OTTO ZIERER
BILD DER JAHRHUNDERTE EINE WELTGESCHICHTE IN 19 EINZEL- UND 11 DOPPELBÄNDEN
VOLKERDAMMERUNG Unter diesem ...
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OTTO ZIERER
BILD DER JAHRHUNDERTE EINE WELTGESCHICHTE IN 19 EINZEL- UND 11 DOPPELBÄNDEN
VOLKERDAMMERUNG Unter diesem TiteJ ist soeben der zwölfte Band derneuartigen Weltgeschichte erschienen. Dieser Band behandelt das fünfte nachchristliche Jahrhundert
Der Sturz der heidnischen Götter und die nun unaufhaltsam über die Grenzen des Imperiums drängenden germanischen Völker zerstören den machtvollen Bau des alten Rom. Westrom versinkt im Wirbel der Völkerwanderung, und auf den Trümmern einstiger Macht und Herrlichkeit entstehen germanische Königreiche. Mit dem Jahr 476, in dem das Weströmische Reich aufhört zu bestehen, beginnt die Geschichte des Mittelalters
Auch dieser Band ist in sich vollkommen abgeschlossen und enthält wieder ausgezeichnete Kunstdrucktafeln und zuverlässige historische Karten. Er kostet in der herrlichen Ganzleinenausgabe mit Rot- und Goldprägung und farbigem Schutzumschlag DM3.60. Mit dem Bezug des Gesamtwerkes kann in bequemen Monatslieferungen jederzeit begonnen werden. Auf Wünsch werden auch die bereits erschienenen Bücher geschlossen oder in einzelnen Bänden nachgeliefert. Erschienenist seit Dezember 1950 monatlich ein Band. Prospekt kostenlos vom
VERLAG SEBASTIAN LUX • MURNAU/MÜNCHEN
KLEINE B I B L I O T H E K DES WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE HEFTE
von Siegfried v. B e ö c z y
VERLAG SEBASTIAN LUX • MURNAU/MÜNCHEN
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Unter dem Münsterturm
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chneewind trieb durch die Gassen der Altstadt von Ulm. Auf dem Münster und seinem unvollendeten, stumpfen Turm, auf den spitzen Satteldächern der schmalen Häuser lastete schwer der Schnee, den der ausgehende Winter naß über das Land schüttete. Die Schläge der Turmuhr vom nahen Münster kündeten Mitternacht. Ihr Dröhnen weckte die vielen Dohlen, die frierend in den Ecken und Winkeln der Fensternischen, Krabben und Gesimse des gotischen Turmes hockten; aufgeschreckt umflatterten sie mit hellen „Kjauk"-Rufen die grauen Mauern des Domes. Drunten in einem der geduckten Häuschen öffnete sich ein Fenster. Ein Mann beugte sich hinaus und horchte in das Toben des Wetters. Knarrend rüttelte der Wind an den Fensterläden, Wolken von Schnee trieben dem Einsamen ins bleiche Gesicht und wirbelten in die kleine Stube. Die Kerze flackerte. Immer noch kreisten die Vögel um das Münster, das sich schemenhaft und gespenstisch in den grauschwarzen Himmel reckte. Allmählich verstummten die Rufe der Dohlen dort oben und nur noch der Wintersturm raste jaulend und heulend durch die menschenleeren Straßen. Langsam schloß der Mann das Fenster und rieb sich fröstelnd die Hände; das Feuer in dem altväterlichen Kachelofen war längst verglimmt, es war eisig kalt. Auf dem gescheuerten Holztisch lagen sauber gefaltete Kanzleibogen, eng beschrieben, das Ergebnis der Arbeit vieler Nächte: „Allerdurchlauchtigster Großmächtigster König, Allergnädigster König und Herr! Alleruntertänigste Supplik des ulmischen Bürgers Albrecht Ludwig Berblinger um allergnädigste Unterstützung und Bekanntmachung der von ihm verfertigten hölzernen Füße . . ."
Es waren harte Jahre in der Kindheit Albrecht Berblinger trat in die Stube zurück und setzte seine Unterschrift unter den Brief. Aber er war sich seiner Sache nicht ganz sicher. Ob der neue König in München, zu dessen Lande Ulm in diesen bewegten Zeiten erst seit kurzem zählte, für seine Erfindung Verständnis haben würde? Oder ob er den unbekannten Schneidermeister der bis vor kurzem freien Reichsstadt gar für einen Narren hielte? 2
Das unvollendete Ulmer Münster anfangs des 19. Jahrhunderts
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Berblinger kam ins Sinnieren. Wie eine bunte Bilderfolge zog sein Leben an ihm vorüber. Es war Arbeit gewesen, harte, harte Arbeit. Und viel Armut. Einiges davon hatte er dem König in seiner Supplik angedeutet. Früh waren die Eltern verstorben, das kleine Erbe reichte nicht aus für eine fundierte Ausbildung. Ja, wenn er gekonnt hätte! Berblinger hatte Mathematik studieren, den Gesetzen der Physik und besonders der Mechanik nachforschen wollen. Hier lagen seine Interessen, hier lag vielleicht auch — so meinte er — seine wirkliche Stärke. Nach einem langen Jahre im Findelhaus gab ihn der Waisenvater ohne Rücksicht auf Wunsch oder Begabung ausgerechnet in die Werkstatt eines Schneidermeisters. Der schmächtige Mann lächelte in der Erinnerung jetzt still vor sich hin. Der Meister hatte eine recht lockere Hand, es gab mehr Prügel als gute Worte, die eintönige Kost war kaum noch zu ertragen gewesen, und wenn die Arbeit drängte, stolperte er schon früh um vier schlaftrunken über die knarrende, enge Holztreppe in die Schneiderstube. Berblinger lehnte sich auf seinem harten Stuhl zurück. Ein anderes Bild nahm ihn gefangen. Es war im Jahre 1792. Die Lehrjahre lagen hinter ihm, und in feierlicher Weise hatte die Zunft dem' kaum Einundzwanzigjährigen den Meisterbrief ausgehändigt. Albrecht Berblinger wurde ein angesehener Künstler seines Faches, mit Ideen, selbständig, stets bedacht, seiner Kundschaft Neues zu bieten. Ja, er hatte sogar einmal ganz ulkige Faschingskostüme entworfen, und die Herren Amtsschreiber, Justitiarii, Kaufleute und Ratsherren waren nur so zu ihm gekommen. Das Geschäft blühte, und es wurde Zeit, daß eine tüchtige Meisterin ins Haus kam. Die Tochter des Kornmesserobmanns Scheiffelin kannte Berblinger schon seit langem, und eines Tages zog der junge Meister sein bestes Sonntagskleid an und ging hinüber, um die Hand der ehrbaren Jungfrau Anna zu erbitten. Mit ausgelassener Fröhlichkeit wurde Hochzeit gefeiert. Das waren jetzt bald 17 Jahre her . . .
Mit der Kinderkutsche fing es an Gewiß, er mußte zugeben, daß er in seinem Beruf Erfolg gehabt hatte, aber etwas anderes mußte er sich gleichzeitig auch eingestehen: so recht befriedigt hatten ihn Faden und Elle niemals. Sein Herz hing an Maschinen, und in seinen freien Stunden zeichnete, konstruierte, rechnete, schrieb und überlegte der Meister über 1
tausend anderen Dingen, die gar nicht zu seinem Berufe passen wollten. Mehr spielerisch hatte er vor Jahren schon, als das erste Kind geboren wurde, eine eigene Konstruktion entworfen. Aus leichtem Werkstoff, Metallplatten, regenfestem Überzug und mit hohen, ein wenig wackligen Rädern baute Berblinger eine — wie es ihm damals schien —• vollendete Kinderkarosse, die die Meisterin gern zu Ausfahrten mit ihrem Sprößling benutzte. Kein Wunder, daß das ungewöhnliche Gefährt Aufsehen erregte. Ja, ja — der Berblinger! Und die Jahre gingen hin. Längst schon war die seltsame Kutsche von einst verkauft.
