Das neue Abenteuer 485
Abduhakim Fasylow: Der schwarze Stein Verlag Neues Leben, Berlin
V 1.0 by Dumme Pute
Titel d...
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Das neue Abenteuer 485
Abduhakim Fasylow: Der schwarze Stein Verlag Neues Leben, Berlin
V 1.0 by Dumme Pute
Titel der russischen Ausgabe: lepHbH KaMeHb Ins Deutsche übertragen von Ursula Krause Illustrationen von Karl Fischer ISBN 3-355-00527-4 © Verlag Neues Leben, Berlin 1987 Lizenz Nr. 303(305/136/87) LSV 7703 Umschlag: Karl Fischer Typografie: Walter Leipold Schrift: 9p Timeless Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin Bestell-Nr. 6443165 00025
Die Stimmen waren schwach, als kämen sie von weit her. Er hatte das beklommene Gefühl, daß die Finsternis ihn fest umkrallte. Dann glaubte er, in eine bodenlose Tiefe zu stürzen. Sein von Nebel umhülltes Bewußtsein versuchte verzweifelt, gegen dieses Nichts anzukämpfen, und stieg gleichsam senkrecht diesen Abgrund hinauf. Das wiederholte sich einige Male. Endlich brach die Dunkelheit auf, und über ihm formierten sich allmählich zwei weiße Gestalten, die zu schweben schienen, und er begann Worte zu unterscheiden. "Er kommt zu sich. Sollen wir jetzt den Vater reinbitten?" "Nein, es ist noch zu früh." Was ist passiert, überlegte er dumpf. Wo ist mein Vater? Plötzlich spürte er im gesamten Körper einen scharfen Schmerz. Gräßliche Mechanismen schienen ihn zusammenzupressen und seine Knochen zu zerbrechen. Der Raum füllte sich mit tosendem Lärm, als würde die ganze Welt über ihm zusammenstürzen. In kurzen klaren Momenten seines immer wieder verlöschenden Bewußtseins sah er einen dunklen Himmel und die von zahllosen Sternen übersäte Milchstraße . Um in der Dunkelheit nicht fehl zu treten, setzte Usman, vorsichtig tastend, einen Fuß vor den anderen. Über ihm, am südlichen Himmel, leuchteten hell die Sterne. Der halbzerstörte gigantische Torbogen vor ihm schien die Milchstraße in zwei Teile zu teilen. Ob ich vom Weg abgekommen bin, überlegte Usman irritiert. Ich hätte mir ein paar Orientierungspunkte markieren sollen, sonst laufe ich noch bis zum Morgen in
dieser Finsternis umher. Er strengte sein Gedächtnis an und versuchte, sich an einige Details der tagsüber gemachten Beobachtungen zu erinnern . Ein gewaltiger quadratischer Hof, von allen Seiten von geschlossenen Galerien begrenzt; jede mindestens vierhundert Meter lang. Es kam jetzt darauf an, das Zentrum dieses Platzes zu finden. Usman war der Verzweiflung nahe, als er schließlich die schwarze Silhouette eines Bauwerkes von einfacher, fast kubischer Gestalt ausmachen konnte. Wie im Fieber lief er darauf zu. Endlich war er am langersehnten Ziel! Und er war allein. Er traute seinen Augen kaum, als er vor sich den schwarzen Seidenstoff erblickte, der das gesamte Bauwerk gänzlich einhüllte. Dann, als er mit vor Erregung zitternden Fingern die blinde Mauer ertastete, spürte er unter dem glatten Material die unebene Kuppe eines kleinen aus der Wand herausragenden Steines. Und plötzlich überkam ihn hier, unterhalb der hohen Tempelmauern, neben dem schwarzen Stein, Müdigkeit. Er erinnerte sich an die in großer Anspannung vergangenen Tage, die diese Nacht vorbereitet hatten . Als der Vater seinen Entschluß mitgeteilt hatte, ein Haddsch - eine Pilgerfahrt - zu den heiligen Stätten des Islam zu unternehmen und den Sohn mit sich zu nehmen, stand Usman vor einer schwierigen Wahl. Der Vorschlag klang durchaus verlockend. Seit jeher hatte Usman davon geträumt, mit eigenen Augen die Stätten zu sehen, über die er schon soviel gehört und gelesen hatte. Andererseits war der augenblickliche Zeitpunkt für eine Reise mehr als ungünstig. Gerade jetzt arbeitete er an einer Apparatur, mit der er eine Idee, von der er lange schon besessen war, überprüfen wollte, und er lebte bereits im Vorgeschmack
der Resultate dieses Experiments. Er, ein Student, hatte einen Laser konstruiert, der imstande war, die Wellenlänge der Strahlung von kurzen Radiowellen bis hin zu den weichen Röntgenstrahlen stufenlos verändern zu können! Unter den Fachleuten hatte das Gerät bereits Aufsehen erregt, man sagte ihm große Möglichkeiten voraus und wartete mit Spannung auf seine Anwendung in der Praxis. Die unerwarteten Reisepläne des Vaters würden Usmans Arbeit verzögern, vielleicht sogar für längere Zeit. Aber den kränkelnden Vater allein auf eine so anstrengende Reise zu schicken, davon konnte auch keine Rede sein. Anfangs versuchte Usman, den Vater umzustimmen, die Pilgerfahrt auf das nächste Jahr zu verschieben, doch der Vater, der in diesem Jahr das Alter des Propheten [nach islamischer Überlieferung dreiundsechzig Jahre] erreicht hatte, wollte seinen Geburtstag mit einem, wie er meinte, gottgefälligen Schritt krönen. Schließlich kam - nicht zum erstenmal - zwischen ihnen der Moment, wo der Sohn fühlte, daß weiteres Diskutieren nur das Herz des alten Mannes belasten würde, und er unterwarf sich seinem Willen. Da nahm die Idee konkrete Gestalt an und hielt ihn den ganzen letzten Monat in ständiger Anspannung. Natürlich verheimlichte Usman seine Pläne vor dem Vater, weil er dessen religiöse Gefühle nicht verletzen wollte. Allein der Gedanke hätte den Alten schockiert, ganz zu schweigen von der Realisierung. Früher hatte Usman stets mit dem Vater über seine Arbeit gesprochen, deshalb quälten ihn nun Gewissensbisse. Ständig glaubte er den Vorwurf in des Vaters monotoner Stimme zu hören. Mit dieser strengen, durch das jahrelange laute Lesen der
Koransuren geformten Stimme schien er den Sohn für seine geheimen Absichten zu rügen.
Er begann diese unendlich vertraute, stets mit einem Anflug von Besorgnis behaftete Stimme zu erkennen. Erneut kehrte das Bewußtsein zurück. Das Gesicht des ihm liebsten Menschen beugte sich über ihn. "Kannst du mich hören, mein Sohn? Gib ein Zeichen, wenn du mich hörst. Laß mich nicht so allein ." Wieder verwirrte sich die Realität, und er fühlte, wie er langsam in die Dunkelheit zurücksank. Vor seinen Augen blieb nur der Vater in seinem langen weißen Gewand, auf dem Kopf den großen Turban . Usman kannte den Vater nur in Weiß. Wahrscheinlich hatte er nie mehr etwas anderes getragen, als er in früher Jugend die Schwelle der Medresse [islamische Schule] in Buchara überschritten hatte. Seit jener Zeit diente er, ein von Natur aus weicher Mensch, mit fanatischem Eifer dem Islam. Er heiratete spät, mit über vierzig Jahren. Dann wurde Usman geboren, doch die Freude über den Sohn wurde vom Tod der Frau bei dessen Geburt überschattet. Erschüttert über den Verlust seiner Frau, leistete er den Schwur, den Sohn ganz allein, ohne die Hilfe eines fremden Menschen, zu erziehen. Von diesem Augenblick an waren Vater und Sohn nicht einen einzigen Tag getrennt. Schon als Kind begriff Usman, daß der Vater in seinen Träumen nur eine Zukunft für seinen Sohn sah - den Dienst an Allah. Er bereitete ihn auf das geistliche Seminar vor, und er tat es Tag für Tag. So lernte Usman schon sehr früh arabisch lesen. An den langen Winterabenden unterrichte ihn der Vater in den Auslegungen der Koransuren, las ihm mit der ge-
schulten Stimme eines geübten Redners Kapitel aus "Sirat rassul Allah" - "Lebensbeschreibung des Gesandten Gottes" - und viele andere mythische Geschichten aus dem Leben der Propheten und sonstiger Heiliger vor. Ihn freute das kindliche Interesse an den Legenden. Abend für Abend, nachdem er die Schulaufgaben gemacht hatte, kuschelte sich Usman an den Vater und bat ihn, etwas "Schönes" zu erzählen.
