich glaube nicht, daß jemand von uns noch mehr Todesfälle zu verantworten haben möchte.“ „Durch Feuer?“ wiederholte Marcase und ging auf die Hintertür des Wagens zu, die Kimberly bereits geöffnet hatte. Er begriff es nicht. Was hatte Feuer mit ansteckenden Krankheiten, Seuchen und Pandemien zu tun? Fünf Minuten später, während sie durch die Stadt zu der High School rasten, auf die Raf Williams ging, starrte er Kimberly ungläubig an und sagte: „Habt ihr den Verstand verloren? Spontane menschliche Selbstentzündung?“ „Denken Sie darüber nach“, befahl Cassian, der vorne neben Hailey saß, über den Lautsprecher. „Denken Sie darüber nach, Doktor. Und denken Sie an das, was The Dawn gerade in diesem Hochhaus losgelassen hat.“ „Ich glaube es einfach nicht“, murmelte Marcase. „Glauben Sie es, Doktor. Glauben Sie es, und halten Sie sich bereit. Wir sind fast da, und das wird keine angenehme Sache.“
10 So, wie die Sache für D-Ray aussah, stand er entweder unter einem Fluch, oder er schlief noch und hatte einen höllischen Alptraum, oder jemand hatte ihm irgendein wirklich übles Zeug ins Mittagessen gemischt. So oder so hatte er das deutliche Gefühl, daß irgend jemand ihn irgendwie drangekriegt hatte. Schlimm genug, daß er diesem Vollidioten Raf zu diesem unheimlichen Hochhaus gefolgt war; schlimm genug, daß Raf dort herausgestürmt war, als wären ihm die Leoparden auf den Fersen, ohne ein Wort, einfach in die Nacht davongerannt, kurz bevor das verdammte Gewitter ausbrach; und schlimm genug, daß das verdammte Gewitter ausgebrochen war, bevor D-Ray sich überlegen konnte, was er als nächstes tun sollte, so daß er bis auf die Haut naß geworden war und sich vermutlich eine Lungenentzündung geholt hatte. Jetzt saß er bei den Bullen. Und war halb wahnsinnig vor Angst. Es machte ihm nichts aus, das zuzugeben, zumindest vor sich selbst. Die Sache war die, daß es nicht die Bullen waren, vor denen er Angst hatte. Das hatte er schon öfter mitgemacht, meistens, weil er schwarz und die Bullen weiß waren, und damit hatte es sich. Doch als der Detective ins Verhörzimmer geschlendert kam, begriff er, daß es weder ein Fluch noch irgendwelcher schlechte Shit in seinem Essen war. Es war ein total abgefahrener Alptraum. Es mußte so sein. Nichts von dem, was ihm seit gestern abend passiert war, konnte real sein.
Der Detective wartete einen Moment, schniefte und sah ihn an. Sah ihn einfach nur an. Er versuchte, irgendwelche Spielchen mit seinem Kopf zu spielen, ihm Druck zu machen. D-Ray ließ sich auf keine Spielchen ein. Wenn man in Alpträumen Spielchen spielte, dann war das der Tod. Oder man verschwand einfach, wie Raf. Der Mann, dessen Gesicht wie häßlicher Brei aussah, trug einen schlecht sitzenden grauen Anzug, seine rote Krawatte war am Kragen gelöst, und die paar Haare, die ihm noch geblieben waren, hatten schon einige Zeit keinen Kamm mehr gesehen. So, als wäre der Kerl die ganze Nacht über auf gewesen und darüber nicht sonderlich begeistert. D-Ray fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen und versuchte, sich seine Gefühle nicht anmerken zu lassen. Er wäre aufgestanden, hätte sich in Pose gestellt und eine Erklärung verlangt, wäre nicht seine rechte Hand in einer metallenen Handschelle gefangen gewesen, die in der Oberfläche des zerkratzten Metalltisches vernietet war. Doch selbst wenn er hätte aufstehen können, glaubte er nicht, daß er in der Lage gewesen wäre, lange zu stehen. Es ging ihm dreckig. Fiebrig. Alles war schmerzhaft überzeichnet: Die Farben waren zu grell, die Geräusche zu laut. Wie wenn man einen Schlag auf den Kopf bekommt und dann alles zu hell erscheint. Cool wäre es gewesen, dem Bullen kontra zu geben, selbst im Sitzen, diesem Kerl zu sagen, daß er nichts zu verbergen hatte, daß er nichts Falsches getan hatte, daß er ihn in Ruhe lassen und nach Hause gehen lassen solle. So etwas war ihm inzwischen zur zweiten Natur geworden, und er hätte es ohne weiteres getan, wenn Raf nicht gewesen wäre, und das, was er heute morgen erlebt hatte.
Detective Houfak nickte ihm zu, griff sich den einzigen anderen Stuhl im Raum und drehte ihn um. Dann setzte er sich D-Ray gegenüber und schniefte wieder. „So“, sagte er mit ausdrucksloser, gleichgültiger Stimme. „Du siehst nicht gut aus, Junge.“ D-Ray wollte ihm nicht die Genugtuung verschaffen. Der Detective zuckte die Achseln und wischte sich etwas, das D-Ray nicht sehen konnte, vom Revers. „Du hast dem Sergeant gesagt, daß du unheimliche Dinge gesehen hättest. Siehst du immer noch unheimliche Dinge?“ Er zündete sich eine Zigarette an. D-Ray hätte beinahe aufgeschrien. Es war nichts Besonderes. Die Schule war aus, das Gebäude leer bis auf ein paar Kids, die noch herumhingen, weil sie nirgends sonst hinzugehen wußten, oder weil sie sich noch mit ihren Clubs trafen oder Sport trieben oder dergleichen. D-Ray machte solche Sachen nicht. Seine Noten waren gar nicht so schlecht, aber wenn es zum letzten Mal klingelte, war er weg und verschwendete bis zum nächsten Morgen keinen Gedanken mehr an die Schule. Doch eine zufällige Begegnung auf dem Flur hatte dazu geführt, daß er noch mit Kevin Mackey in die Turnhalle ging und eine kleine Runde Eins gegen Eins mit ihm spielte. Das scharfe Quietschen ihrer hohen Turnschuhe waren die einzigen Geräusche in dem riesigen, leeren Raum. Anfangs war es ganz okay gewesen. Mackey war gut, gar nicht schlecht, und alles in allem war es ziemlich knapp. Plötzlich hatte Mackey aus der ganzen Sache eine Art blödes Kampfspiel gemacht, was D-Ray überhaupt nicht paßte. Er hatte dem Kerl nichts getan, hatte ihm weder die Frau ausgespannt noch ihn irgendwo verpfiffen oder dergleichen. Ohne ersichtlichen Grund war Mackey mitten im Spiel auf
einmal total hektisch und bösartig geworden, als ob er kaltgemacht würde, wenn er dieses blöde Spiel nicht gewänne. Jede Finte, jeder Sprung, jeder Wurf wurde zu einer Sache auf Leben und Tod, und D-Ray war es bald leid gewesen. Ihm wuchsen sogar schon Beulen auf den Beulen, und Mackey schien alles egal zu sein. So etwas konnte D-Ray jetzt überhaupt nicht gebrauchen; er machte sich immer noch Sorgen um Raf und wollte das Spiel nur hinter sich bringen, auf die Straße hinaus und sich in der Gegend umsehen. Dann hatte Mackey einen Sprungwurf versenkt, war leicht gelandet und hatte den Mund aufgemacht, um etwas zu sagen, ihn zu verhöhnen. Er kam nicht mehr dazu. D-Ray konnte buchstäblich den Schmerz sehen, unter dem sich Mackey plötzlich krümmte, bis er stöhnend auf die Knie fiel, die Unterarme an den Bauch gepreßt. Zuerst hatte D-Ray gedacht, es sei ein Gag, eine Art abgedrehter Verspottung, bis Mackey stöhnte und wimmerte und beinahe auf die Seite fiel. „He, Mann“, sagte er. Er war sich immer noch nicht sicher, wollte aber kein Risiko eingehen. „Bist du krank? Was ist los, Kev, hm, was ist los? Geht’s dir nicht gut?“ Mackey stöhnte nur wieder, und Tränen liefen ihm aus den Augen, als er versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, scheiterte und wieder auf die Knie knallte. Hart. Hin und her gerissen zwischen leichter Panik und starkem Argwohn hatte er Mackeys Sweatshirt gepackt und ihn unbeholfen auf die Beine gehievt, in dem Glauben, der Kerl würde nur eine Schau abziehen. Dann sog er scharf die Luft ein. Auf Mackeys Gesicht, sonst glatt und ohne Linien, brachen überall bösartige, rote Blasen hervor, von denen einige aussahen, als lebte etwas unter ihrer Oberfläche. Sie wanden
und drehten sich wie Würmer. Mackeys Augen waren vor namenlosem Entsetzen weit aufgerissen. „Oh Gott, D-Ray, hilf mir“, stieß er hervor. Das war kein Witz. Hier lief etwas ganz Übles ab, und er hatte keine Ahnung, was er tun sollte; er hörte es kaum, wie mit einem Knall die Tür aufging und einer der Sportlehrer hereinkam. „He“, schrie der Mann. „Was macht ihr Jungs hier? Was ist los?“ In diesem Augenblick fing Mackeys Gesicht Feuer. Eben noch zitterten und pulsierten diese Beulen, als ob da drinnen etwas Lebendiges wäre, das heraus wollte, im nächsten Moment schlugen Flammen aus ihnen hervor, die Mackeys Gesicht vollständig bedeckten und sogar aus seinem offenen, erstarrten Mund kamen. D-Ray war so erschrocken, daß er Mackey von sich gestoßen hatte und rückwärts gestolpert war. Das Schreien des Sportlehrers hatte er nicht gehört, nur Mackeys eigene Schreie, als der Rest seines Körpers in Flammen aufging. Feuer lief an seinen Händen entlang, schoß aus dem Kragen seines T-Shirts, kam aus seinen Hosenbeinen. Aus seinem Mund; aus seinen Augen. Das Schlimmste war, daß Mackey sich nicht bewegte. Er stand einfach nur da. Schreiend. Während das Feuer ihn bei lebendigem Leibe auffraß. D-Ray tat das einzige, was er tun konnte – er rannte. Er stürmte an dem Lehrer vorbei, schob den Mann zur Seite, riß die Türen auf, rannte den leeren Flur entlang bis zum ersten Notausgang, den er fand. Dann war er draußen und rannte weiter. Er spürte nicht die Sonne und nicht den Wind, er hatte überhaupt nichts gespürt, bis er vor ein paar Minuten von einem Streifenwagen aufgegriffen worden war und ein Bulle ihm Handschellen angelegt und ihn hierher gebracht hatte.
Ein Alptraum. Es mußte ein Alptraum sein. Marcase war unzufrieden. Daß er erst vor ein paar Stunden durch das halluzinogene Malochrinat beinahe umgekommen wäre, war für ihn im Moment das geringste Unglück. Er war müde, ihm tat alles weh, er wünschte sich nichts sehnlicher, als eine nette Bar zu finden – oder auch eine miese, egal –, sich ein paar Gläser Bier hinter die Binde zu kippen, nach Hause zu gehen und eine oder zwei Wochen durchzuschlafen. Cassian wollte davon allerdings nichts hören. Kaum hatte er sie wissen lassen, daß sie ihr nächstes Ziel fast erreicht hatten, da wies er Hailey an, einen Umweg zu machen und ihren hiesigen Stützpunkt anzusteuern. Nachdem er ihm und Kimberly befohlen hatte, zu bleiben, wo sie waren, ging er hinein, und Hailey wußte entweder nicht, was los war, oder er sagte es nicht. So oder so besserte sich seine Laune dadurch nicht. Eine Stunde später waren sie wieder auf der Straße, und Marcase mußte sich durch einen dicken Ordner beißen, der so voller komplettem Unsinn war, so voller Science-FictionSchwachsinn, daß er nicht glauben konnte, daß es Cassian damit wirklich ernst war. Er sagte es noch einmal: „Spontane menschliche Selbstentzündung? Haben Sie den Verstand verloren?“ Cassian beachtete ihn nicht; er deutete nur auf die Berichte. Marcase fuhr sich frustriert mit der Hand durch sein dunkles Haar und blickte hilfesuchend zu Kimberly. Doch erwartungsgemäß hatte sie nicht vor, ihm zu helfen. Statt dessen nickte sie ernsthaft zu der Anweisung ihres Teamleiters und begann zu lesen.
„Ihr seid ja beide verrückt“, beklagte sich Marcase und zuckte zusammen, als er seine eigene Stimme hörte – es war schlimmer, als er dachte; jetzt winselte er schon. Er wollte einen Drink, er wollte laute Musik; vor allem wollte er in sein Bett kriechen und sich die Decke über den Kopf ziehen. Allein oder nicht; das war ihm im Augenblick wirklich egal. „Und überhaupt“, fügte er hinzu, „wenn wir es so verdammt eilig haben, warum beeilen wir uns dann nicht?“ „Sie glauben mir nicht“, sagt Cassian schlicht und rückte sich den Knoten seiner bereits makellos sitzenden Krawatte zurecht. „Natürlich nicht. Sie sind der einzige hier, der übergeschnappt ist.“ Cassian schob den Ordner über den Tisch. „Edward, wenn wir diese Sache in den Griff kriegen wollen, ist es wesentlich, daß Sie mir glauben.“ Marcase versuchte, ihn so lange anzustarren, bis er den Blick abwandte, aber es war sinnlos. Cassian hatte die Augen einer Schlange, wenn er wollte. Einer sehr geduldigen Schlange. „Na schön“, sagte er endlich und warf die Hände empor. „Na schön, na schön. Schießen Sie los.“ D-Ray beobachtete, wie sich das Streichholz dem Ende der Zigarette von Detective Houfak näherte. Es erschien unwirklich. Die Flamme war von einem Lichthof umgeben, als ob da zwei Flammen an derselben Stelle brannten. Er fuhr sich wieder mit der Zunge über die Lippen und kniff kurz die Augen zu. Ihm war abwechselnd kalt und heiß. Er konnte nicht aufhören zu zittern. Vermutlich lag es daran, daß ihn letzte Nacht der verdammte Regen erwischt hatte. „Siehst du schon wieder unheimliche Dinge, Drummond?“ „Ja.“ Houfak kratzte sich leicht unter dem rechten Auge, bevor er ihm das Päckchen hinhielt. „Willst du eine?“
D-Ray lehnte sich zurück, weg von dem Päckchen, weg von der angezündeten Zigarette. „Nein. Danke.“ Houfak zuckte die Achseln – ihm war es egal – und stützte die Arme auf die Rückenlehne des Stuhls. Dann stand er auf, drehte den Stuhl herum, summte vor sich hin, setzte sich und kreuzte die Beine. Psychospielchen, Mann, rief sich D-Ray in Erinnerung; er spielt Psychospielchen. „Also“, sagte der Detective, während er einen unvollkommenen Rauchring zur fleckigen Decke emporsandte. „Jetzt verrate mir mal eins, Junge... wie hast du diesen Burschen verbrannt, hm? Irgendein Trick aus dem Chemieunterricht?“ D-Ray traute seinen Ohren nicht. Der Typ dachte tatsächlich, er hätte Kevin abgefackelt. „Ich –“ „Muß wohl der Chemieunterricht gewesen sein, nicht? Du hast das in irgendeinem Buch gelesen. Und da dachtest du dir, das probiere ich mal aus, mal gucken, wie das funktioniert.“ D-Ray beugte sich wütend vor. „Ich habe ihn nicht verbrannt.“ Houfak starrte immer noch zur Decke empor. „Ich meine, es war nichts mehr übrig außer seinen Knöcheln, weißt du?“ Er senkte den Blick. „Habt ihr Jungs euch einen Joint reingezogen?“ Er nickte. „Du hast ihm schlechten Stoff gegeben, was? War es so? Du hast ihm etwas gegeben, das nicht gut für ihn war?“ Er grinste und lachte tonlos. D-Ray sah sich hektisch im Zimmer um und suchte nach dem Ventilator, der diese kalte Luft hereinblies. Er sah keinen. Er sah nichts außer der Tür, den beiden Stühlen und dem Bullen, der den Fußboden als Aschenbecher benutzte. Warum war ihm dann so kalt? Houfak änderte seinen Tonfall; plötzlich war er sein bester Freund, hart, aber fair: „Hör zu, D-Ray, im Grunde interessiert
sich keiner für dich. Deine Familie läßt dich hier einfach verfaulen. Ich bin dein einziger Freund. Die Sache wird erheblich einfacher, wenn du mit mir zusammen und nicht gegen mich arbeitest.“ D-Ray fühlte sich, als ob ihm ein feuchtkaltes Tuch um den Kopf gewickelt worden wäre. Es fiel ihm schwer zu atmen. Die Kälte hatte sich in Hitze verwandelt. Er schluckte schwer. „Kann ich ein Glas Wasser haben? Ich bin so durstig.“ Ganz offensichtlich war es Houfak egal, ob er verdurstete oder nicht, aber er schob den Stuhl zurück und ging zur Tür. Er klopfte einmal, die Tür öffnete sich, und er bat den Uniformierten, der draußen wartete, um etwas Wasser. Es kam fast sofort, als ob es schon bereit gestanden hätte. Die Tür schloß sich. D-Ray war den Tränen nahe. „Hier.“ Houfak stellte das Glas auf den Tisch und sah zu, wie D-Ray gierig trank. „Wenn du ihn nicht verbrannt hast, D-Ray, warum bist du dann weggerannt?“ D-Ray verschluckte sich beinahe darüber, wie dämlich diese Frage war. „Na, hätten Sie das nicht gemacht? Ein Lehrer brüllt Sie an, das zu stoppen, und Sie können es nicht stoppen? Ich hatte Angst, Mann. Ich hatte Angst.“ Er schloß wieder die Augen und holte tief Atem. Dann schüttelte er langsam den Kopf. „Ich habe ihn nicht zum Brennen gebracht. Sie müssen mir glauben, Mann. Ich habe ihn nicht zum Brennen gebracht.“ Houfak hob eine Hand und ließ sie mit der Handfläche nach unten hart auf den Tisch fallen. „Tut mir leid, aber ich glaube dir nicht, Junge. Du hast ihn gehaßt.“ Seine Stimme wurde härter. „Jeder in dieser Schule weiß das. Du bist ein böser Junge gewesen, D-Ray. Der Ärger verfolgt dich wie ein verdammter Schatten.“ Die Winkel seines schmallippigen Mundes verzogen sich zu einem grausamen Lächeln. „Aber jetzt bist du achtzehn, Drummond. Nichts mehr mit Jugendgericht. Wir werden herausfinden, wie du ihn
abgefackelt hast.“ Seine Lippen öffneten sich, und seine Zähne kamen zum Vorschein. „Und dann werden wir dich in den Bau stecken.“ D-Ray konnte nicht reden. Jeder Protest erstarb ihm in der Kehle, jede Beschwörung hätte wie Betteln geklungen. Der Detective stand rasch auf, seufzte laut und öffnete die Tür. Der Uniformierte trat ein. Houfak deutete auf D-Ray. „Der nützt uns nichts, Sergeant. Bringen Sie ihn zurück in seine Zelle.“
11 Marcase blätterte rasch den Ordner durch und überflog die Berichte, die offenbar aus aller Welt gesammelt worden waren. Kopfschüttelnd brummte er vor sich hin, wie unmöglich und lächerlich das alles sei. „Ein Problem, Edward?“ fragte Cassian in fast spöttischem Ton. Marcase knurrte. „Dann darf ich Sie daran erinnern, Doktor, daß wir nicht unbegrenzt Zeit haben. Ich muß Sie wirklich bitten, unserer Aufgabe mehr Aufmerksamkeit zu schenken.“ Marcase konnte es nicht fassen – dem Mann machte das hier tatsächlich Spaß. Aber das ließ ihn nur noch sturer werden. „Hören Sie“, sagte er, hielt inne und räusperte sich. „Hören Sie, ich bin ja bereit, einiges mitzumachen, besonders nach dem, was wir gerade durchgemacht haben, aber –“ „Doktor“, sagte Cassian. „Wenn ich Sie bitten dürfte, ja? Wenn ich Sie bitten dürfte.“ „Bitte Ruhe“, sagte Kimberly gereizt. „Ich versuche zu lesen.“ „Was denn lesen?“ rief Marcase aufgebracht. „Willst du mir erzählen, daß du diese Geschichte auch schluckst? Gott, Kimberly, ich dachte, du wärst –“ Er unterbrach sich. Er starrte die oberste Seite an. „Ja?“ fragte Cassian milde. Marcase winkte ihm brüsk zu schweigen. Also, jetzt, dachte er, während er die Seite sorgfältiger las, jetzt wird die Sache unheimlich.
Es war vermutlich der längste Marsch, den er je in seinem Leben gemacht hatte, aber D-Ray protestierte nicht, konnte sich nicht beschweren. Es hätte ihm auch nichts genützt. Es ging ihm dreckig, aber das war denen egal. Die wollten ihm Mackeys Tod anhängen, egal, was er sagte oder tat, also was spielte das für eine Rolle? Außerdem hatte er keine Kraft mehr zum Kämpfen. Es machte ihm schon Mühe, überhaupt einen Fuß vor den anderen zu setzen, als hätte sich jeder Knochen und jeder Muskel in seinem Körper plötzlich in Blei verwandelt. Er folgte dem unnahbaren Polizisten einen trübe beleuchteten Korridor entlang und durch eine elektronisch verriegelte Tür zurück zu dem schmalen Zellenblock, schlurfend, mit gesenktem Kopf, und schluckte ein gelegentliches Stöhnen hinunter, wenn ihn überraschend ein tiefsitzender Schmerz überfiel. Er spielte sein eigenes Spiel: nicht kämpfen, nicht widersprechen. Früher oder später werden sie merken, daß sie einen Fehler gemacht haben, und dich nach Hause gehen lassen. Das Problem war, daß er wußte, daß das Spiel ein Witz war, aber es war das einzige, das er im Moment spielen konnte. Er sagte nichts, sondern zuckte nur zusammen, als die Zellentür hinter ihm ins Schloß fiel und der Schlüssel herumgedreht wurde. Er sagte nichts, als der Bulle ihm sagte, er solle sich hinlegen und etwas schlafen. Er sagte nichts, obwohl er am liebsten geschrien hätte. Großartig, dachte er verbittert, als die Schritte des Bullen langsam verhallten; das ist einfach... großartig. Die Zelle war spärlich eingerichtet – ein pritschenähnliches Bett, das an der linken Wand verschraubt war, eine Toilette ohne Deckel in der hinteren Ecke, daneben ein Waschbecken.
