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CHRIS WOODING
Der Schleier der Erleuchtung Ins Deutsche Überträgen von Michael Krug BAsnnEi LUBBE B...
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Scan by Schlaflos
CHRIS WOODING
Der Schleier der Erleuchtung Ins Deutsche Überträgen von Michael Krug BAsnnEi LUBBE BASTEI LUBBE TASCHENBUCH Band 20 543 1. Auflage: August 2006 Vollständige Taschenbuchausgabe Bastei Lübbe Taschenbücher in der Verlagsgruppe Lübbe Deutsche Erstveröffentlichung Originaltitel: The Ascendancy Veil © 2005 by Chris Wooding First published in Great Britain in 2005 by Gollancz © für die deutschsprachige Ausgabe 2006 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach Lektorat: Martina Sahler/Ruggero Leo Titelillustration: Romas B. Kukalis/Agentur Schluck Umschlaggestaltung: Gisela Kullowatz Satz: SatzKonzept, Düsseldorf Druck und Verarbeitung: Maury Imprimeur, Frankreich Printed in France ISBN-13: 978-3-404-20543-1 (ab 1.01.2007) ISBN-10: 3-404-20543-X Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
eins Sie zeichneten sich als Schatten durch den Rauch ab, als Schemen im wabernden Dunkel. Bevor sie in die Halle stürmten, wirkten sie wie Dämonen, ihre Gestalten riesig und nebelgleich. Aber sie waren keine Dämonen. Die Dämonen befanden sich noch draußen. Das versprengte Häufchen der Verteidiger begegnete dem Ansturm mit grimmigem Gleichmut. Einige hockten auf dem Balkon, der den Raum säumte, aber die meisten hatten sich auf Bodenhöhe hinter einer Barrikade verschanzt, die sie aus umgestürzten Statuen, Sockeln und den wenigen, kleinen Tischen gebaut hatten. Hier gereichte ihnen die Vorliebe der Saramyrrer für karge Einrichtung zum Nachteil. Dennoch gingen sie so gut wie möglich in Deckung, legten die Büchsen an und erfüllten die Luft mit Feuer, als die Ghauregs auf sie zustapften. Einst war die Eingangshalle ein erhabener, kühler und widerhallender Raum gewesen, der Würdenträger und Adelige beeindrucken sollte. Nun präsentierte er sich bar jeden Glanzes und Schmuckes, und die Wände waren verkohlt. Der Boden war durch dieselbe Explosion gesprungen, die nahe dem Eingang die Vorhänge und Wandteppiche in Brand gesetzt hatte. Etwa ein Dutzend schauerlicher Leichname lag dort verstreut. Die ersten vorpreschenden Kreaturen hatte eine zum richtigen Zeitpunkt ausgelöste Bombe aufgehalten; um die nächsten würden sich die Büchsen kümmern. Darüber hinaus jedoch war das Unterfangen der Verteidiger hoffnungslos. Donnergleich stürmten die Ghauregs über die weitläufige, 5 offene Fläche in der Mitte der Halle und wurden umgemäht wie Heu. Ihre dichten, grauen Pelze färbten sich rot, als die Kugeln sie durchlöcherten. Doch für jeden, der das Leben aushauchte, folgte ein weiterer nach, und mehrere, die gefallen waren, rappelten sich wieder auf, verfielen durch ihre Wunden in noch heftigere Raserei. Mit über zwei Metern Schulterhöhe und affenähnlicher Haltung glichen sie wilden Ungeheuern aus Fell und Muskeln. Schmerz und Tod waren bedeutungslos für sie, und so rannten sie mit selbstmörderischer Wut durch das Kreuzfeuer. Den Verteidigern gelang es, schnell genug nachzuladen, um eine zweite Salve abzufeuern, ehe die Ungetüme in die Barrikade krachten und darüber kletterten, um an die Männer dahinter zu gelangen. Büchsen wurden fallen gelassen, Schwerter gezogen, doch gegen die schiere Größe und Gewalt der Ghauregs waren es viel zu wenig Klingen. Die Verteidiger wussten es, trotzdem kämpften sie. Ihnen war befohlen worden, den Verwaltungstrakt zu halten, und dafür würden sie ihr Leben opfern. Saramyrrische Soldaten nahmen lieber den Tod hin als die Schande, Befehle missachtet zu haben. Die Ghauregs schlugen auf ihre Beute ein und packten sie. Waren die Verteidiger zu langsam, um auszuweichen, wurden sie zu Brei geprügelt oder durch die Luft geschleudert wie zerbrochene Schneiderpuppen. Wer sich
rechtzeitig ducken konnte, wehrte sich mit dem Schwert, indem er auf Sehnen und Gelenke einhieb. Binnen weniger Lidschläge war der Boden glitschig vor Blut, und die Schreie der Männer gingen im Gebrüll der Tiere unter. Die Soldaten auf dem Balkon zielten auf ihre Gegner in dem Getümmel, bis sie selbst angegriffen wurden. Denn den Ghauregs waren mehrere Skrendel gefolgt: zierliche, flinke Wesen mit langen Würgefingern, die über die Säulen emporwuselten. 6 Inzwischen hatten die Ungeheuer die Barrikade zerstört. Riesige Kiefer bissen und schnappten, zermantschten geräuschvoll Knochen und Knorpel; gewaltige Schultermuskeln spannten sich, wenn die Ghauregs ihre Beute in Stücke rissen. Binnen weniger Minuten hatte das verbliebene halbe Dutzend der Ghauregs die Streitmacht erheblich geschwächt. Nur vereinzelt waren Soldaten übrig, deren Tod nicht mehr als ein Nachspiel zu sein schien. Doch als die Ghauregs die kleinen, gelben Augen auf den letzten, beharrlichen Rest der Widerständler hefteten, ging eines der Ungeheuer jäh in Flammen auf. Die beiden Schwestern vom Roten Orden fegten von hinten in die Halle; ihren Schritten haftete todbringender Hochmut an. Beide trugen die dunkle Kluft des Ordens, beide die Furcht einflößende Gesichtsbemalung ihrer Zunft: die schwarzen und roten, an Haifischzähne erinnernden Dreiecke über den Lippen, die beiden blutroten Halbmonde, die sich von der Stirn über die Augen auf die Wangen erstreckten. Ihre Netzhäute loderten in der Farbe glimmender Kohlen. Die anderen Ghauregs schreckten vor der Hitze ihres brennenden Gefährten zurück, und in jenem Augenblick des Zögerns überwältigten die Schwestern sie. Zwei der Tiere sackten zu Boden, bluteten aus jeder Körperöffnung; zwei weitere entzündeten sich zu weißen Flammensäulen aus Feuer, Rauch und blubberndem Fett; die letzte Kreatur wurde wie von unsichtbarer Hand emporgehoben und mit solcher Gewalt gegen die Wand geschleudert, dass der Stein zerbarst. Die Skrendel wuselten die Säulen wieder hinab und hasteten auf den Eingang zu. Eine der Schwestern vollführte mit einer schwarz behandschuhten Hand eine beiläufige Geste und verkrüppelte sie, zersprengte und brach ihre dünnen Knochen, sodass die Kreaturen sich matt um sich schlagend auf dem Boden wanden. Nach wenigen Sekunden war es vorbei. Zurück blieben im 7 Gefolge des Gefechts nur das rastlose Treiben der Flammen, das Kreischen der sterbenden Skrendel und die Schreie der verwundeten Männer. Die überlebenden Verteidiger musterten die Schwestern voll erschöpfter Ehrfurcht. Kaiku tu Makaima betrachtete das Bild, das sich ihr bot. Ihre Sicht taumelte an der Schwelle zwischen der Welt natürlichen Lichts und jener des Gewebs, wobei die eine die andere überlagerte. Sie schaute vorbei an den zerschundenen und blutigen Gestalten, die sie anstarrten, vorbei an den Leichen in der Halle zum Eingang, wo zornig der Rauch des Feuers in den Raum quoll. Doch unter dieser Fassade der Wirklichkeit sah sie ein goldenes Schaubild unzähliger Fäden, die das Geflecht und die Fasern des Daseins darstellten: die ganze Halle in Form von Millionen winziger, endloser Ranken. Sie sah das Kräuseln und Wabern der Luft, wenn die Lebenden sie in die Lungen sogen oder ausatmeten; das Wallen und Rollen im Herzen des Rauchs; die festen, unerschütterlichen Linien der Säulen. Kaiku krümmte die Finger und verknotete die zuckenden Fäden der Flammen, wickelte sie enger und enger, bis das Feuer erstickte und erlosch. »Juraka ist gefallen«, hallte ihre Stimme durch den Raum. »Wir ziehen uns nach Südwesten zum Fluss zurück.« Dies mitzuteilen widerstrebte ihr zutiefst. Die Enttäuschung der Männer spürte sie wie eine Woge. Ihre Gefährten lagen tot um sie herum,, Dutzende Leben waren geopfert worden, um diesen Ort zu verteidigen, und nun musste ausgerechnet sie ihnen sagen, dass alles umsonst gewesen war. Vielleicht hassten sie Kaiku dafür. Vielleicht hegten sie tief in ihren Herzen Verbitterung darüber, dass sie gekommen war und ihren verzweifelten Kampf bedeutungslos gemacht hatte. Und vielleicht dachten sie: dreckige Ausgeburt. Es kümmerte sie wenig. Kaiku hatte größere Sorgen. Sie überließ es ihrer Gefährtin Phaeca, die Dinge etwas ein8 fühlsamer zu erklären, während Kaiku selbst durch den sich lichtenden Rauch des gelöschten Feuers und hinaus in den warmen, klaren Wintertag ging. Juraka war auf einem Hang gegründet worden, der die Ufer des riesigen Azlea-Sees überblickte. Die uralte Marktstadt hatte ursprünglich als Zwischenstation für Reisende gedient, die den langen Weg von Tchamaska nach Machita entlang der Präfekturenstraße antraten. Im Verlauf der Zeit hatten sich in dem Ort Fischerei und Bootsbau entwickelt, und irgendwann während der blutigen Vernichtungskriege nach dem Tod des wahnsinnigen Kaisers Cadis tu Othoro war die Stadt befestigt und in Garnison gelegt worden. Zuletzt war sie zu einem entscheidenden Bestandteil der Linie geworden, die seit Jahren von den letzten Männern und Frauen des Kaiserreichs gegen die Weber und deren Horden gehalten worden war. Doch wenn an diesem Tag Nukis Auge hinter dem Horizont versank, würde sie in den Händen des Feindes sein. Kaiku stieß einen leisen Fluch aus, eine höchst undamenhafte Angewohnheit, die sie sich dereinst von ihrem längst verstorbenen Bruder abgeschaut und nie abgelegt hatte. Sie wusste, dass die Pattstellung früher oder später
enden musste, dass letztlich eine Seite einen Vorteil über die andere erringen würde. Kaiku wünschte nur, die Weber hätten es nicht als Erste geschafft. Der Verwaltungstrakt war ein weitläufiger, ummauerter Bereich mit mehreren prunkvollen Gebäuden in kreisförmiger Anordnung. Zu ihrer Rechten reihten sich Häuser den Hang hinauf bis zum Rand eines Wäldchens; zu ihrer Linken fielen Straßen und winzige Plätze in einem Gewirr von Ziegeldächern zur schier endlosen Fläche des Sees hin ab, der im klaren Tageslicht gleißend funkelte, bis er sich im Dunst der Ferne verlor. Dort draußen tobte gleich einem langsamen Tanz ein Gefecht von Schiffen. In unregelmäßigen Abständen drangen das Kra9 chen von Schüssen und das Gebrüll von Kanonenfeuer zu Kaiku. Am Ufer drängten sich Landungsstege und Lagerhäuser, die meisten nunmehr zerschmettert und lodernd. Rauch kräuselte sich in verschwommenen Säulen empor, verhüllte die unteren Straßen mit einem modrigen Schleier. Kaikus Blick wanderte über die Stadt, über die zerstörten Schreine und verheerten Häuser, über die Straßen, auf denen flüchtende Männer und Frauen Gefechte mit Schrillviechern, Furien und anderen Ungeheuern austrugen. Hoch droben in den Lüften schwebten im Aufwind Knorpelkrähen, die ihren Nexus-Herren das Geschehen im wahrsten Sinne des Wortes aus der Vogelperspektive vermittelten. Doch dies waren Feinde, die Kaiku kannte, Geschöpfe, mit denen sie in den vier Jahren seit dem Ausbruch dieses Krieges viele Male zu tun gehabt hatte. Sie wandte die Aufmerksamkeit denjenigen zu, die den Untergang der Stadt heraufbeschworen hatten. Es waren zwei. Einer befand sich unten am Ufer, der andere ragte auf der Hügelkuppe über die Bäume auf. Feyakori: »Dämonen der Fäulnis« in der saramyrrischen Ausdrucksweise, die für übernatürliche Wesen verwendet wurde. Gut zwölf Meter hoch ragten sie auf: Geifernde, plumpe Kreaturen, die an den Abklatsch einer menschlichen Form erinnerten; entstellte Gestalten mit langen, dicken Armen und Beinen, die auf allen Vieren liefen und dabei einen grässlichen Gestank absonderten. Sie bestanden aus widerwärtigem, wabernden Schlamm, der von ihnen tropfte und spritzte, und wo er auftraf, breitete sich Feuer und Fäulnis aus, verwelkten Blätter und verrottete Holz. Sie besaßen keine Gesichter, lediglich eine Ausbuchtung zwischen den Schultern, in der glühende Kugeln mit leuchtenden Schweifen loderten. Sie heulten einander klägliche Laute zu, während sie ihrem Werk der Verheerung frönten, untermalten ihr träges, stumpfsinniges und grausames Treiben mit kummervollen Rufen. Kaiku beobachtete, wie einer der Dämonen in den See 10 hinauswatete. Das Wasser zischte und brodelte. Wo seine Glieder darin eintauchten, breitete sich eine schwarze Absonderung aus. Kaikus Magen zog sich zusammen, als sie erkannte, was das Wesen vorhatte. Es bahnte sich den Weg zu einer der Dschunken des Kaiserreichs, hob mit einem trübseligen Stöhnen den Stumpf einer Hand und ließ ihn krachend auf das Schiff niedersausen, brach es entzwei und setzte Männer und Segel in Brand. Unwillkürlich schloss Kaiku die Augen und wandte sich ab, dennoch konnte sie die Gegenwart des Dämons im Geweb gleich dunklen Hieben auf ihr Bewusstsein spüren. Der andere Feyakori brandete aus dem Wald hervor und zog in seinem Gefolge eine abscheuliche Narbe welken Blattwerks und umknickender Bäume. Voll übermütiger Bosheit ließ er einen Arm in die nächstbesten Dächer krachen. Fünf von Kaikus Ordensschwestern waren bereits bei dem Versuch umgekommen, die Feyakori anzugreifen. In ganz Juraka wurde der Befehl zum Rückzug verbreitet, und die Streitkräfte des Kaiserreichs wichen nach Südwesten zurück. Dann spürte sie die spinnengleiche Regung eines Webers in den Straßen unter ihr, hörte das ferne Gellen von Soldaten. Damit hatten der Zorn und der Kummer in ihrem Herzen ein Ziel gefunden. Wenn ich dies hier schon nicht aufhalten kann, gelobte sie sich, dann hole ich mir zur Vergeltung wenigstens einen von denen. Sie verließ den Verwaltungstrakt und stapfte durch das Gebetstor mit seinen wortgewandten Lobeshymnen auf Naris, den Gott der Gelehrten, in die schmalen, abfallenden Straßen dahinter. Blut rann in kettenartigen Rinnsalen zwischen den Kopfsteinen, bahnte sich von den Leichnamen der Männer und Frauen und den Kadavern der ausgebürtigen Raubtiere träge einen Weg den Hang hinab. Kurz erfasste Kaiku eine verbitterte Belustigung darüber, dass Ausgeburten, die durch die 11 Weber geschaffen worden waren, zugleich deren bedeutendsten Rückhalt und deren größte Gegner verkörperten. Sie und all die anderen Schwestern waren ein Ergebnis desselben Vorgangs, der Ungetüme wie die Ghauregs hervorgebracht hatte. Kaiku war überzeugt davon, dass die Götter, die das Geschehen vom Goldenen Reich aus beobachteten, unermüdlich darüber lachten, wie die Dinge sich entwickelt hatten. Mit flinken Schritten eilte sie zwischen den jüngst verwüsteten Gebäuden hindurch. Die blindwütig in den Gassen umher rennenden Kreaturen fürchtete sie kaum. Holzbalkone und Schaufenster verschiedener Läden glotzten ausdruckslos ins Leere, als wären sie bestürzt darüber, wie jäh sie verwaist worden waren. Karren und Rikschas waren achtlos an Ort und Stelle zurückgelassen worden, als man die Bewohner des Ortes hastig in Sicherheit brachte. Das Krachen von Büchsenschüssen hallte den Hügel herauf, da Dutzende Soldaten ihre Munition in dem nutzlosen Versuch vergeudeten, den Dämon zu verletzen, der von der Baumgrenze in Richtung des Sees eine Spur der Verwüstung zog.
Die Schreie, die Kaiku gehört hatte, wurden mittlerweile lauter. Sie spürte die Regung im Geweb wie sich kräuselnde Fangarme, die des Webers abscheulichen Eingriff in das unsichtbare Geflecht darstellten, das unter der Haut der äußeren Welt verborgen lag. Kaiku hasste die Weber, hasste ihre im Vergleich zum eleganten Wirken der Schwestern klobige Art, hasste die Grobschlächtigkeit, mit der sie der Natur ihren Willen aufzwangen. Während sie sich dem Weber näherte, schürte sie ihren Zorn und verbarg ihre Gegenwart durch ein paar geschickte Ausweichbewegungen vor ihm. Die Gasse führte zu einer Kreuzung dreier größerer Durchzugsstraßen. Den Mittelpunkt der Kreuzung bildete ein mit Kopfstein gepflasterter Bereich, auf dem die Bronzestatue eines Welses stand, der mit gekrümmtem Leib, geblähten Kiemen und wehenden Barteln himmelwärts schwimmend darge12 stellt war. Es handelte sich um die tierische Erscheinungsform Panazus, des Gottes der Flüsse, der Stürme, des Regens und der Seen. Eine angemessene Wahl für eine Stadt an den Gestaden des größten Gewässers des ganzen Kontinents. Zweistöckige Gebäude standen dicht um den Platz. Ihre Läden hingen offen, Pflanzentöpfe davor waren gesprungen, Holzwände von Kugeln durchsiebt. Dies war einer der entscheidenden Verteidigungspunkte von Juraka gewesen und dementsprechend mit Barrikaden und einem Paar Feuerkanonen befestigt worden. Doch gegen Weber waren derlei Maßnahmen nutzlos. Ohne eine Schwester des Roten Ordens, die sich ihnen entgegenstellte, hatten die Weber die Sinne der Soldaten benebelt und sie in die Flucht geschlagen. Ausgeburten hatten die unbemannten Stellungen überrannt. Der Weber war weit und breit nicht zu sehen. Kaiku verschwendete keine Zeit damit, sich zu fragen, wie es zu dieser misslichen Lage gekommen war. Eigentlich hätte eine Schwester zum Schutz der Soldaten hier sein sollen. Dreist stellte sich Kaiku an einem Ende der Kreuzung auf und öffnete das Geweb. Die Luft regte sich um sie, versetzte ihr Kleid in Wallung und fuhr ihr durch das gelbbraune Haar, das über eine Gesichtshälfte hing. Kaiku ergab sich der Ekstase des Webens. Die schiere Verzückung der Körperlosigkeit, der Erfahrung des ungefilterten Geflechts der Schöpfung, das sich als endlose Fülle glitzernder Fäden präsentierte, reichte aus, um ungeschulte Menschen in den Wahnsinn zu stürzen. Kaiku aber hatte das Geweb bereits viele Male besucht und besaß Mantras, Kniffe der Selbstbeherrschung, die sie gegen jene erste Woge berauschender Harmonie verankerten. Sie sah die Risse und Klüfte, die der Weber hinterlassen hatte, spürte seinen Einfluss, der sich in die goldenen Stickpuppen der Soldaten bohrte, sie verwirrte, sie in Hilflosigkeit verfallen ließ. 13 Er hatte Kaiku noch nicht bemerkt, was sie sich zunutze machte. Behutsam glitt sie näher, schlängelte sich Fasern entlang, huschte von Strang zu Strang, damit die Schwingungen ihres Herannahens kaum spürbar, großflächig verteilt und so schwach sein würden, dass sie im Pochen der Gegenwart der Dämonen untergingen. Es war ihr ein Leichtes, ihn aufzuspüren: Er versteckte sich im Obergeschoss eines alten Freudenhauses, das die Kreuzung überblickte. Dieser Weber war jung und unachtsam, denn trotz seiner Macht bemerkte er sie nicht, bis sie nahe genug war, um ihn anzugreifen. Aber sie griff ihn nicht an. Denn ungeachtet ihres Zorns kannte sie die Gefahren, die damit einhergingen, einen Weber herauszufordern. Stattdessen schlüpfte sie in die Fasern der Balken, die das Dach des Freudenhauses stützten, und heftete sich an deren gesamte Länge, um den nötigen geistigen Halt zu erlangen. Kaiku hatte festgestellt, dass man einen Weber am besten tötete, indem man es nicht unmittelbar tat. Mit einem heftigen Ruck zerriss sie die Balken. Die jähe Explosion, die durch das Zerfetzen der Gewebfasern verursacht wurde, bewirkte eine derartige Erschütterung, dass die Läden des Freudenhauses aus den Angeln geschleudert wurden. Flammen züngelten aus den obersten Fenstern; Bretter barsten und wirbelten sich überschlagend durch die Luft. Das Dach gab nach und begrub den Weber unter sich. Der Widerhall des Todes zuckte wie ein schriller Schrei durch das Geweb und verhallte langsam. Einer weniger von euch, dachte Kaiku, während das Geweb ihrer Sicht entschwand. Die Soldaten kamen wieder zu Sinnen und zeigten sich verwirrt darüber, sich inmitten eines Angriffs wiederzufinden. Einige fingen sich zu langsam und wurden von den Ausgeburten in Stücke gerissen, die zwischen ihnen umherschwärmten; andere jedoch waren schneller und brachten ihre Schwerter zum Einsatz. Es waren noch genug übrig, um einen Wider14 stand zu entfachen, was sie voll plötzlichem und zügellosem Zorn taten. Kaiku wandelte unter ihnen, tötete im Gehen links und rechts Ausgeburten. Mit einer bloßen Geste ihrer Hand zerfetzte sie Eingeweide und zerschmetterte Knochen, schleuderte Kreaturen fort oder verbrannte sie zu Talg und Ruß. Die Soldaten, die einander anspornend zubrüllten, fochten mit neuem Mut. Kaiku stimmte in die Rufe ein, verschaffte ihrem tief empfundenen, namenlosen Hass darüber Luft, was ihr, ihrem Land und diesen Menschen angetan worden war; und eine Weile schwelgte sie in reiner Blutlust. Alsbald gab es keine Feinde mehr zu bekämpfen. Kaiku kam wie aus einem benebelten, seichten Dämmerzustand wieder zu sich. Die Kreuzung glich einem Schlachtfeld voller Leichname, die nach Blut und Schießpulver stanken. Die Soldaten beglückwünschten einander und beäugten Kaiku vorsichtig, hegten sichtlich
Argwohn gegen ihre Retterin. Einer von ihnen trat einen Schritt auf sie zu, als wollte er ihr danken, doch mitten in der Bewegung brach er ab und wandte sich zur Seite, tat so, als hätte er nur das Gewicht verlagert. Kaiku spürte, wie sie stumm damit haderten, wer denn nun tun sollte, was der Anstand gebot, und ihre Hilfe anerkannte, doch der Umstand, dass es niemand freiwillig tun wollte, ließ es ohnehin schal schmecken. Bei den Göttern, selbst jetzt noch war sie eine Ausgeburt für sie. »Wir sollten gehen«, schlug Phaeca vor, die neben ihr auftauchte. Als Kaiku nicht antwortete, legte die Schwester ihr sanft eine Hand auf die Schulter. Kaiku bestätigte mit einem gedämpften Laut tief in der Kehle, dass sie ihre Gefährtin bemerkt hatte, aber sie rührte sich nicht. Der Feyakori vom Hügel kam näher. Sein Grabesstöhnen eilte den Lauten der Zerstörung voraus, die der Dämon anrichtete. »Wir sollten gehen«, wiederholte Phaeca voll stiller Ein15 dringlichkeit. Erst da wurde Kaiku bewusst, dass ihr Tränen in den Augen standen - Tränen blanker Wut und herber Enttäuschung. Mit dem Handrücken wischte Kaiku sie fort und stapfte von dannen. Dabei begleitete sie die überwältigende Vorahnung, dass der verzweifelte Krieg, den sie für ihr Heimatland gefochten hatten, soeben eine entscheidende Wende genommen hatte, und nicht zu ihren Gunsten. zwei Die Sasako-Brücke lag etwas mehr als dreißig Meilen südwestlich von Juraka, spannte sich über die Kespa und bildete einen Teil der gewundenen Präfekturenstraße. Das Gelände war bis zum Flussufer hinab hügelig und bewaldet, und die Straße schlängelte sich zwischen großen Landrücken hindurch. Diese hatten in vergangenen Zeiten Banditen und Dieben hervorragende Möglichkeiten geboten, um den Handelskarawanen aufzulauern, die in Friedenszeiten die Straße nutzten. Die Brücke selbst war ein verborgenes Juwel: ein eleganter, weißer Bogen, gestützt durch einen Säulenfächer, der sich beiderseits der Straße wie die Speichen zweier Räder von der Flussmitte aus erstreckte. Als Material war überaus hartes Holz verwendet worden, das im Lauf der Zeit kaum verwittert war, weshalb die kunstvollen Schnitzereien und Votivsymbole an den Säulen und an der Brüstung selbst nach vielen Jahrhunderten noch deutlich zu erkennen waren. Mit einigen der abgebildeten Begebenheiten, Gestalten und Tiere vermochten allerdings nur noch ungemein gebildete Menschen etwas anzufangen. Nun war die Sasako-Brücke durch den Rückzug aus Juraka zur entscheidenden Stelle geworden, um die östliche Linie gegen die Streitmächte der Weber zu halten. Der Regen setzte bei Einbruch der Dunkelheit ein und durchtränkte die Segeltuchzelte der Armee des Kaiserreichs. Die Sasako-Brücke war als Rückzugspunkt bestimmt worden, sollte Juraka fallen. Bereits vor geraumer Zeit war hier ein Verteidigungsunterbau für diesen Notfall angelegt worden. Palisaden und Wachtürme waren bereits errichtet; Feuerkanonen und Mörser verbargen sich in den Mulden der Hügel. Die 17 Sasako-Brücke stellte den einzigen Punkt dar, an dem eine Armee die Kespa überqueren konnte, sofern sie nicht siebzig Meilen südlich auf die - ähnlich geschützte - Yupi-Brücke oder noch weiter in die Sümpfe ausweichen wollte, wo die Stadt Fos über den Lotusbogen wachte. Wenn der Feind kam, würde er diesen Weg nehmen. Kaiku stand im Singvogelhaus hoch droben an der Seite eines bewaldeten Hanges und schaute über die Hügel auf den Fluss. Die bestickten Wandschirme waren nach Westen hin geöffnet worden, denn die kühle Brise wehte den Regen gegen die andere Seite. Das fahle Licht der Mondschwester Neryn tünchte die Landschaft in ein gespenstisches Grün. Unten zwischen dem glitzernden Geäst schimmerten Laternen, die von dem weitläufigen Lager zeugten, das sich unter dem Baldachin der Blätter verbarg. Die Kespa war durch die überlappenden Geländeerhebungen nur ansatzweise erkennbar. Sie bahnte sich ihren steten Weg vom Azlea-See im Norden zu den Sümpfen im Süden und zum Ozean dahinter. Die Luft war erfüllt vom unablässigen Zischen und Prasseln des Regengusses, die Insekten waren unter dem Tosen verstummt. Die Truppen des Kaiserreichs hatten das Singvogelhaus verlassen vorgefunden, als sie hier ihre Befestigungsanlagen errichteten. Es stellte eine liebliche Erinnerung an Tage dar, die weit zurückzuliegen schienen; an Tage, während derer die Herrschaft der Adelsfamilien über das Kaiserreich noch so unangefochten war wie seit über tausend Jahren, bevor die Weber ihnen die Macht entrissen und sie in einen unbarmherzigen Krieg gestürzt hatten, um das eigene Dasein zu wahren. Damals besaßen Adelsfamilien häufig ein Singvogelhaus, ein abgeschiedenes, mit romantischem Zierwerk geschmücktes Liebesnest, das Frischvermählte, junge Pärchen oder Eltern nützten, die ein wenig Ruhe vor ihren Sprösslingen suchten. 18 Kaiku seufzte leise. Vier Jahre waren seit dem Ausbruch des Krieges verstrichen; ihr eigener Krieg jedoch hatte vor fast einem Jahrzehnt begonnen. Hätte sie sich damals selbst erkannt, wäre sie der Frau begegnet, zu der sie mittlerweile geworden war? Hätte sie sich je vorzustellen vermocht, dass sie die Bemalung des Roten Ordens tragen würde? Sie besann sich einer Zeit, in der sie Letztere als schaurig empfunden hatte. Mittlerweile genoss Kaiku es, sie aufzutragen. Sie verlieh ihr Stärke, vermittelte ihr das Gefühl, so Furcht einflößend zu sein, wie sie wirkte. Schon seltsam, welche Wirkung es haben konnte, eine Maske zu tragen; aber wenn sie in den letzten zehn Jahren etwas gelernt hatte, dann die Tatsache, dass Masken Macht besaßen. Sie dachte an die wahre Maske, die einst ihrem Vater gehört hatte; ihre höhnisch grinsende Fratze loderte in ihrem Verstand wie eine jäh aufgehende Sonne. Wie immer tauchte das Bild unerwünscht auf, doch als sie es
gewaltsam verdrängte, lockte es sie mit Versprechungen, die nur mühsam verblassten. Da sie den Drang verspürte, sich abzulenken, drehte sie sich um und schaute in den Raum, in dem sich andere zur Besprechung versammelten. Das Zimmer war breit, geräumig und, abgesehen von einem niedrigen, ovalen Tisch aus schwarzem Holz in der Mitte, auf dem Vasen mit Guya-Blüten und Silbertabletts mit Erfrischungen standen, bar jeder Einrichtung. Die Wandschirme zierten Abbildungen von fliegenden Vögeln und Landschaften mit Seen, Bergen und Wäldern. Auf dem polierten Holzboden waren Sitzmatten ausgelegt worden. Bedienstete hielten sich in den Ecken auf, wo an verdrehten, aus Baumästen geschnitzten Säulen Talismane und abergläubischer Schnickschnack angebracht waren. Selbst bei einer eilends einberufenen Zusammenkunft wie dieser ließ man die Regeln der Etikette nicht außer Acht. Die meisten der Anwesenden erkannte Kaiku: von den ver19 schiedenen Baraks entsandte Generäle, einige Mitgliedern der Libera Dramach und ein paar Vertreter anderer Adelsfamilien. Sie hielt Ausschau nach den Leuten, die sie gut kannte: Yugi, der jemandem herzhaft auf die Schulter klopfte und lachte; Phaeca, die sich mit ernster Miene mit einem Mann unterhielt, den Kaiku nicht kannte; Nomoru, die missmutig allein in einem Winkel des Raumes hockte, so ungepflegt wie immer. Als alle eingetroffen waren, nahmen die Versammelten um den Tisch Platz - ausgenommen Nomoru, die am Rand des Geschehens blieb. Kaiku bedachte sie mit einem finsteren Blick. Ihr war schleierhaft, weshalb Yugi sie zu solchen Zusammenkünften hinzuzog. Nomoru gebärde sich derart beharrlich ungehörig, dass es Kaiku regelrecht peinlich war, sich in ihrer Nähe aufzuhalten. Selbstjetzt strahlte sie Verdrossenheit aus und zog die Blicke der Generäle und Adeligen auf sich, die sich zwar zweifellos fragten, was sie hier zu suchen hatte, jedoch zu höflich waren, um sich danach zu erkundigen. Der Mann am Kopf des Tisches war General Maroko des Geblüts Erinima. Er war gedrungen, kahlköpfig und hatte einen langen, schwarzen Bart, der ihm bis zum Schlüsselbein hing und ihn älter als seine fünfundvierzig Ernten wirken ließ. Maroko hatte den Oberbefehl über die Streitkräfte, die in Juraka stationiert gewesen waren. Seine Wahl war nach dem üblichen Gezänk und Gehader zwischen den Adelsfamilien erfolgt. »Sind wir vollzählig?«, fragte er in die Runde. »Eine kommt noch«, meldete Kaiku sich zu Wort. Sie hatte den Satz kaum zu Ende gesprochen, da kündigte eine Regung im Geweb bereits die Ankunft der Verspäteten an. Die Luft verdichtete sich, und Cailin tu Moritat erschien am Tischende. Sie zeichnete sich als gespenstischer Schemen in der Luft ab, als weißer Fleck eines Gesichts über einem langen, schwarzen Schweif, der sich einige Zentimeter über dem Boden im 20 Nichts verlor. Undeutlich waren Züge auszumachen, doch sie waren verschwommen und waberten. Kaiku spürte die Unbehaglichkeit jener, die das Trugbild ansahen, und gestattete sich insgeheim ein Lächeln. Wenn Cailin wollte, konnte sie ihr Abbild so deutlich präsentieren, dass es kaum von ihrem wahren Ich zu unterscheiden war. Aber sie hatte einen Hang zu übertriebenen Darstellungen, und als halb durchsichtige Erscheinung wirkte sie wesentlich bedrohlicher. Cailin gefiel es, die Menschen einzuschüchtern. Für diejenigen, die sie noch nicht kannten, stellte Kaiku sie vor und fügte den richtigen Ehrentitel hinzu: Oberhaupt des Roten Ordens. Mittlerweile galt Cailin offiziell als das Oberhaupt des Roten Ordens. Den Titel hatte sie angenommen, als die Schwestern im Gefolge des großen Umsturzes der Weber ans Licht der Öffentlichkeit getreten waren. Obwohl der Rote Orden nie nach einer bestimmten Rangordnung gearbeitet hatte, war Cailin schon lange davor in jeder Hinsicht ihre Anführerin gewesen, und sie hatte es als notwendig erachtet, ihren Rang durch einen Titel zu untermauern, wenn man sie ernst nehmen sollte. Kaiku konnte dieser Erklärung zwar nicht widersprechen, doch wie bei so vielem, das Cailin tat, wurde sie den Verdacht nicht los, dass etwas scheinbar Spontanes tatsächlich von langer Hand geplant worden war und lediglich Teil eines größeren Planes bildete. Mit knappen Worten erledigte Maroko die Höflichkeitsfloskeln der Begrüßung, ehe er zum eigentlichen Grund des Treffens kam. »Ich habe Eure Berichte gelesen, und ich kenne unsere Verluste«, erklärte er. »Im Augenblick ist mir nicht daran gelegen, Schuld oder Verdienst zuzuweisen. Was ich wissen will, ist: Was in Omechas Namen waren diese Dinger in Juraka, und wie können wir sie besiegen?« Es war offenkundig, dass er die Frage an die Schwestern richtete. Kaiku übernahm die Antwort. 21 »Wir nennen sie Feyakori«, meldete sie sich zu Wort. »Ich sage deshalb, wir nennen sie so, weil wir sie selbst getauft haben: Sie gleichen keinen anderen Dämonen, von denen wir je aus Überlieferungen oder Legenden gehört haben.« »Ihr wusstet von ihnen, bevor sie uns angegriffen haben?«, sprach ein greiser General dazwischen. Kaiku erinnerte sich an ihn: Er gehörte stets zu den Ersten, die Anschuldigungen gegen die Schwesternschaft aufbrachten. Misstraute er ihnen, weil sie Ordensschwestern waren, weil sie Ausgeburten verkörperten oder aus beiden Gründen ? In jedem Fall würde er nicht der Einzige sein. »Nein«, erwiderte sie ungerührt. »Die Meldung erreichte uns erst während des Angriffs. Leider waren der Nachrichtendienst zu langsam oder die Weber zu schnell für uns, um Euch zu warnen. Aber ich denke, der Verlust von fünf unserer Schwestern sollte ein hinlänglicher Beweis dafür sein, dass wir ebenso überrascht
wurden wie Ihr.« »In der Tat«, pflichtete Maroko ihr mit einem zornigen Blick auf den General bei. »Niemand hier stellt die Treue des Roten Ordens in Frage.« Er schaute wieder zu Kaiku. »Was also wisst Ihr?« »Herzlich wenig«, räumte Kaiku ein. »Ein Großteil besteht aus Mutmaßungen. Die Weber haben schon zuvor Dämonen beschworen, aber noch nie welche, die der Größenordnung der Feyakori entsprachen. Trotz der neuen Hexensteine, die sie in den vergangenen Jahren zum Leben erweckt haben, hätte niemand von uns erwartet, dass sie ihre Fähigkeiten derart steigern konnten.« »Wie also kann es ihnen gelungen sein?«, wollte ein anderer General wissen. »Und wie können wir sie aufhalten?« »Auf beide Fragen habe ich keine Antwort«, gab Kaiku zurück. »Wir wissen nur, dass sie aus Axekami kommen.« »Axekami ?«, rief jemand aus. »So ist es. Diese Dämonen stammen nicht aus den Tiefen 22 eines Waldes, eines Vulkans oder eines anderen wilden oder verwaisten Orts, wo man ihresgleichen für gewöhnlich antrifft. Diese Dämonen stammen aus dem Herzen unserer Hauptstadt.« Darüber entbrannte Aufruhr. Die Generäle ergingen sich untereinander in Streitgesprächen und Vermutungen. Kaiku und Phaeca nützten die Zeit, um sich mit Cailin zu verständigen. Einige der Generäle warfen ihnen abschätzige Blicke zu, als sie die verräterische Verfärbung ihrer Netzhäute bemerkten, die davon kündete, dass sie im Geweb ihre Fäden spönnen. Die Schwestern schufen Muster von Eindrücken und Gedankeninhalten, die sie blitzschnell über die vierhundert Meilen sandten, die sie von ihrem Oberhaupt trennten. Kaiku kümmerte sich um die Sicherheit der Verbindung, indem sie die Schwingungen der Fäden auf umherstreifende Weber absuchte, die sie belauschen mochten, doch sie entdeckte nichts Bedrohliches. »Ich finde, das Erste, das wir tun sollten«, ergriff Yugi das Wort, »ist, jemanden nach Axekami zu schicken.« Sein Vorschlag brachte das Gemurmel rings um den Tisch zum Verstummen. Obwohl er keine offiziellen Befugnisse besaß, war er der Anführer der Libera Dramachjener zum Schutz der entrechteten Thronerbin Lucia tu Erinima gegründeten Vereinigung. Durch die Nähe zu Lucia und zum Roten Orden waren die Libera Dramach eine ebenso zu berücksichtigende Größe wie jede der Adelsfamilien des Kaiserreichs. »Ich bin sicher, Euch ist bewusst, wie gefährlich ein solches Unterfangen wäre«, meinte General Maroko; doch dabei strich er sich bereits mit den Fingerspitzen über die Schnurrbartspitzen, eine Gewohnheit, die davon zeugte, dass ihm gefiel, was er hörte. »Die Hauptstadt liegt tief im Gebiet der Weber, und Berichten zufolge hat sie sich ... nachdrücklich verändert.« Yugi zuckte mit den Schultern. »Ich werde gehen«, verkündete er. 23 »Ich bezweifle, dass wir es uns leisten können, Euch aufs Spiel zu setzen«, entgegnete Maroko und zog eine Augenbraue hoch. Yugi hatte mit einer solchen Antwort gerechnet. »Trotzdem muss es jemand tun«, beharrte er und trank beiläufig einen Schluck Wein aus seinem Becher. »Diese Feyakori stellen die größte Gefahr dar, der wir uns seit Kriegsbeginn gegenüber sehen. Wir haben keine Ahnung, wie wir sie bekämpfen können. Sie sind zu mächtig für den Roten Orden, und nach dem Angriff auf Juraka zu urteilen, zeigt Artilleriebeschuss wenig Wirkung auf sie. Jemand muss nach Axekami reisen, um herauszufinden, was diese Kreaturen sind und woher sie kommen.« »Dem stimme ich zu«, erklärte Maroko. »Aber eine solche Entscheidung unterliegt nicht meiner Befehlsgewalt. Unsere Verantwortung besteht darin, die östliche Linie zu halten. Wir können Euren Vorschlag jedoch den Räten in Saraku übermitteln ...« »Wir brauchen Antworten, keine weiteren Palaver!«, rief jemand, worauf schallendes Gelächter folgte. Maroko lächelte verkniffen. »Dann nehme ich die Sache selbst als Angelegenheit der Libera Dramach in die Hand«, entschied Yugi. »Mit Eurer Erlaubnis selbstverständlich«, fügte er hinzu, obwohl er eigentlich keine brauchte. »Kümmert Euch darum«, gab Maroko seinen Segen dazu. »Und teilt uns Eure Erkenntnisse mit.« Kaiku stellte gerade eine Forderung an Cailin zusammen, als ihr die Antwort des Oberhaupts der Roten Schwestern zuvorkam. Cailin kannte ihre Lieblingsschülerin nur allzu gut. ((Geh mit ihnen. Geht alle beide.)) 24 Nachdem die Versammlung sich aufgelöst hatte, machten Kaiku und Phaeca sich auf, um Yugi einen Besuch abzustatten. Sie fanden ihn in seinem Zelt, das er auf dem Gelände des Singvogelhauses aufgeschlagen hatte, wo zwischen den Unkraut überwucherten Teichen und den verwilderten Gärten gewundene Pfade verliefen. Das Geäst nickte im Einklang mit dem Prasseln des Regens und ergoss von den Blättern dünne Wasserrinnsale auf die Soldaten darunter, die geschäftig wie Ameisen umhereilten. Es bedurfte einiger Mühe, das Zelt inmitten des überfüllten Geländes zu finden, doch als sie davor standen, wussten sie ob des davon ausgehenden Geruchs verbrannter Amaxa-Wurzeln, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. Es gab weder ein Glöckchen noch sonstige Mittel, um die Aufmerksamkeit derer im Inneren zu erlangen, also schlug Kaiku einfach die Zeltklappe zurück und trat hinein, dicht gefolgt von Phaeca.
Yugi schaute von der vor ihm auf dem Tisch ausgebreiteten Karte auf. Er saß mit untergeschlagenen Beinen auf einer Matte. Den Rest des Zeltes nahm ein Gewirr von Habseligkeiten ein, die er noch gar nicht ausgepackt hatte. Kaiku fand, dass er im matten Licht der Papierlaterne unsäglich alt aussah, die Linien in seinem Gesicht tief, die Wangen eingefallen. Er kam mit der Bürde der Verantwortung als Anführer nicht gut zurecht. Wenngleich er nach außen hin so schalkhaft und verwegen wie immer wirkte, verkümmerte er innerlich zusehends. Immer öfter gab er sich der Amaxa-Wurzel hin, was auf einen inneren Aufruhr hinwies, dessen genaue Ursache Kaiku nicht kannte. Lange Jahre, noch bevor Kaiku ihm begegnet war, hatte er das Rauschmittel heimlich geraucht, doch es hatte die Ausübung seiner Pflichten als Mitglied der Libera Dramach nie beeinträchtigt. Er war immer in der Lage gewesen, es zu nehmen oder zu lassen, eine Eigenart seines Körpers oder eine Facette seines Wesens, durch die er der Abhängigkeit entronnen war. Nun aber ertappte Kaiku ihn immer häufi25 ger mit einem etwas zu grellen Leuchten in den Augen, roch den Nachklang der Dämpfe an Orten, an denen er verweilte, und sie sorgte sich um ihn. Verständnislos blickte er die beiden schwarz gewandeten Schwestern an, die aus dem Regen hereingekommen und dennoch nicht einmal feucht waren. Dann grinste er, was jedoch im gelblichen Licht wie eine kränkliche Grimasse wirkte. »Kaiku«, begrüßte er sie. »Kommst du etwa, um dich freiwillig zu melden?« »Du klingst überrascht«, stellte sie fest. Er rappelte sich auf die Beine und fuhr sich mit der Hand durch die braunblonden Fransen seines Haars. »Ich hätte nicht gedacht, dass Cailin dich gehen lassen würde.« »Wir haben mehr als genug Schwestern, um eine einzige Brücke gegen die Weber zu verteidigen. Und was die Feyakori angeht... naja, das weißt du so gut wie ich. Gegen die spielt es keine Rolle, ob eine einzige Schwester oder ein Dutzend da ist.« »Ich meinte, ich hätte nicht gedacht, dass sie dich gehen lassen würde«, erklärte er. »Sie scheint dich neuerdings als kostbaren Besitz zu betrachten.« Kaiku missfiel, was der Satz andeutete, doch sie sah mit einem Lächeln darüber hinweg. »Ich tue ohnehin nicht oft, was man mir sagt, Yugi. Du kennst mich doch.« Yugi ging nicht auf die scherzhafte Äußerung ein. Stattdessen murmelte er nur: »Früher mal.« Dann blickte er zu Phaeca. »Du auch?« »Es wäre schön, die Heimat wieder zu sehen«, meinte Phaeca. In Gedanken versunken, lief er entlang des Zeltrands auf und ab. »Na schön. Dann seid ihr also zu dritt. Das sollte reichen.« »Zu dritt?«, fragte Kaiku. »Wer denn noch?« »Nomoru«, antwortete er. »Sie hat darum ersucht zu gehen.« 26 Kaiku achtete sorgsam darauf, weder ihre Abneigung gegenüber der drahtigen Kundschafterin noch ihre Überraschung darüber zu zeigen, dass Nomoru sich freiwillig gemeldet hatte. »Sie stammt aus dem Armenviertel«, führte Yugi weiter aus. »Sie kennt einige Leute. Ich möchte dort vorfühlen, wie die Stimmung ist, Verbindung zu unseren Spitzeln aufnehmen. Die armen Schweine in der Hauptstadt leben seit mittlerweile vier Jahren unter den Webern. Damals haben sie sich nur allzu bereitwillig dagegen aufgelehnt, dass Lucia auf den Thron gelangt; vielleicht haben sie durch den Geschmack dessen, was sie stattdessen bekommen haben, ihren Irrtum erkannt. Mal sehen, ob die Zustände in der Stadt das alte Feuer wieder entfacht haben.« »Ein Aufstand?«, meldete Phaeca sich zu Wort. Yugi gab ein zustimmendes Brummen von sich. »Nur mal vorfühlen«, wiederholte er. Abgesehen vom eintönigen Prasseln des Regens auf das Zelt herrschte einen Augenblick Stille. »Ist das alles?«, fragte Yugi. Kaiku warf Phaeca einen Blick zu, den Phaeca sogleich verstand. Sie entschuldigte sich und huschte aus dem Zelt. »Aha«, meinte Yugi süßsauer und kratzte sich unter dem um seine Stirn geschlungenen Lumpen. »Das scheint ernst zu sein. Stecke ich in Schwierigkeiten?« »Ich wollte dich gerade dasselbe fragen«, gab Kaiku zurück. »Steckst du in Schwierigkeiten?« »Nicht mehr als jeder von uns«, antwortete er und ließ den Blick dabei überallhin im Zelt wandern, nur nicht zu ihr. Er hob ein Schriftrollenetui auf und begann abwesend, damit zu spielen. Kaiku zögerte kurz, dann versuchte sie es anders. »Wir haben uns die letzten paar Jahre seltener gesehen, als mir lieb war, Yugi«, sagte sie. »Ich vermute, das gilt für die meisten, die du einst gekannt 27 hast«, gab er zurück und schaute sie kurz an. »Du warst anderweitig beschäftigt.« Das kam dem Kern der Dinge für Kaikus Geschmack ein wenig zu nahe. Sie wusste, dass sie ihre alten Freundschaften vernachlässigt hatte, teils aufgrund des Krieges, teils weil sie sich Cailins Unterricht gewidmet hatte. Lucia war kaum noch erreichbar und verschroben geworden, schlimmer noch als in ihrer Kindheit.
Mishani war überhaupt nie da, da sie ständig an diplomatischen Unterfangen dieser oder jener Art mitwirkte. Von Tsata hatte sie nichts mehr gehört, seit er unmittelbar nach Kriegsausbruch in seine Heimat zurückgekehrt war. Und Asara ... nun, es schien besser, nicht an Asara zu denken. So sehr Kaiku sie hasste, in den dunklen Stunden der Nacht suchte sie ein heimtückisches Verlangen heim, ihre einstige Zofe wieder zu sehen. Aber Asara weilte mittlerweile fern im Osten, wo sie vermutlich auch bleiben würde, und das war wohl für sie beide am besten. »Der Krieg hat vieles verändert«, meinte sie leise. »Und kaum etwas mehr als dich«, entgegnete Yugi etwas schnippisch und musterte sie. Das verletzte Kaiku. »Warum greifst du mich so an? Wir waren mal Freunde, und selbst wenn du das nicht mehr glaubst, sind wir doch gewiss keine Feinde. Was ist bloß in dich gefahren?« Er lachte verbittert, ein unverhoffter, derber Laut, der sie zusammenzucken ließ. »Bei den Göttern, Kaiku! Es ist nicht mehr so zwischen uns, wie es einmal war. Wenn ich dich heute anschaue, sehe ich Cailin. Du bist nicht mehr die Frau, die ich kannte. Du bist anders, kälter. Du bist jetzt eine Ordensschwester.« Verzweifelt vollführte er eine Geste mit der Hand in ihre Richtung. »Wie kannst du nur erwarten, dass ich mich dir anvertraue, wenn du dieses verfluchte Zeug trägst?« Kaiku konnte kaum glauben, was sie da hörte. Sie wollte ihn daran erinnern, dass sie eine Ordensschwester geworden war, 28 um für seine Ziele zu kämpfen, dass der Krieg ohne die Schwestern binnen eines Jahres verloren gewesen wäre und die Weber gesiegt hätten. Doch sie hütete ihre Zunge. Sie wusste, wenn sie den Mund öffnete, würde sie einen Streit anzetteln und wahrscheinlich die letzten, schmalen Brücken einreißen, die es noch zwischen ihnen gab. Deshalb schluckte sie ihren Zorn stattdessen mit der eisernen Disziplin einer Schwester des Roten Ordens hinunter. »Du hast Recht. Das kann ich wohl wirklich nicht erwarten«, gab sie mit ruhiger Stimme zurück. »Bitte benachrichtige mich, sobald die Vorkehrungen für unseren Aufbruch nach Axekami getroffen sind.« Damit ging sie, trat hinaus in den Regen, wo Phaeca auf sie wartete. Die beiden bahnten sich durch das überfüllte Gelände des Singvogelhauses einen Weg zurück zum Fluss. Zum ersten Mal seit geraumer Zeit fiel Kaiku auf, wie die Soldaten unauffällig auswichen, um sie vorbei zu lassen. 29 Duei Das Triumvirat der Mondschwestern hing an einem Sternendichten Himmel. Die Umlaufbahnen zweier kreuzten sich tief im Westen, wo sie gemeinsam zu den schartigen Zähnen des Tchamil-Gebirges hin abstiegen, indem die makellos grüne Perle Neryns hinter der riesigen, fleckigen Scheibe ihrer Schwester Aurus hervorlugte. Iridima mit ihrer weißen, marmorgleich blau durchzogenen Haut strahlte sie aus dem Osten an. Darunter erstreckte sich von Horizont zu Horizont die Wüste Tchom Rin, eine Unendlichkeit träger, kurz vor dem Überbrechen erstarrter Wogen. Ein kühler Wind hauchte über die glatten, schattigen Erhebungen, wehte Staub über ihre Kämme. Es war das einzige Geräusch, das in all der Weite zu vernehmen war. Saramyr war von Norden nach Süden vom Grat des Tchamil-Gebirges zerrissen, das die bevölkerungsreicheren und höheren Gebiete im Westen von den wilderen Gefilden im Osten trennte. Den südöstlichen Viertelkreis Saramyrs beherrschte die einzige Wüste des Kontinents, die sich vom Fuß der Berge über sechshundert Meilen erstreckte, ehe sie kurz vor der Ostküste versandete. Hier waren vor über siebenhundert Jahren die Siedler eingetroffen und hatten begonnen, die östlichen Gebiete zu kolonisieren. Die Legenden Tchom Rins waren voll von Geschichten über jene Pioniertage: Überlieferungen über jene, die geblieben waren, während andere weiter in das fruchtbarere Neuland im Norden vordrangen; über jene, die einen Pakt mit der unehelich gezeugten Göttin Suran schlössen, um in ihrem Reich zu leben und ihr im Gegenzug dafür zu huldigen, dass sie ihnen 30 die Eigenheiten dieser rauen neuen Welt beibrachte. Ihren Anhängern gegenüber war Suran gnädig, und sie zeigte ihnen, wie sie aufblühen konnten. Inmitten der Ode der Wüste errichteten sie weitläufige Städte und riesige Tempel, und sie vertrieben die Ugati samt deren alten und machtlosen Göttern. Die Siedler eigneten sich die Wüste an, und die Wüste veränderte sie, bis sie ein eigenes Volk geworden waren, dem die Lebensweise des Westens fern und .fremdartig erschien. Eine der größten Städte, die von den frühen Siedlern gegründet wurde, war Muia. Ruhig und friedlich lag die Stadt im grünstichigen Mondlicht im Windschatten eines Steilhangs, der sich meilenweit ihren westlichen Rand entlang erstreckte. Die Baukunst Tchom Rins, so wusste die Geschichte gemeinhin zu berichten, war von einem Mann namens Iyatimo erfunden worden, der seinen Entwürfen die halmartigen Blätter des zähen Chia-Busches zugrunde legte, eine der wenigen Pflanzen, die in der Wüste überlebten. Ob es der Wahrheit entsprach oder nicht, der Stil verbreitete sich, und die Gebäude von Tchom Rin wurden berühmt für ihre glatten Ränder und scharfen Spitzen. Bauchige Grundfesten strömten zu nadelartigen Turmspitzen zusammen; Fenster wurden tränenförmig gestaltet, verjüngten sich nach oben hin; die Mauern, die rings um die Stadt verliefen, wirkten durch Reihen messerartigen Zierwerks zugleich eindrucksvoll und bedrohlich. In den unteren Bereichen stiegen verschlungene Straßen in ordentlich gestuften Rängen an, die oberen Gefilde jedoch glichen einem dichten Wald
von Spitzen, einer Masse himmelwärts weisender Dolche. Alles wirkte wie gen Himmel gezogen, als hätte die Schwerkraft der Monde die Städte von Tchom Rin aus ihrer ursprünglichen Form gesogen und in etwas Neues und auf merkwürdige Weise wunderschön Anzusehendes verwandelt. Muia schlief unter der Furcht einflößenden Schirmherrschaft einer Statue Surans, die an die sechzig Meter hoch auf31 ragte. Suran wurde so dargestellt, wie die Legenden sie beschrieben: als verdrießliche, zornige Halbwüchsige mit langem, verfilztem Haar und einem grünen sowie einem blauen Auge. Gekleidet war sie in Lumpen, in der Hand hielt sie einen knorrigen Stab, um den sich teilweise eine Schlange gewickelt hatte. Suran besaß weder die Erhabenheit noch die Güte der Mehrheit des Pantheons von Saramyr. Das Volk von Tchom Rin hatte eine Göttin auserkoren, die besänftigt anstatt nur angebetet werden wollte, eine raue und verbitterte Gottheit, die jeden Gegner überwältigen würde und Vergeltung für das reinste aller Gefühle hielt. Sie entsprach genau ihrem Gemüt, und so huldigten sie ausschließlich ihr mit großer Inbrunst. Für die zurückhaltenden religiösen Überzeugungen ihrer Vorfahren hatten sie nur Verachtung übrig. Obwohl die Welt außerhalb der Wüste sie als düstere Gottheit betrachtete, die Dürre und Seuchen säte, verehrten die Bewohner der Wüste sie, weil sie eben jene Übel von ihrer Schwelle fern hielt. Sie war die Hüterin des Sandes, und in Tchom Rin herrschte sie uneingeschränkt. In jener Nacht schlief die Stadt friedlich und erholte sich von der Hitze des Tages. Aber wie an jedem Ort gab es auch hier jene, die die Dunkelheit der Nacht nutzten, um ihren Geschäften nachzugehen, und eine solche Gestalt war unterwegs, um den bedeutendsten Mann in Tchom Rin zu meucheln. Geschmeidig hangelte sich Keroki an dem zwischen zwei benachbarten Turmspitzen gespannten Seil entlang. Die tödliche Tiefe zu den mit Steinplatten ausgelegten, staubigen Straßen unter ihm störte ihn nicht. Schwindelgefühle waren eine Schwäche, die er sich nicht leisten konnte, und so wie die anderen kleinen Unzulänglichkeiten, mit denen er als Kind geschlagen gewesen war, wurde sie ihm während seiner grausamen Ausbildung in der Kunst des Mordens aus dem Leib geprügelt. 32 Er erreichte das Seilende, das um die Spitzbrüstung eines Balkons geschlungen war, und glitt wieder auf festen Boden. Kurz gestattete er sich einen Anflug von Belustigung: Die Bauweise Tchom Rins mochte hübsch anzusehen sein, doch sie bot auch reichlich Möglichkeiten, um ein Seil zu befestigen. Er ließ es zwischen den beiden schmalen Türmen gespannt, wo es vor dem nächtlichen Himmel unsichtbar war. Wenn alles reibungslos verlief, konnte er auf diesem Weg zurückkehren. Falls nicht, würde er tot sein. Keroki war ein kleinwüchsiger, gedrungener Mann; sein Erscheinungsbild bildete einen krassen Gegensatz zu der Anmut, mit der er sich bewegte. Seine Züge waren düster, seine Haut von der Wüstensonne braungebrannt. Gekleidet war er in hellgrüne Seide, die lose um seinen Körper hing. Um die Mitte trug er eine purpurne Schärpe: die Kluft eines Bediensteten des Geblüts Tanatsua. Die einfachsten Verkleidungen waren oft die besten. Meuchelmörder, die sich maskierten und schwarz kleideten, verwunderten ihn; taten sie dadurch ihren Beruf doch jedem kund, der sie sah. Die schlichte Zweckmäßigkeit einer angemessenen Aufmachung für die jeweilige Aufgabe hatte ihm bereits mehr als einmal das Leben gerettet. Im Turm lagen drei tote Wächter. Sein Auftraggeber hatte ihm versprochen, dass dem so sein würde. Er hatte einen weiteren Handlanger im Inneren, dessen Fachgebiet Gifte waren. Es war alles andere als einfach, in das Anwesen des Geblüts Tanatsua in Muia einzudringen. Tatsächlich wäre es ohne die praktisch unbegrenzten Mittel von Kerokis Auftraggeber und die ausgiebige Vorbereitungszeit unmöglich gewesen. Schon auf dem Weg in den ersten Turm, von dem aus er zu diesem gelangte, musste er mindestens ein Dutzend Wachen umgehen oder beseitigen und zahlreichen Fallen ausweichen. Dieser höchst umständliche Weg war die einzige Möglichkeit, zu seinem Opfer vorzudringen, und selbst dabei verließ er sich 33 darauf, dass einige der Hindernisse auf der Strecke für ihn entfernt wurden. Andererseits war er kein Mann, der ein Versagen je in Betracht zog. Ganz gleich, welche Schwierigkeiten und Gefahren Keroki zu meistern hatte, Barak Reki tu Tanatsua würde heute Nacht sein Ende erfahren. Er schlich in den Turm und durch die Räumlichkeiten, in denen die Wachen lagen. Sie waren Opfer eines langsam wirkenden Giftes geworden. Im Gegensatz zum schmucklosen Äußeren des Turmes präsentierten die Kammern sich verschwenderisch ausgestattet und voller Ziertand: bemalte Wände, Stürze aus Bronzespiralen und breite Spiegel, die alles doppelt wirken ließen. Von den Decken hingen kugelförmige Laternen aus Blattgoldgeflecht, die wundersame Schatten warfen. Keroki hatte kein Auge für die Feinheiten der Einrichtung. Stattdessen lauschte er auf Geräusche, suchte nach Hinweisen darauf, dass die Dinge nicht ganz so waren, wie sie sein sollten: einem Pulsschlag an der Schläfe eines Wächters, der seinen Tod nur vortäuschte; eine als Versteck eines Angreifers aufgestellte Trennwand; Anzeichen darauf, dass jemand die Leichname berührt hatte, der zufällig über sie gestolpert war und sich aufgemacht hatte, um Alarm zu schlagen. Kurz kam ihm in den Sinn, die Kehlen der drei Männer durchzuschneiden, damit der Verdacht nicht auf den Giftmischer fallen würde, dann aber wurde ihm klar, dass sie zu wenig bluten würden, um jemanden in die Irre zu führen, zumal ihre Herzen längst nicht mehr schlugen,
und so verwarf er den Einfall. Keroki eilte die Treppe hinunter. Der Turm bestand aus einer Abfolge runder, scheinbar harmloser Kammern, die als kleine Bibliotheken, Arbeitszimmer oder Räume eingerichtet waren, in denen man sich entspannen sowie Unterhaltung und Musik genießen konnte. Kerokis geübtes Auge durchschaute die Tarnung auf Anhieb. Dies waren unechte Räume; 34 sie wurden nur von diesen Wachen verwendet, die vermutlich Wochen damit verbracht hatten zu lernen, wo die Vielzahl tödlicher Stacheln und die Alarmsignale verborgen lagen. Sie waren hier angeordnet, um das Herzstück des Anwesens vor Dieben zu schützen, die sich auf demselben Weg wie Keroki Eintritt verschafften. Bestickte Kästchen auf kunstvoll gefertigten Frisierkommoden lockten mit Juwelen darin, doch jedem, der sie öffnete, würde eine vergiftete Klinge in die Finger getrieben oder ätzendes Pulver ins Gesicht gepustet, das die Augen zerfraß. Kostbare Wandteppiche waren über Fäden mit Brandvorrichtungen verbunden. Dicke Türen waren so verzurrt, dass sie explodierten, wenn sie nicht auf eine bestimmte Weise geöffnet wurden. Sogar in die Treppen zwischen den Räumen waren vereinzelte Scheinstufen eingebaut, deren Steinschichten hauchdünn waren und mit Federn gespannte Fußangeln darunter verbargen. Keroki brauchte für den Abstieg aus dem Turm fast zwei Stunden. Selbst mit den Angaben, die er von dem Eingeweihten über die Standorte und Wirkweise der Fallen erhalten hatte, war er zu höchster Vorsicht gezwungen. Er war nicht fünfunddreißig Ernten alt geworden, indem er irgendjemandem sein Leben anvertraute, und er überprüfte alles selbst, bevor er es aufs Spiel setzte. Außerdem gab es einige Geheimnisse, in deren Besitz zu gelangen dem Eingeweihten nicht gelungen war, und bestimmte Fallen, die Keroki nicht einfach umgehen konnte, sondern ergründen und mit seiner Sammlung erlesener Werkzeuge außer Betrieb setzen musste. Währenddessen dachte er über seinen Auftrag nach, brütete wie schon seit Wochen darüber, durchleuchtete ihn nach etwas, das ihm zum Verhängnis werden konnte. Aber nein, er schien immer noch so geradlinig wie damals, als er ihn erhalten hatte. Am nächsten Morgen sollte das große Treffen der Wüsten-Baraks stattfinden, der Höhepunkt der Verhandlungen vieler Tage, unterzeichneter Verträge und geschlossener 35 Vereinbarungen. Der Vorsitz über allem war dem jungen Barak Reki tu Tanatsua zugedacht. Es sollte eine Einigung der Baraks von Tchom Rin werden; und damit würde der Rang vom Geblüt Tanatsua als vorherrschende Familie unter den Geblüten fest verankert. Aber würde Keroki heute Nacht Erfolg beschieden, wäre die Galionsfigur der Einigung tot, und das Treffen würde sich in Chaos auflösen. Sein Auftraggeber - der Sohn eines gegnerischen Baraks - empfand es als Schmach für die Familie, dass sein Vater gedachte, sich Geblüt Tanatsua in dieser Angelegenheit zu fügen. Und an der Stelle kam Keroki in die Gleichung. Er hatte gerade die letzte der unechten Kammern hinter sich gelassen, als er Stimmen hörte. Seine Sinne schalteten sofort auf höchste Wachsamkeit um. Eigentlich sollten sich hier am Fuß des Turmes keine Wachen befinden: jene oben an der Spitze und der Spießrutenlauf der tödlichen Gemächer dazwischen boten mehr als genug Schutz. Hatte man die Sicherheitsvorkehrungen im letzten Augenblick verschärft? Handelte es sich um ein Versäumnis seitens seines Auskunftgebers? Einerlei - Keroki konnte nicht mehr zurück. Die Männer befanden sich hinter der Tür, an der Keroki lauschte. Sie bewegten sich nicht, und nach dem Tonfall der Stimmen und ihrer Unterhaltung zu urteilen, waren sie nicht besonders wachsam. Dennoch stellten sie ein etwas lästiges Hindernis dar. Er legte sich mit einem Auge dicht am Boden hin und holte aus seiner Gewandtasche zwei winzige, flache Spiegel hervor, die an langen, dünnen Griffen befestigt waren. Indem er sie unter der Tür hindurchschob und nacheinander anwinkelte, konnte er sich einen Überblick über den Raum verschaffen. Es handelte sich um ein großes Atrium mit einer mit Fresken verzierten Kuppeldecke und einem Boden aus dunklem Koral36 lenmarmor. Darüber prangte ein Balkon, den eine Säulenreihe stützte, die sich entlang der Wände erstreckte. Tagsüber würde durch die tränenförmigen Öffnungen in den Wänden Licht zwischen die Säulen fallen, bei Nacht jedoch war der Gang dazwischen kühl und dunkel. Und bot eine vollkommene Deckung. Nachdem er sich somit überzeugt hatte, dass es sicher war, den Versuch zu wagen, konnte Keroki die Tür lautlos öffnen, indem er sie auf den Angeln leicht anhob, damit sie nicht quietschte. Als die Öffnung breit genug für seinen Kopf war, spähte er hinaus. Die Wachen, die miteinander plauderten, befanden sich in der Mitte des Atriums. Sie waren in weite, scharlachrote Seidengewänder gekleidet, an ihren Gürteln hingen Nakata-Klingen. Die an zierlichen Goldketten im mittleren Bereich von oben herabhängenden Laternen spendeten schwaches, schummriges Licht. Die Ecken des Raumes wurden durch freistehende Kupferwerkslampen erhellt, doch ihr Schein reichte nicht aus, um die Schatteninseln zu vertreiben. Nachdem Keroki sich vergewissert hatte, dass die Wachen die Tür nicht gut genug sehen konnten, um zu erkennen, dass sie leicht geöffnet war, huschte er hinaus und hinter eine der breiten Säulen. Sein Herz schlug ob der Nähe der Gefahr kaum schneller; er bewegte sich mit der gelassenen Mühelosigkeit einer Raubkatze des Dschungels. Die Stimmen der Wachen hallten durch das Atrium, während er von Säule zu Säule glitt, wobei er sein Vorrücken auf jene Augenblicke abstimmte, in denen ihre Unterhaltung besonders angeregt wurde, damit sie selbst die flüchtigsten Laute übertönte, die er womöglich verursachte. Keroki wusste, wie man sich so
fortbewegte, dass man die natürliche Neigung der Augen umging, sich auf etwas Bewegliches zu heften. Sofern die Wachen ihn nicht unmittelbar ansahen, würden sie nicht bemerken, wie er sich entlang der finsteren Nischen vorkämpfte. 37 Er hatte vor, das Atrium unbemerkt durch die Tür auf der anderen Seite zu verlassen, wodurch er in die Nähe von Barak Rekis Schlafgemach käme. Aller Wahrscheinlichkeit nach wäre es ihm auch gelungen, hätte er nicht die Druckplatte ausgelöst, die hinter einer der Säulen verborgen lag. Er spürte, wie der Stein unter seinem Fuß eine Winzigkeit nachgab, nahm das leichte Absinken und Klicken war, als er ihn niederdrückte. Sein Körper erstarrte, sein Herzschlag und Atem setzten aus. Nichts geschah. Langsam atmete er aus. Keroki war nicht so blauäugig zu glauben, dass die Falle versagt hatte. Vielmehr war sie scheinbar so gestaltet, dass sie erst ausgelöst wurde, wenn man sie freigab. Indem man darauf trat, spannte man den Mechanismus lediglich. Nahm man den Fuß von der Falle, würde sie zuschnappen. Den meisten Menschen wäre die winzige Verschiebung gar nicht aufgefallen, die sie verriet, doch Kerokis Wahrnehmung war schärfer als die der meisten Menschen. Insgeheim verfluchte er sich. Der Säulengang war absichtlich dunkel belassen worden, um einen Eindringling in Versuchung zu führen, und an seiner einladendsten Stelle war eine Falle gelegt worden. Kerokis Auskunftgeber hatte nichts davon gewusst. Ihm hätte klar sein müssen, dass es zu einfach war. Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Er wog seine Zwangslage ab. Vor den Wachen war er zwar sicher verborgen, andererseits steckte er hier fest. Das Gewicht von der Druckplatte zu nehmen, hätte zweifellos höchst unangenehme Folgen für ihn. Doch welcher Art mochte die Falle sein? Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie tödlich oder übermäßig gefährlich war, zumal es sich um einen zweckmäßigen Raum handelte, der somit von Leuten besucht wurde, die von der Falle nichts wussten. Oder vielleicht wurde sie nur nachts scharf gemacht? Dennoch fiel ihm schwer zu glauben, dass 38 jemand das Wagnis eingehen würde, versehentlich einen Gast zu töten. Also handelte es sich wohl am ehesten um einen Alarm; höchstwahrscheinlich um eine laute Glocke, die von einem Schlegel geläutet wurde, der durch ein Gewicht auf der Druckplatte in Anschlag gebracht wurde. Für ihn jedoch war ein Alarm genauso tödlich, zumal kaum Aussicht bestand, lebendig zu flüchten, sollte man seine Anwesenheit entdecken. Der Schweiß kroch auf seine Wange hinab. Minuten verstrichen qualvoll langsam vor dem Hintergrundgemurmel der Wachen. Keroki hatte bereits genug Zeit damit vergeudet, sich einen Weg durch die tödlichen unechten Kammern im Turm zu bahnen; er konnte es sich nicht leisten, noch mehr kostbare Minuten zu verlieren. Nur allzu bald würde der Morgen grauen, und bis dahin sollte er besser verschwunden sein, wenn er einen weiteren Sonnenaufgang erleben wollte. Immer noch suchte er nach einer Lösung, als der Tonfall der Wachen ihn davor warnte, dass sie im Begriff waren, ihr Gespräch zu beenden. Dann verstummten sie, und er hörte ihre leisen Schritte in verschiedene Richtungen hallen. Er brauchte einen Augenblick, um zu erkennen, wohin sie sich aufmachten. Sie verteilten sich, um den Säulengang abzuschreiten. Keroki spürte, wie eine fürchterliche Adrenalinflut über ihn hinwegspülte, und bewältigte sie. Jahrelange unbarmherzige Übung hatte ihm gnadenlose Selbstbeherrschung eingebläut; er wusste, wann es ratsam war, die Reflexe seines Körpers zu nützen, und wann er sie besser unterdrückte. Dies war nicht die rechte Zeit für Erregung. Er musste ruhig bleiben, um nachzudenken. Und er hatte nur wenige Augenblicke dafür. Als der Wachmann ihn fand, lag Keroki so ausgestreckt auf dem Rücken, dass er ob der Schatten der Säule und des dämmrigen Lichts schwer zu erkennen war. Der Wachmann erblickte ihn erst, als er nur noch wenige Schritte entfernt war, und 39 selbst da musste er noch die Augen zusammenkneifen, um sicher zu sein. Der Kleidung nach schien es sich um einen Hausbediensteten zu handeln, der bewusstlos am Fuß der Säule lag, als wäre er von einem Eindringling niedergestreckt worden. Und so der Fuß des Bediensteten nach wie vor heftig auf die unsichtbare Druckplatte presste, war der Wachmann zu überrascht, um es zu bemerken. Er stieß einen eindringlichen Pfiff zu seinen Gefährten aus und beugte sich näher, um der Angelegenheit auf den Grund zu gehen. Dummerweise kam ihm nicht in den Sinn, dass von der ausgestreckt daliegenden Gestalt eine Bedrohung ausgehen könnte. Vielmehr nahm er an, dass die Bedrohung bereits vorübergezogen war und diesen armen Bediensteten in ihrem Gefolge zurückgelassen hatte. Diese Fehleinschätzung kostete ihn das Leben. Mit einem Ruck drehte Keroki sich herum, riss das kleine Blasrohr an den Mund und schoss den Pfeil in die Kehle des Wachmanns. Das Gift wirkte augenblicklich, dennoch blieb dem Mann ein Lidschlag, um ein verdutztes Grunzen auszustoßen, ehe seine Stimmbänder erstarrten. Bis er daran dachte, das Schwert zu ziehen, hatte die Kraft seinen Körper längst verlassen. Schlaff sackte er zusammen. Keroki verlagerte die Haltung, um den Arm des fallenden Wächters abzufangen, wobei er sich um den Fuß drehte, der immer noch die Druckplatte niederhielt. Er zog das Gewicht des Mannes zu sich, damit dieser in Richtung seines Mörders stürzte und Keroki den Lärm des Aufpralls mit dem eigenen Körper dämpfen konnte. Als Keroki den Wachmann auf die Druckplatte zerrte, war er bereits tot. Keroki sandte ein stummes Gebet zu seiner Gottheit Omecha und flehte,
der Mechanismus möge nicht besonders empfindlich sein, dann zog er den eigenen Fuß von der Platte. Kein Alarm ertönte. Mittlerweile riefen die beiden anderen Wachmänner zur Antwort auf den Pfiff ihres Gefährten. Keroki schob einen wei40 teren Pfeil in das Blasrohr. Als er um den Säulenrand spähte, sah er, dass ein Mann sich von dem Säulengang quer durch das Atrium in Bewegung setzte. Ein weiterer Mann in den Schatten hatte weniger entschlossen gehandelt. Keroki zielte fachmännisch und feuerte einen Schuss quer durch den Raum ab. In der Düsternis unsichtbar surrte der Pfeil an dem ersten Wachmann vorbei und traf dessen Gefährten hinter ihm, der mit einem Stöhnen zu Boden sank. Der Laut war deutlich genug, dass der verbliebene Wachmann sich umdrehte. Er erblickte seinen zusammengesunkenen Gefährten und wirbelte mit gezogenem Schwert herum. Kerokis dritter Pfeil traf ihn unmittelbar unter dem Auge. Dem Wächter gelang es noch, ein paar Lidschläge lang trotzig umherzuwanken, ehe auch er erschlaffte und so heftig zu Boden stürzte, dass er sich den Schädel brach. Keroki trat hinter der Säule hervor, sah sich im Atrium um und schnalzte mit der Zunge. Der Eingeweihte, der ihm das Gift für die Pfeile zur Verfügung gestellt hatte, besaß fürwahr ein bemerkenswertes Geschick. Keroki schleifte den Leichnam des dritten Wächters hinter die Säulenreihe und wischte mit einem Stück Stoff die verschmierte Spur aus Blut und Haaren weg, die er dabei hinterließ. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Leichen niemandem auffallen würden, der den Raum zufällig betrat, setzte er sein Unterfangen fort. Der Sonnenaufgang rückte näher, und er musste immer noch durch die mit Fallen überladenen unechten Kammern nach draußen, bevor der Haushalt erwachte. Keroki stieß auf keine weiteren Lücken in den Kenntnissen seines Auskunftgebers. Ohne weiteres Missgeschick bahnte er sich den Weg durch die prunkvollen Gänge des Anwesens, wenngleich er sich zwei Mal verbergen musste, um Wachmännern auf dem Rundgang zu entgehen, und an einer Stelle benötigte er die Unterstützung eines geschickt verstauten 41 Schlüssels, um ihm Einlass durch eine bestimmte Tür zu verschaffen, die stets versperrt war. Seine Spiegelbilder folgten ihm durch die stummen Gänge, in denen die kühle Luft allzeit reglos wie ein Traum und bar jeder Feuchtigkeit hing. Das Dunkel der Nacht nahm einen grünlicheren Ton an, als Neryn sich aus dem Schatten ihrer größeren Schwester löste und ihren vollen Schein zur Geltung brachte. Statuen Surans beobachteten ihn aus spitz zulaufenden Nischen in den bemalten Wänden. Einmal schlich eine Katze vorbei, die sich in den Winkeln hielt und offenbar ihrem eigenen listenreichen Unterfangen nachging. An der Tür zu Barak Rekis Schlafgemach waren keine Wachen postiert. Es hieß, seine Gemahlin könne die Vorstellung nicht ertragen, in so unmittelbarer Nähe bewaffneter Männer zu schlafen. Es war eine Eigenheit, die sie Kerokis Meinung nach noch bereuen würde. Er legte eine Hand an die Tür, ließ sie auf der gemusterten Oberfläche ruhen, während er mit der anderen Hand nach der Klinge seines Messers griff. Weiter kam er nicht. Es war weder der nadelspitze Dolch, der sich in seinen Arm bohrte, noch die Hand, die sich um seinen Mund schloss und ihm den Kopf unsanft herumwirbelte, die ihn vor Fassungslosigkeit lähmten. Vielmehr war es der Umstand, dass er nichts bemerkt hatte. Bevor er irgendetwas tun konnte, wurde er von den Beinen gerissen und schlug so hart auf dem kalten Marmor auf, dass es ihm den Atem raubte. Abermals lag er flach auf dem Rücken und schaute zur Decke empor. Diesmal jedoch spürte er, wie sich eine grässliche Taubheit gleich Eis in seinem Leib ausbreitete. Er versuchte, sich zu bewegen, doch sein Verstand war von den Muskeln abgeschnitten worden, und seine Gedanken ließen sich nicht in Taten umsetzen. Gift auf der Klinge. Zum ersten Mal seit seiner Kindheit ergriff echte Panik Besitz von ihm, ein lähmendes Grauen, ungefiltert, frisch und unbekannt. 42 Rittlings über ihm stand in der Dunkelheit eine Frau von fast übernatürlicher Schönheit mit dunkler Haut und tief-schwarzem Haar, gekleidet in ein dünnes, mit einer Seidenschärpe geschnürtes Schleiergewand. Keroki hatte sich vor geraumer Zeit von jeglichen Gedanken der Fleischeslust befreit, dennoch hätte ein Wesen wie dieses wohl vermocht, seine Entschlossenheit zu zerschmettern, wären die Umstände andere gewesen. Nun jedoch verspürte er alles andere als Wollust. Sie kniete sich auf ihn, umklammerte mit den Schenkeln seine Leibesmitte. Behutsam zog sie den Dolch aus seinem Arm und legte ihn beiseite. Dann senkte sie das Gesicht dicht über das seine. Ihr Atem roch nach Wüstenblumen. »Dein Freund, der Giftmischer, verfügt wahrlich über herausragende Fähigkeiten, nicht wahr?«, gurrte sie. »Bevor ich ihn getötet habe, konnte ich ihn überreden, mir jenes zu überlassen, das du gerade genießt.« Langsam kroch ein grausames, lähmendes Lächeln auf ihre Lippen. »Ich dachte, um diese Angelegenheit kümmere ich mich am besten selbst. Es schien mir nicht nötig, Reki damit zu belasten; das hätte so viele ... Nebenerscheinungen gehabt. Außerdem«, fügte sie hinzu, wobei sie die Stimme zu einem Flüstern senkte, »mag ich meine Beute lebendig. Und ich bin heute Nacht so hungrig.« Keroki, der sich in den Klauen eines Dämons wähnte, versuchte erneut zu schreien; doch mehr als ein klägliches Wimmern konnte er seinem Körper nicht entlocken.
Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen. »Pssst«, murmelte sie. »Sonst weckst du noch meinen Gemahl auf.« Erst da begriff Keroki, wer seine Angreiferin war. Anfangs hatte er sie nicht erkannt, da er ihr Gesicht noch nie leibhaftig gesehen hatte, und die von Künstlern geschaffenen Abbilder wurden ihr nicht gerecht. Rekis Gemahlin. Asara. 43 Sie legte die Lippen auf die seinen und sog, bis er spürte, dass sich etwas in ihm löste, und der rauschende, grelle Strom seines Wesens floss funkelnd und glitzernd aus seinem Mund in den ihren. Seine letzten Gedanken, während der auf- und abwogende Puls seines Lebens in Finsternis entschwand, waren sonderbar selbstlos. Er fragte sich, welches Schicksal seinem Land blühte, wenn ein Ungeheuer wie dieses dem mächtigsten Mann der Wüste als rechte Hand zur Seite stand. 44 viep Die Einigung der Baraks von Tchom Rin erfolgte offiziell am Vormittag im westlichen Hof des Anwesens des Statthalters von Muia. Es war ein angemessen prächtiger Schauplatz für einen solch bedeutsamen Tag, zumal er hoch über den umliegenden Häusern hinter einer Mauer geschützt lag, deren Oberkante zu einem stachelbewehrten Kranzgesims geformt war. Die weißen Fliesen und die Säulen, die den Innenhof säumten, präsentierten sich blendend grell, wo das Licht der Sonne sich darauf spiegelte. Saftgrüne Tröge mit Blumen in voller Blüte waren rings um den mittleren Bereich angeordnet; durch die Holzgitter, die sich von den Säulenhäuptern zur Außenmauer spannten und gleichsam ein Dach für den schattigen Säulenvorbau bildeten, baumelten Rankengewächse herab. Zu einem Podium an der Westseite führten Stufen empor. Dort lag der Vertrag ausgebreitet, und dahinter waren die Felsen auszumachen, wo die gewaltige, sitzende Gestalt Surans über das Geschehen wachte. Angesichts der Tragweite des Anlasses wirkte der Ablauf auffallend schlicht: Nur ein halbes Dutzend Ansprachen und ein wenig Pomp, als die Baraks nacheinander mit ihren Gefolgen antraten, um die Übereinkunft zu unterzeichnen. Aber schließlich fand auch kaum jemand, dass es ein wahrer Grund zum Feiern sei. Stolz war hinuntergeschluckt, alte Feindseligkeiten waren widerwillig beiseite geschoben worden, und der Nachgeschmack dessen war bitter. Selbst als ganze Teile Saramyrs bereits von den Webern überrannt, als die Ausgeburten bereits in Scharen aus den Bergen geströmt waren und ihre Heime bedrohten, hatten sie noch jahrelang untereinander 45 gezankt und gerungen, bis sie sich endlich damit abfanden, dass sie sich verbünden mussten, um im Angesicht der größeren Bedrohung gemeinsam zu überleben. Und es fiel ihnen alles andere als leicht, ihre Meinungsverschiedenheiten zu verdrängen; zu tief waren sie in ihnen verwurzelt. Jemand, der tatsächlich feierte, war Mishani tu Koli. Sie stand im hinteren Bereich der spärlichen Versammlung und hielt ein Glas gekühlten Weins in der Hand, während die letzten Unterschriften unter den Vertrag gesetzt wurden und Reki die Abschlussrede hielt. Die Strahlen von Nukis Auge fielen schräg über den Hof ein, und die reine Wärme auf ihrer fahlen Haut empfand sie als wohltuend. Mishanis Herz war leichter als seit langem. Der Vertrag war besiegelt, ihr Wirken hier vollbracht. Fast ein Jahr hatte sie in der Rolle einer Gesandten für die Libera Dramach im Besonderen und für die Adelsfamilien des Westens im Allgemeinen in der Wüste verbracht. Zwar hatte all die Zeit in der Sonne sie kein bisschen gebräunt, doch sie hatte einen Geschmack für die Mode Tchom Rins entwickelt. Ihre Kleidung war luftiger als jene, die sie in der Heimat getragen hätte, und die Farbe erinnerte an die tief orangebraunen Töne der letzten Augenblicke eines Sonnenuntergangs. Das schwarze Haar hatte sie gewellt und mit juwelenbesetzten Nadeln so angeordnet, dass es in einer Masse von Zöpfen bis zu den Kniekehlen hinabwallte. Mishani trug dunklen Lidschatten und kleinen, silbernen Ohrschmuck. Abgesehen von ihrer Haut hätte man sie ohne weiteres für eine Frau der Wüste halten können. »Mishani«, begrüßte sie eine leise Stimme. Sie drehte den Kopf und sah, dass Asara neben ihr stand und beobachtete, wie die Ereignisse auf dem Podium sich dem Ende zuneigten. Wie immer dauerte es den Bruchteil eines Lidschlags, sie mit der Asara in Verbindung zu bringen, die Mishani in der Vergangenheit gekannt hatte. Selbst nach all der Zeit, die sie zusammen verbracht hatten, um den an diesem Tag besiegelten Ver46 trag einzufädeln, konnte sie diese Frau nicht mit jener in Einklang bringen, die dereinst Kaiku als Zofe gedient hatte. Etwas Grundlegendes, auf Eingebung Beruhendes in ihr versperrte sich dagegen, und nur durch bewusstes Denken vermochte sie, es zu überwinden. Schließlich war Asara auch körperlich völlig verwandelt. Ihre neue Form wies nichts auf, woran zu erkennen wäre, dass es die alte Asaraje gegeben hatte. Hätte Mishani es nicht gewusst, sie hätte vermeint, einer reinrassigen Frau aus Tchom Rin edelsten Wüstengeblüts ins Auge zu blicken. Ihre Haut war sonnengebräunt und makellos, ihr Haar noch schwärzer als jenes Mishanis und zu einem schlichten Pferdeschwanz zurückgebunden, der die eleganten Knochen ihres Gesichts zur Geltung brachte und die Aufmerksamkeit auf ihre mandelförmigen Augen lenkte, deren natürlicher Ton durch meeresfarbenen Lidschatten betont wurde. Ihr blassblaues Gewand wurde an einer Schulter von einer Brosche gehalten und schmiegte sich eng an ihren Leib, flatterte leicht im warmen Odem des Windes, der von Westen her hauchte. Um ihren Gemahl an diesem Tag nicht zu überstrahlen, hatte sie den Prunk ihrer
Aufmachung auf ein Mindestmaß verringert, dennoch unterstrich sie dadurch nur noch mehr, wie wunderschön sie tatsächlich war. Doch es war eine falsche Schönheit. Mishani wusste es, auch wenn es niemandem sonst bekannt war, außer der Schwester vom Roten Orden, die das Geschehen von einer Seite des Podiums aus beobachtete. Asara war eine Ausgeburt, die in der Lage war, ihr Aussehen nach ihren Wünschen zu verändern. Ihre Gabe war unter ihresgleichen einzigartig, wofür Mishani dankbar war. Eine ihrer Art war gefährlich genug. »Du bist bestimmt stolz, Asara«, meinte Mishani. »Auf Reki?« Kurz schien sie darüber nachzudenken. »Ich glaube schon. Sagen wir, ich finde ihn nach wie vor interessant. Er hat einen weiten Weg zurückgelegt, seit ich ihm begegnet bin.« 47 Was man getrost als Untertreibung bezeichnen konnte. Obwohl Mishani und Reki einander nie kennen gelernt hatten, als er noch ein Halbwüchsiger gewesen war, hatte Mishani Berichte über den Reki jener Zeit gehört: Ein schüchterner Bücherwurm, dem es gänzlich an dem inneren Feuer seiner älteren Schwester, der Kaiserin, gemangelt hatte. Aber als er nach Jospa zurückkehrte, um nach dem Tod seines Vaters den Titel des Baraks zu übernehmen, hatte er sich verwandelt. Er war härter geworden, zielstrebiger, setzte den ihm gegebenen Verstand und sein Geschick rücksichtslos ein. Wodurch es ihm in vier Jahren nicht nur gelungen war, Geblüt Tanatsua zur stärksten Adelsfamilie der Wüste zu formen, sondern auch, die übrigen Familien an diesem Tag unter seinem Banner zu einen. Mishani nippte an ihrem Wein. »Auch auf dich selbst bist du gewiss stolz.« »Irgendwie lande ich immer wieder auf den Füßen, nicht wahr?« Asara lächelte. »Ich nehme an, du hast von den Ereignissen bei Juraka gehört?« »Selbstverständlich.« Die Ordensschwester am Podium hatte ihnen beiden davon berichtet, nachdem sie die Nachricht von anderen Schwestern erhalten hatte, die beim Untergang der Stadt dabei gewesen waren. »Dieses Bündnis kommt keinen Augenblick zu früh zu Stande«, stellte Mishani fest. »Wir können es uns derzeit nicht leisten, geteilt zu sein.« »Du bist übertrieben zuversichtlich, wenn du denkst, dass die Einigung der Wüstenstämme dem Westen nützt«, gab Asara zu bedenken. »Sie werden euch nicht zu Hilfe eilen.« »Nein«, pflichtete sie ihr bei. »Aber wenn die Weber ihre Kräfte teilen, um zu versuchen, die Wüste zu erobern, gilt uns nicht ihre volle Aufmerksamkeit. Und durch dieses Bündnis und das Zusammenwirken der WüstenBaraks nehmen sie Tchom Rin womöglich niemals ein.« 48 »Oh, das werden sie früher oder später«, widersprach Asara und ergriff ein Glas vom Tablett eines vorbeigehenden Dieners. »Sie besitzen die gesamte Nordhälfte des Kontinents und alles im Südosten außerhalb der Wüste. Wir halten - mit knapper Not - die Südlichen Präfekturen und Tchom Rin. Wir sind eingekreist und seit Beginn dieses Krieges in die Verteidigung gedrängt. Hinter den Schlachtlinien können die Weber in aller Ruhe jegliche Pläne in die Tat umsetzen, die sie auszuhecken vermögen. Wie diese ... Feyakori.« Asara vollführte mit der Hand eine abschätzige Geste. »Ich teile deine Schicksalsergebenheit nicht«, sagte Mishani. »Die Weber befinden sich keineswegs in einer starken Lage. Ihr eigenes Wesen untergräbt ihre Pläne. Auf ihren Gebieten herrscht durch den Einfluss der Hexensteine Hungersnot, und die größten Kornflächen des Kontinents sind in unserer Hand. Sie müssen ihre Armeen ernähren - und ihre Armeen sind Fleischfresser, die jede Menge Fleisch brauchen. Ohne Getreide verendet ihr Vieh, und ihre Armeen straucheln.« »Und was ist mit eurem eigenen Getreide?« »Wir haben genug, um die Präfekturen zu versorgen«, erklärte Mishani. »Der Umstand, dass wir in eine Ecke gedrängt sind, bedeutet für uns, dass wir genug Nahrung haben, um uns zu bewegen; müssten wir uns um den gesamten Kontinent kümmern, würden wir verhungern. Und ich habe gehört, seit dem Fall von Utraxxa ist die Geißel weniger spürbar.« »Tatsächlich?« Asara hörte sich überrascht an. Dies waren jüngste Neuigkeiten, und da sie so damit beschäftigt gewesen war, den unweigerlichen Anschlag auf das Leben ihres Gemahls zu vereiteln, waren sie ihr entgangen. »Das legt die Vermutung nahe, dass sie gänzlich verschwinden könnte. Das Land könnte sich vielleicht selbst heilen, wenn die Hexensteine nicht mehr wären.« »So ist es«, bestätigte Mishani. »Wir können nur hoffen.« 49 Mishani und Asara standen Seite an Seite, während die Rede zu Ende ging und die Adeligen sich unter ihre Gefolge mischten, um sich miteinander zu unterhalten. Die üblichen Machenschaften und Machtrangeleien schienen vorerst gebändigt, wenngleich auf dem Hof unverkennbarer Argwohn herrschte. Asara vergewisserte sich, dass der Mann, der den Meuchelmörder der vergangenen Nacht gesandt hatte, ihren Blick bemerkte. Frostig starrte sie ihn an, bis er sich abwandte. »Reist du nun, da der Vertrag unterzeichnet ist, wieder nach Westen?«, wollte Asara von Mishani wissen und blickte über die Schulter auf die kleinere Adelige hinab. »Ich muss«, gab Mishani zurück. »Ich war schon zu lange fort. Hier gibt es andere, die meinen Platz einnehmen können. Yugi braucht meine Augen und Ohren unter den hohen Familien in den Präfekturen.« In Wahrheit
zauderte sie aufzubrechen, wenngleich sie ein ausgeprägtes Heimweh nicht verleugnen konnte. Aber die Rückkehr über die Berge würde gefährlich werden, und die Erinnerungen an die Reise hierher waren alles andere als angenehm. »Das hätte ich ja fast vergessen«, meinte Asara. »Ich habe ein Geschenk für dich. Warte hier.« Damit huschte sie davon und kam wenig später mit einem dünnen schwarzen Buch zurück. Den Einband zierte Goldfiligran, das den Titel in den gewundenen Zeichen des Hoch-Saramyrrischen verriet. Mishanis Zeit an den Höfen Axekamis hatte sie gelehrt, wie sie Empfindungen verbergen, ihre Züge gleich einer Maske regungslos bewahren konnte; doch es wäre unhöflich gewesen, angesichts eines solchen Geschenks ihre Freude nicht zu zeigen. Mit einem breiten Lächeln der Dankbarkeit nahm sie es von Asara entgegen. »Das jüngste Meisterwerk deiner Mutter«, sagte Asara. »Ich dachte, es würde dir vielleicht Freude bereiten. Das ist die erste Ausgabe, die in der Stadt eintraf.« 50 »Wie hast du sie bekommen?«, hauchte Mishani, während sie mit den Fingerspitzen über das Filigran fuhr. Asara lachte. »Es ist schon seltsam. An so vielen Dingen herrscht Knappheit, doch Muraki tu Kolis Bücher scheinen überallhin einen Weg zu finden.« Ihr Lachen verebbte, doch um ihre Augen verweilte ein belustigter Schimmer. »Ich kenne einen Händler, der Kunstwerke und Schriften schmuggelt. Das Meiste, vermute ich, stiehlt er aus den Gebieten der Weber, wo sie kaum gebraucht werden. Ich habe ihn gebeten, nach den Werken deiner Mutter Ausschau zu halten.« »Ich kann dir gar nicht genug danken, Asara«, sagte Mishani und schaute auf. »Betrachte es als zeitgünstige Belohnung für deine Hilfe dabei, was heute hier stattgefunden hat«, gab Asara zurück. »Jetzt hast du auf der Heimreise wenigstens etwas zu lesen.« Da suchte jemand anders Asaras Blick, und sie entschuldigte sich, ließ Mishani mit dem Buch allein. Mishani starrte lange darauf, ohne es aufzuschlagen. Sie dachte an ihre Mutter. Nach einer Weile verließ sie unauffällig den Hof und bahnte sich den Weg zurück in ihre Unterkunft. Ihre Lust zu feiern war jäh verflogen. Reki und Asara liebten sich im Schlafgemach des Anwesens von Muia, nur wenige Schritte von der Stelle entfernt, an der Asara in der Nacht zuvor einen Mann getötet hatte. Der Silberschein der einsamen Mondschwester Iridima zog ein schimmerndes Band entlang der Umrisse ihres vom Schweiß feuchten Rückens, während sie auf ihm zur Erfüllung wogte und ihn dabei keuchend, murmelnd anspornte. Nachdem sie beide ihren Höhepunkt erfahren hatten, lag sie von Angesicht zu Angesicht auf seinem Bauch und drehte müßig sein Haar zwischen den Fingern. »Wir haben es vollbracht...«, sagte sie leise. 51 Mit einem matten Lächeln nickte er, aalte sich noch in der Wonne des Nachhalls ihrer Vereinigung. Sie spürte, wie sein Herz einen Gegentakt zu dem ihren pochte. »Wir haben es vollbracht«, wiederholte er ihre Worte und stützte sich auf die Ellbogen, um sie zu küssen. Ihre Fingerspitzen fuhren die weiße Haarsträhne inmitten der schwarzen nach, dann hinab auf seine Wange, wo sich die tiefe Narbe neben seinem linken Auge zur Spitze des Wangenknochens zog. »Ich mag diese Narbe.« »Ich weiß«, gab Reki grinsend zurück. »Du kannst nie die Finger davon lassen.« »Ich finde sie interessant. Ich bekomme keine Narben.« »Jeder kann Narben bekommen«, entgegnete er. Sie ließ es dabei bewenden. Eine Weile sah sie ihn nur an, genoss die Hitze ihrer aneinander gepressten Leiber. Er war nicht mehr der Junge, den sie Vorjahren in der Kaiserlichen Feste verführt hatte. Der Verlust seines Vaters und seiner Schwester, die unverhoffte Bürde der Verantwortung, die auf ihm lastete, hatten ihn reifen lassen. Nachdem er sich nicht mehr in Büchern vor der Welt verkriechen konnte, die bedrückende Missbilligung von Barak Goren von ihm genommen und der übermächtige Schatten der vor Leben sprühenden Kaiserin Laranya verflogen waren, war er gezwungen gewesen, seinen Weg zu finden, und er hatte sich selbst ebenso wie alle anderen damit überrascht, wie gut es ihm gelungen war. Der Knabe, den die meisten als Schwächling wahrgenommen hatten, war körperlich zwar immer noch keineswegs mächtig, doch er besaß eine Willenskraft, die alles überstieg, was man von ihm erwartet hätte. Sein Selbstvertrauen hatte sich rasch vervielfacht, nicht zuletzt dank der atemberaubenden Frau, die - zu seiner Verblüffung - durch all die ihm auferlegten Prüfungen bei ihm geblieben war und ihn unermüdlich unterstützte. Reki war wie von Sinnen in sie verliebt. 52 Natürlich hatte er keine Ahnung, dass sie seine Schwester Laranya ermordet und dadurch den Tod seines Vaters Goren beschleunigt hatte. Das wusste niemand außer Asara, die es klugerweise für sich behielt. Geblüt Tanatsua hatte von jeher zu den mächtigsten Adelsfamilien Tchom Rins gezählt, selbst nach dem Gemetzel am Juwacha-Pass, bei dem Barak Goren sein Leben lassen musste. Die kleine Vorhutstreitmacht, die dort aufgerieben worden war, hatte die Familie nicht wesentlich geschwächt, denn der Großteil ihrer Armeen hatte noch in jospa geweilt, da sie nicht schnell genug nach der Neuigkeit von Laranyas Tod in Bewegung gesetzt werden konnten. Doch unter Rekis geschickter Führung waren sie im Verlauf von vier Jahren zur führenden Macht in der Wüste aufgestiegen. Aber nicht alles war allein sein Werk. Die Umstände hatten sich zu seinen Gunsten entwickelt. Für die Weber
war die Wüste ein schwierig zu eroberndes Gebiet geblieben, zumal die ausgebürtigen Raubtiere, die ihre Armee bildeten, nicht für all den Sand geschaffen und somit erheblich im Nachteil waren. In den letzten Monaten jedoch war eine neue Art der Ausgebürtigen aufgetaucht, die wie geboren für die Wüste schien, und diese Kreaturen hatten begonnen, in den Gebieten nahe der Berge Blutbäder anzurichten. Jospa, der Sitz des Geblüts Tanatsua, lag tief in der Wüste und war von diesem Auftreten noch nicht bedroht, doch die übrigen Familien hatten erkannt, in welcher Gefahr sie schwebten, und eben dies hatte den Wunsch nach einer Einigung hervorgebracht. Im Gegensatz zu den vormals rivalisierenden Familien war Geblüt Tanatsua durch die Angriffe nicht geschwächt gewesen. Und dann war da noch Asara. Mehr als einmal war ein wackerer Gegner oder ein unüberwindliches Hindernis für Rekis Aufstieg still und heimlich verschwunden. In der Wüste galt Meuchelmord als politisches Werkzeug und Asara war vollkommen darin. Reki wusste von all dem nichts: Asara ach53 tete darauf, regelmäßig eine Weile nicht bei ihm zu sein, damit er nicht bemerkte, dass solche Fälle günstiger Fügungen stets mit ihrer Abwesenheit zusammenfielen. Ebenso wenig bemerkte er das gelegentliche Verschwinden eines Bediensteten oder einer Tänzerin von ihren Ländereien. Er lebte in Ahnungslosigkeit um das Wesen seiner Gemahlin; aber schließlich war er längst nicht der erste Mann, für den dies galt. »Reki...«, murmelte Asara. »Ich kenne diesen Tonfall«, raunte er. Seufzend glitt sie von ihm, legte sich auf den Rücken und schaute zur Decke empor. Er rollte sich auf die Seite, senkte die Hand auf ihren glatten Bauch und küsste zärtlich ihren Hals. »Du gehst wieder fort«, stellte er fest. »Reki, diesmal wird es nicht nur für eine Woche oder ein paar Wochen sein«, erklärte sie. Asara spürte durch seine Finger auf ihrer Haut, wie er sich leicht versteifte. »Wie lange?«, fragte er gepresst. »Ich weiß es nicht«, antwortete Asara. Sie rollte sich auf die Seite, um ihn anzusehen; seine Hand wanderte über ihre Hüfte. »Reki, ich verlasse dich nicht. Nicht auf diese Weise. Ich komme zurück.« Obwohl er sich bemühte, sein Elend vor ihr zu verbergen, konnte sie es erkennen. Es verursachte ihr sogar Schuldgefühle, und Asara war alles andere als gewöhnt daran, Schuld zu empfinden. Ob es ihr gefiel oder nicht, dieser Mann war ihr ans Herz gewachsen, wie es zuvor niemandem außer Kaiku gelungen war. Sie hätte nicht zu sagen vermocht, ob sie ihn tatsächlich liebte oder nicht - sie war zu leer und ausgehöhlt, um ein solches Gefühl in sich zu entdecken -, aber sie verachtete ihn nicht, und angesichts der Tatsache, dass sie insgeheim so gut wie jeden verachtete, war dies für sie genauso gut wie Liebe. »Ich muss Mishani in die Südlichen Präfekturen begleiten. Nach Arakajo«, fuhr sie fort. 54 »Warum?«, wollte er wissen, und in diesem einen Wort schwang all der Schmerz der Wunde mit, die sie ihm soeben zugefügt hatte. »Es gibt etwas, das ich dort tun muss.« Es war eine Antwort, wie er sie von ihr erwartet hatte. Ihre Vergangenheit war tabu für ihn, und er war gezwungen gewesen, sich damit abzufinden, bevor sie geheiratet hatten. Obwohl sie kaum älter als er wirkte, besaß sie eine Fülle an Wissen und Erfahrungen, und sie verbot ihm, danach zu forschen, wie sie dazu gekommen war. Es war ein notwendiger Makel in ihrer Beziehung. Die Wahrheit war, dass sie bereits über neunzig Ernten erlebt hatte; aber ihr Körper alterte nicht, erneuerte sich unablässig, solange er mit dem Leben anderer ernährt wurde. Dies einzugestehen hieße zuzugeben, dass sie eine Ausgeburt war, und das würde alles zerstören, worauf sie hingearbeitet hatte. Reki schwieg verbittert. Nach ein paar Augenblicken beschrieb Asara das Gefühl, ihm etwas mehr geben zu müssen. »Ich habe vor langer Zeit einen Handel geschlossen. Über etwas, das wir beide wollen, Reki. Aber du musst mir vertrauen, wenn ich dir sage, dass du nicht wissen darfst, was es ist oder wie viel es mir bedeutet.« Sie fuhr ihm mit einem gepflegten Fingernagel über den Arm. »Du weißt, dass ich Geheimnisse habe. Ich habe dich davor gewarnt, dass meine Vergangenheit sich eines Tages auf unsere Gegenwart auswirken könnte.« Ihre Finger schlangen sich zwischen die seinen und drückten sie. »Bitte«, flüsterte sie. »Ich verstehe deine Enttäuschung. Aber lass mich ohne Zorn ziehen. Du bist meine Liebe.« Mittlerweile standen ihr Tränen in den Augen, genau wie ihm. Er konnte es nicht ertragen, sie weinen zu sehen, was Asara nur allzu gut wusste. Die Tränen waren berechnender Lug; und sie brachten ihn zum Schmelzen. Er küsste sie; Schluchzen verwandelte sich in Stöhnen, und sie vereinigten 55 sich erneut, geradezu verzweifelt, als könnte er dadurch den Kummer in seiner Brust lindern. Bis sie beide verausgabt waren, hatte er sich bereits damit abgefunden, sich still zu grämen. Asara konnte ihn stets dazu bringen, sich ihren Wünschen zu beugen. Sein Herz gehörte ihr, auch wenn er manchmal vermutete, dass ihm das ihre nicht gehörte. 56 FÜNF
Nukis Auge ging im Osten auf, während der Frachtkahn dem Kerryn flussabwärts Richtung Axekami folgte. Von der ächzenden, klappernden Maschine tief im geschwollenen Bauch des Bootes angetriebene Schaufelräder wühlten das Wasser auf. Aus Öffnungen an jeder Seite quoll dichter, schwarzer Rauch, der zerfranste und sich in ölige Schwaden verflüchtigte. Einst hatten Radgänger dafür gesorgt, dass die Schaufelräder sich drehten, dunkle und muskelbepackte Gesellen, die unter Deck zu schuften pflegten, wenn der Frachtkahn gegen den Fluss ankämpfte oder die Strömung zu schwach war, um ihn zu tragen. Aber ihre Tage neigten sich dem Ende zu; auf vielen der Kähne, die von Axekami aus über die drei Flüsse kreuzten, waren die Radgänger durch seltsame Gerätschaften aus Öl und Blech, Kolben und Getrieben ersetzt worden. Kaiku stand auf dem Vordeck. Der Morgenwind zerzauste ihr das Haar, während sie mit wehmütigem Herzen beobachtete, wie das Land an ihr vorüberzog. Sie trug nicht mehr die Kluft des Roten Ordens; ihre Kleidung war nun schlichter, unvorteilhaft und derb, zweckmäßig für die Reise. Das Gesicht hatte sie von der Bemalung der Schwestern gereinigt. Zwar hatten die Sorgen des vergangenen Jahrzehnts ihre Haut nicht zerfurcht, doch sie zeigten sich manchmal in der Düsterkeit ihres Blickes. So wie jetzt. Die Welt hatte ihre Farbe verloren. Die Ebenen, die sich zu beiden Seiten bis zum Horizont erstreckten, lagen nicht mehr in dem sonnengetünchten Gelbgrün, an das sie sich erinnerte. Selbst im fahlen Licht des Morgengrauens konnte Kaiku sehen, dass ihnen etwas geraubt worden war, ein gewis57 ses Element des Lebens und des Wachstums. Nun wirkten sie traurig mit den vereinzelten Bäumen in der trostlosen Öde. Selbst den Farbton des Flusses empfanden ihre Augen als beunruhigend verändert; war er einst so blau gewesen, dass es an Lila gegrenzt hatte, erschien er nun grauer und kraftlos. In vergangenen Tagen hätten Vögel über dem Frachtkahn gekreist und sich in der vergeblichen Hoffnung in dessen Takelage niedergelassen, dass es sich um einen Fischkutter handelte; aber hier war weit und breit kein einziger Vogel zu sehen. So beginnt er, dachte sie. Der langsame Tod unseres Heimatlands. Und wir besitzen nicht die Kraft, ihn zu verhindern. Sie schaute den Fluss entlang nach Westen, erblickte dort einen verschwommenen Fleck am Horizont und begriff, worum es sich handeln musste. Gewiss, Kaiku hatte die Schilderungen ihrer Spitzel und der Flüchtlinge gehört, die es aus den von den Webern besetzten Gebieten in die Präfekturen geschafft hatten. Dennoch war sie nicht vorbereitet auf den Anblick dessen, was aus Axekami geworden war. Die einst prächtige Stadt glich einer finsteren Festung im Schatten düsterer Rauchschwaden. Die großen Mauern strotzten vor Feuerkanonen und anderen Kriegsgeräten, die Kaiku noch nie zuvor gesehen hatte. Vor dem südöstlichen Tor ragte ein riesiger Wachturm aus Metall auf, der die Straße und den Fluss gleichermaßen beherrschte. Im Umfeld der Hauptstadt waren Gerüste und halb errichtete Gebäude verstreut. Kaiku besann sich, wie aufgeregt sie als Kind gewesen war, wenn sie diesen Ort zu Gesicht bekam, das Wunder ihrer Zivilisation, die Wiege des Wissens, der Kunst und Politik. Es entsetzte sie, die Stadt in dieser Form vorzufinden, als Furcht einflößende Feste inmitten eines dunklen Pesthauchs, der sich träge emporkräuselte, um den Himmel zu besudeln. Die armseligen Behausungen der Flussnomaden an der Zufahrt zur Stadt lagen verwaist, die Pfahlbauten leer. Die 58 Nomaden waren verschwunden. Vorbei die Tage, in denen sie die Ufer bevölkerten und vorbeiziehende Kähne argwöhnisch beäugten, vorbei die Tage, in denen sie nähten, Perlen auffädelten oder auf den Fluss hinausstakten, um Fische zu fangen. Die Dächer ihrer Hütten waren im Einsturz begriffen, hielten dem stetig einwirkenden Chaos ihrer Umgebung nicht mehr stand, und die Stützen der vermodernden Stege neigten sich, da sie im Schlamm versanken. Das Geklapper und Rumoren der Maschine des Frachtkahns verhallte in der Stille, als er daran vorbeizog. »Was hat man diesem Ort nur angetan«, murmelte Phaeca, die sich auf dem Vordeck zu ihr gesellt hatte, während Kaiku in ihren Gedanken verloren gewesen war. Kaiku schaute ihre Gefährtin an, erwiderte jedoch nichts. Sie empfand es immer wieder als seltsam, Phaeca ohne das Zierwerk des Ordens zu sehen. Vermutlich deshalb, weil ihr der Anblick Phaecas mit Schminke vertrauter als jener ohne war, doch Kaiku fand, dass es ihr besser stand, wenn sie bemalt war. Dadurch verschob sich die Betonung ihrer Züge zu ihrem Vorteil. Ohne die Bemalung wirkte sie zu dünn, büßte einen Teil des Geheimnisvollen und der Ausdruckskraft ein. Andererseits machte sie das, was sie verlor, durch ihren natürlichen Stil mehr als wett. Da sie im Flussviertel aufgewachsen war, besaß sie einen Sinn für Ausgefallenheit, um den Kaiku sie leicht beneidete. Ihr Haar glich stets einem Meisterwerk; eine aufwendige Anordnung von Haarschmuck diente zur Gestaltung der tiefroten Locken, die hier in einem Strang herabhingen, dort gewickelt, geknotet oder zu Kringeln frisiert waren. Im Vergleich zu Kaikus Aufmachung wirkten ihre Gewänder knallig, und obwohl sie sich an diesem Tag zurückgehalten hatte, um in der Stadt möglichst wenig Aufsehen zu erregen, wandelte sie dennoch auf dem schmalen Grat zwischen Eleganz und Protz, der bezeichnend für die Mode des Flussviertels war. »Wo steckt Nomoru?«, fragte Kaiku beiläufig. 59
Phaeca gab einen Laut von sich, aus dem zu schließen war, dass es sie wenig kümmerte. Wie vorherzusehen gewesen war, hatte sich Nomoru bei der Schwester vom Roten Orden während der langen Reise aus den Südlichen Präfekturen nicht beliebt gemacht. Sogar Phaeca, die man als Inbegriff an Nachsichtigkeit bezeichnen konnte, hatte eine Abneigung gegen das beharrlich rüde Benehmen der Kundschafterin entwickelt. »Sei auf der Hut«, mahnte Kaiku nach einer Weile. »Die Weber könnten auf der Suche sein. Bleib stets wachsam, bis wir die Stadt wieder verlassen haben.« Sie schaute wieder zu den grausigen Schwaden, die von der Stadt gen Himmel stiegen, und spürte, wie sich Übelkeit in ihrem Magen regte. »Und setz dein Kana nicht ein, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt -außer um dich vor ihrer Aufmerksamkeit zu verbergen. Unser Kana würde sie anziehen.« »Du bist zappelig, Kaiku«, stellte Phaeca mit einem Lächeln fest. »Du brauchst mich nicht daran zu erinnern, was ich tun soll; das weiß ich durchaus.« Kaiku bedachte sie mit einem entschuldigenden Blick. Phaecas Gabe, Menschen zu durchschauen, wurde allein von Lucia übertroffen. Phaeca besaß ein außergewöhnliches Einfühlungsvermögen. »Natürlich bin ich unruhig. Was wäre ich für eine Närrin, wenn es anders wäre?« »Die Art Närrin, die sich überhaupt erst freiwillig für dieses Unterfangen gemeldet hat«, gab Phaeca trocken zurück. Kaiku lachte nicht. Der gespenstische Abklatsch der Stadt drückte ihr zu sehr aufs Gemüt. Der gewaltige Gebetsbogen aus Stein, der sich über das Tor spannte, durch das der Kerryn in die Stadt floss, war blank gemeißelt worden; keine Segenssprüche zierten ihn mehr. Der rumorende, rauchende Frachtkahn beförderte sie stetig darauf zu. Kaiku fürchtete sich vor dem, was sie hinter diesem glatt gehauenen Schlund erwarten mochte, was sie vorfinden würden, nachdem sie verschluckt worden waren. 60 Hätte sie die Wahl gehabt, sie hätte nie einen Fuß an Bord des Frachtkahns gesetzt. Aber die Straßen wurden von den Webern scharf bewacht, und an einem überfüllten Kai war es einfacher, unbemerkt in die Stadt zu gelangen. Deshalb hatten sie die Pferde in einem kleinen Dorf am Südufer des Kerryn zurückgelassen und diesen Weg eingeschlagen. Kaiku hasste jeden Augenblick, den sie an Bord dieses Schiffes mit seinem mechanischen Herzen verbrachte. Es war eine Gerätschaft der Weber, und was die Weber schufen, schufen sie ohne Rücksicht auf die Folgen. Mit ausdruckslosen, traurigen Augen beobachtete sie, wie der ölige Rauch aus dem Kahn quoll. Und dennoch sind die Weber nicht der eigentliche Feind, besann sie sich, nur die Marionetten eines größeren Herrn. »Kaiku«, murmelte Phaeca plötzlich in warnendem Tonfall. »Weber.« Kaiku hatte sie bereits gespürt. Zielstrebig wie Haie glitten sie mit ihrem Bewusstsein unter der äußeren Welt umher. Sie waren auf der Jagd nach Schwestern vom Roten Orden, suchten nach jeder noch so winzigen Störung im Geweb, die auf die Anwesenheit ihrer gefährlichsten Feinde hinweisen mochte. Die Gefahr, dass Kaiku und Phaeca entdeckt würden, schien zwar gering, dennoch war es nie klug, sich auf den Zufall zu verlassen. In letzter Zeit hatten die Fähigkeiten der Weber sich als unberechenbar erwiesen. Jeder Hexenstein, den sie zum Leben erweckten, verstärkte ihre Macht, und sie hatten den Roten Orden schon öfter als einmal überrascht. Die Feyakori stellten nur das jüngste Beispiel dafür dar. Phaeca und Kaiku flochten sich ins Geweb, fügten sich in den Hintergrund, wurden für die Wahrnehmung der Weber so reglos wie die Planken des Decks unter ihren Füßen. Diese Technik war ihnen zur zweiten Natur geworden, bedurfte lediglich geringer Aufmerksamkeit und so gut wie keiner Anstrengung, nicht einmal genug, um das Verdunkeln der 61 Netzhäute auszulösen, das als Begleiterscheinung beim Einsatz des Kana auftrat. So standen sie beisammen, während die Weber ihrer ungewahr über sie hinwegstrichen und sich verflüchtigten, um die Suche andernorts fortzusetzen. Der Frachtkahn trieb unter dem entweihten Bogen hindurch in die Stadt, und Kaiku spürte, wie sich ihre Brust ob des Anblicks vor Pein verengte. Axekami war verwelkt. Wo einst die Sonne mit voller Kraft auf von Menschenscharen beseelte Durchfahrtsstraßen, auf Gärten und mit Mosaiken ausgelegte Plätze, auf glänzende Tempelkuppeln und eindrucksvolle Galerien und Badehäuser geschienen hatte, drang sie nun nur noch gedämpft auf einen Ort durch, den Kaiku niemals für dieselbe Stadt gehalten hätte, wäre ihr nicht die Anordnung der Straßen so vertraut gewesen. Eine düstere Stimmung hing über dem Anblick, geschaffen von etwas, das viel tiefer saß als der Rauch, der Nukis Auge verhüllte. Es drang aus den Häusern selbst, aus den verschlossenen Fensterläden und den ausgebleichten Wänden: ein Gefühl der Erschöpfung, der Schicksalsergebenheit, der Geschlagenheit. Es lastete auf den Schwestern vom Roten Orden wie ein Gewicht. Die Tempel waren verschwunden. Kaiku hielt danach Ausschau, suchte nach Anhaltspunkten und musste feststellen, dass dort, wo früher die schillerndsten und erhabensten Bauwerke gestanden hatten, nun merkwürdige, höckerartige Gebilde aus Metall kauerten, bucklige Ungeheuerlichkeiten, aus denen Rohre, riesige Zahnräder und Rauch speiende Öffnungen ragten. Als ihr Blick den Hügel hinauf in Richtung der Kaiserlichen Feste wanderte, sah sie, dass man das Gebetstor aus Stein und Gold, das einst den Eingang zum Kaiserviertel kennzeichnete, abgerissen hatte. Sogar die kleinen Schreine in den Eingängen der Häuser am Fluss waren verschwunden, die Windspiele entfernt. Ohne den religiösen Krimskrams als Schmuck an den Fassaden wirkten
sie hohl und verlassen. 62 Zu ihrer Linken präsentierte sich das Inselmeer des Flussviertels als Abklatsch seiner früheren Farbenpracht und Lebendigkeit. Kaiku vernahm, wie Phaeca hörbar den Atem über die Zähne einsog. Der große, Panazu gewidmete Tempel war zerstört und dem Verfall überlassen worden. Die Freudenhäuser und Rauschmittelhöhlen standen leer, und die wenigen Menschen, die über die schmalen Pfade wandelten oder Boote zwischen den zersplitterten Inseln stakten, wirkten farblos und hielten den Blick gesenkt. Die wunderliche und launenhafte Bauweise der Häuser hatte sich zwar nicht verändert, aber nun schien sie eher albern denn beeindruckend, eine Torheit gleich dem letzten, traurigen Haschen eines Greises nach der verflossenen Jugend. Phaeca räusperte sich. »Ich denke, ich sollte mich umziehen. Selbst diese Aufmachung ist für eine so düstere Stadt zu auffällig.« Kaiku nickte. Es war in der Tat eine kluge Entscheidung, doch sie vermutete, in Wahrheit stellte es vielmehr eine Ausrede dar, damit sie sich zurückziehen und sammeln konnte. Phaecas Empfindsamkeit war ein zweischneidiges Schwert; sie spürte die Bedrückung dieses Ortes zweifellos wesentlich stärker als Kaiku. Hastig brach sie auf. »Such Nomoru«, rief Kaiku ihr abwesend hinterher, und Phaeca raunte einen Laut der Zustimmung zurück, ehe sie verschwand. Als sie die Kais erreichten, war der Gestank in der Luft so durchdringend, dass es spürbar ungesund war zu atmen; Kaiku fühlte sich wie besudelt. Um die Lagerhäuser herrschte reges Treiben. Frachtkähne und kleinere Gefährte wurden an den Pieren unter allerlei Gebrüll der Vorarbeiter entladen; von Manxthwa gezogene Karren und Wagen, auf denen sich mit Netzen gesicherte Kisten und Fässer türmten, rollten quietschend und knarrend vorbei; Händler stritten und feilschten; dürre Katzen huschten inmitten des Gewirrs in der Hoffnung 63 auf ein, zwei kecke Ratten umher. Doch trotz all des Betriebs gab es kein Gelächter, keine Derbheiten: Rufe beschränkten sich auf Anweisungen und Befehle; die Männer arbeiteten verbissen vor sich hin, wobei ihre Aufmerksamkeit allein dem galt, was sie taten. Mit hängenden Häuptern rackerten sie, wollten nur ihre jeweiligen Aufgaben überstehen, als wäre das Dasein ein Hindernis, das sie täglich überwinden mussten. Sie ertrugen es einfach. Als sie von Bord gingen, stieß Nomoru zu ihnen. Es gab einige Formalitäten zu erledigen: Ein Fahrgastverzeichnis musste mit falschen Namen unterschrieben, gefälschte Ausweise mussten gezeigt, eine Durchsuchung nach Waffen erduldet werden. Ein Offizier der Schwarzen Wache erkundigte sich danach, was sie vorhatten, und erinnerte sie an einige der Regeln und Vorschriften, die es einzuhalten galt; keine nicht öffentlichen Versammlungen mit mehr als fünf Leuten, keine Ikonen oder Symbole religiöser Natur, Ausgangssperre nach Sonnenuntergang. Phaeca und Kaiku lauschten ihm höflich, während ein Teil ihrer Aufmerksamkeit damit beschäftigt war, sie vor den Webern abzuschirmen, die sich in der Nähe herumdrückten und die Kais überwachten. Nomoru wirkte gelangweilt. Ihren Ansprechpartner fanden sie wie vorgesehen im Armenviertel. Nomoru führte sie, zumal sie inmitten der endlosen Bandenkriege aufgewachsen war, die in diesen Gassen tobten. Selbst hier war die Veränderung augenscheinlich, die sich in der Stadt vollzogen hatte. So schäbig die Gegend auch sein mochte, ihre Bewohner waren von jeher zornige, leicht aufbrausende Menschen gewesen, die sich gegen ihre Bedingungen aufgelehnt hatten, statt sich ihnen widerstandslos zu fügen; doch nun präsentierten sich die Gassen still, die Türen verschlossen. Die wenigen Leute, die sie sahen, waren dürr und ausgemergelt. Hungersnot herrschte selbst in der Hauptstadt, und wie immer waren die untersten Schichten die ersten, die zu leiden hatten. 64 Bei dem Anblick musste Kaiku an Tsata mit seinen fremdartigen Ansichten über ihre Gesellschaft denken, und sie fragte sich, was er von all dem halten würde. Die Erinnerung an ihn begleitete ein Aufflackern von Traurigkeit. Da sie unter Cailin ganz in den Lehren des Roten Ordens aufging, war er im Verlauf der Jahre aus ihren Gedanken gerutscht; sein Einfluss aber war geblieben, und sie ertappte sich häufig dabei, dass sie versuchte, Dinge aus seinem Standpunkt zu betrachten, um ein gewisses Maß an Sachlichkeit zu erlangen. Eben weil nie jemand den Stand der Dinge in Frage gestellt hatte, war das Kaiserreich überhaupt erst in diese Lage geraten: Der tief verwurzelte Glaube, die Gesellschaft könnte nicht ohne die Weber auskommen, hatte es ihnen ermöglicht, das Kaiserreich jenen zu entwinden, die es geschaffen hatten. Zu dieser Einsicht hatte ihr Tsata verholfen, doch danach hatte er sie verlassen, um in sein Heimatland zurückzukehren und sein Volk davor zu warnen, was sich in Saramyr zutrug. Während sie durch das verkommene Armenviertel streiften, fragte sich Kaiku, ob er je wieder auftauchen würde. Ihr Ansprechpartner hauste im zweiten Stockwerk eines verfallenen Gebäudes, und sie mussten eine wackelige, mit einem behelfsmäßigen Rohrgerüst gestützte Stiege erklimmen, um zur Tür zu gelangen. Kaikus Unbehagen war während ihrer Reise gewachsen. Aus der Ferne vernahm sie in der gespenstischen, bedrückenden Stille das Grollen und Klappern eines der käferartigen Gebilde der Weber. Die Luft hier erschwerte das Atmen und schmeckte faulig. Hätte sie nicht gewusst, dass ihr Körper unterschwellig und von sich aus die Gifte unschädlich machte, die sie in sich aufnahm, sie wäre darüber besorgt gewesen, welchen Schaden sie in ihr anrichten könnten. Bei den Göttern, wie musste es erst sein, in diesem Pestmief zu leben}
Nomoru schlug die Glocke an, und die Tür wurde von einem blassgelben, krank aussehenden Mann geöffnet. Seine 65 Augen weiteten sich vor Überraschung, als er die Kundschafterin sah, die er offenbar wieder erkannte. Nach einem betretenen Augenblick wechselten sie die Losungsworte, und er ließ sie ein. Er brachte sie in einen schäbigen Raum mit zerfransten Matten auf dem Boden. Schiebetüren standen halb offen, sodass dahinter Schränke mit altem Geschirr und abblätterndem Zierwerk zu sehen waren. Die Fensterbögen waren mit dünnen Schleiern verhangen; sie verhüllten die Aussicht und verdüsterten den Raum. Eine stattliche Gestalt mit geschorenem Haupt hatte einen der Schleier ein wenig beiseite geschoben und spähte auf die Straße nach unten. Als sie eintraten, ließ der Mann den Schleier zurückfallen und drehte sich zu ihnen um. Durch seine wulstigen Lippen, eine platte Nase und eine Stirn mit von Natur aus verdrießlichen Zügen konnte man ihn nur als abgrundtief hässlich bezeichnen. »Nomoru?«, sagte er. »Bei den Götten, ich hätte nicht gedacht, ausgerechnet dich je wieder zu sehen. Du hast dich kein bisschen verändert.« Nomoru zuckte nur die Schultern, ohne etwas zu erwidern. Er schaute zu den Schwestern vom Roten Orden. »Dann müsst ihr Kaiku und Phaeca sein. Wer ist wer?« Trotz seiner Ungezwungenheit stellten sie sich vor, wie es sich gehörte, indem sie sich auf die für ihren gesellschaftlichen Rang geziemende Weise verneigten. »Gut«, meinte er. »Ich nehme mal an, wer ich bin, könnt ihr euch mittlerweile denken. Juto en Garika. Und der da drüben an der Tür ist Lon. Es gibt noch mehr von uns, aber wir treffen uns hier nicht. Vorerst habt ihr nur mit mir und Lon zu tun.« Kaiku musterte ihn eingehend. Seine Aussprache und Gebaren zeugten von einem Leben im Armenviertel. Er besaß - wie viele hier - keinen Familiennamen, weshalb er stattdessen die Bezeichnung seiner Bande verwendete, und der nieder-saramyrrische Zusatz en bedeutete wörtlich »ein Teil 66 von«. Seine bloße körperliche Gegenwart wirkte einschüchternd. Für gewöhnlich hätte Kaiku sich dadurch nicht bedroht gefühlt - nicht seit sie eine Schwester vom Roten Orden war —, aber durch den Schock des Anblicks, wie tief Axekami gesunken war, und den Umstand, dass sie ihre Kräfte innerhalb der Stadtmauern nicht einsetzen konnte, war sie ein wenig überempfindlich. Er kauerte sich mit untergeschlagenen Beinen auf eine Matte, ohne jemanden einzuladen, es ihm gleichzutun. Nomoru setzte sich trotzdem, und die beiden Schwestern vom Roten Orden folgten ihrem Beispiel. Lon schlich unauffällig von dannen. »Packen wir es also an«, meinte Juto. Er warf einen Blick auf die Schwestern. »Zuerst aber noch: Wir alle wissen, wer ihr seid und welche besonderen ... Fähigkeiten ihr besitzt.« Erfreut bemerkte Kaiku, dass die vertraute Abscheu über ihre ausgebürtigen Kräfte in seinem Tonfall nicht mitschwang. »Es wäre wohl am besten, wenn keiner von uns sie laut erwähnt. Verschwörungen und Ränke kommen und gehen, aber wenn jemand auch nur wittert, wer ihr seid, wird man sich darum raufen, euch an die Schwarzen Wachen zu verschachern.« Er bemerkte Phaecas zur Tür wandernden Blick. »Lon weiß Bescheid. Ihm könnt ihr vertrauen. Aber niemandem sonst.« »Kennt ihr beide euch?«, erkundigte Phaeca sich, wobei sie Juto und Nomoru meinte. Seit Juto zum ersten Mal gesprochen hatte, fragte Kaiku sich dasselbe. Juto grinste und entblößte große, gelblichbraune Zähne. »Wir vergessen unsresgleichen nicht.« »Habt ihr zur selben Bande gehört?«, bohrte Phaeca bei Nomoru weiter. Letztere antwortete lediglich mit einer mürrischen Grimasse. »Ist schon eine Weile her«, sprang juto ein. »Wir hatten sie längst aufgegeben.« Sein Blick zuckte zu Nomoru. »Ich habe nach dir gesucht. Bis zu dem Tintenstichler, der dich zuletzt tätowiert hat, konnte ich dich zurückverfolgen. Er sagte, du -« 67 »Juto!«, herrschte sie ihn plötzlich an und schnitt ihm das Wort ab. »Das geht die nichts an.« Kurz loderten seine Augen auf, dann senkte sich ein Ausdruck gefährlicher Ruhe auf sein Gesicht. »Du bist schon seit geraumer Zeit nicht mehr Nomoru en Garika«, erklärte er mit unverhohlener Bedrohung in der Stimme. »Pass bloß auf, wie du mit mir redest.« Nomoru starrte ihn nur an. Aus der angespannten Haltung ihrer Schultern sprach Herausforderung - eine magere Gestalt mit verfilztem Haar, die sich einem doppelt so massigen Hünen entgegenstemmte. Beide zeigten nicht die geringste Furcht. »Wie ist die Lage in der Stadt?«, fragte Kaiku in dem Versuch, das Patt zu durchbrechen. Juto lachte grölend und schüttelte den Kopf. »Hattet ihr auf dem Weg hierher etwa Scheuklappen auf?«, raunte er ungläubig. »Das Volk wird zermalmt. Der Regent hat die Stadt unter dem Stiefelabsatz und wird nicht aufhören, damit zu mahlen, bis nur noch Staub und Knochen übrig sind. Axekami darf sich glücklich schätzen, den Großteil der restlichen Lebensmittel im Nordwesten zu erhalten, und trotzdem verhungern tagtäglich Hunderte. Das einzig Gute, das ich sagen kann, ist, dass die Adeligen wenigstens nicht alle Vorräte für sich abzwacken, wie es unter der Herrschaft des Kaiserreichs gewesen wäre.« Sein bitterer Hohn war unverhohlen und beißend. »Die Arbeiter kriegen das Essen. Außerdem die Schwarzen Wachen und natürlich die verdammte
Ausgebürtigenarmee der Weber; das versteht sich von selbst. Aber das Armenviertel leidet wie immer, weil einige von uns eher sterben, als in diesen verfluchten Gebilden schuften würden, die sie anstelle unserer Tempel gebaut haben.« »Und was tun sie darin?«, fragte Phaeca. Juto schürzte die Lippen. »Keine Ahnung. Jeder Arbeiter kennt nur seine eigene Aufgabe, aber niemand scheint zu wis68 sen, worauf all die einzelnen Tätigkeiten hinauslaufen. Jedenfalls stellen sie offenbar nichts her. Das ist das verfluchte Geheimnis der Dinger.« Er stand auf und ging wieder zu dem Fensterbogen, schaute am Schleier vorbei hinaus. Als er fortfuhr, sprach er in ruhigerem Tonfall. »Und dann ist da dieser Dunstschleier. Greise husten sich zu Tode, Mütter erleiden Fehlgeburten, Kranke erholen sich nicht und Wunden entzünden sich. Was für Leute übernehmen eine Stadt und vergiften deren Bewohner? Was für eine Narretei ist das?« Die Frage schien nicht an die Anwesenden gerichtet, also schwiegen sie. Juto drehte sich um und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand. »Sie haben die Götter verboten«, fuhr er fort. »Alle. Sie unterbinden jede Möglichkeit eines Aufstands, indem sie uns nicht erlauben, uns zu versammeln und abzustimmen. Jeder hält das für den Grund, weshalb sie die Tempel abgerissen haben. Aber beim Blut des Herzens, es ergibt keinen Sinn! Den Menschen ihren Glauben zu lassen hielte sie ruhig, würde Aufwiegler entmutigen.« Er kratzte sich am Ohr und schnaubte. »Manche meinen, sie wollen uns nur vor Augen führen, dass es keine Hoffnung gibt. Ich persönlich glaube das nicht. Ich denke vielmehr, dass sie die Götter hassen. Hassen oder fürchten.« »Und geht die Rechnung auf?«, wollte Kaiku wissen. »Glaubst du, Axekami könnte davon überzeugt werden, sich gegen die Unterdrücker zu erheben?« Juto setzte sich wieder und schüttelte dabei den Kopf. »Man könnte mit einer Armee bis vor die Tore marschieren, und niemand würde wagen, sie zu öffnen. Das ist nicht nur eine Sache des Mutes, obwohl davon herzlich wenig übrig ist. Wir sind schwach und kränklich. Die Schwarzen Wachen kriegen ordentlich zu essen und sind kräftig, außerdem werden es jeden Monat mehr, weil sich ihnen ständig neue Leute anschließen. Sie sehen, wie ihre Familien sterben, und ihre 69 Grundsätze verflüchtigen sich wie Nebel in der Morgensonne. Dann gibt es noch reichlich Plaudertaschen und Spitzel, die alle dafür arbeiten, sich die Bäuche zu füllen. Die Weber scheinen einfach alles zu wissen, ob durch die verdammten Kräfte, die sie besitzen, oder durch Leute, die sich an sie verkauft haben. Sobald sich Gerüchte über einen neuen Anführer verbreiten, kommen auch schon welche auf, dass er gestorben oder verschwunden sei. Und der Gipfel des Ganzen sind die Ausgeburten. Die Weber brauchen nur ein Wort zu sagen, und die Straßen sind voll von ihnen.« »Was ist mit Lucia?«, warf Nomoru ein. »Könnte man die Menschen aufwiegeln, wenn Lucia käme?« »Lucia?«, höhnte Juto. »Ich will ja nicht leugnen, dass die Menschen jeden anstelle der Weber willkommen heißen würden, ob Ausgeburt oder nicht, aber eine sagenumwobene Gestalt ist zu nichts nütze, wenn sie nicht hier ist. Und dass sie echt ist, würde ich erst glauben, wenn ich sie mit eigenen Augen sähe, und selbst dann müsste sie in goldener Rüstung auftauchen, während die Götter vom Himmel herab Lobgesänge über sie ausschütten, ehe ich mich sicher genug wähnen würde, um mich gegen die Weber zu wenden.« Sein Tonfall klang nun verbittert. »Denkt ihr etwa, ihr könntet mit einer Armee überhaupt nach Axekami gelangen} Ich nicht. Die Weber würden euch zermalmen, bevor ihr den Norden des Bruchs erreicht.« Kaiku nahm dies mit Gelassenheit auf. Sie hatte ohnehin mit einer solchen Antwort gerechnet. Man müsste nicht über Phaecas Fähigkeiten verfügen, um zu erahnen, dass Yugis zarte Hoffnung eines in der Luft liegenden Aufstands sich in Nichts auflösen würde; Kaiku hatte es bereits beim Betreten der Stadt vermutet. Außerdem war sie sicher, dass selbst Yugi nicht ernsthaft an die Möglichkeit geglaubt hatte. »Aber genug von unseren Sorgen«, meinte Juto, beugte sich vor und bedachte sie mit einem Lächeln, das eher einem Knur70 ren glich. »Was ist mit den euren ? Wie verläuft die Schlacht im Süden?« »Das ist eine sonderbare Geschichte«, antwortete Kaiku und wischte sich das Haar hinters Ohr. »Die Lage ist noch so wie vor fast zwei Wochen, als wir aufbrachen. Die Weber haben Juraka besetzt, aber bislang keine Anstalten unternommen, den Fluss zu überqueren. Und die Feyakori scheinen verschwunden zu sein.« »Ah, das ist der springende Punkt«, brummte Juto. »Die Feyakori.« »Sie sind aus Axekami gekommen«, meldete Phaeca sich zu Wort. »Weißt du woher?« »Ich habe Vermutungen«, erwiderte Juto. »Aber ich habe auf eure Ankunft gewartet, damit wir gemeinsam nachsehen können.« »Wann brechen wir auf?« »Heute Abend«, sagte er. »Nach Beginn der Ausgangssperre.« Darüber dachte Kaiku kurz nach, dann runzelte sie leicht die Stirn. »Was genau tun die Schwarzen Wachen, um die Ausgangssperre durchzusetzen?« Juto ließ ein abscheuliches Grinsen aufblitzen. »Sie lassen die Ausgeburten raus.«
71 sechs Vorsichtig schritt Regent Avun tu Koli durch die Kammern seines Heims. Trotz Kakres Beteuerungen, dass ihm kein Leid widerfahren würde, fühlte er sich in den Bereichen, die der Webfürst für sich beansprucht hatte, nie so recht behaglich. Die oberen Gefilde der Kaiserlichen Feste hatten sich in eine Irrenanstalt verwandelt. Die große, stumpfe Pyramide stand auf einem Felsen am Kamm des höchsten Hügels von Axekami. Sie war ein Meisterwerk der Baukunst und nach wie vor unübertroffen, seit der vierte Geblütskaiser Huira tu Lilira vor über tausend Jahren mit ihrem Bau begonnen hatte. Die vielschichtigen Skulpturen aus Gold und Bronze mit den gestuften Seiten hatten Besucher ein Jahrtausend lang durch ihre kunstfertige Gestaltung und Kraft verblüfft, während die vier dünnen Türme, die an den Ecken aufragten und über Zierbrücken mit dem Hauptbau der Feste verbunden waren, immer noch genau so beeindruckend wie vor all den Jahren wirkten. Im Verlauf der Geschichte hatten stets große Bereiche der Feste leer gestanden, weil einfach keine Adelsfamilie genug Mitglieder besaß, um ein dermaßen riesiges Bauwerk zu füllen, und kein so großes Gefolge unterhielt, um all die Ersatzräumlichkeiten zu benötigen. Angewidert fragte Avun sich, was seine Ahnen wohl davon gehalten hätten, dass die Feste nun durch die Ankunft neuer Bewohner endlich gefüllt war. Der Weg zur Sonnenkammer führte ihn durch einen düsteren Raum der Verdorbenheit und des Wahnsinns nach dem anderen. Weber schnatterten und wiegten sich zusammengekauert in Gruppen, wobei ihre Masken leicht schillerten, wäh72 rend sie sich gemeinsam den Verzückungen ihrer unsichtbaren Welt hingaben. Wände waren mit Blut und Ausscheidungen verschmiert oder in geheimnisvollen Sprachen bekritzelt, die allein dem Unterbewusstsein des jeweiligen Verfassers entsprungen waren. Verschlungene Gleichungen und Schemen, in denen sich Unsinn und das Aufflackern ungeahnter Geistesblitze vermischten, waren in Marmorsäulen geritzt oder über alte Kunstwerke gekleckst. In einem Räum lag, umgeben von Tonskulpturen, der von Fliegenlarven aufgedunsene Leichnam eines Dieners, dessen Lippen und Kiefer von einem streunenden Hund gefressen worden waren. Eine untadelig saubere und ordentliche Badekammer wurde von einem wahnsinnigen Weber bewacht, der seine Zeit damit verbrachte, die Maserung des Holzbodens mit den Augen zu verfolgen und der jeden mit fuchtelnden Armen anbrüllte, der den Raum zu betreten wagte. Dennoch schlurften und hinkten inmitten all des Grauens auch andere, jüngere Weber umher, die dem Irrsinn noch nicht zum Opfer gefallen waren. Sie waren Kakres Leutnants und Adjutanten, eine Ansammlung bizarrer Gestalten, die sich zwischen den Wirren der oberen Ebenen ihre eigenen Gemächer eingerichtet hatten. Ihre Verdorbenheiten traten nur nach einer Websitzung zutage, wenn die seelische Erschütterung ihren jeweiligen Wahn auslöste, der sich so unterschiedlich und abstoßend äußern konnte, wie die Vorstellungskraft es nur zuließ. Die Weber waren stets darauf bedacht, das wahre Ausmaß des Schadens zu verbergen, indem sie die schlimmsten Opferfälle in ihre Gebirgskloster verbannten; hier jedoch war der unerbittliche und Furcht einflößende Verfall ihrer Geisteszustände erschreckend offenkundig. Zumindest, dachte Avun, hatte die Hungersnot jenen Webern, die gerne töteten oder vergewaltigten, reichlich Opfer beschert. Er versuchte, nach Möglichkeit nicht seine ausgebildete Dienerschaft zu vergeu73 den. Stattdessen griff er lieber auf Bauern oder Stadtpöbel zurück. Dennoch hatte allein die Notwendigkeit, sich durch dieses Irrenhaus zu kämpfen, um die Launen der Weber zu befriedigen, bereits zahlreiche Opfer von der Dienerschaft gefordert. Anscheinend galt Kakres Schutzerlass nur für Avun, während jeder andere zur Jagd freigegeben war. Die Sonnenkammer war einst wunderschön gewesen. Das Dach bildete eine Kuppel in verblassten Gold- und Grüntönen. Blütenblattförmige Fenster verliefen entlang des Umrisses vom prächtigen Schlussstein nach unten. In Saramyr stieß man an sich schon selten auf Glas in Fenstern, doch in diesem Fall handelte es sich um prunkvolle Anfertigungen aus vielen verschiedenen Farben, die das Licht von Nukis Auge in vergangenen Tagen eingefangen und auf das riesige, runde Mosaik auf dem Boden geworfen hatten. Nun war das Licht schwach, düster und stumpf, und das, worauf es schien, weckte in Avun den Wunsch nach Dunkelheit. Kakre hatte die Sonnenkammer für sich beansprucht und mit den Ergüssen seiner Kunst geschmückt. Auf den drei Galerien aus Holz und Gold, auf denen in längst vergangenen Zeiten Ratsmitglieder gestanden hatten, um einem Redner zu lauschen oder sich eine Aufführung anzusehen, verbargen sich nun in der Düsternis missgebildete und bestürzende Schemen. Avun versuchte, jeden Gedanken an sie zu vertreiben. Hierher begab sich Kakre, um einige der Grauen erregenden Kunstwerke auszustellen, die er in seinen Gemächern angefertigt hatte. Jedes Stück war in Häute gehüllt, die Kakre Männern, Frauen und Tieren zu entnehmen pflegte, während sie noch lebten. Hier hatte er die Ergebnisse wie eine Zuhörerschaft angeordnet. Seit Avuns letztem Besuch waren sie umgestellt worden, und unterbewusst suchte er nach den Formen, die sich am tiefsten in sein Gedächtnis eingebrannt hatten: die gebückte Gestalt, deren linken Seite aus der Haut eines Mannes und deren rech74 ten Seite aus jener einer Frau zusammengeflickt war; das schwingenbewehrte Wesen, dessen Federn aus gegerbten, ledrigen Sehnen bestanden; der kreischende Mann, aus dessen offen stehendem Mund ein anderes