Doch des Vaters Träume von einer religiösen Zukunft seines Sohnes währten nicht allzu lange. Bald schon trübten sie sich, und als der Vater endlich die Ursache seiner Unruhe begriff, war es bereits zu spät. Es begann damit, daß Usman seinen Vater immer eindringlicher bat, ihm die zahllosen Wunder zu erklären, aus denen im wesentlichen das Leben der Heiligen bestand. Der Vater wußte nicht, was er tun sollte. Er nahm all sein Talent, die ihm angeborene Gabe eines Predigers, zusammen und versuchte, den Sohn von dessen, wie ihm schien, lästerlichen Fragen
abzubringen. Er bemühte sich, die vor seinen Augen sich bildende mißliebige Weltanschauung des Sohnes abzuwehren. Doch die Schule und der den Jungen umgebende Alltag trugen den Sieg in diesem Wettstreit davon. Der einzige Trost für den Vater war, daß das Interesse seines Sohnes an religiöser Literatur keineswegs erlahmte, nach wie vor las Usman den Koran, die Bibel und stöberte in den Folianten altehrwürdiger Schriftsteller herum. Allerdings schmerzten die Fragen des Jungen, der sich mehr und mehr in den Naturwissenschaften bildete, Fragen nach den Wundern der Heiligen den Vater immer heftiger. Als Usman nach Beendigung der Schule erklärte, daß er die Universität besuchen und Physik studieren wolle, begriff der Vater, daß seine Hoffnungen, den Sohn als gebildeten Diener des Islam zu sehen, endgültig begraben waren. Die vielen Gebete zu Allah hatten keine Früchte getragen, und er schickte sich drein, wie schon so viele Male im Leben, und tröstete sich damit, daß alles von Gott kam. Auch während des Studiums interessierte sich Usman für religiöse Literatur; in seiner Freizeit las er viel und forderte den Vater oft zu philosophischen Erörterungen heraus. Als Usman im vierten Studienjahr war, beschloß der Vater, ihn mit auf die Pilgerreise zu nehmen. Und so schritten sie am siebten Tag des Monats Su-lhidscha, nach dem islamischen Kalender, in einer großen Gruppe von vielen Pilgern von der Gangway auf die in der heißen arabischen Sonne gleißende Piste des modernen Flughafens. In dem kleinen Städtchen, das inmitten der eintönigen Wüste lag, kamen in diesen Tagen auf dem
Land- und Luftwege unzählige Pilger an. Nachdem sie die üblichen Kontrollen, die Fragen nach Konfession und Reiseziel hinter sich gebracht hatten, machten sie sich auf zum endgültigen Ziel ihrer Pilgerreise. Die Betonstraße durch die gelbe leblose Wüste, die nur zu Zeiten des Haddsch so belebt war, brachte sie in die Stadt, in die der Legende nach vor langen Zeiten auch der Prophet seinen Fuß gesetzt hatte. Nach einer Stunde Fahrzeit erblickte Usman die aus Lehmziegeln errichteten "Wolkenkratzer" und die Minarette unzähliger Moscheen. Aus einem auf einem schwarzen Cadillac montierten Lautsprecher tönten die Rufe des Scheichs. In den Augen des Vaters glänzten Tränen eines grenzenlosen Glücks. Unablässig murmelte er Koransuren vor sich hin, wandte er sich im Gebet an Allah. Nur mit Mühe bahnten sie sich durch die von Pilgern überfüllten schmalen Gassen den Weg und erreichten endlich das Gasthaus, in dem sie Unterkunft fanden. Bis zum Abend war es noch lange hin, und nach einer kurzen Rast folgte Usman dem Drängen des Vaters, der so schnell wie möglich das Hauptheiligtum des Islam - den Tempel Allahs - aufsuchen wollte. Wie ein starkströmender Fluß wogte die Menge durch die Straßen und saugte sogleich Usman und seinen Vater auf. Der Tempel befand sich im Hof der Hauptmoschee. Geschoben und gedrängt von den vielen Menschen zwängten sie sich durch das breite Tor. Usman blieb wie erstarrt stehen, ergriffen von dem Schauspiel, das sich ihm bot. Auf dem gewaltigen quadratischen Platz standen dichtgedrängt Männer in weißen Kaflanen. Obwohl Usman gehört hatte, daß hier gleichzeitig mehr als dreihunderttausend
Menschen Platz fanden, erlangte diese Zahl jetzt für ihn einen irrealen phantastischen Sinn. Innerhalb des Hofes wogte eine unbeschreibliche Erregung. Tausende Menschen in schrecklicher Enge, einander schubsend, vollzogen in fanatischem Eifer die Rituale des Haddsch, die von den Geboten des Islam kanonisiert waren. Drückende Hitze lag über dem Platz. In der Mitte dieses Menschenstrudels, in etwa vierzig Meter Entfernung, ragte das von einem glänzenden dunklen Tuch bedeckte Viereck des Tempels auf. Die von den Moscheedienern geschickt manipulierten Traditionen besagten, daß die Pilger, sobald sie das Heiligtum betreten hatten, alles Weltliche von sich abzustreifen und alles, außer dem Namen Allahs, aus ihrem Bewußtsein zu verbannen hätten. Allein schon der Anblick der heiligen Moschee, die auf mythische Weise mit den Namen der Propheten verbunden war, sollte die Pilger zu großzügigen Spenden veranlassen, sollte sie auf die "Vergänglichkeit" allen irdischen Lebens einstimmen. Der Vater wurde von der allgemeinen ekstatischen Stimmung erfaßt, die in der Moschee herrschte. Usman war bemüht, an seiner Seite zu bleiben; er hatte Angst, den Vater in diesem Durcheinander zu verlieren. Betrat man das Moscheegelände, galt es, siebenmal den Tempel zu umrunden, wobei jedesmal der Schwarze Stein, der in dessen Mauer eingelassen war, geküßt werden mußte. Diese Zeremonie in der brodelnden Menge zu vollführen war kein leichtes Unterfangen. Da half auch das Bemühen zweier athletischer Kerle wenig, die sich zu beiden Seiten des Steins postiert hatten und mit unbarmherzigen Peitschenhieben die Menge weitertrieben. Die Pilger, nach dem siebenmaligen Berühren des Steins
von ihren "Sünden gereinigt", strebten der nächsten "heiligen Pflicht" zu. Nun mußten sie siebenmal zwischen zwei Hügeln hin- und herlaufen, die an entgegengesetzten Enden einer der Moscheengalerien lagen. Und schließlich sollten die Pilger, sofern sie diesen anstrengenden Marathon überstanden hatten, sich zur Samsamquelle am anderen Ende des Moscheegeländes durchkämpfen. Das Benetzen des Gesichts und ein Schluck des kühlen Quellwassers, mit dem, der Überlieferung nach, der Urvater der Araber, Ismail, der Sohn Ibrahims - der biblische Abraham - seinen Durst gestillt hatte, galt als die höchste Stufe des Glücks. Über etliche Tage, vom Morgen bis zum Abend, strömten die Pilger unablässig zur Moschee und wiederholten diese Prozeduren. Die religiöse Hysterie, dazu die Enge und die Hitze taten ein übriges. Manche der Pilger, die auf Grund ihrer angegriffenen Gesundheit diese Anstrengungen nicht durchstanden, brachen geschwächt zusammen, hier, direkt an der Schwelle zu Allahs Haus. Erst spät am Abend konnte Usman den Vater überreden, die Moschee zu verlassen. Und wie schon am Tage unablässig Suren murmelnd, verließ der Vater, gestützt auf den Arm seines Sohnes, betend das Heiligtum. Im Gasthaus angekommen, zwang Usman den Vater, sich hinzulegen und auszuruhen. Er selbst konnte keine Ruhe finden, stand immer noch unter dem erregenden Eindruck dessen, was er in der Moschee gesehen hatte. Die Pläne mit dem Schwarzen Stein schienen ihm jetzt wie ein naiver kindlicher Traum. Dennoch, er mußte den Schwarzen Stein haben. Das Verlangen nach ihm war nicht weniger groß als das eines beliebigen Pilgers. Doch er sah ein, daß der Stein für ihn
so fern und unerreichbar war, als befände er sich Tausende von Kilometern weit weg. Tagsüber war der Stein von einer undurchdringlichen wirbelnden Menschenmenge umgeben; man konnte sich ihm nur für einen winzigen Augenblick nähern, und das einzig mit dem Ziel, seine Lippen auf ihn zu drücken. Usman aber hatte ein anderes Ziel . Er legte sich schlafen. Vom kommenden Tag erwartete er nichts. Doch der nächste Morgen brachte eine unerwartete Wende. Die Pilger, die die Straßen und die Moschee gefüllt hatten, strebten aus der Stadt hin zu dem Berg, wo der Überlieferung nach der Prophet die erste "göttliche Erleuchtung" empfangen hatte. Usman hörte, daß die Stadt auch an den beiden folgenden Tagen leer sein würde. Ich muß unbedingt an Ort und Stelle bleiben, war sein erster Gedanke. Den Vater von dem anstrengenden Marsch abzuhalten wäre ein aussichtsloses Unterfangen. Die Hügelketten der Berge, die man von der Stadt aus sehen konnte, zogen den Vater unwiderstehlich an. Es blieb nur eines: Usman mußte irgendeinen Vorwand finden, um in der Stadt bleiben zu können. Das war dem Vater gegenüber zwar nicht sehr ehrenhaft, aber er sah keinen anderen Ausweg. Vater wird mir verzeihen, sagte er sich, schließlich tue ich nichts, was den Leuten schaden könnte. Aber er mußte eine Begleitung für den Vater finden. So überredete er den Wirt, zusammen mit dem Alten die Pilgerfahrt in die Berge zu unternehmen. Dem Vater gegenüber gab er vor, den heftigen Klimawechsel schlecht zu vertragen. Bald schon schloß sich der Vater dem Pilgerstrom an, der unablässig in die Berge wallfahrte.
Usman aber hielt sich den ganzen Tag in der Umgebung der Moschee auf. Er versuchte sich alle Wege, alle Ausgänge und die Lage des Tempels einzuprägen. Das Heiligtum machte einen geradezu verlassenen Eindruck, obwohl sich auch jetzt an die tausend Pilger hier tummelten. Usman erfuhr, daß sich nachts niemand mehr in der Moschee aufhalten würde. Um Mitternacht stahl er sich unter großen Vorsichtsmaßnahmen in den Tempelbezirk. Er öffnete die Augen. Ringsumher herrschte Dämmerung. Neben ihm, auf einem Tischchen, flackerte trübe Kerzenschein. Usman unterschied die Wände des kleinen Raumes, in dessen Mitte er auf einem Bett lag. Hinter dem Fenster herrschte tiefste Nacht. Sein Bewußtsein war klar. Schmerzen fühlte er keine. Jetzt erinnerte er sich auch an alles, was mit ihm geschehen war, an alles, bis hin ins winzigste Detail. Ist das wirklich alles passiert, fragte er sich. Wahrscheinlich doch, ja, so mußte es gewesen sein. Da war ja auch der erste Beweis - er befand sich in einem Krankenzimmer. Er erinnerte sich an die heftigen Schmerzanfälle, an die Momente des wiederkehrenden Bewußtseins, an den Vater, der neben ihm gesessen hatte. Alles hatte in der Nacht begonnen, als er in den Tempel eingedrungen war . Endlich hatte er den Stein ganz für sich allein. Vorsichtig blickte sich Usman um, lauschte in die Nacht. Doch vom Hof und den ins Dunkel getauchten Galerien der Moschee kam kein Laut. Der Stein war in die Wand des Tempels eingelassen ein uraltes aus grob gehauenen dunkelgrauen Granitblökken errichtetes Bauwerk. Das ganze Jahr über blieb der
einzige Eingang zum Tempel geschlossen. Nur an einem Tag während der gesamten Wallfahrtszeit wurde dieses Tor geöffnet, und das nur für den "Stellvertreter Allahs auf Erden" - den König dieses Landes, der allein diesen geheimnisvollen Tempel betreten und einige Zeit in absoluter Einsamkeit dort verbringen durfte. Dann wurde der Tempeleingang wieder für ein volles Jahr geschlossen. Der Schwarze Stein ragte an der östlichen Ecke des Tempels aus der Wand, etwa einen Meter über den Erdboden. In vielen Jahrhunderten hatten die Lippen von Millionen gläubiger Muselmanen die Oberfläche dieses rauhen Steins auf Hochglanz poliert. Er war nicht einmal sehr groß, dieser berühmte schwarze Brocken: in der Form fast ein Ellipsoid, einen knappen Meter lang. Die Zeitläufte waren an dem Stein vorbeigezogen, doch er selbst war fast immer an seinem geheiligten Platz geblieben. In den finsteren Zeiten des fernen Mittelalters, als Kalif Ibn-as-Subeir herrschte, war die Stadt niedergeworfen und anschließend von den Syrern in Brand gesteckt worden. Auch den Tempel hatte das Feuer erfaßt. Ein Riß im Schwarzen Stein, der sich während des Brandes gebildet hatte, legte noch heute beredtes Zeugnis davon ab. Später hatte Kalif Abd-al-Malik, der die islamische Welt von Damaskus aus regierte, die aufsässige Stadt im Sturm genommen und den Stein in das ferne Jerusalem entführt. Aber die Stadt konnte ihren heiligen Stein zurückerlangen. Wieviel Legenden und Überlieferungen umgeben diesen Stein! Die Muselmanen glauben, der Allerhöchste selbst habe Adam diesen Stein gesandt. Und zwar über den rächenden Boten Gottes, Dshabrail - den Erzengel Gabriel. Später, nach vielen Tausenden von Jahren, habe der
Urvater des hiesigen Stammes, Ibrahim - Abraham, der zusammen mit seinem Sohn Ismail diesen Tempel erbaute - die irdische Heimstatt Allahs, den Stein, in dem Gemäuer verankert. In religiösen Schriften steht geschrieben, daß der Stammvater der Araber zusammen mit seiner Mutter im Tempel unter diesem Stein begraben liegt. Die Legende über die außerirdische Herkunft des Schwarzen Steins - womöglich der Nachhall eines realen Ereignisses - besagt, in vorhistorischen Zeiten sei ein Himmelskörper in der Arabischen Wüste niedergegangen. Einige Historiker vermuten, daß ein Meteorit in die Tempelmauer eingefügt worden ist. Auf diese Frage könnte nur die Wissenschaft antworten, doch bis heute hat sie keinen Zugang zum Schwarzen Stein erhingt. Das eifersüchtige Verhältnis der Diener Gottes zum Heiligtum des Islam drückt sich auch in der "Verteidigung" dieses Steins vor den "Ungläubigen" aus. Todesgefahr droht jedem, der sich ihm mit anderen als religiösen Zielen nähert. All das fördert immer neue Legenden und Geheimnisse um den Schwarzen Stein.
