ANNE
GALDIER
Der
Schatten
mann
HeRa-Verlag Königstr. 8 88422 Oggelshausen Copyright by HeRa-Buch-Verlag Alle R...
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ANNE
GALDIER
Der
Schatten
mann
HeRa-Verlag Königstr. 8 88422 Oggelshausen Copyright by HeRa-Buch-Verlag Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung vorbehalten.
2
FELIX
Helen kniff die Augen zusammen und hielt krampfhaft das Lenkrad fest. Der Nebel wurde dichter und die Straße spiegelte glatt in den gleißenden Scheinwer fern. Die dunklen Bäume schienen immer näher zu rücken, stetig führte die Stra ße nach oben. Der Wagen kroch langsam die nächste Windung hinauf. Helen hielt den Atem an und tippte leicht auf die Bremse. Der Wagen gehorchte sofort und kam beinahe zum Stillstand. Schnell kuppelte sie ein, um ein Absterben zu verhindern, und gab dann zögernd Gas. Eine Linkskurve. Langsam, sagte sie sich, vorsichtig, nur vorsichtig. Der Mittelstreifen zeigte für die nächsten zehn Meter eine gerade Strecke an. Helen wechselte in den zweiten Gang. „Mami, wie weit ist es noch?“ Felix' Stimme vom Rücksitz war eher ungeduldig denn ängstlich. Felix war fünf Jahre alt und seine regelmäßigen Schlafenszeit gewohnt. Diese war heute schon weit überschritten. „Mein Schatz, du mußt ein wenig Geduld haben. Bis zur Oma ist es noch ein ziemliches Stück. Versuche doch etwas zu schlafen, hm?“
„Ich kann in dem blöden Kindersitz nicht schlafen, und du wackelst so hin und
her. Aua, genau wie jetzt!“ Mißmutig biß er in sein kleines Spielzeugauto.
Helen war gerade einem Felsbrocken ausgewichen, der mitten auf der Fahrbahn lag. Felsbrocken ist vielleicht etwas übertrieben, dachte sie, während sie Felix beruhigte, eher ein größerer Stein, aber heute neigte sie dazu, die Dinge extremer zu sehen. Wie lange ging es denn noch hinauf? Sie waren schließlich am fuße der Schwäbischen Alb und nicht irgendwo in den Bergen! Wieder kam eine enge Kurve und Helen schaltete in den ersten Gang zurück. Ihre Hände waren bereits schweißnaß, sie ließ jedoch das Lenkrad keine Sekunde los. Vorsichtig steuerte sie die Spitzkehre entlang und wagte sich dann in den zweiten Gang. Der Nebel war immer noch so dicht, daß man keine zehn Meter voraussehen konnte. Felix begann mit seinem Lastwagen zu spielen und begleitete seine fahrerischen Leistungen mit dem entsprechenden Gebrumme und Gehupe. Helen schossen die Tränen in die Augen. Wie oft hatte sie diese Geräusche aus dem Kinderzimmer gehört, in ihrem schmucken Häuschen, von dem man den Spielplatz sehen konnte und den nahen Weiher. Damals hatte sie gedacht, sie sei die glücklichste Frau der Welt mit einem erfolgreichen Ehemann, einem wunderbaren Kind und diesem neuen Haus in der Nähe von Freiburg – was konnte man sich mehr wünschen? Sie biß die Zähne zusammen und konzentrierte sich wieder auf die Fahrbahn. Das mußte warten! Zuerst wollte sie heil und gesund bei ihren Eltern ankommen. 3
Besser wäre es wohl gewesen, den Umweg in Kauf zu nehmen und auf der B311 nach Ludwigshafen am Bodensee zu fahren. Helen haßte Autobahnen und ver mied sie, wo sie konnte. Auf der Landkarte war die Abkürzung verlockend er schienen, so daß sie gehofft hatte, sie würden eine gute halbe Stunde sparen. Niemand konnte ahnen, daß es plötzlich so nebelig werden würde. Endlich schien die Steigung zu Ende. Der Nebel hatte sich etwas gehoben und man sah stellenweise sogar ein paar Sterne. Die Straße schien zwar noch immer glatt, aber Helen hatte nicht vor, schneller als im dritten Gang zu fahren. Mit einem leichten Ächzen lehnte sie sich zurück und wischte sich ihre schweißnas sen Hände ab. Felix war verstummt und Helen sah bei einem kurzen Blick nach rückwärts, daß er eingeschlafen war. *** Dr.Herrmann Schäuble, Gemeindearzt in Beuron an der Donau, war auf der Heimfahrt von einem Krankenbesuch. Viele Menschen hätten Dr.Schäuble einen stattlichen Mann genannt, groß und gutaussehend, wie er trotz seiner fast sechzig Jahre war. Die meisten seiner Patienten waren jedoch weniger von seinem Äuße ren als von seiner menschlichen Ausstrahlung beeindruckt. Herrmann Schäuble war seit neunundzwanzig Jahren Gemeindearzt, und für die Bevölkerung des kleinen Ortes Beuron und seiner Umgebung ein ebenso fixer Bestandteil ihres Alltags wie die Pfarrkirche oder der sonntägliche Frühschoppen. Mit seinem kurzgeschnittenen Haar, den blitzenden blauen Augen und den vielen kleinen Lachfältchen im braungebrannten Gesicht verbunden mit seiner ruhigen Art, der tiefen Stimme und der warmherzigen Ausstrahlung hatte er damals die Bevölke rung im Nu gewonnen und daran hatte sich seither nichts geändert. Er dachte an seinen letzten Patienten, einen zwölfjährigen Jungen, der den üppi gen Kochkünsten seiner Mutter nicht immer zu widerstehen imstande war. „Gott fried, du solltest unbedingt weniger Spätzle essen und mehr auf den Sportplatz gehen. Bis Weihnachten hast du drei Kilo abgenommen oder ich schmeiße dich aus der Fußballmannschaft!“ Dr.Schäuble trainierte in seiner Freizeit die hoff nungsfrohe Jugend von Beuron und Umgebung, im Sommer Fußball, im Winter Volleyball. In seiner Mannschaft zu spielen war für die meisten Jungen ein er strebenswertes Ziel, also war zu hoffen, daß die Drohung seine Wirkung tat. In diesem Moment sang Dr.Schäuble gerade eine Arie aus La Traviata mehr laut als richtig, als er plötzlich abrupt abbrach und sich die schwäbische Mundart ungehemmt entlud: „Hei namol, was isch jetzt des?“ Vorsichtig stieg er auf die Bremse und brachte seinen alten Ford zum Stehen. Vor ihm sah er eine Frau ver zweifelt die Arme schwenken. Hinter ihr lag ein Auto halb im Graben, vor dem 4
weiteren Umstürzen durch eine große Fichte gehindert. Die rechte vordere Türe stand offen. Nur noch der rechte Scheinwerfer brannte und der Motor lief. Dr.Schäuble sprang aus dem Auto und eilte nach vorn. Dabei wäre er beinahe auf der glatten Fahrbahn ausgerutscht. „Vorsichtig!“ keuchte die Frau und im selben Atemzug „Gott, bin ich froh, daß Sie gekommen sind. Mein Sohn ist noch im Auto und ich kann ihn nicht herausholen. Die hintere Tür ist verklemmt und ich weiß nicht, ob er verletzt ist.“ Ein hartes Schluchzen schüttelte sie. „Nun, nun, ganz ruhig, junge Frau! Das haben wir gleich!“ Dr.Schäuble besah sich die Bescherung. Der Wagen war etwa um dreißig Grad geneigt, schien sich einmal um die eigene Achse gedreht zu haben und war dabei irgendwo ange schrammt, denn die hintere Türe, die zur Straße zeigte, war komplett eingedrückt. „Ich werde gleich nach Ihrem Sohn sehen. Als erstes sollten wir jedoch den Mo tor abstellen. Bleiben Sie hier, ich werde das erledigen.“ Dr.Schäuble kletterte mit einiger Mühe durch die offene Seitentüre und drehte den Zündschlüssel um. Das Motorgeräusch erstarb und nun hörte man ein leises Stöhnen vom Rücksitz. Der Arzt beugte sich über die Rückenlehne. Vorsichtig tastete er im Halbdunkel nach dem Jungen und fühlte einen Haarschopf. „Wie heißt du, junger Mann?“ fragte der Arzt, während er den Sicherheitsgurt löste. Ein ängstliches Schniefen war die Antwort. „Bist du verletzt? Tut dir etwas weh?“ Der Junge antwortete nicht, jedoch glaubte Dr.Schäuble, ein leises Kopfschütteln gesehen zu haben. Vorsichtig tastete er am Handgelenk nach dem Puls. Dieser war stark, unregelmäßig und sehr schnell. Die Haut fühlte sich glatt und kühl an. Schäuble fand keine Anzeichen für eine lebensbedrohliche Verletzung, jedoch schien der Junge einen Schock erlitten zu haben. Der Doktor überlegte. Durch die linke Seite konnte man das Auto nicht verlassen, die Fichte und die Neigung verhinderten ein Öffnen beider Türen. Wenn es ihm gelänge, die rechte hintere Tür zu öffnen, wäre der Junge ganz leicht aus dem Auto zu holen. Ansonsten müßte er ihn eben auf den Vordersitz ziehen und von dort bergen. Er kletterte aus dem Auto und wandte sich der jungen Frau zu, die mit aufgerissenen Augen an ihren Fingerknöcheln kaute. „Ganz ruhig, meine Liebe. Ihr Sohn hat, soweit ich es erkennen kann, keine schwere Verletzung er litten, sondern nur einen Schock, und das Wichtigste ist jetzt – ja, um Himmels willen!“ Schnell griffen seine starken Arme zu, denn mit einem leisen Stöhnen war Helen in Ohnmacht gefallen und drohte, auf dem Asphalt aufzuschlagen. 5
Mit einem energischen Ruck lud sich Dr.Schäuble die Ohnmächtige auf die Arme und ging auf seinen Wagen zu. Dabei dachte er mit Wehmut an vergangene Zei ten, wo ihm zehn Schritte mit einer Frau auf den Armen noch keine Kurzatmig keit beschert hatten. Keuchend aber vorsichtig ließ er Helen auf den Fahrersitz gleiten. In diesem Moment schlug sie die Augen auf. „Was ist los?“ „Wieder alles in Ordnung?“ Helen atmete tief ein. „Ja, oh ja! Danke. Wie geht es Felix? Wo ist er?“ Suchend sah sie sich um. „Nun mal langsam, junge Frau! Erst mußte ich Sie davor bewahren, auf die Stra ße zu stürzen und sich eine Quetschwunde zuzuziehen. Da hätte ich dann noch mehr Arbeit gehabt.“ Schäuble zwinkerte ihr beruhigend zu. Ein erstes, leises Lächeln erschien auf Helens erschöpftem Gesicht. „Oh, also danke! Aber...“ „Aber nun befreien wir Ihren Sohn aus seiner unbequemen Lage.“ Schäuble streckte ihr die Hand hin und mit einem leichten Ruck stand Helen ne ben ihm, etwas wackelig zwar, aber mit fest zusammengepreßten Lippen und einer energischen Falte zwischen den Augenbrauen. Sie fixierte ihren Wagen, dessen rechter Scheinwerfer immer noch einen hellen Kegel in den Nebel schnitt. Langsam schritten sie auf das Wrack zu. „Wenn wir die rechte hintere Türe aufbrechen, können wir Ihren Sohn recht ein fach herausheben.“ Mit diesen Worten ging der Arzt auf den beschädigten Wagen zu und zog kräftig an der Klinke. Die Türe ächzte zwar, rührte sich jedoch keinen Millimeter. „Steigen Sie vorne ein und versuchen Sie, Ihren Sohn zu beruhigen. Er fürchtet sich wahrscheinlich.“ Helen kletterte ins Auto, kniete sich auf den Beifahrersitz und begann, mit beru higenden Worten auf ihren Sohn einzureden. Felix rührte sich noch immer nicht und gab keine Antwort, fuhr aber mit seinem leisen Stöhnen fort. Liebevoll strei chelte Helen sein Gesicht. Plötzlich ertönte ein lautes Krachen, die Türe war aufgesprungen. Schnell hob der Arzt den Jungen aus dem Kindersitz und ging zu seinem Auto. Über die Schulter rief er: „Holen Sie rasch ein paar Sachen, die Sie über Nacht für sich und den Jungen brauchen. Ich fahre Sie beide zu einer Bekannten von mir. Das ist nicht weit und Sie können dort über Nacht bleiben. Machen Sie rasch! Der Junge braucht Wärme und etwas Heißes zu trinken!“ 6
Helen reagierte sofort. Sie kramte nach ihrer Handtasche und wuchtete die Se geltuchtasche vom Rücksitz. Dann nahm sie noch Felix Steppjacke und ihre eige ne von der Ablage und sprang auf die Straße. Zum Glück hatte sie ihre Stiefel angezogen! Im vorsichtigen Laufschritt erreichte sie das Auto des Arztes. Dieser hatte den Jungen auf den Rücksitz gelegt und eine Decke darüber gebreitet. Er nahm ihr die Jacke ab und stopfte sie fest. „So, nun ziehen Sie aber ebenfalls ihren Mantel an. Hat keinen Sinn, wenn Sie sich noch eine Lungenentzündung holen.“ Mit diesen Worten setzte sich Schäuble auf den Fahrersitz, ließ den Motor an und drehte die Heizung auf volle Kraft. Dankbar sank Helen neben ihren Sohn. Sie suchte nach seinen Händen und hielt sie fest. Der Arzt war in der Zwischenzeit wieder ausgestiegen, hatte ein Pannendreieck aus seinem Kofferraum geholt und es aufgestellt. Sodann ging er zu Helens Auto zurück und kletterte hinein. Plötzlich erlosch der Scheinwerfer. Da der Wagen am Rande der Straße stand, würde das genügen, um andere nicht zu gefährden. Schäuble stieg wieder ins Auto und blickte zurück. „Alles klar?“ Dabei rieb er sich die Hände. Es war schon ziemlich kalt für Ende Oktober. Helen nickte dank bar und fuhr fort, Felix zu streicheln. Mit einem aufmunternden Lächeln drehte sich der Arzt wieder um und legte den Gang ein. Vorsichtig wendete er und fuhr in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Helen fühlte sich leer und erschöpft. Sie hatte sich Felix' Kopf auf den Schoß gebettet und streichelte nun seine kühlen Wangen, wischte ihm den kalten Schweiß von der Stirn. Er hielt die Augen geschlossen und rührte sich nicht. In Helens Kopf wirbelte es durcheinander. Bilder von ihrem hastigen Aufbruch heute mittag aus ihrem Ferienhaus in Lautenbach, das wutverzerrte Gesicht ihres Mannes – das helle Blitzen – die lange Autofahrt – das Tier auf der Fahrbahn – das kreischende Geräusch von Metall. Helen griff sich an den Hals und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen. Nur jetzt nicht weinen! Zuerst war ihr Sohn wichtig! Wieder streichelte sie sein Ge sicht und versuchte zu sehen, ob er bei Bewußtsein war. Doch es war zu dunkel, um viel ausmachen zu können. Mit der linken Hand hielt sie Felix' kleine Hände fest und wartete ängstlich auf einen Druck seiner pummeligen Finger. Aber nichts geschah. Beinahe schluchzend drückte sie ihn fester an sich und stopfte die Steppjacke wieder unter ihn. Dabei bemerkte sie, wie ihre Hände zitterten und ein dicken Kloß ihre Kehle zuschnürte. Ich bin kurz davor, einen hysterischen Anfall zu kriegen, dachte sie und biß sich auf die Lippen. 7
„Haben Sie schon eine lange Fahrt hinter sich?“ Die tiefe Stimme des Doktors klang beruhigend. Helen stoppte abrupt ihre hektischen Bewegungen und hob den Kopf. Tief atmete sie ein und versuchte eine Antwort. Erst wollte ihr die Stimme kaum gehorchen und es war nur ein leises Krächzen zu hören. „Wir waren... hm, entschuldigen Sie, wir kommen aus der Gegend von Trier. Wir sind auf dem Weg zu meinen Eltern nach Ludwigshafen am Bodensee. Ich fahre so ungern Auto bahn und die Strecke über Beuron schien ein Stück näher als auf der B311, also dachte ich... Aber dann wurde es nebelig und glatt und plötzlich war da dieser Schatten, ein Reh, glaube ich, oder ein Fuchs – ich sehe nämlich heute alles viel dramatischer. Das war schon bei einem großen Stein so, der ein Felsbrocken war, oder so ähnlich. Plötzlich brach der Wagen aus und krachte an den Felsen und drehte sich und...“ Wie ein Schwall war es aus Helen herausgesprudelt und nun flossen ihr die Tränen über die Wangen und krampfhaftes Schluchzen schüttelte ihren schmalen Körper. Der Doktor griff nach hinten und tätschelte ungeschickt die Steppjacke. „Nun, nun, ganz ruhig! Gleich sind wir im 'Donaublick'. Sie bekommen ein schönes Zimmer und ruhen sich dann erst mal über Nacht aus. Ihr kleiner Sohn wird bald wieder in Ordnung sein. Nun beruhigen Sie sich aber! Hier, nehmen Sie mein Taschentuch!“ Trotz ihrer Tränen mußte Helen lächeln. In allen Lebenslagen, in denen sie wei nen hatte müssen, hatte sie offenbar nie ein Taschentuch bei sich. Sie trocknete ihre Wangen und schneuzte sich kräftig. Als therapeutisches Mittel schien das Tuch wahre Wunder zu vollbringen. Helen fühlte, wie ihre Beherrschung zurück kehrte. Sie lehnte sich zurück und schloß die Augen. Dr. Schäuble steuerte vorsichtig den Weg zurück, den er vor knapp einer halben Stunde gefahren war. Immer wieder blickte er in den Rückspiegel und beobachtete die junge Frau. Sie schien die Krise fürs erste überwunden zu haben. Aber auch sie sollte schnellstens etwas Heißes zu Trinken be kommen und ins Bett gesteckt werden. Der Sohn schien ja soweit in Ord nung, ein Schock zwar, aber weiter nicht ernsthaft verletzt, aber auch da wollte der Arzt noch gründlicher nachsehen. Immerhin dauerte der Schock des Jungen nun schon eine Weile an und so schrecklich war der Unfall auch wieder nicht gewesen, dachte Schäuble und konzentrierte sich wieder auf die Straße. Da war schon die kleine Lichtung im Wald, nur mehr zwei Kilometer bis zur Donaufee! Ein warmes Gefühl stieg in ihm auf. Das kleine Hotel 'Donaublick' wurde seit einigen Jahren von einer Österreicherin geführt, die den exotischen Vornamen 'Fee' hatte. Wenige Leute wußten, daß sie eigentlich 'Friedhelmine 8
Ermengilde' hieß, aber seit langem nur ihre beiden Initialen benützte. Obwohl sie auch als Friedhelmine das geworden wäre, was sie heute für uns hier ist, dachte Schäuble zärtlich, einfach unsere 'Donaufee'. Der Doktor sah auf die Uhr. Es war halb elf. Hoffentlich ist sie nicht ausgebucht! Das war aber zu dieser Jahreszeit unwahrscheinlich. Mit einem leisen Lächeln dachte der Arzt daran, wie selbstverständlich er und viele andere in den letzten Jahren die Donaufee beansprucht hatten, die mit ihrer herzlichen und geradlinigen Art sein Herz erobert hatte. Auch in der Umgebung war sie weitum beliebt und die meisten Gäste kamen immer wieder. Unnachgie big aber war sie, wenn man ihre ehernen Prinzipien verletzte. Das hatte schon mancher Gast zu spüren bekommen, der sich nicht an Hausregeln gehalten hatte und unversehens wieder auf der Straße stand. Dabei kam ihr zugute, daß sie das kleine Hotel, das sie von ihrem verstorbenen Mann geerbt hatte, nicht um der Wirtschaftlichkeit willen führen mußte. Sie war finanziell unabhängig und be trieb es aus Leidenschaft und Freude. Auch der erste Kontakt des Gemeindedoktors mit der neuen Wirtin war explosiv gewesen, trotzdem oder vielleicht gerade deswegen hatte sich eine wunderbare Freundschaft entwickelt, die Dr.Schäuble gerne intensiver gestaltet hätte. Aber die Donaufee wußte freundlich aber bestimmt ihre selbstgesteckten Grenzen zu schützen. Da war die Kreuzung! Verdammter Mist, dachte er, die alte Kiste schießt wieder aus allen Rohren! Hoffentlich erschreckt es den Jungen nicht zu sehr! Mit lautem Geknatter, welches der Ford regelmäßig bei untertouriger Drehzahl zu produzie ren beliebte, rumpelte der Doktor auf den Parkplatz, blieb neben einem bunt be malten VW Käfer stehen, sprang aus dem Wagen und öffnete die hintere Türe. Helen hob vorsichtig ihren Sohn vom Rücksitz, der immer noch apathisch wirkte. Dr.Schäuble hatte seine Arzttasche bereits in der Hand und beide liefen auf den Eingang zu. In diesem Augenblick wurde die Außenbeleuchtung angeschaltet und die Tür mit Schwung aufgerissen. Eine lebhafte Frauenstimme rief: „Rasch herein, Herrmann, und in den ersten Stock! Die Suite ist vorbereitet, du kennst dich ja aus! Ich werde in der Zwi schenzeit heißen Kakao und Tee machen.“ Ein fragender Blick auf Helen, die nicht reagierte. „Der Severin kann das Gepäck holen und nach oben bringen.“ Mit ungeduldigen Armbewegungen scheuchte sie die kleine Gruppe die Treppe hoch und lief nach links zur Küche. Wunderbar! dachte der Doktor, sie ist einfach wunderbar! Allein die Tatsache, daß er mit einer jungen Frau auftauchte, die ein lebloses Kind auf den Armen trug, hat sie richtig kombinieren lassen. Ich muß ihr das endlich einmal sagen, 9
daß ich sie wunderbar finde, nahm sich Schäuble vor. Aber wieso hat sie die Suite vorbereitet? Hellsehen wird sie doch hoffentlich nicht können? In der Zwischenzeit waren sie im ersten Stock angelangt und der Arzt öffnete die Tür am Ende des Ganges, die zur Suite führte, und drehte das Licht an. Rasch durchquerte er den Wohnraum und wandte sich nach rechts in das kleine Schlaf zimmer. Er schlug die Bettdecke zurück und drehte sich um. Helen war bereits hinter ihm. Vorsichtig legte sie Felix auf das Bett, zog die Steppjacke fort und sah den Arzt fragend an. „Ich werde Ihren Sohn nun untersuchen. Setzen Sie sich inzwischen ins Wohn zimmer und atmen Sie kräftig durch. Es wird nicht lange dauern.“ Helen nickte. Mit einem besorgten Blick auf Felix verließ sie den Raum und schloß leise die Tür. Erschöpft streifte sie sich den Mantel von den Schultern und legte ihn über einen Stuhl. Dann sank sie auf das Sofa und blickte sich suchend nach ihrer Handtasche um. Um Himmels willen, wo war bloß die Tasche? Ihre Papiere, das Geld, die Kreditkarten, sie hatte sie doch nicht im Mercedes verges sen, oder? Natürlich hatte sie sie mitgenommen! Sie war im Auto des Doktors! Am besten, sie würde sie gleich noch holen. Sie stand auf. In diesem Augenblick klopfte es leise an die Tür. Helen fuhr herum. Eine pani sche Angst befiel sie. Das ist Volker! Er hat uns gefunden! Atemlos flüsterte sie: „Herein!“ Die Türe öffnete sich und ein etwa fünfzigjähriger Mann trat ein, mit dunklem Bart, struppigem Haar und schwarzer Wollweste über den blauen Jeans. In den Händen hielt er Helens Handtasche und die Segeltuchtasche. „n'Abend!“ Die Stimme war tief und rauh. „Mir wurde gesagt, ich soll das Gepäck herauf brin gen. Ist noch etwas im Kofferraum?“ Helen war verwirrt. „Äh, nein, ja. Ein Koffer ist noch im Auto, das im Graben liegt.“ Hilflos brach sie ab. „Aha!“ meinte der Mann. „Es wäre besser, ihn nicht die ganze Nacht dort zu lassen. Wissen Sie, wieweit es bis zu Ihrem Auto ist? Möchten Sie, daß ich den Koffer hole? Hätten Sie vielleicht die Schlüssel?“ Helen war überfordert. Die Schlüssel, wo um Himmels willen waren ihre Auto schlüssel? „Nein, es ist nicht sehr weit, ein paar Kilometer. Die Autoschlüssel? Oh ja, die stecken noch. Er hat den Wagen abgestellt, ich meine der Doktor.“ Wieder brach Helen hilflos ab. Das ist sicher dieser Severin, von dem die Frau gesprochen hat, dachte sie. Was muß dieser Mann von mir denken! Sie riß sich zusammen. „Es wäre sehr nett, wenn Sie mein Gepäck holen würden. Es befindet sich im Kofferraum und, wie gesagt, die Schlüssel stecken. Wir sind aus der 10
Richtung von Beuron gekommen. Könnten Sie auch noch den Teddybär meines
Sohnes mitbringen, der auf dem Rücksitz liegt? Ist es auch nicht zu spät?“
„Kein Problem, gnädige Frau, das ist ja nur ein Katzensprung. Bin im Nu wieder
hier!“ Lautlos verschwand er.
Bestimmt kommt er aus Wien, dachte Helen, dieses 'gnädige Frau' hatte sie zum
letzten Mal vor zwei Jahren gehört, als sie mit Volker und Felix im Prater waren.
Nein, jetzt keine Erinnerungen! Helen bekämpfte erfolgreich ihre aufsteigenden
Tränen und kramte in ihrer Handtasche nach einer Zigarette. Ihre Hände zitterten
immer noch, aber nach einigen Versuchen schaffte sie es. Hastig zog sie den
Rauch ein. Wie es wohl Felix geht? Wieso braucht der Doktor so lange? Ob sie
hineingehen sollte? Sie blickte zögernd zur Tür.
*** Die Donaufee hörte Stimmen in der Halle und stellte einen Teller mit Kuchen stücken auf ein Tablett. Der Teekessel fing gerade an zu pfeifen und rasch drehte sie den Gasherd ab. Die Milch war bereits am Kochen und mit geschickten Be wegungen goß sie sie in einen großen Becher, in dem sich bereits Ovomaltine befand. Sie rührte um, dann stellte sie den Becher zu den Kuchenstücken. Ihre Bewegungen waren rasch und geschmeidig und verrieten viel Routine. Während dessen überschlugen sich ihre Gedanken. Hoffentlich war dem kleinen Jungen nicht allzuviel passiert. Er schien ohne Bewußtsein. Aber andererseits hätte ihn Herrmann dann sicher ins Krankenhaus gebracht. Die arme Frau, selbst fast noch ein Kind, so spät noch unterwegs, wahrscheinlich ein Unfall, keine Seltenheit bei diesem Nebel. Severin wird sicher das Gepäck holen, hoffentlich hat er nicht zuviel getrunken. Ob die beiden von weit her kommen? Ihre sprunghaften Gedanken wurden jäh unterbrochen, als der Doktor und die Frau eintraten. Schäuble steuerte zielstrebig auf seinen gewohnten Platz in der
Ecke zu, die junge Frau blieb zögernd stehen.
Lächelnd hielt ihr Fee das Tablett hin und sagte: „Ich denke, Sie werden das Ih
rem Kleinen selbst bringen wollen. Wenn es zuwenig sein sollte, sagen Sie es
nur.“ Helen nahm das Tablett und biß sich auf die Lippen. Sie schluckte, unfähig
zu einer Antwort, und wandte sich um. Während die Türe zufiel, hörten die Zu
rückgebliebenen ihr Schluchzen.
Fragend sah Fee den Doktor an. Schäuble machte eine bedauernde Geste: „Armes
Ding, ist wohl noch die Folge des Unfalls! Sie war fürchterlich erschrocken.“
„Schwerer Unfall?“ Fee setzte sich zu Herrmann an den Tisch.
„Ach wo, sie sind in den Graben geschlittert. War wohl eisig an dieser Stelle.
Das Auto ist hinüber, aber beiden ist nichts Ernsthaftes passiert. Die Frau ist mir
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mitten auf der Straße ohnmächtig geworden! Kaum zu glauben! Schien sehr mit genommen. Wollte sie noch untersuchen, aber sie hat abgelehnt. Meinte, ihr gin ge es gut. Der Kleine hat offenbar ein Trauma erlitten, das nicht nur durch den Unfall bedingt sein kann, soweit ich es sehe. Aber ich habe noch nichts Näheres erfahren, das wollte ich dir überlassen! Bist ja Expertin!“ Liebevoll sah er sie an. Fee wurde ein wenig rot. „Ach du!“ wehrte sie ab und versetzte ihm einen leich ten Schlag auf den Oberarm. „Möchtest du Tee? Oder ein Bier? Oder was Stärke res?“ „Tee und 'was Stärkeres' wäre optimal. Vielleicht etwas von deinem guten Zwetschgenwässerchen?“ Fee deutete mit dem Zeigefinger auf ihn. „Aber nur ausnahmsweise! Und auch nur einen winzigen Schluck! Sonst mußt du hier übernachten!“ „Nichts lieber als das!“ Des Doktors Stimme war zwar scherzend, aber sein Blick sehnsuchtsvoll. Fee ignorierte es. Bald stand eine dampfende Schale Tee und ein winziges Glas mit Zwetschgenschnaps auf dem Tisch. Fee nippte an ihrer Tasse Tee. „Meinst du, da steckt vielleicht so 'ne Ehege schichte dahinter? Die Frau und das Kind, allein in der Nacht. Sind sie von hier in der Gegend? Weißt du, wie sie heißen?“ „Meine Liebe, ich hatte mit den beiden bisher nur als Arzt zu tun! Meine detekti vischen Fähigkeiten sind nicht besonders gut entwickelt, wie die weißt! Du bist der Fachmann für kriminalistische Fragen.“ Er brach ab. Die Türe öffnete sich und Helen kam mit dem Tablett zurück. Sie schien sich kaum mehr auf den Bei nen halten zu können. Rasch sprang Fee auf, nahm ihr das Geschirr ab und führte sie zum Sessel. Müde sank Helen darauf. Fee betrachtete sie mit mitleidigen Augen. In ausgeschlafenem Zustand mußte sie eine hübsche Frau sein, nun zeigten aber die dunklen Ringe und bleichen Schat ten im Gesicht eine schwere Erschöpfung an. Sie reichte Helen eine Tasse Tee. Dankbar hielt sich die junge Frau an der warmen Schale fest. Mit kleinen Schluk ken trank sie, während sie stockend berichtete. „Felix schläft jetzt. Er hat nicht gesprochen, aber die ganze Schokolade ausgetrunken. Kuchen wollte er keinen.“ „Das ist gut, daß er etwas Warmes getrunken hat!“ Dr.Schäuble nickte zufrieden. „Sagen Sie, möchten Sie jemanden verständigen?“ fragte Fee. Helen sah stirnrunzelnd hoch. „Was meinen Sie?“ „Ihren Mann vielleicht?“ 12
Helen schrie leise auf und verschüttete ihren Tee. Ungeschickt begann sie, die
nassen Flecken auf dem Tisch zu verwischen. Dabei stammelte sie: „Nein, oh,
bitte nein, nicht meinen Mann! Entschuldigen Sie, ich bin so ungeschickt.“
Fee hatte einen Lappen geholt und im Nu war der Schaden behoben.
„Am besten wäre es, wenn Sie nun zu Bett gingen.“ Die Stimme des Arztes klang
fest und bestimmt. „Ihr Sohn wird durch das leichte Beruhigungsmittel sicher die
ganze Nacht schlafen. Gehen Sie zu Bett und versuchen Sie, bis morgen wieder
fit zu sein!“
Fee stimmte zu. „Herrmann hat recht. Alles weitere erledigen wir morgen! Gute
Nacht, schlafen Sie gut!“
Helen stellte ihre Tasse auf den Tisch und erhob sich zögernd. „Ich weiß noch
nicht einmal Ihre Namen, dabei waren Sie beide so freundlich und hilfsbereit. Ich
bin wirklich zum Umfallen müde. Erst mal vielen Dank und gute Nacht.“ Lang
sam verließ sie den Raum.
Fee legte ihre Hände aneinander und sah Herrmann an. „Nette Frau, aber etwas
durcheinander, findest du nicht?“
„Wird wohl der Unfall sein.“ Schäuble verstummte.
„Du machst dir Sorgen, nicht wahr?“
Herrmann wandte sich ihr zu und sagte streng: „Ich habe eine absolut undurch
dringliche Fassade, die kein Mensch je wird durchschauen können, am allerwe
nigsten eine Frau! Geh und frag jeden, den du willst!“
Fee zeigte sich deutlich beeindruckt. „Natürlich, Herrmann, wie könnte ich auch
daran zweifeln!“ Ihre Augen blitzten schalkhaft.
Schäuble sah sie mißtrauisch an. Dann kehrte er zum Thema zurück. „Ja, ich
mache mir etwas Sorgen um den Kleinen. Er schien so in sich zurückgezogen,
fast autistisch, reagierte auf keine Frage. Dabei kann ich körperlich nichts finden,
Puls, Blutdruck, Temperatur – alles normal. Im Auto hatte er noch einen stark
erhöhten Puls, aber das war vermutlich der Unfallschock. Wenn sich sein Zustand
bis morgen nicht ändert, muß ich was unternehmen.“
„Willst du ihn in ein Krankenhaus einweisen?“
„Unter Umständen. Die Krankenhausatmosphäre dürfte aber nicht gerade günstig
für einen solchen Zustand sein. Vielleicht solltest du mal die Seelenklempnerin
anrufen, was meinst du?“
„Drücke dich etwas respektvoller aus, mein Lieber. Brigitte Morandell ist eine
sehr gute Psychologin und darüber hinaus eine ganz patente Frau, was nicht im
mer dasselbe ist – was sagtest du?“
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„Weiberwirtschaft, sagte ich. Komme mir völlig überflüssig vor. Du hast recht,
sie versteht ihren Beruf, diese Morandell. Komischer Name, weißt du, woher sie
kommt?“
„Ihre Eltern stammen aus Südtirol, aber sie wohnt schon seit ihrer Geburt in Sig
maringen. Bis zu welcher Generation hinauf muß man denn im Schwabenländle
ansässig sein, daß man als einheimisch gilt?“ fragte Fee spitz.
Anzüglich grinste sie Schäuble an. „Du hast im Leben keine Chance, meine Lie
be, du wirst nie 'ne richtige Schwäbin! Und kein Kommentar dazu, wenn ich bit
ten darf!“
Fee lächelte und schenkte ihm Tee nach. Auf ihren fragenden Blick zur Schnaps
flasche schüttelte er den Kopf. „Ich gehe jetzt, ist schon ziemlich spät. Komme
morgen früh wieder und sehe nach den beiden.“ Erwartungsvoll sah er Fee an, als
warte er auf Widerspruch. Fee hauchte ihm einen Kuß zu.
Mit einem großen Schluck trank Herrmann die Tasse leer und stellte sie ener
gisch auf den Tisch zurück. Deutlicher Protest war zu spüren. Fee gab sich kom
promißbereit. „Wenn du pünktlich um halb acht hier bist, mache ich dir Früh
stück, einverstanden?“
„Und wenn nicht?“ Herrmann war noch nicht zur Kapitulation bereit.
„Bekommst du keines!“
„Du bist unverschämt, weißt du das? Müssen deine Gäste auch auf die Minute
erscheinen? Ich dachte, dies hier wäre ein gut geführtes Hotel und keine Kaser
ne!“
„Meine Gäste zahlen dafür und nicht zu knapp, nebenbei gesagt, daß sie sich mit
dem Frühstück Zeit lassen dürfen. Du genießt dieses Privileg nicht. Also, was ist,
wirst du rechtzeitig hier sein?“
„Das kann ich dir nicht so genau sagen!“ Angestrengt runzelte Schäuble die
Stirn, als würde er intensiv nachdenken. „Wenn ich allerdings jemanden hätte,
der mich liebevoll am Morgen weckt, würde ich auf die Minute pünktlich sein!“
„Herrmann, laß diese Anspielungen!“ Fee schien etwas ungeduldig. „Erinnere
dich, wir haben uns geeinigt!“
„Du hast dich geeinigt, ich war da wenig gefragt, kann ich mich entsinnen. Du
kannst mir jedoch nicht verbieten, dich immer wieder zu fragen. Stell dir vor, du
hättest deine Meinung geändert und ich wüßte nichts davon! Schrecklich, dieser
Gedanke! Also dann, bis morgen.“
Fee verbiß sich ein Kichern und küßte ihn leicht auf die Wange. „Fahr vorsichtig,
es ist immer noch glatt. Schlaf gut!“ fügte sie mit bedeutungsvollem Blick hinzu.
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„Miststück!“ murmelte der Doktor, als er seine Tasche an sich nahm und in seine dicke Jacke schlüpfte. An der Tür hielt er plötzlich inne: „Wieso hattest du die Suite vorbereitet? Kannst du hellsehen? Das wäre mir ausgesprochen unange nehm!“ „Natürlich kann ich hellsehen! Was meinst du, wie ich immer deine Gedanken errate! Aber heute war das gar nicht notwendig. Die Brockelmanns haben abge sagt, Herr Brockelmann hat überraschend irgendwas Geschäftliches zu tun, eilige Vorstandssitzung oder so. Du weißt doch, die verbringen hier Ende Oktober im mer ein verlängertes Wochenende und nehmen die Suite. So einfach ist das. Aber vielleicht sollte ich dir das alles gar nicht sagen. Es ist besser, wenn man sich als Frau geheimnisvoll gibt.“ Unschuldig sah sie ihn an. Schäuble ergriff die Flucht. „Du bist geheimnisvoll genug für mich! Mußt nicht übertreiben. Also, bis morgen!“ Dann war er fort. *** Fee begann den Tisch abzuräumen und spülte die Tassen ab. Die Küche hatte die Form eines L, in deren kürzere Seite die Stube untergebracht war mit einer ge räumigen Sitzecke, einer großen, dreiteilige Anrichte und einem zweiteiligen Sideboard. Im längeren Teil war die eigentliche Küche, in der man Platz hatte, warme Mahlzeiten für eine größere Anzahl von Gästen zuzubereiten. Die Möbel der Stube waren aus hellem Holz und die Vorhänge dickes Leinen. Eine stoffüberzogene Hängelampe verbreitete ein warmes Licht. Die ganze Atmosphä re atmete Gemütlichkeit und Ruhe. Die Stube war ein oft genützter Raum, in den Fee hin und wieder auch ihre bevorzugten Gäste führte. Während Fee mit flinken Händen die Tassen trocknete und aufräumte, dachte sie über den Doktor nach. Er war ihr ein guter Freund geworden. Unübersehbar, daß er gerne mehr wollte. Fee war sich ihrer eigenen Gefühle nicht sicher und solange genügte ihr die Freundschaft. Ihr war klar, daß eine Ehe, wie sie sie geführt hatte, nur einmal im Leben möglich war und vielleicht war das auch gut so. Mal sehen, dachte sie, Zeit bringt Rat. Wo der Severin steckt? Als hätte sie ihn herbeigezaubert, streckte er in diesem Moment den Kopf zur Tür herein. „Ich bin schon seit einer Weile wieder zurück, wollte aber nicht stören.“ Severins Augen funkelten. Fee beschloß, die Anspielung zu überhören. „Das Gepäck?“ „Ist schon oben bei den beiden. Habe auch den Teddy mitgebracht. Den Wagen wird man abschleppen müssen, die Lenkung läßt sich nicht mehr bewegen, da der linke vordere Kotflügel stark eingedrückt ist. Ansonsten sind es nur Blechschä den, so wie es aussieht. Soll ich morgen den Abschleppdienst anrufen?“ 15
„Danke, Severin, das wäre sehr nett. Vielen Dank auch, daß du noch die Sachen geholt hast. Geh nun zu Bett, ich brauche nichts mehr. Wenn du noch abschließt? Gute Nacht!“ Gedankenvoll sah Fee ihm nach, dem Freund ihrer Kindheit und Gefährten in gefährlichen Zeiten. Es sah Severin ähnlich, sich gleich über den Zustand des Wagens zu informieren und bereits Bestandsaufnahme gemacht zu haben. Autos waren Severins Leidenschaft und in seiner Freizeit bastelte er mit Hingabe an seinem und anderer Leute Wagen. Fee beschloß, sich noch einen Abendtrunk zu gönnen und schenkte sich einen großzügigen Schluck Sherry ein. Damit ging sie ins Wohnzimmer und kuschelte sich auf die Couch. Sie schaltete die Stereoanlage an. Ihre Gedanken wanderten zu den neuen Gästen. Eine junge Frau, die in Panik geriet, wenn ihr Mann erwähnt wird, und ein Kind, das be schlossen hatte, die Umgebung auszublenden. Welche schmerzliche Erfahrung hatte der Junge machen müssen, um solch drastische Maßnahmen zu ergreifen? Fee war beinahe eingeschlafen, als sie ein leises Geräusch weckte. Sie schlug die Decke zurück und stand auf. In der Tür erschien der Schatten einer Frau. „Verzeihen Sie, ich konnte nicht schlafen. Darf ich mich noch ein paar Minuten zu Ihnen setzen?“ Helens Stimme klang immer noch zittrig. „Natürlich, kommen Sie doch! Möchten Sie auch einen Schluck Sherry?“ „Ja, danke, das könnte ich jetzt gebrauchen.“ Helen versank in dem tiefen Polstermöbel und zog die Beine an sich. Wie sie so dasaß, mit untergeschlagenen Beinen, völlig in sich zusammengekauert, machte sie den Eindruck eines jungen Mädchens. Die blonden Haare fielen ihr ins Ge sicht und ungeduldig strich sie sie zurück. Fee reichte ihr das Glas. „Möchten Sie eine Zigarette?“ Helens Blick schien aus weiter Ferne zurückzukehren. „Ja, vielen Dank!“ „Wenn Sie sprechen möchten, ist das OK, und wenn nicht, ist das auch in Ord nung. Lassen Sie sich einfach Zeit.“ Fee war zu ihrer Couchecke zurückgekehrt und hatte sich ebenfalls eine Zigarette angezündet. Eine Weile rauchten die bei den schweigend. Fee bemerkte, daß die junge Frau immer wieder zum Sprechen ansetzte. Freund lich sagte sie: „Ich heiße Friedhelmine Ermengilde Di Cosimo, schrecklicher Name, nicht wahr? Glücklicherweise nennt man mich Fee. Di Cosimo hieß mein verstorbener Mann, er stammte aus Mailand. Seit einigen Jahren lebe ich hier in Deutschland. In der Umgebung nennen mich alle 'Donaufee', wohl wegen des Hotelnamens 'Donaublick'. Ein blödsinniger Name, aber was soll man machen? Wie heißen Sie?“ 16
Helens Gesicht hatte sich aufgehellt, sie schien ruhiger und hatte bei der Erwäh nung des seltsamen Namens sogar gelächelt. „Ich bin Helen Gersky und das“ sie deutete nach oben, „ist mein Sohn Felix. Er ist fünf Jahre alt, wird im Mai sechs. Wir wohnen in Stegen bei Freiburg, aber heute kommen wir aus der Nähe von Trier. Mein Mann“ Helen schluckte, „wir waren dort auf Urlaub.“ Sie ver stummte. Fee schwieg. Es schien wichtig, nicht zu drängen. Offensichtlich wollte Helen Gersky etwas loswerden und ebenso offensichtlich kämpfte sie noch darum, ob sie es aussprechen sollte oder nicht. Das mußte ihre eigene Entscheidung sein. Helen drückte die Zigarette aus und nahm das Glas. Aber sie trank nicht, sondern drehte es in ihren Händen hin und her. Dann hob sie plötzlich den Kopf. „Ich mache mir große Sorgen um Felix. Der Doktor sagte, es sei ein Schock, der un gewöhnlich lange dauern würde. Er hat mich gefragt, ob noch etwas passiert wä re. Er meinte, zwei traumatische Erlebnisse kurz hintereinander könnten diese Reaktion ausgelöst haben.“ Helen taste nach ihrem Taschentuch und wischte sich die herabrollenden Tränen von der Wange. Fee sah sie voll Mitgefühl an. Zögernd fuhr Helen fort. „Es ist wirklich noch etwas passiert. Mein Mann und ich hatten eine furchtbare Auseinandersetzung. Ich mache mir so schreckliche Vorwürfe. Wir haben uns angeschrien und Volker hatte ein Me... äh, er hat eine Menge gemeiner Sachen gesagt. Felix hat uns dabei beobachtet.“ Eine lange Pau se. „Dann habe ich ein paar Sachen gepackt und wollte zu meinen Eltern, fürs erste.“ Helen verstummte. Nach einiger Zeit fuhr sie tonlos fort: „Ich habe mei nen Mann verlassen! Ich dachte, wir wären glücklich zusammen. Unser Sohn, das Haus, Volkers Karriere in den letzten Jahren, es schien alles so wunderbar. Zwar war mein Mann hin und wieder angespannt, aber ich dachte, das wäre beruflich! Aber nun ist alles aus. Alles!“ Die junge Frau schwieg wieder und die Tränen strömten ihr ungehindert über die Wangen. Endlich sagte Helen erschöpft: „Er hat eine Geliebte“ und vergrub ihren Kopf in beiden Händen. Ihre Schultern zuckten. Die Uhr schlug halb zwei. ***
Zwischenspiel Der Mann mit der Kurzbezeichnung KM 2 strich sich mit seiner linken Hand müde über die Augen, während er mit der rechten das Band auflegte. Erschöpft sah er auf die Uhr, es war halb zwei. Er war spät dran heute und dachte kurz dar an, aufzuhören und den Rest morgen zu prüfen. Es war nur ein ganz kurzer Ge danke. Er nahm einen Schluck aus der Tasse. Dann setzte er die Kopfhörer auf 17
und drückte die Starttaste. Als das Band zu spulen begann, lehnte sich der Mann zurück und schloß die Augen. Plötzlich setzte er sich mit einem Ruck hoch. Was tat sich da? „... hab dir schon tausendmal gesagt, du sollst nicht an meine Papiere gehen!“ KM 2 drückte die Stopptaste und spulte zurück. Papiere? Welche Papiere? Mit dem üblichen Klicken, das auf ein Geräusch im Überwachungsbereich hinwies, schaltete sich das Band wieder ein. Der Mann hörte das Schlagen einer Tür und eine ungeduldige Frauenstimme, die Stimme der Mutter erkannte KM 2. „Felix, komm sofort her, du weißt, du darfst nicht in Papas Arbeitszimmer!“ Rums. Es klang, als ob ein Gegenstand zu Boden fiel und die ärgerliche Stimme der Frau rief. „Jetzt schau, was du angerichtet hast. Nun marsch ins Bett laß das liegen, ich ordne das schon wieder! Ab mit dir!“ Darauf folgte ein Rascheln, dann ein kurzer, ungläubiger Laut wie ein Stöhnen der Frau. Kurz darauf die Stimme eines Mannes, die in höchster Wut schrie: „Was machst du da? Gib das sofort her! Hörst du, du Schlampe, her damit! Ich hab dir schon tausendmal gesagt, du sollst nicht an meine Papiere gehen!“ „Was soll das, Volker!“ Die Stimme der Frau ebenso laut, ebenso ärgerlich und etwas zittrig. „Was bedeutet dieser Brief?“ „Komm sofort her und gib mit den Wisch! Hörst du! Ich warne dich!“ Ein Schreckensruf in höchster Panik: „Nein!“, Tumult war zu hören, ein Poltern und der Fall eines Körpers und dann eine helle Stimme, die gellend „Papi, Papi, hör auf!“ kreischte. Zuletzt der schrille Schrei der Mutter: „Felix, Liebling!“ Nach einigen Augenblicken der Stille hörte KM 2 wieder die Stimme der Frau, diesmal kalt und eisig: „Volker, das lasse ich mir nicht bieten! Ich werde Felix mitnehmen und nicht mehr zurückkehren!“ Eine Tür schlug zu, ein gemurmeltes „Blödes Weibstück“ des Mannes, dann hatte sich das Band wieder abgeschaltet. Es war die letzte Aufnahme aus Volker Gerskys Arbeitszimmer in Lautenbach. Ist ja wunderbar, dachte KM 2 und griff zum Telefonhörer. Am anderen Ende wurde so rasch abgehoben, als hätte man auf seinen Anruf gewartet. Hastig be richtete er. Er erhielt keine Antwort. Vorsichtig fragte er: „Haben Sie verstan den?“ Die Stimme war knapp und kalt. „Verstanden! Hat die Frau Verdacht ge schöpft?“ „Keine Ahnung! Sollen wir versuchen, sie aufzuspüren? Wenn sie mit dem Wa gen gefahren ist, ist es einfach.“ 18
„Identifizieren Sie den Aufenthalt des Wagens und melden Sie sich dann wieder. Sputen Sie sich!“ Klick! Die Leitung war tot. Der Mann atmete tief durch. Einen kurzen Moment ärgerte er sich über die arro gante Stimme. Es war nur ein kurzes Aufflackern von Gegenwehr. Er würde sich sputen. Er griff erneut zum Hörer und machte sich auf die Suche nach dem Mer cedes. Wie erwartet fand er ihn innerhalb weniger Minuten. Er gab die Koordi naten durch und schickte eine Mannschaft los. *** Um 6 Uhr 30 rasselte der Wecker. Fee war bereits wach und stellte ihn gähnend ab. Sie streckte sich und sprang aus dem Bett. Die Tage waren schon merklich kürzer und daher war es noch beinahe dunkel. Fee schob die Vorhänge zur Seite. Im Osten zeigte sich ein erster Streifen von Morgendämmerung und der Nebel war vollkommen verschwunden. Wie jeden Morgen genoß Fee diese ersten stillen Minuten des Tages. Unter die Dusche wanderten ihre Gedanken zu den Gescheh nissen der vergangenen Nacht zurück. Die junge Frau, Helen Gersky, war nach ihrer bedrückenden Geschichte ziemlich bald zu Bett gegangen und Fee war si cher, daß sie sofort eingeschlafen war. Jetzt war auch klar, warum der kleine Jun ge sich so in sich zurückgezogen hatte. Er mußte um das Leben seiner Mutter gefürchtet haben. Die junge Frau hatte sich zwar rasch verbessert, aber Fee war sich sicher, daß mehr ihm Spiel gewesen war als nur eine Menge unschöner Worte. Dann noch der Unfall. Armer Kleiner! Fee hatte ihre Toilette beendet und ging in die Stube zurück. Der Kaffee war inzwischen fertig und sie holte das Frühstücksgeschirr aus dem Schrank. Im Mo ment waren nur wenig Gäste im Hotel. Ein junges Paar, das sich seit einer Woche kaum aus dem Zimmer rührte, und drei Männer, die auf ihrer Tour im 'Donaub lick' übernachteten. Von Zweien wußte Fee, daß sie Versicherungsverteter waren, der dritte hatte irgend etwas mit Kaufhausketten zu tun. Alle drei trafen sich re gelmäßig im 'Donaublick' und hatten gestern abend wie üblich eine Wirtshaus runde gemacht. Fee hatte sie nicht zurückkommen gehört. Fee deckte drei Frühstückstische im Frühstücksraum, stellte die zierlichen Vasen mit den Biedermeierröschen auf den Tisch und bereitete am Buffet die Brotkörbe vor. Severin würde bald mit den frischen Brötchen kommen. In der Stube richtete sie das Frühstück für Herrmann. Es war kurz vor halb acht. „Frau Di Cosimo, ich habe die Brötchen in den Frühstücksraum gestellt, soll ich sie noch austeilen?“ Severin war lautlos in die Stube getreten. Fee fuhr zusammen. „SEVERIN! Tu mir einen Gefallen und mach dich irgendwie bemerkbar, wenn du reinkommst! Jedes Mal erschreckst du mich. Ja, bitte, 19
sei so nett und leg das Brot auf. Hier, nimm auch die kalte Platte mit. Die Säfte
bringe ich selbst hinüber.“
Mit zwei Glaskannen, gefüllt mit Orangen- und Grapefruitsaft, folgte Fee ihrem
helfenden Geist. Geist war das richtige Wort, dachte sie ärgerlich. Noch immer
erschrecke ich, wenn er sich so lautlos bewegt. Sie ordnete das Büfett, holte die
in kleinen Töpfchen vorbereiteten Marmeladeportionen und die abgepackten
Butterstückchen und legte sie auf. Prüfend trat sie einen Schritt zurück. Dann
runzelte sie die Stirn, sie hatte ein Messer mit einem Fleck entdeckt. Auch an
einem Glas schien ein leichter Schatten zu sein. Sie nahm beide Gegenstände
vom Tisch und ging zurück in die Stube.
„Bedienung! Was ist denn das für ein Saftladen! Ich warte schon ewig auf mein
Frühstück! Hat nicht irgend jemand gesagt, ich sollte pünktlich sein? Nun, hier
bin ich!“
Gelassen küßte Fee Dr.Schäuble auf die Wange, der in der Mitte der Stube stand
und offensichtlich eben erst gekommen war. „Guten Morgen, Herrmann! Es ist
alles bereit.“ Sie half ihm aus dem Mantel und trug diesen in die Garderobe. Als
sie zurückkam, saß der Doktor am Tisch und schmierte sich den frischen Toast.
„Du hast doch noch mit der jungen Frau gesprochen.“ Herrmann kaute genußvoll
und nuschelte mit vollem Mund.
„Deine detektivischen Fähigkeiten sind nicht so unterentwickelt, wie du immer
behauptest. Warum glaubst du das?“
„Ist der Typ dafür! Hat keine Ruhe, bevor sie sich nicht alles von der Seele gere
det hat! Sagt mir mein Röntgenblick!“
„Also, Dr.Röntgen, du hast recht, sie kam und erzählte. Der Kleine hat wirklich
ein schlimmes Erlebnis hinter sich, der Vater ist wohl auf die Mutter losgegangen
mit einem Messer vermutlich, anläßlich eines Streites, wenn ich das alles richtig
mitbekommen habe.“
„Was heißt vermutlich?“
„Sie sagte, ihr Mann hatte ein Me..., dann brach sie ab und bemühte sich, die
Kurve zu kriegen, er hätte eine Menge unschöner Dinge gesagt. Sehr mitteilsam
war sie nicht in diesem Punkt, doch sie schien vollkommen erschöpft. Ach ja, ihr
Mann hat eine Freundin, das war wohl der Auslöser für das Ganze.“
„Na, dann ist ja alles klar!“ Schäuble interessierte nur der medizinische Aspekt
der Geschichte. „Also, ein posttraumatischer Schock bei dem Kind. Nach dem
Frühstück werde ich mal nach ihm sehen.“ Fee schenkte dem Doktor eine zweite
Tasse Kaffee ein und nahm sich selbst eine Scheibe Toast. Dabei sah sie zu, mit
welchem Genuß er sein Ei verzehrte.
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Severin erschien lautlos in der Tür. Er räusperte sich. „Der Abschleppwagen
kommt bald. Reparieren werden sie den Wagen erst am Montag. Die Werkstätte
in Meßkirch hat heute geschlossen. Ich habe nur den Notdienst erreicht.“
„Gut, Severin, vielen Dank. Ich werde es Frau Gersky mitteilen. Sie kann dann
selbst entscheiden, was geschehen soll.“
„In Ordnung.“ Severin nickte. „Guten Morgen, Doktor. Ihr Pannendreieck habe
ich wieder in Ihren Kofferraum gelegt.“
„Guten Morgen, Severin. Vielen Dank auch, das hätte ich bestimmt wieder ste
hen lassen. Übrigens, wie geht es Ihrem Hals? Noch Schmerzen?“
„Alles in Ordnung, Doktor, vielen Dank. Einen schönen Tag noch!“ Severin ver
ließ ebenso geräuschlos den Raum, wie er gekommen war.
Der Doktor blickte ihm stirnrunzelnd nach und nahm noch einen Schluck Kaffee.
„Er ist manchmal etwas undurchsichtig, dein Severin! Man könnte beinahe an
nehmen, er sei eifersüchtig. Scheint dich als sein Eigentum zu betrachten!“
„Also, Herrmann, übertreibe nicht. Severin ist ein sehr guter Techniker und ver
läßlicher Mensch, der mir schon lange eine große Stütze ist. Außerdem kennt er
keine Dienstzeiten, sondern ist immer da, wenn Not am Mann ist. Ich wüßte
nicht, was ich ohne ihn täte.“
„Genau das scheint ja das Problem zu sein.“ Kritisch sah der Doktor zur Tür.
„Herrmann!“ In Fees Stimme schwang ein Anflug von Ärger. „Ich will mich
nicht über Severin mit dir streiten. Sag mir lieber, wie es mit dem Kleinen nun
weitergehen soll.“
„Wenn ich ihn nicht ins Krankenhaus einweisen muß, wäre es am besten, er wür
de zur Beobachtung ein, zwei Tage hier bleiben. Geht das?“
„Natürlich, die Suite ist frei. Sollten die Brockelmanns doch noch kommen, müs
sen sie eben das Biedermeierzimmer nehmen.“
Fee hatte jedem Zimmer einen besonderen Namen gegeben, sie fand es phanta
sievoller, den Gästen das Rokkokozimmer oder das Bambuszimmer anzubieten
als zu sagen, 'Nr.3 ist frei!' Auch die Gäste schienen es zu mögen, da jeder Raum
in einem anderen Stil eingerichtet war. Das Biedermeierzimmer zum Beispiel war
ein heller, freundlicher Raum mit Kirschholzmöbeln, in dem sich neben dem
breiten Doppelbett eine stilechte Sitzgarnitur sowie ein zierlicher Schreibtisch
und ein geräumiger, ziselierter Kasten befanden. Es war natürlich nicht so groß
wie die Suite, aber die Brockelmanns würden es entweder nehmen müssen oder
lassen.
*** 21
Helen kämpfte sich mühsam durch die Zähigkeit des Schlafes an die Oberfläche. Der Traum, der sie gefangen hielt, ließ sich nicht so leicht abschütteln und klebte an ihrem Bewußtsein. Er war wirr und voll verstörender Bilder gewesen, und immer wieder hatte ein Brief eine Rolle gespielt. Er war so wichtig, dieser Brief, und Helen konnte ihn nicht lesen. Sie sah zwar die Buchstaben, begriff aber ihren Inhalt nicht. Trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, er sei bedeutsam, und ver zweifelt mühte sie sich ab. Langsam gewann ihr Bewußtsein die Oberhand und sie tastete nach der vertrauten Gestalt neben ihr. Das Bett war leer. Sie schrie leise auf und mit einem Ruck saß sie aufrecht. Langsam kehrte die Erinnerung zurück. Sie war in einem Hotel irgendwo auf der Schwäbischen Alb und nicht mehr Zuhause. Natürlich war das Bett neben ihr unbenutzt! Sie hatte ja ihren Mann verlassen! Sie sah auf die Uhr. Es war acht Uhr vorbei. Im hellen Morgenlicht kamen ihr die Ereignisse des gestrigen Tages unwirklich und gespenstisch vor. Hatte sie Volker wirklich verlassen? War das eine überzogene Reaktion gewesen? Felix brauchte schließlich einen Vater – oh Gott, Felix! Mit raschem Sprung war sie aus dem Bett und lief durch das Wohn zimmer in das angrenzende kleine Schlafzimmer. Leise öffnete sie die Tür. Felix blonder Haarschopf war tief in den Polster vergraben, die Decke bis an die Ohren hochgezogen, so daß sein Gesicht fast verdeckt war. Er schlief tief und atmete regelmäßig. Erleichtert seufzte Helen auf und strich ihrem Sohn vorsichtig die Haare aus der Stirn. Felix regte sich kurz, erwachte jedoch nicht. Helen ging ins Bad und sah in den Spiegel. Ihr Gesicht hatte zwar etwas Farbe bekommen, aber der Ausdruck der Erschöpfung war noch deutlich zu sehen. Sie versuchte, die dunklen Ringe unter den Augen zu verwischen, bis ihr bewußt wurde, wie sinnlos dieses Tun war. Du drehst nicht durch! dachte sie bestimmt, du konzentrierst dich erst einmal auf das Nächstliegende! Reiß dich am Riemen und hör auf, dich zu bemitleiden! Eine Dusche könnte beispielsweise helfen! Sie drehte den Duschhahn auf volle Stärke. Die Wunde an ihrem Unterarm begann durch das Wasser zu brennen, aber Helen achtete nicht darauf. An der Badezimmertür hingen drei flauschige Morgenmän tel und Helen hüllte sich in einen davon. Sie genoß den weichen Stoff und be gann, sich die nassen Haare zu kämmen. Es klopfte. Helens Puls beschleunigte sich, als sie zur Tür ging. „Guten Morgen, Frau Gersky. Haben Sie gut geschlafen?“
„Guten Morgen, Doktor. Nicht so gut, ich hatte einen schrecklichen Alptraum,
aber jetzt nach der Dusche geht es mir schon viel besser!“
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„Das ist gut. Ist Ihr Sohn schon wach? Wie geht es ihm?“ „Nein, Felix schläft noch tief. Ich wollte ihn nicht wecken.“ „Ich sehe ihn mir erst einmal an.“ Dr.Schäuble wandte sich zur Tür. Helen hielt ihn mit einer schnellen Handbewegung zurück. „Ich würde gerne mit Ihnen vorher noch kurz sprechen, Doktor.“ Schäuble nickte und setzte sich. Helen nahm ihm gegenüber Platz. Nervös zupfte sie am Ärmel ihres Morgenmantels. „Ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig. Ge stern war ich noch zu sehr durcheinander und auch nicht ganz ehrlich. Sie fragten mich, ob etwas passiert sei.“ Ihre Stimme verlor sich. Unruhig blickte Helen um sich, dann atmete sie tief ein. „Am besten, ich hole etwas aus. Sehen Sie, Volker und ich haben vor sieben Jahren geheiratet, damals war ich zweiundzwanzig und arbeitete nach meiner Ausbildung zur Röntgenassistentin in einer Praxis. Volker ist Bankkaufmann. Wir lernten uns am Weihnachtsmarkt in Freiburg vor dem Münster kennen, als ich zufällig gegen ihn stieß und ihm meine Schupfnudeln über seine Jacke leerte.“ Helens Gesicht erhellte ein kurzes Lächeln. „Einige Zeit darauf haben wir geheiratet und zwei Jahre später ist Felix auf die Welt gekommen. Ich habe aufgehört zu arbeiten und wir konnten uns ein kleines Haus in Stegen, ganz in der Nähe von Freiburg, leisten, denn Volker war in der Bank zum Direktor für Anlagenberatung aufgestiegen. Alles war wunderbar und schön, bis vor etwa zwei Jahren Volker sich zu verändern begann. Zuerst habe ich es nicht genau registriert, mehr so ein Gefühl. Dann war es unübersehbar, er war reizbar, flippte wegen jeder Kleinigkeit aus. Ich führte das auf die Arbeit zurück, mehr Verantwortung und so weiter. Manchmal war er in sich gekehrt, schreckhaft und nervös. Manchmal hat er uns angeschrien. Vor einiger Zeit hat Volker dann ein Bauernhaus in der Nähe von Trier gemietet, ziemlich überra schend und ohne mich vorher zu fragen. Volker hat irgendwie herumgeredet, günstige Gelegenheit, gehöre einem Bekannten von ihm, der für einige Jahre ins Ausland gehe und darauf Wert legen würde, daß es nicht leer stünde und so wei ter. Ich habe nicht genauer nachgefragt. Das Haus ist entzückend, mit Sauna und großem Garten und es schien so ideal für Felix. Wir verbrachten die meiste Zeit des Urlaubs und oft auch die Wochenenden dort.“ Helen schwieg. Sie nahm die Packung vom Tisch, schüttelte eine Zigarette heraus und drehte sie in den Fingern. Der Doktor nahm das Feuerzeug und gab ihr Feuer. Zögernd fuhr Helen fort. „Diesen Mittwoch hat Volker sich freigenommen, und wir fuhren wieder nach Lautenbach. Volker war wie üblich reizbar und ich är gerte mich, daß er nichts mit Felix unternahm.“ Helen zögerte und schwieg eine Weile, dann fuhr sie fort: „Gestern nach dem Mittagessen sollte Felix schlafen 23
gehen. Oft machen wir ein Spiel daraus und er läuft vor mir davon. Gestern ist er in das Arbeitszimmer meines Mannes gerannt, das für ihn absolut verboten ist. Das weiß Felix auch. Ich lief ihm nach und wollte ihn fangen, da stieß Felix den Aktenkoffer vom Schreibtisch und alle Papiere fielen heraus. Felix war ganz er schrocken und ich schalt ihn und jagte ihn ins Bett. Ich machte mich daran, die Papiere wieder einzusammeln und zu ordnen. Volker ist sehr heikel mit seinen Akten und auch ich darf nicht daran rühren. Ich kniete also am Boden und sah unter den Schreibtisch, ob ich auch alles aufgesammelt hätte, als mir ein handge schriebenes Blatt auffiel, das halb unter dem Stuhl lag. Ich verliere mich in Ein zelheiten, aber es war so ein Schock! Der Brief war von einer Frau! Ich kann noch jedes Wort auswendig: 'Mein Liebster! Wie ich mich freue, dich wiederzu sehen. Wie gewohnt, bin ich am kommenden Freitag an unserem üblichen Ort und warte ab sechs auf dich. Mit tausend Küssen. Valerie'. Ich bitte Sie, wie kann man nur Valerie heißen!“ Helen brach ab und verbiß sich die aufsteigenden Trä nen. Herrmann Schäuble dachte, daß der Name der Dame wohl das geringste Problem sei. Frau Gersky schien jedoch dringend um Fassung bemüht, so daß sie sich an Einzelheiten festhalten mußte. Mitleidig sah sie der Arzt an. Es ist doch immer wieder das alte Lied, dachte er. Die Ehefrau ist blind und achtet nicht auf Hin weise. So, als hätte sie seine Gedanken erraten, fuhr Helen fort: „Mich hat schon oft gewundert, daß Volker auch an den Wochenenden in Lautenbach immer wieder fort mußte. Manchmal blieb er über Nacht weg. Er erklärte das mit Erledigungen für seine Bank, mit Sitzungen, die lange gedauert hätten oder dringenden Fahrten nach Luxemburg. Er sei nun Direktor und da würde das gefordert werden. Es wäre notwendig für seine Karriere. Schöne Karriere!“ schloß sie bitter. „Gott, wie war ich dumm! Er war oft nervös und kratzbürstig, wenn er wegfuhr, und kam erleichtert und ausgeglichen zurück von diesen Fahrten. Kein Wunder!“ Dr.Schäuble sah verstohlen auf die Uhr. Helen reagierte rasch. „Bitte, verzeihen Sie, ich werde mich nun kurz fassen. Ich stand also da mit dem Brief in der Hand und konnte nicht glauben, was ich sah. In diesem Moment kam Volker ins Zim mer. Er war einen Moment völlig konsterniert, wurde weiß wie die Wand und wollte mir das Schreiben aus der Hand reißen. Dabei schrie er mich an. Ich zit terte vor Empörung und brüllte zurück. Plötzlich drehte er durch und ging auf mich los. Ich war starr vor Schreck, dann machte ich eine Abwehrbewegung und stolperte. Felix kam in diesem Moment zur Tür herein, er schrie und versuchte, auf seinen Vater einzuschlagen und so...“ 24
„... und so hat der Junge Angst um seine Mutter bekommen und versucht, Sie zu
schützen!“ beendete der Arzt Helens Bericht. „Das ist eine Erklärung, warum er
auf den Unfall mit Rückzug reagiert hat, ein zweiter Schock in kurzer Zeit. Nun
ist mir einiges klar!“
„Was soll ich nun tun?“
„Am besten wäre es, wenn er in seine vertraute Umgebung wieder zurück könnte,
aber daraus wird wohl vorerst nichts werden“ schloß Schäuble nach einem Blick
auf Helens abwehrende Geste. Die steile Falte zwischen den Augenbrauen, die
ihm bereits gestern aufgefallen war, stand wieder auf ihrer Stirn und signalisierte
klar ihren Widerstand.
*** Felix legte sich wieder auf das weiche Bett zurück. Er war so müde und schläfrig, er konnte sich auf nichts konzentrieren. Die Welt draußen war weit, weit weg. Manchmal drang sie wie aus einem Nebel zu ihm durch, wenn er die Stimme seiner Mutter hörte, so wie gerade vorhin, als sie ihn aus dem schönen Schlaf geweckt hatte und damit den wunderbaren Traum zerstörte. Da war auch noch ein fremder Mann gewesen mit einer dunklen Stimme. Erinnerte ihn an den alten Kinderarzt Zuhause. Auf jeden Fall war es nicht sein Papa, der hatte eine viel jüngere Stimme. Wo war sein Papa? Irgend etwas Schlimmes war passiert. Ganz dunkel erinnerte sich Felix, daß etwas Grauenvolles vorgefallen war, aber was, daran konnte er sich nicht erinnern. Irgendwie hatte er das Gefühl, daß es sehr wichtig war, daß er sich erinnerte. Aber er wußte auch nicht, warum es wichtig sein sollte... Am liebsten wollte er schlafen. Er war so müde. Alles schien so weit weg. Ob er wohl nach seiner Mama rufen sollte? Sie würde alles in Ordnung bringen, ganz sicher. Aber es war so anstrengend. Warum war alles so anstrengend? Was war bloß geschehen? Plötzlich hatte Felix das Gefühl, daß es sehr, sehr wichtig war, seine Mama zu hören, zu sehen, sie zu sprechen, ihr irgend etwas zu sagen, aber was? Was war es doch noch, das er ihr sagen wollte? Kurz, nur für einen Moment, war da ein heller Schimmer gewesen, hatte etwas sein Bewußtsein angestoßen, nach oben zu kommen, in die Wirklichkeit. Welche Wirklichkeit? Blödes Wort. Papa sagt im mer, verwende keine Worte, die du nicht kennst. Was war wohl diese Wirklich keit? Felix träumte... Die Dunkelheit kam wieder wie eine schöne, warme Decke, die ihn umhüllte, wie ein warmes, freundliches Bad, das ihn in die Tiefe zog. Dort unten war es ange 25
nehm, keine Fragen, keine Probleme, nur Ruhe und Stille, nichts, was störte, niemand, der etwas wollte, und vielleicht kam auch dieser schöne Traum wieder. Die Müdigkeit war groß, er fühlte sich so, als wäre er in Watte eingepackt, aber das war irgendwie auch wieder angenehm. Er beschloß, sich wieder hinein fallen zu lassen. Ein schwacher Schrei in ihm rief noch immer nach der Mama, aber schließlich verstummte auch diese leise Stim me und Felix versank in seiner stillen Welt, die nichts zuließ und ihn von der Umgebung abschottete wie in einer dunklen Gruft. Felix träumte... Felix träumte, er sei Zuhause, in seinem Zimmer mit den vielen Spielsachen, von denen die Mama behauptete, es wären viel zu viele und sie würde Oma und Opa in Ludwigshafen schon noch darauf ansprechen. Kleine Kinder bräuchten nicht so viel zum Spielen. Aber natürlich brauchte er alle Spielsachen, nun ja, fast alle. Auf jeden Fall die vielen Autos, denn er wollte später einmal Lastwagenfahrer werden und da mußte man viel üben. Natürlich waren auch alle die Baukästen sehr praktisch, wenn man etwas bauen wollte. Felix war sich nicht sicher, ob er nicht doch lieber Baumeister werden sollte, wenn er groß war. Wenn er mit der Eisenbahn spielte, wollte er unbedingt Lokfahrer werden. Sein Beruf hat noch Zeit, sagte die Mama. Erst mal solle er zur Schule. Felix freute sich auf die Schule. Mit der Eisenbahn konnte er sowieso nicht lange spie len, dann kam meistens der Papa und zeigte ihm, was man damit alles machen konnte und dann spielte nur mehr der Papa und Felix saß daneben und überlegte, ob er auch, wenn er erwachsen war, mit der Eisenbahn seines Sohnes spielen würde. Felix träumte... Er wechselte zum großen Spielplatz. Das war das Schöne am Träumen, man konnte mühelos von einem Ort zum anderen wechseln, allerdings mußte man sich etwas anstrengen, wenn ein neuer Ort erscheinen sollte. Felix hatte schon lange entdeckt, wie man im Traum überall hinkam, wo man hinwollte, aber manchmal stellten sich die Orte nicht gleich ein, oder es kamen Dinge dazu, die einem Angst machten. Aber hier nicht, hier am Spielplatz schien die Sonne und alle Freunde waren da. Kevin und Manuel, seine zwei besten Freunde, beide gingen mit ihm in den Kindergarten, und Jutta und Freddie, die bereits die erste Klasse Grundschule besuchten und manchmal ätzend erwachsen taten. Schau, da kam auch noch Gerda, die bereits acht Jahre alt war und dementspre chend überheblich tat. Wenn sie am Spielplatz war, übernahm sie automatisch das Kommando und niemand konnte sich wehren. Gerda teilte unbarmherzig 26
Püffe aus, wenn jemand nicht das tat, was sie wollte. Das änderte sich nur, wenn
ihr großer Bruder Sebastian dabei war, was allerdings selten vorkam. Sebastian
war zwölf und viel zu überlegen, um noch auf den Spielplatz zu gehen.
Felix sah sich um, nein, Sebastian war nicht da. Felix hatte immer etwas Angst
vor ihm, ohne daß er sich das eingestehen mochte.
Felix träumte...
Gerda hatte gestern einen Film gesehen, in dem außerirdische Wesen vorkamen,
und schlug nun vor, zur Sicherheit den Spielplatz abzusuchen, es könnte ja sein,
daß die Außerirdischen in der Nacht heimlich gelandet wären und dann Das Ende
der Welt wäre gekommen und die Sicherheit der Menschheit in unmittelbarer
Gefahr!
Natürlich kommandierte Gerda wieder herum und Felix war beleidigt, weil er als
Kleinster an letzter Stelle in der Schlange antreten mußte, die sich vorsichtig auf
die Büsche zubewegte. Ob die Außerirdischen wirklich gelandet waren?
Felix träumte...
Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Plötzlich zerriß das Bild vor ihm
und er sah das blitzende Messer, die weit aufgerissenen Augen seiner Mutter, das
verzerrte Gesicht seines Vaters. Oh mein Gott, er tötet sie! Felix hatte das Gefühl,
zu Eis zu erstarren, er öffnete den Mund, um zu schreien, aber kein Ton kam her
aus und dann wurde es gnädigerweise wieder dunkel um ihn.
Felix träumte nicht mehr.
*** Helen saß am Bettrand und sah besorgt auf das maskenhafte Gesicht ihres Soh nes. Der Arzt war schon vor einer halben Stunde gegangen und hatte ihr die Wahl überlassen, ihren Sohn in ein Krankenhaus zu bringen oder einen Psychologen zu Rate zu ziehen. Helen schreckte vor dem Krankenhaus zurück. Sie hatte versucht, ihre Eltern anzurufen, aber sie hatte niemanden erreicht. Auf dem Anrufbeant worter war die Nachricht gespeichert, daß ihre Eltern für einige Tage nach Lon don geflogen seien, wo sie Peter besuchen wollten, Helens Bruder, der seit Jahren in England verheiratet war und dort als Bankdirektor arbeitete. Plötzlich sehnte sich Helen nach ihrem um zehn Jahre älteren Bruder, vermißte seine ruhige und überlegte Art und bereute, daß sie ihn manchmal als trocken und langweilig ver spottet hatte. Ihre Gedanken kehrten wieder zu Felix zurück. Sie hatte dem Doktor gesagt, sie würde bei der Psychologin anzurufen. Diese würde auch am Samstag kommen, wenn es dringend sei, hatte er gemeint. Helen hatte ein wenig Angst vor der Psy chologin. Wahrscheinlich wird sie denken, ich habe mich nicht genug um Felix 27
gekümmert, und nun hat er einen Schock für sein ganzes Leben! Oh Gott, hof fentlich wird er wieder gesund und dann werde ich mich nur mehr um ihn küm mern. Ja, sie würde sich scheiden lassen und nur mehr für ihren Sohn da sein! Helen erhob sich vom Bett ihres Sohnes, zupfte unnötigerweise die Decke zu recht und ging ins Wohnzimmer. Als erstes wollte sie frühstücken, wenn das noch möglich war und sich dann um den Wagen kümmern. Man würde ihn ab schleppen müssen und sicher gab es da noch das eine oder andere zu regeln. Plötzlich wurden ihre Knie weich und sie mußte sich setzen. In diesem Moment war Helen überzeugt, daß sie ein Leben auf sich allein gestellt nie und nimmer schaffen würde. Was war zu tun, wenn man einen Unfall hatte? Mußte man die Versicherung verständigen? Wie sollte man es anstellen, daß man bei der Werk stätte nicht ums Ohr gehauen wurde? Hatte sie denn eine Vollkaskoversicherung? Wie, um Himmels willen sollte sie in der realen Welt, in der Welt voller Verträge und Klauseln, bestehen, wenn bis jetzt alles ihr Mann erledigt hatte? Am liebsten hätte sie sich in ihr Bett verkrochen und die Decke über die Ohren gezogen, wie sie es als kleines Mädchen immer getan hatte, wenn sie sich vor einem Problem verstecken wollte. Mit einem Ruck stand sie auf, straffte ihre Schultern und die steile Falte erschien wieder zwischen ihren Augenbrauen. Sie war kein kleines Mädchen mehr! Um Felix willen mußte sie es schaffen, sie mußte, so einfach war das. Energisch öff nete sie die Tür und lief die Treppe hinunter. Nach einem guten und ausreichenden Frühstück – die offizielle Zeit war schon überschritten, aber die Donaufee stellte ihr wie selbstverständlich Tassen und Gebäck zurecht und brühte frischen Kaffee – fühlte sich Helen genügend ge stärkt, um den Schwierigkeiten des Tages einschließlich Psychologin die Stirn zu bieten. Fee hatte ihr mitgeteilt, daß der Wagen bereits abgeschleppt und in der Werk stätte sei, jedoch vor Montag nicht repariert werden könne. Nun gut, sie würde bis Montag im 'Donaublick' bleiben und dann versuchen, einen Leihwagen zu bekommen. Ob sie hier in der Gegend mit Kreditkarte bezahlen konnte? „Möchten Sie noch Kaffee, Frau Gersky?“ Fee stand mit der halbvollen Kaffee kanne vor ihr und sah sie fragend an. „Ja, vielen Dank, eine Tasse trinke ich noch. Sagen Sie, Frau Di Cosimo...“ „Nennen Sie mich Fee wie alle hier. Aber ich freue mich, daß Sie sich meinen Familiennamen gemerkt haben, das schaffen die wenigsten Leute beim ersten Mal.“ 28
„Vielen Dank!“ Helen errötete und ärgerte sich darüber. „Mein Gedächtnis ist nicht immer so gut.“ „Ich glaube, Sie halten nicht genügend von sich und Ihren Fähigkeiten! Was wollten Sie mich fragen?“ „Oh ja, ja, ich wollte wissen, ob Sie zufällig diese Psychologin kennen, die der Doktor empfohlen hat. Ich meine, ist sie OK? Das heißt, ich wollte sagen, oh, verdammt, es hört sich an, als hätte ich Vorurteile. Dabei bin ich so froh, daß irgend jemand Felix helfen will. Andererseits...“ hilflos brach Helen ab. „Andererseits“ fuhr Fee fort und setzte sich ihr gegenüber, „ist es wahrscheinlich das erste Mal, daß Sie mit dieser Berufsgruppe zu tun haben und es ist nur natür lich, daß Sie wissen wollen, ob Frau Morandell ihr Handwerk versteht. Schließ lich geht es um die Gesundheit ihres Sohnes, und zwar die psychische Gesund heit, und da sollte man nicht herumpfuschen lassen. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Brigitte Morandell ist eine gute Therapeutin und praktiziert schon lange in unserer Gegend. Ich kenne sie seit Jahren, man kann sagen, wir sind befreun det. Wenn Sie es wünschen, kann ich gerne für Sie anrufen.“ Fees Blick war ver ständnisvoll und anteilnehmend. Sie war sich offensichtlich klar, mit welchen Gedanken sich die junge Mutter herumschlug. Wieder errötete Helen. Sie fand es peinlich, daß eine fremde Frau so offenkundig ihre Gedanken lesen konnte, andererseits fühlte sie sich erleichtert. Es tat gut zu wissen, daß jemand ihre irrationalen Ängste nachvollziehen konnte. Fee beobachtete die junge Frau nachdenklich. Sie sah heute besser aus als gestern abend, aber noch immer lagen dunkle Schatten unter den großen Augen, die einen blauen Farbton hatten, der Fee an Kornblumen erinnerte. Der weiche, hellblaue Kashmirpullover unterstrich wirkungsvoll die Farbe der Augen sowie das helle Blond der Haare. Helen hatte ihre schulterlangen Haare zu einem Knoten nach hinten geschlungen, wodurch die Zartheit ihres Gesichtes noch verstärkt wurde. Als die junge Frau die Arme auf den Tisch stützte, um die Kaffeetasse mit beiden Händen festzuhalten, rutschten ihre weiten Ärmel nach unten und Fee bemerkte am linken Arm einen langen roten Striemen. Er begann unter dem Handgelenk und verlief in einem leichten Bogen bis kurz vor den Ellenbogen. Er schien nicht allzu tief zu sein, war jedoch auffallend rot. Fee deutete auf Helens Unterarm. „Wollen Sie Ihre Verletzung nicht dem Doktor zeigen? Sie sieht bereits entzün det aus.“ Mit einem leisen Aufschrei stellte Helen die Tasse ab und hob ihren linken Arm. Fassungslos starrte sie auf den roten Striemen. Sie wurde leichenblaß. Fee machte sich bereit, sie aufzufangen. Sie war wohl jemand, der leicht in Ohnmacht fiel, 29
wie der Doktor sagte. Helen biß die Zähne zusammen und die steile Falte er schien wieder auf ihrer Stirn. Hastig schob sie den Ärmel bis zum Handgelenk vor und sah die Donaufee beinahe ärgerlich an. „Nein, nein, das ist nicht notwen dig. Ich, ich habe gar nicht bemerkt, ich meine, es muß durch den Autounfall passiert sein.“ Ihre Stimme verebbte. Das nehme ich dir nicht ab, dachte Fee. Das sieht mehr nach einem Messer aus. Arme Kleine, vom eigenen Mann tätlich attackiert zu werden, ist immer eine schlimme Sache, die man nur schwer verkraften kann. Ruhig lenkte Fee das Ge spräch in andere Bahnen. „Haben Sie sich schon entschieden, was Sie nun weiter tun wollen?“ „Oh ja!“ Die Erleichterung über den Themenwechsel war Helen anzumerken. Sie umklammerte nervös das Handgelenk und zerrte am Pulloverärmel, als wollte sie ihn daran hindern, nochmals zurück zu rutschen und die häßliche Stelle freizuge ben. „Ich werde noch bis Montag bleiben, wenn das möglich ist?“ Fragend sah sie die Fee an. „Aus meiner Sicht steht nichts dagegen, die Suite ist frei, Sie können bleiben, solange Sie wollen!“ „Gut!“ Helen seufzte auf. „Felix wird noch eine Weile schlafen, sagte der Dok tor. Hoffentlich kann dann die Psychologin kommen. Sie haben gesagt, Sie wür den anrufen. Aber wenn Sie mir die Nummer geben, kann ich das auch, ich mei ne, Sie waren bereits so freundlich und hilfsbereit. Ich möchte Sie nicht über Gebühr beanspruchen.“ „Keineswegs! Das bereitet mir keine Mühe. Samstag vormittags ist Frau Moran dell jedoch immer unterwegs und besucht ihre Patienten im Behindertenheim. Ab Mittag kann ich sie dann erreichen. Ist Ihnen jeder Termin recht?“ „Selbstverständlich! Ich richte mich ganz nach ihr.“ „Gut, dann wäre das geklärt.“ „Was meinen Wagen betrifft, würde ich gerne am Montag zur Werkstätte fahren. Gibt es hier irgendwo auch ein Taxi?“ Helen sah sich um, als bezweifle sie, in diese Segnung der Zivilisation zu gelangen. Die Donaufee lachte. „Wir sind hier zwar nicht mitten in Freiburg“ sie zwinkerte der jungen Frau zu, „aber wir befinden uns auch nicht in den tiefen Wäldern Ka nadas. Die grundlegenden zivilisatorischen Einrichtungen sind uns schon zu gänglich.“ Helen errötete leicht. 30
„Das wird aber“ fuhr Fee in ihrem leicht nachsichtigen Ton fort, „nicht notwen dig sein. Der Severin kann Sie fahren. Mit ihm haben Sie auch gleich einen Ex perten in Sachen Autoreparatur an der Hand. Was der Severin von Autos nicht weiß, geht auf eine Briefmarke! Möchten Sie noch eine Tasse Kaffee?“ „Äh, ja, danke.“ Helen fand die Themenwechsel der Gastgeberin verwirrend. In Gedanken hatte sie gerade tief aufgeseufzt. Sie würde nicht als totaler Idiot in der Werkstätte stehen und nur wissen, daß ein Auto vier Räder und einen Motor hat. Wie erleichternd! Zwar hatte sie auch ein wenig Angst vor diesem Severin mit seiner dunklen, rauhen Stimme, der so ruhig, fast verschlossen wirkte und sich beinahe lautlos bewegte. Aber als Schutzschild gegen überhebliche Automecha niker, die über einen hinweg redeten, als könne man nicht bis drei zählen, war er eine unschätzbare Hilfe. Sie sah auf ihre Uhr, halb elf. Zufriedenen schob sie die leere Kaffeetasse von sich und erhob sich. Dabei verzog sie schmerzhaft das Gesicht und griff sich an ihre linke Hüfte. Helen verbiß sich ein Stöhnen und sah die Donaufee an. Diese schien aber völlig damit beschäftigt, den Tisch abzuräumen. Zögernd bemerkte Helen: „Ich werde jetzt nach oben gehen und nach Felix schauen. Ach, da fällt mir ein, kann ich von hier aus nach England telefonieren? Ich meine – „ hastig korrigierte sie sich und ärgerte sich wieder über die Röte, die ihr ins Gesicht stieg. Würde sie das nie ablegen können, dieses pubertäre Erröten? „kann ich von meinem Apparat im Zimmer direkt wählen?“ Die Donaufee schmunzelte. „Sie können, wie das so schön heißt, 'entsprechende Deckung vorausgesetzt', überall hin telefonieren. Wählen Sie einfach die Null und Sie haben eine Freileitung.“ „Danke!“ Helen nahm ihre Handtasche vom Stuhl und beglückwünschte sich, trotz des hastigen Aufbruchs genügend Bargeld eingesteckt zu haben. Dann wa ren da ja auch noch ihre beiden Kreditkarten. Eilig stieg sie die Treppe hinauf. Es drängte sie, nach Felix zu sehen. Hoffentlich war er noch nicht aufgewacht! Sie wollte in diesem Fall bei ihm sein. Leise öffnete sie die Tür zum kleinen Schlaf zimmer. Felix lag ruhig im Bett, den Daumen im Mund. Die Decke hatte er fort gestram pelt und Helen zog sie vorsichtig über den schmalen Körper. Dann strich sie sanft über die verwuschelten Haare. Felix bewegte sich, wurde aber nicht wach. Helen ließ die Türe offen und setze sich ins Wohnzimmer. Sie nahm eine Ziga rette aus ihrem Etui und zündete sie an. Dann begann sie nachzudenken. *** 31
Nachdenklich saß Volker Gersky in seinem Arbeitszimmer in Lautenbach in der Nähe von Trier in dem hübschen Bauernhaus, das er von einem 'Kollegen' ge mietet hatte, der angeblich in Übersee war. Die Geschichte stimmte nur zum Teil. Richtig war, daß er das Haus gemietet hatte, weil die geographische Lage günstig war. Die Grenze nach Luxemburg war nahe, das Haus lag etwas abseits auf eine Hügelkuppe, also keine neugierigen Nachbarn, aber auch wieder nicht so einsam, daß es Verdacht erregen konnte. 'Kollege' mochte stimmen oder nicht. Volker war sich nicht sicher, welche Art von Kollegialität die Männer pflegten, mit denen er seit mehr als einem Jahr zu tun hatte, doch es gab gutes Geld dafür. Verwundert blickte Volker auf die Blutspritzer an der Wand über der niedrigen Truhe. Er stand auf und berührte sie leicht mit den Fingerspitzen. Sie waren be reits eingetrocknet, vier oder fünf kleine Flecken, die man nur bemerkte, wenn man direkt auf diese Stelle sah. Stirnrunzelnd kramte Volker in seinem Gedächt nis. Waren sie schon länger da? Sie schienen frisch zu sein. Allerdings hatte er an diese Stelle der Wand sicher noch nie bewußt hingesehen. Auch war da ein schwarzer Fleck in seinem Gedächtnis. Helen war fort, das hatte er bei seiner Rückkehr von seinem Rendezvous gesehen. Er erinnerte sich auch noch an einen Streit, an Felix erschrocken aufgerissene Augen, an kleine Fäuste, die gegen sein Schienbein trommelten, an Blut? Nein, Blut darf es nicht sein! Etwas Helles, Glänzendes, was war es doch noch? Angst kroch in Volkers Innerem herauf wie eine häßliche Schimäre. Helen, oh Gott, Helen! Was war mit ihr? War sie verletzt? Hatte er sie verletzt? Was mußte sie auch in seinen Papieren stöbern! Er war ausgepflippt. Das war ihm in der letzten Zeit ziemlich oft passiert, öfter als ihm lieb war. Aber noch nie hatte er einen Filmriß gehabt. Gut, er hatte ge stern nach seiner Rückkehr getrunken, ziemlich viel getrunken. Sei ehrlich, sagte er sich, du warst stockbesoffen. Hast massenweise Whisky in dich hinein ge schüttet und danach noch zwei Flaschen Sekt geleert. Champagner! korrigierte er sich, die Erfolgreichen trinken Champagner, ausschließlich Champagner! Das war er doch, ein erfolgreicher Banker, Direktor der Anlagenberatung! Wie stolz war er, als ihm sein Chef die Urkunde in die Hand gedrückt hatte. Damals wußte er noch nicht, daß damit seine Schwierigkeiten beginnen würden. Das schnelle Geld, ja, das war es, er wollte das schnelle Geld, um mitzuhalten. Mit wem ei gentlich? Egal, dabei sein zählte. Das Haus in Freiburg, der neue Wagen, natür lich ein Mercedes, und das Kajütenboot am Bodensee, sein Traum, den er im nächsten Frühjahr verwirklichen wollte. Aber jetzt war Helen weg. Volker stand auf und ging in die Küche. Es war vielleicht besser, wenn er sich nicht erinnerte. Zumindest im Moment noch nicht. Was mußte sie auch seine 32
Papiere lesen! Zorn wallte in ihm hoch. Unschlüssig stand er in der Küche und sah sich stirnrunzelnd um. Hier hatten seine Schwierigkeiten von gestern ihren Ausgang genommen. Volker hatte das Gefühl, daß es jetzt nicht mehr darum ging, ob er sich erinnern wollte. Jetzt überschwemmten ihn Bilder, die machtvoll an die Oberfläche des Gedächtnisses drängten. Etwas Helles, Glänzendes war da, spitz und scharf. Nein! Energisch drängte er die Bilder zurück. Zuerst mußte er etwas trinken. Sein Mund fühlte sich pelzig an und im Kopf spürte er das be kannte Ziehen und Pochen eines ausgewachsenen Katers. Er ging zum Kühl schrank und öffnete die Tür. Ein Schwall kalte Luft strömte ihm entgegen und strich über seine heißes Gesicht. Für ein paar Sekunden schloß Volker die Augen und genoß die Kühle. Dann stöberte er nach etwas Erfrischendem. Aha, da stan den zwei kleine Flaschen Orangensaft. Das war das Richtige. Volker nahm sich eine und ging zur Bestecklade. Wo war nur wieder dieser verdammte Öffner? Konnte Helen auch nie Ordnung halten und die Dinge dorthin legen, wo sie hin gehörten? Plötzlich fiel sein Blick auf das Fleischmesser und augenblicklich kehrte die Er innerung zurück. Klar und scharf stand sie vor seinem Auge. Volker sank auf einen Hocker, umklammerte die Flasche und blickte mit leeren Augen vor sich hin. Das war nicht wahr! Das durfte nicht wahr sein! Wie versteinert saß Volker Gersky auf einem Hocker in der geschmackvoll einge richteten Küche des wunderhübschen Bauernhauses in Lautenbach in der Nähe von Trier nahe der Luxemburger Grenze und wartete. Volker Gersky wartete darauf, daß die Polizei ihn abholte. *** Im kleinen Schlafraum der Suite des 'Donaublicks' saß Helen am Bett ihres Soh nes und hielt seine Hand umklammert. Sie wartete auf die Psychologin, die jeden Moment erscheinen mußte, wenn sie, woran Helen keinen Augenblick zweifelte, pünktlich war. Am Telefon hatte sie sehr kompetent und zielstrebig geklungen, einige Fragen gestellt, was die Symptome und die Dauer betraf, und abschließend ihr Kommen für halb eins angekündigt. Nachdem Helen aufgelegt hatte, dachte sie daran, bei ihrem Bruder anzurufen, mit ihrer Mutter zu sprechen, tröstende Worte zu vernehmen. Aber sie konnte ihnen ja noch nichts Genaues über Felix Zustand berichten. Besser war es, die Ankunft der Psychologin abzuwarten und dann hoffentlich gute Nachrichten weitergeben zu können. Daher hatte sie sich entschlossen, mit dem Anruf nach England zu warten und war zu Felix zurückgekehrt. 33
Im Grunde wußte Helen, daß sie sich davor scheute, ihren Eltern ihre Trennung von Volker mitzuteilen. Sie fürchtete sich nicht vor Vorwürfen, sie war sich si cher, es würde keine geben. Aber nur allzu gut war Helen bewußt, welche Vorbe halte besonders ihr Vater ihrem Mann gegenüber von Anfang an gehegt hatte, den er als 'eingebildeten Lackaffen' bezeichnete. Die Heirat konnte ihn nur unwesent lich in seiner Meinung erschüttern und erst seit Felix auf der Welt war, hatte ihr Vater aufgehört, gegen seinen Schwiegersohn Stellung zu beziehen. Geändert, das wußte Helen, hatte er seine Meinung nicht. Helen war sich sicher, immer und unter allen Umständen die Unterstützung ihrer Eltern zu erhalten, aber zumindest wollte sie die bittere Pille ihrer gescheiterten Ehe mit einer guten Nachricht über Felix Zustand verzuckern. Hoffentlich versteht diese Frau auch ihr Handwerk! dachte Helen, während sie wartete. *** Severin wartete darauf, daß die Donaufee ihr Telefongespräch beendete. Er saß in der gemütlichen Stube, wie er jetzt seit Jahren jeden Tag hier gesessen hatte, ausgenommen die Tage, die er im Ausland verbrachte. Täglich besprachen er und Fee die laufenden Arbeiten, Einkäufe oder Reparaturen, die Severin zu tun haben würde. Severin genoß diese Stunde. Fee gehörte dann ganz ihm und er wurde es nicht müde, ihrer Stimme zu lauschen, ihren raschen Bewegungen zu folgen und sie anzusehen, wenn sie mit fast südländischem Temperament ihm gegenüber saß und die Fassade ablegte, die sie anderen zeigte. In diesen Augenblicken erinnerte sie ihn wieder an die kleine Fritzi seiner Jugend. Severin saß am Tisch, hatte die Hände verschränkt, hielt den Kopf gesenkt und registrierte, wie Fee ihre Stimme hob, so daß er sie mühelos aus der kleinen Ni sche, die als Rezeption diente, hören konnte. „... es ist mir völlig gleichgültig, wie Sie das finden, Herr Bramert. Tatsache ist, daß ich einen Vertrag mit Ihnen habe und darauf bestehe, daß Sie ihn pünktlich und im vollen Umfang erfüllen. Wenn Ihnen das allerdings solche Probleme be reiten sollte... tut es nicht? Oh, gut dann ist ja alles klar. Ich erwarte Ihre Leute also wie vereinbart am 29. morgens... Sie werden pünktlich sein? Das habe ich vorausgesetzt. Es war wie immer ein Vergnügen, mit Ihnen zu telefonieren, Herr Bramert.“ Die Stimme wurde leiser. Severin schmunzelte in sich hinein. Fees Kämpfe mit der Reinigungsfirma hielten nun schon über ein halbes Jahr an und Severin war sich sicher, daß sie das nicht viel länger hinnehmen würde. Die Leute waren nicht immer zuverlässig und besondere Probleme bereiteten die monatlichen General reinigung, bei der der Geschäftsführer versuchte, die vereinbarte Personalzahl zu 34
drücken. Fee jedoch bestand auf der ihr vertraglich zustehenden Anzahl von sechs Personen als, wie sie sagte, 'absolutem Minimum'. „Das lasse ich mir auch nicht nehmen! Hab ich nicht recht, Severin?“ Mit einer ärgerlichen Falte auf der Stirn kam Fee in die Stube zurück. „Jede Reduzierung des Personals geht zu Lasten der Sauberkeit meines Hauses! Ich lasse den 'Donaublick' doch nicht zu einer Spelunke verkommen!“ Severin zog die Augenbrauen hoch. Wer im 'Donaublick' nur ein Stäubchen fin den wollte, würde bis in den Keller gehen müssen und auch da war er sich nicht sicher, daß man etwas finden würde. Von 'verkommen lassen' war nicht die Rede. „Das sehe ich im Prinzip auch so, Frau Di Cosimo. Herr Bramert hat es jedoch nicht leicht, besonders in der heutigen Zeit. Die Leute wollen nicht...“ „Lieber Severin, verschone mich mit deinen Analysen der heutigen Marktwirt schaft. Ich werde Herrn Bramert schon nicht fressen!“ Dabei funkelten Fees Au gen jedoch gefährlich, so daß dieses Versprechen durchaus angezweifelt werden durfte. Severin beschloß, das Thema zu wechseln. „Wie viele bestellte Abendessen ha ben wir heute?“ Aber Fee war noch nicht gewillt, dieses leidige Thema so schnell zu beenden. „Was hältst du davon, wenn ich mir ein Angebot von einer anderen Reinigungs firma schicken lasse?“ Severin war sich klar, daß es in diesem Fall nicht auf seine Meinung ankam. Wie gewohnt benutzte Fee ihren alten Kameraden, Überlegungen anzustellen, indem sie ihm ihre Gedanken mitteilte. Im Augenblick schien es daher wichtiger, sie zu bestätigen und damit das Thema zu beenden. „Wäre keine schlechte Idee! Gibt ja einige Firmen in der Umgebung. Also, was den heutigen Einkauf betrifft!“ „Schon gut, Severin, es ist schon spät und die Geschäfte schließen. Hier ist die Liste. Die Vertreter reisen ab und unser Liebespärchen wird heute abends aus wärts essen, da staunst du, was?“ Severin zog die Augenbrauen hoch und pfiff leise durch die Zähne. „Ist schon erstaunlich, daß die beiden ausgehen wollen. Sind jetzt seit Tagen nicht aus dem Haus gekommen.“ Seine Stimme verlor sich. Severin hatte es sich zur eisernen Regel gemacht, nie seinen Kommentar zu den Gästen des Hauses abzugeben, obwohl ihm nicht viel entging. Fee wußte, was er meinte. „Du hast recht. Irgendwie kommen mir die beiden nicht ganz geheuer vor. Es würde mich nicht wundern, wenn da etwas faul wäre. Glaubst du, es handelt sich um Rauschgift?“ 35
Severin zuckte mit den Achseln. Er kannte die unnachgiebige Haltung seiner Chefin allem gegenüber, was Drogen anbelangte. Sollte sich dieser Verdacht bestätigen, würde Fee umgehend aktiv werden. In diesem Punkt gab es keine Kompromisse. Vorsichtig versuchte er, die Donaufee wieder auf das momentan Wesentliche zurückzubringen Pfeifend fuhr Severin kurze Zeit später in seinem Jaguar nach Sigmaringen. Da bei dachte er über Fee nach, wie er das oft tat. Sie hatten beide einen weiten Weg zusammen zurückgelegt. Severin war als Elfjähriger auf das Weingut von Fees Vater, Paul von Goriz-Gradisca, gekommen. Die kleine Friedhelmine, genannt Fritzi, war damals gerade drei Jahre alt. Was war sie doch für ein süßes Kind mit ihren rotblonden Locken und den blitzenden blauen Augen. Schon deutlich waren aber auch ihr Mut, ihr Eigensinn und ihre Zielstrebigkeit zu erkennen gewesen, und schmunzelnd erinnerte sich Severin, wie sie sich temperamentvoll und ziel gerichtet von einer Schwierigkeit in die andere manövrierte. Keine der Erziehe rinnen wurde mit ihr fertig, bis Johanna kam. Severins Augen verengten sich, als er an Johanna dachte. Bis zu Fritzis zwölftem Lebensjahr waren sie zusammen aufgewachsen. Dann folgte die Zeit, in der Severin unterwegs war und die kurzen Jahre seiner Ehe. Wie immer legte sich ein Schatten über Severins Gesicht, als er an seine Frau und seinen Sohn dachte, mit denen ihm nur eine so knapp bemessene Zeit vergönnt gewesen war. Und wie immer fragte sich Severin, ob er an ihrem Tod Schuld hatte, aber jetzt wollte er seine dunklen Gedanken verscheuchen. Am besten ge lang dies, wenn er sich auf ein anderes Problem konzentrierte. Also dachte er an die junge Frau mit dem kleinen Kind. Schon wieder eine junge Frau mit einem kleinen Sohn! Fort mit diesen Gedanken! Severin beschleunigte, um einen Wagen zu überholen, und stieg dabei kräftig aufs Gas. Zügig fuhr er vorbei und war nun imstande, sich wieder mit der Ge genwart zu befassen. Er sah auf die Uhr. Er würde sich beeilen müssen, um noch vor Geschäftsschluß zum Supermarkt zu kommen. Manchmal schien es ihm, als ob Fee von ihm erwarte, zaubern zu können und solche Bagatellen wie gesetzlich vorgeschriebene Ladenschlußzeiten außer Kraft zu setzen, nur weil sie es für wichtiger hielt, Dinge, die sie beschäftigen, mit ihm zu besprechen. Seit ihrer ersten Begegnung auf Gut Goriz-Gradisca wußte Se verin, Fee zuliebe würde er alles tun und im Notfall würde er eben auch zaubern. Severin gab noch etwas Gas. *** 36
Brigitte Morandell, Diplom-Psychologin und in zweiter Generation in Sigmarin gen ansässig, ohne jedoch dadurch Schäubles Anerkennung als 'echte Schwäbin' zu gewinnen, stemmte sich gegen das Lenkrad und streckte sich durch. Vor einer halben Stunde hatte sie mit einer jungen Frau im 'Donaublick' telefoniert und beschlossen, sich sofort auf den Weg zu machen. Die Dinge klangen nicht beson ders gut, ein fünfjähriger Junge, der keinen Kontakt mehr mit der Umwelt auf nahm, nicht einmal körperlichen Kontakt mit der Mutter, war eine ernste Sache. Bei kleinen Kindern gab es schon mal durch äußere Umstände einen Schock, so daß sie nicht mehr sprachen, aber meistens waren sie dann von den Müttern nicht mehr weg zu kriegen und klammerten sich wie Kletten an die vertraute Person. Plötzlich betätigte sie die Lichthupe und winkte. Das war doch der Severin, der da nach Sigmaringen raste. Wie üblich ziemlich flott unterwegs, der Bursche! Brigitte mochte Severin. Bei ihm hatte sie, ebenso wie bei Fee und dem Doktor, nicht das Gefühl, daß man sie mit Vorsicht behandelte. Es dauerte oft ziemlich lange, bis ihre Bekannten sie als Privatperson akzeptieren konnten und nicht fürchteten, ihr beruflicher Scharfblick würde schnurgerade in ihre tiefsten See lenabgründe blicken. Die Psychologin kehrte mit ihren Gedanken wieder zu der bevorstehenden Auf gabe zurück, während sie die Abzweigung nahm, die sie auf die Anhöhe führen würde, auf der der 'Donaublick' lag, in einer wunderschönen Landschaft mit herr lichem Ausblick auf das Donautal. Sie kannte den Weg gut, die Freundschaft mit Fee und dem Doktor reichte bereits einige Jahre zurück und schon einige Male hatte sie psychologische Beratungen im Hotel durchgeführt. Frau Morandell ar beitete seit mehreren Jahren in einer Gemeinschaftspraxis, die außer ihr noch aus zwei Ärzten bestand. Darüber hinaus hatte sie noch private Patienten und die Betreuung von behinderten Kindern im nahegelegenen Elisabethenheim über nommen, eine Arbeit, die ihr sehr am Herzen lag und für die sie einen Teil ihrer Freizeit opferte. Brigittes langjähriger Freund und Lebensgefährte war Abgeord neter des Landkreises und viel unterwegs. Für beide war es ein lange geübtes und zufriedenstellendes Arrangement, vor allem deswegen, da beide eigene Aufgaben und Herausforderungen brauchten und es nicht anders wollten, auch wenn das Privatleben hin und wieder dabei zu kurz kam. Brigtte bog auf den Parkplatz des 'Donaublicks' ein, schickte noch einen zärtli chen Gedanken an ihren Charly und konzentrierte sich auf die bevorstehende Aufgabe. Als sie ausstieg, fiel ihr der bunte VW-Käfer auf, der auf dem Parkplatz stand. Eigenartiger Geschmack, dachte sie, müssen wohl junge Leute sein. Dann betrat sie den 'Donaublick' und vergaß das Auto. *** 37
Die Donaufee hatte den Frühstücksraum abgedeckt und machte nun der Reini
gungsfrau Platz, die mit Staubsauger und Wischtüchern anrückte. Während sie
die Spülmaschine füllte, dachte sie an die Verletzung am Arm von Frau Gersky.
Wie seltsam hatte sie sich benommen. Außerdem mußte sie am linken Bein oder
an der Hüfte ebenfalls verletzt sein. Das eigenartige Benehmen der jungen Frau
hatte die Donaufee in der Annahme bestätigt, daß die Streiterei mit dem Ehemann
nicht ganz ohne Gewalt abgelaufen war. Sie war froh, daß Brigitte so schnell
einen Termin vereinbaren konnte. Fee war sich nicht sicher, was das Beste für
ihren Gast war. Eine zerbrochene Ehe mit einem kleinen Kind war immer eine
Tragödie. Eine Ehe weiterzuführen, in der Gewalt ausgebrochen war, war noch
schlimmer. Wenn einmal diese Hemmschwelle gefallen war, kam es leicht wieder
zu tätlichen Übergriffen. Eines wußte Fee allerdings, vor den Problemen davon
laufen, war in keinem Fall eine Lösung. Entschlossen drückte sie die Tür der
Spülmaschine zu und richtete sich auf. Sie hatte die Eingangstüre gehört.
„Guten Tag, Brigitte. Bin ich froh, daß du so schnell kommen konntest! Möchtest
du zuerst noch eine Tasse Kaffee oder willst du gleich deinen kleinen Patienten
sehen?“
„Ich gehe lieber zuerst zu ihm. Die Mutter wird schon sehr nervös sein und ich
will sie nicht länger warten lassen. Ich komme dann anschließend zu dir. In wel
chem deiner wunderbaren Zimmer hast du sie denn untergebracht?“
„Sie sind in der Suite.“
Brigitte zog die Augenbrauen nach oben. „Wau! Sie scheinen dir ja sehr am Her
zen zu liegen. Dann mache ich mich mal auf den weiten Weg nach oben!“
„Was meinst du, wie lange wird es dauern?“ rief Fee ihr nach.
Brigitte wandte den Kopf. „Nun, kommt darauf an, aber ein bis zwei Stunden in
jedem Fall, denke ich. Hält der Kaffe so lange warm?“
Fee schnitt eine Grimasse. „Eigentlich wollte ich dir ja einen frischen brühen,
aber wenn du so an meinen hausfraulichen Fähigkeiten zweifelst, werde ich dir
den von gestern aufwärmen!“
Lachend verschwand die Psychologin in Richtung Treppe.
*** Brigitte Morandell öffnete die Tür zur Suite auf das leise 'Herein' von Helen Gersky, die nervös am linken Ärmel ihres Pullovers zupfte. “Guten Tag, Frau
Gersky, ich bin Brigitte Morandell, die Psychologin. Wie geht es Ihnen?“
„Guten Tag, Frau Morandell. Den Umständen entsprechend, könnte man sagen.
Wollen Sie meinen Sohn gleich sehen? Er ist im Schlafzimmer. Vor ein paar
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Minuten hat er noch geschlafen, aber er ist, denke ich, am Aufwachen. Der Dok tor hat ihm etwas zur Beruhigung gegeben.“ „Wissen Sie, was es für ein Medikament war?“ „Es war kein Medikament, sagte er mir, es war irgendwas mit Baldrian. Gestern abend bekam er Tropfen und heute früh noch mal welche. Ich habe nicht so gerne Medikamente, ich meine, pflanzliche Stoffe sind doch besser, nicht?“ Brigitte setzte sich auf die Couch und wartete, bis Helen ihr gegenüber Platz ge nommen hatte. „Wenn sie helfen, ja. Offenbar haben sie das getan. Also lassen wir den kleinen Mann noch ein wenig schlafen. Ich benötige ein paar Informatio nen über das hinaus, was Sie mir bereits am Telefon sagten. Wie sehen nun seine Verhaltensweisen aus, was macht er, was macht er nicht?“ „Er schläft viel. Wenn er wach ist, reagiert er kaum. Gestern hat er abends Ovo maltine getrunken, die mag er gern, aber nichts gegessen. Heute früh trank er ebenfalls etwas, aber ich konnte ihn wieder nicht dazu bewegen, etwas zu essen. Er sieht einen an, aber man merkt, er ist weit weg. Manchmal jedoch habe ich das Gefühl, daß er heraus will, wo immer er drin steckt. Da kommt ein Funke Leben in seine Augen, aber das hält nicht lange an. Mein Gott, ich mache mir solche Vorwürfe! Wenn ich besser aufgepaßt hätte.“ Die Psychologin nahm einen Block aus ihrer umfangreichen Tasche, wühlte nach einem Kuli und schlug die erste Seite auf. Dann sah sie Helen aufmunternd an. „Das beste wird sein, Sie erzählen von Anfang an.“ „Oh also ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.“ „Sie sind gestern hier angekommen. War das geplant?“ „Geplant? Mein Gott, nein, wir hatten einen Unfall, wenige Kilometer von hier, und dabei...“ „Ja? Was geschah bei dem Unfall?“ „Es war neblig. Ich sah einen Schatten und dachte, es wäre ein Reh. Ich bin so erschrocken. Dabei muß ich wohl das Auto verrissen haben und wir drehten uns und schrammten an den Felsen entlang und dann saßen wir im Graben.“ Langsam schien Helen ihre Unsicherheit zu überwinden. „Als erstes sah ich nach Felix. Er saß in seinem Kindersitz, hatte die Augen weit aufgerissen und reagierte so ko misch, als ich ihn ansprach. Er stöhnte nur und ich bekam einen riesigen Schreck, daß er verletzt sein könnte. Es waren zwar keine Anzeichen zu sehen, ich meine Blut oder so was, auch sein Sitz war unversehrt und der Gurt, also eben alles normal. Ich bin auf die Straße gesprungen und da kam glücklicherweise schon ein 39
Auto. Der Doktor Schäuble half mir, Felix aus dem Wagen zu ziehen. Oh, das
habe ich vergessen, ich bin kurz ohnmächtig geworden.“ Helen errötete dabei.
Frau Morandell sah sie verständnisvoll an.
Helen versuchte eine Erklärung. „Ich werde nicht immer so leicht ohnmächtig,
mir ist das bisher nur einmal passiert, nach meiner Blinddarmoperation, weil ich
zu schnell aufgestanden bin. Es war mir auch ein wenig peinlich, aber der Doktor
war sehr nett.“ Helen lächelte in Gedanken daran, wie souverän und rücksichts
voll der Arzt ihre Schwäche übergangen hatte. „Dann hat er uns hierher ge
bracht.“
„Wurden Sie bei dem Unfall verletzt?“
Unbewußt griff Helen an ihren linken Unterarm und zögerte. Dann seufzte sie.
„Es hat wohl keinen Zweck, Ihnen etwas vorzumachen. Nein, ich wurde nicht
verletzt, aber...“ Helen schluckte. Dann holte sie tief Atem. „Ich weiß nicht, ob es
wichtig ist, natürlich ist es wichtig, aber es ist sehr persönlich!“
Als erfahrene Therapeutin schwieg Brigitte.
Helen nestelte am Ärmel ihres Pullovers und biß sich auf die Lippen. Dann er
schien wieder ihre steile Falte zwischen den Augenbrauen und sie blickte Frau
Morandell gerade ins Gesicht. „Gestern hatten mein Mann und ich eine furchtba
re Auseinandersetzung, während der er mich mit dem Messer angriff. Ich bin
gestürzt und habe mich an der Hüfte gestoßen. Dabei muß ich wohl eine Ab
wehrbewegung gemacht haben, so daß er mich am linken Unterarm traf. Aber es
ist nur ein Kratzer und ich bin sicher, daß es ein unglücklicher Zufall war. Gerade
in diesem Moment ist Felix in das Zimmer gekommen und hat geschrien und
versucht, seinen Vater davon abzuhalten, mir etwas anzutun.“ Ihre Stimme ver
sagte.
„Das ist wirklich ein schlimmes Erlebnis, Frau Gersky, und daß sie trotz dieses
schrecklichen Vorfalls ihre Nerven im Zaum halten, finde ich toll.“
Helen lächelte schüchtern.
Ruhig fuhr die Therapeutin fort. „Wäre es nicht das beste, Sie würden mir auch
noch den Rest erzählen?“
„Ja, das Schlimmste habe ich ja schon hinter mir.“ Sie schilderte den Anlaß des
Streites und fuhr dann fort: „Als ich den Brief las, muß ich einen Schrei ausge
stoßen haben, so daß Volker mich gehört hat. Er kam aus der Küche, in der rech
ten Hand hielt er ein Messer. Dann sah er mich da stehen mit dem Brief in der
Hand und wurde kalkweiß. Zuerst schien er sprachlos, dann brüllte er mich an.
Ich schrie zurück. Plötzlich stürzte er sich auf mich und ich fiel über die kleine
Truhe.“ Abrupt hielt Helen inne und runzelte die Stirn. „Jetzt fällt mir ein, er
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schien überhaupt nicht schuldbewußt. Wütend, zornig, außer sich, ja, das schon.
Ich kenne seine schuldbewußte Miene. Eigenartig. Er hätte jeden Grund dazu! Ich
kann nicht glauben, daß er so abgebrüht ist!“
„Das könnte wichtig sein, Frau Gersky, sind Sie sich da ganz sicher?“
„Ja, hundertprozentig. Ich erwartete ja, daß er sich entschuldigte oder zumindest
eine fadenscheinige Erklärung finden würde. Aber er schrie nur, ich hätte seine
Papiere in Ruhe zu lassen. Das habe ich auch immer getan, und wenn Felix nicht
den Aktenkoffer hinunter gestoßen hätte und alles rausgefallen wäre, hätte ich
auch nie in seine Tasche gesehen. Bis jetzt hatte ich auch keinen Grund, habe ich
zumindest geglaubt.“ Helens Kränkung war unübersehbar.
Vorsichtig fragte die Therapeutin: „Haben Sie sich überlegt, ob der Brief viel
leicht etwas anderes bedeuten könnte?“
„Etwas anderes? Ja, um Himmels willen, eindeutiger kann man doch nicht mehr
schreiben, oder? 'Am üblichen Ort..., tausend Küsse, deine Valerie!' Pah, was für
ein Name auch noch! Was sollte er denn anderes bedeuten?“
„Das weiß ich auch nicht. Ich dachte nur, wenn Ihr Mann nicht so reagiert, wie
man es annehmen müßte, gibt es vielleicht eine andere Erklärung. Wie lange sind
Sie schon verheiratet?“
„Sieben Jahre.“
„In sieben Jahren lernt man einen Menschen doch kennen, daher ist es vielleicht
nicht so, wie es scheint. Man sollte immer mehrere Möglichkeiten ins Auge fas
sen. Aber egal, wir können das hier im Augenblick sowieso nicht klären. Was tat
der Junge?“
„Er schrie, 'Papa, Papa' und trommelte gegen Volkers Beine. Ich habe ihn hoch
gehoben und hinaus gebracht. Ich war so wütend und erschrocken, daß der Kleine
mit ansehen mußte, wie sein Vater auf seine Mutter losging, daß ich meine Ver
letzungen überhaupt nicht zur Kenntnis nahm. Dann versuchte ich, Felix zu beru
higen und mit der Zeit schien mir das auch zu gelingen. Er hat geweint und im
mer wieder gefragt, ob sein Papa nun böse ist, und daß er schuld an allem ist.
Aber endlich hat er aufgehört zu schluchzen und ich habe ihm gesagt, daß sein
Papa sehr angespannt ist und er nie und nimmer der Mama etwas antun wollte. Er
bräuchte jedoch jetzt etwas Zeit und wir würden inzwischen zu Oma und Opa
fahren, damit der Papa Ruhe hat und sich erholen könne. Da hat er sich gefreut.
Dann habe ich gepackt und, ja, nun bin ich hier.“
„Das war sehr geschickt von ihnen, Frau Gersky, und das einzig Richtige, was
Sie in diesem Augenblick tun konnten. Ich denke, daß der Schock des Autoun
falls, so kurz darauf, dann bei Felix diese Blockade ausgelöst hat. Das wichtigste
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wird nun sein, daß Sie ihm Ruhe und Geborgenheit vermitteln, und daß er bald möglichst in eine Umgebung kommt, mit der er vertraut ist.“ „Ja, das ist mir klar. Aber da gibt es noch ein Problem. Meine Eltern sind im Moment in England bei meinem Bruder und ich kann nicht ins Haus. Vor weni gen Monaten wurde zweimal eingebrochen und mein Vater hat alle Schlösser ausgewechselt. Aber ich werde heute noch anrufen und sicher kommen sie bis Montag zurück, wenn sie erfahren, was geschehen ist. Bis Montag muß ich auch wegen meines Wagens warten. Ich möchte jetzt unter keinen Umständen zu mei nem Mann zurück.“ „Das kann ich gut verstehen. Bis Montag ist auch nichts dagegen einzuwenden, daß Sie hier bleiben. Wir werden die Zeit nützen und vielleicht gelingt uns auch schon ein erster Durchbruch bei Ihrem kleinen Sohn. Können wir jetzt zu ihm?“ Brigitte Morandell sah auf die Uhr, es war kurz vor zwei. Helen stand auf und führte die Therapeutin in das kleine Zimmer, wo Felix noch immer schlief, den Daumen im Mund. *** Volker Gersky setzte sich mit einem Ruck gerade. Dabei wäre ihm beinahe die Orangenflasche aus der Hand gerutscht. Abwesend nahm er einen Schluck. Er sah auf die Uhr über der Spüle – fast zwei Uhr. Mehr als eine Stunde hatte er re gungslos auf dem Hocker in der Küche gesessen und was getan? Gewartet? Um Himmels willen, worauf? Auf die Polizei? Was für ein ausgemachter Blödsinn! Er stand auf und streckte sich. Es erschien ihm nun völlig idiotisch, wie ein hyp notisiertes Kaninchen auf die Schlange zu warten. Auch konnte er nicht mehr nachvollziehen, warum er so sicher war, daß seine Frau die Polizei verständigt hatte, um Anzeige gegen ihn wegen Körperverletzung zu erstatten. Vor mehr als einer Stunden war dieser Gedanke völlig logisch und vernünftig gewesen, jetzt aber fand er ihn überzogen und nahezu hysterisch. Gott, er würde sich doch nicht wie ein Weib von Gefühlen – Schuldgefühlen? – leiten lassen, niemals! Junge aufstrebende Karrieremenschen hatten keine Ge fühle! Sie waren knallharte Geschäftsleute mit Durchblick! Ein Krach unter Eheleuten kam in den besten Familien vor, und sicherlich hatte er Helen nicht arg verletzt, sonst wäre mehr Blut da gewesen. Wahrscheinlich nur ein Kratzer. Na türlich, das war es. Und natürlich völlig unbeabsichtigt! Wie konnte er nur an nehmen, daß seine zwar etwas weltfremde, aber ansonsten ziemlich vernünftige Frau deswegen gleich zur Polizei rennen würde? Volker sah sich um. Seine Mission war erledigt, er würde packen und heute noch nach Stegen zurückkehren. Es war Samstag mittag und nicht allzuviel Verkehr. 42
Ach ja, Helen hatte ja das Auto. Seinen neuen Mercedes! Hoffentlich ruinierte sie ihn nicht. Frauen am Steuer, man kannte das ja! Na, dann fuhr er eben mit dem Zug. Mit etwas Glück war er bis fünf Uhr Zuhause. Mit etwas Glück waren Felix, sein Junge, und Helen ebenfalls Zuhause. Dann konnte man in Ruhe über alles reden. Er würde ihr zwar nichts gestehen, das ging einfach nicht. Aber Volker war überzeugt, er würde seine Frau wieder versöhnen können. Schlimmstenfalls mußte er am Montag zu seinem Freund Axel, dem Juwelier. Gab es da nicht diese entzückende Brosche, die Helen vor einigen Wochen so bewundert hatte? Ein schönes Stück, ein teures Stück. Mit diesen edlen Gedanken stieg Volker Gersky in den ersten Stock und ging ins Schlafzimmer. Hier lagen noch Kleider von Helen auf dem Bett. Kurz wallte wieder Ärger in ihm hoch. Die Unordentlichkeit seiner Frau trieb ihn öfters zur Weißglut. Schnell unterdrückte er seinen Zorn. Er wollte sich nicht über Helen ärgern, er wollte sich mit ihr versöhnen! Volker straffte seine Schultern und besah sich im großen Spiegel am Kleider schrank. Er trat näher und strich sich über sein Kinn. Hatte er heute tatsächlich vergessen, sich zu rasieren? Das war sehr ungewöhnlich, das war bedenklich, um nicht zu sagen unverzeihlich! Auf ein gepflegtes Äußeres hatten Bankleute immer und in jeder Situation zu achten! Er trat einen Schritt zurück. Bis auf den dunklen Stoppelbart gefiel ihm, was er sah: die dunklen, dichten, kaum gelockten Haare, vielleicht eine Idee zu lang? Nächste Woche also zum Friseur. Die breiten Schultern, die schmalen Hüften. Volker drehte sich auf die Seite und überprüfte seine Haltung. Nichts auszuset zen! Stramm und gerade. In Ordnung! Pfeifend holte er sich frische Wäsche, ein frisches Hemd und Socken aus dem Schrank und ging ins Bad. Als er den Rasierer in die Hand nahm, kam ihm wie der das Messer in den Sinn. Wieder verstand er nicht, wie er so in Panik geraten konnte. Wahrscheinlich hatte er Helen überhaupt nicht verletzt! – Und das Blut? – Eine zaghafte Stimme, ganz leise aus dem Hinterkopf. Ach was, wahrscheinlich waren die Spritzer schon seit Monaten dort, bevor sie eingezogen waren, alte Flecken! – Warum siehst du sie dann erst heute? – Die dünne Stimme ließ nicht locker. Weil ich eben erst heute bewußt dorthin gesehen habe! Still jetzt! – Die Flecken schienen frisch, oder nicht? – Mein Gott, ja, sie sahen ziemlich frisch aus! Aber was verstand er schon von Blutflecken? War er Arzt? Mußte er sich auskennen? Nein, natürlich nicht. Er war ein – was war das doch gleich? Ein 'äußerst ambitionierter, tüchtiger Mitarbeiter, der die Karriereleiter emporklettern würde und bereits die ersten Stufen erklommen hatte, nur weiter so!', die Worte seines Chefs. Das war er. Und nun basta! – Aber wenn du nun doch? – So fein 43
das Stimmchen war, so zäh war es auch. Gab es denn nie Ruhe? Herrgottnoch mal, wenn es Helens Blut ist, dann hat sie sich beim Fallen verletzt. – Und war um ist sie gestürzt? – Jeder kann mal stolpern, und nun aus, Schluß! Ende der Debatte! Au, verflucht, jetzt hatte er sich geschnitten! Da, das hier, das war Blut, echtes, rotes, frisches Blut, das in das Waschbecken tropfte. Warum konntest du auch nicht still sein! herrschte er die feine Stimme aus seinem Hinterkopf an. Du ver dammtes Miststück, immer mußt du mir Vorhaltungen machen! Volker verfluchte die kleine Stimme in seinem Kopf und wußte dabei nicht genau, ob er seine Mutter oder seine Frau damit meinte. Er bemerkte nicht, daß die Stimme schon längst verstummt war. Mit ungeduldigen Bewegungen suchte Volker im Spiegel schrank nach seinem Alaunstift und strich sich die brennende Substanz auf den kleinen Schnitt. Für einen Augenblick zuckte er zusammen, es tat höllisch weh. Man war ja nicht wehleidig, weiß Gott nicht, aber verdammt – es schmerzte. Volker biß die Zähne zusammen. Gut, das Bluten hatte aufgehört. Man würde den kleinen Schnitt kaum sehen. Helen würde zurückkommen, mit Felix, seinem Sohn. Die Geschäfte würden weiter laufen und seine Karriere unaufhaltsam nach oben führen. Alles war bestens. Warum, zum Teufel, fühlte er sich dann so elend? *** Kurz nach drei stellte Dr.Herrmann Schäuble den Staubsauger in die Abstell kammer und drückte mit einem erleichterten Seufzer die Türe zu. Das war erle digt! Normalerweise kam zweimal wöchentlich eine Frau aus der Nachbarschaft, die auch täglich seine Ordination reinigte. Aber sie hatte sich vierzehn Tage Ur laub genommen, um zu ihrer Tochter zu fahren, die ihr erstes Kind bekommen hatte. Für die Praxis hatte Dr.Schäuble eine Aushilfe für solche Fälle. In seinen privaten Räumen, die sich oberhalb der Praxis befanden, wollte er jedoch keine fremden Leute dulden. Frau Marx, die 'Reinigungsfachkraft', wie er sie scherzend nannte, war absolut vertrauenswürdig und verschwiegen. Als Junggeselle war Schäuble immer in Gefahr, zum interessanten Tratschobjekt des Ortes zu werden. Sein Junggesellendasein hatte am Beginn seiner Laufbahn in Beuron zu unschönen Gerüchten über seine sexuelle Orientierung geführt, aber Herrmann Schäuble nahm diese nicht zur Kenntnis, sie waren ihm gleichgültig, und mit der Zeit verstummten sie auch wieder. Aber immer noch machten sich Mütter und Töchter der näheren und weiteren Umgebung vergebliche Hoffnun gen auf eine weitere Existenz als Arztgattin. Hin und wieder munkelte man auch 44
über eine Liebschaft mit der Besitzerin des Hotels 'Donaublick', aber auch hier
waren zu jedermanns Leidwesen keine konkreten Dinge bekannt geworden.
Unschlüssig überlegte der Doktor, ob er sich eine Tasse Kaffee machen sollte.
Dann beschloß er, diese lieber in angenehmer Gesellschaft zu konsumieren und
sich gleichzeitig über den Stand der Dinge bei dem kleinen Gersky zu erkundi
gen. Die Therapeutin würde sicher schon wieder gegangen sein. Er schloß die
Garage auf und fauchend und spuckend erwachte der alte Ford zum Leben.
Als Dr.Schäuble im 'Donaublick' ankam, fiel ihm auf, daß das psychodelisch an
gemalte Auto nicht mehr auf dem Parkplatz stand. Als er die Eingangstür öffnete,
steckte Fee den Kopf aus der Rezeption. „Schön, Herrmann, daß du kommst. Leg
deinen Mantel ab und komm mit mir in die Stube.“
Schäuble beeilte sich, denn Fee war bereits vorausgegangen und redete weiter, so
daß er Mühe hatte, sie zu verstehen.
„...dauert so lange und ich weiß nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zei
chen ist, was meinst du?“
„Wer ist wo warum so lange?“
„Ich sagte doch gerade“ artikulierte Fee besonders deutlich und langsam, „daß
Brigitte nun schon seit fast drei Stunden bei Frau Gersky und ihrem Sohn ist!
Hast du mich nun verstanden?“
„Meine liebe Fee, natürlich habe ich dich nun verstanden und du mußt auch nicht
mit mir wie mit einem Schwerhörigen reden. Wenn du aber so vor dich hin mur
melst, brauche ich, um mitzubekommen, was du sagst, ein Hörrohr. Ist das denn
ungewöhnlich lange?“
„Ungewöhnlich vielleicht nicht, aber seltsam.“
„Also, was jetzt?“
„Meine Güte, du bist aber heute schwer von Begriff!“
Dr.Schäuble beschloß geduldig, nicht darauf einzugehen. Fees Gedankensprünge
war er mittlerweile gewohnt. Er war gespannt, was Fee beunruhigen mochte.
„Also, ich nehme an,“ Fees Artikulation ließ immer noch an eine Unterhaltung
mit einem geistig Minderbemittelten denken, aber Schäuble ließ auch das durch
gehen, „daß Brigitte sich zuerst mit Frau Gersky unterhalten hat, um Näheres
über die Hintergründe zu erfahren...“
„...die du ebenfalls gerne wüßtest!“
„Unterbrich mich nicht! Natürlich möchte ich die Hintergründe erfahren, warum
auch nicht? Mich interessieren Menschen und ihre Schicksale und das weißt du
auch. Das hat nichts mit Sensationsgier zu tun. Ich kümmere mich – das ist so
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meine Aufgabe im Leben, mich zu kümmern. Aber soll ich dir nun meine Überle gungen mitteilen oder willst du in eine tiefere Analyse meiner charakterlichen Spezifikationen einsteigen?“ „Du klingst etwas spitz, meine Gute.“ „Nenn mich nicht deine Gute, Herr Doktor, du weißt, das kann ich auf den Tod nicht ausstehen!“ Streng sah sie ihn an und Schäuble verzog sein Gesicht in schuldbewußte Falten. Besänftigt fuhr sie fort. „Also, wenn Brigitte gleich zu rückgekommen wäre, so nach einer halben Stunde etwa, wäre das ein ganz schlechtes Zeichen gewesen. Wahrscheinlich hätte der Kleine dann ins Kranken haus müssen, denn Brigitte hätte nichts für ihn tun können. Ich war also sehr froh, als sie nicht gleich wiederkam. Jetzt aber weiß ich nicht. Was meinst du denn?“ „Ich kenne mich nicht so mit Seelenklempnerei aus, das weißt du doch. Ich bin mehr fürs Grobe zuständig, Beinbrüche oder Magengeschwüre. Apropos Magen geschwür, hoffentlich bekommst du keines. Die Gefahr besteht, weißt du, wenn man sich zu sehr hineinsteigert.“ Er zwinkerte ihr zu. Fee warf in gespielter Verzweiflung ihre Hände nach oben. „Herrmann, mit dir ist heute nicht ernsthaft zu reden! Ich werde dich jetzt mit meiner Großzügigkeit überwältigen und dir einen Kaffee machen und dann schaue ich mal, wo der Se verin steckt. Der müßte doch schon längst wieder hier sein.“ In diesem Moment klappte die Eingangstür und wenige Augenblicke später stand Severin in der Stube. Schäuble faszinierte die Präzision seiner Auftritte auf das Stichwort von Fee immer wieder. Woher hat er das? Langjährige Beziehung? Telepathie? Intuition? fragte er sich. Dabei entging ihm völlig das Gespräch zwi schen den beiden und schon waren sie aus der Tür. „Jetzt kann ich mir meinen Kaffee wohl selber machen!“ knurrte Schäuble vor sich hin, „dazu hätte ich aber nicht herfahren müssen. Das wäre Zuhause einfa cher gewesen!“ *** Felix träumte... Er spürte, wie etwas an ihm zerrte. Er wehrte sich. Gerade war er in einem tollen Traum. Sie waren beide da, seine besten Freunde, Kevin und Manuel, und spiel ten mit ihm an dem kleinen Teich in der Nähe des Spielplatzes. Man durfte dort eigentlich nicht spielen, aber im Traum war das etwas anderes. Schwupps, schon waren sie im Wasser. Auch das war ganz, ganz streng verboten... aber schön! Im Traum ist es schön, ungehorsam zu sein, denn da passiert nie etwas... oder fast nie! Felix träumte... 46
Sie hatten ein neues, schönes Spiel erfunden. Sie waren Taucher und stießen im
mer weiter in die Tiefe vor. Der kleine Teich schien unermeßlich groß und tief.
Es war schön, hinunter zu sinken, Felix voran, Manuel dicht hinter ihm, so daß er
ihn immer wieder mit den Füßen anstieß, und Kevin zu seiner Linken. Eben jetzt
deutete dieser aufgeregt nach unten. Felix strengte sich an, etwas zu sehen. Es
war ziemlich dunkel, aber erstaunlicherweise fürchtete er sich kein bißchen. Er
nahm etwas Großes wahr, konnte jedoch nicht genau erkennen, was es war.
In diesem Moment merkte er, daß etwas ihn wieder nach oben ziehen wollte.
Felix wehrte sich und stieß noch ein Stück weiter nach unten. Erst wollte er wis
sen, was dieses dunkle Etwas vor ihm war. Nun hatte Kevin bereits einen Vor
sprung und auch Manuel hatte ihn überholt. Rasch drängte er sich durch die bei
den durch und übernahm wieder die Führung. Das dunkle Etwas kam näher.
Felix erkannte, daß es der Eingang zu einer Höhle war. Aufgeregt drehte er sich
um. Die Freunde unterhielten sich. Es war lustig, im Wasser reden zu können.
Große bunte Luftblasen stiegen aus den Mündern von Manuel und Kevin, als sie
ihn fragten, was denn nun zu tun sei? Felix mußte lachen und schlug die Hände
vor Freude zusammen.
Felix träumte...
Plötzlich zerrte es wieder an ihm. Was war das nur? Irgendwie hatte Felix das
Gefühl, daß es wichtig sein könnte. Mami? Wo war seine Mami? Unschlüssig
hielt Felix inne. Was war zu tun?
Kevin und Manuel drängten ihn, in die Höhle zu schwimmen. Kevin hielt ihn an
der Hand und redete auf ihn ein. Dabei kamen immer mehr bunte Luftblasen aus
seinem Mund. Manuel hatte sich schon abgewandt und schwamm auf den Höh
leneingang zu. Unschlüssig sah Felix ihm nach.
Wenn er nur jemanden fragen könnte. Wenn er doch Mami fragen könnte. Wo
war sie nur? Da war doch irgend etwas Wichtiges, er mußte ja, jetzt gleich bekam
er es zu fassen, er mußte seine Mami... Endlich. Felix seufzte erleichtert auf. Jetzt
war alles klar, jetzt war alles einfach. Er wußte, was er zu tun hatte. Ich muß mei
ne Mami beschützen!
Er drehte sich um und machte sich auf den langen Weg nach oben.
