Seewölfe 191 1
Kelly Kevin 1.
Die Luft erzitterte wie vom Heulen verdammter Seelen. Schräg peitschten Schneeflocken üb...
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Seewölfe 191 1
Kelly Kevin 1.
Die Luft erzitterte wie vom Heulen verdammter Seelen. Schräg peitschten Schneeflocken über die Decks der „Isabella“: ein mörderischer, blendend weißer Wirbel, der die Umgebung verschlang und jede Sicht nahm. Vom Achterkastell aus war kaum die Kuhl zu erkennen. Pete Ballie, der Rudergänger, hatte seine ankerklüsengroßen Fäuste in dicken Fellhandschuhen verborgen, da ihm sonst die Finger an den Speichen des Rades festgefroren wären. Spiegelndes Eis überzog die Planken, Eis ließ die ausgespannten Manntaue glitzern. Der Sturm tobte und orgelte, schrillte in Wanten und Pardunen und steigerte sich zum Brüllen, als sei die Hölle selber aufgebrochen. Auf dem Achterkastell hatte sich Philip Hasard Killigrew mit einem Tampen an der Schmuckballustrade festgelascht. „Fier weg die Blinde!“ brüllte er gegen den Wind. „Geit die verdammte Fock auf, bevor sie in Fetzen geht! Tempo!“ „Tempo, ihr verlausten Eisbären!“ dröhnte Ed Carberrys Stimme von der Kuhl. „Smoky, Stenmark - ich zieh euch die Haut in Streifen ab, wenn ihr eure müden Knochen nicht etwas schneller bewegt. Ihr glaubt wohl, heute sei Weihnachten, was, wie?“ „Aye, aye!“ tönte es zweistimmig durch das Toben der Elemente. Der eiserne Carberry hängte gleich noch ein paar Flüche an, weil sich das „Aye, aye“ seiner Meinung nach auf die Sache mit dem Weihnachtsfest bezog und weil es sich, verdammt und zugenäht, einfach nicht gehörte, mitten in einem eisigen Polarsturm den Profos zu verulken. Inzwischen hatten sich Stenmark und Smoky an den Manntauen entlang gehangelt und die kleine Sturmfock auf gegeit. Die „Isabella“ trieb vor Topp und Takel, doch das wäre ohnehin passiert, sobald das spröde, vereiste Segeltuch den Winddruck nicht mehr ausgehalten hätte. Wirbelnder
Der Schiffbruch
Schnee und kochender Gischt hüllten das Schiff ein. Ab und zu erzitterte der Rumpf vom Stoß der Eisschollen, die sich knirschend und ächzend an den Bordwänden entlangschoben. Der Sturm nahm noch zu, rüttelte an den Masten und ließ die „Isabella“ immer wieder so schwer nach Backbord krängen, daß sie einen Alptraum von Zeit brauchte, um sich wieder aufzurichten. Dan O'Flynn hing wie ein Klammeraffe in den Luvwanten des Fockmastes und versuchte, in dem weißen, wirbelnden Chaos etwas zu erkennen. Der Sturm zerrte an ihm, durchdrang schneidend die dicke Fellkleidung und peitschte sein Gesicht, dessen Haut sich völlig taub anfühlte. Dan dachte an Ferris Tuckers kostbaren Silberbarren-Ofen in der Mannschaftsmesse, aber dort konnte sich im Augenblick ohnehin niemand wärmen. Feuer im Schiff war das letzte, was sie bei diesem Höllensturm gebrauchen konnten. Obwohl der junge O'Flynn im Augenblick in einer Stimmung war, in der ein schönes heißes Feuer keinen Schrecken für ihn hatte. „Wahrschau! Die Rah!“ brüllte jemand. Batutis Löwenstimme. Dan warf erschrocken den Kopf herum. Schattenhaft sah er, wie der schwarze Mann aus Gambia eine kleinere, dick vermummte Gestalt am Schlafittchen packte und zur Seite riß – Sekunden, bevor die Großmars-Rah auf die Kuhl krachte. Auf der dünnen Eisschicht schlidderte sie nach Backbord, krachte gegen das Schanzkleid und wurde hochgeschleudert. „Rettet sie!“ tönte Ferris Tuckers Stimme von irgendwoher. Und dann tauchte der rothaarige Schiffszimmermann selbst auf, ließ das Strecktau fahren und warf sich der Länge nach auf die Planken, um das kostbare Holz nicht über Bord gehen zu lassen. Daß er dabei beinahe selbst über Bord gegangen wäre, wurde ihm erst klar, als Matt Davies ihn gerade noch mit seiner Hakenprothese erwischte.
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„Wohl übergeschnappt. du rothaariger Affe!“ brüllte der Profos. „Selber übergeschnappt, du Enkel einer Seekuh!“ schrie Ferris Tucker zurück. Über das Heulen und Brausen des Sturms hinweg schnauzten sie sich an, daß es eine Pracht war. So richtig herzerwärmend! Falls es in diesem verdammten Norden außer Feuer und Rum etwas gab. das einem das Herz oder gar die Füße und den Rest der Anatomie wärmen konnte. Zwei Glasen später knickte der Besanmast weg. Wie ein gebrochener Arm hing er nach Backbord. Nur noch ein Knäuel von halb zerfetzten Wanten und Stagen verband ihn mit dem zersplitterten Stumpf. Unter normalen Umständen hätten sich die Männer mit Äxten und Entermessern auf das Tauwerk gestürzt, um den Mast über Bord gehen zu lassen. Aber auf einem Schiff, dessen Holzvorräte bis zum letzten Zahnstocher verbraucht waren, konnte von normalen Umständen nicht mehr die Rede sein. Hasard löste blitzartig den Slipknoten, mit dem er sich an der Balustrade gesichert hatte. Ferris Tucker schrie auf wie ein verwundeter Löwe und war schneller auf dem Achterkastell, als das irgendjemand für möglich gehalten hätte. „Haltet ihn!“ brüllte er. „Wenn das Ding auf Tiefe geht, sind wir im Eimer! Himmelarsch, beeilt euch!“ Genau das war der Augenblick, in dem Dan O'Flynn an Backbord einen dunklen Schatten im Schneegestöber zu erkennen glaubte. „Wahrschau!“ schrie er mit voller Lungenkraft. „Riff querab Back ...“ Die letzte Silbe blieb ihm in der Kehle stecken. Ein Ruck erschütterte das Schiff. Dumpfes Krachen und Knirschen mischte sich mit dem Heulen des Sturms. Eine unsichtbare Gigantenfaust packte die „Isabella“, schüttelte sie einmal kurz — und dann rührte sie sich nicht mehr von der Stelle. Smoky, Stenmark und Batuti zappelten an den Manntauen.
Der Schiffbruch
Ferris Tucker umarmte den abgeknickten Besanmast. Ed Carberry war ausgerutscht und hielt sich am Fuß des Schiffszimmermanns fest. Und Hasard, der quer über das Achterkastell geschliddert war, knallte mit dem Bauch gegen das Backbord-Schanzkleid und gewann eine erstklassige Aussicht nach unten. Schwarze Umrisse im Schneegestöber. Riffe! Scharf und unheildrohend ragten die Felszacken empor, von kochendem Gischt umgeben, mit schimmerndem Eis überzogen. Irgendein Zufall ließ die ganze Bescherung für Sekunden deutlich hervortreten. Dann fegte eine neue Sturmbö darüber hinweg und verhüllte alles mit einem Schleier wirbelnder Schneeflocken. „Wir sind aufgebrummt!“ verkündete Dan O'Flynn überflüssigerweise. Hasard sagte nur ein einziges Wort. Aber das war von der Art, bei der selbst der Teufel errötet wäre. * Einen Moment schien alles mit Ausnahme des Sturms den Atem anzuhalten. Die Männer klammerten sich dort fest, wo sie gerade waren, lauschten dem dumpfen Knirschen, starrten in das weiße Chaos ringsum. Ed Carberry hing immer noch an Ferris Tuckers Fuß, und Tucker umarmte immer noch den Besanmast. Der Seewolf hielt sich am Schanzkleid fest und drehte sich um. Auf der Kuhl peilte der Kutscher aus seiner Kombüse. Gleichzeitig wurde das Schott des Achterkastells aufgerammt, und ein paar weitere Gestalten erschienen auf der Bildfläche. Siri Tong war so vermummt, daß man ihre verführerischen weiblichen Formen nicht einmal mehr ahnen konnte. Von den Zwillingen war nicht viel mehr als die blaugefrorenen Nasenspitzen zu sehen. Mit ungebrochener Neugier spähten Hasard und Philip in die tobende weiße Hölle. Hinter ihnen ragte die mächtige Gestalt Big Old Shanes auf. Breitbeinig stand er da, die Füße mit den Fellstiefeln
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im Schott verkeilt, die Hände frei, um die beiden kleinen Seewölfe notfalls blitzschnell am Kragen packen zu können. Aber das war überflüssig. Die Zwillinge hatten schon mehr als einen Sturm erlebt, und mit den Tücken vereister Planken und glitschiger Taue waren sie inzwischen auch vertraut. Und den Umgangston eines gestandenen Seemanns im Sturm hatten sie sich von Ed Carberry abgeschaut, wie sie jetzt wieder mal bewiesen. „Ist der verdammte Kahn mit etwas zusammengestoßen?“ schrie der kleine Hasard lauthals. „Auf ein Riff gebrummt!“ schrie Dan O'Flynn zurück, der seinen nutzlos gewordenen Ausguck-Posten in den Wanten verlassen hatte. „Scheiß-Riff!“ kommentierte Hasard junior. „Mist, verdammter!“ tat Philip seinen Senf dazu. Die Rote Korsarin hatte sich über die Kuhl gehangelt und enterte geschickt den Niedergang zum Achterkastell hoch. Schneeflocken hingen an ihren langen Wimpern, die dunklen Mandelaugen kniffen sich zusammen. Sie wollte etwas sagen, aber sie kam nicht mehr dazu. Unter der Gewalt einer neuen Sturmbö holte die „Isabella“ beängstigend nach Backbord über. Etwas knirschte und schabte - an Steuerbord, nicht an Backbord. Keine Felsen, sonder das Eis. das Sturm und Seegang gegen das Schiff trieben und das sich binnen kurzem zu bedrohlichen Bergen auftürmen wollte. Der Seewolf stand immer noch am Schanzkleid. Wenn ihm nicht der weiße Flockenwirbel die Sicht nahm, konnte er deutlich die scharfen Felszacken sehen. Wie Nadeln ragten sie empor. Nadeln, die dem Schiff unweigerlich den Rumpf abreißen würden, wenn die Gewalt des Sturms und der mörderische Druck des Schelfeises sie zwischen die Riffe warf. „Ed! Ferris!“ schrie der Seewolf. „Laßt endlich den verdammten Mast los, zum Teufel!“
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„Dann geht er außenbords!“ brüllte Tucker empört. „Na und? Wir brauchen ihn außenbords! Und zwar, um diesen dreimal verfluchten Kahn abzustützen, bevor er aufgespießt wird - geht das in deinen Schädel?“ Nein, das ging nicht in Ferris Tuckers Schädel. Jedenfalls nicht sofort. Der riesige Schiffszimmermann sah aus. als sei er überzeugt davon, der Rest der Menschheit habe den Verstand verloren. Widerwillig gab er seine innige Umarmung mit dem Besanmast auf und wühlte sich durch das Gewirr aus Segelfetzen, Gaffelrute und peitschenden Stagen, bis er ebenfalls einen Blick über das Schanzkleid werfen konnte. „Ach du meine Fresse“, sagte er ergriffen. Und dann, als wieder eine Eisscholle den Schiffsrumpf erschütterte, sprang der rothaarige Hüne auf wie ein Kastenteufel und schien sich in einen Orkan zu verwandeln, der dem Schneesturm um nichts nachstand. „Hopp-hopp, ihr lahmen Säcke! Schickt endlich den verdammten Mast über Bord! Ed, du blöder Riesenaffe, was stehst du herum und glotzt? Sten, Smoky, Batuti — außenbords mit euch und den elenden Mast wahrnehmen! Ich brauch die Gaffelrute und die Marsrah und eine verdammte Menge Holzkeile! Und Sandsäcke! Irgendwelches Zeug zum Verdämmen! Al, du gestreifter Kanonensohn, willst du dich vielleicht mal bewegen, oder soll ich dir erst ein paar Zähne ins Kleinhirn rammen?“ Al Conroy, der schwarzhaarige Stückmeister, verstand eine Menge von Sprengstoff und daher auch von der Technik des Verdämmens. Er pfiff Luke Morgan und Sam Roskill an, die „morschen Knochen“ zu bewegen, und verschwand mit ihnen im Laderaum. Inzwischen hatten Stenmark, Smoky und Batuti die Jakobsleiter ausgebracht und enterten mühsam ab. Der Sturm schüttelte sie, man sah kaum die Hand vor Augen. Erst im Schutz der hochragenden Bordwand wurde es etwas besser. Fluchend versuchten die Männer, auf den
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vereisten Riffen Halt zu finden. Es war schwierig, aber es ging, zumal die scharfen Felszacken eine zusammenhängende Barre bildeten, so daß man sich schon ausgesprochen ungeschickt anstellen mußte, um im eisigen Wasser zu landen. Zufrieden stellte der Seewolf fest, daß er überhaupt nichts mehr zu sagen brauchte. Auch der letzte Mann hatte begriffen, welche Gefahr der „Isabella“ drohte. In fiebernder Eile hackten Ferris Tucker, Ed Carberry und Dan O'Flynn auf Wanten und Pardunen ein. Big Old Shane, der graubärtige Riese, stemmte seine mächtige Schulter unter den Mast, damit es im entscheidenden Augenblick kein Kleinholz gab. Hasard enterte ebenfalls über die Jakobsleiter ab. Ben Brighton folgte ihm, ganz gegen seine Gewohnheit lästerlich fluchend, und dann standen sie breitbeinig auf den vereisten Riffen und nahmen den Mast wahr, der über das Schanzkleid rutschte. Ein paar Sekunden später erschien auch Ferris Tucker neben ihnen. Er starrte den Mast an, dann Hasard, dann wieder den Mast. „Wenn wir das Ding halbieren, können wir es nicht wieder aufriggen!“ schrie er durch das Tosen des Sturmes. „Und wenn wir es nicht halbieren und die ,Isabella` zwischen die Riffe kracht, können wir für den Rest unseres Lebens Robben zählen!“ schrie Hasard zurück. „Stimmt“, knurrte Tucker ingrimmig, holte mit seiner mächtigen Axt aus und zerteilte den Besanmast mit ein paar wuchtigen Hieben in zwei Hälften. Eine volle Stunde verging, in der sie keuchend und trotz der schneidenden Kälte schwitzend versuchten, das Schiff abzustützen. Immer wieder erzitterte der Rumpf, ächzten die Verbände, knirschte und knackte das Eis, dessen würgender Zugriff noch gefährlicher war als die Gewalt des Sturmes. Die Teile des Mastes und die Trümmer von Großmarsrah und Gaffelrute wurden verkeilt, mit Sandsäcken verdämmt und zusätzlich mit schweren Kettenkugeln gehalten.
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Die Männer schufteten wie die Wilden, in einem verzweifelten Wettlauf mit Sturm und Eis. Schneekristalle hingen in ihrer Kleidung und machten die Felle schwer und steif. Der Atem wehte in weißen Wolken vor ihren Gesichtern. Die Minuten schienen sich zu Ewigkeiten zu dehnen, aber schließlich stieß Ferris Tucker triumphierend die Faust in die Luft. „Das hält!“ schrie er. „Notfalls bis zum nächsten Jahr!“ Ja, dachte Hasard erbittert. Und mit etwas Pech würden sie im nächsten Jahr immer noch hier festsitzen. Er hatte das Knirschen des Anpralls auf die Riffe nämlich noch genau im Ohr. Er wußte, daß es achtern zuerst gekracht hatte. Wenn ihnen auch noch die Ruderanlage zu Bruch gegangen war, konnten sie einpacken. Als er sich mühsam über die vereisten Riffe zum Achterschiff kämpfte, bestätigten sich seine Befürchtungen. Das Ruderblatt war Kleinholz. Und es hätte Ferris Tuckers Fluchkanonade gar nicht bedurft, um dem Seewolf klarzumachen, daß sich die schäbigen Reste allenfalls noch für den Ofen eigneten. * Eine Viertelstunde später drängten sich die Männer in der Mannschaftsmesse um das Ofen-Monstrum aus Silberbarren. Bill und der Kutscher hatten das tonnenschwere Ding wieder in Brand gesetzt und reichlich mit ausgekochten Wal-Speckseiten gefüttert. Sie saßen fest, also bestand wegen des Feuers keine Gefahr mehr. Mitten im Heulen des Sturms waren sie im Augenblick geradezu paradiesisch sicher. Aber sie wußten nur zu gut, daß diese Sicherheit einen gewaltigen Pferdefuß hatte. Ändern konnten sie es nicht. Also bestand auch kein Grund, sich den heißen Rum nicht schmecken zu lassen. Die Zwillinge. die einträchtig in einer der Kojen kauerten, erhielten heißen Tee. Jedenfalls war heißer Tee in den Mucks
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gewesen, als der Seewolf begann, in pulvertrockenem Tonfall die lange Liste der Schäden aufzuzählen. Die Crew hörte gebannt zu. Der Kutscher stellte seine halbvolle Muck ab, um mit der Kelle den ersten Nachschub aus dem Kessel zu schöpfen. Danach hatte der heiße Tee der Zwillinge schon ein wesentlich besseres Aroma. Und der Kutscher stellte fest, daß ihm der Schrecken wohl auf den Magen geschlagen sein mußte, da ihm der Rum plötzlich irgendwie labbrig schmeckte. Da er immer wieder zur Kelle greifen mußte, wurde der heiße Tee der Zwillinge immer besser. Vergnügt hörten sie ihrem Vater zu. Was der zu sagen hatte, bot zwar überhaupt keinen Anlaß zum Vergnügen, aber mit einem richtigen Männer-Tee im Magen sah die schnöde Welt gleich ganz anders aus. „Das war's“, schloß der Seewolf. „Mit Bordmitteln ist der Bruch nicht zu reparieren. Ohne Reparatur kommen wir hier nicht weg, selbst wenn es uns gelingt, das Riff zu sprengen. Was wir brauchen, ist entweder ein Wunder oder eine geniale Idee. Sonst bleibt uns nämlich nichts übrig, als hier eine königlich britische Kolonie zu gründen.“ Schweigen. . Niemand sah so aus, als ob er eine geniale Idee hätte. Ferris Tucker knirschte mit den Zähnen. Batuti, der hünenhafte GambiaNeger, rollte die Augen. Ed Carberry stellte seine Muck ab, weil er beide Hände brauchte, um sich gleichzeitig das Haar zu raufen und das zernarbte Rammkinn zu kratzen. Und der heiße Tee der Zwillinge wurde wieder ein Stückchen besser. Eine halbe Stunde später störten sie die Debatte durch unmelodische, aber beeindruckend laute Schnarchgeräusche. Siri-Tong hörte es als erste und sah sich verblüfft um. Der Seewolf betrachtete mit gerunzelter Stirn die beiden Knirpse, die friedlich schlafend aneinanderlehnten. Hasard junior hielt noch die Muck in der Hand. Dem kleinen Philip mußte sie aus den Fingern geglitten sein. Es war der Profos, der den Becher aufhob. Er
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schnüffelte daran, furchte die Brauen, schnüffelte wieder und beugte sich dicht zu den beiden Schläfern hinunter. Als er sich aufrichtete, zeigte sein Narbengesicht einen Ausdruck, als wisse er noch nicht so genau, ob er explodieren oder still in sich hineingrinsen solle. „Sternhagelvoll“, stellte er fest. Und dann starrte er überrascht den Gift und Galle spuckenden Kutscher an, dem plötzlich aufgegangen war. warum sein Rum so labbrig geschmeckt hatte. 2. Gegen Morgen flaute der Sturm ab. Immer noch knackte, knirschte und ächzte das Treibeis in der gefährlich hohen Dünung, doch der Himmel war blankgefegt und leuchtete in einem durchsichtigen Blaß-blau. Eine dünne Eisschicht überzog Masten und Stagen der „Isabella“ und ließ sie in der Sonne wie ein Juwel glitzern. Soweit das Auge reichte, funkelte die Umgebung in einem fast schmerzhaften Glanz. Es war ein Bild von beeindruckender - und tödlicher Schönheit. Der Seewolf setzte das Objektiv ab und reichte es an Ben Brighton weiter. Auch der Bootsmann spähte durch das Fernglas zur zerklüfteten, tief verschneiten Küste hinüber. Der Schnee würde im Laufe des Tages schmelzen. Jetzt, während des kurzen Polarsommers, taute an Land sogar der Boden auf, wenn auch nur in den obersten Schichten. Ein Teil der Moose, Flechten und Kräuter, die hier wuchsen, waren eßbar. Sie beugten dem Skorbut vor, und sie halfen, die Vorräte an Zitronensaft zu strecken, den die „Isabella“ an Bord hatte. Ben Brighton ließ das Spektiv sinken. „Wir waren viel zu dicht unter Land“, sagte er in seiner ruhigen, manchmal etwas umständlichen Art. „Darauf wäre ich nie gekommen“, knurrte Hasard erbittert. „Konnten wir das vielleicht sehen, he?“ „Nee“, sagte Ben Brighton. „In dem Schneesturm konnte man ja vom
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Achterkastell aus kaum das Vorschiff sehen.“ „Eben!“ Hasard preßte die Lippen zusammen und schnappte sich noch einmal das Spektiv. Das Bild blieb so trostlos wie vorher: eine weiße, völlig kahle Küste. An einer Stelle ragte ein länglicher Umriß aus der Schneedecke. Aber ein Baum war das nicht. Vor allem kein Baum, aus dem sich ein neues Ruderblatt oder gar ein Besanmast zimmern ließ. Kunststück! Das einzige, was hier oben in begünstigten Lagen wuchs, waren Zwergbirken. Auf Bäume würden sie erst wieder stoßen, wenn es ihnen endlich gelang, einen Weg nach Süden zu finden. Und wie sie den ohne Besanmast und mit zerschmetterter Ruderanlage finden sollten, stand noch in den Sternen. Ferris Tucker war auf die Riffe abgeentert, um sich anzusehen, was von den Resten des Besanmastes vielleicht noch zu gebrauchen war. Der Seewolf kaute an der Erkenntnis, daß ihnen als letzter Ausweg nur eine Expedition ins Landinnere bleiben würde. Sie mußten wissen, wo sie waren. Das Gebiet, das sie durchsegelt hatten, existierte weder auf englischen noch auf spanischen Seekarten. Aber vielleicht auf den alten chinesischen, die ihnen schon während ihrer Weltumseglung oft geholfen hatten. Eine Viertelstunde später breitete Hasard vorsichtig das vergilbte, mit kunstvollen Linien, Schnörkeln und Schriftzeichen bedeckte Pergament auf dem Tisch in seiner Kammer aus. Ben Brighton, Big Old Shane, Ed Carberry und die beiden O'Flynns sahen ihm zu. Siri-Tong beugte sich tief über die Karte und musterte aus schmalen Augen die verschlungenen Linien. China. Die Inselwelt des Pazifiks. Nur grob und ungenau die Küsten der Neuen Welt — immer ungenauer, je weiter sich Siri-Tongs tastender Finger nach Norden bewegte. Hoch oben, am Rand der
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Karte, jenseits eines langgestreckten Inselbogens, stießen die Landmassen zweier Kontinente fast zusammen. Nur eine schmale Wasserstraße trennte sie. Die Linien endeten dort. Daß die Küsten nach Osten und Westen zurückwichen, ließ sich gerade noch erkennen. Und mit etwas Phantasie konnte man erahnen, daß sich nördlich der Passage eine weite Wasserfläche öffnete. Hasard zog die Unterlippe zwischen die Zähne. Einen Augenblick starrte er auf die Karte, dann zuckte er mit den Schultern. „Wenn die Küste so weiter verläuft, wie sie anfängt, müßten wir uns ungefähr hier befinden.“ Sein Finger tippte auf einen Punkt in der Maserung des Tisches. „Das heißt, daß wir den Durchbruch nach Süden binnen weniger Tage schaffen könnten.“ „Könnten“, betonte Dan O'Flynn. „Nicht ohne Besan und Ruderblatt“, knurrte sein rauhbeiniger alter Vater und stampfte zur Bekräftigung mit dem Holzbein auf. Ben Brighton kratzte sich am Kopf. „Notfalls müssen wir eben mit den Segeln steuern“, meinte er trocken. „Oder ein paar Decksplanken opfern, um das Ruderblatt wenigstens notdürftig zu reparieren.“ „So werden wir auch gerade einen Sturm abreiten“, knurrte Old O'Flynn. „Besser ein Risiko, als hier festzusitzen“, beharrte der Bootsmann. „Die andere Möglichkeit wäre, ins Landinnere zu marschieren, bis wir auf Bäume stoßen.” „Und das kann ein verdammt langer Marsch werden“, ergänzte Hasard. „Aber in einen von den beiden sauren Äpfeln müssen wir beißen, da hilft nun mal nichts. Ich schlage vor, daß wir zunächst einmal die Küste erkunden und ...“ Er brach ab. Auf der Kuhl erklang erregtes Stimmengewirr. Sekunden später wurde an die Tür der Kammer geklopft, und Smoky, der Decksälteste, streckte seinen Kopf herein.