Die Wände waren so grau, daß sie aussahen wie fester Nebel; das Fenster saß so hoch in der Wand, daß es überflüssig war. Selbst wenn er gewollt hätte, hätte er die Sterne nicht sehen können. Das Schlimmste war, daß der Mann recht hatte. Seine Familie scherte sich keinen Deut um ihn. Und sie würden es auch nicht tun, selbst wenn sie erfuhren, wo er war. Er war allein. Sein einziger echter Freund war Raf, und der war weg. Verschwunden. Zur Hölle, vielleicht war er sogar tot. Das spielte im Augenblick keine Rolle. Er war nicht hier, allein das zählte. D-Ray war auf sich allein gestellt, und in der ganzen Welt da draußen gab es niemanden, von dem er Hilfe erwarten konnte. Er war so sehr damit beschäftigt, seine Tränen wegzublinzeln, daß er gar nicht merkte, daß er nicht der einzige in dem Block war, bis er hörte, wie jemand sich vorsichtig räusperte, als hätte er Angst, D-Ray in seiner Konzentration zu stören. Erschrocken sah er sich um. Er dachte, einer von den Bullen sei zurückgekommen. Aber es war kein Bulle. Hinten in der Ecke der angrenzenden Zelle, neben der Toilette, saß ein Mann in einem Rollstuhl. Seine dünnen Beine steckten in abgetragenen Hosen, die Hände lagen schlaff und offenbar nutzlos in seinem Schoß. „He“, sagte der Mann leise. „Bist du okay?“ D-Ray verdrehte angewidert die Augen und kletterte auf die Pritsche. Die Decke war dünn und rauh, und das Kissen fühlte sich an, als ob es mit Kieselsteinen gefüllt wäre. Wieder die Stimme: „Bist du okay?“ „Nein“, fuhr er ungeduldig auf, „ich bin nicht okay, okay? Was denken Sie denn?“ „Das ist –“
D-Ray kehrte ihm den Rücken zu. „Seien Sie einfach still, ja? Und lassen Sie mich in Ruhe.“ Er rollte sich zitternd zusammen und betete, daß etwas geschehen würde, damit er hier herauskam. Er wußte jetzt, daß das Zittern und die Hitze in ihm mehr waren als nur Furcht – er war krank. Richtig krank. Und niemand scherte sich darum. Er würde sterben. Das wußte er genau. Er würde genau hier in diesem Höllenloch sterben, und alles nur, weil er in einem Alptraum gefangen war. Er ließ die Tränen fließen und trieb langsam in einen unruhigen Dämmerschlaf. In einen Traum, in dem er Mackey in der Turnhalle stehen sah, starr, brennend wie eine Fackel, den Mund zu einem unaufhörlichen, lautlosen Schrei geöffnet, während aus seiner Kleidung Ströme brennender Asche hervordrangen. Hilflos und zu schockiert, um wegzulaufen, zog es D-Ray förmlich zu Mackey hin. Mackeys Augen waren weg, und Flammen füllten die geschwärzten Höhlen. Unter den lodernden Zungen konnte D-Ray die freigelegten Schädelknochen des Jungen sehen. Er konnte das brennende Fleisch riechen. Das hätte er vielleicht noch ertragen können; vielleicht hätte er es ausgehalten, Mackey zu einem Nichts verschrumpeln zu sehen. Vielleicht. Aber etwas brachte seinen Arm dazu, sich zu heben, und etwas brachte seine Finger dazu, sich auszustrecken, und obwohl er mit aller Kraft, die ihm geblieben war, dagegen ankämpfte, konnte er sich nicht davon abhalten – Er berührte Mackeys Wange, nur um zu sehen, ob er wirklich war.
Sobald seine Hand das verkohlte Fleisch berührte, ging sie in Flammen auf. Er schrie. Er schrie wieder, wälzte sich von der Pritsche und rannte zur Tür, packte die Gitterstäbe mit beiden Händen und schrie, jemand solle ihn hier herausholen, er sei krank, er sei am Sterben, merkten sie das denn nicht? Gottverdammt, er brauchte einen Arzt, und zwar jetzt sofort! Niemand antwortete. Er gab auf und rieb sich rauh die Handflächen übers Gesicht, um den Rest des Alptraums zu verscheuchen. Nur daß er tief in seinem Innern wußte, daß der Traum nicht nur ein Alptraum gewesen war; er war ein Omen gewesen, ein Zeichen, eine Warnung, daß auch er bald eine menschliche Fackel sein würde, wenn sich an seiner Situation nicht bald etwas änderte. Der unauffällige Lieferwagen geisterte rasch durch die Straßen der Stadt. Alle paar Straßenzüge berichtete Hailey knapp über ihre Fortkommen, was Cassian stets mit einem schlichten „Gut“ quittierte. Marcase beendete die Zusammenfassung, die ihm ins Auge gefallen war, und hätte aufgehört zu lesen, hätte ihm Kimberly nicht noch eine weitere gereicht. „Ich glaube nicht –“ „Lies es“, sagte sie, ohne von dem Papier aufzublicken, das sie vor sich hatte. „Hör mal –“ „Bitte“, sagte Cassian. „Sie machen die Sache erheblich leichter, wenn Sie einfach aufholen.“ „Zu wem? Zum Hasen oder zum Igel?“ Cassian lächelte. „Er hat Sinn für Humor. Einen seltsamen, aber immerhin.“ „Ja“, sagte Marcase mürrisch. „Ich bin ein richtiger Komiker.“
„Lesen Sie“, befahl Cassian. „Wir haben nicht viel Zeit.“ Marcase, der wußte, daß er überstimmt war, aber nicht aufgeben konnte, ohne es noch einmal zu versuchen, klopfte mit dem Knöchel auf den Ordner. „Dann sagen Sie mir wenigstens eines, o Chef meines Lebens. Hat das hier irgend etwas mit The Dawn zu tun?“ Cassian strich sich mit der Handfläche die Krawatte glatt und starrte einen Punkt direkt über Marcases Kopf an. Selbst Kimberly blickte erwartungsvoll von ihrer Lektüre auf. „Alles“, sagte Cassian schließlich, „hat letzten Endes irgendwie mit The Dawn zu tun.“ „Das ist keine Antwort.“ Cassian deutete auf den Ordner. „Lesen Sie, Doktor. Lesen Sie einfach.“ D-Ray konnte kaum atmen, als er von der Zellentür weg taumelte. Er zog an seiner Hemdbrust, als wollte er einen enger werdenden Gürtel von seinem Herzen wegziehen; er hielt den Mund weit offen, um mehr Luft zu bekommen. Wenn er nicht bald etwas zu trinken bekam, würden seine Eingeweide vertrocknen und zu Staub zerfallen. Es fühlte sich an, als hätte ihm jemand eine Wüste unter die Haut gepflanzt. Eine Wüste unter einer Sonne, heiß wie ein Ofen. Er ging zwei-, dreimal in der Zelle auf und ab, bis seine Beine versagten und er gegen die seitlichen Gitterstäbe fiel. Rasch blinzelnd starrte er ins Leere, bis er langsam den Mann im Rollstuhl vor sich erkannte. Es war nicht viel, aber zumindest war es ein anderes menschliches Wesen. „Oh Mann“, sagte D-Ray voller Angst zu ihm, „sehen Sie mich an, Mann, es geht los.“ Er steckte seinen Arm durch die Gitterstäbe und drängte: „Sehen Sie mich an!“
Seine Hände waren merkwürdig ruhig, und auf dem Handrücken waren leuchtend rote Flecken zu sehen. „Ich sterbe, Mann.“ Er weinte, ohne sich zu schämen. „Oh, Jesus, ich verbrenne.“ „Was immer es ist“, antwortete der Mann ruhig, „Zorn macht es nur schlimmer.“ D-Ray riß die Augen auf. „Woher wissen Sie das?“ „Ich habe dich beobachtet.“ D-Ray blickte verzweifelt zur Tür; so ein Glück konnte auch nur er haben, oder? Er brauchte jemanden, der etwas für ihn tun konnte, der dieses... dieses Ding aus der Welt schaffen konnte, das ihn innerlich erfaßt hatte, und was bekam er statt dessen? Einen Verrückten. „Ich muß Hilfe holen. Ich –“ „Es gibt etwas, das ich für dich tun kann, wenn du willst“, antwortete der Mann mit seiner enervierenden Gelassenheit. „Was?“ fragte D-Ray verzweifelt. „Ich kann beten.“ Erst verbrannte er, und jetzt verlor er auch noch den Verstand. „Beten? Beten?“ Der Mann nickte. Nur einmal. „Also, was zur Hölle soll mir das nützen, Mann?“ Er stieß sich von den Gitterstäben weg und fletschte die Zähne vor Schmerz. Die Versuchung, seinen Kopf gegen die Wand oder die Gitterstäbe zu rammen, war so stark, daß er zu zittern begann. Atme, befahl er sich; atme, D-Ray, atme. Er lachte beinahe. „Oh, das ist großartig, Mann, einfach großartig. Ich sterbe, und neben mir in der Zelle sitzt ein verkrüppelter Spinner, der für mich beten will.“ Er warf sich auf die Pritsche und versuchte, einen Weg zu finden, den Schmerz zu ignorieren. „Junger Mann –“
„He, tun Sie mir einen Gefallen, Mann“, sagte er. „Tun Sie nichts für mich, ja? Okay? Sitzen Sie einfach da in Ihrem verdammten Rollstuhl und... halten Sie den Mund.“ Der Schmerz färbte sein Gesichtsfeld rot. Der Schmerz ließ ihn die Arme um den Leib schlingen und verwandelte seine Tränen in Säure. Der Schmerz machte ihn wahnsinnig. Es mußte so sein. Denn durch den roten Nebel sah er, wie der Typ im Rollstuhl ihn anstarrte, die Hände im Schoß gefaltet. Er starrte ihn an. Dann begann er zu leuchten. Wahnsinnig, Mann, dachte D-Ray; ich bin völlig wahnsinnig. Er sah, wie das Leuchten durch die Gitterstäbe glitt, den Betonfußboden überquerte und sich um ihn legte wie eine Decke aus Wolken. Der Schmerz ließ nach; seine Hysterie wich zurück. Ich bin wahnsinnig war das letzte, was er dachte, bevor er einschlief.
12 Marcase verschränkte die Arme trotzig vor der Brust und lehnte sich zurück, während er sich fragte, ob sein furchtloser Teamleiter nun endgültig nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte. Es war ihm schwer genug gefallen, an die Existenz von The Dawn zu glauben, aber das hier brachte selbst seine zugegebenermaßen riesengroße Vorstellungskraft an ihre Grenzen. Kimberly saß neben ihm, ungerührt, fast steif, während Cassian auf dem Computerbildschirm vor ihnen eine Reihe von Fotos abrief. Er fragte sich, ob Hailey, der den Wagen steuerte, die Präsentation bereits gesehen hatte. Er hatte den deutlichen Verdacht, daß dem so war; er vermutete auch, daß Hailey nicht so skeptisch gewesen war wie er. „Aberdeen, Schottland“, sagte Cassian mit ausdrucksloser Stimme und nickte zu dem Schwarzweißfoto hin, auf dem Asche und Stroh zu sehen waren. „Mr. A. M. wurde in seiner Scheune gefunden. Sein Körper behielt seine Umrisse, bis er berührt wurde, worauf er sich in Asche verwandelte. Das Stroh, auf dem die Überreste gefunden wurden, war nicht einmal versengt.“ Kimberly schüttelte sich, sagte aber nichts. Marcase rutschte auf seinem Sitz hin und her und sagte ebenfalls nichts. Das nächste Bild zeigte einen gewöhnlichen Wohnzimmersessel, unberührt, soweit er erkennen konnte, obwohl ein großer Fleck aus dunkler Asche den Sitz bedeckte. „Drexel Hill, Pennsylvania. Eine Witwe fing auf geheimnisvolle Weise Feuer und verbrannte, ohne das Zimmer oder den Sessel, auf dem sie saß, nennenswert zu beschädigen.“
Marcase verdrehte die Augen. „Ich kann es einfach nicht glauben. Sie geben uns nicht frei, nur um uns Bilder von der Asche irgendeiner Frau zu zeigen?“ Cassian sah ihn nur an, bevor er das nächste Bild zeigte. Ein anderer Schauplatz, diesmal eine Küche. Asche in der Form eines Mannes lag auf dem Boden ausgebreitet. Es war deutlich zu sehen, daß der kahle Holzfußboden und die Kiefernholzschränke direkt daneben nicht angesengt waren; nicht die kleinste Brandspur ließ sich ausmachen. „Dies“, fuhr Cassian fort, „sind nur einige der vielen dokumentierten Fälle dessen, was wir heute spontane menschliche Selbstentzündung nennen. Wir –“ „Dr. Cassian“, sagte Kimberly, „Sie glauben doch nicht wirklich daran, oder?“ Cassian zog eine Augenbraue hoch. „Warum, meine Liebe, glauben Sie denn, daß ich das zur Sprache bringe?“ „Aber es ist unmöglich“, sagte sie. „Unsere Körper bestehen zu achtundsiebzig Prozent aus Flüssigkeit. Genausogut könnte man versuchen, eine Wassermelone von selbst in Flammen aufgehen zu lassen.“ Marcase grinste; endlich eine Verbündete. „Wenn diese Sache nicht irgendeine große Bedeutung für die Zukunft der Menschheit hat“, sagte er, „dann werde ich wirklich sauer.“ Cassian sah sie an, seufzte lautlos und nahm eine große Kiste von der Ablage, die mit einem schwarzen Tuch bedeckt war. In diesem Augenblick fuhr der Wagen durch ein Schlagloch, so daß er sie beinahe fallen ließ. Mit einem finsteren Blick zur Fahrerkabine stellte er die Kiste auf den Tisch und zog das Tuch weg. Oh Junge, dachte Marcase. Die Kiste erwies sich als ein Glasbehälter, in dem sich ein offensichtlich durch Feuer verkohltes Schädelfragment, Asche
und ein Paar knöchelhoher Turnschuhe befanden, aus denen noch Teile der Schienbeinknochen herausragten. „Eine Leihgabe des gerichtsmedizinischen Instituts“, informierte sie Cassian. „Irgendwann heute, an die genaue Zeit erinnere ich mich nicht, ist ein Schüler an der University High School verbrannt, während er mit einem Freund in der Turnhalle Basketball spielte.“ Er schnipste mit einem Finger gegen den Glasbehälter. „Das hier sind seine Überreste.“ „Was?“ sagte Kimberly. Marcase stützte sich gegen die Neigung des Wagens ab, als er um eine Kurve bog, und beugte sich näher heran. Sein Magen verkrampfte sich, als er den Inhalt als eindeutig menschlich erkannte, doch die Sache war so seltsam und unheimlich, daß sich seine Neugier ihr nicht entziehen konnte. „Keine Spuren von Benzin“, erklärte Cassian, „oder Kerosin oder Kohlenwasserstoffen. Trotzdem ist er in weniger als einer Minute von innen nach außen verbrannt.“ Marcase rieb sich die Augen und drehte den Behälter herum, um den Zustand der Knochen besser begutachten zu können. Cassian fügte hinzu: „Ein ganz ähnlicher Fall ereignete sich vor zwei Wochen, keine zwei Meilen von derselben Schule entfernt.“ Als er an den armen Jungen dachte, den sie in der Nacht zuvor aus dem schwarzen Hochhaus gerettet hatten, fragte sich Marcase, ob diese verdammte Schule verhext war. „Irgendwelche Zeugen?“ fragte er. „Beim ersten Fall keine, nein. Es war ein Mann mittleren Alters, der für eine Pharma-Firma arbeitete. Doch bei dem heutigen Fall haben wir einen Jungen namens D-Ray Drummond. Ich habe arrangiert, daß wir mit ihm reden können.“ Behutsam stieß Kimberly mit dem Knöchel gegen den Container. „Ich möchte diese Überreste untersuchen.“
Sie blickte auf, gerade als der Lieferwagen wieder durch ein Schlagloch fuhr. „Meinen Sie, wir könnten ein paar Minuten anhalten?“ „Warum nicht? Mr. Drummond kann uns nicht davonlaufen“, sagte Cassian mit einem Achselzucken und befahl Hailey, bei der nächsten Gelegenheit rechts heranzufahren. Als der Wagen stand, bewaffneten sich Marcase und Shiroma sofort mit Handschuhen und Kitteln. Marcase wollte die Asche; Kimberly übernahm die Knochenfragmente. Für eine gründliche Analyse waren dies zwar keine idealen Bedingungen, aber das störte Marcase nicht. Seinen versprochenen Urlaub hatte er bereits vergessen. Trotz aller Nörgelei interessierte ihn das hier weitaus mehr als Bier und Schnaps. Und es verwirrte ihn. Der Ausdruck auf Cassians Gesicht verriet ihm, daß der Mann genauso wenig an spontane menschliche Selbstentzündung glaubte wie er oder Shiroma. Woraus folgte, daß dies hier irgendwie verursacht worden war. Das Gebäude sah nicht nach mehr aus, als es war – ein moderner Bürobau, mehr aus Glas als aus Stein. Allerdings war es von einem elektrischen Zaun umgeben, und das Wachhaus am einzigen Eingang war fest gebaut, nicht nur eine Baracke; die Männer im Innern waren bewaffnet. Offenbar sollte hier niemand, der nicht hierher gehörte, ohne besondere Einladung eindringen können. Im Inneren des Gebäudes, unterhalb der Straßenhöhe, schritt Leland Melton zielstrebig durch einen gut beleuchteten, kahlen Korridor. Sein Anzug war teuer und maßgeschneidert, sein dichtes, ergrauendes Haar professionell frisiert. Hochgewachsen und muskulös, war er in mehr als einer
Hinsicht ein starker Mann, und seine Haltung verriet jedem, daß er sich dessen sehr wohl bewußt war. Neben ihm wieselte ein kleinerer Mann dahin, der sich unaufhörlich den Schweiß von der Stirn wischte oder sich mit der freien Hand nervös durch sein schütter werdendes dunkles Haar fuhr. „Haben Sie von dem Vorfall in der Schule gehört?“ fragte er leise, wobei er sich verstohlen nach allen Seiten umsah, als hätte er Angst, jemand könnte ihn belauschen. „Es war genauso wie bei dem Assistenten von Wallis vor zwei Wochen. Alles, was übrig blieb, waren die Schuhe und ein bißchen Asche.“ Er wischte sich das Gesicht ab und schüttelte den Kopf. „Das bedeutet, daß sich diese Sache bis in die Stadt ausgebreitet hat.“ Melton lächelte ihn nachsichtig an. „Ken, ich habe Ihnen doch bereits gesagt, daß es nichts gibt, das sich ausbreiten könnte.“ Ken Nomick hörte nicht auf seinen Chef. Er rang die Hände und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Wenn das mit uns in Verbindung gebracht wird, könnte das sehr schlecht für die Firma sein.“ Melton schmunzelte. „Baden Sie nicht so im Pessimismus, Ken. Konzentrieren Sie sich auf das Positive. Haben Sie die Meditationstechniken angewendet, die ich Ihnen beigebracht habe? Offensichtlich nicht.“ „Verdammt, wenn die Presse das in die Finger bekommt, wenn irgend jemand davon hört –“ Meltons Stimme wurde schärfer. „Das wird nicht passieren. Die Firma ist noch nie stärker gewesen. Unsere Aktien stehen gut, nächsten Monat werden drei unserer neuen Präparate zugelassen, und das Vertrauen in unsere Produkte war noch nie größer.“
Nomick beeilte sich, zu seinem Arbeitgeber aufzuschließen, der vor einer Fahrstuhltür aus poliertem Stahl stehengeblieben war. „Aber das sind schon zwei Fälle in zwei Wochen!“ Melton hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Er stellte sich vor den Scanner rechts von der Tür, drückte auf einen Knopf und starrte, ohne zu blinzeln, in das runde Glas in der Mitte des Scanners. Ein Breitstrahl-Laser bedeckte sein linkes Auge, und einen Moment später verkündete ein leiser Glockenton, daß die Abtastung des Auges abgeschlossen und akzeptiert war. Die Tür glitt geräuschlos auf. „Womit wir es hier zu tun haben“, sagte er, während er Nomick hineinschob, „ist ein schrecklicher Zufall, Ken. Nicht mehr als das. Franks Assistent war ein Alkoholiker, der sich selbst in Brand gesetzt hat. Und der heutige Fall könnte durch alles mögliche verursacht worden sein.“ Wieder hob er die Hand, um den Mann zum Schweigen zu bringen, dann drückte er auf den einzigen Knopf an der Wand. Als der Fahrstuhl zu sinken begann, fragte er sich, warum er Nomick überhaupt bei sich behielt. Er ging ihm auf die Nerven. Vielleicht war es an der Zeit, seinen Wert für das Projekt neu zu überdenken. Nomick rückte seine Krawatte zurecht und strich das Revers seines Jacketts glatt. „Nun, die Polizei hat einen Jungen unter Mordverdacht festgenommen.“ Melton lächelte breit. „Sehen Sie, da haben Sie’s. Hört sich an, als ob die zur Abwechslung mal ihre Arbeit machen.“ Die Tür öffnete sich, und er winkte dem kleineren Mann, voraus in den verglasten Beobachtungsraum zu gehen. Sie gingen zur gegenüberliegenden Wand und blickten hinab. „Sie wissen so gut wie ich, daß es kein Mord war“, beharrte Nomick. „Der Junge ist unschuldig.“