*** Brigitte Morandell saß auf dem Teppichboden im Wohnzimmer der Suite, Felix gegenüber und sammelte ihre Spielsachen ein. Sie hatte einen Vorrat an Dingen, von denen sie wußte, daß Kinder in Felix Alter sie mochten. Einen bunten Holz zug, einen kleinen blauen und einen großen roten Ball, eine grüne Schildkröte mit rotem Hals, Bauklötze und eine Spieluhr, die eine sanft klingende Melodie spiel 47
te. Die Therapeutin packte alles in ihre große Tasche. Dabei sagte sie zu Helen, die hilflos auf dem Sofa saß und an ihrem linken Ärmel zupfte: „Ich bin mit mei nem Latein ziemlich am Ende. Felix reagiert auf nichts, was ich ihm bis jetzt angeboten habe. Einmal hatte ich kurz das Gefühl, er würde aus sich herauskom men, aber dann war es wieder vorbei. Im Moment kann ich nichts mehr tun. Au genblick, da fällt mir etwas ein.“ „Ja?“ Helen war hoffnungsvoll aufgesprungen. Sie hatte ebenfalls bemerkt, wie fruchtlos die Bemühungen der Therapeutin gewesen waren. Helen war beinahe am Verzweifeln. Sie sah ihren Sohn schon in der Psychiatrie, vollgepumpt mit Spritzen und Beruhigungsmitteln, in einem Gitterbett, das auch oben geschlossen war. Vor Jahren hatte Helen einmal einen Beitrag im Fernsehen gesehen, in dem man eine psychiatrische Einrichtung in der ehemaligen DDR gezeigt hatte. Dieses Bild hatte sie nie vergessen. Sollte jetzt doch noch Hoffnung bestehen? „Ja, was kann ich noch tun?“ fragte sie deshalb eifrig. Die Psychologin stand auf. „Hat Felix ein Lieblingsspielzeug?“ „Oh, natürlich, mehrere, er spielt am liebsten mit seinem großen Lastwagen, aber der ist Zuhause, oder mit dem Baukasten, aber auch den habe ich nicht mitge nommen. Er ist so unförmig zum Transportieren.“ „Benützt er etwas zum Einschlafen? Eine Kuscheldecke vielleicht?“ „Nein, eine Kuscheldecke hat er nicht, er schläft immer mit seinem Teddy ein. Sein TEDDY! Der ist hier! Gottseidank, den habe ich mitgebracht!“ Mit diesen Worten eilte Helen in das kleine Schlafzimmer und kehrte im Nu wieder zurück, in der Hand den Teddy, den Severin gestern nacht aus dem Unfallauto mitge bracht hatte. Sie streckte das wuschelige Ding der Therapeutin entgegen. Brigitte Morandell ergriff ihn und setzte sich wieder Felix gegenüber auf den Boden. „Hör mir mal gut zu, Felix! Felix, deine Mami ist hier und weißt du, wer noch da ist? Schau, schau her, Felix. Da ist dein Teddy. Erkennst du ihn? Komm, faß ihn an, Felix, fühle mal, wie weich dein Teddy ist, hm, ganz, ganz weich, Felix hörst du mich?“ Felix saß da, wie er die letzten eineinhalb Stunden dagesessen hatte, mit über kreuzten Beinen, geradem Rücken und den Daumen im Mund. Resigniert wandte die Therapeutin sich ab. Plötzlich stutzte sie und drehte sich wieder Felix zu. Abwartend hielt sie den Teddy in der ausgestreckten Hand. Sie hatte eine Verän derung bemerkt, eine kleine Veränderung des Blickes. Er schien nicht mehr so weit weg. Ganz still wartete Frau Morandell und legte den Zeigefinger an die Lippen, um auch Frau Gersky zu signalisieren, still zu sein, um das, was immer auch in Gang gekommen war, nicht zu unterbrechen, Felix nicht zu erschrecken 48
und wieder zum Rückzug zu treiben. Ganz sanft wiegte sie den Teddy in der aus gestreckten Hand. Die Sekunden verrannen. Gespannt warteten beide Frauen, Frau Morandell bereit, jede noch so geringe Geste aufzugreifen und zu verstär ken, um Felix wieder in die Wirklichkeit zu bringen. Helen ängstlich und gleich zeitig hoffnungsvoll. Felix Rückkehr von dem Ort, an dem er so lange verweilt hatte, vollzog sich quälend langsam aus der Sicht der beiden Frauen, in Wirklichkeit vergingen nur wenige Sekunden. Zuerst richtete er seinen Blick zögernd auf seinen Teddy, dann wurden seine Augen größer. Wie in Zeitlupe nahm er den Daumen aus dem Mund. Plötzlich griff er zu, zog das Plüschtier heftig an sich, umarmte es und drückte es an sich. Fast gleichzeitig wandte er den Kopf, suchte nach seiner Mutter. Aber Helen war schon aufgesprungen, auf ihn zugeeilt und hatte ihn hochgehoben. Felix ließ seinen Teddy los, umschlang seine Mami mit beiden Ärmchen und vergrub seinen Kopf an ihrer Schulter. Dabei flüsterte er, immer lauter werdend: „Mami, Mami, Mami!“ Helen schluchzte. Die Tränen liefen über ihre Wangen und immerzu streichelte sie Felix und hielt ihn an sich gepreßt. Flüsternde Worte sprudelten in seinen Wuschelkopf, die niemand verstehen konnte und doch jeder verstand. Frau Morandell erhob sich lächelnd und stand abwartend daneben. Es würde noch eine Weile dauern, bis Felix den Schock verdaut haben würde, aber jetzt schien das Eis gebrochen. Sie nahm ihre Tasche hoch und sagte: „Ich lasse Sie jetzt mit Ihrem Kleinen allein. Ich bin noch für etwa eine halbe Stunde hier. Wir sollten uns noch über ein paar Dinge unterhalten. Wenn Sie möchten, kommen Sie dann einfach zu Fee in die Stube.“ Sie wußte nicht, wieviel Helen Gersky davon aufgenommen hatte, aber diese nickte. Brigitte schloß leise die Tür zur Suite. *** Dr.Schäuble saß trübselig in der gemütlichen Stube an dem großen Ecktisch und starrte in seine Tasse, als mit Schwung die Türe aufgerissen wurde. „Aber, Herr mann, was ist denn mit dir los? Du siehst aus wie ein Hund, dem man gerade den Knochen geklaut hat!“ Schäuble, der hoffungsvoll nach Fee ausgeschaut hatte, mußte lachen. „Nein, Brigitte, so schlimm ist es nicht. Aber deinem Seelentiefblick entgeht so schnell nichts. Ich bin hergekommen, um Fee zu sehen und mit ihr eine gemütliche Tasse Kaffee zu trinken, aber sie ist wie ein Wirbelwind davongeschossen, Severin im 49
Schlepptau.“ Betrübt blickte er zur Tür, als wären die letzten Spuren des Wirbel
windes dort noch zu erkennen.
Sanft erwiderte Brigitte: „Aber doch nicht nur! Ich bin sicher, du wolltest dich
nach deinem kleinen Patienten erkundigen!“
„Äh, selbstverständlich, klar, das war ja der Hauptgrund, fällt mir ein!“ Schäuble
schien ein wenig verlegen.
„Wußte ich es doch!“
„Hast du etwas erreicht?“ Interessiert beugte er sich vor, nunmehr ganz Arzt und
nicht mehr sehnsuchtsvoll Anbetender. Brigitte war er lieber so. „Stell dir vor,
ich habe einen Durchbruch geschafft! Der autistische Rückzug ist zumindest so
weit unterbrochen, daß Felix nun an seiner Mutter hängt und wahrscheinlich die
nächste Zeit nicht mehr alleine gehen oder stehen kann. Aber dieser regressive
Rückschritt ist erforderlich, wenn er aus diesem Trauma unbeschadet heraus
kommen soll.“
„Könntest du vielleicht etwas verständlicher reden? Ihr Psychologen immer mit
euren Fachausdrücken!“
Brigitte lachte schallend. „Das muß ich mir merken, mit Datum und Uhrzeit,
mein lieber Herrmann. Niemand wird mir glauben, wenn ich erzähle, ein Arzt hat
mich gebeten, verständlicher zu sprechen! Da kannst du mal sehen, wie es deinen
Patienten ergeht.“
„Gut, gut, ich sehe, es erheitert dich, das ist wunderbar. Gerne sehe ich lachende
Gesichter um mich. Verständlicher bist du deswegen jedoch noch nicht, meine
Liebe.“
„Also gut, mein Lieber. Dann werde ich dir das mal in ganz einfachen Worten
erklären.“
„Er ist heute etwas schwer von Begriff, Brigitte, sprich langsam und deutlich!
Vielleicht hat er ja was an den Ohren? Wir sollten ihn zum Arzt schicken.“ Fee
war eingetreten. Sie blinzelte Brigitte zu.
„Ach so, dann liegt es gar nicht an mir, daß Herrmann mich nicht versteht! Er hat
ein generelles Verständnisproblem. Das wußte ich nicht. Bei mir tat er so, als
würde ich ihn mit meinen 'Fachausdrücken' überfordern.“ Der Ball flog geschickt
zwischen den beiden Frauen hin und her.
„Nein, ganz sicher liegt es nicht an dir, ich habe auch schon festgestellt.“
Herrmann klopfte mit dem Löffel an seine Kaffeetasse. Er sprach gemessen: „Als
einfältiger und zudem uninformierter, aber am Geschehen brennend interessierter
Teilnehmer richte ich hiermit die dringende Bitte an die hier Versammelten...“
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„Schon gut, Herrmann.“ Brigitte war mitfühlend. „Felix hat wieder Kontakt auf
genommen, er hat seine Mutter erkannt, hängt an ihrem Hals und spricht wieder.
Er sagte zwar nur immerzu 'Mami, Mami', aber es ist ein erster Schritt. Ich glaube
nicht, daß er wieder in seinen autistischen Zustand zurückfällt.“
„Wunderbar!“ Zufrieden lehnte Dr.Schäuble sich zurück. „Das sind ganz großar
tige Nachrichten! Ich hätte ihn sehr ungern in ein Krankenhaus eingewiesen. Das
ist schön! Brigitte, das hast du gut gemacht!“
„Danke, Herrmann, ich hatte Glück.“
Fee trat zu Brigitte und nahm sie in den Arm. „Ich freue mich, daß du Erfolg
hattest. Komm, setzen wir uns zu Herrmann. Er scheint seine Phase des 'Schwer
von-Begriff-seins' überwunden zu haben. Magst du einen Schluck Kaffee?“
Zufrieden saßen die drei am Tisch und tranken Kaffee. Brigitte ergriff wieder das
Wort. „Da fällt mir ein, Herrmann, Frau Gersky hat einen bösen Schnitt am lin
ken Unterarm. Das habe ich bemerkt, als sie Felix hochgehoben hat. Er sieht
schon sehr entzündet aus. Hat sie dir nichts gesagt?“
„Nein, weder gestern abend noch heute früh. Fee hat mir davon berichtet. Ich
werde nach ihr sehen.“ Er wollte aufstehen.
Brigitte hielt ihn zurück. „Ich denke, sie kommt sowieso bald herunter. Laß sie
noch ein wenig mit Felix allein.“
„Gut.“ Schäuble nickte.
„Damit bekommt dein Besuch jetzt auch den nötigen medizinischen Anstrich.“
stichelte sie.
„Fängst du auch schon damit an! Es reicht mir, wenn Fee dauernd lästert.“
Beide Frauen lächelten sich zu. Fee legte begütigend ihre Hand auf Schäubles
Unterarm und sagte: „Herrmann weiß, daß er hier immer willkommen ist.“
„Deine Art es zu zeigen, ist nur manchmal etwas anstrengend, liebe Fee. Ich
mußte mir meinen Kaffee alleine kochen!“
„Ach du liebe Güte! Das habe ich glatt verschwitzt! Entschuldige, Herrmann!
Zuerst wollte Severin etwas von mir, dann mußte ich die heiligen drei Könige
abrechnen!“
„Wen beherbergst du in deiner kargen Klause?“
Fee lachte. „Die drei Vertreter, die immer wieder bei mir übernachten, nenne ich
die heiligen drei Könige, Kaspar, Melchior und Balthasar. Die sind abgereist.
Balthasar hat wie üblich die Rechnung von vorn bis hinten überprüft und auch
das Datum nachgesehen. Jetzt sind sie schon seit über drei Jahren bei mir und
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immer noch dieses Mißtrauen! Wenn ich etwas weniger selbstsicher wäre, könnte
ich glatt gekränkt sein!“
„Vielleicht ist er auch ein wenig zwanghaft!“ Brigitte fühlte sich gefordert, the
rapeutisch zu interpretieren.
„Wie auch immer. Es macht mir nichts aus und er ist zufrieden.“
*** Helen saß im Auto. Doch diesmal saß sie auf dem Rücksitz und hielt Felix auf dem Schoß. Müde lehnte sie sich in die weichen Ledersitze des alten Jaguar und blickte in die vorbei fliegende Landschaft. Severin fuhr schnell und sicher. Sie waren auf dem Weg nach Sigmaringen. Helen dachte an die letzten Stunden zu rück. Sie war nach einiger Zeit, die sie auch selbst gebraucht hatte, um sich zu fassen, und die sie Felix lassen wollte, um seine Mama zu spüren, mit ihm auf dem Arm nach unten gegangen. Voll Freude hatte sie den drei Anwesenden er zählt, daß Felix wieder ansprechbar sei. Zwar habe er außer 'Mami' noch nichts
gesprochen, aber sie fühle, ihr Sohn sei wieder bei ihr.
Dann hatte der Arzt darauf bestanden, ihre Verletzung am Unterarm anzusehen.
Er hatte die Stirne gerunzelt und erklärt, er würde ihr eine Tetanusspritze geben.
Das war etwas schwierig mit Felix auf dem Schoß, der den Arzt kritisch beob
achtete. Frau Morandell hatte die Sache in die Hand genommen und Felix genau
erklärt, warum seine Mutter nun eine Spritze erhalten müsse. Das brachte die
erwartete Wirkung, Felix war einverstanden und nickte. Helen hatte sich bemüht,
keine Miene zu verziehen, um ihren Sohn nicht aufzuregen. Dann hatte der Arzt
ihr ein Rezept für eine Salbe geschrieben und sie gebeten, sich diese möglichst
rasch zu besorgen. Die Wunde sei bereits entzündet und bedürfe dringend einer
Versorgung.
Fee hatte Severin gerufen und ihm aufgetragen, das Rezept einzulösen. Helen
wollte mitfahren. Sie wollte an die frische Luft.
Es hatte dann eine längere Beratung gegeben, ob man Felix in diesem Zustand
eine Autofahrt zumuten konnte oder ob dadurch der Schock wieder ausgelöst
würde. Brigitte Morandell hatte gemeint, es würde kaum schaden können und
hatte Felix erklärt, daß seine Mami eine Salbe brauche für den Kratzer am Arm
und er dürfe mit ihr im Auto fahren. Felix war völlig unbeeindruckt und auch das
Einsteigen ins Auto bereitete keinerlei Schwierigkeiten. Jetzt saß er auf ihrem
Schoß, lehnte sich an den Vordersitz und beobachtete Severin beim Auto fahren.
Severin hatte in seiner ruhigen Art angeboten, einen Kindersitz zu installieren,
aber damit war Felix nicht einverstanden gewesen. Er wollte auf Mamis Schoß
sitzen. Helen hatte nach kurzem Zögern genickt. Sie würde es dieses eine Mal
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riskieren. Sie fand es wichtiger, daß Felix wieder Auto fahren konnte und sie zur
Hand war, wenn er Anzeichen von Angst oder Unruhe zeigen würde. Davon war
jedoch nichts zu bemerken, aber noch immer hatte Felix kein Wort gesprochen.
Die Straße führte nun abwärts und Severin bog nach links ab. Helen staunte über
das Schloß Hohenzollern, das vor ihr aufragte und ganz Sigmaringen beherrschte.
Severin fuhr nach rechts über die Brücke.
Spontan rief Helen: „Das ist toll. Schau, Felix, eine große Burg! Siehst du sie?“
„Oh ja, die ist aber groß! Kann man da hinein?“ Helen schossen Tränen in die
Augen. Felix spricht! Er hatte Interesse gezeigt! Ganz natürlich hatte es sich er
geben und wie selbstverständlich hatte Felix reagiert. Sie räusperte sich. „Keine
Ahnung. Kann man das Schloß besichtigen?“ fragte sie Severin.
„Es gibt tägliche Führungen, aber ich weiß nicht, ob wir nicht schon zu spät dran
sind. Es ist kurz vor fünf.“
Helen zögerte. Sie mochte nicht über Severins Zeit so eigenmächtig verfügen.
doch dieser schien ihre Gedanken zu erraten. „Wir holen die Salbe ab und dann
schauen wir hinauf. In jedem Fall wird die Remise offen sein.“
„Oh, fein, wir gehen ins Schloß, wir gehen ins Schloß!“ Felix Begeisterung er
faßte auch Severin. Er wandte sich kurz um und ein breites Lächeln überzog sein
Gesicht.
Helen war gerührt. Diese hilfsbereiten, freundlichen Menschen! Gestern fühlte
sie sich noch verlassen und allein auf der Welt. Wieviel an Fürsorge und Hilfe
hatte sie aber in der Zeit erhalten, seitdem der Doktor sie auf der Straße aufgele
sen hatte.
Severin hatte eine Parklücke erspäht und manövrierte seinen Oldtimer geschickt
in die enge Stelle.
Nachdem sie das Rezept eingelöst hatte, stapften die drei den steilen Weg hoch
zur Burg. Felix hielt Helens Hand fest umklammert und sah mit großen Augen
auf dicke Mauern und wuchtige Torbögen. Die letzte Führung war schon vorbei,
daher führte sie Severin ein kleines Stück wieder abwärts und dann nach rechts
zu einem großen Tor in einem alten Gebäude, in der eine kleine Tür eingelassen
war. Mit Zuversicht drückte er und sie schwang auf. Dann winkte er den beiden,
ihm zu folgen.
Sie kamen in einen langgestreckten Raum, der durch einen Mittelgang geteilt
war. Links und rechts befanden sich hinter einer rotweißen Kordel Kutschen viel
fältigster Art. Staunend gingen Helen und Felix an den ausgestellten Wagen ent
lang und Helen las Felix vor, was auf den einzelnen Täfelchen stand.
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Besonders beeindruckt schien Felix von einem großen Schlitten aus schwarzem Holz mit vorne in weitem Schwung hochgezogenen Kufen mit geschnitzten En den. Felix staunte. Er hatte noch nie einen so großen Schlitten gesehen. „Wau Was waren das damals für große Leute!“ „Was meinst du, Liebling, welche großen Leute?“ Helen beobachtete kritisch ihren Sohn. Bis jetzt schien er wieder völlig normal gewesen zu sein. „Na ja, groß eben. Viel größer wie du oder er.“ Er deutete mit dem Finger auf Severin. „Felix, man deutet nicht mit Fingern auf andere Leute!“ korrigierte Helen auto matisch und zermarterte sich das Gehirn, was er um Himmels willen damit bloß meinen konnte. Severin lachte. „Nein, kleiner Mann, das waren keine großen Leute zur damali gen Zeit. Die waren nicht einmal so groß wie deine Mutter oder ich. Der Schlitten wurde natürlich von Pferden gezogen. Siehst du, hier ist die Vorrichtung, da wur de das Joch, so heißt dieser Balken, befestigt und davor spannte man dann zwei Pferde. Und hui, dahin ging es, wenn genug Schnee lag. Aber damals gab es da von mehr als heute.“ „Oh!“ Felix war beeindruckt. Helen lächelte in sich hinein. Etwas zögernd hatte Felix ihre Hand losgelassen und war mit dem großen, dunklen Mann nach vorne zur Absperrung getreten, um nur ja genau die Vorrichtung zu sehen, vor die man damals Pferde gespannt hatte. Danach diskutierten beide fachmännisch die Pferdevorrichtung einer großen Kut sche, die sich ziemlich von der einfachen des Schlittens unterschied. Felix schien im Gegensatz zu ihr keinerlei Scheu vor dem verschlossenen Mann zu haben. Versuchsweise ging Helen ein paar Schritte zurück. Felix folgte ihr zwar kurz mit den Augen, machte aber keine Anstalten, seine fesselnde Unterhaltung mit Se verin zu unterbrechen und Helen hörte, wie er ihn bereits völlig selbstverständ lich mit seinem Namen ansprach. Jetzt erst fielen von Helen die restlichen Sorgen ab, Felix könnte einen bleibenden Schaden davongetragen zu haben. Wie er so dastand, seine Augen aufmerksam entweder auf Severin oder auf den Gegenstand gerichtet, der gerade erklärt wurde, schien er sich in nichts von dem Jungen zu unterscheiden, dessen selbst gebautes Legoauto sie noch vorgestern bewundern mußte. Helen runzelte die Stirn. Sie mußte heute unbedingt ihre Eltern erreichen. Sie sah auf die Uhr. Severin bemerkte ihre Geste. „Felix, meinst du nicht, wir sollten zurückfahren? Bist du denn gar nicht hungrig?“ 54
„Oh Mann! Jetzt, wo du es sagst, Severin, bin ich hungrig wie ein Wolf. Ich
glaube, ich könnte glatt die zwei Pferde verschlingen, die man vor den Schlitten
spannt. Das war riesig, das war übergeil!“ Aufgeregt hüpfte er neben Severin auf
und ab.
„Felix!“
„Entschuldige, Mami, mir fällt kein anderes Wort ein!“
„Wie wäre es mit 'super' und 'vielen Dank, Severin'?“
„Vielen Dank, Severin!“ sagte Felix artig.
„Gerne geschehen, kleiner Mann. Wenn du wieder einmal in diese Gegend
kommst und du und deine Mami Zeit haben, kann ich dir noch die Waffenkam
mer zeigen.“
„Was ist das, Waffenkammer?“
„Das ist ein großer Saal mit vielen Waffen aus der Zeit der Ritter, mit alten Spee
ren, Pistolen, Rüstungen und lauter interessanten Dingen.“
„Können wir nicht jetzt gehen?“
„Felix, sei nicht unverschämt!“ Helens Stimme klang etwas gereizt. Sie hatte
gerade daran gedacht, warum Volker mit Felix nie solche Dinge unternommen
hatte. Schmerz und Zorn stiegen wieder in ihr hoch und der erste, flüchtige Ge
danke nahm Gestalt an, nicht mehr davon zu laufen, sondern ihren Mann mit der
Situation zu konfrontieren. Die übliche Panik bei der Idee, Volker anzurufen und
ihm ihre Entscheidung mitzuteilen, blieb aus, die steile Falte auf ihrer Stirn ver
tiefte sich. Plötzlich schmerzte ihre Hüfte wieder, sie faßte sich an die linke Seite.
Beruhigend lächelte sie Severin zu, der ihr einen besorgten Blick zugeworfen
hatte, und nahm Felix an die Hand. Ihr war entgangen, was Severin auf Felix
Frage geantwortet hatte, aber dieser zerrte jetzt an ihr und bestürmte sie: „Mami,
bitte, bitte, versprich es, bitte!“
„Was soll ich versprechen?“
„Daß Severin mir die Waffenkammer zeigen darf, wenn wir wiederkommen, und
dir auch!“ fügte er großmütig hinzu.
„Ja, mein Schatz, das machen wir! Wir kommen wieder in den 'Donaublick' und
dann sehen wir uns die Waffenkammer an!“
„Wann, Mami, Mami, wann denn, wann?“
„Felix, hab doch ein wenig Geduld, das kann ich dir nicht genau sagen. Eventuell
könnten wir eine Geburtstagsfahrt machen, was meinst du?“
„Oh, bis dahin ist es ja noch ewig lang!“
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„Liebling, du hast im Mai Geburtstag, du wirst sehen, die Zeit vergeht wie im Flug!“ Gemächlich schlenderten die drei zum Jaguar zurück. Felix setzte sich wieder auf den Schoß seiner Mutter, hing aber während der ganzen Fahrt am rechten Ohr von Severin und ließ sich die Geschichte des Jaguar, Baujahr 62, berichten. Im mer wieder wollte er sämtliche schwarzen Knöpfe und silberne Hebel erklärt bekommen und zappelte ungeduldig, wenn Severin sich auf den Verkehr konzen trierte und nicht gleich antwortete. Helen warf noch einen letzten Blick auf die stolz auf ihrem Hügel thronende Burg und versuchte sich vorzustellen, wie ihre Situation im Mai nächsten Jahres aussehen würde. Wo würde sie sein? Was wird mit ihrer Ehe? Konnte sie wieder eine Stelle annehmen? Würde sie sich mit Volker versöhnen? – Niemals! Das war absolut ausgeschlossen! Na siehst du, sagte sie sich, es ist gar nicht so schwer, Entscheidungen zu treffen, wenn man fürs erste einmal weiß, was man nicht will! *** Severin schloß die Garagentür auf und zog sie hoch. Dann ging er zu seinem Wa gen zurück und manövrierte ihn vorsichtig unter Dach. Er stellte den Motor ab, aber er stieg nicht aus. Severin saß in seinem liebevoll gepflegten Jaguar Baujahr 62 in der Garage des 'Donaublick' auf der Schwäbischen Alb und starrte blicklos vor sich hin. In Gedanken war er weit in der Vergangenheit, bei einer anderen jungen Frau und einem anderen kleinen Kind, seiner Frau und seinem Kind. Wie Kaskaden stürmten die Erinnerungen auf ihn ein. Da war Josette, seine Frau, mit ihren schwarzen Locken, die sie nie zu bändigen wußte, den dunklen strah lenden Augen, das herbe Gesicht, das ihre Herkunft ahnen ließ. Da war Juanito, sein Sohn, dunkel und temperamentvoll wie seine Mutter, nicht ganz so alt wie der kleine Knirps eben, vielleicht ein Jahr jünger. Severin sah die Terrasse, die aufs Meer hinaus blickte. Sah seine Frau, seinen Sohn und die Schwiegereltern, bei denen sie wohnten, an einem Abend im war men Licht der untergehenden Sonne. Sah sie vor sich, seine Familie, die erste, die er bewußt erlebte, die ihn voll Selbstverständlichkeit akzeptierte. Sah sie vor sich, wie sie am Abend vor seinem Geburtstag ihm zuprosteten, wie Juanito, sein Sohn, sein Liebling, mit ernstem Gesicht aufstand. Wie Großvater ihn auf den Tisch hob und Juanito mit etwas wackliger Stimme ein kleines Lied anstimmte, irgend etwas wie 'Happy Birthday'. Wie alle einstimmten und schließlich in Ge lächter ausbrachen. Sah sich, wie er seine Frau und seinen Sohn in die Arme schloß, seiner Schwiegermutter Alexa einen Kuß auf die Wange drückte, seinem Schwiegervater kräftig auf die Schulter klopfte und angestrengt versuchte, seine 56
Rührung zu verbergen. Sah sich diesen letzten goldenen Abend vor seinem 31.Geburtstag genießen und sich unbeschreiblich glücklich fühlen. Fast überheb lich glücklich. Am nächsten Tag, an seinem 31.Geburtstag, waren drei der fünf Personen tot, die so fröhlich und unbeschwert zusammen gesessen hatten. Eine Panne am Wagen? Hatte er daran schuld? Ein Fahrfehler seiner Schwieger mutter, die am Steuer saß? Ein entgegenkommendes Fahrzeug? Die Polizei hatte Mühe, die einzelnen Wrackteile aus der Schlucht zu bergen, nachdem die drei Personen, die aus dem Wagen geschleudert worden waren, ab transportiert waren. Sein Sohn hatte noch gelebt, sagte man ihm. Aber als Severin im Krankenhaus ankam, war Juan tot. Ebenso tot wie seine lebenssprühende Frau Josette, wie seine quirlige Schwiegermutter Alexa. Drei Tote, nur um weniges lebloser als sein Schwiegervater Velasquez, der zwar körperlich weiter lebte, dessen Geist aber seit dieser Zeit überschattet war. Die Unfallursache konnte nie geklärt werden und seither quälten Severin Alp träume, Träume, in denen er vergaß, eine Schraube anzuziehen, eine Schelle ein zubauen. Hatte er nicht den Wagen noch zwei Tage zuvor überholt, Reifen ge wechselt, den Verteiler ausgetauscht, die Kohlen der Lichtmaschine und an der Vorderachse das Radlager erneuert? War ihm irgendwo ein Fehler unterlaufen? Eine Flüchtigkeit? Habe ich sie getötet? Mit einem Stöhnen vergrub Severin seinen Kopf in beiden Händen und ließ sich von quälendem Schmerz gepeinigt auf das Mahagonilenkrad seines liebevoll gepflegten Jaguar sinken. Er würde noch lange so sitzen. Heute nacht würden wieder die Alpträume kom men. *** Fee sah besorgt aus dem Fenster der Gaststube zum Pförtnerhäuschen, ein Name, den sie wie immer albern fand. Es gab nie einen Pförtner im 'Donaublick', aber der Name hatte sich schon vor ihrer Zeit eingebürgert. Sie hatte Severin zurück kommen gehört, kurze Zeit später waren Frau Gersky und ein munterer Felix zur Tür hereingeschneit. Die beiden liefen gleich nach oben, um zu telefonieren. Fee hatte erwartet, Severin wie üblich zu sehen. Wenn er unterwegs war, meldete er sich zurück, um Fee wissen zu lassen, daß er wieder verfügbar war. Aber heute blieb er aus. Fee hatte gewartet, daß im Pförtnerhäuschen das Licht anging. Aber nichts rührte sich. Das Auto stand in der Garage, das Tor war hoch geklappt, kein Severin zu 57
sehen. Fee ahnte, was vorging. Bestimmt hatte die Fahrt mit der jungen Frau und dem kleinen Kind seine schwermütigen Erinnerungen geweckt! Fee und ihr Mann hatten Severin nach dem schrecklichen Unfall zu sich geholt und ihm wieder auf die Beine geholfen. Die Di Cosimos hatte oft versucht, Se verin zum Sprechen zu bewegen, aber er blieb verschlossen, erwähnte seine Frau oder sein Kind nie wieder. Er wurde über Nacht noch mehr in sich gekehrt und eine Schwermut umgab ihn, die ihn nie verließ. Fee überlegte, zu ihm zu gehen, ihn zu trösten. Aber gab es einen Trost? Fee wußte, wie stolz Severin war. Es wäre ihm äußerst unangenehm, wenn sie ihn in einer solchen Stimmung sehen würde. Fee seufzte innerlich. Manchmal war es ziemlich kompliziert, dieses Leben, das sie so sehr liebte. Sie wandte sich ab. *** „Hellooohh?“ Helen lächelte ins Telefon. Ihre Schwägerin Deborah gab jedem Anrufer das Gefühl, eine Nummer für Telefonsex gewählt zu haben. Deborah hatte diese rau
chige Stimme und auch das entsprechende Aussehen. Helen mochte sie.
„Hallo, Deborah, hier ist Helen!“
„Oh, hi, how are you, darling? Haven't heard from you for such a long time!“
„Gut, mir geht's gut, so einigermaßen. Ist Peter da? Oder meine Eltern?“
„I am so sorry, dear, Peter and Dad are out, spassieren, du verstehst? But your
Mum is here. Mum, come on here, it's Helen!“
„Hallo, Helen, mein Schatz, wie geht es dir?“
„Mama, ach, Mama!“ Plötzlich war es mit Helens Selbstbeherrschung vorbei. Sie
schluchzte.
„Kind, um Himmels willen, was ist denn passiert? Ist was mit Felix? Nun sag
schon!“ Helens Mutter klang aufgeregt und besorgt. Helen nahm sich zusammen.
„Mama, es geht mir gut, Felix geht es auch gut, wieder gut, und – ich habe mich
von Volker getrennt.“
Eine lange Pause. „Helen, mein Schatz, das tut mir schrecklich leid. Du wirst
sicher deine guten Gründe haben, trotzdem, ich fühle mit dir. Willst du mir nicht
erzählen, wie es dazu kam? Warte mal, wo bist du jetzt? Soll ich dich anrufen?
Hast du genügend Geld?“ – Ihre praktische Mama. „Mach dir keine Sorgen, Ma
ma, die Telefonrechnung kann ich bezahlen. Ich habe Volker verlassen, weil er
mich angegriffen hat, aber ich habe nur einen kleinen Kratzer. Das erzähle ich dir
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alles später. Felix hatte einen schweren Schock erlitten, als ich dann auch noch
mit dem Auto in den Graben rutschte.“
„Um Himmels willen, Helen, ist euch auch nichts passiert?“
„Mama, ich habe dir doch schon gesagt, wir sind unverletzt. Ich bin in einem
Hotel irgendwo auf der Schwäbischen Alb. 'Donaublick' heißt es – was sagtest
du?“
„Ich sagte, wunderbar! Ich kenne den Donaublick, er liegt in der Nähe von Beu
ron. Dein Vater und ich kennen auch die Besitzerin, sie hat so einen komischen
Namen, warte mal...“
„Fee Di Cosimo, sie sagte, wir sollen sie Fee nennen.“
„Ja, das war’s. Helen, das ist gut, daß ihr dort seid. Ihr seid da gut aufgehoben.
Wir werden gleich morgen früh einen Flug buchen und zurückfliegen. Wenn alles
klappt, sind wir morgen nachmittag im 'Donaublick' und holen euch ab. Ist das
Auto noch in Ordnung, kann man fahren?“
„Nein, Mama, das muß gerichtet werden, ich möchte also bis Montag früh blei
ben.“
„Dann frag doch, ob noch ein Zimmer frei ist, dann bleiben wir ebenfalls über
Nacht im 'Donaublick'.“
„Aber euer Urlaub?“
„Quatsch! Natürlich kommen wir sofort zurück, Kind, was denkst du denn?“
„Und Vater?“
„Helen, ich bitte dich! Ich werde deinen Vater daran hindern müssen, sofort ein
Privatflugzeug zu chartern! Du kennst ihn doch!“
„Ach Mama, ich bin so froh! Im stillen habe ich ja gehofft, ihr kommt bald wie
der!“
„Das ist doch selbstverständlich! Höre ich da meinen kleinen Liebling im Hinter
grund?“ Felix hatte schon die längste Zeit an Helens Arm gezerrt und wollte mit seiner Oma reden. Aufgeregt sprudelte er in den Hörer. „Und dann, Omilein, mußt du mitgehen in das Schloß in das Waffenzimmer, da sind ganz viele Dinge drin, Speere und...“ *** Volker Gersky stellte seine Tasche ab und kramte in seinen Manteltaschen nach dem Schlüssel. Auf sein Klingeln hatte sich niemand gerührt, die Garage war leer, Helen und Felix waren also nicht hier. Wo, zum Teufel steckten sie? Wahr 59
scheinlich war seine Frau zu Mami und Papi gelaufen. Er stieß die Türe auf und nahm die Aktentasche hoch. Das Haus war still und leer. Er ging ins Schlafzim mer und warf die Tasche auf das Bett. Auch hier wieder diese Unordnung! Was tat diese Frau eigentlich den ganzen Tag? Er öffnete das Fenster. Volker kehrte ins Arbeitszimmer zurück. Er goß sich einen Drink ein. Stirnrun zelnd sah er sich um, als er den ersten Schluck nahm. Kein Blut hier. – Blut? Wie kam er jetzt auf Blut? Woher sollte in seinem Büro Blut sein? Sah ganz so aus, als würde er langsam durchdrehen! Volker ging in die Diele und wählte die Nummer seiner Schwiegereltern. Der Anrufbeantworter war an. Volker legte auf, er haßte diese Dinger. Er versuchte es erneut und hinterließ eine Nachricht. Eine Stunde später und nach einem weiteren erfolglosen Anruf in Ludwigshafen mixte er sich einen weiteren Drink, seinen vierten. Dann muß aber Schluß sein, sagte er sich. Er brauchte seinen klaren Kopf. Helen war nicht bei ihren Eltern. Wo zum Teufel steckte dieses Miststück? Plötzlich klingelte das Telefon. Er lief in die Diele und riß den Hörer von der Gabel. „Zum Teufel, wo treibst du dich herum? Wo ist Felix?“ „Guten Abend, Herr Gersky!“ Eine kalte, arrogante Stimme. „Ich wollte wissen, ob die Übergabe planmäßig verlaufen ist.“ „Oh! Ja, sicher, alles OK, warum auch nicht?“ „Sie klingen ziemlich aufgeregt. Gab es Schwierigkeiten?“ „Schwierigkeiten? Was meinen Sie mit Schwierigkeiten? Ich habe doch bereits gesagt, alles ist glatt gelaufen. Hören Sie schlecht?“ Die Stimme blieb gelassen. „Das habe ich gehört. Ich hoffe, Ihre gereizte Stim mung hat nichts mit unserem Geschäft zu tun. Wenn Sie sich nicht im Griff ha ben, müßten wir Konsequenzen ins Auge fassen. Auf Wiederhören.“ Klick. Gersky schleuderte den Hörer auf die Gabel. 'Arschloch', knurrte er. Dieses affige Getue! 'Konsequenzen ins Auge fassen!' Gott, wie es ihn ankotzte, wie ein Dienstbote behandelt zu werden. Denen zeig ich's! So können sie mit mir um springen. – Wie zeigst du es denen? – Schon wieder diese unangenehme Stimme in seinem Hinterkopf. Darauf darf er sich jetzt in keinem Fall einlassen! Nicht schon wieder ein Disput mit Mutter! Er mußte überlegen. Mal angenommen, Helen hätte ihn wirklich verlassen. Sie hatte manchmal eine sture Gradlinigkeit, die ihn zum Wahnsinn trieb. Wenn ihre steile Falte auf der Stirn erschien! Also, immer mit allem rechnen, auf alles ge faßt sein! Nur mal angenommen Sie würde es nicht tun, natürlich nicht, dazu ging es ihr ja viel zu gut! Konnte Zuhause sein, mit dem Kind spielen und hatte genug 60
Geld! Wie vielen Frauen ging es so gut wie ihr? Aber nur mal angenommen, sie
würde es wirklich wagen. – Rechtsbeistand, dachte Gersky, ich brauche Max.
Durch Max Weiß war er zu seinen Nebengeschäften gekommen. Max war ein
hervorragender Anwalt. Vielleicht hatte er einen etwas zweifelhaften Ruf, aber
was schadete das? Sicher war er nicht nur auf legale Geschäfte spezialisiert. Um
so besser! Kein Trick konnte schmutzig genug sein, wenn es darum ging, seinen
Sohn zu behalten. Dieses verdammte Miststück! Mußte sie ihn auch so reizen? Er
würde Max anrufen und einfach vorab klären, was im Fall der Fälle zu tun sei.
Nur um gerüstet zu sein. Aber zuerst brauchte er noch einen Drink. Einen winzi
gen Schluck, nur noch einen. Mit dem Glas in der Hand ging er in die Diele zum
Telefon.
„Hallo, Max, hier Volker!“
„Ach, Volker! Hast du Schwierigkeiten?“
„Verdammt, warum fragen mich alle, ob ich Schwierigkeiten habe? Ich habe
keine Schwierigkeiten, und wenn, wärst du derjenige, der sie regeln sollte, meinst
du nicht?“
„Rege dich nicht auf. Ich hatte gerade einen Anruf, na egal. Worum geht’s?“
„Ich sollte etwas mit dir besprechen, rein auf theoretischer Ebene, versteht du?
Nur für den Fall! Aber nicht am Telefon!“
„Gut, kannst du in einer Stunde rüberkommen?“
„Das wäre dann so um“ Volker reckte den Hals, um auf die Uhr im Wohnzimmer
zu sehen, „halb sieben?“
„Ja. Bringst du Helen mit?“
„Nein!“ sagte Volker knapp und legte auf.
*** Gersky betrachtete Max Weiss, wie er in seinem riesigen Fauteuil lässig zurück gelehnt saß und ihn erwartungsvoll ansah. Max war sicher über fünfzig, aber gut erhalten, dachte Volker. Etwas füllig um die Leibesmitte, dafür waren seine Haa re auf seinem Kopf fast vollständig verschwunden. Kleine, leicht zusammenge kniffene Augen, denen so schnell nichts entging, volle Lippen und Backen – alles in allem kein allzu gut aussehender Mann, konstatierte Volker, aber eindrucks voll. Max symbolisierte das, was Volker zu erreichen gedachte. Was war es ge nau, was er so lässig verkörperte? Macht, von diesem Mann strahlte Macht aus, so dynamisch und umwerfend, daß man sich nur schwer entziehen konnte. Volker schlug die Beine übereinander und gab sich Mühe, ebenso cool und lässig auszu sehen. 61
Während sie sich über Nebensächlichkeiten unterhielten, das übliche Eingangs
geplänkel, um zu demonstrieren, daß man die Dinge im Griff hatte, überlegte
Volker, wieviel er preisgeben sollte. Auf keinen Fall durfte der Eindruck entste
hen, er sei psychisch labil. Auf keinen Fall durfte auch der Eindruck entstehen, er
würde zuviel trinken. Er hatte ein Glas Ginger Ale vor sich stehen. Gelassen legte
er seine Fingerspitzen aneinander und deutete auf Max.
„Angenommen, rein hypothetisch, Helen und ich würden uns trennen, dann will
ich Felix behalten. Was muß ich dazu tun?“
„Das kommt darauf an.“
„Was heißt das?“
„Mein lieber Volker, das heißt, daß es darauf ankommt. Was gefährdet das Wohl
des Kindes, das ist es, was das Gericht interessiert.“
„Was bedeutet das?“
„Das Gericht entscheidet aus seiner Sicht, was für das Kind am besten ist. Damit
kommt es auf die Beweisführung an.“
„Gericht?“
„Bist du der Ansicht, Helen wird dir ihren Sohn freiwillig überlassen?“
„Felix ist mein Sohn!“
„Wie auch immer. Glaubst du, es wird ohne Gerichtsverfahren abgehen?“
„Ich fürchte nicht.“
„Na also, ansonsten wärst du ja auch nicht hier. Wie 'hypothetisch' ist denn die
ganze Angelegenheit?“
Volker zögerte. „Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung. Helen ist seit gestern
verschwunden. Ich dachte, sie sei bei ihren Eltern, aber dort meldet sich nie
mand.“
„Verschwunden? Einfach so? Aus Laune?“
„Nun, äh... nicht ganz. Sie hat wohl etwas überempfindlich reagiert.“
„Worauf?“ In der Stimme des Anwalts klang eine Spur Besorgnis.
„Äh, nun ja, ich war wohl etwas heftig. Max, stell dir vor, ich hatte einen Mo
ment, aber nur einen Moment lang, den Gedanken, sie hätte die Polizei verstän
digt!“ Gut, daß du nicht weißt, wie lange dieser Moment wirklich gedauert hat.
„Polizei?“ Max richtete sich alarmiert auf, „Was heißt, die Polizei verständigt?
Hast du sie tätlich angegriffen?“
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„Tätlich angegriffen, tätlich angegriffen!“ Volker äffte den Anwalt nach. „Ihr
Juristen mit euren Ausdrücken! Es war ein Zufall, ein Mißverständnis, eine un
glückliche Verquickung von Umständen, weiter nichts.“
„Was genau bedeutet 'unglückliche Verquickung von Umständen'?“
„Helen hatte in meinen Sachen gestöbert und ich hatte zufällig ein Messer in der
Hand.“
„Ein Messer? Du hast sie mit einem Messer angegriffen und verletzt?“ Die
Stimme des Anwalts stieg um eine halbe Oktave. Seine kühle Gelassenheit geriet
ins Wanken. Anklagend zeigte er mit dem Finger auf Volker. „Bist du denn noch
zu retten? Hast du eine Ahnung, was das für uns bedeutet? Die Abmachung war,
keinerlei, hörst du, keinerlei Aufsehen, und niemals, hörst du, niemals das Inter
esse der Polizei erwecken. Du meine Güte!“ Fassungslos lehnte sich der Anwalt
zurück und starrte an die Decke. Volker fühlte sich etwas mulmig.
„Jetzt übertreibe doch nicht gleich, sie war ja nicht bei der Polizei.“
„Woher weißt du das?“
„Sonst wären die doch bereits bei mir aufgetaucht.“
„Wie lange ist der Vorfall her?“
„Das war gestern, so um die Mittagszeit.“
„Und keine Polizei?“
„Keine Menschenseele.“
„Okay, wenigstens etwas. Aber fühle dich nicht zu sicher, das kann noch kom
men. Wo hast du sie verletzt?“
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie überhaupt getroffen habe. Sie machte eine
Abwehrbewegung und stolperte dabei. Möglicherweise am Unterarm. Da gab es
ein paar Blutflecken an der Wand, ganz kleine Flecken nur, kaum zu sehen.“
Der Anwalt schloß die Augen.
„Max, bitte, du mußt mir helfen!“
„Volker, mein Bester, da hast du ein Problem!“
„Das weiß ich auch, Himmelherrgottnochmal, was glaubst du, warum ich hier
bin?“
„Kein Grund zu schreien.“ Der Anwalt hatte sich erhoben und trat zu seinem
Schreibtisch, der die eine Ecke des großen Raumes fast vollständig ausfüllte. Mit
Papier und Füllfeder kehrte zu Volker zurück. „Von Anfang an und ohne
Schminke, verstehst du? Wenn ich dir helfen soll, und Hilfe scheinst du weiß
Gott zu brauchen, dann muß ich alles wissen, wirklich alles. Also, schieß los!“
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Kleinlaut berichtete Volker, woran er sich erinnern konnte. Max hatte ihm einen tüchtigen Schrecken eingejagt. Was war mit seiner Karriere, wenn er vor Gericht stand und, Gott behüte, verurteilt wurde wegen – wie wäre es für den Anfang mit Körperverletzung? Was wird mit seinen so lukrativen Nebengeschäften? Dem 'Bonus' für sein Depot, den er sich selbst genehmigt hatte? Wenn das aufflog? Volker hatte nicht den Eindruck, daß seine Geschäftspartner sich durch enormen Langmut auszeichneten. „Sie hatte den Brief in der Hand?“ Die Stimme des Anwaltes versuchte, noch eine weitere Stufe höher zu klettern. „Du hast tatsächlich die Terminvereinbarung herumliegen lassen?“ „Nein, sagte ich doch schon, von 'herumliegen lassen' kann keine Rede sein, sie war in meiner Aktentasche. Helen geht nie da dran.“ „Offenbar schon. Hat sie etwas gemerkt?“ „Natürlich nicht, sie dachte, er wäre von meiner Freundin, genau wie geplant. Aber irgendwie hat sie es krumm genommen.“ „Völlig unverständlich für dich, nehme ich an.“ sagte Max trocken. Er hatte sich wieder gefaßt. Was für ein Schlamassel! Aber man würde den guten Volker da herausholen müssen, wer weiß, was bei einer Polizeiaktion sonst noch alles zur Sprache kam. Und dann? War er noch tragbar? Aber das mußte warten. Eines nach dem anderen. Hilfreich sagte Max: „Kann man also sagen, daß deine Frau dich provoziert hat?“ „Genau, ja, das ist es. Sie hat mich provoziert. Sie hat mich so weit getrieben, daß ich gar nicht anders konnte. Wunderbar, Max, du bist hervorragend!“ „Jetzt schnapp nicht gleich über, wir haben nur einen ganz schwachen Hoff nungsschimmer. Du warst doch auch nicht nüchtern, oder?“ Volker überlegte. Er war nicht betrunken, sicher nicht, er hatte ja nur seine übli chen drei, vier Drinks nach dem Aufstehen. Ein wenig angetrunken vielleicht, doch wenn es half? „Betrunken nicht“, sagte er gedehnt, immer noch überlegend, welche Version für ihn besser klang, „aber ein paar Drinks hatte ich schon.“ „Das muß fürs erste genügen. Du warst angeheitert, nicht mehr ganz Herr deiner Sinne und Helen hat dich provoziert. Deine Hemmschwelle war durch den Alko hol erniedrigt. Es wäre einen Versuch wert. Trinkst du jetzt eigentlich mehr als früher?“ Volker war alarmiert: „Nein, könnte ich nicht sagen. Hin und wieder. Du weißt ja, wie das ist. Verzeih, ich habe vergessen, du bist ja ein Gesundheitsapostel.“ 64
Max überging den Angriff. Er trank seit Jahren keinen Alkohol. Sein Geschäft erforderte seine volle und wache Aufmerksamkeit. Das Jonglieren am Rande des Gesetzes war schwierig genug, um sich das Leben noch mit benebeltem Kopf zusätzlich zu erschweren. Er wechselte das Thema. „Deine Nebengeschäfte soll ten wir in der nächsten Zeit für eine Weile still legen, meinst du nicht?“ „Aber warum denn? Ich sehe dazu keinerlei Grund. Wie lange?“ Leichte Panik klang aus Volkers Stimme. Er überlegte fieberhaft. Er hatte bereits eine Anzah lung auf sein Kajütenboot geleistet, in einem Monat würde eine weitere Ab schlagszahlung fällig sein. Unter solchen Umständen würde er versuchen müssen, den Zahlungstermin zu verschieben. Der Verkäufer könnte den Eindruck gewin nen, er sei nicht flüssig. Sollte er sein Depot angreifen? Es war riskant, denn er konnte die Herkunft des Geldes nicht nachweisen. Himmel, was für eine Scheiße! „Lange genug, um sicherzugehen, daß deine Frau keine Anzeige wegen Körper verletzung erstatten wird. Dein Leichtsinn bringt die ganze Geschichte in Ge fahr!“ Volker runzelte die Stirn und beugte sich nach vorn. Er fühlte Arger in sich hoch steigen und deutete mit dem Zeigefinger auf den Anwalt. „Diese ganze Ge schichte, wie du es so rührend umschreibst, ist durch mich erst möglich gewor den, mein lieber Max! Mich und mein know how! Ich habe Konten eröffnet und Scheinfirmen aufgemacht! Ohne meine Stellung in der Bank und meine Verbin dungen wären eure schmutzigen Geschäfte nicht durchführbar gewesen und eines vergiß auch nicht, mein Lieber, ohne dich und deinesgleichen wäre ich nun nicht in der Position, Hilfe zu benötigen! Und die wirst du mir geben, Herr Anwalt, denn sonst...“ Max legte den Füllfederhalter zur Seite und lehnte sich zurück. Die Frage, in wieweit Volker noch tragbar sein würde, stellte sich mehr und mehr. Aber nicht jetzt. Hatte keinen Zweck, die Pferde scheu zu machen. Er machte eine begüti gende Handbewegung. „Volker, rege dich nicht auf. Selbstverständlich werde ich dir helfen. Dazu bin ich ja da. Du hast anfänglich für uns hervorragende Arbeit geleistet.“ Ein leichtes Zögern des Anwalts, als warte er auf Volkers Reaktion. Dieser runzelte die Stirn, aber sein Instinkt für Gefahr ließ ihn im Stich. Max beobachtete ihn gespannt und fuhr fort: „Wofür wir dich, nebenbei gesagt, auch hervorragend bezahlt haben, sogar mehr als das.“ Wieder ein kurzes Zögern und wieder reagierte Gersky nicht. „Aber darum geht es hier gar nicht. Erst einmal mußte ich mir einen Überblick verschaffen, wie ernst die Situation ist.“ Volker knabberte ungeduldig an seinen Daumen. Er war im Augenblick mit We sentlicherem beschäftigt, er brauchte einen Drink, nur einen. „Hättest du viel leicht etwas Stärkeres?“ Er hielt ihm das Glas entgegen. 65
„Natürlich, was möchtest du? Cognac, Sherry, Pernod. Nein, du trinkst sicher
Whisky, richtig?“
Volker nickte. Max ging zur Bar und schenkte seinem Freund einen reichlich
doppelten Drink ein. Gierig griff Volker nach dem Glas. Max betrachtete ihn
nachdenklich. Sollte sich sein Verdacht bestätigen? Alkohol?
Gersky bemerkte die Verstimmung des Anwalts und fuhr ärgerlich auf. „Schau
mich nicht so kritisch an, verdammt. Ich kann eben besser denken mit dem da.“
Der Anwalt reagierte nicht, sondern sah ihn emotionslos an. Irgend etwas drang
zu Gersky durch. Er runzelte die Stirn. Die Situation hatte sich verändert, Span
nung lag in der Luft. Volker hatte das Gefühl, Max sei irgendwie auf Distanz
gegangen. Er nahm einen tiefen Schluck. Das tat gut! Sein Selbstvertrauen kehrte
zurück. „Nun, was denkst du? Soll ich aktiv werden?“
„Was meinst du damit?“
„Nun, die Scheidung einreichen, das Sorgerecht einklagen, irgend etwas in dieser
Art.“
Max konnte es sich nicht verkneifen, ironisch zu fragen: „Ich dachte, die Annah
me sei rein hypothetisch?“ Aber eingedenk seines Vorhabens, Volker nicht zu
sätzlich aufzuregen, lenkte er ein: „Wir warten jetzt erst einmal ab, ob Helen
wieder auftaucht und was sie dann vor hat.“
Volker registrierte mit Erleichterung das 'wir'.
„In der Zwischenzeit werde ich einen vorläufigen Schriftsatz aufsetzen und dann
sehen wir weiter.“ Er sah auf die Uhr.
Gersky verstand den Wink und erhob sich, während er das leere Glas auf die ma
kellos polierte Marmorplatte des Couchtisches stellte. Es schlug dabei leicht an
der Kante an und klirrte. Besorgt stand Max auf. Aber Volker zeigte keine weite
ren Zeichen von Unsicherheit. Gerade und mit gestrafften Schultern holte er sich
seinen Mantel und wandte sich zur Tür. Er hob die Hand. „Wir hören voneinan
der!“
„Natürlich.“ Max blieb unverbindlich.
Dann schlug die Tür zu.
*** Die Donaufee verschloß wie gewohnt um halb elf die Eingangstür zum 'Donaub lick' und löschte das Licht. Ihre Gäste hatten sich ins Zimmer zurückgezogen, was Frau Gersky und ihren Sohn betraf, oder waren nach Hause gefahren, was den Doktor anbelangte. Brigitte Morandell hatte sich schon viel früher verabschiedet. Fee hatte ein köstliches Abendessen vorbereitet und dabei die angebotene Hilfe 66
von Helen gerne angenommen. Die beiden Frauen hatten sich gut verstanden,
während sie in der Küche nebeneinander arbeiteten und sich über alles mögliche
unterhielten, ohne die augenblickliche Problematik zu berühren. Auch das
Abendessen verlief harmonisch, nur Fee runzelte mehrmals die Stirn. Sie machte
sich Sorgen um Severin, der sich nicht blicken hatte lassen. Fee hatte sich ent
schieden, ihn in Ruhe zu lassen. Er würde von selbst wieder auftauchen. Severin
jedoch erschien den ganzen Abend nicht.
Fee wollte gerade ins Wohnzimmer zurückgehen, als es an der Eingangstür
klopfte. Sie drehte um, schaltete die Beleuchtung wieder an und schloß die Türe
auf. Das junge Paar aus dem Bambuszimmer stand frierend im Eingang.
„Wir haben den Schlüssel vergessen. Zum Glück sind Sie noch wach!“ Die jun
ge Frau wirkte atemlos und ihre Stimme klang erstickt, als hätte sie geweint. Fast
flehend streckte sie die Hände aus. Sie war sehr bleich und ihre langen Haare
hingen wirr um das schmale Gesicht. Die Augen schienen geschwollen und ge
rötet. Ihr Begleiter griff ein und zog sie etwas zurück. Schnell sagte er: „Wir ha
ben den Schlüssel dummerweise im Zimmer liegen lassen und mußten uns nun
mit der Rückkehr beeilen. Vielen Dank, äh, daß Sie uns geöffnet haben. Gute
Nacht.“ Mit diesen Worten zog er seine Begleiterin durch die Tür, an der ver
dutzten Fee vorbei und schon waren sie im Obergeschoß verschwunden.
Fee erwiderte: „Gute Nacht.“ Doch die Halle war bereits leer.
Langsam schloß Fee die Tür. Mit den beiden stimmt etwas nicht, dachte sie wie
der. Es schien fast so, als wollte der Mann keinen Kontakt, oder als hätte er
Angst, seine Freundin, oder was immer sie war, könnte zuviel sagen. Als müsse
er sie verstecken? Wie lange waren die beiden jetzt schon im 'Donaublick'? Fee
überlegte, heute waren es acht Tage. Nach vier Tagen hatte Alexander von Ho
henstein die Rechnung bezahlt, zwei Stunden später jedoch noch für eine weitere
Woche gebucht.
Fee zuckte mit den Achseln. Im Moment war nichts zu klären. Sie ging ins
Wohnzimmer.
Was für ein Tag! Wie es wohl dem Severin geht?
*** Helen zog leise die Türe zum kleinen Schlafzimmer zu und warf noch einen letz ten Blick auf ihren Sohn. Sie hatte ihm angeboten, er könne bei ihr schlafen. Platz sei genug in dem bequemen Doppelbett. Aber Felix hatte beleidigt abgelehnt. Er sei schon groß! Nur Babys schliefen noch bei der Mami im Bett und er ginge doch bald schon zur Schule! Außerdem könne er ja jederzeit, wenn es unbedingt sein müsse, in der Nacht hinüber huschen. Felix hielt sich alle Optionen offen. 67
Dann hatte er sich an seinen Teddy gekuschelt und war nach wenigen Minuten eingeschlafen. Lächelnd schloß Helen die Tür. Mit einem tiefen Seufzer verband Helen ihre Wunde am Unterarm, die nun wie der mehr schmerzte, aber nicht mehr so gerötet war. Für einen Moment hielt sie inne und besah sich im Spiegel des Badezimmers. Volker hatte eine Freundin! Zum erstenmal seit dem schrecklichen Vorfall gestern mittag konnte sie daran denken. Warum war sie sich so sicher gewesen, ihr könne so etwas nie passieren? Der Gedanke, Volker könne sie betrügen, war ihr nie gekommen. Auch wenn sie von der Untreue anderer Männern gehört hatte, war sie völlig überzeugt gewesen, Volker sei anders. Es stimmte, er war in letzter Zeit nicht so zärtlich wie am An fang ihrer Beziehung. Oft wünschte sie, er würde mehr mit seinem Sohn unter nehmen, aber eine andere Frau? Kritisch betrachtete sich Helen im Spiegel. Was hatte sie, was ihr fehlte? War sie jünger? Aber so alt war Helen auch noch nicht, knapp neunundzwanzig! War die andere besser im Bett? Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie war gekränkt und verletzt. Im Augenblick wußte sie nicht, was mehr weh tat, die Tatsache, daß sie betrogen worden war oder daß Volker sie gewalt tätig angegriffen hatte. Sie stützte sich auf das Waschbecken und atmete tief durch. Sie würde sich nicht unterkriegen lassen! Was für ein Tag! Vorgestern schien ihr weiteres Leben klar und ohne Frage, ge stern abend schien alles zu Ende, und heute? Entschlossen blickte sie sich im Spiegel an. Heute hatte sie ihren Sohn wieder, fast ohne Nachwirkungen des Schocks. Auch was ihre Zukunft anbetraf, wußte Helen, wie es weitergehen soll te. Sie würde sich von Volker trennen. Vorsichtig befestigte sie den Verband. Dann besah sie sich ihre linke Hüfte. Ein großer Bluterguß schimmerte in allen Farben des Regenbogens. Aber auch das würde vergehen. Morgen würden ihre Eltern kommen. Morgen würde sie Volker anrufen müssen. Morgen würde ihr neues Leben beginnen Helen schlüpfte unter die Decke und war im Nu eingeschlafen. *** Brigitte Morandell dachte ebenfalls an morgen, während sie zum Telefonhörer griff. Sie dachte nicht daran, ob morgen für sie ein neues Leben beginnen würde oder nicht. Dazu hatte sie auch gar keinen Grund. Sie war zufrieden mit ihrem momentanen Leben. Aber damit das so blieb und auch in ihrem privaten Bereich so bleiben würde, wollte sie Charly informieren, daß ihr Sonntagsausflug ins Wasser fallen mußte. Absagen dieser Art waren zwar nicht üblich, da beide die karge gemeinsame Freizeit wie einen Schatz hüteten und sehr darauf bedacht waren, daß sie nicht in Kollision mit ihrer jeweiligen beruflichen Tätigkeit geriet, 68
aber andererseits auch nicht so unüblich, daß daraus eine Beziehungskrise entste hen würde. Trotzdem war es Brigitte nicht recht, so eigenmächtig über die ge meinsame Freizeit verfügt zu haben, doch ihr Termin mit dem Jungen ging vor. Stirnrunzelnd legte sie den Hörer wieder auf die Gabel. Charlys Anschluß war besetzt. Sie ging ins Arbeitszimmer und holte aus ihrem Büroschrank die notwendigen Dinge für morgen hervor. Wenn sie heute alles vorbereitete, konnte sie noch mit Charly frühstücken und dann rechtzeitig im 'Donaublick' sein. Wo waren denn nur die Puppen für das Familienspiel? Ungeduldig kramte sie in den Fächern des Schrankes. Wie lange hatte sie denn diese nicht mehr benützt? Hoffentlich waren sie noch intakt – ach, da sind sie ja. Rasch verstaute sie alles in ihrer bodenlosen Tasche. Dann eilte sie erneut zum Telefon. „Hallo, Liebling! Gut, daß ich dich erreiche, du warst eine Ewigkeit besetzt. Muß ich mir Sorgen machen? – Nur wenn ich unseren Ausflug morgen absage? Das hatte ich in der Tat im Sinn! – Ob du einen Konkurrenten hast? Natürlich, was glaubst du denn, Männer, die stundenlang am Telefon mit meinen Nebenbuhle rinnen flirten, gebührt nichts anderes – im Ernst, mein Schatz, ich habe für mor gen einen Termin vereinbart – ja, es war dringend, Liebling, sonst – oh, gut, da fällt mir ein Stein von Herzen, daß du dafür Verständnis hast. Aber ich dachte, ich komme zu dir zum Frühstück, so daß wir wenigstens das gemeinsam haben – ob mir die Fahrt nicht zu weit ist? Nun, außer du hast eine dringende Parlaments sitzung in Kiel? Na also, Stuttgart ist entfernungsmäßig grade noch drin – was meinst du, was ich meine? Na, gerade noch die alleräußerste räumliche Distanz, die ich fahren würde, um mit jemandem zu frühstücken, der mir sehr am Herzen liegt! – Ja, Charly, Liebster, ich dich auch! Nun werde ich nicht länger dein Te lefon blockieren wer weiß, wer dich heute noch alles dringend zu sprechen wünscht! Bis morgen!“ Zufrieden legte sie auf. *** Dr.Herrmann Schäuble war nicht zufrieden. Unruhig ging er vom Wohnzimmer in die Praxis, erneuerte die Medikamente in seiner Arzttasche, holte eine Tetanu sampulle aus dem Medikamentenschrank und überprüfte seine medizinischen Geräte. Dabei war er jedoch mit seinen Gedanken nicht bei der Sache. Seine Un zufriedenheit bezog sich vornehmlich darauf, daß seine Zuneigung zur Donaufee bereits derart offensichtlich war, daß Brigitte Morandell ihn sofort durchschaut hatte. Nun hatte sie zwar einen professionellen 'Seelenblick', aber trotzdem! Schäuble legte Wert auf seine undurchdringliche Fassade und seine diesbezügli che Bemerkung Fee gegenüber entsprach durchaus seinen Vorstellungen. Zudem 69
war er unzufrieden mit dem Verlauf dieses Tages. Dr.Schäuble hatte die Dinge gern geordnet, klar und übersichtlich. Unvorhersehbares in seinem persönlichen Bereich brachte ihn außer Tritt und die spielerische Art der Donaufee irritierte ihn zuweilen. Er hatte vorgehabt, heute das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden und einen gemütlichen Nachmittag mit Fee im 'Donaublick' zu verbringen. Aber dann hatte diese wenig Zeit, wirbelte ständig durch die Gegend, verwirrte ihn mit nek kischen Sprüchen und war nahezu immer von anderen mit Beschlag belegt. Das – wie er zugeben mußte – köstliche Abendessen konnte die Situation auch nicht mehr retten. Die Anwesenheit von Frau Gersky und ihrem kleinen Sohn hatten die Atmosphäre zwar durchaus locker und heiter gestaltet, war aber weit von der intimen Zweisamkeit entfernt, auf die Herrmann gehofft hatte. Energisch schloß er seine Arzttasche und stellte sie auf die Untersuchungsliege. Abhaken, sagte er sich, den Tag einfach abhaken. Aus ärztlicher Sicht war er ja durchaus erfolg reich gewesen. Der kleine Junge war wiederhergestellt, die Verletzung von Frau Gersky komplikationslos, niemand in der Umgebung hatte sich den Fuß gebro chen oder war an einer Grippe erkrankt – sei zufrieden! Warum gelang es ihm nicht? Energisch rief er sich zur Ordnung, holte sich eine Fachzeitschrift und machte es sich in seinem Wohnzimmer gemütlich. Aber im mer wieder schweiften seine Gedanken ab. Die Uhr schlug halb elf. Mit einem Seufzen klappte er das Heft zu und ging zu Bett. *** Severin fuhr mit einem Ruck hoch. Die Uhr am Armaturenbrett zeigte halb elf. Fast vier Stunden hatte er zusammengekauert hinter dem Lenkrad gesessen. Sein Rücken schmerzte und sein Nacken fühlte sich verspannt an. Er fuhr sich mit den Händen durchs Haar und stieg aus. Als er die Garagentüre schloß, sah er zum 'Donaublick' hinüber. Aus dem Wohnzimmer schimmerte Licht und auch das Bambuszimmer war noch erleuchtet. Das junge Paar war also ebenfalls noch wach. Severin überlegte, sich bei Fee zurückzumelden, beschloß aber, es nicht zu tun. Noch immer hingen trübe Gedanken wie Spinnweben in seinem Kopf. Sie würde es merken und sie würde sich wieder Sorgen um ihn machen. Severin wollte nicht, daß Fee sich um ihn sorgte. Es gab nichts, worüber man sich Sorgen ma chen mußte. Das war Vergangenheit, lange vorbei. Er würde sich noch eine Flasche Bordeaux genehmigen und dann hoffentlich schlafen können. Mit den Alpträumen mußte man rechnen, aber auch die waren schon lange gewohnt, ebenfalls nichts, worüber man sich Sorgen machen mußte. 70
Severin klinkte die Haustüre auf und trat ein. Mit einem satten Plopp fiel sie wie
der ins Schloß.
Es klang, als würde eine Gruft geschlossen.
*** Im Bambuszimmer lief Alexander von Hohenstein ungeduldig auf und ab und redete pausenlos auf das Mädchen ein, das zusammenkauert auf dem Bett saß und an ihren Fingernägeln kaute. Ungeduldig gestikulierte er mit den Händen, und plötzlich packte er die Frau an den Schultern und schüttelte sie. Diese sah un glücklich zu ihm auf und zuckte mit den Achseln. Mit einer resignierenden Geste ließ er von ihr ab, wandte sich um und ging ins Bad. Die junge Frau schlug die Hände vors Gesicht und begann zu weinen. *** Volker Gersky nahm die Zeit nicht mehr wahr. Er lag auf dem Sofa und schnarchte in unregelmäßigen Stößen, die fast leere Whiskyflasche stand am Bo den, das Glas war ihm aus der leblosen Hand gefallen und unter den Tisch ge rollt. Nachdem Volker Gersky nach Hause gekommen war, hatte er sich ent schlossen und umgehend betrunken. Dies war zufriedenstellend gelungen und das
Ziel, nichts mehr denken zu müssen, voll erreicht.
Das Haus war still und ruhig.
Plötzlich schlug das offene Fenster. Wind war aufgekommen. In der Ferne wet
terleuchtete es. Die Temperaturen waren deutlich gestiegen und es kündigte sich
ein Gewitter an. Ein Gewitter Ende Oktober hieß häufig Schnee. Der Winter
stand bevor, die kalte, eisige Jahreszeit. Volker Gersky bemerkte nichts davon.
Vor dem Haus fuhr langsam ein dunkler Wagen vor und hielt. Die Beifahrertür
öffnete sich, die Innenbeleuchtung blieb dunkel. Ein Schatten schlüpfte heraus,
lief an der Garage vorbei an die Rückwand des Hauses und schwang sich leicht
und geübt durch das offene Schlafzimmerfenster. Dort öffnete er die Tür und
hielt kurz inne. Das Schnarchen aus dem Wohnzimmer war deutlich zu hören.
Sicher und zielstrebig ging der Schatten ins Arbeitszimmer, zog die Türe zu und
machte Licht. Prüfend sah er sich um. Ein leises Summen zeigte an, daß der
Computer eingeschaltet wurde. Nach zwanzig Minuten wurde das Licht wieder
gelöscht, das Summen war verstummt und der Schatten verschwand ebenso, wie
er gekommen war. In der Hand hielt der schwarz gekleidete Mann eine Aktenta
sche.
Das Schnarchen im Wohnzimmer hielt an.
*** 71
Max Weiss blickte hoch, als er das erste Donnergrollen hörte, und trat ans Fen ster seines Arbeitszimmers. Im Westen wetterleuchtete es und der Sturm jagte die Wolken über den Himmel. Die Bäume bogen sich im Rhythmus der Sturmböen. Max Weiss ging zu seinem Schreibtisch zurück und nahm die Blätter hoch, die er in der letzten Stunde beschrieben hatte. Ein neuer Computer stand in Armeslänge vor ihm, aber Max Weiss zog es vor, mit der Hand zu schreiben. Papier konnte leichter vernichtet werden und in den Computer kamen nur Schriftsätze, die je dermann einsehen konnte, ohne daß man weiterreichende Konsequenzen be fürchten mußte. Zuvor hatte er ein längeres Telefonat geführt. Die eingeholte Meinung stimmte mit seiner überein. Zuerst müßte geklärt werden, wie weit sein Mandant sein falsches Spiel getrieben hatte. Man würde behutsam vorgehen, die weitere Zu sammenarbeit mit dem Leiter der Anlagenabteilung aber neu überdenken müssen. Sollten die Unterlagen und das fehlende Geld nicht zurückgegeben werden, dann müßten Konsequenzen ergriffen werden, endgültige Konsequenzen, falls not wendig. Beide Telefonpartner versicherten sich gegenseitig, daß diese Maßnahme ausgesprochen unangenehm sein würde, und wie gesagt, nur im äußersten Notfall ergriffen werden sollte. Man hoffte, sie umgehen zu können. Beide wußten, daß diese Beteuerungen reine Rhetorik waren. Max wandte sich wieder seinem Schriftsatz zu.
Zwischenspiel „Hier KM 2, Commander, der Standort des Mercedes wurde durchgegeben.“ Der
Mann zögerte. Er wollte einmal eine menschliche Regung provozieren, nur ein
mal eine Spur Neugier. Kein Laut am anderen Ende der Leitung. Mit einem un
hörbaren Seufzen fuhr KM 2 fort. „Der Wagen steht in Meßkirch, das ist ein Ort
nahe Sigmaringen. Eine Autowerkstätte.“
„Der Aufenthaltsort der Frau und des Kindes?“ Die Stimme wie immer kalt und
emotionslos.
KM 2 zog die Brauen hoch. „Sehr unwahrscheinlich. Sie hatten einen Unfall.“
„Wo sind sie jetzt?“
„Das kann man nicht mit Sicherheit sagen.“ Wieder ein kurzes Zögern, wieder
keine Reaktion, nur Stille am anderen Ende der Leitung. Die Stimme von KM 2
wurde ausdruckslos. „Freitag Nacht stand der Wagen mehrere Stunden auf der
Straße Beuron-Meßkirch auf freiem Feld und wurde Samstag früh von dort ent
fernt. Die nächste Möglichkeit zur Unterkunft befindet sich sieben Kilometer von
diesem Punkt entfernt im Hotel 'Donaublick'. Wir vermuten, daß sie jemand dort
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hin mitgenommen hat. Unser Team entdeckte einen Wagen mit warmer Motor
haube auf dem Parkplatz des Hotels. Er gehört dem Gemeindearzt. Name und
Anschrift sind bereits bekannt. Soll ich es überprüfen und Kontakt aufnehmen?“
„Nein. Wir kümmern uns darum. Geben Sie die Daten durch.“
KM 2 tat es.
„Haben sie die Eltern der Frau schon überprüft?“
KM 2 zog wieder die Augenbrauen hoch. Seinem Gesprächspartner entging nicht
viel. „Die Eltern befinden sich außer Landes, in London. Wir konnten uns in den
Anrufbeantworter einklinken. Eine Nachricht von Gersky.“
„Aus Stegen?“ Wie immer erfaßte der Commander sofort das Wesentliche.
„Er ist allein Zuhause.“
Ein kurzes Schweigen am anderen Ende der Leitung, diesmal schien es dem
Mann, als wäre es nicht mehr ganz so kalt.
„Das war alles für heute. Bis morgen zum vereinbarten Zeitpunkt. Zufriedenstel
lend!“ Klick und die Leitung war tot.
KM 2 lächelte. Zufrieden suchte er seine Unterlagen zusammen und fuhr den
Computer herunter. Seine Arbeit war getan. Für heute zumindest. Er sah auf die
Uhr, halb elf. Er würde in die Stadt fahren und sich noch einen Drink genehmi
gen. Er würde die erste menschliche Regung des Commanders feiern, noch dazu
ein Lob. Er hoffte, er würde nie mit einer anderen menschlichen Regung kon
frontiert werden. Es könnte das letzte sein, was er in seinem Leben erfahren wür
de.
„Hier KM 16, Commander. Ich war wie vereinbart im Zielobjekt.“
„Irgendwelche Schwierigkeiten?“
„Ich blieb unentdeckt.“
„Das Gesuchte?“
„Befand sich nicht in seiner Aktentasche, die ich auftragsgemäß mitgenommen
habe. Unser Mann spielt falsch. Zudem...“
„Zudem was?“
„Ich habe noch seinen Computer durchgesehen und ich fand etwas.“
„KM 16, lassen Sie sich nicht die Würmer aus der Nase ziehen. Was haben Sie
gefunden?“
„In einem geschützten Verzeichnis fand ich Aufzeichnungen über sämtliche
Transaktionen, Kontaktperson, Datum, Ort.“
73
„Das ist ja...“ Kurz schwankte die kalte Stimme, dann fuhr sie fort. „Was haben
Sie unternommen?“
„Ich habe das Verzeichnis gelöscht, nachdem ich es auf Diskette überspielt hatte.
Ich dachte, wenn meine Anwesenheit schon bemerkt werden soll...“ KM 16 zö
gerte, erhielt aber keine Reaktion, also fuhr er fort. „Die Diskette habe ich hier.“
„Gibt es Sicherheitskopien?“
„Vermutlich, doch fehlte mir die Zeit, um es zu überprüfen. Wenn ja, hat er sie
wahrscheinlich nicht in seinem Arbeitszimmer aufbewahrt.“
„Schön, bringen Sie beides zur Leitstelle. Halten Sie sich dort zur Verfügung,
möglich, daß wir noch einen Auftrag für Sie haben. Informieren Sie auch Ihre
Gruppe, sie soll sich bereit halten. Noch was?“
„Soll ich mich um die Sicherheitskopien kümmern?“
„Nein!“ Klick
KM 16 sah auf die Uhr. Fünf nach zwölf. Es würde wieder eine lange Nacht wer
den. Er nahm die Aktentasche und die Diskette und machte sich auf den Weg.
*** Dr.Herrmann Schäuble träumte. Es war ein wirrer Traum. Fee kam darin vor und Brigitte Morandell, die ihn neckte. Plötzlich zog sie einen Wecker hervor, der wie verrückt klingelte und hielt ihn vor sein Gesicht. Schäuble versuchte, ihn ihr wegzunehmen, das unangenehme Klingeln zu stoppen, aber immer wieder griff er ins Leere. Er unternahm eine weitere Anstrengung und rums – was war das? Schäuble fuhr senkrecht im Bett hoch. Er tastete nach der Nachttischlampe, fand sie aber nicht. Läutete da wirklich sein Wecker? Wo war die verdammte Lampe? Ach, nein, das war das Telefon. Ungeschickte tastete er im Dunkeln nach dem
Hörer und bekam ihn endlich zu fassen.
„Hier Schäuble!“
„Guten Abend, Herr Doktor, gut, daß ich Sie erreiche.“ Die Stimme des Mannes
klang drängend. Schäuble kannte sie nicht.
„Was kann ich für Sie tun?“
„Herr Doktor, meine Frau und mein Kind sind im Donaublick. Hier spricht Vol
ker Gersky. Ich versuche schon eine Ewigkeit, Helen zu erreichen. Bei der Ver
mittlung im Hotel meldet sich niemand, aber ich muß sie unbedingt sprechen.
Können Sie mir sagen, in welchem Zimmer sie ist?“
„Sie sind in der Suite, ich glaube, sie hat die Durchwahl 10, aber wie...“
„Vielen Dank, Doktor, und entschuldigen Sie die späte Störung!“
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„Ja, aber...“ Schäuble versuchte mühsam, seine Gedanken zu sammeln. Doch die Leitung war tot, sein Gesprächspartner hatte aufgelegt. Schäuble schwang die Beine aus dem Bett. Dabei stieß er mit dem Fuß an etwas Kaltes. Er bückte sich und spürte die Nachttischlampe. Er mußte sie wohl im Schlaf herunter gestoßen haben. Er stellte sie zurück und knipste sie an. Dann fuhr er sich mit den Händen durchs Haar. Was war das für ein komischer Anruf? Zu dieser Zeit? Es war halb eins. Was war so wichtig, das der Ehemann um diese Zeit mit seiner Frau bespre chen mußte? Stirnrunzelnd legte er sich wieder hin. Irgend etwas stimmte nicht, aber er kam nicht drauf. Irgend etwas an diesem Anruf störte ihn. Der Ehemann hatte sehr seltsam geklungen. Er wollte nicht wissen, wie es seiner Frau und sei nem Sohn geht. Kein Wort davon. Er klang zwar ziemlich aufgeregt, aber trotz dem. Schäuble löschte das Licht und drehte sich zur Seite. Lange Jahre hatten ihn gelehrt, nach Unterbrechungen sofort wieder einschlafen zu können, aber heute wollte sich der Schlaf nicht sofort wieder einstellen. Etwas nagte an ihm. Plötz lich fuhr er hoch. Das war es, was ihm solches Unbehagen bereitet hatte! Was sollte er jetzt tun? Sollte er ins Hotel fahren? Fee benachrichtigen? Es war un wahrscheinlich, daß sie das Telefon hören würde. Vermutlich machte er sich umsonst Gedanken. Sicher hatte es Zeit bis morgen. Er würde gleich morgen früh zum Donaublick fahren. Dann würde er Näheres erfah ren. Wahrscheinlich hatte alles eine logische Erklärung. Es gab immer für alles eine logische Erklärung. Zufrieden drehte er sich auf die andere Seite und war im Nu eingeschlafen. Sein letzter Gedanke war, wie konnte Volker Gersky wissen, daß er, Dr.Herrmann Schäuble, seine Frau und seinen Sohn behandelt hatte? *** Max Weiss sah stirnrunzelnd auf die Uhr, halb ein Uhr nachts. Keine günstige Zeit für einen Schwatz am Telefon, der harmlos klingen sollte, doch eine wesent liche Information hervorlocken mußte. Aber sein Auftraggeber war nicht der Mann, dem man mit solchen Einwänden kommen konnte. Er war klar und präzise gewesen, ebenso wie die Forderung, die er gestellt hatte. Max Weiss seufzte, griff zum Telefon und wählte. „Hier Brockelmann!“ Eine helle, singende Stimme mit leichtem südländischem Akzent. Das ließ sich gut an. Sophia war am Telefon, das vereinfachte die Sache wesent lich. Sophia ging nie vor zwei Uhr nachts ins Bett und Telefonate zu dieser spä ten Stunde waren für sie nichts Außergewöhnliches. Überdies war sie eine zwar 75
äußerst gutaussehende, dafür aber um so einfacher strukturierte Person. Max
entschied sich für den direkten Weg.
„Hallo, Sophia, hier spricht Max. Ist Bernhard da?“
„Oh, Max, wie schön! Das ist ja eine Überraschung! Nein, Bernhard ist auf einer
dringenden Sitzung, wie üblich. Max, Lieber, wie geht es dir? Habe seit dem
Golfturnier von dir nichts mehr gehört! War ja eine Sensation, wie du Bernhard
geschlagen hast. Was treibst du immer so?“
Max stöhnte innerlich. Es ging wohl nicht ohne das übliche Drumherum ab.
Bernhard Brockelmann war ein ehemaliger Schulkollege von Max und beide
verband eine langjährige Freundschaft. Seine dritte Frau hielt Max zwar weitge
hend für entbehrlich, akzeptierte sie jedoch um der Freundschaft willen. Außer
dem hatte Bernhard so seine Verbindungen. Also nahm man Sophia in Kauf.
„Sophia, meine Schöne, dein Mann ist viel zu überheblich. Er hatte eine Abrei
bung verdient.“
„Aber doch nicht gleich in diesem Ausmaß, Max, mein Schätzchen. Immerhin ist
sein Handicap unter 10!“
„Sophia, Liebste!“ Mühsam hielt Max seine galante Linie, steuerte jedoch nun
unmerklich auf das Wesentliche, „Ich bin überzeugt, dein Mann hat diese Nie
derlage dazu benützt, um seine Schlagtechnik weiter zu perfektionieren. Ich bin
sicher, das nächste Mal schlägt er mich um Längen. Da fällt mir gerade ein, ihr
geht doch immer im Herbst irgendwohin in den Schwarzwald auf Urlaub?“
„Nicht Schwarzwald, Mäxchen, das ist die Schwäbische Alb. Eine gottverlassene
Gegend, keine Disko, kein gar nichts in der Nähe, aber Bernhard behauptet, er
brauche wenigstens einmal im Jahr Ruhe und Spaziergänge. Auch jetzt sollten
wir dort sein, aber Max hatte eine dringende Sache, mit der er jetzt noch beschäf
tigt ist. Es gibt irgendwie Probleme in der Firma. Entsetzlich öde, diese Gegend.“
„Ich brauche gerade so eine Umgebung für äh, meine Cousine. Wie heißt das
Hotel, wo ihr immer seid?“
Sophie, die eine Sensation witterte, biß am falschen Ende an. „Cousine? Max, du
hast eine Cousine? Warum hast du mir nie davon erzählt? Wie heißt sie? Wo hast
du sie versteckt? Erzähl schon!“
„Sophia!“ Max Stimme wurde um ein Grad schärfer. Sich sämtliche Antworten
aus den Fingern zu saugen, überstieg seine momentanen Fähigkeiten. Er hatte
improvisiert und würde das auch weiter tun müssen, aber erst einmal war die
Neugier der dritten Frau seines Freundes zu stoppen. „Ich verspreche, du lernst
sie bei nächster Gelegenheit kennen, aber jetzt eilt die Sache ein wenig. Sie ist
ziemlich mit den Nerven runter, weißt du, schreckliche Geschichte mit ihrem
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Mann. Sie braucht eine ruhige Umgebung und euer Hotel klingt ganz danach, als
könnte sie dort wieder zu sich finden. Also, wie heißt es und wo liegt es?“
„Die Ärmste, ach, tut mir das leid! Max, wenn ich irgendwie helfen kann?“
„S o p h i a!“
„Ja, ja, schon gut, werde nicht gleich so ungeduldig! Mein Gott, ich habe doch
nur wissen wollen, ob ich helfen kann.“
„Sophie, ich bitte dich!“ Max Stimme näherte sich der Null Grad Grenze.
Sophia seufzte vernehmlich. Diese deutschen Männer. In ihrer Heimat in Grie
chenland hatte man mehr Zeit, mehr Zeit und mehr Geduld, aber immerhin, er
war Bernhards bester Freund. „Es liegt südlich von Beuron in einer, wie ich zu
geben muß, bezaubernden Landschaft. Ich weiß nicht genau, wie es heißt, viel
leicht fällt es mir noch ein. Die Besitzerin ist eine unmögliche Person, die sich in
alles einmischt. Stell dir vor, sie hat doch einmal wirklich gewagt, mir vorzu
schreiben...“
„SOPHIA, Sophia, bitte!“
„Ja, gut, gut, ich habe verstanden! Der Name? Warte mal, ja, irgendwas mit ei
nem Fluß. Max, was gibt es da für einen Fluß?“
Max faßte sich in Geduld. Es nützte nichts, wenn man sie drängte, das wußte er.
„Der bekannteste ist wohl die Donau in dieser Gegend.“
Ein Jauchzen, als hätte er ihr gerade einen Antrag gemacht. „Wunderbar, Max, du
bist ja so gescheit! Das ist es, die Donau, ich wußte es gleich, der Rhein kann es
ja nicht sein. Oder doch?“
„Nein, Sophia, nicht auf der schwäbischen Alb.“ Max klang sehr vorsichtig. „Al
so, wie heißt das Hotel?“
„Das Hotel? Welches Hotel? Ach, das Hotel! Also, irgendwas mit Donau.
Donaueck, Donaugrund so ähnlich. Aber du kannst es nicht verfehlen, es gibt nur
eines in dieser gottverlassenen Gegend. Donaublick! So heißt es, Max, ich weiß
es wieder! „
Max kontrollierte seine Stimme, jetzt kam das Wesentliche. Wie nebenbei sagte
er: „Wie sind denn die Zimmer dort? Habt ihr immer dasselbe?“
„Die Zimmer? Das weiß ich nicht, Max. Wir nehmen immer die Suite. Die ist,
ich muß es wohl zugeben, sehr geschmackvoll eingerichtet. Es gibt zwei Schlaf
zimmer und einen großen Wohnraum und du weißt ja, wie Bernhard schnarcht.
Also, vielleicht weißt du es auch nicht, aber wir schlafen immer in getrennten
Zimmern. Schon von Beginn an. Es ist wirklich nicht auszuhalten, sag ich dir!“
„Schon gut, Sophia, meine Cousine leidet unter einer Phobie und daher...“
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„Um Gottes Willen, Max, wie schrecklich! Ist es ansteckend? Vielleicht sollte ich
doch nicht...“
Max hatte Mühe, sich ein Lachen zu verbeißen. „Keine Sorge, Sophia, das heißt
lediglich, daß meine Cousine keine Höhe verträgt, sie hat Höhenangst.“
„Ach!“ Die Erleichterung war unüberhörbar.
„Das bedeutet, daß sie nicht höher als im ersten Stock wohnen kann und das nur
mit Mühe. Außerdem braucht sie Westsonne, darauf besteht sie.“
„Max, wie schade, dann geht das nicht! Also, die Suite ist im ersten Stock und sie
geht nach Osten, das weiß ich genau. Ich habe mich schon oft geärgert, daß mich
in der Früh die Sonne geweckt hat, wo ich doch so gerne lange schlafe. Hundert
mal habe ich es Bernhard schon gesagt, aber du weißt ja, wie er ist.“
Max ließ Sophia noch wenige Minuten vor sich hinplappern, dann beendete er
das Gespräch.
Sein nächster Anruf war wesentlich kürzer.
„Hier Max Weiss. Die Suite im 'Donaublick' ist im ersten Stock, nach Osten.“
„Balkon, Vorbau?“ Eine kalte, arrogante Stimme.
„Keine Ahnung! Es war mühsam genug, diese Information einzuholen.“
„Gut. Ende.“
Max gähnte und sah auf die Uhr. Ein Uhr durch. Er mußte noch seinen Schriftsatz
zu Ende bringen.
Zwischenspiel Zehn Minuten nach eins hatte KM 16 in der Leitstelle in Stuttgart alle Informa tionen, die er zur Ausführung des Plans benötigte. Er rief seine Männer und eine Stunde später waren sie unterwegs. Sie würden sich beeilen, um noch vor vier Uhr an Ort und Stelle zu sein. Die Zeit zwischen drei und vier Uhr früh war die beste Zeit für das Gelingen solcher Unternehmungen. Wenn es nach KM 16 ging, dann würde er alles daransetzen, daß das Unternehmen gelang und das geforderte Objekt unbeschädigt abgeliefert wurde. Was weiter damit geschah, interessierte ihn nicht mehr. Hoffentlich gab es keinen Nebel. *** Volker Gersky erwachte durch ein lautes Schlagen. Erwachen war vielleicht nicht ganz das richtige Wort, Volker Gersky kämpfte sich mühsam durch seinen Alko 78
holnebel an die Oberfläche. Außerdem fror ihn. Mußte dieses Weibstück immer die Heizung zurückdrehen? Sie hatten es weiß Gott nicht mehr nötig zu sparen. Plötzlich erhellte ein greller Blitz die Umgebung und ein Donnerschlag folgte unmittelbar darauf. Volker sprang auf und sah verwirrt um sich. Er war Zuhause und er war allein. Er schaltete die Lampe ein und ging in den Flur, um dem Klop fen auf die Spur zu kommen. Er rieb sich den Nacken, der sich steif anfühlte. War wohl besser, ins Bett zu gehen. An der Haustüre befand sich niemand. Volker ging ins Schlafzimmer. Das Fenster war offen und schlug im Wind hin und her. Volker entsann sich, es geöffnet zu haben, als er heimkam. Er verriegelte es. Brrh, war das kalt hier. Vielleicht sollte er sich erst noch einen Drink holen? Er ging wieder in den Flur und hielt plötzlich inne. Sein Instinkt sagte ihm – ja, was? Er öffnete die Tür zum Arbeitszimmer und knipste das Licht an. Alles in Ord nung, alles, wie es sein sollte. Volker runzelte die Stirne. Sein Gehirn fühlte sich benebelt an, die Alarmzeichen erreichten nicht sein Bewußtsein. Unentschlossen drückte er die Tür zu und ging zur Bar. Einen kleinen Whisky noch, nahm er sich vor, nur zum Einschlafen. Dann ging er zu Bett. Volker Gersky bemerkte weder das Fehlen seiner Aktentasche noch sah er einen Anlaß, seinen Computer einzuschalten. Das würde er erst morgen tun. Erst mor gen früh würde er bemerken, daß sein geheimes Verzeichnis trotz Codeschutz nicht mehr existierte. Volker Gersky würde daraufhin die Nerven verlieren. Aber da war es schon zu spät, um Stunden zu spät, denn das Team von KM 16 erreichte genau um drei Uhr fünfundfünfzig das Zielobjekt und beendete erfolgreich um vier Uhr sechs seinen Auftrag. *** Felix träumte... Felix träumte einen bösen Traum. Er dachte, es müsse ein Traum sein, der ihn gefangen, gefesselt hielt. Oder war er doch wach? Er versuchte, die Augen auf zumachen, aber etwas hielt seine Lider fest. Etwas Weiches. Ein Tuch? Er wollte rufen, versuchte, seinen Mund aufzumachen, aber irgend etwas hinderte ihn. Er bekam keinen Laut über die Lippen, denn seine Lippen hielt irgend etwas fest. Etwas Zähes, Klebriges, ein Pflaster? Warum sollte er ein Pflaster über seinem Mund haben? Er hatte sich doch nicht verletzt!? Ein Tuch über den Augen und ein Pflaster über dem Mund – sehr seltsam! Langsam kam Felix zu sich. Nun war er sicher, daß das kein böser Traum war. Er spürte eine würgenden Brechreiz. Was sollte er jetzt tun? Das Pflaster entfernen natürlich. Irgend etwas hielt seine Hände fest. Ein Strick? Seine Hände waren 79
gefesselt? Warum? Was war mit seinen Beinen? Die waren zwar nicht gefesselt,
steckten aber irgendwo fest, es fühlte sich an wie ein Sack oder eine feste Decke.
Er konnte die Knie nicht anziehen. Was geschah mit ihm? Wo war seine Mami?
Felix bekämpfte die aufsteigende Panik. Wo war er? Das Schaukeln und Rucken
und das Geräusch kannte er doch von irgendwoher. Ein Auto! Er war in einem
Auto, lag auf dem Rücksitz, nicht in seinem gewohnten Kindersitz, in dem er nie
schlafen konnte. Warum lag er da? Er spürte, wie der Wagen hielt, jetzt wieder
langsam anfuhr, wieder hielt. Sollte er doch träumen? Waren die Außerirdischen
gelandet und hatten ihn entführt? Die Angst kam wieder, auch das Gefühl, erbre
chen zu müssen, stellte sich ein und nun würgte er. Plötzlich wurde das Pflaster
von seinem Mund gerissen und er erbrach sich.
„Verdammte Schweinerei.“ Die Stimme des Mannes war ungeduldig und scharf.
„Mach die Tür auf, sollen wir die ganze Sauerei im Auto haben? Der Stau wird
noch eine Weile dauern.“
Felix hörte, wie die Wagentür geöffnet wurde und dann wurde er unsanft an die
Luft befördert. Er atmete tief die kalte Morgenluft ein. Sein Magen beruhigte sich
und auch der Druck im Kopf verringerte sich etwas. Felix spürte instinktiv, daß
es im Moment keine gute Idee wäre, nach seiner Mami zu rufen. Seine Mami war
nicht im Auto, das war klar. Auch waren das wahrscheinlich keine Außerirdi
schen, die ihn mitgenommen hatten, nicht, wenn sie so fluchen konnten. Also war
es sicher klüger, den Mund zu halten und sich tot zu stellen. Er wurde schlaff in
den Armen des Mannes.
Als er wieder ins Auto gehoben wurde, hörte er, wie der Mann sagte: „Er wird
wieder ohnmächtig. Gut sonst hätten wir in noch mal betäuben müssen. Soll ich
ihn wieder knebeln?“ Felix kniff die Lippen ganz fest zusammen. Nicht noch mal
dieses unangenehme Zeug über den Mund.
„Nicht nötig!“ Die Stimme war knapp und ungeduldig.
Felix lag wieder im Auto und versuchte, die Situation zu verstehen. Er war gefes
selt, keine Mami und kein Papa weit und breit. Er konnte nichts sehen und er
konnte sich kaum bewegen. Was geschah da bloß? Er beschloß, wieder einzu
schlafen. Vielleicht war das alles doch nur ein böser Traum und wenn er auf
wachte, würde er schnell zu seinen Mami ins andere Zimmer laufen und sich in
ihr Bett kuscheln. Dann würde alles gut sein.
Felix träumte...
Plötzlich war er wieder unter Wasser. Vor ihm war Kevin und neben ihm Manu
el. Wieder stiegen bunte Blasen hoch, als sie ihn lächelnd fragten, möchtest du
nicht mitkommen?
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Felix sah sich um, vor ihm ragte der dunkle Eingang der Höhle hoch. Aber er war doch auf dem Weg nach oben gewesen, er mußte da doch etwas Dringendes erle digen. Was war das noch gleich gewesen? Kevin faßte ihn an der Hand. Felix wußte nicht mehr, was er tun sollte. Irgend etwas war schief gelaufen. Er war sich ganz sicher gewesen, daß er was tun mußte. Aber jetzt? Felix war wieder sehr müde. Er war verwirrt und er hatte Angst. Das einzig Reale war die Hand von Kevin. Er gab nach und folgte seinem Freund in die dunkle Höhle.
Zwischenspiel KM 16 sah auf die Uhr. Sie hatten fast zwei Stunden im Stau verloren. Zeit für den vereinbarten Anruf. Er griff zu seinem Handy und wählte. Es wurde sofort abgehoben. „Operation erfolgreich beendet!“ Manchmal kam sich KM 16 richtig lächerlich vor mit diesem ganzen zackigen Getue. „Wie spät ist es?“ fragte die kalte Stimme knapp. KM 16 zog die Augenbrauen hoch und sah auf die Uhr. Der Commander würde doch wohl eine Uhr in seiner Nähe haben. Nun, er war der Boß. „Sieben Uhr zwei.“ „Rufen Sie die Mutter an.“ Die Verbindung wurde unterbrochen. KM 16 wählte erneut. Er konnte nur hoffen, daß die Angabe des Doktors auch stimmte. Es läutete. KM 16 ließ es klingeln. Endlich wurde der Hörer abgehoben und eine verschlafene Stimme sagte: „Ja, hallo, hier Helen Gersky, wer ist da?“ *** Kurz nach sieben war die Donaufee bereits seit einer halben Stunde wach. Auch Sonntags schlief sie nie länger, stellte jedoch keinen Wecker und überließ es dem Zufall, wann sie wach würde. Dieser weckte sie heute zwanzig vor sieben. Als sie in den Frühstücksraum ging, bemerkte sie, daß der Telefonanschluß für die Suite blinkte. Sie runzelte die Stirn. Alle Zimmer hatten eine eigene Durchwahl und konnten daher direkt angewählt werden, aber wenn sie Helen Gersky richtig ver standen hatte, wußten nur ihre Eltern, wo sie war, und die waren im Moment sicher noch in London. Seltsam, daß diese zu so früher Stunde anrufen sollten? Einen Moment lang dachte die Donaufee daran, sich einzuschalten, aber dann siegte ihre Diskretion über ihre Neugier. In diesem Moment erlosch das Licht, das Gespräch war beendet. Ein kleines Lied summend begann Fee, im Früh stücksraum die Tische zu decken, und vergaß den Zwischenfall. 81
Sie ging in die Küche zurück, um Butter und Marmelade aus dem Kühlschrank zu holen, als sie abrupt stehen blieb und einen kleinen Schrei ausstieß. „Mein Gott, haben Sie mich erschreckt. Frau Gersky, Sie sind aber früh wach. Um Gottes willen, wie sehen Sie denn aus?“ Schnell eilte sie zu der jungen Frau, die sich offenbar mit letzter Kraft am Türstock festhielt und erschreckend bleich aussah. Helen öffnete den Mund, aber sie brachte keinen Laut hervor. Fee nahm sie am Arm. Fürsorglich führte sie sie zum Tisch. Helen sank völlig entkräftet auf den Stuhl. Immer wieder versuchte sie, zu sprechen, und immer noch brachte sie nicht mehr wie ein leises Stöhnen zustande. „Soll ich Ihnen etwas zu trinken bringen? Haben Sie Schmerzen?“ Ein Herzan fall?
Endlich gelang es Helen, sich ein wenig zu fassen. „Felix ist... der Telefonanruf...
Sie sagen...“
„Wer sagt was und was ist Felix!“ Fees Stimme wurde fester. Offensichtlich kein Herzanfall, aber ein schwerer Schock. Dem Jungen wird doch nichts passiert sein? Er wirkte so munter und fröhlich beim Abendessen. „Frau Gersky, nehmen Sie sich zusammen! Was ist mit Felix?“ Die klare Sprache half Helen. Sie schluckte. „Felix ist entführt worden. Ich habe gleich nachgesehen, als der Anrufer auflegte und sein Bett... ist... leer...“ Ihre Stimme brach, aber es kamen keine Tränen. „Felix ist was?“ Zum Entsetzen in Fees Stimme schwang unüberhörbar Empö rung über die Tatsache, das so etwas Furchtbares in ihrem Haus geschehen konnte. „Was für ein Anruf?“ Fee packte Helen am Oberarm und schüttelte sie. Mein Gott, was ging da vor? Helen schien durch die Berührung etwas sicherer zu werden und ihr Blick war nicht mehr so leer. Beinahe ungeduldig machte sie sich von Fee los. „Das Tele fon weckte mich. Da war ein Mann, er sagte... sagte...“ Wieder drohte ihr die Stimme zu versagen. Fee hielt sich zurück, obwohl ihr danach zumute war, die junge Frau wieder zu schütteln. „Kennen Sie den Mann?“ Helen schüttelte den Kopf und zupfte an ihrem Ärmel. Hilflos sah sie Fee an. Das wird so nichts, dachte sich die Donaufee. Sie lief zur Maschine, auf der eine volle Kanne Tee standen, goß aus dieser einen großen Schluck ein und nahm zwei Eßlöffel Zucker. Dann rührte sie energisch um, zögerte einen Moment und goß noch einen kräftigen Schuß Rum dazu. Die Tasse brachte sie Helen und nö tigte sie zum Trinken. Helen verzog das Gesicht, aber ein wenig Farbe kehrte in ihre Wangen zurück und sie war imstande, zusammenhängend zu berichten. Ein Anrufer habe ihr mit 82
geteilt, daß Felix entführt worden sei, um ihren Mann zu zwingen, Dinge, die er
widerrechtlich an sich genommen hätte, zurückzugeben. Wenn dies erfolgt sei,
würde der Junge unbeschadet wieder zu seinen Eltern zurückgebracht. „Zum
Schluß sagte er noch, keine Polizei! Zweimal sagte er, keine Polizei!“ Erschöpft
brach Helen ab.
Fee hatte sich Frau Gersky gegenüber gesetzt und ihre Gedanken überschlugen
sich. Wie kamen die Kidnapper ins Haus? Was war als Nächstes zu tun? Sollte
man nicht doch besser die Polizei einschalten? Und ein wenig ärgerlich, warum
hat der verdammte Severin nichts gemerkt? Dann faßte sie sich und fragte vor
sichtig: „Was werden Sie jetzt tun?“
„Ich weiß es nicht!“ Hoffnungslos sah sie Fee an.
„Sollten wir nicht doch die Polizei?“
„Nein!“ Ein Aufschrei, wobei Helen wieder ihren Tee verschüttete, doch diesmal
bemerkte sie es nicht. „Keine Polizei, hören Sie, Frau Di Cosimo.. äh, Fee! Ich
will keine Polizei!“ Eine steile Falte erschien auf ihrer Stirn.
Fee ignorierte die Flecken. „Gut, gut, keine Aufregung. Dann sollten wir überle
gen, was wir als nächstes tun können. Vielleicht sollten Sie Ihren Mann anru
fen?“
„Ja.“ Ein Seufzen. „Das muß ich. Könnte ich von hier telefonieren?“
„Selbstverständlich! Kommen Sie!“ Fee führte Helen in die kleine Rezeption und
wählte eine Freileitung für sie. Dann drückte sie ihr den Telefonhörer in die Hand
und wandte sich ab, um in die Stube zurückzukehren.
Ängstlich griff Helen nach Fees Arm. „Bleiben Sie, bitte. Ich fühle mich dann
sicherer.“
„Gerne.“
Helen wählte und legte dann enttäuscht auf. „Besetzt“ sagte sie stirnrunzelnd und
mit einem Blick auf die Uhr: „Acht Uhr! Am Sonntag ist Volker sonst nie um
diese Zeit wach!“ In der nächsten halben Stunde versuchte es Helen wieder und
wieder, umsonst. Der Anschluß war besetzt. Ärgerlich schmiß sie den Hörer auf
die Gabel. „Himmel, was soll das? Muß er gerade jetzt mit seiner Freundin tele
fonieren? War wohl zuwenig am Freitag!“
Fee unterdrückte ein Lächeln und hustete. Wenn die gekränkte Ehefrau wieder
die Oberhand gewonnen hatte, war der Seelenzustand nicht mehr allzu schlecht.
Kampf war angesagt! „Ein Vorschlag, Frau Gersky!“
Helen wandte sich ihr stirnrunzelnd zu. Die steile Falte schien sich vertieft zu
haben. „Ja?“
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„Severin soll sie nach Freiburg fahren, dann können Sie selbst nachsehen. Wenn
er sich etwas beeilt und das tut er gern, sind Sie in eineinhalb Stunden dort.“
„Das ist eine Idee! Ich hole nur schnell meine Tasche und meinen Mantel.“ Und
schon war sie aus der schmalen Nische geschlüpft und lief nach oben.
Fee eilte zum Pförtnerhäuschen. Severin hatte zwar ein Telefon, aber Fee wollte
selbst sehen, in welchem Zustand er war. Hoffentlich hatte er nicht zuviel getrun
ken. Sie stieß die Tür auf und rief: „Severin? Wo steckst du?“
Severin tauchte aus dem Dunkel seines Schlafzimmers auf, bereits völlig ange
kleidet. Er schien ausgeschlafen und nüchtern, wenn auch eine Spur verschlosse
ner als sonst.
Rasch erklärte Fee, warum es ging. Ohne ein Wort nahm Severin die Autoschlüs
sel vom Haken und ging zur Tür. Dann drehte er sich nochmals um und sagte zur
verdutzten Fee: „Dem Jungen darf nichts passieren!“ und schon war er aus der
Tür. Knapp eine Minute später hörte Fee den Jaguar aufröhren. Fee kehrte ins
Hotel zurück und stieß an der Eingangstür mit Helen zusammen. Wie ein Wir
belwind schoß diese aus der Tür, rief Fee über die Schulter zu: „Sind hoffentlich
bald zurück! Vielen Dank noch!“ Dann schlug die Autotüre zu und der Wagen
jagte mit durchdrehenden Reifen auf die Straße.
Als Fee langsam die Eingangstüre schloß, läutete das Telefon. Die Kidnapper,
dachte Fee und meldete sich etwas atemlos. „Ja?“
„Frau Di Cosimo?“ Eine etwas verwunderte Stimme. Eine Männerstimme.
„Herr von Hohenstein Sie wollen sicher Ihr Frühstück aufs Zimmer!“
„Wenn das möglich ist? Ja, bitte. Vielen Dank!“
Der Mann aus dem Bambuszimmer hatte aufgelegt. Wieder dachte Fee zweifelnd,
ob bei den beiden alles richtig im Oberstübchen ist? Nach fast zehn Tagen, an
denen er mindestens jeden zweiten Tag das Frühstück aufs Zimmer angeordnet
hatte, fragte er noch, ob es möglich sei.
Fee ging in die Stube und setzte sich. Sie zündete sich eine Zigarette an und at
mete tief durch. Sie brauchte erst einmal eine Atempause. Das Bambuszimmer
würde schon nicht verhungern. Außerdem mußte sie zuerst noch etwas klären.
Sie drückte die Zigarette aus und lief in den ersten Stock. Die Tür zur Suite stand
sperrangelweit offen. Helen hatte bei ihrem hastigen Aufbruch nicht daran ge
dacht, abzuschließen. Fee trat ein und wandte sich nach rechts in das kleine
Schlafzimmer. Als sie die Tür aufstieß, strömte ihr ein Schwall kalter Luft entge
gen. Beide Fensterflügel standen weit auf. Sie ging zum Fenster und beugte sich
hinaus. Auf dem Vordach, das den Fahrrad-Stellplatz überdeckte, war nichts zu
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sehen, aber in einem Fensterflügel war ein etwa fünfzehn Zentimeter großes, kreisrundes Loch neben dem Fensterriegel. Fee sah sich um. Keine Glasscherben. Saubere Arbeit, dachte sie, Profiarbeit. Dann schloß sie das Fenster. Sie würde es Severin abdichten lassen, wenn sie etwas Zeit fand. Erst einmal mußte das Pärchen aus dem Bambuszimmer gefüttert werden. Sie schloß die Tür zur Suite. *** „Schatz, reich mir doch bitte die Croissants herüber. Die sind hervorragend! Wo hast du die her?“ „Die Bäckerei am Ende der Straße hat so viele, daß sie sie verkaufen müssen!“
„Schier unglaublich! Du bist heute schon so weit gegangen, nur um für mich
Croissants zu besorgen? Ich bin gerührt, Charly!“
„Liebste Brigitte, heute ist Sonntag, also bin ich in die Tiefen meiner Tiefkühl
truhe gestiegen und habe die für dich eingefrorenen Köstlichkeiten in der Mikro
welle aufgetaut. Für dich ist mir kein Aufwand zu groß!“
„Das ist doch!“ Empört schlug Brigitte nach Charlys Hand. Aber dieser war
schneller und so wackelte der kleine Frühstückstisch bedenklich. Schnell brachte
Charly sein Glas mit Orangensaft in Sicherheit. „Daß ich meilenweit gefahren bin
und schon um halb sechs Uhr aufstand, nur um zu dir zu kommen, vergißt du
scheinbar!“
„Fahren kann jeder! Ich bin zu Fuß zur Tiefkühltruhe gegangen!“
„Also gut, ich bin beeindruckt.“
„Beinahe dachte ich schon, du wärst ebenfalls zu Fuß unterwegs gewesen. Wenn
du schon so früh losgefahren bist, was hat dich denn aufgehalten?“
„Ja, stell dir vor, das wollte ich dir ohnehin erzählen. Ich habe heute geglaubt,
daß sich bei mir schon erste Zeichen von Paranoia zeigen. Da war ein – was sagst
du?“
„Nichts, nichts. Erzähle!“
„Da war ein schrecklicher Autounfall und ein kilometerlanger Stau. Ich habe
zuerst gedacht, es ginge bald wieder weiter, aber wir steckten fast zwei Stunden
fest.“
„Und dabei hat dich dein Hintermann angehimmelt. Schatz, das sind keine An
zeichen von Paranoia! Laß dir von einem Fachmann erklären...“
„Aber nein, das war es doch gar nicht! Du nimmst mich nicht ernst. Es war das,
was vor mir war. Da war ein großes, schwarzes Auto mit verdunkelten Scheiben.
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Es sah irgendwie bedrohlich aus. Plötzlich wurde die rechte hintere Tür geöffnet,
ein Mann stieg aus und zerrte einen kleinen Jungen aus dem Wagen. Dieser
mußte sich übergeben. Da hatte ich für einen Moment geglaubt, daß das Felix ist,
der kleine Junge, weißt du, den ich gestern behandelt habe und zu dem ich nun
wieder hinfahre! Die blonden Haare! Aber es war nicht hell genug, ich konnte
nichts Genaues sehen. Außerdem ist das ja blödsinnig, was sollte Felix um sieben
Uhr früh in diesem Auto. Wie ich sagte, Paranoia ersten Grades!“
„Das kommt davon, wenn man nicht genügend abschalten kann. Ich sage ja im
mer, du nimmst deine Patienten im Kopf mit nach Hause. Sicher hat dir deine
Phantasie einen Streich gespielt.“
„Natürlich, klar, obgleich...“
„Was meinst du?“
„Der Junge sah aus, als hätte er eine Binde um die Augen und seine Füße waren
irgendwie eingepackt. Der Mann hielt ihn fest, es schien, als könnte das Kind
nicht alleine stehen.“
„Du sagtest doch gerade, es war noch dunkel.“
„Dunkel nicht mehr, aber eben auch noch nicht hell. Auf jeden Fall kam mir die
Sache doch etwas spanisch vor und ich wollte gerade aussteigen und fragen, ob
der Mann Hilfe bräuchte, da waren sie – schwupp – wieder im Auto. Kurze Zeit
später war der Stau vorbei und ich habe sie aus den Augen verloren.“
„An was denkst du, Entführung?“
„Möglich, ich weiß nicht.“
„Würde es dich beruhigen, wenn ich mich erkundige?“
„Oh, ja, das wäre schön. Dann kann ich das komische Gefühl streichen.“
Charly ging in sein Arbeitszimmer und kehrte schon kurze Zeit später zurück.
„Keine Anzeige wegen Entführung ist in den letzten Stunden eingegangen. Auch
wurde kein Junge als vermißt gemeldet. Beruhigt?“
„Ja! Genießen wir unser Frühstück. In einer Stunde sollte ich ohnehin schon wie
der los!“
*** Im Bambuszimmer saßen sich ebenfalls ein Mann und eine Frau gegenüber und frühstückten. Doch hier fiel kein Wort. Die Frau war immer noch bleich, ihre Augen gerötet vom Weinen und die Haare hingen ihr wirr ins Gesicht. Der Mann sah sie an und machte eine ungeduldige Geste. Seufzend ergriff er das Wort. 86
„Corinne, du mußt dich, äh, endlich entscheiden. Du kannst dich nicht für den Rest deines Lebens in diesem Hotelzimmer vergraben.“ „Ich war doch gestern mit dir weg und es war eine Katastrophe!“ Corinnes Stimme war leise und erschöpft und klang ein wenig gehetzt. Sie ließ den Kopf hängen. „Es war solange keine Katastrophe, bis du es nicht zu einer gemacht hast!“ Man merkte dem Mann an, daß er sich bemühte, geduldig zu bleiben. Corinne sah auf. „Du kannst ja gehen, Alex.“ „Du weißt, daß ich dich nicht im Stich lasse, äh, solange du mich brauchst! Mut ter wäre...“ „Sie ist nicht meine Mutter!“ Corinnes Stimme war scharf und einen Moment lang überdeckte Zorn ihre Verzweiflung. Alex stöhnte. Das war ein abgedroschenes Thema. Sinnlos, jetzt weiter zu argu mentieren, Corinne würde nicht darauf eingehen. Stumm setzten sie ihr Frühstück fort. *** Dr.Schäuble frühstückte allein. Zum einen hatte er sich gestern nicht bei Fee zum Frühstück angemeldet und diese hatte ihn nicht eingeladen, zum anderen wollte er noch über einiges nachdenken. Wie war das mit diesem eigenartigen Anruf? Bei hellem Tageslicht schien die Sache noch mysteriöser als gestern Nacht. Also, der Reihe nach, wie war das doch: Helen Gersky wollte keinen Kontakt mit dem Ehemann, daher hatte sie ihn höchstwahrscheinlich nicht angerufen. Aber nun wußte Volker Gersky nicht nur ganz genau, wo seine Familie untergebracht war, nein, er wußte auch noch, daß seine Frau von ihm verarztet worden war. Schäuble sprang auf. Da stimmte doch etwas nicht. Da stimmte doch etwas ganz und gar nicht. Das stank doch zum Himmel! Wenn das nun ein getürkter Anruf war, nicht Volker Gersky! Schäuble rannte beinahe in die Diele. Er riß den Man tel vom Haken und eilte in die Garage. Ungeduldig startete er den Ford. Dabei gab er viel zuviel Gas. Der alte Motor stotterte und starb ab. Fluchend sprang Schäuble aus dem Wagen und klappte die Motorhaube auf. Un schlüssig rüttelte er an Kabeln und am Luftfilter, runzelte die Stirne und gab brummende Laute von sich. Wird wohl Zeit, daß der Severin wieder mal nach dem guten Stück sah. Zweifelnd sah er auf den Motor. Dann schloß er die Haube und versucht erneut zu starten. Der gutmütige Ford hatte mittlerweile Zeit gehabt, das Zuviel an Benzin zu schlucken und ließ sich sofort starten. Erleichtert rum 87
pelte Schäuble aus der Garage und beeilte sich, auf die Anhöhe zum 'Donaublick'
zu kommen.
Als Fee den Doktor kommen sah, lief sie ihm entgegen und zu seiner maßlosen
Verblüffung warf sie sich in seine Arme. Entzückt hielt er sie fest und drückte sie
an sich. Im Augenblick vergaß er alles andere und hörte auch nicht, was Fee ihm
in ihrer übersprudelnden Art erzählte. Erst die Worte „Felix“ und „Entführung“
ließen ihn aufhorchen. Er hielt Fee auf Armeslänge von sich und fragte ungläu
big: „Was sagst du da?“
„Herrmann, du hörst schon wieder nicht zu! Ich sagte doch gerade, Felix ist ent
führt worden. Heute Nacht haben irgendwelche Leute ein Loch in die Fenster
scheibe geschnitten und ihn aus dem Zimmer geholt. Er ist verschwunden, gekid
nappt!“
„Die Polizei?“
„Nein. Frau Gersky wollte keine, die Entführer haben angerufen und gedroht!“
„Wie geht es ihr?“
„Helen Gersky? Die ist unterwegs nach Freiburg mit Severin. Sie konnte ihren
Mann nicht erreichen, es war dauernd besetzt, als sie anrief. Da habe ich sie mit
Severin los geschickt.“
„Warum wurde Felix denn entführt? Sind sie so reich?“
„Die Entführer sagten wohl, es sei etwas gestohlen worden und Felix' Vater müs
se es wieder zurückgeben.“
„Gestohlen? Und da entführt man den Jungen? Was sind denn das für Leute?“
Herrmanns gerechte Empörung ließ seine Stimme zittern.
Fee drückte ihn an sich und nahm ihn bei der Hand. „Komm herein, wir setzen
uns erst einmal in die Stube und besprechen alles. Wie kommt es übrigens, daß
du schon so früh hier bist?“
Herrmann Schäuble machte ein verlegenes Gesicht und erzählte Fee vom nächtli
chen Anruf.
Fee zeigte mit dem Finger auf ihn und meinte triumphierend: „Das ist es! Damit
haben sie herausbekommen, wo Felix untergebracht war. Ich habe mir schon die
ganze Zeit den Kopf zerbrochen, wie die wissen konnten, wo Felix schlief. Sie
sind auf den Vorbau geklettert. Dann haben sie ein Loch in die Scheibe ge
schnitten, sind eingedrungen, haben den Kleinen betäubt und aus dem Fenster
gehoben. Ein Kinderspiel“
„Und ich habe dabei noch kräftig mit geholfen!“ Schäuble klang betroffen und
geknickt.
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„Herrmann, mache dir keine Vorwürfe! Wie solltest du es auch wissen. Komm,
laß uns überlegen, ob wir etwas unternehmen können.“
„Was willst du den unternehmen? Du kannst doch nicht die Polizei holen, wenn
die Mutter dagegen ist.“
„Könnte ich schon, es ist schließlich mein Hotel, aber“ abwehrend streckte sie
die Hand aus, „das werde ich nicht tun. Zumindest im Moment noch nicht.“
Während Fee Kaffee einschenkte, diskutierten beide alle Möglichkeiten, die ih
nen einfielen. Es kam nicht viel mehr dabei heraus, als daß es am besten wäre,
abzuwarten. Unübersehbar war, daß sich beide große Sorgen machten.
*** Max Weiss machte sich ebenfalls Sorgen. Er hatte einen Anruf erhalten und den neuesten Stand der Dinge erfahren. Er war nicht einverstanden. Er war ganz und gar nicht einverstanden! Eine Entführung rief in Windeseile die Polizei auf den Plan und die neigte erfahrungsgemäß dazu, ihre Nase in alle möglichen Angele genheiten zu stecken, auch in solche, die sie nichts angingen. Entführungen alar mierten die offiziellen Stellen bis in die höchsten Ebenen und niemand war vor ihnen sicher. Max Weiss fühlte sich zwar nicht unmittelbar gefährdet, aber es gab da schon die eine oder andere Transaktion, deren gesetzliche Unbedenklichkeit nachzuweisen ihn zumindest einiges an Mühe kosten würde. Wozu das alles! Man hätte sich mit Gersky anders einigen können. Er hatte angenommen, dies in dem Telefonat deutlich genug gemacht zu haben! Max Weiss seufzte und überlegte, ob er es sich leisten könne, zu dem vereinbar ten Golfspiel mit Bernhard zu gehen, mit dem Hintergedanken, vorsichtig nach fragen, ob sein mitternächtlicher Anruf irgendwelche komischen Ideen angezet telt hatte. Er beschloß daher, das Treffen einzuhalten. Bis dahin war noch etwas Zeit und die wollte er nützen. Er öffnete den Tresor und sah seine Unterlagen durch. Die etwas anrüchigen packte er in einen Aktenkoffer. Es blieben noch genügend Papiere übrig. Den Aktenkoffer würde er auf dem Weg zum Golfplatz am Bahnhof in ein Schließ fach sperren. Sicher war sicher. *** Auf der Einfallstraße von Freiburg ließ sich Severin von Helen dirigieren. Sie fuhren die lange Gerade nach Ebnet, bogen auf die Allee, die in die Innenstadt führte, hielten sich dann jedoch links, so daß sie den Altstadtkern rechts umfuh ren. Durch Industriegebiete ging es aus Freiburg wieder hinaus und nach Nord west, Richtung Stegen. 89
Helen war die ganze Fahrt schweigsam gewesen. Sie hatte wenig wahrgenommen und Severin war froh darüber. Einige Überholmanöver hätten sie wahrscheinlich erschreckt. Severin war ein sicherer Fahrer und wußte, was er seinem Fahrzeug zumuten konnte, aber Beifahrer wußten das nicht immer. Die gefahrene Zeit war hervorragend, der Verkehr zu dieser Sonntagmorgenstunde erwartungsgemäß gering. Sie bogen von der Hauptstraße rechts ab. Helen beugte sich vor. „Jetzt bis zur Kreuzung und gleich ganz scharf rechts, nun noch ein kleines Stück hier ist es!“ Sie klang aufgeregt und nervös. Severin hielt vor einem Einfamilienhaus mit Doppelgarage. Den Vorgarten zäumte eine niedrige Buchsbaumhecke, die Gartentür war aus Schmiedeeisen. Der Name Gersky stand in schwarzen Buchstaben über dem Postkasten. Helen löste den Sicherheitsgurt und sah zum Haus. Was Severin bereits bemerkt hatte, fiel ihr eben erst auf. „Da ist ja die Türe offen! Um Himmels willen!“ Rat los blickte sie Severin an. Severin sah erneut zum Haus. Die geschnitzte Holztüre stand halb offen und die weiße Fassade wirkte abweisend, kalt und unnahbar. Severin konnte Helen ver stehen. „Wenn Sie wollen, komme ich mit!“ „Oh, ja, bitte.“ Helen klang wie ein verängstigtes Kind. Sie biß sich auf die Lip pen. Severin wartete, ob die steile Falte auf der Stirne erscheinen würde. Aber Helens Stirn blieb glatt. Zögernd öffnete sie die Tür. Severin half ihr beim Aus steigen und gemeinsam gingen sie über den Bürgersteig. Severin sah sich um. Das Haus war das letzte der Straße, ein wenig abseits und in der Nähe eines Wei hers. Die Häuser auf der anderen Seite signalisierten, daß die Besitzer wenig Wert auf vertrauliche Nachbarschaft legten, überall waren hohe, lebende Hecken und von der Straße zurückversetzte Häuser. Hielten wohl nicht viel von Nähe, dachte Severin. Niemand war zu sehen. In der Zwischenzeit hatten sie den Vorgarten auf einem tadellos gepflegten Kiesweg durchquert. Helen zögerte an der offenen Tür. Severin stieß sie weiter auf und trat ein. Helen hielt sich dicht hinter ihm. Plötzlich ein Aufschrei. „Ver dammt, meine schöne Vase!“ Blitzschnell schoß Helen vor und kniete sich auf den Boden der Diele. Eine chinesische Vase von etwa achtzig Zentimeter Höhe lag in mehreren großen Scherben am Boden. Helen hob eine davon auf und hielt sie anklagend Severin entgegen. „Das ist ein altes Erbstück meiner Großmutter.“ Sie sah sich um. Allmählich dämmerte es ihr, daß hier einiges nicht so war, wie es sein sollte. Alle Türen standen offen und überall herrschte ein Chaos, als ob 90
ein Wirbelsturm gewütet hätte. Fassungslos ging Helen von einem Raum in den
anderen.
In allen Zimmern waren die Schränke durchwühlt und der Inhalt am Boden ver
teilt, Bilder lagen auf dem Boden, in der Küche lagen Lebensmittel und Küchen
geräte wirr durcheinander und der Kühlschrank stand offen. Abwesend schloß
Helen die Tür. Mit einem leisen Klicken schaltete er sich wieder ein und Helen
schrak zusammen. Am schlimmsten sah es im Arbeitszimmer aus. Die Regale
waren ausgeräumt, Bücher und Papiere lagen am Boden und der Computer war
nur mehr ein wildes Gewirr von Glasscherben und Platinen, der Monitor zerstört
und die Abdeckplatte abgenommen.
„War etwas Wichtiges im Safe?“ Severin bemühte sich, sanft zu sprechen, doch
Helen stieß einen leisen Schrei aus. „Wie was? Welcher Safe?“
„Hier, sehen Sie.“ Severin schob das fast leere Bücherregal, das in einem schrä
gen Winkel zur Wand stand, weiter zur Seite und gab damit den Blick frei auf
einen in die Wand eingelassenen Safe, dessen Tür offen stand.
Helen runzelte die Stirn. „Ich weiß von keinem Safe! Wir haben einen Banksafe,
wo einige wichtige Papiere und ein paar Aktien liegen.“
Severin untersuchte das Schloß.
„Sicher aufgebrochen!“ mutmaßte Helen und Severin vermeinte, eine gewisse
Genugtuung zu hören. Wenn die Frau des Hauses schon nichts von einem Safe
wußte, dann sollten ihn ruhig auch Einbrecher ausräumen.
Severin hatte so seine eigenen Gedanken, aber er behielt sie für sich.
Als sie durch den Flur ins Wohnzimmer zurückkehrten, sahen sie den Telefonhö
rer, der an der Schnur baumelte.
„Deswegen war dauernd besetzt! Dann war es gar nicht Volker!“
„Wo ist er eigentlich?“ Severins Stimme klang immer noch sanft.
„Mein Mann?“ Helen runzelte die Stirn, als müsse sie sich mühsam daran erin
nern, von wem die Rede war. „Ja, wo ist Volker?“ Sie legte den Telefonhörer auf
die Gabel und kaute an ihrer Unterlippe. Wie in Trance fuhr sie fort, so als sprä
che sie zu sich selbst, als müsse sie sich beweisen, das alles hier habe nichts mit
ihr zu tun. „Wir wollte gestern noch nach Hause zurück, zumindest hatten wir das
vor, ehe wir den großen Krach bekamen. Vielleicht ist er in Lautenbach geblie
ben. Das wäre ja zu dumm! Wenn ich extra hierher fahre und er sitzt gemütlich in
Lautenbach. Am besten, ich rufe dort an.“
Helen wählte und wartete. Dann legte sie auf. Nach mehreren Versuchen gab sie
auf.
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„Meldet sich niemand. Was soll ich jetzt tun?“ Hilfesuchend sah sie Severin an.
„Am wichtigsten ist es, den Aufenthalt Ihres Mannes herauszufinden. Könnte er
bei einem Bekannten oder Verwandten sein?“
Die nächste Viertelstunde verbrachten sie damit, nachzufragen, wo sich Volker
Gersky aufhalten könnte. Einerseits hatten sie Glück, denn jeder Angerufene war
Zuhause, andererseits waren sie erfolglos. Niemand hatte Volker gesehen oder
von ihm gehört.
„Sind das alle, an die Sie sich erinnern?“
„Ja, mehr Kontakte haben wir nicht, wir sind nicht sehr gesellschaftlich. Ach, da
fällt mir ein, Max Weiss habe ich vergessen, das ist der Anwalt. Volker und ich
haben zwar keine intensive Beziehung zu ihm, aber probieren wir es.“
Nun verließ sie das Glück. Helen ließ es lange läuten, aber Max Weiss meldete
sich nicht.
*** Max Weiss hatte wenige Minuten vor Helens Anruf das Haus verlassen. Er wollte noch zum Bahnhof und gedachte, auch von dort zu telefonieren. Er würde eine Frage stellen und hoffentlich eine Antwort bekommen. Ein Gespräch, das er in keinem Fall auf dem Abhörband, das alle seine Telefonate registrierte, wie er schon seit langem wußte, gespeichert haben wollte. Daß das Telefongespräch, das er kurz zuvor mit Volker Gersky geführt hatte, abgehört worden war, war ihm einerlei. *** Resigniert legte Helen den Hörer auf. Wieder fragte sie: „Was soll ich jetzt tun?“ „Glauben Sie, daß das hier“, Severin deutete mit einer weit ausholenden Geste auf das umliegende Desaster, „Einbrecher waren?“
„Sie nicht? Mein Gott, natürlich waren das Einbrecher! Wer sollte es sonst gewe
sen sein. Aber das bringt uns nicht weiter. Ich kann nicht einmal die Polizei ru
fen, solange Felix verschwunden ist! Habe ich nicht recht?“
Severin nickte zustimmend und sah sich nochmals um. Er bezweifelte die Einbre
chertheorie, dazu sah das Ganze zu theatralisch aus, zu offenkundig. Einbrecher
hatten meist nicht so viel Zeit, ein derartiges Chaos herzustellen. Das mußte min
destens zwei Stunden Zeit gekostet haben. Einbrecher, die etwas auf sich hielten,
wußten meist, was sie suchten und gingen zielgerichtet vor. Auch war nirgendwo
ein Fenster kaputt und die Haustüre sah ebenfalls unversehrt aus. Dies war Profi
arbeit, dachte Severin, es sollte eine Warnung sein, eine deutliche Warnung. Aber
wieder beschloß er, seine Gedanken für sich zu behalten.
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„Am besten, wir machen hier dicht und fahren zurück, einverstanden?“
Ratlos zuckte Helen mit den Schultern. Zögernd sah sie sich um, als könne sie
den Zustand ihres gemütlichen Heimes immer noch nicht fassen. Als sie die
Haustüre versperrte, dachte sie an das Sprichwort vom Stall, den man verschloß,
wenn das Pferd fortgelaufen war. Ein hysterisches Lachen stieg in ihr hoch. He
len unterdrückte es. Sie durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. Jetzt weniger denn
je. Tief atmete sie durch. Dann folgte sie Severin zum Wagen.
Als sie gegen ein Uhr im Donaublick ankamen, war die Polizei bereits da.
*** Als erster bemerkte Alex das grünweiße Auto, als er gedankenverloren aus dem
Fenster des Bambuszimmers sah. Gleichmütig sagte er: „Die Polizei ist da!“
Corinne sah ihn an. „Was meinst du damit? Hast du Grund zur Besorgnis?“
„Aber nein, keineswegs, äh, vielleicht hat Mutter eine Suchmeldung nach deinem
Auto aufgegeben.“
Corinne schnappte: „Sie ist nicht meine...“
Alexander ergänzte: „Mutter, ich weiß, ich weiß, du hast es mal beiläufig er
wähnt!“ Aber Alexanders Versuch, komisch zu sein, scheiterte. Er wandte sich
wieder dem Fenster zu.
*** Eine Stunde später stand der Wagen immer noch auf dem Parkplatz, die Beamten waren demnach immer noch da, aber offenbar nicht wesentlich weiter. Gegen Mittag waren Helens Eltern mit einem Taxi im Hotel angekommen. Frisch vom Flughafen und voller Elan war Siegbert Kraus mit seiner Gattin Elfriede in den 'Donaublick' gestürmt, als gelte es, eine feindliche Festung zu nehmen. Die kriegerische Haltung, die ursprünglich seinem nicht mehr vorhandenen Schwie gersohn gegolten hatte, schlug unmittelbar in Tatkraft und Aktion um, als die Donaufee ihnen berichtete, daß sein Enkelsohn entführt worden sei, seine Mutter sich jede Einmischung von Seiten der Polizei jedoch ausdrücklich verbeten habe. Sie rannte gegen eine deutsche Eiche an. „Pappelapapp!“ Siegbert Kraus war ein Mann der Tat, immer schon gewesen, und Frauen hatten keinen Verstand, zumindest nicht in heiklen Dingen. Das sah man an seiner Frau und natürlich konnte das bei seiner Tochter nicht anders sein. Der Beweis dafür lag klar auf der Hand – der Schwiegersohn, den sie ihm ins Haus gebracht hatte, ein Lackaffe, wie er im Buche stand! Mit wegwerfender Handbewegung schob er sowohl seine Frau als auch die Donaufee beiseite, igno rierte die zaghaften Proteste des Doktors und hatte innerhalb von zehn Minuten 93
nach seiner Ankunft die Polizeistation von Beuron – war Sonntags nicht besetzt -, diejenige von Tübingen – war Sonntags besetzt, aber der Beamte schien nicht den nötigen Ernst an den Tag zu legen – sowie das Hauptkommissariat in Stuttgart angerufen. Nach einer weiteren halben Stunde, in der Siegbert Kraus beinahe einen Graben in die Vorhalle des 'Donaublicks' getreten und heroisch alle Annäherungsversu che der weiblichen Front abgewehrt hatte, fuhr ein Polizeiauto vor und entlud zwei Beamte der Tübinger Polizeistelle bereichert um Hauptkommissar Cramer aus Ulm, der vertretungsweise in Tübingen eingesetzt war. Als er das grünweiße Auto sah, zweifelte Siegbert Kraus zum ersten Mal daran, ob sein einsamer Vorstoß richtig gewesen war. Es sollte nicht das letzte Mal an diesem Tag sein, daß ihm solche Zweifel kamen. Fast eine Stunde später waren die Beamten immer noch da, aber – wie gesagt – nicht wesentlich weiter. Zuerst hatte Cramer alle Personen gemeinsam befragt und war bei vagen Aussa gen stecken geblieben. Dann nahm er sie sich einzeln vor, ohne dadurch wesent lichere Fortschritte zu erzielen. Die Donaufee verlangte energisch einen Haus durchsuchungsbefehl, ehe sie bereit sein würde, eine halbwegs vernünftige Aus sage zu machen. Hauptkommissar Cramer scheiterte daran, sie von der fehlenden Logik ihrer Argumentation zu überzeugen. Der Doktor schien weder informiert noch interessiert. Cramer schrieb ihn als uneffizient ab. Die Familie Kraus, insbe sondere der männliche Teil davon, konnte hingegen eine Menge an verbalem Aufwand bieten, wenn man diesen aber von den üblichen Floskeln befreite, blieb wenig Konkretes übrig. Als Hauptkommissar Cramer resigniert alle wieder im Wohnzimmer des 'Donaublick' versammelt hatte, tauchte mit Pauken und Trompeten die Tochter, oder eigentlich die Mutter auf. „Papa!“ Ein Aufschrei und ein Aufstampfen des Fußes. Helen stand in der Tür und versprühte Blitze. „Was soll das Ganze!?“ Hauptkommissar Cramer witterte seine Chance. Er überlegte kurz, die Anwesen den wieder hinaus zu befördern, wollte jedoch den aggressiven Schwung der erzürnten Amazone nicht unterbrechen. Er ergriff das Wort. „Mein Name ist Cramer, Hauptkommissar Cramer. Frau Gersky, nehme ich an. Darf ich kurz er klären...“ „Nein!“ schnappte sie. „Es reicht, was ich sehe. Sie sind Bullen“, Cramer verzog schmerzlich das Gesicht, „und ich benötige keine Polizei. Was geht hier vor?“ Ihre Stimme kletterte um eine Stufe höher. 94
Die Donaufee versuchte, Öl auf die Wogen zu gießen, und ernannte sich zum Stichwortgeber. „Liebe Frau Gersky, ihr Vater hat den Vorfall mit Felix offen sichtlich mißverstanden. Sicher habe ich mich falsch ausgedrückt und dann war er nicht mehr aufzuhalten.“ Sie verstummte und hoffte, Helen hätte den Wink verstanden. Unerwarteterweise zeigte Helen Flexibilität und Wendigkeit. „Würden Sie mir liebenswürdigerweise erklären, warum Sie hier sind?“ flötete sie den Hauptkom missar an. „Was genau war denn das, äh, Mißverständnis?“ „Frau Gersky,“ Cramer trug seine Niederlage mit Fassung. Die Sache war gelau fen und alles weitere nur mehr Rückzugsgefecht, das war ihm klar. „Wir wurden von einem Kindesentführungsfall verständigt! Ihr Sohn soll entführt worden sein. Wo ist er übrigens?“ Helen biß sich auf die Lippen. Ihr Blick flog zu ihrer Mutter, die hilflos die Ach seln zuckte, und weiter zur Donaufee. Diese sah sie fest an. Dann wandte sich Helen zu Cramer und blickte ihm ins Gesicht. „Auf eine Art und Weise haben Sie recht, Herr Kommissar.“ Sie überhörte das triumphierende 'Ha!' ihres Vaters und ließ sich nicht beirren. „Mein Sohn ist tatsächlich entführt worden, aber“ die Handbewegung unterband sämtliche Einwände, „aber der Täter kann nicht be langt werden. Es handelt sich nämlich um meinen Mann!“ Cramer öffnete den Mund, doch Siegbert Kraus setzte sich spielend gegen Hauptkommissar Cramer durch. „Was soll das heißen? Volker hat Felix entführt? Du kannst mir doch nicht weismachen!“ brüllte er. „Papa!“ Helens Stimme war bestimmt und schnitt ihrem Vater mühelos das Wort ab. Die Donaufee zwinkerte ihr zu. Hier schien eine Persönlichkeit gereift zu sein. „Herr Cramer, mein Mann und ich hatten einen schrecklichen Streit, ich habe ihn daraufhin verlassen und Felix mitgenommen. Ich habe ihn unglückli cherweise gestern angerufen und ihm mitgeteilt, wo wir sind. Also ist er uns nachgefahren und hat Felix in der Nacht geholt.“ Sie wandte sich ihrem Vater zu. „Auch du hast immer wieder betont, Papa, wie findig Volker ist, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat!“ Papa war schachmatt gesetzt. Helen atmete tief durch. Die Geschichte mußte entweder halten oder sie würde sofort zerpflückt werden. Hauptkommissar Cramer war unerwartet zurückhaltend. „Dann ist das Mißverständnis ja aufgeklärt!“ Nachdenklich sah er die Anwesen den an. „Allerdings gibt es noch einige offene Fragen, wenn Sie nichts dagegen haben?“ Helen ließ sich auf den Fauteuil nieder, in dem sie schon in der Nacht nach ihrer Ankunft gesessen hatte. Länger stehen würde über ihre Kräfte gehen. Wieder 95
blickte sie dem Kommissar direkt in die Augen und erklärte kühl: „Was wollen
Sie wissen? Ich stehe Ihnen ganz zur Verfügung!“
So siehst du aus! dachte Cramer und schlug eine neue Seite in seinem Notizblock
auf. „Ihr Mann ist von Beruf?“
„Leiter der Breisgauer Vereinsbank in Freiburg.“
„Wissen Sie, wo er sich jetzt aufhält?“
„Natürlich nicht, Hauptkommissar! Glauben Sie, ich würde mich noch hier von
Ihnen ausfragen lassen, wenn ich wüßte, wo sich mein Mann im Augenblick auf
hält mit Felix?“ Helen war offenbar immer noch in streitbarer Laune.