Gesicht lugte. Auch Tiere und Vögel gab es, außerdem andere nicht menschenähnliche Formen und mit Hautflicken bespannte Rahmen. Folter, Schmerz und Grauen waren in diesem Raum derart dicht gebündelt, dass selbst ein so kalter Mensch wie Avun es nicht ertragen konnte, darüber nachzudenken. Die gedämpften Schreie der Weber in den umliegenden Kammern verstörten ihn nur noch mehr. Selbstverständlich war Webfürst Kakre zugegen. Er schien in eine Art Dämmerzustand verfallen und stand reglos etwas außerhalb der Mitte des Mosaiks, das den Boden bedeckte. Leise näherte Avun sich ihm und achtete dabei auf jegliche Anzeichen einer plötzlichen Bewegung. Er hatte gelernt, sich im Umfeld des Webfürsten vorsichtig zu verhalten. Kakres Geisteszustand hatte in den vergangenen Monaten einen gefährlichen Verfall erfahren, und Avon wusste nie so recht, wo er dieser Tage in der Gunst seines Herrn stand. Er musterte die gebückte Gestalt vor sich. Wie alle seiner Art war auch der Webfürst in schwere, zerlumpte Gewänder gekleidet, die aus Fell- und Hautfetzen zusammengeflickt und mit Zierwerk behangen waren: Fingerknochenketten, Haarstränge und dergleichen. Die weite Kapuze verhüllte zum Teil die gespenstische Leichenfratze, die seine wahre Maske darstellte und das noch Grauen erregendere Gesicht darunter verbarg. Avun hatte Kakres echtes Antlitz noch nie gesehen und wünschte, es möge dabei bleiben. »Kakre?«, sprach er ihn an. Der Weber zuckte leicht, dann wandte er die Totenfratze langsam dem Regenten zu. »Ihr seid gekommen«, schnaufte er mit leicht wirrem Tonfall. Avun fragte sich, ob er Kakre wohl gerade bei einer Websitzung gestört hatte. 75 »Ihr wolltet mich sehen«, erinnerte ihn Avun. Kakre wartete etwas zu lange, dann schüttelte er sich und löste sich aus der Benommenheit. »Ganz recht«, bestätigte er überzeugter. »Die Feyakori sind wieder bereit. Wie lautet Euer Rat?« Avun betrachtete Kakre mit seinen schläfrig wirkenden Augen. Hinter Avuns teilnahmslosem Gesichtsausdruck verbarg sich ein gewissenloser Verstand. Mit seiner hageren Gestalt und dem kahler werdenden Schädel sah er nicht im Geringsten wie der bedeutendste Nicht-Weber in Axekami aus, aber die äußere Erscheinung konnte bisweilen trügerisch sein. Er hatte die Wirren des Umsturzes durch die Weber genützt, um Koli zum einzigen Adelsgeschlecht zu machen, das Oberwasser behielt, während alle anderen untergingen. Außerdem war es ihm binnen kurzer Zeit gelungen, sich von einer bloßen Galionsfigur für die Weber - dem menschlichen Gesicht ihrer Herrschaft - zu einem unschätzbar wertvollen Verbündeten für sie emporzuarbeiten. »Zila«, sagte er. »Zila?«, wiederholte Kakre zweifelnd. »Warum nicht zuschlagen? Warum nicht geradewegs ihren Kern, Saraku, angreifen?« »Der Feind erwartet, dass Ihr vorrückt und versucht, die Sasako-Brücke zu erobern, um von Juraka aus in sein Kerngebiet vorzudringen. Lasst das sein. Zeigt ihm lieber, dass wir ihn entlang seiner gesamten Front bedrängen können. Dadurch wird er gezwungen, seine Armeen zu teilen, ohne zu wissen, wo der nächste Angriff erfolgt. Greift Zila mit den Feyakori an, nehmt die Stadt in Besitz und befestigt sie.« »Wozu soll das gut sein?«, fragte Kakre ungeduldig. »Sollen wir ihnen eine Stadt nach der anderen abspenstig machen?« »Krieg führt man nicht mit einem einzigen, überstürzten Sturmlauf, Kakre«, erklärte Avun. »Eigentlich habt Ihr Euch das doch schon selbst bewiesen. Erinnert Ihr Euch an die frü76 hen Tage, Kakre? An jenen ersten Rundumschlag quer übers Land nach der Eroberung Axekamis? Eure einzige Strategie bestand darin, Euren Zielen so viele Truppen wie möglich entgegenzuschleudern, weil Ihr Eure Zahlen unerschöpflich gewähnt habt. Und Ihr wurdet immer wieder von Streitkräften zurückgeschlagen, die kaum ein Zehntel Eurer Größe besaßen. Weil sie mit Taktik arbeiteten. Sie wussten, wie man Kriege führt.« Avun zog eine Augenbraue hoch. »Genau wie ich.« Er konnte den Hass in Kakres Glaren hinter den schattenumwölkten Augen der Maske fühlen. Ab und an war es notwendig, die Weber an seinen Wert zu erinnern, damit sie ihn nicht vergaßen, doch es war stets ein heikles Unterfangen. Kakre neigte dazu, die Beherrschung zu verlieren, was für Avun im Regelfall schmerzliche Folgen hatte. »Schildert mir die Einzelheiten«, forderte Kakre ihn schließlich auf, und Avun spürte, wie sich die Spannung in seiner Brust ein wenig löste. Er begann, Kakre das Vorhaben zu erklären. Indem er sich Truppenstandorte und Armeegrößen aus dem Gedächtnis abrief, legte er seinem Herrn den Plan dar. Und so er vor langer Zeit ansatzweise Schuld verspürt haben mochte, weil er seine Mitmenschen auf diese Weise verriet, war er inzwischen bar jeder solchen Empfindung. Der Beginn des Krieges war nicht ganz so verlaufen, wie die Weber es sich gewünscht hatten. Sie waren von einem völligen Zusammenbruch des Kaiserreichs ausgegangen, der es ihnen ermöglicht hätte, den ungeordneten Widerstand mit ihren selbstmörderischen Soldaten zu überrennen. Doch sie hatten nichts von den Ordensschwestern gewusst. Da der Rote Orden sich in die von den Webern hinterlassene Lücke gefügt hatte, um die Adeligen vor dem Einfluss der Weber zu beschützen, hatten die hohen Familien einen unerwartet wirkungsvollen Widerstand auf die Beine gestellt. Nur allzu bald erkannten sie, dass ihr Feind keine Ahnung von militärischen Strategien hatte, was sie sich hinlänglich zunutze machten. Zahlenmäßig 77
mochten die Weber im Vorteil sein, doch die geschickten Generäle des Kaiserreichs, die sowohl Wissen als auch Erfahrung in der hehren Kunst des Krieges besaßen, ließen sie jede errungene Meile teuer bezahlen. Nach einer Weile wurde offensichtlich, dass selbst die scheinbar unerschöpflichen Armeen der Weber derartige Verluste nicht zu verkraften vermochten, und das Kaiserreich begann seinerseits einen Gegenangriff. An der Stelle trat Avun auf den Plan, um seine Dienste feilzubieten. Die Weber waren alles andere als Generäle: Sie waren launenhaft, die meisten taumelten an der Grenze zum Wahnsinn, und sie kümmerten sich nicht um Geschichte, weshalb sie daraus nichts gelernt hatten. Avun hingegen war scharfsinnig und gewitzt. Unter seiner Anleitung wirkten die Armeen der Weber schlagartig wirkungsvoller, und der Gegenangriff des Kaiserreichs wurde zum Stillstand gebracht. Doch zu jenem Zeitpunkt war der Vorteil verloren gewesen. Die Streitkräfte des Kaiserreichs hatten sich in die Südlichen Präfekturen zurückgezogen, die sie hartnäckig verteidigten. Infolge des durch die Unfähigkeit der Weber angerichteten Schadens und der riesigen Gebiete, die nunmehr besetzt gehalten werden mussten, waren die Ausgebürtigenarmeen aufs Äußerste beansprucht, und es würde Jahre dauern, bis die Zuchtprogramme die Verluste wettmachten. Die Zeit war gleichermaßen ihr Verbündeter und Gegner, denn einerseits wurden die Weber durch jeden freigelegten Hexenstein stärker, andererseits spürten sie durch jeden die Geißel deutlicher, die ihre Ernten vernichtete. Die Weber waren ungeduldig. Sie fürchteten, ihre Armeen könnten verhungern. Diese Sorge konnte Avun nachvollziehen. Was er hingegen nicht verstehen konnte, war das Ziel, dem der Wahnsinn der Weber zugrunde lag. Mit Eroberungsdrang konnte er sich durchaus anfreunden. Für den Durst nach Macht durch Masken und Hexensteine brachte er Verständnis auf. Aber die Hexensteine verursachten die Geißel. So 78 lange Zeit war es ein Geheimnis gewesen, doch mittlerweile musste man stockblind sein, um den Zusammenhang nicht zu erkennen. Was nützte den Webern ein verseuchtes Land? Schließlich brauchten sogar sie etwas zu essen. Kakre würde ihm keinen Antworten liefern, davon war Avun überzeugt. Aber was ihn selbst anging: Er würde wie immer -danach trachten, sich und seiner Familie einen Vorteil zu sichern, und solange er Regent war, hatte er dafür Bewegungsfreiraum. Sollten die übrigen Adeligen ruhig ihren hoffnungslosen Kampf gegen die Flut der Weber fechten. Avun hatte Verrat zu einer Wissenschaft erhoben, und bislang hatte ihm dies nur zum Vorteil gereicht. Wenn die Zeit reif dafür war, würde er auch die Weber verraten. Vorerst jedoch erteilte er mit der ihm eigenen, sanften Stimme Ratschläge, brachte Kakre bei, wie er am besten jene töten konnte, die Avun einst als Verbündete betrachtet hatte, während aus der Ferne das Johlen und Schnattern der Insassen des Irrenhauses zu ihnen drang. Er fand seine Gemahlin in ihren Gemächern vor. Sie verließ diese Kammern nie. Muraki tu Koli war still, blass und zierlich, ein eleganter Geist, dessen Stimme selten über ein Flüstern anschwoll. Ihr langes, schwarzes Haar hing in einem schmucklosen Mittelscheitel zu beiden Seiten ihres Gesichts herab; sie trug ein besticktes, fliederfarbenes Kleid und weiche, schwarze Pantoffeln, weil sie das Geräusch nicht mochte, das Schuhe auf den harten Lachböden der Kaiserlichen Feste verursachten. Als Avun den Raum betrat, kratzte sie mit einem Federkiel Zeichenketten auf eine Schriftrolle. Sie schien Avun nicht zu bemerken. Muraki verlebte einen Großteil ihrer Zeit im Reich ihrer Gedanken, und wenn sie sich dort aufhielt, war es so, als gäbe es die wahre Welt nicht. 79 Vor langer Zeit hatte sie ihm einmal anvertraut, dass sie in jenem Zustand der Wirklichkeitsflucht nicht zu sagen vermochte, was ihre Hände taten. Sie schrieben die Worte ohne ihr Zutun, ganz so, als wäre sie lediglich ein Werkzeug, durch das andere sprachen. Avun hatte gar nicht erst vorgegeben, sie zu verstehen. Damals hatte er die Gabe seiner Gemahlin noch bewundert. Nun erzürnte sie ihn. Muraki nützte sie als Zuflucht und weigerte sich in zunehmendem Maße, daraus zurückzukehren. »Läuft es gut?«, erkundigte er sich über ihr Schaffen. Wovon es handelte, brauchte er nicht zu fragen. Es war ein Buch über Nidajan. Das war es immer. Sie schenkte der Frage keine Beachtung, bis sie eine Zeile fertig geschrieben hatte. Dann legte sie den Federkiel beiseite und blickte ihn durch den Vorhang ihres Haars flüchtig an. »Läuft es gut?«, erkundige er sich erneut. Sie nickte nur. Avun seufzte und nahm auf der nächstbesten Sitzgelegenheit Platz. Ihr Schreibzimmer war klein, stickig und laternenbeleuchtet. Es gab keine Fenster nach draußen, nur kleine Zierteilungen oben an der Wand, die für ein wenig Luftzug sorgten. Somit stellte es das genaue Gegenteil jener offenen und sonnigen Orte dar, in denen sie gerne arbeitete. Muraki hasste diesen Raum, und es widerstrebte ihr zutiefst, hier zu schreiben. Avun wusste es, und sie wusste, dass er es wusste. Sie geißelte sich als Zeichen ihres Unmuts darüber, dass sie gezwungen wurde, in Axekami zu bleiben, obwohl sie zu Hause in der Mataxa-Bucht sein wollte. Avun musterte sie eine Weile. Sie sah ihn nicht an, sondern starrte in die Ferne. »Bist du sicher, dass du dich in einem größeren Raum nicht wohler fühlen würdest?«, fragte er gedehnt. »Mir bekommt die Luft hier nicht«, gab sie leise zurück. »Ist dein Treffen mit Kakre gut verlaufen?« 80
Erfreut darüber, einen Gegenstand der Unterhaltung gefunden zu haben, berichtete er ihr, worüber gesprochen worden war. Im Allgemeinen kümmerte Muraki wenig, was er tat, doch zumindest konnten sie über Politik miteinander reden. Besser gesagt, er konnte vor ihr darüber reden; zurück kam von ihr nie etwas. Aber immerhin hörte sie zu. Das war besser als gar nichts. Schließlich erschöpfte sich dieser Gesprächsstoff, und da Avun das Gefühl hatte, dass die Unterhaltung außergewöhnlich gut verlief, ging er zu einem anderen Thema über. »So kann das nicht weitergehen, Muraki«, sagte er. »Warum bist du nur so unglücklich?« »Ich bin nicht unglücklich«, flüsterte sie. »Du bist seit zehn Jahren unglücklich!« Sie schwieg. Ihm zwei Mal hintereinander zu widersprechen war zu viel für sie, außerdem log sie ohnehin unverhohlen. Avun wusste haargenau, weshalb sie unglücklich war, und er wollte sie in einen Meinungsaustausch verwickeln. Sie mochte keine Konfrontationen. »Was kann ich bloß tun?«, fragte er schließlich, als er einsah, dass sie den Köder nicht schlucken würde. »Du kannst mich in die Mataxa-Bucht zurückkehren lassen«, gab sie zurück und begegnete endlich seinem Blick. Dann wandte sie die Augen wieder ab und starrte eindringlich auf das Papier vor ihr, wohl weil sie fürchtete, zu weit gegangen zu sein. Doch Avun war kaltblütig wie eine Echse und schwer zu erzürnen. »Du weißt, dass ich das nicht kann«, entgegnete er. »Du wärst dort in Gefahr. Schließlich bist du die Gemahlin des Regenten. Es gibt viele, die dich töten oder entführen könnten, um dich als Druckmittel gegen mich zu verwenden.« »Wärst du denn wegen mir überhaupt bereit zu verhandeln?«, murmelte sie. »Wenn man mich gefangen nähme?« »Selbstverständlich. Du bist meine Frau.« 81 »Das stimmt«, pflichtete sie ihm bei. »Aber wir lieben uns nicht.« Mit halb von ihrem Haar verborgenem Gesicht blickte sie ihn wieder an. »Würdest du für mich etwas opfern?« »Gewiss doch«, bestätigte er erneut. »Warum?« Avun bedachte sie mit einem seltsamen Blick. Er konnte nicht begreifen, weshalb es ihr so schwer fiel, das zu verstehen. »Weil du meine Frau bist«, wiederholte er. Muraki gab es auf. Sie hatte längst eingesehen, dass Avuns Anschauungen über Ehe und Vaterschaft nichts mit tieferen Gefühlen zu tun hatten. Ihr eigener Bund war, wie so viele andere in der feinen Gesellschaft Saramyrs, wegen eines politischen Vorteils zustande gekommen. Zu Beginn hatte eine gewisse Anziehungskraft zwischen ihnen bestanden, doch dieser Funke war längst erloschen, und seither waren sie praktisch Fremde füreinander. Dennoch war eine Auflösung der Ehe selbst jetzt, da der politische Vorteil bedeutungslos geworden war, weil sich die Höfe des Kaiserreichs aufgelöst hatten, ganz und gar undenkbar. Sie würde nicht darum ersuchen, und er würde sich dagegen verwehren. Für ihn käme es einer Schande gleich, einem Versagen seinerseits. Aus demselben Grund weigerte er sich nach wie vor, Mishani vom Geblüt Koli loszusagen, obwohl es schon so lange zurücklag, dass er sie vertrieben hatte. Einerseits wollte er die Ehrlosigkeit einer eigenwilligen Tochter nicht eingestehen, andererseits würde er sich um keinen Preis mit ihr versöhnen. »Ich schreibe«, erklärte Muraki nach einer Weile. »Bitte lass mich zu Ende arbeiten.« Avun nahm die Entlassung mutlos zur Kenntnis. Er erhob sich und stapfte zum Eingang. Dort hielt er inne und schaute zu seiner Gemahlin zurück, die den Federkiel bereits mit frischer Tinte benetzte. »Wirst du denn jemals fertig werden?«, fragte er. 82 Aber sie hatte schon wieder begonnen, ihre ordentlichen Schriftzeichenreihen zu kritzeln, und antwortete nicht. Über sechshundert Meilen südöstlich las Mishani hoch droben im Tchamil-Gebirge die Worte ihrer Mutter. Eingehüllt in einen dicken Wollmantel hockte sie geschützt im Windschatten eines Felsens, während ihr die Brise das Haar über das Gesicht wehte. Für die Reise hatte sie es zu einem mit blauen Lederstreifen gesicherten Zopf geflochten, aber ein paar widerspenstige Strähnen hatten sich daraus befreit und peinigten sie nun. Mishani wischte sie hinter die Ohren zurück; sie lösten sich und kehrten wieder. Asara fütterte in der Nähe die Manxthwa, während die anderen zur Jagd aufgebrochen waren. Die mächtigen Tiere drängten sich um ihre Maulbeutel, stupsten Asara dabei mit den Köpfen an. Mishani war überrascht, sie ob der Ungeduld der Manxthwa lachen zu hören, und sie schaute von ihrem Buch auf, als Asara eines der Tiere verspielt schalt. Mishani lächelte. Durch ihre lang gezogenen, affenähnlichen Gesichterwirkten Manxthwa trauervoll und weise, tatsächlich jedoch waren sie unterwürfig und dumm. Verständnislos glotzten sie Asara an, ehe sie erneut begannen, sie zu stupsen. Die Manxthwa hatten sie aus Muia über die felsigen Pfade der Wüste und hinauf in die Berge getragen. An der Schulter ragten sie über zwei Meter hoch auf, waren unglaublich stark und unermüdlich, besaßen ein zottiges, orangefarbenes Fell und rückwärts geknickte Knie. Seit sie nach Saramyr eingeführt worden waren, hatten sie sich in Tchom Rin zum beliebtesten Reit- und Lasttier entwickelt. Ihre breiten, geteilten schwarzen Spatelhufe kamen mit ebenem und holprigem Gelände gleichermaßen mühelos zurecht und verteilten das Gewicht der Manxthwa so gut, dass die Tiere sogar auf Dünen laufen konnten; ursprünglich stammten sie aus den schnee-
83 bedeckten Höhen der arktischen Eiswüsten, wo der Untergrund nachgiebig und tückisch war. Sie waren zwar langsam, aber beweglich genug für schmale Pässe, konnten tagelang ohne Rast laufen, solange sie häufig gefüttert wurden, und überlebten trotz ihres dichten Fells selbst größte Hitze unbeschwert. Nachdem Asara alle Maulbeutel angebracht hatte, setzte sie sich neben Mishani und begann, in ihrem Bündel zu wühlen. Sie trug Pelze, denn in dieser Höhe war der Winter selbst in Saramyr kalt. Alsbald holte sie einen kleinen, runden Laib Gewürzbrot hervor, brach ihn entzwei und bot eine Hälfte Mishani an. Mishani legte das Buch beiseite, nahm das Brot dankbar an, und eine Weile aßen die beiden gesellig, wobei sie über die schieferfarbenen Rarste zum südlich aufragenden Ariachtha blickten, dessen Gipfel sich in den Wolken verlor. »Du scheinst mir bester Laune«, stellte Mishani fest. »Genießt du das etwa nicht?«, gab Asara grinsend zurück, wohl wissend, dass Mishani es hasste. Sie war als Adelige geboren, und im Gegensatz zu Kaiku widerstrebte es ihr zutiefst, auf die Annehmlichkeiten ihres Ranges verzichten zu müssen. »Ich wüsste bessere Möglichkeiten zum Zeitvertreib. Aber du scheinst über die Reise froh zu sein.« Asara legte sich auf den Felsen zurück und biss von dem Gewürzbrot ab, in das gehackte Früchte gebacken waren. »Ich denke, ich bin zu lange in der Wüste gewesen«, meinte sie. »Hin und wieder brauche ich ein wenig Gefahr. Wenn du erst neunzig Ernten bist, Mishani, wirst du selbst feststellen, wie stumpf etwas werden kann, das man früher als Nervenkitzel empfand; Gefahr hingegen ist ein Rausch, der seine Wirkung nie verliert.« Mishani bedachte sie mit einem merkwürdigen Blick. Diese überschwängliche Art passte überhaupt nicht zu Asara. Sonst mied sie es tunlichst, ihre ausgebürtigen Fähigkeiten zu erwähnen, selbst jenen gegenüber, die darüber Bescheid wuss84 ten. »Mögen die Götter mir gewähren, dass ich überhaupt neunzig Ernten alt werde«, gab sie zurück. »Trotzdem, bislang hatten wir Glück. Unsere Führer haben uns von Ärger ferngehalten. Vielleicht gelingt es uns sogar, die Berge ohne unerfreulichen Zwischenfall zu überqueren.« »Das Tchamil-Gebirge ist ein riesiges Gebiet, und ich glaube, es sind nicht so viele Ausgeburten unterwegs, wie die Weber uns gern glauben machen wollen«, erwiderte Asara. »Aber ich dachte mehr an die Gefahr an unserem Ziel.« »Das kann unmöglich der einzige Grund sein, weshalb du mich begleiten wolltest«, entgegnete Mishani. »In der Wüste gibt es Gefahren zuhauf.« Asara warf ihr ein süßsaures Lächeln zu. »Es ist nicht der einzige Grund«, räumte sie ein, fügte jedoch nichts hinzu. Mishani war klug genug, nicht nachzubohren. Asara war äußerst geschickt darin, Geheimnisse zu bewahren. »Gefällt dir mein Geschenk?«, fragte sie unvermittelt. Mishani hob das Buch wieder auf und drehte es in der Hand. »Es ist eigenartig ...«, setzte sie an. »Eigenartig?« Mishani nickte. »Die Bücher meiner Mutter ... hast du je eines gelesen?« »Eins oder zwei ihrer früheren Werke«, antwortete Asara. »Sie ist sehr begabt.« »Ihr Stil hat sich verändert«, fuhr Mishani fort. »Zum einen schreibt sie jetzt wesentlich kürzere Geschichten und lässt sie schneller drucken, so dass ein neues Nidajan-Buch alle paar Monate erscheint. Aber es ist nicht nur das ...« »Ich habe gehört, sie seien seit deiner Meinungsverschiedenheit mit deinem Vater wesentlich schwermütiger geworden«, warf Asara ein. »Raum jemand zweifelt daran, dass sie ihren Kummer über deine Abwesenheit zum Ausdruck bringt.« Plötzlich fühlte Mishani, dass ihr Tränen in die Augen stie85 gen, und sie rang sie unwillkürlich zurück. Ihre Ausbildung am Kaiserlichen Hof saß zu tief in ihr verankert, um ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. »Nidajan hat sich der Poesie zugewandt, um sein Gefühl des Verlustes bei der Suche nach seinem verschollenen Sohn auszudrücken. Aber die Gedichte sind grässlich und teilweise widersinnig. Gedichte waren zwar nie ihre Stärke, aber das ist nun wirklich haarsträubend.« Abermals drehte sie das Buch, als könnte sie aus einem anderen Blickwinkel Antworten finden. »Und die Bücher wirken ... überhastet. Früher nahm sie sich so viel Zeit dafür, gestaltete jeden einzelnen Satz erlesen. Jetzt sind sie im Vergleich dazu übereilt und planlos geschrieben.« Nachdenklich kaute Asara ihr Gewürzbrot. »Du denkst, es spiegelt ihre Lage«, stellte sie fest. »Als du fortgegangen bist, wurde ihr Stil traurig. Jetzt hat er sich wieder geändert, aber du weißt nicht weshalb.« Sie holte eine Flasche wärmenden Wein hervor und schenkte einen Becher voll für Mishani ein, die ihn dankbar entgegennahm. »Ich fürchte, ihr widerfährt etwas Entsetzliches«, gestand Mishani. »Und sie ist so weit weg.« Asara setzte sich wieder neben Mishani. »Darf ich dir einen Rat anbieten?« Mishani empfand es zwar als ungewöhnlich, dass Asara sich dermaßen freundlich zeigte, doch sie sah keinen Grund, einen gut gemeinten Rat abzulehnen. »Nütze die Weisheit von jemandem, der schon viel länger auf dieser Welt wandelt als du«, sprach Asara. »Such
nicht immer nach Ursache und Wirkung. Womöglich geben die Worte deiner Mutter gar nicht wider, wie es in ihrem Herzen aussieht. Verzeih, wenn ich das so sage, aber du kannst ihr nicht helfen. Sie ist die Frau des einflussreichsten Mannes in ganz Saramyr. Es gibt rein gar nichts, was du tun kannst.« »Gerade das quält mich ja so«, gab Mishani zurück. »Aber du 86 hast Recht. Vielleicht zerbreche ich mir den Kopf über gar nichts.« Asara wollte gerade noch etwas erwidern, als ihnen der Wind die Geräusche von knirschenden Stiefeln und Stimmen zutrug, die die Rückkehr der Wachen und Führer ankündigten, mit denen gemeinsam sie die Berge überquerten. »Sei frohen Mutes«, riet Asara ihr, als sie aufstand. »In ein paar Wochen bist du wahrscheinlich wieder bei deinen Freunden. Das ist doch etwas, worauf du dich freuen kannst, oder?« Dann ging sie den Männern entgegen. Mishani schaute ihr nach. Sie traute Asara keinen Fingerbreit über den Weg und fragte sich, was sie im Westen wollte. Nach allem, was sie über Asaras Vergangenheit wusste, hegte sie den unangenehmen Verdacht, dass es wohl mit Kaiku zu tun haben musste. 87 sieben Die Ausgangssperre in Axekami wurde durch ein wehklagendes Geheul aus der Kaiserlichen Feste angekündigt, bei dem sich die Haare sträubten und das Blut in den Adern gerann. Seine Herkunft sorgte unter den Menschen der Stadt für allerlei grausige Mutmaßungen. Einige meinten, es sei der Ruf eines gepeinigten Geistes, den die Weber in einem der Türme gefangen hielten; andere vertraten die Ansicht, es stamme von einer dämonischen Gerätschaft, die verwendet wurde, um die Ausgeburten aus ihrem Schlummer zu wecken und bei Tagesanbruch zurückzurufen. Doch wie die Wahrheit auch aussehen mochte, Einigkeit bestand darin, dass es entsetzlich war. Nach Beginn der Ausgangssperre wurde jeder, den man auf der Straße antraf und der kein Mitglied der Schwarzen Wachen, kein Nexus oder kein Weber war, ohne Federlesens getötet. Bei den ausgebürtigen Raubtieren gab es kein Erklären, kein Flehen um Milde. Sie griffen sofort an. Juto zog die Riemen an seinen Stiefeln fest und schaute zu den anderen auf, die am Eingang warteten. Sogar Lon wirkte unruhig. Offensichtlich wünschte er mittlerweile, er hätte den Mund gehalten, dachte Juto. Nur Nomoru schien sich der vorherrschenden Stimmung gänzlich zu entziehen. Sie hockte an einer Wand, überprüfte die Büchse, die sie sich geliehen hatte, und warf dabei gelegentlich finstere Blicke auf die Gruppe. Die Neuankömmlinge waren außerstande gewesen, Waffen in die Stadt zu schmuggeln, daher mussten sie sich mit dem begnügen, was zur Verfügung stand. Worüber Nomoru sichtlich alles andere als erfreut war. 88 Juto stand auf und musterte den bunt zusammen gewürfelten Haufen. Bei den Göttern, er war froh, dass er für all das bezahlt wurde. Vaterlandsliebe, Befreiung, Umwälzung: nur Spielereien für Narren. Nach welchem Plan es einem Menschen auch beliebte vorzugehen, Juto hatte festgestellt, dass nichts so vortrefflich das Rückgrat stärkte wie das liebliche Knistern Kaiserlicher Shirets. Ginge es nicht darum, wäre er damit zufrieden gewesen, sich zu verschalken und den Sturm zu überdauern. Aber er brauchte das Geld, um in diesen harten Zeiten zu überleben, und wenn es etwas gab, woran es den Streitkräften des alten Kaiserreichs nicht mangelte, dann war es Geld. Als einer ihrer besten Auskunftgeber in Axekami verlangte er einen entsprechenden Anteil. Bedauerlich war lediglich, dass er zur Aufrechterhaltung seiner Beschäftigung bisweilen Kopf und Kragen riskieren musste. Sie warteten, bis die letzten Reste von Nukis Licht hinter dem Horizont versanken und der Rauchschleier der Stadt die Straßen in Dunkelheit tauchte. Die Stille draußen wirkte gespenstisch. Keine Schritte hallten, keine Karren quietschten, keine Stimmen waren zu hören. Axekami glich einer Gruft. Um das Schweigen zu brechen, schlug juto vor, dass Lon die Neuankömmlinge auf den letzten Stand der Ereignisse bringen sollte. »Und hör auf, dich so zappelig aufzuführen«, fügte er hinzu. »Schon gut, schon gut«, murrte Lon, während seine Augen rastlos über die Gruppe zuckten. »Kennt ihr alle den Inhalt der Mitteilung, die ich geschickt habe?« »Darum sind wir hier«, antwortete Phaeca. »Allerdings gab es leichte Verwirrung wegen des Verfassers. Für gewöhnlich stammen unsere Auskünfte von Juto.« Juto grinste auf seine abstoßende Art. »Bei dieser Auskunft war Lon sehr bedacht darauf, dass ihm die Anerkennung dafür gebührt«, erklärte er. »Er will ganz sicher gehen, 89 dass ich nicht vergesse, wessen Verdienst es war, wenn das Geld eintrifft.« »Immerhin war ich es, der sie gesehen hat«, begehrte Lon auf. Er drehte sich wieder zu den Schwestern um, als suchte er bei ihnen Zuspruch. »Und ich war es auch, der herausgefunden hat, wo sie leben.« »Wo sie leben}«, hakte Kaiku nach und schaute zu juto. Er nickte. »Dorthin sind wir heute Nacht unterwegs. Raus zu den Rauchgruben.« Kaiku runzelte ob des unvertrauten Ausdrucks die Stirn. »Ihr werdet schon sehen«, versprach Juto lachend. »Du hast gesagt, sie leben dort...?«, half Phaeca Lon auf die Sprünge. »Ich hab sie gesehen. Ich war ganz in der Nähe der Rauchgruben. Sie bringen Dunkelheit; und die verhüllt alles,
sodass man nichts sehen kann, damit sie sich unbeobachtet bewegen können. Damals hat sich diese Dunkelheit über die ganze Stadt ausgebreitet, noch schlimmer als die Finsternis, die wir jetzt haben. Aber ich war nah genug; ich habe gesehen, wie sie in die Gruben gingen. In die Gruben.« »Injuraka gab es keine ... Dunkelheit«, stellte Phaeca, an Kaiku gewandt, fest. Kaiku zuckte mit den Schultern. »In Juraka hätten sie dadurch die eigenen Truppen behindert. Oder vielleicht wollten sie, dass wir sie sehen.« Sie wandte die Aufmerksamkeit Juto zu. »Und dorthin gehen wir? Zu diesen Rauchgruben?« »Sofern ihr keinen besseren Vorschlag habt?«, gab Juto zurück. »Wenn wir überprüfen wollen, ob Lons Auskunft stimmt, müssen wir nahe ran.« »Meine Liebe, ich kann dich so nahe ranbringen, dass du reinspringen kannst, wenn dir danach ist.« Sie ignorierte die Unverfrorenheit. »Sind die Feyakori seit 90 ihrer Rückkehr wieder herausgekommen?«, wollte sie von Lon wissen. Er schüttelte den Kopf und hustete rasselnd in die Faust. Juto lehnte sich aus dem Fenster und schaute auf die Straße hinab. In den Eingeweiden der Häuser brannten ein paar Laternen, draußen jedoch keine einzige. Die Schatten verdichteten sich. »Es ist fast so weit.« Er drehte sich zurück zur Gruppe und schenkte ihr ein weiteres grauenhaftes Lächeln. »Welchen Göttern ihr auch huldigt, betet jetzt zu ihnen und hofft inständig, dass sie euch in Axekami noch hören können.« Die Nacht kam beängstigend dunkel über sie. Da der durch die Stadt wallende Dunstschleier das Mondlicht verhüllte und die Straßen nicht beleuchtet waren, gestaltete es sich schwierig, überhaupt etwas zu sehen. Das einzige karge Licht stammte vom gedämpften Kerzenschein, der aus den Gebäuden des Armenviertels drang. Juto führte sie auf das Flachdach des Hauses, das mit Geröll und Ziegelsteinen übersät war. Dort ließ er sie innehalten, während ihre Augen sich an die Finsternis anpassten. Für die Schwestern vom Roten Orden war dies überflüssig: Ihr Kana veränderte ihre Sicht ohne bewusstes Zutun ihrerseits, bis sie mühelos wie Katzen zu sehen vermochten. Sie warteten, bis die anderen ebenfalls etwas erkennen konnten. Jenseits des Armenviertels sprenkelten winzige Lichtpunkte den Hang des Hügels. Darüber befanden sich die dicht aneinander gereihten Fenster der Kaiserlichen Feste. Beinahe konnte man sich bei diesem Anblick das einstige Axekami vorstellen, doch selbst bei Nacht war der Einfluss der Weber augenscheinlich. Hatte es früher auf den Straßen vor Menschen im Laternenschein gewimmelt, waren sie nun schwarz und still, und überall in der Stadt schillerten die Bauten der 91 Weber im eigenen Betrieb, drang ein rötlicher Schimmer durch Lattenfugen und Öffnungen: das grelle Licht der Öfen. Gleich Wundstellen stachen sie hervor, zornige Lichtkränze, deren Schein die Häuser ringsum erhellte, hinter denen sie verborgen lagen. Die Luft schmeckte nach Metall, war dick vor Fäulnis. Die anderen schien es nicht zu stören, den Schwestern vom Roten Orden hingegen verursachte das Gefühl, ersticken zu müssen, Platzangst. »Ich mache mir Sorgen, Kaiku«, sagte Phaeca leise. »Ich mir auch«, gab Kaiku zurück. »Nein, ich meine ... wegen denen.« Sie deutete mit dem Kopf auf die anderen; Phaeca und Kaiku hatten sich ein wenig von der Gruppe entfernt. »Juto und Lon?« »Und Nomoru.« »Nomoru?« Kaiku klang überrascht. »Warum?« »Irgendetwas ist zwischen ihnen. Etwas, das sie uns nicht preisgeben wollen.« Kaiku war geneigt, ihr zuzustimmen. »Sie waren früher in derselben Bande«, murmelte sie. »Es könnte alles Mögliche sein.« »Sie sind jedenfalls keineswegs erfreut, Nomoru zu sehen.« »Wer freut sich darüber schon?«, gab Kaiku trocken zurück. »Aber Nomoru hat sich freiwillig gemeldet...« »Was ihr ganz und gar nicht ähnlich sieht.« »Genau«, pflichtete Phaeca ihr bei und klopfte sich mit den Fingerspitzen auf den Ballen der anderen Hand. »Die beiden wussten nicht, dass sie kommen würde. Nomoru hingegen wusste sehr wohl, dass Juto und Lon hier sein würden. Zwischen denen hat sich in der Vergangenheit etwas abgespielt. Und es war Nomoru, die beschlossen hat, es auszugraben.« Seufzend rieb sich Kaiku den Nacken. »Wir müssen auf der Hut sein.« 92 »Seid ihr bereit?«, fragte Juto und kam zu ihnen herüber. »Wir brechen besser auf. Der Marsch wird den Großteil der Nacht dauern.« Hinter ihm brachte Lon mit Nomorus Hilfe eine Bohle in Position, legte sie so, dass sie eine Brücke über die schmale Gasse zum nächsten Dach bildete. Juto bemerkte Kaikus Blick und lächelte. »Solange wir eine andere Wahl haben, gehen wir nicht hinunter auf die Straßen. Du hast doch keine Höhenangst, oder?« Lon huschte über die Bohle und sicherte die andere Seite, als die anderen sich dem Übergang näherten. Kaiku
schaute über den Rand auf die verwaiste Gasse hinab. Nichts rührte sich. »Nun mach schon«, zischte Nomoru. Kaiku bedachte sie mit einem verächtlichen Blick und stieg auf die Bohle. Das Brett war dick, fest und so breit, dass sie sich nichts dabei gedacht hätte, darüber zu wandeln, wäre es nicht über einem Abgrund gelegen. Mit behutsamen Schritten überquerte sie die Gasse und schritt an Lon vorbei auf das nächste Dach, das ähnlich flach war. Die anderen folgten ihr ohne Missgeschick, dann hoben Juto und Lon die Bohle auf und gingen damit zur fernen Seite des Daches. »Na also, war doch gar nicht so schlimm, oder?«, grunzte Juto im Vorbeilaufen. »Hier im Armenviertel wissen wir uns immer irgendwie zu helfen.« Auf diese Weise begannen sie, sich um die Westseite des Hügels vorwärts zu bewegen. Jutos Vorbereitungen erwiesen sich als gründlich. Obwohl die meisten Dächer nicht flach, sondern unterschiedlich schräg waren, hatte er einen begehbaren Pfad ausgearbeitet. Die Gebäude des Armenviertels standen so dicht beieinander, dass sie häufig ohne die Bohle über die Gassen springen konnten, und alsbald entdeckten sie andere Leute, die sich genau wie sie verstohlen in der Ferne einen Weg bahnten. Unterwegs erklärte Juto, wie sich diese Art des Reisens 93 gleichsam als Antwort auf die Ausgangssperre entwickelt hatte und dass sie überall im Armenviertel verwendet wurde, dem einzigen Ort in Axekami, in dem es genug Flachdächer dafür gab. »Es ist so etwas wie ein Waffenstillstand«, murmelte er, während sie geräuschlos einen weiteren dunklen, mit verfallenen Katen übersäten Abgrund überwanden. Dort lungerten Leute herum, beobachteten sie. »In diesen Gebäuden leben Menschen, die mir bei Tageslicht die Kehle durchschneiden würden; aber bei Nacht gewähren sie uns freien Durchgang, und unsere Bande tut dasselbe für sie. Wir mögen dreckige Mistkerle sein, aber wir wollen von den Göttern verdammt sein, wenn wir uns von den Webern auf unserem eigenen Hoheitsgebiet einkerkern lassen.« »Hätten wir nicht während des Tages näher zu den Rauchgruben gehen und von dort aus aufbrechen können?«, erkundigte sich Phaeca. »Dann hätten wir keinen so langen Marsch zu bewältigen gehabt.« Nomoru prustete vor Lachen. Jutos Lippen verzogen sich gleichermaßen. »Du kennst das Armenviertel nicht«, erklärte er. »Glaub mir, dieses Dreckloch, in dem wir uns getroffen haben, war der nächstgelegene Ort, an den unsere Bande wohlbehalten gelangen konnte. Die Rauchgruben sind nicht weit davon entfernt; man kommt bloß langsam voran.« Und es wurde noch langsamer, denn mittlerweile tauchten die ausgebürtigen Raubtiere in steigender Zahl auf. Immer häufiger erstarrte Juto wie auf ein Zeichen hin, und sie schlichen zum Rand ihres Dachs oder Balkons vor, erblickten unten die dunkle Gestalt eines die Straße entlanglaufenden Schrillviehs, dessen leises Trällern durch die Nacht zu ihnen empordrang. Schließlich begriff Kaiku, dass die klickenden und klopfenden Laute, die sie für die Geräusche einrastender Bretter gehalten hatte, tatsächlich von den Männern und 94 Frauen erzeugt wurden, die sich auf den Dächern befanden: Sie waren Späher, die sich durch Geheimzeichen miteinander verständigten und einander warnten, wenn Ausgeburten in der Nähe waren. Unwillkürlich empfand sie Erstaunen darüber, dass eine Gruppe von Widersachern sich gegen einen größeren Feind so zusammenschließen konnte. Es war wie in der Schlacht um den Schoß, als das Volk des Xarana-Bruchs sich gegen die Armee der Ausgeburten zusammengetan hatte. Vielleicht irrte sich Juto; vielleicht gab es doch Hoffnung auf einen Aufstand, wenn die Bewohner des Armenviertels bereit wären, ihre Meinungsverschiedenheiten außer Acht zu lassen und sich gegen ihre neuen Gewaltherrscher aufzulehnen. Endlich gelangten sie zu der großen Durchzugsstraße, die den Westrand des Armenviertels darstellte. Sie ruhten sich auf dem Dach aus und schauten über die breite Straße, die einem Strom tiefer Schatten glich, der sie von den wohlhabenderen Vierteln auf der gegenüberliegenden Seite trennte. »Das war der einfache Teil«, meinte Juto und kauerte sich dicht zu ihnen. »Von hier an müssen wir durch die Straßen. Wir müssen schnell und leise sein; und feuert eure Büchsen nicht ab, es sei denn, ihr habt gar keine andere Wahl mehr. Verstanden?« »Ist es das dort drüben?«, fragte Phaeca, die westwärts schaute, wo ein dämonischer roter Schimmer in den Himmel leuchtete und Schwaden träge wallenden, dickfeuchten Rauchs von unten erhellte. »So ist es«, bestätigte Juto. »Wir sind ganz nah. Aber es reicht eine einzige Ausgeburt, die uns sieht, und alles ist vorbei. Ihr wisst doch alle über Schrillviecher Bescheid, oder?« »Ortsbestimmung mit Widerhall«, meldete Nomoru sich zu Wort. »Damit können sie sehen, wenn's zu dunkel für ihre Augen ist. Aber nur nach vorn. Nach hinten sind sie blind.« 95 »Wir werden es überwiegend mit Schrillviechern zu tun haben, obwohl auch Skrendel unterwegs sind, und die sind schwierig auszumachen. Sind zwar nicht so gefährlich, aber sie schlagen Radau, wenn sie einen entdecken. Vielleicht sind auch Ghauregs da draußen, bloß sehen die ohne Licht nicht besonders gut. Chichas, Feyns. Verschiedene andere Arten.« Kaiku verspürte eine seltsame Erregung. Tsata und sie hatten damals im Xarana-Bruch unter anderen diesen Kreaturen ihren Namen gegeben; diese Bezeichnungen hier, hunderte Meilen entfernt zu hören, vermittelte ihr
unerklärlicherweise das Gefühl, am falschen Platz zu sein. Flüchtig tauchte sie in Erinnerungen an jenen Tkiurathi ein, mit dem sie eine Weile dieses verwilderte Leben geführt hatte. Irgendwie hatten jene Tage süßer gewirkt. Über eine Reihe wackeliger Leitern und Balkone an der Nordseite des Gebäudes begaben sie sich auf Bodenhöhe hinab, nachdem sie sich vergewissert hatten, dass die Luft auf der Durchzugsstraße rein war. Sobald sie die Straße berührte, spürte Kaiku, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. Plötzlich schienen die Dächer ein sicherer Hafen, den sie nur widerwillig aufgab. Krampfhaft umklammerte sie den Lauf ihrer Büchse, was jedoch kaum Trost spendete, denn so wie ihr Kana war die Büchse eine Waffe, die nur als letzter Ausweg eingesetzt werden durfte. »Bleibt hier«, zischte Nomoru der Gruppe zu. »Ich gehe voraus.« Lon gab einen Laut des Widerspruchs von sich, doch bevor er etwas sagen konnte, packte Juto sie am Arm. »Tust du nicht«, raunte er. »Wir bleiben zusammen.« Mit funkelnden Augen und zorniger Miene schüttelte Nomoru ihn ab. »Ich bin eine Kundschafterin«, herrschte sie ihn an. »Wartet auf mein Zeichen.« Bevor Juto ein weiteres Wort hervorbringen konnte, eilte sie über die Durchzugsstraße und verschwand im schwarzen Schlund einer Gasse. 96 Lon fluchte vor Enttäuschung und Wut. Juto bedeutete den anderen, an die Wand zurückzuweichen, und schlich zur Ecke des Bauwerks, wo er etwas Herannahendes besser sehen konnte. Das Klicken und Klopfen der Späher war hier leiser, dennoch hatte Kaiku den Eindruck, dass Juto den Lauten eindringlich lauschte, die den Aufenthaltsort der durch die Straßen pirschenden Ungeheuer verrieten. Die Zeit verstrich im Takt von Kaikus pochendem Herzschlag. Sie blickte zu Phaeca, die ein mattes Lächeln der Zuversicht zuwege brachte und kurz ihre Hand drückte. Die Nacht war voller flüchtiger Bewegungen: Bald huschten dicht an den Gebäuden Ratten entlang; bald zerbröckelte scheinbar wie von selbst ein Teil einer Mauer zu einem zarten Staubgeriesel; dann fiel von einem Dach ein Stein auf die Straße und ließ sie vor Schreck zusammenzucken. »Das reicht«, brummte Juto. »Sie wird uns schon finden. Es ist zu gefährlich, hier zu bleiben.« Niemand erhob Einwände. Sie huschten aus dem Armenviertel über die Straße, wo sie von den Gassen auf der gegenüberliegenden Seite verschluckt wurden. Sie eilten durch die schmalen Pfade, die zwischen den Hauptstraßen verliefen, hielten an jeder Ecke inne, kauerten sich beim leisesten Anzeichen einer Bewegung in Deckung. Hier war zwar hinter mehr Fenstern Licht zu erkennen, aber da die Läden fest geschlossen waren, drang nur ein winziger Schimmer heraus, um die Nacht zu erhellen. Keine Späher halfen ihnen mehr; nach jeder Ecke konnten sie der schnabelgleichen Schnauze eines Schrillviehs gegenüberstehen. In regelmäßigen Abständen setzten sie ab und lauschten auf das verräterische Trällern, das die Wesen von sich gaben und das sie wenigstens ein paar Lidschläge vorwarnen konnte; doch das schaffte keine Abhilfe gegen die Bedrohung der anderen Ausgeburten, die leiser umherstreiften. Kaiku stellte fest, dass ihre Hände vor Anspannung zitterten. 97 »Zurück! Zurück!«, flüsterte Lon plötzlich, und sie pressten sich gegen die Wand. Sie befanden sich in der Mitte einer langen und schmalen Gasse zwischen Wohnhäusern mit blanken Fassaden, die ohne die einstigen Schreine und Weihgegenstände schmucklos wirkten. Abgestorbene, von der Luft vergiftete Pflanzen baumelten aus Tontöpfen. Ein leises Trillern drang vom Ende der Gasse. Entsetzt schaute Lon in die andere Richtung, doch die nächste Ecke lag zu weit entfernt, um zu rennen. Kaiku spürte, wie ihr Magen sich zusammenzog, und umfasste die Büchse so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. »Hierher!«, zischte Juto, und sie kauerten sich hinter eine Steintreppe, die vom Windfang eines Hauses auf die Straße herabführte. Als Versteck war die Zuflucht unzulänglich; die vier konnten sich kaum richtig dahinter verschanzen. Dann sah Kaiku, was Juto vorhatte. Hinter der Treppe befand sich ein längliches Gitter, das die Öffnung zum Keller des Hauses versperrte. Juto zerrte kräftig daran. Phaeca sog über die Zähne den Atem ein. Sie spähte die Gasse entlang, wo sich die geschmeidige Form eines Schrillviehs gegen die hellere Straße abzeichnete. Das Wesen hielt inne, schwang den Kopf erst in die eine, dann in die andere Richtung, während es überlegte, wohin es gehen sollte. Die wenigen Lidschläge, die es brauchte, um eine Entscheidung zu treffen, waren für die Schwester vom Roten Orden eine blanke Qual; sie betete zu allen Göttern gleichzeitig, das Vieh möge seiner Wege ziehen und sie unbehelligt lassen. Doch sofern die Götter sie gehört hatten, waren sie an jenem Tag boshaft gelaunt. Das Schrillvieh wandte sich in ihre Richtung und setzte sich die Gasse herab in Bewegung. »Es kommt«, warnte Phaeca. Lon fluchte. »Runter mit diesem Gitter!«, drängte er Juto, der ihm zur Antwort einen beleidigenden Fluch entgegenspie. Mittlerweile hatte er es aufgegeben, daran zu ziehen, und rüt98 telte es stattdessen, versuchte, es aus der Verankerung zu lösen. Da das Mauerwerk bröcklig und schwach war, hatte er bereits ein wenig Fortschritt erzielt, trotzdem saß es immer noch fest. »Wie nah?«, murmelte er.
»Nah«, gab Phaeca zurück. » TOenah?«, zischte er. »Keine Ahnung!«, sagte sie. Phaeca war nie gut darin gewesen, Entfernungen zu beurteilen. Kaiku wollte um den Rand der Treppe spähen, aber Lon zog sie nach unten und Phaeca gleich nach. »Es wird euch sehen!« Das Trällern stellte nur das untere Ende der Bandbreite der Rufe des Schrillviehs dar, die von Gegenständen widerhallten, um von Sinnesdrüsen in seiner Kehle aufgenommen und ausgewertet zu werden, ähnlich wie bei Fledermäusen. Die Schwestern vom Roten Orden hatten in der Vergangenheit lebendige Tiere gefangen und eingehend studiert. Juto hatte das Gitter ein wenig herausgelöst, aber noch nicht genug. Das Trällern des Schrillviehs wurde lauter. Er schüttelte das Gitter heftig. Brocken um Brocken fiel Mauerwerk davon ab, rieselten Staub und winzige Kiesel heraus, dennoch steckte es immer noch fest. »Bei den gnädigen Göttern, nun mach schon«, flehte er. Mittlerweile hatte das Schrillvieh sie fast erreicht, sie konnten es so deutlich hören, als stünde es unmittelbar neben ihnen ... Phaeca ergriff Jutos Arm. Dann erstarrten sie alle wie beisammen kauernde Statuen. Einen Herzschlag danach tauchte der Kopf des Schrillviehs auf; der lange Schädel verflachte nach hinten zu einem knochigen Kamm, die nadelscharfen Zähne waren unter dem starren Oberkiefer gebleckt. Langsam bewegte es sich vorwärts, bis die schuppigen, jaguarähnlichen Vorderbeine in Sicht 99 gerieten. Dann hielt es inne, gurrte leise vor sich hin und schaute die Länge der Gasse hinab. Das Wesen befand sich nur wenige Schritte von der Stelle entfernt, an der die Gruppe reglos im Schatten der Treppe kauerte. Sie alle konnten das Heben und Senken seiner Flanken sehen, das Zischen seines Atems hören. Wie gelähmt waren sie, erstarrt durch einen Urinstinkt aus grauer Vorzeit wie Mäuse beim Anblick einer Katze. Es schien nachgerade lächerlich, dass sich das Ungeheuer unmittelbar vor ihnen befand und sich trotzdem noch nicht auf sie gestürzt hatte. Aber es konnte sie nicht sehen. Es war zu dunkel, als dass es sie aus dem Augenwinkel auszumachen vermocht hätte, und seine Schallortung war zu richtungsbezogen, um sie zu entdecken. Zumindest bis es den Kopf drehte. Immer noch rührte es sich nicht. Die unverhältnismäßig großen Sichelklauen der Vorderpfoten klopften leise auf das Kopfsteinpflaster. Verschwinde, drängte Kaiku es stumm. Das Ungetüm war ihnen so nah, dass sie den feucht glitzernden, in seinem Hals verankerten Nexuswurm sehen konnte. Beim Blut des Herzens, hau endlich ab! Sie spürte, dass Lon nach seinem Dolch griff, sich dabei langsam, so langsam bewegte. Kaiku wollte ihm sagen, es bleiben zu lassen, doch sie wagte nicht, ein Geräusch zu verursachen, da sie fürchtete, selbst die Bewegung ihrer Lippen oder das Ausstoßen ihres Atems könnten sich als Zünglein an der Waage erweisen und die Kreatur auf sie hetzen. Ihr Kanawar zum Bersten angespannt, hatte sich in ihr zusammengerollt und war bereit, binnen eines Lidschlags hervorzuschnellen. Dann trottete das Schrillvieh weiter. Kaiku konnte es kaum glauben. Sie schauten ihm nach, wie es den Schwanz hinterher schleifend die Gasse hinauf trabte und an der nächsten Ecke außer Sicht geriet. 100 Mit stotternden Seufzern der Erleichterung erschlafften sie alle. »Ich glaube, dafür schulden wir alle Shintu einen Jahresvorrat an Dankgebeten«, murmelte Phaeca in Anspielung auf die launenhafte Gottheit des Glücks. Lon summte ein Mantra von dermaßen schaurigen Schimpfwörtern vor sich hin, dass sie sogar Kaiku Unbehagen verursachten. Der sichtlich mitgenommene Juto rappelte sich auf die Beine und trat gegen das Gitter, das zu lösen er versucht hatte. Es brach heraus und fiel in den Keller. »Kommt weiter«, knurrte er empört. »Je eher wir diesen von den Göttern verfluchten Ort verlassen, desto eher werde ich bezahlt.« Bald darauf gelangten sie zu den Rauchgruben. Nomoru war immer noch nicht zurückgekehrt, was Kaiku beunruhigte. Zwar mochte sie die sauertöpfische Kundschafterin nicht - so weit Kaiku das beurteilen konnte, mochte niemand sie, wenngleich zwischen ihr und Yugi eine stillschweigende Verbindung zu bestehen schien -, aber sie hatte sich so sehr an sie gewöhnt, dass ihr Verschwinden Kaiku Sorgen bereitete. Phaeca sah es praktischer: Sie hoffte lediglich, dass Nomoru nicht entdeckt worden war und den Feind dadurch gewarnt hatte. Aber die Weber schienen sich mittlerweile ruhig zu verhalten; tatsächlich war ihre Abwesenheit geradezu auffallend, denn als Kaiku und die anderen in der Stadt eingetroffen waren, hatten noch regelmäßig Streifzüge durch das Geweb stattgefunden, um nach Schwestern vom Roten Orden oder sonstigen Ungewöhnlichkeiten Ausschau zu halten; in den letzten paar Stunden war davon nichts mehr zu spüren gewesen. 101
Die Rauchgruben waren in einem leichten Winkel im Hang des Hügels angelegt, und von ihrem Versteck am Rand des Wohnviertels aus konnten die Eindringlinge das gesamte, schreckliche Bild überblicken. Ein breiter Streifen der Stadt war dem Erdboden gleichgemacht worden, um Platz für die Gruben zu schaffen, um die immer noch Geröll verstreut lag; halb eingerissene Mauern, geknickte Balken und aufeinander getürmte oder aneinander gelehnte Metallstreben bildeten bizarre und beunruhigende Gebilde der Zerstörung. Jenseits des Ödlands fand sich Ordnung ein: Die Rauchgruben selbst waren mit tadelloser Genauigkeit angelegt worden. Es handelte sich um zwei nebeneinander angeordnete Ränge konzentrischer Kreise, umgeben von einer Metallwand. Jeder der zu den klaffenden Löchern in der Mitte hin verlaufenden Kreise war tiefer als der vorige abgestuft. Aus den gewaltigen schwarzen Schlünden quoll in mächtigen Säulen wallender, öliger Rauch. Breite, ebene Rampen führten von den inneren Gruben zu den äußeren Rändern. Der rote Schimmer von Ofen drang entlang der Ränge hinter Gittern, Latten und Öffnungen hervor, tünchte die Gruben mit der Farbe schmutzigen Blutes. Der Schein erstreckte sich über ein verrußtes Gewirr von Rohrleitungen. Eine Weile verharrten sie im Schatten des Hauses und spähten prüfend über das von Trümmern übersäte Ödland. Der Schimmer aus den Rauchgruben drängte die Dunkelheit zurück; wenn sie sich auf das offene Gelände hinauswagten, wären sie frei sichtbar. Lon zeigte sich unruhiger denn je zuvor, schaute bald hierhin, bald dorthin, während seine Finger zuckten, als spielte er ein unsichtbares Instrument. Er räusperte sich fortwährend, um ein Husten zu unterdrücken, wodurch er sich gelegentlich verärgerte Blicke von Juto einhandelte. »Da rüber schaffen wir es nie und nimmer«, murmelte er. Dann, gleichsam als Randbemerkung: »Wo steckt diese Schlampebloß?« 102 Kaiku störte es, dass er über eine ihrer Gefährtinnen lästerte, ganz gleich, wie unbeliebt sie sein mochte. »Hältst du wohl die Klappe?«, zischte sie scharf. Er antwortete darauf mit einem grollenden Blick, aber wenigstens war er still. »Wir schaffen das schon«, beschwichtigte Juto, wobei er sich auf Lons erste Bemerkung bezog. »Der Nebel zieht an. Warten wir noch einen Weile.« Juto hatte Recht. Die Luft verdichtete sich tatsächlich, und das Dunkel sank in Schwaden herab, die zu schwer schienen, um sich in höheren Gefilden zu halten. Der schale Geschmack in Kaikus Mund, den sie bereits seit der Ankunft in der Stadt verspürte, wurde noch ausgeprägter, verstärkte sich zu einem ungesunden, metallischen Empfinden. »Das hätten wir schon früher gebrauchen können«, stellte Juto fest. »Geschieht das hier oft? Dieser Nebeleinfall?«, fragte Phaeca. »Ab und an. Nicht oft. Scheint so, als hätten wir Shintu heute Nacht wahrhaftig auf unserer Seite.« Der Schleier senkte sich rasch auf die Straßen, verhüllte die Rauchgruben und verwandelte das Ödland in einen rötlichen Dunst, in dem sich schattige Schemen gleich den Rümpfen schiffbrüchiger Wracks abzeichneten. Auf Jutos Zeichen hin huschten sie in das beunruhigende Licht, rannten geduckt auf einen Haufen aus Geröll und rostigen Eisenstreben zu. Unter dem Knirschen loser Kiesel schlitterten sie in Deckung. Juto prüfte gerade, ob alles klar für den nächsten Abschnitt war, als Lon seinen Arm ergriff. »Wir können nicht weiter«, quengelte er. »Was?«, herrschte Juto ihn an. »Warum nicht?« »Der Nebel. Das sind die Dämonen. Die Dämonen« Mühsam unterdrückte Abscheu zuckte über Jutos Züge. Lon wand sich, seine Augen blickten unruhig hin und her. »Jetzt führ dich nicht auf wie ein Trottel«, knurrte Juto. »Das 103 ist bloß Nebel. Das heißt noch lange nicht, dass er das Werk der Feyakori ist.« »Es sind die Dämonen!«, schrie Lon und verfiel in ein ersticktes Winseln, als Juto ihn am Kragen packte und dichter zu sich zog, sodass sie einander unmittelbar in die Augen starrten. »Es ist bloß Nebel«, raunte er bedrohlich. Kurz verhakten sich ihre Blicke ineinander, dann schaute Lon zu Boden und weg. Juto ließ ihn los. »Du bist derjenige, der den Weg da rein kennt. Also setz dich in Bewegung, oder ich knall dich höchstpersönlich ab.« Damit brach er aus der Deckung hervor und zerrte Lon mit sich. Die beiden Schwestern vom Roten Orden folgten ihnen eng auf den Fersen. Sie preschten durch den dichten, rötlichen Dunstschleier, versteckten sich, sahen sich um und rannten weiter. Einmal erspähte Phaeca einen dunklen, schwerfällig stapfenden Schemen am Rand ihres Blickfelds, eine geisterhafte Erscheinung im Nebel, den sie ohne jeden Zweifel für einen Ghaureg hielt; aber das Wesen tauchte nicht mehr auf. Außerdem hatten sie ohnehin keine andere Wahl als weiterzulaufen. Günstigere Bedingungen für ein Eindringen würden sie niemals vorfinden. Endlich erreichten sie die Mauer der Rauchgruben. Sie ragte aus dem roten Nebel vor ihnen, nahm deutlichere Gestalt an, als sie sich ihr näherten, ein absonderliches Mischgebilde aus Stein und Metallplatten. Mit Lon als Führer rückten sie entlang der Krümmung der Mauer vor, wobei sie mit verkniffenen Augen Ausschau nach ausgebürtigen Wächtern im sich kräuselnden Dunstschleier hielten. Doch das Glück war ihnen abermals hold: Sie erreichten Lons geheimen Eingang, ohne entdeckt zu werden. Es handelte sich um ein quadratisches Loch in der Wand, wo sich eine Platte entweder gelöst hatte oder
herausgerissen worden war. Der Zugang lag hinter einem Haufen aus Schutt und 104 Deckenbalken verborgen. Lon hielt davor an und schaute flehentlich zu Juto. »Es sind die Dämonen«, flüsterte er eindringlich. »Rein da!«, herrschte Juto ihn an. Dann krochen sie alle hindurch in die Rauchgruben. 105 ACHC In den Gruben war der Dunst so schwer, dass Kaiku an sich halten musste, um nicht zu würgen. Ihre Augen tränten und waren blutunterlaufen, ihre Haut kribbelte. Ihr Kana reinigte ihren Körper von den Schadstoffen, die sie einatmete, und sie quollen buchstäblich aus ihren Poren. Nichts hätte sie sich sehnlicher gewünscht, als von diesem Ort zu verschwinden; aber sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen, und nun gab es kein Zurück mehr. Die Stufenränge waren mit riesigen Rohren vernetzt und von Gräben durchzogen. Zwar gestaltete es sich dadurch zu einem schwierigen Unterfangen, sich einen Weg zur Mitte zu bahnen, dafür blieben sie recht gut verborgen, solange sie geduckt liefen. Man konnte ohnehin kaum die nächste Stufe nach unten erkennen, und die Gruben selbst zeichneten sich nur als grellrotes Lodern ab. Sie steuerten auf die rechte Seite einer der Rampen zu, die vom Rand zu dem rauchenden Abgrund führte. Obwohl sie den unmittelbarsten Pfad dargestellt hätte, war sie zu ungeschützt, um sie zu verwenden, und unwillkürlich fragten sie sich, weshalb man die Rampe so glatt und schnörkellos belassen hatte, obwohl jeder andere Teil der Rauchgruben dicht verbaut war. Wie es schien, kannte Lon den Weg, so zögernd er ihn auch einschlug. Er führte sie zwischen rumorenden Öfen hindurch, vor denen die Schwestern vom Roten Orden zurückschreckten; über Metallstufen hinab, die unter ihren Schuhen klirrten; vorbei an sich langsam drehenden Zahnrädern, die bedrohlich knarrten. Kaiku war schon früher in der Nähe von Gerätschaften der Weber gewesen, dennoch drohte der Lärm, sie zu überwältigen. 106 Je tiefer sie hinabstiegen, umso dichter schien der Dunst zu werden. Gleichzeitig schwoll stetig das Gefühl an, dass da ... noch etwas anderes war. Die Schwestern tauschten einen Blick; sie spürten es beide. Lon hatte nicht gelogen - hier hielten sich Dämonen auf. Obwohl sie ihr Kana eng zügelten, war es unmöglich, ihre Anwesenheit im Geweb nicht wahrzunehmen. Als sie sich der Mitte der Grube näherten, wurde das Gefühl immer ausgeprägter; eine gewaltige und kindliche Böswilligkeit, die das menschliche Verständnis überstieg und in den Tiefen vor sich hin brütete. Die Feyakori. »Sie sind hier«, sagte sie leise. »Wie versprochen«, gab juto zurück. Allmählich wurde Phaeca genauso zappelig wie Lon; Kaiku beobachtete aus dem Augenwinkel, wie sie bei jedem Wirbel im Nebel, der die Gestalt eines Feindes erahnen ließ, heftig zusammenzuckte. Trotz ihrer Übelkeit und der Furcht vor ihrer Umgebung war Kaiku erfahrener mit derlei Dingen als Phaeca, deshalb hatte sie sich besser im Griff. »Bleib ruhig, Phaeca«, murmelte sie. »Die Arbeit werde ich übernehmen. Du brauchst mich nur zu verbergen.« »Bei den Göttern, hier stimmt etwas nicht«, gab Phaeca zurück. »Hier stimmt etwas nicht.« »Ich weiß«, antwortete Kaiku. »Lass uns tun, was getan werden muss, und dann schnellstmöglich verschwinden.« Sie kletterten eine Leiter zur untersten Stufe hinab, wo ihre Umgebung sich etwas lichtete. Hier gab es weniger Rohre, nur ein paar klobige Metallkammern ungewissen Zweckes, und jenseits eines Metallbodens war ein Geländer zu erkennen, hinter dem ein tosender Sturm rötlichen Rauchs aufwärts quoll. Das Gebrüll der Öfen entlang der gesamten Innenkante der Grube war ohrenbetäubend. »Ist das nah genug für euren Geschmack?«, rief Juto über den Lärm. Kaiku schaute ihn nur an, würdigte ihn aber keiner Antwort. 107 Dicht gefolgt von Phaeca, ging sie zu dem Geländer und blickte in die Tiefe. Der Rauch brannte scheußlich in ihren Augen. Blinzelnd drehte sie sich zu Phaeca. »Bist du bereit?« Phaeca nickte. »Dann lass uns anfangen.« Sanft wie eine Nadel in Satin tauchten sie gemeinsam in das Geweb. Diesmal war von dem üblichen Hochgefühl, das den Eintritt in das goldene Stickwerk der Wirklichkeit begleitete, wenig zu bemerken. Stattdessen spülte eine frostige Hässlichkeit über die Ordensschwestern hinweg, die von überallher zu dringen schien und das Leuchten der Fäden abschwächte. Die Rauchgrube vor ihnen präsentierte sich als schwarzer Abgrund der Fäulnis, ein Grauen erregendes Gewirr von Fasern, die sogen und siedeten, alles in ihrem Umfeld verhüllten. Hier im Geweb empfanden sie die Gegenwart der Dämonen als noch Furcht einflößender: gewaltige, schlummernde Ungetüme unmittelbar unter der Oberfläche ihres Sichtbereichs. Schlummernd, aber immer weniger tief. Denn nun erkannten die Schwestern, dass ihr wachsendes Gespür nichts damit zu tun hatte, dass sie sich den Feyakori näherten. Es lag vielmehr daran, dass die Dämonen erwachten. »O bei den Göttern«, sprach Phaeca laut aus. ((Bleib bei mir)) kam die wortlos gebildete Antwort über das Geweb. ((Wir haben noch Zeit))
Phaeca blieb trotz ihres Grauens standhaft. Sie knotete das Geweb rings um sie, band sie in dessen Webketten und Stränge ein, dämpfte die leichten Ausstrahlungen ihrer Anwesenheit. Wenn sie etwas über die Dämonen erfahren wollten, würde Kaiku ihr Kana einsetzen müssen, und wenngleich sie darauf bedacht sein würde, so sachte wie möglich dabei vorzugehen, würde es unweigerlich Weber anziehen. Phaecas Aufgabe bestand darin, sie beide zu verschleiern, so gut es ging. 108 Kaiku musste an sich halten, um inmitten des anschwellenden Bewusstseins der Feyakori die Fassung zu bewahren. Ein Teil ihrer selbst grübelte über ihre Situation nach, während sie ihr Kana in die Rauchgrube entsandte. Die Feyakori konnten nicht gewusst haben, dass sie hier waren; nicht einmal, als der Nebel einsetzte, hatten Phaeca und sie ihre Kräfte spürbar eingesetzt. Kaiku weigerte sich zu glauben, dass die Kreaturen aufgrund der Gegenwart der Ordensschwestern erwachten. Sie hielt es für eine Falle und glaubte, die Dämonen hätten trotz allem gewusst, dass sie kommen würden; aber wer sollte eine solche Falle legen? Gewiss nicht Lon, der offenkundig zu Tode verängstigt war, ebenso wenig juto, der in gleich großer Gefahr wie sie alle schwebte, sollten die Dämonen aus den Gruben steigen, bevor sie Zeit hatten zu flüchten. Nomoru ? Kaiku wagte nicht, weiter zu denken. Behutsam senkte sie ihr Bewusstsein in die schmierige Fülle der Rauchgrube, die an ihr klebte, über sie strich und ihr das Gefühl vermittelte, besudelt zu werden. Sie verdrängte das Unbehagen und bündelte die Aufmerksamkeit darauf, die Fäden zu lesen, folgte tausenden gleichzeitig, prägte sich die Ordnung ihrer Bewegungen ein, zerlegte sie, um ihre Zusammensetzung und ihren Zweck zu ergründen. Sie spürte, wie Phaecas Gegenwart ihre Spur hinter ihr mit müheloser Kunstfertigkeit verwischte. Und in den Tiefen spürte sie, dass sich etwas Gewaltiges regte; unwillkürlich betete sie, es möge nur ein Grummeln im Schlummer des Dämons sein. Der aufwallende Qualm in der Rauchgrube war schwer vor Metallen und Giften. Kaiku verfolgte ihn zurück, um seine Quelle aufzuspüren. Sie glitt durch Öffnungen in schwarze, aufgewühlte Rohrleitungen hinab, die sich über die gesamte Stadt erstreckten. Phaeca sandte ihr einen warnenden Hall und wies sie daraufhin, dass sie nicht in der Lage sein würde, Kaiku zu verschleiern, wenn sie ihr Kana so weitläufig verteilte. 109 Kaiku zog sich zurück, beschränkte sich stattdessen auf etwa ein Dutzend Strecken. Unverhofft ärgerte es sie, dass ihre Gefährtin sie zurückgehalten hatte: Kaiku hatte eine Spur, und in ihren Gedanken verfestigte sich ein Verdacht, den sie unbedingt beweisen wollte. Sie folgte dem Qualm zurück in die Fabriken, jenen käferähnlichen Bauten der Weber, in denen Männer schufteten, ohne zu wissen, was sie herstellten. Doch Kaiku sah es. Sie erschufen den Rauch. Er wurde aus den Gebäuden in die Gruben geleitet, in ein dampfbetriebenes Gefüge aus Toren, Öffnungen, Schleusen und Schmelzöfen, die den Druck und die Hitze regelten. Und was in den Rauchgruben endete, war keineswegs gewöhnlicher Rauch. Er gerann. Das Erwachen der Feyakori erfolgte jäh. Kaiku spürte, wie das Geweb sich rings um sie raffte, um die Rauchgrube herum nach innen gesogen wurde, und ein unheilvoller Verstand offenbarte sich so plötzlich, als hätte sich ein Auge geöffnet. Eine Woge der Feindseligkeit spülte über die Schwestern vom Roten Orden. Kaiku schnellte zurück, alle Vorsicht außer Acht lassend. Sie wollte nur noch aus der Rauchgrube flüchten, bevor ihr Kana sich in dem Dämon verfing. Für die Aufmerksamkeit des Dämons war sie so winzig, dass sie nicht sicher sein konnte, ob er sie überhaupt bemerkt hatte; aber was sie vorhatten, war ohnehin klar. Sie mussten verschwinden. Der Qualm in der Grube verdichtete sich zu einem Festkörper, und die Feyakori nahten. Phaeca und sie kehrten im selben Augenblick in die Wirklichkeit zurück. In der Welt menschlicher Wahrnehmung waren höchstens wenige Sekunden verstrichen: Juto und Lon beobachteten sie nach wie vor erwartungsvoll. Mit vom Einsatz ihres Kanas geröteten und vor Schreck weit aufgerissenen 110 Augen wandten die Ordensschwestern sich von dem Geländer ab; im selben Augenblick erhob sich aus der Rauchgrube hinter ihnen ein riesiger Arm aus stinkendem, modrigem Ölschlamm. Kaiku sah das Grauen in den Gesichtern der beiden Männer, spürte das Übelkeit erregende Gewicht der Unvermeidlichkeit, als der Arm sich senkte ... Einige Meter rechts von ihnen schmetterte er auf den Rand der Rauchgrube herab. Kaiku hatte nicht einmal Zeit für Erleichterung darüber, dass er sie verfehlt hatte. Der Drang zu flüchten war übermächtig. Sie hörte das Zischen, als der Dämon auf das Metall tropfte und spritzte, spürte die Gewalt seiner aus der Rauchgrube strömenden Gegenwart. Er kletterte heraus. Juto und Lon hatten sich bereits umgedreht, um die Flucht zu ergreifen, doch im selben Augenblick wie die Schwestern verharrten sie reglos. Jemand versperrte ihnen den Weg. Nomoru. Mit der auf Lon gerichteten Büchse an der Schulter stand sie am Fuß der Leiter zur nächsten Stufe. So dürr und ungepflegt sie auch sein mochte, der hasserfüllte Ausdruck in ihrem Gesicht, den das rötliche Licht noch verstärkte, überzeugte sie davon, dass sie mehr als eine harmlose Bedrohung war. Binnen eines Herzschlags brachte Juto die eigene Büchse in Anschlag und zielte auf die Kundschafterin.
»Was soll das?«, verlangte er zu erfahren. »Nomoru!«, schrie Kaiku. »Wir müssen hier raus!« »Der da nicht«, widersprach sie und deutete mit dem Kopf auf Lon. »Der Rest von euch kann gehen.« Hinter ihnen ertönte aus der Tiefe der Grube ein schauerliches Stöhnen. Der unförmige Armstumpf des Dämons drückte sich zusammen, als er das Gewicht des Körpers aufnahm. In geringer Entfernung zu ihrer Rechten hallte aus der zweiten Rauchgrube ein ähnlich grausiger Ruf zur Antwort. 111 »Beim Blut des Herzens, Nomoru, wir werden hier alle sterben! Erledige das doch später!« »Es wird kein Später geben«, erklärte sie mit stählerner Ruhe in der Stimme, während ihr verfilztes Haar im Luftzug wehte. »Hier wimmelt es vor Webern und Ausgeburten. Und er weiß es.« Sie verengte die Augen zu Schlitzen, als sie Lon anstarte. »Er hat uns verkauft. So wie einst mich.« Grabeskälte breitete sich in Kaiku aus. Lon taumelte, als unvermittelt alle Kraft aus seinen Knien wich. »Dachtest wohl, ich hätt's vergessen, wie?«, rief Nomoru über das Gebrüll der Öfen. »Dachtest, ich wäre zu benebelt vom Wurzelrausch, um es mitzukriegen, was? Du hast mich ihnen ausgeliefert.« »Runter mit dem Schießprügel, Nomoru!«, stieß Juto zwischen knirschenden Zähnen hervor. »Was immer du glaubst, dass er getan hat - wenn du das Ding abfeuerst, bist du tot, bevor er auf dem Boden aufschlägt.« »Hättest wohl nicht gedacht, mich je wieder zu sehen, hm?«, fuhr Nomoru fort, ohne Juto Beachtung zu schenken. Ihre Aufmerksamkeit galt ausschließlich Lon. »Hast nicht damit gerechnet, dass ich zurückkommen würde. Dachtest wohl, du könntest mich loswerden. Zusammen mit all den anderen. Juto eingeschlossen.« »Nomoru ...«, raunte Juto warnend. »Hab das Hemmnis aus meiner Büchse entfernt«, teilte sie Lon mit. »Jetzt feuert sie, ohne zu explodieren und mich zu töten. Wollte nur, dass du es weißt.« »So ist es nicht gewesen!«, gellte Lon. »Sie wollten mich holen! Ich konnte flüchten, aber du warst zu benebelt. Du hattest zu viel geraucht! Ich hab dich nie verkauft.« Phaeca zuckte mit einem spitzen Schrei zusammen, als ein weiterer der mächtigen Arme des Feyakori sich krachend auf die nächste Stufe der Rauchgrube stützte. Sie sahen ihn durch den Dunstschleier als riesenhaften Schemen, der aus dem 112 Boden schwoll, als er den Körper hochzog. Die Lage des näheren Armstumpfs des Dämons ließ erahnen, dass er zu ihrer Rechten herauskletterte. Am Fuß der Rampe, die, wie sie verspätet erkannten, den Weg des Feyakori aus der Grube und zurück darstellte. »Los doch!«, brüllte Phaeca über das Getöse zu Kaiku. »Verschwinden wir!« »Nicht ohne sie«, gab Kaiku zurück, der das Haar ums Gesicht peitschte. »Was kümmert sie dich denn?«, heulte Phaeca auf. »Sie gehört zu uns«, antwortete Kaiku schlicht. »Runter damit!«, brüllte Juto, während Lon erneut versuchte, Nomoru zu erklären, was sich an jenem Tag zugetragen hatte, als sie als Halbwüchsige verschleppt und zu Webfürst Vyrrch gebracht worden war, dem sie tagelang entwischte, bis es ihr schieres Glück ermöglichte, im Zuge der Wirren während Lucias Entführung aus der Kaiserlichen Feste zu fliehen. »Du willst Beweise?«, fragte sie Juto. »Ich musste warten, bis ich Beweise hatte. Hab mich umgesehen. Hier verstecken sich Weber, die auf sein Zeichen warten. Er hat uns an sie verkauft.« »Nein, nein!« Lon wand sich, war den Tränen nahe. »Er hat euch verkauft! Er war's!« Er deutete auf Juto, dessen Gesicht eine hässliche Fratze blanker Wut war. »Du von den Göttern verfluchter Schweinehund! Lügst du etwa, um deine Haut zu retten?« »Er lügt nicht«, verkündete Phaeca. »Was weißt du denn schon, du verdammter weiblicher Weber?«, tobte Juto über die Schulter zurück. »Du bist ein schlechter Lügner. Man sieht es dir an den Augen an«, gab sie zurück. »Er sagt die Wahrheit.« Ein lang gezogener, trostloser Klagelaut drang aus der 113 Rauchgrube, und Metall quietschte, als es das Gewicht des Dämons aufnahm. Nomorus Blick hatte sich zum ersten Mal von Lon gelöst und war nunmehr auf Juto geheftet. Kaiku wagte nicht wegzuschauen, doch sie spürte, wie sich die gewaltige Masse des Feyakori hinter ihr aus der Rauchgrube erhob, und sie roch seinen abscheulichen Gestank. »Du?«, zischte Nomoru. Juto überlegte kurz, dann gelangte er zu dem Schluss, dass es sich nicht mehr lohnte, noch länger zu lügen. »Du wurdest allmählich zu einer Amaxawurzel-Süchtigen, genau wie deine Mutter. Eine Verbindlichkeit. Du warst entbehrlich, und es schadet nie, in der Gunst der Weber zu stehen.« Er grinste. »Und da deine Freundinnen da drüben ihre Kräfte nicht einsetzen können, ohne sich zu verraten, und ihre Büchsen genauso nutzlos sind, wie deine es war, denke ich, dass ich im Vorteil bin.« Damit drückte er den Abzug und schoss. Kaiku verschwendete keinen Gedanken. Die Zeit verlangsamte sich jäh zu einem zähen Kriechen. Noch bevor das Schießpulver gezündet hatte, befand sie sich im Geweb, überwand den Abstand zwischen ihnen, ehe die Kugel das Ende des Laufs verließ, fing das Geschoss ab und zersprengte es, bevor es Nomoru erreichte.
Sie schaffte es mit knapper Not. Die Kugel explodierte wenige Fingerbreit von Nomorus Gesicht entfernt; brennheiße Bruchstücke aus Eisen und Blei flogen ihr auf eine Wange. Der Schuss, der aus Nomorus Büchse abgefeuert worden war, erfuhr keinen solchen Eingriff: Er traf Lon mitten in die Stirn und trat mit einem scharlachroten Sprühregen durch den Hinterkopf wieder aus. Jäh schnellte die Zeit zurück in ihren gewöhnlichen Lauf. Nomoru taumelte rücklings in die Leiter und riss die Hand ans Gesicht, dessen eine Seite einem Blutgeflecht ähnelte. Lon stürzte zu Boden. Juto glotzte entsetzt, konnte nicht begreifen, weshalb sein Ziel noch auf den Beinen stand. Dann, 114 als die Erkenntnis einsetzte, drehte er sich den Schwestern zu. Von oben erscholl ein trauriges Geheul. Phaeca und Kaiku schauten auf, sahen den halb aus der Grube ragenden Feyakori zu ihrer Rechten, eine schleimige Masse in annähernd menschlicher Form mit einer bloßen Ausbuchtung als Kopf, in dem zwei gelbe Kugeln waberten und loderten. Die Augen -die sich mittlerweile auf sie gerichtet hatten. »Bei den Göttern«, flüsterte Phaeca. »Rennt!« Diesmal brauchte niemand eine weitere Aufforderung. Juto stieß Nomoru beiseite, hastete die Leiter hinauf und preschte davon; Nomoru kletterte hinter ihm her und nahm wutentbrannt die Verfolgung auf; die beiden Schwestern vom Roten Orden bildeten die Schlusslichter. Sie rannten geduckt, verbargen sich im Gewirr der Rohre, schienen unter dem fürchterlichen Blick des Dämons zu schrumpfen. Nomoru brüllte Juto nach, der vor ihnen davon sauste; die Kundschafterin sann immer noch auf Rache, scheinbar unbedacht der Gefahr, in der sie alle schwebten. Der Feyakori zerrte die Hinterglieder aus der Rauchgrube, löste sich aus der Säule rötlichen Qualms und richtete sich zu voller Höhe auf, die an den Schultern über zwanzig Meter betrug. Sein Gefährte stieß einen Ruf aus, auf den er antwortete; dann ließ er in einer trägen Bewegung einen gewaltigen Arm herabfegen, um die vier Menschlein zu zermalmen, die vor ihm flohen. Sie spürten ihn kommen, fühlten, wie der Nebel zu beiden Seiten weg gesogen wurde, als der Stumpf auf sie zuflog, und sie stoben auseinander. Nomoru hechtete unter eine riesige Druckkammer, die an eine Metalltonne in einer Halterung erinnerte; die Schwestern pressten sich an eine Rohrreihe; Juto rannte weiter, versuchte, dem Hieb zu entkommen. Der Armstumpf prallte auf, verspritzte seine saure Scheußlichkeit über die Grubenstufe. Er krachte in Öfen, die ob der Gewalt 115 einknickten, ungestüm Dampf und lodernde Schlacke spieen. Aber der Schlag war schlecht gezielt, zumal sie verborgen waren und das Ungetüm nur riet, wo sie sich aufhielten; obwohl Eisen nur wenige Schritte von Kaiku und Phaeca entfernt verbogen und geschmolzen wurde, blieben die beiden unbeschadet. Plötzlich war das Geweb voller Leben und emsigem Treiben. Nomoru hatte Recht gehabt: Es war tatsächlich ein Hinterhalt. Weber befanden sich in unmittelbarer Nähe. Phaeca und Kaiku hatten sie bisher nicht bemerkt, weil sie ihr Kana zügelten und die Weber sich versteckt hielten. Die Schwestern vom Roten Orden verwoben sich mit ihrer Umgebung, trachteten danach, für die Suchenden unsichtbar zu werden; aber Kaikus ausgeprägte Nutzung des Gewebs, um Nomoru zu retten, hatte sie verraten, und sie konnten sich nicht lange verbergen, wenn die Weber die Fährte bereits aufgenommen hatten. Doch über allem schwelte die umfassende und verwirrende Gegenwart der Feyakori, die das Geweb in Unordnung stürzte. Die Dämonen waren zu gewaltig, um sie zu umgehen; sie beeinflussten alles mit überwältigender Kraft, verwirrten die Weber und die Ordensschwestern gleichermaßen. Die Schwestern wagten nicht, sich zu bewegen. Sie spürten, dass der Feyakori nach ihnen suchte wie ein verstimmtes Kind, das nach Ameisen Ausschau hält, die es zerquetschen kann. Der Blick des Dämons wanderte über die Rauchgruben. Kaikus Herz hämmerte vor qualvoller Erwartung. Dann erspähte sie Juto durch die geknickten Rohre vor ihnen. Er kletterte zur nächsten Stufe der Grube hinauf, immer noch auf der Flucht vor dem Dämon. Und oben am Kopf der Stufen erblickte Kaiku ein Paar Weber, deren Masken sich drehten, als sie nach ihrer Beute suchten. Sofern noch Zweifel an Nomorus Geschichte bestanden, wurden sie durch Juto endgültig ausgeräumt, als er auf die Weber zu rannte und ihnen dabei etwas zurief. 116 Der Feyakori stapfte zu ihrer Rechten an ihnen vorbei. Seine Schritte wurden von kreischendem Metall begleitet, da er den Boden der Rauchgrube im Gehen plättete. Mittlerweile war der Dämon von der Rampe auf die Stufen gestiegen. Und offenkundig hinter Juto her. Der schaute erschrocken zurück und hetzte die letzten Stufen hinauf, sodass er nahe der Weber zum Stehen kam. Ganz offensichtlich dachte er, sie würden eine Art Zuflucht bieten. Womit er sich irrte. Der Armstumpf des Feyakori schnellte gleich einem Kometen aus Ölschlamm auf ihn herab, stampfte Juto und die Weber gleichermaßen zu Brei. Der Todesschrei der Weber schepperte wie Donner durch das Geweb. Kaiku und Phaeca nützten den Nachhall, um sich tiefer zu vergraben und den enttäuschten Verständen zu entwischen, die nach ihnen suchten. Die Weber zeigten sich bedrückt durch den Verlust von zwei der ihren. Daraus schöpfte Kaiku Kraft. Sie dachte daran zurück, wie Lon sich beim Einfall des Nebels gebärdet hatte, erinnerte sich an Jutos eigenartige und fälschliche
Überzeugung, dass der Nebel nichts mit den Feyakori zu tun hatte. Fügte man zu dieser Gleichung die Umstände des Hinterhalts der Weber, blieb nur noch eine Schlussfolgerung übrig. Weder die Männer, die sie verraten hatten, noch die lauernden Weber hatten gewusst, dass die Dämonen sich aus den Rauchgruben erheben würden. Immer noch wagten die beiden Schwestern vom Roten Orden nicht, sich zu rühren. Ihr Gefühl verriet ihnen, dass der Feyakori nur daraufwartete, bis sie sich zeigten. Mittlerweile galt die Aufmerksamkeit der Weber ihm; sie lullten ihn ein, redeten ihm auf eine Weise gut zu, die Kaiku nicht verstand. Nach einer qualvollen Minute hörten die Schwestern, wie der Dämon sich umdrehte und zurück auf die Rampe stieg. Kaiku wagte einen Blick durch die Rohre hinter ihrem Rücken und sah, dass sich das Ungetüm in den rötlichen Rauch zurückzog. 117 Der zweite Dämon zeichnete sich als gespenstisch verschwommener Schemen dahinter ab. Sie bewegten sich die Rampe i hinauf auf die Kaiserstraße zu, die zum Westtor führte. Allmählich verflachte der Gestank ihrer Gegenwart und mit ihm ihr heftiger Einfluss auf das Geweb. »Wir müssen los«, sagte Kaiku. Wenn sie die Verwirrung der Weber jetzt nicht nützten, würde es zu spät sein. Phaeca bibberte; ihre Pupillen glichen Nadelstichen in der roten Netzhäuten. Bei Kaikus Berührung erschrak sie und kehrte jäh in die echte Welt zurück. Kaiku wiederholte ihre Worte, und Phaeca nickte knapp. Sie rappelten sich auf die Beine und eilten zu der Stelle, an der Nomoru sich versteckt hatte. Aber als sie dort eintrafen, war außer rostfarbenen Blutspritzern kein Zeichen von ihr zu finden. »Sie kann auf sich selbst aufpassen«, murmelte Phaeca. Als Kaiku zögerte, packte ihre Gefährtin mit festem Griff ihren Arm. »Das kann sie wirklich, Kaiku. Außerdem sind sie hinter uns her. Auf sich allein gestellt, ist sie sicherer.« Kaiku wurde klar, dass sie immer noch ihre Büchsen trugen. Sie schleuderte die ihre beiseite. Nach dem, was juto gesagt hatte, würde sie nicht wagen, damit zu feuern. Phaeca tat es ihr gleich. Die Stufen, die Juto erklommen hatte, waren durch die Berührung des Dämons geschmolzen, also liefen sie entlang der Grubenebene los, um einen anderen Weg nach oben zu! finden. Ohne Führer wählten sie zwangsläufig einen verschlungenen Pfad und stießen mehrere Male auf Sackgassen. Als die Dämonen von dannen zogen, widmeten die Weber sich wieder eindringlich der Suche nach den Ordensschwestern, die mittlerweile jedoch schwieriger zu finden waren, da sie sich in Bewegung gesetzt hatten. Aber sie mussten sich nicht nur wegen der Weber den Kopfzerbrechen: Durch eine Lücke im Dunstschleier hatten sie die hagere, schwarz gewandete Gestalt eines Nexus' auf einer höheren Ebene der Grube aus118 gemacht, was bedeutete, dass auch Ausgeburten auf der Jagd nach ihnen waren. Doch der Nebel der Feyakori gereichte ihnen zum Vorteil. So faulig er auch sein mochte, er hielt sie gut verborgen. Ohne auf ein Hindernis zu stoßen, bahnten sie sich in rascher Folge den Weg über zwei Ebenen hinauf, und mit der Entfernung wurde das Stöbern der Weber immer ungenauer. Kaiku blickte ihre Gefährtin beunruhigt an. Im rötlichen Schein, ohne die Schminke und in den schäbigen Bauernlumpen, erkannte sie ihre Freundin kaum noch. Ebenso wenig vertraut war ihr der Ausdruck unbeschreiblichen Grauens in ihrem Gesicht. Kaiku, die sich ebenfalls fürchtete, war schon früher gejagt worden, und sie hatte damals genauso überlebt, wie sie nun zu überleben gedachte. Für Phaeca hingegen war dies eine neue Erfahrung, und durch ihr ausgeprägtes Einfühlungsvermögen war sie geistig zerbrechlich. Die ständige Angst, einem Weber oder einer Ausgeburt über den Weg zu laufen - was in beiden Fällen einen qualvollen Tod zur Folge hätte -, drängte sie an den Rand eines Schockzustands. Auch ihre Webkunst litt darunter, wurde schwerfällig und geistesabwesend; sie verschleierte sich nicht besonders gut. Unvermittelt packte Kaiku sie und zerrte sie in eine Nische zwischen zwei Rohrleitungen. Sie war gerade noch schnell genug gewesen. Ihre Sicht war besser als die des Ghauregs, weshalb sie dessen Umriss im Nebel erspäht hatte, bevor das Ungetüm sie sah. Kaiku drückte ihre Freundin eng an sich, als die hünenhafte Ausgeburt langsam auf sie zu, dann weiter und vorbei trabte, nur den flüchtig erhaschten Eindruck eines zottigen, muskelbepackten Körpers und übergroßer Kiefer mit dicht bestückten Zahnreihen zurückließ. Phaecas Atem rasselte, als sie ihn ausstieß, und Kaiku sah, dass sie die Augen fest geschlossen hatte. »Wir schaffen es hier raus«, flüsterte sie. »Vertrau mir.« 119 Phaeca gelang ein Nicken, wodurch ihr das rote Haar unordentlich über das Gesicht fiel. »Vertrau mir«, wiederholte Kaiku lächelnd, und durch ihre Angst hindurch empfand sie tatsächlich Zuversicht. Sie würden hier nicht sterben. Dafür würde sie sorgen, selbst wenn sie es mit jedem Weber im Gebiet aufnehmen musste. Sie zerrte Phaeca in Bewegung, und sie huschten in jene Richtung davon, aus der sich der Ghaureg genähert hatte. Die Luft knisterte vor der Aufmerksamkeit der Weber, die Stränge des Gewebs surrten ob ihres Widerhalls. Sie sandten einander Schwingungen zu, warfen ein Netz aus, das die anderen auffangen und in der Hoffnung halten sollten, dass die Schwestern das Muster stören würden. Es war eine Technik, die Kaiku nie zuvor beobachtet hatte: Gewiss, höchst unwirksam, aber sie bedeutete, dass die Weber begonnen hatten, Möglichkeiten der Zusammenarbeit untereinander zu ersinnen, und das war gefährlich. Die Schwestern zuckten zusammen, als etwas durch die Gasse unmittelbar vor ihnen sprang, ein Schatten, der aus dem Dunstschleier schnellte und verschwand. Sie erstarrten, doch die Erscheinung kehrte nicht zurück; sie
hatte die beiden nicht gesehen. Danach glich Phaeca einem Wrack, doch Kaiku drängte sie eine weitere Stufenreihe hinauf auf eine höhere Ebene. Mittlerweile hatten sie sich hoffnungslos verirrt, richteten sich nur noch nach dem helleren Schillern im Nebel, das die Mitte der Rauchgrube darstellte. Aus der Ferne drang das klägliche Geheul der Feyakori zu ihnen. Kaiku sandte ein Stoßgebet zu Shintu - sie vermochte nicht zu sagen, ob er in dieser Nacht auf ihrer Seite war oder nicht, doch nach allem, was sie über den Gott des Glücks wusste, traf wahrscheinlich beides und nichts davon zu -, und einen Lidschlag später bog sie um eine Ecke und rannte beinahe in die Außenmauer der Grube. Überrascht blinzelte sie. 120 »Das ist die Mauer...«, stellte Phaeca mit langsam dämmernder Hoffnung in der Stimme fest. Kaiku drückte aufmunternd ihren Arm. »Siehst du? Hab Vertrauen.« Sie schaute die Mauer hinauf. Ein wenig über zwei Meter hoch. Durchaus erklimmbar. Somit brauchten sie keine Zeit damit zu vergeuden, nach dem Durchgang zu suchen, den Lon ihnen gezeigt hatte. »Hilf mir rauf«, forderte Kaiku ihre Gefährtin auf. Phaeca schaute sich um, sah jedoch nur den wirbelnden Nebel - der sich seit dem Aufbruch der Dämonen allmählich zu lichten begann - und die dunkle Masse der rumorenden, klappernden Gerätschaften der Weber. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass sich niemand in unmittelbarer Nähe befand, bildete sie mit den Händen eine Räuberleiter für Kaiku. Schwungvoll stieß Kaiku sich ab und hechtete die Mauer empor, und Phaeca zuckte heftig zusammen, als ihre Freundin unerwartet kreischte. Phaecas Finger lösten sich, und Kaiku fiel herab, landete auf den Absätzen und plumpste auf den Rücken. Hastig rappelte sie sich auf die Beine; ihre Unterarme troffen vor Blut. Phaeca war außer sich vor Angst. Angezogen von dem Schrei, hatte die Aufmerksamkeit der Weber jäh auf sie geschwenkt. »Noch mal«, stieß Kaiku zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Aber es ist-« »Noch mal!« Kaiku wusste, dass ihr Schrei sie verraten hatte, und wenn sie nicht sofort entkamen, würden sie überhaupt nicht entkommen. Hastig verschränkte Phaeca die Finger erneut, und Kaiku schnellte empor, ehe ihr Selbsterhaltungstrieb sie davon abhalten konnte. Die dünnen, klingenbewehrten Rippen an der Oberkante der Mauer drangen an einem Dutzend verschiedener Stellen in ihre Arme, schlitzten über die bestehen121 den Schnitte, trieben ihr Tränen in die Augen. Ihr Kana raste los, um den Schaden zu beheben, erwachte ohne ihr Zutun; sie rang es zurück, denn es würde die Weber noch sicherer als ihr Schrei anziehen. Kaiku zog das eigene Gewicht hoch, wodurch sie die Ringen noch tiefer in das Fleisch presste, hauchdünne Rasierschneiden, die ihr die Haut qualvoll zerfetzten. Sie bekam einen Fuß auf die Oberkante der Mauer, drückte den Körper hoch und richtete sich mit einer einzigen, krampfhaften Bewegung auf. Die Rungen glitten aus ihr, und der Schmerz war so unerträglich, dass sie das Bewusstsein zu verlieren drohte. »Kaiku!« Es war Phaecas Schrei, der sie vom Rand der Ohnmacht zurückriss. Sie taumelte, und die Klingen schnitten sich durch die Sohle ihres Stiefels in ihre Ferse. Stöhnend beugte sie sich hinab und streckte den Arm aus; erst da sah sie das Ding, das von rechts auf Phaeca zupolterte. Es war ein Feyn, eine grauenhafte Kreuzung zwischen einem Bären und einer Echse, die von beiden Arten die schlimmsten Züge übernommen hatte. Phaecas Miene war der Inbegriff von Verzweiflung und Panik: Dann sah sie, dass Kaiku sich herabbeugte, und sprang. Kaiku stählte sich gerade noch rechtzeitig. Mit einem Adrenalinstoß ergriff sie Phaeca, hievte sie hoch und über die Mauer. Phaecas Beine rissen im Flug über die Klingen, die ihre Hose aufschlitzten und dunkelrot verfärbten, aber irgendwie gelang es ihr, die Beine wieder einzuziehen, sodass Kaiku sie über die andere Seite der Mauer wuchten konnte. Kaiku erhaschte einen letzten kurzen Blick auf das wutentbrannte Ungeheuer, bevor sie den Fuß frei zog und neben Phaeca hinabsprang. Ihre Gefährtin richtete sich gerade mit Tränen in den Augen auf. Sie wimmerte. Kaiku, deren Wunden wesentlich schlimmer waren, blieb stumm. Mühsam wankten sie über das Ödland in Richtung der Stadt, und der Nebel verschluckte sie. So ließen sie das fruchtlose 122 Stöbern der Weber hinter sich wie das Summen zorniger Wespen. An die Reise zurück ins Armenviertel erinnerte Kaiku sich nicht. Sie wusste nicht, was Phaeca zu den Männern gesagt hatte, die sie dort fanden. Aber sie besann sich derber Gesichter und eines hässlichen Dialekts; an Fragen, die sie ängstigten; und dann an schmutzige Verbände, die um ihre Arme und Füße gewickelt wurden. Raum mehr als Stoffstreifen. Irgendwann hatte ihre Fähigkeit, ihr Kana zu unterdrücken, sie im Stich gelassen: Kaiku spürte, wie ihr Körper sich rastlos selbsttätig heilte. Zwar verlor sie nie richtig das Bewusstsein, doch sie glitt eine Weile halb aus der Welt, und als sie zurückkehrte, fand sie sich in einem kahlen Raum wieder. Draußen dämmerte ein grauer Morgen. Ihr Kopf ruhte auf Phaecas Brust. Ihre Gefährtin hielt sie fest wie einen Säugling. Kaikus Arme brannten. Sie erkannte, dass Phaeca webte, um das Treiben in Kaikus Körper zu verschleiern, während die Kraft in ihr den Schaden behob, den ihre Wirtin erlitten hatte. Kaiku fühlte sich hohl, als befände sich in ihren Adern anstelle des verlorenen Blutes nur Leere.
Aber immerhin lebte sie noch. »Kaiku?« Phaecas Stimme drang gleichzeitig aus ihrem Mund und hallte durch ihr Brustbein. »Ich bin hier«, antwortete Kaiku. Eine Weile herrschte Schweigen. »Du warst weggetreten.« »Es braucht schon etwas mehr, um eine Schwester vom Roten Orden zu töten«, gab sie mit dem Ansatz eines Kicherns zurück, das sich zu schmerzlich anfühlte, um es fortzusetzen. Weil es sich besser anfühlte, die Starke zu markieren, fügte sie hinzu: »Ich hab dir doch gesagt, du sollst mir vertrauen.« »Das hast du«, bestätigte Phaeca. 123 Kaiku schluckte, um ihre trockene Kehle zu befeuchten. »Wo sind wir?« »Das Gebäude gehört einer Bande. Ich kenne ihren Namen nicht.« »Sind wir Gefangene?« »Nein.« »Obwohl... haben sie unsere Augen gesehen?« »Sicher«, gab Phaeca zurück. »Sie wissen, dass wir Ausgeburten sind. Ich konnte es schwerlich vor ihnen verbergen.« Behutsam setzte Kaiku sich auf. Sie fühlte sich benommen. Phaeca streckte die Hand aus, um ihr zu helfen, aber Kaiku schüttelte den Kopf. Sie holte ein paar Mal tief Luft und wischte sich das gelbbraune Haar zurück. »Was werden sie tun? Was hast du ihnen gesagt?« »Ich habe ihnen die Wahrheit erzählt«, antwortete Phaeca schlicht. »Was sie tun werden, liegt ganz bei ihnen. Wir sind derzeit ohnehin nicht in der Lage, etwas dagegen zu unternehmen.« Kaiku runzelte die Stirn. »Du scheinst mir sehr ruhig.« »Soll ich mich etwa vor Menschen fürchten? Nach dem, was wir in den Rauchgruben gesehen haben?« Phaeca lächelte bitter. »Ich denke, sie wussten bereits von uns. Sie haben mir geglaubt. Hier im Armenviertel sind Ausgeburten ihre geringste Sorge. Und da wir inzwischen nicht mehr die Sündenböcke für jedes Übel der Welt sind, haben die Menschen etwas Neues gefunden, auf das sie ihren Hass richten können.« Kaiku sah sich in der Kammer um. Sie roch nach Schimmel. Die Holzwände waren grün davon, die Deckenbalken wirkten feucht. In eine Ecke lagen ein paar schmutzige Kissen, vor dem Eingang hing ein schwerer Vorhang. Weit und breit brannte keine Laterne; sie mussten im Dunkeln gesessen haben. Dann bemerkte Kaiku unter den blutigen Fetzen die Ver124 bände um die Beine ihrer Freundin. »Bei den Geistern, Phaeca, du bist auch verletzt.« Noch während sie es aussprach, fiel ihr ein, was geschehen war. »Nicht so schlimm, wie du es warst«, entgegnete sie. Aus ihren Augen sprach eine so tief empfundene Dankbarkeit, dass Worte sie nicht hinlänglich auszudrücken vermocht hätten. Sie wandte den Blick ab. »Ich kümmere mich später darum. Fürs Erste ruhst du dich mal aus.« Kaiku erschlaffte, und Phaeca legte wieder den Arm um ihre Gefährtin, ließ sie den Kopf an sich lehnen. »Ich bin müde«, murmelte Kaiku. Sie hörten Schritte, dann wurde der Vorhang zurückgezogen. Kaiku stemmte sich nicht einmal von Phaeca hoch; ihre Muskeln waren zu bleiern. Zwei Männer traten ein: Einer war sehr groß und trug einen dichten Bart; der andere hatte zerzaustes braunes Haar und raue, pockennarbige Züge, und als er das Wort ergriff, sah Kaiku, dass seine Zähne aus Messing bestanden. »Wir haben uns beredet«, erklärte er ohne Einleitung oder Vorwort. Phaeca musterte ihn unverwandt. »Und was habt ihr beschlossen?« Der Mann mit den Messingzähnen hockte sich vor sie nieder. »Wir haben beschlossen, dass ihr ausseht, als könntet ihr ein wenig Hilfe gebrauchen.« 125 Neun Yugi tu Xamata, Anführer der Libera Dramach, erwachte in | seiner Zelle in Araka Jo und sah am Fenster Lucia stehen, die hinaus auf den See schaute. Sein Kopf fühlte sich schwer von den Nachwehen der Amaxa-Wurzel an. Seine Wasserpfeife stand erkaltet in der Ecke. In der Luft hing noch der beißende Geruch, der Zeugnis von einer weiteren Nacht übermäßigen Genusses ablegte. Er setzte sich auf seiner Schlafmatte auf, wodurch die Decke von seinen nackten Schultern abfiel. In diesen Höhen war es im Winter frostig, und in den Fenstern war kein Glas, doch in der vergangenen Nacht hatte ihn das Rauschfieber gewärmt. Er blinzelte, runzelte die Stirn und spähte mit zusammengekniffenen Augen zu Lucia. Yugi vermochte nicht zu sagen, ob es am Morgenlicht lag oder ob ihm der eigene Verstand einen Streich spielte, jedenfalls wirkte sie überirdisch, ihre zierliche Gestalt durchscheinend, ihr dünnes, weißes und goldenes Kleid wie ein Schleier. Yugi hatte Lucias Mutter Anais nie kennen gelernt, aber er hatte gehört, dass Lucia ihr durch ihre zerbrechlichen, hübschen Züge und das blassblonde Haar sehr ähnelte. Doch mehr Gemeinsamkeiten gab es nicht: Lucias Haar war kurz geschnitten und knabenhaft, offenbarte das grässlich zerfurchte und runzlige Narbengewebe am Nacken, und aus ihren hellblauen Augen sprach eine Geschichte, die niemand mit ihr zu teilen vermochte. Sie war achtzehn Ernten alt, und das Kind, das Yugi heranwachsen gesehen hatte, war verschwunden, verdrängt von
etwas Wunderschönem und Fremdartigem. Er hustete, um den Geschmack der Ausschweifungen der 126 vergangenen Nacht aus der Kehle zu bekommen. Als Lucia keine Regung zeigte, pfiff er auf Höflichkeit. »Was machst du hier, Lucia?« Nach einem ausgedehnten Augenblick drehte Lucia ihm den Kopf zu. »Hm?« »Du bist in meinem Zimmer«, erklärte Yugi geduldig. »Warum bist du in meinem Zimmer?« Darüber schien sie kurzzeitig verwirrt. Lucia sah sich in der Zelle um, als fragte sie sich, wie sie hierher gekommen war: große Blöcke aus verwittertem, weißem Stein, verhüllt mit einfachen Behängen; eine Korbgeflechtmatte, die den Boden bedeckte; ein kleiner Tisch, eine Truhe, verstreute Habseligkeiten. Dann schenkte sie ihm ein Lächeln so unschuldig wie das eines Kindes. »Wir wollen dich sehen.« »Wir?« »Cailin und ich.« Seufzend setzte Yugi sich weiter auf, sodass ihm die Decke bis zur Taille hinabrutschte. Sein Oberkörper war unbehaart; mehrere lange Narben wanden sich über die Haut, alte Wunden aus längst vergangenen Tagen. Ihm missfiel die Art, wie sie sich ausdrückte, insbesondere der Hinweis darauf, dass Lucia und Cailin gemeinsam beschlossen hatten, ihn zu rufen. Cailin stand viel zu hoch in der Gunst dieses Mädchens, und das war gefährlich. Yugi wusste, wie Cailin war. »Worum geht es?« »Neuigkeiten aus Axekami«, antwortete sie, fügte jedoch keine Einzelheiten hinzu. »Wir sind am See.« Yugi beschloss, sich die Mühe zu sparen, ihr weitere Fragen zu stellen. »Ich werde euch schon finden.« Lucia schenkte ihm ein weiteres Lächeln, dann wandte sie sich zum Gehen. Als sie gerade aufbrechen wollte, stürzte die Wasserpfeife krachend um, spie Asche und verkohlte Wurzeln auf die Matte. Yugi zuckte zusammen. 127 »Er mag den Geruch nicht, mit dem du seine Kammer füllst«, erklärte Lucia, bevor sie durch den Vorhang hinaus gingYugi stand auf und zog sich an. Die Kälte vertrieb die letzten Überreste von Schläfrigkeit. Er stellte die Wasserpfeife wieder auf und räumte ärgerlich die Asche weg. Der Geist hatte noch nie etwas so Gewalttätiges zustande gebracht. Yugi konnte ihn spüren, einen großen, schwarzen Fleck am Rand des Sichtfelds, aber er wusste, wenn er versuchte, ihn anzusehen, würde er verschwunden sein. Es war eine Randerscheinung, die nur aus den Augenwinkeln zu erkennen war. Ein schwacher Geist wie hunderte andere, die in Arakajo umherspukten, Klumpen geronnener Erinnerungen, die sich hartnäckig in der Gegenwart hielten. Vor seiner Zelle verlief ein Gehweg aus demselben allgegenwärtigen weißen Stein, aus dem die Gebeine des Gebäudetrakts bestanden. Auf der einen Seite befand sich eine lange Reihe von Zeller} wie der seinen mit schlichten, rechteckigen Eingängen; die gegenüberliegende Seite war für die Aussicht offen. . I | Es war schon ein Anblick, für den es sich aufzuwachen lohnte, das musste er zugeben, auch wenn die Nachwehen der letzten Nacht seine Begeisterung etwas dämpften. Das Gelände fiel zu einer breiten, wiederum aus weißem und verwittertem Stein angelegten Straße hin ab. Dahinter stieg es wieder zu einem Hang an, auf dem die muschelförmigen Schieferdächer der Tempel zwischen den zerklüfteten grünen Baumwipfeln hervorlugten. In der auf und ab rollenden Hügellandschaft verbargen sich Dutzende davon, die alle durch gewundene Trampelpfade oder gepflasterte Gehwege miteinander verbunden waren. Im Vergleich zu neueren Tempeln wirkten sie gedrungen und ungeschliffen, aber ihre Form verlieh ihnen eine urtümliche und nachdenklich stimmende Feierlichkeit, und die Reliefs an j ihren Gebälken zeigten allerlei Szenen vergessener Mythen. 128 Araka Jo war uralt und teilweise verfallen. Einige Tempel waren nur noch Überbleibsel und von moosüberwuchertem Schutt umgeben. In den vergangenen Jahren war dieser Ort zur Heimat der Libera Dramach geworden, aber es fühlte sich immer noch so an, als wären sie Eindringlinge. Die Geister ließen es sie nie vergessen. Unweit seines Eingangs befand sich ein Steinbecken, aus dem er sich eiskaltes Wasser ins Gesicht spritzte, um endgültig aufzuwachen. Danach entfernte er den speckigen Stofffetzen von der Stirn und befeuchtete sich das Haar, glättete es in unordentlichen Strähnen zurück, bevor er den Lumpen wieder anbrachte. Schließlich brach er auf, um sich etwas Lathamri zu besorgen. Schon um diese frühe Stunde waren zahlreiche Menschen auf den Beinen, schlenderten entlang der Straßen des Geländes umher, um Besuche abzustatten, Besorgungen zu erledigen oder Geschäften nachzugehen. Einige Leute grüßte er unterwegs. Jeder kannte ihn als den Anführer der Gemeinde. Anders als in ihrem vorigen Versteck im Schoß wirkten die Libera Dramach in Arakajo nicht im Geheimen. Jeder hier wusste von Lucia und dem Gefüge, das rings um sie aufgebaut worden war. Jeder hier gehörte per Treueeid den Libera Dramach an. Wer sich damit nicht abfinden konnte, war längst an andere Orte in den Südlichen Präfekturen gezogen. Er bog von der Hauptstraße in eine von Holzständen gesäumte Nebenstraße ab und fühlte sich selbst von diesem
kurzen Marsch ermattet. Die Müdigkeit war nicht körperlich bedingt - er war von jeher gesund und kräftig wie ein Maultier gewesen -, sondern rührte von einer geistigen Erschöpfung her, die schwer auf ihm lastete. Mittlerweile fühlte sein Lächeln sich falscher an als je zuvor: Wohl weil er gezwungen war, es zu oft einzusetzen. Für die Menschen hier musste er Zuversicht ausstrahlen. Sie betrachteten ihn gleichsam als Abbild ihres Schicksals. Er konnte es sich nicht leisten, Schwä129 che zu zeigen. Er konnte es sich nicht leisten, sie wissen zu lassen, dass er sie gar nicht mehr anführen wollte. Zwischen den Ständen befanden sich Reihen von Steingötzen - seltsame, kauernde Gebilde, die der Regen und Wind mehrerer Jahrhunderte geglättet hatten. Ihre geschlitzten, ausdruckslosen Augen starrten einander über die Nebenstraße und die Köpfe der Menschen hinweg an. So etwas wie Schutzgeister? Niemand wusste es. Araka Jo war in den ersten Jahren nach dem Landfall errichtet worden, und zwar von den Anhängern einer Splitterreligion, die die neue Freiheit, ihren | Glauben zu erkunden, hinlänglich ausgeschöpft hatten. Sie mussten sowohl besonders zahlreich als auch fleißig gewesen sein, um eine Tempelanlage der Größe einer kleinen Stadt zu errichten. Vielleicht handelte es sich um eine Gebirgszuflucht, einen Ort des Gebets und der Verinnerlichung. Aber sowohl der Zweck als auch die Schöpfer dieses Ortes waren im Verlauf der Geschichte verloren gegangen. Yugi kaufte von einem Händler einen Becher Lathamri und trank das anregende Gebräu. Dabei starrte er auf die Statuen. Es war geradezu beängstigend, wie leicht die Vergangenheit in Vergessenheit geriet. Er fragte sich, was die einstigen Bewohner des Ortes wohl empfunden hätten, wenn sie erführen, dass nur wenige Jahrhunderte später niemand mehr wusste oder sich darum scherte, wofür sie das Werk vollbracht hatten. Vielleicht hätte sie der Hohn des Schicksals belustigt, dachte er. Immerhin war es Saramyrs unbekümmerte Missachtung der eigenen Vergangenheit, die nun die Zukunft des Reichs bedrohte. Das heiße, bittere Getränk weckte in ihm genug Lebensgeist, um sich dem Gespräch mit Cailin und Lucia zu stellen. Er gab dem Händler den Becher mit einer Münze darin zurück und brach auf. Es war eine alte Tradition: Trank man nicht aus, wurde die Münze nass, folglich war es ein Gebot der Höflichkeit, den Becher ganz zu leeren. Schon seltsam, dachte 130 Yugi, als er losging, dass Traditionen noch fortbestehen, nachdem ihre Ursprünge längst in Vergessenheit geraten sind, die Lektionen der Geschichte hingegen binnen einer Generation verblassen. Er kehrte zu dem Gebäude zurück, in dem sich seine Zelle befand, und begab sich zu dessen anderer Seite, wo der See lag. Es war ein belebend kühler und frischer Tag, und obwohl auf dem Gras kein Tau zu sehen war, fühlte die Luft sich feucht an. Yugi hatte in den einstigen Unterkünften der Gläubigen geschlafen, die diesen Ort errichtet hatten. Über das Gelände verteilt, gab es etwa zwanzig solcher Gebäude, alle gleich weiß und rechteckig. Sie unterschieden sich nur durch die Schnitzereien und Skulpturen an den Ecken. Im Inneren waren sie kahl und karg, bestanden lediglich aus Gängen und Zellen mit einem Innenhof zum Kochen und Waschen in der Mitte, doch Yugi störte das nicht übermäßig. An manchen Tagen spielte er mit dem Gedanken, in das Dorf zu übersiedeln, das um die unteren Hänge der Anlage angelegt worden war. Aber wenn er es täte, käme Gerede auf, und nun war nicht der rechte Zeitpunkt für Gerüchte. Alles, was er tat, war politisch, ob er wollte oder nicht. Yugi wünschte, er besäße Mishanis Gabe, ein Leben solcher Art zu genießen. Hinter dem Gebäude verlief ein langer, grasbewachsener Hang zum Ufer des Xemit-Sees hinab. Ein Trampelpfad führte zu einem großen Bootshaus, von dem aus Fischer ablegten. Ab und an bildeten ein paar Bäume kleine Wäldchen, aber nicht genug, um die prunkvolle Aussicht zu versperren. Ringsum waren Menschen zu sehen; einige unterhielten sich miteinander, andere waren unterwegs von einem Ort zum anderen. Hier, mitten in den Südlichen Präfekturen, konnte man die Hungersnot leicht vergessen. Das Leben nahm unbeeinträchtigt seinen Lauf. Yugi entdeckte Cailin und Lucia und bahnte sich den Weg zu ihnen. Unterwegs schaute er über den See zum Horizont. 131 Der Xemit-See war riesig: Über siebzig Kilometer breit und fast zweihundertfünfzig lang - nach dem Azlea-See das zweitgrößte Binnengewässer von Saramyr. Yugi hatte sich schon einmal auf der gegenüberliegenden Seite befunden, während des Angriffs auf Utraxxa. Es war einer der berühmtesten Siege der vergangenen vier Jahre gewesen. Eine uralte Hochburg der Weber, tief im Herzen der Südlichen Präfekturen. Obwohl der Ort von den übrigen Webern abgeschnitten gewesen war, nachdem die Streitkräfte des Kaiserreichs sich vereinigt hatten, strömte seine Fäulnis unvermindert weiter in die Erde und zeugte weitere ausgebürtige Raubtiere, die den Truppen des Kaiserreichs von innen her zusetzten. Durch den Schutz der Berge hatte es zwei Jahre gedauert, bis es den Adelsfamilien unter Führung von Barak Zahn gelang, in das Kloster einzudringen. Wenngleich die Weber alles zerstörten, das einen Wert besaß, sogar den Hexenstein selbst, war es in den Augen der Menschen ein großer Sieg gewesen. Mehr als jeder andere Vorfall hatte dieser den Männern und Frauen des Kaiserreichs die Kraft gegeben, die langen Jahre des Krieges hindurch weiterzukämpfen. Die Weber, die vom gemeinen Volk so viele Generationen lang als geheimnisumwitterte und unergründliche Wesen betrachtet worden waren, hatten sich als sterblich erwiesen. Man konnte sie besiegen. Der Kampf konnte gewonnen werden. Sie brauchten einen weiteren Sieg wie jenen in Utraxxa, dachte Yugi. Er brauchte einen.
Lucia und Cailin spazierten gemächlich nebeneinander her und unterhielten sich dabei. Es wurmte Yugi, dass Cailin der einzige Mensch war, dem Lucia je ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken schien; bei den meisten anderen vermittelte sie stets den Eindruck von Geistesabwesenheit. Yugi bemerkte das seltsame Verhalten der Wildtiere, als er sich näherte: Die Raben in den Bäumen beobachteten Lucia unab132 lässig, eine Katze folgte ihr unauffällig ein Stückchen weiter unten am Hang, Kaninchen hoppelten voran und versteckten sich, hoppelten voran und versteckten sich wieder, blieben dabei aber immer auf gleicher Höhe mit Lucia. Cailin spürte sein Herannahen; sie und Lucia hielten inne, damit Yugi sie einholen konnte. Cailin war etwas größer als er. Ihr Antlitz war im Stil der Ordensschwestern bemalt, das schwarze Haar bündelte ein juwelenbesetzter Kamm zu zwei Pferdeschwänzen, ihre Stirn zierte ein zierlicher Silberreif mit einem roten Edelstein. Das reinschwarze Kleid und die Krause aus Rabenfedern verliehen ihr einen etwas raubtierhaften Anschein und ergänzten den Eindruck kalter Erhabenheit, den sie vermittelte. Yugi fragte sich, wie ihr Hochmut sich im Bett bewähren würde, ob ihr frostiges Äußeres in der Verzückung des Höhepunkts zerbersten würde; dann riss er sich zusammen und verdrängte den Gedanken. »Gruß zum Tag, Yugi«, sagte Cailin. »Hast du gut geschlafen?« Es war eine gewichtige Frage. Yugi gab einen unverbindlichen Laut von sich, um ihr auszuweichen. »Lucia meinte, es gäbe Neuigkeiten.« »Kaiku hat Verbindung aufgenommen.« »Also ist sie in Sicherheit?«, fragte Yugi. Trotz ihrer Entfremdung voneinander hatte er die letzten Wochen in Sorge um sie gelebt; erst jetzt wurde ihm klar, wie sehr er sich um sie gesorgt hatte. »Sie ist in Sicherheit«, bestätigte Cailin. »Obwohl sie es um ein Haar nicht geschafft hätte, lebend zu entkommen.« »Wo steckt sie jetzt?« »Sie ist den Zan hinab nach Maza unterwegs.« »Und die anderen?« »Phaeca ist bei ihr. Nomoru ist weg.« »Was soll das heißen, weg?« »Sie ist verschwunden. Die beiden wissen nicht, wo sie ist.« 133 Yugi hob eine Hand. »Cailin, fang doch am Anfang an und erzähl mir, was Kaiku dir berichtet hat.« Und so gab Cailin die Geschichte der Erkundung der Rauchgruben, des Verrats und der Flucht aus der Stadt wieder. »Eine Bande aus dem Armenviertel hat ihnen geholfen?«, wiederholte Yugi ungläubig. »Hat sie an Bord eines Frachtkahns geschmuggelt.« »Und was wollte man als Gegenleistung?« »Anscheinend nichts.« Yugi verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Bei den Göttern, dann hatten sie wahrlich Glück.« »Vielleicht. Aber die Menschen des Armenviertels sind keineswegs dumm. Die Schwestern vom Roten Orden mögen wohl Ausgeburten sein, aber selbst wir werden nicht so verachtet wie die Weber. Die Dinge erfahren eine Wende, Yugi. Die Menschen erkennen, dass wir auf ihrer Seite stehen.« »Tut ihr das wirklich?«, fragte Yugi argwöhnisch. Cailin erwiderte nichts, und Yugi ließ es dabei bewenden. Er schaute zu Lucia, die über den See in die Ferne blickte und ihrer Unterhaltung keine Beachtung zu schenken schien. »Meine Schwestern haben aus der Rauchgrube eine Menge erfahren«, meinte Cailin gedehnt. »Die Erkenntnisse sind fürwahr Besorgnis erregend.« Yugi spürte, wie sich ein kalter Aal der Übelkeit in seinen Eingeweiden regte, eine weitere Folge der Ausschweifungen der vergangenen Nacht. Im Augenblick wollte er keine schlechten Neuigkeiten hören. »Die Weber haben die alte Abwasserkanalisation in ein Rohrleitungsnetz umgebaut. Dadurch leiten sie den Pestqualm, den sie in ihren Gebäuden herstellen.« »In die Rauchgruben«, ahnte Yugi bereits. Er kratzte sich an der bartstoppeligen Wange. »Weshalb?« 134 »Weil dort die Feyakori sind.« »Weil daraus die Feyakori bestehen«, verbesserte Lucia sie.. In Erwartung weiterer Ausführungen sah Yugi Cailin mit schief gelegtem Kopf an. »Sie setzen sich aus dem Pestnebel der Weber zusammen«, erklärte Cailin. »Ohne ihn sind sie körperlos. Sie umhüllen sich damit wie mit einem Leichentuch und bilden daraus ihre Gestalt. Als wir sie Dämonen der Fäulnis tauften, wussten wir gar nicht, wie Recht wir damit hatten.« Yugi dachte einen Moment lang nach. »Würde das erklären, weshalb sie nach dem Angriff auf juraka nach Axekami zurückgekehrt sind? Weil sie sich ... auffüllen mussten? Wie ein Wal, der stundenlang tauchen, aber letztlich auftauchen muss, um Luft zu holen?« »Ganz genau«, bestätigte Cailin und zog eine Augenbraue hoch. »Ein passender Vergleich.«
»Könnte das der Grund sein, weshalb die Weber Axekami derart vergiften ? « »Womöglich«, lautete die vorsichtige Antwort. »Aber wir wollen nicht alle Fäden an eine einzige Enthüllung knüpfen. Es gibt nach wie vor so viel, das wir noch nicht verstehen.« »Trotzdem bedeutet das für uns Hoffnung, oder?«, schlug Yugi vor. »Immerhin haben die Feyakori eine Schwäche.« »Du musst das globaler sehen«, gab Cailin zurück. »Die Weber ersticken nicht nur Axekami. Es gibt Rauchgruben in Tchamaska, Maxachta und Barask. Weitere werden an der Nordseite von Axekami angelegt, außerdem in Hanzean im Westen.« Ein frostiger Wind vom See fuhr durch das Gras und zischte durch die Bäume. »Diese beiden Feyakori sind nur die ersten. Die Weber werden uns noch mehr bescheren. Dagegen können wir nicht bestehen.« Yugi seufzte und rieb sich ein Auge. »Bei den Göttern, Cailin, kommt es etwa noch dicker?« 135 »O ja«, sagte sie. »Vor zwei Nächten haben die Feyakori Axekami wieder verlassen.« Die befestigte Stadt Zila hatte bereits so manche Kampfhandlungen miterlebt. Seit ihrer Errichtung vor über tausend Jahren hatte sie Sturmangriffen der eingeborenen Ugati, abtrünniger Kriegsherren und des Kaiserreichs selbst getrotzt; und immer noch thronte sie grimmig und düster auf einem steilen Hügel südlich des Zan. Sie stellte einen strategischen Knotenpunkt dar, da sie sowohl die Flussmündung als auch den über fünfzig Kilometer langen Landstreifen zwischen der Küste und dem Westrand des Waldes von Xu beherrschte, einen lebenswichtigen Durchzugspfad zwischen dem wohlhabenden Nordwesten und den fruchtbaren Südlichen Präfekturen. Mittlerweile hatte sie sich in eine Bastion gegen die Weber verwandelt und verweigerte diesen die Durchreise entlang der Großen Gewürzstraße. Barak Zahn schaute über die Schulter zu der Stadt, die einer | Krone aus Stein glich. Die Dächer der Häuser verliefen nach hinten zum schmalen Gipfel der Feste an der höchsten Stelle des Ortes. Diese Mauern waren in der gesamten Geschichte Zilas noch von keinem Feind gestürzt worden. Nicht einmal, als die Stadt überrannt wurde und Zahn selbst einer der Eindringlinge gewesen war; damals hatten sie die Mauer überwunden, aber nicht durchbrochen. Danach hatten sie Zila qualmend und geschunden sich selbst überlassen. Mittlerweile präsentierte der Ort sich wieder in wesentlich besserem Zustand: Die dereinst zerstörten Häuser waren wieder aufgebaut, die Feste instand gesetzt, die Straßen erneuert. Hinter der Brustwehr liefen Soldaten des Kaiserreichs auf und ab; Feuerkanonen überblickten den Fluss. Dennoch war das Gefühl der Unverwundbarkeit verschwunden, Zilas Macht geschrumpft. 136 Barak Zahns Pferd regte sich unter ihm, und er wandte die Aufmerksamkeit wieder der Flussmündung zu, wo vier riesige Dschunken vor Anker wogten. Eine steife Brise wehte, das Licht war klar und strahlend: Der Mittwinter nahte, und obwohl es immer noch warm war, konnte der Wind vom Meer durchaus frostig sein. Zahn war ein hagerer Mann, sein Haar grau, seine bartstoppeligen Wangen uneben vor Pockennaben. Er trug eine Brokatjacke mit hochgeschlagenem Kragen und hatte die Augen zu Schlitzen verengt, während er über das Wasser starrte. Rings um ihn und vor ihm befanden sich hunderte berittener Männer in den Farben ihrer jeweiligen Adelshäuser. Die meisten in jenen seines eigenen Geblüts Ikati, Grün und Grau. Zu seiner Rechten saß das mollige, runzlige Oberhaupt des Geblüts Erinima im Sattel, Lucias Großtante Oyo. Über eine Woche lag es zurück, dass Kaiku und Phaeca aus Axekami entkommen waren, doch Zahn wusste davon noch nichts. Sehr wohl hingegen hatte er die Neuigkeit gehört, dass die Feyakori wieder auf dem Marsch waren. Cailin versuchte zu gewährleisten, dass sich in jeder Siedlung entlang der Front mindestens eine Schwester des Roten Ordens aufhielt. Dadurch hatte sich die Warnung binnen Minuten verbreitet. Zahn verursachte dies keine übermäßige Besorgnis: Wie die Armeen der Ausgebürtigen bewegten die Feyakori sich zu schnell, um ihren Weg zu verfolgen; die Neuigkeit, dass die Weber sie wieder einsetzten, bedeutete lediglich, dass sie wieder unterwegs waren, und Saramyr war ein überaus großer Ort. Sie konnten alles Mögliche-im Schilde führen. Außerdem hatte Zahn andere Sorgen. Die erste verkörperte die Frau neben ihm. Es schien, dass sich die Rangeleien der Höfe selbst im Angesicht der größten Gefahr fortsetzten. Obwohl sie alle vorgeblich gegen die Weber vereint waren, ging das alte Machtgeplänkel um Zugeständnisse, Vereinbarungen und Gelübde munter weiter. Oyo 137 zeigte sich nervtötend beharrlich und war ihm sogar bis nach Zila gefolgt, wo der Großteil seiner Armeen zusammen mit jenen des Geblüts Vinaxis in Garnison lag. Ihre Forderung war einfach: Sie wollte seine Tochter. Zahn hatte gewusst, dass es unmöglich sein würde, Lucias Herkunft auf ewig geheim zu halten. Sie war ihm zu offenkundig liebevoll zugetan. Dazu bedurfte es dann nur noch der Gerüchte um die Unfruchtbarkeit des vormaligen Kaisers Durun und um Zahns enge Beziehung zur früheren Kaiserin Anais, um die richtigen Schlüsse zu ziehen. Nachdem er überzeugt davon gewesen war, dass es hoffnungslos war, das Geheimnis noch länger zu verbergen, hatte er offen verkündet, dass er ihr Vater war, und gehofft, die Angelegenheit wäre damit erledigt. Aber Geblüt Erinima - die Familie ihrer Mutter - gab sich damit nicht zufrieden. Sie focht seinen Anspruch an. Sie wollte Lucia zurück, um sie an Geblüt Erinima zu binden, wo sie nach Ansicht der Familie hingehörte. Zahn wollte sich nicht damit herumschlagen. Er glaubte durchaus, dass ihre Treue zu einem Familienmitglied
echt war - und er hatte sie nie daran gehindert, Lucia zu besuchen -, doch darüber hinaus war auf schmerzliche Weise unübersehbar, dass Geblüt Erinima auch das Ende des Krieges im Blick hatte. Denn sollte der Sieg errungen werden, war Lucia Anwärterin auf den Thron, und Geblüt Erinima wollte mit ihr zu alter Macht aufsteigen. Zahns Anspruch auf sie jedoch verschwierigte die Lage erheblich, zumal er den einzigen noch lebenden Elternteil darstellte und sie rechtlich zunächst als sein Kind und erst danach als jenes der Familie ihrer verstorbenen Mutter galt. Sofern sich sein Anspruch als echt nachweisen ließ. Dabei war Lucia selbst das größte Problem. Sie scherte sich überhaupt nicht um derlei Belange. Zwar war sie durchaus bereit, ihre Verwandtschaft anzuerkennen, doch sie weigerte 138 sich, mit ihr über Politik zu sprechen. Zahn war ihr Vater; so einfach war das. Was das Geblüt anging, so brauchte sie weder Geblüt Ikati noch Geblüt Erinima. Die Libera Dramach standen ihr voll und ganz zur Verfügung, eine Armee, die sich ohne weiteres mit jedem der großen Adelshäuser messen konnte und unabhängig von ihnen war. Lucia hegte kein Verlangen, Kaiserin zu werden. Ebenso wenig, eine Anführerin, Galionsfigur oder etwas in der Art zu sein. Es war schwierig zu sagen, woran ihr überhaupt etwas lag. Eben dieser Umstand störte Frauen wie Oyo mächtig, die darob zürnten und meinten, Lucia wüsste nicht, was gut für sie ist, und sie sollte bei ihrer Familie sein. Zahn aber kannte sein Kind, so gut es überhaupt jemand kennen konnte, und er hielt Lucia für jemanden, der mit den schmutzigen Machenschaften, in die Oyo sie hineinziehen wollte, nichts zu tun haben wollte. Er liebte seine Tochter und ließ sie ihren eigenen Weg gehen. Aber er würde niemals seine Vaterschaft widerrufen, ganz gleich, wie sehr Geblüt Erinima auf ihn einreden, ihm Versprechungen machen und ihm drohen würde. Ein Ruderboot glitt über die Flussmündung auf das südliche Ufer zu; es war an der Zeit, sich der zweiten Sorge anzunehmen. Zahn lenkte sein Pferd durch die Ränge seiner Männer und trabte den flachen Abhang zum Fuß des Hügels hinab. Oyo sah ihm mit unfreundlichem Blick hinterher. Auf Befehl eines seiner Generäle formierte sich hinter ihm eine kleine Leibwache aus zwanzig Mann. Auch eine Schwester vom Roten Orden gesellte sich dazu, tauchte unscheinbar wie ein Schatten mit ausdrucksloser Miene an seiner Seite auf. Gemeinsam durchquerten sie die Reihen der Armee zu dem freien Grasstreifen am Rand des Wassers. Dort hielten sie inne. Mittlerweile hatte das Ruderboot das Ufer erreicht, und die vier Neuankömmlinge zerrten es gemeinsam aus dem Wasser. Zahn versuchte zu ergründen, wer von ihnen der Anführer sein mochte, doch es war hoffnungslos. Alle trugen dieselbe 139 schlichte Hanfkleidung. Die Haarfarben reichten von blond bis schwarz. Alle besaßen dieselbe gelbliche Haut, die vom Kopf bis zu den Zehen mit verschlungenen, fahlgrünen Ranken tätowiert war. Tkiurathi vom Dschungelkontinent Okhamba klärten ihn seine Adjutanten auf. Wilde, meinten sie. Die Frage lautete, was die Wilden in Saramyr wollten. Nachdem sie das Boot gesichert hatten, stapfte einer von, ihnen furchtlos durch den Wald der Soldaten auf Zahn zu. Zahn schaute zu den Dschunken. Sie waren saramyrrischer Bauart. Die Götter allein wussten, wie viele weitere Tkiurathi sich darauf befinden mochten, jedenfalls sollten sie schwimmen können: Ein Zeichen von Zahn, und Zilas Feuerkanonen würden die Schiffe zerbomben. Ein Stück vor dem Barak blieb der Fremde stehen. Seid orangeblondes Haar war über den Kopf zurückgeklatscht und mit Saft gestärkt. Okhambische Kntha - auf Saramyrrisch als »Metzgerhaken« bezeichnet - hingen an beiden Seiten seines Gürtels: Waffen mit Doppelklingen und einem Griff in der Mitte. »Gruß zum Tag, verehrter Barak«, sprach der Tkiurathi in nahezu makellosem Saramyrrisch. »Ich bin Tsata.« Er verneigte sich auf eine Art, die nicht zum Ausdruck brachte, ob er gesellschaftlich unter ihm stand oder nicht. Zahn vermochte nicht zu sagen, ob dies von Hochmut zeugte oder ein Versehen war. Aber der Name hörte sich leicht vertraut an. »Ich bin Barak Zahn tu Ikati«, gab er zurück. Tsata bedachte ihn mit einem eigenartigen Blick. »Tatsächlich? Dann haben wir eine gemeinsame Bekannte. Kaiku tu Makaima.« Schnaubend trabte Zahns Pferd ein paar Schritte seitwärts; mit fester Hand lenkte er es zurück in die Reihe. Nun wusste er, wo er den Namen schon einmal gehört hatte. Dies war der Mann, der mit dem Spitzel Saran ins dunkle Herz Okhambas gereist war, um den Beweis für die Ursprünge der Weber zu 140 beschaffen; der Mann, der Kaiku geholfen hatte, einen Hexenstein im Xarana-Bruch zu zerstören. Zahn schaute zu der Schwester hinab, die zu seiner Rechten stand. »Kannst du das bestätigen?« Ihre Netzhäute hatten sich bereits rot gefärbt. »Ich bin gerade dabei.« Zahn musterte den Fremden mit unverhohlenem Argwohn. »Weshalb seid Ihr hier, Tsata? Dies ist kein guter Zeitpunkt, um Saramyr zu besuchen.« »Wir sind gekommen, um Euch unsere Hilfe anzubieten«, antwortete Tsata. »Tausend Tkiurathi, die mit Euch gegen die Weber kämpfen möchten.« »Ich verstehe«, meinte Zahn. »Und was würdet Ihr tun, wenn wir Eure Hilfe gar nicht wollten?« »Dann würden wir trotzdem kämpfen, ob es Euch recht ist oder nicht«, gab Tsata zurück. »Wir sind hier, um die
Weber aufzuhalten. Wenn wir es gemeinsam tun können, so sei es. Wenn nicht, tun wir es allein.« »Er ist, wer er zu sein behauptet«, meldete die Schwester sich zu Wort. »Ich habe mich mit Kaiku tu Makaima in Verbindung gesetzt.« Sie verneigte sich auf die geziemliche weibliche Weise vor Tsata. »Sie sendet dir Grüße, verehrter Freund. Der Rote Orden ist hocherfreut, dass dein Pfad dich erneut an unsere Gestade geführt hat.« Zahn verspürte leichte Verärgerung darüber, dass ihm der Wind aus den Segeln genommen worden war. Nun, da Tsata die Anerkennung der Schwestern vom Roten Orden genoss, war seine unfreundliche Haltung der Kraft beraubt. Der Rote Orden betrachtete sich als über politische Gefolgstreue erhaben; die Schwestern wussten, dass sie von unschätzbarem Wert waren, und nützen den Umstand hinlänglich aus. Für das Auge mochten sie angenehmer als die Weber erscheinen, doch insgesamt unterschieden sie sich gar nicht so sehr von ihnen, wie sie gerne glauben wollten. 141 Er glitt vom Pferd und reichte die Zügel dem nächstbesten Soldaten. »Mir scheint, ich war unhöflich«, räumte er ein und verbeugte sich. »Willkommen zurück.« »Es tut mir Leid, dass ich nicht früher kommen oder mehr Leute meines Volkes mitbringen konnte«, überging Tsata die Entschuldigung. »Es wären zehn Mal so viele gekommen, I wenn wir genügend Schiffe gehabt hätten.« »Ich wusste gar nicht, dass die Tkiurathi ein Volk von Seefahrern sind«, sagte Zahn. »Die Schiffe stammen ebenso wie die Besatzung von Geblüt Mumaka.« »Ich dachte, die Familie wäre aus Saramyr geflohen, als der Krieg ausbrach.« Was Zahn davon hielt, schwang deutlich in seiner Stimme mit. »Nach Okhamba, ja. Trotzdem hegt die Familie den Wunsch, ihrem Heimatland auf jede mögliche Weise zu helfen. Bevor ich damals aufbrach, kam Mishani tu Koli zu mir und bat mich, die Kunde von Chien os Mumakas Tod dessen Mutter zu überbringen. Ich fand die Familie nur wenige Stunden, bevor sie Hanzean vor dem Eintreffen der Ausgeburtenarmeen verließ. Im Gegenzug für meine Neuigkeiten hat man mich mit zurück nach Okhamba genommen. Seither bin ich mit Geblüt Mumaka in Verbindung geblieben; als die Zeit reif war, hat mir die Familie ihre Hilfe angeboten.« »Vier Schiffe«, bemerkte Zahn abschätzig. »Die anderen braucht die Familie, um ihren Handel zv betreiben«, gab Tsata zurück. »Ganz gleich, wie der Stand der Dinge hier sein mag, im Rest der Nahen Welt nimmt das Leben seinen gewöhnlichen Lauf. Die Menschen dort begreifen nicht, dass sie die nächsten sein werden, wenn Saramyr fällt. Mein Volk versteht das sehr wohl. Ich habe es ihm vor Auger geführt.« Eine Weile dachte Zahn über die Tkiurathi nach. Einerseit war in Zeiten wie diesen jeder Beistand willkommen, und er war kein solcher Narr, dass er einen aufrichtigen Verbündeten I 142 leichtfertig abgewiesen hätte; aber andererseits fiel es ihm schwer zu glauben, dass tausend Menschen zehntausend, wenn man Tsata Glauben schenken wollte - bereit sein konnten, auf einen anderen Kontinent zu segeln, um für ein Volk zu kämpfen, mit dem sie so gut wie nie in Berührung kamen. »Wir denken anders als Euer Volk, Barak Zahn«, ergriff Tsata mit ernster Miene das Wort. Er hatte die Gedanken seines Gegenübers erahnt. »Wir werden nicht in unserer Heimat warten, bis wir angegriffen werden. Die Weber verkörpern eine Bedrohung für die gesamte Nahe Welt. Wir wollen sie an ihrer Quelle aufhalten, so es uns gelingt.« Zahn wollte gerade etwas erwidern, als die Schwester ihn am Arm berührte. Sie schaute nach Norden über den Fluss. Am Horizont hing ein Dunstschleier. Zahns Blick wanderte zu den Dschunken: Sie wirkten gespenstisch schemenhaft und um die Ränder verschwommen. Er blinzelte, fühlte sich kurzsichtig. »Ist es in dieser Gegend üblich, dass Nebel so schnell einfällt?«, fragte Tsata, als die Luft sich rings um sie verdichtete. 143 Zehn Die Mauern von Zila hatten die Feinde des Kaiserreichs über tausend Jahre abgehalten. Die Feyakori liefen durch sie hindurch wie Kinder durch Sandburgen. Sie näherten sich im Schutz des Nebels, doch niemand ließ sich täuschen. Kaiku hatte die Schwestern über das Vorgehen der Dämonen unterrichtet, und der dunkle Schleier hatte sich zu rasch zugezogen und roch zu faulig, um natürlichen Ursprungs zu sein. Dennoch fühlte es sich durch das Wissen, dass sie kamen, nur noch schlimmer an: Die Übelkeit erregende Unvermeidlichkeit ihres Eintreffens lastete schwer auf den Herzen der Verteidiger. Die Soldaten hatten bereits begonnen, die Stadt für die Räumung vorzubereiten, als die Feyakori auftauchten. Sie brachen aus dem Dunst hervor, tauchten wie aus dem Nichts nur wenige Dutzend Meter vor der Mauer auf. Menschen heulten auf, als die Dämonen Furcht einflößend auf sie zuhielten; durch den Steilhang nördlich der Stadt hatte es den Anschein, als kämen sie von unten, erhöben sich aus einem Nebelmeer. Sie fassten die Krone der Mauer, ließen die Stumpfenden ihrer Arme auf den Stein herabschmettern, verschmolzen ihn mit einer zischenden Masse schwarzen Schlicks, zerstampften oder zersetzten jene Soldaten, die zu langsam waren, um rechtzeitig aus der Bahn zu flüchten. Dann zerrten sie mit einem langen, anhaltenden Stöhnen, und das obere Drittel der Mauer gab unter einer Lawine aus Körpern, Ziegeln und Mörtel nach.