„Ich bin sicher“, sagte Melton ausdruckslos, „daß ihm zu gegebener Zeit jede erdenkliche Gelegenheit gegeben werden wird, das zu beweisen. Das nennt man den Lauf des Gesetzes.“ In der Halle unter ihnen bewegten sich mehrere Männer in weißen Schutzanzügen durch den Raum. Aktive Monitore säumten die gegenüberliegende Wand; links befand sich eine Batterie Sauerstofftanks; rechts ein langer Tisch mit Mikroskopen, drei Computern, zwei Autoklaven und mehreren Gestellen mit Reagenzgläsern, die meisten davon gefüllt. Nomick berührte ihn am Arm. „Aber was ist, wenn noch mehr Leute sterben? Ich sage Ihnen, das ist sehr ernst. Wir sollten sofort Vorkehrungen treffen.“ Wieder berührte er den Arm. „Oder wir sollten zur Polizei gehen.“ Melton hatte genug. Er fuhr mit dem Kopf herum und starrte den Mann an. „Ken. Das Thema ist abgeschlossen.“ Nomick trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Melton nickte scharf und wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Aktivitäten unter ihnen zu. Er war sich nicht ganz sicher, was er angesichts all dieser Betriebsamkeit empfand – weniger Sorge als ein distanziertes Interesse. Fast so, als sähe er zu, wie jemand mit einer Nadel einen Schmetterling an die Wand heftete. In der Mitte des Raumes befand sich ein Behandlungstisch, auf dem ein Mann lag, von Kopf bis Fuß in sterile, antibiotikahaltige Binden gehüllt. In eine Vene seines rechten Arms führte ein Infusionsschlauch. An Oberkörper, Schädel und Beinen waren Sensoren befestigt, die mit den Computern verbunden waren. Einer der Männer in den weißen Anzügen entfernte behutsam die Binden vom rechten Arm des Mannes und überprüfte die Infusionskanüle. Nomick schluckte schwer und wandte sich ab. „Wie schafft er es, weiterzuleben?“
Der Arm war geschwärzt und die Haut zusammengeschrumpft. Er sah aus, als hätte man ihn an eine Lötlampe gehalten. Meltons Tonfall enthielt weder Bewunderung noch Sorge: „Frank Wallis ist ein sehr willensstarker Mann, Ken.“ Marcase streifte seine Handschuhe und seinen Kittel ab und steckte sie in einen Abfallbehälter an der Hintertür des Lieferwagens. Was er gerade gesehen hatte, hatte seine leise Beunruhigung zu einem deutlichen Unbehagen gesteigert. „Wißt ihr“, sagte er, „ich könnte jetzt in einer Bar sitzen.“ „Betrunken“, murmelte Kimberly, während sie ebenfalls ihre Handschuhe und ihren Kittel entsorgte. „Ich betrinke mich niemals“, protestierte er. „Ich genieße.“ „Bis du nicht mehr stehen kannst.“ Er stieß leicht ihren Arm an. „Das stimmt nicht. Ich bin ein Mann, wie man so sagt, der seine Grenzen kennt.“ Sie verdrehte ungläubig die Augen, und er grinste. Cassian seufzte melodramatisch. „Sind Sie beide fertig?“ Marcase wandte ihm sein grinsendes Gesicht zu. „Klar. Und jetzt?“ „Irgendwelche Schlußfolgerungen?“ „Zu früh, Daniel.“ Cassian nickte zustimmend. „Gut. Dann los, fahren wir weiter.“ Kimberly deckte den Glasbehälter ab. „Werden wir mit diesem Jungen sprechen? Drummond?“ „Ja.“ „Und wo ist er?“ fragte Marcase. „Zu Hause?“ „Im Gefängnis.“ Marcase blinzelte. „Im Gefängnis? Warum sitzt er im Gefängnis?“ Cassian sah nach vorn in die Fahrerkabine. „Fahren wir, Michael.“ Dann wandte er sich wieder Marcase zu. „Wegen
Mordes, Doktor. Der Junge ist wegen Mordes festgenommen worden.“
13 Marcase hatte keine besondere Vorliebe für Gefängnisse. Er hatte in seinem Leben schon mehrere zu Gesicht bekommen, und trotz kleiner Variationen hier und dort, mancher Extratouren mit Farbe und Dekoration, wirkten sie auf ihn alle gleich: Schritte hallen durch die hohen Korridore und Zellenblöcke; Geflüster erfüllt die Luft, wenn die Gefangenen mit sich selbst oder ihren Zellengenossen reden; hin und wieder ein wütender Aufschrei; hin und wieder ein bitteres Lachen; der Geruch ein Gemisch aus Farbe, Urin, abgestandenem Schweiß und frischer Bodenpolitur; die unvermeidliche Trostlosigkeit, die genauso zu der Umgebung gehört wie die Baracken, die Overalls, die Wachen und das kalte Licht. Marcase ging mit Kimberly durch einen Korridor, der gerade frisch gestrichen oder gereinigt worden sein mußte. Vor ihnen gingen Cassian und Hailey, die wiederum einem übergewichtigen uniformierten Sergeant folgten, der in einer Hand einen Schlüsselring trug. Marcase blickte hinauf zu der Decke voller dick isolierter Rohre in derselben undefinierbaren Farbe wie die Wände und der Fußboden. „Nett hier.“ Kimberly strich sich nervös durch ihr langes schwarzes Haar, sagte aber nichts. In ihrer rechten Hand trug sie eine kleine schwarze Tasche, die sie sich fest vor den Bauch preßte. „Weißt du“, sagte er, während er die kahle Wand anstarrte, „ich könnte mich jetzt entspannen, in –“ „Einer Bar?“ sagte sie säuerlich. „In einem Salon“, korrigierte er. „Einem netten Salon. Leise Musik. Sanfte Beleuchtung. Mit einer schönen Frau.“
„Ich habe wirklich keine Lust, mir deine Phantasien anzuhören“, sagte sie scharf. „Phantasien?“ Er legte sich eine Hand aufs Herz. „Ich? Keine Phantasien, Doktor. Sie wird eine Schönheit sein, keine Frage. Unglaublich lange Beine. Groß. Blond.“ Cassian sah sich grinsend über die Schulter um. „Und dumm wie Bohnenstroh.“ „Hey!“ Kimberly lachte. „Ich bin sicher, das würde Dr. Marcase als einen Vorzug betrachten.“ Als Marcase sie anstarrte, lächelte sie so harmlos, daß er ihr am liebsten eine geknallt hätte. Es war nicht fair. Er wollte doch nur die Stimmung ein wenig auflockern. Dieses Gefängnis jagte ihm Schauer über den Rücken, und je eher sie mit dem fertig waren, was Cassian hier vorhatte, desto besser. Besuche in Gefängnissen entsprachen nicht seiner Vorstellung von einem netten Abend. Sie gingen durch zwei schwere Stahltüren, beide elektronisch kontrolliert, und bogen in einen neuen Korridor ein. Die meisten Zellen in dieser Abteilung waren leer, und die Geräusche ihrer Schuhe auf dem farblosen Linoleumfußboden klangen seltsam gedämpft, unbemerkt von der Handvoll Gestalten, die er hier unter ihren Decken liegen sah. Wir haben nichts mit ihnen zu tun, dachte er; die wissen irgendwie, daß wir nichts mit ihnen zu tun haben. Sie hatten den Gang zur Hälfte durchquert, als der Sergeant stehenblieb und grunzend auf eine Zelle deutete. Cassian nickte und trat zur Seite, während der Mann die Tür öffnete. Marcase bemerkte, daß die Zellen zu beiden Seiten von Drummond leer waren. Keine Gesellschaft für den Jungen. Cassian wechselte einige leise Worte mit dem Sergeant, dann bedeutete er Marcase und Kimberly, vor ihm hineinzugehen. Sie sahen einen jungen Schwarzen, der zusammengerollt auf
der Pritsche lag, die Kleidung zerknittert, das Gesicht eingefallen und glänzend vor Schweiß. Cassian beugte sich über ihn und sagte leise: „Mr. Drummond?“ D-Ray wälzte sich auf den Rücken und blinzelte, als ob er nicht sehr gut sehen konnte. „Mr. Drummond?“ Als er endlich klar sehen konnte, griff sich D-Ray mit zitternder Hand an die Kehle. „Durst“, flüsterte er heiser. „Ich verbrenne, Mann, ich verbrenne.“ Sofort schob Marcase Cassian beiseite und kniete sich neben die Pritsche. Kimberly tat es ihm nach und öffnete ihre Tasche. Als D-Ray zurückscheute, hob Marcase eine Hand und sagte: „Nur ruhig, Junge, schon gut. Wir sind Ärzte. Laß uns dich mal ansehen, okay?“ D-Ray war zu schwach, um Einwände zu erheben, und Marcase prüfte seinen Puls – er raste – und seine Stirn – sie glühte. Ein fiebriges Glänzen in den Augen des Jungen. Ein deutliches Stocken in seinem Atem. Muskeln faszikulierten reflexartig, wenn er mit den Fingern den Bauch und die Unterarme des Jungen berührte. Verdammt, dachte er; was stimmt nicht mit dem armen Kerl? Unter Schmerzen wandte D-Ray den Kopf, blinzelte wieder und sagte: „Dieser Typ –“ Er deutete auf die angrenzende Zelle. „Der Typ im Rollstuhl. Wo ist er hin?“ Der Sergeant, der an der Tür stehengeblieben war, drehte den Schlüsselring in der Hand. „Wer, der da?“ D-Ray konnte nur nicken. Er deutete immer noch hinüber. Der Sergeant kratzte sich unter der Mütze die Kopfhaut. „Komische Sache, weißt du? Er wurde wegen eines Verkehrsverstoßes angehalten, nichts Ernstes, aber als der Beamte seine Identität überprüfte, hatte der Kerl eine Liste von Haftbefehlen am Hals, die eine Meile lang war. Also haben wir ihn hergebracht, wie du ja gesehen hast. Aber als die im Büro
anfingen, die Unterlagen für die Vorführung beim Haftrichter vorzubereiten – Auslieferungsanträge und so –, da war sein Register plötzlich blitzsauber. Einfach so. Irgend ein Computerfehler“, fügte er säuerlich hinzu. „Wir haben ihn vor ungefähr einer Stunde gehen lassen. Warum?“ D-Ray konnte nicht antworten, oder er wollte nicht. Kimberly nahm ein elektronisches Ohrthermometer aus ihrer Tasche und sog scharf die Luft ein, als sie das Ergebnis sah. „Er hat sehr hohe Temperatur“, sagte sie zu Marcase und zeigte ihm das Thermometer; dann blickte sie zu Cassian auf. „Vierzig Grad. Wir müssen ihn hier herausholen.“ D-Ray stöhnte. „Sofort“, bekräftigte sie, während sie aufstand. „Was sagt man denn dazu?“ Marcase kam auf die Beine und sah einen Mann in einem billigen grauen Anzug und roter Krawatte im Eingang stehen. Er spannte sich innerlich; dieser Kerl bedeutete Ärger, wer immer er war. „Soso“, sagte Detective Houfak mit kaum verborgenem Hohn, „Die Bundespolizei ist auf dem Plan.“ Marcases Nackenhaare sträubten sich angesichts der feindseligen Haltung des Mannes, und er ignorierte ihn prompt. Er sah den Sergeant an und sagte: „Würden Sie diesem Mann etwas Wasser holen? Er dehydriert.“ Als der Sergeant sich zum Gehen wandte, fügte er hinzu: „Und dann lassen Sie bitte zwei Ihrer Männer die Trage aus dem Heck unseres Lieferwagens holen. Sie können ihn nicht übersehen, er steht gleich vor dem Eingang.“ Doch Houfak packte den Sergeant am Arm, als er gehen wollte, und schüttelte den Kopf. „Ho, ho, ho.“ Er richtete sich hoch auf und zog die Luft durch die Nase ein. „Was höre ich da von Tragen? Den Kerl hier bringen Sie nirgendwohin, mein Lieber.“
Obwohl Shiroma ihn aufzuhalten versuchte, schob sich Marcase an Cassian vorbei, beugte sich vor und starrte den Detective aus weniger als einem Zoll Abstand ins Gesicht. „Dieser Mann ist schwer krank“, sagte er wütend, „und falls Sie sich nicht wegen fahrlässiger Tötung verantworten wollen, bewegen Sie lieber Ihren Arsch und tun genau das, was ich Ihnen sage.“ Houfak lief rot an. „Wer zur Hölle glauben sie eigentlich, daß Sie sind?“ Marcase hatte mehrere Antworten parat, keine davon höflich, doch Cassian kam ihm zuvor, indem er um ihn herum langte und dem Mann seine offene Brieftasche vors Gesicht hielt. „Das hier sind wir“, sagte er, „und wenn Ihnen das nicht paßt, können Sie sich beim Stabschef im Weißen Haus beschweren.“ Houfak blies empört die Backen auf, doch der Anblick der Legitimation hatte ihm den Wind aus den Segeln genommen. „Und jetzt führen Sie bitte unverzüglich Dr. Marcases Anweisungen aus“, befahl Cassian. Der Mann hatte keine Chance, sein Gesicht zu wahren, und Marcase hatte nicht vor, ihm eine Brücke zu bauen. Houfak prustete noch eine Weile – nur zur Schau –, dann nickte er dem Sergeant zu, er solle die Anweisungen ausführen. „Und beeilen Sie sich“, rief Kimberly, während der Polizist davoneilte. „Wir haben nicht viel Zeit.“ Hailey war froh, daß er sich nicht um den armen Jungen kümmern mußte. Er empfand nicht zum ersten Mal Erleichterung darüber, daß er kein Arzt war. Nachdem sie Drummond in das verborgene Labor unter dem Parkhaus gebracht hatten, hatte Cassian ihn zur Seite genommen und ihm ein paar Anweisungen zugeflüstert. Er hatte genickt, war in seinen Wagen gestiegen und direkt zu Melton Pharmaceutical gefahren, wo er im tiefen Schatten eines Baumes auf der
anderen Straßenseite parkte. Er kurbelte das Seitenfenster herab, um die frische Nachtluft hereinzulassen, und zog einen Laptop aus seiner Hülle unter dem Vordersitz. Da er keine Zeit hatte, hineinzugehen, verließ er sich darauf, daß die Satellitenverbindung ihm liefern würde, was er brauchte – eine dreidimensionale Schemazeichnung des gesamten Gebäudes, mit winzigen roten Punkten, wo Hitzesensoren die Bewegungen der Personen anzeigten, die sich noch im Innern befanden. Um diese Zeit waren nur noch wenige Leute da, die meisten in den Büros. Einer jedoch ging rasch einen Korridor entlang und verharrte vor einem Fahrstuhlschacht. „Sieh mal an“, murmelte Hailey. „Ein Netzhautscanner.“ Er runzelte die Stirn. „Na, was versteckt ihr Jungs denn da unten?“ Der rote Punkt betrat den Fahrstuhl. Der Fahrstuhl fuhr abwärts, aber die Schemazeichnung zeigte nichts Unterirdisches. Hailey stöhnte enttäuscht und wartete eine Weile, ob der rote Punkt zurückkehren würde; dann klappte er mit einem angewiderten Seufzen den Computer zu und ließ den Motor an. Cassian würde sich sicherlich dafür interessieren. Leland Melton betrat den sterilen Raum in seinem weißen Schutzanzug. Ohne den Mann auf dem Bett mehr als eines flüchtigen Blickes zu würdigen, nahm er sich die Akten und blätterte sie durch, wobei er leise vor sich hin summte. Frank Wallis schlug die Augen auf. Melton spürte es und blickte zu ihm hinab. Er hatte diesem Wiesel Nomick gesagt, daß Wallis einen starken Willen habe. So mußte es sein. Es gab auf seiner Haut kaum einen Quadratzentimeter, der nicht verkohlt oder blasig war. Hätte Melton an Wunder geglaubt, dann hätte er hier eines vor sich.
Zumindest eine Zeit lang. „Gibt es neue Fälle?“ fragte Wallis, und seine krächzende Stimme ließ Melton zusammenzucken. „Weitere Tote?“ „Nein, Frank. Ich sagte Ihnen doch, es war ein verrückter Unfall. Irgend etwas im Labor.“ „Ich weiß, was im Labor passiert ist“, antwortete Wallis gereizt. „Ich war dabei, wissen Sie noch? Es hat sich nach draußen ausgebreitet, nicht wahr?“ Er versuchte sich zu bewegen, doch die gepolsterten Riemen und seine eigene Schwäche hinderten ihn daran. „Sie müssen mich hier herausbringen.“ Melton lächelte. „Sie haben so große Schmerzen, daß Sie nicht klar denken können.“ Wallis versuchte zu sprechen, doch es gelang ihm nicht gleich. Seine Augenlider schlossen sich zitternd. „Leland, bitte. Das könnte eine Menge Leute in Mitleidenschaft ziehen. Ich kann ihnen helfen.“ Melton streckte automatisch die Hand aus, um Franks Arm zu berühren, riß sie gerade noch rechtzeitig zurück. „Frank, versuchen Sie, zur Ruhe zu kommen. Sie haben ein ungemein wertvolles Leben geführt. Mit den Arzneimitteln, die Sie erzeugt haben, haben Sie Tausenden geholfen.“ „Ja, und ich habe auch Tausenden geschadet.“ Er schlug die Augen auf. „Wir haben ihnen geschadet. Und einige haben wir getötet.“ Melton schüttelte den Kopf und sprach mit enervierend ruhiger Stimme. „Wie können Sie das sagen, alter Freund? Wie viele Jahre haben wir gekämpft, um Leben zu retten? Sie wissen so gut wie ich, daß wir nicht nur gegen Krankheiten kämpfen mußten, sondern auch gegen Bürokraten.“ Er beugte sich vor. „Sie wissen, wie lange es dauert, eine Zulassung zu bekommen. Menschen sterben, während die Leute bei der Gesundheitsbehörde in ihre Sessel furzen. Es gibt Leute, Frank, die heute nur noch deswegen am Leben sind, weil wir diese
Grenze überschritten haben. Fragen Sie diese Leute, ob wir ihrer Meinung nach richtig oder falsch gehandelt haben.“ Wallis verzog das Gesicht, als ein Zittern ihn von den Schultern bis zu den Beinen durchlief. „Ich weiß, wir hatten die besten Absichten“, stieß er hervor, als der Krampf sich löste. „Aber jedesmal, wenn wir die Grenze überschritten, gingen wir ein bißchen weiter. Und irgendwann, Leland, hörten wir auf, uns Gedanken zu machen.“ Melton richtete sich mit ausdruckslosem Gesicht auf. „Ich sterbe, Leland. Ich will nicht mit noch mehr Blut an meinen Händen sterben. Bitte, lassen Sie uns zur Regierung gehen. Lassen Sie uns die Wahrheit sagen.“ Widerwillig nickte Melton. „Das ist genau das, was ich tun werde – sobald ich weiß, was die Wahrheit ist.“ Wallis beobachtete ihn, ohne zu blinzeln. „Sie müssen mir vertrauen, Frank“, beschwor ihn Melton ernst. „Ich weiß, was für uns alle am besten ist. Und für Sie ist es im Augenblick am besten, hierzubleiben.“ Er ging davon, ohne sich umzusehen, und spürte, wie Wallis’ starrer Blick ihm bis zur Tür folgte. Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, ließ sich Melton gegen die Wand fallen. Was für ein Idiot, dachte er; was für ein verdammter Idiot. Vig Marker wußte nicht, was er machen sollte. Sein Kumpel Raf war nicht in der Schule, D-Ray war angeblich von den Bullen aufgegabelt worden wegen dieser verrückten Sache, die mit Mackey passiert war, und jetzt fing seine Freundin an, sich unheimlich zu benehmen. Sehr unheimlich. Er lehnte sich gegen den Spind neben ihrem und sah zu, wie Keesha vergeblich versuchte, das Zahlenschloß aufzubekommen. Sie war eine tolle Frau, rund und weich an
den richtigen Stellen, lange Haare und ein Gesicht, für das man sterben könnte. Aber heute – „Kommst du klar, Baby?“ fragte er und reichte ihr eine Flasche Wasser, die er aus dem Laden unten an der Ecke hatte mitgehen lassen. „Ich will nicht, daß dir wieder schlecht wird.“ Keesha schraubte den Deckel ab und trank durstig, bis ihr das Wasser am Kinn herabtropfte. Vig schüttelte den Kopf. „Die sagen, daß Mackey verbrannt ist, Mann. Zu nichts als Asche.“ Keesha trank noch einmal; dann goß sie sich etwas auf die Handfläche und rieb es sich auf die Brust, wo ihre Bluse offenstand. Er sah die kleinen roten Flecken dort; sie sahen aus, als ob sie glühten. „Keesha?“ „Durst“, antwortete sie und leerte die Flasche, ohne sie noch einmal abzusetzen. „Irgendwas ist faul“, sagte er. „Oberfaul.“ Sie versuchte zu lächeln, aber sie schaffte es nicht. Dann schwankte sie und preßte sich eine Hand an die Stirn. „Mir ist so komisch, Vig. Gott, mir ist so... komisch.“ Er packte sie, bevor sie fiel, und war verblüfft, wie heiß sich ihre Haut anfühlte. Er spürte es durch ihre Kleidung hindurch. Und jetzt tauchten diese roten Flecken überall auf ihrem Gesicht und auf ihren Händen auf. Er sah sich auf dem Flur nach Hilfe um, doch die wenigen Jugendlichen, die noch nicht im Unterricht waren, waren zu zielstrebig zu ihren Klassenräumen unterwegs, um stehenzubleiben. „Okay“, sagte er, „okay. Hör zu, wir bringen dich zur Schulschwester, ja? Laß uns –“ Sie stieß ihn von sich, so hart, daß er gegen die Spinde prallte und zu Boden glitt. „Nein!“ schrie sie. „Mach, daß das aufhört! Bitte!“
Vig kam wieder auf die Beine und griff nach ihr. „Keesha, nicht.“ Sie schlug seine Hände von sich und taumelte in die Mitte des Korridors. „Nein!“ Vig wollte sie packen, hochheben, auf die Schultern nehmen und mit ihr zur Schulschwester rennen, so schnell er konnte. Aber er konnte nur dort stehen, als die roten Flecken sich zu Blasen aufblähten, während sie schreiend mit den Armen wild über dem Kopf wedelte, die Augen so weit aufgerissen, daß sie fast aus den Höhlen zu springen schienen. „Keesha!“ schrie er. Gleich darauf schrie sie wieder und ging in Flammen auf.