Cramer änderte die Taktik. „Nun, wie sollte er ins Hotel gekommen sein, mitten
in der Nacht?“
„Vielleicht kann ich helfen, Hauptkommissar Kremer.“ Fees Stimme war sei
denweich.
„Cramer!“
„Verzeihen Sie. Tatsache ist, daß ich für meine anderen Gäste im Bambuszimmer
in der Nacht nochmals öffnen mußte, da diese ihren Schlüssel vergessen hatten.
Wir haben uns kurz unterhalten und dabei muß ich wohl vergessen haben, die
Eingangstür wieder zu schließen. Sie können gern meine Gäste befragen, wenn
sie das für notwendig halten!“
„Nicht nötig, Frau Di Cosimo!“ Cramers Verhalten hatte sich verändert, liebens
würdig und verbindlich, gutgläubig und etwas naiv. Seine beiden Begleiter, die
bis jetzt stumm dem Szenario gefolgt waren, sahen ihren Chef verwirrt an. „Nun,
damit ist diese Angelegenheit ja aufgeklärt. Könnte ich noch das Zimmer des
Jungen sehen. zur Absicherung sozusagen?“
Helen machte eine zustimmende Geste und wollte sich erheben, als die Donaufee
energisch einschritt. „Lieber Herr Kommissar Kremer, wie ich bereits angedeutet
habe, geht es mir hier um das Prinzip. Wenn Sie allerdings mit einem Hausdurch
suchungsbefehl...“ Bedeutungsvoll hielt sie inne.
„Das wird nicht nötig sein, es war sozusagen lediglich private Neugier.“ Ein
freundlicher Blick in die Runde, Cramer nickte den Anwesenden zu. „Vielen
Dank für ihre rückhaltlose Mitarbeit. Guten Tag! Kommen Sie, meine Herren!“
Cramer ignorierte die Blicke seiner Mitarbeiter, die an seiner geistigen Zurech
nungsfähigkeit zu zweifeln schienen, und quetschte sich durch die Anwesenden
zur Tür.
Fünf Minuten später waren sie fort.
*** 96
Nach etwa einem Kilometer befahl Cramer: „Stop!“ Mit sanftem Ruck hielt das
Polizeifahrzeug. Cramer wandte sich seinen beiden Mitarbeitern zu. „Rund um
die Uhr Bewachung von Frau Gersky, den Eltern und dieser aufdringlichen Per
son wie heißt sie?“
„Di Cosimo.“ Fahrer Zimmer hatte aufgepaßt.
„Also, wenn sie sich aus dem Haus rühren, verfolgen, aber verdeckt! Zusätzlich
Telefonüberwachung.“
Fahrer Zimmer wagte einzuwerfen „Wir bekommen dafür keine gerichtliche Ge
nehmigung!“
„Da haben Sie wahrscheinlich recht, Zimmer. Also warten wir noch etwas. Rufen
Sie auch die Kollegen in Freiburg an und fragen Sie nach, ob etwas bekannt ist.“
Entschlossen blätterte in seinen Notizen. „Jemand soll zu Gersky nach Hause
fahren. Rufen Sie auch die Zentrale in Stuttgart an, die sollen ihre Kontaktmänner
aktivieren. Vielleicht gibt es irgend ein Gerücht.“
Fahrer Zimmer griff nach dem Funkgerät.
„Herr Kommissar.“ Zögernd schaltete sich Berghoff ein. Er lehnte sich beflissen
über die Vordersitzlehne, als wolle er selbst im Sitzen eine devote Haltung ein
nehmen und jeden Verdacht von vornherein ausräumen, er beabsichtige, seinen
Chef kritisch hinterfragen.
„Ja, Berghoff? Sie waren nicht zufrieden mit mir da drinnen, was?“ Er deutete
nach hinten, Richtung 'Donaublick'.
„Aber, Herr Kommissar!“ Entrüstung in der Stimme.
„Ist doch klar, daß die Sache stinkt. Aber ein Menschenleben ist in Gefahr! Aus
denen da“, wieder der gestreckte Daumen nach hinten, „hätte ich nur unter Druck
etwas herausbekommen. Dazu hätte ich sie festnehmen müssen. Dann wäre die
Sache verpfuscht gewesen. Kapiert?“
„Ja, aber, Herr Kommissar...“
„Mensch, Berghoff, hören Sie auf, wie eine gesprungene Schallplatte zu tönen!
Ist ja nervtötend! Geht wohl über Ihr momentanes Begriffsvermögen, was?“
Cramer hörte sich ärgerlich an.
„Jawohl, Herr Kommissar!“
Cramer seufzte. „Immerhin eine Variante. Also, nochmals langsam und zum Mit
schreiben. Was ist, Zimmer?“
Fahrer Zimmer hielt den Telefonhörer in seiner ausgestreckten Hand. „Der Kol
lege in Freiburg will wissen, ob er in das Haus eindringen soll.“
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„Nur bei begründetem Verdacht.“ Fahrer Zimmer wandte sich wieder seinem Gesprächspartner zu und flüsterte weiter in den Telefonhörer. Cramer wandte sich seinem unbedarften Untergebe nen zu und bemühte sich um Verständnis. „Also, Berghoff, zu den Fakten: Punkt eins – bis zur Ankunft der Tochter redeten alle nur herum, keine klare Aussage außer der des Vaters, der aber nur etwas gehört haben will. Punkt zwei – woher weiß die Tochter sofort, wer uns verständigt hat? Ein Blick und alles ist ihr son nenklar. Keine Fragen, aber sofort eine eindeutige Anklage! Punkt drei – haben Sie nicht bemerkt, wie geschickt diese Wirtin das Stichwort ausgeteilt hat? Frau Gersky kriegt den Faden und plötzlich wissen alle Bescheid. Der Ehemann war es! Ganz einfach. Warum hat das niemand schon früher gesagt? Schlußendlich – wie ein Profi hat diese schlaue Wirtin uns davon abgehalten, das Zimmer zu se hen. Warum? Weil es da wahrscheinlich etwas zu sehen gibt, was wir nicht sehen sollten! Klar, soweit?“ „Ja. Aber, Herr Kommissar...“ Cramer gab auf. Er lehnte sich in seinem Sitz zurück und schloß die Augen. Zimmer hatte seine verschiedenen Telefonate beendet und sah seinen Chef fra gend an. Als dieser nicht reagierte, legte er den Gang ein und fuhr los. Gewohn heitsmäßig sah er auf die Uhr, es war kurz vor zwei. *** Im 'Donaublick' war die Stimmung gespannt, Fee hatte den Finger auf die Lippen gelegt und deutete den Anwesenden, ruhig zu sein. Severin hatte sich die Szene von der Stube aus angehört und war dann in seinem Pförtnerhäuschen ver schwunden. Der Doktor hatte sich in die Ecke verzogen und blätterte interessiert in der Ausgabe der Schwäbischen Zeitung von vorgestern. Helen Gersky und das Ehepaar Kraus saßen wie auf Nadeln. Als das Geräusch des abfahrenden Wagens verklungen war, eilte Fee zum Fenster, um sich zu überzeugen, daß die Beamten wirklich verschwunden waren. „Die Luft ist rein!“ Als hätte jemand den Strom eingeschaltet, wurde es plötzlich lebendig. Helen beschuldigte ihren Vater, dieser schien einem Tobsuchtsanfall nahe und die Sze ne drohte zu eskalieren. Mutter Elfriede warf sich heroisch zwischen die Fronten. „Jetzt hört aber endlich auf, ihr beiden, aufhören, sag ich! Worum geht es eigentlich? Wo ist Felix?“ Es war hoffnungslos. Die beiden Kampfhähne schoben sie mühelos zur Seite und machten weiter. 98
In diese glückliche Familienidylle platzte Brigitte Morandell. Es schien der Tag für effektvolle Auftritte zu sein. „Guten Tag allseits was geht den hier ab? Man kann euch bis auf den Parkplatz hören!“ Siegbert Kraus verstummte, wahrscheinlich, weil ihm die Luft ausgegangen war, und Helen konnte sich Gehör verschaffen. „Frau Morandell! Sie habe ich total vergessen. Würden Sie“, ein Blick in die Runde, „würden Sie wohl mit mir nach oben kommen? Nein, Papa, ich möchte mit Frau Morandell allein sprechen!“ Siegbert Kraus sank fassungslos wieder in seinen Sessel, aus dem er sich bereits halb erhoben hatten. Wie sprach denn seine Tochter mit ihm? Genauso wie mit diesem unverschämten Polizisten! Unerhört! Anklagend wandte er sich an seine Frau. „Wer ist diese Person?“ „Liebster, wie soll ich das wissen?“ Fee sprang hilfreich ein. „Das ist Frau Morandell, eine Freundin von mir. Helen hat sie gestern kennengelernt.“ „Und gleich hat sie was furchtbar Wichtiges mit ihr zu besprechen. Ist ja toll.“ Wieder wandte er sich seiner Frau zu. „Was geht hier vor? Wozu sind wir über haupt hergekommen?“ Erneut griff Fee ein. „Möchten Sie nicht auf Ihr Zimmer gehen und sich etwas frisch machen, Herr Kraus? Ich bin überzeugt, Ihre Tochter wird Ihnen alles er klären.“ Frau Kraus sah die Dinge ebenfalls von der praktischen Seite. „Eine gute Idee. Komm, Siegbert. Welches Zimmer haben wir?“ „Ich glaube, Sie hatten bei ihrem letzten Aufenthalt das altdeutsche Zimmer, ich habe es wieder für Sie hergerichtet.“ „Das wissen Sie noch? Meine Güte, Frau Di Cosimo...“ „Nennen Sie mich Fee!“ „Danke, Fee, was für ein Gedächtnis! Wir haben uns damals sehr wohl gefühlt.“ „Sind die Damen mit ihrem Geplauder fertig?“ Siegbert Kraus war deutlich irri tiert. Er stand an der Tür, Mantel und Hut in der Hand und deutete auf den Kof fer. Elfriede Kraus nahm ihn widerstandslos auf und folgte ihrem Mann. Fee sah den Doktor an, der die Szene über den Rand seiner Zeitung hinweg faszi niert beobachtet hatte, und verdrehte die Augen. Dann holte sie den Schlüssel aus der Rezeption und ging ihren Gästen nach. *** 99
Severin saß in seinem Wohnzimmer auf der Couch, hatte das Telefon vor sich auf den Tisch gestellt und dachte nach. Fast zehn Minuten saß er regungslos. Dann stand er auf und holte aus einer alten Truhe in der Ecke ein zerfleddertes Büchlein. Er blätterte darin und fand, was er suchte. Severin rief eine Nummer an. Der Mann am anderen Ende der Leitung trug ihm auf, zu warten. Er würde einen Rückruf erhalten. Als Severin auflegte, war seine Hand schweißnaß. Er lockerte den Kragen, der plötzlich um zwei Nummern zu klein schien. Dann atmete er tief durch. Alte Kontakte wieder aufleben zu lassen, war offenbar doch nicht ganz so einfach. Severin wußte, worauf er sich eingelassen hatte. Er hatte schlafende Hunde ge weckt. Er konnte nur hoffen, daß diese nicht allzu bissig waren, zumindest nicht so bissig wie damals, als er noch aktiv war. Dann setzte er sich wieder in seine Ecke und versuchte, die neueste Aufgabe von 'Auto, Motor und Sport' zu lesen. Es blieb bei dem Versuch.
Zwischenspiel Pünktlich um zwei Uhr hatte KM 2 wieder seinen Dienst angetreten. Der Abend zuvor war angenehm verlaufen, er hatte sich seinen verdienten Schluck gegönnt und dabei eine hübsche Frau kennengelernt. Auch die anschließenden Stunden verliefen zufriedenstellend. Allenfalls war er etwas müde. KM 2 nahm sich das Band vor, das die Gespräche des Anwalts aufgenommen hatte. Als feststand, wer der Gesprächsteilnehmer war, stoppte er und wählte eine Nummer. Wie üblich reagierte die kalte Stimme sofort, als hätte sie auf den Anruf gewartet. KM 2 meldete auftragsgemäß, daß ein Gespräch des Anwalts mit Volker Gersky auf Band aufgenommen worden war. Sein Boss wollte den genauen Wortlaut. Also hörten sie sich die Aufzeichnung gemeinsam an. „Hier Volker. Max, ich brauche Hilfe!“ – „Das weiß ich doch, der Schriftsatz ist bereits...“ – „Scheiß auf den Schriftsatz! Ich bin in Gefahr! Heute nacht...“ – „Sprich lauter, Volker, ich verstehe dich kaum. Von wo sprichst du denn?“ – „Ich stehe hier in Colmar in einer Telefonzelle.“ – „In Frankreich? Was machst du denn da?“ – „Ich bin auf dem Weg zum Flughafen in Straßburg. Max, ich muß fliehen, fort aus Europa.“ Die Stimme zitterte. Ein kurzes Zögern. “Was ist pas siert?“ – „Heute nacht war irgend jemand in meinem Haus und hat meinen Com puter gefilzt. Ich hatte ein Verzeichnis, eines mit Geheimcode, aber das hat nichts genützt. Es ist weg, gelöscht und auch eine Aktentasche fehlt.“ Diesmal eine lange Pause. Dann wieder die Stimme des Anwalts. Eine sehr unpersönliche Stimme: „Ich weiß Bescheid. Du hast nicht nur die Blödheit besessen, sämtliche 100
Transaktionen fein säuberlich zu dokumentieren, du hast darüber hinaus auch geklaut Du wirst uns nicht entkommen, das wird Konsequenzen haben.“ – „Aber die vereinbarten Summen haben nicht übereingestimmt!“ Nackte Verzweiflung in Gerskys Stimme. – „Natürlich war der Betrag, den du transportiert hast, höher als angegeben. Das war ein Test, du Komiker. Wir wollten wissen, wie ehrlich du bist!“ – „Du hast es gewußt?“ – „Selbstverständlich! Es war meine Idee! Das Geld können wir verschmerzen. Wo sind die Disketten?“ – „Disketten? Welche Disketten? Ich habe keine Disk..., was heißt das? Ihr Schweinehunde! Ihr habt mir etwas untergeschoben! Was seid ihr doch für verdammte Saukerle! Was habe ich noch geschmuggelt außer Geld, Max, sag mir was? Drogen?“ – „Meines Wis sens kann man Drogen noch nicht auf Disketten speichern. Du hast geheime For schungsergebnisse weitergeleitet, die für den Ostblock bestimmt waren. Geld nach Luxemburg zu schaffen war immer nur der Deckmantel. Die Hauptinforma tion fehlt aber jetzt, die war bei der letzten Lieferung! Rück sie raus!“ – „Wo waren die Dinger versteckt?“ – „Im Futter der Aktentaschen. Hast du dich nie gewundert, warum du den Auftrag hattest, das Geld mitsamt Tasche zu überge ben?“ – „Nein, schien mir sicherer so... Max, ich muß Schluß machen Ich melde mich wieder!“ Die Verbindung war unterbrochen. Die arrogante Stimme aus dem Telefonhörer wies KM 2 an, das Gespräch wie üblich zu behandeln. Nach dem gestern gezollten Lob fühlte sich KM 2 berech tigt, eine vorsichtige Anregung anzustellen. „Hat ziemlich schnell Schluß ge macht, unser guter Volker. Braucht auch plötzlich keine Hilfe mehr. Ob ihm ein gefallen ist, wo die Disketten sind? Vielleicht ist die bewußte Tasche noch in Lautenbach?“ KM 2 hielt inne. Die offensichtliche Tatsache, daß Gersky noch nichts von der Entführung seines Sohnes wußte, behielt er für sich. Schien nicht ganz optimal zu laufen, diese Aktion. Auch das behielt er wohlweislich für sich. Er tat gut daran. „KM 2, kümmern Sie sich um ihre Angelegenheiten!“ Die Stimme des Comman ders war um einige weitere Grade gefallen. Der Kontaktmann zuckte zusammen. „Das haben wir natürlich überprüft! Anruf zur üblichen Zeit! Ende!“ Klick. KM 2 atmete aus. War plötzlich ziemlich heiß hier! Er öffnete das Fenster. *** Max Weiss klemmte sich schwitzend den Telefonhörer unters Kinn, hielt ihn mit der Schulter fest und bat seinen Gesprächspartner, einen Moment zu warten. Es war verdammt heiß in der kleinen Telefonzelle. Mit der einen Hand kramte er nach einem Stift, während er mit der anderen nach Münzen tastete. Konnte die Telekom hier kein Wertkartentelefon installieren?
101
„Ich bin bereit, also?“
Max erhielt die gewünschte Information und notierte sie sich, dann hängt er ein.
Er memorierte die Worte auf dem Zettel so lange, bis er sicher war, sie zu behal
ten. Max Weiss war ein visueller Typ. Er merkte sich Dinge besser, wenn er sie
las.
Dann wählte er eine weitere Nummer. Er deutete an, unter gewissen Vorausset
zungen bereit zu sein, gewisse Informationen weiterzugeben. Der Angerufene
blieb gelassen. Max Weiss störte sich nicht daran. Das Spiel war eröffnet, der
erste Zug getan. Er hatte eine weitere Figur ins Spiel gebracht. Er konnte nur
hoffen, daß er nicht das Bauernopfer sein würde.
Er zerriß den Zettel in kleine Fetzen und steckte diese ein. Er würde sie bei näch
ster Gelegenheit ins Klo spülen. Max Weiss war ein vorsichtiger Mann.
Dann nahm er seine Aktentasche auf und verließ die Zelle. Er versperrte die Ta
sche in einem Schließfach und ging auf die Toilette. Nachdem er die Spülung
getätigt hatte und sich die Hände wusch, sah er sich im Spiegel an. 'Na, Kumpel'
sagte er zu sich, 'dann halt mal fest die Daumen, daß das gut geht!'
Pfeifend verließ er die Herrentoilette des Bahnhofs von Freiburg. Er freute sich
auf sein Golfspiel. Großmütig beschloß er, Bernhard Brockelmann heute gewin
nen zu lassen.
*** Es war zehn Minuten nach drei Uhr, als das Telefon läutete. Severin schlug er leichtert die Zeitung zusammen, in der er in den letzten zwei Stunden gelesen
aber nichts behalten hatte.
Der Anrufer kam sofort zur Sache: „Wir haben eine Information, wissen aber
nicht, wie konkret sie ist.“
„Gut, wer ist es?“
„Ein Anwalt in Freiburg. Er arbeitet für die Mafia, hat zur Sicherheit aber eine C-
drei-plus-Kodierung. Das heißt, wie du noch wissen müßtest, er läßt uns Infor
mationen zukommen, wenn ihm die Geschichte zu heiß wird. Hat eben angerufen.
Er ziert sich noch ein wenig, aber das ist Geplänkel.“
„Hat er auch den BND kontaktiert oder andere offizielle Stellen?“
„Nein, bis jetzt weder den BND noch die Staatsanwaltschaft. Das ist ihm wahr
scheinlich doch zu heiß. Sein Mittel zu einem ruhigen Schlaf sind im Moment
wir.“
„Um so besser. Wird er kooperieren?“
102
„Bis zu einem gewissen Grad, ja. Er wird den Aufenthaltsort sagen, wenn er ihn weiß. Soll der Kontakt über uns laufen oder willst du ihn direkt herstellen.“ „Es wäre mir lieber, wenn Ihr das macht. Ich möchte mich so weit es geht aus der Schußlinie halten.“ „Okay, kein Problem. Eine Frage, hast du zu dem Jungen irgend eine Beziehung, steht er dir nahe?“ „In gewisser Weise.“ Der Mann am anderen Ende der Leitung zögerte. Severin ahnte, was das bedeu tete. Er wartete. „Heißt das, daß du wieder im Geschäft bist?“ „Wie würdest du es denn lieber haben, Nathaniel?“ „Mensch, Severin, altes Haus, wäre schön, dich wieder einsetzen zu können. Auf deinem speziellen Gebiet bist du wahrscheinlich noch immer unschlagbar. Aber diese Geschichte – bist du nicht schon ein wenig zu alt dafür?“ „Wir werden sehen.“ „Wenn du Hilfe brauchst, also offiziell ist nichts drin, das weißt du, aber wenn ich was für dich tun kann?“ „Vielen Dank, Nat!“ „Wir werden wieder Kontakt aufnehmen. Dann kannst du das Geld abholen. Hof fentlich findest du den Weg zu uns noch! Bis dann.“ Der Anrufer hatte aufgelegt. Severin ging zu seiner alten Truhe und zog einen sechsschüssigen Revolver Kali ber 4.25 Magnum heraus, wie ihn die Highway Patrol in den USA viele Jahre verwendet hatte. Eine unhandliche, aber absolut tödliche Waffe. Das große Kali ber machte ein genaues Zielen unnötig, selbst ein an sich harmloser Treffer wirkte durch die enorme Wucht des Einschlags endgültig. Severin klappte die Trommel auf und sah hindurch. Sie schien etwas verstaubt, glänzte aber an den meisten Stellen noch von Waffenöl. Severin schüttelte den Kopf und legte die Waffe zurück. Entweder würde es ohne gehen oder gar nicht. Die Zeiten, als er bewaffnet unterwegs gewesen war, waren vorbei. Er hatte gerade die Truhe geschlossen, als es an der Tür klopfte und Fee im Zim mer stand. Ihr Blick flog zwischen Severin und der Truhe hin und her und wurde weich. „Der Junge?“ „Ja.“ „Woher weißt du?“ 103
„Nun, zum einen, was ich vorhin gehört habe. Der Hauptkommissar tat sich ganz
schön schwer.“ Er nickte Fee anerkennend zu. „Dann der sogenannte Einbruch in
Freiburg. Ich habe zu viele solcher Warnungen gesehen, die Handschrift ist ein
deutig.“
„Daher hast du unsere alten Kontakte aktiviert? Nathaniel Kaminski?“
„Ja.“
Beide schwiegen und sahen sich an. Fee trat zu Severin und legte ihm die rechte
Hand an die Wange. Tränen standen in ihren Augen. „Ich vermisse Ugo ebenso
wie du! Komm gesund wieder. Viva la gruppa!“
Der alte Schlachtruf tat seine Wirkung. Severin straffte die Schultern und seine
Augen funkelten. Fee trat zurück, wischte sich die Tränen aus dem Augenwinkel
und verließ ohne ein weiteres Wort das Pförtnerhäuschen.
„Viva la gruppa!“ Severin sah ihr dankbar nach und ein warmes Gefühl stieg in
ihm hoch. Viele waren tot, viel zu viele, Josette, Juan, Alexa, Ugo Di Cosimo,
aber ein Rest von Familie war noch übrig, ein sehr kräftiger Rest, wie sich ge
zeigt hatte.
Er atmete tief durch. In diesem Augenblick durfte ihm Volker Gersky nicht in die
Hände laufen.
*** Volker Gersky dachte nicht daran, Severin in die Quere zu kommen. Er konzen trierte sich darauf, möglichst schnell nach Hause zu kommen. Wütend blinkte er einen Wagen an, der vor ihm mit vorschriftsmäßiger Geschwindigkeit im Ortsge biet fuhr. Rücksichtslos überholte Gersky auf einem Zebrastreifen und gab Gas. Seine Gedanken überschlugen sich. Max Weiss, dieser Schweinehund, war an allem schuld! Er hatte ihn verkauft. Was für eine Frechheit, ihn so zu hinterge hen. Wie konnte er auch wissen, daß die Beträge absichtlich verfälscht waren? Eines Tages hatte Volker Gersky sich den Spaß erlaubt, die im 'Liebesbrief' an gegebene Summe zu zählen. Die Einheit waren tausend Mark, also tausend Küsse hieß eine Million. Es war eine recht zeitaufwendig Beschäftigung, aber als Gersky zum ersten Mal zu seiner eigenen Überraschung deutlich mehr Banknoten in den braunen Umschlägen fand, als angegeben, zählte er jedesmal. Einige Zeit noch mißtraute Gersky dieser Situation, bis er dann doch zugriff. Er fand, er hätte ein Recht auf einen Bonus. In der Zeit, als Helen bei ihren Eltern war, ließ er sich einen Safe im Arbeitszimmer einbauen und legte sein Depot an. Geld, das er im Notfall schnell zur Hand haben würde. Das war natürlich dumm. Wie konnte er auch glauben, daß diese Leute so sorglos umgingen. Aber Gersky benötigte Geld, das Haus, der Wagen, das Kajütenboot, 104
und dann für den Fall der Fälle, wenn er schnell aussteigen mußte. Eben für einen Tag wie heute. Wieder stieg Zorn in ihm hoch. Er bremste abrupt, um nicht auf einen Traktor aufzufahren, dann riß er das Steuer herum und überholte. Das Hu pen des entgegenkommenden Fahrzeugs ignorierte er. Wie sich jetzt gezeigt hatte, war er ein Nichts gewesen in der Organisation, nur ein kleiner Bote, dem man nicht einmal genug traute, ihm die wirkliche Ware bekannt zu geben. Wie hatte er sich eingesetzt, Konten von Scheinfirmen eröff net, Aktien verschoben, Geld geschmuggelt, um es reinzuwaschen, und jetzt? Gersky stieg stärker aufs Gas. Er wollte so schnell wie möglich nach Hause. Als er mit Max Weiss gesprochen hatte, war es wie ein Blitz durch seinen Kopf ge zuckt. Die Tasche! Natürlich. Er hatte in Lautenbach seine Aktentasche umge packt, um das Chaos, das Helen und Felix angerichtet hatten, zu sortieren und um sicher zu sein, daß nichts an Papieren drin war, was nicht hinein gehörte. Die Umschläge mit dem Geld waren intakt und zur Tarnung stopfte er wie üblich den Rest der Aktentasche mit irgend welchen Papieren voll. Eine oberflächliche Durchsuchung würde den Inhalt als harmlos erscheinen lassen. Volker hatte mehrere dieser neutralen, schwarzen Aktentaschen, die er für die Übergaben benützte. Daher unterschied sich die neue Aktentasche in nichts von der anderen. Außer natürlich, daß darin keine Disketten waren. In seinem Ar beitszimmer in Stegen stand eine weitere, die man heute nacht gestohlen hatte, aber auch diese war sauber. Wo war nun die 'echte' Tasche? Das war es, was er im Gespräch mit Max Weiss plötzlich vor sich sah. Er war heimgekommen, war ins Schlafzimmer gegangen und hatte die Tasche auf das Bett geworfen. Das war die Tasche mit den Disketten! Er entsann sich nicht mehr genau, aber er mußte wohl die Tasche irgendwohin geschoben haben, als er ins Bett gegangen war. Irgendwo in seinem Schlafzimmer würde sie sein und er wür de sie sich holen! Er würde sie sich holen und dann würden einige Herren ihn kennenlernen. Das konnte man mit ihm nicht machen, nicht mit ihm! Er würde zuerst auf Tauchsta tion gehen und sich das verdammte Zeug teuer bezahlen lassen und dann? Nach Übersee natürlich. Mochte Max quatschen. Zusammen mit seinem Depot würde es eine Weile reichen. Wenn dann Gras über die Sache gewachsen war, könnte man ja Helen und Felix nachkommen lassen. Wenn er nur wüßte, wo Helen, das verdammte Weibstück steckte! Na, endlich, Stegen. Gersky ließ den Wagen, ein Leihwagen der Firma Hertz und natürlich ein Mercedes, mit laufendem Motor stehen und lief zur Haustür. Er hatte nicht vor, länger als unbedingt notwendig zu verweilen. Als er das Haus 105
betrat, blieb er abrupt stehen. Das gab es doch gar nicht wie sah das denn überall aus? Wie eine Stunde zuvor Helen und Severin ging er fassungslos von Raum zu Raum. Als er das Desaster in seinem Arbeitszimmer sah, verlor er die Beherr schung. Mit einem Aufschrei stürzte er an den Schreibtisch und wühlte in dem Chaos. Doch dann riß er sich zusammen. Es war tollkühn gewesen, nach Hause zurückzukehren und jede weitere Minute würde die Gefahr erhöhen. Ein neuer Gedanke zuckte in ihm hoch. Sie waren ihm zuvor gekommen! In Panik eilte er ins Schlafzimmer und sah unters Bett – nichts außer ein paar Staubflusen. Wieder ärgerte sich Volker über seine Frau und wieder rief er sich zur Ordnung. Ungeduldig riß er die zerknüllte Bettdecke vom breiten Doppelbett und da lag sie, unschuldig, schwarz schimmernd und völlig unberührt von der Aufregung, die sie verursacht hatte. Mit zittrigen Händen riß Volker die Tasche auf und tastete das Futter ab. Er vermeinte, eine leichte Erhöhung zu spüren. Das mußte fürs erste genügen. Wenn die Disketten im Futter waren, gut, wenn nicht, war er in jedem Fall geliefert. Also, erst einmal das Haus verlassen und nach Straßburg. Dann der nächste Flug nach – egal, irgendwohin. Gersky riß die Ta sche vom Bett, verschloß sie, während er zur Tür lief, und rannte auf die Straße. Die Haustüre blieb offen. Er sprang in den Wagen. Mit quietschenden Reifen wendete er und fuhr zurück, den Weg, den er gekommen war. Den dunklen Wagen, der sich nach der Kreu zung an ihn hängte, bemerkte er nicht. Das war jedoch nicht verwunderlich. Das Team, das ihm folgte, war professionell ausgebildet und wechselte sich mit zwei weiteren Wagen ab. Volker Gersky führte unwissentlich einen ganzen Konvoi an, der sich Richtung Grenze bewegte. *** Zehn Minuten, nachdem Volker Gersky sein Haus in Stegen bei Freiburg verlas sen hatte und mit einer Eskorte Richtung Grenze fuhr, erschien die Polizei. Die Beamten betraten das Haus, da durch die offene Haustür 'begründeter Verdacht' bestand und besahen sich ebenfalls das Desaster. Nach einer raschen Durchsu chung, die die Annahme bestätigte, daß sich niemand mehr ihm Haus befand, dachte der leitende Beamte daran, über Funk die Fahndung ausschreiben zu las sen. Er versprach sich nicht viel davon. Die Grenze zu Frankreich war nahe und sie war offen. Bei genügendem Vorsprung war der Gesuchte entweder über Frankreich nach Basel eingereist oder eben in Straßburg ins Flugzeug gestiegen. Also beschloß er, in der Zentrale nachzufragen, ob ein internationaler Haftbefehl ausgeschrieben werden sollte. Die Chefs in Freiburg sahen dafür keinen Grund. Ein Mann, der mit seinem eigenen Sohn unterwegs war, konnte man nicht wie 106
einen Schwerverbrecher jagen. Sollte jedoch aufgrund der Sachlage im Haus von
Gersky ein Einbruch vorliegen, würde man die Anzeige abwarten müssen.
Die Polizisten klinkten die Haustüre wieder ins Schloß und kehrten nach Freiburg
zurück. Die Sache war beendet.
*** Max Weiss mußte sich nicht besonders anstrengen, um Bernhard Brockelmann gewinnen zu lassen. Nach dem neunten Loch führte sein Freund mit elf Schlägen Vorsprung. Max Weiss war unkonzentriert. Er war sich immer noch nicht sicher, ob er den Aufenthaltsort des Jungen weitergeben sollte oder nicht. Andererseits
hatte er den Kontakt bereits geknüpft. Er gab sich einen Ruck.
„Hör mal, Bernhard, ich muß zurück. Ich habe da etwas vergessen.“
„Mein lieber Max!“ Bernhard war jovial und unübersehbar generös, „du verträgst
offenbar das Verlieren nicht! Also, wir buchen das als Sieg für mich und du erle
digst deine was immer das ist!“ Freundlich wedelte er mit der Hand und bereitete
sich auf den nächsten Schlag vor.
„Ich schicke dir den Caddycar zurück. Wir sehen uns!“ Max schwang sich in den
kleinen Wagen und rumpelte zum Golfhaus.
Bernhard Brockelmann schlug im Vollgefühl seines Triumphes beinahe ein one
in-hole und bedauerte nur, daß niemand zugegen war, dieser Ruhmesleistung die
ihr gehörige Anerkennung zu zollen. Mit dem zweiten Schlag versenkte er den
Ball im Loch.
*** Felix träumte... Es war ein Traum, der sich gar nicht wie ein Traum anfühlte. Er wußte nicht, wo er war. Wie träge Blasen schwebten seine Gedanken nach oben. Dunkel erinnerte er sich, in eine Höhle geschwommen zu sein. Mit Kevin. Aber der war nicht da. Niemand war da. Nichts war zu sehen, aber finster war es auch nicht. Aber es war auch nicht hell. Es war nichts. Felix wußte nicht, wie er sich fühlte. Wieder eine Gedankenblase. Er schwebte oder schwamm... nein, schwimmen war das nicht, eher ein Trudeln. Ein Nichts-Zustand. Felix wußte nicht, wo er war, aber es beunruhigte ihn nicht. Es gab nichts, was ihn beunruhigte. Langsam kam eine seiner Gedankenblasen auf ihn zu. Er pustete und sie flog wieder davon. Felix wartete auf eine weitere Blase. Statt dessen hörte er ein feines Stimmchen, das ihm irgendwie bekannt vorkam. Er verstand nicht, was es sagte. Auch das war ihm egal. Es kam keine Gedankenblase mehr. 107
Dann konnte er ebenso gut die Augen schließen.
Zwischenspiel KM 16 betrat den kleinen Raum, in dem der Junge lag. Er sah ihn an. Ihm gefiel nicht, was er sah. Der Junge war sehr blaß und atmete schwach. Er faßte an sein Handgelenk. Die Körperfunktionen schienen intakt, der Puls war zwar langsam, aber regelmäßig, die Temperatur nicht erhöht. KM 16 legte den Arm wieder zu rück. Er blieb liegen, wie er ihn hingelegt hatte. KM 16 schob ihn unter die Dek ke. Er verschloß die Tür und ging in den Vorraum zur Wache. „Irgendwelche Besonderheiten?“ „Nein. Der Junge scheint viel zu schlafen. Das Betäubungsmittel?“ „Müßte schon seit Stunden abgeklungen sein. Hat er getrunken, gegessen?“ „Nichts. Er wirkt völlig apathisch.“ „Melden Sie jede Veränderung. Aber nur an mich!“ Damit verließ er das Haus. KM 16 hatte sich fest vorgenommen, sich nicht weiter um den Zustand des ver langten Objektes zu kümmern. Der Anruf von Max Weiss hatte die Situation jedoch verändert. Nun lag ihm sehr wohl etwas daran, daß das Objekt keinen Schaden erleiden würde. KM 16 versuchte seit längerem, einen sanften Ausstieg aus der Organisation zu erreichen und hatte entsprechende Kontakte geknüpft. Der Anwalt bot sich an. Information gegen Information. In diesem Fall sah er endlich eine konkrete Mög lichkeit, den endgültigen Absprung zu schaffen. Aus diesem Grund hatte er dem Anwalt den Austausch angeboten, nicht ohne seine Preisvorstellungen mitzutei len, versteht sich. Nun ging er daran, die entsprechenden Vorbereitungen zu tref fen, um eine Übergabe zu arrangieren. Er setzte sich in seinen Wagen und griff zum Handy. Er wählte die Nummer der Leitstelle und meldete sich für den heuti gen Tag ab. Dann fuhr er zum Flughafen und nahm sich ein Zimmer. Es war kurz nach vier. Er würde hier warten, bis sich jemand meldete, um Ort und Zeit der Übergabe bekanntzugeben. *** Kurz nach vier klopfte es an der Tür des altdeutschen Zimmers und auf das knur rige „Herein“ von Siegbert Kraus erschienen Helen und Brigitte Morandell. Sei ne Tochter ergriff die Initiative und Vater Siegbert wunderte sich erneut über die neue Helen, die sich ihm hier präsentierte. Er war auch ein wenig stolz. 108
„Papa, entschuldige, daß ich vorhin so wütend war. Mama, komm, setz dich, ich
möchte euch reinen Wein einschenken. Sie deutete Brigitte, sich ebenfalls zu
setzen. „Das ist Frau Morandell, eine Psychologin.“
„Psychologin?“ Siegbert Kraus Bewunderung für seine Tochter geriet wieder arg
ins Wanken. „Wofür brauchst du eine Psychologin?“
Unerwarteterweise mischte sich nun Elfriede Kraus ein. „Siegbert, halte bitte
einmal den Mund und laß Helen sprechen. Ich vergehe fast vor Sorge um Felix
und du führst ein Scheingefecht nach dem anderen! Bitte, sei jetzt still!“
Siegbert Kraus war still. Nicht so sehr, weil ihn die Argumente seiner Frau über
zeugt hätten, vielmehr war er sprachlos ob der demonstrierten Emanzipiertheit
seiner Frauen. Was hatte er in seiner unmittelbaren Umgebung heran gezüchtet!
„Danke, Frau Kraus!“ Frau Morandell schaltete sich ein, die Herrn Kraus Ver
stimmung durchaus bemerkt hatte. „Ich habe soeben mit Frau Gersky besprochen,
wie wir weiterhin vorgehen können und welche Auswirkungen die Entführung
von Felix haben könnte. Ja, es war eine Entführung und wahrscheinlich war es
nicht Volker Gersky!“
Laute des Entsetzens, aber Brigitte bat um Ruhe. Sie schien gelassen, doch man
sah ihr an, daß sie sich Sorgen machte. „Wir brauchen nun als Wichtigstes die
Zusammenarbeit der ganzen Familie. Daher wird Sie Ihre Tochter nun einweihen
über die Dinge, die in den letzten zwei Tagen passiert sind. Rückhaltlos einwei
hen.“ Bedeutungsvoll sah sie Helen an. „Sie werden dann verstehen, warum die
Polizei im Moment noch nichts wissen darf. Für Felix ist die Situation nämlich
extrem gefährlich. So kurz nach dem autistischen Rückzug ist ein weiterer Rück
fall therapeutisch als sehr gravierend anzusehen. Ich bitte Sie daher, für den Au
genblick die Tatsachen zu akzeptieren. Frau Gersky, bitte!“
Helen schilderte die Ereignisse klar und ungeschminkt. Kein Zögern und kein
Zittern, die steile Falte auf der Stirn unvermindert ausgeprägt. Nachdem Helen
geendet hatte, herrschte für ein paar Sekunden Stille.
Siegbert Kraus faßte sich als erster. „Wer um alles in der Welt sollte Felix ent
führen?“
Elfriede Kraus war immer noch stachelig. „Um Himmels willen, Siegbert! Hast
du denn nicht zugehört? Volker hat irgend etwas, was diese Männer haben wol
len!“ Mit einem ungeduldigen Schulterzucken brach sie ab.
Siegbert Kraus sah verständnislos in die Runde: „Was könnte dieser Lackaffe
haben?“ Aber er fand kein Gehör.
Elfriede war zu Helen gegangen und nahm sie in den Arm. „Mein Kind, wie
schrecklich ist das alles für dich! Hast du irgend eine Ahnung?“
109
„Nein, Mama, ich zermartere mir schon die ganze Zeit den Kopf!“
„Haben sich die Entführer wieder gemeldet?“ Siegbert wollte sich noch nicht so
schnell geschlagen geben.
„Papa, du weißt doch, daß es keinen Anruf gab, schließlich warst du früher hier
im 'Donaublick' als ich.“
Wieder schaltete sich vermittelnd Frau Morandell ein. „Als mir Helen gestern
von ihrem Streit mit ihrem Mann erzählte, ist mir etwas aufgefallen, was sie ge
sagt hat. Ihr Mann sei gar nicht schuldbewußt gewesen, daß er eine Geliebte hat.
Vielleicht...“
Siegbert Kraus strich immer noch nicht die Segel. „Würde ich ihm ohne weiteres
zutrauen, diesem Weiberhelden!“
„SIEGBERT, BITTE HALTE ENDLICH DEINEN MUND!“ Elfriede sprach in
Großbuchstaben und wandte sich an Frau Morandell: „Was meinen Sie?“
„Vielleicht bedeutete die Nachricht ja doch etwas anderes. Laßt uns überlegen.“
Trotz heftiger und angestrengter Überlegung kamen die vier nur so weit, daß
Volker wohl irgendwie in dunkle Geschäfte verwickelt war und der Liebesbrief
eine verdeckte Nachricht bedeutete. Helen wußte nicht, ob sie froh darüber sein
sollte. Immer wieder schweiften ihre Gedanken zu ihrem Sohn und nervös zupfte
sie an ihrem Ärmel.
Brigitte Morandell machte den Spekulationen ein Ende, indem sie aufbrach. Sie
gab Helen ihre Telefonnummer. Sie sollte sie jederzeit anzurufen, wenn sich et
was Neues ergab.
Als sie gegangen war, blieben Helen und ihre Eltern wie gestrandete Schiffbrü
chige zurück.
*** Ein Stockwerk tiefer war die Stimmung nicht wesentlich besser. Fee hatte, nach dem sie von Severin zurückgekommen war, mit Schäuble Kaffee getrunken und kaum etwas gesagt. Herrmann kannte sich nun gar nicht mehr aus. Vor ein paar Stunden lag sie noch in seinen Armen und jetzt? Zaghaft fragte er: „Bedrückt dich etwas?“ „Natürlich, Herrmann, die Sache mit Felix geht mir sehr nahe. Dann noch die
Polizei. Ich glaube nicht, daß sie schon aufgesteckt hat. Dieser Kommissar Kre
mer...“
„Cramer!“
„Wie auch immer, er hat mir zu schnell kapituliert. Sicher brüten die noch etwas
aus. Hoffentlich hat sich die Angelegenheit bis dahin erledigt.“
110
„Was meinst du? Daß Volker Gersky der Täter ist?“ „Wer? Äh ja, natürlich, klar, wer denn sonst?“ Schäuble fühlte sich überflüssig. „Liebe Fee, du verschweigst mir etwas, aber das macht nichts. Ich sehe, ich kann im Augenblick nichts mehr für dich tun. Also werde ich mich nach Hause verziehen. Ruf mich an, in Ordnung?“ Er stand auf. Fee trat zu ihm und küßte ihn dankbar. „Vielen Dank für dein Verständnis, Herrmann. Du hast recht, mir liegt etwas auf der Seele, aber das sind Dinge von früher. Bis morgen, wenn du magst.“ Dr. Herrmann Schäuble verpatzte seinen Abgang nicht und entfernte sich ohne ein weiteres Wort. Kurze Zeit später knatterte sein alter Ford vom Parkplatz auf die Straße und fauchend und spuckend bewältigte er die kleine Steigung zur Kreuzung. Fee sah ihm nach. Dann kehrte sie ins Wohnzimmer zurück, schenkte sich einen Sherry ein und zündete sich eine Zigarette an. Ihre Gedanken liefen weit zurück in die Vergangenheit. Ugo Di Cosimo, ihr Mann, mit dem sie dreizehn glückliche Jahre verheiratet war, hatte neben seiner offiziellen Stellung als Großindustrieller einer geheimen inter nationalen Gruppe angehört, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, der Mafia den Kampf anzusagen. Die Gruppe war in mehreren europäischen Ländern aktiv und nicht direkt der Staatsanwaltschaft des jeweiligen Landes unterstellt, arbei tete jedoch eng mit ihr zusammen. Die Finanzierung erfolgte von Di Cosimo und anderen Leuten mit dem nötigen Kapital, so daß die 'gruppa verde', wie sie sich in Italien nannte, ohne Parteienproporz und Einmischung seitens staatlicher Stellen agieren konnte. Sie hatte auch einige Erfolge vorzuweisen. Da waren die drei Verhaftungen, die an die Öffentlichkeit gelangt waren. Das Hauptziel der 'gruppa' war aber die Arbeit im Untergrund. Bei einer solchen Aktion war Ugo Di Cosimo ermordet worden. Schon bald nach ihrer Hochzeit hatte Fee sich dieser Gruppe angeschlossen und war hauptsächlich für die Koordination zuständig gewesen. Nachdem sie und ihr Mann Severin von seiner Mittelmeerinsel geholt hatten, auf der er in Alkohol und Trauer zu ertrinken drohte, war Severin ebenfalls ein Mitglied geworden. Severins herausstechendste Eigenschaften waren zum einen sein ungeheures Finger spitzengefühl und seine fast traumwandlerische Sicherheit im Öffnen von Treso ren. Als er sich einmal die nötigen Elektronikkenntnisse angeeignet hatte, war kein Safe vor ihm sicher. Seine zweite herausragende Fähigkeit war, sich wie ein Terrier in eine Spur zu verbeißen und solange nicht locker zu lassen, bis er das 111
Wild gestellt hatte. Einige Mafiosi größeren und kleineren Kalibers können heute noch in diversen italienischen Gefängnissen ein Lied davon singen. Fee seufzte. Sie hoffte, Severin hatte nichts von seiner zweiten Fähigkeit einge büßt. Als sie ihn vorhin so stehen sah, mit diesem entrückten Blick und den fest zusammengepreßten Lippen, war ihr klar, daß er wieder auf der Jagd war. Severin hatte Witterung aufgenommen. Fee hoffte, er würde daran denken, daß das hier Deutschland und nicht in Italien war. *** Volker Gersky, der immer noch ahnungslos war, was einerseits den Konvoi an betraf, der ihm folgte, andererseits die Entführung seines Sohnes anbelangte, den er bei seiner Mutter wähnte, wo immer diese Schlampe sich aufhalten mochte, fuhr an die Tankstelle. Er beschloß, noch eine Kleinigkeit zu essen. Nachdem der Tank gefüllt war, stellte Gersky seinen Wagen etwas abseits und ging in die klei ne Imbißstube. Kurz darauf betraten zwei Männer ebenfalls den Gastraum und setzten sich an den Nebentisch. Gersky beachtete sie nicht. Er sah auf die Uhr. Schon nach fünf, fast halb sechs. Er würde sich nicht lange aufhalten. Zur Grenze waren es noch knappe zwanzig Minuten und dann war er vorerst in Sicherheit. Zwei Stunden auf der Autobahn nach Straßburg und ab in die Lüfte. Vielleicht war es ein Fehler, noch in Deutschland zu halten, dachte Gersky plötzlich, er hätte doch gleich über die Grenze fahren sollen. Was die beiden Männer betraf, die ihm gefolgt waren, war es denen egal, ob sie ihn hier oder im Ausland schnappten. Sie warteten nur noch auf die Bestätigung. Zur gleichen Zeit näherten sich zwei weitere Männer dem Auto des Beschat tungsobjektes und überzeugten sich durch einen schnellen Blick, daß sie von der Gaststube aus nicht gesehen werden konnten. Dann brachen sie mit geübten Grif fen die Seitentüre auf und nahmen die Aktentasche heraus. Der eine Mann hielt sie geöffnet in der Hand und verdeckte damit die Tätigkeit des zweiten, der ein Messer aus der Manteltasche zog und mit einem schnellen Schnitt das Futter auf trennte. Zehn Disketten fielen heraus. Der Mann mit dem Messer steckte sie ein. Sie warfen den leeren Koffer wieder ins Auto und schlossen leise die Autotüre. Dann kehrten sie zu ihrem Wagen zurück und hupten zweimal. Das vereinbarte Zeichen. Im Gastraum sahen sich die beiden Männer bedeutungsvoll an. Endlich ging es los. 112
Volker Gersky merkte von alledem nichts, doch schien er es eilig zu haben. Er stornierte seine Essensbestellung und zahlte den Kaffee. Dann stand er auf und ging zur Tür. Die beiden Männer folgten ihm. *** Max Weiss stand wieder schwitzend in der kleinen Telefonzelle am Bahnhof von Freiburg und wartete, daß am anderen Ende irgend jemand den Hörer abnehmen würde. Nach zehnmaligen Läuten, dem Anwalt rann der Schweiß bereits in Strö men von der Stirn, wurde die Verbindung hergestellt. „Na, endlich!“ knurrte Weiss. Dann gab er den Übergabeort und den geforderten Preis durch. „Ich hoffe,
die Sache geht ohne Komplikationen ab. Mein Kopf steckt in der Schlinge!“
„Da gehört er hin!“ war die kühle Antwort, bevor die Verbindung getrennt wur
de.
Max Weiss runzelte die Stirn. Dann wischte er sich den Schweiß von den Schlä
fen und verließ den Bahnhof. Mehr konnte er nicht tun. Er fuhr nach Hause und
verbrannte den Schriftsatz für Volker Gersky.
Sowie der Anwalt die Lage einschätzte, brauchte ihn dieser nicht mehr.
*** Im Pförtnerhäuschen machte sich Severin fertig. Er hatte eben mit Nathaniel Ka minski, dem Chef der SBIK, einer Spezialeinheit des BKA zur Bekämpfung der internationalen Kriminalität, die Einzelheiten der geplanten Übergabe besprochen und mußte nun die geforderte Summe abholen. Severin holte den Jaguar aus der Garage und machte sich auf den Weg. Als er den Parkplatz des Hotels verließ, sah er den dunklen Wagen auf dem kleinen Feldweg parken, die Schnauze zur Fahrbahn gewendet. Severin schmunzelte. Ein schlauer Fuchs, dieser Haupt kommissar Cramer. Er blickte in den Rückspiegel. Der Wagen blieb, wo er war. Severin gab Gas. *** Die Überwachungsmannschaft, die eine halbe Stunde nach der Anordnung Cramers eingetroffen war, hatte die Liste der zu überwachenden Personen wie auch deren Autonummern mit. Als ein Wagen aus dem Parkplatz auf die Straße schoß, überprüften sie diese Liste. Ein Jaguar stand nicht darauf. Der Fahrer steckte die Liste weg und gähnte. Er sah auf die Uhr. Noch eine Viertelstunde bis sechs und dann war Ablöse. Er sah zum 'Donaublick' hinüber. Die untere Etage war hell erleuchtet, im ersten Stock brannte das Licht nur in einem Zimmer. Der Fahrer drehte die Standheizung ein Stück höher. *** 113
Im Bambuszimmer stand Corinne fröstelnd am Fenster, obwohl die Heizung auf
vollen Touren lief.
Alexander versuchte, sich darüber klar zu werden, wie es nun weitergehen sollte.
Vorerst einmal würden sie hier bleiben. Aber wie lange noch?
Alexander seufzte. Er hatte Hunger. „Gehen wir essen?“
„Wir haben nicht vorbestellt!“
Die Mahlzeiten im 'Donaublick' einzunehmen, war durchaus möglich, man mußte
sich nur bis mittag angemeldet haben.
„Dann gehen wir eben aus. Das Lokal in Sigmaringen war nicht schlecht. Die
Frage wird nur sein, ob dein Auto die Strecke durchhält!“
Aber Corinne war immer noch nicht für leichte Konversation zu haben. Müde
drehte sie sich um. „Wenn du das Risiko eingehen willst.“ Sie zuckte mit den
Achseln.
Alexander zog es vor, nicht darauf zu antworten. Immerhin rührte sich seine
Schwester aus dem Haus. Das ließ hoffen.
*** Fee hatte Severin abfahren hören. Sie preßte die Fäuste zusammen und schickte ihm einen ermunternden Gedanken nach. Dann konzentrierte sie sich auf ihre nächste Aufgabe. Sie hatte drei Gäste zu verköstigen, denen sie nicht zumuten wollte, außer Haus zu essen. Also war Abendessen angesagt. In diesem Fall konnte das Bambuszimmer ebenfalls im 'Donaublick' essen. Fee beschloß, nach
zufragen.
Als sie in die Rezeption ging, kam das junge Pärchen eben die Treppe herunter.
Der junge Mann schien heute etwas zugänglicher. „Guten Abend! Scheint kalt zu
sein! Wir gehen auswärts essen, sind aber vor halb elf zurück. Außerdem“, tri
umphierend hielt er den Zimmerschlüssel hoch, der auch die Haustüre sperrte,
„haben wir heute den Schlüssel mit. Wir müssen Sie also nicht belästigen. Einen
schönen Abend noch.“ Die junge Frau hatte kein Wort gesagt, beobachtete je
doch Fee gedankenvoll.
Diese blickte ihnen nach. Eigenartig, wie sie mich ansieht. Na ja, erst mußte diese
schreckliche Geschichte mit dem Jungen gut ausgehen, aber dann! Fees Blick
wurde grimmig, dann würde sie sich die beiden vorknöpfen. Sie ging in die Re
zeption und wählte die Nummer der Suite, aber da meldete sich niemand. Im alt
deutschen Zimmer hob Siegbert Kraus ab. Fee fragte nach den Wünschen für das
Abendessen. Herr Kraus war überfordert und sagte, er würde seine Frau ans Tele
fon holen. Statt dessen meldete sich Helen.
114
„Fee, meine Mutter und ich würden Ihnen gerne beim Kochen helfen, wenn Sie nichts dagegen haben. Es würde uns ablenken.“
„Kein Problem! Kommen Sie in die Küche, dann beratschlagen wir, was wir
kochen.“
Fee hängte auf. Während sie in die Küche ging, hüpften ihre Gedanken hin und her. Diese Helen hat sich ganz schön herausgemacht in den letzten vierundzwan zig Stunden. Kommt hier wie ein zerrupftes Huhn an und mausert sich zur er wachsenen Frau. Wie großartig sie die Situation mit Felix meistert. Ihre Mutter scheint eher praktisch veranlagt. Der Vater kam nicht so gut zurecht mit seiner erstarkten Frauenriege. Nun, jeder hatte eine andere Art, mit seinen Sorgen und Kümmernissen fertig zu werden. Apropos, fertig werden, spute dich und plündere die Tiefkühltruhe.
Zwischenspiel Der Commander saß am Telefon und wartete darauf, daß die Verfolgungsmann schaft sich meldete. Ihr Auftrag lautete, sicherzustellen, daß Gersky die Disketten bei sich führte, um dann bei geeigneter Gelegenheit zuzuschlagen. Der Commander war unzufrieden. Die Entführung des Jungen schien ein Schlag ins Wasser zu sein, immer noch hatte die Person, die damit erpreßt werden sollte, nichts davon erfahren. Wenn Gersky andererseits die Disketten mit sich führte, war die Aktion überflüssig gewesen. Er war von der Annahme ausgegangen, Gersky hatte die Disketten absichtlich zurückgehalten, um Geld zu erpressen. Dazu war jedoch bereits zuviel Zeit vergangen. Sollte er überreagiert haben? Ließen ihn seine Nerven im Stich? Blieben immer noch die Sicherheitskopien der Aufzeichnungen aus Gerskys Computer Er beschloß, erst mal abzuwarten, aber in jedem Fall den Jungen morgen früh wieder freizulassen. War es nicht langsam Zeit, daß sich KM 16 zu seinem Routineanruf meldete? Der Commander sah auf die Uhr, die er am Handgelenk trug. Es war eine teure Uhr, eine Rolex. Selbstverständlich hatte er eine Uhr, und selbstverständlich war es eine Rolex, aber KM 16 war manchmal etwas widerspenstig, man mußte seinen Gehorsam prüfen In diesem Moment läutete das Telefon und KM 16 meldete keine besonderen Vorkommnisse.
„Wie geht es dem Jungen?“ Die kalte Stimme war vielleicht eine Spur mißtrau
isch.
KM 16 entging es. „Gut, er schläft, nichts besonderes.“ 115
„In Ordnung.“
„Wie lange werden wir ihn noch behalten?“
„KM 16, tun Sie ihre Arbeit. Sie werden informiert. Ende!“
Man würde ein Auge auf Kontaktmann 16 haben müssen, sein Instinkt sagte ihm
das. Eine leichte Nuance der Stimme am Telefon, etwas wie Widerspenstigkeit?
Der Commander griff zum Telefon. Der Bewacher des Jungen meldete sich und
der Commander fragte nach dem Zustand des Entführungsopfers. KM 12 gab
Auskunft.
„Der Junge schläft viel, keine Vorfälle.“
„In Ordnung. War KM 16 heute bei Ihnen?“
„Ja, vor einer Stunde.“
„Irgend etwas vorgefallen?“
„Nein. Er erkundigte sich ebenfalls nach dem Zustand des Jungen und sagte, alle
Veränderungen im Zustand des Jungen sollten ausschließlich an ihn gemeldet
werden.“ KM 12 klang besorgt. Hatte er etwas falsch gemacht?
Am anderen Ende der Leitung blieb es still. Erst nach einer längeren Pause ka
men Anweisungen. „Ein Wagen ist unterwegs. Er müßte in einer halben Stunde
bei Ihnen sein. Stellen Sie sicher, daß er entsprechend positioniert wird. Er soll
KM 16 folgen.“ Kurz und knapp folgten genaue Anweisungen. „Haben Sie ver
standen?“ fragte die kalte Stimme abschließend.
Verdutzt sagte KM 12, er habe verstanden. Scheint eng zu werden für KM 16,
dachte er und war froh, nicht an dessen Stelle zu sein.
Zufrieden legte der Commander auf. Sein Gefühl hatte ihn nicht getrogen. Das
schwache Glied in der Kette würde eliminiert werden. Immer auf alle Eventuali
täten achten war seit Jahren seine Überlebensmaxime
Seine Nerven ließen ihn nicht im Stich! *** Severin bog in die dunkle Einfahrt ein und stellte den Motor ab. Er atmete tief durch. Das Gebäude schien sich nicht verändert zu haben in den Jahren, seit er zum letzten Mal hier war. Eine unauffällige graue Villa mit alten Stukkaturen an den Wänden und weit ausladenden Balkonen, die aber seltsamerweise nie benützt wurden. Severin stieg aus und schritt den Kiesweg entlang. Er war noch einige Meter von der Eingangstüre entfernt, als diese geöffnet wurde und eine altvertraute Stimme sagte: „Willkommen zurück!“ 116
Severin trat ein. Von einer nahen Kirchturmuhr schlug es zehn. *** Um zweiundzwanzig Uhr befand sich Volker Gersky in einer kleinen Zelle mit vergitterten Fenstern, blinzelte in das grelle Scheinwerferlicht und versuchte, mit der Situation Schritt zu halten. Der Mann, der ihn die letzte Stunde befragt hatte, hatte soeben den Raum verlassen, aber Gersky war sich klar, daß dies nur eine Atempause bedeutete. Benommen schüttelte Gersky den Kopf und zerrte an seinen Fesseln. Die ganze Geschichte war ihm zu schnell gegangen. Gerade als er an der Tankstelle in sei nen Wagen einsteigen wollte, tauchten aus dem Nichts plötzlich vier Männer auf und verfrachteten ihn ohne viel Federlesens in ein anderes Auto auf den Rücksitz. Niemand nahm seine Proteste zur Kenntnis. Links und rechts nahm einer der Männer Platz, während der dritte sich hinter das Lenkrad klemmte. Der vierte Mann beugte sich durchs Seitenfenster und sagte knapp: „Schlüssel!“ Volker Gersky gab ihm die Autoschlüssel. Dann ging dieser zum Mietwagen und fuhr davon. Auch der Wagen, in dem Gersky saß, fuhr los und nach etwa drei Stunden Fahrt wurde er wieder ohne übertriebene Rücksichtnahme ausgeladen und in diese fin stere Zelle befördert. Daß das keine Polizeizelle war, war Gersky klar, ebenso wie er von Anfang an wußte, daß das keine Beamten waren, die ihn einkassiert hatten. Erstens hatte er einen kurzen Blick auf seine zerstörte Aktentasche erha schen können und zweitens wirkten diese Männer eher wie Profikiller. Auf der ganzen Fahrt war kein weiteres Wort gefallen. Gersky bemühte sich, nach außen gelassen zu wirken, aber innerlich tobten die widerstreitendsten Gefühle, Panik, Zorn, Angst, Wut. Die Befragung der letzten Stunde drehte sich nur um ein The ma: Geld und Disketten. Gersky hatte sich dumm gestellt. Nun ging die Türe auf und ein dunkler Schatten nahm hinter der Lampe Platz. Offenbar nicht dieselbe Person von vorhin, der Schatten war größer und die Stimme kälter. Er warf einen Packen Tausendmarkscheine auf den Tisch. Volker stöhnte. „Gersky, das Herumgerede hört jetzt auf. Das ist das Geld aus Ihrem Tresor und es ist exakt die Summe, die uns fehlt! Die haben wir nun wieder. Auch die Dis ketten haben wir. Was wir jetzt noch wollen, sind die Sicherheitskopien ihrer Computeraufzeichnungen. Dafür erhalten Sie etwas, was wir haben. Etwas, was Sie sicher zum Sprechen bringen wird Ihr Sohn ist ein ganz reizender kleiner Bursche.“ 117
„Felix? Ihr Schweine habt Felix entführt?“ Volker wollte aufspringen, aber die Fesseln hinderten ihn daran. Wild zerrte er daran, doch plötzlich verließen ihn die Kräfte. Stöhnend sackte er zusammen. Nicht Felix, nicht mein Sohn! Ungerührt fuhr die Stimme fort. „Wir wollen jetzt die Wahrheit. Wo sind die Kopien? Zu wem haben Sie Kontakt aufgenommen und an wen wollten Sie uns verschachern?“ Gersky biß sich auf die Lippen, um das aufsteigende Wimmern zu unterdrücken. In seinem Kopf drehte sich alles. Er brauchte jetzt unbedingt einen Drink, nur einen Schluck Whisky! Als ihm bewußt wurde, daß er hier saß, in dieser finsteren Zelle, zusammenge schnürt wie ein Paket, soeben mit der Tatsache konfrontiert, daß seine Existenz den Bach runterging, sein Sohn entführt worden war und er nichts weiter zustan de brachte, als an Whisky zu denken, brach er in hysterisches Lachen aus. Er lachte und lachte. Er konnte einfach nicht mehr aufhören. *** Hauptkommissar Cramer riß den Computerausdruck vom Printer und raffte seine Unterlagen zusammen. Dann verzog er sich in den kleinen Raum, der dazu diente, Gefangenen einen ungestörten Austausch mit ihren Anwälten zu ermöglichen. Cramer wollte nachdenken, er brauchte Ruhe. Nach seiner Rückkehr vom 'Donaublick' hatte Cramer sämtliche Namen in den Fahndungscomputer eingege ben, um eventuelle polizeiliche Registrierungen zu erhalten. Er versprach sich nicht viel davon und fast schien es, als wäre die Arbeit umsonst gewesen. Er wartungsgemäß hatte der Computer weder bei Helen Gersky, deren Eltern, Frau Di Cosimo und diesem Dr.Schäuble etwas zu melden. Dunkel erinnerte sich Cramer an einen weiteren Mann, mit dem Helen Gersky gekommen war, den er aber kaum zu Gesicht bekommen hatte. Cramer machte sich eine entsprechende Notiz. Auch bei Volker Gersky waren keine Vorstrafen registriert. Beinahe wäre Cramer die kleine Eintragung entgangen, die an der rechten unteren Bildschirmecke stand und auf eine polizeiliche Intervention hindeutete. Er rief die entsprechende Nummer auf und las mit wachsendem Staunen: G. am 18.Juni, 23 Uhr 47 in Freiburg auf offener Straße angehalten Verdacht der Alkoholisierung verweigerte Alkoholprobe in die Wachstube Münsterplatz eingeliefert Einlieferungsgrund: tätlicher Angriff auf zwei Polizeibeamte 118
Nach drei Stunden entlassen, von einer Strafanzeige wurde abgesehen Bußgeld in Höhe von 1.500, – bar vom anwesenden Anwalt Max Weiss bezahlt Führerscheinentzug für zwei Monate Flensburg informiert Nun saß Cramer in der kleinen Zelle, wippte mit seinem Stuhl hin und her, sto cherte in seinen Zähnen und versuchte, System in seine Gedanken zu bekommen. Er hatte Max Weiss eingetippt und nur Frustrierendes zu Tage gefördert: Anwalt, seit 24 Jahren in Freiburg tätig, wahrscheinliche Nähe zu Mafiakreisen, keine Straftaten, C-drei-plus-Kodierung. Das hieß vorerst auch für einen Hauptkommis sar 'Hände weg'. An diesem Punkt angelangt hatte sich Cramer in die Zelle verzo gen. Langsam wurde Cramer verschiedenes klar. Da haben wir einen Anwalt, der für die Mafia arbeitet und der seine weiße Weste behält, weil er eine C-drei-plusKodierung hat! Ist ja nicht zu fassen! Dieser schlaue Fuchs! Ein Informant! Aber nicht nur, daß er das BKA beliefert, der hat sich abgesichert! Ist auch noch ne benbei Informant des BND! Damit also ein heißes Eisen und keiner wird sich an ihm die Finger verbrennen. Langsam klärten sich die Dinge. Dieser Gersky wird wohl ein krummes Ding gedreht haben und nun hat man seinen Sohn einkassiert! Man weiß ja, wie diese Leute vorgehen. Kein Wunder, daß die armen Leute im 'Donaublick' total aus dem Häuschen waren. Zu dieser ganzen Geschichte paßte auch die Meldung aus Freiburg. Das war kein unordentlicher Haushalt oder ein unüberlegter Zornesausbruch des Hausherrn. Das Chaos sah nach Warnung aus. Cramer überlegte, die Kollegen in Freiburg in Kenntnis zu setzen, wieweit seine Nachforschungen gediehen waren, nahm aber wieder davon Abstand. Er würde bis morgen früh abwarten. Sollte seine Überwa chungsmannschaft keine Aktivitäten melden, würde er noch einmal in den 'Donaublick' fahren. Cramer schrieb einen kurzen offiziellen Bericht über seine nachmittägliche Amtshandlung, dann faltete er seine Aufzeichnungen und den Computerausdruck zusammen und steckte beides ein. Er sah auf die Uhr, kurz nach zweiundzwanzig Uhr. Er würde dem 'Donaublick' bis morgen früh Zeit lassen. Er konnte nur hof fen, daß dies genügen würde, um das Leben des Jungen zu retten.
Zwischenspiel KM 16, der mit bürgerlichem Namen Fritz Weber hieß, klappte sein Handy zu und machte sich auf den Weg. Er hatte eben Ort und Zeit der Übergabe übermit 119
telt bekommen, ein kleiner Parkplatz nach der Abfahrt Stuttgart-Degerloch. Die Stelle war gut gewählt, von dort aus konnte man rasch entweder in die Innenstadt, nach Möhringen, wieder auf die A8 Richtung München oder Karlsruhe oder Heilbronn oder auf die A81 sowie auf die E51 nach Reutlingen gelangen. Eine schwierige Stelle für Verfolger. KM 16 Fritz Weber dachte nicht an Verfolger. Er dachte daran, daß der Mittels mann die Kohle mitbrachte, seine Garantie für ein freies Leben. Die einzige Richtung, in die KM 16 Fritz Weber dachte, war, daß der Übergabeplatz in un mittelbarer Nähe des Stuttgarter Flughafens lag. Er nahm seine Tasche vom Bett und verließ das Hotel. Umsichtigerweise hatte er die Rechnung bereits bezahlt. *** Severin legte den Koffer vorsichtig auf den Nebensitz. Nat Kaminski hatte sich viel Mühe in der kurzen Zeit gegeben, also wollte Severin nichts beschädigen. Im Koffer lag eine Menge Geld, in kleinen, gebrauchten Scheinen, aber unsichtbar markiert, jedes Paket zusammengehalten mit einer unauffälligen Banderole. In der Ecke des Koffers steckte ein Sender. Eines der Geldbündel war ausgehöhlt und ein weiterer Sender darin versteckt, sollte das Geld umgepackt werden. Severin klemmte sich hinter das Steuer und fuhr langsam Richtung A8. Er hatte genügend Zeit. Die Übergabe würde erst um drei Uhr früh stattfinden. Auch wollte er seinem Schatten Gelegenheit geben, aufzuschließen. Severin hatte sich lange gesträubt, einer Verfolgungsmannschaft zuzustimmen, aber Kaminski war unnachsichtig. „Severin, mein alter Freund, du kannst den Jungen haben, aber den Mann bekommen wir. Basta! Entweder das, oder die Sache läuft ohne dich!“ Severin wußte, wann er aufzugeben hatte. Er hoffte nur, die beiden Männer, die man hinter ihm her schickte, würden routiniert genug sein, nicht zu früh einzu greifen. Langsam rollte er am Bahnhof vorbei in Richtung Süden. Die beiden Scheinwerfer in seinem Rückspiegel hielten Distanz. Die große Uhr auf dem Ge bäude der Interunfall Versicherung zeigte zwei Uhr elf. *** Die Donaufee sah auf die Uhr, zwei Uhr fünfzehn. Sie wählte eine Nummer. „Brigitte, hier spricht Fee, es ist spät, ich weiß, doch du wolltest informiert wer den. – Nein, im Moment noch nichts Neues, aber ich hätte eine Frage. Wenn der Kleine gefunden wird, ist die Chance, daß er wieder so wird... wie heißt das? – Ja, also autistisch, doch recht groß, nicht? – Das dachte ich auch. Sag mal – aber ich rede doch gar nicht um den heißen Brei, ich wollte dir doch gerade sagen, das heißt, ich wollte dich bitten – wie? Ich bin doch schon bei der Sache, wenn du mich aussprechen lassen würdest. Also, kannst du dir morgen Urlaub nehmen? – 120
Das geht? Sehr gut! – Wozu? Ich habe so eine Ahnung, daß wir dich sehr früh hier brauchen werden. – Nein, Näheres kann ich dir nicht sagen. – Nein, sicher bin ich auch nicht. – Nein, nein, ich weiß es nicht, aber ich denke, es könnte der Fall sein. – Wie, ich bin kryptisch? Wenn du es sagst! Ich werde dich wieder anrufen, wenn ich Näheres weiß. Schlaf noch gut! Bis bald. Danke dir, ciao!“
Zwischenspiel KM 16 Fritz Weber betrat Punkt zwei den alten Schuppen, der auf halber Höhe auf der Zufahrtsstraße zu Burg Teck neben zwei größeren Gebäuden stand. Er beachtete die Wache nicht und ging in den kleinen Raum, in dem Felix lag. Er hob den Junge hoch, der teilnahmslos in seinen Armen lag, raffte eine Decke auf und hüllte den Jungen darin ein. Dann nickte er der Wache kurz zu und verließ die Scheune. Vorsichtig legte er Felix auf den Rücksitz seines Wagens und wen dete in der Auffahrt. Er hatte es eilig. Bis zur Übergabe um drei Uhr mußte er sich sputen. Er warf keinen Blick zurück. Daher entging ihm, daß KM 12 ein eher seltsames Verhalten an den Tag legte. Wortlos hatte er zugesehen, wie KM 16 den Jungen mitnahm, dabei aber unauffällig nach dem Funkgerät gegriffen. In dem Moment, als KM 16 den Schuppen verlassen hatte, sprach KM 12 leise und rasch in das Gerät. Ohne Licht bewegte sich ein Wagen von der Rückseite des Gebäudes und rollte er den Berg hinunter. In sicherem Abstand folgte er den roten Rücklichtern. *** Severin bog mit abgeblendeten Scheinwerfern auf die Abfahrt Degerloch ab und hielt auf dem schmalen Parkplatz. Er schaltete das Licht aus, ließ aber den Motor laufen. Der zweispurige Autobahnzubringer war wenig frequentiert. Die gelben Neonlichter der Straßenbeleuchtung warfen einen diffusen Schatten über die Ausweichstelle. Severin war sich sicher, nur einer zufällig vorbeikommenden Polizeistreife aufzufallen. Dieses Risiko würde er eingehen. Er sah auf die Uhr, es war zehn Minuten vor drei. Er lehnte sich zurück und wartete. Von rückwärts näherten sich langsam zwei Scheinwerfer. Severin schmunzelte. Seine Gefolgsmannschaft würde sich schwer tun, hier eine Stelle zu finden, an der sie nicht von jedem, der den Parkplatz anfuhr, gesehen wurde. Der Wagen scherte auch wieder aus und bog hundert Meter weiter vorn auf die rechte Spur ab, die zum Mercedeswerk führte. Severin wußte, daß die Straße wenig später eine scharfe Rechtskurve machte und eine kleine Anhöhe hinauf führte, so daß man von oben auf seinen Parkplatz sehen konnte. Wie erwartet, erhellten kurz darauf über ihm zwei Scheinwerfer den Himmel und verloschen wieder. Severin 121
beugte sich vor und sah hinauf. Der Wagen war kaum auszunehmen in der Dun kelheit. Wenn der Überbringer des Jungen geschickt und schnell genug war, konnte er Nats Leuten locker entkommen. Severin atmete tief durch. Seine innere Spannung stieg. Es war fünf nach drei. Plötzlich hörte er Motorengeräusch. Dann bog ein Wagen auf den Parkplatz und hielt hinter seinem Jaguar, die Scheinwerfer grell aufgeblendet. Severin nahm den Koffer vom Nebensitz, stieg langsam aus und blinzelte in das grelle Licht. Er ging ein paar Schritte, öffnete seine hintere Wagentür, trat ein paar weitere Schritte nach vorn und wartete. Er hörte, wie eine Tür geöffnet wur de, dann eine weitere Türe aufklinkte. Eine dunkle Gestalt erschien und trug eine Last auf den Armen. Sie blieb stehen. Severin sah nur den Umriß. Die Gestalt deutete mit dem Kopf. Severin stellte den Koffer ab und trat ein paar Schritte zurück. Die Gestalt bewegte sich nach vorn, legte die Last auf den Bo den, schnappte sich den Koffer und war nach wenigen Sekunden wieder im Auto verschwunden. In diesem Augenblick erschien ein weiteres Fahrzeug auf dem Parkplatz. Jetzt wird es eng! dachte Severin, sprang zu dem Bündel auf dem Boden, riß es hoch – ein schneller Blick, es war Felix, bewegungslos, bewußtlos. Rasch legte Severin ihn auf den Rücksitz, schlug die Türe zu und war hinter dem Steuer. Mit schnellem Griff schaltete er das Licht ein und gab Gas, daß die Reifen durch drehten. Er schoß davon und kratzte beinahe die rechte Fahrzeugseite des Wa gens, der zuletzt gekommen war. Severin preschte auf den Autobahnzubringer, schnitt einem Wagen die Vorfahrt ab und jagte die Straße nach Stuttgart-Möhringen hinauf. An der Kreuzung brem ste er und riß das Fahrzeug herum. Jetzt fuhr er wieder zurück Richtung A8. Als er in der Gegenrichtung den kleinen Parkplatz passierte, sah er, wie der zuletzt angekommene Wagen gerade den Parkplatz verließ, der Wagen des Überbringers jedoch immer noch mit aufgeblendeten Scheinwerfern auf dem Platz stand. War wohl nicht schnell genug! dachte Severin. Von seiner Verfolgermannschaft war nichts zu sehen. Severin nahm die zweite Abfahrt auf die A81. Er sah nach hinten. Felix lag bewegungslos auf dem Rücksitz. Es war drei Uhr fünfzehn. *** Um drei Uhr fünfzehn sah Helen sicher zum zehntenmal auf die Uhr. Sie konnte nicht schlafen. Seit über einer Stunde wälzte sie sich nun im Bett. Nach dem Abendessen, das kaum von jemandem angerührt wurde, saß sie mit ihren Eltern und der Donaufee noch lange zusammen und wartete auf einen Anruf der Entfüh 122
rer. Die meiste Zeit schwiegen sie. Siegbert Kraus lief immer wieder unruhig auf und ab und murmelte Unverständliches, Elfriede schwankte zwischen Hoffnung und Verzweiflung und Fee bot Kaffee, Tee oder 'etwas Stärkeres' an, fand aber wenig Anklang. Gegen zwei beschlossen sie, zu Bett zu gehen. Helens Gedanken waren bei Felix. Nichts anderes hatte Platz. Sie hoffte und be tete. Sie wußte, sie betete für ein Wunder. *** Felix träumte...
Er lag in einer Schaukel, immer wieder wippte sie hin und her. Rundum war
Nacht. War er denn nicht mehr in seiner Höhle? Doch das Gefühl von Schweben
oder Trudeln war immer noch da, aber zwischendurch war dieses Schaukeln.
Nicht unangenehm, aber doch etwas störend. Mühsam versuchte Felix sich zu
konzentrieren. Immer noch war er schrecklich müde, aber das Gefühl, weiter und
weiter zu sinken, hatte aufgehört.
Felix träumte...
Er war auf einer Klippe, ein schmales Felsband wie damals, als sie am Meer wa
ren. Wer war denn damals noch dabei? Eine kleine Klippe, die ins Meer abfiel.
Aber er war doch schon tief unten im Meer! Bei jedem Schaukeln rollte er ein
klein wenig näher an diesen Klippenrand. Die feine Stimme war wieder da, er
sollte da nicht hinunterfallen! Warum nicht? Damals, am Meer, war er auch nicht
hinunter gefallen, aber da war sein Papa da gewesen, der ihn festgehalten hatte
und die Mama. Aber jetzt war niemand hier. Da konnte man sich doch hinunter
fallen lassen, dann wäre alles vorbei. Er würde schlafen und nichts mehr spüren.
Wieder ein Schaukeln. Felix rollte wieder ein kleines Stück weiter. Der Rand war
sehr nahe. Es schien so einfach.
Felix träumte...
Die leise Stimme wurde befehlend: „Felix, komm zurück!“ Das klang sehr nach
seiner Mama! Felix spürte, daß er ein wenig bockig wurde. Typisch, immer dann,
wenn es aufregend wurde, rief ihn seine Mama zurück. Er beschloß, mit dem
Hinunterfallen noch ein wenig zu warten. Sein Trotz verflog und er spürte wieder
diese entsetzliche Müdigkeit. Wo waren seine Gedankenblasen? Wo war seine
Mami?
*** Punkt acht Uhr an diesem Montagmorgen platzte Hauptkommissar Cramer im Frühstückszimmer des 'Donaublicks' in eine völlig überdrehte Gesellschaft. Nachdem seine Mannschaft gemeldet hatte, keiner der überwachten Personen habe sich in der Nacht aus dem Hotel gerührt, lediglich der Jaguar sei um fünf 123
Uhr früh wiedergekommen, habe etwas ausgeladen und sei dann in die Garage
gefahren, war Inspektor Cramer wie geplant zum Donaublick gefahren. Er hatte
es eilig gehabt, also hatte er auf einen Fahrer verzichtet und war mit einem Zivi
lauto los gebraust. Nun saß er mit den Beteiligten am Frühstückstisch und ver
suchte, die Situation zu verstehen, was nicht ganz einfach war, da alle drei Frauen
nahezu gleichzeitig redeten.
„Meine Damen!“ Hauptkommissar Cramer versuchte, System in das Wirrwarr zu
bringen. Er stand auf verlorenem Posten. Die Donaufee übernahm das Komman
do. „Schön, Sie zu sehen, Hauptkommissar Kremer.“
„Cramer!“
„Auch gut. Was führt Sie zu so früher Stunde zu uns? Sollte der Ruf meines Ho
tels so weit gedrungen sein, daß Sie schon zum Frühstück den weiten Weg von
Tübingen auf sich genommen haben?“
„Frau Di Cosimo.“ Cramer blieb gelassen. „Ich wollte mich nur nach dem Stand
der Dinge erkundigen.“
„Dem Stand welcher Dinge?“
„Nun, ob Frau Gersky etwas von ihrem Mann und ihrem Sohn gehört hat!“ Prü
fend sah er Frau Gersky an.
Helen lächelte glücklich. „Ja, stellen Sie sich vor, Felix ist wieder hier!“
„Das ist ja eine erfreuliche Nachricht! Ist Ihr Mann aufgetaucht?“
„Nein, nicht direkt.“ Hilflos sah sie in die Runde.
Fee war wieder gefordert. „Wir haben Nachricht erhalten und Severin, mein
Hausmeister, hat den Jungen in der Nacht geholt. Herr Gersky hielt es wohl für
besser, wenn der Junge wieder zu seiner Mutter kommt!“
„Ja, genauso war es! Ich bin Fee Frau Di Cosimo ja so dankbar!“ Helen strahlte
Fee an und wandte sich dann entschieden an Cramer: „Und das ist alles, was ich
zu dieser Angelegenheit sagen möchte!“
Hauptkommissar Cramer blickte zu Siegbert Kraus. Doch dieser befleißigte sich
einer ungewohnten Zurückhaltung und schwieg. Aber auch er lächelte zufrieden.
„Nun, dann ist ja alles wieder in bester Ordnung!“ Cramer versuchte, seine
Stimme von jedem Argwohn freizuhalten. Es gelang ihm beinahe. „Trotzdem
möchte ich den Jungen sehen. Wo ist er?“
„Hauptkommissar Kremer!“
Cramer blieb geduldig: „Cramer, Frau Di Cosimo, ganz einfach Cramer!“
Helen schaltete sich ein. „Das ist im Moment nicht besonders günstig, denn...“
124
In diesem Moment flog die Türe zum Frühstücksraum auf und Dr.Herrmann Schäuble trat mit Getöse ein. „Was für eine wunderbare Nachricht! Wo ist Felix? Das ist das beste, was ich seit langem gehört habe! Guten Morgen allerseits! Ach, Sie sind auch hier, Hauptkommissar. Wo ist der Junge?“ Er sah sich um, als wür de er Felix irgendwo unter den Tischen vermuten. Fee stand auf. „Schön, daß du da bist, Herrmann. Felix ist in der Suite und Bri gitte ist bereits bei ihm. Sie wartet schon auf dich. Felix hat die ganze Geschichte nicht besonders gut überstanden und ist wieder völlig zurückgezogen. Am besten, du siehst nach ihm, ob ihm wenigstens körperlich nichts fehlt!“ Mit einem un schuldigen Augenaufschlag wandte sie sich an den Kommissar: „Um Ihr Miß trauen zu zerstreuen, lieber Hauptkommissar äh...“ „Cramer!“ „Ich weiß, ich weiß, ich kann mir Namen ganz gut merken, lieber Hauptkommis sar, können Sie kurz mit nach oben gehen, sofern es die Mutter gestattet, natür lich.“ Fragend sah sie Helen an. Diese seufzte: „Wenn es damit ein Ende hat! Also kommen Sie.“ Zielstrebig ging sie voran, Dr.Schäuble und einen verdutzten Hauptkommissar im Schlepptau. Zwei Minuten später war Hauptkommissar Cramer wieder im Frühstücksraum, nahm seinen Mantel vom Stuhl und zog ihn an. Mit bedeutungsvollem Blick sagte er zu den drei am Frühstückstisch Sitzenden: „Sie haben großes Glück ge habt, offiziell ist die Angelegenheit erledigt. Ich wünsche dem Jungen gute Bes serung. Auf Wiedersehen, Frau Kraus – Herr Kraus – Frau... wie war doch gleich Ihr Name?“ Fee lachte schallend. „Eins zu Null für Sie, Hauptkommissar Kremer! Auf Wie dersehen und vielen Dank für Ihr Verständnis!“ Cramer machte sich schmunzelnd auf den Weg. *** In der Suite beratschlagten Brigitte Morandell mit Dr.Schäuble und Helen, was für Felix am besten sei, als es an der Tür klopfte und Elfriede Kraus leise eintrat. Sie berichtete, daß der Hauptkommissar verschwunden wäre und die Angelegen heit kein Nachspiel haben würde. Erleichtert seufzte Helen auf. Oma Kraus sah zur Tür zum kleinen Schlafzimmer. „Wie geht es Felix?“ „Mama, wir waren gerade dabei, zu beratschlagen, was das Beste für Felix ist. Er reagiert nicht, doch körperlich ist er wohl in Ordnung.“ 125
„Etwas dehydriert vielleicht, äh... Flüssigkeitsverlust. Scheint seit gestern nacht nichts zu sich genommen zu haben. Ich überlege, ihm eine Infusion zu legen.“ Dr.Schäuble breitete unentschlossen die Hände aus. „Muß er ins Krankenhaus?“ Helen kaute an ihren Fingerknöcheln. „Wir warten noch etwas ab. Die Situation ist im Augenblick nicht bedrohlich und vielleicht gelingt Brigitte wieder ein Zugang zu ihm. Dann kann er alleine trinken und essen. Ich würde sagen, bis heute abend werde ich zuwarten können.“ Elfriede Kraus fragte schüchtern: „Kann ich zu ihm?“ Brigitte Morandell nickte und Elfriede verschwand im kleinen Schlafzimmer. „Also“, Helens steile Falte erschien wieder auf ihrer Stirne, „glauben Sie, Frau Morandell, der Teddy tut wieder seine Wirkung?“ „Ich habe es bereits versucht, aber Felix hat nicht reagiert. Wir sollten eine Si tuation herstellen, an die Felix anknüpfen kann, irgend etwas Positives, was vor kurzem passiert ist und was ihm Eindruck gemacht hat.“ Elfriede Kraus stürzte aus dem Schlafzimmer. „Felix hat die ganze Ovomaltine ausgetrunken! Ich habe sie ihm hingehalten und er hat nach einer Weile den Mund aufgemacht. Oh mein Gott! Ist das nicht ein gutes Zeichen?“ Sie schluchzte. Alle sprangen auf und liefen zur Tür. Felix saß im Bett, den Daumen im Mund, gleichgültig vor sich hin starrend, jedoch zeigte ein breiter brauner Milchbart von seiner ersten Nahrungsaufnahme seit mehr als vierundzwanzig Stunden. Helen hob ihn hoch und wischte liebevoll über seine Oberlippe. Oma Kraus stand dane ben und helle Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie kehrten wieder ins Wohnzimmer zurück, Helen hielt Felix auf dem Schoß und freuten sich über das erste Lebenszeichen. Dr.Schäuble sah auf die Uhr. „Ich muß in meine Praxis, schade, hätte gerne ge wußt, wie es weitergeht. Komme später wieder. Wenn ihr Hilfe braucht, meldet euch!“ Er nickte Brigitte zu, strich Felix durch die Haare und drückte Helen und Elfriede die Hand. Dann schloß er leise die Tür zur Suite. *** Fee ließ Siegbert Kraus, der immer noch Mühe hatte, den Ereignissen um ihn herum zu folgen und dessen Sprachlosigkeit immer noch anhielt, im Frühstücks raum zurück und lief zum Pförtnerhäuschen. Wie üblich klopfte sie kurz an und trat ein. „Severin? Severin, schläfst du noch?“ 126
Severin erschien im Pyjama, die Haare zerstrubbelt, aber mit einem zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht. Er hatte tief und traumlos geschlafen und war im sel ben Moment aufgewacht, als Fee das Pförtnerhäuschen betreten hatte. „Severin!“ Fee eilte auf ihn zu und faßte ihn an den Händen. „Heute nacht konnte ich dir nicht mehr sagen, wie stolz ich auf dich bin! Das war großartig! Hör zu, Severin, ich habe noch eine Bitte. Brigitte Morandell war eben bei mir und hat mich gebeten, dich zu fragen, ob du heute noch einmal nach Sigmaringen fahren kannst. Sie will, daß Felix und Helen noch mal ins Schloß gehen. Brigitte meint, daß Felix am ehesten durch eine schöne Erfahrung, die er erst vor kurzem gemacht hat, wieder in die Wirklichkeit geholt werden könnte. Der gestrige Aus flug hat ihm ja offenbar sehr gut gefallen mit den ganzen Kutschen in der Remi se. Vielleicht wirkt es ja!“ „Wann soll es losgehen?“ „Jetzt haben wir zehn Uhr vorbei, ich würde sagen, etwa in einer Stunde. Kannst du bis dahin fertig sein?“ Severin grinste breit. „Viva la gruppa!“ und schon war er wieder im Schlafzim mer verschwunden. *** Auf dem kleinen Parkplatz am Autobahnzubringer Stuttgart-Degerloch löste sich die Wagenkolonne auf und machte dem Abschleppwagen Platz. Der Leichenwa gen war bereits abgefahren. Ein Autofahrer hatte um sieben Uhr früh eine leblose Gestalt in einem Wagen mit laufendem Motor und aufgeblendeten Scheinwerfern gemeldet. Als die Polizei am Tatort ankam, fand sie eine Leiche mit einem Schußloch in der linken Schläfe, der Motor des Wagens lief noch, im Auto lag ein Koffer mit Geld. Der Tote war ein gewisser Fritz Weber, 32 Jahre alt, Wohnsitz in Stuttgart, ein bekanntes Mitglied der süddeutschen Mafia. Sein Tod wurde einem internen Bandenkrieg zugeschrieben, aber warum der Mörder den Koffer liegen gelassen hatte, war den Beamten ein Rätsel. Sehr viel später machte die SBIK ihren Be sitzanspruch auf den Koffer geltend, doch irgendwie verlor sich die Spur des Geldes im Dunkeln. Die Stuttgarter Zeitung brachte am nächsten Tag eine Vier-Zeilen-Meldung. Die Hintergründe, die zum Tod von Weber geführt hatten, wurden nie aufgeklärt, aber man muß dazu sagen, daß sich die Polizei auch nicht sehr in diese Ge schichte hängte. Wenn sich Mafiosi untereinander umbrachten, war das vielleicht nicht gerade gesetzeskonform, aber auch nicht besonders betrüblich. *** 127
Helen saß im Auto. Sie saß auf dem Rücksitz und hielt Felix auf dem Schoß. Müde lehnte sie sich in die weichen Ledersitze des alten Jaguar zurück und blickte in die vorüberfliegende Landschaft. Severin fuhr schnell und sicher. Sie waren auf dem Weg nach Sigmaringen. Helen sah aus dem Fenster und dachte daran, wie sie vor zwei Tagen schon ein mal diese Strecke gefahren war. Sie hielt Felix auf dem Schoß, aber diesmal in teressierte sich der kleine Junge nicht für Severins Fahrkünste. Auch waren sie nicht allein auf dem Rücksitz. Rechts neben ihr saßen ihre Eltern und auf dem Vordersitz hatte Brigitte Morandell Platz genommen. Sie waren auf dem Weg nach Sigmaringen zum Schloß und hofften, daß irgend etwas Felix Zustand er schüttern würde und er wieder in die Realität zurückkehren könne. Immer wieder warf Brigitte einen forschenden Blick auf den kleinen Jungen, der teilnahmslos auf dem Schoß seiner Mutter saß, den Daumen im Mund hatte und blicklos ins Nichts starrte. Die Stimmung im Auto war gespannt, nur Severin schien ruhig und entschlossen. Obwohl er bis jetzt kaum ein Wort gesprochen hatte, war er der einzige, der Zuversicht und Hoffnung ausstrahlte. Wieder fuhr Severin nach rechts über die Brücke. Der Parkplatz, den er vor zwei Tagen gefunden hatten, war besetzt und er mußte fast bis zur Fußgängerzone fahren, bis er eine freie Fläche fand. Severin stellte den Wagen ab und ignorierte das Halteverbot. Sie stiegen aus und die kleine Kolonne bewegte sich den steilen Hügel hinauf in Richtung Remise des Schlosses Hohenzollern. *** Max Weiss saß in seiner Kanzlei und starrte aus dem Fenster. Er hatte die Nach richt über die erfolgreiche Übergabe und die Ermordung seines Kontaktmannes um sieben Uhr früh erhalten und der Schreck war ihm in die Glieder gefahren. Er hatte beschlossen, wie üblich in seine Kanzlei zu gehen und abzuwarten. Dies tat er seit nunmehr drei Stunden. Er wartete auf eine Nachricht über den Verbleib von Volker Gersky. Das Telefon auf seiner Direktleitung summte leise. Der Anwalt hob ab und hörte zu. Die Nachricht schien ihn zu erleichtern. Mit einem kurzen „Verstanden“ be endete er das Gespräch. Er ging zum Aktenschrank und zog eine Schublade auf. Er nahm die Mappe Gersky heraus und legte sie auf den Tisch. Dann drückte er einen Stempel auf das Stempelkissen und dann auf die Akte. Nun prangte in gro ßen roten Buchstaben das Wort 'Akte geschlossen' auf der Vorderseite. Max Weiss rief seine Vorzimmersekretärin und übergab ihr die Mappe. „Legen Sie die Akte wie üblich ab. Der Geschäftsvorgang ist beendet!“ 128
Die Sekretärin sah etwas verwundert auf den Namen und nickte dann. In ihrer Position hatte sie es sich angewöhnt, sich wenn überhaupt nur im Stillen zu wun dern und nie, niemals eine Frage zu stellen. „Ist in Ordnung, Herr Weiss.“ Leise schloß sie die Tür. Max Weiss schlug seinen Terminkalender auf. Zeit, sich wieder den Geschäften zu widmen. *** Eine kleine Gruppe von Menschen ging langsam den Mittelgang der Remise auf dem Schloß der Hohenzollern in Sigmaringen entlang und blickte gespannt auf den kleinen Jungen, den zwei Frauen an der Hand hielten. Immer wieder blieb die Gruppe stehen, wartete, deutete auf eine Kutsche, sah erwartungsvoll auf den kleinen Jungen. Dieser jedoch reagierte nicht. Plötzlich löste sich ein Mann aus der Gruppe und verließ die Remise. Die Zu rückgelassenen blickten sich fragend an. Dann setzten sie ihren Weg entlang der Kutschen und Schlitten fort. Die kleine Gruppe hatte ihren Rundgang beendet und verließ die Remise. Unentschlossen standen sie vor dem großen Tor und sahen um sich. Severin war noch nicht wieder zurückgekehrt. Doch nun sahen sie ihn mit langen Schritten den gepflasterten breiten Durchgang herunter eilen. „In fünf Minuten beginnt eine Führung. Wir können die Waffenkammer besichti gen!“ „Waffenkammer?“ Brigitte Morandell sah fragend auf Helen. Diese zögerte. „Nun, Felix wollte vorgestern unbedingt die Waffenkammer se hen, aber wir waren zu spät dran. Ich weiß nicht recht.“ Unentschlossen hielt sie inne. Siegbert Kraus hatte sich von seiner Zurückhaltung erholt und meinte brummend: „Schlimmer kann es ja nicht mehr werden, wäre wohl einen Versuch wert, oder?“ Er sah fragend auf die Psychologin. Eine unerwartete Anerkennung beruflicher Kompetenz, dachte Brigitte und nickte zustimmend. Sie beugte sich zu Felix und strich ihm sanft über die Wange. Dieser hatte sich wieder den Daumen in den Mund gesteckt und stand teil nahmslos in der Mitte. „Wir müssen uns sputen!“ Severin hob den Jungen auf den Arm und eilte mit ihm voraus. Schnell folgten sie ihm. *** Felix träumte... 129
Er kämpfte mit dieser leisen Stimme in seinem Kopf, die immer drängender wur de. Sie wollte ihn nicht loslassen und befahl ihm immer wieder, zurückzukom men. Langsam entfernte er sich von der Klippe und glitt nach oben. Aber er wehrte sich gegen dieses Gezerre. Er war müde und wollte seine Ruhe. Es wurde auch schon ein kleines bißchen heller. Felix sträubte sich. Plötzlich fühlte er sich wie in einem Fahrstuhl hochgehoben und schaukelte hin und her. Die Klippe war fort Die leise Stimme gab nicht auf. Nun lockte sie, süß und schmeichelnd. Wie seine Mami, wenn er etwas tun sollte, was er absolut nicht wollte. 'Komm, Felix ein kleines Stück noch – so ist es gut – nur noch ein winzi ges Stückchen, Felix, mein Schatz gut so!' Felix bockte. *** Brigitte Morandell behielt Helens Sohn im Auge. Sie hatten sich dem Führer und einer kleinen Gruppe Besuchern angeschlossen, in der Waffenkammer jedoch die anderen vorausgehen lassen und waren nun allein in dem großen, langgestreckten Raum, der vollgestopft war mit herrlichen alten Dingen, Rüstungen, Waffen und Gerätschaften. Doch keiner der Anwesenden hatte einen Blick für die Schönhei ten vergangener Tage. Wurde Felix unruhig? Brigitte deutete Severin, langsam den Gang entlang zu gehen und immer wieder inne zu halten. Helen und ihre Eltern folgten gespannt. Niemand sprach ein Wort. Die Sonne schien durch die Fenster und spiegelte sich in den glänzenden Flächen. Severin trat einen Schritt vor und schloß geblendet die Augen. An einer Speerspitze brach sich das Licht... *** ... Felix sah die helle Spitze – das Messer – Gefahr! Irgend jemand war in Gefahr! Er mußte schnell..., er mußte schnell sein! Es ging zu langsam! Heftig strampelte er und öffnete den Mund. Gefahr! Wer? Gefahr! Mami! Mami! Er kämpfte und schlug mit den Fäusten um sich. Plötzlich ein Schrei... *** ... Severin spürte, daß der Junge unruhig wurde und faßte ihn fester. Plötzlich begann Felix mit Armen und Beinen um sich zu schlagen, wand sich, keuchte. Severin sah besorgt zu Brigitte Morandell, doch diese deutete, ruhig zu bleiben, Felix gewähren zu lassen. Immer noch schlug der Junge wie wild um sich. Dann ein heller, verzweifelter Schrei: „Mamiiiiiiii!“ und plötzlich waren Felix Augen
wieder klar. Voll Angst suchten und fanden sie seine Mami...
„Felix!“ Helen stürzte herbei und riß ihren Sohn an sich.
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„Mami, Mami“ Wieder klammerte sich Felix an den Hals seiner Mutter. Severin wandte sich um und suchte die Lichtquelle, doch die Sonne war weiter gewandert und die Speerspitze, die mit ihrem hellen Strahl die dunkle Welt er leuchtet hatte, die Felix so lange gefangen gehalten hatte, war wieder eine ganz normale Spitze, bronzefarben und matt glänzend. „Mami, wo sind wir denn?“ „Mein Schätzchen, wir sind im Schloß! Erinnerst du dich, wir wollten doch die Waffenkammer besichtigen. Nun, hier sind wir!“ „Aber Mami, ich habe doch noch gar nicht Geburtstag!“ Plötzlich bemerkte er die übrigen. „Omi! Opi! Wo kommt ihr denn her? Habe ich so lange geschlafen, ist heute schon mein Geburtstag?“ Alle lachten und weinten durcheinander. Brigitte zupfte Severin am Ärmel und beide verließen leise die Waffenkammer. Sie mußten eine ganze Weile warten, bis die Zurückgelassenen wieder auftauchten, aber beiden wurde die Zeit kein bißchen zu lang. ********
Friedhelmine Ermengilde genannt Fritzi In der südlichen Steiermark liegt die Stadt Leibnitz nahe der Grenze zu Sloweni en. Vor zweiundvierzig Jahren lag die Stadt in der Nähe von Jugoslawien, aber damals wie heute pflegte die dortige Bevölkerung einen gänzlich unkomplizierten Umgang mit den ausländischen Nachbarn. Um den langgezogenen Marktplatz, den die Pfarrkirche im Osten und die kleine Stiftskirche im Westen begrenzen, gruppieren sich die freundlichen und farben frohen Häuser der alteingesessenen Bürger von Leibnitz. Vor etwa vierzig Jahren hatte die kleine Stadt fast südländisches Temperament und die Haupteinnahme quelle der ortsansässigen Bauern war schon seit Jahrhunderten der Weinbau. Klima und landschaftliche Verhältnisse sind auch heute noch dafür ideal, der Weinbau ist jedoch hinter anderen Einnahmequellen zurückgetreten. Heute ist Leibnitz eine blühende Einkaufsstadt für das südsteirische und slowenische Ge biet. 131
Die Gegend ist ziemlich flach, gegen Süden beginnen die Hügel der südsteiri schen Weinstraße erst langsam wie eine milde Brandung zu rollen, im Osten ver läuft das Land wie eine sanfte Brise in die ungarische Tiefebene. Von Norden her atmet das Grazer Becken langsam aus. Im Westen ist es anders. Zwei Hügelkup pen, nah aneinander geschmiegt, begrenzen die Stadt und beherrschen trotz ihrer für Alpengewohnte kümmerlichen Höhe die Gegend. Die Leibnitzer sind schon lange stolz auf ihre 'Berge'. Vor vielen Jahren hatten sich die Bischöfe von Seckau diese beherrschende Optik zunutze gemacht und auf dem nördlich gelegenen Hügel eine weitläufige Som merresidenz mit einem großzügig gestalteten Innenhof errichtet. Nach der gründ lichen Restaurierung in den frühen Siebzigerjahren dieses Jahrhunderts erstrahlt das Schloß Seggau seitdem wieder in den Farben der kirchlichen Hierarchie gelb und weiß und ist attraktiver Anziehungspunkt für Sonntagsausflüge und gern besuchter Tagungsort. Hält man sich im Innenhof nach rechts, durchschreitet man nach Erklimmen einer Treppe einen malerischen Torbogen und tritt auf eine halbrunde Rasenfläche, die von einer Mauer mit Zinnen eingefaßt ist. Am südlichen Punkt dieser Anlage steht ein runder Turm, ebenfalls von Zinnen gekrönt und etwa zehn Meter hoch, eine einmalige Bauweise für einen Glockenturm. Betritt man diesen Turm durch eine schwere, geschnitzte Holztüre, steht man Auge in Auge der zweitgrößten Glocke Österreichs gegenüber, von den Einheimischen liebevoll 'Liesl' genannt. Man kann um sie herumgehen, den riesigen Klöppel berühren und die reiche Or namente wie kaum sonst an einer Glocke so nahe und unmittelbar betrachten. Verläßt man nun diesen Glockenturm wieder und richtet seinen Blick nach Süd westen, blickt man geradewegs auf den zweiten Hügel, der von einer prächtigen Wallfahrtskirche zu Ehren der Heiligen Maria gekrönt ist, die alljährlich am 15. August zum Hohenfrauentag in Glanz und Pracht erstrahlt, um die vielen Pilger aus nah und fern würdig zu empfangen. Der kleine Ort Frauenberg gruppiert sich anmutig um diese Wallfahrtskirche. Bei genauem Hinsehen würde man hinter den beiden Zwiebeltürmen der Frauen kirche die Wipfel von zwei alten Pappeln hervorlugen sehen. Diese stehen vor dem Eingangstor des Weingutes der Freiherren von Goriz-Gradisca, eines schon lange verarmten Zweiges der Herren von Görz. Das Gut erstreckte sich über den gesamten südlichen Teil des Frauenberges nach Süden und Westen, ursprünglich reichte es bis weit ins Sulmtal und bis an die südsteirische Weinstraße. Nach dem ersten Weltkrieg wurde es um ein Vielfaches kleiner und zudem hatte der mo mentane Besitzer aus finanziellen Gründen wesentliche Teile davon verpachtet. Trotzdem waren die Goriz-Gradiscas nicht im landläufigen Sinne arm und das 132
Weingut hatte, nachdem auch die Jahre des Zweiten Weltkrieges nun schon mehr als ein Jahrzehnt vorüber waren, einen beeindruckenden Aufschwung genommen. ***
Es war ein heißer Sommertag Mitte August des Jahres 1955, Österreich war seit wenigen Monaten ein freier und souveräner Staat, der letzte Soldat der vier Be satzungsmächte sollte in weiteren zwei Monaten das Land verlassen haben und der Frauenberg war zum morgigen großen Marienfest daher besonders festlich geschmückt. Fahnen und farbenfrohe Blumenaltäre an den Straßenecken ergaben ein prächtiges Bild. Ein etwa zehnjähriger Junge stieg die gewundene Straße zum Frauenberg hinauf, hielt vor der Kirche an und sah stirnrunzelnd auf ein schon etwas verschmutztes und zerknittertes Blatt Papier in seiner Hand. Dann wandte er sich hilfesuchend um. Eine ältere Frau, deren Arme einen großen Strauß bunter Sommerastern und Rittersporn umschlossen, wollte soeben die Kirche betreten. Der Junge trat zö gernd auf sie zu und streckte ihr den Zettel entgegen. Fragend deutete er darauf. Etwas ungeduldig fuhr ihn die Frau an: „Du siehst doch, daß ich beide Arme voll habe! Wohin willst du denn?“ „ G G Gor“ stammelte er. „Ach du meine Güte! Du bist der Severin!“ Neugierig beäugte sie den Jungen und besah ihn kritisch von oben bis unten. Severin strich sich verlegen die Haare glatt. Diesem Ordnungswillen widerstanden jedoch seine Strubbelhaare mit Leichtigkeit. „Du bist also der Sohn dieser – aber es ist wohl besser, wenn ich den Mund halte! Na, besonders kräftig siehst du ja nicht gerade aus. Aber das geht mich nichts an. Du gehst jetzt links an der Kirche vorbei, immer der Straße entlang, aus dem Ort hinaus und dann siehst du schon das Weingut vor dir liegen. Hast du alles ver standen?“ Severin nickte. „Na gut! Dann Servus, junger Mann und halte dich ran! Kannst dein Glück ma chen, wenn du es richtig anpackst!“ Mit diesen dunklen Andeutungen eilte sie in die schattige Kühle der Kirche. Severin nahm sein kleines Bündel hoch und folgte den Beschreibungen. Nach etwa fünfzehn Minuten befand er sich am Eingangstor des Gutes im kühlenden Schatten der beiden Pappeln. Die großen dunklen Torflügel standen weit auf und man hörte aus dem Innenhof zorniges Geschrei. 133
„Fritzi! FRITZI!!! Du Rabenbraten! Komm sofort her! Wo steckst du schon wie
der! Fritzi!!“ Die Stimme verlor sich im Inneren des Hauses.
Severin machte ein paar Schritte in den Innenhof, als plötzlich etwas stürmisch
gegen seine Beine schoß und ihn beinahe zu Fall brachte. Automatisch griff er zu
und hielt ein kleines Mädchen mit wirren, rotblonden Locken, zwei blitzenden
blauen Augen und einer frechen Stupsnase davor ab, auf das Pflaster zu stürzen.
Vorsichtig stellte er die Kleine auf die Beine. Ihre Augen waren vor Verwunde
rung kugelrund und ihr rosaroter Mund stand erschrocken offen. Severin ließ los,
als hätte er sich verbrannt und wurde knallrot.
Die Stimme der Kleinen war hell, aber ohne Angst. „Wer bist du? Ich heiße Frit
zi.“
Severin fühlte einen Kloß im Hals und war unfähig, einen Laut über die Lippen
zu bringen.
„Fritzi! Du Schlingel! Da bist du ja! Komm jetzt und marsch in die Badewanne!“
Eine etwas füllige und völlig außer Atem geratene Frau mittleren Alters ruderte
heftig auf die beiden zu, packte die Kleine ohne größere Umstände um die Mitte,
schwang sie sich über die Schultern und strebte dem Haus zu. Fritzi strampelte
heftig und strich sich mit einer energischen Bewegung die vielen Locken aus der
Stirne. „Warte, Emma, warte, ich... ich weiß nicht, wer das ist!“
„Du wirst jetzt augenblicklich gebadet, hörst du? Willst du zu deiner Geburts
tagsfeier schmutzig sein?“ Energisch entfernte sich die gedrungene Gestalt und
das kleine Mädchen wippte wie ein Sack auf ihrer Schulter.
Fritzi schrie aus vollem Hals, als wäre es sehr wichtig, daß Severin sie genau
verstand. „Ich werde heute drei Jahre alt! Kommst du auch zu meiner Feier? Wie
heißt du???“ und schon waren beide im Haus verschwunden.
„Ich heiße Severin“ sagte Severin zu niemandem mehr.
*** Vier Stunden später saß Severin am Boden von Fritzis Kinderzimmer, das mit bunten Ballons und Schleifen festlich geschmückt war, und erklärte dem Ge burtstagskind den neuen Baukasten. Fritzi ließ ihn keine Sekunde aus den Augen. Vorsichtig stellte Severin das letzte rote Hütchen auf den Turm und fertig war
das Schloß.
„Für dich!“ sagte er unbeholfen und heiser, „zum Geburtstag!“
„Wie schön!“ Fritzi klatschte in die Hände. „Oh, Severin, das ist wunderschön,
ein richtiges Schloß!“ und schon war sie aufgesprungen, hatte die Arme um Se-
verins Hals gelegt und drückte ihm einen dicken Kuß auf die Wange.
134
Severin erstarrte und wagte kaum zu atmen. Der erste Kuß seines Lebens hatte
eine spontane und unwiderrufliche Konsequenz. Severin verlor sein Herz. Mit
glühenden Wangen sah er die Kleine an, ängstlich besorgt, diesen kostbaren Au
genblick nicht zu zerstören.
Fritzi, die sich in keiner Weise der Tragweite ihres Impulses bewußt war, spürte,
daß sich etwas geändert hatte. Ungeduldig zerrte sie an Severins Hemd. „Also,
Severin, was hat Papa gesagt, sag es mir, hörst du?“ Die alte Befehlsgewalt der
Goriz-Gradiscas schien sich uneingeschränkt auf Fritzi vererbt zu haben.
Langsam kehrte Severin in die Wirklichkeit zurück. Nach mehreren Versuchen
gelang eine Antwort. „Dein Vater war sehr freundlich zu mir!“
„Ja, ja, aber was hat er gesagt?“ Hell und ungeduldig die Stimme.
„Ich soll im Stall die Rösser betreuen, füttern, misten und das alles.“
„Ich will aber, daß du bei mir bleibst!“ Die kleine Faust hämmerte ungeduldig
auf Severins Rücken. Energisch zerrte sie Severin mit sich. „Komm mit, ich frage
Papa! Heute habe ich Geburtstag. Ich wünsche mir zum Geburtstag einen Se
verin!“ Kichernd eilte sie voraus.
Fritzis Vater war ein gutmütiger, grobschlächtiger Riese von Mann, der seine
Tochter, die sich jauchzend in seine Arme stürzte, mit Leichtigkeit durch die Luft
wirbeln ließ und sie sicher wieder auffing. „Na, was hat mein Liebling noch für
Wünsche?“
„Ich will Severin haben!“ Fritzis Stimme war klar und energisch.
„Aber Kind! Severin kann man nicht einfach 'haben'. Der Junge ist ein Waisen
kind und soll bei uns auf dem Hof die Landwirtschaft erlernen.“
„Was ist ein Waisenkind?“
„Ein Kind, das keinen Vater und keine Mutter mehr hat.“
„Dann bin ich auch ein Waisenstück! Meine Mami ist auch tot!“
Ein dunkler Schatten überzog das Gesicht des Vaters. „Ja, mein Schatz, du bist
eine Halbwaise.“ Er räusperte sich ungeschickt. „Weißt du was, wir machen fol
gendes: Severin wird in das Ostzimmer einziehen und nicht im Gesindehaus
schlafen. Da kannst du ihn besuchen und er kann mit dir spielen, wenn er Zeit hat
und du ihn nicht zuviel ärgerst!“ Liebevoll zwinkerte er seiner Tochter zu.
„Au ja! Das machen wir! Komm, Severin, ich zeig dir gleich dein neues Zim
mer.“ Wieder zog sie Severin mit sich. Dieser hatte immer noch diesen verklärten
Blick und lächelte Fritzi selig an.
Gedankenvoll sah Paul ihnen nach.
135
***
Eine Stunde später betrat Vater Paul das Zimmer seiner Tochter zum abendlichen Gutenachtritual. Aber heute war seine Miene ernster als sonst. Behutsam hob er seine Tochter hoch und setzte sie sich auf den Schoß. „Fritzi“ begann er, brach aber wieder ab. Ungeschickt ordnete er die rosaroten Schleifen an dem Rüschchennachthemd, die keinerlei ordnende Hand benötigten. „Ja, Papa?“ Fritzis blaue Augen waren aufmerksam auf ihren Vater gerichtet. „Hör mir gut zu!“ Fritzi nickte hingebungsvoll. Sie liebte ihren Vater über alles. „Du bist jetzt schon groß, drei Jahre alt, und über dein Alter hinaus sehr verstän dig. Ich will dir nun etwas sagen. Je nun...“ Wieder verstummte Paul. Die Ange legenheit schien schwieriger als erwartet. Zum wiederholten Mal vermißte Paul seine Frau. „Ja, Papa! Ich bin jetzt schon groß!“ Fritzi gab das Stichwort. „Richtig, mein Liebling.“ Innig drückte Paul seine Tochter an sich. Dann nahm er einen zweiten Anlauf. „Ich wollte mit dir über Severin reden.“ „Aber er darf doch bleiben, nicht wahr? Ich werde ihn auch gar nicht von seiner Arbeit abhalten, er soll den Stall machen und alles! Papa, bitte“ Aufgeregt zap pelte Fritzi auf Pauls Schoß hin und her. „Je nun... Meine kleine, süße Fritzi! Natürlich kann er bleiben, wenn er sich als halbwegs brauchbar erweist. Aber da ist noch etwas. Weißt du, was ein Freiherr ist?“ „Du bist einer!“ Fritzis Stimme klang triumphierend. „Das hat mir Emma gesagt. Ich bin Fraufrei!“ Paul unterdrückte ein Lächeln. „Nein, Fritzi, du bist Freifräulein. Also, paß auf. Ein Freiherr ist etwas weniger wie ein Graf, in anderen Ländern heißt man solche Leute Barone. Wir sind von adeligem Stand und das schon sehr, sehr lange. Diese Adelsbezeichnungen gibt es nicht mehr, da wir in einer Demokratie leben, aber -“ „Demakie, was heißt das?“ „Demokratie? Das heißt, daß alle Leute gleich behandelt werden, zumindest sollte es so sein. Aber trotzdem, Fritzi, wir Goriz-Gradiscas haben eine jahrhun dertealte Tradition und das bedeutet, daß wir... Ach, Fritzi, das ist sehr kompli ziert.“ Pauls Stimme verlor sich. „Was ist denn nun mit Severin?“ 136
„Je nun... Siehst du, Severin ist ein Knecht, ein Angestellter, und Angestellte
behandelt man nicht wie seinesgleichen. Man hat Verantwortung, sorgt für sie,
aber man behandelt sie mit Distanz, ja, das war es wohl! Fritzi, du hast Verant
wortung für Severin, aber er wird nie wie ein Bruder für dich sein. Ist dir klar,
was ich meine?“
Fritzi krauste die Stirn. „Heißt das, er muß tun, was ich will?“
Paul lächelte über die Fähigkeit seiner Tochter, die Dinge klar und einfach zu
sehen. „Das heißt es wohl, aber du mußt auch auf ihn aufpassen. Das nennt man
Verantwortung. Verstehst du?“
Ernst nickte Fritzi. „Das werde ich, Papa. Ich verspreche es. Aber ich darf mit
ihm spielen, oder?“
„Du darfst mit ihm spielen, aber denke daran du bist eine Goriz-Gradisca und
Severin nicht!“ Seufzend hob Paul seine Tochter hoch und legte sie ins Bett. „Je
nun... Genug geredet. Ich wünsche dir noch einen wunderschönen Traum, meine
Süße und hier noch ein dickes Küßchen!“ Aufatmend richtete sich Paul auf.
Schwierige Sache, einem kleinen Kind Standesunterschiede beizubringen. Er
wandte sich zur Tür.
„Papa?“
„Ja, mein Schatz?“
„Warum ist meine Mami gestorben?“
Paul hielt den Atem an. Er preßte die Lippen zusammen und wandte sich wieder
seiner Tochter zu. „Hast du Emma gefragt?“
„Emma sagt, sie war noch nicht da und weiß nichts. Emma ist dumm!“
Paul unterdrückte ein Lächeln, dann wurde er ernst. „Deine Mutter ist... Je nun...
Deine Mutter starb, als du geboren wurdest, mein Kind.“ Langsam ging Paul
wieder an das Bett seiner Tochter und ließ sich darauf nieder, als ob eine unsicht
bare Last ihn hinunter ziehen würde. „Sie starb bei deiner Geburt.“ Er faßte die
Hände des Kindes und sah ihm ins Gesicht. „Fritzi, du siehst genauso aus wie sie,
deine Mutter war wunderschön und der Sonnenschein des ganzen Hauses! Vergiß
nie, mein Kind, deine Mutter war ein Engel.“ Hilflos brach er ab und verließ den
Raum.
Fritzi zog sich gedankenvoll die Decke ans Kinn und überlegte, wie es denn zu
gehen mochte, daß ihre Mutter starb, als sie geboren wurde, obwohl sie ein Engel
war.
*** 137
Paul stieg schweren Schrittes die Treppe hinunter und ging in die Bibliothek. Der
Raum war sein Refugium. Die Wände waren bis an die Decke mit Regalen be
deckt, die in Leder gebundene Bücher enthielten, Werke von großen Dichtern, die
Paul nie zu lesen die Zeit gehabt hatte. Ächzend ließ er sich in einen der großen
Ledersessel sinken, die bereits überall Zeichen der Zeit trugen, Flecken, abge
schabte Stellen und Kratzer. Paul bemerkte sie nicht. Blicklos starrte er vor sich
hin und dachte an seine Frau, die bei der Geburt ihres erstes Kindes gestorben
war.
Aber noch durfte er sich nicht seinen Erinnerungen hingeben. Noch war etwas
anderes zu tun, etwas, das fast ebenso schwierig war wie das Gespräch mit seiner
kleinen Tochter. Paul läutete die Glocke und trug der Köchin Stanka auf, Severin
zu ihm zu bringen.
Nachdenklich sah er den Jungen an, der schweigend und etwas trotzig vor ihm
stand und seine Mütze in den Händen drehte. Severins dunkle Haare standen wie
Borsten in die Höhe, die Augenbrauen waren fast schwarz und der Ton seiner
Haut eine Nuance dunkler als in dieser Gegend üblich.
Severin starrte ihn an und Paul wurde ein wenig unruhig. „Nun, mein Junge, hast
du dich schon etwas umgesehen?“
„Ich war im Stall!“ Severins Augen leuchteten auf.
„Gefallen dir die Pferde?“
„Äh... Pferde? Ja, die auch. Aber da steht ein altes Motorrad, eine Moto Guzzi!“
Sehnsuchtsvoll verlor sich seine Stimme.
„So, so, du bist mehr an den mechanischen Dingen interessiert. Kennst du dich
damit aus?“
„Unser Klassenlehrer hatte auch so eine und ich durfte ihm immer beim Reparie
ren helfen.“
„Schön, schön Severin, worum es mir jetzt geht – hast du deine Papiere mitge
bracht?“
„Ich habe nur diesen Umschlag.“ Severin nestelte an der Innentasche seiner
mehrfach geflickten Jacke und zog einen braunen Umschlag hervor. Zögernd ging
er auf Paul von Goriz-Gradisca zu und streckte ihm das Papier entgegen.
Paul öffnete ihn und entnahm ihm ein kleines Blatt, das an der rechten oberen
Ecke mit drei Marken beklebt war, der Hinweis auf ein amtliches Dokument. Das
Papier war gelblich und von der schlechten Qualität der Kriegszeit. Es war Se-
verins Geburtsurkunde und lange starrte Paul darauf. Dann legte er mit einem
tiefen Seufzer das Blatt auf den Tisch und drehte sich wieder zu Severin.
138
„Je nun... Hattest du eine gute Reise?“
„Wie bitte?“ Severin war verwirrt vom Themenwechsel. „Ist etwas falsch mit
diesem Ding da?“ Er deutete auf den Tisch.
„Das? Nein, nein, alles in Ordnung. Weißt du denn nicht, was das ist?“
Severin schüttelte den Kopf, ließ Paul jedoch keine Sekunde aus den Augen.
„Das ist deine Geburtsurkunde. Du wirst dieses Jahr im November elf Jahre.
Weißt du das nicht?“
„Doch, natürlich.“ Severins Stimme klang etwas ungeduldig. „Aber sonst weiß
ich nichts!“
„Was meinst du mit 'sonst'?“ Paul, der ahnte, was ihm bevorstand, versuchte, Zeit
zu gewinnen. Er war sich noch nicht im Klaren, wieviel er dem Jungen sagen
würde.
„Der Pater Prior hat gesagt, da steht drin, wer meine Mutter war, und so weiter.
Sie würden mir alles sagen.“ Severins Blick ließ Paul nicht los.
„Komm her und setz dich!“ Paul deutete auf den zweiten großen Ledersessel.
Zögernd ging Severin darauf zu und ließ sich auf die vorderste Kante nieder.
Immer noch hatte er seinen Blick nicht abgewendet und wieder wurde Paul ner
vös. „Starr mich nicht so an! Hat dir niemand beigebracht, man soll Erwachsene
nicht so anstarren?“
„In den Waisenhäusern, in denen ich war, hat das niemanden gekümmert.“ Nun
glaubte Paul deutlichen Sarkasmus zu hören.
Seine Gutmütigkeit gewann die Oberhand. „Du armer Junge! Je nun... Das war
wohl kein leichtes Leben, nicht wahr? Ist wohl schon lange her, daß du deine
Mutter gesehen hast?“
„Ich kam mit sechs Monaten ins Waisenhaus, hat man mir gesagt. Ich war sieben,
als meine Mutter starb. Ich sah sie tot in einem kalten Kellerraum. Wissen Sie
etwas darüber?“ Severins Stimme wurde rauh und er schluckte krampfhaft.
Paul hatte sich entschieden. Er würde dem Jungen die Wahrheit sagen. Je nun, er
hatte wohl ein Recht darauf.
„Deine Mutter hieß Svetlana Borowski und war viele Jahre lang die Zofe meiner
Frau. Svetlana kam mit zwölf Jahren zu meiner Frau und blieb fünfzehn Jahre
ihre Zofe, bis... Je nun...“ Paul zog den Pfeifenständer, der vor ihm auf dem Tisch
stand, etwas näher und suchte sich umständlich eine Pfeife aus. Als er den Pfei
fenkopf mit Tabak füllte, fuhr er fort. „Meine Frau war nur wenige Jahre älter als
Svetlana, zwei Jahre, um genau zu sein, und hatte das Mädchen sehr lieb gewon
nen. Sie brachte sie auch nach der Heirat mit mir auf unser Gut und daher war es
139
klar, daß wir ihr helfen wollten, als... Je nun...“ Hilfesuchend sah Paul sich nach Streichhölzern um. Ungeduldig sprang Severin auf und reichte ihm die kleine Schachtel, die vor Paul auf dem Tisch gelegen hatte. Abwesend bedankte sich Paul und schwieg wieder. Dann gab er sich einen Ruck. „Svetlana wurde schwanger, aber sie hat nie je mandem gesagt, von wem. Für meine Frau und mich war es selbstverständlich, daß sie auch weiterhin bei uns bleiben würde, aber Svetlana lief kurz vor der Entbindung davon.“ Paul verstummte wieder. „Das Baby war ich?“ „Was? Natürlich, Severin, das Baby warst du. Sechs Monate später erhielten wir von Svetlana einen Brief, in dem sie berichtete, daß sie in Graz im Frauenhaus einen Sohn zur Welt gebracht hatte und eine gute Stellung in München in Aus sicht hätte und demnächst dorthin übersiedeln wolle. Dich wollte sie zur Adopti on freigeben. Das war alles.“ Severin senkte zum ersten Mal seinen Blick zu Boden. Paul fühlte sich sofort erleichtert. Der Junge hat aber auch eine Art, einen anzusehen! „Warum bin ich jetzt hier?“ Die dunkle Stimme war noch rauher geworden und kaum zu verstehen. Paul zögerte. „Je nun... Das ist ein wenig kompliziert. Wie ich dir schon sagte, hing meine Frau Friedhelmine sehr an Svetlana und wollte euch beide wieder zurückholen. Sie fuhr also sofort, nachdem sie den Brief erhalten hatte, nach Graz. Aber niemand wußte etwas von Svetlana oder ihrem Baby. Siehst du, es waren Kriegszeiten, Frühjahr fünfundvierzig, und alles ging drunter und drüber. Doch meiner Frau war es eine Herzensangelegenheit. Also suchten wir weiter. Wir wendeten uns nach München. Aber Svetlana war nicht zu finden. Erst ziem lich lange nach dem Krieg haben wir ein Schreiben von der Polizei erhalten, in dem stand, daß Svetlana einem Unfall zum Opfer gefallen sei. In ihrer Handta sche war ein Zettel gefunden worden. Darauf stand, wenn ihr etwas zustoßen sollte, sollten wir verständigt werden. Unser Name und die Adresse des Gutes hatte sie aufgeschrieben. Darunter war noch eine Notiz angefügt: 'Friedhelmine, bitte kümmere dich um meinen Sohn Severin!'„ Wieder schwieg Paul. Endlich fuhr er fort. „In der Zwischenzeit waren bereits fast acht Jahre vergangen und meine Friedhelmine war im dritten Monat. Sie war sehr angegriffen durch die Schwangerschaft und durfte nicht reisen. Als Fritzi geboren wurde“, hier schwankte Pauls Stimme, „als meine Tochter geboren wurde, starb meine Fried helmine. Aber bis zum Schluß habe ich ihr versprechen müssen, nach dir zu su 140
chen. Nun habe ich mein Versprechen erfüllt!“ Schwer atmend lehnte sich Paul
zurück und schloß die Augen.
So saßen beide schweigend, jeder in seine Gedanken vertieft. Plötzlich stand
Severin auf und ging zur Tür. Bevor er sie hinter sich schloß, drehte er sich noch
einmal um. „Danke!“ sagte er leise, dann war er verschwunden.
Paul öffnete seine Augen und dachte daran, daß er nun doch nicht die volle
Wahrheit gesagt hatte. Friedhelmine hatte nach Erhalt des Polizeibriefes Paul
nach München geschickt, um Näheres über Svetlanas Tod zu erfahren. Die Poli
zei teilte Paul mit, daß die 'gute Stellung', von der Svetlana geschrieben hatte,
eine Betätigung war, die dem ältesten Gewerbe der Welt entsprach, und daß
Svetlana zufälliges Opfer einer Zuhälterfehde geworden war.
Im Polizeikommissariat in München war man sehr höflich zu Paul gewesen und
hatte ihm am Ende des Gespräches eine Schuhschachtel in die Hand gedrückt, die
Svetlanas ganze Habe enthielt: billige Kosmetika, eine Packung Chesterfield,
Papiere und ein Hochzeitsfoto von Friedhelmine und Paul. Den Schuhkarton
hatte Paul vernichtet und zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben seine
Frau belogen, als er ihr sagte, laut Auskunft der Polizei habe Svetlana nichts hin
terlassen und niemand wisse Genaueres über sie.
Nach Friedhelmines Tod verging ein weiteres Jahr, bis Paul imstande war, sein
Versprechen einzulösen. Die Nachforschungsarbeiten gestalteten sich nicht ein
fach und erst vor wenigen Monaten hatte Paul Severin in einem Waisenhaus in
der Nähe von Linz gefunden.
*** Fritzi lag in ihrem Bett und dachte an ihren Geburtstag, an Severin und die vielen tollen Sachen, die sie miteinander machen konnten. Sie hatte die Rede ihres Va ters nur zum Teil verstanden und wußte wenig mit dem Wort 'Distanz' anzufan gen. Blödsinnige Sache das Adeligsein, wenn man nicht mit jedem spielen konnte, so wie man wollte. Na ja, sie würde Papa schon um den Finger wickeln. Wahr scheinlich waren die Dinge nicht ganz so dramatisch, wie sie sich angehört hat ten. Zufrieden steckte sie den Daumen in den Mund und schlief selig ein. *** Paul schlief schlecht in dieser Nacht und wirre Träume schreckten ihn immer wieder hoch. Er träumte von seiner Frau, von Fritzi und schreckliche Ungeheuer bedrohten seine Tochter. Unruhig wälzte er sich hin und her. *** 141
Auch Severin konnte nicht schlafen. Die ersten Informationen über seine Mutter waren spärlich gewesen und außer der Tatsache, daß sie wirklich tot war, was Severin schon lange gewußt hatte – nie hatte er dieses bleiche Gesicht vergessen , erhellten sie seine Herkunft nur wenig. Das war aber nicht die Hauptsache, an die Severin dachte. Fritzis unschuldiger Kuß hatte etwas in ihm verändert. Die Waisenhäuser der damaligen Zeit zeich neten sich nicht eben durch hingebungsvolle Fürsorge aus, man beschränkte sich darauf, den Kindern das Nötigste an Essen und Bildung mitzugeben und sich ansonsten damit zu begnügen, verbrecherische Impulse im Keime zu ersticken. Nun aber regte sich ein kleines Gefühlspflänzchen in Severins Inneren, etwas wie Wärme oder Heimatgefühl. Da war einmal Paul, dieser unbeholfene und gutmüti ge Mann, der ihn über seine Herkunft informiert und ein Heim geboten hatte. Severin nahm sich vor, den Mann, der ihn unter seinem Dach aufgenommen hat te, nicht zu enttäuschen. Vorsichtig und ehrfürchtig wagte er es nun, an die kleine Fritzi zu denken dieses süße Kind mit den wilden Locken und dem rosenroten Mündchen. Nie dürfte ihr ein Leid geschehen! Er würde auf sie aufpassen, sie beschützen! Er würde da sein, wenn Gefahr drohte. *** In den nächsten Monaten beobachtete Paul Severin. Der Junge war willig und geschickt. Er half im Stall, lernte reiten und werkelte in seiner Freizeit am Motor rad, bis er es zum Laufen brachte. An Fritzi schien er mit zärtlicher Hingabe zu hängen, und entwickelte schon beinahe einen sechsten Sinn, immer dann aufzu tauchen, bevor sie nach ihm schrie. Aber nichts in seinem Verhalten deutete dar auf hin, daß er seine Stellung am Hof als Kind einer ehemaligen Zofe vergaß. Er war respektvoll und höflich, wenn auch oft verschlossen und schweigsam. Mit der Zeit legten sich Pauls Sorgen. Was Fritzi anbetraf, genoß sie Severins Anwesenheit, neckte ihn und spielte ihm wieder und wieder einen ihrer zahllosen Streiche. Von Pauls ernster Ansprache betreffend Standesunterschiede schien nicht viel hängen geblieben zu sein, aber Paul kam nie wieder darauf zu sprechen. Emma blieb noch zwei Jahre Fritzis Kindermädchen, nicht unwesentlich durch Severin entlastet, bis auch sie wie ihre beiden Vorgängerinnen das Handtuch warf und in ihren Heimatort zurückkehrte, ziemlich genervt von Fritzis unberechenba rem Temperament und Pauls Unfähigkeit, zur Erziehung seiner Tochter auch nur ein Mindestmaß beizutragen. *** 142
Es war an einem kühlen Novembermorgen, drei Monate nach Emmas Abreise.
Paul stand schon seit einer Stunde in der Kälte und kaute gedankenverloren an
einer kalten Pfeife. Dabei betrachtete er die Kulisse vor sich. Diese war auch
wirklich sehenswert. Von dem großen Stall, der im rechten Winkel an das Wohn
haus gebaut war und die östliche Begrenzung des Innenhofes bildete, war ein
Drittel verschwunden und der Rest rauchte und gloste an vielen Stellen vor sich
hin. Schwarze Balken standen hilflos in den Himmel, das Dach des Stadels war
verschwunden und die mehrstündigen Bemühungen der Feuerwehr hatten große
Wasserpfützen hinterlassen.
Immer noch eilten einzelne Feuerwehrmänner zwischen den rauchenden Teilen
hin und her und löschten aufkeimende Brandnester. Aus dem Dunkel des Stalles
trat ein älterer, korpulenter Mann und ging auf den Freiherrn von Goriz-Gradisca
zu. Zögernd streckte er ihm ein verkohltes, verbeultes Etwas entgegen.
„Paul, weißt du, was das ist?“
Paul schien aus weiter Ferne zurückzukehren. Forschend sah er zuerst auf den
Gegenstand und dann auf seinen alten Freund Willi Schmid. „Je nun... Nein. Was
ist das?“
„Vermutlich die Brandursache. Ich nehme an, es ist eine von deinen alten Kero
sinlampen.“
„Oh mein Gott! Fritzi!“
„Wie geht es deiner Tochter?“
„Sie schläft. Sie hat nur eine kleine Platzwunde am Hinterkopf. Sie sagte, sie
wollte Licht machen, um nach dem Fohlen zu sehen Mein Gott, sie hat die Lampe
angezündet. Wußte gar nicht, daß die noch im Stall ist. Warum hat sie nicht den
Schalter gedrückt?“
„Vielleicht war der Strom ausgefallen?“
„Möglich, kam schon öfters vor. Die Lampe muß explodiert sein. Das Kind
könnte tot sein!“ Pauls Stimme wurde noch um eine Stufe rauher.
„Was hat sie dir noch erzählt?“
„Sie sagte, sie wollte Licht machen, und dann weiß sie nichts mehr, bis sie im
Hof auf dem Boden lag. Aber das kann nicht sein. Auch eine Explosion kann sie
nicht um die Ecke geschleudert haben. Wer hat die Feuerwehr verständigt?“
„Das ist auch so eine mysteriöse Sache. Ein Anrufer sagte, der Stall der Goriz-
Gradiscas brenne und als wir nach dem Namen fragten, wurde aufgelegt. Wir
sind sofort losgefahren und sahen schon von Leibnitz aus den Feuerschein. Durch
den frühen Anruf ist wahrscheinlich das Haus verschont geblieben.“
143
„Ja, Willi.“ Nachdenklich kaute Paul an seiner Pfeife.
„War ja auch ein Glück, daß die Stute mit dem Fohlen auf der Koppel war!“
„Was sagst du da, Willi? Die Stute war auf der Koppel? Das ist nicht möglich.
Ich dachte, alle Pferde seien verbrannt!“
„Wenn ich es dir sage! Sie ist auf der Koppel, der kleine Hengst auch und ebenso
deine zwei Braunen, die du voriges Jahr gekauft hast. Ist irgend was?“
Paul schaute lange vor sich hin, dann schüttelte den Kopf. „Nein, schon gut! Je
nun... Brauchst du mich noch? Ich muß jetzt gehen!“
„Nein, Paul. Die Versicherung wird unseren Bericht erhalten. Bis später!“
Aber Paul war bereits verschwunden.
*** Zielstrebig betrat der Freiherr Paul von Goriz-Gradisca sein Wohnhaus und stieg in den ersten Stock. Vor dem Ostzimmer zögerte er etwas. Er hatte Severins
Zimmer noch nie betreten. Entschlossen klopfte er an. Dann öffnete er die Tür.
Severin stand angezogen im Zimmer und band sich gerade eine Schnur um die
Taille, um die weite Hose am Rutschen zu hindern. Überrascht sah er auf.