Schon als Kind hörte Usman Geschichten von dem Stein, doch er schenkte ihnen nicht viel Beachtung - was ging ihn ein Stein an, der so weit weg von ihm war. Als aber die Pilgerreise ins Haus stand, wurde sein Interesse wieder wach. Und wenn ich versuche herauszukriegen, was nun wirklich an diesem schwarzen Brocken dran ist, der da in der Tempelmauer klebt? Wenn es tatsächlich ein Meteorit ist, würde ich gern seine innere Struktur untersuchen . Von diesem Tag an schob Usman alles andere beiseite und bereitete sich insgeheim - der Vater durfte davon
selbstredend nichts erfahren - auf dieses ungewöhnliche Unternehmen vor. Wieder nahm er sich alle Bücher vor, die über den Schwarzen Stein berichteten, selbst die obskursten Beschreibungen in religiösen Schriften. Mit ungekanntem Eifer legte er Charakter und Bedingungen des Experiments fest. Er war überzeugt, daß es ihm gelingen würde, die Kristall- und Elektronenstruktur des Steinmaterials zu bestimmen. Die Zeit drängte, und so verbrachte er Tag und Nacht im Labor, bemühte sich, seine Apparatur diesem Versuch anzupassen: Er konstruierte eine handliche Miniaturvariante seines Lasers und einen hochempfindlichen Empfänger, um die verschiedensten Strahlungen zu registrieren. Schließlich war er soweit, und alles hatte bequem in einer Aktentasche Platz. Und nun stand er mit dieser Tasche vor der hohen Tempelmauer. Viel Zeit hatte er nicht zur Verfügung. Er mußte diesen Ort verlassen haben, bevor in der Frühe die ersten Pilger, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht in die Berge gegangen waren, die Moschee betraten. Deshalb hatte er sich einen genau fixierten Aktionsplan zurechtgelegt. Um die ihn interessierenden physikalischen Eigenschaften des Steins zu bestimmen, wollte er die Reflexion und Absorption in unterschiedlichen Frequenzbereichen messen. Er begann mit der Reflexion. Für diesen Zweck bearbeitete er eine kleine Stelle an der Oberfläche des Steins mit einer speziellen Lösung und richtete den Laser darauf, der auf einen zusammenklappbaren Dreifuß montiert war. Auf diesem Dreifuß, direkt neben dem Laser, befand sich auch der Empfänger, der die Strahlung registrierte. Dann stellte er den Laser auf automatische Veränderung der Wellenlängen ein. Das Gerät zeichnete ein Diagramm der
Leuchtdichte des reflektierten Strahls auf ein schmales Papierband - beginnend mit Radiowellen bis hin zu kurzwelliger Gammastrahlung und erfaßte auf diese Weise einen ausgedehnten Bereich elektromagnetischer Wellen.
Usman verfolgte aufmerksam die Aufzeichnungen. Nach einer gewissen Zeit erschien auf dem Stein ein dunkelroter Fleck, der nacheinander alle Regenbogenfarben annahm und allmählich als violetter Nebel verschwand. Usman selbst schien in diesen Nebel einzutauchen - der altertümliche Tempel, die gewaltige Moschee und die fesselnde Welt der Legenden, die mit ihnen verbunden waren, existierten nicht mehr. Da war nur noch der Stein als Objekt der Forschung. Er vergaß alle Zweifel und alle Gefahr. Da war nur noch die schöpferische Unruhe des Forschers, der mit Spannung Verlauf und Resultat des Experiments verfolgte. Nachdem der Laser den Bereich der weichen Röntgenstrahlen durchlaufen hatte, schaltete er sich automatisch
ab. Noch einmal warf Usman einen Blick auf das aufgezeichnete Diagramm. Dann machte er sich an die nächste Etappe des Versuchs. Dazu mußte er die Laserstrahlung durch die gesamte Dicke des Steins schicken und die Intensität des durchgegangenen Strahls messen. Anhand seiner Leuchtdichte konnte er dann die Absorptionsfähigkeit des Steins beurteilen. Usman ertastete einen kleinen Höcker auf der Oberfläche des Steins und richtete den Laser von der Seite auf diese Stelle. Der Empfänger, der nun gegenüber dem Laser postiert war - auf der anderen Seite des Höckers mußte jetzt den Strahl registrieren, der durch den Stein durchgegangen war. Als der Empfänger den Strahl "eingefangen" hatte, schaltete Usman die Apparatur ein. Die nervöse und physische Belastung der letzten Tage machten sich bemerkbar. Usman reckte sich, hob den Kopf und betrachtete den Sternenhimmel . Als er sich wieder dem Gerät zuwandte, stellte er fest, daß der Laser sich bereits im Bereich der weichen Röntgenstrahlen befand. Plötzlich vernahm er ein feines und leises Pfeifen, dessen Quelle er nicht ausmachen konnte. Erstaunt blickte er sich um, sah auf die Geräte, dann auf den Stein. Von der Stelle, aus der der Laserstrahl aus dem Stein kam, ging eine dünne, aber kompakte weiße Rauchsäule aus. Das geschah so unerwartet und plötzlich, daß Usman völlig irritiert war. Innerhalb weniger Augenblicke bildete sich über dem Stein eine formlose dichte Dampfwolke. Sein erster Gedanke war, daß der Laser etwas verbrannt hatte. Brannte gar der Stein selbst? Er mußte sofort den Laser abschalten! Doch als er im Begriff war, das zu tun, schien es ihm, als ob sich die formlose Wolke rasch verdichtete und sich der Dampf zu einer Säule zurückbildete. Mit
starrem Blick verfolgte er die Erscheinung. Tatsächlich, die Wolke hatte sich fast aufgelöst, die Dampfsäule wurde schmaler und kürzer und verschwand schließlich an der Stelle im Stein, wo sie ausgetreten war. Usman war verwirrt und wartete voller Spannung. Doch es geschah weiter nichts. Die Minuten vergingen, ringsum herrschten wie vordem Dunkelheit und Stille. Seine Stirn bedeckte sich mit winzigen Tröpfchen kalten Schweißes. Als er wieder einigermaßen beisammen war, näherte er sich dem Stein und betrachtete aufmerksam die Stelle, wo der Dampf herausgekommen war. Er suchte nach Spuren dieses sonderbaren Vorganges. Nichts! Dann erst erinnerte er sich an das Absorptionsspektrum. Hastig zog er den Papierstreifen heraus und erkannte beim Schein der Taschenlampe, daß das Diagramm eine Kurve mit unzähligen scharfen Zacken aufwies. Ihm war klar, daß er anhand dieser komplizierten Kurve irgendwelche Schlüsse über die Struktur des Steins nur bei sorgfältiger Analyse, und zwar ausschließlich unter Laborbedingungen, würde ziehen können. Gewohnheitsmäßig verfolgte er das Spektrum und verharrte an einer der Zacken im Bereich der weichen Röntgenstrahlen, die wesentlich höher als die übrigen war. Das bewies, daß der Stein hier fast vollständig die Laserstrahlen absorbiert hatte. Wenn es wirklich so war, dann . Ohne sich noch vollends schlüssig zu werden, schaltete Usman einer Intuition folgend, die Apparatur ein, stellte den Laser auf weiche Röntgenstrahlen ein und dirigierte ihn näher zu dieser Zacke. Voller Erregung beobachtete er die Oberfläche des Steins. Die Erscheinung wiederholte sich: ein schwaches Pfeifen, eine feine weiße Dampfsäule, ein Wölkchen über dem Stein . Und das Gerät zeichnete die schon bekannte Zacke.
Aber was war das? Während Usman die Dampfwolke betrachtete, bemerkte er auf einmal, wie sich in ihrem Inneren vielfarbige Figuren bildeten, die unablässig Form und Ausmaß änderten. Dann verdichtete sich die Wolke abermals und begann sich in den Stein zurückzuziehen. Plötzlich fuhr er zurück. Er hatte das Gefühl, daß irgend etwas in der Wolke ihn unverwandt fixierte. Nein, nein, er sah dort niemanden, vielmehr spürte er auf sich einen starren Blick. Als sei für einige Augenblicke ein diffuses Auge aufgetaucht, das das Innere der Wolke beherrschte. Innerhalb weniger Sekunden war alles verschwunden. Usman überfiel ein Zittern. Unwillkürlich ließ er sich auf den Steinfußboden nieder und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Jetzt wurde ihm das Ungewöhnliche seines Experiments und auch des Ortes bewußt, an dem er es durchführte. Zum erstenmal bekam er Angst in diesem Tempel. In seinem Kopf drehte sich alles, vor seinen Augen wogten verschwommen die weißen Gewänder der Pilger, deren Augen ihn voller Trauer und Wehmut aus dem Dunkel zu beobachten schienen. Er konnte das Experiment jetzt nicht weiterführen, zu groß war der Schock. Er stand auf, und hastig, ohne sich weiter umzusehen, packte er seine Sachen zusammen. Gegen Morgen erreichte er das Gasthaus. Obwohl er zum Umfallen müde war, konnte er nicht einschlafen. In seinem Kopf herrschte ein wirres Durcheinander. Es war ihm, als verliere er den festen Boden unter den Füßen, auf dem er sein ganzes bewußtes Leben gestanden hatte. Einer Sache jedoch war er sich völlig sicher: Jene unbegreifliche Erscheinung war in dem Moment eingetreten, als der Schwarze Stein die Laserstrahlen im Bereich der
weichen Röntgenstrahlen zur Gänze in sich aufgesogen hatte. In beiden Fällen, als aus dem Stein der Dampf austrat, hatte der Laser automatisch die Wellenlänge geändert und den Absorptionsbereich des Steins verlassen. Es war, als hätte die Erscheinung auf halbem Wege halt gemacht, ohne ihre volle Entwicklung erreichen zu können. Und er fragte sich beklommen, wie dieses rätselhafte Experiment geendet hätte. Warum war das gerade mit diesem Stein passiert? Usman war es gewöhnt, sich allem Ungewöhnlichen gegenüber gelassen zu verhalten, auch wenn es auf den ersten Blick unnatürlich erschien. Nur nicht hier, nicht an diesem Ort! Die geringste Merkwürdigkeit, die bei diesem Stein auftrat, würde Millionen Menschen in ihrem fanatischen Glaubenseifer nur noch bestärken. Der Schwarze Stein, würde es heißen, hätte seine Außergewöhnlichkeit bewiesen. Nachdem er, Usman, das entdeckt hatte, würde die Aureole des Geheimnisvollen um diesen Stein nur noch zunehmen. Hatte er das angestrebt? Sollte er nicht besser seine Versuche einstellen? Und niemand würde je etwas erfahren . Doch diese kurze Schwäche war schnell vorbei. Nein, es gab nur einen Weg! Solange er noch die Chance hatte, mußte er zum Kern dieser seltsamen Erscheinung vordringen. Aber allein, denn es hätte keinen Sinn, irgend jemandem davon zu erzählen. Die Priesterschaft, von der der Zutritt zum Tempel abhing, würde keine weiteren Experimente mit dem Stein gestatten. Es sei denn, sie könnte sie nutzen, um die religiöse Hysterie um die Moschee weiter anzuheizen. Doch Usman verwarf diesen Gedanken. Er mußte auf sich allein gestellt weitermachen. Nur noch