Alarmglocken tönten aus dem Nebel; Männer mühten sich ab, die Feuerkanonen weit genug abzusenken, um den Feind 144 zu treffen. Doch die Feyakori waren zu nah. Sie schlugen, rissen und stampften mit trägen, aber übermächtigen Bewegungen, zerstörten einen riesigen Abschnitt der Mauer binnen Minuten, während wirkungslos Büchsen auf sie feuerten und Pfeile auf sie einhagelten. Dann stapften sie in die Stadt, krachten durch Gebäude, als bestünden diese nur aus Stöcken und Papier. Die ausgebürtigen Raubtiere und die Nexusse folgten nicht weit hinter ihnen. Tsata rannte durch die verheerten Straßen, die im Gefolge der Dämonen zurückblieben. Ein Dutzend Tkiurathi war bei ihm. Alle hatten die Metzgerhaken im Anschlag. Hinter sich hörten sie die Rufe der Feyakori, körperlose Klagelaute, die durch den sich rasch lichtenden Nebel hallten. Vor ihnen drangen aus der Ferne Schlachtgeräusche, da die Soldaten des Kaiserreichs entlang der Kluft in der Mauer Stellung bezogen hatten und der ausgebürtigen Horde erbitterten, blutigen Widerstand leisteten. Tsata kümmerte beides nicht; sein Zielgebiet lag dazwischen, wo die Dämonen eine qualmende, verkohlte Spur der Verwüstung gezogen hatten, in der sich eingestürzte Häuser mit darin gefangenen, verstümmelten oder vor Angst halb wahnsinnigen Männern, Frauen und Kindern befanden. Auf seinen Vorschlag hin verteilten die Tkiurathi sich, zerbrachen in Zweier- und Dreiergruppen und eilten in verschiedene Richtungen. Sie bogen in die schmalen Speichenstraßen und Quergassen der Stadt, entfernten sich vom Hauptstreifen der Verheerung - wo nichts und niemand mehr lebte - und steuerten stattdessen auf die Ränder zu, wo es noch Menschen gab, denen geholfen werden konnte. Tsata schmeckte Galle: die Luft selbst war hier sehr schlecht. An vorderster Front seines Verstands loderte immer noch der Anblick der Feyakori. Während des Monats, den die Überfahrt aus seiner Heimat hierher dauerte, hatte er beim Gedan145 ken an die Rückkehr nach Saramyr eine stetig wachsende, freudige Erregung empfunden. Vier Jahre lang hatte er seine Leute aufgespürt und von seinem Unterfangen überzeugt; vier Jahre des Wanderns durch tiefsten Dschungel, unermüdlicher Diplomatie, des Zusammenführens von Männern und Frauen, die über hunderte Kilometer nahezu undurchdringlicher Gefilde verstreut gewesen waren. Und wenngleich es ihm nur gelungen war, vier Schiffe für ihre Beförderung aufzutreiben, konnten diese vier so oft zurück und wieder herfahren, wie es notwendig war, um alle Tkiurathi nach Saramyr zu bringen. Doch bereits wenige Stunden nach seinem Eintreffen musste er erleben, wie sehr die Dinge sich in seiner Abwesenheit verschlimmert hatten, und nun wünschte Tsata, er hätte auf sein Herz statt auf seinen Verstand gehört und wäre bereits früher gekommen. Wo die staubigen Eingeweide eines Gebäudes sich über die Straße ergossen hatten, kletterte er über eine Geröllhalde zu zwei Frauen, die an einem Balken zerrten, um den darunter auf dem Rücken liegenden Mann zu befreien. Tsata ließ ihnen keine Zeit, eine Regung angesichts seines Erscheinungsbilds zu zeigen, durch seinen Anblick in Furcht oder Unsicherheit zu geraten. Sogleich ergriff er den Balken und hob, und nach kurzem Zögern verstärkten sie seine Kraft um die ihre. Zwei weitere Tkiurathi tauchten auf und halfen mit. Der Balken bewegte sich, und der Mann kroch darunter hervor, halb benommen vor Schmerzen, zumal sein Fuß im Stiefel zerschmettert worden war. Eine der Frauen stützte ihn. »Sucht eine Krücke und verschwindet von hier«, forderte Tsata sie auf. »Durch das Südtor.« Dann warf er seinen Gefährten einige kehlige Worte auf Okhambisch zu, und sie rannten wieder los. Der Nebel hatte sich bis auf einen feinen Schleier gelichtet, war vom grellen Licht der Wintersonne hinfort gebrannt wor146 den. Die Dämonen gaben ihre Schutzhülle auf; sie brauchten sie nicht mehr. Einer hatte mittlerweile die Feste der Stadt erreicht, die höchste und mittigste Stelle, gleichsam die Nabe von Zilas radförmiger Anordnung. Lodernde und zerstörte Gebäude säumten den Pfad des Ungetüms von der Lücke in der Nordmauer zur Feste, auf deren Mauerwerk der Dämon nun einhieb. Der andere zog eine Spur der Verwüstung in Richtung der Westmauer. Tsata hoffte, dass die Schiffe rechtzeitig entkommen konnten. Die Zeit hatte kaum dafür gereicht, dass die Tkiurathi ihre gemeinsamen Habseligkeiten packen und zum Ufer schwimmen konnten; zuletzt hatte er die Dschunken in der Mündung wenden gesehen. Ein paar Männer der Tkiurathi waren zusammen mit der Besatzung auf den Schiffen geblieben. Sie würden nach Okhamba zurückkehren und den anderen berichten, was sie heute gesehen hatten. Wozu die Weber mittlerweile in der Lage waren. Für jene Tkiurathi, die sich in Saramyr befanden, war nunmehr der Schutz ihres Pash vorrangig. In Okhamba dachte man anders als in Saramyr: Okhamber kannten kein persönliches Besitztum; Bedürfnisse Einzelner galten als weniger wichtig als die der Gruppe. Pash war ihre Bezeichnung für jegliche zu einem bestimmten Zeitpunkt gegebene Gruppe, ein vielschichtiger Ansatz mit fließenden Übergängen, der ganz der Art und Weise entsprach, wie Okhamber - einschließlich der Tkiurathi - einer Situation Bedeutung beimaßen. In diesem Augenblick und an diesem Ort umfasste ihr Pash die Menschen von Zila; und so verteilten sie sich ohne nachzudenken in der Stadt, um beim Rückzug zu helfen und Leben zu retten, ungeachtet aller Gefahren für sie selbst.
Ein Hilferuf lenkte sie auf einen kleinen Platz. Die Fassaden der Gebäude dort waren von ihrem Aufbau abgefallen und hatten die Räume dem offenen Himmel preisgegeben. Rauch quoll unter dem Schutt auf dem Boden von etwas hervor, das 147 einst der Laden eines Flickschusters gewesen sein mochte. Unter dem Geröll stand etwas in Flammen. Ein alter, bärtiger Mann arbeitete wie besessen daran, den Steinhaufen abzutragen. Er erblickte Tsata und dessen Gefährten und rief ihnen zu: »Da unten ist jemand!« Sogleich eilten sie ihm zu Hilfe, hoben die schweren, unebenmäßigen Steine an und schleuderten sie davon. Von unten ertönte ein heftiges, klopfendes Geräusch. Tsatas durch unzählige Generationen des Lebens im Dschungel geschmiedeter Überlebenstrieb ließ ihn während ; der Arbeit unablässig um sich blicken. Ohne darüber nachzudenken, wusste er durch die trostlosen, lang gezogenen Laute der Feyakori stets, wo sie sich befanden; sie waren zu weit weg, um eine Bedrohung darzustellen. Durch den Takt und die Klangfarbe des Schlachtlärms aus dem Norden vermochte er zu bestimmen, dass die Streitkräfte des Kaiserreichs noch die Stellung hielten. Dennoch liefen jene ausgebürtigen Raubtiere, die durch die Kluft in der Mauer gehuscht waren, bevor sie abgedeckt werden konnte, in der Stadt frei umher. Er hatte sowohl ihre Handschrift als auch ein oder zwei tote Ausgeburten gesehen. Sie hatten soeben die Ecke einer Falltür freigelegt, hinter welcher der Qualm hervordrang, als sich auf dem Platz etwas bewegte. Noch bevor die zwei Ghauregs sie bemerkten, waren die drei Tkiurathi mit gezückten Metzgerhaken auf den Beinen. Sie rannten aus dem Schutz des Gebäudes auf den Platz, lenkten die Blicke der Ungeheuer auf sich, führten sie von dem alten Mann weg. Die Ausgeburten schnaubten beim Anblick ihrer Beute, grollten tief in der Brust. Einer der Ghauregs brüllte eine kehlige Herausforderung und schüttelte den Schädel; dann setzten alle drei sich langsam in Bewegung. Tsata kreiste um den Platz, hielt den Blick auf die Raubtiere gerichtet. Seine Gefährten entfernten sich von ihm, schritten 148 lautlos über das geröllübersäte Kopfsteinpflaster. Zusammenhängende Gedanken waren eingestellt und durch die Instinkte eines Jägers ersetzt worden. Die Ghauregs ließen die mächtigen Kiefer aufeinander klappern, zeigten sich ihren Gegnern gegenüber argwöhnisch. Ihre Schnauzen waren mit Blut befleckt. Von der Falltür ertönte ein Klopfen, lauter und eindringlicher als zuvor, zumal der Laut nicht mehr von so viel Geröll gedämpft wurde. Die Schädel der Ghauregs wirbelten herum, hefteten sich auf den dort hockenden alten Mann. Der Greis erbleichte. Die drei Tkiurathi bewegten sich zugleich, nutzten den Augenblick der Ablenkung, um den Abstand zwischen ihnen und den Raubtieren zu überwinden. Ihre Fellschuhe waren so weich, ihre Schritte so geschmeidig, dass die Ghauregs sie nicht kommen hörten; sie drehten sich gerade noch rechtzeitig zurück, um dem Angriff zu begegnen. Tsata sah die Faust früh genug auf sich zuschnellen, um sich darunter hinweg zu ducken. Mit aller Kraft, die er aufzubringen vermochte, rammte er einen seiner Metzgerhaken in die Rippen des Ghauregs. Er vergrub sich tief in den Leib, doch die Muskeln des Ungetüms waren zu zäh, um sie einfach zu durchdringen, und so entwand sich die Klinge seiner Hand, als er weghuschte. Brüllend vor Schmerz ließ der Ghaureg den Hieb zu weit vordringen, und einer der anderen Tkiurathi hackte ihm mit einem jähen Abwärtsschlag die Hand am Gelenk ab; doch er hatte sich zu begierig auf das einladende Ziel gestürzt und übersah dadurch die andere Hand des Ghauregs, die sich mit unlösbarem Griff um sein Schienbein schloss. Der Tkiurathi schlitzte quer über die Schnauze des Viehs, schnitt mitten durch die Lippe, aber die Klinge stieß auf Knochen und prallte ab. Der Ghaureg wirbelte ihn am Bein umher wie eine Peitsche, dass die Knochen brachen, dann schleuderte er seinen Angreifer in hohem Bogen von sich. Der 149 Tkiurathi landete krachend und erschlafft im Schutt, doch noch bevor er zum Liegen kam, hatte Tsata bereits seinen zweiten Schlag ausgeführt. Da der Ghaureg mit einem Feind beschäftigt war, hatte er keinen Zeit, sich um den anderen zu kümmern, und Tsata trieb den zweiten Metzgerhaken mit aller Kraft in den Rücken des Scheusals. Diesmal stieß die Klinge auf etwas Lebenswichtiges. Sein Feind torkelte krampfhaft zuckend einige Schritte weg, tastete dabei nach seinem Rücken, konnte ihn aber nicht erreichen. Dann brach er zusammen, flutete mit dem letzten blubbernden Atemzug Blut über die untere Zahnreihe. Während der Zeit, die Tsata gebraucht hatte, um den ersten Ghaureg außer Gefecht zu setzen, hatte er den zweiten nie aus den Augen gelassen. Das Ungetüm kämpfte immer noch mit dem verbleibenden Tkiurathi. Tsata nahm sich keine Zeit dafür, nach seinem gefallenen Kameraden zu sehen, sondern näherte sich vorsichtig dem Leichnam des erledigten Ghauregs, jederzeit bereit zurückzuspringen, sollte das Vieh sich bewegen. Er hebelte seine Waffen aus dem toten Körper, dann eilte er seinem bedrängten Gefährten zu Hilfe. Jener Mann - sein Name war Heth - hatte taktisch gekämpft. Statt sich alleine einem stärkeren Feind zu stellen, hatte er ihn abgelenkt, um den anderen Zeit zu verschaffen, den ersten Ghaureg auszuschalten. Nun sah er Tsata nahen, und die Situation wandelte sich zu seinen Gunsten. Er ging in den Angriff über, stürzte sich tief geduckt
vor, um auf die Knie seines Feindes einzuhacken. Der Hieb war ungenau und traf stattdessen die Wade, aber er genügte, um eine rote Flut loszutreten, die das graue Fell des Ghauregs durchtränkte. Heth zog sich schneller zurück, als der Gegenschlag erfolgen konnte, und in jenem Augenblick schnellte Tsata hinter das Ungeheuer, dicht genug, um ihm einen tiefen Schnitt in den Trizeps zu versetzen, bevor er wieder außer Reichweite sprang. Wutentbrannt wirbelte es zurück, um nach ihm zu schnappen. 150 Heth nutzte die Gelegenheit, um erneut die Deckung des Viehs zu durchbrechen und ihm den Oberschenkel aufzuschlitzen. Mehrere Minuten lang griffen die beiden Tkiurathi den Ghaureg auf diese Weise an, hinterließen jedes Mal eine neue Wunde und entzogen sich dem Zugriff des Feindes. Als das Fell schließlich scharlachrot durchnässt war und der Blutverlust den Ghaureg schwerfällig werden ließ, nutzte Heth einen schlecht ausgeführten Hieb des Viehs, um ihm die Kehle durchzuschneiden. Ohne einen weiteren Laut ging es zu Boden. Tsata tauschte ein atemloses Lächeln mit Heth. »Wir müssen uns beeilen«, meinte er in seiner Muttersprache. »Es könnten noch andere kommen.« Sie steckten die Klingen an die Gürtel. Heth ging los, um nach seinem Gefährten zu sehen, der zu schreien begann, da der Schock allmählich nachließ. Tsata begab sich zu der Falltür. Mittlerweile drangen dichte Schwaden dahinter hervor. Das Klopfen war verstummt, der alte Mann längst verschwunden. Tsata räumte das restliche Geröll beiseite und zog die Falltür auf, hielt sie zwischen sich und die Öffnung. Flammen züngelten heraus und wichen zurück. Tsata holte tief Luft, hielt den Atem an und schaute in den Einstieg hinab. Seine Augen begannen sofort zu tränen: Der Qualm war zu heiß, um ihn lange zu ertragen. Da er nichts sehen konnte, fasste er einfach hinab, vertraute darauf, dass seine Sinne ihn warnen würden, wenn er dem Feuer zu nahe käme. Seine Hand berührte Stoff und Muskeln. Er fand Halt, vermutete, dass es sich um den Oberarm des Menschen handelte, der zuvor geklopft hatte, und zog. Der Mann erwies sich als überraschend leicht für seine Größe, dennoch hatte Tsata mit der toten Masse Schwierigkeiten. Mühsam schleifte er die schlaffe Gestalt über den Schutt ein wenig von dem Einstieg weg, doch es wurde bereits offensichtlich, dass es zu spät war. 151 Kurz schaute Tsata auf den Mann hinab. Seine Haut war weiß, seine Züge so zierlich, dass man sie fast als verkümmert bezeichnen konnte. Am Hals befanden sich kleine Kiemenschlitze, die glasigen Augen standen mit kreuzförmigen Pupillen vor. Ein Ausgebürtiger. Er hatte sich in der Stadt versteckt. Der Flickschuster hatte ihm vermutlich Zuflucht gewährt. Tsata hatte gehört, dass Ausgeburten nicht mehr auf der Stelle hingerichtet wurden, wie es vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs Sitte gewesen war. Die Wertigkeiten hatten sich verschoben, und da sowohl der Rote Orden als auch Lucia auf der Seite der Menschen fochten, schien es unangebracht, das Töten weiter zu gestatten. Dennoch ließen sich Vorurteile nicht so einfach ausrotten. Wenngleich es mittlerweile gegen das Gesetz verstieß, Ausgebürtige zu töten, wurden sie doch nach wie vor vom Großteil der Menschen geschmäht und gezwungen, sich zu verstecken oder in ihren eigenen, entlegenen Gemeinden Zuflucht zu suchen. Ausgeburten wie die Schwestern vom Roten Orden zählten zu den Glücklicheren: Sie wirkten nach außen hin gewöhnlich. Diesen Mann jedoch hätte man wie einen Aussätzigen behandelt. Bei dem Gedanken verengte Tsata angewidert die Augen. In diesem einst wunderschönen Land herrschte so viel Hass. Er fragte sich, ob dieser Mann eine Familie gehabt hatte, denn im Gegensatz zu Tsatas Heimat war es in Saramyr üblich, in Paaren zusammenzuleben und den Nachwuchs für sich allein zu beanspruchen. Er schaute hinüber zu dem Einstieg, aus dem wieder Flammen züngelten. Und gelangte zu dem Schluss, dass er es lieber nicht wissen wollte. Barak Zahn saß nahe des Südtors von Zila auf dem Pferd und überwachte den Mob der Stadtbewohner, die um ihr Leben rannten. Er war von mehreren Leibwächtern umringt, und in 152 der Nähe versuchte eine Gruppe Soldaten des Geblüts Vinaxis, die Menge zusammenzuscheuchen und ruhig zu halten. Die verängstigen Menschen neigten wie aufgeschreckte Tiere dazu, in blinde Panik zu verfallen. Der Lärm war entsetzlich, und in der Luft hing immer noch der Moder des Nebels der Feyakori, der sich mittlerweile mit dem ansteckenden Gestank von Angst vermengt hatte. Zahn schaute zum Hügel hinauf, wo einer der Dämonen die Feste in Schutt und Asche legte. Der andere stapfte wahllos umher, schlug mit bedächtigen, planvollen Hieben Häuser, Geschäfte und Lager in Stücke. Die Klänge einstürzenden Steins und die Rufe der Dämonen hallten durch die Stadt. Zahns Blut siedete: Er war außer sich vor Zorn über die eigene Machtlosigkeit. Bei den Göttern, es fühlte sich so grundlegend falsch an, einen strategischen Vorposten wie diesen aufzugeben. Zwar hatte er Männer entlang des Flussufers und der Mauern, doch sie leisteten gerade so viel Widerstand, wie nötig war, um möglichst viele Menschen aus der Stadt zu holen und die Ausgeburten draußen zu halten. Dies war von dem Augenblick an eine verlorene Schlacht gewesen, als die Feyakori aufgetaucht waren. Es gab einfach kein Mittel der Verteidigung gegen sie. Und genauso würde es in der nächsten Stadt sein, die sie angriffen, und in der nächsten, bis die Südlichen Präfekturen fallen und die Weber das Land verschlingen würden.
Dennoch sammelte er selbst im Angesicht einer dermaßen erbärmlichen Niederlage zuversichtlich stimmende Beobachtungen, um sie an seine Verbündeten weiterzugeben. Sie hielten die Ausgeburten entlang des Flusses im Westen und Osten vergleichsweise mühelos zurück. Anscheinend hatte der Angriff darauf beruht, dass die Feyakori die Mauer einreißen und die Ausgeburten nördlich der Stadt über das Wasser herbeifluten sollten. Aber die Feyakori hatten die Mauer durchbrochen und sich danach auf einen Streifzug der Verwüstung 153 begeben, und die Truppen des Kaiserreichs hatten schnell genug gehandelt, um den Durchbruch hinter ihnen zu verschließen. Hätten die Dämonen auch nur einen Anflug von taktischem Geschick eingesetzt, hätten sie ein größeres Loch geschaffen oder wären zumindest geblieben, um zu gewährleisten, dass genügend Ausgeburten in die Stadt gelangten, um den Durchgang frei zu halten. Zahn vermutete, dass die Weber kaum Herrschaft über ihre Schöpfungen besaßen, und das war zumindest etwas Wissenswertes. Er blickte zu den hoch droben, außerhalb der Reichweite der Büchsen am Himmel kreisenden Knorpelkrähen. Wie immer hielten die Nexusse sich versteckt und geschützt irgendwo in der Umgebung auf, lenkten die Schlacht aus der Ferne. Die Knorpelkrähen dienten als ihre Augen, die ausgebürtigen Raubtiere waren ihre Marionetten. Würden die Verteidiger an die Nexusse herangelangen, könnten sie die Tiere in planlose Wirren versetzen; aber die Nexusse hatten gelernt, sich zu verstreuen, seit Zahn sie bei der Schlacht um den Schoß Vorjahren aufgespürt und ausgelöscht hatte. Doch selbst wenn den Soldaten des Kaiserreichs nun dasselbe gelänge, selbst wenn sie jedes einzelne ausgebürtige Vieh hier töteten, könnten sie dennoch nicht gewinnen. Es lief immer wieder auf dieselbe, unveränderliche Tatsache hinaus: sie besaßen keine Waffe gegen die Dämonen der Fäulnis. Ein Reiter näherte sich ihm, ein junger, gut aussehender Mann mit dichtem braunem Haar in den Farben des Geblüts Ikati. »Was gibt es für Neuigkeiten von unseren Verbündeten?«, fragte Zahn. Er erinnerte sich an diesen Mann; er hatte ihn in die Stadt geschickt, um die Tkiurathi im Auge zu behalten. Zahn hatte es widerstrebt, sie von den Schiffen zu lassen, aber in den Wirren nach dem Einfall des Dämonennebels wollte er keine Männer dafür erübrigen, sie davon abzuhalten. Nun rannten sie in der Stadt umher, und obwohl sie eher eine Hilfe 154 denn eine Behinderung zu sein schienen, hatte lange Erfahrung ihn gelehrt, derart augenscheinlicher Selbstlosigkeit zu misstrauen. Doch der Bericht des jungen Mannes brachte keine neuen Erkenntnisse. Die Tkiurathi taten ihr Möglichstes, um den Rückzug zu beschleunigen, indem sie Verletzte retteten, Nachzüglern weiterhalfen und die vereinzelten Ausgeburten aufspürten und töteten, die durch die Straßen streiften. Einige Tkiurathi kamen dabei sogar ums Leben. Vielleicht eine List, um sein Vertrauen zu erschleichen? Der junge Mann beendete gerade seinen Bericht, aber Zahn hörte ihm schon längst nicht mehr richtig zu. Stattdessen schaute er den Hang hinauf, wo die Feyakori verschwommen hinter den Schieferdächern der Stadt aufragten, und dachte über dieses seltsame Volk nach, das vom Dschungelkontinent gekommen war. Wahrscheinlich rettete genau das sein Leben. Er erblickte den Büchsenschützen im oberen Fenster eines heruntergekommenen Hauses, noch bevor die Mündung aufblitzte, und zwar nur deshalb, weil er zufällig in die Richtung geschaut hatte. Das verschaffte ihm den Bruchteil eines Augenblicks, der den Unterschied zwischen der Kugel in seinem Herzen oder in seiner Schulter darstellte. Die Gewalt des Einschlags schleuderte ihn aus dem Sattel, sandte ihn krachend, mit in den Steigbügeln verfangenen Füßen zu Boden. Sein Pferd wieherte und bäumte sich auf, schleifte über das Kopfsteinpflaster, während er wild und hilflos um sich schlug. Die Hufe des Tiers klapperten, als es rückwärts über ihn hinwegstieg. Schock betäubte seine Sinne, ließ alles fern und langsam wirken. Verschwommen nahm er wahr, dass ein Mann, der junge Bote, mit einem Messer in der Hand auf ihn zustürzte; doch dann war die Hand des Boten plötzlich verschwunden, gleich darauf auch sein Kopf, abgehackt von den Schwertern der Leibwächter Zahns. Ein weiterer Hieb, und die Steigbügel, 155 die Zahn an das Pferd ketteten, waren durchtrennt. Plötzlich sah er wieder den Himmel; das Pferd tänzelte ungestüm um sich tretend davon, und jemand erschoss es. Männer umringten ihn, zornige Schreie ertönten, als weitere zu dem Gebäude losritten, um den Schützen auszuschalten. Doch der würde bereits tot sein, gestorben durch eigene Hand. Niemand würde erfahren, wer ihn oder den Boten, der für den Notfall vorgesehen gewesen war, geschickt hatte. Aber Zahn wusste es. Während er keuchend und totenbleich dalag, seine Männer ihm in die Augen blickten und unzusammenhängend zu ihm sprachen, verfluchte er den Namen von Oyo tu Erinima, die ihre Großnichte zurückhaben wollte. 156 €LF Kaiku wirbelte und nähte, schlang und knotete, bewegte sich an tausend Fronten gleichzeitig, während sie durch das Gewirr des Gewebs sauste. Ihr Gegner war so schnell wie sie, schneller noch; er blockierte sie, verwirrte sie, grub sich in das Stickwerk ihrer Verteidigung; doch Kaiku ließ nicht locker, gönnte ihrer Aufmerksamkeit keine noch so geringe Pause. Für jeden kleinen Sieg, den ihr Gegner errang, musste er eine gleichwertige Niederlage einstecken. Knäuel lösten sich, Netze wurden gestrickt, Fallen wurden gelegt und umgangen - eine wuselnde
Schlacht gleich dem Aufeinanderprallen einer Armee von Spinnen, die sich in einem so verschlungenen, goldenen Netz bekämpfte, dass es den Verstand überstieg. Kaiku setzte jede List ein, die sie kannte, und wandte aus dem Stegreif einige Kniffe an, die sie nie zuvor ausprobiert hatte. Schlucklöcher, die Fäden in ein unlösbares Durcheinander sogen; Streustiche, die eine endlose, verwirrende Anordnung möglicher Pfade über das Schlachtfeld schufen, jedoch letztlich ins Leere führten. Sie schlug Stränge wie die Saiten einer Harfe an, ergänzte sie um andere Schwingungen, um Störmuster zu schaffen, die ihre Bewegungen verschleierten. Manchmal erwies sich ihre Vorgehensweise als wirkungsvoll, manchmal nicht; andererseits galt dasselbe für die Versuche ihres Gegners. In der Welt menschlicher Sinne tobte diese Schlacht lange Minuten. Im Geweb schien sie seit Jahren anzudauern, und immer noch streckte keiner der Widersacher die Fahnen, geriet keiner ins Wanken. Die beiden waren einander ebenbürtig. Patt. Dann endlich zog ihr Gegner sich zurück. Kaiku tat es ihm 157 gleich. Körperlos hingen sie im Geweb, erschöpft und vorsichtig wie blutige, gestellte Tiger. Am Rand ihrer Wahrnehmung spürte sie das Wandern und Gleiten der Riesenwesen, die diese glitzernde Welt bevölkerten und sich stets dem unvermittelten Blick entzogen, stets unerreichbar blieben. Sie verständigten sich miteinander auf ihre eigene Weise in Form von Knall- und Knarrlauten, die durch das Geweb hallten. Kaiku wusste, dass ihre Sinne die Geräusche lediglich als solche auslegten, damit ihr menschlicher Verstand etwas damit anzufangen vermochte, denn eigentlich gab es an diesem Ort keine Töne; dennoch hörte es sich zugleich schauerlich und magisch an. Mittlerweile meldeten sich die Ungeheuer immer öfter. Auf das Zeichen hin holte sie ihr Kana ein, kehrte in ihr Ich zurück und schlug die Augen auf. Sie kniete auf einer Korb-geflechtmatte in der Mitte eines holzgetäfelten Raumes. Von der Decke hing eine Papierlaterne, die Schatten in die kühle Düsternis zauberte und die Holzkohleradierungen an der Wand, die winzigen Tische mit ihren Vasen voll dunkler Blüten beleuchtete. Ein Weihrauchbrenner erfüllte das Zimmer mit dem Duft von Kama-Nüssen, bitter, fruchtig und rauchig zugleich. Kaiku gegenüber befand sich Cailin, die sie mit sattroten Netzhäuten anerkennend musterte. Beide atmeten heftig, und die Haut beider glitzerte im Laternenschein vor Schweiß. Sie trugen die Kluft des Roten Ordens. Cailin lächelte. »Meinen Glückwunsch«, sagte sie. Kaiku konnte ein kurzes Lachen nicht unterdrücken. Zum ersten Mal überhaupt hatte sie ihrer Lehrmeisterin im Kampf ein Unentschieden abgerungen. Sie hatte es mit der mächtigsten noch lebenden Schwester, dem Oberhaupt des Roten Ordens, aufgenommen und war nicht besiegt worden. Ein herrliches Gefühl. Cailin stand auf, Kaiku tat es ihr gleich. »Spazier ein Stück mit mir«, forderte ihre Lehrmeisterin sie auf. 158 Kaiku fühlte sich etwas wackelig auf den Beinen, dennoch gehorchte sie mit vor Hochgefühl geröteten Wangen. Sie schlenderten durch das Gebäude, in dem jene Ordensschwestern untergebracht waren, die in dem Dorf am Fuß des Hanges von Arakajo lebten, und gingen hinaus in die Nacht. Das Dorf wirkte etwas verfallen, ganz so wie die Stadt im Schoß, aus der die meisten Bewohner dieses Ortes gekommen waren. Nachdem die Libera Dramach aus dem Xarana-Bruch vertrieben worden waren, hatten sie Araka Jo für sich beansprucht, zumal anscheinend niemand sonst dort leben wollte. Die an ihre Annehmlichkeiten gewöhnten Adeligen und hohen Familien hatten sich in Städte wie Machita und Saraku zurückgezogen; letztere hatte sich während des Krieges zur inoffiziellen Hauptstadt der Gebiete des Kaiserreichs entwickelt. Die beiden Ordensschwestern folgten Trampelpfaden zwischen den auf Pfählen errichteten Behausungen. Lichter schimmerten in der Dunkelheit auf Vorbauten; Kerzen flackerten in kleinen Schreinen aus Stein und Metall; Chikkikii zirpten und knackten in den Büschen; Gebirgsnagetiere raunten einander zu, während sie von Schatten zu Schatten huschten. Aurus hing voll und hoch im Osten, riesig und eindringlich. Eine Weile schwiegen sie und sprachen nur, um die gelegentlichen Grüße der Dorfbewohner zu erwidern. Hier waren die Schwestern hoch angesehen, und Kaiku genoss die Aufmerksamkeit. Schließlich wurden die Häuser spärlicher, die Bäume wuchsen entlang der Pfade dichter, und die leisen Geräusche des Dorfes blieben hinter ihnen zurück, machten Platz für die wilden und doch eigenartig friedvollen Laute der Nacht. »Du bist von Anfang an ein hartes Stück Arbeit gewesen, Kaiku«, meinte Cailin und schaute sie an. »Ich hoffe, du verstehst jetzt, weshalb ich so hartnäckig bei dir war.« 159 »Du hattest Recht«, räumte Kaiku ein. Zumindest das musste sie zugeben. »Es hat lange gedauert, bis ich es eingesehen habe, aber du hattest Recht.« Die größere Frau lächelte nachsichtig. »Du hast ja keine Vorstellung davon, wie es sich angefühlt hat, dich ziehen zu lassen, zumal ich wusste, welche Begabung du besitzt. Zuzusehen, wie du dich mit kaum einer Ahnung von den eigenen Fähigkeiten auf alles und jeden gestürzt hast. Die Götter bewahren, dass ich je Kinder bekomme, wenn sie mir so viel Sorgen bereiten wie du.« Kaiku lachte leise. »Starrsinn ist leider eine meiner weniger bewundernswerten Eigenheiten.« Eine Weile spazierten sie weiter. »Würdest du?«, fragte Kaiku schließlich. »Kinder habe meine ich.« »Das sollte keine von uns«, gab Cailin zurück. »Jedenfalls noch nicht.«
»Keine von uns? Du meinst vom Roten Orden?« »Wir wissen nicht, was dadurch geschehen kann. Und wir wagen nicht, uns auszumalen, was daraus entstehen könnte.« »Aber bestimmt hat es doch jemand versucht. Oder es hat Versehen geben.« »Niemand hat es je versucht. Gewiss sind schon Versehen vorgekommen, aber die wurden behoben.« Als sie den Ausdruck in Kaikus Gesicht sah, fügte sie hinzu: »Die Betroffenen haben sich freiwillig dafür entschieden. Sie wussten, dass die Zeit noch nicht reif war.« Kaiku gefiel nicht, was sie da hörte. Zwar waren ihr Kinder bislang noch selten in den Sinn gekommen - sie vermutete, dass ihr der Mutterinstinkt fehlte -, aber dass ihr die Wahl genommen wurde, war etwas, das sie nicht in Kauf nehmen wollte. Cailin spürte das und versuchte eine Erklärung. »Wir Schwestern vom Roten Orden sind mit einem langen Leben gesegnet, Kaiku. Wir sind zwar wenige, aber einander 160 eng verbunden. Vermutlich enger als jede andere Gruppierung in Saramyr. Die Adeligen setzen ihre vernichtenden Streitereien untereinander sogar trotz der Hungersnot und Verheerung unbeirrt fort. Bedenke nur, was Barak Zahn widerfahren ist. Der Rote Orden hingegen bleibt geeint, und das liegt daran, das unser höchstes Augenmerk uns selbst gilt.« »Dann sind wir wohl auch die selbstsüchtigste aller Gruppierungen«, murmelte Kaiku. »Jetzt spricht dein Tkiurathi-Freund aus dir«, knurrte Cailin. Jegliche Herzlichkeit verschwand. »Muss ich dich wirklich daran erinnern, dass vor nicht einmal zehn Jahren jede einzelne von uns getötet worden wäre, wenn sie die Fähigkeiten gezeigt hätte, die wir besitzen? Oder dass die meisten von uns gestorben sind, indem sie sich selbst verbrannten oder in den Freitod gingen, weil sie sich so dafür schämten, was aus ihnen geworden war? In den Gebieten der Weber geschieht das noch immer, Kaiku. Immer noch tritt in Kindern Kana zutage, und sie sterben dafür. Und wir gelangen leider nur an einige wenige - heran. Ohne unsere Selbstsucht wären wir beide jetzt nicht hier, und die Weber hätten dieses Land bereits vor langer Zeit an sich gerissen.« Kaiku verfiel in zorniges Schweigen. Dagegen konnte sie schwerlich etwas einwenden, dennoch machte Cailins Tonfall sie wütend. Und dass sie Tsata ins Spiel gebracht hatte, verschlimmerte nur alles: Es erinnerte Kaiku an die Neuigkeiten, die sie aus Zila erhalten hatten; die von der Zerstörung der Stadt und dem Umstand berichteten, dass Tkiurathi dort waren, nicht jedoch, ob Tsata überlebt hatte. Unter ihrer Fassade war Kaiku außer sich vor Sorge. »Wir sind eine eigene Rasse«, fuhr Cailin mit sanfterer Stimme fort. Sie legte Kaiku eine Hand auf die Schulter, damit sie stehen blieb. »Wir verkörpern die erste Stufe einer Weiterentwicklung der Menschheit. Es ist unsere Pflicht, uns selbst zu erhalten, und unsere Bestimmung, eine Welt zu erschaffen, in 161 der wir leben können. Deshalb kämpfen wir gegen die Weber. Wenn diese Bedrohung aus dem Weg geräumt ist, wenn das Land Ruhe und wir unseren Platz darin gefunden haben, dann vielleicht werden wir Kinder bekommen. Aber bis dahin, Kaiku, stellen sie eine zu große Ungewissheit dar.« Sie seufzte, senkte das Haupt und schloss die bemalten Augen. »Bedenke nur, wie gefährlich wir sind; nur durch den Roten Orden wissen wir überhaupt, wie wir mit der Gabe umgehen sollen. Was aber, wenn unsere Nachkommen eine Macht besitzen, die unsere übersteigt? Was, wenn diese Macht sich in ihnen schon von Geburt an statt erst im Halbwüchsigenalter zeigt? Was sollten wir mit einem solchen Geschöpf anfangen? Es töten? Könnten wir das denn? Und was würde die Mutter dazu sagen?« Kaiku mied ihren Blick. Obwohl sie durchaus den Sinn in Cailins Einwänden erkannte, war sie zu keinen Zugeständnissen bereit. Niemand würde in einer solchen Angelegenheit für sie entscheiden, nicht einmal Cailin. »Vorerst haben wir auch so genug Schwierigkeiten, derer wir uns annehmen müssen«, meinte Cailin. »Wir müssen zielgerichtet und geeint bleiben, und nichts darf das gefährden.« »Schluss jetzt!«, fiel Kaiku ihr hitzig ins Wort. »Du hast deinen Standpunkt deutlich zum Ausdruck gebracht. Ich will nicht darüber reden.« Das nach ihrem Kampf im Geweb empfundene Hochgefühl war mittlerweile verblasst und ließ Kaiku gereizt zurück. Sie setzte sich wieder in Bewegung, ungeachtet dessen, ob Cailin ihr folgen würde oder nicht. Doch das Oberhaupt des Roten Ordens schloss sich ihr nach ein paar Schritten an. »Ich möchte dir etwas zeigen«, sprach Cailin. »Tatsächlich?« »Ich denke, das hast du dir verdient.« Damit machte sie Kaiku neugierig. Sie strich sich das Haar 162 aus dem Gesicht und bedachte Cailin mit einem erwartungsvollen Blick. »Nicht hier«, meinte ihre Lehrmeisterin. »Komm mit.« Sie gingen ein Stück weiter. Der Pfad, den sie einschlugen, verlief gewunden hangaufwärts. Kaiku wusste, wohin sie unterwegs waren: zu einem kleinen, abgelegenen Gebäude, das in längst vergangenen Zeiten vermutlich ein Tempel gewesen war und verborgen zwischen Bäumen auf einer winzigen, matschigen Lichtung lag. Am Eingang zur Lichtung befand sich ein ausgetrockneter Steinbrunnen, dahinter ein hügelartiges Gebilde
mit versiegelten Türen und einem Kegel aus sich verjüngenden Scheiben im Mittelpunkt. Um die Grundfesten waren Symbole in einem hoch-saramyrrischen Dialekt angeordnet, den Kaiku nicht verstand. »Das da?«, fragte Kaiku. Sie hatte sich oft gefragt, was sich im Innern befinden mochte. Das Gebilde vermittelte einen eigenartig beobachtenden Eindruck. »Nein«, entgegnete Cailin. »Ich wollte bloß sicher sein, dass wir alleine sind. Mir wäre recht, wenn das, was ich dir zeigen möchte, unter uns bliebe. Nur wenige Auserwählte wissen davon.« »Weitere Geheimnisse?«, fragte Kaiku matt. Lug und Trug behagten ihr nicht, widersprachen ihrem Wesen. »Es ist besser, immer etwas im Ärmel zu haben, um diejenigen zu überraschen, die sich gegen einen wenden könnten«, gab Cailin zurück. »Sieh dir nur die Weber an. Sie müssen Jahrhunderte damit verbracht haben, ihre Kunst zu schmieden, und wir haben immer noch nicht die leiseste Ahnung, was davon noch im Verborgenen liegen mag.« »Wir sind aber nicht die Weber«, antwortete Kaiku. »Jetzt stell dich nicht dumm, Kaiku.« Cailins samtene Stimme bekam wieder einen frostigen Beiklang. »Ich verlange, dass du dies geheim hältst. Sogar vor Phaeca. Es ist nur ein kleiner Gefallen, aber mir sehr wichtig. Verstehen wir einander?« 163 »Ich verstehe«, sagte Kaiku, verabsäumte es jedoch, ihr diplomatisch zuzustimmen. »Dann pass auf.« Cailin schloss die Augen und holte ausgiebig, langsam Luft. Kaiku spürte, wie das Geweb sich regte, winzige Strömungen das unsichtbare Reich durchliefen. Seit sie sich ihrem Unterricht widmete, hatten sich ihre Empfindungsfähigkeiten erheblich gesteigert, und mittlerweile nahm sie das Geweb ständig wahr, selbst wenn sie nicht bewusst webte. Wie ihre Ordensschwestern war sie in der Lage, eine Ausgeburt durch bloßes Ansehen zu erkennen, außerdem nahm sie die von Geistern hinterlassenen Spuren und die Abdrücke seltsamer Orte wahr. Mit etwas mehr Anstrengung konnte sie sogar die Bande zwischen Familienmitgliedern und Freunden, ja sogar Feinden ertasten, indem sie das körperliche und gefühlsmäßige Wechselspiel zwischen ihren Leibern verzeichnete. Cailin hatte dereinst ihr, Tane, Asara und Mishani gesagt, dass sie auf einem verschlungenen Pfad wandelten und es ihr Schicksal sei, immer wieder zusammenzukommen, ganz gleich, wie weit sie voneinander entfernt sein mochten. Damals hatte Kaiku sie gefragt, woher sie das wüsste; inzwischen kannte sie die Antwort. Cailin hatte die untrennbaren Bande gesehen: Kaikus Freundschaft mit Mishani; Tanes Liebe zu Kaiku; die Verbindung, die zwischen Kaiku und Asara durch jenen gemeinsamen Atemzug bestand. Dennoch war auch Cailin nicht allwissend, wie es schien: Tane war gestorben, und keine der Schwestern war in der Lage gewesen, das vorherzusagen. Dann verschwand Cailin vor ihren Augen. Kaiku blinzelte. Es war, als wäre ein Schatten vor dem Mond über die hagere, schmale Gestalt gefallen. Und dennoch ... dennoch war sie nicht weg. Kaiku konnte sie, ihren Abdruck im Geweb, immer noch spüren. Nur ihre Augen sahen sie nicht. 164 Sie schlüpfte selbst ins Geweb, und da war Cailin, umrandet von unzähligen Strängen aus Licht. ((Wie ?)) Kaiku war sprachlos vor Verwunderung. ((Das ist noch nicht alles. Berühr mich mit der Hand.)) Kaiku tat, wie ihr geheißen, und griff langsam nach dem Oberhaupt des Roten Ordens, verwendete ihren Abdruck im Geweb, um sie zu sehen. Sie legte die Hand auf Cailins Schulter: Doch wo sie auf Fleisch und Knochen stoßen sollte, war rein gar nichts. Verdutzt sog sie den Atem ein. Wieder versuchte sie es, abermals gelang es ihr nicht. Sie fuhr mit dem Arm durch die Stelle, an der Cailins Körper sich eigentlich befinden musste, doch abgesehen von einem leicht klebrigen Ziehen an den Fingern berührte sie nur Luft. ((Unmöglich ...)) Noch während Kaiku den Gedanken sandte, kam sie sich dumm dabei vor, doch sie fand keine andere Möglichkeit, ihn auszudrücken. Cailin befand sich im Geweb, und zwar nur im Geweb. Ihr echter Körper war ... verschwunden. ((Wir besitzen Fähigkeiten, von denen du bislang nur die Oberfläche berührt hast, Kaiku)) Cailins Mitteilung erfolgte ohne Worte, wurde stattdessen als ausdrucksvoller Lichtglanz gesandt. ((Neue Verfahren der Einflussnahme, an denen wir jahrzehntelang im Geheimen gefeilt haben. Du bist jetzt bereit, die inneren Geheimnisse des Roten Ordens kennen zu lernen)) Das Geweb verzerrte sich, krümmte sich nach innen und verknotete sich zu einem einzigen Punkt, ehe es explosionsgleich wieder seine ursprüngliche Form annahm; und da war eines der Riesenwesen. Die bloße Gegenwart des Geschöpfs genügte, um Kaiku in Fassungslosigkeit zu versetzen. Entfernungen waren im Geweb bedeutungslos, und bis zu diesem Augenblick hatten die Riesenwesen stets weit, weit entfernt und unergründlich erhaben gewirkt. Nun jedoch tauchte eines in solch unmittelbarer Nähe auf, dass der Rückstrom das Bewusstsein der beiden 165 Ordensschwestern beinahe in alle Winde zersprengte, es aus seinem Zusammenhalt riss. Überwältigt sammelten die beiden sich; doch nun verharrte das Geschöpf reglos, und Stille kehrte ein. Seine Größe, seine schiere Wucht im Geweb war unfassbar. Die Schwestern glichen in seiner Gegenwart
Staubkörnern: Es beherrschte die Welt der goldenen Fäden uneingeschränkt. Das Wesen war eine weiße Leere, ein schmerzend lodernder Spalt, der die Augen durch seinen grellen Glanz versengte. Es besaß keine Form, denn es schien in vielen Formen zugleich zu bestehen, doch das überstieg den menschlichen Verstand, und so versah er das Ungeheuer mit einer eigenen Gestalt, bannte es damit in seine Wahrnehmung. Es war riesenhaft und glatt und stromlinienförmig, einem Wal ähnlich und doch jedem bekannten Lebewesen so fremd, dass ein Vergleich unmöglich war; und die beiden Schwestern glichen an seinen Flanken bestenfalls Plankton. Von blankem Grauen erfüllt, beobachteten sie es, wagten nichts anderes zu tun, als reglos auszuharren, während ihre Sinne im Geweb verzweifelt zu bewältigen versuchten, was vor sich ging. Das Wesen beobachtete sie ebenfalls. Sie spürten, wie seine Aufmerksamkeit sie gleich dem Rumpfeines dunklen, gewaltigen Schiffes streifte, eine zerschmetternde Kraft, die sie nur um Haaresbreite verfehlte. Es wäre in der Lage gewesen, sie allein durch das Gewicht dieser Musterung zu zermalmen. Kaiku hatte einst den Kindern der Mondschwestern ins Antlitz geblickt, Geistern so alt, dass es der Menschheit Fähigkeiten überstieg, sie zu begreifen; und doch waren sie im Vergleich zu diesem Wesen genau das: Kinder. Dieses Maß an Allgewalt lag so weit jenseits dieser Geister, dass kein Verstand lange genug bei Gesundheit bliebe, um es zu überdenken. Ein Augenblick verstrich, dann rollte sich das Geweb ohne Vorwarnung gleich einer Knospe zu einem Knoten unendli166 eher Dichte zusammen und sprang wieder auseinander. Das Ungeheuer war verschwunden, doch die Schwingungen seines Abgangs hallten wie eine Glocke wider. Kaiku und Cailin verließen das Geweb zusammen. Cailin war wieder sichtbar. Eine lange Weile standen sie nur da, lauschten der vertrauten Nacht, atmeten, fühlten den Hauch des Windes auf den Gesichtern und im Haar. Fragen sausten unter der Haut der Wirklichkeit hin und her. Auch die anderen Schwestern hatten das Ungeheuer gespürt. Aber Cailin und Kaiku waren nicht in der Lage zu antworten. Sie starrten einander nur an und schwiegen. Beiden fehlten die Worte. Ein paar Tage später traf Mishani in Arakajo ein. Sie fand Kaiku an einem kleinen See etwas östlich der Tempelanlage. Dort stand sie am Rand einer hölzernen Aussichtsplattform und betrachtete den Teppich aus Seerosenblättern und weißen und roten Blüten. Den See umgaben Kamaka-Bäume, deren Geäst in langen, trägen Ketten über das Wasser hing. Nukis Auge haftete jene besondere Schärfe des Winters an; in seinem Blickfeld war es angenehm warm, doch wo Schatten es verhüllten, herrschte ein leichter Frost. Kaiku trug nicht die Kluft des Ordens. Stattdessen hatte sie eine dicke Robe angelegt, purpurn, blau und lavendelfarben, gegürtet mit einer grünen Schärpe. Mishani empfand dies als eine für Kaiku unerwartet weibliche Kleidungswahl. Sie beobachtete sie eine Weile vom Ende der Aussichtsplattform aus und genoss einfach nur den Anblick ihrer in Gedanken versunkenen Freundin. »Ich weiß, dass du da bist, Mishani«, sprach Kaiku mit einem Lächeln in der Stimme. »Über die Stufe meiner Ausbildung, in der du dich an mich hättest anschleichen können, bin ich längst hinaus.« 167 Mishani lachte, und Kaiku drehte sich ihr zu, um sie zu umarmen. »Bei den Göttern, was bin ich froh, dich wohlbehalten zu sehen«, murmelte sie. Sie unterhielten sich lange, denn die beiden hatten einander viel zu erzählen. Ihre letzte Begegnung unmittelbar vor Mishanis Aufbruch nach Tchom Rin lag über ein Jahr zurück. Kaiku berichtete überwiegend über ihre Ausbildung, zumal sie nicht so weit gereist war wie ihre Freundin. Den Großteil der Unterhaltung hatte Mishani zu bestreiten - Kaiku zeigte sich begierig, alles über die Wüstenstädte zu erfahren. »Und sieh dich jetzt an!«, rief Kaiku aus und zupfte an Mishanis Ärmel. »Du könntest selbst als Wüstenadelige durchgehen !« »Ich muss gestehen, dass mir die Mode ein wenig ans Herz gewachsen ist.« Mishani grinste. Dann wurde sie ernst und verkündete: »Ich muss dir das sagen, Kaiku: Asara ist hier.« Kaikus Belustigung erstarb wie Kerzenschein. »Asara?« Kurz durchlebte sie erneut jenen Augenblick damals im Schoß, als sie einen Mann namens Saran Ycthys Marul verführt hatte -nicht ahnend, dass es sich um Asara in verwandelter Gestalt handelte. Der blanke Verrat brachte sie immer noch zur Weißglut. Dann kehrte ihr Lächeln wieder, wenngleich nunmehr etwas gezwungen. »Die kann warten. Komm, lass uns spazieren.« Sie folgten einem Weg um den Rand des Sees, einem Trampelpfad mit vereinzelten, abgesetzten Steinen, die im Verlauf der Jahrhunderte größtenteils in den Boden gesunken waren. Raben und Eichelhäher hopsten durch das Unterholz oder erhoben sich mit erschrockenem Schwingenschlag in die Lüfte, wirbelten in ihrem Gefolge Laub und Zweige auf. Kaiku war glücklich, wieder mit ihrer Freundin vereint zu sein. Zwischen den beiden herrschte eine Beschaulichkeit, die niemand sonst in ihrem Leben mit ihr teilte. 168 Während sie gemeinsam vor sich hinschlenderten, berichtete Mishani ihrer Freundin von ihrer Rückreise über die Berge. »Ich hatte den Eindruck, dass es zwischen den Gipfeln nur so von Ausgeburten wimmeln müsste, trotzdem bekamen wir kaum welche zu Gesicht, und wenn, dann höchstens aus der Ferne«, erklärte sie. »Sogar als wir auf
die Ebenen gelangten und den Südlichen Handelspfad überqueren mussten, um nördlich entlang der Sümpfe zu reisen, wurden wir nie behelligt.« »Unsere Kundschafter berichten dasselbe«, bestätigte Kaiku. »Die Weber bündeln ihre Streitkräfte in den Städten, weshalb immer weniger über das Land streifen. Man mutmaßt, dass sie nicht in der Lage sind, sich gleichmäßig über all die von ihnen besetzten Gebiete zu verteilen. In den frühen Monaten des Kriegs haben sie Hunderttausende verloren, bevor sie lernten, taktisch zu kämpfen. Vielleicht können sie nicht genug züchten oder fangen - oder wie auch immer sie ihre Armeen bestücken -, um die Verluste wettzumachen.« »Wenigstens daraus können wir etwas Mut schöpfen.« Es entstand eine Pause, die nur die leisen Schritte ihrer Schuhe und das Rascheln des Laubs füllten und die sich lang genug hinzog, um einen neuen Gesprächsstoff anzuregen. »Ich habe das neue Buch deiner Mutter gelesen«, erklärte Kaiku. »Ich auch. Mehrmals.« »Etwas daran erscheint mir seltsam. Besonders die letzten Zeilen.« Mishani nickte traurig. »Die Worte, die Nidajan an den Sterbenden richtet? Das ist die erste Strophe eines Wiegenlieds, das sie mir früher immer vorsang. Sie hat es selbst verfasst. Wir beide waren die Einzigen, die es vollständig kannten.« »Ich kenne es auch«, widersprach Kaiku. »Du hast es mir einmal vorgesungen, als du mir verraten hast, wie du heraus169 finden konntest, dass Chien für deine Mutter gearbeitet hat.« »Daran erinnerst du dich noch?«, fragte Mishani überrascht. Sie hatte lange nicht mehr an jenen unglückseligen Händler gedacht. Er war während der Belagerung Zilas von den gedungenen Mördern ihres Vaters vergiftet worden; aber erst, nachdem Mishani herausgefunden hatte, dass er insgeheim von ihrer Mutter beauftragt worden war, sie vor eben jenen Meuchelmördern zu beschützen. Kaikus Lippen zuckten. »Sie besitzt fürwahr eine Gabe für Wörter. Ich bekomme das Lied nicht mehr aus dem Kopf.« Sie trat gegen einen Zweig, der quer über den Pfad lag. »Nachdem ich jene Zeilen gelesen hatte, konnte ich das Gefühl nicht mehr loswerden, dass sie damit etwas sagen wollte.« »Das ist ziemlich offensichtlich«, bestätigte Mishani. »Also begann ich, ihre früheren Bücher zu lesen. Und zwar die, die sie geschrieben hatte, nachdem dein Vater Regent geworden war. Ich wollte versuchen zu ergründen, was sie auszudrücken versuchte.« »Und bist du zu irgendwelchen Schlüssen gekommen?« Es verblüffte Mishani, dass ihre Freundin haargenau denselben Gedankengängen nachgegangen war wie sie selbst. Kaiku hob die Schultern. »Nein. Aber ich bin mir sicher, dass da etwas ist.« Mishani verspürte leichte Enttäuschung. Sie hatte gehofft, ihre Freundin hätte eine Art Erkenntnis für sie. »Tsata ist zurück«, sagte Kaiku ansatzlos. »Hier?« »In Saramyr. Er kommt mit den Tkiurathi nach Araka Jo.« Kaiku hatte die bei dem Angriff anwesende Schwester damit beauftragt festzustellen, ob Tsata überlebt hatte. Es hatte einige Tage gedauert, denn die Tkiurathi hatten sich vor einer Weile von der Hauptarmee getrennt, außerdem hatte die Schwester auch andere Aufgaben gehabt; immerhin war es 170 kein einfaches Unterfangen, jemanden zu finden, der sich an einen Mann aus einer Heerschar von Leuten erinnerte, die für ungeübte Augen alle gleich aussahen. Doch an jenem Morgen war die Antwort eingetroffen. Kaiku hatte vor Erleichterung einen regelrechten Schwindel empfunden: Ihr war gar nicht bewusst gewesen, welche Spannung sie erfüllt hatte, bis sie von ihr abfiel. »Wir leben in wahrhaft seltsamen Tagen«, meinte Mishani mit einem schiefen Lächeln und schaute zu Kaiku auf, die ein wenig größer war. »Red nicht in diesem Tonfall!« Kaiku lachte. »Ich weiß genau, was du damit unterstellen willst.« »Immerhin hat er ein Meer überquert, um zu dir zurückzukehren, Kaiku«, gab Mishani zu bedenken. »Er hat ein Meer überquert, um gegen die Weber zu kämpfen«, entgegnete Kaiku. »Du kennst doch seinen Menschenschlag: Für ihn war es die einzige vernünftige Vorgehensweise.« »Ich kenne seinen Menschenschlag nicht«, widersprach Mishani. »Die Lebensart der Tkiurathi ist für mich schwer verständlich. Für dich hingegen anscheinend nicht.« Kaiku schürzte die Lippen. »Dann sollte vielleicht besser ich die Botschafterin spielen.« »Ha! Du? Da hätten wir binnen eines Tages offenen Krieg!« Und so ging es weiter. Im Licht des klaren Wintertags schlenderten sie auf dem gewundenen Pfad den See entlang und vergaßen in der Ungezwungenheit der Kameradschaft eine Weile ihre Sorgen. Derlei Augenblicke waren für sie beide allzu selten. In der Kaiserlichen Feste in Axekami wurde das Abendmahl aufgetragen. Regent Avun tu Koli kniete seiner Gemahlin gegenüber an dem quadratischen, schwarz und rot lackierten Tisch. Zwi171
sehen ihnen standen sanft dampfende Webkörbe, je eigene für Meeresfrüchte, Salzreis, Klöße und Gemüse. Kleine Schalen mit Suppe und Soßen, große Gläser mit gelblichem Wein. Die Bediensteten vergewisserten sich, dass alles zufrieden stellend war, dann zogen sie sich durch den bevorhangten Durchgang zurück, ließen ihren Herrn und ihre Herrin allein. Eine Weile saßen sie schweigend da. Obwohl der Raum nicht besonders groß war, wirkte er wie ein hohles Gewölbe; die Laute ihres Atems und ihrer winzigen Bewegungen wurden durch die Leere verstärkt. Es war noch nicht spät genug, um Laternen zu rechtfertigen, doch der Dunstschleier über der Stadt erstickte das Sonnenlicht, das mühsam durch die drei vom Boden bis zur Decke reichenden Fensterbögen in der Westwand drang, und ließ nur eine trostlose Düsternis zu. In Nischen waren Vasen und Skulpturen angeordnet, der mittlere Bereich jedoch war offen, und nur die beiden waren zugegen, knieten auf gegenüberliegenden Seiten des Tisches auf ihren Matten. »Willst du nicht essen?«, fragte Avun schließlich. Ein paar Augenblicke lang antwortete Muraki nicht. Dann I begann sie, das Fingerbesteck anzulegen. Avun tat es ihr gleich, und die beiden luden Essen aus den Körben auf ihre Teller. »Bist du heute mit dem Schreiben gut vorangekommen?«, erkundigte er sich. »Recht gut«, gab sie leise, mit stummer Anklage in der Stimme zurück. »Ich dachte, du solltest mal aus jenem Raum wegkommen«, meinte Avun. »Es ist schlecht für deine Gesundheit, dich dauernd so abzukapseln.« Muraki musterte ihn durch die Vorhänge ihres Haars, dann schaute sie bedeutungsvoll aus dem Fenster und wieder zu ihm. Immer noch gesünder, ab diese Luft zu atmen, sprach aus ihrem Blick. 172 »Na schön, es tut mir leid, dich gestört zu haben«, sagte er und goss eine dunkle Soße über die Meeresfrüchte, hielt die Schale mit dem freien Daumen und Zeigefinger. »Ich wollte eben ein gemeinsames Mahl mit meiner Frau genießen.« Darauf erwiderte sie nichts. Stattdessen begann sie zu essen, schnitt mit den winzigen Klingen und Gabeln, die an silbernen, am Mittel- und Ringfinger der rechten und linken Hand getragenen Fingerhüten befestigt waren, und nahm kleine Bissen. »Die Feyakori befinden sich auf dem Rückweg aus Zila«, berichtete Avun. Er musste etwas sagen, um die Mauer des Schweigens seiner Gemahlin zu durchbrechen. Als sie nichts erwiderte, setzte er nach: »Die Truppen des Kaiserreichs wurden vertrieben und haben so gut wie keinen Widerstand geleistet. Die Weber sind mit ihren neuen Schöpfungen durchaus zufrieden; ich denke, den ersten beiden werden bald weitere folgen.« Wieder wurde die Stille unerträglich, doch Avun hatte genug gegeben, um etwas als Gegenleistung zu erwarten. Schließlich fragte Muraki: »Wie bald?« »In einigen Wochen. Es steht noch nicht fest.« »Und dann?« »Erst überrennen wir die Südlichen Präfekturen, danach wenden wir uns Tchom Rin zu.« »Und werdet ihr die Städte dort in Orte wie diesen verwandeln?« »Ich wüsste nicht, weshalb die Weber das tun sollten«, antwortete er. »Nachdem sie den Kontinent unter ihre Herrschaft gebracht haben, werden sie keine Feyakori mehr brauchen. Und somit auch nicht diesen Pestnebel.« »Denkst du, sie werden uns noch brauchen?«, fragte sie mit leiser Stimme. »Nachdem sie die Herrschaft über den Kontinent haben?« Avun lächelte milde. »Ich bin kein Narr, Muraki. Ich glaube 173 keineswegs, dass sie mich aus Dankbarkeit als Regent behalten würden. Ich werde immer noch von unschätzbarem Wert für sie ein. Das Volk braucht einen Anführer mit einem menschlichen Gesicht. Einer Maske würden die Menschen niemals vertrauen.« »Aber dir werden sie vertrauen?« »Sie werden mir vertrauen, weil ich ihnen den Himmel zurückgeben werde«, erklärte Avun. Er trank einen Schluck Wein. »Ich will ebenso wenig unter diesem Nebelschleier leben wie du; er ist widernatürlich. Je eher wir den Widerstand beseitigen, umso eher können wir auf die Feyakori verzichten und die Rauchgruben auflassen.« »Und die Tempel?« Kurz war Avun um eine Antwort verlegen. Seine Gemahlin besaß die Gabe, seine wundesten Stellen in so unterwürfigem Tonfall zu treffen, dass er nicht Anstoß daran nehmen konnte. »Die Tempel werden nicht wiederkehren. Die Weber mögen unsere Götter nicht.« Murakis Schweigen war deutlicher als ihre Worte. Sie wusste, dass er in den dunkelsten Stunden der Nacht immer noch im hohlen Inneren des Ocha gewidmeten Tempels auf dem Dach der Feste betete. Die Kuppel war noch in all ihrer Pracht erhalten, wenngleich die Statuen der Götter, die sie umringt hatten, verschwunden und die Altare ebenso wie sämtliche Ikonen entfernt worden waren. Die Stätte vermittelte nunmehr einen entsetzlich geschändeten Eindruck, weshalb Muraki sich ihr nicht mehr näherte. Avun hingegen schon. Muraki fragte sich, wie er seine Taten mit sich selbst in Einklang brachte: Zwar konnte man ihn nicht als den gottesfürchtigsten aller Menschen bezeichnen, dennoch entsagte er seinen Göttern nicht, obwohl er ihre Tempel
einriss. Erwartete er etwa Vergebung? Sie kannte keine Gottheit, die so großmütig war, sie ihm nach all den Verbrechen, die er gegen das Goldene Reich begangen hatte, zu gewähren. 174 Letztlich umging Avun die Frage, indem er zu seinem vorherigen Punkt zurückkehrte. »Am Ende wird die Welt wieder sein, wie sie war. Der Geißel kann Einhalt geboten werden, sobald der Rote Orden gestürzt ist, denn danach werden die Weber nicht mehr so viele Hexensteine brauchen. Der Pestnebel wird verschwinden. Und das Land wird wieder vereint sein.« »Sagen das die Weber? Ich höre das zum ersten Mal.« »Ich hatte heute Vormittag ein Treffen mit Kakre. Ich habe ihn überzeugt, mir seine Pläne zu enthüllen. Was keineswegs einfach war.« Avun schien stolz auf sich; Muraki zweifelte nicht daran, dass es einigen Wagemut gekostet hatte. Sie wusste, was Avun in der Vergangenheit widerfahren war, wenn er Kakres Missfallen erregt hatte. »Warum?«, fragte sie verwirrt. »Warum hast du das getan? Du warst doch bis jetzt damit zufrieden, in Unwissenheit zu bleiben.« Er blickte sie unverwandt an. »Weil meine Frau die Luft hier nicht mag«, antwortete er. »Und weil ich nicht in der Lage war, ihr zu sagen, dass sie eines Tages wieder rein sein würde.« Muraki wandte den Blick kurz zu ihm, dann zurück auf ihren Teller. Es war das Einzige äußere Anzeichen des schneller schlagenden Herzens in ihrer Brust. Eine lange Weile schwieg sie. »Glaubst du ihm?« »Nur so kann ich einen Sinn darin erkennen. Sonst bliebe nur, das Land weiter zu vergiften. Dadurch wiederum würden sie ihr eigenes Volk, ihre eigene Armee töten. Es gibt so schon zu wenig zu essen, und die Hungersnot wird noch schlimmer.« »Oder vielleicht erkennen wir den größeren Plan der Weber bloß nicht«, flüsterte sie, wobei ihre Stimme ob der Furcht, ihm zu widersprechen, immer leiser wurde. »Vielleicht ist Kakre einfach wahnsinnig.« 175 Avun nickte. »Er ist wahnsinnig.« Muraki schaute ihn überrascht an. »Ich habe seinen Verfall sorgsam beobachtet«, führte Avun weiter aus. »Seit er die Feyakori erweckte, hat er sich beschleunigt. Ich denke, die Anstrengung, sie zu beherrschen, hat ihm schwer zugesetzt. Sein Geisteszustand verschlimmert sich zusehends.« Er nahm einen Bissen von einem Kloß, kaute eine Weile und schluckte, ganz so, als wäre das, worüber er sprach, eine belanglose Unterhaltung und nicht etwas, wofür er standrechtlich hingerichtet werden konnte. »Ich vermute, wenn er nicht so völlig verwirrt gewesen wäre, hätte er mir die langfristigen Pläne der Weber nicht verraten.« »Aber wenn der Webfürst wahnsinnig ist«, hauchte Muraki »wer wird die Weber dann leiten?« »Das«, meinte Avun und hob das Glas an, »ist genau die Frage.« 176 ZWÖLF Die Wüstenstadt Izanzai erstreckte sich über ein unebenes Plateau, das hoch über die staubigen Ebenen aufragte. Sie glich einem Wald dunkler Turmspitzen, ihre Gebäude reichten dicht gedrängt bis an den Rand der sandfarbenen Steilhänge. Nadeldünne Türme ragten in den fahlen Himmel; bauchige Tempel verjüngten sich zu eleganten Spitzen; Brücken spannten sich über die heißen, schattigen Straßen. Am Südrand befand sich eine breite Erdrampe, die den einzigen Zugang zur Hochebene darstellte, durch mehrjährige Plackerei errichtet worden war und das Leben vieler Menschen gekostet hatte. Izanzai bot eirie beeindruckende Aussicht auf die Umgebung der Stadt. Südlich und östlich wurden die Ebenen nach und nach von der tiefen Wüste verschlungen, und in der Ferne war der Ansatz der riesigen Dünen zu erkennen, die sich höckergleich durch das mittlere Gebiet von Tchom Rin zogen. Nördlich und westlich präsentierte das Land sich noch öder in Form von trockenem Flachland und Tafelbergen, die mit schmutziggelben und tiefbraunen Schwaden gesprenkelt waren, ehe sie plötzlich steil anstiegen und sich in die mächtige Schranke des Tchamil-Gebirges verwandelten. Die Berge ragten grau und kahl auf; ihre Hänge waren durch Wirbelstürme jeglichen Lebens beraubt, die Gipfel erstreckten sich zahllos einer nach dem anderen scheinbar in die Unendlichkeit. Zu ihren Füßen kämpften und starben Männer. Barak Reki tu Tanatsua saß auf dem Rücken eines Manxthwa am Rand des Tafelbergs und überblickte die Schlacht. Der 177 warme Wind zupfte an seinen Haaren und Kleidern, zerzauste das Fell seines Reittiers. Er hatte die Augen zu Schlitzen ver- j engt, während er beide Seiten beobachtete, Strategien abwog. Das Gefecht war fast vorüber, und die Wüstenstreitkräfte würden als Sieger hervorgehen, doch er würde die Angelegenheit erst als erledigt betrachten, wenn selbst der letzte Feind tot war. Zu seiner Rechten und Linken, ebenfalls auf Manxthwa, befanden sich eine Schwester vom Roten Orden und Jikiel, sein Spitzelmeister. Weitere Leibwächter warteten wachsam in der Nähe, obwohl sie sich fernab von allem befanden, das ihnen Ungemach bereiten konnte. Die Schnappmäuler waren diesmal in größerer Zahl denn je zuvor aufgetaucht. Wären sie nur gegen die Armeen
der Familien von Izanzai ins Feld gezogen, sie hätten sie zermalmt. Doch die Einigung der Baraks hatte die Dinge geändert, und da man alte Feindschaften nunmehr beigelegt hatte, war Reki in der Lage gewesen, eine wesentlich größere Streitmacht zur Verteidigung der Stadt zu entsenden. Wie es schien, war das Bündnis keinen Tag zu früh besiegelt worden. Trotz allem war es eine teure Schlacht gewesen. Diese verfluchten ausgebürtigen Biester waren schwer zu töten, und meist rissen sie ein paar Männer mit ins Verderben. Im Gegensatz zur Mehrheit der Raubtierarten, die bisher von den Webern eingesetzt worden waren, brauchten sie wenig Wasser und Nahrung und waren gegen die Hitze gefeit. Lockeren Sand und harten Stein bewältigten sie mit derselben Mühelosigkeit; und durch ihren tödlichen, natürlichen Panzer artete der verwegene Nahkampfstil der Wüstenkrieger zu einem wahrhaft selbstmörderischen Unterfangen aus. Zu viele Männer fielen ihnen zum Opfer, endeten zwischen den Fußangeln ähnlichen Kiefern, denen die Ungetüme ihren Namen verdankten. Bei den Göttern, hielte Reki es nicht für unmöglich, wäre er geneigt zu glauben, die Weber hätten diese Art für eben diesen Zweck maßgeschneidert: um in die Wüste einzufallen. 178 Aber es war doch unmöglich, oder? »Eure Männer in den Bergen haben einige der Nexusse aufgespürt«, murmelte die Schwester plötzlich und gab ihm damit die Information, die sie von ihren Gefährtinnen in unmittelbarerer Nähe der Schlacht erhalten hatte. Reki gab ihr durch einen Laut zu verstehen, dass er sie gehört hatte. Er hätte es auch so erahnen können. Eine Gruppe der schlurfenden Viecher war unvermittelt in blindwütige Raserei verfallen, ein sicheres Zeichen dafür, dass ihre Herren getötet worden waren. Von der Herrschaft der Nexusse befreit, verwandelten sie sich in ungestüme Tiere zurück. »Es scheint, dass dieser Tag uns gehört«, stellte Jikiel fest. Reki bedachte seinen Spitzelmeister mit einem Seitenblick. »Dieser Tag«, pflichtete er ihm bei. »Aber wie viele können wir noch für uns entscheiden?« Jikiel nickte mit ernster Miene. Er war alt und kahl, braun und runzlig wie eine Nuss, besaß einen schwarzen Vollbart, der ihm in drei dünnen Strängen bis auf die Brust hinab hing. Seine Kleidung war beige, und am Gürtel trug er ein Nakata, das Krummspitzenschwert der Krieger von Tchom Rin. »Vielleicht sollten wir gegen die Quelle vorgehen«, schlug er vor. »Mit demselben Gedanken habe ich mich auch schon getragen«, stimmte Reki ihm zu. »Jedes Mal, wenn sie kommen, sind es mehr. Dass die Grenzen der Berge so weitläufig sind, zwingt uns, unsere Streitkräfte zu verteilen. Durch die Einigung der Baraks haben wir eine Verschnaufpause erwirkt, aber das ist schon alles. Früher oder später werden sie uns überwältigen.« »Wie also lauten Eure Befehle, mein Barak?« »Trommle so viele Männer zusammen, wie du kannst. Schick sie in die Berge. Ich will wissen, woher diese Untiere kommen.« 179 »Wird erledigt.« Sie beobachteten die Schlacht noch eine Weile. Die Nexusse fielen, und mit ihnen ihre Truppen, die sich in Unordnung auflösten und von den Wüstenkriegern erschossen wurden. Die Manxthwa regten sich und rumorten, traten von einer Seite zu anderen und scharrten mit den Hufen. Die Schwester übermittelte von Zeit zu Zeit Berichte. Eine Hälfte von Rekis Verstand widmete sich dem Schlachtfeld, die andere jedoch war abgetrieben und kreiste um seine Gemahlin. So wie es stets zu sein schien. Mittlerweile war sie seit über einem Monat fort, doch die durch die Trennung verursachte Sehnsucht hatte keinen Deut nachgelassen. Ihn verlangte immer noch nach ihr. Außerdem nagte an ihm nach wie vor die Art und Weise, wie sie ihn verlassen hatte: ohne jede Erklärung, nur mit verschlüsselten Hinweisen und gefühlsmäßiger Erpressung. Er war wütend auf sich selbst, weil er sie ziehen gelassen hatte, ohne mehr zu verlangen. Reki fragte sich, was sie wohl gerade tat, was so wichtig gewesen sein mochte, dass sie dafür über siebenhundert Meilen in den Westen gereist war. Seit sie fort war, hatte er sich mit unzähligen ersonnenen Geschichten gequält; doch woher sollte er letzten Endes eine Ahnung haben? Was wusste er schon über Asaras Vergangenheit? Sie war für ihn noch immer dasselbe Rätsel, das sie von Anfang an verkörpert hatte. Und dennoch, gab es tatsächlich etwas zu befürchten? Konnte es etwas geben, das er ihr nicht verzeihen würde, das seiner Liebe zu ihr ein Ende zu bereiten vermochte? Er konnte es sich nicht vorstellen. »Jikiel«, murmelte er und drehte sich seinem Meisterspitzel zu, so dass die Schwester ihn nicht hören konnte. »Mein Barak?« »Finde etwas über meine Gemahlin heraus.« Es fühlte sich wie ein unerträglicher Verrat an, und kurz spielte er mit dem Gedanken, den Befehl zurückzunehmen; doch es war ein Wag180 nis, das er eingehen musste. Wenn Asara ihrer Liebe nicht vertraute, musste er die Dinge eben selbst in die Hand nehmen. »Finde alles über sie heraus.« Ein Lächeln spielte um Jikiels Mundwinkel. »Ich dachte schon, Ihr würdet nie danach fragen.« *
Asara suchte Cailin in den frühen Morgenstunden im Haus des Roten Ordens in Araka Jo auf. Cailin trank gerade Bittertee, schaute durch die offenen Schiebewände hinaus auf die dunklen Bäume und beobachtete Eulen. »Asara«, gurrte sie. »Es war nur eine Frage der Zeit.« Asara befand sich bereits im Raum, war lautlos durch die Vorhänge geglitten. »Was dachtest du denn, weshalb ich so weit gereist bin, wenn nicht, um dich zu sehen?« Cailin stellte die zierliche Schale ab, aus der sie trank, stand auf und drehte sich zu ihrer Besucherin um. »Wegen Kaiku vielleicht? Du konntest dich noch nie lange von ihr fern halten.« Asara schluckte den Köder nicht. »Ich habe Kaiku für dich das Leben gerettet«, entgegnete sie gelassen. »Seither bezahle ich einen Preis dafür. Ich erwarte wenigstens etwas Dankbarkeit.« »Ah, Dankbarkeit«, gab Cailin zurück. »Weshalb sollte ich dir Dankbarkeit schulden, Asara? Du hast getan, was ich dir aufgetragen hatte. Und du wirst deine Belohnung erhalten, wenn unser Handel abgeschlossen ist.« Asara schritt ein wenig weiter in den Raum. Es war dunkel; das einzige Licht stammte vom weißen Schimmer der beiden größeren Mondschwestern. Hochmütig reckte sie das Kinn vor. Sie trug ein weißes, mit einer Brosche befestigtes Kleid, dazu erlesene Juwelen an den Handgelenken und im Haar. Jeder Zoll die Wüsten-Barakin. 181 »Die Dinge sind jetzt anders«, sagte Asara. »Ich bin nicht mehr die Frau, die ich einst war.« »Du denkst, du hättest dich geändert}«, rief Cailin ungläubig aus. »Äußerlich kannst du dich nach Belieben verwandeln, Asara, aber innerlich bist du so leer, wie du es immer warst.« »Meine Lage hat sich geändert.« Mittlerweile strotzte ihr Tonfall vor Gift und Galle. »Wie du sehr wohl weißt.« Die beiden musterten einander quer durch den Raum. Es war dasselbe Zimmer, in dem Kaiku und Cailin vor einigen Nächten gewebt hatten, im zweiten Stockwerk des Hauses des Roten Ordens. Die Vasen waren inzwischen leer, der Weihrauchbrenner erkaltet. Die Holzkohleradierungen an den Wänden schienen in der Dunkelheit zu kriechen. »Ich muss dich wohl beglückwünschen«, meinte Cailin gedehnt. »Deine Verführung des Erb-Baraks zeugt von beeindruckender Voraussicht. Was musst du doch getrauert haben, als seine Schwester und sein Vater starben und ihm dadurch den Weg ebneten, das Oberhaupt der Familie zu werden.« »Da seine Schwester mit dem Kaiser vermählt war, wäre sie ohnehin nicht berechtigt gewesen, Familienoberhaupt zu werden«, gab Asara unverwandt zurück. »Du hattest von ihrem Ableben weit mehr als ich. Du wolltest, dass den Webern ihr Umsturz glückt, du wolltest, dass sie dieses Land einnehmen. Und jetzt hast du, was du wolltest.« »Und ich vermute, du hattest mit ihrem Tod wohl nichts zu tun, richtig?« »Vielleicht, vielleicht auch nicht«, erwiderte Asara. »Falls doch, wäre das nur ein weiteres Beispiel dafür, dass ich für dich mehr getan habe, als jemand verlangen könnte, und ich habe im Gegenzug nichts bekommen.« »So lautet unsere Vereinbarung nun mal, Asara. Du wirst vollständig bezahlt, wenn es so weit ist.« »Dann ändere ich hiermit unsere Vereinbarung.« 182 Cailin zog eine Augenbraue hoch. »Ach ja? Wie unterhaltsam.« »Ich bin jetzt die Gemahlin eines Baraks, Cailin«, zischte Asara, wobei sie sich mühsam zügelte. »Ich habe den mächtigsten Mann der Wüste um den Finger gewickelt. Du kannst mich nicht mehr beiseite stoßen wie früher.« Cailins rot und schwarz bemalte Lippen verzogen sich zu einem höhnischen Grinsen. »Ich verstehe. Und du denkst, du könntest es als Druckmittel gegen mich verwenden, dass du einen unbedarften Jungen in die Ehe verführt hast? Ich hätte wahrlich mehr von dir erwartet, Asara.« »Ich war über ein Jahrzehnt in deinem Bann, Cailin«, spie Asara ihr entgegen, als plötzlicher Zorn sich in ihr entzündete. »Gefesselt durch deine Versprechungen. Du hast erkannt, was ich brauchte - die Götter wissen wie; zweifellos durch deine dreckigen &wa-Spielchen - und seither hast du mich schamlos ausgenützt. All die Zeit habe ich einem Traum hinterher gejagt, von dem ich nicht einmal sicher bin, ob du ihn mir erfüllen kannst! Jetzt besitze ich die Macht der Wüste, und ich kann Tchom Rin gegen dich und deinesgleichen wenden. Ich weiß, was du begehrst, und ich kann es für dich sehr viel schwieriger gestalten, wenn du mir nicht sofort gibst, was ich will!« »Das reicht!«, herrschte Cailin sie an. »Was sind zehn, zwanzig, fünfzig Jahre für unsresgleichen? Wir altern nicht, Asara. Im Gegensatz zu anderen läuft uns die Zeit nicht davon. Wo bleibt deine Geduld?« »Ich bin geduldig gewesen«, lautete die Antwort. »Aber es gibt einen Unterschied zwischen Geduld und Torheit. Soll ich ein weiteres und wieder ein weiteres Jahrzehnt die Sklavin für dich spielen, bis dir irgendwann danach ist, mich freizugeben? Und selbst wenn ich dazu gewillt wäre, könntest du mir dann gewähren, was du behauptest? Würdest du es? Das Wort einer Frau ist ein dünner Faden, um ein solches Gewicht daran zu 183 hängen. Zudem hast du dich in den Jahren, seit ich dich kenne, nicht unbedingt als Musterbeispiel an Vertrauenswürdigkeit erwiesen.« Cailin lachte mit hoher, glockenheller Stimme. »Arme Asara«, sagte sie. »Arme, mordende Asara.« Ihr Lachen verebbte, und ihre Stimme verdüsterte sich. »Du willst Mitgefühl? Ich habe keines. Das Unterfangen des Roten Ordens kommt dir ebenso zugute wie uns -« »Das bezweifle ich«, fiel Asara ihr ins Wort.
»-und so sehr es dir auch widerstreben mag: indem du auf unserer Seite kämpfst, kämpfst du für dich selbst. Wir werden eine Welt erschaffen, in der Ausgeburten ohne Furcht leben können. Und du wirst uns dabei helfen, ob du willst oder nicht.« »Du redest um den heißen Brei herum«, erinnerte Asara sie und näherte sich ihr bedrohlich. »Gib mir, was ich will.« »Ich soll dich aus unserem Pakt entlassen? Wohl kaum. Trotz all deiner Fehler bist du eine überaus nützliche Verbündete.« » Gib mir, was ich will!«, kreischte Asara. »Oder was}«, brüllte Cailin. »Was willst du schon tun, Asara? Du denkst, du könntest das Wüstenvolk gegen uns aufbringen? Du denkst, du könntest uns aufhalten} Dein emsigstes Bemühen wäre nicht mehr als ein Mückenstich für den Roten Orden. Wir könnten dich tausende Male töten, bevor du überhaupt zu deinem geliebten Barak zurückkehren könntest. Und selbst Reki ist kein solcher Narr, auf die Fähigkeiten zu verzichten, die wir in seinen Dienst stellen, zumal die Weber gerade jetzt versuchen, in Tchom Rin einzumarschieren. Deine Drohung ist bloß hohler Lug und Trug, Asara, und allmählich langweilst du mich damit.« »Dann endet es hier und jetzt!«, schrie Asara zurück. »Alles endet hier und jetzt. Wenn du mir nicht beweisen kannst, dass du vermagst, was du behauptest, dann -« 184 Cailin schnitt ihr die Kehle durch. Es war eine flinke, abschätzige Geste mit der Hand, ein angewiderter Wink ihrer Finger im Mondenschein. Sie berührte die andere Frau gar nicht; dafür standen sie zu weit voneinander entfernt. Dennoch erschien an Asaras Hals von Seite zu Seite ein klaffender, roter Schlitz, so sauber, als hätte Cailin ein Schwert geschwungen. Mit weit aufgerissenen Augen taumelte Asara rücklings, gab feuchte, in der Brust rollende Laute von sich. Blut spritzte hervor, ergoss sich in Schwallen über ihr Kleid hinab, besudelte es im Mondlicht mit einem glitzernden Schwarz. Cailin beobachtete sie teilnahmslos. Das Licht der Mondschwestern erhellte sie von der Seite, ließ die scharlachroten Netzhäute erkennen. Asara versuchte, einen Laut auszustoßen, jedoch vergeblich. Sie wollte atmen, aber durch die durchtrennte Luftröhre schaffte es nicht einmal ein Hauch. Panik flutete über sie hinweg, ein Grauen, wie sie es noch nie erfahren hatte: Sie würde unerfüllt sterben, und nachdem sie von dieser Welt gegangen war, würde es sein, als hätte es sie nie gegeben. Ihre Beine wurden schwach, ihre Muskeln bleiern. Sie sank auf die Knie, umklammerte mit einer Hand die Kehle, während die andere sie kraftlos zu stützen versuchte und die gespreizten Finger in ihrem eigenen Lebenssaft umherrutschten. Ihr Kopf wurde leicht. So viel Blut, so viel Blut, und sie konnte nichts tun, um den Schwall einzudämmen. Nicht auf diese Weise, dachte sie mit den letzten Fetzen der Vernunft. Nicht auf diese Weise. Cailin vollführte mit zwei Fingern eine beiläufige Winkbewegung, und Asaras Kehle schloss sich. Die Fasern und das Gewebe verbanden sich von einer Seite zur anderen so lückenlos, als wären sie feinsäuberlich verschmolzen worden. Begierig strömte Nahrung von ihrem Herzen in ihr Gehirn, und sie sog einen gewaltigen, schluchzenden Atemzug ein. Nie zuvor 185 war ihr ein derart göttliches Empfinden wie die Erleichterung zuteil geworden, die sie darob verspürte. Ähnlich hatte sie noch nie ein so reiner Hass wie jener erfüllt, der sich gegen diejenige richtete, die sie auf diese Weise verletzt hatte. Nach wie vor japsend, das Kleid schwarz durchtränkt, hob sie den Kopf an und heftete einen durchdringenden Blick unsäglicher Böswilligkeit auf Cailin. Das Oberhaupt des Roten Ordens schaute mit kalten Augen auf sie herab. »Zufrieden?«, fragte Cailin. Dann fegte sie aus dem Raum, ließ Asara in einer Pfütze des eigenen Blutes kniend zurück. Einen Fußmarsch von einer Stunde nordöstlich von Araka Jo lag tief in den bewaldeten Bergen die Lichtung eines Ipi. ' Es war ein Ort übernatürlicher Stille und Beschaulichkeit, ein höhlenartiges Allerheiligstes mit einem Dach aus miteinander verflochtenem Geäst und Gezweig, durch das die Wintersonne in klaren, schrägen Lichtstreifen einfiel. Sanft rollende Hügel und Erhebungen säumten Tümpel so reglos und klar wie Glas; Steine so glatt und weiß wie gebleichte Gebeine verbargen sich halb vergraben in der Erde. Mitten auf der Lichtung stand der Ipi selbst: ein riesiger Baum, die Rinde schwarz wie Teer, zerfurcht und knorrig vor Alter. Die obersten Äste waren mit dem Blätterdach verstrickt, während die unteren wie krumme Arme über die Lichtung ragten. Lucia kniete mit geneigtem Haupt am Stamm des Baumes. Sie meditierte, verständigte sich mit dem Geist der Lichtung. Sich mit einem Ipi zu unterhalten, war ihr mittlerweile ein Leichtes. Seit sie damals im Xarana-Bruch aus dem Schrein von Alskain Mar zurückgekehrt war, hatte sich ihre Macht mit erschreckender Geschwindigkeit gesteigert, und inzwischen 186 standen ihr bis auf die aller ältesten Geister alle offen. Doch mit jedem Schritt, den sie in die Welt der Geister tat, entfernte sie sich einen Schritt aus jener der Menschen, und sie wurde den Geistern Tag für Tag ähnlicher. Kaiku beobachtete sie vom Rand der Lichtung aus. Irgendwo in den Bäumen versteckten sich ihre Leibwächter der Libera Dramach. Aber an diesem Ort, in der beschaulichen Gegenwart des Ipi, war es so, als wäre Lucia ganz allein auf der Welt. Und in gewisser Weise stimmte das sogar. Denn es gab niemanden sonst wie Lucia,
niemanden, der sich vorstellen konnte, wie es sich anfühlte, so wie sie zu sein, stets hin- und hergerissen zwischen zwei Welten und doch keiner richtig zugehörig. Es schmerzte Kaiku, sie derart abgekapselt zu sehen. Mishanis Besuch hatte sie an Yugis stechende Worte erinnert, mit denen er sie beschuldigt hatte, ihre Freunde zu vernachlässigen, während sie in den Lehren des Roten Ordens aufging. Einst war Lucia wie eine jüngere Schwester für sie gewesen. Mittlerweile war Kaiku dessen nicht mehr so sicher. Schließlich hob Lucia den Kopf und stand auf. Barfuss bahnte sie sich einen Weg entlang der Erhebungen, holte sich ihre Schuhe, die sie am Rand der Lichtung zurückgelassen hatte, und gesellte sich zu Kaiku. »Gruß zum Tag«, sagte sie und umarmte Kaiku. Leicht überrascht erwiderte Kaiku die Geste. »Bei den Göttern, du bist inzwischen so groß wie ich«, meinte sie. »Ich wachse wie Unkraut«, erwiderte Lucia und lachte. »Es ist so lange her, dass du mich zuletzt besucht hast, Kaiku.« »Ich weiß«, murmelte Kaiku. »Ich weiß.« Lucia zog sich die Schuhe an; dann setzten die beiden sich zurück Richtung Araka Jo in Bewegung. Kaiku entließ die Leibwächter und schickte sie voraus; bei ihr war Lucia sicherer als bei zwanzig bewaffneten Männern. 187 Gemütlich schlenderten Lucia und sie die schmalen Waldpfade entlang. Lucia plapperte glücklich vor sich hin. Sie zeigte sich in ungewöhnlich übersprudelnder Stimmung, keineswegs in dem Zustand traumseliger Entrückung. »Die Geißel weicht zurück«, erklärte sie wie aus dem Nichts und unterbrach damit ihre eigenen Ausführungen über den Verlauf ihres Tages. »Tatsächlich?« »Der Ipi kann es spüren. Seit der Hexenstein unter Utraxxa vernichtet ist. Das Land erholt sich Schritt für Schritt.« Sie beobachtete einen Vogel, der pfeilgleich durch die Wipfel flog, während sie sprach. »Wir haben die Schwelle zur Unumkehrbarkeit nicht überschritten. Noch nicht.« »Aber das sind ja wunderbare Neuigkeiten!«, rief Kaiku aus. Lucia bedachte sie mit einem schiefen Grinsen. »Kein Wunder, dass du heute so fröhlich bist.« »Es sind wunderbare Neuigkeiten«, pflichtete sie Kaiku bei. »Und wie ich höre, hast du ebenfalls Neuigkeiten.« Kaiku nickte. »Obwohl ich nicht sicher bin, ob es gute oder schlechte sind.« Sie berichtete Lucia von ihrer und Cailins Begegnung mit dem Ungeheuer. Dem Gewebwal, wie Cailin das Wesen mittlerweile bezeichnete. »Ich fürchte mich vor ihnen«, gestand sie. »Wir haben ihnen zu lange genauso wenig Beachtung geschenkt wie sie uns, weil wir dachten, sie wären auf ewig außerhalb unserer Reichweite. Aber jetzt haben wir sie angelockt, glaube ich. Sie haben bemerkt, was zuvor ihrer Aufmerksamkeit nicht würdig war. Unsere Einmischungen im Geweb beschwören Geschöpfe herbei, im Vergleich zu denen die zerstörerischen Fähigkeiten der Weber verblassen.« »Aber was sind sie eigentlich?«, wollte Lucia wissen. »Vielleicht sind sie Götter«, lautete die Antwort. Lucia erwiderte zwar nichts darauf, dennoch ernüchterte es sie. Schweigend spazierten sie ein Stückchen weiter durch den 188 sonnengesprenkelten Wald. Über ihnen sprang ein Rabe von Ast zu Ast. »Lucia, es tut mir aufrichtig leid«, verkündete Kaiku schließlich. »Ich habe dich eine ganze Weile vernachlässigt. Ich war so davon besessen zu erlernen, wie ich das einsetzen kann, was ich habe, dass ich darüber vergaß ... was ich hatte.« Lucia ergriff ihre Hand. »Das liegt am Krieg«, meinte sie. »Gräme dich nicht, Kaiku. So wie ich bist du eine Waffe. Und was nützt eine Waffe, wenn sie nicht geschärft wird?« Die Schicksalsergebenheit in ihrem Tonfall bestürzte Kaiku. »Lucia, nein! Wir sind nicht bloß Waffen. Wenn ich dir sonst schon nichts beigebracht habe, das ganz bestimmt.« »Dann glaubst du also, dass wir eine Wahl haben? Dass wir uns jetzt noch von all dem abwenden können?« Sie lächelte milde und ließ Kaikus Hand los. »Ich kann das nicht. Und ich denke, du ebenso wenig.« »Du hast diese Wahl, Lucia!«, beharrte Kaiku. »Wirklich?« Abermals lachte Lucia, doch diesmal war es ein verbitterter Laut, der Kaiku Unbehagen bereitete. »Wenn ich mich vor den Erwartungen drücken wollte, die alle Welt in mich setzt, dann hätte ich es vor geraumer Zeit tun sollen. Bevor die Libera Dramach sich neu formierten; sogar noch vor der Schlacht im Schoß. Mittlerweile sind zu viele Menschen in meinem Namen gestorben. Ich kann nicht mehr zurück. Dieser Zeitpunkt ist verstrichen.« Lucia schaute auf den Pfad hinab, und ihr Blick verschwamm. Sie lauschte dem Rauschen des Waldes. »Ich bin das geworden, was alle wollten. Ich bin ihre Brücke zu den Geistern geworden, was es auch bringen mag. Ich bin eine Waffe, und eine Waffe ist nutzlos, wenn sie nicht geschwungen wird. Viel länger kann ich nicht nutzlos bleiben .« »Lucia-«, setzte Kaiku an, wurde jedoch unterbrochen. »Denkst du etwa, ich wüsste über die Feyakori nicht Bescheid? Dass wir keine Verteidigung gegen sie besitzen,
189 keine Möglichkeit, uns gegen sie zu wehren? Wie lange wird es wohl noch dauern, bevor ihr alle euch an mich wendet? Als eure letzte Hoffnung. Eure einzige Hoffnung.« Mittlerweile waren sie stehen geblieben, und Lucia wirkte wütend. »Weißt du, wie sich das anfühlt, Kaiku? Das ganze Leben mit dem Wissen zu verbringen, dass die eigenen Wahlmöglichkeiten Tag für Tag schwinden und man letztlich ein Versprechen erfüllen I muss, das man nie gegeben hat!? Alle betrachten mich als ihre I Retterin, aber ich weiß nicht, wie ich irgendjemanden retten soll!« »Das musst du auch nicht«, erklärte Kaiku ihr. »Hör auf mich: Das musst du nicht.« Nicht im Entferntesten überzeugt, wandte Lucia sich ab. »Ich habe in meinen Leben Menschen kennen gelernt, die so selbstsüchtig sind, dass sie alles und jeden opfern würden, um sich selbst einen Vorteil zu verschaffen«, sagte Kaiku und legte Lucia die Hand auf den Arm. »Und ich kannte einen Mann, der war so selbstlos, dass er zum Wohle anderer bereitwillig sein Leben zu billig wegwarf. Ich glaube, der rechte Weg liegt irgendwo in der Mitte. Ich habe dir das schon einmal gesagt, Lucia: Du musst ein wenig selbstsüchtiger sein. Denk doch ausnahmsweise mal auch an dich.« »Selbst auf Kosten dieses Landes und all der Menschen, die darin leben?«, gab Lucia verächtlich zurück. »Trotz allem«, bestätigte Kaiku. »Denn so sehr du es auch glauben magst, das Schicksal der Welt hängt nicht allein von deinen Taten ab.« Lucia wollte ihrem Blick nicht begegnen. »Ich habe Angst, Kaiku«, flüsterte sie. »Ich weiß.« »Tust du nicht«, widersprach sie. »Ich verändere mich.« »Du veränderst dich? Wie?« Lucia drehte sich von ihr weg, starrte in den Wald. Kaikus Aufmerksamkeit heftete sich auf die Brandnarben in ihrem 190 Nacken. Der Anflug von Schuldgefühlen, der sie bei dem Anblick jedes Mal erfasste, würde wohl nie vergehen. »Ich weiß selbst, dass ich manchmal ... meistens zerstreut wirke«, erklärte sie. »Mir ist bewusst, wie schwierig es ist, mit mir zu reden. Ich mache dir keinen Vorwurf daraus, dass du nicht öfter kommst, um mich zu besuchen.« Sie hob eine Hand, um Kaikus Aufbegehren im Keim zu ersticken. »Es stimmt, Kaiku. Ich kann meine Aufmerksamkeit nicht lange auf etwas gerichtet halten. Wohin ich auch gehe, überall sind Stimmen. Der Atem des Windes, das Gemurmel der Erde; die Vögel, die Bäume, die Steine. Ich weiß nicht, was Stille ist.« Sie drehte das Gesicht zur Seite, schaute über die Schulter zu Kaiku, und eine Träne kullerte ihr über die Wange. »Ich kann sie nicht aussperren«, flüsterte sie. Ein Kloß stieg Kaiku in die Kehle. »Ich werde nach und nach wie sie«, fuhr Lucia fort, die Stimme leise und ob ihrer Hoffnungslosigkeit schrecklich anzuhören. »Ich vergesse. Ich vergesse, wie man etwas empfindet. Ich denke an Zaelis und an Flen, an meine Mutter ... und ich fühle dabei nichts. Sie sind meinetwegen gestorben, trotzdem kann ich mir oft nicht einmal ihre Gesichter ins Gedächtnis rufen.« Ihre Lippen begannen zu beben, ihre Züge zerfielen, und unvermittelt stürzte sie in Kaikus Arme, drückte sie so fest an sich, dass es schmerzte. »Ich bin so einsam«, schluchzte sie und begann, herzergreifend zu weinen. Kaikus Bauch und Herz fühlten sich wie ein Knoten des Kummers an, der ihr selbst die Tränen in die Augen trieb. Sie wollte Lucia irgendwie erreichen, etwas tun, um die Dinge zu verbessern, doch sie war ebenso hilflos wie jeder andere. Das Einzige, was sie tun konnte, war, für sie da zu sein, und in dieser Hinsicht hatte sie in den vergangenen Jahren kläglich versagt. Während die beiden einander auf dem schmalen Waldpfad umschlungen hielten, begannen die Blätter zu fallen. Erst 191 eines, dann zwei, dann ein Dutzend oder mehr. Sie segelten von den immergrünen Bäumen herab, senkten sich auf ihre Schultern und sammelten sich zu ihren Füßen. Lucia weinte, und die Bäume weinten mit ihr. 192 Dreizehn Bald darauf trafen eines Morgens die Tkiurathi an einem Hang südlich von Araka Jo ein. Als man sie bemerkte, hatten sie bereits Kochfeuer entfacht und Unterschlüpfe aus Tierhäuten errichtet. Dutzende der Tkiurathi schliefen wie Katzen im Geäst. Über Nacht war zwischen den Baumstämmen ein behelfsmäßiges Dorf aus Jurten und Hanf hängematten entstanden. Alles sah so aus, als lebten sie bereits seit Wochen hier. Tsata saß in der Beuge eines Baumes, wo der Ast aus dem Stamm spross, und ließ ein Bein baumeln. Er schärfte gemächlich seine Metzgerhaken mit einem Wetzstein, während seine Gedanken um andere Dinge kreisten. Von seinem Aussichtspunkt an der Nordseite des Dorfes aus konnte er den Trampelpfad nach Araka Jo einsehen. Anfangs dachte er, diese Stelle zufällig gewählt zu haben, doch letzten Endes gelangte er zu dem Schluss, dass er sich selbst etwas vorzumachen versuchte. Er wollte den Pfad im Auge behalten. Er wollte sehen, ob Kaiku zu ihm kommen würde. Eine Tkiurathi-Frau rief ihm vom Boden aus zu. Sie hob ihre Klinge an, und er warf ihr den Wetzstein hinab, den sie mit einem dankbaren Grinsen aus der Luft fing, bevor sie wieder zurück zum Mittelpunkt des Dorfes
schlenderte. Tsata brachte den Metzgerhaken wieder an der Halterung an seinem Gürtel an, entspannte sich und beobachtete das Treiben rings um ihn. Es war aufregend, wieder in Saramyr zu sein, umso mehr, da er diesmal nicht alleine, sondern von seinem Volk umgeben war. Seine Gefährten und Gefährtinnen kamen mit der Fremdartigkeit des Landes gut zurecht. Sie waren Brüder und Schwestern, eingekapselt in ihren Pash, 193 genossen den Rückhalt des Wissens um die Gemeinschaft. Unwillkürlich lächelte Tsata. Am Fuß der Bäume waren traditionelle, dreiseitige Jurten errichtet worden, die von den Tkiurathi Repka genannt wurden. Sie dienten als Gemeinschaftsplätze zum Wohnen und Schlafen und waren mit verzweigten, tunnelartigen Armen um einen großen Mittelbau mit einem Kaminloch angelegt worden, aus dem sich Rauch kräuselte. Weitere Feuer waren unter freiem Himmel entfacht worden: die Jäger hatten bereits einige Wildtiere erlegt, und Tsata hatte seinem Volk emsig erklärt, welche Nahrung man unbeschadet essen konnte. Innerhalb des Pash wurde er als Fachkundiger in Sachen Saramyr angesehen, zumal er schon einmal in diesem Land gewesen war und dessen Sprache, Sitten und Gebräuche studiert hatte. Es entsprach der Lebensweise der Tkiurathi, dass sie alle Lehrmeister waren, indem jeder die einzigartigen Kenntnisse oder Fähigkeiten, die er besaß, mit anderen teilte. Es war ein solcher Mann gewesen, der Tsata Saramyrrisch gelehrt hatte, ein Mann, der nach Saramyr gereist und jahrzehntelang hier gelebt hatte, ehe er in sein Heimatland zurückkehrte. Tsata besaß eine besondere Gabe für Sprachen - er hatte bereits recht ordentlich Quaraal gelernt, die Verkehrssprache unter den Handelssiedlungen entlang der Küste Okhambas - und er war von Geschichten über Saramyr von jeher gleichermaßen verwirrt und gefesselt gewesen. Er hatte sich dem Erlernen der saramyrrischen Sprache mit einer Zielstrebigkeit gewidmet, die seinen Lehrer beeindruckt hatte, und binnen weniger Jahre war er so gut darin, wie es einem Fremdländer möglich war. Die Monate, die er hier verbrachte, verbesserten seine Sprachkenntnisse erheblich, dennoch war er selbst jetzt noch nicht fehlerfrei im Umgang mit der überwältigenden Masse der Ausdrucksweisen und Tonfälle, der winzigen Feinheiten des HochSaramyrrischen, die zu meistern nur im Lande Geborene hoffen durften. 194 Als er den Blick von der Siedlung abwandte und zu dem Pfad schaute, sah er Kaiku. Verschmitzt musterte sie ihn. »Kommst du runter oder soll ich raufkommen?«, rief sie. Tsata lachte; er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie es durchaus ernst meinte. Mit affengleicher Anmut glitt er von dem Ast und schwang sich auf den Boden. Es folgte ein Augenblick unbeholfenen Zauderns, als sie einander gegenüberstanden; dann stemmte sich Kaiku auf die Zehenspitzen, küsste ihn auf die Stirn und umarmte ihn. Tsata war angenehm überrascht: Für einen Menschen aus Saramyr war dies eine ungewöhnliche Geste, die von außerordentlicher Nähe zeugte. »Willkommen zurück«, sagte sie. »Es fühlt sich gut an, hier zu sein«, meinte er. »Ich wünschte nur, alle Begrüßungen wären so herzlich ausgefallen.« »Die Feyakori«, murmelte Kaiku und nickte matt. »Ich fürchte, ihr hättet einen besseren Zeitpunkt für eure Ankunft wählen können.« »Vielleicht sind wir gerade zur rechten Zeit eingetroffen«, entgegnete er. »Nach allem, was ich gehört habe, gab es nie dunklere Zeiten als diese. Und es ist nicht länger nötig, mein Volk von der Bedrohung für uns zu überzeugen; diejenigen, die nach Okhamba zurückkehren, werden die Kunde verbreiten. Fünfundsiebzig von uns haben am Tag unserer Landung das Leben gelassen, aber die Verbleibenden werden für ihr Opfer umso verbissener kämpfen.« Unvermittelt klarten seine Züge auf. »Aber über derlei Dinge können wir später reden. Lass mich dir erst unsere neue Heimat zeigen. Und du musst mir erzählen, was sich in meiner Abwesenheit ereignet hat.« Es war, als wären sie nie getrennt gewesen. Mühelos verfielen sie in den alten Unterhaltungstakt, den sie sich während der langen Zeit ihrer Abgeschiedenheit angeeignet hatten, als sie zusammen in der zerklüfteten Wildnis des Xarana-Bruchs gelebt und gejagt hatten. 195 Tsata berichtete von den zahlreichen Hindernissen, die er bei seinem Unterfangen zu bewältigen hatte, sein Volk vor der Gefahr der Weber zu warnen. Kaiku sprach über ihre Einweihung in den Roten Orden und ihre Ausbildung. Auch von Lucia und Mishani erzählte sie ihm; er war den beiden vor seiner Abreise aus dem Schoß kurz begegnet, überwiegend jedoch kannte er sie aus Kaikus Geschichten. Und sie redete über ihre Furcht um Lucia, über die Gewebwale und die Notlage der belagerten Streitkräfte des Kaiserreichs. Während sie sich unterhielten, schlenderten sie durch das Dorf. Kaiku hatte für den Besuch im Weiler der Tkiurathi Reisegewändern den Vorzug gegenüber der Kluft des Ordens gegeben, denn sie wollte keinesfalls einschüchternd wirken. Nun war sie froh über ihre Entscheidung. Inmitten der Ungezwungenheit der Tkiurathi hätte sie sich mit ihrer Schminke befangen gefühlt. Die Menschen waren muskelbepackt und drahtig, ihre Haut zäh, ihre Hände ob der Unbilden ihrer Lebensweise zerfurcht. Kaiku ertappte sich häufig dabei, dass sie die Tkiurathi ebenso sehr anhand der einzigartigen Muster ihrer Tätowierungen voneinander unterschied wie anhand ihrer Züge, denn es war schwierig, auf den ersten
Blick hinter die Tätowierungen zu sehen: sie bildeten eine überwältigend hervorstechende Eigenheit ihres Erscheinungsbilds. Die Frauen waren kräftig und wirkten, gemessen an der Norm Saramyrs, wenig weiblich; sie besaßen kaum etwas Zierliches, obschon Kaiku an einigen eine Art wilder Schönheit feststellte, die durchaus ihren Reiz hatte. Sie waren den Männern gleichgestellt, trugen das lange Haar mit einer Kordel gebunden oder offen und kleideten sich in ärmellose Gewänder aus Hanf oder Häuten und Hosen aus demselben Material. Tsata hockte sich mit ihr um eines der Lagerfeuer, die im Freien angezündet worden waren, zu einem Dutzend weiterer Tkiurathi, die gerade aßen. Die Männer saßen links und reich196 ten ihnen Schalen, in die sie einen Teil des Inhalts der eigenen kippten. Es war eine bezeichnend okhambische Geste des Teilens. Kaiku wusste nicht recht, wie sie sich darob verhalten sollte, denn sie hatte nichts, das sie als Gegenleistung geben konnte; Tsata aber bedeutete ihr, sich nicht den Kopf zu zerbrechen, es wurde keine Erwiderung erwartet. Dann begann er, den Rest ihrer beiden Schalen aus einem Kessel mit Eintopf aufzufüllen, der über dem Feuer hing. Zubereitet war das Mahl aus einem heimischen Tier, Gemüse und fremdartigen Gewürzen: Es roch köstlich, wenngleich es nicht so fein wie saramyrrisches Essen anmutete, sondern einen eher deftigen Geruch verströmte. Als Tsata fertig war, hatten andere im Kreis ihnen Brotstücke gereicht, die sie von den eigenen Laiben abgebrochen hatten. Kaiku konnte nicht anders, als ihnen zu danken, obwohl sie nur ein paar Brocken ihrer Sprache beherrschte. »Du brauchst ihnen nicht zu danken«, erklärte ihr Tsata. »Das tust du, indem du dein Essen teilst, wenn du etwas hast und sie hungrig sind.« »Ich weiß«, gab sie zurück. »Trotzdem ist es schwierig, lebenslange Gewohnheiten abzulegen. Genau wie es mir eigenartig vorkäme, wenn Leute deines Volkes an meiner Tür aufkreuzten und erwarteten, dass ich ihnen etwas zu essen gebe.« »Ganz so läuft es ja auch nicht ab«, erwiderte Tsata und lachte. »Aber ich sehe schon, dass es in den kommenden Tagen noch so manche Missverständnisse zwischen deinem Volk und dem meinen geben wird.« Eine der Frauen, die Kaiku gemustert hatte, sagte etwas in ihrer rauen, kehligen Sprache. Unsicher schaute Kaiku zu Tsata. »Sie meint, deine Sprache ist wunderschön«, übersetzte er. »Wie Vogelgesang.« »Sollte ich ihr dafür danken?« 197 Er lächelte. »Ja. Ghohkri.« Kaiku wiederholte das Wort an die Frau gewandt und sprach es zufällig tadellos aus, wofür sie anerkennendes Gemurmel aus dem Kreis erntete. Durch ihre Antwort ermutigt, begannen andere, Fragen zu stellen oder kundzutun, was ihnen aufgefallen war. Tsata übersetzte emsig hin und her. Alsbald befand sich Kaiku mitten in einer den gesamten Kreis umspannenden Unterhaltung, wobei ihr Tsata zusammenfassende Erklärungen ins Ohr flüsterte, während die Leute auf Okhambisch miteinander redeten. Kaiku begann, sich selbst mit einigen Anmerkungen ins Gespräch zu mischen, worauf stets ein etwas unbehaglicher Augenblick der Verständnislosigkeit folgte, bis Tsata die okhambische Übersetzung lieferte; aber die Tkiurathi waren höflich und geduldig, und alsbald fühlte Kaiku sich pudelwohl in ihrer Runde. Sie waren eindeutig beeindruckt von ihr und hielten selbst die schäbigen Reisekleider, die sie trug, für unheimlich exotisch. »Bei den Göttern, die sollten mal das Flussviertel in Axekami sehen«, meinte Kaiku zu Tsata; dann fiel ihr ein, dass Axekami nicht mehr dem glich, was es einst gewesen war, und sie wurde ein wenig traurig. Schließlich verließen die beiden den Kreis und spazierten durch das Lager. Wohin Kaiku auch blickte, bemerkte sie etwas Ungewöhnliches, sei es die Art und Weise, wie die Tkiurathi ihre Werkzeuge anfertigten, das Zubereiten ihrer fremdartigen Mahlzeiten oder wie sie in den Bäumen schliefen. »Das ist ein alter Instinkt«, erklärte Tsata. »Auf dem Boden gibt es allerlei, was uns in den Ästen nicht erreichen kann. Einige ziehen das selbst in einem sicheren Wald wie diesem hier vor. Die anderen schlafen in den Repha.« »Kein Wald ist wahrhaft sicher«, schränkte Kaiku ein. »Die Tiere sind angriffslustig geworden, seit die Geißel unser Land heimsucht.« »In den Dschungeln, aus denen wir stammen, würden sara198 myrrische Tiere keine Nacht überleben«, gab Tsata zurück. »Wir sind an schlimmere Raubtiere als Bären oder Wölfe gewöhnt. Ich bezweifle, dass ihr mit etwas aufwarten könntet, das uns Kopfzerbrechen bereiten würde.« »Aber wir haben die Ausgeburten.« »Ja«, pflichtete Tsata ihr bei, der bei seinem letzten Besuch hinlänglich Erfahrung darin sammeln konnte, sie zu jagen. »Erzähl mir von ihnen. Wie ich höre, sind die Dinge jetzt anders.« Und so berichtete Kaiku ihm von den Schnappmäulern in der Wüste und von anderen neuen Arten, die sie erkannt und mit Namen versehen hatten. Niemand war sicher, ob diese Arten erst unlängst aufgetaucht oder zuvor bloß zu selten gesichtet worden waren, um bemerkt zu werden. Dann erzählte ihr Tsata von dem ausgebürtigen Mann, den er in Zila zu retten versucht hatte, und ihr Gespräch schlug eine neue Richtung ein. »Natürlich hassen sie uns noch immer«, meinte Kaiku, während sie um den Rand des Dorfes schlenderten. »Die Menschen waren schon immer anfällig für die Angst vor allem, was anders ist. Aber die Dinge entwickeln sich
in verschiedenen Bereichen unterschiedlich schnell. Ausgeburten, die äußerlich entstellt sind, werden stärker gemieden als jene, die >gewöhnlich< aussehen. Ich glaube, Lucia betrachten die meisten gar nicht mehr als Ausgeburt: Man hat sie in einen höheren Rang erhoben, sieht sie als die undurchsichtige und gottähnliche Retterin, als die man sie sehen will. Die hohen Familien brauchen eine Galionsfigur, und wenn der Preis für die Rückeroberung ihres Kaiserreichs darin besteht, Lucia auf den Thron zu setzen, dann soll es ihnen recht sein. Zumindest ist sie von adeligem Geblüt. Außerdem hat sie Geblüt Ikati und Geblüt Erinima auf ihrer Seite - und die Libera Dramach. Zusammen bilden sie das mit Abstand stärkste Bündnis, und niemand will einen Alleingang wagen und es mit ihnen aufnehmen.« 199 »Und was ist mit dem Roten Orden?«, fragte Tsata. Ein kurzer Ausdruck der Enttäuschung huschte über ihre Züge. »Die hohen Familien mögen uns nicht, obwohl wir sie vor der Zerstörung bewahrt haben, obwohl wir sie vor den Webern beschützen, die sonst einfach von Axekami aus in ihre Köpfe fassen und sie töten könnten.« Kaiku schnaubte verächtlich. »Dem Roten Orden wird misstraut, als wären wir bloß eine andere Art von Webern.« »Und seid ihr das denn nicht?« Es hätte sie nicht überraschen sollen: Tsata tat seine Gedanken immer unverblümt kund. »Nein!«, gab sie heftig zurück. »Die Weber haben jahrhundertelang Ausgeburten getötet, um die Beweise ihrer eigenen Verbrechen zu beseitigen. Ihre Rasereianfälle nach den Websitzungen sorgen immer noch für mehr Tote, als ich mir vorzustellen wage. Und sie haben uns das Land gestohlen.« »So wie dein Volk es den Ugati gestohlen hat«, erinnerte Tsata sie. »Ich weiß, dass die Schwestern nicht so verdorben oder grausam wie die Weber sind, aber dennoch versucht ihr, die Rolle der Weber im Reich zu übernehmen. Werdet ihr als Diener zufrieden sein? Die Weber waren es nicht.« »Die Weber wollten immer herrschen, ob sie es nun selbst wussten oder nicht. Der Gott, der ihre Fäden zieht, hat es von ihnen verlangt. Es war ihre einzige Möglichkeit, an die Hexensteine zu gelangen.« »Du hast die Frage nicht beantwortet«, schalt er sie nachsichtig. »Ich kenne die Antwort nicht«, gab sie zurück. -»Ich für meinen Teil habe nicht vor, mein Leben als Dienerin der hohen Familien zu fristen, wenn all dies vorüber ist, aber ich habe keine Ahnung, welche Pläne Cailin geschmiedet hat. Ich habe einen Eid zu erfüllen, und dieser Eid bedingt die Vernichtung der Weber. Wenn ich es so weit schaffe, werde ich zufrieden sterben.« 200 »Man muss die Folgen seiner Taten bedenken, Kaiku«, mahnte Tsata sie. »Man muss vorausschauen.« »Was hat das für einen Sinn?«, fragte sie. »Es gibt keine andere Möglichkeit. In dieser Angelegenheit steht uns nur ein Pfad offen. Der Rote Orden versucht, den Menschen dabei zu helfen, ihn zu bewältigen.« »Dieses Land hat schon einmal einen Schlag erlitten, weil es sein Vertrauen in Wesen setzte, die mächtiger waren als das Volk«, erwiderte Tsata. »Mir scheint durchaus verständlich, dass die Menschen euch gegenüber misstrauisch sind.« Kaiku ließ es dabei bewenden. Tsata hinterfragte alles, und das bewunderte sie an ihm - er brachte sie dazu, sich selbst zu betrachten, ihre Entscheidungen und Ansichten Prüfungen zu unterziehen. Aber er war auch hartnäckig, und sie wollte die Unterhaltung jetzt nicht in ein Streitgespräch ausarten lassen. Stattdessen wandten sie sich anderen Dingen zu. Da sie von Tkiurathi umgeben waren, wurde Kaiku neugierig, was Tsatas Kindheit anging, und begann, ihn darüber auszufragen. Es überraschte sie ein wenig, dass sie es zuvor noch nie getan hatte, andererseits hatte sie sich stets davor gescheut, sich nach seiner Vergangenheit zu erkundigen, weil sie fürchtete, ihn dadurch zu zwingen, etwas preiszugeben, was er nicht offenbaren wollte: Okhamber galten als unfehlbar entgegenkommend, doch es widerstrebte ihnen, wenn ihr Großmut missbraucht wurde. Aber Tsata zeigte sich aufgeschlossen. »In Okhamba haben wir keine Eltern.« Er sah ein Grinsen in ihrem Gesicht aufziehen und berichtigte sich. »Ich meine, wir weisen denjenigen, die uns zeugen, keine besondere Verantwortung zu. Die Kinder werden zu gleichen Teilen vom jeweiligen Pash aufgezogen, dem sie angehören. Jeder wirkt dabei mit. Ich weiß nicht, wer meine Eltern waren, obwohl ich eine Ahnung hatte. Die Bande der körperlichen Abstammung werden bewusst zerschnitten, da sie nur zu Begünstigung und Wettbewerb führen würden.« 201 Sie unterhielten sich auch über Götter und Vorfahren. Kaiku hatte bereits in der Vergangenheit erfahren, dass Okhamber keine Gottheiten verehrten, sondern eher dem Ahnentum huldigten. Auch in Saramyr wurden die Ahnen geachtet und geehrt; in Okhamba aber wurden diejenigen, die Großes vollbracht hatten, als Helden gefeiert; man erzählte Geschichten über sie, verbreitete Legenden, damit ihre Taten überliefert wurden, um die jüngere Generation anzuspornen. Diejenigen, denen bedeutende Errungenschaften versagt blieben, wurden vergessen, und ihre Namen wurden nicht laut ausgesprochen. Okhamber vertraten die Überzeugung, dass die Stärke und der Mut, der Einfallsreichtum und Geist, die Antriebskraft eines Menschen nur von ihm selbst ausgingen; dass jeder für alles, was er tat, verantwortlich war; dass es keine Götter gab, vor denen man Buße tun oder denen man die Schuld geben konnte, wenn etwas schlecht verlief. Tsata betrachtete Gottheiten als eine Art Polster gegen die unbarmherzige und harte Wirklichkeit des Daseins. Kaiku wiederum konnte nicht begreifen, dass ein gesamter Kontinent mit Millionen Bewohnern nicht in der
Lage war zu sehen, was jeder in Saramyr sah: Dass die Götter überall um sie herum waren, ihr Einfluss überall spürbar war, sie sich bisweilen launisch und grausam verhielten, aber dennoch zweifellos dawaren. »Aber in Quaraal glaubt man an andere Götter«, hatte er einmal eingewandt. »Wie kann sowohl dein Volk als auch das dortige Recht haben?« »Vielleicht handelt es sich bloß um andere Erscheinungsbilder, die man denselben Wesenheiten zuschreibt«, hatte Kaiku dem entgegengehalten. »Wir setzen unseren Göttern immer die eigenen Gesichter auf.« »Auf wessen Seite würden sie sich dann stellen, käme es zu einem Krieg zwischen Quaraal und Saramyr?«, hatte Tsata erwidert. »Woher wisst ihr, was richtig ist, wenn ihr keine Ahnung habt, was ihrem Willen entspricht?« 202 Doch Kaiku konnte nur daran denken, wie leer ihr Leben sich anfühlen würde, wenn sie glaubte, dass die Welt ihrer Wahrnehmung alles wäre, was es gab. Außerdem wusste sie, dass dem nicht so war. Sie hatte in die Augen der Kinder der Mondschwestern geschaut. Durch seine blinde Erdverbundenheit berücksichtigte Tsata die Geister nicht, die sowohl in ihrem als auch in seinem Land hausten. »Geister sind Wesen, die sich nicht erklären lassen«, hatte er darauf erwidert, »aber wir huldigen ihnen weder, noch flehen wir um ihre Vergebung.« »Wenn du keine Geister erklären kannst«, hatte Kaiku entgegnet, »wie viel kannst du sonst nicht erklären?« »Und was, wenn deine Götter nur Geister wesentlich größeren Ausmaßes sind?« Und so war es weitergegangen. Doch das war ein Streitgespräch, das sie nicht erneut entfachen wollte, weshalb sie die aufkeimende Auseinandersetzung umschiffte. Stattdessen sprach sie über ihre eigenen Überzeugungen, Hoffnungen und Ängste und wurde neuerlich davon überrascht, wie leicht es ihr fiel. Sie empfand es als außergewöhnlich einfach, ihre Verteidigung vor diesem Mann zu senken. Er war so aufrichtig, dass sie ihn außerstande hielt, jemanden zu täuschen - und Täuschung war das, was sie am meisten fürchtete: Zu oft in ihrem Leben war sie übertölpelt worden. Sie versank so darin, ihm ihr Herz auszuschütten, dass ihr völlig entging, wie Nukis Auge westwärts auf die Bäume sank. Als sie es schließlich bemerkte, erschrak sie und umklammerte seinen Arm. »Beim Blut des Herzens, Tsata! Es ist spät. Ich hatte ganz den Grund vergessen, weshalb ich dich aufgesucht habe. Kommst du mit mir nach Araka Jo? Yugi hat eine Versammlung einberufen und darum ersucht, dass du teilnimmst.« »Ich komme«, willigte er ein. »Darf ich noch andere mitbringen?« Gleichsam als Erwiderung auf Kaikus fragendes Stirnrunzeln fügte er hinzu: »Ich bin nicht ihr Anführer, nur 203 ihr ... bevorzugter Botschafter. Es sollten auch andere dabei sein, um sich anzuhören, was besprochen wird, und um zu entscheiden. Es sollen ja nicht viele sein. Mit mir sind wir zu dritt. Ist das annehmbar?« »Dann also zu dritt«, willigte Kaiku ein. »Wir treffen uns bei Sonnenuntergang.« Die Versammlung wurde in der rechteckigen Mittelhalle des größten Tempels der Anlage abgehalten. Die Halle befand sich unter freiem Himmel, denn was einst ein prächtiges Dach gewesen war, hatte dem Zahn der Zeit nicht standgehalten und war eingestürzt, weshalb nun die früh aufgegangene Iridima von oben hereinspähte, während Nukis Schein den Himmel in Kupfer und Gold verwandelte. Das Bauwerk war aus demselben weißen Stein wie der Rest der Anlage errichtet, und in eben diese Steinwände waren ein Dutzend riesige Götzenbilder gemeißelt: beunruhigende, eindrucksvolle Wesen, die im Betrachter eine uralte, längst verlorene Erinnerung ansprachen. Ihre Augen waren vorquellend und waagerecht geschlitzt, und sie kündeten von einer dunklen Begierde. Ihre Gestalten glichen Verschmelzungen von Säuger, Reptil und Vogel. In die neu angebrachten Halterungen hatte man Laternen gestellt, und in der Mitte des ansonsten schmucklosen Bodens war eine riesige Korbgeflechtmatte mit hübschen Mustern ausgebreitet worden, auf der die Versammlungsteilnehmer sitzen würden. Als Kaiku und Tsata eintrafen, waren die meisten bereits da und knieten oder saßen mit untergeschlagenen Beinen. Die Schuhe oder Stiefel hatten sie ordentlich neben sich oder neben den Rand der Matte gestellt. Kaiku kannte fast alle: Cailin, Phaeca und einige andere Schwestern vom Roten Orden, Yugi, Mishani, Lucia, ErbBarak Hikken tu Erinima, Barakin Emira tu Ziris und einige Leute der Libera Dramach. 204 Erleichtert stellte Kaiku fest, dass Asara nicht anwesend war; dann fragte sie sich, ob sie vielleicht doch da war und Kaiku sie bloß nicht erkannte. Nur wenige Adelige waren zugegen, da die meisten es vorzogen, in den Städten zu bleiben, zudem handelte es sich überwiegend um eine Versammlung der Libera Dramach. Hikken war hier, weil er sich nie weit von seiner Nichte Lucia entfernte und über ihr Wohlergehen wachte; und Barakin Emira war zufällig auf Besuch in Araka Jo gewesen. Sie war eine leidenschaftliche Verfechterin der Libera Dramach, nur leider besaß sie wenig Macht, da sie während des letzten Umsturzes unklugerweise Geblüt Kerestyn unterstützt und dadurch den Großteil ihrer Armee verloren hatte. Kaiku führte Tsata in die Halle, gefolgt von den beiden anderen Tkiurathi - einem braunhaarigen, gedrungenen Mann namens Heth, der etwas Saramyrrisch sprach, und der Frau, die sich im Dorf lobend über Kaikus Sprache geäußert hatte und deren Name Peithre war. Abseits der Matte, auf der die Hauptteilnehmer Platz nahmen,
reihten sich entlang der Wände ein paar Dutzend weitere Leute, um das Geschehen zu beobachten. Dort erblickte sie plötzlich Nomoru. Kaikus Herz vollführte vor Überraschung einen Satz, als ihre Blicke sich begegneten. Da war sie in Fleisch und Blut, mager, sauertöpfisch und ungekämmt, das Gesicht halb in den Schatten verborgen. Kaiku hatte nicht mehr damit gerechnet, sie je wieder zu sehen, zumal sie davon ausgegangen war, dass Nomoru in Axekami gestorben war. Wie sie aus den Rauchgruben und der Stadt entkommen war, würde Kaiku wahrscheinlich nie erfahren. Jedenfalls war die Kundschafterin zäh wie eine Ratte, was sie somit neuerlich unter Beweis gestellt hatte. Während Kaiku sie anstarrte, legte sie den Kopf schief, wodurch das Licht aus der Nähe auf jene Seite des Gesichts fiel, die im Verborgenen gelegen hatte. Kaiku stockte der 205 Atem. Nomorus Haut war mit Narben überzogen - schmalen, erhabenen Linien gleich Pflugfurchen, die sich von der Wange zum Ohr und entlang des Halses erstreckten. Plötzlich drängte sich Kaiku der Eindruck auf, dass Nomoru sie ihr zeigte. Beunruhigt durch diesen neuen Gedanken, wandte sie hastig den Blick ab. Machte Nomoru sie etwa dafür verantwortlich? Kaiku hatte nicht schnell genug überlegt, als sie sah, wie Juto den Abzug drückte, um Nomoru zu erschießen: Sie hätte den Schwung der Büchsenkugel in der Luft anhalten sollen, statt die Kugel selbst zu sprengen. Gab Nomoru ihr die Schuld an ihrer Entstellung, obwohl sie ihr das Leben gerettet hatte? Bei den Göttern, diese Frau wollte sie wahrlich nicht zur Feindin haben. Doch dann schlüpfte Kaiku aus den Schuhen und kniete sich auf die Gemeinschaftsmatte. Tsata bedeutete seinen Gefährten, dasselbe zu tun. Kaiku trug nunmehr die vollständige Aufmachung des Roten Ordens, die sie gegen die starrenden Blicke der Leute in der Halle wappnete, gegen die grollende Gegenwart der Götzenbilder und das rastlose Huschen der Geister, die unsichtbar in den Nischen umherwirbelten. Das Erscheinungsbild der Tkiurathi sorgte ringsum im Raum für Getuschel. Als die Versammlung begann und förmliche Vorstellungen der Teilnehmer erfolgten, stand Kaiku auf und nannte die Namen der Tkiurathi, erklärte den Grund ihrer Anwesenheit und entschuldige sich im Voraus für die Notwendigkeit des Übersetzens. Heth murmelte ihre Worte auf Okhambisch Peithre ins Ohr. Während die Förmlichkeiten sich hinzogen, wurden Erfrischungen aufgestellt, kleine bemalte Tische mit Getränken und Silberschalen voll kleinen Häppchen. Heth griff sofort nach einer Leckerei, doch ein ablehnendes Glaren von Tsata ließ ihn innehalten, und er zog die Hand zurück. Als das letzte Licht vom Himmel wich und Iridima allein in der sternengesprenkelten Winternacht zurückließ, waren die Begrüßungen 206 endlich zu Ende. Dann war es an Yugi, dem Anführer der Libera Dramach, den Grund zu nennen, weshalb sie alle hier waren. »Die Frage, die sich uns heute stellt, ist einfach«, sprach er. »Was sollen wir jetzt tun? Das Patt ist durchbrochen, und die Weber sind im Vorteil. Wenn wir untätig bleiben, werden sie weitere Feyakori erschaffen, die unsere Streitkräfte genau wie in Juraka und Zila beiseite fegen werden. Bislang haben wir noch keine Verteidigung gegen diese Dämonen gefunden, und obwohl wir etwas über ihr Wesen in Erfahrung bringen konnten, wissen wir noch nicht, wie wir sie abwehren können. Allein weil sie gezwungen sind, in ihre Rauchgruben zurückzukehren, um sich zu ergänzen, waren sie noch nicht in der Lage, gefahrlos in die Südlichen Präfekturen einzufallen; wir haben zwar noch ein wenig Zeit, aber nicht allzu viel, denn bald gehen die Rauchgruben in anderen Städten in Betrieb. Wenn wir schon gegen zwei Feyakori nicht bestehen können, welche Aussichten haben wir dann erst gegen zehn oder mehr?« Und so begann der Gedankenaustausch. Meinungen wurden geäußert und widerlegt. Yugi brachte die Möglichkeit zur Sprache, ihre Streitkräfte zu bündeln, um einen Großangriff auf Axekami zu unternehmen. Der Rat verwarf den Vorschlag rasch als tollkühn und sinnlos. Axekami stellte nicht den Machtmittelpunkt der Weber dar, sondern jenen des alten Kaiserreichs, folglich wäre es kein verheerender Schlag gegen den Feind; außerdem könnten sie die Stadt nicht gegen die Feyakori halten, weshalb die Weber sie mühelos zurückerobern würden. »Wenn Axekami errungen werden soll, dann muss es durch die Menschen dort geschehen!«, verkündete Hikken tu Erinima. Daraufhin forderte Yugi die beiden Ordensschwestern Kaiku und Phaeca auf, ihr jüngstes Abenteuer in Axekami zu schildern, und ersuchte sie um ihre Einschätzung der Stim207 mung der Menschen. Beides war wenig ermutigend. Andere Spitzel, die Yugi Bericht erstattet hatten, untermauerten ihre Ansicht. »Wir dürfen es uns nicht gestatten, auf einen Aufstand zu hoffen«, meldete Cailin sich zu Wort. »Der Maßstab ist zu groß, und gegen die Weber besteht ohnedies wenig Hoffnung. Sie können Aufrührer nach Belieben beseitigen. Ohne den Schutz des Roten Ordens hätten die Menschen keine Möglichkeit, sich zu formieren, und es gibt kaum genug von uns, um die Streitkräfte des Kaiserreichs zu beschützen, geschweige denn dazu noch die Bürger.« Ihr Blick wanderte über die Versammelten. »Passiver Widerstand ist das Beste, worauf wir hoffen können, und selbst dafür stehen die Aussichten schlecht. Allein die Botschaft zu verbreiten wäre ein schwieriges Unterfangen, und es müsste obendrein ohne den Roten Orden geschehen, denn wir wagen es nicht, in den Städten der Weber tätig zu werden. Wir dürfen nicht einmal Lucia gestatten, ihre Gabe des Traumwandeins einzusetzen, um dort für uns zu kundschaften. Das Wagnis ist zu hoch.«
»Was schlagt Ihr dann vor?«, verlangte Hikken zu erfahren, wobei er seine Verachtung kaum verbarg. »Sollen wir gar nichts tun?« »Das ist nicht so unratsam, wie es klingen mag«, warf Barakin Emira ein. Sie war eine Frau mit schlichten Zügen, die auf die dreißigste Ernte zuging; ihr dunkelbraunes Haar trug sie lang und glatt. »Die Streitkräfte der Weber scheinen in letzter Zeit dünner gesät. Es ist durchaus möglich, dass ihre Armeen durch die Auswirkungen ihrer eigenen Geißel verhungern. Ihnen läuft ebenso die Zeit davon wie uns. Die Frage ist nur, wem geht sie zuerst aus?« »Aber unsere Spitzel konnten nicht bestätigen, dass die Stärke ihrer Truppen tatsächlich abgenommen hat«, gab Yugi zu bedenken. »Auch den Umfang ihrer Nachschubmöglichkeiten kennen wir nicht. Wir können bestenfalls mutmaßen.« 208 »Wenn wir aber einen Weg fänden, sie abzuwehren, sie nur aufzuhalten, könnte das schon reichen, um das Blatt zu wenden«, beharrte Emira. »Wir haben aber keinen Weg, um sie abzuwehren«, erinnerte Cailin sie. »Das ist das Problem. Die einzige Einschränkung für die Geschwindigkeit, mit der die Feyakori unsere Städte zerstören können, ist ihre eigene Notwendigkeit, sich zu erholen.« »Wie wär's mit einem Rückzug in die Berge?«, schlug ein Mann der Libera Dramach vor. »Wenn wir nicht in der Lage sind, ihnen standzuhalten, könnten wir uns doch verteilen und wie Banditen zuschlagen.« Yugi nickte. »Das kommt vielleicht als letzter Ausweg in Frage. Aber ich denke, es wäre ebenso sicher unser Ende, als wenn wir uns nur mit Schwertern und Kanonen den Feyakori stellten. Und falls die Weber den Präfekturen antun, was sie den bereits von ihnen eingenommenen Gebieten angetan haben, dann wird die Hungersnot noch viel schlimmer - und in den Bergen gibt es überhaupt keine Nahrung.« »Es gibt noch eine Möglichkeit«, mischte Cailin sich wieder ins Gespräch. »Wir können die Hexensteine angreifen.« »Das wurde bereits versucht«, sagte Hikken. »In Utraxxa. Und es schlug fehl.« »Nein«, widersprach Cailin. »In Utraxxa haben wir die Weber unterschätzt. Aber ihr Verhalten lässt darauf schließen, dass es uns gelungen wäre, wenn wir die Gelegenheit erhalten hätten.« »Vielleicht könntest du das zugunsten unserer Gäste und Zuhörerschaft näher erklären?«, forderte Kaiku sie höflich auf. Die Tkiurathi hatten noch kein Wort laut gesprochen, sondern einander lediglich Übersetzungen zugetuschelt. Sie wussten wenig über den Stand der Dinge in Saramyr und waren zufrieden damit zu lauschen, um etwas darüber zu erfahren. 209 Cailin neigte zustimmend das Haupt. »Als wir endlich die Stärke aufgebracht hatten, das in den Bergen westlich von hier, jenseits des Xemit-Sees gelegene Kloster der Weber anzugreifen, hatte der Rote Orden einen anderen Plan im Sinn, der darüber hinausging, den Hexenstein dort nur zu zerstören und uns von der Geißel zu befreien. Wir hatten vor, es mit dem Hexenstein aufzunehmen, um etwas über ihn herauszufinden. Durch unsere eigenen Beobachtungen darüber, wie die Macht der Weber mit jedem erweckten Hexenstein anschwoll, und die Auskünfte, die Lucia vom Geist von Alskain Mar im Xarana-Bruch bekam, konnten wir ermitteln, dass alle Steine auf eine Weise miteinander verbunden sind, die einem Netz oder Gespinst ähnelt. Wir dachten, wir könnten diese Verbindung nützen, sie zu den anderen Hexensteinen verfolgen und auch diese zerstören. Statt nur einen zu besiegen, könnten wir so alle gleichzeitig vernichten.« In der Versammlungshalle herrschte Totenstille; nur das leise Säuseln des Windes war zu hören. Nun, nachdem Nukis Licht dem Himmel entfleucht war, sank die Temperatur und steuerte auf eine keineswegs unangenehme Kühle zu. »Die Gelegenheit ergab sich nie. Unmittelbar bevor wir in die Kammer eindringen konnten, in der sich der Hexenstein befand, wurde er zerstört. Wir können nur vermuten, dass die Weber Sprengstoff verwendeten. Jedenfalls war es etwas, das wir nie von ihnen erwartet hätten: Sie hatten das Wohlergehen der Hexensteine stets selbst über das eigene Leben gestellt. Sie wollten das Netzwerk schützen, indem sie unseren Zugang dazu beseitigten.« An der Stelle ließ sie den Blick über die Versammelten gleiten, und ihr Tonfall wurde heftiger. »Dennoch behaupte ich, dass es kein Fehlschlag war. Wir kamen nahe genug heran, um einen Blick auf das Wesen des Hexensteins zu erhaschen, als er auseinander flog. Seither sind zwei Jahre verstrichen, und wir haben diese Zeit nicht vergeudet. Wir haben studiert, was wir in Utraxxa erfuhren, und nun sind wir 210 besser denn je darauf vorbereitet, es mit einem Hexenstein aufzunehmen. Und diesmal werden wir sie alle zerstören. «Kaiku verspürte angesichts der Entschlossenheit in Cailins Stimme erwartungsvolle Erregung. Bei den Göttern, das Versprechen von Taten nach der langen Zeit des Versteckens, der Rückzüge und Pattstellung hörte sich für sie wahrlich verlockend an. »Und wie wollt Ihr verhindern, dass Ihr wie zuvor vom Netzwerk abgeschnitten werdet?«, fragte Mishani. Cailin fasste sich wieder. »Der Rote Orden hat das Netzwerk, das wir zwischen den Hexensteinen beobachten konnten, nachgebildet und eingehend untersucht. Es gibt keinen einzelnen Stein, der nicht geopfert werden könnte, aber es gibt einen, der das Gefüge schwer schädigen würde, wenn er fiele: die Nabe, könnte man sagen. So wie die Nexusse als Anker für die Tiere dienen, die sie beherrschen, stellt dieser Stein den Anker für die
anderen Steine dar. Während unseres langen Angriffs auf Utraxxa hatten die Weber reichlich Zeit, Sprengkörper vorzubereiten. Aber ich glaube, sie wären wesentlich zögerlicher, die Nabe zu zerstören, den mächtigsten Knoten von allen. Und wenn es uns gelingt, sie zu überraschen, haben sie unter Umständen gar keine Zeit, den Stein zu vernichten. Wenn wir an ihn herangelangen, solange er noch heil ist, können wir ihn als Zugang zum Netzwerk nützen und alle Hexensteine in einem Aufwasch erreichen.« Kaikus Haut prickelte bei der Vorstellung. Bestand tatsächlich eine Aussicht, so gering sie auch sein mochte, all das zu beenden? Sie war nicht in Utraxxa gewesen, da sie widerwillig von Cailin zurückgehalten worden war, aber sie hatte von dem Grauen gehört, das ihre Schwestern dort erlebten. Ließ es sich bewerkstelligen? Sich in die Adern ihres Machtgefüges einzuschleichen und zu verbreiten wie ein Krankheitserreger? » Wisst Ihr das oder handelt es sich bloß um eine Vermutung?«, erkundigte sich Hikken. Er war ein kratziger Mann mittleren Alters mit tief zerfurchten Zügen und vorzeitig 211 ergrautem Haar. Seine Sprechweise war angriffslustig und streitsüchtig. »Es ist eine Vermutung«, gestand Cailin und breitete die Hände aus, um Hilflosigkeit auszudrücken. »Aber sie beruht auf überaus begründeten Annahmen. Wir haben gesehen, wie diese Steine wirken. Dies ist kein wildes Hirngespinst, ebenso wenig würden wir uns blindwütig in dieses Wagnis stürzen. Wenn es in Angriff genommen werden sollte, wäre es unser zweiter Versuch, und wir würden dieselben Fehler kein zweites Mal begehen.« »Wo ist denn dieser ... Anker-Stein?« Es war Tsata, der sich zu Wort meldete. »Es ist der erste Stein, der erweckt wurde«, antwortete Cailin. »Derjenige, mit dem alles begann. Er liegt unter dem Gebirgskloster von Adderach.« Hikken stimmte derbes Gelächter an. »Und wie schlagt Ihr vor, dass wir nach Adderach gelangen sollen? Selbst wenn der Ort nicht tief in den Bergen läge, ist es gewiss die am strengsten bewachte Feste der Weber!« »Auch das ist eine Vermutung«, warf Phaeca ein. »Wir haben keine Ahnung, was uns in Adderach erwartet. Niemand ist je dort gewesen. Aber wenn ich den Rat daran erinnern darf: Wir haben schon mehrmals festgestellt, dass die Weber sich zu sehr auf ihre Schilde der Irreführung statt auf Wachen aus Fleisch und Blut verlassen.« »Das war in den Tagen, bevor ihnen der Rote Orden bekannt war«, gab Mishani zu bedenken. »Aber sie könnten sich durch die Berge für geschützt halten«, hielt Phaeca dem entgegen. »Gut möglich, dass sie nicht in der Lage sind, genug Lebensmittel an einen solch abgelegenen Ort zu schaffen, um eine Armee zu unterhalten. Wer weiß schon, wie die Weber denken?« »Es gibt viele Wege nach Adderach«, mischte Cailin sich wieder ins Gespräch. »Aber keiner davon ist einfach.« 212 »Und Ihr denkt, die Weber würden eine Armee nicht bemerken, die auf Adderach marschiert?«, rief Hikken aus. »Wie genau habt Ihr denn nun vor, es zu bewerkstelligen?« »Wir gehen leise«, antwortete Cailin. »Und wir -« »Das ist sinnlos!«, sagte Lucia plötzlich. Bis dahin hatte sie wie üblich zerstreut gewirkt, nun aber schien sie ganz bei der Sache. Beim Klang ihrer Stimme verstummten alle Anwesenden und schauten zu ihr. »Sinnlos«, wiederholte sie, diesmal leiser. Als sie fortfuhr, schwang in ihrer Stimme Gewissheit und Überzeugung mit, und sie hörte sich an wie ihre Mutter, die Kaiserin. »Selbst wenn wir Adderach angreifen und uns Erfolg beschieden würde, könnten die Weber in unserer Abwesenheit eine Spur der Verwüstung durch die Präfekturen ziehen und ein solches Blutbad anrichten, dass jeder Sieg zu teuer käme. Und sollten die Weber unseren Plan entdecken, brauchten sie nur einen der Dämonen zur Verteidigung nach Adderach schicken, dann wäre alles verloren. Was wir auch vorhaben, wir müssen in der Lage sein, es mit den Feyakori aufzunehmen. Und die einzige Möglichkeit, solche Wesen aufzuhalten, besteht darin, es mit einem ähnlichen Wesen zu tun.« Sie stand auf und sprach mit einer so kräftigen Stimme weiter, wie Kaiku sie von einer derart zierlichen jungen Frau für unmöglich gehalten hätte. »Es ist zehn Jahre her, seit ich aus der Kaiserlichen Feste in Axekami geholt wurde. Zehn lange Jahre, und in dieser Zeit wurde meinetwegen mehr Blut vergossen, als ich mir auszumalen wage. Ihr habt solche Hoffnung in mich gesetzt, und ich habe euch bislang nur Tod und Verderben zurückgegeben. Jetzt ist die Zeit gekommen, euren Erwartungen gerecht zu werden.« Sie setzte kurz ab, und Kaiku fiel auf, dass sogar die Geister still geworden waren und die Aufmerksamkeit der Götzen 213 sich auf Lucia geheftet hatte. Sag es nicht, Lucia, dachte Kaiku. Tu das nicht. »Ein Freund sagte einst zu mir, ich sei ein Avatar, von den Göttern eingesetzt, um ihren Willen zu erfüllen«, fuhr Lucia fort. »Ich weiß nicht, ob dem so ist. Dafür weiß ich soviel: Wir können uns diesen Dämonen stellen und sie besiegen, aber nur mit Hilfe der Geister. Jenen Wesenheiten, die seit lange vor der Zeit, als wir kamen, in diesem Land leben. Wenn die Weber eine Armee solcher Geschöpfe aufstellen können, dann kann ich es auch.« Als sie die Luft einsog, war ein winziges Beben zu erkennen, das einzige Aufflackern von Unsicherheit, das sie zeigte. »Ich werde zum ältesten und mächtigsten Geist gehen, den unsere Überlieferungen kennen, tief ins Herz des Waldes von Xu. Ich werde mit dem Geist sprechen und ihn unter unser Banner holen. Die Seele des Landes wird sich zu dessen Verteidigung erheben.« Mittlerweile schwoll ihre Stimme zu einem Crescendo an. »Wir werden
einen solchen Krieg führen, dass selbst die Götter erzittern werden!« Das jäh aufbrandende Getöse der Menge war ohrenbetäubend. Jubel und Zustimmung schollen durch die Halle und trieben in den nächtlichen Himmel empor. Dies war das Zeichen, auf das sie die ganze Zeit gewartet hatten: der Ruf zu den Waffen, der Augenblick, indem ihre Retterin sich ins Getümmel stürzte und das Blatt wendete. Es kümmerte sie nicht, ob ein solcher Plan überhaupt durchführbar war; wichtig war nur, dass Lucia das Ruder an sich gerissen hatte, und dadurch war sie zu der Anführerin geworden, die alle so verzweifelt brauchten. Doch obwohl die Menschen rings um Kaiku frohlockten, blieb sie selbst stumm. Sie verharrte kniend und schaute zu Lucia auf, die im Angesicht dieser überschwänglichen Begeisterung so schrecklich zerbrechlich wirkte. Heute war eine Schlacht verloren worden. Lucia gehörte nun unwiderruflich 214 ihnen; sie hatte die letzte Gelegenheit verspielt, noch umzukehren. Als hätte Lucia ihre Gedanken gespürt, schaute sie Kaiku an, und in ihren Augen war solcher Kummer, das Kaiku am liebsten geweint hätte. 215 vierzehn Danach gab es nicht mehr viel zu sagen. Die Versammlung löste sich mit dem Gefühl auf, dass Dinge unerledigt geblieben waren. Lucias Ankündigung hatte die Beratungen wirksam beendet. Kaiku sah, wie Cailin etwas in Yugis Ohr flüsterte, und sie vermutete, dass die Saat der an diesem Tag vorgeschlagenen Taten eben erst zu wachsen begonnen hatte. Aber Diplomatie war nicht ihre starke Seite, weshalb sie zufrieden damit war, sie Leuten wie Mishani zu überlassen, die das entsprechende Feingefühl besaßen. Immer noch besorgt über die Absichten Nomorus, sah sie sich nach der Kundschafterin um, konnte sie jedoch in der Menge nicht entdecken. Und so führte sie stattdessen Tsata und die anderen Tkiurathi aus dem Tempel hinaus in die Kühle der Nacht. »Wir begleiten euch, wenn es dir recht ist«, bot Tsata ihr an, als sie den Rand der Anlage erreichten, wo der Pfad zurück zum Dorf der Tkiurathi führte. Offenbar ging er einfach davon aus, dass sie Lucia diesen Weg nicht alleine beschreiten lassen würde. Und was noch schlimmer war: er hatte wahrscheinlich Recht, dachte Kaiku. »Xu ist kein gewöhnlicher Wald«, klärte Kaiku ihn auf. »Dort herrschen die Geister, und das bereits seit vor der Zeit, als mein Volk erstmals einen Fuß auf diese Gestade setzte.« Aus ihren Augen sprach Ernst. »Es gibt in ganz Saramyr keinen gefährlicheren Ort für unsresgleichen.« »Umso mehr Grund für euch, uns mitzunehmen«, meinte Tsata. Kaiku fühlte sich zu erschöpft für den Versuch aufzubegeh216 ren. Obwohl es Tsatas Gesichtsausdruck zufolge nicht nötig war, dankte sie ihnen allen und verabschiedete sich von ihnen, ließ das Angebot vorerst offen. Es lag nicht an ihr, solche Entscheidungen zu treffen, und sie hatte keine Lust, die Verantwortung für ihren Tod im Wald von Xu zu tragen. Allein die Götter wussten, was sie dort erwarten mochte. Während sie zu ihrem Haus im Dorf der Libera Dramach hangabwärts der Tempelanlage ging, wurde ihr klar, dass sie bezüglich der Reise gar nicht darüber nachdachte, ob sie aufbrechen würde, sondern wann. Beim Blut des Herzens, wohin sind bloß all meine Wahlmöglichkeiten verschwunden ?, dachte sie in einem verdrießlichen Augenblick. Dann schnaubte sie vor Abscheu über das eigene Selbstmitleid. So wie im Schoß teilte sie sich auch in Araka Jo mit Mishani ein Haus, obwohl sie beide selten zur selben Zeit dort weilten, wie es auch in dieser Nacht war. Sie vermutete, Mishani hatte sich mit anderen Teilnehmern der Versammlung andernorts begeben, um die Beratungen untereinander weiterzuführen. Das Haus lag in der Nähe des Gebäudes, in dem der Rote Orden zusammentrat und in dem die meisten Ordensschwestern eigene Zimmer hatten, doch im Gegensatz zu Phaeca hatte Kaiku die Vorstellung ganz und gar nicht behagt: Es hätte sich zu sehr danach angefühlt, einen Teil ihrer selbst aufzugeben. Ihr Zuhause war vergleichsweise unscheinbar und im Winter etwas kalt, doch zumindest bis der Krieg vorüber war, hatte Kaiku sich von dem Gedanken an ein festes Heim verabschiedet, und solange sie ein Dach über dem Kopf und etwas Platz für sich alleine hatte, war sie zufrieden. In jener Nacht fühlte das Haus sich leer an. Sie schob die Außentür hinter sich zu und lauschte eine Weile in die Dunkelheit. Draußen zirpten und surrten Nachtinsekten. Sie begab sich in ihr Schlafzimmer. Sanft flackerte entlang ihres Weges der Schein der Laternen auf, als die Dochte Flammen 217 fingen, entzündet durch einen beiläufigen und leichtfertigen Einsatz ihres Kanas. Cailin hätte es missbilligt. Was Kaiku egal war. Ihre Schlafkammer war klein; in ihr befand sich eine gemütliche Matte aus gewebten, federnden Fasern, auf der eine dicke Decke ausgebreitet war, darüber wiederum eine weitere Decke. Einfach, schmucklos, zweckdienlich. An der Wand gegenüber dem bevorhangten Eingang hing ein Spiegel, ein altes Stück von Mishani; Kaiku erblickte sich darin und dachte, wie gut die Bemalung des Ordens doch die schwermütige Stimmung übertünchte, die sich auf sie gesenkt hatte. Trotz allem strahlte sie eine gewisse Befehlsgewalt und Erhabenheit aus. Auf der anderen Seite ihrer Schlafmatte befanden sich zwei Truhen neben einer Frisierkommode mit einem
weiteren Spiegel, und eine Wand schmückte eine Schriftrolle mit einem Reim von Xalis - eine weitere Gabe Mishanis. Was das Schmücken von Zimmern anging, war Kaiku schrecklich unbeholfen: Es erschien ihr einfach so belanglos. Materielle Dinge kümmerten sie wenig. Sie hatte sich gerade an die Frisierkommode gesetzt und wollte die Bemalung entfernen, als ihr Blick auf die Maske fiel. Sie sah sie über die Schulter ihres Abbilds in dem kleinen Schminkspiegel. Höhnisch grinste sie das an der Wand hängende Ding an, und Kaiku erschrak so heftig, dass sie mit einem spitzen Schrei zusammenzuckte und kleine Holztöpfe mit Lippenfarbe umstieß, die sich geräuschvoll über den Boden verteilten. Kaiku starrte die Maske an, begegnete ihrem hohlen Blick im Spiegel. Das Ding erwiderte ihr Starren. Eine Gänsehaut überzog sie. Kaiku konnte sich nicht erinnern, die Maske dort aufgehängt zu haben. Sie stand auf und ging langsam darauf zu. Die rot und schwarz bemalte Fratze schien sie verschmitzt zu verhöhnen. »Die Götter mögen dich verfluchen«, flüsterte sie. »Lass mich zufrieden.« 218 Sie nahm die Maske von der Wand ab. Die Berührung ihrer Hand darauf löste eine Mischung aus Spüren und Erinnerung an ihren Vater aus, vermittelte ihr auf unerklärliche Weise die Wärme seiner Gegenwart. Mühsam rang sie Tränen zurück und steckte die Maske zurück in ihre Truhe. Warum war sie nicht fähig, sie einfach zu zerstören? Warum ertrug sie Nacht für Nacht diese böswilligen, beharrlichen Lockungen? Vielleicht weil es das letzte Stück ihres Vaters war, das sie besaß. Vielleicht auch wegen des praktischen Nutzens der Maske: schon zwei Mal hatte Kaiku sie verwendet, um durch die Schranken der Weber zu gelangen, und da die Weber nach wie vor nicht wussten, wie es ihr gelungen war, gab es keinen Grund, weshalb sie die Maske nicht neuerlich einsetzen konnte. Cailin hatte flüchtig versucht, das Ding zu untersuchen, doch es gab wenig preis, was die Schwestern noch nicht wussten. Für eine wahre Maske war sie jung, schwach und nicht weiter bemerkenswert, dennoch wagte keine Schwester, zu tief in die Wirkweise einer wahren Maske einzudringen, selbst wenn es sich um eine wie diese handelte. Auf diesem Pfad lauerte Wahnsinn. Vielleicht behielt Kaiku sie auch, um sich daran zu erinnern, wogegen sie kämpfte und weshalb. Denn mit dieser Maske hatte für sie alles begonnen: Sie hatte ihre Familie das Leben gekostet und Kaiku als wurzelloses Treibgut in die Welt verbannt. Bis sie den Roten Orden fand; bis sie eine andere rote und schwarze Maske aufgesetzt hatte. Kaiku riss sich zusammen. In ihrem augenblicklichen Zustand der Abgespanntheit waren derlei Gedanken alles andere als ratsam. Es hatte Kaiku ausgehöhlt, mit ansehen zu müssen, wie Lucia sich ihrer Anhängerschaft ausgeliefert hatte, und sie fühlte sich bedrückt und geschlagen. Schlimmer noch, sie hatte sich damit abgefunden, in den Wald von Xu zu reisen, weil irgendjemand, dem Lucia vertraute, mitkommen musste, und das würde Kaiku sein: Yugi war zu wertvoll, Mis219 hani wäre bei einem derartigen Unterfangen nutzlos. Ihre Begabung war anders geartet. Folglich würde Kaiku bereits nach so kurzer Zeit Mishani wieder verlassen. Verbittert stieß sie einen Fluch aus. Dieser Krieg raubte ihr alles; mit jeder verstreichenden Ernte wurden weitere kleine Bissen aus ihrer Seele gezehrt, blieb sie gerade noch mit genug Hass und Entschlossenheit zurück, um zu überleben. Dabei wusste die Seite, auf der sie stand, ihre Opfer nicht einmal zu schätzen. Wieder und wieder wurden Kaiku ihre Freunde entrissen. Und es schien, dass sie nicht ein einziges Mal Boden auf die Weber gutgemacht hatten, seit diese ganze Misere mit dem Tod der Geblütskaiserin Anais begonnen hatte. Ihre größte Errungenschaft bestand darin, ihren Rückzug vorübergehend eingedämmt zu haben. Es musste etwas geschehen. Weitere zehn Jahre konnte sie diesem Weg nicht folgen. Dann tröste dich, raunte ihr eine boshafte innere Stimme zu. So wie die Dinge sich entwickeln, werden die Weber uns noch vor- dem Sommer überrannt haben. Vor der Haustür läutete die Glocke. Kaiku schaute auf. Kurz erwog sie, nicht zu antworten, aber die Laternen waren angezündet, folglich wusste ihr Besucher, dass jemand da war. Schließlich behielt die Neugier die Oberhand. Rasch machte sie sich im Spiegel zurecht, dann ging sie zur Tür und zog sie auf. Davor stand Asara. Kaiku erkannte sie auf Anhieb, obwohl sie in der Gestalt einer Fremden steckte, einer dunkelhäutigen Tchom-Rin-Frau mit schwarzem Haar, das ihr in einem lockeren Zopf über die Schulter hing. Sie trug ein silbergraues Gewand. »Was willst du?«, erkundigte Kaiku sich, doch sie brachte die Kraft nicht auf, Gift und Galle in ihre Stimme zu mischen. Plötzlich erschien ihr alles so sinnlos. 220 »Hegst du etwa nach unserer letzten Begegnung immer noch einen Groll gegen mich?« Asara erahnte an Kaikus Tonfall, dass sie wusste, wer vor ihr stand. »Ist ein Groll erst entstanden, ist er es auch wert, gehegt zu werden«, gab sie zurück. »Darf ich reinkommen? Ich möchte reden.« Darüber dachte Kaiku kurz nach, dann wandte sie sich ab und ging ins Haus. Asara folgte ihr und schob die Tür hinter sich zu. Kaiku blieb in der Mitte des Zimmers stehen. Sie lud Asara nicht ein, sich zu setzen. »Die Aufmachung des Roten Ordens steht dir nicht«, meinte Asara. »Sie macht aus dir etwas, das du gar nicht bist.«
»Erspar mir die Beanstandungen, Asara«, entgegnete sie abweisend. »Wäre ich bereits eine Ordensschwester gewesen, als wir uns das letzte Mal begegnet sind, wärst du nicht in der Lage gewesen, mich so zu täuschen.« »Vielleicht wäre das besser für uns beide gewesen.« »Jedenfalls wäre es besser für mich gewesen!«, herrschte Kaiku sie an. Doch Asara sprach nicht darauf an; Kaikus Zorn schien von ihr abzuprallen. »Ich bin gekommen, um mich zu entschuldigen«, sagte sie. »Auf deine Entschuldigungen gebe ich einen feuchten Kehricht. Die sind so falsch wie die Haut, die du trägst.« Asara wirkte leicht belustigt. »Diese Haut ist meine eigene, Kaiku. Ich bin nur zufällig in der Lage, sie zu verändern. Ich bin eine Ausgeburt, genau wie du. Wie kannst du deine eigenen Fähigkeiten verherrlichen und meine verachten?« »Weil ich meine nicht einsetze, um andere Menschen hinters Licht zu führen«, zischte Kaiku. »Richtig, du setzt sie ein, um andere Menschen zu töten.« »Weber und Nexusse, Dämonen und ausgebürtige Bestien«, gab Kaiku zurück. »Das ist nicht unbedingt, was ich als Menschen bezeichne. Sie sind Ungeheuer.« Die Heuchelei der 221 Äußerung Asaras entging ihr, denn sie wusste nichts von all den Leben, derer es bedurft hatte und nach wie vor bedurfte, um Asara zu ernähren und dem Verwandlungsvorgang in ihrem Körper Brennstoff zu liefern. »Auf Fo hast du sehr wohl mehrere Menschen getötet; oder hast du das am Ende vergessen?« »Das war deine Schuld!«, brüllte Kaiku. Beschwichtigend hob Asara eine Hand. »Tut mir Leid. Du hast Recht. Ich will nicht, dass dies zu einem Streit ausartet. Aber ich möchte, dass du mir zuhörst, auch wenn du mir nicht glaubst.« »Dann sprich«, forderte Kaiku sie auf. Dennoch behielt sie die Arme vor der Brust verschränkt, und ihre Haltung ließ deutlich erkennen, dass nichts, was Asara sagen würde, Kaiku milde stimmen würde. Asara musterte sie eine Weile mit unergründlichem Blick. »Es war nie meine Absicht, deine Feindin zu werden, Kaiku. Zugegeben, ich habe dich in der Vergangenheit getäuscht, aber ich wollte dir nie etwas Böses. Auch beim letzten Mal nicht.« Sie senkte die Stimme ein wenig. »Ich wäre Saran Ycthys Marul geblieben. Du hättest es nie erfahren. Wir hätten glücklich sein können.« Kaiku öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch Asara kam ihr zuvor. »Ich weiß, was du sagen willst, Kaiku. Es war töricht von mir. Ich dachte, ich könnte mich selbst neu erschaffen, mir eine neue Vergangenheit zulegen: um von vorne anzufangen. Und du warst bereit, Saran zu lieben. Das warst du, Kaiku.« Sie ging über Kaikus kümmerliches Aufbegehren hinweg. »Mich wolltest du nicht lieben, ihn aber hättest du geliebt.« »Er war nicht echt«, gab Kaiku angewidert zurück. »Er war so echt, wie Asara es war. Wie ich es jetzt bin.« »Dann bist du ebenso unecht«, entgegnete Kaiku. »Die Asara, die ich kannte, war bloß das Gesicht, das du hattest, die 222 Rolle, in die du geschlüpft bist, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind. War das etwa dein echtes Ich? Wie viele Gesichter hattest du davor? Weißt du es überhaupt?« Asara wirkte betrübt. »Nein«, gestand sie. »Nein, ich weiß es nicht. Hast du auch nur die leiseste Vorstellung davon, wie es ist, ich zu sein? Ich weiß nicht einmal mehr, wie ich aussehen sollte. Fälschungen sind alles, was ich habe.« »Von mir brauchst du kein Mitleid zu erwarten.« Kaiku lachte verächtlich. Asaras Züge versteinerten sich. »Ich will von niemandem Mitleid. Aber manchmal...« Sie wandte den Blick ab. »Manchmal brauche ich Hilfe.« Das bestürzte Kaiku tiefer als alles, was Asara bisher gesagt hatte. Asara hatte sich stets wild entschlossen und völlig unabhängig gezeigt; für sie kam dies einem grässlichen Zugeständnis gleich. Unwillkürlich wurde sie für einen Augenblick milder. Doch dann tauchte wieder die Erinnerung an Saran Ycthys Marul auf, der Kaiku mit Asaras Augen ansah, als Kaiku halbnackt über den an ihr begangenen Verrat weinte. »Du verdienst meine Hilfe nicht«, sagte sie. Asara glarte sie quer durch das Zimmer an; ihr wunderschönes Antlitz wirkte im Laternenschein frostig. »Doch, das tue ich, Kaiku. Die Ehre gebietet, dass du deine Schulden begleichst, und du verdankst mir dein Leben. Ich habe dich nicht bloß davor bewahrt zu sterben. Ich habe dich von den Toten zurückgeholt. Nichts, was du je für mich getan hast, konnte das auch nur annähernd vergelten.« Mittlerweile klang ihre Stimme gepresst vor Bedrohlichkeit. »Du hättest mich um ein Haar getötet und ich habe es dir nie zum Vorwurf gemacht. Bevor dein Kanasicb. zeigte, habe ich jahrelang über dich gewacht, und ich habe dich vor den Shin-shin gerettet, als sie dich mit Sicherheit erwischt hätten. Du hältst mich für so hinterhältig und grausam, dabei war ich dir eine bessere 223 Freundin, als dir bewusst ist. Ich habe dir alles vergeben und im Gegenzug fast nichts verlangt.« Kaiku blieb ungerührt. Asara warf den Kopf zurück und gab einen angewiderten Laut von sich. »Denk darüber nach, was ich gesagt habe. Du betrachtest dich als ehrenwert; nun, Ehre erstreckt sich nicht nur auf deine Freunde und Lieben. Die Zeit ist gekommen, mir zu bezahlen, was du mir schuldest. Dann sind wir quitt, und du
wirst mich nie wieder sehen.« Damit stapfte sie zur Tür und zog sie auf. An der Schwelle schaute sie zurück. »Ich komme mit euch in den Wald. Wir klären diese Angelegenheit später.« Dann war sie verschwunden, und Kaiku war wieder allein. Manchmal, wenn die Dämpfe der Amaxa-Wurzel ihn mit ihren weichen und säuerlichen Wickeln umnebelt hatten, vermeinte Yugi, den Geist erspähen zu können, der diese Kammer heimsuchte. Er verbarg sich in dem Winkel, in dem die Decke und zwei der Wände aufeinander trafen, ein spindeldürres Ding, ganz aus Knochen und Kanten, schwarz und geschnäbelt und halb sichtbar. Es hielt nie still; stattdessen war es ständig in unruhiger Bewegung, zitterte und zuckte mit einer Geschwindigkeit, der das Auge kaum zu folgen vermochte, wodurch es verschwommen und unscharf wirkte. Yugi pflegte es eingehend zu betrachten, während er auf seiner Schlafmatte lag und am Mundstück seiner Wasserpfeife paffte. Für ihn war dies ein Teil der Nacht, und die Nächte waren es, in denen er Frieden fand, in denen er seine Ruhe hatte und die schartigen Felsen der Erinnerung hinter dem Nebel des Rausches verschwanden. Er hatte gerade in einem Dämmerzustand den Geist beobachtet, als er eine Bewegung am Eingang bemerkte. Es dauerte 224 einen Augenblick zu erkennen, wer seine Besucherin war. Sie kam herüber und kauerte sich neben ihn, legte die Büchse beiseite. »Schlechte Angewohnheit«, murmelte sie. »Ich weiß«, gab er zurück. Sein Mund war trocken, die Worte fühlten sich zäh in der Kehle an. Er spürte, wie ihre Hand sanft sein Kinn umfasste, den Kopf erst nach links, dann nach rechts drehte, ihm in das glasige Weiß seiner Augen geschaut wurde. »Du bist völlig benebelt«, stellte sie fest. »Ich dachte, du hättest das im Griff.« »Willst du auch?« »Nein.« Sie nahm ihm die Pfeife aus der Hand und legte sie zurück in ihre Halterung am Gefäß, wo sich eine Rauchfahne zur weißen Decke kräuselte. Benommen versuchte Yugi, sie scharf zu sehen. »Tut mir Leid wegen deinem Gesicht«, murmelte er. Nomoru zuckte mit den schmalen Schultern. »Ich war ohnehin nie das hübscheste Kalb im Stall. Außerdem beunruhigt es Kaiku. Ich kann erkennen, dass sie denkt, ich will sie töten. Find ich lustig.« Yugi zog ein breites Grinsen auf, dann brach er es ab, da er sich unsicher fühlte, ob es angebracht war. Seine Hand, die jemand anderem zu gehören schien, hob sich unwillkürlich, bewegte sich in sein Gesichtsfeld auf ihre zernarbte Wange zu. Im Augenblick der Berührung explodierten Empfindungen in seinen Fingerspitzen, umsegelten seinen tauben Arm und schlugen unmittelbar in sein Gehirn ein, trieben gleich Inseln erlesener Sinnlichkeit vor ihm. Er spürte die kreuz und quer verlaufenden Spuren der Narben, die ihre Haut verunstalteten, während sein eigenes Gesicht einem komisch anmutenden Abbild kindlicher Verwunderung glich. »Es ist ein wunderschönes Muster«, murmelte er. 225 Nomoru prustete vor Lachen. »Du bist benebelt«, wiederholte sie. »Du würdest selbst Schlamm für wunderschön halten.« Yugi schien ihr gar nicht zuzuhören. Er nahm die Hand weg, fand plötzlich keine gemütliche Stellung mehr auf der Matte. Die Krümmung seiner Wirbelsäule quälte ihn. Mit einiger Mühe rappelte er sich in eine Haltung mit untergeschlagenen Beinen, musste jedoch feststellen, dass ihm nun die Knie Ungemach bereiteten und er den Schmerz lediglich vom oberen Rücken in den Steiß verlagert hatte. Er griff nach der Wasserpfeife, aber Nomoru fing seinen Arm ab und führte ihn zurück in seinen Schoß. »Nicht«, sagte sie. »Ich werd nicht mit ansehen, dass du endest wie meine Mutter.« »Komm mit mir ins Nebelreich«, forderte er sie mit riesigen, glänzenden Pupillen auf, während seine Züge schlaff herabhingen. Sie schüttelte den Kopf. »Du weißt, was letztes Mal geschehen ist.« »Hier kriegen dich keine Weber. Du kannst mir vertrauen.« Sie wandte den Blick von ihm ab. »Ich vertraue niemandem.« Das verletzte ihn. Eine Weile gab es nichts zu sagen. »Wohin bist du gegangen? Nach Axekami?«, fragte er gedehnt. Über den Boden schwirrten gleich durchscheinenden, sich windenden Aalen seltsam funkelnde Formen. »Ich hab mir Sorgen gemacht.« »Nein, hast du nicht«, widersprach sie. Sie lehnte sich auf die Hände zurück. »War einfacher, allein abzuhauen. Außerdem musste ich noch zu 'nem Tintenstichler.« Sie zog die Ärmel hoch und entblößte eine frisch vervollständigte Tätowierung in Form einer Wasserpfeife mit einem Dolch darin. »Hab beglichen, was ich Lon schuldig war. Oder Juto. Spielt keine Rolle, welchem der beiden.« 226 Allmählich wurde Yugis Verstand klarer. Die Macht der Amaxa-Wurzel war kurzlebig, und es war ständiger Nachschub aus der Wasserpfeife erforderlich, damit die Wirkung aufrecht blieb. Der Geist, der in der Ecke hauste, war nur noch eine graue Schliere, sofern er ihn überhaupt je wirklich gesehen hatte.