Paul schloß die Tür hinter sich. „Guten Morgen, Severin! Ich habe gesehen, daß
du fleißig den Feuerwehrmännern geholfen hast. Hast du auch etwas geschla
fen?“
„Nicht viel, aber das ist schon in Ordnung. Ich bin nicht müde.“
„Darf ich mich einen Moment setzen?“
Severin riß Mund und Augen auf. Seines Wissens nach fragten Freiherren selten
ihre Untergeben nach deren Erlaubnis. Paul setzte sich auf das Bett und winkte
Severin neben sich. „Severin, was weißt du über den Brand?“
Severins dunkle Augen waren unergründlich. Er schwieg lange, dann zuckte er
mit den Schultern. „Ich sah den Feuerschein, lief in den Hof und da waren bereits
eine Menge Feuerwehrmänner. Das Feuerwehrauto war ein brandneuer Puch...“
„Schon gut, schon gut ich kenne mich mit diesen Dingen nicht so gut aus wie du,
Severin. Ist das alles? Verschweigst du mir etwas?“
„Glauben Sie, daß ich den Brand gemacht habe?“ Die Stimme des Jungen war
ausdruckslos, aber in seinen Augen loderte plötzlich eine Flamme auf, vor der
Paul instinktiv zurückwich. „Um Himmels willen, nein! Ich weiß, daß du es nicht
warst! Du hast mich völlig mißverstanden! Aber siehst du, irgend jemand hat die
Feuerwehr verständigt und Stanka schlief noch, sie kam erst, als das Feuer schon
gelöscht war. Der Vorarbeiter ist für eine Woche nach Hause gefahren. Also war
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niemand mehr im Haus. Dann ist da noch Fritzi! Ich bin aufgewacht, als ich sie schreien hörte. Ich lief hinunter und da stand sie im Hof und Blut war auf dem Boden, wo sie gelegen hatte und an ihrem Hemd und...“ Paul brach ab und schluckte schwer. Severin sah auf seine Hände und schwieg. „Was ich sagen wollte, dort, wo sie lag, kann sie nicht gelegen haben, als das Feuer ausbrach. Ich meine, auch eine Explosion kann sie nicht an diese Stelle geschleudert haben, abgesehen davon, daß sie dann wahrscheinlich stärker ver letzt wäre. Die Stute und das Fohlen sowie die zwei Braunen sind auf der Weide, obwohl gestern abend alle Tiere im Stall waren. Je nun... Ich dachte also, daß nur du?“ Severin stand auf und zog seine Jacke an. „Ich weiß nur das, was ich gesagt ha be!“ und schon war er aus der Tür, die sperrangelweit offen blieb. Paul hörte ihn die Treppe hinunter poltern und dann schlug die Haustüre. Gedan kenvoll stand er auf und runzelte die Stirn. Eigenartiger Junge. Je nun, er würde nicht wieder daran rühren, wenn Severin Borowski es nicht wollte. Aber mit Frit zi mußte etwas geschehen. Dann schien er plötzlich einen Entschluß zu fassen. Er ging in sein Arbeitszim mer, öffnete den versperrbaren Schrank und entnahm ihm einige Scheine. Dann läutete er. Die Köchin Stanka, eine ältere Frau aus Slowenien, stürzte ins Zim mer. „Was sein? Sein was mit Fritzi? Sein gut Fritzi? Nix Problem? Was sein?“ Paul stoppte das holprige Kauderwelsch und sprach auf slowenisch einige Worte. Die kleine Köchin nickte erleichtert und rannte davon. In Kürze kehrte sie mit einem Koffer zurück und schnatterte aufgeregt. Paul dankte ihr. Dann hinterließ er für den Vorarbeiter, der morgen zurückkehren sollte, einen Zettel auf seinem Arbeitstisch für die in den nächsten Tagen anfallenden Arbeiten und schaute kurz in Fritzis Zimmer, die selig schlummerte, den Daumen im Mund und einen dik ken weißen Verband um den Kopf. Paul nahm den von Stanka gepackten Koffer, holte seinen alten DKW aus der Garage und fuhr aus dem Innenhof. Als er nach Süden blickte, sah er Severin an der Pferdekoppel. Gut, daß der Junge wachsam gewesen war. Sodann konzentrierte er sich auf die bevorstehende Aufgabe. *** Severin saß auf einem Pfosten der Pferdekoppel und sah den Gutsherren davon fahren. Er wunderte sich. Gestern war noch keine Rede von einer Reise gewesen. 145
Aber allzusehr interessierte sich Severin nicht dafür. Er stützte das Kinn auf die Hände und dachte an die vergangene Nacht. Er hatte schon geschlafen, als ihn ein Geräusch hochfahren ließ. Es klang wie ein dumpfer Knall. Beunruhigt kletterte er aus seinem Bett, schlüpfte schnell in Hemd und Hose und lief hinunter. Da er an der Ostseite schlief, hatte er als einziger die Explosion der Kerosinlampe ge hört. Ein heller Schein aus dem Scheunenfenster alarmierte ihn. Er öffnete das Tor und sah Fritzi am Boden liegen. Entsetzt lief er auf die kleine Gestalt zu und berührte sie leicht. Dabei sah er, daß aus einer Wunde am Hinterkopf Blut sik kerte und ihre rotblonden Locken dunkel färbten. Hinter sich hörte er ein Knistern. Er fuhr herum und bemerkte, daß das Heu be reits Feuer gefangen hatte und schon an mehreren Stellen lichterloh brannte. Schnell hob er Fritzi auf, die dabei leise stöhnte. Erleichtert nahm er wahr, daß sie noch lebte. Er trug sie in den Innenhof an eine geschützte Stelle und bettete sie vorsichtig auf den weichen Boden von Emmas geheiligtem Blumenbeet. Er lief ins Haus, schrie „Feuer, Feuer!“ und wählte dabei die Nummer der Feuer wehr. Schnell gab er die Nachricht durch, legte den Hörer auf und lauschte. Das Haus blieb still. Severin verlor keine Zeit. Er rannte zurück in den Stall und hob das erst einen Tag alte Fohlen auf. Mit einem kräftigen Tritt stieß er die Boxentü re auf und vertraute darauf, daß die Mutterstute ihrem Jungen nachkommen wür de. So war es auch. Severin brachte beide auf die Koppel, die etwas abseits lag, lief zurück und brachte die beiden braunen Pferde ebenfalls dorthin. Die Tiere waren aufgeregt, schlugen wild um sich und Severin hatte alle Mühe. Als er wieder in den Innenhof zurückkehrte, war die Feuerwehr angerückt. Ein völlig verzweifelter Paul hielt seine Tochter in den Armen und benahm sich, als könne er nicht glauben, daß Fritzi noch am Leben war. Bei dem Geschrei, das Fritzi von sich gab, konnten daran jedoch keine Zweifel bestehen. Severin sah in die aufgehende Sonne und lächelte vor sich hin. Er hatte Fritzi beschützt. Niemand würde es je erfahren. Das war sein Geheimnis. Ganz kurz nur meldete sich ein leises Bedauern. Die Moto Guzzi, seine Moto Guzzi, war verbrannt *** Drei Tage nach dieser aufregenden Nacht stürzte Fritzi aufgelöst zu Severin, der half, die verkohlten Balken der Scheune abzutragen. „Severin, Severin, komm schnell!“ Ohne Umschweife zerrte Fritzi Severin in den hintersten Winkel der abgebrannten Scheune und kauerte sich in der Pferdebox nieder. Dabei legte sie den Finger auf den Mund. „Schsch, leise!“ 146
„Was ist denn?“ Severin blickte besorgt. Es war gar nicht Fritzis Art, vor etwas
Angst zu haben. Im Gegenteil, ihre Schwierigkeiten begannen immer geradewegs
aus ihrer Unbekümmertheit.
„Papa ist zurück!“
„Ja, und warum begrüßt du ihn nicht?“ Severin war verwirrt. Ein seltsames Ver
halten für Fritzi, die ihren Vater vergötterte.
„Ich trau mich nicht, er ist nicht allein gekommen!“
„Was heißt das, nicht allein?“
„Es ist jemand bei ihm!“
„Na und? Wer?“
„Eine Frau, wahrscheinlich wieder eine dieser blöden Erzieherinnen. Papa kann
es einfach nicht lassen!“ Fritzi schmollte. „Ich brauch' niemanden, der mich her
um kommandiert, ich bin fast erwachst!!!“
Voll Empörung wurde ihre Stimme lauter. „Außerdem, Papa und ich...“
„Da bist du ja, Fritzi! Hallo, mein Schätzchen“ Paul beugte sich über die Boxen
wand und hob seine Tochter hoch. Dabei zwinkerte er Severin zu, der verlegen
daneben stand. Vorsichtig ließ Paul die Kleine zu Boden und winkte. Die Gestalt,
die in schicklicher Entfernung gewartet hatte, näherte sich und Severin erkannte
eine Frau Anfang dreißig mit klaren blauen Augen, einem freundlichen, offenen
Gesicht und strahlendem Lächeln, die sich nun rasch vor Fritzi hinkniete. Severin
trat zwei Schritte zurück.
„Hallo, kleines Fräulein.“ Die Stimme klang sanft und dunkel. „Du bist sicher
Fritzi, von dir hat mir dein Vater schon viel erzählt. Ich heiße Johanna und werde
von nun an bei euch wohnen. Glaubst du, wir könnten Freundinnen werden?“
Fritzis Augen, die zuerst skeptisch und abwehrend blickten, wurden vor Überra
schung kugelrund. Ihr rosaroter Mund stand weit offen, dann blickte sie schüch
tern zu ihrem Vater hoch.
Dieser lächelte: „Ich würde mich freuen, wenn ihr beide euch gut verstehen wür
det. Komm, laßt uns ins Haus gehen und Johanna ihr Zimmer zeigen Ja, wo ist
denn der Severin hin?“
Suchend blickte er sich um, aber Severin war verschwunden
*** Johanna gewöhnte sich problemlos ein und Fritzi gewöhnte sich zwar nicht pro blemlos aber doch mit der Zeit ihre Temperamentsausbrüche und Streiche ab. Ein sehr guter Beobachter hätte bemerkt, daß Severin seit Johannas Ankunft noch 147
etwas verschlossener und schweigsamer wurde, aber niemand auf Gut GorizGradisca machte sich die Mühe, den ledigen Sohn einer ehemaligen Zofe genauer zu beobachten. Mit der Zeit wurde auch der mehr aus Zufall funktionierende Haushalt des Wein gutes geordneter, im ganzen Haus gab es Blumen, und die Köchin Stanka lief zu absoluter Spitzenform auf, seitdem sie klare Anweisungen erhielt, was wann zu kochen oder zu putzen sei. *** An Fritzis zwölftem Geburtstag wurde auf Goriz-Gradisca ein großes Fest gefei ert. Es waren jede Menge Nachbarn und einige Freundinnen von Fritzi eingeladen und auch Severin wurde zurück erwartet. Severin hatte vor zwei Jahren seine Mechanikerlehre als Bester seiner Klasse abgeschlossen und arbeitete weiter bei Paul. Der alte Vorarbeiter sollte in den nächsten Jahren in Pension gehen und Severin ihn dann ersetzen. Aus diesem Grund hatte Paul beschlossen, Severin auf das Weingut der Piffl-Percevics in Ungarn, Pauls Vetter, zu schicken, wo Severin ein halbes Jahr lang den letzten Schliff erhalten sollte. Fritzi hatte ihm vor seiner Abreise das Versprechen abgerungen, zu ihrem Geburtstag wieder Zuhause zu sein. Als Severin von seinem Motorrad stieg, eine Triumph, die bereits zehn Jahre alt war, aber liebevoll gepflegt wirkte, dachte er daran, wie viel sich seit der Zeit geändert hatte, als er zum ersten Mal den Innenhof betreten und Fritzi ihn beina he umgerannt hatte. Das geheiligte, aber nicht sehr produktive Blumenbeet Emmas war einem üppi gen Garten gewichen, in dem die Sommerblumen gerade ihre schönste Pracht entfalteten. Das Wohnhaus war frisch geweißelt, der nunmehr auch schon wieder sieben Jahre alte Stadel, der kleiner und funktioneller gebaut war als der alte – Paul war nach der Feuersbrunst auf Traktoren umgestiegen und hatte seine Pferde verkauft – sah ebenfalls frisch getüncht aus. Das Gesindehaus, das im Westen den Innenhof begrenzt hatte, war abgerissen worden und hatte einem modernen Flügel, der sich nahtlos an das Wohnhaus anschloß, Platz gemacht. Severin lächelte und betrat den Innenhof, als wie vor vielen Jahren Fritzi auf ihn zugeschossen kam und sich in seine Arme warf. Wieder wurde Severin rot und ließ sie vorsichtig zu Boden gleiten. „Toll, Severin, daß du es geschafft hast! Ich wollte so gerne mit dir Geburtstag feiern! Wie geht es dir? Was gibt es Neues bei den Piffi-Paffis? Hast du schon viele fesche Ungarinnen kennengelernt? Hast du eine Freundin? Warum sprichst du denn nicht?“ 148
Severin lachte. „Weil ich nicht dazu komme!“ Aber Fritzi hörte nicht zu, sondern zerrte Severin mit sich. „Komm, ich zeig dir mein neues Zimmer. Ich habe ein ganz neues Mädchenzimmer bekommen. Johanna und ich haben es ausgesucht. Du mußt es dir unbedingt ansehen. Nun komm schon und trödle nicht so! Meine Güte, braucht man in deinem Alter schon eine Krücke?“ Energisch trieb sie Se verin an, der sich gutmütig von Fritzi davon zerren ließ. Nachdem er pflichtgemäß Fritzis Zimmer bewundert hatte, das ihm viel zu viel Schnickschnack enthielt, worüber er aber wohlweislich den Mund hielt, rückten die ersten Gäste an und Fritzi entschwand in einer Gruppe kichernder und la chender Mädchen. Etwas verloren stand Severin da und sah ihr nach. „Je nun... Der Heimkehrer! Willkommen, Severin, willkommen zurück auf GorizGradisca!“ Paul war auf ihn zugetreten und drückte Severin herzlich die Hand. „Komm, wir wollen Fritzi nicht warten lassen. Über das Geschäftliche können wir später sprechen!“ „Geschäftliche?“ „Je nun... Du weißt ja noch nichts! Armin, der Vorarbeiter, ist vor zwei Monaten gestorben, ganz plötzlich und ich dachte, daß du... Je nun... Das besprechen wir später. Laß uns nun feiern.“ Gemeinsam gingen sie hinter das Haus auf die Wiese, auf der ein Festzelt aufge baut war und schon jede Menge Betrieb herrschte. Severin kaute auf seiner Un terlippe. Ging das alles nicht ein wenig schnell? Paßte er überhaupt hierher? Wollte er Gutsverwalter werden? Auf der einen Seite reizte ihn diese Aufgabe. Doch in seinem Inneren fühlte er oft eine rastlose Unruhe, die ihn weiter trieb. In den endlosen Steppen Ungarns hatte er sich auf ein Pferd geschwungen und war oft tagelang durch die Gegend geritten, auf der Suche nach etwas, was sich jeder klaren Vorstellung entzog. Er holte sich etwas zu trinken und setzte sich abseits auf einen Baumstumpf. Be lustigt sah er Fritzi zu, wie sie mit energisch zusammengepreßten Lippen beim Sackhüpfen gewann, ausgelassen und fröhlich mit ihren Freundinnen tanzte und kichernd ihre dreistöckige Geburtstagstorte anschnitt. In diesem Moment be merkte Severin Johanna. Sie schien jünger und strahlender, als er sie in Erinne rung hatte. Von Ferne winkte sie ihm zu. Severin winkte nicht zurück. Ein schar fer Stich bohrte sich in sein Herz, als er sah, wie Johanna und Fritzi in offenbar inniger Verbundenheit miteinander scherzten. Ungläubig erkannte Severin, daß er eifersüchtig war. 149
Plötzlich ertönte ein Tusch. Alle scharten sich um das kleine Podest vor dem Festzelt, auf dem Paul und Fritzi standen. Paul hob die Arme und alles wurde still. „Liebe Gäste, liebe Freunde und Nachbarn, meine liebe Fritzi! Ich möchte nun zwei Dinge tun, die mir sehr am Herzen liegen. Als erstes möchte ich meiner Tochter zu ihrem zwölften Geburtstag alles, alles Gute wünschen und ihr noch einen geheimen Herzenswunsch erfüllen. Ich weiß, daß sie sich schon lange et was wünscht, obwohl sie nie darüber gesprochen hat – ein Reitpferd!“ „Papa!! Oh, mein liebster Papa!“ Fritzi sprang an Paul hoch. Lächelnd hob er sie auf. Die Gäste klatschten begeistert. „Mein Geschenk zu ihrem zwölften Geburtstag ist daher ein Pferd. Aber es ist kein gewöhnliches Pferd!“ Paul deutete mit einer weit ausholenden Geste auf das Zelt, das sich soeben öffnete und den Blick auf einen kohlschwarzen Rappen mit weißer Blesse freigab, der ungeduldig scharrte. „Hier ist der kleine Hengst, der in der Brandnacht auf so geheimnisvolle Weise gerettet worden war!“ Dabei blickte Paul zu Severin hinüber. Fritzi machte sich von Pauls Arm los und stürmte zu ihrem Pferd. Vorsichtig näherte sie sich und streichelte über seine Nase. Dabei blies sie ihm sanft ihren Atem in die Nüstern. Ihr Vater setzte seine Rede fort. „Je nun... Das sieht so aus, als würden sich die beiden gleich von Anfang an gut verstehen. Das gibt mir das Stichwort für meine zweite Überraschung. Schon seit längerer Zeit habe auch ich jemanden gefunden, mit dem ich mich gut verstehe, und ich freue mich, heute meine Hochzeit mit Johanna ankündigen zu können. Komm, mein Liebling!“ Paul streckte die Hand aus und half Johanna auf das Podest. Liebevoll legte er den Arm um sie. Fritzi schoß herbei und warf sich jauchzend in die Arme von Johanna, die glücklich strahlte und vor Verlegenheit etwas rot wurde. Nach diesem unerwarteten Höhepunkt ging das Fest noch lange weiter und wichtigstes Gesprächsthema der Erwachsenen war natürlich die An kündigung der Hochzeit von Paul und Johanna. Fritzi aber wurde nicht müde, die Geschichte der Brandnacht ihren Freundinnen wieder und wieder zu erzählen, so daß sie schließlich selbst nicht mehr unter scheiden konnte, was Dichtung und was Wahrheit war. Niemand konnte hinterher sagen, zu welchem Zeitpunkt Severin verschwunden war. Paul wußte, daß er bei der Pferdeübergabe noch auf einem Baumstumpf saß. Danach schien ihn niemand mehr gesehen zu haben. Am späten Abend klopfte Johanna an Fritzis Tür und trat ein. Beide führten ein langes Gespräch, in dem auch von Severin die Rede war. Beide wunderten sich, 150
wohin er wohl verschwunden war. Fritzi meinte leichthin, er würde bald wieder kommen, aber Johanna schien nicht dieser Ansicht. Zum Schluß sagte Johanna: „Liebling, ich habe einen Vorschlag. Du bist nun schon ein kleines Fräulein und Fritzi paßt einfach nicht zu einer jungen Dame. Friedhelmine ist ein sehr schöner Name, aber auch etwas lang. Wie wäre es, wenn wir deine beiden Vornamen verbinden und dich von nun an Fee rufen?“ „Au ja, daß klingt gut. Das klingt schon so erwachsen! Johanna, du bist die Be ste! Bald bist du auch meine Mama!“ Gerührt streichelte Johanna Pauls Tochter über die Wangen. Mit einem liebevol len Kuß verabschiedete sie sich. „Schlaf gut, kleine Fee.“ Severin Borowski kehrte nie wieder nach Goriz-Gradisca zurück. ******
151
CORINNE
Alexander von Hohenstein stand am Fenster des Bambuszimmers und sah zu, wie die anderen Gäste des Hotels 'Donaublick' in Severins Wagen stiegen, ein älteres Ehepaar, eine junge Frau und das kleine blonde Kind. Die Wirtin und der Doktor standen an der Treppe zur Terrasse und winkten, bis der Wagen zur Kreuzung gerollt war und nach links abbog. Die fröhliche Stimmung der Abreisenden hatte Schmerzliches in Alexander aufgerührt und er wandte sich ab. Da klopfte es. Alexander blickte fragend zu Corinne. Diese sah ihn gleichgültig an. Also ging er zur Tür und öffnete sie. Draußen standen zwei Frauen deutlich südländischer Herkunft, mit Staubsauger und Putzeimern bewaffnet, und erklärten mehr laut stark als verständlich ihr Anliegen. Alex wandte sich zu Corinne. „Die Reinigungskolonne möchte wohl einen Groß putz starten und wir sollen offenbar das Zimmer verlassen. Hast du Lust, spazie ren zu gehen?“ Wortlos erhob sich Corinne und holte ihren Mantel. Alexander raffte seine wat tierte Jacke vom Stuhl und schlang sich den Schal um den Hals. Es war sonnig und nicht allzu kalt, aber er war anfällig für Verkühlungen. Mit einem automati schen Griff in die Jackentasche vergewisserte er sich, daß er seinen Spray einge steckt hatte. Alexander ergriff Corinnes Arm und langsam stiegen sie die Treppe hinunter. Die Eingangshalle war leer. Sie traten aus der Tür. Der Doktor war be reits in seinen alten Ford gestiegen und ratterte an ihnen vorbei. Die beiden hoben grüßend die Hand, Schäuble winkte zurück. Dann schlugen sie den Weg zum Donautal-Ausblick ein. Vor ihnen erstreckte sich eine weite Hochfläche, die in einer steilen Felswand zum Donautal abfiel und einen großartigen Blick auf die Mäander des Flusses freigab, der hier noch nichts von der Majestät ahnen ließ, die ihn etwa tausend Kilometer weiter zum berühmtesten Strom der Musikwelt machen sollte. *** Die Donaufee sah ihnen vom Speisezimmer aus nach. Sie biß sich auf die Lippen. Die beiden machen den Eindruck, als gingen sie zu ihrer eigenen Hinrichtung! dachte sie, aber ohne Nachdruck. In ihr schwangen noch Freude und Zufrieden heit über Felix Genesung und Severins gelungene Befreiungsaktion nach. Wieder nahm sie sich vor, das junge Paar im Auge zu behalten, noch war eine Drogenge 152
schichte nicht ganz von der Hand zu weisen. Aber so, wie die beiden gerade da von gegangen waren, schienen sie eher von unsäglichem Leid umwoben. Fees Aufmerksamkeit wurde von Bramerts Reinigungstrupp abgelenkt und seufzend wandte sie sich den alltäglichen Verpflichtungen zu. „Natürlich sollen Sie die Fenster im Frühstücksraum ebenfalls reinigen, auch wenn sie im landläufigen Sinn sauber sind!“ Die Italienerin sah sie verständnislos an. „Si, si, é necessare di fare tutte le finestre! Ma, certo! Mamma mia!“ Fee schlug die Augen zum Himmel. Ihre wort- und gestenreiche Aufforderung schien zu wirken. Gleichmütig machte sich die kleine pummelige Italienerin an die Ar beit. Fee ging in die Küche, die bereits gereinigt war, und überprüfte Oberflächen und Ecken. Sie fand nichts auszusetzen und wieder wanderten ihre Gedanken zu den beiden jungen Leuten. In einem plötzlichen Impuls lief sie zur kleinen Nische, die als Rezeption diente und zog einen Ordner heraus. Rasch blätterte sie den Inhalt durch. Ach ja, da haben wir es Alexander von Hohenstein, zweiunddreißig Jahre alt, und Corinne Delgado, neunzehn Jahre, las sie. Wohnhaft: Mittelstraße 2, Berlin. Die Adresse stimmte bei beiden Anmeldungen überein. Gemeinsame Adresse heißt gemein same Wohnung. Seufzend legte Fee die Blätter wieder in den Ordner zurück. Sie ging ins Wohnzimmer und schloß nachdrücklich die Tür. Dabei fiel ihr ein, sie durfte nicht vergessen, am Mittwoch die Suite herzurichten, das Fenster mußte auch noch ausgebessert werden. Brockelmanns wollten am Donnerstag ihr ver schobenes Wochenende nachholen. Sie machte sich in Gedanken eine entspre chende Notiz. Aber zuerst mußte sie Ordnung in ihre Welt bringen. Immer noch schossen Gedanken an die Vergangenheit wie Pfeile in ihrem Kopf hin und her, aber sie wollte sich nicht mehr mit ihr beschäftigen. Ich will mein Hotel führen in Ruhe und manchmal mit Herrmann flirten! Fee stampfte mit dem Fuß auf, dann zündete sie sich eine Zigarette an und zog sich auf ihre Couch zurück. Also, fragte sie sich, wer hindert dich daran? Ordne deine Gedanken! *** Alexander steuerte auf einen umgefallenen Baumstamm zu und setzte sich. Corinne ließ sich neben ihm nieder. Kein Wort war zwischen ihnen gefallen, seit sie das Hotel verlassen hatten. Alexander wollte ebenfalls seine Gedanken ordnen. Aber im Gegensatz zur Donaufee hatte er nicht viel, was er ordnen konnte. Vor zehn Tagen war Corinne völlig aufgelöst bei ihm in der Firma aufgetaucht und hatte beinahe hysterisch gefordert, er solle sie begleiten. Sie müsse sofort Berlin verlassen und brauche dringend die Hilfe ihres Bruders, zumindest für einige 153
Tage, bis sie sich sicherer fühle. „Ja, wie stellst du dir das vor? Ich muß doch mindestens noch ein paar Sachen packen!“ „Ich habe alles mitgenommen, was du brauchen wirst. Außerdem ist dies keine Geschäftsreise, also wirst du deinen dunklen Anzug und die goldenen Manschet tenknöpfe auch nicht benötigen!“ „Kein Grund, bissig zu werden, Schwesterherz! Hast du auch an meinen Reserve spray und die Vitamintabletten gedacht?“ „Nein, habe ich nicht! Himmel, Alex, ich verspreche, wir halten an der nächsten Apotheke. Nun faß dich endlich und komm!“ Alexander war noch nicht überzeugt, wollte Näheres wissen und Mutter benach richtigen. Corinne geriet nahezu außer sich. Um eine Szene gröberen Ausmaßes zu verhindern, hatte er in der Firma Bescheid gesagt, er sei für einige Tage auf Urlaub und fuhr mit. Alexander vermutete, daß der schon lange schwelende Kon flikt seiner Schwester mit Mutter schlußendlich eskaliert sei. Doch er würde die Dinge schon wieder ins Lot bringen. Im Prinzip war seine Schwester doch ganz vernünftig, nicht wahr? Das Ganze wäre dann noch beinahe an der Frage des Fahrzeugs gescheitert, aber auch hier setzte sich Corinne durch. Sie bestand dar auf, mit ihrem Wagen zu fahren. Bald schon hatte Alexander seine Nachgiebigkeit bezüglich der Fahrzeugfrage verwünscht. Corinnes Wagen schien nur noch durch den zugegebenermaßen großzügig aufgetragenen Lack zusammenzuhalten und drohte, an jeder Ecke lie genzubleiben. Seine Schwester schien davon völlig unbeeindruckt. Ab dem Zeit punkt, als sie im Auto saßen, war sie schweigsam und zugeknöpft. Sie waren ziellos nach Süden gegondelt, Corinne schien keinen Plan zu haben, wohin sie wollte, und hatten am Abend im 'Donaublick' ein Zimmer genommen. Von die sem Moment an war alles schiefgelaufen. Corinne blieb wie festgeklebt im Zim mer sitzen und weigerte sich, weiterzufahren. Alexander sollte bei ihr bleiben und durfte auch nicht Zuhause anrufen. Die einzige Erklärung, die sie für ihr unver ständliches Verhalten anbot, war, daß sie noch etwas Zeit brauche und in Ruhe nachdenken müsse. Alexander argwöhnte nun, daß sie schwanger sei, aber Corinne erklärte nur im mer wieder, daß sie sich klar werden müsse, was zu tun sei, und das könnte sie ebenso gut im 'Donaublick' wie woanders. Also blieben sie. Bis vor drei Tagen war es nicht einmal möglich gewesen, zum Essen außer Haus zu gehen. Alexander sah seine Schwester nachdenklich an. Er liebte sie sehr und war bereit, bis zu einem gewissen Grad mitzuspielen, aber langsam verlor er die Geduld. Ernsthafte Vorhaltungen seinerseits waren ohne sichtbaren Erfolg geblieben. – 154
Sie ist nur deine Halbschwester! Man weiß nie, welche Seite da durchschlägt. –
Alexander verdrängte den immer wieder aufkommenden Gedanken. Er nahm sich
vor, heute in Berlin anzurufen, um Mutter mitzuteilen, daß sie wohlauf seien. Er
würde sein Versprechen, das ihm Corinne abgerungen hatte, brechen. Alexander
fühlte sich nicht wohl bei diesem Gedanken, aber andererseits hatte der Spuk
schon viel zu lange gedauert. Zögernd begann er: „Corinne, äh, ich kann nicht
länger warten.“
„Alex, bitte! Hab noch ein wenig Geduld!“
„Ich muß zumindest, äh, in der Firma Bescheid sagen!“
„Die werden dich schon nicht gleich feuern!“
„Ich bin seit zehn Tagen nicht mehr zur Arbeit gewesen“
„Meine Güte, Alex! Du bist Vizepräsident und Vaters einziger Nachfolger. Was
soll er denn machen? Mich an deine Stelle setzen?“
„Ernsthaft, Schwesterchen, Mutter macht sich sicher große Sorgen!“
„SIE IST NICHT MEINE MUTTER!!!“
Alexander verdrehte die Augen zum Himmel. Zum ersten Mal zweifelte er daran,
zwischen Mutter und Corinne die Dinge wieder einrenken zu können.
Mit etwas gemäßigter Stimme fuhr sie fort: „Es ist mir ernst!“ Corinne versank
wieder in ihr Schweigen. Plötzlich krauste sie die Stirn und richtete sich auf. „Al
so, gut!“ Sie schien sich zu einem Entschluß durchgerungen zu haben. „Hör zu,
ich habe nichts dagegen, wenn du zu Hause anrufst, aber“, sie griff nach Alexan
ders Arm, der unwillkürlich aufspringen wollte, „unter einer Bedingung!“ Sie
nestelte an der Tasche ihres Mantels und zog ein kleines Buch heraus. „Die Be
dingung ist, daß du das hier dieser – ich weiß nicht, wie sie heißt, zu lesen gibst.“
Dabei deutete sie mit dem Daumen nach hinten.
„Wen meinst du?“ Alexander runzelte die Stirn.
„Na, der Frau, die den Laden da schmeißt!“
„Frau Di Cosimo?“ Alexanders Irritation verpuffte wirkungslos.
„Du weißt, wie sie heißt? Woher?“
„Äh, von der Hotelrechnung. Ist ja egal. Was soll das, äh, Ganze?“
„Dieses, mein lieber Bruder, ist mein Tagebuch, seitdem ich fünfzehn war. Ich
will, daß sie es liest!“
„Du guter Gott, eine fremde Frau?“ Alexanders Irritation steigerte sich hörbar.
Corinne ignorierte sie abermals. „Eben!“
„Eben was?“
155
„Eben deshalb. Sie ist fremd und sie ist eine Frau. Vielleicht kann sie mir sagen, wie ich da raus komme.“ „Ich weiß nicht recht.“ Unschlüssig drehte Alexander von Hohenstein das Büchlein in der Hand hin und her. Es hatte ein kleines goldenes Schloß, der Schlüssel hing an einem blauen Band an der Schnalle. Verwirrt sah er seine Schwester an. „Kann, äh, ich nicht?“ „Unter keinen Umständen, Alex! Dies sind Dinge, die ich dir vielleicht irgendwann einmal erzähle, aber lesen darfst du mein Tagebuch nicht. Ich hatte ge dacht, ich würde selbst zu einem Ergebnis kommen, aber alles was mir einfällt, scheint mir falsch zu sein. Vielleicht geht es auf diesem Weg. Ende der Debatte!“ Corinne wandte sich ab. „Warum gibst du es ihr nicht selbst?“ „Alex, mein lieber Bruder!“ Nun sah sie ihm direkt ins Gesicht, ihre Augen blitzten und die übliche Gleichgültigkeit und der Mißmut waren ganz aus ihrem Gesicht verschwunden. „Du weißt nicht allzuviel von mir, nicht? Ich bin vor drei Jahren in euer Haus geschneit, weil meine Mutter es so wollte. Ich habe die Schule fertig gemacht, weil unser Vater und deine Mutter es so wollten. In drei Monaten werde ich neunzehn. Ich will versuchen, die Dinge von nun an so zu machen, wie ich es will. Ich will, daß du dieser Frau das Tagebuch gibst. Sollte sie es ablehnen zu lesen, was wahrscheinlich ist, möchte ich nicht bei meiner ersten eigenständigen Handlung gleich abgewiesen werden. Klingt ein wenig wirr, ich weiß, aber bitte Alex, lieber, lieber Bruder, tu es für mich, ja? Danach kannst du zu Hause anrufen. Fahre zurück, wenn du willst, ich jedenfalls werde solange bleiben, bis ich mit dieser Frau gesprochen habe. Ich mag sie irgendwie.“ Alexander sah auf die Uhr, gerade zwei vorüber. Er stand auf und sah unschlüssig in Richtung 'Donaublick'. Er kam sich sehr töricht vor, aber Corinne hatte mit einer Intensität und Dringlichkeit gesprochen, der er sich nicht verschließen konnte. „Kommst du mit?“ „Ich werde noch ein wenig hier sitzen bleiben.“ „Äh, ich gehe dann.“ Er rührte sich nicht. Corinne sah regungslos vor sich hin, sie war wieder hinter ihre Mauer aus Schweigen und Verschlossenheit zurückge kehrt. Alexander seufzte und wandte sich um. Zögernd ging er auf das Hotel zu, in der Hand das Tagebuch seiner Halbschwester, das wie ein glühendes Eisen zu bren nen schien. *** 156
Severin bog auf den Hotelparkplatz ein. Er stellte das Auto vor seiner Garage ab
und nahm sich vor, es heute noch zu reinigen. Mit einem erleichterten Aufatmen
stieg er aus. Frau Gersky und der kleine Felix sowie Familie Kraus waren wohl
behalten in Ludwigshafen am Bodensee angekommen und die Großeltern hatten
schon während der Fahrt wenig Ideen ausgelassen, wie sie die beiden in nächster
Zeit verwöhnen wollten. Vom Schwiegersohn war nicht die Rede gewesen. Er
schlug gerade die Wagentür zu, als er den Mann aus dem Bambuszimmer zögernd
auf sich zugehen sah.
„Äh, entschuldigen Sie...“
„Herr von Hohenstein, kann ich Ihnen behilflich sein?“
„Ja, ich sollte, äh, also...“
Severin blieb geduldig. „Womit kann ich Ihnen helfen?“
„Es ist so, äh, meine Schwester...“ wieder brach er ab.
Geschwister sind das, dachte Severin, würde man auch nicht auf den ersten Blick
vermuten. „Herr von Hohenstein, was ist mir Ihrer Schwester?“
„Eigentlich ist sie, äh, meine Halbschwester.“
Könnte eine Weile dauern, bis wir die ganzen verwandtschaftlichen Verhältnisse
durch sind! Severin lehnte sich an den Kotflügel seines Jaguars und wartete ge
duldig.
Alexander schien sich zu einem Entschluß durchgerungen zu haben. Mit fester
Stimme fragte er: „Wissen Sie, wo sich Frau di Cosimo befindet? Ob ich sie wohl
kurz sprechen könnte?“
Und das Ganze ohne ein einziges 'äh' – bemerkenswert! Severins Miene blieb
undurchdringlich. Er deutete auf das Haus und meinte. „Irgendwo im Hotel ist sie
bestimmt. Wenn Sie wollen, gehe ich sie für Sie suchen.“
Alexander zögerte, nickte jedoch unentschlossen. Severin wunderte sich. Macht
den Eindruck, als hätte er gehofft, die Wirtin des Hotels 'Donaublick' sei überra
schend zu einem mehrwöchigen Urlaub nach z.B. Neuseeland abgereist. Komi
sche Leute, dieses Geschwisterpaar! Severin betrat das Haus und hielt die Türe
für den Mann hinter sich offen. Wieder zögerte von Hohenstein. Severin sah ihn
gleichmütig an.
„Äh, oh, vielen Dank!“ Alexander zog die Tür hinter sich ins Schloß und sah sich
um, als wäre er zum ersten Mal hier. Severin deutete in Richtung Rezeption. „Am
besten, Sie warten hier. Ich werde sehen, wo Frau Di Cosimo ist.“
„Hier ist sie. Was gibt es, Severin?“ Fee trat aus der Tür, die zur Küche führte.
„Ach, Herr von Hohenstein. Kann ich etwas für Sie tun?“
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„Unser Gast hat Sie gesucht, Frau Di Cosimo.“ Severin blinzelte der Donaufee zu und verschwand. Alexander drehte das Buch in seinen Händen und sah unschlüssig auf Fee. „Es ist etwas, äh, kompliziert.“ „Dann kommen Sie doch am besten hier herein, Herr von Hohenstein.“ Fee führte ihren Gast in die Stube. „Hier bitte, nehmen Sie Platz. Was ist kompli ziert?“ Aber Alexander von Hohenstein fühlte sich genötigt, erst eine Frage der Etikette zu klären. „Es wäre leichter für mich, äh, Sie würden mich Alexander nennen.“ Fee zog die Augenbrauen in die Höhe. „Nun, wenn Ihnen damit geholfen ist, Alexander, das geht ganz einfach. Aber ich nehme nicht an, daß Sie mich nur deswegen sprechen wollten.“ „Nein, nein, äh, meine Güte, ich stottere herum. Das nützt ja doch nichts.“ Er streckte Fee das Buch hin. „Meine Schwester, eigentlich ist sie ja meine Halb schwester, bittet Sie, das zu lesen!“ Erleichtert legte er das Tagebuch auf den Tisch, schob es noch ein Stück weiter weg und lehnte sich dann aufseufzend zu rück. „Nun, ich verstehe nicht ganz?“ Fee sah fragend erst auf das Buch, dann auf ih ren Gast. „Es ist ein ungewöhnlicher Wunsch, ich weiß, aber Corinne ist auch ein unge wöhnlicher Mensch. Sehen Sie, Frau Di Cosimo“, seiner Last entledigt fiel ihm das Sprechen schon wesentlich leichter, „offenbar steht meine Schwester vor einer schwierigen Entscheidung. Ich weiß nichts darüber, habe aber so meine Vermutungen. Sie möchte, daß Sie als völlig Fremde dieses Buch lesen und ihr dann, äh, einen Rat geben.“ Ganz leicht schwang Mißbilligung durch. Fee ignorierte die Untertöne. „Alexander, Sie sehen, ich bin etwas verblüfft. Könnte denn nicht Corinnes Mutter einen wesentlich besseren Dienst leisten?“ „Corinnes Mutter ist tot, Frau Di Cosimo, seit dieser Zeit lebt Corinne bei uns. Ihre Stiefmutter, also meine Mutter, kann dabei sicher gar nichts machen. Beide kommen nicht allzu gut miteinander aus. Um es direkt zu sagen, äh, Corinne haßt meine Mutter, obwohl diese sich alle Mühe gegeben hat. Aber das würde nun zu weit führen!“ Fee nahm zögernd das Buch in die Hand und blickte hoch. Rasch entschlossen sagte sie: „Gut, ich werde es lesen! Sagen Sie Ihrer Schwester, ich werde es auf merksam lesen. Eine Frage, essen Sie beide heute abend hier?“ 158
„Nein, wir werden wieder auswärts essen. Es ist die einzige Möglichkeit, Corinne
außer Haus zu bringen.“
„Gut, dann kann Ihre Schwester heute nach den Abendessen zu mir kommen und
wir können darüber reden. Ich hoffe, ich werde dann einen Rat für sie haben.“
Alexander stand auf und streckte die Hände aus. „Vielen, vielen Dank, Frau Di
Cosimo, ich bin sehr, äh, erleichtert und danke Ihnen vielmals, wirklich viel
mals!“
„Nennen Sie mich Fee, das ist nur fair!“
„Ja, gerne. Sehen Sie, Fee, Sie nehmen mir eine große Last von der Seele. Also,
dann werde ich jetzt Corinne Bescheid geben. Auf Wiedersehen und, äh, noch
mals vielen Dank!“ Schon war er mit langen Schritten aus der Tür.
Ich wollte noch sagen, gerne geschehen, dachte Fee, aber ich weiß nicht, ob das
stimmt! Nachdenklich sah Fee auf das kleine Buch. Halbgeschwister sind die
beiden und gehen eine Woche nicht aus dem Zimmer. Da haben sie mich ja auf
eine ganz falsche Fährte geschickt! Wahrscheinlich ist auch mein Verdacht we
gen Drogen hinfällig. Fee widerstand der Versuchung, das Buch gleich aufzu
schlagen, und legte es im Wohnzimmer auf den Couchtisch. Dann eilte sie in den
ersten Stock, um den Fortschritt der Reinigungsarbeiten festzustellen. Erstaunli
cherweise war der Trupp bereits weiter, als sie dachte.
*** 27. September 92 Heute war wieder nichts mit Schule. Die Mathearbeit hätte ich sowieso in den Wind geschrieben. Kann froh sein, wenn ich heuer mit einer positiven Note ab
schließe.
Wen kümmert es? Liebes Tagebuch, ich frage dich, wen kümmert es, wenn ich in
Mathe durchsause oder in Bio? Was das anbetrifft, habe ich eine größere Aus
wahl, für wen soll ich also ackern? WEN KÜMMERT ES DENN????? SCHEI
SSE!!!
Mam ist wieder auf Entzug !
Es ist der dritte heuer. Guter Schnitt, letztes Jahr waren es zwei und das Jahr vor
her sieben! Insgesamt ist es also der zwölfte. Gottseidank, noch nicht der drei
zehnte!
Mam ist auf Entzug. MAM IST AUF ENTZUG – das klingt irgendwie verkehrt.
Eigentlich sollte ich auf Entzug sein – aber dazu müßte ich erst mal abhängig
werden! Nee, danke, es langt, was ich sehe, täglich, stündlich...
Später:
159
Jo war hier. Das ist eine Primafrau, prima Frau – so sieht es besser aus, aber
richtig ist Primafrau! Jo hat gesagt, ich soll Mam einweisen lassen, das war nicht
so prima, aber wahrscheinlich richtig. Ich kann es nicht!!!! Solange ich es schaf
fe, soll Mam in ihrer gewohnten Umgebung bleiben...
„Corinne! – Corinne! – CORINNE!“
„Ja, Mam?“
„Liebling, ich brauche ein bißchen Stoff! Nur ein wenig. Du hast etwas versteckt,
ich weiß es, ich weiß es, ICH WEISS ES VERDAMMTER SHIT GIB SOFORT
DAS ZEUG HER ICH BIN DEINE MUTTER UND DU HAST MIR ZU GE
HORCHEN GIB ES MIR ICH SAGE ES DIR JETZT ZUM LETZTEN MAL –
Liebling, bitte!!!“
„Nein!“
„Eine Winzigkeit, eine wenig nur, ein kleines Portiönchen“
„N.E.I.N!“
„Schatz, du bist hartherzig!“
„Mam, du bist auf Entzug!“
„Ich weiß, das will ich ja auch! Ich werde es schaffen, ich weiß das! Ich kann
jederzeit aufhören, wenn ich will. Das hast du doch gesehen, Corinne, nicht
wahr? Habe ich nicht gestern aufgehört, einfach so? Sag mir, stimmt das nicht?“
„Ja, Mam!“
„Da siehst du es! Es ist nicht so, daß ich es nicht könnte. Also, nun gib mir schon
ein klein wenig. Ich spritze ja nicht, ich will weg von dem Zeug, aber ein wenig
Koks, nur einen klitzekleinen Schnupfer. Einen Joint! Schatz, SCHATZ, VER
DAMMT GIB DAS ZEUG HER ODER ICH SCHLAGE HIER ALLES KURZ
UND KLEIN ICH WERDE NICHT RÜCKFÄLLIG ICH WEISS DAS ABER
ICH WILL JETZT NUR EIN GANZ KLEINEN JOINT Corinne? Corinne? CO
RINNE???“
„Ja, Mam, ich bin hier!“
„Gottseidank, ich dachte, du wärst gegangen, hättest mich verlassen! Alle haben
mich verlassen. Alle! Habe ich dir schon einmal erzählt, wie mich dein Vater
verlassen hat, Corinne? Kind, habe ich dir das schon erzählt?“
„Hundertmal, Mam, sicher schon hundertmal!“
„So? Das ist mir ganz entfallen. Was wollte ich doch gleich noch?“
„Du wolltest eine Tasse starken schwarzen Tee, oder?“
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„NEIN. Nun ja, egal. Mein Gott, ist das kalt hier. Dreh doch die Heizung auf, verdammt, DU BLÖDES BIEST, DREH DIE HEIZUNG HÖHER UND GIB MIR ENDLICH – gib mir einen Joint! Bitte, Kind, gib mir einen kleinen Joint!“ So ging es weiter. Jo hat recht, Sozialarbeiterinnen haben meistens recht, aber ich kann es nicht! Ich kann meine Mutter nicht in einer geschlossenen Anstalt sehen mit all den Irren und den Niedergespritzten und den Gaga-Leuten! Noch nicht. Also gebe ich Mam den Joint. Ich weiß, spätestens am Abend komme ich nicht darum herum, ihr den Koks zu geben und mit viel Glück hält sie es bis zum Wo chenende ohne Heroin aus. Ich muß Nachschub besorgen. 29. September Mams letzter Entzug war ein Rekord! Ganze zwei Tage, das war absoluter Re kord. Der davor hatte immerhin acht Tage gedauert und in ihrem Superjahr der sieben Entzüge waren es immer mehr als zehn Tage, die sie in einem Stück durchhielt. Ich habe Nachschub besorgt. Franco hat die Preise gesteigert! Aber bei ihm bin ich sicher, daß ich auch das erhalte, was ich kaufe! Franco ist ehrlich, soweit ein Dealer ehrlich sein kann. Das Konto ist jetzt leer, aber Gottseidank kommt spätestens übermorgen Nach schub. Mein entzückender, reizender, sorgender, kümmernder Vater! Meine Un terhaltszahlungen kommen pünktlich und die monatliche Rate ist stattlich. Aber wenn ich nicht die Hand drauf hätte, wäre am fünften alles verbraucht und kein Geld für Miete und Essen vorhanden. 1.Oktober Mam hat mich wieder nach Zürich geschickt und ein weiterer Tag in der Schule ging flöten. Wenn Mam nicht diesen guten Kontakt in die Schweiz hätte, wenn sie nicht so viel Geld geerbt hätte, worauf Gottseidank die Bankleute in Zürich ihre Hand drauf haben und nur geringe Beträge auszahlen, dann ja, was dann? Dann könnte sie sich ihre Sucht nicht leisten. Wäre sie dann clean? Ich weiß nicht, ich glaube es nicht. Es ist, als ob Mam alles Geld, das von meinem Vater, das von ihrem Vater, für Heroin etc. ausgeben müßte, um diese Männer zu bestrafen! Ein blöder Gedan ke... Heute wieder in der Schule und Greta war besorgt. Ich erzählte ihr etwas von einer Darmgrippe und weißt du, liebes Tagebuch, was sie sagte? Schmeiße dei nen Darm doch endlich raus oder hau ab! Greta, meine Greta, die ich seit dem 161
Kindergarten kenne und die meine aller-allerbeste Freundin ist! Ich habe ihr nie etwas gesagt und sie war auch schon lange nicht mehr bei mir zu Hause, sie fin det das OK, wenn ich nicht will – aber wahrscheinlich ahnt sie etwas. Himmel, wie peinlich! Ach, Greta, könnte ich nur darüber reden! Ich kann es nicht, konnte es nie. Nur Jo weiß wirklich über mich und meine Mam Bescheid und du, mein liebes Tagebuch. Weißt du, manchmal möchte ich wirk lich alles hinschmeißen und – - Himmel, was ist das? „Mam, MAM – um Himmels willen, was machst du da?“ „Ich? Was ich da mache?“ „Mama, GIB SOFORT – bitte, gib mir das Rasiermesser, sei so lieb, ja? Mama Mami, Mami, bitte, gib mir das Messer! Schau, da ist alles schon voll Blut!“ „Blut? Na ja, ich wollte meine Haare abrasieren. Das sieht so häßlich aus auf meiner weißen Haut! Ich habe nämlich wunderschöne Beine. Sieh nur, Corinne, sind meine Beine nicht wunderschön? Diese dunklen Haare stören. Kind, schau nicht so entsetzt! Ist ja nichts passiert.“ „Mam, BITTE GIB MIR DAS RASIERMESSER!!!“ „Ja, bitte, hier hast du es! Weiß nicht, warum du so schreist! Kein Grund, so zu schreien! Wozu brauchst du es denn? Willst du dir auch deine Haare rasieren? Soll ich es für dich tun, Kind?“ „Um Gottes willen, nein! – Ich meine, danke, nein, Mam. Es ist schon OK. Ich lege nicht so besonders viel Wert auf gutes Aussehen wie du.“ „Das solltest du aber! Du bist zwar keine Schönheit, hast leider viel zu viel von deinem Vater, aber immerhin bist du auch nicht gerade häßlich!“ „Danke verbindlichst!“ „Ein wenig die Haare hinters Ohr – warum zuckst du denn zurück? Bist wohl zickig geworden, was? Na ja, die Pubertät! Also, zu meiner Zeit war das anders. Da war ich dankbar, wenn mir meine Mutter einen guten Rat gab, wie ich das Beste aus meinem Typ machen konnte.“ Lieber Gott, das hätte schrecklich ausgehen können. Sie hatte schon einige Schnitte auf ihren Unterschenkeln, zum Glück nicht allzu tief und keiner muß genäht werden. 162
Jo hat mir ein paar Sachen zum Desinfizieren und Verbinden gebracht und dann ist Mam zum Glück eingeschlafen. Ich habe Jo ein Stück begleitet und dabei das Rasiermesser in den Kanal geworfen. Jo hat mir ins Gewissen geredet und ich habe angefangen zu heulen. Wie ein kleines Baby mitten auf der Straße. Ich konnte nicht anders. Aber noch ist es erträglich, noch ist sie manchmal so, wie sie früher war, heiter und sprudelnd, überschäumend und fröhlich wie ein schöner, bunter Schmetter ling, der nie den Ernst des Lebens begreifen wollte und der jetzt nicht mehr flie gen kann. Ach, Mami... 3. Oktober Greta sagt, ich bin altmodisch, hätte nicht die Sprache drauf, die man haben müßte, um 'in' zu sein. Was zum Teufel ist mehr 'in', als seine eigene drogensüch tige Mutter zu pflegen? Rick hat mich heute eingeladen. Rick ist ein netter Junge, bereits uralt, so um die zwanzig, und wohnt zwei Häuser weiter. Liebes Tagebuch, keine voreiligen Vermutungen... Ich habe abgelehnt. Wenn ich mit ihm ausgehe, wird er zu mir kommen wollen, und dann wird er Mam sehen und begreifen und dann geht es so wie mit Peter und Benjamin. Sie sagten: 'Ich hatte keine Ahnung!'... und: 'Du solltest etwas unternehmen!'... und: 'Es tut mir leid!'... und dann waren sie fort. Für immer! NEIN!!!! Das darf nicht mehr passieren. Greta ist es egal, die weiß wahrscheinlich genau, warum ich sie nicht zu mir einlade. Aber Rick – Rick ist anders. Er soll nicht sehen, wie ich lebe. Lieber Gott, gibt es einen Weg? Beeile dich, ihn mir zu zeigen! 17. Oktober
Es ist alles aus! Mam, oh Gott, Mam!!!!
18. Oktober Gestern war ich zu verzweifelt, um zu schreiben, aber heute muß ich es! Nur beim Schreiben kann ich meine Gedanken ordnen, schreiben ist meine einzige Verbindung zur Normalität. Wenn ich nicht schreiben könnte, würde ich verrückt werden. Die letzten zwei Wochen waren absolut die Hölle. Ich habe jedoch keinen Tag in der Schule gefehlt, aber was wir dort gemacht haben, ging an mir vorbei wie – wie ein U-Bahn -Zug. Taucht auf – wusch – ist vorbei. 163
Der Reihe nach. Zuerst entzündeten sich Mams Schnitte an den Beinen. Aus
nahmsweise kamen einmal Körpersignale zu ihr durch und sie jammerte unent
wegt.
„Corinne? CORINNE! Schatz! Was ist mit meinen Beinen los?“
„Mam, laß mich sehen“
„Nein, faß mich nicht an! Ich hätte dir nie erlauben dürfen, meine Beine zu rasie
ren! Du warst schon immer so ungeschickt! Ganz wie dein Vater Au! Au, ver
dammt, Corinne!“
Ich löste so vorsichtig, wie ich konnte, die Verbände. Die Wunden sahen
schrecklich aus, ganz rot und weiß. Ich flehte Mam an, ins Krankenhaus zu ge
hen oder wenigstens zu einem Arzt. Aber sie war störrisch.
Ich rief Jo an. Sie war auf irgend einer Sozialarbeitertagung. Kam erst am Mon
tag zurück.
Ich plünderte die Hausapotheke und fand ein paar Schmerzmittel. Mam schluckte
sie murrend. Sie wären schädlich für Magen und Leber! Ha! Hat man noch Töne!
Sie lebt ja sonst so gesundheitsbewußt!
Am Montag waren die Wunden an Mams Beinen noch schlimmer. Die Schmer
zen waren so stark, daß Mam einwilligte, zum Arzt zu gehen. Dieser verschrieb
ihr Antibiotika und machte eine Blutuntersuchung. Die Antibiotika brachten nach
einer Woche das erwartete Resultat. Die Blutprobe nicht.
Der Arzt hat meine Mam gefragt, ob sie mit anderen Personen in Berührung kä
me. Sie hat verneint. Sie würde mit ihrer Tochter zusammenwohnen und hätte
keinerlei Kontakte. Kein Wort von ihren vielen nächtlichen Streifzügen in die
Bars am Kudamm. Kein Wort von ihren 'Das-ist-die-einzig-wahre-Liebe'
Abenteuern, die nie länger wie zwei Wochen anhalten. Kein Wort von ihren 'Be
dürfnissen', den zahllosen one-night-stands, die erst in den letzten Monaten auf
gehört hatten.
Die Blutprobe ergab erhöhte Leberwerte und eine dramatisch reduzierte Leuko
zytenzahl. Mam sagte, das habe den Arzt zu einem weiteren Test angeregt. Sie
habe eingewilligt. Ich fragte sie, was das bedeute, aber sie sagte, sie habe keine
Ahnung. Nun hat sie eine Ahnung. Nun hat sie Gewißheit.
Mam ist HIV-positiv. Und ich bin es auch. Ich weiß es einfach.
Fee schlug vor Entsetzen das Buch zu. Tief atmete sie durch. Das arme Kind! Fee
stand auf, um sich ein Glas Sherry zu holen. Als sie eben die Flasche öffnen
wollte, hörte sie Geräusche in der Eingangshalle. Sie öffnete die Wohnzimmertü
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re und lief hinaus. Alexander von Hohenstein stand in der Halle, die Haare zer
zaust, die Augen eng zusammengekniffen. In den Armen trug er seine Schwester,
die schlaff und leblos schien, das Gesicht blutleer, die Augen geschlossen.
„Corinne! Corinne! Wach doch auf! Hilfe! Bitte helfen Sie mir, Frau Di Cosi
mo... äh, Fee.“
Fee dachte, es wäre wohl nicht der günstigste Moment, um auf Fragen der Eti
kette gesteigerten Wert zu legen. „Bringen Sie Ihre Schwester nach oben! Ich
helfe Ihnen!“ Fee eilte die Treppe hoch und öffnete die Tür zum Bambuszimmer.
Dann schlug sie die Bettdecke zurück. Alexander legte seine Schwester unge
schickt auf das Bett.
„Was ist passiert?“ Fee zog die Kissen weg, so daß Corinne flach liegen konnte.
„Ich weiß es nicht. Als ich zu ihr zurückkam, lag sie im Gras und reagierte
nicht.“
„Bleiben Sie hier, halten Sie die Beine hoch. Nein, fassen Sie sie unter den Knien
an – ja, gut so.“ Sie schob die zusammengerollte Bettdecke unter Corinnes Knie.
„Ich werde den Arzt verständigen.“ Fee eilte nach unten. Herrmann war zu Hause
und meldete sich prompt. Fee berichtete knapp und klar.
„Zehn Minuten! Ich brauche zehn Minuten und sag ihm, er soll die Beine hoch
lagern!“ Herrmann hatte aufgelegt. Dr.Herrmann Schäuble benötigte fünfzehn
Minuten, aber das spielte kaum eine Rolle, denn Corinne hatte wenige Augen
blicke, nachdem Fee das Zimmer verlassen hatte, das Bewußtsein wieder erlangt.
Als Schäuble das Bambuszimmer betrat, war sie schon wieder fit und bestand
darauf, das Bett zu verlassen. Aber der Doktor blieb unnachgiebig. Zuerst
schickte er Alexander hinaus, der hilflos in der Gegend stand und allen im Weg
war, dann bat er Fee, heißen Tee zu kochen. Mit den Worten: „Nun, meine junge
Dame, werde ich sie mir etwas genauer ansehen!“ unterband er Corinnes Versu
che aufzustehen.
*** Fee ging in die Küche und begann, Wasser heiß zu machen. Vielleicht sollte ich gleich ein Lazarett aufmachen! dachte sie grimmig. Mir scheint, ich koche in letzter Zeit unentwegt Tee für meine maroden Gäste. Ob diese Ohnmacht das erste Anzeichen des Aids-Virus ist? Ich muß unbedingt Herrmann fragen.
Sprunghaft schossen ihre Gedanken hin und her.
„Könnte ich wohl von hier aus telefonieren?“ Alexander von Hohenstein streckte
den Kopf zur Tür herein.
„Natürlich, Alexander, gehen Sie nach nebenan in die Rezeption, drücken Sie die
rote Taste, damit erhalten Sie die Freigabe.“
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Formvollendet bedankte sich Corinnes Bruder: „Vielen Dank für Ihre Freund lichkeit!“ Nach mehrmaligem Läuten wurde am anderen Ende der Hörer abgenommen und von Hohenstein sagte: „Guten Tag, Mutter, hier spricht Alexander.“ *** Jo Steinberg stand auf dem Friedhof und legte einen Strauß Chrysanthemen auf das Grab. Es waren noch drei Tage bis Allerheiligen und die übrigen Gräber be reits geschmückt. Das Grab, vor dem Jo stand, war karg bepflanzt und die letzten Blumengaben bereits vollkommen verblüht. Jo sammelte die alten Stiele auf und legte sie zur Seite. Dann zündete sie eine Kerze an und stellte sie in die Laterne. Dabei fiel ihr Blick auf die Grabinschrift, die in schlichten schwarzen Lettern informierte, daß hier Monique Delgado zur letzten Ruhe gebettet war, die von 1955 bis 1992 gelebt hatte. Jo Steinberg dachte nicht an Monique. Ihre Gedanken waren bei Corinne. In den vergangenen Tagen nach ihrem Verschwinden hatte Jo oft an sie gedacht. Was war sie doch für ein dürres, verschrecktes Mädchen gewesen, als sie sie das erste Mal gesehen hatte... *** „Entschuldigen Sie bitte, sind Sie zuständig für...?“ Jo Steinberg sah von ihrem Schreibtisch auf. Vor ihr stand ein schmales, etwa vierzehnjähriges Mädchen mit langen, wirren Haaren, die unentschlossen und schüchtern auf ihrer Unterlippe kaute. In der rechten Hand schwenkte sie einen kleinen Rucksack aus Lederflicken. „Zuständig für wen?“ „Nun, ich weiß nicht genau. Es ist alles irgendwie recht kompliziert.“ „Nun, setz dich erst einmal und erzähle, was dich bedrückt!“ Jo stand auf und führte das Mädchen zu dem niedrigen Tischchen mit den bequemen Rattanses seln. Zögernd ließ sich Corinne nieder. „Wie heißt du denn?“ „Corinne Delgado.“ „Gut, Corinne, und warum kommst du jetzt zu uns ins Jugendamt? Hast du irgend welche Schwierigkeiten?“ „Nein, ich nicht, es betrifft mehr meine Mutter.“ „Ja? Was ist mit deiner Mutter?“ 166
Corinne zögerte lange. Dann stand sie auf. „Nichts. Es ist nichts! Ich – ich glaube
nicht, daß ich hier richtig bin. Vielen Dank und entschuldigen Sie“ Corinne
wandte sich zum Gehen.
Jo erhob sich ebenfalls. „Gut, Corinne, es ist deine Entscheidung. Aber wenn du
glaubst, daß ich dir irgendwann einmal helfen kann, dann rufe mich an! Hier hast
du meine Karte.“ Jo zog eine Schublade auf und entnahm ihr eine Visitenkarte.
Abwartend hielt sie sie in der ausgestreckten Hand. Corinne schien nichts gehört
zu haben und ging entschlossen weiter zur Tür. Doch plötzlich wurden ihre
Schritte langsamer, zögernd drehte sie sich um und kam zurück. Mit niederge
schlagenen Augen nahm sie die Karte, steckte sie in ihren Rucksack und lief zur
Tür. Dann war sie fort.
Knapp zwei Monate später erhielt Jo einen Anruf. Ein junge Stimme am Rande
der Hysterie fragte nach Jo Steinberg.
„Ich bin am Apparat, wer spricht?“
„Delgado, erinnern Sie sich, Corinne Delgado.“ Jo hatte Mühe, die schluchzende
Stimme zu verstehen. „Natürlich erinnere ich mich an dich, Corinne. Schön, daß
du auch an mich gedacht hast. Offenbar hast du Schwierigkeiten. Wie kann ich
dir helfen?“
„Meine Mutter... sie liegt im Bett und ich kann sie nicht wach bekommen!“
„Solltest du da nicht besser einen Arzt holen?“
„Nein, nein, nein, das darf ich nicht! Mam hat mir streng verboten, einen Arzt zu
holen. Ich habe niemanden sonst. Ich glaube, meine Mutter ist – ist süchtig.“ Die
Stimme kippte.
„Corinne, hör mir zu! Hörst du mich? Corinne?“
„Ja.“
„Atmet deine Mutter noch?“
„Oh ja, sie schnarcht ganz laut! Aber wenn ich sie rüttle, reagiert sie nicht, sie
schnarcht nur weiter.“
„Okay, dann ist es wahrscheinlich ein Drogenrausch. Corinne, sag mir, wo du
wohnst, ich komme zu dir!“
Das Schluchzen war abgeebbt. Corinne nannte die Adresse, Uhlandstraße 107,
3.Stock.
„Gut. Das ist nicht allzu weit entfernt. Bleibe, wo du bist, ich bin gleich bei dir!“
Als Jo zum ersten Mal die drei Stockwerke des grauen Hauses hinaufstieg, ahnte
sie nicht, wie viele Male sie dies noch tun würde.
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Corinne stand bereits in der offenen Tür und führte Jo durch ein hübsches, saube
res Wohnzimmer in ein Schlafzimmer, in dem das totale Chaos herrschte. Kleider
lagen verstreut, die Schubladen der Kommode waren zum Teil herausgezogen
und überall verbreitete sich der süßliche Duft von Parfum, der offenbar etwas
anderes überdecken sollte. Monique Delgado lag auf dem Bett, hatte die Augen
geschlossen und schnarchte laut. Ihre beiden Unterarme, die auf der blutbefleck
ten Bettdecke lagen, waren mit Einstichen übersät.
Jo war eine praktische Frau. Der Zustand von Corinnes Mutter schien nicht le
bensgefährlich, also beruhigte sie das Mädchen und schlug vor, gemeinsam erst
einmal Ordnung zu schaffen. Corinne schien einverstanden, blickte aber immer
wieder besorgt zu der schnarchenden Gestalt. Als sie die Bettwäsche wechselten,
kam Monique Delgado kurz zu sich, schlief aber gleich wieder ein. Nach kurzer
Zeit war das Zimmer wieder ordentlich und sauber und glich somit der übrigen
Wohnung, wie Jo mit Zufriedenheit feststellte. Dann setzten sich die beiden ins
Wohnzimmer.
Vorsichtig begann Jo: „Wie lange geht denn das schon so mit deiner Mutter?“
„So schlimm war es noch nie. Aber es gab immer wieder Zeiten, wo Mam ir
gendwie abgedreht war.“ Corinne schien sich beruhigt zu haben. Sie berichtete
nun fast gleichgültig. „Das kenne ich schon sehr lange. Seitdem ich zur Schule
gehe. Aber im letzten Jahr wurde es immer schlimmer.“
„Wie alt bist du, Corinne?“
„Vierzehn.“
„Es wäre das beste, deine Mam in eine Entziehungsanstalt zu bringen!“
„Nein! Keine Klapsmühle! Nicht meine Mam!“ Corinne brach in Tränen aus.
„Beruhige dich, das ist keine Klapsmühle. Heute sind diese Kliniken spezialisiert
auf Drogenabhängige.“
„Mam wird nie einverstanden sein.“
„Hast du bereits mit ihr gesprochen?“
Corinne zögerte. „Nein, aber ich weiß es.“ Hilflos schüttelte sie den Kopf, daß
die langen Haare flogen.
„Nun gut, wenn sie nicht will, kann man sie nicht zwingen. Aber ich würde dir
raten, mit deiner Mutter zu sprechen.“
In diesem Moment öffnete sich die Schlafzimmertür und Monique tauchte auf.
Sie schien noch etwas wackelig und hielt sich am Türrahmen fest, war aber wie
der einigermaßen klar. Jo bemerkte, daß die weiten Ärmel ihres Negligés sorgfäl
tig an den Handgelenken zusammengebunden waren, so daß die entstellten Un
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terarme verhüllt blieben. „Wir haben Besuch? Corinne, mein Schatz, willst du mich der Dame nicht vorstellen?“ Corinne saß starr und blaß, unfähig sich zu rühren. Jo erhob sich. „Guten Tag, Frau Delgado. Ich freue mich, Corinnes Mutter kennen zu lernen. Mein Name ist Jo Steinberg und Corinne und ich sind schon seit fast zwei Monaten befreundet!“ Erleichtert atmete Corinne langsam aus. Monique aber hatte bereits das Interesse verloren. „Schön, schön. Meine Tochter hat sehr wenig Freunde. Wunderbar, Sie hier zu haben. Sag mal, Schatz, weißt du, wo die Kopfschmerztabletten sind? Ich dachte, ich hätte welche.“ „Mam, ich hol dir die Tabletten. Geht es dir wieder gut?“ „Wieder gut? Was zum Teufel meinst du mit 'wieder gut'? Es ging mir nie besser! Wenn nur diese verdammten Kopfschmerzen nicht wären.“ Mit einem gequälten Stöhnen faßte sich Monique an die Schläfe. „Schätzchen, sei so gut, ja? Ich leg mich noch etwas hin, bis die Schmerzen besser werden“ Dann fiel ihr Blick auf Jo. „Wissen Sie, manchmal habe ich unerträgliche Migrä ne! Seit Jahren schon! Einfach mörderisch, diese Anfälle“ Ihre Stimme verlor sich und schleppenden Schrittes ging Monique Delgado ins Schlafzimmer zurück. Das war Jos erstes Zusammentreffen mit Corinne und ihrer Mutter, dem viele weitere folgen sollten. Hartnäckig weigerte sich das Mädchen, ihre Mutter in eine Psychiatrie einweisen zu lassen, und da Monique selbst jede Andeutung ihrer Sucht als böswillige Unterstellung abtat, war keine Chance, sie in eine Klinik zu bringen. Jo war immer wieder hin- und her gerissen zwischen ihrer Aufgabe als Vertreterin des Jugendamtes und ihrer Zuneigung zu Corinne, die tapfer ver suchte, ihre kleine Welt zusammenzuhalten. Das schien das Mädchen gut zu mei stern, sie war nicht verwahrlost und hing mit rührender Liebe an ihrer Mutter. Also half Jo, wo sie konnte. *** Jo bückte sich und sammelte die verblühten Blumen auf. Sie warf einen letzten Blick auf das Grab und plötzlich stiegen Ärger und Zorn in ihr hoch. „Du ver dammte, kaltherzige, egoistische Kokserin! Glaub ja nicht, daß ich deinetwegen komme. Ich mache es für Corinne! Sorge dafür, daß ihr nichts passier ist! Ich drehe dir den Kragen um, wenn du deine Tochter ruiniert hast!“ Wütend schmiß sie die verwelkten Blumen in eine Ecke und lief zum Ausgang. Erst als sie im Auto saß, wurde ihr bewußt, daß Monique Delgado, zu diesem Zeitpunkt bereits seit drei Jahren tot, wohl kaum von ihrer Drohung zu beeindrucken war. Nun mußte Jo über sich lachen. 169
Als sie startete, hatte sie einige Mühe, sich auf ihre nächste Aufgabe zu konzen trieren. *** Corinne konzentrierte sich darauf, wieder hinter ihre Mauer des Schweigens zu rück zu schlüpfen. Was jedoch bei den meisten anderen Leuten, insbesondere bei Vater und ihrer Stiefmutter, hervorragend gelang und die vielfältigsten Wirkun gen von Wutausbrüchen bis Schulterzucken provozierte, schien bei Dr.Schäuble nicht so leicht zu sein. Wenn er einen so ansah wie eben jetzt, mitfühlend und wissend, freundlich und abwartend, war man machtlos. Corinne versuchte es noch einmal. „Ich habe nicht zugehört. Wie war doch gleich Ihre Frage?“ „Mein liebes Fräulein Delgado...“ „Corinne bitte!“ „Also, schön, Corinne bis jetzt konnte ich keinerlei Defizite an Ihrem Hörvermö gen feststellen! Einen niedrigen Blutdruck und eine Kreislaufschwäche, die diese kurze Ohnmacht hervorgerufen hat, konnte ich diagnostizieren. Aber die Ohren sind o.B.!“ Schäuble zwinkerte. Corinne war noch nicht bereit zu kapitulieren. „Was heißt o.B.?“ „Und mir versucht man immer einzureden, die heute Jugend sei so fortschritt lich!“ Schäuble seufzte mit Betonung. „o.B. heißt 'ohne Befund', junge Dame, und an Ihnen ist es jetzt zu sagen, 'Oh! Das habe ich nicht gewußt!', womit wir diese intelligente Diskussion beenden und wieder zu meiner Frage zurückkehren können. Einverstanden?“ Wieder zwinkerte Schäuble. Corinne mußte lachen. Mit einem Seufzen legte sie sich zurück und zog die Bett decke ans Kinn. „Sie haben mich gefragt, ob ich eine Erklärung für meinen Ohnmachtsanfall habe. Nein, eigentlich nicht.“ „Aha! Hatten sie diese Kreislaufschwäche schon öfter?“ „Nein, eigentlich nicht.“ Wieder seufzte Schäuble. „Vielleicht sollten wir uns über die einschränkende Bedeutung des Wortes 'eigentlich' unterhalten, aber lassen wir das für den Au genblick. Ist das Ihr Freund?“ Schäuble deutete auf die Tür, durch die Alexander verschwunden war. „Alex? Gott, nein, das ist mein Bruder. Halbbruder, um genau zu sein.“ Ihre Stimme verebbte. Schäuble wußte, daß er geduldig vorgehen mußte. Der dünne Faden des Gesprä ches konnte jeden Augenblick reißen und die junge Frau wieder in ihre stumme 170
Zurückgezogenheit flüchten. Es war schwierig genug, dieses Gespräch anzukur
beln. Er schwieg und sah sie freundlich an.
Corinne atmete tief ein und ihre Stimme wurde tonlos. „Meine Mutter ist tot, vor
drei Jahren gestorben, und seit der Zeit lebe ich bei meinem Vater und dessen
Frau!“
Schäuble ließ dieses Thema fallen. „Haben Sie in letzter Zeit eine Blutuntersu
chung machen lassen?“
Corinne sah alarmiert hoch und stotterte: „WWWieso?“
„Weil man in Ihrem Alter nicht einfach umfällt wie ein Kegel! Sie werden doch
einen Hausarzt haben, dort wo Sie wohnen, oder? Wo, sagten Sie, kommen Sie
beide her?“
„Ich sagte noch gar nichts, aber wir kommen aus Berlin!“
„Na, da gibt es sicher ein oder zwei Ärzte, könnte man vermuten. Nach Ihrer
Rückkehr sollten Sie schleunigst einen Test machen lassen!“
„WWWas für einen TTTest???“
Aufmerksam sah Schäuble die Patientin an. Woher diese Panik? „Für jemanden,
der aus der Großstadt kommt, sind Sie, was medizinische Dinge anbelangt, be
merkenswert uninformiert, mein liebes Kind! Gibt es einen Grund, warum Sie
solche Angst vor einer Blutuntersuchung haben? Wollen Sie ihn mir nicht anver
trauen?“
Corinne starrte zur Decke. Schäuble faßte sich in Geduld. Aus Corinnes linkem
Augenwinkel rann langsam eine Träne. Ungeduldig wischte sie sie ab und setzte
sich mit einem energischen Ruck auf. „Bitte, Doktor, ich kann jetzt noch nicht
sprechen, vielleicht morgen. Ja, morgen! Können Sie nicht diese Blutprobe neh
men? Bitte!“ Flehend sahen die großen Augen zu ihm auf.
Begütigend drückte der Arzt Corinnes Hände. „Wenn Sie es wollen, selbstver
ständlich. Das ist kein Problem.“ Schäuble entnahm seiner Tasche die entspre
chenden Utensilien und band Corinnes Arm mit dem Stauschlauch ab. Dann zog
er aus der Armvene eine Ampulle voll Blut, verschloß sie und steckte sie in ein
Plastiksäckchen. Nun kreuzte er auf dem beiliegenden Formblatt die entspre
chenden Untersuchungen an. Corinne sah ihm ängstlich dabei zu.
„Doktor?“
„Ja, Corinne?“
„Könnten Sie auch... ich meine, wäre es möglich... was ich sagen will...“ Sie biß
sich auf die Lippen.
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Schäuble sah sie abwartend an. Jetzt kommen wir wohl zum springenden Punkt!
dachte er, sie wird doch nicht einen Aidstest verlangen? und hatte Mühe, seine
Miene ausdruckslos zu halten, als Corinne in diesem Moment tatsächlich sagte:
„Könnten Sie auch einen Aidstest machen lassen?“
„Selbstverständlich, wenn Sie das wollen. Gehören Sie zu einer Risikogruppe?“
Corinne schwieg und starrte zur Decke.
„Ich verstehe, alle weiteren Informationen morgen. Also dann.“ Mit energischem
Schwung kreuzte er die gewünschte Untersuchung an.
„Danke!“ Ganz leise kam es von Corinne.
„Ich wünsche von Herzen, daß dieser Test nur eine Vorsichtsmaßnahme ist, klei
nes Fräulein aber es wäre sehr von Vorteil, wenn Sie möglichst rasch über Ihre
Ängste und Befürchtungen mit jemandem sprechen würden. Die psychische Be
lastung, unter der Sie schon länger zu stehen scheinen, wirkt sich bereits auf Ihre
körperliche Gesundheit aus!“ Ich rede ja bereits wie diese Seelenklempnerin Mo
randell! dachte Schäuble erstaunt. Dann nahm er einen neuen Anlauf in eigener
Sache. „Nun, ich will nicht weiter in Sie dringen Brauchen Sie noch etwas zum
Schlafen?“
Corinne schüttelte den Kopf und sah Schäuble an. Ein ganz kleines Lächeln stahl
sich langsam auf ihre Lippen. „Sie sind nett! Ich mag Sie!“
Schäuble brummelte verlegen vor sich hin, stand auf und packte seine Tasche
zusammen. „Ich komme morgen nach meiner Sprechstunde wieder, das ist –
wenn alles gutgeht – so gegen zwei. Mit etwas Glück haben wir dann bereits das
Testergebnis. Paßt Ihnen das?“
Corinne lächelte gequält. „Doktor, ich bin hier. Ganz bestimmt! Wo sollte ich
sonst sein?“
Dann drehte sie sich um und zog sich die Decke über den Kopf.
*** Fee saß auf ihrer Couch, hatte die Beine untergeschlagen und blätterte das Tage buch auf. Herrmann hatte sich nicht lange aufgehalten, er wollte zurück in seine Praxis, und Bramerts Putzkolonne war abgezogen. Fee war diesmal mit der gelei steten Arbeit und der vereinbarten Personalanzahl zufrieden, daher wollte sie Bramert noch eine Galgenfrist geben. Mit gerunzelter Stirn begann Fee wieder zu lesen. 30.Oktober 172
Mams Wunden heilen nicht. Die Entzündung, die nach den Antibiotika zurückge
gangen war, ist wieder gekommen und alles ist vereitert. Was soll ich tun? Bitte,
lieber Gott, was soll ich nur tun? Mam ist voll H und Koks und nun hat sie auch
noch ihre alten Happy-Pills ausgegraben, die schon seit Jahren irgendwo ver
steckt sind. Will sie sich umbringen?
Heute die Mathearbeit zurückerhalten – mit einer Zwei! Erstaunlich, aber lieber
wäre mir, Mam ging es besser.
Muß noch die Wäsche machen. Mams Nasenbluten wird immer häufiger. Ich muß
nun beinahe täglich die Bettwäsche wechseln – das Erbe des Koks.
Gestern Mams Tasche durchgeguckt, weiß, daß man das nicht tut, aber ich wollte
es sehen. Da steht es schwarz auf weiß, der Befund des Labors: 'HIV positiv' –
und noch irgendwas Lateinisches. Mam sagte nur, ihr Arzt wollte sie sofort ins
Krankenhaus schicken, aber sie habe abgelehnt.
Alles wie gehabt, Mam ist eisern und durchsetzungsfähig, wenn sie etwas will.
Nur den, den sie wollte, hat sie nicht bekommen, meinen Vater...
Später:
Mit Jo über Aids gesprochen. Natürlich hat sie sofort geargwöhnt, daß es Mam
betrifft, aber ich habe nichts zugegeben. Jo weiß ziemlich gut Bescheid mit die
sen Dingen, sie war früher wohl irgendeinmal in Richtung Medizin, Arzthelferin
oder so. Sie sagte, bis zum Ausbruch der Krankheit können oft Jahre vergehen.
Es hängt davon ab, wie gut die gesundheitliche Verfassung des Infizierten ist.
Klingt wie aus einem Medizinbuch. Was das anbetrifft, habe ich wohl noch eini
ge Zeit bis dahin, aber Mam?
Noch später:
Mit Greta im Kino gewesen und Rick gesehen! Er wollte zu uns rüberkommen,
aber ich habe mich umgedreht. Greta hat gemeint, ich wäre eine arrogante Zicke
und Rick sei doch gar nicht so übel. Wenn sie wüßte! Wahrscheinlich findet mich
Rick nun auch zickig – na gut, das beendet dann etwas, was nie angefangen hat.
31.Oktober
Ein wenig Hoffnung!
Mam geht es besser, die Wunden sehen nicht mehr ganz so schlimm aus und sie
ist heute wieder klar. Ich bete, es geht aufwärts. Dann – ich verspreche es – werde
ich alles daran setzen, daß sie eine vernünftige Therapie bekommt. Vielleicht ist
diese Geschichte auch ein Warnung für sie.
„Corinne? Liebling?
„Ja, Mam, ich bin hier!“
173
„Komm, setz dich ein wenig zu mir! So ist es gut. Wie blaß du bist! Ißt du auch
genug? Ach, Kind, ich wünschte, ich wäre dir eine bessere Mutter gewesen.“
„Mami, nein! Du bist meine Mami und ich habe dich lieb!“
„Liebling! Wenn dein Vater mehr Anstand gehabt hätte... aber ich will nicht
schon wieder mit dieser alten Geschichte anfangen. Hör mir zu. Ich habe dir zwar
oft von deinem Vater erzählt, aber ich habe dir nie seinen richtigen Namen ge
sagt, aber nun ist es Zeit. Dein Vater, Corinne, lebt auch hier in Berlin. Er heißt
Viktor von Hohenstein und hat eine klotzige Firma, Pharmakon oder so ähnlich.
Er ist verheiratet, war es ja auch, als wir uns kennenlernten – aber das weißt du
ja. Er hat einen Sohn, Maximilian oder Antonius oder irgend so ein Name, der
hervorragend zu 'von Hohenstein' paßt! Nun, Kind, was ich dir sagen will: ich
habe heute deinen Vater angerufen!“
„Du hast was? Du hast doch seit mehr als zehn Jahren nicht mehr mit ihm ge
sprochen!“
„Ja, dreizehn, um genau zu sein, du warst damals gerade achtzehn Monate alt, als
diese Geschichte passierte – na egal! War ganz schön erschrocken, der alte Ba
stard, geriet nahezu in Panik! Hat wohl nicht gedacht, noch einmal persönlich von
mir zu hören. Schade, daß wir kein Videotelefon haben, oder wie das Zeug heißt,
wo man den anderen sieht. Ja, was wollte ich? Ach ja, ich habe ihm gesagt, im
Falle meines Todes...“
„Mami! Oh, Mami, du stirbst nicht! Warum solltest du sterben? Du hörst auf mit
dem H und den ganzen Drogen und dann wird alles gut! Mami!“
„Weine nicht, Liebes, natürlich habe ich nicht vor, zu sterben. Ich will schon
deshalb leben, damit dieser alte Bastard noch lange keine Nacht ruhig schlafen
kann, da ich ihn in der Hand habe! Trotzdem habe ich so ein Gefühl! Hör mir
genau zu, mein Kind er wird nach meinem Tod eine Nachricht erhalten, das erle
digen meine Anwälte in Zürich. Wird ja auch mal Zeit, daß die was tun. Er wird
dich dann zu sich holen. Ich habe lange überlegt, aber das ist die einzige Lösung.
Er hat zugesagt und bei all den schlechten Dingen, die ich ihm vorwerfen kann,
hoffe ich doch, daß er diesmal sein Wort hält! Du sagst ja gar nichts?“
„Der Fall wird nicht eintreten, also werde ich nicht zu diesem Mann ziehen!“
„Dieser Mann ist dein Vater, Schatz. Seine Frau wollte dich schon immer haben!
Hat damals ne Menge Druck ausgeübt, damit ich dich nach der Geburt zu ihnen
gebe!“
„Ich hasse sie, ich hasse sie!“
„Kind, du kennst sie ja gar nicht. Sah damals wirklich ganz gut aus, diese Elaine
von Hohenstein. Natürlich reichte sie nie an mich heran, sie ist ja auch ein gutes
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Stück älter als ich, aber gut gepflegt, muß man sagen, schlank, ein wenig herb
vielleicht, aber recht passabel.“
So ging es noch eine ganze Weile weiter, aber ich habe nicht mehr zugehört.
Mam vom Tod sprechen hören – mein Gott, ich war in Panik!
So eine hirnverbrannte Idee, als ob ich jemals in dieses Haus ginge, zu dieser
Frau, die Schuld ist an Mams Schicksal!
Niemals, hörst du, liebes Tagebuch, eher bringe ich mich um! ICH GEHE NIE
MALS ZU MEINEM VATER UND DIESER VERDAMMTEN FRAU.
Ich werde Jo anrufen. Ich muß mit jemandem sprechen!
Mam schläft jetzt, gut!
Jo Steinberg nahm den Hörer ab. Sie erkannte Corinne sofort, die nur mit Mühe
die Tränen unterdrücken konnte und völlig verzweifelt war. Kurz entschlossen
bot sie Corinne an, sie abzuholen. Als sie vor der Haustür der Uhlandstraße 107
anhielt, stand Corinne schon wartend am Gehsteigrand und kroch zitternd ins
Auto.
Zuhause angekommen, verfrachtete Jo sie in einen Sessel, brachte ihr eine Decke
und stellte ihr eine Coke auf den Tisch. Corinne wollte nichts trinken.
„Mams Wunden sehen besser aus. Die Entzündung scheint zurückgegangen.“
Jo saß ihr gegenüber, nippte hin und wieder an ihrer Tasse Tee und wartete ge
duldig. Sie wußte, man durfte Corinne nicht drängen. Mit der Zeit würde sie die
Dinge schon ansprechen, die sie bedrückten.
„Mam redet dauernd vom Tod! Ich weiß nicht, was ich tun soll.“ Corinne
schniefte in ihr Taschentuch, dann gab sie sich einen Ruck. „Mam darf nicht
sterben! Ihretwegen und auch meinetwegen. Ich will nicht zu meinem Vater! Jo,
kennst du einen Viktor von Hohenstein?“
„Nein, nicht daß ich wüßte. Ist das dein Vater?“
„Ja, das sagte Mam heute. Sie spricht oft über ihn, aber noch nie hat sie mir sei
nen Namen gesagt. Etwas war seltsam.“
„An seinem Namen?“
„Nein, etwas anderes. Sie sagte, sie habe ihn in der Hand.“
„Was meinte sie damit?“
„Das weiß ich eben nicht. Sie hat nicht weiter gesprochen. Ich wollte sie noch
fragen, aber da vergaß ich es über das Gerede über ihren Tod. Er lebt auch hier.“
„Hier in Berlin?“
175
„Ja. Er ist verheiratet mit so irgend einer aufgemotzten Zicke, die sich damals
nicht scheiden lassen wollte. Mam sagte, mein Vater hätte alle Hebel in Bewe
gung gesetzt, um die Scheidung zu erreichen, aber da sie das Geld hat, konnte er
sich nicht von ihr trennen, ohne alles zu verlieren. Da hat Mam natürlich nicht
mehr darauf bestanden.“
Jo stand auf und ging zum Fenster. Grimmig sah sie in die Nacht hinaus. Jede
Wette, daß du deiner Tochter diese rührselige Geschichte hundertfach erzählt
hast, von deiner Selbstlosigkeit, deiner mütterlichen Hingabe! Und natürlich gab
es da noch die böse Ehefrau, die dann auch noch Schuld war, daß du zum
Rauschgift greifen mußtest! Meine liebe Monique, sollte ich dich einmal bei kla
rem Verstand zu fassen kriegen...
„Ist was mit dir, Jo?“ Corinnes Stimme klang besorgt. Jo drehte sich um und
lächelte.
„Nein, nein, nichts. Erzähl weiter!“
„Nun, viel mehr weiß ich nicht. Mam hat selber eine Menge Geld von ihrem Va
ter geerbt, aber das liegt in Zürich fest. Sie darf nur über die Zinsen frei verfügen
und bar ausbezahlt werden davon wieder nur fünf Prozent. Das ganze Geld wird
in einem Fonds angelegt, den sie erhält, wenn ich fünfundzwanzig bin. Das Ka
pital geht dann an meine Mutter, an meinen Onkel und an mich.“
„Das sind aber harte Bedingungen, wenn deine Mutter und dein Onkel warten
müssen, bis du fünfundzwanzig bist.“
„Das ist nur Zufall. Das Kapital ist auf fünfundzwanzig Jahre gebunden und ich
bin im gleichen Jahr geboren, in dem mein Großvater starb. Mam sagt, er hat vor
seinem Tod noch eine Klausel in sein Testament eingefügt, daß ich die Hälfte
von Mams Geld bekomme, das ist alles.“
„Aha! Dann wirst du ja einmal eine reiche Frau sein!“
„Daran denke ich auch manchmal, wenn jetzt das Geld so knapp wird.“
„Die Drogenabhängigkeit deiner Mutter kostet wohl eine schöne Stange, nicht?“
Corinne seufzte. „Das kann man laut sagen. Sie hat mir vor längerer Zeit schon
die Haushaltsführung überlassen und da habe ich meine Hand drauf. Mit Vaters
monatlicher Rate geht es ganz gut, aber für Heroin und Koks und Ecstasy und die
anderen Muntermacher reicht es eben nicht immer.“
„Daher also deine Fahrten nach Zürich!“
„Ja, Mam gibt mir eine Vollmacht und ich hole das Geld bei der Bank in Zürich
ab.“
„Warum läßt sie es sich nicht überweisen?“
176
„Keine Ahnung, ich habe sie einmal gefragt und sie hat gesagt, die Anwälte
wollen es so. Also ist es so!“
„Aber du verlierst immer einen Tag in der Schule!“
„Da ist nicht viel zu verlieren. Wenn es so weitergeht, schaffe ich die Klasse
sowieso nicht. Hör mal, ich habe in Mathe eine Zwei!“
„Siehst du, dein Pessimismus ist nicht gerechtfertigt!“
„Was die Schule betrifft, vielleicht.“
„Wer beschafft denn die ganzen Drogen?“
„Früher Mam, außer sie war so high, daß sie nicht außer Haus konnte, aber in
letzter Zeit mußte ich sie besorgen. Meine Mutter verläßt nur mehr selten die
Wohnung.“
„Corinne!“ Unwillkürlich hob Jo die Stimme.
„Rege dich nicht auf! Da ist nicht viel zu tun. Der Dealer, den Mam kennt, ist
absolut vertrauenswürdig!“
„Weißt du eigentlich, was du da für einen Blödsinn redest? Wie kann ein Dealer
vertrauenswürdig sein?“
„Ist aber so! Franco verkauft Mam schon seit Jahren alles, was sie will, und es ist
OK. Ich sollte jetzt besser gehen. Wie spät ist es?“
„Zwölf vorbei!“
„Schon so spät? Jo, ich muß nach Hause. Wenn Mam aufwacht und ich nicht da
bin, macht sie sich sicher Sorgen!“
Jo dachte sich ihren Teil, schwieg aber und brachte Corinne nach Hause.
Später:
Mit Jo zu sprechen, hat gut getan, habe ihr die Geschichte von meinem Vater und
seiner beschissenen Frau erzählt. Dicht gehalten bezüglich der Aids-Sache! Kann
noch nicht darüber sprechen. Jo hat nicht viel gesagt, klingt ja auch ziemlich
verworren, das Ganze! Mams Geld in Zürich, an das sie nicht ran kann. Mein
Vater, der zwar regelmäßig zahlt, aber sich nie um mich gekümmert hat – na was
soll's. ICH GEHE SOWIESO NIE DAHIN!!!!!!
20.Dezember
Mam wie gehabt, zuerst Koks, dann H, dann irgendwas, wenn sie dazu noch fähig
ist.
Es geht ihr offenbar besser, denn sie ist wieder viel unterwegs. Es ist, als müsse
sie das letzte halbe Jahr, wo sie sich nicht mehr vor die Tür gerührt hatte, aufho
len.
177
Ich habe ganz vorsichtig versucht, ihr beizubringen, daß sie ein potentieller Überträger einer tödlichen Krankheit ist, sich die Männer also besser vom Leib hält, aber sie hat mich nur mit ihren großen Augen angesehen und gesagt: „Schätzchen, findest du nicht, du gehst etwas zu weit? Schreibe ich dir deinen Umgang vor? Na also!“ Also schweige ich. 21. Dezember Letzter Schultag geschafft! Greta fährt in den Ferien nach Tirol! Beneidenswert!
Sie versucht schon seit Jahren, Schi fahren zu lernen.
Später:
Mam ist wieder auf Tour
2 Uhr 30 nachts
Komme eben vom Krankenhaus. Mam ist auf der Straße zusammengebrochen
und mußte eingeliefert werden! Bitte, lieber Gott, laß alles gut werden. Bitte du
mußt einfach!
23.Dezember
Mam ist immer noch auf der Intensivstation. Niemand sagt mir Genaueres, nur
daß es ernst sei. Was hat sie nur? Sie ist so blaß, nicht ansprechbar! Was soll ich
tun?
Jo ist über Weihnachten auf Teneriffa.
Wer hilft mir?
Morgen ist Heiligabend
26.Dezember
Weiß nichts mehr alles ist wirr!
16. Januar 93
Mam ist am 26. Dezember gestorben. Ich habe keine Tränen mehr!
Ich bin jetzt bei meinem Vater und seiner Frau. Jo meint, es müsse so sein. Jo
sagt, sie will sich weiter um mich kümmern. Jo ist mein einziger Halt. Ich will
nicht mehr leben, aber das werde ich auch nicht mehr lange!
Bis dahin muß ich nur noch eine Sache erledigen!
Ich will wissen, woran Mam starb!
178
Ein kurzes Pochen an der Tür. Fee blickte verwirrt hoch, dann legte sie das Buch
zur Seite und ging zur Tür. „Herr von Hohenstein, kann ich Ihnen behilflich
sein?“
„Alexander, bitte nennen Sie mich Alexander! Ich werde abreisen. Wenn Sie so
freundlich wären, mir die Rechnung fertig zu machen?“
„Selbstverständlich! Ihre Schwester?“
„Corinne bleibt noch hier, wenn das möglich ist. Sie weigert sich, nach Hause
zurückzukehren. Ich habe mit meiner Mutter gesprochen und kann nicht länger
bleiben. Ich muß zurück. Corinne ist damit einverstanden und ich weiß sie ja hier
gut aufgehoben!“ Mit einem charmanten Lächeln breitete Alexander von Hohen
stein die Hände aus.
„Ganz wie Sie wünschen, Alexander. Wenn Sie einen Augenblick Geduld ha
ben.“
„Gut, ich hole in der Zwischenzeit meinen Koffer. Fee, würden Sie die Freund
lichkeit besitzen, mir ein Taxi zu rufen?“
„Selbstverständlich gerne. Es wird in etwa fünfzehn Minuten hier sein.“
„Herzlichen Dank! Bin gleich zurück!“
Dieser Dialog, dachte Fee, könnte glatt aus einem Benimm-Buch stammen, rich
tiggehend formvollendet. Dieser aalglatte Fatzke! Fee kochte innerlich. Das hin
derte sie jedoch nicht daran, die Rechnung fertig zu stellen. Dann schweiften ihre
Gedanken wieder zu Corinne. Diese arme Kleine, jetzt läßt sie auch der Bruder
im Stich. Vielleicht ist sie aber auch besser dran, wenn ihr tugendhafter Bruder
wieder abschwirrt! Bin ich gespannt, was das Tagebuch noch alles an unerfreuli
chen Überraschungen zu bieten hat. Hoffentlich braucht dieser Lackaffe nicht
allzu lange für sein Gepäck. Mit einem energischen Kringel beendete Fee ihre
Unterschrift und heftete die Belege an das Rechnungsformular.
Alexander von Hohenstein schien über seine blendenden Manieren hinaus noch
Gedanken lesen zu können, denn in wenigen Minuten war er wieder zurück, hatte
die Rechnung bezahlt und stieg in das wartende Taxi. Er schien beinahe zu
flüchten.
Fee schloß die Eingangstüre und eilte ins Wohnzimmer, wo sie das Tagebuch
wieder aufnahm
*** Alexander von Hohenstein teilte Fees Eindruck, er sei auf der Flucht. Die Dinge waren ihm über den Kopf gewachsen. Erst dieser unverständliche, ja aberwitzige Auftrag von Corinne, ihr Tagebuch einer völlig Fremden zu überlassen und ihn, 179
den eigenen Bruder, nicht einzuweihen! Dann der Schreck, den ihm seine Schwe ster durch ihren Kreislaufkollaps eingejagt hatte, obwohl er darüber nicht erstaunt zu sein brauchte. Was hatte sie schon gegessen in den letzten Tagen? Zum Früh stück Kaffee mit Zigaretten – Alexander mißbilligte diese Schwäche sowieso – und zum Mittagessen Zigaretten und Kaffee. Einzig am Abend war sie dazu zu bewegen gewesen, etwas zu sich zu nehmen, die Alternative war jedoch nicht berauschend. Vor dem Kaffee und der Zigarette gab es Salat oder Fisch und ein oder zwei Brötchen. Dann hatte sie ihn fortgeschickt! Einfach so. „Alex, bitte fahre nach Hause! Ich möchte allein sein! Danke, daß du mich begleitet hast. Es gab mir ein Stück Si cherheit. Aber jetzt brauche ich dich nicht mehr. Also kannst du das tun, was du schon lange tun wolltest – heimfahren!“ Das war’s! Damit hatte sie sich unter ihre Decke verkrochen und war unerreichbar für ihn geblieben. Unerreichbar wie schon so lange, wie schon fast drei Jahre lang. Alexander hatte sich bemüht. Er liebte es, eine Schwester zu haben, und er liebte Corinne. Aber sie blieb ihm im mer rätselhaft. Manchmal war sie von einer ausgelassenen Fröhlichkeit, die ihn mitten ins Herz traf und die Sehnsucht erweckte, auch einmal so unbeschwert und heiter sein zu können. Meistens war sie aber schweigsam und abweisend. Vater gegenüber benahm sie sich abwartend kühl und wie sie Mutter oft behandelte, einfach schändlich! Aber wie süß sie doch manchmal sein konnte! Alexander schüttelte den Kopf. Er würde sie nie verstehen. Das Taxi hielt vor dem Bahnhof in Sigmaringen und Alexander löste eine Fahr karte. Er hatte Glück. Der letzte Regionalzug war eben eingefahren und er würde den Anschlußzug nach Stuttgart erreichen. Dann würde er fliegen. So schnell wie möglich zurück nach Berlin! Er würde Mutter einiges zu erklären haben, wo er doch selbst keine Erklärungen hatte. Ach ja, und zum Schluß hatte Corinne ihn noch gebeten, niemandem zu sagen, wo sie sich aufhält. „Alex, bitte! Wirklich niemandem! Weder Vater, schon gar nicht meiner Stiefmutter. Wenn Jo anruft, sag ihr, ich würde mich in Kürze bei ihr melden, aber bitte, bitte Alex! Wenn dir an mir nur ein ganz klein wenig liegt, sag niemandem, wo ich bin, ja?“ Und Alexander hatte, froh der düsteren Stim mung entrinnen zu können, leichten Herzens zugestimmt. Jetzt überlegte er, ob er nicht doch vorschnell gehandelt hatte. Nun, wir werden sehen. Endlich setzte sich der Zug in Bewegung. Alexander nahm sich vor, so schnell nicht wieder in das Land der Schwaben zu kommen. *** Elaine von Hohenstein öffnete die Türe und bat Jo Steinberg herein. Die Sozi alarbeiterin folgte der schlanken, eleganten Gestalt in ein exquisit möbliertes 180
Zimmer mit heller Ledergarnitur und weißem Flauschteppich. Die ganze Ein richtung zeugte von Geschmack und Geld. Jo fühlte sich etwas unbehaglich und nahm zögernd auf dem tiefen Ledersofa Platz. Elaine fragte nach Jos Wünschen, aber Jo dankte, sie wollte nichts trinken. Neu gierig sah sie Corinnes Stiefmutter an. „Liebe Frau Steinberg.“ Die Stimme Elaines war leise und moduliert und schon am Telefon hatte Jo den Eindruck eines leichten Akzentes gehabt, konnte ihn aber auch jetzt nicht zuordnen. „Ich danke Ihnen, daß Sie so schnell gekommen sind. Es ist mir unter diesen Umständen nicht leichtgefallen, Sie anzurufen. Mei ne Beweggründe könnten als gekränkte Reaktion einer an der Erziehung ge scheiterten Stiefmutter mißdeutet werden. Trotzdem“, sie hob die perfekt mani kürte Hand und schnitt Jos Einwand ab, „gestatten Sie mir noch einen Augen blick, trotzdem möchte ich Sie von einigen Dingen in Kenntnis setzen, die Corin ne betreffen. Vorab erlauben Sie mir aber noch, Ihnen ein paar Fragen zu stellen, von denen ich hoffe, daß Sie sie beantworten werden, liebe Frau Steinberg!“ Jo runzelte leicht die Stirn und beobachtete Elaine. War es nicht teuflisch an strengend, sich so gewunden auszudrücken? Jo entschied sich für die direkte Va riante: „Wenn ich sie beantworten kann, gerne!“ Elaine betrachtete ihre makellosen Fingernägel der rechten Hand, schnippte ein paar Mal mit dem Daumen am Nagel des Ringfingers und streckte dann die Hand von sich, als wollte sie sich von der Vollkommenheit der Maniküre überzeugen. Dann seufzte sie und stand auf. Sie trat zum Fenster und sah hinaus. „Schreck lich, diese Baustelle. Das alte Hotel hatte wenigsten einen gewissen Charme, aber dieser neue Glaspalast mit dem unglaublichen Namen 'Maritim', den sie nun vor unsere Nase stellen... Wissen Sie, wir haben diese Wohnung nach der Wende zurückerhalten und benützen sie nun als Stadtwohnung. Mein Mann ist ja viel lieber in unserer Villa in Grunewald, aber ich schätze die Nähe zum ehemaligen ostdeutschen Zentrum, Friedrichstraße, Unter den Linden. Es erweckt alte Erin nerungen. Mein Vater war Botschafter in Ostberlin und ich habe sechs Jahre meiner Kindheit hier verlebt.“ Elaine ging zurück zu Jo und nahm ihr gegenüber wieder Platz. „Es fällt mir schwer, anzufangen. Bitte entschuldigen Sie diesen Ausflug in die Vergangen heit. Ich wollte Sie fragen, ob Sie etwas von Corinne gehört haben?“ „Nein, nicht direkt. Bevor ich hierher kam, war von ihr eine Nachricht auf mei nem Anrufbeantworter. Corinne sagte, es ginge ihr gut und sie würde sich mor gen wieder bei mir melden. Wissen Sie, wo sie ist?“ 181
„Nein. Mein Sohn hat angerufen und mitgeteilt, er würde heute Nacht zurückkeh ren. Corinne wäre noch dort geblieben, wo immer das ist, und er dürfe niemanden den Aufenthaltsort mitteilen. Haben Sie eine Erklärung für dieses sonderbare Verhalten?“ Jo überlegte. Ihr war noch immer nicht klar, worauf Elaine von Hohenstein hin auswollte, daher entschloß sie sich, ein wenig zur Unterhaltung beizutragen. „Nein, dieser spontane Entschluß ist mir rätselhaft, obwohl Corinne immer schon zu spontanen Entschlüssen neigte.“ „Das kann ich in der Tat bestätigen. Sehen Sie, Frau Steinberg, die Situation ist etwas peinlich. Corinne hat bestimmt nie ein gutes Haar an mir gelassen und ich kann auch nicht sagen, daß ich überglücklich war, als mein Mann mir seine Tochter ins Haus brachte. Andererseits wußte ich seit langem von Corinnes Exi stenz. Nach ihrer Geburt wollte Viktor seine Tochter adoptieren, aber Monique war dagegen. Ich nahm damals an, um ein Druckmittel gegen meinen Mann in der Hand zu haben.“ Wieder schwieg Elaine von Hohenstein und sah versonnen auf ihre Hände. Dann fuhr sie fort. „Leider hat Corinne durch ihre Vorurteile das Zusammenleben nicht gerade einfacher gestaltet und ich war offenbar unfähig, mit meiner Art zu ihr durchzudringen. Mein Standpunkt war, mit gelassener Di stanz abzuwarten, ob sich Corinnes Einstellung mir gegenüber noch ändern wür de, aber das war leider nicht der Fall. So blieben die Fronten verhärtet. Unglück licherweise hat mein Mann ein ziemlich cholerisches Temperament und war sei nerseits immer wieder bestrebt, zwischen uns so etwas wie friedliche Koexistenz zustande zu bringen. Das endete meist in einem Riesenkrach, der zur Folge hatte, daß Corinne sich weiter zurückzog und zuguterletzt mischte auch noch Alexander mit. Glauben Sie mir, Frau Steinberg, die letzten drei Jahre waren ziemlich tur bulent!“ Jo stimmte verständnisvoll zu: „Oh ja! Das kann ich mir lebhaft vorstellen!“ „So viele Eigenheiten und störrische Verhaltensweisen Corinne auch an den Tag legte, hatte sie durchaus auch ihre positiven Seiten. Sie war in der Schule sehr gut, schloß das Abitur mit einem Durchschnitt von 1,3 ab und vor allem war sie verläßlich. Wenn sie etwas versprach, konnte man sich darauf verlassen. Das Problem war mehr, sie zu einem Versprechen zu bringen...“ Diesmal drehte Elai ne am Ring ihres rechten Mittelfingers. Wieder dauerte es eine ganze Weile, bis sie fortfuhr. „Corinne war viel unterwegs. Es gelang mir nie, sie dazu zu bewegen, zu sagen, wo oder mit wem sie zusammen war. Mir kamen diese Ausflüge immer etwas seltsam vor, da außer Ihnen und einer gewissen Greta niemand jemals bei uns 182
anrief und nach Corinne fragte. Ihr Freundeskreis scheint über diese zwei Perso
nen nicht hinauszugehen. Wissen Sie Näheres?“
Jo zögerte. So gelassen und kühl Elaine von Hohenstein wirkte, so machte sie
sich doch offensichtlich Sorgen. Andererseits wollte Jo nichts preisgeben, was
Corinne ihrer Stiefmutter wahrscheinlich verschwiegen hatte, also blieb sie un
verbindlich. „Greta ist eine alte Schulfreundin von Corinne, ich habe sie mehr
fach getroffen. Ein nettes, unkompliziertes Mädchen, das aber ihre eigene Clique
hat, die Corinne nie interessierte. Dann wäre da vielleicht noch...“ Jo verstummte.
Elaine blickte hoch und sah Jo forschend an. „Ich sehe Ihr Dilemma, Frau Stein
berg, und verstehe Sie. Aber auch ich bin in einer Zwickmühle. Corinne ist ein
Mitglied meiner Familie und durch die Stellung meines Mannes und sein Vermö
gen sind wir potentielle Opfer für Kidnapper und kriminelle Elemente. Die Ab
wesenheiten von Corinne nahmen im letzten Jahr deutlich zu. Wie gesagt, sie
lebte weitgehend ihr eigenes Leben und war ja auch schon achtzehn. Trotzdem
machte ich mir Sorgen, ihretwegen und unseretwegen. Daher habe ich einen Pri
vatdetektiv beauftragt, Corinne zu überwachen. Ich wollte wissen, wo sie war,
mit wem sie Umgang hatte, ob Drogen im Spiel waren und ob sie sich oder uns in
Gefahr brachte. Verstehen Sie das?“
Jo schwieg.
Elaine wartete eine Weile, aber Jo hatte offenbar nicht die Absicht, diese Frage
zu beantwortet. Schließlich fuhr Elaine fort. „Das wirft kein besonders gutes
Licht auf mich, nicht wahr? Aber sehen Sie, mit meinem Mann konnte ich nicht
darüber sprechen. Er tat meine Ängste als typisch weibliches Dramatisieren übli
cher pubertärer Verhaltensweisen ab. Das war es aber nicht, Frau Steinberg, denn
als ich die ersten Berichte erhalten hatte, schienen sich meine Befürchtungen zu
bestätigen“
„Corinne und Drogen? Niemals! Frau von Hohenstein, das glaube ich unter kei
nen Umständen!“ Jos Stimme war fest und ein wenig ärgerlich.
Elaine schwieg und betrachtete wieder ihre Hände. Dann sah sie hoch. Als sie
weiter sprach, wurde klar, daß sie Jo nicht gehört hatte. „Zuerst dachte ich, Co-
rinne sei süchtig, denn sie war immer wieder in einem diesbezüglich bekannten
Lokal am Bahnhof Zoo. Der Detektiv sah sie mehrmals in der Woche hineinge
hen, aber mit der Zeit wurde klar, daß Corinne nicht an Drogen interessiert war.
Ihr Interesse galt einer bestimmten Person und dann stellen Sie sich vor, Frau
Steinberg, fand mein Privatdetektiv heraus, daß Corinne sich ebenfalls in dieser
Richtung betätigte!“
Jo riß ihre Augen auf! „Wie? Heißt das, sie verfolgte jemanden?“
183
„Ja, kaum zu glauben, nicht? Wann immer sie Zeit hatte, ging sie in das Lokal
und wartete. Wenn der Betreffende das Lokal betrat, schlich sich Corinne durch
die Hintertür und wartete dann auf sein Erscheinen. Mir wurde berichtet, sie habe
sich dabei gar nicht ungeschickt angestellt. Der Beschattete hatte offenbar nie
etwas bemerkt.“
„Aber wozu? Was wollte sie? Wer war es?“
Elaine stand auf und ging zu dem zierlichen Tischchen in der Ecke. Sie nahm die
Blätter, die darauf lagen, und reichte sie Jo. „Lesen Sie die Berichte des Detek
tivs, ich habe diejenigen ausgewählt, die in diesem Punkt von Belang sind. Der
Name des Mannes steht darin, den Corinne beschattet hat und auch die Namen
anderer Leute.“
Jo hatte sich nicht gerührt, daher legte Elaine die Blätter auf den Tisch. „Vor
etwa vier Wochen, am 1.Oktober, habe ich den Auftrag gekündigt, da ich glaubte,
nun klar zu sehen, daß meine Familie nicht in Gefahr war. Offensichtlich war ich
zu voreilig. Möglicherweise hat Corinne irgend etwas getan oder gesehen, was
sie in Gefahr brachte, und deswegen ist sie aus Berlin verschwunden. Bitte, neh
men Sie die Papiere an sich und lesen Sie sie. Vielleicht sagen Ihnen diese Infor
mationen etwas. Ich glaube, ich habe etwas gutzumachen. Vielleicht war es
falsch, Corinne überwachen zu lassen, vielleicht war es falsch, die Überwachung
abzubrechen. In jedem Fall habe ich falsch reagiert. Ich hätte wissen müssen, daß
diese Dinge nicht ungefährlich sind.“
Jo nahm die Blätter und sah sie flüchtig durch. Zehn Maschinenseiten. Verwirrt
blickte sie hoch. „Was soll ich damit machen?“
„Es sind die Originale, Kopien hat wahrscheinlich noch der Detektiv. Ich nehme
an, die Informationen sind ziemlich gefährlich, also bitte ich Sie, damit vorsichtig
zu sein. Andererseits hoffe ich, daß Sie sie nützen können.“
„Wollen Sie, daß ich Corinne davon informiere?“
„Das überlasse ich Ihnen. Mir wäre wichtig, daß Corinne zurückkehrt. Sollte sie
in Gefahr sein, können wir sie hier viel effizienter schützen. Bitte, Frau Stein
berg, sagen Sie das Corinne. Sie soll zurückkehren um meines Mannes willen und
um meinetwillen“ Elaines Stimme verlor sich. Minutenlang saß sie schweigend.
Jo fühlte sich unbehaglich. Sie hatte immer noch keine blasse Ahnung, was das
Ganze sollte. Elaines Sorgen schienen echt, aber hetzte man einen Detektiv hinter
jemanden her, um den man sich Sorgen machte? Jo hatte den Eindruck, Elaine
wollte etwas an Corinne gutmachen, ohne sich zu sehr aus dem Fenster zu lehnen.
In diesen Kreisen war das vielleicht üblich. Vielleicht will sie aber auch nur das
brisante Material außer Haus haben? Warum verbrennt sie es dann nicht einfach
184
in diesem wunderbaren offenen Marmorkamin? Lauter ungelöste Fragen... Jo stand auf. Im selben Moment erhob sich auch Elaine. „Entschuldigen Sie, ich war abwesend. Sehen Sie, ich habe mich oft gefragt, ob ich nicht überreagiert habe. Vielleicht hätte ich doch intensiver versuchen sollen, Corinnes Vertrauen zu ge winnen. Nun, das ist jetzt vorbei. Sie müssen gehen? Ich danke Ihnen, daß Sie so schnell kommen konnten! Darf ich Sie hinausbegleiten?“ Die elegante Gastgeberin war zurückgekehrt und die in sich gekehrte und nach denkliche Elaine verschwunden. Jo wußte nicht genau, welche der beiden ihr lieber war. Sanft und nachdrücklich schloß Elaine von Hohenstein die Tür hinter Jo Stein berg. *** 7. August 95 Ist es wirklich schon zweieinhalb Jahre her, daß ich in meinem Tagebuch ge schrieben habe? Als ich es heute durchblätterte, kamen wieder die Erinnerungen Nach Mams Tod versuchte ich, die Todesursache zu erfahren. Ich war mehrere Male im Krankenhaus und fiel den Leuten auf den Wecker. Zuerst speiste man mich ab mit Erklärungen wie: Herzstillstand oder: Zusammenbruch der Leber und Nierenfunktionen und so weiter. Ich war zwar noch nie Spitze in Bio, aber das war dann doch zu unglaubwürdig. Wie man mir erzählt hatte, ist Mam aus einem Lokal gekommen, wollte über die Straße, als sie plötzlich zusammenbrach. Ihr Begleiter hat die Rettung verstän digt. Als sie im Krankenhaus ankam, war sie bereits im Koma. Sie ist nicht mehr daraus erwacht. Endlich fiel ich den Stationsärzten so auf die Nerven, daß sie mich zum Oberarzt schickten. Der redete Gottseidank Klartext. „Fräulein Delgado, Sie wollen die Todesursache Ihrer Mutter wissen? Gut – wußten Sie, daß ihre Mutter heroinsüchtig war?“ „Ja“ „Auch daß sie daneben noch Kokain und Ecstasy nahm? Wir fanden auch Pillen in ihrer Handtasche.“ „Ja, auch das.“ „Warum haben Sie nie etwas dagegen unternommen?“ 185
„Sie verstehen nichts! Mam war... einerseits war sie schwach und haltlos und fiel
immer wieder auf Drogen und Männer herein. Andererseits konnte sie keine
Macht der Welt zu etwas bringen, das sie nicht wollte. Nichts unternommen!
Mein Gott, wenn Sie wüßten!“
„Beruhigen Sie sich! Ich wunderte mich nur. Wir fanden auch noch eine
Briefchen Heroin in der Tasche Ihrer Mutter und untersuchten es im Labor. Die
Todesursache war danach klar, Ihre Mutter starb an einer Dosis gepanschtem
Heroin.“
„Was? Das ist nicht möglich! Was... was heißt das?“
„Das heißt, daß in der Probe nur knapp zehn Prozent reines Heroin waren, alles
andere waren Aufputschmittel und Schmerzmittel, also Koffein, Codein und Pa
racetamol, eine absolut tödliche Mischung. Sie sehen mich so entsetzt an!“
„Das ist nicht möglich. Um Himmels willen, das ist nicht wahr! Besteht die
Möglichkeit, daß Sie sich irren?“
„Nein. Wenn Sie möchten, gebe ich Ihnen den Laborbefund.“
Ich war wie betäubt. Der Laborbericht bestätigte die Aussage des Oberarztes. Die
Todesursache war Heroinverschnitt, genau waren 9,35 % Heroin in dem
Briefchen gewesen.
Diesen Stoff hatte ich besorgt. Aber es war nicht meine übliche Quelle gewesen.
Franco saß zu diesem Zeitpunkt gerade in Untersuchungshaft, also schien es mir
der richtige Zeitpunkt zu sein, Mam zu einer Therapie zu überreden.
„Corinne, Schatz bist du zurück?“
„Ja, Mam.“
„Hast du den Stoff? Gib her, ich brauche sofort eine Spritze.“
„Mam, Franco ist im Gefängnis!“
„Im Gefängnis? Warum?“
„Gott, warum wird so jemand wie er im Gefängnis sein? Wahrscheinlich hat er
ein Stoppschild überfahren! Oder kannst du dir eine andere Erklärung vorstel
len?“
„Kein Grund, sarkastisch zu werden. Was mache ich jetzt nur? Ich brauche unbe
dingt einen Schuß! Chico hat mich eingeladen und davor muß ich noch einen
Schuß haben Corinne! CORINNE!!
„Ja, Mam, ich bin hier.“
„Schleich dich nicht immer so davon! Ist ja entnervend. Paß auf, hier in meiner
Tasche muß noch irgendwo eine Adresse sein. Da ist sie. Geh zu dieser Adresse,
186
das Lokal heißt 'Berliner Bär', es ist nicht weit von Francos Bude und frag nach
einem – wie heißt das? Ich kann nicht mal meine eigene Schrift lesen. Corinne,
lies vor, wie heißt dieser Typ?“
„Ich kann es auch nicht lesen. Mam, ich möchte dich etwas fragen“
„Du siehst ja gar nicht hin! Lies jetzt!“
„Ich nehme an, es heißt Bogo oder so ähnlich. Mam, hör zu!
„Bogo, ja ich erinnere mich ein schmaler, dunkelhaariger Ausländer mit einer
Narbe. Hol mir das Zeug!“
„Mam, erst hörst du mir zu!“
„Also, gut! Was hast du auf dem Herzen?“
„Wäre jetzt nicht der richtige Zeitpunkt um auszusteigen?“
„Aussteigen? Was meinst du damit? Nach Kanada auswandern?“
„Mam, bitte du weißt genau, was ich meine, eine Therapie!“
„Nein, mein Schätzchen, jetzt wäre gerade der allerfalscheste Zeitpunkt! Siehst
du, dieser Chico ist ein echter Kerl! Ein superirrer Typ. Er ist zwar elf Jahre jün
ger als ich, aber was macht das. Er liebt mich wirklich! Corinne, diesmal ist es
etwas Ernstes, du wirst sehen. Aber ich kann nicht dahin gehen ohne eine Spritze!
Das geht nicht! Schätzchen, das mußt du einsehen! Jetzt sei ein liebes Kind und
lauf! Hörst du? VERDAMMT HOL MIR DIESEN SHIT UND DANN VON MIR
AUS REDEN WIR ÜBER EINE THERAPIE ABER ZUVOR BRAUCHE ICH
NOCH EIN EINZIGES MAL EINE SPRITZE NUN GEH ENDLICH MUSS ICH
DENN AUF DEN KNIEN VOR DIR BETTELN???“
Das war’s dann, ich ging in Bogos Kneipe und leider war er auch da. Erst war er
mißtrauisch, aber als ich Franco erwähnte, brachte er mir drei Briefchen. Der
Preis war horrend, fast doppelt so teuer wie bei Franco. Aber ich dachte mir
nichts dabei, ich nahm an, es sei wegen des ersten Mals, sozusagen Risikopreis.
Risiko! Das war es!
Ich bin schuld an Mams Tod!
Nach Mams Beerdigung habe ich mich total abgeschottet. Ich ließ nichts zu mir
durch und lebte wie in einem Nebel. Nicht einmal der Gedanke an meine eigene
Krankheit störte mich. Ich achtete nur darauf, mit meiner Umgebung nicht mehr
als nötig in Berührung zu kommen. Ich weiß zwar, wie Aids übertragen werden
kann, aber sicher ist sicher.
Ansonsten war mir alles egal, alles bis auf eines: Ich lebte für den einzigen Ge
danken, Mams Tod zu rächen.
187
Fee schlug das Tagebuch zu und warf es auf den Tisch! Zum Mitgefühl mit Corinne kam auch eine gehörige Portion Ärger auf die Mutter! Diese selbstsüchtige Frau! Wie konnte sie nur ihr Kind so mißbrauchen! Fee eilte in die Küche und goß sich ein Gas Orangensaft ein. Wie spät war es? Schon nach sechs? Fee über legte. Nach der Abreise des Bruders war Corinne sicher nicht gewillt, zum Essen außer Haus zu gehen. Auch hatte Fee es satt, hier unten ein Tagebuch zu lesen, während einen Stock höher die Hauptbeteiligte greifbar war. Soll sie mir doch alles erzählen, statt daß ich mich mit ihrem Tagebuch beschäftige! Vielleicht kann sie sich aber besser schriftlich ausdrücken? Manche Leute schreiben lieber über Dinge, über die sie nicht sprechen können. Na gut, dann werde ich es erfah ren. Jetzt rufe ich erstmals an und frage sie... *** Corinne legte enttäuscht den Hörer auf die Gabel. Jo war noch immer nicht zu Hause. Schade, gerade eben hätte sie gerne mit ihr gesprochen. Wer weiß, ob sie morgen noch einmal den Mut aufbringen würde anzurufen. Sie trat ans Fenster. Der Tag war schön und klar gewesen, jetzt zogen bereits Nebelschwaden vom Süden her auf das Hotel zu und man sah nur mehr die Bäume an der Straße. Irra tionalerweise gab das Corinne ein Stück Sicherheit. Sie sah auf die Uhr. Es war fast halb sieben. Zum ersten Mal seit Tagen meldete sich ihr Magen und ver langte energisch eine wärmende und nährende Mahlzeit. Corinne überlegte, nach Sigmaringen zu fahren und dort zu Abend zu essen, wo sie schon mehrmals mit Alexander gegessen hatte. Das Lokal war freundlich und nicht sehr groß, sehr übersichtlich und man konnte jeden Eintretenden sofort erkennen. Seit ihren Er fahrungen in Sachen Beschattung legte Corinne Wert auf diese Dinge. Anderer seits hatte sie keine Lust auszugehen. Vielleicht könnte sie ja auch hier eine Kleinigkeit zum Abendessen bekommen. Als Corinne eben zum Hörer griff, be gann das Telefon zu läuten. Corinne saß wie erstarrt. Typisch Alex, konnte wieder mal nicht die Klappe hal ten! Voll Angst und Argwohn sah sie den schrillenden Apparat an, rührte sich jedoch nicht. Nach fünfmaligem Läuten verstummte er. Tief atmete Corinne durch. Was jetzt? Wer war das? Wer wußte, wo sie war? Das Telefon schrillte erneut. Mit einem beherzten Schritt trat Corinne auf den Tisch zu und riß den Hörer von der Gabel. „Ja?“ Atemlos lauschte sie. „Fräulein Delgado, ich glaube, ich sage einfach Corinne, wenn Sie einverstanden sind, hier spricht Fee Di Cosimo. Da Ihr Bruder abgereist ist, wollte ich Sie fra 188
gen, ob Sie mit mir zu Abend essen wollen.“ Fees Stimme klang warm und
freundlich.
Corinne atmete tief aus. „Oh ja, vielen Dank, das würde ich sehr gerne! Ich habe
gerade überlegt, wie ich heute noch zu etwas Eßbarem kommen könnte. Sagen
Sie, Frau Di Cosimo haben Sie gerade eben angerufen?“
„Bitte nennen Sie mich Fee Ja, vor nicht mal einer Minute. Aber da sich niemand
meldete, dachte ich, ich hätte mich verwählt. Habe ich Sie gestört?“
„Nein, nein, wirklich nicht, ich war nur gerade, äh beschäftigt.“
Fee wunderte sich über die Erleichterung, die deutlich zu hören war, verkniff sich
aber eine Bemerkung. „Kommen Sie in einer halben Stunde und gehen Sie gleich
in die Stube, das ist die Tür rechts neben der Rezeption.“
„Ich weiß, wo das ist.“ Corinne biß sich auf die Lippen.
Fee wunderte sich erneut, ignorierte aber die Bemerkung. „Haben Sie irgendwel
che besonderen Wünsche?“
„Für das Essen? Nein überhaupt nicht. Bis später!“
*** Dr.Herrmann Schäuble starrte trübselig in seinen Kühlschrank. Die Aussichten waren nicht eben berauschend. Ein halbes Hähnchen, die Gulaschsuppe vom Vortag und zwei Stück Käse boten sich an. Herrmann dachte daran, Fee anzuru fen und sich zum Abendessen einzuladen. Er hatte schon den Telefonhörer in der Hand, als er langsam wieder auflegte. Heute war es keine gute Idee, zu Fee zu fahren. Schäuble wußte, daß er in Gefahr war, mit ihr die Sache Corinne Delgado zu besprechen, die ihm auf der Seele brannte. Doch war klar, daß das unter kei nen Umständen ging. Also würde er wahrscheinlich schweigsam und in sich ge kehrt sein, kein besonders guter Gesellschafter. Auf der Rückfahrt zur Praxis hatte er die ganze Zeit an das junge Mädchen gedacht und woher ihr Verdacht, Aids zu haben, kommen könnte. Offensichtlich war sie nicht drogensüchtig, wahrscheinlich durch Sexualkontakte, aber das hätte sie doch mitteilen können! Sehnsüchtig starrte er wieder das Telefon an. Er sah auf die Uhr. Kurz nach sechs. Er könnte das Labor anrufen, ob die Testergebnisse schon da waren. Er hatte es dringlich gemacht. Er durfte nicht vergessen, Gottfried seinen Lohn zu zahlen. Gottfried, der statt der verordneten drei bereits fünf Kilo abgenommen hatte und rank und schlank in Schäubles Mannschaft spielte, verdiente sich ne benbei ein paar Mark, indem er Botengänge für den Doktor durchführte. Heute mittag hatte er die Blutprobe ins Labor nach Sigmaringen gebracht. Schäuble schlug die Telefonnummer nach und wählte. Nach zehnmaligen Läuten legte er wieder auf. Das Labor war nicht mehr besetzt. 189
Schäuble kehrte zum Kühlschrank zurück und entschied sich für das Hähnchen.
Lustlos an einem kalten Hühnerschenkel kauend dachte Schäuble wieder an Co-
rinne Delgado. Klang irgendwie spanisch, der Name, obwohl Corinne keinerlei
iberische Züge hatte. Aber traurig sieht sie aus, traurig und schwermütig, gar
nicht ihrem Alter entsprechend. Schäuble legte lustlos die halb gegessene Haxe
auf das Teller zurück und stellte beides in den Kühlschrank. Unruhig lief er in der
Wohnung auf und ab und stieg dann in seine Praxis hinunter. Er überprüfte seine
Arzttasche, die tadellos in Ordnung war, und kramte nach einer Zeitschrift. Aber
nichts konnte sein Interesse erwecken. Ärgerlich stopfte er die Hefte wieder in
das Fach zurück. Fast sehnte er sich nach einem dringenden Anruf eines Patien
ten.
Als er wieder in seine Wohnung zurückkehrte, läutete das Telefon. Schäuble
beeilte sich. „Dr.Schäuble.“
„Herrmann ich dachte schon, du bist ausgegangen! Wie geht es dir? Du warst
heute mittag so schnell verschwunden. Geht es dir gut?“
Schäuble schmunzelte zufrieden in sich hinein. Fees Stimme hatte genau den
richtigen Unterton von Besorgnis. „Ich bin hungrig!“
„Ja, weißt du, das ist der eigentliche Grund meines Anrufs!“
Hoffnung keimte auf. „Oh!“
„Erst wollte ich dich fragen, ob du zu mir zum Essen kommst, ich habe Piccata
Milanese vorbereitet und als Vorspeise einen Salat Nicoise.“
„Du machst mir den Mund wäßrig.“
„Ich weiß, Herrmann, es kommt nun aber die kleine Corinne zum Essen und da
dachte ich, daß es vielleicht keine so gute Idee wäre, dich auch dabei zu haben.“
„Deswegen rufst du mich an? Fee, du bist eine Sadistin!“
Fee kicherte. „Ist das eine Vermutung oder eine Diagnose?“
„Eine Gewißheit! Also, wirklich! Unverschämtheit!“
„Herrmann, Lieber, ich weiß. Außerdem wollte ich wissen, wie es dir geht. Bis
jetzt weiß ich nur, daß du hungrig bist!“
„Mehr ist zu meinem Zustand auch nicht zu sagen! Ich werde dich jetzt mit Ver
achtung strafen und ins 'Bäumle' gehen. Da schlage ich mir den Bauch voll, bis
ich nicht mehr kann! Dann hast du es!“
Fees Stimme klang begütigend. „Ja, Herrmann, ich weiß zwar nicht genau, was
du damit meinst, aber sicher habe ich die Strafe verdient. Also, dann – mein Gast
kommt gerade! Einen schönen Abend noch und guten Appetit!“ Fee hatte aufge
legt.
190
Typisch Fee! brummte Schäuble und machte sich fertig. Vor dem Essen würde er noch bei Gottfried vorbeifahren und ihm das Geld bringen. *** Fee sah Corinne zufrieden an, die sich mit einem wohligen Aufseufzen zurück lehnte und sich den Mund mit der Serviette abwischte. „Mann, das war gut!“ „Das freut mich, Corinne, daß es Ihnen geschmeckt hat!“ „Das war die erste richtige Mahlzeit seit mehr als einer Woche. Ich war hungrig wie ein Wolf! Darf ich eine Zigarette rauchen?“ „Selbstverständlich, ich werde Ihnen dabei Gesellschaft leisten. Vorher aber werde ich uns noch den Kaffee holen. Sie trinken doch nach dem Essen Kaffee?“ „Oh ja, gerne!“ Als der dampfende Kaffee auf dem Tisch stand, sah Corinne zögernd Fee an. „Ich denke, jetzt wird es ernst! Haben Sie mein Tagebuch schon gelesen?“ „Noch nicht ganz. Ich bin an der Stelle, als Sie erfahren haben, daß ihre Mutter durch gepanschtes Heroin gestorben ist. Corinne, meine Einladung zum Abendes sen muß aber nicht durch Informationen abgegolten werden. Ich werde Ihnen das Essen auf die Rechnung setzen, also glauben Sie nicht, daß Sie so einfach davon kommen!“ Corinne lachte. Sie hatte ein bezauberndes Lachen, stellte Fee fest, dabei ver schwanden aus ihrem Gesicht sämtliche Schwermut und Traurigkeit, auch die dunklen Augen leuchteten auf. „Das habe ich auch nicht angenommen. Und Ihre Preise sind ganz schön happig, sagte mir Alex! Aber vielleicht sollte ich doch besser darüber reden, als Sie den ganzen Kram lesen zu lassen!“ „Auch das würde ich gerne für Sie tun, Corinne!“ „Danke, aber ich glaube, es muß jetzt einmal raus. Könnten Sie mich bitte duzen? Dann komme ich mir nicht so verlassen vor!“ Ein seltsamer Ausdruck, dachte Fee. „Gut, Corinne. Es spricht sich wahrschein lich leichter, wenn du auch 'du' zu mir sagst, dann komme ich mir nicht so distan ziert vor!“ Wieder lachte Corinne und Fee stimmte darin ein. „Wollen wir unseren Kaffee im Wohnzimmer trinken?“ „Ja, gerne.“ 191
Wenig später saßen sich die beiden Frauen im Wohnzimmer gegenüber. Corinne sah sich neugierig um. „Sie haben es aber gemütlich hier, äh, an das 'du' werde ich mich erst gewöhnen müssen.“ „Laß dir Zeit. Laß dir zu allem Zeit. Überstürze nichts! Wir haben die ganze Nacht für uns.“ „So lange wird es hoffentlich nicht dauern.“ Corinne seufzte und schlug die Beine unter sich. Dann nahm sie eine Schluck Kaffee und zog an ihrer Zigarette. Zögernd und stockend, aber immer flüssiger werdend begann sie. „Ich sollte erst einmal die Hauptakteure vorstellen. Über... über meine Mam will ich nicht spre chen. Dann ist da Jo. Jo Steinberg ist der einzige Mensch auf der Welt, den ich wirklich mag. Vielleicht ausgenommen Rick, aber das ist eine andere Geschichte. Bin ich zu sprunghaft?“ „Nein, Corinne, ich kann ganz gut folgen!“ „Jo kenne ich schon seit vier, fast fünf Jahren und sie hat mir sehr geholfen. Jo ist Sozialarbeiterin im Jugendamt und war die einzige, die über meine Mam Be scheid wußte. Sie hatte sicherlich oft Schwierigkeiten, ihre berufliche Auffassung mit unserer Freundschaft in Einklang zu bringen, aber sie hat mir immer gehol fen. Immer!“ Corinne streckte die Beine aus und stand auf. „Ist es OK, wenn ich herum wandere? Ich rede mich dann leichter!“ „Kein Problem, fühle dich wie zu Hause!“ „Zuhause ja, das ist der nächste Schauplatz. Sehen Sie, da ist mein Vater. Er ist ein ziemlich reicher Mann und fast nie daheim. Ich war am Anfang mißtrauisch und bin es heute noch. Ich konnte nie richtig warm werden mit ihm, aber nach und nach gewöhnte ich mich an ihn. Er ist unheimlich cholerisch und ziemlich versnobt, aber das sind die von Hohensteins alle. Da wollte ich nie mitspielen! Es machte Spaß, gerade das Gegenteil zu sein. Ein sichtbarer Ausdruck dafür ist mein Auto! Was war das für ein Aufstand.“ Corinne kicherte und strich sich die Haare zurück. Ihre Augen leuchteten kurz auf in der Erinnerung an die damalige Szene. Dann wurde sie wieder ernst. „Am meisten hat der Wagen meinen Bruder gestört! Denn der größte Snob von allen Hohensteins ist Alex! Die ganze Zeit, als er mit mir jetzt unterwegs war, war sicher seine größte Sorge, irgend einer der Partner oder Geschäftsleute, die er kennt, könnte ihn sehen. Deswegen habe ich auch hier im 'Donaublick' angehalten. Erstens kam mir der Name irgendwie be kannt vor und dann schien es mir einsam genug zu sein, um keinerlei Komplika tionen dieser Art heraufzubeschwören.“ „Aber Ihr wohnt doch in Berlin!“ 192
„Schon richtig, aber Alexander ist Vizepräsident in Vaters Firma und für die Koordination der drei Geschäftspartner zuständig, und diese leiten Niederlassun gen in Trier, Freiburg und Stuttgart. Also ist es gar nicht so abwegig, hier jeman dem in die Arme zu laufen.“ Corinne zuckte die Achseln. Dann fuhr sie sich mit beiden Händen durch die Haare. „Wir waren bei meinem Vater. Wie gesagt, ein sehr erfolgreicher Mann, aber ziemlich aufbrausend! Mann, konnte der in die Luft gehen. Er wollte immer 'Frieden zu Hause', das war seine stehende Redens art. Dabei machte er den meisten Krach. Immer versuchte er, mir vorzuschreiben, freundlich mit seiner Frau umzugehen. Das konnte ich nicht bringen. Es ging einfach nicht.“ Mißtrauisch sah Corinne zu Fee und wartete auf einen Einwand. Fee blieb stumm. Nach einiger Zeit fuhr Corinne fort. „Meine Stiefmutter habe ich gehaßt, seitdem ich denken kann. Mam hat mir im mer wieder von ihr erzählt. Jetzt denke ich, daß Mam sich manche Dinge so zu recht gelegt hat, daß sie in ihre Vorstellungswelt paßten, daß also nicht alles so gestimmt hat, wie sie es sagte. Aber trotzdem, ich konnte nicht anders. Dabei war Elaine zu mir immer freundlich, mit deutlicher Distanz, aber freundlich. Ich war weniger freundlich, ich war meist stinkig, aber das schien sie nicht zu beeindruk ken. Sie hat auch 'ne gute Schule hinter sich, war in einem Schweizer Internat und hat gelernt, mit allen möglichen Leuten umzugehen. Ihr Vater war, glaub' ich, französischer Botschafter oder so. Aber mich machte ihre Gelassenheit meistens nur noch wütender. Meine beste Strategie war, nicht mehr zu reagieren, keine Antworten zu geben und Löcher in die Luft zu starren. Mein Vater konnte das nicht aushalten, er tobte dann, aber Elaine zuckte nur mit den Achseln und ging. Kennst du auch solche Menschen?“ „Oh ja, meine Liebe, das kann man sagen. Sie bringen einen zur Weißglut, mich zumindest. In der Familie meines verstorbenen Mannes gab es zwei ähnliche Vertreterinnen...“ Fee verstummte. Sie wollte nicht von sich reden. „Oh, dein Mann ist verstorben? Das tut mir leid...“ „Ist schon gut, Corinne, ich wollte nicht von mir reden. Es ist auch schon viele Jahre her!“ „Ach so... Meine Mam ist auch schon drei Jahre tot, aber sie fehlt mir immer noch so sehr!“ Corinnes Augen glänzten verdächtig feucht. Energisch wischte sie sich die Tränen aus den Augenwinkeln. „Das wäre soweit mein 'Zuhause'. Ich hatte es nicht schlecht, war ziemlich unabhängig und konnte kommen und gehen wie ich wollte. Nur in den ersten Jahren, bis ich achtzehn war, wollte meine Stiefmutter mich während der Schultage um elf Uhr zu Hause haben. Das war 193
ganz OK. Als ich diese Zeiten dann wesentlich überschreiten mußte, war ich be
reits volljährig.“ Corinne verstummte und zündete sich eine weitere Zigarette an.
Fee schwieg und trank ihren Kaffee.
„Sie, äh, du sagst ja gar nichts. Bist du nicht neugierig?“
„Doch, Corinne, ich bin sehr gespannt. Aber ich glaube, du mußt die Dinge so
erzählen, wie es für dich richtig ist. Also warte ich.“
„Das sagt Jo auch immer! Du hast viel Ähnlichkeit mit ihr in deiner Art. Wahr
scheinlich hat mich auch das angesprochen.“
„Auch? Gab es noch etwas anderes?“
Corinne zögerte und kehrte zur Couch zurück. Wieder schlug sie ihre Beine unter
sich.