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„Entschuldigung, Sir. Aber wir haben etwas entdeckt, daß du dir ansehen solltest.“ Der Seewolf war schon unterwegs. Am Backbord-Schanzkleid der Kuhl drängten sich ein halbes Dutzend Männer und zwei kleine Gestalten, deren Gesichter einen auffallend grünlichen Farbton zeigten. In der allgemeinen Aufregung waren die Zwillinge von der wohlverdienten Strafe verschont geblieben. Aber sie litten trotzdem. Sie litten unter allen Anzeichen eines mordsmäßigen Katers, der ihnen wohl für lange Zeit die Lust austreiben würde, ihren Tee mit geklautem Rum zu würzen. Das, was die Crew entdeckt hatte, war Hasard und Ben Brighton schon unmittelbar nach dem Abflauen des Sturms aufgefallen. Aber da war es nichts weiter als ein länglicher Umriß gewesen, genauso weiß wie die Felsen der Küste. Jetzt begann der Schnee zu schmelzen, und der längliche Auswuchs wurde zu einem Strich, der zu gerade und regelmäßig war, um natürlichen Ursprungs zu sein. Der Seewolf zog das Spektiv auseinander. Eine Spiere, erkannte er. Auf der Kuppe eines Felshügels war sie in den Boden gerammt und verkeilt worden. Graue Fetzen flatterten an ihrer Spitze, die Reste einer Art Flagge. Kein Zweifel: es war ein Zeichen, ein Signal, das jemand an der einsamen Küste aufgerichtet hatte. Ein Signal bedeutete Menschen. Menschen, die vielleicht Hilfe brauchten, die auf ein vorbeisegelndes Schiff hofften. Das hieß, daß sie nicht weit sein konnten. Und es hieß auch, daß sie sich in einer verzweifelten Lage befinden mußten. Denn nur nackte Verzweiflung konnte sie auf den Gedanken gebracht haben, daß in dieser gottverlassenen Gegend am Ende der Welt jemand ihr Zeichen entdecken würde. Hasard ließ das Spektiv sinken. Seine Augen waren schmal geworden und funkelten wie das sonnenbeschienene Eis auf dem Wasser.
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„Ed, Ferris“, sagte er durch die Zähne. „Setzt ein Boot aus! Wir werden uns mal ansehen, wer da seine Flagge gehißt hat.“ * Ein paar Minuten später trieben kräftige Riemenschläge das Beiboot durch die Wasserrinne im schimmernden Eis. Sie waren zu sechst: der Seewolf, Dan O'Flynn und Ben Brighton, Blacky, Ed Carberry und Ferris Tucker. Der rothaarige Schiffszimmermann trug finstere Entschlossenheit zur Schau und suchte mit den Augen die Küste ab, als könne er einen Wald herbeizaubern. Fälle von Mast- und Ruderbruch pflegte er persönlich zu übernehmen. Schließlich hatte er den Ruf, das Unmögliche in fünf Minuten zu erledigen und für Wunder nur unwesentlich länger zu brauchen. Daß er in diesem Fall bisher weder eine geniale noch überhaupt eine Idee hatte, ließ seine Stimmung frostiger werden als ein Eisberg in der Polarnacht. Auch Ed Carberry wirkte nicht gerade optimistisch, was sich darin äußerte, daß er nur halb so viel fluchte wie gewöhnlich. Zweimal mußten sie ihr Boot aus dem Wasser ziehen und über ausgedehnte Eisschollen transportieren, dann endlich erreichten sie die Küste. Auch hier galt es, einen Wall aus aufgetürmtem, schimmerndem Eis zu überwinden. An den schwarzen, zerklüfteten Felsen sickerte das Schmelzwasser des Schnees herunter, den der Sturm zurückgelassen hatte. Sorgfältig verkeilten die Seewölfe das Boot im Geröll und griffen nach ihren Musketen. Mühsam in der dicken Fellkleidung und den schweren Stiefeln begannen sie, die Felsen zu erklettern. Jenseits der Klippen dehnte sich eine karge Ebene, von einer fernen Bergkette überragt, deren Gletscher funkelnd blau in der Sonne leuchteten. Einzelne Geländefalten und kleine Hügel durchzogen das flache Land. Und überall prangten Inseln von blühendem Moos in so unglaublich intensiven Farben, als habe sich die Natur ins Zeug gelegt, um den
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Betrachter wenigstens während der kurzen Sommermonate für den Anblick der grauen Eiswüste und der endlosen Düsternis der Polarnacht zu entschädigen. Nirgends war eine Spur von menschlichem Leben zu entdecken. Nichts außer der Stange mit dem Tuchfetzen. Sie ragte ein Stück weiter östlich in den Himmel, an einer Stelle, die mit dem Boot kaum zugänglich war. Schweigend wandten sich die Männer nach links und marschierten auf den felsigen Grat zu, der sich schräg bis auf den Hügel zog. Einmal blieben sie stehen, weil sie ein Geräusch hörten. Ein Stein polterte, kein Zweifel. Aber das mußte nichts besagen: die Felsen arbeiteten, und es lebten Tiere in dieser Einöde. Hasard gab das Zeichen zum Weitergehen — und nach drei, vier Schritten hörten sie den Schrei. Den Schrei eines Menschen! Hoch, gellend, schrill vor Entsetzen. Wieder polterten Steine. Der Schrei brach sich auf dem höchsten Punkt, wurde zu einer Kette wimmernder Laute. Ein dumpfes, urwelthaftes Brummen mischte sich hinein, und Hasard spürte einen eisigen Schauer über seinen Rücken rinnen. Eisbären! Mindestens einer von diesen zottigen Riesen! Und er griff einen Menschen an, kein Zweifel. Wieder erklang der entsetzliche Schrei, und die Seewölfe begannen zu laufen. Hasard erreichte den Felsengrat als erster. Noch im vollen Lauf hatte er die Muskete von der Schulter gerissen. Mit zwei, drei Sprüngen schwang er sich auf die Felsen und erfaßte mit einem einzigen Blick die Lage. Da waren eine flache Mulde, verstreute Steinblöcke, Flechten und leuchtendes Moos. Wie Donnerrollen schien das Brüllen des Eisbären in der Luft zu zittern. Die riesige, zottige Gestalt hatte sich zu ihrer vollen Größe aufgerichtet. Eine gigantische, erschreckende Größe, gegen die der Mann in der zerfetzten,
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blutbesudelten Fellkleidung wie eine Puppe wirkte. Der Bär mußte ihn überrascht haben. Die grauen Riesen konnten schnell sein, unheimlich schnell. Das Opfer hatte keine Chance zu fliehen. Ein Dolch funkelte in seiner Rechten. Mit dem Mut der Verzweiflung versuchte der Mann, der Bestie die Klinge in den Hals zu stoßen, doch ein blitzartiger, wuchtiger Prankenhieb schleuderte ihn wie ein Bündel Lumpen zur Seite. Das alles spielte sich in der winzigen Zeitspanne ab, die Hasard brauchte, um mit der Muskete anzulegen. Sein Kiefer verkrampfte sich. Er zielte auf das rote, tückische Auge der Bestie. Donnernd entlud sich der Schuß. Der mächtige Körper des Bären erzitterte, als habe ihn der Hieb einer unsichtbaren Gigantenfaust getroffen. Ein markerschütterndes Brüllen brach aus dem Rachen der Bestie. Die Pranken schlugen, peitschten wild und ziellos die Luft. Blut verfärbte das zottige Fell, der zottige Leib krümmte und wand sich, drehte sich um sich selbst und sank schwerfällig zu Boden. Noch einmal lief ein Zucken durch den Körper des grauen Riesen, dann rührte er sich nicht mehr. Dicht und lastend wie ein körperliches Gewicht schien sich die jähe Stille über das Land zu senken. Der Mann am Boden atmete noch. Aber Hasard ahnte bereits, daß kein Mensch dem Opfer mehr helfen konnte. 3. Minuten später standen die Seewölfe im Halbkreis um den Unbekannten. Hasards Kehle wurde trocken, als er neben der reglosen Gestalt in die Hocke ging. Der mörderische Prankenhieb hatte dem Mann die Schulter zerschmettert und Brust und Hals aufgerissen. Blutiger Schaum stand auf seinen Lippen. In dem ein- ' gefallenen, bärtigen Gesicht flackerten die Augen. Er war Weißer, kein Eskimo. „Hilfe“, flüsterte er. Helft – helft ...“
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„Sie sind Engländer?“ fragte Hasard mit belegter Stimme. „Ja - ja - das Schiff - im Eis gefangen. Helft ihnen - mit mir - geht es zu Ende die anderen. Ihr müßt ...“ „Die anderen?“ fragte der Seewolf eindringlich. „Zehn - sie sind zehn - die Hütte! Hunger, Kälte - sie werden sterben, alle ...“ Die Stimme erstickte. Ein Hustenkrampf schüttelte den ausgemergelten Körper in der zerfetzten Fellkleidung. Hasard hatte vorsichtig den Arm unter den Kopf des Sterbenden geschoben. Der Verletzte stöhnte dumpf. Blut füllte seine Kehle und ließ ihn verzweifelt nach Atem ringen. Es war deutlich zu sehen, daß ihm nur noch wenige Sekunden blieben. „Wo sind die anderen?“ fragte der Seewolf beschwörend. „Wo finden wir sie?“ Die Augen des Mannes verschleierten sich, gingen durch alles hindurch, als tue er schon einen Blick über jene dunkle Schwelle. „Die Hütte“, flüsterte er. „Sie sind - sind ...“ Ein neuer Hustenkrampf riß ihm das Wort von den Lippen. Verzweifelt bäumte er sich auf und fiel keuchend zurück. Noch einmal verkrampfte sich sein Körper, ein Zucken lief durch seine Glieder, dann lag er still. Seine Muskeln erschlafften, über seine aufgerissenen Augen schob sich die Starre des Todes wie ein stumpfer Schleier. Mit einem tiefen Atemzug ließ Hasard den Toten zu Boden gleiten. Sein Gesicht verkantete sich, als er wieder aufstand. Seine Stimme klang rauh. „Wir müssen diese Hütte finden“, sagte er. „Ich fürchte, daß sich da jemand in einer Lage befindet, gegen die unsere eigene Situation geradezu paradiesisch ist. Am besten teilen wir uns und suchen erst einmal nach Spuren.“ Die anderen stimmten zu. Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis sie auf einem der übrig gebliebenen Schneefelder die ersten Fußspuren entdeckten. Sie führten geradewegs nach
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Süden. Die Seewölfe setzten sich sofort in Marsch, um ihnen zu folgen. * Eine halbe Stunde später hatte sich der Himmel bewölkt. Schnee begann in feinen, tanzenden Flocken zu fallen. „Dreck“, sagte Dan O'Flynn gepreßt. „Wenn das so weitergeht, sind bald keine Spuren mehr zu sehen.“ „Dann suchen wir eben, du Stint“, knurrte Ed Carberry. „Eine lausige Hütte kann doch nicht so schwer zu finden sein, was, wie?“ „Ich frag mich sowieso, aus was man hier eine Hütte bauen kann“, murmelte Ferris Tucker, der immer noch beständig und vergeblich nach Bäumen Ausschau hielt. Zwei Minuten später wußten sie es. Eine dünne Rauchfahne wies ihnen den Weg. Eilig erklommen sie den Hügel. Eine kleine Senke öffnete sich vor ihnen, und im Schutz einiger vereister Felsen sahen sie eine windschiefe, erbärmliche Bretterbude. „Schiffsplanken“, stellte Ferris Tucker fachmännisch fest. Er hatte recht. Es mußten Schiffsplanken sein, aus denen die notdürftige Behausung zusammengezimmert worden war, obwohl sich das nur noch schwer erkennen ließ. Moos und Flechten verstopften die Ritzen, das einzige winzige Fenster war offenbar mit Fischhaut bespannt. Die Rauchfahne wehte aus einem Loch in der Decke dünne blaßblaue Schlieren. Das Feuer, das die Bewohner der elenden Hütte wärmte, konnte allenfalls noch leise vor sich hin glimmen. Hasard preßte die Lippen zusammen. Er glaubte wieder, die Stimme des Sterbenden zu hören. Das Schiff im Eis gefangen. Sie sind zehn - Hunger - Kälte ... Zehn Überlebende von einer ganzen Crew. Was für ein Schiff mochte es gewesen sein, das irgendwo in den Würgegriff des Eises geraten und von seiner Besatzung aufgegeben worden war? Ein Walfänger? Irgendein Segler, den Stürme und widrige Umstände in den hohen Norden
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verschlagen hatten, genau wie die „Isabella“? Die Seewölfe hatten nicht nur die kalte Schönheit dieses fremdartigen, glitzernden Eisreiches erlebt, sondern auch die weiße Hölle. Sie konnten sich vorstellen, welche Strapazen und Entbehrungen hinter den Unbekannten in der Plankenhütte lagen. Mit raschen Schritten eilten sie den Hang hinunter und starrten beklommen auf die windschiefe Behausung, in der sich nichts rührte. Hasard war es, der an die Tür klopfte. Es war eine grob zusammengenagelte Tür mit Lederschlaufen als Angeln und einem einfachen, aus Draht zurechtgebogenen Klinkenverschluß. Niemand antwortete auf das Klopfen. Aber im Innern der Hütte bewegte sich etwas, und im nächsten Moment erklang ein schwaches Stöhnen. Hasard zögerte kurz, dann stieß er die Tür auf. Im ersten Moment sah er nur Schatten. Hinter ihm drängten sich die anderen herein und schlossen rasch die Tür, da es in der elenden Behausung immer noch ein wenig, wenn auch unwesentlich wärmer schien als draußen. Trübes graues Licht sickerte durch die straff gespannte Fischhaut vor dem Fenster. Das schwach glimmende Feuer in dem Kamin aus aufgeschichteten Steinen verbreitete einen rötlichen Schimmer. Um diese letzte spärliche Wärmequelle drängten sich die Menschen, von denen der Sterbende gesprochen hatte. Ein verlorener Haufen. Ausgemergelte Gestalten, in wenige Felle und Decken gehüllt, reglos auf dem Bretterboden ausgestreckt, so daß auf den ersten Blick nicht zu sehen war, wie viele von ihnen überhaupt noch lebten. Der Mann, der von dem Eisbären getötet worden war, mußte der einzige gewesen sein, der noch Kraft genug gehabt hatte, die Hütte zu verlassen. Vielleicht war er auf Nahrungssuche gewesen. Vielleicht hatte er die „Isabella“ gesichtet und sich in letzter Verzweiflung aufgerafft, um Hilfe zu suchen. Alle anderen waren zu schwach, um auch nur aufzustehen. Sie
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dämmerten vor sich hin oder hatten das Bewußtsein verloren, vermochten sich jedenfalls kaum zu rühren. Zwei von den Männern schafften es mühsam, die Köpfe der Tür zuzuwenden. Fiebrig glänzende Augen starrten aus tiefen Höhlen. Die bärtigen Gesichter waren abgemagert, als klebe die Haut auf den Knochen. Der Jüngere der beiden Männer hob matt die Hand. Hinter ihm, unmittelbar vor dem provisorischen Kamin, begann sich etwas unter den Decken zu regen. Das gleiche schabende Geräusch ertönte, das der Seewolf von draußen gehört hatte. Eine der Elendsgestalten versuchte sich aufzurichten. Sie schaffte es sogar, mit einer zähen Kraft, die in den Tiefen des Lebenswillens wurzelte. Die Felldecke verrutschte. Ein Kopf erschien, verfilztes fuchsrotes Haar, das um erbärmlich eckige Schultern zottelte. Das Gesicht wirkte erschreckend abgezehrt - doch die weiblichen Züge ließen sich immer noch erkennen. Eine Frau! Eine Frau mitten in dieser weißen Hölle! Ihre Augen hatten ein helles, leuchtendes Grün. Und in diesen schrägen Katzenaugen war der Lebensfunke noch nicht erloschen. „Euch schickt der Himmel“. flüsterte sie mit einer Stimme, die wie eingerostet klang. Und mit der Andeutung eines gespenstisch verzerrten Lächelns fügte sie hinzu: „Man nennt mich London-Lilly. Aber ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben, daß ich das Kaff je in meinem Leben wiedersehen würde ...“ * „Großer Gott“, sagte Hasard zwei Minuten später. Da hatte die rothaarige Frau nämlich eine weitere Felldecke beiseite geräumt. Wieder erschien ein fuchsroter Haarschopf. Diesmal gehörte er einem höchstens zwölfjährigen kleinen Mädchen. „Meine Tochter Liza“, flüsterte die Frau. „Der Teufel allein weiß, was mich dazu
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gebracht hat, sie in dieses verdammte Land mitzunehmen und...“ „Sind wir jetzt gerettet?“ fragte das Kind mit dünner Stimme. „Ja“, sagte die Frau. Dabei starrte sie die Seewölfe an - fragend und zweifelnd. Auch ein paar von den Männern hatten mühsam die Köpfe gehoben. Spröde, aufgesprungene Lippen zuckten, in den fiebrigen Augen stritten Zweifel und Hoffnung. „Unser Schiff liegt auf einem Riff fest“, sagte der Seewolf ruhig. „Aber wir haben Vorräte, Medikamente und Heizmaterial.“ Er zögerte und sah sich noch einmal prüfend um, doch es erschien ihm unmöglich, diese geschwächten, schon vom Tode gezeichneten Menschen sofort an Bord der „Isabella“ zu transportieren. „Ed, Ferris - ihr pullt zurück“, ordnete er an. „Holt den Kutscher und ein paar Mann Verstärkung. Und bringt alles mit, was hier gebraucht wird.“ „Aye, aye, Sir.“ Ed Carberry und Ferris Tucker machten auf dem Absatz kehrt. Dan O'Flynn kniete bereits neben einem der Männer, der noch die Hand heben konnte, und flößte ihm behutsam einen Schluck Rum ein. Hasard streifte die dicke Jacke aus Rentierfell ab, die Will Thorne, der Segelmacher, mit der Lieknadel genäht hatte. Die anderen folgten seinem Beispiel. Minuten später herrschte eifrige Tätigkeit. Auch die kleine Liza erhielt einen winzigen Schluck Rum. Eingemummelt in Hasards Jacke wirkte sie eigentlich erstaunlich munter. Sie war weniger abgemagert als die anderen, weil man ihr die letzten Bissen Nahrung zugesteckt und den wärmsten Platz gelassen hatte. Und sie mußte die Kraft und Zähigkeit ihrer Mutter geerbt haben. Die Frau mit dem Spitznamen „LondonLilly“ war offenbar aus hartem Holz geschnitzt. Eine Frau und ein Kind, die es mit einem Walfänger in die Eiswüste des Polarkreises verschlagen hatte — dahinter steckte wohl eine ähnlich ungewöhnliche Geschichte wie die der Roten Korsarin.