Unvermittelt streckte er die Hand aus und schlang einen Arm um Nomorus Hüfte, zog sie zu sich. Er legte sich zurück, als sie dem Druck nachgab, entfaltete die Beine, damit sie auf seine Brust gleiten konnte und ihr dürrer, harter Körper auf seiner gesamten Länge zu liegen kam. Ihr Antlitz war ihm so nahe, dass er ihren Atem im eigenen Gesicht spüren konnte; der Rausch verstärkte die Empfindung zu einer rollenden Feuerwolke auf seiner stoppelbärtigen Wange. Yugi betrachtete die frisch in ihre Haut gegrabenen Umrisse, ließ die Augen wie gebannt darüber wandern. Dann drückte er die Lippen auf die ihren. Ihre Zunge war klein, und sie schmeckte sauer und küsste zu heftig, doch es war ihm vertraut, und er mochte es. Sie löste sich von ihm. »Nimm das ab«, forderte sie ihn auf und berührte das herabhängende Ende des um seine Stirn geschlungenen Lumpens. »Fühlt sich seltsam an.« »Das kann ich nicht«, antwortete er müde seufzend. Sie hatten dies schon einmal durchgekaut. Nomoru kühlte wieder ab. »Sie ist tot. Es ist vorbei. Nimm's ab.« »Ich kann nicht.« Kurz blickte sie auf ihn hinab, dann zuckte sie mit den Schultern. »War'n Versuch wert«, meinte sie, dann sank sie wieder auf ihn. Die Dachgärten der Kaiserlichen Feste waren verwelkt und abgestorben. Waren sie einst saftig grün und blühend gewe227 sen, bepflanzt mit aus der gesamten Nahen Welt gesammelten Bäumen und Blumen, so glichen sie nun nur noch einem braunen, knochigen Ödland. Die Blumenbeete präsentierten sich als Gemisch aus Kompost und kahlem, brüchigem Gezweig. Von den Bäumen schälte sich die Rinde, aus ihren Stämmen quoll Harz, und sämtliche Blätter waren längst verschwunden. Es war ein trauriger und bedrückender Ort, den nur noch wenige Menschen aufsuchten. Der Pestschleier umhüllte ihn gleich einem rauchig grauen Leichentuch, und ein bitterkalter Wind blies Stöcke und Zweige über die Bodenkacheln. Avun traf den Weber in einem kleinen, gepflasterten Bereich, den ein dichtes Gewirr aus Ästen an allen Seiten schützte. Am südlichen Ende führte eine doppelte, von kleinen Statuen mythischer Wesen gesäumte Stufenreihe zu höher und tiefer gelegenen Pfaden der Gärten. In dem Bereich befand sich eine geschnitzte, stumpf wirkende Holzbank, doch Avun nahm nicht darauf Platz. Er wartete in einen dicken Mantel gehüllt, denn der Mangel an Sonnenlicht und der Wind sorgten für einen Kälte, die er nie zuvor in seinem Leben erfahren hatte. Die aufeinander klopfenden Zweige klapperten einen schauerlichen und unregelmäßigen Takt. Der Weber kam langsam die Stufen von unten herauf. Er war jung, daher nicht so verfallen wie andere seiner Art, und er bewegte sich mit trägem, aber gesteuertem Gang. Seine Maske bestand nur aus Winkeln aus Gold, Silber und Bronze, seine Kapuze hing lose darüber. Das Flickengewand war wirr und in einem verrückten Muster zusammengenäht; dennoch schien es eine Art Ordnung aufzuweisen, doch Avun vermochte nicht, sie zu durchschauen. Er gab es auf. Vielleicht war es am besten, nicht dahinter zu kommen. »Regent«, begrüßte ihn der Weber, dessen Stimme sich durch die Metallmaske blechern anhörte. »Fahrekh«, erwiderte Avun. 228 »Ich nehme an, Ihr habt von Kakres unkluger Opferwahl heute gehört?« Avun blinzelte matt. »Er war ein nützlicher General.« »Er könnte noch am Leben sein«, meinte Fahrekh. »Wenngleich ich bezweifle, dass er noch zu viel nütze wäre.« »Er war schon zu lange bei Kakre, bevor ich es herausfand«, sagte Avun. »Den Webfürst jetzt noch vor den Kopf zu stoßen bringt nichts mehr. Mit nur der Hälfte seiner Haut würde mein General die Schwarzen Wachen ohnehin nicht mehr besonders gut führen.« »Und mit der Hälfte seines Verstands, vermute ich.« Avun wollte nicht näher darüber nachdenken. »Das ist mittlerweile unerträglich geworden«, murmelte er. Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Jeder wartete darauf, dass der andere aussprach, was sie beide dachten. Letzten Endes war es Fahrekh. »Es muss etwas geschehen.« »Und was schwebt Euch vor?«, fragte Avun vorsichtig, obschon er es haargenau wusste. Sie hatten schon bei früheren Gelegenheiten um diesen heißen Brei herumgeredet. Avun hatte keine Ahnung von Fahrekhs Gefühlen, doch er wollte von den Göttern verflucht sein, wenn er sich belastete, indem er der Erste war, der es laut aussprach. »Wir werden ihn natürlich töten«, antwortete Fahrekh. Avun musterte den Weber von der Seite. Konnte er ihm trauen? Er hegte immer noch den Verdacht, dass Fahrekh ihm etwas vorgaukelte, es sich tatsächlich um eine Prüfung seiner Treue durch die Weber handelte. Würden sie ihn als Verräter betrachten, wenn er mitspielte? »Ihr würdet einen der euren töten?«, fragte er. »Es ist notwendig. Wir müssen die verdorbene rechte Hand abschneiden, um den Arm zu retten.« Fahrekhs Stimme war gleichmäßig und tonlos. »Kakre ist eine Verbindlichkeit. Zum Wohl der Weber muss er beseitigt werden.« 229 »Würde er abdanken?«
Fahrekh kicherte. »Kein Webfürst hat je abgedankt. Außerdem ist er mittlerweile zu keinen vernünftigen Gedanken mehr fähig. Er würde die Dinge nicht so sehen wie wir. Die Weber brauchen einen neuen Anführer, der bei klarem Verstand ist, andernfalls werden unsere Bestrebungen unerfüllt bleiben.« Darüber dachte Avun nach. In seiner Zeit als Regent hatte er durch Beobachtungen, Gespräche und Belauschen von Kakres regelmäßigen Ausbrüchen viel über die Weber gelernt. Das Machtgefüge seiner Verbündeten zu ergründen war ein wichtiges Ziel für ihn: ihre Stärke beruhte auf Geheimhaltung, und Avun war fest entschlossen, ihre Geheimnisse zu enthüllen. Wie konnte es sein, dass die Weber in ihrer Zielstrebigkeit dermaßen geeint auftraten? Und wie ließ sich das damit unter einen Hut bringen, dass sie einander in vergangenen Zeiten auf Geheiß ihrer Herren getötet hatten? Anfangs hatte er geglaubt, es gäbe einen Zirkel von Webern in Adderach, der Befehle erteilte, doch das reichte nicht als Erklärung. In zweihundertfünfzig Jahren hätte er zumindest ein paar Umstürze, Machtkämpfe, irgend etwas in der Art erwartet. Dennoch gab es keinerlei Beweise für etwas Derartiges. Gewiss kamen gelegentlich einige Unstimmigkeiten darüber auf, wie die Dinge getan werden sollten, doch nie über den Zweck, nur über die Mittel. Avun war bislang nicht in der Lage gewesen, diese Sonderbarkeit zu verstehen, dafür hatte er einige andere Dinge in Erfahrung gebracht. Die Weber schienen selbst nicht zu wissen, woher ihr Geleit stammte: Es war einfach ein tief sitzender Antrieb zu einem gemeinsamen Ziel. Wer immer dieses Ziel vorgab, war jedenfalls kein uneingeschränkter Herrscher oder ein Wesen, das völlige Macht über die Weber hatte; es schien sich vielmehr um ein Wissen zu handeln, das sie alle annahmen, ohne es in Frage zu stellen. 230 Noch nie zuvor hatte es bei den Webern einen Thronräuber gegeben; andererseits hatten sie auch noch nie einen gebraucht. Kakre war der erste Webfürst, der Befehlsgewalt besaß: die Befehlsgewalt über die Ausgeburtenarmeen, die Feyakori und, durch Avun, die Schwarzen Wachen. Und ein dem Wahnsinn verfallenen Befehlshaber war dem Zweck der Weber hinderlich. Avun musste eine Entscheidung treffen: War Fahrekh aufrichtig, oder war all das eine Hinterlist? »Wie würdet Ihr es anstellen?«, erkundigte er sich. »Ich überrumple ihn nach einer Websitzung. Während seines Wahns, wenn er verwundbar ist.« Avun spürte, wie der Weber ihn hinter der Maske musterte. »Ich brauche Euch, um mir dabei zu helfen.« Genau das hatte Avun befürchtet. Nun zuzusagen verhieße sein Todesurteil, wenn Fahrekh ein falsches Spiel mit ihm trieb. »Was müsste ich denn tun?« »Wir müssen einen Grund für ihn ersinnen zu weben. Etwas sehr Schwieriges. Ich liefere Euch die Aufgabe; Ihr müsst ihn dazu bringen, sie anzunehmen. Sobald er erschöpft ist, schlage ich zu.« »Und nachdem er tot ist? Ich nehme an, dann werdet Ihr der neue Webfürst?« »Zum Wohle der Weber«, bestätigte Fahrekh. »Ich werde natürlich Eure umgehende Unterstützung erwarten.« Die Zweige raschelten, während die beiden einander unter dem eisengrauen Himmel musterten. Avun wusste, dass es keine Möglichkeit gab, sich hinsichtlich der Absichten des Geschöpfes vor ihm zu vergewissern. Wer konnte schon sagen, welche Art Wahnsinn bei Fahrekh unter der Oberfläche schwelen mochte? Aber ihm war auch klar, dass sich Kakres Zustand Tag für Tag verschlechterte und er es sich durchaus früher oder später in den Kopf setzen konnte, sich seines Regenten zu entle231 digen. Sowohl das Handeln als auch die Untätigkeit bargen ein Wagnis; letzten Endes musste er auf seine Eingebung vertrauen - und er war ein erlesener Verräter. »Ich werde tun, was Ihr verlangt«, sagte er. Fahrekh nickte langsam, ein einziges Mal. Dann drehte er sich ohne weitere Worte um und ging. Avun sah ihm nach und zog den Mantel enger um sich. Es war wirklich kalt hier draußen; er hatte zu zittern begonnen. 232 FÜNFZEHN Nukis Auge leuchtete einen klaren, frostigen Tag ein, an dem das Gras unter Tau zitterte; aber Kaiku, Lucia und ihre Gefährten waren schon lange auf den Beinen, und während sie ein kaltes Frühstück verspeisten, blickten sie zu den Bäumen. Die endlose Mauer aus Bäumen. Sie hatten in Sichtweite des Südrands des Waldes von Xu gelagert, am Nordufer des Ko. Nur wenige der Gruppe hatten in jener Nacht geschlafen. Diejenigen, denen es gelungen war, erwachten unausgeruht und klagten über böse Träume. Insgesamt waren sie fünfundzwanzig: Kaiku und Phaeca, Lucia, Asara, die drei Tkiurathi sowie achtzehn weitere Männer und Frauen der Libera Dramach. Sie waren hier, um sich dem Wald zu stellen und um zu finden, was in seinem Herzen hauste: den Xhiang Xhi, den ältesten und mächtigsten aller Geister des Landes. Kaiku kehrte zum Lager zurück, nachdem sie sich im Fluss gewaschen hatte. Eigentlich hätten ihre Zähne klappern müssen, doch ihr Kana hatte ihre Körpertemperatur angehoben, um dies zu verhindern. Mittlerweile betrachtete sie derlei Dinge als selbstverständlich. Der Wunderglanz war im Verlauf der Zeit abgestumpft. Vielleicht war sie noch nicht in der Lage, Cailins Überzeugung zu teilen, dass die Ordensschwestern und bestimmte andere Ausgeburten über diejenigen zu stellen waren, die sich durch die Geißel der Weber nicht verändert hatten; dennoch konnte sie sich beim Anblick der Soldaten, die umherhopsten und mit den Armen
ruderten, um sich zu wärmen, nachdem sie die nackten Oberkörper in das eiskalte Wasser getaucht hatten, ein Grinsen nicht verkneifen. 233 Sie stand am Kamm der Flussböschung und überlegte eine Weile hin und her, ob sie die Aufmachung einer Ordensschwester anlegen oder in ihrer Reisekluft bleiben sollte. Schließlich entschied sie sich für Letzteres. Irgendwie fühlte es sich falsch an, die Maske des Roten Ordens aufzusetzen, um in den Wald zu gehen. Der Wald würde sich ohnehin nicht davon täuschen lassen. Verkniffen starrte sie die Bäume an, die Grenze zwischen dem Reich der Menschheit und jenem der Geister. Sie erstreckten sich von Osten nach Westen von Horizont zu Horizont und stiegen in der nördlichen Ferne zu Hügeln hin an. Der Wald von Xu maß von Norden nach Süden fast dreihundert Meilen, in der Breite zwei Drittel davon, und war somit noch größer als der gewaltige Azlea-See, der daran grenzte. Die einzigen Anhaltspunkte darüber, was sich im Wald befinden mochte, waren Gerüchte und Legenden - die allesamt wenig Erbauliches beinhalteten. Das Volk von Saramyr hatte vor langer Zeit gelernt, dass sein Land groß genug war, um darin zu leben, ohne die Geister zu stören, und der Wald von Xu galt als die dichteste Ansammlung von Geistern auf dem Kontinent. Zur Verwirklichung des tollkühnen Plans, eine Straße durch die Bäume anzulegen, um den Handel zwischen Barask und Saraku zu erleichtern, waren halbherzige Erkundungsversuche unternommen worden. Nur wenige, die den Wald je betreten hatten, waren wieder herausgekommen. Diejenigen, denen es gelungen war, hatten ihren Verstand darin zurückgelassen. Folglich kam es Selbstmord gleich, einen Fuß an einen solchen Ort zu setzen. Aber diesmal hatten sie Lucia dabei. Auf ihren schmalen Schultern lastete ihrer aller Leben. Als hätte sie ihre Gedanken gespürt, tauchte Lucia an Kaikus Seite auf. Kaiku betrachtete sie kurz, dann wieder den Wald. »Er hasst uns«, flüsterte Lucia. 234 »Ich weiß«, murmelte Kaiku. »Mit Fug und Recht.« Eine Falte trat auf Lucias Stirn. »Wir sind nicht der Feind, Kaiku. Das sind die Weber.« »Die Weber waren einst wie wir«, gab Kaiku zurück. »Aber es ist ihr Gott, der aus ihnen macht, was sie sind«, meinte Lucia. »Ihr Gott hat nie jemanden gezwungen, sich den Webern anzuschließen. Er hat sie nie dazu bewegt, die Masken aufzusetzen. Das entsprang Ehrgeiz, Gier und dem Drang zu herrschen und zu beherrschen. All ihre Verdorbenheit war schon vorher in ihnen. Es ist nur so, dass ihr Gewissen verkümmert ist.« Sie wischte sich das Haar aus dem Gesicht. »Es sind bloß Menschen. Menschen, die Macht wollten, so wie alle Menschen.« »Nicht alle Menschen«, widersprach Lucia. Kaiku schaute zu Tsata hinüber, der sich mit seinen beiden Gefährten unterhielt. Sie nickte leicht. »Nicht alle Menschen.« »Lass den Mut nicht fahren«, sprach Lucia und legte ihr eine Hand auf den Arm. »Bitte. Du bist immer stärker als ich gewesen. Ohne deinen Glauben schaffe ich das nicht.« »Dann tu es nicht«, gab Kaiku zurück und drehte sich ihr zu. »Kehr um, und ich begleite dich.« Aus Lucias Lächeln sprach Traurigkeit. »Du hast mich schon immer über alle anderen gestellt«, meinte sie. »Selbst wenn es die Welt kostete oder das Goldene Reich selbst, dir läge mein Wohlergehen immer mehr am Herzen als alles andere.« Sie umarmte Kaiku. »Dir, und nur dir.« Kaiku fühlte, wie ihre Brust sich zusammenzog; an Lucias Tonfall erkannte sie, dass es unmöglich wäre, sie davon abzubringen. Lucia ließ sie los und blickte ihr in die Augen. »Niemand ist noch in Sicherheit, Kaiku.« Als das Licht der Morgendämmerung heller wurde, bereite235 ten sie sich zum Aufbruch vor. Gesprochen wurde nur wenig. In der Gruppe herrschte ein geradezu greifbares Gefühl der Vorahnung. Sie hatten ein Paar Manxthwa als Packtiere mitgebracht, doch so wie die Raben, die Lucia auf der Reise von Arakajo hierher begleitet hatten, weigerten sie sich, dem Wald noch näher zu gehen. Letztlich waren die Reisenden gezwungen, die Vorräte bestmöglich untereinander zu verteilen und die Tiere freizulassen. Nur die Tkiurathi wirkten nicht verängstigt. Kaiku ertappte Asara dabei, dass sie auf seltsame Weise zu ihr herüberstarrte. Dennoch wandte Asara den Blick nicht ab; am Ende war es Kaiku, die es tat. Bei den Göttern, es war so schon schlimm genug, dort hinein zu müssen, aber durch Asaras düstere Andeutungen auf zu begleichende Schulden war sie obendrein nicht sicher, ob man der Frau vertrauen konnte. Weshalb war sie mitgekommen? Sie begab sich nie unbedacht in Gefahr. Welchen Preis würde sie von Kaiku dafür verlangen, dass sie ihr das Leben gerettet hatte? Es gab nur einen einzigen Grund, warum dieser ausgebürtige Spitzel hier war und mit dem Rest von ihnen das Leben aufs Spiel setzte. Asara hatte eine Rechnung offen. Als sie bereit waren, versammelten sie sich am Rand der Bäume. Der Wald lag als Gewirr aus Ästen und Büschen vor ihnen, der Boden knorrig vor Erhebungen und Wurzeln. Vögel zwitscherten, Insekten surrten, ferne Tierlaute waren zu vernehmen. Auf den ersten Blick war nichts Außergewöhnliches zu erkennen; dennoch warnte sie ein stechendes Gefühl am Rande der Wahrnehmung davor, die Grenze der Stämme der ersten Reihe
zu überschreiten, etwas Tiefsitzendes und Urtümliches. Alle warteten auf Lucia. Im Gegensatz zu den Soldaten trug sie keine Rüstung, nur abgewetzte Bauernkleider, die ihr nicht 236 passten und sie klein erscheinen ließen. Auf ihr eigenes Drängen trug sie wie der Rest der Gruppe ein Bündel, wenngleich man es für sie nur leicht beladen hatte. Mit geneigtem Haupt stand sie da, das kurze blonde Haar nach vorne hängend, sodass der Nacken freilag. Ihre Begleiter wünschten sich von ihr, dass sie sich umdrehte und sie ermutigte, ihnen jenes Feuer schenkte, das während der Versammlung in Arakajo gelodert hatte; doch Lucia hatte nichts, das sie ihnen geben konnte. Stattdessen raffte sie das Bündel höher auf die Schultern, damit es bequemer saß, schaute auf und betrat den Wald. Wortlos folgten ihr die anderen. Bei Lucias erstem Schritt verstummte der Wald. Die Stille breitete sich wie ein Lauffeuer aus, als hätte das Auftreten ihres Fußes eine riesige Woge ausgelöst wie ein in einen Teich geworfener Kiesel. Mit dem Vorbeiziehen der Woge hörten die Vögel auf zu singen, verharrten die Insekten lautlos, erstarben die Laute der Tiere in deren Kehlen. Die Eindringlinge fanden sich umgeben von einer so vollkommenen Stille wieder, dass es beängstigend war. Die einzigen Geräusche waren das Knarren der Lederrüstungen und das Rascheln ihrer Kleider, die das leise Säuseln des Windes über die Ebenen und das ferne Rauschen des Flusses überlagerten. Sie fühlten sich aus der Wirklichkeit gerissen, zumal sie mit einem Schlag der üblichen Bandbreite von Hintergrundgeräuschen beraubt waren, die sie stets umgaben. Die Stille schmerzte. Sie gingen weiter. Sofern sie noch Zweifel gehegt hatten, dass der Wald ihrer gewahr war, waren diese nun restlos verflogen. Je weiter sie vordrangen, desto dichter wuchsen die Bäume. Der Großteil der Gefährten lief im Gänsemarsch, bahnte sich einen Weg um die Erdhügel und Steine, hüpfte über trockene Gräben. Die Tkiurathi schlugen andere Pfade ein, verteilten sich, verzeichneten geistig das Gelände. Obwohl Lucia ihnen 237 den Weg wies, ließ man sie nicht die Führung übernehmen. Sie ging vor Kaiku, schulterte gelegentlich das Bündel hoch, wenn es zu reiben begann. Lucia war nicht besonders kräftig: Ob einer behüteten Kindheit und Halbwüchsigkeit hatte sie nie körperliche Belastungen erfahren. Doch obwohl sie sichtlich zu kämpfen hatte, beklagte sie sich nicht. Wohl mindestens eine Stunde lang sprach niemand ein Wort. In der Luft hing ein Gefühl der Beklemmung, das immer schwerer wurde. Kaiku spürte die Anwesenheit der Geister hier; sie durchdrangen diesen Ort, lauerten, atemlos vor Böswilligkeit und empört darüber, dass diese Menschlein es wagten, ihr Reich zu betreten. Kaiku hoffte nur, dass Lucia wusste, was sie tat. Sie war überzeugt davon, dass Lucia sich mühelos mit diesen Geistern zu verständigen vermochte, aber ob sie ihr zuhören würden, stand auf einem anderen Blatt. Und wenn falb - sie zum Xhiang Xhi gelangten, der sich im Herzen des riesigen Waldes verbarg, würden Lucias Fähigkeiten der Aufgabe gewachsen sein? Kaiku dachte daran zurück, wie sie in Araka Jo versucht hatte, Lucia Vernunft einzubläuen. Warum hierher? Hatte sie gefragt. Warum? Von all den Geistern im Land, die an tiefen und hohen und verlassen gelegenen Orten hausten, warum ausgerechnet der Xhiang Xhi? »Weil die anderen Geister vor ihm Ehrfurcht haben«, hatte Lucia geantwortet. »Weil kein anderer sie aufwiegeln könnte. Dieser Geist stellt alle anderen in Saramyr in den Schatten. Sogar die Kinder der Mondschwestern fürchten den Xhiang Xhi.« Einmal ließ Kaiku sich zurückfallen, um mit Phaeca zu reden. Irgendwie war es Phaeca gelungen, selbst den grauen Reisegewändern einen modischen Hauch zu verleihen, und ihr rotes Haar war so tadellos angeordnet wie immer. »Warum bringen sie es nicht einfach hinter sich«, zischte sie, sobald Kaiku in Hörweite geriet. 238 »Hab Vertrauen, Phaeca«, beschwichtigte Kaiku sie. »Lucia wird uns beschützen.« Phaeca bedachte sie mit einem verächtlichen Blick. »Versuch doch nicht, mich mit solchen Plattheiten einzuwickeln«, fuhr sie Kaiku an. »Du fürchtest dich genauso sehr wie ich.« Fast sogleich verflog ihr Zorn wieder, und sie zeigte sich bestürzt über das eigene Gebaren. »Verzeih mir«, murmelte sie. »Dieser Ort drückt mir schwer aufs Gemüt.« Kaiku nickte. Phaecas ausgeprägt empfindsames Wesen war hier für sie gleichermaßen ein Segen wie ein Fluch. Sie fragte sich, ob es klug von Cailin gewesen war, Phaeca mitzuschicken; Kaiku vermutete, dass sie es nur getan hatte, weil Kaiku ging und Phaeca ihre engste Gefährtin im Roten Orden war. Phaeca, Asara und vermutlich Tsata sowie die beiden anderen Tkiurathi - sie alle waren nur wegen Kaiku dabei. Und sie war mitgekommen, weil sie Lucia die Reise nicht ohne sie antreten lassen konnte. Sowohl sie als auch Lucia hatten, indem sie ihr Leben aufs Spiel setzten, andere in ihrem Gefolge mitgezogen und auch sie in Gefahr gebracht. Aus Selbstsucht entstandene Selbstsucht. Es gab keine Möglichkeit zu gewinnen. Nun vermeinte sie, ansatzweise zu verstehen, wie es sich für Lucia anfühlen musste, von Verantwortung erdrückt zu werden. Als die Veränderung einsetzte, geschah es plötzlich. Phaeca stieß vor Furcht über die Empfindung einen spitzen Schrei aus. Es war wie zäher Teer, der aus allen
Richtungen herbeiquoll und den Verstand umfing. Die Schwestern webten unwillkürlich eine Verteidigung, um sich zu schützen, doch den anderen Mitgliedern der Gruppe blieb eine solche Zuflucht versagt. Über ihnen schwappte eine finstere Ahnung der Verdammnis zusammen, die sich rings um sie offenbarte. 239 Das durch den Blätterbaldachin dringende Sonnenlicht wurde spärlicher und erlosch, als hätte sich eine Wolke vor Nukis Auge geschoben; es wurde schwarz wie in tiefster Nacht und schlimmer, bis jegliches Licht ausgesperrt blieb und selbst jene mit der Gabe, in der Dunkelheit zu sehen, völlig blind waren. Panik brach aus. Gewiss, die Finsternis war schlimm, doch das Grauen, das sie empfanden, überstieg selbst das. All ihre Sinne brüllten: Gefahr! In der Nähe waren namenlose Dinge, und da ihre Augen nutzlos waren, übernahm ihre Vorstellungskraft das Ruder. Ungeheuerliche, mit Fängen bewehrte Wesen, die in der Luft hingen oder über den Boden schlichen, schwarze Kreaturen, die sich selbst der Vorstellung nur als durchdringender Schimmer ihrer Klauen und Zähne offenbarten. Die einzigen Laute waren die verzweifelten Stimmen der Gruppe, in der jemand brüllte, dass sie Lucia beschützen mussten, in der Männer flüchten wollten, es aber nicht wagten. Kaiku brauchte einige Augenblicke, bevor sie die Geistesgegenwart erlangte, ihre Sicht in das Geweb umzuschalten. Die Dunkelheit war rein weltlich und besaß dort keine Macht. Sogleich erstrahlte die Welt wieder in Licht, umriss das Gespinst der goldenen Fäden den Wald und die Menschen darin. Kaiku sah sie mit ausgestreckten Armen umherstolpern, die Augen offen, aber blind, die Pupillen geweitet. Einige hatten Schwerter gezogen und standen wie versteinert da, lauschten auf das Herannahen des Feindes. Die Tkiurathi hatten sich hingekauert, um möglichst kleine Ziele abzugeben; sie wirkten ruhig, wenngleich das Pochen ihrer Herzen und das Rauschen des Blutes durch ihre Körper von etwas anderem zeugten. Die Fäden des Gewebs wirbelten, was Kaikus Verdacht bestätigte: Dieses Grauen war künstlich geschaffen, eine Vorgaukelung. Doch es erfüllte einen Zweck. Denn die Geister kamen, 240 erschienen in der Luft ringsum, nahmen Formen an, die sie aus den Ängsten der Gruppe nachahmten. Noch waren sie verschwommen und undeutlich, aber sie verfestigten sich mit jedem verstreichenden Augenblick, ordneten ihre schemenhaften Gestalten zu Gliedern, Fängen, Klauen. Dutzende. Es war aussichtslos für Kaiku und Phaeca, sie alle zu bekämpfen. »Lucia!«, rief sie, doch Lucia hörte sie nicht. Sie kniete auf dem Boden, hatte mit herabhängendem Haupt die Hände in die grasbewachsene Erde vergraben. Jemand kreischte, ein Laut, der so schnell verhallte, als wäre er hinfort gerissen worden; Kaiku versuchte, die Stimme ausfindig zu machen, doch es geschah zu schnell für sie. Hilflos schaute sie um sich, war außerstande zu handeln. Lucia sprach mit den Geistern. Kaiku konnte nur hoffen, das würde reichen. Die Geister bluteten förmlich aus der Luft, krochen aus den Baumwipfeln herab, knoteten und nähten sich mit tödlicher Zielstrebigkeit in Formen. Die sichtlosen Menschlein in ihrer Mitte fuchtelten wild um sich, wissend, dass etwas sie angreifen wollte, doch außerstande, es zu verhindern. Kaikus Kana tobte in ihr, lechzte verzweifelt danach, freigelassen zu werden; doch der Feind war zu zahlreich, und Kaiku konnte es nirgendwohin entsenden, wo es eine Wirkung hinterlassen hätte. Sie spürte Phaeca über das Geweb, spürte ihr qualvolles Ringen, die Herrschaft über sich zu bewahren. So wie Kaiku konnte sie sehen. Ein Mitglied der Libera Dramach spießte um ein Haar einen Gefährten mit der Spitze seines gezückten Schwertes auf, als er umhertaumelte; ein anderer wankte mit ausgestreckten Armen und verschwommenem Blick umher und stolperte beinahe über Lucia. »Stillgestanden, ihr alle!«, brüllte sie mit so viel Befehlsgewalt in der Stimme, wie sie aufzubringen vermochte. Alle taten, wie ihnen geheißen, klammerten sich an die Worte wie an eine Rettungsleine. 241 »Was geht denn hier vor sich?«, rief ihr jemand zu, schrill vor blanker Angst. »Lucia bringt uns da durch«, gab sie überzeugter zurück, als sie sich fühlte. »Wartet einfach.« Sie schaute zurück zu der Stelle, an der Lucia kniete. Ein weiteres Kreischen ertönte irgendwo zwischen den Bäumen und erstarb sogleich. Kaiku presste die Augen zu - was ihrer Sicht im Geweb keinen Abbruch tat - und betete. Mittlerweile zeichneten die Geister sich bedrohlich deutlich ab, Grauen erregende Geschöpfe aus Albträumen der Kindheit, die zwischen den Baumstämmen umherstreiften, sich an die Menschlein anpirschten. Kaiku verspürte einen unbändigen Drang loszuschlagen; vielleicht wäre sie doch in der Lage, die Geister abzuwehren, ihnen hinsichtlich ihrer Opfer zu denken zu geben. Aber dadurch würde sie den Tod aller heraufbeschwören, denn was immer Lucia zu ihnen sagte, ihre Verhandlungen würden beim ersten Anzeichen von Feindseligkeit seitens Kaiku in sich zusammenstürzen. »Rührt euch nicht und wartet!«, befahl sie erneut, weil sie die Stille nicht länger ertragen konnte. Die Tkiurathi hatten sich keinen Deut bewegt. Asara war weit und breit nicht zu sehen. Nebelgleich trieben die Geister auf sie zu, wechselten und verzerrten in der Bewegung ihre Formen, krümmten die Wahrnehmung, dass sie bald länglich, bald zweidimensional, bald in einem Winkel um einen Baum geschlungen wirkten, der einen Lidschlag zuvor noch unmöglich schien. Näher und näher. Nah genug, um sie alle zu töten. Dann erschlaffte etwas gleich einem Würgestrick in der Luft, der sich lockerte. Der niederschmetternde Hass der Geister schien zu weichen. Kaiku schaute zu Lucia, doch an ihr war kein äußerliches Zeichen zu erkennen. Die
Geister verharrten schwebend, wo sie waren. Einige hatten sich über ihre Opfer erhoben wie bösartige Schatten, die jene Körper reißen wollten, aus denen sie entstanden waren. Kaiku wagte nicht zu 242 atmen. In diesem Augenblick stand die Lage auf Messers Schneide. Kippte sie in die eine Richtung, würden sie alle leben; kippte sie in die andere, bliebe ihnen keinen andere Wahl als zu kämpfen, und es gäbe keine Hoffnung mehr für sie. Dann seufzte der Wald, und die Geister begannen, rücklings hinfort zu treiben, die grellen Augen nach wie vor auf die Menschlein gerichtet, während sie zwischen den Baumstämmen hindurch glitten. Kaiku stieß den angehaltenen Atem aus. Die Gestalten verloren ihren Zusammenhalt, lösten sich in das Geweb auf. Und mit ihrem Scheiden verblasste das Gefühl der Böswilligkeit und Gefahr, und das Licht setzte wieder ein. Langsam und allmählich kehrte ihre Sicht zurück. Es war wie das Erwachen aus einem Traum. Dankbar starrten sie einander an. Schuld und Verwirrung huschte über ihre Züge, als sie nach und nach enthüllt wurden: Einige wurden dabei ertappt, wie sie sich noch wanden, andere mit den gezückten Schwertern nur wenige Fingerbreit von ihren Gefährten entfernt. Alle schämten sich für ihre Furcht. Diejenigen, die umhergestolpert oder gefallen waren, sahen sich blinzelnd um, wo sie gelandet waren. Die Tkiurathi standen langsam auf. Asara tauchte wieder auf, trat aus ihrem Versteck in Sicht. Mittlerweile herrschten im Wald wieder gewöhnliche Lichtverhältnisse; Nukis Auge schimmerte durch den Baldachin, und die Welt präsentierte sich wieder grün und braun. Die Stille war noch so allumfassend wie zuvor, aber die Geister waren verschwunden. Mit schmutzigen Händen erhob sich Lucia. Sie sah sich um, doch ihr Blick strich über die Anwesenden hinweg, als wären sie gar nicht da. »Sie gewähren uns freies Geleit«, verkündete sie schlicht. Phaeca begann zu weinen. 243 Sie gingen weiter, schlichen unter dem finsteren Astwerk des Waldes wie verschreckte Kinder einher. Zwei der Krieger hatten sie in der Dunkelheit verloren. Sie waren spurlos verschwunden. Wäre Lucia nicht gewesen, wäre niemand von ihnen noch am Leben. Der Vorfall hatte nicht gerade dazu beigetragen, ihr Vertrauen in ihre auserkorene Retterin zu stärken. Vielmehr hatte er sie daran erinnert, wie karg ihre Erfolgsaussichten tatsächlich waren. Selbst die Weber waren angenehmer als das: Sie verkörperten zumindest einen greifbaren Feind. Im Wald von Xu durften sie nur überleben, weil die Geister entschieden hatten, sie nicht zu töten. Sollte Lucia etwas zustoßen, würden sie diesen Ort niemals verlassen. Kaikus Gedanken waren noch düsterer. Denn sie wusste etwas, das den anderen verborgen geblieben war, und es gestaltete die Dinge noch schlimmer. »Wir sind hier trotzdem noch nicht sicher«, hatte Lucia auf ihre Frage geantwortet, als sie wieder unterwegs waren. »Diese Geister erdulden es, uns vorbeizulassen, aber es gibt andere, die das nicht tun werden.« Kaiku vergewisserte sich, dass niemand sich in Hörweite befand. »Was willst du damit sagen?« »Wenn wir uns dem Herz des Waldes nähern, werden wir auf ältere Geister stoßen«, gab Lucia zurück. »Die werden sich nicht so einfach besänftigen lassen.« Kaiku bemerkte die erschütterten Mienen der Mitglieder der Gruppe. »Vielleicht solltest du das vorerst besser für dich behalten«, murmelte sie und hasste sich dafür, zu Unehrlichkeit zu raten. »Wenigstens eine Weile.« Lucia gab einen geistesabwesenden Laut von sich und schien zu vergessen, dass Kaiku überhaupt da war. Eine Zeitlang war Kaiku neben Phaeca marschiert: Sie war am schlimmsten von allen betroffen. Es schmerzte Kaiku, sie in 244 einem solchen Zustand zu sehen, doch ein herzloser Teil Kaikus wünschte, Phaeca hätte ihr Elend nicht so offenherzig zur Schau gestellt. Beim Blut des Herzens, immerhin war sie eine Schwester vom Roten Orden. Diese Menschen hier brauchten den Glauben daran, dass sie unbezwingbar sei. Durch ihre eigene Schwäche steckte sie die anderen an, untergrub die Zuversicht aller. Kaiku fürchtete, Phaeca könnte ihren Unmut aus ihrem Gebaren ablesen, doch falls dem so war, schwieg sie dazu. Gegen Abend veränderte sich der Wald. Der Wandel erfolgte langsam und allmählich, zunächst nur in Form vereinzelter Sonderbarkeiten: eine unvertraute Blume, ein eigenartig aussehender Baum. Dann stießen sie auf einen bemerkenswerten Felsblock, der aus dem Gras ragte, ein silbrig schimmernder Klumpen aus einem metallischen Mineral. Später stolperten sie über eine Ansammlung dunkelpurpurroter Blüten, die niemand kannte, und über einen Baum, dessen Geäst sich venengleich durch das anderer Bäume rankte. Das Grün der Umgebung wurde satter und vermengte sich mit Lila und Platin. Tiefer im Wald sahen sie Tiere, die sie stumm beobachteten. Einige davon erinnerten an nichts, was sie je gesehen hatten. Einer der Krieger schwor, er hätte ein weißes, einem Hirsch ähnliches Geschöpf zwischen den Bäumen erspäht. Asara entdeckte eine aus ihrem Bau huschende, langbeinige Spinne mit einer Schale wie eine Krabbe und so hoch wie eines Menschen Knie. Das Gelände wurde rauer; Hügel und Felswände ragten auf, Wildbäche und Gräben vertiefen sich zu Klüften.
Der Himmel präsentierte sich in einem dunklen Blutrot, als der Anführer der Gruppe, ein als Doja bekannter Mann mittleren Alters der Libera Dramach, dazu aufrief, das Lager aufzuschlagen. Die Stelle, die er dafür wählte, war die grasbewachsene Lippe einer Felsenschlucht, wo die Bäume zurück245 gewichen waren und einen Saum freien Geländes gelassen hatten, einen sanft abfallenden Hang zwischen dem Wald und einem Schwindel erregenden Abgrund, über dem sie kein Blätterdach einengte. Iridima war durch die durchscheinenden Farbschleier zu erkennen, die immer noch über dem nächtlichen Firmament hingen. Auf der gegenüberliegenden Seite der Schlucht rauschte ein schmaler und unvorstellbar hoher Wasserfall. Das Wasser wurde durch rot geäderte Felsen in drei unregelmäßige Ströme geschnitten, stürzte in dünnen Strängen hinab und vereinte sich wieder auf halbem Wege in den Fluss hinab. Während das Lager aufgeschlagen wurde, stand Kaiku am Rand des Abgrunds und schaute in die Schlucht hinab. Welcher Fluss war das? Ein Nebenarm des Ko? Wo lag die Quelle, wo endete er? Hatte irgendjemand seit Menschengedenken ihn bisher jemals gesehen? Dieser Strom verlief vermutlich schon seit tausenden Jahren, und niemand hatte etwas davon gewusst. Sie spähte in die mittlere Ferne, traurig gestimmt durch die Gleichgültigkeit der Welt. Wie winzig sie doch in den Augen der Schöpfung waren, wie belanglos ihre Kämpfe. Die Geister hüteten ihre Hoheitsgebiete, die Mondschwestern glitten über den Himmel, die Meere blieben bodenlos. Die Natur kümmerte sich nicht um die Not der Menschheit. Kaiku begann sich zu fragen, ob Lucias Aufgabe nicht doch ein unmögliches Unterfangen war. Wäre sie tatsächlich in der Lage, die Geister anzuspornen, und sei es nur, um sich selbst zu schützen? Nahmen die Götter überhaupt wahr, wie sie kämpften und starben? Sie wandte sich von der Schlucht ab. Derlei Gedanken führten nur zum Verzagen. Und doch barg auch der Gedanke an die Rückkehr zum Lager keinerlei Verlockung für sie. Die Stimmung der Gruppe war gedämpft, nach wie vor davon beeinträchtigt, wie mühelos sie bezwungen worden waren. 246 Auch Asara war dort; und Kaiku mied sie, so gut sie konnte. Ebenso wenig war ihr danach zumute, sich mit Tsata oder den anderen Tkiurathi zu unterhalten: Irgendwie fühlten sich ihre augenblicklichen Empfindungen zu persönlich an, um zu versuchen, sie ihnen zu erklären. Kaiku überlegte gerade, ob sie sich einfach ein wenig ausruhen sollte, als sie Lucia zwischen den Bäumen wandeln sah. Sie blinzelte und steuerte den grasigen Hügel hinauf auf den Rand der Bäume zu. Natürlich hatte Lucia sich allein davongestohlen: Es passte zu ihr, einfach so zu verschwinden. Wahrscheinlich dachten die Leute im Lager, sie hätte sich schlafen gelegt. Lucia brauchte ihre Ruhe dringender als jeder andere, zudem hatte sie vor den Geistern des Waldes am wenigsten von allen zu befürchten. Dennoch behagte der Gedanke Kaiku nicht. Sie ging den Rand des Lagers entlang zu der Stelle, an der sie Lucia zwischen den Bäumen verschwinden gesehen hatte. Wachen beobachteten sie von der Zeltgruppe aus und fragten sich offenbar, was sie vorhatte. Sollten sie ruhig. Es schien besser, Lucia zurückzuholen, ohne dass es jemand bemerkte. Unmittelbar auf diesen Gedanken folgte ein weiterer: Wie war es Lucia überhaupt gelungen, sich ungesehen davonzuschleichen? Im Mondenschein wirkte der Wald unheimlich. Die Stille und die unbewegte Luft vermittelten ein beklemmendes Gefühl, und durch das fremdartige Blätterwerk wirkte alles bizarr. Fast hatte Kaiku den Eindruck, durch eine uralte Gruft zu wandern. Obwohl Iridimas Schimmer alles einfarbig erscheinen ließ, haftete diesen Pflanzen immer noch eine Schattierung an, die einzuordnen ihr schwer fiel. Kurz lauschte sie und vernahm leise Schritte, die sich von ihr entfernten. Kaiku wollte ihnen gerade folgen, als sich in der Finsternis 247 etwas bewegte, das Regen eines riesigen Schattens. Kaiku erblasste. Die Erscheinung war gewaltig, groß wie ein Feyakori, aber noch breiter; sie füllte den gesamten Bereich von den Wurzeln des Waldes bis zu dessen Blätterdach. Kaiku nahm sie nur als flüchtigen Eindruck wahr, zumal sie durch die Baumstämme dazwischen verborgen war, doch allein dieser Eindruck genügte. Dort im Wald befand sich ein ungeheuerliches vierbeiniges Wesen. Das sie beobachtete. Kaiku gerann das Blut in den Adern, als sie dessen Augen entdeckte. Klein und gelb, unmöglich hell, weit auseinander liegend in einem Kopf, der größer als sie selbst sein musste. Es konnte gar nicht dort sein, meinte ihre Vernunft. Durch die geringste Bewegung müsste es die Bäume umstürzen. Es konnte also gar nicht dort sein, weil es nicht hinpasste. Dennoch sah sie es aller Sinne zum Trotz, einen massigen Schemen zwischen den Bäumen, umhüllt von Dunkelheit. Setzte sie einen Fuß in den Wald, würde es sie angreifen. Täte sie es nicht, überließe sie Lucia der Gnade dieser Kreatur. Mittlerweile starrten die Wachen sie eigenartig an, während sie wie versteinert am Rand der Lichtung stand. Kaiku bemerkte es gar nicht. Sie war vom Blick dieses Ungetüms gefesselt. Lucia, dachte sie. Sie vollführte einen Schritt nach vorne, und das Ungeheuer stürzte sich auf sie. Plötzlich schauderte Mishani an ihrem Schreibtisch. Sie runzelte die Stirn und schaute über die Schulter zurück. Am Rand des Laternenscheins präsentierte die Kammer sich kühl und leer. Das Unbehagen verharrte noch ein,
zwei Augenblicke, doch Mishani war zu erdverbunden, um viel auf derlei Hirngespinste zu geben, und alsbald war sie wieder in ihre Aufgabe vertieft. 248 Sie kniete auf einer Matte im Gemeinschaftsraum des Hauses in Arakajo, das sie sich mit Kaiku teilte. Auf dem Tisch vor ihr lagen Papierrollen, Tintenfässchen, Federkiele und Pinsel ausgebreitet, außerdem ein Tonbecher voll Lathamri und ein Stapel Bücher. Sie trug ein warmes Schlafgewand und weiche Pantoffel, hegte jedoch noch nicht die Absicht, zu Bett zu gehen. In den vergangenen Wochen war ihre Neugier hinsichtlich der Bücher ihrer Mutter in Besessenheit ausgeartet. Sie war von dem unbändigen Drang beseelt zu verstehen, entfacht von der Gewissheit, dass da etwas war, was sie anhand dieser Worte wissen sollte, eine Botschaft, die ihre Mutter ihr mitzuteilen versuchte. Eine Vermutung war es bereits seit einiger Zeit gewesen, doch mit der Veröffentlichung des letzten Buches hatte sie erkannt, dass es unbestreitbar mehr war als bloße Einbildung. Die letzten Zeilen, die Nidajan sprach, waren die erste Hälfte eines Schlaflieds, das früher nur Mutter und Tochter, gekannt hatten. Ihre Mutter hatte es schon einmal gegenüber dem Händler Chien erwähnt, damit er sich Mishani als Verbündeter offenbaren konnte, sollte alles andere versagen. Nun setzte sie es erneut ein. Doch zu welchem Zweck? Das war die Frage. Und ganz gleich, wie lange Mishani über den Büchern brütete, sie konnte einfach nicht erkennen, was sie herausfinden sollte. Sie trank einen Schluck Lathamri und starrte auf das Papier. Nachdem sie mehrere Ansätze ausgelotet hatte, war sie zu dem Bereich der Bücher zurückgekehrt, der sie am meisten beschäftigte: den schrecklichen Gedichten, die Nidajan neuerdings aufsagte. Mishani hatte eines der Gedichte mit einem Pinsel abgeschrieben, große Schönschriftsymbole in schwarzer Tinte. Als würden sie ihr Geheimnis preisgeben, indem man sie vergrößerte. Seit Stunden versuchte sie, durch das Versetzen von Buchstaben und Silben sinnvolle Begriffe zu bilden, kritzelte sie die Wörter, die sich aus den Symbolen for249 men ließen, in winziger Schrift unten auf das Papier, doch sie ergaben nur Unsinn. Ärgerlich brummte sie vor sich hin. Ihre Enttäuschung steigerte sich, und es war bereits spät. Sie hatte zu viel Lathamri getrunken, fühlte sich dadurch zappelig, zumal ihr zierlicher Körper nicht daran gewöhnt war. Und obendrein konnte sie die Gedanken nicht richtig bündeln, weil ihr im Hinterkopf ständig das Wissen herumspukte, dass Kaiku und Lucia den Wald von Xu mittlerweile höchstwahrscheinlich erreicht hatten. Bei den Göttern, sie hoffte, ihr aller Vertrauen in Lucia würde sich als begründet erweisen. Käme sie nicht lebend aus diesem Wald zurück, wäre all ihre Hoffnung ausgelöscht. Und wenn sie nicht zurückkäme, würde auch Kaiku nicht... Solche Gedanken bringen dich nicht weiter, Mishani, tadelte sie sich. Mach dich lieber nützlich. Eigentlich war sie aus der Wüste zurückgekehrt, um ihre politische Begabung in den Südlichen Präfekturen in den Dienst der Libera Dramach zu stellen, aber die meisten Adeligen weilten in Saraku oder Machita und kamen nur selten hierher auf Besuch. Sie hatte von dem versuchten Meuchelmord an Barak Zahn während der verheerenden Niederlage in Zila gehört, und der Verdacht fiel auf Geblüt Erinima. Sie fragte sich, welche Vergeltung Zahn vorschwebte und ob sie sich aufmachen sollte, ihm ihre Hilfe anzubieten. Ein Zwiespalt war in Zeiten wie diesen das Schlimmste, dennoch überraschte es Mishani nicht im Geringsten, dass die Adeligen trotz eines solch überwältigenden Feindes zu keiner Zusammenarbeit fähig waren. Geblüt Erinima trachtete wie jede andere hohe Familie nach dem eigenen Vorteil. Die Familie dachte nicht an die globalen Folgen, sah nur die Möglichkeit, den Thron für sich zu beanspruchen. So war Politik nun mal. Mishani spürte die Nähe einer Antwort auf den Seiten vor 250 ihr. Sie merkte, dass sie dicht daran war, dennoch entzog die Lösung sich ihr nach wie vor. Wenngleich sie nicht wusste, worauf sie ihre Aufmerksamkeit richten, wo sie suchen sollte, glaubte sie, das Bild würde sich allmählich zusammenfügen, wenn sie nur beharrlich genug blieb. Und sei es durch blanke Willenskraft. Draußen ertönte der Ruf einer Eule. Mishani starrte ungebrochen auf das Papier. Eine lange Weile rührte sie sich nicht; sie ging völlig im Kreisen ihres Verstandes auf, spielte eine Möglichkeit nach der anderen durch. Geistesabwesend hob sie den Becher an, trank einen Schluck und stellte ihn wieder ab. Die winzige Bewegung am Rand ihres Blickfelds, das Gefühl, dass der Becher beim Abstellen nicht ganz so ihre Finger berührte, wie es sein müsste: Dies waren die leisen Warnhinweise, die ihr verrieten, dass sie die Stelle zum Abstellen falsch eingeschätzt hatte, dass der Lathamri vom Rand des Schreibtischs kippte. Flugs griff sie nach dem Becher, fing ihn auf, bevor er fallen konnte; dabei erfasste der lose herabhängende Teil des Ärmels ihrer anderen Hand das Tintenfass und stieß es um. Hastig stellte sie das Getränk ab und richtete das Tintenfass wieder auf,, doch da hatte sich bereits eine Lache der schwarzen Flüssigkeit eiförmig über einen Abschnitt ihrer Schönschrift ausgebreitet. Verärgert über die Verschwendung der Tinte blies sie schnaubend den Atem aus. Obendrein war ihr Nachtgewand an den Armelaufschlägen besudelt. Sie streckte die Hand aus, um das Papier zusammenzurollen und wegzuwerfen; dann hielt sie mitten in der Bewegung inne. Langsam zog sie die Hand zurück und starrte wieder auf das Papier. Die Tinte hatte sich über mehrere Zeilen ergossen, aber diejenige, die ihr ins Auge stach, war nur geringfügig
beeinträchtigt worden. Lediglich zwei Schriftzeichen in der Mitte eines viersilbigen Wortes waren überdeckt worden. Was Mishanis 251 Aufmerksamkeit erregte, war der Umstand, dass durch das Herausnehmen dieser beiden Symbole ein neues Wort entstanden war. Durch Zusammenziehen der ersten und letzten Silbe ergab sich eine neue Bedeutung. Dämonen. Aufgeregt blickte sie zu dem Buch, aus dem das Gedicht ursprünglich stammte, und sah darin nach, welche Schriftzeichen überdeckt worden waren. Dies brachte zwar keine neuen Erkenntnisse, tat ihrem plötzlichen Schwung aber auch keinen Abbruch. Sie legte das besudelte Pergament beiseite und schrieb das Gedicht erneut ab, dann strich sie die beiden mittleren Silben doppelt durch, um wieder das Wort Dämonen zu bilden. Aufs Geratewohl suchte sie nach weiteren Stellen, an denen dieselben Schriftzeichen vorkamen, fand derer aber nur eine. Sie strich die Silben dort durch, wonach sich ein sinnloses Wort ergab. Dennoch weigerte sie sich zu glauben, dass der Begriff Dämonen rein zufällig entstanden war. Also starrte sie auf das Wort, das sie verstümmelt hatte. In seiner Gesamtheit bedeutete es vielleicht. Nach einer Weile strich sie ein weiteres der Schriftzeichen durch. Nun hieß es bis im zeitlichen Sinn. Sie betrachtete das Wort und erwog andere Verbindungen, die einen Sinn ergeben mochten, fand jedoch keine. Als Nächstes durchforstete sie das Gedicht nach weiteren Schriftzeichen wie diesem dritten, das sie durchgestrichen hatte, aber es kam nicht noch einmal darin vor. Sie überprüfte die anderen Worte auf Silben, die sich entfernen ließen, um neue Bedeutungen zu ergeben, doch die Möglichkeiten waren zu zahlreich, und einige Wörter konnten überhaupt nicht zusammengezogen werden. Wieder war sie verwirrt, doch die freudige Erregung trieb sie weiter. Sie blätterte die Bücher nach anderen Gedichten durch, schrieb diese heraus und strich die drei Schriftzeichen überall durch, wo sie darauf stieß. Erneut tauchte Dämonen auf, entstanden aus demselben Wort wie zuvor. Was natürlich noch 252 keinen schlüssigen Beweis darstellte, aber allein die Möglichkeit weckte Hoffnungen. Endlich, irgendwann im Verlauf der Nacht, fand sie das Wort, das sie brauchte. Es war fünf Schriftzeichen lang, wovon drei dieselben Symbole waren, die sie zum Löschen gekennzeichnet hatte. Mit flinken Strichen entfernte Mishani sie und betrachtete das Ergebnis. Berg. Sie war ein wenig enttäuscht, da sie gehofft hatte, etwas Eindeutigeres zu finden, etwas, das unmöglich ein zufälliges Zusammenpassen von Silben darstellen konnte. Doch die Enttäuschung verflog sogleich wieder. Immerhin war es ein richtiges Wort. Sie musste weitere Schriftzeichen in Erfahrung bringen, die durchzustreichen waren. Sie brauchte einen Schlüssel, um das Rätsel zu lösen. Wo konnte sie einen solchen Schlüssel finden? Die Antwort dämmerte ihr sofort. Sie hatte sie die ganze Zeit gekannt; es war nur darum gegangen, sich die richtige Frage zu stellen. Das Schlaflied. Ungestüm riss sie eine neue Schriftrolle herbei, schrieb das Schlaflied auf und suchte das ursprüngliche Gedicht, an dem sie gearbeitet hatte. Anmerkungen quollen über den Schreibtischrand, wurden durch immer neue ersetzt. Mishani ging das Gedicht Zeichen für Zeichen durch, strich jedes Symbol durch, das einem Symbol im Schlaflied entsprach. Und langsam kristallisierten sich Worte heraus. Einige ergaben keinen Sinn, andere ließen sich gar nicht zusammenziehen, doch diesen schenkte sie keine Beachtung. Sie las nur jene, die durch ihre Veränderungen eine neue Bedeutung angenommen hatten, und dadurch stieß sie auf die Botschaft. Neue Dämonen greifen Juraka bis Mittwinter an. Mishani lehnte sich auf die Hacken zurück, blickte wie gebannt auf die Seite. Eine Zeitlang war ihr Verstand völlig 253 leer, wie ausgeblasen im Gefolge der Enthüllung. Dann begann sie, die Gedanken wieder zu sammeln. Mutter, dachte sie ungläubig. Die ganze Zeit... Angefangen hatte es kurz nach Kriegsausbruch. Die Gedichte, der kümmerliche Schreibstil. Muraki war schlampig geworden, weil sie zu schnell schrieb. Die Bücher waren kurz, weil sie rasch genug verbreitet werden mussten, damit die darin enthaltenen Auskünfte noch genutzt werden konnten. Die Gedichte wirkten verhunzt, weil Muraki dahingehend eingeschränkt war, dass sie darin Botschaften einbauen musste und weil sie Aufmerksamkeit darauf lenken wollte. Die ganze Zeit war Muraki ihr Spitzel mitten im Lager des Feindes gewesen, und bis jetzt hatte es niemand gewusst. Mishani hatte es bis jetzt nicht gewusst. Denn nur sie wäre jemals in der Lage gewesen, denn Schlüssel zu finden, nur sie - und Kaiku, wenngleich ihre Mutter das nicht wusste - besaß das dafür nötige Wissen. Doch Muraki musste aufgefallen sein, dass ihre Warnungen nichts bewirkten, und so hatte sie ihrer Tochter, von der sie wohl annahm, dass sie ihre Bücher las, in ihrem jüngsten Buch einen Wink mit dem Zaunpfahl hinter-lassen. Entschlüsselte jemand anders die versteckten Hinweise, verhieße dies Murakis sicheren Tod. Deshalb hatte sie nur die erste Strophe des Schlaflieds wiedergegeben: Ohne beide Strophen blieb der Schlüssel unvollständig und ergab nur Kauderwelsch. Mishani dachte zurück. Es hatte weitere Hinweise gegeben. Anspielungen auf Schlaflieder; Nidajans Sinnieren
darüber, dass seine Gedichte den Takt eines Liedes aufwiesen, das Eltern ihrem Kind vorsangen; ein Abschnitt, indem Nidajan erwog, ein Lied für seinen verlorenen Sohn zu ersinnen, eines, das nur sie beide kennen würden, das er dem Knaben vorsänge, wenn er ihn denn endlich fände. Beim Blut des Herzens, wie viele Leben hätten gerettet, wie viele Schlachten gewonnen werden können, wenn Mishani bloß schlau genug 254 gewesen wäre, dies früher zu durchschauen? Im Nachhinein betrachtet konnte sie kaum glauben, dass sie derart begriffsstutzig gewesen war. Ihre Mutter hatte ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um dem Kaiserreich zu helfen, indem sie ihrem Gemahl, dem Regenten, Auskünfte abluchste und sie durch ihre Bücher weitergab. Und niemand hatte es erkannt. Einst hatte Mishani ihre Mutter für schwach gehalten, schwach und teilnahmslos. Nun schämte sie sich für ihre Ungerechtigkeit so sehr, dass ihr Tränen in den Augen brannten. Angespornt von diesem Gefühl, stürzte sie sich auf die Arbeit an den anderen Gedichten. 255 sechzehn Kaiku erwachte aus einem lebhaften Traum über Schweiß und Hitze und Fleischeslust. Die Erinnerung daran zerfranste mit dem Erwachen. Zurück blieb nur das Antlitz des Mannes, der sie genommen hatte. Tane. Unvermittelt erfüllte sie Scham, als sie die Augen aufschlug und die anderen im Zelt sah, die in ihrer Nähe knieten. Asara und Tsata. Hatte sie ihren Traum in Form von Stöhnen und sinnlichen Körperbewegungen verraten? Sie war vollständig bekleidet, aber man hatte keine Decke über sie gebreitet, weshalb sie sich entblößt fühlte. Und bei den Göttern, warum ausgerechnet Tane? Sie hatte lange nicht mehr an ihn gedacht. Dann fiel ihr das Ungetüm ein. Erschrocken ruckte sie hoch. Beschwichtigend hob Tsata die Hände. »Bleib ruhig, Kaiku. Dir ist kein Leid widerfahren«, sagte er. »Kein Leid?«, wiederholte sie. »Und Lucia?« »Lucia ist rundum wohlbehalten. Wieso sollte es anders sein?«, fragte Asara. Kaiku starrte sie einen Augenblick an. Sie erinnerte sich, wie das Ding auf sie zugeschnellt war, ein Angriff, der in tausende winzige und unscheinbare Schritte zerfiel: flüchtige Eindrücke von Schatten, jeder größer als der vorherige, als das Wesen sich näherte. Das Ungeheuer war so schnell, dass Kaiku nicht einmal Zeit hatte, ihr Kana zu entfesseln. Eigentlich hätte sein Ansturm Dutzende Bäume beiseite fegen müssen. Dann folgten Dunkelheit und Träume. 256 Asara reichte ihr einen Becher Wasser. Kaiku nahm ihn mit einem argwöhnischen Blick auf die Wüstenfürstin entgegen. Über sie zu wachen, während die schlief, schien ein viel zu uneigennütziger Zug für Asara: Sie tat es nur, weil Kaiku ihr noch etwas schuldete und Asara beabsichtigte, diese Schuld einzutreiben. Vielleicht spürte Asara ihre Stimmung, denn sie richtete sich in kauernde Stellung auf. »Ich bin erleichtert, dass es dir gut geht«, sagte sie. »Aber jetzt muss ich bei den Vorbereitungen helfen. Wir brechen bald auf.« Damit ging sie, duckte sich durch die Zeltklappe hinaus. Kaiku begann, sich herzurichten, zumal es sich unbehaglich anfühlte, unmittelbar nach dem Erwachen gesehen zu werden, mit zerzaustem Haar und vom Schlaf verquollenen Augen; dann besann sie sich der Wochen, die sie im Xarana-Bruch mit Tsata in der Wildnis verbracht hatte, und lachte über die eigene Eitelkeit. Er hatte sie bereits in schlimmerem Zustand gesehen; jedenfalls war es unnötig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Er setzte ob ihres Gelächters eine verwirrte Miene auf. »Du scheinst mir guter Dinge«, stellte er fest. Kaiku seufzte. »Nein, das ist es nicht«, entgegnete sie. Kurz erwog sie, es ihm zu erklären, gelangte jedoch zum dem Schluss, dass es der Mühe nicht wert war. Tsata würde es ohnehin nicht verstehen. Er ließ es dabei bewenden. »Was ist mit dir geschehen?«, wollte er stattdessen wissen. Und so berichtete Kaiku ihm von dem Ungeheuer in den Bäumen. Weshalb sie sich vom Lager entfernt hatte, verschwieg sie. Kaiku hatte vor, Lucia auf ihre Streifzüge anzusprechen, sobald die Umstände es zuließen. Tsata lauschte ihr, während sie sprach. Im Gegensatz zu Lucia blickte er beim Zuhören wunderbar ernst, ganz so, als wäre der Gegenstand seiner Aufmerksamkeit das Wichtigste 257 auf der Welt. Anfangs hatte Kaiku dies als einschüchternd empfunden, mittlerweile aber genoss sie es. Wenn sie etwas sagte, wusste sie, dass er ihre Worte als wichtig empfand. Was sich wahrhaft gut anfühlte. Nachdem sie geendet hatte, wechselte er die Haltung und schlug die Beine unter. Tkiurathi konnten nie lange knien; anders als für Saramyrrer wurde es für sie nach einer Weile unbequem. »Anscheinend hast du großes Glück gehabt. Wir haben letzte Nacht zwei weitere Krieger verloren. Ich denke, wir können davon ausgehen, dass sie derselben Kreatur begegnet sind wie du.« »Wir haben sie verloren} Was soll das heißen?« »Sie sind weg. Es führen zwar Spuren in den Wald, aber abgesehen davon sind sie unauffindbar.« Kaiku rieb sich mit den Händen übers Gesicht. »Bei den Göttern ...«, murmelte sie. »Lucia sagte, die Einwilligung der Geister, uns passieren zu lassen, sei keine Gewähr für Sicherheit. Ich hatte gehofft, dies vor dem Rest der Gruppe verheimlichen zu können, zumindest bis unsere Moral sich gehoben hätte.« »Das war töricht«, erklärte Tsata. Aus dem Mund jedes anderen hätte es sich barsch angehört, doch Kaiku
wusste, wie er war. »Vielleicht wären wir vorsichtiger gewesen, wenn wir es gewusst hätten.« »Noch vorsichtiger, als wir ohnedies waren? Das bezweifle ich.« Sie wollte sich die Verantwortung für den Tod der Soldaten nicht auf die Schultern lasten. »Jeder hat sich letzte Nacht gefürchtet; alle waren wachsam, unabhängig davon, was Lucia ihnen gesagt hatte.« »Jetzt fürchten sie sich noch mehr«, merkte Tsata an. »Das sollten sie auch«, gab Kaiku zurück. Ein paar Herzschläge lang breitete sich Schweigen zwischen ihnen aus. 258 »Du hast dich im Schlaf gewunden. Wovon hast du geträumt?«, fragte er unverhofft. Kaiku errötete. »Beim Blut des Herzens, Tsata! Es gibt ein paar Höflichkeiten meines Volkes, die du dir wirklich aneignen solltest.« Er wirkte nicht im Mindesten verlegen. »Ich entschuldige mich«, sagte er nur. »Mir war nicht klar, dass dir das peinlich sein würde.« Sie wischte sich die Haare hinters Ohr zurück und schüttelte den Kopf. »Du solltest eine Dame nicht nach solchen Dingen fragen.« Kaiku begegnete seinem Blick. Die fahlgrünen Augen waren bar jeglicher Arglist, wodurch sie seltsam wie die eines Kindes erschienen. Kurz versank sie darin; dann schaute sie weg. »Tane«, gestand sie seufzend, als hätte er die Antwort erzwungen. »Ich habe von Tane geträumt.« Tsata reckte das Kinn vor: ein okhambisches Nicken zum Zeichen, dass er verstanden hatte. »Ich weiß deine Ehrlichkeit zu schätzen. Sie ist mir sehr wichtig.« »Ich weiß«, murmelte sie. Weil sie den Drang verspürte, sich selbst zu entschuldigen/ergriff sie mit beiden Händen seine Hand. »Es war nur ein Traum«, sagte sie. Die Berührung schien ihn zu überraschen. Nach einem Herzschlag drückte er flüchtig ihre Hand und ließ dann los. »Wir alle haben letzte Nacht geträumt«, erklärte er. »Aber anscheinend warst du die Einzige, deren Träume angenehm waren.« »Ich bin nicht so sicher, ob sie wirklich angenehm waren«, entgegnete Kaiku. Obwohl sie mit Gewissheit nur noch zu sagen vermochte, dass Tane in ihrem Traum mitgespielt hatte, war sie keineswegs überzeugt, dass die Vereinigung darin eine gänzlich sinnliche Erfahrung ihrerseits gewesen war. Tatsächlich hatte sie eher die unbehagliche Ahnung, dass er sie vergewaltigt hatte. Sie schaute auf. »Wovon hast du geträumt?« 259 Diesmal wirkte Tsata unbehaglich und gab ihr keine Antwort. »Wir sollten aufbrechen; die anderen warten bestimmt schon auf uns.« »Aha! So leicht kommst du mir nicht davon«, sagte sie und ergriff seinen Arm, als er aufstehen wollte. »Wo bleibt denn jetzt deine Ehrlichkeit?«, schalt sie ihn spielerisch. »Ich habe von dir geträumt«, erklärte er mit tonloser Stimme. »Von mir?« »Ich habe davon geträumt, wie ich dich mit einem Messer ausweide.« Einen Augenblick starrte Kaiku ihn nur an. Dann blinzelte sie. »Wie ich sehe, erstreckt sich dein Saramyrrisch noch nicht auf die Kunst, einer Frau zu sagen, was sie hören will«, meinte sie und brach ob seiner verdutzten Miene in schallendes Gelächter aus. »Komm. Wir sollten wirklich los.« Als er immer noch betreten wirkte, fügte sie" hinzu: »Es war nur ein Traum, Tsata. So wie der meine.« Sie traten aus dem Zelt in ein frisches Morgengrauen hinaus. Es war noch früh, doch aus den Gesichtern der anderen konnte Kaiku ablesen, dass wenige gut geschlafen hatten. Müde brachen sie die Zelte ab, wanderten paarweise umher oder verzehrten ein kaltes Frühstück- auf Lucias Rat waren im Wald keine Feuer gestattet. Die Stille, die sie umgab, wirkte so bedrückend wie am Tag zuvor. Sie ließ den gesamten Wald tot erscheinen. Asara hatte ihr Zelt bereits verstaut und saß im Gras, beobachtete Kaiku über das Lager hinweg. Ein plötzlicher Tumult aus der Nähe der Baumgrenze erregte Kaikus Aufmerksamkeit. Menschen rappelten sich auf die Beine, rannten hinauf zu den beiden Männern, die sich aus dem Schatten der Bäume lösten und einen dritten zwischen sich schleiften. »Bei den Geistern, was ist denn jetzt los?«, murmelte Kaiku 260 und lief, dicht gefolgt von Tsata, ebenfalls in die Richtung. Als sie ankam, hatte man den Mann mit dem Gesicht nach unten ins Gras gelegt, und Soldaten plapperten über dem Leichnam hin und her. »Wer ist das?«, verlangte sie zu erfahren, legte genug der Befehlsgewalt des Roten Ordens in ihren Tonfall, um sie zum Schweigen zu bringen. »Was ist mit ihm geschehen?« »Er ist einer derjenigen, die letzte Nacht verschwunden sind«, lautete die Antwort. »Wir sind los, um nach den beiden zu suchen. Den anderen haben wir nicht gefunden.« Der Mann, der dies gesagt hatte, tauschte Blicke mit seinem Gefährten. »Und was mit ihm geschehen ist... nun, da ist Eure Vermutung gleich viel wert wie die unsere.« Damit drehte er den Leichnam mit dem Stiefel herum, sodass er mit einem Arm verkrümmt unter sich auf dem Rücken zum Liegen kam. Die Soldaten fluchten und schimpften. Wenngleich der Mann ansonsten unversehrt schien, waren seine Augen ein milchiges Weiß ohne erkennbare
Pupillen oder Netzhäute. Die Haut rings um sie war durch geplatzte Blutgefäße gesprenkelt, und von den Höhlen aus erstreckten sich strahlenförmig blaue, stark hervortretende Venen. Die Züge des Mannes wirkten schlaff, der Kiefer hing in einem dümmlichen Ausdruck weit offen. »Ich glaube, du hattest mehr Glück, als wir ahnten«, murmelte Tsata, »wenn es das ist, was dein Ungeheuer seinen Opfern antut.« Kaiku wandte sich ab, verschränkte die Arme über dem Bauch und umschlang sich selbst. »Warum hat es mich verschont?« Sie setzte sich in Bewegung; der Anblick des Toten war mehr, als sie im Augenblick ertragen konnte. 261 Die Gruppe umwanderte die Schlucht und marschierte weiter, folgte Lucias Anweisungen. Sie vermochte den Xhiang Xhi zu spüren und steuerte mit untrüglicher Sicherheit darauf zu. Mittlerweile zeigten sich alle zappelig. Der Wald hatte es an sich, das Auge zu täuschen, Bewegungen aus dem Nichts zu erfinden, sodass man jäh zusammenzuckte und auf die Füße oder in die Bäume starrte, da man vermeinte, etwas sei vorbeigehuscht. Zudem begannen sie, in der Stille Geräusche zu vernehmen, ein seltsames Klopfen und Klicken aus der Ferne. Als sie zum ersten Mal auftraten, ließ Doja - der Anführer der Soldaten - die Gruppe anhalten, und sie lauschten eine Weile; aber die Laute erfolgten willkürlich und eintönig, und letztlich versuchten sie, ihnen keine Beachtung zu schenken. Es half wenig. Das Klopfen zehrte ebenso an ihren Nerven wie zuvor die schauerliche Stille. Der Wald veränderte sich weiter, wurde dunkler, je tiefer sie in ihn vordrangen. Die beherrschende Farbe war mittlerweile ein Purpur; außerdem verdichtete sich der Baldachin über ihnen, sodass sie in einem Zwielicht wandelten. Die Luft war von einer seltsam düsteren Stimmung erfüllt. Das Klopfen und Klicken hallte widernatürlich ausgeprägt wider, gerade so, als befänden sie sich in einer höhlengleichen Halle. Die Gruppe bahnte sich den Weg über unwirtliches Gelände, schlammige Hügel hinauf, durch verwucherte Dickichte mit Zweigen, die sie aus Furcht vor Vergeltung nicht beiseite zu hacken wagten. Die meisten marschierten mit Schwertern oder Büchsen im Anschlag, gaben sich der kargen Hoffnung hin, die Waffen könnten zu etwas nütze sein. Kaiku und Phaeca gingen nebeneinander und hielten sich dicht bei Lucia. Obwohl Phaeca kaum geschlafen hatte, schien es ihr heute besser zu gehen. So oft sie die Augen geschlossen hatte, war sie in denselben Albtraum gestürzt, in etwas so Grauenvolles, dass sie sich weigerte, darüber zu reden. Allerdings hatte sie sich kunstfertig zurechtgemacht und die Schatten 262 unter ihren Augen übertüncht, wodurch man ihr nichts anmerkte. Kaiku war besorgt darüber gewesen, wie Phaeca sich in dieser Umgebung halten würde, nun aber verspürte sie gelinde Erleichterung darüber zu sehen, dass ihre Freundin sich offenbar erholt hatte. »Wie geht es ihr?«, murmelte Phaeca und deutete auf Lucia. Kaiku zog eine Miene, die besagte: Wer vermag das zu sagen ? »Ich glaube, im Augenblick weiß sie nicht einmal, wo sie ist.« Die beiden beobachteten sie eine Weile, und tatsächlich, sie wirkte wie eine Schlafwandlerin. Ohne irgendetwas oder irgendjemandem in ihrem Umfeld Beachtung zu schenken, stapfte sie vor sich hin. »Sie lauscht ihnen«, sagte Phaeca. »Den Geistern.« »Ich habe Angst um sie, Phaeca«, gestand Kaiku. »In Araka Jo hat sie mir Dinge anvertraut...« Sie ließ den Satz unvollendet, gelangte zu dem Schluss, dass es einem Vertrauensbruch gleichkäme, Phaeca davon zu erzählen. »Ich habe Angst um sie«, wiederholte sie stattdessen. Phaeca bohrte nicht nach. »Was ist sie eigentlich wirklich?«, sinnierte sie. »Sie ist eine Ausgeburt, gleich wie du und ich.« Phaeca wirkte wenig überzeugt. »Denkst du, das ist tatsächlich alles? Ich bin mir da nicht so sicher. Es liegt eher an ihrem Wesen denn an ihren Fähigkeiten. Und an ihrer Einzigartigkeit.« Sie schaute zu Kaiku. »Warum gibt es nicht mehr von ihrer Art? Von unsresgleichen gab es viele: Die Schwesternschaft macht nur einen Bruchteil der Gesamtheit aus, immerhin umfasst sie nur diejenigen, die nicht umgebracht wurden oder sich selbst getötet haben. Aber hast du jemals von jemand anderem mit Lucias Gabe gehört?« Kaiku missfiel, worauf dies hinauslief. Es kam der Unterstellung unbehaglich nahe, dass Lucia göttlich sei; dabei hatte sie 263 Phaeca wahrlich höher eingeschätzt. »Was willst du damit sagen?«, fragte sie. Phaeca schüttelte den Kopf. »Gar nichts«, antwortete sie. »Ich habe bloß laut nachgedacht.« Kaiku verfiel in Schweigen, grübelte darüber nach. Früher an jenem Tag hatte sie versucht, mit Lucia über ihren spätabendlichen Ausflug in den Wald zu reden, und musste zu ihrem Erschrecken feststellen, dass es unmöglich war, zu ihr durchzudringen. Lucia hatte ihr nicht nur keine Beachtung geschenkt, sie konnte ihre Aufmerksamkeit nicht einmal so bündeln, dass sie Kaiku überhaupt wahrnahm. Lucia hatte einfach durch sie hindurchgestarrt, als wäre sie ein rätselhaftes Trugbild. Was immer mit Lucia gerade geschah, sie musste es alleine bewältigen. Kaiku war vollkommen ausgeschlossen. Sie konnte sich nur Sorgen machen.
Ein weiteres Mitglied der Gruppe ereilte das Verderben gegen Mitte des Nachmittags. Es war Tsatas Ruf zu seinem Landsmann, der die anderen aufschreckte. Da er auf Okhambisch ertönte, blieb ihnen zwar die Bedeutung verborgen, doch sie verstanden den Tonfall. Mehrere Männer umringten Lucia; die übrigen eilten zwischen die Bäume auf die Quelle des Geräuschs zu. Durch die Hast gebieterisch wies Kaiku Phaeca an zu bleiben, dann hetzte sie hinter den anderen her. Sie erklomm eine steile Anhöhe, indem sie Wurzeln als Halt für die Hände und eigenartige, goldgeäderte Steine als Auftritte verwendete, duckte sich durch das Blätterwerk hindurch und rannte vorbei an einem Dickicht mächtiger, gerader Bäume zu der Stelle, an der sie die Rücken der Soldaten in einem Kreis erblickte. Als sie eintraf, machte man für sie Platz. Es war die Tkiurathi-Frau, Peithre. Sie lag in Tsatas Armen, 264 atmete in flachen, rasselnden Stößen. Ihre Haut war blass. Kurz darauf brach Heth durch den Kreis und fragte Tsata etwas in seiner Muttersprache. Tsatas Erwiderung war auch ohne Übersetzung verständlich: Er wusste nicht, was ihr fehlte. »Lasst mich mal sehen«, sagte Kaiku. Sie kauerte sich vor Peithre. Der Blick der leidenden Frau heftete sich auf sie. Aus ihm sprach eine Mischung aus Verzweiflung und Flehen. Tsata sah sich um, suchte nach einer Quelle, die ihr dieses Leid zugefügt haben mochte, doch weit und breit war nichts zu erkennen. »Tsata, sag ihr, sie soll sich beruhigen. Ich werde ihr helfen«, forderte Kaiku ihn auf, ohne den Blick von Peithre abzuwenden. Tsata tat, wie ihm geheißen. Dann legte Kaiku eine Hand auf Peithres nackte Schulter, und während die Soldaten sie beobachteten, verfärbten ihre Netzhäute sich von braun zu leuchtend rot. »Sie ist vergiftet«, stellte Kaiku sofort fest. Sie hielt die Hand wie eine Schale unter Peithres Kinn, und ein Dutzend winziger Flecken trat aus der Haut am Kiefer, Hals und Schlüsselbein hervor. Dann fielen sie in Kaikus Handfläche, wo sie sich zu winzigen Scheiterhaufen entzündeten. »Diese Pflanze dort«, sagte sie und deutete hinter sich zu einer Stelle, wo gekrümmte, dünne Riede mit bauchigen Spitzen am Ufer eines schmalen Bächleins wuchsen. Einer der Soldaten zückte das Schwert und ging einen Schritt auf die Gewächse zu. »Rühr sie nicht an!«, befahl Kaiku scharf. »Du bringst uns noch alle um! Wir fügen dem Wald kein Leid zu, auch wenn der Wald es umgekehrt sehr wohl tut.« »Kannst du sie retten?«, murmelte Tsata. »Ich kann es zumindest versuchen«, gab sie zurück; und einen Augenblick lang befanden sie sich wieder in einem nebelschwangeren Sumpf im Xarana-Bruch, und es war Yugi 265 statt Peithre, der im Sterben lag. Doch damals war sie ein linkischer Lehrling gewesen; nun war sie eine meisterliche Näherin im Geweb. Kaiku schloss die Augen und tauchte ein in die goldene Welt. Heth murmelte Tsata etwas auf Okhambisch zu. Sie beobachteten die Leidende eindringlich, wurden Zeugen eines zu fein gestrickten Vorgangs, als dass sie ihn verstehen konnten. Peithre begann zu schwitzen und verströmte einen beißenden Gestank: Kaiku vertrieb das Gift aus ihrem Körper. Dann verlangsamte sich allmählich Peithres Atmung. Träge klappten ihre Augen zu. Heth brach in einen kehligen Wortschwall aus, doch Tsata hob die Hand und gebot ihm zu schweigen. Kaikus Aufmerksamkeit war zu gebannt, um ihn zu beschwichtigen. Peithre würde nicht sterben, jedenfalls nicht jetzt; aber sie würde schlafen müssen. Minuten verstrichen, ehe Kaiku die Augen wieder aufschlug. Die Soldaten murmelten untereinander. »Sie wird leben«, verkündete Kaiku. »Aber sie ist sehr schwach. Der Schaden, den das Gift angerichtet hat, ist zu verbreitet und zu tiefreichend für mich, um ihn vollständig zu beheben.« Heth ergriff auf Saramyrrisch das Wort. »Ich werde sie tragen.« »So einfach ist das nicht. Sie braucht Ruhe, andernfalls überlebt sie unter Umständen nicht.« Sie begegnete Tsatas Blick. »Das Gift war sehr stark«, erklärte sie. »Es kommt einem Wunder gleich, dass sie lange genug überlebt hat, damit ich zu ihr gelangen konnte.« Sie schaute auf und erblickte Asara, die ein Stück abseits stand und sie durch die Bäume eindringlich beobachtete. Dann drehte sie sich um und war verschwunden, ließ Kaiku leicht beunruhigt zurück. »Macht es ihr gemütlich«, forderte Kaiku die Tkiurathi auf. »Ich rede mit Doja.« Damit stand sie auf. »Du hast meinen Dank«, sagte Heth unsicher und suchte 266 mit einem Blick bei Tsata Zustimmung. Er fand die Gebräuche der Saramyrrer so schwierig wie sie die seines Volkes. »Und meinen«, schloss Tsata sich ihm an. »Wir sind ein Pash, ihr Simpel«, erwiderte sie liebevoll. »Da braucht es keinen Dank.« »Soll das heißen, wir bleiben hier?«, rief einer der Soldaten ungläubig aus. Alle Blicke richteten sich auf ihn. Es handelte sich um einen schwarzhaarigen Mann um die fünfundzwanzig Ernten. Kaiku kannte ihn: Sein Name war Kugo. Kaiku bannte ihn mit einem bohrenden Starren, das die dämonische Farbe ihrer Augen zusätzlich verstärkte. Sie spürte, wie die kurzzeitig empfundene Wärme der Kameradschaft aus ihr floss. »Darüber will ich mich mit eurem Anführer unterhalten.« »Wir können nicht hier bleiben!«, begehrte er auf. »Beim Blut des Herzens, vier von uns sind bereits tot; Ihr
selbst wärt beinahe das fünfte Opfer geworden; und sie ist nur um Haaresbreite dem Los entgangen, Nummer sechs zu werden. Dabei ist das erst unser zweiter Tag! Was denkt Ihr wohl, wie lange wir überleben werden, wenn wir einfach im Wald herumhocken?« Kaiku fühlte, wie sie sich versteifte, sich für eine Auseinandersetzung wappnete. Sie hätte einem Streit einfach aus dem Weg gehen, frostig an ihm vorbeifegen sollen. Doch etwas in ihr wollte es nicht dabei bewenden lassen, weil sie wusste, woher diese Gesinnung rührte, und sie wollte hören, wie er es laut aussprach. »Was sollen wir deiner Ansicht nach tun, Kugo? Sie zurücklassen? Was, wenn du an ihrer Stelle wärst?« »Bin ich aber nicht. Und wenn ich es wäre, oder einer dieser Männer hier, dann würde ich bei ihnen bleiben, koste es, was es wolle. Wir würden unsereins nicht im Stich lassen.« Darob erhob sich zustimmendes Gemurmel. »Aber die sind nicht unsereins«, fuhr er fort. »Für Fremdlinge setze ich mein Leben nicht aufs Spiel.« 267 Tsata und Heth zeigten darauf keine Regung, Kaiku hingegen sehr wohl. »Hast du denn rein gar nichts gelernt?«, schrie sie und stampfte auf Kugo zu, bis sie ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. »Warum fechten wir diesen Krieg, du Tor? Weil wir so bereit waren, die Weber die Ausgeburten zu Sündenböcken stempeln zu lassen, dass uns gar nie in den Sinn kam, sie in Frage zu stellen! Über zwei Jahrhunderte lang haben wir sie unsere Kinder töten lassen, weil wir uns so eifersüchtig an die Vorurteile klammerten, die sie in uns gesät hatten! Menschen wie du haben sich den Libera Dramach angeschlossen, um genau das zu ändern. Und jetzt, jetzt da Ausgeburten wie ich euer Kaiserreich gerettet haben, jetzt, da wir einer Ausgeburt mitten ins Herz des gefährlichsten Ortes auf dem Kontinent folgen, jetzt wagst du zu behaupten, diese Leute, die bereit sind, an unserer Seite zu sterben, wären nicht unsresgleichen?« Die Luft um sie knisterte, ihre Haarspitzen richteten sich in der fühlbaren Aura ihres Zorns auf. Kugo starrte sie bestürzt an. »Diese Kluft ist es, die uns alle umbringt! Begreifst du das denn nicht? Du kannst nicht einen Satz willkürlicher Vorurteile über Bord werfen und einen anderen behalten! Du kannst nicht beschließen, Ausgeburten wie mich anzunehmen, und gleichzeitig Fremde als geringwertiger als dich selbst betrachten! Solcher Schwachsinn verdammt uns dazu, denselben Kreislauf zu wiederholen, Krieg um Krieg, bis nichts mehr übrig ist! Beim Blut des Herzens, wenn deinesgleichen die Feinde ausgingen, würdet ihr beginnen, eure Freunde zu töten! Diese Menschen« - sie deutete auf Tsata und Heth -»könnten dir etwas über Einigkeit beibringen.« Mit einer Hand erfasste Kaiku die Seite seines Kopfes; mittlerweile war er vor Furcht wie gelähmt. Sie senkte die Stimme. 268 »Du wirst den Tkiurathi dieselbe Achtung erweisen wie diesen Männern, oder du bekommst es mit mir zu tun.« Damit stieß sie ihn unwirsch beiseite und stapfte in den Wald davon. Schweigen herrschte in ihrem Gefolge. Tsata schaute ihr nach. Seine tätowierten Züge waren unergründlich, aber er starrte noch lange, nachdem sie verschwunden war, an die Stelle, an der sie im Unterholz außer Sicht geriet. Nachdem Kaiku sich beruhigt hatte, suchte sie Doja auf. Er willigte ein, dass sie hier übernachten und sich am nächsten Morgen ein Bild über Peithres Zustand machen sollten. »Aber wenn ein weiterer meiner Männer abhanden kommt, brechen wir auf«, warnte er sie. »Tut, was ihr nicht lassen könnt«, gab sie zurück. »Ich für meinen Teil bleibe. Und letztlich ist es Lucias Entscheidung, ob ihr bleibt oder nicht; ohne sie würdet ihr an einem Ort wie diesem keine Stunde überleben.« Doja war wütend; Kaiku spürte es, obwohl er es gut zu verbergen wusste. Er war ein Mann mit kantigen Zügen, einer mit borstigen schwarzen Stoppeln bedeckten Kinnspalte, einer scharf geschnittenen Nase und kleinen Augen. Kaiku achtete ihn als Anführer zutiefst, dennoch war sie ihm in den Rücken gefallen, was er ihr übel nahm. Indem sie einen seiner Soldaten bedroht hatte, war sie in seiner Gunst gefallen, und nun forderte ihre Unnachgiebigkeit seine Befehlsgewalt gar unmittelbar heraus. Die Beziehung zwischen den Libera Dramach und dem Roten Orden war in letzter Zeit angespannt. Während der Rote Orden früher eine ungemein nützliche Waffe für das Unterfangen der Libera Dramach dargestellt hatte, war er nun, da er öffentlich auftrat, zu mächtig geworden, um ihm zu vertrauen. Zudem herrschte die allgemeine Vermutung vor, dass die Schwestern nur deshalb auf Seiten des Kaiserreichs kämpften, weil es ihnen zufällig in den Kram passte. 269 »Ich gebe Euch eine Nacht«, sagte er. »Danach fragen wir Lucia.« Bevor Kaiku etwas entgegnen konnte, erhob sich ein Tumult aus der Richtung, in der sie Peithre zurückgelassen hatte. Ohne ein weiteres Wort brach sie die Unterhaltung ab und hastete zurück zu der Stelle. Dort fand sie die Soldaten mit den Büchsen im Anschlag vor. Sie hatten sich zu einem losen Kreis verteilt und zielten nach außen zwischen die Bäume. Jemand, der durch das Umfeld zappelig geworden war, richtete die Büchse auf Kaiku, als sie sich näherte; unwillkürlich duckte sie sich, doch dankenswerterweise feuerte er nicht. Mit einem vernichtenden Blick fegte sie an ihm vorbei, und er schrak vor ihr zurück. , »Was ist denn los?«, fragte sie Tsata. Er und Heth knieten mit gezückten Feuerwaffen neben Peithre. »Draußen zwischen den Bäumen«, antwortete er und deutete mit dem Kopf in die Richtung. Sie schaute hin und erhaschte dabei einen flüchtigen Blick auf etwas. Es war ein weißes Aufblitzen zwischen dem von Ranken verhangenen Gewirr der Stämme. »Schießt nicht auf sie!«, rief Kaiku und erhob die Stimme, damit alle sie hörten. »Bedenkt, wo wir sind! Feuert
nur, wenn sie angreifen.« Die Soldaten raunten einander spöttische Bemerkungen zu. Kaiku schaute auf Peithre hinab, die immer noch schlafend und mit einer Decke als Kissen auf dem Waldboden lag. Dann richtete sie den Blick wieder auf die Bäume. Eine weitere zuckende Bewegung, aber sie erfolgte zu flink und war verschwunden, bevor Kaiku den Blick darauf heften konnte. ((Bist du bei Lucia ?)) fragte sie Phaeca und erhielt umgehend eine Bestätigung ((Bring sie her)) »Da ist eines!«, rief jemand. »Nicht schießen!«, brüllte Kaiku abermals, erschrocken durch den aufgeregten Tonfall des Mannes, der sich anhörte, 270 als hätte er soeben Wild erspäht, das er zu erlegen gedachte. Kaiku sah, wohin alle schauten, nämlich einen Flur zwischen Stämmen und Gebüsch hinab, wo eines der Wesen verharrte, alle ihre Blicke bannte und beobachtete, wie sie es beobachteten. Es war wunderschön und schrecklich zugleich. Das kurze Fell war makellos weiß, abgesehen von Schatten, die sich an den Vertiefungen zwischen den Rippen abzeichneten. Es vereinte Merkmale eines Hirsches und eines Fuchses in sich -einen buschigen Schweif; ein scharfes Stummelgeweih; eine gewisse Verstohlenheit seiner Bewegungen. Und doch wirkten der Muskelaufbau und das Knochengefüge schauerlich menschenähnlich, als stünde ein geschmeidiger, lang gezogener Mensch auf allen vieren. Das Antlitz besaß etwas von der schmalgesichtigen Schläue des Fuchses und etwas von der scheuen Sanftmut des Hirsches, doch die Züge waren beweglicher als bei beiden, und als es die Lippen zurückzog, kam eine Anordnung eng aneinander gereihter, dolchartiger Zähne zum Vorschein, die verriet, dass es sich von Fleisch ernährte. »Eine Ausgeburt«, zischte jemand. »Das ist keine Ausgeburt«, murmelte Kaiku zurück. Selbst wenn sie nicht in der Lage gewesen wäre, es am Abdruck des Wesens im Geweb abzulesen, hätte sie es gewusst. Diese Geschöpfe hatten etwas an sich, eine Gleichförmigkeit ihres Aufbaus, die von einer völlig natürlichen Entwicklung zeugte. Sie waren irgendwo zwischen Geist und Tier anzusiedeln, gleichsam ein Mischwesen aus beidem. Dann war es verschwunden, schnellte zurück zwischen die Bäume. Kurz darauf tauchte Phaeca mit Lucia und einer Gruppe Soldaten als Leibwächter für sie im Gefolge auf. Auch Asara traf mit schussbereiter Büchse ein. »Lucia«, sagte Kaiku. Lucia zeigte keine Regung; ihr Blick war in weite Ferne gerichtet. »Lucia!« 271 Jäh und kurz wurde ihr Blick klar, begann jedoch sofort wieder zu verschwimmen. »Was sind das für Wesen?«, verlangte Kaiku zu erfahren. »Kannst du mit ihnen reden? Wollen Sie uns Böses?« Sie schüttelte Lucia an der Schulter und rief erneut ihren Namen. »Hör mir zu!« »Emyrynn«, murmelte Lucia und starrte über Kaikus Schulter hinweg zwischen die Bäume. »In unserer Sprache heißen sie Emyrynn. Sie wollen, dass wir ihnen folgen.« »Ihnen folgen? Ist das eine Art Falle?« Lucia brummte einen verneinenden Laut. »Wir müssen ihnen folgen ...«, sagte sie, dann versank sie in einen traumwandelnden Zustand, in dem Kaiku sie nicht zu erreichen vermochte. Dieser Wald war zu viel für Lucia, überwältigte sie, ließ sie entrückter denn je zuvor werden. Es war qualvoll, mit anzusehen, denn Kaiku hatte keine Möglichkeit, in Erfahrung zu bringen, ob sie je aus diesem Taumel zurückkehren würde oder ob jeder Augenblick innerhalb der Grenzen des Waldes ihr Befinden nur noch verschlimmerte. Doja zeigte sich entschlossener als sie, und sein Glaube an Lucia war augenscheinlich größer. »Wir können diese Frau noch nicht bewegen. Drei Mann, mitgehen. Kommt zurück und holt uns, wenn ihr findet, was sie uns zeigen wollen. Und beim Blut des Herzens, seid auf der Hut.« »Ich gehe«, preschte Kaiku vor, weil sie alles getan hätte, um vorerst nicht länger in Lucias Nähe sein zu müssen. »Ich auch«, schloss Tsata sich ihr an. Auch Asara meldete sich freiwillig. Doja willigte nur allzu gerne ein: Immerhin brauchte er dadurch keinen seiner Soldaten dem Wagnis auszusetzen. Bei dem Gedanken, Asara dabeizuhaben, flackerten kurz Zweifel in Kaiku auf, aber wenigstens hatte sie auch Tsata, und ihm vertraute sie uneingeschränkt. »Wo sind sie? Wo seht ihr sie?«, fragte sie die Gruppe im Allgemeinen, und mehrere Männer wiesen alle annähernd in 272 dieselbe Richtung. Sie brachen auf; Tsata warnte Asara vor dem Ried, das Peithre vergiftet hatte, und sie nickte zum Dank, ohne dabei den Blick von Kaiku abzuwenden. Die Büchsen im Anschlag kämpften sie sich durch das Unterholz, während die Emyrynn voraus liefen, ärgerlich schwer zu erspähen und doch nie ganz aus ihrem Sichtfeld. Niemand sprach; ihre Aufmerksamkeit galt ausschließlich dem Erkennen von Gefahren, zumal sie mit Fallen rechneten. Doch ihr Marsch dauerte nicht lange. Sie waren höchstens zehn Minuten unterwegs, bis sie fanden, was die Emyrynn ihnen zeigen wollten, und dort standen sie sprachlos und fragten sich, auf was für Wesen sie in den Tiefen des Waldes von Xu gestoßen waren. In den oberen Gefilden der Kaiserlichen Feste, die zu betreten der Wahnsinn der Weber gefährlich machte, lag
der Staub fingerhoch, und Spinnen verwoben die Fenster. Kakres bevorzugter Raum zum Weben war nicht die Sonnenkammer, die er mit seinen Drachen und Hautschneiderpuppen bevölkert hatte. Er fand den Lärm der anderen Weber ablenkend. Stattdessen zog er sich in einen Bereich zurück, in dem er allein sein konnte, einen trostlosen, stillen Ort, der zu abgelegen war, als dass die Weber oder die verängstigten Bediensteten sich darum kümmerten. Der Boden war von breiten, einander überschneidenden Furchen gezeichnet, Pfaden, die der abgewetzte Saum seiner Robe in den pulvrigen Staub gezogen hatte, während Kakre umherwandelte. Mattes Tageslicht kämpfte sich durch den Dunstschleier, der die Stadt verhängte, und die Luft war schwer und ölig. Avun unterhielt sich bereits geschlagene drei Stunden mit Trugbildern. Sieben Statthalter der bedeutenderen Orte und Städte hingen in einem Kreis um die Mitte des leeren Raumes, verschwommene Erscheinungen, unter denen allein Avun aus 273 Fleisch und Blut war. Sie gingen die unerschöpflichen Einzelheiten ihrer jeweiligen Lage, des Zustands des Landes, des Verlaufs der Hungersnot durch. Kakre verkörperte das Bindeglied, das sie alle zusammenhielt, eine Verbindung, über die alle acht Teilnehmer einander als nebelhafte Abbilder seilen konnten. Avun hatte darauf bestanden, denn acht Menschen in einem Land der Größe Saramyrs an einem Ort zu versammeln war einfach zu aufwändig. Allmählich wurde Kakre wütend. Er hatte sich dazu überreden lassen, diese Meisterleistung zu vollbringen, und doch | hatte er bis jetzt noch nichts gehört, was nicht durch Einzelbesprechungen zu lösen gewesen wäre, die wesentlich weniger anstrengend waren. Die Unterredung zog sich hin, während das Licht von Nukis Auge nach und nach schwand. Kakre war der größte unter den Webern -jedenfalls seiner eigenen Einschätzung nach -, trotz- I dem begann die Anstrengung, so viele Verbindungen gleichzeitig aufrechtzuerhalten, an ihm zu zehren. Der Stolz verbot es ihm aufzugeben, aber innerlich verfluchte er Avuns Namen und fing an, sich allerlei Unbehagen auszudenken, die er dem Mann zuteil werden lassen würde, sobald diese Tortur zu Ende war. Schließlich schickte Avun sich an, die Besprechung abzuschließen, indem er sich zu jedem Teilnehmer nacheinander in langatmigen, schwülstigen Abschiedsfloskeln erging. Endlich war es vorüber, und nur Avun blieb zurück. Mit schwachen Knien taumelte Kakre leicht. Avuns rascher Blick ließ erkennen, dass er es bemerkt hatte, doch klugerweise verkniff er sich, es zu erwähnen. »Habt meinen tiefsten Dank«, sagte Avun. »Eine Unterredung von Angesicht zu Angesicht - zumindest fast -, ist bei Regierungsbelangen schon ein großer Unterschied. Viele wertvolle Ideen können geschmiedet werden, wenn wir unsere Köpfe zusammenstecken.« 274 Kakre war alles andere als überzeugt, dass die Besprechung etwas ergeben hatte, das über ein paar Lageberichte und unklare Andeutungen über Vorgehensweisen hinausging; außerdem hörte sich Avuns Dank seicht an. Andererseits befand er sich im Augenblick in keinem Zustand, in dem er besonders zusammenhängend dachte, weshalb er sich selbst misstraute. Zweifellos würde ihn nach einer derart langen und anstrengenden Sitzung im Geweb der Wahn überkommen; er spürte bereits, dass es ihn nach dem Messer juckte, das er unter den Gewändern trug. »Ihr solltet jetzt besser gehen«, knurrte Kakre. »Sofern Ihr nicht zu Schaden kommen wollt. Später werde ich Euch einiges zu sagen haben. Oja, so einiges.« Avun verneigte sich und ging. Kakre setzte sich zittrig auf den Boden; Staub stieg in einer trägen Wolke um ihn auf. Nun war er froh, dass er darauf bestanden hatte, die Unterredung hier in seinen Gefilden abzuhalten. Zu jenem Zeitpunkt war es bloß eine Laune gewesen, um Avun daran zu erinnern, dass er Kakres Diener war und nicht umgekehrt; doch jetzt empfand er die Einsamkeit als Balsam, denn es war niemand zugegen, um seine Schwäche zu bezeugen. Der stets im Anschluss an eine Sitzung im Geweb folgende Wahn breitete sich langsam in ihm aus wie Blut, das in Wasser tropft. Eigentlich stand ihm der Sinn nach Häuten, aber er fühlte sich zu schwach, um sich ein Opfer zu besorgen, außerdem hatte er seine letzte Leinwand vor einigen Tagen aufgebraucht. Der Drang und die Trägheit schwollen im selben Ausmaß an, versetzten ihn in eine unmögliche Lage. Er stieß einen abgehackten Fluch aus und knirschte mit den Überresten seiner Zähne. Irgendwie musste er den Anfall überstehen, zumindest so lange, bis er in der Lage war, seine Gelüste zu stillen. Kurz gab er sich Gedankenspielereien darüber hin, wie er Avun folterte, aber angesichts seines wachsenden Dranges waren die Bilder, die er heraufbeschwor, nur blass und kindisch. 275 Stattdessen blendete ihn eine seltene Klarheit über sich selbst, ein Augenblick, in dem er sah, was er geworden war, frei von Selbsttäuschung und Wahnsinn. Seine Arbeit mit der Klinge war seit Jahren im Verfallen begriffen. Die meisten Skulpturen, die er behielt, waren in den Tagen entstanden, bevor die Weber das Kaiserreich in seinen Grundfesten erschütterten. Inzwischen zitterten seine arthritischen Hände, wenn er das Messer hielt, und in letzter Zeit gebärde er sich eher wie ein Fleischer denn wie ein Künstler. Doch es lag nicht nur am mangelnden Zusammenspiel seiner Muskeln: Auch sein Verstand war verrottet. Die Anstrengung, der es bedurfte, um die Feyakori heraufzubeschwören und zu beherrschen, hatte den zarten Brei seines körperlichen
Gehirns schwer in Mitleidenschaft gezogen, ihn verwirrt und greisenhaft werden lassen, und in jenem Augenblick sah er den angerichteten Schaden und begriff, um wie viel es schlimmer werden würde, wenn er die Dämonen der Fäulnis zum nächsten Mal aus ihren Rauchgruben riefe. Eine kurze Zeit lang wusste er, was er war, sah die Verheerung, die er über seinen Körper und Verstand gebracht hatte, und er kreischte und schrie und hackte mit den Fingernägeln auf sich ein; doch der Augenblick verstrich, die Gedanken wurden zu schwer, um sie festzuhalten, und sie lösten sich auf wie Rauch. So fand Fahrekh ihn vor: ein eingerolltes Bündel aus Lumpen und Häuten, die Totenfratzenmaske auf den Boden gepresst, mit grauem Staub verkrustet. Eine Weile stand er am Eingang, die kantigen Züge der bronzenen, silbernen und goldenen Maske ausdruckslos. »Webfürst Kakre«, sprach er. »Es scheint Euch nicht gut zu gehen.« »Raus hier«, krächzte Kakre. »Das denke ich nicht«, lautete die Antwort. Fahrekh betrat den Raum, bis er über dem Webfürsten stand, der sich 276 den Hals verrenkte, um zu dem jüngeren Weber aufzuschauen. »Raus hier«, zischte Kakre erneut und wurde von Krämpfen gebeutelt. »Wir beide haben etwas zu besprechen«, sagte Fahrekh gedehnt. »Fragen der Nachfolge. Insbesondere meiner.« Mit unvermittelt wieder klarem Blick schnellte Kakres Kopf hoch. Fahrekhs teilnahmslose Maske starrte zurück. Gleichzeitig tauchten sie ins Geweb, und die Schlacht entbrannte. Es war die unendliche Tiefe, in der sie sich einander stellten, jene wässrige Finsternis, die Kakres bevorzugte Veranschaulichung des Gespinsts der Wirklichkeit darstellte. Ob durch Zufall oder Absicht, dasselbe galt für Fahrekh, und er fühlte sich mit dieser Auslegung genauso wohl. Als sie einander angriffen, erfolgten ihre Handlungen entsprechend ihrer Umgebung in Form von Fischen. Aus tausenden einzelnen Gedankensträngen wurden Piranhaschwärme, die in den unsichtbaren, allgegenwärtigen Gegenströmungen rings um sie schwammen. Beiderseits des Kampfgetümmels trieben die Herren des Geschehens, wahrten ihre Stellungen inmitten des Peitschens und Schlingern des Gewebs. Kakre war ein Rochen, Fahrekh eine mächtige schwarze Qualle mit Fangarmen in Form von tödlichen, purpurnen Bändern. Dies waren die Erscheinungsformen ihrer echten Körper, der Kern ihrer Gegenwart im Geweb. Die Piranhas bildeten ihre Krieger, eine Schwindel erregende Masse von Gedankensträngen, die durch den Raum zwischen ihnen hin und her schnellten und nach einem Weg durch den feindlichen Schwärm suchten. Sie fielen übereinander her, explodierten zu gleißenden Blüten wirbelnder Goldfäden, wenn sie aufeinander prallten, erhellten die Dunkelheit mit kurzen Lichtkugeln, die sich sogleich unendlich nach innen knoteten und in sich zusammenstürzten. 277 Das Gezänk der Piranhas erfolgte schneller, als Augen zu verfolgen vermochten. In Gruppen zu Dutzenden bildeten sie Bögen und Schleifen, stießen vor, zogen sich zurück oder legten Köder. Am Schlachtfeldrand huschten kleinere Fische umher, versuchten, das Gefecht zu umgehen und den Feind zu erreichen: Einige verfingen sich in der Verteidigung des Gegners, andere wurden von den Gegenströmungen in Stücke gerissen. Die Weber verfügten über unzählige Kniffe: Sie verwendeten Fische, um andere Fische abzuwehren, katapultierten sich vom Rand unsichtbarer Strudelbecken, legten träge wirkende Köder aus, die sich bei Berührung schlagartig in einen unlösbaren Irrgarten verworrener Stränge verwandelten. Es war ein überwältigendes Schauspiel verblüffender Gnadenlosigkeit, verborgen unter der dünnen Haut einer Illusion, um den Verstand der beiden Gegner vor der rohen und wahnsinnsträchtigen Schönheit des Gewebs zu schützen. Und Kakre war unterlegen. Obwohl in der Welt außerhalb des Gewebs, wo die Zeit von der Sonne und den Mondschwestern beherrscht wurde, noch kaum ein Herzschlag verstrichen war, hatte die Schlacht der beiden Gegner bereits eine Vielzahl von Verlagerungen und Entwicklungen durchlaufen wie ein Feldzug, der in unvorstellbarer Geschwindigkeit ausgeführt wurde. Kakre war gerissen und erfahren; das Erlangen der Herrschaft über die Feyakori hatte ihn einige Dinge gelehrt, die Fahrekh erst noch ergründen musste. Doch ihm unterliefen Fehler. Kleine Fehltritte, winzige leere Stellen in seinem Verstand, die einst instinktives Handeln ausgefüllt hätte, dunkle Wölkchen der Vergesslichkeit, die durch seine Gedankenwelt trieben und ihm die Aufmerksamkeit raubten. Fahrekh war jung und loderte vor Tatkraft; sein Schwung wog seinen vergleichsweisen Mangel an Gewandtheit auf. Kakres Schwärm verlor an Boden, wurde zerfranst. In seiner Verteidigung rissen schneller Löcher auf, als er sie zu vernähen vermochte. 278 Und Kakre war erschöpft. Sein echter Körper aus Fleisch und Blut wurde durch die Belastung der Schlacht in Stücke gerissen. Er konnte spüren, wie sein Kreislauf durch die Mühe, ihn mit der Kraft zum Kämpfen zu versorgen, auseinander fiel, und schon bald würde nichts mehr übrig sein, um ihn zu stützen. Fahrekh, der selbst dann ein schwieriger Gegner gewesen wäre, wenn sie unter gleichen Voraussetzungen gekämpft hätten, hatte ihn an einem Tiefststand erreicht. Kakre konnte nicht gewinnen; er zögerte lediglich das Unvermeidliche hinaus. Nun, wenn dem so war, dann sollte es so sein. Kakre würde niemals aufgeben. Er würde bis zum letzten Atemzug kämpfen. Dieser Augenblick des Trotzes war der letzte Gedanke, den er fasste, bevor Fahrekh ihn vollends überlistete. Ein Feind hatte hinter einem geknoteten Ball aus falschen Fährten Kräfte gesammelt, die nun unvermittelt dahinter
hervorschossen, Kakres Schwärm umhüllten wie eine Hand, die sich zu einer Faust schließt. Wohl wissend, dass seine Krieger verloren waren, gab Kakre sie auf und begann, einen neuen Schwärm zu erschaffen; doch er hatte den Fischen keine Kraft zu verleihen, weshalb sie siech und träge waren. Fahrekhs beutegierige Horde fegte sie beiseite und stürzte auf Kakres ungeschützten Rochen zu, um ihn zu zerfetzen. Und in jenem Augenblick tauchte der Gewebwal auf. Aus dem Nichts brach er hervor, füllte die schwarze Unendlichkeit, überwältigte die beiden Gegner durch seine schieren Ausmaße. Die Wucht seiner Ankunft hallte gleich einer Explosion durch das Geweb, verstreute Fahrekhs Schwärm in alle Richtungen, beutelte sie mit einer mächtigen Erschütterungswelle. Fahrekh gelang es, seinen Zusammenhalt zu bewahren, doch Kakres zerfranste, verlor den Halt im Geweb, schwand zurück in seinen echten Körper. Es war blanke, blindwütige Rage, die ihn rettete. Als er in die 279 Welt der menschlichen Sinne zurückgeschleudert wurde, gab es keine Verwirrung, kein Zaudern, kein bewusstes Denken. Ein gellender Schrei entrang sich seiner Kehle, und auf einer Woge des Zorns stürzte er sich auf Fahrekh, zog sein Häutungsmesser aus dem Gürtel. Fahrekh, der noch im Bann des Gewebwals stand, war zu langsam, um sich zu wehren. Kakre trieb die Klinge unter die Metallmaske, rammte sie tief in das weiche Fleisch unter dem Kinn, durch den Gaumen und hinauf ins Vorderhirn. Die Kraft des Angriffs riss Fahrekh von den Beinen, ließ ihn unter einer aufwallenden Staubwolke auf den Boden sacken. Kakre landete auf ihm, stieß nach wie vor brüllend das Messer wieder und wieder in Fahrekhs Kehle und Brust, schleuderte Blutspritzer in die Luft, hackte Fleisch in feuchte Streifen. Schließlich fetzte er in einer letzten, angewiderten Bewegung die Maske von Fahrekhs Gesicht und vergrub das Messer bis zum Heft in dessen Auge; danach war es vorbei. Mit von Blut durchnässter Flickenrobe glitt er vom Leichnam seines Feindes und blieb eine Weile auf dem Boden liegen; das einzige Geräusch war das heftige Rasseln seines Atems, das sich immer mehr verlangsamte, bis er einschlief. 280 Siebzehn Im Wald von Xu gab es ein Dorf. Zumindest hatten sie beim ersten Anblick angenommen, dass es sich um ein Dorf handelte. Als an ihrem zweiten Tag im Wald die Abenddämmerung hereinbrach, waren sie immer noch nicht ganz sicher, was es tatsächlich war. Es erschien ihrer Erfahrung so völlig fremdartig, dass sie keine angemessenen Vergleiche ziehen konnten. Es war ohne offenkundige Grenzen um die bestehenden Bäume herum errichtet worden, erstreckte sich die Stämme hinauf bis in das Blätterdach und breitete sich am Boden auf seltsam organische Weise aus. Die Bauten bestanden aus einer glitzernden Masse, hart wie Fels und glatt zu berühren, überwiegend in frostigem Blauweiß, manchmal aber mit braunen oder grünen Einschlüssen. Das Material schillerte leicht perlmuttartig, war nicht ganz durchscheinend, sondern mehr eine chamäleonartige Nachahmung von Farben: Je nachdem, von wo aus man es betrachtete, schien es den Farbton dem jeweiligen Hintergrund anzupassen. Als Kaiku eine Hand darauf legte, hinterließ sie einen verschwommenen rosa Abdruck, der nach einer Weile verblasste. Insbesondere Tsata zeigte sich gefesselt davon, wie dieses eigenartige Dorf angelegt worden war, und er war es auch, der den Schlüssel entdeckte und das Geheimnis zumindest teilweise lüftete. Die Masse war Pflanzensaft, der aus den Bäumen geblutet und durch eine unbekannte Kunst in eine Vielzahl von Formen gebracht worden war. Jedes Gebilde war, ganz gleich wie weit entfernt, letztlich an irgendeiner Stelle mit einem Baumstamm verbunden, wenngleich keinerlei Anzei281 chen darauf schließen ließen, dass irgendwo etwas behauen oder zurechtgestutzt worden war. Nachdem sie dies festgestellt hatten, waren sie in der Lage, einen gewissen Fluss der Bauform zu erkennen, eine Art Gletscherzunge, um die herum Auswüchse mit erlesener Kunstfertigkeit geformt worden waren. Kaiku beschlich das unbehagliche Gefühl, das Dorf wäre immer noch im Wachsen begriffen; und tatsächlich stieß sie auf Kanäle, in denen noch flüssiger Saft schillerte, der mit unendlicher Zähigkeit auf die Spitzen und Kanten der bestehenden Bauten zusickerte. Sie vermutete, dass auch diese Teile mit der Zeit geformt und härten würden, um einen weiteren Auswuchs zu bilden. Das Dorf war ein Schauplatz Schwindel erregender Mannigfaltigkeit. Breite, in den Baumrinden vergrabene Scheiben waren in unregelmäßigen Mustern angeordnet, wurden größer, wenn sie anstiegen, andernorts kleiner. Dornige, zweigartige Gebilde ragten in die Luft. Hauchdünne Fäden durchsetzten die Äste oder bildeten gewundene, ungestützte Brücken, die den Gesetzen der Schwerkraft trotzten. Einige der Behausungen erinnerten an unebenmäßige Pagoden, andere glatten, halbkreisförmigen Kuppeln, wieder andere schartigen explosionsartigen Formen aus buntem Harz. Viele wiesen keine erkennbaren Zugänge auf. Manche befanden sich in den Bäumen. Dazwischen erstreckten sich wie Blutbahnen Tunnel, die zu kleineren Verästelungen ausbrachen oder sich ins Nichts verjüngten. In verschiedenen Teilen des Dorfes zeichneten sich unterschiedliche Baustile ab, die allmählich ineinander übergingen, während das Auge den Linien der Behausungen folgte. Einige waren wie Korallen geformt, mächtige Ansammlungen von Harz, die sich zu diversen Anordnungen und Farben verzweigten und überlagerten; andere waren dünn und nadelartig, weiße Stalagmitengrüppchen, die hoch aufragten; wieder andere
wirkten wie bauschige Wölkchen, gerundete, 282 gleich einem Haufen Schneebällen aneinander gedrängte Formen. Kaiku, Asara und Tsata waren die ersten, die es zu Gesicht bekamen, und erst danach wies Tsata darauf hin, dass sie es wahrscheinlich als die ersten Menschen überhaupt sahen. Diese Vorstellung vermittelte Kaiku ein Gefühl der Benommenheit. Sie mussten davon ausgehen, dass es von den Emyrynn errichtet worden war, doch der einzige Hinweis darauf war der Umstand, dass die Kreaturen sie hierher geführt hatten. Sobald Kaiku und ihre Gefährten eingetroffen waren, verschwanden die Emyrynn. Bei näherer Erkundung war kein Anzeichen von Leben an diesem Ort zu entdecken, ebenso wenig ein Hinweis darauf, dass je jemand in diesen außergewöhnlichen Behausungen geweilt hatte. Oder die Bewohner hatten den Ort bei ihrem Herannahen aufgegeben, alles mitgenommen und ihn übernatürlich makellos zurückgelassen. Tsata kehrte um und führte den Rest der Gruppe zu dem Dorf. Lucia schien die Geisttiere für vertrauenswürdig zu halten, und der Rest der Gruppe hatte keine andere Wahl, als sich auf ihr Wort zu verlassen. Wurde ihnen dieser Ort als Zuflucht angeboten, damit ihre Verwundeten sich ausruhen konnten? War es möglich, dass diese Geschöpfe ihnen wohlwollend statt feindselig gesonnen waren? Obwohl viele der Reisenden eine Falle vermuteten, zumal Geister für ihre Hinterlist berüchtigt waren, ließen sie sich für die Nacht nieder. Die beunruhigend fremdartige Umgebung wirkte durch die gespenstische Stille und das schwindende Licht noch unheimlicher. Doja bestand darauf, dass sie unter freiem Himmel lagerten und nicht in einem der Harzbauten schliefen. Seine Männer fügten sich dem nur allzu gern. In jener Nacht durchdrang Neryn das Gewirr der Zweige mit einem beschwichtigenden grünen Licht. Aurus stand tief am nördlichen Himmel, war nur durch ihren Schimmer an 283 den Rändern der Blätter zu erkennen. Von dem eigenartigen Baustil ringsum abgelenkt, wanderte Kaiku inmitten des unablässigen Gemurmels der Soldaten durch das Lager. Die Männer bedachten sie mit unfreundlichen Blicken. Sie war allein und durchaus zufrieden damit. Lucia schlief; auch Phaeca, die darüber geklagt hatte, dass sie sich unwohl fühlte, hatte sich zurückgezogen; Tsata und Heth pflegten ihre kranke Kameradin und wollten nicht von ihrer Seite weichen. Früher an jenem Abend hatte Kaiku Asara erblickt, die an der Seite einer der Behausungen der Emyrynn lehnte und sie beobachtete, während sie geistesabwesend ihre Büchse reinigte. Kaiku, die ihres Gebarens plötzlich überdrüssig wurde, war zu ihr hinübergegangen, um diese Angelegenheit zwischen ihnen aus der Welt zu schaffen; doch Asara hatte die Büchse gepackt und war verschwunden, bevor Kaiku bei ihr eintraf. Offenbar wollte sie sich zu jenem Zeitpunkt nicht unterhalten. Doch nun tauchte sie unvermittelt an Kaikus Seite auf. »Ich will mit dir reden«, murmelte sie. »Und ich mit dir«, gab Kaiku zurück. »Nicht hier«, meinte Asara. »Komm mit.« Kaiku folgte Asara, die sie vom Lager fortführte. Sie entfernten sich ein Stück, bis sie sicher waren, allein zu sein, dann hielt Asara an. Eine Weile drehte sie sich nicht um; ihre Schultern wirkten vor unterdrückten Gefühlen angespannt. Dann schien sie eine Entscheidung zu treffen und wandte sich Kaiku zu. Kaiku musterte sie erwartungsvoll. Die mandelförmigen, blassgrün verzierten Augen, die dunkle Haut, die schmerzlich exotische Schönheit, all das gehörte einer Fremden, dennoch steckte darunter Asara; die wundervolle, hinterhältige Asara, die Kaiku in gleichem Maße geliebt und gehasst hatte. Die Frau, die ihr Leben geschenkt, ein Stück von Kaikus Wesen geraubt und ein Stück des ihren hinterlassen hatte, winzige 284 Splitter des Begehrens, die sich in ihren Herzen eingenistet hatten und sich nie ganz lösten. Jeder wollte, was der andere besaß: jenen Bruchteil seiner selbst, der bei dem Austausch verloren gegangen war. Weil Asara so unsicher schien, war es schließlich Kaiku, die das Wort ergriff. »Was schulde ich dir, Asara?«, fragte sie. »Was soll ich für dich tun, um das Ungleichgewicht zwischen uns wettzumachen ? « »Also gibst du zu, dass du mir etwas schuldest?«, hakte Asara sogleich ein. »Ja, ich schulde dir etwas«, bestätigte Kaiku. »Aber schulde ich dir auch genug, um das zu tun, was du verlangst? Ich will mir anhören, was du zu sagen hast, bevor ich eine Entscheidung treffe.« »Na schön.« Immer noch schien Asara argwöhnisch. »Aber erst musst du mir schwören, dass du niemandem gegenüber je wiederholen wirst, worum ich dich bitten muss. Niemandem gegenüber. Egal ob du einwilligst oder nicht.« »Ich schwöre es dir«, sagte Kaiku, denn sie wusste, dass Asara andernfalls nicht fortfahren würde, und sie wollte diese Angelegenheit endlich bereinigen. Eindringlich musterte Asara sie mit funkelnden Augen in der Düsternis. Überlegte, ob sie ihr vertrauen konnte. »Asara«, herrschte Kaiku sie ungeduldig an. »Du bist mir so weit gefolgt. Mach dir jetzt bloß nicht selbst vor, dass du eine Wahl hättest; die hast du bereits vor einiger Zeit getroffen. Du bist mir zu lange auf Schritt und Tritt gefolgt. Was willst du?« »Ich will ein Kind«, zischte Asara. Schweigen bereitete sich zwischen ihnen aus. Von der Mühe geschwächt, die sie das Eingeständnis gekostet
hatte, wankte Asara einen Schritt zurück. Kaiku starrte sie an. »Ich will ein Kind«, wiederholte sie, diesmal leiser. »Aber ich kann keine Kinder gebären.« 285 »Warum nicht?«, fragte Kaiku leicht benommen. Dies war ihr geheimes Sehnen? »Ich weiß nicht warum«, antwortete Asara. »Ich kann ... mich zwar verändern, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Ich kann die Gestalten von Männern und Frauen annehmen, nicht jedoch die von Vögeln oder sonstigen Tieren. Ich kann meine Haut und meine Form verändern, aber mir sind Grenzen gesetzt. Was ich tue, erfolgt instinktiv. Ich weiß nicht, wie es geschieht. Ich kann nicht in mich hineinschauen. Ich kann mich nicht selbst ausbessern.« Da ergab es Sinn für Kaiku. »Du willst, dass ich dich fruchtbar mache.« »Du kannst das!«, rief Asara aus, und in ihrer Stimme schwang blankes Verlangen mit. »Ich habe von den Leistungen gehört, die zu vollbringen du und deinesgleichen imstande seid. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Ordensschwestern Menschen von der Schwelle des Todes zurückgeholt, sie mit bloßen Händen geheilt haben. Erst vor Stunden habe ich beobachtet, wie du diese Tkiurathi-Frau gerettet hast! Du besitzt die Macht zu beheben, was mit mir nicht stimmt.« »Vielleicht«, sagte Kaiku. »Vielleicht}«, rief Asara aufgebracht. »Ich bin keine Göttin, Asara«, erinnerte Kaiku sie. »Ich kann nicht erschaffen, was nicht vorhanden ist. Ich habe keine Ahnung, welche Veränderungen die Ausgebürtigkeit in dir bewirkt hat. Was, wenn du gar keinen Mutterleib besitzt? Ich kann dir keinen geben.« »Dann schau nach! Sieh in mich hinein! Du kannst es mir sagen!« Mittlerweile zeigte Asara sich unverhohlen verzweifelt; sie hatte ihre Hoffnungen so lange aufgetürmt, dass die Möglichkeit, sie könnten sich in Schall und Rauch auflösen, einfach zu viel für sie war. So lange war sie einsam und leer gewesen; stets ausgestoßen, von jeher unfähig, den Hohlraum zu füllen, der in ihr klaffte. Es gab unter den Ausgeburten nie286 manden sonst, der wie sie war. In den gesamten neunzig Ernten, die sie auf dieser Welt bereits erlebt hatte, war sie nie auf einen Artgenossen gestoßen. Und es schien in der Tat eine maßlos grausame Laune Shintus, ihr Alterslosigkeit zu schenken und zugleich der Macht zu berauben, sich fortzupflanzen. Dennoch hatte Kaiku die Stirn in Falten gelegt. »Ich muss darüber nachdenken, Asara.« »Du schuldestes mir«, spie Asara ihr entgegen, deren Furcht in Zorn umschlug. »Ich habe dir einst ein Leben gegeben; jetzt wirst du mir eines geben!« »Und was würdest du damit anfangen, Asara?«, fragte Kaiku. Das Haar hing ihr über ein Auge, doch mit dem anderen betrachtete sie Asara mit stetem Blick. »Was würde ich entfesseln, wenn ich mehr Kreaturen wie dich auf der Welt zuließe?« »Es ist das Recht jeder Frau! Mir wurde es verweigert!« »Bist du überhaupt eine Frau?«, bohrte Kaiku nach. »Warst du zu Anfang eine? Das frage ich mich denn doch.« Mittlerweile hatte sie in jenen Tonfall gewechselt, dessen sie sich bediente, wenn sie die Bemalung der Schwesternschaft trug: streng, gebieterisch. »Vielleicht hatten die Götter einen Grund, es dir zu verweigern. Vielleicht ist eine deiner Art genug.« »Fäll du bloß keine moralischen Urteile über mich!«, tobte Asara. »Nicht wenn du und dein gepriesener Roter Orden Ränke schmiedet, um den Thron zu erlangen. Dein Gewissen ist alles andere als rein, Kaiku. Frag doch mal Cailin, weshalb sie zugelassen hat, dass die Weber das Reich erobern. Frag sie, ob es wirklich das Opfer hunderttausender Leben wert war, nur damit der Rote Orden zu Macht aufsteigen konnte!« Kaiku hielt ihrem Blick ungerührt stand. »Womöglich mache ich das«, meinte sie, wandte sich um und ging davon. Sie spürte Asaras hasserfülltes Glaren in ihrem Nacken pri287 ekeln, und halb rechnete sie mit einem ungestümen Angriff aus blanker Wut; doch Asara ließ sie ziehen. Kaiku ließ sich von der Stille des Waldes umfangen, die nur von dem unheilvollen Klicken und Klopfen in der Ferne durchbrochen wurde. Nachdem ihr Verstand sich beruhigt hatte, begann sie, darüber nachzudenken, was Asara gesagt hatte. Die Gruppe verbrachte eine unbehagliche Nacht im Dorf der Emyrynn, aber zumindest waren bei Tagesanbruch noch alle da. Jedoch erwachte keiner von ihnen in gutem Zustand. Grauenhafte Träume hatten sie heimgesucht, und in den frühesten Augenblicken des Tages war so mancher Aufschrei ertönt. Die meisten gaben den Versuch, wieder einzuschlafen, auf, weil sie sich zu sehr davor fürchteten, was unter der dünnen Schale des Unterbewusstseins lauerte. Diejenigen, die beharrlich blieben, fielen in einen Schlummer, je ein paar Minuten lang, bevor sie in schlimmerem Zustand als zuvor wieder erwachten. Die Stimmung innerhalb der Gruppe war gereizt. Ihr Groll galt dem Wald und den Geistern, doch da sie somit keine Ziele dafür hatten, fauchten sie sich untereinander an. Die Lage verschlimmerte sich, als kurz darauf klar wurde, dass sie an jenem Tagen nirgendwohin marschieren würden. Zwar ging es Peithre etwas besser, dafür war Phaeca krank geworden. Kaiku sprach mit Doja, der einräumte, dass es tollkühn wäre, mit einer darnieder liegenden Schwester und einer, die fest entschlossen war zu bleiben, die Weiterreise anzutreten. Er teilte seinen Männern die Neuigkeit mit, die er versüßte, indem er
daraufhinwies, dass sie seiner Ansicht nach im Dorf der Emyrynn vor dem Wald in Sicherheit waren. Die Soldaten nahmen ihr Los mit gleichmütigen Mienen zur Kenntnis, wenngleich später Unstimmigkeit zwischen 288 ihnen ausbrechen sollte. Die Geister waren schon schlimm genug, aber nun machte ihnen zudem die Schlaflosigkeit zu schaffen. Diesem Ort haftete etwas an, das den Verstand vergiftete, und sie wollten keinen Augenblick länger als nötig ausharren. Kaiku wusste, wie sie sich fühlten. Niemand vermochte zu sagen, wie lange sie noch brauchen würden, um zum Xhi-ang Xhi zu gelangen, und jeder Tag, den sie hier verbrachten, war ein verlorener Tag. Sie suchte Phaeca auf. Dojas Wünschen zum Trotz war Phaeca aus ihrem Zelt in eine der Behausungen der Emyrynn gesiedelt, wo sie ihre Schlafmatte ausgerollt hatte. In dem unregelmäßig geformten Raum, dem der gekrümmte Stamm eines Baumes als Wand diente, war es warm und eigenartig rein. Aus Teilen des Bodens und der Decke ragten Vorsprünge aus Harz, die Skulpturen darstellen oder für einen Zweck vorgesehen sein mochten. Ein schmaler Tunnel, zu klein für alles, das größer als eine Maus war, öffnete sich in den Raum. Soweit Kaiku es beurteilen konnte, erstreckte er sich den gesamten Baum hinauf, bis er sich im oberen Geäst verlor, doch wozu er dienen mochte, konnte sie sich nicht vorstellen. Was Phaeca von sich gab, war überwiegend wirres Zeug. Sie stammelte wie in einem Fieberwahn vor sich hin, doch sie hatte keine erhöhte Temperatur, und sie war zwar unruhig, aber keineswegs blass. Als Kaiku ihr die Hand auf die Wange legte, schlug Phaeca sie weg und murmelte unfreundliche Dinge über sie, als wäre sie nicht anwesend. Zutiefst besorgt kniete Kaiku eine Weile bei ihr. Eine Heilung war unmöglich: Phaeca kannte Möglichkeiten der Verteidigung, um andere draußen zu halten, selbst andere Ordensschwestern. Zudem fürchtete Kaiku, je eingehender sie ihre Gefährtin musterte, dass ihr Gebrechen kein körperliches war. Phaecas Schreie waren in der vergangenen Nacht die lautesten gewesen. So wie Lucia wurde sie vom Wald regelrecht geprügelt, und Kaiku ver289 mochte nicht zu sagen, wie lange ihre geistige Gesundheit dem standhalten würde. Bei den Göttern, warum haben wir diesen verfluchten Ort bloß je betreten 1, dachte sie, doch sie kannte die Antwort darauf bereits. Sie waren hergekommen, weil es ihre letzte Hoffnung darstellte. An jenem Tag erspähte sie ein paar Mal Emyrynn, die in der Ferne zwischen den Bäumen umherflitzten. Jedes Mal starrte sie hinaus in die blauen und grünen Gefilde des Waldes und grübelte über das Wesen ihrer sonderbaren Gastgeber nach. Auch Peithre, die noch sehr schwach, aber bei Bewusstsein war, stattete sie einen Besuch ab, und sie unterhielt sich eine Zeit lang mit Tsata. Aber etwas an ihm erschien ihr merkwürdig; seinem Gebaren haftete etwas an, das sie nicht zu ergründen vermochte, und schließlich gab sie den Versuch auf und ließ ihn zufrieden. Die Stimmung im Lager bedrückte sie. Um Muße zum Nachdenken zu finden, begann sie, durch das Dorf zu wandern. Die Verantwortung, die Asara ihr aufbürden wollte, wog schwer. Zumindest wusste sie nun, weshalb Asara ihr in den Wald gefolgt war: Sie wollte ihre Außenstände beschützen. Aber selbst wenn Kaiku dazu in der Lage wäre, es zu tun, lautete die Frage: Sollte sie es tun? Wagte sie es, einem solchen Geschöpf zu ermöglichen, dass es sich vermehrte? In Kaikus Augen war das nicht dasselbe, als wenn sie ersucht würde, Asara davon abzuhalten, Kinder zu bekommen. Dazu hätte sie sich niemals bereiterklärt. Ihr hingegen die Fähigkeit zu gewähren, sich fortzupflanzen, war etwas völlig anderes. Das war eine Tat statt Untätigkeit: Jede Handlung ihrer Nachkommenschaft, jede Folge wäre letztlich durch Kaiku verursacht. Was, wenn all ihre Sprösslinge Asaras Eigenschaften erbten? Was, wenn sie so verräterisch wie ihre Mutter würden ? Wie sollten sie sich überhaupt anders entwickeln? Bei den Göttern, sie würde aus Asara die Urahnin einer neuen Rasse machen. 290 Einer Rasse von Wesen, die jedes beliebige Gesicht, jede menschliche Form annehmen konnten; die vollkommenen Spitzel, todbringende Nachahmer mit unschätzbarer Lebenserwartung. Allein die Schwestern vom Roten Orden wären in der Lage, ihre Masken zu durchschauen. Kaiku riss sich zusammen. Vielleicht ging auch nur ihre Vorstellungskraft mit ihr durch. Schließlich war nicht in Stein gemeißelt, dass Asaras Nachkommen ihre Gabe erben würden. Und selbst wenn, gab es keinen Grund, weshalb sie zu den zugleich wunderschönen und schrecklichen Kreaturen heranwachsen sollten, die Kaiku sich ausmalte. Asaras Wesen würde nicht notwendigerweise das ihre werden. Dennoch bestand die Möglichkeit. Das ließ sich nicht verleugnen. Am liebsten hätte sie mit Tsata darüber gesprochen. Es war ärgerlich, ihn so nah zu wissen und doch per Eid daran gebunden zu sein, nicht darüber zu reden. Kaiku bewunderte sowohl seinen messerscharfen Verstand als auch seine Aufrichtigkeit. Er wäre in der Lage gewesen, die Knoten zu entwirren. Er hätte ihr gesagt, dass Tat und Tatenlosigkeit in diesem Fall dasselbe wären. Er hätte sich durch das Dickicht der Täuschungen gehackt, das sie für sich selbst geflochten hatte, die zweischneidigen Normen, die Nebelwände der Etikette und des Glaubens. Er hätte ihr klipp und klar gesagt, dass der eigentliche Grund, weshalb sie darüber nachgrübelte, darin bestand, dass sie nicht die Verantwortung dafür tragen wollte, diese Wahl treffen zu müssen. All das wusste sie; dennoch machte es die Entscheidung nicht einfacher.
