Vor dreißig Jahren war die Entscheidung gefallen – der Feind hatte den amerikanischen Kontinent besetzt. Und immer noch...
38 downloads
460 Views
889KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Vor dreißig Jahren war die Entscheidung gefallen – der Feind hatte den amerikanischen Kontinent besetzt. Und immer noch herrschte die Besatzungsmacht im Land, unterdrückte die Bevölkerung und reagierte mit grausamen Strafen auf die geringsten Versuche der Rebellion. Den Menschen blieb keine andere Wahl, als sich zu fügen; denn alle litten unter einer tödlichen Seuche, und nur regelmäßige Impfungen bewahrten sie vor dem sicheren Tod. Den Impfstoff besaßen die Besatzer, und wer sich ihren Anordnungen nicht fügen wollte, dem wurde er vorenthalten.
Vom selben Autor in der Reihe der Ullstein Bücher: Der Zeitauflöser (3564) Unsichtbare Herrscher (31003)
Science Fiction Ullstein Buch Nr. 31009 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der Originalausgabe: POINT ULTIMATE Aus dem Amerikanischen übersetzt von Gudrun Faltermeier Umschlagillustration: ACE Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1955 Jerry Sohl Printed in Germany 1979 Gesamtherstellung: Mohndruck Reinhard Mohn GmbH, Gütersloh ISBN 3 548 31009 5
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Sohl, Jerry: Der schleichende Tod: Roman/Jerry Sohl. [Aus d. Amerikan. übers. von Gudrun Faltermeier]. – Frankfurt/M, Berlin, Wien: Ullstein, 1979. (Ullstein-Bücher; Nr. 31009: Ullstein 2000) Einheitssacht.: Point ultimate
ISBN 3-548-31009-5
Jerry Sohl
Der schleichende Tod Roman
Science Fiction
1 Emmett lag seit mehr als einer Stunde regungslos auf dem Bett; seine Muskeln waren von der Anspannung schwach; er zwang sich dazu, das Muster der Zimmerdeckentapete zu studieren. Noch durfte er sich nicht bewegen – noch nicht. Er spähte nach der Uhr auf der Kommode. Wenn in den nächsten fünf Minuten im Haus alles still blieb, würde er aufbrechen. Emmett wandte sich wieder der Tapete zu, folgte dem Muster über die vielen Risse, stellte sich den Verlauf der Schnörkel vor, wo das Papier verblaßt oder seit langem abgeblättert war. Vielleicht seh ich dich zum letztenmal, Decke, dachte er. Wenn die Gerüchte wahr sind, komm ich nie mehr zurück. Nie mehr. Der Gedanke ließ ihn frösteln. Ein Zittern durchzuckte sein linkes Bein. Er versuchte es zur Ruhe zu bringen. Aber selbst wenn ich nicht zurückkehre, selbst wenn es keine Möglichkeit des Kampfes gibt, ist es besser als dieses Leben; besser als eine Genehmigung einzuholen, Mary Ann zu heiraten und in ihrem oder unserem Haus zu leben; besser als um eine Wohnerlaubnis einzugeben und darauf zu warten, daß ihnen die Regierung ein Haus zuwies.
Der Gedanke an Mary Ann brachte ihm ihr Bild in den Sinn: dünn, blaß und zerbrechlich, die Augen bereits glanzlos vor Hoffnungslosigkeit, der Rücken leicht gebeugt. Sie sollten sie nicht so schwer arbeiten lassen. Aber natürlich mußte ihre Familie essen. Es war amüsant, jung und verliebt zu sein und sich über die Gesetze hinwegzusetzen. Aber jetzt gab es seit Jahren keinen Ungehorsam mehr. Jugendlichen wurde viel nachgesehen. Erwachsenen nicht. Der sechsundzwanzigjährige Emmett Keyes hatte die letzte Verfügung vor mehr als fünf Jahren übertreten. Er mußte sich unterordnen, wenn er in Spring Creek bleiben wollte. Aber Emmett würde nicht bleiben. Er würde fortgehen. Heute nacht. Er wandte sich wieder der Uhr zu. Es war genau drei. Die Stunde X. Mit angehaltenem Atem und langsamen, vorsichtigen Bewegungen, damit die Federn nicht quietschten, glitt Emmett unter den Decken hervor. Dann blieb er für eine Weile lauschend sitzen. Man vernahm nur das Rascheln des verschossenen Vorhangs, der die zerfetzte Jalousie am mondlichtüberfluteten Fenster streifte. Emmett mußte sich nicht anziehen, weil er die Sachen gar nicht abgelegt hatte. Es war alles geplant. Vor Jahren, wie es schien. Er stellte die Beine neben das
Bett. Jetzt zirkulierte das Blut schneller, kribbelte in Armen und Beinen, die er so lange stillgehalten hatte. Emmett stand auf, nahm sein Bündel und schlich auf Zehenspitzen zur Tür; er mied die knarrenden Dielenbretter und erinnerte sich dabei daran, wie oft er dies als Junge getan hatte; damals erfüllte ihn nur die Freude, die Sperrstunde zu überschreiten, ihn und die anderen Mitglieder der Bande, wenn sie sich draußen im Gelände herumtrieben. Aber dies war kein Spiel. Dies war Wirklichkeit. Vielleicht für immer. Emmett schlich am Zimmer seiner Eltern vorbei und war dankbar dafür, daß ihre Tür geschlossen war. Er stieg langsam die Stufen hinunter, wobei er gewisse ausließ. Emmett seufzte vor Erleichterung, als er unten ankam. Plötzlich flog die Tür oben im ersten Stock auf, und eine weiße Gestalt eilte zum oberen Treppenabsatz. »Ein!« Seine Mutter stand wie eine Geistererscheinung in der Dunkelheit dort oben und blickte zu ihm hinunter. Schnell gesellte sich eine andere weißgekleidete Gestalt zu ihr: sein Vater. »Em!« wiederholte seine Mutter. Sie schien die Treppe hinabzufließen, und er dachte: Wie graziös sie ist! Liebe für sie durchflutete ihn. Einen Augenblick später standen Mutter und Sohn schweigend da und blickten sich am Fuß der Treppe in die Augen.
»Mußt du wirklich, Em?« fragte sie leise. Sein Vater kam herunter und schloß sich ihnen an. Emmett nickte. »Ich hab's seit langem geplant.« »Ich weiß –« Sie sah fort. Er wußte, daß sich ihre Augen mit Tränen füllten. Emmett hatte gehofft, ihm würde dieser Moment erspart bleiben. »Nicht daß ich ein mißratener Sohn wäre«, sagte er. Sein Vater legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich wurde 1945 geboren, in dem Jahr, als die erste Bombe fiel«, erklärte er. »Damals war dies ein freies Land. Es ist es wert, darum zu kämpfen, Em, aber du wirst keine Gelegenheit zum Kampf erhalten. Sie ergreifen dich vorher.« »Irgendwo muß es doch eine Widerstandsbewegung geben«, meinte Emmett. »Wie ist's mit den Millenariern?« »Die sind hauptsächlich religiös.« »Ich hörte, das sei nur Fassade und daß sie sich im Jahr Zweitausend erheben würden.« »Ich glaube es nicht. Die Roten könnten die Organisation nicht dulden, wenn sie gefährlich wäre.« »Ich kann nicht bleiben, Pa.« »Wenn du gehst, sehen wir dich zum letztenmal«, erklärte sein Vater. »Sie sind gründlich. Du weißt das aus dem wenigen, das du erlebt hast. Ich habe noch viel mehr erlebt.« »Aber wir können nicht so weitervegetieren, fak-
tisch Sklaven, die stets um Genehmigungen für dies und jenes zu ihnen rennen müssen!« »Oh, Em!« Seine Mutter zog ihn an sich. »Es war nicht immer so, Em. Und vielleicht wird es nicht immer so sein. Aber du kannst so wenig ausrichten. Willst du nicht bleiben? Wir brauchen dich.« »Deine Mutter hat recht, Em. Wir brauchen dich im Laufe der Zeit immer mehr. Wie du weißt, werden wir nicht jünger.« »Jemand muß doch etwas unternehmen –« »Nicht du, Em. Nicht Emmett Keyes, der Sohn eines Landwirts aus Spring Creek, Illinois. Nicht du allein gegen eine Welt, die vom Feind regiert wird.« »Ich kann's versuchen.« »Bessere Männer als du haben es versucht.« Emmett konnte das Gesicht seines Vaters in der Finsternis kaum unterscheiden, aber er brauchte es nicht zu sehen, um die Stärke darin zu kennen: die weisen Augen, die entschlossene Mundpartie, den kräftigen Rücken und die tüchtigen Hände. Ihm war auch klar, daß sein Vater recht hatte; doch er mußte selbst mit seinem Gewissen zu Rande kommen und wußte, daß er nicht bleiben, daß er nicht sein ganzes Leben zubringen konnte, ohne etwas gegen die Unterdrückung zu unternehmen. »Ich kann nicht bleiben«, beharrte er düster. »Ich hab's fünf Jahre versucht.«
»Wird nicht leicht für uns werden, wenn sie es herausfinden«, sagte sein Vater sanft. »Ich bleibe«, erwiderte Emmett ruhig, »falls ihr Angst davor habt, daß euch etwas zustoßen könnte, wenn ich gehe.« Einen Augenblick lang schwiegen sie. Seine Mutter flüchtete sich in die Arme seines Vaters, als suche sie Schutz vor Emmetts Denkweise. Schließlich sagte sein Vater: »Dann geh. Wir haben keine Angst.« »Du brauchst ein kräftiges Frühstück«, bemerkte die Mutter, machte sich los und tappte durch den finsteren Flur zur Küche. Eine halbe Stunde später öffneten sie ihm die Hintertür, und Emmett trat ins Freie. »Auf Wiedersehen, mein Sohn«, verabschiedete sich der Vater. Sie schüttelten einander herzlich die Hände. »Viel Glück.« »Auf Wiedersehen«, sagte auch die Mutter. Sie umschloß seinen Kopf mit den Handflächen, zog ihn herab und küßte ihn. Er drehte sich um und entfernte sich vom Haus. »Ich sage es Mary Ann –« Er vermochte nicht mehr zurückzublicken.
2 Die Felder waren feucht vom Tau, und an Emmetts Schuhen begann sich Schlamm anzusetzen, aber das war ihm egal. Bald würden die Schuhe in der Maisonne trocknen, und er würde sie gut wichsen. So pflegte man Schuhe. Während er durch den stillen, dunklen Landmorgen marschierte, verachtete er die Notwendigkeit, sich an Felder und waldreiche Gebiete halten zu müssen. Warum konnte ein Mann nicht eine Straße entlanggehen, wann immer er wollte; oder noch besser eine Straße entlangreiten, wie es einem Mann anstehen würde? Einst gab es eine Zeit, in der man keine Reisegenehmigung brauchte. Würde diese Zeit je wiederkommen? Emmett verlagerte das Bündel von einer Schulter auf die andere. Seiner Meinung nach hatte er beim Packen eine gute Auswahl getroffen: Streichhölzer, Kerze, Jagdmesser, Wachs, Schere, eine alte Karte von Illinois, Nadel und Faden, Rasiermesser, Seife, Angelhaken und Leine, Schnur, Salz, eine Feldflasche mit Wasser, Wasserreinigungstabletten (sein Vater hatte sie jahrelang gehamstert, und Emmett hoffte, daß sie noch wirkten) sowie das Mittagessen, das seine Mutter ihm zubereitet hatte. Jeder Gegenstand war
erforderlich. Das Bündel – in Wirklichkeit eine Decke, die zum Tragen dieser Dinge diente – würde ein bißchen leichter werden, wenn er sein Mittagsmahl verzehrt hatte. Emmett wünschte, er besäße einen Betäuber. Oder einen Phaser. Auf diese Weise könnte er viel länger überleben. Wie die Dinge jetzt standen, würde es hart werden. Er versuchte, sich darüber keine Illusionen zu machen. Wohin wollte er eigentlich? Weg. Irgendwohin. Nur weg. Fort von Spring Creek und allen, die er kannte; fort von dem langweiligen Leben, bei dem man für die Roten arbeitete und sein Pensum zu erfüllen suchte. Was würde passieren, wenn er geschnappt wurde? Vielleicht würden sie ihn in ein Zwangsarbeitslager in Utah oder Nevada stecken. Vielleicht würde man ihm sein Serum entziehen. Aber man mußte ihn erst erwischen. Er grinste, während er über einen kleinen Bach sprang, nicht ohne zuvor die andere Seite zu überprüfen und sicher zu gehen, daß es dort keine Elektroaugen oder Alarmanlagen gab. Es war nur ein weiteres, frisch bepflanztes Maisfeld. Der Gedanke an die Impfung belustigte ihn. Er hatte den Abreisetermin sorgfältig ausgewählt – einen Tag nach der Impfzeit. Das würde ihm dreißig Tage bis zum nächsten Ter-
min verschaffen. Mit viel Glück mochte man ihn einen ganzen Monat nicht vermissen, wenn niemand merkte, daß er fort war; und wenn Mary Ann nichts ausplauderte. Er war sicher, daß sie das nicht tun würde, obwohl es sie schrecklich verstimmen würde, wenn sie erfuhr, daß er ohne Abschied gegangen war. Emmett lachte bei einem anderen Gedanken laut auf und blickte dann schnell umher, um sich zu vergewissern, daß er nichts aufgescheucht hatte. Er durfte sich nicht so gehen lassen. Aber ihn brachte der Gedanke an die Warnung zum Lachen, die an alle Impfstationen ergehen würde, vor ihm auf der Hut zu sein. Sie wußten, daß er nach etwa dreißig Tagen irgendwo aufkreuzen oder die Folgen in Kauf nehmen mußte. Sie wußten, daß niemand ohne Serum leben konnte. Aber Emmett besaß eine Waffe, von der man keine Ahnung hatte. Er brauchte die Impfung nicht. Es war seltsam, aber er war der einzige gegen die Seuche immune Mensch, den er kannte. Jeder mußte sich rechtzeitig melden oder der Krankheit erliegen – Wahnsinn oder Tod, die sicheren Folgen, wenn man kein Serum bekam. Doch nicht Emmett Keyes. Er entsann sich mit grimmigem Humor des einen Mals, als er seine Impfung versäumt hatte; erinnerte sich, wie er darauf gewartet hatte, innerhalb weniger Tage ein schreckliches Ende zu finden, nachdem ihm
bewußt wurde, was er getan hatte. Seine Eltern hatten ihn als Elfjährigen zur regelmäßig monatlich stattfindenden Impfung mitgenommen. In jener Stunde ging es auf der Station überaus hektisch zu: Die Schwestern hatten alle Hände voll zu tun mit einem Mann, der seine Spritze absichtlich versäumt hatte. Er wollte die Folgen ausprobieren – wie viele, die hofften, sie wären immun –, und war fast verrückt vor Angst und Krankheit. Man ließ ihn zuerst hundert Dollar blechen, bevor man ihm seine Spritze verpaßte; so hoch war die Geldbuße, wenn man sich nicht rechtzeitig meldete. Seine Frau bezahlte. Der Mann erholte sich schnell und zog kleinlaut von dannen. Während der ganzen Aufregung stahl sich Emmett, der sich kein bißchen von anderen Kindern unterschied, die die Spritze auch nicht leiden konnten, heimlich durch die Schlange und zur Hintertür hinaus; er war mächtig stolz auf sich und dachte überhaupt nicht daran, was ihm zustoßen konnte. Ein paar Tage später landete ein Flugzeug mit einem roten Stern am Rumpf auf dem Hof der Keyes; ein Commie – damals wirkte er auf Emmett riesig in seinem langen Mantel und der Armbinde mit rotem Stern – stieg aus. Emmetts Mutter kam – außer sich vor Furcht und die Hände an der Schürze abtrocknend – aus der Küche gestürmt. Sein Vater eilte vom Feld herbei.
Der Rote wollte wissen, warum sich ihr Sohn nicht zur Impfung gemeldet hatte. Sie erwiderten, da müsse ein Irrtum vorliegen. Der Rote verlangte, daß man ihm den Sohn vorzeige: einen gewissen Emmett Keyes, elf Jahre alt. Sein Vater ging auf der Suche nach ihm ins Haus und fand ihn am Fenster im ersten Stock, von dem aus er die Vorgänge mit weit aufgerissenen Augen beobachtet hatte. Emmett wurde in den Hof hinausgeführt, wobei der Vater seine Hand fester denn je zuvor umklammerte. »Hier ist mein Sohn. Sieht er aus, als müsse er sterben?« Der Rote musterte ihn und brummte etwas. Dann fragte er mit lauter Stimme: »Haben dich deine Eltern zur Impfung mitgenommen?« Emmett log nicht, als er antwortete: »Jawohl, Sir.« Der Rote streckte die Hand aus, packte grob Emmetts linken Arm, richtete ein kleines Gerät auf das Identitätsband unter der Haut des Unterarms, legte das Auge an ein winziges Guckloch und las, was dort stand. Dann kritzelte er eine Notiz auf ein Stück Papier, drehte sich wortlos um, kletterte in das Flugzeug und verschwand im Nu. Das war Emmetts einzige Begegnung mit einem echten kommunistischen Beamten aus nächster Nähe. Nach diesem Vorfall hielt er seine Impftermine regelmäßig ein.
Er überraschte seine Eltern damit, daß er ihnen schließlich erzählte, er habe die Spritze doch nicht erhalten. Zuerst weigerten sie sich, ihm zu glauben; aber als er damit drohte, die nächste Impfung wieder auszulassen, um seine Aussage unter Beweis zu stellen, blickten sie ihn seltsam an und schüttelten über dieses Wunder den Kopf. Sie besprachen die Angelegenheit häufig, ließen jedoch außerhalb des Hauses nie ein Wort darüber verlauten. Und natürlich sprachen sie nie davon, ohne zuerst nach Mikrofonen Ausschau zu halten. Sein Vater war sicher, daß seit dem Besuch des Roten irgendwo im Haus eins versteckt sei, fand es aber nie. Sie erwähnten die Immunität einige Monate nicht mehr aus Angst, jemand könne ihr Gespräch abhören. Seine Immunität ließ ihn sich fragen, ob es vielleicht noch andere gab, die immun waren. Aber die ganzen Jahre hindurch gelangte er zu der Überzeugung, dies sei unmöglich. Emmett hatte zuviele Gesetzesbrecher gesehen, die ihre Strafe entgegennahmen – sie wurden nach Hause geschickt, um ohne die Schutzimpfung eines schleppenden, quälenden Todes zu sterben –, als daß er die Notwendigkeit der Spritzen bezweifelt hätte. Er erkannte darin die sicherste Handhabe, die der Feind über sie alle besaß. Und nur seine Immunität verschaffte Emmett Keyes die Möglichkeit, sein jetziges Unterfangen durch-
zuführen. Hätte er sich wegen der Spritze melden müssen, hätte er nicht länger als dreißig Tage ausharren können. Ohne dieses Muß war er freier als jemand anderer, den er kannte. Er konnte durchhalten – ein Leben lang? Seit dreißig Jahren stellte der Bedarf an monatlichen Impfungen die Faustregel für jeden Einwohner der Vereinigten Staaten und der anderen besetzten Länder dar – vier Jahre länger, als Emmett auf der Welt war. Es hatte im Jahre 1989 begonnen, als die feindlichen H-Bomben die Städte Washington und Chicago ausradierten. Die Vereinigten Staaten hatten versucht, mit gleicher Münze heimzuzahlen; nur um die tragische Entdeckung zu machen, daß der Feind etwas erfunden hatte, was die Zeiger zu seinen Gunsten ausschlagen und den Ausgang des Krieges gewiß werden ließ: er besaß eine unerschütterliche Barriere gegen Flugzeuge und Geschosse. Es gab keine Alternative. Die Vereinigten Staaten hatten nach dem Ultimatum des Feindes schnell kapituliert, um weitere Verluste an Menschenleben zu vermeiden. Die Vernichtung der Vereinigten Staaten als Weltmacht ließ andere Länder schutzlos zurück, und sie gaben sich angesichts des unverletzbaren Roten Riesen innerhalb weniger Tage geschlagen. Der Feind wurde zum unumschränkten Herrscher über die Welt. Sobald die Vereinigten Staaten kapitu-
liert hatten, machte der Feind eine überraschende Ankündigung: Nur um sich der endgültigen Niederlage der Vereinigten Staaten zu versichern – so lautete es offiziell –, habe er über die ganze Welt einen neuentdeckten Virus losgelassen, eine Vorsichtsmaßnahme für den Fall, daß die Vereinigten Staaten und ihre Alliierten den Krieg gewonnen hätten. Emmett lernte die Geschichte in der Schule. Wie der Feind großherzig einwilligte, jeden Mann, jede Frau und jedes Kind auf der Welt zu impfen. Seitens der Öffentlichkeit zögerte man in den ersten dreißig Tagen. Aber als Tausende plötzlich der Seuche zu erliegen begannen, erfolgte ein Ansturm auf die Impfstationen, die die Eroberer so zahlreich eingerichtet hatten. Einige Menschen starben oder wurden wahnsinnig, während sie Schlange standen, um geimpft zu werden. Ärzte und Schwestern der Besatzungsmacht arbeiteten drei Tage lang rund um die Uhr, bis jeder eine vorbeugende Spritze erhalten hatte. Nie handhabten amerikanische Ärzte oder Schwestern die Schutzimpfung. Die Menschen glaubten, die Impfung würde sie für eine lange Zeitspanne immun machen, aber bald erfuhren sie, daß die Spritzen für den Rest ihres Lebens allmonatlich fällig waren. Und so wurde das Schema von Niederlage und Kontrolle klar: Die Impfzeit begann, jene Tage des Monats, in denen sich jeder bei
seiner nächstgelegensten Impfstation meldete; er erhielt seine Spritze und wurde von den dort angestellten Ärzten und Beamten in Augenschein genommen; diese prüften auch die Abgaben und wie gut das Arbeitspensum erfüllt worden war; außerdem achteten sie auf die Frauen, um sich zu vergewissern, daß keine ungesetzmäßig schwanger war; sie verteilten sparsam Antibabypillen, das Stück zu fünf Dollar. Eine Geburtengenehmigung wurde etwas, wofür man jahrelang arbeiten mußte. Die Kosten betrugen fünfhundert Dollar, einschließlich Vor- und Nachsorgeuntersuchung sowie Benützung einer Entbindungsstation im Krankenhaus. Jeder bediente sich dieser Einrichtungen; falls man dies nicht täte und es unter Aufbietung einiger Phantasie fertigbrächte, ein Kind außerhalb des Krankenhauses zur Welt zu bringen, könnte dieses nicht länger als einen Monat leben, weil ihm seine erste Impfung verweigert werden würde. Während er über ein Feld nach dem anderen trottete, erinnerte sich Emmett plötzlich daran, daß eine Gruppe gegenüber der Seuche immun war: die Zigeuner. Oder beruhte dies nur auf einem Gerücht? Was war eigentlich Besonderes an den Zigeunern? Unter der Haut ihrer Unterarme stand keine Identifizierung. Stimmte das? Wenn sie nicht registriert waren, dann besaßen sie kein Recht auf Krankenhausbe-
treuung, Verpflegung, Verwaltungsarbeit oder andere Wohltaten. Aber was geschah mit ihren Babys? Wurden die immun geboren? In der Nähe von Spring Creek lagerten oft Zigeunerstämme. Emmett erinnerte sich an die Zelte, die farbenprächtige Kleidung, die Aushängeschilder, die ihre Kenntnis von okkulten Dingen anpriesen. Er und ein paar andere Jungen hatten die Familien aus sicherer Entfernung beobachtet und zu ihrer Enttäuschung festgestellt, daß sie sich in keiner Weise von ihren eigenen Familien unterschieden. Sie hängten Wäsche auf, rügten ihre Kinder und waren scheinbar glücklich mit ihrem Schicksal, ständig durch die Welt ziehen zu müssen. In dieser Hinsicht waren sie jedoch anders. Emmett war sicher, daß sie keine Reisegenehmigung brauchten, daß sie frei waren, dahin zu gehen, wohin es sie trieb. Emmett hatte nie einen Zigeuner gefragt, ob er immun sei, war nie mit einem befreundet gewesen; er beachtete den Rat seiner Mutter, vorsichtig zu sein und nicht in ihre Nähe zu gehen, weil die Zigeuner ihn sonst entführen könnten. Er entsann sich an ein paar Krisen als Erwachsener, in denen er wünschte, die Zigeuner hätten ihn tatsächlich mitgenommen. Jetzt bedauerte er nur, daß er die elterliche Mahnung befolgt hatte, denn wenn sie tatsächlich immun waren und keine Reisegenehmigung benötigten würde
er sehr gut zu einer solchen Gruppe passen – falls man ihn haben wollte. Er mußte einen Stamm finden. Aber wo sollte er suchen? Die Sterne verblaßten, der Himmel wurde heller, und das Land eilte dem neuen Tag entgegen. Vögel zwitscherten aufgeregt in den Bäumen, an denen er vorüberging, und Emmett hörte in weiter Ferne einen Hahn krähen. Er ging jetzt langsamer, weil er wußte, daß ihm die Wälder und Felder mit jeder verstreichenden Minute weniger Schutz boten. Ihm war außerdem bekannt, daß Bauern Frühaufsteher sind und er sich von den Feldern ab- und den Straßen zuwenden sollte. Bei Sonnenaufgang schätzte er, gute zehn Meilen zurückgelegt zu haben. Er setzte sich und befeuchtete die Lippen an der Wasserflasche. Dann zog der die zerknitterte, vergilbte Karte hervor und entfaltete sie auf den Knien. Er befand sich in der Nähe von Springfield. Emmett wußte, daß er sich östlich oder westlich halten mußte, um die Stadt zu umgehen. Er blickte auf die Karte und beschloß, an Springfield östlich und somit auch an Decatur vorbeizugehen; er wollte in nördlicher Richtung auf Chicago zuhalten und betonierte Straßen meiden. Unbefestigte Straßen eigneten sich für eine Reise bei Tageslicht besser; sie waren enger, und das Unterholz wuchs näher an den Straßen, was ihm eine schnellere Versteckmöglichkeit bot. Auf ei-
ner Landstraße würde man ihn leicht entdecken und genauso einfach aufgreifen. Emmett konnte sich jedoch kaum vorstellen, daß die Beamten unbefestigte Straßen benützten; sie kamen äußerst selten an seinem Elternhaus in Spring Creek vorbei. Er brach wieder auf. Die Sonne brannte vom wolkenlosen Himmel, und es war heiß. Emmett beschloß, sich mit dem Wasser einzuschränken, als er erkannte, daß die Flasche zur Hälfte leer war. Sofort quälte ihn der Durst. Doch Emmett wußte, daß er nur mit Selbstbeherrschung überleben konnte. Er ließ die Hände von der Wasserflasche. Einmal sah er einen Schatten über ein Feld wandern, ging weiter, beobachtete ihn und überlegte, wie sehr dieser doch einem Vogel gliche. Im gleichen Atemzug blickte er nach oben, sah das kleine Flugzeug durch die Luft segeln, fiel in den Graben, rollte unter eine Hecke und schnappte mit pochendem Herzen nach Luft. Ein andermal hatte er mehr Glück. Emmett hörte einen Turbowagen und lag gut versteckt im Unkraut neben einem Abwasserkanal, bevor das Fahrzeug in Sicht kam. Er war dankbar für das Surren des Turbos, das – obwohl nicht laut – ein erkennbares Geräusch von sich gab. Wieder einmal pochte sein Herz Protest, während er beobachtete, wie der alte Wagen und dessen einsamer Insasse vorbeibrummten.
Um die Mittagszeit suchte Emmett die Abgeschiedenheit eines kleinen bewaldeten Gebiets auf, breitete die Decke aus und verzehrte die belegten Brote, die seine Mutter zubereitet hatte. Er war hungrig und aß mit Appetit. Als Emmett fertig war, fragte er sich, wann und wo er wohl wieder essen würde. Emmett untersuchte die Wasserflasche und wünschte, er hätte sich mit einer größeren versorgt. Sie war jetzt kaum viertelvoll. Wasser würde bald wichtig werden. Es war fast Sonnenuntergang. Er mußte irgendwo Rast machen. Erstens brauchte er Wasser, zweitens einen Platz zum Schlafen. Letzteres konnte er jederzeit auf einem Feld oder im Wald tun – er besaß eine Decke –, mußte aber in die Nähe eines Bauernhofes kommen, um Wasser zu erhalten. Wie sollte er das anstellen? Emmett packte die Sache sehr logisch an, wie er glaubte. Er konnte sich in eine Scheune schleichen und seine Flasche aus den Trinktrögen des Viehs füllen. Oder vielleicht fand er einen alten Pumpbrunnen, obwohl dieser wahrscheinlich zu nahe an einem Haus stünde und zuviel Lärm machte. Die andere Möglichkeit war, ganz ehrlich zu sein, einfach in einen Bauernhof zu gehen und zu erklären, daß er Wasser brauche. Welchen Grund besäße jemand, eine solche Bitte abzuschlagen? Alle – alle, die er kannte, und alle, denen er wahrscheinlich in den kommenden
Tagen begegnen würde – waren unterdrückte Menschen. Oder? Sie würden nichts gegen ihn haben. Sie mochten sogar genug Sympathie für ihn hegen, ihm eine Mahlzeit zu geben und ihn mit ihrem Segen auf die Wanderschaft zu schicken. Er war sicher, daß seine Eltern das für einen solchen Reisenden getan hätten. Es wäre deshalb viel vernünftiger, freundlich und ehrlich zu sein, beschloß Emmett. Sich Wasser zu erschleichen würde Nachforschungen und eventuell Unfreundlichkeit hervorrufen. Er legte noch einige Kilometer zurück, bis er zu einem Bauernhof gelangte, der ein bißchen besser aussah als die übrigen, die Emmett gesehen hatte. Die Felder waren ordentlich gepflügt, das Haus frisch getüncht. Er erblickte einen sauberen Hof, die weiße Umzäunung sowie den Bauern selbst im Overall und mit Strohhut; die Frau kam gerade vom Hühnerhof. Sie müssen ein fleißiges Paar sein, wenn sie ihr Anwesen derart führen, dachte Emmett. Im Hof stand ein neuer Turbowagen. Auf der Veranda schlief ein Hund. Der Hund bemerkte ihn als erster, als Emmett die Auffahrt betrat. Er blickte auf, als bemühe er sich, ihn wiederzuerkennen. Dann mußte er jegliche Ähnlichkeit mit jemand aus seinem Bekanntenkreis ausgeschlossen haben, sprang plötzlich bellend die Treppen hinunter und über den Hof.
»Hallo, alter Knabe«, lockte Emmett, bückte sich ein wenig und streckte dem Hund die Hand mit der Fläche nach außen entgegen. »Komm, Kamerad. Komm her.« Der Hund sah ihn unsicher an und winselte in seiner Verwirrung. Dann – als würde er entscheiden, daß nichts Böses in jemand sein konnte, der so freundlich redete – senkte er den Kopf, wedelte mit dem Schwanz und kam näher. Emmett kraulte die Ohren und sah, daß sich der Bauer in der Mitte des Hofes umgedreht hatte und ihn beobachtete. Die Frau stand auf den Stufen. »Hierher, Bill!« rief der Mann und ging auf Emmett zu. »Hierher, Junge!« Der Hund rannte zu dem Mann und trottete gehorsam neben ihm her, während die beiden Männer sich einander näherten. »Guten Tag«, grüßte der Bauer herzlich und zeigte bei einem entwaffnenden Lächeln auseinanderstehende weiße Zähne. Er war ein großer braungebrannter Mann im sauberen Overall; weiße Haarsträhnen lugten unter dem Strohhut hervor. »Woher, zum Teufel, kommst du denn?« »Bin nur auf der Durchreise«, antwortete Emmett. Er war erleichtert über die Freundlichkeit dieses Mannes. »Dachte, ich könnte hier vielleicht meine Wasserflasche füllen.«
»Nun denn, Wasser haben wir jede Menge. Du mußt nur reinkommen.« Der Landwirt drehte sich um und sie gingen zusammen die Auffahrt hinauf. »Mein Name ist Tisdail«, stellte sich der Bauer vor. »Cad Tisdail. Das Cad steht für Cadwallader. Wär das kein Name für dich?« Er lachte ein bißchen. »Ich heiße – Elmer Pease.« »Schön, dich kennenzulernen, Elmer.« »Eine hübsche Farm haben Sie da, Mr. Tisdail.« »Oh, sie ist nichts Besonderes. War mein ganzes Leben lang Bauer. Würde vermutlich gar nicht richtig wissen, was ich sonst tun sollte.« Er rief der Frau zu: »Wir haben einen Gast, Mutter. Er heißt Pease. Elmer Pease. Will ein wenig Wasser. Das dort ist Mrs. Tisdail.« »Sehr angenehm, Ma'am.« Emmett gewahrte die kalten grauen Augen, den taxierenden Blick. Mrs. Tisdail nickte leicht, ging ins Haus. »Menschenskind, Elmer, es ist schon lange her, daß bei uns jemand so reingeschneit kam. Du siehst aus, als hättest du 'ne lange Reise hinter dir.« »Ja, Sir, das ist richtig«, antwortete Emmett. »Ich war den ganzen Tag unterwegs.« »Ich nehm's an.« Emmett bemerkte den raschen Blick auf seinen Unterarm hob die linke Hand zum Gesicht und ließ die
Finger über seine Bartstoppeln gleiten. Die Blicke folgten nicht. »Komm mit ins Haus. Wir holen das Wasser direkt aus dem Hahn.« Emmett betrat hinter ihm das Innere, die Küche war nett und sauber, und der Essensduft aus dem Elektroofen überwältigte Emmett fast. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen. »Gibt es«, erkundigte er sich impulsiv, »irgend etwas, was ich für eine Mahlzeit tun könnte, Mr. Tisdail?« Tisdail befand sich auf halbem Weg zur Spüle. Er drehte sich um und blickte Emmett überrascht an. »Natürlich, du mußt ja hungrig sein, mein Sohn. Daran hab ich gar nicht gedacht. Du bleibst und ißt mit uns. Wir würden uns darüber freuen. Und du mußt überhaupt nichts dafür tun. Wir sind mächtig froh, daß du vorbeigekommen bist. Ich weiß nicht, wann wir zum letztenmal jemand zum Abendessen bei uns hatten. He, Mutter!« brüllte er. »Elmer bleibt zum Abendessen.« Jetzt drehte er am Ausguß den Hahn an. »Hier ist Wasser.« Emmett ließ sein Bündel auf den Küchenboden fallen, löste die Schnur und nahm die Wasserflasche. »Sehr freundlich von Ihnen, daß Sie mir das erlauben, Mr. Tisdail«, sagte er und ging zum Ausguß. »Nicht der Rede wert. Bin einfach froh, daß ich je-
mand außer Mrs. Tisdail hab, mit dem ich reden kann.« Der Bauer kicherte. »Du hättest ein wenig früher kommen sollen, um die Mittagszeit. Da hatten wir ein richtiges Mahl. Jetzt gibt's nur Reste.« »Die sind mir sehr willkommen, Mr. Tisdail, glauben Sie mir. Ich weiß nicht, wann ich so –« Er ahnte die Bewegung mehr, als daß er sie hörte, zuckte zurück, und ein harter Schlag streifte ihn an der Schläfe. Als nächstes spürte er das volle Gewicht von Tisdails Körper. Die Feldflasche klapperte in den Ausguß. Emmett hob die Hände, um den zweiten Schlag abzuwehren. Er fing die Kraft des schweren Gegenstands mit dem Handrücken auf, glitt am Ausguß entlang, fiel zu Boden und prallte gegen ein Hindernis, das ihn zur Seite warf. Er rollte über den Boden. Emmett sah das aschgraue Gesicht Tisdails jetzt auf sich zukommen: das Lächeln war verschwunden, die Augen hell vor Wut, der Mund stand offen, die Zähne waren zusammengepreßt. Er entdeckte auch den Schraubenschlüssel in der Hand des Mannes. Als Tisdail auf ihn fiel, warf Emmett sich zur Seite und landete mit dem Gesicht zwischen den Gegenständen auf einer Decke. Die Klinge seines Jagdmessers schimmerte im hellen Küchenlicht. Er packte es, umklammerte es fest und rollte von dem Mann weg. Tisdail wirbelte zu ihm herum, die Augen weiß,
den Schraubenschlüssel hoch erhoben. Er zielte auf Emmetts Kopf und traf seine Schulter mit einem betäubenden Schlag. Dann holte er wieder aus. Mit schwindenden Kräften riß Emmett das Messer in einem schnellen Bogen von unten herauf; er spürte, wie es gegen etwas stieß und eindrang. Tisdail erstarrte mit erhobenem Schraubenschlüssel. Überraschung lag auf seinem Gesicht. Für einen Augenblick wäre fast das Lächeln zurückgekehrt. Dann wurde das Gesicht schlaff, die Lider sanken nach unten. Der Schraubenschlüssel klapperte zu Boden. Tisdails Kopf sackte nach vorn, und er selbst fiel schwer gegen Emmett. Emmett begann unter dem Mann hervorzukriechen und hielt inne, als er Mrs. Tisdail wie versteinert im Türrahmen stehen sah: mit runden, weit aufgerissenen Augen, weißem Gesicht; die Kiefer arbeiteten krampfhaft, eine Hand lag stützend am Türrahmen. Dann führte sie die andere Hand langsam zum Hals, während sie zu Boden sank, stöhnte und ihren Mann anstarrte.
3 Emmett machte sich von dem Mann frei und taumelte in die Höhe, wobei er sich am Tisch abstützte. Dann blickte er hinunter und sah, daß seine Hand mit Blut besudelt war. Angeekelt stolperte er zur Küchentür, wankte hinaus und übergab sich. Der Hund beobachtete ihn neugierig. Ich habe einen Menschen getötet. Ich habe einen Mann getötet. Der Emmetts Natur so fremde Gedanke hämmerte in seinen Schläfen. Es war ihm, als hätte sein altes Leben unmittelbar vor dem Angriff aufgehört, und dieses neue Leben, seine neue Persönlichkeit, wäre durch die Gewalttat geboren worden. Emmett mochte es nicht, konnte gar nichts daran leiden. Einen freundlichen Mann wie Mr. Tisdail zu töten. Aber warum hatte er ihn angegriffen? Die Stille des Abends, die länger werdenden Schatten, die beruhigenden Geräusche vom Bauernhof machten ihn sicher. Es konnte nicht wahr sein, daß ein Mann, den er gerade getötet hatte, hinter ihm im Haus lag. Es war ein Alptraum. Im nächsten Moment würde er in seinem Zimmer aufwachen. Emmett wollte dies glauben, wußte jedoch, daß es nicht stimmte. Plötzlich packte ihn der Impuls, fortzulau-
fen und über die Felder zu preschen, bis er vor Erschöpfung umfiel. Emmett atmete tief ein und schob den Gedanken von sich. Er mußte wieder hineingehen, um seine Decke und die Gegenstände darauf zu holen. Er wandte sich um, öffnete mit der unbefleckten Hand die Tür und zwang sich, hindurchzutreten. Die Frau lag noch genauso da, wie er sie zurückgelassen hatte: im Türrahmen starrte sie vor sich hin. Sie schien seine Gegenwart nicht wahrzunehmen. »Mrs. Tisdail«, sprach er sie an und fürchtete, sie könne jeden Augenblick lebendig werden und Rache nehmen. Aber sie rührte sich nicht. Emmett ging zum Ausguß und wusch das Blut von der Hand, während er ständig auf sie achtete. Er benützte ein Geschirrtuch, um das Blut am Ärmel zu entfernen. Wieder wandte er sich an die Frau. »Ich – ich wollte – Ihren Mann nicht töten.« Jetzt waren die Worte in einer plötzlichen Anwandlung ausgesprochen worden, das Geständnis dessen, was er getan hatte; sie schienen für die Küche zu laut zu sein. Sie hallten von all den sich darin befindenden Dingen wider: den Stühlen, dem Tisch, dem Herd, von Töpfen und Pfannen, von Geschirr und Besteck; und die Bedeutung dessen, was er gesagt hatte, tröstete ihn nicht. »Ich wollte nur – ein wenig Wasser für meine Feld-
flasche – und Mr. Tisdail sagte, ich könne es haben. Er drehte sogar den Hahn für mich auf. Dann –« Mrs. Tisdail wandte langsam den Kopf und blickte ihn an. Die Augen waren leer, ohne Verständnis. »Und dann fiel er über mich her. Ich füllte gerade die Feldflasche. Er lud mich sogar zum Abendessen ein. Gleich danach, während ich die Flasche füllte, griff er mich mit dem Schraubenschlüssel an. Ich – ich mußte mich verteidigen, Mrs. Tisdail. Mußte einfach. Es hieß er oder ich. Ich überlegte nicht einmal, was ich tat. Hatte keine Zeit zum Denken.« Sie starrte ihn noch immer unbeweglich an. »Wenn er mich mit diesem Ding richtig getroffen hätte, läge jetzt ich statt seiner auf dem Boden. Glauben Sie mir, Mrs. Tisdail, das wollt ich nicht. Ich schwör's. Können Sie mich nicht verstehen, Mrs. Tisdail? Können Sie das nicht? Können Sie nicht einsehen, daß es um mein Leben ging?« Der Anblick der hageren, kleinen, schwachen Frau, und das Wissen darum, was er ihrem Leben angetan hatte, verengten seine Kehle. Emmetts Augen brannten vor Tränen. »Ich weiß, was er Ihnen bedeutet haben muß, Mrs. Tisdail«, fuhr er fort und versuchte eine Möglichkeit zu finden, ihren sowie seinen eigenen Schmerz zu lindern. »Und es tut mir leid. Aber er hätte nicht versuchen sollen, mich umzubringen.«
Sie blinzelte und sah ihn jetzt. Doch der Blick war seltsam: nicht das, was er erwartet hatte, denn er schien keinen Groll zu enthalten. Dann blickte sie wieder zu Boden, öffnete den Mund ein wenig und sprach mit sich kaum bewegenden Lippen. »Ich bin froh, daß er tot ist«, erklärte sie so leise, daß er sich fragte, ob sie überhaupt etwas gesagt hatte. Sie blickte auf. Jetzt überzog ein wenig Farbe ihr Gesicht, und der Busen hob und senkte sich, während sie tiefer atmete. Ihr Blick hielt den seinen fest. »Er war nicht gut, und ich habe ihn gehaßt.« Emmett schwindelte. Dieses Geständnis paßte nicht zu dem ordentlichen Bauernhof, dem weißen Zaun, der Sauberkeit und dem Fleiß, der aus allem so deutlich wurde. Er musterte ihr Gesicht, entdeckte darin das Tragische und jenen hoffnungslosen Blick, den er so oft gesehen hatte. Seltsam, daß er ihn nicht schon früher bemerkt hatte. Aber der Bauernhof täuschte. Mrs. Tisdail richtete sich auf. Sie sah älter aus als ihr Mann: ein schmächtiges Frauchen mit kurzem grauem Haar, einem blassen Gesicht, eingesunkenen Wangen und Linien um den Mund; ein Gesicht ohne Lebenskraft. Sie wirkte, als hätte man ihr das Leben ausgesaugt, und sie schien nur deshalb weiterzuleben, weil ihr Herz sich geweigert hatte, mit dem Schlagen aufzuhören.
Jetzt stand Mrs. Tisdail da und sah ihn ruhig an. »Ja, ich habe ihn gehaßt.« Sie schien aus den Worten Kraft zu schöpfen. »Können Sie nicht erraten, warum?« Emmett schwieg und fragte sich, was wohl in einer solchen Umgebung dieses Empfinden hervorgerufen haben konnte. Den Tisdails ging es bei weitem besser als allen übrigen Bauern, die er kannte. Was konnte es gewesen sein? Warum sollte er es wissen? »Sie haben doch die Felder gesehen, nicht wahr? Haben Sie bemerkt, wie ordentlich sie bestellt sind? Haben sie den neuen Hausputz beachtet? Der Stall wurde erst letztes Jahr gestrichen. Nehmen Sie vielleicht an, Mr. Tisdail hätte das alles allein getan? Wirklich?« »Nun, eine Mordsarbeit, wenn man bedenkt, was auf einem Bauernhof alles zu tun ist«, gab Emmett zu. »Hat er's nicht gemacht?« »Nein. Nicht Cad Tisdail. Warum sollte er einen Finger rühren, wenn er nur das Bezirksamt anrufen mußte, damit man ihm ein paar Männer schickte?« Sie blickte auf die schlaffe Gestalt am Boden. »Na, Cad, jetzt kannst du nicht mehr ans Videofon gehen, oder? Du kannst ihnen nicht mitteilen, daß du tot bist und sie ein paar Männer schicken sollen, um dir zu helfen? Damit ist Schluß.« Mrs. Tisdail hielt die Luft an, riß sich vom Türrahmen los, trat neben Emmett zum Ausguß und blickte
durch die Fenster. Er konnte Tränen in ihren Augen erkennen. »Er bat den Feind um Hilfe?« »Richtig. Der Mann da auf dem Boden war ein Abtrünniger des christlichen Landes. Ein Mann, der jedermanns Seele verkaufen würde, wenn er damit nützliche Beziehungen anknüpfen könnte. Ein Kollaborateur.« Emmett sah auf die tote Gestalt und würgte erneut. »Nachdem die Bomben fielen und die Seuche kam, ließ Mr. Tisdail die Roten wissen, auf wessen Seite er stand. Keine Gunst war ihm gering genug, um nicht dafür Dank abzustatten; der Tag besaß für ihn nicht genügend Stunden, um den Roten seine Treue ihnen gegenüber zu beweisen. Deshalb sieht die Farm so aus.« »Tut mir leid, Mrs. Tisdail. Das wußte ich nicht.« Sie wandte sich ihm zu. »Wissen Sie, warum er Sie angegriffen hat? Er hätte Sie leicht töten können. Er besitzt ein ganzes Waffenarsenal. Er hätte Sie mit einem Phaser abschießen oder einen Betäuber anwenden können. Aber nicht Cad Tisdail.« »Warum hat er dann diesen Schraubenschlüssel zu benützen versucht?« »Als er Sie hereinführte, wußte ich bereits, was er dachte. Wenn man so lange mit einem Mann zusammenlebt, weiß man, was er tun wird. Cad hatte einen
Riecher für das Dramatische. Sein Plan war es, Sie kampfunfähig zu schlagen, sich selbst ein paar Schrammen beizubringen, ein paar Kratzer hier und da – wahrscheinlich hätte er dies von mir verlangt –, dann das Bezirksamt von Taylorville anzurufen und ihnen mitzuteilen, welch einen Kampf er mit Ihnen ausgefochten habe. Und dann hätte er angenommen, sein Guthaben wäre um ein paar Punkte höher gerückt. Doch er hatte das gar nicht mehr nötig. Sein Guthaben stand bereits an der Spitze. Sie bedurften keiner weiteren Beweise für seine Loyalität. Aber Cad fürchtete immer, man bringe ihm eines Tages die Mitteilung, daß er nicht mehr gebraucht werde.« »Ich wollte, ich hätte das gewußt. Ich wär nicht gekommen –« »Ich bin froh, daß Sie gekommen sind. Nur haben Sie mir leid getan, als Sie die Auffahrt heraufkamen. Aber ich konnte nichts unternehmen.« »Es muß schwer für Sie gewesen sein – die vielen Jahre.« »Schwer?« Sie lächelte matt. »Es war nicht schwer. Nicht wirklich. Es war leicht, ihn diese Dinge tun zu lassen. Schwerer wäre es gewesen, ihn aufhalten zu wollen. Ich wünsche jetzt, ich hätte den Mut dazu besessen. Aber ich bin nur eine Frau, war mit ihm verheiratet und liebäugelte mit dem Traum, daß er eines Tages den Irrtum seiner Handlungsweise einsehen,
irgendein Ereignis seinen richtigen Platz in der Gemeinschaft wiederherstellen würde. Er war nicht wirklich schlecht. Ich glaube, er hatte nur furchtbare Angst. Als wir jung verheiratet hierherzogen, besaßen wir eine Hypothek sowie ein paar Kühe und Hühner. Aber wir hatten unseren Stolz. Wir arbeiteten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Die Nachbarn besuchten uns, und wir sie. Ich hatte viele Freunde, und er ebenfalls. Damals war er das, was man zünftig nennen würde. Er gehörte einem Bauernbund an, einer Loge in der Stadt und sogar einem Klub drüben in Taylorville. Dann fielen die Bomben. Und die Eroberung kam. Ich muß Ihnen nicht sagen, wieviele Freunde uns blieben, nachdem sich zeigte, auf wessen Seite er sich stellte. Jetzt kommt hier niemand mehr vorbei. Kein Mensch mit Selbstachtung würde je bei den Tisdails einkehren. Hier heißt es: Zutritt verboten; kommunistisches Gebiet.« »So schlimm war's?« »Noch schlimmer. Wissen Sie, welche Art Leute uns die Ehre gaben? Parteimitglieder, kommunistische Beamte. Sogar ein feindlicher Offizier kam hier einmal vorbei. Modellfarm nannte er es. Das vollkommene Beispiel für Besatzungstreue.« »Mr. Tisdail bekannte sich offen als Verräter?« »Von Anfang an. Er spionierte, schnüffelte, erpreßte
und verriet jedermann – einschließlich seiner besten Freunde. Nicht lange nachdem die ersten Bomben gefallen waren, wurde er ein wichtiges Rädchen in der Besatzungsmaschinerie der hiesigen Gegend. Natürlich erhielten wir unsere Impfungen genau wie jeder andere, aber wir mußten deswegen nicht zur Station gehen. Oh nein, nicht die Tisdails. Wir lagen auf der Reiseroute für Kollaborateure. Am dritten jeden Monats fuhr man bei uns vor, um uns unsere Schutzimpfung zu verabreichen. Und Steuern? Es gab keine. Wir konnten eine Reisegenehmigung bekommen, wann immer wir wollten. Wir mußten für eine Geburtenerlaubnis nicht bezahlen – und glauben Sie mir, ich dachte, das würde vielleicht helfen, daß Cad die Dinge wieder richtig sieht –, aber wir hatten nie das Glück, ein Kind zu bekommen. Cad bestand darauf, daß ich in ein Krankenhaus ginge, um herauszufinden, warum; doch ich weigerte mich. Vielleicht hätte ich meinen Stolz schlucken sollen. Vielleicht lägen die Dinge dann anders –« Sie schwieg gedankenverloren, was Emmett dazu veranlaßte, linkisch dabeizustehen und nicht zu wissen, was zu tun war. Ein toter Mann auf dem Fußboden – der Mann, den er getötet hatte –, und er sollte sich davonmachen, abhauen; doch er konnte jetzt nicht einfach aus dem Haus gehen und sie allein zurücklassen.