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Verrückt, dachte der Seewolf, während er versuchte, einen der Bewußtlosen, so gut es ging, mit Alkohol zu massieren. Da begegneten sich zwei Schiffsbesatzungen in einer menschenleeren Einöde am Ende der Welt. Und die eine Gruppe hatte eine Frau und ein kleines Mädchen hei sich, die andere zwei achtjährige Jungen, einen weiblichen Piratenkapitän und dazu noch einen Schimpansen und einen Papagei aus den heißesten Gegenden der alten Erde. „Wenigstens haben Sie keine schlechte Laune“, stellte die rothaarige Lilly fest, bei der nach einem kräftigen Schluck Rum allmählich wieder die Lebensgeister erwachten. Hasard grinste leicht. „Ich dachte nur gerade daran, daß Frauen und Kinder in dieser Gegend eigentlich recht ungewöhnlich sind.“ „Phh!“ machte London-Lilly. „Als ob ich gewußt hätte, was mir blüht! Verdammtes Pech war es, sonst gar nichts. Aber das können Sie natürlich nicht verstehen!“ „Und ob ich das kann. Wir haben ebenfalls eine Frau an Bord. Und zwei achtjährige Jungen.“ „Sie haben — was?“ „Eine Frau und zwei Kinder an Bord. Sie werden sie später kennenlernen.“ London-Lillys verblüffter Gesichtsausdruck entlockte sogar einigen ihrer Schicksalsgefährten ein mühsames Grinsen. Sie hatten seit drei Tagen nichts mehr gegessen, und entsprechend war die Wirkung des Rums, trotz der geringen Menge. In die eingefallenen Gesichter kehrte eine Spur von Farbe zurück. Erste Fragen wurden gestellt, mit matten, flüsternden Stimmen. Nur die drei Bewußtlosen rührten sich immer noch nicht. Zwei waren ältere Männer, schon deutlich vom Skorbut gezeichnet. Der dritte, ein schmaler, hochaufgeschossener Junge von zwei- oder dreiundzwanzig Jahren, hatte offenbar von Natur aus keine kräftige Konstitution. Sein Gesicht war fahl und schweißbedeckt, der Atem ging
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flach — um ihn bereitete sich Hasard ernsthafte Sorgen. Eine gute Stunde später knirschten draußen Schritte. Daß es immer noch schneite, heftiger jetzt, bemerkte der Seewolf erst, als er die Tür öffnete. Ferris Tucker, Ed Carberry, der Kutscher und ein paar andere tauchten als schwarze Schatten aus dem tanzenden Flockenwirbel. Sie zerrten den Schlitten hinter sich her, den“ der rothaarige Schiffszimmermann schon vor geraumer Zeit gebaut hatte. Einen schwer bepackten Schlitten — und da Hasard seine Crew kannte, zweifelte er nicht daran, daß alles da war, was sie brauchten. Im Blitztempo wurden die Säcke abgeladen und in die Hütte geschafft. Ferris Tucker ging sofort daran, auf erprobte Art das Feuer anzufachen: mit den ausgekochten Speckseiten vom Wal, die mehr als reichlich vorhanden waren. Der Kutscher sah sich kurz um und begann dann eilig, die bedauernswerten Opfer zu untersuchen. Immer wieder schüttelte er den Kopf, murmelte vor sich hin, schnitt ein bedenkliches Gesicht. Nur mit dem Zustand der rothaarigen Frau und der kleinen Liza schien er halbwegs zufrieden. Als er den hoch aufgeschossenen jungen Burschen untersucht hatte, warf er Hasard einen Blick zu und zuckte hilflos mit den Schultern. „Versuch es!“ knurrte der Seewolf. „Es muß doch eine Möglichkeit geben.“ „Man müßte ihm ein bißchen Rum einflößen können. Vielleicht kommt er zu sich, wenn wir ihn gründlich mit Alkohol abreiben, immer wieder massieren.“ „Gut! Blacky, Ed — bringt ihn näher ans Feuer. Der Kutscher wird euch erklären, was ihr zu tun habt.“ Ed Carberry und Blacky gingen sofort ans Werk. Der Kutscher wühlte zwischen den Packsäcken, brachte schließlich einen zugebundenen Kessel zum Vorschein und hängte ihn über das Feuer. Minuten später erfüllte der Duft der heißen Fleischbrühe die Hütte, und das brachte zumindest einen der Bewußtlosen wieder
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zu sich, einen großen, schwarzbärtigen Burschen, der mit wilden Augen um sich blickte. Zwei Mann mußten ihn festhalten, da er anfing, blindlings um sich zu schlagen. „Das ist Black Jack Jayhawk“, stellte die rothaarige Lilly vor. „Der Kapitän“, fügte sie leiser hinzu. Aber die Seewölfe waren viel zu beschäftigt damit, den Schwarzen Jack festzuhalten, als daß sie auf den eigentümlichen Tonfall der Worte geachtet hätten. Allmählich klärte sich der Blick der tiefliegenden dunklen Augen. Black Jack Jayhawk sank schlaff auf das Fellager zurück. „Was ...“ begann er heiser. „Mein Name ist Philip Hasard Killigrew „, sagte der Seewolf ruhig. „Wir sind mit unserem Schiff in der Nähe gestrandet und haben Euer Zeichen gesehen. Unterwegs stießen wir auf einen der euren, der von einem Eisbären angegriffen wurde. Er lebt nicht mehr. Aber er konnte noch ein paar Worte sagen.“ „Tim“, murmelte die rothaarige Lilly erschüttert. „Ihr habt Vorräte?“ flüsterte der Schwarzbart. „O Himmel — ist das Suppe?“ Die Fleischbrühe war inzwischen heiß genug. Ferris Tucker und Dan O'Flynn verteilten sie. Der Kutscher beugte sich über den Bewußtlosen, um den sich Ed Carberry und Blacky bemühten. Vergeblich versuchten sie, ihm etwas von dem Rum einzuflößen. Und vergeblich bemühten sie sich, durch Wärme und kräftige Massage wieder etwas Leben in den erstarrten Körper zurückzubringen. Ein paar Minuten später hob der Kutscher den Kopf und machte eine hilflose Geste. „Er ist tot“, sagte er leise. „Wir haben getan, was wir konnten ... 4. „Sind wir gerettet, Mamy? Gehen wir wieder auf ein Schiff? Werden die fremden Männer uns mit nach Hause nehmen?“
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Die kleine Liza kaute Rosinen und stellte zwischendurch endlose Fragen, die ihre Mutter geduldig beantwortete. Die Männer, soweit sie bei Bewußtsein waren, starrten fasziniert auf die dicken Brocken Fleisch, die über dem Feuer brutzelten. Ferris Tucker und Ed Carberry hatten den Eisbären zerlegt und einen Teil des Fleischs in die Hütte geschafft. Eine kräftige Mahlzeit, so hoffte der Kutscher, würde Wunder wirken. Vorerst hatte er noch alle Hände voll damit zu tun, die unglücklichen Opfer wenigstens halbwegs auf die Beine zu bringen. Schon seit Monaten lebten sie in der elenden Plankenhütte. „Zwanzig waren wir“, berichtete einer der Männer, ein großer Schwede namens Björn Springdaal. „Wir wollten Gold suchen.“ „Gold?“ fragte Ben Brighton verblüfft. „Hier?“ „Wir haben nichts gefunden“, mischte sich der schwarzbärtige Jayhawk hastig ein. „Nicht ein Körnchen!“ „Aber der Schwarzwälder sagte, es gebe welches“, fuhr der Schwede fort. „Martin Trieberg hieß er. Eigentlich war er ein Uhrmacher. Aber er fand wohl mehr Spaß daran, die Welt zu erforschen. Über das Gold hatte er von Indianern gehört, die das Land hier Alaska nennen. Es gab auch Gerüchte. Wir waren nicht die ersten, die es versucht haben, nicht wahr, Lilly?“ „Lizas Vater hat es auch versucht“, sagte die rothaarige Frau mit einem bitteren Lächeln. „Er ist verschollen. Ich wollte ihn suchen. Deshalb ging ich auf Martin Triebergs Schiff. Liza nahm ich mit, weil sie sonst niemanden hat. Ich konnte nicht ahnen, daß uns der Sturm ans Ende der Welt verschlagen würde.“ „Von wo sind Sie gekommen?“ fragte Hasard gespannt. „Aus der neuen Welt. Martin Trieberg kam noch von viel weiter her, er hatte den ganzen Kontinent umsegelt.“ „Dann gibt es also eine Durchfahrt nach Süden?“ „Nach Süden?“ Black Jack Jayhawk runzelte die Stirn. „Natürlich, muß es ja
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wohl. Von wo seid ihr denn hierher gesegelt, wenn nicht von Süden?“ „Von Osten. Von Grönland her. Wir hatten eine Menge Glück.“ „Wir nicht“, knurrte der Schwede. „Wir wurden vom Eis eingeschlossen und mußten das Schiff aufgeben. Hier an Land hofften wir, auf Eskimos zu stoßen ...“ Er berichtete weiter. Von den Schlitten, die sie gebaut hatten, um Vorräte und Planken zu transportieren, damit sie im Notfall wenigstens einen Unterschlupf errichten konnten. Von dem endlosen, qualvollen Marsch über das Eis; der vier Männern das Leben gekostet hatte. Sie erreichten die Küste, aber sie stießen nicht auf Eskimos. Ein Suchtrupp, der unter der Führung Martin Triebergs aufgebrochen war, blieb verschollen. Zwölf Menschen waren es, die sich notgedrungen darauf vorbereitet hatten, in ihrer Plankenhütte zu überwintern. Und von diesen zwölf waren jetzt noch neun am Leben. Schneestürme und mörderische Unwetter hatten sie zu Gefangenen der elenden Hütte werden lassen. Sie waren zu schwach gewesen, um noch einmal nach den Eskimos zu suchen, die ihrer Meinung nach in dieser Gegend leben mußten. Sehr schnell bereuten sie, ihr Schiff verlassen zu haben, das ihnen wenigstens ausreichende Holzvorräte geliefert hätte. Sie wußten, wo die „Helsingborg“ lag. Aber sie wußten auch, daß keiner von ihnen den qualvollen Marsch dorthin überstanden hätte — ganz abgesehen davon, daß niemand sagen konnte, ob das Schiff nicht längst vom Eis zerquetscht und gesunken war. Ein paar Robben und ein Eisbär, die sie erlegt hatten, halfen ihnen über die endlose Polarnacht. Als sich die Sonne zum erstenmal wieder über den Horizont erhob, waren sie alle zum Skelett abgemagert und kauten die Felle ihrer Kleidung, um das Hungergefühl zu betäuben. Noch einmal gelang es ihnen, eine Robbe zu erlegen, die sie roh verschlangen.
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Jetzt waren die letzten Schlitten verfeuert. Einzelne — wie der Mann, der von dem Eisbären getötet worden war — hatten noch verzweifelte Versuche unternommen, Nahrung zu finden. Sie hatten die Stange mit dem Tuch aufgerichtet und Moos und Flechten gesammelt, um dem tödlichen Zugriff des Skorbuts zu begegnen. Nach ein paar Versuchen waren sie irgendwann nicht mehr zurückgekehrt. Auch der letzte nicht. Er war nach dem Sturm aufgebrochen, um zu sehen, ob irgendetwas Brauchbares an die Küste geschwemmt worden sei. So war er auf die Seewölfe gestoßen und hatte es noch geschafft, ihnen mit den letzten Atemzügen von den anderen zu erzählen. „Wir waren zu schwach, um die Hütte zu verlassen“, murmelte Björn Springdaal, der Schwede. „Wir konnten nur noch auf den Tod warten. Und jetzt ...“ Er schauerte. Seine Kameraden starrten stumpf vor sich hin, die rothaarige London-Lilly preßte das Kind an sich. Es würde lange dauern, bis sie sich erholten. Bei einigen von ihnen stand noch nicht fest, ob sie sich überhaupt erholen würden. Black Jack Jayhawk war nach der kräftigen Mahlzeit aus Bärenfleisch schon wieder munter genug, um Ben Brighton und Ed Carberry mit Fragen zu löchern. Dem Kutscher gelang es indessen, auch den letzten Bewußtlosen wieder zu sich zu bringen: einen dürren Friesen, der nach Auskunft der anderen Tjarko Michels hieß. Es war ein buntscheckiger Haufen, der sich da zusammengefunden hatte, stellte Hasard fest: der schwarze Jack, London-Lilly und zwei weitere Engländer, der Schwede und der Friese, außerdem zwei Holländer mit Namen Jan Barend und Rogier Claasen. Die anderen, Tote und Verschollene, waren vorwiegend Deutsche gewesen, Freunde Martin Triebergs. Niemand sprach davon, aber Hasard hatte das deutliche Gefühl, daß zwischen dem schwarzen Jack und jenem abenteuerlustigen Schwarzwälder ganz sicher nicht alles gestimmt hatte.
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Black Jack Jayhawk erklärte, er fühle sich kräftig genug, um der „Isabella“ einen Besuch abzustatten. Auch London-Lilly und die kleine Liza zogen es vor, die Nacht an Bord zu verbringen, statt in der drangvollen Enge der Hütte. Die anderen, mit Ausnahme Björn Springdaals, des Schweden, waren noch zu schwach, um einen Transport durch das Schneegestöber zu überstehen. Morgen vielleicht, meinte der Kutscher. Spätestens übermorgen. Natürlich mußte jemand über Nacht bei ihnen wachen. Der Kutscher war entschlossen, seinen Patienten nicht von der Seite zu weichen, und Blacky und Dan O'Flynn meldeten sich freiwillig, ihm zu helfen. Ed Carberry hob die kleine Liza auf den Arm. Zuerst sah sie etwas ängstlich drein, aber sie hatte wohl mit dem Instinkt des Kindes begriffen, daß dieser wüste narbengesichtige Riese in Wahrheit ein weiches Herz hatte. London-Lilly wickelte sich wieder in ihre Felle, Black Jack und der Schwede taten es ihr nach. In der Hütte war es inzwischen behaglich warm geworden. Erst als Ferris Tucker die Tür auframmte, wirbelte ein scharfer Windstoß einen Schwarm Schneeflocken herein und erinnerte daran, daß draußen immer noch die Polarkälte lauerte. Die Gruppe beeilte sich, um die Tür rasch wieder zu schließen. Ferris Tucker stapfte ein paar Schritte voraus und ging daran, mit den behandschuhten Fäusten angewehten Schnee von dem Materialschlitten zu entfernen. Ed Carberry, das Kind auf dem Arm, schnauzte ihn an, sich gefälligst zu beeilen. Da glitt sein Blick in die Runde. Im nächsten Moment fuhr er leicht zusammen. „Wahrschau!“ rief er. „Schaut mal dem verdammten Hügel hinüber! Da kommt jemand, oder ich fresse die Großrah.“ * Zwei Sekunden blieb es still.
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„Du kannst deine Stiefel fressen, aber nicht die Großrah!“ fauchte Ferris Tucker, während er sich auf - richtete. „Außerdem hast du Datteln auf den Klüsen, du dämlicher .. „ Er stockte abrupt. Denn im selben Augenblick hatte auch er den Schatten entdeckt, der sich über die Hügelflanke bewegte. Ein dunkler Umriß im Flockenwirbel. Jemand, hatte Ed Carberry gesagt. Es war zu groß für eine Robbe, zu klein für einen Eisbären, also mußte es wohl ein Mensch sein. Ein Mensch, der sich durch das Schneegestöber kämpfte. Mühsam — und dennoch schnell, mit eigentümlich gleitenden Bewegungen. Schneeschuhe, dachte der Seewolf. Ein Eskimo. Wer sonst sollte sich hierher verirren? Auch die anderen waren stehengeblieben und starrten der Gestalt entgegen. Jetzt war sie schon deutlicher zu erkennen: Hosen aus Rentierfell, eine dicke Eisbärenjacke, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Auf den letzten Yards fiel der Hang etwas steiler ab. Tief geduckt glitt der Unbekannte dahin, der dünne Pulverschnee stob hinter ihm wie Gischt auf. Dann holperten die Schneebretter über irgendeine Unebenheit. Die vermummte Gestalt schwankte, verlor das Gleichgewicht und stürzte zur Seite. In einer Schneewolke schlidderte sie noch ein paar Yards weiter. Der Seewolf hatte sich in Bewegung gesetzt. Die anderen folgten ihm durch den Schnee: Hasard hörte Black Jack Jayhawks keuchende Atemzüge. Der schwarzbärtige Bursche erholte sich offenbar schnell und schien schon wieder fast bei Kräften zu sein. Jedenfalls hatte er keine Mühe, das Tempo mitzuhalten, und war unter den ersten, die die dunkle Gestalt im Schnee erreichten. Der Unbekannte hatte bei dem Sturz die Schneebretter verloren. Jetzt stemmte er sich mühsam hoch und wischte sich mit der behandschuhten Rechten den Schnee aus dem Gesicht. Er hatte ein hageres, ausgemergeltes Gesicht
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und blaue, tief in den Höhlen liegende Augen. Kein Eskimo, sondern ein halb verhungerter Weißer. Er starrte Hasard an. Sein Blick wanderte weiter, erfaßte Ed Carberry, das Kind, die rothaarige Lilly und schließlich den schwarzen Jack. Ein Ruck ging durch die zusammengesunkene Gestalt. Jäh flammten die blauen Augen auf. Der Unbekannte rappelte sich hoch, ehe irgendjemand ihm helfen konnte. „Jayhawk!“ flüsterte er. Und dann schrie er, schrie mit einer krächzenden, sich überschlagenden Stimme, in der unbändiger Haß klang. „Jayhawk, du dreckiger Bastard!“ Taumelnd stürzte er sich auf den Schwarzbart. Die Bewegung, mit der der Unbekannte zum Gürtel griff, war kaum mit den Augen zu verfolgen. Deutlich sah Hasard den langen, breitklingigen Dolch aufblitzen. Er wollte hinzuspringen und dem Mann die Waffe entwinden. Der Mann war so erschöpft, daß man ihn nur anzutippen brauchte, damit er zusammenbrach. Aber der Seewolf stand ein paar Schritte entfernt — und Jack Jayhawk handelte schneller. Von einer Sekunde zur anderen hielt er eine doppelläufige Pistole in der Faust. Eiskalt drückte er ab, zweimal rasch hintereinander. Die Schüsse klangen seltsam dünn und hoch in der Weite. Beide Kugeln trafen die Brust des Unbekannten, und der Mann prallte zurück, als habe ihn eine unsichtbare Gigantenfaust aufgehalten. Sein Gesicht verzerrte sich. Ein seltsam erstaunter Ausdruck erschien in den blauen Augen. Langsam fiel er auf die Knie. Der Dolch entglitt seinen kraftlosen Fingern. Zuckend preßte er die Hände auf die Wunde in seiner Brust, als könne er auf diese Weise das Leben zurückhalten, das mit dem Blut aus seinem Körper strömte. „Mörder“, flüsterte er. „Verdammter Mörder — du hast ...“ Seine Stimme erstickte. Wie ein gefällter Baum kippte er zur Seite. Seine Glieder erschlafften, und als sein
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Gesicht den Schnee berührte, waren die blauen Augen bereits gebrochen. Black Jack Jayhawk steckte die Pistole ein. Sein hageres Gesicht glich einer Maske. Er atmete tief durch. Die dunklen Augen glitzerten matt und unergründlich wie schwarzer Schlamm. „Tobias Werlauer“, sagte er heiser. „Einer der Schwarzwälder. Er muß den Verstand verloren haben.“ Schweigen. Ed Carberry schnaufte durch die Nase. „Mußtest du schwarzbärtiger Affe ihn gleich abknallen wie einen ...“ „Er wollte mich umbringen!“ fauchte Black Jack. „Das hat doch jeder gesehen, oder?“ Hasards Blick wanderte von dem Toten zu Jayhwak. „Er hatte nicht die geringste Chance, Sie wirklich anzukratzen“, sagte der Seewolf ruhig. „Er hatte einen Dolch, er ...“ „Mit dem Dolch hätte er Ihnen nicht einmal die Jacke aufgeschlitzt. Er konnte sich ja kaum noch auf den Beinen halten ...“ Hasard stockte und schluckte den bitteren Geschmack herunter. Vielleicht tat er dem anderen Unrecht. Vielleicht war auch dieser Jack Jayhawk nicht mehr Herr seiner Nerven, obwohl er eigentlich nicht diesen Eindruck erweckte. „Erst schießen und dann fragen, was, wie?“ brummte Carberry wütend. „Mann, Mann! Kein Wunder, daß nicht viele übriggeblieben sind, wenn sich die Affenärsche gegenseitig massakrieren.“ „Er hatte einen Dolch“, beharrte Jayhawk. „Und er war verrückt. Das passiert, wenn jemand zu lange allein durch die Einöde marschiert.“ Er schwieg sekundenlang und biß sich auf die Lippen. „Tut mir leid, wenn ich die Nerven verloren habe“, fügte er widerwillig hinzu. Hasard schwieg. Es war sinnlos, über den Vorfall zu diskutieren, davon wurde der arme Kerl auch nicht wieder lebendig. Und es ließ sich nicht leugnen, daß er Jack Jayhawk tatsächlich mit dem Dolch angegriffen