eine einzige Nacht blieb ihm, dann würden die Pilger aus den Bergen zurückkehren und wieder die Moschee bevölkern. Diese Nacht mußte die Entscheidung bringen. Nach kurzer Überlegung beschloß Usman, wenigstens eine Sache zu klären: Was würde passieren, wenn der Stein vom Laserstrahl völlig absorbiert wurde? Den ganzen Tag, während er durch die Stadt streifte, erinnerte er sich immer wieder an den schrecklichen Blick, der ihn aus der Wolke verfolgt hatte. Dafür gab es einfach keine einleuchtende Erklärung. Es mußte eine Halluzination gewesen sein, der er unter dem Einfluß seiner Anspannung und Erschöpfung erlegen war. In der kommenden Nacht suchte er abermals die Moschee auf. Diesmal stellte er den Laser gleich so ein, daß er vom Stein stark absorbiert wurde. Aber der Stein reagierte nicht, er zeigte keinerlei Anzeichen von "Leben". Es verstrich viel Zeit, bis Usman endlich begriff, daß er die "empfindliche" Stelle des Steins nicht getroffen hatte. Zweimal ertönte für einen kurzen Moment das bekannte Pfeifen. Auf die Bestrahlung anderer Punkte reagierte das Objekt nicht. Usman mußte einsehen, daß er beim ersten Experiment einfach Glück gehabt hatte. Hätte der Strahl eine andere Stelle getroffen - um ein paar Millimeter seitwärts oder aber den Punkt selbst, nur unter einem anderen Winkel -, nichts wäre passiert. Die Zeit verging. Vor Aufregung brach ihm der Schweiß aus. Methodisch, Millimeter um Millimeter, sondierte er die Oberfläche, um den gestrigen "Kanal" zu treffen, durch den der Stein aktiv geworden war. Immer wieder veränderte er den Einfallswinkel des Strahls. Er war schon der Verzweiflung nahe, als endlich der Stein reagierte. Er
vernahm das bekannte Pfeifen, dann bildete sich die weiße Wolke, diesmal genau über ihm. Geradezu gierig verfolgte Usman die Vorgänge. Die dichte weiße, von innen leuchtende Wolke dehnte sich in vertikale Richtung. Wieder bildeten sich in ihrem Inneren vielfarbige, ständig ihre Form verändernde Figuren. Obwohl es wie beim erstenmal unverständlich war, war es doch wenigstens bekannt. Was aber würde weiter geschehen? Er brauchte nicht lange zu warten. Die Wolke, die etwa eine Höhe von vier bis fünf Metern erreicht hatte, hörte nun auf zu wachsen. Für einige Sekunden verharrte sie als gekrümmte Säule, dann zog sie sich zusammen, verdichtete sich und bildete . eine abstoßende menschliche Figur. Vor Entsetzen wich Usman einige Schritte vor diesem Ungeheuer zurück. Vor der dunklen Tempelwand zeichnete sich ein gewaltiger Kopf ab, der mehr und mehr menschliche Züge annahm: Es erschienen Augen - die gleichen, die ihn in der vorigen Nacht so erschreckt hatten. Sie schauten Usman eindringlich an. Unter dem Eindruck dieses Blickes wich Usman noch weiter zurück, strauchelte und fiel hin, doch er konnte sich der hypnotischen Kraft dieser kalten Augen nicht entziehen. Das Ungeheuer nahm endgültige Gestalt an, doch es zeigte keinerlei Anzeichen von Leben. Es stand vor Usman auf seinen formlosen Beinen, die eine feine Rauchsäule mit dem Schwarzen Stein verband. Die langen Arme gingen in unproportional große Hände über. Aber all das war nichts im Vergleich zu dem gräßlichen Gesichtsausdruck, zu den Augen. Das Ungeheuer hatte nichts Irdisches an sich. Im Verlaufe von Millionen Jahren hat sich beim Menschen offensichtlich eine natürliche Beziehung zu allem
herausgebildet, was er auf der Erde sieht und hört. Und nur das kann die menschliche Psyche als normal empfinden und aushalten. Das jedoch, was sich jetzt vor Usman abspielte, lag außerhalb der Grenzen menschlichen Begreifens. Der glatte, orangegetönte Körper des Ungeheuers leuchtete von innen heraus und hob sich deutlich von der dunklen Wand ab. Es stand da und blickte ihn unverwandt mit seinen großen grünen Augen an. Obwohl Usman vor Angst fast gelähmt war, stellte sein Hirn, wie ein einmal in Gang gesetzter Motor, fieberhaft alle möglichen Mutmaßungen an, darunter auch die unwahrscheinlichsten . War es möglich, daß der Besitzer des Ringes, der alles vermochte, der Beherrscher aller Geister, der Prophet Suleiman, der Sohn Davids, einen seiner furchtgebietenden Dshinns geschickt hatte, um den Stein vor lästerlicher Schändung zu schützen? Aber vielleicht würde auch gleich hallendes Gelächter erklingen, und der Dshinn würde mit heiserem Baß seine Jahrhunderte währende Geschichte erzählen und Usman wegen seines dummen Streichs verhöhnen. Die schrecklichsten Dshinns der östlichen Mythologie hatten der Beschreibung nach ein weitaus "menschlicheres" Aussehen als dieser hier . Vielleicht würde das Ungeheuer gleich seine Hände auf der Brust kreuzen, und durch die Moschee würde eine furchtbare Stimme dröhnen: "Ich gehorche und bekenne mich schuldig!" Doch in diesen Augen war nichts von Demut und Unterwürfigkeit. Nichts Lebendiges sprach aus ihnen. Da war nur diese schreckliche Kälte. Wie lange noch sollte er, Usman, diese Ungewißheit er-
dulden? Doch inzwischen war eine Veränderung eingetreten, nur hatte Usman sie nicht gleich wahrgenommen. Gefesselt von diesem grauenhaften Blick hatte er die Umgebung völlig außer acht gelassen. Die Augen des Ungeheuers hatten sich geweitet und jegliche Konturen eingebüßt, geblieben war nur der durchdringende Blick. Er schien von allen Seiten zu kommen. Es war kein Auge mehr, es existierte nur noch der Blick! Ringsum herrschte dumpfe beklemmende Stille. Und in diese Stille brach plötzlich eine klare Stimme, die Usman zusammenzucken ließ. "Usman!" Die Stimme war furchterregend, weil sie von überall herkam - eine unheimliche Kombination unnatürlicher Töne. Sein Name war dennoch überdeutlich zu hören gewesen. "Usman, denke jetzt an nichts. Bald wirst du die Antwort auf alles erhalten, was dich quält. Konzentriere dich und höre mir zu ." Die letzten Worte "konzentriere dich und höre mir zu" wurden schwächer und wiederholten sich, wie ein Echo, mehrere Male. Dann trat wieder absolute Stille ein.
Jetzt im Krankenzimmer und bei vollem Bewußtsein versuchte Usman, sich Klarheit zu verschaffen. Was war mit ihm passiert in jenem Moment, als das Ungeheuer verschwand und ihm versprochen hatte, daß er auf alle Fragen eine Antwort erhalten würde. Während einer langen Zeit, so schien ihm nun, hatte er eine Art Predigt gehört, die von einer monotonen Stimme vorgetragen wurde. Aber war da überhaupt eine Stimme gewesen? Im üblichen Sinne des Wortes hatte die Stimme keinen Klang
gehabt. Und er konnte sich auch nicht erinnern, in welcher Sprache sie gepredigt hatte. Die Worte, oder vielmehr der Sinn, klangen nicht in seinen Ohren, sondern in seinem Gehirn, irgendwo in den fernen Verästelungen des Bewußtseins. Offenbar hatte er nicht alles deutlich aufgenommen, was ihm "eingeflößt" worden war, denn vieles entzog sich seiner Erinnerung. Da war die "Rede" gewesen von den Gesetzen irgendeiner Gesellschaft, von den Verhaltensnormen ihrer Mitglieder . Plötzlich brach die "Stimme" ab. Die Erscheinung jedoch verschwand nicht, wie vordem hing das Gebilde über ihm. Merkwürdigerweise aber fühlte Usman diesmal keinerlei Angst. Im Gegenteil: Achtungsvolle Ehrerbietung und große Ruhe gingen von dem Wesen aus. Wie zuvor blickte es ihn eindringlich an. Dann sprach der "Dshinn". "Usman, ich bin ganz in deiner Hand", tönte die überirdische Stimme. "Hier, diese Energiequelle hat mich erweckt." Dabei hob der "Dshinn" unbeholfen die Hand, und ohne ein Auge von Usman zu lassen, zeigte er auf den Laser, der ein schmales Bündel Röntgenstrahlen auf den Stein richtete. Usman hatte immer noch nicht die Kraft gefunden, eine Frage zu stellen. Als ob der "Dshinn" das verstanden hätte, fuhr er fort: "Ich werde dir alles erklären. Ich habe dein Gehirn studiert, kenne alles, was darin verborgen ist. Ich kenne auch deine Weltanschauung. Dein Wissen und deine Überzeugung kommen dem sehr nahe, was wir euch beibringen wollten. Doch konnten wir unser Ziel bei den vorangegangenen
Versuchen nicht erreichen. Die Angst, die unsere Experimente den Menschen eingeflößt haben, hat ihr Bewußtsein getrübt. Sie haben unsere Lehren verzerrt aufgenommen, haben blind an uns geglaubt als an eine Art mystische höhere Wesen, die über einen absoluten Verstand verfügen. Du kennst natürlich die Resultate der wesentlichsten Experimente: das erste, das vor mehr als über dreitausend Jahren an dem durch die Wüste irrenden Volksstamm durchgeführt wurde; das zweite an dem neugeborenen Kind vor fast zweitausend Jahren am Ufer des Salzmeeres [Die Bezeichnung Totes Meer ist nicht biblisch und stammt aus dem 2. Jhd. u. Z.] und schließlich das dritte, das zufällig geschah, hier inmitten der Steine dieser Berge", hierbei wies der "Dshinn" in die Richtung, in die Usmans Vater mit den anderen Pilgern gezogen war. "Das war vor über siebenhundert Jahren. Ich habe dein Gehirn studiert und erkannt, daß die Menschheit seit unserem letzten Experiment weit fortgeschritten ist. Offenbar nicht das Ergebnis unserer Einmischung in euer Leben . Diese Erkenntnis aber kann ich nicht den Unseren übermitteln. Unser Schiff ist verschollen, möglicherweise sogar untergegangen - noch zu jener Zeit, als wir das zweite Experiment durchführten. Höchstwahrscheinlich sind uns Fehlberechnungen unterlaufen, als wir die physikalisch-chemischen Bedingungen eures Planeten untersuchten, vor allem aber, was die Entwicklung der Lebewesen und der Gesellschaft betrifft. Solche Experimente sind vermutlich immer zum Mißerfolg verdammt ." Plötzlich machte der "Dshinn" eine eigenartige Bewegung, als schüttele es ihn, und langsam begann er sich
aufzulösen. Wie aus der Ferne vernahm Usman die Worte: " . der andere Apparat liegt inmitten von großen Steinen irgendwo in den umliegenden Bergen ." Der "Dshinn" verwandelte sich in eine formlose weiße Wolke, und der Schwarze Stein saugte diese Wolke in seine unsichtbare Öffnung ein. Alles war vorbei. Erst nach einigen Minuten dachte Usman an seine Geräte. Doch der Laser funktionierte nicht mehr, die Energie war versiegt.