„Ja, es gab auch noch etwas anderes. Es ist mir etwas peinlich, es dir zu sagen,
ich habe nämlich gelauscht!“
„Gelauscht? Wo und wann?“
„Wie diese Polizisten da waren. Wir wollten spazieren gehen, da die Putzfrau ins
Zimmer wollte. Alex hatte seinen Nasenspray vergessen und ohne den geht er
keinen Schritt außer Haus. Also ging er noch mal nach oben. Die Küchentür
stand offen und dieser Polizist hat eine sehr laute Stimme. Ich habe mich bis an
die Wohnzimmertür geschlichen und konnte hören, wie du mit ihm umgesprun
gen bist. Das ist eine Frau, die keine Angst hat! dachte ich. Beinahe hätte mich
noch dieser andere Mann erwischt!“
„Severin?“
„Ja, wenn er so heißt. Er kam gerade zurück mit der jungen Frau. Ich habe das
Auto gehört, also bin ich geflitzt. Alexander wartete schon vor dem Hotel auf
mich. Das hat mich schwer beeindruckt!“
„Daß dein Bruder gewartet hat?“
„Aber nein! Wie du mit diesem Oberfritzen fertig geworden bist! Und dann er
kenne ich eine Überwachungsmannschaft, wenn ich sie sehe!“
„Wir wurden überwacht?“
„An diesem Nachmittag stand ein Fahrzeug gegenüber vom Parkplatz auf dem
kleinen Feldweg. Die Ablösemannschaften kamen um sechs und um zwei Uhr
nachts und erst am Morgen war der Spuk dann beendet.“
„Sag mal, Corinne, schläfst du auch manchmal?“
Corinne lachte. „Manchmal, in letzter Zeit nicht sehr viel.“
194
„Das ist ja unerhört, daß wir unter Überwachung standen! Andererseits – ich kann Cramer verstehen. Wir waren wirklich nicht sehr kooperativ in diesem Fall. Gottseidank ist alles gut ausgegangen.“ „Es war irgend etwas mit dem Jungen, nicht?“ „Corinne, ich möchte darüber nicht sprechen, verstehst du?“ „Klar, klar kein Problem.“ „Was hat das ganze nun mit dir zu tun?“ „Ich brauche Hilfe und ich bin der Meinung, du könntest mir einen Rat geben.“ „Ich werde dir helfen, soweit es in meinen Kräften steht.“ sagte Fee mit Nach druck. Corinne warf ihr einen dankbaren Blick zu. Nach einer weiteren Zigarette sprach sie weiter. „Nachdem ich mein Tagebuch wieder entdeckt hatte, kamen alle diese Erinnerungen zurück und auch mein Vorsatz, Mams Tod zu rächen. Ich erinnerte mich an den Dealer, bei dem ich die letzte Dosis Heroin für Mam gekauft hatte. Es waren drei Briefchen. Das erste war wohl in Ordnung, denn Mam gab sich gleich nach meiner Rückkehr die Spritze. Sie wollte an diesem Abend unbedingt ausgehen und nahm die beiden anderen Portionen mit. Eine davon muß sie sich in der Nacht geschossen haben.“ Corinne atmete tief durch. „Mehr als zwei Jahre später wollte ich der Sache dann endlich auf den Grund gehen. Ich kannte den Dealer, Bogo, aber ich wollte den Drahtzieher dahinter. Ich wollte den Verant wortlichen für den Heroinverschnitt. Also fing ich an, Bogo zu überwachen.“ „Du hast w a s getan?“ „Ich paßte ihn ab, wann immer ich konnte, und lief hinter ihm her. Manchmal entwischte er mir, wenn er mit dem Auto fuhr, aber meistens nahm er U-Bahn oder S-Bahn, da ging das recht gut. Mit der Zeit entwickelte ich richtige Routi ne.“ „Wie hast du das denn gemacht?“ „Nun, ich schlüpfte aus der Hintertür, wenn Bogo in die Kneipe kam. Ich wußte, er dealt entweder im Lokal, das war mehr Kleinkram, die größeren Dinge liefen meist über Telefonkontakt. Dann wartete ich gegenüber dem Eingang, bis er her auskam. Am Bahnhof Zoo gibt es eine Menge Möglichkeiten, nicht entdeckt zu werden. Manchmal verlor ich ihn in der U-Bahn, aber oft genug sah ich auch den Abnehmer. Wenn es möglich war, habe ich diesen bis nach Hause verfolgt. Mann, ich sage dir, da waren Leute dabei. Du würdest es nicht glauben. Wenn ich wieder einen Namen und eine Adresse hatte, habe ich sie aufgeschrieben. Ich 195
habe ein ganz schön lange Liste in dieser Zeit zusammengebracht – mit einigen
interessanten Namen.“
„Kind, das war aber nicht ungefährlich!“
„Das war mir egal. Außerdem – wer nimmt Notiz von einem leicht angegammel
ten Mädchen mit zerstrubbelten Haaren und einem völlig nichtssagenden Blick?
„Wo ist diese Liste jetzt?“
„Ja, das ist der springende Punkt! Ich weiß es nicht!“
„Du weißt es nicht? Diese Liste ist Dynamit!“ Fee schüttelte besorgt den Kopf.
Corinne blieb gleichgültig. „Nur wenn man etwas damit anfangen kann. Ich habe
Namen und Adresse sowie Ort, Datum und Zeit der Übergabe notiert, sonst
nichts, kein Wort von Drogen. Erst dachte ich, ich hätte sie verloren, aber
dann...“
„Glaubst du, sie wurde dir gestohlen?“
„Ja, weißt du, irgendwann hatte ich den Verdacht. Denn manchmal...“
„Ja?“ In Fees Stimme schwang immer noch Besorgnis. Was dachte sich diese
naive Göre eigentlich? Sich mit solchen Leuten einzulassen. Aber Mut hat sie,
das muß man ihr zugestehen!
„Manchmal glaubte ich, i c h würde beschattet werden. Aber ich konnte nie je
manden ausmachen. Ich fand das selbst blödsinnig, aber immer wieder hatte ich
so ein Gefühl. Erst in letzter Zeit verschwand dieser Eindruck. Wahrscheinlich
alles Einbildung“
Fee meinte zweifelnd: „Das muß nicht unbedingt sein. Solche Gefühle sollte man
ernst nehmen. Sie können einem das Leben retten!“
Verblüfft sah Corinne hoch. „Ich wußte es! Ich wußte es einfach! Sie sind nicht
nur Wirtin! Bei Ihnen hatte ich gleich so ein Gefühl und bei diesem Mann, wie
heißt er?“ Aufgeregt zupfte Corinne an ihrer Unterlippe.
„Severin?“
„Ja, Severin. Sie beide sind nicht nur stinknormale Leute. Das ist Tarnung. Da
steckt mehr dahinter, habe ich nicht recht? Sie sagten gerade, ich soll meinem
Gefühl vertrauen! Habe ich recht?“
Fee wiegelte ab. „Selbst wenn du recht hättest, Corinne, diese Zeiten sind lange
vorbei und ich bin jetzt wirklich nur mehr eine ganz 'stinknormale' Frau! Außer
dem solltest du mich duzen!“
Corinne nickte verständnisvoll. „Klar, daß du nicht darüber redest.“
Fee fiel nicht darauf herein. „Was war nun mit der Liste?“
196
Corinne war ihr einen verständnisvollen Blick zu. „Oh ja, die Liste. Eines Tages
in der U-Bahn hat mir ein Mann meinen Beutel gebracht. Er sagte, er sei hinun
tergefallen. Ich war mir aber sicher, ihn neben mich gestellt zu haben. Auch
schien er mir offener zu sein, als ich ihn gewöhnlich trage. Ich ziehe fast automa
tisch die Kordel immer ganz zu. Das alles fiel mir aber erst später auf.“
„Der Mann, der dir deinen Beutel brachte, könnte er dein Beschatter gewesen
sein?“
„Das glaube ich nicht. Der Junge war kaum zwanzig, voller Pickel und schreck
lich verlegen Er sagte, er habe ihn unter der Bank gefunden, ein Stück von mir
entfernt. Ich denke mir, wer meinen Beutel durchwühlt hat und die Liste entwen
dete, hat ihn dann unter die Bank gesteckt. Der Junge hat ihn gefunden und mich
gefragt, ob er mir gehört. Das klingt doch ganz logisch, oder?“
Fee zögerte. „Es wäre eine Möglichkeit. Gab es Reaktionen? Wurden Verhaftun
gen durchgeführt? Hast du den Eindruck, deine Liste wurde irgendwie mit
Rauschgift in Zusammenhang gebracht?“
„Ich habe nie etwas gehört. Wenn, dann wurde alles sehr diskret gemacht. Ande
rerseits habe ich bald darauf meine Beschattung von Bogo eingestellt.“
„Wie kam das?“
„Bogo fuhr zu seinen Dealgeschäften und ich schaffte es nie, eine Übergabe des
Nachschubs mitzukriegen. Immerhin konnte ich ihm auch nicht rund um die Uhr
folgen. Aber vor drei Wochen hatte ich Glück! Bogo fiel in der U-Bahn etwas aus
der Tasche und er bemerkte es nicht. Als ich es aufhob, stand ein Datum und eine
Uhrzeit darauf, und dann noch zwei Buchstaben, G.L.“
„G.L.? Sagte dir das etwas?“
„Nein, überhaupt nichts. Ich überlegte hin und her. Es mußte ein Treffpunkt sein,
etwas sozusagen öffentliches wie B.T., Brandenburger Tor, oder R.S., Rathaus
Schöneberg, eine U-Bahn Station oder so etwas. Aber bei G.L. fiel mir nichts ein!
Das Datum war der 18.Oktober, 20 Uhr. Aha, du rechnest nach!“
„Ja, am 19. abends seid ihr beide angekommen. Das hängt offenbar irgendwie
zusammen!“
„Laß mich dich noch etwas auf die Folter spannen. Also, tagelang dachte ich hin
und her. Die Beschattung von Bogo hatte ich aufgegeben, ich wollte kein unnöti
ges Risiko eingehen. Also saß ich meist in meinem Zimmer.“
„Hattest du denn keine Schule mehr?“
„Ich hatte das Abi im Sommer bestanden und mich noch nicht entschieden, was
ich weitermache. Erstmal gehe ich nach Spanien. Mams Vater stammte von dort.
197
Mein Vater hat mir zum guten Abi ein Jahr Aufenthalt in einem Land nach freier Wahl geschenkt und ich habe mich für Cordoba entschieden. Aber ich fahre erst im April dorthin. Also hatte ich nichts zu tun. Das war günstig für meine Be schattungen, aber ungünstig für meinen Seelenzustand, da ich nur grübelte.“ Wieder holte sich Corinne eine Zigarette und zündete sie an. Tief inhalierte sie. Dann fuhr sie fort, wobei ihre Stimme immer leiser wurde. „Irgendwann hielt ich es dann nicht mehr aus in meinem Zimmer und ging nach unten. Da hörte ich Alex telefonieren. Zuerst habe ich nicht aufgepaßt, aber dann sagte er etwas, was mich förmlich elektrisierte. 'Die Galerie Lafayette? Ja, die ist in der Nähe der UBahnstation Französischen Straße – also, du kommst am 18. abends – gut – gegen zwanzig Uhr und bleibst drei Tage, sehr schön!' Ich hörte nicht mehr weiter zu. Mein Mund muß offengestanden haben und ich stand wie erstarrt an der Treppe. Gottseidank verließ Alex gleich danach das Haus und hat mich nicht gesehen. Bingo! Das war es!“ „G.L. für Galerie Lafayette!“ „Genau! Das neue französische Kaufhaus! Eine Riesenbaustelle und um diese Zeit der ideale Ort für eine Übergabe. Na, da war mir alles klar. Ich mußte dort hin.“ Wieder schwieg Corinne. Hastig zog sie an ihrer Zigarette und drückte sie ungeduldig aus. „Der Rest ist schnell erzählt. Ich war schon eine halbe Stunde eher dort, aber die Sache war schwieriger, als ich dachte. Es gab nur eine einzige Möglichkeit durch den Baustellenzaun zu kommen und da gab es keine Chance sich zu verstecken. Also verbarg ich mich im nächstgelegenen Eingang des Ge bäudes und konnte nur hoffen, daß es dieser sein würde, wo die beiden ihr Ge schäft abwickeln wollten. Kurz nach acht hörte ich Flüstern, Schritte und ein Krachen, als würde jemand gegen etwas stoßen und da bekam ich Angst. Plötz lich wurde mir die Sache zu heiß und ich wollte weg! Ich lief so schnell ich konnte auf den schmalen Durchlaß zu, quetschte mich durch und dann verließ mich mein Glück. Als ich nämlich um die Ecke schoß, prallte ich mit einem Mann zusammen. Er stieß einen Schreckensruf aus und packte mich. Ich tat so, als wäre ich high, murmelte Unverständliches und schwankte ein wenig. Das war gar nicht so schwer, denn ich zitterte vor Angst. Ich versuchte noch, mir sein Gesicht einzuprägen, die Straßenlaterne gab etwas Licht, und für einen kurzen Augenblick erhaschte ich es. Irgendwie kam es mir bekannt vor. Plötzlich ließ der Mann mich los und ich raste davon.“ „Mein Gott, Kind! Da hast du aber schnell reagiert und noch das Beste aus der Situation gemacht! Aber wie kann man sich nur so naiv und unvernünftig in eine solche Gefahr begeben! Außerdem, jemanden, den du kennst, für den wirst du 198
auch keine Unbekannte sein! Wenn er dich nun erkannt hat! Diese Leute machen
kurzen Prozeß!“
„Ja, das nehme ich auch an.“ Corinnes Stimme war nun so leise, daß Fee Mühe
hatte, sie zu verstehen. „Das war mir dann auch klar Aber immer noch suchte ich
nach dem Namen zu dem Gesicht. Irgendwie dämmerte etwas, irgendwo hatte ich
es schon gesehen, aber ich kam nicht drauf. Ich bin dann nach Hause und habe
mich in mein Zimmer eingeschlossen. Nun würde ich nie erfahren, wer meine
Mutter auf dem Gewissen hat, dachte ich.“ Wieder schwieg Corinne, aber dies
mal blieb auch Fee still. „Am nächsten Tag ging ich erst spät zum Frühstück hin
unter. Der Gast, von dem Alex gesprochen hatte, war eingetroffen. Ich war noch
nicht ganz da, deswegen fiel es mir zu spät auf.“ Corinne griff sich an den Hals,
als würde Angst ihr die Kehle zuschnüren.
„Es war der Mann aus der Galerie Lafayette!“ Fees Stimme klang entsetzt.
„Ja, der Mann aus der Galerie Lafayette.“ Tief atmete Corinne ein. „Und der
Mann aus der Galerie Lafayette ist einer von Vaters Geschäftspartnern. Er starrte
er mich an. Er hat mich gleich erkannt!“
„Ach du liebe Zeit! Was hast du gemacht?“
„Was konnte ich schon tun? Ich drehte auf dem Absatz um, lief nach oben und
begann zu packen. Nur weg, dachte ich. Plötzlich fing ich an zu zittern und da
wußte ich, ich mußte Alex zu Hilfe holen. Allein würde ich es nicht schaffen.
Also lief ich in sein Zimmer und warf wahllos ein paar Sachen in die Tasche.
Dabei lauschte ich auf jedes Geräusch. Ich dachte, jede Sekunde würde Bernhard
Brockelmann herein gestürmt kommen und mich umbringen... was ist?“
Fee hatte bei der Erwähnung des Namens eine unwillkürliche Geste gemacht.
„Nichts, nichts! Ich bewundere deine Kaltblütigkeit!“
Aber Fee sah aus, als habe sie ein Gespenst gesehen
*** Als Severin das Schlafzimmerfenster öffnete, sah er Licht im Erdgeschoß des 'Donaublicks'. Erstaunt blickte er auf die Uhr, halb zwei Uhr nachts. Was mochte da vorgehen? Kurz überlegte er nachzusehen, aber dann entschied er sich dage gen. Fee würde sich melden, wenn sie etwas benötigte. Zufrieden ging Severin zu Bett. Die letzte Nacht waren das Beste, was ihm seit langem passiert war, tief und traumlos hatte er geschlafen und er war sich sicher, heute würde es genauso sein. Fast verächtlich blickte er zu seinem alten Schrank, in dem zahlreiche Flaschen Bordeaux warteten. Er würde sie vorerst nicht benötigen. Severin hatte gerade das Schlafstadium erreicht, als ihn ein Geräusch weckte. Es klang wie das dumpfe Plobb der Eingangstür. Severin stieg aus dem Bett und 199
schlüpfte in den Bademantel. Das konnte nur Fee sein. Richtig klopfte es in die
sem Moment leise an die Tür und eine vertraute Stimme rief: „Severin? Severin,
bist du wach! Wenn nicht, dann solltest du schnellstens aufwachen! Severin!“
Severin öffnete die Tür, trat heraus und setzte sich wortlos an den runden Ei
chentisch auf einen seiner alten geschnitzten Holzstühle. Dann machte er eine
einladende Geste.
Fee sah ihn ärgerlich an. „Mußt du immer so angeben? Schon seit ich ein kleines
Kind war, hast du so getan, als würdest du meine Gedanken lesen können, aber
damit ist nichts. Also, wenn du schon so schlau bist, warum bin ich hier?“
„Die Kleine aus dem Bambuszimmer?“
Fee klappte ihren Mund auf und schloß ihn wieder. Ihre Stimme war immer noch
ärgerlich. „Daran ist gar nichts Beeindruckendes! Wir haben nur einen Gast, denn
dir ist sicher nicht entgangen, daß der vornehme Bruder abgereist ist. Wahr
scheinlich hast du auch bei mir Licht gesehen und dir daher die Dinge zusam
mengereimt. Aber ich wette mit dir um viel“ schloß sie triumphierend, „daß du
keine Ahnung hast, was die 'Kleine aus dem Bambuszimmer' – sie heißt übrigens
Corinne – mir in den letzten vier Stunden erzählt hat.“
„Ich wette nicht.“
„Da tust du gut daran!“ Fees Stimme wurde ernst. „Hör zu.“ Knapp und ge
schickt erzählte sie Corinnes Geschichte. „... und als sie sagte: 'Ich dachte, jede
Sekunde würde Bernhard Brockelmann herein gestürmt kommen' glaubte ich, ich
sehe Gespenster! Was sagst du dazu?“
„Unglaublich!“
„Das Unglaublichste weißt du noch gar nicht! Sophie Brockelmann hat heute
früh angerufen. Sie und ihr Mann wollen am Donnerstag kommen!“
„Das kompliziert die Dinge ein wenig!“
„Severin!“ Ungeduldig schlug Fee auf Severins Arm. „Ich kann dich nicht leiden,
wenn du so überheblich tust! Das kenne ich, immer nach einem gelungen Coup
ist mit dir nichts anzufangen. Streng dich an und produziere einen vernünftigen
Gedanken!“
Aber Severin produzierte lediglich eine Frage: „Hat diese Corinne etwas mitbe
kommen?“
„Von meinem Schreck? Nein, ich glaube nicht. Ich habe sie auf eine anderes
Thema gebracht, ich fragte nämlich, wieso sie so sicher sei, Aids zu haben. Da
hat sie mir mitgeteilt, sie sei so oft mit dem Blut ihrer Mutter in Berührung ge
kommen, daß es gar nicht anders sein könne. Dann fing sie an zu weinen. Ich
200
glaube, der gesunde Überlebenswille kommt langsam durch und die Aussicht auf
einen heldenhaften Tod als Rache gegen Vater, Stiefmutter und alle anderen bö
sen Leuten auf der Welt scheint nicht mehr ganz so erstrebenswert.“
„Was hast du dann gemacht?“
„Severin, wie oft soll ich es dir noch sagen! Einige dich endlich, ob du mit mir
per du oder per Sie bist, du verwirrst mich!“
„Vor anderen Leuten und im Hotel spreche ich dich mit Sie an, aber nun bist du
bei mir. Was passierte dann?“
„Ich sagte ihr, einen Rat könne ich ihr im Moment nicht geben. Ich müsse erst
darüber schlafen und wir würden uns morgen darüber unterhalten. Dann habe sie
ins Bett geschickt, schenkte ihr noch einen kräftigen Schluck Cognac ein und
danach ist sie abgezogen. Hoffentlich geht der Test gut aus.“
„Welcher Test?“
„Corinne sagte mir, daß sie Herrmann um einen Aidstest ersucht hat. Das Ergeb
nis sollte morgen bekannt sein.“
„Wirst du den Brockelmanns absagen?“
„Das weiß ich noch nicht. Severin, wir haben zwei Möglichkeiten, entweder wir
unternehmen etwas oder nicht. Vielleicht ist Bernhard Brockelmann gar nicht der
Lieferant des gepanschten Heroins gewesen.“
„Aber offenbar ist er Lieferant für Heroin gewesen, gepanscht oder nicht, genügt
das?“
„Das ist die Frage.“ Fee streckte sich. „Ich bin müde! Geh zu Bett, Severin, ich
werde auch schlafen gehen. Wir sprechen morgen darüber! Komm um sieben
zum Frühstück zu mir. Gute Nacht!“
Rasch lief Fee hinaus und wieder schlug die Tür ins Schloß. Severin ging auch zu
Bett, aber erst, nachdem er einige Dinge erledigt hatte. Dazu gehörte ein längeres
Telefongespräch mit einer nun schon wieder vertrauten Stimme
*** Jo Steinberg sah auf die Uhr, als sie die Haustüre aufschloß, halb zwei Uhr nachts! Sie war müde, doch trotzdem wollte sie die Blätter, die sie von Elaine von Hohenstein erhalten hatte, noch lesen. Die Geburtstagsfeier bei Freunden war locker und ausgelassen gewesen, aber Jo war nicht ganz bei der Sache. Mehrmals wurde sie darauf von ihren Freunden angesprochen und sie entschuldigte sich mit Arbeitsüberlastung. Ihre Gedanken aber waren bei Corinne und dem Detektivbe richt. 201
Jo schaltete die Stehlampe an und brühte sich eine Tasse Kaffee. Dann nahm sie die Blätter zur Hand und begann zu lesen. Sie brauchte eine Weile, bis sie damit klar kam und erkannte, daß B.O. 'Beschattungsobjekt' und damit Corinne hieß. Mit O.B.O war das 'Objekt des Beschattungsobjektes' gemeint, also der jeweilige Mann, den Corinne verfolgte. Die Aufzeichnungen ähnelten sich immer wieder, sie begannen am 19.August und endeten am 1.Oktober. 14.August (Zur Identifikation siehe Anhang 1 und 2) 14.35: B.O. von Mittelstr.2 zu Fuß zu U Mohrenstraße – mit U2 zum Bahnhof Zoo 15.06: B.O. betrifft Lokal „Berliner Kindl“ von der Nebenstraße 15.42: B.O. verläßt Lokal, verfolgt O.B.O. (Anhang 2 Nr.1) – mit U5 zum Alex anderplatz 16.20: O.B.O hat Kontakt mit männl.Person (Anhang 2 Nr.2), B.O. verfolgt die sen in U8 bis Bernauer Straße 67 18.09: Rückkehr B.O. Mittelstraße 2 – keine weiteren Aktivitäten ...und so weiter. Die Berichte klangen ziemlich eintönig. Corinne schien über viel freie Zeit zu verfügen, mehrmals in der Woche lief sie hinter einem O.B.O. her.
Jo interessierte der Anhang. Sie blätterte weiter bis zu den letzten Seiten.
Anhang 1: Beschreibung der zu überwachenden Person:
Corinne Delgado, 18 Jahre 1,75 cm groß, schlank, langes, dunkles Haar, glatt,
meist offen getragen
wohnhaft: Mittelstraße 2 Berlin Mitte (BO hält sich nie in Grunewald auf)
dunkle Augenfarbe, trägt oft Sonnenbrille, ebenmäßiges Gesicht, meist aus
druckslos
unauffällig gekleidet, oft Jeans und Sweatshirt, lange, dunkle Jacke. Achtung!
Jacke kann beidseitig getragen werden, ist an der Innenseite beigefarben
trägt immer hellen Riemenbeutel in Patchwork (beige-braunfarbene Lederflicken)
mit langem Schulterriemen
Zusätzliche Hinweise: B.O. hat Dauerkarte, daher kein Aufenthalt bei U- und S-
BahnStationen
Vorsicht: B.O. ist mißtrauisch, sieht sich oft um!
Na, kleine Corinne, da hast du die Verfolger schön am Rotieren gehalten, dachte
Jo und schmunzelte. Wie heißt es doch, stille Wasser! Jo legte das Blatt zur Seite und nahm das letzte zur Hand. An dieses angeheftet war ein weiteres Blatt mit handschriftlichen Aufzeichnungen. Jo stockte der Atem. Das war ja Corinnes 202
Schrift! Eine Liste mit Namen, Adressen und verschiedenen Angaben, Bei man chen Namen standen mehrere Treffs, andere wieder kamen nur einmal vor. Jo blätterte zurück und sah sich Anhang 2 der Detektei an auf der Suche nach irgend einem Hinweis. Anhang 2:Zuordnung zu den Abkürzungen in den Berichten Nr.1: Bogo Astafer (OBO), wohnhaft Trautenaustr.12 (Nähe U9 Güntzelstraße) 32 Jahre, Albaner (geboren in Tirana), 1,78 cm groß, dunkle Hautfarbe, schwar ze, lange Haare, nach hinten zusammengebunden Narbe an der linken Wange lebhafte, gestikulierende Sprechweise, kaum Akzent seit 1989 in BRD, reguläre Aufenthaltserlaubnis, seit zwei Jahren Daueraufent halt arbeitet vier Abende/Woche in einer Bar ('Blauer Engel', Joachimstalerstr.27) von 21 Uhr bis 3 Uhr früh. Fahrzeug: Mercedes BJ 1995, S-350 TD, schwarz, B-EC 1634 Vorstrafen: 1992 – tätlicher Angriff (ein renitenter Gast) – bedingte Strafe für 18 Monate Flensburger Kartei: – keine Eintragungen Zweimalige Festnahme wegen Verdacht des Rauschgifthandels – kein Verfahren mangels Beweise Nr.2: Dr.Helmut Rinteler, Rechtsanwalt, 54 Jahre wohnhaft Bernauerstr.67 (Ecke Eberswalderstr-Oderbergerstr.), Kanzlei: Ranke platz 1a, verh., zwei erwachsene Töchter Hobbys: Segelfliegen, Schifahren keine Eintragungen in das Strafregister Nr.3: Oswald Obermoser, Bauarbeiter, 41 Jahre wohnhaft Potsdamerstr.17, Arbeitsstelle: Fa.Maculan seit 7 Jahren ledig, Hobbys: keine keine Eintragungen in das Strafregister Flensburger Kartei: 8 Punkte Nr.4: Matthias Beresevic, 49 Jahre... Jo stutzte, den Name hatte sie doch schon gesehen! Jo verglich beide Blätter und sämtliche Namen kamen doppelt vor. Alle von Corinne notierten Namen waren auch auf der Liste der Detektei. Das hieß, daß Corinne die Abnehmer von Bogo 203
bis zu deren Wohnung verfolgt hatte und akribisch alle Daten, deren sie habhaft werden konnte, aufgeschrieben hatte. Elaine wußte sicher mehr darüber, als sie zugab. Diese Liste war Dynamit! Fassungslos legte Jo die Blätter zur Seite. In welche Gefahr sich dieses dumme Mädchen begeben hatte! Jetzt war für Jo auch klar, was Corinne mit so kryptischen Aussagen wie: 'Ich glaube, ich werde je mandem was heimzahlen, einem gewissen Jemand, der schuld an Mams Tod ist!' gemeint hatte. Hätte sie mehr in sie dringen sollen? Hätte sie es verhindern kön nen? Nein, wahrscheinlich nicht. Corinne gab nichts preis, was sie nicht wollte und tat, was sie wollte. Wenn sie sich mir nur anvertraut hätte! Jos Gedanken überschlugen sich. Elaine hatte recht, wahrscheinlich ist sie in etwas verwickelt und mußte deswegen fliehen. Hoffentlich passiert ihr nichts! Hoffentlich meldet sie sich bald! Jo legte die Blätter in ihrem Schrank und ging zu Bett. Sie mußte morgen früh raus. Ihr Schlaf war unruhig und quälend, wirre Träume tauchten auf und ver schwanden, ehe Jo sie richtig fassen konnte, und am Morgen stand sie wie gerä dert auf. *** Severin war am Morgen wie erwartet tadellos ausgeschlafen und pünktlich um sieben Uhr zur Stelle, um mit Fee zu frühstücken. Dabei beratschlagten sie die nächsten Schritte. „Severin, ich werde den Brockelmanns nicht absagen! Ich hätte auch kaum einen plausiblen Grund. Oder soll ich mitteilen, wir wären überfüllt? Das glaubt uns doch kein Mensch um diese Jahreszeit!“ „Sie könnten das Hotel schließen, Frau Di Cosimo!“ Fee schlug die Augen zum Himmel. „Herrgottnochmal, du alter Sturkopf! Ich habe Vaters Gardinenpredigt von Adeligen und Untergebenen schon lange über Bord geworfen, daß ich als gebürtige Goriz-Gradisca genügend Distanz zu dir wahren soll! Hat er dir etwa auch diesen verzopften Unsinn verkauft?“ Severin schwieg und brach ein Stück seines Toastes ab. Langsam schob er sich den Bissen in den Mund und kaute bedächtig. Fee kapitulierte. „Schön, schön, wenn du meinst, bleibe bei deiner förmlichen Anrede, solange wir im Hotel sind! Um auf deinen Vorschlag zurückzukommen, wir schließen immer erst am 1.Dezember, das wissen auch die Brockelmanns. Nein, ich werde ihnen nicht absagen!“ Fee schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, daß die Tassen wackelten. „Das bedeutet, wir sollten etwas unternehmen!“ 204
„Genau! Es ist wie in alten Zeiten, nicht wahr, Severin, Freund meiner frühen
Tage?“
Severin sah sie mißtrauisch an. Wenn Fee in einer solchen Stimmung war, hieß
es, vorsichtig sein. Da war sie zu allem fähig! Immer noch galt Severins Gelöb
nis, auf die kleine Fritzi aufzupassen
„Guck du nur so erstaunt. Ich habe schon einen Plan! Keine blasse Idee, wie er
umzusetzen ist, aber dafür bist ja du zuständig. Na, was meinst du?“
„Wir sind nicht mehr in Italien, vergessen Sie das nicht!“
„Wem sagst du das! Siehst du, ich dachte, wir könnten doch eine Falle konstruie
ren. Irgend etwas, wobei sich unser schlauer Berni selbst die Schlinge um den
Hals legt.“
„Was ist mit seiner Frau?“
„Sophie? Ich gebe zu, die ist ein Problem. Ich bin schon einmal mit ihr aneinan
dergeraten. Hatte doch glatt die Unverschämtheit, zum Frühstück in einem Nichts
von einem Bikini mit einem Taschentuch um die Hüften zu kommen! Na, der
habe ich aber meine Meinung gesagt! Dachte schon, sie wären endgültig belei
digt. Aber nein, nächstes Jahr kamen sie wieder!“
„Was ist also mit seiner Frau?“
„Herrgott, Severin, wie soll ich das wissen? Irgendwie wird sich das schon re
geln. Ich bin für die Planung zuständig und den Rest machst du, nicht?“
„Zuerst müßte ich den Plan kennen.“ Wieder schob sich Severin gleichmütig ein
Stück Toast in den Mund.
Nun ging Fees Temperament mit ihr durch. Heftig gestikulierend sprang sie auf
und rannte in der Stube auf und ab. Wie ein Vulkan entlud sich ihre Ansicht über
Severins Charakter, Abstammung und zukünftiges Schicksal bei seinerseits un
veränderten Verhaltensweisen.
Gelassen ließ Severin den Ausbruch über sich ergehen. Er glich den vielen vorhe
rigen Eruptionen aufs Haar. Als sich das Getöse gelegt hatte und Fee wieder am
Tisch saß, sage Severin wie nebenbei: „Ich habe gestern Nacht Nat angerufen.“
Fee starrte ihn an, dann klatschte sie in die Hände. „Das ist gut! Du hast also von
vornherein angenommen, wir würden die Dinge weiter verfolgen. Was hältst du
von meinem Plan?“
„Bernhard Brockelmann eine Falle zu stellen? Im Prinzip nicht schlecht, wir
könnten es versuchen. Wenn er nicht darauf hereinfällt, ist wahrscheinlich nicht
viel passiert. Wenn ja, dann haben wir ihn. Die Ausrüstung kommt heute nach
mittag!“
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„Ausrüstung? Oh, du meinst die Überwachungsdinger! Gut! Sehr gut! Ich bin froh, Severin, daß wir immer noch so gut Hand in Hand arbeiten Wie stolz Ugo auf uns wäre, was meinst du?“ Severin dachte an Fees Mann und die schreckliche Art seines Todes und sein Blick verfinsterte sich. Rasch lenkte Fee ein. „Komm, laß die trüben Gedanken! Wir wollen austüfteln, wie wir es am besten anstellen.“ Fee holte mehrere große Papierbögen und fast eine Stunde arbeiteten die beiden an ihrem Plan. *** Elaine von Hohenstein saß am Frühstückstisch und betrachtete nachdenklich ihren Sohn. „Schön, daß du wieder zu Hause bist, Alexander. Ist alles in Ord
nung?“
„Ja, Mutter, mir geht es gut. Der Flug war ein wenig böig. Wie steht es in der
Firma?“
„Da mußt du deinen Vater fragen, ich habe mich nicht gekümmert.“
„Wo ist er?“
„Vater ist in Grunewald. Du weißt, er mag die Wohnung nicht. Da ist es ihm zu
eng. Ihr werdet euch ja in der Firma sehen. Wie geht es Corinne?“
„Ich kenne mich bei ihr nicht aus, Mutter! Diese überstürzte Abreise, dann die
ganze Zeit nur Tränen und Schweigen. Dann dieser, äh, Umschwung.“ Er ver
stummte.
Elaine kannte ihren Sohn. Sie wußte, wie hilflos er weiblichen Verhaltensweisen
gegenüberstand und wie schwer es ihm fiel, etwas vor ihr geheim zu halten. Elai ne überlegte, ob sie den Aufenthaltsort von Corinne wirklich wissen wollte. Sie hatte ja schon die Angelegenheit in andere Hände übergeben. War es nicht besser abzuwarten, was sich daraus entwickelte? „Liebling, wir sollten die Bitte deiner Schwester achten und nicht in ihr Privatleben dringen! Wenn sie nicht will, daß Viktor und ich wissen, wo sie sich aufhält, dann respektieren wir das, nicht wahr?“ Erleichtert seufzte Alexander auf. Damit war die Sache entschieden. „Ja, Mutter, du hast wie immer recht.“ Alexanders Aufmerksamkeit richtete sich nun auf das Frühstück. Elaine nippte an ihrer Kaffeetasse und wieder stiegen Zweifel in ihr hoch. „Andererseits, Liebling, haben wir auch eine Verpflichtung Corinne ge genüber. Immerhin ist sie ein Mitglied unserer Familie. Sollte ihr nun etwas zu stoßen...“ „Was sollte ihr an diesem öden Ort zustoßen?“ Irritiert legte Alexander die Gabel mit dem Stück gebratenen Speck, die er eben zum Mund führen wollte, wieder 206
auf den Teller. „Der 'Donaublick' liegt in einer derart gottverlassenen Gegend!
Das ist wirklich kein gefährlicher Aufenthaltsort! Ich sage dir, Mutter, schreck
lich! Bis zu einem halbwegs annehmbaren Lokal mußt du fünfundzwanzig Kilo
meter fahren... Äh, das tut mir leid, nun habe ich doch...“
Elaine erstarrte und Angst kroch in ihr hoch. Doch sie hatte bei der Erwähnung
des 'Donaublicks' mit keiner Wimper gezuckt. Beruhigend legte sie ihre Hand auf
Alexanders Arm. „Schon gut, mein Sohn, mache dir keine Vorwürfe. Dein Ge
heimnis ist bei mir gut aufgehoben! Ich werde niemandem Corinnes Aufenthalts
ort mitteilen. Beruhige dich!“
„Na gut aber daß du auch, äh, alles aus mir herausbekommst, Mutter!“
Elaine lächelte Alexander zärtlich an, strich ihm über die Wange und begann von
etwas anderem zu sprechen.
*** Corinne erwachte und sah auf die Uhr, halb acht Uhr durch! Sie gähnte und streckte sich. Verwundert stellte sie fest, daß sie tadellos ausgeschlafen war und sich zum ersten Mal seit langem so richtig wohl fühlte. Wohlig räkelte sie sich noch ein paarmal, ehe sie aus dem Bett sprang und unter die Dusche lief. Dabei pfiff sie vor sich hin. Ist ja toll, daß ein einziges Gespräch mit einer völlig frem den Frau so einen erleichterten Zustand nach sich zog! Hätte schon früher mit jemanden reden sollen! Aber Corinne ahnte, daß Reden allein nicht unbedingt diese kathartische Wirkung hatte. Plötzlich wollte sie mit Jo sprechen. Wenn sie Glück hatte, würde sie sie noch erwischen, bevor Jo zur Arbeit fuhr. Schnell schlang sie sich ein Handtuch um und lief zum Telefon. Ungeduldig trommelte sie auf ihren Oberschenkel, als sich der Anrufbeantworter einschaltete. Corinne
wollte eben enttäuscht auflegen, als sich Jo meldete.
„Steinberg.“
„Jo! Toll, daß ich dich noch erreicht habe! Hallöchen, wie geht es dir?“
„Corinne? Sag mal, wo steckst du denn? Ich habe mir solche Sorgen um dich
gemacht!“
„Jo, das tut mir leid! Kein Grund zur Beunruhigung. Ich bin weit weg von Berlin.
Jo, hör zu, ich muß unbedingt mit dir sprechen. Nicht jetzt, du bist sicher in Eile,
aber bald. Es sind Dinge passiert, sage ich dir, die glaubst du nie!“
Jos Stimme nahm einen vorsichtigen Klang an. „Hör zu, Corinne, einiges davon
weiß ich inzwischen.“
„Was! Woher? Was weißt du?“
„Hör zu und bleibe ganz ruhig, ja? Ich war gestern bei deiner Stiefmutter.“
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„Wieso? Was wolltest du da?“
„Ich wollte gar nichts. Sie hat mich angerufen und um einen Besuch gebeten.“
„Elaine? Elaine hat dich angerufen? Sind jetzt alle verrückt geworden?“
„Muß man verrückt sein, um mit mir sprechen zu wollen?“ Jo klang belustigt.
„Nein, ach, nein, so habe ich das ja nicht gemeint, Jo, das weißt du! Aber ich
hätte nie gedacht, daß Elaine solche Leute wie dich überhaupt... Himmel, ich
mache alles nur noch schlimmer!“
„Daß Frau von Hohenstein solche Leute wie mich überhaupt zur Kenntnis nimmt,
wolltest du sagen! Ja, das dachte ich auch. Trotzdem hat sie mich angerufen!“
„Sag schon, was wollte sie.“
„Corinne, ehrlich, ich weiß es nicht! Sie hat mir eine Menge erzählt, unter ande
rem auch, daß sie dich überwachen ließ.“
„Was?“ Corinnes Stimme war ein einziger Schrei! Kraftlos sank sie auf das Bett.
„Was heißt das, wann?“
„Von Mitte August etwa bis zum 1.Oktober! Corinne, ich weiß, das ist ein
Schock.“
Fieberhaft rechnete Corinne nach. Dann seufzte sie erleichtert auf. Ihre Aktion in
der Galerie Lafayette hatte sie demnach ohne Schatten abgewickelt. Plötzlich
merkte sie, daß Jo weiter gesprochen hatte.
„...und die hat sie mir gegeben.“
„Jo, entschuldige, ich war so erschrocken, ich habe nicht zugehört. Was hat dir
Elaine gegeben?“
„Die Berichte des Detektivs. Ich habe sie hier!“
„Du hast die Überwachungsberichte?“ Langsam formte sich in Corinne ein Ge
danke. „Jo, bitte, tust du mir einen Gefallen?“
„Ja, wenn ich kann!“
„Du kannst, aber du wirst vermutlich ein paar Minuten zu spät zur Arbeit kom
men!“
„Kein Problem, also?“
„Bitte warte am Telefon, bis ich wieder zurück bin.“
„Gut, Corinne. Wie lange wird es dauern?“
„Ich weiß nicht, ein paar Minuten Ich bin so schnell ich kann wieder da!“ Corin
ne legte den Hörer hin, raste ins Badezimmer und schleuderte das Handtuch fort.
Dann riß sie den Bademantel vom Haken und schlüpfte hinein. Während sie zur
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Tür und auf den Gang lief, knotete sie den Mantel zu. Mit bloßen Füßen eilte sie
die Treppe hinunter und hämmerte an die Küchentür.
„Fee! Fee, bist du schon wach?“
Fee öffnete die Tür. „Corinne, was ist passiert?“
„Nichts, nichts ist passiert. Sag mal, hast du mir gestern eigentlich geglaubt?“
„Selbstverständlich habe ich dir geglaubt. Wie kommst du nur zu dieser Ansicht?
Was ist los?“
„Also, wenn du mir nicht geglaubt hättest, jetzt habe ich Beweise. Fee, ich brau
che dringend deine Faxnummer. Bitte, bitte, sag, du hast ein Fax!“ Flehend
schlug sie die Hände zusammen.
Fee verstand immer weniger. „Natürlich habe ich ein Fax. Hier ist die Nummer.“
Dabei holte sie ein Rechnungsformular aus der Rezeption und hielt es Corinne
hin. Diese riß es ihr aus der Hand und rannte die Treppe hoch. „Erklärungen
später!“ schrie sie über die Schulter zurück, dann hörte man die Türe zuschlagen.
Kopfschüttelnd kehrte Fee zu Severin zurück.
Corinne legte zufrieden den Hörer auf. Jo würde die Berichte der Detektei an den
'Donaublick' faxen. Das würde nützen. Sie wußte zwar noch nicht genau, wozu es
nützen würde, aber Fee würde sie bestimmt gebrauchen können. Langsam ging
sie ins Bad und beendete ihre Morgentoilette.
In ihrer euphorische Stimmung vergaß sie ganz, sich über Elaines Verhalten zu
ärgern.
*** Dr.Herrmann Schäuble saß in seiner Praxis, hielt den Telefonhörer zwischen Schulter und Ohr eingeklemmt und schrieb rasch auf den vor ihm liegenden No tizblock. „Ja, das habe ich – die Triglyzeride? – GPT, GOT und GammaGT Werte? – Unauffällig. Das Kalium? – Im Normbereich, gut, und das LDLCholesterin ist auch normal. Also, alles in allem ein sehr schönes Blutbild. Wie ist es nun mit dem Aidstest? – Negativ? Wunderbar. – Nein, äh, meines Wissens keine Risikogruppe. Vielen Dank, Sie schicken mir den Bericht und die Rech
nung. – Ja, gut, vielen Dank!“
Mit zufriedenem Lächeln legte Schäuble auf und tippte auf den Block. „Also,
kleines Fräulein, alle Ängste umsonst.“ Er schmunzelte vor sich hin. „Dann wer
den wir mal schauen, was die vielen Hilfesuchenden meiner Gemeinde heute für
Wehwechen haben.“ Mit energischem Schwung riß er die Türe auf. „Elisabeth,
guten Morgen! Holen Sie den ersten Patienten herein!“
„Das geht nicht, Doktor!“
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Schäuble, der bereits wieder hinter seiner Türe verschwunden war, steckte ver
wundert den Kopf heraus. „Warum nicht?“
„Weil niemand da ist!“ Elisabeth zuckte gleichmütig die Achseln.
„Niemand, wirklich niemand? Das kann ja fast gar nicht sein. Frau Weiland
kommt doch immer um diese Zeit. Sie wird doch nicht ernsthaft krank sein?“ Mit
diesen Worten ging er zur Tür zum Warteraum und riß sie auf.
„Ach, guten Morgen, Frau Weiland! Ich habe mir beinahe schon Sorgen um Sie
gemacht! Lassen Sie sich ruhig Zeit mit dem Mantel... scheußlich kalt für diese
Jahreszeit, nicht? Na dann, bitte schön kommen Sie gleich mit!“ Triumphierend
führte Dr.Schäuble seine erste Patientin des Tages an der verdutzten Elisabeth
vorbei in sein Untersuchungszimmer.
*** Fee und Severin hatten ihre ersten Ideen ausgestaltet und verworfen und waren noch zu keinem endgültigen Ergebnis gekommen. Fee schob die Blätter zusam men. „Lassen wir das fürs erste. Corinne wird gleich hier sein und sie kann in der Stube frühstücken, dann muß ich nicht im Speisezimmer decken. Was das mit
diesem Fax wohl für eine Bewandtnis hat? Hast du eine Ahnung?“
„Woher sollte ich? Ich kenne sie ja kaum!“
„Sonst bist du doch auch so hellseherisch veranlagt! Du kneifst wohl!“
Severin zögerte. „Wenn ich Ihnen meine Vermutung mitteile, Frau Di Cosimo,
und sie stimmt dann zufällig auch noch, dann könnten Sie möglicherweise an
meine 'hellseherischen Fähigkeiten' zu glauben anfangen und sich darauf verlas
sen. Das wäre gefährlich! Was haben Sie mit Corinne vor?“
Fee hatte bei Severins Einwand die Stirne gerunzelt. Eigenartig, dachte sie, es
klingt, als meine er es Ernst und ich habe doch nur gescherzt! Manchmal bist du
mir immer noch fremd, Severin, mein Freund und Weggefährte! „Wie? Ach so,
was habe ich mit Corinne vor? Was meinst du? Oh... natürlich, das wäre ziemlich
pikant, wenn sie und Brockelmann ausgerechnet hier zusammentreffen würden.
Also muß sie abreisen. Spätestens morgen, aber wie bringe ich ihr das bei? Irgend
etwas wird mir schon einfallen. Also dann, Severin, hier ist die Liste für die heu
tigen Erledigungen. Bitte vergiß nicht, die Scheibe im kleinen Zimmer der Suite
einzusetzen. Danke, das wär's dann!“
Severin verschwand und Fee dachte darüber nach, daß sie ebenfalls immer wieder
die Ebenen wechselte. Einmal war Severin für sie ein Freund der alten Zeiten, in
denen manchmal täglich Gefahren lauerten, dann wieder war sie die Besitzerin
des Hotels, die ihrem Angestellten entsprechende Anweisungen gab. Ziemlich
verwirrend, das Ganze.
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Die Türe wurde stürmisch aufgerissen und Corinne rief: „Sind sie schon da?“
„Wer?“ Im Moment wußte Fee nicht, wovon die Rede war.
„Na, die Berichte! Das Fax! Erinnerst du dich?“ Kritisch musterte sie die Wirtin.
„Da habe ich noch nicht nachgesehen. Corinne, geh doch bitte in die Rezeption,
neben dem Telefon steht das Faxgerät.“
Wie ein Blitz war Corinne aus der Tür und sofort wieder zurück. In der Hand
schwenkte sie einige Blätter wie eine Trophäe. „Da sind sie ja!“
„Was hat es eigentlich mit diesen Dingern auf sich?“ Fragend deutete Fee auf die
Papiere.
Ungeduldig blätterte Corinne die Seiten durch, dann rief sie triumphierend aus:
„Da ist ja meine Liste! Also doch! Ich habe es ja gewußt. Fee, erinnerst du dich,
wie ich sagte, ich hätte so ein Gefühl, selbst verfolgt zu werden? Und die Sache
mit der Liste?“
„Ja, Corinne, ich erinnere mich. Offensichtlich hattest du das richtige Gefühl!
Sind das etwa Berichte eines Detektivs?“
„Alles da! Du meine Güte ich habe gar nicht gedacht, daß ich so fleißig war. Ja,
das sind meine gesamten Aktivitäten seit Mitte August. Offenbar waren die
ziemlich gut, sie scheinen mich kaum aus den Augen verloren zu haben. Fee, was
machen wir jetzt damit?“
„Woher hast du sie denn?“
„Heute morgen war mir danach, mit Jo zu sprechen. Ich hatte Glück und er
wischte sie noch, bevor sie zur Arbeit fuhr. Da erzählte sie mir etwas Unglaubli
ches! Elaine, meine Stiefmutter, hatte mich überwachen lassen, da sie sich offen
bar Sorgen machte, wo ich mich herumtreibe. Klingt irgendwie nicht so ganz
nach Elaine, aber egal, und dann hat sie gestern Jo angerufen.“
„Deine Stiefmutter hat diese Freundin von dir angerufen?“
„Ja, unglaublich, nicht? Sie hat Jo um einen Besuch gebeten. War ja klar, daß
eine von Hohenstein nicht einfach so ins Jugendamt geht! Dann hat sie Jo diese
Berichte gegeben. Jo hat sie gefragt, was sie damit machen soll und ob ich sie
erhalten sollte, aber Elaine blieb ausweichend. Das klingt schon eher nach meiner
Stiefmutter. So selten wie möglich Stellung beziehen! Man könnte jemandem auf
die Zehen treten!“
„Bist du jetzt nicht ein wenig ungerecht?“
„Mag sein.“
„Könnte es sein, daß deine Stiefmutter einen Verdacht hat?“
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Corinnes Augen wurden rund. „Einen Verdacht? Elaine? Wegen Bernhard Brok
kelmann? Ne, det glob ick nee.“ Unwillkürlich verfiel sie ins Berlinerische.
„Ist das so unwahrscheinlich? Deine Stiefmutter wird Herrn Brockelmann sicher
schon länger kennen.“
„Ja, anzunehmen, wenn man bedenkt, wie lange er schon Vaters Partner ist, aber
trotzdem.“ Energisch schüttelte Corinne den Kopf, daß die langen Haare flogen.
„Na gut, wenn du dir sicher bist.“
„Sicher bin ich nicht. Aber sei es wie es sei, das hier sind Fakten! Die Aufzeich
nungen der Detektei! Ich schenke sie dir!“ Mit einer entschlossenen Bewegung
schob sie die Blätter über den Tisch.
Aber Fee wiegelte ab. „Sprechen wir später darüber. Möchtest du frühstücken?“
„Au ja! Ich bin heute so gut aufgelegt wie schon lange nicht mehr! Es ist, als ob
ein Berg voller Felsen von meiner Seele gekullert ist!“
Fee lächelte über den jugendlichen Überschwang. „Ich freue mich für dich, Co-
rinne. Jetzt das Frühstück. Üblich sind Zigaretten und Kaffee, möchtest du heute
noch etwas anderes?“
Corinne lachte. „Dir entgeht nicht viel, was? Ja, was gerade vorhanden ist, Toast,
Ei, Brötchen, Butter, Marmelade, Käse, Wurst, Schinken...“
„Das ist alles? Bist du sicher, daß du nicht auch noch Pfannkuchen und zwei oder
drei Müsli willst? Alles da!“ Fee deutete auf die Schränke im eigentlichen Kü
chenbereich.
„Na ja, für den Anfang reicht es. Obwohl Pfannkuchen... hm, wäre schon 'ne
Sache.“
Also aß Corinne Omeletten, die köstlich locker und flaumig und mit Aprikosen
marmelade gefüllt waren. Fee erklärte ihr den Unterschied zwischen einem öster
reichischen Omelette und einem deutschen Pfannkuchen. „Es ist der Schnee,
weißt du? Zuerst steif geschlagen und dann darunter gemischt. Nicht das ganze Ei
verwenden.“
Aber Corinne hörte nicht mehr zu. Plötzlich fiel ein Schatten über ihr Gesicht.
„Ach Gott, ich habe das ganz vergessen! Heute mittag kommt noch dieser Arzt.
Ich habe plötzlich Angst.“
„Wegen des Aidstests?“
„Ja. Weißt du, solange Mam lebte, war es mir egal, ob ich angesteckt war oder
nicht, im Gegenteil, manchmal wünschte ich es mir geradezu. Ich konnte mir
nicht vorstellen weiter zu leben, wenn Mam irgend etwas passiert. Daß sie bei
ihrer Lebensweise nicht uralt werden würde, war ja abzusehen. Dann war ich so
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versteinert nach Mams Tod, daß der Gedanke, Aids zu haben, weniger Bedeutung
hatte. Erst in letzter Zeit wünsche ich mir, ich wäre gesund.“
Fee zwinkerte ihr belustigt zu. „Rick?“
„Oh!“ Corinne riß den Mund auf. „Woher... wieso...“ stotterte sie.
„Na, du hast gestern Nacht irgend etwas von einem Rick erwähnt und dies sei
eine andere Geschichte. Also nahm ich an, daß Rick ein Mann und die Ge
schichte eine Liebesgeschichte sei, stimmt’s?“
„Na ja, Liebesgeschichte ist vielleicht ein wenig übertrieben.“ Corinne lächelte.
Dann bekamen ihre Augen einen sehnsüchtigen Glanz. „Ich kenne Rick schon
seit langem, er wohnte zwei Häuser weiter, wo Mam und ich früher wohnten. Ich
habe seine Annäherungen immer abgewürgt, weil ich nicht wollte, daß er zu mir
nach Hause kommt. Ich hatte damals nicht viele Freunde, eigentlich nur Greta,
meine Schulfreundin, und selbst die kam nie zu mir. Vor sechs Wochen nun,
genau am 17.September, als ich wieder einmal hinter Bogo herstiefelte, traf ich
zufällig Rick. Ich war so verblüfft, daß ich diesmal nicht davonlief. Da haben wir
uns zum ersten Mal unterhalten. Wir sind dann noch zweimal ein Bier trinken
gewesen und haben die halbe Nacht gequatscht. Mehr war nicht, aber ich mag ihn
total gern...“ Versonnen rührte Corinne in ihrer Tasse Kaffee.
Fee beschloß, die Ankündigung über die bevorstehende Ankunft von Bernhard
Brockelmann und die dadurch notwendige Abreise Corinnes zu verschieben. Sie
hatte nicht das Herz, in diesem Moment davon anzufangen. „Was hast du heute
vor?“
„Och, ich weiß nicht. Dr.Dingsda kommt um zwei Uhr, also werde ich mir bis
dahin ein wenig die Gegend ansehen. Gibt es etwas Sehenswertes?“
„Oh, ja! Außer unserer wunderschönen Landschaft ist da noch das Donautal
Richtung Beuron und Sigmaringen. In Beuron gibt es eine sehr schöne Kirche.
Ich weiß nicht genau, ob dich das interessiert.“
„Vielleicht gehe ich mir auch etwas zum Anziehen kaufen. Also dann, bis spä
ter!“ Schwupps, war sie verschwunden.
Ein Mädchen der raschen Entschlüsse, erstaunlich, wenn man bedenkt, wie tran
susig sie noch vor kurzem war. Fee räumte den Tisch ab, dann nahm sie sich die
Berichte des Detektivs vor.
*** Severin saß auf seinem alten Sofa, hatte die Beine langgestreckt und kaute an einem Stück Käse. Dabei beschäftigte er sich mit dem bevorstehenden Problem. Fees Plan war einfach, aber wie er durchzuführen war, war eine andere Ge 213
schichte. In welche Falle sollte Brockelmann in seinem Ferienort stolpern? Ein Anruf? Wer sollte ihn hier zu erreichen versuchen? Wem hatte Brockelmann die Adresse hinterlassen? Hatte er jemandem gesagt, wo er sich aufhält oder wollte er für niemanden erreichbar sein? Die letzte Annahme war eher unwahrscheinlich. Der Partner einer großen Firma muß immer irgendwie verfügbar sein. Also, wer wußte von seinem Aufenthaltsort? Seine Sekretärin? Wahrscheinlich, war aber schwierig, in dieser kurzen Zeit an sie heranzukommen. Der Firmenchef? Seine Frau? Was war mit dieser Elaine? Noch unklar formte sich ein Gedanke. Nun, das mußte man im Auge behalten. Ein anderes Problem machte ihm Kopfzerbrechen. Warum hatte es ein Mann wie Bernhard Brockelmann nötig, selbst den Kurier zu spielen? War das eine einma lige Sache? War das Routine? War es überhaupt Bernhard Brockelmann? Was war, wenn sich die Kleine geirrt hatte? Der Käse war zu Ende, ob er sich noch ein Stück Speck gönnen sollte? In diesem Augenblick schrillte das Telefon. *** Dr.Herrmann Schäuble sang in seinem alten Ford die Arie aus La Traviata wie üblich mehr laut als richtig und bog dabei auf den Parkplatz des 'Donaublicks' ein. Wieder produzierte der alte Wagen eine Reihe von Fehlzündungen. Schäuble stieg aus und sah nach oben. Er erwartete, Corinne am Fenster zu sehen. Ich wer de gleich zu ihr hinaufgehen und ihr die gute Nachricht überbringen! dachte er. Aber am Fenster stand niemand. Er blickte sich um. Auch der bunte VW Käfer fehlte. Schäuble sah auf die Uhr, es war kurz nach eins, also noch etwas zu früh, aber hatte Corinne nicht gesagt, sie würde hier sein, wo sollte sie sonst sein? Schäuble schüttelte den Kopf und ging auf die Eingangstüre zu. In diesem Moment öffnete sich diese und Fee begrüßte ihn mit einem liebevollen Lächeln. „Schön, Herrmann, daß du schon da bist! Möchtest du noch etwas es sen? Ich habe noch was übrig von gestern.“ Schelmisch blinzelte sie ihn an. „Ich esse keine Reste!“ sagte Schäuble mit Würde. Dann drückte er Fee kurz an sich. „Wo ist denn meine Patientin?“ „Corinne? Die wollte einkaufen. Aber sie weiß, daß du um zwei kommst, bis dahin ist sie sicher zurück!“ „Nanu, wie ging das denn zu? Gestern noch ein Jammertal, Ängste, Depressio nen, Kreislaufschwäche und was weiß ich noch alles und heute, dideldum, gehen wir einkaufen? Kannst du Wunder bewirken? Dann solltest du vielleicht meine Praxis übernehmen.“ 214
„Herrmann, das lag nicht an mir. Sie mußte sich einfach einmal alles von der
Seele reden und da war ich gerade verfügbar. Aber sie hat noch schreckliche
Angst, Aids zu haben. Herrmann, mir ist klar, das fällt unter medizinische
Schweigepflicht, also will ich nicht in dich dringen.“ Forschend sah sie ihn an.
Schäuble preßte die Lippen zusammen und zwinkerte mit dem linken Auge. Zu
frieden drückte Fee ihm einen Kuß auf die Wange. Dann setzten sich beide in die
Stube und Herrmann ließ sich die 'Reste' schmecken.
Als Schäuble mit Genuß seinen letzten Bissen verdrückt hatte, kam Corinne an
gebraust. Die Geräusche ihres farbenfrohen VW Käfers unterschieden sich nur
unwesentlich von Schäubles altem Ford, so daß dieser hoffnungsfroh aus dem
Fenster sah, ob irgend jemand die notwendige Dummheit aufgebracht hätte, sein
Auto zu stehlen. Als er Corinne sah, ging er ihr entgegen. Das Mädchen stoppte
abrupt, als sie den Arzt erblickte.
„Oh, Doktor, Sie sind schon da? Haben Sie schon?“
„Ich habe schon. Ich denke nicht, daß wir das hier in der Eingangshalle bespre
chen sollten, oder?“
Zögernd schüttelte Corinne den Kopf. Dann atmete sie tief ein und steuerte auf
die Treppe zu. „Sie haben recht, gehen wir nach oben!“ Schäuble folgte ihr, so
rasch er konnte.
Im Bambuszimmmer deutete Corinne mit einer Geste auf die freien Stühle und
ließ sich dann dem Arzt gegenüber nieder. Offenbar war sie unfähig zu sprechen.
„Corinne, ich will Sie nicht länger auf die Folter spannen. Ihre Blutwerte sind
ausgezeichnet.“
„Keine erniedrigten Leukos?“
„Keine Rede davon und auch der Aidstest war negativ!“
„Gottseidank!“ Mit einem erleichterten Aufseufzen barg Corinne ihr Gesicht in
beiden Händen.
„Nun, nun liebes Kind beruhigen Sie sich! Etwas muß ich nämlich noch dazu
sagen.“
Corinne hob den Kopf und sah ihn an. „Es ist nicht sicher?“
„Doch, doch, der Test ist hundertprozentig negativ. Aber der Aidsvirus hat seine
Heimtücke. Er verschwindet sozusagen von Zeit zu Zeit. Sehen Sie, man kann
den Virus nicht direkt nachweisen, sondern nur auf dem Umweg über die Anti
körper. Also, wenn keine Antikörper da sind, ist kein Virus da. Wenn der Virus
aber nicht aktiv ist, produziert der Organismus auch keine Antikörper. Ist das
verständlich?“
215
„Ich glaube nicht. Was heißt das für mich?“ „Das heißt, daß Sie in Abständen von jeweils drei Monaten noch zwei weitere Test machen müssen. Wenn diese auch negativ sind, was wahrscheinlich ist, dann sind sie gesund!“ „Aha. Na gut, das kriege ich auch noch hin!“ Entschlossen stand sich Corinne auf. „Danke, Doktor! Ich danke Ihnen tausendmal!“ Sie lief um den Tisch und drückte Dr.Schäuble kräftig die Hand. „Da wäre noch etwas.“ „Ja? Noch etwas Unangenehmes?“ „Mehr oder weniger, äh, die Frage der Kosten.“ Corinne lachte und zückte ihr Scheckbuch. „Das ist das Einfachste, Doktor! Ich bin zwar krankenversichert, aber das würde zu lange dauern. Sagen Sie mir ein fach, was ich zu bezahlen habe.“ Aber so schnell ging es bei einem Schwaben nicht. Umständlich holte Schäuble sämtliche Belege aus seiner schwarzen Arzttasche, erklärte die einzelnen Posten und begründete deren Preis. „Du meine Güte, Doktor, nun lassen Sie das aber sein! Ich habe immerhin keinen armen Vater und in sechs Jahren bin ich selber stinkreich! Also, in Bausch und Bogen wieviel? Nein – lassen Sie mich noch etwas fragen. Gibt es hier nicht ir gend einen Jugendverein oder so was ähnliches?“ „Ja, eine Fußball- und Volleyballmannschaft, in der ich auch tätig bin. Aber nur als Trainer!“ setzte er erklärend hinzu. „Na, das habe ich mir fast gedacht, daß Sie nicht mehr aktiv sind.“ schelmisch blinzelte Corinne Schäuble zu. Dann überreichte sie ihm mit Schwung das blaue Formular. „Also, hier haben Sie einen Scheck über fünfhundert Mark. Davon ziehen sie diese vielen Dinge da ab, die Sie so säuberlich gesammelt haben, und der Rest ist für die Jugend von... wie heißt der Ort?“ „Beuron.“ „Ach, die Kirche! Vielleicht gehe ich doch noch dorthin!“ „Wie bitte?“ „Fee sagte, dort sei eine sehr schöne Kirche.“ „Ja, da hat sie recht. Die Taufkapelle ist wirklich einzigartig. Wunderbar, ganz wunderbar, erinnert ein wenig an byzantinische Kunst. Aber ich schweife ab. Das ist ein sehr großzügiges Geschenk, Fräulein Delgado – Corinne. Ich danke Ihnen 216
im Namen meiner Jungs sehr herzlich. Ich werde als erstes davon neue Trikots
kaufen.“
„Prima! Malen sie meinen Namenszug darauf!“
„Wie bitte?“
„Ein kleiner Scherz, Doktor!“
„Ich freue mich, daß Sie wieder scherzen können. Also, dann alles Gute und auf
Wiedersehen! Ich hoffe, Ihr fröhlicher Zustand hält noch lange an!“
„Das hoffe ich auch! Wissen Sie, Doktor, ich bin so froh und erleichtert, daß ich
die ganze Welt umarmen könnte. Sehen Sie, eine lange Zeit der Dunkelheit
scheint mit dem heutigen Tag vorbei zu sein. Ich habe jetzt nur noch ein Problem
aber auch da wird sich ein Weg finden. Nochmals vielen Dank und toi, toi, toi für
Ihre Jungs!“
Schäuble verstaute den Scheck in seiner Sakkotasche und verließ das Bambus
zimmer. Erst später fiel ihm auf, daß er Corinne vergessen hatte zu fragen, warum
um alles in der Welt sie so große Angst vor einem Aidstest hatte. Als er in die
Küche zurückkehrte, war diese leer. Ich weiß nicht, ob diese Frau das absichtlich
macht! knurrte Schäuble in Gedanken. In letzter Zeit muß ich mir immer meinen
Kaffee alleine kochen. Aber der Doktor war so zufrieden mit dem Verlauf der
Dinge, daß diese kleine Widrigkeit auch nicht imstande war, seine Laune zu trü
ben.
*** Corinne verstaute ihre Pakete im Schrank, als das Telefon läutete. Ohne Argwohn
ging sie an den Apparat. „Ja, hallo?“
Aber statt der erwarteten Stimme von Fee erkannte Corinne eine sehr viel ver
trautere.
„Corinne? Corinne Delgado?“
„Elaine?“
„Ja, hier spricht Elaine wie geht es dir?“
„Aha, mein Bruder, die Plaudertasche. War ja klar, daß er dir gegenüber nicht
dicht halten konnte!“ Corinnes eben noch fröhliche Stimmung war mit einem
Schlag verflogen.
„Corinne, bitte mache Alexander keine Vorwürfe. Ich habe mir Sorgen gemacht.“
„Mir geht’s gut.“
„Schön, sehr schön. Hier geht auch alles seinen gewohnten Gang! Das wird dich
vielleicht nicht allzu sehr interessieren.“
217
„Elaine, bitte! Was soll das?“
„Nun, Corinne, ich berichte dir einfach, was sich bei uns so tut. Immerhin bist du
seit elf Tagen nicht mehr zu Hause gewesen. Du weißt vielleicht noch, daß Bern
hard bei uns zu Besuch war.“
Corinne kontrollierte ihre Stimme und sagte vorsichtig: „Ganz kurz habe ich ihn
gesehen, ja.“
„Er blieb nicht lange. Drei Tage, er ist also schon wieder in Freiburg. Ich mag ihn
nicht besonders.“
„Das ist neu! Elaine, dann bist du eine hervorragende Schauspielerin!“
„Liebes Kind, was glaubst du, wie ich sonst solange in dieser Familie... fast hätte
ich gesagt, überleben konnte. Zurück zu Bernhard. Er konnte nicht länger in Ber
lin bleiben, weil er in ein paar Tagen auf Urlaub fahren wird.“
„Elaine, was kümmert mich der Urlaub dieses Herrn Brockelmann! Bitte, sei so
lieb und sprich einmal nicht in Rätseln!“
„Wie du willst! Bernhard sagte mir, er und Sophie werden ab Donnerstag dieser
Woche einige Tage im 'Donaublick' verbringen. Ich hatte das Gefühl, ich müßte
dich... äh, informieren. Also, paß gut auf dich auf! Au revoir.“ Die Verbindung
war unterbrochen.
Corinne saß wie erstarrt und sah den Hörer in ihrer Hand fassungslos an. *** „Ich hatte einen Anruf von Nat. Da der gute Doktor hier ist, dachte ich, es wäre besser, du würdest ins Pförtnerhäuschen kommen.“ Severin saß mit Fee an sei nem alten Eichentisch und betrachtete nachdenklich die vollgekritzelten Bögen
vor ihm.
Fee war gespannt. „Hat er etwas herausgefunden?“
„Der Doktor? Ich hoffe nicht!“
„Severin!!!“
„Du meinst Nathaniel? Nicht viel, die Zeit sei zu kurz gewesen. Bis jetzt gibt es
jedoch keine Hinweise auf eine kriminelle Betätigung Brockelmanns.“
„Heißt das, er ist sauber? Sollte Corinne sich geirrt haben?“
„Du kennst ja Nathaniel Kaminski! In dem Moment, als ich ihn auf die Spur
setzte, nahm er Witterung auf. Ich weiß nicht, ob Corinne sich geirrt hat. Unser
guter Berni wird nur bisher clever gewesen sein.“
„Severin, du sprichst in Rätseln. Glaubst du, Nat gräbt noch etwas aus?“
„Möglich.“
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„Severin! Spann mich nicht so auf die Folter!“ Umständlich zog Severin ein Blatt aus dem Papierwust vor ihm und deutete dar auf. Es war beinahe leer. Nur ein einziger Name stand darauf. Fee beugte sich vor. „Sophia Brockelmann?“ „Nat sagte, sie sei Griechin. Weißt du, wer ihr Vater ist?“ „Nein, so intim sind wir nie geworden!“ Fees Stimme klang trocken. „Aristophanes Kouroudis!“ „Das ist nicht wahr! Dieser alte Saukerl lebt immer noch? Mein Gott, wie lange haben wir ihn gejagt, Ugo, du und ich, und nie ist es uns gelungen, auch nur an ihm zu kratzen! Sophia Brockelmann ist seine Tochter? Da fehlen mir die Wor te!“ Severin war sich sicher, dieser Zustand würde nicht lange anhalten. In der Zwi schenzeit schrieb er auf das Blatt von Sophia Brockelmann fein säuberlich den Namen ihres Vaters, Aristophanes Kouroudis. „Du kannst dir vorstellen, wie Nat gesprungen ist, als er diesen Zusammenhang sah. Wir haben nun grünes Licht. Einzig die SBID muß vorerst noch draußen bleiben.“ „Aha, Nat will den ganzen Kuchen und nicht mit der Drogenfahndung teilen. Bekommen wir Verstärkung?“ „Erst wenn wir nachweisen, daß Brockelmann Dreck am Stecken hat!“ „Das verstehe ich nicht. Was will Kaminski? Daß wir für ihn die Kastanien aus dem Feuer holen?“ „Er will Kouroudis. Brockelmann ist für ihn nur ein kleiner Fisch. Wenn wir ihn an Land ziehen, gut. Wenn dadurch Kouroudis angreifbar wird, noch besser. Aber sonst riskiert Nat nichts. Wir sollten froh sein, daß er uns die Abhörein richtungen zur Verfügung stellt.“ „Was schlägst du nun vor?“ Severin hörte einen leichten Ärger aus Fees Stimme. Ihre Beziehung zu Nathaniel Kaminski war seit vielen Jahren nicht ungetrübt. Fee hielt Nat für einen Zögerer und Zauderer und hätte immer wieder gerne mehr Aktion gesehen. Severin wußte um die Bedenken Nats, er verstand ihn und hätte an seiner Stelle wahrscheinlich ebenso gehandelt. „Zuerst eine andere Frage. Was war mit dem Fax, das Corinne erwartete?“ „Ach je, die habe ich jetzt vergessen. Ich habe sie noch nicht ganz durchgelesen. Es sind Berichte über Corinnes Tätigkeiten.“ Mit kurzen Worten berichtete Fee. 219
Severins Gesichtsausdruck wurde immer zufriedener. „So was ähnliches habe ich
erwartet, nein, erhofft. Wir werden diese Berichte noch einmal sorgfältig durch
gehen, vielleicht finden wir einen Hinweis auf einen Kontakt zu Brockelmann.
Eine Kopie geben wir Nat. Er kann sie ebenfalls überprüfen. Dann kam mir noch
ein Gedanke.“ Unschlüssig zog Severin das Blatt hervor, auf dem Elaine von
Hohenstein stand. „Vielleicht wäre es eine gute Idee, wenn Corinne ihre Stief
mutter anrufen und sie fragen könnte, ob Brockelmann sein Ferienwochenende
erwähnt hat. Dann hätten wir einen Aufhänger für den fingierten Anruf!“
„Severin, du bist genial! Das ist es! Ein Anruf von den Hohensteins, irgendwas in
diese Richtung, und Brockelmann verplappert sich. Stürzt vielleicht sogar davon,
geradewegs zu Kouroudis. Das ist ein toller Plan! Endlich haben wir ihn!“
„Klingt ein wenig phantastisch.“
„Severin, du bist phantasielos! Verstehst du denn nicht? Damit haben wir auch
Kouroudis! Der kann sich dann doch nicht mehr herauswinden! Meinst du nicht,
daß das Schwiegersöhnchen plaudern wird?“
„Noch ist es nicht so weit.“ Severin teilte Fees Euphorie nicht. Um ehrlich zu
sein, er hielt ihren Plan für ziemlich abenteuerlich. Ugo Di Cosimo wird schon
gewußt haben, warum er seine Carissima in die Koordination und nicht in die
Planung von solchen Unternehmungen eingeteilt hatte. Severin wechselte wieder
das Thema. „Laß uns rüber gehen und die Berichte der Detektei kopieren und sie
Nat faxen. In der Zwischenzeit kannst du Corinne dazu bringen, ihre Stiefmutter
anzurufen. Vielleicht sehen wir dann klarer.“ Sie standen auf.
*** Als die beiden die Eingangshalle des Donaublicks betraten, kam ihnen Herrmann Schäuble entgegen und begann zu sprechen. Im selben Augenblick rannte Corin ne die Treppe herunter und rief anklagend: „Du mußt es gewußt haben! Du wuß test, daß er kommt!“ „...kommt nicht, soll ich dir ausrichten!“ beendete Herrmann Schäuble den be gonnenen Satz. „Wer kommt nicht?“ riefen Fee und Corinne wie aus einem Mund. Schäuble sah verblüfft von einer zur anderen. Womit der Anruf an Elaine hinfällig wäre, dachte Severin und drehte auf dem Absatz um. In diesem Moment wurde die Eingangstüre geöffnet und zwei Männer in blauer Montur traten ein. Der größere der beiden ergriff das Wort: „Guten Tag! Wir kommen von der Telekom und möchten ihr Telefon reparieren! Wo steht der Apparat?“ 220
Schäuble antwortete, indem er verständnislos von einem zum anderen sah: „Eine
gewisse Sophie Brockelmann, sagte ich das nicht?“
Fee und Corinne starrte sich an, während die 'Telekom'-Leute sich zielstrebig zur
Treppe orientierten. Das löste Fees Erstarrung.
Severin verkrümelte sich.
*** Um elf Uhr nachts war endlich Ruhe in den 'Donaublick' eingekehrt. Erleichtert schleuderte Fee ihre Schuhe von sich und kuschelte sich auf ihr Sofa. Dabei nippte sie an ihrem Sherry und dachte mit leichtem Schmunzeln an die chaotische Szene am Nachmittag. Dafür habe ich die Situation noch ganz gut gemeistert, wenn mich auch Severin, dieser Schuft, schmählich im Stich gelassen hat. Sie hatte Corinne gebeten, auf ihr Zimmer zu gehen, sie würde in Kürze ausführlich informiert zu werden. Immer noch mißtrauisch verschwand Corinne nach oben. Als nächstes bat Fee Herrmann, Kaffee aufzusetzen. Strahlend verkündete Schäuble, dieser sei bereits fertig. Aber Fee schob ihn ohne Umstände in die Kü che zurück und schloß nachdrücklich die Tür. Daraufhin zeigte Fee den erstaunlich gelassenen 'Telekom-Leute' die Suite und ließ sie allein. Allzu genau wollte sie deren Tätigkeiten gar nicht wissen. Dann ging Fee ins Bambuszimmer und bestätigte Corinne, daß Bernhard Brok kelmann – nun offenbar ohne seine Frau – am Donnerstag anreisen werde. Corin ne war gekränkt und eingeschnappt. Wieso sie das nicht erfahren habe, war die indignierte Frage. Fee blieb gelassen und versicherte, sie hätte es noch rechtzeitig mitgeteilt. Anschließend versuchte sie, Corinne zur Abreise zu bewegen. Aber wie sie es halb erwartet hatte, biß sie auf Granit. Corinne hatte sich wieder gefaßt und die Signale standen auf Kampf. Fee ließ sich jedoch auf nichts ein und die Frage der Abreise vorerst offen. Schlußendlich mußte Dr.Schäuble, den die Situation völlig überfordert hatte und der ziemlich pikiert in der Küche saß, mit einem ausgezeichneten Abendessen besänftigt werden, was mit der Zeit auch zufriedenstellend gelang. Nicht unwe sentlich trug dazu Corinne bei, deren Laune sich wieder gehoben hatte und die mit heiteren Geschichten aus der Großstadt die Atmosphäre lockerte. Selbst Schäuble mußte nach einiger Zeit lachen und so endete das Dinner in allgemein gelöster Stimmung. Vor einer halben Stunde nun war Herrmann nach Hause gefahren. Fee machte sich Gedanken darüber, er könnte den Wagen der 'Telekom-Leute' sehen, die sich inzwischen im Pförtnerhaus aufhielten. Das würde sogar einen Dr.Schäuble miß trauisch gemacht haben und Fees Bedarf an Komplikationen war für diesen Tag 221
gedeckt. Aber als sie Herrmann zum Wagen begleitete, war der Parkplatz leer. Offenbar waren die Angestellten dieser Firma besonders diskret und hatten außer Sicht geparkt. Corinne hatte sich nach dem Abendessen ohne weitere Widerstände in ihr Zim mer begeben. Sie sei ziemlich müde, sagte sie beim Abschied, würde aber gerne wieder morgen früh mit Fee frühstücken. Plötzlich klopfte es. Fee lief auf bloßen Füßen zur Küchentür. „Wir sind jetzt fertig. Die Anlage arbeitet einwandfrei. Die Station haben wir wie vereinbart im Nebengebäude aufgebaut. Ihr Mitarbeiter kennt sich ja bestens damit aus! Das war’s dann. Gute Nacht!“ Die beiden Männer verschwanden. Fee verschloß die Eingangstür. *** Alexander von Hohenstein genoß es, in seinem eigenen Bett in der Villa in Gru newald zu liegen. Solche spontanen Unternehmungen waren nichts für ihn. Wie der dachte er an Corinne. Wie es ihr wohl gehen mochte? Ob sie schon zu einer Entscheidung über was auch immer gelangt war? Aber der Gedanke entschwand rasch wieder. Es war höchste Zeit gewesen, wieder nach Berlin zurückzukehren. Der Markt war instabil wie schon seit Wochen nicht mehr und die Aktien der Firma weiter gefallen. Er würde mit Vater sprechen müssen! Vermutlich wäre es vernünftiger, mit dieser neuen Anlage in Freiburg noch etwas zu warten. Bern hard Brockelmann hatte wenig gute Nachrichten gebracht, genauer gesagt, es waren erschreckende Nachrichten. Die Bilanz war seit Monaten rückläufig. Wenn es so weiterging, müßte auch das Thema Kurzarbeit angesprochen werden! Ein
schrecklicher Gedanke!
Nun, man würde sehen. Bernhard würde nach seiner Rückkehr aus dem Urlaub –
idiotische Idee, zu dieser Jahreszeit Urlaub zu machen! – versuchen müssen, die
Dinge wieder ins Lot zu bringen. Wie machten das die Partner in Trier und Stutt
gart, bei denen es keinerlei Schwierigkeiten gab? Ob man Brockelmann mehr auf
die Finger sehen muß? Er würde ihn gleich morgen früh anrufen.
Mit diesen Gedanken schlief Alexander ein.
*** Elaine von Hohenstein saß an ihrer großen Spiegelkommode in ihrem in zarten Pastelltönen gehaltenen Schlafzimmer der Stadtwohnung und machte sich für die Nacht fertig. Dabei überdachte sie ihren Anruf an Corinne. Ob sie die Botschaft verstanden hat? Elaine fühlte sich etwas unbehaglich. Sie war kein Mensch der Tat, ließ den Dingen lieber ihren Lauf. Man konnte in unangenehme Situationen 222
kommen, wenn man sich einmischte! Situationen, die Ansehen und gesellschaft liche Stellung gefährden. Sie legte die Abschminktücher zur Seite und griff nach der Bürste. Gedankenverloren strich sie über ihre Haare. Elaine hatte schon seit einigen Monaten den Verdacht, daß mit Brockelmann etwas nicht stimmte. Sie wußte nicht genau, was es war, das ihren Verdacht geweckt hatte. Aber sie hielt ihre Augen offen, getreu dem Auftrag ihres Vaters im Ostberlin der DDR-Zeit: Augen offen – Mund geschlossen halten! Dann war da dieser Bericht der Detek tei, nun war kein Zweifel mehr möglich. Wie paßte Corinne in diese Geschichte? Wie auch immer! Wenn etwas dahinter steckt, wird Corinne es verstanden haben, wenn nicht, dann war es nichts als eine weitere überspannte Reaktion ihrer heißgeliebten Stiefmutter. Ironisch verzog Elaine den Mund, legte die Bürste zurück und ging zu Bett. *** Unruhig wälzte sich Jo Steinberg hin und her. Heute wollte der Schlaf nicht kommen. Corinne hatte sich nicht mehr gemeldet. Seitdem Jo die Berichte gefaxt hatte, hatte sie kein Lebenszeichen mehr von ihr gehört. Jo machte sich Gedan ken. Jo machte sich Sorgen. Was ging da vor? Wozu wollte Corinne die Berichte? Wo war sie überhaupt? Auf was hatte sich diese Göre schon wieder eingelassen? War ja schon beinahe krankhaft, diese Besessenheit, den Tod ihrer Mutter zu rächen! Ungeduldig schleuderte Jo die Bettdecke weg und machte Licht. Dann holte sie sich die Aufzeichnungen der Detektei. Sie schlüpfte wieder ins Bett und boxte sich das Kissen zurecht. Systematisch ging sie die Liste durch. Drei Namen kannte sie aus der Zeitung, die übrigen sagten ihr nichts. Wo war der Zusammen hang? Corinne hatte jemanden verfolgt, diesen O.B.O. Bogo sowieso, der sich mit diversen Leuten in U-Bahn Stationen traf. Also ging es dabei wahrscheinlich um Rauschgift. Monique Delgado hatte auch mit Rauschgift zu tun gehabt. Jo erinnerte sich nicht mehr daran, ob Corinne ihr damals den Namen des Dealers genannt hatte. Wenn es nun dieser Bogo war? Selbst wenn er es war, was hatte Corinne davon, dessen Kontaktpersonen zu verfolgen und zu identifizieren? Wollte sie einen Feldzug gegen Drogensüchtige der feinen Gesellschaft starten? Das konnte Jo nicht glauben. Dazu war Corinne doch viel zu vernünftig! Also, was war dann ihr Ziel? Den Hintermann aufzuspüren? Möglich – und was weiter? Was tat sie mit ihm, wenn sie ihn hatte? Wollte sie ihn anzeigen? Ihn umbringen? Seufzend und enttäuscht legte Jo die Blätter auf den Nachttisch. Dann dachte sie an Elaines Warnung. Aber jetzt war sie zu müde, sie würde sie morgen früh wie der versperren. Heute Nacht würde nichts passieren. Ein leises Rascheln schreckte Jo auf. Die Seiten waren auf den Boden gerutscht. Seufzend machte Jo wieder Licht, stieg aus dem Bett und sammelte die Bögen 223
ein. Plötzlich stutzte sie. Du meine Güte, das kam von dieser Hektik, in die sie durch Corinnes Drängen geraten war! Unschlüssig sah Jo vom Sendebericht auf die Blätter in ihrer Hand. Sie hatte zehn Seiten von Elaine erhalten, die letzte Seite trug diese Seitennummer. Aber laut Bericht waren nur neun an die betref fende Telefonnummer übermittelt worden. Jo zählte die Blätter – ebenfalls neun Seiten. Wo war die zehnte? Jo lief in die Diele und riß ihre Aktentasche vom Haken. Ungeduldig schüttelte sie den Inhalt auf den Boden und durchsuchte ihn. Nichts. Sie riß die Tasche auf und fuhr in die Seitenfächer und da war sie, die fehlende Seite. Etwas zerknüllt steckte sie halb im Futter. Jo zog sie heraus und strich sie glatt. Die Seite begann mit dem 13. und endete mit dem 18. September. Jo nahm sie mit ins Schlafzimmer und legte sie zu den anderen Blättern. Jetzt würde sie sie auch noch versperren. Sie öffnete den Schrank und legte die Be richte in das Schubfach. Ordentlich verschloß sie den Kasten wieder und ver steckte den Schlüssel in ihrem Nachtkästchen. Hoffentlich ist das keine Seite, die Corinne unbedingt braucht. Dieser Gedanke ließ Jo so lange nicht los, bis auch sie endlich einschlief. *** Severin betrachtete nachdenklich die vor ihm liegenden Blätter. Er war die Auf stellung der Detektei mehrfach durchgegangen, zwei oder drei Namen schienen bekannt, aber eher aus Rundfunk oder Presse. Dann hatte Severin sein altes Büchlein aus der Truhe geholt und Name für Name verglichen. Er fand keine Gemeinsamkeiten. Sieben Jahre sind offenbar eine lange Zeit! dachte er. Auch war Berlin nicht gerade der Hauptschauplatz der 'gruppa verde' gewesen. Severin selbst war lediglich dreimal in Berlin tätig geworden und auch Ugo Di Cosimo hatte nur vereinzelt in der Hauptstadt seine Nachforschungen betrieben. Sorgfältig legte er die Papiere auf einen Stoß und verstaute sie zusammen mit dem abgegriffenen Buch in seiner Truhe. Abwarten, was Nat damit anfangen konnte. Severin ging ins Schlafzimmer und weiter in einen angrenzenden kleinen Raum. Dort betrachtete er nachdenklich die aufgebauten Geräte, zwei Tonbänder mit übergroßen Spulen, die runden farbigen Diodenleuchten, die bei entsprechen der Tätigkeit leuchten würden, sowie eine altertümlich aussehende Klingel als akustisches Signal. Versuchsweise tippte Severin an eine Taste. Lautlos begann das Band zu spulen. Er stoppte und drehte mit dem Finger das Band zurück. Nun fehlt nur noch der Hauptdarsteller. Severin legte sich zur Ruhe. *** 224
Dr.Herrmann Schäuble war wieder einmal nicht zufrieden. Was geht bloß seit einigen Tagen im 'Donaublick' vor? Dieses bequeme, ordentliche Hotel! Eine Oase der Gemütlichkeit und Ruhe! Schäuble schüttelte den Kopf. Er war ver wirrt, gekränkt und verstört. Seine geordnete Welt drohte, aus den Fugen zu ge raten. Was war das für eine saubere, klare Beziehung zu Fee gewesen. Und jetzt? Sie stopfte ihn in irgendwelche Räume, schob ihn ab mit Handlangerarbeiten! Bitte, Herrmann, sei ein Schatz und mache für uns alle Kaffe, ja? Was bedeutete das alles? Schäuble war ganz und gar nicht zufrieden. War Fee in Schwierigkeiten? Das konnte nicht sein. Fee war eine praktisch ver anlagte Frau, die mit beiden Beinen auf dem Boden stand und in der Herrmann lesen konnte wie in einem Buch. Was sollten das außerdem für Schwierigkeiten sein? Ein so geordnetes und ruhiges Leben, wie sie führte! Kein Gedanke! Und wenn doch? Schäuble rief sich zur Ordnung. Er würde Corinnes Scheck bei der Bank vorbei bringen. Es war zwar schon halb zwölf Uhr nachts, aber ein kleiner Spaziergang würde ihm nur gut tun und hoffentlich die Spinnweben aus seinem Kopf vertreiben. Dr. Schäuble zog sich den Mantel an, vergewisserte sich, daß der Scheck noch immer in seiner Sakkotasche steckte und verließ das Haus. Zumindest die Bank befand sich noch dort, wo sie immer war. *** Corinne saß im Bett und rauchte. Flüchtig kam ihr der Gedanke, daß Alex dies wohl sofort unterbunden haben würde. Er haßte rauchen, überdies im Bett. „Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst auf keinen Fall im Bett rauchen! Wir könnten beide in der Nacht verbrennen!“ – „Na und?“ Mit diesen kratzbürstigen Antworten konnte sie ihn dann meistens zum Schweigen bringen. Armer Alex, so viele Moneten und so viele Skrupel! Dann krauste Corinne die Stirn. Brockel mann kommt am Donnerstag. Wie ein Rad drehte es sich in ihren Gedanken. Brockelmann kommt am Donnerstag Sie hatte Fees Argumentation nur zögernd akzeptiert. Sie hätte es gleich sagen müssen! Oder sollte sie doch morgen nach Berlin zurückkehren? Den Schwanz einziehen vor so einem Schwein? Kam ja gar nicht in die Tüte! Energisch drückte Corinne ihre Zigarette aus. Was dann? Sie konnte doch nicht einfach zu Brockelmann gehen und ihn mit süßem Lächeln fragen: Was gedenken Sie eigentlich jetzt zu tun, nachdem Sie meine Mutter umgebracht haben? Sollte sie also doch kneifen? – Nein!!! Das ist nicht drin! Nicht nach der ganzen Mühe, die ich mir gemacht habe! Die Sache der Polizei überlassen? Ungern, wirklich ungern und nur im äußersten Notfall. Eine 225
Hoffnung hatte sie ja noch. Fee Di Cosimo und dieser dunkle, undurchsichtige Mann – wie hieß er noch gleich? Ignatius? Eusebius? Conradin? Ach ja, Severin! Morgen früh würde sie mit Fee Klartext reden. Sie würde ihr mitteilen, daß sie auf keinen Fall nach Berlin zurückkehren werde, ehe sie nicht mit Brockelmann gesprochen habe. Bedenken hin oder her. Dann wird man weiter sehen. Vielleicht konnte Fee ja auch mit einer brauchbaren Idee aufwarten? Endlich schlief sie ein. *** Der Morgen dieses letzten Tages im Oktober zog strahlend schön herauf. Die Nacht war klar und kalt gewesen. Nur am Boden hatten sich einige Nebelschleier gebildet, so daß es aussah, als streckten die Bäume ihre Zweige und Kronen aus einem Wattemeer heraus. Im Osten zeigten sich bereits die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne. Fee stand am Fenster. Sie hatte ihren Bademantel eng um die Schultern gezogen und die Hände in den weiten Aufschlägen versteckt. Sie frö stelte. Sie sah zum Fenster hinaus, ohne jedoch dieses wunderbare Naturschau spiel des aufgehenden neuen Tages wahrzunehmen. Ihre Gedanken weilten bei Ugo Di Cosimo, ihrem Mann. Um genau zu sein, dachte sie eigentlich an Aristo phanes Kouroudis, aber dieser Name war untrennbar mit ihrer Erinnerung an Ugo verbunden, an Ugo und Ugos Tod. Nicht daß Kouroudis Schuld an Di Cosimos Tod gehabt hätte. Die Aktion, bei der Fees Mann der Tod ereilte, hatte nichts mit dem Schwiegervater Bernhard Brockelmanns zu tun. Aber ohne Aristophanes Kouroudis und seine Geschäfte wäre Ugo schon lange aus der 'gruppa verde' aus getreten. Bis zuletzt wollte er A.K. zur Strecke bringen. Fees Augen füllten sich mit Tränen. Sollte sie ihren Mann für seine Zähigkeit bewundern oder ihm wegen seiner Verbissenheit zürnen? Diese Frage hatte sie sich seit Ugos Tod sicher schon tausendmal gestellt. Fee löste ihre Hände aus den Ärmeln des Bademantels und zog den Kragen bis zu ihren Ohren hoch, als wollte sie sich darin verkriechen. Wie soll es nun weitergehen? Nun, da Kouroudis wieder in Reichweite gerückt war? Muß ich Ugos Werk zu Ende bringen? Tief atmete Fee ein. Sie spürte eine ungewohnte Ängstlichkeit. Diese Selbstzweifel kannte sie an sich nicht oft. Ge stern hatte sie überzeugende Argumente gefunden, um Corinne von ihrem Plan, ihre Mutter zu rächen, abzubringen und so vernünftige Dinge wie 'Fakten akzep tieren', 'Realitäten erkennen' und 'der Vernunft gehorchen' angebracht, ohne aller dings einen erkennbaren Erfolg zu erzielen. Vielleicht sollte ich mir diese guten Ratschläge einmal selbst anhören? dachte sie grimmig. Wie gewohnt, meldete sich jedoch gleich eine andere Stimme, die Stimme der aufmüpfigen, tollkühnen 226
Fritzi, das jahrhundertealte Erbe der Goriz-Gradiscas mit ihren Rittern und Kreuzfahrern, dieser Edlen von Görz, die wegen eines unziemlichen Blickes auf eine angebetete Dame zum Duell schritten. Ach, Papa! Hättest du mir damals von diesen Dingen erzählt und wie man in der heutigen Zeit mit einem solcherart brodelnden Blut umgeht, statt mir eine Predigt über Standesunterschiede zu hal ten! Nun geriet Fee in Gefahr zu weinen. Energisch schritt sie dagegen ein. Rasch lief sie ins Bad, schleuderte mit einem kräftigen Ruck ihren Bademantel von sich und stellte sich unter die kalte Dusche. Der momentane Schock ließ sie die Zähne zusammenbeißen – aber das Ziel war erreicht, die Tränen verschwunden. *** Nathaniel Kaminski, der Leiter der Spezialeinheit des BKA zur Bekämpfung ausländischer krimineller Elemente in der Bundesrepublik, kurz SBIK genannt, saß in seiner grauen Villa in Stuttgart-Burgholzhof und fuhr sich müde über die Augen. Die ganze Nacht hatte er Severins Listen durchgekämmt, Namen recher chiert und Querverbindungen geknüpft. Das Ergebnis war mager. Von den insge samt siebenundzwanzig Personen, die die Liste enthielt, waren nur zwei relativ erfolgversprechende Hinweise, die er den Berliner Kollegen bereits übermittelt hatte. Es würde vielleicht zur Verhaftung reichen und ob weitere Verzweigungen der in Deutschland tätigen Drogenmafia dadurch auffliegen würden, blieb abzu warten. Aber nichts Brauchbares hatte sich im Zusammenhang mit Aristophanes Kouroudis ergeben. Nochmals zog Nat das Blatt mit den dürren Angaben über diesen Mann hervor. Aristophanes Kouroudis, geb. 1933 in Athen, wohnhaft in Mailand, Witwer und Vater von vier Töchtern, Besitzer mehrerer Firmen, Verdacht des internationalen Drogenhandels, bevorzugtes Gebiet seit sieben Jahren die Bundesrepublik. Nat Kaminski fiel die Koinzidenz auf. Kouroudis hatte im selben Jahr, in dem Ugo Di Cosimo bei einem Einsatz gegen die Drogenmafia ums Leben kam, seine Haupt betätigungsfeld nach Deutschland verlagert. Ob das Zufall war? Nathaniel blät terte weiter. Unter der Rubrik 'Gerüchte' fand er die Anmerkung, daß A.K. an geblich ein gespanntes Verhältnis zu seiner zweitältesten Tochter Sophia habe. Nathaniel hielt wenig auf Gerüchte. Er sah auf die Uhr. Er hatte noch zwei Namen zu überprüfen, sozusagen die Hauptpersonen der ganzen Szene, Bogo Astafer und Corinne Delgado. Dann war es Zeit, wie versprochen Severin anzurufen, aber der Junge würde enttäuscht sein. Keine konkrete Spur bis jetzt. ***
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„ Ich kann diese Entscheidung nicht gutheißen! Es wäre viel vernünftiger...“
„Ach was!“ Corinne wischte Fees Einwände mit einer Handbewegung zur Seite.
Seit fast einer Stunde diskutierten sie nun schon hin und her. Corinne wurde
langsam ungeduldig. Die Wirtin des 'Donaublick' schien heute nicht so ganz in
Form. Kritisch betrachtete Corinne sie über den Tisch hinweg. „Geht es dir nicht
gut?“
Überrascht blickte Fee hoch. Eine sensible junge Dame! „Keine Rede, ich habe
nur nicht besonders gut geschlafen. Also, noch mal: du weigerst dich, nach Berlin
zurückzufahren?“
„Ehe ich nicht mit Brockelmann gesprochen habe, ja!“ Corinnes Stimme war fest
und entschieden.
„Du weißt aber nicht, was du ihm sagen wirst?“
„Noch nicht, aber ich werde es wissen!“
„Du bist dir auch nicht sicher, daß du ihn in der Galerie Lafayette erkannt hast?“
„Du lieber Gott! Wie oft müssen wir das noch durchhecheln! Vor Gericht könnte
ich es nicht beschwören, aber seine Reaktion am nächsten Morgen war wohl ein
deutig, oder nicht?“
Fee neigte im Moment eher dem 'oder nicht' zu, hütete sich aber, dies laut zu äu
ßern.
„Was ist los mit dir?“ Ungeduldig zupfte Corinne an ihren Haaren. „Ich hatte
gehofft, du würdest eine Idee haben? Gestern noch...“
„Gestern war gestern, Corinne! Die alte Weisheit, einmal die Dinge zu überschla
fen, ist eine gute Lebensregel.“
Corinne zog einen Flunsch und stand auf. „Wie du willst. Ich bleibe auf jeden
Fall bis morgen und irgendwie werde ich den guten Berni schon zu fassen krie
gen. Vielleicht hast du ja auch recht, vielleicht ist er unschuldig wie ein neugebo
renes Lamm.“ Sichtlich verärgert verschwand Corinne.
Fee seufzte. Die Dinge entwickelten sich nicht ganz nach ihrer Vorstellung.
Langsam räumte sie das Frühstücksgeschirr ab. Die Zweifel, ob Bernhard Brok
kelmann in die Geschichte verwickelt war, hatten sich nach dem Gespräch mit
Corinne nicht verringert. Fee ärgerte sich über sich selbst. Dieses Hin und Her
sah ihr gar nicht ähnlich. Seit wann bist du so unentschlossen? Die Antwort war
ganz einfach. Seit sie im 'Donaublik' lebte. Das ruhige und friedvolle Leben, das
Herrmann so schätzte, hatte auch für Fee durchaus seine Reize. Jetzt hatte sie die
Vergangenheit wieder eingeholt. Der alte Feind war wieder aufgetaucht. Was war
nun ihre Pflicht? Was verlangte sie von sich?
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Ein weiteres Problem nahm langsam Gestalt an. Irgend etwas störte sie. Kommt meine Unzufriedenheit daher? Ein Bemerkung Corinnes war aufgetaucht und wieder verschwunden wie ein Schatten. Irgend etwas paßte nicht zusammen. Un geduldig stopfte sie das schmutzige Geschirr in den Geschirrspüler. Dann holte sie sich ihre Wildlederjacke aus der Garderobe und nahm die Autoschlüssel vom Haken. Sie würde für ein paar Stunden den Ort des Geschehens verlassen. Sie wollte allein sein mit ihren Gedanken. Das hat noch immer geholfen. Mit quiet schenden Reifen schoß sie aus der Garage vor bis zur Kreuzung. Dann gab sie Vollgas. *** Herrmann Schäuble steckte den Befund des Labors von Corinne Delgado in ein Kuvert und verschloß es sorgfältig. Er würde zum 'Donaublick' fahren und ihn abgeben. Dies war eine ganz unverfängliche Möglichkeit, Fee zu sehen und – wer weiß – vielleicht einige Auskünfte zu erhalten. Herrmann hatte den Eindruck, er habe das Recht, ein paar Erklärungen zu bekommen. Den ganzen Tag schon hatte sich ein unbestimmbares Mißbehagen in Herrmann Schäuble ausgebreitet, das er jedoch nicht näher zu betrachten gewillt war. Am besten man klärt die Dinge vor Ort. Schon nach fünf Uhr? Gut, seine abend liche Sprechstunde war zwar noch nicht vorüber, aber heute hatte Schäuble keine Lust, auf noch eventuell eintrudelnde Patienten zu warten. Er hängte das Schild mit Namen und Telefonnummer seiner Vertretung vor die Tür und ging in die Garage. Als sein alter Ford spuckend und fauchend zum Leben erwachte, beschloß Schäuble, Fee ein paar Blumen mitzubringen. Wie lange war das schon her, seit er ihr das letzte Mal einen Strauß gebracht habe? Schäuble konnte sich nicht er innern. Wenn er ehrlich war, konnte er sich nicht erinnern, Fee überhaupt je Blumen geschenkt zu haben. Warum also jetzt? Möglicherweise stimmte mit ihm etwas nicht? *** Corinne wanderte durch die Fußgängerzone von Ulm und schlenkerte dabei mit ihrem Ledersack. Sie hatte kurz nach Fee den 'Donaublick' verlassen und war nach Beuron in die Kirche gefahren. Pflichtgemäß hatte sie die Taufkapelle be sichtigt und fand sie etwas befremdend. Beeindruckend, ja, aber auch befrem dend, nicht ihre Auffassung von kirchlicher Schönheit. Dann war sie lange in einer Kirchenbank gesessen und hatte nachgedacht. Hell und klar stand ihr die Zeit vor Augen, als ihre Mutter starb, heiß wühlte der Schmerz in ihrem Inneren und wieder machte sie sich Vorwürfe, den Stoff besorgt zu haben. Das brachte 229
ihre Gedanken wieder auf Brockelmann. Vielleicht hatte Fee doch Recht und sie hatte jemanden anderen gesehen? Wenn es nun ein Wunschdenken war? Der Wunsch, es möge irgend jemand sein, den sie kannte, zu dem sie Zugang hatte? Nicht doch! Wie er sie angestarrt hatte, das personifizierte schlechte Gewissen! Corinne schloß die Augen und sprach ein kurzes Gebet. Dann verließ sie die Kir che. Ihr war nach Menschen. Die Gegend war ziemlich öde. Ziellos fuhr sie los. Als sie ein Hinweisschild nach Ulm entdeckte, folgte sie diesem. Nun schlenderte sie durch die Fußgängerzone und genoß es, sich durch Men schenmengen durchzudrängen. Sie hörte eine Weile den Straßenmusikanten zu, einer Gruppe aus Kolumbien, und warf einen Schein in den aufgeklappten Gitar rekasten. Der Gitarrist lächelte ihr zu und verbeugte sich. Corinne lächelte zu rück. Bald schon kehrten ihre Gedanken wieder zu Brockelmann zurück. Sie kannte den Mann kaum. Sie hatten sich auf einer Party kennengelernt und waren danach zwei oder dreimal aufeinander getroffen. Die miteinander geführte Kon versation war über den üblichen Austausch von Höflichkeiten nicht hinausgegan gen. Ob er meinen Wagen kennt? In diesem Augenblick beschloß Corinne, ihr auffälliges Auto bei ihrer Rückkehr in den 'Donaublick' nicht auf dem üblichen Platz zu parken. Corinne war stolz auf sich. Vielleicht sollte sie eine Detektivagentur aufmachen? Mir scheint, ich habe eine Begabung für solche Sachen. Vom Ulmer Münster schlug es fünf. Wird langsam Zeit, zurückzufahren! Die Frage des Parkplatzes stellte sich für den heutigen Tag zumindest nicht mehr. Denn als Corinne zu ihrem Wagen zurückkehrte, hatte dieser beschlossen, kein Lebenszeichen mehr von sich zu geben und widerstand allen Versuchen, sich starten zu lassen. *** Auch Alexander von Hohenstein machte sich über Bernhard Brockelmann Ge danken, nicht nur das, er sprach gerade von ihm. „Wie gut kennst du, äh, Bern hard, Vater?“ Viktor von Hohenstein konnte seinen Sohn nicht verleugnen. Er war ebenso groß und hochgewachsen, der arrogante Gesichtsausdruck war vielleicht noch etwas stärker ausgeprägt, auch in Ausdruck und Gestik ähnelten sich beide sehr. Viktor sah gedankenvoll auf seinen Sohn. Im Grunde war er sehr zufrieden mit ihm, manchmal wünschte er ihn sich ein wenig risikofreudiger, flexibler, aber meistens schätzte er Alexanders Vorsicht in geschäftlichen Dingen. Alexander schien sich Sorgen zu machen. „Es ist etwa fünfzehn Jahre her, seitdem ich ihn kennenge lernt habe. Max Weiß, ein Freiburger Anwalt, hat ihn mir vorgestellt. Bernhard 230
war damals Geschäftsführer einer großen Textilfirma und wollte sich verändern.
Kurze Zeit später trat er in unseren Betrieb ein und bewährte sich hervorragend.
Du weißt, daß die Gewinne systematisch nach oben geklettert sind seit zehn Jah
ren, seit er Teilhaber ist.“
„Bis auf die letzten Monate. Da sinkt der Umsatz ebenso systematisch. Äh, ich
habe dich doch davon in Kenntnis gesetzt, Vater, weißt du es nicht mehr?“
„Alexander, ich kümmere mich vorwiegend um den Berliner Standort. Möglich,
daß du mich informiert hast, aber es schien mir nicht besonders beachtenswert.
Schwankungen gibt es überall, speziell in der heutigen Zeit. Was willst du damit
sagen?“
„Mutter hat, äh, einige Andeutungen bezüglich Bernhard gemacht.“
„Elaine kümmert sich um Geschäftliches? Das ist neu!“
„Es waren nicht direkt geschäftsbezogene Bemerkungen, mehr, äh, allgemeine“
„Du machst dir Sorgen?“
„Ja, vielleicht, es ist mehr ein Gefühl!“
„Was für ein Gefühl?“ Emotionen kamen bei Alexander nicht allzu oft vor.
„Bei seinem letzten Besuch schien mir Bernhard sehr nervös, fast schreckhaft. Er
war mit seinen Gedanken offenbar ganz woanders. Ich habe ihn heute früh ange
rufen und er war noch immer so, äh, nervös.“
„Hast du ihn denn darauf angesprochen?“
„Äh, äh, nein. Das schien mir nicht, äh, passend!“
Nachsichtig sah Viktor von Hohenstein seinen Sohn an. „Klarer kannst du es
nicht fassen, was mit Bernhard los sein könnte?“
„Nein, Vater.“
„Also?“
„Vater, ich weiß es nicht. Das einzig Greifbare ist die Bilanz, sie ist schlechter
wie vor einem Jahr zu dieser Zeit. Die Auftragslage scheint aber nach wie vor gut
zu sein. Wir sollten den Betriebsprüfer nach unten schicken!“ Unschlüssig sah er
seinen Vater an.
Dieser kratzte sich nachdenklich am Nasenrücken. „Wenn dein Verdacht dahin
geht, daß in Freiburg etwas nicht stimmt und Brockelmann Dreck am Stecken hat,
sollten wir dem nachgehen. Aber wir wollen so diskret wie möglich sein, Alex
ander, wir wollen Bernhard nicht unnötig vor den Kopf stoßen. Ist er nicht gerade
jetzt auf Urlaub?“
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„Ja, wie er mir heute gesagt hat, will er morgen für vier Tage verreisen. Das wä
re, äh, eine gute Gelegenheit.“
„Genau! Wir schicken Möller nach Freiburg. Bis Montag wird er sich schon ein
Bild machen können und Bernhard muß davon vorerst nichts erfahren.“
Zufrieden erhoben sich Vater und Sohn. „Fährst du mit mir in die Stadt? Deine
Mutter will heute eine Vernisage besuchen und sie wünscht meine Begleitung.“
„Nein, Vater, ich fahre nach Grunewald. Ich werde noch einige Papiere durchse
hen und dann möchte ich auch noch mit Möller sprechen. Wenn er morgen früh
fährt, wird die Zeit knapp!“
„Schön, wie du meinst. Was die Betriebsprüfung betrifft, werde ich selbst mit
Möller reden. Überlaß das mir, ja? Also, dann einen schönen Abend, mein
Sohn!“
Verwundert sah Alexander seinen Vater an. Sagte er nicht eben, die Zweigstellen
interessieren ihn nicht? „Aber die Vernisage? Mutter wird es gar nicht recht
sein.“
„Das Wohl der Firma geht vor, mein Sohn. Bis morgen!“ Viktor von Hohenstein
nickte seinem Sohn verabschiedend zu.
Verblüfft sah Alexander seinem Vater nach, der rasch den Raum verließ.
*** Viktor von Hohenstein ließ sich von seinem Chauffeur in die Mittelstraße Nr.2 fahren, der Stadtwohnung und bevorzugter Aufenthaltsort seiner Frau. Der Chauffeur hielt vor dem schmalen Gehsteig und öffnete seinem Chef die Tür. Von Hohenstein eilte in den ersten Stock und verwünschte seine Frau, die in die sem engen und ungemütlichen Haus ohne Lift unbedingt die meiste Zeit verbrin gen mußte. Ungeduldig öffnete er die Tür und entledigte sich, während er die schmale Diele durchschritt, seines Mantels. „Liebling, ich bin zurück! Wieviel Zeit haben wir noch bis zum Empfang?“
„Guten Abend, Viktor, schön, daß du kommst. Wir haben keine Zeit mehr, in
zehn Minuten beginnt die Eröffnung. Aber deine Frage zeigt mir, daß du wieder
etwas Geschäftliches vor hast. Habe ich eine Chance, heute noch mit dir zu dieser
Vernisage zu gehen, oder muß ich wie üblich allein hinfahren?“
„Elaine, nun übertreibe nicht. Ich muß lediglich ein Telefonat führen, maximal
fünf Minuten. Dann bin ich bereit!“
„Du solltest dich noch umziehen!“
„Also, zwanzig Minuten!“ Viktor betrat sein Arbeitszimmer und schloß die Tür.
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Elaine runzelte flüchtig die Stirn, dann ging sie in ihr Schlafzimmer, um ihr Sty ling zu überprüfen. Als sie an der Tür des Arbeitszimmer vorüberging, hörte sie ihn telefonieren. Elaine achtete nicht darauf. „Hier spricht Viktor von Hohenstein, Herr Möller. Ich habe einen Auftrag an Sie.“ „Sehr wohl, Herr von Hohenstein!“ „Sie fahren morgen früh nach Freiburg und nehmen die dortige Niederlassung unter die Lupe und zwar so...“ „Herr von Hohenstein, verzeihen Sie, aber morgen ist Allerheiligen“ „Möller, Sie haben mich unterbrochen. Ich schätze es nicht, unterbrochen zu werden! Die Gebäudeaufsicht ist ja anwesend, also haben Sie Zugang zu allen Räumen. Haben Sie verstanden?“ „Verzeihung. Natürlich, Herr von Hohenstein“ „Passen Sie nun auf, was ich überprüft haben möchte und mit welchem Ergeb nis.“ Knapp und klar erklärte der Chef des Konzerns seine Wünsche. Möller schien etwas gekränkt, beeilte sich jedoch, seine uneingeschränkte Mitarbeit zu zusichern. Mit zufriedenem Lächeln legte Viktor auf. Rasch eilte er in sein Schlafzimmer und kleidete sich um, kaffeebrauner Anzug, beiges, dezent gemu stertes Hemd. Er überlegte kurz, nahm dann keine Krawatte, sondern schlang sich einen Schal locker in den offenen Hemdkragen. Zufrieden besah er sein Spiegel bild und fuhr sich über die kaum ergrauten Haare. Ein gutaussehender Mann, ein Mann, der die Dinge im Griff hatte. „Elaine! Liebling! Wo steckst du? Ich bin bereit! Laß uns nun zu dieser aufre genden Dingsda gehen.“ Großzügig half er seiner Frau in den Mantel. *** Verlegen stand Dr.Herrmann Schäuble vor Fee und hielt ihr in der einen Hand seinen Mantel, in der anderen einen Strauß Nelken und Fresien entgegen. „Herrmann! Wie lieb von dir! Das ist eine wunderbare Überraschung!“ Strahlend nahm Fee ihm Blumen und Mantel ab und bedankte sich mit einem Kuß auf die Wange. Herrmann kratzte sich brummend am Ohr. „Komm herein und setz dich. Ich stelle nur eben diesen herrlichen Strauß in die Vase. Gibt es einen besonderen Anlaß für dieses Gabe?“ „Besonderer Anlaß? Wieso? Sollte ich etwas vergessen haben? Du hast doch nicht Geburtstag?“ 233
„Nein, Herrmann, das ist ja gerade meine Frage! Aber laß gut sein. Ich will mich darüber freuen, ohne einen Anlaß dahinter zu vermuten.“ Mit geschickten Hän den ordnete sie die Blumen in der Vase und stellte sie auf den Tisch. „Eigentlich bin ich ja gekommen, um den schriftlichen Befund für Fräulein Del gado abzugeben. Ist sie hier?“ „So? Nicht meinetwegen? Das enttäuscht mich jetzt, Herrmann!“ Fee weidete kurz sich an Herrmanns Verlegenheit, dann siegte ihre Zuneigung. „Corinne ist unterwegs. Als ich zurückkam, war das Auto nicht da. Brauchst du sie noch?“ „Nein, nein, ich hinterlasse ihr den Brief. Ist mir dir – hm, alles in Ordnung?“ Fee sah belustigt auf. „Scheint heute nicht mein bester Tag zu sein! Corinne hat mich am Morgen auch schon gefragt, ob es mir gut ginge. Nun, ich hatte einiges in Gedanken zu klären, aber ich habe eine lange Spazierfahrt gemacht und das hat geholfen. Es ist alles in Ordnung, Lieber, danke für deine Fürsorge!“ Fee stand auf und umarmte Schäuble, der tapsig ihren Arm tätschelte. „Dann ist es ja gut!“ brummte er. „Nicht, daß ich mir Sorgen gemacht habe, aber es war ein wenig unruhig hier in der letzten Zeit, nicht?“ Fee lachte. „Du triffst den Nagel auf den Kopf. Aber noch ist es nicht ausgestan den.“ „Hast du Schwierigkeiten mit deinen Gästen?“ „Wie man es nimmt, Herrmann. Die meisten Schwierigkeiten mache ich mir sel ber, weil es mich immer wieder dazu drängt, mich einzumischen. Du kennst mich ja.“ Voll Inbrunst stimmte Schäuble zu. Nun unterhielten sich die beiden in gewohnt freundschaftlichem Gespräch und Herrmanns Besorgnis schwand. Dann läutete das Telefon. Als Fee zurückkam, sah sie etwas verwirrt aus. „Schlimme Nachrichten?“ „Nein, Herrmann. Corinne hat angerufen, sie hat eine Autopanne und wird heute in Ulm bleiben. Morgen will sie wieder in den 'Donaublick' kommen.“ „Ist das ein Grund, sich Sorgen zu machen?“ „Wahrscheinlich nicht. Ich habe ihr angeboten, daß Severin sie abholen könnte. Sie meinte, sie würde lieber morgen früh gleich dafür sorgen, daß das Auto repa riert wird. Ich habe ihr den Notdienst durchgegeben, denn morgen wird sie Schwierigkeiten haben, eine offene Werkstätte zu finden. Nein, Liebling, kein Grund zur Beunruhigung! Möchtest du mit mir zu Abend essen?“ 234
Voll Freude stimmte Schäuble zu. Es sah so aus, als sollte er endlich wieder ein mal allein mit Fee einen Abend verbringen können, einen ruhigen, friedlichen Abend. *** Kritisch sah sich Fee in der Suite um. Sie hatte das Zimmermädchen als erstes hierher geschickt, um die Räume für den ankommenden Gast vorzubereiten. Nun wollte Fee überprüfen, ob alles in Ordnung war. Das Bad zur Linken strahlte makellos sauber, die Handtücher waren an ihren Haltern und drei flauschig wei che Bademäntel hingen an den vorgesehenen Haken. Fee löschte das Licht im Bad und schloß die Tür. Im Wohnzimmer schien ebenfalls alles tipptopp, auto matisch öffnete Fee die Tür zur Minibar, sie war vorschriftsmäßig aufgefüllt. Dann ging sie in das große Schlafzimmer und kippte einen Fensterflügel. Brok kelmann war ein Frischluftfanatiker. Im kleinen Schlafzimmer war die Scheibe erneuert und auch hier sah alles so aus, wie es sollte. Fee zog die Türe des Schlaf raums hinter sich zu und sah sich nochmals kritisch um. Nichts Ungewöhnliches, nichts war zu sehen, was nicht hierher gehörte. Zufrieden verließ sie die Suite. Als sie in das Erdgeschoß zurückkehrte, hörte sie den Staubsauger im Bambus zimmer. Das lenkte ihre Gedanken wieder auf Corinne. Hoffentlich taucht sie nicht gerade dann auf, wenn Brockelmann kommt! Fee hatte immer noch die Hoffnung, das junge Mädchen von einer Konfrontation mit ihrem Gast abzubrin gen. Man kann nie wissen, wie unberechenbar Menschen unter starkem Druck reagieren. Sie könnte sich in höchste Gefahr bringen. Wieder formte sich der vage Gedanke, daß sie irgend etwas übersehen hatte. Unschlüssig stand sie in der Eingangshalle. Plötzlich lief sie ins Wohnzimmer und zog die Kommodenschublade auf. Ungeduldig nahm sie die Fax heraus. Mit gerunzelter Stirn breitete sie sie auf dem Tisch auf und fuhr mit dem Finger die Seiten entlang. Dann stutzte sie. Bingo! Das war es, was sie gestört hatte! Zufrie den legte sie die Blätter zusammen und verschloß sie wieder in ihrer Kommode. Das muß ich Severin sagen! Entschlossen eilte sie hinaus. Aber erst will ich se hen, was der Bursche in der Zwischenzeit ausgeheckt hat *** Die Frage, ob der Bursche etwas ausgeheckt hatte, blieb vorerst unbeantwortet. Denn als Fee endlich Severin in der Garage aufgestöbert hatte, steckte dieser bis zum halben Oberkörper im geöffneten Motorraum seines Jaguar. „Na, du bist mir so einer! Ich dachte, du zerbrichst die unentwegt den Kopf über unser spezielles Problem, und was sehe ich? Du spielst mit deinem liebsten Spielzeug!“ 235
Severin wischte sich die fleckigen Hände an einem nicht eben sauberen Lappen
ab und brummte: „Was bringt es, sich den Kopf zu zerbrechen, wenn man ab
warten muß?“
„Oh, nein, mein Lieber, du drückst dich! Komm ich will mit dir reden!“ Wie in
alten Zeiten zerrte Fee Severin hinter sich her. Geduldig folgte er ihr.
Als Severin sich gereinigt hatte und aus dem Bad zurückkehrte, saß Fee am Tisch
und studierte eifrig die großen Bögen. „Allzu viel hast du nicht getan, stimmt’s?“
„Ich sagte es doch, wir haben im Moment keine andere Möglichkeit als abzu
warten. Die Abhöranlage ist installiert und so Gott will funktioniert sie auch.“
„Was gibt es Neues von der Zögererfront?“ Fee verzog das Gesicht.
„Nathaniel hat mich heute früh angerufen. Er ist mit Corinnes Liste noch nicht
durch, bis jetzt scheinen zwei Personen erfolgversprechend. Nun ist er dabei,
diesen Bogo Astafer zu überprüfen, der Albaner, hinter dem...“
„... hinter dem Corinne her war, ich weiß!“ fiel ihm Fee ungeduldig ins Wort.
„Das ist Schnee von gestern, was tun wir?“
Langsam und deutlich formulierte Severin: „Wir warten ab!“
„Und mein Plan?“
„Brockelmann mit einem fingierten Anruf aufzuscheuchen? Nat sagt, das würde
uns zu sehr bloßstellen!“
„Dieser alte Schlappschwanz!“ Fee schlug auf den Tisch, aber das übliche Feuer
dahinter fehlte. Aufmerksam sah Severin sie an. Fee beschäftigte etwas, diesen
Ausdruck an ihr kannte er gut. Aber sie würde nicht gleich damit herausrücken.
Sie würde es spannend machen. Er sammelte die Blätter ein.
Fee kaute an ihrer Unterlippe. „Also, der Reihe nach: wir hören Brockelmann in
seiner Suite ab. Ich frage mich, was wollen wir hören, wenn er allein kommt?
Wie er schnarcht?“
Severin zuckte mit den Achseln.
„Wenn er telefoniert, zeichnen wir auch das auf, gut Wahrscheinlich wird er sei
ne Frau anrufen und sagen, daß er gut angekommen ist. Ziemlich aufregend, fin
dest du nicht?“
Wieder zuckte Severin mit seinen Achseln.
„Jetzt spielst du auch noch den großen Schweiger.“
Severin schob den Stapel Papier von sich. Abwesend nahm Fee einige Blätter und
rollte sie zu einem Zylinder. Diesen hielt sie sich wie ein Fernrohr vors Auge und
fixierte Severin. „Weißt du, irgendwie ist mir meine Begeisterung für die Verbre
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cherjagd abhanden gekommen. Ich habe gestern lange über vieles nachgedacht
und bin zu dem Entschluß gekommen, ich schulde es Ugo und ich schulde es mir,
das in meiner Macht stehende zu tun, um gegen die Mafia vorzugehen. Nur das in
meiner Macht Stehende hat sich verändert, nun habe ich ein anderes Umfeld, ein
anderes Leben und daher...“ Tief seufzte sie auf.
„Aber das ist doch nicht alles, was dir im Kopf herumschwirrt!“
Fee kapitulierte. „Ich gebe es zu, da gibt es noch etwas. Ich wollte dich ein wenig
auf die Probe stellen. Aber das mit meinen Selbstzweifeln stimmt trotzdem! Hör
zu, nach Corinnes Erzählung und seit ich dann die Berichte der Detektei durch
gelesen habe, störte mich etwas. Erst konnte ich es nicht gleich fassen, aber vor
kurzem, gerade, nachdem ich die Suite von Brockelmann überprüft habe, ob Nats
Leute auch gut gearbeitet haben und nichts von den Überwachungsdingern zu
sehen ist, fiel mir ein, ja, ja, ich komme schon zum springenden Punkt, Severin!
Kenne ich gar nicht an dir, daß du ungeduldig wirst!“
Severin hörte auf, mit seinen Fingerspitzen auf den Tisch zu trommeln. „Fee, wir
brauchen dringend einen Punkt zum einhaken. Bitte, was ist dir aufgefallen und
was habe ich übersehen?“
„Aha, das ist es, was dich stört! Aber ich kann dich beruhigen. Du konntest es
nicht übersehen, weil du diese Information nicht hattest. Corinne hat mir nämlich
erzählt, daß sie diesen Jungen, Rick heißt er, getroffen hat, als sie 'wieder einmal
hinter Bogo herstiefelte', wie sie sagte. Das war am 17. September. Nun, klingelt
es?“
Severin war schon zu seiner Truhe geeilt und holte die Kopien der Detektivbe
richte heraus. Rasch blätterte er sie durch. „Das ist es! Es fehlt eine Seite! Diesen
Aufzeichnungen nach hat Corinne vom 13. bis 18. September keine Beschattun
gen durchgeführt!“ Triumphierend hielt Severin die Blätter hoch.
„Ganz genau! Das war es, was mich gestört hatte. Also, überlegen wir. Elaine
von Hohenstein gibt diese Berichte dieser Sozialarbeiterin Jo Steinberg. Wir wis
sen nicht, warum. Aber noch weniger wissen wir, warum eine Seite fehlt. Viel
leicht hat Corinnes Stiefmutter dieses Blatt entfernt. Was stand da drauf? Was hat
Corinne in dieser Zeit gesehen?“
„Oder was hat der Detektiv gesehen? Ich werde Nat anrufen. Vielleicht kann er
eine Kopie vom Detektivbüro organisieren.“
Zufrieden stand Fee auf. „Daher, mein lieber Severin, bin ich ganz und gar damit
einverstanden, daß wir vorerst abwarten.“ Sie wandte sich zur Tür. Als sie die
Klinke bereits gedrückt hatte, drehte sie sich noch einmal um und sagte anzüg
lich: „Glaube nicht, mir sei entgangen, daß du Corinnes Part in diesem Spiel mit
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keinem Wort erwähnt hast! Wie üblich brauchst du einen Joker!“ Dann schlug
die Türe zu.
Severin lächelte in sich hinein. In diesem Augenblick hörte er ein Auto vor dem
Hotel vorfahren. Er stand auf und ging zur Tür. Er würde seiner Rolle getreu das
Gepäck des neuen Gastes nach oben bringen.
*** Fee wartete an der Eingangstür, bis das dunkle Auto auf dem Parkplatz zum Ste hen gekommen war. Überrascht sah sie, daß sich beide Vordertüren öffneten und zwei Männer ausstiegen. Den Fahrer erkannte sie sofort, es war Bernhard Brok kelmann. Den zweiten Mann hatte sie noch nie gesehen. Er war groß, etwas füllig und am Kopf fehlten die meisten Haare. Fee wunderte sich über diesen zweiten
Gast. Das sieht nach neuen Komplikationen aus!
Mit jovialem Lächeln ging Brockelmann auf sie zu und streckte die Hand aus.
„Guten Tag, liebe Frau Di Cosimo! Ich bin froh, daß ich mein verschobenes Wo
chenende jetzt nachholen kann. Meine Frau hat sie ja bereits darüber informiert,
daß sie nicht kommen kann. Sie muß für ein paar Tage ins Krankenhaus Nein,
nein, nichts Ernstes! Eine Rundum-Erneuerung, wenn ich das einmal so salopp
formulieren darf, hahaha! Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen einzuwenden, daß
ich meinen alten Freund Max Weiß mitgebracht habe! Max, darf ich dir Frau Di
Cosimo vorstellen?“
Fee schüttelte die Hand des Anwalts und erwiderte dessen Begrüßung. Wieder
wunderte sie sich. Eine solche Ansprache! Er muß sich doch nicht rechtfertigen,
wen er mitbringt! Hauptsache, er zahlt die Rechnung!
In der Zwischenzeit waren die Herren in die Eingangshalle getreten und Fee sah,
ehe sie die Türe schloß, daß Severin dabei war, die Koffer aus dem Wagen zu
holen.
Plaudernd und scherzend erledigte Brockelmann die Anmeldeformalitäten und
führte dann seinen Freund Max Weiß in Richtung Treppe. Fee folgte ihnen.
„Bemühen Sie sich nicht, Frau Di Cosimo! Ich kenne den Weg. Wenn Sie nur
unser Gepäck... Ach, da kommt ja schon der allgegenwärtige Severin! Hahaha!
Guten Tag, Severin!“ Lachend winkte er ihm zu.
Severin nickte leicht mit dem Kopf und steuerte in Richtung Treppe. Fee sah
fasziniert dieser Szene zu. Was sind wird doch alle für gute Schauspieler! dachte
sie und bemerkte zu spät, daß Brockelmann bereits weitergeredet hatte. „Verzei
hen Sie, ich habe nicht zugehört!“
„Ich sagte, Max und ich werden nur das Frühstück im Hotel einnehmen, für die
übrigen Mahlzeiten werden wir uns die bodenständige Küche der Umgebung zu
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Gemüte führen, hahaha! Nicht wahr, Max, alter Freund!“ Ein kräftiger Schlag auf den Rücken des Anwalts brachte diesen zum Husten. Fee seufzte innerlich erleichtert auf. „Wie Sie wünschen, meine Herren! Ich hof fe, Sie fühlen sich hier wie zu Hause. Ich wünsche Ihnen beiden einen angeneh men Aufenthalt!“ Fee lächelte strahlend und sah Brockelmann direkt in die Au gen. Dabei überreichte sie den Schlüssel zur Suite. Die zwei Männer dankten ihr und gingen nach oben. *** Als Severin in sein Pförtnerhäuschen zurückkehrte, eilte er als erstes in den klei nen Raum hinter seinem Schlafzimmer, um die Überwachungsgeräte zu überprü fen. Er war bereits an der schmalen Tür, als das Telefon läutete. Ungeduldig ging Severin zurück in den Wohnraum und riß den Hörer von der Gabel. „Ja, Nat?“ Mehrere Minuten später legte er den Hörer langsam wieder auf. Er hatte offenbar sein Vorhaben völlig vergessen, denn er holte sich den Stapel Blätter, der immer noch auf dem Tisch lag, und suchte ein leeres Blatt. Darauf schrieb er den Namen Corinne Delgado, darunter setzte er in seiner akkuraten Schrift einen weiteren Namen: Monique Delgado. Er zögerte. Endlich machte er neben den Namen von Monique einen Pfeil und schrieb einen weiteren Namen hinzu: Viktor von Ho henstein. Gedankenvoll betrachtete er sein Diagramm. Langsam begannen die Dinge Gestalt anzunehmen *** Corinne trat ungeduldig von einem Bein auf das andere. Die Werkstätte zeichnete sich eher durch schwäbische Gründlichkeit denn durch Schnelligkeit aus. Außer dem war heute Feiertag und die Begeisterung der beiden Mechaniker für Repa raturen hielt sich sichtlich in Grenzen. Man hatte Corinne in dürren Worten die Ursache des Defektes mitgeteilt. Corinne verstand zwar Kohlen und Lichtma schine, die inneren Zusammenhänge dieser Materie waren für sie jedoch spani sche Dörfer. Es interessierte sie auch nicht. Es interessierte sie nur, wie lange die Herren Automechaniker noch benötigen würden. Es war schon nach zwölf Uhr. Corinnes nicht zu übersehende Ungeduld wirkte offenbar, die Herren Mechaniker bequemten sich zu der präzisen Aussage, daß es nicht mehr lange dauern werde. Corinne erinnerte sich plötzlich voll schlechten Gewissens an ein Versprechen und fragte nach einem Telefon. Rechts um die Ecke sei eine Zelle, wurde ihr gesagt. Corinne hoffte, Jo würde zu Hause sein. Jo Steinberg war zu Hause. „Hallo, Jo tut mir leid, daß ich gestern nichts von mir habe hören lassen, die Dinge gehen ein wenig drunter und drüber!“ 239
„Corinne! Gottseidank meldest du dich endlich! Ist alles in Ordnung?“
„Bestens, Jo, wirklich! Ich werde nun endlich mein Vorhaben erledigen können.
Sag jetzt nichts, ich weiß ja, daß du nicht einverstanden bist mit dem, was ich
vorhabe. Jo, bitte drücke mir die Daumen, daß das, was ich tun muß, gelingt!
Übrigens, danke für die Fax!“
„Oh je, Corinne.. ich muß dir sagen, mir ist da ein Mißgeschick passiert“
„Ja? Was ist passiert?“
„Ich habe ein Blatt übersehen. Es waren insgesamt zehn Seiten und irgendwie ist
eine nicht mitgefaxt worden. Ich habe es gestern abend entdeckt, als ich die Be
richte nochmals durchgesehen habe. Meinst du, es ist wichtig?“
„Nein, Jo, das glaube ich nicht. Was steht schon drin, was ich nicht auch erzählen
konnte? Vergiß es!“
„Na ja, wie du meinst Ich weiß ja nicht, was du damit vorhast.“
„Ich habe sie jemandem weitergegeben, von der ich glaube, daß sie etwas damit
anfangen kann, um mir zu helfen, das zu erledigen, was ich erledigen muß! Bist
du jetzt schlauer?“
„Nicht sehr viel, aber es scheint irgendwie wichtig für dich zu sein. Ich werde das
Blatt doch noch durchfaxen, OK?“
„Gut, Jo, wenn du glaubst. Also, tschüs! Das nächste Mal, wenn ich mich melde,
bin ich wieder in Berlin. Bis bald!“
„Toi, toi, toi, Corinne. Hoffentlich erreichst du, was immer du erreichen willst.“
Leise in sich hinein lächelnd ging Corinne zur Werkstatt zurück. Das Auto war
noch nicht fertig. Corinne äußerte ihre Unzufriedenheit. Ob dies Wirkung zeigte
oder die Arbeit bereits dem Ende zuging, war nicht ganz klar, doch nach einer
knappen halben Stunde konnte Corinne um einen weiteren Scheck ärmer, aber um
eine tadellos neue Lichtmaschine reicher den nach Schmieröle und Auspuffgasen
stinkenden Werkstättenraum verlassen und die Nase ihres knalligen VW Käfers
nach Süden richten.
Sie wollte dringend in den 'Donaublick' zurück. Brockelmann würde schon ange
kommen sein. Sie mußte es hinter sich bringen. Wenn nicht jetzt, dann würde es
nie klappen.
*** Fee hörte das Summen des Faxgerätes und ging in ihren kleinen Verschlag, der als Rezeption diente. Das Fax war an Corinne Delgado, dz. Hotel 'Donaublick', 88364 Beuron, gerichtet und Fee wollte es eben in das Fach des Bambuszimmers legen, als ihr Blick auf die Unterschrift fiel, Jo Steinberg. Neugierig geworden las 240
sie den Text. „Liebe Corinne! Anbei die fehlende Seite, die mir irgendwie durch die Lappen gegangen ist. Ich hoffe, die Person, die dir helfen soll, kann etwas damit anfangen, was dich deinem Ziel näher bringt. Liebe Grüße und auf baldiges Wiedersehen – Jo Steinberg.“ Fee ergriff die nächste Seite und da war es: Die fehlenden Aufzeichnungen der Detektei vom 13. bis 18. September. Noch im Stehen begann Fee den siebzehnten September zu suchen. „Liebe Frau Di Cosimo – oh, Verzeihung, habe ich Sie erschreckt? Mein Gott, das würde mir leid tun!“ Brockelmanns polternde Stimme drang an Fees Ohr, die unwillkürlich zusammengezuckt war. Ruhig sah sie hoch und legte die Blätter, die sie in der Hand hielt, zur Seite. „Nein, Herr Brockelmann, in keiner Weise. Haben Sie irgend einen Wunsch?“ „In der Tat, liebe Frau Di Cosimo! Wenn Sie so liebenswürdig wären, im Fall eines Anrufes meiner Frau auszurichten, ich würde mich heute abend bei ihr mel den!“ „Das mache ich gerne, Herr Brockelmann. Gehen Sie beide aus?“ Im Hintergrund war Max Weiß aufgetaucht. „Ja, wir sind nach dem Abendessen wieder zurück. Vielen Dank und bis später!“ „Auf Wiedersehen!“ Ohne sichtbare Erregung nahm Fee die Blätter von der Ab lage, nickte den beiden Männern freundlich zu und verschwand hinter der Tür. Hier stieß sie einen erleichterten Seufzer aus und kramte in der Schublade ihrer dreiteiligen Anrichte nach einer Zigarette. Das war knapp! Brockelmann hat mir ja beinahe über die Schulter geschaut! Rauchend setzte sie sich an den Tisch und begann zu lesen. Schon nach wenigen Augenblicken rannte sie zum Telefon und rief Severin zu sich. *** Als Corinne an die kleine Kreuzung kam, an der sie nach links zum 'Donaublick' abbiegen mußte, war es schon weit nach vier Uhr nachmittags. Sie hatte sich zweimal verfahren und mußte nach dem Weg fragen. Nun war sie froh, glücklich am Ziel gelandet zu sein. Vorsichtig lenkte sie ihren Käfer um die Kurve, der Parkplatz jedoch war leer. Enttäuscht biß sich Corinne auf die Lippen. Sie hatte sicher damit gerechnet, daß Brockelmann schon angereist war. Sie sah sich um. Es gab keine günstige Stelle, ihr Auto zu verstecken, aber linker Hand war eine Garage weit offen. Ein Jaguar stand darin, aber es war noch genügend Platz. Kurz entschlossen rollte Corinne in die Garage, stieg aus und drückte die Kipptüre nach unten. Sie würde Fee darüber informieren. 241
Sich nach allen Seiten umsehend lief sie auf das Hotel zu. Dabei kramte sie in ihrem Beutel nach dem Zimmerschlüssel. Wo war nur wieder diesen verflixten Schlüssel? Da ist er ja! Schnell durchquerte sie die Halle und lief nach oben. Sie würde sich vorerst nicht außerhalb ihres Zimmers sehen lassen und Fee von hier aus von ihrer Ankunft verständigen. Im Bambuszimmer sicher und ungesehen angelangt, griff sie als erstes nach dem Telefonhörer. *** „Sieh mal, da ist es!“ Triumphierend zeigte Fee auf eine Stelle in der Mitte der Seite. Severin beugte sich darüber und las die übliche eintönige Aufzählung der Detektive Wann und Senefeld, die an diesem Tag Corinne Delgado überwacht hatten. 17. September
18.35: B.O. verläßt Mittelstraße und begibt sich auf dem üblichen Weg zum Lo
kal 'Berliner Kindl'
19.22: B.O. verläßt das Lokal und wartet gegenüber dem Eingang
19.25: O.B.O. verläßt das Lokal und geht Richtung U-Bahn, B.O. verfolgt ihn,
U2 bis Ernst Reuterplatz.
Von diesem Punkt an änderte sich die trockene und eintönige Art der Berichter
stattung. Man konnte direkt sehen, wie unangenehm die folgende Darstellung für
den Verfasser war. Selbst das übliche B.O. und O.B.O. Verwirrspiel fehlte.
19.41: In der U-Bahnstation Ernst Reuterplatz C.Delgado verloren. Det.Wann
und ich verfolgten weiter Astafer, um Delgado wieder zu finden. Astafer verläßt
U-Bahnstation und biegt nach Osten auf die Straße des 17.Juni ein. Kurze Zeit
später betritt er die Baustelle der TU durch eine Lücke im Zaun (19 Uhr 57).
Nach fünf Minuten folgt ihm ein Mann, der einen großen schwarzen Handkoffer
trägt.
Um 20 Uhr 01 erscheint dieser Mann wieder durch die Lücke im Zaun ohne Kof fer und geht Richtung Westen. Detektiv Senefeld folgt ihm. Astafer verläßt um 20 Uhr 03 die Baustelle mit einem schwarzen Koffer in der Hand. Er wird von Det. Wann verfolgt. Astafer kehrt in das Lokal 'Berliner Bär' zurück. Seine Kon taktperson fährt mit der U-Bahn zum Bahnhof Zoo und weiter mit U2 zur Franzö sischen Straße. Betritt um 20 Uhr 47 das Haus Mittelstraße 2. Stirnrunzelnd sah Severin hoch. „Das ist doch Corinnes Adresse in Berlin, nicht?“
„Lies weiter, es kommt noch schöner!“ Fee stupste Severin am Oberarm. Severin
beugte sich wieder über das Blatt.
242
Kontaktperson Astafers konnte nicht identifiziert werden. Beschreibung: ca. 1,85
cm groß, mittelschwer, weißes Haar mit auffallend langen Koteletten, grauer,
kurzer Oberlippenbart, Hornbrille. Gepflegte Erscheinung, dynamischer Gang.
Auffallender Schmuck am kleinen Finger der linken Hand (wahrscheinlich Bril
lant in auffälliger Goldfassung).
Zufrieden schob Severin das Blatt zurück. „Brockelmann!“
„Jawohl! Du sagst es! Elaine von Hohenstein muß ihn nach dieser Beschreibung
sofort erkannt haben. Jetzt wissen wir, was Corinnes Stiefmutter motiviert hatte,
diese Berichte auf einem Umweg an Corinne weiterzuleiten. Was folgerst du
daraus, Severin, mein Freund?“
„Die kleine Delgado hat sich nicht geirrt. Brockelmann war Kurier und – so wie
es aussieht – nicht nur einmal!“
„Exakt!“
Das Telefon schrillte. Fee lief hinaus. Sie kam jedoch rasch wieder zurück. „Se
verin, du bist ein guter Stichwortgeber! Das war Corinne. Sie ist im Bambuszim
mer. Sie will sich nicht sehen lassen, wenn Brockelmann kommt. Zumindest ein
Rest von Vernunft! Ich habe ihr gesagt, daß er schon hier ist, im Moment aber das
Haus verlassen hat.“
„Ich gehe jetzt besser. Werde mal sehen, ob die Anlage funktioniert hat.“ Severin
stand auf, zögerte jedoch etwas.