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hatte. Der schwarze Jack hatte sich seiner Haut gewehrt, das konnte man ihm im runde nicht verübeln. Aber der Seewolf nahm sich trotzdem vor, diesen Burschen in Zukunft genau im Auge zu behalten. 5. Der Rückmarsch verzögerte sich ein wenig, da sie zuerst den Toten begruben. Die kleine Liza weinte. London-Lilly erzählte mit belegter Stimme, wer Tobias Werlauer gewesen war. Ein deutscher Seemann, genau wie Martin Trieberg im tiefsten Schwarzwald geboren. Beide hatte die Abenteuerlust in die neue Welt verschlagen, beide hatten dieselben Irrfahrten hinter sich: Kabeljau-Fang vor Neufundland, Pelztierhandel im Land der Irokesen, schließlich die große Fahrt durch die Magellan-Straße auf die andere Seite des Kontinents. Martin Trieberg, Tobias Werlauer und ihren Mannen war es wie so vielen europäischen Abenteurern und Entdeckern ergangen, die nicht zu den Untertanen Seiner Allerkatholischsten Majestät Philipps II. zählten. Da die Spanier die reichen, sonnigen Länder der Neuen Welt für sich beanspruchten, wurden alle anderen im wahrsten Sinne des Wortes an den Rand gehängt. Dort gab es kein Inka-Gold, keine Maya-Schätze, keine sanftmütigen Indios, die die weißen Eindringlinge als wiederkehrende Götter empfingen. Aber es gab reiche Fischgründe, Pelztiere, Wale und mit dem Walfang hatte es dann auch Martin Trieberg versucht, bevor ihn die ersten Gerüchte über das neue El Dorado gelockt hatten, das die Indianer Alaska nannten. Tobias Werlauer war bei der verschollenen Gruppe gewesen, die versucht hatte, eine Eskimo-Siedlung zu finden. „Er muß tatsächlich auf Menschen gestoßen sein“, brummte Ed Carberry, während sie den Schlitten wieder in Richtung Küste zogen. „Woher hätte er sonst die Schneebretter haben sollen? Die
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sind von Eskimos hergestellt worden, das sieht ein Blinder.“ „Stimmt“, sagte Hasard nachdenklich. Er wandte sich an Jack Jayhawk. „Hatte Triebergs Gruppe Schneeschuhe dabei, als sie aufbrach?“ Der schwarze Jack stapfte keuchend durch das Schneegestöber. „Nein“, sagte er langsam. „Auf die Idee sind wir erst später gekommen. Wir hatten ja alle fast keine Erfahrung im Norden.“ „Das müßte eigentlich heißen, daß zumindest dieser Tobias Werlauer tatsächlich auf Eskimos gestoßen ist“, stellte der Seewolf fest. „Möglich“, erwiderte Black Jack. Mehr sagte er nicht. Der Schwarzbart blieb einsilbig und starrte vor sich hin. Das mochte an seiner Erschöpfung liegen, aber Hasard hatte das Gefühl, daß noch etwas anderes dahintersteckte. Vorerst nahm der beschwerliche Marsch seine Aufmerksamkeit in Anspruch. Die kleine Liza hockte eingemummelt auf dem Schlitten und erweckte einen recht munteren Eindruck. London-Lilly hatte es abgelehnt, sich ebenfalls ziehen zu lassen. Sie sei nicht von Zucker, erklärte sie kategorisch. Und sie sei schon mehr verdammte Meilen über das Eis gelaufen, als sich das die Männer der „Isabella“ in ihren kühnsten Träumen ausmalen könnten. Der funkelnde Blick aus schrägen grünen Katzenaugen, der die Worte begleitete, hatte Hasard lebhaft an die Rote Korsarin erinnert. Deren schwarze Mandelaugen glitzerten genauso, wenn es jemandem einfiel, sie als schwache Frau zu behandeln. Das ließ sie sich nicht einmal von Thorfin Njal, dem Wikinger, gefallen und auch von Philip Hasard Killigrew nur in schwachen Stunden. Die kleine Gruppe atmete auf, als sie die Küste erreichte. Black Jack Jayhawk starrte aus schmalen Augen zur „Isabella“ hinüber. Sein Blick wanderte über das zersplitterte Ruderblatt, den Stumpf des Besanmastes und die abenteuerliche Holzkonstruktion, die das Schiff abstützte und noch nicht wieder
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demontiert worden war, da man jederzeit mit einem neuen Sturm rechnen mußte. „Sieht mehr nach einem Wrack aus“, murmelte der Anführer der Goldsucher. „Wrack?“ fuhr Ferris Tucker auf, der sich in seiner Eigenschaft als Schiffszimmermann persönlich beleidigt fühlte. „Du hast wohl Kakerlaken im Hirn, du von einem schwarzen Ziegenbock im Suff erzeugter...“ „Ferris!“ sagte Hasard kopfschüttelnd. „Entschuldigung.“ Der schwarze Jack grinste. „Ich wollte den Kahn nicht beleidigen, aber ...“ „Halt doch die Klappe, wenn du nichts davon verstehst“, knurrte Björn Springdaal, der Schwede, ungeduldig. „Ein Blinder mit Krücke sieht, daß das ein Prachtstück ist. Du dämliche Landratte hast keine Ahnung.“ Der schwarze Jack schluckte verdutzt. Hasard grinste sich eins. Daß von diesem zusammengewürfelten Haufen aus Goldsuchern und Abenteurern nur einige wenige befahren waren, hatte er auch schon bemerkt. Springdaal gehörte dazu. Trotz seiner Schwäche packte er energisch mit an, als das Boot klargemacht wurde, und später ließ er keinen Blick von der „Isabella“. Er hockte neben Ed Carberry auf der Ducht und pullte. Unter dem flachsfarbenen Haar, das der Rand der Kapuze freiließ, hatte sich seine Stirn gefurcht. „Glaubt ihr, daß ihr das Riff wegsprengen könnt?“ fragte er nachdenklich. Der Profos grinste. „Wir haben einen Stückmeister, der sprengt dir den Stuhl unter dem Hintern weg, ohne dir die Hose anzusengen“, erklärte er gemütlich. „Aber ohne Besan könnt ihr keine Höhe laufen. Und das Ruderblatt ist auch Brennholz, eh?“ Ed Carberry verzog sein Narbengesicht. „Du Rübenschwein bist wohl ein ganz Schlauer. Läßt sich das Schiff unter dem Hintern einfrieren und reißt noch das Maul auf: Statt euch über anderer Leute. Besanmasten aufzuregen, hättet ihr lieber euren eigenen Kahn wieder flottmachen sollen. Was habt ihr euch überhaupt
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gedacht, ihr hirnamputierten Heringe? Zu Fuß nach England latschen, was, wie?“ „Wir wollten es nach der Überwinterung mit den Booten an der Küste entlang versuchen“, sagte Springdaal sachlich. „So! Und dann habt ihr das letzte Boot zu Brennholz verarbeitet, um eure blöden Affenärsche zu wärmen, was, wie?” „Genau“, sagte der Schwede durch die Zähne. Und seiner Stimme war anzuhören, daß er selbst sich garantiert lieber einen kalten Hintern geholt hätte, statt das letzte Boot zu opfern. Hasard grinste leicht. Seine eigene Stimmung war wieder etwas optimistischer geworden. Die Lage, fand er, sah längst nicht mehr so hoffnungslos aus wie noch vor ein paar Stunden. Einmal bewies das Auftauchen jenes Tobias Werlauer, daß das Land nicht so menschenleer sein konnte, wie es den Anschein hatte. Zum anderen lag irgendwo im Eis ein festgefrorener Walfänger, der mit ziemlicher Sicherheit über einen Besanmast und ein intaktes Ruderblatt verfügte. Klar, daß man beides nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten bekommen würde. Aber mit Schwierigkeiten kämpften die Seewölfe schließlich nicht zum erstenmal. Sie hatten schon in schlimmeren Klemmen gesteckt. Und die „Isabella“ schwamm immer noch. Sie war jedenfalls geschwommen, bi der verdammte Sturm sie auf das Riff geworfen hatte. Gestalten drängten sich an der Reling. Hasard, erkannte Siri-Tong, Big Old Shane, den alten O'Flynn und die Zwillinge, die vor Aufregung herumhüpften. : Selbst Arwenack, der Schimpanse; hatte ausnahmsweise seinen Widerwillen gegen diese unfreundliche Gegend überwunden und war an Deck erschienen: vermummt wie jeder an Bord, gestiefelt, behandschuht und mit seinem anklagenden Mienenspiel höchst drollig anzusehen. Matt Davies und Pete Ballie brachten die Jakobsleiter aus.
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Der Seewolf enterte als erster auf und half der rothaarigen Frau an Deck. LondonLilly sah sich aufatmend um - und hob die Brauen, als sie die Rote Korsarin entdeckte. Siri-Tongs Brauen kletterten ebenfalls. Ihr schwarzen Mandelaugen funkelten. London-Lillys grüne Katzenaugen funkelten nicht minder. Zwei sprühende Blicke kreuzten sich wie Klingen. Und Hasard fragte sich, warum, zum Teufel, es eigentlich nicht möglich war, attraktive weibliche Wesen näher als eine halbe Meile aneinander heranzulassen, ohne daß sie Gesichter schnitten, als wollten sie sich im nächsten Moment gegenseitig die Augen auskratzen. Black Jack Jayhawk grinste breit, als er sich über das Schanzkleid schwang. Die kleine Liza, von Ferris Tucker behutsam abgesetzt, spähte neugierig in die Runde. Verständlich, daß ihr besonderes Interesse den Zwillingen galt. Die beiden waren auch neugierig. Aber zunächst galt diese Neugier eher dem, was ihr Vater zu erzählen hatte. Der Bericht wurde in die gemütlich warme Mannschaftsmesse verlegt. Dort gab es erst einmal heißen Rum. Und heißen Tee für die Kinder. Nur ganz kurz ruhte Ed Carberrys Blick auf den Zwillingen. Aber es war ein Blick, der Bände sprach: wenn sie noch einmal Rum klauten, würden sie sich nicht nur einen Kater einhandeln, sondern Kehrseiten, auf denen sie mindestens eine Woche 'lang nicht sitzen konnten. Der Seewolf berichtete und faßte sich kurz. Denn auch die Überlebenden der „Helsingborg“, die kräftig genug gewesen waren, mitzumarschieren, mußten mit vernünftiger Kleidung versorgt werden und brauchten dringend Ruhe. Im Augenblick zogen sie es allerdings vor, sich erst einmal gründlich aufzuwärmen. London-Lilly versuchte, ihr verfilztes rotes Haar zu ordnen. Black Jack Jayhawk musterte den Ofen aus Silberbarren mit einem starren Blick, der Hasard überhaupt nicht gefiel. Björn Springdaal hockte auf dem Rand einer Koje, schlürfte
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genießerisch den Rum und betrachtete ebenfalls den Ofen. Aber ihn interessierten offensichtlich mehr die Konstruktionsmerkmale als der Wert des Silbers. Der Schwede war, ein salzwassergetränkter Seemann. Man sah ihm an, daß er sich hier wohlfühlte und froh war, wieder solide Schiffsplanken unter den Füßen zu haben. Die Männer der „Isabella“- Crew spürten das genau und akzeptierten den Unbekannten sofort. Er und Black Jack erhielten zwei Kojen im Logis, London-Lilly und die kleine Liza wurden in der Kammer der Roten Korsarin einquartiert. Es hatte aufgehört zu schneien. Bis auf zwei Ankerwachen verzog sich die Crew unter Deck. Eine ruhige Nacht verging, und am nächsten Morgen konnten auch die restlichen Überlebenden der „Helsingborg“ an Bord genommen werden. Nur noch bei einem der Männer zog der Kutscher ein bedenkliches Gesicht. Die anderen erholten sich zusehends und .würden wohl rasch wieder zu Kräften gelangen. Die Seeleute unter ihnen begriffen zwar, daß die „Isabella“ in einer ekelhaften Klemme steckte, aber sie waren zu erleichtert, dem sicheren Tod entronnen zu sein, um sich allzu viele Sorgen zu bereiten. Die kleine Liza und die Zwillinge fanden erst am nächsten Morgen Gelegenheit, sich ausgiebiger zu beschnüffeln. Sie rümpften die Nasen. Achtjährige Jungs waren nach Lizas Meinung eindeutig zu den Kleinkindern zu rechnen, mit denen sich -eine angehende junge Dame nicht befassen könne. Die Zwillinge erklärten in schöner Einigkeit, Mädchen seien ohnehin gräßlich, und man könne sich natürlich ebenfalls nicht mit ihnen befassen; schon gar nicht als richtige Seemänner. Der Vater der „richtigen Seemänner“ lauschte amüsiert dem Dialog, der sich in seiner Hörweite auf der Kuhl entwickelte. „Wir haben schon gegen die Spanier gekämpft“, erklärte Hasard junior ernsthaft.
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„Und gegen Piraten“, setzte Philip junior hinzu. „Phh!“ machte die kleine Liza. „Was sind schon Piraten und blöde Spanier? Wir waren mal von den Irokesen eingekreist.“ „Wir auch“, behauptete Hasard junior. Was insofern stimmte, als die Jungen unter „wir“ die ganze Crew verstanden. Schließlich konnten sie ja nichts dafür, daß ihnen die uneinsichtigen Erwachsenen nicht erlaubten, sich ins Getümmel zu stürzen. Und zusehen und Daumen drücken -das war immerhin auch eine Art von Kampf. „Ich weiß, wie man Gold wäscht“, erklärte Liza. „Phh, Gold“, erklärte Hasard junior. „Aber bestimmt hast du noch nie zehn Ratten an einem einzigen Tage gefangen“, wartete Philip mit ihrer Glanzleistung auf. „Ratten? Iiihh!“ entsetzte sich Liza. „Wieso?“ ertönte es zweistimmig. „Was hast du denn gegen Ratten?“ Liza rang sich zu der heroischen Behauptung durch, überhaupt nichts gegen Ratten zu haben. Außerdem habe sie an einem einzigen Tag schon zwanzig gefangen. Das wurde energisch bezweifelt. Die Zwillinge setzten eine vergammelte Kokusnuß gegen Lizas kaputtes IrokesenCalumet, daß ein Mädchen überhaupt keine Ratte fangen könne, und man spuckte sich feierlich gegenseitig über die Schulter, um die Wette abzusiegeln. Auf dem Achterkastell grinste der Seewolf in sich hinein. Mit der Rattenjagd würden die Kinder zunächst einmal beschäftigt sein. Vollauf beschäftigt war auch der Kutscher. Er ging gerade über die Kuhl und enterte den Niedergang hoch, um den Seewolf über den Gesundheitszustand der Patienten zu informieren. Außerdem, erklärte, er, müsse man nach dem unvorhergesehenen Anstieg des Verbrauchs die Rum-Rationen kürzen. Eine Behauptung, die Ed Carberry ein Gemurmel entlockte, das zwar nicht genau zu verstehen war, aber äußerst mißbilligend klang. Was der Kutscher murmelte, war dagegen genau zu verstehen: „Versoffener Stint!“
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Carberry holte tief Luft. Kein Zweifel, er wollte. seinen Lieblingsspruch vom Stapel lassen. Aber er bremste sich, denn im selben Moment erschien die rothaarige London-Lilly auf der Szene. Ob sie vielleicht ein wenig in der Kombüse helfen könne, wollte sie wissen. Der Kutscher kriegte Schluckbeschwerden und rote Ohren. Und dann stotterte er, was ihm nur passierte, wenn jemand ein völlig unmögliches Ansinnen an ihn stellte. „I-in der K-kombüse, Madam? Sie?“ „Warum nicht?“ fragte Hasard sanft. „Die meisten Frauen können bekanntlich sehr gut kochen.“ „Aber - aber Sir, du kannst doch nicht verlangen, daß ich - daß ich eine Frau in meine Kombüse lasse!“ Nein, das konnte man wirklich nicht verlangen. Der Kutscher sah aus, als sei er imstande, im nächsten Moment eine Meuterei anzufangen. Siri-Tong, die die Szene verfolgt hatte, lächelte anzüglich. „Sie kennen sich auf Schiffen wohl nicht so aus, nicht wahr?“ fragte sie in LondonLillys Richtung. Die rothaarige Frau warf ihr einen vernichtenden Blick zu. „Ich habe zwei Monate auf Martin Triebergs ,Helsingborg' für die Crew gesorgt, nachdem der Koch über Bord gegangen war“, sagte sie giftig. „Ah. Deshalb sind die armen Kerle alle so mager.“ Wieder kreuzten sich funkelnde Blicke aus schwarzen Mandelaugen und grünen Katzenaugen. Hasard beendete das sich anbahnende Duell, indem er London-Lilly bat, dem schwarzbärtigen Black Jack auszurichten, er erwarte ihn zu einer Besprechung in seiner Kammer. Der Kutscher verdrückte sich eilig, bevor es doch noch geschah, daß ihm eine weibliche Kombüsenhilfe verpaßt wurde. Siri-Tong schürzte die Lippen. Sie sah ziemlich kampflustig aus, und es bestand kein Zweifel daran, daß sie die rothaarige Lilly als Logiergast bestimmt nicht mit Freundlichkeit überschüttete. Zwanzig
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Minuten später fanden sich der Seewolf, die Rote Korsarin, Ben Brighton, Ed Carberry, Big Old Shane und der schwarze Jack in Hasards Kammer zusammen. Über die Lage brauchten sie sich nicht mehr zu unterhalten, die war ausführlich genug besprochen worden. Von der Möglichkeit, die „Isabella“ aufzugeben, redeten sie erst gar nicht. Sie brauchten Holz, und das gab es in weitem Umkreis nur an einer einzigen Stelle. „Wir müssen die ,Helsingborg` finden“, faßte Hasard zusammen. „Mister Jayhawk, können Sie uns die Lage des Schiffes ungefähr aufzeichnen?“ „Kann ich“, erwiderte Black Jack. „Und Springdaal meint, wenn man einen Handkompaß benutzt, sei es überhaupt nicht zu verfehlen. Aber es ist zu weit. Kein Mensch könnte das schaffen. Nicht ohne Hundeschlitten.“ „Darüber wollte ich gerade sprechen“, erwiderte der Seewolf. „Tobias Werlauer ist offensichtlich auf Eskimos gestoßen, die ihm die Schneeschuhe zur Verfügung stellten. Vielleicht wurde er von den anderen getrennt und hat sie gesucht. Vielleicht wurde er auch geschickt, um Sie alle zu holen, da er ja wußte, wo sie steckten. Auf jeden Fall bezweifle ich, daß er es riskiert hat, sich mehr als zwei, drei Tagemärsche von der Eskimo-Siedlung zu entfernen.“ „Richtig“, sagte Ben Brighton. ..Und das heißt, daß wir die Siedlung ebenfalls finden könnten.“ „Genau. Kennen Sie die Eskimos, die hier leben, Mister Jayhawk?“ Der schwarze Jack zuckte mit den Schultern. „Mit den Irokesen kenne ich mich besser aus. Da gibt's nur eine Methode für alle Gelegenheiten: erst schießen, dann fragen. Aber diese Schneemenschen ...“ „Auf Grönland waren sie ausgesprochen gastfreundlich“, erinnerte sich der Profos. „Richtig, Ed. Aber wir haben schließlich schon erlebt, daß auf der einen Insel die Wilden ein Fest für uns gaben, während sie uns auf der nächsten als Sonntagsbraten verzehren wollten.“
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„Die Eskimos sind friedlich“, räumte Black Jack ein. „Zu einer ihrer Siedlungen wollten wir ja, als uns der verdammte Sturm durch die Passage nach Norden drückte.“ „Sie glauben, daß man uns Hundegespanne leihen wird?“ „Bestimmt.“ Black Jack grinste. „Gästen leihen sie alles, sogar ihre Weiher. Und die sind nicht von Pappe, kann ich euch sagen, die sind ...“ Er schwieg abrupt. Die Rote Korsarin hatte nur die rechte Braue gehoben. Der schwarze Jack kratzte sich am Kopf. Er kannte Siri-Tong nicht. Aber er kannte London-Lilly, und die war wohl auch von dem Kaliber, bei dem ein Mann -jedenfalls ein Mann von der Sorte Black Jack Jayhawks - aufpassen mußte, daß ihm nicht die Augen ausgekratzt wurden. „Also, eh, wie gesagt, sie sind friedlich“, brummte er verlegen. „Und ohne Schlittenhunde ist es nicht zu schaffen. Schon gar nicht, wenn Sie auf dem Rückweg 'nen Besanmast und ein Ruderblatt transportieren wollen.“ „Und wenn die ,Helsingborg` längst auf Tiefe gegangen ist?“ unkte Carberry. Der Seewolf warf ihm einen Blick zu. „Dann haben wir Pech gehabt“, sagte er pulvertrocken. „Aber du kannst ja immer noch versuchen, auf den Meeresgrund zu tauchen und ...“ Er stockte abrupt. Auch die anderen hatten es gehört: ein gellender Schrei zerriß die friedliche Stille. Der Schrei einer Frauenstimme! Da SiriTong an der Besprechung teilnahm, mußte es London-Lilly sein. Hasard sprang auf. Die anderen folgten ihm, als er aus der Kammer fegte. Auf der Kuhl drängten sich die Männer am Steuerbord-Schanzkleid. Ferris Tucker, Batuti, Stenmark und Smoky waren schon dabei, in höchster Eile ein Beiboot abzufieren. Mit langen Schritten rannte der Seewolf über die Kuhl — und blieb wie angenagelt stehen.