Stadtsoldat Schlumperger Die Zeit war voller Kriege. Über den Rhein kamen die Heere des großen Korsen, und Berblinger selbst hatte gesehen, wie der Kaiser der Franzosen draußen vor der Stadt am Felsen des Kienlesberges die Kapitulation der österreichischen Heere entgegennahm. Aber noch etwas anderes sah Berblinger, damals, gestern, heute. Tag für Tag: die Invaliden, die Krüppel, die aus den Kriegen heimkehrten, mit abgeschossenen Beinen, mit amputierten Armen. humpelnd, verzweifelt. Hier bot sich eine Aufgabe, hier wollte Berblinger eine Tat vollbringen, die weit über den Horizont seiner niedrigen Schneiderstube hinaus, weit über die Grenzen seines geliebten Ulm hinweg Bedeutung gewinnen konnte. Künstliche Glieder! War es nicht fast ein vermessener Gedanke, gewissermaßen der Natur ins Handwerk pfuschen zu wollen? Oft hatte Berblinger diesen Gedanken gedacht, aber er hatte Freunde, die ihn in seinem Vorhaben bestärkten. Hospitalarzt Bührlen und Hospitalwundarzt Wilhelm Friedrich Palm, Männer, deren Namen mit Ehrfurcht und Scheu nicht nur in Ulm genannt wurden, hatten Stunden mit dem Meister verbracht, hatten aufmerksam seinen Gedanken gelauscht und mit echtem Interesse seine Skizzen geprüft. Er solle es nur einmal versuchen; sie, die beiden berühmten Ärzte, würden ihm gern zur Hand gehen. Das war vor etwa einem Jahr. Seitdem hatte ihn die Idee der künstlichen Glieder nicht mehr losgelassen. Von früheren Zeiten kannte er den Taglöhner Elias Schlumperger, einst wackerer ulmischer Stadtsoldat. Elias war bei einem Unfall das rechte Bein zerschmettert worden, es kamen eine gefährliche Eiterung und wenig später hohes Wundfieber dazu. Im Spital nahm man ihm das Bein
ab, und jetzt humpelte der noch in den besten Jahren stehende Elias, mühsam auf Krücken gestützt, durch die Straßen der Stadt. Er war Taglöhner geworden und schlug sich recht und schlecht durchs Leben. Diesen Elias Schlumperger hatte der Meister nun oft zu Gast. Genau untersuchte er den Stumpf des amputierten Beines, und sein Zeichenstift zog merkwürdige Kreise, Linien, Ovale und Schnörkel auf das graue, unscheinbare Papier, auf das er tagsüber die Maße seiner Kunden notierte. Berblinger sann: das Kunstglied mußte glatt am Stumpf anliegen, mußte die erforderliche Größe haben und fest um den Körper zu schnallen sein. Das Schwierigste aber schienen ihm die Gelenke. Elias war am Oberschenkel amputiert. Um mit dem Kunstglied gehen zu können, bedurfte es also eines elastischen Kniegelenkes und eines ebenso nachgiebigen Fußgelenkes. Hier kamen Berblinger seine Kenntnisse der Mechanik zustatten. Er konstruierte an den Enden spiralförmig verlaufende Blattfedern, die in den Gelenken eine Biegung gestatteten und dann wieder in ihre Ausgangslage zurückschnellten. Wieder saßen die beiden Ärzte am langen Schneidertisch des Meisters und diskutierten die Entwürfe Berblingers. Besonders Doktor Palm hatte noch manche Anregung, manchen Hinweis und wertvolle Ideen. Wieder verstrichen Wochen, in denen Berblinger wie besessen an seiner Erfindung arbeitete — oft verlacht von seinen Zunftgenossen, die für die erfinderischen Seitensprünge ihres ehrenwerten Herrn Kollegen nur allzu wenig Verständnis hatten — aber dann kam der große Tag. Palm und Bührlen rieten dem Meister, das Werkstück fertigzustellen. Schneeflocken wirbelten um das Münster, und die Herren Doktoren schlugen die Kragen ihrer Mäntel hoch, als sie wiederum eines Abends durch die spärlich erleuchteten Straßen tappten und schließlich von der Meisterin höflich willkommen geheißen wurden. Sie wollten es kaum glauben, was sie jetzt zu sehen bekamen: Lachend saß Berblinger auf seiner Ofenbank und Elias Schlumperger stand ein wenig schwerfällig von dem Stuhl am Werktisch auf, trat langsam vor, ohne Krücke, aufrecht, machte einen unsicheren Schritt, einen zweiten und ging dann ohne jede Unterstützung auf die beiden Ärzte zu. „Das hat Meister Berblinger fertiggebracht", grinste der Taglöhner breit und glücklich über das ganze, bartstoppelige Gesicht und reichte den Ärzten die Hand. 6
Man saß noch lange zusammen in dieser Nacht. Die gelehrten Herren betasteten immer wieder das Kunstglied, befühlten den Sitz am Stumpf, prüften die Gurte und Gelenke. Elias mußte noch oft im Zimmer auf und ab wandern, bis man sich glücklich verabschiedete. Berblinger hatte die erste große bahnbrechende Erfindung seines Lebens verwirklicht. Bald interessierte sich die Tübinger Universität für seine Kunstglieder, und selbst die Ärzte von heute, da der Berblinger schon über hundert Jahre tot ist, bescheinigten dem Schneidermeister, daß seine Ideen durchaus modernen Auffassungen entsprachen. Berblinger erwachte aus seinen Erinnerungen, strich gedankenverloren über das Papier, das er soeben beschrieben hatte. Morgen sollte es der Kanzlist in die saubere, oft von zierlichen Schnörkeln belebte Schrift des amtlichen Briefstiles übertragen und am folgenden Tage die Post zum König nach München bringen. Die beiden Ärzte hatten ihre Gutachten beigegeben. Berblinger selbst fügte auf derbem Zeichenpapier in vier Farben ausgeführte Konstruktionsskizzen bei. Kaum drei Wochen später erhielt das Königliche Generalkommissariat in Ulm „Auf Befehl Seiner Majestät des Königs" ein Schreiben des Staatsministers, in dem „dem bürgerlichen Schneidermeister Albrecht Ludwig Berblinger" gestattet wurde, seine Kunstglieder zu bauen und zu verkaufen.
„Man maßte doch ..." Der Drang, Neues zu schaffen, hat in diesen Jahren den Meister mit aller Macht gepackt. Eine fast verwegene Idee setzt sich in seinem Hirn fest. Oft steht er droben auf der obersten Plattform des Münsterturmes, dem in dieser Zeit noch das Wunderwerk seiner Bekrönung fehlt, und schaut den gefiederten, gewandten Fliegern zu, die Turm und Dach des Kirchenchores schreiend umkreisen und ohne Flügelschlag mühelos die Luft durchsegeln. „Man müßte doch . . . " murmelt der Sinnierer immer wieder vor sich hin, „man müßte doch dem Vogel sein Geheimnis entlocken können — ja, man müßte fliegen lernen!" Noch traut er sich nicht, zu Freunden über seinen Plan zu sprechen, und nur andeutungsweise, vorsichtig hat er neulich seiner Frau davon berichtet. Sie hatte wenig Verständnis für die „ausgefallenen Ideen", wie sie es nannte. Aber der Gedanke läßt den Meister nicht mehr los. Da hat er doch erst kürzlich von einem gewissen Degen in Wien gehört, der
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eine Flugmaschine gebaut hat. Degen wollte im Schwingenflug senkrecht Höhe gewinnen, und mit großem Pomp war die Wiener Gesellschaft, unter ihr der Erzherzog persönlich, zu den Vorführungen erschienen. Degens Apparat hatte aber kläglich versagt, schließlich war er mit Hilfe eines Ballons aufgestiegen und konnte allenfalls mit seinen Schwingen die Richtung ein wenig korrigieren, in die ihn der Ballon trug. Man müßte es anders machen, sinnt Berblinger. Nicht durch Schwingenkraft in die Höhe steigen, sondern gleiten gleiten wie die Dohlen um das Münster.
Fliegen am Zeichentisch Zögernd, mehr spielerisch beginnt der Meister zunächst mit Skizzen für einen Flugapparat. Da wölben sich herzförmige Flächen rechts und links der Schultern, Gelenke werden hineingepaßt, leichter Stoff für die Bespannung ausgesucht und Fischbein als Rippen eingezogen. Noch ist es nur die Arbeit des Zeichenstiftes, noch immer kann Berblinger sich nicht entschließen, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Aber der Gedanke frißt sich mehr und mehr in seinem Sinn fest, die Idee packt den ganzen Menschen. Es ist wieder einmal späte Nachtstunde. Drüben im Wohnhaus ist die Meisterin schon längst zu Bett gegangen. Berblinger sitzt allein in der Werkstatt, und vor ihm auf dem Schneidertisch breiten sich Werkzeuge, die mit seinem Beruf wenig zu schaffen haben: Hämmer, Winkelmaße, Drähte, dünne Nägel, Bindfäden, Bohrer, Ledergurte und Metallteile. Einen Augenblick lächelt der schmale Mann vor sich hin: seh es nicht ähnlich .aus, als er noch als Kind vom Waisenhaus her oftmals in die Abstellräume und Reparaturwerkstätten des nahen Zeugamtes schlich und dort kleine phantasievolle Bastelarbeiten heimlich anfertigte?