Wie anders doch die Tisdails waren als die Menschen, die er kannte! Seine Eltern hatten sich niemals mit den Kommunisten zusammengetan. Sie hatten mit ihnen gelebt, aber nie hatten sie etwas für sie getan. Sie befolgten die Gesetze, weil sie mußten, nicht weil sie es wollten. »Ich bin nur eine alte Frau«, fuhr Mrs. Tisdail schließlich fort und wandte sich von den Fenstern ab, »mit dem Verstand einer alten Frau. Ich sollte nicht hier stehen und Ihnen diese Dinge erzählen. Sie bedeuten Ihnen nichts.« »Das tun sie schon«, widersprach er leise. »Sie bedeuten, solange es Frauen wie Sie gibt, besteht noch immer die Hoffnung, daß dieses Land eines Tages wieder frei sein wird.« »Wieder frei?« Sie lächelte ihn an. »Das ist ein wunderbarer Gedanke. Aber hoffnungslos, ich weiß das. Ich habe sie gesehen. Sie sind gründlich. Sie besitzen Waffen. Und uns fesselt alle das Serum. Für alle Zeiten.« »Ich hab gehört, die Zigeuner brauchten keins.« »Vielleicht nicht. Es gibt immer Ausnahmen.« »Aber warum sollten sie nicht anfällig sein?« Mrs. Tisdail zuckte die Achseln. »Ich habe nie viel darüber nachgedacht.« »Sie hätten auch krank werden müssen, scheint mir. Es kann nicht stimmen, daß sie immun sind.«
»Möglicherweise nicht. Ich weiß es nicht.« »Ihnen ist zufällig bekannt, wo irgendein Zigeunerstamm lagert?« »Nein. Sind Sie einer von ihnen?« »Nein. Ich – ich habe daran gedacht, mich einem solchen Stamm anzuschließen.« Mrs. Tisdail bedachte ihn mit einem taxierenden Blick. »Wer sind Sie? Und warum reisen Sie auf diese Weise über Land? Besitzen Sie keine Reisegenehmigung?« »Nein, die habe ich nicht«, gestand Emmett, weil er jetzt sicher war, daß er ihr vertrauen konnte. »Wie Sie mag auch ich nicht unter den Kommunisten leben. Ich suche nach einem Weg, um etwas gegen sie zu unternehmen.« »Glauben sie wirklich, daß Sie weit kommen werden? Sie wären fast nicht über diesen Bauernhof hinausgelangt. Wie wollen Sie ohne Serum auskommen?« »Ich werd's mir irgendwie beschaffen.« »Ja«, sagte sie und umfaßte mit den Blicken seine breiten Schultern, die kräftigen braungebrannten Hände, die klaren blauen Augen. »Ich glaube, Sie brächten es fertig.« Dann wurde ihr Blick wieder von der Gestalt auf dem Boden angezogen. Emmett folgte ihrem Blick. »Ich sollte ihn nicht dort liegenlassen.«
»Lassen sie ihn genau da, wo er ist. Es muß so aussehen, als hätte ich ihn getötet.« »Das kann ich nicht zulassen!« Sie blickte ihm fest in die Augen. »Es ist die einzige Möglichkeit ... für Sie.« »Aber was wird aus Ihnen?« »Machen Sie sich um mich keine Sorgen.« »Aber Sie können nicht einfach hierbleiben. Man wird Ihnen Ihr Serum entziehen – man wird –« »Ich sagte Ihnen doch, Sie sollten sich um mich keine Sorgen machen«, fiel sie ihm scharf ins Wort. »Jetzt muß ich Ihnen etwas zu Essen richten und Sie auf den Weg schicken.« »Aber ich lasse das nicht zu! Bleiben Sie nicht hier – kommen Sie mit mir, aber bleiben Sie nicht hier!« Sie griff mit der Hand in den Ausguß, nahm seine Wasserflasche und begann sie unter dem Hahn zu füllen. »Hindern Sie mich nicht an dem, was ich zu tun vermag, um Ihnen zu helfen; als Gegenleistung dafür helfen Sie dem Land, das ich einmal kannte. Sie sind wichtig. Nicht ich. Mein Leben ist vorbei, abgelaufen. Wir müssen das Ihre retten, solange wir können.« »Aber –!« »Wollen Sie wohl den Mund halten!« Sie blickte ihn wütend an. »Wir haben schon zuviel Zeit mit Reden vergeudet. Hier.« Sie gab ihm die Feldflasche. »Jetzt
nehmen Sie diesen nassen Lappen und wischen alles ab, was Sie berührt haben.« Mrs. Tisdail zog eine Schublade auf, deutete auf ein Sortiment Messer. »Nehmen Sie das Messer heraus, das der Größe Ihres Jagdmessers am ehesten entspricht. Wir wollen doch Ihr Messer nicht als Beweisstück zurücklassen.« Er tat, wie ihm geheißen. Später, nachdem Emmett gegessen und sie ihm Proviant zum Mitnehmen gerichtet hatte, führte Mrs. Tisdail ihn in ein anderes Zimmer und öffnete einen großen Wandschrank. Darin befanden sich Waffen, die er noch nie zuvor gesehen hatte. »Dort oben ist der größte Phaser, den Cad besaß«, erklärte sie. »Er pflegte den Leuten zu erläutern, daß er auf eine Entfernung von eineinhalb Kilometern ein Loch in eine zweieinhalb Zentimeter dicke Panzerplatte brennen könne. Aber er ist für Sie zu groß.« Sie deutete auf kleinere Phaser – einige mit Zielfernrohr, andere ohne – in unterschiedlichen Größen. Es gab auch ein paar altmodische Gewehre und Pistolen; auf dem Boden lagen drei Betäuber; einer davon war klein, massiv und ähnelte einer Pistole; diesen nahm sie in die Hand. »Dieser Betäuber paßt in Ihre Tasche«, sagte sie. »Nehmen Sie ihn mit. Soviel ich weiß, wurde er nie benutzt.« Emmett fand den Betäuber leichter, als er gedacht
hatte; er lag kühl im Griff. Muß aus Magnesiumstahl gefertigt sein, dachte er. Es war ein schwarzes und gefährlich aussehendes Ding. »Danke, Mrs. Tisdail.« »Ich wollte, ich könnte mehr für Sie tun.« Auf dem Weg hinaus bemerkte Emmett auf der einen Seite des Zimmers eine kleine Tafel. Sie schimmerte in vielen Lichtern. »Das ist der Ankündiger«, erklärte Mrs. Tisdail. »Cad bestand darauf, einen installieren zu lassen. Er fürchtete stets, jemand würde ins Haus eindringen und ihn umbringen. Diese Tafel sollte ihn warnen. Sie klingelte, als Sie in die Auffahrt einbogen.« »Besitzen viele Häuser derartige Anlagen?« fragte Emmett, und ihm wurde klar, wieviel Glück er gehabt hatte, bei seinem Tag-und-Nacht-Treck keinen Alarm ausgelöst zu haben. »Die meisten Kollaborateure haben sie. Aber ich glaube nicht, daß sie viel taugen. Wenn man weiß, wo sie sich befinden, kann man sich leicht an ihnen vorbeischleichen, indem man darunter hindurchkriecht wie unter einem Zaun. Sie sind nicht so niedrig angebracht. Falls sie es wären, würden sie die ganze Zeit über von Katzen, Hunden und Nagetieren in Betrieb gesetzt.« Der Himmel enthielt nur noch wenig Tageslicht, als sie aus der Küche traten. Der Hund näherte sich ihnen und schnüffelte an Emmetts Hand, während die-
ser dastand und nicht wußte, wie er der Frau danken wollte, die ihm geholfen hatte. »Sie könnten den Turbowagen nehmen«, meinte Mrs. Tisdail, »aber dann wüßte man, daß an der Sache etwas faul ist.« »Was werden Sie ihnen erzählen? Wie werden Sie ihnen den Mord plausibel machen?« Mrs. Tisdail lächelte, und in der spärlichen Verandabeleuchtung vor dem Haus wirkte ihr Gesicht jung. Er malte sich aus, daß sie in ihrer Jugend gewiß ein anziehendes Mädchen gewesen war. »Ich werde ihnen gar nichts sagen«, antwortete sie. »Die Roten besitzen gewisse Methoden«, wandte er ein. »Wirklich?« »Das sollten Sie doch wissen.« »Sicher. Würden Sie jetzt bitte gehen?« Emmett hatte ihre Hand auf seinem Arm nicht bemerkt, bis er sich zum Gehen wandte. Er drehte sich um. Es gefiel ihm nicht, sie hier zurückzulassen. »Auf Wiedersehen«, sagte er und rührte sich nicht. Er wünschte, es gäbe etwas, was er für sie tun könnte – eine letzte Gefälligkeit. Und plötzlich wußte er, daß es eine gab. Er nahm sie bei den Schultern und küßte sie. Für einen Moment umschlangen ihn ihre Arme, ihre Wange lehnte an der seinen, und sie schluchzte.
Dann schob sie ihn von sich. »Bitte geh jetzt.« »Auf Wiedersehen, Mrs. Tisdail«, sagte er und wandte sich ab. Er wußte, daß er jetzt nicht mehr zurückblicken durfte. Emmett ging die Auffahrt hinunter, der Hund trottete neben ihm her. »Auf Wiedersehen«, rief sie. »Viel Glück ... und danke.« Emmett trat in die Nacht hinaus. Er spürte noch immer ihre kalten Lippen.
4 Es war eine Nacht, vor der man sich hüten mußte, denn das Mondlicht schimmerte hell vom wolkenlosen Himmel. Klüger wäre es gewesen, in einem bewaldeten Gebiet Zuflucht zu suchen und sich in einer solchen Nacht nicht als beweglicher Gegenstand darzubieten. Doch Emmett trieb es, am Morgen weit fort von der Tisdailschen Farm zu sein. Ausgerüstet mit einem Betäuber und einer mit Geld prall gefüllten Tasche empfand er eine Zuversicht, die er zuvor nicht gekannt hatte. Aber er würde mit beidem vorsichtig umgehen müssen. Leute, die ihr Geld verschwenderisch ausgaben, wurden in Spring Creek scheel angesehen. Wahrscheinlich verhielt es sich anderswo genauso. Und Leute mit Betäubern waren Kommunisten. Die endlosen Straßen, die Emmett entlangmarschierte, machten ihn schläfrig. Kein Wunder, sagte er sich in Erinnerung dessen, was er alles durchgemacht hatte. Aber Emmett zwang sich dazu, wachsam zu bleiben. Es würde für die nächsten fünfundzwanzig Kilometer keinen Schlaf geben dürfen. Wenn er drei Stunden lang gegangen war, dann hatte er vielleicht die Möglichkeit, die Decke auszubreiten und für eine Weile zu ruhen.
Plötzlich riß ihn Kläffen aus den Gedanken. Ein Hund stürzte bellend aus dem Unterholz und auf seine Beine los. Emmett wich zurück. Der Hund schnappte nach seiner Hose, und Emmett hörte den Stoff reißen. Dann erinnerte er sich an den Betäuber, richtete ihn auf den bellenden Köter, drückte ab, hörte ein Klicken. Der Hund brach mitten auf der Straße zusammen. Obwohl er Angst hatte, das Tier könne jeden Augenblick wieder zu sich kommen und erneut angreifen, hob Emmett es auf und trug es zum Straßengraben. Ein eingeschläferter Hund mitten auf der Straße mochte Anlaß zu Fragen geben. Als er auf der Straße weiterging, versuchte sich Emmett auf seine Umgebung zu konzentrieren, denn er wollte sich nicht wieder überraschen lassen. Bei jedem Schritt beachtete er alles: er hörte die Tiere, die bei seinem Näherkommen ins Unterholz huschten; sah die endlose Prozession vorbeiziehender Bäume und Büsche; besonders vorsichtig war er, wenn er an Bauernhöfen vorüberkam, und er fragte sich gleichzeitig, wer wohl darin leben mochte, ob sie ihr Arbeitspensum schafften, die Steuern bezahlen konnten; fragte sich, ob die Bewohner glücklich waren. Ein plötzliches Huschen durch die Büsche neben der Straße brachte ihn zum Stehen; der Betäuber lag in seiner Hand. Es war ein lauteres Geräusch gewesen als das, welches kleine Tiere verursachten.
Eine Gestalt tauchte zwischen dem Laubwerk auf. Ein junger Mann. »Hallo«, sagte der Jugendliche lächelnd. Er konnte höchstens zwanzig sein. Emmett wich zurück, war vorbereitet auf eine plötzliche Bewegung und versuchte zu ergründen, warum ein so junger Bursche um diese Zeit wohl unterwegs sein mochte. Die Sperrstunde war um mindestens sechzig Minuten überschritten. »Was haben Sie in dem Bündel?« Die Stimme ertönte von der anderen Straßenseite, und Emmett wirbelte gerade rechtzeitig herum, um zu sehen, wie sich dort eine andere Gestalt aus den Büschen löste. Er wich noch weiter zurück und hob den Betäuber. Ihm gefiel die Sache nicht, und er spähte über die Schulter, um sich zu vergewissern, daß niemand hinter ihm stand. Aber dem war so. In wenigen Augenblicken füllte sich die Straße mit Jugendlichen. Emmett konnte sie jetzt besser erkennen. Lauter Teenager. Sie hatten ihn eingekreist und grinsten. »Wir sind Freunde«, erklärte einer von ihnen. »Klar.« Einige lachten. »He, was hat er da in der Hand?« »Sieht wie 'ne Pistole aus.«
»Es ist eine Pistole«, erwiderte Emmett. »Ein Betäuber.« »So, ein Betäuber!« spottete einer. »He, er denkt, er hat einen Betäuber!« »Nur große Tiere kriegen Betäuber.« »Vielleicht bin ich ein großes Tier«, entgegnete Emmett. »Habt ihr daran schon gedacht?« Sie standen ein wenig unsicher da. Dann sagte einer von ihnen etwas Unflätiges. Es war nicht der größte Junge. »Sieht wirklich wie 'n Betäuber aus.« »Pah! Wahrscheinlich hat er ihn sich aus Holz geschnitzt.« »Packen wir ihn!« Eine Gestalt stürzte auf Emmett los. Aber keiner folgte ihrem Beispiel. »Wartet mal, Jungs«, stammelte eine jüngere Stimme. »Er hat doch nichts getan, oder?« »Er zieht durch unser Revier, oder?« »Ja. Wie steht's damit. Hast du 'ne Reisegenehmigung?« »Mit diesem Betäuber«, versicherte Emmett, »brauche ich keine Reisegenehmigung. Wollt ihr jetzt aus dem Weg gehen, oder muß ich mir einen durch euch hindurchschießen?« Ein größerer Kerl als die anderen sonderte sich vom Kreis ab. »Gib deine Sachen her –« »Du bleibst, wo du bist«, warnte Emmett. Der Jugendliche blieb stehen. »Gib uns dein Zeug,
und wir halten es, während du mit einem von uns kämpfst.« »Mit zweien, Bob! Er ist ziemlich groß.« »Okay. Also zwei von uns. Ich garantiere für einen fairen und anständigen Kampf. Dann lassen wir dich laufen.« Ein paar Burschen konnten sich bei diesem Satz das Kichern nicht verkneifen. Es war nur eine Bande Jugendlicher. Emmett hatte dies auf den ersten Blick erkannt. Aber selbst eine solche Bande konnte ziemlich grob werden, wenn sie wollte; Emmett war früher selbst Mitglied einer Bande gewesen. Er erinnerte sich daran, welchen Spaß es gemacht hatte, sich nachts aus dem Haus zu schleichen und zu sehen, wieviel Unruhe man stiften konnte. Seine Bande hatte manchen Fremden angegriffen, war in viele Kämpfe verwickelt gewesen. Aber er entsann sich nicht, daß sie je einen Mann mit Betäuber aufgehalten hätten. »Schaut«, versuchte Emmett einzulenken, »ich will den Betäuber nicht anwenden müssen. Doch bin ich dazu gezwungen, wenn ihr nicht abhaut und mich in Ruhe laßt.« »Spar dir die Scherze.« »Auf wessen Seite steht ihr eigentlich?« fragte Emmett. »Rote oder Amerikaner?« »Du machst wohl Witze, Mister?«
»Wir stehen auf niemandes Seite«, antwortete der Anführer. »Nur auf unserer eigenen.« »Wir sind unabhängig.« »He, er versucht Zeit zu schinden.« »Jawohl. Tragen wir den Kampf aus.« »Bring ihn zum Kämpfen, Bob.« »Okay«, willigte Bob ein und trat vor, »aber zuerst wollen wir mal sehen, was er in seinem Bündel hat.« Die andern begannen sich gleichfalls in Bewegung zu setzen. Es gab keinen anderen Ausweg. Emmett drückte ab. Ein Klicken war die Antwort. Der Anführer sackte ohne einen Laut zu Boden. Zwei Jugendliche hinter ihm, die sich ebenfalls im Wirkungsbereich des Betäubers befanden, torkelten, versuchten ein paar Schritte zu gehen und brachen ebenfalls zusammen. »Donnerwetter!« Das war der einzige Laut, und er drang aus einer einzigen Kehle. Die durch den plötzlichen Angriff zum Stehen gebrachte Gruppe verharrte unsicher. Doch diesmal nur für eine Sekunde. Dann ertönten gellende Schreie, und sie stoben auseinander; einige liefen die Straße hinunter, andere verschwanden in den Feldern. »He, ihr!« rief Emmett zwei Langsamstartern nach. Sie unterbrachen ihre Flucht und drehten sich um. Er konnte auf ihren Gesichtern die Angst lesen.
»Ihr habt eure Freunde vergessen«, erklärte Emmett. »Ihr solltet sie besser von der Straße schaffen.« Der Mond hatte seine halbe Bahn über den Himmel gezogen, bevor Emmett – vor Müdigkeit taub, das Bündel ein Bleigewicht auf seiner Schulter – sich von der Straße fort in eine Wildnis aus Unkraut, Dorngestrüpp, Büschen und Bäumen schlug. Er ging mehr als hundert Meter in das Gebiet, bevor er sein Bündel ablegte und öffnete. Emmett fühlte sich besser, nachdem er ein bißchen von dem gegessen hatte, was Mrs. Tisdail ihm eingepackt hatte; er spülte mit Wasser aus seiner Feldflasche nach. Noch einmal durchlebte er dabei die Ereignisse bei den Tisdails und fragte sich, wie es in diesem Augenblick wohl um Mrs. Tisdail stünde. Emmett blickte durch die hohen Bäume zum Mond hinauf und erkannte an dessen Stand, daß Mitternacht längst vorüber war. Dann sah er sich nach einem geeigneten Platz um, wo er seine Decke ausbreiten konnte. Zwei Bäume, die auf einem ungefähr einen halben Meter entfernten Hügel dicht beisammenstanden, schienen am besten dazu geeignet. Außerdem bot dort der Schatten von in der Nähe stehenden Bäumen und deren Laubwerk zusätzlichen Schutz. In wenigen Minuten hatte Emmett in der natürlichen Mulde des Wurzelwerks die Decke um sich ge-
wickelt; sein Kopf ruhte auf einer großen Wurzel, die ihm als Kissen diente; seine Augen blickten zum Himmel auf ein paar vorüberziehende Wolkengebilde. Dies vermittelte ihm das Gefühl, als würde er auf einem großen Boot friedlich über ein ruhiges Meer segeln, und die Bäume wären die Masten. Große Gelassenheit durchflutete ihn – Das Knacken eines Zweiges schreckte ihn plötzlich auf. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, doch Emmett rührte sich nicht. Etwas hatte ihn geweckt. Aber was? Er sah nur das Dickicht auf der anderen Seite der kleinen Lichtung; die Bäume ragten über sein Blickfeld empor. Ein leichter Wind war aufgekommen. Er hörte ihn in den Blättern rascheln. Aber sonst hatte sich nichts verändert. Dann vernahm er das Knacken kleiner Zweige und des Unterholzes. Es wurde lauter. Jetzt konnte er Stimmen hören. Hatte man ihn gestellt? Emmett warf vorsichtig die Decke beiseite, fand seinen Betäuber und das Messer, kroch in den Schatten. Das Knacken und Knistern schien nun das ganze Gebiet zu durchziehen. Sein Griff um die Waffe wurde fester.
Dann sah er sie: eine Gruppe schattenhafter Gestalten, die sich im Gänsemarsch über die Lichtung bewegten. Sie gingen schnell, schienen nichts zu suchen. Wenigstens sahen sie weder nach rechts noch nach links; sie hielten die Augen geradeaus gerichtet. Gelegentlich hörte er eine Stimme. Die Menschenschlange defilierte in einer Entfernung von weniger als dreißig Metern an ihm vorbei; als der letzte verschwunden war, nahm er an, dies seien alle gewesen. Emmett wollte gerade aufstehen, als er abermals Stimmen hörte und eine weitere Gruppe noch dichter vorbeiziehen sah. Sie gingen nicht im Gänsemarsch, sondern zu zweit oder dritt nebeneinander. Dann waren sie außer Sichtweite verschwunden. Nur eine einzige Person blieb ein wenig zurück, weniger als fünf Meter von ihm entfernt. Emmett beobachtete die letzte Gestalt über die Lichtung gehen; sie hinkte ein bißchen. Als sie die Anhöhe auf der anderen Seite erreichte, hielt sie an, setzte sich und zog den Schuh aus. Emmett stand vorsichtig auf und trat hinter die zwei Bäume, unter denen er sein Lager errichtet hatte; dann schlug er einen weiten Bogen durch das Unterholz, während er die Gestalt auf der Anhöhe keine Sekunde aus den Augen ließ. Diese Leute suchten nicht nach Emmett Keyes. Soviel stand fest. Und sie fürchteten sich nicht vor Entdeckung. Andernfalls
würde keiner allein anhalten und den Schuh ausziehen. Einmal trat Emmett auf einen Zweig. Das Knacken klang in Emmetts Ohren wie Donner. Er erstarrte. Die Person auf dem Hügel schaute in seine Richtung und wandte sich dann wieder dem Schuh zu. Wolken verdunkelten Emmetts Sicht auf die Anhöhe. Dann war er nicht sicher, ob die Gestalt noch dort oben saß. Aber er sah sie jedesmal, wenn der Mond das Gebiet wieder erhellte. Sie war jetzt mit dem Schuh fertig und schien sich auszuruhen. Als sich Emmett bis auf eineinhalb Meter von hinten an die Person herangeschlängelt hatte, stand diese auf und begann in die gleiche Richtung wie die anderen zu gehen. Weil er hoffte, daß die Begleiter jetzt weit außer Hörweite waren, ließ Emmett jede Vorsicht fallen, sprang aus den Büschen und rannte hinter der Gestalt her. Sie drehte sich ruckartig um. Emmett sah ein überraschtes, vom Mondlicht erhelltes Gesicht, bevor er sich gegen die Beine der Gestalt warf. Sie gingen beide hart zu Boden. Emmett rollte ein wenig, schlang den Arm um des anderen Hals. Er richtete sich auf. Sein Gegner wand sich ungestüm, zerkratzte Emmetts Arme und Hände. Die Fingernägel waren lang und spitz und fühlten
sich an, als zöge man ihm Rasierklingen über Finger und Knöchel. Er blickte hinunter, sah das Haar des Gegners und ließ ab von – ihr. Sie riß sich los und atmete keuchend – eine Hand auf dem Boden als Stütze, die andere am Hals. Sie wandte den Kopf, und der Mond beleuchtete ihr blasses Gesicht, die dunklen Augen und das schwarze Haar. Sie blickte ihn wütend an. Emmett konnte sie nur erstaunt anstarren. »Du ... du!« Sie preßte die Lippen zusammen und schüttelte zornig den Kopf. »Ich wußte nicht, daß du ein Mädchen bist.« »Du hast mich beinahe erwürgt.« Sie massierte den Hals, hustete ein paarmal und schüttelte immer wieder den Kopf. Schließlich strich sie sich einige widerspenstige Haarsträhnen aus dem Gesicht, zupfte sie zurecht und stand auf. Ihre Kleidung bestand aus einer dunklen Jacke, Hosen sowie – sie sah sich suchend um und fand ihren Hut, einen formlosen Filz. Sie setzte ihn auf. Er wirkte dort gar nicht übel, urteilte Emmett und erhob sich gleichfalls. Sie standen da und sahen sich in die Augen. »Wer bist du?« fragte sie. »Warum hast du mich angegriffen?« »Du hast den Kampf verloren«, erinnerte Emmett das Mädchen. »Es ist an dir, Fragen zu beantworten.«
Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Wirklich? Nun gut, wir werden ja sehen. Die Jungs sind sicher gleich zurück.« »Ich gedenke nicht auf sie zu warten«, erklärte Emmett und packte ihre Hand. »Du kommst mir mir.« Sie entwischte ihm, kehrte ihm den Rücken zu und rannte los. Er lief hinter ihr her, fing ihren Arm und wirbelte sie herum. Für einen Moment standen sie sich wie Tänzer gegenüber und atmeten beide heftig. Das Mädchen war jung, einen Kopf kleiner als er, und ihre Augen trotzten den seinen unerschrocken. Emmett mochte ihren Geruch, ihre Größe. Er umklammerte den Arm hinter ihr fester. Unwillkürlich trat sie näher an ihn heran, schnaubte wütend und schob ihn fort. »Also gut«, gab sie nach. »Ich komme mit. Aber du kannst anstellen, was du willst. Ich werde keine einzige Frage beantworten.« Er führte sie zu dem Baumpaar zurück. »Du hast hier geschlafen?« fragte sie überrascht. »Warum?« »Warum nicht? Ein Mann muß schließlich mal schlafen, oder?« »Aber an einem solchen Ort?« »Ich kann mir schlimmere vorstellen.«
Sie setzte sich auf eine dicke Wurzel und blickte ihn an. »Ich kenne niemand, der heutzutage im Wald schläft.« »Was tust du im Wald?« »Was tust du im Wald?« Emmett grinste. »Du bist die am schwierigsten auszufragende Frau, die ich je kannte. Wie heißt du?« »Wie heißt du?« Er hörte zu grinsen auf. »Ich könnte dich zum Antworten zwingen. Das weißt du doch, oder?« »Möglich. Aber du wüßtest nicht, ob ich die Wahrheit sage oder nicht. Außerdem fände man dich, und es täte dir leid.« »Wer würde mich finden? Die Jungen?« Sie nickte. »Wer sind ›die Jungen‹? Deine Brüder?« »Vielleicht.« Sie bot im Mondlicht ein hübsches Bild, wie sie dort auf der Wurzel saß: die Arme hinter sich aufgestützt, ein Bein über das andere geschlagen, leicht mit der Fußspitze wippend. Wie um alles in der Welt hatte er sie für einen Mann halten können? Auf dreißig Meter hätte es ihm deutlich werden müssen. Aber er hatte keine Frau erwartet. Emmett versuchte zu ergründen, was ihn zu ihr hinzog. Vielleicht das Mondlicht, das ihr Gesicht weich machte. Vielleicht ihr fülliges Haar, das in wei-
chen Wellen bis auf die Schultern fiel. Oder ihre herausfordernde, unerschrockene Art? Solche Mädchen gab es in Spring Creek nicht – Er beobachtete sie, sah sie ein Stück Garn aus der Jackentasche ziehen und das Haar hochbinden. Während sie dies tat, sprang die Jacke vorn auf, und er konnte den Abdruck der Brüste unter der Bluse erkennen. Emmett hielt den Atem an, blickte fort. Dann wurde er sich ihrer Blicke bewußt, die auf ihm ruhten. Verdammt! Warum fühlte er sich in ihrer Gegenwart wie ein Schuljunge? »Du machst daraus eine Gewohnheit, wie ich sehe«, sagte sie. Er schaute auf und fragte sich, was sie wohl meinen mochte; dann erkannte er, daß sie auf die Ausrüstungsgegenstände neben seiner Decke blickte. »Wovor läufst du davon?« »Vielleicht zieh ich nur durchs Land.« »Niemand zieht durchs Land. Außer er hat eine Genehmigung. Und wenn du eine Genehmigung hättest, würdest du nicht im Wald schlafen.« »Aber so komme ich Land und Leuten näher. Zum Beispiel dir.« »Und weit weg von den Augen der Roten, nicht wahr?« »Hängt davon ab, wer du bist.« Emmett streichelte den Betäuber. »Und was du bist.«
»Nun, ich bin kein Kommunist, wenn dir das hilft«, antwortete sie. »Du vermutlich auch nicht.« »Es gibt nichts Grundverschiedeneres von einem Roten als mich.« »Es müßte mehr von deiner Sorte geben.« »Du meinst mehr von uns, nicht wahr?« Emmett warf ihr einen wachsamen Blick zu. »Natürlich.« Es klang nicht überzeugend. Aber sie hatte in Bezug auf die Fragen recht. Wie konnte er sagen, welche Antworten wahr waren und welche nicht – selbst wenn er ihr den Hals umgedreht hätte, und er hatte kein Verlangen, das zu tun. Wäre sie weniger attraktiv, freundlich und nett gewesen, wäre er bei der Befragung vielleicht weniger zimperlich gewesen. Was sollte er mit ihr tun? Er zerbrach sich den Kopf und beschloß schließlich, daß es wohl das beste sein würde, sie auf den Weg zu schicken und sich mit Höchstgeschwindigkeit in entgegengesetzter Richtung davonzumachen. Das war das einzig Sichere. Aber er zögerte. »Warum plötzlich so schweigsam?« »Ich versuche zu entscheiden, was ich mit dir tun soll.« »So?« Sie lächelte. »Hab ich dabei nicht auch ein Wörtchen mitzureden?« »Nein, verflucht noch mal«, lehnte er barsch ab.
»Vielleicht sollte ich dich einfach betäuben und weiterziehen. Ein klarer Fall, daß ich von dir keine Informationen bekomme.« »Ist das wirklich ein Betäuber?« fragte sie. »Ja, das ist ein Betäuber. Ich hab ihn heute schon zweimal benützt.« »Woher hast du ihn?« »Das würdest du wohl gern wissen?« »Das würde ich furchtbar gern wissen.« »Warum?« Sie lächelte abermals. Dann wandte sie leicht den Kopf, als würde sie lauschen. Es schien Emmett, als hätte er ebenfalls ein Geräusch gehört. »Ich glaube, die Jungen kommen«, erklärte sie. »Ich hab dir ja gesagt, daß das passieren würde.« Aus dem Wald hinter ihr traten zwei Gestalten.
5 Es waren zwei Männer in der gleichen Kleidung wie das Mädchen: Filzhüte, Jacken und Hosen. Das Mondlicht schien von hinten auf sie, ihre Gesichter lagen im Schatten. Als sie näherkamen, erhob sich Emmett mit dem Betäuber in der Hand. »Du kannst das weglegen«, meinte das Mädchen und stand auf. »Wir sind deine Freunde.« »Klar«, erwiderte Emmett trocken. »Das hab ich früher schon mal gehört. Anscheinend will jeder mein Freund sein. Aber das endet immer schlecht für mich.« »Was ist passiert, Ivy?« fragte einer der Männer und trat neben sie. Emmett hielt die Pistole schußbereit, aber die beiden machten keine drohende Bewegung. »Mir fiel etwas in den Schuh«, berichtete Ivy. »Ich hielt an, um es herauszuholen, und das nächste, was ich weiß, ist« – sie deutete mit einem Kopfnicken auf Emmett – »daß er mich angriff.« Die beiden Männer betrachteten ihn. »Er ist harmlos«, erklärte Ivy. »Wir veranstalteten eine Fragestunde ohne Antworten. Nur glaube ich, daß er sogar noch neugieriger ist als ich. Er hat unter den Bäumen geschlafen.«
»Wir machten an der Straße halt«, sagte der eine. »Beim Abzählen wurde dein Fehlen bemerkt.« »Sind die übrigen weitergegangen?« »Sie sind jetzt wahrscheinlich am Ziel.« »Gut. Wir dürfen sie nicht warten lassen.« »Sie kommen besser mit uns, Mister.« Emmett trat einen Schritt nach vorn und streckte die Hand mit der Pistole so aus, daß sie sie sehen konnten. »Und ich glaube, ihr bleibt besser hier. Ich hab noch viel mehr Fragen auf Lager.« »Tut mir leid«, bedauerte Ivy, »aber wir müssen gehen. Wenn du mitkommst, werden vielleicht einige deiner Fragen beantwortet. Wir können dich nicht hierlassen.« »Du vergißt, daß ich euch alle hierbehalten und euch Fragen stellen kann, nachdem ihr wieder aufgewacht seid.« Sie sahen ihn an. Plötzlich umschlang ein Arm von hinten seinen Hals; er wurde zu Fall gebracht und schlug heftig zu Boden. Der Sturz nahm ihm den Atem. Einen Moment später erkannte Emmett, daß es drei Männer waren. Und das Mädchen stand mit dem Betäuber in der Hand über ihm. »Das wollten wir dir eigentlich ersparen«, erklärte sie. »Jetzt hab ich die Pistole und in einer Sekunde auch das Messer. Dann sammelst du besser den Rest deiner Ausrüstung zusammen und kommst mit.«
»Bist du sicher, daß er in Ordnung ist?« fragte einer der Männer. »Nein«, antwortete das Mädchen. »Aber er hat behauptet, er sei Anti-Kommunist.« Ivy stand dabei, während die Männer Emmett halfen, seine wenigen Habseligkeiten zusammenzupakken. Dann brachen sie auf. Man hatte Emmett zwischen dem Anführer und dem Mädchen in die Zange genommen. Bald erreichten sie eine Straße und blieben stehen. Einer der Männer überquerte sie zuerst allein und bedeutete dann den anderen, ihm zu folgen. Auf der gegenüberliegenden Seite marschierten sie mit unverminderter Schrittgeschwindigkeit über einen Akker. Zehn Minuten später gelangten sie an ein großes Gebäude. Es war dunkel, aber auf ein paar geflüsterte Worte hin wurde eine Tür geöffnet, und sie traten in den beleuchteten Innenraum. Es war ein alter Geräteschuppen, den eine einzige Gaslaterne erhellte, die in der Mitte des Raumes von einem Dachsparren hing. Die Fenster waren mit Brettern vernagelt. Der Schuppen war fast von allen Akkergeräten freigemacht, jedoch angefüllt mit Augen – Augen, die sich in die seinen bohrten; einige davon mißtrauisch, andere ängstlich, etliche neugierig. Die Augen sowie die Schatten an den Wänden gehörten
einem halben Dutzend Männer und über zwanzig Frauen, die alle in dunkle Kleidung gehüllt waren. »Wer ist das?« fragte ein magerer großer Mann, der sich ihnen aus einer kleinen Gruppe an der gegenüberliegenden Seite des Raumes näherte. Seine Stimme war leise, fest und herrisch; seine Kleidung – obgleich dunkel – maßgeschneidert. Emmett bemerkte auch die wachsamen blauen Augen, den sicheren Schritt, spürte die Autorität. Ivy antwortete: »Ein Mann, der mich für eine Weile aufgehalten hat. Er schlief im Wald und behauptet, er hasse die Roten.« »Wirklich?« Die Augen blickten belustigt. »Haßt du die Roten wirklich?« »Ja«, bestätigte Emmett. »Ändert das die Sache?« »Zeig mir deine Hände.« Emmett zögerte und fragte sich, warum dieser Mann – ganz offensichtlich der Anführer der Gruppe – wohl eine solche Forderung stellen mochte. »Zeig sie her«, befahl er. Als Emmett noch immer zögerte, packte er seine Linke, tastete das Handgelenk ab, blickte auf seine Identifizierung am Unterarm; dann musterte er die Rechte. »Wie heißt du?« »Du kannst von Glück sagen, wenn du ihn zum Antworten bringst«, erklärte Ivy. »Ich hab's selbst schon aus ihm herauszubringen versucht.«
»Elmer Pease«, log Emmett. »Wie heißen Sie?« »Woher kommst du, Elmer?« »Ich sag's Ihnen, wenn Sie mir verraten, wer Sie sind und was diese Leute hier vorhaben.« »Ich fürchte, das kann ich nicht.« »Das«, mischte sich Ivy abermals ein und reichte ihm Betäuber sowie Messer, »hatte er auch bei sich.« Der Anführer nahm beides. Er musterte die Waffen für einen Augenblick, dann sah er Emmett an. »Woher hast du den?« »Warum sollte ich Ihnen das sagen?« »Ein wenig ungewöhnlich, einen Betäuber mit sich herumzuschleppen, meinst du nicht auch?« »Nur Rote tragen Betäuber«, wagte jemand zu äußern. »Und Feinde«, fügte jemand anderer hinzu. »Für einen Feind hat er nicht die Statur. Er ist nicht fett genug.« Die Bemerkung rief Gelächter hervor. Emmett betrachtete rundum die Gesichter. Diese waren jetzt nicht mehr freundlich. »Sie haben recht, das weißt du«, fuhr der Mann fort. »Kannst du's erklären?« »Ich kann's erklären«, erwiderte Emmett ruhig, »aber verdammt will ich sein, wenn ich's tu.« Der Anführer starrte ihn einen Moment lang an, dann hielt er die Waffe hoch, um sie im Laternen-
schein besser sehen zu können. »Seriennummer AK2560892. Modell sechs. Ich wüßte zu gern, wem dieser Betäuber gehört.« Emmett war überrascht, als der Mann ihm den Rücken zuwandte und davonging. Er drehte sich nach Ivy um. »Freundlicher Haufen«, spottete er. Sie blickte ihn kalt an, schwieg. Emmett gewahrte jetzt die starren Blicke derer im Raum. Sie schienen auf etwas zu warten. Sie redeten nicht einmal miteinander. Es war unbehaglich und nervenaufreibend. Er beobachtete den Anführer, der jetzt auf einem alten Sägebock saß. Andere blickten ihn auch an, aber keiner sprach mit ihm. Emmett wandte den Kopf, um Ivy anzusehen. Ein hübscher Name, dachte er, während er ihr blasses Gesicht musterte. Das Mondlicht hatte nicht gelogen; sie war noch immer reizend. Dunkle Augen, zierliche Nase, volle Lippen. Rote Lippen. Und fließendes Haar. Sie beobachtete gleichfalls den Mann, der mit ihm gesprochen hatte, ein Mann, der jetzt in Gedanken verloren dasaß und auf die breiten Bodenbretter des Schuppens starrte. Für – wie es schien – unendlich lange Zeit saß der Mann da und sah aus, als würde er mit sich selbst beraten. Das verwirrte Emmett noch mehr. Schließlich schien er zu einem Entschluß gekommen zu sein, erhob sich und ging schnell auf Emmett zu.
Letzerem gefiel es gar nicht, was er in den Augen des Mannes sah. »Warum hast du einen falschen Namen genannt?« fragte dieser. Ivy unterdrückte einen Schrei und entfernte sich. Alle sahen ihn jetzt an, und einige rückten gegen ihn vor. Emmett unterdrückte ein Gefühl der Panik. Woher wußte der Mann, daß er gelogen hatte? Einfach geraten? Ein Bluff? »Wie kommen Sie darauf, daß ich gelogen habe?« fragte Emmett mit soviel Selbstsicherheit, wie er aufzubringen vermochte. »Dein Name ist Emmett Keyes, und du lebst in Spring Creek«, verkündete der Anführer. »Dein Betäuber ist auf den Namen eines gewissen Cadwallader Tisdail eingetragen.« »Tisdail!« Einer der Männer rannte zum Anführer. »Das ist ein Roter, wie er im Buch steht. Er bewohnt ungefähr zwanzig Meilen südlich von hier eine Farm.« »Ich würde vorschlagen, daß Sie uns erklären, wie Sie zum Betäuber eines Kommunisten kommen, Mr. Keyes. Und in der Zwischenzeit –« Er nickte den Männern zu. Man packte Emmett grob, nahm ihm sein Bündel ab und leerte ihm die Taschen. Und die ganze Zeit über suchten seine Gedanken nach einer Antwort,
woher dieser Mann seinen Namen sowie die Tatsache, daß der Betäuber Tisdail gehörte, gewußt haben konnte. Es war unmöglich! Und dennoch war es geschehen! Während man ihn festhielt, wurden seine Habseligkeiten auf der Decke ausgebreitet. Der Anführer beugte sich darüber und hob die dikke Geldrolle auf. »Als Sie mit diesem Auftrag betraut wurden«, sagte er, »wollte man Sie nicht ohne finanzielle Mittel ziehen lassen, nicht wahr? Vielleicht dachte man sogar, Sie könnten sich aus einer derartigen Situation wie jetzt freikaufen.« »Niemand hat mich mit einem Auftrag betraut«, protestierte Emmett. »Nein? Besitzen Sie die Pistole und das Geld nur zufällig?« Emmett blickte vom Anführer auf die Gesichter der anderen rundum – die Gesichter von sechs Männern. Finster, mürrisch, wütend. Er fand das Gesicht Ivys zwischen denen im Innenkreis. Es zeigte keinen Ausdruck – oder bildete er sich ein Flehen in ihren Augen ein? Er seufzte. »In Ordnung. Ich werd's Ihnen erklären.« Die Hände ließen seine Arme los. Das Stimmengewirr hörte auf. »Ich habe Tisdail umgebracht«, gestand Emmett. »Ich tötete ihn, als ich auf der Suche nach Wasser in sein Haus kam; und er griff mich an, weil er seinen
kommunistischen Bossen zeigen wollte, daß er was geleistet hat.« »Und dann haben Sie die Pistole und das Geld gestohlen?« Emmett blickte dem Anführer fest ins Gesicht und war versucht, in diesem Punkt zu lügen und Mrs. Tisdails Namen aus dem Spiel zu lassen. Aber man hatte seinen Namen gekannt und den Besitzer des Betäubers, also wußten sie vielleicht auch über Mrs. Tisdail Bescheid. Der mißtrauische Ausdruck in den Augen war bei der Wahrheit verschwunden. Er konnte nicht riskieren, daß er zurückkehrte, indem er jetzt log. »Nein«, antwortete er. »Mrs. Tisdail gab mir beides. Sie war selbst stets antikommunistisch eingestellt und haßte das, was aus ihrem Mann geworden war. Sie sagte, sie würde die Schuld für seinen Tod auf sich nehmen.« »Warum sollte sie das tun?« »Weil sie wollte, daß ich frei sei und ausführte, weswegen ich ausgezogen bin.« »Und weswegen sind Sie ausgezogen?« »Ich hab Spring Creek verlassen, weil ich das Leben unter der Besatzung haßte. Ich hoffte, ich würde auf eine antikommunistische Gruppe stoßen und mich ihr anschließen können. Oder einem Zigeunerstamm und mit ihm ziehen, bis ich eine solche Grup-
pe gefunden hätte. Auf diese Weise käme ich ohne Reisegenehmigung durchs Land und ohne daß man mich belästigt.« Der Anführer war jetzt nachdenklich. Er runzelte ein wenig die Stirn. Dann fragte er: »Wie haben Sie Tisdail getötet?« »Mit diesem Messer.« Alle Blicke wanderten zu dem Messer auf der Dekke. Der Anführer kniete nieder, nahm es in die Hand und musterte es. »Das Zeichen des Widerstands«, murmelte er, seufzte und stand auf. »Es muß viele junge Männer wie dich geben, Keyes, die begierig darauf sind, die Besatzungszeit zu beenden. Aber ein Messer« – und er blickte wieder darauf hinunter – »ist eine recht kindische Waffe.« Er schüttelte den Kopf, während er Emmett in die Augen sah. »Wie schade, daß Männer wie du sich nicht empören und die Dinge wieder ins Lot bringen. Ich weiß, wie du dich nach der Freiheit sehnen mußt, wie du danach verlangst, diese Welt zu ändern, sie zu einem besseren Ort für dich und deine Kinder zu machen. Aber ihr seid alle versklavt vom Serum, und Mut allein kann euch nicht darüber hinweghelfen, ganz egal, wie sehr ihr dies wünscht.« »Wir können es versuchen«, erwiderte Emmett entschlossen.