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Sechs, sieben Yards von der Barre entfernt kauerten drei kleine Gestalten auf einer Eisscholle. Liza und die Zwillinge! Sie hatten die Rattenjagd aufgegeben und waren stattdessen in den Riffen herumgeklettert. Der Teufel mochte wissen, was sie veranlaßt hatte, das Eis zu betreten. Die Scholle unter ihren Füßen mußte losgebrochen sein — und sie wurde geradezu beängstigend schnell abgetrieben. London-Lilly war bleich wie ein Laken. Sie kannte den Norden. Sie wußte, daß dieser Zwischenfall nicht harmlos, sondern für die Kinder lebensgefährlich war. SiriTong wußte es auch, und sie war schneller an der außenbords hängenden Jakobsleiter als irgendjemand anders. Hasard folgte ihr. „Enterhaken und Taue!“ peitschte seine Stimme. Ferris, Ed, Batuti, Smoky, Shane!“ Dabei schwang er sich schon über das Schanzkleid, hangelte sich wie der Blitz an der Jakobsleiter hinunter und stand Sekunden später neben der Roten Korsarin. Die Männer, deren Namen er gerufen hatte, brauchten nur unwesentlich länger. Sie waren die Stärksten der Crew, Hünen mit Bärenkräften, wahre Brocken, die notfalls schneller pullen konnten, als normale Menschen es sich auch nur träumen ließen. Jetzt nahmen sie das Boot wahr, lösten es aus dem Geschirr und schleppten es im Eiltempo über die Barre. Ferris Tucker kam als letzter, bewaffnet mit ein paar Enterhaken an langen Tauen, die er Siri-Tong zuwarf. Das Beiboot klatschte ins Wasser. Binnen Sekunden hatte sich jeder der Männer einen Riemen geschnappt. „Hoool weg! Hoool weg!“ Ed Carberrys Donnerstimme dröhnte. Kraftvoll wurden die Riemen durchgeholt, das Boot schoß über das Wasser. Siri-Tong saß auf der Heckducht und starrte zu der rasch treibenden Eisscholle hinüber. Auch der Seewolf blickte über die Schulter. Er wußte, daß die Scholle zu klein und zu dünn war und jeden Augenblick mit einer anderen zusammenstoßen und bersten konnte. Man mußte ein guter Schwimmer
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sein, um in dem eisigen Wasser nicht sofort unterzugehen. Die Zwillinge waren gute Schwimmer. Aber die kleine Liza? Die beiden Jungen hatten sie zwischen sich genommen und hielten sie fest. Sie knieten in der Mitte der Eisscholle, hatten irgendeinen Halt gefunden, um ihre Stiefel zu verkanten, und bewegten sich im Takt der hohen Dünung. Gut, dachte der Seewolf. Zumindest verloren sie nicht die Nerven und dachten noch daran, ihr eisiges Fahrzeug auszubalancieren. Das machten sie sogar sehr geschickt. Aber sie wurden unaufhaltsam auf den Rand eines Eisfeldes zugetrieben, viel schneller, als das Boot den Vorsprung aufholen konnte. „Hool weg! Hool weg' Hool weg ...“ Carberrys Stimme dröhnte und wurde immer schneller. Die Männer pullten wie besessen. Der Abstand verringerte sich. Zwanzig Yards noch, achtzehn, fünfzehn ... „Himmelarsch!“ knirschte Big Old Shane in seinen grauen Bart. „Heiliges Bimbam“, flüsterte Batuti und fügte etwas in seiner Landessprache hinzu, daß sich sehr nach Beschwörung anhörte. „Jetzt!“ zischte Smoky. „O verdammt, verdammt ...“ Auch die Rote Korsarin murmelte etwas in ihrer Heimatsprache. Hasard vermutete, daß es sich um ein Stoßgebet handelte oder um die Aufforderung an den Deckältesten, gefälligst die Klappe zu halten, andernfalls er seine Zähne demnächst im Magen wiederfinden würde. Siri-Tong wog den Enterhaken in der Hand. Hasard junior und Philip junior duckten sich, preßten sich flach auf die Eisscholle und hielten Liza unten. Selbst in der nervenzerfetzenden Spannung des Augenblicks stellte ihr Vater fest, daß sie mitdachten und sehr genau begriffen, auf was es ankam. Siri-Tong holte aus. Ihr Gesicht war weiß vor Anspannung. Sie schleuderte den Enterhaken. Und sie schleuderte ihn präzise so, daß die Spitze hinter einem Vorsprung im Eis der Scholle Halt fand.
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Die Zwillinge reagierten erstaunlich kaltblütig. Kein Sprung, keine heftige Bewegung nichts dergleichen. Hasard junior schob sich bäuchlings ein Stück vor, erwischte mit der Rechten das Tau und umklammerte es, damit der Haken nicht abgleiten konnte. Philip junior hielt seinen Bruder an der Felljacke fest. Ferris Tucker war es, der den Riemen fahren ließ und das freie Ende des Taus sicherte. Siri-Tong warf den nächsten Enterhaken - und diesmal schaffte sie es, ihn über die ganze Breite der Eisscholle zu schleudern. Gleichzeitig gab es einen hellen, knirschenden Laut. Mit kaum gebremster Wucht krachte die Scholle gegen den Rand des Eisfeldes. Die kleine Liza schrie auf. Der Seewolf hielt den Atem an und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, aber die Eisscholle brach dennoch auseinander. Eine Sekunde später purzelten die drei Kinder durcheinander und rutschten in das eisige Wasser. Liza schlug verzweifelt um sich und wäre wohl sofort versunken, wenn der kleine Philip sie nicht festgehalten hätte. Der Seewolf handelte mit dem nächsten Atemzug. Die schwere Felljacke hatte er sich schon vorher vom Körper gerissen. Jetzt hechtete er ins Wasser, und ein zweimaliges Klatschen zeigte ihm, daß er nicht der einzige war, der diese Idee gehabt hatte. Eine Minute später hievten Hasard, Batuti und Ferris Tucker je ein zitterndes, schreckensbleiches Kind ins Boot. Sie selbst schwangen sich ebenfalls in das Fahrzeug. Die Barre war rasch erreicht, und die Kinder wurden auf dem schnellsten Wege in die Wärme der Mannschaftsmesse gebracht, während die Männer, die trocken geblieben waren, das Boot wieder an Bord hievten. Zehn Minuten später hockten Philip, Hasard und Liza dick eingemummelt in Kojen, schlürften Tee und hörten sich wahrhaft schauerliche Geschichten über das Schicksal von Menschen auf treibenden Eisschollen an.
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Geschichten, die London-Lilly und SiriTong abwechselnd zum besten gaben und von Old O'Flynn mit Hinweisen auf Schneedämonen und kinderfressende Polarhexen angereichert wurden. Ob er viel Glauben fand, wagte der Seewolf zu bezweifeln. Solcherlei Geschichten wurden schließlich überall auf der Welt den lieben Kleinen zwecks Abschreckung erzählt. und überall auf der Welt pflegten sie den Zweck der Abschreckung meist gründlich zu verfehlen, da sie in den kindlichen Gemüten ein eher wohliges Erschauern hervorriefen. Hasard, Philip und Liza lauschten so hingerissen, daß es schließlich auch die Erwachsenen merkten. Old O'Flynn stampfte erbittert mit dem Holzbein auf. Siri-Tong und London-Lilly wechselten einen Blick und seufzten. Und diesmal wirkten ihre Blicke eigentlich gar nicht mehr so giftig wie zuvor. 6. Die Expedition zu der Eskimosiedlung brach noch am selben Tag auf. Ben Brighton übernahm das Kommando auf der „Isabella“. Sechs Mann brachen unter Hasards Führung auf: Ed Carberry, Ferris Tucker, Matt Davies, Stenmark und Dar. O'Flynn. Sie beschränkten sich darauf, einen Materialschlitten mitzunehmen und - Vorsicht war die Mutter der Gesundheit - Vorräte für etwa zwei Wochen. Wenn sie die EskimoSiedlung fanden, wollten sie nicht erst zur „Isabella“ zurückkehren, sondern gleich versuchen, die ..Helsingborg“ zu erreichen. Jeder Tag zählte. Es würde noch genug Zeit in Anspruch nehmen, den Mast neu auf zuriggen und das Ruderblatt zu reparieren. Sie mußten die Passage nach Süden so schnell wie möglich finden, wenn sie nicht Gefahr laufen wollten, vom Winter überrascht und genau wie die „Helsingborg“ im Eis eingeschlossen zu werden.
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Die Temperatur war gefallen, die Ebene lag wieder unter einer geschlossenen Schneedecke. Die Seewölfe marschierten nach Süden. Von Tobias Werlauers Spuren war nichts mehr zu sehen. Aber nach etwa einer Stunde Weg entdeckten Dan O'Flynns scharfe Augen eine halb verschneite Zwergbirke, an deren Zweigen etwas flatterte. Etwas, das sich wenig später als fest verknoteter Tuchfetzen entpuppte. „Na also“, brummte Ferris Tucker zufrieden. „Der Bursche hat Wegzeichen hinterlassen, um später zurückzufinden.“ So war es. Ein paar Meilen weiter entdeckten sie den nächsten Tuchfetzen, dann einen dritten und einen vierten. Ohne Pause marschierten sie weiter. Sie waren daran gewöhnt, manchmal tagelang keinen Schlaf zu finden, wenn sie gegen Sturm und Unwetter kämpften. Die Siedlung der Eskimos konnte nicht weit sein: Tobias Werlauer war mit Schneebrettern unterwegs gewesen und hatte gar keine Möglichkeit gehabt, Vorräte für einen längeren Marsch mitzunehmen. Hasards Gedanken stockten. Dan O'Flynn hatte wieder einen von den Tuchfetzen entdeckt - diesmal in der falschen Richtung, im Nordwesten. Ein zweiter flatterte weiter südlich, dort, wo sie -ihn erwartet hatten. Die Männer kniffen die Augen zusammen und sahen sich an. „Merkwürdig“, sagte Ferris Tucker gedehnt. „Hat er sich hier in der Richtung geirrt, oder was?“ „Sieht so aus, als hätte er erst an einem anderen Küstenabschnitt gesucht“, meinte Stenmark. „Und dann ist er zum Ausgangspunkt zurückgekehrt, weil er nicht in den Klippen an der Küste herumklettern wollte. Oder weil er hier irgendwelche Vorräte zurückgelassen hatte.“ „Aber er wußte doch, wo die Hütte stand“, wandte Dan ein. „Von dort aus ist er doch mit diesem Trieberg aufgebrochen.“ „Behauptet Jack Jayhawk“, sagte Hasard gedehnt. „He! Glaubst du, er hat gelogen?“
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Hasard hob die Schultern. „Fest steht, daß die Spuren hier nicht zu Jayhawks Geschichte passen. Werlauer war Seemann. Er hätte die Hütte auf Anhieb wiedergefunden, wenn er ihren Platz gekannt hätte.“ „Und was, zum Henker, hat Jayhawk davon, uns anzulügen?“ knurrte Carberry. „Keine Ahnung, Ed. Aber irgendetwas stimmt da nicht. Dieser Black Jack hat Werlauer wie einen tollen Hund über den Haufen geschossen. Vielleicht wollte er verhindern, daß der Mann mit uns spricht. Vielleicht hat die ganze Gruppe etwas zu verbergen.“ „Gold“, meinte Dan nachdenklich. „Haben sie nicht gesagt, sie seien Goldsucher?“ „Ja. Und sie hatten es verdammt eilig, zu betonen, daß sie nichts gefunden hätten. Vielleicht haben sie doch etwas gefunden, und es hat Mord und Totschlag gegeben.“ Hasard nickte. Tobias Werlauer hatte Jayhawk „Mörder“ genannt, daran erinnerte er sich genau. Außerdem glaubte keiner der Seewölfe so recht daran, daß der schwarze Jack wegen des Dolchs geschossen hatte. Werlauer war viel zu erschöpft gewesen, um eine ernsthafte Gefahr darzustellen. Nein, an der Geschichte, die die Goldsucher erzählten, konnte nicht alles stimmen. Für Hasard stand fest, daß Tobias Werlauer zumindest die Hütte nicht gekannt hatte. Und wenn das so war, sprach alles dafür, daß auch Martin Trieberg und die übrigen angeblich Verschollenen nie dort gewesen waren und sich die Gruppen aus irgendeinem Grund getrennt hatten, bevor sie die Küste erreichten. Die Seewölfe marschierten weiter gen Süden, Werlauers Wegzeichen nach. Hasard dachte an seine Männer auf der „Isabella“. Sie hatten keinen Grund, Jack Jayhawk zu mißtrauen. Aber sie waren wachsam. Der Seewolf wußte, daß er sich auf Ben Brighton und die anderen verlassen konnte. Eine Weile wurde noch darüber spekuliert, was unter den Goldgräbern geschehen sein konnte, dann verstummten die Gespräche.
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Vor den Männern lag ein langer Weg. und sie begannen bereits zu ahnen, daß sie ihren Atem noch brauchen würden. * Björn Springdaal, Black Jack Jayhawk und der Friese standen am Schanzkleid und tuschelten. In der Kombüse versuchten Liza und die Zwillinge, dem Kutscher Rosinen abzuschwatzen. Mit Erfolg, da sich Liza bereit erklärte, im Gegenzug ein paar Küchengeheimnisse aus den GoldwäscherCamps preiszugeben, in denen sie ihr halbes Leben verbracht hatte. Arwenack, der Schimpanse, und Sir John, der AraPapagei, erhielten ebenfalls ihren Teil. Der rothaarigen London-Lilly, die auf der Suche nach ihrer Tochter einen Blick durch das Schott warf, bot sich ein ungemein friedliches Bild. Black Jack, Springdaal und der Schwede tuschelten immer noch. London-Lilly biß sich auf die Lippen. Sie ahnte, was die Männer ausbrüteten. Irgendetwas Finsteres, eine Teufelei, eine Gemeinheit. Verdammter Bastard, dachte London-Lilly. Sie meinte Jack Jayhawk, und der Gedanke war zwar wenig ladylike, aber dafür ungemein treffend. Die rothaarige Frau wartete, bis sich Jayhawk und der Friese unter Deck zurückzogen. „Björn?“ rief sie halblaut. Springdaal blieb stehen. London-Lilly trat zu ihm. Sie wußte, daß Springdaal damals der einzige gewesen war, der auf Martin Triebergs Seite gestanden hatte. Aber niemand hatte auf ihn gehört. Auch sie, Lilly, nicht. Heute begann sie zu begreifen, daß das ein Fehler gewesen war. „Was habt ihr vor?“ fragte sie leise. Und als Springdaal nur mit den Schultern zuckte, fügte sie hinzu: „Will sich Jack schon wieder ein Schiff unter den Nagel reißen? Hat er immer noch nicht die Nase voll?“ „Er ist verrückt”, murmelte Springdaal. „Aber die anderen hören auf ihn. Dabei ist
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er nichts weiter als eine verdammte Landratte.“ „Kannst du die anderen nicht zur Vernunft bringen, Björn?“ „Wie denn ? Black Jack ist glatt imstande, mich abzumurksen. Er würde jeden umbringen, der sich seinen Plänen widersetzt.“ „Hast du Angst vor ihm?“ Springdaal biß sich auf die Unterlippe und antwortete nicht. Abrupt wandte er sich ab und marschierte zum Niedergang. London-Lilly sah ihm nach. Ihr schrägen grünen Katzenaugen waren sehr nachdenklich. Sie dachte an die Männer, von denen sie gerettet worden waren. Männer, die nicht ahnten, daß sie sich eine Laus in den Pelz gesetzt hatten. Sie hatten ihnen geholfen, teilten ihre wenigen Vorräte mit ihnen — und zum Dank würden sie eine böse Überraschung erleben. Die rothaarige London-Lilly preßte die Lippen zusammen. Sie hatte noch nie Gewissensbisse gehabt, wenn es um ihren Vorteil ging. Ihr Leben war bunt, abenteuerlich und durchaus nicht immer eben verlaufen. Sie pflegte zu nehmen, was sie kriegen konnte, und sich nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, was sie hinter sich zurückließ. Aber diesmal hatte sie das Gefühl, sich vor sich selbst schämen zu müssen. * „Hundeschlitten!“ schrie Dan O'Flynn. Hasard fuhr sich mit der Hand über die Augen. Er war fast blind von dem ständigen Starren in die blendend weiße Schneewüste. Für ihn waren die Hundeschlitten nur drei dunkle Punkte, die sich bewegten. Aber Donegal Daniel O'Flynn hatte schon als sechzehnjähriges Bürschchen die schärfsten Augen der Crew gehabt. „Tatsächlich Hundeschlitten“, sagte Ferris Tucker ein paar Minuten später. Jetzt konnten es auch die anderen erkennen. Drei der typischen flachen Gespanne fegten auf sie zu. Schnee
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wirbelte hoch, sie konnten das Gebell der Huskies hören. Unmittelbar vor der Gruppe der keuchenden, vom tagelangen Marsch erschöpften Männer wurden die Gespanne angehalten. Ein halbes Dutzend kleiner, gelbhäutiger Männer mit lächelnden Gesichtern sprangen ab. Die Seewölfe lächelten ebenfalls. Auf Grönland hatten sie ein paar Brocken der fremden Sprache gelernt. Das Wort Freundschaft zum Beispiel. Zustimmendes Nicken und noch mehr Lächeln verrieten, daß es hier auf der anderen Seite des Kontinents das gleiche bedeutete. Jack Jayhawk hatte offenbar recht gehabt. Die Eskimos dieser Gegend waren tatsächlich friedlich und gast- freundlich. Minuten später war der Materialschlitten der Seewölfe an eins der EskimoFahrzeuge angehängt worden, und die Männer verteilten sich auf die beiden anderen Schlitten. Die Gespanne setzten sich wieder in Bewegung. In sausender Fahrt glitten sie durch den Schnee, und es dauerte nicht lange, bis jenseits einer Hügelfalte die Siedlung auftauchte —ein Dutzend einfacher Fellzelte. Ihre kunstvollen Iglus bauten die Eskimos erst, wenn der Polarwinter einsetzte. Im Sommer zogen sie nomadisierend durch das Land, sammelten Beeren und Kräuter, gingen mit ihren Umiaks auf Fischfang, jagten Seehunde, Rentiere und Moschusochsen. Temperaturen, bei denen Europäer mit den Zähnen klapperten, empfanden sie durchaus als angenehm, weshalb sie jetzt, während des kurzen Sommers, trotz Schnee und Eis nicht einmal besonders dick vermummt waren. Die Begrüßung fiel lebhaft aus. Zwei Dutzend freundlicher gelbbrauner Menschen schnatterten durcheinander, lächelten, gestikulierten, klopften auf Schultern und zupften an Ärmeln. Hasard begriff allmählich, daß man sie irgendwo hinführen wollte. Ein paarmal glaubte er, das Wort „Krankheit“ zu verstehen. Schließlich nickte er den anderen zu, und
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gemeinsam folgten sie ihren Gastgebern zu einem der größeren Zelte. Es war verhältnismäßig warm in der Behausung: die Eskimos hatten ein höchst sinnreiches System, Luft zirkulieren zu lassen, die sich dabei über einer trangespeisten Flamme erwärmte. Hinter ihren Gastgebern betraten die Seewölfe das Zelt — und kriegten Stielaugen. Die junge Frau, die sich gerade über ein einfaches Fell-Lager beugte, war so nackt, wie der Herrgott sie geschaffen hatte. Da sie dem Mann auf der Lagerstätte etwas zu trinken einflößte, gelangten die Männer in den Genuß eines Anblicks, den sie schon recht lange entbehrt hatten: eine wohlgerundete weibliche Kehrseite wölbte sich ihnen entgegen. Der Blick auf die Vorderfront der Anatomie blieb ihnen auch nicht verwehrt. Ed Carberry schluckte. Ferris Tucker wurde fast so rot wie sein Haar. Dan O'Flynn und Stenmark streichelten die Hügellandschaft mit den Augen. Matt Davies kratzte sich am Kopf — und zuckte zusammen, weil er versehentlich den 'Arm mit der scharfgeschliffenen Hakenprothese benutzt hatte. Mannomann, dachte Hasard erschüttert. Die Eskimo-Lady lächelte verführerisch. Sie genierte sich nicht im geringsten. Im Gegenteil: sie betrachtete die fremden Besucher höchst wohlgefällig. Jetzt stand sie auch noch auf, stützte eine Hand auf die runde Hüfte und wippte herausfordernd. Und das, was einer der Eskimos zu ihr sagte, klang gar nicht nach einem strengen Verweis, sondern eher nach einer Vertröstung auf später. Dan O'Flynn, Matt Davies und Stenmark seufzten, als das Mädchen nach seinen Kleidern griff und all die Herrlichkeiten wieder verpackte. Ed Carberry rieb sein Rammkinn, Ferris Tucker hatte ein merkwürdiges Glitzern in den Augen. Und Hasard glaubte jetzt zu verstehen, warum die Eskimos so bravourös Väterchen Frost trotzten — ihm war plötzlich auch heiß. Erst als die Lady verschwunden war, bemerkte er den Mann auf dem Fell-Lager.