14 Kimberly stieg an Cassians Seite aus dem Lieferwagen, dicht gefolgt von Hailey. Die Schule war schon vor Stunden von den Behörden geräumt worden, doch die meisten der Schüler schienen sich immer noch vor den Toren herumzudrücken und die wenigen überlasteten Streifenpolizisten mit Fragen zu umlagern. Auf der anderen Straßenseite sammelten sich die ersten Übertragungswagen der Nachrichtensender, und die Reporter und Sprecher wurden von der Polizeibarriere auf Abstand gehalten. Fragen aus beiden Lagern erfüllten die Luft wie ein Pfeilhagel, während sie auf den Eingang zueilte. Die Furcht und Sorge in den Gesichtern der Jugendlichen, an denen sie vorbeikam, entging ihr nicht. Sie wünschte, Marcase wäre hier. Er wußte, wie man mit ihnen redete, mit all seiner Unverblümtheit und Rücksichtslosigkeit. Und sie vertrauten ihm. Deshalb hatte er sich bereit erklärt, bei D-Ray im Labor zu bleiben, den Kühltank einzurichten und den verängstigten Jungen zu beruhigen, so gut es ging. Es gab Zeiten, da wünschte sie, auf Patienten so einwirken zu können wie er. Sein Zugang war natürlich, ohne einen Hauch von Schauspielerei. „Hier“, sagte Cassian leise, und nachdem er sich bei der Polizei am Eingang ausgewiesen hatte, führte er sie hinein. Es war ein großes Foyer, mit Vitrinen voller Sporttrophäen zu beiden Seiten, und das Schulwappen war in den Fußboden eingearbeitet. Hier kann man sich leicht verirren, dachte sie, beeindruckt von der Größe; heutzutage bauen sie solche Schulen nicht mehr.
Allerdings ließ sich nicht übersehen, wo der Vorfall stattgefunden hatte. Gleich um die Ecke, wo das Foyer und der Hauptflur T-förmig aufeinanderstießen, war der Bereich um eine Reihe von verschiedenfarbigen Schülerspinden mit gelbem Tatort-Band abgeriegelt. Feuerwehrleute in voller Ausrüstung standen bereit und warteten auf Befehle, während ein Polizeifotograf auf die geknurrten Anweisungen von Detective Houfak hin Aufnahmen machte. Sie erriet, daß der untersetzte, etwas verwirrt aussehende Mann, der neben dem Beamten einhertrippelte, der Gerichtsmediziner war. Nachdem sie sich durch die kleine Menge geschoben hatten, die sich vor dem Band drängte, gingen sie direkt auf den Detective zu, der sie mit einem gequälten Lächeln begrüßte. Cassian nickte. „Sieht aus, als wäre D-Ray Drummond doch kein Mörder.“ Houfak seufzte schwer. „Sieht aus, als hätten Sie recht.“ Er entschuldigte sich nicht; das war auch nicht nötig. Ohne lange auf eine Erlaubnis oder Anweisungen zu warten, setzte Kimberly ihre Arzttasche auf dem Boden ab und kniete sich neben die Überreste eines Mädchens, das, wie sie Houfak sagen hörte, Keesha Merchant geheißen hatte. Sie war kurz davor, sich zu übergeben, und schluckte rasch, um es unten zu halten. Die Asche war noch warm, und sie hatte immer noch die Umrisse des Mädchens, wie es hingefallen war. Es gab keinen wahrnehmbaren Geruch von Benzin oder einer anderen brennbaren Flüssigkeit, nichts deutete auf Sprengstoffe oder Zündmechanismen hin. Es gab nur die Asche. Kraft, betete sie im stillen; gib mir Kraft. Der Anblick insgesamt war schlimm genug, doch das Schlimmste war der geschwärzte, zerfallende Schädel, der in der Asche lag, wo ihr Kopf hätte sein müssen.
Und die Beine, immer noch intakt unterhalb der Knie, die bloße Haut verkohlt und ölig, wo die Jeans nicht daran festklebten. Das Mädchen war genau hier in Flammen aufgegangen, rekonstruierte Kimberly; es war so schnell gegangen, daß sie keine Zeit mehr gehabt hatte, davonzulaufen, ja kaum Zeit, sich überhaupt noch zu bewegen. Sie war in Flammen aufgegangen und gefallen und vermutlich schon tot gewesen, bevor sie auf dem Boden aufkam. Wieder stieg Galle in ihr auf, und sie war dankbar, als sie spürte, wie Cassians feste Hand für einen Augenblick ihre Schulter ergriff. Sie blickte mit einem raschen Lächeln zu ihm auf und bemerkte dabei einen Mann, der etwas abseits stand. Er war etwas kleiner als der Durchschnitt; sein dunkles Haar war kurz und ungekämmt, und sein Anzug sah aus, als hätte er darin geschlafen. Ein Lehrer, vermutete sie, oder jemand aus dem Sekretariat. Offensichtlich verkraftete er den Anblick nur schwer, und sie fragte sich, warum er es auf sich nahm, hierzubleiben. Dem gequälten, aschfahlen Ausdruck auf seinem Gesicht nach war es sicherlich keine morbide Neugier. Jemand räusperte sich ungeduldig, und sie zuckte zusammen, als sie ihren Fauxpas bemerkte. Rasch wandte sie ihre Aufmerksamkeit dem Gerichtsmediziner zu. „Ich bitte um Verzeihung, Sir. Ich bin Dr. Shiroma.“ Sie deutete auf die Asche, während sie ihre Handschuhe überstreifte. „Was haben Sie gefunden?“ Der Mann verzog das Gesicht. „Nichts, was ich gerne glauben möchte.“ Das kann man wohl sagen, dachte sie grimmig, öffnete ihre Tasche und brachte einen kleinen Glasbehälter zum Vorschein, eine Anzahl Fläschchen, Ampullen und anderer Handwerkszeuge ihres Berufs. Mit einer Pinzette begann sie, Proben zu nehmen, wobei sie sich im stillen bei dem Mädchen für die Störung seiner Ruhe entschuldigte.
„Und?“ fragte Cassian leise. Mit einer Zange drehte sie eines der Beine herum, so daß das freiliegende, fast zu säuberlich abgetrennte Ende sichtbar wurde. Sie zwang sich, es als nicht mehr als ein Beweisstück zu betrachten. „Achten Sie auf das Muster der Verbrennungen hier. Und hier. Es ist ein vollkommener Querschnitt. Sehen Sie, wie er vom Knochen zur Haut verläuft?“ Sie hielt inne und setzte sich zurück auf ihre Fersen. „Das Feuer fing im Innern an.“ Der Rechtsmediziner schnaubte. „Das ist verrückt.“ „Es ist genauso wie beim Fall Mackey.“ Cassian stimmte zu. „Verrückt“, beharrte der Rechtsmediziner. Cassian deutete nur auf den Boden. „Wenn Sie eine bessere Erklärung haben, Sir, wären wir mehr als froh, sie zu hören, glauben Sie mir.“ „Irgendeine verrückte elektrische Entladung“, sagte der Mann, ohne zu zögern. „Ein übler Gasunfall.“ Er warf hilflos die Arme in die Luft. „Ich weiß es nicht. Alles, nur nicht das, wonach es aussieht. Leute verbrennen nicht einfach so.“ Kimberly widersprach nicht. Leute verbrannten tatsächlich nicht einfach so. Doch dieses Mädchen war zweifellos verbrannt. Und Kevin Mackey ebenso. Und wenn sie nicht ziemlich bald herausfanden, wie und warum das geschehen war, dann würde es D-Ray Drummond ebenso ergehen. Während der Gerichtsmediziner weiter vor sich hin murmelte, fuhr sie fort, Proben zu nehmen, und runzelte die Stirn, als sie das sanfte Schnurren von Cassians Handy hörte. „Ja“, meldete er sich. „Bitte“, fuhr sie ihn an, ohne nachzudenken. „Ich versuche zu arbeiten.“ Ungerührt bedeckte Cassian mit einer Hand die Sprechmuschel und formte mit den Lippen eine
Entschuldigung. Er entfernte sich ein Stück, und während sie die Hilfe des Gerichtsmediziners in Anspruch nahm, um Keeshas Überreste in den Glasbehälter zu befördern, fragte sie sich unwillkürlich, in was für eine Sache Cassian sie diesmal hineingezogen hatte. Linienflugzeuge und schwarze Hochhäuser. Zumindest kam keine Langeweile auf. Sogleich schalt sie sich dafür, daß sie sich allmählich schon genauso anhörte wie Edward Marcase. „Was ist los?“ fragte Cassian leise, während er Shiroma bei der Arbeit beobachtete. „Ich bin draußen“, sagte Hailey. „Etwas Interessantes gefunden?“ „Sehen Sie sich um. Sehen Sie einen Kerl mit kurzen Haaren und total häßlicher roter Krawatte dort? Sieht aus, als hätte er Verstopfung?“ Cassian musterte unauffällig die kleine Menge, die sich auf der anderen Seite des gelben Bandes gesammelt hatte. Größtenteils waren es Polizisten und Feuerwehrleute, einige schienen Lehrer zu ein, eine Handvoll waren Schüler, die das Gebäude nicht verlassen hatten. Er entdeckte die rote Krawatte. „Ja.“ „Sein Name ist Ken Nomick. Ich habe ihn verfolgt und ein paar Telefongespräche abgehört. Wie es scheint, ist er Leland Meltons neuer Leiter der Forschungsund Entwicklungsabteilung.“ Cassian hob die Augenbrauen. „Sagten Sie ‚neu’?“ „Brandneu“, erwiderte Hailey. „Er ist schon seit Jahren bei der Firma, aber er ist gerade erst befördert worden. Offenbar ist Frank Wallis, der frühere Leiter, vor zwei Wochen verschwunden. Offiziell heißt es, der Mann sei in Urlaub, aber niemand hat ihn gehen sehen. Keiner weiß, wo er steckt.“
Cassian nickte und lächelte dann Detective Houfak freundlich an, der sich offenbar nicht entscheiden konnte, ob er Shiroma anstarren oder versuchen sollte, ihn zu belauschen. Nomick machte abrupt kehrt, als ob er gemerkt hätte, daß er beobachtet wurde. „Er ist gerade gegangen“, sagte Cassian. „Was haben Sie sonst noch?“ Eine kurze Pause, dann: „Melton Pharmaceutical hat einen Fahrstuhlschacht, der so tief in die Erde geht, daß der Satellit nicht sehen kann, was am anderen Ende ist. Auf jeden Fall ist es durch ziemlich weitgehende Sicherheitsmaßnahmen geschützt.“ Cassian nickte, als ob Hailey ihn sehen könnte. „Okay. Ich glaube, es könnte nötig werden, herauszufinden, was da unten ist.“ „Kommt es Ihnen drauf an, wie ich das mache?“ Cassian lächelte vor sich hin. „Lassen Sie sich nur nicht erwischen.“ Er hörte ein Grunzen, daß vielleicht ein Lachen war, kurz bevor Hailey die Verbindung unterbrach. Die Sache wurde interessant. Gerade als er das Telefon in die Jackentasche steckte, kam ein dünner, gehetzt wirkender Mann mit besorgter Miene auf ihn zu. Nachdem er sich als Dan Bubeck, der Schulleiter, vorgestellt hatte, fragte er, ob Cassian und die junge Dame vom CDC seien. Cassian schüttelte den Kopf. „Wir gehören zu einem Einsatzteam der Bundesregierung für biologische Krisen, Sir. Ich bin Dr. Cassian, und dies ist Dr. Shiroma.“ Bubecks Hände zitterten. „Können Sie mir sagen, was hier los ist?“ Kimberly erhob sich, nachdem sie den Glasbehälter in ihrem Koffer verstaut hatte. „Wir wissen es nicht“, antwortete sie offen. „Wir brauchen weitere Informationen, bevor wir sicher
sein können. Mr. Bubeck, können Sie uns die Namen und Adressen aller Schüler dieser Schule geben, egal, ob Halboder Ganztagsschüler?“ Bevor der Direktor antworten konnte, hob sie eine Hand. „Tut mir leid, Sir, aber wir werden Blutproben von ihnen und ihren Eltern brauchen. Von allen.“ Bubeck, froh, etwas tun zu können, sagte: „Okay, sicher. Okay. Gibt es noch etwas?“ Kimberly sah Cassian an, der leicht nickte. „Wie ich höre, hat die Polizei die Augenzeugen in einem Ihrer Klassenräume untergebracht. Ich möchte mit ihnen reden und ihre Blutproben gleich jetzt nehmen.“ „Kein Problem.“ Bubeck deutete den Korridor entlang. „Folgen Sie mir bitte.“ Als Cassian Houfak ansah, zuckte der Detective hilflos die Achseln, als wollte er sagen: Nur zu, Doc, ich weiß hier sowieso nicht weiter. Kann ich Ihnen nicht verdenken, dachte er, während er Kimberly und dem Schulleiter folgte; kann ich Ihnen nicht verdenken. Hailey wußte nicht genau, was eigentlich los war. Das war in seiner Position zwar nichts Ungewöhnliches, aber sein Instinkt sagte ihm, daß der Schlüssel dazu, das Leben dieses Jungen zu retten, irgendwo in den Eingeweiden des Melton-Gebäudes vergraben war. Das Problem war, hineinzukommen, alle Sicherheitsvorkehrungen zu umgehen, den Schlüssel zu finden und wieder herauszukommen. Was er brauchte, war ein bißchen Glück. Er saß in seinem Wagen und beobachtete, wie Nomick in eine kleine Limousine kletterte, die unten in der Nähe der Straßenecke parkte, abseits der Polizeiaktivität vor der Schule. Der Mann beugte sich hinüber und nahm etwas vom Beifahrersitz. Hailey lächelte.
Er griff zum Armaturenbrett und schaltete einen Scanner an, ein von ihm persönlich modifiziertes Gerät, mit dem er HandyGespräche abhören konnte, wie sicher sie auch sein mochten. Dann drehte er langsam an einem Regler, der die wichtigsten Frequenzen abtastete. Er bezweifelte, daß Nomick irgend etwas Ausgefuchsteres benutzte. Er behielt recht. Es dauerte nicht lange, bis er die Stimme des Mannes hörte: „... und es war ein fünfzehnjähriges Mädchen. Nichts mehr übrig außer Asche.“ Er hörte sich atemlos vor Panik an. „Wir müssen etwas tun. Die Sache gleitet uns aus der Hand. Aus der Klinik habe ich alles abgezogen. Die ist sauber. Aber wir müssen uns immer noch Gedanken um die Proben machen, die wir ausgegeben haben.“ „Keine Panik, Ken“, antwortete eine tiefere, ruhigere Stimme. „Das ist irritierend.“ Melton? fragte sich Hailey. Höchstpersönlich? „Hören Sie, Leland! In diesen Fall hat sich ein medizinisches Team der Bundesregierung eingeschaltet. Sie haben die Ermittlungen übernommen.“ Bingo, dachte Hailey, und grinste die Windschutzscheibe an. „Unseren besten Wissenschaftlern ist es nicht gelungen, etwas zu finden. Wieso glauben Sie, daß diese Leute mehr Erfolg haben?“ „Es gibt noch andere Dinge, über die sie stolpern könnten.“ „Das ist nicht sehr wahrscheinlich. Die Regierung hat Monate gebraucht, um der Legionärskrankheit auf die Spur zu kommen, wissen Sie noch? Über diese Sache wird in einer Woche Gras gewachsen sein.“ Es entstand eine lange Pause, die Hailey nach dem anderen Wagen sehen ließ, um sich zu vergewissern, daß Nomick noch da war. „Was...“ Nomick räusperte sich. „Was ist mit Frank?“
„Frank ist wohl kaum in der Lage, irgendwelche Informationen weiterzugeben.“ Wieder eine Pause; dann sagte Nomick: „Ich kann selbst nicht fassen, daß ich das sage, Leland, aber ich hoffe, er stirbt bald.“ Danach legte einer von ihnen auf, und Nomick ließ seinen Wagen an. Hailey warf einen Blick zur Schule hin. Er wußte, daß Cassian sich sehr für das interessieren würde, was er gerade mit angehört hatte. Andererseits sollte er vielleicht zuerst noch weitere Nachforschungen anstellen. Für alle Fälle. Nur, um die Sache noch mehr zu erhärten. Wenn diese Niete noch weiter hier herumhing, konnte er – Plötzlich lenkte Nomick seinen Wagen aus der Parklücke und rollte die Straße entlang. Na gut, dachte Hailey. Er schaltete den Scanner aus, ließ den Motor an, sah in den Rückspiegel und heftete sich an Nomicks Fersen. Große Eile hatte er nicht. Er glaubte zu wissen, wo der kleine Mann hinwollte, und er stellte wohl auch keine Bedrohung dar. Wie er die Sache sah, war Nomick die Schwachstelle in Meltons Plan, wie immer er auch aussehen mochte. Melton selbst allerdings war eine andere Geschichte. Er scherte sich keinen Deut um die sterbenden Jugendlichen, und er scherte sich gewiß auch keinen Deut um diesen Nomick. Er war gefährlich. Äußerst gefährlich. Hailey lehnte sich mit einem langsamen, tiefen Atemzug zurück und preßte die Hand auf seine Brusttasche, um sich zu vergewissern, daß seine Pistole noch da war. Das hier würde nicht so einfach sein, wie er gedacht hatte.
15 Der Raum war ein Rechteck, nicht so lang, daß er einschüchternd, und nicht so schmal, daß er einengend gewirkt hätte. Wände, Decke und Fußboden waren in einem tiefdunklen Blau gehalten, in dem sich weich und klar mehrere Computerbildschirme und Lebensfunktions-Monitore spiegelten, die auf einem tiefen Regal an der rechten Seite aufgereiht standen. Die Beleuchtung war eher ein Glühen, behaglich und warm, aus unsichtbaren Lichtquellen an den Kanten zwischen Wänden und Decke. In der Mitte befand sich eine Reihe rechteckiger Wassertanks, die sich auf kräftigen Metallbeinen über den Boden erhoben. Jeder verfügte an der Basis über farbkodierte Schalter und Digitalanzeigen, die Auskunft über die Temperatur, den Inhalt und die Viskosität des Wassers gaben. Die Apparatur arbeitete völlig geräuschlos. D-Ray Drummond lag in dem ersten Tank, nackt bis auf ein Lendentuch, das außer dem Anstand keinem weiteren Zweck diente. Von kaum sichtbaren Riemen gestützt schwebte er im Wasser, nur Gesicht und Brust durchbrachen die reglose Oberfläche. In jedem Arm steckte ein Infusionsschlauch. Auf seinem Bauch waren dunkle Flecken zu sehen, etwas hellere auf seinen Oberarmen und Wangen. Alles, was er sehen konnte, war die Decke, die sich wie ein sommerlicher Nachthimmel über ihm wölbte. Er erinnerte sich kaum daran, wie er an diesen Ort und in diesen Tank gekommen war, außer, daß sich ein wunderschönes japanisches Gesicht besorgt über ihn gebeugt und eine andere Person, ein Mann, sanft auf ihn eingeredet hatte. Ihn beruhigt hatte. Er hatte ihm keinen Mist erzählt von
Heilungen oder Wundern oder davon, daß die Kavallerie eingetroffen sei; er hatte ihn nur... beruhigt. Es war das erste Mal seit Rafs Verschwinden, daß er klar denken konnte. Er fühlte sich sicher. Er hatte das Gefühl, dieser Alptraum könnte vielleicht – nur vielleicht – bald vorübergehen. Doch immer noch gab es Augenblicke unbeherrschbarer Panik. Irgendwo in seinem Innern – manchmal im Bauch, manchmal in der Brust – spürte er Einschlüsse voller Hitze, die auszubrechen drohten. Jedesmal, wenn das passierte, sah er vor sich, wie Kevin in Flammen aufgegangen war, und er konnte nicht mehr atmen und sich nicht mehr bewegen, bis der Mann wieder auf ihn einredete. Ihn beruhigte. Nur beruhigte. Der Mann war jetzt da, stand in einer Art weißem Raumanzug mit klarem Visier am Fußende des Tanks und studierte eine Kladde mit Papieren. Beim ersten Mal hatte ihn der Anblick erschreckt, bis er das Gesicht in dem Helm erkannt hatte. Jetzt war es nur noch merkwürdig. Ein Zeichen, daß hier etwas absolut nicht stimmte, aber offenbar war es nicht völlig hoffnungslos. „He, Mann“, sagte er. „Ich habe Durst.“ Marcase sah auf und grinste. „Dann dreh den Kopf zur Seite und trink ‘nen Schluck.“ D-Ray lachte zum ersten Mal seit hundert Jahren, wie ihm schien. „Also bin ich wieder in Ordnung, oder was?“ Marcase sah ihn lange an. „Also“, sagte er endlich, „ich will dir ein paar Sachen sagen.“ Kimberly hatte ihre Probenausrüstung auf dem Lehrerpult aufgebaut. Bisher hatte sie ein Dutzend Blutröhrchen beschriftet, und nun wartete sie auf den letzten Augenzeugen.