»Was schwätzt du da für dummes Zeug? Du kannst auch zu sterben versuchen, denn das wird dir passieren, wenn dein Impftag überschritten ist – oder wenn man dich aufgreift. In diesem Fall wäre es ein langsamer Tod in einem Arbeitslager. Ich brauche dir das nicht zu sagen. Was mich wundert ist, daß du überhaupt aufgebrochen bist, obwohl du all das selbst weißt?« »Wie steht's mit Ihnen? Mit Ihnen und den Leuten da? Ihr zieht umher und scheint euch keine Sorgen zu machen, daß ihr geschnappt werden könntet.« »Wir sind das, was wir sind; denn wenn wir es nicht wären, wären wir tot oder würden sterben. Und wenn man dem Tod so nahe steht, hört man auf, sich Sorgen zu machen.« »Aber ihr bekämpft die Besatzung, und genau das will ich auch. Ich will einer von euch werden.« Der Anführer lächelte. »Wir bekämpfen die Besatzung nicht. Wir sind nicht die Widerstandsgruppe, für die du uns hältst.« »Was seid ihr dann?« Der große Mann blickte ihm in die Augen. »Ich wollte, ich könnte es dir sagen.« »Sir«, ergriff ein Mann zur Rechten des Anführers das Wort, »es bleibt nicht mehr viel Zeit.« »Ich weiß.« Er blickte auf seine Armbanduhr, dann auf Emmett. »Mein Rat an dich lautet, nach Hause zu
gehen und alles zu vergessen, was passiert ist. Vielleicht bist du eines Tages dazu fähig, die Dinge ändern zu helfen.« »Eben das«, erwiderte Emmett etwas gepreßt, »ist heutzutage faul. Geh heim. Sitz herum und hoff auf bessere Zeiten. Ich hab's satt.« »Dir bleibt keine andere Wahl, Keyes. Ich wollte nur, es gäbe eine. Tut mir leid.« Emmett schloß den Mund, bevor er das aussprach, wovor er sich fürchtete. Was stimmte mit diesem Mann nicht? Verstand er nicht, wie nützlich Emmett sein mochte? Was für eine Art Bewegung war das, die sich weigerte, einen guten Mann aufzunehmen? Und dann dachte er an seine Freiheit in Bezug auf die Impftermine. Wenigstens wußte der Anführer davon nichts. Vielleicht würde das die Sache ändern, wenn ich es ihm mitteilte, dachte er. Aber eine innere Stimme warnte ihn, darüber zu schweigen. »Seht zu, daß Mr. Keyes sich auf den Weg macht«, befahl der Anführer den Männern. Dann entfernte er sich, blickte dabei auf die Armbanduhr und verkündete: »Wir haben noch zehn Minuten.« Der Schuppen füllte sich mit Gesprächen im Flüsterton und dem Scharren von Füßen, während die Mitglieder umhergingen. Zwei Männer schoben Emmetts Habseligkeiten in die Mitte der Decke; Emmett kniete sich nieder, beendete die Ordnungsversuche
und knüpfte das Deckenbündel. Während er dies tat, sank sein Mut, denn er sah nirgends das Geld, das Messer oder den Betäuber. Wie sollte er ohne diese Hilfsmittel auskommen? Er stand müde auf und hob das Bündel auf die Schulter. Ivy trat neben ihn. »Du wirst dies brauchen«, sagte sie und händigte ihm die drei vermißten Gegenstände aus. »Komm, ich zeig dir den Weg.« Draußen stand der Mond schon tief am Horizont; die Luft war still und kühl. Das Mädchen führte ihn über ein Feld und blieb an einer Hecke stehen. Sie wandte sich ihm zu. »Ich geh' lieber nicht weiter.« Sie stand ganz dicht bei ihm, ihre Augen waren groß und glänzten. Jetzt spielte eine leichte Brise mit ihrem Haar, legte ihr eine Locke über die Augen. Ivy strich sie zurück. Bis zu diesem Moment hatte er nicht bemerkt, daß sie den Hut nicht mehr trug. »Danke für den Betäuber – und das übrige«, sagte Emmett. Er spürte ihre Anziehungskraft. Sie ließ seine Handflächen feucht, seinen Atem schneller werden. Ivy legte ihre schlanken weißen Finger auf seinen Arm. »Ich weiß, daß du nicht nach Hause gehst. Er – der Führer weiß es auch. Aber du kannst nicht mit uns kommen.«
»Ich wünschte, jemand würde mir alles erklären. Ich bin doch kein Kind mehr.« »Das weiß ich.« Der Griff um seinen Arm wurde ein wenig fester. Ihre Finger wirkten wie Feuer – selbst durch die Jacke. »Du hast Zigeuner erwähnt.« Emmett konnte sie kaum verstehen, obwohl sie so dicht bei ihm stand. Er beugte sich vor. »Zigeuner?« »Ja. Ich weiß, wo ein Stamm lagert.« Sie drehte sich um, blickte über die Hecke und deutete mit der anderen Hand in diese Richtung. »Ungefähr fünfzehn Kilometer von hier. Diese Straße entlang. Der Stamm befindet sich in einer Stadt namens Cornwall. Er bleibt zwei Tage dort.« Ivy wandte sich ihm wieder zu. »Die können dir vielleicht helfen.« »Danke.« Sie rührte sich nicht. Ihre Wangen wirkten kalt. Er hob die Hand, ließ die Fingerspitzen darübergleiten, hinauf zu ihrem Haar. Ihre Wange war warm und weich, ihr Haar seidig. Jetzt biß sie die weißen Zähne fest in die runde Unterlippe, und der Griff um seinen Arm wurde noch fester. Er betrachtete die Lippe, die Zähne sowie ihre Augen, und die Anziehungskraft war größer denn je. Plötzlich ließ sie seinen Arm los. Nun fand er ihre Lippen heiß, ihren Körper weich, warm und nachgiebig, während er sie festhielt.
»Ivy –« Sie riß sich los. »Du gehst jetzt besser.« »Komm mit mir.« »Nein. Ich kann nicht.« »Wann sehe ich dich wieder?« »Vielleicht – morgen.« Ivy kehrte ihm den Rücken zu und rannte zurück zum Geräteschuppen. Sie blieb stehen und drehte sich um. »Viel Glück.« Die Worte flogen ihm über die Finsternis des leeren Feldes hinweg zu. Die Schwärze des Schuppens verschluckte sie.
6 Emmett stand noch lange an der Hecke und versuchte die Geschehnisse zu ordnen. Dann entdeckte er Gestalten aus dem Schuppen kommen und legte sich neben der Hecke auf den Boden, um nicht gesehen zu werden. Die Gruppe brach auf. Jetzt mußte er sich entscheiden. Soll ich ihnen folgen? Wohin ziehen sie? Oder soll ich nordwärts marschieren, wie Ivy vorgeschlagen hat, um Zigeuner zu finden? Aber über Zigeuner weiß ich nichts; doch diese Gruppe ist hier und geht irgendwohin, und ich sollte herausfinden, wohin. Ich sollte wissen, was sie vorhaben, was sie tun. Aber trotz dieser Überlegungen rührte sich Emmett nicht vom Fleck. Und er wußte auch, warum. Es war wegen des Mädchens. Eines Mädchens mit schwarzem Haar, weißen Fingern und roten Lippen. Weichen Lippen. Und während er an sie dachte, fragte er sich, welche Rolle sie wohl unter denen, die da im rechten Winkel zu ihm über das Feld marschierten, innehatte; wohin sie ging, warum sie anders war als die übrigen Frauen in der Gruppe. Er spürte noch einmal die Wärme ihrer Lippen, den Griff ihrer Finger um seinen Arm; entsann sich der Art, wie sie das Haar zurückstrich ... der Art, wie sie »viel Glück« wünschte.
In wenigen Augenblicken waren sie verschwunden. Emmett erhob sich, seine Knochen taten weh von der Feuchtigkeit. Er rekelte sich, hob das Bündel auf die Schulter und kroch durch die Hecke. Er würde die Zigeuner suchen. Und vielleicht – nur vielleicht – würde Ivy dort sein. Morgen, hatte sie gesagt, oder? Möglicherweise würde er sie morgen wiedersehen. Emmett stapfte in der kühlen Stunde vor Sonnenaufgang gen Norden; der einzige Mann auf der Welt; ging, ging, ging. Keine Turbos. Keine Flugzeuge. Nicht einmal die Tiere, die gewöhnlich bei seiner Ankunft davonjagten. Es war eiskalt. Er fror an den Händen und steckte sie in die Tasche. Plötzlich gabelte sich der Weg. Emmett wählte den weiter nördlich führenden. Dieser war ein wenig besser als der andere, entdeckte er, als er etliche hundert Meter zurückgelegt hatte. Das gefiel Emmett nicht sonderlich, aber die Straße erstreckte sich nach Norden, und falls er in die richtige Richtung gegangen war, sollte Cornwall irgendwo vor ihm liegen. Vielleicht noch acht Kilometer. Emmett beschleunigte seine Schritte ein wenig. Er wollte die Stadt vor Tagesanbruch erreichen. Der Straßenbelag wechselte auf Mischmaterial um. Emmett kam an ein paar Seitenarmen vorbei und war
versucht, statt dessen auf einem von ihnen weiterzugehen, redete sich jedoch ein, die Straße sei besser geworden, weil sie zu einer Stadt führte. Vielleicht näherte er sich Cornwall. Jetzt gab es zu beiden Seiten keine Felder mehr. Auch keine Zäune. Warum? Das bebaute Land reichte bis an Spring Creek heran. Warum nicht auch hier? War dies ein Kleefeld? Gras? Emmett vermochte jetzt nicht mehr viel zu sehen, weil Wolken den Mond verdeckten. Er blieb stehen. Vor ihm lag – was? Es befand sich auf der rechten Seite der Straße, ungefähr achthundert Meter entfernt. Es sah aus wie ein Gebäude, war jedoch größer, als er je eines außerhalb einer Stadt gesehen hatte, und irgend etwas befand sich auf dessen Spitze. Konnte es sich um eine Konstruktion am Rande Cornwalls handeln? Ein Getreidespeicher? Ein Silo? Er wünschte, der Mond hätte geschienen. Jetzt wuchs ein wenig Klee neben der Straße. Aber auf den Feldern standen Gebüschgruppen und ein paar Bäume. Seltsam, wenn es sich wirklich um ein Kleefeld handelte. Was war es? Emmett trat an den Straßenrand, blieb einen Moment unentschlossen stehen; dann stieg er über die Böschung hinunter, sprang über den Graben und kletterte an der anderen Seite hinauf.
Jetzt befand er sich am Rande von Kies und Unkraut, blickte hinunter auf das Feld. Es war Gras. Er streckte die Hand aus, um es zu befühlen. Licht – so hell wie der Tag – blendete ihn. Emmett sprang auf die Beine, sah, daß das Licht von der Spitze des Gebäudes auf der rechten Seite ausging. Augenblicklich ließ er sich zu Boden fallen, rollte in den Graben. Jetzt gab es noch mehr Lichter. Sie bestrichen lautlos das Gebiet, das er gerade verlassen hatte. Er erkannte am Rande des Grabens das Unkraut und die großen Steine, die sich deutlich vom schwarzen Himmel abhoben. Was war das? Emmett kroch am Boden des Grabens entlang und war dankbar für diesen Schutz; er bewegte sich langsam vorwärts, bis er über dreißig Meter von der Stelle entfernt war, bei der ihn die Lichter eingefangen hatten. Helligkeit flammte rundum auf. Erst jetzt hörte er das Surren des Flugzeugs in der Luft, das ihn mit einem schmalen Lichtstrahl suchte. Nun war Laufen zwecklos. Emmett blickte gehetzt den Graben auf und ab. Fünfzehn Meter entfernt befand sich eine Kanalöffnung. Falls er die erreichen könnte –
Emmett hörte das Sirren des Turbomotors erst, als das Fahrzeug plötzlich auf der Straße hielt. Eine Gestalt sprang heraus und ging auf ihn zu. Emmett wurde ganz ruhig, als er den Betäuber zog. Nur einer konnte übrigbleiben. Er zielte, drückte ab, hörte das Klicken und wußte erleichtert, daß er derjenige sein würde. Dann konnte er weiterziehen. Aber der Mann fiel nicht zu Boden. Emmett feuerte abermals. Wieder und wieder. Der Abstand wurde immer kürzer. Dann befiel ihn eine Starre, Blitze durchzuckten seinen Kopf, und Emmett fühlte, wie er sanft auf die Erde glitt. Sie bot ihm ein sanftes Kissen. Emmett spürte, wie ihn der Schlaf übermannte, eine Wohltat, der er nicht widerstehen wollte. Dann gab es nichts mehr.
7 Emmett glitt ins Randgebiet des Schlafs; er gewahrte den weißen Himmel und die kleine schwarze Sonne in dessen Zentrum; Körper sowie Geist erfüllte die prickelnde Köstlichkeit des Dämmerzustands. Dann, als hätte ihn ein Schlag getroffen, erkannte Emmett, daß das Weiß nicht der Himmel und das kleine schwarze Ding in der Mitte keine Sonne war. Ihm schwindelte, als er sich zu orientieren versuchte. Und als er dazu nicht imstande war, machte sein Herz einen Sprung. Emmett richtete sich auf, Panik erfaßte ihn. Er saß in einem Bett. Wo bin ich? Emmett blickte um sich, sah das kleine Zimmer, das einzige Fenster. Neue Kleidung lag auf einem Stuhl neben dem Bett. Aber nirgends entdeckte er die alten Kleidungsstücke, das Bündel, das Geld, den Betäuber. Er betrachtete sich selbst und sah, daß er ein lose sitzendes Hemd mit Hose anhatte. Emmett stieg aus dem Bett; er stand auf wackligen Beinen und schwankte, schaffte es aber bis zum Fenster und sah hinaus. Vor ihm breitete sich – soweit das Auge reichte – ein gut gepflegter Rasen aus, durchsetzt mit weißlackierten Bänken, gewundenen Pflasterpfaden, Springbrunnen, Teichen, Bäumen und Büschen.
Es war früh am Morgen – oder Spätnachmittag? Emmett konnte im Augenblick nicht entscheiden, ob er gen Norden oder Süden blickte. Er untersuchte das Fenster. Die Scheibe bestand aus dickem, unzerbrechlichem Glas. Man konnte es nicht öffnen. Emmett wandte sich wieder dem Zimmer zu und besah sich den mit grünem Teppichbelag ausgelegten Boden, die zarte Grüntönung der getäfelten Wände und das Bett, das er eben verlassen hatte. Hoch oben in den Wänden befanden sich Öffnungen. In der Wand ihm gegenüber war eine Tür. Aber sie besaß keinen Knauf. Emmett ging hinüber, um sie zu untersuchen, und sah einen roten Knopf anstelle des üblichen Knaufs. Er drückte darauf. Die Tür glitt geräuschlos beiseite und verschwand in der Wand. Draußen lag ein Korridor. Emmett zögerte einen Augenblick, ob er zuerst die neuen Sachen anziehen sollte oder nicht. Die Tür schloß sich lautlos. Er drückte abermals auf den roten Knopf. Sie öffnete sich. Zufrieden, daß die Tür aufgehen würde, wenn er das Zimmer verlassen wollte, nahm er die neuen Kleidungsstücke vom Stuhl. Die Schuhe waren weich und biegsam mit Kreppsohlen – ganz im Gegensatz zu den schweren klobigen Stiefeln, die er gewöhnlich zu tragen pflegte. Die schwarze Hose bestand aus einem weichen Material, ebenso wie das weiße Hemd; beide fühlten sich auf der Haut kühl an.
Der helle Gang hinter der Tür stellte ein kleines Problem dar, weil es zu beiden Seiten Türen gab. Emmett beschloß, eine auf der linken Seite zu versuchen, aber sie öffnete sich nicht, als er den roten Knopf drückte. Er versuchte die andere. Diese glitt auf. Emmett war nicht darauf vorbereitet, was er als nächstes sah: ein Zimmer so groß wie ein Haus, überflutet von einem seltsamen gedämpften Schein. Er stand dicht neben der Tür, die sich zischend hinter ihm schloß, und bewunderte die Schönheit des Raums. In der Mitte befand sich ein großer Teich, und in dessen Zentrum stand die Marmorstatue einer nackten Frau; sie hielt eine Schale empor, aus der sich das Wasser kaskadenartig zwischen die darunter wachsenden Lilien stürzte. Rund um den Teich mit Springbrunnen befanden sich Chaiselonguen, Stühle sowie schmale, flauschige Teppiche; die Wände schmückten frische Blüten in großen Vasen und kleine Beete, auf denen Blumen wuchsen. Viele Gemälde hingen an den Zimmerwänden. Der Raum war so fleckenlos sauber, daß er zögerte, weiter einzutreten; die Luft so kühl und der Gesamteindruck so friedlich, daß er sich am liebsten auf einen der Stühle gesetzt hätte. Eine Türöffnung tat sich am entgegengesetzten Ende auf, und ein schlanker Mann trat hindurch. Er hielt einen Augenblick an, dann kam er um den Teich. Er bewegte sich so steif, als hätte er eine Ver-
letzung. Als er in Sprechweite gelangt war, blieb er stehen. Die schwarzen Augen zeigten keinerlei Gefühlsregung, seine Miene war ausdruckslos. »Folgen Sie mir«, gebot der Mann. Dann drehte er sich um und schritt auf die Tür zu, durch die er gekommen war. Emmett folgte ihm. Der Mann führte ihn in ein kleineres, aber verschwenderisch ausgestattetes Zimmer, an dessen Ende ein Mann mit einem Glas in der Hand in einem Klubsessel saß. »Hierher«, befahl der Mann mit heller Stimme. Und während Emmett zu ihm ging, ließ der Mann sein Gesicht keine Sekunde aus den Augen. Emmetts Führer trat um den Sessel herum und nahm dahinter Aufstellung. »Setz dich.« Emmett setzte sich auf einen in der Nähe stehenden geradlehnigen Stuhl und starrte auf den Mann mit dem Glas: ein feister Kerl mit aufgeschwemmtem Gesicht, blaßblauen Augen und dünnen schwarzen Haarsträhnen, die über den sonst kahlen Schädel liefen. Die rosigen Pausbacken und die Augen bildeten einen krassen Kontrast zu dem mageren Gesicht des Mannes dahinter. Emmett blickte auf den wulstigen Hals des Mannes, die riesige Leibesmitte und die dicklichen Finger,
die das Glas umspannten; er fragte sich, wer dies wohl sein mochte, denn was er da zu sehen bekam, war nicht sehr eindrucksvoll. Dann musterte er die Augen und fand darin die Antwort. Sie enthielten keine Spur der Hoffnungslosigkeit, die Emmett zu sehen gewohnt war. Er erblickte darin Autorität. Festigkeit. Und auch Intelligenz. Der Mann machte eine kleine Bewegung und stellte sich vor: »Ich bin Alfred Gniessin.« Die Stimme war ein leises Rumpeln. »Willkommen in meiner Villa.« Emmett schwieg. Akzent, Name und üppige Umgebung ließen keinen Zweifel daran, daß der Mann ein Feind und jener dahinter sein Diener waren. So also lebten die Sieger. »Jascha und ich haben darauf gewartet, daß du aufwachst. Du hast über zehn Stunden geschlafen.« Er wandte leicht den Kopf. »Jetzt kannst du abschalten, Jascha.« Jascha trat zu einer Schalttafel in der Nähe. Bevor er einen Knopf drückte, erhaschte Emmett einen Blick auf einen der Bildschirme. Es war das Zimmer, in dem er geschlafen hatte – von dem kleinen schwarzen Gerät an der Decke aus aufgenommen. »Was führt dich her?« Der feiste Mann leerte das Glas mit offensichtlichem Behagen, stellte es auf einem Serviertischchen ab. Jascha nahm es und mixte einen weiteren Drink.
»Ich hab mich selbst hergeführt.« Die Augen weiteten sich ein wenig. »Soll das so weitergehen?« Emmett seufzte. »Dann sagen wir eben, ich sei einfach zufällig vorbeigekommen. Und Sie können von da fortfahren.« »In Ordnung. Nehmen wir an, du seist zufällig vorbeigekommen.« Er nahm das neue Glas. »Dann wollen wir doch herausfinden, warum du dir dafür die Zeit um vier Uhr morgens ausgesucht hast.« »Um vier Uhr morgens herrscht sehr wenig Verkehr.« »Das mag ja stimmen, aber Leute, die um diese Stunde herumziehen, sind etwas verdächtiger, als wenn sie dies um vier Uhr nachmittags täten. Das hast du doch auch schon herausgefunden, oder?« »Scheinbar haben Sie das herausgefunden.« »Das erklärt noch immer nicht, warum du hierhergekommen bist.« »Ich wollte gar nicht hierherkommen.« »Das glaub ich dir gern.« »Sie hätten mich vorbeiziehen lassen können.« »Du hast dich selbst aufgehalten, als du den Alarm ausgelöst hast.« »Ich wußte nichts von seiner Existenz, sonst hätte ich ihn gemieden.« »Wohin warst du unterwegs?«
»Nur eine kleine Spritztour. Ich hab das Land noch nie gesehen.« »Wir fanden bei deinen Sachen keine Reisegenehmigung. Hast du sie verloren?« »Ich hab keine besessen.« »So?« Die kalten Augen glitzerten amüsiert. »Jetzt kommen wir der Sache schon näher. Man benötigt viel Mut, ohne Genehmigung zu reisen.« »Man legte mir keine Beschränkungen auf, wie das mit Genehmigung der Fall gewesen wäre.« »Warum bist du überhaupt gereist? Wußtest du nicht, daß dies gefährlich ist?« »Ich wollt's riskieren.« »Woher kommst du?« Emmett blickte ihm in die Augen. Gniessin – wollte er sagen –, man hat mir solche Fragen vor nicht allzu langer Zeit schon mal gestellt, und das Lügen hat mir kein bißchen geholfen. Aber die Leute, die fragten, waren klug. Irgendwie ist es ihnen gelungen, ein paar Dinge über mich in Erfahrung zu bringen. Warum machen Sie's nicht genauso? »Nun komm schon, willst du's mir nicht erzählen?« »Offen gestanden, nein.« »Verstehe«, knurrte Gniessin, richtete sich auf und stellte den Drink auf den Tisch; dann blickte er Emmett mit auf die Knie gestützten Händen grinsend an. »Nun, Emmett Keyes, es hat sich nicht viel verändert
in Spring Creek, seit du gestern früh vor Tagesanbruch von dort aufgebrochen bist.« Dann lachte Gniessin, stand auf, schlang den Bademantel um sich und zurrte den Gürtel fest um die Taille. »Ihr seid doch alle gleich. Ich bin seit zwanzig Jahren in eurem Land und habe noch keinen von euch kennengelernt, der uns nicht unterschätzt hätte.« Gniessin nahm ein Stück Papier vom Serviertisch. »Jetzt siehst du, daß lügen nichts hilft; warum erzählst du mir also nicht, wohin du gegangen bist und warum?« »Mir gefiel das Leben in Spring Creek nicht«, antwortete Emmett. »Deshalb ging ich fort.« »Was gefiel dir daran nicht?« »Es führte zu nichts. Es war inhaltslos.« »Hattest du kein Mädchen?« Emmett warf ihm einen Blick zu. Diese Frage kam unerwartet, aber die Augen verrieten nichts. »Natürlich hatte ich ein Mädchen.« Er versuchte an Mary Ann zu denken, aber Ivys Gesicht verdrängte Mary Ann. »Dann kann es doch nicht gänzlich inhaltslos gewesen sein, oder?« Gniessin kehrte zu seinem Sessel zurück, setzte sich, nahm das Glas und überflog das Papier, das er vor kurzem zur Hand genommen hatte. »Wie heißt sie?«
»Was tut das zur Sache?« »Ist sie hübsch?« »Leidlich.« »Genauso alt wie du?« »Ein Jahr jünger.« »Habt ihr jemals ... äh –« Gniessin lächelte lüstern. »Das, Mr. Gniessin, geht Sie einen Dreck an!« »Oho!« Gniessins Gesicht überzog ein einfältiges Grinsen, während er sein Glas hob; etwas Flüssigkeit schwappte über. »Hör ihn dir an, Jascha! Ein Schuldgeständnis, wie's im Buch steht. Sieh dir sein Gesicht an!« Er spähte auf Emmett, als sehe er ihn durch einen Nebelschleier. »Warum erzählst du uns nicht alles? Wo hast du's getrieben? Im Heu?« Der Kopf war einladend nah, und eine Welle heißen, wütenden Blutes ließ Emmett handeln. Er stand auf, ballte die braungebrannte Hand und trat einen Schritt heran. Sein Arm schoß vor, zielte auf Gniessins Nase. Der Schlag wurde abrupt von Jascha abgewehrt, der mit überraschender Behendigkeit dazwischentrat und Emmetts Handgelenk packte. Der Griff war stark. »Schon gut, Jascha«, sagte der feiste Mann. Jascha ließ los, und Emmett rieb sein Handgelenk. Jascha trat wieder hinter den Sessel, und Emmett musterte ihn mit größerem Respekt. Für einen so hageren Mann –
»Setz dich«, befahl Gniessin barsch. Seine Finger spielten mit dem Stück Papier. »Du bist ziemlich temperamentvoll, Keyes. So etwas wird dich überall in Schwierigkeiten bringen. Du sagtest, dir hätte das Leben in Spring Creek nicht gefallen.« »Überall, wo man von Kommunisten beherrscht wird, ist es nicht lebenswert.« Gniessin blickte ihn aus zusammengekniffenen Augen an. »Das klingt wie ein Satz aus einem Leitfaden zur Revolution.« »Es ist einfach Tatsache.« »Ich kann mir denken, daß das Leben auf jemand mit deiner Abenteuerlust ziemlich eintönig wirkt. Ist es nicht ein Jammer, daß wir nicht allen freie Hand lassen können?« »Warum nicht?« »Nimmst du an, einer von uns würde übrigbleiben, wenn wir's täten?« »Man wär froh, wenn man euch los wäre.« Gniessin runzelte die Stirn. »So hat man seit Jahren nicht mit mir gesprochen. Es überrascht mit ziemlich. Ich nahm an, Leute, die solche Meinungen zu äußern wagen, seien längst geläutert worden. Aber du stammst aus der neuen Generation, und ich sehe, daß es bei ihr ebenso stark ist wie stets. Ich fürchte, unsere Aufgabe kommt niemals zum Abschluß.« »Wird sie nicht, wenn ihr darauf besteht, die Men-
schen weiterhin wie Sklaven zu behandeln. Ihr zwingt sie, um eine Heiratsgenehmigung einzureichen, eine Erlaubnis zum Bewohnen eines Hauses, eine Genehmigung für dies und das – für alles bis aufs Spucken; und selbst dafür würdet ihr sie eine Genehmigung beantragen lassen, falls ihr wüßtet, wie oft sie ausspukken, wenn der Feind zur Sprache kommt –« »Das reicht –« »Es ist schon schwer genug, ausreichend zu essen zu haben, ohne das ganze sauer verdiente Geld sparen zu müssen, um eine Erlaubnis zum Kinderkriegen zu erwerben, die maßlosen Steuern zu begleichen und –« »Willst du wohl den Mund halten!« brüllte Gniessin. Dann blickte er ihn finster an. »Wie lange glaubst du, kannst du in diesem Ton reden? Mach nur so weiter, und du landest in einem Lager in Utah oder Nevada. Als Bezirksleiter der Besatzungsmacht könnte ich dich dorthin verfrachten lassen.« »Mir ist es verdammt gleichgültig, wer Sie sind. Sie könnten der feindliche Premierminister sein, und ich würde Ihnen noch immer sagen, was ich von Ihnen halte.« »Eine ziemlich gewagte Lippe für jemand in deiner Lage, Keyes. Du bist ein Dummkopf. Ich kann dich in ein Lager schicken, brauche nur das Urteil zu unterzeichnen.«
»Nur weil ich keine Reisegenehmigung hatte?« »Ich gebe zu, daß das eine geringfügige Übertretung ist.« Gniessin bedachte ihn mit einem langen, harten Blick. »Aber es stünde außer Frage, wenn ich verlauten ließe, daß du ein Parteimitglied namens Tisdail ermordet hast.« Verzweiflung überkam Emmett. Gniessin wußte Bescheid. Sie wußten alle Bescheid. Jedermann. Gab es keine Handlung, keine Bewegung, keinen Gedanken, der noch geheim war? Wenn er nichts unternehmen konnte, ohne daß es registriert wurde, warum hatte er es dann überhaupt versucht? Vielleicht hatte sein Vater recht. Vielleicht konnte ein Mann wirklich nichts ausrichten, besonders nicht gegen Mächte, die die Fähigkeit besaßen, jeden seiner Schritte zu kennen. »Und deine Eltern«, sagte Gniessin gerade. »Ich könnte sie auch verschicken.« Emmett schwieg. Vielleicht hatte er die Sache falsch angepackt. Er sollte nicht so heftig sein, so begierig, den Feind zu treffen, und dies jeden wissen lassen. Vielleicht hatte Gniessin recht. Vielleicht spielte er wirklich den Dummkopf. Dieses Schreien, diese Beschimpfungen – das war nicht die richtige Art, sie zu bekämpfen. Er würde daran denken müssen. »Du schweigst«, meinte Gniessin. »Das ist ein Fortschritt. Du solltest dich ein bißchen zu beherrschen versuchen. Und soweit es die Genehmigungen be-
trifft, glaubst du wirklich, ich hätte etwas damit zu tun? Die Gesetze, unter denen ihr Menschen lebt, wurden zehn Jahre vor meiner Ankunft in Amerika erlassen. Nun, ich will dich nicht zu einem Lager verurteilen; es wäre ein Verbrechen, einen jungen Burschen wie dich in den Tod zu schicken. Aber treib es nicht zu bunt, Emmett Keyes, denn ich schicke dich dorthin, wenn man mich dazu zwingt.« Er wandte sich wieder dem Papier in seiner Hand zu. »Wo war ich stehengeblieben?« Er überflog das Blatt. »Ein paar nette Sachen in deinem Bündel. Du hattest ein gutes Jagdmesser, einige ausgezeichnete Gegenstände zum Überleben sowie zwei Dinge, die mir großes Kopfzerbrechen bereiteten.« Gniessin blickte schnell auf. Emmett zwang sich, den Mann anzustarren. Weiter, sag mir über das Geld und den Betäuber Bescheid. Das wurde zuvor schon gemacht. Du weißt von Tisdail, also ist dir vermutlich auch das bekannt. »Dieser Betäuber«, fuhr Gniessin fort. »Woher hast du ihn?« »Gefunden.« »Wahrscheinlich hast du ihn gleich mitten auf der Straße neben all dem Geld gefunden?« »Genau.« Gniessin schüttelte den Kopf. »Ein gewöhnlicher Mann braucht etliche Jahre, soviel Geld anzuhäufen.
Ein Jammer, wenn er so gedankenlos wäre, es mitten auf der Straße zu verlieren. Doch selbst das ist verständlich. Aber kein gewöhnlicher Mann besitzt einen Betäuber.« Emmett war überrascht. Gniessin wußte offenbar nicht, daß der Betäuber Tisdail gehört hatte. Oder gab es einen anderen Grund für diese Fragen? »Ich bin ein gewöhnlicher Mann«, antwortete Emmett, »und hatte einen Betäuber.« »Du glaubst nur, du seist gewöhnlich. Wieviele Parteimitglieder sind deiner Meinung nach in den letzten zwanzig Jahren ermordet worden? Nein, Keyes, du bist alles andere als gewöhnlich. Aber erzähl mir von der Gruppe, die du im Wald getroffen hast. Ich dachte, in meinem Sektor sei alles ruhig und friedlich, und jetzt erfahre ich, daß sich junge Männer und Frauen im Schutz der Dunkelheit herumtreiben. Welche Leute waren das, die du da getroffen hast, und was haben sie gemacht?« »Ich weiß gar nichts über sie«, erwiderte Emmett und freute sich plötzlich, daß er nichts aufzudecken hatte. Gniessin drehte den Kopf zu Jascha und fragte: »Glaubst du ihm, Jascha? Oder meinst du, daß er bloß auf stur schaltet? Wenn er nur nicht hilfsbereit sein will, sollten wir ihn in das neue Lager in Nevada schicken, oder? Sie brauchen dort draußen Männer.«
»Sir, Sie haben bereits –« »Schweig, Jascha.« Gniessin nippte an seinem Drink und betrachtete Emmett. Als dieser schwieg, fuhr er fort: »Vielleicht weißt du wirklich nichts über sie. Nun, das ist nicht so wichtig. Wenn wir sie erwischt haben, Keyes, wird man sie hierherbringen; dann hast du Gelegenheit, sie wiederzusehen, falls du bleibst. Diese Villa ist nicht groß. Ich besitze keine Familie, keine Kinder. Aber es ist genug Platz für einen Mann wie dich. Außer du gehst lieber ins Lager und schuftest dich zu Tode.« »Ich würde lieber weiterziehen. Hab eine Verabredung in Cornwall, Gniessin. Eine ziemlich unsichere Verabredung, gewiß, und doch hab ich sie.« »Das Leben in dieser Villa wäre bestimmt nicht unangenehm für dich. Zumindest ist es gesünder, als ohne Reisegenehmigung durchs Land zu trampen. Als Bezirksleiter wird von mir erwartet, daß ich ohne Hilfe von außen zurechtkomme – nur in Gesellschaft von Leuten wie Jascha. Aber davon gibt es nur wenige, und sie bieten auf dem Gebiet abwechslungsreicher Unterhaltung wenig. Du wärst nicht allein. Es gibt noch zwei deiner Sorte: ein Mann namens Bradshaw, der das Kochen erledigt; außerdem Dr. Smeltzer. Ich bin sicher, du und der Doktor würdet viele Gemeinsamkeiten entdecken.« Gniessin stellte das Glas auf das Serviertischchen, und als Jascha die
Hand danach ausstreckte, sagte er: »Keinen mehr, Jascha.« Wieder einmal schlang der feiste Mann seinen Mantel um sich und stand auf. Seine Augen lagen niedriger als die von Emmett, weil Gniessin nicht so groß war. »In beiden Fällen gibt es kein Entkommen, falls du denken solltest, du fändest eine bessere Möglichkeit zur Flucht, wenn du hier bleibst. Du kämst hier niemals lebend heraus. Vielleicht glaubst du das nicht.« »Ich nehme Sie beim Wort.« »Nun denn, welche Möglichkeit wählst du: Lager oder das Leben hier?« Es blieb keine Wahl. Emmett hatte von den Wüsten im Westen gehört. Etliche Personen aus Spring Creek waren dorthin geschickt worden. Man hatte keine Zeile mehr von ihnen erhalten. Und an sie adressierte Briefe wurden nie beantwortet. Als hätten sie einfach zu existieren aufgehört. Der Tod durch Entzug der Impfspritze war im Vergleich dazu ein Segen. »Du hast Schwierigkeiten, dich zu entscheiden? Fällt dir die Entscheidung so schwer, welches das geringere Übel ist: Leben mit Alfred Gniessin oder Tod in Nevada?« »Ich besann mich nur auf einige Dinge, die ich über die Lager hörte. Mir bleibt natürlich keine Wahl.« »Das dachte ich mir. Nun, jetzt, da du hier leben
wirst, erhebt sich die Frage nach deinen Impfungen. Wann hast du die letzte bekommen?« »Einige Tage bevor ich Spring Creek verließ.« »Dann bleibt noch viel Zeit. Jascha, mach dir eine Notiz. Dann führst du Mr. Keyes zu Mr. Bradshaw. Sobald sich Dr. Smeltzer – äh – erholt hat, schicke ihn herunter.«
8 Die Tür schloß sich zischend hinter ihm. An einem Küchentisch stand vor Emmett ein kleiner, untersetzter Mann mit vorquellenden Augen. Die Art, wie er langsam blinzelte, erinnerte Emmett an einen Frosch. Dies war offenbar Bradshaw, der Koch, den Gniessin erwähnt hatte. »Keyes?« Er traf keinerlei Anstalten, sich vom Tisch zu rühren. »Und Sie sind Bradshaw?« »Ja.« Die Augen entließen Emmett endlich, und der Mann begann auf einem mit Mehl bestäubten Brett vor sich Teig auszurollen. Seine Hände waren flink und sicher, seine dicklichen Finger packten geschickt den Teigrand und wendeten ihn während des Ausrollens hin und wieder. Emmett trat in den Raum und setzte sich auf der anderen Seite des Tisches auf einen Stuhl. Bradshaw arbeitete wortlos weiter. Obwohl die Küche groß war, schien Bradshaw nur einen Teil davon zu benützen. Sie war hell erleuchtet, warm und gefüllt mit Appetit anregenden Düften. Hier gab es schimmernde Kupferpfannen und -kessel, Borde voller Zutaten, Fächerregale mit zweckdienlichen Gegenständen – ganz anders als erwartet. Em-
mett hatte sich vorgestellt, daß die Mahlzeiten elektronisch zubereitet würden – ohne Zutun eines Kochs. Doch während er sich umsah, entdeckte Emmett am entgegengesetzten Ende der Küche große Maschinen. Diese mochten elektronische Kochgeräte sein. »Wenigstens bist du kein Zombie.« Emmett war bestürzt. Nicht so sehr darüber, was Bradshaw gesagt, sondern weil er plötzlich den Mund aufgemacht hatte. »Zombie?« »Einer dieser Roboter.« »Roboter?« Bradshaw hob überrascht den Blick. »Wo bist du denn gewesen? Du hast doch erkannt, daß Jascha ein Roboter war, oder?« »Nein.« Das erklärte den unnatürlichen, steifen Gang, die blitzschnelle Reaktion, mit der Jascha sein Handgelenk gepackt hatte! Emmett hatte gehört, daß es so etwas wie Roboter gab, es jedoch bisher nie richtig geglaubt. »Hier gibt's ein Dutzend. Ich nenn sie Zombies, weil sie so einen entrückten Ausdruck in den Augen haben. Alle außer Jascha.« Bradshaw legte eine Kuchenform umgekehrt auf den ausgerollten Teig und schnitt ihn mit einem Teigrad zurecht. »Dauerte lange, bis ich mich dran ge-
wöhnt habe. Machen mich manchmal noch immer verrückt, diese Burschen, wie sie mit leerem Blick rumlaufen.« »Jascha hat keinen leeren Blick.« »Nein, er nicht; hab ich ja gesagt. Er ist der am besten aussehende und natürlichste vom ganzen Haufen. Aber du solltest mal die andern sehen. Jascha ist warm, aber die Haut der andern – wenn man's Haut nennen will – ist kalt. Seine Augen sind fast menschlich, und seine Stimme klingt natürlicher als die der übrigen. Jascha ist erst seit vier Jahren hier. Die andern waren schon da, als ich kam.« Bradshaw machte den letzten Schnitt, hielt die Form in die Luft und beäugte sie kritisch. Zufrieden stellte er sie ab und starrte nachdenklich zum entgegengesetzten Ende der Küche. »Ich werde nie den Tag vergessen, an dem Jascha kam. Mr. Gniessin brachte ihn hier her und sagte: ›Bradshaw, ich möchte dir einen meiner Freunde vorstellen.‹ Dann machte er mich mit Jascha bekannt. Ich schüttelte ihm die Hand und dachte mir nichts dabei, als er nicht lächelte. Mr. Gniessins Freunde sind nicht von der lächelnden Sorte. Dann begann Mr. Gniessin zu lachen und teilte mir mit, daß Jascha ein Roboter sei.« »Wie lange leben Sie schon hier, Bradshaw?« »Zehn Jahre. Siehst du dieses Zeug dort hinten?« Er deutete mit der Hand auf die Geräte am anderen En-
de des Raums. »Das ist die automatische Küche. Wir benützen sie nicht mehr oft. Oh, sie macht ihre Sache bei einigen Dingen recht gut, aber Mr. Gniessin besteht auf ausgefallenen Gerichten. Dabei kann keine Maschine einen Menschen ersetzen. Ich arbeitete im Hotel Ingles im Osten – vielleicht hast du schon davon gehört –, als Mr. Gniessin eintraf. Er wohnte ein paar Tage dort, kam in die Küche und sagte mir, ich müsse für ihn arbeiten. Kein exklusives Hotel wie das Ingles würde auch nur im Traum dran denken, maschinengefertigte Speisen anzubieten, aber niemand weiß es zu würdigen. Das hat mir Mr. Gniessin gleich sympathisch gemacht, weil er den Unterschied kannte. Mr. Gniessin ist ein Feinschmekker.« »Er sieht aus, als würde er gern essen«, gab Emmett zu. Bradshaw stellte die Kuchenform in einen kleinen Ofen und regulierte die Kontrollknöpfe. Dann wandte er sich den Borden zu und nahm eine Mixschale sowie einige Zutaten herunter, mit denen er auf dem Tisch zu hantieren begann. »Es bedeutet für einen Koch wie mich wirklich was, wenn jemand meine Arbeit zu schätzen weiß. Mr. Gniessin läßt nie eine Mahlzeit vorübergehen, ohne mich dafür zu loben. Woher kommst du eigentlich?« »Aus Spring Creek.«
»Wo liegt das?« »Südlich von Springfield.« »Warum bist du weggegangen?« »Weil ich dachte, die Lage wäre anderswo vielleicht besser.« Bradshaw hielt im Rühren inne und blickte auf. »Du meinst, die Lage war schlecht?« »Unterdrückung ist überall schlecht. Sie schien nur in Spring Creek schlimmer zu sein.« »Unterdrückung ist kein schönes Wort, Keyes. Ich denke nicht so drüber.« Emmett faßte das schlaffe Fleisch sowie die wohlgenährte Erscheinung des Mannes ins Auge und wurde sich zum errstenmal darüber klar, daß Bradshaw ebenfalls keinen hoffnungslosen Blick in den Augen hatte. Er wollte gerade eine scharfe Antwort geben, als er sich seiner Erfahrung mit Gniessin entsann und nur fragte: »Wie denken Sie darüber?« »Als eine Art Leben unter ihrem Schutz«, erwiderte Bradshaw. »Wir haben bewiesen, daß wir unsere eigenen Angelegenheiten nicht selbst bewältigen können, und jetzt übernehmen sie's für uns.« »Wann waren Sie zuletzt anderswo als hier – draußen unter Menschen – und haben gesehen, wie sie leben?« »Ich bin draußen gewesen. Ich hab's gesehen.« Bradshaw rührte etwas schneller.
»Wirken die Leute glücklich?« »Die Menschen sind selbst schuld an ihrem Unglück«, behauptete der Koch stur. »Klar«, erwiderte Emmett trocken, »sie können nicht alle Luxusjobs haben und für einen Bezirksleiter kochen.« Bradshaw hörte zu rühren auf und starrte ihn an. »Das ist eine niederträchtige Bemerkung, Keyes.« »Wenn Sie mich fragen, dann ist es niederträchtig, mit einem Mann wie Gniessin so vertraut zu sein.« »Nichts gegen Mr. Gniessin. Er hat sich mir gegenüber mehr als freundlich benommen.« »Er ist Kommunist, oder nicht?« »Klar, natürlich ist er Kommunist. Also was?« »Er ist der Feind, Bradshaw. Er ist Kommunist und ein Repräsentant der Besatzungsmacht.« »Der Feind? Vielleicht weißt du's noch nicht, aber der Krieg ist aus. Seit dreißig Jahren. Und mit den Siegern wird es keine Kriege mehr geben. Warum sind wir nicht glücklich, daß sie das Land übernommen haben. Andernfalls wären wir vielleicht alle tot. Wie die Dinge jetzt liegen, brauchen wir uns über nichts mehr Sorgen zu machen. Ist es so nicht besser?« »Haben Sie nie von Freiheit gehört, Bradshaw?« »Du meinst, wie früher? Ich will so etwas nicht mehr erleben.« Bradshaw trennte Dotter und Eiweiß etlicher Eier.
»Was ist mit den Menschen draußen?« fragte Emmett, und es fiel ihm schwer, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. »Die Menschen, die sich zu Tode arbeiten müssen, um genug Geld zusammenzukratzen für die Steuern und alle Genehmigungen, die der Feind verkauft. Glauben Sie, daß die glücklich sind?« »Sie brauchen keine Bomben zu befürchten, oder? Das einzige, was sie jetzt tun müssen, ist arbeiten; und es geht ihnen gegen den Strich, einmal im Leben einen Finger zu rühren. Ich hab auch unglückliche Menschen gesehen, Keyes. Das sind die Faulen, diejenigen, die alles umsonst haben wollen.« »Was ist, wenn ihnen wegen irgendeines Vergehens ihr Impfserum verweigert wird, nur als grausames Exempel für die anderen? Und wie steht's mit den Männern – den Vätern, Ehemännern und jungen Burschen –, die man in die Arbeitslager in Utah geschickt hat? Vermutlich ist das auch in Ordnung?« »Es gibt Gesetze«, antwortete Bradshaw, während er gleichmäßig seine Mixtur rührte. »Die sind dazu da, um befolgt zu werden.« »Feindliche Gesetze. Besatzungsrecht. Alles für den Feind und die Partei, nichts für die übrigen.« »Diejenigen, die die Gesetze befolgen, kommen gut zurecht. Hast du je versucht, die Gesetze zu befolgen und dort Respekt zu zollen, wo man's von dir erwartet? Du wirst sehen, daß das viel einfacher ist, als dich
groß darüber aufzuregen. Warum zählst du nicht all die guten Dinge auf und versuchst dich mit den Umständen abzufinden? So kommst du nie in Schwierigkeiten. Du könntest vielleicht sogar Spaß dran haben.« Emmett wandte sich ab. Er konnte das selbstgefällige Gesicht nicht mehr sehen, wollte jedoch vermeiden, daß ihm Bradshaw seine Wut anmerkte. »Gott sei Dank, daß nicht jeder so denkt wie Sie. Falls das der Fall wäre, bestünde nie mehr die Möglichkeit, dieses wieder zu einem freien Land zu machen.« »Das Unglück mit dir ist«, meinte Bradshaw, »daß man dir die Unzufriedenheit noch nicht ausgetrieben hat. Wenn du eine Zeitlang hier bist, wirst du dich beruhigen.« »Ich hab nicht die Absicht, so lange zu bleiben« – und in einem plötzlichen Wutausbruch – »du verdammter Roter.« Der Löffel klapperte gegen die Schüssel. Bradshaw stützte sich mit hochrotem Gesicht auf dem Tisch ab. »Halt deine Zunge im Zaum, Keyes. Ich lasse mich nicht beschimpfen.« »Vielleicht wär Verräter das bessere Wort«, grübelte Emmett und wandte ihm sein Gesicht zu. »Oder sollte ich Kommunisten-Sympathisant sagen?« Emmett nahm die Worte in den Mund, als wären sie unrein.