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Ein Europäer. Abgemagert, mit fiebrig glänzenden Augen und eingefallenen Zügen. Er war krank, kein Zweifel. Aber nicht so krank, daß er seine Umgebung nicht mehr wahrgenommen hätte. „Engländer?“ fragte er heiser. Und als Hasard nickte: „Dem Himmel sei Dank! Euch schickt die Vorsehung! Mein Name ist Martin Trieberg ...“ 7. „Wer seid ihr? Woher kommt ihr? Wie habt ihr hier hergefunden? Seid ihr vielleicht zufällig einem Mann namens Tobias Werlauer begegnet?“ Martin Trieberg sprach sehr gut Englisch, und er benutzte es dazu, um dutzendweise Fragen zu stellen. Die Seewölfe hätten ebenfalls ein paar Dutzend Fragen gehabt, aber das würde sich schon von selbst ergeben. „Wir sind mit unserem Schiff im Sturm auf ein Riff geworfen worden“, erläuterte Hasard. „An der Küste trafen wir dann auf einen Teil Ihrer Leute.“ „Werlauer?“ „Ein gewisser Jack Jayhawk und ein paar andere, darunter eine Frau und ein Kind.“ „London-Lilly und Liza.“ Martin Trieberg preßte die Lippen zusammen. In seine vom Fieber geröteten Augen trat plötzlich ein harter Glanz. „Das sind nicht meine Leute“, stieß er durch die Zähne. „Eine Bande von Halsabschneidern und mörderischen Halunken sind sie. Seid ihr mit ihnen aneinandergeraten?“ „Sie waren nicht in der Verfassung, mit jemandem aneinanderzugeraten“, sagte der Seewolf trocken. „Erzählen Sie, Mister Trieberg. Uns ist an der Geschichte dieses Jayhawk ohnehin einiges unklar.“ „Das glaube ich! Was hat er behauptet? Daß die ,Helsingborg` ihm gehöre?“ „Wissen Sie nicht, daß die ,Helsingborg' im Eis festsitzt? Ich dachte, Sie hätten das Schiff alle zusammen verlassen. Jayhawk sagte, daß Sie und ein paar andere Hilfe holen wollten und seither verschollen sind.“
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„Hilfe holen? Wir?“ Martin Trieberg knirschte mit den Zähnen. Er war ein großer, kräftiger Mann, blondhaarig und blauäugig.. „Wir konnten keine Hilfe holen“, sagte er gepreßt. „Werlauer und ich sind wie durch ein Wunder gerettet worden. Und die anderen irren immer noch herum. Acht Männer! Der Himmel allein weiß, ob sie überhaupt noch leben.“ „Und was ist wirklich passiert, Trieberg?“ Der Kranke atmete tief durch. Seine Stimme klang rauh. „Sie haben uns ausgesetzt“, berichtete er. „In der Bristol Bay nahmen wir sie auf: eine Gruppe halb verhungerter Goldgräber, die wir aufpäppelten und mit denen wir unsere letzten Vorräte teilten. Aber wir waren auf Walfang, und diese Bastarde hatten die Taschen voll Gold und wollten nach Süden. Eines Nachts machten sie die Wachen nieder und überrumpelten die anderen im Schlaf. Zehn Männer setzten sie an Land. Die Musketen und die paar Vorräte, die sie uns mitgaben, nutzten nicht viel. Sie wußten verdammt genau, daß es nackter Mord war.“ „Schweinehunde!“ fauchte Dan O'Flynn erbittert. „Mistkerle!“ knirschte Ed Carberry. „Wenn ich den verdammten Black Jack in die Fäuste kriege, ziehe ich ihm die Haut in Streifen von seinem Affenarsch! Und diese Rübenschweine haben wir gehätschelt wie die Babys!“ „Wir auch“, sagte Martin Trieberg erbittert. „Als wir an der Küste standen und der ,Helsingborg` nachsahen, war es zu spät. Dann tobte auch noch tagelang ein Unwetter. Ich nehme an, daß es der Sturm war, der die ,Helsingborg` durch die Passage nach Norden drückte.“ „Richtig“, sagte Hasard. „Jayhawk und seine Leute mußten an der Küste überwintern. Als wie sie fanden, waren sie mehr tot als lebendig. Und wie ist es Ihnen ergangen?“ „Werlauer und ich wurden im Sturm von den anderen getrennt. Die Eskimos retteten uns. Wir verbrachten den Winter bei ihnen und hörten, daß auch noch eine andere Sippe halbtote Weiße aufgesammelt hätte.
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Als wir nach ihnen suchten, waren sie bereits zur Küste gezogen. Ich wurde krank. Tobias versuchte mit einem Hundegespann, unsere Kameraden zu finden.“ „Mit einem Hundegespann?“ fragte Hasard. „Als wir ihn trafen, hatte er nur Schneebretter unter. den Füßen.“ Trieberg zuckte mit den Schultern. „Vielleicht hat er den Schlitten verloren. Es gibt verdammt tückische Spalten im Eis. Aber was ist mit Tobias? Wo steckt er?“ Der Seewolf erzählte, was sich ereignet hatte. Martin Triebergs Augen wurden steinhart. Sein Gesicht verkantete sich, die Lippen zuckten. „Tobias ...“ flüsterte er. „Wir waren Freunde. Dafür wird Jayhawk sterben!“ Der Seewolf schwieg. Es gab nichts zu sagen. Martin Trieberg und Jack Jayhawk waren Todfeinde, und wenn es je geschehen sollte, daß sie miteinander abrechneten, konnte sich nichts und niemand zwischen sie stellen. „Warum sind Sie hierhergekommen?“ fragte Trieberg schließlich nach einem langen Schweigen. „Sie wußten doch nicht, daß ich hier war.“ „Aber wir haben aus Tobias Werlauers Schneebrettern geschlossen, daß er auf Eskimos gestoßen sein mußte. Wir brauchen einen neuen Besanmast und ein Ruderblatt. Beides können wir nur auf der ,Helsingborg' finden. Aber Jayhawk behauptete, es sei zu weit, um es ohne Hundeschlitten zu schaffen.“ „Da hat er ausnahmsweise nicht gelogen. Ich wette, er wartet nur darauf, daß das Schiff wieder flott wird, um mit euch das gleiche schmutzige Spiel zu treiben wie mit uns.“ „Wir sind ja jetzt gewarnt. Glauben Sie, daß die Eskimos uns ein paar Gespanne zur Verfügung stellen werden?“ „Ja, das glaube ich. Wenn sie jemanden als Gast betrachten, teilen sie alles mit ihm. Ich spreche ein wenig ihre Sprache und werde sie fragen.“
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Eine halbe Stunde später stellte sich heraus, daß die Eskimos sogar darauf bestanden, den Fremden eins der benötigten Schlittengespanne zu schenken. Die Seewölfe würden sich später revanchieren, zum Beispiel mit ein paar Musketen, die die Eisbären-Jagd entschieden ungefährlicher werden ließen. Martin Trieberg war. zu krank, um sie bei ihrer Expedition zur „Helsingborg“ zu begleiten. Aber bis die „Isabella“ wieder flott war, würde er sich wohl erholt haben, und dann konnten sie ihn immer noch abholen und an Bord nehmen. Zunächst einmal mußten sie ein paar Stunden Schlaf nachholen. Für die Beschäftigung mit hübschen Eskimo-Ladies würde auf jeden Fall keine Zeit bleiben. Drei von den Eskimos begleiteten die Expedition als Führer. Mit Hundeschlitten und Handkompaß schafften sie es binnen zwei Tagen, die „Helsingborg“ zu erreichen. Ein paar bange Stunden vergingen, während sie die letzten Meilen über das Eis glitten und nach dem Walfänger Ausschau hielten. Die Wahrscheinlichkeit war groß, daß das Schiff längst zerquetscht worden und in die Tiefe gefahren war. Wie sie dann die „Isabella“ wieder flottkriegen sollten, darüber hatten die Seewölfe bisher nicht einmal den Schimmer einer Idee. Entsprechend war der Jubel, als sie von Ferne den dunklen Umriß im blendenden Weiß entdeckten. Wie ein feines Filigran hoben sich Masten, Rahen und Stage von dem schimmernden Eisfeld ab, Die „Helsingborg“ war vom ständig wachsenden Druck des Packeises hochgehoben worden und schräg abgekippt. Im Näherkommen erkannten die Seewölfe, daß der Walfänger nicht mehr viel mehr als ein Wrack war. Selbst der Rumpf zeigte bereits Risse. Im freien Wasser schwimmen würde die „Helsingborg“ ganz sicher nie mehr. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie endgültig auseinanderbrach und in den eisigen Fluten des Polarmeers verschwand.
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„Na ja“, brummte Ferris Tucker. „Da sind wir ja gerade noch rechtzeitig gekommen.“ Hasard nickte. „Also los, schauen wir uns den Kasten mal an.“ Über die außenbords hängende Jakobsleiter enterten sie an Deck. Ferris Tucker nahm Masten, Rahen und Ruderblatt in Augenschein und brummelte halbwegs zufrieden vor sich hin. Die anderen verschwanden im Niedergang, um Kammern und Lagerräume zu inspizieren. Irgendwelche Vorräte waren nicht mehr vorhanden. Einen Teil der Decksplanken hatten die Goldsucher bereits abgetragen und als Baumaterial für ihren Schlitten und später für die Bretterhütte verwendet. Aber die „Helsingborg“ bot immer noch jede Menge Holz, und das konnte man getrost mitnehmen, da das Schiff ohnehin nicht mehr zu retten war. Acht Stunden lang arbeiteten die Männer fieberhaft, um den wracken Walfänger auszuschlachten. Danach waren die Schlitten bis zur Grenze ihres Fassungsvermögens beladen. Ferris Tucker hätte gern noch eins der Beiboote mit Kufen versehen, doch das war sinnlos, da die Hunde kein zusätzliches Gewicht mehr ziehen konnten. In dem Fellzelt, das die Eskimos aufrichteten, gönnten sich die Männer ein paar Stunden Schlaf, dann brachen sie auf, um mit ihrer Ausbeute zur „Isabella“ zurückzukehren. Diesmal brauchten sie länger, da die vollgeladenen Schlitten kein allzu schnelles Tempo erlaubten. Außerdem mußten sie einen Umweg fahren, weil sie keine Boote zur Verfügung hatten und sich nach der geschlossenen Eisdecke richten mußten. Schließlich näherten sie sich der „Isabella“ von Südwesten, was hieß, daß sie ihr Schiff erst sahen, nachdem sie die Klippen überwunden hatten. Mit zusammengepreßten Lippen starrte der Seewolf zu der festliegenden Galeone hinüber. Auf den ersten Blick schien sich an Deck nichts zu rühren. Hatten Jayhawk und seine Genossen bereits irgendeine Teufelei ausgeheckt? Hasard überlegte noch, ob er zunächst einmal einen Spähtrupp
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losschicken sollte, da konnte er die ersten Gestalten am Schanzkleid erkennen. Ben Brighton, Batuti, Big Old Shane und Old O'Flynn, der mit seiner Krücke winkte. Sie hatten die Schlitten gesichtet und schwenkten grüßend die Arme. Noch war offensichtlich alles in bester Ordnung. 8. Die gesamte Crew versammelte sich in der Kuhl. Auch Black Jack Jayhawk und seine Männer, die sich inzwischen alle wieder völlig erholt hatten. Der schwarze Jack kniff die Augen zusammen und machte einen lauernden Eindruck. Hasard kannte den Grund. Jayhawk mußte damit rechnen, daß die Seewölfe bei den Eskimos auf Überlebende der „Helsingborg“ gestoßen waren und die Wahrheit über das Schicksal des Schiffes und seiner Besatzung erfahren hatten. Zunächst einmal wurde mit gebührender Begeisterung die Ladung der Schlitten besichtigt. Der Kutscher hatte einen Kessel heißer Suppe auf dem Feuer. Die Rumflasche kreiste, und dabei berichtete Hasard, wie die Expedition im einzelnen verlaufen war. Jack Jayhawk und seine Komplicen hielten den Atem an, als von Martin Trieberg die Rede war. Der Seewolf verzichtete vorerst darauf, die Katze aus dem Sack zu lassen. Die Goldsucher hätten die Wahrheit ohnehin nur abgeleugnet, und ihre Behauptungen hätten gegen die Aussage eines einzelnen gestanden: Eines einzelnen allerdings, dem Hasard wesentlich mehr traute als den anderen. Aber das war kein Beweis, und solange es keinen Beweis gab, konnte man die Fremden auch nicht als Gefangene behandeln. Wenn sie sich als Gäste benahmen — gut, dann sollten sie ihre Chance haben. Wenn sie eine Teufelei planten, würden sie ihr blaues Wunder erleben. Alles andere war eine Sache zwischen Martin Trieberg und Jack Jayhawk. Hasard wußte, daß er
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die Männer nicht daran hindern konnte, miteinander abzurechnen. Er würde nur dafür sorgen, daß es keinen Mord gab und niemand hinterrücks über den anderen herfiel. „Trieberg war krank, als wir ihn in der Siedlung fanden“, sagte er. Dabei sah er, wie Jayhawk aufatmete: offenbar nahm der Bursche an, der Kranke habe nichts erzählen können. „Inzwischen dürfte er sich erholt haben“, fuhr der Seewolf fort. „Wir werden ein paar Männer mit den Eskimos zurückschicken, um ihn zu holen.“ „Und was ist mit den anderen?“ fragte Jayhawk, Interesse heuchelnd. „Sie waren doch zu mehreren, als sie — von der Hütte auf brachen.“ Hasard hob die Schultern. „Wahrscheinlich sind sie im Sturm getrennt worden. In der Eskimosiedlung hält sich jedenfalls nur Trieberg auf. Ich schlage vor, daß wir möglichst wenig Zeit verlieren. Unsere Eskimo-Freunde brauchen allerdings erst einmal eine Ruhepause.“ „Und ihr auch“, stellte Ben Brighton fest. „Wir anderen können ja schon mal mit der Reparatur anfangen und ...“ „Ich bin nicht müde“, fiel ihm Ferris Tucker ins Wort. „Ich hab auf dem Schlitten gepennt. Ihr Rübenschweine baut ja doch nur Murks, wenn ich euch nicht auf die Finger sehe.“ „Ha!“ fauchte Luke Morgan. „Dieser rothaarige Riesenaffe bildet sich ein ...“ „Ruhe!“ knurrte Hasard. „Du mußt selbst wissen, ob du müde bist oder nicht, Ferris. Die Schlitten starten morgen früh. Blacky, Smoky, Luke und Ben — ihr werdet mitfahren.“ „Aye, aye!“ ertönte es vierstimmig — und erstaunlich begeistert, wie Hasard merkte. Blacky, Smoky und Luke Morgan hatten ein gewisses Glitzern in den Augen. Irgendjemand mußte ihnen wohl geflüstert haben, daß sie mit etwas Glück in der Eskimo-Siedlung prächtig gewachsene, völlig hüllenlose Weiblichkeit sehen würden. Das war auch der Grund dafür, daß Ben Brighton dabei sein sollte.
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Der Bootsmann würde schon dafür sorgen, daß niemand auf die Idee verfiel, Ostern und Weihnachten seien ein Fest, und das müßte entsprechend gefeiert werden. Ferris Tucker hatte bereits damit angefangen, das Entladen der Schlitten zu organisieren. Er reckte die Schultern, brüllte herum, fluchte in allen Tonlagen und strahlte dabei wie das sprichwörtliche Honigkuchenpferd, da er endlich wieder richtig rangehen konnte. Einen müden Eindruck erweckte er jedenfalls ganz und gar nicht. Da die Tag und Nacht gleiche Helligkeit des Polarsommers das Schlafbedürfnis ohnehin drastisch verminderte, ließ Hasard ihn gewähren. Ed Carberry war es, der Ben Brighton und Big Old Shane beiseite nahm und ihnen im Flüsterton erklärte, was sie in Wahrheit von Martin Trieberg erfahren hatten. Auch die anderen wurden nach und nach informiert. Sie würden sich nichts anmerken lassen, aber die gewohnte Wachsamkeit erhöhen. Siri-Tong reagierte mit einem Blick funkelnder Empörung. „Diese falsche Schlange!“ zischte sie, und ihrem Gesicht war die Überzeugung anzusehen, daß sie ja gleich gewußt habe, was von dieser London-Lilly zu halten sei. Den Seewolf hielt es nicht länger als zwei Stunden in der Koje, und selbst während dieser Zeit schlief er sozusagen nur mit einem Auge. Als er das Achterkastell wieder verließ, hörte er Geräusche aus Siri-Tongs Kammer. Die Rote Korsarin war an Deck, die kleine Liza ebenfalls. Hasard erkannte die Stimme der rothaarigen London-Lilly. „Nein!“ fauchte sie. „Da spiele ich nicht, mit, Jack! Diesmal nicht! Du wirst es bleiben lassen!“ „Den Teufel werde ich! Gib das Zeug her, los! Oder hast du schon vergessen, daß die Dons einen Preis auf deinen Kopf ausgesetzt haben, weil du einem spanischen Offizier den Schädel mit der Rumflasche eingeschlagen hast?“ Hasard stutzte und blieb stehen. Er hörte die Frau keuchen. „Du weißt verdammt genau, daß der Kerl mich vergewaltigen wollte“, stieß sie
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hervor. „Außerdem kannst du mir nicht drohen, hier gibt es keine Spanier. Ich bleibe mit Liza bei den Eskimos auf Nuniwak, da kann man sehr gut leben, da ...“ „Und ich werde dich notfalls an den Haaren nach Süden schleifen und ausliefern, wenn du nicht spurst. Also her mit dem Zeug!“ „Du Schwein“, flüsterte Lilly. „Du verdammtes Schwein!“ Aber ihrer Stimme war die Resignation anzuhören, und die Geräusche verrieten, daß sie in ihrem schmalen Gepäck etwas suchte — das, was Black Jack Jayhawk von ihr haben wollte. Ihren Anteil von dem Gold, das die Gruppe gefunden hatte? Hasard ging langsam weiter und runzelte nachdenklich die Stirn. Jayhawk hatte die Frau in der Hand. Er bedrohte und erpreßte sie. Aber die Gier nach Gold war keine schlüssige und bestimmt nicht die einzige Erklärung für sein Verhalten. „Da spiele ich nicht mit“, hatte London-Lilly gesagt. Irgendeine Teufelei braute sich zusammen, eine Gemeinheit, mit der selbst diese hartgesottene, bestimmt nicht von einem übermäßig sensiblen Gewissen geplagte Abenteurerin nichts zu tun haben wollte. Was es war, konnte der Seewolf nur ahnen. Noch gab es keinen Anlaß einzugreifen. Auch als am folgenden Tag Ben Brighton, Luke Morgan, Blacky und Smoky mit den drei Eskimos und zwei Hundegespannen aufbrachen, wirkte die Situation auf der „Isabella“ trügerisch friedlich. Die Arbeiten an der Ruderanlage gingen zügig vorwärts, und unter Ferris Tuckers Leitung gingen die Männer bereits daran, den neuen Besanmast auf zuriggen. Das Wetter blieb klar. Die Stimmung an Bord war gut, da inzwischen niemand mehr daran zweifelte, daß sie es schaffen würden, die „Isabella“ wieder flottzukriegen. Aber Hasard spürte genau, daß etwas in der Luft lag und daß es dicht bevorstand. *
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Die Zwillinge hatten diesmal ausnahmsweise nicht mitgekriegt, was sich anbahnte. Sie verspürten Appetit auf ein paar Stücke Kandis. Die verteilte der Kutscher immer noch als Belohnung für erlegte Ratten. Philip und Hasard stiegen also in den Schiffsbauch hinunter, um auf Rattenjagd zu gehen. Liza hatte kategorisch abgelehnt, sich mit solchem „Kinderkram“ zu beschäftigen. Stattdessen flickte sie irgendwelche Kleidungsstücke. „Weiberkram“, wie die Zwillinge in schöner Einigkeit fanden. Vor allem, wenn man sich anschaute, auf welche völlig indiskutable Art und Weise Liza da herumstichelte. Nicht einmal eine anständige Bootsmannsnaht brachte sie zustande, und wer das nicht schaffte, der konnte die Löcher in seinen Socken auch gleich kalfatern. Auf leisen Sohlen schlichen Philip und Hasard in den Laderaum und legten sich zwischen festgelaschten Wasserfässern auf die Lauer. Nicht, weil sie etwas Verbotenes taten, sondern weil sie die Ratten nicht verscheuchen wollten. Wenn sie sich lange genug still verhielten, würden die Biester aus ihren Schlupflöchern erscheinen, das wußten sie aus Erfahrung. Sie warteten, aber zunächst einmal hörten sie nicht das Trippeln und Fiepen vierbeiniger Nager, sondern menschliche Schritte — leise, verstohlene Schritte. Das Schott öffnete sich, ein paar Gestalten erschienen. Black Jack Jayhawk, Björn Springdaal und der baumlange Friese. Argwöhnisch sahen sie sich um, doch die Zwillinge in ihrem Versteck konnten sie nicht entdecken. Hasard und Philip wechselten einen Blick. Da stimmte etwas nicht, signalisierten sie sich mit zusammengekniffenen Augen. Da sich die Goldsucher an den Reparaturarbeiten beteiligten, konnte es natürlich sein, daß Ferris Tucker oder sonst jemand sie hierhergeschickt hatte, um etwas zu holen. Aber erstens zeigten sie keinerlei Anstalten, auch nur zu einem Nagel zu greifen, und zweitens war
