Der Rote Hahn Roy Palmer Am Silberberg war die Arbeit getan, eine gute Arbeit, denn es konnte kein Silber mehr abgebaut...
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Der Rote Hahn Roy Palmer Am Silberberg war die Arbeit getan, eine gute Arbeit, denn es konnte kein Silber mehr abgebaut werden, weil die Indios fehlten, die von den bärtigen Fremden befreit worden waren. Und als Philip Hasard Killigrew mit seinen Männern aus Potosí abgezogen war, hatte der Mob seine Chance genutzt, war aus seinen Löchern gekrochen und hatte geplündert – denn es gab keine Polizeikräfte mehr in der Stadt. Und jene, die etwas zu sagen hatten, saßen doppelt gesichert im Stadtgefängnis. Die Stadtstreicher würden den Teufel tun, sie zu befreien. Das also war in Potosí passiert, aber jene Seewölfe, die auf der »Estrella de Málaga« und der »San Lorenzo« in der verschwiegenen Felsenbucht zurückgeblieben waren, hatten auch etwas zu tun… 1. Margarita, die glutäugige, dunkelhaarige Schönheit, stand am späten Vormittag des 15. Dezember 1594 am Fenster ihrer kleinen Kammer und blickte auf die Plaza von Arica hinunter. Sie träumte, wie so oft, von ihrer Heimat Andalusien. Ja, dorthin würde sie zurückkehren, eines Tages. Sie hatte keine Illusionen mehr, denn das war in ihrem Gewerbe nicht möglich, doch sie war ziemlich sicher, daß sie sich ihren Herzenswunsch in nicht allzu ferner Zukunft erfüllen würde. Als wohlhabende Frau wollte sie nach Andalusien zurückkehren und sich dort eine Hacienda kaufen, mit viel Land, Olivenbäumen, Rebstöcken, Kühen, Ochsen und Schafen und einem prächtigen Haus darauf. Dazu brauchte sie Geld – viel Geld. Einen Teil hatte sie bereits angespart und gut versteckt, den Rest würde sie sich in den nächsten zwei, drei Jahren verdienen. Der Wirt der Schenke an der Plaza war ein Wucherer und Galgenstrick. Er kassierte für die Kämmerchen, in denen die Mädchen wohnten und ihre Freier empfingen, und er verlangte für jeden
»abgefertigten« Kunden auch noch einen Anteil. Aber Margarita war raffiniert. Die Hauptpersonen des Romans: Ben Brighton – stellt einen Erkundungstrupp für Arica zusammen. Le Testu – für Aktionen an Land ist der Hugenotte der richtige Mann. Roger Lutz – hat ein Hühnchen mit einem gewissen Sargento zu rupfen. Zeno Manteca – der Sargento hat wieder Kopfgelder kassiert und will feiern. Ferris Tucker – interessiert sich zusammen mit Al Conroy für den Pulverturm von Arica. Viele Gelder unterschlug sie einfach, oder sie gab die Höhe der Tageseinkünfte niedriger an, als sie eigentlich waren. Sie wußte, wie man das anstellte, und es funktionierte seit Jahren. Sechs Jahre war sie nun schon in Arica. Die Zeit verging wie im Flug. Sie wollte nicht schon dreißig sein, wenn sie in ihre Heimat zurückkehrte. Sie wollte noch Kraft und Energie haben, um sich ihrem Lebensziel, der Hacienda, voll widmen zu können. Ob sie auch noch heiraten würde? Sie wußte es nicht. Sie würde es dem Zufall überlassen. Wenn der richtige kam, gab sie ihm ihr Jawort. Kam er nicht, war sie selbständig und klug genug, um auch auf eigenen Beinen zu stehen, und es war ihr dabei egal, was in Andalusien ihre Familie, die Nachbarn und die Dörfler, die ihre eigenen verschrobenen Ansichten hatten, dachten. In Arica florierte das Geschäft. Bald war Weihnachten. Viele Seeleute befanden sich im Hafen, und auch die einflußreichen und wohlhabenden Señores der Stadt hatten ihre Spendierhosen an. Das große Fest nahte, und es würde in eine einzige Orgie ausarten, denn so pflegte man sich in Arica auszutoben. Auch die Soldaten waren »bei Kasse«. Margarita haßte sie, aber am meisten haßte sie den Bürgermeister Diego de Xamete. Aus schmal werdenden Augen beobachtete sie, wie seine vierspännige Karosse auftauchte und über die Plaza rollte. Da saß er – fett und behäbig – in den Polstern, ein durchtriebener und korrupter Kerl, der an den Pranger gehörte. Doch dort standen immer nur die Indios, die Sklaven, armselige Kreaturen, die eingesperrt und mißhandelt wurden.