Bradshaws Augen waren jetzt weit aufgerissen, sein Gesicht weiß. Langsam nahm er die Hände vom Tisch, streckte eine zum Messerbord über seinen Kopf aus und holte ein langes Messer herunter. »Ein Wort noch, Bürschchen«, warnte er und legte das Messer sorgsam mit der Spitze zu Emmett auf den Tisch. »Nur noch ein Wort.« »Wenigstens haben Sie Ihre Selbstachtung nicht eingebüßt«, meinte Emmett, die Augen auf den anderen geheftet. Er war größer als Bradshaw; ein Pluspunkt für ihn. Aber Bradshaw besaß das Messer; ein gefährlich aussehendes Messer mit fußlanger Klinge und blitzender Schneide. Aber irgendwie berührte es Emmett innerlich nicht, denn Bradshaw wurde plötzlich zum Symbol für alles, was er zu hassen gelernt hatte: den Wankelmut und die Treulosigkeit der Menschen; ihr Verzicht auf Ideale zu Gunsten illusorischer Sicherheit; die Rechtfertigung von Feigheit und Schwäche mit der Behauptung, die jetzigen Herrscher könnten ihre Angelegenheiten besser bewältigen als sie selbst. Aus all diesen Gründen war Emmett zum Kampf bereit. Aber dieser sollte nie beginnen. Die Tür, durch die er – wie es Emmett schien – vor einer Ewigkeit eingetreten war, zischte plötzlich auf; hindurch kam ein grauhaariger Mann in der – wie
Emmett annahm – Uniform für Villabewohner: weißes Hemd mit weiten Ärmeln und um die Taille auf Figur gearbeiteten schwarze Hose – dazu schwarze Schuhe. Der Mann war fast so groß wie Emmett, kräftig gebaut, breitschultrig, jedoch mit der Schwerfälligkeit eines Herrn mittleren Alters. Sein Gesicht war gerötet, die Augen blutunterlaufen. Auf der hohen Stirn standen Schweißperlen, Ringe lagen unter den Augen. Er machte auf halbem Weg halt, als er sie sah – Emmett auf der einen Tischseite, Bradshaw auf der anderen –, und ein Lächeln umspielte seinen Mund. »Ein interessantes Bild«, stellte er fest. Seine Stimme war leise und wohlklingend. »Ich hoffe nur, Gniessin hat euch beobachtet. Schade, daß ich unterbrechen mußte.« Bradshaw starrte zur Decke hinauf. Emmett folgte seinem Blick und entdeckte das Auge dort oben. »Muß viel interessanter gewesen sein als sie DreiD-Programme heute abend«, mutmaßte der Mann und näherte sich dem Tisch. »Worum ging es? Recht gegen Unrecht? Oder sollte ich besser raten und sagen: Demokratie gegen Gewaltherrschaft?« »Hoffentlich hat er uns beobachtet«, äußerte Bradshaw dumpf. »Ich hoffe, Mr. Gniessin hat jedes Wort gehört.«
»Er weiß doch, wie Sie empfinden, Bradshaw, oder? Er braucht keine Neubewertung ihrer Treue. Und über den jungen Keyes bekräftigt der Vorfall – dessen bin ich sicher – bloß das, was er über ihn bereits weiß.« Der Mann lächelte und streckte ihm die Hand entgegen. »Ich bin Dr. Smeltzer.« Emmett nahm die Hand. Ihn überraschte ihre Kälte und Feuchtigkeit. Doch der Händedruck war fest. In den Augen lag eine Aufgewecktheit, die Emmett zuerst nicht bemerkt hatte. »Ich muß mich dafür entschuldigen, daß ich Ihnen Ihr Opfer entführe, Bradshaw«, spottete der Arzt, »aber Sie hätten die Messertour zweifellos ohnehin verpfuscht.« »Je eher ihr verschwindet«, erwiderte Bradshaw bärbeißig, »desto froher bin ich. Das gilt für euch beide.« »Sie halten sich ans Kochen. Ich sorge fürs Abschlachten.« Bradshaw starrte hinter ihnen her, als sie die Küche verließen. Emmett Keyes war nur einmal als Kind in einer Arztpraxis gewesen; er erinnerte sich daran als einen staubigen, kahlen Ort und an den Arzt als alten Mann im schmutzigen weißen Kittel. Er konnte sich selbst jetzt noch den alten ledernen Untersuchungstisch mit
seiner Füllung, die sich durch viele Ritzen zeigte, im Geiste vorstellen. Dr. Smeltzers Praxis sah ganz anders aus. Sie war voller schimmernden Chroms, flekkenlosen Stahls, Helligkeit und einer endlosen Reihe an Apparaturen, deren Zweck Emmett nicht ahnte. Der Arzt hatte auf dem Weg hierher geschwiegen. Jetzt glitt die Tür hinter ihnen zu, und der Doktor sagte kurz und bündig: »Setzen Sie sich, Keyes, und ziehen Sie das Hemd aus.« Als er der Aufforderung nicht sofort nachkam, erklärte der Arzt: »Ich muß Ihnen Ihr Armband verpassen. Aber zuerst untersuche ich Sie, um sicher zu gehen, ob mit Ihnen alles in Ordnung ist, obwohl Sie so ungefähr die gesündeste Spezies sind, die ich je gesehen habe.« Verwirrt setzte sich Emmett auf den weißen Metallstuhl, auf den Smeltzer gedeutet hatte, und zog das Hemd aus. »Was für ein Armband?« Der Arzt schien nichts gehört zu haben und sagte: »Ich mische das Narkosemittel.« Er öffnete einen kleinen Schrank, entnahm ihm eine Flasche, entkorkte sie, schüttete etwas Pulver in ein schmales Röhrchen mit Schraubverschluß und füllte es mit Wasser auf. Er schraubte den Deckel zu, stellte das Röhrchen in die Maschine, drückte auf einen Knopf, und die Phiole vibrierte; das rauhe Surren erfüllte das Zimmer. »Es gibt Radarschirm und Mikrofon in diesem
Raum«, erklärte der Arzt, während er das Blutdruckband um Emmetts nackten Arm legte. »Aber der Vibrator macht soviel Lärm, daß Gniessin nicht verstehen kann, was ich sage. Doch sehen kann er uns noch immer.« Der Kopf war so nahe, daß Emmett die Poren in seinem schwitzenden Gesicht sah. »Deshalb nicken Sie nur hin und wieder. Schauen Sie desinteressiert zu. Und sprechen Sie nur, wenn Sie etwas Wichtiges zu sagen haben. Uns bleibt nicht viel Zeit. Haben Sie mich verstanden?« »Ich glaube schon«, antwortete Emmett. Der Arzt pumpte das Gummiband auf, beobachtete den Druckmesser. »Als die Roboter Sie vergangene Nacht ins Haus brachten, lähmte ich Ihre vorderen Gehirnzellen und hob die Wirkung des Betäubers mit einer anderen Droge auf, wie Gniessin es mir auftrug. Die Prozedur brachte Sie teilweise zu Bewußtsein, aber das Anästhetikum setzte Hemmungen und Urteilsvermögen gleich Null. Sie haben alle seine Fragen beantwortet, ihm alles erzählt. Nach der Sitzung, an die Sie sich wahrscheinlich nicht erinnern können, versetzte ich Sie wieder in den Schlaf.« Also hatte Gniessin nicht seine Vergangenheit nachgeprüft! Er, Emmett, hatte ihm selbst alles verraten, und Gniessin besaß nicht die geheimnisvolle Fähigkeit des Anführers der Gruppe in jenem Geräte-
schuppen. Und Gniessin war trotzdem nicht sehr weit gekommen, wurde ihm klar, denn die jüngste Befragung hatte gezeigt, daß er die Einzelheiten über die Pistole und das Geld nicht kannte. Man konnte mit Sicherheit annehmen, daß er nichts über Mrs. Tisdail erfahren hatte; andernfalls hätte er sie gewiß erwähnt. Soweit es die Gruppe im Wald betraf, was konnte Emmett ihm schon viel darüber erzählt haben? »Ich sage Ihnen das«, fuhr der Arzt fort, »weil Sie wissen sollen, daß ich auf Ihrer Seite stehe. Ich wollte Sie vor Bradshaw warnen, aber ich sehe, daß Sie über ihn bereits alles herausgefunden haben. Er ist gefährlich, Keyes. Und ein Schwätzer. Also hüten Sie sich. Er gilt sehr viel bei Gniessin.« Der Arzt entfernte die Armbinde. »Wenn Sie mein Freund sein wollen«, meinte Emmett, »dann sagen Sie mir, wie ich hier raus komme.« »Es gibt kein Entkommen. Glauben Sie mir, Keyes, es gibt kein Entkommen.« »Meinen Sie wirklich?« »Ich weiß es.« »Ich komm schon raus ... irgendwie.« »Ich warne Sie, das zu versuchen. Gniessin schickt Sie in ein Lager, wenn Sie's tun. Jetzt muß ich diesen verdammten Vibrator abschalten. Ich brauche ihn ohnehin nicht, aber Gniessin kennt den Unterschied nicht.«
Er ging hinüber und schaltete die Maschine aus, während er sagte: »Der Blutdruck ist normal.« Dann kehrte er mit einem Stethoskop zurück. »Wie steht's mit dem Herzen?« Er legte das Hörrohr an Emmetts Brust und lauschte. »Ein gutes Herz haben Sie da.« Der Arzt seufzte, erhob sich, legte das Stethoskop fort, nahm die Phiole aus der Maschine und hantierte damit an seinem Schreibtisch. Als er sich umdrehte, hatte er eine Injektionsspritze in der Hand. »Das Armband, das ich vorhin erwähnte – es ist ein dünnes, enges Band, das Sie um das Handgelenk tragen werden. Das Fleisch ist in wenigen Tagen darübergewachsen. Ich muß das Gewebe taub machen, während ich den Schnitt dafür anbringe.« Bevor Emmett protestieren konnte, drückte Smeltzer die Taste zum Videofon. In der nächsten Sekunde tauchte Gniessins Gesicht auf. »Ich bin fertig mit Keyes, Mr. Gniessin.« »Herein mit ihm.« Das Gesicht verschwand. »Jeder von uns«, erklärte der Arzt, während er ein Betäubungsmittel unter die Haut von Emmetts linkem Handgelenk spritzte, »trägt ein Identitätsband mit Code. Mr. Gniessin legt Ihnen das Ihre um, und von diesem Moment an weiß das Elektronengehirn, das diese Villa leitet, wer Sie sind und welche Privilegien Sie haben. Andernfalls würden Ihnen die Roboter jedesmal beim Verlassen des Hauses eins mit dem
Betäuber verpassen. Sie können keine Gesichter unterscheiden, aber ihre Radaraugen lesen diese Armbänder auf eine Entfernung von achthundert Meter.« Smeltzer benützte ein Skalpell, um einen flachen Schnitt rund um das Handgelenk anzubringen. Emmett war überrascht, ein wenig Blut zu sehen. Er spürte den Druck des Messers, fühlte es schneiden, empfand jedoch keinen Schmerz. »Jetzt sind wir für Gniessin bereit«, sagte der Arzt und stand auf.
9 Bei der ersten Berührung an seiner Schulter schnellte Emmett hoch; der Schreck machte ihn hellwach. Was er sah, verscheuchte den letzten Rest Schlaf. Ein Gesicht wie eine Teufelsmaske; es gehörte einer Kreatur, die neben seinem Bett stand. Das Gesichtsfleisch hatte eine porzellanartige Beschaffenheit, die Wangen waren feuerrot und die Augenbrauen zu dick und zu schwarz. »Frühstück«, schnarrte der Roboter barsch. Emmett war bestürzt darüber, daß die Lippen linkisch simulierte Sprechbewegungen ausführten. Er blickte auf die Augen und erkannte, was Bradshaw mit dem leeren Blick gemeint hatte. Sie waren wie Puppenaugen: unbeweglich und ohne Ausdruck. Aber nicht blind, denn Emmett konnte in die Linsen sehen. Die Nähe gereichte dem Roboter zum Nachteil. Wäre er am anderen Ende des Zimmers oder im verdunkelten Abschnitt gestanden, hätte ihn Emmett eventuell irrtümlich für ein menschliches Wesen gehalten, denn er war mit der Villauniform bekleidet und besaß außerdem Größe und Gestalt eines Menschen. Aber auf diese Nähe! Was für ein krasser Unterschied zu Jascha!
»Wie spät ist es?« fragte Emmett, stieg aus dem Bett und war gespannt, ob der Roboter antworten würde. »Sechs Uhr fünfundvierzig, Sir.« »Danke.« »Keine Ursache, Sir.« Emmett rekelte sich, blickte aus dem Fenster und sah den strahlend schönen Tag. Er hätte zu gern gewußt, ob der Roboter eine Uhr zwischen den vielen Drähten, Muskeln und Sehnen im Innern hatte. »Wie heißt du?« »Igor, Sir.« »Buchstabiere Katze.« »K-a-t-z-e.« »Danke.« »Keine Ursache, Sir.« »Geh zur Hölle.« Keine Antwort. »Du kannst gehen, Igor.« Der Roboter schlurfte hinaus. »Du kommst zwei Minuten zu spät, Keyes«, rügte Gniessin mürrisch vom oberen Tischende. Der ständig anwesende Jascha stand hinter ihm. Der feiste Mann starrte Emmett an, während sich dieser dem Tisch näherte. »Das Frühstück wird pünktlich um sieben Uhr serviert.«
Bradshaw starrte Emmett an. Ein Jammer, daß ich heute vormittag hier abhaue, dachte Emmett, als er sich neben Dr. Smeltzer setzte, sonst würde ich dir eines in die Fresse geben, Bradshaw. Smeltzer grüßte: »Guten Morgen. Wie geht's dem Handgelenk?« »Ist in Ordnung.« »Lassen Sie sehen.« Emmett hob den linken Arm. Der Doktor untersuchte das Gewebe, in dem das Armband eingenäht worden war. »Es heilt gut.« »Du kannst jetzt servieren, Boris«, befahl Gniessin einem wartenden Roboter. Es war ein reichliches Frühstück: Orangensaft, Schinken mit Ei, Bratkartoffeln, Toast und Marmelade, Biskuits und Butter, Kaffee. »Nun, Keyes«, begann Gniessin und legte sich eine große Portion Schinken mit Ei vor, »bist du einer von uns, ob dir's gefällt oder nicht, seit du dein Codeband trägst. Hoffentlich muß ich dich nicht mehr daran erinnern, daß das Frühstück um sieben, das Mittagessen um zwölf und das Abendessen um sechs Uhr serviert wird. Man unterrichtet dich über jede Abweichung.« »Pünktlichkeit«, redete Smeltzer dazwischen, »ist
ein Gniessin-Fetisch, Keyes, wie Sie noch erfahren werden.« »Sie ist eine Tugend, kein Fetisch, Doktor«, widersprach Gniessin. »Als Mediziner solltest du ihren Wert kennen. Ich habe sie in der Armee gelernt. Truppen sind leistungsfähiger, wenn Ordnung herrscht. Und Truppen bestehen aus Menschen. Der Körper paßt sich an und scheint auf diese Art besser zu funktionieren.« »Ein Jammer, daß Ihr Körper das nicht weiß«, erwiderte der Arzt. »Besonders im Hinblick auf die Ausscheidung.« »Du bist der Arzt«, meinte Gniessin. »Es ist deine Sache, dafür zu sorgen, daß er's tut.« »Ich tu mein möglichstes, aber manchmal halte ich es für eine verlorene Schlacht, wenn man bedenkt, mit was ich arbeiten muß.« »Der Doktor ist heute morgen sehr fröhlich, Keyes«, erklärte Gniessin und lächelte schwach. »Vielleicht sollten wir etwas dagegen unternehmen. Etwa die Rationen kürzen. Hm, Doktorchen?« Dr. Smeltzer schwieg. Bradshaw nickte. »Mr. Gniessin hat recht. Damit, daß Ordnung die Leistungsfähigkeit bewirkt, mein ich. Ich führe die Küche auf diese Weise. Im Hotel mußte man die Sache so anpacken, sonst hätte man nichts geschafft. Dort hab ich's gelernt.«
Gniessin strich Butter auf einen Biskuit, bis der Belag zweieinhalb Zentimeter dick war. »Ich vermute, du hast gut geschlafen, Keyes?« »Ja, danke.« »Besser als unter dem Sternenhimmel, nicht wahr?« Er schüttelte beim Essen den Kopf. »Niemand sollte im Freien schlafen müssen. Gefällt dir dein Zimmer?« »Ist in Ordnung.« »Wenn du's satt hast, gibt es noch ein Dutzend andere, in denen du schlafen kannst.« »Dieses Haus«, erklärte Smeltzer, »hat mehr Schlafzimmer als sonst etwas. Sie können Bradshaw fragen. Er hat sie alle ausprobiert.« »Sie sollten sich einfügen«, riet Bradshaw. »Oder weilt Ihr Herz noch immer in Peoria?« »Was sie Obszönitäten betrifft«, fuhr Smeltzer fort, »so ist Bradshaw unschlagbar. Er muß sich noch von den niedrigeren Tiergattungen emporschwingen.« »Kommt«, sagte Gniessin, »wir wollen Keyes doch nicht unsere ganzen Gefühle aufhalsen. Er wird die Verhältnisse früh genug kennenlernen. Das Frühstück sollte nicht gegenseitigen Beschuldigungen dienen. Führen wir doch eine deiner leichtherzigen Diskussionen, Doktor.« Als der Arzt nichts erwiderte, sprach Gniessin weiter: »Zur Information, Keyes. Dr. Smeltzer ist einer
von denen, die glauben, der Fortschritt habe im Jahre 1989 aufgehört.« »Das hat er meiner Meinung nach auch«, bestätigte Emmett. »Sicher weißt du darüber genau Bescheid. Wie alt warst du zu jener Zeit.« »Ich hab davon gehört.« »Und das macht dich natürlich zum Experten. Aber Dr. Smeltzer hat dir etwas voraus. Er glaubt, Fortschritt gäbe es nur im Krieg.« »Keineswegs«, protestierte Smeltzer. »Es stimmt, daß wir zu Kriegszeiten technische Fortschritte machten, aber es ist auch wahr, daß es kaum eine Zeit ohne Krieg gab.« Gniessin lächelte beim Kauen. »Ich nehme an, unsere Fortschritte auf dem Gebiet der Robotertechnik existieren nicht, weil es damals keinen Krieg gab.« »Wir standen kurz vor wichtigen Entdeckungen, als ihr die Herrschaft übernommen habt.« »Vermutlich der Satellit um die Erde. Die Marsrakete. Ich fürchte, das war kein Fortschritt zum Segen der Allgemeinheit, Doktor.« »Der Mensch träumte davon, den Weltraum zu erobern, und sei's auch nur ein so winziger Teil wie von hier bis zum Mars; aber der kommunistische Sieg verhinderte, daß er wahr wurde.«
»Wir hätten's gekonnt, wenn wir gewollt hätten«, prahlte Gniessin selbstgefällig. »Warum habt ihr's dann nicht getan?« »Es war nicht länger nötig. Wir haben die Welt ohne ihn erobert.« »Sie sehen es einzig vom Standpunkt des Militärischen.« »Ha! Und ihr Amerikaner wohl nicht, hm, Smeltzer?« »Ein paar vielleicht. Aber Sie kennen den Ausgang noch nicht. Während Sie herumsitzen und fett werden, gibt es viele Menschen, die es müde werden, daß man auf ihnen herumtrampelt. Sie wissen, was in Rom geschehen ist.« Gniessin lachte und betupfte die wulstigen Lippen mit der Serviette. »Unglücklicherweise, Doktorchen, gibt es keine Barbaren, die uns vernichten könnten.« »Jammerschade!« Gniessin lachte wieder. »Siehst du, Keyes? Der Doktor denkt sich nichts dabei, seine sorgfältig genährten Vorurteile vor uns allen zur Schau zu stellen. Das sorgt für lebendige Unterhaltung, meinst du nicht auch?« »Was er sagt, ist wahr. Es kommt der Tag, an dem Ihr Volk dieses Land im Laufschritt verläßt.« »Was für einen Revolutionär du abgeben würdest, Keyes! Zu schade, daß du nicht zu einer Zeit geboren
wurdest, in der man solche Talente gebrauchen konnte. So wie die Dinge stehen, machst du dich nur lächerlich, wenn du versuchen willst, ein perfektes System zu bekämpfen, das bereits vor deiner Geburt bestand.« »Hoffentlich bleibt es immer so«, warf Bradshaw dazwischen. »Die Welt war nie so sicher.« »Und Sie hatten niemals solche Samstagnächte, nicht wahr?« fragte Smeltzer. Gniessin hob die Hand. »Fangen wir nicht wieder damit an, meine Herren. Wir haben an anderes zu denken. Zum Beispiel daran, welchen Aufgabenbereich unser neuer Gast übernehmen soll. Kennst du dich in Massage aus, Keyes?« Emmett schüttelte den Kopf. »Sie werden«, versicherte Dr. Smeltzer. »Gniessin sucht seit Jahren einen Masseur. Ich fürchte, ich habe den Ansprüchen nicht ganz genügt.« »Leidlich, Doktorchen. Aber ich brauche jemanden, auf den ich mich verlassen kann. Einen jungen und kräftigen Burschen, der gewillt ist, von der Pike auf zu lernen. Ich wußte, daß du's immer unter deiner Würde gehalten hast.« »Nicht nur das.« »Ich weiß, was du von Leuten hältst, die glauben, sie hätten einen Masseur nötig, Doktor. Aber das ist Ansichtssache. Wirf einen Blick auf Keyes Hände. Sie sind
groß, er selbst auch. Es kommt mir vor, als sollte er einen trefflichen Schüler abgeben. Unterrichtest du ihn?« »Ich bin froh, nicht selber Masseur spielen zu müssen.« »Gut. Dann fangen wir heute nachmittag zur üblichen Zeit an.« Er blickte hinauf zu Jascha und sagte: »Den Stuhl, Jascha.« Jascha rückte den Stuhl vom Tisch, während Gniessin aufstand. »Wenn die Herren mich jetzt entschuldigen wollen; Keyes und ich haben einen kleinen Spaziergang zu machen.« Gniessin trabte schwerfällig durch die Korridore wie ein großer Bär, schnaufte und keuchte vor Anstrengung und blieb gelegentlich stehen, um Atem zu schöpfen. Jascha folgte als schweigender Schatten. Emmett fragte sich, wohin Gniessin ihn wohl führen mochte. Es dauerte einige Zeit, bevor er sich darüber klar wurde, daß der Bezirksleiter ihn auf einen Rundgang durch das Haus mitnahm; er öffnete Zimmertüren und forschte in Emmetts Gesicht nach einem Zeichen des Interesses, während er ihm die architektonische Pracht des Ballsaals im dritten Stock zeigte, die Bequemlichkeit der Drei-D-Kinos, die vielen Schlafzimmer. Welche Behaglichkeit hier herrschte! Wenn doch nur gewisse Leute aus Spring Creek dieses Haus besichtigen könnten – ihnen würden die Augen überquellen! Wie gut seine Mutter einen dieser Roboter hätte gebrauchen können!
Schließlich führte ihn Gniessin in ein großes Zimmer voller Bücherregale – mehr Bücher, als Emmett jemals außerhalb einer Bibliothek gesehen hatte. Gniessin drehte sich um und beobachtete ihn, während Emmett sie musterte. Letzteren beeindruckte mehr die Anzahl der Bücher als die Tatsache, daß es Bücher waren; er hatte nie viel vom Lesen gehalten. In den meisten Büchern stand nur, welch ein Privileg es darstelle, Mitglied der Arbeiterklasse zu sein. Emmett hatte in der Schule genug von dieser Propaganda lesen müssen. »Schau dich um«, riet Gniessin. »Sieh dir ein paar Titel an.« Emmett trat zu den Regalen und erwartete einige der Bände zu entdecken, deren Lektüre er in der Schule ausgewichen war. Aber er stellte überrascht fest, daß diese Bücher ganz anders waren als die, die er bisher kennengelernt hatte. Zum einen besaßen sie verschiedenen Formen und Größen, und jedes war anders gebunden. In den öffentlichen Bibliotheken hatten fast alle Bücher die gleiche Größe sowie den gleichen braunen Leinendeckel mit einen roten Stern auf dem Rücken. Hier erblickte er keinen einzigen roten Stern. Er sah näher hin und entdeckte einen Band mit dem Titel »Abhandlung über den Ursprung der Ungleichheit« von Rousseau. Daneben stand »Begegnungen
zwischen Ost und West« von Northrop. Er trat zum gegenüberliegenden Regal, fand »Herrliche Besessenheit« von Douglas, »Tom Jones« von Fielding sowie »Der alte Mann und das Meer« von Hemingway. »Nun«, fragte Gniessin, »was hältst du davon?« »Die größte Sammlung, die ich je gesehen habe.« »Diese Bücher repräsentieren zwanzig Jahre rühriges Sammeln, Keyes. Ich fand sie in Speichern, Kellern, Truhen, Wänden, Safes, Möbelpolsterungen – wo man sich nur vorstellen kann.« Der feiste Mann schlenderte zu einem Regal und entnahm ihm einen dicken Band. »Ich habe sogar ein Exemplar davon ergattert, hast du jemals zuvor eine gesehen?« »Was ist das?« fragte Emmett und trat einen Schritt näher. »Eine Bibel.« »Nein«, erwiderte Emmett nachdenklich. »Ich habe nie eine gesehen.« Er fügte nicht hinzu, das es alte Familien – wie er erfahren hatte – gewöhnlich fertigbrachten, eine oder zwei Bibeln versteckt zu halten. Gniessin stellte das Buch ins Regal zurück. »Die Menschen lesen nicht mehr viel.« »Können Sie ihnen das verdenken bei dem Schund, mit dem die Bibliotheken vollgestopft sind?« »Selbst wenn diese Bücher in den öffentlichen Bibliotheken stünden, würden die Leute lieber das Drei-D-Programm betrachten.«
»Die Menschen um Spring Creek sehen kein DreiD. Sie besitzen nicht mal einen Empfänger.« »Spring Creek liegt ziemlich weit auf dem Land, Keyes. Du mußt in die Stadt gehen, dann findest du genug Drei-D. Geräte. Und trotz allem, was du denken magst: die Menschen, die die Empfänger besitzen, können sie sich wirklich leisten.« »Sind welche davon keine Kollaborateure?« Gniessin schnaubte. »Deine Welt ist geteilt in Kollaborateure und Nicht-Kollaborateure, oder? Warum teilst du sie nicht in diejenigen, die die Gesetze respektieren, und diejenigen, die das nicht tun?« »Warum sollten wir eure Gesetze befolgen? Wir haben sie nicht gemacht!« Gniessin schüttelte resigniert den Kopf. »Du bist auf dieses Thema fixiert, nicht wahr? Sieh mal an, der geschädigte Nationalist!« »Ich weiß nur, was recht ist und was nicht.« »Das trau ich dir gern zu, Keyes. Du bist redegewandter als die meisten deiner Art. Ich will sogar so weit gehen und zugeben, daß du beträchtliche Intelligenz aufweist. Aber Intelligenz allein genügt nicht. Sie verrät zum Beispiel nicht, was früher vor sich gegangen ist.« Der Bezirksleiter schloß mit einer Armbewegung alle Bücher in der Bibliothek ein. »Seit der Mensch zum erstenmal schreiben lernte, hat er sich mit den
Fragen nach Sieg und Niederlage, Gut und Böse, Freiheit und Tyrannei, Diktatur und Demokratie beschäftigt. Millionen Wörter. Millionen Ideen. Und du redest daher, als hättest du gerade eine Entdeckung gemacht. Glaub mir, Keyes, es ist alt. Älter als du. Älter als ich. So alt wie der Mensch. Und das, womit sich der Mensch so lange beschäftigt hatte, wurde schließlich im Jahre 1989 beigelegt. Der Sieg der Kommunisten hat ihn davon befreit.« »So nennen es aber die wenigsten Menschen«, entgegnete Emmett und entfernte sich, um wieder auf die Buchtitel zu schauen. »Sie sprechen von der Zeit, bevor ihr gekommen seid, und ihre Augen leuchten.« »Alte Leute reden immer über die guten alten Zeiten. Das tun sie auch in meiner Heimat. Es bedeutet überhaupt nichts, außer daß die Gelenke schmerzen, das Blut langsamer fließt und sie sich an eine Zeit erinnern, in der das nicht der Fall war.« Emmett zwang sich, auf die Titel zu blicken. Glaubte Gniessin wirklich, die Zeiten seien besser geworden, seit Leute seiner Art gekommen waren? Dieses Gespräch machte ihn wütend. Aber er wollte seine Stellung nicht gefährden, indem er dies zeigte. »Ein Turbinenwagen kommt die südliche Auffahrt herauf«, verkündete Jascha mit solcher Plötzlichkeit, daß Emmett zusammenzuckte. »Wer ist es?« fragte Gniessin.
»Mr. Sunberg.« »Ich lasse dich hier«, sagte Gniessin. »Du kannst dich bis zum Mittagessen mit den Büchern beschäftigen.« Emmett seufzte erleichtert auf, als Gniessin gegangen war, wartete fünf Minuten und verließ dann die Bibliothek. Ein günstigerer Zeitpunkt zur Flucht würde sich nie mehr ergeben.
10 Emmett traf niemand auf seinem Weg ins Freie. Die Türen öffneten sich, wenn er die roten Knöpfe drückte, und er ging ungehindert hindurch. Vor der Villa ließ er sich Zeit. Er schlenderte über den Rasen beim Haus; seine Schritte waren langsam, sein Benehmen ungezwungen. Er wollte den Anschein erwecken, als mache er einen Rundgang. Emmett zog immer größer werdende Kreise; vorbei an Blumenbeeten, Teichen und Lauben; verlor sich hin und wieder zwischen Hecken, Büschen und Bäumen. Einmal traf Emmett auf einen Roboter, der einen Rasenmäher bediente. Er hob nicht einmal den Blick. Als Emmett etwa zweihundert Meter zurückgelegt hatte, warf er einen flüchtigen Blick zurück aufs Haus; vor ihm lag in der Sonne ein strahlend weißes Gebäude mit einem glitzernden Silberspitzturm, der ungefähr dreißig Meter in die Luft ragte. Eine Anzahl gleißender Metallarme gingen davon aus, die – wie Emmett vermutete – ein Teil des elektronischen Gehirns waren. Auf dem Dach sah er etliche Flugzeuge und wünschte, er hätte jetzt eins davon, um über das Warnsystem hinauszufliegen. Nur was er tun würde, wenn er es erreichte, wußte er nicht. Emmett gelangte ans Ende der Rasenfläche und
blieb stehen. Vor ihm lag Kies, der in einen Graben abfiel und dann hinauf bis zu einer geteerten Straße führte. Emmett ging am Rasenrand entlang, untersuchte den Boden in allen Richtungen und hielt Ausschau nach der Alarmanlage, die – wie er wußte – vorhanden war. Er fand sie etwa fünfzig Meter entfernt, ein kleiner Radarwürfel auf der Spitze eines ungefähr dreizehn Zentimeter hohen Metallschafts, der wie ein warnender Finger aus dem Boden ragte. Emmett untersuchte ihn lange Zeit gründlich. Der Radarwürfel hatte auf jeder Fläche eine Linse. Gleich darunter befand sich ein geriffelter Teil. Wahrscheinlich ein Mikrofon mit Sprechanlage. Was sollte man damit anstellen? Wie sie umgehen? Emmett überlegte lange, bevor er einen Plan ausarbeitete. Er erhob sich, als hätte er genug von seiner Musterung, und schlenderte davon, als wolle er zum Haus zurückkehren. Mit wenigen Schritten befand er sich hinter schützenden Büschen. Emmett zog das Hemd aus. Er hastete aus dem Gebüsch, warf sein Hemd über den Radarschirm und wickelte es rundum, bis etliche dicke Lagen die Augen verdeckten. Dann rannte er über den Kies, bis er einen großen, spitzen Stein fand, der bequem in seine Hand paßte.
Er duckte sich wieder unter die Büsche und wartete. »Es ist zwecklos, Keyes.« Emmett wirbelte herum und erwartete einen Radarschirm zu sehen, der seiner Aufmerksamkeit entgangen war. Statt dessen entdeckte er Dr. Smeltzer neben sich stehen. Gniessin hatte Smeltzer geschickt, um ihm nachzuspionieren! In wilder Erregung stürzte Emmett auf den Arzt los und zielte mit dem Stein nach dessen Kopf. Der Arzt taumelte zur Seite. Der Stein schrammte seinen Kopf. »Hören Sie auf!« schrie Smeltzer, packte den Arm mit dem Stein und hielt ihn fest. Emmett schlug mit der freien Hand auf Kopf, Gesicht, Hals und Schultern des Arztes ein, während er ungestüm umherschnellte und die andere Hand freizubekommen suchte. »Nicht!« Der Arzt krümmte sich unter den Schlägen, hielt jedoch noch immer den Arm gepackt. »Seien Sei kein Narr!« Ein heftiger Ruck befreite die Hand. Der Arzt fiel auf die Knie. Er schaute hoch. »Nur weiter – Sie – verdammter Dummkopf!« Emmett war bereit, den Stein auf den jetzt ungeschützten Kopf herabsausen zu lassen. Aber etwas im Gesicht des Arztes hielt ihn zurück.
Das Surren eines sich nähernden Turbinenwagens ertönte. Beide blickten in die Richtung des Geräuschs. »Wenn Sie glauben, Gniessin habe mich geschickt, sind Sie ein Idiot«, erklärte der Arzt. »Ich wollte Sie davon abhalten, etwas Lächerliches zu unternehmen.« Emmett entfernte sich einen Schritt, um den Turbo jenseits der Büsche zu beobachten. »Wenn sie vorhaben, den, der Ihr Hemd vom Radarschirm nehmen will, niederzuschlagen, vergeuden Sie nur Ihre Zeit, Keyes. Gniessin selbst kommt nicht, und der Roboter, den er geschickt hat, besitzt viel schnellere Reflexe als Sie oder ich. Außerdem gibt es da noch etwas, was Sie nicht wissen.« Für Emmett war es ein Augenblick quälender Unentschlossenheit. Er konnte sehen, wie der Turbo auf der ihnen gegenüberliegenden Straße plötzlich bremste, und sehnte sich so verzweifelt danach, aus der Villa zu entfliehen, daß er mehr zum Handeln neigte als zur Bedachtsamkeit. »Es gibt kein Entkommen«, sagte der Arzt. »Glauben Sie, ich hätte sie nicht längst genutzt, wenn es eine Möglichkeit zur Flucht gäbe?« Ein Roboter stieg aus dem Turbinenwagen und eilte zum Radarwürfel. Er entfernte das Hemd, ließ es auf den Boden fallen, drehte sich um und ging zurück zum Wagen.
Selbst dann war es Emmett noch, als könne er den Roboter mit dem Stein niederschlagen. Aber noch immer stand er tatenlos am gleichen Fleck. Als der Roboter den Wagen bestieg und davonfuhr, ließ Emmett den Stein fallen. Er wandte sich wütend dem Arzt zu. »Ich hätte nicht auf Sie hören sollen. Ich hätte den Roboter unschädlich machen und den Turbo nehmen sollen. Sie wollen auf meiner Seite stehen. Zumindest haben Sie das behauptet. Warum haben Sie gerade jetzt alles verdorben?« Smeltzer stand auf und rieb sich die Schulter. »Sie irren, wenn Sie den Roboter außer Gefecht setzen wollen. Ich bezweifle, daß Sie es fertiggebracht hätten. Aber selbst wenn dies der Fall gewesen wäre, würden Sie nur wieder im Haus landen. Das Robotergehirn hätte den Wagen automatisch zurückgesteuert.« »Ich wäre herausgesprungen. Ich wäre frei gewesen.« »Für kurze Zeit. Gniessin hätte auf Veranlassung des Computers ein Flugzeug hinter ihnen hergeschickt. Es wäre unbemannt neben Ihnen gelandet, immer näher gekommen und hätten Ihnen den Fluchtweg abgeschnitten. Dann hätte Gniessin über eine der Sprechanlagen im Flugzeug mit Ihnen gesprochen, Ihnen befohlen, einzusteigen oder die Folgen zu tragen. Das
Flugzeug ist bewaffnet, müssen Sie wissen. Und Sie wären vermutlich eingestiegen.« »Was läßt Sie annehmen, daß all dies passiert wäre?« »Weil es mir vor neun Jahren so ergangen ist.« Emmett blickte fort. Es klang ehrlich. »Haben sie auch Ihr Hemd um den Radarwürfel gewunden?« »Nein. Ich zertrümmerte ihn mit einem Stein.« Er nahm Emmetts Arm. »Kommen Sie mit.« Nach einer kurzen Strecke sagte der Arzt: »Dieser Radarschirm war zu nahe. Hier können wir alles besprechen.« Er führte Emmett zu einem abgelegenen Gebiet, das von Büschen und Bäumen umgeben wurde. In der Mitte stand eine Bank. »Setzen Sie sich. Hier brauchen sie keine Angst vor Radarschirmen zu haben.« Emmett seufzte und spürte, wie sich die Verzweiflung auf seinen Magen schlug. Der Versuch hatte ihm eine Menge abverlangt. »Ich muß mir einen anderen Fluchtweg ausdenken. Es muß einfach eine Möglichkeit geben.« »Jahrelang versuchte ich eine Möglichkeit zu finden. Es gibt keine. Ich hab's aufgegeben.« »Warum? Sicher kennen Sie die Villa jetzt in- und auswendig. Sie sollten einen Ausweg finden können.« Der Arzt schüttelte den Kopf. »Hier steht menschli-
che Fehlbarkeit gegen die Maschine. Unvollkommene menschliche Natur gegen ein perfektes Robotergehirn. Es hat tausend Augen, tausend Sensoren. Es operiert ebenso leistungsfähig, ob Gniessin anwesend ist oder nicht. Würde es sich nur um Gniessin handeln, wäre es einfacher. Aber man kämpft gegen eine Maschine.« »Wo ist dieses Gehirn?« »Unter dem Haus. In Beton eingemauert. Es wird von einem Reaktor angetrieben, der auch alles übrige im Haus mit Energie versorgt.« Der Arzt lächelte müde. »Einmal dachte ich, ich könnte ihn ausschalten, aber niemand außer Gniessin kommt an ihn heran. Ich weiß nicht, ob er ihn überhaupt abstellen kann.« »Wer hat den Computer eingebaut?« »Nicht Gniessin, wenn Sie das denken. Es gehört zur Standardausrüstung für Bezirksleiter. Muß einige hundert in diesem Land geben.« Dr. Smeltzer setzte sich neben ihn, zog ein Knie an und umschloß es mit den Fingern. »Selbst Gniessin kennt nicht alle seine Fähigkeiten. Manchmal denke ich, daß er sich ein wenig vor dem Computer fürchtet.« Er lachte. »In gewisser Weise hat er allen Grund dazu.« »Warum?« »Der Computer ist klüger als er. Er übernimmt das Denken für ihn und die Roboter. Sie erhalten von ihm
ihre Fähigkeiten und verdanken ihm ihr ganzes Wissen. Das Gehirn ist bombensicher und völlig automatisch; ausgerüstet mit Radar, wirksamen Geschossen und tausend anderen Vorrichtungen für Angriff sowie Verteidigung.« »Und ich mußte hier hereintappen«, bedauerte Emmett verdrießlich. »Als geriete man in ein Spinnennetz und versuchte, sich freizuzappeln.« »Sie haben nur einen Tag gezappelt. Denken Sie an mich. Ich hab's jahrelang vergeblich getan.« »Aber Sie kämpfen nicht mehr, oder?« »Stimmt.« Der Arzt lehnte sich an die harte Steinbank und starrte in den wolkenlosen Himmel. »Vielleicht war ich ein Dummkopf. Vielleicht auch nicht. Aber wenn ich alles noch einmal wiederholen müßte, wüßte ich nicht, wie ich es anders anpacken sollte.« Er wandte sich an Emmett und lächelte. »Doch Sie wissen nicht, wovon ich spreche, nicht wahr?« Dr. Smeltzer erhob sich und ging in der Einfriedung auf und ab. »Um es zu verstehen, müssen Sie ein wenig über mich erfahren. Ich wurde in einer stürmischen Zeit geboren: 1963. Mein Vater war Militärarzt, und ich eiferte ihm nach. Im Jahre 1989 kam ich als frischgebackener Doktor gleichfalls ins Ärztekorps: sechsundzwanzig Jahre alt, voller Ideen und mit der Absicht, sie alle wahr zu machen.« »Und dann fielen die Bomben«, sagte Emmett.
Smeltzer nickte. »Und dann fielen die Bomben. Keine Armee mehr. Also kehrte ich zurück nach Peoria, wo mein Vater früher eine Praxis besaß, und machte mich ans Werk. Es waren miserable Zeiten. Wenig Arzneien, fast keine Instrumente. Ich hätte Stabsmitglied in einem Krankenhaus unter kommunistischer Leitung werden können, aber mit diesen Schlachthäusern wollte ich nichts zu tun haben. Bei den Roten ist nichts entbehrlicher als das Leben.« »Ja«, bestätigte Emmett. »Ich weiß.« »Dreizehn Jahre lang schuftete ich wie ein Pferd und sorgte für die Menschen, die in meine Praxis strömten. Manchmal kam ich überhaupt nicht zum Schlafen. Der Jammer dabei ist, daß ich nicht mehr tun konnte; ohne Zugehörigkeit zu einem Krankenhaus der Besatzungsmächte – was soviel bedeutet wie jedes Krankenhaus – hatte ich Schwierigkeiten, Medikamente zu bekommen. Aber während der ganzen dreizehn Jahre wurde ich niemals in meinem Entschluß schwankend, nicht alle zu behandeln, die mich aufsuchten. Natürlich konnte ich die Hälfte der Frauen nicht behandeln, und vermutlich wissen Sie, warum.« Emmett schüttelte den Kopf. »Weil sie ungesetzlich schwanger waren. Jede wollte von mir, daß ich eine Abtreibung vornehme. Doch ich hielt mich noch immer an das alte Berufsethos. ›Tut mir leid‹, pflegte ich zu sagen. ›Das kann ich
nicht verantworten. Kein Arzt sollte dies tun.‹ Und dann klagten sie darüber, was mit ihnen geschehen würde, mit diesen Frauen, die entweder keinen Ehemann oder keine Geburtenerlaubnis besaßen. Letztere überwogen. Niemand konnte sich Antibabypillen leisten, wie Sie wissen.« »Warum sollten sie auch nicht jammern?« fragte Emmett. »Viele aus Spring Creek wurden aus diesem Grund in Wüstenlager geschickt.« »Das ist mir klar. Die Besatzungsmächte sind in Bezug auf die Geburtenquote strikter als in allem anderen. Aber ein Arzt kann Leben nicht vernichten, am wenigsten das eines ungeborenen Kindes.« »Die Kommunisten scheren sich keinen Dreck darum, wessen Leben es ist, falls man aus der Reihe tanzt, Doktor. Wenn Sie ein Leben vernichten, würden sie ein anderes retten, zumindest in diesem Fall.« »Nein, es gab einen anderen Weg, obwohl ich ihn nicht erwähnen wollte.« »Welchen denn?« Der Arzt wandte sich um und sah Emmett lange an. »Ich schickte sie in ein mir bekanntes Erholungsheim. Belassen wir's dabei. Dort konnten sie ohne Risiko ihre Kinder austragen. Aber der Feind kam schließlich hinter die Schliche.« »Und dann mußten Sie Abtreibungen vornehmen?« »Erst als LaVonne auftauchte.« Er starrte in den
Himmel hinauf, seine Augen leuchteten in warmer Erinnerung. »Sie war ein wunderschönes Mädchen. Aber auch schwanger. Ich fragte sie, ob sie verheiratet sei. Sie bejahte, doch dann brach sie zusammen, und die Geschichte kam heraus. Ihr Mann war zu Zwangsarbeitslager verurteilt worden, fortgelaufen, und sie hatte wochenlang mit ihm im Wald gelebt, bevor er in Ermangelung seines Serums starb. Von dieser Zeit stammte die Schwangerschaft. Sie mußte eine schreckliche Zeit durchgemacht haben, und etwas an ihr rührte mich. Ihr lag nicht viel am Leben, aber sie dachte, nach einer Abtreibung könne sie es zu Ende führen und die Besatzung soviel wie möglich zerrütten ... und ich verliebte mich in sie – etwas, was ich für unmöglich hielt, denn ich hatte neununddreißig Jahre lang nur eins geliebt: Die Medizin. Jetzt gab es zwei Dinge.« »Was haben Sie getan?« Smeltzer seufzte. »Ich erwarb eine Heiratserlaubnis und wenige Tage später eine Geburtengenehmigung. Wir nannten den Jungen Tom; er ist noch immer auf der Oberschule in Peoria – Gott sei Dank.« »Und Ihre Frau?« fragte Emmett leise. »Sie lebt auch dort. Ich besuchte sie vor einem Jahr. Sie denkt, ich sei Arzt in einem Arbeitslager. Ich konnte ihr natürlich nie von Gniessin und der Villa erzählen.«
»Aber wie sind Sie überhaupt hier gelandet?« »LaVonne und ich sprachen oft über die vielen ungesetzlichen Schwangerschaften sowie die Tatsache, daß es nicht länger ein – ein Erholungsheim gab, in das man sie schicken konnte. Die Natur besitzt die Möglichkeit zur Fortpflanzung der Rasse – trotz allem, was wir unternehmen, um sie daran zu hindern; einschließlich jener Fünf-Dollar-Pillen und der hohen Kosten für eine Geburtengenehmigung. Wir schätzten, daß jedes fünfzigste Mädchen wegen sogenannter illegaler Empfängnis in ein Lager kommt. Also beschlossen wir, etwas dagegen zu tun. Und ich änderte meinen Sinn über die Abtreibung. Ich weiß nicht, wieviele ich durchführte, bevor man mich schnappte. Und bei jeder starb meiner Meinung nach ein Stückchen von mir. Aber vermutlich habe ich viele Menschenleben gerettet.« »Und schließlich wurden Sie verhaftet?« »Es dauerte nur zwei Monate. Wie die Roten es jemals herausgefunden haben, werde ich wohl nie erfahren. Aber der Fall kam vor Gniessin: entweder würde ich Gniessins Leibarzt, andernfalls hieße es Lager für mich und LaVonne sowie eine kommunistische Erziehung für Tom.« »Also beschlossen Sie, hierzubleiben.« »Ja.« Smeltzer stand auf und streckte sich. Dann stellte er einen Fuß auf die Bank und erklärte: »Wir
sind eigentlich gar nicht hier – Sie, ich oder Bradshaw. Ein feindlicher Arzt kommt einmal im Monat, um Gniessin sein Serum zu spritzen und ihn zu untersuchen; wenn der da ist, müssen wir alle außer Sichtweite bleiben, denn man erwartet von Gniessin, daß er nur mit Hilfe der Roboter auskommt.« »Aber wenn es feindliche Ärzte gibt, warum braucht er dann sie?« »Er hat Übergewicht, einen hohen Blutdruck und paßt nicht auf sich auf. Sie sehen doch, wie er ißt und trinkt. Hat sogar seinen eigenen Koch. Und die vielen Süßspeisen! Deshalb pumpe ich ihn am Tag vor der ärztlichen Visite mit Drogen voll, verabreiche ihm Einlauf, Massage sowie Dampfbad und bestehe darauf, daß er wenig ißt und trinkt – wenigstens bis der Arzt wieder fort ist. Gniessin hat noch bei keiner Untersuchung versagt. Gott steh uns bei, wenn er's je tut!« »Sie meinen, dann hätte er ausgespielt?« »Man würde ihn nach Hause zurückschicken. Und Sie wissen ja, was dann mit uns geschähe –« »Also hat Gniessin auch Sorgen.« »Und es scheint ihm nichts auszumachen. Er ist am glücklichsten, wenn er schlemmen und seine Partys abhalten kann.« »Partys?« Smeltzer nickte. »Jeden Samstagabend. Dann
glänzt Bradshaw. Sie werden sich daran gewöhnen. In Ihrem Alter finden Sie es vielleicht sogar interessant. Ich gehe nie hin, habe aber schon Abtreibungen als Ergebnis dieser Partys vorgenommen, falls Ihnen das eine Vorstellung darüber vermittelt, was da los ist.«
11 Der Samstag sollte anders verlaufen. Emmett merkte es sofort. Es begann schon beim Frühstück mit dem spürbaren Mangel an Sticheleien. Emmett konnte sein Mahl endlich einmal in Frieden verzehren, während Smeltzer schwieg, Gniessin gekünstelt, Bradshaw munter und Jascha ungewöhnlich aufmerksam war. »Wie lautet die letzte Zählung, Jascha?« fragte Gniessin plötzlich. »Einhundertzweiundzwanzig, Sir.« »Das sind etwa zehn mehr als das letzte Mal, nicht wahr?« »Acht, Sir.« Gniessin blinzelte Bradshaw bedeutsam zu. »Hast du's gehört, Bradshaw?« »Tut nichts zur Sache, Mr. Gniessin. Hab genug bestellt. Und ich hab alle Elektrogeräte in Betrieb gesetzt; das meiste wird darin schon zubereitet.« Gniessin nickte abwesend und bat: »Gehen wir die Speisenfolge noch einmal durch, Bradshaw. Bist du sicher, daß genügend Auswahl vorhanden ist?« »Ich hab mir gedacht, wir beginnen mit einer Tafel im Springbrunnenzimmer«, erklärte Bradshaw. »Wir füllen sie mit Kaviar auf gerösteten Brotschnitten,
Mandelkäsestückchen, Schinken- und Feigenbrötchen, Hummerhappen – ich hab ein paar Buttervariationen für den Boden der Appetitbrötchen.« »Avocadofrüchte?« »Sind nicht eingeplant.« »Du besorgst besser welche. Sie sind meiner Meinung nach sehr beliebt. Und sie runden die Sache ab. Aber denk daran, nicht zuviel zu nehmen. Jascha?« »Sir?« »Wie steht's mit den Barkeepern?« »Es wurden Vereinbarungen getroffen, daß drei aus Springfield kommen, Sir.« »Gut. Als nur Roboter-Barkeeper vorhanden waren, schien sich niemand daran zu stoßen; aber als wir einmal einen richtigen Barkeeper hatten, wurde er mit Bestellungen überschwemmt. Warum glauben die Menschen nur, Roboter könnten Drinks nicht genauso gut mixen wie menschliche Wesen? Du mixt mir die meinen immer, Jascha, und ich hatte nie einen Grund zur Beschwerde. Wie steht's mit dem Essen selbst, Bradshaw?« »Als Vorspeise eingedickte Tomatensuppe, viererlei Whisky –« »Da haben sie viel Auswahl.« »– dann gebratenen Truthahn, Wildbret aus Alaska, gegrillte Hähnchen, Hummer, gebackene Froschschenkel –«
»Vergiß nicht wieder das Rosmarin am Wildbret.« »Das passiert mir nie mehr, Mr. Gniessin. Nein, Sir. Nicht, nachdem ich's das letztemal vergessen habe.« »Schön«, meinte Gniessin und runzelte nachdenklich die Stirn, »das sollte genügen, glaubst du nicht auch? Mehrere Salate, nehme ich an.« »Sieben.« »Nachspeisen?« »Vier Torten, fünf Kuchen und Kompotte –« »Kirschschaum?« »Hatten wir letztesmal, Mr. Gniessin.« »Machen wir wieder. Mir schmeckt's.« Emmett wartete, bis er aus der Sauna kam; der Massagetisch war gerichtet, die Öle standen auf dem Tisch daneben, die Handtücher lagen griffbereit. Als die Tür aufging, und Gniessin durch den wogenden Dampf trat wie ein Dämon, der sich in einer Rauchwolke materialisiert, sagte Emmett: »Dr. Smeltzer fühlt sich nicht wohl, deshalb kommt er nicht herunter.« Gniessin schnaubte, während er sich ein großes Handtuch um die gewaltige Taille wand. »Man merkt, daß wieder Samstag ist. Smeltzer ist samstags immer indisponiert, weil er meine Partys nicht billigt, nur hat er nie zuvor einen Massagetermin versäumt. Überprüf das, Jascha, ja?«
Jascha, der schweigend neben der Tür zum Saunaraum gestanden hatte, trat nach vorn und berichtete: »Er befindet sich in seinem Zimmer, Sir. Im Augenblick liegt er auf dem Bett. Seine Stirn bedeckt Schweiß.« Emmett reichte dem feisten Mann einen Drink. Er fragte sich, warum Gniessin überhaupt Dampfbäder nahm, wenn er gleich darauf die ganze verlorene Flüssigkeit wieder ersetzte. »Schweiß, eh?« Gniessin gab Emmett das leere Glas. »Jascha, schick Igor zum Safe und laß dem Doktor die übliche Dosis bringen, ja? Ich hab's vergessen, und der Doktor ist zu stolz, darum zu bitten. Natürlich würde er es in ein bis zwei Stunden tun.« Er wandte sich an Emmett. »Glaubst du, du schaffst es ohne ihn, Keyes?« »Möglich.« Gniessin krabbelte mit einiger Mühe auf den Massagetisch; er streckte sich darauf aus wie ein riesiges Insekt, das zum Aufspießen bereit ist, und seufzte. »Du brauchst nicht zuviel zu tun, Keyes.« Emmett ölte ihn ein und begann die Schultermuskeln des Mannes zu kneten, wie Dr. Smeltzer es ihm beigebracht hatte. Sie waren weich und nachgiebig. Wie konnte es ein Mann nur so weit kommen lassen? Es widerstrebte ihm, das schlaffe Fleisch zu massieren.