Fee sah ihn aufmerksam ab. „Gibt es noch etwas?“
„Ja, eine interessante Mitteilung von Nat. Aber nicht hier. Wir sprechen später
darüber!“
Fee kniff das linke Auge zusammen. „Hast du Angst, daß wir abgehört werden?“
spottete sie. Severin zuckte mit den Achseln.
„Das sollte ein Scherz sein!“ Hilflos warf Fee die Hände hoch. „Dein größter
Fehler ist dein überwältigender Humor, mein Lieber. Ich komme, wenn die Be
stien alle zu Bett sind!“
Severin nickte und verschwand lautlos. *** Es war schon nach zehn Uhr, als Fee das Pförtnerhäuschen betrat. Sie war nur mäßig neugierig, was Severin ihr mitzuteilen hatte. Wahrscheinlich wieder eine von Nathaniel Kaminskis guten Ratschlägen! Unerwarteterweise kam Severin jedoch gleich zur Sache und es handelte sich dabei keineswegs um einen von Nats üblichen Vorschlägen zur Vorsicht. „Nat hat etwas gefunden. Es gibt noch eine andere Verbindung, die erstaunlich ist.“ 243
„So? Hat dieses alte Fossil wirklich etwas zutage gefördert?“
Severin ignorierte die Spitze. „Es gibt eine Verbindung zwischen Monique Del
gado und Viktor von Hohenstein!“
„Nein! Das ist ja wirklich sensationell!“ Fee riß vor gespielter Überraschung
Mund und Augen auf. „Wie um alles in der Welt konnte Nataniel nur diese sen
sationelle Entdeckung machen! Meinst du nicht, man sollte ihn einmal über die
Geschichte mit den Bienen und den Gänseblümchen aufklären?“
Severin klang nachsichtig. „Nat meinte nicht Viktors Vaterschaft. Monique Del
gado wurde 1976 wegen Drogenbesitzes verhaftet. Sie war damals einundzwan
zig.“
„Oho! Durch wen kam sie an den Stoff?“
„Das weiß man nicht genau. Aktenkundig ist nur, daß sie sofort nach Festnahme
nach Viktor von Hohenstein schrie. Der ist auch prompt aufgetaucht, wahr
scheinlich mit einem Rudel Anwälte im Schlepptau. Monique wurde postwen
dend aus der Untersuchungshaft entlassen und das Verfahren niedergeschlagen.“
„Das ist aber wirklich eine Neuigkeit. War Corinne damals schon auf der Welt?“
„Nein. Die Festnahme erfolgte im Jänner 76. Corinne ist 1977 geboren, sagte
Nat.“
Abwägend sah Fee ihn an. „Nat hat Corinne überprüft? Das alte Fossil traut auch
niemandem.“
Severin ging nicht darauf ein. „Mehr als ein Jahre später, im Juli 78, wurde Co-
rinne neuerlich festgenommen. Sie hat am Mexikoplatz einen Koffer voller schö
ner Sachen verteilt, Amphetamine, Valium, LSD usw.“
„Du meinst verkauft!“
„Nein, verschenkt! Sie stand da wie der Weihnachtsmann und streute die Dinger
unter das immer zahlreicher werdende Publikum!“
„Das gibt es doch nicht!“
„Als die Polizei kam, war das meiste Zeug schon weg. Im Polizeibericht steht,
daß Monique ziemlich high war und immer wieder rief: 'Nehmt euch alles, es
macht glücklich! Wo das herkommt, ist noch mehr!' Auf der Wache habe sie
Viktors Namen und seine Firma angegeben. Sie wiederholte stereotyp, sie würde
es diesem Bastard heimzahlen! Das hat natürlich die Leute von der Drogenfahn
dung in Windeseile auf den Plan gebracht.“
„Das ist wirklich ein Hammer! Corinnes Vater! Also stecken Brockelmann und
Viktor von Hohenstein unter einer Decke. Ob Alexander auch darin verwickelt
ist? Wie ging es dann weiter? Erzähl schon!“
244
„Es kam zu einer Untersuchung gegen Viktor von Hohenstein. Monique Delgado
war bereit, vor Gericht gegen ihn auszusagen...“
„Himmel, Severin, so rede endlich! Du bist schon fast wie Nat!“
„Ja, Fakten sind nicht mehr viele vorhanden! Zwei Wochen vor der Verhandlung
hat Monique einen unerklärlichen Anfall von Gedächtnisschwund erlitten und
konnte sich an nichts mehr erinnern. Das Gerichtsverfahren fiel flach. Von Ho
henstein konnte nichts nachgewiesen werden, seine Firma war sauber. Es
schwirrten natürlich eine Menge Gerüchte durch die Gegend, man sprach von viel
Geld, mit dem sich von Hohenstein Moniques Schweigen erkauft hatte.“
„Das Geld in Zürich ist kein Erbe, sondern von Corinnes Vater? Das könnte die
eigenartigen Auszahlungsmodalitäten erklären. Viktor wollte vermeiden, daß
seine Hauptbelastungszeugin plötzlich mit viel Geld um sich schmeißt und Ver
dacht erregt!“
„Was für ein Geld in Zürich?“
Fee erzählte ihm, was sie von Corinne wußte.
Severin nickte. „Ja, vielleicht stimmt auch beides, das Erbe und die Bestechung.“
„Wurde Monique wegen der Mexikoplatzgeschichte angeklagt?“
„Nein, Nat sagte, er habe nichts gefunden. Scheint im Sande verlaufen zu sein.“
„Das heißt, wir haben hier ein junges Mädchen, das durch den Inhaber einer
pharmazeutischen Firma rauschgiftsüchtig wird und vermutlich auch für ihn
dealt. Dann bekommt sie ein Kind und will nach einiger Zeit aussteigen. Er kauft
sich ihr Schweigen und hat sie damit ein Leben lang in seiner Hand – und sie
ihn!“ Fee hielt kurz inne. „Existierte damals schon die Niederlassung in Frei
burg?“
Anerkennend sah Severin sie an. „Gut kombiniert. Wenn er seine illegalen Ge
schäfte nicht aufgegeben, sondern nur verlagert hatte, mußte er nur einige Zeit
stillhalten. Ich werde Nat fragen. Er soll der Sache nachgehen!“
„Hervorragend! In diesen Dingen ist Kaminski nicht zu schlagen. Na ja, ist auch
etwas, wo er sich nicht sputen muß. Gibt es etwas Interessantes aus der Suite?“
Severin hatte sich an Fees Gedankensprünge gewöhnt. „Nein, das übliche small
talk. Brockelmann hat mit seiner Frau telefoniert. Bemerkenswert ist dabei, daß
er es war, der auf dem jetzigen Termin in der Klinik bestanden hatte, um sie nicht
hier zu haben. Vielleicht wollte er diesen Anwalt mitnehmen. Sophie Brockel
mann scheint aber nicht übermäßig sauer gewesen zu sein, daß sie nicht mitkam.“
Fee schmunzelte. „Das ist keine Überraschung.“
„Was ist mit dem Bambuszimmer?“
245
„Corinne war erstaunlich gelassen. Ich war vorher noch bei ihr und habe ihr et was zu essen gebracht. Dabei habe ich ihr gesagt, daß Brockelmann nicht allein gekommen ist. Das schien sie nicht weiter zu interessieren. Sie bagatellisierte die ganze Angelegenheit und sprach von etwas anderem. Sicher heckt sie etwas aus. Ich habe es dann auf sich beruhen lassen. Hoffentlich erstürmt sie heute Nacht nicht mit Geschrei die Suite, in jeder Hand einen meiner alten Bambusspeere. Einen Moment lang habe ich mir überlegt, sie abzuhängen und mitzunehmen, aber das hätte doch zu komisch ausgesehen!“ Fee runzelte die Stirn. Severin schien sich weniger Sorgen um weibliche Gäste zu machen, die speere schwingend in anderer Leute Zimmer stürmen könnten. „Womöglich ist sie zur Vernunft gekommen. Dann bleibt ja zu hoffen, daß sie morgen abreist und wir haben eine Komplikation weniger.“ Fee teilte keineswegs Severins Meinung, widersprach jedoch nicht. Als sie über den Parkplatz in den Donaublick zurückkehrte, sah sie, daß im Bambuszimmer noch Licht war. *** Im Babmuszimmer saß Corinne im Schneidersitz auf ihrem Bett, hatte sich die Kissen in den Rücken gestopft und interessierte sich in keinster Weise um die an der Wand angebrachten Speere. Sie blätterte ihr Tagebuch durch. Einiges konnte sie in diesem Moment nicht mehr nachvollziehen, so zum Beispiel ihre Furcht, Rick oder Greta könnten zu ihr nach Hause kommen und den Zustand ihrer Mut ter sehen. Aber das meiste stand noch ziemlich frisch vor Corinnes Augen und langsam füllten sich diese mit Tränen. Ach, Mam! Wie konntest du dein Leben so wegwerfen! Wie konntest du mich nur so allein lassen... Lange saß sie so da und ließ ihren Tränen freien Lauf. Endlich warf sie mit einer energischen Kopfbewegung ihre Haare zurück, putzte sich die Nase, klappte ent schlossen das Tagebuch zu und stopfte es in eine Schublade. Morgen würde sie Brockelmann sprechen. Daß er nicht allein gekommen war, komplizierte die Din ge ein wenig, aber Corinne verschwendete keinen Gedanken daran, sich deswe gen entmutigen zu lassen. Irgendwie würde sie Brockelmann allein zu fassen kriegen, es mußte ganz einfach klappen! Corinne setzte sich an den kleinen Tisch neben dem Fenster und legte ein Blatt Papier vor sich hin. *** Severin sprach mit Nathaniel Kaminski. „Was ich dir noch sagen wollte, Nat, du brauchst dich um die fehlende Seite des Detektivberichtes nicht mehr zu küm mern. Wir haben sie inzwischen. Sieht aus, als sei es ein Versehen gewesen.“ 246
„Gut. Schick sie mir durch.“
„Fee müßte sie bereits gefaxt haben.“
„Dann werde ich nachsehen. Wie steht es sonst bei euch?“
„Es verdichtet sich die Annahme, daß Brockelmann doch nicht ganz unbeteiligt
ist.“
„Schön, schön.“ Nats Stimme klang interessiert. „Eine Verbindung zu Kourou
dis?“
„Nein, das nicht, aber...“
„Oh, na ja, also was dann?“ Kaminski war hörbar enttäuscht. Severin informierte
ihn über die neueste Entwicklung.
„Du könntest ja deine speziellen Fertigkeiten benützen und das Gepäck durchstö
bern. Nicht gerade wahrscheinlich, daß er brisante Unterlagen mit in den Urlaub
nicht, aber wer weiß?“ Nat klang ein klein wenig gönnerhaft.
Severin blieb sachlich. „Damit möchte ich doch noch etwas abwarten. Außerdem
ist er nicht allein gekommen, das erschwert die Sache.“
„Vielleicht hat ja Sophie ein schriftliches Geständnis ihres Vaters im Schmink
koffer?“ Nataniel lachte kurz auf.
Severin war verblüfft. Humoristische Einlagen waren eher selten bei Nat Kamin
ski. „Ich fürchte, trotz meiner 'speziellen Fähigkeiten' bin ich nicht imstande,
Sophie Brockelmanns Schminkkoffer zu durchsuchen. So lange Arme habe ich
nicht. Sie ist es nämlich nicht mit Brockelmann gekommen. Er hat einen Anwalt
dabei, einen gewissen Max Weiß...“
„Was? Das ist aber eine Überraschung!“
„Kennst du ihn denn?“
„Na klar und du hattest vor nicht mal einer Woche auch schon mit ihm zu tun,
wenngleich indirekt. Er war es nämlich, durch den wir den Aufenthaltsort von
Felix Gersky bekamen.“
„Der Anwalt ist einer von uns?“
„Nun, ganz so kann man es nicht sehen. Max Weiß ist ein Anwalt, der sozusagen
auf zwei Hochzeiten tanzt. Du mußt wissen, es gibt in Stuttgart eine Mafiagrup
pe, die fast paramilitärisch aufgebaut ist und im gesamten süddeutschen Raum
Stützpunkte hat. Der Kopf dieser Gruppe nennt sich 'Commander' und hat eine
ganze Kompanie unter sich. Die werden alle mit so zackigen Bezeichnungen
durchnumeriert, wie KM 14 und so weiter. Die Spezialität dieser Gruppe ist es,
Industriespionage für den Osten zu betreiben und das damit erzielte Geld für die
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Mafia im Westen zu waschen. Mit diesen Leuten hatte sich Gersky eingelassen.
Max Weiß nun wiederum bessert sein schmales Anwaltsgehalt mit Diensten für
die Mafia auf, wobei er immer wieder haarscharf am Rande des Gesetzes entlang
schrammt. Damit er sich nicht zu sehr exponiert, hat er sich einen Code-drei-plus
zugelegt. Wie du weißt, heißt das, er ist Informant für uns und den BND. Damit
hat er seine Ruhe, wenn er sich nicht zu weit aus dem Fenster lehnt. Einmal wird
er trotzdem auf die Nase fallen. Spätestens dann, wenn die Mafia dahinter
kommt. Interessant, nicht?“
„Kann man sagen. Dieser Anwalt ist also ein Freund von Brockelmann?“
„Warte einen Moment, Severin... ja, vielen Dank! So, da bin ich wieder. Ich habe
soeben die Bestätigung bekommen, daß die Firma Pharmaco seit 1964 in Trier
und Freiburg Niederlassungen besitzt. Die Stuttgarter Filiale stammt aus dem
Jahr 1982.“
„Damit wäre auch dieser Punkt klar. Habt ihr noch etwas?“
„Wir sind dran, Severin, keine Sorge. Bis jetzt haben wir zwar noch nichts ge
funden, aber wir sind dran. Apropos – wie hast du es denn geschafft, meine ent
zückende Freundin Fee an die Leine zu legen?“
„Sie ist nicht besonders gut auf dich zu sprechen, Nat. Sie meint, du bist noch
zaghafter geworden und nennt dich immer noch ‚altes Fossil‘.“
Kaminski lachte. „Das ist nichts Neues. Sage ihr, mich beunruhige ihre Zurück
haltung!“
„Das alte Feuer lodert nicht mehr so heftig.“
„Willst du damit sagen, Fee kommt in die Jahre?“
„Nat, lassen wir das Thema. Wir hören wieder von einander. Gute Nacht!“
„OK, Severin, dann gute Nacht!“
Severin durchquerte das Schlafzimmer und begab sich in den angrenzenden klei
nen Raum. Er spulte das Tonband bis zur Markierung zurück und hörte sich die
letzten Gespräche aus der Suite an:
„Möchtest du noch etwas trinken, Max?“
„Ja, bitte.“
„Orangensaft, Apfelsaft oder lieber...“
„Orangensaft, danke.“
„Erdnüsse?“
„Nein, Bernhard, vielen Dank! Hör mal, ich will ja nicht ungeduldig erscheinen
und ich freue mich, daß unser lange geplantes gemeinsames Wochenende nun
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endlich zustande gekommen ist. Aber es war doch etwas kurzfristig, denkst du
nicht auch? Ich mußte einige Termine absagen. Denkst du nicht, ich hätte eine
Erklärung verdient?“
„Max, es tut mir leid, wenn ich dich in Schwierigkeiten gebracht habe. Ich weiß,
daß es kurzfristig war. Ich wollte dringend deinen juristischen Rat. Die Ge
schichte ist allerdings recht kompliziert. Der unmittelbare Anlaß war, daß Alex
ander von Hohenstein mich gestern angerufen hat und mitteilte, daß er nach eini
gen Tagen Abwesenheit wieder in der Firma sei. Das klingt nach Routine, aber er
stellte ein paar sehr seltsame Fragen, fand ich. Die Dinge laufen seit einiger Zeit
nicht so, wie sie sollten. Ich bin in Schwierigkeiten, Max, in ziemlichen Schwie
rigkeiten. Aber tu mir einen Gefallen, laß uns morgen darüber reden, ja? Ich bin
heute nicht in der Lage. OK?“
„Wenn du willst, in Ordnung! Gehen wir zu Bett!“
„Gute Nacht, Max!“
„Gute Nacht, Bernhard. Übrigens, wie ist es dir gelungen, deine fabelhaft ausse
hende Frau los zu werden?“
„Sophie? Nun, ich hatte ihr zum Geburtstag einen Aufenthalt in einer Schön
heitsklinik geschenkt. Ich veranlaßte die Klinik, den Termin vorzuziehen. Wenn
sie jetzt nicht fahren würde, müßte sie im Mai kommen und du weißt ja, da ist sie
immer in Griechenland!“
„Das war schlau von dir. Also, schlafe gut.“
Das Band schaltete sich ab. Severin blieb noch eine Weile sitzen und dachte über
das Gehörte nach. Es wurde langsam Zeit, mit Corinne Delgado zu sprechen. Er
sah auf die Uhr, kurz vor Mitternacht. Morgen früh würde Fee das übernehmen
müssen.
Endlich verlosch auch das Licht im Pförtnerhäuschen.
*** Als Fee zum Fenster hinaus sah, war alles in dichtem Nebel eingehüllt. Ihr erster Gedanke war, daß heute Freitag war. Heute vor einer Woche war Herrmann mit einem Kind auf dem Arm und einer erschrockenen und aufgelösten Frau im Schlepptau in ihr kleines Hotel gestürmt und hatte damit das in den letzten Jahren so ruhige und friedliche Leben mit einem Schlag beendet. Bedaure ich es? Viel leicht, in einer Hinsicht schon. Fee beschloß, diese Gedanken zur Seite zu schie ben. Noch war einiges zu tun. Als sie den Frühstücksbuffet fertig hatte, erschien Severin mit den frischen Brötchen. Während er sie in die vorbereiteten Körbchen legte, sagte er förmlich: „Frau Di Cosimo, würden Sie für einen Augenblick in die Küche kommen? Ich hätte da noch eine Fragen bezüglich...“ 249
Fee sah ihn verdutzt an. „Bezüglich was?“ Aber Severin war bereits verschwun
den. Dann verstand sie.
„Nun, hier bin ich.“ Fee drückte von innen die Küchentüre ins Schloß und lehnte
sich dagegen. Gespannt sah sie Severin an.
Dieser schilderte das in der Nacht gehörte Gespräch der beiden Gäste in der Suite
und schloß: „Ich denke, wir sollten Corinne Delgado einweihen. Es scheint sich
etwas zusammenzubrauen und ungewarnt sollte sie nicht in die Geschichte hinein
stolpern. Außer sie reist heute noch ab!“
„Kaum anzunehmen.“ Fee runzelte die Stirn. „Das bedeutet, daß wir unsere Dek
kung aufgeben!“
„Daran habe ich auch gedacht. Gibt es eine andere Möglichkeit?“
„Nur die, die Dinge laufen zu lassen, was vielleicht gefährlicher sein könnte. Ich
weiß nicht, Severin, ob das klug ist. Es spricht etwas dafür, aber vieles auch da
gegen... was ist jetzt los?“ Fee drehte sich um. Aus der Eingangshalle hörte man
Stimmen. Vorsichtig öffnete Fee die Türe einen Spalt.
„... eine Überraschung, Sie hier zu sehen, Herr Brockelmann, so ein Zufall!“ Co
rinnes Stimme hatte einen schrillen Unterton.
Brockelmann schien um Fassung zu ringen, denn er stotterte: „Sie? Äh... kennen
wir uns denn?“
„Nun, mein Bester, das ist ja ein gelungener Scherz! Erinnern Sie sich nicht? Wir
wurden einander auf dieser Party meines Bruders Alexander von Hohenstein
vorgestellt. So lange ist das auch wieder nicht her. Wenig schmeichelhaft für
mich, daß Sie sich nicht an mich erinnern.“
Fee schloß die Tür und die Unterhaltung wurde unverständlich.
Rasch sagte Fee: „Damit ist die Sache entschieden. Severin, verschwinde durch
die Hintertür!“
Dann riß Fee die Küchentüre wieder auf und eilte in die Halle.
„Guten Morgen, Herr Brockelmann! Oh guten Morgen, Fräulein Delgado, gut,
daß ich Sie treffe. Würden Sie bitte mit mir kommen, ich habe gerade einen An
ruf für Sie entgegen genommen. Frau Steinberg will Sie sprechen!“
Corinne schaute verblüfft. „Jo? Was will Jo um diese Zeit? Also gut, ich komme.
Auf Wiedersehen, Herr Brockelmann! Wir sehen uns ja bestimmt noch!“ Anzüg
lich lächelte sie ihn an. Dann folgte Sie Fee in die Küche.
Suchend sah sie sich nach einem Telefon um und sah fragend auf Fee, die gerade
die Türe geschlossen hatte. „Was ist mit Jo? Was soll das? Warum sagst du nicht
250
mehr du zu mir?“ Langsam dämmerte es. „Aha, das war wohl eine Masche, mich von diesem Dreckskerl loszueisen!“ Ärgerlich stampfte sie mit dem Fuß auf. „Corinne, bitte beruhige dich und nimm Platz. Ich muß unbedingt mit dir spre chen. Möchtest du zuerst Frühstück?“ „Kaffee reicht, wenn er fertig ist. Ansonsten bin ich mit Erklärungen zufrieden. Aber die müssen gut sein!“ Immer noch blitzten Corinnes Augen und ihre Stim me hatte den leicht schrillen Unterton noch nicht verloren. *** Severin war durch die Hintertüre in sein Häuschen geeilt und saß nun am Ton band, die Kopfhörer aufgestülpt, vor sich einen Block, auf den er sich hin und wieder Notizen machte. Überwiegend jedoch folgte er gespannt der Unterhaltung. Brockelmann war in die Suite gestürmt und hatte Max Weiss, der eben von einer Joggingrunde zurückgekehrt war und sich geduscht hatte, von seiner Begegnung mit Corinne berichtet. „... ich habe sie damals vor der Galerie Lafayette nicht sicher erkannt, um ehrlich zu sein, ich wollte glauben, ich hätte mich geirrt. Als ich sie am nächsten Tag in Viktors Wohnung sah und sie mich so anstarrte, war mir alles klar. Es ist einfach unfaßbar. Viktor hetzt mir seine eigene Tochter hinterher!“ „Bernhard, bis jetzt verstehe ich überhaupt nichts. Was sollte Viktor für einen Grund haben, dir jemanden hinterher zu hetzen? Mich friert, hat deine Erklärung noch Zeit, bis ich mich angezogen habe?“ Man hörte das Klappen einer Türe. „Laß dir Zeit, ich werde mir in der Zwischenzeit einen Beruhigungsschluck ge nehmigen.“ Einige Minuten war es still in der Suite. Dann erklang wieder die Stimme des Anwalts. „So, jetzt bin ich ganz für dich bereit, Bernhard. Ich nehme an, das hängt alles mit den Schwierigkeiten zusammen, von denen du gestern gesprochen hast“ *** Corinne starrte Fee an. „Das ist unglaublich! Ihr hört die Suite ab und auch noch mit offizieller Genehmigung? Mann, was seid ihr beide denn?“ „Also, offiziell ist es nicht, sozusagen halboffiziell. Hauptkommissar Cramer würde einiges dazu zu sagen haben, wenn er davon wüßte, und nichts davon wäre besonders freundlich. Corinne, die genauen Hintergründe werde ich dir nicht mitteilen. Laß es bitte dabei. Es muß dir genügen, was ich dir gesagt habe. Der springende Punkt ist...“ 251
„Was ich tun kann, nicht? Das wolltest du mich fragen!“
„Nein, die Frage ist, ob du dich überhaupt einmischen sollst. Nach meiner Mei
nung solltest du schnellstens nach Berlin zurückfahren.“
„Jetzt? Wo ich endlich am Ziel bin? Wo ich diesem Schwein endlich begegne,
der meine Mutter auf dem Gewissen hat?“
„Stop, Stop, keine vorschnellen Verdächtigungen. Brockelmann muß nicht der
Lieferant für das gepanschte Heroin gewesen sein, an dem deine Mutter starb.“
„Vielleicht nicht, vielleicht aber doch! In jedem Fall ist der Partner meines Va
ters darin verwickelt. Ich bin es auch ihm schuldig, daß ich mithelfe, die Dinge
aufzudecken. Wahrscheinlich ist er ebenfalls in Gefahr und Alex und auch Elai
ne. Verstehst du?“
Fee verstand nur zu gut. Nachdenklich sah sie Corinne an. Welche bittere Über
raschung wartete auf sie, aber erfahren würde sie es auf jeden Fall. Da war es
besser, sie würde nicht unwissend nach Berlin zurückkehren. „Ich verstehe, du
machst dir Sorgen um deine Familie. Wir werden nun ins Pförtnerhäuschen gehen
und du hörst dir an, was die beiden da oben zu besprechen haben – wenn sie et
was zu besprechen haben. Dann entscheiden wir weiter. In Ordnung?“
„Gut!“ Entschlossen erhob sich Corinne.
*** Als Fee und Corinne das kleine Zimmer hinter Severins Schlafstube betraten, nahm dieser die Kopfhörer ab und schaltete auf Lautsprecher. Die beiden Frauen nahmen nebeneinander auf der schmalen Bank Platz. Jetzt war es eng in diesem Raum, aber niemand schien darauf zu achten. Gespannt hörten sie zu. Eben sagte
Max Weiss:
„... weiß ich aber noch immer nicht, was das mit Corinne bedeuten soll.“
Ein Stöhnen, offenbar von Brockelmann. „Am besten, ich fange von Anfang an.
Du hast mich damals mit Viktor von Hohenstein bekannt gemacht. Ich wollte
mich verändern, Karriere machen und bei Textil Kramm war kein Weiterkom
men. Also nahm ich Hohensteins Angebot an. Nach vier Jahren war ich bereits
Geschäftsführer und seit dieser Zeit ging es ständig aufwärts mit meiner Karriere,
wie du ja weißt. Als mir Viktor seine Entscheidung mitteilte, mich zum Partner
und damit zum Leiter der Freiburger Niederlassung zu machen, eröffnete er mir
die daran geknüpften Bedingungen. Ich habe sie akzeptiert, ohne mir viel Gedan
ken darüber zu machen. Natürlich war ich mir der Gefahr bewußt, aber ich war
sicher, ich würde alles klar kriegen. Das gelang zehn Jahre hervorragend, bis vor
kurzem.“
252
„Bernhard, du sprichst in Rätseln. Was für einer Gefahr warst du dir bewußt?“
„Ins Gefängnis zu kommen.“
„Wegen Viktor?“
„Das weißt du nicht? Viktor von Hohenstein ist einer der Hauptlieferanten für
Drogen im süddeutschen Raum! Crack, XTC, was du willst! Nahezu jede zweite
Ecstasy Pille, die in Trier, Stuttgart oder München verkauft wird, stammt aus
seiner Raffinerie!“
Corinne stieß einen Schrei aus und schlug sich die Hand vor den Mund. Fee legte
ihr den Arm um die Schultern und drückte sie an sich. Corinne merkte es kaum,
mit gebanntem Blick fixierte sie das Tonband, das sich langsam drehte. Wieder
war Max Weiss zu hören. Er schien nicht allzu sehr erschüttert.
„Raffinerie? Was meinst du damit?“
„Das Labor, in dem diese neuen Wunderdrogen hergestellt werden. Offiziell läuft
es unter dem Namen Forschungslabor und befindet sich im Kellergeschoß im
Hauptgebäude. Niemand hat Zutritt, der hier nichts zu suchen hat. Alles unter
dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit!“
„In deiner Firma werden Drogen hergestellt und du hast es gewußt?“
„Ja, so kann man sagen. Es hatte schon vor meiner Zeit begonnen. Als Viktor mir
seine Bedingungen nannte, hat er mich darüber informiert, aber gleichzeitig be
tont, ich würde damit nichts zu tun haben. Ich sollte nur die Raffinerie ihm über
lassen und die Augen schließen.“
„Nun, für deine Karriere wirklich kein unbilliges Verlangen.“ Max Stimme klang
ironisch. „Ich verstehe aber immer noch nicht, wo deine Schwierigkeiten sind.
Bist du zum Moralisten geworden und konntest nicht mehr wegsehen?“
„Nein, Max, die Situation hat sich verändert. Ich soll in einem Monat in den Auf
sichtsrat von Höchst berufen werden und wollte aus Hohensteins Firma austre
ten.“
„Meinen Glückwunsch! Viktor fürchtet also um seine Pfründe. Aber du könntest
doch nichts gegen ihn unternehmen, selbst wenn du wolltest, ohne dich ebenso zu
belasten?“
„Ich weiß nicht, wie gut du Viktor kennst, er ist ein ausgezeichneter Geschäfts
mann, darüber hinaus ein völlig skrupelloser Mensch, der auch noch einige sadi
stische Veranlagungen hat. Als er vor drei Monaten von meiner Wahl in den Vor
stand erfahren hatte – ich weiß bis heute nicht von wem – kam er nach Freiburg.
Offiziell war die seit Monaten fallende Bilanz der Grund, aber als wir allein wa
ren, sprach er Klartext.“
253
Eine ganze Weile blieb es still. Die drei Zuhörer verharrten regungslos. Endlich sprach Brockelmann weiter. „Viktor hatte sich eine ganz perfide Idee ausgedacht, mich an sich zu binden. Mein Wissen allein war ihm nicht genug, das machte er deutlich, also wollte er mich auch aktiv an seinem Drogenverkauf beteiligen, wie er so zynisch sagte. Ich sollte den Kurier spielen. Viktor ist dabei, wieder in Berlin Fuß zu fassen und hat sich aus diesem Grund mit einem Albanischen Rauschgiftring zusammengetan. Also mußte ich einmal im Monat in Berlin antanzen und einen Koffer übergeben, den die Forschungsabteilung gefüllt hatte. Ich habe nie hinein gesehen, aber ich kann mir lebhaft vorstellen, was er enthielt.“ „Wußtest du, wem und wo du den Koffer zu übergeben hattest?“ „Ja, natürlich, es war Viktor, der mich anrief und mir den Treffpunkt mitteilte. Ich mußte es einem Mann geben, der sich zu einer bestimmten Zeit an einer be stimmten Stelle aufhielt. Es war immer eine Baustelle und immer woanders.“ „Wenn man dich geschnappt hätte, wäre Viktor doch auch aufgeflogen!“ „Max, das war jetzt deiner nicht würdig. Du bist doch Anwalt! Was hätte ich schon sagen können? Es ist meine Zweigstelle, ich bin der Geschäftsleiter, ich war informiert alles andere ist doch nicht beweisbar! Ich bin sogar überzeugt, Viktor hat es darauf angelegt oder zumindest damit kalkuliert, daß man mich schnappt. Das ergibt Sinn, denn dann wäre ich in keinem Fall mehr eine Gefahr gewesen. Dieses sadistische Schwein! Ich höre ihn noch, wie er mir süffisant den nächsten Treffpunkt mitteilt. Ich verstehe nur nicht, warum er seine eigene Tochter hinter mir her schickt.“ „Neeeiiin!“ Corinne schrie auf und rannte zur Tür. Aber Severin war schneller. Er fing sie ab und hielt sie mit seinen starken Armen fest. Da begann Corinne zu schluchzen. *** Zwei Stunden später saßen sich Fee und Corinne wieder im Wohnzimmer gegen über. Corinne hatte die Beine unter sich geschlagen und schien sich beruhigt zu haben. Ihre Augen waren noch gerötet, doch der Ausdruck von Verzweiflung und Mutlosigkeit verschwand langsam aus ihrem Gesicht. Immer wieder fuhr sie sich mit ihren Händen durchs Haar. In einem fort wiederholte sie: „Ich kann es nicht glauben, mein Vater!“ Plötzlich sah sie Fee an. „Ist Alexander auch darin ver wickelt?“ „Das weiß ich nicht, Corinne. Bis jetzt gibt es keinerlei Hinweise, aber wir wis sen es nicht.“ 254
„Elaine ist sicher sauber. Sonst hätte sie Jo nicht die Berichte gegeben.“ Ver zweifelt klammerte sie sich an diese Annahme. „Habt ihr es gewußt, Severin und du? Das von meinem... von Viktor?“ „Daß dein Vater irgendwie in die ganze Sache verwickelt war, haben wir heute Nacht erfahren, die weiteren Zusammenhänge...“ Fee verstummte. „Welche Zusammenhänge!“ Corinne hatte sich offensichtlich wieder gefaßt, Ungeduld klang aus ihrer Stimme und um den Mund zeigte sie einen entschlosse nen Ausdruck. „Ich weiß nicht, ob du das wissen solltest, es ist schon lange her!“ Fee nahm sich eine Zigarette und bot Corinne ebenfalls eine an. Aber diese schüttelte den Kopf und holte aus ihrer Jeanstasche ihre eigenen. Ungeduldig betätigte sie das Feuer zeug, das nicht gleich brennen wollte. „Was könnte mich jetzt noch umwerfen?“ „Ich bin nicht sicher, daß du es wissen willst.“ „Oh, ich schon! Ich bin mir ganz sicher, daß ich es nicht wissen will. Aber ich m u ß es wissen, verstehst du?“ Unglücklich sah sie Fee an. Also begann Fee, ihr die Zusammenhänge zu schildern. Corinne wurde immer starrer, fassungslos hörte sie zu und ließ die Zigarette in ihren Fingern unbeachtet verglimmen *** Als Severin sich wieder in das Gespräch der beiden Männer einklinkte, hörte er, wie Brockelmann gerade sagte: „Du siehst also, ich brauche dich, um aus dem Ganzen ungeschoren herauszu kommen, wo jetzt auch noch diese Göre aufgetaucht ist.“ „Hättest du dich nicht darauf eingelassen, den Stoff nach Berlin zu bringen“ „Ja, hätte und wenn, aber ich habe nun mal! Komm, laß uns irgendwohin fahren. Ich halte es hier nicht mehr aus.“ Severin entledigte sich seiner Kopfhörer und ging an das Fenster seines Schlaf zimmers. Wenige Minuten später sah er die beiden Gäste der Suite in ihrem Auto abfahren. *** Als Fee ihre Erzählung beendet hatte, saß Corinne starr und regungslos. Sie be merkte kaum, daß sich die Tür öffnete und Severin eintrat. Fragend blickte er Fee an. 255
„Ich habe Corinne alles erzählt und es war erwartungsgemäß ein großer Schock. Allzu lange sollte er aber nicht dauern, wenn wir in der Lage sind, sie zum Han deln zu bringen.“ In Corinnes Augen kam ein Funken Leben und sie sah zögernd Fee an. Aber diese beachtete sie nicht, sondern fuhr fort, sich mit Severin zu unterhalten. „Diese ganze Angelegenheit ist doch schon so lange vorbei! Was wissen wir darüber, was Monique dazu gebracht hat, so zu handeln, daß es zu dieser Entwicklung kam. Wer weiß denn schon von uns beiden, Severin, wie ihr Leben verlaufen war, ehe sie Viktor von Hohenstein kennen gelernt hatte. Glaubst du nicht auch, Se verin, daß wir im Moment uns lieber klar werden sollten, was mit Brockelmann geschehen soll?“ Fees Appell an Corinne schien anzukommen. Sie löste sich aus ihrer Verspan nung und streckte die Beine von sich. Aber noch immer verharrte sie in ihrem Schweigen. Severin, dem Fees Absicht ziemlich bald klar geworden war, spielte mit. „Sie haben recht, Frau Di Cosimo. Das nächstliegende ist immer das Beste! Ich denke, es wird jetzt Zeit, Hauptkommissar Cramer anzurufen!“ „Nein!“ Entschlossen sprang Corinne auf. „Nein! Nicht die Polizei, noch nicht. Bitte! Erst muß ich noch mit Berni reden!“ Bedeutungsvoll blickten sich Fee und Severin an. Es war gelungen, Corinne wie der in die Gegenwart zu bringen. „Nun, dann überlegen wir gemeinsam, was wir wollen. Komm, Severin, setz dich zu uns!“ Fee deutete auf den freien Platz. „Sollten wir nicht besser hören, was die beiden noch miteinander zu besprechen haben?“ fragte Corinne. „Brockelmann hat mit seinem Anwalt das Haus verlassen. Er hielt es nicht mehr aus in seinen vier Wänden, sagte er.“ Severins Stimme klang trocken. „Das läßt uns ein wenig Zeit. Also, legen wir die Fakten auf den Tisch. Was ha ben wir und was soll geschehen?“ Fee und Severin sahen zu Corinne. Diese runzelte die Stirn und konzentrierte sich. „Wenn ich alles richtig mitbekommen habe, ist die Lage folgende: Mein Vater produziert in seiner Freiburger Firma Drogen, über viele Jahre schon. Brockelmann wollte die Firma verlassen und machte sich dadurch unbeliebt. Also zwang ihn mein Vater zu Kuriertätigkeiten. Das machte es einmal seinem Partner unmöglich, ihn zu verpfeifen, und andererseits belieferte er in einfacher Weise seine Berliner Abnehmer. Brockelmann hat mich vor der Galerie Lafayette gese 256
hen und glaubt nun, ich sei im Auftrag Viktors hinter ihm her gewesen. Stimmt es
soweit?“
Fee nickte zustimmend. „Präzise und klar wiedergegeben. Was ergibt sich nun
für dich daraus?“
„Zum einen ist Brockelmann nicht der Lieferant des gepanschten Heroins gewe
sen. Er macht das erst seit kurzem, sagte er und warum sollte er lügen? Wahr
scheinlich ist also mein Vater nicht unmittelbar am Tod meiner Mutter schuld.
Andererseits glaubt Brockelmann, ich bin ebenfalls in diese Drogengeschichte
verwickelt. Das stört mich. Nicht, daß ich allzuviel auf die Meinung eines sol
chen Schlappschwanzes geben würde.“ Corinne verstummte. Ein neuer Gedanke
tauchte plötzlich auf! „Ich kann nicht mehr nach Hause! Du liebe Zeit, ich kann
ja gar nicht mehr zurück! Ich würde es nicht ertragen, mit diesen Leuten unter
einem Dach zu wohnen! Die einzige, die nichts damit zu tun hat, ist wahrschein
lich Elaine.“ Wieder verstummte Corinne. Dann sah sie unschlüssig von einem
zum anderen. „Ich werde wohl vorübergehend bei Jo wohnen“
„Sollen wir also Brockelmann laufen lassen!“ fragte Fee vorsichtig.
„Bestimmt nicht! Nein, das will ich nicht. Was meinst du damit? Hast du endlich
eine Idee?“
Fee lachte. „Was lange währt... du weißt schon. Ja, Severin und ich haben be
sprochen, wie wir ihn festnageln könnten.“
„Genügen die Tonbänder nicht?“
„Wahrscheinlich nicht, denn oft erkennt das Gericht aufgezeichnete Gespräche
nicht an. Du darfst nicht vergessen, wir haben keine offizielle Erlaubnis, die Suite
abzuhören. Besser wäre ein Zeuge, der vor Gericht aussagt!“
Langsam dämmerte es bei Corinne. Unruhig lief sie auf und ab und deutete mit
dem Zeigefinger auf Fee. „Das ist vielleicht eine Möglichkeit, ja! Das ist gut!
Damit kriegen wir ihn! Du meinst doch, ich sollte meine Rolle weiter spielen und
so tun, als wäre ich von meinem Vater beauftragt worden. Damit kann ich aus
ihm alles heraus kitzeln und ihr nehmt es auf. Ich bin Zeuge in der Gerichtsver
handlung und wenn das nicht genügen sollte, haben wir immer noch die Bänder
in der Hinterhand!“ Sie klatschte in die Hände.
Anerkennend sah Fee Severin an. „Ich sagte dir doch, sie ist ein helles Köpfchen!
Hat sie irgend etwas Wichtiges ausgelassen?“
„Nein.“ Severin geizte wie üblich mit Worten.
Corinne sah wieder von einem zum anderen. „Das ist es doch, was ihr ausgetüf
telt habt, oder?“
257
„Ganz genau, Corinne, wir wollten dich jedoch nicht dazu bringen. Es sollte von
dir kommen.“
„Was machen wir mit dem Anwalt?“ Severin klang interessiert. Er wollte wissen,
ob Corinne auch für diese Komplikation einen Weg finden würde. Sie enttäuschte
ihn nicht.
„Gar kein Problem“ Wegwerfend wedelte sie mit der Hand. „Mir fallen da einige
Möglichkeiten ein, z.B. könnte ihn Fee mit irgend einem Vorwand aus der Suite
locken, oder ich bitte Brockelmann in mein Zimmer, er wird viel zu viel Angst
haben, nicht zu kommen... nein, das geht nicht. Mein Zimmer wird ja nicht abge
hört oder doch?“ Mißtrauisch sah sie Severin an.
Dieser verzog keine Miene und schüttelte den Kopf. Fee verbiß sich ein Lachen.
„Von mir aus kann der Anwalt auch dabei sein. Ich denke, wenn er merkt, in
welche Richtung des Gespräch läuft, wird er sich schon von selbst aus dem Staub
machen, sonst bescheinige ich ihm noch Mitwisserschaft!“ Das klang bereits sehr
kriegerisch.
„Gut!“ Severin stand auf und ging hinaus.
Verdutzt sah ihm Corinne nach. „Was hat er denn?“
Fee lachte. „Das ist typisch für ihn. Die offenen Fragen sind geklärt, also ist alles
weitere nur Zeitverschwendung. Du bist sehr geschickt, mein Kind, in deinen
Strategien, Probleme zu bewältigen! Es war ein Vergnügen, dir zu folgen!“
Verlegen zupfte Corinne an ihren Haaren. Dann seufzte sie. „Etwas mulmig ist
mir schon zumute. Was ist, wenn ich die ganze Sache schmeiße?“
„Ich bin sicher, das wirst du nicht!“ Fee stand auf und legte beruhigend ihren
Arm um die Schultern des Mädchens. „Komm, laß uns in die Küche gehen oder
bist du gar nicht hungrig? Es ist nach ein Uhr, Zeit fürs Mittagessen!“
*** Max Weiss wanderte auf dem Friedhof von Bingen umher, ohne die Umgebung wirklich wahrzunehmen. Nach dem Mittagessen hatte er Bernhard gebeten, ihn hier abzusetzen. Angeblich wollte er das Grab seiner Cousine besuchen, jetzt, wo
er schon einmal hier war. Außerdem war Allerheiligen.
Bernhard war zwar etwas erstaunt, machte jedoch keine Einwände. Max bat ihn,
nicht zu warten, er würde ein Taxi nehmen. Also fuhr Brockelmann alleine zu
rück.
Das Wetter hatte sich seit dem Morgen nicht geändert. Noch immer hing der
graue Nebel in schweren Schwaden bis zum Boden. Richtige Novemberstim
mung. Auch davon bemerkte Max Weiss wenig.
258
Ziellos wanderte er zwischen den Gräbern umher, bis er sicher war, daß Brok kelmann abgefahren war und verließ dann den Friedhof. Neben der Kirche fand er einen Gasthof und fröstelnd trat er ein. Er war der einzige Gast und mußte eine Weile warten, bis die Wirtin erschien. Er bestellte sich einen heißen Tee, trank schnell den ersten Schluck und fühlte die heiße Flüssigkeit ihn erwärmen. Seine kalten Finger umklammerten das Glas. Dann lehnte sich der Anwalt zurück und schloß die Augen. Er mußte dringend nachdenken. Erst dieses Schlamassel mit Gersky und nun das! Die Woche konnte man wohl abschreiben. Nicht, daß er generell Skrupel hätte, oh nein! Seine größte Einnah mequelle war ja die Mafia, aber dabei handelte es sich vorwiegend um Verträge, Kontakte. Nur hin und wieder war er vor Gericht tätig, wenn es darum ging, In dustriespione zu verteidigen. Aber Drogen! Das war ein ganz anderes Blatt! Dem Anwalt war klar, daß er sich etwas vormachte, aber damit würde er schon zu rechtkommen. Es war bisher ja auch gelungen. Doch nun? Brockelmann würde nicht nur Trostworte von ihm erwarten. Er hatte ja bereits angedeutet, in welche Richtung seine Vorstellung ging, er erwartete Beistand und die tatkräftige Hilfe seines Anwalts. Weiss war sich nicht sicher, ob er sich wirklich mit Viktor von Hohenstein anlegen wollte. Bei genauerer Be trachtung der Sachlage war er sich ziemlich sicher, daß er sich nicht mit Viktor von Hohenstein anlegen wollte. Er atmete tief ein und öffnete die Augen. Die Gaststube war immer noch leer. Gedankenvoll rührte er in seiner Tasse Tee. *** Die beiden Frauen saßen in der Küche und unterhielten sich, ohne die bevorste hende Aktion auch nur mit einem Wort zu erwähnen. Corinne war nach dem Es sen für eine halbe Stunde in ihr Zimmer gegangen, hatte es dort aber offenbar nicht lange ausgehalten. Beiden war anzumerken, daß sie mit ihren Gedanken nicht ganz bei der Sache waren. Fee sah öfter auf die Uhr und Corinne lief immer wieder zum Fenster, um die Ankunft der beiden Männer ja nicht zu verpassen. In der Zwischenzeit war es beinahe vier Uhr geworden und Corinne wurde lang sam ungeduldig. Nervös knabberte sie an ihren Nägeln. „Corinne, entspanne dich! Du kannst dich immer noch anders entscheiden. Wir werden auch eine Al ternative finden, bei der du nicht involviert bist.“ „Nein, ich will mich nicht raushalten! Es ist meine Sache und ich bin sehr froh, daß du und Severin mir beistehen. Gehen wir es nochmals durch. Also, wenn er kommt, klopfe ich an. Dann wird er 'herein' sagen, muß er ja. Ich trete ein und frage, ob ich ihn kurz sprechen könne. Daraufhin wird der Anwalt wahrscheinlich 259
das Weite suchen und ich bin mit Brockelmann allein. Dann sage ich... Jetzt
kommt er!“ Corinne sprang auf und lief zum Fenster.
Auch Fee hatte ein Auto gehört und trat neben das Mädchen. Beide sahen zu, wie
Brockelmann aus dem Wagen stieg und warteten gespannt. Nach einigen Sekun
den sahen sich die beiden Frauen aufmunternd an. Brockelmann war allein ge
kommen.
Corinne straffte sich. „Ich werde noch eine Zigarette rauchen und dann nach oben
gehen. Berni – genieße die letzten ruhigen Minuten deines Lebens!“ Theatralisch
breitete sie die Arme aus und fing an zu lachen. Leichte Hysterie schwang mit.
Fee reichte ihr eine Zigarette und gab ihr Feuer. Dann ging sie zum Sideboard
und holte einen Schwenker, den sie mit einem kräftigen Schluck Cognac füllte.
Sie reichte Corinne das Glas. „Beruhigt die Nerven!“
Corinne, die heftig an ihrer Zigarette gezogen hatte, setzte das Glas an die Lippen
und stürzte den Inhalt mit einem Schluck hinunter. Aufatmend stellte sie den
Schwenker auf den Tisch und drückte ihre Zigarette aus.
„Also dann!“
„Toi, toi, toi und denke daran, wir sind in der Nähe und hören mit. Hab keine
Angst!“
Corinne nickte und öffnete die Tür. Entschlossen trat sie hinaus.
*** Fee eilte durch den Gang zur Hintertür und schlüpfte hinaus. Sie durchquerte den schmalen Durchlaß und öffnete die Tür zur Garage. Diese war ein ehemaliger Stall und nahm die ganze Nordseite des Grundstücks ein. Am anderen Ende des Gebäudes öffnete Fee wieder eine Türe und befand sich nun im Pförtner häuschen. Auf diese Weise konnte man ungesehen vom Hotel zu Severin gelan gen. Als sie den schmalen Raum betrat, in dem die Abhöreinrichtung installiert war, schaltete Severin auf den Lautsprecher. „...nein, wirklich, ich möchte nichts trinken! Ich werde Ihre Zeit auch nur kurz in Anspruch nehmen, lieber Herr Brockelmann, und Sie nicht lange aufhalten! Wo haben Sie denn Ihren Freund gelassen, diesen freundlichen Anw... äh, Herrn?“ Fee biß sich auf die Lippen. Beinahe wäre Corinne ein Fehler passiert, aber sie hatte ihn gerade noch korrigiert. Severin brummte: „Kind, aufpassen!“ Dadurch entging Fee der Anfang von Brockelmanns Antwort. „... das Grab einer Verwandten zu besuchen, interessiert Sie das?“ „Nur am Rande! Ich wollte nur sicher sein, daß wir ganz ungestört sind, sozusa gen unter uns!“ 260
„Was wollen Sie von mir, Fräulein Delgado?“
„Diese Frage läßt sich nicht so mit ein, zwei Worten beantworten. Ich habe im
merhin einige Zeit aufgewendet, um dem Auftrag meines Vaters nachzukommen
und...“
„... und hinter mir her zu spionieren!“ Die Stimme klang bitter. Von Corinne war
nichts zu hören.
Klug von ihr, nichts zu sagen! dachte Fee. Damit lockte sie ihr Gegenüber aus der
Reserve.
„Vielleicht können Sie mir doch eine Frage beantworten, Fräulein Delgado! Was
um alles in der Welt bezweckte Viktor mit dieser Aktion? Er wußte doch, was ich
transportiere! Er wußte doch besser als ich, daß das Drogen waren oder Mittel,
die auf der Dopingliste stehen, alles verbotene Substanzen! Er hat mich gezwun
gen, sie nach Berlin zu bringen. Auf seinen Auftrag schleppte ich das Zeug an!
Warum um Himmels willen ließ er mich beschatten, dieses Schwein?“ Brockel
manns Stimme, die immer lauter geworden war, hatte sich bis zum Crescendo
gesteigert.
Fee flüsterte: „Es ist genug! Corinne, komm raus! Du hast alles, was du brauchst,
verschwinde!“ Aber natürlich wurde sie nicht gehört.
„Vielleicht nahm mein Vater an, Sie würden falsch spielen.“
Corinne klang gleichgültig. Dies schien Brockelmann endgültig zur Weißglut zu
treiben. „Falsch spielen? Ich würde falsch spielen? Nachdem ich zehn Jahre für
Ihren Vater den Kopf hingehalten habe, sein verbotenes Labor gedeckt habe? Die
Aufwendungen aus der Firmenbuchhaltung draußen gehalten habe? Wissen Sie
eigentlich, Sie unverschämtes Großmaul, daß durch meine Initiative die Kohle
erst so richtig rollte? Denn ich habe den Steuerberater geholt, der die Gewinne
aus diesem Bereich verschwinden ließ und die Bücher frisierte. Ja, da staunen
Sie, was? Reden Sie mir nicht von Vertrauen! Sagen Sie gleich, daß es eine wei
tere Schikane Ihres Vaters war, daß er allerdings seine eigene Tochter...“ Die
Stimme kippte und brach ab.
Wieder herrschte Stille. Wieder flüsterte Fee beschwörend. „Nun aber raus, Co-
rinne, schnell! Es genügt!“
Corinnes Stimme klang immer noch gelangweilt. „Das interessiert mich alles
nicht besonders. Sie werden schon ihren Schnitt dabei gemacht haben, oder wol
len Sie wirklich behaupten, Sie waren an der Herstellung und Verteilung von
Drogen beteiligt aus Mitleid mit den armen Süchtigen?“
„Sie verdammte, arrogante, aufgeblasene Fotze!“ Jetzt schrie Brockelmann in
voller Lautstärke. Dann ein Poltern
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Fee und Severin sprangen gleichzeitig auf. Severin eilte zur Tür, hielt aber inne,
als er Corinne hörte. Ihre Stimme war nicht mehr ganz so gelassen, aber immer
noch halbwegs fest und klar. „So beherrschen Sie sich doch! Meine Güte, wie
konnte mein Vater so lange mit einem solchen Schwachkopf zusammenarbeiten!“
Ein dumpfer Ton war zu hören, dann ein Stöhnen. „Was wollen Sie? Bitte, sagen
Sie mir, was Sie wollen!“ Brockelmann flehte.
„Das kann ich Ihnen sagen, mein Lieber!“ Corinnes Stimme war nun messer
scharf und kalt. „Ich will erstens, daß Sie sich der Polizei stellen! Sie haben zwei
Stunden Zeit, bis genau 18 Uhr dreißig. Dann sind Sie auf der Wache in wo im
mer in diesem Kaff die nächste Polizeistation ist. Mit einer Selbstanzeige haben
Sie sicher Strafmilderung zu erwarten, und das verstehen Sie bitte als Entgegen
kommen meinerseits, welches mein Vater nicht gewährt hätte. Zweitens...“ Ein
kurzes Rascheln.
Fee und Severin sahen sich erstaunt an, das stand nicht im Skript.
„... möchte ich, daß Sie dieses Schriftstück eigenhändig abschreiben und unter
zeichnen. Lesen Sie laut vor.“
Brockelmanns Stimme hatte wieder ein wenig von seiner früheren Aggressivität.
„Was soll ich? – Also, gut... hiermit erkläre ich aus freien Stücken und ohne
Zwang... Ha! Daß ich nicht lache! Warum sollte ich so einen Wisch unterschrei
ben?“
Süß klang Corinnes Stimme aus dem Lautsprecher. „Weil ich Ihnen sonst die
Albanermafia auf den Hals hetze, Verehrtester. Wie Sie ja wissen, hat mein Vater
dementsprechende Kontakte und verglichen mit dem, was Ihnen dann bevorsteht,
dürfte der Aufenthalt in einem Gefängnis die wesentlich bessere Überleben
schance bieten. Man könnte sagte, vergleichsweise ist es wie Urlaub. Lesen Sie!“
Brockelmanns Stimme war flach und leise. Offenbar hatte er kapituliert. „Hiermit
erkläre ich aus freien Stücken und ohne Zwang, daß ich jahrelang im Auftrag
meiner Geschäftspartner der Firma Pharmaco, Viktor von Hohenstein und dessen
Sohn Alexander von Hohenstein... das stimmt nicht, Alexander hatte keine Ah
nung von diesen Geschäften seines Vaters!“
„Dann streichen Sie das eben!“
Fee hatte den Eindruck, als klinge Erleichterung aus Corinnes Stimme, aber im
mer noch klang sie fest und kalt. Bewundernd sah sie Severin an. Was für ein
Schachzug! Hoffentlich gelang er auch. Gespannt beugte sie sich vor.
„Weiter im Text!“
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„...illegale Drogen hergestellt und vertrieben habe. Ich bereue meine Taten und
will entsprechende Wiedergutmachung leisten. Als Zeichen meiner Reue verfüge
ich, daß fünf Millionen Mark in einen Fonds zur Rehabilitation von Süchtigen
verwendet werden soll. Sind Sie verrückt? Das ist fast mein ganzes Vermögen!
Das ist nicht fair!“
„Nicht was? Nicht fair? Haben Sie jemals gefragt, ob es fair ist, wenn Jugendli
che zu Rauschgift verführt werden? Wenn junge Frauen aus Zuneigung oder Un
wissen in diese Kreise kommen und dann für deren Zwecke mißbraucht werden.
Ist das fair, Herr Brockelmann?“ Corinnes Stimme drohte zu kippen.
Fee verknotete die Hände. „Sie fällt aus der Rolle, Severin, Brockelmann wird
das mitbekommen. Lauf und hilf ihr... nein, warte noch einen Moment.“
Corinne hatte sich wieder im Griff. Sie klang wieder knapp und klar. „Sie haben
noch genau fünf Minuten. Es bleibt Ihnen überlassen, ob Sie diese Zeit vertrödeln
wollen.“
„Gut meinetwegen. Ich schreibe.“
Die beiden Zuhörer vernahmen das Rücken von Sesseln und das Geräusch eines
abreißenden Blattes. Dann war wieder Ruhe.
„Er hat zu schnell kapituliert. Das gefällt mir nicht.“ Severin klang besorgt.
„Ja, nicht wahr? Er hat kaum Widerstand geleistet. Er hofft wahrscheinlich, Co-
rinne den Brief wieder abjagen zu können. Was für eine Idee, Severin! Ein
schriftliches Geständnis! Diese Kaltschnäuzigkeit! Ich bin schwer beeindruckt!
Corinne hätte gut in unsere Gruppe gepaßt, meinst du nicht auch?“
„Wird er zur Polizei gehen? Ich denke nicht!“
„Ich auch nicht! Er wird sich absetzen. Bis dahin müssen wir Corinne schützen.
Solltest du nicht gleich Nat anrufen?“
„Damit er ihn abfängt! Ja, das wäre geschickt. Er soll die Polizei auf Brockel
mann hetzen. Haben wir etwas, womit wir das Ganze ein bißchen untermauern
können? Mit seinem Anwalt geht er nicht einmal in Untersuchungshaft!“
„Aber mit oder ohne Anwalt wird die Polizei erst einmal das Schreiben überprü
fen wollen, welches man bei ihm finden wird!“
„Du meinst?“
„Ja, du schmuggelst ihm eine Kopie ins Handschuhfach, dann wird man die Sa
che erst überprüfen müssen. In der Zwischenzeit kannst du Nat das Original brin
gen. Ist der Anwalt schon zurück?“
Bevor Severin antworten konnte, hörten sie wieder Brockelmanns Stimme.
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„Nun, hier haben Sie den Wisch. Wer ist eigentlich diese Jo Steinberg, auf die der Fond lautet?“ „Das geht Sie nichts an.“ Wieder Stuhlrücken. Etwas leiser, Corinne ging wahrscheinlich bereits Richtung Tür, sagte sie: „Mein Vater wird sich freuen, Sie so einfach aus dem Verkehr ziehen zu können, verehrter Herr Brockelmann. Sie haben erstaunlich wenig Wi derstand geleistet. Mein Vater meinte, Sie wären eine härtere Nuß! Übrigens sollten Sie die ausgefallene Idee entwickelt haben, mir das Blatt wieder abneh men zu können, vergessen Sie's. Es geht in der nächsten Minute per Fax nach Berlin!“ „Du verdammtes Miststück! Seit wann gibt es in diesem Hotel ein Fax! Her da mit!“ Diesmal war Severin aus der Tür, ehe Fee ein Wort sagen konnte. Angespannt drehte sie den Lautsprecher höher, doch sie hörte nur ein dumpfes Rumpeln und Brockelmanns Keuchen. Plötzlich hatte sie eine Idee. Sie lief zum Telefon und wählte 10, die Durchwahl der Suite. Durch den Hörer und aus dem Lautsprecher hörte sie es Klingeln. Ein kurzer Fluch Brockelmanns. „Verdammt, wer ist denn das!“ Wenige Momente später drang Severins ruhige Stimme an Fees Ohr. „Fräulein Delgado, ist alles in Ordnung? Guten Tag, Herr Brockelmann, mir war so, als hätte jemand aus der Suite den Serviceknopf gedrückt!“ *** Als Max Weiss weit nach 18 Uhr mit einem Taxi, das zu bestellen ihn größere Mühe gekostet hatte, Bingen war ein kleines Nest und in Sigmaringen hatte es einige Zeit gedauert, bis ein freies Taxi zu organisieren war, als er also endlich im 'Donaublick' eintraf, wunderte er sich, den Wagen seines Freundes nicht zu sehen. Ungeduldig trommelte er auf die Theke der Rezeption und schellte mehr
mals die Glocke. Endlich kam Fee. Sie schien etwas erhitzt und aufgedreht!
„Herr Weiss! Sie kommen spät!“
„Wo ist Herr Brockelmann?“
„Das wissen Sie nicht? Eigenartig, mir sagte er, sie wüßten Bescheid! Nun, er ist
abgereist, vor gerade mal einer Stunde. Er hat übrigens die gesamte Rechnung
bezahlt.“
„Abgereist, aus welchem Grund?“
„Lieber Herr Weiss, ich habe nicht die blasseste Ahnung. Ich kümmere mich
nicht darum, was meine Gäste so treiben. Das verstehen Sie sicher!“
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„Ja, ja, schon gut. Dann werde ich ebenfalls abreisen. Mist, jetzt ist das Taxi
bereits weg!“
„Kein Problem, ich besorge Ihnen eines!“
„Das dauert sicher Stunden!“
„Aber wie kommen Sie denn auf diese Idee? Unsere Taxis hier sind prompt und
zuverlässig. In fünfzehn Minuten ist eines hier. Ist das für Sie zu früh?“
Max Weiss war sich nicht ganz sicher, ob er hier nicht eben grandios verladen
wurde. Aber er machte gute Miene zum bösen Spiel. „Ich werde bereit sein!
Vielen Dank und Ade, wie man hier sagt!“
Er eilte nach oben. Fee biß sich auf die Lippen und konnte kaum das Lachen un
terdrücken. Als die Telefonistin der Taxizentrale die Bestellung aus dem
'Donaublick' entgegen genommen hatte, fragte sie sich erstaunt, ob die Wirtin des
Hotels vielleicht einen über den Durst getrunken habe. Und das um halb sieben!
*** In der Küche des 'Donaublick' ging es tatsächlich hoch her, aber Alkohol war keiner im Spiel. Corinne sah noch etwas mitgenommen aus, doch hatte sie ihren ersten Schreck über Brockelmanns tätlichen Angriff bereits überwunden. Ki chernd schwenkte sie ihre Zigarette und rief: „Habt ihr gehört, wie ich den in die Mangel genommen habe? Ganz blaß war er und erst als ich das mit dem Fax sagte... Na, das war ein Durchdreher! Hätte gar nicht geglaubt, daß der mit sei nem Alter noch so schnell ist. Möchte wissen, wer gerade so günstig angerufen hat.“ Unwillkürlich faßte sie sich an den Hals, der leicht gerötet war. „Dadurch ließ er einen Augenblick los und ich konnte zur Tür springen. Dann war auch schon der Severin da! Diese Sache mit dem Schreiben habe ich mir gestern Nacht ausgedacht, also ich sage euch...“ Ohne Atem zu holen sprudelte sie weiter. Fee und Severin saßen lächelnd Corinne gegenüber und ließen sie Dampf ablas sen. In der Zwischenzeit liefen Fees Gedanken die vergangene Stunde zurück. Das meiste war geregelt. Severin hatte Nat angerufen und ihn über die Vorfälle in formiert. Kaminski versprach seine Unterstützung. Dann hatte Severin eine Kopie von Brockelmanns Geständnis in das Handschuhfach des Wagens praktiziert und konnte nur hoffen, daß diesen nicht plötzlich das dringende Bedürfnis überkom men würde, darin herumzustöbern. Ein flüchtiger Blick würde das Papier nicht zutage fördern. Severin hatten den beiden Frauen mitgeteilt, daß er erst morgen nach Stuttgart zu fahren und das Original Kaminski überbringen werde. In der Zwischenzeit sollte es in seiner Truhe aufbewahrt werden. Dort war es ausreichend sicher. Einen 265
näheren Grund dafür nannte er nicht. Corinne und Fee beachteten dieses Detail
wenig und sonnten sich im Gefühl ihres Triumphes.
Dann wurde vereinbart, daß Corinne in ein anderes Zimmer übersiedeln würde,
um kein unnötiges Risiko einzugehen, sollte Brockelmann die Tollkühnheit besit
zen, in den 'Donaublick' einzudringen. Seine Zusage, zur Polizei zu fahren, hatte
keiner der drei ernst genommen. Aber allen war bewußt, daß der Geschäftspart
ner von Corinnes Vater wie ein in die enge getriebenes Tier reagieren könnte.
*** Severin zog die dunkle Jacke enger um sich. Er fror. Der Nebel lag noch immer unbeweglich wie eine drückende Wolke über der Landschaft und man konnte nicht weiter wie zwanzig Meter sehen. Das spielte in diesem Fall aber kaum eine Rolle, denn es war elf Uhr nachts und daher sowieso dunkel. Severin drückte sich enger in den Schatten des Fahrradunterstandes. Kein Laut war zu hören. Im 'Donaublick' schienen alle zur Ruhe gegangen zu sein. Corinne war in das altdeutsche Zimmer übersiedelt, das am anderen Ende des Ganges lag und so weit wie möglich vom Bambuszimmer entfernt war. Auch nach unzähligen Wiederholungen und Darstellungen war sie immer noch eupho rischen Stimmung gewesen, aber Fee hatte das Signal zum Aufbruch gegeben und wohl oder übel mußte Corinne Folge leisten. Severin war sich sicher, daß sie in diesem Moment bereits in tiefem Schlaf lag. Er nahm an, daß auch Fee sich zur Ruhe begeben hatte, denn kein Licht drang aus dem Erdgeschoß des 'Donaub licks'. Auch das Pförtnerhäuschen war dunkel, so daß man annehmen konnte, Severin wäre ebenfalls sanft entschlummert. Severin trat lautlos von einem Bein auf das andere. Er hatte nie die Absicht ge habt, schlafen zu gehen. Brockelmann war zu schnell bereit gewesen, auf Corin nes Forderungen einzugehen. Er würde wiederkommen. Severin war sich sicher. Natürlich hatte er dies nicht laut geäußert. Hatte wenig Sinn, die beiden Frauen zu beunruhigen. Er hatte seine Vorbereitungen getroffen. Die vordere Ein gangstüre war versperrt, ebenso wie die Hintertür, obwohl Severin bezweifelte, daß Brockelmann von deren Existenz wußte. Wenn Brockelmann die Türen stür men wollte, sollte es ihm recht sein. Ansonsten blieb nur der Weg über das Fen ster der Suite. Zuvorkommenderweise hatte Severin das Fenster zum kleinen Schlafzimmer weit offen gelassen. Die Abdeckung des Fahrradunterstandes war ziemlich niedrig, man mußte beina he den Kopf einziehen, um darunter zu kommen. An der Seite, die zum Parkplatz gerichtet war, befanden sich einige alte, abgesägte Pfosten, die eine fast bequeme 266
Aufstiegshilfe bildeten. Severin war sich nahezu sicher, daß Brockelmann, wenn er genügend Dummheit oder Verzweiflung aufzubringen imstande war, einen Einbruchsversuch zu wagen, diesen Weg benützen würde, um Corinne das Origi nal seines Geständnisses zu entreißen. Auch hier hatte er vorgesorgt. Severin hielt sich seine Armbanduhr vor die Nase. Halb zwölf. Vor einer Woche war zu dieser Zeit der Doktor ins Hotel gestürmt, ein Kind im Arm gefolgt von einer geschockten Frau. Severin lächelte leicht bei dem Gedanken an Felix. Die ser Junge hatte ihn zwar einiges gekostet, aber er verdankte ihm auch alptraum freie Nächte. Zumindest vorerst. Vorsichtig ließ sich Severin auf die Fersen nie der und stand wieder auf. Nach der fünften Kniebeuge hielt er inne. War da ein Geräusch? Von Süden her näherte sich ein kleiner Lichtpunkt. Kein Motorengeräusch war zu hören gewesen. Das Licht schwankte hin und her wie eine Taschenlampe, die jemand in der Hand hielt. Severin nickte anerkennend. Brockelmann schien nicht dumm zu sein und hatte sein Auto außer Hörweite geparkt. Etwas mühsam, sich in diesem Nebel den Weg zu suchen. Eng drückte er sich an die Wand und hielt den Atem an. Der Lichtschein geriet außerhalb Severins Gesichtsfeld. Er lauschte. Ihm war, als hörte er das Drücken der Eingangsklinke. Dann blieb es eine Weile still. Plötzlich tauchte der Lichtfleck wieder auf und wanderte an der Südwand des Fahrradunterstandes hinauf zum Fenster, bewegte sich einige Zeit suchend hin und her und blieb dann auf das offenen Schlafzimmerfenster gerichtet. Nun konnte Severin auch einen Schatten wahrnehmen. Langsam und ruckartig be wegte sich dieser Schatten und balancierte auf dem niedersten Pfosten. Dann stieg er auf den nächsten, den dritten und nun hörte Severin, wie jemand das Dach über ihm betrat. Die alten Planken ächzten leise. Mit einem großen Schritt trat Severin aus seinem Versteck und zog kräftig an dem Seilende, das er von Beginn an in der Hand gehalten hatte. Das Seil, dessen anderes Ende an der Dachrinne angebunden war, straffte sich und stieß auf Wi derstand. Ein Schreckensschrei ertönte, dann ein lautes Krachen und mit einem heftigen Poltern fiel eine Gestalt Severin genau vor die Füße. Die Taschenlampe segelte in hohem Bogen davon. Severin hatte seine eigene Lampe, die er nun anknipste. Interessiert leuchtete er Brockelmann ins Gesicht, der die Augen zusammenkniff und kaum druckfähige Verwünschungen ausstieß. 267
Severin ließ den Lichtschein über die vor ihm liegende Gestalt gleiten und be merkte das in einem eigenartigen Winkel abstehenden linke Bein des Einbre chers. Vorsichtig stieß er mit dem Fuß daran und Brockelmann schrie auf. Severin, der sich nicht darum kümmerte, ob der Gestürzte ihn erkennen würde oder nicht, schob die fallen gelassene Taschenlampe ein wenig näher an die lie gende Gestalt heran. Dabei bemerkte er zufrieden, daß Brockelmann ein Hammer aus der Tasche gefallen war. Auch diesen stieß er vorsichtig mit dem Fuß in un mittelbare Nähe des Partners der Firma Pharmaco. Man sollte es immer der Poli zei so leicht wie möglich machen. Nun holte Severin sein Seil ein, rollte es auf und kehrte ins Pförtnerhäuschen zurück. Kaum hatte er die Türe hinter sich geschlossen, sah er, daß das Licht über der Eingangstüre eingeschaltet wurde und wenig später hörte er Fees erschrocke ne Stimme. „Was ist denn hier passiert? Ach du Schreck! Herr Brockelmann! Was machen Sie denn hier? Wir dachten, Sie wären abgereist?“ Zufrieden genehmigte sich Severin einen Schluck Schnaps aus einer unbeschrif teten, alten Flasche und ging ins Bad. Als er seine Toilette beendet hatte und ins Schlafzimmer ging, blendete ihn ein grelles, pulsierendes Licht. Er zog den Vor hang ein wenig zurück und sah zufrieden, daß sowohl die Rettung als auch die Polizei anwesend waren. Die hintere Türe des Sanka war offen und zwei Männer holten eine Trage heraus. Eine große, breitschultrige Gestalt, die neben dem Poli zeiauto stand und in ein Funkgerät sprach, erinnerte Severin vage an Hauptkom missar Cramer. Brockelmann wird einiges zu erklären haben! dachte er mit Genugtuung und legte sich schlafen. Auch in dieser Nacht kamen keine Alpträume. *********
Das Waisenkind Der Junge lief neben dem vierschrötigen Mann einher und versuchte, Schritt zu halten. Ungeduldig drängte ihn die Hand vorwärts, die den Kragen seiner abge wetzten Jacke hielt. Es war November und es war bitter kalt. Der Junge fröstelte und steckte den Kopf tiefer in den Kragen. Dabei stolperte er. Mit festen Griff bewahrte ihn die kräftige Hand vor dem Fallen und eine tiefe Stimme grollte: „Paß doch auf!“ 268
Severin zuckte zusammen und sah verstört an der vierschrötigen Gestalt hoch. Wieder erschreckte ihn die Uniform des bulligen Polizisten. In diesem Moment trafen sich ihre Augen. Das ärgerliche Gesicht wurde etwas weicher und brum mend meinte die große Gestalt: „Na, na!“ Der Griff an Severins Kragen wurde gelockert und der Polizist streckte ihm die Hand entgegen. Zögernd griff Severin danach. Sie fühlte sich warm und gut an. Severin wollte die Augen schließen und dieses Gefühl in sich aufnehmen, doch er hatte Angst, wieder zu stolpern. Der Uniformierte hatte seinen Schritt nicht verlangsamt. Sie hielten an einen großen, grauen Haus. Ungeduldig zerrte der Mann ihn die Stufen hoch. Offenbar ging ihm das zu langsam. Mit einem schnellen Griff hob er den Jungen auf seinen Arm und stürmte durch die Tür. 'Er will es so schnell wie möglich hinter sich bringen' dachte Severin und wunderte sich, was immer ihm bevorstehen mochte. Im Inneren des Hauses roch es scharf. Severin hielt sich die Nase zu und hustete. Er kannte den Geruch nicht. In dem Waisenhaus, in dem er bis jetzt gewesen war, roch es nach Seife und Lauge, manchmal nach Kohl oder Brennsuppe. Dieser Geruch war anders, raubte ihm den Atem. Sie hatten einen langen Gang durchquert und der Polizist eilte eine Treppe hin unter, die steil und düster war. Dann stieß er eine Tür auf. Ein Mann in einem weißen Mantel mit einer glänzenden Nase und roten Augen hinter den dicken Gläsern trat auf die beiden zu. „Da ist er!“ sagte der Polizist und setzte ihn ab. Im selben Atemzug fügte er hin zu: „Ich warte draußen!“ Schon war er verschwunden. Severin sah sich in dem hellen Raum um. In der Mitte standen drei große Tische aus glänzendem Aluminium und Severin wunderte sich, daß diese Tische einen Abfluß hatten wie ein Waschbecken, aber keine Stühle rundherum standen. An der Wand war ein kleinerer Tisch voll mit Instrumenten. Auch die hatte Severin noch nie gesehen und neugierig ging er darauf zu. Da waren Scheren, Zangen, Messer und spitze Dinger, die Severin völlig fremd waren. Versuchsweise hob er die Hand. „Sei vorsichtig, die Schneide ist sehr scharf!“ sagte eine Stimme hinter ihm. Se verin zuckte zurück und drehte sich um. Der Mann in dem weißen Mantel hatte die Hände in seinen Taschen vergraben und sah ihn nachdenklich an. „Du bist Severin Borowski,“ sagte der Mann, „wie alt bist du?“ „Sieben gerade eben.“ erwiderte Severin artig. „Was heißt gerade eben?“ 269
„Ich habe heute Geburtstag!“ sagte Severin. Der Mann seufzte und murmelte: „Das auch noch.“ Dann wandte er sich um und befahl: „Komm mit!“ Seine Stimme war um einige Töne schärfer geworden. Severin wunderte sich, warum sich der Mann ärgerte. Er konnte doch nichts dafür, daß er heute Geburtstag hat te. Eilig lief er dem Mann hinterher, der durch die Tür in einen kleinen Raum trat, in dem es sehr kalt war. Überall waren weiß gestrichene Klappen mit schwarzen Griffen. Der Mann bückte sich zu der unteren Reihe und faßte einen der Griffe an. Dann ließ er wieder los und richtete sich auf. „Bist du leicht zu erschrecken?“ Severin zuckte mit den Achseln. Woher sollte er das wissen? Er war schon lange im Waisenhaus und mußte sich durchraufen, hatte sich wohl auch einen gewissen Respekt verschafft. Alles, was er diesbezüglich wußte, war, daß man ihn und seine Sachen weitgehend in Ruhe ließ und mehr konnte man in der Umgebung mit hundert anderen Jungen nicht verlangen. Wieder zögerte der Mann. „Weißt du, warum du hier bist?“ Severin schüttelte den Kopf. Man hatte ihn heute morgen aus dem Bett geholt und ihn dazu ange halten, sich zu sputen. Als er fertig angezogen war und sein Bündel geschnürt hatte, hatte ihn Schwester Agnes an die Pforte gebracht, ihm noch rasch ein Stück Brot zugeschoben und dem Mann in der Uniform übergeben. Jetzt erinnerte sich Severin daran, daß Schwester Agnes Tränen in den Augen gehabt hatte, aber er war sich nicht sicher, ob sie seinetwegen weinte. Sein Gewissen war rein, er hatte sicher seit drei Tagen nichts angestellt. Dann war er in einem großen Auto durch viele Straßen gefahren, eine kurze Strecke zu Fuß gelaufen und nun war er hier. Der Mann preßte die Lippen aufeinander und sah ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Dann schüttelte er den Kopf und murmelte etwas vor sich hin. Es klang wie 'was für eine Scheiße', aber Severin konnte nicht glauben, daß ein erwachsener Mann solche Worte in den Mund nahm. Im Waisenhaus wurde ei nem der Mund mit Seife ausgewaschen, wenn man schmutzige Wörter verwen dete. Plötzlich bückte sich der Mann wieder und zog die Klappe auf. Dann faßte er in die Lade und zerrte an einer Schlaufe. Ratternd bewegte sich der Boden des Fa ches heraus, darauf lag eine Gestalt, in weißes Tuch gehüllt. Severin trat einen Schritt zurück und riß die Augen auf. Da lag ein Mensch! An gestrengt hielt er den Atem an. Mit raschen Ruck riß der Mann in dem weißen Mantel das Tuch zurück und gab damit Gesicht und Oberkörper der Gestalt frei. Severin stieß unwillkürlich einen Schrei aus, doch er konnte den Blick nicht ab wenden. Das Gesicht der Frau war fast genauso weiß wie das Laken, der knall 270
rote Lippenstift war verschmiert und hatte Flecken an den Zähnen hinterlassen. An der linken Schläfe war eine dunkelrote Stelle mit einem kreisrundes Loch in der Mitte. Die Haare starrten vor Schmutz und kleine Lehmklumpen klebten an der Stirn. Severin ballte die Fäuste und stieß langsam den Atem aus. Ihm war schwindlig. Er schob sich die Knöchel der rechten Hand in den Mund und biß kräftig drauf. Der Schmerz vertrieb den Schwindel. Severin stöhnte leise. Der weißgekleidete Mann beugte sich zu ihm und sagte etwas. Severin verstand kein Wort. Starr sah er auf die Frauenleiche. Der Mann legte ihm die Hand auf den Kopf und drehte ihn, bis Severin ihn ansehen mußte. „Kennst du diese Frau?“ Erschöpft nickte Severin, außerstande, ein Wort über die Lippen zu bringen. „Ist das deine Mutter?“ Noch immer klang die Stimme sanft und traurig. Wieder nickte Severin. Der Mann ließ ihn los, zog eilig das Tuch über das Ge sicht der Leiche, schob die Lade zurück und schloß die Klappe mit einem schnellen Griff. Es klang wie Donner in den kleinen Raum. Das löste Severin aus seiner Erstarrung. Er nahm die Faust aus dem Mund, wandte sich um und rannte aus der Tür. Der Mann im weißen Mantel ließ ihn laufen. Der Junge mußte das erst einmal verdauen. War verdammt schwer, mit dieser Geschichte fertig zu werden. Das braucht seine Zeit. Langsam löschte er das Licht und trat in die Prosektur. Se verin hatte sich neben dem Instrumententisch auf den Boden gekauert und seinen Kopf in den Armen vergraben. Mitleidig sah ihn der Mann an. Dann rief er nach dem Polizisten. Er hatte für heute genug. Sollte sich jemand anderer um diesen Jungen kümmern. Der Polizist erschien, überblickte die Situation und lud sich den zusammenge kauerten Jungen auf die Arme. Dann verließ er so schnell es ging den Raum. Der Mann im weißen Mantel zog ein Blatt aus seiner Tasche und legte es auf den Seziertisch. Unter der Spalte 'Identifiziert durch:' schrieb er 'Sohn Severin Bo rowski'. *** Rosa Schmidt, seit dreiundzwanzig Jahren Schreibkraft im Polizeiamt München West, hatte sämtliche Tiefen menschlicher Tragödien gesehen, Gewalttäter und verkrachte Existenzen, Trunkenbolde und verprügelte Frauen, verängstigte Ange hörige und unverschämte Zuhälter. Kaum eine Spielart menschlichen Versagens konnte Rosa Schmidts Herz rühren. 271
Der kleine Junge, der nun seit Stunden in ihrem Büro auf der Bank kauerte, rührte sie. Stumm und teilnahmslos saß er da, die Arme vor der Brust gekreuzt, den Kopf gesenkt, die schwarzen Haare standen wie Besenbüschel in die Luft. Rosa Schmidt sah auf die Uhr, die Mittagszeit war lange vorbei und sie konnte sich nicht erinnern, daß der Junge etwas zu essen bekommen hatte. „Bist du hungrig?“ fragte sie zurückhaltend. Severin reagierte nicht. Seufzend beugte sich Rosa Schmidt zu der untersten Schublade des Schreibtisches und zog sie auf. Sie nahm einen Apfel und ein Käsebrot heraus. Dann würde sie eben heute kein Ves per haben. Am Waschbecken füllte sie einen abgeschlagenen Emailbecher mit kaltem Wasser. Vorsichtig, um den Jungen nicht zu erschrecken, der immer noch regungslos auf seiner Bank saß, legte sie den Apfel und das Brot auf die Bank und stellte den Becher dazu. Dann ging sie wieder hinter ihren Schreibtisch und begann zu tippen. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie die kleine Gestalt. Nach geraumer Weile sah Severin vorsichtig zu Rosa Schmidt, die unbeirrt auf ihrer alten Schreibmaschine klapperte, griff zögernd nach dem Brot und biß kräf tig hinein. Zufrieden nickte Rosa Schmidt mit dem Kopf. Im Nu hatte der Junge Brot und Apfel vertilgt und trank durstig das klare Wasser. In diesem Augenblick flog die Türe auf und zwei Polizisten traten ein. „Das wäre nun erledigt!“ sagte der Mann, der Severin zur Prosektur gefahren hatte. „Die Sachlage ist eindeutig. Die Frau wurde erschossen, als sie einen Streit zwischen den zwei Zuhältern schlichten wollte. War ein Unglücksfall. Die beiden Kerle sind bereits hinter Gittern und nachdem der Junge...“ Endlich schien er das aufgeregte Fuchteln von Rosa Schmidt zu bemerken. Diese deutete aufgeregt in die Ecke, in der Severin saß. „Was ist?“ fragte der Polizist verständnislos und wandte sich um. „Ja, bist du denn immer noch hier?“ rief er ärgerlich. Severin antwortete nicht, er sah stumm und starr gerade aus. „Das ist vielleicht eine Frage! In Luft auflösen wird er sich nicht können!“ klang es spitz von Rosa Schmidt. „Wo soll er denn hin?“ „Ins Waisenhaus kann er nicht mehr zurück.“ sagte der zweite Mann. „Da die Mutter tot ist, kommt niemand für den Unterhalt auf und die frommen Schwe stern behalten keinen, für den nicht gezahlt wird.“ „Dann muß er eben ins staatliche Waisenhaus!“ sagte Rosa resolut. „Der Junge ist nicht von hier, das geht nicht!“ „Was heißt, das geht nicht?“ Frau Schmidt sah verständnislos von einem zum anderen. 272
Der Polizist zuckte mit den Schultern. „Der Junge ist Ausländer, Österreicher, wir müssen ihn zurückschicken. Wir werden uns morgen darum kümmern, jetzt ist Feierabend. Da sind die Protokolle.“ Er warf einige Papiere auf den Tisch und schon waren beide Männer aus dem Zimmer. Eilig wurde die Türe geschlossen. „Es ist ja wirklich schon fünf Minuten vor Dienstschluß!“ knurrte Rosa Schmidt aufgebracht. Dann setzte sie sich wieder. Was sollte nun geschehen? Der Junge konnte doch nicht in der Schreibstube bleiben. Die einzige Möglichkeit war, ihn in eine Zelle zu sperren, da hätte er zumindest ein Bett. Seufzend stand Rosa Schmidt auf. „Kennst du irgend jemanden in München, bei dem du über Nacht bleiben kannst?“ Severin schüttelte den Kopf. „Das habe ich mir gedacht. Also, es bleibt wohl nichts anderes übrig. Ich werde dich in eine Zelle bringen. Komm mit. Wo sind deine Sachen?“ Stumm deutete Severin auf ein kleines Bündel, das neben der Bank lag. Rosa Schmidt nahm es hoch. Dann winkte sie dem Jungen mitzukommen. Severin rutschte von der Bank und tappte neben der Frau her. Der Trakt, in dem sich die drei kleinen Zellen befanden, war im Keller untergebracht. Rosa Schmidt führte Severin in die erste Zelle, die, wie sie wußte, am wärmsten war. Sie legte das Bündel auf den Tisch. „Du kannst hier über Nacht bleiben, aber ich muß die ein schließen. Hab keine Angst, es passiert dir nichts. Mach keine Unordnung und wasch dich. Morgen wird man dich abholen. Hast du verstanden?“ Severin nickte. Rosa Schmidt schloß die Türe von außen ab und ließ den Schlüs sel stecken. Dann ging sie zurück in ihr Büro und zog sich den Mantel an. Sie löschte das Licht und verließ das Polizeiamt West. Es blies immer noch ein stür mischer Wind und Rosa Schmidt stemmte sich gegen die Kälte. Sie hatte nur wenige Straßen bis zu ihrer gemütlichen, kleinen Wohnung zu laufen. Rosa Schmidt beschloß, sich zuerst eine schöne Tasse heißen Tees zu machen. Auch gab es da noch den Kuchen vom Sonntag. Ihre Schritte wurden langsamer. Der Junge würde keinen Kuchen bekommen. Nicht nur das, es war fraglich, ob er ein Abendessen bekommen würde. Die Wache würde ihn zwar irgendwann entdek ken, aber sie hatte vergessen, ein Essen zu organisieren. Rosa Schmidt hielt inne. Sie sah den Jungen vor sich, wie er auf der schmalen Pritsche saß, die fast schwarzen Augen unverwandt auf sie gerichtet, ohne sich zu rühren, mit diesem starren Ausdruck im Gesicht. Sie seufzte. Sie würde doch nicht weich werden auf ihre alten Tage? Entschlossen schritt sie vorwärts, doch nach wenigen Metern drehte sie plötzlich um und lief im Eilschritt zum Polizeiamt zurück. Atemlos eilte sie in den Keller, 273
schloß die Türe auf und da saß der Junge immer noch so, wie sie ihn verlassen
hatte.
„Du heißt Severin, nicht wahr?“
Severin nickte.
„Ich heiße Rosa. Jetzt komm. Pack deine Sachen, wir gehen.“ Vorsichtig glitt
Severin von der Pritsche, als könne er nicht glauben, was er eben gehört hatte. Er
nahm das Bündel vom Tisch und sah zu Rosa Schmidt hoch. „Gehen wir zu dir?“
fragte er schüchtern.
„Du kannst ja sprechen!“ rief Rosa erfreut. „Ich dachte bereits, du bist stumm!
Ja, natürlich, wir gehen zu mir.“
Severin senkte den Blick. Dann streckte er langsam die recht Hand aus. Das Bild
dieses verlassenen Kindes, der gesenkte Kopf, die ausgestreckte Hand, rührte
Rosa Schmidt seit langem zum erstenmal wieder fast zu Tränen. Sie nahm Se-
verins Hand und gemeinsam stiegen sie die Treppe hinauf. Als sie auf die Straße
traten, spürten beide die Kälte nicht mehr.
Severin blieb drei Tage bei Frau Schmidt, bis die behördliche Schwerfälligkeit
endlich in Gang gekommen war. Rosa drückte ihn beim Abschied an ihre mächti
ge Brust, daß Severin zu ersticken fürchtete, und ihre Augen glänzten verdächtig
feucht. Severin dachte an Schwester Agnes, die ebenfalls geweint hatte. Den dik
ken Kloß, den er in seinem Hals spürte, schluckte er mühsam hinunter. Dann
folgte er dem Beamten. Er wurde in ein Waisenhaus nach Passau überstellt. Dort
sollte er bleiben, bis ein geeigneter Platz in einem Waisenhaus in Österreich ge
funden war. Es dauerte fast ein Jahr, bis Severin nach Linz kam.
Rosa Schmidt kehrte zu ihrer Arbeit und zu ihrem einsamen Leben zurück. Etwa
ein Jahr, nachdem sie den Jungen bei sich aufgenommen hatte, brachte ihr ein
Beamter eine Schachtel.
„Frau Schmidt, erinnern Sie sich noch an den Mordfall dieser Prostituierten, die
bei einer Zuhälterfehde erschossen wurde?“
„Die mit dem kleinen Severin? Ja, ich erinnere mich.“
„Dies sind ihre Sachen, ich habe sie im Archiv gefunden. Was sollen wir damit
machen?“
Rosa Schmidt sah die dunklen, starren Augen Severins vor sich und ihr Herz zog
sich kurz zusammen. Sie nahm die Schachtel entgegen. „Ich kümmere mich dar
um.“ Sie stellte sie auf das Ablagefach. Erst kurz vor Büroschluß öffnete sie sie
und fand einen Zettel. Darauf stand in ungelenker Schrift: 'Wenn mir etwas zu
stoßen sollte, bitte eine Nachricht senden an Freiherrn Paul von Goriz-Gradisca,
274
Leibnitz, Steiermark.' Und darunter: 'Friedhelmine, bitte kümmere dich um mei nen Sohn Severin!' Mit zitternden Fingern suchte Rosa Schmidt nach dem Telefonbuch. Aber erst die Auskunft konnte ihr die Nummer des Waisenhauses in Passau geben. Rosa Schmidt wählte und klopfte ungeduldig mit dem Bleistift auf die Schreibtisch platte. Endlich meldete sich jemand. Ungeduldig fragte sie nach einem Jungen namens Severin Borowski. Enttäuscht legte sie den Hörer nieder. Severin war vor einer Woche nach Österreich verschickt worden. Stirnrunzelnd nahm sich Rosa Schmidt den Zettel von Svetlana Borowski vor. Dann setzte sie sich an die Schreibmaschine. Sie würde die Nachricht weiterlei ten. Mühsam buchstabierte sie den schwierigen Namen. Sollte sich doch dieser Freiherr um den Kleinen kümmern. Rosa Schmidt glaubte zwar nicht, daß sich ein Freiherr viel um einen Jungen scheren würde, der der Sohn einer Hure war, aber wer weiß? Vielleicht war ja diese Friedhelmine eine mitleidige Person. Zufrieden zog sie das kurze Schreiben aus der Maschine, schob es in ein Kuvert und klebte es zu. Am Weg nach Hause warf sie den Brief in den Briefkasten. Zwei Monate später führte Rosa Schmidt voll Genugtuung einen großen, sanften Mann in das Zimmer ihres Chefs. „Das ist Herr Paul von Goriz-Gradisca, Herr Kommissar, der Sie im Mordfall Borowski sprechen möchte. Ich habe hier auch die Unterlagen von Svetlana Borowski sowie ihre persönlichen Sachen.“ Triumphierend legte Rosa Schmidt die Akte mit der Schachtel auf den Tisch vor den verdutzten Kommissar, nickte Paul von Goriz-Gradisca kurz zu und verließ den Raum. Es mußte ja niemand wissen, daß sie die Fäden gezogen hatte, oder? *** Vorsichtig quetschte sich Severin durch die einen Spalt breit geöffnete Türe, sorgsam darauf bedacht, daß er sie nicht berührte und damit zum quietschen brachte. Dabei suchten seine Augen unablässig die Umgebung ab, ob ihn auch niemand entdecken würde. Das Betreten des Schuppens, wo die Fahrräder der Erzieher untergebracht waren, wurde mit ernsten Sanktionen bestraft und Severin hatte sein diesbezügliches Konto bereits weit überzogen, wie ihn erst heute mor gen der Pater Prior mit ärgerlicher Strenge vorgehalten hatte. Endlich war es geschafft und Severin sah sich in dem kleinen Raum um. Sofort sah er das begehrte Objekt, ein schwarzes Motorrad mit roten Verzierungen. Es stand aufgebockt in der Ecke, das vordere Rad abmontiert. Auf dem Tank prangte in großen goldenen Lettern das Firmenemblem 'Moto Guzzi'. 275
Ehrfürchtig näherte sich Severin dem Objekt seiner Sehnsucht. Er kauerte sich
vor die Maschine und betrachtete staunend die vielen glänzenden Teile. Vorsich
tig berührte er den Tank und strich ehrfürchtig über die Buchstaben.
„Interessierst du dich für Motorräder?“
Severin erstarrte und wagte nicht, sich zu rühren. Das war sein Klassenlehrer
Thomas Zeck, ein gefürchteter, wenn auch gerechter Mann. Severin zog den
Kopf ein und wappnete sich gegen die Schläge. Doch nichts geschah. Zögernd
stand Severin auf und trat sicherheitshalber zwei Schritte zurück.
Zeck schien die Ängste des Jungen nicht zu bemerken, er kauerte sich neben die
Maschine und begann, mit der mitgebrachten Flasche Öl auf die Nabe des Vor
derrades zu träufeln. Wie nebenher sagte er: „Gib mir den Lappen, der da liegt,
und dann kannst du mir den Schlüssel halten. Eine Schraube ist locker, die müs
sen wir anziehen.“
Severin traute sich nicht, an diese Worte zu glauben. Er mußte sich verhört ha
ben, ganz bestimmt.
Etwas ungeduldig fuhr ihn Zeck an: „Was ist? Schläfst du? Schlafmützen kann
ich nicht gebrauchen, ich werde einen anderen Jungen holen.“ Er machte Anstal
ten aufzustehen. Severin reagierte blitzschnell. Nie im Leben würde er zulassen,
daß ein anderer Junge!
Zwei stunden später standen Severin und sein Lehrer vor dem blitzenden und
strahlenden Motorrad und nickten sich anerkennend zu. Prima gelaufen, schienen
sie sich zu sagen.
„Dann werde ich mal eine Runde fahren!“ meinte Zeck und schwang sich in den
Sattel. Severin lief zur Tür und drückte sie weit auf. Mit sattem Brummen sprang
die Maschine an und Zeck rollte aus dem Schuppen. Dann blieb er stehen und sah
zu dem Jungen mit den sehnsüchtigen Augen zurück. „Wie lange soll ich noch
warten? Mir scheint, du bist ziemlich langsam, nicht?“ In den nächsten zehn Se
kunden überzeugte ihn Severin vom Gegenteil, wie der Blitz schoß er über den
Hof und sprang auf den Sitz. Zufrieden nickte Zeck und gab Gas.
Severin glaubte zu träumen. Erst nach und nach wagte er es, sich dem herrlichen
Gefühl hinzugeben und irgendwann hatte er es herausgefunden, daß man sich in
Kurven nach innen legen sollte. Zeck stieß einen anerkennenden Pfiff aus und
beschleunigte. Wie der Wind sausten sie die gewundene Straße hinunter. Severin
war überwältigt von diesem Gefühl des Schwebens und einer nie gekannten Frei
heit. Diese Fahrt müßte ewig dauern.
In den nächsten Wochen erfuhr Severin von Zeck alles, was dieser über Motorrä
der wußte, und durfte auch selbst Hand anlegen. Die gutmütige Moto Guzzi wur
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de mehrfach zerlegt und wieder zusammengesetzt und Zeck bemühte sich, den nie enden wollenden Strom von Fragen zufriedenstellend zu beantworten. Severin hatte ein ausgeprägtes Gefühl für technische Details und Zeck staunte immer wieder über die intuitive Fähigkeit des Jungen. „Nun, Severin, die alte Dame ist jetzt gut in Schuß! Es gibt praktisch nichts, was wir nicht auf Vordermann gebracht hätten. Ich mache dir einen Vorschlag. Am fünfzehnten August, also nächsten Mittwoch, ist Feiertag und daher keine Schule. Ich muß nach Wels und wenn du willst, nehme ich dich mit. Was ist? Du sagst ja gar nichts! Keine Lust?“ Zwinkernd sah er Severin an, der mit offenem Mund da stand und nicht fähig war, einen Laut von sich zu geben. „Oh, ich möchte schon.“ kam es endlich flüsternd von Severin. „Dann reiß dich am Riemen und stell nichts an. Sonst gibt’s statt dessen Zim merarrest.“ Die folgenden Tage waren die artigsten seiner vierjährigen Karriere im Waisen haus Linz. Peinlich genau befolgte Severin alle Vorschriften und Gebote, so daß sich einige Erzieher bereits Gedanken machten, ob der Junge nicht krank sei. Als Severin daher am Dienstag zum Pater Prior gerufen wurde, hatte er ein reines Gewissen und konnte sich keinen Grund für diese Vorladung vorstellen. Daher trat er unerschrocken in das düstere Zimmer des Ordensmannes. Der Pater Prior, ein alter Mann mit weißem Bart und scharfen Blick sah ihn über den Rand seiner Brille hinweg an. Dann räusperte er sich und kratzte sich am Kinn. Severin schluckte. Hatte er doch etwas verbrochen? Eine Übertretung, von der er nichts wußte? Nervös trat er von einem Bein auf das andere. Endlich räusperte sich der Mann in der schwarzen Kutte. „Du bist nun über vier Jahre bei uns, mein Sohn, und es war nicht immer leicht mit dir. Du bist störrisch und dickköpfig und besitzt einen kaum zu bändigenden Freiheitsdrang. Das wird dir noch Schwierigkeiten machen im Leben, aber vielleicht hilft es dir auch, dich durchzusetzen.“ Der Pater Prior brach ab und ging zu seinem Schreibtisch. Severins Augen wurden immer größer. Eine seltsame Ansprache, was um Him mels willen war geschehen? Pater Prior nahm ein Blatt vom Schreibtisch und schob es in einen grauen Um schlag, den er Severin entgegen hielt. „Das ist deine Geburtsurkunde. Paß auf und verliere sie nicht. Nun geh und packe deine Sachen. Du mußt morgen früh fort.“ „Aber morgen ist der fünfzehnte!“ Severin schrie es beinahe heraus. Seine Fahrt mit Zeck, das war nicht möglich, das mußte ein Irrtum sein! 277
Erstaunt über diesen Ausbruch zog Pater Prior die Augenbrauen hoch. „Ich weiß, daß morgen der fünfzehnte August ist. Was spielt das für eine Rolle? Du wirst morgen früh zum Bahnhof gefahren. Ich schreibe dir hier die Adresse auf, damit du dich zurecht findest.“ Er notierte während dieser Worte etwas auf einem Zet tel und reichte ihn Severin. „Das ist alles. Gott beschütze dich.“ Damit trat er zu dem Jungen und zeichnete ein Kreuz auf seine Stirn. Severin rührte sich nicht. Etwas ungeduldig sagte der Pater Prior: „Du kannst jetzt gehen.“ Langsam drehte sich Severin um und verließ mit hängenden Schultern den Raum. Ohne auf die Rufe seiner Mitschüler zu reagieren, die mit Mitleid oder Schaden freude beobachtet hatten, wie er das Büro betreten hatte, kehrte er in den großen Schlafsaal zurück und begann, seine Habseligkeiten in ein kleines Bündel zu packen. Dann setzte er sich auf das Bett und heiße Tränen rannen über seine Wangen. Es war das erste und das letzte mal, daß Severin Borowski sich gestattete zu weinen.
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SEVERIN
„Du bist dir sicher, daß du das auch wirklich willst?“
„Nein.“
„Aha.“
„Ich kann vermutlich nicht anders.“
„Severin“, Fee nickte verständnisvoll, „dann werde ich es mir und dir ersparen,
auf so naheliegende Gründe hinzuweisen, wie 'es ist schon zwanzig Jahre her'
oder 'die Toten soll man ruhen lassen', einverstanden?“
„Ich wäre dafür dankbar!“ Severin Borowski löste seine verschränkten Hände
und griff in die Brusttasche seiner dunklen Jacke. Er zog ein Blatt heraus und
breitete es vor sich aus. Ungeschickt strich er es glatt. „Ich habe die Route no
tiert.“
Fee sah besorgt auf den Gefährten ihrer Kindheit. Sie ahnte, was in ihm vorging.
Langsam streckte sie die Hand aus. „Laß sehen. Es ist jetzt schon nach Mitter
nacht, also haben wir heute den sechsten November. Sag mal, hast du nicht ir
gendwann in diesen Tagen Geburtstag?“
„Morgen.“
„Ach, das tut mir leid. Was ist das auch für ein schreckliches Zusammentreffen,
daß gerade an diesem Tag deine Frau und dein Sohn ums Leben kamen.“ Mit
fühlend griff sie nach seinem Arm und drückte ihn. Severins Blick verdüsterte
sich ein wenig mehr. Er schob das Blatt über den Tisch. „Ich habe die Daten auf
geschrieben, wo ich wann zu erreichen bin.“
„Gut. Ich rufe die Klinik in Nizza an und informiere sie von deinem Besuch. Ist
denn Dupont immer noch Chefarzt, er muß jetzt an die siebzig sein, oder?“
Severin starrte vor sich hin, er schien Fee nicht gehört zu haben. Nach kurzem
Zögern fuhr sie fort. „Dann melde ich dich in Bonifacio an, Nanette soll nach
dem Haus sehen. Wann wirst du dort sein?“
Langsam kehrte Severin in die Gegenwart zurück. „Zwei Tage in Nizza müßten
reichen, also am neunten.“
„OK. Ich habe mich für elften November bei meinen lieben Verwandten in Mai
land angekündigt.“ Fee verzog das Gesicht. „Wenn Du mich brauchst, rufe an!
Mir ist jede Möglichkeit recht, meinen Besuch zu verkürzen, das weißt du!“
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Severin nickte. Er stützte sich mit beiden Handflächen auf den Tisch und stand auf. Seine Bewegungen waren langsam und mühevoll, sein Gesicht bleich, die dunklen Augen mit Gram umschattet. Die Haare standen wie Borsten in die Höhe und zeigten erste graue Strähnen. Die strengen Linien an den Mundwinkeln schienen sich vertieft zu haben. Aufmunternd sah Fee ihn an. „Viva la gruppa!“ Ihre helle Stimme klang fest und bestimmt. Wieder schien der alte Schlachtruf seine Wirkung zu tun. Severin straffte die Schultern und in seine Augen trat ein zaghaftes Funkeln. Leise lä chelte er Fee zu. „Viva la gruppa.“ Dann war er fort. Fee schenkte sich eine Tasse Tee ein und zündete sich eine Zigarette an. Lange saß sie da, streifte geistesabwesend die Asche ab und nippte an ihrer Tasse. Bil der aus der Vergangenheit bestürmten sie, Bilder aus der Zeit ihrer Ehe mit Ugo Di Cosimo und sein plötzlicher Tod, all das aufgerührt durch einen kleinen Jun gen und ein tapferes Mädchen, die vor kurzem Gäste in ihrem Hotel 'Donaublick' gewesen waren. Trauer und Sehnsucht vermischten sich mit dem Glück des Er lebten und eine Träne rollte langsam ihre Wange herab. Energisch wischte sie sie weg und zwang ihre Gedanken wieder auf die Gegenwart. Sie dachte an die Nacht vor fünf Tagen, in der Severin Bernhard Brockelmann als Rauschgiftkurier entlarvt hatte und Hauptkommissar Cramers Mißtrauen ins Un ermeßliche gewachsen war. Fee hatte ihre und Severins Rolle bei diesem Vorfall geschickt verschleiert. Es sei ihr völlig unerklärlich, durch welche besonderen Umstände ein ehemaliger Gast ihres Hauses dazu verleitet werden konnte, in eines der Zimmer ihres Hotels einsteigen zu wollen. Sie kenne Herrn Brockel mann seit Jahren als freundlichen und großzügigen Kunden. Vermutlich sei die berufliche Belastung zuviel geworden und er habe in einem Anfall geistiger Um nachtung... Cramer glaubte ihr kein Wort. Mit zufriedenem Lächeln drückte Fee ihre Zigarette aus. Brockelmann saß trotz intensiver Bemühungen seines Anwalts Max Weiss in Untersuchungshaft, Corin nes kluger Schachzug schien erfolgversprechend und das belastende Schreiben war auf Umwegen bereits der Staatsanwaltschaft zugespielt worden. Nichts da von hatte sie Hauptkommissar Cramer mitgeteilt. Dessen kriminalistischer In stinkt aber war hellwach und ließ ihn dementsprechend deutlich seinen Argwohn bekunden. Fee sah auf die Uhr, es war fast eins. Das Hotel war seit Corinne Delgados Abrei se geschlossen, drei Wochen früher als üblich. Andere Dinge hatten nun Vorrang. Sie trat ans Fenster und blickte über den Parkplatz zu den hellen Fenstern des 280
Pförtnerhauses. Wie immer ärgerte sie sich über den Namen. Es gab nie einen Pförtner im 'Donaublick', dazu war das Hotel nicht groß genug. Der Name hatte sich jedoch eingebürgert und die Oberschwaben waren nicht eben bekannt für Flexibilität oder Innovationsdrang. Fee seufzte. Hier machte sie sich Gedanken über den Namen eines ihrer Gebäude und dachte über Charaktereigenschaften der Schwaben nach. Es gab wahrlich Dringenderes! Du verzettelst dich! Das scheint dir in letzter Zeit häufig zu passie ren. Sie zwang ihre Gedanken wieder auf das Nächstliegende. Das Gespräch mit Severin hatte eines ganz klar werden lassen. Die Tür zur Vergangenheit mußte geöffnet werden. Severins Auszeit war vorüber. Auch für mich? Fee ging zu Bett. *** Severin kramte in seiner alten Truhe. Keinem Besucher wäre etwas Außerge wöhnliches an diesem dunklen Möbel aufgefallen, das in der Ecke seines Wohn zimmers stand und in seinen monströsen Ausmaßen kaum zu den geschnitzten Stühlen, dem schweren Eichentisch und dem altertümlichen Sofa paßte. Severin kümmerte sich nicht darum. Er hatte wenig Besucher und was sich diese über seine Einrichtung denken mochten, berührte ihn nicht. Für ihn hatte die Truhe eine besondere Bedeutung. Mit einem Wort, sie enthielt sein Leben. Sorgfältig wählte er die Dinge aus, die er für seine Reise benötigen würde. Als er den Schultergurt mit der Magnum hervorzog, zögerte er. Er nahm die schwarz schimmernde Waffe aus der Halterung und betrachtete sie nachdenklich. Er hatte sie bei der Stuttgarter Aktion nicht benötigt, er würde sie weiterhin nicht benöti gen Severin schob die Waffe wieder in den Gurt und legte sie zu den Dingen, die er mitnehmen wollte. Darauf packte er zwei Schachteln Munition. Zynisch verzog er die Lippen. Mit hundert Schuß würde er sich gegen halb Bonifacio verteidigen können – was ging mit ihm vor? Glaubte er wirklich, nach so vielen Jahren wie der von der Schußwaffe Gebrauch machen zu müssen? Er ging zum Tisch und stürzte das Glas Bordeaux mit einem Zug hinunter. Dann trug er es in die Küche und wusch es ab. Sorgfältig trocknete er das Glas und stellte es zurück in die Anrichte. Dabei bemerkte er das Zittern seiner Hände. Schwer stützte er sich auf die Spüle und atmete tief durch. Willst du wirklich zurück in die Vergangenheit? Nachdem er Brockelmann im wahrsten Sinne des Wortes zu Fall gebracht hatte, hatte sich eine innere Unruhe seiner bemächtigt, die sich von Tag zu Tag gestei gert hatte. Letzte Nacht war er nach einem kurzen, unruhigen Schlaf voller Alp 281
träume erwacht und hatte beschlossen, gegen seinen Zustand etwas zu unterneh men. Den ganzen Tag verbrachte er in seiner Werkstätte und brachte den Jaguar in Schuß. Dann stand sein Entschluß fest. Er würde nach Korsika zurückkehren, in das Haus, in dem er die glücklichste Zeit seines Lebens verbracht hatte, und er würde versuchen, den Tod seiner Frau, seines Sohnes und seiner Schwiegermut ter zu klären. Und wenn es deine Schuld war? Wenn du damals doch irgend etwas am Wagen übersehen hast? – Ich möchte es wissen! – Wirklich? An seinem einunddreißigsten Geburtstag hatte man den völlig zertrümmerten Wagen in einer Schlucht in der Nähe von Roccapina gefunden, daneben lagen die Leichen seiner Frau und seiner Schwiegermutter. Juan, sein vier Jahre alter Sohn, hatte noch gelebt, sagte man ihm, aber als Severin im Krankenhaus angekommen war, war auch Juanito tot. Der Arzt war voll Mitgefühl, aber in Eile. Ein Busun glück zur selben Zeit beanspruchte sämtliche Kapazitäten des kleinen Kranken hauses in Bonifacio. „Monsieur Borowski? Bon jour, mein Name ist Demoinet. Ich bedaure sehr, Ihr kleiner Sohn war nicht mehr zu retten. Er hatte schwere Kopfverletzungen, mehrere Wirbelbrüche und eine Rippe hatte sich in seine Lun ge gebohrt. Es tut mir sehr leid. Wenn Sie keine Fragen mehr haben?“ Severin hatte keine mehr. Als er zum Cap de Roccapina zurückkehrte, hatte sein Schwiegervater Velasquez den Verstand verloren, wütete wie ein Irrer, brüllte wirres Zeug und zerriß alle Papiere, deren er habhaft werden konnte. Severin und der herbeigerufene Arzt hatten Mühe, ihn festzuhalten. Nachdem feststand, daß Velasquez Brocas Zu stand unverändert bleiben würde, brachte ihn Severin in einer Privatklinik am Stadtrand von Nizza unter, wo er heute noch war. Broca war mittlerweile vier undsiebzig, erfreute sich einer guten körperlichen Verfassung, sein Geist aber blieb meist verwirrt. Severin besuchte ihn einmal im Jahr, überprüfte, ob sein Schwiegervater entsprechend seinen monatlichen Überweisungen verpflegt und umsorgt wurde, und hatte nie etwas zu beanstanden. Mit Henri Dupont, dem Kli nikleiter, verband ihn in der Zwischenzeit so etwas wie Freundschaft. Severin nahm das kleine Häufchen hoch, das vor der Truhe lag, und ging ins Schlafzimmer. Eine große Segeltuchtasche stand bereits gepackt auf dem Bett. Er holte eine kleinere und verstaute die Dinge aus der Truhe darin. Unschlüssig sah er um sich. Sein Blick fiel auf die schmale Tür, die zum Nebenraum führte. Er öffnete sie und sah hinein. Die Abhöranlage war von Nat Kaminskis Leuten de montiert worden und nichts deutete mehr darauf hin, daß sich im Hotel vor fünf Tagen dramatische Dinge abgespielt hatten. Severin schloß die Tür und nahm sein Gepäck vom Bett. 282
Die Uhr im Wohnzimmer schlug drei. Er hatte seinen Entschluß gefaßt. Er würde sofort abreisen. Sein Jaguar Baujahr 63 stand vollgetankt vor der Tür. An Schlaf war ohnehin nicht zu denken und die Strecke bis Nizza war lang. *** Punkt acht Uhr am nächsten Morgen betrat Severin die Marmorhalle der Banque Suisse in Genf und wartete darauf, daß man ihm seinen Safeschlüssel aushändig te. Die Frau am Schalter war professionell freundlich, wenngleich er sie in einem offenbar privaten Telefonat gestört hatte. Er nahm den Schlüssel an sich und stieg in die untere Etage des riesigen Bankgebäudes. Hier war es totenstill, so daß sich das Drehen des Schlüssels übermäßig laut anhörte. Mit der Kassette in der Hand ging er in die kleinen Kabine, öffnete sie und stellte den Kasten auf den Tisch. Sekundenlang zögerte er und wischte sich die schweißnassen Hände ab. Wie viele Jahre hatte er sie nicht mehr geöffnet? Ent schlossen drückte er den Deckel nach oben und sah hinein. Mit versteinertem Gesicht sah er die Papiere durch. Er zog mehrere Blätter heraus, verstaute sie in einem braunen Umschlag und steckte diesen ein. Dann schob er den Rest der Papiere in den Kasten zurück und verschloß den Safe. Am Schalter unterschrieb er seine Safekarte und sah, daß er ihn vor neun Jahren, am 31. Oktober 1986, zum letzten Mal geöffnet hatte. Im Augenblick konnte er sich nicht erinnern, zu welchem Zweck. Er hob Geld von seinem Konto ab. Eine halbe Stunde später war er bereits wieder unterwegs und überquerte die Grenze nach Frankreich. Allmählich beruhigte sich das Mühlrad in seinem Kopf und einzelne Bilder wur den faßbar. Dabei vermischten sich die Ereignisse der letzten Tage mit denen vor zwanzig Jahren. Das Bild des blonden Jungen stand klar vor seinem inneren Auge und verhinderte, daß er sich an seinen Sohn Juanito erinnerte. Immer wieder sah er das leblose Kind, in eine Decke gehüllt, die Augen geschlossen unter bleichen Lidern... Felix, das war Felix. Wie sah Juanito aus? Er konzentrierte sich, aber die Erinnerung an das Aussehen seines Sohnes wollte sich nicht einstellen. Ein enger Ring schloß sich um seine Brust. Mühsam unterdrückte er ein Stöhnen. Severin war kein hoch differenzierter Experte, was die Analyse seines eigenen Seelenzustandes anbelangte. Meist handelte er aus einem inneren Drang heraus, so wie jetzt, da er sich auf dem Weg nach Korsika befand. Wenn man ihm gesagt hätte, daß diese Enge in seiner Brust mit dem umfassenden Begriff 'Angst' be schrieben werden konnte, hätte er wahrscheinlich die Achseln gezuckt. Das Wort kam in seinem Sprachschatz kaum vor. Nicht, weil er sich so tapfer fühlte oder so überlegen, sondern einfach, weil Angst etwas war, was hemmte. Severin ließ sich 283
nicht hemmen, nicht von anderen Leuten und schon gar nicht von differenzierten Betrachtungen seines eigenen psychischen Zustandes. Also ignorierte er ihn, so weit es ging. Auf der Stadtautobahn in Lyon kam er in den Mittagsverkehr und verlor mehr als eine Stunde. Der Rest der Fahrt verlief ohne Probleme und gegen sechs Uhr abends checkte er in Nizza im Hotel 'Excelsior' ein, wobei ihn der Mann an der Rezeption wie einen alten Bekannten begrüßte. Nach einem raschen Abendessen nahm er sich die Papiere aus seinem Banksafe vor und studierte sie gründlich. Nun stand er auf dem Balkon des 'Excelsior' und blickte auf die Lichterkette der Bucht. Die Luft war noch mild, die im Sommer stark frequentierte Promenade des Anglais fast leer. Nizza im November war allemal einen Besuch wert. Er dachte an seinen Schwiegervater Velasquez Broca und an die Dinge, die er morgen zu tun haben würde. Wann er die Fähre nach Korsika buchen würde, hing davon ab, was sich in der Klinik ergab. Wenn er Glück hatte, würde Velasquez einen seiner hellen Momente haben. Einerseits wünschte Severin, daß sein Schwiegervater in dem geistigen Dunkel blieb, das ihn schon so lange umgab, denn in hellen Momenten quälten ihn die Erinnerungen. Andererseits benötigte Severin jedoch Antwort auf eine Frage und dazu mußte sein Schwiegervater an sprechbar sein. Wieder ging Severin den Ablauf der Ereignisse vor zwanzig Jahren durch, sah den Abend vor seinem 31. Geburtstag vor sich, sah sich auf der Terrasse mit den Seinen, sah seine Freunde ihn beglückwünschen. Severin erinnerte sich vage an einzelne Gesichter, sah sich erleichtert, als alle endlich verschwunden waren und sich die Familie zum Abendessen auf der Terrasse versammelte, sah Nanette, wie sie geschäftig hin und her eilte. Immer und immer wieder war er diesen Abend durchgegangen und wieder drängte sich die Frage auf, auf die er keine Antwort wußte: Warum fuhren seine Frau, sein Sohn und seine Schwiegermutter am Mor gen des nächsten Tages, eines Sonntags, morgens früh nach Bonifacio, warum? Velasquez wußte die Antwort, Severin zweifelte nicht daran, aber würde er sie ihm auch geben? Es war nun vollständig dunkel geworden. Die Straßenbeleuchtung der Promenade des Anglais funkelte wie eine Kette leuchtender Perlen. Auf der Straße unter dem Hotel zog scherzend und singend eine Gruppe junger Franzosen vorbei, die ihre Mützen schwenkten und auf dem Pflaster tanzten. Plötzlich fröstelte Severin. Er schloß die Balkontüre und zog die Vorhänge zu. Die Lampen verbreiteten einen warmen Schimmer und gaben dem unpersönlichen Hotelzimmer eine fast gemüt liche Atmosphäre. Könnte man doch ebenso leicht Vorhänge vor die dunklen Seiten der Seele ziehen! 284
Severin gestattete sich im Moment keinen Rückfall in schwarze Erinnerungen und kontrollierte, ob die Tür verschlossen war. Er klemmte einen Stuhl unter den Knauf. Dann schüttelte er leise lächelnd den Kopf. Alte Gewohnheiten... Er ließ den Stuhl, wo er war, und ging zu Bett. Müde schloß er die Augen, aber der Schlaf wollte sich lange nicht einstellen. *** „...der momentane Zustand ist beunruhigend, mon ami. Wir haben keine Erklä rung, aber genauer betrachtet haben wir ohnehin selten Erklärungen für die Viel falt psychischer Zustände. Seit Tagen ist Ihr Schwiegervater verändert, Severin, völlig verändert.“ Heftig gestikulierte Dupont und strich sich immer wieder durch seinen weißen Haarschopf. Er war ein kleiner, drahtiger Mann mit einer langen Nase und einer Nickelbrille, über deren Rand er nun Severin forschend musterte. „Haben Sie ihn von meiner Ankunft unterrichtet, Henri? Vielleicht hat mein Kommen diese Veränderung bewirkt?“ Severin lehnte sich im abgewetzten Le derstuhl nach vor und blickte über den Schreibtisch hinweg auf Dupont, der in seinem Drehstuhl hin und her wippte. „Nein, mon ami. Madame Di Cosimo hat gestern angerufen, Monsieur Broca ist aber schon seit Tagen bei klarem Verstand. Schwester Hélène meldete es nach dem Mittagessen. Er hat sie um Papier und Kugelschreiber gebeten und seit die ser Zeit kritzelt er auf den Bögen herum. Läßt niemanden sehen, was er schreibt, ist psychomotorisch getrieben, angespannt. Wir haben eine neuroleptische Medi kation erwogen, aber...“ Hilflos warf Dupont die Hände in die Höhe. „Besteht Gefahr für seine Gesundheit?“ Severin hatte keine Ahnung, was neuro leptische Medikation bedeutet, in jedem Fall jedoch wollte er seinen Schwieger vater unbeeinflußt von Tabletten sprechen. Dupont zögerte. „Sehen Sie, Severin, wir kennen uns nun schon seit vielen Jah ren, also kann ich ehrlich sein. Gesundheitlich hatte Ihr Schwiegervater in den letzten Monaten einige Probleme, wir mußten seinen hohen Blutdruck einstellen und das ist uns einigermaßen gelungen. Auch gibt es im EKG Veränderungen, zwar nichts, was in seinem Alter zu unmittelbarer Beunruhigung Anlaß geben würde, aber dennoch... Mir machen seine psychischen Symptome mehr Sorgen. Seit Ihrem letzten Besuch zeigte er deutliche depressive Zeichen und wirkte des orientiert, unzugänglich, kaum faßbar. Seit drei Tagen ist er nun verstandesmäßig wieder klar, aber von einer inneren Unruhe und Rastlosigkeit erfüllt, die beunru higend ist. Er beantwortet unsere Fragen, zeigt dabei jedoch deutlich, daß er in Ruhe gelassen werden möchte. Er läuft auf und ab oder sitzt an seinem Tisch vor dem Fenster und schreibt, füllt Seite um Seite.“ 285
„Hat er nach mir gefragt?“
„Nein, mein Freund. Er spricht nur das Nötigste.“
„Was könnte seine Veränderung bedeuten?“
„Wie ich schon sagte, wir wissen es nicht. Aber wir beobachten weiter. Solange
es sich nicht verschlimmert...“
„Verschlimmert?“
„Er könnte psychisch dekompensieren, ausrasten, toben oder in Melancholie
verfallen, irgend etwas in diese Richtung.“
„Was dann?“
„Dann müssen wir ihn mit Medikamenten stabilisieren. Allerdings wäre er dann
für längere Zeit nicht mehr -“ Dupont brach ab.
„Was wäre er nicht mehr?“ Severins Stimme klang eine Spur angespannt, er war
hellhörig geworden.
„Mein lieber Freund!“ Dupont wedelte beschwichtigend mit seiner Hand. „Es ist
gerade mal fünf Monaten her, daß Sie das letzte Mal bei uns waren. Seit Jahren
besuchen Sie Ihren Schwiegervater einmal im Jahr, im Sommer. Also haben Sie
einen bestimmten Grund, gerade jetzt hierher zu kommen. Sie wollen mit Velas
quez sprechen, wollen etwas von ihm wissen, daher ist es wichtig, daß er an
sprechbar ist. Genau das ist er aber nicht, wenn wir ihm Neuroleptika geben. So
stehen die Dinge.“
Severin schwieg. Dupont hatte scharfsichtig erkannt, warum er hier war. Sollte er
ihn einweihen? Er würde auf die Hilfe des Klinikleiters unter Umständen ange
wiesen sein. Severin beschloß abzuwarten. Er erhob sich. „Kann ich zu ihm?“
„Natürlich. Kommen Sie.“ Dupont eilte zur Tür und hielt sie mit schwungvoller
Geste für Severin offen. Gemeinsam verließen sie das Gebäude.
Die Klinik 'Cimiez' am Stadtrand von Nizza lag auf einem der gleichnamigen
Hügel unter Pinien, umgeben von einer hohen Buchsbaumhecke. Die verstreut
liegenden Gebäude waren im Bungalowstil erbaut und beherbergten jeweils acht
Patienten. Die Räume waren hell und farbenfroh und die medizinischen Einrich
tungen taktvoll getarnt. Die Anlage vermittelte den Eindruck einer Feriensied
lung. Die monatlichen Kosten waren dementsprechend.
Langsam überquerten Severin und Dupont die Kiesfläche vor dem Hauptgebäude
und hielten auf Pavillon acht zu, ein sonnengelb gestrichenes Haus, das etwas
abseits lag und in dem Velasquez Broca die letzten zwanzig Jahre seines Lebens
verbracht hatte. An der Tür verabschiedete sich Dupont und eilte mit wehendem
weißen Mantel seinen Tagesgeschäften entgegen. Severin trat ein, durchquerte
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den Mittelgang und klopfte an die dritte Tür auf der linken Seite. Als keine Ant wort kam, trat er zögernd ein. Im Gegenlicht sah er einen Mann am Fenster, den krummen Rücken über den Tisch gebeugt. Vorsichtig näherte sich Severin der sitzenden Gestalt, die eifrig schrieb, berührte sie sanft an der Schulter und sagte leise: „Bon jour, mon pére! C'est moi!“ *** „Allo! Allo, Nanette, c'est moi!“ Der Bürgermeister von Bonifacio trommelte ungeduldig gegen die rissige Türe. Ungeduldig rüttelte er an der Klinke. Wo blieb sie denn? Nanette wurde alt, kein Zweifel. Sie war schon immer langsam von Begriff gewesen, aber nun schien sie auch noch schwerhörig geworden zu sein. Forschend sah er hoch. Das alte, graue Steinhaus hatte bereits bessere Tage gese hen. Der schiefergraue Putz war an den meisten Stellen abgeblättert, die ehemals grünen Fensterläden waren voller Risse und Sprünge und hingen schief in den Angeln. Das schmale einstöckige Gebäude wurde von zwei Neubauten links und rechts fast erdrückt, doch schien es zweifelhaft, ob es ohne diese nicht müde in sich zusammengesunken wäre. Wieder hämmerte Marceau an die Tür. Nanette wurde langsam alt! Mußte jetzt auch schon an die siebzig sein, ja, das müßte hinkommen. Plötzlich das Schlagen einer Tür im Inneren des Hauses. Langsam öffnete sich die Haustüre einen Spalt und ein Schopf wirrer grauer Haare wurde sichtbar. Darunter blinzelten zwei helle Augen mißtrauisch in das schwitzende Gesicht Marceaus. Als sie ihn er kannte, flackerte kurz Besorgnis in den faltigen Zügen auf. Schnell trat Nanette vor die Tür und zog diese hinter sich zu. Es schien, als wolle sie dem Bürgermei ster auf keinen Fall Einlaß in ihr Haus gewähren. Marceau, der keinerlei Absich ten in diese Richtung gehegt hatte, machte einen Schritt rückwärts. „Endlich! Hör zu, Nanette, kannst du heute noch zum Cap de Roccapina hinaus fahren und etwas nach dem Rechten sehen? Severin kommt.“ „Pardon? Ich verstehe nicht.“ Nanette legte sich die Hand an das rechte Ohr und beugte sich nach vorn. Dabei wehte dem Bürgermeister der Duft von saurer Milch und abgestandenem Schweiß entgegen. Angewidert wandte er sich ab. Diese alte Schreckschraube könnte sich auch ein Telefon zulegen. „Nanette,“ er übte sich in Nachsicht, „Severin Borowski, Monsieur Severin, kommt nach Roccapina. Morgen oder übermorgen. Richte alles her, ja?“ „Monsieur Severin? Monsieur Severin kommt?“ Nanettes zahnloser Mund ver zog sich zu einem breiten Grinsen und aufgeregt schlug sie die Hände zusammen. 287
„Ja, ja, ja! Das sagte ich. Also fahre nach Roccapina, heute noch, hast du ver standen?“ „Mais oui, oui. Ich fahre nach Roccapina, richte das Haus her. Monsieur Severin kommt, mon Dieu!“ „Wenn du etwas brauchst, gib mir Bescheid, ja?“ „Gewiß, gewiß. Mon Dieu, Monsieur Severin kommt!“ Mit ausgebreiteten Ar men näherte sich die Alte dem Bürgermeister. Marceau ergriff die Flucht. Er stolperte die Treppe hinunter und so schnell es ging zwängte er seine gewichtige Gestalt hinter das Lenkrad seines Dienstwagens. Er hob die Hand zu einem flüchtigen Gruß und mit durchdrehenden Rädern schoß er die Gasse hinauf Richtung Mairie. Dabei verfluchte er Nanette, die als Verwandte seiner Frau schon lange ein Dorn im gesellschaftsbewußten Auge des Bürgermeisters von Bonifacio war. Zumindest könnte sie sich einmal waschen! Am besten, man be schränkte sie auf die ihr zustehende Rolle! Die ehemalige Haushälterin der Bro cas fühlte sich immer noch für das Haus am Cap de Roccapina verantwortlich und kümmerte sich darum. Jedes Monat fuhr sie einmal mit ihrem Fahrrad den weiten Weg hinaus, die gewundene Uferstraße entlang zu dem einsamen Haus auf der Hügelkuppe, von der man aus den 'Löwen von Roccapina' sehen konnte. Nie hatte sie die Hoffnung aufgegeben, daß Monsieur Severin eines Tages wie derkommen würde und wie es aussah, hatte sie Recht gehabt. Zum Teufel mit ihr! Der Bürgermeister von Bonifacio war an seinem Amtssitz angekommen und eilte in sein Büro. Mit einem barschen 'Möchte nicht gestört werden' zu seiner Vor zimmerdame schloß er die Tür. Lange saß er am Schreibtisch, sah gedankenvoll zum Fenster hinaus auf das tiefblau schimmernde Meer und klopfte mit dem Bleistift auf die grüne Schreibtischunterlage. Nachdenklich runzelte er die Stirn. Seit dem Anruf von Madame Di Cosimo gingen ihm verschiedene Gedanken durch den Kopf und keiner davon konnte seine Besorgnis verringern. Was wollte Borowski? Was wußte Borowski? Er griff zum Telefon und wählte. Als sich am anderen Ende jemand meldete, sprach er hastig in den Hörer. Als Marceau auflegte, hatte er den Eindruck, daß auch sein Gesprächspartner sich Sorgen zu machen begann. *** Severin rollte langsam am Monument aux Morts vorbei den Quai Lunel hinunter zum Hafen, umrundete diesen und stellte sein Auto am Randstein vor einer Bar ab. Es war sonnig und warm. Ein paar Tische standen vor der Bar und Severin setzte sich mit dem Rücken zur Wand. Unablässig musterte er die vorbeikom 288
menden Passanten, ohne daß ihm diese alte Angewohnheit bewußt geworden wäre. Als der Kellner erschien, bestellte er einen trockenen Martini. Versonnen an sei nem Glas nippend betrachtete er die Schiffe im Hafen. Die kleinen Fischerboote dümpelten gemächlich vor sich hin, dahinter schaukelten die Segelboote und Jachten in der sanften Brise. Severin beobachtete einen jungen Mann im blauen Overall, der sich weit über die Reling lehnte, um die Außenseite der Bordwand zu streichen. Die frische Farbe glänzte im Sonnenlicht und schwungvoll führte der junge Mann den Pinsel. Severin blinzelte. Was wohl mit seinem Boot passiert war? Seine Gedanken kehrten zu Velasquez Broca zurück. Der alte Mann war bei sei ner Berührung zusammen gezuckt. Vorsichtig hatte Severin getestet, ob sein Schwiegervater ansprechbar sei. Broca hatte geantwortet und dabei zwar mür risch und kurz angebunden, aber völlig normal gewirkt. Behutsam hatte Severin das Gespräch auf seine Frage gelenkt. „Mon père, erinnerst du dich noch an mei nen Geburtstag vor zwanzig Jahren? Es war ein Sonntag – erinnerst du dich? Was ich wissen möchte, warum fuhren Josette und -“ Broca fuhr hoch. „Zut! Welche Hartnäckigkeit! Je suis fou, ich bin verrückt, hast du das vergessen? Frag nicht, Severin, nicht jetzt!“ Mit funkelnden Augen sah er Severin an, dann wandte er sich wieder seinem Schreibtisch zu. Severin wartete still, aber Broca beachtete nicht mehr. Murmelnd zog er seine Schublade auf und nahm mehrere Blätter heraus. Mit fahrigen Händen faltete er sie wieder und wie der zusammen. Severin atmete tief ein und stand auf. An der Tür hob er die Hand und sagte zu dem gebeugten Rücken: „Bis morgen, mon père. Au revoir!“ Entgegen seiner Erwartung drehte sich Velasquez um und lächelte. „Adieu, mon cher fils, adieu!“ Zwei 'adieu' für ein 'au revoir' dachte Severin und trank seinen Martini aus. Wie es aussah, hatte er gute Chance, Velasquez auch morgen bei geistiger Klarheit anzutreffen. Doch es gab noch etwas, was er in Nizza erledigen wollte. Je mehr er über die Vergangenheit nachdachte, desto mehr Fragen stellten sich. Aus seiner Brusttasche holte er den braunen Umschlag und nahm ein Blatt heraus. Es war das Schreiben eines Rechtsanwaltes aus Nizza, datiert vom 16. März 1976. Se verin unterdrückte den Schmerz, der wie ein heißes Eisen in ihm hochschoß, und sah auf die Uhr. Es war halb drei. Er würde diesen Rechtsanwalt jetzt aufsuchen. *** Nanette schob keuchend ihr Fahrrad das letzte Stück des Weges hinauf und hielt aufatmend vor dem verrosteten Tor. Sie lehnte das Rad an den Zaun und schob 289
mit zitternden Fingern den alten Riegel zurück. Knirschend drehte sich der Bol zen und unwillig knarrend gab das Gatter nach. Nanette hielt sich nicht damit auf, es wieder zu verschließen, sondern eilte, so schnell ihre alte Beine sie trugen, über die Auffahrt zum Haus. Sie holte den Schlüssel aus dem Versteck und schob ihn ungeschickt in das Schloß, das frisch geölt war und matt glänzte. Die schwere Holztüre klemmte wie gewohnt und Nanette mußte ihre ganze Kraft aufbieten, um sie soweit aufzustemmen, daß sie hindurch schlüpfen konnte. Schwer atmend hielt sie inne. Wie jedesmal, wenn sie das Haus am Roccapina betrat, befiel sie eine unerklärliche Beklemmung. Im Inneren war es düster und roch muffig. Nanette schaltete den Strom an, ging in die Küche und öffnete die Speisekammer. Wie erwartet sah sie nur gähnende Leere. Sie würde Monsieur Marceau bitten, mit ihr morgen Vorräte zu besorgen und sie herzubringen. In Gedanken notierte sie Dinge, von denen sie wußte, daß Monsieur Severin sie gerne aß. Ärgerlich runzelte sie die Stirn. Da war doch noch mehr gewesen. Ihr Gedächtnis ließ sie im Stich! Sie würde eine Liste anfertigen, heute abend. Jetzt war anderes zu tun. Sie mußte sich sputen, um vor der Dunkelheit zu Hause zu sein. Rasch öffnete sie die Fenster und drückte die Holzläden auf. Im Salon öffnete sie alle Flügeltüren und trat auf die Terrasse. Sie sah sich kritisch um. Die Steinflie sen waren brüchig und an vielen Stellen hatte sich Gras und Moos festgesetzt. Die Balustrade war bereits halb unter wild rankendem Efeu verschwunden, die üppig wuchernde Clematis am Ende der Terrasse hatte ihre Blüten und Blätter abgeworfen und das braune Gestrüpp verstärkte den verwahrlosten und verlasse nen Eindruck. Der Rosengarten war verschwunden und an seiner Stelle hatten sich unansehnliche Brombeerranken breitgemacht. Nanette seufzte. Welch ein Jammer, dieses schöne Anwesen so verkommen zu lassen. Dann riß sie sich zu sammen. Es war noch viel zu tun. Sie eilte durch den Salon zur Treppe. Als sie an der Tür des Arbeitszimmers vor beikam, warf sie wie immer einen scheuen Blick auf die geschlossene Türe. Dies war der einzige Raum, den sie seit dem Tod ihrer Herrin nie mehr betreten hatte. Severin hatte das Zimmer abgesperrt und deutlich gemacht, es solle von nieman dem jemals mehr geöffnet werden. Nanette hatte nicht gewagt, nach dem Grund zu fragen. Im ersten Stock öffnete sie ebenfalls alle Fenster und machte sich daran, das Gä stezimmer herzurichten. Monsieur Severin würde sicher nicht im Schafzimmer oder im Kinderzimmer übernachten wollen. Es knarrte und Nanette fuhr zusammen. Ängstlich hielt sie inne. Plötzlich schlug die Haustüre mit lautem Krachen zu. Wie erstarrt stand Nanette und lauschte. Es 290
dauerte eine Weile, bis sie fähig war, sich zu rühren. Dann lief sie zum Fenster und sah hinunter. Die geschwungene Auffahrt war leer. Zitternd holte sie lang sam Atem. Der Wind er hatte die Türe zugeschlagen. Als sich nichts mehr rührte, setzte sie ihre Arbeit fort. *** Eine bronzefarbene Tafel am großen, weit ausladenden Steinhaus in der Rue Gioffredo zeigte den Sitz der Anwälte Deauville, Carbonet et fils an. Severin drückte auf den großen Klingelknopf. Ein leises Schnappen signalisierte das Öff nen der Tür. Im Inneren des Hauses war es kühl und dämmrig. Der Marmorboden der Halle war mit dicken Teppichen belegt und in der Mitte plätscherte ein Springbrunnen emsig vor sich hin. Rechter Hand befand sich ein Lift und Severin fuhr in den dritten Stock. Eine ältere Vorzimmerdame, in strenges Schwarz gekleidet, fragte ihn nach sei nen Wünschen. Severin reichte ihr das Schreiben. „Mein Name ist Severin Bo rowski. Ich würde gerne in dieser Angelegenheit mit Monsieur Deauville spre chen.“ Die Sekretärin zog die Augenbrauen in die Höhe. „Monsieur Borowski, ich be daure, Monsieur Deauville ist seit zwölf Jahren tot.“ „Lebt Monsieur Carbonet noch?“ Die ältere Dame reagierte etwas pikiert. „Natürlich lebt Monsieur Carbonet noch, beide leben noch. Monsieur Philip Carbonet hat sich vor drei Jahren in den Ruhe stand zurückgezogen. Sein Sohn Alfons führt die Kanzlei. Wenn Sie mir sagen würden, worum es geht?“ Severin streckte die Hand nach dem Papier aus. „Das würde ich Monsieur Car bonet lieber selbst mitteilen.“ Die schwarz gekleidete Frau zögerte, doch sie behielt das Blatt. „Ich werde nach sehen, ob Monsieur Alfons für Sie Zeit hat.“ Severin nickte und geräuschlos verschwand die Angestellte hinter einer gepol sterten Tür. Kurze Zeit später winkte sie ihm einzutreten. Alfons Carbonet war ein dicklicher, etwa vierzigjähriger Mann mit sanften brau nen Augen und einem traurig herabhängenden Schnurrbart, den er immer wieder erfolglos nach oben zog. Neugierig musterte er seinen Besucher über seinen Schreibtisch hinweg. „Monsieur Borowski, ich freue mich, Sie kennen zu lernen. Bitte nehmen Sie Platz! Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“ 291
Severin ließ sich auf den Besucherstuhl nieder und streckte die langen Beine von
sich. „Vielen Dank, Monsieur Carbonet, daß Sie mich so kurzfristig empfangen
konnten. Ich hoffe, einige Auskünfte von Ihnen zu erhalten. Wissen Sie über die
Vorgänge Bescheid?“ Severin deutete auf das Schreiben, das Carbonet in Händen
hielt.