Die Nacht stahl sich wieder über das Land, und diesmal gingen keine Mondschwestern auf, um sie aufzulockern. Die Soldaten fürchteten die Dunkelheit mittlerweile. Die 291 Aussicht auf Schlaf war schlimmer als die Erschöpfung, die es verhieß, wach zu bleiben, und viele hatten zu viel Angst, um es überhaupt zu versuchen; dennoch wurden sie immer wieder von der eigenen Müdigkeit in die Bewusstlosigkeit gezogen. Wachen schliefen auf ihren Posten ein; Köpfe baumelten, und ihre Besitzer ruckten mit einem Schrei auf den Lippen hoch, als die Albträume begierig über sie herfielen. Der Wald war ein Ort, der die Männer und Frauen ohnehin schon hinters Licht führte, doch ob des Schlafmangels sahen sie ohne Unterlass Bewegungen und flüchtige Trugbilder. »Wir müssen morgen aufbrechen«, hatte Doja zu Kaiku gesagt. »Die anderen ertragen das nicht länger. Falls nötig tragen wir Phaeca und die Tkiurathi-Frau.« Kaiku hatte ihm zwar nicht widersprochen, trotzdem war sie zögerlich gewesen. Letzten Endes willigte sie ein, dass sie Trafen zusammenschustern und sich wieder auf den Weg machen könnten, wenn Peithres Zustand sich über Nacht ausreichend verbesserte, um sie zu befördern. Auch Kaiku war besorgt über den Gemütszustand der Gruppe. Durch den eigenen, von ihrem Kana gepflegten Stoffwechsel war sie weit weniger erschöpft als die anderen, doch sie fürchtete ebenfalls, dass demnächst Unfälle auftreten würden, wenn sie der augenblicklichen Lage noch länger ausgesetzt blieben. In diesem Lager gab es viel zu viele Büchsen und zappelige Abzugsfinger. Wenigstens ein Hoffnungsschimmer leuchtete zwischen all dem auf: Kurz nachdem das letzte Licht der Abenddämmerung vom Himmel geflüchtet war, erreichte Kaiku die Kunde, dass Lucia wach und klar sei. Kaiku eilte zu ihr und traf sie vor ihrem Zelt an. Sie schenkte Kaiku ein flüchtiges Lächeln und lud sie zu einem Spaziergang ein. Zwischen den Perlmuttwundern der Emyrynn entfernten sie sich ein Stück vom Lager, und Kaiku stellte erleichtert fest, dass Lucia tatsächlich bei klarem Verstand und aufmerksam war. »Es ist nicht mehr weit zum Xhiang Xhi«, sagte Lucia. 292 »Tatsächlich?«, fragte Kaiku überrascht. »Wir können aber noch nicht besonders weit in den Wald vorgedrungen sein.« Lucia warf ihr einen belustigten Blick zu. »Dies ist ein Ort der Geister«, erklärte sie. »Wir könnten ewig wandern und nie die andere Seite erreichen oder binnen einer Stunde dort hervorbrechen. Entfernung ist hier ein flüssiger Begriff. Denkst du etwa, es war ein Zufall, dass dieses Dorf so nah an der Stelle liegt, an der Peithre vergiftet wurde? War das in einem Wald dieser Größe nicht außerordentlich günstig?« »Der Gedanke war mir auch schon gekommen«, gestand Kaiku. »Wenn der Xhiang Xhi nicht gefunden werden wollte, würden wir ihn nie finden«, fuhr Lucia fort. »Aber er will, dass wir zu ihm gelangen.« »Warum erscheint er dann nicht einfach? Warum bürdet er uns all das auf?« »Ich weiß es nicht. Die Wege der Geister sind sonderbar. Vielleicht stellt er uns auf die Probe. Vielleicht ist er meinetwegen neugierig und möchte mich erst beobachten.« Die Vorstellung gefiel Kaiku ganz und gar nicht. »Du könntest immer noch umkehren, Lucia«, sagte sie. »Es ist noch nicht zu spät dafür.« Lucia sah sie mit kummervoller Miene an. »O doch, das ist es. Viel zu spät.« Sie schaute weg, starrte aus dem Dorf zu den Bäumen. »Außerdem würden wir nie aus dem Wald gelangen, wenn wir jetzt umkehrten. Der Xhiang Xhi will mich sehen. Ich glaube, er ist tatsächlich neugierig. Andernfalls hätten wir nicht einmal so lange überlebt.« »Wenn er dich sehen will, weshalb lässt er dann zu, dass wir zu Schaden kommen?«, fragte Kaiku, ohne eine Antwort zu erwarten. Lucia lieferte dennoch eine. »Er will mich sehen«, gab sie zurück. »Den Rest der Gruppe betrachtet er wohl als entbehrlich.« 293 Kaiku spürte, wie ihr langsam ein eiskalter Schauder über den Rücken kroch. Lucia drehte sich so plötzlich um, dass Kaiku stehen blieb. Die jüngere Frau betrachtete sie mit einer ungekannten Entschlossenheit in den Augen. »Lucia, was ist denn?« »Es gibt Dinge, die muss ich dir sagen«, antwortete sie. »Falls ich nie wieder die Gelegenheit erhalte, sie auszusprechen.« Kaiku runzelte die Stirn. »Red nicht so daher.« »Ich meine es ernst, Kaiku«, beharrte Lucia. »Ich weiß nicht, ob ich je wieder so klar bei Sinnen sein werde.« »Selbstverständlich wirst du das sein!«, begehrte Kaiku auf. »Sobald wir diesen Wald verlassen, wirst du -« »Hör mir gefälligst zu!«, herrschte Lucia sie an. Kaiku verstummte vor Schreck. Lucia wurde wieder milde. »Verzeih mir. Lass mich reden. Das ist alles, worum ich dich bitte.« Kaiku nickte. »Ich will dir danken. Mehr nicht. Dir und Mishani. Ich will, dass ihr wisst... ich weiß alles zu schätzen, was ihr je für mich getan habt. Dass ihr wie Schwestern für mich wart. Und dass ihr immer, immer auf meiner Seite wart. Wenn all das vorüber ist, werde ich ...« Der Satz blieb unvollendet. »Ich wollte nur, dass ihr es wisst. Meine
Liebe gehört euch, und so wird es immer sein.« Kaiku spürte Tränen aufwallen und zog Lucia in eine Umarmung. »Beim Blut des Herzens, so hört sich das ja wie ein Abschied an. Lucia, wir stehen das gemeinsam durch. Du wirst es Mishani selbst sagen können.« Lucia drückte sie fester. »Ich werde dich beschützen, und wenn es mich das Leben kostet.« »Es gibt Dinge, vor denen kannst selbst du mich nicht! beschützen«, flüsterte Lucia. Dann schaute sie über Kaikus Schulter hinweg auf, und etwas an ihrer Körpersprache verriet 294 Kaiku, dass jemand da war. Sie drehte sich um, und vor ihr stand Heth. »Ist Tsata bei euch?«, fragte er ohne Entschuldigung oder einleitende Worte. Sein Tonfall erstickte die scharfe Antwort, die Kaiku geben wollte. »Ich habe ihn nicht gesehen«, gab sie stattdessen zurück. »Aber er ist los, um dir nachzugehen«, erklärte Heth verwirrt, während er mit den fremdartigen saramyrrischen Silben rang. »In den Wald.« »Ich habe das Dorf nicht verlassen«, entgegnete Kaiku. »Er hat dich weggehen gesehen«, beharrte Heth. »Ich war bei ihm. Ich habe dich nicht gesehen, aber er. Er meinte, er muss mit dir reden.« Eine dunkle Ahnung kroch Kaiku ins Mark. »Wann war das?« »Vor ein paar Minuten. Peithre geht es schlechter; ich bin gekommen, um ihn zu holen.« Kaiku schaute zu Lucia. »Vor drei Nächten, als ich in den Bäumen von dem Geist angegriffen wurde ... da habe ich gesehen, wie du in den Wald gegangen bist, und ich bin dir gefolgt.« Lucia wirkte verdutzt. »In der Nacht habe ich mein Zelt nicht verlassen. Ich habe geschlafen, und vor dem Zelt waren Wachen.« »Bei den Göttern!«, zischte Kaiku. »Geh zurück ins Lager! Heth , zeig mir, wohin er aufgebrochen ist.« Heth gehorchte ohne Zögern, während Lucia erschrocken davoneilte. Kaiku folgte dem Tkiurathi ein kurzes Stück, bis er anhielt und ihr die Richtung deutete. »Da lang.« Kaikus Netzhäute färbten sich blutrot. Selbst wenn sie die Gabe besessen hätte, Spuren zu lesen, hätte sie der Fährte eines Tkiurathi mit herkömmlichen Mitteln nie und nimmer zu folgen vermocht; aber im Geweb konnte sie ihm sehr wohl 295 nachspüren. Sie sah seine Duftfährte, den leichten Aufruhr der Luft in seinem Gefolge, die Erinnerung seines Atems, den Widerhall seines Herzschlags. »Kümmere dich um Peithre«, murmelte sie. »Hier kannst j du mir jetzt nicht helfen.« Und damit tauchte sie in den Wald. Der sie gierig verschluckte. Herabhängende Ranken und Triebe blauer Pflanzen bürsteten im Rennen über sie. Der Untergrund war tückisch, ein Gewirr aus Wurzeln und glitzernden Steinen; bald stieg er an, bald fiel ab, bald hing er schräg, wodurch ihre Geschwindigkeit halsbrecherisch wurde. Doch Kaiku las den Boden so wie die Luft, sah seine Beschaffenheit durch die Fäden des Gewebs voraus und lief mit sicheren Schritten. Unterwegs verfluchte sie sich selbst. Hätte sie Lucia bloß etwas mehr bedrängt, hätte sie nur daran gedacht, dem Vorfall, als sie Lucia das Lager verlassen sah, auf den Grund zu gehen. Aber Lucia war unerreichbar, ihr Verstand irgendwo I gewesen, und Kaiku hatte keinen weiteren Aufruhr unter den Soldaten stiften wollen, bevor sie die Geschichte von Lucias I Lippen gehört hatte. Nun wusste sie, dass es keine Geschichte zu erzählen gab. Lucia war nirgendwohin gegangen. Was immer Kaiku in jener Nacht gefolgt war, es war nicht Lucia gewesen. Und Tsata war auf dieselbe Hinterlist hereingefallen. Wenn er wegen ihrer Dummheit stürbe ... Kaiku war von einer abgrundtiefen Angst erfüllt. Nicht um 1 sich selbst, sondern wegen der unvollständigen Hälfte jenes Gedankens. Sie fürchtete die Leere, die Tsatas Ableben hinterlassen würde. Kaiku war so meisterlich darin geworden, ihr Herz mit einem Panzer zu umgeben, dass ihr nicht bewusst gewesen war, wie sehr sie ihn vermisst hatte, während er fort war, wie glücklich es sie machte, mit ihm zu reden, mit seiner I fremdländischen Denkart zu fechten, ihn einfach in der Nähe 296 zu haben. Erstjetzt erkannte sie es, erst jetzt, da sie dachte, sie könnte ihn wieder verlieren, und diesmal für immer. Sie beschleunigte die Schritte, bis sie rannte, folgte seinem unsichtbaren Pfad; ihre Stiefel rutschten über den Boden, ihre Schultern streiften Bäume, denen sie nicht ganz auszuweichen vermochte. Panik wallte in ihr auf, etwas, das ihr mit Wahnsinn drohte. Sie wagte nicht, sich auszumalen, was geschähe, wenn sie ihn tot sähe, die Augen milchigweiß, das Gesicht eine Landschaft geschwollener Adern wie bei jenem anderen Mann, den sie gefunden hatten. Selbst wenn sie es mit jenem mächtigen Schatten, jenem halb erspähten Ungeheuer aufnehmen müsste, das zuvor sie angegriffen hatte, würde sie nicht davor zurückschrecken. Die Geräusche ihres Laufs hörten sich in der Stille des Waldes laut an, das Peitschen der Blätter gegen ihren Leib, der dumpfe Klang ihrer Stiefel im Dreck. Etwas tuschelte ihr zu, eine Vorahnung, die sie wissen ließ, dass jeder Augenblick kostbar sei. Jeder Lidschlag, den sie zu spät käme, konnte der entscheidende sein, der Unterschied zwischen der Leere, die Tsatas Tod verhieße, und der überschwänglichen Freude, ihn lebend und
wohlbehalten anzutreffen. Während sie sich den Weg durch das goldene Gespinst des Waldes kämpfte, rief sie seinen Namen in der Hoffnung, ihn irgendwie zu warnen, betete, dass er sie hören könnte und es noch nicht zu spät wäre. Dann brach sie durch einen Blätterschleier auf einen winzigen Streifen offenen Geländes, und da war Tsata, sein Umriss eine Million schillernder Fäden, die sich überrascht zu ihr wandten. Und über seiner Schulter erblickte sie etwas, ein schwarzes, verschrobenes Wesen, das in der Welt dort draußen ihre Gestalt angenommen hatte, nicht jedoch im Geweb: einen Geist, der andere nachahmte, seine Opfer dadurch fortlockte, um sie zu töten. Da versagte der Trug der Kreatur, und sie wandte Kaiku die Fratze zu; Kaiku sah darin einen Durch297 gang zu den Geheimnissen des Reichs der Geister, ein Anblick so unvorstellbar unverständlich, dass er den Verstand eines Menschen von innen nach außen kehren und ihn auf der Stelle auslöschen würde. Aber Kaiku war eine Schwester vom Roten Orden und hatte Dinge gesehen, die noch kein Mensch je zu Gesicht bekommen hatte. »Sieh sie nicht an!«, brüllte sie, erfasste Tsatas Kopf und zog ihn herab an ihre Schulter. Den anderen Arm schleuderte sie dem Geist entgegen; ihr Kana schnellte aus ihr hervor und bohrte sich in das Wesen. Es heulte auf, stieß ein unweltliches Kreischen aus, als Kaiku seine Verteidigung zerfledderte, in sein Innerstes vorpreschte und es in Stücke riss. Stille kehrte wieder ein, und zurück blieben nur sie und Tsata. Kaiku wurde schlagartig die Nähe ihrer Körper gewahr. Sie ließ Tsatas Kopflos und hob ihn an, sah die Frage in seinen blassgrünen Augen. Obwohl er nicht verstand, wusste er durch das, was er gehört hatte, dass Kaiku ihn vor etwas gerettet hatte. Immer noch waren ihre Gesichter sich zu nahe: Er hatte sich nicht über jenen Punkt hinaus zurückgezogen, an dem die Nähe noch reichte, um Lippen und Zungen zueinander zu führen. Kurz bebten sie an der Schwelle dessen - dann küsste sie ihn, und er schmiegte sich an sie, schlang die Arme um ihren Rücken. Eine Zeitlang bestand die Welt nur aus diesem Empfinden, dem Takt ihrer einander umspielenden Münder, dem Druck ihrer Berührung. Dann, als die Inbrunst ihrer Küsse nachließ, bis sie bloß noch ein leichtes Streifen der Lippen waren, drängten sich die Gedanken wieder ins Geschehen. Kaiku öffnete die - im Gefolge des Einsatzes ihres Kanas noch blutroten - Augen und sah Tsata, der sie ebenfalls anschaute. Unsicher streifte ihr Blick über ihn, fürchtete den Hieb, der den zerbrechlichen Zustand zerschmettern würde, in dem sie sich wiedergefunden hatten. Sie folgte den Ranken der Tätowierungen auf seinen Wangen, dem Verlauf des orangeblonden, 298 mit Saft gestärkten Haares, der Linie seines Kiefers; und sie sah in ihm den Gegensatz all dessen, was sie in ihrem Leben hasste, all des Lugs, all des Trugs und all der Geheimniskrämerei, die ihre Familie getötet und ihre Welt entzweit hatten. Und dennoch wartete sie furchtsam darauf, dass er den Bann brechen, ihr sagen würde, dass dies nur ein aus der Leidenschaft des Augenblicks entstandener Fehler gewesen sei, dass seine rücksichtslose Ehrlichkeit ihm nicht gestatten würde, dies weiterzuführen, wenn er es nicht mit ganzem Herzen täte. Er schien etwas sagen zu wollen; doch letzten Endes entschied er sich stattdessen, sie zu küssen. Kaiku zog sich einen Hauch zurück; verwirrt hielt er inne. »Peithres Zustand hat sich verschlechtert«, murmelte sie. »Du solltest nach ihr sehen.« Kurz wanderte sein Blick über ihr Gesicht. Dann verschwand er wortlos im Wald und ließ Kaiku allein zurück. Als Nukis Auge am nächsten Morgen himmelwärts kletterte, erreichte sein Licht Mishani, als sie am Ufer des Xemit-Sees saß und hinaus auf das Wasser schaute. Es war ein kaltes Morgengrauen, weshalb sie sich in ein schweres, purpurrotes und goldbesticktes Schultertuch gewickelt hatte. Ihr Haar hatte sich gleich einem Tümpel auf dem Tuch gesammelt, das sie ausgebreitet hatte, damit ihr Saum nicht schmutzig wurde. Sie hatte den Großteil der Nacht hier verbracht, gegrübelt, sich in immer engere Kreise gehetzt, bis nur noch ein Entschluss übrig blieb. Es schien ein unkluger Pfad, den einzuschlagen sie fürchtete, den sie nicht beschreiten wollte; doch tief in ihrem Herzen wusste sie, dass er unausweichlich war, und ihr inneres Aufbegehren war schwach und schwand rasch. Alsbald hörte sie die Schritte sich nähernder Füße auf dem taufeuchten Grashang, der von der Tempelanlage von Araka 299 Jo hier herabführte. Noch bevor er in ihr Gesichtsfeld trat, ahnte sie, dass es Yugi sein würde. »Gruß zum Tage, Mishani«, sagte er. »Darf ich mich zu dir setzen?« »Gruß zum Tage, Yugi. Bitte, nur zu.« Sie rückte ein Stück, um Platz für ihn auf dem Tuch zu schaffen, und er ließ sich schwerfällig neben sie plumpsen. »Hast wohl diese Nacht keinen Schlaf abgekommen, wie?«, fragte er. »Du auch nicht, wie es scheint.« Sie musterte ihn. Er wirkte so zerzaust wie immer, zudem roch er nach AmaxaWurzel. Es war offensichtlich, was ihn wach gehalten hatte. »Allmählich frage ich mich, wie viele Nächte mir noch bleiben«, gestand er. »Schlaf erscheint mir eine solche Vergeudung kostbarer Zeit.« »Das klingt ganz nach einem schnellen Pfad in den Wahnsinn«, meinte Mishani halb ernst. Yugi kratzte sich im Nacken. »Das ganze Land befindet sich im Würgegriff dieses Wahnsinns, Mishani. Wäre
ich wahnsinnig, hätte ich wenigstens die Aussicht, ihn zu verstehen.« Eine Weile blickten sie schweigend über den See, bevor Yugi erneut das Wort ergriff. »Es heißt, deine Mutter wird bald ein weiteres Buch veröffentlichen. Im Gefolge der Auskünfte, die du uns zugespielt hast, spricht Cailin von neuen Plänen«, berichtete er und hustete. »Sie rührt noch immer die Trommel für einen Angriff auf Adderach, sobald Lucia zurückkehrt. Abhängig davon, welche Neuigkeiten aus der jüngsten Geschichte deiner Mutter zutage treten.« »Das ist töricht«, meinte Mishani und seufzte. »Eine Armee würde in jenen Bergen in Stücke gehackt.« »Vielleicht«, räumte Yugi ein. Sie schaute ihn an. Er war unrasiert und abgezehrt. »Du gibst dich der Wurzel zu sehr hin, Yugi«, stellte sie fest. »Einst 300 hattest du sie im Griff; jetzt ist es umgekehrt. Du bist der Anführer vieler Männer und Frauen. Ihre Leben obliegen deiner Verantwortung. Hör mit diesem Schwachsinn auf, bevor du dein Urteilsvermögen einbüßt.« Yugi wirkte überrascht und überlegte anscheinend, ob er an ihrer Äußerung Anstoß nehmen sollte oder nicht. Dann erschlaffte er und sah nur noch erschöpft aus. »Du bist nicht die Erste, die mir das rät. Aber so einfach ist es nicht.« »Vielleicht könnte Cailin dir helfen, die Sucht zu überwinden«, schlug Mishani vor und strich sich das Haar über die Schulter. Yugi stieß ein verächtliches Lachen aus. »Ich bin nicht süchtig, Mishani. Ich habe die Amaxa-Wurzel jahrelang geraucht, und sie hat mich nie in die Klauen bekommen. Die Wurzel ist nur ein Anzeichen für die Ursache.« »Und was ist die Ursache?«, fragte sie. Eine Weile antwortete er nicht, sinnierte, ob er es ihr mitteilen sollte. Mishani zählte nicht zu seinen Vertrauten. Doch sie wartete geduldig, und letztlich zuckte er seufzend mit den Schultern. »Ich war früher ein Bandit«, begann er. »Ich vermute, das weißt du.« »Ich habe es mir aus Dingen zusammengereimt, die Zaelis sagte«, gestand sie. »Hast du auch gewusst, dass ich damals eine Frau hatte?« »Eine Gemahlin?« »Ziemlich nah dran. Wir hatten für so etwas wie Ehe keine Verwendung, außerdem keine Priester.« »Das wusste ich nicht.« Yugi tastete sich noch vor, war bereit, die Unterhaltung beim geringsten Anzeichen von Spott oder Hohn seitens Mishani unverzüglich abzubrechen. Sie gab ihm keinen Anlass. Dies war ihm wichtig, wodurch es auch für sie wichtig wurde, denn immerhin war er der Anführer der Libera Dramach, undjegli301 ches Wissen über seine geistige Verfassung konnte nur von Vorteil sein. »Ihr Name war Keila«, fuhr er fort. Er öffnete den Mund, um mehr zu sagen, vielleicht, um sie Mishani zu beschreiben, vielleicht, um darüber zu reden, was er für sie empfand; doch er überlegte es sich anders. Was Mishani durchaus nachvollziehen konnte. Für die tiefsten Gefühle konnten Worte nur rührselig wirken. »Was ist aus ihr geworden?«, erkundigte sich Mishani. »Sie ist gestorben«, antwortete Yugi und schaute zu Boden. »Wegen dir«, schloss Mishani aus seinem Verhalten. Er nickte. »In unserer besten Zeit hatten wir so an die hundert Mann. Und einen Ruf. Wir galten als die gefürchtetste Banditenbande von Barask bis Tchamaska.« »Und du warst damals ihr Anführer?«, riet Mishani. Abermals nickte Yugi. »Bei den Göttern, ich bin alles andere als stolz auf die Dinge, die ich getan habe. Wir waren Gesetzlose, Mishani. Das machte uns zu Mördern, Dieben und Schlimmerem. Jeder einzelne hatte seine moralischen Werte ... bestimmte Dinge, die er nicht tun wollte. Aber es gab immer jemand anderen, der bereit dazu war.« Er bedachte Mishani mit einem argwöhnischen Blick. Sie beobachtete ihn ruhig, zeigte keine Regung. Sie würde ihn nicht verurteilen. Zumal ihre eigene Vergangenheit kaum als unbefleckt zu bezeichnen war. »Ein Mann kann ... sich von seinen Gefühlen lösen«, murmelte Yugi. »Er kann lernen, Menschen als Hindernisse oder Gegenstände zu betrachten. Er kann lernen, die Schreie von Frauen, den Blick in den Augen eines sterbenden Feindes auszusperren, solche Dinge als das Verhalten von Tieren anzusehen, wie das Zucken eines verwundeten Kaninchens oder das Zappeln eines Fisches an einem Haken. Ein Mann kann sich die Notwendigkeit von allem einreden, wenn er nur will.« Der See lag im fahlen Licht der Morgendämmerung grau und reg302 los. Yugi starrte über das Wasser. »Die Welt der Gesetzlosen war unbarmherzig. Wir mussten noch umbarmherziger sein.« Er lächelte matt, doch es war eine verbitterte Geste, die keinerlei Freude versprühte. »Stört es dich?«, fragte er. »Zu wissen, dass der Anführer der Libera Dramach ein Dieb und Mörder ist?« »Nein«, gab Mishani zurück. »Ich habe vor langer Zeit aufgehört, an Unschuld zu glauben. Ein Bandit mag hundert Menschen töten, aber diejenigen, die über uns herrschen, töten durch ihre Ränke und Handlungsweisen etliche Mal so viele. Solche Dinge habe ich am Hof erfahren. Eure Art zu morden ist wenigstens ehrlich.« Sie
beobachtete einen Vogel, der sich von Süden nach Norden über den See schwang. »Ich kann zwar nicht für andere sprechen, aber mir persönlich ist deine Vergangenheit einerlei. Ich kannte diejenigen nicht, denen du ein Leid angetan hast, und dir deshalb zu grollen, käme geheucheltem Mitgefühl gleich. Wir alle haben uns Dinge zuschulden kommen lassen, für die wir uns schämen. Gute Menschen begehen böse Taten, und böse Menschen können sich in gute verwandeln. Für mich zählt nur, was du jetzt tust, Yugi, denn du hältst die Zügel vieler Leben in Händen.« Der Vogel verschwand letztlich in der Ferne. Mishani verlagerte das Gewicht und richtete die Augen wieder auf ihn. »Fahr fort mit deiner Geschichte.« »Natürlich haben wir uns Feinde geschaffen«, sagte Yugi nach einer kurzen Weile. »Andere Banden wollten uns den Rang streitig machen, aber niemand hatte gegen unsere Stärke Aussicht auf Erfolg. Ich wurde allzu selbstsicher.« Er begann, zwischen seinen Knien an dem Tuch zu zupfen. »Es ging die Kunde einer Zusammenkunft unserer Nebenbuhler. Ich führte meine Männer ins Feld, um die Versammelten aus dem Hinterhalt zu überfallen. Aber es war eine List. Eine Falle, die ich hätte wittern müssen.« »Haben sie euch in einen Hinterhalt gelockt?« 303 »Nicht uns. Sie sind über unser Lager hergefallen, in dem wir unsere Frauen und Kinder zurückgelassen hatten. Nur ein Dutzend kampftüchtiger Männer war dort. Ich dachte damals, unsere Gegner wüssten nicht, wo wir uns versteckten, und dass sie es nicht wagen würden, uns anzugreifen, selbst wenn es ihnen bekannt gewesen wäre. In beiderlei Hinsicht lag ich falsch.« Seine Augen verengten sich. »Bei den Göttern, als wir zurückkehrten ...« Mishani schwieg. Sie zog das Schultertuch ein wenig enger um sich, um die Kälte zu vertreiben. »Sie war noch nicht ganz tot, als ich sie fand. Keine Ahnung, wie sie so lange durchhalten konnte. Aber sie hat auf mich gewartet, und ... wir ...« Die Stimme versagte ihm den Dienst. Er schluckte. »Sie starb in meinen Armen.« Mit wildem Blick starrte er auf den See hinaus, angespannt vor schwelendem Zorn. »Und weißt du, was mein erster Gedanke war, nachdem sie starb? Mein allererster? Ich will es dir sagen. Ich hatte es verdient. Ich hatte verdient, dass sie starb. Denn in dem Augenblick begriff ich, dass jeder Mensch, der durch meine Klinge umgekommen war, eine Mutter, einen Bruder oder ein Kind gehabt hatte, die denselben Kummer verspürten, den ich empfand. Ich riss einen Streifen vom Saum ihres Kleids, schlang ihn mir um den Kopf und schwor, ihn immer zu tragen, um mich daran zu erinnern, was ich getan hatte und wen ich dadurch verloren hatte.« Er berührte den dreckigen Lumpen um seine Stirn. »Den da.« »Und was geschah danach?«, hakte Mishani nach. Mitgefühl bot sie ihm keines an. Sie glaubte nicht, dass er welches von ihr wollte. »Die anderen brüllten bereits nach Rache«, erwiderte er. »Aber mir war klar, wie es sein würde. Unsere Vergeltung würde weitere Vergeltung heraufbeschwören, so wie es immer gewesen war und immer sein würde. Wir hätten uns im Kreis gedreht, ohne je an ein Ziel zu gelangen; es wäre in ein endlo304 ses Hin und Her der Klingen und blutigen Leichen ausgeartet. Und so ging ich einfach fort. Die anderen dachten, ich wollte bloß eine Weile allein sein, um mein Weib zu betrauern. Sie dachten, ich würde wiederkommen.« Seine Augen wirkten stumpf. »Aber ich bin nie zurückgekehrt.« Den Rest kannte Mishani von Zaelis: Wie Yugi bei den Libera Dramach strandete; wie er ob seiner angeborenen Führungseigenschaften und Erfahrung unschätzbar wertvoll wurde, bis er zu Zaelis' rechter Hand aufstieg; wie er nach Zaelis' Tod im Schoß zum Oberhaupt der Libera Dramach ernannt wurde. Und nun verstand sie ihn. »Du willst diese Menschen gar nicht anführen, oder?«, fragte sie. Eine lange Weile musterte Yugi sie, dann neigte er zur Bestätigung den Kopf. »Ich bin kein General wie Zahn. Mir fehlen die Weitsicht und der Ehrgeiz, den Zaelis besaß. Ich habe einst hundert Mann angeführt und war gut darin, aber letzten Endes habe ich versagt, und es hat mich das Einzige gekostet, das ich je ...« Er wandte den Blick ab. »Ach, was soll all das Gerede?« »Du könntest zurücktreten«, schlug Mishani vor. »Nein, kann ich nicht. Weil ich trotz allem der beste von den Göttern verfluchte Anführer bin, den sie haben. Zaelis mag seine Männer weise ausgewählt haben, aber er konnte keine Generäle, keine Kriegsherren bekommen. Die gehören den Adelshäusern an, und sobald einer von ihnen den Libera Dramach nahe käme, sobald Politik ins Spiel käme, wäre es mit uns vorbei. Sie alle wollen Lucia.« Mishani nickte. »Was du sagst, ergibt durchaus Sinn. Selbst Zahn wäre eine Gefahr. Aber kannst du tausend Krieger in die Schlacht führen, Yugi? Im Schoß hat sich dein Können als überaus nützlich erwiesen, aber dort wurde so gekämpft, wie Banditen es tun. Es kann der Augenblick kommen, da du wie ein General handeln musst, und deine Wahl auf dem Schlacht305 feld kann über viele Leben entscheiden. Wirst du in der Lage sein, solche Entscheidungen zu treffen? Oder wirst du dich in deinen rauschgeschwängerten Träumen verstecken?« Yugi wirkte verkniffen. »Wenn es meine Strafe ist zu leiden, indem ich diese Männer und Frauen anführe, dann werde ich sie erdulden, weil ich muss. Jedenfalls besitzen die Götter unbestreitbar einen kranken Sinn für Humor, wenn sie mir meine Missetaten der Vergangenheit damit vergelten, dass sie mir weitere heben anvertrauen, die ich zerstören kann.«
»Da muss ich dir wohl Recht geben«, meinte Mishani. Yugi erhob sich. Mittlerweile war Nukis Auge ein wenig höher geklettert. Der See erstrahlte blau, die Luft wurde wärmer. »Danke, dass du mir zugehört hast, Mishani. Ich weiß nicht, warum ich mir ausgerechnet dich zum Reden ausgesucht habe, trotzdem bin ich froh darüber.« Er schaute den Hang hinauf zu den verfallenden weißen Tempeln von Araka Jo. »Wie kommt es, dass unsere Vergangenheit unsere Zukunft bestimmt?«, sagte er nachdenklich. »Wo liegt darin der Sinn?« Damit brach er auf, ging von Mishani fort, und sie war wieder allein. Noch lange saß sie da und dachte über seine Worte nach. Dann kehrte sie zu ihrem Haus zurück und begann zu packen, was sie benötigte. Sie würde ihrer Mutter einen Besuch abstatten. 306 Achtzehn Im Wald schliefen in jener Nacht die wenigsten, doch in Kaikus Fall lag es nicht an der Furcht vor den Träumen. Nachdem Tsata sie verlassen hatte, wanderte sie allein durch das Dorf der Emyrynn, stiefelte lustlos zwischen den schillernden Säulen, Spiralen und Stacheln umher, die an den Bäumen hafteten und sich über den Boden ausbreiteten. Mürrisch spielte sie in Gedanken immer wieder den Augenblick durch, in dem sie sich geküsst hatten, zerlegte ihn, um Bedeutung darin zu finden, so er eine besaß. Was hatte aus seinen Augen gesprochen, als sie ihm Einhalt geboten hatte? Wäre es besser gewesen, sich erneut von ihm küssen zu lassen, bevor sie ihm von seiner kränklichen Landsfrau erzählte? Fasste er es als eine Zurückweisung auf? Und war es womöglich tatsächlich eine gewesen? Hatte sie sich absichtlich von ihm zurückgezogen und Peithre lediglich als Vorwand benutzt, um sich aus der Affäre zu ziehen? Bei den Göttern, sie wusste selbst nicht, was sie wollte. Kaiku war immer noch tief in Gedanken, als das Morgengrauen aufzog und sie Phaecas Schrei hörte. Ihre Wanderung hatte sie fast zurück zum Lager geführt, als das Geräusch zu ihr drang. Sie brauchte länger als üblich, um es zu verarbeiten, denn allmählich machte der Schlafmangel sich auch bei ihr bemerkbar. Kaiku preschte los und um die Zeltansammlung herum, wo bereits andere sich auf die Beine rappelten. Sie erreichte die fremdartige Behausung, in der Phaeca geruht hatte, schob die Soldaten beiseite, die sich um den Eingang drängten, und ging hinein. Phaeca brüllte immer noch. Sie kauerte an dem Baum307 stamm, der eine Wand des Raumes bildete. Ihre Habseligkeiten und ihr Bettzeug lagen überall verstreut. Blut rann von den Wänden, hatte sich auf dem Boden gesammelt. Die Ränder der Lachen waren verschmiert, da sie offenbar mit den Fersen darin ausgerutscht war. Brocken rauchenden Fleisches und verkohlte Knochen waren ringsum versprengt. An einigen haftete noch Fell. Weißes Fell, blutrot durchtränkt. Erschüttert starrte Kaiku auf das Bild, das sich ihr bot. »Phaeca, was hast du getan?«, stieß sie atemlos hervor. Dann schwoll ihre Stimme vor Zorn und Ungläubigkeit an. »Du hast einen von ihnen gelötet? Du hast einen Emyrynn getötet?« Sie durchquerte den Raum und packte Phaeca an den Schultern, schüttelte sie unsanft. »Warum? Warum?« »Er hat versucht, mich zu töten!«, kreischte Phaeca. »Er war in meinem Zimmer! Ich bin aufgewacht, und er war hier!« Kaiku presste die Augen zusammen. In der Dunkelheit hinter den Lidern lief ab, was sich ereignet haben mochte. Phaeca, die aus einem Albtraum erwachte und eine fremdartige Kreatur vor sich erblickte, ihr Kana ausschlagen ließ. Sie befand sich ohnehin schon in einem Zustand fragwürdiger geistiger Gesundheit, war durch die Böswilligkeit dieses Ortes in wirres Geschwafel und fiebriges Gemurmel verfallen. Der Anblick des Emyrynn musste schlichtweg zu viel für sie gewesen sein. Oder vielleicht hatte er sie tatsächlich angegriffen. Vielleicht sprach sie die Wahrheit. Letzten Endes spielte es keine Rolle. Sie hatte einen von ihnen getötet. »Das ist nicht dein Zimmer«, stellte Kaiku klar, nunmehr mit ruhigerer Stimme. »Du hast in seinem Heim geschlafen.« Ein Alarmruf ging durch das Lager, und die Soldaten am Eingang drehten sich danach um. »Da draußen zwischen den Bäumen bewegt sich etwas!«, wurde gebrüllt. »Ist dir klar, was du getan hast, Phaeca?«, fragte Kaiku mit vor Niedergeschlagenheit schwermütiger Stimme. »Deine Tat wird unser aller Tod bedeuten.« 308 Bei diesen Worten verzerrte sich Phaecas Gesicht zu einer Fratze, und sie stürzte sich auf Kaiku. Womit Kaiku nicht im Entferntesten gerechnet hatte. Wäre es ihr je in den Sinn gekommen, hätte sie ihre Worte vielleicht mit etwas mehr Bedacht gewählt. Sie wusste, wie anfällig ihre Freundin an diesem Ort war. Doch obwohl sie sich in den vergangenen Tagen über Phaecas Geisteszustand gesorgt hatte, war ihr nicht ein einziges Mal der Gedanke gekommen, sie könnte gewalttätig werden. Selbst angesichts dessen, was sie soeben entdeckt hatte, war sie davon ausgegangen, dass es sich um einen Unfall gehandelt, Phaeca den Emyrynn nicht vorsätzlich getötet hatte. Der Anblick des zu einer Grimasse solch unaussprechlichen Hasses verzerrten Gesichts der Ordensschwester ließ sie kurz verzagen; dann fegte sie die Wucht des Angriffs durch den Eingang der Behausung mitten hinein in die Soldaten davor, die auseinanderstieben, und sie fiel mit Phaeca ins blaugrüne Gras.
Die schiere Gewalt des Ansturms lähmte sie regelrecht; für den kümmerlichen Widerstand, den sie leistete, zeichneten allein ihre Instinkte verantwortlich. Phaeca kratzte mit den Fingernägeln auf ihr Gesicht ein, schlug und drosch ihr auf den Kopf, kreischte und brüllte Flüche und Schimpfwörter in einer derben Mundart Axekamis, die gänzlich in Widerspruch zu ihrer sonstigen Ausdrucksweise stand. Zwei der Soldaten, die nicht recht zu glauben vermochten, was sie bezeugten, griffen hinab, um die außer Rand und Band geratene Schwester von ihrem Opfer zu zerren; sie wurden durch eine unsichtbare Kraft, die das Gras plättete und Risse in die Harzwand der Emyrynn-Behausung sprengte, fortgeschleudert. Erst dieser Ausbruch von Phaecas Kana brachte Kaiku zur Besinnung. Der Ruck durch das Geweb entfachte eine Erwiderung in ihrem Körper, entfesselte einen Strom der Kraft, denn sie mühsam zu bändigten versuchte, bevor er aus ihr hervor309 schnellen konnte, weil sie sich scheute, ihre Freundin zu verletzen. Was sie besser nicht getan hätte. Sie brauchte zu lange, um zu erkennen, dass Phaecas Kana sich nicht nur gegen die Soldaten, sondern auch gegen Kaiku gerichtet hatte. Phaeca griff sie im Geweb an, und dadurch wurde ihre Absicht tödlich. Kaiku ergab sich dem Willen des eigenen Kanas. In der Welt der fünf Sinne verlangsamte sich die Zeit zu einem Kriechen, während die Ordensschwestern unter der Oberfläche mit Schwindel erregender Geschwindigkeit aufeinander prallten. Kaikus kurzes Zögern hatte Phaeca einen Vorteil verschafft. Erst nachdem sie alle Zweifel über Bord geworfen und begriffen hatte, dass ihre Freundin sie tatsächlich zu töten beabsichtigte, dass dies ein Kampf um das eigene Leben war, warf sie ihr Bewusstsein ins Gefecht und begann, echten Widerstand zu leisten. Doch da war es bereits zu spät. Phaeca hatte sie unterwandert, Fallen gelegt, die Kaikus Versuche zunichte machten, eine Verteidigung aufzubauen. Kaiku spann irrgartenähnliche Gewirre und musste feststellen, dass sie durch ein schlichtes Zupfen Phaecas wieder auseinander fielen. Sie legte Fallstricke, um ihre Gegnerin aufzuhalten, und sah mit an, wie sie in Stücke sprangen, wenn sie ausgelöst wurden. Bis es Kaiku gelang, endlich Schranken hochzuziehen, war Phaeca längst dahinter gelangt, und Kaiku war gezwungen, weiter zurückzuweichen. Phaecas Angriff war unerbittlich, wutentbrannt; Kaiku strauchelte darunter. Phaeca war zwar nicht so gut wie Cailin, aber immer noch besser als die meisten Weber, huschte und zischte umher wie eine rastlose Nadel. Und Kaiku war völlig überrumpelt worden, hatte sich noch geweigert, es zu glauben, als sie bereits erkannt hatte, was vor sich ging. Phaeca preschte durch die Löcher in Kaikus Gespinst, drang um sich greifend in ihren Körper vor, umkreiste ihr Herz, nähte sich in Muskeln und Knochen. Kaiku brüllte vor 310 Grauen, ein wortloser geistiger Ausdruck ihrer Qualen ob dieser Schändung, ob des Wissens, dass sie nun keine Möglichkeit mehr hatte zurückzuschlagen und dieser Schrei ihr letzter sein würde. Dann setzten die Schmerzen ein. Phaeca begann, sie zu zerreißen. Kaiku selbst hatte dies viele Male mit anderen getan und sich stets gefragt, wie es sich anfühlen musste, welche Pein sie erlitten, bevor sie starben. Nun wusste sie es. Es war, als würde jede Ader, jeder Nerv gewaltsam vom Fleisch gezerrt, wie Ranken durch ihre Haut gezogen und weggeworfen. Die Qualen waren unvorstellbar, überwältigend ... ... und plötzlich verschwunden. Kaiku war allein im Geweb. Phaeca war weg, nur ein schmerzliches Gefühl der Traurigkeit war geblieben. Kaikus Verstand beruhigte sich, sammelte die Sinne. Sie verließ das Geweb, und ihr Kana kehrte in sie zurück, durchkämmte sie nach Schäden. Ihre roten Augen wurden wieder klar, und das Licht der Morgenröte im Wald schimmerte wieder durch. Auf ihr lastete ein Gewicht. Ein gestiefelter Fuß stemmte sich dagegen und schob es von ihr. Asara. Sie fasste herab und half Kaiku auf. »Ich hatte keine Wahl«, erklärte Asara. »Es hieß sie oder du.« Kaiku zwang sich, auf Phaeca hinabzublicken. Die Ordensschwester lag mit dem Gesicht nach unten und blutigem Haar da. Erschossen durch den Nacken. »Es hieß sie oder du«, wiederholte Asara. Ihre Stimme hörte sich stumpf und blechern in Kaikus Ohren an, gedämpft durch eine Decke der Taubheit, die sich auf sie herabgesenkt hatte. Ihr Sichtfeld schrumpfte, die Ränder wirkten verschwommen. Sie fühlte sich von ihrer Umgebung losgerissen, nahm sie kaum wahr. Rings um sie erschollen Büchsenschüsse und Geschrei, durchdrangen das 311 Rauschen des Blutes in ihren Ohren. Kaiku war außerstande, die vor ihr liegende Gestalt mit der Frau in Einklang zu bringen, die sie gekannt hatte. Den Anblick dieser fleischlichen Überreste brachte sie nicht mit dem Wissen in Einklang, dass sie Phaeca niemals wieder sehen, niemals wieder mit ihr sprechen würde. »Kaiku, wir müssen weg«, sagte Asara zu ihr und starrte sie eindringlich an.«Hörst du? Wir müssen sofort weg« Sie konnte über Asaras Schulter sehen, in den Wald, der das Dorf umgab. Natürlich. Die Vergeltung. Aus dem Unterholz lösten sich weiße Gestalten mit knurrenden Schnauzen und gebleckten Zähnen. Die Emyrynn kamen. Ihre Gastfreundschaft war missbraucht worden.
»Wo ist Lucia?«, rief jemand. »Wo ist Lucia?« Ihr Name war es, der Kaiku aus ihrer Benommenheit zurückholte. Mit einem leisen Wimmern setzte sie sich in Bewegung, rannte ins Lager und suchte, dachte nur noch daran, Lucia zu beschützten. Asara ergriff ihren Arm. »Dort ist sie«, sagte Asara und deutete ihr die Richtung. Und tatsächlich, da stand sie, umringt von Doja und einem halben Dutzend seiner Männer. Tsata und Heth näherten sich, Heth mit Peithre auf den Armen. Kaiku erspähte Tsata und deutete auf Lucia, dann rannte sie mit Asara im Gefolge selbst in die Richtung. Phaeca... Kaiku schob die Trauer beiseite. Sie konnte sich nicht gestatten, jetzt darüber nachzudenken. Da waren zu viele andere, 1 deren Leben von ihr abhing. Im Augenblick zählte allein Lucia. Die Emyrynn näherten sich von rings um das Dorf. Seidig und anmutig sprangen sie durch die Blätter, die weißen Felle makellos. So wunderschöne Geschöpfe, aber nun wirkten ihre Gesichter bedrohlich, waren zu Tierfratzen verzerrt, und aus ihren Bewegungen sprach tödliche Absicht. Die Soldaten feu312 erten in das Unterholz; die Kugeln durchdrangen purpurne Stiele und prallten unter splitterndem Holz von Baumstämmen ab. Doch sie trafen nicht. Die Emyrynn tauchten nur in flüchtigen Eindrücken auf, und jeder kurz erhaschte Blick zeigte sie ihrer Beute näher. »Zurückfallen!«, brüllte Doja. »Beschützt Lucia!« »Wohin?«, rief Asara an Lucia gewandt, die verträumt in die Ferne starrte. »Lucia, wohin sollen wir?« »Sie sind so wütend«, flüsterte sie. Kaiku wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und schob Asara beiseite. »Wohin, Lucia?«, fragte sie sanft. »Wir müssen hier weg.« Beim Klang ihrer Stimme richtete Lucias Aufmerksamkeit sich auf sie. Kurz bebte sie, dann schnellte ihr Arm vor und deutete zwischen die Bäume. »Da lang.« »Zurückfallen!«, schrie Doja erneut zu den Soldaten, die sich mit ihnen zurückzogen und blindlings in die Bäume feuerten. Und damit rannten Lucia und ihr Gefolge los, ließen das Dorf hinter sich und wurden vom Wald umfangen. Mit einer klangvollen Abfolge durchdringenden Geheuls brachen die Emyrynn aus der Deckung hervor. Auf allen vieren preschten sie aus dem Dickicht, bewegten sich flüssig wie Wasser. Ihr sonderbarer Muskelbau verlieh ihnen eine beunruhigende Gangart, ließ sie wogenartig auf die Männer zustürmen, die Lucias Rückzug deckten. Diejenigen, die noch Pulver in den Kammern hatten, feuerten ab, was sie noch an Kugeln besaßen, aber alle verfehlten ihr Ziel. Einige machten beim Anblick der Kreaturen kehrt und flohen; andere hielten die Stellung und kämpften. Es lief auf dasselbe hinaus. Die Emyrynn fielen mit unvergleichlicher Wildheit über sie her, stachen mit den kurzen, scharfen Geweihen auf Gesichter ein, schnappten mit den klingenähnlichen Zähnen nach Kehlen. Sie hechteten auf ihre Opfer, schleuderten sie zu Boden wie Rammen und fetzten sie in Stücke. Ihre weißen Felle wurden 313 dunkelrot befleckt, die Schnauzen nass mit Blut. Sie schwelgten in dem Gemetzel. Lucia und Kaiku hasteten in den Wald, bildeten den Mittelpunkt einer stolpernden Soldatengruppe, die sich verzweifelt bemühte, sie von allen Seiten zu beschützen. Einschließlich Doja waren vielleicht noch zehn Krieger übrig; außerdem waren die drei Tkiurathi und Asara bei ihnen. Kaikus Augen verschwammen vor Tränen, die sich durch die Erschütterungen ihrer Schritte von den Lidern lösten, aber sie bemerkte es gar nicht. Kaiku blickte durch sie hindurch. Selbst der Wald, war außerstande, ihre Sicht zu behindern, denn er hatte sich in ein durchscheinendes Geflecht goldener Sehnen verwandelt, und darin sah sie die sich anpirschenden Emyrynn. Hunderte, die auf das Dorf zuliefen. »Kaiku, kannst du sie sehen?« Es war Asaras Stimme. »Ja.« »Verfolgen sie uns?« Kaiku schaute sich um. Sie hatte zu hoffen gewagt, dass ihr Zorn durch das Verlassen des Dorfes verflöge, dass die Emyrynn die nunmehr ungebetenen Besucher nur forthaben wollten. Aber als die letzten zurückgebliebenen Soldaten hingemetzelt wurden, musste sie feststellen, dass einige der Emyrynn sich auf die Jagd nach ihnen begeben hatten, indem sie der Spur folgten, die Lucia und die anderen hinterlassen hatten. »Ja«, antwortete sie. Auch vor ihnen und zu beiden Seiten befanden sich vereinzelte Emyrynn. Manche entfernten sich, weil sie ihre Anwesenheit entweder nicht bemerkt hatten oder weil es sie nicht kümmerte. Andere lagen in Senken oder zwischen den Ästen der Bäume auf der Lauer und hofften offenkundig nur darauf, dass ihre Opfer sich ihnen näherten. Wenngleich einige der Kreaturen damit zufrieden schienen, sie ihrer Wege ziehen zu lassen, hatten andere beschlossen, sie zu jagen. Es gab keine 314 Möglichkeit mehr, weiter zu flüchten, ohne Blut zu vergießen. »Kannst du mit ihnen reden, Lucia?«, fragte Kaiku. »Kannst du es ihnen erklären?« Lucia hörte sie nicht. Sie schluchzte und keuchte, wurde von Dojas starkem Arm angetrieben, stolperte über Äste und Wurzeln. Sie schien im Würgegriff einer namenlosen Angst, schaute wirr wie eine Wahnsinnige um sich,
flüchtete ohne Hoffnung auf Entrinnen. Kaiku stieß einen leisen Fluch aus. Sie hatten keine andere Wahl, als der Richtung zu folgen, die Lucia ihnen gezeigt hatte. Das trübe, schräg einfallende Licht von Nukis Auge erkämpfte sich einen Weg durch den Blätterbaldachin, aber hier standen die Bäume zu dicht, um weit sehen zu können, und nur Kaiku war in der Lage, die flink zwischen dem Gehölz umherhuschenden Emyrynn zu erspähen. Im Wald hallten noch die Schreie ihrer Kameraden wider, abgesehen davon war nur das Schaben von Zweigen, das Poltern von Stiefeln und das Rasseln ausgestoßenen Atems zu hören, während sie vom Dorf der Emyrynn wegrannten. Das und das endlose, eintönige Klopfen in der Ferne, das sie seit Tagen quälte. Bei den Göttern, worauf hofften sie eigentlich? Dass die Emyrynn aufgeben und umkehren würden? Dafür schienen die Aussichten denkbar gering. Sie würden flüchten, sie würden kämpfen und dann würden sie sterben. Alles andere schien unmöglich. »Da sind zwei, vor uns und links«, rief Kaiku, die ihr Herannahen spürte. Die Soldaten verlagerten die Klingen, machten sich bereit, die Kreaturen in Empfang zu nehmen; doch Kaiku erreichte sie zuerst. Obwohl ein Funke der Geisterwelt in ihnen steckte, waren sie nicht so schwierig zu überwältigen wie Dämonen oder Weber; dafür erwiesen sie sich als sonderbar und unvertraut, weshalb es Zeit beanspruchte, sie anzugreifen, mehr Zeit als Kaiku lieb war. Sie würde nicht 315 in der Lage sein, mit mehr als ein paaren gleichzeitig fertig zu werden. Kaiku verwendete ihr Kana, um in ihre Köpfe einzudringen und sie zu betäuben. Sie wollte sie nicht töten, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. »Erledigt«, verkündete sie. »Kommen weitere?«, wollte Asara wissen, während sie sich eine mit bläulichem Adlerfarn überwucherte Anhöhe hinaufkämpften und Lucia linkisch mitscheuchten. »Drei von hinten«, gab Kaiku zurück. Ihr Mut sank, als sie sah, wie die Emyrynn pfeilschnell durch den Wald hetzten. »Sie haben uns gleich eingeholt. Drei weitere von rechts. Zwei von vorn.« Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Ich kann euch nicht vor allen beschützen.« »Dann übernehmt Ihr diejenigen, die uns folgen«, keuchte Doja kurz angebunden. »Um den Rest kümmern wir uns.« Mittlerweile hatten die Soldaten die Büchsen über die Schultern geschlungen und die Schwerter gezogen, denn in der Enge dichten Unterholzes war mit Fernwaffen keine Schlacht zu gewinnen. Trotz Kaikus Warnung waren sie nicht für die Emyrynn bereit, als sie angriffen. Sie hatten erwartet, das Rascheln von Blättern oder Adlerfarn zu hören, wenn ihr Feind sich näherte; doch die Emyrynn erwiesen sich als lautlos wie Geister. Wie aus dem Nichts sprangen sie hervor, schleuderten zwei Soldaten zu Boden, rissen ihnen mit einem einzigen Biss die Kehle heraus und waren verschwunden, bevor sie jemand auch nur mit einer Klinge berühren konnte. »Bleibt in Bewegung!«, schrie Doja, als einige der Soldaten alle Hoffnung fahren ließen. Die Verwundeten schlugen noch kraftlos um sich, hauchten gurgelnd ihre letzten Atemzüge. »Hier können wir uns nicht verteidigen!« Im Wald hinter ihnen entzündeten sich drei grelle Feuerblumen. Mit kalten Augen drehte Kaiku sich zu Doja um. Nun, 316 da die Kreaturen jegliche Zweifel über ihre Absichten ausgeräumt hatten, würde sie ihnen gegenüber keine Gnade mehr zeigen. Die fünf verbliebenen Emyrynn griffen gleichzeitig an. Durch Kaikus Zuruf blieb den Soldaten ein paar Lidschläge Zeit, sich vorzubereiten. Asara, die schneller war als die meisten Menschen, duckte sich unter dem Sprung eines Emyrynn hindurch und teilte die Kreatur entlang der Leibesmitte sauber in zwei Hälften; eine weitere ließ Kaiku in Rauch und Flammen aufgehen. Eine dritte überwältigten die Soldaten in Gemeinschaftsarbeit, doch als die restlichen zwei verschwanden, ließen sie einen Mann tot und einen weiteren mit einem Stumpf statt einem Arm zurück, aus dem Blut hervorschoss. Es entstand ein Gerangel, um dem Verletzten eilends einen Druckverband anzulegen, wodurch die Vorwärtsbewegung der Gruppe zum Erliegen kam: Sie würden keinen Verwundeten zurücklassen, solange noch die Aussicht bestand, ihn zu retten. »Da sind noch mehr! Überall um uns herum!« Kaiku hatte kaum Zeit, um zu brüllen, bevor die Emyrynn erneut angriffen. Selbst für ihre Sicht im Geweb schienen sie aus dem Nichts aufzutauchen, ein gutes Dutzend der Geschöpfe, die einfach plötzlich da waren. Sie sah Tsata, der mit seinen Metzgerhaken um sich hieb, zwischen den Geweihen der Emyrynn umherhuschte und Heth - mit Peithre auf dem Arm - beschützte. Sie sah Asara, die auswich und zustieß, die Bewegungen durch neunzig Jahre Übung und einen fehlerlosen Körperbau flüssig. Und sie sah die Soldaten kämpfen, sah Doja hingemetzelt werden und Lucia zu Boden fallen, wo sich eine weitere der Kreaturen bereit machte, sich auf sie zu stürzen ... Kaiku wollte die Bedrohung für Lucia eben auslöschen, als sie beiseite geschleudert wurde und krachend gegen einen Baum prallte, in den sie das Gewicht eines Emyrynn trieb, dessen Zähne sich am Schlüsselbein in ihrer Schulter vergraben 317 hatten. Es waren zu viele: Sie hatte das Wesen nicht herannahen gesehen. Kaiku brüllte vor Schmerz. Blut
pulsierte zwischen den Fängen ihres Angreifers hervor, als dieser noch tiefer in das Fleisch biss. Dann übernahm ihr Kana, packte die Kreatur und schleuderte sie mit solcher Wucht hinfort, dass ihr Rückgrat an einem dicken Ast zerschmettert wurde. Kaiku umklammerte die aufgerissene Schulter; Blut quoll zwischen ihren Fingern hervor. Ihr Körper behob den Schaden bereits, doch er verschlang dabei lebenswichtige Kraft, die sie brauchte, um andere zu beschützen. Sie schaute zu Lucia, und eine grauenhafte Furcht umschloss ihr Herz. Es würde zu spät sein, zu spät, um sie noch vor dem Emyrynn zu retten. Dann senkte sich eine neue Empfindung auf sie herab, eine schreckliche, zermalmende Gegenwart, die sie durch ihren Zorn in die Knie zwang. Sie schaute auf und erbleichte ob des Anblicks. Das Ungeheuer. Der riesige Schatten, dem sie vor ein paar Nächten begegnet war; seine überwältigende Masse schwoll bis hinauf in die Wipfel. Sein Gebrüll, ein donnergleiches Tosen, erschütterte die Erde und entfesselte einen Wirbelsturm durch den Wald, schleuderte Männer, Frauen und Emyrynn gleichermaßen umher. Die Bäume zischten und rasselten, als der Wind heulend durch ihr Geäst fuhr. Kaiku wurde zurück gegen den Baumstamm gewuchtet, der Atem aus ihren Lungen gepresst, ihr Haar um ihr Gesicht gepeitscht. Sie biss die Zähne gegen die lodernde Pein in ihrer Schulter zusammen, presste die Augen zu, rang den Drang nieder zu kreischen. Im Geweb zeichnete die Kreatur sich als schwarze Mauer blanker Wut ab, eine Macht, der beizukommen Kaiku nicht hoffen konnte. Selbst ihr Kana schrak davor zurück, sauste in sie und rollte sich in ihr ein. Stille. Schlagartig verebbte der Sturm, verbliesen sich pfeifende Windstöße durch die Bäume ins Nichts. Blätter segelten langsam, sich träge kräuselnd zu Boden. 318 Kaiku öffnete die Augen. Der Schauplatz des Hinterhalts war mit Leichnamen übersät, Menschen und Emyrynn gleichermaßen. Blutige Streifen weißen Fells lagen neben aufgerissenen Leibern. Sie sah, wie Asara sich mit kraftlos in der Hand baumelnder Klinge aufrappelte. Tsata und Heth kauerten schützend über der ausgestreckt liegenden Peithre. Ein paar Soldaten rührten sich noch, aber nicht viele. Die Emyrynn waren verschwunden. Am Rand des Pfuhls des Gemetzels stand Lucia und starrte in das Antlitz des Ungeheuers empor. Seine Gestalt blieb durch die Bäume und die Dunkelheit verborgen, dennoch konnte man seine Größe erkennen. Kleine, funkelnde Augen musterten Lucia. Neben dem Ungeheuer wirkte sie wie ein winziges Häppchen, verschwindend und unbedeutend; dennoch stand sie dort ganz allein, und es starte auf sie herab; leise war das schwere Rauschen seines Atems zu hören, langsam und mächtig wie Wogen an einem Strand. Allmählich erhoben sich die Überlebenden des Blutbads mit auf das Ungetüm gehefteten Blicken. Alle außer den Tkiurathi. Die Hand fest auf die Schulter gepresst, an der die Wunde sich selbst heilte, taumelte Kaiku in Lucias Richtung, doch als sie sich unterwegs Tsata näherte, schaute er zu ihr auf, und seine Augen waren feucht. Der Anblick ließ Kaiku kurz innehalten. Sie hatte ihn noch nie zuvor weinen gesehen. Dann blickte sie hinab auf Peithre und erkannte, dass sie tot war. Vor den Emyrynn hatten ihre beiden Gefährten sie beschützt, doch in ihrem geschwächten Zustand hatte sich die Ungemach der unsanften Beförderung als zu viel für sie erwiesen. Heth hatte sich mit zitternden Schultern über sie gebeugt. Erneut begegneten sich Kaikus und Tsatas Blicke, doch ihre Augen waren ausdruckslos, und sie hatte Tsata nichts zu geben; dann stolperte sie weiter auf Lucia zu. Lucia wankte leicht, als Kaiku neben ihr zum Stehen kam. Zu nahe wagte sie sich nicht heran, weil sie fürchtete, sie 319 könnte den Bann brechen, der das Ungeheuer im Zaum hielt. ' Lucias Augen waren nach oben gerollt und zuckten vor Bewegung. »Bei den Göttern, was ist hier bloß geschehen«, flüsterte Kaiku überwiegend zu sich selbst, ohne eine Antwort zu erwarten. Lucia überraschte sie. »Es ist ein Gesandter«, sagte sie mit kaum geformten Worten, so als spräche sie in einem Traum. Kaiku überlegte kurz. »Vom Xhiang Xhi?«, fragte sie. »Lasst unsere Toten zurück«, murmelte Lucia nur, »und folgt mir.« Kaiku schloss die Augen. Vor dem Aufbruch in den Wald hatte Kaiku sich die Namen jedes und jeder Einzelnen der Gruppe eingeprägt, zumal sie schon zu jenem Zeitpunkt geglaubt hatte, dass nicht alle diesen Ort lebend verlassen würden, und nach ihrem Tod mussten sie Noctu überantwortet werden. Solange Noctu ihre Namen erfuhr, spielte es kaum eine Rolle, wo ihre Körper lagen. Kaiku schaute auf und begegnete den erwartungsvollen Blicken der Überlebenden. Doja war gefallen, und diejenigen, die an Anführer glaubten, wandten sich nun an sie. »Wir lassen unsere Toten zurück«, sagte sie mit kippender Stimme. »Wir lassen unsere Toten zurück und folgen ihr.« Mehrere Stunden später erreichten sie den Eingang zum Hort des Xhiang Xhi. An die Zeit dazwischen erinnerte Kaiku sich kaum noch. Benommen, in einer Art Schockzustand stapfte sie mit dem Rest der Gruppe den Pfad entlang. Das Ungeheuer führte sie an, blieb ihnen stets voraus, ein gewaltiger Schemen, der nie ganz zu sehen war, sich immer einen Hauch zu weit entfernt hielt, um Einzelheiten auszumachen. Unterwegs weinte Kaiku, überwiegend um Phaeca, aber
320 auch um die anderen Männer und um Peithre, deren Leichnam Heth trug, weil er sich geweigert hatte, ihn zurückzulassen. Aus Gewohntheit hatte Kaiku etwas Abstand zu den Soldaten gewahrt - immerhin war sie eine Ordensschwester und konnte sich nicht mehr so unbeschwert unter sie mischen wie in der Vergangenheit -, dennoch hatte die Plötzlichkeit des Todes der Männer, die Grausamkeit der Emyrynn sie zutiefst erschüttert. Sie wusste nur allzu viel über Kriege und das Töten, trotzdem war sie nach wie vor nicht dagegen abgehärtet. Andere Gedanken hatten kurz um ihr Elend gekreist. Gedanken über das Ungeheuer, dem sie folgten, und warum es sie an jenem Tag nicht angegriffen, sondern vielmehr vor dem Geist beschützt hatte, der sich in Lucias Gestalt präsentierte. Dieses Ungetüm hatte sie davon abgehalten, fortgelockt zu werden; sie, und nur sie allein, denn die Soldaten hatten jenes Wesen ihrem Schicksal überlassen. Wieso? Warum war wanders behandelt worden? Dann waren da noch die Erinnerungen an den Augenblick, den sie mit Tsata geteilt hatte, und ihr Streitgespräch mit Asara. Beides zog Entscheidungen nach sich, denen sie sich stellen musste, Dinge, die von gewaltiger Bedeutung für sie waren; dennoch konnte sie sich vorerst nicht überwinden, sich damit zu befassen. Sie wollte nur noch diesem von den Göttern verfluchten Wald entkommen und nie mehr zurückblicken. Aber zuvor galt es, noch eine Herausforderung zu bewältigen, und es war Lucia, die sich ihr stellen musste. Auch wenn Lucia es ihnen nicht mitgeteilt hätte, wäre ihnen nicht verborgen geblieben, dass sie die Grenze zum Hort des Xhiang Xhi erreicht hatten. Die Luft war prall von der Gegenwart des großen Geistes, erfüllt mit einem Knistern, das ihnen die feinen Härchen an den Körpern aufrichtete. Es stammte aus einer in einem kleinen Hügel klaffenden Tunnelöffnung, zu deren beiden Seiten säulengleich knorrige alte Bäume 321 wuchsen. Das Ungeheuer kauerte auf der Kuppe des Hügels, wurde vom Unterholz verdeckt und sog das Tageslicht förmlich aus der Luft. »Weiter könnt ihr nicht gehen«, erklärte Lucia der Gruppe. Mittlerweile wirkte sie aufmerksamer, ihr Verstand klarer.) »Jetzt liegt es allein an mir.« Niemand erhob Einwände, nicht einmal Kaiku. Schließlich hatte sie gewusst, dass es dazu kommen würde. Lucia schaute über die Schulter zu den sieben zerlumpten Gestalten, die noch übrig waren; vierundzwanzig waren ihr ursprünglich in den Wald gefolgt. Einen Herzschlag lang verharrte ihr Blick auf Kaiku, und sie versuchte zu lächeln; doch es fühlte sich unecht an, und so wandte sie sich um und ging in den Tunnel. Ihr Gefolge beobachtete, wie die Dunkelheit sie verschlang, dann war sie verschwunden. Zunächst zeigten sich die Zurückbleibenden lustlos, wussten nicht recht, was sie tun oder sagen sollten. Dann begannen sie, sich zum Warten niederzulassen: die drei überlebenden Soldaten beisammen, Tsata und Heth mit ihrer Last, Kaiku und Asara jeweils für sich alleine. Nach einer Weile stand Kaiku auf und gesellte sich zu den Tkiurathi. 322 N€UNZ€HN In dem Tunnel gab es kein Licht, weshalb Lucia gezwungen war, sich den Weg zu ertasten. Ihre Finger glitten über die feuchte Erde der Tunnelwand, stießen gelegentlich gegen vorstehende Wurzeln. Es war still. Das Geplapper der Geister und Tiere war verstummt. Hier gab es nichts außer dem Xhiang Xhi. Sie wünschte, hier bleiben zu können, wo keine Stimmen sie heimsuchten. Hier zu ruhen, in dieser kostbaren Stille zu schlafen, und sei es nur für eine einzige Nacht, wäre ein Preis, der alles überstieg, das sie verlangen konnte. Für immer bei so klarem Verstand zu sein, nicht mit dem Wissen belastet, dass außerhalb dieser Oase der Ruhe blankes Chaos lag und dass sie, selbst wenn sie dieses Unterfangen überlebte, dorthin zurückkehren musste. An einen Ort, an dem ihre Gedanken umnebelt waren und tausenderlei Getuschel um ihre Aufmerksamkeit rang, sodass selbst der Versuch, sich mit anderen Menschen zu verständigen, ein qualvoller Kampf war. Doch es war nur ein Wunschtraum. Für sie gab es keine Zuflucht. Lucia ging weiter durch den Tunnel, bis sie nach einem kurzen Stück des Weges zu einem länglich runden Durchgang mit unebenmäßigen Rändern gelangte, vor dem gleich einem Vorhang Wurzeln herabhingen. Sie schob sich hindurch und betrat den Hort des großen Geistes. Auf der anderen Seite fand sie eine dämmrige Senke vor, eine Vertiefung, die ein dichter Wald umgab, dessen Wipfel einander zuwuchsen, um ein Dach verästelter Zweige zu bilden. Der Boden erwies sich als sumpfig; aus dem Wasser ragten Sodenrücken, die es in brackige Tümpel voll Unkraut teilten. 323 In der kalten, unbewegten Luft und dicht über dem Boden trieben dünne Nebelschwaden. In der Senke wuchs ein vereinzelter Baum, uralt und knorrig, die Blätter braun und abgestorben. Dort spürte sie den Geist, eine überwältigende und brütende Traurigkeit, deren Aufmerksamkeit auf sie geheftet war. Die Kraft seiner Gegenwart fühlte sich bedrückend an, da„ Ausmaß seiner Macht überstieg den Verstand. Seit dem Tag, an dem sie nach Alskain Mar hinabgestiegen war, hatte sie mit vielen der ältesten Geister des Landes gesprochen, hatte die Wege ihresgleichen entschlüsselt. Doch dies war ein anderes Wesen, älter als die Felsen, älter als die Flüsse, älter als der Wald, in dem es hauste. Lucia wartete. Sie fürchtete sich zwar, doch sie war mit Schicksalsergebenheit gewappnet. Ihr ganzes Leben hatte zu diesem Ort geführt, und sie war so bereit, wie es überhaupt möglich war. Blieben all die Mühen
ergebnislos, dann sollte es eben so sein. Mehr konnte sie nicht tun. Nichts rührte sich. Nach einer Weile zog sie die Schuhe aus und ging vorwärts, bahnte sich einen Weg vom Rand der Senke entlang einem Erdstreifen zu einer kleinen Erhebung, die aus dem Sumpf ragte. Frostiges Wasser quoll zwischen ihren Zehen hervor, als ihre Füße im weichen Gras einsanken. Als sie die Erhebung erreichte, kniete sie davor nieder und legte die Hände auf den Boden. Sie neigte das Haupt und verlangsamte die Atmung, bereitete sich darauf vor, in den Dämmerzustand überzugehen, der notwendig war, um sich mit den Geistern zu verständigen. ((Das brauchst du nicht, Lucia. Ich hin nicht wie die anderen)) Lucia versteifte sich. Die Stimme hatte sich wie das Seufzen eines Sterbenden angefühlt, wie ein Lufthauch durch einen staubigen Tempel. Noch nie zuvor in ihrem Leben hatte ein Geist zu ihr gesprochen. Die Verständigung war stets ohne Spra324 che ausgekommen, war in Form eines urtümlichen Austauschs erfolgt, indem man sich gegenseitig ineinander hineinversetzte. ((Ich verstehe dich)) fuhr der Xhiang Xhi fort. Ihre Gedanken waren für ihn so einsehbar, als hätte Lucia sie laut ausgesprochen. ((Sie sind für mich wie Kinder, und es mangelt ihnen an Weisheit. Sie wissen nicht, wie man so wie ihr denkt)) Lucia fühlte sich schwindlig. Kinder? Beim Blut des Herzens, dieses Wesen betrachtete die anderen Geister als Kinder? Was für eine Närrin war sie gewesen zu glauben, sie wäre bereit für den Xhiang Xhi? Lucia wagte nicht, sich auszumalen, was geschehen würde, wenn sie mit ihm zu verschmelzen versuchte so wie mit den anderen. Langsam öffnete sie die Augen und schaute den Geist an. Er hing in der Luft vor ihr, ein schmales Gespenst aus Nebel, eine längliche Schwade in menschenähnlicher Form gleich einem bei Sonnenuntergang geworfenen Schatten. Er hatte Hände mit spindeldürren Fingern und etwas, das einen Kopf darstellen mochte, doch es waberte und schwankte mit jedem Rühren des Nebels. Der Blickwinkel wirkte verschroben: der Schemen schien nah und fern zugleich, winzig und riesig, und seine Form wandelte sich mit seinen Bewegungen, vereitelte ihre Versuche, sich ein festes Bild zu machen. So war es immer mit den Geistern: Sie konnten sich nicht auf eine Weise zeigen, mit der die menschlichen Sinne zurande kamen. ((Steh auf)) sprach der Geist zu ihr. ((Erniedrige dich nicht vor mir. Ich habe keine Verwendung für Huldigung oder Achtung)) Lucia tat, wie ihr geheißen. ((Fürchte dich nicht zu sprechen, Lucia)) Tatsächlich fürchtete sie sich nicht vor dem Geist, nicht so wie vor anderen, jenen, die zornig und launisch und ihr mit Böswilligkeit oder Groll begegnet waren. Was sie fürchtete, war vielmehr sein schrecklicher Kummer, die herzzerreißende Traurigkeit, die er verströmte. Lucia fürchtete, er könnte ihr 325 den Quell jenes Grams offenbaren und sein Leid auf sie übertragen. »Wie alt bist du?«, ergriff sie schließlich das Wort. Sie wollte erst seine Antworten testen, bevor sie die Frage stellte, wegen der sie gekommen war, obschon sie überzeugt war, dass er ihre Absicht bereits kannte. Doch es gab eine bestimmte Weise, wie man die Dinge zu tun hatte, und der wollte sie sich fügen. ((Es gab mich schon, bevor die ersten deiner Art aufrecht gingen, bevor dieses Land geformt, bevor die Mondschwestern geboren wurden. Ich war da, als dieses Land noch Staub war, und davor. Es gibt kein Maß, das ich dir geben kann und das eine Bedeutung für dich hätte. Ich bin nicht wie die anderen Geister, die du kennst: Sie sind aus diesem Land entstanden, ich hingegen nicht. Ich stamme von einem anderen Ort, und ich werde an einen anderen Ort weiterziehen, wenn diese Welt von Feuer verschlungen und die Monde in Asche verwandelt sind)) Seine Stimme, die sich in ihrem Schädel wie das Rascheln von Laub anfühlte, erreichte sie inmitten einer Flut kurz aufblitzender Bilder, geisterhafte Eindrücke einer sternengesprenkelten Leere mit riesigen Kugeln atemberaubender Farben, die sich langsam drehten, und grelle, so grelle Flammen, die züngelten, um sie zu verschlingen. Dann waren sie wieder verschwunden, ließen sie mit weit aufgerissenen Augen, stoßweisem Atem und pochendem Herzen zurück. Der Xhiang Xhi wirbelte rastlos in den Nebelschwaden. »Bist du ein Gott?«, brachte Lucia schließlich hervor. ((Ich bin kein Gott)) gab er zurück. ((Was ihr jetzt Götter nennt, mögt ihr dereinst mit anderen Namen versehen. Manche werden im Reich der Legenden versinken; andere mögen sich als wirklicher erweisen, als ihr euch vorstellt. Es steht mir nicht zu, sie zu enthüllen. Für euch kann es kein Verständnis der Wesenheiten geben, von denen ihr sprecht, obwohl sich das im Verlauf der Zeitalter einstellen mag. Vorerst habt ihr nur eure Auslegung, die sich mit euch verändern wird, euch bald der Wahrheit näher, bald weiter von ihr wegführen wird. Deine 326 Rasse ist noch jung, Lucia; und so wie Kleinkinder könnt ihr nicht vollends begreifen, was ihr seht)) Lucia nahm dies mit einem leichten Nicken hin. Ihr Verstand hatte sich geleert. Nun, da sie hier war, in der Gegenwart des großen Geistes, stellte sie fest, dass die Worte sich ihr entzogen. Eine lange Weile verharrte sie stumm, eine zierliche Gestalt in zerrissenen, dreckigen Reisegewändern und mit zerzaustem, blondem Haar. ((Es gibt Dinge, die du wissen musst, Lucia)) sprach der Geist schließlich. ((Ihr trachtet, Krieg zu führen, um
euer Heimatland zu retten, doch ihr kennt nicht die wahre Bedrohung. Ich will dir etwas zeigen)) »Zeig es mir«, hauchte Lucia, und die Senke und alles um sie herum verschwand. Sie stand auf einer weitläufigen Ebene aus schwarzem Gestein, zerfurcht von Felsbrocken und übersät mit glimmendem Geröll. Die Luft verschwamm vor Hitze, versengte ihr die Lungen, schrumpfte ihr Fleisch. Wind kreischte an ihr vorüber, schleuderte Staub und Kiesel umher, rollte ganze Steinblöcke, ließ ihre Kleider wild um ihren Körper peitschen. Es stank nach Schwefel und Gift. Zu ihren Füßen rollte in einer mächtigen Kluft Magma, das die Züge ihres Antlitzes von unten mit einem Rot der Verdammnis erhellte. Weitere Klüfte zogen wie tiefe Narben ihre Bahnen über die Ebene, und in unregelmäßigen Abständen erbebte der Boden gleich dem Schaudern eines schlummernden Ungeheuers. Die Umgebung und die Wirren des Sturmes entsetzten Lucia zutiefst. Irgendwie wusste sie, dass sie sich nicht wirklich hier befand, und sie glaubte, dass sie nicht in Gefahr war; doch ihre Instinkte meinten etwas anderes, und so stolperte sie von der Kluft zurück, blickte sich wild nach einem Retter um. Die Lava stammte von einer fernen Vulkankette, so breit und hoch, dass ihre Gipfel sich in der dichten Wolke brau327 ner Dämpfe verloren, die ein Dach über dieser Welt bildeten. Mattrote Schimmer glommen dort droben zwischen den donnergleichen Erschütterungen der unablässigen Ausbrüche der Vulkane. Rings um sie ragten noch andere Berge auf, scheinbar tot und erkaltetet, aber genauso riesig, und der Horizont, den sie jenseits der Ebene erkannte, wirkte viel zu nahe. Blitze entluden sich in den Wolken und zuckten zum Boden nieder, schneller als sie es je erlebt hatte, ein Dutzend Mal pro Lidschlag und öfter.. »Was ... was ist das für ein Ort?«, fragte sie gegen das Heulen des Windes. ((Dies ist die Heimat eures Feindes vor tausenden von Jahren, bevor sie zerstört wurde. Dies ist der Mond, den ihr Aricarat nennt)) Die Stimme des Xhiang Xhi ertönte in ihrem Kopf wie das Rascheln von Zweigen. ((Es ist kein Ort für deine Art. Die Luft hier würde euch ersticken. Die Temperatur würde das Fleisch von euren Knochen schmelzen. Der Wind würde euch emporheben und in Stücke peitschen. Die Atmosphäre selbst würde euch wie ein rohes Ei zerquetschen)) »Warum hast du mich hierher gebracht?«, keuchte Lucia, deren Augen vor Grauen zu tränen begannen. ((Um dir etwas zu zeigen)) wiederholte der Geist. »Mir was zu zeigen?« ((Euren Feind)) Hilflos sah Lucia sich um. »Ich sehe nichts.« ((Die Grenzen deiner Sinne behindern dich. Nutze die Gabe, die dich so einzigartig macht. Lausche)) Und so tat es Lucia. Mit einiger Anstrengung begann sie, sich zu beruhigen, langsam in den Dämmerzustand vollkommener Stille zu sinken. Durch die langjährige Übung war es ihr selbst inmitten des rings urri sie tosenden Chaos' möglich, sich in ihr Innerstes zu kehren und einen Kern des Friedens zu schaffen, in den sie sich zurückziehen konnte. Sie sank auf die Knie, bemerkte erst jetzt, dass ihre Füße immer noch nackt 328 waren. Dann legte sie die Hand auf den heißen Steinboden und lauschte dem Herzschlag des Mondes. So vorsichtig sie auch vorging, die schiere Gewalt Aricarats war dennoch überwältigend: die lodernden Adern der Lavaströme, der wirbelnde Kern, die sich stetig wandelnde Oberfläche, die zerbröckelte und durch Erdbeben und Vulkanausbrüche neu geschaffen wurde. Die blanke Urgewalt der Schöpfung, ungefiltert und schrecklich. Lucia zuckte hoch, zog sich zurück, aus Furcht, sie könnte durch die Kraft der Empfindung zerstört werden. Sie durfte nicht zulassen, dort hineingesogen zu werden. Zart sank sie zurück in ihren Dämmerzustand und fing von vorne an, diesmal noch behutsamer. Und sie begann, zwischen dem Gebrüll und Gekreisch dieses grauenhaften Ortes Gedanken auszumachen. Gedanken, so langsam und mächtig wie Kontinente, trieben unter ihr, Vorgänge, so überwältigend und vielschichtig, dass Lucia sie nicht ansatzweise zu ergründen vermochte. Das Grübeln eines Gottes. »Ich höre ihn ...«, sagte sie heiser, und Tränen liefen ihre Wangen hinab. »Ich höre ihn ...« ((Jetzt schau)) drängte der Xhiang Xhi sie. Lucia blickte empor, sah einen weißen Schimmer, der rasend hinter den Wolken anschwoll, sich von Horizont zu Horizont ausbreitete, binnen eines Herzschlags von schummrig zu unerträglich gleißend erstrahlte. »Der Speer Juranis«, flüsterte Lucia bei sich. Dann brach etwas durch die Wolken, eine vom Himmel geschleuderte Sonne, und es ertönte ein Krawall wie das Ende der Welt. Lucia kreischte, als der Feuerball des Aufpralls sie erfasste. Als ihre Sinne sich wieder einstellten, lag sie auf der Erhebung in der Senke des Xhiang Xhi, das Gesicht und die Haare schmutzig, wo sie darauf gefallen war. Nach einer kurzen 329 Weile, um sich zu sammeln, stand sie zittrig auf und wandte sich wieder dem Geist zu. Immer noch hing er im Nebel vor ihr, zu verschleiert für ein klares Bild, ein Schemen mit langen Fingern gleich der kindlichen Zeichnung eines Albtraums. Ständig wabernd, allzeit zerfließend. Die Trostlosigkeit, die er verströmte, drückte Lucia aufs Gemüt.
Sie holte ein paar Mal tief Luft, um sich zu beruhigen, dann schaute sie auf. »Das war der Augenblick, in dem die Götter Aricarat zerstörten«, stellte sie fest. »Als die von seinen Eltern Assantua und Jurani angeführte Armee gegen ihn in die Schlacht zog; und sein eigener Vater, der Gott des Feuers, vernichtete ihn mit seinem Speer.« ((Das ist eure Auslegung. Verworren durch Dichtung, aber mit einem wahren Kern, wie so viele Legenden)) Lucia runzelte die Stirn. »Aber das hat mir der Geist von Alskain Mar erzählt.« ((Der Geist von Alskain Mar ist weder alt genug, um sich daran zu erinnern, noch weise genug, um es zu verstehen. Geister wissen viel, doch ihre Erfahrung ist begrenzt)) Das war neu für Lucia. Bislang war ihr nie in den Sinn gekommen, dass die Geister sich irren könnten. Sie wusste, dass sie bisweilen vorsätzliche Lügner sein konnten, aber sie i hatte ihrem überragenden Wissen stets vertraut. Zu hören, dass selbst sie von diesem Wesen als unbedarft erachtet wurden, erschütterte sie zutiefst. »Und was ist deine Auslegung?«, fragte sie und fürchtete sich fast vor einer Antwort. ((Du würdest die meine nicht verstehen. Euer Wissen baut auf dem eurer Ahnen auf und wächst langsam der Wahrheit entgegen. So ist deine Art nun mal. Ihr glaubt zu jeder Zeit, alles zu wissen, das es zu wissen gibt, und was ihr nicht kennt, erklärt ihr auf eure Weise. Spätere Generationen lachen über eure Unwissenheit, verhalten sich genauso und werden ihrerseits ebenfalls belächelt. Verständnis muss allmählich 330 erreicht werden, Lucia. Die Antworten, die ich für dich hätte, würdest Au nicht glauben, selbst wenn du sie begreifen könntest)) »Was kannst du mir dann sagen?«, fragte Lucia und breitete flehentlich die Hände aus. »Was muss ich wissen?« ((Du hast bereits viel erfahren, aber noch nicht genug)) erwiderte der Geist. ((Du weißt, dass die Trümmer Aricarats auf eure Welt gefallen sind und Bruchstücke der Wesenheit bergen, die darin hauste. Du weißt, dass dieses Wesen noch genügend restliche Macht besaß, um die Weber zu erschaffen, und dass sie sein Werk ausführen, ohne überhaupt zu wissen, wer sie lenkt. Aber du kennst nicht die wahren Absichten der Weber. Du denkst, sie wollen erobern. Doch Eroberung ist nicht ihr Ziel, sondern lediglich eine Stufe in Aricarats Plan. Sie werden sich nicht über Saramyrhinaus ausbreiten. Das brauchen sie gar nicht)) Lucia wartete furchtsam. Rings um sie zerfielen so viele Gewissheiten. Der Xhiang Xhi schwebte im Nebel und wurde dunkler. ((Sie verändern eure Welt, Lucia. Sie nähern sie der Heimat ihres Meisters an. Sie bereiten sie für seine Ankunft vor)) Unvermittelt sah Lucia vor sich wieder die verheerte Ebene und die braunen Wolken, schmeckte den Schwefel in der Luft, und eine Woge der Schwäche schwappte über ihr zusammen. Die Bauten, die von den Webern errichtet worden waren, die Gerätschaften, die Rauchgruben: All das waren Werkzeuge, mit denen sie die Welt dunkel und giftig gestalten würden. Von Saramyr aus würden sie den Pestschleier über die gesamte Nahe Welt ausbreiten, und weiter über die großen Meere, die außer den sagenumwobenen Entdeckungsreisenden der Yttryx nie jemand überquert hatte; danach würden selbst die seltsamen und fernen Gefilde jenseits dieser Wasser verschlungen, und Nukis Auge würde nie wieder auf die Welt herablächeln, denn es würde für immer verhüllt. ((Es gibt für das, was sie tun, kein Wort in deiner Sprache)) fuhr der Xhiang Xhi fort. ((Andere Völker an anderen Orten in weiter, weiter Ferne haben eine Bezeichnung für den Vorgang, doch er wäre 331 bedeutungslos für dich. Du brauchst nur das zu wissen: Wenn ihr die Weber nicht aufhaltet, wird eure Welt auf die eine oder andere Weise enden)) Lucias Augen wirkten kalt, als sie in den Nebel schaute. »Ob durch Aricarats Plan oder jenen der anderen Götter.« ((Du bist scharfsinnig für eine deiner Art. Zumindest damit hatte der Geist von Alskain Mar Recht. Aricarat war einst mächtig, eine bedeutende Gegenwart im Geweb. Wenn er zurückkehrt, wird er erneut Krieg gegen jene führen, die ihr Götter nennt. Sie fürchten ihn. Der Speer Juranis könnte auch diese Welt treffen)) Lucia biss die Kiefer zusammen. Es dauerte kurz, ehe ihr klar wurde, dass sie zornig war. »Dann sind die Götter gehässig«, meinte Lucia, »wenn sie uns für ihre Unfähigkeit büßen lassen wollen. Sie hätten ihrem Feind beim ersten Mal endgültig den Garaus machen sollen.« ((Selbst den Göttern unterlaufen Fehler)) gab der Xhiang Xhi zurück. ((Dein Volk hat eine Geschichte, jene vom grauen Falter und dem Faden des Kummers, die Zeugnis davon ablegt, dass ihr daran glaubt)) »Und wo sind die Götterjetzt?«, rief Lucia. ((Darauf habe ich keine Antwort)) gestand der Xhiang Xhi. ((Ihre Wege sind mir verschlossen, so wie dir die meinen. Alles ist vergänglich, alles verkümmert im Schatten von größeren Belangen. Vielleicht ist euer Krieg in den A ugen solcher Wesen keine Beachtung wert. Vielleicht bleiben die Taten, die ihr im Namen eurer Götter begeht, unbemerkt. Oder vielleicht beobachten sie jeden eurer Züge und warten aus nur ihnen bekannten Gründen. Ich weißes nicht. Jedenfalls greifen die Götter nur ein, wenn es unbedingt sein muss)) Lucia rang ihre Enttäuschung zurück. Zorn war ein Gefühl, das ihr beinahe fremd war, doch nun verspürte sie es. So viele waren gestorben, um sie bis hierher zu bringen, zur Erfüllung ihres Zweckes, und nun erfuhr sie, dass all ihr Streben dazu diente, eine Fehleinschätzung der Götter selbst zu berichti332
gen, und dass die Götter womöglich gar nicht zugegen waren, um sie zusehen. Nein. Das wollte sie nicht glauben. Als sie noch ein kleines Mädchen war, hatten die Mondschwestern höchstpersönlich ihre Kinder geschickt, um sie vor den Shin-shin zu retten. Und sie wusste, dass Kaiku mehr als einmal vom Kaiser der Götter zu Taten angespornt worden war, die sie ansonsten nie begangen hätte. Und dennoch ... was, wenn die Mondschwestern lediglich Geister waren, die in keinerlei Zusammenhang mit den Mondgöttinnen standen? Es war durchaus möglich, dass sie Lucia aus eigenen Gründen gerettet hatten. Geister galten allgemein als launisch, und die Kinder der Mondschwestern waren nach menschlichen Normen wahnsinnig. Was, wenn Kaikus Träume tatsächlich nur das gewesen waren: durch bloßen Glauben ausgelöste Träume? Die Götter lenken die Dinge nicht. Sie bedienen sich feinerer Mittel, beugen den Willen ihrer Gläubigen durch Avatare und Omen, damit sie ihr Werk verrichten. Es gibt keine Vorherbestimmung, kein Schicksal. Wir alle haben unsere Entscheidungen zu treffen. Wir sind es, die unsere Schlachten schlagen. Lucias eigene Worte, die sie an ihren Freund Flen gerichtet hatte, damals, als er noch lebte. Und da war der springende Punkt: Avatare, Omen, feine Mittel. Niemals gestatteten sie Gewissheit, niemals gewährten sie ihren Gläubigen unzweifelhaftes Wissen, niemals boten sie etwas, das sich nicht als Zufall oder Sinnestäuschung erklären ließ. Beim Blut des Herzens, verschleierten sie sich etwa absichtlich} Ergötzten sie sich an der Folter des Sehnens und der Verwirrung, die ihre Unschlüssigkeit für ihre Gläubigen verhieß? War es besser, es den Tkiurathi gleichzutun, die keinen Göttern, sondern den Erinnerungen an ihre erhabenen Vorfahren huldigten? Oder musste man die Götter wie ferne Eltern betrachten, die ihren Kindern gestatteten, eigene Fehler zu begehen und 333 Probleme selbst zu lösen? Die nur ab und an durch einen lenkenden Schubs eingriffen, um ihnen beizubringen, dass sie sich nur auf sich selbst verlassen konnten? Selbst dann, wenn alles auf dem Spiel stand? Andererseits, dachte Lucia mit einem Fall in Schwindel erregende Tiefe, als sie den Blickwinkel verlagerte, andererseits war ihre Welt womöglich nicht die Einzige, um die sich die Götter kümmerten. Vielleicht waren sie nur ein winziger, unbedeutender Punkt zwischen den Sternen, eines von unzähligen Völkern, die allesamt in der Leere der Unendlichkeit nach Aufmerksamkeit haschten. Die schiere Grausamkeit dieser Vorstellung ließ Lucia auf die Knie sinken. ((Ihr dürft es nie erfahren, Lucia)) sagte der Xhiang Xhi. ((So oder so würde Gewissheit euch zerstören)) Sie starrte auf das feuchte Gras der Erhebung. »Sag mir«, forderte sie den Geist schließlich auf. »Gibt es denn überhaupt noch Hoffnung?« ((Es gibt Hoffnung)) gab er zurück. ((Denn Aricarats Plan hat in mancherlei Hinsicht gegen ihn gearbeitet. Er hat nicht mit den Ordensschwestern gerechnet. Er hat nicht mit dir gerechnet)) »Aber wir sind Ausgeburten. Wir entspringen der Geißel, die er geschaffen hat. Einer Krankheit des Landes, die Ernten vernichtet und Kinder im Mutterleib entstellt.« ((Die Geißel ist keine Krankheit des Landes. Sie ist ein Werkzeug der Veränderung. Aricarat will nicht alles Leben auf dieser Welt auslöschen; er braucht euch und wird euch noch lange brauchen, bis er vollständig wieder hergestellt ist. Gewiss werden Menschen und Pflanzen und Tiere sterben, einige aber werden sich anpassen und erholen. Er verändert die Pflanzenwelt Saramyrs, und er verändert dein Volk)) »Er verändert uns?« ((Er verändert euch, damit ihr in der neuen Welt leben könnt, die er erschafft. Damit ihr die Luft atmen könnt, die jetzt noch Gift für euch 334 ist. Die Ordensschwestern sind dazu bereits eingeschränkt in der Lage. Im Verlauf der 7xit wird die Veränderung sich beschleunigen. Mehr von euch werden als Ausgeburten geboren werden. Wenn die Luft feindseliger wird, werden nur noch jene Ausgeburten, die sie richtig atmen können, prächtig gedeihen, und ihre Kinder werden diese Gabe erben. Letztlich wird allein das Volk Saramyrs übrig bleiben: Die Geißel wird euch retten. Alle anderen Länder werden sterben, und die Hexensteine dort können ungestört freigelegt werden. Durch dein Volk)) Lucia schloss die Augen und sah die Bilder, während der Geist sprach. Eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel. »Wie kann das Hoffnung bieten?«, fragte sie. ((Du bietest Hoffnung. Die Schwestern vom Roten Orden bieten Hoffnung. Aricarat wusste nicht, was er entfesselte, als er sich an deiner Art zu schaffen machte. Sein Eingreifen hat Veränderungen heraufbeschworen, die andernfalls erst in Millionen Jahren -falls überhaupt je — aufgetreten wären)) »Was also sind wir?« ((Ihr seid die nächste Stufe. Ihr habt den Schleier der Vorherrschaft zerrissen: die Schranke zwischen der schlichten Welt des Körperlichen und der Welt jenseits der Sinne. In den Augen der Götter ist das die Grenze, die das Ende eurer Kindheit kennzeichnet. Du überschreitest sie auf eine Weise, die Ordensschwestern auf eine andere. Es spielt keine Rolle. Jenseits dieser Schwelle seid ihr nicht mehr, was ihr wart. Ihr seid die ersten der wahren Überweltlichen der Menschheit)) »Cailin hatte also Recht«, flüsterte Lucia. »Die ganze Zeit hatte sie Recht.«
((So ist es)) bestätigte der Geist. ((Für dich und die Ordensschwestern wollte ich sicheres Geleit gewährleisten, wenngleich sich dieses Wohlwollen nicht auf jene ausdehnte, die den Schleier nicht durchbrochen haben. Dennoch ist eine von euch gefallen, und ich konnte es nicht verhindern)) Lucia hob den Kopf. »Was ist mit den Webern?« Der Xhiang Xhi schien in ihrer Sicht zu schrumpfen, mit 335 dem Nebel zu verschmelzen. ((Sie sind nicht wie ihr. Deren Fähigkeiten stammen von ihren Masken. Von Aricarat)) »Aber wenn Aricarat die Ausgeburten geschaffen hat, warum haben die Weber sie dann getötet?«, begehrte Lucia auf. Sie wollte all das nicht glauben und suchte verzweifelt nach Fehlern in den Ausführungen des Geistes. Doch der Xhiang Xhi zeigte sich unerbitüich. ((Es war notwendig, um ihren Aufstieg zur Macht zu sichern, um zu verhindern, dass Geschöpfe wie du und die Schwestern vom Roten Orden entstehen konnten. Dabei haben sie letzten Endes versagt. Zu gegebener 7At werden sie aufhören, Ausgeburten zu töten, und stattdessen beginnen, sie gezielt zu züchten)) »Woher weißt du das?«, schrie Lucia. ((Weil es die einzige Vorgangsweise ist, die einen Sinn ergibt)) erwiderte der Geist, und damit war Lucia geschlagen. Sie war einem Streitgespräch mit einem solchen Wesen nicht gewachsen, etwas, das älter war als die erfasste Geschichte, etwas ihrem Verständnis so überwältigend Überlegenem, dass sie Mühe hatte, selbst die vereinzelten Brocken an Wissen zu verarbeiten, die es ihr zuwarf. Sie wagte gar nicht daran zu denken, wie viel der Geist verschweigen, wie viel jenseits ihrer Erfahrung liegen mochte. Vielleicht wäre sie, wenn sie es wüsste, von ebensolchem Gram erfüllt wie der Xhiang Xhi. Vielleicht war Unwissenheit besser. Wie winzig sie alle doch letzten Endes waren. Zerzaust und abgespannt rappelte Lucia sich auf die Beine und starrte in den Nebel auf den verschwommenen, wabernden Schemen des Xhiang Xhi. »Ich flehe dich an«, sagte sie. »Hilf uns. Hilf uns zu verhindern, dass all das über uns kommt.« Sie spürte, wie der Xhiang Xhi sie hier in seinem frostigen und düsteren Hort betrachtete. ((Ich werde euch helfen)) antwortete er. Dann, nach einer Pause, die nur wenige Lidschläge währte, sich aber wie Stunden anfühlte, fügte er hinzu: ((Aber meine Hilfe hat einen Preis)) 336 Die Dunkelheit war angebrochen, als Lucia aus dem Tunnel trat. Zunächst bemerkte sie niemand. Sie alle waren in Kummer versunken und hockten matt auf dem Waldboden unter dem steten Blick des Schattenungeheuers, das auf dem kleinen Hügel kauerte. Die meisten waren in einen Schlummer der Erschöpfung geglitten, denn hier in der Gegenwart des großen Geistes blieben die Albträume aus. Kaiku erwachte durch die Berührung von Tsatas Hand an ihrer Schulter. Sie schaute zu ihm auf. Irgendwann im Verlauf der letzten Stunden hatte sie sich mit dem Kopf auf seinem Oberschenkel in den Schlaf geweint. Sie richtete sich auf, wischte sich das Haar über ein Ohr zurück und folgte seinem Blick zu Lucia. Sogleich rappelte sie sich auf die Füße und rannte zu ihr hinüber. Sie zog Lucia in eine innige Umarmung; doch die Worte der Erleichterung, die ihr auf der Zunge lagen, wurden nie ausgesprochen. Lucia blieb steif, ließ die Arme an den Seiten herabhängen. Kaiku trat zurück und sah ihr fragend ins Gesicht. »Lucia?« Nun standen auch die drei Soldaten auf und näherten sich, jedoch vorsichtig, so als fürchteten sie sich vor ihr. Auch Asara hatte sich erhoben, beobachtete das Geschehen aber aus der Ferne. »Es ist vollbracht«, verkündete Lucia. Ihre Stimme hörte sich ton- und ausdruckslos an. »Uns wurde freies Geleit aus dem Wald gewährt. Das Ungeheuer wird uns beschützen.« »Lucia?«, wiederholte Kaiku in fragendem Tonfall. Sie versuchte zu lächeln, doch die Geste verpuffte in Unsicherheit. »Lucia, was ist geschehen?« »Die Geister werden uns beistehen, wenn die Zeit dafür gekommen ist«, antwortete Lucia scharf. »Das ist es doch, was ihr wolltet, oder?« 337 Bevor Kaiku aufbegehren konnte, wandte Lucia sich an die Gruppe. »Wir müssen nach Arakajo zurückkehren. Ich wünsche, keinen Augenblick länger an diesem Ort zu weilen.« Ihr Tonfall schloss jegliche Fragen aus, zudem räumte sie ohnehin keine Gelegenheit dafür ein. Sie ließ Kaiku verwirrt und verletzt stehen und steuerte auf die Bäume zu. Da sie keine andere Wahl hatten, folgten die Überlebenden ihres Gefolges ihr nacheinander, während die Nacht im Wald von Xu Einzug hielt. 338 ZWANZIG Die große Stadt Axekami schwelte missmutig in ihren eigenen Ausdünstungen. Den ausgestoßenen Dämpfen der Bauten der Weber haftete ein eigenartiges Gewicht an, eine Zähigkeit, die jene gewöhnlichen Rauches überstieg. Die Hauptmasse stieg gleich einer rollenden Kappe über die Stadt auf, die von der Brise über die Ebenen gezogen wurde, sodass sie sich nach Osten neigte; doch ein Teil sank auch herab, um die Erde zu verschleiern, breitete sich entlang des Bodens aus. An den Rändern wirkte der Pesthauch wie lichte
Dunstschlieren, dennoch schien er die Luft von Horizont zu Horizont zu durchdringen gleich einer Ahnung, dass etwas nicht stimmte, was jedoch zu fein für das Auge war, um es richtig zu erfassen. Mittlerweile verhingen rings um Axekami ständig Wolken den Himmel, was für die Winterszeit ungewöhnlich war. Gelegentlich luden sie einen braunen Regen ab, der durchdringend nach faulen Eiern stank. Das Kaiserviertel war nur noch ein Abklatsch seines früheren Prunks. Seine Gärten präsentierten sich ungepflegt, die Brunnen trüb und verdreckt. Die Blätter der Bäume waren abgefallen und vermoderten auf den Fliesen und Kopfsteinpflastern. Die Stadthäuser, in denen einst die Adeligen und hohen Familien des Kaiserreichs gewohnt hatten, waren ausgeweidet, längst aller Pracht beraubt worden und dienten nur noch Horden von Mittellosen als Unterschlupf. Auf den breiten Durchzugsstraßen herrschte kaum noch Verkehr, und in den überwucherten Parks oder verschlammten Wassergärten zogen schlurfende Stadtstreicher ihre Kreise. 339 Doch obwohl dem Ort die Seele herausgerissen worden war, hatten kleine Erinnerungen an seine Vergangenheit Bestand. Läden und Händler hielten den Betrieb aufrecht, ermöglichten sich ein karges Auskommen durch den Verkauf der Waren, die sie in die Stadt zu bekommen vermochten, waren kaum in der Lage, die Wachen zu bezahlen, die verhinderten, dass sie ausgeraubt wurden. Ihr Überleben hing an spärlichem Handel mit dem Rest Axekamis. Die einzige andere Möglichkeit bestünde darin, Hab und Gut aufzugeben und fortzuziehen, doch es gab nur noch wenige, die dafür das Geld und die Mittel besessen hätten. Und so überdauerte man die Unbilden, so gut es ging, und hoffte aufbessere Tage. Ein solcher Laden gehörte einem Kräuterkundler, der einst den Ruf genossen hatte, der beste seiner Zunft im ganzen Land zu sein. Sein Vater und vor diesem sein Großvater waren zu Hoflieferanten der Arzte der Kaiserfamilie ernannt worden, eine Ehre, die zu seiner Zeit auch ihm zuteil geworden war. Nachdem die Weber Axekami übernommen hatten und es keine Kaiserfamilie mehr gab, hatte er sich geweigert, die Räumlichkeiten seiner Ahnen aufzugeben. Sogar als der Arzt des Regenten und Geblüts Koli ihm einen Platz in der Kaiserlichen Feste anbot, hatte er abgelehnt. Abgesehen von seiner Entschlossenheit, den Laden zu behalten, hegte er wenig Liebe für die Weber und traute ihnen nicht über den Weg. Also war er hier im Kaiserviertel geblieben, und der Arzt suchte ihn auf, um zu kaufen, was er benötigte, wobei er in einer schwarzen, goldgefassten Kutsche vorfuhr, begleitet von Wachen mit Büchsen. Die Wachen stellten sich vor dem Laden auf, während er ihn betrat. Der Arzt, dessen Name Ukida lautete, war dürr und zerbrechlich, hatte strähniges, weißes, über einen erkahlenden Schädel gekämmtes Haar und wässrige blaue Augen. Ungeachtet der Gebrechlichkeit, die sein Erscheinungsbild vermittelte, bewegte er sich mit dem Gebaren eines halb so alten 340 Mannes, und seine Stimme war fest und selbstsicher. Sein Gewand schlackerte lose um seine hagere Gestalt, als er vorbei an Gläserreihen und halb mit zerriebenen Wurzeln gefüllten Stoffbeuteln zur Ladentheke vortrat. Die meisten Fächer lagen leer. Die zur Unterstützung des trüben Tageslichtes angezündeten Laternen trugen bloß zur bedrückenden Stimmung bei, denn sie erinnerten Ukida daran, dass sie um diese Stunde nicht notwendig sein sollten. Er und der Kräuterkundler - ein gedrungener, rundlicher Mann mit Backenbärtchen und forschem, tüchtigem Auftreten - wechselten ein paar freundliche Worte, bevor eine Liste übergeben wurde und der Kräuterkundler in seinen Vorbereitungsraum verschwand, um die benötigten Mengen zu mahlen. Ukida wartete, klopfte mit den Fingern auf die Theke und sah sich müßig im Laden um. »Meister Ukida«, sprach eine Stimme. »Gut seht Ihr aus.« Der Klang seines Namens erschreckte ihn: Er hatte den Laden für verwaist gehalten. Dann erspähte er die Frau, die an dem Durchgang auftauchte, der in den hinteren Bereich des Ladens führte. Sie kam auf ihn zu, und seine Augen weiteten sich, als er sie erkannte. »Ich harre Eurer schon lange«, sagte sie. »Geschlagene drei Tage.« »Fürstin Mishanü«, rief er zischend aus, zu bestürzt, um daran zu denken, sich zu verneigen. »Was macht Ihr hier?« »Ich bin gekommen, um Euch um einen Gefallen zu ersuchen«, antwortete sie. Im düsteren Licht wirkte ihr schmales Gesicht blass und gelblich. Sie trug nicht die üblichen Prunkgewänder. Die Kluft, in der sie steckte, war abgewetzt und schmutzig, vorgesehen für Reisen, und ihr Haar war in einem schmucklosen Zopf hinten unter die Kleider geschoben, um dessen Länge zu verbergen, wozu ferner eine breite Kapuze beitrug. So eng an ihren kleinen Schädel angezogen, ließ es sie wie ein Nagetier und alles andere als adelig erscheinen. 341 »Wenn man Euch findet, wird man Euch töten«, stieß Ukida hervor, dann fügte er hinzu: »Und mich könnte man schon töten, nur weil ich mit Euch rede.« Beunruhigt schaute er über die Theke, wo der Kräuterkundler gestanden hatte. »Er weiß Bescheid«, klärte Mishani ihn auf. »Er erinnert sich noch an die Tage des Kaiserreichs und fühlt sich ihnen verbunden. Ich ahnte, dass Ihr früher oder später herkommen würdet, deshalb bat ich ihn, mich auf Euch warten zu lassen.« Sie bedachte den Arzt mit einem süßsauren Lächeln. »Dies war schon immer der einzige Ort, von dem Ihr Euch beliefern lassen wolltet. Selbst meinem Vater gegenüber habt Ihr stets darauf bestanden, dass Ihr Euch nur mit dem Besten zufrieden geben würdet.«
»Euer Gedächtnis ist ausgezeichnet, Fürstin, doch ich fürchte, auf Euer Urteilsvermögen trifft das nicht zu. Ihr schwebt hier in Axekami in größter Gefahr. Seid Ihr etwa allein durch diese Straßen gewandelt? Was für ein Wahnsinn!« »Mir ist das Wagnis wohl bekannt, Ukida. Besser als Euch«, entgegnete Mishani. »Ich möchte, dass Ihr meiner Mutter einen Brief zustellt.« Erschrocken schüttelte Ukida den Kopf. »Fürstin Mishani, damit würdet Ihr mein Leben aufs Spiel setzen!« »Es besteht keinerlei Gefahr. Wenn Ihr möchtet, könnt Ihr ihn ruhig lesen.« Sie zog den Brief hinter der Schärpe ihres Gewands hervor und streckte ihn dem Arzt entgegen. Er war unversiegelt. Unschlüssig betrachtete Ukida ihn. Mishani konnte aus seinen Zügen lesen, dass er grübelte, wem in dieser Lage seine Treue gelten sollte. Einerseits waren da die Blutsbande mit Mishanis Familie, die sich auch auf sie erstreckten; immerhin war sie offiziell nach wie vor ein Mitglied des Geblüts Koli. Andererseits wusste die gesamte Dienerschaft, dass Mishani in jener Familie nicht mehr willkommen war und ihr Vater sie höchstwahrscheinlich hinrichten ließe, so er sie in die Finger 342 bekäme. Im besten Fall würde sie eingekerkert und verhört. Mittlerweile war ihre Verstrickung in die Entführung Lucias gemeinhin bekannt, wenngleich sie nie offiziell bestätigt worden war. Wenn die Weber sie fänden, würden sie keine Gnade kennen, weder mit ihr noch mit jemandem, der ihr geholfen hatte. Zögernd nahm er den Brief entgegen und entfaltete ihn. Er enthielt keinerlei Angaben über den Empfänger oder Absender, nur ein Dutzend lotrechter Reihen mit hoch-saramyrrischen Schriftzeichen. »Es ist ein Gedicht«, stellte er fest. Und kein besonders gutes, ergänzte er in Gedanken. »So ist es«, bestätigte Mishani. »Bitte überbringt es meiner Mutter. Ihr müsst nicht einmal sagen, dass es von mir stammt. Niemand wird es erfahren.« »Die Weber werden es erfahren«, widersprach er. »Vor ihnen gibt es keine Geheimnisse.« »Glaubt Ihr das wirklich?«, fragte Mishani. »Von Euch hätte ich nicht erwartet, dass Ihr Euch der künstlich gesäten Angst der Weber ergebt.« »Sie sind in der Lage, Schuld im Verstand eines Menschen aufzuspüren«, gab Ukida zu bedenken. »Nur wenn sie Anlass haben, danach zu suchen«, hielt sie dem entgegen. »Vertraut mir, Meister Ukida. Ich lebe seit geraumer Zeit im unmittelbaren Umfeld des Roten Ordens. Mir ist bekannt, wozu die Weber in der Lage sind und wozu nicht. Es mag ein Wagnis bestehen, doch es ist gering. Ihr seid meine einzige Hoffnung.« Ukida musterte sie eingehend, dann faltete er den Brief und verneigte sich vor ihr. »Es wird erledigt«, sagte er knapp. »Mein zutiefst empfundener Dank ist Euch gewiss«, gab Mishani zurück. Damit erwiderte sie die Verneigung, wobei sie bewusst eine demütigere Haltung einnahm, als nötig gewesen wäre. Sie kannte ihn: Hochmut wäre die falsche Sprache bei 343 ihm gewesen, auch wenn er nach wie vor unter ihrem Rang stand. Erwirkte durch ihre Geste gelinde verlegen. Mishani verschwand durch den Durchgang in den hinteren Teil des Ladens, just als der Kräuterkundler wie auf ein Stichwort zurückkehrte. Ukida bezahlte seine Waren und ging. Den Brief hatte er sorgfältig im Gewand verstaut. Muraki tu Koli saß in ihrer kleinen Kammer am Schreibtisch und ließ den Federkiel im Schein einer Laterne zuckend über das Papier kratzen. Mangels Fenstern nahm sie keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht wahr, und sie hegte ohnedies kein Verlangen, die vom Pesthauch verhangene Scheibe von Nukis Auge zu sehen. Außer zu den vereinzelten Mahlzeiten, die sie zusammen mit ihrem Gemahl einnahm, verließ sie diesen Raum selten. Ihr neuer Band der Abenteuer Nidajans neigte sich dem Ende zu, und sie ging völlig in der Welt auf, die sie geschaffen hatte, angespornt vom unaufhaltsamen Schwung der Geschichte. Ein Teil von ihr verspürte Verbitterung ob der Notwendigkeit zur Eile, denn sie empfand großen Stolz auf ihre Werke, und es widerstrebte ihr zutiefst, dass die Belange der wahren Welt sie zur Hast zwangen; dennoch versprühten ihre Erzählungen eine ganz eigene Kraft, und dafür lebte sie. Ukidas Klingeln vor dem bevorhangten Eingang nahm sie ebenso wenig wahr wie sein unaufgefordertes Eintreten. Ihre Dienerschaft hatte sich angewöhnt, nicht zu warten, bis sie antwortete, denn das tat sie nie. Und so kam er einfach herein, verneigte sich und legte einen Brief an den Rand ihres Schreibtischs. Dann ließ er einen abwägenden Blick über sie schweifen, wobei ihm ins Auge stach, dass sie äußerst blass war und schwindsüchtig wirkte. Schlechte Luft, ungesunde Essgewohnheiten, keine Bewegung, kein Sonnenlicht. Sie würde bald erkranken. Er hatte sie bereits darauf aufmerksam 344 gemacht, hatte sogar gewagt, es Avun mitzuteilen; man hatte ihm höflich zugehört, aber keine Beachtung geschenkt. Mit einer weiteren Verbeugung zog er sich zurück. Muraki schrieb weiter. Erst einige Stunden später hielt sie inne, um einen Krampf in ihrer Hand zu lösen; da bemerkte sie den Brief und fragte sich, wie er hierher gekommen sein mochte. Sie ergriff ihn und entfaltete ihn, las, was darin stand. Kurz stockte ihr der Atem, sog sie vor Überraschung heftig die Luft ein. Sie las die Zeilen erneut, strich einige Schriftzeichen durch und überflog die Worte abermals. Dann verbrannte sie das Schriftstück in der Laterne zu Asche. Schließlich lehnte sie sich am Schreibtisch zurück und starrte auf die Seite, an der sie
geschrieben hatte. Nach einer Stunde erhob sie sich und begab sich auf die Suche nach Ukida, begleitet vom leisen Flüstern ihrer Schuhe auf dem Boden. Mit zögerlichen, vorsichtigen Schritten betrat Avun tu Koli sein Arbeitszimmer. In dem Raum war es düster und kühl, zumal der spiralgemusterte Lachboden der Umgebung die spärliche Wärme entzog. Abgesehen von einem mächtigen Marmorschreibtisch vor einer Reihe von Fensterbögen, die auf die verhüllte Stadt hinauswiesen, und ein paar Schränken zum Verstauen von Unterlagen und Schreibzeug gab es wenig Einrichtung. So wie sein Leben gestaltete er seine privaten Räumlichkeiten ordentlich und streng. Verstohlen sah er sich in dem Zimmer um. Dann, nachdem er sich vergewissert hatte, dass es verwaist war, huschte er hinein und ließ den Vorhang hinter sich zufallen. »Willkommen zurück, Avun«, krächzte Kakre; Avun zuckte zusammen und fluchte. Der Webfürst stand hinter dem Schreibtisch, doch irgendwie hatte Avun ihn dort übersehen. Seine Augen waren ein345 fach über den Eindringling hinweg geglitten, hatten in seinem Verstand eine leere Stelle gemeldet. »Ihr scheint mir heute ungewöhnlich unruhig«, bemerkte Kakre. »Wozu Ihr auch allen Grund habt.« »Tut nichts Unüberlegtes, Kakre«, warnte ihn Avun, doch in seiner Stimme schwang wenig Kraft mit. »Ich hatte mit Fahrekhs Taten nichts zu tun.« »Dennoch fiel alles höchst gelegen zusammen. O fürwahr«, entgegnete der Webfürst und schlurfte um den Rand des Schreibtischs herum. »Welch außergewöhnliches Gespür für den rechten Zeitpunkt er doch besaß, indem er just zuschlug, nachdem Ihr Euer Möglichstes getan hattet, um mich zu erschöpfen.« Er legte den Kopf schief, wodurch aus der Leichenmaske mit dem klaffenden Mund ein absonderliches Zerrbild von Neugier zu sprechen schien. »Wo seid Ihr gewesen, mein Regent?« Avun beruhigte sich, rang um seine Fassung. Wie seine Tochter schätzte auch er die Fähigkeit, jegliche Gefühlsregungen zu beherrschen, und dass Kakre seine Furcht bemerkt hatte, mochte man als Maß dafür betrachten, wie verängstigt er tatsächlich war. »Ich bin nach Ren gereist, um dort den Bau einer neuen Rauchgrube zu besprechen«, antwortete er. »Und war das nicht etwas, das Ihr einem Untergebenen hättet auftragen können?« »Ich wollte persönlich anwesend sein«, gab Avun zurück und ging weiter in das Zimmer, um zu verdeutlichen, dass er keine Angst hatte, dass es nichts gab, weswegen er sich fürchten müsste. »Es ist nie verkehrt, sich um kleine Belange ebenso zu kümmern wie um große. Dadurch bewahre ich mir den rechten Blickwinkel.« »Da habt Ihr Euren Blickwinkel«, zischte Kakre. Damit zuckte eine runzlige Hand in Avuns Richtung, und die Eingeweide des Regenten krümmten sich, als würden sie verdreht. Der 346 Schmerz ließ Avun taumeln, doch er biss die Zähne zusammen und brüllte nicht. »Dachtet Ihr, mein Zorn würde verfliegen, wenn Ihr mir ein paar Tage aus dem Weg bleibt?«, knurrte Kakre. »Oder dachtet Ihr womöglich, ich würde es vergessen} Dass mein benebelter Verstand bei Eurer Rückkehr sich nicht daran erinnern würde, was Ihr getan habt? Ihr unterschätzt mich maßlos, so wie Fahrekh.« Er ballte die Hand zur Faust; diesmal schrie Avun und sank auf ein Knie. Auf seinem kahlen Schädel glänzte Schweiß, seine Züge waren vor Pein straff gespannt. »Ich wusste ..., dass Ihr die falschen... Schlüsse ziehen würdet«, presste Avun mühsam hervor. »Ich glaube, mein werter Avun, ich kenne Euch gut genug, um zu ahnen, dass Ihr Euch mit Fahrekh verschworen habt, um mich zu töten«, sagte Kakre. »Verrat liegt Euch im Blut. Nur habt Ihr Euch diesmal das falsche Opfer ausgesucht.« »Ich... ich... war es nicht...« Mittlerweile vermochte Avun kaum noch zu atmen. Kakre steigerte die Qualen, bis es sich anfühlte, als hätte er Avun Messer in die Gedärme gerammt, die sich nun langsam drehten. »Ihr leugnet weiter? Wenn mir danach wäre, könnte ich ja Eure Gedanken durchforsten, um die Wahrheit ans Licht zu bringen«, schlug der Webfürst vor. »Wenngleich ich nicht mehr so zielsicher bin wie früher. Das Ergebnis könnte ... bedauerlich sein.« Seine Totenfratze starrte teilnahmslos aus dem von der Kapuze geworfenen Schatten hervor. »Es wäre einfacher, Euch kurzerhand zu töten.« »Ihr könnt mich nicht töten«, spie Avun ihm entgegen. Blutrote Speichelfäden hingen von seinem schmalen Kinn. »Soll ich mich etwas mehr anstrengen?« Avuns Zähne waren so fest aufeinander gepresst, dass er sie nur unter größter Mühe auseinanderzwängen konnte, um zu sprechen. »Die Weber ... sterben mit mir ...« 347 Mit einem Ruck lockerte sich der Druck um seine Eingeweide. Nicht viel, aber genug, damit er wieder kostbare Luft atmen konnte. Gierig sog er sie in die Lungen, mittlerweile auf Händen und Knien. Blut troff aus seinem Mund auf dem Boden. »Sieh an, sieh an«, krächzte Kakre mit tonloser Stimme. »Und was genau meint Ihr damit, mein werter Regent?« Avun zögerte seine Antwort einen Augenblick hinaus, genoss die Verschnaufpause, wählte die Worte sorgfältig. Zumal sie den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten würden. Er wischte sich mit dem Handrücken
über den Mund und starrte zu der Gestalt mit der Kapuze empor, die über ihm aufragte. »Es gibt sonst niemanden, der Eure Armeen anzuführen vermag«, sagte er. »Ist das schon Euer bester Versuch?«, höhnte Kakre. »Bemitleidenswert. Wir haben etliche Untergebene, Generäle der Schwarzen Wachen, die nur allzu bereitwillig Euren Platz einnehmen würden.« »Und wer hat diese Generäle ausgewählt? Ich. Und ich habe seit Jahren planvoll alle guten aus den Machträngen entfernt.« Kakre blieb stumm. Avun zog einen Fuß unter sich und stand auf, umklammerte mit einer Hand den flachen Bauch. »Durchforstet ruhig ihre Aufzeichnungen, wenn Euch danach ist«, forderte Avun ihn auf. »Keiner besitzt echte Erfahrung in der Massenkriegsführung. Sie sind allesamt Friedenserhalter, Männer, die sich darauf verstehen, in unseren Städten für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Da wir Ausgeburten und Nexusse für die Kampfeinsätze hatten, waren die alten Generäle nutzlos, also habe ich mich ihrer entledigt. Darauf habt Ihr nicht ausreichend geachtet, Kakre. Es ist nie verkehrt, sich um kleine Belange« - er brachte ein rotfleckiges Grinsen zustande »ebenso zu kümmern wie um große.« 348 Immer noch schwieg der Webfürst, musterte Avun nur aus den dunklen Gruben der Augenlöcher der Maske. Avun wankte zu seinem Schreibtisch und lehnte sich mit einem Arm darauf, um sich zu stützen. Er fühlte sich, als hätte er zerbrochenes Glas geschluckt. »Erinnert Ihr Euch an die ersten Monate dieses Krieges? Wisst Ihr noch, wie die Generäle des alten Kaiserreichs Eure Armeen abgeschlachtet haben? Genauso wird es wieder sein, wenn Ihr mich tötet. Es gibt niemanden, der in der Lage ist, meinen Platz einzunehmen.« »Wir können jemanden finden«, entgegnete Kakre düster, doch er hörte sich verunsichert an. »Könnt Ihr das wirklich? Wisst Ihr, worauf bei einem Anführer zu achten ist?« Abschätzig schüttelte Avun den Kopf. »Wie auch immer. Jeder andere würde Zeit brauchen, um sich mit Euren Streitkräften vertraut zu machen, um eine Machtordnung zu erstellen. Zeit, die Ihr nicht habt. Eure Zuchtunterfangen liefern zu wenige Ausgeburten, um sowohl Eure bestehenden Gebiete zu beherrschen als auch neue anzugreifen. Und je mehr Ihr erzeugt, umso schneller verhungern Eure Armeen. Ihr braucht die Südlichen Präfekturen, und zwar vor der Sommerfestwoche. Das ist so schon schwierig zu bewerkstelligen. Wenn Ihr mich auslöscht, sind Eure letzten Erfolgsaussichten dahin. Und dann beginnt der langsame Verfall Eurer Streitkräfte, und die Truppen des Kaiserreichs werden Euch Stück für Stück auseinander nehmen. Ihr könnt mit Euren Dämonen der Fäulnis zwar in eine Stadt einmarschieren, aber Ihr könnt sie nicht besetzen. Dafür braucht Ihr Armeen. Dafür braucht Ihr mich!« Er rappelte sich auf, um wieder aufrecht zu stehen, verbannte den Schmerz aus seinen Zügen und richtete die trüben, echsenartigen Augen auf den Webfürsten. »Die neuen Rauchgruben sind in Betrieb. Die Feyakori können heraufbeschworen werden. Wir müssen zusammenar349 beiten, oder Eure heiß geliebten Kloster werden fallen wie Utraxxa.« Damit stapfte er forsch aus dem Raum. Die wenigen Schritte, die er zu dem bevorhangten Eingang seines Arbeitszimmers brauchte, waren von blankem Grauen begleitet: Avun rechnete jeden Augenblick damit, niedergestreckt und gefoltert zu werden. Doch dann erreichte er den Vorhang und ging hindurch, und obwohl er Kakres siedende Enttäuschung, seinen züngelnden Hass wie etwas Greifbares spüren konnte, wusste er, dass diese Runde an ihn gegangen war. 350 einundzwanzig Kaiku schob die Trennwand zu, um die überall in Araka Jo stattfindenden Feierlichkeiten auszusperren, und schaute durch den Raum zu Cailin. »Die Menschen sind heute Abend in selten guter Stimmung«, stellte das Oberhaupt des Roten Ordens fest. »Sie sind Hohlköpfe«, gab Kaiku verbittert zurück. »Wie Ziegen, die blökend und blind ihren Hirten vertrauen.« Die Dunkelheit hielt gerade Einzug, und die Nachtinsekten begannen im Unterholz, ihren misstönenden Chor anzustimmen, der im Tumult der Jubelrufe, erhobenen Stimmen und Feuerwerke beinahe unterging. Im Vergleich dazu herrschte im Haus des Roten Ordens Stille. Die meisten Schwestern waren draußen im Dorf oder droben in der Tempelanlage, um die Festlichkeiten zu beobachten, die angesichts von Lucias Rückkehr entflammt waren. »Du bist wütend«, stellte Cailin fest. »Ja«, bestätigte Kaiku. Sie trug nicht die Aufmachung des Ordens, zumal sie sich unmittelbar nach ihrer Ankunft hierher begeben hatte. Da Kundschafter ihr Herannahen gemeldet hatten, waren sie bereits von den Leuten der Libera Dramach erwartet worden. »Wegen denen?« Cailin deutete hinter die Trennwände. »Unter anderem«, gab Kaiku zurück. Cailin stand im Raum, und Laternenschein erhellte eine Seite ihres bemalten Gesichts. An einer Wand befand sich ein Tisch mit darunter verstauten Matten, aber Cailin holte sie nicht hervor oder lud Kaiku ein, sich zu
setzen. Kaiku verbreitete eine Feindseligkeit, die Cailin ganz und gar nicht gefiel. 351 »Halten die das für einen Triumph?«, fauchte Kaiku. »Sieht es etwa danach aus, als wären wir in Glanz und Glorie zurückgekehrt? Wir schaffen es mit Müh und Not hierher, eine Hand voll Überlebender, und alles, was die kümmert, ist, dass Lucia wieder da ist und ein wenig ... Hoffnung mitgebracht hat. Mehr nicht. Kein Wort der Erklärung, nichts, um all diese Tode, Phaecas Tod zu rechtfertigen. Lucia weigert sich, etwas darüber zu erzählen, was dort im Wald vor sich ging. Sie sagt nur, dass die Geister uns helfen werden, wenn die Zeit dafür gekommen ist.« »Für die Menschen bedeutet sie Hoffnung«, gab Cailin besänftigend zu bedenken. »Die Verluste sind ihnen einerlei. Sie hatten Angst, ihre Galionsfigur zu verlieren. Ihre Retterin. Vielleicht sind sie töricht, aber sie sind auch verzweifelt. Hätten wir Lucia verloren, hätten wir zugleich die Herzen der Menschen verloren.« Argwöhnisch musterte sie Kaiku. »Ich bin dir dankbar, Kaiku. Wieder einmal hast du dich selbst übertroffen. Du hast sie lebendig zurückgebracht.« »Ich bin mir nicht sicher, ob mir an deiner Dankbarkeit etwas liegt«, knurrte Kaiku. Cailin verfiel in frostiges Schweigen. »Du hättest Phaeca nicht mitschicken dürfen«, warf Kaiku ihr schließlich vor. Doch ihr Tonfall war ruhiger, und Cailin vermutete, dass selbst dies nicht der eigentliche Grund für ihren Zorn war. »Du hättest nicht einwilligen sollen, sie mitzunehmen«, hielt Cailin dem entgegen. »Ich kann mich nicht erinnern, dass du dich übermäßig beschwert hättest.« »Sie war zu empfindsam«, murmelte Kaiku. »Das hat sie in den Wahnsinn getrieben. Vielleicht hätte sie sich erholt, wenn wir diesen von den Göttern verfluchten Ort rechtzeitig verlassen hätten. Aber sie hätte gar nie dabei sein dürfen.« Cailin ließ es dabei bewenden. Sie hatte dazu nichts zu sagen. Bevor Lucia und die anderen den Wald von Xu betra352 ten, hatte niemand eine Ahnung gehabt, wie es darin tatsächlich war. Schuldzuweisungen waren völlig nutzlos. Cailin ging phaecas Tod genauso nahe wie Kaiku, wenngleich aus anderen Gründen: Sie betrauerte den Verlust eines Mitglieds ihres geliebten Ordens, Kaiku jenen einer Freundin. »Und Lucia?«, fragte sie. »Wie steht es um Lucia?« »Sie ist anders«, gab Kaiku zurück und lief auf ihrer Seite des Raumes rastlos auf und ab. »Kalt. Einsilbig. Aber seit ihrem Besuch beim Xhiang Xhi ist sie bei klarem Verstand. Sie wirkt überhaupt nicht mehr verträumt oder weggetreten. Wenn sie jetzt nicht antwortet, dann deshalb, weil sie nicht antworten will. Ich weiß nicht, wie sie mir lieber ist. Irgendwie ist beides gleich schlimm.« Die Erregung, die sich in ihrer Körpersprache zeigte, steigerte sich. Cailin erkannte, dass sie demnächst auf den eigentlichen Kern kommen würde, dass sie den Augenblick nur hinauszögerte. »Ich muss es wissen«, sagte sie unvermittelt. »Der Rote Orden. Ich muss es wissen.« Sie blieb stehen, schaute Cailin an und fragte unverblümt: »Was tun wir?« »Wir retten Saramyr.« »Nein!«, zischte Kaiku in scharfem Tonfall. »Ich will die Wahrheit! Was geschieht danach?« Cailin hörte sich verwirrt an. »Das weißt du doch, Kaiku.« »Dann sag's mir noch mal.« Cailin musterte sie einen Augenblick, dann wandte sie sich von der Laterne ab. »Wir nehmen den Platz ein, den früher die Weber hatten. Wir werden der Leim, der unsere Gesellschaft zusammenhält.« Sie drehte sich um und begegnete Kaikus Blick. »Nur wird es zwischen uns keine Streitigkeiten geben. Wir sind nicht wie die Weber. Wir würden einander nicht auf Geheiß unserer Meister töten oder unsere Fähigkeiten einsetzen, um die Gegner unserer Meister zu meucheln. Wir hätten gar keine Meister.« 353 »Und auf diese Weise könnten wir die Gesamtheit Saramyrs erpressen«, stellte Kaiku in den Raum. Cailin betrachtete sie eingehend. »Das also denkst du, dass wir tun werden?« Kaiku stieß ein kurzes, freudloses Lachen hervor. »Spielt es eine Rolle, was ich denke? Der Adel wird das denken. Das Kaiserreich kann nicht geführt werden, wenn seine Macht in den Händen des Roten Ordens liegt. Sollen die Adeligen etwa glauben, dass wir aus reiner Mildtätigkeit handeln würden? Dass wir unser Leben dem Dienst als ihre Sprachrohre, ihre Botinnen widmen würden? Wir besitzen zu niemandem Blutsbande, daher könnten wir tun, wonach uns der Sinn steht. Glaubst du wirklich, dass man sich damit lange abfinden würde?« »Man hätte wohl kaum eine andere Wahl«, gab Cailin zurück. »Gewiss, wir wären in der Lage, Zugeständnisse zu erwirken, aber nicht mehr als früher die Weber. Und wir müssen kein Leben als Preis für unsere Macht verlangen.« »Nein, Cailin. Der Adel ist zu klug, um sich darauf einzulassen, und das weißt du. Das wäre viel zu unsicher. Letzten Endes würde die Furcht vor uns dafür sorgen, dass man sich unserer entledigt. Und ich möchte wetten, ganz gleich wie dein Plan für die Schwesternschaft aussieht, er sieht vor, dass dieser Fall unmöglich wird. Selbst wenn das verhieße, sich umgekehrt ihrer zu entledigen.« »Allmählich werden deine Anschuldigungen beleidigend, Kaiku«, warnte Cailin sie. »Bedenke, mit wem du
redest.« Kaiku aber schüttelte nur den Kopf. »Ich habe aus deinem Mund gehört, dass die Ordensschwestern höhere Wesen als Menschen darstellen. Keinen Augenblick würde ich glauben, dass du bereit wärst, irgendjemandem zu dienen. Du lügst, Cailin. Du führst etwas im Schilde.« Sie strich sich das Haar hinter ein Ohr. »Sonst hättest du die Weber nicht den Thron übernehmen lassen. Du hättest verhindert, dass Axekami ver354 fällt. Du hättest nicht zugelassen, dass all diese Menschen starben.« Cailin zeichnete sich als schmaler, kantiger und schwarzer Umriss vor dem blauen Schein der Nacht ab, der durch die Papiertrennwände drang. »Wie ich höre, hast du mit Asara gesprochen.« »Nein«, entgegnete Kaiku. »Ich habe mit ihr so wenig wie möglich gesprochen. Vielmehr habe ich nachgedacht. Und es ist alles recht offensichtlich, wenn man davon ausgeht, dass du - wie scheinbar jeder andere auf dieser verdammten Welt lediglich auf den eigenen Vorteil bedacht bist. Hätten wir den Webern von Beginn an getrotzt, hätten wir die Adeligen gewarnt und ihnen unsere Stärke zur Seite gestellt, sie wären unter Umständen in der Lage gewesen zu verhindern, dass all das geschah. Aber was hätte uns das gebracht? Die Adeligen hätten eine schreckliche Gefahr abgewendet und, nachdem sie ihre Lektion gelernt hätten, nie wieder Wesen wie die Weber - Wesen wie uns - in die Nähe einer Machtposition gelassen. Ausgeburten wären immer noch Ausgeburten: verachtet, verstoßen und gehetzt. Lucia wäre hingerichtet worden. Was aber, wenn alles anders wäre? Was, wenn die Weber das Kaiserreich zerschmetterten? Wenn man zuließe, dass sie eine derart grauenhafte Bedrohung würden, dass man ihnen wirklich alles vorziehen würde? Was, wenn der einzige Weg zur Rettung des Kaiserreichs über eine ausgebürtige Kaiserin und den Roten Orden führte? Wie könnte man sich dann weigern, uns Teil dieser neuen Welt werden zu lassen? Es hat sich bereits jeder damit angefreundet, dass Lucia Kaiserin wird, falls wir diesen Krieg gewinnen; und du hast all die Jahre hinlänglich dafür gesorgt, dass du hoch in ihrer Gunst stehst. Der Rote Orden wird mit ihr aufsteigen. Mittlerweile könnte ich mir denken, dass der Rote Orden sogar ohne sie aufsteigen würde. Du hast deine Karten wahrhaft geschickt ausgespielt.« 355 Kaiku starrte das Oberhaupt des Roten Ordens eindringlich an. »Die Weber mussten die Menschen unterjochen, damit sie sich mit uns abfinden würden, und wir haben es zugelassen. Vielleicht haben wir sogar nachgeholfen.« Cailin vollführte eine wegwerfende Geste mit den Fingern. »Selbstverständlich haben wir nachgeholfen. Glaubst du tatsächlich, die Libera Dramach hätten den Webern jemals Widerstand zu leisten vermocht? Trotz Lucia an unserer Seite wäre uns dasselbe Schicksal beschieden worden wie den Ais Maraxa: Wir wären ausgelöscht worden, sobald wir uns zeigten. Die hohen Familien mussten gegen die Weber geeint werden, und ohne eine handfeste, unmittelbare Bedrohung wäre das nie geschehen. Deshalb: Ja, wir wollten, dass die Weber den Thron eroberten, ganz gleich wie viele Leben es kostete. Es war die einzige Möglichkeit, die Adeligen auf unsere Seite zu ziehen. Das ist die hehre Kunst der Politik, und die wird nicht in Leben gemessen, sondern daran, wer die Geschichtsbücher schreibt.« »Also beeinflussen wir sie genauso wie die Weber«, meinte Kaiku und neigte das Haupt. »Wir sind das geringere von zwei Übeln, Cailin. Aber immer noch ein Übel.« Cailin lachte verbittert. »Ein Übel! Was weißt du schon davon?« Ihr Gelächter verhallte, und ihre Züge verwandelten sich in eine hasserfüllte Fratze, während sie die Stimme bedrohlich senkte. »Ein Übel ist ein Dorf, das ein sieben Jahre altes Kind steinigt und dann zum Sterben in einem Graben liegen lässt. Ein Übel ist, sich selbst überlassen zu werden, wenn du dich vor dem Einschlafen fürchtet, weil ja das Feuer wiederkommen könnte; wenn du mutterseelenallein von Ort zu Ort wandern musst, erst als Sklavin, später als Hure, weil du kein Zuhause hast, weil du jedes Mal flüchten musst, wenn das Feuer kommt, hinaus in die Wildnis, um Wurzeln zu fressen und zu hungern, weil sonst die Menschen mit ihren Messern kommen, um dich zu töten! Ein Übel ist der Blick in ihren 356 Augen, in den Augen der ahnungslosen, verkommenen Viecher, die dieses Land bevölkern und dich dafür schmähen, dass du eine Ausgeburt bist!« Ihre Stimme war zu einem Brüllen angeschwollen, doch nun verebbte sie wieder, erscholl hart vor Verachtung. »Sie sollen mich ruhig schmähen, Kaiku. Aber sie werden mich auch fürchten.« Kaiku schwieg eine lange Weile. Die beiden starrten einander über den Raum hinweg an. »Ich werde dir helfen, die Weber zu vernichten«, sagte Kaiku. »Danach ist es vorbei. Ich will mit deinem Orden nichts zu tun haben, Cailin. Mittlerweile ist mir klar, dass du nicht bist, wonach ich die ganze Zeit gesucht habe.« Damit schob sie die Trennwand auf, ging hinaus und zog sie hinter sich zu. Cailin stand alleine da und lauschte den Feierlichkeiten draußen. Barak Zahn fand seine Tochter auf dem Dach eines Tempels hockend vor. Es war ein Flachdach aus weißem Stein. Die Ecken bewachten zu bloßen Klumpen verwitterte Figuren; abgesehen davon wies es keine besonderen Merkmale auf. Von unten führte eine Treppe herauf. Lucia saß nur wenige Fingerbreit vom Rand entfernt, hatte die Arme um die Beine geschlungen, die Knie zum Kinn gezogen, und schaute in die Nacht hinaus.