Bei diesem würde es schwierig werden. Die anderen hatten nicht viel gesehen, aber ihre Geschichten stimmten alle überein. Cassian, der spürte, daß seine Gegenwart etwas einschüchternd wirkte, blieb an der Tür stehen, machte sich auf einem kleinen Block Notizen und sagte kein Wort. „Okay“, sagte sie, als sie das Gefühl hatte, bereit zu sein. Ein gutaussehender junger Mann kam herein, angespannt, die Augen rot und verquollen vom Weinen. Sein Haar war straff zurückgekämmt, wenn auch hier und da ein paar Büschel abstanden, als ob er sich ständig mit seinen Händen darübergefahren hätte. Oder daran gezogen hätte. Sie lächelte und nickte zu dem Stuhl hin, der ihr gegenüberstand. Er zögerte, bevor er sich setzte, doch dann krempelte er auf ihre Anweisung hin seinen Ärmel hoch. Es dauerte nur Sekunden, bis sie den Stauschlauch um seinen Arm geschlungen und eine Vene gefunden hatte. Sie hielt die Nadel empor und lächelte wieder. „Das wird ein bißchen stechen.“ „Lüge.“ Sie zwinkerte. „Wahrscheinlich. Fertig?“ Er nickte und sog scharf die Luft ein, als sie die Kanüle einstach. Das Blut floß rasch in das Röhrchen, und sie bedeckte den Einstich mit einem alkoholgetränkten Tupfer. „Halte deinen Arm hoch und drücke ein bißchen drauf.“ Er gehorchte, während sie den Behälter beschriftete. Dann blickte sie auf und sagte: „Du... du warst Keeshas Freund, nicht wahr?“ Er nickte. „Wie heißt du?“ „Vig“, antwortete er. „Vig Marker.“ Er sah ängstlich zu Cassian hinüber. „Wie lange werden die uns noch hierbehalten? Sind wir krank?“
Kimberly sah die Furcht, die sich in seinem Gesichtsausdruck aufstaute, und wünschte sich wieder einmal, Marcase wäre hier. Das einzige, was sie jetzt tun konnte, war ehrlich sein. „Das wissen wir noch nicht, Vig. Darum nehmen wir die Blutproben.“ Sie lehnte sich zurück und legte eine Hand auf das Lehrerpult. „Hör zu, ich weiß, daß es schwer für dich ist, aber ich muß dir ein paar Fragen stellen.“ Zuerst dachte sie, er würde sich weigern. Wie ein Reh im Scheinwerferkegel war er erstarrt, und jetzt wollte er fliehen. Sich verstecken, bis das alles vorbei war. Dann, nach einem weiteren Blick zu Cassian, nickte er argwöhnisch. „Danke. Erzähl mir, was mit Keesha passiert ist.“ Vigs Augen glänzten, bis er wütend mit den Handrücken darüber wischte. „Sie hat gesagt... sie hat gesagt, daß sie Durst hat und sich so komisch fühlt. Ich habe mir Sorgen gemacht, wissen Sie? Weil sie erst vor ein paar Tagen eine Grippe gehabt hat.“ Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Cassian sich bewegte, aber sie schaute nicht hin. „Und was passierte dann?“ „Ich wollte sie zur Schulschwester bringen. Sie war so heiß.“ Er starrte hilflos auf seine Hände. „Ich meine, sie war richtig heiß. Aber dann fing sie an zu schreien und...“ Er biß sich auf die Unterlippe. „Oh Gott. Was ist mit ihr passiert? Und mit Kevin?“ Mit qualverzerrtem Gesicht sah er sich im Raum um. „Es heißt... ich habe gehört, daß D-Ray auch tot ist. Müssen wir alle sterben?“ Instinktiv streckte Kimberly ihre Hand nach seiner aus und hielt sie auf dem Pult fest, bis seine Panik versiegte. „Zuerst einmal“, sagte sie mit fester Stimme, „ist D-Ray nicht tot, okay? Er ist in einem Krankenhaus, und es geht ihm einigermaßen gut.“ Vig sackte erleichtert in sich zusammen.
Kimberly lächelte ihm verständnisvoll zu, und er lächelte beinahe zurück. „Du sagtest, Keesha hätte eine Grippe gehabt? Was ist mit Kevin?“ „Ja“, antwortete er mit leicht gerunzelter Stirn. „Ja, ich glaube, er hat sie letzte Woche gehabt. Das ging hier herum, wissen Sie? Fast jeder hier hatte sie.“ Dann begann sein Kinn zu zittern, und die Tränen brachen hervor. „Ich verstehe es einfach nicht, Doc. Sie war das Beste, was mir je passiert ist.“ Sie drückte seine Hand, ohne etwas zu sagen. Seine Trauer riß an ihr, als wäre es ihre eigene, und es machte sie wütend, daß sie nichts dagegen tun konnte. Eine Bewegung in der Nähe der Tür ließ sie aufblicken. Cassian hatte seinen Notizblock zugeklappt und starrte zu den Akustik-Kacheln an der Decke empor. Er hat etwas, dachte sie; er hat etwas. Man mußte kein Genie sein; um sich auszurechnen, daß das, was hier vor sich ging, möglicherweise etwas mit der sogenannten Grippe zu tun hatte, von der Vig sagte, daß sie hier umging. Hailey saß hinter dem Steuerrad und trommelte mit den Fingern seiner rechten Hand geistesabwesend auf dem Beifahrersitz. Es war Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Ohne mit Cassian oder den Ärzten gesprochen zu haben, wußte er dennoch, daß die Zeit nicht mehr auf seiner Seite war. Er griff nicht gerne zu drastischen Maßnahmen; dabei blieben immer zu viele Variablen offen. Andererseits war das Leben ein bißchen langweilig, wenn alle Variablen bekannt waren. „Na schön“, flüsterte er, nur um sich selbst reden zu hören. „Na schön, gehen wir.“ Er griff unter den Beifahrersitz und zog einen schwarzen Metallbehälter hervor. Er ließ sich nur öffnen, indem man zwei
Zahlenräder gleichzeitig drehte, und er tat es, ohne groß darauf zu achten. In dem Behälter, eingebettet in Hartgummi, war eine Pistole. Er betrachtete sie, blickte hinüber zum Melton-Gebäude am Ende der Straße, und nickte. Was soll’s; im Augenblick war das so ungefähr die einzige Chance, die er hatte. Marcase stand an D-Rays Schulter, zog eine Augenbraue hoch und fragte den Jungen, ob er seiner Erklärung, welchem Zweck der Wassertank diente, gefolgt sei. Er hatte das Gefühl, vielleicht etwas zu sehr in die technischen Details gegangen zu sein, aber manchmal war es gerade dieser technische Jargon, der die Leute beruhigte. „Dann“, sagte D-Ray nach kurzem Nachdenken, „wird dieser Tank also verhindern, daß ich verbrenne?“ Er mußte nicht noch hinzufügen: wie Kevin? „Nun“, sagte Marcase in leichtem Plauderton, als unterhielten sie sich über Basketball oder Fußball, „das ist nicht einfach nur Wasser. Du schwimmst in der neuesten medizinischen Errungenschaft. Es ist eine Lösung, die dazu dient, Verlust an Körperflüssigkeit und Überhitzung zu verhindern. Ziemlich cool, was?“ D-Ray wich seinem Blick aus. „Aber das Zeug wird nicht verhindern, daß ich sterbe, oder?“ „Das weiß ich nicht“, sagte Marcase ihm aufrichtig. „Aber ich sagte dir was – wir werden tun, was wir können, das verspreche ich dir.“ Er streckte die Hand aus, um den Jungen an der Schulter zu berühren, und zog sie zurück, als er merkte, daß er es nicht durfte. „Wo ist eigentlich deine Familie? Gibt es jemanden, den wir anrufen können?“ Er trat sich im Geist in den eigenen Hintern, als er die Tränen in den Augen des Jungen aufsteigen sah. Gut gemacht, Idiot, dachte er; voll ins Fettnäpfchen.
„Meine Mutter ist vor einem Jahr gestorben“, sagte D-Ray und starrte zur Decke empor. „Mein Vater ist im Gefängnis. Ich habe bei meinem Bruder gewohnt, aber der hat vermutlich noch gar nicht gemerkt, daß ich weg bin.“ Sein nächster Atemzug war eher ein Zittern. „Ich habe meine Mutter sehr geliebt, wissen Sie?“ „Ich weiß, wie das ist.“ Er hob eine Hand zum Schwur, als D-Ray ihn skeptisch ansah. „Wirklich. Meine Eltern sind gestorben, als ich sieben war. Es ist Blödsinn, ich weiß, aber es passiert mir heute noch manchmal, wenn ich Angst habe oder einsam bin, daß ich wütend auf sie werde, weil sie mich allein gelassen haben.“ „Ja, Mann“, sagte D-Ray leise. „Ja. Ich weiß, wie Sie sich fühlen.“ Das wette ich, dachte Marcase und wünschte mehr denn je, er könnte den Jungen berühren, ihm einen tröstenden Klaps auf die Schulter geben. „He“, sagte D-Ray plötzlich, „glauben Sie ans Beten?“ „Auf jeden Fall.“ D-Ray nickte, so gut er konnte. Vor seinem geistigen Auge sah er etwas, das Marcase nicht einmal annähernd erraten konnte. „Ja“, sagte der Junge. „Ich glaube, ich irgendwie auch.“ Dann herrschte Schweigen, und Marcase sah seinen Vater vor sich, wie er am Bett eines seiner Ebola-Patienten gekniet und gebetet hatte, so inständig er konnte, ohne daß es etwas nützte. Dann, wie er an Edwards Bett gebetet hatte, während der Junge vor Schmerzen weinte, als das Virus seinen Organismus zerfraß. Damals hatten die Gebete gewirkt. Vielleicht würden sie es diesmal auch tun. Er zuckte zusammen, als Cassians Stimme flüsternd über die Sprechanlage ertönte. „Dr. Marcase.“
Er nickte D-Ray achselzuckend zu und blickte auf. „Ja. Immer noch hier.“ „Dr. Shiroma und ich sind zurück. Würden Sie bitte zu uns in den Konferenzraum kommen?“ „Bin unterwegs.“ „Was?“ fragte D-Ray hoffnungsvoll. „Keine Ahnung. Der Chef ruft, ich muß gehen.“ „Kommen Sie wieder?“ „Verlaß dich drauf, D-Ray. Mit einem bißchen Glück bringe ich gute Neuigkeiten für dich mit.“ D-Rays Lachen klang für seinen Geschmack etwas zu bitter. Er verließ eilig den Raum, versiegelte die Tür hinter sich und streifte seinen Anzug ab, so schnell er konnte. Dann rannte er den Korridor entlang zum Konferenzraum, stürmte durch die Tür und wollte gerade eine Erklärung verlangen, als er den Ausdruck auf Kimberlys Gesicht sah. Und den Glasbehälter auf dem Tisch. „Oh Mann“, sagte er ernüchtert. „Ich vermute, das ist Fall Nummer drei mit spontaner Selbstentzündung?“ Cassian nickte. „Ein fünfzehnjähriges Mädchen namens Keesha Merchant. Ich habe bereits das CDC mobilisiert. In diesem Augenblick sind sie vermutlich schon dabei, den ungefähr sechzehnhundert Schülern und ihren Familien Blutproben abzunehmen.“ Zu groß, dachte er; das ist zu groß, und es wird zu lange dauern. Kimberly stand auf und trat neben ihn. „Den Augenzeugen habe ich bereits Proben abgenommen.“ Sie hielt ihm etwas entgegen. „Das hier war in Keeshas Handtasche.“ Es war ein Pillenfläschchen, aus bernsteinfarbenem Plastik, nichts Ungewöhnliches daran, soweit er sehen konnte. „Es gibt eine freie Klinik, einen Straßenzug weit von der Schule entfernt“, erklärte sie mit einem seltsam bitteren Unterton. „Offenbar bieten sie dort einen ziemlich
umfassenden Gesundheitsdienst für die Schüler und ihre Familien.“ Sie schüttelte die Flasche. „Angeblich haben sie die Schule letzte Woche auf eine mögliche Grippeepidemie aufmerksam gemacht und diese Pillen verteilt. Kostenlos.“ Marcase runzelte die Stirn, als er die Flasche in die Hand nahm und betrachtete. „He, kein Etikett. Das ist illegal.“ Kimberly nahm die Flasche zurück und spielte mit dem Deckel. „Die Jugendlichen sagen, dieses Zeug würde die Symptome in weniger als einer Stunde beseitigen.“ Marcase grunzte. „Klingt mir nicht nach einem Antibiotikum.“ „Ich weiß.“ Marcase betrachtete die Pillen und sah dann die anderen an. „Soll das heißen...?“ „Keine Ahnung“, antwortete Cassian. „Aber während Kimberly diese Pillen analysiert, werden Sie und ich an dem Blut arbeiten.“ „Kein Problem. Aber wir sollten lieber keine Zeit verlieren.“ Kimberly sah ihn an, eine unausgesprochene Frage im Blick. Er nickte. „Genau. Ich glaube nicht, daß dieser Tank noch sehr lange funktionieren wird.“ „Oh Gott“, sagte sie. „Vielleicht“, sagte er, während er sie nicht sonderlich sanft zur Tür schob. „Aber im Moment, meine Liebe, sind wir die einzigen Leute, die er hat.“
16 Es gab Zeiten, da fragte sich Michael Hailey, wie er es geschafft hatte, von der Marine dahin zu kommen, daß er für einen Mann wie Daniel Cassian arbeitete. Es war ein Riesensprung gewesen, mit nur einigen wenigen kurzzeitigen Zwischenstationen, und entsprechend waren die Möglichkeiten gewachsen, alles zu vermasseln. Das war okay. Er genoß die Herausforderung. Was er jedoch noch mehr genoß, waren die gelegentlichen persönlichen Triumphe, die niemand so zu schätzen wußte wie er. So wie dieser hier zum Beispiel. Nicht zum ersten Mal wünschte er, er hätte eine dieser großartigen kleinen Kameras, an die Cassian herankam, die Sorte, die man sich ans Revers steckte wie eine harmlose Schmucknadel. Es wäre wunderbar gewesen, für alle Zeiten den fassungslosen Ausdruck auf Leland Meltons Gesicht festzuhalten, als er sein Büro betreten hatte, die Tür hinter sich schloß, das Licht anschaltete und Hailey hinter seinem Schreibtisch sitzen sah. Lächelnd. „Hi“, sagte Hailey. Melton erstickte fast. Mit der Linken winkte ihm Hailey freundlich zu; mit der Rechten sorgte er dafür, daß der Mann die Pistole sah, die er auf ihn gerichtet hielt. Melton griff automatisch nach dem Türknauf und erstarrte, als die Pistole wieder in seine Richtung wedelte. Er berührte seinen Hals und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Wer... wer sind Sie?“
Hailey stand langsam auf, ließ seine freie Hand über den Schreibtisch gleiten, wie um ihn zu glätten, und umrundete ihn. Er wollte, daß Melton genau sah, wie groß er war und wie gefährlich er sein konnte. „Sehen Sie diese Pistole?“ Melton konnte seinen Blick nicht davon abwenden. „Damit schießt man keine Kugeln, wissen Sie. Schauen Sie mal: Damit schießt man winzige Kapseln, die die Haut durchdringen und sich im Blutkreislauf des Opfers auflösen. Und das, sehen Sie, setzt ein nicht nachweisbares Neurotoxin frei. Pop! Und Sie sind tot.“ Er schüttelte bewundernd den Kopf über diese Errungenschaften der Wissenschaft des Tötens, während er sich unaufhörlich an dem entsetzten Gesicht des Mannes ergötzte. Niemand hatte je behauptet, daß er keinen Spaß an seiner Arbeit haben dürfe. „Man stirbt übrigens an einer anscheinend natürlichen Ursache“, fuhr er fort. Er musterte Melton. „Bei einem Kerl in Ihrem Alter würde niemand irgendwelche Fragen stellen. Womit wir beim Thema wären.“ Seine Stimme wurde tiefer und härter. „Stellen Sie keine Fragen.“ Schweiß trat auf Meltons Schläfen. Er bewegte sich nicht, bis Hailey ihn an der Schulter packte und herumwirbelte. „Hinaus“, befahl er sanft. Melton öffnete die Tür, und Hailey schob ihn mit leichter Hand hinaus auf den leeren Flur. Dann drehte er ihn nach links und winkte ihm, weiterzugehen. Vorsichtig. Er brauchte ihm nicht erst zu sagen, daß er nicht versuchen sollte, Alarm auszulösen oder zu fliehen; das erledigte die Pistole für ihn, die er ihm in die Lendenwirbel gepreßt hatte. Klugerweise entschied sich Melton dafür, keine Einwände zu erheben und nicht den Helden zu spielen.
Zum Glück kam niemand an ihnen vorbei, und in keinem der Büros, an denen sie vorbeigingen, blickte jemand auf. Es war, als wären sie Gespenster. „Was wollen Sie?“ fragte Melton mit heiserer, gesenkter Stimme. „Geld? Computer? Was immer Sie wollen, nehmen Sie es sich einfach.“ Hailey zog zutiefst beleidigt die Augenbrauen zusammen. „Sehe ich für Sie wie ein Dieb aus?“ Sofort schüttelte der Mann den Kopf, dann nickte er, dann schüttelte er wieder den Kopf. Hailey tat sein Bestes, nicht laut aufzulachen. „Es ist, weil ich schwarz bin, nicht wahr? Sie denken sich, ein Schwarzer mit einer Pistole muß ein Krimineller sein.“ Melton versuchte zu protestieren, doch Hailey drückte ihm wieder den Lauf in den Rücken. „Sind Sie ein Rassist?“ Er konnte nicht anders; er knurrte. „Ich hasse Rassisten.“ „Es tut mir leid“, sagte Melton hastig mit leicht brechender Stimme. „Sehr leid. Ich entschuldige mich.“ Hailey wurde klar, daß der Mann ihn für verrückt oder von Drogen berauscht hielt. Er versteifte seinen ohnehin schon harten Gesichtsausdruck, um nicht zu grinsen. Das würde ihm den ganzen Spaß verderben. Sie erreichten den ersten Quergang, und Melton wandte sich nach rechts. Hailey grunzte und schob ihn nach links. Sollte der Kerl selbst versuchen, darauf zu kommen, woher er wußte, wo es entlang ging. Das würde ihn nur noch mehr verwirren und verunsichern. „So“, sagte er, „wie war noch gleich Ihr Name?“ „Melton.“ Er zuckte zusammen, als Hailey ihn mit der Waffe anstupste. „Dr. Leland Melton.“ Hailey schnaubte verächtlich. „Doktor, was? Na klar. Sie sehen mir nicht wie ein Doktor aus. Ich glaube eher, Sie sind ein Quacksalber.“ Er schlug Melton unsanft mit dem
Pistolenlauf auf die Schulter und drehte ihn zum Fahrstuhl hin. „Aber Quacksalber sind zur Zeit sozusagen mein Hobby. Ich studiere sie. Einer meiner Lieblingsquacksalber ist Dr. Arnold Ehret.“ Melton wollte an dem Fahrstuhl vorbeigehen, doch Hailey lachte und riß ihn zurück. „Ehret. Schon mal von ihm gehört? Das war der mit der Heilung durch schleimfreie Ernährung. Kein Fleisch, keine Milchprodukte, kein Gemüse. Nur Obst. Sollten Sie mal versuchen. Sie sehen aus, als ob Sie ein bißchen weniger Schleim gebrauchen könnten.“ Melton starrte ihn mit offenem Mund an, und sein Gesicht wurde noch blasser, als Hailey ihm die Pistole zwischen die Augen hielt. „Was...?“ „Der Scanner, Doktor“, sagte Hailey und drehte ihn grob herum. „Ich bin nicht dämlich, wissen Sie.“ Er drückte den Lauf hart gegen den Schädel des Mannes, bis sich die Tür öffnete. Melton rührte sich nicht, starr vor Entsetzen, bis er in die Kabine gestoßen wurde, so hart, daß er mit der Schulter gegen die Rückwand prallte und vor Schmerz wimmerte. Hailey brachte ihn mit einem strengen Blick zum Schweigen, drückte auf den einzigen Knopf, zog sich in die Ecke zurück und pfiff leise, während die Kabine hinabsank. Ein kurzer Blick auf den Firmenchef ließ ihn in freudlosem Grinsen die Zähne blecken. Er hatte das deutliche Gefühl, daß dieser Idiot seine Unterhosen würde wechseln müssen, wenn das hier vorbei war. „Hören Sie“, begann Melton, bemüht, sein Gleichgewicht und eine gewisse Beherrschung zurückzugewinnen. „Ich weiß nicht, was das alles soll, aber ich –“
„Wischen Sie sich’s von der Backe, Doc“, fuhr Hailey ihn müde an. „Die Sprüche kenne ich alle, ich kann sie nicht mehr hören.“ Melton wandte sich ab und verschränkte die Hände vor sich, das Kinn starr nach vorn gereckt, und versuchte vergeblich, wenigstens ein bißchen Beherrschung zu zeigen. Als die Tür sich öffnete, lag der Raum dahinter im Dunkeln. Hailey machte eine Kopfbewegung – Sie zuerst. Widerwillig trat Melton aus der Kabine und wartete geduldig, während Hailey sich umsah. Er erkannte die schwachen Umrisse der Instrumente und Labortische, aber sonst nicht viel. Zur Linken befand sich die einzige sichtbare Lichtquelle – ein Fenster in einer polierten Metalltür. „Schön“, sagte Hailey, packte Meltons Arm und führte ihn hinüber. Er spähte durch das Fenster hinab in einen Raum, den er als steriles Labor erkannte. Er sah ein Bett. Auf dem Bett lag ein Mann, teilweise in Bandagen gehüllt, die einmal steril gewesen waren, nun aber fleckig und lose waren. „Sieh einer an“, sagte er mit einem traurigen Kopfschütteln. „Genau der Ort, den ein Mann sich für seinen Urlaub aussuchen würde.“ Er stieß Melton die Pistole in die Seite. „Gehen wir nachsehen, ob er sich auch gut amüsiert.“ Marcase rieb sich die Augen und ließ langsam den Atem ausströmen. Die Proben begannen ihm vor den Augen zu verschwimmen, und er trat für einen Moment von dem Labortisch zurück, um seinen Augen eine Pause zu gönnen. Kimberly war am anderen Ende des Raumes damit beschäftigt, einige Pillen zu Pulver zu zerstoßen, andere in Flüssigkeit aufzulösen und alle in der kurzen verfügbaren Zeit so vielen Tests wie möglich zu unterziehen. Cassian nahm keinen Moment lang seine Augen vom Okular.