Es wird ernst mit dem Flugapparat Aber dann nimmt ihn sein Werk voll in Anspruch. Sorgfältig werden die Stoffbahnen für die Bespannung zugeschnitten, als Streben senkrecht auf die Flächen gestellte Stäbe geschnitzt, feine Drähte zu den Kanten der Flügel gezogen und schmiegsame Riemen für Schultern, Rücken und Brust eingepaßt. Berblinger verzichtet auf jeden Mechanismus, der ihn etwa in die Lage versetzen sollte, die Flügel auf und ab zu schlagen wie 8
Degens Absturz mit seinerJSaHon-Flugmaschine (Spottbild der Zeit) es die Vögel tun und wie es jener Degen in Wien so nutzlos versuchte. Droben die Dohlen am Münster hatten es besser gezeigt — segeln, gleiten, höchstens mit einer kleinen Wendung der Flügel versuchen, dem Flug eine gewünschte Richtung zu geben! Berblinger sitzt lange Wochen und Monate gerade über der Lösung dieser Frage, die ihm die schwerste zu sein scheint: wie kann ich die beiden Flügel so miteinander verbinden, daß das Gelenk nicht bricht und doch wahlweise die Verstellung einer der beiden Flachen gestattet, ohne die für einen Schwingenflug erforderliche volle Bewegungsfreiheit zu haben? Die Erfahrungen vom vorigen Jahr beim Bau des Kunstbeines helfen jetzt dem Meister. Auch dort hatte er Knie- und Fußgelenke zu konstruieren, die etwa den gleichen An-
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forderungen gewachsen sein mußten. In mühevoller Kleinarbeit baut Berblinger nun ein ähnliches V-förmiges Verbindungsstück, von dem er die erhoffte Wirkung erwartet.
Man munkelt soviel... Oft rötet die morgendliche Sonne den Himmel über den Giebeln der Stadt, wenn der Meister müde von der Werkstatt am Münsterplatz in sein Haus hinübergeht. Jedesmal verpackt er sorgfältig die Teile der Flugmaschine, ehe er die Schneiderstube absehließt. Gesellen und Lehrjungen würden hinter seinem Rücken spotten, sähen sie die Maschine ihres Lehrherrn, über den in letzter Zeit überdies schon so viel gemunkelt wird. Nicht einmal seine Frau hat den Apparat betrachten dürfen, wenngleich sie weiß, womit sich ihr Mann Nacht für Nacht beschäftigt. Berblinger baut Monate hindurch. Die Jahreswende 1809/10 ist schon längst verstrichen, als endlich der Apparat fertig zu sein scheint. In den ersten Junitagen 1810 will Berblinger mit den praktischen Versuchen beginnen. Er wünscht keine Zeugen, denn noch ist er mit seiner Sache nicht völlig fertig. Ein Fehlstart gäbe all den hundert neidischen, spöttelnden Nachbarn, Kunden oder Konkurrenten eine nur allzu billige Gelegenheit, ihre«beißende Kritik an ihm auszulassen. Es war durch all die lange Zeit der Vorbereitung doch nicht völlig unbekannt geblieben, daß Schneidermeister Albrecht Berblinger daran war, das Fliegen zu lernen. Welcher Triumph der Neunmalklugen, ihn jetzt scheitern zu sehen!
Berblinger fliegt am Michelsberg Noch liegt tiefe Nacht über Ulm. Der stumpfe Turm des Münsters verliert sich im sternenblassen Himmel, als Berblinger aus seiner Werkstatt tritt. Er zieht einen Handwagen hinter sich her, auf dem, in Decken gewickelt, der geheimnisvolle Flugapparat liegt. Laut hallen auf dem holprigen Pflaster die Schritte des Meisters, der sich nach Norden wendet und am Neutor die Stadt verläßt. Eben schießen blaßrosa Lichter über den östlichen Himmel, als er das verlassene Gelände der einstigen Weingärten vom Michelsberg erreicht. Niedrige Mäuerchen ziehen sich in Abständen von zehn oder fünfzehn Metern über den Hang, halbverfallene Geräteschuppen und zerbröckelte Gartenhäuser werden in dem langsam zunehmenden Lichte des Tages erkennbar. Keine Menschenseele weit und breit. Berblinger hat den Wagen abgestellt, die Decken zurückgeschlagen und die Teile seines 10
Flugapparates ausgebreitet. Wie oft hat er die Handgriffe schon geübt, mit denen er eilig die Maschine zusammenfügt. Vorsichtig schleppt er den Apparat jetzt den Hang hinan. An der dritten Mauer macht er halt. Behende wuchtet er die Flügel auf seine Schultern, der Gurt über der Brust wird fest verschnallt, die Arme werden weit ausgebreitet und in die Führungen unter den Flächen gesteckt. Berblinger klettert auf das etwa zwei Meter hohe Gemäuer.
Berblinger erprobt am Michelsberg seinen Flugapparat Eben entfaltet die Sonne ihre volle Pracht. Vor dem Meister breitet sich die Silhouette der Stadt, leicht in Nebelschwaden gehüllt, klar das Filigran des ragenden Münsterturmes. Der Meister erfaßt die Schönheit des Morgens nur mit einem kurzen Blick. Wippend, balancierend steht er, einem unbekannten Fabelwesen aus grauer Vorzeit ähnlich, auf dem Steinwall. Leicht, ruckweise, neigt sich sein Oberkörper nach vorn, geht wieder zurück, wieder vor. Ja, er spürt den leichten Druck unter den Flächen, wenn die Flügel sich auf die Luft zu stützen suchen. Und dann auf einmal kommt es über ihn. Er möchte laut hinausjubeln — von der Freude des Pioniers gepackt, im Vollgefühl seiner Kraft stürzt sich Berblinger nach vorn. Kräftig stoßen die Füße vom Mauerwerk ab, der Luftdruck preßt die Flügel nach oben, die mühsam konstruierten Verbindungsgelenke, die hinter dem Schulterblatt fest anliegen, halten dem Druck stand. Berblinger merkt, wie er gleitet, wie er hinaus in die Morgenluft fliegt. Es scheint ihm, als sei er minutenlang über die verwaisten Hänge des Michelsberges geflogen, bis er mit heftigem Stoß wieder den steinigen Boden unter den Füßen spürt. 11
Drei Meter — und trotzdem! Der Meister mißt die Entfernung seines ersten Fluges. Er will es gar nicht glauben, es schien ihm alles viel länger zu dauern, die Strecke schien so sehr viel weiter — aber so oft er auch mißt: knappe drei Meter betrug der erste Luftsprung. Noch fünfmal versucht an diesem Sommermorgen Berblinger seine Flüge, fünfmal packt ihn die gleiche jubelnde Lust, jenes unbeschreibliche Hochgefühl, das mehr als hundert Jahre später die jungen Flieger packen sollte, die erstmals allein am Steuer ihres Flugzeuges in das unbekannte Element zwischen Himmel und Erde hinausstoßen dürfen. Was tut es, daß auch diesesmal die weiteste Entfernung, die Berblinger messen kann, nur drei Meter und zweiundzwanzig Zentimeter beträgt. Der Meister ist überzeugt, daß ihm das Fliegen glücken werde, daß aus den drei Metern bald dreißig, sechzig, hundert Meter werden würden. Und doch kamen ihm in den stillen Stunden des Abends wieder Zweifel. Drei Meter! Konnte er diese Strecke nicht auch ohne Flugapparat springen? War nicht alles Selbsttäuschung gewesen? Aber er hatte deutlich die Wirkung des Luftdruckes gespürt, wie ein Polster unter den Flügeln; er hatte wahrgenommen, wie die Luft trug, wie sie ihn stützte und aus dem Fall ein Gleiten machte. Wie die Dohlen — so denkt er jetzt wieder, ein wenig stolz, ein wenig unsicher noch immer.
Am Zeichentisch Nur allzu schnell verfliegt die Zeit. Berblinger will bis zum Herbst seine Flugmaschine soweit entwickelt haben, daß er damit an die Öffentlichkeit treten kann. Aber so geht es nicht; drei Meter? Seine Mitbürger hätten aus vollem Halse gelacht. Nacht um Nacht sitzt der Meister jetzt wieder in der Werkstatt, oft stiehlt er sich auch am Tage mit etwas schlechtem Gewissen, wie er sich selbst zugeben muß, vom Schneidertisch weg und sinnt über seinen Zeichnungen. Hier werden noch einmal die \ erstrebungen geändert, die Gurte erhalten eine andere Form und endlich entschließt sich der Meister, auch die Form der Flügel zu verbessern, noch mehr die Vögel nachzuahmen, noch mehr seitwärts in den Luftraum auszugreifen, weg von der mehr herzförmig-runden und hin zu einer schmäleren, gestreckteren Form der Flügel! Vom Zeichentisch zur praktischen Durchführung ist oft ein langer, 12
dornenvoller Weg. Unverhofft stellen sich immer wieder Schwierigkeiten in den Weg, das Material will sich nicht so geben, wie Berblinger es wünscht, und schließlich fehlt es ja auch an mancherlei Kunstgriffen, die im Berufe des Mechanikers kein Geheimnis sind. Aber Schneidermeister Berblinger? Mit zäher Geduld, mit der Ausdauer des echten schwäbischen Dickschädels, der sich nun einmal ein Ziel gesetzt hat und mit eiserner Energie nach seiner Verwirklichung strebt, geht der Meister seinen Weg. Aus dem zögernden „Man müßte doch . . .", das damals auf dem Ulmer Münstertnrm am Anfang von Berblingers Plänen stand, ist heute ein klares, sicheres, entschlossenes und unwiderrufliches „Man muß doch . . .'" geworden.