Als Zahn das Dach betrat und seine Tochter so sah, wusste er zunächst nicht, was er sagen sollte. Als er schließlich sprach, drangen die Worte unbeholfen über seine Lippen. »Die Wachen meinten, ich würde dich vielleicht hier finden«, sagte er zögerlich. Sie drehte sich zu ihm um und lächelte ihn über die Schulter an. »Vater«, sprach sie. »Komm und setz dich zu mir.« Verwirrt durch ihre Erwiderung, die in krassem Gegensatz zu dem stand, was er nach den Berichten derer erwartet hatte, 357 die sich zuletzt mit ihr unterhielten, tat er, wie ihm geheißen, ließ sich neben ihr nieder und die Beine über die Kante des Daches baumeln. »Heute Nacht ist jeder glücklich«, sagte sie. Die Lichter der Laternen unten glichen schillernden Strängen. Die Trampelpfade der Tempelanlage präsentierten sich hell erleuchtet und von betriebsamen Ständen gesäumt. Die Menschen unterhielten sich miteinander, tranken oder wanderten den Hang zu ihrer Linken hinab zum See. Die Musik einer Kapelle drang zu ihnen herauf. Zahn blickte zu den Mondschwestern empor. Aurus stand in vollem Umfang im Norden und beherrschte den Himmel, Iridima spähte wie eine weiße Blase dahinter hervor. »Ich bin froh zu sehen, dass du dich erholt hast«, sagte sie. »Du hast mir gefehlt.« Bei den Göttern, sie war ein so wunderschönes Wesen, ähnelte so sehr ihrer Mutter. Der Gedanke, dass sie sein Kind war, erfüllte ihn mit Stolz. »Deiner Verwandtschaft muss schon etwas Besseres einfallen, um dich mir wegzunehmen«, gab Zahn zurück, wobei sich seine Lippen zu einem Grinsen verzogen. »Ich habe mit Oyo gesprochen«, berichtete sie. »Es wird nicht noch einmal vorkommen.« Zahn blinzelte. »Du hast was?« Lucia bedachte ihn mit einem unschuldigen Blick. »Aber du konntest doch gar nicht wissen, ob sie es war!«, rief er aus. »Selbst ich war unsicher.« »Ich wusste es«, entgegnete sie gelassen. »Es war klar.« »Und du hast sie beschuldigt? Du bist doch erst seit ein paar Stunden zurück!« »Ich habe sie nicht beschuldigt«, widersprach Lucia, löste die Beine und ließ sie neben den seinen baumeln. »Ich habe ihr nur gesagt, dass ich mich von Geblüt Erinima lossagen würde, solltest du in nächster Zeit auf eine Weise sterben, die mir verdächtig erscheint.« 358 Kurz stand Zahn der Mund offen, dann lachte er herzhaft und schüttelte ungläubig den Kopf. Er hatte nicht gewusst, dass Lucia sich derart bestimmt zeigen konnte. »Beim Blut des Herzens, du wirst tatsächlich immer mehr wie deine Mutter. Was immer dort im Wald geschehen ist, es hat eindeutig ein Feuer in dir entfacht.« »Ja«, bestätigte sie leise, wobei ihr Blick zum nördlichen Horizont wanderte, wo der Wald von Xu hinter den Bergen und unter den Monden lag. »Ja, das hat es.« Asara begab sich mitten in der Nacht zu Kaikus Haus. Kaiku hatte gewusst, dass sie kommen würde. Sie hatte sie erwartet. »Nimm Platz, Asara«, forderte sie ihre Besucherin auf und deutete auf die Matten, die sie in der Mitte des Zimmers ausgebreitet hatte. Daneben stand ein Tisch mit Bittertee, Wein und anderen geistigen Getränken sowie einigen Imbissen und Küchlein. Ein angemessener Empfang für einen Gast. Eine Mühe, die sich Kaiku selten machte, doppelt seltsam, da Asara unangekündigt aufgetaucht war. Dreifach seltsam, zumal Asara den Eindruck hatte, dass Kaiku sie hasste. Einen Augenblick verharrte Asara argwöhnisch an der Tür. Dann kniete sie sich auf eine der Matten, ließ sich elegant nieder. Sie hatte gebadet, sich angekleidet und behutsam Lidschatten aufgetragen. Sie sah makellos wie eh und je aus. Kaiku trug eine schlichte schwarze Seidenrobe mit goldener Schärpe. Das feuchte Haar hatte sie mit den Fingern zurückgekämmt. Sie wirkte so zwanglos, als wäre Asara ihre Schwester, die auf einen Plausch vorbeischaute. Asara fühlte sich offenbar unbehaglich, als Kaiku ihr Tee anbot. Sie entschied sich stattdessen für Wein. Kaiku tat es ihr gleich, dann setzte sie sich mit untergeschlagenen Beinen auf die Matte gegenüber. »Wozu das alles?«, fragte Asara. 359 Kaiku zuckte mit einer Schulter. »Mir war einfach nach.« Was Asaras Unbehagen in keiner Weise schmälerte. »Manchmal beneide ich dich, Asara«, meinte Kaiku beiläufig. »Ich beneide dich um deine Fähigkeit, dich zu verändern. Du kannst jederzeit neu anfangen. Ich könnte mir denken, das ist eine wunderbare Gabe.« »Machst du dich über mich lustig?«, fragte Asara. Aus kus Tonfall war es unmöglich zu erkennen. »Nein«, gab Kaiku zurück. »Das meine ich ernst.« »Dann gibt es nichts zu beneiden«, erwiderte Asara. »Wir lernen aus unseren Fehlern nicht. Man erlangt durch Alter keine Weisheit, es verfliegt lediglich die Begeisterung für Torheiten. Man kann sich tausend Mal verändern und gräbt sich doch wieder dieselben Gruben, in die man fällt.« Kaiku senkte den Blick auf ihr Glas. »Ich habe befürchtet, du könntest das sagen.« Sie trank einen Schluck. »Kaiku, steckst du in Schwierigkeiten?« Asara konnte selbst kaum glauben, dass diese Worte aus ihrem Mund
gedrungen waren, doch etwas an Kaikus Verhalten berührte sie. Kaiku schaute auf. Von den Wimpern ihrer Augen lösten sich Tränen. Fast hätte Asara über die Kluft zwischen ihnen gegriffen, um tröstend ihren Arm zu berühren, fing sich jedoch noch rechtzeitig. »Alles fällt auseinander, Asara«, flüsterte sie mit belegter Stimme. »Ich kann es nicht zusammenhalten. Ich kann gar nichts mehr zusammenhalten.« Asara war zutiefst bestürzt und wusste nichts zu erwidern. »Ich sehe mit an, wie meine Freunde sterben, und bin machtlos, es zu verhindern«, fuhr Kaiku fort. »Seit fast zehn Jahren kämpfe ich, und eingebracht hat es mir nichts. Wozu ist der Sieg gut? Alles, was ich erreichen werde, ist die Beseitigung des einzigen Grundes, den ich hatte, um am Leben zu bleiben, seit meine Familie starb. Ich werde die Weber vernichten und 360 ohne irgendetwas zurückbleiben. Ohne jemanden, dem ich vertrauen kann, ohne etwas, woran ich glauben kann. Letzten Endes entpuppt sich jeder als falsch, jedes hehre Ziel als Heuchelei. Ich kämpfe nicht, um mein Leben besser zu gestalten, ich kämpfe bloß, um zu verhindern, dass es noch schlimmer wird.« »Das klingt aber ganz und gar nicht nach dir«, stellte Asara nach einer Weile fest. »Du bist stärker als das.« »Darf ich denn keine Grenzen haben?«, schrie Kaiku. »Bei den Göttern, wie viel soll ich denn noch ertragen, bevor mich Phaecas Los ereilt?« Dazu schwieg Asara. Sie war nicht sicher, ob Kaiku ihr den Tod ihrer Freundin vorhielt oder nicht. Kaiku wischte sich mit dem Ärmel ihrer Robe über die Augen. »Ach, das ist ja alles lächerlich«, murmelte sie bei sich. »Ich kann wohl kaum erwarten, dass es dich kümmert.« »Aber ich habe ... zu deinem Kummer beigetragen«, räumte Asara ein, wobei sie im Schoß mit den Händen rang. »Verzeih mir.« Kaiku verlagerte das Gewicht und kniete sich hin. Dann schlang sie die Arme um Asara und drückte sie. Asara, die Kaikus Stimmung nach wie vor beunruhigte, erwiderte die Umarmung. Nach einer kurzen Weile fühlte es sich nicht mehr unnatürlich an. »Ich kann dich nicht als Feindin betrachten, Asara«, erklärte Kaiku. »Auf deine Weise bist du mir eine Freundin gewesen.« Asara stieß ein Seufzen aus und rang ein Gefühl nieder, das sie nie wieder erfahren wollte. Eine lange Weile hielt sie Kaiku fest, bis sie sicher war, sich wieder im Griff zu haben. Dann sagte sie: »Ich werde dir nie wieder wehtun. Das verspreche ich dir. Ich bin selbstsüchtig und grausam - grausamer als du weißt-, aber ich will dich nie wieder verletzen.« Sie hörte Kaiku schluchzen, dann löste sie sich von ihr; 361 Asara sah, dass Kaikus Augen rot waren, und zwar nicht vom Weinen. »Es ist vollbracht«, verkündete Kaiku. Asaras Herz setzte einen Schlag aus. Sie starrte Kaiku nur an, wagte noch nicht, es zu glauben. »Eine Kleinigkeit«, erklärte Kaiku. »Ein Vorgang, der nicht ganz so wirkte, wie er sollte. Ich habe ihn zurechtgebogen.« Ihre Miene verdunkelte sich. »Es hat auf dieser Welt schon zu viel Tod gegeben. Ich wollte die Gelegenheit nützen, ihr Leben zu bescheren. Mehr kann ich nicht tun.« Asara war immer noch sprachlos und verdutzt. »Jetzt hock nicht so da und glotz mich groß an. Du bist fruchtbar. Kehr heim zu deinem Gemahl.« Asaras Augen füllten sich mit Tränen, und diesmal flössen sie. »Versprich mir etwas«, flüsterte sie. »Versprich mir, dass du nie jemandem davon erzählen wirst. Davon, was du getan hast.« »Ich verspreche es.« »Das werde ich dir nie vergessen, Kaiku«, stammelte Asara mit bebender Stimme. »In all der Leere dieser Welt wirst du zumindest mich immer haben, was es dir auch wert sein mag.« »Es ist mir eine Menge wert«, gab Kaiku zurück, streckte die Hand aus und streichelte ihre Wange, verwischte eine Träne über ihre Haut. »Ich habe dich noch nie weinen gesehen«, stellte sie nachdenklich fest. Asara ergriff ihre Hand, hielt sie sich an die Wange gedrückt und schloss mit zitternden Lidern die Augen. Dann stand sie auf und ging zur Tür. Sie schob sie auf, schaute noch einmal zurück und war verschwunden. Eine Stunde später hatte sie bereits ein Pferd gestohlen und ritt gen Osten in Richtung des Tchamil-Gebirges und der Wüste dahinter. 362 Zweiundzwanzig Das Tor der Kaiserlichen Feste stand untertags offen, um den Verkehr hinein und hinaus zu lassen, der für den Betrieb eines solch riesigen Gebäudes erforderlich war. Karren mit Lebensmitteln, schwer bewacht gegen die draußen hungernden Massen, ratterten hinein und kehrten leer zurück. Andere trafen mit Weinfässern und Gewürzen ein, Bottichen voller Reinigungsflüssigkeit oder Stoffballen; und in so manchen waren Männer, Frauen und Kinder versteckt, dürre Stadtstreicher aus dem Armenviertel, die zum Vergnügen der Weber geliefert wurden. Wie immer befanden sich am Tor Schwarze Wachen und zwei Weber. Gemeinsam überwachten sie den Verkehr- die Schwarzen Wachen, indem sie Genehmigungen überprüften, die Weber, indem sie nach
unterschwelligeren Gefahren Ausschau hielten: versteckten Bomben und dergleichen. Wie zerlumpte Wasserspeier standen sie zu beiden Seiten des breiten Zugangs, verharrten reglos, während sie ihrer unsichtbaren Aufgabe nachgingen. Der Arzt Ukida zappelte in seiner Kutsche unruhig hin und her, als sie sich dem Tor näherte. »Man hat den Segensspruch vom Bogen entfernt«, stellte Mishani fest, die aus dem Fenster starrte. Tatsächlich war der Goldbogen über dem Tor glatt geschmirgelt worden. Aus Höflichkeit gab Ukida einen unverbindlichen, fragenden Laut von sich; doch eigentlich hörte er ihr gar nicht zu, da er voll und ganz in seiner Angst aufging. Mishani löste den Blick vom Fenster und schaute zu ihm. »Ihr werdet uns noch verraten, Meister Ukida, wenn 363 Ihr Euch nicht in den Griff bekommt«, mahnte sie gestreng. Das traf ihn, und er bemühte sich bewusst um mehr Fassung, wodurch sein inneres Befinden nur noch deutlicher zum Vorschein trat. Er wünschte, er hätte den Brief von Mishani gar nicht erst angenommen. Er hätte sich einfach weigern sollen. Was hätte sie schon tun können? Ihn der kaiserlichen Gerechtigkeit zuführen? Ha! Es gab kein Kaiserreich mehr und ganz bestimmt keine Gerechtigkeit, außerdem wäre sie bloß selbst verhaftet worden, wenn sie es versucht hätte. Warum hatte er daran nicht früher gedacht, statt sich seinen alten Ehrgefühlen und Treuegelübden zu ergeben? Wäre er so schlau gewesen, hätte Fürstin Muraki ihm nicht befehlen können, diese List einzufädeln, und er würde nicht in höchster Gefahr schweben, sein Leben zu verlieren. Als die Kutsche zum Tor rollte, näherte sich eine Schwarze Wache dem Verschlag. »Meister Ukida«, begrüßte ihn der Soldat. Er war ein gutaussehender junger Mann mit dem dunklen Kopftuch und der dunklen Lederrüstung, aus denen die Uniform der Schwarzen Wachen bestand. »Wer ist das?«, fragte er, wobei sein Blick zu Mishani wanderte, die demütig im hinteren Teil der Kutsche saß. Unruhig schaute Ukida über die Schulter des Soldaten zu dem Weber am Tor, dessen Korallenmaske auf sie gerichtet war. »Eine Helferin«, sagte er und zückte eine versiegelte Papierrolle, die er dem Mann reichte. »Nur vorübergehend, müsst Ihr wissen. Fürstin Muraki ist krank. Sie leidet an einem recht unüblichen Gebrechen und braucht die besonderen Kenntnisse dieser Frau dort über derlei Zustände.« Mishani begegnete dem forschenden Blick der Schwarzen Wache gelassen. »Darf ich?«, fragte der Mann und zeigte auf das Siegel. Uki364 das bedeutete ihm hastig seine Zustimmung. Der Soldat brach das Siegel und begann zu lesen. Mishani wartete, behielt ihre Anspannung sorgsam in ihrem Innersten verborgen. Ukida hingegen war die Unruhe deutlich anzusehen. Mishani konnte nur hoffen, dass der Soldat sein Gebaren nicht für so verdächtig halten würde, um darob tätig zu werden. Zum Beispiel, indem er den Weber herbeiriefe oder die Gültigkeit der Genehmigung überprüfte, die er in Händen hielt. Sie war von Muraki tu Koli höchstpersönlich verfasst, unterzeichnet und versiegelt und gewährte Ukidas neuer Helferin Einlass in die Feste. »Wie ich sehe, ist Fürstin Muraki nicht zu krank, um zu schreiben«, stellte die Schwarze Wache fest. Ein spannungsgeladener Herzschlag des Schweigens verstrich, während er von Ukida zu Mishani blickte. »Das sind gute Neuigkeiten«, fuhr er danach fort, und die Spannung verpuffte. Er gab Ukida das Papier zurück und vollführte eine kleine Verneigung vor den beiden Fahrgästen der Kutsche. »Meister Ukida. Frau Shoa. Bitte tretet ein.« Ukida bedankte sich vielleicht etwas zu überschwänglich, doch der Soldat schenkte ihm schon keine Beachtung mehr. Er winkte ihren Fahrer weiter und steuerte bereits auf den nächsten Karren in der Schlange zu. Mishani gestattete sich einen Augenblick der Erleichterung, während sie ins Innere der Feste rollten. Sie schaute aus dem Fenster. Auf dem Hof herrschte das übliche rege Treiben: Männer und Frauen wuselten umher; Manxthwa muhten und stupsten einander; zu Füßen der doppelten Säulenreihe, die vom Tor zur eigentlichen Feste führte, wurden Streitgespräche und Wortwechsel geführt. Hier wirkte zumindest die Umgebung nicht so heruntergekommen und trostlos wie im Rest der Stadt, obschon dem Gebaren der Menschen, die kamen und gingen, eine ungestüme Eile anhaftete, ganz so, als könnten sie es kaum erwarten, ihre jeweiligen Auf365 gaben hinter sich zu bringen, damit sie wieder von dannen ziehen konnten. Im Zwielicht des über allem hängenden Pestschleiers ragte die goldene Schräge der mit Skulpturen verzierten Südmauer über den Leuten auf, wirkte allein durch ihre unvorstellbare Größe einschüchternd. Die Kutsche rollte eine leicht geneigte Rampe hinab in ein breites Joch, wo Bedienstete umherschwärmten. Dort stiegen sie aus und gingen durch einen bewachten, Adeligen und wichtigen Dienern vorbehaltenen Eingang, der um die unterirdischen Unterkünfte der Bediensteten herumführte. Der Soldat davor würdigte sie kaum eines Blickes. Sie erklommen eine Reihe Treppen und betraten die Gänge der eigentlichen Feste, eine Vielzahl eleganter LacMlure und unzähliger Räume, von riesigen und prunkvollen Sälen und Galerien bis hin zu winzigen, aber erlesen eingerichteten Kammern. Ukida ging voraus, Mishani hinterdrein, wobei sie eine ihrem Rang als Helferin des Arztes gebührliche Haltung bewahrte. Trotz ihrer Furcht fühlte sie sich eigenartig beschwingt,
sowohl was ihr Aussehen als auch ihre Stimmung betraf. Um in ihrer Rolle überzeugend zu wirken, hatte sie nicht nur andere Kleidung angelegt, sondern auch ihr Haar abgeschnitten. Mishani hatte dies für schmerzlicher gehalten, als es sich tatsächlich angefühlt hatte. Seit ihrer Kindheit hatte sie es lang getragen, seit dem Erwachsenwerden bis zu den Knöcheln. Es war das Merkmal an ihr gewesen, auf das sie besonders stolz gewesen war, das ihr Würde verlieh, denn allein der Aufwand, den es bedeutete, zeugte von adeliger Herkunft. Niemand würde glauben, dass eine Arzthelferin ihr Haar so lang trüge: für jemanden, der nicht von adeliger Geburt war, galt so etwas als anmaßend. Mishani war schon immer zutiefst praktisch veranlagt und wenig anfällig für Gefühlsduselei gewesen. Obwohl sie sich im Spiegel kaum wieder erkannte, wusste sie, dass es 366 gut so war. Mit dem kurzen Haar hochgesteckt hatte sich ihr gesamtes Erscheinungsbild verändert, und auf den ersten Blick schien sie ein völlig anderer Mensch. Ein wenig kunstfertig aufgetragene Schminke, um die Betonung ihrer Augen, der Wangen und des Munds zu verlagern, ergänzte die Täuschung. Wir alle tragen unsere Masken, hatte sie gedacht, während sie die letzten Handgriffe abschloss. Bisher war ihr noch nie das Gewicht ihrer Haare aufgefallen, und das Gefühl im Nacken, das dort etwas fehlte, empfand sie als lästig. Sie fragte sich, ob sie sich mit der Zeit daran gewöhnen würde. Selbst ohne die Änderungen, die sie an sich vorgenommen hatte, würde es in den Weiten der Feste nur wenige geben, die sie erkannt hätten. Doch zuerst mussten sie an dem Weber vorbei. Mishani konnte nur hoffen, dass der Plan ihrer Mutter aufgehen würde. Auf dem Weg durch die Gänge musste sie Ukida mehrmals schelten, weil er zu überhastet lief. Er schwitzte und war offenkundig erregt, und Mishani verfluchte seine Unfähigkeit, sein Entsetzen zu verbergen. Man brauchte kein Weber zu sein, um zu merken, dass mit ihm etwas nicht stimmte; Mishani hatte ihm geraten, es seiner Sorge um Murakis Zustand zuzuschreiben, sollte ihn jemand darauf ansprechen. Ukida hatte ihr versichert, dass ihre Mutter die letzten paar Tage krank gespielt und er dies durch seine eigenen falschen Beurteilungen untermauert hatte. Muraki hatte die Anweisung erteilt, dass sie heute von niemandem außer Ukida und der Helferin gestört werden dürfe. Sowohl die Bediensteten als auch die Weber waren darüber in Kenntnis gesetzt worden; folglich würde keine Überraschung herrschen. Und dennoch bedurfte es nur der kleinsten Kleinigkeit, die anders als geplant verlief, und sie wären dem Verderben preis367 gegeben. Bei diesem Unterfangen standen nicht nur Mishanis und Ukidas Leben auf dem Spiel. Mishani wusste viel zu viel über die Pläne und Unterfangen der Libera Dramach und der hohen Familien im Süden, und würde sie gefangen, würden ihr diese Geheimnisse von einem Weber aus dem Verstand gerissen. Was sie hier tat, war selbstsüchtig und verantwortungslos, doch es war ihr einerlei. Sie würde ihre Mutter besuchen. I Koste es, was es wolle. Sie bahnten sich den Weg über mehrere Treppenfluchten hinauf und hielten sich an weniger genutzte Pfade, wann immer es möglich war. Einmal musste Mishani Ukidas Arm ergreifen und Interesse an einer in einer Nische aufgestellten Ziervase heucheln, um das Gesicht vor einer Frau zu verbergen, die Mishani zu erkennen vermeinte. Doch die meisten Bediensteten hier waren bereits in der Feste angestellt gewesen, als Geblüt Koli sie übernahm, folglich kannten sie Mishani nicht. Zudem lagen die meisten Gänge still, denn es gab keine Adeligen und deren Gefolge, um sie zu bevölkern. »Wir nähern uns dem Flügel, in dem die kaiserlichen Gemächer untergebracht sind«, murmelte Ukida. Bald darauf sahen sie einen Knaben von etwa vierzehn Ernten, der sie erblickte und in die Richtung loslief, in die sie steuerten. »Ich hatte schon Angst, er würde nicht da sein«, brummte Ukida. Zumindest bisher war der Plan ohne Zwischenfall aufgegangen. Sie bummelten eine Weile, taten so, als betrachteten sie einen Wandbehang, blieben jedoch allzeit bereit weiterzugehen, sollte jemand kommen. Dann, als nach Ukidas Einschätzung genug Zeit verstrichen war, setzten sie sich wieder den Gang hinab in Bewegung, wo sie auf den Weber treffen würden. Die kaiserlichen Gemächer wurden wesentlich strenger bewacht als der Rest der Feste. Es war unmöglich, in einem derart riesigen Gebäude durchgängig höchste Sicherheitsvor368 kehrungen aufrecht zu erhalten. Doch die Feste war so angelegt, dass bestimmte Flügel nur über wenige Zugangspunkte betreten werden konnten, und dort bündelte sich die Wachsamkeit. Jeder Eingang zu den kaiserlichen Gemächern wurde von einem Weber beobachtet, und Weber konnten die Gedanken aus dem Verstand eines Menschen stehlen. Der Gang endete vor einer massiven Tür. Davor stand ein Weber mit einer Maske aus Silber, die zum Antlitz einer Frau geschmiedet war. Mishani sandte ein stummes Dankesgebet zu den Göttern, dass es sich nicht um Geblüt Kolis eigenen Weber handelte. Just in dem Augenblick, als der Weber in Sicht geriet, öffnete sich die Tür hinter ihm, und Muraki tu Koli erschien, gestützt von dem Jungen, den sie zuvor gesehen hatten. Ukida beschleunigte die Schritte und eilte auf
sie zu. Mishani zögerte bei dem Anblick kurz - Mutter-, dann folgte sie ihm. »Fürstin! Was tut Ihr denn auf den Beinen?«, rief er im Herannahen. »Ukida«, sprach sie mit einer Stimme kaum lauter als ein Flüstern. »Ich bin so froh, dass Ihr hier seid. Mir war übel ... ich brauchte etwas Luft.« »Ich habe die Gehilfin mitgebracht, um die Ihr ersucht habt«, sagte er und deutete auf Mishani, doch Muraki blickte sie nicht einmal an. »Kommt, zurück ins Bett mit Euch. Ich stütze Euch.« Ohne den Weber zu beachten, steuerten sie an ihm vorbei in die kaiserlichen Gemächer. »Wartet«, schnarrte eine Stimme hinter der Silbermaske. Die sich auf Mishani gerichtet hatte. »Was ist?«, fragte Ukida, und zum Glück ließ die blanke Angst seine Worte als herrisches Fauchen ertönen. »Sie muss sich ausruhen; sie hätte gar nicht herumlaufen dürfen.« »Ich kenne die da nicht«, erklärte der Weber und deutete auf Mishani. 369 »Ich habe um sie ersucht«, meldete Muraki sich zu Wort. »Lass sie herein.« »Einen Augenblick ...«, gab der Weber zurück, und Mishani ahnte mit einem Krampf in der Magengrube, was als Nächstes kommen würde. Sie spürte den Einfluss des Webers über ihren Verstand streifen, fühlte abscheuliche Greifarme, die schleimig über ihre Gedanken tasteten. Mishani schauderte. Er konnte unmöglich übersehen, wer sie tatsächlich war, musste zwangsläufig Erinnerungen an ihr Leben beim Geblüt Koli ausgraben. Verzweifelt versuchte sie, ihre Vergangenheit unter einem Gewirr von Bildern zu verstecken, doch die Bilder, die auftauchten, waren solche von Dschunken in der Mataxa-Bucht, von ihr und Kaiku, von Ereignissen, die ihr wahres Ich nur noch deutlicher preisgaben. Wie gebannt starrte sie in die schwarzen Schlitze der Silbermaske, jenes Frauenantlitzes, das die entstellte Fratze des Besitzers verhüllte; sie hörte das Pfeifen seines Atmens und wurde von der Fäulnis seines Verstandes berührt. Dann war das Gefühl verschwunden. »Tretet ein«, sagte der Weber. Sogleich legte Ukida ihr die Hände auf die Schultern und führte sie fort. Die Tür schloss sich hinter ihnen. »Beim Blut des Herzens ...«, murmelte sie bei sich. »Er hat es nicht gesehen ... er hat es nicht gesehen ...« Sie hielt das Haupt gesenkt, als sie um eine Ecke bogen und ein Stück weitergingen. Wieder blieb ihnen das Glück hold, und sie begegneten niemandem. Ukida hielt einen Vorhang beiseite und scheuchte Muraki und Mishani hindurch. Dann ließ er ihn zufallen, und sie waren unter sich. Die Kammer entpuppte sich als kleines Schlafzimmer mit einem Einzelbett nahe einem Fensterbogen. Die übrige Einrichtung bestand aus einem Tisch mit einem schmalen Buch darauf sowie zwei zusammenpassenden Truhen mit Schubläden. 370 Ein unbehagliches Schweigen zog sich hin, während Mutter und Tochter einander zum ersten Mal seit einem Jahrzehnt musterten. Die Ähnlichkeit der beiden war außergewöhnlich. »Du hast dir das Haar abgeschnitten«, bemerkte Muraki flüsternd. »Ich musste«, gab Mishani zurück. »Spielt keine Rolle. Es wächst ja wieder.« Muraki streckte die Hand aus und berührte es behutsam. »Sieht ungewohnt aus. Aber es steht dir.« Mishani lächelte und drehte den Kopf nach. »Ich sehe aus wie eine Bauernmaid. Sobald ich kann, will ich es wenigstens offen tragen.« Während sie den Fensterbogen betrachtete, sagte sie: »Ich habe deine Bücher gelesen. Alle.« »Ich wusste, dass du sie lesen würdest«, antwortete ihre Mutter. »Ich wusste es.« »Der Weber ...«, setzte Mishani fragend an. »Sie sind dazu da, jene herauszupicken, die der Regentenfamilie Böses wollen. Du willst das anscheinend nicht. Offenbar nicht einmal deinem Vater. Tiefer graben sie nicht in den Gedanken. Alles andere wäre ... ein Eindringen. Das ist gefährlich. Früher haben sie dadurch ab und an versehentlich Gäste getötet oder in den Wahnsinn getrieben, bis Avun es verboten hat.« Unbehaglich sah sie sich in der Kammer um. »Ich hätte dich nicht herkommen lassen, wenn ich selbst die Feste verlassen könnte. Aber das kann ich nicht. Dafür sorgt dein Vater.« »Ich habe dir doch gesagt, dass ich mich nicht abweisen lassen würde«, sagte Mishani. »Ich hätte es auf jeden Fall versucht, mit deiner Hilfe oder ohne. Es ist mir das Wagnis allemal wert.« Sie deutete auf das Bett, und die beiden setzten sich nebeneinander auf dessen Rand. »Es gibt ein paar Dinge, die ich dir sagen wollte«, begann 371 Mishani. »Dinge, die von meinen Lippen kommen müssen nicht aus einem verschlüsselten Gedicht. Wir stehen jetzt auf zwei verschiedenen Seiten eines Krieges, Mutter, und die eine oder die andere muss früher oder später den Sieg davontragen. Diejenige von uns auf der Verliererseite wird wohl nicht überleben. Wir stecken beide zu tief drinnen.« Muraki schwieg. Das Haar hing ihr vor dem Gesicht. Sie hatte sich schon immer hinter ihrem Haar versteckt: Es fiel in einem Mittelscheitel gerade herab und verbarg sie, ließ nur eine schmale Lücke für die Augen, die Nase und den Mund. »Ich wollte dich schon so lange sehen«, fuhr Mishani fort. »Ich habe mir vorgestellt, wie ich die Arme um dich
werfe und vor Freude lache. Aber jetzt, da ich hier bin, muss ich feststellen, dass es so ist, wie es immer war. Warum verhalten wir uns so zueinander?« »Das ist unser Wesen«, antwortete Muraki leise. »Und keine Zeit der Welt vermag, das zu ändern.« »Aber ich habe dich in deinen geschriebenen Worten gesehen, Mutter«, entgegnete Mishani. »Ich habe dein Herz darin gesehen. Ich weiß, dass du so tief empfindest wie jeder andere auch, tiefer als die meisten Menschen. Und zweifellos tiefer als Vater.« Muraki konnte ihr nicht in die Augen sehen. »Im Schreiben kann sich meine Seele am besten ausdrücken«, erklärte sie. »Darin finde ich Trost. In jener Welt fürchte ich mich nicht.« »Das lueiß ich, Mutter«, sagte Mishani und legte eine Hand auf jene Murakis. Sie fühlte sich klamm und kalt an. Erschrocken blickte Muraki auf die Hand ihrer Tochter, als wären ihre Finger etwas, das sie beißen könnte. Mishani ließ sie liegen. »Jetzt weiß ich es. Es gibt viele Dinge, die ich zuvor nicht erkannt habe. Wie den geheimen Schlüssel in deinen Gedichten, die zu verstehen ich viel zu lange gebraucht habe.« 372 Aus beiden flössen die Worte rasch: Dem Treffen haftete ein Gefühl der Eile an, das Wissen, dass die Gefahr längst nicht gebannt war. Sie durften keine Zeit verschwenden, wenn sie so kurz und kostbar war. Keine der beiden hatte je zuvor so offen und unmittelbar mit der anderen gesprochen. »Ich bin inzwischen älter als damals, und seither hat sich vieles ereignet«, sagte Mishani. »Als ich jung war, hielt ich dich für schwach und weltfremd. Im Vergleich zu Vater warst du ein Schatten von einer Frau. Ich dachte nicht einmal an dich, als ich nach Axekami ging, um ihn an den Höfen zu begleiten. Damals kam mir gar nicht in den Sinn, dass es dich kümmern könnte. Ich war ein gefühlloses Kind. Du hättest etwas Besseres verdient gehabt.« »Nein«, widersprach Muraki. »Wie hättest du es erkennen sollen? Beurteilen wir einander nicht daran, wie wir uns zueinander verhalten? Du darfst dir nicht die Schuld für meine Unzulänglichkeiten geben, Tochter. Wenn du mich für abweisend gehalten hast, dann deshalb, weil ich dich als Kind nicht festgehalten, dich nicht berührt oder mit dir geredet habe. Wenn du mich für schwach gehalten hast, dann deshalb, weil ich mir kein Gehör verschaffte. In meiner Vorstellungskraft, in meinen Büchern ... gibt es Leidenschaft... aber dort kann ich die Welt formen, wie ich will. In der wahren Welt hingegen ... fühle ich mich lächerlich und unbeholfen, bin ich schüchtern, wenn ich spreche, fürchte ich mich vor Leuten ... werde ich verlegen, wenn mir Aufmerksamkeit zuteil wird ...« Als ihr bewusst wurde, dass ihre Stimme zu einem Murmeln verflacht war, sammelte sie sich. »Das sind meine Unzulänglichkeiten. Sie begleiten mich seit meiner Kindheit. Freilich ist das nicht, was ich mir für mich wünsche - das findet sich in meinen Büchern -, aber so bin ich eben.« Mishani drückte zärtlich ihre Hand. »Aber mit jedem Buch, das du geschrieben hast, hatte ich mehr das Gefühl, dir Unrecht getan zu haben. Deshalb bin ich jetzt hergekommen, um es wie373 der gutzumachen. Um dich um Verzeihung zu bitten. Und um dir zu sagen, dass ich stolz auf dich bin, Mutter.« Murakis Miene drückte völlige Verständnislosigkeit aus. »Ist dir denn gar nicht klar, was du getan hast?«, fragte Mishani. »Du hast dich getraut, ein Spitzel für uns zu werden, und du hast schon vor vielen Jahren dein Glück aufs Spiel gesetzt, indem du Chien geschickt hast, um mich zu beschützen.« Erschrocken legte Muraki eine Hand an den Mund. »Ja, ich bin dahinter gekommen, bevor er starb. Vaters Männer haben ihn erwischt. Trotzdem lief es darauf hinaus, dass ohne ihn, ohne dich, tausende Leben im Xarana-Bruch verwirkt gewesen wären. Die Dinge hätten sich ganz anders entwickeln können. Auf deine stille Weise hast du mehr beigetragen, als je jemand hätte verlangen können.« Mishani zögerte einen Moment. »Und dennoch bleiben wir in zwei verschiedenen Welten, von denen schon bald eine einstürzen wird. Deshalb bin ich hier, deshalb wage ich all das. Einige Dinge müssen um jeden Preis getan werden. Mein Geist hätte niemals Frieden zu finden vermocht, wenn eine von uns gestorben wäre und du ... und du nicht gewusst hättest, was ich dir zu sagen hatte.« »Mir war gar nicht klar, dass mein Kind so unbesonnen sein könnte«, flüsterte Muraki, doch um die Ränder ihrer Lippen spielte ein Lächeln. »Für mich ist das auch eine neue Erfahrung.« Mishani grinste. Sie fühlte sich, als wäre ihr ein mächtiger Stein von der Brust gehoben worden. Selbst wenn sie jetzt erwischt würde, spielte es keine so große Rolle mehr. Es war vollbracht und konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden. »Vielleicht ändert uns die Natur doch mit der Zeit.« »Vielleicht«, räumte Muraki ein. Dann stand sie auf und ging zum Fensterbogen. Sie schob den davor hängenden Schleier beiseite und schaute hinaus. »Tochter, ich liebe dich«, verkündete sie mit dem Rücken zu 374 Mishani. »Ich habe dich immer geliebt. Zweifle nie daran, auch wenn ich es nicht zu zeigen vermag, auch wenn wir vielleicht nie wieder Gelegenheit erhalten, miteinander zu reden. Ich bin froh, dass du gekommen bist, sodass ich es dir sagen konnte. Wir hätten mit diesen Dingen bloß nicht so lange warten sollen.« Mishani spürte Tränen in ihren Augen brennen. Sie wusste, welche Überwindung es ihre Mutter gekostet hatte, diese Worte auszusprechen, und sie zum ersten Mal in ihrem Leben zu hören löste in Mishani einen Taumel der Verzückung aus.
»Und jetzt hör mir gut zu«, forderte Muraki sie auf, wandte sich vom Fensterbogen ab und ließ den Schleier zurückfallen. »Ich habe dir viel zu berichten.« Damit begann sie, von Avuns Plänen und Ränken zu erzählen, von den Hinweisen, die er gegeben, und den Absichten, die er zum Ausdruck gebracht hatte. Sie schilderte seine fehlgeschlagene Verschwörung, um Kakre zu stürzen, sprach von der unmittelbar bevorstehenden Erschaffung weiterer Feyakori; von der wahren Zahl der Ausgeburten und der tristen Lage, in der die Weber sich befanden, dass sie zu verhungern drohten, wenn es ihnen nicht gelänge, die Präfekturen bis zur nächsten Ernte einzunehmen. Mishani unterbrach sie nicht, brannte sich jedes Wort ins Gedächtnis. Und während ihre Mutter fortfuhr, wurde ihr klar, dass ihr Besuch sich als wesentlich wertvoller erweisen könnte, als selbst sie geahnt hatte: Denn diese Auskünfte waren erst einige Tage alt und erreichten sie ohne die Monate der Verzögerung, die für die Veröffentlichung eines Buches nötig waren. Es war Schwindel erregend, wie viel ihre Mutter wusste. Anscheinend besprach Avun alles mit ihr, und die wenigen Auskunftsbrocken, die sie insgeheim in ihre Geschichten einzubauen vermocht hatte, waren nur vereinzelte langfristige Ereignisse. In fünf Minuten berichtete Muraki ihr mehr, als das gesamte Spitzelnetzwerk 375 der Libera Dramach und die Schwesternschaft zusammen in vier Jahren in Erfahrung zu bringen vermocht hatten. »Regent!«, rief Ukida plötzlich draußen vor dem Eingang. Mutter und Tochter erstarrten. Von Mishanis Vater entdeckt zu werden wäre übel; doch was sich im Augenblick noch schlimmer anfühlte, war das Wissen, dass sie und ihre Mutter sich trennen mussten, sich vermutlich nie wieder begegnen würden, diese kostbare Hand voll Minuten in zehn Jahren alles war, was sie je haben sollten. »Geh!«, zischte Muraki. Mishani zögerte, ergriff die Hände ihrer Mutter, drückte sie. »Geh!«, drängte Muraki sie erneut mit vor Furcht geweiteten Augen. »Ich habe gehört, sie sei herumgelaufen«, sagte Avun. »Ich muss zu ihr!« »Meine Gehilfin kümmert sich um sie«, erklärte Ukida hinter dem Vorhang. »Bitte, es wäre am besten, wenn Ihr ...« Rasch beugte Mishani sich vor, küsste Muraki auf die Wange und flüsterte ihr ins Ohr: »Du warst die stärkste von uns allen, Mutter. Mein Herz wird immer bei dir sein.« Dann stand sie auf und huschte auf den Eingang zu, just in dem Augenblick, als Avun durch den Vorhang kam. Mishani vollführte im Gehen eine tiefe Verbeugung und lief mit geneigtem Haupt an ihrem erschrockenen Vater vorbei, der ihr den Vorhang aufhielt. Durch den Größenunterschied sah er nur ihren Hinterkopf. Dies kam einer unglaublichen Unverfrorenheit gleich, doch einen Augenblick zögerte Avun ob seiner Überraschung; dann, als er gerade den Mund öffnete, um sie zurückzurufen, schrie Muraki: »Avun! Avun! Komm her!« Die Lautstärke der Stimme seiner Gemahlin, die sonst nie ein Flüstern überstieg, ließ ihn die Bedienstete sogleich vergessen, und er eilte in die Kammer, wo Muraki ihn umarmte und mit einer Hingabe küsste, die Avun seit Jahren nicht erfahren hatte. Sie ließ ihn nicht los, zog ihn zu sich aufs Bett, 376 Und zum ersten Mal seit längerer Zeit, als Avun sich zu erinnern wagte, liebten sie sich. Er war dermaßen angenehm überrascht, dass er die Gehilfin des Arztes völlig vergaß. Später aber konnte er das heimtückische Gefühl nicht abschütteln, dass er sie, obwohl er ihr Gesicht nicht gesehen hatte, von irgendwoher kannte. Er konnte sich nur nicht recht erinnern woher. v 377 Dreiundzwanzig Mishanis Botschaft erreichte Araka Jo einen Tag später mithilfe einer Schwester vom Roten Orden, die verdeckt in Maza arbeitete. Sie war eine wichtige Vermittlerin für die Spitzel in Axekami, und Mishani suchte sie schnurstracks auf, nachdem sie die Hauptstadt verlassen hatte. Ihre Neuigkeiten verursachten erheblichen Tumult. Niemand hatte gewusst, wohin Mishani gereist war, nur, dass sie vor einiger Zeit aus Araka Jo aufgebrochen war, um sich um eigene Angelegenheiten zu kümmern. Als die oberen Ränge der Libera Dramach erfuhren, was sie getan hatte, wurde aufs Schärfste über sie hergezogen, weil sie für sie alle ein solches Wagnis eingegangen war; doch es war Cailin, die sie verteidigte und darauf hinwies, dass ein großes Wagnis zu einem großen Lohn geführt hatte, und die Auskünfte, die Mishani weitergeleitet hatte, waren in der Tat unschätzbar wertvoll. Es wurde umgehend eine Versammlung einberufen. Pläne wurden vorgelegt, von denen viele bereits über die vergangenen Wochen gereift und in anderen Besprechungen vorab erörtert worden waren. Schließlich erzielten sie eine Übereinkunft. Für Verzögerungen war kein Platz mehr. Die Zeit zum Handeln war gekommen. Am Morgen nach der Versammlung begab Kaiku sich über den Pfad in den Süden von Araka Jo und fand die Tkiurathi in ihrem Dorf in einem Zustand emsiger Vorbereitungen vor. Im Anschluss an die Versammlung mit der Libera Dramach hatten die Tkiurathi ihre eigene abgehalten. Jeder und jede Einzelne war aufgefordert worden, eine eigene Entscheidung darüber zu treffen, ob er oder sie den vom Rat vorgeschlage378 nen Kurs einschlagen wollte. Kaiku war gekommen, um die Ergebnisse in Erfahrung zu bringen. Sie wanderte durch das Dorf der Tkiurathi, wechselte einige mit Gesten ausgeführte Begrüßungen mit ein paar Männern und Frauen, die sie kannte. Es war unschwer zu erahnen, welche Entscheidung getroffen worden war.
Klingen wurden gewetzt, Büchsen gereinigt, Vorräte gepackt. Sie bereiteten sich auf eine Reise vor. Dem Ort haftete eine Schlichtheit an, die Kaiku behagte: der Geruch der Kochfeuer, die Repka-Jurten, die wie riesige, dreizackige Seesterne zwischen den Bäumen aussahen, das Gefühl der Ungezwungenheit der tätowierten Leute im Umgang miteinander. Selbst jetzt, trotz des Wissens, dass sie zu einer Reise aufbrachen, von der sie unter Umständen nicht zurückkehren würden, schien ihr tägliches Leben so unbekümmert. Stets ging ihnen ein Lachen mühelos von den Lippen, wenn sie beisammen waren. Einige aßen Frühstück, indem sie sich aus einem Gemeinschaftstopf bedienten und das Essen von ihren Tellern miteinander teilten. Selbst diese kleine Geste des Teilens bewirkte einen Unterschied, war für sie so natürlich, dass sie gewiss längst nicht mehr darüber nachdachten. Kaiku erkundigte sich nach Tsata, indem sie seinen Namen als Frage aussprach. Man verwies sie auf eine Gruppe von Tkiurathi, die sich sitzend unterhielten und aus Holzbechern tranken. In der Mitte stand eine große Schüssel, aus der sie die Becher nachfüllten. Auch Heth war da; er bemerkte sie zuerst und rief sie zu sich. Der Kreis öffnete sich, um zwischen Tsata und Heth einen Platz zu schaffen. Kaiku tat durch ein Lächeln ihren Dank kund und setzte sich. Sogleich wurde ihr von einer ihr unbekannten Frau ein Becher gereicht. Die Frau selbst nahm sich einen neuen und füllte ihn. Kaiku brachte eine allgemeine Begrüßung auf Okhambisch zustande, dann trank sie einen Schluck. Es war warm, würzig und feurig auf der Zunge. 379 »Gruß zum Tage. Habe ich euch unterbrochen?«, fragte sie Tsata, doch ihr Eintreffen hatte lediglich eine kurze Pause der Unterhaltung verursacht, und die Anwesenden waren bereits wieder ins Gespräch vertieft. »Wir arbeiten gerade die letzten Einzelheiten unseres Aufbruchs aus«, erklärte Tsata. »Nichts von großer Bedeutung.« »Also haben sie zugestimmt?« »Ausnahmslos«, antwortete Heth von Kaikus anderer Seite. »Es bestand von vornherein wenig Zweifel, dass dem so sein würde. Das ist eine Sache des Pash«, erläuterte Tsata. »Bei den Göttern, unsere Rückkehr scheint so kurz her zu sein«, sinnierte Kaiku, dann schaute sie zu Heth. »Wie geht es dir?« »Ich trauere«, antwortete er. »Aber wenigstens wurde Peithre zu ihrem Volk zurückgebracht. Dafür bin ich dankbar. « Kaiku nickte und schloss die Augen. Im Wald von Xu hatte Heth sich geweigert, Peithres Leichnam loszulassen, bis er sie in das Dorf zurückgebracht hatte. Gegen Ende waren er und Tsata getrennt von den anderen marschiert, da ihre sterblichen Überreste, obwohl sie eingewickelt gewesen waren, nach Verwesung zu modern begonnen hatten. Dennoch wollte Heth sie weder begraben noch verbrennen. Kaiku kannte zwar nicht die Riten, mit denen die Tkiurathi allgemein ihre Toten ehrten, trotzdem war sie überzeugt davon, dass zwischen Heth und Peithre mehr als bloße Kameradschaft bestanden hatte. »Dann ist unser Kurs also beschlossen«, meinte sie. »Ich denke, wir stehen so oder so vor dem letzten Zug unseres Krieges.« Die Versammlung des Vortags war unter Vermittlung der Ordensschwestern mit Barak Reki tu Tanatsua und einigen anderen Wüsten-Baraks in Izanzai abgehalten worden. Mishanis Auskünfte waren unter allen verteilt worden, wenngleich 380 jtian die Quelle sorgsam geheim gehalten hatte, um Muraki zu schützen. Am folgenschwersten und dringendsten war: Die Weber planten in nächster Zeit einen vollen Sturmangriff auf Saraku. Die Stadt Saraku bildete als Hauptsitz für Beratungen und Verwaltung gleichsam das Herz des Widerstands des Kaiserreichs und zugleich den Ort, an dem die meisten Adeligen und hohen Familien weilten. Fiele Saraku, hätten die Weber einen beinahe uneinnehmbaren Stützpunkt weit hinter der Front. Von dort aus könnten sie Machita oder Arakajo angreifen oder die Sumpflandstädte im Osten auslöschen. Und hätten sie sich die Präfekturen erst gesichert, könnten sie sich in aller Ruhe Tchom Rin vornehmen. Doch es gab auch Hoffnung. Denn gelänge es, die Präfekturen gegen die Weber zu verteidigen, bis die Ernte eingebracht war, mochte sich das Blatt durchaus wenden. »Bloß wird es uns nicht gelingen, die Weber abzuhalten«, hatte Cailin behauptet. »Nicht einmal mit den Auskünften, über die wir verfügen. Vielleicht können wir den Angriff auf Saraku abwehren, aber sie werden vor dem Sommer erneut an anderer Stelle zuschlagen. Es sei denn, sie werden gezwungen, einen Teil ihrer Streitkräfte zur Verteidigung ihrer Gebiete einzusetzen. Wir müssen ihnen beweisen, dass sie nirgends sicher sind. Wir müssen Adderach angreifen.« Seit Kaikus Besuch in Axekami war Cailins Stimme die lauteste gewesen, die zu einem Angriff auf Adderach riet, doch nun hatte sie endlich Unterstützung gefunden. Lucias Rückkehr hatte den Menschen Hoffnung geschenkt, den Glauben, dass sie den zuvor als unbezwingbar geltenden Feyakori trotzen könnten. Und mit dieser gehobenen Moral waren sie eher geneigt, die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, den Krieg auf einen Schlag zu beenden, so ungewiss oder unwahrscheinlich das auch sein mochte. Mittlerweile wussten sie, dass die Streitkräfte der Weber nicht so zahlreich waren, wie sie gedacht hatten, und dass sowohl die Ausgeburten als
auch die Nexusse ver381 heerend überbelastet waren: Die Weber nutzten sie als Angriffsstreitmacht und verließen sich bei der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung in den Städten überwiegend auf die Schwarzen Wachen. Somit war es durchaus möglich, dass Adderach nur leicht verteidigt wurde, zumal das Kloster sich tief im Feindesgebiet befand und zweifellos vom Schild der Irreführung der Weber geschützt wurde. Die Weber hatten sich beständig als unfähig erwiesen, taktisch zu denken, und Adderach war ein Ort, den sie gewiss nicht der Obhut des Regenten unterstellt hatten. Cailin hatte ihren Vorschlag geschickt so vorgebracht, dass die Aussicht, an die Hexensteine der Weber heranzugelangen - was ihr Hauptanliegen darstellte -, kaum erwähnt wurde. Ob ihnen dabei Erfolg beschieden würde oder nicht, die Vorstellung, die kostbarste Festung ihrer Feinde zu zerstören, war zu verlockend, um sie außer Acht zu lassen. Außerdem besaß der Plan für die hohen Familien des westlichen Kaiserreichs eine noch süßere Seite: Keine ihrer Truppen würde in die Schlacht ziehen. Somit wurde die Entscheidung getroffen und vereinbart: ein Angriff aus drei Richtungen auf die Weber. Die Streitkräfte der Libera Dramach und des westlichen Kaiserreichs würden sich um die Verteidigung von Saraku kümmern. In der Zwischenzeit würden die Krieger aus Tchom Rin und der Tkiurathi sich zusammen mit einer Anzahl von Ordensschwestern nach Adderach aufmachen. Dem Wüstenvolk fiel dabei die beschwerlichste Aufgabe zu: ein Marsch entlang der Längsrichtung der Berge, um Adderach aus dem Süden zu erreichen. Die Tkiurathi und die Ordensschwestern sollten den Seeweg einschlagen und durch feindliche Gewässer fahren, um nördlich des Aon-Berges zu landen. Verliefe alles wie geplant, würde der Blick der Weber gen Süden auf die Armee der Wüstenkrieger gerichtet sein; wodurch sie den Angriff aus dem Norden erst entdecken würden, wenn es bereits zu spät wäre. 382 Doch zunächst musste das Problem bewältigt werden, an Schiffe zu gelangen. Der im Westen gelegene Hafenort Lalyara bot die einzig mögliche Wahl, wenn sie etwa zur selben Zeit in Adderach eintreffen wollten wie das Wüstenvolk. In Lalyara gab es reichlich Schiffe für die Tkiurathi. Aber vor einer Woche war der Hafen durch Kähne der Weber unter Belagerung gestellt worden. Sie unternahmen keine Anstalten anzugreifen, verhinderten nur jegliche Zu- oder Abfahrt. Schon bevor es durch Mishanis Auskünfte bestätigt wurde, hatten die Libera Dramach geahnt, was die Weber im Schilde führten. Ihr nächstes Angriffsziel war Lalyara. Und wenn sie dort vor den Tkiurathi einträfen, wäre der Sturm auf Adderach bereits fehlgeschlagen, noch bevor er begonnen hatte. Später spazierten Kaiku und Tsata gemeinsam durch den Wald. Kaiku brauchte etwas Bewegung, um den Verstand vom bevorstehenden Aufbruch abzulenken. Sie wusste, dass die Zeit knapp war, und sie brannte darauf loszuziehen, aber die Beschaffung von Vorräten und Ausrüstung, um fast tausend Männer und Frauen in den Krieg zu entsenden, war kein einfaches Unterfangen und würde mehr als ein paar Stunden in Anspruch nehmen. Es war hell, ruhig und kühl, und ihre Füße knackten im Gehen über Zweige. Sie unterhielten sich über Dinge von wenig Belang. Kaiku versuchte, nicht über die möglichen Folgen dessen zu sinnieren, dass sie Asara die Gabe der Empfängnis geschenkt hatte, und über Lucia zeterte sie bereits so lange, dass sie mittlerweile der eigenen Stimme überdrüssig war. Kurz dachte sie über Mishanis Verschwinden und ihre Enthüllungen nach, doch übermäßig besorgt wegen ihrer Freundin war sie nicht. Da sie erst von der Gefahr erfuhr, in der Mishani geschwebt hatte, nachdem sie bereits gebannt war, verspürte 383 Kaiku lediglich ein verschwommenes Gefühl der Erleichterung. Freilich widersprach etwas derart Unbesonnenes Mishanis Wesen, aber der Umstand, dass Kaiku es nicht vorausgesehen hatte, erinnerte sie nur daran, wie wenig Umgang mit ihrer Freundin sie in den vergangenen Jahren gepflegt hatte, was sie traurig stimmte. Kaiku war bewusst, dass dies die erste Gelegenheit war, bei der Tsata und sie seit jenem Kuss im Wald von Xu alleine waren. Danach hatten der Tod Phaecas und Peithres sowie die schrecklichen Ereignisse in ihrem Umfeld jegliche Annäherungsversuche inmitten all des Kummers schal und kraftlos werden lassen. Heute jedoch haftete Tsatas Verhalten eine merkwürdige Anspannung an, die sich darin äußerte, dass er ihr immer wieder flüchtige Blicke zuwarf und halb Luft holte, um Sätze zu beginnen, die nie ausgesprochen wurden. Es lag eine Dringlichkeit in der Luft, das Gefühl, dass dies wohl die letzten friedlichen Augenblicke sein könnten, bevor der Sturm losbrach und sie alle verschluckte, und es gab noch Dinge zwischen ihnen zu sagen, die nicht warten konnten. Schließlich fanden sie eine Stelle, wo das Gelände anstieg und an den Rand des Sees grenzte, gut und gern drei felsige Meter zum Wasser hin abfiel. Ferne Dschunken kreuzten träge auf den Horizont zu, und im Aufwind kreisten Hakenschnäbel auf der Jagd nach Fisch. Kaiku und Tsata setzten sich nebeneinander auf einen umgestürzten Baum, über den teilweise Moos gewuchert war. Unter den sanft flatternden Blättern der immergrünen Gewächse steuerten sie auf den Augenblick zu, den sie beide vor sich her geschoben hatten. Tsata schaute auf seine Hände hinab, war in den qualvollen Klauen einer so unverkennbaren Unentschlossenheit gefangen, dass Kaiku ein wenig lachen musste. Was die Spannung löste: Er lächelte zur Erwiderung. »Dein Volk ist nie gut darin, seine Gefühle zu verbergen«, stellte Kaiku fest. »Also sag es einfach frei heraus.« 384 »Ich fürchte mich davor«, gab er zurück, dann schaute er unsicher zu ihr auf. »Ich fürchte, ich bin immer noch
nicht ganz mit euren Gepflogenheiten vertraut, und ihr Saramyrrer legt solchen Wert auf Etikette.« »Die meisten von uns. Auf mich trifft das scheinbar in geringerem Ausmaß zu. Mishani hält mir andauernd vor, wie unkultiviert ich bin.« Mit zärtlichem Blick sah sie ihn an, wollte hören, was er zu sagen hatte, und gleichzeitig auch nicht. »Ehrlichkeit ist besser.« »Aber das ist etwas, das ich bei deinem Volk nicht verstehe. Obwohl ihr sagt, dass ihr Ehrlichkeit wollt, stimmt es nur selten. Ihr seid so in Umschweife verliebt, dass Ehrlichkeit euch Unbehagen bereitet.« »Hör auf, drum herumzureden, Tsata«, schalt sie ihn freundlich. »Das passt nicht zu dir.« Schließlich schüttelte er den Kopf, als wollte er eine Plage abschütteln, dann verschränkte er die Hände ineinander. Kaiku fiel auf, wie wunderschön die grünen Ranken der Tätowierungen entlang seiner Finger sich dabei verflochten. »Ich kann das nicht auf eure Weise«, setzte er an. »Wäre dies -« Kaiku riss der Geduldsfaden. »Tsata, willst du mich nun oder nicht?« Die Unverblümtheit der Frage überraschte selbst ihn. Er drehte sich ihr zu, und in dem Augenblick, bevor er sprach, brannte sie sich sein Bild ein, bewahrte sich die letzten Augenblicke, während der er sich in Bewegung befand, bevor Gewissheit ihre Beziehung auf die eine oder andere Weise prägte. Dieses Bild würde sie als Schutzschild gegen seine Antwort im Gedächtnis behalten. Doch als die Antwort ertönte, lautete sie: »Ja.« Ein Atemzug verstrich. »Nur ist es für dich nicht so einfach«, fuhr er fort. »Oder?« Kaiku senkte leicht den Kopf, sodass ihr das Haar über die 385 linke Gesichtshälfte fiel, sie vor ihm abschirmte. »Einfachheit ist etwas, worin sich mein Volk nicht besonders auszeichnet«, gab sie zurück. Kaiku fühlte sich von sich selbst verraten, wurde von plötzlichem Zorn gepackt. Bei den Göttern, hatte sie auf diesen Augenblick nicht so lange gewartet? Sie wusste doch, was sie für ihn empfand. Schon seit jenen Wochen, die sie vor vier Jahren gemeinsam im Xarana-Bruch verbracht, in denen sie Ausgeburten gejagt und die Weber bespitzelt hatten, wusste sie es, ohne es sich einzugestehen. Es war nicht jäh über sie gekommen, sondern hatte sich so allmählich angebahnt, dass sie zunächst Schwierigkeiten hatte, es zu erkennen. In der Zeit, die er jenseits des Meeres gewesen war, hätte sie es fast geschafft, es als vorübergehende Schwäche abzutun. Fast. Doch seit er zurück war, seit jenem Kuss im Wald, war ihr unzweifelhaft klar, was sie empfand. Aber in mancherlei Hinsicht war er ungemein schwierig zu deuten, und sie konnte unmöglich sicher sein, ob er ihre Gefühle erwiderte. Bis jetzt. Dennoch war es anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Statt einer Woge der Freude, der Erleichterung, der Erlösung empfand sie lediglich eine grauenhafte Erschöpfung, eine schale Beantwortung einiger Fragen. Nun, da sie ohne jeden Zweifel wusste, dass er sie wollte, stieß sie gegen all die Mauern, die sie im Verlauf der Jahre so sorgsam um ihr Herz errichtet und jedes Mal, wenn sie verletzt worden war, gefestigt hatte. Offenbarwaren sie dermaßen dick geworden, dass sie sich nicht einfach einreißen ließen. »Tsata, es tut mir Leid«, sagte sie. »Du verdienst eine bessere Antwort als das.« Er starrte wieder auf seine Hände hinab. Kaiku richtete sich auf, strich sich die Haare hinters Ohr zurück und wandte sich ihm zu, ergriff seine Hand und schloss die eigenen Hände darum. Sie versuchte, Worte zu finden, die weder rührselig 386 noch verletzend wären, aber sie war noch nie gut darin gewesen, sich bei solchen Dingen auszudrücken. »Auch ich will dich, Tsata«, begann sie. »Ich will dich wirklich. Im Augenblick mag dir das ein schwacher Trost sein, aber ich will, dass du es weißt. Zweifle nie daran, was auch kommen mag.« Kurz verlor sie den Faden, ehe sie eine neue Richtung einschlug. »Seit diese ganze Sache begann, ist alles zusammengebrochen, was ich früher für gut und von Bestand hielt. Meine Familie, meine Freunde, meine ... Beziehungen. Auch die Schwesternschaft hat mich enttäuscht. Vermutlich kann man mittlerweile nicht einmal mehr den Libera Dramach über den Weg trauen; jedenfalls darf ich mir nicht sicher sein.« Sie drückte seine Hand fester, wollte krampfhaft, dass er sie verstand. »Für Tane begann ich, Liebe zu empfinden, kurz bevor er mir entrissen wurde; von Saran - von Asara wurde ich verraten, als ich mich gerade zu dem Glauben hinreißen ließ, dass etwas zwischen uns entstehen könnte. Dazwischen gab es Männer, die ich zwar nicht so innig liebte, aber auch diese Beziehungen endeten mit Betrug oder Enttäuschung.« Nun hob er den Kopf und sah sie an. »Jedes Mal, wenn ich jemanden oder etwas an mein Herz heran ließ, blieb ich mit einer neuen Narbe zurück«, fuhr sie mit geradezu flehentlichem Tonfall fort, weil sie sich sehnlichst wünschte, dass er ihr verzeihen würde. »Ich möchte alleine sein, niemanden brauchen; doch dann schaue ich Asara an, sehe, was das aus ihr gemacht hat, und mir wird klar, dass auch das Alleinsein keine Lösung ist. Trotzdem kann ich keine weitere Verletzung ertragen, Tsata. Ich könnte es nicht ertragen, dich zu lieben und dann miterleben zu müssen, dass du in der bevorstehenden Schlacht getötet wirst, in dein Heimatland zurückkehrst und mich verlässt oder eine andere Frau findest. Immerhin glaubt dein Volk nicht an ausschließliche Treue zwischen zwei Menschen.« 387
»Nein«, murmelte er. »Aber du glaubst daran. Und für mich wäre das gut genug.« Kaiku runzelte die Stirn. »Was meinst du damit?« »Das ist keineswegs neu«, erklärte Tsata. »Mein Volk lebt seit gut tausend Jahren in der Nähe saramyrrischer Siedlungen. Tkiurathi sind schon öfter Paarbünde mit Saramyrrern oder Saramyrrerinnen eingegangen. Einige haben sogar geheiratet. Das ist eine persönliche Entscheidung, eine Neuordnung des Pash.« »Und du wärst bereit, das für mich zu tun?« »Das wäre ich«, antwortete er. Tsata starrte auf den See hinaus. »Ich war mir ... lange Zeit unsicher. Ich wusste nicht, ob wir je zusammen sein könnten; ich hielt unsere Kulturen für zu grundlegend verschieden. Aber dann im Wald, als ich bezeugte, wie du uns gegen den Soldaten verteidigt hast, wie du dich geweigert hast, Peithre zurückzulassen ...« Er ließ den Satz unvollendet und drehte sich ihr zu, schaute sie an. »Da war ich mir mit einem Schlag sicher.« Und nun spürte Kaiku es wie einen körperlichen Druck, der sich von ihrer Brust ausgehend verbreitete, ein warm-wohliges Anschwellen, das sie ausfüllte. Es überkam sie so unverhofft, dass sie ausatmen musste, ein kurzer Luftstoß, der sich in ein Lächeln verwandelte. Doch es währte nur einen Lidschlag lang, denn sie rang es nieder, zumal sie wusste, was es bedeutete, wusste, wozu es führen würde. Aber habe ich denn eine Wahl ?, dachte sie. Wenn ich diesen Mann abweise — diesen Mann, von dem ich weiß, dass ich ihm mehr vertrauen kann als jedem anderen, von dem ich weiß, dass er mich nie hintergehen würde -, wie wird der Rest meines Lebens dann aussehen'? Behutsam biss sie sich auf die Innenlippe und schloss die Augen. Konnte sie so leben, stets auf der Hut, sicher und gefühlstaub? Oder war dies der Beginn eines steilen Wegs nach unten, den sie nie zurück erklimmen könnte? So sie die388 sen Krieg überlebte, standen ihr noch viele, viele Jahre bevor. Nicht einmal die Schwestern vom Roten Orden wussten wie viele. Vielleicht endlose. Und wenn du diesen Mann in dein Herz lässt, könntest du es ertragen, mit anzusehen, wie er im Gegensatz zu dir altert ? Sie wollte sich dieser Frage jetzt nicht stellen. Ihre Tragweite war zu groß, um sich damit zu beschäftigen. Aber welche anderen Möglichkeiten gab es? Wieder lief es auf eine einzige hinaus: sich abzukapseln, auf ewig einsam zu sein, sich vor der Welt zu verschanzen. Ein Klosterdasein mit den Schwestern vom Roten Orden als einziger sicherer Gesellschaft, weil sie ebenfalls nicht alterten. Was auch nicht in Betracht kam. Letzten Endes führten alle Wege zu Schmerz; es war nur eine Frage der Zeit. »Zeit«, murmelte sie leise, so leise, dass Tsata es kaum hörte. Verwirrung trat in seine Züge. »Gib mir Zeit... um über all das nachzudenken.« Tsata war drauf und dran, etwas zu erwidern, überlegte es sich jedoch anders. Stattdessen zog er die Hand zurück und erhob sich. Kaiku tat es ihm gleich. So standen sie beisammen, gefangen in einem anhaltenden Augenblick der Trennung, und weder sie noch er wollte es dabei belassen; dann küsste Kaiku ihn flüchtig auf die Lippen und verschwand im Wald, ließ ihn allein. Sie schaute nicht zurück. Sie wollte nicht, dass er die Tränen sah, die sich in ihren Augen sammelten. Die Tkiurathi reisten schnell und mit leichtem Gepäck. Gegen Abend hatten sie aus ihrem Dorf alles eingepackt, was sie für den Marsch nach Lalyara brauchten. Cailin hatte veranlasst, dass die Schiffe dort mit den Vorräten bestückt wurden, die sie für die weitere Reise brauchten. Binnen weniger als einem Tag war das Dorf ausgehöhlt und verwaist. Die Feuer waren gelöscht und die Repka verzurrt worden, um ihrer Rückkehr 389 zu harren. Anschließend versammelten die Tkiurathi sich in einem Tal nördlich der Tempelanlage und bereiteten sich darauf vor, bei Einbruch der Dunkelheit aufzubrechen. Dutzende Ordensschwestern würden mit ihnen reisen, darunter Cailin höchstpersönlich. Kaiku selbstverständlich ebenfalls. Nach ihrem Gespräch mit Tsata verbrachte sie den Rest des Tages damit, emsig durch das Haus zu huschen, letzte Vorbereitungen zu treffen und sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Sie wusste nicht, ob Mishani bald zurückzukehren gedachte oder nicht, daher musste sie das Haus für eine längere Zeit des Leerstehens einrichten. Sie putzte und räumte auf, packte und packte erneut, betete kurz am Hausschrein, bereitete sich ein Mahl zu und aß es mit raschen, unruhigen Bissen. In Wahrheit brauchte sie bloß etwas zu tun, um sich von ihren Gedanken abzulenken. Ihren Pfad hatte sie nun gewählt. Kaiku würde nicht davon abweichen. Sie war unterwegs nach Adderach, dem Geburtsort der Weber. Ihr vor langer Zeit an Ocha geleisteter Eid gebot es. Alles andere -alles- konnte warten. Vorerst hatte ihre Aufmerksamkeit den Webern zu gelten, und wenn es eine Gelegenheit gab, sie zu zerstören, ihre Macht zu brechen, dann musste Kaiku sie beim Schöpfe packen. Andernfalls würden die Geister ihrer Familie ihr nie verzeihen. In einem Anflug von Verbitterung überlegte sie, ob sie die Kluft des Roten Ordens mitnehmen oder einfach an Ort und Stelle verbrennen sollte. Doch als es so weit war, sich zu entscheiden, zögerte Kaiku, sie zu vernichten. Obwohl sie für eine Gefolgstreue stand, die Kaiku nicht mehr verspürte, konnte sie die Befehlsgewalt und Macht nicht verleugnen, die ihr die Aufmachung verlieh, und in Adderach würde sie allen Mut brauchen, den sie aufzubringen vermochte. In der gesamten Zeit des Krieges war sie noch nie ohne diese Kluft ins Gefecht gezogen.
390 Na schön, dachte sie. Ich werde sie wieder anlegen. Bis die Weber ausgemerzt sind. Zuletzt blieb noch, die Maske aus der Truhe zu holen, in der sie lag. Mit einer flinken, angewiderten Bewegung ergriff Kaiku sie und stopfte sie in den Rucksack. Dann schloss sie das Bündel und verschnürte es. Sie wollte eben aufbrechen, als sie draußen die Glocke hörte. Kaiku ging zur Tür, um zu öffnen. Es war Lucia mit zwei Ordensschwestern als Leibwächterinnen. »Darf ich reinkommen?«, fragte Lucia. Kaiku bedeutete ihr einzutreten und wartete, ob die Ordensschwestern die Absicht zeigten, es ihr gleichzutun. Als dem nicht so war, zog sie die Tür zu. Das Zimmer präsentierte sich so gut wie kahl, da selbst die spärliche Einrichtung verräumt worden war. Lucia schritt voran und stellte sich kurz mit dem Rücken zu Kaiku auf, dann drehte sie sich entschlossen um. »Du reist ab?«, fragte sie. »Jetzt?« »Ich bereite mich darauf vor, ja«, erwiderte Kaiku. »Ich habe erst vor kurzem davon erfahren«, meinte Lucia. »Du warst bei der Versammlung«, entgegnete Kaiku. »Du hast gewusst, dass die Tkiurathi gehen würden.« »Ich habe nicht gewusst, dass du gehen würdest«, gab Lucia zurück. »Hattest du etwa vor aufzubrechen, ohne es mir zu sagen?« Kaiku musterte sie. Nachdem Lucia das hellblonde Haar jahrelang knabenhaft kurz getragen hatte, war es nun etwas gewachsen. Kaiku fragte sich, ob das etwas bedeuten mochte. »Ich dachte, es würde dich ohnehin nicht kümmern«, antwortete Kaiku wahrheitsgemäß und war überrascht, wie grausam es sich anhörte. Der Ausdruck in Lucias Gesicht verriet deutlich, wie tief sie dieser Stachel getroffen hatte. »Das ist ungerecht, Kaiku.« 391 »Findest du? Seit deinem Besuch beim Xhiang Xhi hast du so getan, als wolltest du mich gar nicht mehr kennen. Was habe ich denn getan, dass ich eine solche Behandlung verdiene?« »Du solltest besser als alle anderen wissen, dass mich .., Dinge beschäftigen«, erwiderte Lucia. »Ich hätte ein wenig Nachsicht erwartet.« Kaiku verwirrte ihr Tonfall: Sie hörte sich ganz und gar nicht wie die Lucia an, die sie kannte. Ihre Stimme wirkte schriller. »Dann verzeih mir bitte«, sagte Kaiku, schleuderte ihr eine halbherzige Entschuldigung ohne jede Inbrunst hin. »Aber woher soll ich es wissen, wenn du dich weigerst, mit mir zu reden? Bevor wir den Wald betraten, warst du wenigstens du selbst, auch wenn deine Gedanken nicht immer ganz da waren. Aber seither hast du dich verändert. Jetzt weiß ich nicht mehr, wer du bist oder was du willst.« Sie schwächte den schneidenden Tonfall ab, als ihr klar wurde, dass sie zu hart war; die gefühlsmäßigen Wirren der vergangenen Tage und ihre Unruhe ob des bevorstehenden Aufbruchs hatten sie kaltherzig werden lassen. »Was ist dort drin nur mit dir geschehen?« Es war die Sorge, die in der Frage mitschwang, die Lucias Fassade einstürzen ließ. Unvermittelt schien sie den dornigen Panzer abzuwerfen und sich wieder in die alte Lucia zu verwandeln. Sie berichtete Kaiku, was der Geist ihr gesagt hatte, vom wahren Zweck der Weber und dem Schleier der Vorherrschaft. Was sie jedoch verschwieg, war der Preis, der für den Beistand der Geister zu bezahlen sein würde. Kaiku lauschte. All das wirkte sonderbar unwichtig auf sie, und Enthüllungen, die sie eigentlich bestürzen müssten, drangen kaum zu ihr durch. Das Ausmaß war zu gewaltig: Es hatte weder günstigen noch störenden Einfluss auf den Eid, den sie geleistet hatte. Dennoch war offensichtlich, dass Lucia um etwas herumredete, und nachdem sie geendet 392 hatte, stellte Kaiku fest: »Da ist noch etwas, das du mir nicht verrätst.« »Das ist zwischen mir und dem Xhiang Xhi«, erwiderte Lucia. Dadurch gerieten sie vorübergehend in eine Sackgasse. »Es tut mir Leid, dass ich so barsch war«, meinte Kaiku schließlich, diesmal aufrichtig. »Du stehst unter großer Anspannung und kannst oder willst die Bürde nicht teilen. Es war schäbig von mir, dass ich aufbrechen wollte, ohne mich zu verabschieden.« »Lass uns all das vergessen«, schlug Lucia vor. »Du sollst wissen, dass ich dich die letzten Tage nicht links liegen lassen wollte und dass alles, was ich im Dorf der Emyrynn zu dir gesagt habe, immer noch gilt. Ich bin dir stets am Herzen gelegen - und du mir. Ich will nicht, dass unser letzter Abschied durch Verbitterung verdorben wird.« »Wieso denkst du, es wäre unser letzter Abschied?«, hakte Kaiku nach. Sie sprach die Frage mit erzwungener Unbeschwertheit aus, um dem Entsetzen entgegenzuwirken, das sie bei Lucias Worten empfand. Lucia antwortete nicht. Stattdessen näherte sie sich Kaiku und umarmte sie zärtlich. Was schlimmer war als jede Erwiderung, die sie hätte geben können. »Lucia, was ist los?«, flüsterte Kaiku von plötzlichem Grauen erfüllt. »Was weißt du, das du mir verheimlichst?« Lucia ließ sie los; in ihren blassblauen Augen standen Kummer und Mitleid. »Leb wohl«, sprach sie mit leiser, belegter Stimme. Damit ging sie. Kaiku wollte ihr nachrufen, wollte eine Antwort auf ihre Frage verlangen, doch ihr fiel rein gar nichts ein, womit
sie Lucia umstimmen könnte. Bis sie sich wieder gefasst hatte, war die Tür bereits zugeschoben und Lucia verschwunden. Eine Weile verharrte Kaiku reglos in der Leere des Hauses. 393 Schlagartig fühlte es sich wie eine Gruft an, und sie konnte es nicht ertragen, noch länger zu bleiben. Sie ergriff ihr Bündel, schulterte es, verließ ihr Heim und begab sich auf den Weg zu dem Tal, in dem die Tkiurathi sich trafen. Während sie den Trampelpfad hinaufmarschierte, wurde ihr plötzlich bewusst, dass sie diesen Ort unter Umständen zum letzten Mal sah. Trotzdem schaute sie nicht zurück. 394 Vierundzwanzig Von Arakajo aus - um den Nordrand des Xemit-Sees und nach Westen, um den Wald von Xu herum - erfolgte die Reise in aller Eile, aber trotz Mishanis Auskünften wussten sie nicht genau, wann Lalyara angegriffen werden sollte. Aus dem Vorgehen der Weber war deutlich abzulesen, dass sie beabsichtigten, die im Hafen gefangene Flotte zu zerstören. Die Tkiurathi hofften, rechtzeitig dort einzutreffen, um sich einen Weg durch die Sperre der Weberschiffe zu erkämpfen und fortzusegeln. Dann erreichte sie noch einige Tage von ihrem Bestimmungsort entfernt die Kunde, dass die Streitmacht der Weber gesichtet worden war und sich rasch auf Lalyara zubewegte. Der Rest des Marsches wurde mit gnadenloser Geschwindigkeit zurückgelegt; doch die durch die Gefahren ihres Heimatlandes abgehärteten Tkiurathi waren außerordentlich gut in Form und durchaus in der Lage, sich schnell fortzubewegen, wenn es nötig war. Sie erreichten Lalyara knapp eine Stunde, bevor der Nebel einfiel, und sogleich fing man mit den Vorbereitungen an, die im Hafen liegenden Schiffe für die Abfahrt vorzubereiten. Doch so schnell sie auch waren, es war immer noch nicht schnell genug. Explosionen. Das Knacken von Holz und das peitschende Klatschen von Wasser gegen den Stein des Docks. Männer und Frauen rufen einander zu, hetzen an Kaiku vorbei; das Einsetzen einer mächtigen Bewegung, als sich eines der riesigen Schiffe vom Pier zu ihrer Rechten löst, danach ein volltönen395 des Platschen, als die abgeworfene Laufplanke ins Meer eintaucht. Eine unregelmäßige Abfolge von Büchsenschüssen in der Ferne. Salz in der Luft, kalte Gischt in ihrem Gesicht, der Geruch von Feuer und Blut und überall dieser grässliche, erstickende Nebel. Die Feyakori waren eingetroffen. Auf den Docks herrschte Chaos. Seeleute kletterten durch die schattige Takelage ihrer Gefährte, gehorchten gebrüllten Befehlen. Die Dschunken zeichneten sich im trüben Dunstschleier als bedrohliche Umrisse ab. Tkiurathi rannten klappernd über Laufplanken hinauf, drängten sich auf die Decks der Schiffe, während Hafenarbeiter Trossen durchhackten und der Küstenwind aufrollende Segel erfasste und bauschte. Kaiku schaute mit roten Augen nach Norden, durchdrang mit ihrem Blick den Nebel. Da waren sie, auf der Kuppe eines fernen Hanges, wo sie mit der Unaufhaltsamkeit einer Flutwelle über die nördliche Mauer auf die Stadt zukamen. Zwei davon, dieselben beiden, die Juraka und Zila verwüstet hatten, schwarze Schemen, siedende Gewirre aus Gewebsfäden. Ihr trostloses Stöhnen hallte über die Dächer, als sie die Mauer zu Geröll droschen. Und wenngleich Kaiku es nicht sehen konnte, wusste sie, dass die Ausgeburten bereits hereinschwärmten. Etwas sauste über ihr hinweg, und sie zuckte zusammen; es schlug in ein Lagerhaus ein paar Straßen weiter ein und zertrümmerte eine der Wände des Gebäudes. Von draußen auf dem Meer hörte sie das Grollen von Feuerkanonen. Die Küstenbatterien feuerten blind, da ihnen der Pestnebel der Feyakori die Sicht raubte. Mittlerweile hatten sich die Schiffe der Weber genähert, waren nicht mehr damit zufrieden, als Sperre zu wirken, und zeigten wenig Furcht vor den Kanonen; für die eigenen Geschütze dienten die Weber als Augen, und so ließen sie Verheerung auf die Stadt einprasseln, indem sie eine neue, schwerere Artillerie mit mehr Sprengkraft einsetzten als 396 jene, die das Kaiserreich in vergangenen Jahren verwendet hatte. Aber es war erst weniger als die Hälfte der Dschunken in See gestochen, und noch zahlreiche waren übrig. Kaiku spürte das heranschnellende Geschoss einer Feuerkanone, berechnete unwillkürlich die Flugbahn und stellte fest, dass es mitten auf den Docks einschlagen würde. Sie wollte sich gerade darum kümmern, als ihr eine der anderen Ordensschwestern zuvorkam: sein Schwung verpuffte mitten im Flug, und es platschte wirkungslos in die Wellen. Ein weiteres und noch eines: zwei Geschosse gleichzeitig. Kaiku übernahm eines der beiden auf dieselbe Weise wie ihre Gefährtin, wobei sie darauf achtete, nicht die Hülle aufzubrechen und die gallertartige Masse darin zu versprühen, die sich ob der Berührung mit Luft entzündete. Das zweite Geschoss wurde ähnlich abgewehrt. Noch zwei; und hinterdrein zwei weitere. Mittlerweile hatten die Schiffe der Weber die Entfernung eingestellt. Drei der Kugeln stürzten harmlos ins Meer; die vierte nicht. Vor lauter Hast zerbrach eine der Ordensschwestern das Geschoss, als es gerade in hohem Bogen über ein Schiff flog, das fast bereit war, die Segel zu setzen. Die Kugel stürzte ab und krachte in den Mast, zersprengte ihn in Splitter. Matrosen und Tkiurathi auf dem Deck
fielen zu Boden, hielten sich die Gesichter und Leiber, als sie von Spänen lodernden Hartholzes durchbohrt wurden. Der Mast stürzte langsam um, zog einen Rauchschweif von den brennenden Segeln hinter sich her. Die Männer unten hatten weder Platz noch Zeit, um auszuweichen. Das Schiff versank in heillosen Wirren: Einige flüchteten, andere mühten sich ab, den Verwundeten zu helfen, und indes sausten weitere Geschosse heran, zischten mit tödlicher Geschwindigkeit durch den Nebel. ((So geht es nicht)) meldete Cailin zu Kaiku. ((Die Ausgeburten 397 nähern sich rasch. Wir können die Verteidigung nicht sowohl gegen sie als auch gegen die Kanonen aufrechterhalten)) ((Dann sollten wir zusehen, dass wir raus aufs Meer kommen und diese Schiffe ein wenig beschäftigen)) dachte Kaiku voll Ingrimm, sandte die Botschaft in Form einer grellen Bilderflut: lodernde Schiffe, sterbende Männer, mit Blasen überzogene Hände, schmelzende Masken. ((Einverstanden, ich will dich auf dem nächsten Schiff haben. Die ersten unserer Dschunken nehmen auf dem Meer bereits das Gefecht mit dem Feind auf)) Kaiku schickte ihr als Erwiderung ein trotziges Gewirr von Empfindungen, um kundzutun, dass sie dann gehen würde, wenn sie dazu bereit war, und sich von Cailin nichts befehlen ließ. Doch tief in ihrem Herzen wäre sie froh, von den Docks wegzukommen, wo sie zu wenig nütze war, außer um die feindlichen Geschosse abzufangen. Verteidigung entsprach nicht ihrem Stil. ((Dann bitte ich dich eben, Kaiku)) kam aufbrausend von Cailin zurück. ((Wärst du wohl so nett, das nächste Schiff zu nehmen ?)) ((Mach ich)) erwiderte Kaiku, denn in diesem Augenblick sah sie, dass Tsata einen Steg entlang rannte, womit ihr letzter Grund zu bleiben entschwand. Sie drängte sich zu dem Schiff vor, das Tsata bestiegen hatte. Im Norden frönten die Feyakori ihrer üblichen hirnlosen Zerstörung, aber sie zogen eine sehr deutliche Schneise in Richtung der Docks. Ein Geschoss sauste durch die Luft, doch es ging viel zu weit, und keine der Schwestern vom Roten Orden vergeudete Zeit damit, es abzufangen. Es krachte in die Kuppel eines Tempels und brachte sie unter aufwallendem Rauch zum Einsturz. Ein weiteres Geschoss durchbrach die Verteidigung der Ordensschwestern, diesmal, weil sie der schieren Masse der Geschütze nicht gewachsen waren. Es schlug auf den Docks 398 mitten in eine Traube von Menschen ein, die meisten davon Tkiurathi. Die Explosion zerfetzte Körper, versprengte Gliedmaßen, die über die gesprungenen Steinplatten rutschten, während Männer die Hände auf geblendete Augen pressten, Frauen auf dem Boden wild mit Fleischstümpfen um sich schlugen, die zuvor Arme und Beine gewesen waren. Erschüttert schloss Kaiku kurz die Augen, doch sie hatte keine Zeit für Entsetzen oder Mitgefühl, und so drängte sie sich weiter zur Laufplanke. Männer, die Verwundete von dem brennenden Schiff stützten, stolperten an ihr vorbei. Kaiku roch den Moder des Leids, vermengt mit dem abscheulichen, giftigen Gestank des Pestschleiers der Feyakori, und sie nützte beides, um ihren Hass zu schüren. Sie löste sich aus der Menge und huschte über die Landungsbrücke auf die Dschunke. Auf dem Deck war kaum Platz, um sich zu bewegen. Die Seeleute brüllten den Tkiurathi zu, sich nach unten zu begeben, aber nur wenige gehorchten. Sie waren keine Seefahrer, und ihnen missfiel die Vorstellung, in einer Holzkiste gefangen zu sein, die jeden Augenblick zu sinken drohte. Kaiku hielt nach Tsata Ausschau, doch es war hoffnungslos, ihn inmitten der Masse tätowierter, mit Tarnfarbe bemalter Leiber auszumachen. Mittlerweile wurden entlang des Docks weitere Schiffe von den Vertäuungen gelöst. Die restlichen Kähne füllten sich rasch, und Kaiku vermutete, sie würden in dichter Abfolge ablegen, denn die Seeleute wussten, dass sie es sich nicht leisten konnten, noch länger zu warten. Ständig hallte das Gebrüll der Kanonen durch die Luft, scheinbar näher denn je zuvor. Dann brach auf den Docks plötzlich der Lärm von Büchsenschüssen los, als die Soldaten von Lalyara das Feuer auf die ersten Ausgeburten eröffneten. Matrosen an Bord von Kaikus Schiff brüllten den Befehl zum Ablegen, und die Segel an den Masten rollten sich auf, als Taue angezogen wurden. Die Tkiu399 rathi auf der Dschunke suchten mit ihren Büchsen nach Zielen, als die Ausgeburten auftauchten. Mächtige Ghauregs führten den Angriff an, preschten in die Verteidiger an der Nordseite der Docks und schleuderten sie beiseite wie zerbrochene Puppen. In ihrem Gefolge preschten Schrillviecher heran, die tief in der Kehle gurrten, während sie sich bald hierhin, bald dorthin stürzten, Männer erst zu Boden und dann in Stücke rissen; dazwischen huschten beißend und würgend Skrendel umher. Die ersten Verteidigungslinien überrannten sie durch blanke, selbstmörderische Gewalt. Selbst nach vier Jahren hatten die Soldaten Saramyrs immer noch Mühe damit, gegen einen Feind zu bestehen, dem das eigene Leben einerlei war. Dann eröffneten die Tkiurathi auf den Schiffen das Feuer, und die Raubtiere wurden in einem verheerenden Hagel von Büchsenkugeln umgeschnitten wie Heu. Doch leider war die Entfernung groß, weshalb einige überlebten, um sich der restlichen Soldaten anzunehmen. Ein Freudenhaus an den Docks erlitt einen unmittelbaren Treffer von einer der Kanonen der Weber und erbrach von seiner Fassade loderndes Geröll. Schwerter wurden gezogen, Büchsen krachten, und die Soldaten fochten nach Leibeskräften, obwohl sie wussten, dass ihr Unterfangen hoffnungslos war. Sie
opferten ihr Leben, damit die Schiffe entkommen konnten. Man hatte ihnen befohlen, diese Stelle zu halten, und sie würden dabei allesamt umkommen. Nun spürte Kaiku die träge, mächtige Bewegung der Dschunke, als der Kahn in den Wind geriet und die letzten Trossen durchtrennt wurden. Sie bahnte sich mit den Ellbogen einen Weg durch die Menge, hatte ihren Verstand halb bei der Verständigung zwischen den Ordensschwestern, halb bei den heranschnellenden Geschossen. Sie ließ Tsata von ihrem Kana suchen, folgte der Verbindung zwischen ihnen, dem Band der Gefühle, das im Geweb im wörtlichen Sinn vorhanden war. 400 Sie fand ihn, als er gerade aus einem Beutel Schießpulver in seine Büchse nachlud, just in dem Augenblick, als der Pier hinfort zu gleiten begann. Ein weiteres Schiff zu ihrer Rechten hatte vor ihnen abgelegt, ein riesiger, schwankender Schatten im Nebel, der an Geschwindigkeit zunahm. Tsata sah Kaiku nicht nahen; er war vollauf damit beschäftigt, sich feuerbereit zu machen und wieder zu zielen, die Ausgeburten auszuschalten, die auf die Docks vordrangen. Eine der Dschunken war zu langsam, um der Flut der Zähne und Klauen zu entrinnen, und die Kreaturen schwärmten über die Laufplanke hinauf in das Schiff. Dann aber setzte es sich in Bewegung; die Planke stürzte ab, riss die Ungetüme mit sich ins Meer. Die wenigen, die es an Bord geschafft hatten, wurden hingemetzelt, aber jedes nahm drei Menschen mit in den Tod. Kaiku legte die Stirn in Falten, als sie alle Aufmerksamkeit auf eine neue Salve von den Schiffen der Weber bündelte. Mittlerweile prasselten weniger Geschosse auf sie ein, da die Weber die Kanonen auf jene Dschunken richteten, die versuchten, die Sperre zu durchbrechen; aber einer der Feyakori hatte seinen Streifzug der Verwüstung in Richtung der Docks beschleunigt und bahnte sich einen Weg, indem er schnurstracks durch die Häuser der Stadt stampfte. Er war zwar immer noch langsam, doch für Kaikus Geschmack nicht langsam genug; zudem schien er zu wissen, dass die Schiffe entkamen, und steuerte geradewegs auf sie zu. Dann lag der Pier hinter ihnen, und sie befanden sich in den Hafengewässern. Einige der Ausgeburten schleuderten sich auf die Dschunken, prallten von den Rümpfen ab und stürzten ins Wasser, wo sie linkisch davonschwammen. Andere wurden durch den halsbrecherischen Ansturm der Ungetüme hinter ihnen vom Rand der Docks gedrängt. Doch mittlerweile befanden sie sich außerhalb der Reichweite der Ausgeburten. Die letzten Schiffe hatten abgelegt, 401 und jene Krieger, die auf den Docks zurückgeblieben waren -darunter einige Dutzend Tkiurathi, die es nicht rechtzeitig an Bord geschafft hatten -, wurden von den Kreaturen der Weber zu rohem Fleisch verarbeitet. Der Anblick wurde gnadenvoll vom Nebel verhüllt, der umso dichter zuzog, je weiter sie sich von dem Gemetzel entfernten. Es folgte eine kurze Verschnaufpause vor dem Beschuss vom Meer aus, die Kaiku nützte, um die Hand auf Tsatas nackte Schulter zu legen. Wie immer trug er eine ärmellose Weste aus grauem Hanf, bestickt mit althergebrachten Mustern. Er drehte sich nicht um, sondern legte die Hand seines anderen Arms auf die ihre, während er auf den Umriss des Docks starrte. Ein Alarmausbruch über das Geweb riss Kaiku aus ihrer kurzen Ruhe, und sie wandte ihm die Aufmerksamkeit zu. Es war eine ihrer Ordensschwestern, die meldete, dass der herannahende Feyakori die Richtung geändert hatte und inzwischen nicht mehr auf die Docks zusteuerte, sondern ins Meer hinaus watete. Kaiku hörte das zornige Zischen aus dem Nebel, das wütende Brodeln und Blubbern des Salzwassers, als der Feyakori es berührte. Eine Welle erschütterte die Dschunke zu ihrer Linken; dann spürte Kaiku dieselbe Woge auch unter ihrem Schiff. Sie erstarrte, als sie im Geweb den schwarzen Schemen des Dämons durch das Wasser stapfen sah. Er hatte vor, sie abzufangen. Ein klägliches Stöhnen drang beängstigend nahe aus dem Nebel und löste Panik an Deck aus. Das Schiff, das vor ihnen vom Dock abgelegt hatte, befand sich immer noch dicht an ihrer Steuerbordseite. Dann lichteten sich die Schleier kurz ob eines Windstoßes, und die riesige Gestalt des Dämons ragte aus dem Meer auf, zog einen Schweif aus Gischt, Dampf und triefendem Gift hinter sich her. Die gelben Augen schimmerten arglistig im Dunstvorhang, als er sich zu voller Größe auf402 richtete und die beiden mächtigen Arme über den Kopf anhob; dann sausten sie mit einem tosenden Rauschen auf die Dschunke neben jener Kaikus herab. Unwillkürlich stimmte sie in den Schrei des Entsetzens mit ein, der von ihrem Schiff aufstieg, als der Feyakori dem stolzen Gefährt mit einem Hieb das Rückgrat brach. Der Lärm war ohrenbetäubend; das Wasser explodierte förmlich, als die Arme des Dämons durch die Dschunke hindurch in die Wellen tauchten, in einer gewaltigen Wolke Schaum und Gischt aufstieben ließen. Eine kräftige Woge keilte sich unter Kaikus Schiff, neigte es Übelkeit erregend. Kaiku ergriff die Reling und dachte schon, die Dschunke würde kentern; mehrere Leute wurden über Bord geschleudert. Dann verlangsamte sich das Kippen, und plötzlich schnellte das Schiff mit so viel Schwung in die entgegengesetzte Richtung zurück, dass ein paar weitere Unglückselige kreischend in die See gewirbelt wurden. Kaiku wurde von der über das nebelfeuchte Deck schlitternden Menge hinter ihr gegen
die Reling gepresst. Sie konnte die Augen nicht vom Wrack der Dschunke lösen, während deren beide Hälften mit lodernden Segeln einander zukrängten und verkohlte Leichen ebenso wie lebendige Männer und Frauen abwarfen, als der Winkel unerbittlich steiler wurde. Der Bughälfte blieb keine Zeit zu sinken; der Dämon bäumte sich erneut auf und hieb sie mit stumpfsinniger Urgewalt zu Zunder. Kaiku schaute weg; dennoch konnte sie den Anblick nicht vermeiden, denn er prangte im Geweb, und sie nahm alles um sich herum wahr. Die Todesschreie der drei Ordensschwestern, die an Bord des verheerten Schiffes gewesen waren, schwappten über sie hinweg. Ihre eigene Dschunke pendelte sich wieder ein, schnitt durch die Wellen, ließ den Dämon inmitten der Wracktrümmer hinter sich. Kaiku hörte das Gebell des Kapitäns, der sei403 ner Besatzung unverständliche Befehle zubrüllte, sie mit derben Schreien antrieb. Der Wind schob sie voran, hinaus Richtung Hafenausfahrt, und sie legten Geschwindigkeit zu. Der Feyakori unternahm keinen Versuch, ihnen zu folgen. Sie hatten Gewässer erreicht, die zu tief für ihn waren. Stattdessen wandte er sich mit einem langen, tiefen Stöhnen dem Dock zu und wurde langsam vom Nebel verschluckt. Die Tkiurathi auf dem Deck verstummten. Der Wind peitschte durch die Takelage, ließ die Ränder der fächerartigen Segel flattern. Umzukehren, um nach Überlebenden zu suchen, kam nicht in Frage. Schließlich konnte der Feyakori noch in der Nähe sein, und ein zweites Mal würden sie nicht in der Lage sein, ihm davonzufahren. Eine allmählich einsetzende Trauer senkte sich auf das Schiff herab. Doch die Stille währte nicht lange, denn irgendwo vor ihnen brüllten Kanonen, und heransausende Geschosse landeten platschend im Meer. » »Kanonen bereitmachen!«, gellte der Kapitän. ((Findet und kümmert euch um die Weber)) wies eine Schwester, die an der Seite des Kapitäns stand, ihre Ordensgefährtinnen an. ((Macht ihre Schiffe blind)) Nun konnte Kaiku die zerfranste Linie der Kähne sehen, die sich quer über ihren Pfad aneinander reihten und sich im Geweb als Leuchtfeuer goldenen Lichts präsentierten. Einige der Schiffe mit Ordensschwestern befanden sich bereits auf der anderen Seite der Linie, einige schlängelten sich gerade hindurch, und zumindest eines versank gerade brennend. Der nächste Feind lauerte im Wasser vor ihnen: Sie würden steuerbord an ihm vorbeiziehen, wenn sie diesen Kurs beibehielten. Der Kahn bombte mit lachhaft anmutender Ungenauigkeit Kanonenfeuer in ihre Richtung. Es war kein Weber an Bord. ((Um dieses hat sich bereits jemand gekümmert)) teilte Kaiku ihren Ordensschwestern mit. ((Gib dem Kapitän Bescheid)) 404 Beiläufig zerstörte sie Geschosse, die allzu nah heransausten, dann wandte sie die Aufmerksamkeit wieder dem feindlichen Gefährt zu. Die Männer an Bord hatten sie wahrgenommen: Die Stimme des Kapitäns hatte den Nebel durchdrungen, auch das Knarren des Schiffes, während es sein gewaltiges Gewicht durch die Wellen wuchtete, war deutlich zu hören. Aber der Nebel verbarg alles. Kaiku hielt den Atem an, als sie längs daran vorbeikreuzten. Es war nah, so nah, dass Kaiku, die es im Geweb sah, kaum zu glauben vermochte, dass der Feind sie nicht ausmachen konnte. Sie erkannte einzelne Männer auf dem Kahn, spürte ihre Anspannung, als sie in den trüben Schleier hinausstarrten, um ein Anzeichen ihrer Gegner zu erspähen. Andere waren emsig damit beschäftigt, die Kanonen nachzuladen. Dann ein Windstoß, und der Nebel teilte sich; Kaiku konnte beobachten, wie sich ihre Anspannung in blankes Grauen verwandelte, als sie den riesigen Schatten an sich vorbeigleiten sahen. »Steuerbordkanonen!«, gellte der Kapitän. »Feuer!« Die Geschütze der Dschunke erwachten zum Leben, und die Flanke des feindlichen Schiffes explodierte. Kartätschen durchlöcherten den Rumpf, zogen eine lange, splitternde Narbe die Seite entlang. Die Feuerkanonen schleuderten flammende Ölstriemen über das Deck und in die Segel, ließen die Besatzung in kreischende Panik ausbrechen, als brennendes Gallert auf ihr Haar und ihre Haut herabregnete. Dann ertönte auf der fernen Seite des Schiffes ein gewaltiger Knall, der einen Splitterschauer aufstob und eine klaffende Wunde hinterließ. Mit einer einzigen Breitseite aus nächster Nähe war der Feind verhängnisvoll beschädigt worden, und ein etwaiger Vergeltungsschlag ging in dem nutzlosen Versuch unter, das Schiff zu retten. Kaikus Dschunke kreuzte daran vorbei und hinfort, ließ ihre Gegner stark krängend und bereits sinkend hinter sich 405 zurück, wo sie in der Düsternis des trüben Nebels verblassten. »Sind wir außer Gefahr?«, murmelte Tsata zu Kaiku. »Noch nicht«, gab sie zurück. »Es sind zwei weitere unterwegs, um uns abzufangen. Auf diesen beiden sind Weber. Sie können uns sehen.« Kurz setzte sie ab. »Eines der Schiffe ändert den Kurs und hält auf ein anderes unserer Gefährte zu.« Abermals überprüfte sie die Lage, lauschte den Berichten jener Ordensschwestern, die sich bereits jenseits der feindlichen Linie befanden. Ferne Explosionen hallten durch den Nebel. »Wenn wir diesen Gegner hinter uns haben, sind wir draußen und auf offener See.« '
»Können wir ihm ausweichen?« »Ich glaube nicht«, antwortete Kaiku. »Wir sind schwerer beladen. Gib Bescheid! Unter Umständen brauchen wir schussbereite Büchsen.« Tsata reckte das Kinn vor und gab ihre Worte in abgehacktem Okhambisch an jene weiter, die sich ihm am nächsten befanden und die ihrerseits die Kunde an ihre Nachbarn weiterreichten. »Stör mich jetzt nicht«, forderte Kaiku ihn auf, als sie das Herannahen der Weber spürte. »Ich brauche alle Aufmerksamkeit.« , Sie gab ihre Sinne fast vollständig auf, ließ gerade genug zurück, um ihre Umgebung verschwommen wahrzunehmen, dann nähte sie ihr Bewusstsein ganz ins Geweb. Sie tat sich mit zwei weiteren Ordensschwestern zusammen, die bei ihr an Bord waren. Gemeinsam errichteten sie eine Verteidigung, befestigten zur Vorbereitung ihre Stellung mit Fallen, Schranken und Irrgärten. Ohne nachzudenken, arbeiteten sie mit einer wundervollen, kunstfertigen Einigkeit zusammen. Unwillkürlich ertappte Kaiku sich bei dem Gedanken, dass sie zumindest das vermissen würde, wenn sie den Roten Orden für immer verließe. 406 Dann stürzten die Weber sich auf sie, und die Schlacht begann. Während das unsichtbare Gefecht auf einer Ebene jenseits ihrer Wahrnehmung ausgetragen wurde, spähten die Männer und Frauen an Bord der Dschunke hinaus in den Nebel. Eine der Ordensschwestern hatte sich nicht ins Getümmel gemischt, denn sie diente dem Kapitän als Augen und meldete ihm die Lage des Feindes. Nun waren ein fernes Knarren und das Rascheln von Segeln zu hören. Die Stirn des Kapitäns war straff gespannt. Ihm war klar, dass sie es sich nicht leisten konnten, gröber beschädigt zu werden, wenn sie hoffen wollten, die lange Seereise zu überleben, die vor ihnen lag. Zwischen hier und ihrem Ziel gab es keinen Hafen, in dem sie Instandsetzungsarbeiten durchführen könnten. Sie mussten dieses Gefecht klar für sich entscheiden. Auf dem Schiff krochen Sekunden vorüber, die im Geweb wesentlich länger dauerten. Kaiku schnellte wie ein launischer Windstoß umher, setzte den drei Webern mit Spiralen und Gewirren zu, während die übrigen Schwestern vom Roten Orden neue Verteidigungen vor den alten errichteten. So rückten sie stetig vor, verwirrten den Feind und zwangen ihn zum Zurückweichen, festigten ihre Stellung und drängten weiter. Einer der Weber erwies sich als schwaches Glied in der Kette der Gegner, und Kaiku griff ihn gnadenlos an. Sie vermutete, dass er einen Teil seines Bewusstseins zurückhielt, um seinem Kapitän Anweisungen zu erteilen. Offenbar konnten die Weber es sich nicht leisten, einen der ihren aus dem Gefecht herauszuhalten. Es waren die harmlosen Haken und Ösen jenes Webers, auf die Kaiku abzielte, die sie in Fetzen riss, wodurch sie ihn auf das eigene Schiff zurücktrieb und seine 407 Gefährten ungeschützt zurückblieben, sofern sie sich nicht ebenfalls zurückzogen. Durch eine unausgesprochene Übereinkunft wirkte Kaiku als die Angreiferin, während ihre Ordensschwester sie deckten und unterstützten. Langsam, aber sicher drängten sie die Weber zurück. / »Sie gehen in Stellung für eine Breitseite«, murmelte die Schwester, die beim Kapitän stand. Der stieß einen leisen Fluch aus. Verzweifelt rang er nach einer Eingebung, doch es kam keine. Da beide Kapitäne wussten, wo sich der jeweils andere befand, hätten sie einander ebenso gut bei klarer Sicht und hellem Tageslicht angreifen können. Sowohl Flucht als auch Verstecken waren unmöglich. Nach allem, was er über die Schiffe der Weber wusste, schätzte er die Aussichten, eine Breitseite zu überstehen, für beide Fronten etwa gleich ein, doch er bezweifelte, dass sie ohne Schäden davonkommen könnten, die den Kahn im Verlauf der anschließenden Reise irgendwann zum Sinken bringen würden. Die Geschütze waren geladen, die Männer bereit. Er konnte nur warten und hoffen. Obwohl Kaiku fast völlig mit dem Knoten und Nähen der Schlacht im Geweb beschäftigt war, nahm sie am Rande die beiden goldenen Schiffe wahr, deren Umrisse sich als Millionen von Fäden abzeichneten und die sich einander stetig näherten. Kaiku ahnte, was der Kapitän wusste: dass sie nicht ohne Schaden und verlorene Leben davonkommen würden. Mittlerweile hatte sie diese Weber ausgelotet. Sie waren jung, linkisch und überheblich, begingen törichte Fehler, die sie sich zunutze machte. Die Schiffe richteten sich gegenei408 nander aus, qualvoll langsam in der Zeit des Gewebs. Bald würden sie auf selber Höhe sein, und dann würde das Feuer eröffnet. Es war an der Zeit, die Vorsicht über Bord zu werfen. Kaiku sandte eine Anweisung an ihre Ordensschwestern. Zur Erwiderung explodierte das Geweb, brach ein Sturm von in jede Richtung geschleuderten Fäden los, zufällig und unmöglich zu verfolgen. Die Weber, die dieser Taktik noch nie zuvor begegnet waren, schraken zurück, wussten nicht recht, welchen Schaden ihnen dies zufügen konnte. Doch dazu war es gar nicht gedacht; es diente als Ablenkung. Flink und unscheinbar wie eine Klinge glitt Kaiku auf sie zu. »Feind an Backbord!«, brüllte der Ausguck, als sich das klobige Schiff aus dem Nebel löste. Es trieb aus der Ferne heran, war noch zu weit entfernt, um es zu entern. Die Flanken strotzten vor gebildhauerten Feuerkanonen, die an Metalldämonen mit klaffenden Mäulern erinnerten. Es stampfte längsseits heran, näherte sich aus der entgegengesetzten Richtung, eine rasche Abfolge von Geschützpforten und schemenhaften Gestalten mit
Büchsen in den Händen. Und so wie die Seeleute des Kaiserreichs harrten sie des Augenblicks, in dem alle Kanonen auf den Feind gerichtet sein würden. »Feuer!«, ertönte der Befehl auf dem Schiff der Weber zur selben Zeit wie auf der Dschunke; und in jenem Augenblick explodierte die gesamte Backbordseite des feindlichen Gefährts. Es krängte scharf, und seine Kanonen feuerten ins Wasser jagten die Geschosse unter den Kiel von Kaikus Dschunke. Die Matrosen schlitterten heulend über das Schandeck und ins Meer. Und nun präsentierte sich das unbewaffnete Deck den Geschützen der Dschunke, die es in einem Tosen aus Rauch, Feuer und Sägemehl zerschmetterten. 409 Alles war so rasch vorüber, dass die Menschen an Bord des Schiffes kaum glauben konnten, unbeschadet davongekommen zu sein. Die Büchsen der Tkiurathi hatten keinen einzigen Schuss abgegeben. Sie beobachteten, wie der Kahn ins Wasser tauchte und diejenigen mit sich in die Tiefe riss, die den ersten Angriff überlebt hatten. So wie die anderen beiden versenkten Boote, die sie gesehen hatten, blieb es hinter ihnen zurück. Kaiku blinzelte, sah sich auf dem Deck um und begegnete Tsatas Blick mit scharlachroten Augen. »Du?«, fragte er. »Sie hätten besser darauf achten sollen, wo sie ihre Munition lagerten«, gab sie zurück. Das Schiff segelte weiter, während der Nebel sich rings um sie lichtete und letztlich einem klaren Wintertag wich. Die offene See umgab sie, funkelnd unter dem Blick von Nukis Auge, und da waren die Schiffe von Lalyara, insgesamt zwölf, die schneidig auf den Horizont zukreuzten. FÜNFUNDZWANZIG Regent Avun und Webfürst Kakre standen gemeinsam auf einem Balkon an der Südseite der Kaiserlichen Feste. Sie blickten über die Stadt an die Stelle, wo die Jabaza und der Kerryn sich zum Zan vereinigten, einem Ort, der als der >Ansturm< bezeichnet wurde. Einst hatte auf der sechseckigen Insel eine gewaltige Statue Isisyas aufgeragt, die zur Feste geblickt hatte, doch sie war nicht mehr dort. In anderen Zeiten wäre Avun vermutlich froh über den Verlust gewesen, denn es war ihm schwer gefallen, ihr anklagendes Starren zu ertragen. Heute jedoch hatte er das Gefühl, dass es ihn nicht gestört hätte. Er war guter Dinge. Sogar Kakre schien mit ihm zufrieden. Der Anblick der zahlreichen maschinenbetriebenen Frachtkähne, die sich entlang der Flüsse der Stadt sammelten, war in der Tat beeindruckend, ebenso jener der Horde der Ausgeburten, die von den schwarz gewandeten Nexussen aus ihren unterirdischen Pferchen geholt worden waren und an Bord gescheucht wurden. Dabei war dies lediglich die Nachhut des Unterfangens: Der Großteil war bereits stromaufwärts über den Kerryn und stromabwärts über den Rahn gen Osten aufgebrochen. Von dort würden die Truppen den Xarana-Bruch umgehen, eine Schleife westlich um den Azlea-See ziehen und dann nach Süden in das Feindesgebiet Richtung Saraku einmarschieren. Unterwegs würden sich ihnen die Feyakori anschließen, sechs an der Zahl, darunter die beiden, die vor mehreren Wochen über Lalyara hergefallen waren. Diese beiden zeigten sich mittlerweile widerstandsfähiger: Sie brauchten weniger Zeit in den Rauchgruben, um sich zu erholen. 411 Anscheinend wurden die Dämonen der Fäulnis mit der Zeit stärker. Der Auftakt war vollzogen. Die durch die Niederlagen in Juraka, Zila und Lalyara gebeutelten Streitkräfte des Kaiserreichs wussten nicht, wo der nächste Schlag erfolgen würde. Ihre Armeen würden so verteilt sein, dass sie ein möglichst großflächiges Gebiet abdeckten. Avun würde durch ihre Reihen schneiden wie ein Schwert und sie mitten ins Herz treffen. Bis sie ihre Truppen nach Saraku beordern konnten, würde es bereits zu spät sein: Die Weber würden die Linie entlang des ju halten und die Sumpflandstädte Yotta und Fos abschotten, die von ihren Streitkräften in Juraka ausgelöscht würden. Nach einer kurzen Verschnaufpause, während der sie eine Stadt wie Saraku mühelos halten konnten, würden sie nach Westen zuschlagen, und nichts, was das Kaiserreich besaß, könnte ihnen trotzen. Die Truppen des Kaiserreichs konnten sich bestenfalls in Partisanenarmeen auflösen; aber die Ernte würde den Webern gehören, und die Armeen des Kaiserreichs würden ausgehungert und gehetzt, bis nichts mehr von ihnen übrig wäre. Danach wäre es vorbei. Die Wüstenländer konnten alleine nicht bestehen. Ihr Untergang würde rasch folgen. Sogar der Webfürst wirkte an jenem Tag glücklich; zumindest so glücklich, wie es einer solchen Kreatur möglich war. Da nun endlich seiner Ansicht nach würdige Taten erfolgt waren, zeigte er sich zufrieden mit Avuns Fortschritten. Er hatte Avuns Taktik von Anfang an voll Ungeduld gegenübergestanden, wollte zum Todesstoß ansetzen, sobald sie die Feyakori zum ersten Mal unter ihre Herrschaft gebracht hatten. Avun gestattete sich ein verächtliches Lächeln. Trottel. Wäre er nicht gewesen, befänden sie sich mittlerweile in einer weit verzwickteren Lage. Dabei musste er an die Begegnung mit Kakre denken, bei der er den Webfürst von seinem Wert überzeugt hatte. Kakre 412 schien sie vergessen zu haben oder tat zumindest so. Es spielte keine Rolle. Kakre war überrumpelt worden. Durch die Beseitigung Avuns würde er sich viel zu viel Ärger einbrocken, und ebensolchen konnte er sich nicht leisten, da die Zeit immer knapper wurde. Noch freudiger als das aber stimmte Avun das Verhalten seiner Gemahlin. Seit jenem Tag der wahrhaft wundersamen Genesung von ihrer Krankheit wirkte sie wie ausgewechselt. In der Öffentlichkeit gebärdete sie
sich still und sanftmütig wie eh und je, doch wenn sie alleine waren, zeigte sie sich nicht mehr so sittsam. Plötzlich steckte Leidenschaft in ihr, und nach Jahren, in denen sie ihn körperlich links liegen gelassen hatte, präsentierte sie sich nun mit einem Schlag zwar nicht unbedingt wild, aber zumindest wesentlich unbändiger als zuvor. Dabei hatte er festgestellt, dass die Freuden, die ihm der Körper seiner Frau zu bescheren vermochte, nach so langer Zeit wieder höchst reizvoll geworden waren. Wenngleich es ihm widerstrebte, sich das einzugestehen, fühlte er sich dadurch mannhafter. Morgen würde er zusammen mit Kakre abreisen, um sich der Armee der Weber als deren General anzuschließen. Doch zuvor durfte er sich noch auf etwas anderes freuen. Bis vor kurzem musste er Muraki nachgerade befehlen, an gemeinsamen Mahlzeiten teilzunehmen; nun hatte sie ihn - zu seiner Verzückung - selbst dazu eingeladen. Sie hatte angekündigt, sie hätte etwas zu feiern, und als sie es ihm mitteilte, war ihm selbst nach Feiern zumute. Endlich hatte sie ihr Buch abgeschlossen. Der Wind peitschte durch das Tchamil-Gebirge, hetzte heulend zwischen die kahlen Gipfel und über die Täler, die das Rückgrat Saramyrs bildeten. Die Männer der Wüste hatten sich in geringeren Höhen gehalten, denn im Winter herrsch413 ten auf den höher gelegenen Pässen Schnee und Stürme; dennoch war der Boden gefroren und unwirtlich, und die Männer kauerten sich dicht beisammen in dicken Pelzen um ihre Feuer, lauschten angespannt in die Dunkelheit. Das Land präsentierte sich im vereinten Schein Iridimas und Aurus' kühl und matt schimmernd wie polierter Stahl, und der Himmel strotzte vor nadelspitzengroßen Sternen. Insgesamt zählte die Wüstenarmee siebentausend Mann, die sich den Berghang hinab in einer weitläufigen Ansammlung von Zelten und Laternen verteilten. Selbst jetzt hallten die Schreie der Tiere zwischen den Gipfeln wider. Einige waren als jene von Ghauregs oder Schnappmäulern erkennbar. Es war beschwerlich, eine Armee durch Gelände dieser Art zu führen, doch das Volk von Tchom Rin war stolz auf seine Ausdauer; zudem reisten die Krieger mit leichtem Gepäck und wenig Rüstung. Spannungen zwischen auf verschiedene Familien eingeschworene Soldaten waren durch die Notwendigkeit des Zusammenhalts und Miteinanders an einem so feindseligen Ort verflogen, und sie waren bislang gut vorangekommen. Aber inzwischen wurden die Angriffe der Ausgeburten immer planvoller, und die Knorpelkrähen kreisten tagsüber ohne Unterlass heiser krächzend am Himmel. Die Weber wussten, dass sie kamen, beobachteten sie, warteten. Reki schritt langsam durch das Lager auf sein Zelt zu, eine hagere, nachdenkliche Gestalt. Seine Stiefel knirschten auf dem leblosen, steinigen Boden. Im Geiste ging er die Ereignisse durch wie schon gut hundert Mal zuvor, zergliederte sie, begutachtete sie aus jedem Winkel. In Anbetracht aller Umstände hatte der Rat der Adeligen des Kaiserreichs und der Libera Dramach bemerkenswert schnell einen Entschluss gefasst. Zum ersten Mal war ihm etwas wirklich bewusst geworden, dass er sein ganzes Leben als Selbstverständlichkeit betrachtet hatte: dass die Weber und 414 zuletzt die Ordensschwestern einen so wertvollen Dienst boten, dass es unmöglich war, je zum früheren Stand der Dinge zurückzukehren. Männer und Frauen aus Arakajo, Saraku und Izanzai hatten dank der Macht der Ordensschwestern von Angesicht zu Geistangesicht miteinander gesprochen, obwohl sie sich fast neunhundert Meilen voneinander entfernt aufhielten. Es wurde eine Besprechung abgehalten, bei der innerhalb eines Tages Bedingungen und Vorschläge ausverhandelt wurden. Ohne die Schwestern vom Roten Orden wäre es ein beschwerliches Unterfangen von mehreren Monaten gewesen, sei es durch einen Briefwechsel oder den Versuch, alle Beteiligten an einem Ort zusammenzubringen. Als die Rolle des Wüstenvolks bei dem Plan erörtert worden war, hatte Reki ohne Bedenken zugestimmt. Wenngleich die Ordensschwestern es nicht wussten, hatte er ohnehin selbst etwas Ähnliches vorgehabt. Ihm war klar geworden, dass sie in Tchom Rin eine verlorene Schlacht fochten. Wenn sie sich damit begnügten, sich lediglich gegen die Ausgeburten zu verteidigen, würde den Webern letztlich ein Weg einfallen, sie zu überwältigen - sei es durch neue Arten von Ausgeburten, durch Dämonen oder durch das schiere Gewicht ihrer Überzahl. Es schien umsichtig, von sich aus anzugreifen, solange sie noch die Kraft dafür besaßen. Seine Kundschafter hatten die Ausgeburten von Izanzai aus zurückverfolgt, um ein Ziel zu finden, wo sie zuschlagen konnten. Alle, die zurückkehrten, brachten dieselbe Kunde. Wenngleich sie den genauen Ort nicht aufzuspüren vermochten, kannten sie das allgemeine Gebiet, und das lag im Umfeld von Adderach. Was Reki keineswegs überrascht hatte. Während er also mitten in der Planung eines Angriffs auf Adderach gesteckt hatte, wandte der Rote Orden sich an ihn, um ebendies vorzuschlagen. Dennoch konnte er den unangenehmen Verdacht nicht abschütteln, dass die Ordensschwestern ihn und seine Männer für entbehrlich hielten und sie bloß als Lockvögel dienen sollten. 415 Nun, sollten sie denken, was sie wollten. Er würde ihnen zeigen, wie das Wüstenvolk zu kämpfen verstand. Und immerhin besaßen sie eigene Ordensschwestern, die sie zusammengerufen hatten, um sie gegen die Weber zu verteidigen und sie durch die Schranke der Irreführung zu geleiten, die das Gebirgskloster umgab. Wenn es Reki gelänge, die von Adderach ausgehende Bedrohung zu beseitigen, wären sie nicht mehr von zwei Seiten belagert, und sie könnten die Aufmerksamkeit auf Igarach im Süden richten. Sofern die Meldungen der
Ordensschwestern zutrafen, brauchten sie die Weber nur bis zum nächsten Winter fern zu halten; und strich man Adderach aus der Gleichung, war dies durchaus zu bewerkstelligen. Dann war da noch Cailins Behauptung, dass es den Krieg vielleicht mit einem Schlag beenden könnte, wenn die Ordensschwestern zu jenem Hexenstein vordringen könnten. Ein solcher Preis war auf jeden Fall einen Versuch wert. Er bahnte sich einen Weg zwischen den Lagerfeuern hindurch, erwiderte die Grüße der Soldaten, während er sich seinem Zelt näherte. Irgendwie war ihm in jener Nacht unbehaglich zumute, wurde er das verschwommene Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmte. Selbst das Aufstellen zusätzlicher Wachen hatte seine Befürchtungen nicht gelindert. Er versuchte, sie abzuschütteln, den Verstand wieder auf die anstehenden Belange zu richten, doch stattdessen ertappte er sich wie so oft dabei, dass seine Gedanken abwanderten und um Asara kreisten. Vertrauen wird maßlos überbewertet. Einer von Asaras Lieblingssprüchen. Und sie musste es ja wissen. Denn allmählich beschlich Reki der Verdacht, dass es ein Fehler gewesen sein mochte, ihr je zu vertrauen. Seit sie vor geraumer Zeit nach Araka Jo aufgebrochen war, um einem geheimen, eigenen Unterfangen nachzugehen, hatte er keinen inneren Frieden mehr gefunden. Zunächst 416 hatte ihn die Unwissenheit gequält; dann, als er seinen Spitzelmeister Jikiel damit beauftragt hatte, Antworten zu finden, überfielen ihn Schuldgefühle. Mittlerweile standen die Dinge noch schlechter. Er hatte vermeint, seine Liebe würde über allem stehen, was Jikiel über die Vergangenheit seiner Gemahlin aufdecken könnte, doch der Spitzelmeister war mit unerwarteten Neuigkeiten zurückgekehrt. Asara besaß keine Vergangenheit. Zunächst wollte Reki dies als Beweis dafür abtun, dass auch sein Spitzelmeister seine Grenzen hatte. Schließlich musste er zwangsläufig manchmal versagen. Andererseits konnte Reki auf hinlängliche Erfahrungen über jikiels Fähigkeiten zurückgreifen, weshalb er sich von dieser Möglichkeit letzten Endes doch nicht überzeugen konnte. Der Spitzelmeister war viel zu gut in seiner Position. Wenn er nicht in der Lage war, die Wahrheit über etwas herauszufinden, dann war Reki sicher, dass es keine Wahrheit darüber gab. Und über Asara hatte er rein gar nichts herausgefunden. Ihr Familienname, der ihren Angaben zufolge Arreyia lautete, brachte keine Antworten. Weil es sich um einen sehr alten Namen handelte, hatte er sich weit verbreitet und war häufig anzutreffen. Die Bandbreite saramyrrischer Namen reichte von jenen, die aus dem altertümlichen Quaraal abgeleitet waren wie Asara, Lucia, Adderach und Anais, bis hin zu moderneren, die nach dem Entstehen des Saramyrrischen aufgekommen waren wie Kaiku, Mishani und Reki. Natürlich gab es andere Asaras, doch keine einzige, auf die ihre Beschreibung, Fähigkeiten und Umstände zutrafen. Jikiel hatte von einer Spitzelin namens Asara tu Amarecha gehört, die in den letzten Jahren für die Libera Dramach gearbeitet hatte, die er jedoch letztlich verwarf. Sie stammte nicht aus der Wüste, wohingegen Rekis Asara zweifellos in Tchom Rin geboren war, es sei denn, jemand wäre in der Lage, den Aufbau seiner Knochen, die Farbe seiner Haut und die Form seiner Augen zu verändern. 417 Jikiel hatte bis in die Grenzen seines Spitzelnetzwerks nachgebohrt, als das Geheimnis immer rätselhafter wurde. Gemunkel und Hinweise wurden aufgegriffen, untersucht und führten ins Leere. Er ließ jene befragen, die ihr in der Kaiserlichen Feste während der Zeit begegnet waren, als sie Reki erstmals verführt hatte, aber auch sie konnten keine Antworten geben. Er stellte Nachforschungen in Bildungseinrichtungen an, denn für eine so junge Frau besaß sie unglaubliches Wissen und war unvorstellbar weit gereist, was auf eine Kindheit im Umfeld Gelehrter oder Abenteurer schließen ließ, doch wiederum waren keine Anhaltspunkte aufzuspüren. Er ging von der Annahme aus, dass sie ihren Namen geändert, ihr wahres Wesen verborgen hatte, indem sie sich ein anderes Gebaren zulegte, die Haare anders trug und sich anderer Kleidung bediente. Jikiel war meisterlich darin, derlei grundlegende Täuschungen zu durchschauen. Trotzdem fand er nichts heraus. Irgendwann hatte er alle Möglichkeiten ausgeschöpft und musste sich zerknirscht geschlagen geben. Am Ende konnte er nur dies berichten: Dass es die Frau, die Rekis Gemahlin geworden war, vor dem Tag, als sie dereinst in der Kaiserlichen Feste auftauchte, nicht gegeben zu haben schien. Reki grübelte immer noch darüber nach, was dies bedeuten mochte, als er an den Wachen vor seinem Zelt vorbeistapfte -das anzügliche Grinsen übersah, das die beiden wechselten -und Asara darin vorfand. Das Zelt war hoch und breit genug, um aufrecht darin zu stehen, aber abgesehen von einem dicken Bett aus Decken und einer Lampe auf einer Bodenplane war das Innere karg und spärlich ausgestattet. Die Lampe erhellte von unten die Kurven des Körpers und Gesichts seiner Gemahlin, erfasste sie dem Eingang halb zugekehrt. Die Überraschung ob ihrer Gegenwart und ihre atemberaubende Schönheit verschlugen ihm vorübergehend den Atem. 418 »Ich habe dir doch versprochen, dass ich zurückkehren würde, Reki«, sagte sie. »Auch wenn ich dir dafür durch die Berge folgen musste.« Er öffnete den Mund, doch sie trat auf ihn zu und legte ihm einen Finger auf die Lippen. Ihr Geruch und die Berührung ihrer Haut fühlten sich berauschend an. »Für Fragen ist später Zeit«, meinte sie. »Wir müssen uns unterhalten«, murmelte er.