Niemand sprach. Die Zeit drängte zu sehr. Ich hätte Schuhverkäufer werden sollen, dachte Marcase, als er an seine Arbeit zurückkehrte; die brauchen nur an die Größe und die Mode und daran zu denken, ob die verdammten Zehen zusammengedrückt werden oder nicht. „Für das hier lebe ich“, murmelte er. „Was?“ fragte Cassian. Er schüttelte nur den Kopf und schob ein neues Glasscheibchen unter die Linse. Plötzlich richtete sich Kimberly mit einem gedämpften Aufschrei auf und sagte: „Raf.“ Marcase zuckte zusammen und stieß beinahe das Mikroskop um. „Was? Wer?“ „Raf Williams“, sagte sie und deutete auf den Eingang zur Rekonvaleszenzabteilung des Labors. „Meinst du...?“ „Scheiße“, murmelte Marcase, während er von dem Tisch zurücktrat. „Verdammt.“ Wie in Gottes Namen hatte er den armen Raf vergessen können? Nachdem er ihn während der letzten vierundzwanzig Stunden durch eine Krise geschleust hatte, glaubte er nicht, daß der Junge in der Lage sein würde, eine weitere durchzuhalten. Insbesondere eine solche nicht. Er machte einen Schritt auf die Tür zu, blieb stehen, sah hilflos zu seinem Mikroskop und sagte schließlich: „Kommt ihr für eine Minute allein klar?“ Kimberly nickte. „Geh nur. Du wirst hier sowieso nichts ausrichten, bis du es herausgefunden hast.“ „Aber keine Plaudereien“, warnte Cassian, als Marcase nach Kimberlys Arzttasche griff und hinauseilte. „Gehen Sie zur Hölle“, fuhr Marcase ihn an. „Danke, Doktor. Ich werde daran denken.“ Marcase achtete nicht auf den Sarkasmus. Er rannte den kurzen Flur entlang und hielt nur kurz inne, um seinen Helm abzureißen, bevor er in den nächsten Raum stürmte.
Im Gegensatz zu den sterilen Behandlungsräumen sah dieses Zimmer eher wie ein gewöhnlicher Rekonvaleszenzraum in einem Krankenhaus aus, nur daß er keine Fenster hatte. Raf Williams lag im Bett, durchsichtige Atemschläuche in beiden Nasenlöchern, und schlief fest, bis die Tür gegen die Wand schlug, als Marcase hereinstürmte. „Wa...?“ sagte er schlaftrunken. „Kein Problem, Raf“, sagte Marcase und wühlte in der Tasche nach der Ausrüstung für die Blutentnahme. „Ich muß nur schnell etwas durchchecken.“ „Oh Mann, nicht schon wieder“, beschwerte sich Raf, als er die Kanüle sah. „Sie machen Witze.“ Dann legte sich sein Gesicht in sorgenvolle Falten. „He. Da ist doch nicht etwa was faul, oder?“ Die Muskeln an seinem Hals spannten sich vor Furcht. „Ich werde doch nicht –“ „Nein“, sagte Marcase barsch. Er bedauerte seinen Tonfall, entschuldigte sich aber nicht dafür. „Ich habe nur vorher etwas vergessen, nur eine Kleinigkeit.“ Er grinste. „Mein Chef versohlt mir den Hintern, wenn ich ihm nicht bis gestern die Ergebnisse bringe.“ „Das haben Sie letztes Mal auch schon gesagt“, brummte der Junge. Marcase lachte. „Hör auf, dich zu beschweren, Junge. Du gehst mir auf die Nerven.“ Raf beäugte zweifelnd die Kanüle. „Und das Ding da mir.“ Marcase grunzte und führte die Nadel ein, ohne auf Rafs theatralisches Stöhnen zu achten. Während er abwartete, bis die Ampulle sich gefüllt hatte, sagte er: „Sag mal... kennst du einen Jungen namens D-Ray? D-Ray Drummond?“ „Ja. Ich kenne ihn.“ „Ist er in Ordnung?“ Raf zuckte die Achseln. „Schätze schon. Aber ziemlich verkorkst, wissen Sie? Die Familie taugt einen Scheißdreck.“ Er zuckte zusammen. „Tut mir leid.“
Marcase zuckte die Achseln, beendete seine Arbeit und steckte sich die Ampulle in die Tasche. „Ich schaue später wieder rein. Sieh zu, daß du noch etwas schläfst, hörst du?“ Er öffnete die Tür und wollte schon zurückrennen, als Rafs Stimme ihn aufhielt: „D-Ray“, sagte er. „Hat er... dasselbe wie ich?“ Marcase sah sich über die Schulter um. „Nein. Überhaupt nicht.“ „Woher kennen sie ihn dann?“ „Eine lange Geschichte, Raf. Vielleicht erzähle ich sie dir später. Oder noch besser, ich lasse D-Ray sie dir selbst erzählen.“ Zu seiner Überraschung schüttelte Raf den Kopf. „Ich glaube nicht, Mann. Ich glaube nicht, daß ich es wissen will.“ Kluger Junge, dachte er, während er zurück zum Labor rannte. Er hoffte nur, daß der Junge lange genug leben würde, um etwas davon zu haben. Raf bewegte sich nicht, nachdem der Arzt ihn verlassen hatte. Er wollte wieder einschlafen, und er wollte wach bleiben. Die scherzhafte Art des Mannes hatte ihn keineswegs getäuscht – irgend etwas war wieder faul, irgend etwas, womit diese Leute nicht gerechnet hatten. Und das würde die Träume zurückbringen. Die Erinnerungen. An den Nebel, der sich über die Stufen ergossen hatte, über den Fußboden; an die Silhouetten der Leoparden, die ihn jagten, auf ihn schossen, auf sein Blut aus waren; an das totale Entsetzen, das er empfunden hatte; daran, wie er sich gewünscht hatte, er könnte einfach sterben und verschwinden. D-Ray. Oh Mann, was hatte der kleine Trottel jetzt schon wieder angestellt?
Er schlug die Augen auf und sah sich um, als ob irgend etwas in diesem Raum ihm die Antwort geben könnte. Verdammt, er hoffte, der Idiot war ihm nicht in das Gebäude gefolgt, nachdem er zurückgerannt war. Seine Lungen arbeiteten schneller; sein Herz begann zu jagen. In der Ecke des Raums bewegte sich ein Schatten. „Nein“, flüsterte er wild. „Nein. Es ist nicht wirklich.“ Der Schatten blieb. „Nein!“ schrie er, und der Schatten verblaßte. Oh Mann, D-Ray, dachte er und zwang sich zur Ruhe, indem er sich immer wieder in Erinnerung rief, daß Dr. Marcase auf seiner Seite war. Wenn er sagte, daß alles in Ordnung war, dann war alles in Ordnung. Wenn er sich nur dazu bringen könnte, es zu glauben. Er kniff die Augen fest zu. Bitte, dachte er und biß sich auf die Unterlippe; ich will das nicht noch einmal durchmachen, okay? Was immer es kostet, ich will das nicht noch einmal durchmachen. Und in der Ecke rührte sich ein Schatten.
17 „Hast du sie?“ fragte Kimberly. Marcase warf ihr einen Blick zu, der was denkst du denn? zu sagen schien, und schob sie zur Seite, um das Blut den Tests zu unterziehen. Sie wollte ihm helfen, doch ein kaum merkliches Kopfschütteln von Cassian hielt sie zurück. Sie hätte es ohnehin besser wissen müssen; wenn Marcase so angespannt war, dann war es unmöglich, die mentalen Barrieren zu durchbrechen, die er aufrichtete, um andere auf Abstand zu halten. Sie erhob nicht den Anspruch, es zu verstehen; sie respektierte es lediglich und wandte sich dem nächsten Glasplättchen zu. Der verschmierte Blutstropfen darauf erinnerte sie an irgendeine obskure Kriegsverwundung. „Dr. Shiroma?“ Sie blickte nicht von dem Okular auf. „Was ist, Dr. Cassian?“ „Ich glaube...“ Er hielt inne. „Ich glaube, das hier sollten Sie sich vielleicht ansehen.“ Hailey schob Leland Melton vor sich her in das sterile Labor und trat an das Fußende des Bettes. Es dauerte einen Moment, bis Frank Wallis die Augen öffnete, dann noch einen, bevor er klar sehen konnte. Zuerst Furcht, dann Verwirrung. Melton zitterte vor gespielter Empörung. „Dieser Mann ist schwer krank“, behauptete er. „Allein durch Ihre Anwesenheit hier ohne sterile Kleidung setzen Sie sein Leben aufs Spiel.“ „Frank Wallis“, fragte Hailey. Wallis nickte. „Wer sind Sie?“
Statt zu antworten, sah Hailey Melton an und sagte: „Wissen Sie was? Sie sind ein lausiger Fremdenführer.“ Bevor Melton protestieren konnte, drückte Hailey ab, und der Mann taumelte mit einem Aufschrei zurück, prallte gegen die Wand und blieb mehrere Sekunden lang reglos stehen. Dann schlossen sich langsam seine Augen und er glitt zu Boden. „Ist er tot?“ fragte Wallis. Hailey steckte die Pistole in seinen Gürtel. „Nö. Er wird nur morgen früh ziemlich üble Kopfschmerzen haben.“ Wallis seufzte schaudernd. „Hören sie... halten Sie mich nicht für undankbar, aber wer sind Sie?“ „Ein Freund. Das ist alles, was Sie wissen müssen.“ Er sah sich in dem Raum um, bevor er sich daranmachte, die Infusionsschläuche und Sonden von Wallis’ Körper zu entfernen. „Bringen wir Sie weg hier.“ Als der Mann frei war, trat er zurück. „Können Sie gehen?“ Mühsam versuchte Wallis, sich aufzusetzen, doch er fiel stöhnend zurück. „Ich glaube nicht.“ Hailey zuckte die Achseln. „Kein Problem. Ich trage Sie.“ Im nächsten Moment wurde ihm klar, daß es doch ein Problem gab. Erstens würde er die Hände nicht frei haben, und zweitens konnte er nicht sicher sein, daß er genauso leicht wieder hinaus gelangen würde wie hinein. Wallis schien seine Gedanken zu lesen. „Ich kenne alle Codes“, sagte er. „Ich kann uns durch den Notausgang herausbringen.“ Hailey grinste. Manchmal fügten sich die Dinge einfach zusammen. Er vergewisserte sich kurz, ob Meltons Herz noch schlug, und dachte daran, daß der Mann vermutlich genauso sauer über den Zustand seines teuren Anzugs sein würde wie darüber, daß sein ehemaliger Partner nicht mehr da war. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, daß die Zeit immer noch zu schnell verging. „Also los.“
Er untersuchte den Mann sorgfältig, ohne ihn zu berühren. Er suchte nach geeigneten Stellen, um ihn zu fassen, wobei er hoffte, daß sein Gesicht nichts von dem Abscheu verriet, den er beim Anblick des armen Kerls empfand. Erst als Wallis heiser zu kichern begann, begriff er, daß es keine geeigneten Stellen gab. Er stellte sich neben das Bett, holte tief Atem und bewegte seine Finger. „Bereit?“ Wallis nickte. „So bereit, wie ich jemals sein werde.“ Hailey raffte sich auf und schob seine Arme unter die Schultern und Hüften des Mannes, erstarrte, als Wallis vor Schmerzen aufstöhnte, und entschloß sich dann, es wie beim Abreißen eines Pflasters zu machen – rasch, ohne daran zu denken, wie sich die Wunde anfühlen würde. Er hob den Wissenschaftler mit einer einzigen, glatten Bewegung auf und ging direkt auf den Ausgang zu. Er war noch keine zwei Schritte weit gekommen, als Wallis gequält aufschrie. Doch als er stehenblieb, schüttelte der Mann heftig den Kopf. „Gehen Sie weiter“, beschwor er ihn. „Ich will nicht hier sterben.“ Marcase trat von dem Tisch zurück und kaute leicht auf der Innenseite seiner Wange herum. Er spürte den Drang, triumphierend eine Faust in die Luft zu stoßen, aber er unterdrückte ihn rasch. Jetzt war nicht die Zeit, um nach guten Neuigkeiten zu suchen, wenn gute Neuigkeiten so verzweifelt rar waren. Die Versuchung war groß, welche zu sehen, wo es keine gab. „Marcase?“ sagte Kimberly fragend. Er bat sie mit einer Handbewegung, zu warten, geduldig zu sein, dann ging er hinüber zu ihrem Arbeitsplatz und untersuchte die frische Probe, die sie auf ihrem Objektträger hatte.
„He“, flüsterte er leise und wandte sich zur Tür. „Dr. Marcase!“ fuhr Cassian auf. „Gleich. Es ist wichtig.“ „Ich glaube, ich muß Sie nicht erst daran erinnern, daß das hier auch wichtig ist.“ „Ich weiß“, sagte er und winkte über die Schulter hinweg ab. „Ich weiß.“ Er wollte nicht rennen, aber er hatte Mühe, seine Schritte zu bändigen. Als er Rafs Tür aufstieß, war er etwas überrascht, den Jungen noch wach vorzufinden. „Probleme?“ fragte er. „Nein. Ja.“ Raf deutete auf die gegenüberliegende Ecke. „Ich sehe dauernd irgendwelches Zeug da drüben.“ „Wie stark?“ „Ich... nicht sehr. Kleine Schatten, wissen Sie?“ „Das ist gut. Kein Grund zur Sorge, das ist nur das Malochrinat, das immer noch in deinem Organismus nachwirkt. Denk nur immer daran, dann macht es dir nichts mehr aus.“ Raf seufzte. „Sie haben leicht reden.“ „Eigentlich nicht“, sagte er grinsend, „aber es ist mein Job.“ Raf lachte und schloß für einen Moment erleichtert die Augen. „Also“, sagte er dann, „was haben Sie herausgefunden?“ „Worüber?“ „Über das Blut, Mann, das Blut. Sie sind ja’n richtiger Dracula, Sie wissen nicht einmal mehr, wenn Sie einem Mann das Blut abgezapft haben.“ Marcase lehnte sich gegen den Türrahmen. „Eine Frage, bevor ich dir antworte – hattest du in letzter Zeit eine Grippe? Ich habe gehört, sie ging in der Schule herum.“ Raf, immer noch leicht benommen von der Behandlung, die er bekommen hatte, wischte sich mit der Hand über den Mund. „Nein. Grippe? Nein. Ein paar Leute haben gemeint, sie hätten
eine, und sind gleich in diese Klinik gerannt, um sich irgendwelche Pillen zu holen.“ Er zuckte mit einer Schulter. „Ich werde nie krank.“ „Dann... dann hast du also keine von den Pillen genommen, die die Klinik ausgegeben hat?“ „Nee. Um die Wahrheit zu sagen, Doc, ich traue den Leuten da nicht. Die verteilen ständig irgendwelche Sachen kostenlos; das ergibt doch keinen Sinn.“ Marcases Erleichterung war so stark, daß er Mühe hatte, nicht zu Boden zu sinken und in Gekicher auszubrechen. „Also, was ist nun mit dem Blut?“ Marcase winkte ab. „Sauber. Süß. Rot.“ „Keine Probleme?“ „Keine. Nada. Rien. Du bist sauber, mein Junge, absolut sauber.“ Raf sah ihn skeptisch an, hakte aber nicht nach. „Wissen Sie“, sagte er sehnsüchtig, „es wäre hier erheblich besser zu ertragen, wenn Sie mir einen Fernseher oder so etwas beschaffen könnten. Eine Stereoanlage. Irgend etwas, das Geräusche macht.“ Marcase ging rückwärts aus dem Zimmer. „Tut mir leid, Sir, das ist definitiv gegen die ärztliche Anweisung. Du brauchst Ruhe, nicht Abrocken auf MTV.“ „Abrocken auf MTV?“ echote Raf. „Was für ‘ne Sprache soll das denn sein?“ „Entspann dich“, befahl Marcase sanft, während er die Tür zuzog. „Schlafe. Ich garantiere dir, daß du bald hier herauskommst.“ „Kreuzen Sie etwa Ihre Finger?“ „Nein“, schwor Marcase. „Nein.“ „Gut.“ Raf begann schläfrig zu werden. „Dann will ich Ihnen mal glauben.“ Marcase starrte mehrere Sekunden lang die Tür an und ließ sich nicht zum Nachdenken kommen. Dies war zwar kein Sieg
in der gegenwärtigen Krise gewesen, aber es fühlte sich an wie einer. Raf war außer Gefahr, und diesen Trost brauchte er jetzt. Er hatte das Gefühl, daß Kimberly vielleicht auch etwas davon gebrauchen konnte. Lächelnd vollführte er ein paar unbeholfene Tanzschritte; er pfiff vor sich hin, als er ins Labor zurückkehrte und Kimberly fröhlich begrüßte, und fühlte sich erfrischt und gestärkt, bereit, diese verdammten Dämonen wieder in Angriff zu nehmen. Cassian machte ein finsteres Gesicht. „Worüber sind Sie so fröhlich?“ fragte Marcase. „Wir haben gerade Nachricht von Michael bekommen.“ Marcase haßte ihn in diesem Moment. Wirklich, er haßte ihn. „Er ist auf dem Weg hierher.“ „Noch ein Opfer?“ „So ähnlich.“ Marcase warf eine Hand empor. „Was zur Hölle soll das nun wieder heißen?“ „Sie werden sehen, Doktor, Sie werden sehen.“ Es war ein Ritt aus der Hölle. Hailey fand keine andere Beschreibung dafür. Wallis stöhnte auf dem Rücksitz unverständlich vor sich hin. Seine Schmerzen wurden noch verstärkt dadurch, daß er sich nicht vollständig ausstrecken konnte. Inzwischen tat Hailey sein Bestes, ihn zu ignorieren, während er durch die Straßen der Stadt raste. Anfangs war er mit mäßiger Geschwindigkeit gefahren, wobei er das Lenkrad so fest umklammerte, daß seine Finger sich zu verkrampfen drohten, und hatte gleichzeitig versucht, scharfe Kurven, Stöße und Schlaglöcher zu vermeiden, doch es schien keine Rolle zu spielen. Wallis ächzte trotzdem vor Schmerzen. Wie behutsam er auch fuhr, nichts schien die Qualen seines Passagiers vermeiden zu können.
Als er dies erkannt hatte, nahm er keine Rücksicht mehr und trat das Gaspedal durch, so oft es der spärliche Verkehr erlaubte. Geschwindigkeit und Glück waren die einzigen Dinge, die ihm jetzt noch helfen konnten. Solange ihn kein übereifriger Verkehrspolizist ausmachte, würden sie das Labor bald erreichen. Falls „bald“ bald genug war. „Halten Sie durch“, rief er über die Schulter zurück. „Nur noch ein paar Minuten.“ Wallis antwortete nicht. In einem kurzen Anflug von Panik verdrehte Michael den Rückspiegel und beobachtete den Wissenschaftler. Keine Bewegung war zu sehen. Kein Laut. Nein, dachte er, als er den Wagen um die letzte Biegung riß, stirb mir jetzt nicht, Mann. Wage es nicht zu sterben.
18 Marcase war frustriert. Nichts von dem, was er und Kimberly unternahmen, schien Wallis im geringsten zu helfen; das Hochgefühl über Rafs knappes Entrinnen war schon verflogen. Jetzt hatten sie noch einen Patienten, der sogar noch schlimmer dran zu sein schien als der Junge. Er hatte so schnell und sorgfältig wie möglich gearbeitet, doch noch während der Mann in die Nährflüssigkeit herabgelassen wurde, vermutete er, daß es zu spät war. Es war mehr als nur der faulige Geruch, der von seiner schrundigen Haut aufstieg, mehr als nur das kaum merkliche, unnatürliche Zittern unter der Haut. Es war etwas in den Augen des Mannes. Resignation; Ergebung; Marcase hatte den gleichen Ausdruck schon einmal gesehen, in der afrikanischen Wildnis. Er hatte ihn in den Augen seiner Mutter gesehen. Hailey stand in der Nähe der Tür zum Tankraum des Laboratoriums, und seine sonst so stoische Fassade war dabei, Risse zu bekommen. Marcase fragte sich, was da draußen geschehen war. „Er hat im Wagen das Bewußtsein verloren“, sagte der schwarze Mann, ohne jemanden direkt anzusprechen. „Ich dachte, ich... vielleicht hätte ich ihn nicht transportieren sollen.“ Cassian schüttelte den Kopf. „Machen Sie sich keine Gedanken darum, Michael. Sie haben die richtige Entscheidung getroffen. Die einzig mögliche Entscheidung.“ „Es war das einzige, was du tun konntest“, stimmte Marcase zu. „Wir sind seine einzige Chance.“ Cassian überprüfte den Tank, in dem Wallis lag, und trat zurück. „Sind die anderen Vorbereitungen abgeschlossen?“
„Alles bereit“, antwortete Hailey. „Schön. Hervorragend.“ Marcase sah zu, wie Hailey auf Cassians Anweisung hin aufbrach. Normalerweise hätte er gefragt, was los sei, aber er hatte das Gefühl, daß er es diesmal nicht wissen wollte. Daniel Cassian war ein Arzt, und ein verdammt guter dazu, aber er hatte noch eine andere Seite, die Marcase auf unerklärliche Weise nervös machte. Auf ein leises Stöhnen hin drehte er sich um und sah, wie Wallis’ Augen sich flatternd öffneten. „Wo bin ich?“ Cassian neigte grüßend den Kopf. „Sie befinden sich in einer staatlichen medizinischen Einrichtung, Dr. Wallis. Sie sind in Sicherheit und in guten Händen. Wie fühlen Sie sich?“ Wallis drehte seinen Kopf, so weit er konnte, blinzelte einmal, als Marcase ihn grüßend anlächelte, dann noch einmal, als er Kimberly sah. Dann gab er ihnen mit einem Seufzen zu verstehen, daß er wußte, daß Cassian gelogen hatte. „Hören Sie zu... wir haben nicht viel Zeit.“ Marcase wollte, daß er schwieg und wartete, bis das Beruhigungsmittel seine volle Wirkung getan hatte. Er sah dem Mann an, daß das, was ihn infiziert hatte, zum Ausbruch kommen würde, vermutlich tödlich, wenn er sich aufregte. Wallis, der sein Gesicht beobachtete, rang sich ein schwaches Lächeln und ein Kopfschütteln ab. Zu spät, sagte die Geste. Marcase brachte es nicht über sich, zu widersprechen. „Es ist so“, sagte Wallis, offensichtlich mit seinen Gefühlen kämpfend. „Unter meiner Aufsicht hat Melton Pharmaceutical ein neues Anti-Viren-Medikament namens Virudex getestet. Alles... geheim. Keine... Zulassung.“ „Wie haben Sie es getestet?“ fragte Marcase und ignorierte Kimberly, die ihn wegen der Unterbrechung stirnrunzelnd ansah.