In Usmans Kopf summte es wie in einem Bienenstock. Er dachte nicht mehr daran, daß er sich beeilen, daß er schnellstens von diesem Ort verschwinden mußte. Seine frühere Vorsicht war von ihm abgefallen. In seinem Innern fühlte er eine eigentümliche Veränderung. Träge packte er seine Gerätschaften zusammen, verlor sich in Gedanken, suchte nach Erklärungen für das Vorgefallene. Da ertönte ein durchdringender Schrei, der gleichsam die Stille zu
zerschneiden schien . Noch jetzt überfiel Usman ein Zittern, wenn er an den hysterischen Schrei dachte, der ihn gewaltsam in die Realität zurückgeholt hatte. Es war der Ruf des Muezzin, der oben von einem Minarett der Moschee die Gläubigen zum Frühgebet rief. Sich mit dem Echo verbindend, das von den Galerien widerhallte, füllte die hohe singende Stimme die Stille der Moschee. "Ihr Muselmanen! Rettet den Heiligen Stein vor dem Frevel! Schützt Allahs Heimstatt vor den Ungläubigen! Im Namen Allahs eilt herbei!" Erst jetzt merkte Usman, daß es längst hell geworden war. Ärgerlich blickte er auf seinen dunkelblauen Anzug und auf seine Gerätschaften - das mußte ja die hysterische Erregung des Muezzin hervorrufen! Wahrscheinlich hatte dieser Mann, der sein ganzes Leben innerhalb der Moschee verbrachte, zum erstenmal am Stein einen Menschen erblickt, der nicht das schneeweiße Echro [die Pflichtkleidung der Pilger, die die Moschee betreten; bestehend aus zwei weißen Stoffbahnen], das Pilgergewand, trug. Innerhalb weniger Minuten eilten aus den zahlreichen Zellen, die unterhalb der Galerie lagen, die Gläubigen herbei. Der Ruf vom Minarett rief immer mehr Menschen in weißen Gewändern. Die anfängliche Verwirrtheit legte sich, und mit Stöcken, Steinen und allem bewaffnet, was ihnen in die Hände gefallen war, eilte die Menge zum Tempel und umgab ihn in einem dichten Kreis. Lärm und Geschrei übertönten die Stimme des Muezzin. Wieder kam Usman zu sich. Er war allein im Kranken-
zimmer. Wieviel Zeit er bewußtlos dagelegen hatte, er wußte es nicht. War inzwischen eine weitere Nacht vergangen? Oder mehrere? Er wollte jetzt nicht an das schreckliche Ende seines Abenteuers denken. Er rief sich den "Dshinn" in Erinnerung. Was bedeutete das alles? Was hatte ihm dieses formlose Wesen vermitteln wollen? Plötzlich ging ihm ein Licht auf, als risse die Dunkelheit, die ihn bisher umgeben hatte, mit einemmal auseinander. Natürlich! Die in seinem Gedächtnis haftengebliebenen Bruchstücke der "Predigt" erinnerten an die Gebote aus den Heiligen Schriften der Religionen der Menschheit! "Das ist der Schlüssel", vernahm er ein Wispern, "der Schlüssel, der dir alle Tore zu den Geheimnissen des Altertums öffnen wird. Sieh, da liegen sie vor dir, du darfst dich nur nicht irre machen lassen." Usman schien tatsächlich durch dieses in seiner Einbildung existierende Tor einzutreten, und es benahm ihm fast den Atem, als er die Fülle der sich vor seinen Augen entfaltenden Geheimnisse wahrnahm. Einzelne, auf den ersten Blick völlig zusammenhanglose Ereignisse der Vergangenheit wurden durch die Erinnerung an sein nächtliches Abenteuer am Schwarzen Stein aus dem Dunkel geholt und bildeten ihre "Etagen" in dem Jahrhunderte alten Gebäude der Geschichte. Wände und Decken des kleinen Raumes schienen zurückzuweichen. Jahrhunderte überwindend, trug es Usman in den Strudel der Ereignisse des fernen Altertums . Vor seinen Augen tauchte die kleine Figur eines Menschen auf, der angestrengt einen Berghang erklomm. Moses strebte beharrlich höher und höher. Kleine Steine
lösten sich unter seinen Füßen, Buschwerk versperrte den Weg und machte den ohnehin ermüdenden Aufstieg noch beschwerlicher. Die Sonne war längst hinter den Gipfeln verschwunden. Von jenseits der Berge, wo das Meer liegen mußte, wehte ein kühler. Wind. Der Schweiß, der eine Strähne seiner schwarzen dichten Haare verklebt hatte, begann auf der Stirn zu trocknen. Von Zeit zu Zeit blickte Moses zurück und suchte mit den Augen die tief unten liegenden bunten Zelte und die dunklen Punkte, die zwischen ihnen hin und her huschten. Die abgeflachte Bergkuppe war schon nahe. Da verfing sich sein leinener Chiton in den dornigen Büschen. Er hob das Gewand bis zu den Knien und entblößte die kräftigen Füße, die in grobledernen Sandalen steckten. Je näher er dem Ziel war, desto größer wurden seine Gewissensbisse. Warum laufe ich vor meinen Leuten davon, dachte er. Sie sind mir doch gefolgt, ungeachtet der unerträglichen Strapazen . In der Tat war er vor ihnen davongelaufen, denn er hatte ihnen auch heute nichts Schlüssiges sagen können. Gestern, als er über das nahe Ende ihres Marsches gesprochen hatte, über das fruchtbare Land, das sie erwartete, hatte er gefühlt, daß ihm niemand mehr glaubte. Die Jungen, die sich in einem Grüppchen abseits hielten, hatten ihn mit unverhohlener Feindschaft angeblickt. Heute hatte er erst gar nicht abgewartet, ob sich die Menschen mit beginnender Abendkühle um ihn scharten, um ihn an die gestrigen Versprechungen zu mahnen. Unbemerkt war er auf diesen trostlosen Berg gestiegen, an dessen Fuß sein Stamm das Nachtlager aufgeschlagen hatte.
Er wollte allein sein, die ganze Nacht. Er wollte das weitere Schicksal seines Stammes überdenken, der ihm schon seit vielen Monaten vertrauensvoll folgte. Er wollte allein die kühle Brise atmen, die herüberwehte vom nahen Meer, das er seit Tagen erahnt hatte. Als Moses den Gipfel erreichte, war die Dämmerung angebrochen. Von hier überblickte er die freudlose Ebene der steinigen Wüste, die von ebenso freudlosen Hügeln und Felsaufschüttungen unterbrochen wurde. Es wurde zusehends dunkler. Am westlichen Himmel leuchtete die Venus. Moses sah in die Tiefe. Hier und da waren bereits Lagerfeuer entfacht worden. Die Abendkälte ließ ihn frösteln. Er blickte sich um und entdeckte unweit eine enge Felsspalte, die von zwei großen bizarr geformten Steinen gebildet wurde. Moses zwängte sich in dieses natürliche Versteck, nicht ohne furchtsam auf kleines Getier zu achten, das durch das trockene Gras huschte. Ermattet ließ er sich nieder und stützte den Kopf in die Hände. Von hier sah er ein Stück Himmel, an dem mehr und mehr Sterne aufflammten. Endlich überkam ihn die langersehnte Ruhe. Er ließ alle Sorgen hinter sich und dachte nur noch an sich selbst. Seit langem war er solcher Gedanken entwöhnt. Wie alt bin ich nun? Wie wird es mit mir weitergehen? Werde ich auch morgen Essen und Trinken haben? Und wenn nicht, wäre das so furchtbar? Wenn es nur um mich allein ginge . Seit Monaten schlief er in dem engen Zelt, begleitet von Kindergebrüll und dem Stöhnen der Alten, das ihn von allen Seiten umgab; er schlief ein mit quälenden Gedanken und der verzweifelten Hoffnung auf den kommenden Tag. Diese Sterne, überlegte er, leuchten ja auch über Ägyp-
ten. Warum nur sind wir von dort fortgezogen? Das qualvolle Irren durch die Wüste hatte die Gründe ihrer Flucht verschleiert. Moses wußte, daß die Menschen sie längst vergessen hatten. Mit Schrecken bemerkte er, daß es auch ihm so erging. Warum hat mir das Schicksal eine solche Bürde auferlegt? Er verlor sich in der Erinnerung . Kindheit und Jugend hatte Moses am Hof des ägyptischen Herrschers verbracht. Man hatte ihn in Staatsangelegenheiten unterrichtet, die Kriegskunst und auch das Wissen um den geheimen Sinn der religiösen Schriften gelehrt. Er hatte viel gesehen und viel gelernt. Doch als verhängnisvoll hatte sich die Einsicht erwiesen, als er erkannte, in welch erniedrigender Situation sich seine Stammesbrüder befanden, die isoliert von den Ägyptern auf einer der Inseln im Nildelta lebten, unweit der Hauptstadt des Pharaos. Ihm wurde klar, daß der Stamm, der durch den Willen des Schicksals seit ewigen Zeiten hier lebte, niemals die gleichen Rechte wie die Ureinwohner Ägyptens erlangen würde. Als er erfuhr, daß fern im Osten Stammesverwandte seines Volkes in Freiheit lebten, war es mit seiner Ruhe vorbei. Gedanken über die Rettung seiner Stammesgenossen wurden wach. Doch es vergingen Jahre, bis er sie überzeugen konnte, dieses Land zu verlassen, um sich mit ihren fernen Brüdern zu vereinigen. Seinen Traum aber konnte Moses erst dann verwirklichen, als die Ältesten des Geschlechts einer nach dem anderen starben und er selbst einmütig an die Spitze des Stammes gesetzt wurde. Es starb auch der mächtige Pharao, und sein Nachfolger konnte auf dem gewaltigen Ter-
ritorium, das von den Ufern der westlichen Meere bis an die Mauern Babylons reichte, seine Macht nicht so schnell festigen. Das war der Zeitpunkt, da Moses seinen Stamm auf den weiten Marsch führte. Es folgten Monate mühevoller Wanderung von etlichen zehntausend Menschen durch unbekanntes Land. Sehr bald begriff Moses seinen Grundfehler. Er mußte einsehen, daß kein Stamm eine solche Menge hungernder Menschen frei sein Land passieren ließ. Man fürchtete sie wie eine Heuschreckenplage, die alles auf ihrem Weg kahlfraß. Nach einigen blutigen Zusammenstößen mußte Moses den Weg durch die menschenleere heiße Wüste nehmen. Sogar von verwandten Stämmen, auf die sie unterwegs trafen, erhielten sie keine Unterstützung. So irrten sie durch die Einöde in der Hoffnung, irgendwo unbesiedeltes fruchtbares Land zu finden, um sich dort niederzulassen . Jetzt zweifelte selbst Moses am Erfolg. Soll ich wirklich Schuld haben am Untergang meines Volkes, das ich doch von der Unterjochung erretten wollte? Ein unerträglicher Gedanke! Er hatte seine übliche Zuversicht verloren und auch die Macht über seinen Stamm. In dieser Wüste und inmitten der düsteren Felsen hatte er etwas Wesentliches, Unwiederbringliches eingebüßt. Wie konnte er seinen Führerstab zurückerlangen? Als er ihn noch besaß, hatte er ihn nicht genügend geschätzt . Dort unten lagert mein Volk, ich aber fürchte mich, zu ihm zurückzukehren. Ich kann es nicht länger betrügen. Oder soll ich einfach von hier weggehen, irgendwohin? Meinen Tod kann ich überall finden. Ich werde ihn mit großer Erleichterung annehmen. Ich will nicht tausendmal
sterben, wenn ich den Tod jedes einzelnen meiner Stammesbrüder erleiden muß. Dieser Gedanke verschaffte ihm für kurze Zeit Erleichterung. Ein schwerer Stein schien von seiner Seele genommen. Doch die Erleichterung schwand so schnell, wie sie gekommen war. Und was wird dann, fragte er sich. Auf ewig wird mich mein Volk verfluchen, und der Stein auf meiner Seele wird um so schwerer sein, schwerer als alle Felsen dieser Wüste zusammen.