»Danach«, gab sie zurück. Damit küsste sie ihn, und Reki gab jeglichen weiteren Versuch des Widerstands auf. Er hatte sich jeden Augenblick, den sie fort gewesen war, nach ihr gesehnt, und nun, da sie zurück war, konnte er sich nicht zügeln. Ihre Küsse gingen zu Liebkosungen über und führten sie auf das Bett, wo sie bis tief in die Nacht und über das Morgengrauen hinaus gegenseitig ihre Leidenschaft stillten. Als Avun in dem Raum eintraf, in dem Muraki und er zu speisen pflegten, erkannte er ihn kaum wieder. Der schwarz und rot bemalte Tisch war von vier Standlaternen umgeben. Deren Flammen brannten in Metallkugeln mit eingeschnittenen Mustern, durch die das Licht drang. Wandteppiche verhängten die Nischen und verbargen die darin aufgestellten Statuen. In der fernen Ecke des Raumes qualmte sanft ein Kohlenbecken mit Duftholz vor sich hin, bot Wärme und verströmte einen feinen Jasmingeruch. Das Zimmer wirkte nicht mehr kalt und leer, sondern warm und heimelig. Das Mahl war bereits aufgetragen. Schalen und Körbe dampften auf dem Tisch, und Muraki kniete an ihrem Platz. »Das ist wundervoll«, erklärte er unverhofft gerührt. Mit nach unten gerichtetem Blick, das Gesicht halb von ihrem Haar verborgen, lächelte Muraki. Jenseits der drei 419 hohen Fensterbögen im hinteren Bereich des Raumes war es stockfinster: Mittlerweile vermochten keine Sterne oder Monde mehr, die trübe Dunstglocke zu durchdringen. Avun ließ sich nieder, kniete sich ihr gegenüber am Tisch auf die Matte. »Wundervoll«, murmelte er erneut. »Ich bin froh, dass es dir gefällt«, meinte sie leise. »Willst du nicht essen?«, fragte er. Es war zu einem ihrer Rituale geworden. Anfangs weil sie sich stets zögerlich zeigte, mit ihm zu speisen, später als süßsaurer Scherz darüber, wie sie sich früher gebärdet hatte. Er nahm die Deckel von den Körben und begann, ihr aufzutischen. »Also ist es fertig?«, erkundigte er sich. »Das Buch?« »Es ist fertig«, bestätigte sie. »Es wird in diesem Augenblick zum Verleger gebracht.« »Du musst erleichtert sein«, mutmaßte er. Eigentlich hatte er keine Ahnung davon, wie sie sich in den jeweiligen Phasen ihrer Arbeit fühlte, weil sie nie darüber mit ihm gesprochen hatte. »Nein«, entgegnete sie. »Eher ein wenig traurig.« Verwirrt hielt er dabei inne, Salzreis auf ihren Teller zu schaufeln. »Ich dachte, dir ist nach feiern?« »So ist es auch«, erwiderte sie. »Aber es ist ein bittersüßer Tag. Das war mein letztes Buch über Nidajan.« Das verblüffte Avun. Es war, als hätte sie ihm offenbart, dass sie aufhören wollte zu atmen. »Dein letztes?« Muraki nickte. Er reichte ihr den Teller und begann, sich selbst zu bedienen. »Aber warum?« Muraki legte das Fingerbesteck an. »Seine Reise hat ihren Verlauf genommen«, erklärte sie. »Ich denke, es ist Zeit für einen Neubeginn.« »Muraki, bist du dir da sicher?« Sie gab einen zustimmenden Laut von sich. 420 »Was also willst du nun tun? Wirst du einen neuen Helden erschaffen, über den du schreibst?« »Ich weiß es noch nicht«, gab sie zurück. »Vielleicht höre ich ganz mit dem Schreiben auf. Mit Nidajan jedenfalls ist es heute zu Ende gegangen, und alles ist möglich.« Avun wusste nicht recht, wie er die Stimmung seiner Gemahlin einschätzen sollte, weshalb er die Worte sorgfältig wählte. Obwohl Murakis fortwährendes Schreiben für ihn stets ein Quell des Ärgers gewesen war, konnte er sie sich anders gar nicht vorstellen, und nun, da es tatsächlich im Raum stand, war er nicht sicher, ob er noch wollte, dass sie damit aufhörte. »Tust du das um meinetwillen?«, fragte er. »Ich möchte nicht, dass du dich für mich änderst.« Die Heuchelei dieser Aussage entging ihm völlig. Kurz begegnete Muraki seinem Blick mit einem Anflug von Belustigung. »Ich tue das nicht für dich, Avun«, entgegnete sie. »Ich habe zu lange in der Sicherheit meiner eigenen Welt gelebt und dabei über jene hinweggesehen, die mich umgibt. Heute habe ich meine Welt weggesperrt und bin bereit, mich dem zu stellen, was Wirklichkeit ist.« Avun stellte seinen Teller ab, unterdrückte seinen Argwohn. Er war unschlüssig, ob ihm ihr Entschluss Freude oder Sorge bereiten sollte. Das Schreiben war so lange ein derart grundlegender Bestandteil ihres Lebens gewesen, dass er fürchtete, sie könnte ohne nicht zurechtkommen. Und er würde nicht da sein, um sich um sie zu kümmern; selbst wenn er gewollt hätte, gäbe es nun keine Möglichkeit mehr, das Vorrücken der ausgebürtigen Streitkräfte zu verschieben. Nach all den Anstrengungen, die er unternommen hatte, um für die Weber unersetzlich zu werden, konnte er nicht mehr zurück. Kakre würde ihn zerfleddern. »Du musst es mir erzählen«, forderte er sie auf, um seine Gedanken zu überspielen. »Wie endet es?« Avun schenkte für sie beide Wein ein. 421 »Es endet gut für ihn«, antwortete sie. »Endlich findet er seinen Sohn im Goldenen Reich, in das ihn Omecha geführt hat. Dort erringt er seinen Sohn zurück, nachdem er gegen Omecha antritt und ihn bei einem Wettstreit des Verstands besiegt. Gemeinsam kehren sie nach Hause zurück, und der Sohn erkennt Nida-jan als seinen
Vater an, denn nur die Liebe eines Vaters kann einen Mann dazu bewegen, über das Reich des Todes hinaus nach seinem Sohn zu suchen. Und so wird der ihm vom Dämon mit den hundert Augen auferlegte Fluch aufgehoben.« »Das ist fürwahr ein gutes Ende«, meinte Avun. Und dennoch grübelte er insgeheim. Es war ihm keineswegs verborgen geblieben, dass sie in ihren Büchern den Verlust ihrer Tochter betrauerte, ihren Kummer in den Taten Nida-jans widerspiegelte, und diese jähe Wende zum Glück weckte in ihm den Verdacht, dass etwas geschehen sein könnte, von dem er nichts wusste. »Komm zum Fenster, Avun«, forderte sie ihn auf, ergriff ihr Weinglas und streckte ihm über den Tisch hinweg den Arm entgegen. Überrascht von diesem stürmischen Gebaren, das so ganz und gar ihrer sonstigen Art widersprach, ergriff er das eigene Glas und erhob sich mit ihr. Zusammen durchquerten sie den Raum zu den Fensterbögen, die auf Axekami hinauswiesen. Nachts war der alles überdeckende Nebelschleier nicht zu erkennen, und Axekami wirkte friedlich. Lichter waren angezündet, erstreckten sich zum Kerryn und Flussviertel hinab. Nicht so viele wie in vergangenen Zeiten, aber doch reichlich. Fast vermochte man zu glauben, die Stadt wäre wieder wunderschön. Muraki drehte sich ihm zu. »Während ich träumte, bist du zum mächtigsten Mann von Saramyr aufgestiegen, mein Gemahl«, sagte sie. Damit küsste sie ihn innig, und in dem Kuss schwang eine Begierde mit, die ihn regelrecht schwin422 dein ließ. Am liebsten hätte er sie an Ort und Stelle genommen, doch noch wagte er es nicht. Alsbald löste sie sich von ihm. Ihr Blick suchte seinen, und sie trank einen Schluck Wein, musterte ihn über den Rand ihres Glases hinweg. Er schlang den Arm um ihre Taille. Die Worte seiner Frau hatten schwelenden Stolz in ihm ausgelöst. Und es stimmte: Er hatte all das vollbracht. Avun trank aus dem eigenen Glas, ließ den Blick über seine Eroberung schweifen, die große Hauptstadt Axekami, und ward von einer tiefen Zufriedenheit erfüllt. Es brauchte nur wenige Lidschläge, um zu erkennen, dass der Wein ein tödliches Gift war, dennoch war es bereits zu spät. Das Erste, was er verspürte, war eine grässliche Verengung seiner Kehle und Brust, so als ersticke er an einem Knochen. Seine Hand löste sich von Muraki und fuhr zu seinem Kragen; es mutete geradezu lächerlich an, dass seine andere Hand nach wie vor das Glas hielt, instinktiv zauderte, es fallen zu lassen. Er konnte nicht atmen. Mit weit aufgerissenem Mund taumelte er rücklings, stolperte über die eigene Ferse, stürzte zu Boden. Das Glas zerbarst in seiner Hand, zerschnitt sie tief. In seiner Brust loderte ein Schmerz, der sich anfühlte, als hätte er die Sonne verschluckt. Seine Lungen verweigerten den Befehl seines Gehirns, wollten sich einfach nicht weiten, um sich mit Sauerstoff zu füllen. Ungestüm, in blindwütiger, tiergleicher Panik streckte er den Arm nach seiner Gemahlin aus, doch Muraki, das Gesicht von den Haaren verhüllt, stand nur am Fenster und unternahm nichts, um ihm zu helfen. Seine Augen weiteten sich vor Grauen und Ungläubigkeit. Jener entsetzte Blick haftete noch immer an seiner Frau, als sein Körper erschlaffte und das Leben aus ihm strömte. Muraki betrachtete ihn eine lange Weile. Sie hatte erwartet, dass Tränen einsetzen würden, doch sie blieben aus. Sie hatte erwartet, sich zumindest vor Reue oder Schuld zu verzehren, 423 doch auch davon verspürte sie nichts. Hätte sie diese Szene geschrieben, sie hätte sie nicht so barjeder Gefühlsregung dargestellt. Das wahre Leben war unendlich sonderbarer und unberechenbarer als jenes, das sie im Reich ihrer Vorstellungskraft führte. Schließlich wandte sie sich von ihrem Gemahl ab und schaute wieder über die Stadt. Sie roch den öligen Moder des Pestnebels, der den Jasminduft aus dem Kohlenbecken überlagerte. Muraki hatte sich nie richtig daran gewöhnt. Ihre Lippen kribbelten, wo der vergiftete Wein sie benetzt hatte, doch sie hatte das Nass nicht in den Mund eingelassen. Es war einfach gewesen, sich das Gift von Ukida zu beschaffen: Sie brauchte es ihm nur zu befehlen, und er gehorchte. Zudem war er gefolgstreu genug, um ihr Geheimnis für sich zu behalten und sich nicht danach zu erkundigen, wofür sie es brauchte. Abermals blickte sie zu Avuns Leichnam, versuchte ein letztes Mal, eine Regung in ihrer Brust heraufzubeschwören. Die frisch erwachte Leidenschaft für ihn hatte sie nicht geheuchelt. Vielmehr hatte sie den Wunsch verspürt zu genießen, was sie konnte, solange sie es konnte, und sie wollte auch ihn glücklich machen. Trotz allem fand sie, dass er zumindest soviel verdient hatte, bevor sie ihn tötete. Ihr war klar, was nun folgen würde. Die Weber würden Vergeltung üben, würden ihren Verstand qualvoll durchkämmen, bis sie alles über ihren geheimen Schlüssel, über Ukida und über Mishanis Besuch in Erfahrung gebracht hätten. Sie würden wissen, dass ihre Pläne verraten worden waren, und sie demzufolge ändern. Das durfte nicht geschehen. Von dem Augenblick an, indem sie beschlossen hatte, ihren Ehemann zu ermorden, hatte sie gewusst, dass auch sie sterben musste. Muraki hatte festgestellt, dass dieses Wissen ein unvorstellbar befreiendes Empfinden wachrüttelte. 424 Gedanken an ihre Tochter riefen ihr Worte in Erinnerung, die während jener kostbaren, gemeinsam verbrachten Minuten gesprochen worden waren, jener wenigen, kurzen Augenblicke in zehn schrecklichen Jahren – zehn Jahre, für die Avun verantwortlich gewesen war.
Wir stehen jetzt auf zwei verschiedenen Seiten eines Krieges, Mutter, und die eine oder die andere muss früher oder später den Sieg davontragen. Diejenige von uns auf der Verliererseite wird wohl nicht überleben. Wir stecken beide zu tief drinnen. Mishani hatte Recht. Sie hatte schon immer die Gabe besessen, die Dinge auf den Punkt zu bringen. Und so würde Muraki auf der Verliererseite stehen, denn sie konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass ihre Tochter ein solches Schicksal erleiden sollte. Avun hatte sich tatsächlich sorgsam darum gekümmert, dass die Machtgrundlage der Weber stark von ihm abhing. Er hatte seine Schlachtpläne eifersüchtig gehütet, sie in seinem Innersten verwahrt und somit gewährleistet, dass niemand in der Lage sein würde, ihn mühelos zu ersetzen. Sein Tod würde sich als schwerer Schlag für die Weber erweisen, darüber hinaus zu einem Zeitpunkt, zu dem sie es sich am wenigsten leisten konnten. Und nach allem, was sie über Kakre wusste, glaubte sie nicht, dass er nunmehr von seinem Sturmangriff ablassen würde, ganz gleich, welche Mutmaßungen darüber aufkommen mochten, was sich in jener Nacht in jenem Raum zugetragen hatte. Die Ausgeburten würden plangemäß vorrücken, und ihre Gegner würden sie bereits erwarten. Mit einem langen Seufzer wandte Muraki die Augen der Nacht zu, starrte in die undurchdringliche Schwärze ohne Mondschwestern und ohne Sterne. Was für einen kalten, trostlosen Kerker ihr Gemahl doch für sie geschaffen hatte. In ihren Träumen fühlte Muraki sich wesentlich wohler. Sie leerte das Glas. 425 Sechsundzwanzig Nukis Auge versank im Westen. Die Oberfläche des Ko schillerte bald rötlich, bald gelblich. Der Tag war heiß gewesen, doch nun sank die Temperatur, als Nuki sich hinter das ferne Ende der Welt zurückzog, als fürchtete er den Tumult, den die Mondschwestern bringen würden, wenn sie den Himmel übernahmen. Denn in jener Nacht würden die Bahnen der Monde sich in flachen Winkeln kreuzen, und es würde einen Mondsturm geben, diesmal einen besonders langen und heftigen. Jedenfalls würde es ein angemessener Hintergrund für die bevorstehende Schlacht sein, dachte Yugi. Er stand mit den Zügeln seines Pferds in der Hand auf einer Anhöhe etwas südlich des Flusses und schaute gen Norden. Wartete auf die Ausgeburten. Das Land nördlich und südlich des Ko waren rollende Höhenzüge, sanft auf- und abwogende Hügel, die am Wald von Xu zwanzig Meilen westlich begannen und sich an den Ufern des Azlea-Sees allmählich verliefen. Dazwischen befand sich die Sakurika-Brücke, ein mächtiger Bogen aus Holz und Stein, der sich über den Fluss spannte. Es war ein schlichter Bau, nicht so prunkvoll wie zahlreiche andere in Saramyr, zudem wenig benutzt. Die Widerlager, Zwickel und Brüstungen waren in verblasstem Rotbraun bemalt, das sich zu dem honigfarbenen Firnis des Holzes fügte; abgesehen davon jedoch fehlte jegliches Zierwerk. Die Brücke war während eines Feldzugs in längst vergangenen Zeiten errichtet worden, um die Truppenbewegungen entlang der Westseite des Azlea-Sees zu erleichtern, doch es war nie eine Straße dazu gebaut 426 worden. Der schmale Landstreifen zwischen dem Wald von Xu, dem Azlea-See und dem Xarana-Bruch war damals als zu gefährlich für eine Handelsstrecke betrachtet worden. Dennoch war die Brücke all die Zeit gewartet worden, zumal sie östlich des Waldes den einzigen Weg über den Fluss darstellte und immerhin breit genug für zwanzig Mann nebeneinander war. Und hier hofften die Streitkräfte des Kaiserreichs, dem Vormarsch der Weber Einhalt zu gebieten. Yugi war übel. Er wünschte, er könnte ein wenig Amaxa-Wurzel rauchen, um seiner Angst den Schneid zu nehmen. Stattdessen betrachtete er mit prüfendem Blick das Bild, das sich unter ihm bot, das Meer der Rüstungen, Klingen und Büchsen. In die Hügelkuppen zu beiden Seiten der Brücke waren mehrere Artilleriestellungen gegraben worden, dicht gepackt mit Mörsern, Feuerkanonen und sogar alten Katapulten und Bailisten. Das flache Gelände dazwischen strotzte vor Soldaten, die fast die gesamten noch übrigen Streitkräfte der hohen Familien und der Libera Dramach verkörperten. Ihre Banner hingen schlaff in der versiegenden Brise. Entlang der Mitte der Brücke war eine Stachelbarrikade errichtet worden, hinter der die Soldaten warteten. Unter ihren Füßen, gut verborgen im Inneren des Bogens, befand sich genug Sprengstoff, um die Brücke in Zunder zu verwandeln. »Bei den Göttern, ich kann diese Warterei kaum ertragen«, murmelte Yugi jenen in seiner Nähe zu: ein paar Generälen, einer schwarzhaarigen Ordensschwester, die mit ihrer Schminke eine Zwillingsschwester Cailins hätte sein können, Barak Zahn, Nomoru, Mishani und Lucia. Pferde tänzelten unruhig und wieherten unablässig; das Knarren von Lederrüstungen und gedämpftes Hüsteln waren zu vernehmen. »Sind wir überhaupt sicher, dass sie auf diesem Weg kommen?«, fragte Mishani. Man konnte es als Maß ihrer Anspan427 nung betrachten, dass sie eine derart überflüssige Frage stellte; sie kannte die Berichte der Kundschafter nur allzu genau. »Sie kommen«, bestätigte die Ordensschwester mit roten Netzhäuten. Yugi schaute zu Lucia hinab. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Der Feind musste rechtzeitig eintreffen. Es gab
bessere Orte, an denen sie sich den Ausgeburten hätten stellen können, Orte weiter im Süden, die Hinterhalte ermöglichten und einfacher zu verteidigen waren als dieser. Doch ohne Lucia konnten sie nicht gewinnen, und Lucia hatte darauf bestanden, dass sie der Bedrohung hier begegnen mussten. Dies, so versprachen ihre Gelehrten, war die Nacht des Mondsturms. Und in dieser Nacht würden die Ausgeburten - deren steter, gnadenloser Vormarsch von den Kundschaftern entlang der Strecke beobachtet worden war - am Fluss angelangen. In dieser Nacht und an diesem Ort würde Lucia die Geister zur Verteidigung ihres Landes rufen. Sie alle konnten nur beten, dass Lucia genau wusste, was sie tat, denn ohne das Eingreifen, das sie versprochen hatte, würde ihr Widerstand hier nicht lange währen können. Tausende und abertausende Leben hingen am Wort eines Mädchens, das noch kaum das Erwachsenenalter erreicht hatte. Yugi fand, dass an dieser Stelle eine gewisse Beunruhigung verzeihbar war. Mishani fragte sich nicht zum ersten Mal, weshalb sie überhaupt hier war. Für jemanden, der sich seiner Selbstbeherrschung und Besonnenheit rühmte, schien sie in letzter Zeit bemerkenswert unüberlegt zu handeln. Erst der Besuch bei Muraki und nun dies. Andererseits hätten wir ohne meine Unbesonnenheit nicht einmal diese Gelegenheit erhalten, dachte sie. O Mutter. Sie holte tief Luft, um die Tränen zurückzudrängen. Nein, sie würde nicht wieder weinen. Der Gedanke an die letzte Begegnung ließ nach wie vor Gram in ihr auflodern, dennoch war sie zumindest froh, dass sie sich mit Muraki versöhnt hatte. Wenn sie heute stürbe, hätte sie wenigstens so viel getan. Hätte sie gewusst, dass ihre Mutter und ihr Vater bereits seit Wochen tot waren, wäre ihr Kummer noch schneidender gewesen. Doch die Weber waren sorgsam darauf bedacht gewesen, diesen Umstand geheim zu halten. Letzten Endes, dachte Mishani, kam es auf Lucia an. Mishani und Kaiku waren ihre Kindheit im Schoß hindurch ihre Hüterinnen gewesen und hatten sich ihr gegenüber als ältere Schwestern gebärdet. Obwohl die Zeit und die Umstände sie voneinander entfernt hatten, bestanden diese Bande noch immer. Aber Kaiku wurde andernorts gebraucht, und Mishani war die Vorstellung unerträglich, Lucia bei diesem Unterfangen allein zu lassen. Sie wusste, wie einfach Lucia zu beeinflussen war, und es war niemand hier, dem sie wirklich am Herzen lag, außer ihrem Vater Zahn, doch der würde unten im Getümmel sein. Zum Gefecht konnte Mishani wenig beitragen, aber zumindest konnte sie hier an Lucias Seite stehen. Sie hätte es als unehrenhaft empfunden, sie nun im Stich zu lassen. Einst hätte sie die junge Thronfolgerin um ein Haar getötet, indem sie ihr ein Nachtgewand brachte, von dem sie dachte, es sei mit Knochenfieber verseucht. Als es so weit gewesen war, hatte sie gekniffen. Dennoch fühlte sie sich heute noch dafür verantwortlich, überhaupt die Absicht gehegt zu haben; zudem war sie der Umsetzung des Planes erschreckend nahe gekommen. Ihr jetzt und hier beizustehen war das Mindeste, was sie Lucia schuldete. Und fiele Lucia, würde ohnedies schon bald kaum etwas übrig sein, wofür es sich zu leben lohnte. So wie der Besuch bei ihrer Mutter war dies etwas, das Mishani einfach tun musste, ganz gleich, welches Wagnis sie sich dadurch aufhalste. Ein moralisches Bedürfnis, dass weder Sinn noch Verstand zu überwältigen vermochten. 428 429 Du lässt dich auf deine alten Tage noch von deinen Gefühlen leiten, Mishani, dachte sie süßsauer bei sich. Irgendwo von ihrer Linken ertönte ein Ruf, dem gleich einem Widerhall ein weiterer etwas näher folgte. Die Späher mit ihren Handfernrohren hatten am Horizont etwas gesichtet. Ein paar Augenblicke verstrichen, während derer Mishani spürte, wie ihr Körper langsam erkaltete; dann meldete die Ordensschwester sich zu Wort. »Unser Feind ist eingetroffen«, verkündete sie. Zahn tauschte Blicke mit Yugi und den Generälen; aus ihren Augen sprach ein grimmiges Verständnis. Zahn verkörperte den Oberbefehlshaber dieser Streitmacht, war durch gemeinsamen Beschluss des Rates der hohen Familien dazu auserkoren worden. Die Generäle stiegen auf und begaben sich an ihre jeweiligen Stellungen. Yugi schaute zu Lucia, die ihm keine Beachtung schenkte, dann schwang er sich auf sein Pferd und zog Nomoru hinter sich in den Sattel. Zahn legte seiner Tochter die Hand auf die Schulter. Ihr Blick heftete sich auf ihn. »Wir werden heute Nacht eine Großtat vollbringen«, murmelte er. »Sei stark. Ich kehre zu dir zurück; das verspreche ich dir.« Mit verkniffener Miene nickte sie. »Passt auf sie auf«, bat er Mishani, dann hievte er sich selbst auf sein Ross. Er lenkte das Tier zu jenem Yugis hinüber, und die beiden Männer schlangen die Arme ineinander. Nomoru wandte die zernarbten Züge Lucia und Mishani zu, musterte die beiden mit einem unergründlichen Starren. Dann gaben sowohl Zahn als auch Yugi den Pferden die Sporen, den Hügel hinab und vorwärts zur Front. Lucia und Mishani blieben mit der Schwester vom Roten Orden und einer Gruppe Leibwächter auf dem Hügel zurück. Sie beobachteten und warteten. 430 Die Nacht brach an, als die Ausgeburten kamen. Gleich einer dreckigen Flut aus Zähnen und Klauen donnerten sie durch das Zwielicht heran. Mit einer Geschwindigkeit, die wenig unter einem vollen Laufschritt lag, fegten
sie über die Höhenzüge wie der Schatten einer Finsternis. Selbst bei dieser Eile waren sie praktisch unermüdlich, konnten Tag und Nacht mit äußerst wenig Rast marschieren. Die Fähigkeit der Weber, Armeen so schnell zu bewegen, hatte die Streitkräfte des Kaiserreichs schon häufiger überrascht. Am Himmel kreisten keine Knorpelkrähen. So wie Lucias Raben waren sie nachts nutzlos, weil sie ohne die Sonne kaum etwas zu sehen vermochten. Und so erhielten die Weber keine Warnung vor der Armee, die sich quer über das Südufer des Ko in Stellung gebracht hatte, bevor sie nah genug waren, dass die vordersten Ränge die Geschütze auf den Hügeln erkennen konnten. Die Leitgestalten der Streitkräfte der Weber waren inmitten der Masse entbehrlicher Krieger sicher geschützt. Die Nexusse waren gut verteilt und ritten auf ausgebürtigen Manxthwa. Bei ihnen waren Weber, denen die Nexusse Meldung erstatteten, wenn sie durch ihre Verbindung zu den Ausgeburten erlangte Auskünfte weiterzureichen hatten. Die Weber hatten sich durch vorbereitete Kanäle, die den Vorgang einfach gestalteten, tief in die Verstände ihrer Diener gegraben und erfuhren alles, was die Nexusse wussten. Sie verständigten sich untereinander über das Geweb und gaben anschließend ihre Befehle an die Nexusse weiter, nicht ahnend, dass sie ihrerseits selbst dem Willen der Hexensteine und somit jenem des Mondgottes Aricarat unterjocht waren. Über diese Befehlskette wurden die Geschicke der Weber geleitet. Das Weiterreichen der Neuigkeit durch die Armee der Ausgebürtigen dauerte von jenem Augenblick an, in dem die Streitkräfte des Kaiserreichs gesichtet wurden, weniger als eine Minute. Die Wirkung folgte sofort, wenngleich sie sich als 431 höchst unerwartet erwies. Die hohen Familien waren davon ausgegangen, dass die Ausgeburten langsamer werden würden, um die Lage abzuwägen. Doch sie wussten nicht, dass Avun tot war und Kakre hier den Befehl führte. Und Kakre frönte einem anderen Stil, als es Avun getan hatte. Er sandte seine Befehle, und die Ausgeburten griffen an. Tausende der Tiere bellten und brüllten, als sie von ihren Führern zu blindwütiger Raserei angestachelt wurden. Die unvorstellbare Woge des Getöses schwappte über den Höhenzug und zu den Soldaten des Kaiserreichs. Mit verkniffenen Mienen standen sie entlang der Flussböschung, an den Flanken der Hügel ringsum oder dicht gedrängt auf der Brücke. Sie würden sich nicht entehren, indem sie ihre Furcht zeigten, doch sie spürten sehr wohl, wie Angst ihre Herzen umklammerte, als sie sahen, dass es auf den Hügeln wimmelte. Sie dachten an ihre Familien, an Augenblicke der Freude und des Vergnügens, an unerledigte Dinge. Einige empfanden Reue ob ihrer Fehler und hofften, die Götter würden sie für würdig befinden, wenn sie im Goldenen Reich angelangten. Manche bedauerten gar nichts und harrten kaltblütig des Endes. Andere spürten Feuer in den Adern und dürsteten nach Kampf. Wieder andere fühlten sich edel und waren stolz, ein Teil dieser Begebenheit zu werden; und letztlich gab es auch jene, die zornig waren, weil sie ihr Leben wegwerfen sollten, statt zu flüchten, auf die Ehre zu pfeifen und einen weiteren Tag, Monat oder gar ein weiteres Jahr zu erleben. Aber kein Einziger verließ die Ränge, kein Einziger vergoss eine Träne, kein Einziger zeigte seine Schwäche. Obwohl einige schwitzten und zitterten, obwohl einige Mühe hatten, ihren Mageninhalt zu behalten, harrten sie am Flussufer aus, während die Ausgeburten auf sie zurasten, näher und näher rückten. Und näher. Die Luft wurde vom Kreischen eines Feuerwerks zerrissen, 432 das in das Zwielicht gespieen wurde und einen grellen weißen Schweif hinter sich herzog. Dann eröffnete die Artillerie das Feuer. Die erste Salve zog eine rauchschwangere Feuerlinie über den Höhenzug und zerfetzte die vordersten Ränge der anstürmenden Ausgeburten. Zerschmetterte Leiber wurden in Wolken aus Dreck und Flammen in die Luft geschleudert, Granatsplitter rissen Glieder hinfort und durchdrangen Fell. Diejenigen, die nicht durch die Erschütterung starben, wurden zu Boden gefegt, wo sie von der in Panik umhertrampelnden Masse zerquetscht wurden. Die gesamte Frontlinie ging in die Knie und wurde von den Raubtieren dahinter in die Erde getrieben. Der ersten folgte eine zweite, kürzer gehaltene Salve. Geschosse versprühten loderndes Gallert, Mörser verstümmelten und blendeten, und schwere Katapulte schleuderten in hohem Bogen Beutel mit Sprengkörpern, die klirrend inmitten der Horde zu Boden fielen und explodierten. Die Ausgeburten boten ein unmöglich zu verfehlendes Ziel, und jedes Geschoss, jede Bombe riss ein Dutzend oder mehr in den Untergang. Allein durch jene ersten Salven fielen Hunderte, dennoch glich es nur einem Tropfen im Ozean. Und die Flut brandete weiter heran. Die Artillerie feuerte ohne Unterlass, als die Ausgeburten den Ko erreichten. Sie zielten nicht mehr auf die vordersten Ränge der Horde; stattdessen schleuderten sie die Geschosse achtlos mitten hinein in die wogende Masse, zumal es ohnehin unmöglich war, nicht zu treffen. Das ohrenbetäubende Bombardement verblasste zu einem Hintergrundlärm, einem steten Gebrüll des Gemetzels; der Boden verwandelte sich in einen blutigen Graben aus Körperteilen mit roter, aufgerissener und versengter Erde. Doch die Soldaten des Kaiserreichs hatten eine größere Sorge: Die Ausgeburten waren mittlerweile bei ihnen angelangt. Die Kreaturen schwärmten auf die Sakurika-Brücke oder 433 hechteten in den Fluss, ließen sich durch nichts verlangsamen! Die Stachelbarrikade quer über die Mitte der
Brücke erledigte die ersten paar Dutzend der Ausgeburten, bevor sie zusammenbrach: Die Tiere schleuderten sich einfach mit Übelkeit erregender Gewalt darauf, bis sie unter ihrem Gewicht nachgab. Ihre Gefährten wuselten über die gepfählten Leichen. Die Krieger des Kaiserreichs hatten sich in dicht gedrängten Rängen quer über die Brücke in Stellung gebracht, um sie in Empfang zu nehmen. Büchsenschützen standen hinter knienden Schwertkämpfern, zielten über deren Schultern. Eine Salve mähte die erste Reihe der Ausgeburten um wie Stroh. Dann schwangen die Schwerter, und das Gefecht begann. Das Wüten der Schlacht der Raubtiere gegen die Menschen war schrecklich anzusehen. Die riesigen, zottigen Ghauregs stürmten mitten hinein in die Soldaten, schleuderten sie von der Brücke ins Wasser oder hoben sie hoch und bissen ihnen die Köpfe ab. Skrendel krabbelten die Brüstung der Brücke entlang, um sich verstohlen in die Ränge der Verteidiger einzuschleichen, wo sie kratzten und bissen, blendeten und würgten. Schrillviecher erfüllten die Luft mit ihren heimtückischen Lauten, während sie sich auf ihre Opfer stürzten und mit den Klauen um sich hieben. Auch andere Kreaturen kämpften, albtraumhafte Geschöpfe aus knochiger Haut und unebenmäßigen Zähnen, Wesen, zu seltsam oder ungewöhnlich, um als eigene Art erkannt zu werden. Die Soldaten schlitzten und stachen aus Leibeskräften, aber im Nahkampf hatten die Ausgeburten einen erheblichen Vorteil. Der natürliche Panzer der Schrillviecher ließ Schwertklingen abprallen; die zähe Haut und der dicke Pelz der Ghauregs gestalteten es schwierig, sie tief zu verletzen. Skrendel waren zu behände, um einfache Ziele zu bieten, zudem herrschte unter den Soldaten auf der Brücke ein so dichtes Gedränge, dass sie nicht wagten, wild um sich zu schlagen, weil sie fürchteten, sich gegenseitig zu verwunden. Die Ausgeburten brande434 ten weiter, während die Soldaten kämpfend starben. Die Brücke wurde schmierig vor Blut, übersät mit Leichnamen, während die Männer des Kaiserreichs zurückgedrängt wurden. Und im Fluss darunter schwammen Ausgeburten zum anderen Ufer. »Es ist Zeit, Lucia«, murmelte Mishani. Lucia schenkte ihr keine Beachtung. Sie konnte genauso gut wie Mishani sehen, was dort unten vor sich ging. Von ihrem Aussichtspunkt auf der Hügelkuppe aus wirkte die Schlacht seltsam fern und unbedeutend im letzten Tageslicht, das Sterben viel zu weit weg, um echt zu sein. Nukis Auge war mittlerweile verschwunden, zeichnete nur noch einen sanften, blauen Schimmer auf den Himmel, durch den die Sterne erkennbar waren. Die drei Mondschwestern, alle voll, waren vom selben Horizont aus aufgegangen und bewegten sich langsam aufeinander zu. Dem steten Verlauf haftete etwas gespenstisch Böswilliges an, eine bedrückende Unvermeidlichkeit. Vier Wachen standen rings um sie und bemühten sich, Lucia oder die Ordensschwester neben ihr nicht unentwegt anzustarren. Mishani wartete auf eine Regung ob ihrer Äußerung, dann drehte sie den Kopf, um die junge Frau an ihrer Seite anzusehen. »Lucia, es ist Zeit«, wiederholte sie. Langsam begegnete Lucia ihrem Blick mit einem tiefen Kummer in den Augen. Kurz überkam Mishani ein entsetzlicher Gedanke: dass Lucia gestehen würde, es sei alles Heuchelei gewesen, dass ihnen keine Geister zu Hilfe kommen würden. Was sie stattdessen sagte, erwies sich als mindestens ebenso beunruhigend. »Was immer kommen mag, Mishani, denke nicht schlecht von mir«, murmelte sie. »Ich habe eine Wahl getroffen, die zu treffen niemandem je auferlegt werden sollte.« 435 Mishani erwiderte nichts. Sie spürte, dass es nicht notwendig war. Außerdem war ohnehin keine Zeit, darüber zu reden, denn die Ausgeburten hatten es inzwischen beinahe über den Fluss geschafft. Die Soldaten am Südufer durchlöcherten sie zwar im Schwimmen mit Kugeln, doch es waren schlichtweg zu viele, um sie aufzuhalten. Lucia neigte das Haupt und schloss die Augen. Die Veränderung in der Luft erfolgte rasch und war sofort bemerkbar. Anfangs dachte Mishani, es handle sich um die Vorboten des Mondsturms, die aus unerfindlichen Gründen einsetzten, bevor die großen Trabanten sich überkreuzt hatten. Doch obwohl das Empfinden ähnlich war, stellte es etwas anderes dar. Die Luft verdichtete sich, streckte sich über die Sinne und brachte ein Gefühl der Entfremdung mit sich, den blassen Eindruck, dass die Augen und Ohren sich vom Verstand lösten. Der Wind legte zu, erst in vereinzelten Stößen, dann schwoll er zu einem unregelmäßigen Tosen an, das hin und her peitschte. Lucias gestutzte blonde Locken, die nunmehr ein wenig wild gewachsen waren, wehten ihr um die Wangen; Mishanis unlängst abgeschnittenes Haar tat dasselbe, indem es sich aus den juwelenbesetzten Spangen befreite, mit denen Mishani es zuvor gebändigt hatte. Aus den Augenwinkeln vermeinte sie, dürre, schemenhafte Gestalten wahrzunehmen, die zwischen den sie umgebenden Wachen umher- ; huschten. Doch es waren Trugbilder, und wenn sie versuchte, sie unmittelbar anzublicken, waren sie nicht da. Die Oberfläche des Flusses verwandelte sich in ein wirbelndes Chaos, in kalt glitzernde Wellen, die einander mit dem Wechseln des Windes hetzten. Die Ausgeburten schwammen unbeirrt hindurch, kämpften sich durch die schwache Strömung des Ko. Dann erscholl ein Heulen, das über das Schlachtfeld hallte, und die ersten verschwanden unter Wasser. Mit einem Schlag erfüllte ein weißes Brodeln den Fluss. Die 436
Ausgeburten begannen zu bellen, zu kreischen und zu schreien, als ihre Gefährten in die Tiefe gesogen wurden, der weiße Schaum sich rosa färbte. Gespenstische Schemen, wellig wie Aale, wanden und schlängelten sich zwischen den Ausgeburten. Sie kräuselten sich, kreisten und stießen vor, umschlossen ihre Opfer mit den Knoten ihrer Leiber und zogen sie abwärts, als sie abtauchten. Die Ausgeburten schlugen wild um sich und verrenkten sich, doch es half alles nichts. Die Flussgeister holten sie alle, und keine der Kreaturen erreichte das ferne Ufer. Einige der Ausgeburten versuchten an der Flussböschung zu bremsen; doch der eigene Schwung brachte sie zum Stolpern, ließ diejenigen hinter ihnen über sie fallen, und in einem wilden Durcheinander stürzten sie Hals über Kopf ins Wasser. Hunderte ereilte dieses Los, und sie ertranken im Ko, bis es den Nexussen gelang, sich die Herrschaft über die Horde zu sichern und den Angriff zu zügeln. Nach und nach versiegte der überstürzte Vormarsch, und die ausgebürtige Armee stand still. Den einzigen Weg über den Fluss stellte nunmehr die Sakurika-Brücke dar, auf die sich immer nur eine begrenzte Anzahl der Kreaturen gleichzeitig drängen konnte. Die Artillerie bombardierte sie unvermindert und gnadenlos; doch die Tiere schenkten dem unter ihnen angerichteten Blutbad keine Beachtung, und so oft ein Loch in die Horde gerissen wurde, rückten weitere Ausgeburten nach, um es zu füllen. Als die Streitkräfte des Kaiserreichs sahen, dass der Feind zum Stillstand gekommen und verzweifelt war, stimmten sie Jubelgeschrei an, in das die Wachen bei Lucia und Mishani auf der Hügelkuppe mit einstimmten. Die vier musterten sie mit einer Mischung aus Furcht, Bewunderung und Verehrung, und obschon Lucia sie durch die geschlossenen Augen nicht sehen konnte, spürte sie ihr Empfinden. »Es tut mir Leid«, flüsterte sie so leise, dass nur Mishani es 437 hörte; und Mishani erfasste eine frostige Klaue der Beklommenheit. Die Luft knisterte angesichts des unsichtbaren Gefechts, als die Schwestern vom Roten Orden und die Weber sich aufeinander stürzten. Das Ausmaß ihrer Schlacht war gewaltig. Sie trachteten nicht nur danach, einander zu töten - und das in größerer Zahl als jemals zuvor in einem Aufeinandertreffen -, sie versuchten auch, gleichzeitig das Geschehen auf dem Schlachtfeld zu beeinflussen. Die Weber sandten tastende Ranken nach Lucia aus, versuchten sie zu finden, obwohl sie durch ihre ungewöhnlichen Fähigkeiten unsichtbar für sie war. Sie streckten sich in Richtung der Köpfe von Männern, um Generäle zu unbesonnenen Entscheidungen zu zwingen, um Soldaten gegen ihre Gefährten aufzubringen, um ihre Feuerkanonen zu schwenken, sodass sie in die eigenen Reihen schössen. Die Weber versuchten, die Artilleriestellungen zu Fall zu bringen, die so viele ihrer Kampfkreaturen hinrafften, denn sie besaßen selbst keine Fernwaffen, um zurückzuschlagen. Die Ordensschwestern arbeiteten hart, um sie daran zu hindern, bislang erfolgreich. Dennoch gab es zu viele Möglichkeiten, zu viele denkbare Ziele. Früher oder später musste etwas die Verteidigung durchdringen. Yugi, Nomoru und Barak Zahn beobachteten die Schlacht auf der Brücke vom Rücken ihrer Pferde aus. Sie befanden sich nahe des Flussufers mitten unter den Männern, aber außerhalb des Kampfgeschehens. Hier hatten sich ein Ring aus Soldaten und eine Ordensschwester um einen Pionier geschart, der mit seiner Laterne am Ende einer Zündschnur kauerte. Die Zündschnur war durch ein langes, dünnes Rohr gefädelt, das knapp unter dem Gras vergraben war. Sie verließ das Rohr nahe der Brücke, wo sie mit einem Paket verborgener Spreng438 körper verbunden war. Durch die Zündung dieses Pakets würden auch die anderen gezündet, die überall an der Brücke angebracht waren und die sie zum Einsturz bringen sollten. Für den Notfall stand in der Nähe ein weiterer Pionier bei einer Ersatzzündschnur bereit. Mittlerweile drängten die Ausgeburten auf die Brücke, und obwohl sie Boden gutmachten, ließen die Soldaten des Kaiserreichs sie für jeden Zoll teuer und blutig bezahlen. Die Bohlen der Brücke waren glitschig vor Körperflüssigkeiten, und die Kämpfenden rutschten, während sie fochten. Grässliche Wunden entstanden auf beiden Seiten, als Klingen und Klauen sich in Fleisch hackten, manchmal Körperteile sauber abtrennten, häufiger nicht. Männern wurden die Knochen von der Achselhöhle bis zur Hüfte blank gelegt, Schrillviecher fetzten Gesichter von Schädeln, Ghauregs wurden die Kniesehnen durchtrennt und verkrüppelt. Aus nächster Nähe war die Grausamkeit des Kampfes Mensch gegen Tier unvergleichlich. »Beordert sie zurück«, sagte Zahn zu der Ordensschwester. »Bereitet die Sprengung der Brücke vor.« Die Ordensschwester sandte den Befehl wortlos an eine ihrer Gefährtinnen weiter, die sich näher der Front befand und ihrerseits den General in Kenntnis setzte, den sie begleitete. Das anschwellende Geheul eines Windalarms kündigte den Rückzug an, und sogleich begannen die Soldaten auf der Brücke zurückzuweichen, ließen mehr der Ausgeburten nachdrängen. »Anzünden«, befahl Zahn dem Pionier, der die Flamme an die Zündschnur senkte. Zischend erwachte sie zum Leben, und die Glut verschwand in der Mündung des Rohrs, brannte sich den Weg durch die Dunkelheit darin. An anderer Stelle wurde auch die Ersatzzündschnur in Brand gesteckt. Inzwischen hatten die Soldaten sich bis zum südlichen Rand der Sakurika-Brücke zurückgezogen, gedeckt durch Büchsen439 schützen, die mit gezielten Kopfschüssen die größeren Ghauregs ausschalteten.
Die Zündschnur loderte sich ihren Weg durch das Rohr, entlang des Bogens und einen der Zwickel der Brücke hinauf, begleitet vom Verlauf einer weiteren Lunte, die einen anderen Pfad entlang brannte. Zwei winzige Lichter in der Finsternis, die auf eine gemeinsame Bestimmung zurasten. Wäre die Brücke gesprengt und der Fluss unüberquerbar, blieben nur noch die Feyakori als Bedrohung, und die Dämonen der Fäulnis hatten sich bislang noch nicht gezeigt. Die zweite Zündschnur holte die erste ein, und die beiden erreichten gleichzeitig die verborgene Sprengladung. Und erloschen wenige Zoll vor dem Ende. Yugis Sicht war nicht scharf genug, um zu erkennen, dass die Lunten ausgegangen waren, dennoch dauerte es nicht lange, bis ihm klar wurde, dass die Bomben nicht gezündet hatten. Er sah, wie sich die Reihe der Soldaten am fernen Ende der Brücke unter dem Ansturm der Raubtiere beugte, und wusste, dass sie drauf und dran war zu brechen. »Was ist geschehen?«, rief er. »Wo bleibt unsere von den Göttern verfluchte Explosion?« »Die Weber«, sagte die Ordensschwester mit verschwömmenen, roten Augen. »Beim Blut des Herzens. Die Weber sind an die Lunten gelangt, bevor wir sie aufhalten konnten. Sie sind an uns vorbeigeschlüpft. Ein Kniff ... ein Kniff, von dem wir nicht wussten, dass sie ihn kannten.« Von blankem Entsetzen gepackt, schaute Yugi zu der Brücke; die Linie der Soldaten zerfranste gerade, und die Ausgeburten strömten hindurch. Wie ein Ölteppich breiteten sie sich am Südufer des Flusses aus und begannen zu metzeln. 440 Siebenundzwanzig »Zerstört sie!«, schrie Yugi. »Diese Brücke muss weg!« Die Schwester, an die er sich wandte, nahm ihn kaum wahr. Sie war bereits vollauf damit beschäftigt, genau das zu versuchen. Mochten die Zündschnüre auch versagt haben, die Ordensschwestern waren mühelos in der Lage, die Sprengladungen selbst zu zünden; tatsächlich könnten sie die Brücke sogar ohne jeglichen Sprengstoff in Splitter verwandeln. Doch die Weber hatten geahnt, wie entscheidend die Sakurika-Brücke für den Schlachtplan des Kaiserreichs sein würde, und hatten sich dort zuerst eingenistet. Indem sie Trugbilder von sich selbst spannen, hatten sie die Ordensschwester zu dem Glauben verleitet, sie hätten all ihre Gegner ins Gefecht verwickelt, während in Wahrheit einige unbemerkt durch das Geweb zu der Brücke geschlüpft waren, wo sie die Sprengladungen fanden und die Glut der Zündschnüre erstickten. Die Schwestern vom Roten Orden hatten vom Feind kein solches Ausmaß an Schläue und Zusammenarbeit erwartet, was sie nun teuer zu stehen kam. Bevor sie etwas unternehmen konnten, hatten die Weber eine Verteidigung um die Brücke geflochten, hatten ihre Versuche aufgegeben, andere Teile des Schlachtfelds zu beeinflussen, um ihre Stellung dort zu festigen. Die Ordensschwestern umschwärmten sie, tasteten sich vor, vollführten Scheinangriffe und zogen sich zurück, aber sie hatten ein dichtes Gespinst gebildet und erwiesen sich als undurchdringlich. Die Schwestern vom Roten Orden hatten ihre Meister gefunden. »Das können wir nicht«, gestand die Schwester, die neben Yugi stand. »Wir können die Brücke nicht zerstören.« 441 Yugi stieß einen Fluch aus und schaute über die Köpfe der Soldaten zu den Ausgeburten, die blutschwangere Schneisen in die Ränge der Armee zogen. Im Nahkampf konnten die Raubtiere den Vorteil ihrer überlegenen Kraft nützen; der Schlüssel zum Sieg lag darin, sie auf Abstand zu halten, wo man sie mit Mörsern und Feuerkanonen unter Beschuss nehmen konnte. Er schaute zurück zu dem Hügel, auf dem Lucia stand, doch es war inzwischen zu dunkel, um sie zu erkennen. Worauf wartet sie bloß ?, dachte er wütend. Wenn diese Flussgeister das Beste waren, was sie zuwege brachte, waren sie alle dem Untergang geweiht. »Die Artillerie«, rief Zahn. »Sie halten auf die Artillerie zu.« Yugi schaute hin und stellte fest, dass Zahn Recht hatte. Die Ausgeburten schnitten einen Pfad zu einem der Hügel, auf dem die Geschützstellungen beständig Ausgeburten auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses ins Jenseits beförderten. Den Vorstoß bezahlten sie teuer, denn dadurch waren sie für Angriffe von den Flanken anfällig, dennoch kamen sie durch ihre schiere Übermacht voran. In der Zwischenzeit war ein Teil der Geschütze auf die Brücke gerichtet worden; über die Schwestern vom Roten Orden hatte sich die Kunde vom Versagen der Sprengladungen verbreitet. Doch jegliche Geschosse, die der Brücke nahe kamen, wurden von den Webern aus der Luft geholt und plumpsten harmlos in den Fluss. Yugi und Zahn blickten einander mit versteinerten Mienen an. »Verteidigt die Artillerie«, forderte Yugi sein Gegenüber auf. »Ich erobere die Brücke zurück. Wir müssen sie auf der Nordseite halten.« Zahn nickte. »Mögen Ocha und Shintu Euch gewogen sein«, sagte er. Dann gab er dem Pferd die Sporen und preschte davon, dicht gefolgt von seiner Leibgarde. Yugi hörte den anspornenden Schrei, den er unterwegs ausstieß und in den weitere Solda442 ten mit einstimmten, während er galoppierte, was das Zeug hielt, um den Feind abzufangen. Yugi schaute über die Schulter zu Nomoru. »Kannst du dich irgendwo an der Flussböschung in Stellung bringen, um die Sprengladungen zu treffen?«
»Die sind unter der Brücke verborgen. Und es ist finster. Wird schwierig«, gab Nomoru zurück. Sie glitt hinter ihm aus dem Sattel. »Ich versuch's.« »Vergiss nicht die Weber. Sie können eine Büchsenkugel aufhalten.« »Wir werden bereitstehen«, meldete die Ordensschwester sich zu Wort. »Artilleriegeschosse können sie abfangen, aber eine Büchsenkugel ist kleiner und schneller. Wir können sie durchbringen.« Nomoru schulterte ihre Büchse und bedachte die bemalte Frau mit einem herablassenden Blick. Dann schaute sie zu Yugi auf. Sein Blick wanderte über die strahlenförmigen Narben an der Seite ihres Gesichts. »Ich feuere eine Signalrakete ab.« Er klopfte sich auf den Gürtel, an dem ein kleines, zylindrisches Röhrchen hing. »Du darfst nicht zögern.« »Werd ich nicht.« Kurz hielten sie inne. Etwas war noch ungesagt geblieben, aber weder sie noch er wollten es aussprechen. Dann trieb Yugi das Pferd auf das Banner der Libera Dramach zu, das nahe dem Ausgang der Brücke aufragte. Während er sich einen Weg durch die Truppen bahnte, dabei den Gestank von Schweiß, gehärtetem Leder, Klingenöl, Rauch, Blut und Tod aus dem Wind roch, konnte er das Gefühl nicht abschütteln, dass er all das nur träumte. Der Entzug der Amaxa-Wurzel - er hatte die ganze Nacht keine Gelegenheit gehabt zu rauchen - und die Gegenwart der Geister, durch die sich die Luft knisternd anfühlte, hüllten alles in einen dämpfenden Schleier. Es schien, als wären alle Anwesen443 den bloß Teilnehmer eines Spiels, bei dem Belanglosigkeiten statt Leben der Einsatz waren. Das Ausmaß der Menschen, die heute hier sterben würden, bereits gestorben waren, überstieg schlichtweg seinen Verstand. Dieses eigenartige, langsam einsetzende Gefühl der Unwirklichkeit hatte ihn schon in der Vergangenheit beschlichen, doch er war noch nie zuvor ein General in einer Schlacht von solchem Umfang gewesen. Er erreichte das Banner. Gesichter schauten im grünstichigen Mondlicht auf, blickten ihn an. Es schien einfacher zu tun, was getan werden musste, als noch länger darüber nachzugrübeln. Und so streckte er das Schwert empor und brüllte: »Libera Dramach! Wir erobern jetzt die Brücke zurück!« Das Gebrüll der Zustimmung, aus voller Kehle und von urtümlicher Kraft, erscholl so laut, dass es ihn geradezu erschrak. Seine Sinne schärften sich, sein Blut begann zu wallen, der Schleier lichtete sich. Plötzlich sah er alles mit großer Klarheit. Der Wind peitschte ihn, blies den um seine Stirn gewickelten Lumpen gleich einem Wimpel hin und her. »Vorwärts!« Die Krieger brandeten in einer berauschenden Welle auf ihn zu, und er wurde auf dem Kamm der Woge entlang getragen, konnte nicht verhindern, dass sich ein wilder Urschrei von seinen Lippen löste. Die Ränge vor ihnen teilten sich oder schlössen sich dem Angriff an. Dann rammten die Libera Dramach in einem gnadenlosen Aufeinanderprallen von Körpern und Klingen in die Ausgeburten. Yugi war einer von mehreren berittenen Kämpfern, die mit den Büchsen an den Schultern hinter den vordersten Reihen folgten, um ihren Höhenvorteil zu nützen und die Ausgeburten aus nächster Nähe zu erschießen. Er spannte den Abzug, feuerte, spannte, feuerte, zog den Kammerverschluss der Waffe zwischen den Schüssen mit flüssiger Leichtigkeit, lenkte das Ross mit den Knien. Seine Kugeln schmetterten mit tod444 bringender Gewalt in ihre Ziele, ließen Strahlen dunklen Blutes aufspritzen: Ein Ghaureg ging mit einem Loch in der Halsseite zu Boden; ein Feyn erschlaffte nach einem tadellosen Kopfschuss; in den Buckel einer tobenden Furie entlud er drei Geschosse, bevor er etwas Lebenswichtiges traf und das Ungetüm erlegte. Er hatte keine Zeit, an irgendetwas zu denken, zielte nur und feuerte, bis das Pulver verbraucht war, die Büchse trocken klickte und er gezwungen war, die Pulverkammer zu öffnen und nachzufüllen. Damit war er gerade beschäftigt, als er einen Stoß von der Seite erhielt und sein Pferd mit einem kläglichen Wiehern in eine Gruppe von Männern kippte. Als Yugi nach Gleichgewicht rang, fiel ihm die Büchse aus der Hand, aber irgendwie gelang es seinem Pferd, sich zu fangen und wieder aufzurichten. Leider jedoch gerade lange genug, dass ein Ghaureg, der sich durch die Soldaten gekämpft hatte, beide Hände um den Schädel des Gauls schließen konnte und ihm mit einem kräftigen Ruck das Genick brach. Doch das Ungetüm hatte den falschen Gegner zuerst angegriffen. Yugis Klinge schnellte aus der Scheide, und er ließ sie mit allem Gewicht dahinter hinabsausen. Die Arme des Ghauregs wurden an den Ellbogen abgehackt; vor Schmerzen brüllend, taumelte das Vieh rücklings, bis jemand einen Dolch in den glitzernden, schwarzen Nexus-Wurm an dessen Hals bohrte. Yugi bekam das Ableben seines Gegners nicht mit. Er spürte das Kippen des Pferdes, als es zusammensackte, und versuchte, sich aus dem Sattel zu lösen. Durch reines Glück gelang es ihm, beiseite zu springen und sich abzurollen, als das Pferd auf dem Boden aufschlug; er kam an den Beinen eines Soldaten zu liegen, der ihn auf die Füße zerrte, bevor er zertrampelt werden konnte. »Verletzt?«, wurde er kurz angebunden gefragt. Yugi schüttelte den Kopf, und der Mann klopfte ihm herzhaft auf die 445 Schulter. »Dann komm mit! Wir haben eine Brücke zurückzuerobern !«
Durch die Beherztheit des Soldaten gestärkt und seltsam berührt, grinste er und drängte sich dicht an der Seite des Mannes vorwärts. An der Stelle, wo die Armeen sich berührten, wogten die Schlachtlinien wie Flüssigkeit hin und her, zerflossen unregelmäßig, wenn Männer oder Ausgeburten fielen und die Sieger in die Lücke nachrückten. Hier unten, inmitten des Gemenges statt darüber auf dem Rücken eines Pferdes, erwiesen sich der Gestank von Schweiß und die unvermeidliche Platzangst als überwältigend; doch Yugi strotzte zu sehr vor Adrenalin, um sich daran zu stören. Er sah, wie ein Mann vor ihm getötet wurde; an dessen Stelle tauchte ein Chicha auf, ein aus einem Albtraum entsprungenes Ding, das an eine riesige vierbeinige Spinne erinnerte. Am Schädel der Kreatur prangten zwei widderartige Hörner, das lange, schnabelartige Maul war voller winziger Zähne. Yugi trat in die Lücke, die der Gefallene hinterließ, wobei sein Schwert bereits in einem im Mondlicht kalt schimmernden Bogen herabsauste und einen Schweif aus den Blutstropfen seines letzten Opfers hinter sich herzog. Die Ausgeburt hechtete auf ihn zu und zückte die Vorderbeine, die, wie Yugi verspätet bemerkte, über die gesamte Länge mit Hornklingen bewehrt waren. Yugi drehte den Körper beiseite, sodass sie über den Lederbrustharnisch schabten, eine tiefe Furche darin gruben, aber ihn nicht durchdrangen. Gleichzeitig änderte er die Richtung des Schwerthiebs und hackte ein Vorderbein ab. Unwillkürlich zuckte der Chicha ob der Schmerzen zurück. Diesen Moment nützte er, um zu einem mächtigen, seitlichen Schwung in die Flanke der Kreatur auszuholen, der ihr die ganze Seite aufriss. Das Ungeheuer brach zusammen. Der flüchtige erhaschte Eindruck einer auffälligen Bewegung zu seiner Rechten inmitten der Schwerter und Zähne. Als Yugi sich gerade noch rechtzeitig umdrehte, sah er über die Leichen der Gefallenen hinweg eine Furie auf sich zustürmen, einen Berg aus Muskeln und Hauern; doch die leblosen Körper unter dem Vieh gaben nach, weshalb es stolperte, und ein mächtiger Abwärtshieb des Soldaten an Yugis Seite durchschlug es sauber in zwei Hälften. Durch den eigenen Schwung schlitterte der kraftlose Haufen Fleisch, in dessen Rippen noch das Schwert steckte, bis vor Yugis Füße. Yugi wand die Waffe heraus und warf sie zurück zu seinem Retter, der ihm eine kurze Dankesgeste bedeutete, ehe er vom Getümmel verschluckt wurde. Danach verlor Yugi jedes Zeitgefühl. Seine Vergangenheit und Zukunft verdichteten sich auf einen einzigen Augenblick, in dem er noch lebte, in dem die Wehwehchen seines Körpers eine ferne, dumpfe Belanglosigkeit waren, in dem die Kraft seiner Muskeln und sein Verstand ausschließlich seiner Klinge galten. Wie ein Besessener hieb und schlug er um sich, nicht aus bewusstem Drang zu töten, sondern weil es seine Gegner davon abhielt, ihn zu töten. Er bediente sich des Schatzes langjähriger Übung, duckte sich, stieß vor und wehrte ab, ohne zu überlegen, wohin der nächste Schlag folgen sollte, ohne zu wagen, darüber nachzudenken, wie knapp er am Tod vorbeigeschrammt war, seit diese Schlacht begonnen hatte. Irgendwann wurde er sich mehrerer Wunden an seinem Körper gewahr, tiefer Schnitte, die er bloß als harmlose Kratzer gespürt hatte und aus denen warmes Blut über seine Haut troff. Er schenkte ihnen keine Beachtung. Etwas anderes blieb ihm auch nicht übrig. Dann tat sich eine Lücke in dem Schaubild des Grauens vor ihm auf, und er erspähte das Ende der Brücke kaum ein Dutzend Meter entfernt. Der Anblick ließ ihn kurz innehalten. Wie lange mochte er gekämpft haben? Wie weit waren sie vorgedrungen? Nach und nach stieg ihm das Gebrüll und Geschrei der Männer rings um 447 ihn zu Bewusstsein, doch der vorherrschende Tonfall klang nach Trotz. Ihr Ansturm war durch andere Truppen gestützt worden, durch Männer, die mit ihren Klingen an einem siegreichen Unterfangen mitwirken wollten, und der Zustrom hatte die Kämpfenden nicht nur vervielfältigt, sondern auch ihren Mut gestärkt. Nun, da die Brücke sich näherte und die Ausgeburten auf der Südseite des Ko von ihrer Verstärkung abgeschnitten wurden, drängten die anderen Soldaten mit frischem Eifer nach, um die Kreaturen gegen das Flussufer und ins Wasser zu drängen. Die Geister darin erwachten zu neuer Raserei, ertränkten jedes Lebewesen, das in ihre Reichweite geriet. Yugi schmeckte kalten, feuchten Dreck auf den Lippen. Die Luft verdichtete sich zunehmend, schien an ihnen zu zerren, sie emporzuheben. Bald würde der Mondsturm über sie kommen. Yugi wollte diese Brücke. Mit einem Schrei, der sich eher wie ein Kreischen anhörte, kämpfte er weiter, und seine Männer kämpften mit ihm. Nomoru rannte geduckt durch den dunkle Armee der Soldaten am Südufer und achtete sorgsam darauf, hinter den Linien der Büchsenschützen zu bleiben, die Schuss um Schuss über den Ko abfeuerten. Weiter hinter ihrer tobte ein Gefecht auf einem der Hügel, wo Zahn die Verteidigung gegen die Ausgeburten anführte, die auf die Geschützstellungen zugehalten hatten. Da Yugi stetig vorrückte, um den Ausgang der Sakurika-Brücke zu verstopfen, wurden die Kreaturen zunehmend abgekapselt und von allen Seiten geschwächt. Nomoru konnte zwar nicht über die Köpfe der Soldaten sehen, aber sie hörte die Berichte, die sich aus den Mündern der Ordensschwestern durch die Ränge der Truppen verbreiteten. Dummkopf, dachte sie. Er wird sich noch umbringen. 448 Sie dachte an Yugi. Nomoru hätte ihn nicht für jemanden gehalten, der zu Heldentaten neigte, und sie vermutete, dass die Geschichten, die man sich über ihn erzählte, in Wahrheit mehr als bloß ein wenig übertrieben waren, um die Moral zu heben. Jedenfalls störte es sie. Während sie die Flussböschung entlanghuschte, fragte sie sich, was sie empfände, wenn er tatsächlich stürbe. Wahrscheinlich herzlich wenig, musste sie sich eingestehen. Ihr
Techtelmechtel war bislang recht angenehm gewesen, mehr aber nicht. Sie war eine Frau, die inmitten der Verderbtheit und Vergänglichkeit des Armenviertels von Axekami aufgewachsen war, wodurch ihr Herz kalt und schwielig geworden war. Tod löste in ihr keine wirkliche Betroffenheit aus. Sie ließ nicht zu, dass irgendein Gefühl tief in sie vordrang. Es war keine bewusste Entscheidung ihrerseits; vielmehr war es einfach ihre Art, und sie hatte nie die Notwendigkeit verspürt, darüber nachzudenken oder zu versuchen, sich zu ändern. Ihr Dasein verlief in einem steten Gleichgewicht, das weder Ausbrüche überschwänglichen Glücks noch Einbrüche schrecklichen Kummers störten. Sie war zum Überleben geboren, und Überleben bewerkstelligte man am besten ohne den störenden Einfluss von Gefühlen. Nomoru lenkte die Aufmerksamkeit zurück auf die anstehende Aufgabe. Mittlerweile hatte sie ein ordentliches Stück entlang des Ufers zurückgelegt und sich von der Brücke entfernt. Die Sprengladungen waren sorgfältig versteckt angebracht worden, was bedeutete, dass sie ein überaus schwieriges Ziel darstellten, zumal sie sich in den Winkeln des Steinwerks verbargen. Mit den Instinkten einer Scharfschützin hatte Nomoru sich eingeprägt, wo sie sich befanden, und steuerte nun auf einen Winkel zu, der die bestmögliche Schusslinie bot. Der einfachste Winkel für einen Schuss wäre unmittelbar seitlich der Brücke gelegen, doch sie würde sich unter keinen 449 Umständen so nahe an der Brücke aufhalten, wenn diese in die Luft flog. Als sie den Zeitpunkt für günstig hielt, schlängelte sie sich zwischen den Büchsenschützen hindurch. Die Böschung fiel steil zum Wasser hin ab. Nomoru kletterte vorsichtig hinab und kauerte sich hin. Dann setzte sie die Büchse an der Schulter an. Bei den Göttern, es war dunkel. Das grünstichige, stählerne Licht, so hell es dank des klaren Himmels und der drei Mondschwestern auch sein mochte, reichte kaum aus. Wenn der Mondsturm erst einsetzte, wäre die Hoffnung auf einen Treffer so gut wie dahin. Nomoru berechnete, wo die Sprengladungen sich ihrer Ansicht nach befinden mussten, zielte an den ihr näheren Zwickeln vorbei und hinauf in den Winkel eines der entfernteren. Da! Dort musste der Sprengsatz sich befinden. Sie verlagerte das Ziel ein wenig, richtete es auf eine andere Stelle. Dort auch. Zwar konnte Nomoru sie in den Schatten nicht sehen, aber sofern sie sich nicht irgendwie bewegt hatten, mussten sie dort sein. Sie bekam nur zwei ins Schussfeld; den Rest verbarg das Gefüge der Brücke. Die meisten hätten es für einen unmöglichen Schuss gehalten. Aber Nomoru mochte Herausforderungen. Das Gefecht der Weber und der Schwestern rings um die Brücke wurde derart verbissen geführt, dass Yugi tatsächlich körperlich spürte, wie die Luft knisterte. Mittlerweile sah er mehr wie eine zum Leben erwachte Gestalt aus Erde denn wie ein Mensch aus: Er war über und über mit Blut und Dreck verkrustet, seine Muskeln nährte nur noch eine tiergleiche Raserei. Mittlerweile schmerzten sie auch nicht mehr; er war über jede Form der Müdigkeit hinaus. Seine Hiebe waren ungeschliffen und schwerfälliger als noch zuvor, dafür mit mehr Gnadenlosigkeit ausgeführt, als er in sich vermutet hätte. In seinen 450 Ohren dröhnten die Schreie der Männer, und er spürte ihre inbrünstige Bewunderung. In einem blassen, vernünftigen Winkel seines Verstandes wusste er, dass er sie angespornt hatte, hingegen war ihm nicht klar wodurch. Er wusste nur, dass er an vorderster Front einer mächtigen Riege von Soldaten focht, die sich einen Weg tief in das Knäuel der Ausgeburten am Südufer gehackt hatte, dass er irgendwann, als er den Stiefel durch das glitschige Gewirr der Leichen grub, um festen Boden zu finden, auf Holz statt auf Erde gestoßen war und sich auf der Brücke befand. Die Erkenntnis löste eine Erinnerung aus, die ihm entglitten gewesen war. Nomoru. Er griff nach der Signalrakete an seinem Gürtel, doch in dem Augenblick, in dem er die Aufmerksamkeit von der Schlacht löste, hätte er um ein Haar die Hand an eine peitschenschwänzige Kreatur verloren und wurde nur durch das Eingreifen eines der Männer gerettet, die an seiner Seite kämpften. »Die Brücke! Die Brücke!«, rief jemand, und gewaltiger Jubel entbrannte. Dann spürte Yugi, wie er vorwärts geschoben wurde, als die Soldaten des Kaiserreichs voranbrandeten. »Nein! Nein! Haltet hier die Stellung!«, gelang es ihm zu brüllen, doch seine Stimme ging im Getöse unter. Ein Knoten der Ausgeburten auf der Brücke wurde unter der Gewalt des Ansturms zersprengt, da die Raubtiere sich gegenseitig mitrissen, als sie von der Brücke stürzten. Yugi versuchte, sich entgegenzustemmen, aber hinter dem Strom steckte zu viel Kraft. Er konnte sich nur vom Kamm der Welle tragen lassen. Mit einem beidhändigen Schwinger enthauptete er einen Ghaureg, dann wirbelte er herum, um einem Skrendel mit dem Schwertknauf den Kiefer zu zertrümmern. Inmitten all des Wahnsinns entglitt ihm, woran er sich zu erinnern versuchte; es zählte allein der Kampf. Gefangen in einer siedenden, wirbelnden Welt des Chaos' und der Raserei, brachte Yugi nur noch kurze Stränge klarer Gedanken zwischen den ver451 schwommenen Bildern steter Bewegung zustande, und irgendwann geriet ihm zu Bewusstsein, dass sie es ein Drittel des Weges über die Brücke geschafft hatten, dass die Ausgeburten durch die Soldaten des Kaiserreichs zurückgedrängt wurden. Wo würde es enden? Würden sie immer weiter drängen, hinein in die ausgebürtige Horde, in den sicheren Tod, angetrieben von einem trügerischen Gefühl der Unbesiegbarkeit? Yugi wusste es nicht, und er hätte sich nicht
dagegen gewehrt, selbst wenn dem so gewesen wäre. Mittlerweile waren die Dinge zu weit gegangen, um sie noch aufzuhalten. Doch hier stießen sie auf einen weiteren Feind, den Yugi nicht berücksichtigt hatte. Er erkannte ihn erst, als der Mann zu seiner Linken plötzlich krampfhaft zuckend vornüber zusammenklappte und aus dessen Mund und Nase Blut spritzte. Den Soldaten, der ihm zu helfen versuchte, ereilte dasselbe Los. Weber. Dann spürte er einen Ruck, mit dem seine Muskeln sich zusammenzogen. Er hatte diese Pein schon einmal erfahren, damals im Schoß, als er machtlos mit ansehen musste, wie sein Freund und Anführer gezwungen worden war, sich selbst zu erschießen. Damals hatte es ihm die Kraft geraubt. Nun war es noch schlimmer. Dies war keine bloße Lähmung; er fühlte, wie sein ganzer Leib in den Anfangsqualen eines Anfalls zu zittern begann. Bald würden die Muskeln sich so heftig zusammenziehen, dass Knochen brachen und Eingeweide platzten. Yugi ging zu Boden. Sein Sturz wurde vom grausigen Teppich der Leichname seiner toten Feinde gedämpft, auf dem er mit wild rollenden Augen zu liegen kam. Und plötzlich verpufften die Schmerzen, löste sich der Griff. Rings um ihn waren trampelnde Füße. Blut troff ihm von den Lippen. Aber er war nicht tot. Irgendwie, durch irgendeine Wende der Schlacht im unsichtbaren Reich, war der Weber, der im Begriff gewesen war, ihn zu töten, abgelenkt 452 und gezwungen worden, seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu richten. Aber er hörte rings um sich die Schreie, als andere Männer starben, sah einige in seinem Umfeld zusammenbrechen und milchigen Schaum zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorquellen. Er brauchte nicht lange zu überlegen. Alles, wahrhaft alles war besser als die Berührung eines Webers. Er wand die Signalrakete vom Gürtel und riss die Kappe von dem Zylinder. Darauf befand sich ein Streifen Raupapier, das gegen einen weiteren Streifen an der Unterseite des Zylinders gerieben werden konnte. Yugi entzündete die Lunte. Ein Funkenregen stob aus dem Zylinder. In einer Insel aus grellweißem Licht auf einem flachen Leichenhügel liegend, umgeben von den trampelnden Füßen der Soldaten, streckte er zittrig die Rakete empor. Das Schießpulver fing Feuer und schoss mit einem Kreischen in die Nacht hinauf, buk durch den Rückstrom der Hitze das Fleisch seiner Hand. Nomoru hatte beobachtet, wie die Krieger des Kaiserreichs sich den Weg auf die Brücke erkämpften. Als sie die Rakete sah, stellte sie fest, dass sie von den vordersten Rängen stammte, und wusste, dass sie nur von Yugi entzündet worden sein konnte. Trotzdem zögerte sie keinen Moment. Sie feuerte vier Mal in rascher Folge, machte die Waffe zwischen jedem Schuss wieder scharf: Zwei Kugeln als Ablenkung auf ihr Ersatzziel, zwei auf den größten Sprengsatz, den Yugi ursprünglich zünden wollte. Die Schwestern vom Roten Orden hielten Wort und standen auf das Zeichen hin bereit; doch trotz der emsigsten Bemühungen der Schwestern schalteten die Weber die beiden ersten Büchsenkugeln aus, fingen sie mitten in der Luft ab, bevor sie ihr Ziel erreichten. 453 Zwei jedoch waren zu wenig. Die Sakurika-Brücke explodierte, ward in einem unvorstellbaren Ball aus Feuer und Rauch entlang ihrer gesamten Länge vernichtet. Die Erschütterung peitschte breite Furchen weißer Gischt den Fluss entlang auf; Holzplanken und Steinbrocken wirbelten hoch in die Nacht empor und landeten klatschend im Wasser oder stürzten zwischen die Armeen an den Ufern. Die Männer und Ausgeburten, die sich zum Zeitpunkt der Zerstörung auf der Brücke befanden, wurden sofort ausgelöscht, und zu beiden Seiten fielen Dutzende mit Verbrennungen und Verletzungen oder wurden durch die Wucht der Explosion zu Boden geschleudert. Die Gewalt des Ausbruchs rollte über die Höhenzüge und hallte in der Nacht wider. Die Auslöserin der Verheerung senkte die Büchse und betrachtete die Holzreste, deren Enden in Flammen standen. Sie spielte mit dem Gedanken, bei sich ein paar knappe Worte in Gedenken an den Mann zu sprechen, den sie soeben getötet hatte. Doch es wäre sinnlos gewesen, und so blieb sie stumm. Sie erklomm die Böschung, duckte sich zwischen den Büchsenschützen hindurch und verlor sich in den Rängen der Soldaten. Zahn hatte soeben die letzte der Ausgeburten in seinem unmittelbaren Umfeld erledigt, als am Fluss die Feuerblume erblühte. Keuchend und nass vor Schweiß zügelte er das Pferd und blickte den Hang hinab. Hinter ihm hämmerten nach wie vor die Feuerkanonen und Mörser, knarrten die Katapulte und schleuderten Geschosse. Nun waren sie in Sicherheit: Endlich war die Brücke gefallen. Der Feind war an der Nordseite des Ko gefangen. Er hatte nur die Wahl, sich außer Reichweite zurückzuziehen und zu versuchen, einen anderen Weg über den Fluss zu finden - was einen Marsch von vielen hundert Meilen verhieß, zumal im Westen der Wald von Xu lau454 erte, im Osten der Azlea-See den Weg versperrte - oder abzuwarten, wie lange die Geister des Flusses gegen sie die Stellung halten würden. Dann hörte er einen Aufschrei von den Männern rings um ihn und sah, dass die Weber letztlich ihre mächtigste Waffe entfesselt hatten. Als Schatten vor dem Horizont tauchten sie über den Kuppen des fernen Hügels auf, aber ihre glühenden Augen
waren meilenweit zu erkennen, und sie leuchteten in der Dunkelheit. Langsam stapften sie heran, schwollen ihre Umrisse an, als sie den Hügel herabkamen. Feyakori. Sechs an der Zahl. Mishani und Lucia standen zusammen auf der Kuppe eines anderen Hügels. Ein Nieselregen setzte ein. Frostige Tropfen benetzten ihre Haut und sickerten in ihre Kleider, sammelten sich zu dunkleren Flecken, die sich über die Fasern ausbreiteten. »Yugi ist tot«, verkündete Lucia mit nach wie vor geschlossenen Augen und geneigtem Haupt. Mishani blickte fragend zu der Ordensschwester, die bestätigend nickte. Die Neuigkeit prallte von Mishani ab. Es war eine bloße Tatsache, der sie vorerst keine Bedeutung beimaß. Sie würde später Zeit für Trauer finden, so sie dazu in der Lage wäre, denn Yugi hatte nie zu ihrem inneren Freundeskreis gezählt. »Die Feyakori sind unterwegs«, sagte Mishani, deren Worte der Wind erfasste und verblies. Sie schaute zum Himmel, wo die Mondschwestern aufeinander zuwanderten. Wolken bauschten sich in der Luft, trieben zu der Stelle zusammen, an der sie sich treffen würden. Mishani fühlte, wie ihre Sinne sich straffer und straffer spannten; der Sturm stand kurz vor dem Ausbruch. »Ich weiß«, gab Lucia zurück. 455 Der Regen schwoll an; der Wind legte zu, heulte über das Schlachtfeld. Das Stöhnen der Feyakori hallte durch die Luft, während sie sich näherten. »Lucia ...«, murmelte Mishani. »Noch nicht«, entgegnete sie. »Sie kommen immer näher, Lucia.« »Noch nicht.« Ein schauerliches Kreischen peitschte über die Höhenzüge, ließ Mishani schaudern, und eine gezackte Forke purpurnen Lichts zerriss die Nacht. Am Himmel brach ein donnerndes Getöse los. Der Wind brüllte, zerrte an ihnen, und der Regen prasselte mit solcher Heftigkeit herab, dass die Tropfen schmerzten. Lucia hob das Gesicht an, neigte es empor, um die ganze Gewalt des Gusses zu empfangen. Über ihnen bildeten die Mondschwestern ein unebenmäßiges Dreieck, vor dem rollende Wolken tobten. Blinzelnd schlug Lucia die Augen auf. »Jetzt.« 456 Achtundzwanzig Die Männer um Lucia wichen mit Flüchen des Entsetzens zurück, als sie endlich die ganze Kraft der Geister zu Hilfe rief. Sogar Mishani taumelte vor Schreck ob des Wesens zurück, das sie an Lucias Stelle sah. Körperlich hatte Lucia sich nicht verändert, aber ihr Erscheinungsbild wirkte verzerrt. Ihre Züge waren nicht mehr hübsch und unschuldig, sondern verschlagen, böse und Furcht erregend. Die Luft wurde schal, war kaum noch zu atmen und schmeckte nach Eisen. Mishani schaute sich um und stellte fest, dass nicht allein Lucia sich verändert hatte: Auch die Gesichter der Soldaten schienen schmal und hasserfüllt, das bemalte Antlitz der Schwester vom Roten Orden wirkte zänkisch und voller Boshaftigkeit. In Mishanis Ohren zischte ein säuselndes Tuscheln, das halb eingebildete Schrecken versprach. Huschende Gestalten scharten sich dicht in den Mondschatten. Die Gegenwart der Geister verschob die Wahrnehmung, und sie hatte sich noch nie so stark geäußert wie jetzt. Lucia stand mit schlaff herabhängenden Armen reglos da, das Gesicht zum stechenden Regen emporgewandt, als wäre es Balsam. Ihre Augen blinzelten angesichts des Zorns des Gusses heftig. Lucia war bis auf die Haut durchnässt. Mishani, die klein und zierlich war, hatte Mühe, sich im Sturm auf den Beinen zu halten. Sie schirmte die Augen mit der Hand ab und schaute furchtsam weiter hin. Nun kräuselte sich Dampf von Lucias Kleidern, dünne Schwaden, die sich ineinander verflochten und verdichteten, bis Mishani erkannte, was sie da sah. Etwas stieg aus Lucia auf. 457 Der Xhiang Xhi löste sich aus Lucias Körper wie die Schwingen eines Dämons aus einer Sage, entfaltete sich bedrohlich; die unmöglich langen Finger verliehen ihm das Aussehen einer nur aus Qualm und Knochen bestehenden Fledermaus. Als dürrer, kreidebleicher Streifen, als in den Nebel geworfener Schatten haftete er an ihrem unteren Rücken wie ein gespenstischer Alb, umklammerte sie mit dem Schirm seiner Hände. Sein Antlitz war ein verschwommener Fleck, dessen Größe dem Auge trotzte, da er sich mit jedem neuen Blickwinkel zu verändern schien. Die Soldaten verzagten, und einige, die das überwältigende Gewicht seiner Gegenwart nicht ertragen konnten, ergriffen die Flucht. Auch Mishani wäre gerannt, wäre es nicht um Lucia gegangen. Aber sie hatte sich geschworen, dass sie das Kind nicht verlassen würde, das sie einst als Schwester betrachtet hatte, und so blieb sie, hin- und hergerissen zwischen Ehrgefühl und blankem Grauen. Die Feyakori ließen ein langes, misstönendes Dröhnen über die Höhenzüge schallen, so laut, dass Schwerter in ihren Scheiden ratterten. Sie hatten ihren Gegner gewittert und sprachen eine Herausforderung aus. Der Xhiang Xhi hob die Hände, spreizte die Finger weit; Lucia öffnete den Mund, und die gekreischte Erwiderung, die aus ihr drang, donnerte hervor wie die Erschütterung einer Bombe, ließ Mishani die Hände über
die Ohren schlagen und taumeln. Die Armeen hielten inne. Die Artillerie verstummte. Die Nacht verfinsterte sich, als eine Wolkendecke aus Richtung der Mondschwestern wogte, die Unterseite schillernd vor Blitzen. In der Erde ertönte ein Grollen, zunächst so leise, dass es kaum zu hören war, dann bedrohlich anschwellend. Mittlerweile war der Wind zu einem dergestalt kraftvollen Sturm entartet, dass er Männer von den Füßen zu reißen vermochte, und die Armeen des Kaiserreichs und der Ausgeburten stürzten 458 gleichermaßen in ein Chaos. Mishani fiel im Schlamm auf die Knie, hielt sich, so gut sie konnte, auf der Hügelkuppe. Lucias Leibwächter rutschten und schlitterten und klammerten sich aneinander, um sich gegenseitig zu stützen. Allein die Schwester vom Roten Orden stand mit beiden Beinen fest am Boden, da die Gewalt des Windes sich um sie herum teilte und sie unbehelligt ließ. Die Ausgeburten wuselten beiseite, als die Feyakori auf allen vieren durch sie stapften. Einige der unseligen Kreaturen, die der Wind umblies oder die im Gedränge gefangen waren, wurden zerquetscht wie Käfer oder vom stinkenden Dreck verbrannt, der von den Dämonen troff. Die Feyakori rückten durch den Sturm vor, ließen sich davon nicht im Mindesten verlangsamen. In der Zwischenzeit war das Grollen gewaltig geworden, und die Erde erbebte in kurzen Schaudern. Die Soldaten brüllten Gebete zu den Göttern, waren drauf und dran, aus den Rängen auszubrechen, um zu fliehen, aber die Generäle herrschten sie an, und ihre legendäre Disziplin verwurzelte sie an Ort und Stelle. Der Himmel kreischte und dröhnte. Die schartige Zinke eines Blitzes schlug in die Flanke eines der Feyakori ein, riss dort ein klaffendes Loch auf, spritzte ätzenden Dreck in großen Brocken über die Ausgeburten unten. Der Dämon ächzte und wankte kurz seitwärts; dann setzte er den Marsch auf den Fluss fort. Der aus seinem Körper triefende Schlick sickerte nach innen, um die Wunde an seiner Seite zu schließen. Tief gegen den Sturm geduckt und schlammverschmiert blickte Mishani unvermindert hin, als weitere Blitze flink wie das Zittern einer Schlangenzunge aus den Wolken herabzuckten. Jeden begleitete ein widerhallender Donnerschlag. Die Welt verwandelte sich in blanken Wahnsinn: überall Lärm, das Scheppern und Kreischen des Himmels, das unablässige Gebrüll und Beben der Erde, das Heulen des Windes und das 459 unerbittliche Peitschen des Regens. Und all das verschlimmerte der die Sinne benebelnde, vereinte Einfluss der Geister und des Mondsturms, der Mishani in ein bibberndes Bündel unaussprechlicher Angst verwandelte. Hätte sie gewusst, wohin sie flüchten könnte, hätte selbst ihr Ehrgefühl sie nicht an Lucias Seite zu halten vermocht; doch es gab keine Zuflucht. Wieder und wieder wurden die Feyakori getroffen, von den Blitzen erschüttert. Und nun geriet ihr Vormarsch ins Stocken, denn die Hiebe schmerzten sie, und obschon sie sich weiterkämpften, stolperten und zuckten sie unter dem Beschuss. Mishani, die durch das triefnasse Gewirr ihrer Haare spähte, konnte in den Blitzen Gesichter von Geistern erkennen, höhnische Fratzen, die das gezackte Licht in die Dunkelheit brannte und die nur allmählich verblassten. Und nicht nur das: Das Heulen des Sturms hatte mittlerweile die Tonlage geändert, hörte sich zunehmend nach Stimmen an, nach verzerrtem Gemurmel, nach Gurren und unsinnigem Kreischen, schwerlich einzuordnen, aber doch erkennbar eine Art Sprache nachahmend. O ihr Götter, macht, dass es aufhört! Macht, dass es aufhört! Doch obwohl die Blitze die Feyakori verlangsamten, schlössen ihre Wunden sich stets aufs Neue. Und wenngleich der Wind auf sie einhieb und sie zu stoßen vermochte, waren sie doch zu massig und zu fest, um sich zu Fall bringen zu lassen. Sie bewegten sich weiter auf den Fluss zu. Weit hinten in den Rängen der Armee der Ausgeburten wirkte außer Sicht Webfürst Kakre, umgeben von seinem Gefolge aus Ghauregs. Sein Verstand war so gut wie geschwunden; die Windungen in seinem Gehirn waren durch die unmögliche Aufgabe, sechs Feyakori zu lenken, verschmolzen und ineinander geflossen. Dennoch hielten seine geistigen Kräfte, solange er 460 bei den Dämonen war, als Teil des Verbundes der Weber zusammen. Er war in ihre Gesamtheit eingegliedert worden und zehrte heftig von ihr. Wenn all dies vorüber war und er aus dem Netz entlassen wurde, bliebe er als sabbernder Irrer zurück. Sein Urteilsvermögen war schon vor geraumer Zeit in Schräglage geraten. Da es ihm widerstrebte, die Macht abzugeben, hatte er sich selbst den wichtigsten Posten unter jenen Webern zugeordnet, die ihre Fähigkeiten bündelten, um das erste Paar der Dämonen der Fäulnis heraufzubeschwören und zu beherrschen. Auch bei diesem größeren Verbund hatte er sich auf denselben Rang gehievt, und es überstieg die Grenzen seiner Belastbarkeit, die Macht jedes der darin verhedderten Weber bei weitem; doch sie würden es erst danach bemerken, wenn sie sich entwirrten. Vorerst war Kakre vollauf mit den Feyakori und dem Versuch beschäftigt, sie nach seinem Willen zu lenken. Die für die Dämonen schmerzlichen Schläge schmerzten auch Kakre, ebenso die übrigen Weber des Verbundes, die über das Schlachtfeld verteilt im Verborgenen wirkten. Kakre aber scherten weder die Qualen noch die Ausgeburten, die von seinen Dämonen zertrampelt wurden. Ohne Avun sahen die Weber keine Notwendigkeit, ihre Truppen so sorgsam zu schonen; schließlich war ihre Zahl überwältigend, und selbst die mächtige Armee, die sich gegen sie versammelt hatte, wäre außerstande gewesen, ihnen zu trotzen, wären die Geister nicht ins
Spiel gebracht worden. Aber die Feyakori wussten, was dagegen zu unternehmen war. Für die Weber war Lucia unantastbar, doch die Dämonen nahmen den Xhiang Xhi gleich einem Leuchtfeuer wahr. Oja, Kakre durchschaute den Plan des Mädchens. Der Xhiang Xhi war der Wald von Xu: Er war so sehr zu einem Teil jenes Ortes geworden, dass er seinen Hort nicht ohne einen Wirt verlassen konnte, der ihn beförderte. Und so wie ihn die Dämonen gleich einem Leuchtfeuer wahrnahmen, traf dies 461 auch auf die Geister zu; Lucia musste ihn hierher bringen, damit die Geister zu ihm strömten. Kakre wünschte, sein Vorgänger hätte das Gör erledigt, als er die Gelegenheit dazu hatte. Trotzdem reichte bislang selbst das heftigste Bestreben der Geister nicht aus, um seine Dämonen zu zerstören. Die Feyakori bezogen ihre Kraft von der Geißel, die sich durch das Land ausbreitete und zudem ihre Gegner schwächte. Womöglich waren sie mittlerweile zu stark, um durch irgendeine noch in Saramyr vorhandene Kraft aufgehalten zu werden. Sie brauchten nur an Lucia heranzugelangen, dann wäre alles vorbei, wäre der letzte Hoffnungsschimmer des Kaiserreichs erloschen. Hinter der Maske verzog sich Kakres verheerte Fratze zu einem hohlköpfigen Grinsen. Das Grollen wurde unerträglich, und die Erde tat sich auf. Der Lärm war allgewaltig. Inzwischen bebte der Boden so heftig, dass die Soldaten durcheinander kippten, sich aneinander festhielten, um Halt zu suchen. Die Artillerie löste sich aus ihren Stellungen, Mörser stürzten um. An der Nordseite des Ko brach plötzlich ein breiter Streifen Land ein, polterte mit einem mahlenden Rumoren und unter einer aufwallenden Staubwolke in die Tiefe. Hunderte Ausgeburten wurden kreischend in den Abgrund gerissen; einen Herzschlag danach wurde aus dem klaffenden Loch ein mächtiger Magmaschwall hoch in den Nachthimmel gespieen, ein zorniger Pilz aus heißem Gestein, schwarzem Qualm und sengenden Flammen. Mishani, die vor blankem Grauen halb wahnsinnig war, konnte nicht sicher sein, ob die furchtbare, prustende Fratze in dem Feuer echt war oder ihrer Einbildung entsprang. Der Rauch des Ausbruchs breitete sich über das Schlachtfeld aus, wurde vom Wind zerfahren und zerrissen. Als das 462 Magma zur Erde spritzte, wo es verbrühte und tötete, vermeinte Mishani im Qualm flink umherhuschende Kreaturen ähnlich Affen zu erkennen. Zunächst glaubte sie, es müsste sich um Skrendel handeln, aber sie bewegten sich wie ein zuckendes Flimmern, schienen nie ganz dort zu sein, wo sie dachte. Sie zischten zwischen den Ausgeburten umher, sprangen auf sie, bissen zu und preschten wieder weg. Die ausgebürtigen Raubtiere waren in blinde Panik verfallen: Selbst die Nexusse konnten sie nun nicht mehr bändigen. Und immer noch bebte die Erde, breiteten sich kleinere Klüfte über die Höhenzüge aus, sanken Gräben aus eingebrochener Erde und Gras ein. An einer Stelle wurde der Qualm Verblasen, und das purpurne Flackern der Blitze beleuchtete das enthüllte Bild einen Lidschlag lang. Nichts rührte sich dort. Es war, als wären die Ausgeburten mitten in der Bewegung erstarrt. Erst als Mishani sah, wie eine der Kreaturen zerbröckelte, wurde ihr klar, dass der Biss der flinken Geister sie in Erde, in irdene Bildnisse ihrer selbst verwandelt hatte. Wieder brach der Boden auf, diesmal unter einem der Feyakori. Unter kläglichem Geheul stürzte der Dämon hinab, wurde von der Spalte verschluckt, ehe abermals eine Magmafontäne daraus aufspritzte. Die Armeen der Weber wurden regelrecht abgeschlachtet. Der Wind hatte sich in Messer verwandelt und schnitt die Raubtiere sowie ihre Führer gleichermaßen in Stücke. Das Land bäumte sich auf und hob sich, und in dem Rauch, der aus den Klüften quoll, bewegten sich todbringende Geister. Blitze fuhren herab, löschten Dutzende aus, wo sie einschlugen. Nur die Weber blieben in Sicherheit, da ihre Verteidigung zu stark war, um einfach eingerissen zu werden. Doch durch all das Toben, all das Wüten näherten sich die Feyakori. Einer der ihren war gefallen, aber mittlerweile hatten sie den Ko erreicht, der wieder siedete, da flüchtende Aus463 geburten von den Geistern in seinen Wassern ertränkt wurden. Sie kann sie nicht aufhalten!, dachte Mishani verzweifelt. All das, und sie kann sie nicht aufhalten! Lucia verharrte reglos, blieb unbeeinträchtigt vom Regen, vom Wind, vom Beben des Landes. Das Gesicht hatte sie immer noch gehoben, die Augen geschlossen, die Arme schlaff an den Seiten herabhängend. Es dauerte eine Weile, bis Mishani bemerkte, dass ihre Füße den Boden gar nicht berührten, sondern gut zwei Fingerbreit darüber schwebten. Nur der Xhiang Xhi bewegte sich; seine Finger beugten und krümmten sich wie die eines Puppenspielers, sein schleierartiger Körper wand sich träge über jenem seiner Wirtin. Die Mondschwestern starten hinter zerfransten Wolken auf sie herab, die Blitze prasselten abermals auf die Feyakori ein. Dann hielten die Dämonen unmittelbar am Flussufer inne. Hinter ihnen wurde ihre Armee ausgelöscht. Viele der Ausgeburten verliefen sich in alle Winde, als ihre Führer starben und ihre tierischen Instinkte wieder die Herrschaft übernahmen. Die Dämonen schenkten ihnen keine Beachtung. Ihre glühenden Augen waren auf einen einzigen Punkt geheftet, etwas Unsichtbares, das ihren Vormarsch zum Erliegen gebracht hatte. Mishani kniff die Augen gegen den Sturm zusammen und konnte dort tatsächlich etwas erkennen. Ein sonderbares Glitzern im Regen am Südufer des Ko, ein Schimmer in der Luft, so als hätten die Tropfenschleier
sich in einen Kristall verwandelt. Die Soldaten wichen vor der Stelle zurück, als die Erscheinung deutlicher wurde. Dann spaltete sie sich in drei Teile; das Licht verdichtete sich und erhärtete zu Formen und Gestalten. Mishani wusste, was geschah, noch bevor der Vorgang abgeschlossen war. Sie hatte diese Geschichte vor langer Zeit von Kaiku gehört. 464 Es waren die wahnsinnigen Geister des Mondsturms, die Brut der Göttinnen, die den nächtlichen Himmel beherrschten. Die Kinder der Mondschwestern waren gekommen. Hoch ragten sie über die Soldaten des Kaiserreichs auf. In Kaikus Geschichte waren sie doppelt so groß wie sie selbst gewesen, nun aber präsentierten sie sich als Hüninnen von gut und gerne zwölf Metern wie die Dämonen, denen sie gegenüberstanden. Sie zeigten sich in der Gestalt von in verfallenen Pomp gewandeten Frauen. Ihre Kleider waren erlesene, aber verkommene Prunkgewänder, und an ihren Handgelenken und Ellbogen hingen uralte Artefakte, die durch ihre Bewegungen sanft baumelten. Sie verstrahlten einen kalten Glanz ähnlich der Helligkeit ihrer Mütter, warfen ein strenges, unversöhnliches Licht, und ihre Haare glichen Federn. Aber es waren ihre Gesichter, die den schrecklichsten Anblick boten, denn ihre Züge waren glatt wie teilweise geschmolzene Wachsmasken, und sie waberten und verschwammen. Nur ihre Augen blieben stet, Löcher undurchdringlicher Schwärze, durch die man einen den Verstand zersprengenden Blick auf die Ewigkeit erhaschen mochte. Darob zerbrach selbst die Disziplin der Soldaten, und sie ergriffen die Flucht vor den schauerlichen Wesenheiten. Aber die Geister kümmerten sich nicht um sie. Ihre abgrundgleichen Augen waren auf die Feyakori gerichtet, und unter ihren Gewändern holten sie dünne Klingen hervor, die in einem grausamen Leuchten erstrahlten. Blitze zuckten, und der Himmel kreischte, während die Dämonen und die Geister einander über den Fluss hinweg musterten. Dann stürzten sie sich im Einklang aufeinander. Das Aufeinanderprallen erwies sich als heftig und kurz. Die Feyakori waren zahlenmäßig überlegen und stärker, doch sie bewegten sich schwerfällig und plump, während die Kinder der Mondschwestern sie umflossen wie Wasser. Unter den harmlosen, jedoch lästigen Angriffen der Flussgeister schlu465 gen und schwangen die Feyakori um sich, aber sie vermochten nicht, die Kinder der Mondschwestern zu treffen. Als die Gegenschläge erfolgten, zeigten sie verheerende Wirkung. Mishani beobachtete, wie eine der wirbelnden Geistgestalten einem Feyakori die Vorderbeine abhackte, sodass der Dämon mit dem Gesicht voraus in den Fluss stürzte. Ein weiterer wurde entlang der Leibesmitte entzweit und zerfiel in zwei Hälften; das Wasser zischte auf und blubberte, als sie hineinfielen. Binnen weniger Augenblicke waren die fünf Feyakori versenkt, und die Kinder der Mondschwestern blieben allein zurück. Doch dies war von kurzer Dauer. Sengender Dampf stieg von den Flanken und Rücken der Dämonen auf, als sie sich trotzig stöhnend aus dem Ko erhoben. Ihre Körper waren wieder heil, hatten sich dort zusammengefügt, wo sie entzweit worden waren. Das Wasser verfärbte sich schwarz mit dem Gift ihrer Gegenwart. Die Kinder der Mondschwestern standen mit unergründlichen Zügen reglos da. Dann griffen die Feyakori an: Zu fünft stürzten sie sich auf denselben Feind. Zwei von ihnen wurden in Streifen geschnitten und platschten erneut in den verpesteten Fluss, gegen die anderen aber konnte sich ihr Opfer nicht wehren. Die Feyakori fielen über eines der Kinder der Mondschwestern her, begruben es unter sich. Sogleich kamen seinen Geschwister über die verbleibenden Feyakori, zerstückelten sie kunstfertig wie Metzger; doch als der Geist wieder auf den Beinen war, bemerkte Mishani, dass seine Bewegungen ruckartig, seine Umrisse verschwommen, sein Schimmer verblasst war. Die Feyakori hatten ihn verwundet. Und die Dämonen fügten sich von neuem zusammen und rappelten sich auf, schüttelten die kleinen Flussgeister ab, die vergeblich Versuche unternahmen, sie unter Wasser zu ziehen. Die Wesenheiten traten einander erneut gegenüber und 466 warfen sich ins Gefecht. Das Hin und Her ihrer Schlacht war wie dumpfe Explosionen unter dem Gebrüll des Sturms. Regennasse Klingen blitzten auf und zuckten durch den widerwärtigen Dreck der Feyakori, und die Dämonen zerfielen bei der Berührung in Stücke; aber der Geist, den sie verwundet hatten, zeigte sich mittlerweile langsamer, und einer der Dämonen erwischte ihn mit einem Schwinger eines knüppelähnlichen Armstumpfs, traf ihn schwer, sodass er taumelte. Er flackerte wie eine Kerze, bevor er sich wieder verfestigte, doch sein Licht war sichtlich trüber als davor. Es war, als wäre er nicht mehr ganz so da wie die beiden anderen. Indes blieben die übrigen Geister keineswegs untätig. Die Armee der Ausgeburten war unter dem Mahlstrom so gut wie verschwunden. Der Boden war von Klüften zerfurcht, überall rollte Rauch, kleine Wirbelstürme tobten umher und Blitze stoben aus den Wolken herab; dennoch unternahmen die Weber keine Regung, sich zurückzuziehen. Sie wussten, dass sie nicht weit kämen, wenn sie versuchten zu fliehen. Ihre einzige Hoffnung bestand nun darin, an Lucia heranzugelangen, und das bedeutete, sie mussten die Kinder der Mondschwestern überwinden. Also bündelten sie all ihren Willen in die Feyakori, und die Ordensschwestern gaben ihr Bestes, um die Weber nicht zur Ruhe kommen zu lassen und abzulenken; aber zwischen ihnen herrschte nach wie vor eine Pattstellung, und weder die einen noch die anderen konnten großen Einfluss nehmen. Nun hoben die Kinder der Mondschwestern zusammen die Schwerter an und kreischten. Der Xhiang Xhi
spreizte die spinnengliedrigen Finger weit, und aus Lucias Mund ertönte zur Erwiderung ein gleichermaßen unmenschlicher Schrei. Die Wirkung setzte umgehend ein. Mishani hörte es sogar über den Sturm hinweg. Das Rauschen des Flusses, bisher ein Murmeln im Hintergrund, schwoll zu einem zornigen Zischen an. Mishani spähte von der Hügelkuppe hinab und sah, dass 467 die regengesprenkelte Wasseroberfläche weiße Gischthauben aufwies, die Strömung stärker wurde, den weißen Schaum und die dunkle Verunreinigung flussabwärts schwemmte. Das Getöse nahm zu, wurde von einem tiefen Grollen untermauert, bis der Ko sich in einen reißenden Strom verwandelt hatte, der über seine Ufer trat. Der Fluss flutete. Die Armeen des Kaiserreichs, die sich in einem Achtungsabstand vor dem Ko niedergelassen hatten, nachdem die Kinder der Mondschwestern aufgetaucht waren, krochen hastig von ihren Stellungen zurück, doch die Masse der Soldaten war zu dicht gedrängt, um sich schnell zu bewegen. Einige jener an den Rändern wurden vom rasch ansteigenden Fluss erfasst und hinfortgerissen. Männer plagten sich, um ihre Gefährten zu retten oder flüchteten in Sicherheit. Das Ungemach traf auch die Ausgeburten, aber so dicht am Ufer gab es keine Überlebenden mehr, weshalb die Flutwasser lediglich die Toten und jene hinfortschwemmte, die sich in Erdgebilde verwandelt hatten. Im Fluss traten sich die Kinder der Mondschwestern und die Feyakori erneut gegenüber. Beide Gruppen mussten sichtlich gegen den Sog der Strömung ankämpfen, aber sie hielten sich auf den Beinen. Die Kinder der Mondschwestern kreischten abermals, und dann schlugen sie zu, metzelten ihre Feinde: Fünf Feyakori klatschten in Brocken ins Wasser. Doch diesmal gab es keine Gnade. Die Kinder der Mondschwestern ließen ihnen keine Zeit, sich neu zu bilden. Sie hackten auf das Wasser ein, in das die Dämonen gestürzt waren, schnitten durch die schwarze Schlacke in die schlammigen Körper darunter. Sie gellten in Raserei, hieben mit hämischen Schreien hernieder, ließen die Klingen verpestetes Wasser und Schlieren glimmenden Schlicks in alle Richtungen schleudern. Der Fluss brodelte rings um sie, und die dünnen, gespenstischen Aale der Flussgeister schlängelten und wanden sich dazwischen. 468 Flussabwärts brach ein kleiner Dreckbrocken an die Oberfläche, wo er einen Moment lang trieb, ehe die Flussgeister ihn umschlangen und unter Wasser zogen. Dann tauchten weitere auf, Trümmer verschiedener Größen, die sich nach und nach in der Strömung auflösten. Die Kinder der Mondschwestern zerstückelten die Feyakori ohne Unterlass, und der Fluss erfasste die Teile, schwemmte sie hinfort, sodass sie sich nicht wieder zusammenfügen konnten. Fast fünf Minuten dauerte das erschreckende Gemetzel an, bis die Kinder der Mondschwestern zu hacken aufhörten und der Fluss sich säuberte. Wieder hoben sie die Schwerter und stießen einen gellenden Schrei aus, der bis nach Saraku zu hören war; als Erwiderung darauf verschärften jene Geister, die immer noch die Armee der Ausgeburten metzelten, ihren Angriff mit wildem Feuereifer. Die Verteidigung der Weber bröckelte, als die Feyakori fielen: Sie hatten so viel Kraft in die Dämonen gesteckt, dass ihr Verlust das Gleichgewicht zum Kippen brachte. Raubtiergleich fielen die Schwestern vom Roten Orden über sie her und rissen sie in Stücke, und als sie zu fallen begannen, wandten die Geister sich auch gegen die Weber, fürchteten ihre Macht nicht mehr. Binnen weniger Herzschläge war keiner mehr am Leben. Die Weber waren tot, die Armee der Ausgeburten zersprengt und zerstört. Allmählich lichtete sich der Rauch, und das Ausmaß des Blutbads offenbarte sich den Augen der Soldaten des Kaiserreichs. Jubel kam auf, schwoll an, als weitere Stimmen den Ruf aufgriffen, bis der Laut über den Sturm, über das rastlose Rumoren der Erde, das Getöse des Mondsturms und das Heulen des Windes zu hören war. Allmählich nahm der Jubel Gestalt an und wurde ein Sprechgesang: Lucia! Lucio,! Lucio.! Sie hatten die Weber aufgehalten, ihre Streitkräfte schwerst verkrüppelt. Selbst wenn es den Webern gelänge, eine weitere 469 Armee zusammenzustellen, wären die Truppen des Kaiserreichs nun in der Lage, sich ihrer zu erwehren. Denn sie hatten Lucia, das Mädchen, das die Geister beherrschte. Endlich hatte ihre Retterin ihre Macht offenbart. Mit ihr konnten sie gen Axekami marschieren und die Stadt zurückerobern. Mit ihr war alles möglich. Nur Mishani war Lucia nah genug, um zu sehen, dass die Tropfen, die ihr über das Gesicht rannen, nicht allein Regenwasser waren. Darunter befanden sich auch Tränen, die unter den Lidern hervorquollen. Langsam richteten die Kinder der Mondschwestern ihre furchtbaren schwarzen Augen auf die Soldaten; der Sprechgesang geriet ins Stocken und erstarb. »Lucia!«, rief Mishani. »Lucia, was hast du getan?« Der erste Blitzschlag traf eine der Artilleriestellungen und vernichtete sie, zerstörte die Hügelkuppe und jeden darauf in einem Flammenkranz. Der zweite peitschte mitten in die Armee, tötete sofort ein Dutzend Männer. Die Soldaten verstanden kaum, was vor sich ging, bis das Beben der Erde sich plötzlich verstärkte und sie sich unter
ihnen auftat: eine lange, gezackte Spalte zerriss die Höhenzüge und verschlang hunderte gellender Menschen. Der Wind verwandelte sich in einen ortsgebundenen Wirbelsturm, der Männer erfasste und in den Fluss schleuderte, wo sie ertranken. Die Armee zerbrach vollends. Soldaten warfen die Waffen weg und flohen, trampelten einander in dem verzweifelten Versuch über den Haufen, sich in Sicherheit zu bringen. Tausende und aber-tausende stürzten in ein heilloses Gewirr, in dem jeder nur danach trachtete, das eigene Leben vor den schrecklichen, unbekannten Kräften zu bewahren, die sich unvermittelt gegen sie gewandt hatten. Die Kinder der Mondschwestern traten aus dem Wasser ans Ufer, betrachteten mit prüfendem Blick das Schauspiel blindwütiger Panik ringsum und begannen zu morden. 470 Mittlerweile strömte an beiden Ufern des Ko Blut. Die Kinder hieben mit ihren Klingen bald hierhin, bald dorthin, mähten wie mit Sensen durch Leiber. Die Menschen fielen in ungleichmäßigen Reihen. Der Fluss schleckte gierig nach außen, flutete noch weiter über seine Ufer, verschlang jene, die dem Sog nicht zu entrinnen vermochten. Verkohlte Leichname, die noch vor purpurner Spannung knisterten, lagen in unebenmäßigen Kreisen, wo Blitze eingeschlagen hatten. Der Rauch wallte wieder aus dem Schlitz in der Erde, und darin waren Bewegungen zu erkennen; wohin er wehte, blieben Erdstatuen in seinem Gefolge zurück. »Lucia!«, kreischte Mishani, die immer noch im Schlamm lag. »Lucia! Mach, dass sie aufhören!« Aber Lucia konnte sie nicht hören, und der Xhiang Xhi schenkte ihr keine Beachtung. Er schwenkte die Hände wie ein Kapellmeister über dem Kopf seiner Wirtin. Die Schwester, die Lucia als Leibwächterin begleitet hatte, schaute von dem Gemetzel unten zu Lucia und wieder zurück. Aus ihrem Blick sprach Unsicherheit. Ein Soldat kam den Hang herauf gekrochen, kämpfte sich gegen den Wind und Regen empor, die Augen flehentlich auf Lucia geheftet. »Rette uns!«, rief er. »Rette dein Volk!« Doch Lucia antwortete nicht. »Warum willst du uns nicht helfen?«, verlangte er zu erfahren. Der Xhiang Xhi fasste zu ihm hinab, umschloss ihn mit den Händen und zermalmte ihn unter dem Knirschen brechender Knochen zu Brei. Mishani kreischte, als Blut über sie spritzte. Das Grauen und der Schreck waren zu viel für sie. Ihr Verstand war erstarrt, ihr Körper wie gelähmt. Dann zuckte Lucia heftig, als hätte eine unsichtbare Macht ihr in den Magen geschlagen. Der Xhiang Xhi schrie, stieß ein 471 langes, gedehntes Heulen aus. Dann fiel Lucia, stürzte an der Stelle zu Boden, an der sie geschwebt hatte. Als sie aufschlug, brach sie zusammen, krümmte sich. Der immer noch an ihr haftende Xhiang Xhi wurde dunkler und dünner, dehnte sich gen Westen, wurde länger als ein Schatten gegen Ende eines Tages, bis er sich über das gesamte Schlachtfeld und über den Horizont erstreckte, wo der Wald von Xu lag. Dann verzerrte sich das Bild, und er war verschwunden. Die Wirkung auf die Geister zeigte sich umgehend: Sie hielten inne und verblassten. Der Fluss beruhigte sich, sein Strom schwoll ab. Der Rauch aus der Erdspalte hing nicht mehr in der Luft, sondern sank und löste sich auf. Der Wind erstarb, flaute zu einer sanften Brise ab. Die Blitze hörten auf. Schmerzliche Stille trat ein. Nur die Kinder der Mondschwestern blieben unter den Toten rings um sie zurück. Mit gesenkten Schwertern schauten sie zu den Mondschwestern empor. Die Wolken teilten sich, die in der Luft liegende Unwirklichkeit zerstäubte. Sogar der Regen hatte bis auf ein Nieseln nachgelassen und versiegte letztlich ganz. Der Mondsturm war vorüber. Über die Kinder der Mondschwestern strich ein Schimmer, dann waren sie verschwunden. Die drei Monde entfernten sich an einem allmählich aufklarenden Himmel beständig voneinander. Mishani lag zitternd und eingerollt da, immer noch zu Tode entsetzt. Das Gefühl, dass die Gefahr gebannt war, schien eine zu erlesene Erleichterung, um daran zu glauben. Sie war am Leben; obwohl es hoffnungslos ausgesehen hatte, war sie am Leben. Sie hätte noch viel länger so dort gelegen, wäre da nicht noch etwas gewesen: der Grund, weshalb sie überhaupt hier war. Lucia. Auf Händen und Knien kroch sie zu der Stelle, an der Lucia lag. Ein so zerbrechliches Wesen, achtzehn Ernten alt, die Klei472 der an ihren Leib geklatscht. Und rotes, tiefrotes Blut benetzte ihren Bauch, wo sie getroffen worden war. Mishani schluchzte ihren Namen, hob Lucia an, sodass ihr Kopf in ihrem Schoss ruhte, und schüttelte sie. Flackernd schlug Lucia die Augen auf. Sie versuchte zu lächeln und hustete stattdessen. Blut quoll ihr über die Lippen und rann ihr übers Kinn. »Es tut mir Leid, Mutter«, flüsterte sie. Da wusste Mishani, dass Lucia nicht ihr Gesicht, sondern jenes Anais' sah. Ihr Blick trübte sich bereits. »Pssst«, machte sie. »Pssst, nicht Sprechen.« Mishani schaute zu der Ordensschwester auf, die über ihnen stand und auf sie herabblickte. Ihre Schminke war vom Regen nicht einmal verschmiert worden. »Kannst du ihr nicht
helfen?«, fragte Mishani mit schriller Stimme. Traurig schüttelte die Schwester den Kopf. »Die Macht, die sie vor den Anschlägen der Weber bewahrt hat, verwehrt auch uns den Zugang. Wir können nicht an sie heran. Ich kann sie nicht heilen.« »Wozu seid ihr dann überhaupt gut?«, kreischte Mishani. Die Ordensschwester erwiderte nichts, und Mishani wandte sich wieder Lucia zu. »Wozu seid ihr überhaupt gut?«, murmelte sie abermals hilflos. »Ich habe es nicht gewusst«, sagte Lucia mit ziellos umherwanderndem Blick. »Ich habe nicht gewusst, dass sie sich so viele holen würden. Sie haben so viele geholt, Mutter. Sie meinten, sie würden sich nur ein paar nehmen. Ein paar Leben, um sie zu befriedigen. Weil sie uns hassen. Weil das ihr Preis war.« »O Kind«, weinte Mishani. »Warum? Warum hast du es getan? Warum hast du eingewilligt?« Wider hustete Lucia. Mittlerweile waren ihr Kinn und ihre Brust mit Blut durchtränkt. Die Nacht war still geworden. Auf der Welt schien es nur noch die drei Gestalten auf der Hügelkuppe zu geben. 473 »Ich konnte sie nicht im Stich lassen ...«, flüsterte Lucia. Darob begann Mishani erneut zu weinen. Bei den Göttern, dieses arme Mädchen, diese gegen ihren Willen auserkorene Retterin, die zehn Jahre lang jeden Augenblick unter der erdrückenden Bürde der Erwartungen der ganzen Welt gelebt hatte. Hätte sie jenen Wald nach all den Leben, die bereits in ihrem Namen hingegeben worden waren, mit leeren Händen verlassen können? Nein. Sie war auf den Handel des Xhiang Xhi eingegangen: ein Opfer als Gegenleistung für die Hilfe der Geister. Mishani vermochte kaum, sich vorzustellen, wie die Entscheidung Lucia innerlich zerrissen haben musste. Und nun lag sie hier mit einer Kugel im Leib in Mishanis Armen. Ihre Haut wirkte gräulich, das Haar hing in triefnassen Strähnen. Ihr schwächer werdender Herzschlag pulsierte in der Beuge ihres Schlüsselbeins. Ihre Augen blickten in eine Ferne, in die Mishani ihnen nicht folgen konnte. »Hilf mir, Mutter«, hauchte sie mit bebender Stimme. »Ich will nicht sterben. Ich will nicht sterben.« Doch Mishani brachte keine Antwort zustande. Ihre Kehle war vor Kummer zugeschnürt, ihr Körper von Gram gebeutelt, und alles, was sie tun konnte, war zu weinen, als mit einem langen Seufzen der letzte Atemstoß aus Lucias Lungen entwich. Es dauerte eine Weile, bis Mishani die Schritte von Barak Zahn hörte. Sie schaute auf. Als er kraftlos auf die Knie sackte, glich sein Gesicht einer Maske der Ungläubigkeit. Er versuchte nicht, Lucia von Mishani zu nehmen. Dadurch hätte er sich eingestanden, dass es wirklich war, dass dies tatsächlich geschehen war, dass er sein geliebtes Kind zum zweiten Mal verloren hatte, und diesmal unwiederbringlich. Mishani fragte sich, wie Geschichtsschreiber diesen Verlust eines Tages rechtfertigen würden. Würden sie es ungeachtet 474 der schrecklichen Kosten als des Opfers wert befinden, dass die Armee der Weber aufgehalten worden war? Nein, nicht einmal das konnte man in die Waagschale werfen. Den Feind zu zerstören war eine Sache, aber auch die Armeen des Kaiserreichs waren vernichtet. Es war kaum noch genug übrig, um die eigenen Gebiete zu verteidigen. Natürlich galt dasselbe für die Weber, nur züchteten die Weber stärkere Armeen und schneller, als die Menschheit es vermochte. Die zwei Mächte hatten einander ausgelöscht, vorübergehend gleichgezogen, doch in Wahrheit hatten die Weber auf lange Sicht gewonnen. Ohne diese Armee brauchten sie weniger Nahrung. Sie könnten weitere zwei, vielleicht sogar drei Jahre das Auskommen mit dem finden, was sie zur Verfügung hatten. Und in diesem Zeitraum konnten sie einen neuen Vormarsch beginnen, dem nichts und niemand Einhalt gebieten könnte. Das Kaiserreich hatte sich lediglich einen Aufschub vor dem Vernichtungsschlag erkauft. Nun hing alles an einem einzigen Faden: Cailins Plan musste aufgehen. Sie mussten die Hexensteine zerstören. Es war ihre letzte und einzige Hoffnung. Die überlebenden Soldaten fanden sich um das klägliche Bild ein, das sich auf der Hügelkuppe bot: ihre gefallene Retterin mit dem Kopf in Mishanis Schoß; der gebrochene Barak auf den Knien; die teilnahmslose Schwester vom Roten Orden. Sie verspürten dieselbe Unsicherheit wie Mishani und wagten nicht, an die Zukunft zu denken. Unter ihnen stand eine dürre Frau mit verfilztem Haar und verdrießlicher Miene. Sie beobachtete das Bild eine Weile, dann wandte sie sich ab. Kummer und Tod waren für Nomoru alles andere als neu: Sie hatte bereits als Kind so viel davon miterlebt, dass es für ein Leben reichte. Ihre einzige Sorge war; dass niemand erführe, wer den Schuss abgefeuert hatte, der die von allen geliebte Lucia getötet hatte. Und darunter regte sich ein Ansatz von Scham ob ihrer Schlampigkeit. Immerhin hatte sie auf Lucias Kopf gezielt. 475 Als der Morgen graute, lag das Schlachtfeld verwaist. Sternen- I regen rieselte im Gefolge des Mondsturms vom Himmel, winzige Flocken wie Glas, das glitzerte, wenn die Sonne sich darin fing. Sobald Nukis Auge hoch genug aufgestiegen wäre, würden die Armeen des Kaiserreichs nach ihren Kameraden und Familienangehörigen suchen, doch bis dahin hatten sie sich zurückgezogen, konnten es nicht ertragen, auf dem Schlachthof zu weilen, in den die Ufer des Ko sich verwandelt hatten. Weder Aasvögel noch Fliegen schändeten die Leichname: Die Rückstände der Gegenwart der Geister waren noch zu deutlich zu spüren. An der Nordseite des Flusses ragte inmitten der unzähligen Tausenden, die gestorben waren, ein Erdhügel der Größe und Form eines kleinwüchsigen, buckligen Mannes auf. Was von dem Antlitz zu erkennen war, erinnerte
an eine abgezehrte Fratze mit klaffendem Mund gleich jener einer Leiche. Das Abbild hielt sich bis in den Vormittag, während die Sonne es erwärmte und trocknete. Dann begann es allmählich zu springen, und Webfürst Kakre zerbröckelte Stück für Stück, bis nur noch pulvriger Dreck übrig war, den der Wind verblies. 476 Neunundzwanzig Kaiku stand auf dem Vordeck der Dschunke und schaute mit düsterer Miene zu den grauen Gipfeln. Mit einer Hand hielt sie ihre Robe an die Brust geklammert, zog sie gegen die frostige Meeresbrise zusammen. Sie hätte sich mit einem einzigen Gedanken zu erwärmen vermocht, doch sie wollte leiden. Es passte zu ihrer Stimmung. Der Himmel war bedeckt, und dass es mittlerweile Frühling war, merkte man nicht. Ein Dutzend Schiffe wogte vor und hinter ihr vor Anker. Von diesen lösten sich in regelmäßigen Abständen kleine Ruderboote, die zu dem gelblich braunen Strand im Süden pendelten, einem schmalen Landfinger der Neuländer, der sich entlang der Küste erstreckte und östlich der bedrohlich aufragenden, steilen Masse des Aon-Berges endete. Tagelang waren sie um den Nordrand Saramyrs gekreuzt, hatten stets nur steile schwarze Felsen gesehen, mächtige Gebirgswände, die lotrecht ins Meer abfielen und keine Möglichkeit für einen Landung boten. Jeden Morgen hatte Kaiku sich nach Steuerbord begeben und die dünne Fahne schwarzen Rauchs beobachtet, die aus dem Vulkanberg Makara stetig zu ihrer Rechten davontrieb. Und nun waren sie an ihrem Bestimmungsort angekommen, einer Bucht aus steinigen Stränden und harten Schieferebenen, die sich ein paar Meilen ins Landesinnere erstreckten, ehe wieder die Berge anstiegen. Hier sollten sie an Land gehen, sollten siebenhundert Tkiurathi aussteigen und den Marsch Richtung Südwesten nach Adderach antreten. Anscheinend war ihre Reise von Assantua begünstigt wor477 den. Die Mondgezeiten waren in ihre Richtung verlaufen, die Winde waren ihnen wohl gewogen gewesen. Obwohl sie gezwungen gewesen waren, eine etwas mittelbare Strecke zu wählen - indem sie Fo auf der Westseite umsegelten, um den stärker befahrenen Camaran-Kanal zu meiden - und mehrfach Umwege einschlagen mussten, während die Schwestern vom Roten Orden sie vor der Aufmerksamkeit ferner Schiffe verbargen, waren sie genau an dem Tag eingetroffen, der von vornherein angepeilt worden war. Zumindest versicherte Cailin ihnen das. Kaiku hatte schon längst aufgehört, die Tage zu zählen. Schon bevor Kaiku vom vermeintlichen Sieg des Kaiserreichs und Lucias Tod erfahren hatte, war die Reise ein elendes Unterfangen gewesen. Danach erinnerte sie sich nur noch an wenig, und sowohl das Unbehagen als auch die Langeweile auf dem Schiff schienen bedeutungslos im Vergleich zum Ausmaß ihres Kummers. Sie fühlte sich auf diesem Schiff als Gefangene. Selbst ihre Kabine bot keine Gelegenheit, ein wenig für sich zu sein, weil Kaiku sie mit zwei weiteren Ordensschwestern teilte, und sogar das musste man im Vergleich zu den Laderäumen der Dschunke, wo die Tkiurathi dicht zusammengepfercht schliefen, als reinen Luxus betrachten. Kaiku hatte wieder die Bemalung des Ordens aufgetragen, weil die Menschen sie dann eher in Ruhe ließen. Oft war sie nachts wie ein dunkler Geist über die Decks gewandert; nach einer Weile hatten die Seeleute sich an den Anblick gewöhnt und ihr keine Beachtung mehr geschenkt. Die anderen Ordensschwestern misstrauten ihr; obwohl Cailin niemandem von ihrem Streit in Araka Jo erzählt hatte, war Kaikus Geringschätzung für den Plan der Schwestern spürbar. Cailin befand sich auf einem anderen Schiff und schwieg eisern, was Kaiku nur recht war. In ihren verbitterteren Augenblicken fand sie eine tiefschwarze Genugtuung in dem Wissen, dass Cailin durch Lucias 478 Tod ihrer Verfechterin beraubt worden war; dass die Oberste der Schwestern vom Roten Orden wutentbrannt gewesen sein musste, als sie erfuhr, dass ihre so sorgsam vorbereiteten Pläne für die Zukunft der Schwestern mit einem Schlag zunichte gemacht worden waren. Dennoch war es ein kümmerlicher Trost: Es war schlimmstenfalls ein Rückschlag, und Kaiku wusste, dass Cailin ihn verwinden würde. Gingen die Weber unter, würden die Schwestern vom Roten Orden den Sieg für sich beanspruchen, und die Schwestern würden den Platz der Weber einnehmen. Kaiku kümmerte es kaum noch. Wieso sollte sie Anteil an einer Welt nehmen, die dermaßen voller Grauen und Traurigkeit steckte? Ihr lag nur noch etwas an ihrem eigenen Kummer, den sie sorgsam hütete. Nun beobachtete sie, wie die Matrosen die Tkiurathi ans Ufer brachten. Letztere konnten es kaum erwarten, die Dschunken zu verlassen, zumal die Zustände während der langen Reise die reinste Qual für sie gewesen waren. Wenngleich die Tkiurathi sie klaglos erduldet hatten, hassten sie es, eingepfercht zu sein, und die überfüllten Schiffe - die wesentlich kleiner waren als die mächtigen Gefährte, die sie über das Meer aus Okhamba herbefördert hatten - waren ungemein beengt gewesen. In weniger als einer Woche würde alles vorüber sein. Siebzig Meilen durch die Berge lagen das erste Kloster der Weber und darunter der erste Hexenstein. Angesichts der Tatsache, dass sie das Gelände nicht kannten, bestand eine gewisse Unsicherheit darüber, wann genau sie dort eintreffen würden, aber sie setzten sich in unregelmäßigen Abständen mit den Ordensschwestern bei den Wüstenstreitkräften in Verbindung. Ihr Treiben im Geweb wurde dicht verhüllt: jeder Verständigung wohnten mehrere Ordensschwestern bei, die gewährleisteten, dass keinerlei Hinweise auf ihren Aufenthaltsort erraten werden konnten. Ihr Mitwirken an dem
Unterfangen hing von Heimlichkeit ab. 479 Verliefe alles nach Plan, würden die Streitkräfte der Weber aus Adderach abgezogen, um Rekis Armee im Süden anzugreifen, deren Fortschritt eingehend beobachtet wurde. Mit einem Angriff aus dem Norden, vom Meer aus, würden sie nicht rechnen. Kaiku bezweifelte schwer, dass die Weber aus dem gewagten Ausbruch der Ordensschwestern, der ihnen in Lalyara gelungen war, eine Bedrohung für Adderach ableiten würden: Aus der Sicht der Weber hatten sie nur versucht, die Flotte des Kaiserreichs zu retten, und waren nach Süden zu sichereren Häfen wie Suwana oder Eilaza gesegelt. Außerdem wussten die Weber nicht, dass Muraki tu Koli ihre Pläne verraten hatte; das war allein daraus offensichtlich, dass sie in den Hinterhalt am Ko getappt waren. Kaiku empfand die Aussicht als tröstlich, es bald auf die eine oder andere Weise hinter sich gebracht zu haben. Die Graustufen zwischen Erfolg und Versagen waren ihr einerlei: Entweder würden die Weber zerstört oder sie. Kaiku klammerte sich an die Erinnerungen an ihre Familie, an Tane, an Lucia und verwendete sie, um ihren Hass zu schüren. Der Tod wäre jetzt nicht mehr so schlimm, zumal er sie der Grausamkeit dieser Welt entrisse. Aber zuerst hatte sie noch etwas zu erledigen. Wenn sie die Schranke der Irreführung erreichten, die zweifellos von den Webern um das Kloster errichtet worden war, würde sie wieder die Maske tragen müssen. Sie lag in ihrem Bündel in der Kabine, mittlerweile ganz unten und in Kleider vergraben. Nachts flüsterte das unselige Ding ihr zu, lockte sie mit Versprechen ihres Vaters. Auf irgendeine Weise hatte die Maske einen Teil des Wesens ihres Vaters aufgesogen, einen Teil, den sie ihm geraubt hatte, so wie sie mittlerweile auch etwas von Kaiku aufgenommen hatte. Könnte sie, wenn sie das Ding trüge, wieder jenen Frieden ihrer Kindheit erlangen, den Trost der Gegenwart ihres Vaters, die selbstverständliche Sicherheit, die er bot? Nein, eine sol480 che Annehmlichkeit würde sie sich nicht gestatten. Die Maske war ein Rauschmittel, das ihr die Erfüllung beliebiger Wünsche versprach und im Gegenzug alles nahm, was Kaiku ausmachte. Jedes Mal, wenn Kaiku gezwungen war, sie zu verwenden, wurde es schwieriger, der Versuchung zu widerstehen, und während der langen Zeit in solch unmittelbarer Nähe hätte sie mehr als einmal um ein Haar nachgegeben, weil sie sich in den warmen Windungen der Maske eine Zuflucht erhofft hatte. Nur ihre hasserfüllte und abgrundtiefe Abscheu vor den Webern und ihren Gerätschaften hatte sie davon abgehalten. Aber wenn sie an der Schranke angelangte, würde Kaiku sie aufsetzen müssen. Wenngleich die Schwestern vom Roten Orden durchaus in der Lage waren, sie ohne besondere Mühe zu durchqueren, bestand keine Gewähr, dass die Weber ihr Eindringen nicht erkennen würden, und dann wäre der Vorteil der Überraschung verloren. Die einzige sichere Möglichkeit, sie unbemerkt zu durchschreiten, bot die Maske. Diese Maske, die Kaikus Familie das Leben gekostet hatte, stellte immer noch die bedeutendste Waffe dar, die sie besaßen. Andere gab es nicht: Jene Masken, die seitens der Schwesternschaft von toten Gegnern erobert wurden, waren zu alt und mächtig, um es zu wagen, sie auszuprobieren, da sie jede Schwester, die sie aufsetzte, töten oder verderben würden. Also lag es an Kaiku. Sie würde siebenhundert Tkiurathi und fast fünfzig Ordensschwestern durch die Schranke geleiten müssen. Was Stunden dauern würde, während der sie die schreckliche Maske ständig tragen würde. Kurz wanderte ihr Blick über die Gipfel der Berge. Kaiku seufzte. Wenn nur schon alles vorbei wäre. Es sollte nur endlich alles vorüber sein. Sie spürte jemanden an ihrer Seite und drehte sich ein wenig, um Tsata anzublicken. Seit sie von Lucias Tod erfahren hatte, verhielt er sich ihr gegenüber vorsichtig, da er nicht 481 recht wusste, ob sie seinen Trost oder lieber alleine sein wollte. In letzter Zeit hatte es wenig Umgang zwischen ihnen gegeben. Er hatte sich im Frachtraum mit Belangen seines Volkes beschäftigt. »Wie geht es den Tkiurathi?«, erkundigte sie sich. Ihre Stimme hörte sich fremd für sie an, irgendwie älter als zuvor. »Recht gut«, erwiderte er. »Sie wissen, was seit der Schlacht am Ko auf dem Spiel steht. Sie werden nicht zaudern. Nach der langen Gefangenschaft auf diesen Schiffen wird der Marsch durch die Berge ihre Stimmung wieder heben.« Kaiku strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Was wirst du... danach tun?« Sie sah ihn an. »Wenn all das vorüber ist?« Eine lange Weile hielt Tsata ihren Blick, ehe er antwortete. »Das hängt davon ab, wie die Dinge sich entwickeln, nachdem wir Adderach erreicht haben«, erklärte er. »Ich will nicht behaupten, dass ich nicht darüber nachgedacht hätte, aber es gibt noch zu viele Unsicherheiten.« Kaiku nickte verständnisvoll. Tsata wich ihr nicht aus; er war bloß ehrlich. Aber so ehrlich er sein mochte, er hatte es sich angewöhnt, sich ihm Umgang mit Saramyrrern auf Saramyrrische Weise zu verhalten, und die unausgesprochene Andeutung war klar. Sie war es, von der es abhing. Und was wollte sie tun? Darauf wusste sie keine Antwort. Neben Tsata hatte sie nur noch Mishani, aber wer vermochte zu sagen, in welche Richtung ihre Leben verlaufen würden? Tsata würde wahrscheinlich zu seinem Volk zurückkehren, und Mishani würde etwas Diplomatisches aufgreifen, bei dem sie viel auf Reisen sein würde. Kaiku hingegen erwartete nur eine Leere, ein großes Loch, das durch die Erfüllung der von ihr gelobten Vergeltung zurückbleiben würde. In glücklicheren Zeiten hätte sie dies als Füllhorn an Möglichkeiten betrachtet,
nun jedoch empfand sie es lediglich als beängstigenden Verlust des Sinnes ihres Daseins. Sie spürte Groll aufkeimen. Warum sollte er sich auf sie ver482 lassen? Warum sollten ihre Entscheidungen so wichtig für andere sein? Warum zögerte die Welt, obwohl sie dermaßen bedacht darauf schien, sie zu verletzen, Kaiku von sich abzuspalten? Ihr wurde bewusst, dass sie sich schon wieder in Selbstmitleid erging. Kaiku riss sich zusammen. Nein, diesen Pfad würde sie nicht einschlagen. Dieser Mann an ihrer Seite liebte sie, und er war ein Mann, der im Gegenzug ihrer Liebe würdig war; dass sie zauderte, sie ihm zu gewähren, war allein ihre Schuld, niemandes sonst. Es gab Dinge, die sie ihm sagen wollte, Dinge, die so tief in ihrer Brust verborgen lagen, dass sie nicht wusste, ob sie den Weg nach draußen, die unzulängliche Behandlung durch die Sprache unbeschadet überstehen würden. Versprechen, Gelübde, Schwüre. Worte, die handfest und echt waren, die sie mit der Welt des Lichts und Gelächters verbanden, von der sie abgetrieben war. Doch im Augenblick fühlte sich für Kaiku alles so zerbrechlich und kurzlebig an. Sie wollte ihm diese Wahrheiten für den Fall sagen, dass er oder sie beim bevorstehenden Gefecht umkämen, damit er nicht in Ungewissheit zurückbliebe. Doch ihr war auch klar, dass sie mit dem, was sie sagen würde, leben müsste, falls sie überlebten, und dazu war sie noch nicht bereit. Kaiku konnte nicht weiter darüber nachdenken. Die Entscheidung war im Angesicht all dessen, was unmittelbar bevorstand, zu viel für sie. Danach sollten die Dinge sich ruhig fügen. Vorerst zählten nur Vergeltung und das Versprechen eines Endes. »Bist du so weit?«, fragte Tsata gedehnt. »Ich bin bald an der Reihe aufzubrechen. Es würde mich freuen, wenn wir zusammen gingen.« »Ich hole mein Bündel aus der Kabine«, gab Kaiku zurück. Und meine Maske, fügte sie in Gedanken hinzu und hörte ihr hämisches Kichern wie ein Flüstern hinter einer Wand. »Dann warte ich auf dich«, rief er ihr nach. 483 Unvermittelt hielt sie inne und schaute über die Schulter zurück. » Würdest du denn auf mich warten?«, wollte sie wissen, und aus ihrem Tonfall erkannte er, dass sie über etwas Bedeutsameres als eine kurze Bootsfahrt sprach. »Wie lange würdest du warten?« »Bis alle Hoffnung geschwunden wäre«, gab Tsata ohne jede Spur Verlegenheit zurück. »Bis es mehr schmerzen würde, mit dir zu sein als ohne dich.« Kaiku spürte, wie sich etwas in ihrer Brust schmerzlich krümmte. Sie stellte fest, dass sie ihm nicht in die Augen schauen konnte, fühlte sich entsetzlich zerbrechlich und hasste sich dafür. »Ich brauche nicht lange«, sagte sie. Es dauerte sechs Tage, bis sie die Schranke der Weber erreichten. Sechs Tage, bevor Kaiku die Maske wieder aufsetzte, und zum ersten Mal seit einer scheinbaren Ewigkeit war sie glücklich. Die Hufe von Rekis Manxthwa knirschten gleichmäßig über den losen Kies des Passes. Mit vor Argwohn verengten Augen beobachtete Reki die am Himmel kreisenden Knorpelkrähen. Die Luft war tot und still. Er ritt mit der Hand in der Nähe seiner Nakata-Klinge. Das Haar trug er zusammengebunden, um es in der Schlacht aus dem Gesicht zu haben; dadurch kam seine Narbe deutlich zur Geltung. Das hellbraune Leder seiner Rüstung knarrte, wenn er sich bewegte, seine Züge waren vor Wachsamkeit verkniffen. Reki hatte mit der Streitmacht der Tkiurathi Verbindung gehalten, seit diese an Land gegangen war, und seither war die Anspannung unter seinen Männern geradezu unerträglich geworden. Die Ausgeburten waren so gut wie verschwunden, abgesehen von den Knorpelkrähen, die ihnen hoch am Him484 mel wie Schatten folgten, dabei aber stets außer Büchsenreichweite blieben. Sofern die Schätzungen der Ordensschwestern stimmten, würden sie in weniger als einer Stunde die unsichtbare Schranke der Weber erreichen. Die Tkiurathi hatten sie während der Nacht bereits überwunden und warteten in den Bergen. Aber es gab kein Anzeichen von Widerstand. Sogar die Scharmützel hatten aufgehört, die in den ersten Wochen an seiner Armee gezehrt hatten. Es schien zu einfach. Und dieser Pass war zu gefährlich: ein Tal aus Schiefer und Granit mit flachen Hängen, beiderseits von Gipfeln gesäumt. Nach so vielen Tagen, in denen sie sich geplagt hatten, begehbare Pfade durch die unwirtlichen Höhen zu finden, sollte er eigentlich froh sein, dass sie endlich ein paar mühelose Meilen zum Marschieren hatten. Die Reise hatte seine Männer bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit beansprucht, und sie brauchten eine Rast, die jedoch aufgrund des Zeitdrucks nicht möglich war. Je länger der Tag sich hinzog, umso größer war die Gefahr, dass die Tkiurathi durch Knorpelkrähen entdeckt würden, und damit wäre ihre List aufgeflogen. Also mussten sie durch diesen gespenstisch stillen Gebirgspass. Sämtliche Kundschafter, die Reki besaß, durchkämmten das umliegende Gelände, aber alle hatten nichts zu berichten. Ständig fragte er die Ordensschwestern, die mit ihm reisten, doch auch sie fanden keine Antworten. Vielleicht scharten die Weber sich um Adderach. Vielleicht sogar im Kloster selbst. Dadurch würde das Unterfangen äußerst schwierig. Es würde wesentlich härter sein, die Weber aus ihrem Hort zu locken, wenn sie sich in einer Verteidigungsstellung verschanzt hätten, und sie erhielten dadurch Zeit, als letzten Ausweg den Hexenstein selbst zu zerstören. Was, so weit es Reki verstand, verheerend wäre.