Immer noch 4,46 Meter Oft noch stiehlt sich zu ungewöhnlichen Tageszeiten Berblinger mit seiner Flugmaschine vor die Tore der Stadt zu Übnngssprüngen. Meist sind es wieder die frühen Morgenstunden, in denen er vor den Mäuerchen des Michelsberggeländes seine Sprünge wagt. Und der Erfolg? Berblinger kann sich nicht so recht freuen, er ist kritisch genug zu erkennen, daß sein bisheriger Rekord von vier Metern und sechsundvierzig Zentimetern noch keine Leistung ist, mit der er vor der Öffentlichkeit bestehen kann. Auch am anderen Ende der Stadt, am Galgenberg, hat er es schon versucht, aber die Ergebnisse blieben hier noch hinter denen am Michelsberg zurück. Auch das Gelände schien hier weniger günstig. Der Meister weiß, daß seine geheimnisvollen Experimente allmählich nicht mehr ganz so unbekannt geblieben sind, wie er es wünschte. Erst kürzlich überraschte er einen zwölfjährigen Buben, der, hinter einer Anhöhe versteckt, dem seltsamen Gebaren Berblingers mit kecker Aufmerksamkeit folgte. Auch der Schäfer war unerwartet, sicherlieh längere Zeit vom Meister unbemerkt, hinter einer Wegbiegung hervorgetreten und hatte mit einfältigem Staunen dem fliegenden Schneidermeister zugeschaut. Berblinger war überzeugt, daß auch andere ungebetene Gäste seine Versuche gesehen hatten, ohne daß er selbst der Späher gewahr geworden wäre.
„Schöne Sachen hört man ja . . . " So konnte es denn auch nicht verwundern, daß die Meisterin an einem der letzten Augusttage von der als geschwätzig bekannten Frau des Spenglermeisters Nüßlein auf der Straße angesprochen 13
wurde: „Na, Frau Nachbarin, schöne Sachen hört man ja von Ihrem Manne . . . " Und dann ging es los in allen Schattierungen des Klatsches. Die Berblingerin wußte zunächst gar nicht recht, was sie der aufdringlichen Klatschbase antworten sollte und war mit ihren Reden kurz angebunden. Zu Hause aber mußte sie mit ihrem Mann ein ernstes Wort darüber sprechen. Man konnte schließlich damit rechnen, daß auch andere Mitbürger sie oder den Meister selbst auf seine Flugversuche ansprechen würden. Es war nicht leicht, den richtigen Entschluß zu fassen, aber schließlich einigte man sich. Warum ausweichen? Eines Tages sollten es die Ulmer ja doch erfahren und nicht allein die Ulmer, wie Berblinger hoffte. Ja, man würde künftig zugeben: der Meister hat eine Flugmaschine gebaut, mit der er in vielleicht gar nicht allzulanger Zeit vor die Öffentlichkeit treten würde.
Flieger — Flieger! Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht in Ulm. Die ehrbaren Zunftgeiiossen schüttelten die Köpfe, Halbwüchsige schrien manchmal auf der Straße hinter Berblinger „Flieger, Flieger!" her, machten lange Nasen oder flatterten höhnisch mit den Armen und verschwanden johlend an der nächsten Gassenecke, wenn der Meister sich zornig umwandte. Er spürte den Spott sehr wohl, der in diesem hallenden „Flieger" lag, wenngleich er selbst den Titel nur allzugern als Ehrennamen hätte tragen mögen. Aber nicht alle Ulmer spotteten oder spöttelten über Berblinger. Besonders unter den Jüngeren gab es viele, die Berblingers Idee als gar nicht so abwegig bezeichneten. Manches hitzige Wirtshausgespräch in der Oberen und der Unteren Stube kreisten um das Thema Fliegen, das plötzlich für die braven Ulmer eine so unmittelbare Bedeutung gewonnen hatte. Nein, man kannte doch den Berblinger seit Jugend an, so verteidigten ihn seine Freunde. Hatte er nicht schon öfter großartige Einfälle gehabt? Wie war das denn damals mit dem künstlichen Bein vom Elias Schlumperger? Und die Kinderkutsche? Und all seine neuartigen Ideen, die er in seinem ureigensten Berufe entwickelt hatte? Nein, nein — so konnte man den Albrecht Berblinger nicht abtun! Auch die gestrengen Ratsherren ließen sich die Sache angelegen sein. Man war hier vorsichtiger mit seinen Urteilen, wie es sich für die Stellung der hochwohllöblichen Stadtväter geziemte, aber zwei Lager bildeten sich auch hier. 14
Öffentliche Ausstellung Berblinger beschloß, nun selbst in den Streit der Meinungen einzugreifen und die Karten offen auf den Tisch zu legen. Sein letztes Modell des Flugapparates konnte sich immerhin sehen lassen und wenn er hoch genug starten könnte, würde er auch weit genug fliegen können, um alle Zweifler und Spötter auf seine Seite zu ziehen. Der Meister wollte seine Maschine öffentlich ausstellen. Gleichzeitig konnte er einen anderen Nutzen damit verbinden: Die Konstruktion hatte allerhand Geld gekostet. Er mußte laufend Ma-
Sdiema des Flugapparates des Schneiders von Ulm terialien anschaffen, das Geschäft fing an, leichte Rückschläge zu zeigen, denn die Kunden sagten sich nicht ganz ohne Berechtigung, daß ein Schneider, der soviele andere „verrückte Ideen" im Kopfe habe, durchaus nicht seine volle Kraft und sein ganzes Können seinem Berufe zuwende. Hier und dort kamen die ersten Beschwerden. Ein Ärmel wollte nicht recht sitzen, die Rockschöße am Staatskleid des Herren Kämmerers waren zweifellos zu kurz geraten, und der Kaufmann Möstler behauptete steif und fest „mit diesen vom Berblinger gefertigten Hosen könne er sich überhaupt nicht auf der Straße sehen lassen". Kurzum, Berblinger würde zur Besichtigung 15
seiner Flugmaschine ein kleines Eintrittsgeld verlangen und damit versuchen, die Löcher, die seine Schatulle mittlerweile bekommen hatte, wieder zu flicken. Mit dem Wirt vom „Goldenen Kreuz" war man sich rasch einig. Am Sonntag würde er seinen Saal gern zur Verfügung stellen. Er war groß genug, um die Flügel auszubreiten, reichte jedoch keineswegs, um tatsächliche Flugvorführungen zu starten. Aber der Meister kündigte schließlich ja auch nur eine Besichtigung der Maschine an. In den frühen Morgenstunden schleppte er — jetzt von seinem zweiten Gesellen unterstützt, den er nach der öffentlichen Ankündigung seiner Absicht nicht mehr zu „fürchten" brauchte — die Flügel zum „Goldenen Kreuz". Mit einem starken Seil befestigte der Meister den ganzen Mechanismus und ließ das Tau durch ein Loch in der Decke, durch das sonst der Kronleuchter gehalten wurde, hochziehen. Drei kräftige Männer konnten so vom Boden her Berblinger mit seinem ganzen Apparat leicht emporziehen. Mit Unruhe schaut der Meister zur Uhr. In einer halben Stunde soll die Vorführung beginnen. Allmählich kommen die ersten Besucher. Man begrüßt sich mit Handschlag, die meisten kennen sich untereinander, Scherzworte fliegen hin und her, oft auch mit einem kräftigen Schuß Spott gemischt, Freunde schlagen dem Meister wohlwollend auf die Schulter. Auch einige Katsherren sind gekommen, der Herr Apotheker, zwei Landvermesser und schließlich stolziert strahlend und von dem Erfolg Berblingers im Innersten überzeugt Elias Schlumperger zum Saal herein.
Erster Beifall Das Summen der vielen Stimmen verklingt, als der Meister nach vorn zu dem Podium tritt. Niemand hätte ihm soviel Beredsamkeit zugetraut. Fachkundig erklärt er die Konstruktion seines Apparates, weist auf die vielerlei Schwierigkeiten hin, die sich ihm immer wieder in den Weg gestellt haben und führt dann die Besucher nahe an die Maschine heran. Es scheint ihm, als wäre das beifällige Murmeln stärker als die beißende Kritik. Berblinger hat den Apparat angelegt. Eben schnallt er den letzten Gurt fest, wippt mit den Flügeln, schaut dann nach oben und gibt das Zeichen: „Auf!"'Sechs starke Männerfäuste ziehen oben an dem Tau und heben den Meister in die Höhe. Dicht unter der Decke schwebt er jetzt, mit turnerischen Verrenkungen die Flügel wippend. Dabei gibt er laufend Erläuterungen zu den staunend unter ihm 16
Stehenden. Mit dem Rufe Berblingers „Los!" lassen die Männer das Tau fahren und der Meister gleitet in leichtem Winkel zu Boden. Der Aufprall ist hart. Viermal muß der Meister an diesem Vormittag seine Vorführungen wiederholen. Aber es hat sich gelohnt. Deutlich spürt er, daß seine Ulmer Mitbürger jetzt weniger spotten und der verbreitete Zweifel einer stillen Bewunderung zu weichen beginnt. Aber Berblinger will weiter, will fliegen, richtig fliegen — wie die Dohlen am Münsterturm!