»Mit dem Handrücken«, befahl Gniessin. »Klopfen. Das ist das beste.« Emmett wechselte zur Klopfmassage über, behämmerte die lockeren Muskeln mit den Handkanten: am Rücken hinauf und hinunter, die Gesäßbakken, die Beine. »Härter, härter, Keyes!« Emmett gehorchte. Gniessin grunzte und zuckte zusammen, sein Atem kam kurz und rasselnd. Aber er gebot keinen Einhalt. Emmett schlug sogar noch kräftiger zu. Er staunte, wieviel der feiste Mann aushalten konnte. Als Emmetts eigene Muskeln ermüdeten, wechselte er zur Frottierbewegung über und rubbelte die Muskeln energisch. Aber Gniessin wollte davon nichts wissen. Er rollte sich auf den Rücken, setzte sich auf und winkte ab. »Genug. Ich gehe jetzt duschen. Gibt noch eine Menge zu tun.« Er glitt vom Tisch in Pantinen, die Jascha für ihn bereitgestellt hatte. »Jascha hat mir auch mal eine Massage zu verabreichen versucht, Keyes. Man mußte es ihm nur einmal zeigen, aber er konnte die Kraft seiner Schläge nicht kontrollieren. Brach mir fast die Beine. Hatte wochenlang blaue und schwarze Flecken.« Er lachte. »Und Jascha begleitet mich überall hin, aber du hast sicher schon bemerkt, daß er nicht mit mir in die Sauna geht. Er hat's einmal versucht, schaffte es aber
fast nicht mehr bis zur Tür. Als man Jascha baute, glich man ihn nicht solchen Extremen in Temperatur und Feuchtigkeit an. In dieser einen Beziehung ist mein Körper besser als der seine. Aber komme deswegen nicht auf dumme Gedanken, Keyes«, warnte Gniessin und bedachte ihn mit einem Seitenblick, »denn Jascha postiert sich an der Tür. Und es gibt nur eine.« »Dr. Smeltzer hat jetzt die Phiole, Sir«, verkündete Jascha. »Gut«, brummte Gniessin. »Hoffentlich fühlt er sich bald besser.« Er blieb auf dem Weg zur Dusche stehen und drehte sich zu Emmett um. »Nicht, daß du keine gute Arbeit leistest, Keyes. Nur habe ich an Samstagen wichtigere Dinge zu tun. In Wirklichkeit bist du besser als Smeltzer.« »Danke«, erwiderte Emmett steif. Es hatte keinen Sinn, den Mann zu verärgern. Er sollte glauben, Emmett Keyes hätte jeden Gedanken an Flucht aufgegeben, beginne sich an die Villa zu gewöhnen. Dann eines Tages, wenn Gniessin aufwachte, würde ihm der Roboter mitteilen, daß sich Emmett Keyes nicht länger in der Villa aufhielt. Der Doktor mag es aufgegeben haben, hier rauszukommen, dachte Emmett, aber ich werde das nie tun. Es gibt einen Weg in die Freiheit; man muß ihn nur finden. Nichts konnte so perfekt sein, daß es nicht irgendwo einen schwachen Punkt gab.
Als Emmett nach der Massage um eine Ecke des Korridors bog, traf er auf Bradshaw und Smeltzer, die sich angeregt unterhielten. Als er sich ihnen näherte, schwiegen beide und schauten ihm entgegen. Emmett hatte Smeltzer blaß und zitternd zurückgelassen, als leide er unter Schüttelfrost. Und nun stand er wie das blühende Leben vor ihm! »Dieses Mittel, das Gniessin Ihnen schicken ließ, hat anscheinend gewirkt«, sagte Emmett. »Ich fühle mich jetzt viel besser, danke«, erwiderte der Arzt. Bradshaw warf ihm einen boshaften Seitenblick zu. »Natürlich geht's ihm jetzt besser. Er fürchtete, Gniessin würd's wieder vergessen, nicht wahr, Doc?« Smeltzers Gesicht verfinsterte sich merklich. »Sie halten sich da raus, Bradshaw, sonst –« »Oder was?« lachte Bradshaw. »Jetzt ein ziemlich stattlicher Bursch, nicht wahr? Aber vor einer halben Stunde –« »Halten Sie den Mund, Bradshaw«, schnauzte Smeltzer. »Hast du je 'nen Rauschgiftsüchtigen gesehen, Keyes? Wirf einen Blick auf den Doc. Er ist verdammt wenig wert ohne den Stoff.« Smeltzers Hände schnellten hoch und griffen nach dem Hals des Kochs. Bradshaw wich aus, aber nicht schnell genug. Als die Hände ihr Ziel fanden, traten
die hervorquellenden Augen noch weiter heraus, während sich der Griff des Arztes verstärkte; die Daumen übten gewaltigen Druck auf Bradshaws Adamsapfel aus. Bradshaw wand sich; seine Klauenhände suchten nach Smeltzers Kopf und Gesicht und einer lebenswichtigen Stelle. Das Paar stürzte zu Boden und rollte darüber. Dann fanden Bradshaws Finger die Augen des Arztes. Smeltzer knurrte, ließ den Hals los, packte Bradshaws Handgelenke und versuchte die Hände von seinen Augen fortzuziehen. »Schluß jetzt, Bradshaw«, sagte Emmett, »lassen Sie los.« »Sie – halten Ihre – verdammte Nase – da raus«, zischte Bradshaw. Der Doktor zuckte zusammen und schrie auf. Jetzt war es ein ungleicher Kampf. Emmetts Faust traf Bradshaw an der Wange. Er stürzte seitlich auf den Boden. Der Arzt krabbelte fort, seine Hände bedeckten noch immer die Augen. Der Koch sah Emmett bestürzt und ausdruckslos an. Dann sprang er mit einem Wutschrei vom Boden auf ihn zu und drosch mit den Armen um sich. Emmett trat ein Stückchen zurück und zielte auf die Nase. Der Mann beehrte mit seinem Hinterteil wieder den Boden. Bradshaw stand nicht auf. Er erdolchte Emmett mit
Blicken und nahm seinen Ärmel zu Hilfe, um das Blut aus seiner Nase zu stillen. »Du Hurensohn«, schrie er. »Wart nur. Warte. Ich zahl's dir zurück.« Er erhob sich vom Boden, preßte noch immer den Ärmel gegen die Nase und lief den Gang entlang davon. »Danke«, sagte Smeltzer und stand gleichfalls auf. »Ich hätte nicht die Beherrschung verlieren sollen. Bin ihm nicht gewachsen; bin niemandem gewachsen. Sie haben gehört, was er sagte.« »Ja. Ich hab's gehört.« »Nun, jetzt wissen Sie's.« Er seufzte, fuhr mit den Händen über sein graues Haar und wich Emmetts Blick aus. Er blickte hinauf zum Radarauge an der Decke. »Hoffentlich hat es Gniessin gefallen. Er versucht Bradshaw und mich immer so lange aufzuhetzen, bis wir aufeinander losgehen. Feuert ihn an, behauptet Gniessin.« »Er steht unter der Dusche, glaube ich. Habe ihn dort zurückgelassen.« »Ich wollte gerade hinunter, um zu sehen, wie Sie vorankommen. Ich konnte nicht – ohne Stoff. Manchmal glaube ich verrückt zu werden, wenn Gniessin mich hinhält.« »Wie lange sind Sie schon süchtig?« Smeltzer lächelte reuevoll. »Ich war vorher Ihnen
gegenüber nicht ganz fair. Wie, glauben Sie wohl, hätte ich diese Operationen durchzuführen vermocht, alle diese Abtreibungen? Ich mußte etwas haben, um mit mir selbst leben zu können. Deshalb versuche ich nicht mehr zu fliehen. Draußen bekäme ich kein Rauschgift. Und deshalb kann ich Ihnen auch nicht helfen. Verstehen Sie mich jetzt?« »Ja«, antwortete Emmett und fühlte sich hilflos gegenüber der Sucht dieses Mannes. »Es tut mir leid.« »Haben Sie kein Mitleid mit mir. Ich bin selbst an allem schuld.« Um sechs Uhr an diesem Samstag standen über zehn schnittige, neue Turbos auf dem Parkplatz nebeneinander, und das Dach war voller Flugzeuge. Emmett stand am Fenster im zweiten Stock und beobachtete, wie die Turbowagen zum Haus heraufrollten und ihre Fahrgäste ausluden. Überrascht stellte er fest, daß alle Männer mit schwarzem Anzug, schwarzen Lackschuhen, schwarzer Fliege und weißem Hemd bekleidet waren. Dann sah er die Frauen. Was für Frauen! Emmett vergaß die Männer, sobald er die erste erspähte. Jede war schöner als die vorhergehende, alle jung und angetan mit farbenprächtigen, tief dekolletierten Kleidern; sie trugen goldene hochhackige Schuhe, und jede hatte eine Blume über der linken Brust angesteckt.
»Hübsch, nicht wahr?« Die Stimme schreckte ihn auf. Er blickte sich um und fand Dr. Smeltzer neben sich stehen. »Sie sind schön. Wer ist das?« »Das ist eine offizielle Angelegenheit«, erwiderte Smeltzer. »Die Männer sind gekommen, um dem König zu huldigen.« »Gniessin?« »Genau. Die meisten sind Bezirksleiter; treue Arbeiter zum Wohle der Partei, und ihre – Gäste.« »Die Frauen?« »Ein paar davon sind verheiratet. Aber sie und ihre Männer wissen genug, um sich früh zu verabschieden. Die übrigen sind – einfach Mädchen. Haben Sie zuvor noch nie Mädchen gesehen?« »Sicher.« Emmett wurde rot. »Aber solche nie!« Smeltzer betrachtete ihn neugierig. »Vermutlich kommt Ihnen das komisch vor. Wie ich mich erinnere, gibt es nicht mehr viele Tanzveranstaltungen oder Partys im Hinterland.« Er deutete auf die Menschen dort unten. »Diese Mädchen sind Glückspilze – wenigstens halten sie sich dafür. Sie haben es geschafft, zu einem von Gniessins Festen eingeladen zu werden. Sie bekommen viele Sondervergünstigungen dafür. Persönliche Vorteile und Privilegien für ihre Familien. Nach oben sind keine Grenzen gesetzt. Eine Variation des ältesten Gewerbes –«
Sie beobachteten einen anderen Wagen vorfahren, und Smeltzer fragte: »Sehen Sie die Männer? Sehen Sie, wie sie lächeln? Gleich sind sie im Haus, schütteln sich die Hände und klopfen sich gegenseitig auf die Schulter. Jeder wird Gewicht darauf legen, Gniessin überschwenglich zu begrüßen und ihm zu versichern, wie gut er aussehe. Und zum Abschied werden sie ihm sagen, wie gut es ihnen gefallen habe. Aber wenn sie könnten, Keyes, wäre jeder von ihnen froh über eine Gelegenheit, Gniessin ein Messer in den Rücken zu jagen.« »Sie meinen, sie hassen ihn?« »Er ist ein Feind, oder? Ein Mitglied der Besatzungsmacht. In erster Linie hassen sie ihn dafür, obwohl sie das Gegenteil vortäuschen mögen. Außerdem ist er der Chef, und sie hassen ihn dafür. Und schließlich hassen sie sich auch gegenseitig. Aber Sie müssen sie in Aktion sehen, um das zu glauben.« »Wenn sie ihn hassen, warum kommen sie dann?« »Es gehört zum alten Spiel um die Macht, zur verrückten Jagd nach Ansehen. Manchmal werden hier an Samstagabenden neue Positionen geschaffen und alte getilgt. Gniessin ist der König, verstehen Sie, Keyes? Und der König kann keinen Irrtum begehen, selbst wenn die ganze Angelegenheit unmoralisch ist. Ich weiß nicht, ob solche Partys wie diese überall abgehalten werden, aber ich kenne Gniessin – das ist seine Vor-
stellung vom Amüsement. Die meisten Menschen hier verachten ihn und seine Gesellschaften. Aber trotzdem kommen sie. Warum? Weil sie Angst haben, es nicht zu tun.« Emmett blickte dorthin, wo in der Ferne der Rasen aufhörte. Ein weiterer Wagen kam die gewundene Auffahrt herauf. »Können alle diese Leute gehen, wann sie wollen?« »Vermutlich.« »Wie passieren sie die Absperrung?« »Nun, wenn sie hereinkommen, steht ein Roboter am Eingang, der ihnen ein Armband aushändigt. Das Gehirn bleibt ihnen allen auf der Spur. Jascha sagt Gniessin, wer kommt und geht. Später, wenn Gniessin soviel getrunken hat, daß es ihm egal ist, übernehmen Jascha und das Gehirn die Kontrolle für ihn.« »Was würde geschehen«, fragte Emmett und wandte sich vom Fenster ab, »wenn Sie mir mein Armband herausschnitten, und ich es mit einem anderen vertauschte?« »Lassen Sie mich statt dessen fragen, was mit mir geschehen würde, wenn ich das täte?« »Natürlich. Verstehe, was Sie meinen. Aber wenn ich's selbst machen würde?« »Sie müßten sich wie ein Gast kleiden, um hinauszukommen – falls Sie den Roboter an der Tür und den am Ende der Straße passieren könnten; und falls
das Gehirn Sie nicht in dem Augenblick beobachten würde, in dem Sie den Wechsel vornehmen; und wenn es nicht gerade jetzt zuhört, was es wahrscheinlich tut.« Emmett drehte sich wieder um und beobachtete die Insassen des neuesten Turbos, der gerade eintraf. Dann blickte er zu einem Flugzeug empor, das in einem weiten Bogen auf das Dach zusteuerte. Vielleicht brachte der Austausch der Identitätsbänder ungewöhnliche Schwierigkeiten mit sich, aber die Sache war es wert, darüber nachzudenken.
12 Im Springbrunnenzimmer summte es wie in einem Bienenstock; Gelächter perlte durch den Raum. Überall standen schöne Frauen, nickten, plauderten, lächelten und zeigten weiße Zähne, lange gebräunte Arme, Rücken und vollkommene Schultern. Die Männer waren nicht gutaussehend, aber glattrasiert und tadellos gekleidet in ihren schwarzen Anzügen. Einige der Gäste bedienten sich mit Drinks, die Roboter auf großen Tabletts anboten; andere zogen es vor, sich die ihren an der Bar zu bestellen. Emmett hatte noch nie solche Eleganz gesehen, solch eine wunderbare Entfaltung weiblicher Lieblichkeit und gesellschaftlicher Anmut. Noch hatte er je derlei exotische Parfums geatmet. Er wanderte wie in Trance zwischen der Versammlung umher, saugte sich voll mit Sehenswürdigkeiten, Geräuschen und Düften. Einmal ging er an einer stattlichen Blondine vorbei, die auf einem langen Sofa neben einer schwarzen Statue saß; sie sah freundlich und einladend zu ihm auf. Er wurde rot und eilte davon. Dann entdeckte er Gniessin; mit glänzenden Augen und geröteten Wangen stand er inmitten einer großen Gruppe aus Männern und Frauen am Rande des
Springbrunnens; hin und wieder redete, gestikulierte und lachte er. Und jedesmal, wenn er lachte, lachten die ihn Umringenden mit; einige sogar herzhafter als er selbst. Einmal sah Emmett auch Bradshaw. Der untersetzte Koch beugte sich mit einem Drink in der Hand über ein hübsches Mädchen auf einem Ruhesofa und unterhielt sich lebhaft. Dem Mädchen schien es nichts auszumachen, daß Bradshaws Hand manchmal über ihr Haar strich. Ein Robotkellner näherte sich Emmett; er nahm den dargebotenen Drink. Das Zeug schmeckte süß und brannte ein wenig, aber als es unten war, schien es seinen Kopf zu klären und machte die Menschen weniger erhaben, viel natürlicher und freundlicher. Er sah sich um und erblickte wieder die Blondine. Sie war noch immer allein und fing seinen Blick ein. Dann schlug sie zierlich die Beine übereinander: ihr langes, rosafarbenes Abendkleid reichte in Falten fast bis zum Boden, nur der goldene Slipper lugte darunter hervor. Sie wippte kokett mit dem Fuß und lächelte. Diesmal wurde Emmett nicht rot, als er sich ihr näherte. »Sind Sie allein?« fragte er. Ihr Haar, entschied er, war nicht richtig blond, sondern goldfarben und schimmerte im Licht. Ihr herzförmiges Gesicht hatte eine kleine Nase und ungeduldige Lippen.
»Eigentlich nicht«, antwortete sie mit kehliger Stimme. »Aber für den Augenblick. Wollen Sie sich nicht setzen?« Sie klopfte auf die Couch. Er nahm Platz und fragte: »Warum haben Sie mich angelächelt?« »Weil Sie der attraktivste Mann hier sind.« Gegen seinen Willen spürte Emmett neue Röte ins Gesicht steigen. »Was ist mit dem Mann, den Sie begleiten? Sieht er nicht gut aus?« »Mr. Henderson?« Sie lachte. »Nein. Außer Sie denken, Brille und Kahlkopf sind das, was einen Mann interessant macht.« »Wo ist Mr. Henderson?« »Er holt mir einen Drink. Wahrscheinlich wurde er aufgehalten. Oder er genehmigt sich einen Extraschluck. Er kann ziemlich viel vertragen.« »Wer ist er?« »Mr. Henderson?« Sie hob die Augenbrauen. »Oh, er ist der Bezirksleiter von Logan. Aber wer sind Sie? Ich habe Sie noch nie zuvor gesehen.« »Kommen Sie oft zu diesen Partys?« »Ich habe die letzten zwölf nicht versäumt. Aber sprechen wir von Ihnen.« Sie legte eine kühle Hand über die seine und lächelte. »Ich wohne hier in der Villa.« »In der Villa?« Es klang, als könne sie es nicht glauben.
»Was ist daran komisch?« »Oh, nichts. Nur –« Für einen Augenblick war ihre Wärme verschwunden, doch kam sie stärker denn je zurück. »Ehrlich«, beteuerte sie und tätschelte seine Hand, »daran ist nichts komisch. Nur überraschend. Ich hörte, daß dieser kleine Mann mit den Froschaugen als einziger neben Mr. Gniessin hier wohnt. Er ist der Koch, wie man mir sagte. Was machen Sie?« »Ich habe noch keinen speziellen Job.« Er konnte ihr doch nicht sagen, daß er als Gniessins Masseur fungierte. »Wie heißen Sie?« »Shirley Lynn.« »Hübscher Name für ein hübsches Mädchen.« »Sie können aber galant sein!« »Woher kommen Sie, Shirley?« In diesem Moment blieb ein kleiner Mann mit Glatze und Brille vor ihnen stehen. Er starrte Emmett an, während er Shirley ein Glas reichte. »Mr. Henderson«, stellte Shirley vor. »Das ist Mr. Keyes. Er hat mir Gesellschaft geleistet, während Sie fort waren.« Emmett erhob sich und streckte ihm die Hand entgegen. Sie wurde nachlässig geschüttelt. Der Mann brummte etwas und wandte sich dem Mädchen zu. Emmett wanderte weiter. Schließlich gab es hier viele Mädchen. Ein Gongschlag hallte durch den Raum. Ihm folgte
eine momentane Gesprächspause. Dann begannen alle im Springbrunnenzimmer gleichzeitig und angeregter als zuvor wieder zu sprechen; man leerte rasch die Gläser, aß die Appetithappen auf und steuerte auf eine Doppeltür zu, die sich geöffnet hatte. Serviert wurde im Bankettsaal. Zuerst war es ein lärmendes Abendessen – bis man den ersten Gang hinter sich hatte. Es gab viele Späße, einzelne spitze Schreie und daraus resultierendes schallendes Gelächter. Dann beruhigte man sich, während sich die Menschen ernsthaft mit Essen zu beschäftigen begannen. Emmett bestellte Truthahnbraten und sämtliche Zutaten. Es fiel ihm nicht schwer, darin das wunderbarste Mahl zu sehen, das er je gegessen hatte. Als er sich umsah, bemerkte er gegenüber ein junges Mädchen gierig ihr gebratenes Hähnchen verschlingen, als hätte sie Angst, sie würde nie mehr etwas zu essen bekommen. Er fragte sich, wie es ihr wohl zwischen den Samstagen ergehen mochte. Und noch während er sich diese Frage stellte, hielt er inne, um andere zu beobachten. Dieses Festessen war fast für alle Mädchen etwas Besonderes. Man konnte das an der Art erkennen, wie sie davon in Anspruch genommen wurden. Die Männer speisten etwas langsamer und schienen weniger zu genießen. Er vermutete, daß Nahrungsmittel für sie an den übrigen sechs
Wochentagen kein Problem darstellten. Emmett hielt nach der Blondine Ausschau, konnte sie jedoch nirgends entdecken. Eine Stunde später wurden im Bankettsaal die Bars eröffnet. Musik ertönte aus sämtlichen Lautsprechern im Haus, und man tanzte. Das Licht war jetzt gedämpft, und einige Paare zogen sich in dunkle Nischen zurück, um ein Gespräch privater Natur zu pflegen. Emmett bummelte durch die Gänge und den Bankettsaal, musterte die Gesichter. Einmal sah er die Blondine, als er sich an einer Bar einen weiteren Drink holte. Sie stand mit ihrem Begleiter dort und brachte es zustande, ihn anzulächeln. Er bekam keine Gelegenheit, mit ihr zu sprechen. Emmett schaute eine Weile beim Tanzen zu und wünschte, er hätte es auch gekonnt. Er sah Gniessin auf dem Parkett, ein schmächtiges Mädchen im Arm. Und er erblickte auch Bradshaw; dieser vollführte eine komplizierte Schrittfolge, die dem Mädchen, das er herumschwenkte, nicht sehr zu behagen schien. Viel später hörte die Musik auf, und die Paare im Bankettsaal und auf den Gängen wurden immer weniger. Emmett hatte genug an Drinks, Essen, Musik, Unterhaltung sowie dem Anblick von Frauen und Männern. Er ging auf sein Zimmer und empfand Erleichterung, als die Tür hinter ihm ins Schloß glitt. Er war
nicht schläfrig und trat ans Fenster, konnte jedoch draußen nichts sehen. So lebte also die andere Hälfte. Die Epoche der Fülle für diese Menschen: für Kollaborateure, Bezirksleiter und Parteimitglieder mit ihren Freundinnen. Und für die übrigen Menschen im Land war es eine Epoche der Qual, des Elends und der Schwerstarbeit. Emmett zog sich aus, um zu Bett zu gehen; seine Gedanken weilten noch immer bei dem Viel für einige, dem Wenig für die übrigen und seiner eigenen Unfähigkeit, etwas dagegen zu unternehmen. Die Tür glitt auf, und Shirley trat ein. Sie lehnte sich mit leuchtenden Augen gegen die geschlossene Tür. »Bist du allein?« »Ja, ich bin allein. Halten Sie nichts vom Anklopfen?« Emmett streckte die Hand nach seinem Bademantel aus. Sie sah ihn plötzlich, wie er war, und lachte leise. »Tja!« meinte sie und stemmte die Hände in die Hüften. »Das hab ich nicht erwartet!« »Was haben Sie denn erwartet? Henderson?« »Ihn?« Sie lachte, kam ins Zimmer, warf ihre mit Perlen bestickte Handtasche auf seine Kommode und ordnete ihr Haar im Spiegel. »Er ist weggetreten. Ich hab ihn auf seinem Zimmer gelassen. Bist du nicht froh, mich zu sehen?« Sie musterte ihn im Spiegel.
»Sollte ich das? Was wollen Sie?« Sie drehte sich um. »Sollte ich etwas wollen?« »Warum sind Sie dann gekommen?« Sie lächelte und ging zu ihm hinüber. »Genügt es nicht, einfach unser Gespräch zu beenden? Wie du weißt, wurden wir unterbrochen.« »Wirklich?« »Du hast mich gefragt, woher ich käme. Erinnerst du dich nicht?« »Vage. Woher kommen Sie?« »Atlanta. Eine kleine Stadt im Bezirk Logan. Gleich neben der sechsundsechzigsten Straße.« Sie setzte sich dicht neben ihn aufs Bett. »Magst du mich nicht?« »Sicher mag ich Sie.« »Du benimmst dich aber nicht danach.« »Was wird von mir erwartet. Daß ich Purzelbäume schlage?« Sie runzelte die Stirn. »Du bist komisch. Ich versuche mich von Henderson loszueisen, damit ich hierherkommen kann. Es war schrecklich schwer, dein Zimmer zu finden, bis ich daran dachte, einen Roboter zu fragen.« Sie strich mit dem Zeigefinger über seinen Arm hinauf bis zur Schulter und folgte ihm mit den Blikken, bis der Finger sein Kinn erreichte. Dann blickte sie Emmett an. Ihre blauen Augen waren weit geöff-
net, ihre Lippen nicht ganz geschlossen. Emmett sah die zarte Schulterrundung, die glatte Haut über den Brüsten – Sie näherte sich ihm. Emmett küßte sie. Ihre Lippen waren kalt. »Schau«, erklärte er und schob sie fort, »angenommen, dieser Henderson wacht auf und sucht dich. Darfst du dann hier sein?« Sie musterte ihn aus verdutzten Augen. »Warum nicht? Ich bin lieber hier als bei ihm, verstehst du das nicht? Wenn er aufwacht, und ich bin nicht da, dann ist das seine Schuld, weil er eingeschlafen ist.« Er stand auf, trat ans Fenster. »Ich kapier's noch immer nicht. Wie bist du nur in die ganze Sache hineingeraten?« »Ist das dein Ernst?« Emmett sah ihr Spiegelbild im Fenster. Sie saß noch immer auf dem Bett und blickte ihn gespannt an. »Ja, das ist mein Ernst.« »Nun – es dauerte ein Jahr, ehe ich die Chance erhielt. Und dann war ich nicht sicher, ob ich es schaffen würde. Die Konkurrenz ist groß, weißt du.« Er wandte sich ihr zu. »Ist dies das Ziel aller jungen Mädchen in Gniessins Distrikt? Und wenn ja, warum?« »Natürlich ist es nicht das Ziel aller Mädchen. Einige von ihnen wissen, daß sie es nie schaffen würden. Aber größere Zuteilungen, nicht nur für dich, son-
dern für die ganze Familie und jeden, den du auswählst – vorausgesetzt, man übertreibt's nicht –, ist das nicht ein lohnendes Ziel? Weißt du nicht, was im Leben draußen vor sich geht?« »Doch, natürlich.« »Man verpfändet ja nicht sein ganzes Leben. Man muß nur zu fünfundzwanzig Partys kommen, dann ist man durch. Man braucht keine Steuern mehr zu bezahlen oder Genehmigungen zu kaufen, selbst wenn man heiratet und eine Familie gründet.« »Du glaubst, jemand würde dich danach noch heiraten?« »Was willst du damit sagen?« Sie stand auf. »Was meinst du nur mit ›danach‹?« Ihre Augen flammten. »Aber welcher Mann –?« Er starrte sie an. »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen, aber Sie würden sich glücklich schätzen, ein Ex-Partygirl zu heiraten, Mr. Emmett Keyes. Sie glauben, wir würden nicht geheiratet? Irrtum. Sie suchen sich nur die hübschesten Mädchen aus.« »Wer sucht sich nur die hübschesten Mädchen aus?« »Die Bezirksleiter. Sie putzen ihre Partys heraus: gleiche Anzahl an Männern und Mädchen. Manchmal heiratet ein Mädchen sogar einen. Das passiert.« »Und vermutlich betrachtest du das als Glück?« »Sicher.« »Wie lange geht das schon so?«
»Nun – solange ich mich erinnern kann.« Sie blickte sich im Zimmer um. »Du wohnst tatsächlich hier und weißt das nicht?« »Ich wohne hier«, bestätigte er langsam, »aber ich fange gerade an, ein paar Dinge zu lernen. Was geschieht, wenn du schwanger wirst?« »Dafür haben sie hier einen Arzt.« »Hast du –« »Nein, falls dich das was angeht.« Sie starrte ihn an, ihre Nasenflügel bebten. »Ich weiß nicht, was ich je an dir fand. Ich dachte, du seist nett, als ich dich unten im Springbrunnenzimmer sah. Ich konnte nicht verstehen, warum du allein bleiben solltest. Aber jetzt verstehe ich. Kein Mädchen würde dich haben wollen.« Sie wandte ihm den Rücken zu und stürmte auf die Tür los. Vor der Tür blieb sie stehen und drehte sich zu ihm um. »Du hältst mich nicht auf?« »Warum sollte ich?« Sie kam ins Zimmer zurück. »Ich habe meine Handtasche vergessen.« Sie nahm sie, blickte sie an, dann Emmett. Ihre Augen wurden weich. »Schau«, sagte sie, »ich will nicht zu Henderson zurück.« »Er ist ein ziemlicher Schweinekerl. Da muß ich dir recht geben.« Sie schmollte. »Willst du mich nicht bitten, zu bleiben?«
Sie war bezaubernd, eine Frau, wie er zuvor noch keine kennengelernt hatte. Wie aus einem Bilderbuch. Als er sie so betrachtete, die dringende Bitte in ihren Augen erkannte und sie einfach körperlich zu begehren begann, sagte er: »Du kannst bleiben, wenn du willst.« Die Handtasche fiel wieder auf die Spiegelkommode.
13 Die Tür glitt bei seiner Berührung zur Seite. Emmett betrat Dr. Smeltzers Zimmer. Er war überrascht, den Arzt angezogen auf dem Bett liegen zu finden. Als sich Emmett ihm näherte, stützte sich der Mann auf einen Ellbogen. »Keyes«, flehte er heiser, »bringen Sie um Gottes willen Gniessin dazu, mir meine Dosis zu geben. Ich habe ihn über den Radarschirm darum gebeten, aber er lachte nur. Er sagte zu mir, ich müsse an der nächsten Party teilnehmen, sonst würde er mir nichts mehr geben.« Der Mann befeuchtete sich die Lippen; seine Augen waren rund und starr, sein Gesicht blaß und schweißnaß. »Bitte, Keyes! Ich tu alles für Sie, wenn Sie nur Gniessin überreden –!« »Warum versprechen Sie ihm nicht, zur nächsten Party zu kommen?« schlug Emmett vor und trat zum Bett. »Hab ich ja! Hab ich!« jammerte der Arzt. »Ich sagte ihm, ich würde gehen. Ich wollte ihm sogar schwören, daß ich gehe.« »Und er weigert sich noch immer?« »Er lacht nur, Keyes. Lacht mich aus.« Der Mann war den Tränen nahe. »Sagen Sie's ihm. So sagen Sie's ihm doch!« Die letzten Worte schrie er. »Gniessin teil-
te mir mit, er wolle ganz sicher gehen. Sagen Sie ihm bitte, es sei mir ernst damit, wollen Sie, Keyes?« »Kommt heute nicht der Arzt?« »Ja, ja, heute. Werden Sie's tun?« »Nun, dann wird Gniessin seine Spritzen brauchen, nicht wahr?« »Er hat sie letzte Nacht bekommen. Bitte, Keyes –« »Ich war gerade auf dem Weg zur Massage.« »Bitte, beeilen Sie sich!« »Um welche Zeit kommt der Arzt?« »Heute abend. Stehen Sie nicht herum, verdammt! Oh!« Der Doktor streckte eine zitternde Hand aus. »So hab ich es nicht gemeint. Ehrlich, Keyes.« »Nun, wenn wir alle von der Bildfläche verschwinden sollen, wird Gniessin Sie nicht in diesem Zustand lassen.« »Nein. Das weiß ich. Aber ich kann es keine Minute länger aushalten. Ich muß es haben – verdammt, können Sie das nicht verstehen? Wirklich nicht?« Der Arzt bedeckte das Gesicht mit den Händen, fiel zur Seite, vergrub den Kopf in den Decken und weinte. »Ich werde tun, was ich kann«, versprach Emmett und verließ das Zimmer. Plötzlich erfüllte ihn Ekel vor dem Arzt. Emmett schob die Tür zum Massage- und Dampfbadzimmer auf und sah Jascha neben der kleinen Tür zur Sauna stehen.
»Wie lange ist Gniessin schon drin, Jascha?« fragte er und richtete den Massagetisch her. »Zwanzig Minuten, Sir.« »Dann wird er bald rauskommen.« Jascha erwiderte nichts, sondern beobachtete, wie Emmett das Massageöl zurechtstellte und eine Decke über den Tisch breitete. Als er fertig war, ging Emmett zur Tür, um durch das Glasfenster zu spähen. Jascha versperrte ihm den Weg. »Glaubst du, ich wollte mich an ihn ranmachen, Jascha?« »Ja, Sir.« »Nun, da irrst du dich. Könnte bei dem Dampf ohnehin nichts sehen.« Emmett kehrte zurück zum Tisch, um zu warten. Er setzte sich darauf, baumelte mit den Beinen und betrachtete Jascha. »Um wieviel Uhr kommt der Arzt, Jascha?« »Das weiß ich nicht, Sir.« »Trifft er immer nachts ein?« »Ja, Sir.« »Wie heißt er?« »Das kann ich Ihnen nicht sagen, Mr. Keyes.« »Wie lange bleibt er?« »Es gibt keine festgesetzte Zeit.« Emmett sah an Jaschas Kopf vorbei und versuchte eine Bewegung im Dampfbad zu entdecken. Gniessin
hätte jetzt fertig sein müssen. Jaschas Kopf ruckte leicht. Emmett hatte es auch gehört. Gniessin tat oder sagte etwas in der Sauna. »Hilfe!« Das Wort war klar und deutlich. Sie vernahmen es jetzt beide. Jaschas Augen blickten finster. »Mach die Tür auf«, forderte Emmett. »Etwas stimmt nicht mit Gniessin!« »Hilfe!« Das kam schwächer. »Mach die Tür auf!« Emmett sprang vom Tisch und eilte auf die Tür zu. Jascha stieß ihn mit dem Arm zurück. Emmett stolperte wieder zurück gegen den Tisch. »Sie bleiben hier«, befahl Jascha. Dann drehte er sich mit einem Ruck um, schwang die Tür auf. Der Roboter taumelte zurück, als ihm der Dampf entgegenschlug. »Ich bin krank!« Die Stimme klang schwach. »Helft – mir!« »Er braucht Hilfe, Jascha«, schrie Emmett. »Du kannst nicht hineingehen. Laß mich rein! Wir müssen ihn herausholen!« »Sie bleiben!« gebot Jascha. »Jascha!« Es war fast ein Schrei. Jascha trat in die Sauna.
Emmett folgte ihm auf den Fersen. Zusammen gingen sie zum entgegengesetzten Ende. Gniessin lag ausgestreckt auf der obersten Stufe; sein Blick war glasig, sein Kopf schwankte. Er versuchte die Augen auf sie zu richten. Nebel umwallte seinen Kopf. »Du bist es, Keyes – Jascha – ich brauche – ich –« Seine Augen öffneten sich plötzlich weit vor Überraschung, die Hände glitten von der Stufe, und der Kopf schlug dumpf auf, die Augen waren noch immer offen; Gniessin sog die Luft ein, und plötzlich übertönte ein schrecklich gurgelnder Laut das Zischen des Dampfes. Jascha stand neben Gniessin, seine kräftigen Arme umschlagen ihn. Er hob Gniessin herunter, machte einen Schritt und blieb stehen. Der Roboter schwankte. Gniessin glitt ihm aus den Armen und sackte auf dem Boden zusammen. Plötzlich trat der Roboter schnell seitwärts, prallte mit einem widerhallenden Schlag gegen die Wand und stürzte zu Boden. Emmett stand wie versteinert da und blickte zuerst auf Gniessin, dann auf den regungslosen Roboter. Endlich nahm er langsam das Zischen des Dampfes wahr sowie den Schweiß, der ihm in die Augen und den Hals lief; Emmett konnte die Salzigkeit schmek-
ken, als er die Lippen befeuchtete. Hemd und Hosen klebten ihm am Körper. Und plötzlich wußte er, daß Gniessin tot war. Da durchzuckte ihn der Gedanke, der ihm die Freiheit schenken sollte. Seine Gedanken überstürzten sich. Was tun? Smeltzer holen? Bradshaw? Den Roboter zu beleben versuchen? Vielleicht Gniessin. Möglich, daß er nicht ganz tot war. Nein, nein! Belebe niemanden wieder! Wart jetzt nur eine Minute. Beruhige und faß dich, verdammt! Tu nichts Übereiltes! Emmett stand still und versuchte sein hämmerndes Herz unter Kontrolle zu bringen. Er wischte sich den Schweiß aus den Augen. Gniessin und Jascha. Beide tot! Nein, er würde niemanden wiederbeleben, überlegte er ruhig. Er würde nicht einmal jemandem Bescheid geben. Es gab nur eine Sache zu tun. Sofern sie durchführbar war. Emmett drehte sich um und ging langsam zur Tür. Sie war offen. Er trat hindurch. Im Massageraum war es kalt. Er blickte zum Radarschirm hinauf. Beobachtest du mich? fragte er sich. Nun, dann wollen wir mal. Ich weiß, dir ist bekannt, daß Jascha etwas zugestoßen ist. Aber vielleicht weißt du nichts von Gnies-
sins Tod. Vielleicht unternimmst du nichts, weil du auf Befehle von Gniessin wartest. Jetzt laß dich nicht beirren, Köpfchen, und mich weitermachen. Emmett ging zum Massagetisch, nahm die Massageölflasche und die Decke. Er faltete die Decke sorgfältig zusammen. Dann kehrte er zurück in die Sauna. Drinnen tat er etwas, was er zuvor vergessen hatte. Er blickte zur Decke. Emmett stellte erleichtert fest, daß es dort kein Radarauge gab. Es bestand also eine Chance. Er blickte zur Tür. Der Dampf war so dick, daß er sie kaum erkennen konnte. Emmett bückte sich und rollte Gniessin auf den Rücken. Dann ging er zur niedrigsten Stufe und zerbrach die Ölflasche. Er kehrte zurück zu Gniessin und begann mit einem Glasscherben das linke Handgelenk des Mannes aufzuschneiden. Darunter befand sich ein Codeband, und Emmett Keyes wollte es haben. Er schnitt schnell, fast brutal. Es blutete nur wenig. Emmett trennte das Armband los und war überrascht, daß es dem seinen sehr ähnelte. Mit zitternden Fingern öffnete er den Verschluß und zog es herunter. Emmett legte es beiseite, biß die Zähne zusammen und begann mit dem scharfen Rand einer anderen Flaschenscherbe um sein eigenes linkes Handgelenk zu schneiden. Blut spritzte heraus. Emmett stöhnte
vor Schmerz und fühlte sich einer Ohnmacht nahe, machte jedoch entschlossen weiter. Jetzt hatte er es geschafft. Das Band war lose. Aber wie den Verschluß aufbekommen? Er suchte mit fummelnden Fingern nach der Antwort, arbeitete fieberhaft und krampfhaft. Oh Gott, hilf, daß meine Finger dieses Ding aufkriegen. – Da! Er packte Gniessins Armband und schloß es um sein eigenes Handgelenk. An der Stelle, wo er gearbeitet hatte, breitete sich auf dem Boden eine Blutlache aus. Sein Armband befestigte er an Gniessins Gelenk, nahm die Decke und riß einen langen Streifen davon ab. Emmett legte die Aderpresse an den Ellenbogen seiner linken Hand und bandagierte als nächstes fest das Gelenk. Emmett stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, verließ taumelnd die Sauna, lehnte sich gegen den Massagetisch und schnappte nach Luft. Er war schwach und schwindlig. Er mußte noch etwas tun. Emmett blickte sich um, entdeckte in einer Ecke eine Waage. Er hatte Gniessin oft auf der Waage gesehen und ging hinüber, um sie zu betrachten. Sie war sperrig. Emmett schleppte die Waage in die Sauna. Als er sie auf Jaschas Kopf fallen ließ, gab es ein dumpfes Knirschen. Jetzt durchzogen Jaschas Schädel Sprünge.