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bestimmt nicht die ganze Gruppe nach unten geschickt worden. Ein paar Sekunden später tauchten nämlich auch die restlichen Männer auf. Der Holländer Jan Barend und die beiden Engländer Barry Burns und John McNickle schoben sich genauso verstohlen herein wie die anderen. Der zweite Holländer, Rogier Claasen, hielt vor dem Schott Wache. Ganz offensichtlich hatten die Männer etwas zu besprechen, bei dem sie nicht belauscht werden wollten —und den Zwillingen war klar, daß das nichts Gutes sein konnte. Zuerst hörten sie nur leises Gewisper. Allmählich wurden die Stimmen erregter und lauter. Björn Springdaal, der Schwede, knirschte mit den Zähnen. „Nein!“ stieß er hervor. „Noch einmal lasse ich mich nicht von dir zwingen, Black Jack, noch einmal ...“ „Wir können nicht mehr zurück“, knurrte Jayhawk. „Kapierst du nicht, daß es uns allen an den Kragen geht, wenn Martin Trieberg je wieder auftaucht? Zum Glück hatte Lilly noch genug von dem VitriolZeugs bei sich.“ Die Zwillinge wußten nicht, was Vitriol war, deshalb erschraken sie auch nicht übermäßig. Björn Springdaal dagegen wußte es sehr genau. Er sog scharf die Luft durch die Zähne. „Ihr habt doch nicht ...“ „Wir haben nur die Schlittenhunde vergiftet“, knurrte Black Jack. „Die Burschen, die mit den Eskimos unterwegs sind, werden garantiert nicht zurückkehren. Sie haben nicht genüg Vorräte mit, um es zu Fuß zu schaffen.“ „Na und?“ fauchte Springdaal. „Die anderen sind immer noch in der Überzahl. Und wir können den Kahn nicht zu sieben Mann segeln.“ „Das haben wir auch nicht vor. Aber wir werden die Kerle zwingen, dahin zu segeln, wohin wir wollen. Weiter im Süden setzen wir sie dann aus, laufen in den nächsten Hafen und heuern neue Leute an. Was, zum Teufel, können wir in irgendeiner verdammten Wildnis mit unserem Gold anfangen? Ich will nach
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England zurück! Und zwar mit einem Schiff, das mir gehört — nicht auf irgendeinem Kahn, wo ich riskiere, daß mir jemand hinterrücks eins auf den Kopf gibt und mich ausraubt.“. „Und wie soll das alles vor sich gehen?“ fragte Björn Springdaal nach einem langen Schweigen. Black Jack Jayhawk grinste. Seine dunklen, tiefliegenden Augen funkelten triumphierend. „Hört zu!“ flüsterte er. „Ich habe mir alles ganz genau überlegt. Wir schlagen heute nacht zu ...“ Er senkte die Stimme. Philip und Hasard konnten nichts mehr verstehen. Aber sie fanden, daß sie ohnehin schon genug gehört hatten. * Der Seewolf stand an der Schmuckbalustrade des Achterkastells, als seine Söhne den Niedergang hochenterten. Sie taten sehr geheimnisvoll und wollten ihn unbedingt sofort in seiner Kammer sprechen. Ihr Vater brauchte nur einen Blick in ihre blassen, angespannten Gesichter zu werfen, um zu sehen, daß wirklich etwas anlag. Er winkte Ed Carberry und Big Old Shane, ihm zu folgen, und wenig später fiel die Kammertür hinter ihnen zu. Hasard junior übernahm das Reden. Er berichtete im Flüsterton. So ungefähr hatte sich Hasard senior vorstellen können, was er hören würde. Aber jetzt stieg ihm trotzdem die kalte Wut bis in die Haarspitzen. „Die Schlittenhunde?“ echote er. „Die Kerle haben die Hunde vergiftet?“ „Aye, aye, Sir“, bestätigte der kleine Philip. „Sie wollen nicht, daß dieser Mister Trieberg gerettet wird. Und dann wollen sie sich die ‚Isabella' unter den Nagel reißen.“ „Diese Rübenschweine!“ fauchte der Profos. „Denen ziehe ich die Haut in Streifen ...“ „Ziemlich großer Brocken, den sich die Burschen da vorgenommen haben, findet
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ihr nicht?“ fragte Big Old Shane nachdenklich. „Sie werden daran ersticken!“ prophezeite der Profos. „Als ob diese kalfaterten Decksaffen die ‚Isabella' segeln könnten! Die bilden sich wohl ein, der Kahn läuft von allein, was, wie? Diese dämlichen Stinte werden ...“ „Sie wollen uns zwingen, sie dahin zu bringen, wohin sie wollen“, mischte sich Hasard junior ein. „Und später im Süden wollen sie uns aussetzen, neue Leute anheuern und nach England segeln.“ „Ah! Und wie wollen sie das anstellen, uns zu zwingen?“ fragte sein Vater. Zweimaliges Achselzucken. „Die Rübenschweine haben zu leise geflüstert“, sagte der kleine Hasard bedauernd. „Aber schwarzes Jack hat Plan, verdammich“, beteuerte der kleine Philip und fiel vor lauter Aufregung wieder in das schauderhafte Englisch zurück, das er sonst schon fast abgelegt hatte. Einen Plan? Der Seewolf brauchte nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, wie dieser Plan aussah. Für eine kleine Gruppe, die einer Übermacht gegenüberstand, gab es nur wenige Möglichkeiten. Und diese Möglichkeiten liefen alle auf eine schmutzige Erpressung hinaus. „Und jetzt?“ knirschte Carberry. „Am besten legen wir die ganze Brut in Ketten und sperren sie in die Vorpiek.“ „Dann könnten wir sie auch gleich an die Rah knüpfen“, sagte Hasard hart. „Na und ? Da gehören sie doch wohl auch hin, was, wie? Und vorher sollte man sie kielholen und mit der Neunschwänzigen wieder aufwärmen.“ „Willst du dir an diesen Dreckskerlen die Hände schmutzig machen, Ed?“ „Du nicht? Und was hast du sonst mit ihnen vor? Sie aussetzen und ihnen vielleicht auch noch eine Ausrüstung in den Rachen werfen, nachdem sie Ben und die anderen eiskalt in den Tod schicken wollten?“ „Das weiß ich noch nicht, Ed. Aber ganz gleich, was wir mit ihnen tun, es wird für
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sie verdammt hart werden. Und deshalb will ich Beweise haben, eindeutige Beweise.“ „Also abwarten, bis sie losschlagen?“ „Ja. Sie wollen heute nacht zuschlagen, haben sie gesagt. Das dauert nur noch ein paar Stunden. Bis dahin kann Ben und den anderen nicht viel zustoßen. Wir werden ein paar Vorbereitungen treffen und ...“ Er verstummte. Es hatte leise an die Tür geklopft. Big Old Shane runzelte die Stirn, öffnete — und furchte noch heftiger die buschigen Brauen, als er die Frau erkannte. London-Lilly hielt die kleine Liza an der Hand. Rasch schlüpfte sie in die Kammer. Ihr Gesicht war bleich, die grünen Katzenaugen flackerten. „Ich muß mit Ihnen sprechen, Mister Killigrew“, flüsterte sie. „Sie sind in Gefahr — Sie alle! Black Jack und seine Komplicen planen eine Meuterei. Aber ich will mit diesen Verbrechern nichts mehr zu tun haben.“ 9. London-Lilly kannte den Plan der Goldsucher in allen Einzelheiten. Einen Plan, der so aussah, wie ihn Hasard dem schwarzen Jack zugetraut hatte: feige, gemein und hinterhältig. Während der Nacht wollten sie zuschlagen — oder besser zu der Zeit, die als Nacht zu betrachten Europäer nun einmal gewohnt waren. Der Polartag dauerte den ganzen Sommer. Es gab keine schützende Dunkelheit. Aber die Seewölfe würden bis auf wenige Wachen schlafen — damit jedenfalls rechneten ihre Gegner. Jayhawks Rechnung war einfach. Er wollte sich die Zwillinge schnappen und ihrem Vater damit drohen, sie umzubringen. Solange sich einer der Halunken mit schußbereiter Pistole in der Kammer der Kinder aufhielt, konnten die anderen den Seewölfen mit Leichtigkeit ihren Willen aufzwingen. Jayhawk war eine miese, hinterhältige Ratte, aber er war auch von einer gewissen teuflischen
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Schläue. Schlau genug jedenfalls, um gemerkt zu haben, daß es unter der „Isabella“-Crew niemanden gab, der auch nur im Traum daran gedacht hätte, das Leben der beiden Jungen zu gefährden — und darauf baute er. Daß sich Hasard und Philip nicht in ihrer Kammer, sondern in der ihres Vaters aufhielten, konnten die Goldsucher nicht wissen. Genauso wenig wie sie ahnten, daß sich auch die kleine Liza und ihre Mutter in der Sicherheit der Kapitänskammer befanden. London-Lilly hatten sie die Aufgabe zugedacht, im entscheidenden Augenblick der Roten Korsarin einen Dolch an die Kehle zu setzen. Das wäre allerdings wohl so oder so nicht geglückt. Siri-Tong ließ nur verächtlich die Nasenflügel vibrieren, als sie es hörte. Jetzt saß sie ebenfalls in Hasards Kammer, zusammen mit Big Old Shane und dem schlanken schwarzhaarigen Sam Roskill, und dieses Trio bot die Gewähr dafür, daß die drei Kinder so sicher wie in Abrahams Schoß waren. Der Seewolf preßte sich in den Schatten eines offenen Schotts, beobachtete den Niedergang und wartete. Hinter sich hörte er die leisen Atemzüge von Ferris Tucker und Dan O'Flynn. Beide waren voll berstender Wut auf die Kerle, die es wagen wollten, die Söhne ihres Kapitäns zu bedrohen. So etwas war einfach schon zu oft passiert. Philip Hasard Killigrew hatte eine Menge Feinde. Und immer wieder geschah es, daß irgendwelche feigen Halunken, die sich an ihn selbst nicht heranwagten, auf die niederträchtige Idee verfielen, sich an den Kindern zu vergreifen. Diesmal war es Björn Springdaal, der auf Zehenspitzen durch den Niedergang schlich. Deutlich schimmerte das flachsblonde Haar des Schweden im ungewissen Licht. Hasard biß die Zähne zusammen und kämpfte gegen einen Anflug von Enttäuschung an. Dieser lange Skandinavier war ihm als einziger von der Bande sympathisch gewesen. Irgendwie
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hatte er erwartet, daß der Mann bei diesem schmutzigen Spiel zumindest nicht in vorderster Front mitmischen würde, aber das war wohl unsinnig gewesen. Oder? Hasard spannte sich, als er die Gestalt sah, die lautlos im Rücken des Schweden auftauchte. Black Jack Jayhawk! Er hielt einen funkelnden zweischneidigen Kurzsäbel in der Faust, und sein Gesicht verzerrte sich zu einem Ausdruck wilden Hasses. „Springdaal!“ zischte er fast unhörbar. Der Schwede zuckte zusammen. Auf dem Absatz wirbelte er herum – und erstarrte, als die breite Klinge vor, seinem Gesicht auffunkelte. Jayhawks Augen glommen im Halbdunkel. Seine Stimme vibrierte. „Springdaal“, wiederholte er gedehnt. „Was tust du hier unten, Freundchen? Willst du mir die Arbeit abnehmen? Oder willst du dich drücken, wenn die anderen oben die Wachen niederschlagen?“ Der Schwede war bleich geworden. Aber in seinen blauen Augen stand der Ausdruck von Trotz und Entschlossenheit. Er ballte die Hände und erwiderte den Blick des anderen. „Laß die Kinder heraus, Jack“, flüsterte er tonlos. „Verdammt, was ...“ „Du wirst die Kinder aus dem Spiel lassen, Jack! Ich bin auf deiner Seite, solange du ehrlich kämpfst. Aber an die Frauen und Kinder kommst du nur über meine Leiche heran. Und ich schwöre dir, daß mir auf jeden Fall noch Zeit genug bleiben wird, das ganze Schiff zusammenzuschreien!“ „Du bist verrückt!“ zischte Jayhawks. „Du hast den Verstand verloren! Aus dem Weg, du verdammter Narr! Aus dem Weg, ehe ich mich vergesse und dir die Kehle durchschneide.“ Der Seewolf hatte genüg gehört. Er hielt bereits den Degen in der Faust, Seine Muskeln spannten sich, und mit einem langen Schritt verließ er seine Deckung. Mit einem zweiten Schritt stand er neben Björn Springdaal. Seine Linke packte den
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Schweden an der Schulter und zerrte ihn zurück. Den rechten Arm riß er hoch. Pfeifend sauste der Degen durch die Luft, traf mit der flachen Klinge Jayhawks Gelenk und fegte ihm die Waffe aus den Fingern, ehe er auch nur dazu kam, einen Schrei auszustoßen. Der Säbel klirrte zu Boden. Jayhawks Mund öffnete sich. Er starrte auf die Degenspitze, auf das -steinerne Gesicht des Seewolfs, in dem die Augen kalt wie Gletschereis funkelten, und auf die beiden anderen Männer, die wie aus dem Nichts im Niedergang aufgetaucht waren. Auch deren Blicke wirkten wahrhaft mörderisch, und der schwarze Jack hatte plötzlich das Gefühl, als hänge sein Leben an einem seidenen Faden. Er hielt den Atem an. Er wagte nicht einmal mehr, den Mund zuzuklappen, so völlig lähmte ihn der Schrecken. Die Spitze der Degenklinge berührte fast seine Kehle. Er schluckte krampfhaft, und auf seiner Stirn bildete sich ein Netz feiner Schweißperlen. „Ich - ich ...“, stammelte er. „Halt den Mund“, sagte Hasard sehr leise. „Dan, Ferris - verschnürt diesen Bastard! Und schafft ihn mir aus den Augen, bevor ich mich vergesse und mir noch die Hände an ihm beschmutze!“ Dan O'Flynn und Ferris Tucker ließen sich das nicht zweimal sagen. Black Jack Jayhawks zitterte, als sie ihm die Arme auf den Rücken zogen. Er sah immer noch diese eisblauen Augen vor sich, und er hatte das deutliche Gefühl, daß ihm im Moment nichts Besseres passieren konnte, als irgendwo eingesperrt zu werden, von ihm aus in die Vorpiek -nur so weit wie möglich weg aus der Sichtweite des Seewolfs. Hasard hatte sich Björn Springdaal zugewandt. Der Schwede preßte die Lippen zusammen. Eine Mischung aus Trotz und Furcht lag in seinen Augen. Er hatte den schwarzen Jack daran zu hindern versucht, sich an den Kindern zu vergreifen. Aber er hatte immerhin eine Meuterei geplant, und
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er wußte, daß es darauf im allgemeinen nur eine Antwort gab. Der Seewolf sah ihn lange an, dann streckte er ihm die Hand hin. Es zuckte in Springdaals Gesicht. Seine Augen brannten, als er einschlug. Es dauerte Sekunden, bis er Worte fand. „Ich hätte Sie warnen müssen“, sagte er heiser. „Ich - ich bin zu lange mit diesem Gesindel herumgezogen. Ich war zu feige.“ „Sie waren nicht zu feige, um Jayhawk entgegenzutreten“, sagte Hasard ruhig. „Ich glaube ...“ Weiter gelangte er nicht. Abrupt verstummte er, kniff die Augen zusammen und lauschte. Denn im selben Moment ging oben an Deck der Tanz los. * Mitten in der glitzernden weißen Eiswüste hielten zwei flache Schlitten. Die Männer standen im Schnee -drei aufgeregte, gestikulierende Eskimos, die in ihrer Heimatsprache aufeinander einredeten, vier ziemlich erschütterte Seewölfe. Sie starrten auf die reglosen, verkrümmten Bündel in den Geschirren. Gerade war der letzte der Schlittenhunde zuckend verendet. Und es gab keinen Zweifel daran, daß da jemand auf niederträchtige Weise nachgeholfen hatte. „Jayhawk und seine Bande“, sagte Ben Brighton leise. „Diese Schweinehunde!“ fuhr der jähzornige Luke Morgan auf. „Ich bringe sie um! Ich haue sie in Stücke! Ich mache Hackfleisch aus ihnen, ich ...“ „Dazu mußt du sie erst mal kriegen, du Blödmann“, sagte Smoky sachlich. „Na und? Wir kehren um und ...“ „Du denkst mal wieder nicht weiter, als eine Kuh Bißt“, sagte Blacky grob. „Wir sind auf halbem Wege zwischen der Küste und der Eskimo-Siedlung, und wir sind nicht auf einen Fußmarsch eingerichtet. Wenn wir überhaupt irgendwo ankommen, dann halb tot. Die Kerle haben doch die Huskies nicht vergiftet, weil sie keine Hunde leiden mögen, oder geht das nicht in deinen blöden Schädel?“
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„Paß bloß auf, daß ich dir deinen blöden Schädel nicht weichklopfe, du ...“ „Wer jetzt weiterhin die Schnauze aufreißt, kriegt was drauf“, drohte Ben Brighton. „Wir müssen überlegen.“ „Dann überleg doch, verdammt! Meinetwegen kannst du bis morgen früh überlegen. Du wirst doch immer nur zu dem Ergebnis gelangen, daß wir zu Fuß latschen müssen und spätestens übermorgen auf dem Zahnfleisch gehen.“ Ben Brighton ließ sich nicht beirren. Seine ruhige, bedächtige Art wirkte auf ungeduldige Leute mitunter etwas nervenaufreibend. Aber wenn er überlegte, dann überlegte er gründlich, und wenn er zu einem Ergebnis kam, konnte man sicher sein, daß das Hand und Fuß hatte. „Zu der Eskimo-Siedlung schaffen wir es schneller“, sagte er. „Da sparen wir einen halben Tag, weil wir nicht über die Felsen müssen.“ „Na also!“ knurrte Luke. „Auf was warten wir dann? Je eher wir losziehen ...“ „Aber davon, daß wir auf Nimmerwiedersehen verschwinden, haben Jayhawks Banditen auch nichts“, spann der Bootsmann beharrlich seinen Gedankengang weiter. „Die planen eine Teufelei auf der ‚Isabella', dafür lege ich meine Hand ins Feuer !“ „Hm“, machte Blacky. „Scheiße!“ fauchte Luke Morgan. „Also doch zurück zur Küste“, stellte Smoky fest. Ben Brighton warf noch einen prüfenden Blick auf die Bescherung, dann nickte er. „Zurück zur Küste“, bestätigte er ruhig. „Jetzt müssen wir nur noch sehen, wie wir das unseren Eskimo-Freunden beibringen.“ * Jack Jayhawks Komplicen hatten gewartet, bis es auf der „Isabella“ so still geworden war, daß sie annehmen mußten, außer den Wachen schlafe alles. Pete Ballie und Gary Andrews standen scheinbar müßig auf der Kuhl herum und spähten über das Wasser und die schimmernden Eis- schollen.
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Auf dem Achterkastell bewegte sich Al Conroy, der Stückmeister, von Backbord nach Steuerbord und wieder zurück. Nichts war zu hören außer seinen gleichmäßigen Schritten und dem ewigen Knirschen und Knacken des Eises. Den Goldsuchern waren, vor allem mit Rücksicht auf ihren in den ersten Tagen nach der Rettung noch ziemlich geschwächten Zustand, die Kojen in der Messe angewiesen worden, da es im Mannschaftslogis ohnehin zu eng geworden wäre. Jetzt fühlten sich die hinterhältigen Halunken durchaus nicht mehr geschwächt. Auf Zehenspitzen hatten sie die Mannschaftsmesse verlassen und schlichen an der Backbordseite der Galeone entlang. Tjarko Michels, der Friese, und der Holländer Jan Barend duckten sich in den Schatten des Niedergangs zum Achterkastell. Rogier Claasen und die beiden Engländer hielten solide Koffey-Nägel in den Fäusten. Barry Burns und Joe McNickle hatten zunächst nicht recht eingesehen, warum sie sich mit den Wachen abplagen sollten, wenn Jayhawk ohnehin die beiden Kinder als Faustpfänder benutzen wollte. Aber der Hinweis, daß diese Wachen möglicherweise schneller ein paar Kehlen durchschneiden würden, als man ihnen erklären konnte, daß sie sich still zu verhalten hätten, war dann doch ein recht überzeugendes Argument gewesen. Claasen und die Engländer pirschten sich bis zum Großmast vor und turnten lautlos über die Nagelbank. Ein Blick - die beiden Männer im Schatten des Niedergangs nickten. Barry Burns stieß auffordernd die linke Faust in die Luft, und nach diesem Zeichen sollte eigentlich alles sehr schnell gehen. Es ging auch schnell. Nur anders, als es sich die verräterischen Goldgräber gedacht hatten. Burns, McNickle und Rogier Claasen stürmten los, um den Männern am Backbord-Schanzkleid in den Rücken zu fallen. Jan Barend und Tjarko Michels fegten den Niedergang hoch. Der Friese
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schwenkte einen Säbel, wollte ihn Al Conroy mit voller Wucht in den Rücken stoßen -und sah viel zu spät die Gestalt, die geschmeidig wie eine Katze hinter der Nagelbank des Besanmastes hochschnellte. Der flinke, drahtige Bob Grey war schon immer ein erstklassiger Messerwerfer gewesen. Ganz lässig, nur mal eben aus dem Handgelenk, schleuderte er eine seiner Spezialwaffen. Das Ding hatte einen Korkgriff und verfügte somit über eine hervorragende Fluglage. Bob konnte damit notfalls eine Mücke im Fluge treffen - und erst recht eine Hand an einem Säbelgriff. Tjarko Michels brüllte, als die Klinge in seinen Arm fuhr. Die Wucht des Treffers riß ihn halb herum. Gleichzeitig wirbelte Al Conroy um die eigene Achse. Er sah den wimmernden, sich krümmenden Friesen vor sich schwanken, er sah die Steinschloß-Pistole in der Faust des Holländers, und er reagierte genauso gelassen und präzise, wie er mit seinen Drehbassen umging. Ein Ellenbogenstoß fegte Michels zur Seite. Der hochgerissene Fuß des Stückmeisters krachte unter Jan Barends Gelenk, daß die Pistole kerzengerade in die Luft geschleudert wurde und beim Zurückfallen prompt dem Friesen auf den Kopf knallte. Das alles hatte nur eine knappe Sekunde in Anspruch genommen. Unten auf der Kuhl mußten die drei restlichen Banditen gerade feststellen, daß bei ihrem vermeintlichen Überraschungsangriff die Überraschung eher auf ihrer Seite lag als auf der ihrer Gegner. Pete Ballie und der hagere Gary Andrews wirbelten herum wie von straff gespannten Stahlfedern abgeschnellt. Krachend flog das Kombüsenschott auf. Aus Achterkastell und Vorschiff stürmten plötzlich Gestalten. Von einer Sekunde zur anderen wurde das ganze Schiff lebendig, und die heimtückischen Halunken begriffen jäh, daß in ihrer Rechnung irgendein Fehler stecken mußte.