Menschenmaterial für die Minen von Potosí. Sie wurden in den Cerro Rico verschleppt, und von dort kehrten sie nicht mehr zurück, weil sie vor Erschöpfung, Hunger oder Kälte starben. Oder sie wurden krank und siechten elendig dahin. O ja, Margarita konnte sich dies alles sehr gut vorstellen. Manch einer ihrer Freier, der in Potosí, der Stadt des Prunkes und Überflusses, gewesen war, hatte ihr davon berichtet, wie es dort zuging. In Potosí regierte ein Kerl, der noch fetter und widerwärtiger als de Xamete war – Don Ramón de Cubillo, der Provinzgouverneur. Wenn er wieder Sklaven brauchte – Männer für die Minen und Mädchen für seine perversen Spiele –, jagte er seine Soldaten los, und die holten sich die Eingeborenen aus den Dörfern der Cordillera. Ein ganz besonders schlimmer Schinder sollte Luis Carrero, der Oberaufseher der Minen sein. Er verbreitete mit seinen Bluthunden überall Grauen und Panik. Margarita konnte nicht ahnen, daß dieser Luis Carrero nicht mehr am Leben war und daß schon bald – noch vor Jahresende – in Potosí etwas Ungeheuerliches passieren sollte: Ein Trupp verwegener Männer bewegte sich durch die Cordilleras und über den Altiplano auf die Stadt des Silbers zu, der Anführer war ein schwarzhaariger Riese namens Philip Hasard Killigrew. Sein Plan war, die Sklaven des Cerro Rico zu befreien, die Casa de la Moneda zu zerstören und den Silberabbau lahmzulegen. Genau das sollte ihm in einem tollkühnen Handstreich auch gelingen. Hätte Margarita davon gewußt, dann hätte ihr Herz für den verwegenen schwarzhaarigen Mann geschlagen. Ihr taten die Indios leid. Sie hatten niemandem etwas getan, waren friedlich und lebten zurückgezogen in ihren Dörfern. Dafür wurden sie getreten, geschlagen und ermordet. Die Kutsche rollte davon. Diego de Xamete befand sich auf seiner üblichen Rundfahrt. Er kassierte seine Schmiergelder ab. Margarita wußte mit ziemlicher Sicherheit, von wem er Geld erhielt und wie hoch die Summen waren. Die meisten wohlhabenden Bürger hatten Dreck am Stecken, keiner verfügte über eine blütenweiße Weste. De Xamete wußte dies auf seine Art auszunutzen. Sein Schweigen war Gold und Silber wert. Aber jetzt war er gezwungen, einiges von seinen »Einkünften« wieder zu opfern. Silberlinge mußten rollen, denn Don Ramón de Cubillo, der Provinzgouverneur von Potosí, hatte angedroht, daß
der Amtssessel des Bürgermeisters von Arica wackeln werde, falls de Xamete nicht in der Lage sei, in kurzer Zeit möglichst viele neue Sklaven zu beschaffen. Potosí brauchte Indios dringend. Sonst ließ die Produktion der Mine und der Münzpresse nach. Das konnte man sich auf keinen Fall leisten. Diego de Xamete also hatte den glorreichen Einfall gehabt, auf die Ergreifung jedes »Indio-Affen« ein Kopfgeld auszusetzen. Dafür zahlte er die Silberlinge gern, denn sie sorgten ja dafür, daß er im Amt blieb und seine Pfründe nicht versiegten. Die Investition lohnte sich. Täglich schleppten die Soldaten neue Gefangene nach Arica, und aus diesem Grund hatten sie Silberlinge in den Taschen, die sie wiederum in den Kneipen und Kaschemmen und den Hurenhäusern auf ihre Weise umsetzten. Der erfolgreichste Kerl von allen war der Sargento Zeno Manteca. Margarita betrachtete ihn, wie er über die Plaza spazierte. Ein übler Halunke, skrupellos und gewalttätig. Am liebsten hätte sie ihm in sein hakennasiges Gesicht gespuckt. Auch das konnte sie sich nicht erlauben. Manteca konnte außerordentlich gefährlich werden, auch Frauen gegenüber. Er war unberechenbar, und von einem