Der Winter zwingt zur Ruhe Nur mit Ungeduld sieht er den Winter 1810/11 verstreichen, der ihn zu erzwungener Ruhe verurteilt. Das große politische Geschehen der Zeit hat inzwischen wieder einmal in die engere Sphäre seiner ulmischen Heimat eingegriffen. Die einstmals freie Reichsstadt wurde aus dem bayrischen Staatsverbande herausgelöst und dem König von Württemberg unterstellt. Man sagt, daß König Friedrich ein strenger Herr sei und die Ulmer blicken sorgenvoll in die Zukunft. In dem schneereichen und frostklirrenden Winter kann Berblinger nur theoretisch an seiner Maschine arbeiten, aber die letzten Tage des März 1811 bringen schon milderes Wetter. Wie es nach harten Wintern oft der Fall ist, entwickelt sich nun die Natur um so rascher. Mitte April wagen sich schon die allerersten Frühlingsboten in den windgeschützten Gärten an die Luft, und Meister Berblinger will nicht mehr länger warten. Am 24. April erscheint im Ulmischen Intelligenzblatt eine Anzeige, in der er seiner verehrten Mitbürgerschaft mitteilt, es sei ihm nach langen und kostspieligen Versuchen gelungen, einen Flugapparat zu konstruieren, mit dem er „in einigen Tagen' - einen öffentlichen Flugversuch durchführen wolle. Das war eine Sensation für Ulm. Der Berblinger wird wirklich fliegen! Wann es denn losginge? Noch zuckt der Meister die Schultern; es könne sich bis zum Juni hinziehen, ein paar Kleinigkeiten bedürften noch der Überprüfung, und schließlich müsse er ja noch Probeflüge machen, um die technische Weiterentwicklung bestimmter Einzelteile während der Wintermonate in der Praxis auszuprobieren.
Der König kommt Kaum hatte sich die erste Welle der Erregung über Berblingers verwegene Ankündigung ein wenig gelegt, so stürmte eine neue Sensation auf die Ulmer ein: der neue König aus Stuttgart hatte seinen offiziellen Antrittsbesuch in Ulm angesagt! Am 29. und 30. Mai 17
wollte er mit den Prinzen und einem stattlichen Hofgefolge eintreffen und seine neu zum Lande gekommenen Bürger begrüßen. Da gab es Aufregung rund ums Münster. Man mußte dem Landesherrn etwas bieten, man mußte ihm zeigen, was Ulm leistete. Das Festkomitee legte ein großartiges Programm vor, obgleich der König sich ausdrücklich jede Extravaganzen verbeten hatte: Truppenparaden, Stadtbeleuchtung, der Bau eines Ehrendenkmals mit einer besonders angefertigten Dianastatue und vieles andere mehr waren für diese zwei Tage vorgesehen.
Wie wäre es, wenn Berblinger... Da taucht eine kühne Idee auf; niemand weiß, wer sie zuerst ausgesprochen hat, aber plötzlich setzt sie sich in den Köpfen der Veranstaltungsleiter fest — wie wäre es, wenn Meister Berblinger seinen angekündigten Flug auf den 30. Mai verlegen und vor dem König ausführen würde? Kann man es auch riskieren, ist die Erfindung des Meisters wirklich reif, vor den Augen des neuen Landesvaters zu bestehen? Was würde geschehen, wenn Berblinger versagte? Die königlichen Donnerwetter waren von Ulm bis Heilbronn im ganzen Lande bekannt und gefürchtet. Ehe man bis drei zählen konnte, waren hohe Regierungsbeamte ihrer Posten enthoben, und oft genug wanderten die Unglücklichen, die sich das Mißfallen der Majestät zugezogen hatten, kurzerhand in die Kerker.
Vor dem Festkomitee Da erscheint ein Ratsdiener beim Meister selbst. Er möge unverzüglich ins Rathaus kommen, die Herren vom Komitee erwarteten ihn. Wenige Minuten später steht Berblinger vor den Gestrengen und hört mit anfangs noch ungläubiger Überraschung die Frage, ob er sich zutraue und bereit sei, vor dem König seinen Flugversuch zu zeigen. Im Augenblick weiß der Meister keine rechte Antwort. Gewiß, er möchte schon, aber die Vorversuche seien noch nicht abgeschlossen, eigentlich hätten ihm noch mindestens drei Wochen Zeit gefehlt — aber konnte er jetzt unsicher erscheinen, jetzt, wo die große Chance seines Lebens vor ihm lag, wo er nur zuzugreifen brauchte. Und was würden seine Mitbürger sagen, wenn er ablehnte? Die ganze Welle des angespeicherten Spottes würde über ihn hereinbrechen. Man müßte sie alle übertrumpfen, denkt Berblinger. Eine kühne Idee formt sich plötzlich in seinem Kopf, so kühn, daß er zögert, sie auszusprechen. Mehr zu sich selbst, mehr in Gedanken 18
spricht er es vor sich hin: „Ich werde vor dem König fliegen — und zwar von der obersten Plattform des Münsterturmes!" Jetzt ist es an den Ratsherren, zögernd mit Bedenken zukommen. Vom Münsterturm? Das Schneiderlein hatte Mut und Zutrauen zu seiner Maschine, aber vom Münsterturm! Die Gefahr schien allzu groß. Berblinger möge einen anderen Vorschlag machen. Er könne morgen wieder vorsprechen.
An der Adlerbastei Wie im Traum geht der Meister durch die Straßen. Es muß gelingen, es muß, es muß! Am liebsten hätte er sein erprobtes Gelände droben auf dem Michelsberg vorgeschlagen, aber die Majestät wäre sicher nicht bereit gewesen, den weiten Weg bis vor die Tore der Stadt zurückzulegen. In Gedanken verloren wandert der Schneider die Stadtmauer entlang — und stutzt. Hier, an der Adlerbastei, das wäre ein Platz! Steil fällt der Felsen 13 Meter zum Fluß ab, drüben Sand und Kies am bayrischen Ufer, etwa vierzig Meter von Ufer zu Ufer. Soll er es wagen? Von seinem stillen Mäuerchen sprang er gut vier Meter. Wenn er hier noch ein Gerüst zimmern könnte, das die Böschung erhöhte, müßte es gelingen. Sinnend steht er am steilen Ufer, rasch und vom Schmelzwasser der Hier geschwellt zieht die Donau dahin. Unruhig und so laut, daß er fürchtet, man müsse es hören, klopft sein Herz, als er am nächsten Tage wieder bei dem Festausschuß vorspricht. Beifällig nickend quittieren die Herren den Vorschlag des Meisters, von der Adlerbastei zu fliegen. Mit der Zusage, daß man nach Berblingers Angaben den Absprungturm am Ufer bauen lassen würde, ist der Meister bald wieder entlassen. Die königliche Hofkanzlei akzeptiert den — wie der Kanzlist im geheimen allerdings meint —• „närrischen" Vorschlag der Ulmer, auch der König hat keine Einwände. Mit Stolz setzt das Festkomitee die Bürgerschaft von dem wohlausgeklügelten Programm in Kenntnis, dessen Höhepunkt der Flug von Berblinger sein soll. Am Donnerstag, dem 30. Mai 1811, nachmittags um 4 Uhr an der Bastei!