O allmächtiger Aton [Altägyptischer Gott, dessen Kult zur Herrschaftszeit des Pharao Echnaton betrieben wurde, der gegen die Vielgötterei und die Macht der Priesterkaste kämpfte.], hilf mir! Du weißt doch, daß ich ungeachtet der Todesgefahr deinen Namen immer in meinem Herzen getragen habe, daß ich stets zu dir gehalten habe, auch als ich am Hofe eines deiner Erzfeinde lebte. Hast du denn
nicht bemerkt, daß ich in den vielen Jahren jeden Morgen deine ersten Strahlen begrüßt habe, die die Spitzen der höchsten Pyramiden beschienen? Und jeden Abend habe ich mich von dir verabschiedet, wenn du uns verließest und den Himmel im Westen mit wehmütigen Farben überzogst. Du konntest nicht wissen, daß ich zusammen mit deinen heimlichen Verehrern allnächtlich das Achetataton aufsuchte - deine von allen vergessene Heimstatt. Lange irrten wir durch die menschenleeren zerstörten Straßen der heiligen Stadt und warteten unter dem kalten Licht des Mondes auf dein geheimnisvolles Erscheinen. O Aton, wie haben wir das Schicksal deines unglücklichen Sohnes Echnaton beweint, wenn wir die verwischten Spuren seines Namens auf den Mauern der zerstörten Stadt sahen . Wann wirst du aufhören, mein Volk mit deinen gnadenlosen Strahlen zu verfolgen, die mit heißem Atem alle Brunnen austrocknen und das Gras auf dem Weg verdorren lassen? Leuchte und zeige mir den Weg! Wir werden deine Stadt an einem neuen Ort wiedererrichten. Moses lag auf den Knien und streckte die Arme zu den fernen Bergen, wo die Sonne untergegangen war. Dann lehnte er sich erschöpft an den kalten Fels. Ein scharfes kurzes Pfeifen durchschnitt die Stille der Nacht. Moses hörte nichts. Alles um ihn herum war ihm fremd, kalt und gleichgültig. Das Himmelsgewölbe dehnte sich endlos über ihm. Nirgendwo war Hilfe. Sie war ebenso unmöglich wie das Auftauchen der Sonne an der Stelle, wo sie unlängst untergegangen war. Plötzlich erschien vor ihm die übergroße Gestalt eines Menschen. Geräuschlos trat er aus den Felsen, ganz in ein
blendendes Licht gehüllt. Moses schloß furchtsam die Augen und bedeckte sie mit der Hand. Als er nach einem Moment seine Hand wegnahm, stand der Mensch noch immer da. Eine unheimliche, doch ruhige Stimme erfüllt die Stille. "Moses, ich werde dir helfen. Du wirst dein Volk retten ." Die ersten Sonnenstrahlen trafen Moses schon nicht mehr auf dem Berggipfel. Wie auf Flügeln trug ihn die Zuversicht den Berg hinunter. Er eilte zu seinen Stammesbrüdern. Die seit langem vergessene gebieterische Stimme ihres Führers rief die Menschen zum Aufbruch. Als sich alle um ihn versammelt hatten, hielt er eine flammende Rede, die ihnen noch lange im Gedächtnis blieb. Er erklärte ihnen, daß der einzige und mächtige Gott seine Gebete erhört hätte und den Heimatlosen helfen werde. Er sprach von der geheimnisvollen Erscheinung des Gottes inmitten des Himmelslichts, von seinen Anordnungen, die das künftige Leben des Stammes bestimmen würden. Wenn sie ihnen folgten, würden sie endlich das langersehnte fruchtbare Land erreichen. Die erhabene Gestalt Moses, der seine frühere Stärke wiedererlangt hatte, verkörperte für die Menschen Gott selbst - einzig in seiner Macht und in seiner Weisheit. Nach einigen Tagen brach der Stamm unter dem Klang der Timpani [griech. Pauken] und silbernen Hörner in nördlicher Richtung auf. Moses war stark wie eh und je. Die Menschen glaubten an ihn, glaubten an das Zwiegespräch mit Gott. Sie erzählten sich, daß in manchen Nächten neben seinem Zelt, das abseits von den anderen aufgestellt war, eine rätselhafte weiße Wolke auftauchte. Einige behaupteten sogar,
sie hätten selbst die leuchtende Figur des Gottes gesehen, vor dem Moses mit geneigtem Haupt gestanden hätte. Die Regeln, die Moses für das gemeinschaftliche Leben aufstellte, führten zu ungeahnter Organisation der bisher so primitiven Struktur des Stammes. Bald schon bekamen die Städte und Siedlungen, die am Wege lagen, diese Stärke zu spüren. Eine nach der anderen ordneten sie sich ihr unter. Die Gemeinschaft wurde so mächtig, daß sie die am stärksten befestigte Stadt jener Gebiete - die Stadt, in der der ihr verwandte Stamm lebte - nach einer großen Schlacht einnehmen konnte. Moses' Geschichte, die sich in seinem Bewußtsein wie vor seinen Augen vollzog, hatte Usman sehr ermüdet. Die Nacht war vorbei, und im Krankenzimmer war es bereits hell. Sicher werden sie bald zu mir kommen, dachte er. Und er glaubte schon Schritte zu hören, die sich näherten. Als die Tür geöffnet wurde, vernahm er jedoch nichts mehr . Er öffnete die Augen. Dämmerlicht umgab ihn. Der Tag war also vorbeigegangen. Einmal, so schien es ihm, hatte ihm jemand eine geschmacklose Flüssigkeit eingeflößt. Dann hatte man ihn wieder allein gelassen. Aufs neue kehrten seine Gedanken zum nächtlichen Abenteuer an der Tempelmauer zurück. Und dann trug ihn wieder jene unbekannte, von ihm nicht zu steuernde Kraft der Einbildung in die Zeiten ferner Geschichte, diesmal zum zweiten Experiment, an die Ufer des Salzmeeres, dessen öliges Wasser träge im Schein der untergehenden Sonne schimmerte. Die Sonne war hinter dem Höhenzug der niedrigen Berge weggetaucht, die die Küste von Westen her abschirmten. Alles, was dieses Meer beherrscht, wird früher oder
später in dem ätzenden Wasser oder an seinen leblosen Ufern untergehen. Die giftige Feuchte und die ausgeglühten Steine dieser Hölle, die sich in gräßlicher Weise zuarbeiten, werden das Ihre dazu tun . Rabbi Chagudai saß auf einen Stein und betrachtete den schweren Schlag der Wellen. Wir werden hier zugrunde gehen, alle bis auf den letzten Mann. Unsere Gedanken, unsere Hoffnungen und uns selbst wird das Salz dieser Wellen zerfressen. Der Lehrer ist hingerichtet worden . Eine Woche ist seitdem vergangen. Warum habe ich noch nicht den Verstand verloren? Warum herrschen die verhaßten römischen Eindringlinge und ihre verlogenen Handlanger nach wie vor über mein Volk? Warum hat sich die Erde nicht aufgetan und sie verschlungen? Wie lange noch werden sie ungestraft die Jahrtausende gültigen Gesetze Jahves [hebt. Name des Gottes Israels, ebenso Joschua] verletzen? Der Lehrer . Sie haben ihn getötet wie einen gewöhnlichen Menschen. Doch sogar nach dem Tod hat er sein Geheimnis bewahrt. Sein ganzes Leben vollzog sich unter meinen Augen - von der Geburt bis zum Tod. Dennoch ist es auch für mich ein Geheimnis geblieben. Ich habe einen Menschen als Lehrer anerkannt, der dreißig Jahre jünger als ich war. Aber nicht nur für mich war er ein Lehrer, er war es für unsere ganze Gemeinde. Die Jahre an seiner Seite waren so ungestüm, daß ich keine Zeit hatte, all das zu überdenken, was er getan hat, zu begreifen, was für ein Mensch er war. Joschua, o Joschua . Du bist nicht mehr. Seine Gedanken, seine Worte - sie waren nicht von dieser Welt. Wir haben das verstanden, als er noch nicht einmal zehn Jahre zählte. Schon damals rügte er die Alten
ob ihres blinden Gehorsams den Römern gegenüber, ob ihrer Demut gegenüber den verlogenen Pharisäern, die die Gesetze verdrehten, die Jahve selbst uns einst gegeben hatte . Schon die Geburt dieses Menschen war so ungewöhnlich . Das war vor dreiunddreißig Jahren am Rande eines öden Städtchens. Am Tag nach seiner Geburt geschah in der Nacht etwas, woran sich die Wöchnerin noch lange erinnerte und worüber man noch Jahre in der ganzen Stadt sprach. Wie war das doch gewesen? In jener Nacht, so erzählte man sich, sei in der armseligen Hütte die Mutter von Weinen ihres Kindes aufgewacht und habe es gestillt. Plötzlich habe sie draußen ein scharfes Pfeifen gehört, und kurz darauf sei im Türspalt etwas Leuchtendes erschienen. Dichter Rauch habe augenblicks die kleine Hütte ausgefüllt. Die Mutter habe vor Schreck aufgeschrien und das Bewußtsein verloren, kurz bevor sie, wie sie später beteuerte, ein gewaltiges Auge eindringlich angeblickt habe. Man sagt, zuerst seien die Hirten zusammengeströmt, die in aller Frühe ihre Herden auf die benachbarten Ahnen auftrieben. Sie behaupteten, einen Stern gesehen zu haben, der langsam vom Himmel auf die Hütte niederging. In der Hütte aber entdeckten sie nur die besinnungslose Mutter und das Kind, das sie mit unnatürlich erwachsenen Augen angesehen habe . Rabbi Chagudai hatte selbst oft den Knaben getroffen, wie der in Gedanken versunken durch die Umgebung gestreift war. Mit den Jahren verbreitete sich dessen Ruf über das ganze Land. Menschen kamen von überallher zu ihm. Er lehrte sie das Gute und auch den Kampf. Etwas Neues, Ungewöhnliches ging von seinen Predigten aus.