Emmett verließ die Sauna und schloß hinter sich die Tür. Nun kam der große Test. Er ballte die Fäuste und lehnte sich gegen den Massagetisch. »Sag Igor, daß ich ihn brauche«, befahl er mit lauter Stimme. Keine Antwort. Er wartete und zählte, bis sechzig Sekunden vergangen waren. Dann sagte er gereizt: »Du solltest doch Igor zu mir schicken. Er sollte schon hier sein.« »Ist unterwegs, Mr. Gniessin«, ertönte es aus der Sprechanlage. Mr. Gniessin! Sein Herz vollführte einen Sprung. Das Gehirn war betrogen! Das Codeband hatte es geschafft. Aber Vorsicht! Smeltzer behauptete, das Gehirn sei klüger als Gniessin. Konnte dies eine Falle sein? Genügte das Identitätsband? Gleich darauf trat Igor durch die Tür. »Igor«, befahl Emmett, »geh zum Safe, hol für Dr. Smeltzer die übliche Dosis und bring sie ihm. Er ist in seinem Zimmer.« »Jawohl, Sir.« Der Roboter schlurfte hinaus. Emmett triumphierte. Jetzt bin ich Gniessin. Ich bin der Schloßherr! Der feindliche Arzt! Er wurde heute abend erwartet. Das hätte er fast
vergessen. Er mußte möglichst schnell aus der Villa verschwinden. Dr. Smeltzer fühlte sich bereits besser, als Emmett bei ihm eintraf. »Igor ist gerade gegangen«, erklärte der Arzt und bemühte sich um ein Lächeln, während er sich auf den Bettrand setzte, die leere Spritze neben sich. »Danke, daß Sie Gniessin überredet haben. Ich mußte sie haben.« Er schüttelte den Kopf, wischte sich die Stirn mit dem Deckenzipfel. »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie das ist, Keyes –« »Schweigen Sie«, bat Emmett und warf einen Blick auf das Radarauge. Was mußte das Gehirn denken, wenn man ihn als Keyes ansprach? »Was ist mit Ihrem Handgelenk passiert?« »Ich sagte, Sie sollten schweigen«, fuhr Emmett scharf dazwischen. Er entdeckte ein Blatt Papier auf der Spiegelkommode. »Haben Sie einen Stift?« »In der Kommode dort, glaube ich.« Der Arzt machte keine Anstalten, sich zu erheben. Er saß nur auf dem Bett und blickte Emmett verdutzt an. »Was geht hier vor?« Emmett saß an Smeltzers Kommode. »Gniessin ist tot«, schrieb er. »Er starb in der Sauna. Ich habe die Armbänder mit ihm getauscht. Das Gehirn hält mich für Gniessin. Nennen Sie mich so.« Er reichte dem verwirrten Smeltzer das Blatt Papier
und stand zwischen ihm und dem Radarauge, als er es las. Smeltzer wurde – wie Emmett sah – beim Lesen ganz aufgeregt; er las noch einmal und blickte dann mit irren Augen auf Keyes; der Mund arbeitete, die Zunge fuhr über die Lippen. »Ich ... ich ...« begann er zu sprechen. Dann blinzelte er etliche Male in dem offensichtlichen Bestreben, die Beherrschung wiederzugewinnen. »Es tut mir leid, das zu hören, Mr. Gniessin.« Seine Augen standen voller Fragen. Er spähte ängstlich zum Radarauge. Dann fuhr er fort: »Wenn Sie etwas Wichtiges zu sagen haben, Mr. Gniessin, können Sie das Gehirn anweisen, die Abhöranlage auszuschalten.« »Natürlich.« Würde es funktionieren? Oder war dies nur eine Vermutung? Emmett wandte sich an das Radarauge. »Schalte die Radarschirme und Mikrofone in diesem Zimmer ab, bis ich dir von einem anderen Punkt neue Anweisungen gebe. Unterbrich nur in einem Notfall. Verstanden?« »Jawohl, Mr. Gniessin.« Ein vernehmbares Klicken ertönte. »Kannst du mich hören?« fragte Emmett. Keine Antwort. »Also ist es wahr!« rief Smeltzer mit glänzenden Augen. Er erhob sich vom Bett. »Sie tragen Gniessins Armband! Wie haben sie ihn getötet? Wie sind Sie an Jascha vorbeigekommen?«
»Ich habe ihn nicht getötet. Er ging in die Sauna und kam lange nicht heraus. Dann hörten wir – Jascha und ich – ihn um Hilfe schreien. Wir liefen beide hinein. Jascha wollte ihn heraustragen und brach mit Gniessin zusammen.« »Sein Herz.« Smeltzer nickte. »Ja, es war sein Herz. Ich sagte ihm, daß er sich jedesmal um eine Chance bringt, wenn er in die Sauna geht. Kein Mann in seiner Verfassung hätte das tun sollen. Aber Gniessin gehörte nicht zu den Menschen, die einen Ratschlag befolgen.« Seine Augen wanderten wieder zu dem bandagierten Handgelenk. »Lassen Sie mich das behandeln.« »Das hat Zeit. Der Arzt wird heute abend erwartet. Wir müssen vorher hier raus.« Smeltzers Gesicht drückte Überraschung aus. »Hier heraus? Ich kann nicht fort!« »Ich befehle Igor, Ihnen allen Stoff zu bringen, der in Gniessins Safe liegt. Das sollte genügen, bis Sie sich etwas haben einfallen lassen.« Der Doktor nickte lebhaft. »Vielleicht gibt es tatsächlich eine Möglichkeit; ich könnte LaVonne wiedersehen! Und Tom! Wir werden zusammen fortziehen.« Er jubelte. »Ich kann es nicht glauben, Keyes. Es muß ein Traum sein.« »Es ist kein Traum, so wie dieses Handgelenk zu schmerzen anfängt.«
»Wir müssen etwas dagegen unternehmen. Was haben Sie zum Schneiden benützt?« »Ich habe eine Flasche zerbrochen.« »Das gibt leicht eine Infektion. Wir gehen besser in meine Praxis.« »Warten Sie.« Emmett runzelte die Stirn. »Bevor wir dieses Zimmer verlassen, sollten wir uns einen Plan zurechtlegen. Das ist notwendig. Zuerst gehen wir in Ihre Praxis, und Sie können sich dort um mein Handgelenk kümmern. Dann steigen wir aufs Dach und besorgen uns ein Flugzeug.« »Sie können mich in Peoria absetzen.« »Wir nehmen lieber zwei Flugzeuge.« »Zwei?« »Eins für Sie.« »Aber ich kann doch von hier nicht in einem Flugzeug fort. Das Gehirn würde es nicht zulassen.« »Sie können, wenn Mr. Gniessin es anordnet.« »Stimmt, oder?« Smeltzer lächelte. »Das vergesse ich immer. Es ist wunderbar ... wunderbar –« Und dann bewölkte sich sein Gesicht. »Was ist los?« »Oh, ich dachte gerade an LaVonne. Ich werde ihr viel zu erklären haben. Und sie glaubt, ich sei nicht mehr süchtig.« Sein Gesicht leuchtete auf. »Aber ich werde ihr die Wahrheit gestehen. Vielleicht kann sie mir helfen. Vielleicht kann sie mich vom Rauschgift
abbringen. Gott weiß, wie gern ich davon frei sein möchte.« »Die ganze Angelegenheit wird nicht einfach werden.« »Das ist mir klar. Ich weiß nicht, wohin wir gehen oder was wir tun werden. Oder was wir statt Geld nehmen. Glauben Sie, daß Gniessin vielleicht irgendwo Geld versteckt hat? Das wäre schon der halbe Sieg, wissen Sie. Mit Geld kann man alles erreichen.« Emmett nickte. »An Geld habe ich nicht gedacht. Ich dachte an Waffen. Aber Geld wird uns sehr gelegen kommen.« »Und wir müssen gehen, bevor der Arzt eintrifft. Das sehe ich jetzt ein. Wenn er erst mal hier ist und alles entdeckt – Angenommen, wir sind in den Flugzeugen, wenn er eintrifft, und das Gehirn teilt ihm mit, wo wir uns befinden? Er wird dem Gehirn befehlen, die Flugzeuge zurückzuholen. Und dann sind wir wieder hier. Nur nicht mehr als Gäste.« »Ich glaube, ich weiß eine Möglichkeit, dies zu unterbinden«, antwortete Emmett. »Jetzt bin ich bereit, in Ihre Praxis zu gehen, falls Sie's auch sind.«
14 »Das ist eine scheußliche Wunde«, stellte Dr. Smeltzer fest, während er das Material für die Naht bereitlegte. »Sie haben ziemlichen Pfusch angerichtet.« »Ich hatte es eilig«, erwiderte Emmett. »Das glaube ich gern.« »Ich dachte, daß Igor vielleicht zur Tür hereinkommt, bevor ich mit dem Austausch fertig bin.« In Gniessins Namen hatte Emmett die Sensoren in der Praxis des Arztes ausschalten lassen. »Glauben Sie, ich werde das Armband los, sobald ich draußen bin? Ich müßte es dann abtrennen. Mein Handgelenk wird danach wahrscheinlich wie Hackfleisch aussehen.« Smeltzer zuckte die Achseln. »Wer weiß? Vielleicht sollten Sie es einfach behalten. Man bemerkt es nicht beim Hinsehen. Vielleicht brauchen Sie es noch.« Emmett erinnerte sich daran, wie sein Handgelenk im Geräteschuppen untersucht worden war. »Und es mag auch genau das Gegenteil bewirken.« Emmett zuckte zusammen, als der Arzt die gekrümmte Nadel einführte. »Tut's noch immer weh? Dann nehme ich noch mehr Betäubungsmittel.« Er ließ ein paar Tropfen aufs Fleisch fallen. »Wohin gehen Sie, wenn Sie hier herauskommen?«
»Oh, ich weiß nicht. Vermutlich nach Norden.« Cornwall lag in dieser Richtung. Die Zigeuner würden jetzt fort sein, aber er würde in Erfahrung bringen, wohin sie sich gewandt hatten; denn wo sie waren, würde er auch Ivy finden – vielleicht. Emmett musterte den Arzt eingehend und sah dessen Konzentration; er widmete sich der Aufgabe, die ausgezackten Schnitte zu nähen, die er seinem Fleisch beigebracht hatte. Keine Spur von Smeltzers Schwäche vor einer Stunde. Jetzt war er ruhig und ganz natürlich. Wenn man je einem Mann trauen konnte – Aber wenn die Roten ihn schnappten und ihm das Rauschgift entzogen, würde er ihnen alles verraten, was er über Emmett Keyes wußte. Nein, er durfte dem Arzt nichts über die Zigeuner oder Ivy sagen. »Noch immer auf der Suche nach AntiKommunisten, wie? Nun, es ist ein lohnendes Ziel. Aber auch hoffnungslos, glauben Sie nicht?« »Wie steht's mit den Zigeunern«, fragte Emmett beiläufig. »Zigeuner? Nun –« der Arzt blickte ihn für einen Moment an – »das Heim, das wir für ledige werdende Mütter oder illegal schwangere Frauen hatten. Erinnern Sie sich daran?« »Sie erzählten, wie sie es fertigbrachten, diese dorthin zu schicken, bis der Feind es schloß.« »Richtig. Aber das entspricht nicht ganz der Wahr-
heit. In Wirklichkeit kamen etliche Männer als angebliche Patienten zu mir. Sie waren kerngesund, deshalb blieb ich auf der Hut. Dann begannen sie mich über meine politischen Ansichten auszuquetschen, was nichts Ungewöhnliches ist, wenn man all die Untersuchungsbeamten in Betracht zieht, die es gibt. Aber es war etwas an diesen Männern, das sie von den gewöhnlichen Spitzeln unterschied. Fragen Sie mich nicht, was; einfach die Art, wie sie die Dinge sagten, wie sie die Fragen stellten. Schließlich, als sie sich davon überzeugt zu haben schienen, daß ich kein Sympathisant der Roten war, erkundigte sich einer von ihnen, ob ich nicht alle ungesetzmäßig schwangeren Frauen zu ihm schicken wolle. Er behauptete, er besäße eine Möglichkeit, daß die Babys geboren werden konnten, ohne Angst vor Einmischung der Besatzung beziehungsweise Vergeltungsmaßnahmen.« Der Arzt beendete seine Naht und verstaute die Instrumente. »Haben Sie jemand zu ihm geschickt?« wollte Emmett wissen. »Nicht direkt. Ich teilte den Mädchen einfach mit, daß ein solcher Ort existiere, und gab ihnen die Adresse. Es war eine Art letzte Zuflucht, und ich ließ sie selbst entscheiden. Sie hatten die Wahl zwischen der sicheren Bestrafung durch die Besatzung oder
dieser ungewissen anderen Sache. Von allen Frauen, denen ich dies sagte, kam keine zurück. Aber in zwei Fällen erfuhr ich, daß die Mädchen ihr Zuhause verließen – einfach verschwanden. Ich weiß nicht, was mit ihnen geschah, weiß jedoch, daß der Feind sie nicht erwischt hat. Man veröffentlicht es jedesmal, wenn eine Frau in diesem Zustand geschnappt wird, wissen Sie – einschließlich der Bestrafung.« »Ja, das ist mir bekannt. Vermuten Sie, daß die übrigen auch zu dieser Adresse gegangen sind, die sie ihnen gegeben haben?« »Wahrscheinlich, denn eines Tages kam eins der Mädchen zurück und erklärte, bei dieser Adresse sei niemand mehr. Sie sagte, es habe ein Kampf stattgefunden zwischen der Besatzungspolizei und den Leuten, die dort wohnten. Über zwanzig Personen seien verhaftet worden. Am nächsten Tag verhaftete man dieses Mädchen selbst, weil man sie in der Nähe des Ortes gesehen hatte. Das machte mich neugierig, und ich stellte selbst heimlich Nachforschungen an. Sie endeten in einer Sackgasse. Niemand kannte die Gruppe, die das Haus bewohnt hatte; niemand wußte, wohin die Mädchen gebracht wurden, obwohl der Schacher mit den ungesetzlich Schwangeren etliche Zeit vonstatten gegangen war, soweit ich schließen konnte. Aber der Grund, warum ich Ihnen dies mitteile, ist, daß manche Leute behaupteten, sie hielten
diese Leute für Zigeuner. Fragen Sie mich nicht, warum. Diejenigen, mit denen ich mich unterhielt – meist Patienten von mir –, erwähnten nur ihre dunkle Hautfarbe.« »Und Sie sahen die Männer nie wieder, erhielten keine neue Adresse?« Smeltzer schüttelte den Kopf. »Nein. Sie müssen zu der Gruppe gehört haben, die verhaftet wurde. Damals fing ich mit den Abtreibungen an. Den Rest der Geschichte kennen Sie.« Es klopfte. Beide Männer wirbelten bestürzt herum. Der Arzt ließ eine Packung Operationsnadeln fallen; sie verstreuten sich über den ganzen Boden. »Wer kann das sein?« flüsterte der Doktor und blickte Emmett aus ängstlichen Augen an. »Der andere Arzt kommt immer erst nach dem Abendessen.« »Hätte sich das Gehirn nicht eingeschaltet, um uns mitzuteilen, daß er hier ist?« »Es muß Bradshaw sein.« Das Klopfen wiederholte sich. Jetzt lauter. Emmett wünschte, der Radarschirm würde arbeiten, damit er fragen könnte, wer vor der Tür stünde. Man konnte nicht länger zögern, ohne Verdacht zu wecken. »Herein?« rief Emmett laut. Die Tür glitt auf, und Bradshaw trat schnell ein.
Er stutzte, als er sie sah. Sein Blick schoß durchs Zimmer. Schließlich starrte Bradshaw auf das genähte Handgelenk. Seine Augen wurden groß. Dann verengten sie sich. Der Mann sah Emmett an, und dieser wußte, daß der Koch die Wahrheit kannte. Seine Augen beinhalteten Fragen und einen so starken Haß, den Emmett bei einem Menschen nicht für möglich gehalten hätte. »Was, zum Teufel, geht hier vor, Keyes? Warum sieht dein Handgelenk so aus?« »Er bekam eine Infektion«, antwortete Smeltzer. »Ich mußte das Identitätsband abnehmen, das infizierte Gebiet sterilisieren und wieder nähen.« »Ich habe Keyes gefragt«, entgegnete Bradshaw. »Der Doktor sagt die Wahrheit, Bradshaw.« »Wirklich?« Er lächelte dünn, ging zum Videofon. Sofort erschien darauf der Kopf eines Roboters. »Bitte?« »Hier spricht Bradshaw. Ich dachte, du hast gesagt, Mr. Gniessin sei in Dr. Smeltzers Praxis, Boris.« »Ist er auch, Sir.« »Veranlasse, daß das Gehirn das Zimmer inspiziert und mir mitteilt, wer sich jetzt darin aufhält.« »Das Zimmer wird nicht abgehört, Sir. Mr. Gniessin ordnete an, daß die Lauschgeräte vorläufig ausgeschaltet bleiben.«
»Verstehe. Kannst du mir über Videofon verraten, wer in diesem Zimmer ist?« »Jawohl, Sir. Sie selbst, Dr. Smeltzer und Mr. Gniessin.« »Danke.« »Keine Ur –« Bradshaw betätigte den Kippschalter, wandte sich um und sah Emmett ins Gesicht. Er lächelte triumphierend. »Mr. Gniessin ist etwas zugestoßen, und du trägst sein Codeband, Keyes.« »Wie kommen Sie auf diese absurde Idee?« fragte Emmett, gab das Lächeln zurück und stand auf. Bradshaw durfte das Zimmer nicht verlassen. Der Koch erkannte, was Emmett vorhatte. Er spähte zur Tür, als wolle er die Entfernung abschätzen. Dann schnellte er plötzlich vom Tisch fort; in seiner Hand blitzte etwas. Emmett hatte eine Bewegung zur Tür erwartet. Er verlor das Gleichgewicht. Etwas Hartes traf seinen Kopf. Er sah Sterne und ging zu Boden. Eine Rauferei folgte. Emmett nahm sie durch schmerzgetrübte Augen wahr. Zwei Männer schlugen aufeinander ein, sprangen über ihm umher. Er schüttelte den Kopf, um klar zu werden, rappelte sich auf. Ein Körper prallte mit ihm zusammen, und Emmett taumelte, hielt sich aber auf den Beinen. Brad-
shaws bösartiges Gesicht war einen Moment lang Zentimeter von dem seinen entfernt. Dann klammerte sich der Mann an sein Handgelenk! »Das darf er nicht!« Emmett riß sich los. Bradshaw stürzte. Emmett drehte sich auf dem Absatz. Der Koch lief vorbei. Jetzt hatten sie einen Meter Abstand voneinander, und Bradshaw drehte sich zu einem erneuten Angriff um. Emmett ballte die Faust, biß die Zähne zusammen und kam dem Mann zuvor. Er fintierte und entdeckte die freie Stelle, die Bradshaw ließ, als dieser einen Arm hochwarf, um den Schlag abzuwehren. Emmetts Faust landete kräftig in der Magengrube des Mannes. Der Koch keuchte, klappte zusammen. Emmetts zweiter und letzter Schlag bei diesem Kampf traf Bradshaw einen Augenblick später am Kinn. Sein Kopf fiel zur Seite, und er stürzte zu Boden. Emmett blickte auf den Liegenden, über dessen Lippen ein rotes Blutrinnsal lief. Dann sah er zu dem Arzt hinüber, dessen Kopf eine häßliche klaffende Wunde hatte. »Alles in Ordnung?« fragte Emmett und atmete schwer. »Ich bin noch in einem Stück, wenn Sie das meinen.
Aber Bradshaw hat mich fast k.o. geschlagen mit diesem Kolorimeter. Warum hab ich das verdammte Ding nur nicht weggeräumt?« Er trat neben den Koch, während er den Riß an seiner Stirn abtastete. »Was tun wir mit diesem Verrückten?« »Ich weiß schon, was ich gern mit ihm anstellen würde«, antwortete Emmett. »Aber ich glaube, ich bin richtig fies und unternehme jetzt nichts. Er wird nie mehr einen zweiten Gniessin finden, für den er kochen kann, und endlich dort landen, wohin er gehört. Dann merkt er, wie schlecht die Lage ist.« »Einen Mann wie Bradshaw werden Sie niemals überzeugen können. Der findet irgendwie einen anderen leichten Job.« »Möglich. Aber jetzt befehle ich Igor, ihn in seinem Zimmer einzusperren. Dann hat er Zeit, darüber nachzudenken, wie wunderbar die Besatzung ist. Und dann schlage ich vor, wir verschwinden von hier, bevor noch was passiert.« »Ich bin bereit«, antwortete der Arzt. »Seit zehn Jahren.«
15 Das Flugzeug sirrte leise und zügig durch den Spätnachmittagshimmel. In der Luft lag Bequemlichkeit und Sicherheit, besonders in einem Flugzeug der Besatzungsmacht, so wie dieses, das ruhig über das friedliche Land glitt. Kein Feind war in Sicht. Wer würde es schon wagen, ein Flugzeug aus der Villa des Bezirksleiters anzugreifen? Zum erstenmal seit vielen Tagen fühlte Emmett sich sicher. Nicht nur wegen des Flugzeugs, sondern weil er zwei Waffen in der Jacke hatte – einen Betäuber und einen Phaser, beide klein, aber sehr wirksam. Und in seiner Hosentasche steckte ein Bündel Geld aller Nennwerte; hundertmal mehr Geld, als Mrs. Tisdail ihm geschenkt hatte. Und neben ihm auf dem Sitz lag eine Schachtel voll Impfstoffampullen sowie eine Spritze. Dr. Smeltzer hatte sie ihm aufgedrängt. Emmett verriet ihm nicht, daß er sie nicht brauche. Je weniger Smeltzer wußte, desto besser. Zusammen hatten sie Gniessins Zimmer durchstöbert, obwohl durchstöbern kaum das richtige Wort für ihren kurzen Blick in Schubläden, Schränke und Akten war. Eile war lebenswichtig. Die Waffen hatten sie eine Weile aufgehalten. Sie betraten ein großes Zimmer und sahen Hunderte von
Waffen, versuchten handliche zu finden. Aber alle waren zu groß zum Tragen. Kurze Zeit sah es so aus, als müßten sie die Villa waffenlos verlassen, bis sie einen von Gniessins Schreibtischen durchsuchten. Hier fanden sie ein geheimes Waffenlager mit Pistolen und nahmen zwei Betäuber sowie zwei Phaser. Ausgerüstet mit Waffen und Geld stiegen die beiden aufs Dach und entschieden sich für die beiden kleineren Luftschiffe unter den vier Flugzeugen. Plötzlich entsann sich Dr. Smeltzer seiner Morphiumphiolen und mußte ihretwegen nochmals ins Haus. Als er zurückkehrte, erklärte er, er habe genug Stoff für ein Jahr. Emmett bestieg sein Flugzeug, stellte über die Bordinstrumente den Kontakt mit dem Gehirn her und gab Anweisung, Dr. Smeltzers Abflug zu genehmigen. Dann wartete er, bis sich das Flugzeug mit Dr. Smeltzer außer Sichtweite befand, ehe er sein eigenes Flugzeug in die Luft erhob. Der Start ging ohne Zwischenfall vonstatten, denn das Flugzeug war leicht zu bedienen. Außerhalb des Sichtbereichs der Villa nahm Emmett abermals Verbindung mit dem Gehirn auf. »Hier spricht Gniessin«, sagte er. »Ich habe soeben erfahren, daß der heute abend erwartete Arzt ein Schwindler ist. Sein Flugzeug muß vernichtet werden, wenn es in Schußnähe gelangt. Verstanden?«
»Jawohl, Mr. Gniessin.« Dann genoß Emmett seinen ersten Flug. Sobald der feindliche Arzt außer Gefecht gesetzt sein würde, hätten er und Smeltzer kostbare Zeit gewonnen. Nun tauchten vor ihm Gebäude auf; die Luft wurde dunstig, und dann lagen unter ihm plötzlich Straßen. Emmett schwenkte in eine lange Kurve ein und suchte nach einem geeigneten Landeplatz. Er senkte das Flugzeug sanft, während er das Gebiet umkreiste. Hinter einer Reihe von Häusern landete er. Als das Fahrwerk den Boden berührte, hörten drei Kinder in der Nähe eines Hauses zu spielen auf und liefen dem Flugzeug entgegen. Eine Frau erschien im Hauseingang. Sie schrie den Kindern etwas zu. Emmett konnte nicht verstehen, was sie sagte. Dann trat sie ins Innere und schloß die Tür. Emmett stieg aus der Maschine; die Kinder standen mit ernsten Augen und offenen Mündern dabei. »Ist das Cornwall?« fragte er das größte Kind, einen blassen Jungen von ungefähr zehn Jahren. »Ja, Sir.« »Gut.« Emmett schritt energisch über den Hof zum Haus, die Kinder folgten ihm schweigend. Er klopfte. Die Tür öffnete sich, und eine gewaltige Frau trat heraus, wie eine prähistorische Echse, die aus dem Unterholz hervorbricht. Die Haut schlug an Wangen-
knochen, Nasenrücken und Hals Falten. In ihren Augen stand der Schreck. Sie blickte ängstlich auf den Jungen, bevor sie Emmett ansah. »Ich bin der Bezirksleiter der Besatzungsmacht«, erklärte Emmett streng. »Ich suche einen Zigeunerstamm, der einige Tage in Cornwall lagerte.« »Er war hier«, antwortete die Frau. Da sah er, daß sie keine Zähne hatte. »Zog vor wenigen Tagen weiter.« In ihren Augen stand keine Liebe für ihn. Du bist eine gute Frau, dachte Emmett bei sich. Trotz magerer Kost und fehlender Zähne, denn ich sehe, was du von der Besatzung hältst. Deshalb bist du ja in dieser Verfassung. »Wissen Sie, wohin er gezogen ist?« »Nach Reardon, hörte ich.« »Reardon? Wo liegt das?« Die Frau bedachte ihn mit einem überraschten Blick. »Zweiunddreißig Kilometer in dieser Richtung.« Sie deutete nach Osten. »Danke.« Die Frau erholte sich von ihrem Staunen und merkte, daß er nur diese kleine Auskunft wollte; sie musterte Emmett feindselig. Er nahm an, daß Besatzungsbeamte an solche Blicke gewöhnt waren. Sie hatte nichts Unrechtes getan, die Fragen beantwortet, aber keinen freiwilligen Dienst erwiesen. Und das gefiel Emmett. Er steckte die Hand in die Tasche und
nahm von seiner Rolle einen Hundert-Dollar-Schein. Das würde eine Familie für sechs Monate ernähren. Er hielt ihr das Geld hin. »Hier, nehmen Sie.« Aus den Augen der Frau sprach Wut, ihr Atem ging schneller. Plötzlich spuckte sie aus. »Das halte ich von der Besatzung«, erklärte sie. »Darauf hab ich schon lange gewartet. Und jetzt los, verhaften Sie mich. Ist mir ganz egal.« Sie richtete sich auf, als wolle sie ihn dazu herausfordern. »Ich werde Sie nicht verhaften«, entgegnete er leise. »Es mag Sie überraschen, aber ich denke genauso. Nun nehmen Sie das Geld, und vergessen Sie, woher es gekommen ist.« Er ergriff ihre Hand, drückte den Schein hinein, schloß die Faust und ging zurück zum Flugzeug. Die Kinder begannen hinter seinem Rükken zu plappern. Er winkte ihnen zu, als sich das Flugzeug in die Luft erhob. Sie erwiderten den Gruß nicht. Über der Stadt steuerte Emmett Ostkurs und stellte die Kontrollgeräte ein. Nächster Halt Reardon. Er schnaubte. Vielleicht war diese Suche nach den Zigeunern ein fruchtloses Unterfangen. Möglicherweise sind sie weder immun, noch antikommunistisch eingestellt. Eventuell haben sie nichts mit dem zu tun, worüber Dr. Smeltzer gesprochen hat. Und das Schlimmste von allem: vielleicht kann ich Ivy über sie gar nicht erreichen. Ihm wurde plötzlich klar, daß ihn
letzteres mehr beunruhigte als er sich eingestehen wollte. Oder falls Ivy sich tatsächlich bei einer solchen Gruppe befand, dann hatte man sie jetzt womöglich verhaftet. Mit Sicherheit hatten sie und die übrigen die Gesetze übertreten, als sie mitten in der Nacht umherzogen; genauso wie er. Und vielleicht wurde bereits etwas dagegen unternommen, wie Gniessin angedeutet hatte, und die Gruppe vernichtet, des Serums beraubt oder in ein Arbeitslager geschickt. Emmett zwang sich, an andere Dinge zu denken. Er würde früh genug erfahren, wer und was die Zigeuner waren und ob sie ihm helfen konnten. Plötzlich schreckte ihn ein Rütteln des Flugzeugs auf. Ein Zittern durchlief das Luftschiff, und es sackte ab. Emmetts Blicke flogen zum Kraftstoffmesser. Voll. Was war los? Das Flugzeug hielt mitten in der Luft an. Es stand einen Moment lang völlig still. Dann flog es wieder weiter und schwenkte südwärts ab. Auf die Villa zu! Emmett fummelte an den Kontrollgeräten. Sie wollten seinen eiligen Steuerungsversuchen nicht gehorchen. Es war, als hätte eine eiserne Faust sie übernommen. Irgendwie war sein Plan schiefgelaufen. Der Arzt mußte Emmetts Anweisung umgangen haben. Und
jetzt holte das Gehirn – oder wer immer die Befehle erteilte – Emmett Keyes zurück. »Hier spricht Gniessin«, rief er ins Mikrofon. »Ich verlange eine Erklärung!« Keine Antwort. Er sah durch die gewölbte Scheibe hinaus und entdeckte, wie schnell die Landschaft jetzt vorbeiflog. Bei diesem Tempo würde er bald wieder auf dem Dach der Villa landen. Das durfte nicht geschehen. Emmett steckte die Hand in die Jackentasche und zog den Phaser heraus. Er zielte damit auf das Armaturenbrett und drückte ab. Auf diese Entfernung schmolzen Metall und Plastik der Instrumententafel schnell; Funken stoben durchs Cockpit, Rauch wogte darunter hervor. Plötzlich spürte er, wie das Flugzeug stürzte. Emmett blickte hinaus, sah die Erde auf sich zukommen, hörte das Kreischen des Windes. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis – Ein heftiger Ruck schleuderte ihn durch die Kabine des Flugzeugs, während Geräusche knirschenden, reißenden Metalls ihn taub machten. Dann war es still. Er konnte draußen unter sich den Boden erkennen. Er ging ans Cockpitende, um zu sehen, warum das Flugzeug nicht auf der Erde zerschellt war. Als er dies tat, verlor die Maschine das Gleichgewicht, kipp-
te seitlich und rüttelte ihn wieder durcheinander. Jetzt umgaben Zweige das Flugzeug, und eine eilige Untersuchung zeigte, daß es etwa sechs Meter über dem Boden hing. Emmett versuchte die Luke zu öffnen. Sie klemmte. Noch einmal setzte er den Phaser ein, zerschmolz die dicke obere Türhälfte aus Plastik, wartete, bis die Ränder abgekühlt waren, und kletterte dann vorsichtig ins Freie. Er glitt an der abfallenden Seite des Flugzeugs hinunter und schwang sich von Ast zu Ast, bis er in Sprunghöhe vom Boden entfernt war. Dann fiel ihm ein, daß er die Impfampullen vergessen hatte. Nun, er würde deswegen nicht noch mal hinaufklettern. Die Sonne war im Westen gerade untergegangen, dem Hauch Orangerot über den Baumwipfeln nach zu urteilen. Emmett machte sich auf den Weg nach Osten. Er hatte nicht mehr als sechzig Meter zurückgelegt, als ihm einfiel, daß er ja Gniessins Armband loswerden mußte. Solange er es trug, würde man ihn leicht orten, ganz egal, wo er sich befand. Obwohl der Gedanke, es aus seinem Handgelenk herauszureißen, schmerzte, war die Gefahr, einem Suchtrupp auf sich zu ziehen, noch unerfreulicher. Aber er besaß keine Scherbe, kein Messer, kein Betäubungsmittel. Emmett beschleunigte die Schritte und war dankbar, als er nach wenigen Minuten den Rand des Wal-
des erreichte. Er hastete im Zwielicht über die Felder. Schließlich erreichte er ein Haus. Jetzt keine Schüchternheit. Er rannte zum Stall, ging hindurch, kam an der Hofseite heraus, überquerte diesen Richtung Haus. Ein untersetzter Bauer mit dichtem Haar arbeitete an einer Landmaschine. Als dieser die bestürzten Augen auf den Mann richtete, der ihm entgegenlief, schloß sich Emmetts Zeigefinger um den Abzug des Betäubers. Der Mann brach zusammen wie eine Stoffpuppe. Ein langhaariger Hund trottete um die Hausecke und blieb kurz stehen, als er Emmett sah. Einen Augenblick später lag der Hund am Boden. Ins Haus. Die Augen der zaundürren, bläßlichen Frau spiegelten Furcht wider. Ihr Mund öffnete sich zu einem Schrei, der nie laut wurde. Sie fiel gegen den gedeckten Tisch, dann auf den Boden; das meiste Geschirr fiel mit ihr. Jetzt ertönte im Haus das Geräusch schneller Schritte. Ein junges, schmächtiges Mädchen kam durch die Küchentür; es sah Emmett niemals, hatte nur Augen für die Mutter auf dem Fußboden. Kurz darauf lag es neben ihr. Ein Mann mit flammend rotem, wirrem Haar, den Rasierschaum noch auf der einen Gesichtshälfte, stürmte ins Zimmer. Er sackte zu den übrigen auf den Boden.
Emmett stand still und lauschte. Jetzt war es ruhig. Er hörte nur irgendwo das schwache Rattern eines Motors, das Brüllen des Viehs. Emmett eilte ins Bad, entdeckte sofort das Arzneikästchen. Auf dem Waschbecken lag ein Rasierapparat. Er nahm die Klinge heraus und durchtrennte damit vorsichtig die Stiche an seinem Handgelenk. Blut tropfte ins Becken. Jetzt war das Armband lokker. Die Finger seiner Rechten rutschten an Schweiß und Blut ab beim Versuch, es zu öffnen, aber schließlich gelang es ihm. Sein Gelenk schmerzte, als hätte man es bis auf die Knochen zerschnitten, aber Emmett zwang sich dazu, Gniessins Armband sorgfältig auf den Waschbeckenrand zu legen; dann durchsuchte er das Arzneischränkchen nach einem Antiseptikum. Er wurde fündig, stäubte den Puder in den Schnitt und wickelte eine Plastikbinde um das Gelenk. Sie mußte genügen. Dann nahm er das Armband, reinigte es unter dem Hahn und steckte es in die Tasche. Er wußte, wo er es loswerden würde. Emmett verließ das Bad, fand das Schlafzimmer eines Mannes und konfiszierte Hose, Gürtel, Hemd, Socken und Schuhe. Er zog sich um, holte das Armband heraus und legte es in die Mitte des kleinen Bündels, das er aus seiner Villauniform machte; dann ging er hinaus. Auf dem Weg durch die Küche besorgte er sich eine alte Pfanne.
Draußen durchsuchte er die Taschen des Bauern und fand ein Schlüsselbund. Als nächstes forschte er am Boden, bis er einen Nagel ausfindig machte. Mit einem großen Stein schlug er ein winziges Loch in die Pfanne. Dann probierte er alle Schlüssel, bis er denjenigen für die Zündung des alten Turbos in der Einfahrt neben dem Haus fand. Die Räder ließen den Kies zur Seite spritzen, als er aus dem Hof preschte und in die nach Osten führende Straße einbog. Nach achthundert Metern gelangte Emmett zu einer Brücke. Er bremste den Turbo ab und stieg zum Flußufer hinunter. Die Frühlingsregenfälle hatten ihn anschwellen lassen. Das Wasser floß schnell dahin. Zufrieden grinsend legte er das Kleiderbündel sorgfältig in die Mitte der Pfanne, setzte diese aufs Wasser und trieb sie mit einem Stoß in den Fluß hinaus. Er beobachtete, wie sie schnell flußabwärts schwamm. Emmett nahm an, daß sie sich in einer Stunde mit Wasser füllen würde. Dann mochte das Kleiderbündel noch eine Weile an der Oberfläche schwimmen, bis es genügend Wasser aufgesaugt hatte und unterging. Jetzt mochte das Armband als Signal dienen. Sollte es die Sensoren ruhig auf sich ziehen. Und man mochte sich einen Reim drauf machen, wenn man es fand. Emmett lachte, während er die Böschung zu seinem Turbowagen hinaufkletterte. Er selbst würde meilenweit von der Fundstelle entfernt sein.
16 Emmett hatte es fast aufgegeben, die Zigeuner jemals zu finden, als er am Stadtrand von Reardon auf sie stieß. Unter dem frühnächtlichen Himmel, dort wo die Felder und Äcker begannen, lagerte der Zigeunerstamm. Es war genauso, wie er sich ihrer entsann: farbenprächtige Zelte; leuchtende Lampions an Schnüren von Zelt zu Zelt; die mit Scheinwerfer angestrahlten Spruchbänder auf jeder Zeltspitze, und etwas abseits die Lastautos und Wohnanhänger der Zigeuner. Es war Emmett, als sei er nach Hause gekommen, als er die Straße entlangging, obwohl er sich nicht erinnern konnte, diese Zigeunergruppe zuvor schon gesehen zu haben. Er lächelte, als er das erste Plakat las. Es erklärte, daß im Innern des Zelts »der Welt größte Sammlung an Reptilien und Lurchen« sei, und versprach einen Blick auf jede existierende Schlange und Eidechse, jeden Alligator und Salamander. Emmett fragte sich, wieviele davon wohl lebendig sein mochten. Außerdem gab es noch die zusätzliche Attraktion eines muskulösen Vorführers, der – wie das Plakat weiter ankündigte – über die Kreaturen, einschließlich der tödlichen Korallenschlange, »mysteriöse Kräfte besaß«.
Das Gebrüll des Kundenwerbers beim nächsten Zelt zog Emmetts Aufmerksamkeit auf sich. Er pries die Talente eines Mannes, der Feuer und Glasscherben essen und Schwerter schlucken konnte. Er warte bereits im Zelt auf den Beginn der Vorstellung. Nur zehn Cents Eintritt. Emmett schlenderte weiter. Ein Plakat hing zwischen zwei Pfosten über dem Eingang des nächsten Zeltes. Darauf sah man die grobe Darstellung einer Handfläche; darüber stand: MADAME LE GASTA WEISS ALLES KEIN PROBLEM ZU GROSS KEIN PROBLEM ZU KLEIN Ihre Zukunft – für 10 Cents Emmett schenkte den anderen Zelten nur einen flüchtigen Blick. Eines davon gehörte einem Zauberer, der – sie das Plakat ankündigte – alle in Erstaunen versetzte, die ihn sahen. Er konnte eine Frau »vor Ihren Augen« in zwei Hälften zersägen. Es wurden auch noch andere Kunststücke angepriesen, die ebenso unglaubhaft klangen. Emmett kehrte zum Zelt der Wahrsagerin zurück, bezahlte an der Zeltklappe bei einer Frau im grünen Kleid und trat ein.
Im Innern befand sich ein kleineres Zelt aus schwerem rotem Brokat; es stand auf einer Seite des größeren Zelts, und davor viele Stühle. Drinnen erkannte man undeutlich einen Tisch und zwei Stühle. Auf einem saß eine alte Frau. »Kommen Sie herein«, sagte sie mit quieksender Stimme. »Ich bin Madame Le Gasta. Ich kenne Ihre Zukunft. Kommen Sie, kommen Sie.« Emmett trat in das kleine Zelt. Die Klappe rollte hinter ihm herab, als er der Frau gegenüber Platz nahm. Ein grelles Licht von oben beleuchtete ihr faltiges Gesicht und ließ ihre Züge scharf hervortreten, während sie nach seiner Hand griff. Ihr Haupt war von einer purpurroten Kapuze bedeckt, an ihren Ohren hingen Ringe, die bei jeder Kopfbewegung klirrten. Ein gelber Schal fiel in vielen Falten von ihren Schultern auf das schwarze Kleid herab. »Ich sehe, daß Ihnen ein mühseliger Weg bevorsteht«, prophezeite die Alte, während sie kalte Finger über seine Handfläche gleiten ließ. »Sie sind nicht glücklich, aber geben Sie nicht auf, denn Ihre Lebenslinie ist lang. Was Ihnen jetzt Sorgen macht, wird bald vorbei sein, wenn sie auf Ihr Ziel hinarbeiten. Ich sehe auch, daß Sie verliebt sind. Wüßten Sie gern, ob das Mädchen Ihre Liebe erwidert?« Die Zigeunerin hob den Kopf und blickte ihn an. Ihre Augen waren klein, hell und hart. »Das kostet Sie nur zehn Cents.
Ein geringer Preis, um herauszufinden, ob eine Liebe echt ist. Nicht wahr?« Emmett warf ein Vierteldollarstück in den Teller auf dem Tisch. »Ah«, sagte die Alte und packte fest seine Hand, »die Götter meinen es gut mit Ihnen. Das junge Mädchen liebt Sie von ganzem Herzen. Sie sehnt sich eben jetzt nach Ihnen. Sie sollten zu ihr gehen und sie trösten, ihr sagen, daß Sie sie lieben.« Sie ließ seine Hand los und blickte auf. »Haben Sie noch eine Frage?« Emmett zog einen Zwanzigdollarschein heraus und legte ihn bedachtsam in den Teller. Die Augen der alten Frau waren auf das Geld geheftet und schienen sich nur schwer davon losreißen zu können. Als es ihr endlich gelang, ihn anzublicken, waren ihre Augen noch kleiner und verkniffener als bisher. »Wie lautet die Frage?« »Sind Zigeuner gegen die Seuche immun?« Die Augen drückten Überraschung aus. »Ich habe jahrelang die Zukunft vorausgesagt«, erwiderte die Frau. »In der ganzen Zeit hat man mir nie eine solche Frage gestellt. Warum interessiert Sie das?« »Das Geld«, entgegnete Emmett, »ist für eine Antwort bezahlt worden, nicht für eine Frage.« Die Zigeunerin schüttelte den Kopf, und ihre Ohrringe klirrten. »Es ist ein Irrtum. Wir sind genauso wenig immun
wie Sie. Warum erzählen sich die Menschen über uns derlei Dinge? Es stimmt nicht.« Emmett beugte sich vor. »Und Sie haben auch eine Identitätsnummer auf dem linken Unterarm?« »Aber natürlich.« Sie blickte ihn verdutzt an. Dann machte sie den linken Unterarm frei. Auf der vom Alter gefleckten Haut war deutlich die Nummer zu lesen. Sie zog den Arm zurück und meinte: »Es gibt viele Legenden über die Zigeuner. Sie sind nicht wahr.« Ihr Versuch eines Lächelns zeigte vom Alter gelbe Zähne. »Noch eine Frage?« »Nein.« Entweder log die Frau, oder er war ein Dummkopf, weil er geglaubt hatte, die Zigeuner würden sich von den anderen Menschen unterscheiden. Als er sich zum Gehen erhob, machte Madame Le Gasta keine Anstalten, ihm einen Teil des Geldes zurückzugeben. Die Klappe hob sich, und Emmett verließ das kleine Zelt. Jetzt saßen einige Leute auf den Stühlen und warteten auf Madame. Er wandte sich zum Gehen. »Hier ist kein Ausgang«, erklärte ein robuster Zigeuner und vertrat ihm den Weg. »Durch diese Tür sind Sie hereingekommen. Der Ausgang liegt drüben.« Er deutete durchs große Zelt. Einen Moment lang wollte Emmett den Mann grob zur Seite schieben und weitergehen. Dann überlegte
er es sich anders. Er hatte bereits genug Schwierigkeiten. Er drehte sich um und ging quer durchs Zelt. Emmett hob die Klappe und trat ins Freie. Er erhielt einen heftigen Schlag auf den Schädel. Emmett lag mit dem Rücken auf dem Boden, war kaum bei Bewußtsein und erkannte, daß er ausgeplündert wurde. Seine Muskeln wollten der dringenden Botschaft nicht gehorchen, die er ihnen zusandte. »Verdammter Roter«, hörte er einen Mann sagen. »Man möchte meinen, er hätte mehr Verstand. Wenn man sich vorstellt, daß er vor Maggie ein solches Bündel Scheine zückt!« Der andere Mann pfiff durch die Zähne. »Sie hatte vollkommen recht. Wieviel, glaubst du, ist es?« »Ich weiß nicht – He! Was ist das?« »Zwei Pistolen! Da soll mich doch der Teufel holen!« »Der Kerl ist kein gewöhnlicher Roter. Sag – hab ich ihn nicht schon mal irgendwo gesehen?« »Nein. Wenn er früher schon hier gewesen wär, meinst du, dann würde er wieder zurückkommen?« »Na egal, ich glaube, wir schaffen ihn besser zu Bruno.« Emmett brachte es zuwege, die Lider zu heben. Er sah zwei verschwommene Gestalten. Er bemühte sich fieberhaft, auf die Beine zu kommen. »Was sagt man dazu! Er wacht auf!«
»Ein ziemlich stabiler Bursch, nicht wahr?« Und er schlug wieder zu. Das Licht tat seinen Augen weh, aber langsam gewöhnte er sich daran. Sein Kopf brummte fürchterlich. Er hob die Hand und tastete seine Verletzung ab. Zu seiner Überraschung fand er nur eine kleine Beule. Emmett stützte die Arme hinter sich und richtete sich auf. »Lausiger Kommunist!« Er blickte in die Augen eines alten Mannes, der am entgegengesetzten Ende des Lastautos saß; er hatte einen Betäuber in der Hand, der auf Emmett gerichtet war. Die Hand zitterte. Bestürzt sah Emmett, daß der Mann nur ein Auge besaß. Das andere war ein leerer Schlitz. »Ich bin kein Kommunist«, antwortete Emmett. »Ich sollte dich gleich umlegen. Ich sollte behaupten, du hättest zu fliehen versucht.« Er kicherte bei diesem Gedanken. »Aber ich warte doch lieber auf Bruno. Bruno wird wissen, was zu tun ist.« »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen, Opa«, erwiderte Emmett matt. »Ich kann Ihnen nur versichern, daß ich kein Kommunist bin.« Der Alte spuckte in seine Richtung und hob den Betäuber ein wenig. »Du hast meinen Sohn und seine
Frau umgebracht. Und jetzt hast du Arno getötet. Nun bist du an der Reihe.« Plötzlich wurde die Hintertür des Lastwagens aufgerissen; herein trat einer der Männer, die er mit Ivy im Wald getroffen hatte. Aber er trug nicht mehr die dunkle Kleidung aus dem Wald. Jetzt war er angetan mit einem wehenden roten Umhang, einem schwarzen Turban, knapp sitzenden Hosen und einem roten Hemd. Emmett erschrak beim Anblick der zweiten Person. Es war Ivy. Ihr langes schwarzes Haar fiel zur einen Kopfseite herab, als sie den Wagenaufbau betrat. »Ivy!« Er wollte aufstehen. »Du bleibst, wo du bist!« befahl der jüngere Mann. Emmett sank zurück und blickte überrascht auf Ivy. Sie stand still da und sagte kein Wort; ihre dunklen Augen waren traurig. Während er sie betrachtete, fühlte Emmett wieder ihre starke Anziehungskraft. Aber warum schwieg sie? Und dann nahm er ihre Kleidung wahr. Er fand keinen Sinn dahinter. Um ihre Schultern lag ein grünes Cape, und sie trug eine hauchdünne rote Bluse; dazu hautenge Hosen, hüfthohe Strümpfe sowie grüne, hochhackige Schuhe. »Lausiger Kommunist!« wiederholte der alte Mann. »Wovon redet er nur?« fragte Emmett. »Er nennt
mich so, seit ich aufgewacht bin. Ihr beide wißt doch, daß ich kein Kommunist bin. Ihr habt das im Geräteschuppen herausgefunden.« »Man hat uns getäuscht, Em«, erwiderte Ivy. »Ihr seid nicht getäuscht worden«, widersprach Emmett bestimmt. »Wie kommt ihr darauf?« »Warum bist du hierhergekommen?« fragte der jüngere Mann. »Dachtest du, du könntest noch mehr über uns erfahren?« »Will mir bitte jemand erklären, wovon ihr sprecht? Ivy, hör mir zu. Ich kam hierher, um dich zu suchen. Und jetzt nennt mich jeder Kommunist.« »Tut mir leid«, antwortete Ivy, »aber es scheint, als seist du wirklich einer.« »Bin ich nicht!« »Doch, Bruno. Doch, er ist einer!« rief der alte Mann aufgeregt. »Ich weiß, wie ein Roter aussieht.« »Still, Alter«, befahl Bruno. »Keyes, wir hatten einen Bruder, Ivy und ich. Wir mochten ihn sehr gern. Er war im Wald bei uns. Deinetwegen wurde er geschnappt. Wenn er nicht tot ist, wird er's bald sein.« »Er war mein jüngerer Bruder«, erklärte Ivy. »Ein sanftmütiger Junge, der keiner Fliege was zuleide tun konnte.« »Wie kommt ihr auf den Gedanken, daß ich irgend etwas damit zu tun hätte?« »Reagier nur nicht so gekränkt, Keyes. Dachtest du,
du könntest einer alten Frau mit einem Zwanzigdollarschein Informationen entlocken?« »Maggie ist klug«, fuhr der alte Mann dazwischen und grinste. »Sei still, Opa«, gebot Ivy. »Diesmal hat Opa recht«, sagte Bruno. »Oma Maggie hat richtig daran getan, die Jungs zu warnen. Sie sah Keyes' Geld und wußte, daß nur ein Kommunist oder ein höhergestellter Kollaborateur soviel mit sich herumschleppen würde. Die Jungs taten, was sie in diesem Fall immer machen – die betreffende Person um ihr Kapital erleichtern. Das hilft der Sache. Aber sie rechneten nicht damit, daß du soviel besitzen würdest, Keyes – oder die zwei Pistolen. Sie wußten sofort, daß du ein Spion bist.« »Du hieltest dich für klug, nicht wahr«, fragte der alte Mann und schielte ihn an. »Aber du hast nicht mit Bruno und Maggie gerechnet, oder?« »Nur weil ich Geld und zwei Pistolen bei mir hatte!« Emmett schnaubte. »Zuvor besaß ich auch eine Pistole und Geld.« »Aber du bist nicht nach Cornwall gekommen«, warf Ivy ihm vor. »Erinnerst du dich?« »Natürlich nicht. Er ging zu seinen Vorgesetzten und teilte ihnen von unserem Unternehmen mit. Diese verständigten ihrerseits den Bezirksleiter, und jener hetzte uns die Sicherheitspolizei auf den Hals.