Wallis schluckte. „Wir... wir haben die High School benutzt.“ Kimberly trat näher heran, die Augen ungläubig geweitet. „Sie... oh, mein Gott.“ Marcase war nicht überrascht; er hatte eine derartige Offenbarung erwartet. „Wir haben an Blutproben der Schüler gearbeitet“, sagte er ohne weitere Erklärung zu Wallis. „Wir haben Antikörper gegen Influenza-Viren gefunden, die es nirgendwo in diesem Land gibt.“ „Wir...“ Wallis verstummte, als eine Schmerzwelle ihn schüttelte und das Wasser um ihn her sanft vibrierte. „Wir schleusten genetisch konstruierte Viren ein und testeten dann Medikamente, um sie wieder zu beseitigen. Durch die freie Klinik.“ „Was?“ Kimberly hob eine Hand, als wollte sie ihn schlagen. „Und Sie sind damit davongekommen, weil es eine arme Wohngegend war, die medizinische Hilfe dringend nötig hatte, richtig?“ Marcase zog ihren Arm zurück. Er spürte ihre Spannung, spürte ihren Drang, um sich zu schlagen – und fühlte mit ihr. Schließlich stieß sie scharf die Luft aus und nickte ihm zu, sie sei in Ordnung, er müsse sich keine Sorgen um sie machen. Trotzdem hielt er sie noch einen Moment lang fest, nur um sicherzugehen. Dann: „Wie hängt das mit den Fällen von menschlicher Selbstentzündung zusammen?“ „Wir veränderten ein Virus... und ließen es frei.“ Der Mann schloß die Augen; er konnte es nicht ertragen, ihre Gesichter zu sehen. „Dann verteilten wir Virudex. Es schien geradezu ein Wunderheilmittel zu sein. Mein Assistent und ich waren mit dem Virus in Berührung gekommen, und deshalb nahmen wir das Medikament selbst ein. Als er... als er starb, war es zu spät.“
Kimberly beugte sich über ihn und wartete, bis er die Augen wieder aufschlug. „Wissen Sie, wie man das aufhalten kann?“ Wallis hätte die Achseln gezuckt, wenn er gekonnt hätte. „Starke Emotionen wie Zorn oder Furcht beschleunigen die Reaktion. Deshalb wurde ich unter Beruhigungsmittel gesetzt.“ Marcase hatte das Gefühl, daß sie Zeit verschwendeten. „Wie wird die Krankheit übertragen?“ fragte er. „Die Firma hat vollständige Aufzeichnungen darüber, wer infiziert wurde und wer wie behandelt wurde. Es könnten bis zu... bis zu fünfundsiebzig Prozent der Schüler sein.“ Marcase spürte, daß er selbst kurz vor einem Wutausbruch war. „Das sind zwölfhundert Schüler und ihre Familien! Sie...“ Er bremste sich und drehte sich um. „Wir müssen diese Akten beschaffen“, sagte er zu Cassian. „Wer leitet die Einsatzgruppe des CDC?“ „Jeffries.“ Marcase kannte den Mann nicht, aber das spielte keine Rolle. In seinem Magen hatte sich ein Eisblock gebildet, und Säure stieg ihm in die Kehle. „Okay. Er wird jeden einliefern müssen, der Virudex genommen hat. Jeden. Und er muß sie unter Beruhigungsmittel setzen. Sofort.“ Cassian zuckte mit keiner Wimper. „Ich kümmere mich darum.“ Klar, dachte Marcase finster; klar, natürlich tun Sie das. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß Wallis und D-Ray es so bequem hatten, wie es unter den gegebenen Umständen möglich war, führte er Kimberly aus dem Raum. „Wir müssen die Tests fortsetzen“, sagte er. „Ich weiß, aber –“ „Kein aber. Dieser Mann kann uns nicht mehr helfen.“ Er lächelte grimmig. „Tut mir leid, Doc, aber wir sind von nun an auf uns allein gestellt.“
Leland Melton war wütend. Alles, wofür er gearbeitet hatte, glitt ihm aus den Händen, und niemand schien in der Lage zu sein, ihm zu helfen. Und er hatte immer noch Reste von dem Zeug in sich, das dieser Schwarze ihm in die Blutbahn gejagt hatte. Frustriert bemerkte er, daß er nicht länger als ein paar Minuten hintereinander klar denken konnte. Er saß hinter seinem Schreibtisch, Ken Nomick neben ihm, und starrte einen Mann an, der in dunklem Anzug militärisch steif in der Tür stand. „Ich bezahle für die besten Sicherheitsmaßnahmen der Welt“, tobte er, „und dann kommt so ein... Gangster... hier herein und bedroht mein Leben!“ Der Mann verzog keine Miene. „Er ist auf keinem der Sicherheitsmonitore aufgetaucht, Sir, und hat keine der Alarmanlagen ausgelöst. Es war ein Profi.“ Melton stand halb auf und knallte die Faust auf den Tisch. „Na, und was zur Hölle sind Sie?“ Er ließ sich müde zurückfallen und schüttelte den Kopf. Das führte alles zu nichts. „Offensichtlich inkompetent. Verschwinden Sie aus meinem Büro.“ Als der Mann gegangen und die Tür zu war, eilte Nomick hinüber, um sich zu vergewissern, daß sie sicher verschlossen war. „Wenn Frank lange genug lebt, um zu reden“, sagte er über seine Schulter hinweg, „wandern wir alle ins Gefängnis. Und wir wissen nicht einmal, wer ihn hier weggebracht hat.“ Melton warf ihm einen finsteren Blick zu – sag mir was, das ich noch nicht weiß, Idiot. Nomick duckte sich und zuckte zusammen, als das Telefon klingelte. Melton dachte nicht lange nach; er packte den Hörer und bellte: „Was wollen Sie?... Wer?“ Er sah Nomick stirnrunzelnd an. „Gut, stellen Sie durch.“ Er drückte auf die Lautsprechertaste, legte den Hörer auf und winkte Nomick, zu schweigen.
„Dr. Leland Melton?“ Die Stimme klang klar und fest. Beherrscht. „Ja“, bellte Melton. „Wer ist da?“ „Ich habe etwas, das für Sie von großem Wert ist. Einen alten Freund, der schwer krank ist.“ Melton sah Nomick böse an, als dieser leise aufschrie und sich halb umdrehte, als wollte er aus dem Zimmer fliehen. „Wir treffen uns in der University High School“, fuhr die Stimme fort. „In der Turnhalle, in zwanzig Minuten. Der Seiteneingang wird offen sein. Kommen Sie allein.“ Dann war die Leitung tot. Melton starrte das Telefon an, nahm geistesabwesend das gefaltete Taschentuch aus seiner Brusttasche und wischte sich damit langsam über den Mund. Ich sitze in der Falle, dachte er. Dann überlegte er noch einmal und lächelte. Vielleicht gab es doch noch einen Ausweg aus dieser Klemme. Alles, was er brauchte, war ein wenig mehr Zeit. Marcase stand so dicht vor dem Computerbildschirm, daß er ihn beinahe mit der Nase berührt hätte. Er trat zurück. Dann beugte er sich wieder vor. Dann trat er wieder zurück und sah zu, wie das Chromatographie-Programm durch die Ebenen der chemischen Reaktionen raste, die Kimberly angeordnet hatte. Das Ergebnis war verdammt hübsch, aber es verriet ihm nicht viel, das er nicht bereits erraten hätte. Daß nämlich nichts, was sie bisher getan hatten, auch nur einen Kratzer in Virudex hinterlassen hatte. Es war, als ob das Medikament die Existenz der natürlichen Welt einfach ignorierte. Kimberly knallte einen Stapel Ausdrucke auf den Tisch und hockte sich auf die Kante. „Wallis hat recht. Sowohl er als auch D-Ray zeigen einen schnell fortschreitenden Zerfall der Leber.“
Marcase, der sich wünschte, er könnte sich durch diesen verdammten sterilen Anzug hindurch am Kopf kratzen, warf noch einen Blick auf den Bildschirm, bevor er zurück an den Tisch trat. „Na schön, macht nichts, dann versuchen wir eben etwas anderes.“ „Was?“ „Irgend etwas. Bist du bereit?“ Sie nahm eine Pipette und hielt sie über ein Reagenzglas, in dem eine grünliche Lösung geschwenkt wurde. „Bereit.“ „Los.“ Sie ließ einen Tropfen Flüssigkeit in das Reagenzglas fallen. Fast augenblicklich gab es in der Mitte einen grellen Lichtblitz. Als er verblaßte, war alles weg – die Flüssigkeit mitsamt dem Reagenzglas. Kimberly tippte sich mit einem Finger gegen ihr Bein. „Sieht so aus, als ob wir der Sache näher kommen.“ „Ja“, sagte Marcase säuerlich. „Dem Tod näher, wolltest du sagen.“ Er wandte sich zu einem länglichen Mikrofon, das über ihren Köpfen aus der Wand ragte: „Sprachaufzeichnung: Das Virus in Verbindung mit Virudex hat den P450Stoffwechselweg so verändert, daß eine acetylisierte Substanz entsteht, die... brennt wie die Hölle.“ Nicht sehr wissenschaftlich, aber zutreffend. „Die Frage ist nun“, fuhr er fort, „wie das aufzuhalten ist. Es ist völlig instabil.“ Kimberly ließ ihren Blick über die riesige Ansammlung von Ampullen, Gefäßen und Reagenzgläsern wandern, die sie vor sich hatte. „Wir könnten versuchen, es durch einen alkalischen Zusatz zu zerstören.“ „Was, etwa in Pepsinwein baden?“ Er dachte ein paar Sekunden lang darüber nach, dann hob er einen Finger. „Weißt du was, laß uns lieber das Virus selbst angreifen. Knallen wir ihm eine volle Breitseite von Virostatika vor den Bug.“
Sie widersprach. „Virudex ist einer der stärksten Wirkstoffe, Edward. Und es beschleunigt den Prozeß nur.“ Er wußte, daß sie recht hatte, und seine natürliche Neigung zum Argumentieren ließ rasch nach, als sich die Erschöpfung in ihm breit machte. Er ließ sich gegen den Tisch sacken und starrte blind zu Boden. „Im Moment muß ich vor allem meinen Prozeß beschleunigen.“ „Wie meinst du das?“ sagte sie. Sie hörte sich ebenso erschöpft an wie er. „Wir müssen einen Weg finden, um Kaffee in diese verdammten Anzüge zu pumpen.“ Sie gab ein tadelndes Geräusch von sich, das ihn zum Grinsen brachte, doch der Tadel war gemildert durch den unverkennbaren Klang eines unterdrückten Lachens. „Also gut“, sagte er zuversichtlich, stand auf und rollte die Schultern. „Packen wir’s an, Dr. Shiroma. Ich fühle... ich fühle ein Wunder nahen.“ Hin und wieder gab sich Cassian gerne dem Tagtraum hin, man hätte ihm eine besondere Nummer gegeben, wie James Bond sie mit der 007 hatte. Eine Lizenz zum Töten. Das würde eine Vielzahl von Problemen lösen und nebenbei Abschaum wie Leland Melton zu beseitigen. Geduldig und wachsam wartete er in der Turnhalle. 007 war ein Traum, nicht mehr. In dem Raum war es dunkel wie in einer Höhle, bis auf eine einzelne Glühbirne, die hoch oben zwischen den Balken hing und den versengten Kreis auf dem Boden beleuchtete, wo DRays Basketballpartner gestorben war. Von seinem unsichtbaren Standort aus beobachtete er, wie Melton arrogant und wütend über den Hallenboden marschierte und erst stehenblieb, als er sah, worauf der Lichtstrahl gerichtet war. Cassian trat aus den Schatten. „Wer zur Hölle sind Sie?“ fragte Melton.
„Daniel Cassian.“ Melton verzog höhnisch das Gesicht. „Dann sind Sie also verantwortlich für den Einbruch in mein Firmengebäude und die Entführung eines meiner Angestellten?“ Cassian starrte ihn nur an. „Ich weiß Bescheid über das Virudex-Programm. Ich weiß Bescheid über ihre Experimente mit den Schülern dieser Schule. Frank Wallis hat mir alles gesagt.“ Melton fegte die Anschuldigungen mit einer Handbewegung beiseite. „Frank Wallis ist schwer krank. Was immer er Ihnen gesagt hat, ist Phantasterei, ausgelöst durch ein tiefes Delirium.“ Er spielt seine Rolle bis zum bitteren Ende, dachte Cassian; was für ein Narr. „Dr. Melton“, sagte er, „Ich bin Direktor des Büros für biologische Krisen im Weißen Haus. Ich kenne alle schmutzigen Details über Ihre Aktivitäten in anderen Ländern. Ich weiß über die Klinik Bescheid. Und ich weiß, was Sie hier getan haben.“ Seine Stimme wurde schärfer. „Sehen Sie nach unten auf den Boden.“ Er deutete auf den Boden, als Melton gegen seinen Willen hinab blickte. „Sein Name war Kevin Mackey, und er war erst siebzehn Jahre alt. Wie ich höre, war er ein begabter Schüler und ein guter Sportler. Ihretwegen ist er verbrannt. Und bis zu zwölfhundert weitere Jugendliche könnten noch sterben wie er.“ Melton wurde bleich. „Ich bin hierhergekommen, um Ihnen eine Chance zu geben. Es ist die einzige, die Sie bekommen werden.“ Melton räusperte sich und hob versöhnlich die Hand. „Was wollen Sie von mir?“ „Wallis sagt, daß Ihre Mitarbeiter vollständige Akten über jeden Betroffenen haben, einschließlich der erfolgten
Behandlung und der Blutproben. Ich brauche alle diese Daten – sofort.“ „Und was bekomme ich als Gegenleistung?“ „Ihre Kooperation wird bei der Anklage, die gegen Sie erhoben wird, berücksichtigt werden.“ Melton starrte in die Dunkelheit und strich sich mit der linken Hand nachdenklich übers Kinn. Als er Cassian wieder ansah, war etwas Farbe in seine Wangen zurückgekehrt. „Ich brauche Zeit, um darüber nachzudenken.“ „Wir haben keine Zeit“, fuhr Cassian ihn laut an. „Glauben Sie, ich würde auch nur eine einzige weitere Person verbrennen lassen, während Sie Ihre verdammten Möglichkeiten abwägen?“ Melton zuckte über Cassians Heftigkeit zusammen und hielt die Handflächen empor. „Schon gut, schon gut. Aber es ist mitten in der Nacht. Ich werde einige Stunden brauchen, um alle Informationen zusammenzustellen, die Sie brauchen.“ Cassian lächelte. „Sie haben eine Stunde.“ Der Mann machte den Mund auf, um Einwände zu erheben, schloß ihn wieder und ließ seine Schultern herabsacken. „Okay. Wo erreiche ich Sie?“ Cassian antwortete nicht. Er starrte den Mann einen langen Moment an, machte kehrt und ging davon in die Dunkelheit, wobei er darauf achtete, daß Melton jeden seiner Schritte hörte. Jeden – bis auf den letzten. Marcase beobachtete den Bildschirm, fluchte und sagte zu Kimberly, das Virus werde, da es gentechnologisch konstruiert sei, möglicherweise nur auf einen ebenso erzeugten AntiViren-Wirkstoff reagieren. Als sie nicht antwortete, blickte er auf und sah, daß sie den Lautsprecher der Sprechanlage in der Wand beobachtete. „Was ist?“ fragte er. „Ich dachte, ich hätte etwas im Tankraum gehört.“
„Wahrscheinlich D-Ray und Wallis, die sich miteinander bekannt machen.“ „Tolle Art, sich kennenzulernen.“ „Ja. Ich weiß.“ „Meinen Sie...?“ Sie schüttelte sich und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Arbeit zu. „Was sagten Sie gerade über Anti-Viren-Wirkstoffe?“ Er kam nicht dazu, ihr zu antworten. Es war nur der Schrei zu hören.