Böllerschüsse kündigen die Ankunft des Königs Gegen die Mittagsstunde hallen am Mittwoch, dem 29. Mai, Böllerschüsse von der Stuttgarter Straße her über die Stadt. Der König kommt. Noch einmal zupfen sich die Ratsherren aufgeregt die Kleidung zurecht, und dann steht König Friedrich vor ihnen. Er scheint 19
ein wenig gelangweilt über die vielen verschnörkelten Begrüßungsreden, die der erste Bürgermeister und die Honoratioren der Stadt halten. Und dann geht es in feierlichem, langen Zuge in die Stadt. Die Ulmer Bürger stehen zu Tausenden an den Rändern der Straßen, Stadtsoldaten sind aufmarschiert, Blumen an den Fenstern, Musik, Schulkinder, mehr pflichtgemäßes als ehrlich begeistertes Vivarufen. Das Festprogramm nimmt seinen Ablauf. Mit der Stadtbeleuchtung findet der Tag einen würdigen Abschluß, und die Herren Räte können noch lange in ihren Stammlokalen immer und immer wieder versichern, daß Majestät sich anerkennend über seine Bürger in der Domstadt ausgesprochen habe. Berblinger hatte nur wenig Zeit, sich den Einzug des Königs anzusehen. Da lagen ganze Stapel von Kleidejn in der Schneiderstube, die noch in aller Eile gebürstet, gebügelt oder gar geflickt werden mußten. Die Hauptlast der Arbeit lag heute aber bei den Gesellen, denn der Meister war morgen die Hauptattraktion des Programms. Mit letzten und allerletzten Handgriffen an seiner Flugmaschine verflog die Zeit schneller, als Berblinger es wünschte. Gegen sechs Uhr nachmittags eilt er nochmals hinaus zur Adlerbastei. Der sieben Meter hohe Strungturm steht verlassen am Donauufer. Behende ist Berblinger die Leiter hinaufgeklettert und an den vorderen Rand der leicht zum Fluß hin geneigten Plattform getreten. Plötzlich erfaßt ihn wieder die Unsicherheit. Wird der Flug morgen gelingen? Wird es sich nicht bitter rächen, daß die Vorversuche eigentlich noch gar nicht abgeschlossen sind? Der Meister weiß, was ihn erwartet, wenn der Flug mißlingt: Seine Existenz wäre vernichtet, niemand würde bei einem Schneider arbeiten lassen, der im Mittelpunkt eines nimmermehr verstummenden Spottes stände, seine Gesundheit, vielleicht sein Leben hängt davon ab, daß er drüben das bayerische Ufer erreicht —• und was würde der König sagen, wenn der Flug ein Fehlschlag wird? Berblinger streicht sich nachdenklich über die Haare, und dann flüstert er leise wieder die Zauberformel vor sich hin, die ihn all die langen Monate der Vorbereitungen aufrechtgehalten hat — es muß doch möglich sein!
Letzte Vorbereitungen Sehon in aller Frühe hat er mit Hilfe zweier ausgesuchter Stadtsoldaten die Flügel zum Turm gebracht und oben aufgehängt. Mit zweistündiger Ablösung stehen Posten am Fuße des Turmes Wache. 20
Vom wolkenlos blauen Frühlingshimmel lacht heiter die Sonne. Fröhlichkeit und lauter Jubel herrscht in der Stadt, Musik klingt von allen Plätzen — Ulm feiert den zweiten Tag der Anwesenheit seines neuen Königs. Von zwei Uhr ab strömen die Bürger zur Adlerbastei und stehen Kopf an Kopf an beiden Ufern des Flusses. Fliegende Händler halten mit Scherzworten und lautem Rufen ihre Waren feil. Einsam und leer ragt das Holzgerüst empor, nicht weit davon entfernt ein kleines, mit bunter Zeltplane überdecktes Podium, auf dem der König und die Prinzen Platz nehmen sollen. Mit jeder halben Stunde des Wartens steigt die Unruhe der Zuschauer.
Der Schneider vor dem König Da klingt fernes Rufen den Flußlauf entlang. Vivat! Hoch der König! Musikfetzen dazwischen. Die Unruhe steigert sich, je deutlicher die Huldigungen für den Monarchen vernehmbar werden. Und da ist auch der König schon zu sehen! In der Uniform seines Leibregiments kommt er mit raschem Schritt auf das Podium zu, grüßt, winkt freundlich „seinen lieben Ulmern" nach allen Seiten zu. Die Musik reißt jäh ab. Von würdigen Herren im schwarzen Staafskleid flankiert, tritt ein Mann in merkwürdigem, farbenprächtigem und eng anliegendem Trikot auf das Podium zu: Berblinger macht dem König seine Aufwartung. Tief verneigt er sich vor der Majestät. Der Herrscher richtet ein paar knappe, freundliche Worte an ihn, die der Schneider wohlgesetzt, furchtlos und klar beantwortet. Na, da solle er jetzt einmal zeigen, wie ein Schneider in Ulm zu fliegen verstände! Wieder verneigt sich Berblinger und geht hinüber zum Turm. Atemlose Stille liegt über den Tausenden, die wie gebannt zu dem Meister hinstarren. Kaum kann Berblinger seine eigene Unruhe zügeln, als er sachte, von Sprosse zu Sprosse kletternd, die Leiter emporsteigt. Es ist heute alles so anders als gestern, wo er allein hier oben stand. Feindlich abweisend muten ihn die vielen Gesichter dort unten an, die Höhe zum Fluß seheint doppelt, die Weite zum sandigen Strand des anderen Ufers um ein Vielfaches größer als am Vorabend. Sorgfältig helfen die Soldaten Schmid und Merkle dem Schneider beim Anlegen der Flügel. Dann treten sie zurück. Berblinger zieht die Gurte fest, tritt nach vorn, den Blick über die vielen Köpfe hin21
weg zum Ziel am jenseitigen Ufer gerichtet. Er wippt mit den Flügeln, sucht den Druck der Luft zu spüren, tritt ein wenig nach rechts, wieder zurück. Jetzt macht er einen winzigen Sprung auf der Stelle.
Kaum hörbar ist der Knacks im linken Flügel Kaum hörbar war der Knacks im linken Flügel, und doch spürt der Meister sofort, daß die Stabilität der Fläche geschwunden ist. Einen Augenblick wird es ihm schwarz vor den Augen. Die vielen Gesichter, das bunte Königszelt, die blau-schwarze Donau, das sandige Gelb am anderen Ufer — alles kreist in wirrem Strudel um ihn. Auf einmal weiß er ganz sicher: Der Flug wird heute nicht stattfinden, seine Maschine ist beschädigt, er muß vom Turm herunter. Berblinger tritt von der vorderen Kante wieder zurück. Plötzlich ist er völlig ruhig geworden. Mit sicheren, schnellen Griffen löst er den Gurt an der Brust, die Flügel sinken an beiden Seiten der Schultern zu Boden, mit wenigen Bewegungen ist der Schneider frei, der Apparat hängt wieder an der rückwärtigen Brüstung der Plattform, und Berblinger steigt Sprosse um Sprosse die Leite zur Erde.
Die Menge tobt Zuerst verstehen die Zuschauer nicht recht, was vor sich geht. Mit grenzenloser Verblüffung verfolgen sie die Vorgänge oben auf dem Turm. Erst langsam löst sich die Verwunderung, zuerst sind es nur vier, fünf, die mit empörten Rufen ihrer Enttäuschung Luft machen, dann setzt ein höllisches Pfeifen und Johlen ein, Schmährufe klingen herüber, Fäuste werden drohend erhoben, von allen Seiten drängen die Männer und Frauen nach vorn. Man will ihn fassen, diesen Betrüger, diesen Gaukler, der ihnen teuere Eintrittsgelder aus der Tasche zog und jetzt, als sei überhaupt nichts geschehen, in aller Seelenruhe wieder vom Turm steigt. Vom Fuße des Gerüstes ist Berblinger mit raschen Schritten aufrecht und unbekümmert um das stärker werdende Johlen zum Podium des Königs hinübergegangen. Rasch setzt er die Worte, als er der Majestät erklärt, im linken Flügel sei eine der Hauptstreben gebrochen, wodurch die Maschine flugunklar geworden sei, was die allergnädigste Majestät huldvollst entschuldigen möge. Morgen sei der Schaden behoben und zur gleichen Zeit könne morgen der Flug mit Sicherheit stattfinden. 22
An der Adlerbastei: Nur den Bruchteil einer Sekunde scheint er zu fliegen . . .
Was wird der König sagen? Die Umstehenden merken dem Herrscher deutlich an, daß er nur schwer seinen Unmut bezähmen kann, aber schließlich winkt König Friedrich gnädigst ab, befiehlt dem Berblinger vor der empörten Menge Schutz zu gewähren und ihn morgen — wie in Aussicht gestellt —• seinen Versuch wiederholen zu lassen. Das Volk solle in seinem Sensationshunger nicht betrogen werden. Außerdem bleibe die königliche Anweisung ausdrücklich bestehen, dem Schneider als Anerkennung zwanzig Louisdor auszuzahlen. Am Abend verläßt König Friedrich wieder die Stadt Ulm.
Der nächste Tag Es kommt Berblinger wie eine Art Spießrutenlaufen vor, als er am nächsten Vormittag hoch zu Pferde mit zwei Trompetern durch die Straßen von Ulm reitet und mit lauter Stimme ausruft, daß er heute um 4 Uhr nachmittags seinen Flugversuch wiederholen werde und seine Maschine repariert sei. Wieder strömen Tausende zur Adlerbastei, man will sein tags zuvor gezahltes Eintrittsgeld nicht umsonst ausgegeben haben und ist doppelt gespannt, wie die wunderliche Geschichte mit dem fliegenden Schneider nun eigentlich ausgehen wird. Auch Herzog Heinrich von Waiblingen, der Bruder des Königs, und andere Mitglieder des Hofes finden sich auf dem Podium ein, auf dem vor 24 Stunden der Landesvater selber gestanden hat. Man hat es kaum bemerkt, wie mit dem letzten Schlag der vierten Stunde Berblinger eilig und entschlossen wieder in seinem engen. 23
merkwürdig ausgestatteten Kostüm, das etwas an die Kleider der Zirkusartisten erinnert, die Leiter zum Turm emporhastet. Der spärliche Beifall, den einige Freunde des Meisters klatschen, findet kaum Widerhall und wirkt eher entmutigend als aufmunternd.