Der Anwalt sah auf das Blatt. „Die Sache Broca-Borowski! Ich erinnere mich
dunkel. Wenn Sie Einzelheiten wollen, muß ich den Akt bringen lassen.“
„Ich wäre Ihnen sehr dankbar.“
Carbonet sprach rasch in die Gegensprechanlage. Dann bot er seinem Gast einen
Drink an. Severin lehnte ab. Schweigend warteten sie, bis die ältere Frau in dem
schwarzen Kleid wieder erschien. Sie legte eine dünne Mappe vor Alfons und
beugte sich flüsternd zum Ohr des Anwalts. Carbonet sah überrascht hoch, nickte
und dankte ihr. Mit einem leichten Neigen des Kopfes verließ sie den Raum.
Carbonet verschränkte die Hände über der Mappe, lächelte schüchtern und sah
zögernd Severin an. „Die Akte befindet sich nicht mehr in unserem Archiv, son
dern bei meinem Vater. Ich habe hier nur wenige Unterlagen“ Der Anwalt sprach
schnell weiter, als wolle er einer Frage zuvorkommen: „Monsieur Borowski,
können Sie sich ausweisen?“
Severin reichte wortlos seinen Paß über den Schreibtisch. Carbonet notierte sich
die Daten und erkundigte sich nach der Hoteladresse. Dann legte er den Füllhalter
zur Seite und lächelte gewinnend. „Nun, wie kann ich Ihnen behilflich sein,
Monsieur Borowski?“
Severin räusperte sich. „In dem Schreiben Ihrer Kanzlei, das mich auf Umwegen
erreicht hat, werde ich als Erbe des Vermögens meiner Frau bestimmt. Dabei
wird als Todesursache der Unfall genannt. War die Unfallursache eindeutig?“
Carbonet blätterte. „Soweit ich es aus den Unterlagen sehen kann, gab es keine
Zweifel an der Todesursache, wenn Sie das meinen.“
„Gab es ein Verfahren?“
„Nein, soweit ich es beurteilen kann“
„Gab es eine Obduktion?“
Wieder blätterte Carbonet und schüttelte dann den Kopf. „Ich habe hier keinen
Hinweis.“
„Was geschah mit dem Wrack?“
„In den Unterlagen wird nichts darüber erwähnt.“
„Wer leitete die Untersuchung?“
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„Dazu kann ich nichts sagen, Monsieur Borowski.“ Carbonet strich sich über den Schnurrbart und sah Severin direkt in die Augen. Severin entschloß sich, seine Taktik zu ändern. Er beugte sich über den Tisch, nahm das Schreiben an sich und klopfte mit dem Finger darauf. „Sehen Sie, Monsieur Carbonet, vor vielen Jahren hatten andere Dinge Vorrang und ich ach tete nicht auf Einzelheiten. Aber nun frage ich mich, warum ausgerechnet Sie?“ Carbonet blinzelte. „Wie meinen Sie das?“ Severin tippte auf den Kopf des Briefes. „Deauville, Carbonet et fils, Rue Gioffredo, Nice. Warum Nizza, warum nicht ein Anwalt in Calvi oder Ajaccio? Welche Verbindungen gab es zu Ihrer Kanzlei?“ Der Anwalt runzelte die Stirn. Wieder blätterte er im Akt, dann breitete er die Hände aus. „Monsieur Borowski, in diesen Unterlagen gibt es keinen Hinweis, warum wir mit dieser Aufgabe betraut wurden. Ich bedaure. Hat das für Sie Wichtigkeit?“ Die braunen Augen sahen Severin unverwandt an, der Blick wirkte offen und etwas ratlos. Severin zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung. Es ist ein Detail, das mir auf fiel.“ Abwartend sah er den Anwalt an. Dieser schien sich zu einem Entschluß durchzuringen. „Es scheint für Sie sehr wichtig zu sein, Monsieur Borowski. Vielleicht kann Ihnen mein Vater weiterhelfen. Wenn Sie wollen, frage ich ihn, ob er Sie empfängt.“ „Das wäre sehr freundlich von Ihnen.“ Severins Miene blieb ausdruckslos. Der Anwalt griff zum Telefon und schilderte das Problem. Nach kurzer Zeit legte er auf. „Alles geregelt. Mein Vater kann Sie morgen um elf Uhr sehen. Ich gebe Ihnen die Adresse.“ Carbonet riß ein Blatt vom Schreibblock und notierte sie. Dann reichte er es über den Tisch. „Haben Sie sonst noch einen Wunsch, Mon sieur Borowski?“ Der Anwalt erhob sich und kam hinter seinem Schreibtisch hervor. Severin verneinte und verabschiedete sich. Soviel gesprochen und so wenig ge sagt Er trat auf die Straße. Stirnrunzelnd blickte er an dem Gebäude hoch. War er eben elegant verschaukelt worden? *** Severin saß in der Bar des Hotels 'Excelsior' und versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Das Eis in seinem Glas war geschmolzen. Er schob das Getränk von sich und bestellte sich einen neuen Whisky. Würden jetzt seine Er innerungen wiederkehren? War sein Unterbewußtsein nun bereit, herzugeben, was er so mühsam und qualvoll verdrängt hatte? Wollte er das überhaupt? Wenn 293
ihm ein Fehler unterlaufen war, würde er damit fertig werden? Sollte er nach Hause zurückfahren? – Wohin zurück? Nachdem er Carbonets Kanzlei verlassen hatte, war er ziellos durch die Straßen von Nizza gewandert. Die rastlose Unruhe hatte sich wieder seiner bemächtigt und forderte Bewegung. Daneben spürte Severin noch eine unerklärliche Span nung. Er verglich sie mit dem Gefühl, das einen überfällt, wenn man in einem völlig dunklen Raum umher tastet und nicht weiß, worauf man stoßen wird, wo bei sich die Alternative eines Lichtschalters oder einer Leiche anbot. Man konnte nur hoffen, zuerst auf den Schalter zu stoßen. Ins 'Excelsior' zurückgekehrt hatte er lustlos in seinem Essen herum gestochert, ohne viel zu sich zu nehmen, und sich dann in die Bar verzogen. Wenn Alkohol ein Tröster war, sollte er heute seine Wirkung tun. Severin sah sich um. Die Bar war zur Hälfte besetzt, gedämpfte Musik und leises Stimmengemurmel erfüllte sie. In der Nische nebenan saß ein junges Paar, das offenbar die ersten unge schickten Annäherungen probte. Die Frau war schlank und schön, mit langen schwarzen Locken und dunklen Augen. Josettes Augen... *** Es war noch früh am Morgen und die roten Felsen der Calanches glühten in der frühen Sonne. Severin brauste mit seiner KTM Tarzan Sport die staubige Straße entlang, die sich durch die beeindruckende Kulisse wand. Er genoß den Fahrt wind, die Kraft seines 150 Kubikmotors und die Einsamkeit der Gegend. Vor zwei Tagen war Severin in Ile Rousse gelandet und hatte die Nase seiner neuen KTM nach Südwesten gewandt, entschlossen, den ersten Urlaub seines Lebens in vollen Zügen zu genießen. Er war fünfundzwanzig, ohne Familienban de und hatte genügend Geld, die nächsten zwei Monate so zu gestalten, wie er wollte. Warum er sich ausgerechnet Korsika als Urlaubsziel gewählt hatte, wußte Severin nicht genau. Er war in Nizza am alten Hafen gewesen, als ihm ein Plakat aufgefallen war: l'ille de beauté – La Corse. Kurz entschlossen hatte er eine Pas sage gebucht. Er hatte in Calvi übernachtet und für heute geplant, den westlichen Teil der Insel bis Ajaccio zu erkunden. Die Felsen rückten näher und Severin hielt sich instinktiv in der Mitte der Straße. Wäre es nicht so strahlend hell gewesen, könnte man diese bizarren Felsnadeln rechts und links der Strecke durchaus als Bedrohung empfinden. Severin schal tete in den zweiten Gang herunter und fuhr langsam auf eine enge Kurve zu. Dann beschleunigte er wieder. Plötzlich riß er sein Motorrad herum und geriet dabei auf der staubigen Straße ins Schleudern. Zentimeter vor einem quer stehen den Auto konnte er die Maschine abfangen. 294
Ärgerlich sah er um sich. Keine Menschenseele. Der Wagen, ein cremefarbenes
Mercedes Cabrio 230 SL stand mit aufgeklappter Motorhaube verlassen auf der
Fahrbahn. Severin stieg von seinem Motorrad. Er zögerte, aber schließlich siegte
seine berufliche Neugier. Interessiert beugte er sich über den Motorblock.
Nach kurzer Zeit hatte er die Fehlerquelle entdeckt. Der Keilriemen war gerissen.
Severin überlegte. Der Fahrer war wahrscheinlich in die andere Richtung gegan
gen, um Hilfe zu holen. Es war fraglich, ob er sie so schnell finden würde. Der
Mercedes war das erste Auto, das Severin in den Calanches gesehen hatte. Er
beschloß zu warten und setzte sich unter einen Felsvorsprung. Trotz der frühen
Stunde war die Luft bereits flirrend heiß.
Er war etwas eingedöst, als er Stimmen hörte und hinter der nächsten Biegung
zwei Gestalten auftauchen sah. Severin erhob sich. Beim Näherkommen be
merkte er, daß es ein Mann und eine Frau waren, der Mann Ende vierzig, bereits
stark ergraut, von mittlerer Größe mit einer auffallend gebogenen Nase und
scharfen Kerben, die sich von der Nase bis zum Kinn hinzogen. Die dunklen Au
gen musterten Severin forschend und seine Stimme klang, als sei sie es gewohnt,
daß man ihr gehorcht. „Sie haben unseren Wagen gefunden!“
„Das war ganz unvermeidlich, ich konnte gerade noch einen Aufprall verhin
dern.“ Severin deutete mit einer vielsagenden Geste auf die blockierte Fahrbahn.
Schlagartig änderte sich das Verhalten des Mannes. Lebhaft gestikulierend brei
tete er die Arme aus und verzog die Lippen zu einem Verständnis heischenden
Lächeln. „Entschuldigen Sie, Monsieur, die Straße ist nicht gerade stark frequen
tiert und ich dachte... Verzeihen Sie, daß ich Sie in Gefahr gebracht habe!“
„Kein Problem. Ist ja nichts passiert.“
Mit gerunzelter Stirn sah der Mann auf seinen Mercedes. „Er fing plötzlich an zu
Stottern und ich stieg in Panik auf die Bremse. Da stellte er sich quer und der
Motor starb ab. Keine Ahnung, was los ist.“
„Hm.“ Severin bückte sich und hob das Gummiband hoch. „Dachte, ich sehe mal
nach. Der Keilriemen ist gerissen. Entschuldigen Sie, daß ich ohne Ihre Erlaub
nis...“
Der Mann sprang beinahe in die Höhe. „Mon Dieu, mon Dieu! Das ist ja wun
derbar! Entschuldigen? Was soll ich entschuldigen! Sie haben uns gerettet!“ Pa
thetisch breitete er die Arme aus, als wolle er Severin, der ihn um fast zwei Köpfe
überragte, an seine Brust drücken. Unwillkürlich trat Severin einen Schritt zu
rück.
Mit ausgestreckter Hand eilte der Mann auf ihn zu. „Darf ich mich vorstellen,
mein Name ist Velasquez Broca und das“, er deutete auf die junge Frau, die im
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Hintergrund stand und von Severin nicht beachtet worden war, „das ist meine
einzige Tochter Josette. Komm her mein Kind, und bedanke dich bei diesem
freundlichen Herrn, der uns aus unserem Mißgeschick errettet hat!“
Verlegen und etwas peinlich berührt vom überwältigenden südländischen Tempe
rament Brocas schüttelte Severin zuerst der Tochter die Hand, wobei er seinen
Namen murmelte. Dann hatte er Mühe, sich dem kräftigen und wiederholten
Händeschütteln Brocas zu entziehen. Endlich schien sich dessen Pathos erschöpft
zu haben und Severin konnte auf das Wesentliche kommen.
„Die Ursache zu finden, war kein Problem“, er schlenkerte das Gummiband hin
und her, „aber ohne Ersatzriemen wird es schwierig. Moment, da fällt mir etwas
ein.“ Er wandte sich der jungen Frau zu. „Wären Sie wohl so freundlich und
würden Sie Ihren Strumpf ausziehen?“
Josette Broca riß für einen Augenblick den Mund auf, schloß ihn jedoch gleich
wieder und fragte süß: „Den linken oder den rechten?“
Severin entging die Ironie. „Das ist egal.“ Plötzlich fiel ihm auf, mit welchen
Blick Broca ihn anstarrte. Etwas ungeduldig ob des Mißverständnisses sagte er:
„Nylonstrümpfe kann man zusammen drehen und verknoten. Damit ersetzen sie
einen Keilriemen für eine gewisse Zeit und Sie können in die nächste Werkstätte
fahren.“
„Ach, so ist das!“ Velasquez schien erleichtert. „Das ist ja geradezu phanta
stisch! Da haben wir nicht nur einen Mann gefunden, der sich mit Autos aus
kennt, er weiß auch schon die Lösung unseres Problems. Was ist, mein Kind,
rasch, zieh deinen Strumpf aus, hopp, hopp!“
„Vater!“ Josettes Gesicht hatte eine tiefe Röte überzogen.
„Ja? Was ist? Nun, beeile dich!“ Endlich schien er die Verlegenheit seiner
Tochter zu bemerken. „Ach so, ich verstehe... also geh doch hinter den Felsen
dort.“ Entschuldigend wandte er sich an Severin. „Sie ist erst neunzehn.“
„Vater! Also, wirklich!“ Josette stampfte mit dem Fuß auf und Severin bemerkte
Tränen in ihren Augen. Er beugte sich zu ihr. „Mademoiselle, bitte verzeihen Sie
meine Taktlosigkeit. Ich dachte nicht daran, Ihnen zu nahe zu treten. Wir finden
sicher eine andere Möglichkeit.“
Josette sah Severin an. Ihre dunklen Augen hielten seinen Blick fest, wurden
wieder klar. Dann lächelte sie und warf den Kopf zurück, daß die langen Haare
flogen. „Bin sofort zurück.“ Leichtfüßig lief sie die Straße hinunter und ver
schwand hinter einem Felsvorsprung. Severin sah ihr nach.
Broca klopfte ungeduldig auf Severins Arm. „Frauen!“ sagte er und verzog den
Mund. „Ich fürchte, ich habe Ihren Namen nicht genau verstanden.“
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„Borowski, Severin Borowski, die meisten Leuten nennen mich bei meinem Vor
namen.“
„Gut, Monsieur Severin. Glauben Sie, daß das funktionieren wird?“ Er deutete
auf die offene Motorhaube.
„Ich denke doch. Gedrillte Nylonstrümpfe halten einiges aus. Sie sollten jedoch
so rasch wie möglich den Keilriemen ersetzen lassen.“
„Das werde ich, mon ami, das werde ich! Wie lange benötigt man denn, einen
Strumpf auszuziehen? Ah, da kommt sie ja!“
Josette lief auf sie zu, ihre langen, schwarzen Locken, die ihr bis zum halben
Rücken reichten, flatterten. In der rechten Hand hielt sie ihren Strumpf und mit
der linken hatte sie den langen Rock gerafft, um nicht darüber zu stolpern.
Leichtfüßig lief sie die staubige Straße entlang, so daß kleine Wölkchen von ih
ren Füßen stoben. Es war ein Bild, das sich für immer in Severins Herzen ein
grub. Noch nie hatte er so etwas Schönes gesehen!
Außer Atem hielt Josette vor Severin und streckte ihm ihren Strumpf entgegen.
„Hier, ich habe mich für den linken entschieden, ich hoffe, er paßt!“ Glucksend
unterdrückte sie ein Lachen.
Gewaltsam riß sich Severin aus seiner Erstarrung und nahm das dünne Gebilde
entgegen. Er drillte es zusammen. Magnetisch angezogen flogen seine Blicke
immer wieder zu Josette, versank er in ihren dunklen Augen
***
Das Eis im Glas war geschmolzen. Severin schüttelte mühsam die Erinnerung ab und orderte ein neues. Als auch der dritte Drink nicht die erhoffte Wirkung tat, er war immer noch völlig nüchtern, verließ er die Bar und trat auf die Straße. Ein kühler Wind wehte und die ersten Anzeichen des Winters mahnten Severin, daß er besser einen Mantel angezogen hätte. Fröstelnd vergrub er seine Fäuste in den tiefen Taschen des Sakkos und stemmte sich gegen die Kälte. Severin zwang seine Gedanken in die Gegenwart und analysierte seinen Besuch beim Anwalt. Ein formelles und freundliches Gespräch, wie es sich in einer sol chen Situation gehört, aber ohne wirklichen Inhalt. Wenn Carbonet nichts zu sagen hatte, warum sprach er dann soviel? Warum hatte er ihn überhaupt emp fangen? Die Planade des Anglais war wenig bevölkert, kaum ein Fußgänger zu dieser späten Stunde unterwegs. Energisch schritt Severin aus, um sich warm zu halten, und steckte den Kopf in den Kragen seines Sakkos. Plötzlich rannte er gegen die aufschwingende Tür eines Tabakladens. Erschrocken fuhr die Frau, die heraus getreten war, zurück und entschuldigte sich umständlich. Severin beruhigte sie. 297
Es sei nichts passiert. Unschlüssig stand die Frau da und hielt die Türe in der Hand. Um sie aus ihrer Verlegenheit zu befreien, griff Severin nach der Tür und tat, als hätte er gerade eintreten wollen. Die Frau lächelte entschuldigend, über ließ Severin die Klinke und eilte davon. Severin trat in den Laden und kaufte sich den 'Le Monde'. In großen Lettern teilte die Headline mit, daß die Gewerkschaft zu einem Streik öffentlicher Verkehrsmittel aufgerufen hatte. Wieder auf der Straße warf Severin die Zeitung in einen Papierkorb und beschäf tigte sich wieder mit dem Anwalt. Die Atmosphäre hatte sich verändert, als er nach dem Leiter der Untersuchung gefragt hatte. Die Spannung war eindeutig zu spüren gewesen. Entgegen der Unsicherheit, die Severin befiel, wenn es darum ging, die Verwirrungen in seiner eigenen Seele aufzudröseln, war er in der Kunst, zwischenmenschliche Strömungen und unterschwellige Botschaften zu entschlüs seln, bis zum Überdruß gedrillt worden. Carbonet hatte ihn fixiert. So reagieren Leute, die irgendwo einmal gelesen haben, daß man eine Lüge am fehlenden Blickkontakt erkennt. Warum sollte der Anwalt lügen? Severin beschloß, diesen Punkt im Hinterkopf zu behalten, und setzte seinen Marsch durch die stillen Stra ßen von Nizza fort. Nach einer Stunde kehrte er ins Hotel zurück, noch immer unruhig und frierend. Als er die stille Halle durchquerte, schlug die große Standuhr elf. Nur mehr eine Stunde, bis ich diesen Tag überstanden habe, dachte Severin, jetzt würde nichts mehr passieren an diesem siebten November, dem zwanzigsten Todestag seiner Lieben, der sein einundfünfzigster Geburtstag war. Der Portier reichte ihm mit seinem Zimmerschlüssel ein gefaltetes Blatt. Verdutzt blickte er dann dem Gast nach, der wortlos den Schlüssel wieder auf die spiegel blanke Platte geworfen hatte und zum Abgang zur Garage eilte. Als Severin mit neunzig durch die Straßen von Nizza raste, überlegte er, daß die Nachricht nichts Gutes bedeuten konnte. 'Erbitte sofortiges Erscheinen. Dupont.' In Rekordzeit erreichte er die Klinik und verschwendete keinen Gedanken an die vielen Verkehrsübertretungen, denen er sich in der letzten halben Stunde schuldig gemacht hatte. *** „... finde ich es verblüffend, daß du dich noch an den Vorfall erinnerst, Vater. Aber ich weiß nicht, ob das gut ist, daß du diesen Monsieur Borowski empfangen willst. Er fragte nach der Obduktion und dem Untersuchungsleiter.“ Alfons Car bonet zupfte mit der rechten Hand an seinem Schnurrbart, seine Miene drückte Besorgnis aus. 298
Die Stimme aus dem Hörer klang klar und kräftig. „Hast du ihm antworten kön
nen?“
„Nun nein, in meinen Unterlagen steht darüber nichts.“
„Was beunruhigt dich?“
„Maman wird es nicht recht sein“
„Alfons, ich habe schon damals das Gefühl gehabt, daß irgend etwas faul war an
der ganzen Geschichte. Willst du deinem alten Vater die Genugtuung mißgönnen,
vor seinem nahen Ableben dieses Fragezeichen zu lösen?“
„Vater, hör auf zu scherzen. Du wirst uns noch alle überleben! Ich dachte nur, es
sei klüger, sich rauszuhalten, was immer dahinter stecken mag. Ich kenne dich!
Du wirst dich wieder einmischen und Maman wird es wieder nicht recht sein.“
„Mein vorsichtiger Alfons. Sei unbesorgt, ich werde mich nicht darin verwickeln
lassen. Dafür wird schon deine Mutter sorgen! Nun gute Nacht, mein Sohn.“
„Gute Nacht, Vater. Laß mich noch kurz mit Maman sprechen.“
Alfons Stimme klang immer noch zweifelnd, als er zögernd auflegte. Diese alte
Geschichte! Hoffentlich gelang es Maman, die Sache gerade zu biegen! Er schob
die Papiere wieder in den Ordner, schrieb eine Bemerkung über die Höhe des
Honorars auf das Blatt mit Borowskis Adresse und legte es mit dem Ordner auf
den Schreibtisch seiner Sekretärin.
Als er auf die Straße trat, fröstelte er. Wie kalt es plötzlich geworden war! Alfons
Carbonet fuhr nach Hause.
*** Trotz des eisigen Windes lief Henri Dupont auf dem gekiesten Vorplatz seiner Klinik auf und ab, die langen Mantelschöße flatterten im Wind, sein Haar fiel ihm in die Stirn und immer wieder strich er es ungeduldig zurück. Dabei sah er die Auffahrt entlang und eilte dem nun leise anrollenden Jaguar entgegen. „Endlich! Du kommst spät, mon ami!“
Severin sprang aus dem Wagen. „Was ist passiert? Was ist mit Velasquez?“
„Ich habe schlechte Nachrichten.“ Ungeduldig zog er Severin am Ärmel und
beide eilten zu dem sonnenfarbenen Haus.
Als Severin das Zimmer seines Schwiegervaters betrat, stieg ihm als erstes der
Gestank nach Rauch durchmischt mit Desinfektionsmitteln in die Nase. Er blickte
um sich. Das war kein Urlaubsappartement mehr, das war ein nüchternes Kran
kenzimmer. Neben dem Bett standen zwei Monitore mit dunklen Bildschirmen,
am Fußende ein fahrbarer Wagen mit medizinischen Geräten. Vor dem Bett rollte
299
eine ältere Krankenschwester den Infusionsschlauch auf. Dann schob sie den
silbernen Ständer zur Seite, so daß sie Severin den Blick auf das Bett freigab.
Zögernd trat er näher. Sein Schwiegervater lag in den weißen Laken, die Augen
geschlossen, das wächserne Gesicht regungslos, ein leises Lächeln auf den Lip
pen. Die Hakennase sprang aus dem schmalen Gesicht und die Falten sahen aus
wie gemeißelt. Die überkreuzten Hände schienen auf der Decke zu schweben
Dupont berührte Severin leise am Ärmel. Mit gedämpfter Stimme sagte er: „Er ist
vor einer Stunde sanft entschlafen.“
Mit steinernem Gesicht sah Severin auf die leblose Gestalt. Bilder von seiner
ersten Begegnung mit Broca tauchten auf, die roten Felsen der Calanches, das
cremefarbene Cabrio und der kleine Mann, der ihm mit überschwenglichem En
thusiasmus für die Reparatur dankte und nicht nachließ, ihn zu bedrängen, in sein
Haus am Cap de Roccapina zu kommen. Am besten sofort. Platz wäre genügend
vorhanden und sein Haus der ideale Urlaubsort.
Er sah auf seinen Schwiegervater. Nun hat auch er mich verlassen!
Duponts Stimme klang immer noch sanft. „Er hat nach Ihnen gefragt, mon ami,
dann schlief er friedlich ein. Wir versuchten ihn zu infundieren, aber er hat jede
medizinische Intervention abgelehnt. Er wollte sterben.“ Mit weichem Blick sah
er auf die leblose Gestalt.
Severin stand unbeweglich, die Kiefermuskeln angespannt, den Blick starr auf
den Toten gerichtet. Dupont winkte der Krankenschwester, die regungslos in der
Ecke verharrt hatte, und beide verließen leise den Raum.
Regungslos stand Severin neben dem Bett. Nur langsam kehrte er in die Gegen
wart zurück. Vorsichtig berührte er Velasquez Hände, sie waren kalt und ohne
Spannung. Nun atmete er tief ein und drehte sich um. Wieder stieg ihm der Ge
ruch von Verbranntem in die Nase. Das Zimmer zeigte jedoch keine Anzeichen
eines Feuers. Severin ging ins Bad. Das Waschbecken war schwarz von Aschere
sten und verkohlten Papierfetzen. Severin ließ sie unberührt.
Er verließ den Bungalow und betrat das Hauptgebäude. Entschlossen drückte er
die Tür zu Duponts Zimmer auf und trat ein.
*** Nanette verschloß die schwere Holztüre und legte den Schlüssel unter die Matte, die als Fußabstreifer diente. Kurz dachte sie daran, den Schlüssel mitzunehmen. Wie viele Leute in Bonifacio wußten von dem Versteck? Aber immer noch war es das Haus von Monsieur Severin und Monsieur Severin und seine Familie hat ten immer den Schlüssel unter die Matte gelegt. Tief atmete sie durch. Sie würde sich sputen, nach Hause zu kommen. Rasch lief sie auf dem Kiesweg entlang und 300
stutzte. Das Eisengitter war geschlossen. Nanette war sich sicher, es offen gelas sen zu haben. Sie sah sich um, aber es war schon zu dunkel, um viel ausmachen zu können. Der Wind rauschte durch die Pinienwipfel. Nanette starrte unschlüs sig in die Dunkelheit. Dann zog sie die Pforte hinter sich zu, schob den Riegel vor und zuckte mit den Achseln. Wahrscheinlich hatte sie wieder ihr Gedächtnis im Stich gelassen. Eilig schwang sie sich auf ihr Fahrrad und trat kräftig in die Pedale. Die Straße nach Bonifacio führte nach einem kurzen Anstieg beinahe stetig bergab, sie wür de wesentlich weniger Zeit benötigen wie für die Hinfahrt. In Gedanken hakte sie noch einmal ab, was sie alles erledigt hatte. Die Zimmer waren gelüftet, die Fen ster und Läden wieder geschlossen. Das Gästebett hatte sie mit frischer Wäsche bezogen und das Bad gereinigt. Morgen würde Sie mit Marceau die Vorräte auf füllen. Mit dem Staubsauger war sie durch die übrigen Räume gefahren, aber allzu genau hatte sie es nicht genommen. Nanette vermied es, nach Anbruch der Dunkelheit allein in Roccapina zu sein und es war schon spät. Was war das? Abrupt hielt sie ihr Rad an und stieg ab. War da jemand? Sie hatte das Gefühl, als wäre jemand hinter ihr, als bohrten sich zwei Augen in ihren Rücken Angespannt starrte sie zurück und schluckte. Nichts zu sehen, nur der Wind bog die Wipfel der Pinien. Hatte sie die Bewegung der Bäume genarrt? Nanette hielt den Atem an. Die Straße hinter ihr war leer, der Wald zu beiden Seiten undurchdringlich. Angestrengt starrte sie in die Dunkelheit. Warum war sie so ängstlich? Hatte irgend etwas sie beunruhigt? Da war doch alles normal gewesen in Roccapina, oder? Nanette bemühte sich, ihre Gedanken zusammen zu halten. Da war dieses Gefühl der Beklemmung gewesen, aber irgendwie war es vertraut, gehörte zu Roccapina, das kannte sie. Das Schlagen der Haustür hatte sie erschreckt, doch das war sicher der Wind! Dann war da die geschlossene Pforte gewesen, hatte sie sie denn wirklich offen gelassen? War da noch etwas? Nanette runzelte die Stirn. Sie fühlte sich alt und hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Irgend etwas war mit einer Türe... der Eingangstüre, die zugeschlagen war... etwas Glänzendes. Plötz lich fiel es ihr ein und erschrocken zuckte sie zusammen. Das Schloß! Es war frisch geölt! Panik überfiel sie. Zitternd kletterte sie auf ihr Rad und trat mit aller Kraft in die Pedale. Keuchend schoß sie die Straße hinunter, nahm mit Schwung die engen Kurven und geriet mehrmals in Sturzgefahr. Mit dem Geschick langjähriger Übung hielt sie sich jedoch im Sattel. Nun sah man schon die Lichter von Boni facio. Erleichtert atmete Nanette auf. *** 301
Severin saß dem Klinikchef gegenüber, seine Hände umklammerten die Sessel
lehnen, daß die Knöchel weiß hervortraten. Seine Stimme aber war gelassen und
ruhig. „Henri, was ist geschehen?“
Duponts Stimme war immer noch sanft und leise. „Mon ami, er war alt, alt und
müde. Es gab da diese EKG-Veränderungen, von der ich Ihnen erzählt habe.“ Er
warf die Hände hoch. „Ich kann Ihnen eine Menge medizinischer Gründe nennen,
aber in Wahrheit wollte er sterben.“
„Hat er?“ Severin biß sich auf die Lippen.
Dupont schüttelte verständnisvoll den Kopf. „Nein, mein Freund, er hat nicht
leiden müssen. Als ich in sein Zimmer gerufen wurde, war er schon sehr
schwach. Ich blieb die ganze Zeit bei ihm. Er hat nur noch zwei Worte gesagt:
'Severin' und 'Mota Kuz', dann fiel er ins Koma.“ Dupont zog fragend die Augen
brauen hoch.
„Mota Kuz? Hieß das so?“
„So ähnlich. Er sprach schon recht undeutlich. Mota oder Motta Kuz, vielleicht
auch Kuze.“
„Mota Kuze... Moto Guzzi? Könnte es das sein?“
„Ja, mon ami, das wäre möglich. Was ist das, ein Auto?“
„Nein, Moto Guzzi ist ein italienisches Motorrad. Besaß er eine Moto Guzzi?“
Dupont lachte herzlich. „Guter Gott, nein! Das wäre zu gefährlich, psychisch
schwer kranke Menschen mit einem Fahrzeug auf die Straße zu lassen. Obwohl
man heutzutage genau diesen Eindruck gewinnen kann.“
Severin verschränkte die Hände und legte sie an die Stirn. Unscharf tauchte das
Bild einer alten Moto Guzzi in seinem Gedächtnis auf, die Überreste einer Ma
schine. Langsam wurde die Erinnerung klarer. Zecks Moto Guzzi im Waisenhaus
– Der Stall – der Stall, der in Goriz-Gradisca abgebrannt war, als Severin drei zehn und Fritzi fünf Jahre alt waren. Der Stall von Fritzis Vater – er brannte fast völlig ab und Severins erstes Motorrad verbrannte mit. Er hatte Fritzi und die Pferde gerettet. Aber seine Moto Guzzi nicht. Langsam drangen Duponts Worte an sein Ohr. „Severin, was ist mit Ihnen? Fehlt Ihnen etwas?“
„Wie? Nein, alles in Ordnung. Ich habe mich gerade erinnert, daß mein erstes
Motorrad eine alte Moto Guzzi war. Ich war damals zwölf, als ich sie zum Laufen
brachte und dreizehn, als sie durch ein Feuer verbrannte.“
„Wo ist der Zusammenhang?“
302
„Ich weiß es nicht. Vielleicht habe ich Josette einmal davon erzählt. Ich erinnere
mich nicht. Ich hatte nie mehr eine Moto Guzzi. Warum sollte er also diesen Na
men erwähnen.“ Unschlüssig zuckte er mit den Achseln.
„Dann wird es wohl weiterhin ein Rätsel bleiben, was er damit gemeint hat. Noch
eine andere Sache, Severin. Auf seinem Schreibtisch lag ein Brief mit Ihrem Na
men. Ich habe ihn hier.“ Dupont schob den weißen Umschlag über den Tisch.
Zögernd griff Severin danach und hielt ihn unentschlossen in der Hand. Dann riß
er ihn mit einer raschen Geste auf. Er zog ein Blatt heraus und las.
Dann reichte er es Dupont. „Lesen Sie, Henri!“
Dupont schob seine Nickelbrille zurecht und beugte sich über das Schreiben.
Nice, 7.11.1995
Severin, mon cher fils!
Seit kurzem spüre ich, daß du kommen wirst. Ich spüre auch, daß ich nicht mehr
lange zu leben habe und das ist gut so. Durch meinen fanatischen Gerechtigkeits
sinn mußten vier Leute sterben! Ich habe schon viel zu lange gelebt mit dieser
schweren Schuld auf meiner Seele!
Ich habe Dich nun heute gesehen und weiß, was Du vorhast! Severin, laß die
Toten ruhen!
Ich bin ein alter Mann und mich erdrückt die Last der Erinnerung. Ich habe versucht, sie zu ordnen, es aufzuschreiben, Dir zu erklären... Ich habe versagt. Meine Gedanken verwirren sich immer wieder. Laß die Toten ruhen! Geh zurück, wo immer du Zuhause bist, es ist mein letzter Wunsch an Dich! Mon cher, cher fils! Du warst der Sohn für mich, den ich nie hatte, und dafür danke ich Dir. Du standest meinem Herzen so nahe, als wärest du mein eigen Fleisch und Blut. Du bist stark und du bist störrisch. Wenn du zurückkehrst, wirst Du Dich in Gefahr begeben. Laß die Toten ruhen! Was geschehen wird, wird geschehen! Ich umarme Dich ein letztes Mal, mon cher Severin. Gott segne Dich! Velasquez Broca ehemaliger Richter zu Ajaccio PS: Enrico Massimo lebt immer noch in Bonifacio! Henri Dupont sah hoch und blinzelte über den Rand seiner Brille hinweg. „Der alte Hafenmeister? Können Sie etwas damit anfangen, Severin?“ 303
Severin unterdrückte die aufsteigende Frage. „Nein, Henri! Massimo ist ein alter
Freund der Familie!“
„Vielleicht weiß er etwas, was Ihnen weiterhilft!“
„Weiterhilft? Wie kommen Sie darauf, daß mir geholfen werden muß?“
„Sie sind ein ziemlich mißtrauischer Mensch, Monsieur Severin Borowski, wis
sen Sie das?“ Dupont klopfte auf den Brief. „Ihr Schwiegervater warnt sie davor,
nach Korsika zu gehen und Fragen zu stellen. Fragen, die beantwortet werden
wollen. Antworten, die ein ganzes Bild ergeben. Wie nennt man das in Ihrer
Sprache?“
Severin lächelte leicht. Begütigend streckte er die Hand aus. „Kein Grund, sich
zu erregen, Henri! Lassen wir es dabei. Bekam er in letzter Zeit Post?“
Dupont schob sich die Brille auf die Nase und blinzelte irritiert. „Sie hüpfen von
einem Thema zu anderen, mon ami, sehr verwirrend. Ich hoffe nicht, daß da Ab
sicht dahinter steckt! Warum fragen Sie?“
„Velasquez wußte, daß Massimo noch lebt.“ Forschend musterte er sein Gegen
über.
Dupont zögerte etwas, „Wenig, soweit ich weiß. Wie sollte er auch, wo er schon
so lange Zeit nicht mehr bei klarem Verstand war. Aber er hat telefoniert.“
Severin schlug die Beine übereinander und löste seine verschränkten Hände.
Wortlos sah er Dupont an.
Dieser warf in seiner charakteristischen Gebärde die Hände nach oben. „Keine
Ahnung, mit wem! Ich weiß es nicht. Schwester Hélène, die er mittag um Papier
gebeten hatte, berichtete, daß er sich auch einen Telefonapparat ins Zimmer stel
len ließ. Daher nahm sie an, daß er telefonieren wollte. Wir sind hier nicht in
einem Gefängnis, Severin.“ Streng sah er seinen Gast an.
Severin wechselte das Thema. „Henri, warum hat er die Papiere vernichtet?“
„Sie haben nachgesehen?“
„Ja. Da war nichts mehr zu retten.“
Dupont wiederholte die Frage seines Freundes. „Ja, warum schreibt er etwas auf,
um es dann zu verbrennen?“
Müde fuhr sich Severin über die Augen. „Sie haben keine Ahnung, Henri, und
ich habe nicht die leiseste Ahnung. Wahrscheinlich war er doch nicht so klar bei
Verstand, wie Sie dachten!“
Dupont schwieg. Unschlüssig sah er auf seine Hände. „Hatte Velasquez recht mit
seiner Annahme? Werden Sie nach Bonifacio gehen?“ fragte er unvermittelt.
304
Severin dachte nach. Er schätzte Dupont und kannte seine Verschwiegenheit.
„Ich weiß es noch nicht. Will mal sehen, was sich ergibt. Müßte auch endlich
nach dem Haus schauen, war seit vielen Jahren nicht mehr dort.“
Dupont nickte, als hätte er verstanden. Beide schwiegen. Ein heller Piepton
durchbrach die Stille. Dupont stand auf. „Ich werde gebraucht. Gehen Sie schla
fen. Gute Nacht, mein Freund!“ Dann wandte er sich zur Tür und öffnete sie.
Bevor er hindurch trat, drehte er sich nochmals um. Er räusperte sich. „Mein
Freund, Sie glauben, ich habe die Papiere verbrannt!“ Duponts Brillengläser
glänzten hell im Widerschein der Lampe, so daß Severin seine Augen nicht sehen
konnte.
Gleichmütig zuckte dieser mit den Achseln. „Ja, der Gedanke war mir gekom
men, Henri.“
Stumm sah Dupont ihn an. Dann nickte er wieder und murmelte: „Ich verstehe.“
Leise schloß er die Türe.
Severin nahm den Brief zur Hand und las ihn langsam zum zweiten Mal. 'Vier
Tote' Was mochte das bedeuten?
*** Philip Carbonet schlug die Decke zurück und sah auf die Uhr. Es war weit nach Mitternacht. Leise schlüpfte er aus dem Bett. An der Tür des Schlafzimmers hielt er den Atem an. Doch seine Frau schlief ruhig und gleichmäßig. Vorsichtig schloß er die Tür. Als er im Kellergeschoß das Licht anknipste, verzog er das Gesicht. In der hinteren Ecke hatte er einen Schrank aufgestellt, als er sich in den Ruhestand zurückgezogen hatte. Darin waren Akten gesammelt, die Philip Car bonet als 'unerledigt' bezeichnete. Er dachte, im Ruhestand die nötige Muße auf zubringen, um lose Enden zu verknüpfen oder zumindest auf einer theoretischen Ebene Dinge zu ordnen. Philip Carbonet hatte die Dinge gerne geklärt. Dieses Detektivspiel mißfiel seiner Frau Dominique, deren Anspruch sich in Richtung geruhsame Beschaulichkeit bewegte. Daher sabotierte sie Carbonets Hobby, wo sie konnte. In diesem Fall hatte sie den Aktenschrank mit den Gartenmöbeln zugepflastert, so daß nichts mehr von ihm zu sehen war. Geduldig räumte Philip die Gartenstühle beiseite. Ohne zu zögern zog er eine Schublade auf und blätterte rasch die Hän gemappen durch. Doch offenbar fand er nicht gleich, was er suchte. Erst eine Schublade darunter schien das begehrte Objekt zu sein. Stirnrunzelnd nahm er den dünnen Ordner heraus und schüttelte den Kopf. Leise schloß er die Laden wieder und ging ins Arbeitszimmer. Er schaltete die Lampe an. Nachdem er sich eine Pfeife gestopft hatte, zog er die Papiere heraus und blätterte sie durch. Die 305
Pfeife war längst kalt und die Uhr schlug vier, als er endlich fertig war. Er schob
die Blätter wieder zurück und legte die Mappe in seinen Schreibtisch. Den Kopf
voller Fragen ging er ins Schlafzimmer zurück, doch rasch schlief er wieder ein.
Ein durchdringender Schrei weckte ihn. „Philip! Philip, steh sofort auf und komm
her! Verdammt, Philip!“
Seufzend erhob er sich und tappte nach seinen Pantoffeln. Langsam stieg er die
Treppe hinunter und näherte sich mit entschuldigendem Lächeln seiner Frau, die
wie ein Racheengel am Fuße der Treppe stand. Die Kellertüre war offen. Philip
wußte, was ihm bevorstand.
„Warum warst du im Keller?“
„Ich? Im Keller? Was meinst du, mein Schatz?“
„Philip Carbonet, laß diese Ausflüchte! Ich bin ja nicht blind. Die Gartenmöbel
sind verstellt. Du warst am Aktenschrank! Was wolltest du? Hört das nie auf?“
Der Gescholtene machte ein schuldbewußtes Gesicht und versuchte, mit einer
zärtlichen Geste das Ärgste abzuwenden. Aber Dominique zürnte. Nach über
vierzig Jahren Ehe konnte sie ihm immer noch zürnen! Sie schlug seine Hand
beiseite. „Sofort sagst du mir, was das zu bedeuten hat!“
Philip beschwichtigte. „Ich hatte einen Traum, ma cherié, einen Traum, der mich
sehr beunruhigte. Ein Dieb hat in unseren Keller eingebrochen und alle Akten
gestohlen. Also stand ich auf und sah nach. Das war alles!“
Mißtrauisch sah Dominique ihren Angetrauten an. Wenn er so schnell klein bei
gab, war etwas faul. Sie kannte das. Unschuldig blickte Philip zurück. Unver
wandt sahen sich die beiden an. Dann zuckte Dominique mit den Achseln. Philip
nutzte die Gunst der Stunde. „Wir erhalten Besuch, ein Klient von Alfons kommt
um elf Uhr.“
Deutlich flammte Dominiques Mißtrauen wieder auf. „Was soll das bedeuten?“
Philip bot ein Bild völliger Ahnungslosigkeit. Er breitete die Hände aus. „Schatz,
ich habe keine Ahnung. Dein Sohn war wie immer sehr zugeknöpft. Er bat mich
nur, diesen Monsieur Borowski zu empfangen.“ Wie nebenbei fügte er an. „Du
kannst selbstverständlich bei dem Gespräch anwesend sein, wenn du Schlimmes
vermutest, ma cherié!“
Dominique sah ihn an, dann begann sie zu lachen. Sie legte die Arme um den
Hals ihres Mannes und küßte ihn. „Du weißt genau, daß ich das nie tun würde.
Ich mache mir Sorgen um dich. Du bist auch nicht mehr der Jüngste!“ Sie zwin
kerte ihm zu und ging in die Küche. Als sie sich umdrehte, wurde ihre Miene
starr und kalt. Fest preßte sie die Lippen aufeinander.
306
Philip atmete tief durch. Das war noch einmal gut gegangen! Er konnte nur hof fen, daß Monsieur Borowskis Anliegen den Aufwand wert war. *** Als Severin an diesem Morgen erwachte, fühlte er sich frisch und ausgeruht wie schon lange nicht mehr. Er dehnte und streckte sich. Vorsichtig forschte er in seinem Inneren, wohin sich die trüben Gedanken versteckt hätten. Bei oberfläch licher Durchsicht seines Seeleninventars zeigte sich jedoch kaum ein Schatten. Der Tod seines Schwiegervaters kam ihm in den Sinn, doch auch hier überwogen Zuneigung und Erleichterung über das Ende eines qualvollen Lebens die Trauer. Severin beschloß, nicht tiefer zu graben. Sorgfältig kleidete er sich an, hellblaues Hemd, dunkelgraue Flanellhose und die hellgraue, genoppte Jacke. Er hielt einen Moment inne und dachte an den Schultergurt. Ungeduldig schüttelte er den Kopf. Er war in Nizza und wollte einen angesehenen ehemaligen Anwalt besuchen Severin war bereits an der Tür, als er zögerte. Er holte die Segeltuchtasche vom Schrank, nahm die Waffe heraus und lud die Trommel mit fünf Patronen. Dann schälte er sich aus seinem Sakko und legte den Gurt an. Ungeduldig zerrte er am Riemen und schloß ihn. Was zum Teufel war mit ihm los? Er streifte das Sakko über und warf einen raschen Blick in den Spiegel. Der Schneider in Zürich hatte gute Arbeit geleistet und alle Anzüge Severins nach dem Gesichtspunkt angefer tigt, daß sie optimal den Pistolengurt zu verbergen hatten. Bis in den Frühstücksraum spürte Severin den ungewohnten Gegenstand unter seiner linken Achselhöhle und war nahe daran, ihn wieder abzulegen. Nach dem ausgiebigen Frühstück hatte sich dieser Eindruck jedoch verflüchtigt und die vertraute Ausbuchtung an seiner linken Seite steigerte das Gefühl von Tatkraft und Entschlossenheit. Severin schmunzelte über sich und widmete sich dem 'Nice actuelle'. *** Die Adresse, die Severin von Alfons Carbonet erhalten hatte, lag auf halbem Weg zwischen Nizza und St.Jean-Cap Ferrat auf einem Hügel inmitten einer kleinen Siedlung Einfamilienhäuser. Es war ein geducktes Gebäude im Stil der Provence erbaut mit einem tief herab gezogenen Dach. Der Garten wirkte gepflegt und trotz der herbstlichen Zeit blühten noch gelbe und weiße Chrysanthemen und der Kletterrosenstock war übersät mit dunkelroten Blüten. Severin hielt seinen Jaguar vor dem niedrigen Gartentor an, stieg aus und atmete tief ein. Das Bild von Roccapina schob sich wie ein Dia vor die Kulisse und meh rere Momente lang glaubte er sich in Korsika. Dann schüttelte er die Erinnerung ab und öffnete das Gatter. In diesem Augenblick ging die Haustüre auf und eine 307
mittelgroße, kräftige Frau kam ihm entgegen, die Augen mißtrauisch zusammen gekniffen. Die Ähnlichkeit mit ihrem Sohn war unverkennbar. Höflich sagte Severin. „Bon jour, Madame, mein Name ist Severin Borowski. Ich habe um elf Uhr eine Verabredung mit Monsieur Carbonet.“ „Ich bin seine Frau.“ Die Stimme war schroff und abweisend. „Angenehm!“ Severin verbeugte sich leicht. „Mir nicht, Monsieur Borowski, mir nicht! Verzeihen Sie meine Unhöflichkeit, aber sie richtet sich nicht gegen Sie persönlich. Allein der Umstand, daß mein Mann in seinem wohlverdienten Ruhestand wieder Klienten empfängt!“ Sie hob abwehrend die Hände, ließ sie jedoch resigniert sinken. „Kommen Sie herein. Aber ich bitte Sie dringend, meinen Mann nicht zu lange zu beanspruchen und ihn auf keinen Fall aufzuregen. Sein Herz...“ „Was ist mit meinem Herzen? Ma chere Dominique, laß doch Monsieur Borows ki erst mal eintreten. Du wirst ihn mit deinen Befürchtungen um meine Gesund heit vertreiben, ehe ich die Gelegenheit hatte, mit ihm zu sprechen. Guten Tag, Monsieur, ich bin Philip Carbonet. Folgen Sie mir bitte.“ Philip Carbonet Stimme klang verbindlich. Er tätschelte seiner Frau begütigend die rechte Wange und wandte sich dann seinem Besucher zu. Severin hatte der häuslichen Szene stumm zugesehen. Mit einem schiefen Lä cheln verbeugte er sich nochmals vor der Dame des Hauses, die ihn um keinen Grad freundlicher musterte, und folgte dem Hausherrn. Im Arbeitszimmer, das hell und freundlich war und von Büchern und Papieren nur so überquoll, deutete Carbonet auf einen ramponierten Sessel vor seinem Schreibtisch. Severin ließ sich vorsichtig darauf nieder. Der Stuhl ächzte ein wenig, hielt aber. Während Carbonet den Schreibtisch umrundete, sagte er entschuldigend: „Verzeihen Sie die Schroffheit meiner Frau. Seit ich mich von meiner Kanzlei zurückgezogen habe, meint sie, ich stehe knapp vor meiner ersten Herzattacke. Dabei bin ich kerngesund, sagt der Arzt!“ Kräftig schlug er sich auf die Brust und lächelte, daß seine Zähne blitzten. Severin glaubte dem Arzt. Philip Carbonet war auch in seinem Alter ein gutaus sehender Mann, braungebrannt, groß und hager, das volle, weiße Haar sorgfältig nach hinten gekämmt. Der gesamte Eindruck vervollständigte das Bild eines sympathischen, jovialen Mannes Ende Sechzig, bis man in seine Augen sah. Die Augen waren von einem hellen Blau oder Grau, genau konnte es Severin nicht erkennen. Sie vermittelten Kühle und Distanz und ja, Wachsamkeit. Der Mann war auf der Hut! Severin lächelte leicht. Verständnisvoll meinte er: „Das kann ich gut verstehen, daß Madame sich Sorgen macht. Ich werde Sie auch nicht lan 308
ge in Anspruch nehmen, Monsieur, so daß Ihre Frau mir hoffentlich meinen Be
such verzeihen wird.“
Severin forschte nach Ähnlichkeiten mit Alfons, fand aber keine. Mit gemessenen
Gesten stopfte der Anwalt seine Pfeife und zündete sie umständlich an. „Wie
kann ich Ihnen nun helfen, Monsieur Borowski?“
Severin zog aus seiner rechten Brusttasche das Schreiben heraus und reichte es
über den Tisch. „Wie Ihnen ja schon Ihr Sohn mitgeteilt hat, geht es um meine
Familie. Sie kam bei einem Autounfall vor zwanzig Jahren in Korsika ums Le
ben. Die Umstände sind mir bis heute nicht klar.“
Ohne einen Blick darauf zu werden, legte Carbonet das Blatt auf den Tisch. „Das
ist schon ziemlich lange her. Sie sagten, es war ein Autounfall?“
„Ja, das war es, was die Polizei vermutete.“
„Zweifeln Sie daran?“
„Ich finde die Umstände zumindest merkwürdig. Sehen Sie, da ist einmal die
Stelle, an der es passiert ist. Die Straße vom Cap de Roccapina nach Bonifacio ist
ziemlich schmal und kurvig. Kennen Sie sie zufällig?“
Der Anwalt zögerte unmerklich. „Nein, ich war noch nie in Korsika.“
„Wie gesagt, die Straße ist eng, und der Unfall passierte am Ende einer langen
Geraden, die in eine scharfe Linkskurve mündet.“
„Nun, da haben sie schon eine mögliche Erklärung. Zu hohe Geschwindigkeit“
„Sie verstehen nicht, Monsieur Carbonet. Meine Schwiegermutter saß am Steuer,
das hat die Polizei zweifelsfrei geklärt. Sie war zum damaligen Zeitpunkt acht
undvierzig und lebte schon ihr ganzes Leben auf Roccapina. Sie kannte die Stra
ße wie ihr eigenes Wohnzimmer. Sie wäre nie zu schnell gefahren.“
„Ja, nun“ Carbonet hob die Hände, „ein Defekt am Wagen vielleicht?“
„Das wäre möglich, doch hatte ich zwei Tage zuvor an diesem Auto eine gründli
che Inspektion durchgeführt und glaube, sagen zu können, daß das Fahrzeug ta
dellos in Ordnung war.“ Kannst du das wirklich? Für einen Augenblick schloß
Severin die Augen.
Aufmerksam sah ihn Philip Carbonet an. „Was glauben Sie also?“
„Das ist es ja gerade, was mir Kopfzerbrechen bereitet. Ich weiß nicht, was die
Unfallursache war. Die Polizei hat ihre Ermittlungen rasch abgeschlossen.“
„Ein entgegenkommendes Fahrzeug vielleicht?“
Severin antwortete nicht, sondern griff wieder in seine Brusttasche und zog einen
schmalen Zeitungsausschnitt heraus. Nachdenklich betrachtete er ihn, als könne
309
er sich nicht entschließen. Carbonet rührte sich nicht. Endlich stand Severin auf
und legte den schmalen Streifen auf den Tisch. Carbonet nahm das Blatt hoch
und las.
Schrecklicher Unfall mit Todesfolge
Auf dem Cap de Roccapina kam es gestern zu einem tragischen Unfall. Der Wa
gen der achtundvierzigjährigen Alexa Broca geriet in einer scharfen Linkskurve
über den Fahrbahnrand hinaus und stürzte achtzig Meter in die Tiefe. Alle drei
Insassen wurden heraus geschleudert. Mme Broca und ihre Tochter Mme Josette
Borowski waren auf der Stelle tot. Der vierjährige Juan Borowski wurde mit
schwersten Verletzungen in das Krankenhaus in Bonifacio eingeliefert und starb
wenig später.
Die Unfallursache ist bis jetzt nicht geklärt, doch geht die Polizei von der An
nahme aus, der Wagen sei zu schnell in die Kurve gefahren.
Wie wir heute morgen aus informellen Quellen erfahren haben, hat ein Radfahrer,
der in die Gegenrichtung fuhr, einen dumpfen Knall gehört, kurz darauf Krei
schen und Krachen von Metall, als der Wagen in die Schlucht stürzte. Als er den
Unfallort erreicht habe, sah er den völlig zertrümmerten Wagen am Fuß des Ab
hanges liegen und habe ihn als den des Richters erkannt.
Er selbst habe den Unfall nicht direkt beobachten können, aber er sei sich sicher,
daß sich zu dieser Zeit kein anderes Fahrzeug auf der Strecke befunden habe.
Die Polizei ermittelt. Ob sich bereits die Staatsanwaltschaft eingeschaltet hatte,
konnte bis Redaktionsschluß nicht in Erfahrung gebracht werden.
Carbonet sah hoch. Seine Augen verengten sich. “Wer war der Fast-
Augenzeuge?“
Severin nickte. „Ich wußte, daß Ihnen als Anwalt sofort dieser Punkt auffallen
würde.“ Er nahm den Abschnitt an sich und drehte ihn um. „Der Artikel erschien
im Bonifacio Journal vom Montag, den 8.11.1975. Dieser Radfahrer kommt in
keiner weiteren Pressemeldung mehr vor.“
Carbonet beugte sich vor, seine Augen bohrten sich in Severins Blick. „Haben
Sie eine Ahnung, wer der Radfahrer war?“ Severin schüttelte den Kopf. Ein
dringlich und ohne seinen Blick abzuwenden sagte Carbonet. „Monsieur Bo
rowski, Sie müssen diesen Mann unbedingt finden! Unbedingt!“ Er klatschte mit
der flachen Hand auf die Tischplatte. Dann stand er auf und lief im Zimmer auf
und ab. Leise fügte er hinzu: „Wenn er noch lebt“ Dann wandte er sich an Se
verin.
„Wundern Sie sich nicht über meine Erregung, Monsieur Borowski. Sehen Sie,
als mein Sohn mich gestern anrief, konnte ich mich sofort wieder erinnern. Schon
310
damals dachte ich, irgend etwas sei faul an dieser Geschichte!“ Carbonet öffnete
den Barschrank und fragte: „Möchten Sie einen Drink? Cognac? Whisky? Etwas
anderes?“
Severin verneinte. Nachdenklich sah er Philip Carbonet zu, wie dieser sich einen
großzügigen Cognac einschenkte. Woher diese Erregung? „Meine Frage ist nun,
wie Ihre Kanzlei an den Auftrag kam.“ Vorsichtig verlagerte Severin sein Ge
wicht und wieder ächzte der alte Stuhl.
Den großen Schwenker mit der linken Hand kreisend kehrte der Anwalt zu sei
nem Schreibtisch zurück. Nachdem er einen tiefen Schluck genommen hatte,
öffnete er eine Lade, entnahm ihr einen schmalen Ordner und zog einige kleine
Blätter heraus. Es schien sich aus Severins Blickwinkel um handschriftliche No
tizen zu handeln.
Mit dem Mittelfinger klopfte Carbonet auf ein Blatt. „Heute nacht bin ich in mei
ne alte Ablage gegangen und habe mir den Akt hervorgeholt. Übrigens der Grund
für das Mißtrauen meiner Frau, die mich dabei ertappt hat. Sie argwöhnte sofort,
daß ich mich wieder in Dinge verwickeln lasse, die sie mißbilligt! Nun, das ist
nicht ihr Problem. Ich fand also diese Aktennotiz, darauf steht der Name Mar
ceau.“ Lauernd sah er seinen Gast an.
„Jacques Marceau? Der Bürgermeister von Bonifacio? Was hatte der mit der
ganzen Sache zu tun?“ Ungläubig starrte Severin auf den Anwalt.
Carbonet seufzte, seine Augen ließen Severin nicht los. Dann zuckte er mit den
Achseln. „Ich weiß keine Einzelheiten. Laut dieser Notiz hat mein Sohn den
Auftrag angenommen und daraufhin fuhr Deauville nach Korsika. Bestehen ver
wandtschaftliche Beziehungen?“
„Mit Marceau? Unsere Haushälterin ist, soweit ich weiß, um viele Ecken mit der
Frau des Bürgermeisters verwandt, aber das ist noch immer kein Grund. Was war
faul daran?“
„Wie bitte?“ Philip zog irritiert über den abrupten Themenwechsel die Brauen
hoch.
„Sie sagten, daß Sie schon von Anfang an das Gefühl hatten, etwas sei faul an
der Sache.“
„Ach so, ja nun, faul war vielleicht etwas übertrieben. In Erinnerung ist mir ge
blieben, daß dieser Fall einige Unruhe in unsere Kanzlei brachte. Erstens wun
derte ich mich über die ungebührliche Eile. Ich weiß noch, daß mein Sohn Deau
ville deswegen mit dem Fall betraute, weil ich gerade mit einem Prozeß ziemlich
beschäftigt war und keine Zeit hatte, obwohl die Angelegenheit in mein Ressort
gefallen wäre. Normalerweise wäre die Sache solange aufgeschoben worden, bis
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ich frei war. Das wäre der übliche Weg gewesen bei einer Bagatellsache... ent
schuldigen Sie, Monsieur Borowski, ich wollte Sie nicht kränken!“
Severin zuckte mit den Achseln. „Und zweitens?“
Carbonet starrte ihn an. Severin fand es unangenehm und räusperte sich. „Sie
sagten 'erstens', also gibt es auch ein 'zweitens'„
Langsam verzog der Anwalt seinen Mund zu einem breiten Grinsen. „Sie gefallen
mir, Monsieur! Wenn ich jünger wäre, würde ich Ihnen eine Stelle in meiner
Kanzlei anbieten! Sie könnten es als Strafverteidiger weit bringen. Gutes Ge
dächtnis und analytischer Verstand!“ Er schüttelte den Kopf. „Heute nacht habe
ich mir den Akt nochmals vorgenommen. Ich habe alles gründlich studiert. Es
gab offenbar eine Anzeige, aber kein Gerichtsverfahren. Ich finde keine entspre
chenden Hinweise.“
„Was heißt das?“
„Das heißt, daß die Anzeige im Sande verlief.“
„Wer die Anzeige erstattet hatte, können Sie mir wahrscheinlich nicht sagen.“
Severins Stimme klang etwas ironisch. Carbonet zog die Augenbrauen in die
Höhe. „Es tut mir leid, daß ich so wenig für Sie tun kann. Ich hoffe, Sie ziehen
daraus nicht falsche Schlüsse! Da wäre übrigens noch etwas.“
Severin schmunzelte. Das Spiel amüsierte ihn. Welches Kaninchen würde der
Anwalt nun aus dem Zylinder ziehen? Er legte den Kopf zur Seite und sah den
Anwalt gleichmütig an. Dieser erwiderte den Blick. So starrten sich die beiden an
wie zwei Stiere in der Arena. Carbonet senkte als erster den Blick und ordnete die
Papiere. Er räusperte sich. „Ich habe keine Zahlungsbelege.“
„Das heißt?“
„Das heißt, daß dieser Geschäftsvorgang nie in Rechnung gestellt wurde. Selt
sam, denn Deauville war in diesem Punkt besonders penibel, geradezu krankhaft,
könnte man sagen. Doch es gibt keine Spesenabrechnung. Bei seinem notorischen
Geiz eine absolute Sensation. Keine Spesen, kein Honorar, keine Zahlungsein
gänge, keine Aktenzahl. Der Geschäftsvorgang existierte in unserer Buchhaltung
nicht.“
Severins Stimme klang gleichgültig. „Was folgern Sie daraus?“
„Ja, nicht wahr? Was heißt das?“ Carbonet lehnte sich in seinem Stuhl zurück
und wippte hin und her. „Ich habe nicht die blasseste Ahnung.“
„Vermuten Sie, daß Deauville ein falsches Spiel trieb?“
„Mein ehemaliger Kompagnon? Ich bitte Sie!“
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Severin stand auf. Hier vergeudete er nur seine Zeit. „Monsieur Carbonet, ich danke Ihnen, daß Sie mir ihre Zeit geopfert haben. Ich wohne im 'Excelsior', wenn Sie bitte Ihre Honorarnote dorthin schicken. Ich werde dafür sorgen, daß sie umgehend beglichen wird.“ Leise lächelte er. „Mit oder ohne Aktenzahl.“ Philip Carbonet schien überrascht und ein wenig überrumpelt. Er kippte den Stuhl nach vor und stand auf. „Am liebsten würde ich mit Ihnen nach Bonifacio fahren und mich selber umsehen. Leider kann ich das nicht. Dominique würde sofort die Scheidung einreichen und als Anwalt weiß ich, was mich das kosten würde!“ Lachend streckte er Severin die Hand hin. „Auf Wiedersehen, Monsieur Borowski, und machen Sie sich um die Rechnung keine Sorgen. Es war mir ein Vergnügen, mich mit Ihnen zu unterhalten. Bonne chance in Korsika!“ Severin kehrte zu seinem Wagen zurück. Dominique Carbonet sah er nicht mehr. *** Severin fuhr zurück Richtung Nizza, sortierte das Gehörte und versuchte Erklä rungen für die Löcher zu finden. Und die gab es ohne Zweifel. Nun, vielleicht waren es keine richtigen Löcher, mehr schadhafte Stellen im Gewebe und man mußte den Stoff gegen das Licht halten, um diese Flecken zu finden. Aber eines war sicher, dicht war das ganze keineswegs Philip Carbonet hat die falschen Fragen gestellt, dachte er. Hat er auch versucht, eine falsche Spur zu legen? Es lag offen auf der Hand, daß es nützlich wäre, den Radfahrer zu finden, und was Deauville anbetraf -. Abrupt stieg Severin auf die Bremse und hielt. Er befand sich auf einer schmalen Straße, rings um von Wein bergen umgeben, nirgendwo ein Haus. Vor ihm saß eine Katze mitten auf der Fahrbahn, so daß er nicht vorbei konnte, ohne sie zu überfahren. Severin hupte. Sie rührte sich nicht. Unschlüssig stieg er aus und sah um sich. Keine Menschen seele, nur Himmel und Weinberge, am Horizont ein kleines Pinienwäldchen. Er hatte sich verfahren. War in Gedanken irgendwo falsch abgebogen. Langsam ging er auf die Katze zu. Es war ein getigertes Tier, nicht sehr groß, mit einem weißen Fleck an der Schnauze, der ihr ein seltsam rührendes Aussehen gab. Die Augen waren flach und sehr hell, die Pupillen kaum zu sehen. Severin bückte sich und streckte eine Hand aus. Der Kater fauchte ein wenig, rührte sich aber nicht. Was war los mit dem Tier? Aufmerksam betrachtete er den Körper und sah am Hinterleib dunkle Flecken auf dem staubigen Asphalt. Severin seufzte und rich tete sich auf. Das Tier war verletzt und blutete. Er würde es zu einem Tierarzt bringen, wenn es sich fangen ließ. Mit raschen Schritten eilte er zum Wagen und holte eine dünne Decke aus dem Kofferraum. Dann kehrte er zu der Katze zu 313
rück, die ihm mit den Augen gefolgt war. Es schien Severin, als hätten die Augen
etwas Farbe erhalten, eine helles Grün, aber vielleicht irrte er sich auch.
Langsam breitete er die Decke aus und näherte sich vorsichtig. Die Katze zuckte
etwas zurück, öffnete den Mund zu einem Fauchen, da schoß blitzschnell Se-
verins Hand vor und faßte nach ihrem Genick. Er rutschte etwas zu tief und be
kam sie am Rücken zu fassen. Was immer der Katze fehlen mochte, dieser In
stinkt war intakt. Mit einem raschen Drehen des Kopfes riß sie ihr Maul auf und
schlug ihre Zähne in Severins Daumenballen. Aber Severin ließ nicht los. Mit der
Linken griff er zu und zog das Tier am Nacken hoch. Auch dieser Reflex funktio
nierte. Die Katze wurde schlaff. Langsam zog Severin den Kater in die Höhe.
Und da sah er es. Beide Hinterläufe waren oberhalb der Knie abgetrennt und der
größte Teil des Schwanzes fehlte. Die Stummel waren dick mit eingetrocknetem
Blut verkrustet.
„Armes Tier“ flüsterte Severin leise. „Du brauchst keinen Tierarzt mehr.“
Vorsichtig hielt er mit der linken Hand die Katze im Totstellgriff und raffte mit
der anderen die Decke vom Boden. Dann sah er sich um. Auf der linken Straßen
seite stieg ein Hügel an, auf der rechten konnte man leichter zwischen die Reben
gelangen. Severin ging ein paar Meter zwischen die Weinstöcke und legte den
Kater vorsichtig auf die Erde, der still liegen blieb, Severin unverwandt anstar
rend.
Borowski sah sich um. Niemand war zu sehen. Er zog seine Jacke aus, schlang
sich die Decke um den Körper bis unter die Achseln und nahm die Magnum aus
dem Halfter. Er spannte den Hahn und lud damit die Waffe.
Die Kater hatte jeder seiner Bewegungen mit den Augen verfolgt und nun war
sich Severin sicher, Farbe in seinen Augen zu sehen, ein irisierendes Grün, die
Pupillen zu schmalen schwarzen Schlitzen zusammengezogen.
„Es wird schnell gehen und du wirst nichts spüren, ich verspreche es.“ Severin
bemerkte, wie rauh seine Stimme klang. Der Kater öffnete das Maul und stieß
einen langen, klagenden Laut aus. Dann wandte er den Kopf ab.
Tief atmete Severin durch. Er hielt die Mündung der Waffe bis auf zwanzig Zen
timeter an den Hinterkopf des Tieres und drückte ab. Blut und Gewebe spritzten
durch die Luft. Der Kopf des Katers war weitgehend verschwunden und der Kör
per drehte sich auf die Seite. Die Stummeln, die einmal seine Hinterbeine waren,
zuckten ein wenig.
Severin richtete sich auf. Seine Ohren dröhnten und sein Handgelenk schmerzte.
Er hatte wegen seiner Wunde die Waffe zu wenig fest gehalten und der Rück
schlag hatte ihm einen kräftigen Stoß versetzt. Er sah auf den Kadaver, dieses
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Stück tote Fleisch, das unbeweglich im Staub lag. Nur aus der klaffenden Hals wunde sprudelte hellrotes Blut. Plötzlich überfiel Severin rasende Wut. Wie eine Welle schoß das Gefühl in sei nem Inneren hoch und verdunkelte sich in seinem Kopf zu einem roten Meer. Mit einem langen Schrei riß er den Arm mit der Waffe hoch und drückte ab, immer wieder. Wie Donner rollten die Schüsse und mischten sich mit seinem rasenden Brüllen. Sein Finger hörte auch nicht auf, den Abzug zu betätigen, als der Schlagbolzen längst keine Zündfläche mehr finden konnte und mit leisen Klicken ins Leere fuhr. Allmählich beruhigte er sich wieder und ließ den Arm sinken. Die Waffe fiel auf den Boden. Zittern holte er Luft, der Ausbruch hatte ihn erschöpft, die jahrzehn telang aufgestaute Wut sich für den Moment entladen. Langsam klärte sich der rote Nebel in seinem Gehirn. Severin hob seinen Revolver auf und bemerkte Blut, das über seine Finger tropf te. Er besah die Wunde, zwei kreisrunde, rote Male am unteren Ende seines Daumenballens, aus denen Blut herausquoll. Dankbar registrierte er den körperli chen Schmerz. Noch immer zitternd wickelte sich Severin aus der blutbespritzten Decke, riß einen schmalen Streifen ab und warf den Rest über den Kadaver. Den Streifen wickelte er sich ungeschickt um seine Hand. Dann holte er aus seinem Wagen einen kurzen Spaten. In wenigen Minuten hatte er eine kleine Grube ausgehoben und warf den Kater mit der Decke hinein. Er schaufelte das Loch wieder zu und trat die Erde fest. Das Zittern hatte aufgehört und einer tiefen Traurigkeit Platz gemacht. Müde setzte er sich in seinen Wagen und schloß die Augen. Plötzlich spürte er das Pochen in seiner Hand. Er löste das Tuch und betrachtete die Wunde. Sie hatte aufgehört zu bluten, schmerzte aber stärker. Er band sich das Tuch wieder um die Hand und verknotete die Enden. Würde sie sich infizie ren? Die Katze sah nicht so aus, als hätte sie Tollwut gehabt Er würde zu Dupont fahren und sich verarzten lassen. Er sah sich um. Noch immer keine Menschen seele. Die Schüsse schienen ungehört verhallt zu sein. Mit Hilfe der Straßenkarte kämpfte sich Severin durch die Weinberge nach Nizza zurück. Als er ins Hotel kam, hatte das Zimmermädchen den Strauß in seinem Appartement erneuert. Auf seinem Tisch stand nun eine schmale Vase mit roten und weißen Rosen... *** 315
Severin betrachtete das monumentale Denkmal von Napoleon Bonaparte in Ajac cio. Die schwarze Bronzefigur stand auf einem Hügel, zu dem eine Rampe führte, in die links und rechts schmale Stufen eingelassen waren. Die Statue thronte auf einem Sockel von sich verjüngenden Quadern und wirkte abweisend und kalt. Severin war enttäuscht. Er hatte sich den großen Korsen imponierender vorge stellt. Er sah sich um. Der Platz wirkte steril in seiner strengen geometrischen Form. In diesem Moment hielt ein großer Reisebus und entlud eine Schar aufgeregt schnatternder Touristen. Severin flüchtete. Er schwang sich auf seine KTM und fuhr auf der Hafenstraße nach Süden. Am Flughafen wählte er die Abzweigung Richtung Corte. Auf der langen Steigung zur Stadtgrenze entlud sich mit der Plötzlichkeit tropischer Regengüsse ein Gewitter und verwandelte die Fahrbahn innerhalb von Minuten in ein Morastfeld. Der Verkehr geriet erst ins Stocken und kam dann zum Stehen. Zwei Autos vor sich sah Severin einen Wagen rechts aus scheren. Es war ein cremefarbenes Mercedes Cabrio. In Severin stieg ein Bild hoch, schwarze Locken, ein flatternder Rock, staubige Wölkchen auf der Straße. Es starrte auf die Tür, die sich langsam öffnete. Umständlich kletterte ein Mann heraus, der keinerlei Ähnlichkeit mit Velasquez Broca hatte. Corte war vergessen. Wie weit war es bis zum Cap de Roccapina? Wie ernst war die Einladung eines mit südländischem Temperament ausgestatteten Franzosen zu nehmen? Eines Mannes, dessen einzige Tochter tiefe dunkle Augen hatte und schelmisch lächelte? In diesem Moment beschloß Severin, es herauszufinden. Auf der N196 fuhr er bis Propriano. Es war schon später Nachmittag, daher ent schloß sich Severin, hier zu übernachten. Das kleine Hotel war im maurischen Stil erbaut und jedes der Zimmer hatte eine breite Terrasse, von der man das glit zernde Meer sah. Severin beobachtete den Sonnenuntergang und lauschte dem Zirpen der Grillen, während der Wind den schweren Duft der Rosen zu ihm hoch wehte. Unmerklich schlichen sich Bilder der Vergangenheit ein, der Rosengarten Johannas in Goriz-Gradisca, dem Weingut in der südlichen Steiermark, Paul von Goriz-Gradisca, der freundliche, sanfte Gutsherr, der ihn aus dem Waisenhaus geholt hatte. Seine Tochter Fritzi, die süße, kleine Fritzi, temperamentvoll und ungestüm, den Kopf voller Flausen. Wie erwachsen sie wirkte an jenem letzten Mal, da er sie gesehen hatte. Es war Fritzis zwölfter Geburtstag gewesen und Paul hatte gerade seine Vermählung mit Johanna angekündigt. Schmerz stieg in Severin hoch und wieder war das Messer der Eifersucht zu spüren, Eifersucht auf den Platz in Fritzis Herzen, den von nun Johanna einnehmen würde. Zumindest dachte Severin das. Fünf Jahre war es her. Er hatte das Fest unbemerkt verlassen und war nie wieder nach Goriz-Gradisca zurückgekehrt. Auf Umwegen hatte er 316
sich bis Marseille durchgeschlagen. Mit seiner Begabung für Motoren und seiner Ausbildung als Mechaniker war es leichtfallen, auf einem Schiff anzuheuern. In den letzten fünf Jahren hatte Severin auf vielen Schiffen gearbeitet und vieles von der Welt gesehen. Plötzlich überwältigte ihn Trauer. Seit Geburt hatte er nie ein Zuhause gehabt, ein Heim, in das er so selbstverständlich gehört hätte wie etwa Fritzi nach GorizGradisca. Die Sonne war untergegangen und kühler Wind kam vom Meer. Severin fröstelte. Was sollten diese Erinnerungen? Gut, er hatte kein 'Heim', aber hatte er nicht Freiheit, die Freiheit, zu tun und zu lassen, was er wollte? Die Freiheit, die er sich im Waisenhaus immer vorgestellt hatte. War das nicht viel besser? Sehr viel bes ser? – War es das? Mit dem Gedanken, 'wenn Johanna nicht gekommen wäre, wäre ich immer noch auf Goriz-Gradisca' schlief Severin ein. Der nächste Morgen zog strahlend schön herauf und Severin drängte es, aufzu brechen. Nach einem kurzen Frühstück schwang er sich auf seine KTM und fuhr zügig nach Süden. Sartene mit seinen winkeligen Gassen und mächtigen grauen Steinhäusern beeindruckte ihn, doch es drängte ihn weiter zu fahren. Gegen zehn Uhr war er in Roccapina und fragte nach der Familie Broca. Man zeigte ihm die schmale Straße, die zum Cap führte. Langsam fuhr Severin den staubigen Weg entlang. Nach etwa einem Kilometer sah er die Auffahrt. Das schwarze, schmie deeiserne Tor stand weit offen und zögernd rollte Severin auf das Haus zu. Es war ein großes, zweistöckiges Gebäude mit einer schweren, geschnitzten Holztü re. Er betätigte den Türöffner. Nichts rührte sich. Severin sah sich um. Nach links führte ein breiter, gekiester Weg um die Ecke. Sollte er ihm folgen? Wahrscheinlich war niemand Zuhause. Er würde wieder fahren. Wie kam er auch dazu, sich wildfremden Leuten an den Hals zu werfen? Plötzlich stand das Bild Josettes klar und deutlich vor seinen Augen, wie sie auf der staubigen Straße der Calanches auf ihn zulief... Er würde sich noch eine Chance geben! Entschlossen trat er auf den Kiesweg und umrundete das Haus. Die südliche Seite wurde von einer breiten Terrasse eingenommen, an die sich eine weitläufige Rasenfläche anschloß. Ein Teil des Rasens war in einen Blu mengarten umgewandelt worden. Johannas Blumenbeete! Zögernd rief er: „Hal lo? Ist da jemand?“ Plötzlich tauchte hinter den Rosenbüschen eine Gestalt auf, schwarze, lange Lok ken und blitzende Augen. Severin stockte der Atem. 317
„Oh, Monsieur Severin! Wie schön, daß Sie uns besuchen! Warten Sie, ich kom me!“ Josette zerrte an ihrem Rock, der sich im Dornengestrüpp verfangen hatte, dann eilte sie auf ihn zu. Mit der Rechten strich sie sich die Haarsträhnen aus dem erhitzten Gesicht und in der linken Hand trug sie einen Korb gefüllt mit ro ten und weißen Rosen. *** Wolkenbruchartig klatschte der Regen gegen die Windschutzscheibe, so daß die Wischerblätter Mühe hatten, die Wassermassen zu bewältigen. Langsam quälte sich der Wagen die engen Windungen der schmalen Straße entlang. Nanette klammerte sich am Türgriff fest und sah besorgt zum Bürgermeister von Bonifacio, der die Augen zusammen gekniffen hatte und sich über das Lenkrad beugte. Würden sie heil ankommen? Nanette bezweifelte es. Sicher würde etwas Schreckliches passieren und sie in den Abgrund stürzen, wie vor Jahren Madame Alexa. Plötzlich schlug ein Ast gegen die Windschutzscheibe. Nanette schrie auf. Marceau fuhr sie an. „Seien Sie doch still, Nanette. Ich muß mich konzentrieren. Ich bitte Sie! Schweigen Sie!“ Wieder beugte er sich über das Lenkrad und wischte sich mit der flachen Hand über die schweißnasse Stirn. Nanette biß sich auf die Lippen und schwieg. Nach wenigen Minuten war der Spuk vorbei, der Regen hatte aufgehört und die Sonne kam zwischen den Wolken hervor. Marceau atmete tief durch und bog in die Auffahrt zum Haus am Roccapina ein. Noch immer zitternd kroch Nanette aus dem Auto und streckte sich dankbar durch. Wie durch ein Wunder hatten sie überlebt! Marceau klappte den Kofferraum auf und lud sich die umfangreiche Kiste voller Lebensmittel auf die Arme, wobei er leise stöhnte. Die alte Frau öffnete das schmiedeeiserne Tor, lief die Einfahrt hinauf und bückte sich, um den Schlüssel aufzuheben. Dann schloß sie die schwere Eingangstüre auf und stemmte sich dagegen. Unauffällig beobachtete sie den Bürgermeister, doch dieser zeigte weder Anzeichen von Erstaunen noch von schlechtem Gewis sen. Wie nebenbei sagte Nanette: „Gut, daß das Schloß geölt wurde, man konnte kaum mehr aufschließen!“ Marceau ging wortlos an Nanette vorbei in das Innere des Hauses. Er stellte den großen Karton in der Küche ab. Mit einem knappen „Muß mal!“ ließ er Nanette allein. Die alte Frau begann, die Lebensmittel einzuräumen. Die verderblichen Sachen verstaute sie im Kühlschrank und füllte dann die Speisekammer mit dem Rest. Behutsam legte sie einige Flaschen Bordeaux in das Flaschenregal. Wo blieb Marceau so lange? Unschlüssig hielt sie inne, dann schlich sie sich zur Kü 318
chentür und sah vorsichtig hinaus. Mit einem schnellen Schlag auf den zahnlosen
Mund unterdrückte sie einen Schrei. Die Tür zum Arbeitszimmer stand offen.
Als Marceau in die Küche zurückkehrte, kniete Nanette am Boden und bemühte
sich, die überall verstreuten Nudeln zusammen zu kehren. Entschuldigend sah sie
zu ihm hoch. „Die Tüte ist aufgeplatzt“ Ungeduldig winkte Marceau ab. „Ich
warte im Auto. Beeilen Sie sich, Nanette, ich habe noch einiges zu tun!“ Mit
raschen Schritten verließ er die Küche. Nanette seufzte erleichtert auf und beeilte
sich. Sie warf die Nudeln in den Abfalleimer und rannte hinaus. Als sie durch die
Diele lief, bemerkte sie, daß die Tür zum Arbeitszimmer wie üblich geschlossen
war. Hatte sie sich geirrt? Hatten ihre Augen ihr einen Streich gespielt?
Schweigend kehrten beide nach Bonifacio zurück. Marceau bog nach links zum
Hafen ab. Vor dem schmalen Steinhaus, das bereits bessere Tage gesehen hatte,
hielt er an und ließ Nanette aussteigen. Er sah ihr nach, wie sie mühsam die Stu
fen hinaufkletterte und hinter der schäbigen Tür verschwand. Dann schloß er das
Seitenfenster seines Wagens, zog sein Handy aus der Brusttasche und wählte. Am
anderen Ende wurde sofort abgehoben.
Marceau berichtete. „Einer der Schlüssel, die du mir gegeben hast, hat funktio
niert, ich war im Arbeitszimmer, aber ich denke, du irrst dich. Ich konnte nichts
finden, allerdings war die Zeit zu kurz. Bist du sicher, daß die Unterlagen noch
im Haus sind?“
Die Stimme am anderen Ende klang rauh und ungeduldig. „Wo sollten sie sonst
sein. Er hatte keine Gelegenheit mehr, sie woanders unterzubringen. Sie müssen
noch dort sein! Borowski darf sie nicht finden! Hast du den Schlüssel wieder in
das Versteck gelegt, wie wir es vereinbart haben?“
„Ja, ja, selbstverständlich! Er liegt auf dem Sims über der Eingangstür. Warum
mußtest du das Schloß ölen? Nanette hat es bemerkt und sprach mich darauf an!“
„Diese alte Vettel! Gestern hätte sie mich beinahe entdeckt, ich konnte gerade
noch entkommen, ohne daß sie mich bemerkt hat! Steckt ihre Nase immer noch in
alles! Blödes Weib! Was hast du geantwortet?“
„Was konnte ich schon sagen? Nichts. Aber wir sollten sie im Auge behalten. Ich
habe den Eindruck, sie wird langsam mißtrauisch. Wir haben schon genug Pro
bleme.“
„Quatsch! Das regeln wir! Ich hoffe nicht, daß du nervös wirst!“
„Die Zeit drängt!“
„Ich fahre morgen so früh wie möglich nach Roccapina. Ich werde die Papiere
schon finden.“
319
„Bist du verrückt? Morgen kommt Borowski! Wenn er die Nachtfähre nach
Ajaccio nimmt, ist er spätestens um neun Uhr in Roccapina!“
„Nur die Ruhe, bis dahin ist alles erledigt! Außerdem streiken die Fähren, weißt
du nicht? Behalte um Himmels Willen die Nerven, dann gibt es kein Problem.
Besauf dich, wenn das hilft! A bientot!“ Die Verbindung wurde unterbrochen.
„Besaufen – keine schlechte Idee!“ murmelte Marceau und steckte das Handy
ein. Er warf einen Blick zu Nanettes Haus. Dort bewegte sich ein Vorhang hinter
dem geschlossenen Fenster. Stirnrunzelnd drehte Marceau den Zündschlüssel. Er
war sich nicht sicher bezüglich Nanette, ganz und gar nicht sicher.
*** Es war früher Nachmittag, als Severin seinen liebevoll gepflegten Jaguar auf der gekiesten Auffahrt der Klinik zum Stehen brachte. Er öffnete den Wagenschlag und stieg aus. Im selben Augenblick eilte Dupont aus der Tür des Hauptgebäudes, daß die weißen Mantelschöße flatterten. Im Eilschritt folgten ihm zwei Männer, in einem erkannte Severin den Stationsarzt für Pavillon acht. Ohne nach links und rechts zu blicken, rannte die Gruppe auf das sonnengelbe Haus zu. Severin zögerte. Das sah nach einem medizinischen Notfall aus. Er wollte sich eben umdrehen, um ins Büro zu gehen und dort auf Dupont zu warten, als ein gellender Schrei aus Pavillon acht ihn stoppte. Er drehte sich um und eilte den drei Männern nach. Es war eine Frau, die in Panik geschrien hatte, und Pavillon acht war nur von Männern bewohnt. In wenigen Sekunden war er an der Ein gangstür. Vorsichtig drückte er sie auf und glitt in den Gang. Was er sah, ließ ihn zur Unbeweglichkeit erstarren. Am Ende des Flurs stand ein großer, vierschröti ger Mann im gelben Klinikanzug und preßte mit der linken Hand den Hals einer Krankenschwester zu. Die fleischigen Finger bohrten sich in die Kehle der Frau. Severin erkannte die ältere Schwester, die gestern den Infusionsschlauch aufge rollt hatte. Die rechte Hand lag auf der Schulter der Frau und was sie hielt, hatte Severin zu völliger Regungslosigkeit erstarren lassen. Ein schmaler, etwa zwan zig Zentimeter langer Dolch zielte mit blitzender Spitze auf die Schläfe des Op fers. Severins Hand fuhr instinktiv nach der Waffe. Dabei beobachtete er das Gesicht des Irren. Dessen Mund war zu einem starren Grinsen verzogen, Speichel tropfte von seinem Mundwinkel und die Augen schossen wild hin und her. Die Rechte umklammerte den Dolch, so daß die Knöchel weiß hervortraten, und zitterte ein wenig. Der Mann war nicht zurechnungsfähig, schwer vorauszusagen, wie er auf eine Schußwaffe reagieren würde. Severin zog langsam seine Hand zurück. Dabei fiel ihm ein, daß sein Revolver ohnehin nicht mehr geladen war. 320
Vor Severin standen Dupont und die beiden Ärzte, regungslos, links von ihnen lehnte eine junge Schwester wimmernd an der Wand, beide Hände vor den Mund gepreßt, als wollte sie einen weiteren Schrei ersticken. In gewohnter Schnelligkeit sortierte Severin die vorhandenen Möglichkeiten. Da die Waffe ausschied, würde es entweder ein frontaler Angriff sein müssen – schwierig unter diesen Umständen – oder ein Hinterhalt durch die Tür hinter dem Patienten. Es müßte möglich sein, von außen in dieses Zimmer zu gelangen. Hatte er soviel Zeit? Plötzlich fing Dupont an zu sprechen. Seine Stimme klang ruhig und warm. Be gütigend sprach er auf den Mann ein, den er beim Vornamen nannte. Dieser rea gierte zögernd. Noch immer umklammerte seine Hand die Kehle des Opfers, auf dem Gesicht stand das starre Grinsen, aber die Augen schossen nicht mehr so wild hin und her und richteten sich immer wieder auf Dupont. Dieser bemühte sich, den dünnen Faden der Aufmerksamkeit nicht abreißen zu lassen. Dabei schob er sich langsam näher. Es war absehbar, daß Dupont in kurzer Zeit die Distanz bewältigt haben würde. Dann kam es darauf an, wie schnell der Arzt reagierte. Severin hatte sich ent schieden. Besser, er blieb am Ort des Geschehens. Er bewegte sich nun ebenfalls und schob sich auf der anderen Seite des Ganges die Wand entlang, wobei er versuchte, so wenig Geräusch wie möglich zu machen. Gespannt wartete er auf eine Reaktion des Täters, doch dieser beachtete ihn nicht. Dupont hielt seinen Blick fest auf den Mann gerichtet, während er langsam näher kam und dabei beruhigend weiter sprach. Nun war er bei der kleinen Schwester angelangt, die immer noch die Hände vor den Mund gepreßt hielt und sich kaum auf den Beinen zu halten schien. Dupont stellte sich schützend vor sie. Dabei deutete er ihr, ruhig stehen zu bleiben. Severin glitt vorsichtig weiter und war nun auf der Höhe der beiden Ärzte, die starr und regungslos den Vorgängen folgten. Dupont hatte sich in der Zwischen zeit bereits bis auf zwei Meter dem Angreifer und seinem Opfer genähert und streckte nun langsam seine Hand aus, wobei seine Stimme einen beschwörenden Klang annahm. Der Geiselnehmer schien von der einschmeichelnden Stimme hypnotisiert zu werden, sein Grinsen war einem dümmlichen Lächeln gewichen und seine Augen blickten schuldbewußt. Die Rechte, die immer noch den Dolch umklammert hielt, rutschte etwas tiefer, die Fingerknöchel hatten wieder eine normale Farbe ange nommen, langsam entfernte sich die Spitze des Dolches von der Schläfe der Frau. 321
Es schien nur mehr eine Frage von Sekunden, wann sich die gespannte Lage auflösen würde. Severin hatte sich bis auf drei Meter an den Mann heran gearbeitet und dabei den Geiselnehmer beobachtet, der jedoch unverwandt den Arzt anblickte. Nun kon zentrierte sich Severin auf das Opfer. Die Krankenschwester hatte zwar Mühe beim Atmen, wirkte ansonsten jedoch kühl und gefaßt, kein Anzeichen von Pa nik. Severin beschloß, dies zu nützen. Er machte eine kleine Handbewegung und die Augen der Frau richteten sich auf ihn. Mit dem Fuß trat Severin kurz nach hinten, hob auffordernd die Augenbrauen und machte eine abwartende Geste. Die Frau nickte unmerklich. Dupont stand nun fast auf Armeslänge vor den beiden, immer noch mit ausge streckter Hand beruhigende Worte murmelnd. Der Geiselnehmer stieß einen zit ternden Seufzer aus, wobei Speichelfetzen von seinen Lippen flogen und senkte den Kopf. Dupont trat mit einem erleichterten „So ist es gut, Ivan, gib mir jetzt den Dolch“ einen weiteren Schritt auf ihn zu, als... ... als plötzlich mit einem Krachen die Türe aufflog und vier Wärter herein stürmten. Der Irre riß den Kopf hoch und hob die Waffe. Die Spitze der Klinge ritzte die Stirn der Frau. Blut sprang heraus und rieselte über ihre Augenbrauen. Dupont fuhr herum und schrie etwas. Severin brüllte: „Jetzt!“ und stürmte vor wärts. Die Krankenschwester holte kräftig aus und trat dem Mann mit aller Wucht vors Schienbein. Dieser stieß einen knurrenden Laut aus und holte mit dem Dolch aus. Aber da war Severin schon bei ihm und umklammerte mit beiden Händen die Handgelenke des Mannes. Er riß sie hart nach oben und drehte sie dabei nach rechts, so daß der Mann nach hinten gerissen wurde. Die Frau schlüpfte unter den Armen von Severin durch und rannte Dupont beinahe um. Severin stieß mit dem Knie kräftig in die Leiste des Mannes, der wimmernd zu sammenbrach. Der Dolch klapperte auf den Fliesenboden. Severin stieß den Mann vollends auf den Boden und kniete sich auf seinen Rük ken, wobei er die Arme nach oben drehte, aber da waren schon die Pfleger bei ihm und nahmen sich des Überwältigten an. Eine Stunde später saßen Severin Borowski und Henri Dupont in dessen Büro und tranken den hervorragenden Cognac aus der wohl gefüllten Bar des Kli nikchefs. Nachdem sich die erste Aufregung gelegt hatte, hatte sich Ivan Auger widerstandslos abführen und in ein vergittertes Zimmer des Hauses bringen las sen und lag nun unter Haldolinfusion und angegurtet besinnungslos in seinem Bett, zusätzlich bewacht durch einen der Pfleger. Dupont ging kein Risiko mehr ein.
322
Severins Bißwunde an der Hand war desinfiziert und verbunden. Das Tuch war
fast völlig zerschnitten gewesen, die Waffe des Irren war Severin gefährlich nahe
gekommen. Dupont hatte kopfschüttelnd gemeint, ohne diesen Schutz hätte die
Klinge die Sehnen am Handgelenk durchtrennt. „Quel bonheur! Welches Glück,
mon ami! Die Katze hat Sie gerettet! Möchten Sie eine Schmerztablette?“
Severin hatte verneint. Nun sah er den kleinen Mann an, der offensichtlich etwas
auf dem Herzen hatte. „Was ist los, Henri? Irgend etwas beschäftigt Sie!“
Dupont schob die Brille auf die Nase und sah Severin über den Rand hinweg
neugierig an. „In der Tat tut es das! Können Sie sich nicht denken, was es ist?“
Severin konnte, beschloß aber zu schweigen.
Langsam und tastend suchte Dupont nach den richtigen Worten. „Diese Schnel
ligkeit! Ich habe nicht bemerkt, daß Sie hinter mir waren. Diese Präzision! Ihre
ganze Aktion sah sehr, äh, professionell aus, mein Freund. War es das?“
„Professionell? Nun, vielleicht. Es gab Zeiten, da mußte ich es sein, aber die sind
lange vorbei!“
„Sind sie das?“ Dupont blinzelte.
Severin zuckte mit den Achseln und versuchte abzulenken. „Was war der Anlaß
für diesen dramatischen Auftritt? Ich nehme nicht an, Henri, daß solche Vorfälle
in Ihrer Klinik an der Tagesordnung sind.“
Dupont seufzte tief auf und streckte abwehrend die Hände nach vor. „Nein, um
Gottes willen! Wo denken Sie hin! Hélène, die junge Schwester, hat geistesge
genwärtig den Alarm gedrückt und ich bin los gespurtet. Wie ich bis jetzt erfah
ren habe, weiß niemand genau, warum Ivan Auger ausgerastet ist. Er war immer
so freundlich und sanft.“
„Haben Sie das Opfer schon befragen können?“
Dupont schüttelte den Kopf. „Nein, Schwester Annie wird gerade untersucht und
soll sich erst ein wenig beruhigen.“
„Sehr aufgeregt schien sie mir nicht zu sein.“
Mit Würde sagte Dupont: „Schwester Annie ist eine langjährige Angestellte mei
ner Klinik und hat schon einige kritische Situationen überstanden. Wir können
von Glück sagen, daß sie nicht in Panik geraten ist. Das hätte sie aufs Höchste
gefährdet. Sie möchten bei der Befragung dabei sein, richtig?“
Severin kniff ein Auge zusammen. „Wie haben Sie das erraten, Henri?“
„Sie vergessen meinen Beruf, Severin! Intuition und genaue Beobachtung der
nonverbalen Kommunikationsebene sind eine unerläßliche Voraussetzung.“ Du
pont klang ein wenig pathetisch.
323
„Das ist mir zu hoch!“ Severin winkte ab. „Aber ich entnehme ihrem Fachchine
sisch, daß man vor Ihnen auf der Hut sein muß!“
Dupont kicherte. „Sie tun gut daran, mon ami. Ich werde Ihnen gleich noch den
Grund für Ihr Interesse nennen. Sie wollen bei der Befragung von Schwester An-
nie dabei sein, weil Sie einen Zusammenhang mit Velasquez vermuten!“
Severin riß in gespielter Überraschung die Augen auf. „Und das alles haben Sie
meinem nonverbalen Dingsda entnommen?“
Dupont schüttelte den Kopf. „Nein, das gerade nicht. Dazu sind Gestik und Mi
mik doch zu undifferenziert. Jedoch die Präzision Ihrer Intervention hat Sie sicher
nicht das Wesentliche übersehen lassen, nehme ich an.“
Severin nickte anerkennend. „So fragt man Leute aus. Nein, es ist mir nicht ent
gangen. Zu oft habe ich es selbst benutzt. Wußten Sie, daß es das Geschenk eines
maurischen Adeligen war, eine wunderbare sarazenische Handarbeit“ Severin
räusperte sich. „Woher hatte dieser Mann Velasquez Dolch?“
Dupont breitete hilflos die Hände aus. „Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Prin
zipiell dürfen unsere Patienten keine gefährlichen Gegenstände in ihrem Besitz
haben. Aber, wie erwähnt, wir sind kein Gefängnis und so mache ich immer wie
der Kompromisse. Eine unverantwortliche Nachlässigkeit, wie sich herausgestellt
hat. Als Entschuldigung kann ich nur anführen, daß für Broca der Dolch ein ver
trauter Gegenstand war, mit schönen Erinnerungen behaftet, wenn ich mich recht
erinnere.“ Fragend sah er Severin an.
„Er benützte ihn als Brieföffner und manchmal, so erzählt man sich, habe er ihn
auch in den Gerichtssaal mitgenommen. Ich persönlich halte das für ein Gerücht.
Velasquez war durchaus imstande, die Angeklagten kraft seines Blickes und sei
ner herrischen Stimme einzuschüchtern. Ja, Henri, es war ein vertrauter Gegen
stand. Das erklärt immer noch nicht, wie Auger ihn erhalten hat. Hat er ihn ge
stohlen?“
Dupont zuckte zusammen. Beschwörend streckte er die Hände aus. „Um Gottes
willen, wo denken Sie hin, mein Freund! Das wäre nahezu unmöglich! Das Zim
mer Brocas ist seit seinem Tod verschlossen. Niemals! Mon Dieu, ein Diebstahl,
nicht daran zu denken! In keinem Fall!“
Severin schmunzelte. Der Verdacht eines Diebstahls schien den Klinikleiter weit
mehr aus der Fassung zu bringen als die Bedrohung einer seiner Krankenschwe
stern. Er versuchte, Öl auf die Wogen zu gießen. „Henri, beruhigen Sie sich.
Wenn er es nicht gestohlen hat, muß er es von Velasquez geschenkt erhalten ha
ben. Nun wissen wir aber, daß mein Schwiegervater stark an diesem Dolch ge
hangen hat. Mysteriöse Geschichte. Was ist dieser Auger für ein Mensch?“
324
Dupont hatte sich beruhigt. Er kratzte sich am Nasenrücken und schob die Brille hoch. „Seine Erkrankung nennen wir Schizophrenie, eine Art Persönlichkeits spaltung, die man jedoch gut mit Medikamenten kompensieren kann. Ivan Auger war seit vielen Jahren stabil, hatte keinen Rückfall und war, wie gesagt, ein freundlicher und sanfter Mann. Er war Velasquez Zimmernachbar, die beiden kamen gut miteinander aus und verbrachten viel Zeit zusammen. Es ist schon merkwürdig! Einige Stunden nach Brocas Tod rastet Ivan aus. Das kann Zufall sein, das kann aber... entrez!“, unterbrach er sich und sah zur Tür. Die junge Krankenschwester, die Severin im Pavillon acht gesehen hatte, streckte den Kopf zur Tür herein. „Monsieur le docteur, Schwester Annie würde Sie ger ne sprechen.“ Dupont sprang auf und eilte auf sie zu. „Schwester Hélène! Wie geht es Ihnen, haben Sie den Schreck schon überwunden?“ Die kleine Schwester trat einen Schritt ins Zimmer. Errötend sagte sie: „Vielen Dank, Monsieur le docteur, es geht mir wieder gut. Es tut mir leid. Es war alles meine Schuld!“ Lebhaft unterbrach sie Dupont. „Aber nein, meine Liebe! Was sagen Sie da! Sie haben wunderbar reagiert und den Alarm ausgelöst! Damit haben Sie sicher Schlimmes verhindert! Sie waren sehr gut, besonnen und klar denkend. Das wird auch Monsieur Borowski bestätigen, nicht wahr, Severin?“ Dupont drehte sich um und sah seinen Gast auffordernd an. Severin nickte lächelnd. „Henri hat recht, Schwester Hélène! In kritischen Situa tionen rasch zu reagieren, ist immer sehr schwierig. Wer weiß, was ohne ihre Geistesgegenwart passiert wäre.“ Die Röte auf Schwester Hélènes Gesicht vertiefte sich. „Oh, vielen Dank, das ist sehr freundlich von Ihnen, Monsieur.“ Dann straffte sie ihre Schultern und um ihre Professionalität erneut unter Beweis zu stellen, sagte sie klar und laut: „Was Schwester Annie angeht...“ Dupont legte ihr die Hand auf die Schulter. „Ja, richtig. Wo ist sie? Sie soll her einkommen.“ „Sie ist noch im OP.“ „Im OP?“ „Sie hat eine Schnittwunde an der Schläfe, die genäht werden muß. Aber das dauert nicht mehr lange. Sie bat mich, Sie zu fragen, ob Sie ein paar Minuten Zeit für sie hätten.“ 325
„Natürlich, natürlich sagen Sie ihr, sie soll heraufkommen, wenn sie fertig ist.
Wissen Sie, wie es Ivan geht?“
„Er ist unter Infusion, im Augenblick stark sediert. Haben Sie diesbezüglich An
ordnungen?“
„Nein, nein, ich werde später selber nach ihm sehen. Der Pfleger ist noch bei
ihm?“
„Ja, selbstverständlich.“
„Gut, dann merci, Schwester Hélène, vielen Dank!“
Mit einem schüchternen Lächeln zog sich die junge Krankenschwester zurück
und schloß leise die Türe.
„Nun denn.“ Dupont rieb sich die Hände. „Dann werden wir ja bald Genaueres
wissen!“
Severin stand auf und ging im Zimmer hin und her, wobei er automatisch sein
Sakko zuknöpfte. Dabei warf er einen unauffälligen Blick auf Dupont. Der Chef
arzt war zu seinem Schreibtisch zurückgekehrt und sah ihn arglos an. Severin
entschied, der Zeitpunkt sei günstig, um seine Frage zu stellen.
Er kehrte zu seinem Sessel zurück. „Henri, woher kennen Sie den Hafenmeister
von Bonifacio?“
Dupont kratzte sich am Nasenrücken. „Ist es das, was Sie beschäftigt?“
Severin blieb stumm.
„Ihre Professionalität verführt Sie zu übereilten Schlüssen, mein Lieber, und läßt
Sie hinter jeder Ecke einen Feind vermuten! Tragen Sie meinetwegen dieses
Donnergerät?“ Mit dem Zeigefinger deutete er auf Severins Brust.
Severin schüttelte lächelnd den Kopf. „Henri, Sie sehen Gespenster.“
„Tu ich das? Sie haben sich geweigert, Ihr Sakko auszuziehen. Ihr Schneider ist
hervorragend, aber für ein Gespenst ist die Ausbuchtung unter Ihrer linken Ach
sel zu gegenständlich! Mein armer Freund!“
„Henri, weichen Sie mir aus?“
„Ja, in der Tat, das tue ich.“
„Haben Sie Grund dazu?“
„Ihr Mißtrauen. Wer mit einer Kanone herum rennt, hat meist nicht viel Vertrau
en in seine Mitmenschen. Würden Sie mir denn glauben, wenn ich Ihnen die
Wahrheit sage?“
„Vielleicht!“
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„Sehen Sie! Am besten, Sie versuchen, sich die Dinge selbst zusammen zu rei
men. Sich selbst werden Sie doch vertrauen, oder?“
„Nicht immer – aber lassen Sie es mich versuchen. Velasquez war viele Jahre Ihr
Patient und ich weiß, daß er in seinen hellen Momenten fast nur über die Vergan
genheit geredet hat, sicher auch mit Ihnen. Enrico Massimo wird in seinen Ge
schichten öfter vorgekommen sein“
Dupont klatschte in die Hände. „Bravo! Hervorragende Kombinationsgabe! Sie
sind gut, mein Freund!“
„Vielen Dank. Stimmt es auch?“
Dupont zog die Augenbrauen in die Höhe und wackelte mit dem Zeigefinger.
„Aber, aber!“ In diesem Augenblick klopfte es und Schwester Annie trat ein, ein
dickes Pflaster an der rechten Schläfe und einen Seidenschal um den Hals.
*** „Vielen Dank, ma cherié! Das Essen war ausgezeichnet!“ Galant beugte sich
Philip Carbonet über den Tisch und küßte seiner Frau die Hand. Lächelnd stand
Dominique auf und holte die Karaffe Wein von der Anrichte.
„Philip?“
„Ja, mein Schatz?“
„Dich beschäftigt der Besuch dieses Monsieur Borowski! Willst du mir nicht
darüber erzählen?“ Sie setzte sich an den Tisch, goß sich etwas Wein in das hohe
Stielglas und sah ihren Mann forschend an. Der schwere Bordeaux funkelte im
Schein der Kerzen.
„Da gibt es nicht viel zu erzählen. Dieser Mann versucht, den Tod seiner Familie
aufzuklären. Aber das Ganze ist zwanzig Jahre her. Ich frage mich nur...“
„Ja?“ Dominique führte das Glas zum Mund, ihre Hand zitterte ein wenig.
„Es gibt einige Unklarheiten. Ich habe Deauville in Verdacht, aber die Angele
genheit ist lange her und Korsika ist weit weg.“
Dominique zog die Augen zusammen. „Korsika?“
„Korsika heißt in diesem Fall deine Heimatstadt, ma cherié, Bonifacio. Die Fa
milie von Borowski kam ums Leben und er will sich nicht mit einem schlichten
Unfall zufrieden geben. Also schürft er hier und dort, um vielleicht etwas auszu
graben. Aber in Nizza wird er nicht viel finden. Wenn etwas faul an der Sache ist,
kann er es nur in Bonifacio finden.“
„Der Fall Broca?“ Scharf tönte es von Dominique.
327
„Ja. Dominique, was ist mit dir?“
Philip griff nach dem Glas seiner Frau, aber es war schon zu spät. Dominique
hatte es so heftig auf den Tisch gestellt, daß es umstürzte. Der Wein rann über
das weiße Damasttischtuch und färbte es dunkelrot. Das Glas rollte über den
Tischrand und fiel auf den rosaroten Marmorboden. Mit einem Klirren zersprang
es in kleine Scherben.
Leichenblaß war Dominique aufgesprungen. „Pardon! Wie ungeschickt von
mir!“ Schon hatte sie den Raum verlassen. Nachdenklich sah ihr Philip nach. In
kurzer Zeit war Dominique zurück und hatte mit raschen Griffen das Malheur
beseitigt. Auch ein frisches Glas hatte sie mitgebracht. Gelassen füllte sie es.
Dann hob sie den Kelch und prostete ihrem Mann zu. Ihre Hand war ruhig und
ihr Mund lächelte, ein Lächeln, das nicht ihre Augen erreichte. „Verzeih meine
Ungeschicklichkeit, mon cher Philip. Ich bin etwas durcheinander. Das war ja
sehr interessant, deine Geschichte dieses Monsieur Borowski, jedoch plagen
mich seit einigen Tagen schreckliche Gedanken.“
Philip zog die Augen zusammen. „Was für Gedanken?“
„Ich bin nun fünfundsechzig und werde bald sterben. Ich dachte, es wäre Zeit,
reinen Tisch zu machen! Nein, sag nichts, laß mich ausreden.“ Dominique drehte
das Glas in ihren Händen. „Ich fahre nach Bonifacio!“
Carbonet lehnte sich zurück und sagte behutsam: „Das finde ich bemerkens
wert!“
Offen und direkt sah Dominique ihrem Philip in die Augen. „Meinst du nicht, es
wäre nun an der Zeit, mich wieder zu versöhnen mit“, sie zögerte kurz, „mit Ma
rie-Claire?“
„Und das war alles, was du mir sagen wolltest?“
Mißtrauisch blickte Dominique auf. Sollte Philip Verdacht geschöpft haben?
Unsinn wahrscheinlich hatte er ihren Versprecher gar nicht bemerkt. Das zerbro
chene Glas hatte ihn abgelenkt. „Genügt das nicht?“ Es klang scharf.
Philip zuckte mit den Achseln. „Schön, mir soll es recht sein. Trotzdem solltest
du nicht so leichtfertig über den Tod sprechen. Alors! Trinken wir auf deine Ver
söhnung mit Marie-Claire!“ Prostend hielt er Dominique sein Glas entgegen. Mit
leisem Klang begegneten sich die beiden Kelche.
Dominique begann nun umständlich, ihre Reisepläne zu erklären, aber Philip
hörte nicht mehr zu. Er dachte an eine Notiz in dem dünnen Ordner, der nun wie
der in seinem Aktenschrank im Keller verstaut war, eine handschriftliche Notiz
seines Sohnes Alfons, auf der der Name stand, den Monsieur Borowski gerne
gewußt hätte und den er nur zur Hälfte preisgegeben hatte. Philip sah die drei
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Worte deutlich vor sich: Marie-Claire Marceau, Dominiques Schwester, mit der sie sich nun nach über vierzig Jahren versöhnen wollte. *** Sorgfältig ordnete Dupont die Blätter auf seinem Schreibtisch, auf denen er sich Notizen gemacht hatte, und sagte abschließend: „Gut, Schwester Annie, ich glau be, das wäre alles. Ich möchte noch kurz zusammenfassen. Sie hatten den Dolch bei Ivan Auger gesehen und haben ihn an sich genommen, um ihn wegzusperren. Sie hielten die Waffe für gefährlich. Auger hat nicht reagiert, aber als sie durch die Türe treten wollten, hat er sie von hinten angesprungen, Ihnen die Waffe aus der Hand gerissen und Sie bedroht. Stimmt das so?“ „Ja, Monsieur le docteur. Genau so war es. Ich kann mir nicht erklären, was in ihn gefahren ist!“ Trotz ihrer Gelassenheit war der Krankenschwester der Schreck noch anzusehen. „Gut, das wäre alles. Vielen Dank. Möchten Sie den Rest des Tages frei neh men?“ „Nein, auf keinen Fall. Ich bin OK.“ Dupont nickte zustimmend. Schwester Annie erhob sich und ging zur Tür. Se verin schaltete sich zum ersten Mal in das Gespräch ein. „Eine Frage noch, Schwester Annie. Gab es irgend etwas Ungewöhnliches?“ „Wie meinen Sie das?“ „Nun, etwas Auffälliges, etwas außerhalb der Reihe.“ Schwester Annie griff sich an den Hals und ordnete ihren Schal. Nachdenklich runzelte sie die Stirn. „Nein, ich wüßte nicht. Ivan war wie immer.“ „Eine Unregelmäßigkeit im Tagesablauf vielleicht?“ „Nein, nichts.. Doch! Aber das war schon gestern. Ivan kam nicht zum Mittages sen. Er sagte, er habe verschlafen, aber Schwester Hélène meldete, daß er nicht in seinem Zimmer gewesen war. Ivan ist sonst immer pünktlich beim Essen, er legt viel Wert darauf!“ Severin dachte an den korpulenten Mann und nickte. „Wissen Sie, wo er war?“ „Nein, aber wir haben die Angelegenheit nicht weiter verfolgt. Zum Nachmittag stee war er anwesend und so ließen wir die Sache auf sich beruhen. War das falsch?“ Zweifelnd sah sie zu Dupont. Dieser beruhigte. „Natürlich nicht, Schwester Annie. Ivan kann wie jeder Patient die Klinik verlassen, wann er will, wenn er sich abmeldet. Ich werde den Portier 329
fragen. Vielen Dank, Schwester!“ Verabschiedend nickte Dupont und Annie ver
ließ den Raum.
Dupont hob den Telefonhörer hoch und stellte eine Frage. Nach kurzer Zeit be
dankte er sich und legte auf. Er wandte sich an Severin. „Ivan Auger hat gestern
kurz nach zwölf die Klinik verlassen und ist gegen vier Uhr wieder zurückge
kehrt. Nützt Ihnen das etwas?“
„Zumindest wirft es eine Frage auf: Warum hat er gelogen?“
„Vielleicht aus Gewohnheit? Ivan läßt sich ungern gängeln. Könnte reiner Wi
derspruchsgeist sein.“
„Es könnte aber auch etwas anderes dahinter stecken. Ich nehme an, Auger wird
in nächster Zeit nicht ansprechbar sein“
Dupont seufzte. „Einige Tage sicher nicht. Ob er sich nach der Infusion noch an
viel erinnert, ist zweifelhaft. Es tut mir leid, mon ami, ich hätte Ihnen gerne ge
holfen.“
Severin zuckte mit den Achseln. „Wahrscheinlich hat es keine Bedeutung. Zer
brechen Sie sich nicht den Kopf, Henri. Ich danke Ihnen in jedem Fall für Ihre
Mühe.“
„Da wäre noch etwas.“ Dupont zögerte kurz. „Velasquez Begräbnis.“
Severin schluckte. Das hatte er total vergessen. Natürlich, er war das einzig ver
bleibende Familienmitglied, also lag es an ihm, das Begräbnis zu organisieren.
Unschlüssig sah er Dupont an. Was war da zu tun?
Dupont winkte ab. „Keine Sorge, mein Freund. Velasquez hat genaue Anweisun
gen erteilt, was im Falle seines Todes zu geschehen hat.“
„Gut!“ Severin atmete erleichtert auf. Wie günstig, daß sein Schwiegervater als
Jurist einer Berufsgruppe angehört hatte, die ganz unsentimental über den Tod
hinaus präzise zu planen gewohnt ist. Was würde mit ihm geschehen, wenn er
stürbe? Severin wußte es nicht. Er wandte sich Dupont zu und sah ihn fragend an.
„Broca wollte eine Feuerbestattung, seine Urne sollte in Roccapina unter der
Platane stehen, so lautete sein Wunsch.“
„In Ordnung. Sagen Sie mir, Henri, was ich zu tun habe.“
„Ich habe bereits alles in die Wege geleitet, die Bestattung findet morgen um
dreizehn Uhr statt. Können Sie das einrichten?“
„Natürlich, selbstverständlich. Ich werde einen Kranz besorgen. Ich danke Ihnen,
Henri!“
Nach kurzer Zeit verabschiedete sich Severin und kehrte ins Hotel zurück.
330
***
Fees Stimme klang hell und klar aus dem Hörer. „Hotel Donaublick, guten Tag.“
„Ich bin's. Störe ich?“
„Severin! Schön, von dir zu hören. Wie geht es dir? Warum solltest du stören?“
„Nun, vielleicht ist der Doktor bei dir!“
„Keine Anspielungen, mein Lieber. In der Tat hast du recht. Herrmann ist hier.
Möchtest du ihn sprechen?“ fragte sie süß.
Hastig winkte Severin ab. Am wenigsten war ihm jetzt danach, den liebeskranken
Anbeter seiner Arbeitgeberin zu hören. „Ich melde mich wieder, es wird längere
Zeit in Anspruch nehmen, zu berichten. Wann wäre es am günstigsten?“
Fees Stimme klang belustigt. „Wie rücksichtsvoll du bist! Gib mir die Nummer
und ich rufe dich an. Dann hast du die Gewißheit, in keinem Fall zu stören!“
Severin gab die Nummer durch. Dann meinte er trocken: „Höre ich leichte Ironie
aus deinen Worten?“
„Das denkst du nur. Bis später! Ich bin schon sehr neugierig!“
Fee hatte aufgehängt. Severin wählte den Zimmerservice und bestellte das
Abendessen. Wie er Fee kannte, würde die Neugier sie beflügeln, er rechnete in
spätestens zwei Stunden mit dem Rückruf. Armer Dr.Schäuble. Wieder keine
intime Zweisamkeit. Severin mochte den Gemeindearzt von Beuron nicht beson
ders und hatte das Gefühl, daß dies auf Gegenseitigkeit beruhte. Er war ihm zu
bieder, zu zwanghaft, mit einem Wort, zu 'schwäbisch'. Severin beobachtete die
Anstrengungen von Fees langjährigem Freund mit Skepsis, doch die Sehnsüchte
des Gemeindearztes von Beuron waren zum Glück nicht sein Problem.
Der Tag war sonnig und warm gewesen und Severin machte es sich auf dem Bal
kon des Hotels gemütlich. Die Wunde an seiner Hand begann wieder zu pochen.
Vorsichtig bewegte er den Daumen. Er fühlte sich etwas steif an, aber der
Schmerz war auszuhalten. Er würde kein Schmerzmittel benötigen, sondern sich
statt dessen eine weitere Flasche Bordeaux zu Gemüte führen. Während er die
Flasche entkorkte, beobachtete er die Lichter der Boote, die in den Hafen von
Nizza zurückkehrten...
*** Das Boot legte sich eng in die Kurve und nahm mit Höchstgeschwindigkeit die Hafenausfahrt von Bonifacio. Es war ein kleines Kajütboot mit zwei Kojen, einer winzigen Kombüse und einem komfortablen Wohnraum. Die neue Farbe glänzte in der Morgensonne und die Gischt spritzte am Bug empor. Josette hielt sich an der Reling fest und lehnte sich in die Schräglage. Ihre langen Haare flogen, la 331
chend sah sie zu Severin zurück, der das Ruder bediente. 'Schneller' deutete sie, 'schneller!'. Severin schmunzelte. Er hatte bereits die höchste Geschwindigkeit erreicht. Das würde ganz gewiß eine ernste Ermahnung von Enrico Massimo, dem Hafenmeister, zur Folge haben. Josette und Severin befanden sich auf Hochzeitsreise. Das Boot war ein Ge schenk von Alexa und Velasquez Broca gewesen und hatte einiger Erneuerungen bedurft. Die jungen Leute hatten in den letzten Monaten mit Feuereifer gestrichen und umgebaut. Pünktlich zur Trauung wurde es fertig. Nun plante das junge Paar eine Fahrt ins westliche Mittelmeer. Severin nahm das Bild in sich auf, seine Frau – seine Frau – an Bord seiner Yacht! Ein atemberaubender Gedanke. Ein Anblick, an den man sich noch ge wöhnen mußte. Zwei Jahre war es her, daß sich Severin in den Calanches um ein liegen gebliebenes Auto gekümmert hatte, zwei Jahre, nachdem er die Einladung Velasquez Brocas nach Roccapina angenommen hatte und den Rest seines Ur laubs auf diesem herrlichen Landsitz am Cap der Pinien verbrachte. In dieser Zeit wurde es Severin klar, daß er sich unsterblich in Josette, der einzigen Tochter des Richters von Ajaccio, verliebt hatte. An seinem letzten Urlaubstag im Rosengar ten gestand auch Josette ihm ihre Liebe. Nie würde Severin diesen Abend vergessen, die schweren Rosendüfte, die ihn umhüllten, die dunkelrote Sonne, die im Meer versank, und Josettes tiefe Augen, die glühenden Wangen und das strahlende Lächeln, wie sie ihm ohne Scheu und Verlegenheit die Arme um den Hals warf und ihn an sich drückte, ihn, den gro ßen, schwerfälligen Mann. Ungelenk hatte er sie an sich gepreßt und wie ein Er trinkender geküßt. Es war ein Kuß, der eine Ewigkeit zu dauern schien. Es dauerte noch zwei lange Jahre, bis Severin es wagte, beim Richter um die Hand seiner Tochter anzuhalten, zwei lange Jahre, in denen er zur See fuhr, aber immer wieder eine Heuer fand, deren Zielhafen in Korsika war. Lächelnd hatte Velasquez der Hochzeit zugestimmt und gesagt, er hätte bereits jede Hoffnung aufgegeben, daß Severin je den Mut aufbringen würde, sich zu erklären. Acht Wochen später standen sie vor dem Altar der schönen Barockkirche in Ajaccio, Josette in einem spitzenübersäten Seidenkleid, die schwarzen Locken von einem Blütenkranz gebändigt, den zarten Schleier über ihrem strahlenden Gesicht. Als die Vermählung beendet war und Josette den Schleier hob und ihm ihre Lippen zum Kuß reichte, glaubte Severin zu träumen. Als sie nach Bonifacio zurück kehrten, um mit den Hochzeitsgästen bei einem ausgiebigen Mahl zu feiern, war ihm immer noch, als wäre alles ein Traum. Erst jetzt, auf seinem Boot, mit seiner Frau, hatte er zum ersten Mal das Gefühl, es könnte wahr sein. Es könnte wahr sein, eine Frau zu haben, ein Heim, und vielleicht auch Kinder... 332
Sie hatten nun das offene Meer erreicht und er schaltete den Autopiloten ein. Dann ging er in die Kombüse und holte aus einem Versteck einen Strauß roter und weißer Rosen. Die Blüten hatten den Transport gut überstanden und betörender Duft strömte von den vollen Kelchen. Mit dem Blumenstrauß im Arm ging Severin an Deck und trat neben Josette. „Du hast daran gedacht!“ Josettes Augen strahlten. „Was denkst du! Ich habe nicht mitgezählt, wie oft mir deine Mutter in den letz ten Wochen damit in den Ohren gelegen hat. Wahrscheinlich mißtraute sie mei nem Gedächtnis. Wie hätte ich es vergessen können!“ Entschuldigend meinte Josette. „Es ist ein alter Brauch in Bonifacio, daß ein jungvermähltes Paar den Meeresgott gnädig stimmt und...“ „...und ihm eine Gabe opfert. Ich habe zugehört, mein Schatz! Mir liegen diese Gedanken zwar etwas fern, aber es kann ja nie schaden, oder?“ Er zwinkerte ihr zu. Josette lachte schelmisch und knuffte ihn in die Rippen. „Sich immer nach allen Seiten absichern, das kannst du! Wenn ich daran denke, wie du meine Eltern ein gewickelt hast!“ Severin nahm seine Frau in die Arme und verschloß ihre Lippen mit einem lan gen Kuß. Als sie sich endlich voneinander lösten, waren die Rosen etwas zer knautscht. Gemeinsam warfen sie den Strauß ins Wasser und sahen zu, wie die roten und weißen Blüten auf den Wellen tanzten. *** Rote und weiße Blüten! Mit einem Ruck setzte sich Severin aufrecht. Es war nun vollständig dunkel geworden und ein frischer Wind wehte vom Meer her. Er stand auf und schloß die Balkontüre. Er hatte sich in Erinnerungen verloren, doch irgend etwas hatte in ihm gebohrt. Welche Erinnerung drängte sich da hervor? Rote und weiße Blüten – weiß und rot... Angestrengt versuchte er, das diffuse Bild festzuhalten, umsonst. Was bedeutete es? Die schemenhaft aufgetauchte Melodie hatte eine Saite seines Vergessens angeschlagen, die jetzt langsam ver klang. Der vertraute Schmerz stellte sich wieder ein und überdeckte die Erinne rung. In diesem Augenblick läutete das Telefon. Severin fuhr sich durch die Haare und sah auf die Uhr. Eineinhalb Stunden. Anerkennend nickte er mit dem Kopf und hob ab. Eine helle, klare Stimme fragte nach Monsieur Borowski. „Ja, ich bin dran.“ Severin hatte Mühe, sich zu konzentrieren. 333
„Du klingst ziemlich angeschlagen. Machen dir wieder deine Erinnerungen zu
schaffen?“ Fees Stimme klang besorgt.
„Nein, zumindest nicht mehr als sonst. Oder doch, irgendwie kommt vieles an die
Oberfläche, egal. Bleiben wir in der Gegenwart.“
„Also, schieß los. Was hast du erfahren.“
„Das ist nicht viel. Wenig Konkretes, aber eine Menge Ungereimtheiten.“
„Dafür hast du ja mich!“ sagte Fee zuversichtlich. Severin berichtete. Abschlie
ßend sagte er: „Da gibt es einige Löcher. Nehmen wir einmal den jungen Alfons,
der auch nicht mehr so jung ist. Sicher Mitte vierzig, schätze ich. Ein gefinkelter
Bursche.“
„Hast du erfahren, wer der Auftraggeber war?“
„Ja, erstaunlicherweise. Das einzig Konkrete meiner bisherigen Nachforschun
gen. Es war Marceau!“
„Was? Was hatte der honorige Bürgermeister mit der ganzen Sache zu tun?“
„Dies ist eine der vielen Fragen, auf die ich leider keine Antwort bekam.“
„Von wem hast du diese Information?“
„Philip Carbonet, Alfons Vater und ehemaliger Anwalt, ließ sich herab, mir dies
mitzuteilen. Ansonsten war er wenig informativ. Oh, er war liebenswürdig und
hilfsbereit, doch bei ihm hatte ich noch deutlicher das Gefühl, ich sollte aufs
Glatteis geführt werden. Liebenswürdig und umgänglich hatte er die ganze Zeit
seine wachsamen Augen auf mich gerichtet und schien meine Gedanken lesen zu
wollen. In der Zwischenzeit teilte er mir en passant mit, daß der Vorfall nicht
existiert.“
„Was meinst du damit?“
„Der Akt Broca-Borowski scheint in den Büchern der Kanzlei nicht auf. Carbo
net versuchte, mich auf die Fährte seines verstorbenen Kompagnons zu lenken.
Aber wahrscheinlich stecken Vater und Sohn mit drin. Also, was folgern wir
daraus?“
„Die sind schlau, die beiden Herren.“
„Aber nicht schlau genug. Es ist mir nicht entgangen.“
„Das wird dir nicht viel helfen, Severin. Im Falle einer Untersuchung wird die
Kanzlei blütenweiß dastehen, keine Lücke im System. Was Philip Carbonet dir
erzählt hat, kann er jederzeit abstreiten. Waren Zeugen dabei?“
„Natürlich nicht. Wir waren allein. Außer seine Frau hätte gelauscht. Zutrauen
würde ich ihr es, die hat Haare auf den Zähnen!“
334
Fee lachte schallend. „Armer Severin. Du und dein kompliziertes Verhältnis zu
Frauen. Ich wundere mich, daß wir beide schon so lange so gut miteinander aus
kommen.“
„Das kommt daher, weil Sie der Boß sind, Frau Di Cosimo!“ sagte Severin steif.
„Ach du meine Güte! Jetzt sei nicht gleich wieder eingeschnappt. Das war ein
Scherz, mein Lieber. Erzähl weiter, was hast du noch?“ Fees Stimme klang be
gütigend, aber auch ein wenig ungeduldig. Severins Humorlosigkeit war ein
Punkt, der immer wieder zu Spannungen führte.
Severins Stimme klang immer noch zurückhaltend. „Das wäre das Wichtigste,
was die Carbonets betrifft. Aber auch Dupont ziert sich etwas.“
„Ach nein! Das ist nicht möglich. Mißtraust du ihm etwa auch?“
„Warum werfen mir heute alle Mißtrauen vor! Nein, ich mißtraue ihm nicht. Ich
hatte nur das Gefühl, er glaubt, ich sei schuld am Tod meiner Familie!“
„Oh, Gott, nein!“
„Es ist nur ein Gefühl von mir, eine Ahnung. Er war ziemlich ausweichend und
zurückhaltend. Dabei ist er ein ausgezeichneter Beobachter, wie ein Psychiater
eben. Seine Worte klangen mir sehr nach Warnung.“
„Nach Korsika zu gehen?“
„Das auch. Eher in die Vergangenheit zu gehen. Ich kann es noch nicht genauer
fassen.“ Severin zögerte unschlüssig, dann setzte er zusammenhanglos hinzu: „Er
hat alles für Velasquez Begräbnis geregelt!“
Fee schwieg eine Weile, es war ein mitfühlendes Schweigen. „Es tut mir so leid,
daß du nun auch deinen Schwiegervater verloren hast, Severin! Vielleicht solltest
du Duponts Rat folgen und wieder umkehren.“
„Nein!“ Die Stimme war knapp und scharf.
Fee wechselte das Thema. „Hast du Velasquez Sachen durchgesehen?“
„Dazu war noch keine Gelegenheit. Es gab da einen kleinen Zwischenfall in der
Klinik und...“
„Ist dir etwas passiert?“
„Warum mir?“
„Weil 'kleine Zwischenfälle' üblicherweise nicht ohne deine Beteiligung ablau
fen. Nun gut, offenbar ist dir nichts geschehen. Vergiß es! Was hat Dupont noch
getan oder verabsäumt, das deinen Verdacht erweckt hat?“
„Er kennt den Hafenmeister von Bonifacio!“
„Wieso sollte er nicht? Je nun, vielleicht war er mal in Korsika?“
335
„Seine Erklärung war vage, eigentlich war es gar keine Erklärung, sondern er ließ mich raten, ohne mir dann zu sagen, ob ich richtig liege. Korsika kam darin nicht vor. Da fällt mir ein, Philip Carbonet behauptete, er sei noch nie in Korsika ge wesen.“ Fee seufzte hörbar. „Ich muß das für mich etwas ordnen: also, wenn ich dich richtig verstanden habe, dann sind Alfons und Philip Carbonet irgendwie in diese Geschichte verwickelt. Sie halten mit Informationen zurück und legen falsche Spuren. Andererseits hätte Philip Carbonet der Begegnung mit dir auch gut aus weichen können und vielleicht hat auch Alfons Verhalten eine plausible Erklä rung. Stimmst du mir soweit zu?“ „So ungefähr.“ „Also, weiter im Text. Dupont hält sich bedeckt, spricht angedeutete Warnungen aus und kennt Massimo. Man kann nicht behaupten, die Beweislage sei umwer fend eindeutig, findest du nicht? Was ist, wenn du dich irrst? Wenn das nur zu fällige Ereignisse sind, die nichts mit dem Tod deiner Familie zu tun haben?“ „Du meinst, wenn ich doch einen Defekt am Wagen übersehen hätte?“ „Nein, Severin, das wollte ich wirklich nicht andeuten.“ „Ich dachte daran, ich denke daran, seit zwanzig Jahren tue ich nichts anderes. Aber auch dann will ich es wissen! Ich kann nicht mehr zurück! Lassen wir das.“ „Entschuldige, alter Freund, ich wollte dir nicht weh tun. Nun, was machen wir?“ „Wir?“ Fees Stimme klang fest und bestimmt. „Leider sehe ich mich aus persönlichen Gründen gezwungen, meinen Aufenthalt in Mailand auf unbestimmte Zeit zu verschieben. Du brauchst mich da unten!“ „Sagen wir, du bist willkommen, Fritzi!“ Fee kicherte. „Mein Kleinmädchenname! Wie lange habe ich ihn nicht mehr ge hört! Also, schieß los, was soll ich tun?“ „Da ist einmal dieser Zeitungsausschnitt über den Radfahrer. Es würde helfen, wenn du in Ajaccio die Zeitungsarchive durchstöberst und den Bonifacio Journal vom 8.November 1975 an nach weiteren Berichten absuchst, was Bedeutung haben könnte. Ein Unglücksfall, ein Mord oder etwas in diese Richtung. Dupont gab mir einen Abschiedsbrief von Velasquez, in dem er von vier Toten spricht. Wer ist der vierte Tote? Ach ja, und bitte achte auch auf Ungewöhnliches, was vor dem Unfall passiert ist. Ich schätze mal, bis ein Jahr vor dem Unglück sollte reichen.“ 336
„Ist das alles? Und was mache ich am nachmittag? Sag mal, etwas genauere An
gaben sind wohl nicht drin.“
„Es kommen mir jetzt mehr und mehr Erinnerungen an meine Zeit mit Josette
hoch, unter anderem unsere Hochzeitsreise und das Opfer des Meergottes. Das
erkläre ich ein andermal.“ fügte er hastig hinzu, „In diesem Zusammenhang
tauchte dunkel ein Bild auf, irgend etwas, was auf den Wellen schwamm, weiß
und rot. Vielleicht gibt es einen Hinweis im Bonifacio Journal auf ein Schiffsun
glück, einen Zusammenstoß oder so was Ähnliches. Genauer kann ich es dir nicht
sagen, tut mir leid.“
Fee seufzte. „Eine echte Herausforderung an meine Kombinationsgabe. Ich muß
schon sagen, du hältst mich auf Trab, ganz wie in alten Zeiten! Ich werde mich in
Ajaccio im 'Corali' einquartieren, ist das OK?“
„Ja, da fällt ein Gast auch im November nicht weiter auf. Es wäre gut, wenn so
lange wie möglich niemand von deiner Anwesenheit erfahren würde. Wann wirst
du kommen?“
„Ich schätze, frühestens morgen nachmittag, wenn es sehr eilt. Lieber wäre mir
übermorgen.“
„Übermorgen ist Samstag, da hat das Archiv sicher geschlossen. Es genügt, wenn
du am Sonntag abend in Ajaccio bist. Die Fähren streiken.“
„Ich fliege, mein Bester, was denkst du denn. Ich hinterlasse dir eine Nachricht,
wann ich ankomme.“
„Sehr gut. Bis dahin müßte ich ebenfalls in Bonifacio sein, dann hole ich dich ab.