19 „Verdammt!“ rief Marcase. Er wirbelte von dem Wassertank weg und suchte nach irgend etwas, das er schlagen konnte. „Gott... verdammt!“ Kimberly beugte sich über D-Ray und verabreichte ihm eine größere Dosis Beruhigungsmittel, aber es wollte nicht wirken. Der Junge weinte, drehte den Kopf hin und her und bewegte die Lippen in einem zusammenhanglosen Gebet. Wallis’ Tank war leer. Die Lösung kochte vor sich hin, und auf der Oberfläche schwamm eine schwach schimmernde Schicht aus Öl und Asche. „Wir wollten gerade beten“, stammelte D-Ray. „Wir wollten gerade beten, wissen Sie?“ „Ich weiß“, sagte Kimberly beschwichtigend. „Ich weiß.“ „Er sagte, es tut ihm leid. Ich meine, er sagte, er hofft...“ Der Junge konnte vor Schluchzen nicht weitersprechen. Marcase stapfte ziellos durch den Raum, wütend auf sich selbst, weil er das Wunder nicht vollbracht hatte, frustriert, als er sah, wie die dunklen Flecken auf D-Rays Gesicht und Armen zu glühen begannen. Zeit. Es war keine Zeit mehr. Und wo zur Hölle war Cassian? „Edward“, sage Kimberly, die von hinten auf ihn zu getreten war. Er wirbelte herum, starrte sie finster an und sah die Dringlichkeit in ihren Augen. Abrupt verrauchte seine Wut, und er begriff, daß es niemandem half, wenn er gegen sein eigenes Scheitern tobte. Er befeuchtete seine Lippen und wartete, bis die Innenbelüftung seines sterilen Anzugs ihm das
Gesicht kühlte und ihn zwang, gleichmäßiger zu atmen. Dann schob er sich an ihr vorbei und beugte sich über D-Ray. „Halte durch, Junge“, sagte er. D-Rays Lippen zitterten. Dann tat Marcase etwas, wovon er wußte, daß es falsch war, und das er trotzdem nicht lassen konnte – er beugte sich lief über den Tank und flüsterte: „Ich kriege es, D-Ray. Ich schwöre dir, ich kriege es.“ Die schwarze Limousine stand am Bordstein gegenüber dem Melton-Gebäude. Mehrere andere, die genauso aussahen, standen entlang der Straße verstreut, und drei schwarze Lieferwagen warteten an der Ecke wie Schatten, die die Straßenlampen nicht verscheuchen konnten. Cassian saß auf dem Beifahrersitz und wartete mit ausdrucksloser Miene, während Hailey hinter dem Steuer eine kleine Kombination aus Mikrofon und Antennenschüssel einstellte und dann einen Schalter an einem radioähnlichen Gerät betätigte, das sich gleich darunter befand. Es gab ein kurzes, statisches Pfeifen, das Cassian zusammenzucken ließ. Dann, vollkommen klar: „Nun?“ Eine fordernde Stimme; Leland Melton. „Es sind endlich alle hier.“ Nomick, so nervös, daß er beinahe stotterte. „Aber es wird noch fünfundvierzig Minuten dauern, bis wir alle Virudex-Daten zusammengestellt haben.“ Cassian grunzte. „Ich bin sicher, Dr. Cassian wird uns noch ein wenig Zeit einräumen.“ Die Stimme klang kalt und unpersönlich. Es war ihm offenbar völlig egal, wie Nomick sich fühlte. „Er ist ein sehr vernünftiger Mann. Sammeln Sie alles ein, Ken, einschließlich aller Vorräte des Medikaments unten aus dem sterilen Labor.“
Dann kam ein gedämpftes Geräusch – Schritte auf dem Fußboden. „Ich habe meinen Anwalt angerufen“, sagte Nomick. Melton klang amüsiert. „Warum machen Sie denn so etwas, Ken?“ „Weil ich nicht ins Gefängnis will, darum!“ Melton schmunzelte. „Ich bin sicher, Sie kommen in eine sehr behagliche Bundeseinrichtung. Golf. Schwimmen. Und ein sehr großer, sehr freundlicher männlicher Masseur.“ „Oh... Gott“, stöhnte Nomick. Im Wagen schüttelte Hailey den Kopf. „Was für ein netter Kerl. Aber wenigstens tut er, was Sie von ihm wollen.“ Cassian schnalzte mit der Zunge. „Oh, Michael, was haben Sie doch für ein Vertrauen in die menschliche Natur.“ Er deutete auf die wartenden Fahrzeuge. „Kommt dieses Team mit der Sache zurecht, ohne ein Chaos anzurichten?“ „Das ist Verdict Siebzehn, Doktor. Die Elite-Spezialeinheit der Marine gegen Computer-Terrorismus. Ich glaube, sie sind dem Job gewachsen.“ Cassian zweifelte nicht daran, aber er konnte es sich dennoch nicht verkneifen, die Finger zu kreuzen. In diesem Tempo würden fünfundvierzig Minuten eine Ewigkeit dauern. Im Labor marschierte Marcase fieberhaft auf und ab und hielt nur inne, um Kimberly über die Schulter zu sehen, als sie ein Reagenzglas zur Seite stellte. „Sprachaufzeichnung“, sagte sie, ohne auf ihn zu achten. „Test Nummer sechsundzwanzig. Versuch, die Selbstentzündung mit Antivimar zu stoppen, verlief erfolglos.“ „Wir werden es niemals rechtzeitig finden“, verkündete er und ging wieder weiter. „D-Ray wird sterben.“ Er stemmte die Hände in die Hüften und blickte hinauf zur Decke. „Und nach ihm noch Hunderte andere.“ „Marcase.“
Er sah Hunderte von Leichen, Hunderte von Begräbnissen. Seine Frustration brachte ihn fast zum Weinen. „Marcase!“ „Was!“ Kimberly streckte die Hand aus, packte sein Handgelenk und zog ihn zurück an den Labortisch. „Bleib bei der Sache, okay? Du mußt bei der Sache bleiben.“ Wozu? wollte er fragen, aber er tat es nicht. Statt dessen berührte er den Computerbildschirm mit einem Finger, als ob ihn das auf den Boden zurückholen würde. „Was als nächstes?“ fragte sie. Er seufzte. „Ich weiß nicht. Ich... das Virudex?“ „Nein. Virudex ist Teil des Problems, Marcase. Komm schon, was als nächstes?“ Marcases Augen weiteten sich. „Kimberly, du bist ein Genie.“ „Was bin ich?“ „Virudex. Es ist Teil des Problems, richtig? Okay, also laß uns die Gleichung aus der Balance bringen.“ Sie wollte protestieren, doch plötzlich begriff sie, was er meinte, und griff nach einer Ampulle. „Vielleicht... okay, eine ausreichend hohe Dosis davon könnte...“ Ihre Stimme wurde lauter. „Es könnte das P450-System zusammenbrechen lassen und...“ Sie sah ihn an, und ihre Lippen bewegten sich lautlos. „Es könnte das System zusammenbrechen lassen und den ganzen Prozeß zum Stillstand bringen.“ Marcase grinste, zwinkerte ihr zu und begann, den Versuch vorzubereiten. „Weißt du“, sagte er, während er so schnell arbeitete, wie es sein Anzug erlaubte, „du hast dich bisher in mir geirrt.“ „Inwiefern?“ „In Wirklichkeit mag ich kluge Frauen.“ „Marcase“, warnte sie. „Konzentration, Doktor“, sagte er. „Konzentration.“
Cassian verschränkte fest die Finger, um nicht damit auf dem Armaturenbrett, seinen Schenkeln, der Tür oder sonst etwas herumzutrommeln. Vor Ungeduld bekam er allmählich Kopfschmerzen, und er hatte immer noch nichts aus dem Labor gehört. Er fieberte danach, zu hören, wie weit Marcase und Shiroma waren, aber er wagte es nicht, sich die Zeit für einen Anruf zu nehmen. Dann stieß Hailey ihn scharf an und nickte zu dem Scanner hin. Es war Nomicks Stimme: „Wir haben alles zusammen“, sagte er atemlos. „Einschließlich der Blutproben von den Schülern?“ fragte Melton. „Ja.“ „Nun, dann... sollten Sie und ich hinuntergehen und es vernichten.“ Nomick war seine Panik anzuhören. „Aber was ist mit Cassian?“ „Ken“, sagte Melton im Tonfall eines Vaters, der einem besonders begriffsstutzigen Kind Vernunft beizubringen versucht. „Ken, benutzen Sie Ihren Kopf. Der Mann hat geblufft. Alles, was er weiß, ist das, was Wallis ihm erzählt hat. Und ich bin sicher, daß Wallis inzwischen tot ist. Cassian wird Tage brauchen, um einen gerichtlichen Durchsuchungsbefehl für das Firmengebäude zu erwirken. Und wenn es soweit ist, was wird er dann finden?“ Es entstand eine Pause. „Nichts. Absolut nichts.“ Der Klang von Schritten, dann eine Tür, die sich öffnete und schloß. Hailey schaltete den Scanner ab. Cassian massierte sich den verspannten Nacken. „Hieraus können wir eine wichtige Lektion lernen, Michael. Der Wille
zum Bösen führt zur Unfähigkeit, intelligent zu denken.“ Er öffnete seine Tür. „Also los.“ Hailey lächelte zustimmend und kletterte ebenfalls aus dem Wagen. Ein kurzes Handsignal, und ein Team von Männern in Nacht-Tarnkleidung schwärmte von den Limousinen und Lieferwagen her aus und rannte auf das Gebäude zu. Einige huschten um die Seiten herum nach hinten, die anderen hielten auf den Haupteingang zu. Schön, dachte Cassian, als er beobachtete, wie sie in Stellung gingen; wunderschön. „Die Zeit?“ fragte Marcase ungeduldig. „Die Zeit?“ Kimberlys Ton verriet ihre Erregung. „Zehn Gramm Virudex. Wenn es brennen würde, hätte es das inzwischen getan.“ Sie grinste. „Es ist nichts passiert.“ Marcase stieß einen Freudenjuchzer aus, packte sie an den Schultern, als wollte er sie küssen, und lachte über den erschrockenen Ausdruck auf ihrem Gesicht. Dann schnappte er sich die Ampulle mit dem Virudex und rannte aus dem Raum. Kimberly folgte ihm auf den Fersen. D-Ray blickte verängstigt auf, als Marcase in das Tanklabor stürmte und eine Spritze von dem Sims an der Wand nahm. „Schon gut, D-Ray“, beruhigte ihn Marcase. „Kein Grund zur Sorge.“ „Sie... können Sie...“ Marcase hielt die Spritze empor. „Wir haben hier etwas, das wir ausprobieren möchten.“ Er zögerte und fügte dann ernst hinzu: „Aber wir wissen nicht, ob es funktionieren wird.“ D-Ray blickte von ihm zu Kimberly und gab sich keine Mühe, gegen den quälenden Schmerz anzukämpfen, der ihn durchbohrte. „D-Ray?“ Als er wieder sprechen konnte, sagte er: „Klar. Was habe ich zu verlieren?“
Marcase verschwendete keine Sekunde an Bedenken; er umging die Infusion, versenkte die Nadel direkt in D-Rays Arm, leerte sie und trat zurück. D-Ray blinzelte einmal, dann schrie er auf und wand sich in Schmerzen. Marcase konnte nur dastehen und zusehen. Cassian folgte Hailey gelassen, während dieser seine Männer nach drinnen dirigierte. Als sie das Hauptfoyer erreicht hatten, öffnete sich eine Fahrstuhltür, und Meltons Sicherheitschef trat heraus. Hailey packte ihn, rammte ihm den Lauf seiner Pistole gegen den Hals und führte ihn den Flur entlang zu dem Fahrstuhl, der in das unterirdische Labor führte. Ohne ein Wort zwang er den Mann, sich vor den NetzhautScanner zu stellen. Als die Fahrstuhltür zur Seite glitt, schleuderte er den Sicherheitsmann zur Seite, wo ihn einer der Marinesoldaten auf den Boden warf und ihm Handschellen anlegte. Cassian lächelte freudlos, als er rasch in die Kabine trat und auf den einzigen Knopf drückte, und sagte nichts, als weitere Mitglieder des Teams sich zu ihm hereindrängten. Die Fahrt nach unten dauerte zu lange. Das Öffnen der Tür dauerte zu lange. Er wartete, bis die Kabine sich geleert hatte, bevor er ging, und lauschte, als Hailey und seine Männer um eine Ecke stürmten und riefen: „Bundesagenten! Waffen fallenlassen! Sofort!“ Cassian zuckte zusammen, als unvermeidlicherweise ein paar Idioten versuchten, den Helden zu spielen. Der Schußwechsel war barmherzig kurz. Er mußte nicht einmal seine eigene Waffe ziehen. Während die Marinesoldaten die Kontrolle übernahmen und sich um die Verwundeten kümmerten, betrat er das sterile Labor und blickte sich um. Eine Anzahl weißbekittelter
Männer lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden. Er sah, daß jemand versucht hatte, die Blutproben im Abflußbecken eines Labortisches verschwinden zu lassen, daß auf dem Boden eine Handvoll Virudex-Kartons standen und daß Leland Melton in einem der Gänge lag, die Finger am Hinterkopf verschränkt. Hailey ging auf ihn zu und stieß ihn mit dem Fuß an. Melton blickte auf und stöhnte leise. „Diesmal“, sagte Hailey ausdruckslos, „sind es echte Kugeln.“ Er gestikulierte, und Melton rappelte sich auf und sog scharf die Luft ein, als er Cassian sah. Cassian nickte ihm höflich zu. „Exzellent“, sagte er. „Exzellent. Sie haben alles für uns zusammengestellt. Das erspart mir eine Menge Zeit.“ Das Lächeln verschwand. Melton konnte nicht sprechen. „Michael“, sagte Cassian, „Sie –“ Er unterbrach sich, als sein Handy piepste. Mit einem gespielt entschuldigenden Achselzucken holte er es hervor, öffnete es und sagte: „Cassian.“ „Hier Marcase.“ „Ah, Edward. Gibt es Neuigkeiten?“ „Großartige Neuigkeiten. Wir haben einen Weg gefunden, um den Selbstentzündungsprozeß zu unterbrechen. Aber ich muß Ihnen sagen, daß wir dazu beträchtliche Mengen an Virudex brauchen, und die einzigen Vorräte befinden sich bei Melton Pharmaceutical.“ Endlich gestattete Cassian es sich, laut aufzulachen. „Nun, was für ein Zufall, Edward. Genau dort bin ich gerade. Wissen Sie was?“ fügte er hinzu, während er Melton gerade ins Gesicht sah, „wie wär’s, wenn Sie gleich hierher kämen. Und bringen Sie einen Einkaufswagen mit.“
Er unterbrach die Verbindung, bevor Marcase antworten konnte, und zweifelte nicht daran, daß er und Shiroma schneller hier sein würden als die Polizei erlaubt. Dann beobachtete er den Abschluß der Operation, wobei er es sich nicht nehmen ließ, Leland Melton selbst zu verhaften und ihm Handschellen anzulegen. Eines der Vorrechte, dachte er heiter; eines der Vorrechte, wenn die Guten am Ende gewinnen.
20 Der Lärm in der Turnhalle war ohrenbetäubend. Eine ungeordnete Reihe von Schülern und ihren Familien schlängelte sich vom Flur herein und setzte sich rund um die Halle fort. In der Mitte des Hallenbodens standen ein Dutzend Tische, jeweils besetzt von einer Krankenschwester mit einer Spritze in der Hand. Witze wurden gemacht, Namen quer durch den Raum gerufen. Ein unbeteiligter Zuschauer, dachte Marcase, hätte vermutlich die Hochspannung, die in der Luft lag, überhaupt nicht bemerkt. Er ging lässig von Tisch zu Tisch, lächelte den Schwestern zu und versicherte denen, die die Injektionen erhielten, daß die Nebenwirkungen minimal seien, es aber keinen Sinn habe, ein Risiko einzugehen. Man hatte ihnen nicht die ganze Wahrheit gesagt; nur soviel, daß keine Panik ausbrechen konnte. Er mochte nicht daran denken, was geschehen wäre, wenn sie alles erfahren hätten. Wirklich alles. Plötzlich gähnte er so heftig, daß sein Kiefer knackte, und bedeckte seinen Mund zu spät mit der Faust. Ein Blick auf seine Uhr entlockte ihm ein Seufzen; ein Blick auf die Länge der Schlange ließ ihn innerlich stöhnen. Stunden. Es würde noch Stunden dauern. Aber er würde nicht gehen, bis er sicher war, daß jede einzelne Person, die es nötig hatte, ihre Dosis Virudex erhalten hatte. Kimberly hatte ihm schon vor einiger Zeit vorgeschlagen, nach Hause zu gehen und sich die Ruhe zu holen, nach der er so gejammert hatte, aber er wollte nicht. Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er sie an einem Tisch auf der anderen Seite sah. Sie hielt einem durch und durch verängstigten kleinen Mädchen die Hand.
Siehst du? sagte er in Gedanken zu ihr; deshalb kann ich nicht weg. Es war fast fünf, als er D-Ray an einem der Tische entdeckte, eine Hand auf der Schulter von jemandem, den er offenbar kannte, jemandem, der offensichtlich nicht begeistert davon war, sich eine Nadel in den Arm stoßen zu lassen. D-Rays Gesicht war immer noch leicht pickelig von den Blasen, die, Gott sei Dank, nicht in Flammen aufgegangen waren, und ein Verband bedeckte den größten Teil seiner linken Hand. Doch das würde alles in einem oder zwei Tagen zurückgehen. Er hatte sich vollständig erholt, außer einem gelegentlichen Alptraum waren keine Nachwirkungen zu befürchten. „Keine Sorge“, hörte Marcase ihn aufmunternd sagen, als er hinüberging. „Du wirst es überstehen, Mann.“ Er deutete mit einem rauhen Lachen auf sein Gesicht. „Ich habe total gruselig ausgesehen, okay? Und dieses Zeug hat das Problem beseitigt. Keine Angst, Mann, beiß die Zähne zusammen.“ Das unsichere Lächeln, mit dem der Junge ihn ansah, ließ Marcase auf dem Absatz kehrtmachen, bevor er in Gelächter ausbrach. Wenig später schlug ihm eine Hand spielerisch auf den Rücken. „He“, sagte D-Ray. „Selber he.“ Er nickte zu dem Tisch hin, den der andere Junge gerade verlassen hatte. „Wieder an Deck, wie ich sehe.“ „Es geht so. Es geht so.“ Er zerrte sich die Hosen hoch und rollte die Schultern wie ein Revolverheld vor einem Duell, während er seinen Blick durch die Turnhalle schweifen ließ. „Wissen Sie... wissen Sie, ich könnte mich wirklich an das hier gewöhnen. Was sagten Sie noch gleich, was Sie für ein Arzt sind?“ „Ein Virologe.“
D-Ray nickte und wiederholte das Wort langsam. „Virologe.“ Er grinste und nickte. „Ja. Hört sich gut an. Meinen Sie, ich könnte das auch?“ „Sicher könntest du das“ sagte Marcase. Er meinte es ehrlich. D-Ray stolzierte ein bißchen hin und her und schob den Kopf vor und zurück. „Ja. Virologe. Ja, finde ich auch.“ Er nickte wieder. „Cool. Das ist cool.“ Das bist du auch, Junge, dachte Marcase stolz, während DRay in Richtung Ausgang davonging. Dann kam er zu dem Schluß, daß es auch für ihn Zeit war zu gehen. Die Schlange erstreckte sich nicht mehr bis auf den Flur, und an ein paar Tischen waren schon keine Patienten mehr. Diesmal machte er sich nicht mehr die Mühe, sein Gähnen zu verbergen. Und er zuckte auch nicht zusammen, als sein Magen knurrte. Laut und deutlich. D-Ray wiederholte das Wort in Gedanken immer wieder. Er wollte es nicht vergessen. Er hatte den Doc nicht veralbern wollen, ganz und gar nicht. Das war wirklich etwas, woran er sich gewöhnen konnte. Nach dem, was er gerade durchgemacht hatte, wollte er auf keinen Fall den Rest seines Lebens sinnlos vertun. Von jetzt an würde er arbeiten, was das Zeug hielt, und etwas aus sich machen. Und den Ärger mit seiner Familie konnte er auch vergessen. Er wußte nicht, wie der Doc das eingefädelt hatte, aber er konnte schon Ende der Woche zu Raf ziehen. Er hatte schon zweimal bei Mrs. Williams zu Mittag gegessen, und sie verstanden sich prächtig. Nette Frau. Echt nette Frau. Er schlenderte draußen herum und holte tief Atem. Stadtluft. Gute Luft. Die beste, die er je gerochen hatte. „Virologe“, sagte er laut und schüttelte den Kopf. „Das ist gut. Echt gut.“
Er war auf halbem Weg die Treppe herunter, als er den rostigen Lieferwagen mit der abblätternden Farbe am Bordstein stehen sah. Auf dem Fahrersitz saß der Rollstuhlmann. Und er sah ihm direkt ins Gesicht. „He.“ D-Ray grinste und fing an zu rennen. „He!“ Der Mann lächelte ihn an, tippte sich grüßend und wie zum Abschied an den Kopf und fuhr davon, bevor D-Ray den Bürgersteig erreichen konnte. D-Ray blieb sprachlos stehen. „He“, flüsterte er. Der Idiot blieb nie da, damit er ihm danken konnte. Dann grinste er. Und nickte, nur einmal. Der Mann hatte seine Sache gemacht, und jetzt zog er weiter. Auch D-Ray hatte seine Sache gemacht, und nun war es Zeit für ihn, weiterzuziehen. Nicht schlecht, dachte er, als er davonging; gar nicht schlecht. Als der letzte Schüler gegangen war und die letzte Krankenschwester ihre Ausrüstung eingepackt und die Halle verlassen hatte, stand Marcase auf der obersten Stufe der Vordertreppe der Schule und reckte die Arme über den Kopf empor. Es war fast sieben, und er war hungrig; er war müde; doch er war immer noch zu aufgewühlt, um essen oder schlafen zu können. Kimberly trat neben ihn, und einen Augenblick später gesellte sich Cassian zu ihnen. „Na“, sagte Marcase zu ihm. „Meinen Sie, daß ich mir jetzt ein bißchen frei nehmen kann?“ Cassian gönnte ihm den seltenen Luxus eines Lächelns. „Ich denke, das wäre angemessen, ja.“ Marcase stieß Kimberly mit dem Ellbogen an. „Er denkt, das wäre angemessen. Heißt das etwa, daß ich mich aus dem Staub
machen kann, bevor die Pest über uns hereinbricht oder so etwas?“ „Ja“, antwortete sie. „Ich glaube, das hat er gemeint.“ Marcase klatschte einmal, rieb sich eifrig die Hände und sagte: „Okay. Dann bin ich weg, rufen Sie mich nicht an, ich rufe Sie an.“ „Eine Bar, ein Drink und eine schöne Frau, richtig?“ fragte sie unschuldig. Er schnitt eine Grimasse in ihre Richtung. „Zwei von dreien, Dr. Shiroma, zwei von dreien.“ „Welche zwei?“ Er grinste. „Finde es heraus. Du bist das Genie.“ Er stieg eine Stufe hinab, hielt inne und drehte sich um. „Was?“ fragte Cassian. „The Dawn.“ „Was ist damit?“ Marcase machte eine vage Handbewegung. „Dieser... dieser ganze Ärger. Virudex, das genetisch konstruierte Virus. Hatte... hat Melton damit zu tun? Mit The Dawn, meine ich.“ Cassian ließ seinen Blick langsam durch die Nachbarschaft schweifen, während er eine Sonnenbrille aus seiner Jackentasche zog und sie aufsetzte. Die Gläser zeigten kein Spiegelbild; nur schwarz. „Nichts“, sagte er leise. „Nichts von dem, was ich Ihnen jetzt sage, wird die Wahrheit sein.“ Er nickte Kimberly zum Abschied zu und ging davon, auf Hailey zu, der am Bordstein mit dem Lieferwagen des Teams wartete. „Vergiß es“, sagte Kimberly, als sie an ihm vorbeiging. „Vergiß was?“ Er schloß eilig zu ihr auf. „Vergiß was?“ „Ihm eine direkte Antwort entlocken zu wollen. Es ist unmöglich.“
Das wußte er, aber es hatte nicht geschadet, es zu versuchen. Und er war auch nicht enttäuscht. Die Nicht-Antwort war alles, was er als Antwort brauchte, wie Cassian sehr gut wußte. Und er glaubte auch keinen Augenblick lang daran, daß The Dawn nicht auf die eine oder andere Art und Weise in dieses Grauen verwickelt war. Wenn diese Leute etwas so Bösartiges wie Malochrinat zusammenbrauen und auf unschuldige Leute wie Raf und all die anderen loslassen konnten, dann würde etwas Derartiges sie nicht einmal zusammenzucken lassen. „Das wird ein langer Kampf“, sagte er und steckte die Hände in die Hosentaschen. Sie nickte ernst; das wußte sie. Doch zwei wichtige Schlachten hatten sie schon gewonnen; sie hatten sich bereits bemerkbar gemacht. Es würde nicht leicht sein; der Krieg war noch lange nicht vorbei, aber er hatte das Gefühl, daß der Feind nicht ganz so mächtig war, wie es aussah. Ein gutes Gefühl. Ein sehr gutes Gefühl. „So“, sagte er, als sie den Bürgersteig erreichten, „hast du Hunger, Doc?“ Sie sah ihn von der Seite an und warf ihm ein schiefes Lächeln zu. „Vielleicht. Lädst du mich ein?“ „Na klar“, sagte er. Dann wandte er den Blick ab und murmelte etwas vor sich hin. „Was ist?“ fragte sie. Er sah sie wieder an und grinste. „Drei von dreien, Doc. Es haut immer hin. Drei von dreien.“ Als sie spielerisch nach seiner Schulter schlug, sprang er zur Seite und lachte. Es würde ganz und gar nicht leicht sein. Aber ein gutes Gefühl war es trotzdem.