Asara ritt neben ihm inmitten der Armee der Wüstenkrie485 ger. Ihr Manxthwa grummelte, prustete und schüttelte das Haupt, während es vor sich hintrabte, schien der unheilvollen Stimmung gänzlich ungewahr. Sie versuchte, den Mann an ihrer Seite mit dem Jüngling in Einklang zu bringen, den sie vor langer Zeit in ihrer Eigenschaft als Spitzel für die Libera Dramach verführt hatte. Vergeblich. Er war kein großer Krieger - seine Begabung lag in taktischen Überlegungen, und er focht nie an vorderster Front so wie manch anderer Barak -, dennoch sah er mittlerweile eindeutig wie einer aus. Einst war er schüchtern und unsicher gewesen; nun wirkte er erhaben und entschlossen, worauf die Menschen ansprachen und ihm folgten. Asara hatte diese Veränderung mitverfolgt, die nicht zuletzt ihr zu verdanken war. Als Geliebte und später Gemahlin von solch atemberaubender Schönheit hatte sie wahre Wunder für sein Selbstwertgefühl gewirkt. Asara hatte ihn ausnahmslos treu unterstützt, ihn zur Stärke geführt, und er hatte getan, was immer sie vorschlug. Wenn er bei ihr war, glaubte er, alles erreichen zu können, und der Glaube ließ es geschehen. Für sie waren die vier Jahre wie im Flug vergangen. In ihrem Alter verstrich die Zeit schneller und schneller. Asara besaß den Körper und das Antlitz einer zwanzig Ernten alten Göttin, aber die Seele einer Frau von neunzig Ernten. Dennoch waren die Dinge nicht mehr so wie früher. Über ihrer Beziehung hatte sich eine Wolke eingefunden, die sich rasch verfinsterte. Er stellte Fragen über ihre Vergangenheit, ließ es nicht mehr dabei bewenden. Seine Liebe für sie vergiftete ihn. Seine Vorstellungskraft schmiedete Dutzende verschiedene Möglichkeiten, mit denen er sie auf die Probe stellte: ausufernde Vorschläge darüber, wie sie ihre Kindheit verlebt haben mochte, als würde sie eine Art Zeichen geben, wenn er die richtige Ahnung äußerte. Es war zu einer Besessenheit ausgeartet, einem Wurm des Zweifels, der zu einem Ungetüm angeschwollen war und ihn von innen verzehrte, 486 sich an der Grenzenlosigkeit seiner Leidenschaft für sie mästete. Hätte sie ihn nicht so uneingeschränkt für sich eingenommen, wäre es ihm vielleicht gelungen, sich mit Unwissenheit abzufinden; aber Asara besaß lange Erfahrung mit Männern und ihren Eigenarten, weshalb sie wusste, dass dieser Wahn an ihm nagen würde, bis er entweder befriedigt würde oder ihn zu einer unbesonnenen Tat trieb. Sie hatte Männer gekannt, die in den Klauen einer solchen Seelenfolter ihre Gefährtinnen vor blanker Enttäuschung gemeuchelt oder sich selbst von Klippen gestürzt hatten. Selbst eine Lüge würde nun nicht mehr reichen. Bald würde es Zeit sein aufzubrechen. Ihr ganzes Leben war eine Abfolge vorübergehender Abschnitte gewesen, an deren Ende sie stets gezwungen war weiterzuziehen, wenn ihr wahres Wesen offenkundig wurde. Irgendwann bemerkten die Menschen immer, dass sie nicht alterte, dass Wunden an ihr ungewöhnlich schnell heilten oder dass die Leute an jedem Ort, an dem sie sich niederließ, eine seltsame Neigung zum Sterben entwickelten. In den vergangenen Wochen hatte der Schlafende Tod mehrmals zugeschlagen, was unter den Männern Verwirrung gestiftet und die Furcht vor einer Seuche gesät hatte. Es war unklug, aber Asara war hungrig. Hungriger denn je zuvor. Und sie wusste haargenau weshalb, hatte es plötzlich und unzweifelhaft verstanden, als sie vor weniger als einer Woche nachts aufgewacht war. In Asara wuchs Rekis Kind heran. Selbst die Libera Dramach, unter denen ihre Form der Ausgebürtigkeit geduldet wurde und einigen bekannt war, musste sie nun hinter sich lassen. Letzten Endes würde Cailin erfahren, dass Kaiku ihren Teil der Abmachung übernommen hatte, die sie vor langer Zeit mit Asara eingegangen war. Asara war Cailin nicht mehr verpflichtet. Sie hatte, was sie wollte. Aber Kaikus Zweifel darüber, ihr die Fortpflanzung zu ermög487 lichen, würden gewiss von Cailin geteilt. Es schien einfach unklug, Asara gebären zu lassen, das Wagnis einzugehen, dass sie die erste einer Rasse von Wesen werden könnte, die in der Lage waren, ihre äußere Gestalt zu verändern. Asara war überzeugt davon, dass Cailin sie töten würde, wenn sie je davon erführe. Und ihre Kinder ebenso. Daher würde sie nie nach Araka Jo zurückkehren und nie wieder etwas mit den Libera Dramach oder den Schwestern vom Roten Orden zu tun haben. Warum gehst du dann nicht sofort ?, fragte die neue Stimme in ihrem Kopf, jene Stimme, die ausschließlich, immer und zuerst an ihr Kind dachte. Du hast doch, was du von ihm wolltest. Wenn du zulässt, dass du in diese Schlacht verwickelt wirst, könntest du sterben; und was du in dir trägst, ist zu kostbar, um es zu verlieren. Du hast jetzt die Pflicht zu überleben. Doch so sehr sie auch davon überzeugt war, dass die Stimme Recht hatte, sie konnte nicht verschwinden. Es gab noch eine Sache zu erledigen. Ein Schrei von irgendwo in der Armee riss ihre Aufmerksamkeit jäh zurück auf ihre Umgebung. Als sie erkannte, dass alle nach oben schauten, folgte sie der Richtung der Blicke und sah die Ausgeburten. Sie schwärmten einen Hang des Passes herab, eine brodelnde Masse aus Klauen, Fell, Haut und Fängen; und auf der anderen Seite waren noch mehr, die von hinter ihnen heranstürmten. »Wie konntet ihr sie übersehen?«, rief Reki und riss das Schwert aus der Scheide. Er wandte sich an die Schwester vom Roten Orden, die in seiner Nähe ritt. »Wie kann es sein, dass ihr es nicht wusstet?« Ihre Miene war verkniffen; sie wirkte weder überrascht noch entsetzt, vielmehr niedergeschlagen. »Sie haben
gelernt, sich wirkungsvoll zu verbergen«, antwortete sie. Reki wandte sich mit einem verächtlichen Schnauben von 488 ihr ab. Schüsse krachten entlang der Flanken der Armee, während die Soldaten Verteidigungsformation einnahmen. Allein die Götter wussten, welche Aussichten sie gegen einen solchen Feind besaßen. Die Ausgeburten brandeten heran, donnerten die Hänge des Passes herab. »Bleib bei mir, Asara«, sagte er. Dann murmelte er ein Stoßgebet an Suran, und die ersten Ausgeburten erreichten sie. 489 Dreißig Das fahle Licht von Nukis Auge erstarkte über Adderach und erhellte blanken Wahnsinn. Das älteste Kloster der Weber legte Zeugnis von der geistigen Umnachtung ab, die ihnen eigen war. Obwohl die Bauweise der anderen Kloster ähnlich planlose Züge aufwies, reichte nichts an die einem Albtraum entsprungene Schöpfung heran, die an der Stelle errichtet worden war, an der man den ersten Hexenstein gefunden hatte, an der Aricarat die ersten Weber umgarnt und seinem Willen unterjocht hatte. Das Kloster ragte am Fuß des Aon-Berges auf, war überwiegend aus sandfarbenem Stein gebaut und glich einer Anhäufung zu einer Masse verschmolzener Formen, die eine eigene, verschrobene Logik zu besitzen schien. Blasenartige Kuppeln staken in merkwürdigen Winkeln aus Mauerwerk, das in Größe und Gestaltung gewaltige Bandbreiten umspannte. Mauern fielen ab oder krümmten sich, mochten vielleicht dazu gedacht gewesen sein, etwas zu umschließen, waren aber nie fertig gestellt worden. Wundersamste Statuen, gleichermaßen fesselnde und beängstigende Traumgebilde, waren willkürlich über die Umgebung verteilt erstarrt oder wuchsen aus dem Kloster selbst. Halb angelegte Laufstege erstreckten sich aus dem Haupttrakt des Bauwerks. Turmspitzen neigten sich in verrückten Winkeln oder wanden sich spiralengleich über ihre gesamte Länge. Das Kloster wucherte in alle Richtungen. Die Hälfte des Ortes war verfallen, ebenso der Großteil der Nebengebäude, die ein unglaubliches Beispiel von Launenhaftigkeit darboten. Die meisten wirkten lachhaft, aber einige ließen Ansätze von 490 Geistesgröße erkennen, an die selbst die besten gesunden Köpfe im Kaiserreich nie auch nur annähernd herangereicht hatten. Woher die Einfälle der Weber stammten, vermochten sie selbst nicht zu sagen. Aber so wie die Masken Teile ihrer Besitzer aufnahmen und weiterreichten, besaßen sie auch Teile ihrer Urahnen. Das Wissen, das sie enthielten - und das größtenteils weit über den Verstand der Weber hinausging -, offenbarte sich in Träumen, Visionen und Augenblicken der Erkenntnis, welche die Weber unmöglich selbst hätten erlangen können. Durch den Schleier unbedarften Verständnisses wurden Offenbarungen gleich Laternen im Nebel erblickt, manche so unbegreiflich, dass sie ihre Zeugen weiter in den Irrsinn stürzten, andere hart am Rande der Vernunft. Sonderbare Rechnereien, noch nie dagewesene Herstellverfahren, Verbindungen von Stoffen, die zu verblüffenden Ergebnissen führten, Gedankenmuster: Eingebungen, Eingebungen und nochmals Eingebungen. Wenngleich die Weber denkbar kümmerliche Leiter für den Willen ihres unsichtbaren Meisters verkörperten, sickerten die beabsichtigten Wünsche letztlich doch durch. Alle tausend Fehlschläge folgte ein Augenblick erschreckender Klarheit, und auf diese Augenblicke bauten die Weber auf. Die Tkiurathi griffen am frühen Morgen an, kurz nachdem sie erfahren hatten, dass Rekis Streitkräfte in einen Hinterhalt geraten waren. Bei Anbruch der Dämmerung hatten sie sich vom Rand der Schranke angeschlichen, wobei die Schwestern ihr Vorrücken verbargen. Als die ersten Knorpelkrähen auftauchten, lenkte der Rote Orden sie ab, sodass sie die Blicke auf andere Stellen richteten. Einmal überprüfte ein Weber ihren Bereich, doch auch seine knisternd über sie streichende Aufmerksamkeit wurde von seinen kunstfertigen Gegnerinnen mühelos geblendet. Offensichtlich befanden die Weber sich in keinem Zustand erhöhter Wachsamkeit - schließlich 491 hatten sie den Vormarsch von Reki und dessen Mannen ständig verfolgt und wussten haargenau, wo sie sich befanden. Sie waren zuversichtlich, den Feind fest in den Klauen zu haben. Wie Cailin gehofft hatte, rechneten sie nicht mit einem Angriff aus dem Norden. Als es so weit war, brachen die Tkiurathi im Laufschritt aus der Deckung hervor und brüllten wilde Schlachtrufe. Kaiku rannte mit einigen anderen Ordensschwestern in der Nachhut. Über die felsige Umgebung von Adderach waren an die zweihundert Ausgeburten als Wächter verstreut. Sobald sie den Feind bemerkten, rasten sie los, um ihn aufzuhalten. Zweihundert Ausgeburten hätten selbst unter derart vollkommenen Kriegern wie den Tkiurathi reichlich Schaden anzurichten vermocht, aber sie stimmten sich nicht miteinander ab, stürzten sich bloß blindlings in kleinen Grüppchen auf die heranbrandende Armee. Die Tkiurathi zerlegten sie kunstfertig. Beim Anblick Adderachs schwappte eine Woge wilder Freude über Kaiku hinweg. Die Nähe ihres Ziels und die bevorstehende Schlacht rüttelten sie aus dem rührseligen Dämmerzustand wach, in den sie versunken gewesen war, seit sie die Maske in der Nacht zuvor abgenommen hatte. Bei den Göttern, selbst jetzt noch besann sie sich des schrecklichen Glücksgefühls, das die Maske vermittelte, und ein Teil ihres Verstands forderte sie auf, das Ding unter dem Gewand hervorzuholen und aufzusetzen, redete ihr ein, sie würde unsagbar Furcht einflößender
und bedrohlicher wirken, wenn sie es über dem Gesicht trüge. Aber sie trug bereits eine Maske: jene des Roten Ordens. Sie sagte sich unablässig vor, dass dies genügen würde, und klammerte sich an den Gedanken, um sich der Verlockungen der anderen Maske zu erwehren. Kurz erspähte sie am Rand der Horde Tsata, doch dann war er sogleich wieder verschwunden. Nur einen flüchtigen Blick 492 erhaschte sie, wie er mit wild entschlossenen Zügen auf eine Gruppe tobender Furien zusteuerte; dann griffen die Weber an. Die Wucht des Überfalls war betäubend. Die Schwestern hatten nicht mit solcher Wut gerechnet. Ihre Feinde schnellten mit einer Heftigkeit, die alles überstieg, was Kaiku je von den Webern erlebt hatte, wie Dämonen durch das Geweb auf sie zu. Sie waren zornig darüber, übertölpelt worden zu sein, soviel war sicher; darüber hinaus aber waren sie wütend, weil Frauen hier waren, Frauen in dieses Heiligtum von Männern eingedrungen und ungebeten so nah an ihrem Herzen aufgetaucht waren. Und unter jenem Zorn schwelte verzweifelte Angst, denn sie wussten, dass sie einen Fehler begangen hatten und ihre Gegner nah genug waren, um an ihren kostbarsten Schatz heranzugelangen. Das erste Aufeinanderprallen war grausam, und die Ordensschwestern wären unter der Gewalt um ein Haar in die Knie gegangen, zumal sie die Aufmerksamkeit nicht uneingeschränkt auf die Schlacht bündeln konnten, solange sich noch ein Teil ihres Bewussteins um die körperliche Welt kümmerte. Die Notwendigkeit, auf das Kloster zuzulaufen, behinderte sie, und sie waren gezwungen, rennenden Schrittes zu kämpfen. Aber durch ihre eigene Raserei gebärdeten sich die Weber linkisch, und nach dem Schreck des ersten Ansturms sammelten die Ordensschwestern sich und schlugen zurück, spannen ihnen Haken und Ösen in den Pfad. So wie die anderen Ordensschwestern wurde Kaiku von mehreren Tkiurathi bewacht, von deren Bewegungen sie ableitete, wohin sie die Füße setzte, während sie in das Geweb blickte. Sie huschte und flitzte hin und her, verschmolz ihre Bemühungen mit jenen ihrer Gefährtinnen, als wäre sie eine von einem Dutzend Nadeln, die in vollkommenem Einklang zusammenarbeiteten, um einen Stoff zu nähen. Kaiku verspürte jedes Mal Genugtuung aufflammen, wenn die Weber in 493 ihre Fallen tappten oder jäh abbremsten, um ihnen auszuweichen. Diejenigen, die sich als zu langsam erwiesen, wurden umgarnt und von den Ordensschwestern in Stücke gerissen oder verloren sich in den geschlossenen Irrgärten, ließen ihren Körper in einem Zustand sabbernden Siechens zurück, während ihr Geist endlos umherstreunte. Cailin hatte die Schwestern bedingungslos in den Taktiken unterwiesen, die sie einzusetzen hatten, und Kaiku nahm wahr, dass sich mehrere der Schwestern unter der Deckung des Gefechts davonstahlen, um die Nexusse zu suchen. Da die Weber abgelenkt waren, konnten die Ordensschwestern unbehelligt die Führer der Ausgeburtenjagen, indem sie die Verbindungen verwendeten, die zwischen den in den Nexussen und Raubtieren verankerten Nexuswürmern bestanden. Das hatten sie von Kaiku gelernt. Ihr war es durch bloße Eingebung gelungen, als sie es damals im Xarana-Bruch zum ersten Mal versucht hatte, aber eigenartigerweise hatte es sich für die meisten anderen Ordensschwestern als schwierig erwiesen. Mittlerweile hatten sie es gemeistert, und die Weber waren zu beschäftigt, um sie davon abzuhalten. Die Schwestern vom Roten Orden folgten den Verbindungen zu den Nexussen zurück und ließen deren Gedärme platzen. Die beherrschenden Verstände hinter den Ausgeburten erloschen, und jene Tiere, die noch nicht von den Tkiurathi getötet worden waren, flüchteten in die Sicherheit der Berge. Irgendwann während der Schlacht bemerkte Kaiku eine weitläufige Wolke aus Fäden, die durch das goldene Schaubild hinforttrieb, in dem sie wirkte. Ein nach Süden entsandter Hilferuf. Genau wie Cailin es geplant hatte. Die Schwester rechts neben Kaiku stolperte, stürzte mit einem erstickten Schrei. Die Tkiurathi hinter ihr fingen sie auf und stellten sie wieder auf die Beine, doch Kaiku wusste, dass es nutzlos war. Die Weber hatten sie erwischt. Ihr Wesen war zerstört, ihr Körper nur noch eine leere Hülle, die ohne den 494 Lebensfunken als Quell der Kraft alsbald erschlaffen und verenden würde. Es waren zahlreiche Weber zugegen, mehr als Ordensschwestern; aber die Schwestern waren ihnen überlegen, trotz der neuen Kniffe, die sich die Weber mit jedem Gefecht anzueignen schienen. Es würde ein harter Kampf werden, dennoch einer, den die Schwestern vom Roten Orden gewinnen konnten. Zumindest bis sich die anderen Weber ins Getümmel stürzten, die mit Rekis Streitkräften beschäftigt waren. Die Zeit arbeitete gegen den Roten Orden. Die Schwestern mussten den Hexenstein finden und in ihn eindringen, bevor jene anderen Weber zurückkehrten; andernfalls würden sie überwältigt. Kaiku ging so in dem Gefecht auf, dass sie den ohrenbetäubenden Tumult der Tkiurathi, das Stampfen der Füße, das Schwindel erregende Getöse des Angriffs kaum wahrnahm. Die Ausgeburten stellten so gut wie keine Bedrohung mehr dar, nur noch die Weber bereiteten Kaiku Kopfzerbrechen. Aber als sie sich dem Kloster näherte, dessen groteske, verzerrte Turmspitzen gen Himmel ragten, fiel ihr nach und nach etwas anderes auf. Der Hexenstein. Sie konnte bis hierher fühlen, wie er durch die Erde pulsierte. Neben seiner Macht wirkten die anderen, die Kaiku bis dahin untergekommen waren, geradezu zwergenhaft; es war eine giftige, böswillige Kraft, wie ihr Kaiku noch nie zuvor begegnet war. Wenn sie sogar bis hier nach draußen zu spüren war, wie musste es
sich erst anfühlen, davor zu stehen? Zum ersten Mal beschlichen sie Zweifel. Ich werde deine Bedenken lindern, lockte die Maske, die sie unter der Kleidung verborgen dicht an der Brust trug. Einen Augenblick zauderte sie, geriet ein wenig ins Stolpern, und in jenem Augenblick schnellte durch das Geweb gleich einem Rapierhieb ein Weber auf sie zu. Nur Gailins Eingreifen war es zu verdanken, dass der Schlag abgewendet wurde: Sie umhüllte die Spitze des Angriffs mit Fäden, als 495 wickle sie ein heißes Schüreisen in Handtücher, und schleuderte sie fort. ((Kaiku, bleib bei der Sache)) kam der flinke Tadel. Kaiku spürte Ärger darüber aufwallen, derart gescholten zu werden, und sie nutzte ihn, um den Verstand vom Getuschel der Maske zu reinigen. Hass war in diesem Gefecht ihr Verbündeter, ganz gleich, gegen wen er sich richtete. Dann erreichten sie eine von Adderachs zahlreichen Mauern, eine Stelle zwischen zwei Flügeln, die sich zu beiden Seiten wie kantige Greifarme hinfortschlängelten. Die Mauer war gekrümmt und nach innen geneigt, gebaut aus ungleichmäßigen Backsteinlagen und etwas, das wie ganze Felsbrocken in einem Mörtelgemenge aussah. Erwartungsvoll scharten die Tkiurathi sich darum. ((Folgt mir)) kam der Befehl; Kaiku und einige andere Ordensschwestern lösten Teile ihres Bewusstseins von der Front der Schlacht im Geweb und sandten sie wirbelnd hinter Cailin her. Sie nähten sich die Länge der Mauer entlang, und sie explodierte in einem sandfarbenen Staubschauer. Die Mauer bröckelte nach innen ein, wodurch ein breites, geröllübersätes Loch zurückblieb. Die Tkiurathi steuerten auf den Durchbruch zu und strömten hinein. Kaiku folgte ihnen, zog sich aus dem Geweb zurück, als sie inmitten einer Flut des tätowierten Volkes über die wackeligen Steinbrocken kletterte. Mehrere Weber waren bereits gefallen, und es waren genug Schwestern vorhanden, um nun ohne Kaiku zurechtzukommen. Das Morgenlicht bescherte dem schattigen Inneren des Klosters, in dem die Geräusche der Füße und Stimmen der Tkiurathi widerhallten, eine unerträgliche Helligkeit. Ein Großteil des Raumes war mit Trümmern übersät, aber Kaiku konnte erkennen, dass er höhlenartig war und die Wände in erheblich unebenmäßigen Winkeln errichtet worden waren, an einem Ende höher als am anderen. Eine große, halbkreisförmige Öff496 nung, die etwas säumte, das nach Menschenhaar aussah, führte aus dem Raum. Es gab auch andere Durchgänge, doch die erwiesen sich als zu klein für alles, was größer war als ein Hund. Die absonderliche Bauweise bereitete Kaiku Kopfschmerzen. Dann war Tsata an ihrer Seite, rappelte sich hinter ihr auf und ergriff ihren Arm. Sein Anblick war ihr mehr als willkommen; gemeinsam rannten sie durch das Geröll und weiter, wo die Tkiurathi sich durch das Gebäude ausbreiteten. Kleinere Scharmützel entwickelten sich, als sie mit jenen Ausgeburten zusammenstießen, die noch im Inneren gefangen waren. Adderach präsentierte sich innen genauso verrückt wie außen. Räume wurden immer schmäler und verliefen sich im Nichts; Türen waren ohne zugehörige Durchgänge eingebaut worden; Gänge glichen Irrgärten. Jede Kammer offenbarte eine neue Absonderlichkeit. Sie sahen einen Kristallkronleuchter, der über einem Metzgertisch hing, auf dem frisches, blutiges Fleisch lag. Sie stießen auf ein Standbild der doppelten Höhe eines Menschen, das abgrundtief hässlich und zugleich kunstvoll geschaffen worden war und in einer Kammer stand, die keine Türen besaß. Sie trat nur zutage, weil eine der Ordensschwestern ein Loch in die Wand sprengte. Ein Raum erwies sich als rund und fiel geneigt zu einer kreisförmigen Grube hin ab, aus deren Schwärze hungriges Geheul drang. Kaum etwas, dem sie begegneten, ließ einen offenkundigen Zweck erkennen, und es schien keinerlei Speisesäle oder sonstige Orte der Versammlung zu geben. Dafür gab es reichlich Anzeichen einer überstürzten Flucht: Überall fanden sich Essen und Unrat, nach wie vor lodernde Feuer, über denen Eintopf überkochte, Fackeln, die noch brannten, wo sie fallengelassen worden waren. Kaiku hatte erwartet, überall Golneri anzutreffen, jene kleinwüchsigen Diener der Weber, doch obwohl das Vorhandensein von Kochwerkzeugen und 497 ihre Spuren im Staub nahe legten, dass sie hier sein mussten, waren sie weit und breit nicht zu entdecken. Dafür stießen sie auf tote Nexusse. Ihre länglichen, widernatürlich großen und dürren, in schwarze Kutten gewandeten Körper waren in Todeskrämpfen erstarrt. Verschiedenartig verrenkt lagen sie auf dem Boden, und aus den Augenlöchern ihrer blanken, weißen Masken troff tränengleich Blut. Kaiku drehte sich der Magen um, als sie sich besann, was sie einst bei einem Blick hinter eine jener Masken gesehen hatte. Tsata, der diese Erfahrung mit ihr geteilt hatte, drückte ihr ermutigend die Schulter; dankbar legte sie die Hand auf den Rücken der seinen. Das also waren die Nexusse gewesen, von der die kleine Verteidigungsstreitkraft vor dem Kloster gelenkt worden war. Und dennoch schien alles zu einfach, und es waren zu wenige. Mit Tsata und einigen anderen Tkiurathi rannte Kaiku von einer Kammer zur nächsten, häufig den Weg zurück, den sie gekommen waren, wenn die Bauweise der Weber ihnen einen Strich durch die Rechnung machte, manchmal auch, indem sie die Mauer sprengte, wenn dies möglich war, ohne die oberen Geschosse auf sie herabregnen zu lassen. Dort spürte sie, dass andere Ordensschwestern die Gänge über ihr durchforsteten und sich in Richtung der Turmspitzen nach oben vorarbeiteten.
Alsbald stand sie von Angesicht zu Angesicht Cailin gegenüber, die den Raum durch einen anderen Eingang betrat. In die Wände, den Boden und die Decke dieser Kammer waren halbkreisförmige Scheiben eingelassen, in deren Ränder Zeichen geritzt waren, die Kaiku nicht einzuordnen vermochte. Cailin bahnte sich einen Weg zu Kaiku, begleitet von den Tkiurathi, die sie bewachten. »Hier stimmt etwas nicht, Cailin«, sagte Kaiku. »In der Tat«, gab sie zurück. »Wo stecken die alle? Wo bleibt 498 der Widerstand? Sie sind nicht in den oberen Ebenen, soviel ist sicher.« Kaiku klopfte mit dem Fuß auf den Steinboden. »Sie sind unten. Sie haben sich zurückgezogen und warten darauf, dass wir zu ihnen kommen.« Cailin sah ihr in die Augen, und es war offenkundig, dass sie dasselbe gedacht hatte. Rings um sie knisterte das Gefecht im Geweb, kitzelte ihre Sinne. Kaiku warf ab und an einen prüfenden Blick darauf, aber die anderen Schwestern hatten die Lage im Griff. »Kannst du ihn spüren?«, fragte Kaiku. »Den Hexenstein? Er behindert mich bereits beim Weben. Ich kann weder die Anordnung dieses verfluchten Ortes erkennen noch einen Weg nach unten.« »Es gibt viele Wege nach unten«, erwiderte Cailin. »Er behindert mich noch nicht so wie dich, aber ich denke, das wird sich ändern, wenn wir uns ihm nähern.« Und dann sah Kaiku die Pfade, als Cailin eine grelle Wolke ihres Wissens an all ihre Ordensschwestern aussandte. Die vermengten Antworten fluteten zurück: alle Schwestern kannten ihre jeweiligen Posten, sei es, indem sie weiter die Weber abwehrten, den Rest der oberen Geschosse überprüften, Verbindung mit jenen Schwestern hielten, die bei Reki kämpften, oder sich hinab in die unbekannten Gefilde unterhalb von Adderach begaben. Dann endete schlagartig das Gefecht im Geweb. Die Weber verpufften vom Schlachtfeld, zogen sich in ihre Körper zurück. Verwirrt schickten die Schwestern sich an, ihnen zu folgen, doch Cailin gebot ihnen Einhalt. ((Lasst euch nicht anlocken. Wir steigen hinab und stellen uns ihnen dort)) »Komm mit«, sprach Cailin und fegte hinfort. Kaiku folgte ihr, begleitet von Tsata und den anderen Tkiurathi, die bei ihr waren. Sie befanden sich irgendwo nahe der Mitte des Bauwerks, soviel wusste Kaiku. Andere Ordensschwestern steuer499 ten auf anderen Wegen nach unten zu. Auch die Tkiurathi strömten hinab, ließen Adderach und die Umgebung des Klosters verwaist zurück. Ihre Streitmacht war nicht groß genug, um oben Wachen für den Fall zurückzulassen, dass eine feindliche Armee einträfe. Sollte ihnen unten kein Erfolg beschieden sein, bestünde ihre einzige Aussicht auf Überleben darin, aus dem Kloster zu gelangen und zu flüchten, bevor die Weber auf den vor kurzem gesandten Hilferuf antworteten. Sonst säßen sie dort unten in der Falle. Asara feuerte, machte die Waffe schussbereit, feuerte erneut. Es bedurfte zweier weiterer Kugeln, um den dicken Schädel des Schnappmauls zu durchdringen, aber letztlich traf sie ins Gehirn. Das Vieh sackte zu Boden; die mächtigen, stachelschweinartigen Dornen zitterten. Verschmiert von Schweiß und Staub machte sie sich rasch ein Bild von ihrer Umgebung und suchte Reki. Er befand sich inmitten einer Traube seiner Männer und hatte die Nakata-Klinge gezogen, sie aber noch nicht mit Blut benetzt; er wurde gut beschützt. Die Krieger rings um ihn kämpften mit zwei weiteren Schnappmäulern, gedrungenen Ungetümen mit Fängen bewehrten Schnauzen, umhüllt mit tödlichen Stacheln. Sie hatten vorstehende Stummelfüße, an denen sich drei Klauen befanden; Hinterbeine besaßen sie nicht, nur einen kurzen Schwanz, den sie hinter sich herschliffen. Obwohl sie sich schwerfällig fortbewegten, waren sie im Sprung doch schnell, und durch ihren Dornenpanzer erwiesen sie sich aus nächster Nähe als unglaublich gefährlich. Asara sah sich um. Auf dem Boden des Passes tobte ein dicht gedrängter Kampf, dennoch hielten die Wüstenkrieger den Gegnern wacker stand, nicht zuletzt aufgrund des Umstands, dass ein Großteil der Ausgeburten bereits abgezogen war. Anfangs hatte ihnen die gewaltige Flutwelle der Raubtiere 500 erheblichen Tribut abverlangt, doch Rekis Generäle hatten klugerweise die Verteidigung aufrechterhalten, bis sich ihnen eine Verschnaufpause bot. Auf ein unsichtbares Zeichen hin, von dem Asara vermutete, dass es von den Webern aus Adderach gestammt hatte, war der größere Teil ihrer Angreifer von dannen gezogen und nordwärts den Pass hinaufmarschiert. Trotzdem hatten sie genug Ausgeburten zurückgelassen, um die Wüstenkrieger eine ganze Weile zu beschäftigen, und so tobte die Schlacht weiter. Die Lage war nicht mehr vollkommen aussichtslos, dennoch alles andere als behaglich. Reki schaute sich suchend nach seiner Gemahlin um. Erleichterung trat in seine Züge, als ihre Blicke sich begegneten. In den Wirren waren sie getrennt worden; nun schlang sie die Büchse über den Rücken, zog einen Dolch und bahnte sich einen Weg zu ihm, wich dem wogenden Gefecht aus. Die beiden Schnappmäuler waren endlich ihren Wunden erlegen, nachdem sie drei von Rekis Männern mit in den Tod gerissen hatten, und die Leibwächter des Geblüts Tanatsua formierten sich neu um ihren Barak. Sie teilten sich, um Asara hindurch zu lassen. Reki musterte sie kurz, dann umarmte er sie unerwartet und so heftig, dass er ihr den Atem aus den Lungen presste. Mit einem Grunzen zog er sich zurück und blickte auf seine Hand hinab. Mit sorgenvoller Miene ergriff Asara sie. Entlang der Handfläche, wo die Spitze des Dolches, den sie hielt, sie
erfasst hatte, war ein Kratzer. Blutstropfen quollen daraus hervor. »Vorsicht, mein Barak«, murmelte sie. »Am Ende verletzt du dich noch selbst.« Sie drehte die Hand um und schaute lächelnd zu ihm auf. »Ich bete, dass dies die schlimmste der Verletzungen bleibt, die du dir heute zuziehst.« »Diese Männer hier sorgen schon dafür«, grinste er. »Bisweilen ereilt mich sogar der Drang mitzumachen, aber davon wollen sie nichts hören.« 501 Asara holte aus einer Tasche ihrer Reisegewänder einen Verband hervor und versorgte fachkundig seine Hand. »Wo hast du das gelernt?« »Nicht«, warnte ihn Asara, wobei ihre Augen sich etwas verhärteten, und der Augenblick der Zärtlichkeit zwischen ihnen war verflogen. Reki öffnete den Mund, um etwas zu sagen, dann schloss er ihn wieder und wandte den Blick ab. Jetzt war nicht der rechte Zeitpunkt. Er würde Antworten von ihr bekommen. Später. Ein Warnschrei ließ ihn den Kopf jäh herumreißen, gerade noch rechtzeitig, um fünf Ghauregs zu erspähen, die wie eine Lawine durch eine Gruppe Soldaten auf ihn und seine Männer zurollten. »Zurück!«, rief er und schob Asara hinter sich. Seine Leibwächter formierten sich, um sich der Bedrohung zu stellen. Eine der Kreaturen wurde durch Büchsen ausgeschaltet, bevor sie bei ihnen eintraf; die anderen vier donnerten brüllend mitten in sie hinein. Rekis Leibwächter waren die besten Krieger, die Geblüt Tanatsua aufzubieten hatte, doch selbst sie hatten Mühe, einen Ghaureg zu töten. Reki stolperte und fiel, als seine Männer rücklings in ihn gestoßen wurden. Er rappelte sich auf die Beine, schaute sich nach Asara um, konnte sie jedoch im Getümmel nicht entdecken. Klingen klirrten: Einer der Ghauregs verlor die Finger der Hand, einem weiteren wurde am Knie das Bein abgehackt, woraufhin er zu Boden stürzte. Jemand entzweite ihm mit dem Schwert das Gesicht. Plötzlich schien Rekis Wagemut nur noch lächerlich: Er war kein Krieger und hegte nicht das Verlangen, sich in der Nähe einer Schlacht zu befinden, wenn es sich vermeiden ließ. Andererseits war er auch kein Feigling und würde unter keinen Umständen davonrennen. Unvermittelt war die Schlacht zu ihm herangebrandet. Alles rückte näher. Reki sah sich nach den Feinden um, doch er 502 konnte nicht über das Gerangel seiner Leibwächter schauen. Irgendwo schrie ein Mann. Eine Salve Büchsenschüsse krachte. Dann öffnete sich in dem Gedränge eine Lücke, und Reki sah einen in die Knie gesunkenen Ghaureg, der von seinen Soldaten in Stücke gehackt wurde. Danach lief ein Ruck durch die Armee, die Kampfhandlungen wogten von ihm weg, und es war wieder mehr Platz vorhanden. Die Schlacht tobte nicht mehr so nah. Seine Leibwächter strömten herbei, um ihn wieder zu umringen. Die Ghauregs waren tot, und bald darauf berichtete ihm ein Bote, dass die Ordensschwestern begonnen hatten, die in der Nähe befindlichen Weber zu überwältigen und die Nexusse auszuschalten, die der Armee zu schaffen machten. Das Kampfgeschehen nahm eine Wende. Reki hörte dennoch nur mit einem halben Ohr zu: Er suchte, geriet zunehmend in Sorge. »Wo ist eure Barakin?«, verlangte er von den Kriegern rings um ihn zu erfahren. »Wo ist Asara?« Aber die Männer wussten keine Antwort, und Reki selbst hatte sie nicht mehr gesehen, seit die Ghauregs angegriffen hatten. Am Ende sollte er sie nicht finden. Nicht einmal, nachdem die Schlacht vorüber war und der Rest der Armee die fast auf die Hälfte geschrumpft war - in der Hoffnung weiter gen Adderach marschierte, dort ihre Verbündeten zu retten. Von Kummer gepeinigt blieb Reki bei einem kleinen Gefolge und stapfte über den von Leichen übersäten Pass, betete dabei zu Suran, dass Asara noch am Leben sein möge. Vielleicht hätte er sie gefunden, wäre ihm genügend Zeit dafür geblieben. Solange noch der matteste Funken Hoffnung vorhanden gewesen wäre, hätte er jeden Zoll Saramyrs nach ihr durchforstet. Und vielleicht hätte er sie, so er sie aufgespürt hätte, mit dem Kind angetroffen, das er gezeugt hatte. Aber all das wusste Asara. Und es war der Grund dafür, dass 503 sie in die Berge verschwunden war, der Grund, weshalb sie den Dolch mit Gift beschmiert hatte. Sie hatte sich der Salbe des meisterlichen Giftmischers bedient, der vor Monaten mit dem Meuchelmörder Keroki zusammengearbeitet hatte, um ihren Gemahl zu töten. Es sollte noch knapp zwei Stunden dauern, bis er es spürte; wenn es Wirkung zeigte, würde es zu spät sein, um es zu entfernen. Barak Reki tu Tanatsua verbrachte die letzten Augenblicke seines Lebens, indem er verzweifelt nach der Frau Ausschau hielt, die er liebte, ahnungslos, dass sie ihn bereits ebenso ermordet hatte wie vor langer Zeit seine Schwester. 504 Einunddreißig Cailin, Kaiku und die Tkiurathi traten aus dem Ende eines abwärts geneigten Schachts und in die Untergeschosse von Adderach. Kaiku spähte den Gang hinab, der sich vor ihnen erstreckte. Es war einst ein Minenstollen gewesen - was an den vereinzelten Stellen rauen Steins zu erkennen war -, aber die Oberfläche war fast gänzlich von Metall bedeckt.
An den Wänden hingen schwarze Rohre, aus denen eine giftig wirkende Flüssigkeit troff; der Boden bestand aus Eisen oder einer Legierung daraus. Gasfackeln brannten mit qualmenden Flammen, waren durch Kabel miteinander verbunden, die entlang der Decke verliefen. Die Tkiurathi brannten darauf, sich an ihre Aufgabe zu machen, da sie der Umgebung sichtlich misstrauten. Sie bezogen Stellung, Cailin und Kaiku unmittelbar hinter ihnen, Tsata bei ihnen. Kaiku spürte seine Unruhe und legte ihm die Hand auf den Unterarm, als niemand herschaute. »Hthre«, murmelte sie ihm zu, bot ihm das Gelübde gegenseitiger Unterstützung der Tkiurathi an. Überrascht grinste er sie an. »Hthre«, gab er zurück. Es spielte keine Rolle, dass ihr ein Fehler unterlaufen war, zumal Hthre eigentlich die Erwiderung, nicht das Angebot sein sollte. Was zählte, war der Gedanke, und Tsata stellte fest, dass die Geste ihn an diesem dunklen und schrecklichen Ort immens ermutigte. Sie eilten den Gang hinab, folgten Cailins Anleitung. Kaiku hegte den Verdacht, dass die Oberste des Roten Ordens gar nicht genau wusste, wohin sie liefen: Der Einfluss des Hexen505 Steins war gewaltig und gestaltete die Richtungsbestimmung schwierig. Andererseits war dies ein zweischneidiges Schwert, denn es bescherte ihnen auch ein eindeutiges Ziel. Sie brauchten lediglich auf den Ausgangspunkt jenes Einflusses zuzuhalten, und dort würden sie auf den Hexenstein stoßen. Aber es waren keinerlei Anzeichen ihrer Feinde zu erspähen. Es gab reichlich kleine, zellenähnliche Räume, einige voller lauter Gerätschaften, andere leer und scheinbar ohne Zweck. Sie schauten zwar im Vorbeigehen kurz hinein, hielten aber nicht inne. Ihr Augenmerk galt etwas anderem. An einem Scheideweg trafen sie auf eine andere Gruppe der Tkiurathi mit einem halben Dutzend Ordensschwestern, wodurch ihre Zahl anschwoll. Mittlerweile gestaltete es sich schwieriger, in Verbindung zu bleiben: Es war, als versuchte man, über einen Sturm hinwegzubrüllen. Die brütende Kraftquelle unter ihnen verwirrte das Geweb, brachte es in Unordnung. Kaiku hoffte, dass die Weber dadurch genauso beeinträchtigt würden wie die Schwestern, doch irgendwie bezweifelte sie es. Die Ordensschwestern und die Tkiurathi stiegen von oben hinab, verteilten sich durch die Stollen der alten Mine wie eine Armee von Ameisen, die in ein feindliches Nest einmarschierte. Aber immer noch trat ihnen der Feind nicht gegenüber. Cailins Gruppe kam als Erste aus den Gängen heraus. Die Tunnel weiteten sich zu einem riesigen Raum, größer als jeder Prunksaal, der in Saramyr je gebaut worden war, rund mit einer flachen Decke. Als die Eindringlinge aus dem Tunnel hereinströmten, blieben sie nach und nach stehen und verharrten wie versteinert ob des Anblicks. Es war lähmend heiß und stickig. Der vor Dampf und Qualm zähen Luft haftete ein Kupfergeschmack an. Der Raum besaß zwei obere Ebenen: breite, ringförmige Plattformen, die rings um den Rand verliefen, Laufstege aus Metall. Auf dem Boden 506 rumorte es aus den Gehäusen von Ofen, drangen rötliches Schimmern und seltsame Gase durch die Schlitze an den Seiten. Gerätschaften klapperten und ruckten, polterten durch Arbeitsabläufe, die sich dem Verständnis der Beobachter entzogen. Ringsum im Raum waren in konzentrischen Reihen aufwändige Metallwiegen angeordnet. Inmitten der Rahmen der Wiegen hingen Gewebesäcke, die wie der Magen eines riesigen Tieres aussahen. Darin schwammen in einer Flüssigkeit dunkle, von einem grünlichen, inneren Schein erhellte Formen, die aus der Ferne nur als Flecken zu erkennen waren. Benommen vom Ausmaß dessen, was sie entdeckt hatten, ging Kaiku zu einer Wiege hin und kniete sich nieder, um hineinzublicken. Es war ein Kind, ein Kleinkind, vielleicht drei Ernten alt, aber von unverhältnismäßigem Wuchs mit viel zu langen Knochen. Die winzige Brust hob und senkte sich, während das Geschöpf die Flüssigkeit ein- und ausatmete. Es trieb seitlich mit dem Gesicht zu ihr, und oben auf dem kahlen Schädel zeichnete sich die glitzernde Diamantform eines in das Fleisch eingebetteten weiblichen Nexuswurms ab. Das Gesicht, in das Kaiku schaute, war von Graten überzogen, wo die Ranken des Wurms dicht unter der Haut verliefen und sich zu den Augen, zum Mund und zur Nase erstreckten, um die sie wie dünne, purpurne Blutgefäße durchschillerten. Die Augen waren geöffnet, doch sie folgten Kaiku nicht, wenn sie sich bewegte. Und sie waren reinstes Schwarz. Ein junger Nexus. Hier züchteten die Weber sie, in diesen Waben. Wie betäubt starrte Kaiku auf das Ding in dem Tank. Cailin trat an ihre Seite. »Das also ist das Wissen, das ihr Gott ihnen schenkt?«, fragte Kaiku. »Sie versündigen sich gegen Enyu höchstpersönlich.« 507 »Das ist noch nicht alles«, sagte Cailin und deutete durch den Raum. Kaiku stand auf und ging zu drei größeren Wiegen. Die Tki-urathi hatten sich darum eingefunden und tuschelten untereinander. Dabei schnappte Kaiku ein Wort auf, das sie kannte: Maghkriin. So bezeichneten sie jene Kreaturen, die von den Fleischwerkern in Okhamba erschaffen wurden, die ungeborene Kinder in den Bäuchen ihrer gefangenen Feinde formten, um daraus entartete Mörder zu gestalten.
Als Kaiku sich den Wiegen näherte, begriff sie. Es war schwierig zu sagen, was die in den Säcken hängenden Geschöpfe ursprünglich gewesen waren oder wozu sie werden mochten. Jedenfalls bewegten sie sich ruckartig, zuckten hier mit einem Bein, krümmten dort eine Klaue. Es waren junge Ausgeburten, drei derselben Art, aber doch jede in einer anderen Form. Einer Kreatur wuchsen entlang der Arme kleine Flossen, eine andere entwickelte übergroße Zähne, während die dritte sich als wahres Bild des Schreckens erwies und zwei zu drei Vierteln ausgebildete Köpfe besaß, die in der Mitte zusammengewachsen waren, sodass die Züge der Tierfratzen aufeinander prallten und miteinander verschmolzen. In den Säcken glühte das Übelkeit erregende Licht, das Kaiku als jenes erkannte, das Hexensteine ausstrahlten. Sie hatte mit eigenen Augen gesehen, was aus den Randvätern wurde, die zu lange mit dem Staub von Hexensteinen in Berührung waren. Sie wusste, wie die Weber sich selbst durch jene geringe Menge Staub in ihren Masken veränderten. Die Weber verwendeten Hexenstein, um diese Kreaturen zu verwandeln, die vermutlich an sich schon Nachkommen entfremdeter Arten darstellten. Wie die Fleischwerker schmiedeten sie sich ihre Soldaten. Erschufen Ausgeburten durch erzwungene Verwandlung und Auslese bei der Züchtung. Waren so die Schnappmäuler entstanden? Die Nexuswürmer? Die Golneri? 508 Für Kaiku schwoll der Lärm in dem Raum ab, bis sie nur noch das Geräusch des eigenen Atems hören konnte. Sie wollte mit ihrer Macht um sich schlagen, diesen Ort verheeren, jeden einzelnen der Weber töten und ihr Treiben auf einer Welt auslöschen, die sie einst geliebt hatte. Unvermittelt fiel ihr Tane ein, der Priester Enyus, der gestorben war, um Lucia zu retten, ein Mann, der sich dem Verständnis der Natur verschrieben gehabt hatte. Ihn hätte all das hier zerstört. Die ganze Zeit, zweieinhalb Jahrhunderte lang, hatten die Weber die dunkle Kunst erlernt, Enyus Pläne zu unterwandern, indem sie diese giftschwangeren Gerätschaften verwendeten, um Enyus Vorgänge nachzuahmen und zu ihrem Vorteil zu beeinflussen. Kaiku spürte eine Hand auf der Schulter. »Wir müssen gehen«, sagte Tsata. Hinter ihm setzten die Tkiurathi sich wieder in Bewegung. Sie durchquerten den Raum und verließen ihn durch den Zugang auf der anderen Seite, dicht gefolgt von den Ordensschwestern. Unter dem schmiedeeisernen Rahmen verharrte Kaiku angespannt. »Cailin«, sagte sie, und die Oberste des Roten Ordens, die unmittelbar vor ihr gegangen war, hielt inne. Sie sah den Ausdruck in Kaikus Miene und nickte. Nachdem die letzten Tkiurathi den Raum verlassen hatten, blieben die beiden wie entfremdete Zwillinge im Eingang zurück. Ihr Äußeres einte sie auf eine Weise, die sie innerlich nicht empfanden. Das Einzige, was nun zwischen ihnen bestand, war ein gemeinsames Ziel. Kaiku vollführte eine wegwerfende Handbewegung, und die Säcke zersprangen, erbrachen eine grüne Flut. Diejenigen, die sich entlang der oberen Ebenen reihten, barsten gleichzeitig, spieen ihren säuglingsähnlichen Inhalt aus wie eine schauerliche Fehlgeburt. Ein mächtiger Schwall der Nährflüssigkeit schwappte über den Rand der Laufstege und spülte um die Stiefel der Ordensschwestern. 509 »Ich wünschte, du würdest es dir anders überlegen, Kaiku«, meinte Cailin gedehnt. »Bleib bei uns. Wir brauchen deine Stärke. Und es gibt noch so vieles, was du von mir lernen könntest.« Aber Kaiku wandte sich nur ab und stapfte den Gang hinab hinter den aufbrechenden Tkiurathi her. Cailin betrachtete die Verheerung noch kurz, dann folgte sie ihr. Der erste Angriff auf die Eindringlinge erfolgte bald darauf. Es war Cailin, die ihn spürte. Irgendwie war sie in der Lage, sich der rätselhaften Wirkung zu entziehen, die der Hexenstein hervorrief, zumindest besser als Kaiku. Kaikus Kana war nunmehr auf ihren Sichtbereich eingeschränkt. Die Wände selbst schienen vom Material des Hexensteins durchdrungen, und es war außerordentlich schwierig, durch sie hindurchzuweben. Bislang hatte sie nur Hinweise darauf erhalten, um wie viel besser Cailin ihr Kana beherrschte als Kaiku das ihre, denn Cailin hütete ihre Geheimnisse eifersüchtig; dennoch war Kaiku überzeugt, dass die Oberste und einige der fähigsten Ordensschwestern auf einer ganz eigenen Ebene wirkten. Was Cailin spürte, gab sie mit verstärkter Klarheit für jene in der Nähe wieder, und so erfuhr Kaiku davon. Verstümmelte Gefühlseindrücke von Überraschung, Schmerz und Kampf. Dann Stille und die sanfte Pein des Todes. Cailin schwieg, ging weiter voraus, und die anderen folgten ihr. Später, als sie eine weitere Reihe leer stehender Räume durchforsteten, geschah es erneut. Diesmal betraf es eine größere Gruppe von Ordensschwestern und Tkiurathi, und das Bild war klarer. Ausgeburten, unterstützt von Webern, schwärmten in einen Gang. Sie griffen planvoll die Ordensschwestern an, machten sich den Umstand zunutze, dass die Schwestern sich aufteilen mussten, um das Bauwerk zu durchsuchen. Des510 halb hatten die Weber sie hier heruntergelockt. Sie wussten, dass ihre beste Aussicht auf Überleben darin bestand, die Schwestern zu zerpflücken. Aber das stellte keine übliche Taktik der Weber dar, dachte Kaiku. In der Überzahl hätten sie sofort angegriffen. Sie schindeten Zeit, bis ihre Verstärkung eintreffen konnte. Sie befanden sich in der Verteidigung.
Wie Cailin gehofft hatte, waren sie zu Rekis Männern abgezogen und hatten zu wenige ihrer Streitkräfte zurückgelassen, um sich gegen einen solchen Überfall zu schützen. Die zweite Gruppe der Ordensschwestern ließ sich nicht so einfach überwältigen. Die Tkiurathi lieferten eine beherzte Schlacht, die immer noch andauerte, als Cailin und Kaiku in einen Hinterhalt gerieten. Die Ausgeburten brodelten aus einem Nebengang hervor, füllten die Verbindungsstelle mit ihren Körpern und stürzten heulend auf die Tkiurathi zu. Fast gelang es ihnen, die vorderste Linie zu überraschen: Sie hatten sich praktisch lautlos genähert, und die Weber hatten sie so gut vor den Ordensschwestern verborgen, dass sie in dieser schwierigen Umgebung selbst von Cailin nicht bemerkt worden waren. Aber das leise Gurren der Schrillviecher hatte sie im letzten Augenblick verraten. Die Tkiurathi begegneten dem Ansturm mit schwingenden Metzgerhaken. Die zwei Gruppen prallten aufeinander. Die Gänge waren breit genug, dass sich sieben oder acht gleichzeitig bekriegen konnten, doch in ihrer Raserei kletterten die Ausgeburten über die Köpfe der Kämpfenden, um jene dahinter zu erreichen. Die meisten wurden dabei regelrecht ausgeweidet, indem ihnen die ungeschützten Unterleiber aufgeschlitzt wurden. Die vorderste Linie der Tkiurathi brach unter dem Gewicht der Kreaturen zusammen, und die Krieger wurden entweder herausgezogen oder hingemetzelt. Aber die Okhamber schalteten die Ausgeburten schneller aus, als sie selber 511 starben. Mit einer ihrer doppelschneidigen Waffen in jeder Hand hackten sie um sich, stießen sie vor, wehrten sie ab. Die Bewegungsabläufe der Krieger und Kriegerinnen besaßen eine unheimliche Harmonie, die trotz des dichten Gedränges verhinderte, dass ihre Hiebe jene ihres Nachbarn oder ihrer Nachbarin störten. Den Webern war ein schwerer Fehler unterlaufen. Die Tkiurathi waren für den Nahkampf geboren. Ihre Waffen waren für diesen Zweck maßgeschneidert, ihre Kampftechnik auf genau solche Bedingungen zugeschnitten. Durch das Leben im Dschungel hatten sie kurze, schnelle und beherrschte Bewegungen entwickelt, damit ihre Klingen sich nicht in Ranken oder Bäumen verfingen, und ihre Instinkte waren durch Generationen des Lebens an einem der feindseligsten Orte der Nahen Welt geschärft worden. Hier in der Enge der Tunnel waren sie den Ausgeburten haushoch überlegen, die an das offene Gelände der Berge gewöhnt waren. Die Tkiurathi gebärdeten sich selbst wie Tiere, wenn sie kämpften; urtümlich und wild wichen sie aus, schlitzten sie um sich und töteten sie, bis sie im Blut ihrer Feinde badeten. Kaiku und die übrigen Ordensschwestern kümmerten sich um die Weber. Es waren nur vier, und die Ordensschwestern in Kaikus Gruppe waren ihnen allein zahlenmäßig zwei zu eins überlegen. Es kam gar nicht zu einem richtigen Gefecht. Die Schwestern griffen mit einem wirbelnden Chaos von Fäden an, dem die Verteidigung der Weber nicht gewachsen war. Kurz hielt sie stand, dann brach sie zusammen. Die Ordensschwestern bohrten sich in die Fasern der Körper ihrer Feinde, zerrissen sie, und die entfesselte Kraft verwandelte die Weber in Feuersäulen. Nachdem die Weber ausgelöscht waren, brachen sie den drei die Ausgeburten leitenden Nexussen die Genicke, woraufhin unter den Raubtieren ein heilloses Durcheinander 512 ausbrach; einige flüchteten, andere griffen sich gegenseitig an. Den Rest erledigten die Tkiurathi mühelos und schnell. Kaiku erblickte in der Nähe Tsata. Sein Atem ging heftig, er war mit Blut befleckt, und aus seinen Augen sprach eine Schärfe, die nur zu erkennen war, wenn er kämpfte. Kurz überlegte sie, was dies für die Zukunft verhieße, wie tief diese Wildheit in ihm verankert war und ob sie sich eines Tages gegen sie wenden mochte, wenn sie bei ihm bliebe. Wäre er dazu fähig? Woher sollte sie es wissen? Wie gut kannte sie ihn letzten Endes wirklich? Tsata spürte ihren Blick offenbar; er drehte sich um und sah sie an. Jäh flammten Schuldgefühle in Kaiku auf, als hätte er irgendwie erahnt, was sie dachte. Dann wandte er sich ab, und die Gruppe setzte sich in Bewegung, drang tiefer in den Irrgarten der Tunnel vor. Im Verlauf der nächsten Stunde griffen die Weber drei weitere Male an. Gruppen der Ordensschwestern, die andernorts in der Anlage suchten, wurden durch Streitkräfte unterschiedlicher Größe auf ähnliche Weise überfallen. Manche wurden überwältigt und hingemetzelt; anderen gelang es, ihre Angreifer zu töten. Cailins Gruppe, die acht Schwestern umfasste, besaß die Stärke, es mit den Webern aufzunehmen; andere waren in einer weniger glücklichen Lage. Kaiku spürte, wie sich Cailins Stimmung trübte. So teuer die Weber für ihren Plan bezahlten, er ging auf. Die Zahl der Eindringlinge schwand langsam, aber stetig, und sie hatten nach wie vor kein Anzeichen eines Weges zum Hexenstein gefunden. Sie könnten noch stundenlang durch diese gewaltigen Untergeschosse irren und indes allmählich vermindert werden; doch schon lange davor würde die Verstärkung der Weber eintreffen und durch die Stollen herabfluten. Dennoch dachte niemand daran, aufzugeben und nach oben zurückzukehren. Sie waren ihrem Ziel einfach zu nahe. Andererseits konnte auch die feindliche Armee Adderach nicht mehr fern sein. 513 Berichte über andere Orte wie jene Kammer, die Kaiku zerstört hatte, drangen zu ihnen durch. Eine Gruppe stieß auf einen riesigen Flügel mit grausigen Werkstätten voll Schmiedeöfen, Drehbänken und Schnitztischen, wo die Masken der Weber gefertigt wurden; aber es waren weit und breit keine Randväter zu sehen, denn sie waren alle an einen anderen Ort geschafft worden, wohl an denselben, an den die Golneri verschwunden waren. Auch ein
größerer Ofen befand sich in der Nähe, ein Ofen, der sich gänzlich von jenem eines Schmieds oder Handwerkers unterschied: ein schauerlicher, glutheißer Ort mit riesigen Bütten voll geschmolzenem Metall und großen Formen, wo die Ordensschwestern auf neu hergestellte Rohre, Zahnräder und andere Bauteile für die Gerätschaften der Weber stießen. Eine andere Gruppe fand einen Raum voller brüllender Maschinen, die auf und ab pumpten, und in der Mitte einen Tümpel blubbernden Schlamms, der übel riechendes Gas hervorrülpste. Ungewöhnlich war, dass ein auffälliger Mangel an Zeugnissen des Wahnsinns der Weber in den Untergeschossen herrschte: Es gab keine Leichengruben, keine wirren Kritzeleien, keine absonderlichen Standbilder. Hier herrschte nur das nüchterne Treiben der von den Webern entworfenen und von den Golneri gebauten Gerätschaften. Offenbar hielt Aricarat die Zügel seiner Untertanen in diesen unteren Gefilden enger. Ob durch Shintus Willen oder Cailins Geleit, letztlich war es Kaikus Gruppe, die den Weg nach unten aufspürte. Und sie stellten fest, dass er ihnen versperrt wurde. An der Stelle befanden sie sich unmittelbar über dem Hexenstein: Kaiku konnte ihn durch das mächtige Gewicht der Felsen unter ihren Füßen spüren. Sie hatten etwas erreicht, das eine Metallwand am Ende des Ganges zu sein schien, sich bei näherer Betrachtung jedoch als eine Art Tor erwies. Cailin legte eine Hand darauf und schloss die Augen; kurz darauf ertönte ein lautes Knirschen, und Cailin trat 514 zurück, als die Wand sich in der Mitte zu teilen begann, die zwei Hälften in Nischen zu beiden Seiten glitten. Die Kammer dahinter war von vereinzelten Gasfackeln trüb erhellt, doch sie war zu groß, als dass der Schein mehr als einen verschwommenen Kontrast zu den Schatten zu bieten vermochte, die das ferne Ende verhüllten. So wie der Brutraum war auch diese Kammer rund. Ihre Wände bestanden aus Metall, waren von Kabeln und dicken Rohren gesäumt, aus denen in regelmäßigen Abständen mit einem leisen Seufzen Dampf austrat, was den Eindruck vermittelte, als atmeten die Minen selbst. In der Mitte des Raumes befand sich ein Maschinenturm mit Zahnrädern und Ketten und einem schmucklosen Metallzugang. Sie betraten die Kammer, verteilten sich um den Eingang und betrachteten das eigenartige Gebilde vor sich. »Hier ist es«, verkündete Cailin. »So gelangen wir zum Hexenstein.« Tsata wollte einen Schritt vortreten, aber Kaiku streckte die Hand aus und hielt ihn zurück. »Das ist zu einfach«, argwöhnte sie. Etwas Mächtiges regte sich in den Schatten am Ende der Kammer, bewegte sich hinter dem Turm. Auch kleinere Schemen waren zu erkennen, selbst für Kaikus Augen seltsam undeutlich. »Das ist ein Hinterhalt!«, zischte Cailin und ließ eine Hand vorschnellen. Die Schatten krümmten sich, und ein Schleier fiel von ihrer Sicht ab. Kaiku erblasste. Zwanzig Weber, ein Dutzend Nexusse und mindestens fünfzig Ausgeburten lösten sich aus der Düsternis, von dem gelblichen Schein seitlich erhellt. Und hinter ihnen folgte etwas noch Schlimmeres. Kaiku hatte schon öfter riesige Ausgeburten gesehen; auf dem Weg durch Fo war sie vor vielen Jahren beinahe von einer getötet worden, und seither gab es von Zeit zu Zeit immer wie515 der Berichte, dass sie in den Bergen gesichtet worden waren. Aber diese Kreatur war unvorstellbar schrecklicher als jede andere, von der sie gehört hatte. An den Schultern ragte sie gut und gern sechs Meter hoch auf, ihre Haut war schwarz, ledrig und strotzte vor Sehnen. Das Ungetüm lief auf allen vieren, hatte ' flache Füße und eine gewaltige Masse. Der Schädel bestand nur aus einem Maul und Zähnen, krummen, für den Mund viel zu großen Fängen, weshalb die Schnauze heftig zernarbt und aufgerissen war. Das Ding sabberte schaumig-milchigen Speichel und Blut. Die unebenmäßigen Züge des Schädels wirkten völlig entstellt: in der linken Gesichtshälfte lag ein winziges Auge tiefer als in der rechten, fast schon über dem Wangenknochen. Ein Saum von Dornen, die irgendwo zwischen Fängen, Hauern und Hörnern einzuordnen waren, staken in willkürlichen Winkeln hervor, sprossen vom Rand des Mauls, aus der Stirn und dem Unterkiefer. Der Rücken hatte einen Grat mit denselben Stacheln, ebenso der Schwanz. Am Hals erkannte Kaiku einen Nexuswurm, der sich nur als feuchter Fleck abzeichnete. Es war eine Missgeburt, eine Bestie, hervorgebracht aus Generationen von Kreaturen, die in den Minen unter Adderach gezüchtet wurden, wo der Einfluss des Hexensteins Grauen jenseits jeder Vorstellungskraft hatte Wirklichkeit werden lassen. Obwohl ein Großteil des einstigen Bergwerks zur eigenen Sicherheit der Weber versiegelt war, zumal es selbst für sie an Selbstmord grenzte, einen Fuß in diese Tiefen zu setzen, war es ihnen gelungen, dieses eine Ungeheuer zu fangen und zu bändigen, auf dass es als Wächter dieses Ortes diente. Es lebte in einer benachbarten Kammer, in einem Raum voller Knochen und dem Gestank von Moschus und Ausscheidungen, der über einen dunklen Eingang und einen langen Gang mit diesem Raum verbunden war. Am Rand des Lichts blieben die Weber schlurfend stehen. Auch die Ausgeburten hielten inne, regten sich rastlos auf der 516 Stelle. Hinter ihnen knurrte das Riesenungeheuer, grollte tief in der Brust. Eine ganze Weile musterten die beiden Streitkräfte einander quer durch den Raum. Dann, besessen von einem Gefühl, das sie selbst nicht zu benennen wusste, einer Mischung aus Verzweiflung, Zorn und tief sitzendem, siedenden Hass, trat Kaiku vor. Das Haar hing ihr über ein bemaltes Auge, mit dem anderen starrte sie die vor ihr gescharten Weber eiskalt an.
»Ihr steht uns im Weg«, verkündete sie. Es war wie ein Funke, der auf ein Pulverfass sprang. Beide Seiten brachen in jähes Gebrüll aus, dann stürmten die Ausgeburten und die Tkiurathi aufeinander los. Kaiku tauchte ins Geweb, und das Geschehen rings um sie verlangsamte sich. Die sich ihr als Gestalten aus goldenem Gespinst präsentierenden Tkiurathi und Ausgeburten wurden durchscheinend: Sie sah, wie ihre Muskeln sich spannten und ballten, konnte beobachten, wie Luft durch verbissene Zähne in Lungen gesogen wurde, spürte die kaum wahrnehmbaren Schallwellen ihrer auf den Boden auftreffenden Schuhe und Klauen. Die Weber kamen schnell heran, doch Kaiku durchschaute ihre Taktik sofort. Sie hatten sich geteilt: Die Hälfte beschützte die Nexusse und die Riesenbestie, während der Rest angriff. Cailin und die übrigen Ordensschwestern waren bei Kaiku im Geweb, hatten die Taktik bereits abgestimmt. Dann schnellte Kaiku wie eine Spirale auf die ihr nächsten Gegner zu, zog zwei von ihnen zusammen, und als sie aufeinander prallten, verworren sie sich zu einem Ball aus Fasern und sogen sich gegenseitig ein, verhedderten sich zu einem dichten Knoten, der sich erst entwirren würde, wenn entweder Kaiku oder die Weber tot waren. 517 Tsata sprang über den Hieb der Sichelklaue eines Schrillviehs hinweg und ließ seine Knlha abwärts sausen, durchtrennte dem Raubtier halb das Vorderbein. Er landete ein Stück hinter dem Vieh und überließ es seinen Gefährten, während er selbst sich eines Ghauregs annahm. In solchen Augenblicken des Kampfes verspürte er eine unvergleichliche Ruhe, bündelte er seine Aufmerksamkeit so vollkommen, wie es ihm bei keiner anderen Tätigkeit möglich war. Im Schwung und Zustoßen seiner Metzgerhaken, im Tanz seines Körpers, wenn er den Hieben seiner Feinde um wenige Fingerbreit auswich, spürte er, wie die Spreu des Daseins von ihm abfiel wie Laub von Bäumen. Er war, wie seine okhambischen Ahnen gewesen waren und vor ihnen deren Vorväter, bis zurück zu jener Zeit, bevor die Zivilisation die Menschheit berührt hatte. Er war ein Jäger, ein Raubtier, ausgerichtet auf einen einzigen Zweck. Angst vor dem Tod verspürte er nicht. Der Tod war schlichtweg unmöglich. Der Ghaureg griff nach ihm. Tsata duckte sich unter dem Ellbogen hindurch und vergrub den Metzgerhaken bis zum Heft in der Achselhöhe des Ungetüms, drückte ihn in die Richtung des Herzens. Die Kreatur schwang unwillkürlich rückwärts mit dem Arm nach ihm, doch er hatte diesen Zug erwartet und ließ sich zu Boden fallen; dann stemmte er den Fuß gegen die Rippen des Ghauregs und riss mit einem flinken Ruck die Klinge heraus. Blut spritzte aus der Wunde, und das Ungetüm sackte zusammen. Hinter ihm krachten Büchsen, und er sah, wie eine Ausgeburt, die er nicht einzuordnen vermochte, mit zersprengtem Schädel fiel. Da die Tkiurathi nunmehr die Enge der Stollen hinter sich hatten, konnten sie ihre Fernwaffen einsetzen, ohne die eigenen Gefährten zu gefährden. Einige schalteten aus sicherem Abstand Ausgeburten aus, andere hingegen feuerten auf die Nexusse, die sich in den Schatten verbargen, wodurch die Weber alle Hände voll zu tun hatten, um ihre Knechte zu beschützen. 518 Kaiku bekam von alledem nichts mit: Ihre Welt war auf das wirre Huschen innerhalb des Gewebsknotens geschrumpft, auf das Schlachtfeld zwischen ihr und den beiden Webern. Bestärkt durch ihre zahlenmäßige Überlegenheit griffen die beiden sie begierig an; Kaiku wehrte sie kaum ab. Stattdessen spann sie sich zu einem dichten Verteidigungsball in der Mitte des Knotens und schützte sich so vor dem Ansturm der Weber. Unablässig bedrängten sie Kaiku, zupften an losen Fäden, versuchten, sie zu entwirren. Sie blieb eingerollt wie ein Igel, schusterte innerhalb der Grenzen ihrer Verteidigung ein Gebilde. Die vom jähen Abflauen ihrer Angriffslust verdutzten Weber zeigten sich fest entschlossen, zu ihr durchzudringen. Sie verzwirbelten sich miteinander und bohrten sich als eine Einheit nach innen vor. Selbst Kaiku war außerstande, einem solchermaßen vereinten Vorstoß standzuhalten; ihr Ball löste sich, versprengte seine Fäden in alle Winde. Darin erwartete sie ein Irrgarten, ein unlösbares Gewirr von Strängen ohne Anfang und ohne Ende; die Weber stürzten mitten hinein und waren verloren. Kaiku verweilte gerade noch lange genug, um sich zu vergewissern, dass sie nie herausfinden würden, dann hechtete sie zurück in die Schlacht. Eine der Ordensschwestern war gefallen, aber immerhin waren auch vier Weber aus dem Geschehen genommen. Kaiku ließ sich von ihrem Hass und Zorn zu neuem Schwung anspornen. Dies war ein Kampf, den zu verlieren sie sich nicht leisten konnten. Es stand weit mehr als ihre eigenen Leben auf dem Spiel. Indes machte sich in der wahren Welt die Riesenausgeburt bemerkbar. Brüllend schnappte und stampfte sie zwischen den Kämpfenden umher. Der Boden erbebte ob der Wucht. Tkiurathi umschwärmten das Ungeheuer, versuchten, es zu Fall zu bringen, doch es erwies sich als zu groß. Das von seinen 519 Kiefern tropfende Blut legte Zeugnis von den Dutzenden Leben ab, die es sich bereits geholt hatte. Die Ordensschwestern taten ihr Bestes, um zu der Bestie vorzudringen, ihr Herz anhalten zu lassen oder sie zu blenden, aber die Weber bündelten ihre schärfsten Schutzmaßnahmen darauf, und es waren zu wenige Schwestern, um sie zu durchbrechen. Tsata befand sich unter jenen, die das Ungeheuer angriffen. Seine Bemühungen blieben nutzlos. Geduckt preschte er vor und versuchte, mit der Klinge die Kniesehne des Vorderbeins zu durchschneiden, doch selbst sein kräftigster Schwung hinterließ wenig mehr als einen seichten Kratzer an der Haut der Kreatur. Ein anderer
Tkiurathi zu seiner Linken wollte an den Nexuswurm heran, der das Ungetüm bändigte. Die Ausgeburt fuhr mit dem Kopf zur Seite und spießte ihn mit den Stacheln auf, dann schleuderte sie ihn kreischend hoch in die Luft, aus der sie ihn unter dem Knirschen brechender Knochen mit dem Maul auffing. Tsata erspähte die Furie, die auf ihn zupreschte, aus dem Augenwinkel und bewegte sich gerade noch rechtzeitig. Die keilerähnliche Ausgeburt schlitterte an ihm vorbei und bekam die Klinge eines anderen Tkiurathi in die Schädelseite. Das Tier prallte in einen Haufen, wonach es aus den Augen blutend liegen blieb. Tsata schaute zu dem Mann auf, der es erlegt hatte. Es war Heth. Sein Haar war nass vor Schweiß, die Augen in dem tätowierten Gesicht leuchteten. Er bedachte Tsata mit einem ernsten, eindringlichen Blick, dann deutete er mit dem Kopf auf das brüllende Ungeheuer, das eine Spur der Verwüstung durch ihr Volk zog. »Ich spiele den Lockvogel«, sagte er auf Okhambisch. »Du tötest das Ding.« Tsata reckte seinem Freund das Kinn entgegen, wohl wissend, dass Heth wahrscheinlich mit dem Leben für seinen Einsatz bezahlen müsste. Dennoch ließ keiner der beiden das 520 geringste Anzeichen von Zögern erkennen. Es war eine Frage des Pash. Kaiku spürte die Woge des Alarms durch das Geweb selbst durch die dämpfende Wirkung des Hexensteins und wusste, was sie bedeutete, noch bevor Cailin sie verstärkte und aufklarte. Sie stammte von einer der Ordensschwestern in einem anderen Teil des Bauwerks, und die Botschaft war schlicht. Die feindliche Armee war eingetroffen und strömte bereits durch Adderach. Kaiku fühlte, wie die Klauen blanken Grauens sie umschlossen. Nicht ob der Aussicht zu sterben: Der Tod war etwas, das sie in diesem Augenblick nicht fürchtete, ein Teil ihrer selbst sogar willkommen hieße. Vielmehr war es die Vorstellung, dass sie versagen könnte, nachdem sie so nah daran war, ihren Eid gegenüber Ocha zu erfüllen, ihre Familie zu rächen. Sie verdoppelte die Heftigkeit ihrer Angriffe, aber es war hoffnungslos. Die Weber hatten sich eingeigelt, denn sie wussten dasselbe wie die Ordensschwestern. Sie brauchten lediglich noch ein paar Minuten zu bestehen, dann würde die Verstärkung eintreffen. So wird es nicht enden, redete sie sich ein, doch es war ein hohler Gedanke. Es gab nichts, das sie dagegen unternehmen konnte. ((Schwestern)) sandte Cailin. ((Die Zeit ist abgelaufen)) Darauf folgte eine Flut von durch Empfindungen vermittelten Anweisungen. Kaiku stellte sie nicht in Frage. Die Ordensschwestern bewegten sich in vollkommenem Einklang, brachen ihre Angriffe ab und wirbelten sich in Raserei, schlugen trügerische Widerhalle an und woben einen Schirm der Verwirrung. Mit jenem Teil ihres Verstandes, der die in der Kammer tobende Schlacht der körperlichen Welt mitverfolgte, sah Kaiku, wie Cailin eine zierliche Klinge aus dem Gewand her521 vorholte. Ihr blieb nur ein Augenblick, um sich zu fragen, was sie damit zu erreichen hoffte, bevor Cailin verschwand. Etwas Derartiges hatte Kaiku noch nie bezeugt. Selbst die Vorführung, die Cailin ihr in Araka Jo gewährt hatte, als sie bewirkt hatte, einfach nicht da zu sein, war kümmerlich im Vergleich zu dieser Leistung. Denn gleichzeitig mit ihrem körperlichen Verschwinden löste sie sich im Geweb auf, zerlegte sich ihr innerstes Wesen in seine einzelnen Fasern, die gleich einem großflächigen Blitz fortrasten, bevor sie sich an einer anderen Stelle wieder zusammenfügten. Wieder und immer wieder schnellte sie durch das Geweb bald hierhin, bald dorthin, ehe sie letztlich an ihren Ausgangspunkt zurückkehrte und wieder erschien. Binnen eines einzigen Herzschlags war sie in blitzschneller Abfolge hinter mehreren Webern aufgetaucht, so kurz und flink, dass es beinah gleichzeitig erschien, und jedes Mal stach sie mit der Klinge zu. Dann war sie wieder dort, wo sie begonnen hatte. Das ganze Schauspiel hatte sich so rasch zugetragen, dass man es für eine Täuschung des Gehirns halten mochte. Aber auf der fernen Seite des Raumes brachen in der Düsternis der Schatten acht Weber mit durchstochenem Nacken zusammen. Kaiku verschlug es die Sprache. Sie hätte nie für möglich gehalten, dass Cailin zu etwas Derartigem in der Lage war; kein Wunder, dass sie die Weber völlig überrumpelt hatte. Einen Moment lang hatte sie einen Blick auf die unausgeloteten Tiefen ihrer eigenen Fähigkeiten erhascht, hatte gesehen, wozu sie selbst imstande sein könnte, wenn sie Cailins Angebot annähme und in den Schoß des Ordens zurückkehrte. Doch jetzt war keine Zeit für derlei Grübeleien. Die Weber zeigten sich durch den erlittenen Verlust erschüttert, und die Ordensschwestern, die den Sieg witterten, schleuderten sich in den Angriff. 522 Die Riesenausgeburt schwang den Schädel in Heths Richtung und heftete den Blick auf die verschwommene Gestalt zu ihren Füßen. Allmählich entwickelte das kleine Ding sich zu einer Plage: Schon zwei Mal hatte die Ausgeburt versucht, Heth zu fassen zu kriegen, aber er duckte sich ständig außer Reichweite. Verärgert hechtete das Ungeheuer auf ihn zu. Heth sprang zurück, als die mächtigen, klaffenden Kiefer auf ihn zustürzten, und als sie zuschnappten, befand er sich nicht dazwischen. Als der Schädel herabsauste, huschte Tsata von der Seite heran, zielte mit dem Metzgerhaken auf den Hals der Kreatur, wo der Nexuswurm glitzerte. Die Klinge traf einen der zahlreichen Gesichtsdornen der Ausgeburt und prallte davon ab. Tsata war gezwungen zurückzuweichen, um nicht aufgespießt zu werden, als die Bestie den Kopf wieder hochriss.
Heth rannte bereits in eine neue Stellung, und Tsata folgte ihm, hielt sich dabei von den anderen Ausgeburten fern, die in Gefechte mit seinen Brüdern und Schwestern verstrickt waren. Er nahm sich einen Augenblick, um zu Kaiku zurückzuspähen, doch sie war zwischen den anderen Schwestern nicht auszumachen, und er hatte keine Ahnung, wie ihre Bemühungen verliefen. Für ihn gab es nur ein Ziel: Diese Bestie zu Fall zu bringen. Und mit jedem Fehlschlag zwang er Heth, sich einmal mehr zum Köder zu machen. Nur war die Kreatur zu gut gepanzert, wodurch aus einem ohnehin schwierigen Ziel ein nahezu unmögliches wurde. Weiß traten seine Knöchel um den Griff seiner Kntha hervor. Beim nächsten Mal würde er nicht versagen. Mittlerweile verfolgte die Riesenausgeburt Heth und schenkte den anderen Tkiurathi keine Beachtung, die wirkungslos auf ihre Beine und ihren Schwanz einhackten. Heth schaute zu Tsata, um sich zu vergewissern, dass dieser nah genug war; doch just in dem Augenblick, in dem Heth die Aufmerksamkeit von der Kreatur abwandte, schlug sie zu. 523 Heth wich überhaupt nur deshalb aus, weil er den Schreck in Tsatas Gesicht sah, aber er war zu langsam. Die Kiefer der Bestie schlössen sich mit einem abscheulichen Knacken um seinen hinter ihm zurückhängenden Arm. Heth schrie auf; Blut spritzte zwischen den Zähnen des Ungetüms hervor. Es schüttelte ihn heftig, zerrte an ihm und riss ihm den Rest des Armes ab. Dann war Tsata zur Stelle. Der Schädel des Viehs war tief über den Boden herabgesenkt, und Tsata schleuderte sich seinem Ziel entgegen. Jäh loderte Schmerz in seinen Rippen auf: Das Ding hatte sich etwas gedreht, wodurch es ihm einen der Stachel in die Seite gerammt hatte. Dennoch holte er mit dem Metzgerhaken aus und vergrub ihn im weichen, schleimigen Fleisch des Nexuswurms, dann verdrehte er die Klinge mit einem heftigen Ruck. Die Bestie brüllte auf, zuckte krampfhaft; Tsata wurde emporgehoben und fortgeschleudert. Ein paar grauenhafte Augenblicke segelte er durch die Luft, dann landete er mit einem lauten Knacken Hals über Kopf auf dem harten Boden. Aber die Bestie ging in die Knie. Ihre Beine gaben nach, als der Nexuswurm verendete; sie taumelte seitwärts und brach mit einem donnergleichen Dröhnen zusammen, zermantschte unter seinem mächtigen Leib Ausgeburten und Tkiurathi gleichermaßen. Der Tod des Wurmes, der sich so dicht mit seinem Gehirn und seinen Nervensträngen verwoben hatte, löste zugleich einen Schlag und einen Herzanfall aus, und nach heftigem Zucken stieß die Bestie ein blubberndes Seufzen aus und lag still. Die Weber zerfielen alle gleichzeitig in Stücke. Der Rest der ihren hatte seine Bestrebungen verzweifelt zu einer vereinten Verteidigung gebündelt, doch letztlich waren sie außerstande, der Wucht des rasenden Ansturms der Schwestern vom Roten 524 Orden noch länger standzuhalten. Die sechs noch übrigen Ordensschwestern zerfetzten die verbliebenen acht Weber, zersprengten sie von innen heraus zu einem flammenden Regen aus Fleisch und Knochen. Danach artete das Gefecht in ein einseitiges Gemetzel aus. Als Nächstes nahmen die Schwestern sich die Nexusse vor. Die schwarz gewandeten Geschöpfe entzündeten sich wie Fackeln, loderten stumm vor sich hin. Sie ließen keine Anzeichen von Schmerz erkennen, gaben keinen Laut von sich, brachen nur zu brennenden Haufen zusammen. Mit ihren Meistern verloren die Ausgeburten auch den Verstand; einige flüchteten, einige kämpften weiter, doch die Tkiurathi waren immer noch stark, die Ausgeburten hingegen nunmehr um die Hälfte geschwächt. Die restlichen Raubtiere wurden von den Ordensschwestern oder den Tkiurathi ausgelöscht, danach herrschte Stille. Für Kaiku fühlte es sich wie das Erwachen aus einem Traum an, als ihr zu Bewusstsein geriet, dass der Kampf zu Ende war. Dafür schwoll nun ein neues Geräusch an. Das Gebrüll einer herannahenden Horde, das durch den Zugang drang, durch den sie die Kammer betreten hatten. Die Verstärkung der Weber traf ein. »Verschließt das Tor!«, rief Cailin, und die Schwestern gehorchten umgehend. Mit einem Ruck setzte sich der Antrieb des Metallverschlags in Bewegung; die beiden Hälften glitten aus ihren Nischen und schlössen sich mit schleifendem Geräusch. Der Klang ihrer Feinde wurde lauter und lauter, bis Kaiku vermeinte, sie müssten sich bereits unter ihnen befinden. Dann erscholl ein widerhallendes Krachen, und das Tor war geschlossen. Kaiku wandte sich ab, hielt Ausschau nach Tsata und fand ihn kniend vor, einen Arm mit dem anderen stützend. Seine Hose war schwarz vor Blut, das aus der großen Lache rings um ihn den Stoff durchtränkt hatte. Heth lag mitten darin. Seine 525 gelbliche Haut war erbleicht, seine Tätowierungen wirkten blass. Ein Arm war ihm abgerissen worden; zurückgeblieben war nur eine nassklebrige Masse an der Schulter, durch die ein Knochenstumpf hervorragte. Er war tot. »Tsata ...«, murmelte sie, ehe ihr klar wurde, dass sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Er schaute nicht auf. Kaiku bemerkte, dass sein linker Unterarm in einem sonderbaren Winkel geknickt war und er ihn sich an die Brust drückte. »Lass mich das heilen ...«, setzte sie an, doch Cailin fegte zu ihr heran. »Kaiku. Komm mit. Jetzt gleich«, forderte die Oberste des Roten Ordens sie auf. Sie schaute auf Tsata hinab. »Es wird nicht lange dauern, bis die Weber durch dieses Tor gelangen. Wir brauchen so viel Zeit, wie ihr uns verschaffen könnt.« »Ihr sollt jeden Augenblick haben, den unsere Leben zu erkaufen vermögen«, gab er leise zurück, hob den Kopf
aber immer noch nicht an. Cailin warf einen letzten Blick auf Kaiku, dann hielt sie auf die Tür in dem Turm zu, auf die auch die übrigen Ordensschwestern zusteuerten. Kaiku harrte noch kurz aus, wollte etwas zum Abschied sagen ... Doch es gab keine Worte, die ihren Kummer auszudrücken vermochten, nichts, das in der Lage gewesen wäre, seinen Schmerz zu lindern. Am Ende wandte sie sich nur ab und stapfte wortlos davon. Sie war die Letzte, die durch die Tür trat, und sobald sie sich im Innern des Turms befand, nützte Cailin ihr Kana, um die Wirkungsweise des Machwerks zu entschlüsseln und es in Gang zu setzen. Mit einem metallischen Quietschen schloss sich die Tür. Kaikus Blick blieb auf Tsata geheftet, bis er aus ihrem Sichtfeld verschwand. Mit einem Ruck setzte der Aufzug sich abwärts in Bewegung, und sie fuhren hinab in Richtung des Hexensteins. 526 Zweiunddreißig Keine der Ordensschwestern sprach, während die Maschine surrte und quietschte. Sie spürten zwar durch das Gefühl in ihrem Magen, dass es abwärts ging, aber sie waren im runden Metallraum des Aufzugs eingepfercht, in dem sie nur sich selbst zum Anschauen hatten. Mit jedem Lidschlag wuchs die Macht, die der Hexenstein ausstrahlte, wurde sie wilder und heftiger. Cailin hatte die Tkiurathi nicht mitgenommen, weil sie glaubte, sie würden eine solche Nähe zu dem Ding nicht überleben; Kaiku fragte sich mittlerweile, ob der Rote Orden selbst überhaupt dazu in der Lage sein würde. Dieser Hexenstein war wesentlich älter als jener, den sie vor langer Zeit in einem Bergwerk zerstört hatte, älter sogar als der Stein, der in Utraxxa zersprengt worden war. Er stellte gleichsam das Herz eines Gottes dar, und sein bloßer Anblick mochte reichen, um sie zu töten. Nach einer scheinbaren Ewigkeit hielt der Aufzug stotternd an. Eine unheilschwangere Stille folgte. Dann öffnete sich die Tür. Die Gewalt der Gegenwart des Hexensteins ließ die Ordensschwestern aufschreien und zurückschrecken, die Arme unwillkürlich vor die Augen reißen, als könnten sie durch das Aussperren der Helligkeit auch seine Kraft dämpfen. Zuvor hatte sie das dicke Metall des Aufzugs geschützt; jener Schranke beraubt, wurden sie gebeutelt wie von einem Wirbelsturm. Kaiku fiel rücklings auf den kalten, harten Boden, federte den Fall mit dem Arm ab. Das Geweb glich einem Mahlstrom, der so heftig wirbelte, dass sie körperlich umgeworfen wurde. 527 Sie rang um Herrschaft, versuchte gleichsam, auf den Wirren zu reiten, ehe sie vollends davon hinfort gefegt wurde. Allein die Berührung des Hexensteins fühlte sich faulig an, besudelte die goldenen Fäden mit Schwärze, mit einem klebrigen Morast böswilliger Finsternis. Die blanke Wut Aricarats war greifbar, ein Hass so rein, dass er sie in den Wahnsinn zu treiben drohte. Doch irgendwie bewerkstelligte es Kaiku, lange genug standhaft zu bleiben, um eine Haut um sich zu nähen, einen schützenden Kokon, der den schlimmsten Ansturm abhielt. Sie fand ihr Gleichgewicht wieder und ließ sich von dem Mahlstrom umherwirbeln wie ein Boot in stürmischen Gewässern. Dann machte sie sich daran, jene Ordensschwestern zu retten, denen dies noch nicht gelungen war. Letzten Endes festigten sie sich so weit, dass sie wieder stehen konnten; aber Kaikus Kana spürte die Anstrengung bereits, und sie wusste, dass sie sich so nicht lange zu halten vermochte. Gemeinsam wankten sie aus dem Aufzug und in die Kammer des Hexensteins. Er war unvorstellbar riesig, füllte die Höhle mit gut dreißig Metern Höhe und wohl fünfzehn Metern Breite aus. Eine erkennbare Gesamtform besaß er nicht; es handelte sich einfach um eine Masse, einen schartigen Gesteinsklumpen, über dessen gesamte Oberfläche Wurzeln und Auswüchse wucherten, aus denen sich wiederum andere verzweigten. Es war ein heilloser Wildwuchs, der sich zu einer lächerlich anmutenden Unmenge vervielfacht hatte, bis zwischen den einzelnen Verästelungen kaum noch Platz vorhanden war. So wie die anderen Hexensteine erstreckte er sich in die Wand der ihn umgebenden Höhle, verschmolz gleichsam mit ihr; aber im Gegensatz zu den anderen erwiesen sich seine Ranken als so dicht, dass es beinahe unmöglich zu erkennen war, wo der Hexenstein endete und die Höhle begann. Er hatte sich fast völlig an seine Umgebung angeglichen. 528 Der grelle Schein des Hexensteins badete die Gesichter der Ordensschwestern, als sie sich krümmend in seine Gegenwart begaben und dabei scharf umrissene Schatten auf den aufgerissenen Boden warfen. Mehrere mächtige Wurzeln ragten über ihnen auf, ließen sie im Vergleich dazu zwergenhaft wirken. Aber Cailin richtete sich auf; das widernatürliche Licht ließ ihre Züge hässlich erscheinen, als ihre Stimme durch die Kammer hallte. »Schwestern! Reinigt unser Land von dieser Abscheulichkeit!« Kaiku stählte sich und ließ ihr Kana auf den Hexenstein los. Das allmächtige, pulsierende schwarze Gewirr erfüllte ihre Welt und umhüllte sie. Die Berührung fühlte sich wie Säure an, doch ungeachtet des Brennens kämpfte sie, um das Gespinst des Hexensteins zu entwirren, einen Halt zu finden, um in ihn einzudringen. Seine Strahlung war so schrecklich, dass selbst die Weber nicht in der Lage gewesen waren, sich ihm zu nähern, um Sprengladungen an ihm anzubringen, wie sie es in Utraxxa getan haben mussten. Die Schwestern vom Roten Orden brauchten sich lediglich in ihn vorzubohren, und schon befänden sie sich mitten im Netzwerk der Hexensteine, wären in der Lage, sich auf jeden einzelnen in Saramyr auszubreiten. Aber jeder Augenblick, den
sie vergeudeten, brachte den Moment näher, in dem die Weber die anhaltenden Verteidigungen durchbrechen würden, welche die Ordensschwestern am Tor in der Kammer über ihnen zurückgelassen hatten. Dann würden die Tkiurathi - würde Tsata -getötet, und als Nächstes kämen die Schwestern an die Reihe. Die Weber würden einen Aufzug voller Ausgeburten herab senden, und das wäre das Ende. Zähneknirschend schabte und kratzte Kaiku wie besessen an dem Hexenstein, doch vergeblich. Enttäuschung und Ärger wallten in ihr auf. Sie fand inmitten der grässlichen 529 Masse keine Lücke, die ihr Zugang zu dem Ding verschaffen konnte: Die äußere Verteidigung war zu dicht gesponnen. Noch keine Ordensschwester hatte sich je in einen Hexenstein gewoben, und nun mussten sie alle feststellen, dass sie die Schwierigkeit erheblich unterschätzt hatten. Cailin sandte an alle eine Anweisung, woraufhin sie sich durch das wirbelnde Chaos kämpften und sich miteinander vernähten. Als eine dünne Nadel geballter Zielstrebigkeit stachen sie auf den Hexenstein ein, bohrten sich in ihn; aber unglaublicherweise hielt er dem Angriff stand. Eine Winzigkeit drangen sie vor, ehe die Spitze der Nadel stumpf wurde. Abermals versuchten sie es, mit demselben spärlichen Erfolg. Die Ordensschwestern begannen, alles nur Erdenkliche auszuprobieren. Sie versuchten, sich aufzulösen, wie Gas durch die Poren einer Membran einzusickern; sie griffen ihn zugleich aus verschiedenen Winkeln an; sie machten sich daran, ihn zu schälen wie eine Zwiebel. Nichts zeigte Wirkung. Der Hexenstein blieb unantastbar, und selbst ihr emsigstes Bestreben vermochte nicht einmal, ihn zu kratzen. Kaiku war erschöpft. Allein die geistige Belastung, sich in der Nähe des Steins aufzuhalten, wurde allmählich zu viel, und darüber hinaus noch zu weben höhlte sie bis aufs Letzte aus. Obendrein wurde ihr Kana abgelenkt, um Schäden zu beheben, die ihrem fleischlichen Körper zugefügt wurden. Kaiku konnte spüren, wie die heimtückischen Strahlen des Hexensteins sie veränderten, winzige Anpassungen vornahmen, kleine Geschwüre verursachten und gleichermaßen ungewöhnliche und widernatürliche Vorgänge anstießen. Ihr Kana ging ohne Kaikus bewusstes Zutun gegen diese Beeinträchtigungen an, sobald sie auftraten. Sie plumpste aus dem Geweb und stellte fest, dass sie auf Knien auf dem rauen Boden der Höhle kauerte. Ihre Beine waren nicht länger in der Lage gewesen, sie zu tragen. Mit schmerzendem Körper japste Kaiku nach Luft. 530 Bei den Geistern, nein. Wir sind so nahe dran. Wir dürfen hier nicht versagen. Ocha, Kaiser der Götter, hilf uns jetzt, wenn du kannst. Hilf mir, meinen Eid zu erfüllen. Zeig mir, wie ich dieses Übel beenden kann. Und die Antwort dämmerte ihr. Eine so schreckliche Möglichkeit, dass Kaiku sie zunächst kurzerhand verworfen hatte, nun jedoch erkannte sie mit wachsender Verzweiflung, dass es die einzige Möglichkeit war, die sie noch hatten. Sie spürte das fruchtlose Einhämmern der Ordensschwestern auf den Hexenstein und wusste, dass selbst Cailins außerordentliches Können ihnen jetzt nicht zu helfen vermochte. Kaiku dachte an alles, was dem Untergang geweiht wäre, wenn die Ordensschwestern hier versagten. An all die Schönheit, an die sie sich aus Kindeszeiten besann: die Rinji-Vögel auf dem Kerryn, die durch die Blätter des Waldes von Yuna brechende Sonne, das funkelnde Wasser der Mataxa-Bucht. All das würde zu einer bloßen Erinnerung verkommen, und irgendwann verblassten selbst Erinnerungen. Der Himmel würde sterben. Und nachdem die Nahe Welt untergegangen wäre, nachdem ihr Planet wie mit einem Leichentuch verhüllt wäre, würde Aricarat sich weiter ausbreiten, in was immer jenseits dieser Welt liegen mochte. Es war zu viel, zu viel Verantwortung, um sie zu begreifen. Und so dachte sie nur an Tsata. Sein Leben wollte sie retten, so sie konnte. Selbst wenn sie das eigene dafür eintauschen musste. Um des Pash willen. Mit diesem Gedanken holte sie die höhnisch grinsende, rot und schwarz bemalte Maske aus dem Gewand und stülpte sie über den Kopf. »Kaiku!«, kreischte Cailin, als sie sah, was Kaiku tat. »Kaiku, nicht!« Mit der Maske im Gesicht begann Kaiku zu weben. 531 Die Welt zerbarst; zurück blieben nur Wahnvorstellungen und Schmerz. Jeglicher Sinn verflog, vernünftige Gedanken wirkten mit einem Schlag fremdartig. Es gab keine Kaiku mehr, überhaupt kein eigenes Selbst, sie war ein Teil von allem, eingegliedert in alles, ein Windhauch in einem tosenden Wirbelsturm der Unordnung. Doch dann spürte sie ein sanftes, aber beharrliches Zupfen, das sie lockte. Aus einem ihr unerklärlichen Grund fühlte es sich tröstlich an, und sie trieb darauf zu. Nach und nach fügten sich die verstreuten Teile ihres Bewusstseins zusammen, streckten Ranken der geistigen Gesundheit nacheinander aus, verdichteten sich um den warmen, segensreichen Empfindungsklumpen, der sie angezogen hatte, zu einem Gefüge. Vater. Er war es. Oder vielmehr war es jener Teil seiner selbst, den ihm die Maske vor all der Zeit geraubt hatte, ein Abdruck seiner Gedanken und seines Verstandes, den Kaiku unterbewusst erkannt und zu dem es sie hingezogen hatte. Sie wünschte, sie könnte ihn einsammeln, gleich einem Schatz bewahren; doch es war nur eine blasse Erinnerung, ein Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit, das sie vor langer Zeit verloren hatte. Das die Weber ihr gestohlen hatten. Kaiku rang, um die Herrschaft über den Wahnsinn rings um sie zu erlangen. Zorn flammte in ihr auf, Zorn darüber, dass ihr dieses Heiligtum von ihren Feinden gestohlen worden war, dass ihr Vater so zerbrochen worden war, dass er die eigene Familie lieber vergiftet hatte, als sie den Webern in die Hände fallen zu lassen.
Schatten ihm das angetan. Sie! Mit übermenschlicher Willensanstrengung zog sie sich selbst zusammen, bis sie wieder Kaiku war. Sie befand sich in der Maske, in den Fasern, die das Holz und die Bemalung bildeten. Und sie war in dem Hexensteinstaub, jenen winzigen Teilchen der gewaltigen Wesenheit, die 532 zu zerstören sie gekommen waren. Sie stellten einen Teil ihrer Umgebung dar, krümmten das Geweb unnatürlich, besudelten und schändeten sie. Sie sah den Schwachsinn, den sie hervorriefen, sah, wie sie das Geweb auf eine Weise brachen, die zu verstehen selbst ihr schwer fiel. Kein Wunder, dass der Staub die Weber letzten Endes in den Wahnsinn trieb. Kein Wunder, dass die Schwestern vom Roten Orden nie gewagt hatten, dies zu versuchen. Nur weil die Maske außergewöhnlichjung und somit schwach war und weil Kaiku sie schon öfter getragen hatte und sich dadurch an sie gewöhnt hatte, konnte sie beim Eintritt ins Geweb verhindern, dass sie den Verstand vollends verlor; deshalb, und weil ihr Vater vor ihr hier gewesen war. Kaiku ließ sich in die dunklen Fäden des Hexensteinstaubs einsinken. Sie erwiesen sich als verstandlose Teilchen, die nicht von dem Hass Aricarats besessen waren, dennoch aber lebten sie. In diesen kleinen Teilchen wimmelte es vor einer Unzahl unendlich kleinerer Lebensformen, so winzig, dass Kaiku sie lediglich spüren, nicht aber erkennen konnte. Und sie besaßen eine tief verwurzelte Erinnerung und eine innewohnende Macht. Jedes Einzelne verfügte über einen winzigen Hauch von Energie, jener Kraft, die Pflanzen und Fleisch in neue Zusammensetzungen krümmte. Sie glichen verschwindend kleinen Schaltstellen: Für sich selbst waren sie rein gar nichts, doch in einer Gruppe stellten sie Verbindungen untereinander her, durch die sie größer als die Summe ihrer Teile wurden. Als Kaiku sie berührte, zuckte durch ihren Verstand ein Blitz des Begreifens. Sie begriff, wie diese Lebensformen Verbindungen miteinander eingingen, wie diese Verbindungen sich mit wachsender Zahl der Lebensformen überverhältnismäßig vervielfältigten, bis sie so verschlungen wurden, dass sie ein Bewusstsein entwickelten, ähnlich den Vorgängen im Gehirn eines Menschen. Wie die Lebensformen sich endlos vermehrten, sich zu Heerscharen vereinigten, ihre Verstandeskraft, 533 ihre Fähigkeiten mit dem Verbund wuchsen, bis sie die menschliche Vorstellungskraft überstiegen. Und wie sie mit dem Anschwellen ihres Verbundes die von ihnen ausgehende Kraft erhöhten. Einst hatten diese Teilchen einen ganzen Mond beherrscht, bis der Speer Juranis ihn zerstörte. Der Gott war zerschmettert worden, und die Teile waren auf Saramyr herabgeregnet. Aber die Lebensformen in den Felsbrocken hatten überlebt: ohne Bewusstsein, dumm, wieder wie Neugeborene, aber lebendig. Und einige Trümmer, wie jenes unter Adderach, waren groß genug gewesen, um ihren Einfluss auf die schwachen Verstände der Menschen auszuüben, als diese sie endlich freilegten. Dann entdeckten sie Blut, das es auf dem Mond nicht gegeben hatte; sie wandelten dessen innewohnende Energie in Kraft um, bauten Pfade, veränderten den Fels, der sie schützte, um das Geflecht besser zu verteilen, das voll der Nährstoffe steckte, die sie brauchten, um zu wachsen. Den Aufbau übernahmen sie von den Geschöpfen, die sie entdeckt hatten. Sie schufen Herzen und Blutgefäße, die sie verwendeten. Jetzt kenne ich dich, dachte sie voll Ingrimm. Und damit griff sie den Hexenstein an. Sie brach aus der Maske hervor und schnellte durch das Geweb auf das siedende Knurren ihres Feindes zu. Am Rande nahm sie das Entsetzen der Ordensschwestern wahr, als sie an ihnen vorbeiraste, dann prallte sie auf die Haut der Verteidigung des Hexensteins. Doch diesmal war es anders. Sie hatte die winzigen Fasern gefunden, über welche die Maske mit ihrem Elternteil genauso verbunden war, wie die größeren Stränge die Hexensteine im ganzen Land miteinander verbanden. Und Kaiku glitt auf diesen Fasern entlang, sauste auf ihnen nach innen und drang endlich in den Stein selbst ein. Der Schreck des Hexensteins äußerte sich als Geschmetter, das sie fast betäubte. Er wusste, dass sie hier war, wusste, dass sie 534 sich in seinem Innersten befand. Kaiku spürte die Milliarden und Abermilliarden Lebensformen, die sie umgaben, die zermalmende Fäulnis ihrer Gegenwart. Und dort, mitten im Kern, fand sie eine Schaltstelle, eine Verbindung von Ranken, die sich jeweils zu einem anderen, fernen Hexenstein fortschlängelten, diesen in das Netz einbanden, ihn zu einem Knotenpunkt in dem unergründlichen Verstand machten, den das Volk von Saramyr Aricarat nannte. Doch dann begann die Welt um Kaiku zu zerfallen. Die Fäden des Gewebs spannten sich und rissen. Und Kaiku begriff voll Grauen, was vor sich ging, und zugleich, was dem Hexenstein in Utraxxa widerfahren war. Er war gar nicht von den Webern zerstört worden. Vielmehr hatte er erkannt, dass er in die Enge getrieben worden war, und hatte sich selbst zerstört. Nein! Nein! Es reichte nicht, dass dieser Hexenstein zerbröckeln sollte. Es war zu wenig. Und als der Hexenstein begann, sich rings um sie selbst zu zerreißen, vernähte Kaiku sich mit ihm, hielt ihn zusammen. Es zog ihren Verstand fast in Stücke. Die Qualen waren fürchterlich. Aus jeder Richtung gleichzeitig wurde an ihr gezerrt, und allein ihr Wille bewahrte sie davor, in hochgradigem Wahnsinn zerfetzt zu werden. Dennoch ließ sie nicht los. Sie würde nicht zulassen, dass dieser Hexenstein zerfiel. Und obwohl der Schmerz heißer loderte,
als sie ertragen konnte, obwohl die Macht, die aus ihr barst, ihre Eingeweide versengte, blieb der Hexenstein beisammen. Obwohl er bebte, pulsierte und sich über seine gesamte Länge tiefe Risse auftaten, obwohl Brocken davon auf die Ordensschwestern herabprasselten, sodass sie gezwungen waren, sie abzulenken, trotz alledem zerfiel er nicht. Kaiku, in vereinter Gestalt einer Schwester vom Roten Orden und eines Webers, hielt ihn zusammen. Mit dem letzten Quäntchen ihrer Kraft schlug sie von innen ein Loch durch 535 seine Verteidigung, einen Einlass für die Ordensschwestern draußen. Erwartungsvoll strömten sie herein, glitten durch Kaiku hindurch in die Schaltstelle im Kern des Hexensteins, und von dort verteilten sie sich, schnellten wie Blitze die Verbindungen zwischen den anderen Hexensteinen in ganz Saramyr entlang. Ergriffen Besitz von ihnen. Verseuchten sie. Zerstörten sie. Schon rollte die erste Druckwelle des Todes eines Hexensteins durch das Geweb, beutelte Kaiku wie eine Springflut. Trotzdem biss sie weiter die Zähne zusammen, weigerte sich immer noch, den Hexenstein vergehen zu lassen. Sie würde durchhalten, bis sie sicher wäre, dass jeder Einzelne der anderen Steine vernichtet war. Ihr Leiden überstieg alles, was sie erdulden konnte, und hätte sie eine Stimme besessen, sie hätte aus voller Kehle gebrüllt; doch beseelt von einer größeren Kraft, als sie je in sich gewähnt hätte, hielt sie über das Maß des Erträglichen hinaus durch. Die Maske war gegen ihren Meister gekehrt worden, indem Kaiku sie sich Untertan gemacht und sich ihre Stärke angeeignet hatte. Die Welt um sie herum versuchte so verzweifelt, sich loszureißen, sich ihr zu entwinden, dass Kaiku vermeinte, sie müsste zerspringen. Aber sie blieb immer noch standhaft. Eine weitere Druckwelle rollte über sie hinweg, und noch eine. Aricarat wurde von Krämpfen geschüttelt; es waren seine Todeswehen, die durch das Geweb donnerten, qualvoll, schrecklich und verzweifelt. In Kaikus Brust flammte eine boshafte, verbitterte Befriedigung auf. Stirb, dachte sie unbarmherzig. Stirb für das, was du mir angetan hast. Das Geweb verknotete sich vor ihr, schrumpfte auf einen Punkt unendlicher Dichte zusammen. Bevor es zurücksprang, wurde Kaiku klar, was geschehen würde, und sie wappnete sich für die Ankunft des Gewebwals. Wie ein geschleuderter Blitz tauchte er auf, drohte, Kaiku 536 durch seine schiere, den Verstand krümmende Ungeheuerlichkeit zu zermalmen. Sie hing im Geweb, bildete den Mittelpunkt eines Netzes Millionen gespannter Ranken, die allesamt versuchten, sich von ihr loszureißen, sie wie auf einer Folterbank streckten; und nun durchdrang sie obendrein noch der fürchterliche Blick eines der ungeheuerlichen Wesen, die im Geweb herumspukten. Den Schmerz hatte sie mittlerweile hinter sich gelassen: Ihr Verstand bebte an der Schwelle zum Zerbrechen, war außerstande, unter solchen Umständen zu überleben. Die unbeschreiblichen Qualen des Fortbestands schienen alles zu sein, was es je gegeben hatte und je geben würde, ein zeitloses Reich der Pein, hinter dem es nichts gab, und das Einzige, was noch von Kaiku übrig war, stellte jener schmale Willensstrang dar, der sie antrieb und der einfach nicht zerreißen wollte. Die Hexensteine zerbarsten einer nach dem anderen, wurden von den Ordensschwestern zu Staub zersprengt. Wieder zog das Geweb sich zusammen und entfaltete sich. Weitere Gewebwale tauchten auf. Kaiku bekam es gar nicht mit. Jedes Empfinden jegliche Sicht, alles lag hinter ihr. Inzwischen war sie nur noch eine reine Willenskraft, war sie weit über die Grenzen ihres Körpers und Verstandes hinausgetrieben worden. Die Schwestern vom Roten Orden kehrten zurück. Kaiku spürte, wie sie durch sie hindurchströmten, wodurch ein winziger Schimmer des Begreifens zu ihr durchdrang. Die Hexensteine waren alle zerstört, alle bis auf jenen, den sie zusammenhielt und der verzweifelt versuchte, sich selbst in Stücke zu reißen. Obwohl alle Hoffnung, den Rest des Netzwerks zu retten, längst entschwunden war, wollte er keinen Eindringling dulden. Eher entschiede er sich dafür, aus dem Dasein zu scheiden. Es ist vollbracht, dachte Kaiku und ließ los. 537 Tsata und die verbliebenen Tkiurathi warteten in der Kammer oben, wagten kaum zu atmen. Sie fürchteten eine Hinterlist. Langsam glitt das mächtige Metalltor auseinander, dessen Antrieb die Weber letztlich von draußen in Gang gesetzt hatten; doch das Bild, das sich offenbarte, war fernab der rasenden Horde, mit der die Tkiurathi gerechnet hatten. Stattdessen erblickten sie an die dreißig Weber, samt und sämtlich tot. Hinter ihnen rangen mehrere Dutzend Ausgeburten miteinander; einige flüchteten den Gang hinauf, andere griffen Vertreter anderer Raubtierarten an. Ein Dutzend Nexusse stand mit hängenden Schultern reglos da, und trotz der blanken, weißen Masken, die ihre Gesichter verbargen, war augenscheinlich, dass etwas in ihnen ausgelöscht worden war. Ungläubig beobachtete Tsata, wie einer der ihren von einem Schrillvieh umgestoßen und zerfleischt wurde. Der Nexus zeigte keine Regung, als das Tier ihn in Stücke riss. »Feuer!«, rief einer der Tkiurathi, und ein Kugelhagel prasselte auf Ausgeburten und Nexusse ein. Jene Ausgeburten, die nicht getötet wurden, ergriffen heulend die Flucht; die Nexusse brachen stumm vornüber zusammen und lagen still. Tsata hielt den gebrochenen Arm an die Brust gedrückt, biss ob der Schmerzen die Zähne zusammen und starrte
nur fassungslos hin. Dann erhob sich Jubel von den Tkiurathi, schwoll ein vollkehliges Siegesgebrüll an. Sie hatten eher als Tsata begriffen, was geschehen sein musste. Die Hexensteine waren zerstört. Überall im Land war die Wirkung dieselbe. Die Weber starben, sackten wie Marionetten zusammen, deren Fäden durchgeschnitten worden waren. Die solchermaßen ihres Geleits beraubten Nexusse verharrten und rührten sich nicht mehr. Ihre Verstände waren blank, völlig leer, und die meisten standen an Ort und Stelle, bis sie verhungerten, sofern sie nicht zuvor von den Raubtieren gefressen wurden, die sie 538 gelenkt hatten, oder von rachsüchtigem Volk gemeuchelt wurden. Es dauerte eine lange Weile, bis die Menschen Saramyrs verstanden, was in jenem Augenblick geschehen war, doch als sie es letztlich begriffen, frohlockten sie, brachen in ganzen Städten Freudentaumel aus; denn ihre Welt gehörte wieder ihnen. Für Tsata hingegen gab es nur eines, an dem ihm gelegen war. Das große Machwerk, in dem die Ordensschwestern verschwunden waren, setzte sich wieder mahlend und klappernd in Bewegung, beförderte sie herauf. Brachte ihm Kaiku zurück. Er ging hinüber zur Tür des Metallgebildes in der Mitte der Kammer. Seine Gefährten scharten sich mit erwartungsvollen Blicken um ihn. Endlich kam der Aufzug mit blechernem Scheppern zum Stillstand, und die Tür glitt auf. Fünf Schwestern befanden sich darin, doch sie kauerten um eine sechste, die in Cailins Armen lag. Achtlos auf den Boden des Aufzugs geworfen lag eine Maske, die entzwei gebrochen war. Kaikus Maske. Cailin schaute zu Tsata auf, und in ihren roten Augen sah er alles, was er wissen musste. Taubheit ergriff Besitz von ihm, sperrte selbst die Schmerzen in seinem Arm aus. Er trat ein paar Schritte vor und sank vor der gefallenen Ordensschwester auf die Knie. Auf den ersten Blick hatte er sie nicht erkannt, nun aber schon. Ihr Haar hatte sich von einem gelblichen Braun in ein strahlendes Weiß verfärbt, und ihre Netzhäute schillerten in grellem Rot, dennoch war es unverkennbar Kaiku. Sie war es, und doch auch nicht. Sie atmete noch, aber ihre Züge wirkten tot. Das Leben, das sie beseelt hatte, war entschwunden. Kaiku war nicht darin. »Sie hat am Ende zu viel gegeben«, erklärte Cailin leise und mit aufrichtigem Gram in der Stimme. »Niemand könnte die Maske eines Webers auf diese Weise meistern und hoffen, es unbeschadet zu überstehen.« 539 »Wo ist sie?«, flüsterte Tsata heiser, während seine Augen sich mit heißen Tränen füllten. »Wohin ist sie verschwunden?« »Sie irrt im Geweb umher, Tsata. Sie hat ihren Verstand an das Geweb verloren.« 540 Dreiunddreißig Das Jahr, das folgte, verlief ereignisreich. Der Wiederaufbau des Kaiserreichs ließ sich nicht an einem Tag bewerkstelligen; ebenso wenig verschwand die Hungersnot über Nacht, die den Großteil des Landes in ihren Klauen hatte. Saramyr glich einem verletzten Tier, das seine Wunden sauber geleckt hatte: Es heilte zwar, aber es war noch schwach, und der Vorgang erwies sich als langsam und schmerzlich. Entgegen allen Erwartungen entflammten im Gefolge des Verscheidens der Weber kaum Streitigkeiten unter dem Volk. Die Vorhersagen hatten gelautet, dass Aufstände entstehen würden, wenn bei der Verteilung der begrenzten Lebensmittel einige hungriger blieben als andere; dass der Mangel an Heilmitteln und die Unterernährung die Verbreitung von Seuchen fördern und dies wiederum zu weiteren Unruhen führen würde. Man war davon ausgegangen, dass berechnende Rädelsführer, Aufwiegler und Banditen die Gunst der Stunde nutzen würden, um die Machtlücke zu füllen, bevor das Kaiserreich wiedererlangen konnte, was es dereinst verloren hatte. Doch Saramyr war erschöpft. Es war des Krieges und der Leiden überdrüssig. Trotz vereinzelter Zwietracht waren die Menschen bereit, sich in Geduld zu üben. Wenngleich die Armeen der hohen Familien erheblich verringert worden waren und sie kaum noch reichten, um die Grenzen gegen die streunenden Ausgeburten zu verteidigen, die nunmehr untrennbar zu Saramyrs Wildnis gehörten, kehrten sie in ihre Länder zurück und wurden überschwänglich willkommen geheißen. Begleitet wurden sie von Ordensschwestern. Von ihnen waren nur noch wenige übrig, gefähr541 lich wenige, denn trotz aller Mühen Cailins waren sie im Krieg gegen die Weber an den Rand der Ausrottung gedrängt worden. Aber jene wenigen führten den Kontinent zusammen. Und so es ablehnendes Gemurmel ob der Vorstellung gab, die Weber durch solche Frauen zu ersetzen, ging es im allgemeinen Beifall unter. Immerhin hatten die Schwestern vom Roten Orden das Land gerettet, wobei selbst die hohen Familien und die legendäre Lucia versagt hatten. Cailin sorgte mit Nachdruck dafür, dass jeder dies wusste. Die Thronbesteigung von Kaiser Zahn tu Ikati war in keinem geringen Ausmaß der Unterstützung der Ordensschwestern zu verdanken. Cailin hätte ihren Einfluss auch für einen fügsameren Anwärter einzusetzen vermocht, aber sie wusste, dass Zahn der stärkste von allen war und wollte gewährleisten, dass sie auf der siegreichen Seite sein würde. Seine alten Pakte mit den Familien des niederen Adels hatten selbst den Krieg hindurch gehalten, und die Generäle kannten ihn gleichermaßen als Krieger und taktisch klugen Kopf. Seine Verleumder prangerten an, dass der Tod seiner Tochter ihn in einen gebrochenen Mann verwandelt hätte - wie bereits in der Vergangenheit, als er sie tot gewähnt hatte -, doch Zahns Antwort darauf überraschte jeden. Obschon er zutiefst trauerte, fand er sich damit ab, dass Lucia diesmal ohne jeden Zweifel gestorben war und
keine Möglichkeit auf ihre Rückkehr bestand. Er wurde grimmig und kalt, aber er zog sich nicht in sich selbst zurück. Obwohl jeder Funke Mitgefühl in ihm erloschen war und seine Strenge bisweilen an Grausamkeit grenzte, war er im Vollbesitz seiner Kräfte. Die Adeligen vertraten die Ansicht, dass es eines unerbittlichen Anführers bedurfte, um das Land wiederaufzubauen. Gewiss gab es das übliche Gefeilsche und Gezänk, doch letzten Endes bestieg Zahn den Thron. Cailin hielt mit ihm in die Kaiserliche Feste Einzug und hegte weiter ihre Pläne. Rings um sie ging der Wiederaufbau Axekamis vonstatten: die Zerstörung der Rauchgruben, 542 die Wiedererrichtung der großen Tempel, die Auflösung der Schwarzen Wachen. Doch all das kümmerte sie wenig. Sie dachte, wie immer, an ihre Schwesternschaft. Der Rückzug der Geißel überall im Land bedeutete unweigerlich weniger Ausgeburten, und schon bald würde niemand mehr mit der Macht des Kana geboren werden. Die Zeit würde kommen, in der sie den Ordensschwestern gestattete, sich unter streng überwachten Bedingungen und sorgfältiger Auslese zu vermehren. Ohne die Weber hatten sie im Geweb keine Nebenbuhler mehr und konnten sich vergleichsweise sicher wähnen. Dennoch konnte sich dies eines Tages ändern, und dafür musste sie vorbereitet sein. Die Schwesternschaft sollte wachsen und vielschichtiger werden, ebenso sollte ihre Macht sich ausweiten. Sie sollte unentwirrbar in das Gespinst der Gesellschaft eingeflochten werden, stärker noch als zuvor die Weber. Wer vermochte schon zu sagen, was in einem oder zehn Jahrhunderten möglich sein würde? Würden sie wie Göttinnen sein? Oder würden sie schwinden und in der Geschichte verblassen? Vielleicht würde Cailin es nicht miterleben; vielleicht würde ihr Kana vertrocknen, auf dass sie alterte und stürbe. Vielleicht würde sie aber auch noch auf dieser Welt wandeln, wenn ihr vom Xhiang Xhi vorhergesagter Untergang losbräche und den Planeten in Feuer hüllte. Oder vielleicht würde sie bis dahin sogar bereits an einem anderen Ort weilen. Sie dachte an die Gewebwale und daran, was sie zurückgelassen hatten, als sie wieder verschwanden, und sie wusste, dass sie nicht ewig in Sicherheit sein würden. Und so kreiste ihr Verstand in zunehmendem Maße um die verwaisten Kloster der Weber, die von den Ordensschwestern versiegelt und mit Schutzeinrichtungen umgeben worden waren. In zunehmendem Maße fragte sie sich, was sich darin verbergen mochte, welche Geheimnisse sie hüten mochten, die sie nützen könnte, um sich und ihre Art zu schützen. 543 In zunehmendem Maße grübelte sie über die Maschinen nach. Von den tausend Tkiurathi, die im Winter des Krieges nach Saramyr segelten, waren noch zweihundert am Leben. Siebzig kehrten nach Okhamba zurück, um die Kunde darüber zu verbreiten, was sich zugetragen hatte. Der Rest blieb. Für ihren Beitrag zur Zerstörung Adderachs schenkte Kaiser Zahn ihnen Land. Auf Mishanis Gesuch wurden sie mit einem schmalen Streifen der Westküste bedacht, nordöstlich von Hanzean und südlich der angestammten Gebiete des Geblüts Koli um die Mataxa-Bucht. Der niedrige Adelige, dem das Land einst gehört hatte, war eines der zahlreichen Opfer des Krieges geworden, dessen Eigentum die Weber an sich gerissen hatten. Die Tkiurathi errichteten dort eine kleine Siedlung aus Repha und wackeligen Behausungen auf Pfählen mit Laufstegen in luftigen Höhen und Seilbrücken zwischen den Bäumen. Dort frönten sie unbeirrt ihrer Lebensweise, verwirrten die benachbarte Bevölkerung Saramyrs mit ihren seltsamen, fremdartigen Sitten und Anschauungen. Mishani wurde nie so recht klar, weshalb die Mehrheit der Tkiurathi beschlossen hatte zu bleiben. Nach allem, was sie über jenes Volk erfahren hatte, vermutete sie, dass es sich lediglich um eine Entscheidung aus dem Bauch heraus gehandelt hatte, hinter der keine tiefere Bedeutung stand. Mit Tsata hingegen verhielt es sich anders. Er blieb aus einem Grund. Mishani war in die Mataxa-Bucht zurückgekehrt, nachdem die hohen Familien wieder eingesetzt worden waren. Schließlich verkörperte sie nach wie vor Geblüt Kolis Erbin, und da sowohl ihre Mutter als auch ihr Vater tot waren, hatte sie Anrecht, wieder das Zuhause ihrer Kindheit zu bewohnen. Geblüt Koli war erheblich geschwächt worden. Ein Großteil der Macht wurde der Familie entzogen, als die Wiederherstel544 lung des Kaiserreichs begann. Viele Krieger ihrer Armee hatten die Schwarzen Wachen gebildet und wurden für ihre Verbrechen hingerichtet. Aber Geblüt Koli besaß immer noch wertvolle Vereinbarungen, nicht zuletzt mit Geblüt Mumaka, das den Handel mit Saramyr von Okhamba aus wieder aufgenommen hatte und Waren der Kolonialhändlergenossenschaft beförderte, die dringend benötigt wurden, um die Hungersnot zu lindern. Mishani hatte einst erwogen, Geblüt Mumaka als Dank dafür, was dessen Sprössling Chien in der Vergangenheit für sie getan hatte, seiner Verpflichtungen ihrer Familie gegenüber zu entbinden; nun aber entschied sie sich dagegen. Geblüt Mumaka hatte den Krieg in der Fremde überdauert, und obwohl die Familie mächtig war, hatte sie nicht besonders ehrenvoll gehandelt. Zudem brauchte Mishani als Oberhaupt einer Adelsfamilie jeden Vorteil, den sie bekommen konnte. Gewiss kamen ob der Neuigkeit vom Tod ihrer Eltern Kummer und Schmerz auf, doch beides verging. Dafür gab es einen anderen Quell des Grams, den die Zeit nicht zu heilen vermochte. Denn Mishani hatte es auf sich genommen, für Kaiku zu sorgen, und der Anblick ihrer Freundin, die teilnahmslos über das Gelände ihres
Anwesens wandelte, riss die Wunde in Mishanis Herz jeden Tag aufs Neue auf. Tsata besuchte Kaiku täglich, indem er aus der Siedlung der Tkiurathi anreiste. Bei schönem Wetter unternahm er Spaziergänge mit ihr, und er redete häufig mit ihr, obwohl sie niemals antwortete. Wie ein Geist trieb sie an seiner Seite. Manchmal beobachtete Mishani die beiden vom Haus aus, zwei ferne Gestalten am Klippenrand. Sein gebrochener Arm war sauber verheilt; körperlich hatten seine Erlebnisse in Adderach keine Spuren hinterlassen. Doch so wie Mishanis Wunden waren auch die seinen anderer Art. Manchmal wünschte sie, Kaiku wäre an dem Tag gestorben, als sie den Hexenstein zerstörte. Alles wäre besser gewesen als 545 diese Folter. Kaiku nahm ihre Umgebung wahr, konnte Rituale und Verhaltensweisen in bestimmten Lagen erlernen, doch ihr Verstand glich einer gelöschten Tafel. Mishani ließ sie alleine durch das Haus und die Klippen über der Bucht entlangwandern. Kaiku hatte bewiesen, dass sie in der Lage war, sich nicht zu verletzen. Sie verrichtete selbst ihre Notdurft, aß, wenn man ihr eine Mahlzeit vorsetzte, ging zu Bett und schlief, wenn sie müde war. Aber sie sprach nicht, zeigte keinerlei Anteilnahme an irgendetwas, und es gab keinen Hinweis darauf, dass in ihr mehr als das ansatzweise Denkvermögen eines Tieres übrig war. Wenn sie wach war, schlurfte sie ziellos umher oder hockte da und starrte ins Leere. Ihre Gegenwart fühlte sich störend an, dennoch duldete Mishani sie; und obwohl Mishani stets beschäftigt war, nahm sie sich immer Zeit, um mit Kaiku zu reden oder ihr vorzulesen. Doch die Hoffnung, ihre Freundin aus den unbekannten Gefilden zurückzuholen, in die sie entschwunden war, hatte Mishani vor geraumer Zeit aufgegeben. Wenngleich Kaikus Kana sich immer noch um sie kümmerte und dafür sorgte, dass sie gesund und kräftig blieb, war es, als hütete es ein leeres Haus und wartete auf eine Herrin, die nicht zurückkehren würde. Seit dem Tag, an dem sie den Verstand verloren hatte, wuchs ihr Haar schlohweiß, und ihre Augen hatten den tiefroten Farbton beibehalten. Die Ordensschwestern und Cailin höchstpersönlich taten, was sie konnten, doch letzten Endes lief es auf nichts hinaus. Da sie sich von ihrem Körper gelöst hatte, war es aussichtslos für sie, Kaiku in den unendlichen Weiten des Gewebs zu finden: Es glich der Suche nach einem bestimmten Fisch in allen Weltmeeren. »Sie muss alleine zurückfinden«, hatte Cailin zu Mishani gemeint. Doch das war noch nie jemandem gelungen, und insgeheim erachtete sie es als unmöglich. Tsata ging bisweilen auf Reisen, um nach Arzneien und 546 Heilkundigen zu suchen. In seiner Abwesenheit wechselten die Tkiurathi sich untereinander damit ab, Kaiku zu besuchen. Tsata probierte sowohl saramyrrische als auch okhambische Behandlungen aus; es gelang ihm sogar zu veranlassen, dass ein Muhd-taal aus dem fernen Yttryx sie beehrte und es mit seinen fremdartigen Verfahren versuchte. Doch auch seine Beschwörungen, Tränke und Kristalle bewirkten nichts, und Kaiku blieb eine leere, unbewohnte Hülle. Trotzdem gab Tsata nie auf. Nachdem ein Jahr verstrichen war, wollte Mishani ihm raten, sich nicht restlos mit einem aussichtslosen Unterfangen zu erschöpfen, zumal er doch ein richtiges Leben führen könnte. Aber sie fühlte sich unwürdig, etwas Derartiges auch nur zu denken, außerdem wusste sie, dass er ohnehin nicht auf sie gehört hätte. Ob es eingedenk der Liebe war, die er im Herzen trug, oder an der Treuepflicht gegenüber einer Gefährtin lag, die ihm seine Überzeugungen vorschrieben, er weigerte sich aufzugeben. Aber der Frühling des zweiten Jahres seit der Zerstörung der Hexensteine ging in den Sommer über, und immer noch war Kaiku nicht da. Sie schlief in einer Kammer im hinteren Teil des Familienanwesens der Kolis, der nach Osten zu den Klippen über der Bucht wies. Das Sonnenlicht flutete ihr Zimmer bereits am frühen Morgen, wenn es in flachem Winkel über das Land schien. Es schimmerte durch den dünnen Schleier, der vor ihrem Fenster hing, und die schwüle Hitze des Mittsommers begann, sich aufzubauen. Die Wände bestanden aus kühlem Stein, der Boden aus Korallenmarmor. Sie lag auf einer schlichten Schlafmatte in der Mitte des Raums und träumte von nichts. Mishani und ihre Besucherin standen am Eingang und betrachteten sie. »Das ist Kaiku«, erklärte Mishani. 547 Die Frau nickte. Sie war groß, besaß lange Knochen mit den schmalen, scharf geschnittenen Zügen der Neuländer, wirkte auf kühle Weise elegant und war wunderschön. Ihr Sommergewand war in hellem Blau und Weiß gehalten, ihre Haut blass. Das Haar trug sie in Form von gewickelten Zöpfen, eine Mode aus dem Nordosten. »Bitte, lasst uns allein«, forderte die Frau Mishani auf. Mishani willigte ein, ohne so recht zu wissen weshalb. Das Auftauchen dieser Fremden zu einer so frühen Stunde war ebenso ungewöhnlich wie ihre Geschichte: Sie wäre eine Heilerin, die von Kaikus Leiden gehört hätte und gekommen wäre, um ihr zu helfen. Die Frau war mit einem von Manxthwa gezogenen Karren eingetroffen, beladen mit zwei Kindern -Zwillingen, einem Sohn und einer Tochter, die dem Aussehen nach um die sechs Ernten sein mochten. Die beiden spielten mit den Kindern der Bediensteten in dem großen, gestuften Garten, der zum Klippenrand hin abfiel, während ein paar Diener auf sie aufpassten.
Mishani spürte, dass sie misstrauisch sein sollte, andererseits fiel ihr kein Grund ein, weshalb jemand Kaiku Böses wollen sollte. Und wenngleich sie es sich nicht eingestand, hoffte sie in ihrem Innersten beinah, jemand möge ein solches Ansinnen hegen. Es käme einer Gnade gleich, dieses Halbleben zu beenden und sie in Omechas Obhut zu entlassen. Nachdem Mishani gegangen war, durchquerte die Heilerin den Raum und kniete neben Kaiku nieder. Die Morgensonne badete die Wange der schlafenden Frau in goldenes Licht, brachte die feinen Härchen ihrer Haut zum Glühen. Ihr Antlitz war frei von Furchen, ihre Miene friedlich, ihr Mund leicht geöffnet. Eine lange Weile musterte die Heilerin sie. »Es heißt, du hättest dich verirrt, Kaiku«, murmelte sie leise. »Man sagt, dein Verstand wandelt fernab deines Körpers und kann den Weg nach Hause nicht finden.« Sanft legte sie die Handfläche auf Kaikus Kiefer und streichelte sie. »Ich habe 548 viele Jahre einen Teil von dir in mir getragen und du ein Stück von mir in dir. Vielleicht kann das dir helfen.« Damit beugte sie sich hinab, drückte die Lippen auf jene Kaikus und atmete aus. Nach einem Herzschlag wurde der Odemhauch mehr als das, verwandelte sich in einen glitzernden Strom kurzlebiger Energie zwischen den beiden Frauen, der aus dem Mund der einen in jenen der anderen floss. Der Vorgang dauerte einige Minuten an, länger als Lungen ihn aufrecht zu erhalten vermochten, bis Asara sich letztlich zurückzog, dabei behutsam die Lippen über jene Kaikus zog. Immer noch schlief Kaiku. Durch das Fenster tönte das hohe Gelächter der Kinder. »Hörst du sie, Kaiku?«, fragte Asara. »Offenbar wächst meine Art schnell. Schon allzu bald werden sie erwachsen und ich eine Großmutter sein. Was durchaus angemessen scheint. Immerhin vollende ich demnächst mein erstes Jahrhundert.« Traurig lächelnd blickte sie auf die Frau hinab, die sie früher gekannt hatte. Vielleicht hatte sie sogar einst Liebe für sie empfunden. Sie vermochte es nicht zu sagen. Asara erhob sich. »Ich habe sie dir zu verdanken, Kaiku«, murmelte sie. »Du hast ihnen Leben geschenkt.« Mishani bot ihr eine Mahlzeit an, und sie unterhielten sich über den Stand der Dinge in den fernen Steppen der Neuländer. Am Nachmittag zog sie mit ihren Kindern von dannen. Später an jenem Tag brach Kaiku zusammen. Es geschah gegen Sonnenuntergang, als sie mit Tsata spazierte. Sie folgten einem gewundenen Pfad entlang des Klippenrands. Die Temperaturen waren auf eine angenehme Wärme gesunken, zu der eine sanfte Brise vom Meer beitrug. Da Kaiku niemals antwortete und eine Unterhaltung somit unmöglich war, hatte Tsata die Neigung entwickelt, Geschichten zu erzählen, indem er ihr die Ereignisse in der Siedlung 549 schilderte und ihr von den Begebenheiten unter den dort lebenden Menschen berichtete. Mittlerweile war er recht geübt darin, selbst die alltäglichsten Vorfälle unterhaltsam darzubringen, obwohl er damit in Wahrheit nur sich selbst belustigte. Er steckte gerade mitten in einer solchen Anekdote, als sie ohne Vorwarnung erschlaffte und seufzend zu Boden sackte. Tsata war dermaßen überrascht, dass er zu langsam war, um sie aufzufangen. Er hockte sich nieder und hob ihre Schultern an, tätschelte mit der Handfläche ihre Wange und schüttelte sie. Kaiku zeigte keine Regung; ihr Kopf baumelte kraftlos hin und her. Tsata sah sich um, doch es war niemand in der Nähe, und die gedrungene Form des Hauses von Geblüt Koli lag in weiter Ferne. Dann würde er sie eben tragen müssen. Mühelos hob er sie auf. Ihr Kopf hing nach hinten, das weiße Haar - das seit dem Tag, an dem es sich in diese Farbe gewandelt hatte, etwas länger geworden war - ergoss sich wie ein kleiner Wasserfall hinab. Tsata verlagerte ihr Gewicht und versetzte ihrem Kopf einen leichten Schubs, sodass er an seiner Schulter zu liegen kam. Sie schlang die Arme um ihn wie ein Kind um den Vater und drückte ihn. Tsata brauchte einen Moment, um zu begreifen, was sie getan hatte, was der Druck ihres Griffes bedeuten konnte. Er wagte nicht, mit ihr loszurennen, denn dadurch würde dieser Augenblick zerbrechen, die Möglichkeit verpuffen. »Kaiku?«, fragte er mit belegter Stimme. Sie drückte ihn noch fester, presste den Kopf an seine Schulter. »Kaiku ?« Ihr Körper begann zu beben, und sie gab einen erstickten Laut in der Kehle von sich. Tsatas Herz vollführte einen schmerzlichen Satz in der Brust. 550 Sie schluchzte, und alsbald weinte auch Tsata, doch seine Tränen flössen aus unbeschreiblicher Freude. Kaikus Genesung verlief unvorstellbar schnell. Obwohl sie sich während der ersten paar Tage als schreckhaft erwies und dazu neigte, bei lauten Geräuschen und jähen Bewegungen zusammenzuzucken, war es, als wäre sie lediglich aus einem tiefen Schlaf erwacht. Ihr Verstand war benebelt, lichtete sich jedoch rasch; und wenngleich Mishani, Tsata und die gesamte Siedlung der Tkiurathi jubelten, gelang es ihnen, sich zu zügeln, um sie durch ihre Besuche nicht über Gebühr zu beanspruchen. Binnen weniger als einer Woche schien es, als wäre nie etwas geschehen. Die bösen Erinnerungen an Kaikus geistige Abwesenheit wirkten wie eine losgelöste Wirklichkeit, die sie zwar beobachtet, an der sie sich jedoch
nicht beteiligt hatten, und als einzige Mahnmale daran blieben Kaikus schlohweißes Haar und tiefrote Augen zurück, die sich nicht zurückverwandelten, obwohl alles sonst wie früher war. Sie vermochte nicht zu erklären, was ihr in der Zeit ihrer Abwesenheit widerfahren war. Kaiku besann sich nur, dass sie sich verirrt hatte und auf der Suche gewesen war, sich tot gewähnt hatte, aber Yoru und das Tor zu den Feldern Omechas nicht finden konnte. Von Zeit hatte sie keine Vorstellung gehabt, lediglich das Gefühl eines endlosen Augenblicks der Unsicherheit, indem sie zwischen dem einen und dem anderen Zustand gefangen gewesen war. Dann hatte sie etwas gespürt, das sie erkannte, jemanden, den sie kannte, ein Aufflammen im Geweb, das sie angezogen hatte wie Licht eine Motte. Und dort hatte sie endlich zu sich selbst gefunden. Mishani erzählte ihr von der Heilerin aus den Neuländern, doch auch Kaiku konnte kein Licht auf die Angelegenheit werfen. Somit konnten sie die geheimnisvolle Frau nur als Segen 551 von den Göttern betrachten. Die Bediensteten waren bereits überzeugt, dass Kaiku von Enyu höchstpersönlich besucht worden war, der Göttin der Natur, die gekommen war, um diejenige zu belohnen, die sie vor den Webern gerettet hatte. Andere fassten die frostige Schönheit der Heilerin als Zeichen dafür auf, dass sie in Wahrheit eine Erscheinungsform Iridi-mas verkörpert hatte, der Mondgöttin, die Kaiku dankbar war, weil sie ihren Bruder Aricarat getötet hatte. Kaiku wusste es nicht. Doch tief in ihrer Brust, wo Vernunft und Überlegungen keine Macht besaßen, hegte sie einen Verdacht. Eines Abends suchte sie Tsata auf und fand ihn an der Stelle, an der sie erwacht war, wo er etwas abseits des Pfades am Rand des Abgrunds stand. Er schaute auf die See hinaus. Eine stickige Hitze schwängerte die Luft. Die Gewässer der Mataxa-Bucht schillerten rötlich, und der Schatten der Klippe streckte sich den großen Kalksteininseln an der Mündung der Bucht entgegen. Hakenschnäbel krächzten einander zu, während sie in der Brise segelten und die winzigen Dschunken und Fischerboote tief unter ihnen beobachteten. »Vermisst du deine Heimat?«, fragte Kaiku, als sie sich zu ihm gesellte. »Manchmal«, antwortete er. »Heute zum Beispiel.« Er schaute sie an. »Du solltest morgen mit mir in die Siedlung kommen. Viele meines Volkes haben dich seit deiner Genesung nicht gesehen und können es kaum erwarten.« Kaiku lächelte. »Es soll mir eine Ehre sein«, sagte sie. Eine Weile standen sie beisammen, beobachteten die fernen Vögel und genossen still die Gesellschaft des anderen. »Mishani hat mir so vieles erzählt«, brach Kaiku das Schweigen. »Darüber, wie die Dinge im Land sich in meiner Abwesenheit entwickelt haben.« 552 »Und das beunruhigt dich«, mutmaßte Tsata. Kaiku gab einen bestätigenden Laut von sich und wischte sich die Haare aus dem Gesicht. »Was haben wir getan, Tsata? Was haben wir bei all dem erreicht?« »Wir haben die Weber aufgehalten«, meinte er, doch es hörte sich wenig überzeugend an, denn sie wusste, dass er dasselbe empfand wie sie. »Aber wir haben nichts verändert. Wir haben nichts gelernt. Wir haben lediglich die Zeit ein wenig zurückversetzt. Die Weber sind immer noch zugegen, bloß präsentieren sie sich in einer angenehmeren Form. Genau wie sie werden die Schwestern vom Roten Orden eines Tages beschließen, dass sie die Adeligen nicht mehr so sehr brauchen wie die Adeligen sie. Das Kaiserreich mag weiter bestehen, aber...« Sie ließ den Satz unvollendet. »Nach allem, was wir durchgemacht haben, ist die einzige Gewinnerin Cailin. Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir von ihr vorgegebenen Pfaden gefolgt sind.« »Vielleicht«, räumte Tsata ein. »Und vielleicht ist es nicht richtig von uns zu verzweifeln. Wenigstens müssen sich Ausgeburten nicht länger verstecken. Kein Glück ist vollkommen, und die Zukunft ist strahlender als zuvor. Das könnte man doch als annehmbares Ende betrachten.« Kaiku schüttelte den Kopf. »Nein, Tsata. Um dir das zu sagen, bin ich gekommen. Dies ist alles andere als ein Ende.« Tsata wandte sich von der Aussicht ab, richtete seine ungeteilte Aufmerksamkeit auf Kaiku. Obwohl er sich mittlerweile an ihr neues Erscheinungsbild gewöhnt hatte, erstaunte ihn bisweilen immer noch der Hauch der Überweltlichkeit, den es ihr verlieh. Jene Augen, jenes Haar stellten die Male eines Ortes dar, den sie besucht hatte und den niemals jemand außer ihr kennen lernen würde. »Ich war heute im Geweb«, eröffnete sie ihm. »Zum ersten Mal seit meiner Rückkehr war ich im Geweb. Und nun weiß ich etwas, das die Ordensschwestern uns nicht erzählt haben, das 553 sie niemandem erzählt haben. Die Gewebwale sind verschwunden.« Tsatas Augen verrieten seine Verwirrung. Kaiku hatte ihm zwar von den Gewebwalen berichtet, doch er verstand den Zusammenhang nicht. »Solange die Erinnerung zurückreicht, sind sie im Geweb gewesen. Sie waren stets fern, unerreichbar, bis wir sie angezogen haben. Du und ich, Tsata, als wir den ersten der Hexensteine im Xarana-Bruch zerstört haben. Aber
jetzt sind sie nicht mehr da.« »Was bedeutet das?« »Ich weiß es nicht«, gestand Kaiku. »Aber sie haben etwas zurückgelassen. Etwas im Geweb. Ein Gebilde, ein Muster, ein ...« Sie verstummte kurz. »Ich kann es nicht beschreiben. Es ist unbegreiflich. Aber es tut etwas.« »Es tut etwas?« »Stell dir ein Blatt vor, das sich in die Oberfläche eines stillen Tümpels neigt, sodass die Spitze das Wasser berührt. Der Tümpel gleicht dem Geweb, und dieses Ding entsendet Wellen. Die Wellen verbreiten sich, weiter und immer weiter, weit über jene Gefilde hinaus, in die wir uns wagen.« Tsata runzelte die Stirn. Es fiel ihm stets schwer, Kaiku zu folgen, wenn sie über das Geweb sprach, selbst dann, wenn sie es durch Vergleiche vereinfachte. »Was also ist es?«, fragte er und fühlte sich zutiefst begriffsstutzig. »Es ist eine Art Leuchtfeuer, Tsata«, antwortete sie aufgeregt. Dann beruhigte sie sich und schaute in die Bucht hinab. »Vielleicht ist es zugleich eine Botschaft, doch wenn dem so ist, dann bin ich überzeugt davon, dass wir sie nicht verstehen können. Aber Wellen im Tümpel erregen die Aufmerksamkeit der Fische, die darin schwimmen.« »Kaiku, ich verstehe immer noch nicht, was du damit sagen willst.« 554 »Ich will damit sagen, dass man sich an diesen Krieg nicht als einen Kampf um das Kaiserreich erinnern wird«, gab sie zurück. »Man wird sich daran als die Zeit unseres Erwachsenwerdens erinnern. Unser Krieg hat die Aufmerksamkeit von Wesenheiten erregt, die größer sind, als wir uns vorstellen können. Der Xhiang Xhi hat Lucia beschrieben, wie Aricarats Einfluss uns verändert hat. Wir haben gelernt, mit Kräften jenseits unseres Verständnisses zu hantieren, und zwar lange, bevor wir reif dafür waren. Wir haben den Schleier der Vorherrschaft zerrissen, als wir noch in Kinderschuhen steckten.« Sie begegnete Tsatas Blick. »Und nun wird unsere Gegenwart verkündet.« »Wem verkündet?« »Jenen, die an für uns unergründlichen Orten weilen. Es mag einen Tag, ein Jahr, tausend Jahre oder länger dauern; aber früher oder später wird etwas kommen, um uns in Augenschein zu nehmen.« Sie senkte den Blick. »Was das verheißen mag, ob einen Segen oder eine Katastrophe, kann ich nicht sagen.« Tsata hatte darauf nichts zu erwidern. Er glaubte nicht an Götter, aber er wusste genug, um die Welt jenseits der Sinne zu achten, und ihre Worte lösten in ihm eine unterschwellige Furcht aus, der er keinen Namen zu geben vermochte. Unvermittelt lachte sie. »Aber hör dir bloß an, wie ich daherrede. Ich sollte wahrhaftig alles andere als trübselig sein. Verzeih meine Albernheit. Die Zukunft ist tatsächlich strahlender, zumindest eine Weile. Daran will ich mich vorerst erfreuen. Cailin kann warten, der Rote Orden kann warten, das Kaiserreich kann warten. Vielleicht werde ich all das hinter mir lassen, vielleicht werde ich dagegen wettern. Aber nicht heute.« Tsata sah ihr Grinsen und ließ sich davon anstecken. »Ich möchte dich um etwas bitten«, setzte sie an. »Eines muss ich noch tun. Ich muss nach Osten reisen, in den Wald 555 von Yuna, zu einem Tempel Enyus, der am Nordufer des Rerryn liegt. In der Nähe gibt es eine geheiligte Lichtung, auf der ich Ocha und meiner Familie einst ein Versprechen gab. Ich muss dorthin zurückkehren, meinen Dank aussprechen und meiner Familie mitteilen, dass sie nunmehr in Frieden ruhen kann.« Zärtlich berührte sie seinen Oberarm. Aus ihren Augen sprühte wieder Leben. »Komm mit mir.« »Das werde ich«, gab er ohne zu zögern zurück. Dann sackte seine Miene etwas zusammen, und auf Kaikus Stirn traten Sorgenfalten. »Was ist denn?« Tsata stählte sich und stellte die Frage, die er seit Tagen vor sich hergeschoben hatte. »Wenn du deinen Frieden geschlossen hast, Kaiku, was kommt dann?«, wollte er wissen. »Der Krieg ist vorbei. Das Leben geht weiter, und wir ebenso. Wohin wirst du gehen?« Ihr Lächeln kehrte zurück, und ihre Finger wanderten seinen Arm hinab, bis ihre Hand sich in die seine legte. »Ich gehe mit dir«, antwortete sie. 556