„Heute muß es klappen" Berblinger schaut absichtlich nicht hinunter auf die Wartenden. Es sind kaum weniger als am Vortage. Fest hat er die Zähne aufeinandergebissen. Heute muß es klappen, komme was da wolle, heute muß er fliegen und wenn es sein Tod wäre! In wenigen Minuten sind die Flügel umgeschnallt. Bösartig scheint das erwartungsvolle Schweigen der Zuschauer. Anfangs unterscheidet sich sein Benehmen nur unmerklich von dem am \ o r t a g . Wieder tritt er die geneigte Bahn nach vorn, wippend, mit leichten Kniebeugen, nach rechts, nach links tretend. Wo nur der Drude der Luft bleiben mag, den er am Michelsberg so oft gespürt hat? Berblinger ist verzweifelt. Kann er wissen, was die Flugsachverständigen erst mehr als hundert Jahre später feststellen — daß an dieser Stelle des Ufers die Luft rasch am Steilhang abfällt und von der kühleren Luftschicht des Wassers zu gefährlichen Abwinden und Strudeln getrieben wird? Der Meister erkennt nur mit wachsender Unruhe und steigender Gewißheit, daß er sich auch heute auf seinen Apparat nicht verlassen kann.
„Hast wohl Angst, Tanzmeister?" Immer und immer wieder trippelt er von einer Seite zu anderen. Dabei hört er deutlich von unten spöttische Zurufe „Tanzmeister! Hast wohl Angst? Schausteller! Betrüger!" so klingt es immer lauter, immer ungeduldiger. Die Zeit verfliegt. Berblinger steht schon länger als eine halbe Stunde auf dem Gerüst. Jetzt bläst jemand mißtönend und metallisch krächzend auf einer verbeulten Trompete Signale. Die Umstehenden lachen. „Los, los Schneidermeister — Tanzmeister!" klingt es wieder herauf. Dem Berblinger stehen die Schweißtropfen auf der Stirn. Da wird auch der Herzog ungeduldig. Laut und vernehmlich fährt er den Schneider an, er solle sich endlich ein Herz fassen und fliegen, los!
Der Sturz Berblinger kann nicht mehr anders. Er weiß in diesem Augenblick mit tödlicher Sicherheit, daß der Flug mißlingen wird, er weiß, daß 24
Das tragische Mißgeschick Berblingers gab den Zeitgenossen Anlaß zu schadenfreudigen Spottbildern
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sein Leben, seine Existenz zerstört sein wird. Mit fast übermenschlicher Kraft entschließt er sich, geht zurück bis an das hintere Ende der Plattform, breitet die Flügel — jetzt, jetzt! rufen die Tausende—• rennt nach vorn, springt hinaus in die freie Luft. Nur den Bruchteil einer Sekunde scheint er tatsächlich zu fliegen, dann klappen die Flügel nach oben, Berblinger dreht sich im Kreise, verliert jede Orientierung, es saust und braust in seinen Ohren, die Arme werden ihm zurückgerissen, wie ein Stein fällt er die zwanzig Meter in die Tiefe und schlägt schwappend auf das Wasser auf, das ihn mit schneller Strömung davonreißt. Gerade den tausendfachen Schrei der Enttäuschung kann er noch hören, dann wird es still um ihn. Fischer, die mit ihren Booten wartend unterhalb der Adlerbastei lagen, haben den Meister rasch wieder aus den Fluten gezogen, bald ist auch der arg beschädigte Apparat geborgen. Wie er an diesem Tage nach Hause gekommen ist, weiß Berblinger selbst nicht mehr zu sagen.
Wo ist der Schneider? Berblinger hält sich die ersten Tage des neuen Monats wie ein Dieb versteckt in seiner Wohnung zurück. Als er einmal kurz über die Straße zu seinem Nachbarn, dem Tapeziermeister, geht, erkennen ihn die Kinder, und der offene Spott will kein Ende finden. Pfeifen, Johlen, wieder das höhnische „Flieger, Flieger . . .", einer wirft sogar einen Stein, der um Haaresbreite an dem Meister vorübersaust. Spottgedichte gehen um zwischen Friedrichsau und Galgenberg; bald später hört man sie in Blaubeuren, Heidenheim, im Bayrischen, und weiter im Oberland. Das ganze Land scheint sich zu einer geschlossenen Front des Spottes gegen Albrecht Berblinger zusammengefunden zu haben. Die Wortführer verdächtigen den Meister offen des Betruges. Hat er nicht Eintrittsgelder kassiert für seine sogenannte „Flugvorführung"? Und was ist daraus geworden? Soll man nicht Berblinger dem Gericht übergeben? Besonnene Elemente mahnen zur Zurückhaltung, und schließlich erhebt niemand Klage gegen den Meister. Plötzlich ist Berblinger aus Ulm verschwunden. Zu dem Gram über das Mißlingen seines Fluges war der Kummer über den Spott gekommen. Zu später Abendstunde verließ der Meister unerkannt das Neutor, auch die Berblingerin weiß keine Auskunft über das Ziel der Reise —• oder will sie nichts verraten? 26
Mit dem Scheitern des Flugversuches blieb schlagartig die Arbeit aus, und nur allzuschnell sind die zwanzig Louisdor verbraucht, die der König dem Schneider hatte aushändigen lassen. Bittere Not zieht in das Haus der Berblingers ein.
Die Meisterin hilft Die Meisterin sucht nach Mitteln und Wegen, sich und den vier Kindern den Lebensunterhalt zu sichern. Oft reicht die dünne Suppe kaum, den grimmigsten Hunger zu stillen, oft werden die Scheiben alten, trockenen Brotes sorgsam zugeteilt. Da entschließt sich die Berblingerin, am 12. September 1911 im Ulmer Intelligenzblatt dem „verehrungswürdigen Publikum" mitzuteilen, daß sie sich entschlossen habe, ab Oktober „Lehrstunden zu geben und Mädchen das Weißnähen zu lehren". Langsam und schleppend vergeht der Winter 1811/12. An einem frostklirrenden Tag Ende Januar klopft es zaghaft an der Tür von Berblingers Wohnhaus, und als die Meisterin einen schmalen Spalt öffnet, steht Berblinger vor der Tür. Albrecht ist nach Ulm zurückgekehrt. Man sieht ihm an, daß schwere Wochen unsteter Wanderschaft hinter ihm liegen. Müde und schweigsam läßt er sich auf die harte Bank am kaum geheizten Ofen nieder. Trotzdem hat der Meister seinen guten Mut nicht völlig verloren. In seiner Heimatstadt ist inzwischen ein wenig Gras über die mißlungene Affäre vom 30. Mai des Vorjahres gewachsen, und Berblinger bewirbt sich um die Stelle eines Regimentsschneiders bei den Ulmer Reitern. Im Stadtgerichtsprotokoll, das als Unterschriften die Namen ehrenwerter und geachteter Ulmer Patrizier trägt, wird dem Meister ausdrücklich bestätigt, daß er ein findiger Kopf und ausgesprochener Könner in seinem Fach sei. Ohne weitere Schwierigkeiten erhält Berblinger seine Bestallung als Regimentsschneider. Zurückgezogen und fleißig arbeitet der Meister nun wieder Jahr um Jahr. Die größte Not seheint von seiner Familie abgewendet. Lange Monate verbringt er im Troß seiner Einheit außerhalb Ulms. Erst 1815 kehrt er in die Münsterstadt zurück. Seine Tätigkeit beim Regiment hat ihr Ende gefunden. Berblinger will es nicht mehr gelingen, beruflich Fuß zu fassen. Die Kundschaft bleibt aus, andere Schneider sind „in Mode" und werden von Ratsherren und der Bürgerschaft überlaufen. „So", heißt es, „der Berblinger ist wieder da? Der verrückte Flieger? Der soll sehen, wie er weiterkommt!" 27
Vom Spielteufel gepackt Der Mai 1816 bringt fast auf den Tag genau fünf Jahre nach dem Sturz von der Adlerbastei einen neuen schweren Schlag für den Meister. Sein Wohnhaus in dem Hoheschulgäßchen kommt unter den Hammer, die Kaufsumme geht fast ausschließlich in die Hände der Gläubiger. Berblinger beginnt völlig den Boden unter den Füßen zu verlieren. In dunklen, rauchgeschwärzten Kneipen sitzt er mit Kumpanen, die sonst kein Meister der Zunft auch nur mit einem Blick beachten würde. Und es geht hoch her in solchen Nächten. Da wird gezecht und gesungen, gescherzt und gespielt. Berblinger scheint immer mehr vom Spielteufel besessen zu sein. Was ihm in ehrlicher Arbeit versagt blieb, hofft der Meister jetzt im Spiel zu gewinnen. Oft merkt er es nicht einmal, daß zu vorgerückter Stunde die Galgenvögel, mit denen er beisammenhockt, gezinkte Karten auf den Tisch bringen, daß sie ihn betrügen und mit allen Mitteln Gulden um Gulden aus seinem überdies mehr als mageren Geldbeutel ziehen. Lachend, fluchend, singend und johlend torkelt der Meister in diesen Jahren mehr als einmal lange nach Mitternacht in seine Wohnung. Manches wertvolle Werkzeug wird verpfändet oder verschleudert, und die Möglichkeit, überhaupt noch einmal sein Handwerk auszuüben, schwindet rasch dahin. Im April 1816 wird Berblinger amtlich mitgeteilt, daß er bei Fortsetzung seines gegenwärtigen Lebenswandels mit der Einweisung in ein Zwangsarbeitshaus zu rechnen habe.