Vor zehn Jahren hatte der Rabbi ihn als seinen Lehrer anerkannt. Dann folgten Jahre, in denen sie auf der Flucht waren. Eine kleine Gemeinde folgte dem Lehrer hierher, ans Salzmeer. Die düsteren Höhlen in den zerklüfteten Uferabhängen wurden für lange Zeit ihr Zuhause. Von hieraus zog der Lehrer in die umliegenden Städte, um zu predigen. Oft hatte ihn der Rabbi begleitet. Er war auch dabeigewesen bei dem berühmten Disput des Lehrers mit den Pharisäern - den ehemaligen Gesinnungsgenossen des Rabbi -, dort auf den Stufen des Tempels mit den goldenen Kuppeln. Der Rabbi war fest überzeugt, daß der Lehrer unmittelbaren Kontakt mit Jahve hatte. Auch in der Gemeinde redete man darüber . Es geschah in den Jahren erzwungenen Umherirrens. Einmal schlugen der Lehrer und seine Begleiter ihr Nachtlager in einem hügeligen Gelände auf, am Ufer des Sees von Kinnereth. Mitten in der Nacht wachte der Rabbi von einem Pfeifton auf. Auf der Spitze des Hügels bot sich ihm ein unglaubliches Schauspiel. Dort stand der Lehrer mit geneigtem Kopf vor einem schrecklichen Ungeheuer. Das Ungeheuer schwebte in der Luft und sandte ein Leuchten aus. Das Gesicht des Lehrers, von diesem Leuchten erhellt, drückte Demut und tiefe Trauer aus. Entsetzt schloß der Rabbi seine Augen. Am nächsten Tag, als er den Lehrer nach den nächtlichen Vorgängen befragte, erhielt er den zornigen Befehl, all das zu vergessen . Vom Meer weht ein kühler Wind. Der Rabbi wandte sich um. In der Ferne, in den Felshöhlen, leuchteten Feuer auf. Sie bereiten sich zum Abendmahl vor, dachte er. Ich muß eilen. Und noch heute will ich die begonnene Schrif-
trolle zu Ende bringen. Wir alle werden zugrunde gehen, doch das, was der Lehrer gesagt hat, soll den Menschen bleiben. Ich will das von ihm Begonnene vollenden. Ich vervollständige seine Lehre um die Beschreibung seines Lebens und seines leidvollen Todes. Über das zerfurchte wettergebräunte Gesicht des Alten rannen Tränen, als er an die Hinrichtung dachte. Es war wie ein schrecklicher Alptraum. Alles hatte sich an einem einzigen Tag abgespielt. Häscher hatten den Lehrer auf den Stufen des Tempels mit den goldenen Kuppeln ergriffen. Unverzüglich hatte der Hohepriester das Todesurteil gesprochen: "wegen Anstiftung zum Aufruhr und Verunglimpfung der Mitglieder des obersten religiösen Rates". Der römische Statthalter hatte das Urteil bestätigt. Am selben Tag noch wurde der Lehrer unter den sengenden Strahlen der Sonne ans Kreuz geschlagen; gegen Abend starb er unter unsäglichen Qualen. Bis zum letzten Augenblick war der Rabbi überzeugt, daß Jahve seinen Propheten erretten würde. Doch nichts geschah . Ohne sich die Tränen vom Gesicht zu wischen, schritt der Alte in gebeugter Haltung zu den Höhlen.
Nach einigen Dutzend Jahren wurde das Land von Volksunruhen gegen die römische Herrschaft erschüttert. Die Bewohner der Höhlen - Anhänger des Lehrers, die am Leben geblieben waren - verließen die Ufer des Salzmeeres und schlossen sich den Aufständischen an. In den schwerzugänglichen Höhlen ließen sie in tönernen Krügen lederne Schriftrollen zurück, die der alte Rabbi beschrieben hatte. Noch viele Jahre erzählten die Höhlenmenschen über das Leben und die Taten des halbvergesssenen Lehrers und schmückten ihre Berichte mit immer
phantastischeren Details aus. Die ledernen Schriftrollen mit seinen Predigten und seiner Lebensbeschreibung gerieten in Vergessenheit länger als ein Jahrtausend .
Immer deutlicher wurde das bekannte Murmeln. Der Vater betete zu Allah. Usman öffnete vorsichtig die Augen. Instinktiv vermied er heftige Bewegungen, die große Schmerzen hervorriefen. Der Vater saß mit halbgeschlossenen Lidern, kaum merklich bewegten sich seine Lippen. Sein Gesicht war blaß; offenbar hatte er lange nicht geschlafen. Was wird bloß aus ihm, wenn ich dies nicht durchstehe? dachte Usman. Dieser Gedanke war quälender als aller Schmerz. Eine Frau in einem weißen Kittel trat ein und sagte etwas zum Vater. Der erhob sich schweigend und verließ, gestützt auf ihren Arm, das Krankenzimmer. Dann kam die Frau zurück. Usman bekam eine Spritze, abermals wurde ihm eine Flüssigkeit in den Mund geträufelt. Und wieder blieb er allein. Langsam drehte Usman seinen Kopf zum Fenster. Durch einen Spalt in den Vorhängen sah er ein Stück blauen Himmel und darunter die gelbe Silhouette der Berggipfel, Waren das die Berge, auf die der "Dshinn" gewiesen hatte? Lag dort, inmitten des steinernen Chaos, tatsächlich ein zweiter schwarzer Stein, Abgesandter einer anderen Welt, und hütete sein Geheimnis schon mehr als anderthalbtausend Jahre? Sollte er ihn dort, wo nach islamischer Überlieferung dem Propheten die erste göttliche Erleuchtung gekommen war, dort in der vergessenen Höhle suchen? Unterdes zeichnete seine Phantasie bereits ein neues Bild .
Sich zwischen den Steinen durchschlängelnd, schritt ein ganz in Weiß gekleideter Mann durch die Mittagshitze. Nur sein vorzeitig gealtertes sonnengegerbtes Gesicht lag frei. Er war tief in Gedanken versunken. Von Zeit zu Zeit sprach er laut vor sich hin, manchmal stieß er einen Schrei aus; dann gab das Echo seinen Ruf zurück, und er verstummte wie vom Blitz getroffen. Und von neuem murmelte er vor sich hin und setzte seinen ziellosen Weg fort. "Die größte Karawane, auf die ich so viele Jahre gewartet habe, nichts hat sie mir gebracht. Kann ich denn noch auf irgend etwas hoffen? Was habe ich aus Damaskus mitgebracht! Nichts als unverständliche Geschichten über einen allmächtigen Gott, der in den Himmeln wohnt. Werde ich mich irgendwann an die Mißerfolge gewöhnen können? Wie lange noch kann ich meine schmähliche Lage erdulden? So viele Menschen leben und ahnen nicht, daß sie ein erbärmliches Dasein führen, sie leben lange und sogar glücklich und denken an nichts anderes. Warum quälen gerade mich solche Gedanken? Kaum war ich auf der Welt, litt ich um meine Eltern. Ich verstand nicht, warum sie, ehrbare und kluge Menschen, einem kleinen Häufchen Mächtiger zu Willen waren. Immer habe ich darauf gewartet, daß diese Ungerechtigkeit bald ein Ende haben würde. Und dann sah ich, daß nicht nur über meinem Geschlecht, sondern über dem ganzen Stamm der Kureisch das Geschlecht der Omejer herrschte. Mein ganzes Leben war vergiftet vom Wissen um die Schwäche meines Stammes. Ich träume einen unerfüllbaren Traum - über den Stamm zu herrschen. Wieviel Anstrengungen habe ich gemacht, um selbst einen hohen Rang zu beklei-
den! Die lange Kette von sechshundert Kamelen . Wie haben sie mein Auge erfreut! Mehr als hundert gehörten ja mir. Zweihundert Beduinensäbel waren zu ihrem Schutz da. Das sollte mein größtes Geschäft werden. Hätte ich Erfolg gehabt, hätte man mich zu den reichsten Bürgern der Stadt gezählt! Große Mengen Weihrauch und Myrrhe habe ich an der Küste der Wohlgerüche aufgekauft, mein ganzes Vermögen Wucherern anvertraut. Das, was ich selbst aus dem Norden herbeischaffen konnte, reichte kaum aus, um meine Schulden bei ihnen zu tilgen. Wie eh und je bin ich ein armer Mann, ein Bettler fast. Wer konnte denn ahnen, daß eine große achthundert Kamele starke Karawane aus dem fernen Chadramaut uns unbemerkt überholte und eine ganze Woche vor uns in Damaskus eintraf. Das hat unsere Geschäfte ruiniert. Meine Hoffnungen sind zunichte gemacht, sind zertrampelt worden wie die winzige Ameise von einem Kamelhuf. Nun bleibt mir nur noch die Flucht. Ich kann all die zufriedenen Omejer um mich herum nicht mehr ausstehen, kann den düsteren Tempel mit seinem schwarzen Stein nicht mehr sehen. Weder Gebete noch Opfergaben haben ihn veranlaßt, mir zu helfen. Ich gehe zu den Beduinen, werde wie sie durch die Wüste reiten und Karawanen überfallen. Und im Alter bleibt mir nichts, als in der Einöde, fern von den Menschen, Schafe zu hüten; irgendwo in der friedvollen Ferne werde ich meinen Tod finden. Man erzählt sich, daß weit im Osten, hinter dem Meer, die Menschen ihren Frieden finden, in Abgeschiedenheit und allein mit der Natur ." Die Hitze wurde unerträglich. Seine Beine zitterten, vor
den Augen wallte rötlicher Nebel. Fieber schüttelte ihn. Er wußte nicht mehr, wo er sich befand. Von Zeit zu Zeit blickte er wild um sich, rief nach den Seinen, und als er rings um sich nur totes Gestein wahrnahm, verstummte er erschöpft und senkte kraftlos sein Haupt. In diesem Zustand gelangte er an den Eingang einer kleinen, Kühle spendenden Grotte. Er ließ sich fallen und lehnte sich ermattet an den glatten dunkelgrauen Fels, dessen Oberfläche an geschmolzenes Metall erinnerte. Sein ganzes Leben blieb ihm dieser grauenhafte Traum im Gedächtnis. Oder waren es Fieberphantasien? Als infolge des Sonnenstichs alles vor seinen Augen verschwamm, tauchte plötzlich ein Ungeheuer in menschlicher Gestalt vor ihm auf. Eine furchtgebietende Stimme sprach zu ihm . Als er wieder zu sich kam, bemerkte er, daß er immer noch halbliegend an dem Fels lehnte. Die Hitze hatte merklich nachgelassen. Der Abend war angebrochen und hatte frische kühle Luft mit sich gebracht. Er hatte das Empfinden, daß sich seine Umgebung verändert hatte. Die Berge wirkten nun nicht mehr so trostlos und feindselig. Seine niedergedrückte Stimmung war wie weggeblasen. Er war von einem wunderbaren Leuchten umgeben, das ihn gleichsam erhob. Was war geschehen? Unbewußt fühlte er, daß das alles mit seinem seltsamen "Traum" zusammenhing. Zusammenschauernd erinnerte er sich an die schreckliche Erscheinung - das leuchtende Ungeheuer. Was hatte es ihm nur mitgeteilt? Plötzlich erstarrte er, eingeschüchtert von seinen Ahnungen. Mit fürchterlicher Stimme hat es zu mir gesprochen im
Namen des allsehenden, allesverstehenden, allmächtigen Gottes! Des einzig wahrhaftigen Gottes, von dem man uns in den Karawanserein des fernen Damaskus erzählt hat . Dieser Gott, so sagte man, wählt den würdigsten unter den Menschen, um durch ihn dem ganzen Volk seinen Willen zu verkünden. Sie sprachen von einem gewissen Moscheh oder Muschi, der in längst vergangenen Zeiten gelebt hat. Es gab noch andere Auserwählte - Suleiman, David, Isaak . Gott hatte ihnen seinen furchtgebietenden Boten geschickt - den leuchtenden Dhabrail. Er war es, der mit mir gesprochen hat! Ich bin ein Auserwählter Gottes!
Jetzt kann ich die stolzen Omejer verachten. O Allerhöchster, Einziger, mit Freuden werde ich dir dienen. Niemand wird mich daran hindern. Zeige mir den Weg, und ich werde das Meine erreichen .