Nur gut, daß wir unsere Mission zuvor beenden konnten. Die meisten von uns entkamen. Alle bis auf Arno.« »Sie haben ihn getötet?« Bruno schüttelte den Kopf. »Sie haben ihn gefangengenommen. Es wäre besser gewesen, sie hätten ihn getötet, wenn man bedenkt, was er wird aushalten müssen. Aber er wird nichts verraten. Arno nicht.« »Laßt mich ihn abknallen«, bat der alte Mann. »Laßt mich das erledigen.« Er näherte sich Emmett. »Noch nicht«, wehrte Bruno ab. »Tot ist Mr. Keyes keinen Pfifferling wert.« »Mußt du ihn wirklich töten?« Ivy blickte ihren Bruder entsetzt an. Brunos Lippen kräuselten sich. »Was schlägst du vor?« Ivy wandte sich an Emmett; ihre Zähne bissen auf die Unterlippe, um sie am Zittern zu hindern. Ihre Augen waren feucht. »Ich – ich hab dir geglaubt, Emmett. Ich dachte, du wärst bei unserer Rückkehr in Cornwall. Ich sagte Bruno, daß du uns unmöglich verraten haben könntest. Und dann, als du nicht kamst –« »Ich kann's erklären.« »Erklären, Keyes?« Bruno lachte ihm ins Gesicht. »So wie du erklärt hast, du seist Anti-Kommunist, und Ivy dazu brachtest, dir jedes Wort zu glauben?«
»Es war die Wahrheit!« schrie Emmett. »Was wird hier eigentlich gespielt? Besitzt ein Mann nicht das Recht, sich zu verteidigen?« »Sicher«, spottete Bruno, und sein Blick wanderte zu Emmetts bandagierter Hand. »Die Jungs wunderten sich über dein Gelenk. Sie sagten, es sähe aus, als hättest du dein kommunistisches Armband abgelegt. Angenommen, du fängst bei deiner Erklärung damit an.« »Verdammt richtig, daß ich damit beginnen werde. Zuerst mal war es nicht mein Armband.« »Wessen dann?« »Es gehörte Mr. Gniessin, dem Bezirksleiter.« »Mr. Gniessin?« Bruno lachte schallend. »Kann mir gut vorstellen, daß Gniessin sein Armband hergibt. Besonders dir.« »Es geschah nicht aus freien Stücken«, erwiderte Emmett ruhig. »Ich hab's ihm abgenommen.« »Den Teufel hast du«, widersprach Bruno mit offensichtlichem Zweifel. »Vielleicht hat er's tatsächlich getan«, entgegnete Ivy. »Du kannst ihm ja glauben, wenn du willst, Ivy. Aber Gniessins eigenes Identitätsarmband – nun, ich hab ziemlich komische Dinge gehört –« »Gniessin ist tot.« Jetzt blickten sie ihn mit Interesse an.
»Als ich euch in der Nähe des Geräteschuppens verließ, Ivy, begann ich nach Norden zu marschieren. Aber ich beging einen Fehler und landete als Mr. Gniessins Gefangener in seiner Villa. Deshalb kam ich nicht nach Cornwall. Als ich das Grundstück betrat, wurde ich betäubt. Während ich ohnmächtig war, lähmte dort ein Arzt einen Teil meiner Gehirnzellen, und ich erzählte fast alles, was ich wußte. Später teilte mir Gniessin mit, er habe jemand ausgeschickt, um eure Gruppe zu verhaften. Ich hörte nichts mehr darüber. Aber ich habe nie etwas freiwillig verraten.« »Er lügt«, fuhr der alte Mann dazwischen. »Er ist ein dreckiger Kommunist und lügt sich raus.« »Wir lassen ihn zu Ende sprechen, Opa«, erwiderte Bruno. »Dann treffen wir eine Entscheidung.« »Gniessin war fett«, fuhr Emmett fort. »Seine Gesundheit stand nicht zum besten. Meine Aufgabe wurde es, ihn zu massieren. Gestern starb er an einem Herzschlag in der Sauna. Da tauschte ich das Armband, das er mir zu tragen befohlen hatte, gegen das aus, welches er selbst am Handgelenk hatte. So gelang es mir, aus der Villa zu fliehen. Ich benutzte ein Flugzeug, aber nachdem ich Cornwall verlassen hatte, kehrte es plötzlich um und flog zur Villa zurück. Deshalb zerstörte ich mit dem Phaser die Kontrollsysteme. Es fiel ein paar Kilometer westlich von hier in ein Gehölz. Das könnt ihr nachprüfen. Ich be-
täubte ein paar Leute auf einem Bauernhof, schnitt Gniessins Armband heraus und ließ es den Fluß hinunterschwimmen. Ich beschlagnahmte einen Wagen und fuhr nach Reardon.« Bruno runzelte die Stirn. »Wenn Gniessin wirklich tot ist – Mein Gott, das würde alles ändern.« Er starrte Emmett an. »Er lügt«, rief der Alte. »Das glaube ich nicht«, erwiderte Ivy langsam und verwundert. Für einen Moment standen sie still da und suchten einer beim anderen die Wahrheit. Heftiges Klopfen ertönte an der Tür. Bruno und Ivy tauschten schnelle Blicke, dann öffnete das Mädchen. Ein blasser Mann mit erschrockenen Augen stand davor. Er schaute über die Schulter zurück. Dann trat er hastig in den Wagenaufbau. »Was ist los, Geronte?« fragte Bruno. »Du solltest doch draußen auf der Hauptstraße sein.« Geronte deutete mit dem Finger auf Emmett. »Sie suchen nach ihm«, erklärte er aufgeregt. »Wer sucht nach ihm?« »Sicherheitspolizei und Besatzungsbeamte – sie sind auf dem ganzen Platz. Und jetzt die Flugzeuge!« »Mensch, beherrsch dich! Was geht vor?« Geronte schluckte; seine Augen waren weit aufgerissen. »Ich stand beim Schlangenzelt und hörte Ber-
nie zu, als Männer sich von der Straße über das Lager zu verteilen begannen. Sie mischten sich unter die Menge, sprachen jedoch mit niemandem. Und kein einziger achtete auf das, was Bernie sagte. Sie schlenderten nur rum, musterten die Gesichter. Einige gingen sogar ins Zelt. Und jetzt sind Flugzeuge da!« »Beruhig dich wieder!« »Der Himmel ist voller Flugzeuge, Bruno. Und sie haben Suchscheinwerfer! Das ist das Ende!« »Wir müssen ihn töten«, schrie der alte Mann. »Wir müssen ihn loswerden, bevor sie uns schnappen!« »Wir müssen nichts dergleichen tun«, widersprach Bruno bestimmt. »Aber sie sind hinter ihm her und werden ihn hier finden«, jammerte Geronte. »Und er wird ihnen alles verraten.« »Opa«, sagte Bruno in einem plötzlichen Entschluß, »du und Geronte geht auf die Hauptstraße hinaus. Versucht sie abzulenken, sie von der Spur abzubringen. Alles. Nur haltet sie auf Trab. Und ich meine keinen Kampf. Das ist das letzte, was ich brauchen kann.« »In Ordnung«, erwiderte der alte Mann mürrisch, »aber ich rate euch, ihn jetzt gleich umzulegen. Auf diese Weise sind wir ihnen eine Nasenlänge voraus.« Geronte und der brummelnde alte Mann verließen den Laster; die Tür knallte hinter ihnen ins Schloß.
»Was können wir tun?« überlegte Bruno nachdenklich. »Sie werden den Laster früher oder später durchsuchen.« »Die beiden Pistolen, die ich hatte, würden helfen«, erwiderte Emmett. »Auf diese Weise würdet ihr mit Sicherheit erfahren, auf wessen Seite ich steh.« Bruno schüttelte den Kopf. »Das wäre Selbstmord. Wenn dort oben am Himmel Flugzeuge mit Scheinwerfern stehen, können zwei kleine Pistolen nichts ausrichten. Nein, es muß einen anderen Weg geben.« »Hoffentlich«, meinte Emmett ungeduldig. »Ich habe das Gefühl, die Zeit läuft ab.« »Ich glaub, ich weiß eine Lösung«, verkündete Ivy ruhig.
17 »Wir können ihn in der Zauberkiste verstecken«, erklärte Ivy. Bruno musterte Emmett kritisch. »Er ist zu groß.« »Nein. Die Kiste ist für mich zu groß, und er kann sich ja ein wenig zusammendrücken, oder?« »Nun, möglich. Wir sollten es immerhin versuchen.« »Komm«, bat Ivy und ergriff Emmetts Arm. Emmett leistete keinen Widerstand, hielt die beiden nicht mit Fragen auf. Alles war besser, als waffenlos im Laster zu stehen und auf die Sicherheitspolizei zu warten. Im Schutze der Dunkelheit schlichen sie über den mit Unkraut bewachsenen Parkplatz zur Rückseite eines der Schauzelte. Einmal blickte Emmett hoch. Er sah die glimmenden Lichter etlicher kreisender Flugzeuge. Dann duckten sie sich unter eine Klappe und waren im Zelt. Klappstühle standen wie im Theater im Parkett – mit Blick auf eine erhöhte Bühne am einen Ende. »Bruno ist Uneldo, der Zauberer, falls du noch nicht selbst darauf gekommen sein solltest. Ich bin seine Assistentin Lura«, erklärte Ivy. Auf der Bühne befand sich ein Sammelsurium aus grell bemalten Kisten, Tischen, Behängen, Stoffen und
schimmernden Metallbehältern. In einem roten Käfig zwitscherte ein Vogel, ein riesiger Würfel versperrte ihnen den Weg, bis ihn Ivy mit der Schuhspitze zur Seite schob. Bruno hob einen kleinen Tisch mit Spielkarten, einem alten Klappzylinder, Zauberstäben, Blumen, Glasgefäßen, Scheren und einer Seilrolle zur Seite. Er streckte die Hand aus, und mit Ivys Hilfe glitt eine lange, schwarze Kiste heraus; er schob sie bis dreißig Zentimeter vom Vorhang entfernt auf die Bühne. Bruno hob den Deckel und fragte: »Glaubst du, daß du da hineinschlüpfen kannst, Keyes?« Emmett blickte hinein. Die Größe des schwarzen Innenraums ließ sich nur schwer abschätzen. Emmett vermutete, daß er mit etwas Drücken und Schieben genug Platz haben würde. »Wir versprechen, dich nicht zu zersägen«, scherzte Ivy. »Versuch besser gleich, ob's geht.« »Ich würde mich viel sicherer mit zwei Pistolen hier draußen fühlen«, wandte Emmett ein. »Meint ihr nicht, daß sie den Deckel hochheben und mich finden?« »Sie mögen ja den Deckel hochheben«, gab Bruno zu, »aber du wirst nicht da sein. Jetzt steig hinein.« Emmett zuckte die Achseln und kletterte in die Kiste. Er zögerte. »Möchtest du bitte untertauchen, damit ich den
Deckel zumachen kann?« bat Ivy. »Sie können jeden Moment kommen.« Emmett war zu lang, um auf dem Rücken zu liegen, also drehte er sich zur Seite und zog die Knie ein wenig an. Nun blickte er zu den beiden hinauf und fühlte sich quälend hilflos. »Alles klar?« fragte Ivy und beugte sich über ihn, Sorgenfalten auf der Stirn. »Vermutlich«, antwortete er kläglich. Da lächelte sie. »Du machst dir keinen Begriff, wie albern du da drinnen aussiehst, Em.« »Schließ zu«, riet Bruno ernst, runzelte die Stirn und hantierte hastig mit etwas neben der Kiste. Ivy beugte sich noch weiter vor und gab Emmett einen Kuß auf die Lippen. Dann zog sie sich zurück und sagte: »Auf Wiedersehen.« Der Kistendeckel fiel mit ohrenbetäubendem Knall zu. Finsternis überflutete ihn. Für einen Augenblick empfand Emmett Panik, dann zwang er sich zur Ruhe. Ich bin eine Sardine, sagte er zu sich. Frisch verpackt; eine besondere Sardine, in einer speziellen Büchse ganz für mich allein. Und bald wird jemand diese Büchse öffnen; dann finde ich mich auf jemandes Tisch wieder, man spießt eine Gabel in mich und – »Fertig, Emmett?« fragte Ivy. Ihre Stimme klang deutlicher, als er erwartet hätte.
Fertig wofür? wollte er sich erkundigen. »Umarm dich.« Gab es hier sonst noch jemand? Plötzlich senkte sich die Kiste lautlos, rollte dann sacht zur Seite. Etwas rastete ganz leise ein. Jetzt spürte er kühle Luft und hörte Schritte über sich. Er befand sich nicht mehr in der Kiste – zumindest nicht in der auf der Bühne. Es mußten zwei Kisten gewesen sein – eine in der anderen. Diejenige, in der er lag, war zur Seite und unter die Bühne geglitten. Nun war es still. So still wie – in einem Grab. Er schauderte. »Du bist krank.« Die Worte erschreckten ihn. Er hatte nicht erwartet, jemanden sprechen zu hören. Die Stimme gehörte Ivy. »Ich bin was?« fragte Bruno überrascht. »Krank«, wiederholte Ivy. »Wir können keine Vorstellung ansetzen, solange Emmett dort unten ist, wie du weißt.« »Oh – Mmm. Das hätt ich fast vergessen. Wir sagen es lieber Bernie. Er darf dann auch nicht die Werbetrommel rühren.« Ihre Schritte klapperten über den Boden und die Bühnentreppe hinab. Dann war es still.
Ein Poltern auf der Bühne brachte Emmett zurück. Er mußte gedöst haben, weil es einen Moment dauerte, bis er sich erinnern konnte, wo er sich befand. Jetzt waren Schritte zu hören. Und Stimmen. »Wann haben Sie die letzte Vorstellung gegeben?« Die Stimme war laut, herrisch. Der Boden bebte unter der Bewegung. »Siehst du hier irgend etwas, Carl?« Letzteres war fast ein Schrei. »Hier draußen nicht, Captain.« Diese Stimme hörte Emmett kaum. »Sie sagten etwas – äh – über Ihre letzte Vorstellung, Mr. Le Gasta.« »Sie fand vor etwa einer halben Stunde statt«, antwortete Bruno. »Sie haben wohl niemand mit einem verbundenen Handgelenk gesehen, wie? Einen großen Mann, breitschultrig, dunkelhaarig?« »Die Beschreibung könnte auf Sie zutreffen, Captain. Bis auf den Verband.« »Wie? Was soll das? Nun, wenn man es recht bedenkt, könnte sie's vermutlich. Ja, natürlich.« Ein asthmatisches Lachen. »Interessante Ausrüstung besitzen Sie da. Sind der Zauberer, wie? Können sie einen Mann verschwinden lassen? Vielleicht haben Sie das getan. Ha ha. Das wär doch was, eh? Wie steht's mit Ihnen, Miss? Haben sie einen Mann mit einem bandagierten Handgelenk gesehen?«
»Nein, Sir.« Knarrende Bretter. »Was ist das?« Die Erklärung. »Was ist dies?« Eine weitere Erklärung. »Zeigen Sie mir, wie's funktioniert.« Emmett wurde es langsam heiß. Er schwitzte. Seine Muskeln protestierten gegen die Stellung, zu der sie gezwungen waren. Er versuchte sich zu bewegen. Es ging für eine Weile ganz gut, aber dann schien selbst das nichts mehr zu nützen. In der Zwischenzeit wollte der Captain noch mehr Tricks sehen. Schließlich sagte Ivy: »Captain, Bruno wollte diese Vorstellung ausfallen lassen. Er fühlt sich nicht wohl. Und jetzt führt er Ihnen Kunststücke vor. Ich glaube, er sollte besser aufhören; wenn wir überhaupt eine Vorstellung geben wollen, braucht er eine Ruhepause.« »Fühlt sich nicht wohl, wie? Zu schade.« Knarrende Bretter. Polternde Schritte. »Was ist in dieser Kiste?« »Oh?« Bemerkte der Captain das Zittern in Ivys Stimme? »Nur unsere Zauberkiste«, antwortete Bruno. »Ich werde in zwei Hälften zersägt«, erklärte Ivy. »Wirklich?« Die Stimme des Captains klang beeindruckt. Emmett hörte, wie der Deckel der anderen Kiste hochgehoben wurde.
»Groß genug für einen Mann.« »Es wär ein gutes Versteck gewesen, Captain. Aber Sie hätten ihn gefunden.« »Sägen Sie sie in zwei Hälften.« »Wie bitte?« »Ich sagte, Sie sollten sie in zwei Hälften sägen. Ich habe noch nie gesehen, wie man eine Frau zersägt.« »Tut mir leid, Captain, aber ich kann nicht.« »Warum nicht?« In gekränktem Ton. »Captain, ich sagte Ihnen doch, daß sich mein Bruder nicht wohl fühlt.« »Ich befehle Ihnen, sie zu zersägen.« Das war's. Jetzt findet er mich. Ich wollte, ich wäre hartnäckiger gewesen. Jetzt entdeckt er mich in dieser Kiste, und dann ist alles aus. Zurück zur Villa. Eventuell auch nicht. Vielleicht werde ich sofort ins Arbeitslager geschickt – »Sie wissen nicht, was Sie da verlangen«, protestierte Ivy. »Mein Bruder hat viel zu schwer gearbeitet. Er sollte im Bett liegen. Sie können sich gar nicht vorstellen, wieviel Arbeitskraft einem diese Zauberei abverlangt.« »Sie dürfen jederzeit wiederkommen«, versprach Bruno. »Sie und Ihre Familie. Ich gebe für Sie eine Sondervorstellung.« Der Captain hustete. »Nun, in Ordnung. Ist das ein Versprechen?«
»Jawohl.« »Hab draußen nichts gefunden, Captain«, meldete eine Stimme. »Bleib am Ball, Carl. Wir sind hier fertig. Hast ein paar gute Kunststücke verpaßt.« Ein Fuß stampfte heftig auf den Boden. »Was ist hier drunter?« »Nichts«, antwortete Bruno. »Nur die Requisiten für die Bühne.« »Aber ein Mann könnte sich dort verstecken.« »Nun, vermutlich.« »Sehen wir mal nach, Carl.« Schritte überquerten die Bühne. Die Treppen hinunter. Emmett spannte sich. Jetzt würde man ihn finden! Plötzlich bewegte sich die Kiste seitlich. Dann glitt sie lautlos weiter, blieb stehen, hob sich und klickte an ihren Platz. Kurz darauf vernahm Emmett unter sich Stimmen. »Hier unten ist nichts.« »Bist du sicher? Leuchte mit der Lampe, Carl. Wollen sehen, was das ist.« »Dort?« »Richtig. Nur Süßigkeiten. Müssen ja eine Menge von dem Zeug verkaufen. Kein schlechtes Leben, wie, Carl? Hast du das Mädchen gesehen?« »Jawohl, Sir.« »Ja. Nun. Wir haben doch überall gesucht, oder?«
»Keine Spur von ihm, Sir.« »Scheinbar nicht. Das war das letzte Zelt. Er ist aus der Stadt verschwunden. Setz die Flugzeuge davon in Kenntnis.« Emmett beobachtete die vier Turbolaster vor sich, während sie auf Brunos Transporter durch die Nacht brummten; die Scheinwerfer tasteten sich wie schwankende Finger über die alte Straßendecke, denn nur ein schmächtiger Mond bewahrte die Welt vor gänzlicher Finsternis. »Ist es immer so ruhig auf der Straße, Ivy?« »Um diese Morgenstunde schon.« Emmett lachte. »Das erinnert mich an Mr. Gniessin. Einmal sagte er, Dinge, die um vier Uhr morgens umherzögen, seien viel wahrnehmbarer als zu jeder anderen Tageszeit.« »Demzufolge, was ich bisher über diesen Mr. Gniessin hörte, kann ich mir vorstellen, daß viele Menschen froh sind über seinen Tod.« »Alle bis auf die Kollaborateure, Günstlinge. Bezirksleiter und Menschen, die sich mit ihm gut verstanden. Der neue Mann wird vermutlich sein eigenes System aufbauen.« Ivy musterte Emmetts Gesicht. »Weißt du was?« fragte sie. »Was?«
»Du bist anders.« »Wirklich? In welcher Beziehung?« »Ich weiß nicht.« Sie runzelte die Stirn. »Du bist stärker, nehme ich an.« Sie blickte auf die Straße, kniff gegen den Wind die Augen zusammen. »Früher hast du scheinbar nicht gewußt, was du tust. Du warst dir selbst nicht sicher. Jetzt bist du – Vermutlich sind deine Erlebnisse schuld daran. Du hast viel gelernt.« »Das ist wahr. Ich habe sehr viel gelernt.« Er seufzte. »Aber das, was ich lernte, war nicht erfreulich.« »Jetzt bist du Realist. Du kennst die Lage. Du weißt, daß sie nicht vernichtet werden können, egal, wie ausdauernd man es versucht. Aber du bist auch genügend realistisch, um zu wissen, daß sie nie besiegt werden, außer jemand macht irgendwo und irgendwann den Anfang.« »Richtig. Alle scheinen aufgeben zu wollen. Alle bis auf mich. Und du, und die andern. Ein Glück, daß ich auf deine Leute gestoßen bin.« »Wirklich?« Sie lächelte bezaubernd. »Außer zu dem Zeitpunkt, als ihr beide bereit wart, mich von Opa umlegen zu lassen.« Ivy lachte. »Opa glaubt noch immer nicht, daß man dir trauen kann.« »Beeinflußt ihn die Erinnerung an das, was deinen Eltern passiert ist.«
Ivy nickte. »Sie wurden gefangengenommen. Genau wie Arno. Wir haben sie nie wieder gesehen.« »Wißt ihr eigentlich genau, worauf ihr hinauswollt?« »Manchmal frag ich mich das auch.« Ivy blickte ihn nachdenklich an und strich geistesabwesend ihr widerspenstiges Haar zurück. »Natürlich wissen wir selbst nicht allzu viel. Es ist besser so, verstehst du. Wenn man geschnappt wird, kann man nichts verraten. Deshalb nennen wir uns nie beim Namen, wenn wir in dem Gebiet arbeiten. Zum Beispiel hörtest du nie den Namen des Anführers dort im Geräteschuppen, oder?« »Ich kenne seinen Namen noch immer nicht.« »Johannes, Martie Johannes.« »Das war Johannes?« »Natürlich.« »Woher wußte er, wem der Betäuber gehörte? Und woher war ihm mein Name bekannt? Und wie –« »Halt!« protestierte Ivy lachend und legte ihm die Hand auf den Mund. »Frag nicht mich. Johannes weiß mehr als irgend jemand, den ich kenne. Er ist ein geheimnisvoller Mann. Ein mächtiger Mann, Em. Manchmal jagt er mir Angst ein.« »Und er steht auf unserer Seite.« »Ja. Gott sei Dank.« »Wußte er über Gniessin Bescheid?« »Ja. Ist das nicht erstaunlich? Als Bruno mit ihm te-
lefonierte, teilte er ihm mit, er habe gehört, daß Gniessin tot sei. Aber sag«, – und sie blickte ihn mit neu erwachtem Interesse an – »als Bruno ihn davon unterrichtete, daß du immun seist, wollte er alle Einzelheiten wissen. Bruno berichtete, er habe ihm gesagt, daß er nur das wisse, was du ihm erzählt hättest; aber Johannes will dich morgen abend sprechen, dir ein paar Fragen stellen. Er scheint deinetwegen aus irgendeinem Grund sehr aufgeregt zu sein.« »Morgen abend findet also die Übergabe statt?« »Ja, aber sag keinem, daß ich's dir verraten habe. Bei einigen mußt du dich noch immer bewähren. Ich glaube, selbst Bruno ist noch nicht ganz von dir überzeugt.« »Wie steht's mit dir?« fragte Emmett lächelnd. »Bist du überzeugt?« »Unter deinen vielen Loyalitäten gibt es eine, deren ich nicht sicher bin«, antwortete sie. Er trat neben sie und versuchte sie mit einem Kuß davon zu überzeugen, wie tief seine Treue war. Als sie wieder atmen konnte, behauptete Ivy, sie würde nie wieder fragen. »Zumindest nicht, bevor ich mich erholt habe«, fügte sie hinzu. Er legte sich wieder auf die Zeltplane und blickte mit hinter dem Kopf verschränkten Armen zu den Sternen empor.
»Diese schwangeren Mädchen, von denen du erzählt hast«, begann er, »müssen so sein wie diejenigen, die Dr. Smeltzer zu der Adresse schickte, die man ihm gab. Ihr habt auch eure Adressen und brecht von dort auf. Stimmt's?« »Richtig«, bestätigte Ivy. »Wir bekommen natürlich nicht alle ungesetzlich Schwangeren. Aber einige. Morgen abend werden wir in Marblehill eine Gruppe zu Station Eins geleiten. Dort treffen wir Johannes. Ich glaube, es gibt in unserem Sektor insgesamt zwanzig Stationen. Von einer Station zur anderen gelangen wir mit Laster, Wagen, Flugzeug oder Boot. Oder wir gehen zu Fuß, wie in jener Nacht, als du uns über den Weg gelaufen bist. Manchmal sind es ortsansässige Mädchen; manchmal kommen sie aus dem Osten, und wir sind nur ein Glied in der großen Kette vom Osten zur Endstation irgendwo im Westen. Und frag mich nicht, wo genau im Westen. Johannes spricht nicht darüber.« »Aber was will er mit all den schwangeren Frauen? Was stellt er mit ihnen an?« »Ich glaube nicht, daß er etwas mit ihnen anstellt. Die meisten sind noch nicht sehr weit. Man würde kaum merken, daß sie schwanger sind. Aber allen wurde versprochen, daß sie ihre Kinder in völliger Sicherheit auf die Welt bringen können, wenn sie sich
Männern wie Johannes anvertrauen. Das geht seit Jahren so.« »Und der Feind weiß nichts davon?« Ivy zuckte die Achseln. »Vermutlich ist den Roten bekannt, daß aus irgendeinem Grund viele illegal Schwangere verschwinden. Ich weiß nicht, ob die Mädchen je wieder in ihre Heimatstädte zurückkehren oder nicht. Ich bezweifle es. Sie würden viel zu erklären haben; und außerdem würden sonst die Geschehnisse früher oder später durchsickern, und man würde unserem Treiben Einhalt gebieten.« »Und deine Eltern wurden dabei erwischt?« »Ja. Vor ungefähr fünf Jahren.« »Trotzdem macht ihr weiter.« Seine Hand suchte die Ihre. »Ich glaube, ihr seid sehr mutig.« »Ich bin nicht mutig, Em. Ich weiß, daß man mich eines Tages fängt.« »Oh nein, dich nicht.« »Nein? Was sollte es verhindern? Und wenn du bei uns bleibst, wird man auch dich eines Tages erwischen.« »Ich bin schon mal gefangengenommen worden.« »Du hattest Glück. Außerdem hast du Glück, daß du immun bist. Der erste Mann, den ich kenne. Vermutlich interessiert das Johannes so sehr.« »Du weißt, Ivy, daß ich alle Zigeuner für immun hielt. Ich habe das mein ganzes Leben lang gehört,
wurde eigentlich damit groß. Und deshalb wollte ich Zigeuner finden. Ich wollte mich zu ihnen gesellen. Ich dachte, dann wäre ich irgendwie bei meinesgleichen.« »Ich wünschte, es wär wahr.« Sie seufzte. »Aber uns geht's wie allen anderen. Wenn wir unsere Impfung nicht rechtzeitig erhalten, erliegen wir den Symptomen.« »Empfinden alle Zigeuner über die Besatzung wie deine Gruppe? Arbeiten sie auch für den Untergrund?« »Himmel, nein, Em. Wir sind viel herumgekommen. Wir haben andere Gruppen mit Reisegenehmigungen kennengelernt. Einige von ihnen waren niemals Zigeuner, bis die Besatzung kam. Andere behaupten, das Leben sei unter der Besatzung besser. Es bringt für die meisten Menschen weniger Zeitvertreib, und demzufolge sind die Zigeuner in den Gemeinden, die sie aufsuchen, willkommener. Deshalb wollen sie gar keine Änderung.« »Dann hatte ich wirklich Glück, auf eure Gruppe zu stoßen.« »Meinst du?« Sie legte einen Finger unter sein Kinn und zwang ihn, sie anzusehen. »Ich meine vom Standpunkt des Anti-Kommunismus. Man hätte mich vielleicht auf Grund meiner Äußerungen aus einer anderen Gruppe hinausgeworfen.« »Einige davon sind schlecht. Bruno hat sich mit mir
oft darüber unterhalten. Und sie besitzen keine Attraktionen, haben nicht viel zu bieten. Die Leute sagen immer zu uns, wir seien die beste fahrende Truppe. Wir versuchen es so zu belassen.« »Was macht Opa?« »Wir lassen ihn nicht mehr viel tun. Er verlor das Auge vor zehn Jahren während eines Kampfes; damals leitete er das Unternehmen, aber seither ist es mit ihm bergab gegangen. Seine Spezialität war Gedankenlesen. Ich erinnere mich nicht mehr daran, doch meine Mutter erzählte mir immer, wie gut er gewesen sei.« »Vielleicht sollte ich das aufgreifen.« »Gedankenlesen?« »Ich muß doch was tun. Ich kann nicht nur die ganze Zeit in der Zauberkiste sitzen.« »Du mußt außer Sicht bleiben, bis Gras über die Sache gewachsen ist.« »Ich glaube nicht, daß das jemals geschieht.« Ivy hatte sich umgedreht; sie lag auf dem Bauch, stützte das Kinn in die Hände und blickte auf die Straße hinunter. Jetzt packte sie Emmetts Arm. Er rollte sich herum und sah ihr erschrockenes Gesicht nach vorn starren. Er beobachtete, wie die Lastwagenkolonne anhielt. Quer über der Straße standen drei Turbos, alle mit einem roten Stern.
Sie hörten, wie Bruno aus der Kabine stieg, beobachteten, wie er auf die Straße hinaustrat; er stand mit in die Hüften gestemmten Händen da und blickte auf den vordersten Laster. Dann drehte er sich um, blickte zu Ivy hinauf und wollte etwas sagen. Ivy gebot ihm Schweigen, indem sie den Finger an die Lippen legte und den Kopf schüttelte. In diesem Moment zischte ein Flugzeug heran und flog auf sie zu.
18 Gleichzeitig rannten sie zum Heck des Lasters, kletterten über die Zeltplane hinunter und sprangen auf die Straße. Es war dunkel hinter dem letzten Lastwagen, und das Flugzeug kam auf sie zu; seine Suchscheinwerfer sondierten die Turbos und ihren Inhalt. Sie rannten über die Straße in einem Graben und auf der anderen Seite wieder hinauf. Der Zaun bildete kein Hindernis. Sie rannten über ein offenes Feld, und Emmett wünschte, er hätte seine Umgebung schon vor dem Halt beachtet, um sagen zu können, wohin man sich wenden wollte. Ivy zerrte ihn am Ärmel nach links. Er hatte keinen besseren Plan, also folgte er ihr. Nach kurzem kamen sie zu einem anderen Zaun und sprangen darüber. Ein paar Augenblicke später befanden sie sich inmitten des Waldes eines Bauernhofs und versuchten wieder zu Atem zu kommen. Sie hörten kein Geräusch der Verfolgung. »Du hättest nicht mitkommen dürfen«, tadelte Emmett und atmete schwer. »Du hättest auf dem Laster bleiben sollen. Sie werden nachschauen und dich vermissen. Dann wissen sie, daß an der Sache etwas faul ist.« »Ich habe nicht überlegt, was ich tun soll und was
nicht«, erwiderte Ivy und sank auf einen Baumstumpf, »sondern einfach gehandelt.« Sie lauschten schweigend, als ein Flugzeug über die sie schützende dunkle Waldfläche strich. »Das war gefährlich«, meinte Ivy. »Ich hätte nicht zu euch kommen sollen. Jetzt seid ihr in Schwierigkeiten. Sie wissen, daß ich bei euch bin. Das war ein schlechter Schachzug.« »Nein.« Sie trat neben ihn. »Ich bin froh, daß du gekommen bist, und alle andern auch. Wir haben früher schon Schlimmes durchgemacht. Irgendwie kommen wir immer heil davon.« Er packte Ivy bei den Schultern und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. »Nein, deine Gruppe wird so lange unter Verdacht stehen, bis die Roten sicher sind, daß ich mich nicht bei euch versteckt halte. Ich muß weiter, fort von hier. Verstehst du denn das nicht? Ich will, daß du wieder zur Straße hinaufgehst und dich zu Bruno gesellst, als sei nichts geschehen. Du kannst ihm alles erklären. Glaub mir Ivy, das ist die einzige Möglichkeit.« Ihr Gesicht leuchtete weiß im fahlen Licht. »Das darfst du nicht, Em. Ich kann dich nicht gehen lassen. Du mußt bleiben. Wir brauchen dich – und ich am meisten.« Ihre Lippen waren fest zusammengepreßt, und sie blickte fort. Emmett schüttelte den Kopf. »Nein, Ivy –« Und dann
war er tief gerührt von ihrer Sorge um ihn. Sanft zog er sie an sich und küßte sie. Ivy klammerte sich an ihn und flüsterte immer wieder seinen Namen. »Ich will nicht gehen, Ivy –« »Dann bleib.« Er riß sich los. »Was hat das für einen Zweck? Was bleibt uns denn? Wir können nicht mal heiraten. Woher sollte ich die Genehmigung kriegen? Und wie stünde es mit Kindern – und einem Haus?« »Es ist unsicher, ich weiß. Aber was nicht? Verstehst du denn nicht? Es liegt an unserer verkehrten Welt.« Er wandte sich ab und sagte mit Endgültigkeit: »Dann wird es Zeit, daß jemand etwas dagegen unternimmt. Jemand muß anfangen, dagegen zu wirken –« »Du kannst nicht ganz allein den Helden spielen, Em.« Er schnaubte. »Mein Vater sagte vor kurzem das gleiche.« »Und er hat recht!« Ihre Augen funkelten. »Du versuchst die ganze Last allein zu tragen, Em, und dafür wurde kein Mann geschaffen. Du mußt Teil eines Plans, einer Gruppe werden.« »Du nennst die Begleitung einer Gruppe schwangerer Frauen durch einige Bezirke Revolution? Was für ein Widerstand soll das sein?«
»Es ist ein kleiner Teil des ganzen Unternehmens.« »Welches Unternehmen?« »Man muß so etwas auf Glauben aufbauen. Man muß den anderen vertrauen, oder die ganze Sache taugt nichts.« »Glaube? Vertrauen? Was macht Johannes mit diesen Frauen? Hat er dir das jemals verraten?« »Je weniger wir wissen, desto weniger können wir ausplaudern.« »Wie oft ich das schon gehört habe!« »Worauf willst du eigentlich hinaus, Emmett Keyes?« »Nur darauf: Ist es dir nie komisch vorgekommen, was ihr da tut? Hast du dich je gefragt, was er mit diesen Frauen anstellt, warum er sie haben will? Hast du jemals daran gedacht, daß Johannes vielleicht Geld damit verdient, daß er für eine große Gruppe arbeiten könnte, die aus solchem Elend Kapital schlägt?« Sie zog sich zurück. »Du hast viel gelernt, nicht wahr, Em«, fragte sie kalt. »Du hast soviel gelernt, daß du zum Zyniker geworden bist. Bald bist du genauso wie die übrigen Menschen. Du wirst die Schultern zucken und sie keiner Rettung für wert befinden. Und vielleicht entdeckst du eine Möglichkeit, selbst davon zu profitieren!« Sie standen zwei Meter voneinander entfernt, starr-
ten sich an. Und plötzlich wunderte sich Emmett, wie dies geschehen, wie sie sich auf diese Weise anschreien konnten. Bis ihn die Erkenntnis traf, daß sie sich tatsächlich angeschrien hatten. Ein Flugzeug zischte über sie hinweg. Es flog jetzt niedriger, entfernte sich nicht. Und plötzlich durchbrach eine Stimme aus dem Lautsprecher die Nacht. »Wir wissen, daß Sie dort unten sind, Keyes«, brüllte der Sprecher. »Treten sie auf die Straße hinaus. Es gibt keine Fluchtmöglichkeit. Der Wald ist umstellt.« Im nächsten Augenblick lag Ivy in seinen Armen; er hielt sie ganz fest und dachte: Das ist das Ende. Sicher muß es so sein. Und er wußte mit tiefem Schmerz, daß er jetzt nichts mehr für sich, für Ivy, für sein Volk oder für die Menschen, die er in diese Sache hineingezogen hatte, tun konnte. Diesmal würde es kein Entrinnen geben. »Ich gehe hinauf«, murmelte er. »Du bleibst hier, bis ich auf der Straße bin. Dann kannst du nachkommen.« Er streichelte ihr Haar. Sie blickte zu ihm auf. Sein Kuß war sanft, zärtlich. »Du kennst mich noch immer nicht, Em«, entgegnete Ivy. Sie forschte in seinem Gesicht. »Es gibt nichts ohne dich. Kannst du das denn nicht in deinen Dickschädel kriegen? Komm.« Sie nahm seinen Arm. »Wir gehen zusammen hinaus oder gar nicht.«
»Das ist die letzte Warnung, Keyes«, brüllte die Stimme. »Kommen Sie jetzt heraus, oder wir betäuben das ganze Gebiet und holen Sie.« Emmett biß die Zähne zusammen und wagte Ivy nicht anzusehen, während er ihre Hand fest in der seinen hielt und sie sich in Bewegung setzten. Zusammen verließen sie den Wald.
19 »Hier hinein«, befahl der Soldat und öffnete eine schwere Holztür. Emmett betrat ein großes Zimmer. Am Ende des Raumes saßen zwei Männer. Der eine war klein, mit buschigem Haar und flinken Augen; er hatte eine Aktenmappe neben sich auf dem Tisch. Der andere war größer, untersetzt. Emmett ging auf den einzelnen Tisch zu; die Männer ließen ihn keinen Moment aus den Augen. »Setzen Sie sich«, befahl der kleinere kalt. »Ich bin Colonel Pushkin«, stellte sich der untersetzte Mann vor; er sprach mit starkem Akzent. Seine Augen waren schwerlidrig, aber rege; seine Stimme leise und ruhig. »Das ist Captain Johnson.« Der Captain legte die Papiere zurecht. »Keyes«, begann der Colonel, »ich möchte zuerst wichtige Dinge klären. Ihr Leben, das Leben Ihrer Eltern und das der Menschen, die Sie versteckt hielten, steht auf dem Spiel. Wenn Sie mit uns zusammenarbeiten, werden alle geschont. Wenn nicht, werden Sie hingerichtet, und die anderen gehen in ein Arbeitslager. Ist das klar?« »Ja.« »Sir!« fügte Johnson hinzu.