Das Glück hat ihn verlassen Der Meister besinnt sich. Diese Drohung der Behörde hat ihre Wirkung nicht verfehlt. iNicht von heute auf morgen, aber doch innerhalb einiger Wochen bricht Berblinger mit seinen Zechgesellen, wendet sich wieder der Schneiderei zu und setzt seine Mitbürger davon in Kenntnis, daß er „durch mancherlei Wendungen des Geschickes" als Untermieter des Schreinermeisters Lehmann wieder seine Werkstatt eröffnet habe und neben Schneiderarbeiten auch Tapezierarbeiten ausführen wolle. Aber der „Schneider vou Ulm" mag anfangen, was er will, das Glück hat ihn verlassen. Wieder bewirbt er sich um die Stelle eines Regimentsschneiders, wieder sucht er beim Trunk Zuflucht und Trost. 1819 bestätigt das königliche Oberamtsgericht, daß Berblinger „sozusagen civiliter mortuus (bürgerlich tot)" sei und in schlechtem Rufe stehe. 28
_ An Abzehrung gestorben Die Meisterin ist in den letzten Jahren mehr und mehr verfallen. Arbeit und Not sind über ihre Kräfte gegangen, der liederliche Lebenswandel ihres Mannes hat jede glückliche Stunde innerhalb der Familie zunichte gemacht. An der Grenze zwischen Winter und Frühjahr 1820 nehmen die Hustenanfälle an Heftigkeit und Häufigkeit zu. Als am 18. März der Frühlingssturm von der Alb herunter-
Die Adlerbastei im heutigen Zustand braust und ein naßkaltes Schnee- und Regengemisch vor sich herpeitscht, findet die Meisterin die ewige Ruhe. Mit kleinem Geleite wird sie drei Tage später zum Friedhof hinausgetragen. Der amtliche Eintrag stellt fest, daß Anna Berblingerin, geborene Scheiffele. an „Abzehrung" im Alter von 54 Jahren verschieden sei. Der Schock, den der Tod seiner Frau dem Meister versetzt hat, scheint noch einmal den Arbeitswillen Berblingers anzuspornen. Wieder hat er die Wohnung wechseln müssen, wieder gibt er im Intelligenzblatt eine Anzeige auf, in der er Schneider- und Tapezierarbeiten ankündigt, Bruchbandagen empfiehlt und „Gürtchen für Damen, Herren, um den Körper rahn (schlank) zu erhalten" anpreist. Für kurze Zeit wendet sich dem Meister die Gunst des Ulmer Publikums wieder zu. Er muß sogar einen Gesellen beschäftigen. 29
Zum zweitenmal am Traualtar In der trügerischen Hoffnung auf ein erneutes Aufblühen seines Geschäftes entschließt sich Albrecht Ludwig Berblinger, im Mai 1822, wiederum fast auf den Tag genau elf Jahre nach dem Sprung in die Donau, zum zweitenmal zu heiraten. Anna Maria Spühler aus Reckingen im schweizerischen Kanton Aargau wird ihm angetraut. Aber bald sind Sorge und Not wieder die steten Gäste am Tische Berblingers. Klagen und Prozesse werden in den Akten vermerkt, oft muß der Meister die Wohnung wechseln, bis er 1827 bei seinem Bruder Unterkunft findet.
Die Macht der Erinnerung Man kann die kümmerliche Tätigkeit, die der Meister 1829 aus- I übt, kaum noch Arbeit nennen. In vielen freien, unausgefüllten Stunden hängt er seinen Gedanken nach. Von Zeit zu Zeit schleicht er sich heimlich auf den Dachboden, wo noch immer die staubbedeckten Trümmer seines Flugapparates stehen. Liebkosend, gedankenverloren streichen seine mageren Finger über die zerschlissene Seide der Bespannung, biegen gekrümmte Streben gerade oder ziehen spielerisch die losgewordenen Spanndrähte nach. Es hätte gelingen können — so sinnt der Meister, wenn er damals mehr Zeit zur Vorbereitung und Erprobung gehabt hätte. Niemand soll von diesen stillen Besuchen im Dachgeschoß wissen, zu keinem Menschen spricht der Meister mehr über seinen Flugversuch und seine einstigen Pläne. Jedesmal hatte er fast ein schlechtes Gewissen, wenn er bei den vielen Umzügen der letzten Jahre seine Flugmaschine den Blicken der Neugierigen aussetzte. Aber sein Herz hängt auch heute noch mit schmerzlicher Liebe an dem Apparat, der ihm kühne Hoffnung und unerbittlicher Ruin in einem war.
Abschied vom Münster Die Gesundheit Berblingers hat in den harten Jahren gelitten und es fällt ihm schwer, die ausgetretenen, vereisten Treppen zum • Münsterturm in der zweiten Januarhälfte 1829 noch einmal hinaufzusteigen. Aber der Meister spürt, daß seine Tage gezählt sind. Oft muß er stehenbleiben, sich an einen Mauervorsprung stützen, tief Luft holen und den rasenden Schlag des Herzens beruhigen. Dann steht er oben und läßt seinen Blick über die schiefen Ulmer Dächer wandern. Dort drüben stand sein erstes Haus, dort das zweite, in 30
dem er seine Ehe begann. Drüben die Werkstatt, auf der anderen Seite das letzte Haus, das einmal auf den Namen Albrecht Ludwig Berblinger in die Grundbücher der guten Stadt Ulm eingetragen war. Dann trifft sein Blick das Donauufer. Die Bilder vom Mai 1811 stehen plötzlich wieder klar und deutlich in seiner Erinnerung. Es ist ihm, als höre er noch die Musik dieses sonnenüberstrahlten Vorsommertages. Aber auch die tausendfältigen Schreie der Enttäuchung, die Reime der vielen Spottgedichte klingen ihm wieder in den Ohren. Doch der Meister kann heute keinen Zorn mehr gegen seine Mitbürger empfinden; wie im Nebel versinkt die Donau vor seinen Blicken, versinken die winkligen Gaßchen unter ihm, durch die die Menschlein wie geschäftige Ameisen hasten. Die Dohlen umkreisen Turm und Kirchenschiff — wie einst, denkt der Meister. Weiß glitzert der blanke Schnee vom Hang des Michelsberges. Weißt Du noch, Berblinger, wie Du hier Deine heimlichen Versuche machtest? Über den Kamm des Berges wandert der Blick des müden Mannes weiter ins schwäbische Land. Dort drüben liegt Albeck, wo knappe Jahrzehnte später Bosch das Licht der Welt erblickt. Schwäbische Denker, schwäbische Dickschädel — eine stolze Reihe von Berblinger über Bosch, Daimler, Benz und alle jene, die in die Welt große Ideen gebracht haben. Berblinger hat über diese stille Stunde auf dem Turm des Münsters zu niemanden gesprochen, sie war ihm kostbares Geheimnis, und die Erinnerung füllt ihn ganz aus, als sein letztes Stündchen im Ulmer Spital anbricht. Abgeklärt und zufrieden schließt Albrecht Ludwig Berblinger am 28. Januar 1829 im Alter von 58 Jahren die Augen. Wie beim Tode seiner ersten Frau verzeichnet der Akt nüchtern als Todesursache „Abzehrung". Kein Grabstein, keine Gedenktafel kennzeichnet das Grab des „Schneiders von Ulm", der auf dem Armenwege beigesetzt werden muß. Erst dem kommenden Jahrhundert blieb es vorbehalten, sich in ehrendem Angedenken des zu früh Geborenen zu erinnern. Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Die Darstellung stützt sich auf die Originalakten des Ulmer Stadtarchivs L u x - L e s e b o g e n 113 ( T e c h n i k ) - H e f t p r e i s 2 5 P f g . Natur- und kulturkundliche Hefte — Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Verlag Sebastian Lux, MurnauMünchen — Druck: Buchdruckerei Mühlberger, Augsburg 31
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