Die Stadt empfing ihn mit der üblichen Gleichgültigkeit.
Niemanden interessierten die Faseleien über den allmäch-
tigen Gott, der im Himmel wohnt, während die gewöhnlichen kurejschitischen Götter neben dem steinernen Tempel hausen. Nur seine nächsten Anverwandten, die seine aufrichtige Verzweiflung sahen, taten so, als glaubten sie seinen Worten. Beflügelt von ihrem "Vertrauen", fuhr er fort, die Lehre des Allmächtigen zu predigen, wo immer er eine Gruppe von Menschen antraf. Von der Natur mit der Gabe eines leidenschaftlichen Redners bedacht, verlieh er seinen öffentlichen Auftritten mehr und mehr Schliff, schmückte sie mit ausgeklügelten Wendungen der arabischen Rede, bis sie die Poesie der Märchen der Wüstenbewohner erreichten. Man lauschte ihm immer öfter. Mit seinen begeisternden Apellen zog er die Menschen an, streute Zweifel in ihre bestehenden Prinzipien, in ihre Religion. Er verkündete einen neuen Glauben, stellte neuartige Verhaltensnonnen auf, proklamierte eine neue Gerichtsbarkeit. Zornig verdammte er alles, was nicht mit seiner Lehre übereinstimmte und beschimpfte die reichen Omejer. Allmählich sammelten sich um ihn die, die mit den Herrschenden dieses Landes unzufrieden waren. An Tagen des Mißerfolgs, wenn man ihn vertrieb, suchte er die Einsamkeit der Berge und zog sich für Stunden in jene Grotte zurück. Und wenn er ganz und gar verzweifelt war, erschien ihm Dshabrai . Es vergingen viele Jahre, Jahre voller Entbehrungen und ruhelosen Umherirrens, bevor die neue Lehre von den Menschen angenommen wurde. Am glücklichsten Tag seines Lebens entfernte er die steinernen Götzen von der Mauer des alten Tempels und erklärte ihn zur irdischen Wohnstatt des Allerhöchsten. Weise geworden durch die langen und harten Jahre des politischen Kampfes, nannte
er den Allerhöchsten Allah - gab ihm den Namen eines der populärsten örtlichen Gottheiten, und den schwarzen Stein, der seit undenklichen Zeiten in der Tempelwand eingelassen war, erklärte er zum größten Heiligtum, das vom Allerhöchsten selbst auf die Erde gesandt worden war.
Usman erwachte weit nach Mitternacht. Das Krankenzimmer war schwach von einem grünlichen Licht erhellt. Eine kaum wahrnehmbare, von leichter Wehmut umschattete Vorahnung von etwas Wichtigem und Unwiderbringlichem umgab ihn. Er lag da und betrachtete die Decke. Er hatte den Wunsch, sie zu durchdringen und weit weg zu gehen, dorthin, wo ihn niemand aufhalten konnte. Die grünschimmernde Decke schien zu tauen, und sein Körper wurde schwerelos. Bald schon tat sich über ihm die unermeßliche Himmelskuppel mit den hellen Sternen auf. Eine unbekannte Kraft trug ihn mit sich fort. Weit unter ihm blieb die Erde zurück. Von hier oben wirkte sie wie ein reliefartiger Globus. Neben ihr glitt ein hellglänzendes Raumschiff vorbei . Da näherte sich das winzige Dreieck der Halbinsel, eingezwängt zwischen dem gewaltigen Festland und der von Asien abgesplitterten arabischen Wüste, und man sah, wie sich am Fuß der düsteren Berge, die sich kilometerweit hinzogen, eine entkräftete erschöpfte Menschenmenge zu einem Zug formierte. Vom Raumschiff entfernte sich ein kleiner schwarzer Gegenstand und flog zielstrebig auf die verzagte Menge zu . Dann bildeten sich organisierte Reihen von Menschen und machten alles nieder, was sich ihnen in den Weg
stellte. Speere blitzten auf . Die Erde drehte sich ruhig, maß Jahrhundert um Jahrhundert. Einmal, als es über dem Salzmeer flog, entsandte das Schiff den zweiten Flugapparat. Er strebte in die Richtung des ärmlichen Städtchens, bis zur Hütte mit dem Neugeborenen . Eine schreckliche Explosion, begleitet von einem alles blendenden Licht, erschütterte den erdnahen Raum. Das Raumschiff verschwand . Nur das grelle Licht blieb. In diesem Licht unterschied Usman wieder die weißen Gewänder, unruhiges hastiges Durcheinander. Dann war alles vorbei.
Warum wurde gerade die Erde für solch ein Experiment gewählt? War es Zufall oder gab es gewichtige Gründe? Niemand würde es jemals erfahren. Hatten sie denn das Recht, solche Experimente an den vernünftigen Bewohnern meines Planeten vorzunehmen? Haben sie sich jemals Rechenschaft über die Folgen abgelegt? Vielleicht aber lagen in ihren Experimenten nicht weniger Aufrichtigkeit und gesunde Überlegung als in unserem Verhalten, wenn wir Affen oder andere Tiere zu Versuchszwecken gebrauchen? Was wollten die Wesen der anderen Welt mit ihren Versuchen erreichen? Und was haben sie erreicht? Nach Moses sind die Stammeskriege nicht weniger geworden, die Gesellschaft zerfiel in unversöhnliche Klassen. Wurde deshalb vor mehr als tausend Jahren das Experiment an dem Neugeborenen vorgenommen? Doch was waren die Folgen? Die Kreuzzüge und über Jahrhunderte hinweg das
Stöhnen der Gequälten in den unterirdischen geheimen Verliesen der heiligen Inquisition .
Jetzt erblickte Usman unter sich die endlose arabische Wüste. Eine Reitergruppe erschöpfter Beduinen, auf der ewigen Suche nach Weideplätzen für ihre Schafe. Nach dem kurzen, aber kräftigen Regen mußte sich frisches Gras zeigen . Ein plötzlich auftretendes Pfeifen ließ die Reiter innehalten. Ängstlich verfolgten sie die feurige Rauchspur am Himmel. Ein starkes Dröhnen, das die Erde erbeben ließ, warf sie aus den Satteln. Weit weg von ihnen breitete sich eine Rauchwolke aus. Nur die Kinder dieser Wüstenbewohner wagten sich aus Neugier an den Ort des Aufpralls und erblickten in einem nicht sehr tiefen Krater einen schwarzen Stein . Erst die Enkel brachten auf Kamelen dieses "Gottesgeschenk" in das im Bau befindliche Heim der steinernen Götter. Hätte jemand von ihnen zum blauen Himmel geschaut, hätte er in der Höhe des Adlerfluges einen winzi-
gen dunklen Körper entdeckt, der ihre Karawane zu begleiten schien. Der Körper schwebte noch lange über dem Tempel und auch dann noch, als der Stein im Mauerwerk verankert wurde. Dann senkte er sich und verschwand inmitten der Berge; womöglich war seine Energie verbraucht . Wie nahm sich diese Philosophie ferner Zivilisationen in unverzerrter Form aus? Usman versuchte, sich all das ins Gedächtnis zurückzurufen, was ihm der "Dshinn" eingegeben hatte. Aber er konnte sich an nichts Besonderes, nichts für ihn Ungewöhnliches erinnern. Was hatte all das nur zu bedeuten? Weshalb berührten ihn die Erlebnisse nicht, die Moses, Joschua und den arabischen Kaufmann so erschüttert hatten? Wahrscheinlich deshalb, weil die Erde, indem sie die schlimmen Folgen dieses Experiments überwunden hatte, von sich aus, auf ganz natürlichem Wege, zu einem analogen System der Anschauungen gekommen war. Die Religionen haben uns aus dieser Weltanschauung wenige Wahrheiten übermittelt, die, durch irgendein Wunder über die Zeitläufte hinübergerettet, in unverzerrter Form bis zu uns gelangt sind. Wahrscheinlich stimmen deshalb einige Vorhersagen der "geheiligten" Bücher mit etlichen Annahmen progressiver Vorstellungen überein . Die traurigen Folgen dieser Experimente werden noch lange daran erinnern, daß jede unbedachte Einmischung in den natürlichen Gang der gesellschaftlichen Entwicklung - und sei sie auch noch so wohlgemeint - den eigenständigen Weg zur Befreiung und vollen Entfaltung der Menschheit nur verbiegen kann . Jemand weinte leise und bitterlich. Dennoch schien dieses Schluchzen das Weltall zu erschüttern. Von überallher
kamen dieses Weinen und das abgehackte Murmeln, das in Flüstern überging. Tief unten, zwischen den Felsen, erblickte Usman einen weißgekleideten Mann. Er saß, gegen einen runden glänzenden Stein gelehnt. Usman näherte sich und wollte ihm zurufen, daß ihm ein großes Glück zuteil geworden sei - der unmittelbare Kontakt mit anderen Welten, und daß von seinem Verständnis der Außerirdischen das Schicksal von Millionen Menschen abhänge. Aber dann begriff Usman, daß das keinen Sinn hatte, da dieser Mann nicht seine eigenen Leiden beweinte, sondern die Leiden der östlichen Völker, die auch nach der Einführung des neuen Glaubens jahrhundertelang von Unglück heimgesucht blieben. Er beweinte die Folgen von religiösem Fanatismus, die nicht enden wollenden inneren Zwistigkeiten und die Religionskriege . Es war das Weinen, das einstmals den neunten Kreis der Danteschen Hölle erschüttert hatte. Der Mann in Weiß stand langsam auf, indem er sich am Stein abstützte, und drehte sich zu Usman um. Er beugte sich über ihn und verdeckte die ganze Welt, und Usman erkannte in seinem Gesicht die vertrauten Züge seines Vaters; dann vernahm er dessen durchaus sehr irdische Stimme: "Allah, wofür strafst du mich, deinen treuen Sklaven? Wo ist die Grenze deiner Grausamkeit?" Grelles Licht durchflutete das Weltall und hob die unklaren Umrisse des Krankenzimmers aus dem Dunkel. Dann wurde es wieder finster. Der schwarze Wüstenwind trug Usman ins Zentrum seines unheilbringenden Wirbels .
"Steh auf, Usman! Wir haben noch ein paar Sachen zu packen. Nun steh doch endlich auf, Sohn! Ich schaffe es
nicht ohne dich, meine Hände wollen mir einfach nicht mehr gehorchen. Heute ist der glücklichste Tag meines Lebens. Steh doch auf!" Was denn, dachte Usman betroffen, sind wir etwa schon da? Doch als er die Augen öffnete, sah er, daß er im Gastzimmer lag und der Vater neben ihm stand. "Was hast du, mein Sohn? Hast du schlecht geschlafen? Wahrscheinlich hast du dich wie üblich zu spät hingelegt. Vor solch einem Tag sollte man ausgeruht sein." Usman schmerzte der Kopf nach diesen wirren Phantasien. Was hab ich nur geträumt! Ich erwarte viel zuviel von diesem Stein . Was sollten die fremden Wesen, diese gasbildenden Bioautomaten? Laß ich mich etwa auch von dem Rummel um die Außerirdischen anstecken? Mir hätte lieber etwas Realistisches über die Struktur des Steins träumen sollen! Na ja, lassen wir das. Ich muß aufstehen und dem Vater beim Packen helfen. An den Stein werde ich schon herankommen. Bloß keine Angst vor "Dshinns" und keine Phantastereien über neue Heilige und neue Propheten, dachte Usman ironisch lächelnd und zog sich eilig an.