»Schon gut, Captain. Mr. Keyes meint, er schulde uns keine Treue. Wenn er sich als informativ erweist, sei ihm vergeben, daß er die respektvolle Anrede vergißt.« Johnson starrte Emmett an. Dieser starrte zurück. »Nun denn«, fuhr der Colonel freundschaftlich fort, »wir hoffen, Ihre Reise hierher war angenehm.« »Ein wenig unerwartet«, antwortete Emmett. »Natürlich«, lächelte Pushkin. »Sie haben nicht erwartet, aufgegriffen zu werden, oder?« Er lachte kurz. »Aber das ist die richtige Einstellung. Ein pessimistischer Agent kann schwerlich erfolgreich operieren, nicht wahr? Ich nehme an, dies ist Ihre erste Reise nach New York?« Die Augen blickten verschlagen. »Ich habe Illinois noch nie verlassen.« Die Augenbrauen hoben sich. »Wirklich? Das ist sehr interessant, Keyes. Gefällt Ihnen New York?« »Es ist größer als ich mir vorstellte.« »Ja, natürlich. Auch ich dachte es mir nicht so groß. Ich bin im August sieben Jahre hier und habe mich noch immer nicht daran gewöhnt. Glauben Sie, Sie würden in New York leben wollen?« »Ich weiß nicht. Ich bin von einem Ort zum anderen gebracht worden und hatte bis jetzt eigentlich noch keine Gelegenheit, die Stadt zu sehen.«
Der Colonel nickte. »Das kann ich verstehen. All die Routineverhöre. Bedauerlich, aber notwendig. Versuchen Sie das zu verstehen. Aber es muß nicht so sein, Keyes. Auf Sie wartet ein guter Posten, wenn Sie wollen. Es hängt alles von Ihnen ab, verstehen Sie?« »Sie wollen doch auf etwas hinaus«, mutmaßte Emmett. »Warum kommen Sie nicht zur Sache?« »Ah«, erwiderte Pushkin lächelnd. »Sie haben begriffen. Dann sollte ich keine Zeit vergeuden.« Er hüstelte leicht. »Nun, vielleicht sollten wir mit der Endstation beginnen.« »Endstation?« Emmett starrte ihn nur verdutzt an. Der Colonel wurde rot, Johnson warf ihm einen Blick zu, und seine Lippen kräuselten sich ganz leicht. »Ja«, betonte Pushkin. »Endstation.« Emmett runzelte die Stirn. Er hatte das Wort schon mal gehört, konnte sich jedoch im Moment nicht erinnern, wo oder wann. »Behaupten Sie nicht, Sie hätten davon noch nie etwas gehört«, warte der Colonel trocken. »Nein«, antwortete Emmett wahrheitsgemäß. »Das kann ich nicht sagen. Aber ich erinnere mich nicht mehr daran, wo.« Johnson schnaubte. Die Augen des Colonels glitzerten. »Vielleicht ist sich Mr. Keyes der schwerwiegenden Anklagepunkte
gegen ihn gar nicht bewußt, Captain. Würden Sie sie ihm bitte vorlesen?« »Jawohl, Sir.« Der Captain raschelte mit den Papieren auf dem Tisch und nahm eins zur Hand. »Die Volksrepublik der Vereinigten Staaten von Amerika gegen Emmett Keyes. Am –« »Schon gut«, unterbrach Pushkin, »nur den Inhalt der Akte, wenn Sie so freundlich wären, Captain. Die Liste der Verbrechen.« Der Blick des Captains wanderte auf dem Papier nach unten. »Die einzelnen Beschuldigungen lauten: Mord an Parteimitglied Cadwallader Tisdail, Mord an der Frau des Parteimitglieds Tisdail –« »Seine Frau!« Emmett war schockiert. »Die Frau hab ich nicht umgebracht!« »Aber Tisdail haben Sie getötet?« »Natürlich. Und ich würd's wieder tun.« »Das ist höchst unwahrscheinlich, mein Freund. Aber Sie könnten ebensogut die Schuld für den Mord an Mrs. Tisdail auf sich nehmen. Worin liegt der Unterschied? Ein Mord mehr oder weniger, was macht das schon?« »Ich wußte nicht, daß sie tot ist«, entgegnete Emmett. Jetzt wurde ihm klar, was sie damit meinte, als sie sagte, sie würde die Schuld für Tisdails Mord auf sich nehmen. Sie hatte sich selbst umgebracht, um den Anschein zu erwecken, als hätte sie zuerst ihrem
Mann und dann sich selbst das Leben genommen. Nur sah es jetzt so aus, als hätte er sie beide umgebracht. »Der Mord an Hauptbezirksleiter Alfred Gniessin von Illinois –« »Das ist eine Lüge!« schrie Emmett. »Was bringt Sie nur auf diese Idee? Er starb an einem Herzschlag in der Sauna.« »Wirklich?« fragte der Colonel spöttisch. »Sie hätten nicht zulassen dürfen, daß er so lange in der Sauna bleibt, Keyes. Das war ein schlechter Plan.« »Wie hätte ich ihm etwas anhaben können? Sein Roboter Jascha beschützte ihn auf Schritt und Tritt!« »Lesen Sie weiter, Captain.« »Zerstörung eines persönlichen Dieners, Serie VII, Roboter Jascha, mit einem Schlag auf den Kopf.« »Jascha folgte ihm in die Sauna«, erklärte Emmett. »Er wurde von der Hitze überwältigt. Ich geb aber zu, daß ich seinen Kopf zertrümmert habe.« »Sie haben ihn zertrümmert, bevor Sie Gniessin in der Sauna einsperrten.« »Nein!« »Weiter«, befahl Pushkin trocken. »Die Unterstützung von Dr. Averell Smeltzer, einem Direktor Gniessin zugeteilten Sträfling, bei der Flucht aus der Villa des Bezirksleiters.« »Das geb ich zu.«
»Es handelt sich nicht darum, irgend etwas zuzugeben«, erklärte der Colonel. »Das sind Fakten. Sie bedürfen keiner Bestätigung.« »Und diverse andere Punkte«, fuhr Johnson fort, »lauter Verfehlungen gegen den Staat, nämlich: Beraubung eines Bezirksleiters, Entwendung von staatseigenen Waffen, Diebstahl und Zerstörung eines Flugzeugs Modell III der Regierung, das ungesetzliche Betäuben einer Bauernfamilie sowie Flucht, um der Verhaftung zu entgehen.« »Eine stattliche Liste, nicht wahr?« fragte der Colonel. »Kein Wunder, daß Sie hingerichtet werden sollen – aber natürlich muß das nicht sein, wenn Sie uns ein paar Dinge mitteilen würden, etwa, wo sich die Endstation befindet.« »Ich weiß nicht mal, was das ist.« Pushkin beugte sich vor; jegliche gute Laune war aus seinem Gesicht verschwunden. »Mr. Keyes, glauben Sie, Sie als Mitglied der Manumit können uns weismachen, sie wüßten nicht, wo die Endstation liegt?« »Manumit?« Emmett starrte den Mann abermals an. Pushkin warf resigniert die Arme in die Luft. »Für wie dumm halten Sie uns eigentlich, Keyes?« brüllte er. Beherrschter fügte er hinzu: »Vermutlich erzählen Sie uns als nächstes, Sie seien nicht immun.«
Emmett schwieg. Das Verhör war ihm aus der Hand geglitten. Diese Männer redeten von Dingen, über die er nichts wußte. Und seine Immunität! Wie hatten sie das erraten? »Ein Mann tötet soviel Menschen«, fuhr der Colonel fort, »er entflieht so oft, kennt die richtigen Leute und sitzt dennoch hier wie ein Schuljunge, der seine Lektionen vergessen hat. Erwarten Sie wirklich, daß wir Ihnen glauben, Sie seien kein Agent von Manumit?« »Es interessiert mich einen Dreck, was Sie glauben«, brauste Emmett auf. »Ich bin kein Agent von irgend was.« »Oh, tatsächlich nicht, wie?« Pushkin schaute finster drein. »Vermutlich nehmen Sie an, wir wären so dumm, Ihr Gehirn einer gründlichen Untersuchung zu unterziehen?« Emmett hatte sich tatsächlich gewundert, warum man sein Gehirn nicht betäubt hatte, um die gewünschten Informationen zu erhalten; so wie Dr. Smeltzer es für Gniessin getan hatte. »Das hätten Sie sich gewünscht, nicht wahr?« fuhr der Colonel fort. »Ein leichter Ausweg für Sie. Puff! Sie hätten sich in eine Leiche verwandelt, und wir hätten das Nachsehen gehabt.« Er schüttelte den Kopf. »Wir dachten, Sie würden das Leben wählen, Keyes. Das Leben muß attraktiv sein für jemand, der
so jung ist wie Sie. Warum lügen Sie? War Ihnen nicht klar, daß wir Sie über diese Dinge befragen würden? Was erwarten Sie von uns?« »Offen gesagt dachte ich, man würde mich direkt in ein Arbeitslager abschieben. Das geschieht doch gewöhnlich, oder?« »Für einen Mann in Ihrer Lage, Keyes, sind Sie recht spaßig. Zu schade, daß wir nicht operieren und dieses Apparätchen herausnehmen können, das Sie hinter den Ohren tragen. Ihre Leute sind in dieser Hinsicht sehr gründlich. Ich habe gesehen, wie die Geräte auf dem Operationstisch zu Metallkugeln schmolzen.« Er seufzte: »Gut, zum letztenmal und für den Bericht, Keyes: wollen Sie uns etwas über diese Dinge mitteilen oder nicht?« »Ich habe vor wenigen Minuten den Faden verloren«, antwortete Emmett. »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.« »Das ist alles, was wir wissen wollten«, erwiderte Pushkin schroff. Johnson begann die Papiere wieder in die Aktentasche zu schieben. Emmett hörte, wie sich die Tür hinter ihm öffnete, das Geräusch schwerer Absätze in militärischem Gleichschritt. Man packte seine Arme. »Dieser Mann«, befahl Pushkin den beiden Soldaten links und rechts von ihm, »kommt im politischen
Gefängnis in die Arrestzelle, um dort auf die Hinrichtung zu warten.« Die Soldaten salutierten, drehten Emmett um und marschierten forsch zur Tür. Draußen entspannten sich die beiden und gingen den langen Korridor entlang. Kurz darauf näherten sich ihnen zwei andere Soldaten, die ihnen den Weg vertraten. »Ist das der Gefangene Emmett Keyes?« fragte der größere der beiden Soldaten. »Ja. Wir bringen ihn in die Arrestzelle«, erklärte der Soldat zu Emmetts Rechten. »Wir haben Order, ihn auf den Hinrichtungsplatz zu führen«, widersprach der kleinere Soldat. »Wir kommen gerade vom Militärgefängnis.« »Aber ihr könnt ihn noch nicht haben«, entgegnete der Soldat zu Emmetts Linken. »Wir haben ihn noch nicht ordnungsgemäß übergeben.« »Er muß sofort hingerichtet werden«, antwortete der andere. »Ist ein gefährlicher Mann. Wurde vom General so angeordnet.« »Habt ihr Papiere?« »Natürlich. Hier.« Der Soldat zu Emmetts Rechten ergriff die Papiere und überflog sie flüchtig. Er beendete die Lektüre nie. Die Handlung kam für Emmett zu schnell; außerdem hatte er nichts Ungewöhnliches erwartet. Aber
im nächsten Moment spürte er den Druck auf seinen Armen nachlassen, und die Soldaten neben ihm sakken zu Boden. Emmett stand mit offenem Mund da und starrte auf die beiden Soldaten am Boden, als Lang und Kurz seinen Arm nahmen. »Hier«, sagte Lang und schob ihm eine Kapsel in die Hand. »Zerbrich das und atme tief ein. Schnell! Uns bleibt nicht viel Zeit.« »Komm«, befahl Kurz. Irgendwo schrillte eine Glocke. An der Decke erglühte plötzlich eine Reihe roter Lampen, die in der Mitte entlanglief. »Alarmstufe Rot! Alarmstufe Rot!« brüllte eine Stimme. »Jetzt haben wir den Salat!« kommentierte Kurz. Der Gang füllte sich mit Soldaten und Zivilisten. »Halt!« brüllte die Stimme. »Jeder bleibt, wo er ist!« Die umherhastenden Gestalten erstarrten, die Furore verflüchtigte sich. Dann verkündete die Stimme aus dem Lautsprecher: »Jegliche Tätigkeit einstellen, bis der dringende Notfall auf Flur vierundfünfzig untersucht und aufgeklärt wurde. Niemand verläßt das Gebäude. Zutritt haben nur Offiziere der Rangordnung vier. Offiziere der Klasse drei können sich jetzt auf den Flur begeben, um Nachforschungen anzustellen.«
Eine Tür öffnete sich unten im Korridor. Pushkin und Johnson rannten den Gang entlang und blieben beim Anblick der beiden betäubten Soldaten stehen. Dann hob Pushkin den Blick und entdeckte Emmett zusammen mit den zwei anderen Soldaten an seiner Seite. »Was soll das bedeuten?« fragte er wütend und ging weiter. »Bleiben Sie, wo Sie sind«, befahl Lang. Er hielt einen Betäuber in der Hand. »Sie sind verrückt!« erklärte Johnson. »Man wird Sie hinrichten!« »Alarmstufe Rot«, schrie Pushkin, »Pushkin spricht. Hier sind zwei Eindringlinge –!« Er kam nicht weiter. Ein Klicken aus dem Betäuber ertönte, und die beiden Männer fielen. Ein Keuchen durchlief diejenigen im Gang. Sie rückten gegen Lang und Kurz vor. Plötzlich sanken alle auf den Boden außer Emmett und das Paar neben ihm. »Gut!« sagte Kurz. »Ich dachte, das Gehirn würde es nicht mehr schaffen, sie früh genug einzuschläfern.« Emmett starrte auf die schlaffen Gestalten am Boden. Er war verwirrt. »Hier«, sagte Lang, »das hab ich dir mitgebracht, Keyes.« Er reichte ihm einen Betäuber und einen Phaser. »Du brauchst es wahrscheinlich noch.«
»Wer seid ihr?« wollte Emmett wissen und nahm die Waffen. »Dafür ist später Zeit«, erklärte Kurz. »Falls du dich wunderst, warum wir nicht betäubt worden sind: das verdanken wir der Kapsel; sie enthielt ein Gegenmittel. Wir haben die unsere früher genommen. Komm.« Sie stiegen vorsichtig über die liegenden Gestalten und eilten den Korridor entlang. »Halt!« brüllte der Lautsprecher. Sie schenkten ihm keine Beachtung. »Den Aufzug können wir nicht nehmen«, erklärte Lang. »Wir werden steigen müssen.« Am Ende des Ganges stießen sie auf eine Tür. Lang erprobte seinen Phaser am Schloß. Es schmolz, das Metall rann wie heißes Wachs an Tür und Rahmen hinunter. Kurz trat die Tür auf. »Halt!« kreischte es aus dem Lautsprecher. Glocken schrillten, und überall blitzte Licht auf. Sie rannten die Stufen hinauf. Zwei Treppenabsätze. Drei. Dann vier, fünf und sechs. Emmett war außer Atem, keuchte; sein Herz hämmerte, seine Lungen verlangten nach mehr Luft, als er ihnen geben konnte. Er zählte sie Anzahl der Absätze nicht mehr. Schließlich gelangten sie an eine Tür. Lang zerschmolz sie völlig.
Emmett wollte hindurchstürmen. »Warte!« schrie Lang. Fast augenblicklich färbten sich Gang und Boden auf der anderen Seite kirschrot. Emmett wurde klar, daß er geschmort worden wäre, wenn man ihn nicht zurückgehalten hätte. »Wir müssen den Turm ausschalten, sonst schafft es das Flugzeug nie!« schrie Lang. Der winzige Raum wurde unerträglich heiß. Kurz richtete den Phaser auf ein kleines Fenster auf der anderen Seite. Es schmolz. Jetzt löste sich unter der Phaserenergie die Wand auf, riß und zog Blasen. »Ich steig da hinaus«, erklärte Kurz. »Es liegt auf der geschützten Seite.« »Wir gehen alle«, antwortete Lang. Sie sprangen durch das rauchende Loch, lehnten sich gegen die Kuppel. Außer an ihrem Standort rauchte und schmolz das Dach rundum. »Es setzt nicht die volle Kraft ein«, erklärte Kurz. »Sonst ginge das ganze Dach drauf.« »Vielleicht können wir hier um die Ecke zielen«, schlug Lang vor, wandte sich zur Wand und tastete sich dem Kuppelrand entgegen. »Kommt.« Die drei näherten sich der Ecke. Lang zückte seinen Phaser, um auf den Turm zu zielen. Er zog die Hand schnell zurück und machte vor Schmerz eine Grimasse. Der Phaser klapperte
aufs Dach. »Verdammt!« fluchte er und hielt sich die verbrannte Hand. »So geht's nicht!« »Wenn wir den Turm nicht beschießen können, sind wir verloren!« rief Kurz. »Das Flugzeug kommt nicht runter.« »Schau!« Lang duckte sich und deutete. Ein Flugzeug mit einem leuchtend roten Stern zog in der Nähe steil hoch, legte sich in die Kurve und hielt auf sie zu. »Gebt's ihm!« rief Kurz und richtete seinen Phaser auf das sich nähernde Luftschiff. Emmett zielte mit beiden – Betäuber sowie Phaser – und drückte ab, während das Flugzeug so dicht vorbeisurrte, daß er das Gesicht des Piloten sehen konnte. Vor ihnen erschien plötzlich ein gezacktes Loch im Dach und vergrößerte sich schnell in ihre Richtung. Sie sprangen zur Seite. Ein Teil der Kuppel brach hinter ihnen zusammen. Jetzt blieb ihnen nur noch wenig Schutz. Das Flugzeug flog wieder an. Abermals zielten und schossen sie darauf. Es schwankte in der Luft und schoß vorbei. Ein fürchterliches Getöse, das durchdringende Kreischen zerreißenden Metalls. Flammen schossen unter ihnen empor. Lang wagte einen Blick über den zackigen Mauerrand. »Es hat den Turm getroffen!« schrie er. Dann war er auf den Beinen.
Sie standen jetzt außerhalb des Schutzes der Kuppel und feuerten ihre Phaser auf den wankenden Turm ab. Er wurde von der Hitze des schwelenden Flugzeugs und ihrer Phaser schwarz. Die Spitze neigte sich. Der Turm schwankte, dann fiel er mit einem wiederhallenden Krachen aufs Dach und brach in die darunterliegenden Gänge ein. Das ganze Gebäude erzitterte; Staub und Rauch nahmen ihnen die Sicht. »Hier herüber!« rief Lang und rannte zu einem klaren Teil des Daches. Jetzt waren viele Flugzeuge in der Luft, doch er sprang auf und ab, winkte mit den Armen. Kurz gesellte sich zu ihm. Emmett hastete hinter ihnen her. Ein langes, schwarzes Flugzeug tauchte im Westen auf und steuerte in weitem Bogen auf das Dach zu. »Komm, komm!« schrie Lang. »Mach's kurz, Mensch!« Das Luftschiff bremste zu einem schlingernden Halt, und die Tür öffnete sich. »Gut geschossen, Jungs«, lobte der Pilot. »Es ist noch nicht ausgestanden«, erklärte Lang und stieg als erster ein. Emmett war kaum an Bord, als das Flugzeug plötzlich abhob. »Wir haben die Geschwindigkeit«, erklärte Kurz, »benützen wir sie. Wir hängen sie leicht ab.«
Das Flugzeug stieg so schnell, daß sich Emmett kaum am Boden halten konnte. »Sieh dir den an!« rief Lang und zeigte mit dem Finger. »Ich seh ihn«, erwiderte der Pilot. Er drückte auf einen Knopf. Emmett hob den Kopf lang genug, um plötzlich einen Feuerball zu sehen, wo ein Flugzeug gewesen war. Der Wind kreischte an den Luken vorbei. »Ich glaube, wir haben's geschafft«, erklärte Kurz. »Ich denke nicht, daß sie uns jetzt noch einholen.«
20 Das Flugzeug flog jetzt sehr hoch. Der Pilot fing die Maschine ab, und Kurz und Lang gaben ihre Wachtposten an den Luken auf. »Tritt in die Pedale«, sagte Kurz. »Los.« »Hast du unsere Sachen mitgebracht, Spence?« fragte der Lange den Pilot. »Achtern.« »Danke. Ich hab mich noch nie in etwas so unbehaglich gefühlt. Was für ein Affenanzug!« Er stand auf, begann die Uniform abzulegen und sah dabei auf Emmett. »Du hast dich mit den Pistolen ziemlich geschickt angestellt, Keyes. Aber nach allem, was Johannes uns über dich erzählt hat, hattest du nur wenig Erfahrung damit.« »Johannes? Kennt ihr ihn?« Er nickte. »Am besten stellen wir uns gleich vor, Keyes. Mein Name ist John Gillis, das ist Stanley Norton, und der Pilot heißt Spence Givens. Wir hatten Befehl, dich rauszuhauen, und ich glaube, wir haben ihn ausgeführt. Ziemlich gute Vorstellung, meinst du nicht auch?« »Es war toll«, bestätigte Emmett. Gillis war der lange und älter, als Emmett zuerst gedacht hatte, denn in seinem braunen Haar zeigten sich an den
Schläfen graue Fäden. Er war muskulös und braungebrannt, hatte kurzgeschnittene Haare und ehrliche, freundliche blaue Augen. Norton war dunkel, untersetzt, mit entschlossenen Lippen und hellbraunen Augen. Sie legten locker sitzende hellblaue Hemden und dunkelblaue Hosen an. »Hier ist eine Montur für dich!« rief Gillis aus dem Schiffsrumpf. »Hoffentlich paßt sie.« Er warf Emmett Hemd und Hose zu. »Du ziehst deine Kluft wohl besser aus.« »Bist ein ziemlich wichtiger Mann, Keyes«, erklärte Norton. »Sonst hätten wir nie versucht, dich ihnen vor der Nase wegzuschnappen.« »Wichtig? Warum?« »Du bist immun«, erklärte Gillis. »Deshalb.« »Wenn du das Johannes gesagt hättest, als du ihn in Illinois getroffen hast, hättest du dir die ganze Qual erspart.« »Stan hat recht, Keyes. Immune Männer sind heutzutage fast unmöglich aufzutreiben. Besonders immune Männer, die die kommunistische Besatzung hassen.« »Seid ihr immun?« Gillis nickte. »Alle drei.« Er sammelte die Kleidungsstücke auf, die sie abgelegt hatten, öffnete die Luke und warf sie hinaus. »Die wären wir los, denk ich.« »Amen.«
»Wenn wir jetzt einen Ort zum Waschen hätten und was zu futtern, wären wir wieder normal. Wie lange dauert es, bis wir ankommen, Spence?« »Ungefähr fünfunddreißig Minuten.« »Wohin fliegen wir?« »Zu einem kleinen Ort in Florida.« Gillis ließ sich in einen Sitz plumpsen und grinste Emmett an. »Vermutlich wunderst du dich, worum es hier eigentlich geht.« »Ich habe die Widerstandsbewegung gesucht«, erklärte Emmett. »Es sieht so aus, als hätte ich sie gefunden.« »Johannes erzählte uns von dir. Er wollte dir in Marblehill von uns berichten, aber du bist niemals dort angekommen.« »Du bist mir vielleicht einer, Keyes«, meinte Norton und nahm vor Gillis Platz. »Verläßt einfach dein Zuhause, legst ein Parteimitglied um und zertrümmerst dann fast die Villa eines Bezirksleiters. Bist ziemlich weit rumgekommen für einen Burschen, der nicht zur Manumit gehört.« »Manumit? Pushkin hat davon gesprochen. Was ist das?« »Das ist der Name unserer Gruppe, Keyes. Sie dachten, du seist Mitglied. Wir riskieren nicht oft einen offenen Kampf. Es ist mehr ein Unternehmen auf lange Sicht.«
»Laß dich vom Namen nicht irreführen«, bat Norton. »Niemand weiß, woher er kommt.« »Er bedeutet: von der Sklaverei befreien. Eigentlich ist es ein Zeitwort. Aber man hat es die ganzen Jahre hindurch beibehalten. Ich war fünfundzwanzig, bevor ich wußte, daß sie existierte, obwohl ich schon lange vorher meine Immunität kannte. Ich hatte Glück, sie zu finden. Damals war ich unterwegs zu einem Arbeitslager. Aber diese Geschichte würde zu lange dauern. Norton ist seit seiner Geburt dabei.« »Ich kannte nie etwas anderes. Ich erlebte nicht, wie die Menschen vegetieren, jeden Monat zu ihrer Impfung pilgern und dem Feind die Stiefel lecken. Es – nun, es ist abscheulich, das ist das passende Wort dafür.« »Und dieses Flugzeug – gehört der Manumit?« »Richtig«, antwortete Gillis. »Oh, uns fehlen nicht die nötigen Hilfsmittel oder Fähigkeiten, Keyes. Nur Manneskraft. Aber wir arbeiten in dieser Richtung.« Das Flugzeug schien hoch über den Wolken zu stehen, aber es flog. »Werden sie dieses Schiff nicht aufhalten?« fragte Emmett. »Flugzeuge zum Angriff heraufschicken?« »Die Roten?« schnaubte Gillis verächtlich. »Ihre Luftwaffe existiert praktisch nicht. Wen sollten sie auch bekämpfen? Dies ist der erste Feindflug, den ich seit langer Zeit unternommen habe.«
»Abscheulich ist das Wort für das Leben unter der Herrschaft der Roten«, wiederholte Norton, »und entartet ist das richtige Wort für die Kommunisten selbst. Wir wollen sie nicht aufscheuchen und Vergeltungsmaßnahmen ausbrüten lassen.« »Hast du dich jemals gefragt, woher es kommt, daß du immun bist, Keyes?« erkundigte sich Gillis. »Ich glaube, kein Tag ist ohne diese Frage vergangen.« »Ganz einfach. Ich weiß nicht, wieviel dir bekannt ist, oder was du dir selbst zusammengereimt hast, aber der Arzt hat einfach vergessen, dich bei der Geburt zu impfen. Das Ergebnis? Du bist immun.« »Ich fürchte, ich kann dir nicht folgen.« »John meint, der Arzt habe dir keinen Bazillus eingeimpft.« »Bazillus?« Gillis lächelte. »Ich sehe, daß du nicht Bescheid weißt. Nun, die Neugeborenen werden nicht gegen die Seuche geimpft, wie der Feind jedermann glauben macht, Keyes. Sie werden mit der Seuche infiziert.« »Du meinst, den Babys wird die Seuche absichtlich eingeimpft?« »Stimmt«, erwiderte Norton. »Das ist eins der vom Feind am besten gehüteten Geheimnisse.« Gillis nickte. »Ein guter Gedanke. Man muß bis 1989 zurückgehen, um es zu begreifen. Damals wur-
den die Seuchenbomben geworfen, wie du weißt. Diejenigen, die ihnen ausgesetzt waren, bekamen die Seuche. Die Bedrohung hielt ihr ganzes Leben lang an. Sie mußten einmal im Monat geimpft werden, um den Ausbruch der Symptome zu verhindern. Aber die Bedrohung durch die Seuche dauerte für jene Menschen, die nach dem Bombenfall geboren wurden, nur wenige Monate. 1990 bestand für neugeborene Kinder keine Gefahr mehr. Die Natur besitzt die Möglichkeit, sogar die bösartigsten Bakterien zu zerstören. Aber der Feind hatte damit nicht gerechnet. Er dachte, wir würden ständig der Ansteckung ausgesetzt bleiben. Als die Seuche für ein Neugeborenes ihre Kraft verlor, beschloß der Feind, den Neugeborenen die Krankheit durch Impfung zu übertragen – um sicher zu stellen, daß sie sie bekommen würden und den Rest ihres Lebens Schutzimpfungen erhalten müßten. Jedes geimpfte Kind stünde unter ihrer Herrschaft, denn es wäre auf Grund seiner Gesundheit von ihnen abhängig.« »Verstehe«, meinte Emmett. Viele Dinge wurden jetzt klarer: warum die Roten soviel Wert auf eine Geburtenerlaubnis legten; warum sie es zum Gesetz machten, daß alle Kinder im Krankenhaus zur Welt gebracht werden mußten; warum sie ein solches Gezeter wegen ungesetzlicher Schwangerschaft erhoben
und an denen in dieser unglücklichen Lage ein solches Exempel statuierten. Und dann dachte er an die Mütter. Sie wünschten ihre Kinder tatsächlich im Krankenhaus zur Welt zu bringen, weil sie dachten, das sei die Möglichkeit, sie vor der Seuche zu bewahren! Welche Ironie! »Johannes ist ein Manumit-Agent«, erklärte Gillis weiter. »Seine Hauptaufgabe besteht darin, Frauen zu suchen, die in Hinblick auf Besatzungsnormen ungesetzlich schwanger sind. Er sagt, du hättest ihn einmal getroffen, als er eine Gruppe von einer Station zur anderen führte.« »Ich habe ihn getroffen, aber ich wußte nicht, was er tat; bis ein Zigeunermädchen namens Ivy mir mitteilte, er habe den Frauen versprochen, ihre Kinder würden in Frieden und Sicherheit und ohne Angst vor Vergeltungsmaßnahmen zur Welt kommen. Ich verstehe jetzt, daß der eigentliche Zweck darin bestanden haben muß, die immunen Babys für Manumit zu gewinnen. Ist das richtig?« »Stimmt«, antwortete Gillis, »denn es sind die immunen Soldaten der Zukunft. Die Armee der Immunen wird eines Tages die kommunistische Weltherrschaft zerstören.« »Männer wie Johannes«, erklärte Norton, »müssen kleine Gruppen anwerben, wie zum Beispiel den Zigeunerstamm, bei dem du warst. Sie werden davon
unterrichtet, daß wir den illegal Schwangeren helfen und eine gesunde, besatzungslose Erziehung für ihre Kinder versprechen. Das genügt gewöhnlich. Es gibt eine festgelegte Zeit sowie einen Ort, an den diese Frauen gehen. Männer wie Johannes führen solche Gruppen von Station zu Station, bis sie ihren Bestimmungsort erreichen.« »Schwangere Frauen«, fügte Gillis hinzu, »brauchen keine Impfspritze. Das ist nicht allgemein bekannt, und die Besatzungsmacht klärt sie nicht über den Unterschied auf.« »Wenn alle eure Gruppen so zuverlässig sind wie jener Zigeunerstamm, bei dem ich war, dann muß sich euer Plan verwirklichen lassen.« »Oh, wir haben die verschiedensten Mitarbeiter«, sagte Gillis. »Sogar einige, die am Tag als Kollaborateure auftreten und uns in der Nacht helfen.« »Es ist eine letzte Zuflucht«, sagte Norton, »aber besser als der Tod im Arbeitslager. So argumentieren sie.« Nach einer Weile fragte Emmett: »Ich verstehe nicht, wie ihr damit durchkommt. Wissen die Besatzer denn nicht, was ihr vorhabt?« Gillis zuckte die Achseln. »Sie wissen, daß etwas im Gange ist, sind jedoch nicht sicher, was. Die offizielle Version lautet, daß wir irgendwelche Geldgeschäfte betreiben, indem wir diese Frauen irgendwo-
hin verfrachten, damit sie ihre Babys zur Welt bringen können. Aber obwohl sie den Ort suchen, können sie ihn nicht finden. Und die Frauen kehren nie mehr heim, die Kinder werden nie wieder gesehen. Also wissen sie nicht, was davon zu halten ist.« »Ich glaube nicht, daß sie sich darüber Sorgen machen«, hakte Norton ein. »Oh, sie haben schon hin und wieder eine Verlegung verhindert, aber die meisten können wir zur Endstation schleusen.« »Endstation? Das war's, was Pushkin von mir herausbekommen wollte.« »Warum auch nicht?« meinte Gillis. »Er dachte, du seist einer von uns. Er tut es wahrscheinlich noch immer, wenn er von der Betäubungsdosis aufwacht, die ihm das Gehirn des Gebäudes verabreicht hat.« »Aber was ist das?« »Ein Bestimmungsort, Keyes. Er kann überall liegen. Die Endstation wechselt immer. In den Vereinigten Staaten lag sie in der Großen Salzseewüste, in der Mojave-Wüste, in den Black Hills, auf einem Plateau in den Rocky Mountains –« »Du mußt verstehen«, unterbrach Gillis, »daß die Endstation sich nicht unbedingt in den Vereinigten Staaten befinden muß. Manchmal ist sie in Schweden, Australien oder Südafrika – auf der ganzen Welt.« »Richtig. Es gibt kein festes Hauptquartier. Und deshalb macht der Feind nicht viel Aufhebens darum.
Berichte aus abgelegenen Gebieten werden nicht beachtet, wenn sie spärlich und weltweit auftauchen. Du siehst, daß Manumit nicht nur die Vereinigten Staaten, sondern auch die Welt befreien will.« Emmett runzelte die Stirn. »Aber wie könnt ihr alle diese Frauen und Kinder die ganze Zeit verlegen?« »Ich verstehe nicht, was du meinst.« »Nun, wie lange geht das schon so?« »Grob geschätzt ungefähr zehn Jahre.« »Nun, wieviele Kinder sind dann während dieser Zeit auf die Welt gekommen?« »Etwa zehntausend.« »Wie könnt ihr zehntausend Kinder und Mütter von einer Endstation zur anderen verlegen?« »Jetzt versteh ich, was du meinst.« »Weil«, schaltete sich Norton ein, »die Frauen und Kinder nicht auf der Erde leben.« »Nicht auf der Erde!« »Richtig«, bestätigte Gillis grinsend. »Sie leben auf dem Mars.«
21 Die Brandung wogte und röhrte entlang der endlosen, verlassenen Küstenlinie, und Gischt sprühte hoch in den Himmel. Es war ein abgelegener, von Menschenhand unberührter Ort, eine Sandwüste aus Felsgestein und Muschelablagerungen. Aus dem Dunst am nördlichen Horizont weit draußen auf dem Meer tauchte das Flugzeug auf, ein Fleck, der größer wurde, während er sich mit hoher Geschwindigkeit vom Himmel her näherte. Schließlich überflog es den Strand; sein Zischen verlor sich zwischen den Bäumen weiter im Innern und den Wellen an der Küste. Es kurvte abermals weit aufs Meer hinaus, dann kam es in die Nähe der sich brechenden Wogen und trieb sanft auf den Sand. Eine Tür öffnete sich. Gillis war als erster im Freien und sprang federnd in den Sand; seine Augen durchforschten den Wald im Westen, dann blickte er aufs Meer hinaus. Norton folgte als zweiter. Er landete ein wenig schwerer und schaute aufs Meer. Dann sprang Emmett herunter. Es war warm und feucht. »Kommst du nicht raus, Spence?« fragte Gillis und spähte in das Luftschiff. »Ich bleib lieber sitzen«, antwortete Givens. »Wir müssen eventuell schnell aufbrechen.«
»Schade, daß wir nicht schwimmen gehen können«, bedauerte Norton. »Wir können uns wenigstens waschen«, meinte Gillis. »Das heißt, falls du Salzwasser ausstehen kannst. Komm, Keyes.« Sie gingen zum Wasser und plantschten darin, wuschen sich den Grind von Händen und Gesichtern. »Wann ist das U-Boot fällig?« erkundigte sich Emmett. »Es ist noch ziemlich weit draußen auf dem Meer«, antwortete Gillis. »Wird noch ein Weilchen dauern.« »Ich verstehe nicht, warum ihr nicht das Flugzeug nehmt. Wenn man damit überallhin fliegen kann, warum sich mit einem U-Boot abmühen?« »Nicht genug Platz im Flugzeug. Wir müssen ein Kontingent SFs – so nennen wir schwangere Frauen – in Caracas auflesen und sie zur Endstation bringen. Diesmal ist es eine Insel vor Südamerika. Du wirst ja sehen.« Sie gingen wieder zum Flugzeug und setzten sich in dessen Schatten. »Hast du Zigaretten, Spence?« fragte Norton. »Brauch ich nie«, erwiderte Spence. »Du kannst aber gern meine Pfeife benützen. Willst du?« »Mir ist alles recht«, erwiderte Norton und stand auf. Er nahm Pfeife und Tabaksbeutel, die ihm Givens durch das Flugzeugfenster reichte. »Warum erzählst du Keyes nicht von deinem Va-
ter, Stan?« fragte Gillis. »Das wird ihn eher verstehen lassen, wie alles angefangen hat.« Norton füllte die Pfeife mit Tabak. »Das ist eine schöne Geschichte, Keyes. Eine schöne Geschichte.« Er lehnte sich gegen ein Flugzeugrad, Rauch aus der Pfeife wirbelte über seinen Kopf und wurde vom Wind entführt. »Die Bomben fielen 1989, und sie waren alle Todeskandidaten; alle, die an geheimen Regierungsprojekten gearbeitet hatten. Mein Vater – Lyle Norton – war Offizier auf einem der Atom-U-Boote – so wie jenes, welches wir bald draußen sehen werden.« Er deutete mit der Pfeife aufs Meer. »Er erzählte mir oft, was er empfand, als er nach Norfolk zurück mußte und wußte, daß seine Arbeit vorbei sei. Es war das Ende der Kriegsflotte der Vereinigten Staaten. In Wahrheit das Ende sämtlicher Kriegsflotten. Selbst der kommunistischen. Was für einen Sinn hatten sie, wenn es keine Kriege mehr zu führen gab? Aber mit seinen Fähigkeiten wurde mein Vater als Ingenieur in einem Betrieb für Reaktormotoren untergebracht.« Norton zuckte die Achseln. »Es gab dort viele Männer, Männer, die bei weitem geistreicher waren als mein Vater. Sie hatten an Regierungsprojekten wie Raketenantrieb und Raummedizin gearbeitet, hatten den Weltraumflug vorbereitet, der zum Stillstand
kam, als die Kommunisten übernahmen. Die Roten waren am Weltraum nicht mehr interessiert. Warum sollten sie auch? Plötzlich gehörte die ganze Welt ihnen. Sie besaßen alles. Also wurden die meisten wie mein Vater Fabrikzentren zugeteilt. Aber nach und nach verschwanden die Spezialisten. Ein Mann namens Dr. Lawrence Brinkham begann mit Manumit in den Rocky Mountains, lockte unzufriedene Wissenschaftler in das Labor, das er im massiven Fels gebaut hatte. Er und die wenigen anderen arbeiteten einen Langzeitplan aus. Sie besaßen Geld, um Impfampullen von bestechlichen Besatzungsbeamten zu kaufen, oder sie stahlen sie, falls dies nicht möglich war. Es gab viele Engpässe, erzählte mir Vater. Viele Todesfälle. Brinkham verminte das Labor sogar, um es in die Luft zu sprengen, falls es der Feind jemals finden sollte. Aber das geschah nie. Mit Vater nahm man 1991 Verbindung auf. Er verschwand und schaffte es bis zu einem Treffpunkt, von dem aus er mit verbundenen Augen zum Labor transportiert wurde. Während seines Aufenthalts dort heiratete er eine junge Bakteriologin, und 1996 kam ich zur Welt. Es war ein hübscher Ort, wie ich mich entsinne – eine riesige, hellerleuchtete, mit Arbeitsräumen durchsetzte Höhle. Sie würde mir jetzt wahrscheinlich kleiner vorkommen, sollte ich sie sehen, denn sie existiert noch immer.
Aber bleiben wir beim Thema! Jene Leute wußten, was zu tun war. Sie besaßen Energie, die zuvor oder seither kaum ihresgleichen fand. Sie kannten keinen Schlaf, wußten nicht, wann sie essen mußten oder auch nur, was sie aßen. Sie arbeiteten Tag und Nacht und Anfang 2004 schickten sie das erste Raumschiff hinauf, um den Grundstein für die erste Raumstation zu legen. Sie pendelten ein Jahr lang hin und her, um sie zu vollenden. Aber damit nicht genug. Sie errichteten im Jahr darauf die zweite. Ich war erst ein Kind, doch ich erinnere mich daran, wie sie darüber diskutierten, ob der Russe dazu imstande wäre, dem Schiff durch Radar auf die Spur zu kommen. Aber sie machten sich grundlos Sorgen. Sie hatten nicht wahrgenommen, wie weit die Roten degeneriert waren, denn diese bemannten nicht einmal mehr die Radarstationen. Was für einen Zweck hätte es gehabt? Es gab keinen Feind, vor dem gewarnt werden mußte. 2006 schickten sie das erste Raumschiff um den Mond und kehrten wieder zur Raumstation zurück. Im nächsten Jahr fuhr das Schiff zum Mars. 2008 war die erste Siedlertruppe zum Mars unterwegs, und man führte regelmäßige Flüge durch.« Norton musterte den Pfeifenkopf. »Die ganze Zeit, in der man am Raumflug arbeitete, verbrachten meine Mutter und andere Bakteriologen ihr Leben mit
dem Versuch, das Geheimnis um die Seuche zu ergründen. Aber sie schufteten vergeblich. Sie waren nie imstande, eine Antwort zu finden, und man mußte mit jedem Schiff Impfstoff schicken; es schien, als würde man ihn ständig liefern müssen. Und manchmal war es fast unmöglich, das Serum zu bekommen. Meiner Mutter gelang es schließlich, eine Methode der Immunisierung zu finden, die letztlich allgemein zur Norm wurde. Sie arbeitete ein System der Verminderung aus – eine Behandlung, die einer Entziehungskur von Drogensüchtigen ähnelt mit Hilfe anderer Seren, die sie erfand. Sie entdeckte, daß wenn man jeden Monat immer weniger Impfstoff spritzt, das Blut mit anderen Gegenkörpern zusammen der Seuche widerstehen kann; die Person wird auf diese Weise immun und benötigt nie wieder eine Spritze. Es ging bei Tierversuchen gut, aber bei den ersten Freiwilligen gab es eine Tragödie. Meine Mutter befand sich unter den ersten fünf. Sie sind alle gestorben. Doch andere nahmen die Arbeit auf, das System wurde verbessert, und von der zweiten Fünfergruppe überlebte einer und blieb immun. Es stellte sich schließlich heraus, daß nur einer von fünf eine Chance hat, auf diese Art immun zu werden. Und so ist es bis heute noch. Aber dann ging das Geld zu Ende, die Quellen für den Impfstoff versiegten, und die Leute der Manumit
waren es müde, davon abhängig zu sein. 2008 beschloß man, darüber abzustimmen, ob alle in der Manumit die Behandlung auf sich nehmen sollten oder nicht; man wußte, daß es den Tod für vier Fünftel bedeuten würde. Alle wünschten die Erde zu verlassen, verstehst du; sie wollten Brinkhams Labor schließen und alles zu den Raumstationen und auf den Mars verfrachten. Dies konnte jedoch nicht geschehen, wenn nicht alle immun waren. Die Abstimmung lautete fast einstimmig für die Behandlung. Sie unterzogen sich ihr alle: auf der Erde, den Stationen und dem Mars. Die Überlebenden begruben die Toten. Unsere Zahl schrumpfte von zweitausend auf etwas über vierhundert zusammen. Mein Vater gehörte zu den Überlebenden, aber er erwies sich als allergisch gegen den Marsstaub und unterlag ihm, wie viele andere. Mitte 2009 war Manumit auf dem Mars; nur einige immune Agenten blieben auf der Erde zurück. Sie zogen die ersten SFs ein, die in diesem Jahr auf dem Mars landeten, und das erste Kind wurde geboren – Mars der Erste nannte man es. Er ist jetzt zehn Jahre alt. Es war ein kleiner Anfang, die Siedlung winzig, die Mühsal fast unerträglich, aber der Kern der Immunen wuchs. Jetzt gibt es dort zehntausend Kinder und etwa zweitausend Frauen, die als Lehrerinnen, Schwestern, Köchinnen und alles nur erdenkliche arbeiten; außerdem dreihundert immune Männer, die
alle den Tag vorbereiten, an dem die Erde ihnen wieder zur Heimat werden wird.« Norton zündete die Pfeife abermals an und paffte schweigend, während seine braunen Augen aufs Meer starrten. Emmett folgte seinem Blick, sah den Küstenbogen, die Brecher, und war begeistert über den herrlichen Ozean und die erstaunliche Geschichte, die Norton erzählt hatte. Er hatte gewußt, daß es irgendwo Menschen geben würde, die unter der Tyrannei nicht zufrieden sein konnten, daß kluge Menschen eine Möglichkeit entdecken würden, sie zu bekämpfen. Und hier war die Manumit, das, wonach er gesucht hatte; seine Aufgabe stand jetzt klar vor Augen. Er war nicht länger ein Mann, der einer Gefahr entfloh und in die nächste stolperte. Er war nicht länger ein Einzelgänger, der die Armee der Freien suchte. Er hatte sie gefunden, sein Lebensziel entdeckt. Manumit. »Du wunderst dich vielleicht über diese zweitausend Frauen, Keyes«, sagte Gillis. »Es gibt zehntausend Kinder, wie du weißt, und jedes davon hatte auf dem Mars eine Mutter. Den Frauen wird an ihrer Endstation mitgeteilt, daß sie zum Mars fliegen, um ihre Babys zur Welt zu bringen; daß sie danach eine Behandlung zur Immunisierung erhalten, bei der nur eine von fünf überleben wird. Es wird ihnen auch mitgeteilt, daß ein Flugzeug sie hierherbringt, wenn
jemand nach Hause zurückkehren will. Aber bis heute wollte noch keine. Jede wünscht sich, ihr Kind frei von der Unterdrückung geboren zu wissen.« »Es ist jammerschade, daß die Väter nicht mitgehen und gleichfalls ihre Chance wahrnehmen können«, sagte Emmett. »Manchmal tun sie's. Es ist die Sache des für die SF-Einziehung verantwortlichen Agenten, beide – Männer und Frauen – zu überprüfen.« Givens beugte sich aus dem Flugzeugfenster. »Bist du fertig mit meiner Pfeife, Stan?« »Vermutlich.« Norton stand auf, klopfte den Pfeifenkopf an seinem Schuh aus. »Ewing ist noch drei Meilen draußen«, kündigte Gillis an. »Hab's gehört.« Emmett blickte zu Gillis. »Ich habe hier gesessen, und ihr habt euch nicht von der Stelle gerührt. Woher wißt ihr, daß dieser Ewing noch drei Meilen weit draußen auf dem Meer ist?« »Weil eine kleine Metallvorrichtung hinter meinem Ohr mir dies mitteilt.« »Pushkin erwähnte ein Metall, das zerschmilzt, wenn man stirbt. Ist es das?« »Genau das tut es, wenn man versucht, einen Agenten unter hypnotische Kontrolle zu bringen.« »Erinnerst du dich, daß ich sagte, wir hätten zwei
Raumstationen, Keyes?« fragte Norton. »Eine davon ist jederzeit über dir. Was immer ich sage, kann auf Station Eins gerade gehört werden. Was immer du sagst, hört man dort auch. Die kleinen Metallsender strahlen aus und empfangen. Wir stehen ständig mit jeder Station und – als Folge davon – mit jedem anderen Agenten auf der Erde in Verbindung. Du wirst deinen auf dem Mars bekommen.« »Auf dem Mars?« »Natürlich«, erwiderte Gillis lachend. »Wofür, glaubst du, haben wir dich rausgeholt? Du gehst auf den Mars und erhältst dort Ohrentelefon sowie Schulung. Es wird ein bis zwei Jahre dauern, vielleicht ein wenig länger. Dann kommst du zurück und beginnst zu arbeiten.« Emmett blickte ihn lange an. »Du stehst mit jedem anderen Agenten in Verbindung?« Er erinnerte sich an Johannes' Frage nach der Seriennummer des Betäubers und seine gemurmelten Worte, während er im Geräteschuppen auf dem Sägebock saß. Jetzt war der Grund dafür klar. Er hatte die Raumstation um Auskunft gebeten! »Natürlich. Hab ich das nicht gerade gesagt? Warum?« »Du könntest jetzt mit Johannes Verbindung aufnehmen?« »Über die Station ja.«
»Nun –« Er versuchte seine Erregung im Zaum zu halten. »Könntest du dich nach dem Zigeunerstamm erkundigen, bei dem ich war? Und – und könntest du nach einem Mädchen namens Ivy fragen?« Gillis wandte die Augen ab. »Da brauche ich nicht zu fragen, Keyes. Ich hab schlimme Nachrichten für dich.« »Schlimme Nachrichten!« »Zumindest einige davon.« Er preßte die Lippen zusammen, runzelte die Stirn und blickte in den Sand. »Die Zigeunergruppe wurde ausradiert. Sie versuchten ihren Häschern zu entkommen. Genau das erwartete die Besatzungspolizei von ihnen. Es machte die Sache leichter für sie.« »Ivy – auch?« Seine Stimme war ein Flüstern; die Hände hatte er an den Körper gepreßt, seine Fingernägel zerkratzten die Handflächen. »Diese Nachricht ist nicht so arg, Keyes.« Gillis blickte auf und grinste. »Sie konnte entkommen, sagt Johannes.« »Gott sei Dank«, stöhnte Emmett erleichtert. »Gott sei Dank. Weiß Johannes, wo sie ist?« »Nun –« Gillis schob die Zunge in die Backe und warf Norton einen Blick zu. »Vielleicht weiß er es nicht direkt, aber –« »Um Himmels willen, sag's ihm«, forderte Norton. »Ich kann's auch nicht mehr erwarten.«
»Sie wird in ungefähr zwei Minuten hier sein«, erklärte Gillis. »Johannes behauptete, sie habe geschworen, sich umzubringen, wenn sie dich nicht wiedersehen könne, forderte, daß er sie zu dir bringe. Es gab einfach kein Halten, erklärte er. Eine schöne Frau hast du da bekommen, Keyes.« »Sie kommt hierher?« »Ich würde auf diese Bäume dort achten, wenn ich du wär, Keyes«, riet Gillis, stand auf und deutete zum Wald hinter dem Strand. »Es sollte eine Überraschung sein.« Emmett sprang auf und lief um das Flugzeug herum; er schirmte die Augen mit der Hand ab und blickte über die Baumwipfel. Zuerst war da nichts, dann summte plötzlich ein Flugzeug über die Bäume, zischte an ihnen vorbei und machte einen weiten Bogen über den Strand. Es wendete und landete dicht neben ihnen sanft im Sand. Die Tür ging auf. Ivy sprang heraus. Sie stand vor ihm: eine adrette Gestalt, schlank und dunkel; das Haar flatterte im Wind, die Augen strahlten. »Ivy!« Emmett rannte los. Ivy rannte los. Er preßte sie fest an sich und spürte, daß sie zitter-
te. Er küßte sie, betastete ihre Wangen, streichelte mit der Hand ihr Haar. »Oh, Em! Ich hatte solche Angst, daß du verloren wärst«, sagte sie und klammerte sich an ihn. Und er küßte sie abermals und wollte sie halten, um sicher zu gehen, daß dies Wirklichkeit war und tatsächlich Ivy, die er kannte und liebte. »Was ist denn!« brüllte eine Stimme, und Johannes näherte sich ihnen. »Zählt ein alter Freund nicht? Schließlich hab ich sie dir gebracht, Mensch.« Der blonde Mann war Johannes. Groß, kräftig und blauäugig. Er lächelte. »Danke«, sagte Emmett und packte warm seine Hand. »Danke, Johannes, daß du sie mir gebracht hast.« »Das würde ich für jeden in der Manumit tun, Keyes«, erwiderte er. Ivy nahm seinen Arm. »Johannes hat mir alles erzählt: über Manumit, warum all diese Frauen über das Land gebracht werden und wie sie auf den Mars gelangen. Ich hatte keine Ahnung! Nun, er wird bestimmt aufregend, unser Flug zum Mars. Ist das nicht wunderbar?« Er drehte sie zu sich herum, so daß sie ihm in die Augen sehen mußte. »Unser Flug zum Mars, Ivy?« »Natürlich! Du denkst doch nicht, du könntest mich allein zurücklassen, oder?«
»Aber du darfst dich nicht der Behandlung unterziehen, Ivy! Nur einer von fünf schafft es. Auf dem Mars gibt es keinen Impfstoff, wie du weißt.« »Das macht mir nichts aus, Em. Ich gehe mit dir.« Emmett blickte hilflos in die Runde. Die anderen wandten die Augen ab. Er drehte sich wieder dem Mädchen zu. »Ich liebe dich, Ivy. Glaub mir, ehrlich. Aber ich will nicht, daß du stirbst.« Sie blickte ihn ruhig an. »Ich wäre lieber tot, als zurückgelassen zu werden, Em.« »Das U-Boot ist da!« schrie Spence. Sie blickten aufs Meer. Es erschien Emmett noch weit draußen, ein Fleck auf dem Wasser. Aber es war da. »Wir gehen besser«, riet Gillis. »Ewing bleibt nicht gern lang an der Oberfläche, wie ihr wißt.« Sie gingen an Bord des Flugzeugs. Kurz darauf schwebte es aufs Meer hinaus.