Du kannst dann den Wagen behalten.“
„Und du?“
„Ich besorge mir ein Motorrad.“
„Also, schön. Bis Sonntag und paß auf dich auf!“
„Auf Wiedersehen, Frau Di Cosimo!“ Als Severin den Hörer auf die Gabel legte,
hörte er noch Fees gemurmeltes 'alter Dickschädel'. Severin trank den Rest der Flasche Bordeaux aus und begann, eine Liste anzufer tigen. In die eine Spalte notierte er die Dinge, die er als Fakten betrachtete, in die andere schrieb er die offenen Fragen. Dann steckte er das Blatt in den Bilderrah men über dem Tisch. Lange saß er davor und dachte nach. *** Das alte, tief liegende Fischerboot tuckerte gemächlich in den Hafen von Bonifa cio. Es war zwar nicht ganz so alt wie sein Besitzer, doch wie dieser hatte es auch schon bessere Zeiten erlebt. Die Farbe war nur mehr an wenigen Stellen zu er 337
kennen und der gutmütige Dieselmotor stotterte und spuckte in den unteren Dreh zahlen mehr, als er Leistung brachte. Enrico Massimo störte das nicht. Er hatte Zeit. Vielleicht hatte er nicht mehr lange zu leben, er war immerhin schon neun undachtzig, aber gerade deswegen hielt er nichts von Streß und Hetze. Vorsichtig manövrierte er seine 'Isabella' an den Kai und vertäute sie sorgfältig. Kritisch musterte er den Himmel. Die aufgekommene Brise deutete auf einen der heftigen Novemberstürme. Massimo legte am Heck eine zusätzliche Sicherungs leine. Sich gegen den stärker werdenden Wind stemmend stapfte er auf sein Häuschen zu, das neben der ehemaligen Hafenmeisterei lag. Jetzt war das Amt in einem schönen neuen Gebäude am Ende der Bucht untergebracht. Enrico Massi mo war nach dem Tod seiner Frau in dieses Gebäude gezogen, ein Ereignis, das sich fast auf den Tag genau mit seiner Pensionierung deckte. Eine Woche nach seinem in allen Ehren gefeierten Abschied starb seine geliebte Isabella an Herz versagen und Enrico flüchtete beinahe aus dem großen Haus. Als Enrico Massimo seine Haustüre aufklinkte, er hielt nichts davon, die Türen zu versperren, flatterte ihm ein Prospekt entgegen. Er sah nach seinem Briefka sten. Dieser quoll vor Werbesendungen über. Seufzend holte Enrico den ganzen Packen heraus. Dann ging er damit schnurstracks zum Ofen. Das Papier würde sich gut zum Einheizen eignen. An der Schwelle zum Wohnzimmer stolperte Enrico und mußte sich am Türrahmen festhalten. Dadurch entglitt ihm der Pa pierwust und fiel auf den Boden. Mit einem kräftigen Seemannsfluch auf den Lippen kniete sich Enrico mühsam hin und begann, die losen Blätter einzusammeln. Plötzlich stutzte er. Ein Brief! Wie kam der in seinen Postkasten? Unschlüssig drehte er ihn hin und her. Wem er wohl gehören mochte? Enrico quälte sich mühsam auf die Beine. Plötzlich schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, vielleicht war ja der Brief für ihn? Aber er verwarf ihn gleich wieder. Unsinn, wer sollte ihm schreiben? Seine Frau war tot, Kinder hatten sie keine und die Verwandtschaft in Übersee hielt sich seit Jahren vornehm zurück. Aber Massimo war neugierig geworden. Aus der alten Nähschatulle seiner Frau fingerte er die Brille hervor und beugte sich über das dicke Kuvert. Überrascht fuhr er zurück. Tatsächlich! Sein Name stand darauf! Wer hätte das für möglich gehalten? Neugierig drehte er den dicken Umschlag um, aber die Rückseite war leer, kein Absender. Enrico kratzte sich am Kopf. Wer war der geheimnisvolle Briefschrei ber? Eine weitere Suchaktion im Nähkästchen förderte eine Lupe zutage und konzentriert musterte Enrico den Poststempel. Mühsam konnte er ihn entziffern: Nice! Mit der flachen Hand schlug Enrico auf den Tisch und murmelte. „Das ist schon ganz und gar unmöglich! Ich kenne niemanden in Nizza!“ 338
Mißtrauisch beäugte er die Adresse, als würde sie sich jeden Moment in einen anderen Namen verwandeln. Aber auch nach längerem Anstarren blieben die Buchstaben beharrlich bei ihrer Bedeutung: Monsieur Enrico Massimo, Capitaine du Port, Bonifacio. Mühsam stand Enrico auf und lehnte den Brief vorsichtig an die Marienstatue auf der Kommode. Es gab keinen Zweifel mehr, der Brief war an ihn gerichtet. Na türlich, er würde ihn öffnen, würde ihn lesen und dann wissen, wer der geheim nisvolle Briefschreiber war und was er von ihm, Enrico Massimo, wollte. Aber nicht jetzt. Nicht gleich. Er würde sich später damit befassen. Erst einmal fror ihn und er mußte einheizen und sich etwas zu essen vorbereiten. Er knüllte die Pro spekte zusammen und schob sie in den Ofen. Es dauerte eine geraume Zeit, bis das bunte Papier brannte. Solcherart beschäftigt vergaß Enrico das Schreiben und ging zu Bett. Der nächste Morgen war strahlend schön und warm. Enrico öffnete das Fenster und machte sich auf den Weg zum Hafen, um mit seiner 'Isabella' aufs Meer zu fahren. Als er das Haus verließ, vergaß er, das Fenster zu schließen. Von den Düften der Essensreste angezogen stob die Katze der Nachbarin durch das Fenster und stieß sowohl die Marienstatue als auch den Brief auf den Boden. Die Statue, die aus Gips war, zerschellte in tausend Stücke. *** Im Krematorium war es dunkel und kühl. Severin stand neben Dupont und starrte blicklos auf den Sarg, der mit offenem Deckel auf einer schmalen Bahre ruhte. Dahinter befand sich ein dicker, roter Samtvorhang. Auf der glänzenden braunen Sargoberfläche warfen die unzähligen brennenden Kerzen flackernde Glanz punkte. Der Kranz, den Severin bestellt hatte, hing an der linken Seite der Bahre, ein weiterer von Dupont war rechts drapiert worden. Severins Kranz war aus grünem Lorbeer, geschmückt mit zahllosen roten und weißen Rosen. Duponts Kranz zierten gelbe Nelken. Neben dem Sarg hatte der Priester zwischen zwei Ministranten Aufstellung ge nommen, ein ältlicher, zerbrechlich wirkender Mann, der in einschläfernder Art seine Gebete zu Ende spulte. Die gemurmelten Worte klangen wie 'requiescat in pace'. Danach drehte sich die kleine Gruppe um und verschwand. Das wünsche ich dir von Herzen, Velasquez, mein Freund! Ruhe in Frieden! dachte Severin und trat zum Sarg, die Schultern nach vorne gebeugt, das Gesicht starr und aus druckslos. Er sah auf den Mann, der ihm sein Haus, seine Tochter und seine Lie be gegeben hatte und nie ein Danke dafür wollte. Das Gesicht des Toten wirkte fremd unter der Schminke, die harten Linien schienen tiefer zu sein, doch das leise Lächeln war noch immer auf den Lippen. Severin suchte nach dem vertrau 339
ten Schmerz in seinem Inneren, aber er fühlte nur Erleichterung für eine Erlösung aus jahrzehntelangem geistigem Dunkel. Und Müdigkeit, tiefe Müdigkeit. Lange verharrte er regungslos. Plötzlich öffnete sich die Eingangstür und eine Frau trat ein, die ein Blumenbukett in Händen hielt. Severin erkannte sie im Ge genlicht nicht. Erst als sie mit raschen Schritten näher trat, sah er, daß es Hélène war, die kleine Krankenschwester. Mit schüchternem Lächeln näherte sie sich. Severin ging drei Schritte zur Seite. Zaghaft trat Hélène an den offenen Sarg und sah auf den Toten hinab. Dann legte sie behutsam die Blumen auf die gefalteten Hände, strich vorsichtig über die Blüten und machte eine tiefe Kniebeuge. Dabei rann eine Träne über ihre Wange. Severin war gerührt. Als sich Hélène abwandte, trat er auf sie zu. „Ich danke Ihnen für Ihr Kommen, Mademoiselle Hélène.“ „Mein herzliches Beileid, Monsieur Borowski. Scheu sah sie auf den Sarg, „Er war ein so netter, liebenswürdiger Mann!“ Sie wischte sich mit der Hand die Tränen fort. „Ja, das war er, er war ein großer kleiner Mann, dieser alter Zigeuner!“ Severins Stimme klang rauh, doch erschien ein kleines Lächeln auf Hélènes Gesicht. Dupont trat zu den beiden und drückte Severin stumm die Hand. In diesem Mo ment öffnete sich eine weitere Tür und zwei schwarzgekleidete Männer traten ein. Sie schlossen den Sarg und legten die Kränze darauf. Das Licht ging aus und nur mehr die Kerzen verbreiteten einen düsteren Schein. Die beiden Männer ver schwanden lautlos wieder. Dann erklang Tschaikowskys Klavierkonzert Nr.1 b moll. Überrascht sah Severin zu Dupont und nickte dankbar. Der alte Leiter der Klinik 'Cimiez' mußte ein ziemlich enges Verhältnis zu seinem ehemaligen Pati enten aufgebaut haben, wenn er auch dessen Lieblingsmusik kannte. Als die letzten Töne des ersten Satzes verklungen waren, hob sich der dunkelrote Samtvorhang und unter den Klängen von Chopins Trauermarsch rollte der Sarg in die finstere Öffnung. Als er verschwunden war, schloß sich der Vorhang mit sanftem Rauschen. Das Licht ging an. Die drei Anwesenden sahen sich an, als wären sie aus einem Traum erwacht. Henri Dupont putzte sich die Brille und zwinkerte im hellen Licht, Schwester Hélène atmete tief durch. Gemeinsam traten sie ins Freie. Severin schüttelte dem Arzt die Hand und dankte ihm. „Pas de quoi, mein Freund! Es war mir ein Anliegen! Ich muß zurück in die Kli nik. Kann ich Sie mitnehmen, Schwester Hélène?“ Dupont schien es eilig zu haben. 340
Schwester Hélène errötete. „Ich habe heute meinen freien Tag, Monsieur le doc teur“ „Gut, dann au revoir! Sehe ich Sie noch, ehe Sie nach Korsika reisen?“ Ein fra gender Blick auf Severin. „Wahrscheinlich nicht. Ich habe die Nachtfähre für heute gebucht, da der Streik beendet ist, bin ich morgen früh in Ajaccio. Doch ich werde mich bei meiner Rückkehr melden, wenn Ihnen das recht ist, Henri!“ „Tun Sie das, Severin, tun Sie das! Viel Glück!“ Dupont nickte mit dem Kopf und eilte auf seinen Wagen zu. Severin blickte auf Schwester Hélène, die unschlüssig von einem Bein aufs ande re trat und sich den Mantel fester um die Schultern zog. „Kann ich Sie ein Stück mitnehmen?“ „Vielen Dank, das ist sehr freundlich von Ihnen. Ich muß in Richtung Innenstadt. Ist das in Ordnung?“ „Kein Problem. Kommen Sie!“ Fürsorglich nahm er die junge Frau am Ellenbo gen und führte sie zu seinem Wagen. Schwester Hélène sah überrascht auf den Wagen und dann zu dem großen Mann neben ihr. „Das ist ein wunderschönes Auto! Ein Jaguar, nicht?“ Vorsichtig strich sie über den glänzenden Lack des Oldtimers. Severin schloß die Türe auf und ließ die junge Frau einsteigen. Dann nahm er hinter dem Steuer Platz. „Das ist ein Jaguar Baujahr 62. Er hat immer noch den Originalmotor. Interessieren sie sich für Autos?“ Höflich ging er auf die kleine Schwester ein, während sie Richtung Innenstadt rollten. Ein unscharfer Gedanke nahm etwas Kontur an. Sprach sie nicht davon, daß die Sache mit Auger ihre Schuld gewesen sei? War das nur so dahin gesagt gewesen? Severin beschloß nachzuhaken. Er hielt an einer Bar und lud Schwester Hélène zu eine Tasse Kaffee ein. Ohne Zögern nahm sie an. Als natürliches Gesprächsthema bot sich Velasquez Broca an. Es war Schwester Hélène anzusehen, daß sie ihren Patienten gemocht hatte. Ein ums andere Mal wischte sie sich die Augen und ihre Stimme klang belegt. „Dabei ging es ihm in den letzten Tagen viel, viel besser! Ich habe mich so ge freut, daß Monsieur Broca Papier verlangte! Ich dachte, nun würde er wieder zum Leben zurückkehren! Wer konnte auch ahnen, daß er so bald sterben würde?“ Mit traurigen Augen sah sie Severin an. „Hat Velasquez gesagt, was er aufschreiben möchte?“ 341
„Nein, er war sehr zurückhaltend. Immer, wenn ich sein Zimmer betrat, hat er die Papiere weggeschlossen.“ „Wissen Sie, warum er sie verbrannt hat?“ „Leider nein, Monsieur. Ist es wichtig für Sie?“ Schwester Hélène schien be müht, hilfreich zu sein. Severin seufzte. „Wahrscheinlich nicht. Wie kam Velasquez mit den anderen Patienten aus?“ „Er war ziemlich zurückgezogen, was nicht verwunderlich ist, wenn man be denkt, daß er die meiste Zeit verwirrt und depressiv war. Der einzige, mit dem er sich immer wieder unterhielt, war Ivan Auger, der Patient, der...“ Sie schluckte schwer. „Der ausgerastet ist.“ Severin trank seinen Capuccino. Schwester Hélène wühlte nervös in ihrer Handtasche und zog eine Zigarette heraus. Mit zitternden Fingern zündete sie sie an. Aufmerksam betrachtete sie Severin. „Alles in Ordnung?“ fragte er besorgt. „Ja. Nein. Ach, es ist schrecklich! Es ist alles meine Schuld!“ Hastig zog sie an der Zigarette, die ausgegangen war. „Das sagten Sie bereits zu Monsieur Dupont. Was ist Ihre Schuld, Mademoiselle Hélène?“ Severin griff nach dem Feuerzeug und reichte ihr die Flamme. Wieder paffte sie gierig und jetzt schien die Zigarette endlich zu brennen. Unentschlossen sah die junge Frau ihr Gegenüber an. „Das mit dem Dolch! Er hat es mir gesagt und als er wieder da war, war Monsieur Broca schon zu schwach, als ob er es geahnt hätte. Oh mein Gott!“ Sie schlug die Hände vors Gesicht. Severin, der nichts verstanden hatte, wartete geduldig. Endlich schien sich Schwester Hélène gefaßt zu haben. Sanft fragte Severin: „Wer hat was gesagt und wozu war Velasquez zu schwach?“ Aufschluchzend suchte Schwester Hélène nach den richtigen Worten. „Es war so. An seinem Todestag rief mich Monsieur Broca zu sich und trug mir etwas auf. Ich wunderte mich, warum er es nicht selbst tun wollte, aber er schien sehr aufge regt und um ihn nicht weiter zu beunruhigen, habe ich den Dolch an mich ge nommen und versprochen, das zu tun, was er mir sagte. Ich dachte einfach nicht weiter.“ In einem Schwall war es aus der kleinen Schwester herausgesprudelt und tief holte sie nun Atem. „Beruhigen Sie sich, Mademoiselle, lassen Sie sich Zeit! Möchten sie einen Co gnac?“ 342
Dankbar nickte Schwester Hélène. Severin schnippte nach dem Kellner. Über stürzt griff sie nach dem Glas und mit einem einzigen Zug kippte sie den Cognac hinunter. Verblüfft sah sie Severin an. Würde man der zierlichen Kleinen gar nicht zutrauen. Aufatmend stellte sie das Glas zurück und sah Severin an. „Vie len Dank. Das tat gut! Es ist, glaube ich, besser, wenn ich Ihnen die ganze Ge schichte erzähle, schließlich sind Sie ein Verwandter von Monsieur Broca.“ Ganz überzeugend klang das zwar nicht, aber Severin ahnte, daß ein Geständnis das Gewissen der jungen Frau erleichtern sollte. Immer sicherer werden begann Schwester Hélène ihre Katharsis. „Monsieur Broca rief mich am Mittwoch kurz vor dem Essen zu sich. Er tat geheimnisvoll und begann umständlich, mir etwas mitzuteilen. Mit der Zeit wurde mir klar, ich solle etwas für ihn erledigen und er war so drängend und verzweifelt, daß ich zusagte. Er bat mich, Ivan Auger seinen Brieföffner zu geben, wenn er wieder zurückkam und mir sagte, er habe alles erledigt, so wie es vereinbart war.“ „Das waren Velasquez Worte?“ „Ja! 'Geben Sie Ivan den Brieföffner, wenn er zurückkommt und sagt, es sei alles wie vereinbart erledigt.' Als Auger am nachmittag zurückkam, ging ich in sein Zimmer und er sagte es mir. Da gab ich ihm den Dolch. Zu diesem Zeitpunkt war Monsieur Broca schon sehr schwach und fiel wenig später ins Koma. Mein Gott, wie schlimm hätte die Sache ausgehen können!“ Nervös zog sie an ihrer Zigaret te. „Was Auger für Broca erledigen sollte, wissen Sie nicht?“ Severin fühlte sich außerstande, Trost anzubieten, denn die Sache hätte wirklich schlimm ausgehen können. Vielleicht klang seine Stimme daher ein wenig scharf. „Nein!“ Erschrocken schlug sich Schwester Hélène die Hand vor den Mund, die Antwort war fast ein Schrei geworden. Leiser werdend fuhr sie fort: „Ich habe wirklich keine Ahnung, was Auger erledigen mußte. Aber er wird wohl etwas weggebracht haben, da er ja beim Essen nicht in der Klinik war. Mein Gott, wenn ich geahnt hätte... aber ich habe einfach nicht genug nachgedacht. Ich werde es der Klinikleitung mitteilen müssen und dann wird man mich wohl feuern“ Un schlüssig sah sie Severin an. Dieser schwieg. Nach einer Weile zuckte Schwester Hélène die Achseln. „Besser, ich kündige gleich selbst. War ohnehin nie mein Fall, die Psychiatrie. Ich glaube, mein Inter essensgebiet liegt eher auf der Säuglingsstation, was meinen Sie, Monsieur Bo rowski?“ Unschuldig blickte sie ihm in die Augen. Severin schmunzelte leicht. „Das glaube ich auch, Schwester Hélène, Säuglinge sind sicher eher Ihr Fall.“ Schwester Hélène wurde rot. Vorsichtig führte Severin 343
sie wieder auf das Thema zurück, aber das Mädchen hatte alles mitgeteilt, was sie wußte. Nach einer Weile verabschiedete sie sich und winkte ihm von der Türe aus zu. Severin winkte nicht zurück. Er bestellte sich nun ebenfalls einen Cognac, ließ sich beim Trinken aber we sentlich mehr Zeit als die kleine Schwester. Seine Gedanken kreisten und er ver suchte, Ordnung in das Chaos zu bringen. Broca hatte Auger beauftragt, etwas wegzubringen, und als Belohnung den Dolch versprochen. Er muß gewußt oder geahnt haben, daß er dazu selbst nicht mehr in der Lage sein würde. Mit anderen Worten, Velasquez wußte, daß er sterben würde, und wollte vorher noch etwas erledigt haben. Was war das? Was war nach zwanzig Jahren noch so wichtig? Würde er je eine Antwort erhalten, jetzt, wo Velasquez tot war? *** Am Dachboden war es staubig und warm. Die beiden schmalen Fenster an der Stirnseite des Hauses gaben genügend Licht, um Einzelheiten erkennen zu lassen, doch sah man dadurch auch die vielen Spinnweben und Staubschichten besser. Schwer atmend stapfte Dominique Carbonet die letzten Stufen der steilen Leiter herauf und preßte sich die Hand auf die Brust. Keuchend verharrte sie auf der obersten Stufe. Ihr Herz machte ihr in letzter Zeit zu schaffen. Oder war es die bevorstehende Aussprache mit Marie-Claire, die ihr die Brust zusammen preßte? Suchend glitt ihr Blick über die alten Möbel und zahlreichen Kartons. Wo hatte sie die Koffer verstaut? Zögernd ging sie zu dem großen Schrank und öffnete ihn. Ach ja, da standen sie. Dominique nahm die beiden Behälter und pustete den Staub von der Oberfläche. Dann schloß sie den Schrank wieder und kehrte zur Falltüre zurück. Plötzlich zögerte sie, stellte die Koffer auf den Boden und ging zu einem kleinen Sekretär in der Ecke. Ihre Hand zitterte, als sie das Geheimfach aufzog. Darin lag ein schmales Fotoalbum. Schwer atmend ließ sie sich auf einen Stuhl nieder, der bedenklich ächzte. Lange zögerte sie, ehe sie das Album aufschlug. Es enthielt nur wenige Fotos, halb ver blichen und offenbar aus der Kriegszeit. Lange betrachtete Dominique einen mittelgroßen Mann in der Uniform der französischen Kampfflieger, der seine Mütze keck in die Stirn gezogen hatte und mit einem lockeren Lächeln auf den Lippen gerade in die Kamera sah. Wie lebendig er wirkte. Endlich blätterte sie um. Die nächste Fotografie zeigte denselben Mann in derselben Uniform an der Seite einer jungen Frau in weißem Hochzeitskleid. Glücklich lächelte diese zu ihm hoch und drückte sich eng an ihn. Die Frau hatte einige Ähnlichkeit mit Do minique. 344
Entschlossen schlug Dominique das Album zu und verschloß es wieder in dem Schubfach. Ihre Augen blickten kalt und ihr Mund war zu einem Strich zusam mengepreßt. Schwer atmend nahm sie die Koffer hoch und ging auf die Leiter zu. Mit hartem Knall fiel die Falltüre zu. *** Severin klopfte an die Türe und trat er ein, dabei rief er laut nach Enrico. Doch niemand antwortete, die Wohnung schien leer. Als Severin den Wohnraum betrat, knirschte es unter seinen Schuhen. Er war in Scherben getreten. Vorsichtig setzte Severin seine Schritte. Da lag auch noch etwas Weißes. Er hob es auf und drehte den Umschlag um. Steile, schräge Buchstaben. Unschlüssig sah er sich um und steckte den Brief zu den alten Briefen und Postkarten an der Spiegelkommode. Suchend forschte er nach einer Kehrschaufel. Er kehrte die Scherben zusammen und stellte die Schaufel mit den Scherben in eine Ecke. Es schien zwar aus sichtslos, aber vielleicht wollte Enrico die Teile wieder zusammenkleben. Severin war mit der Nachtfähre in Ajaccio gelandet und war mit für ihn untypi scher Geschwindigkeit langsam nach Roccapina gefahren. Der gefürchtete Mo ment sollte so lange wie möglich hinausgezögert werden. Als er in die Auffahrt einbog, blieb der erwartete Schmerz aus. Gerührt hatte er die schüchternen Ver suche Nanettes gesehen, ihm ein Willkommen zu bereiten, das sich in zwei halb vertrockneten Blumenstöcken im Wohnzimmer und einem blühenden Kaktus auf dem Eßzimmertisch ausdrückte. Gedankenvoll war er durch die Räume gegangen und hatte sich auf der Terrasse umgesehen. Fast zwanzig Jahre war er nicht mehr hier gewesen Severin hatte erwartet, von Schmerz überwältigt zu werden, wenn er wieder einen Fuß in das Haus setzte, das als einziges jemals sein Heim gewesen war. Erstaun licherweise war dem nicht so. Trotz der düsteren Atmosphäre fühlte sich Severin in den stillen Räumen seltsam ruhig, fast geborgen. Erinnerungen stürmten auf ihn ein, als er das Haus durchforschte, aber er fühlte sich nicht einsam. Die Räu me atmeten eine schwermütige Erwartung aus. Die Erwartung, wieder gebraucht zu werden? Schritt für Schritt nahm der die Atmosphäre in sich auf. Gegen fünf hatte er beschlossen, zu Enrico Massimo zu fahren. Offenbar war der alte Mann noch auf dem Meer, doch da die Dunkelheit schnell einbrach, würde es nicht mehr lange dauern, bis er zurück war. Geduldig setzte sich Severin in den alten Ohrensessel und wartete. Nach zwei Stunden verspürte er Hunger. Draußen war es inzwischen völlig dunkel geworden und es regnete leicht. Wahrscheinlich war Massimo auf seinem Boot geblieben bei diesem Wetter. Oder er hing in einer Bar am Hafen herum
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Severin verließ das kleine Häuschen des ehemaligen Hafenmeisters und suchte sich ein Restaurant. Er genoß die frischen Meeresfrüchte und war dankbar, daß niemand ihn erkannte. Gegen neun Uhr machte er einen weiteren erfolglosen Versuch bei Enrico und fuhr dann nach Roccapina, nach Hause. Was für ein schönes Wort *** Henri Dupont schloß Zimmer drei von Pavillon acht auf und trat ein. Er sah sich um. Das war kein Feriendomizil mehr, aber auch kein Krankenzimmer. Das Ap partement hatte die Melancholie von Räumen, die eben verlassen worden waren und in denen nur noch aufgestapelte Schachteln und achtlos verstreute Gegen stände Zeugnis eines ehemaligen Bewohners ablegten. Dupont ging zum Sekretär vor dem Fenster. Langsam zog er die Schubladen auf und stapelte den Inhalt auf der Tischplatte. Als er fertig war, betrachte er das kleine Häufchen, ein Stapel Blätter, unbeschrieben, eine Schachtel Büroklam mern, ein Kugelschreiber, eine Dose Tabak und eine Schachtel Zigarillos, zwei angebrauchte Päckchen Papiertaschentücher und mehrere längliche, weiße Ku verts. Daneben lagen Velasquez persönliche Dinge, seine Armbanduhr, ein schö ner Siegelring mit schwarzem Stein, eine schwere, goldene Uhrkette, Brillen in einem Etui, eine Geldbörse, ein abgegriffenes Adreßbuch und ein länglicher Schlüsselanhänger aus bronzefarbenen Metall mit den Buchstaben VB. Dupont starrte lange auf das kleine Häufchen. Welch armseliger Rest eines zu letzt armseligen Lebens! Velasquez Worte kamen ihm in den Sinn, sein letzter Auftrag, ehe er für immer die Augen schloß. „Severin darf nicht nach Bonifacio zurück. Sagen Sie ihm, Henri, er muß die Sache ruhen lassen. Er soll nie erfah ren...“ Broca konnte nicht mehr sagen, was Severin nie erfahren durfte, aber allzu schwer war es nicht, es zu erraten. Severin sollte nie erfahren, daß ein Defekt am Wagen die Ursache für den Unfall war. Dupont war sich schon seit längerem sicher, daß Broca seinen Schwiegersohn schützen wollte. Nun hatte er diesen Auftrag geerbt. Dupont fuhr sich müde über die Stirn. Ich habe es nicht verhindern können! dachte er betrübt, Velasquez, mein Freund, ich habe mein Bestes getan, aber Se verin ist auf dem Weg nach Korsika. Er nahm einen leeren Karton, legte die Dinge aus Brocas Schreibtisch hinein und stellte ihn zu den übrigen Schachteln. Leise verließ er den Raum und sperrte hin ter sich zu. *** 346
Der nächste Tag war düster und wolkenverhangen, jedoch hatte der Regen aufge
hört. Severin hatte zum ersten Mal seit langem verschlafen und erwachte erst
gegen neun. In friedlicher Stimmung frühstückte er und sah dabei aufs Meer hin
aus, das sich beinahe ohne Horizontlinie mit dem Himmel mischte. Ohne Eile
fuhr er nach Bonifacio. In einer engen Gasse blieb er stehen und stieg die steiner
nen Stufen hinauf. Er war noch nicht angekommen, als sich die verwitterte Türe
öffnete und Nanette erschien.
Sie schlug die Hände zusammen und ihr zahnloser Mund verzog sich zu einem
breiten Lächeln. „Monsieur Severin, Sie sind zurück! Ich wußte es. Mon Dieu,
ich wußte es.“ Tränen standen der alten Frau in den Augen und gerührt drückte
ihr Severin die Hand.
„Nanette, schön, Sie wiederzusehen. Sie sehen aus wie eh und je!“
„Oh nein!“ Nanette kicherte unter Tränen. „Sie schmeicheln mir. Aber es geht
mir gut. Und Ihnen, Monsieur Severin?“ Besorgt forschte sie in seinem Gesicht.
„Danke, Nanette, alles in Ordnung. Hören Sie, ich wollte Sie fragen, ob Sie nicht
ein paar Tage nach Roccapina kommen möchten und wieder ein wenig den Haus
halt führen! Würde das gehen?“
„Selbstverständlich, Monsieur Severin, sehr gerne. Wann soll ich kommen?“
„Heute noch. Ich hole Sie ab, vorher muß ich aber noch etwas erledigen.“
„Wenn es recht ist, möchte ich lieber mit dem Rad fahren. Ich bin dann unabhän
gig und kann auch einkaufen, ohne Sie zu belästigen.“
„Nun gut. Kommen Sie einfach im Lauf des Tages. So, nun werde ich mich wie
der auf den Weg machen und dem alten Enrico einen Besuch abstatten.“
Nanette stieß einen Schrei aus und schlug sich auf den Mund, die Augen vor Ent
setzen geweitet. „Monsieur Severin, haben Sie es nicht gehört? Es ist zu schreck
lich!“
„Was gehört?“ Severin rüttelte die alte Frau am Arm. „Nanette, was ist gesche
hen?“
„Massimo ist tot! Er ist gestern wie üblich mit seinem Boot hinausgefahren. Seit
vielen Jahren fährt er jeden Tag aufs Meer, außer am Sonntag natürlich. Denn da
geht er in die Kirche. Seit dem plötzlichen Tod seiner Frau...“
„Nanette! Konzentrieren Sie sich!“ Severin hielt noch immer den Arm der alten
Frau umklammert. Diese verzog schmerzlich das Gesicht und Severin ließ los.
„Ach“, seufzte sie, „es ist furchtbar. Gestern kam er nicht zurück und man hat
eine Suchmannschaft los geschickt. Immerhin ist Massimo nicht mehr der Jüng
ste. Sie fanden das Boot drei Meilen von hier. Heute früh wurde seine Leiche an
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Land gespült. Schreckliche Gerüchte machen die Runde, die einen sagen, die Mafia war es, die anderen sprechen vom Gott des Meeres. Die Vernünftigen ver muten Herzschlag!“ fügte sie mit einem frommen Augenaufschlag hinzu und wischte sich die Tränen von der Wange. Severin stand wie erstarrt. War das Zufall? Oder hat hier jemand nachgeholfen! Werde nicht paranoid, ermahnte er sich. Er verabschiedete sich von Nanette und machte sich auf den Weg zum Hafen. Von weitem sah er schon die Menschengruppe vor Massimos Haus, heftig gesti kulierende und jammernde Frauen. Severin stieg aus und näherte sich der aufge regten Schar. Mit der Zeit konnte einzelne Worte entnehmen: „Das Herz – sicher hat er Geld versteckt – die Mafia – nach dieser alten Geschichte – über Bord ge fallen“ Und dazwischen ein erstaunter Ausruf: „Das ist ja... Aber ja, das ist Se verin! Hallo, altes Haus! Was machst du denn hier?“ Severin drehte sich langsam um. Er bedauerte, daß seine Anwesenheit in Bonifa cio nun publik wurde, andererseits mußte ihn irgendwann jemand erkennen. Su chend forschte er in den Gesichtern, als sich plötzlich eine Frau heftig durch die Menschen drängte und schwer atmend vor ihm anhielt. „Sag ja nicht, daß du mich nicht mehr erkennst.“ Die braunen Augen blitzten keck und der breite, rote Mund war zu einem strahlenden Lächeln verzogen. Die Arme in die Seite ge stemmt warf sie herausfordernd den Kopf zurück. Fieberhaft suchte Severin in seinem Gedächtnis: Teresa? Rosina? „Rosalia, wie könnte ich dich vergessen! Du bist immer noch hier in Bonifacio?“ Mit einen kräftigen Schlag ihrer rechten Faust boxte Rosalia Severin in die Rip pen. „Du bist mir so einer! Läßt jahrzehntelang nichts von sich hören und schwingt sich dann zu so einer Bemerkung auf. Was ist, spendierst du mir einen Drink?“ Kokett blinzelte sie ihn an. Severin fühlte sich unbehaglich. Diese unverblümte Anmache war zwar typisch für Josettes Schulfreundin, aber er hätte sich einen besseren Zeitpunkt und einen besseren Ort dafür vorstellen können. Er blickte in die Runde von gaffenden Mäulern und bedeutungsvollen Blicken und zog Rosalia mit sich. „Natürlich. Komm, ich lade dich ein.“ Mit einem triumphierenden Lächeln stakste Rosalia auf ihren hohen Schuhen neben Severin her. Sie war nicht besonders groß, ziemlich üppig und derart zu rechtgemacht, als würde sie gerade eine Party besuchen wollen. Kaum konnte sie mit den großen Schritten Severins mithalten. Dabei schnatterte sie aufgeregt auf ihn ein. Ohne Umstände verfrachtete sie Severin in seinen Wagen. Rosalia kur belte des Fenster herunter und warf arrogant den Kopf zurück. Um genügend 348
Eindruck zu erwecken, hatte sie sogar ihr Geplapper eingestellt. Jeder sollte se
hen, in welchem Auto sie fuhr. Jeder sollte sehen, daß sie mit Monsieur Borowski
fuhr, dem Schwiegersohn des angesehenen Richters. Überdies war Severin Wit
wer oder hatte er gar noch einmal geheiratet? Forschend musterte sie die Hände
des Mannes neben ihr, die ruhig und locker auf dem Mahagonilenkrad lagen.
Kein Ring. Erleichtert atmete Rosalia aus.
„Du sagst ja gar nichts!“ In Severins Stimme klang eine Spur Ironie, jedoch war
dieser Unterton an Rosalia verschwendet.
„Ach, mein Lieber!“ Der Augenaufschlag konnte nur als kokett bezeichnet wer
den, blieb aber unbemerkt, da sich Severin auf die Straße konzentrierte. Rosalia
beschloß, ihn bei nächster Gelegenheit zu wiederholen. „Es ist wunderbar, dich
hier zu haben! Wirst du länger bleiben?“
„Kommt darauf an.“
„So?“ Leicht alarmiert suchte Rosalia nach der passenden Ausdrucksweise.
„Wieso, äh, was meinst du?“
Severin ignorierte die Frage. „Gibt es das 'Batavia' immer noch?“
Rosalia lachte. „Guter Gott, nein, das ist schon seit Jahren ein Spielsalon. Das
'Chez Frederic' ist recht ordentlich.“ Mit einem vorsichtigen Blick auf Severin
fügte sie hinzu: „Allerdings ziemlich teuer. Die Touristen, weißt du? Da vorne
mußt du nach links!“
Nach wenigen Minuten hatten sie das Lokal erreicht. Es war geräumig und an
sprechend, mit dem für den Süden des Landes typischen Marmorboden und süd
französischen Strohstühlen. Als sie durch das Lokal schritten, wußte Severin,
warum Rosalia diesen Ort gewählt hatte. Praktisch jeder grüßte sie und musterte
neugierig ihren Begleiter. Da und dort hob sich fragend eine Augenbraue und ein
nachdenklicher Blick folgte Borowski, aber niemand ergriff die Initiative. Severin
kam diese Präsentation gerade recht. In Windeseile würde sich die Kunde von
seiner Rückkehr nach Roccapina verbreitet haben und wer weiß? Vielleicht ka
men dadurch die Dinge in Bewegung.
In der Zwischenzeit hatten sie an einem Ecktisch Platz genommen und Rosalia,
die offenbar die ganze Zeit geredet hatte, fragte gerade: „...findest du nicht auch,
Severin?“
Dieser nickte unverbindlich und versuchte, den Faden zu finden.
„Immer noch der große Schweiger!“ Neckend stupste ihn Rosalia mit ihren spit
zen Fingernägeln. Severin zog die Hand beiseite und griff nach der Getränkekar
te. „Was möchtest du trinken?“
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Schnurrend wie eine Katze spreizte Rosalia die Finger, daß sich ihre knallroten
Fingernägel wie ein Fächer ausbreiteten. „Campari-Soda.“ gurrte sie und beob
achtete Severin aus schrägen Augen. Dann wechselte ihre Mimik von kokett zu
betrübt. Sie kann auf Knopfdruck ihren Gesichtsausdruck ändern, dachte Severin.
„Mir geht Enrico nicht aus dem Kopf! Eine schreckliche Geschichte!“
„Weiß man schon, wie er starb?“
„Nein, Severin, davon sprach ich doch gerade. Ziemlich undurchsichtig, niemand
weiß etwas. Er wurde vorgestern abend zum letzten Mal gesehen, als er sein Boot
am Pier vertäute. Carmen Diaz, die Nachbarin – kennst du sie eigentlich?“ Se
verin schüttelte den Kopf und Rosalia fuhr wichtigtuerisch fort: „Eine spießige
Alte, die ihre Nase dauernd aus dem Fenster hängt! Sie hat sich aber, das muß
man ihr lassen, sehr um Enrico gekümmert. Hoffte wohl, daß er sie heiraten wür
de.“ Kichernd warf sie Severin einen weiteren schrägen Blick zu. „Wo war ich?
Ach ja, Carmen Diaz sagte, er habe noch sein Postfach geleert und ist mit einem
Arm voll Prospekten ins Haus. Er schien wie immer, hat nicht nach links und
rechts gesehen und mit sich selber geredet. Das tat er oft.“
Severin dachte an den Brief, den er aufgehoben hatte. Irgend etwas störte ihn an
diesem weißen Umschlag. Rosalia aber erlaubte ihm kein zweites Mal, mit seinen
Gedanken davon zu eilen. „Severin! Nun hör' doch zu. Wo bist du schon wieder
mit deinen Gedanken!“
„Ich dachte an Enrico. Gestern abend habe ich ihn besucht und zwei Stunden auf
ihn gewartet.“
„Oh! Ach du liebe Zeit! Der Gedanke, daß er da vielleicht schon tot war – grau
enhaft!“ Angenehme Schauer des Entsetzens durchrieselten sie. Severin ver
suchte, den günstigen Moment zu nützen.
„Gab es irgend etwas Ungewöhnliches in letzter Zeit?“
„Ungewöhnliches?“ Rosalia dehnte das Wort wie ein Gummiband. „Was meinst
du damit?“
„Nun, hatte Enrico Besuch? Traf er sich mit jemandem, der hier fremd war, etwas
in die Richtung?“
Rosalia riß die Augen auf und öffnete den Mund. Es kam nur leises Flüstern her
aus. „Du denkst an Mord, nicht wahr?“
Severin schlug die Augen zum Himmel. „Du hörst dich schrecklich dramatisch
an, Rosalia.“
„Natürlich denkst du an Mord, wozu fragst du sonst?“ beharrte sie. „Es war auch
mein erster Gedanke, Severin, ich schwör's! Das allererste, was mir eingefallen
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war.“ Mit intensivem Blick sah sie ihn an. „Wir hatten beide denselben Gedan
ken, Severin! Ist das nicht geradezu ein Wink des Himmels? Man könnte beinahe
von einer tiefen Seelenverwandtschaft sprechen.“
Severin seufzte. Nicht jetzt und nicht ausgerechnet Rosalia! „Ich glaube, daß
viele in Bonifacio bei diesen Umständen an ein Verbrechen denken und ich weiß
nicht, ob ich mit all denen verwandt bin, seelisch oder sonst wie. Aber wenn es
ein Mord war, was war das Motiv?“
Rosalia seufzte enttäuscht. Doch sogleich huschte ein neuer Gedanke durch ihr
Gehirn. Rosalia war nicht so leicht abzuwimmeln. Angestrengt runzelte sie die
Stirn. Sollte sie Severin von dieser alten Geschichte erzählen? Immerhin war es
Enrico, der den Betrug des Bürgermeisters aufgedeckt hatte. Rosalia zögerte. Sie
würde noch etwas abwarten, es war gut, ein As im Ärmel zu haben. „Enrico war
fast neunzig und seit zwanzig Jahren in Rente. Wenn du an die Mafia denkst – ich
kann mir nicht vorstellen, daß er in seinem Alter denen noch in die Quere kom
men konnte.“
„Nein!“ Severin wischte die Mafia mit einer Handbewegung beiseite. „Die Mafia
hat nichts damit zu tun. So weit ich Enrico kenne, und du weißt ja, er war ein
alter Freund von Alexa und Velasquez und oft in Roccapina, hatte er sich nie auf
krumme Geschäfte eingelassen, obwohl er als Hafenmeister oft genug Gelegen
heit gehabt hätte. Enrico war integer.“
Rosalia wunderte sich über die Bestimmtheit in Severins Stimme. Woher will er
denn das wissen, wo er schon zwanzig Jahre nicht mehr im Land war? dachte sie,
aber sie verzichtete auf eine Entgegnung. Plötzlich schlug sie mit der flachen
Hand auf den Tisch. „Der Anruf! Vielleicht ist das eine Spur.“
„Was für ein Anruf?“
„Massimo wurde angerufen, das muß – warte mal, am sechsten gewesen sein. Es
war am Dienstag.“
„Ich habe in seinem Haus kein Telefon gesehen!“
„Hatte er auch nicht. Er wollte nie eines. Wenn er telefonieren wollte, ging er zu
Carmen Diaz. Die hat mir auch von dem Anruf erzählt. Sie sagte, es sei gegen
fünf Uhr gewesen. Massimo war aber noch nicht Zuhause.“
„Hat sie dir erzählt, worum es ging?“
Bedauernd schüttelte Rosalia den Kopf. „Carmen gibt sich immer ein wenig ge
heimnisvoll, richtig wichtigtuerisch! Alles, was ich erfahren konnte, war, daß ein
Mann Monsieur Massimo in einer dringenden Angelegenheit sprechen wollte.
Findest du nicht, daß das ausgesprochen mysteriös klingt?“
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„Na ja, vielleicht hat es eine ganz harmlose Erklärung.“
„Harmlos? Ein Anruf für Enrico in einer dringenden Angelegenheit? Und kurze Zeit später ist er tot? Wenn du willst, erkundige ich mich bei Carmen und frage sie aus.“ Erwartungsvoll sah sie ihn an.
Severin winkte ab. Er hatte nicht vor, Rosalia in ihren obskuren Gedankengängen mehr als nötig zu unterstützen und genauere Informationen hatten offenbar weder sie noch diese alte Frau. „So wichtig ist die Sache nicht. Ich wollte Enrico nur besuchen, jetzt, da ich wieder hier bin. Was treibst du so die ganze Zeit, Rosa lia?“ 352
Zufrieden nippte sie an ihrem Drink. Endlich zeigte der spröde Severin eine Spur Interesse an ihr. „Mir geht es gut! Ich lebe mein eigenes Leben. Daß ich seit fünf zehn Jahren geschieden bin, weißt du?“ Woher sollte ich, dachte Severin, und nickte vage. „Zumindest an Schwierigkei ten in deiner Ehe mit diesem Fernfahrer kann ich mich erinnern. Wie geht es dei nen Kindern?“ Verschämt sagte Rosalia: „Jeanette ist verheiratet und hat selbst einen Sohn, das heißt, daß ich bereits Großmutter bin!“ Kokett strich sie sich übers Haar. „MarieChristine ist hier in einer Bank angestellt. Beide sind hübsch und wohlgeraten.“ Das schreit doch geradezu nach einem Kompliment! Aber Severin hatte noch immer kein Ohr. Unauffällig sah er auf die Uhr. Er würde sich beeilen müssen, wenn er Fee am Flughafen in Ajaccio nicht verpassen wollte. „Schön, ich freue mich für dich, Rosalia! Jetzt muß ich gehen. Wir werden uns sicher noch einmal über den Weg laufen, während ich hier bin. Au revoir!“ Mit einem kräftigen Händedruck hatte er sich verabschiedet und war verschwun den. Hat es ja mächtig eilig, dachte Rosalia grimmig. Fast könnte man den Ein druck gewinnen, er flüchte vor mir. Mit zusammengekniffenen Augen sah sie der großen Gestalt nach. Dann setzte sie ihr schönstes Lächeln auf, nahm ihren Drink und ging an die Bar. Ihre vorsichtigen Erkundigungen erbrachten das erhoffte Ergebnis. Severin hatte die Getränke bezahlt. War ein wenig knapp in diesem Monat mit dem Geld *** Die Bar im feudalen Hotel 'Corali' war nur mäßig besetzt und so hatten Fee und Severin eine ganze Ecke für sich allein und gedachten, vor dem Abendessen noch einen Schluck zu trinken und Neuigkeiten auszutauschen. Nach ihrer Ankunft hatte Fee Severin zu einem Motorhändler begleitet und fasziniert beobachtet, wie er zielsicher und fachmännisch eine schwarze Honda 250 ccm aussuchte, eine Proberunde drehte, sich einen schwarzen Motorraddreß und einen dunklen Helm schnappte und alles mit Kreditkarte zahlte. Die gesamte Aktion hatte nicht länger als eine halbe Stunde gedauert. Die Montur paßte zu ihm, dachte sie, er sieht noch düsterer und geheimnisvoller aus als sonst. Ein warmes Gefühl stieg in ihr hoch. Die abenteuerlichen Vorfälle in ihrem Hotel in Oberschwaben hatten sie einander wieder näher gebracht und das vertraute Gefühl aus frühen Kindheitstagen wieder aufleben lassen. Nun forschte sie in seinem Gesicht nach verstärkten Anzeichen der Schwermut, die sie so gut kannte. Erstaunlicherweise fand sie sie nicht. Severin wirkte jünger und froher denn je. Wenn auch seine dunklen Augen unter den schwarzen Brauen und dem wie Bor 353
sten in die Höhe stehenden Haar wahrscheinlich nie mehr strahlen würden, schien er doch ruhiger und gelöster als vor wenigen Tagen. Severin bemerkte ihren forschenden Blick und zog fragend die Augenbrauen hoch. Fee wußte, wie peinlich ihm entgegengebrachte Zuneigung war, und fragte gleichmütig: „Nun, alter Kumpel, was gibt es Neues?“ „Enrico Massimo ist tot und Rosalia Poli noch immer auf Männerfang.“ Überrascht stellte Fee das Glas, aus dem sie eben trinken wollte, wieder auf den Tisch. „Niemand kann dir vorwerfen, daß du lange Reden hältst. Zuerst zum In teressantesten, wie bist du der blutrünstigen Rosalia entkommen?“ Severin lachte. „Ich bin aufgestanden und gegangen, sonst hätte ich dein Flug zeug verpaßt.“ „Wie genial einfach, darauf wären die wenigsten gekommen. Auf die Frauen und auf deine Schnelligkeit!“ Prostend hob sie ihr Glas. Mißtrauisch sah Severin sie an. Er kannte Fee in dieser Stimmung und war auf der Hut. Wenn das Tempera ment der kleinen Fritzi zum Durchbruch kam, mußte man sich in Acht nehmen. „Guck mich nicht so an, Severin. Ich flippe nicht aus! Was ist mit Massimo pas siert?“ Sie griff nach einer Zigarette. Severin erzählte knapp das Wenige, das er über Enricos Tod wußte, sowie sein Zusammentreffen mit Rosalia. Gespannt folgte Fee seinen Worten. „Denkst du im Ernst, daß er ermordet wurde?“ Severin zögerte etwas. „Eigentlich nicht. Er war schon sehr alt und das Meer ist gefährlich. Eine Welle und man verliert das Gleichgewicht, oder ein Krampf und man fällt über Bord. Was mich stört, ist die Koinzidenz der Zufälle. Im Moment meiner Ankunft stirbt ausgerechnet der einzige Mensch, den ich aufsuchen will.“ „Wer wußte alles von deinem Vorhaben?“ Severin dachte nach. „Niemand, glaube ich doch, warte, Dupont wußte es. Er hat Velasquez Brief gelesen Himmel, Velasquez Brief!“ Er verstummte. Angestrengt starrte er ins Leere. Fee kannte diesen Blick. Severin verbiß sich gerade in eine Fährte. Plötzlich wurde sein Blick wieder klar und richtete sich auf Fee. „Ich muß sofort nach Bonifacio zurück! Kann ich dich morgen irgendwie erreichen?“ Fee, die Severins Entschlossenheit kannte, wenn er sich etwas in den Kopf ge setzt hatte, reagierte rasch. Sie drückte ihm ein Briefchen Streichhölzer mit Ho telaufdruck in die Hand, das vor ihr lag. „Hier steht die Nummer drauf. Das Tele fon auf Roccapina wird nicht in Betrieb sein, oder?“ 354
Severin zuckte mit den Achseln. „Ich habe keine Ahnung, wenn nicht, werde ich
es schnellstens veranlassen. Hier sind die Autopapiere! Versuche, ihn nicht an
den nächsten Mast zu setzen!“
„Ich werde sehen, was ich tun kann. Fahr vorsichtig und melde dich!“
„Die Rechnung?“
„Erledige ich schon. Kein Problem.“
„Bis morgen!“ Fort war er.
Fee trank in Ruhe ihr Glas aus, zündete sich eine Zigarette an und überlegte. Was
hatte Severin so eilig davon getrieben? Nun, er würde es ihr sagen, wenn es Zeit
war. Fee gähnte, sie war müde. Trotzdem fühlte sie sich irgendwie elektrisiert. Es
ist das alte Jagdfieber, dachte sie, du kannst es einfach nicht lassen. Die Selbst
zweifel, die sie vor kurzem gepeinigt hatten, waren wie weggeblasen.
Sie drückte ihre Zigarette aus und ging zum Abendessen.
*** Es war schon dunkel und das Wetter hatte sich weiter verschlechtert. Sturm war aufgekommen und Severin kämpfte sich mühsam nach Bonifacio zurück. Es war bereits tiefe Nacht, als er auf die Zufahrt zum Hafen einbog. Auf halber Strecke zum Haus Enrico Massimos ließ Severin das Motorrad stehen, legte den Helm ab und entnahm dem Gepäckraum der Honda eine dünne Stablampe. Dann ging er zu Fuß weiter. Sturm und Regen hatten die Anwohner in ihre Häuser vertrieben und die Straße war menschenleer. Ein Glück, daß es November war, dachte Severin, auch keine Touristen unterwegs. Unbemerkt erreichte er Massimos Häuschen und drückte gegen die Klinke. Die Türe rührte sich nicht. Sie war abgeschlossen. Severin wunderte sich. Er umrundete das schmale Gebäude und fand auch die Hintertür verschlossen. Er sah sich um. Nirgendwo ein Licht, die umliegenden Häuser wa ren kaum auszumachen. Er zog seine Lederjacke aus und drückte sie gegen die Glasscheibe. Ein kurzer, kräftiger Schlag, ein gedämpftes Prasseln von Scherben – wieder ein Blick in die Runde. Nirgendwo ging Licht an, nur von Ferne bellte ein Hund. Mit raschen Griff an die Innenseite schob Severin den Riegel zurück und öffnete die Türe. Er zog die dünne Lampe aus der Brusttasche und leuchtete um sich. Nun wunderte er sich nicht mehr über die verschlossenen Türen. Das Haus war zielsicher und konsequent durchsucht worden, Schubladen und Kästen waren geöffnet und geleert und das meiste lag am Boden. Severin leuchtete Richtung Fenster, die Vorhänge waren zugezogen. 355
Vorsichtig stieg Severin über die Gegenstände, wobei er die Lampe umher gleiten ließ. Nach wenigen Minuten fand er, was er suchte. Zwischen alten Briefen und vergilbten Postkarten sah er den weiße Briefumschlag noch genau dort, wie er ihn hineingesteckt hatte. Severin zog ihn heraus und betrachtete ihn nachdenklich. Diese schwarzen, steilen Buchstaben waren es gewesen, woran er sich erinnert hatte. Diese Schrift, die er erst vor kurzem gesehen hatte, Velasquez Schrift. Fünf Minuten später war Severin bei seiner Honda und fuhr nach Roccapina zu rück. Nanette war offenbar angekommen, denn ein Zettel lag auf dem Küchen tisch. „Essen in der Welle“ stand in ungelenker Schrift darauf. Severin lächelte. Nanette hatte immer schon eine instinktive Abneigung gegen den Mikrowellen herd gehabt. Er ließ das Essen, wo es war. Im Salon war es warm und stickig. Nanette hatte ein loderndes Feuer im Kamin entzündet. Severin öffnete die breiten Flügeltüren zur Terrasse und atmete tief die frische, kalte Seeluft ein. Es goß immer noch in Strömen. Er nahm den Brief aus der Brusttasche und betrachtete ihn nachdenklich. Der Umschlag war ziemlich dick und weich, wie gepolstert. Mit einer entschlossenen Geste riß er ihn auf und zog ein Blatt Papier und einige Lagen Papiertücher her aus, wie sie in Krankenhäusern verwendet werden. Darin eingebettet lag ein Schlüssel. Severin faltete das Blatt auseinander. Die steile Schrift war wie eine Botschaft aus dem Jenseits. Nizza, 7.11.199 Lieber Enrico! Ich grüße Dich, mein alter Freund und danke Gott, daß du lebst und bei guter Gesundheit bist. Ich habe gestern mit Carmen gesprochen und diese frohe Bot schaft erhalten. Sie erzählte mir, sie mache sich Sorgen um Dich! Wahrscheinlich möchte sie dich gerne mehr bemuttern, das ist ja schon lange ihre Absicht. Nun zu meinem Anliegen. Erinnerst du dich an diese alte Geschichte? Die Un terlagen befinden sich immer noch dort, wo ich sie einst deponiert habe. Um un serer alten Freundschaft willen bitte ich dich, nimm sie an dich und vernichte sie. Severin darf sie auf keinen Fall in die Finger bekommen. Ich habe ihn heute ge sprochen und er hat sich nicht verändert. Er ist wie ein Bluthund, der eine Spur aufgenommen hat. Meine Zeit ist abgelaufen. Ich werde Dir diesen Brief durch einen Freund schik ken lassen und lege den Schlüssel bei. Es ist schon genug geschehen. Es ist schon genug Leid über meine Familie ge kommen, Severin darf nicht auch noch sterben. Viele Jahre hoffte ich, es würde 356
alles gut gehen und die Dinge in Vergessenheit geraten. Doch Schatten fliehen
nicht! Du bist der einzige, dem ich in Bonifacio noch trauen kann!
Ich habe Severin einen Hinweis gegeben. Wie ich ihn kenne, wird er dich aufsu
chen. Sag ihm, es war ein Defekt am Wagen! Er wird Näheres wissen wollen,
dann sag ihm, die Bremsleitung sei geplatzt, das entspricht der Wahrheit. Es wird
ihn verwunden – aber es wird ihn nicht töten!
Ich fühle es, meine Tage sind gezählt. Ich bedaure es nicht, denn ich sehne den
Tod herbei.
Leb wohl, mein Freund, und Deine 'Isabella' trage dich wohlbehalten durch die
Wellen
Velasquez Broca
Es war also wahr! Die Bremsleitung war geplatzt. Ein Defekt am Wagen...
Severin knüllte den Brief zusammen. Tief atmete er ein. „Oh nein! Juanito!“
Beinahe schluchzend preßte er es durch die Zähne. Es war seine Schuld! Hatte er
denn die Bremsleitung nicht überprüft? Severin wußte es nicht mehr. Das war das
Ende! Eine Schuld, die er nie hatte akzeptieren wollen, war nun zu tragen.
Velasquez hatte es gewußt und wollte ihn davor schützen. Dupont wußte es und
wollte es gleichfalls vor ihm verbergen. Die Enge in seiner Brust schnürte ihm
beinahe den Atem ab. Severin schloß die Augen und vergrub den Kopf in beide
Hände. Regungslos saß er da, das Schreiben fiel zu Boden.
*** Marie-Claire Marceau starrte den Telefonhörer an, als hätte sie ein Gespenst ge sehen. In gewisser Weise stimmte es auch. Also, nicht gerade gesehen. Gehört, sie hatte gerade die Stimme ihrer Schwester gehört, die Stimme Dominiques. Wie alt ihre Schwester geklungen hatte und wie hart! Marie-Claire legte langsam den Hörer auf und griff sich an die Brust. Mein Gott, Dominique! Wie lange war das her seit ihrem letzten Zusammentreffen! Vierzig Jahre oder noch länger? Es war der Tag, als sich Marie-Claire mit Jacques Marceau verlobte und damit seine Karriere rettete. Da hatte sie Dominique und Philip zum letzten Mal gese hen, eine versteinerte, kalte Dominique, die mit starrem Lächeln ihrer Schwester gratulierte, deren Verlobten keines Blickes würdigte und Philip hinter sich her ziehend aus dem Saal gerauscht war. Man hatte allseits Mitgefühl mit der Frau des Anwalts, denn sie war im fünften Monat schwanger und man wußte ja, wie Frauen in diesem Zustand reagierten. 357
Marie-Claire seufzte tief auf. Einmal noch hatte sie mit ihrer Schwester telefo niert, vor zwanzig Jahren, und wieder ging es darum, ihren Mann zu retten. Mühsam unterdrückte sie ein Schluchzen. Die Dinge verwirrten sich und stöh nend preßte Marie-Claire die Fäuste gegen die Stirn, wobei die goldenen Ringe blitzten. Bilder aus längst vergangenen Tagen wirbelten durch ihren Kopf, das dankbare Gesicht ihres Mannes, als sie ihm ihr Ja-Wort gab, das steinerne Ge sicht ihrer Schwester, die ihr tonlos alles Gute wünschte, und das verschlagene Gesicht ihres Neffen Alfons, als sie ihm ihr Anliegen vorgetragen hatte. Ihre Gedanken schossen hin und her wie Hasen auf der Flucht. Sie hatte nie etwas verlauten lassen. Niemals! Für ihr Schweigen sollte ihre Schwester ihren Mann schützen. Philip einzuweihen – undenkbar! Verdammter Massimo! Warum konnte er nicht den Mund halten! Mußte er das Gericht einschalten? Ein Schrei stieg in Marie-Claire hoch und sie biß sich auf die Lippen. Schaudernd erinnerte sie sich, wie schwer es ihr damals gefallen war, mit Dominique zu telefonieren und sich für ihr Schweigen bezahlen zu lassen. Dominique hatte erwartungsge mäß reagiert und sofort Druck auf ihren Sohn ausgeübt. Die Untersuchungen verliefen im Sande und Enrico Massimo resignierte. Auch das lag schon wieder so lange zurück, zwanzig Jahre zurück. Hörte es nie auf? Konnte man die Ver gangenheit nicht ein für allemal und endgültig begraben? Marie-Claire schleppte sich ins Wohnzimmer und sank in einen Fauteuil. Jetzt hatte Dominique wieder Kontakt aufgenommen. Aber diesmal war sie es, die etwas wollte. 'Du mußt in Erfahrung bringen, was Borowski plant. Alfons Zu kunft steht auf dem Spiel! Wenn Philip je erfährt, daß Alfons nicht sein Sohn ist!' Sie hatte immer noch die gleiche herrische Art, ihre ältere Schwester. Kurz und bündig hatte sie ihr Anliegen vorgetragen und mit den Worten: „Marie-Claire, ich erwarte, daß du das schnellstens erledigst!“ die Verbindung unterbrochen. Laut wiederholte Marie-Claire: Ich erwarte, daß du das schnellstens erledigst. Mein Gott, was verlangte Dominique von ihr? Was kam da wieder auf sie zu? Wie sollte sie das anfangen? Hatte sie nicht schon genug ausgestanden? Schließ lich stünde es an ihr, Marie-Claire, verletzt und gekränkt zu sein! War es nicht an der Zeit, daß andere für ihre Schuld bezahlten? Das Telefon schrillte erneut. Dominique! Was wollte sie noch von ihr? Mühsam quälte sich Marie-Claire auf die Beine und hob ab. Krampfhaft kontrollierte sie ihre Stimme, um ihrer Schwester keinen Hinweis auf ihren Schmerz zu geben. „Allo?“ Es war Jacques, der ihr mitteilte, er würde heute später kommen. Ob es ihr etwas ausmache? Gleichgültig verneinte Marie-Claire und legte auf. Warum sollte ihr 358
gerade heute das späte Heimkommen ihres Mannes etwas ausmachen, wo es doch in den letzten Jahren kaum einen gemeinsamen Abend gegeben hatte? Jacques jedoch fragte immer danach, sehr höflich, sehr wohlerzogen und sehr distanziert. Dankbarkeit schien kein Gefühl zu sein, das die Jahrzehnte überdauerte Marie-Claire faßte einen Entschluß. Sie würde sofort nach Roccapina fahren! Erleichtert atmete sie auf, es tat gut zu wissen, was man zu tun hatte. Doch zuerst mußte sie sich beruhigen. Sie eilte ins Badezimmer und durchwühlte den Medi zinschrank. Wo waren nur das Diazepam? Ach ja, da stand die Flasche. Sie schüttelte zwei der kleinen weißen Tabletten heraus und schluckte sie. Wie lange hatte sie diese Tröster nun schon? Begonnen hatte es damals, als sie nach Nizza gefahren war, um Alfons zu sprechen. Da hatte sie zum erstenmal die segensrei che Wirkung der weißen Pillen kennen gelernt. Unschlüssig sah Marie-Claire auf die Flasche. Sollte sie zur Sicherheit noch zwei? Der Arzt hatte sie strikt vor ei ner Überdosis gewarnt, doch Ärzte redeten immer solches Zeug. Sie hatte sich entschlossen, Dominiques 'Bitte' zu erfüllen, sie würde mit diesem Monsieur – wie hieß er denn noch? Mon Dieu, nun hatte sie doch glatt den Na men vergessen, wie peinlich! Vielleicht fiel er ihr wieder ein. Polanski oder so ähnlich. Egal. Sie würde mit diesem Herrn sprechen. Aber dann war Schluß! Endgültig! Das Konto war ausge glichen und sie würde endlich Ruhe haben. Also würde sie ein letztes Mal Domi niques Auftrag erfüllen. Dazu mußte sie ruhig sein, ruhig und klar denkend! Ma rie-Claire schob zwei weitere Pillen in ihren Mund und verzog das Gesicht, als sie sie mit Wasser hinunterspülte. Schmeckten wie der Tod. Sie preßte die Hand auf die Brust, als könne sie ihr heftig schlagendes Herz da durch besänftigen. Endlich spürte sie, wie ihre Aufregung schwand. Wunderbare Entspannung! Nun war sie ruhig. Ruhig und heiter. Gerade richtig für ein Ge spräch mit einem Unbekannten. Marie-Claire kicherte. Wie spät war es? Bereits nach neun? Würde dieser Monsieur Pawlowski sie denn noch empfangen? Rasch, spute dich! ermahnte sie sich. Sie holte den Wagen aus der Garage, gab zu viel Gas und holperte auf die Straße. Endlich hatte sie den dritten Gang gefunden und zügig fuhr sie in die pech schwarze Nacht, Richtung Roccapina. Dabei murmelte sie schläfrig vor sich hin: Das letzte Mal, das letzte Mal, dann ist Schluß. Das letzte Mal. *** Mit einem Ruck schreckte Fee aus dem Schlaf. Unsicher tastete sie nach dem Schalter. Endlich fand sie ihn und das Licht vertrieb die Schatten. Verwirrt strich sie sich die Haare aus dem Gesicht und sah sich um. Langsam kam die Orientie 359
rung. Was hatte sie so erschreckt? Es war ein Traum, ein Alptraum, und Severins Jaguar kam darin vor. Angestrengt versuchte Fee sich zu erinnern, jedoch je mehr sie sich mühte, desto schneller sank die Erinnerung in ihr Unterbewußtsein. Vage blieb ein unangenehmes Gefühl von Gefahr. Fee schlüpfte aus dem Bett und zün dete sich eine Zigarette an. Aus der Minibar holte sie einen Cognac. Sie boxte sich die Kissen zurecht und kuschelte sich wieder unter die Decke. Was war mit Severin? Hoffentlich war er heil und gesund! Wenn ihm etwas pas siert wäre, würde sie es erfahren? Ungeduldig zog Fee an ihrer Zigarette. Blöd sinnige Gedanken! Warum sollte ihm etwas passieren? – Warum sollte Ugo da mals etwas passieren und doch war er tot! Fee schloß sekundenlang die Augen und preßte die Lippen aufeinander. Reiß dich am Riemen! ermahnte sie sich. Ugo ist tot, aber Severin lebt noch! – Vielleicht. Ärgerlich sprang Fee aus dem Bett und lief im Zimmer auf und ab. Herrgott nochmal konzentriere dich, was ist es, was dich stört? Worum geht es hier ei gentlich? Schuld, es geht um Schuld!
Fee runzelte die Stirn. Was für ein altmodischer Begriff! Was heißt denn Schuld?
– Das ist Severins Triebfeder, er will wissen, ob er Schuld hat am Tod seiner Familie, weißt du noch? – Natürlich. Das weiß ich seit langem. Was heißt das schon? – Nun, es würde die Dinge klären, oder nicht? – Aber die Toten nicht wieder erwecken! Sollte hier nicht endlich ein gewisser Pragmatismus Platz grei fen? – Bist du Schuld an Ugos Tod? Fee schrak zusammen. Was waren das für ein schrecklicher Gedanke? Ihre Hände zitterten, als sie sich eine neue Zigarette anzündete. Sie kroch unter die Decke und zog sie bis zum Kinn herauf. Es war Ugos Entscheidung, an dieser Aktion der 'gruppa verde' teilzunehmen! – Hättest du ihn davon abhalten können? – Hätte ich? Möglich. Vielleicht. Ja, wahrscheinlich, wenn ich genügend Druck ausgeübt hätte. Ugo hat mich geliebt! Verwirrt fuhr sich Fee durch die Haare. Also bin ich schuld an Ugos Tod? Wie ein schwerer Stein sank diese Frage in ihren Bauch. Fee krümmte sich. Nein! Nein! Nein! So kann man die Sache nicht sehen! Da stimmt irgend etwas nicht! – Warum nicht? – Es vereinfacht die Dinge! Die Umstände, die zu Ugos Tod ge führt hatten, waren viel komplexer! – Waren sie das? Mit einem leisen Aufstöhnen sprang Fee erneut aus dem Bett und riß die Bal kontüre auf. Mit nackten Füßen lief sie zum Geländer, packte es mit beiden Hän den und atmete zitternd ein. Regen schlug ihr ins Gesicht und der Wind zerrte an ihrem Nachthemd. Aber sie spürte es nicht, klammerte sich an das Gitter, als sei es ein Rettungsring. 360
Nur langsam beruhigte sich der Aufruhr in ihrem Inneren und sie konnte wieder klar denken. Mein Gott, das hat Severin seit zwanzig Jahren durchlitten! Wie konnte ein Mensch das aushalten? Dankbar registrierte sie, daß ihre Gedanken nun abgelenkt waren und sich dem verschlossenen und wortkargen Freund zugewandt hatten. Wog es seine Schuld auf, daß er Felix das Leben gerettet hat? Daß er Corinne aus den Fängen ihres Vaters befreit hat? Wiegt irgend etwas Schuld auf? Fee schloß die Augen und spürte die kalten Tropfen in ihr Gesicht prasseln. Es fühlte sich an wie Nadelstiche Sie fröstelte. Rasch eilte sie in die Wärme des Appartements und schloß nachdrücklich die Balkontüre. Sie konnte lange nicht wieder einschlafen. *** Marceau starrte auf das Telefon. Seit Stunden wartete er auf den erlösenden An ruf. Borowski war bereits in Roccapina eingetroffen, man hatte ihn am Vormittag bei Nanette gesehen und kurze Zeit später saß er mit Rosalia Poli, dieser Klatschbase, im 'Chez Frederic'. Das bedeutete, daß sie sich sputen mußten. Mer de! Diese Ungewißheit! Warum meldete sich dieser Schwachkopf nicht? Marceau hätte sich nie auf so was einlassen dürfen, aber wer konnte ahnen, daß nach zwanzig Jahren dieser Ausländer daherkam und in alten Misthäufen stocherte? Er rief sich zur Ordnung. Juristisch war die Angelegenheit ja eindeutig verjährt, aber seine Stellung, seine Zukunft! In zwei Jahren sollte er in Pension gehen, mit allen Ehren, versteht sich! Was sollte aus ihm werden, wenn publik würde, daß er seine erste Bürgermeisterwahl nur aufgrund gefälschter Stimmzettel gewonnen hatte? Das mußte verhindert werden, mit allen Mitteln! Wütend kaute Jacques Marceau an seinem Bleistift und starrte weiterhin auf das Telefon. Er sah auf die Uhr. Zweiundzwanzig Uhr! Das wird wieder einen guten Eindruck bei der Bevölkerung von Bonifacio hinterlassen, daß ihr schwer arbei tender Bürgermeister bis in die tiefe Nacht für das Wohl seiner Bürger sorgt und das auch noch an einem Sonntag! Zynisch verzog Marceau den Mund. Gut, daß seine Frau schon seit Jahren keine Fragen mehr stellte. Wo blieb der verdammte Anruf? Als das Telefon endlich klingelte, schrak Marceau zusammen. „Oui?“ „Ich bin's!“ „Und?“ „Nichts! Die Papiere sind nicht in seinem Arbeitszimmer. Ich habe alles gründ lich durchsucht!“ 361
„Oh mein Gott!“
„Schnapp nicht über! Irgendwo müssen sie ja sein. Auf jeden Fall wissen wir
jetzt, daß sie nicht auf Roccapina sind, damit kann sie Borowski in keinem Fall
finden!“
Marceau seufzte. „Hoffentlich hast du recht. Es wurde bereits genug Porzellan
zerschlagen. Apropos – hast du etwas mit Massimos Tod zu tun?“
Ein langes Schweigen am anderen Ende. Dann Empörung. „Du spinnst wohl!
Was hätten wir davon? Ich habe allerdings sein Haus durchsucht!“
„Wieso?“
„Ich bekam eine vertrauliche Information, daß Velasquez Broca einen Tag vor
seinem Tod -“
„Der alte Bastard ist tot?“
„Unterbrich mich nicht, ja, das sagte ich! Er hat mit Carmen Diaz telefoniert und
wollte Enrico etwas schicken.“
„Und? Warst du zufällig diesmal erfolgreich?“
„Äh nein, aber ich dachte...“
„Du denkst ziemlich viel in letzter Zeit, doch scheint recht wenig dabei herauszu
kommen, nicht?“ Marceaus Stimme klang schneidend.
Am anderen Ende war ein empörtes Prusten zu hören. „Mein Lieber, spar dir
diese Kommentare, ich warne dich! Ich bin kein Bombenleger und mir kann man
nichts nachweisen. Du bist immer noch von meiner Verschwiegenheit abhängig,
vergiß das nicht!“
Marceau schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, daß das Telefon wackelte.
„Pah! Wenn es mich erwischt, reiße ich dich mit! Verlaß dich darauf! Wer hat
mich denn in die ganze Sache hinein geritten? Wer hat denn die polizeilichen
Untersuchungen gebremst? Wer war es denn, der das Verfahren niederschlagen
ließ? Und wer hat von meinem Aufstieg zum Bürgermeister mindestens genauso
viel profitiert, wurde damit nicht seine Karriere zum Polizeichef möglich? Kennst
du denjenigen? Ha! Mein Lieber, nicht mit mir! Du drohst mir nicht, denn wenn
ich falle, fällst du auch! Und jetzt bewege deinen Arsch und schaffe diese ver
dammten Papiere auf die Welt, hörst du!“ Wütend knallte er den Hörer auf die
Gabel.
Rasender Aufruhr tobte in Marceau. Er wagt es, mir zu drohen! Na, wir werden
sehen, wer den längeren Arm hat. Der Bleistift zerbrach und ritzte Marceaus
Daumen. Das brachte ihn wieder zur Besinnung. Er lutschte an seinem Finger.
362
Das mit der Bombe war ein Riesenfehler gewesen, das hatte er in dem Moment gewußt, als er die Nachricht vom tödlichen Unfall gehört hatte. Sie war als War nung gedacht gewesen, um den Richter zu beeindrucken. Nun, der Richter war beeindruckt gewesen, sogar so beeindruckt, daß man ihn in die Psychiatrie einlie fern mußte. Aber damit war die Geschichte keineswegs aus der Welt, wie sich herausgestellt hatte. Dieser alte Querkopf Massimo! Aber man hat ja Gottseidank Beziehungen. Marceau runzelte die Stirn. Dominique – diese uralte Geschichte – nun, vorbei. Er hatte damals Marie-Claire genau erklärt, was zu tun sei, und er wartungsgemäß hatte sie auch alles brav erledigt und damit bereinigt. Dachte er zumindest. Seine Gedanken kehrten zu dem Anruf zurück. War wohl ein Fehler gewesen, sich auf diesen Komiker einzulassen. Wie es aussah, hatte dieser Ehrgeizling die Angelegenheit nur verschlimmert! Nun war es ein schwacher Trost, daß jahrelang alles gut gegangen war. Das würde er sich nicht zerstören lassen. Das würde er sich nicht bieten lassen! Ungeduldig schlüpfte Marceau in seinen Mantel und eilte aus der Mairie. Unge stüm preschte er nach Hause. Er benötigte jetzt einen Schluck Calvados, eine gute Zigarre und seinen Lehnstuhl. Er würde nachdenken. Irgendwo mußten diese verdammten Unterlagen ja sein! Als Marceau Zuhause ankam, saß seine Frau nicht an ihrem gewohnten Platz vor dem Fernseher. Der Bürgermeister achtete nicht sehr darauf. Dankbar, keinen vorwurfsvollen Blick erwidern zu müssen, zog er sich in sein Zimmer zurück. Es dauerte eine geraume Weile, bis die ungewohnte Stille im Haus ihn unruhig wer den ließ. Suchend schritt er durch die Räume und nahm fassungslos wahr, daß seine Frau nicht Zuhause war. Es war mitten in der Nacht und Marie-Claire war fort! Verdutzt kratzte sich Marceau in seinem schütter werdenden Haar. Da soll doch gleich... Wo steckte sie? Nur mäßig beunruhigt ging Marceau erneut durch das Haus. Bilder von gehörnten Ehemännern, die ahnungslos seit Jahren eine Ehe zu dritt führen, schossen durch seinen Kopf und bei jeder Türe, die er öffnete, erwartete er, seine Frau in inniger Umarmung mit einem Mann zu sehen. Unsinn! sagte er sich. Marie-Claire ist zu vernünftig für einen Liebhaber und außerdem bereits dreiundsechzig. Das Haus war leer. Nun doch etwas außer Fassung lief Marceau in die Garage. Marie-Claires Wagen stand nicht an seinem gewohnten Platz! Was bedeutete das? Warum war ihm das bei seiner Rückkehr nicht aufgefallen? Verstört zog sich Marceau in seinen Ledersessel zurück und kaute unschlüssig an seiner Zigarre. Irgendwie schienen die Dinge aus dem Ruder zu laufen. Hatte ihn 363
seine Frau verlassen? Was für einen Grund sollte sie dafür haben? Was war zu tun? Es dauerte nicht lange, da hatte der Bürgermeister von Bonifacio eine Antwort auf seine letzte Frage gefunden und machte sich zielstrebig an deren Durchfüh rung. Nach einer Flasche Calvados war das Problem zumindest für den Augen blick gelöst. *** Die Terrassentür schlug zu. Endlich regte sich Severin, strich sich über die Augen und sah um sich. Mühsam kam er auf die Beine. Was sollte er nun tun? War es nicht das Beste, er fuhr nach Deutschland zurück und versuchte, irgendwie mit der Schuld zu leben? Immerhin hatte er bereits einige Routine damit. Schwankend ging er auf die Tür zu, dabei raschelte es unter seinen Füßen. Er sah den zerknüllten Brief. Unschlüssig hob er das Blatt auf. Als er es glättete, merkte er, wie seine Hände zitterten. Erneut las er Velasquez Zeilen. Die Buchstaben tanzten vor seinen Augen, nur einzelne Worte konnte er wahrnehmen. Er wollte es eben wieder wegwerfen, als ihm ein Wort in die Augen sprang: Schlüssel. Der Schlüssel! Massimo sollte mit einem Schlüssel irgend etwas holen. Wo war der Schlüssel? Hier lag er! Severin starrte auf den glänzenden Gegenstand, als wäre er aus einer anderen Welt. Langsam kam sein Verstand wieder in die Gänge. Das paßte doch nicht zusam men! Wenn er einen Fehler am Wagen übersehen hatte, wenn ein Bremsschlauch defekt war, warum sollte Velasquez so daran interessiert sein, ihm gewisse Un terlagen vorzuenthalten? Welche Unterlagen? Was war so wichtig an deren Ver nichtung, daß Velasquez seinen Dolch verschenkte und sogar wieder Kontakt nach Bonifacio aufnahm? Kraftlos ließ sich Severin auf das Sofa sinken. Hatte ihn sein Verstand verlassen? War das jahrzehntelange Schuldgefühl dabei, sein Gehirn zu vernebeln? Es gab keinen Defekt am Wagen! Hier hatte er den Beweis. Hielt ihn in Händen. Ein unschuldiges Stück Stahl rettete ihn aus seiner Ver zweiflung. Ein Schrei entrang sich seiner Brust, die erlösenden Worte hallten klar in dem hohen Raum: „Ich bin unschuldig!“ Er würde es hinaus schreien, weit hinaus, daß alle Welt es hören konnte. Severin rannte auf die Terrasse und ließ sich den Regen auf das Gesicht klatschen. Der Sturm riß ihm die Worte vom Mund und trug sie weit davon „Ich bin unschul dig!“ Wieder und wieder brüllte er es. Die Spannung löste sich langsam. Er brei tete die Arme aus und drehte sich im Kreis. Ein rauhes Lachen stieg in den 364
dunklen Himmel empor und sich weiter drehend klatschte er in die Hände. La chend hüpfte er im strömenden Regen. Plötzlich fühlte er sich wie befreit. Er sah zum Himmel und sagte leise in das tiefe Dunkel: „Velasquez, du alter Bastard! Ich danke dir!“ Der Lärm weckte Nanette, die verwundert aus ihrem Schlafzimmerfenster auf das seltsame Treiben blickte. Eine Weile sah sie ihrem Arbeitgeber fassungslos zu, fürchtete, nun habe auch der letzte der Familie den Verstand verloren, bis ein verstehendes Lächeln sich auf ihr Gesicht stahl. Das sah nicht nach Wahnsinn aus, das machte den Eindruck eines befreiten, glücklichen Menschen Zufrieden legte sie sich wieder schlafen. *** Nanette fühlte sich in alte Zeiten versetzt. Geschäftig rannte sie zwischen Küche und Eßzimmer hin und her und setzte Severin ein derart opulentes Frühstück vor, als hätte er seit Tagen nichts gegessen. Ihre Wangen waren rosig überhaucht und immer wieder lächelte sie glücklich vor sich hin. Monsieur Severin war wieder
da!
Monsieur Severin versuchte, Schritt zu halten und gab sich redliche Mühe, zu
mindest einen Teil der Mengen zu vertilgen, die Nanette vor ihm auftürmte. Nach
der dritten Tasse Kaffee lehnte er sich erschöpft zurück. Als Nanette bereits wie
der mit der Kaffeekanne auftauchte, erwischte er sie am Ärmel und setzte sie an
den Tisch. „Nanette, hör mir zu, ich möchte dich etwas fragen.“
„Oui, Monsieur?“ Über Nanettes Gesicht flog ein Schatten.
„Bedrückt dich etwas?“
„Oh, Monsieur Severin, ich dachte mir schon, daß Sie mich das fragen wollen!“
Bedeutsam wackelte sie mit dem Kopf.
„Ja? Was denn?“
„Na ja, das. Aber sie waren so glücklich, Monsieur! So voll Vorfreude! Wo
chenlang haben sich alle Ihre Überraschung vorgestellt. In allen Einzelheiten
wurde geplant.“
„Nanette, wovon sprichst du? Was war geplant?“
„Aber Monsieur! Verstehen Sie nicht? Damals, an Ihrem Geburtstag. Haben Sie
es denn vergessen?“
Severin zügelte seine Ungeduld. „Nanette, ich weiß bis jetzt nicht, was du meinst.
Bitte sprich nicht in Rätseln!“
365
Nanette sprach langsam und deutlich, als müßte sie sich einem kleinen Kind ver ständlich machen. „Monsieur Severin, Sie haben mich doch fragen wollen, war um Madame Alexa und Madame Josette und Juanito – mein lieber, süßer Juanito – an Ihrem Geburtstag nach Bonifacio fahren mußten, nicht wahr?“ Sprachlos starrte sie Severin an. Genau das hatte er fragen wollen. Beeindruk
kend, diese alte Frau. „Richtig, Nanette. Weißt du es?“
„Aber ich spreche doch die ganze Zeit davon. Es geht um das Geschenk, das Jo
sette bestellt hatte. Es wurde nicht rechtzeitig geliefert, so daß es erst am Sonntag
in Bonifacio eintraf. Also fuhren Madame Alexa und Madame Josette zu Enrico
Massimo, um es abzuholen. Sie hatten sich ausgemalt, daß sie es einfach vor die
Haustüre stellen. Juanito hat so lange gebettelt, bis er mitdurfte. Verstehen Sie
nun?“
„Nein. Ja. Nanette, das hast du sehr deutlich und klar gesagt. Meine Frau und
meine Schwiegermutter wollten für mich ein Geburtstagsgeschenk im Hafen ab
holen. Weißt du noch, welches Geschenk es war?“
Überrascht riß Nanette die Augen auf. „Aber, Monsieur! Natürlich! Seit Wochen
sprachen die beiden von nichts anderem. Es war recht schwierig, es aufzutreiben,
denn in ganz Korsika gab es keine Firma, bei der man es kaufen konnte. Ich hätte
nicht gedacht, daß Sie... oh mein Gott, Sie haben es ja nie gesehen, nicht wahr!“
„Nein, Nanette, ich habe es nie gesehen. Bitte sag mir nun, was es war!“ Mühsam
zügelte Severin seine Spannung.
„Na, das Motorrad natürlich!“
„Ein Motorrad?“
„Das war eine Aufregung, kann ich Ihnen sagen. Madame Josette hatte die Idee
und dann ging die Suche los. Was haben sie telefoniert und gefragt, aber niemand
auf der Insel schien ein solches Motorrad zu haben. Es war irgend ein fremdlän
discher Name ich erinnere mich nicht.“ Zweifelnd sah sie zu Severin hoch.
„Moto Guzzi?“
Nanette klatschte die Hände zusammen. „Ja, genau! So hieß es. Madame Josette
war ein wenig ängstlich, ob sie es wohl würde fahren können. Ursprünglich sollte
nämlich Monsieur Velasquez das Motorrad abholen und nach Roccapina fahren,
aber das ging dann nicht.“
Severin seufzte tief auf. Seine Frage war beantwortet! Das war es, was Velasquez
ihm vor seinem Tod mitteilen wollte. Moto Guzzi! Er hatte schlußendlich doch auf Severins Frage geantwortet, doch Severin hatte es nicht verstanden. For schend sah er Nanette an. Wieso war er nie auf die Idee gekommen, sich an dieser 366
sprudelnden Quelle zu erkundigen? „Nanette, weißt du noch, warum Monsieur
Velasquez nicht nach Bonifacio fahren konnte?“
Mißtrauisch sah ihn die Alte an. „Ich habe nicht gelauscht!“
Begütigend tätschelte Severin Nanettes Arm. „Natürlich nicht! Aber manchmal
hört man zufällig Dinge...“ Seine Stimme verebbte und Nanette biß an. „Ja, ja,
genauso war es, Monsieur! Zufällig hört man, äh, ja, das geht so zu im Leben,
man kann gar nicht anders.“ Bestätigend nickte sie mit dem Kopf, dabei zupfte
sie an ihrem Schürzenband. Atemlos wartete Severin. Wenn sie nur nicht so um
ständlich wäre! „Monsieur Velasquez konnte nicht fahren, weil er jemanden er
wartete.“ Erleichtert sah sie Severin an.
„Ach ja, das ist klar. Wenn er Besuch erwartete, konnte er nicht. Du wirst nicht
wissen, wer der Besucher war?“
Triumphierend platzte Nanette heraus. „Ich weiß Bescheid! Es gab nicht viel,
worüber ich nicht Bescheid wußte! Madame Alexa hat immer mit mir gespro
chen, wenn ich ihre Haare bürstete. Sie war so freundlich und nett zu mir.“ Na
nette wischte sich über die Augen.
Severin hatte begriffen, daß Nanette am ehesten mit ihren Kenntnissen heraus
rückte, wenn man schwieg. Das hatte sie mit vielen Leuten gemein. Um ein zu
sätzliches zu tun, wandte er sich gleichgültig ab.
Nanette beeilte sich. „Es war Joaquino Poli, der Crétin.“
Severin sah seine Haushälterin verdutzt an. „Joaquino? Das ist doch Rosalias
Schwager, oder? Was wollte er denn vom Richter?“
Mit frommem Augenaufschlag erwiderte Nanette treuherzig. „Monsieur! Ich
habe keine Ahnung! Nie wäre es mir eingefallen, zu lauschen! Das wissen Sie
genau! Ach Gott, der Ärmste.“
Severins Ungeduld brach wieder durch. Was war das aber auch mühsam, der
Alten die Einzelheiten aus der Nase zu ziehen! „Was meinst du damit!“
„Hélas! Er war schon ein wenig einfältig, der gute Joaquino, so daß alle ihn den
Crétin nannten, aber er war ein guter Mann. Nicht so eine Schlampe wie seine
Schwägerin.“
„War? Lebt er nicht mehr?“
Nanette seufzte. „Nein, Monsieur, schon lange nicht. Es war ein Unfall.“
Alarmiert beugte sich Severin vor. „Ein Unfall? Was für ein Unfall? Und wann?“
Nanette schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund. „Du meine Güte. Das
wissen Sie auch nicht?“ Unschlüssig kratzte sie sich an der Nase. „Aber sie wa
ren doch noch hier, Monsieur!“
367
Aber immer betrunken, setzte Severin in Gedanken hinzu. Nanette schniefte. „Er fuhr mit seinem Fahrrad über die Klippen Es war ein so strenger Winter damals, daß es in Bonifacio schneite. Ich weiß es noch wie heute. Wahrscheinlich ist er ausgerutscht!“ „Im Winter? Du meinst, kurz nachdem...“ „Oui! Mais oui! Kurz nach dem schrecklichen Unfall. Er lebte noch gerade so, aber starb nach kurzer Zeit im Krankenhaus. Jemand schien sehr erleichtert dar über!“ fügte sie bedeutungsvoll hinzu. „Wer?“ Nanette zuckte mit den Achseln. „Es war wohl nur so ein Gerede von meiner Cousine Marie-Claire.“ Der Bürgermeister? Warum sollte er erleichtert sein über den Tod des Dorftrot tels? Severin forschte behutsam weiter. „Gab es denn viel Gerede?“ Eifrig nickte Nanette. „Ziemlich viel! Angeblich fand man Spuren von einem Auto am Unfallort. Die Leute reden ja viel! Aber es verlief alles im Sand. Wer kümmert sich auch schon um einen Crétin!“ Bedauernd schüttelte sie den Kopf. „Dabei war er ein gutmütiger Mann, immer bereit, jemandem einen Gefallen zu tun.“ Wieder wischte sich Nanette über die Augen. „Auch Monsieur Velasquez war sehr betroffen.“ „Wie? Er hat davon erfahren?“ „Monsieur! Wie sollte er auch nicht, wo der ganze Ort davon sprach! Ich habe es ihm erzählt, als ich ihn im Krankenhaus besuchte. Er war an diesem Tag ganz normal, wirklich ganz normal, aber als er davon hörte, verwirrte sich sein Ver stand wieder. Der arme Monsieur Velasquez!“ Nun zog sie ein Taschentuch aus der Schürze. War wohl ein Tag der Tränen, dachte Severin, doch damit war die Frage des vierten Toten beantwortet. Aufmerksam blickte er auf die alte Frau. Was wußte sie noch? Doch was immer Nanette noch wissen mochte, ihre Bereitschaft für dessen Preisgabe war im Mo ment vorbei. Ungeduldig sah sie in Richtung Küche. „Monsieur, ich sollte jetzt gehen. Der Braten muß vorbereitet werden und ich muß noch einkaufen. Sie es sen doch zu Mittag hier?“ „Ich denke schon. Ist gut, Nanette, gehen Sie. Wir sprechen später weiter. Halt, eine Frage noch, an dem Abend vor meinem Geburtstag, als eine Menge Leute kam um zu gratulieren, war da auch der Bürgermeister hier?“ 368
Nanette, die bereits aufgestanden war, wandte sich eifrig wieder um und kicherte. „Ja der war da!“ „Du erinnerst dich genau?“ „Und ob! Es war ihm ziemlich peinlich. Schlich sich durch die Hintertüre in mei ne Küche wie ein Dieb. Ganz rot war er.“ „Was war ihm denn so peinlich?“ „Er hatte sich am Ärmel beschmutzt und ich hatte mächtig Mühe, den Ölfleck aus seinem Sakko heraus zu bürsten. Er meinte, als Bürgermeister könne er doch nicht so verschmutzt gratulieren. Jetzt muß ich aber wirklich los, Monsieur, sonst gibt es nichts mehr auf dem Markt.“ Geschäftig eilte sie hinaus und schwang sich auf ihr Fahrrad. Hoffentlich reichte die Zeit, wäre schade um den schönen Braten. *** Rosalia Poli erwachte mit einem Kater mittlerer Größe. Ächzend hielt sie sich den Kopf und blinzelte vorsichtig ins Nachbarbett. Gottseidank, es war leer. Der Barbesuch mit Severin hatte seine Fortsetzung gefunden, aber offenbar war sie schlau genug gewesen, ihren Galan nicht mit nach Hause zu nehmen. Rosalia konnte sich nicht mehr genau an die Einzelheiten erinnern und sie versuchte es auch nicht. Es war ein Abend gewesen, wie er in den letzten Jahren häufig war, keinen weiteren Gedanken wert. Mühsam schleppte sie sich ins Bad. Unter der Dusche fiel ihr etwas ein, was doch einen weiteren Gedanken wert war. Nachdem sie so zufällig auf ihn gestoßen war, hatte sie sich vorgenommen, den spröden Severin zu umgarnen. In Wahrheit wollte sie dies schon seit dem Zeitpunkt, als sie diesen schweigsamen Fremden zum ersten Mal gesehen hatte. Faszinierend hatte er ausgesehen, groß und dunkel, mit diesem Glanz in den fast schwarzen Augen und der strahlenden Josette am Arm. Eigenartig, daß er jetzt wieder auftaucht. Was er wohl vorhat? Gestern abend in der Bar hatten Gerüchte die Runde gemacht. Untypischerweise hatte Rosalia sich diesmal nicht daran beteiligt. Sie grübelte, während sie sich die Kopfhaut massierte. Wenn die Gerüchte stimmten, daß Severin nach Bonifacio zurückgekehrt war, um dem Mörder seiner Familie den Garaus zu machen, müßte selbst der unnahbare Herr Borowski derje nigen zu tiefstem Dank verpflichtet sein, die ihm entscheidende Informationen zukommen ließ. Rosalia hüllte sich in einen Bademantel und schluckte zwei Aspirin. Denken war etwas mühsam nach einer durchzechten Nacht 369
Nach einem ausgiebigen Frühstück war sie imstande, die entsprechenden Für und Wider genauer abzuwägen. Am Ende ihrer Überlegungen lächelte sie. Sie hatte sich entschieden. Sie würde sich diesen unterkühlten Typen angeln. Hatte sie Beweise? Pah, Beweise! Es genügt, was sie wußte. Der arme Joaquino! Er hatte sich ihr anvertraut, aber Rosalia war zu diesem Zeitpunkt anderweitig beschäftigt gewesen und hatte ihn abgewimmelt. Als er nicht locker ließ und sie immer wieder mit dieser komischen Frage quälte, wozu er für den Bürgermeister so viele Kreuze machen mußte, hatte sie ihn zu Enrico Massimo geschickt, dem einzigen, von dem sie wußte, daß er nicht zur Clique des Bürgermeisters gehörte. Vielleicht hätte sie doch besser zuhören sollen damals? Aber die ganze Sache hatte so phantastisch geklungen Erst nach Joaquinos plötzlichem Tod hatte sie sich das Ganze zusammengereimt. Marceau, dieser schleimige Typ, hatte die Wahl gewonnen mit Hilfe eines Dorfidioten! Wenn das keine Information war, auf der man aufbauen konnte! Zielsicher strebte sie wieder ins Bad und begann, die Spuren der vergangenen Nacht aus ihrem Gesicht zu beseitigen. Das kostete heutzutage wesentlich mehr Zeit als vor zwanzig Jahren, aber das spielte kaum eine Rolle. Wenn sie gegen sechs in Roccapina war, war das perfekt. Ja, das war gut. Sechs Uhr war eine unverbindliche Zeit und wer weiß? Vielleicht konnte man den Besuch ja bis in den Abend ausdehnen und dann? Dann konnte viel passieren. *** Der Bürgermeister erwachte mit dem Gedanken: meine Frau hat mich verlassen. Mühsam suchte er seine Gedanken zusammen und sprang aus dem Bett. Er igno rierte seinen brummenden Kopf und eilte in das Schlafzimmer Marie-Claires. Das Bett war leer und unbenutzt. Unschlüssig kratzte sich Marceau am Hosenboden. Die Flasche Calvados hatte das Problem also nicht gelöst! Noch immer blieb die Frage, was war zu tun? Er konnte doch nicht wie jeder normale Bürger einfach eine Abgängigkeitsanzeige erstatten! Er hörte schon das Gelächter der Stadt. Zorn stieg in ihm hoch. Diese blöde Pute! Jetzt hieß es, besonnen zu bleiben und sich nicht zu sehr aus dem Fenster zu lehnen. Vielleicht tauchte sie ja bald auf. Erst einmal Zeit gewinnen, hieß die Devise! Marceau ging zum Telefon und teilte seiner Sekretärin mit, daß ihn dringende Geschäfte abhalten würden. Sie solle sämtliche Termine verlegen. Er hoffe, nach dem Essen ins Amt zu kommen, al lerdings wäre er nicht sicher. Aufatmend legte er den Hörer auf. Das war der erste Schritt. Marceau ging zur Bar und rückte entschlossen der nächsten Flasche Calvados zu Leibe. Er hatte sich gerade das zweite Glas einverleibt, als es klingelte. 370
Na endlich! Diese dumme Kuh hatte natürlich wieder ihren Haustürschlüssel
vergessen. Mit Schwung riß er die Türe auf und öffnete den Mund zu einer ge
harnischten Rede, als im das Wort im Hals stecken blieb.
„Du siehst genauso belämmert aus wie damals. Nur hast du sicher vierzig Kilo
zugelegt. Was ist? Läßt du mich rein?“ Die Stimme war so eisig, wie er sie in
Erinnerung hatte.
Marceau stotterte. „D D Dominique wie kommst du denn her?“
„Mit Flugzeug und Taxi, wenn du es genau wissen willst. Wo ist Marie-Claire?“
Sie drängte sich durch die Tür und schob den Bürgermeister ohne Umstände zur
Seite. Dieser leistete keine Gegenwehr.
Marceau schloß verwirrt die Türe und schüttelte den Kopf. Träumte er? Fas
sungslos sah er der starr aufgerichteten Gestalt nach, die zielsicher ins Wohn
zimmer strebte. Dabei streifte sich Dominique die Handschuhe von den Händen
und klatschte damit ungeduldig gegen ihre geöffnete Handfläche.
Marceau holte tief Atem. „Gut siehst du aus!“ Es klang ein wenig demütig, fand
er, aber er war völlig überrumpelt. Dominique zog eine Augenbraue hoch. „Was
man von dir nicht behaupten kann! Philip hat trotz seines Alters seine hervorra
gende Figur bewahrt!“ Verachtung klang aus ihrer Stimme.
„Na hör mal!“ Die Unterwürfigkeit war Empörung gewichen. Marceau richtete
sich auf, seine kleinen Augen funkelten.
Dominique lächelte leicht. „Das erinnert mich schon eher an den alten Jacques.
Die devote Haltung paßt nicht zur dir. Wo ist Marie-Claire?“
Marceau blinzelte irritiert. „Marie-Claire?“
„Meine Schwester – deine Frau, erinnerst du dich?“
Marceau explodierte. „Verflucht, Dominique, hör auf, mich wie einen Idioten zu
behandeln. Du kommst hier hereingeschneit und kommandierst herum. Laß deine
Allüren an Philip aus.“
„Laß Philip aus dem Spiel!“ Die Stimme klang schneidend und Marceau zuckte
ein wenig zusammen.
„Du hast ihn doch ins Gespräch gebracht!“ murmelte er und streckte abbittend
die Hände aus. „Laß uns doch nicht gleich streiten! Bitte, setz dich. Darf ich dir
etwas anbieten? Kaffee? Einen Drink?“ Eifrig rückte er den Stuhl zurecht.
Dominique musterte ihn abfällig. „Mach dich nicht lächerlich. Ich bin nicht zu
einem Höflichkeitsbesuch gekommen. Ich will mich mit Marie-Claire ausspre
chen. Versteckst du sie vor mir?“
371
Marceau lief rot an, nur mühsam unterdrückte er einen neuerlichen Ausbruch.
„Marie-Claire ist nicht hier.“
„Nein?“ Dominique zog wieder erstaunt ihre Augenbrauen hoch. „Das ist schade.
Ist sie länger fort?“
„Keine Ahnung.“
„Sie hat nichts davon gesagt, als ich gestern mit ihr telefoniert habe... Was heißt,
keine Ahnung?“
„Du hast mit ihr telefoniert? Wieso?“
Beide starrten sich an. Herr im Himmel, dachte Dominique, was habe ich nur
jemals an diesem Armleuchter gefunden?
Mit Marceaus Beherrschung war es vorbei. „Was hast du ihr gesagt, was hast du
mit ihr gemacht, du Teufelin!“ Er stürzte sich auf Dominique und packte sie an
den Oberarmen. „Du intrigante Hexe, du ausgekochtes Luder! Was hast du mit
meiner Frau gemacht?“ Marceau schrie, daß kleine Speicheltröpfchen von den
Lippen flogen.
Angewidert trat Dominique einen Schritt zurück. Ihre eisige Ruhe taten Wirkung.
Marceau ließ abrupt von seiner Schwägerin ab und wandte sich um. Schwer at
mend stand er da und ließ die Arme hängen. Dabei murmelte er: „Marie-Claire ist
seit gestern abend verschwunden.“
Dominique preßte die Lippen aufeinander. Dann streifte sie sich ihre Handschuhe
über und ohne ihren ehemaligen Liebhaber noch eines Blickes zu würdigen,
rauschte sie aus dem Zimmer.
Marceau raufte sich seine schütteren Haare, wankte zur Bar und fuhr in seiner
Vorhaben fort, der Flasche den Garaus zu machen. Innerhalb kurzer Zeit hatte er
die Absicht in die Tat umgesetzt. Er sank völlig betrunken in seinen Lehnstuhl
und schlief ein.
Als er wieder zu sich kam, sah er in den mattschimmernden Lauf von Severins
7.65 Magnum. *** Fee Di Cosimo stürzte sich mit Feuereifer in die vor ihr liegenden Stapel des 'Bonifacio Journal'. Endlich etwas zu tun! Das würde die Spinnweben aus ihrem Kopf vertreiben. Es war optimistisch anzunehmen, daß die Zeitung bereits com putermäßig archiviert oder zumindest auf Microfiche gespeichert sei. Die ältliche Archivarin hatte auf Fees diesbezügliche Anfrage nur mitleidig gelächelt und ihr drei staubige Kartons mittlerer Größe auf den Tisch geknallt. Dann war sie wortlos wieder verschwunden. 372
Fee wühlte sich durch die Lokalseiten und freute sich, daß ihr Französisch immer noch gut genug war, flüssig zu lesen, wenn ihr auch manchmal ein Wort fehlte. Nach drei Stunden gönnte sie sich eine Kaffeepause, aber lange hielt es sie nicht aus. Eifrig suchte sie weiter. Bis jetzt hatte sie zwei Schiffszusammenstöße und eine Havarie im Hafen von Bonifacio entdeckt, aber keinen Hinweis auf einen Unfall oder Mord finden können. Kurz vor Ende der Öffnungszeiten und mit den gestrengen Blicken der Archiva rin im Rücken, die demonstrativ immer wieder auf ihre Armbanduhr sah, fand sie, was sie suchte. Zwar wußte sie keine Zusammenhänge, aber der einzige Un fall mit tödlichem Ausgang im fraglichen Zeitraum konnte sehr wohl seine Be deutung haben. Ein Mann namens Joaquino Poli war mit seinem Fahrrad bei schneeglatter Fahrbahn über die Klippen gestürzt und kurz darauf verstorben. Ob die am Unfallort erkennbaren Reifenspuren etwas mit dem Unfall zu tun hatten, konnte noch nicht geklärt werden, meinte der 'Bonifacio Journal'. Fee raffte die Blätter zusammen und eilte zum Kopiergerät. Triumphierend schwenkte sie die Kopie, stopfte die Zeitungen wieder in die Schachteln und half der schweigsamen Frau, diese wieder in die Regale zurück zu stellen. Ein schwa ches Lächeln war der Dank. Fee nickte nur kurz und eilte zum Jaguar. Sie würde nach Roccapina fahren und Severin persönlich von dem Ergebnis ihrer Nachfor schungen unterrichten *** Severin dachte nicht an Fee. Mit kühlem Verstand analysierte er das Gehörte. Seine Unruhe kompensierte er durch Bewegung. Marceau war über den Tod Joaquinos erleichtert, wenn man dem Gerede seiner Frau trauen konnte. Joaquino war der Besucher, den Velasquez erwartet hatte. Nun waren die Polis keine Bekannten, die in Roccapina aus- und eingingen, am wenigsten der geistig ziemlich beschränkte Schwager Rosalias. Was wollte er also dort? Der Bürgermeister war am Tag vor dem tödlichen Unfall in Roccapina und hatte sich den Ärmel beschmutzt mit Öl. Motoröl? Der Radfahrer war natür lich Joaquino auf dem Weg nach Roccapina, der diesen Tag nicht lange überlebt hatte. Ziellos ging er durch die Räume bis in Velasquez Schlafzimmer. Im Zimmer war es dämmrig. Severin stieß die Läden auf und sah hinaus. Frischer Wind wehte durch das offene Fenster und bewegte den schweren Brokatvorhang. Unbeweg lich stand Severin am Fenster. 373
Wie kam der Ölfleck auf Marceaus Ärmel? Im 'Bonifacio Journal' stand, Joaquino hörte einen dumpfen Knall, ehe der Wagen in die Tiefe krachte. Motoröl – Knall... Die Gedanken wirbelten durcheinander, verbissen sich in seinem Gehirn, zerrten und zogen. Irritiert sah sich Severin um. Ein heller Fleck, der bei jeder Bewegung des Vorhangs aufblitzte, lenkte ihn ab. Severin schob die Gardine zur Seite und besah sich die Stelle genauer. Links neben dem Schlafzimmerfenster, gut verbor gen unter den langen Brokatvorhängen, war ein Schloß in der Holzvertäfelung eingelassen. Schloß – Schlüssel! Er rannte nach unten und schnappte sich den Schlüssel aus Velasquez Brief. Er paßte. Knarrend öffnete sich die schmale Türe und Severin sah einen kleinen, dunklen Raum mit zwei Schubfächern. Ungeduldig riß er beide zugleich heraus. Blätter fielen auf den Boden. Severin fiel auf die Knie und nahm sich die Papiere vor. Geburtsurkunde. Der Trauschein von Velasquez und Alexa. Aktien. Zwei Spar bücher. Listen mit Namen. Statistiken. Wahlergebnisse einer Gemeinderatswahl aus dem Frühjahr 1975. Fassungslos sah Severin auf die halb vergilbten Papiere. Eine handschriftliche Notiz. Severin ließ die Listen fallen. Mühsam entzifferte er die Erklärung: Ich soll schreiben, daß ich im Auftrag des Gemeinderates Jacques Marceau Wahlzettel ausgefüllt habe. Bei allen habe ich den Namen Marceau angekreuzt. Ich weiß nicht, wie viele es waren, doch ich habe stundenlang gearbeitet. Juge Broca sagte mir, ich müsse es aufschreiben, was ich getan habe. Er hat mir dabei geholfen, aber ich schreibe es ohne Zwang. Da steht es nun. Joaquino Poli. Die Schrift war zittrig und man sah, daß der Schreiber ungeübt war. Severin sah die Papiere erneut durch. Schien ein groß angelegter Schwindel zu sein, wie er amtierende Bürgermeister an die Macht gekommen war. Darum hatte sich Poli an den Richter gewandt. Aber wo war die Verbindung? Wenn Marceau Wind davon bekommen hatte, daß sein Betrug aufzufliegen drohte, würde er es wagen, gegen einen Richter vorzugehen? Das Problem Joaquino hatte sich ohnehin innerhalb kürzester Zeit gelöst. Oder wurde es gelöst? Er raffte die Papiere zusammen und nahm die Schublade hoch. Dabei spürte er eine leichte Erhöhung am Boden. Rasch drehte er das Fach um. Auf der Unter seite war ein Blatt angeklebt. Vorsichtig löste Severin die Klebestreifen und fal 374
tete das Papier auseinander. Die ausgeschnittenen Buchstaben sprangen ihm ins Gesicht. Du schweigst oder du bist dran! Langsam fielen die Puzzlesteine zusammen und Severin ließ sich zitternd auf das Bett fallen. Oh mein Gott! Eine Erpressung! Severin wußte, wie Velasquez dar auf reagiert hatte. Niemals würde er sich einer Erpressung beugen. 'Mein fanati scher Gerechtigkeitssinn' so stand es in dem Brief, den ihm Dupont gegeben hat te. Wie flirrende Splitter fügte sich das Bild zusammen. Der Radfahrer Joaquino
Poli, der nach Roccapina zum Richter gefahren war – der Knall, den er vor dem
Absturz des Wagens gehört hatte. Marceau hatte sich beschmutzt, als er eine
Bombe am Wagen anbrachte. Ein Anschlag auf den Wagen des Richters, in dem
jedoch nicht dieser saß, sondern seine Familie. Severin schloß die Augen und
preßte die Fäuste zusammen. Tief aus seinem Inneren stieg grenzenloser Haß
empor und schüttelte ihn.
Doch nein! Haß war nicht das, was er nun brauchte. Ruhig jetzt, keine Gefühle!
Langjährige Übung tat ihre Pflicht. Severin schaltete seine Emotionen aus.
Jetzt war er kalt, eiskalt. Das war besser.
Er verstaute das Blatt in seiner Brusttasche. Dann ging er in sein Zimmer und
nahm den Pistolengurt aus dem Schrank. Mit ruhiger Hand zog er die schim
mernde Waffe aus dem Etui, klappte die Trommel auf, füllte fünf Patronen in die
schwarzen Löcher und verstaute die Waffe wieder im Halfter. Er streifte sich den
Gurt über und befestigte die Schnalle an der Brust. Dann schnürte er seine Schu
he, schnallte sich den Bauchgurt um und zog sich die Motorradjacke über. Lang
sam streifte er sich die Handschuhe über und nahm den Helm vom Haken. Seine
Bewegungen waren ruhig und gelassen. Die sorgfältige Adjustierung hatte die
Endgültigkeit eines Menschen, der zu einer Hinrichtung ging – aber als Schar
frichter.
Mit dem Braten auf der Silberplatte kam Nanette aus der Küche, als sie Severin
die Treppe herab schreiten sah. Beinahe ließ sie die Platte fallen. Sie öffnete den
Mund, doch kein Ton kam heraus. Entgeistert blickte sie der schwarzen Gestalt
nach, die sich gemessen den Helm aufsetzte, die Türe öffnete und ohne sie hinter
sich zu schließen wie ein Spuk verschwand. Sekunden später röhrte das Motorrad
auf und Kies spritzte, als es die Auffahrt verließ.
Nanette schaffte es gerade noch in die Küche. Zitternd stellte sie den Braten ab
und sank auf den Schemel. Mon Dieu! Monsieur Severin hatte wie ein Racheen
gel ausgesehen! Mon Dieu.
375
Nanette vergaß den Braten. *** Wie betäubt ging Dominique Carbonet durch die Straßen von Bonifacio. Mit aller Macht strömten lange zurückliegende Episoden auf sie ein, als sie die Stätten ihrer Kindheit wiedersah, und es nützte nichts, sein Herz zu verhärten. Vielleicht war es ein Fehler gewesen zurückzukehren. Als sie um die Ecke bog, erkannte sie das Haus wieder. Hier war die Gaststätte, in der sich Marie-Claire und Jacques verlobt hatten. Jacques! Sie seufzte, als sie an den schmucken Leutnant in Fliegeruniform dach te. Welch Unterschied zu dem fülligen, selbstgefälligen Bürgermeister, den sie gerade verlassen hatte. Einst hatte jener anbetungswürdigen Jacques sie verlas sen, da seine Karriere ihm wichtiger war als sein Kind. Dominique strebte am Hafen entlang und suchte die verschwiegene Stelle, eine sonnenüberflutete Wiese inmitten von dichten Ginsterbüschen, in der sie und Jacques zum ersten Mal... Aber soweit ihr Auge reichte, war alles verbaut. Häßli che Betonklötze standen an der Stelle, an der sie Alfons empfangen hatte. Wie jung waren sie damals gewesen, jung und unbeschwert, voller Lachen und Freu de, voller Zärtlichkeit und Süße, der eine ausschließlich dazu da, die unausge sprochenen Wünsche des anderen zu erfüllen. Dominique spürte in den Tiefen ihrer Seele ein fernes Klingen dieser Gefühle, die sie nie wieder empfunden, nie wieder zugelassen hatte. Dann dieser Abend, als sie ihm glückstrahlend mitgeteilt hatte, sie sei schwanger, erwarte ein Kind von ihm, ihrem einzigen Geliebten. Für Dominique war damit alles klar. Sie würde sich von Philip scheiden lassen und Jacques heiraten. Keine andere Lösung war denkbar. Und doch mußte sie gedacht, mußte sie akzeptiert werden, diese andere Lösung. Marceaus Gesicht war kalt und abweisend geworden. Mit einem Satz, der ihr ins Herz geschnitten hatte, war alles zu Ende, war die Frau in ihr getötet worden für immer. Dominique hatte diese verhängnisvollen Worte nie vergessen 'Ich bin sicher, das Kind ist von Philip!' hatte Jacques gesagt. Wutbebend hatte ihm Do minique entgegen geschleudert, sie würde damit an die Öffentlichkeit gehen, seine Karriere ruinieren! Jacques hatte sie hochmütig angesehen und sich wortlos entfernt. In ihrer Verzweiflung hatte sie sich ihrer Schwester anvertraut. Der ein zige Moment von Schwäche, der Dominique je erlegen war. Wie schief ist ab diesem Zeitpunkt dann alles gelaufen. Denn Jacques, der Vater ihres Kindes, war souverän Dominiques Rache zuvorge kommen. Bereits zwei Tage später hatte er ihrer Schwester den Hof gemacht. 376
Marie-Claire, dieses blasse, unterwürfige Mauerblümchen, hatte natürlich über alle Maßen geschmeichelt sofort angebissen und sich zwei Monate später verlobt. Heiß fühlte Dominique heute noch den Schmerz der damaligen Demütigung. Sie, die wochenlang auf ein Zeichen von Jacques gewartet hatte, war kaltgestellt wor den, beiseite geschoben ohne wirkliche Möglichkeit, Rache zu üben. Nun war ihr nur noch der Haß geblieben. Diesem Haß hatte sie nie erlaubt zu verschwinden. Sie hatte ihn sorgsam gehütet. Niemals hatte sie auch dem Schicksal erlaubt, ih ren Betrug zu entlarven. Alfons war für den Rest der Welt Philips Sohn und als solcher sah ihn dieser auch. Das mußte so bleiben, war noch wichtiger als sich an Jacques zu rächen! Nichts durfte Alfons Stellung als Sohn des Anwalts gefähr den, kein Hafenmeister und kein Schwiegersohn eines Richters. Daher mußte, so bedauerlich dies auch war, dieses Schwein Marceau geschützt werden – wieder einmal. Dominique war auf der Seepromenade angekommen und trat an die niedrige Ba lustrade, die die Klippe säumte. Sie setzte sich auf die kühlen Steine. Grimmig sah sie nach unten. Wann würde diese überhängende Felsnase endlich ins Meer brechen und alle mitreißen? Als Kind hatte sie in der Schule gelernt, es könne noch Jahrhunderte dauern, aber Dominique hätte es begrüßt, wenn es in diesem Moment geschehen wäre. Tausende Tonnen Stein, die ins Meer krachten und alle mit sich riß. Es wäre ein willkommener Tod! Er würde sie endlich erlösen aus jahrelanger Qual. Der Anblick von Alfons, der seinem Vater so sehr glich, daß es jedem auffallen mußte, der die beiden zusammen sah. Also war sie nie wieder nach Korsika gefahren. Dominique sah sich um. Die Sonne neigte sich gegen Westen und der kühle Wind hatte aufgefrischt. Entschlossen kletterte sie von der Mauer. Die gewohnte Tat kraft hatte sich wieder eingestellt. Hier war ein Problem und es war an ihr, es zu lösen endgültig, wenn möglich. Dominique preßte ihre Handtasche an die Brust. Die Waffe dazu führte sie mit sich, hier, an ihr Herz gepreßt, ebenso kalt wie dieses. Einige Leute blickten ihr nach, als sie mit kräftigem Schritt die Promenade ent lang eilte, die Lippen verkniffen, die Augen blicklos und starr. Später sollten sie aussagen, es wäre ihnen beim Anblick dieser seltsamen Frau kalt über den Rük ken gelaufen und beinahe jeder hatte es kommen sehen, daß diese Frau gefährlich werden würde. Dominique winkte einem Taxi. ***
377
„Was?“ stammelte Marceau und drückte sich soweit es ging in den Ledersessel. Das tödlich Rohr folgte ihm ohne Zögern. Marceaus Augen quollen aus den fet ten Backen. Endlich löste er seinen Blick von der Waffe und glitt der schwarzen Gestalt hinauf. Severin stand seitlich vom Bürgermeister und hielt ihm die Waffe an die Nasen wurzel. Als er sah, daß Marceau halbwegs klar war, trat er zurück, um aus der Reichweite von Händen und Füßen seines Opfers zu gelangen. Er angelte sich mit dem Fuß einen Stuhl und ließ sich darauf nieder, ohne die Richtung der Waffe zu verändern. „Du hast meine Familie getötet!“ Die Stimme war gleichgültig, Mar ceau empfand es um so bedrohlicher. Wimmernd beugte er sich vor. Die Waffe glitt ein wenig höher. „Nein, bitte, nein!“ Er rutschte wieder zurück. „Gut so. Rühr dich nicht, könnte ja sein, daß ich dich leben lasse.“ „Was willst du?“ Zaghaft schlich sich die alte Trotzigkeit wieder in die Stimme Marceaus. Severin zog die Augenbrauen hoch. „Ich habe nicht versprochen, dich am Leben zu lassen. Ich habe nur eine vage Möglichkeit angedeutet.“ Marceau schlug die Augen nieder. Herrgott, warum hatte er nur soviel gesoffen! Es würde seine ganzen Geisteskräfte erfordern, aus diesem Schlamassel heil her auszukommen. Welche Chancen gab er sich in diesem Zustand? Er verknotete seine Finger. Zeit – er mußte Zeit gewinnen. „Wie bist du hereingekommen?“ Severins Stimme war leise und sanft. „Mein lieber Jacques! Wenn du Konversa tion machen willst, mir soll es recht sein. Aber ich sage dir, nach dem, was ich mit dir vorhabe, wird Einbruch das geringste Vergehen sein, das man mir vorwer fen wird. Das dürfte das Strafausmaß, das auf Mord steht, nur mehr unwesentlich belasten, meinst du nicht auch?“ „M...Mord?“ „Nun, du kannst es auch gerechte Strafe nennen, wie es in der Bibel steht, Auge um Auge, Zahn um Zahn. Du hast meine Familie ermordet, also bringe ich dich um. Eine schöne, einfache Rechnung. Glaubst du, der Richter wird das honorie ren?“ Marceau schwieg. Severin schlug die Beine übereinander, der Revolver bewegte sich leicht, Marceau hielt den Atem an, doch nichts geschah. Die Waffe lag ruhig in Borowskis Hand, unvermindert auf ihn gerichtet. Langsam atmete Marceau 378
aus. Er mußte an seine eigene Pistole kommen, die keinen halben Meter von ihm entfernt in der obersten Schublade lag. Severin sprach wieder. „Hat dir wohl die Sprache verschlagen. Du denkst be stimmt daran, einen miesen Trick zu probieren. Wo hast du sie denn versteckt? Sie liegt bestimmt in der oberen Lade dort, nicht wahr?“ Erschrocken zuckte Marceau zusammen. Konnte dieser Kerl Gedanken lesen? Entschuldigend breitete er die Arme aus. „Verzeih mir, Severin, ich bin noch nicht ganz bei mir.“ Severin nickte bedeutungsvoll zur leeren Calvadosflasche. „Immer noch dieselbe Marke!“ „Alte Gewohnheiten ändern sich nicht, Severin.“ Entschuldigend lächelte Mar ceau. Zeit, er brauchte Zeit. Es konnte alles möglich passieren, Marie-Claire könnte zurückkehren, Severin könnte es sich anders überlegen. „Wo hattest du die Bombe angebracht?“ Die Stimme klang eine Spur schärfer, die Augen zu Schlitzen zusammengepreßt. Severin würde es sich nicht anders überlegen, soviel stand fest. Marceau blieb der Mund offen stehen. „Von wem weißt du das?“ In diesem Mo ment erkannte er seinen Fehler und versuchte zu retten, was zu retten war. Mit unschuldigem Lächeln fragte er: „Welche Bombe? Ich habe keine Ahnung, wo von du sprichst!“ Severin lächelte zurück, wobei er langsam aufstand. „Das ist schade. Also werde ich ein wenig nachhelfen, damit du möglichst rasch eine Ahnung bekommst.“ Mit der linken Hand schlug er in Marceaus Gesicht, daß es klatschte, setzte sich wie der hin und ohne die Stimme zu verändern, fuhr er fort: „Nachdem du jetzt nicht mehr ganz ahnungslos bist, werde ich dir sagen, was ich möchte. Du beantwortest jede meiner Fragen, und zwar umgehend und wahrheitsgemäß! Hast du mich nun verstanden?“ Marceau hielt sich die Hand an die brennende Backe. Tränen liefen über sein Gesicht, Tränen der Wut und des körperlichen Schmerzes, der sich wie Feuer bis zu den Haarwurzeln ausbreitete. Stumm nickte er. Severin schlug wieder die Beine übereinander und betrachtete interessiert seine Waffe. Gleichgültig sprach er weiter: „Denn wenn du das nicht tust, mein lieber Bürgermeister, dann schieße ich dir als erstes ins Knie und als nächstes in die Eier, compris?“ Dabei entspannte und spannte er mit dem Daumen den Hahn. Mit lautem Knacken rastete dieser wieder ein. 379
„Um Himmels willen!“ Marceau schrie. „Ich sage dir alles, alles! Die Bombe
habe ich irgendwo hin in den Motorraum geklebt... ich weiß nicht mehr genau. Es
war ein Versehen! Um Gottes willen, Borowski, ein Versehen, hörst du?“
„Ein Versehen, das drei Menschen tötete?“
„Aber versteh doch! Hör zu.“ Beschwörend streckte er seine Hände aus. „Broca
war von dieser Wahlgeschichte informiert worden und hat mich angerufen. Er hat
mir bis Montag Zeit gegeben, die Sache an die Öffentlichkeit zu bringen und
zurückzutreten. Wenn Montag nichts davon im 'Bonifacio Journal' stehen würde,
wollte er ein Verfahren einleiten. Wir äh, ich wollte ihn nur erschrecken. Es war
eine ganz kleine Bombe, nicht mehr wie ein Knallfrosch. Sie sollte nur genügend
Krach machen, um ihn abzuhalten, mich zu ruinieren“ Die Stimme verlor sich.
„Unglücklicherweise hast du sie aber so plaziert, daß sie die Bremsleitung zer
fetzte. Wer ist wir?“
„Wie bitte?“
„Du sagtest 'wir äh, ich wollte ihn nur erschrecken.' Wer ist noch beteiligt?“
„N N Niemand. Es war meine Idee.“
Der Schuß war so laut, daß Marceau für Sekunden taub war. Aber das war im
Moment seine geringste Sorge. Wie ein quiekendes Ferkel sprang er in die Luft
und kroch hinter den Lehnstuhl in Deckung, hielt sich die Ohren zu und sabberte
vor sich hin: „Ich bin getroffen, oh mein Gott, ich bin getroffen.“
Severins Stimme war schneidend. „Setz dich wieder hin, du Held. Glaubst du, ich
könnte aus dieser Entfernung daneben schießen? Das Loch befindet sich im
Stuhl, fünf Zentimeter von deinem linken Knie entfernt. Hoch mit dir!“
Wankend kam Marceau auf die Beine und befingerte seine Knie. Tatsächlich
waren beide unverletzt. Erleichtert ließ er sich wieder in den Sessel plumpsen.
Gleichmütig sagte Severin: „Der Schuß hat sicher die Nachbarn alarmiert, was
meinst du dazu? Sollte ich nicht besser gleich mit dir Schluß machen?“
„Nein, nein, nein hör zu, Severin, niemand hat etwas gehört. Die nächsten Häuser
stehen weit entfernt... bitte, ich bitte dich, ich werde dir auch alles sagen, alles!“
„Das sagtest du bereits. Doch scheinst du schnell von deinen Vorsätzen abzuwei
chen. Als Politiker steht dir das zwar zu, aber ich habe nicht die Zeit, bis zur
nächsten Wahl zu warten. Bist du sicher, daß ich deinem selektiven Gedächtnis
nicht doch etwas nachhelfen soll?“ Der Lauf der Waffe beschrieb einen kleinen
Kreis. Marceau brach wimmernd zusammen.
In diesem Augenblick schellte die Türglocke.
*** 380
Zufrieden drehte sich Rosalia einmal um die eigene Achse und betrachtete sich im Spiegel. Nichts auszusetzen! Sie schlenkerte mit ihrer Tasche, als sie die Wohnung verließ. Gewohnt rasant fuhr sie durch Bonifacio und bog auf die Stra ße ein, die zum Kap führte. Sie lächelte und summte ein Lied vor sich hin. Als sie die Auffahrt zum Haus sah, beschloß sie, ihren Wagen außer Sicht zu parken. Mußte ja nicht gleich jeder sehen, daß sie in Roccapina war! Vorsichtig stakste sie die Auffahrt entlang. Die Stöckelschuhe waren nicht die ideale Fußbekleidung für einen Kiesweg. Dafür machten sie sagenhafte Beine! Noch immer summte Rosalia vor sich hin. Sie zweifelte nicht an ihrem Erfolg, Severin würde heute Nacht ihr gehören! Ganz andere Männer hatten ihr nicht widerstehen können, also war es keine Frage, daß sie ihr Ziel erreichen würde. Man könnte ja noch den einen oder anderen Gedanken an die Taktik verschwen den. Sollte sie ihm gleich schöne Augen machen oder war es besser, zuerst mit ihrer Information herauszurücken und sich dann Severins Dankbarkeit zunutze machen? Wie sie ihn einschätzte, würde diese nicht nachhaltig sein, also doch besser... Was tat denn diese alte Schreckschraube hier? Rosalia hatte die Hälfte der Auffahrt zurückgelegt. Kritisch musterte sie die alte Dame, die in völliges Schwarz gekleidet unbeweglich an der Garagentür stand, den Blick starr auf die Auffahrt gerichtet. Unschlüssig starrte Rosalia sie an. Ein weiterer Besuch? Das war eine schöne Komplikation! Ärgerlich biß sie sich auf die Lippen. Sie hatte sich nun mal in den Kopf gesetzt, daß heute der bewußte Tag war, an dem der spröde Severin endlich ihr gehören würde. Entschlossen schritt sie weiter. In diesem Moment hörte sie einen Wagen hinter sich einbiegen. Der Jaguar! Se verin war da! Sie drehte sich um, hob leicht das rechte Bein an, um besonders vorteilhaft auszusehen, und winkte. Aber auch die schwarze Gestalt näherte sich dem Wagen. Aus den Augenwinkeln sah Rosalia eine Bewegung und drehte den Kopf. Gott im Himmel, was hielt diese blöde Alte in der Hand? War das eine Pistole? Was ging hier vor? Rosalia starrte auf die schwarzgekleidete Frau, die mit ausgestrecktem Arm und starrem Blick auf den Wagen zu schritt, der langsam die Auffahrt entlang rollte. Rosalia erwachte aus ihrer Erstarrung. „NEIN! Er gehört mir!“ Sie rannte auf den Wagen zu. „Severin! Paß auf! Die will dich erschießen!“ Vier Schüsse trafen Rosalia in den Rücken und schleuderten sie gegen die linke Seite des Fahrzeugs, das knirschend zum Stehen kam. Wie in Zeitlupe glitt sie zu Boden. Ein weiterer Schuß durchschlug das Seitenfenster, Glassplitter fielen in 381
Rosalias sorgfältig geföhntes Haar, verfingen sich darin und funkelten wie Dia
manten.
Die Tür wurde geöffnet und Fee sprang zu der am Boden liegenden Gestalt.
„Was ist geschehen?“ Sie beugte sich über die leblose Frau und sah das Blut.
In diesem Moment krachte ein weiterer Schuß.
*** „Ich habe einen Schuß gehört und die Eingangstüre ist offen. Meine Leute warten im Wagen. Was geht hier vor?“ Der Polizeipräfekt von Bonifacio konnte durch aus beeindruckend wirken, wenn er es darauf anlegte. Dies war so ein Zeitpunkt. Nicht unmaßgeblich unterstützt wurde dieses Bild der Stärke allerdings durch eine Dienstwaffe, die auf Severin zeigte. Dieser hatte beim Eintreten des Mannes in Uniform bereits seine Magnum auf den Boden gelegt und war ein wenig beiseite getreten. In diesem Augenblick kreischte Marceau: „Erschieß ihn! Erschieße ihn! Er weiß alles!“ Dabei nestelte er ungeduldig an einer Schublade. Severin erfaßte die Situation als erster und sprang Marceau von hinten an. Er schlang ihm beide Arme um den Oberkörper, was bei Marceaus Umfang gar nicht so einfach war und riß ihn zu Boden. Ein Schuß dröhnte. Severin, der Mühe hat te, den zappelnden Bürgermeister zu bändigen, konnte sich nicht um Einzelheiten kümmern. Der Körper unter ihm hatte offenbar keinen tödlichen Treffer erhalten, denn er wand und krümmte sich höchst lebendig. Mit einem kräftigen Kinnhaken schickte er den Bürgermeister in das Land der Träume und stand keuchend auf. Verblüfft blinzelte er. Im Zimmer wurde es eng. Vor ihm stand der höchste Poli zist der Stadt, in seiner herabhängenden Hand die rauchende Waffe, hinter ihm drängten sich eine Menge Leute in Polizeiuniformen, die höchst überrascht von einem zu anderen blickten. *** „Wen wollte denn dieser unangenehme Polizist erschießen? Dich oder Mar ceau?“ Fee streckte die Beine von sich und sah in die vorüberfliegende Land schaft. Sie waren auf dem Weg zur Klinik 'Cimiez', um Dupont zu treffen. Als Severin nicht antwortete, sah sie ihn an. An der linken Fahrertür sah man das kleines Loch, das eine der Kugeln aus Dominiques Waffe geschlagen hatte. „Du wirst das Glas erneuern müssen. Gibt es für diese alte Kiste überhaupt noch ein Ersatzteil?“ stichelte sie. „Du kannst auch zu Fuß gehen.“ Severin schmunzelte leicht. „Um auf deine erste Frage zurückzukommen, ich weiß es nicht. Persönlich nehme ich an, daß er sei 382
nen Mitwisser beseitigen wollte, aber die Kugel hätte genauso gut mich treffen
können. Da er so ein lausiger Schütze ist, werden wir es nie genau wissen.“
„Jedenfalls bekommen beide, was sie schon lange verdient haben!“ Satte Zufrie
denheit klang aus Fees Worten.
„Die ungeteilte Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit?“
Fee lachte. „Das auch! Die Zeitungen schreiben über nichts anderes.“ Dann flog
ein Schatten über ihr Gesicht. „Diese arme Frau!“
„Rosalia?“
Fee seufzte. „Die auch!“
„Du meinst Madame Carbonet!“
„Ja. Ihr Mann schien total gebrochen. Aber vielleicht war es gut, daß sie sich mit
dem letzten Schuß selbst umgebracht hat. Sie hätte die Schande nie überlebt.“
„Man überlebt vieles!“
Rasch sah Fee Severin an und legte ihm die Hand auf den Arm. „Die Gespenster
sind verschwunden, nicht?“
Severin nickte. Die Gespenster waren fort, aber nicht die Trauer. Es war, als wä
ren seine Lieben zum zweiten Mal gestorben. Aber diesmal konnte er sie ohne
Schuldgefühle betrauern.
Sie bogen auf den Klinikvorplatz ein. Mit wehendem Mantel eilte Dupont auf sie
zu. „Meine Freunde! Wie schön! Das war eine Erleichterung, Severin, als ich
Ihren Anruf erhielt. Kommen Sie, kommen Sie herein.“ Eilfertig rannte er voraus
und strich sich dabei die wirren Haare aus der Stirn. Dabei sprudelte er unent
wegt. „Sie müssen mir alles erzählen, mes amis! Die Zeitungen schreiben ja Hor
rorgeschichten. Ich hatte Sie gewarnt, mon ami, Sie begeben sich in Gefahr! So,
bitte, nehmt Platz, meine Freunde. Was darf ich zu trinken bringen?“
Severin und Fee sahen sich an und schmunzelten. Die liebenswürdige Geschäf
tigkeit des Klinikleiters brachte eine Atmosphäre von Normalität, die beide dank
bar genossen.
Nach dem Zuprosten und ersten Nippen am Glas stellte Dupont ungeduldig sei
nen Drink auf den Tisch, schob sich die Brille auf die Nase und beugte sich ge
spannt vor. „Severin, spannen Sie mich nicht so lange auf die Folter. Es war kein
technischer Defekt am Auto Ihrer Familie?“
„Nein. Es war eine Bombe, die unglücklicherweise so plaziert war, daß der
Bremszylinder platzte, denn nur so erklärt sich der plötzliche Bremsverlust. Der
Wagen schoß in den Abgrund.“
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Dupont schnalzte mit der Zunge. „Ts, ts, ts, grauenhaft, diese Vorstellung! Der Bürgermeister hatte sie angebracht, um zu vertuschen, daß das Wahlergebnis gefälscht war, habe ich gelesen.“ „Ja, er wollte Velasquez eine Warnung zukommen lassen. Marceau ist krankhaft ehrgeizig und wollte unbedingt Karriere machen“ „Wie kam denn dieser Betrug auf?“ „Wir können nur vermuten.“ Severin nippte an seinem Glas. „Marceau hat einen geistig etwas einfachen Mann, man nennt ihn den 'Cretin', beauftragt, die Wahl zettel anzukreuzen und sie dann unter die anderen gemischt.“ „Aber da waren dann doch viel zu viele Stimmen?“ Dupont hatte mitgedacht. „Nun, er wird die aus seiner Sicht falschen Stimmzettel vernichtet haben und... Augenblick!“ Severin runzelte die Stirn und legte die Hände an die Schläfen. In gespanntem Schweigen warteten Fee und Dupont. „Rote und weiße Rosen!“ Er leichtert sah Severin auf. „Wie bitte?“ Besorgt blickte Fee auf ihren Gefährten. Severin schüttelte den Kopf. „Jetzt weiß ich es. Josette und ich haben auf unserer Hochzeitsreise dem Meeresgott geopfert, was“, ein strenger Blick zu Fee, die prustend ein Lachen unterdrückte, „was ein alter Brauch in Bonifacio ist. Nun erinnere ich mich, daß ich einmal mit meinem Boot fischen war und rote und weiße Flecken auf dem Wasser treiben sah. Als ich näherkam, sah ich, daß Pa pierfetzen im Wasser schwammen. Sie waren schon ziemlich aufgeweicht und als ich einen der Fetzen aus dem Wasser fischte, war es ein Kuvert, ein rotes, unbe schriebenes Kuvert. Das waren...“ „... die Stimmabgaben für den Gegenkandidaten.“ Vervollständigte Dupont den Satz und nickte. „Ihr Unterbewußtsein hat sie nicht im Stich gelassen, mon ami! Aber erzählen Sie weiter, es gab auch einen Mord, wie ich las.“ „Es gab, genau genommen, einen Mord und einen Selbstmord. Rosalia Poli wur de erschossen in dem Moment, als sie auf meinen Wagen zulief, um mich vor einer haßerfüllten Frau zu retten.“ „In diesem Wagen saß jedoch ich!“ sagte Fee schaudernd. „Eine Kugel durch schlug die Fahrertür und Rosalia hatte vier Schüsse im Rücken. Mit der letzten Patrone richtete sich Dominique selbst. Ich war dabei, es war grauenhaft!“ Fees Stimme kippte. Fürsorglich schenkte ihr Dupont nach und nötigte sie zum Trin ken. „Hier, meine Liebe, nehmen Sie einen Schluck! Das muß ja ein furchtbares Erlebnis gewesen sein.“ 384
„Ziemlich unprofessionell.“ Severin trockene Bemerkung platzte in die düstere
Stimmung wie ein Fuchs in den Hühnerstall. Dupont begriff als erster, was Se
verin damit bezweckte. Anerkennend nickte er. Fee runzelte die Stirn. „Der
Selbstmord?“
„Nein, die Anzahl der Schüsse! Sechs Patronen. Kein Profi lädt seinen Revolver
mit soviel Kugeln, wie die Trommel faßt. Man läßt immer eine weg.“
Fee hustete. „Mir war es ganz recht, daß kein Profi auf mich geschossen hat, das
steigert die Überlebenschance.“
„Nicht unbedingt! Ich persönlich halte einen nervösen Amateur für viel gefährli
cher.“
„Du klingst ziemlich schulmeisterhaft, mein Guter!“ bemerkte Fee spitz, aber das
Grauen war aus ihrer Stimme gewichen.
Dupont hatte entspannt das Hin und Her verfolgt. Nun schaltete er sich wieder
ein. „Ich kann mir gut vorstellen, Severin, daß Sie ungeheuer anziehend auf Frau-
en wirken. War eventuelle verschmähte Liebe der Grund, warum Dominique
Carbonet Sie töten wollte?“ Es klang anzüglich.
Fee lachte. „Monsieur Dupont, in einer stillen Stunde werde ich Ihnen einmal
etwas über Severin und die Frauen erzählen“
Severin beachtete sie nicht. „Dominique war seit mehr als vierzig Jahren ver
zweifelt bemüht, ihr Geheimnis zu wahren. Sie nahm an, Philip würde Alfons
sofort enterben, wenn er erfuhr, daß er nicht der Vater war. Also tat sie alles,
damit nichts an die Öffentlichkeit gelangen konnte. Sie überschätzte dabei wahr
scheinlich Philips Reaktion. Ich denke, sie wollte auf Nummer sicher gehen. Da
her durften die Untersuchungen über den Tod meiner Familie auch nicht weiter
geführt werden. Es bestand die Gefahr, daß Marceaus Wahlbetrug aufflog.“
„Ich sehe da aber keinen Zusammenhang mit dem Seitensprung Dominiques, du
etwa?“
Severin schüttelte den Kopf. „Keinen unmittelbaren, nein. Aber wer weiß, viel
leicht wurde sie von Marceau erpreßt oder sie hat ihm gedroht, die Geschichte
auffliegen zu lassen, irgend etwas in diese Richtung“
Dupont räusperte sich. „Vorstellungen, in die man sich jahrzehntelang verbeißt,
habe die Neigung, eine gewisse Eigendymanik zu entwickeln und verselbständi
gen sich mit der Zeit. Das Individuum kann deren Verlauf oft nicht mehr steuern,
er gleitet ihnen sozusagen aus den Händen. Das könnte durchaus mit Madame
Carbonet passiert sein. Wir werden es wohl nie mehr erfahren. Woher haben Sie
denn diese Insiderinformationen?“
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Severin kniff die Augen zusammen. „Lassen Sie mich erst ihre wissenschaftliche Deutung verdauen. Heißt das, man steigert sich solange in etwas hinein, bis es Realität erhält?“ „So kann man es auch ausdrücken.“ Dupont nahm die Brille von der Nase und begann, sie emsig zu putzen. „Um ihrer nächsten Frage zuvorzukommen, ja, mein Freund, das passiert uns auch mit unseren Gefühlen. Schuldgefühle beispielswei se können eine Bedeutung annehmen, die weit über das realistische Maß hinaus geht. Kommt Ihnen das irgendwie bekannt vor?“ Er setzte sich die Brille auf und musterte Severin aufmerksam. Dieser schüttelte den Kopf. „Ich kann diese Frage nicht beantworten. Für mich waren Josette und Juan das Wichtigste im Leben und die Vorstellung, ein Fehler meinerseits hätte sie umgebracht, war unerträglich.“ „Und diese Vorstellung hätte sie beinahe selbst in den Tod getrieben!“ Zögernd sah Severin auf seine Hände. „War es das, warum Sie so zweideutig reagierten? War meine Verblendung so offensichtlich?“ Dupont wackelte mit dem Zeigefinger. „Aber, aber! Sie versuchen es ja schon wieder! Nein, mon ami, so läuft das nicht. Ich sagte Ihnen schon, reimen Sie sich die Dinge selbst zusammen. Tragen Sie eigentlich immer noch dieses Donnerge rät?“ Severin breitete die Hände aus. „Mein lieber Henri, jetzt verrennen Sie sich in Vorstellungen, die nicht der Realität entsprechen.“ „Wenn die Herren die Freundlichkeit hätten, mir zu erklären, worum es hier ei gentlich geht? Ich fühle mich ziemlich überflüssig!“ Fee klopfte gelangweilt eine Zigarette aus ihrem Etui. „Die Frage war, woher weißt du das alles, oder irre ich mich?“ Fragend sah sie von einem zum anderen. Dupont und Severin sahen sich an, in ihren Blicken blitzte Wertschätzung für die Kompetenz des anderen auf, gleichzeitig auch das Wissen, das Kräftemessen war noch nicht zu Ende, nur aufgeschoben. Severin wandte sich zu Fee. „Nanette hat es mir erzählt. Ich hätte schon viel frü her auf diese Informationsquelle kommen können. Marie-Claire sollte laut Domi niques Auftrag herausfinden, wieviel ich wüßte und was ich vorhätte. Das Komi sche dabei ist, Marie-Claire hat sich meinen Namen nicht gemerkt und nur immer von 'diesem Polen' gesprochen. Obwohl Nanette ziemlich helle ist, brauchte sie eine ganze Weile, ehe sie kapierte, daß ich damit gemeint war.“ „Das war ja eine richtige Versammlung in Roccapina. Nanette, Rosalia, diese Dominique und nun auch noch die Frau des Bürgermeisters. Du scheinst wirklich 386
eine ungeheure Anziehungskraft auf Frauen auszuüben“ Fee blickte Severin un schuldig an. Wieder ignorierte Severin die Bemerkung. „Marie-Claire kam nie in Roccapina an. Zuerst hatte sie sich verfahren. Dabei stieß sie an einen Baum und ruinierte ihr Auto. Dann schlief sie einfach ein. Sie hatte eine enorme Menge Valium ge schluckt, um sich zu beruhigen. Als sie wieder erwachte, war sie immer noch ziemlich benommen. In diesem Zustand hat sie ein Autofahrer aufgegabelt und bei der Polizei in Bonifacio abgeliefert. Der Beamte verständigte seinen Vorge setzten, er wollte sich nicht die Finger verbrennen. Der Polizeichef endlich wit terte Übles und raste zum Haus des Bürgermeisters, wo er in unsere kleine intime Besprechung platzte. Da er einen Rattenschwanz an Polizisten hinter sich herzog, kam die Geschichte an die Öffentlichkeit.“ „Arme Marie-Claire!“ Fee fühlte sich gedrängt, die Frauenseite zu vertreten. „Ein wahres Drama! Mir scheint, es wird keiner der Beteiligten besonders glück lich aus der ganzen Sache aussteigen.“ Dupont wackelte mit dem Kopf. „Ausge nommen Sie, Severin, Ihr Einsatz hat sich gelohnt, nehme ich an.“ „Ja, in der Tat.“ Aufatmend streckte Severin die Beine von sich und leerte sein Glas. ***
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