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Rogier Claasen und Barry Burns konnten den eigenen Schwung nicht mehr bremsen. Die beiden Männer, denen sie hatten in den Rücken fallen wollen. wichen elegant aus. Claasen traf mit dem Belegnagel das Schanzkleid. Da seine Finger dabei in Mitleidenschaft gezogen wurden, kreischte er wie ein kranker Derwisch. Barry Burns ließ den Koffeynagel fahren, da er beide Hände brauchte, um sich am Schanzkleid festzuhalten. Er knallte mit dem Bauch gegen die Kante, und da ihm Pete Ballie schnell noch ein bißchen Fahrt gegeben hatte, wurde er grün im Gesicht und würgte. Joe McNickle gelangte gar nicht erst so weit. Er war ein bißchen langsamer als die anderen. Nur unwesentlich, aber für Carberry reichte es, um den Burschen mit einem mächtigen Satz zu erreichen. Der Profos hatte in der Kombüse gelauert. Jetzt packte er McNickle am Kragen, hievte ihn ein Stück hoch, schüttelte ihn – und der Halunke stierte mit aufgerissenen Augen in das grimmige Gesicht von Matt Davies, der wie aus dem Boden gewachsen aufgetaucht war und ihm mit seiner mörderischen Hakenprothese vor dem Gesicht herumfuchtelte. McNickle sah sein letztes Stündlein gekommen. „Nein!“. heulte er. „Nicht! Ihr dürft mir nichts tun! Black Jack murkst die Kinder ab, wenn ihr mir ein Haar krümmt!“ „Irrtum“, sagte Hasards gelassene Stimme vom Achterkastell her. Ed Carberry warf dem Seewolf einen raschen, fragenden Blick zu —und eine. Sekunde später wurde McNickel klar, daß er besser den Mund gehalten hätte. Da schwenkte ihn Carberry nämlich herum, stauchte ihn auf die Planken und verpaßte ihm einen Kinnhaken, der ihn im Überschlag rückwärts über das Schanzkleid beförderte. Über das Steuerbord-Schanzkleid, wohlgemerkt. Es war McNickels Glück, weil es dort freies Wasser gab und er sich nicht die Knochen auf den scharfkantigen Riffen
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brach. Es klatschte laut. McNickle kreischte. Der hagere Gary Andrews warf einen kurzen Blick nach unten, überzeugte sich, daß auch hier keine Felsenzacken im Weg waren — und erwischte Barry Burns mit einem Tritt in den Achtersteven — der den Burschen ebenfalls außenbords beförderte. Der angstschlotternde Rogier Claasen sprang seinen Komplicen freiwillig nach, weil ihm alles besser erschien, als den wütenden Männern in die Hände zu fallen, die ihn eingekreist hatten. Zum drittenmal spritzte klatschend und gurgelnd das Wasser auf. Oben auf dem Achterkastell hatten Al Conroy, Bob Grey, Stenmark und Batuti ebenfalls mit ihren Gegnern aufgeräumt. Der blonde Schwede spähte neugierig dorthin, wo die drei anderen Halunken keuchend und triefend auf Eisschollen krabbelten und Anstalten machten, sich in Richtung Küste zu retten. Batuti hatte den langen Friesen am Schlafittchen. Fragend sah der schwarze Herkules zu Al Conroy hinüber, und der nickte grimmig. Egal, was später passierte, jetzt sollten sich diese hinterhältigen Ratten erst einmal die Köpfe abkühlen. Zum viertenmal klatschte es. Auch der Friese landete im eisigen Wasser. Jan Barend bekam Schluckbeschwerden, verlegte sich aufs Jammern, doch es nutzte ihm nichts. Batuti packte ihn an Kragen und Hosenboden, holte so richtig Schwung, und auch der zweite Holländer wurde im hohen Bogen ins nasse Element befördert. „Hoffentlich friert ihnen der Arsch ein“, knurrte Stenmark mitleidlos. „Meinetwegen sollen sie absaufen wie Ratten, verdammte Kerle, was wollten Seewolf-Söhne an Kragen“, knirschte Batuti, und an der Holprigkeit seines Englisch ließ sich deutlich das Maß seiner Wut ablesen. Aber die verhinderten Meuterer soffen nicht ab wie die Ratten. Sie waren von der zähen Sorte. Zwar veranstalteten sie ein Geschrei, als würden sie bei lebendigem Leibe auf kleiner
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Flamme geröstet, aber das hinderte sie nicht daran, sich zielsicher in Richtung Küste zu kämpfen. Und was sie dort wollten, begriffen die Seewölfe in der nächsten Minute. Der Schlitten! Das letzte Gespann, das die Eskimos ihren Gästen geschenkt hatten, war noch da. Mit den Huskies konnten auch die Goldgräber halbwegs umgehen. Und der Schlitten enthielt sogar ein kleines Fellzelt und eine wenn auch spärliche Notausrüstung. Ed Carberry knirschte mit den Zähnen. „Hinterher?“ fragte er begierig. Der Seewolf zögerte sekundenlang, dann schüttelte er den Kopf. Sein Gesicht war steinhart, die blauen Augen funkelten wie Gletschereis. Er wußte, die Kerle dort hatten die Rahnock verdient. Aber er wußte auch, daß am Ende ohnehin niemand den Nerv haben würde, sie wirklich aufzuknüpfen, schon mit Rücksicht auf die Kinder nicht. „Sie haben sowieso nur eine dünne Chance“, sagte er knapp. „Bringt Jayhawk her!“ Eine Minute später stand der schwarze Jack vor ihm. Das bärtige Gesicht hatte die Farbe von schmutziger Milch angenommen. Black Jack schlotterte und bebte, als wolle er einen Zitterrochen nachahmen. Er holte schon Luft und begann, um sein schäbiges Leben zu winseln. Der Seewolf verzog angewidert die Lippen. „Du hast die Wahl“, sagte er hart. „Deine Kumpane sind gerade dabei, den Schlitten flottzumachen. Du kannst ihnen nachlaufen, oder du kannst dich in der Vorpiek einrichten. In diesem Fall werden wir dich irgendwo im Süden an Land setzen. Also entscheide dich, wie du es haben willst.“ Jack Jayhawk schluckte. Er war nur noch ein Bündel Elend. Er begriff immerhin, daß ihm eine Chance geboten wurde. Eine bessere Chance, als sie die Männer mit dem Hundeschlitten hatten. „Ihr - ihr bringt mich nicht um?“ vergewisserte er sich stammelnd.
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„Es war sehr schade um den Strick“, sagte der Seewolf durch die Zähne. „Also was ist nun? Schlitten oder Vorpiek?“ Jack Jayhawk schloß die Augen. Er erinnerte sich an den höllischen Marsch von der „Helsingborg“ zur Küste, an die endlosen Monate der Überwinterung und die vergebliche Suche nach den Eskimos, an die sie sich jetzt ohnehin nicht mehr um Hilfe wenden konnten. „Vorpiek“, krächzte er schicksalsergeben. Er war nicht zu Unrecht überzeugt davon, daß er damit immer noch das bessere Los gewählt hatte. 10. Eine halbe Stunde später schmorte Black Jack bereits in dem feuchten, finsteren Loch, in dem es ihm trotz der Felldecken, die man ihm überlassen hatte, garantiert sehr ungemütlich werden würde. Die Besprechung auf der Kuhl war nur kurz. Der Seewolf berichtete, was sich im Achterschiff ereignet. hatte, und Björn Springdaal wurde ohne viele Worte in den Kreis der anderen aufgenommen. Er wirkte sichtlich erleichtert. Genau wie die rothaarige London-Lilly, die ebenfalls an Deck erschienen war. Die beiden wurden sich einig, zusammen mit der kleinen Liza in der Eskimo-Siedlung auf der Insel Nuniwak im Süden der Wasserstraße zu bleiben, wo sie während ihrer abenteuerlichen Alaska Unternehmungen schon einmal einen Winter verbracht hatten. Lilly hoffte immer noch, ihren Mann und Lizas Vater wiederzufinden. Auch Springdaal wollte in Alaska bleiben. Wenn man den Norden lange genug kannte, ließ er einen nicht mehr los, meinte er —und er glaubte, daß es Martin Trieberg genauso ergehen werde. Im Augenblick war es das dringlichste Problem, die Männer zu finden, die zu der Eskimo-Siedlung unterwegs waren. Nach dem Tod der Huskies würden sie vermutlich die richtigen Schlüsse ziehen und versuchen, die „Isabella“ wieder zu erreichen. Das konnte, je nach Entfernung, äußerst schwierig werden, da sie nicht für
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einen Fußmarsch ausgerüstet waren. Die Seewölfe gingen sofort daran, einen der von Ferris Tucker gebauten Materialschlitten zu beladen und mit Zelten und Vorräten zu bepacken. Da sie jetzt wieder über Holz verfügten, konnten sie sich außerdem Schneebretter bauen, wenn auch nicht so kunstvolle, wie sie die Eskimos herzustellen verstanden. Ein paar zusätzliche für die anderen nahmen sie ebenfalls mit. Diesmal stellte Hasard einen starken Trupp von zehn Mann zusammen: es war nicht auszuschließen, daß sie unterwegs auf die geflüchteten Goldgräber stießen und sich gegen die Halunken wehren mußten. Mit dem einen Hundegespann und dem Minimum an Vorräten befanden sich die Männer in einer ziemlich kritischen Situation. Sie konnten sich weder bei den Eskimos blicken lassen, die Martin Trieberg aufgenommen hatten, noch hatten sie eine Chance, auf dem Landweg aus der nördlichen Wildnis zu entkommen. Im Grunde blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich in der Nähe der Küste zu halten und zu hoffen, weiter im Süden vielleicht auf ein anderes Schiff zu stoßen. Die Seewölfe brachen auf, sobald sie ihre Vorbereitungen getroffen hatten. Noch war der Himmel klar. Aber. im Süden schoben sich weiße, plusterige Wolken über den Horizont, auf dem Wasser lagerten dünne Dunstschlieren — die Männer hätten nicht darauf gewettet, daß es in ein paar Stunden noch genauso aussehen würde. Ed Carberry und Batuti zogen den Schlitten. Sie behaupteten lautstark, das sei eine Kleinigkeit, die sie mit der linken Hand schafften, aber es war selbstverständlich, daß die anderen mitschoben. Der Wall der aufgetürmten Klippen und Felsformationen war der schwierigste Teil. Sie atmeten auf, als sie es geschafft hatten und in die Ebene hinuntersahen, über der sich die Nebelfetzen allmählich verdichteten. Hasard schätzte, daß es mindestens einen Tag und eine Nacht dauern würde, bevor sie auf die anderen stießen.
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Mißtrauisch spähte er zum Himmel hinauf, und trotz der dicken Fellkleidung nistete ein unangenehm kühles Prickeln zwischen seinen Schulterblättern. * „Das war's“, sagte Ferris Tucker zufrieden. Mit in die Hüften gestemmten Fäusten stand er auf dem Achterkastell und blickte an dem fertig aufgeriggten Besanmast hoch. Jetzt brauchten sie nur noch ein neues Segel an der Gaffelrute anzuschlagen. Die Ruderanlage hatten sie ebenfalls repariert. Sie würde notfalls bis Feuerland halten, hatte Ferris gesagt. Und wenn der rothaarige Schiffszimmermann so etwas sagte, durfte man sich voll und ganz darauf verlassen. Die „Isabella“ war manövrierfähig und konnte wieder Höhe laufen. Das hieß: sie hätte es gekonnt, wenn da nicht immer noch das verdammte Riff gewesen wäre. Al Conroy, der Stückmeister, turnte seit Stunden auf der vereisten Barre herum. Björn Springdaal half ihm. Er hatte in seinem Leben nicht nur die Meere befahren und Gold gewaschen, sondern auch in Silberminen und Steinbrüchen gearbeitet. Von Sprengstoff verstand er eine ganze Menge. Seine/ Vorschläge hatten Hand und Fuß, und wenn er nach den Anweisungen des Stückmeisters Ladungen und Zündschnüre verlegte, tat er es so, daß Al Conroy nichts daran auszusetzen fand. Ein paar Stunden später war die Sprengung vorbereitet. Jetzt konnten die Männer nur noch warten — und hoffen, daß kein neuer Schneesturm einsetzte, der sie hinterher zwang, die „Isabella“ erst einmal freizuschaufeln. .. * Wie Schemen schälten sich die Gestalten aus dem bedrohlichen grauen Dunst, der das Land verhüllte. Dan O'Flynn mit seinen Falkenaugen entdeckte sie als erster. Urplötzlich riß er die Arme hoch.
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„He! Ho!“ schrie er, und die Männer, die keuchend den Materialschlitten weiterzerrten, starrten den jungen Mann an, als habe er plötzlich den Verstand verloren. „Du bist wohl vom wilden Affen gebissen“, knurrte Ed Carberry erbittert. „Und du bist schneeblind, du Rübenschwein! Siehst du nichts? Es sind Ben und die anderen!“ Sie waren es tatsächlich. Schwerfällig stapften sie durch den Schnee, ziemlich erschöpft, aber zum Glück noch lange nicht am Ende ihrer Kräfte. Die Sorge um ihre Kameraden hatte ihnen mehr zugesetzt als die Anstrengung — eine Sorge, der sie jetzt enthoben wurden. Dan O'Flynns Bericht quittierten sie mit einer Serie wüster Flüche, an der sich selbst der sonst so ruhige und beherrschte Ben Brighton beteiligte. Der schwarze Jack wäre sicher an den Rand eines Herzanfalls geraten, hätte er die finsteren Drohungen hören können, die im ersten Zorn gegen ihn ausgestoßen wurden. „Und die Mistkerle haben auch noch das Schlittengespann geklaut?“ empörte sich Smoky. „Haben sie“, erwiderte Dan. „Aber sie werden ziemlich schnell verdammt kalte Füße kriegen. Black Jack Jayhawk hat es nicht umsonst vorgezogen, lieber in der Vorpiek der ‚Isabella' statt auf dem Hundeschlitten zu frieren.“ „Hoffentlich muckst er sich noch mal, damit ich ihn zu Haferbrei verarbeiten kann“, wünschte sich Blacky. „Und was tun wir jetzt?“ „Erst mal Pause. Und dann holen wir Martin Trieberg.“ Dan runzelte die Stirn und rieb sich mit dem Handschuh über das Kinn. „Hoffentlich gibt das nicht Mord und Totschlag“, murmelte er, da ihm im selben Augenblick wieder eingefallen war, daß zwischen Jack Jayhawk und dem Schwarzwälder immer noch eine Rechnung offenstand. Vorerst verschoben sie es, über dieses Problem zu grübeln.
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Im Schutz einiger Felsen schlugen sie die Zelte auf, machten Feuer, kochten Tee und aßen Dörrfleisch und Schiffszwieback dazu. Mit den drei Eskimos hatten sie sich mittels Zeichensprache und in den Schnee gemalter Linien verständigt. Die kleinen gelbhäutigen Männer nickten, lächelten und streckten sich mit der gleichen stoischen Gelassenheit im Zelt aus, die sie die ganze Zeit über an den Tag gelegt hatten. Der Schneesturm ließ immer noch auf sich warten — falls es überhaupt einen Sturm geben würde. Die Seewölfe kannten das Wetter im hohen Norden nicht gut genug, um es beurteilen zu können. Die Eskimos, denen sie die entsprechenden Fragen mit Gesten und Gepuste zu erläutern versuchten, verneinten entschieden. Schnee ja, meinten sie, mit flinken Fingern das Rieseln der Flocken nachahmend. Sturm nicht —wobei sie das Wort Sturm ebenfalls anschaulich durch kräftiges Pusten ersetzten. Zwei Tage später erreichte die Gruppe die Eskimo-Siedlung. Nebel hüllte die Fellzelte ein. Die Flammen des Feuers schienen zu verschwimmen und verbreiteten eine glänzende Aureole in allen Abstufungen von Zinnoberrot, Gelb und Karmesin um sich. Die vermummten Gestalten wirkten wie Schemen im gemütlichen Grau, und die Seewölfe waren froh, daß sie sich zunächst einmal für eine längere Ruhepause in eines der behaglich warmen Zelte zurückziehen konnten. Martin Trieberg hatte sich erholt. Die Eskimos hätten zum Abschied gern ein Fest für ihren Schützling veranstaltet, aber sie sahen schließlich ein, daß es die Männer eilig hatten. Ein zeremonieller Umtrunk, eine kräftigende Mahlzeit — danach verneigte sich der Sippenälteste feierlich vor Martin Trieberg und redete eine ganze Weile auf ihn ein. Der Schwarzwälder wurde rot und stotterte. „Er fragt — eh, hm — ob der große Narbenmann nicht vielleicht doch mit seiner schönsten Tochter na eben ...“
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Der große Narbenmann konnte nur der Profos sein. Auch er wurde ziemlich rot und stotterte. „I-ich? Ich soll mit 'ner schönen Tochter — na eben?“ „Ja“, sagte Martin Trieberg. „Und dann ist da noch eine Nichte, noch schöner als die Tochter, die möchte gern mit dem schwarzhaarigen, blauäugigen Riesen ...“ „He!“ empörte sich Dan. „Das ist aber ungerecht, das ...“ „Nichts da!” knurrte Hasard erbittert. „Na eben gibt's nicht' Erklären Sie ihm, daß es für uns um Leben und Tod geht und uns sehr geehrt fühlen, daß wir aber leider keine Zeit für ,na eben' haben.“ Trieberg erklärte es. Die schöne Tochter und die schöne Nichte schienen recht enttäuscht. Die Eskimos versicherten, daß sie die Gäste selbstverständlich zur Küste bringen würden. Die Seewölfe bedankten sich und akzeptierten das Angebot – erleichtert, da sie wußten, daß sie den Weg mit den schnellen Hundegespannen in einem Viertel der Zeit schaffen würden. Die Fahrt verlief ohne Zwischenfälle. Die Eskimos setzten die Männer vor der Kette der Klippen ab, bedankten sich für die Musketen und die Munition, die sie als Geschenk erhalten hatten, und verschwanden mit ihren Hundegespannen im Nebel. Die Seewölfe waren jetzt zahlreich genug, um den Materialschlitten ohne Schwierigkeiten über die Felsenkette zu bringen. Zwei Stunden später sahen sie die Küste vor sich, und nach einer weiteren Stunde standen sie wieder an Deck der „Isabella“. Der Begrüßungsjubel allerdings legte sich, bevor er recht aufgebrandet war. Eine fast greifbare Spannung hing plötzlich in der Luft. Martin Trieberg lehnte am Schanzkleid. Er war immer noch schwach, die Krankheit hatte ihn gezeichnet. Aber in seinen hellen Augen lag ein kaltes, verzehrendes Feuer, und er starrte den blonden Mann an, der zwischen den anderen auf der Kuhl stand. Björn Springdaal war blaß geworden und preßte die Lippen zusammen. Das
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Schweigen dehnte sich. Die Worte des Schwarzwälders tropften in tiefe Stille. „Acht Männer“, sagte er leise. „Acht Männer, Springdaal.“ Der Schwede schluckte. „Ich wollte es nicht. Aber ich hatte keine Wahl. Ich merkte erst, was Jayhawk plante, als es zu spät war.“ „Acht Männer! Sie waren meine Freunde. Vielleicht irren sie noch irgendwo herum. Ihr habt sie in den Tod geschickt, ihr ...“ „Springdaal hat sich auf unsere Seite gestellt“, sagte Hasard ruhig. „Er hat sein Leben riskiert, um meine beiden Söhne zu schützen.“ Martin Trieberg wandte sich langsam um und starrte den Seewolf an. Hasard erwiderte den Blick. „Wir werden an der Küste entlangsegeln und nach Ihren Freunden suchen, Trieberg“, sagte er. „Und wir werden Björn Springdaal nach Nuniwak Island bringen. Alles andere ist eine Sache zwischen ihm und Ihnen. Aber hier auf diesem Schiff werden Sie Frieden halten. Und hier werden Sie sich auch nicht an Jayhawk vergreifen.“ „Jayhawk?“ fuhr Martin Trieberg auf. „Er sitzt als Gefangener in der Vorpiek. Er ist wehrlos, und er bleibt ungeschoren. Klar?“ Der Schwarzwälder preßte die Lippen zusammen. Ein paar Sekunden lang. Dann entspannte er mit einem tiefen Atemzug die Schultern. „Klar“, sagte er. Das war ein Versprechen, und die Seewölfe wußten, daß sie sich darauf verlassen konnten. * Es schneite in dünnen Flocken, als Hasard, Ferris Tucker und Al Conroy noch einmal die Sprengladungen kontrollierten. Der Wind hatte aufgefrischt. Ablandiger Wind - und den konnten sie auch dringend brauchen. Wenn die scharfen Felszacken und die übereinander geschobenen Eisschollen davonflogen, die die „Isabella“ festhielten, würde die Galeone zwar
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Wasser unter dem Kiel haben, aber ein bißchen Schub war bestimmt noch nötig, um sie über Geröll und kleinere Hindernisse hinwegzutragen. „Na dann“, sagte der Seewolf gelassen. „Klar bei Zündschnur! Feuer!“ Sekunden später fraß sich ein dünnes bläuliches Flämmchen an der Zündschnur entlang. Hasard, Ferris und Al enterten an Bord zurück. Der schwarzhaarige Stückmeister brüllte die zuschauenden Männer an, gefälligst die Köpfe einzuziehen, damit sie keine Brocken auf ihre „Läusematten“ bekämen. Ed Carberry konterte, die Läuse habe Conroy höchstens auf der Leber sitzen. Der Stückmeister holte tief Luft, um sich in finsteren Mutmaßungen über die Ahnenreihe des Profos' auszulassen, doch im nächsten Moment riß ihm die Explosion das Wort von den Lippen. Es krachte mächtig. Der Schiffsrumpf erzitterte. Selbst Hasard erwartete jeden Moment das Gurgeln von eindringendem Wasser zu hören, aber stattdessen hörte er nur ein leichtes Blubbern und Schaben unter dem Kiel. Smoky rieb sich die Stirn. Da blühte eine Beule. Aber es wäre ja auch wirklich ein Wunder gewesen, wenn ein durch die Luft fliegender Gegenstand mal ausnahmsweise am Kopf des Deckältesten vorbeigeflogen wäre. Allmählich legte sich die Staubwolke. Die Männer hängten sich über die Schanzkleider, starrten nach unten - und
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dann klang ein vielstimmiger Jubelschrei über die Kuhl. Riffe und Eisschollen waren haargenau so auseinandergeflogen, daß die „Isabella“ etwa eine Handbreite Wasser unter dem Kiel hatte. „An die Brassen und Fallen!“ tönte Hasards Stimme. „Hiß Fock und Besan! Hoch mit dem Großsegel! Wir brauchen Fahrt im Schiff, wenn wir durch das Eis brechen wollen!“ Knatternd entfaltete sich das Segeltuch. Bei scharf angebraßten Rahen drückte der Wind den Bug der „Isabella“ herum. „Abfallen!“ folgte der nächste Befehl. Eisschollen rieben sich knirschend an der Bordwand, wurden zur Seite gedrückt, und die Galeone löste sich von der Barre. Minuten später hatte sich die „Isabella“ freigesegelt. Mit raumem Wind ging sie auf NordNordwestkurs und rauschte majestätisch durch das weiße, wirbelnde Schneegestöber. Vor ihnen lag freies Wasser — und sie hofften, daß das so bleiben würde, bis sie die Passage nach Süden fanden. Hasard hatte sein Versprechen -an Martin Trieberg nicht vergessen. Er war entschlossen, alles zu tun, um die Todgeweihten zu finden, die irgendwo in der Eiswüste herumirrten — falls sie überhaupt noch lebten. Aber er wußte schon jetzt, daß es schwierig werden würde, dieses Versprechen einzulösen.
ENDE