Augenblick auf den anderen konnte seine Stimmung umschlagen. Er war ein Großmaul, dieser Manteca. Er hatte eine Hakennase, ein spitzes, vorspringendes Kinn und eng zusammenstehende Augen. Ein Galgenstrick, dachte sie. Sie haßte ihn so innig wie den Bürgermeister, und sie wünschte es ihnen, daß irgend jemand ihnen früher oder später das schmutzige Handwerk legte. Während sie sich ankleidete und für den Tag zurechtmachte, wanderten ihre Gedanken wieder zu der Hacienda in Andalusien ab. Mit der Erfüllung dieses Traumes würde es noch einige Zeit dauern, das wußte sie selbst. Daß aber ihre frommen Wünsche, die den Señor Bürgermeister Diego de Xamete und den Sargento Zeno Manteca betrafen, schon bald Wirklichkeit werden sollten, konnte sie beim besten Willen nicht ahnen. * Am Mittag dieses Tages herrschte etliche Meilen von Arica entfernt in einer Felsenbucht bei Tacna einiger Betrieb. Zwei Schiffe lagen vor Anker, eine Dreimastkaravelle namens »Estrella
de Málaga« und eine Dreimastgaleone namens »San Lorenzo«. Jollen bewegten sich zwischen dem Ufer und den Schiffen hin und her. Der letzte »Aufräumtrupp«, den Ben Brighton und Jan Ranse, die Kommandanten der Segler, in das Tal von Tacna hinauf geschickt hatten, kehrte an Bord zurück. Unter den Männern befand sich auch Roger Lutz, der von seinen Kameraden am Ufer und an Bord mit grinsenden Gesichtern empfangen wurde. Dicker Qualm stieg vom Ufer auf. Mac Pellew und die Zwillinge hatten die Idee, eine Räucherei für die reichlich aus dem Wasser der Bucht gefischten Anchovetas zu bauen, in die Tat umgesetzt. Fast unablässig nahmen sie die Fische aus und hängten sie in den aus Steinen errichteten Räucherofen, der nach anfänglichen Schwierigkeiten und einigen Experimenten hervorragend zog. Mac Pellew heizte die Glut an. Albert, der vermeintliche Bucklige von Quimper, leistete ihnen Gesellschaft und verdrückte still und friedlich »Kostproben« – den vierten Anchoveta an diesem Mittag. Als er jedoch Roger Lutz entdeckte, der gerade an ihnen vorbei auf eine der Jollen zuschritt, ließ er die gerade abgeknabberte Gräte sinken und setzte sein breitestes Grinsen auf. »Na, wen haben wir denn da?« rief er. »Der verlorene Sohn kehrt zurück! Wir dachten schon, du musterst ganz ab, mein Freund!« Roger blieb stehen und blickte ihn an. »Spar dir deine dämlichen Kommentare. Ein Mann wie ich mustert nie ab.« »Hast du denn schön aufgeklart bei den Padres da oben?« fragte Albert und kicherte. »Das weißt du doch«, entgegnete Roger. »Es ist nicht eine einzige Spur mehr von den Zerstörungen zu sehen. Ferris hat ja sogar das zerschlagene Kruzifix repariert.« »Klar«, sagte Philip junior. »Er hat es in pingeliger Kleinarbeit restauriert, das hat er uns erzählt.« »Und er hat auch berichtet, wie sehr Roger geschuftet hat«, sagte sein Bruder mit strahlendem Lächeln. »Ach, das ist nicht der Rede wert«, sagte der Franzose. Fast wurde er verlegen. Albert konnte seinen Mund nicht halten. »Na ja, er ist für die Plackerei ja auch reichlich entlohnt worden, nicht wahr? In Naturalien! Oder wie?«
Roger trat auf ihn zu. »Jetzt ist aber Schluß, du Giftmorchel! Halt die Klappe, oder ich steck’ dich mit dem Hintern in den Ofen!« Albert wich zurück. »Aber, aber! Kannst du keinen Spaß mehr verstehen?« »Nicht in dem Punkt.« »Hört auf«, sagte Mac Pellew. Er hustete, weil er etwas Rauch eingeatmet hatte. »Ihr seid doch schließlich Landsleute.« »Landsmann oder nicht«, sagte Roger. »Wer noch eine dumme Bemerkung über meine Privatangelegenheiten von sich gibt, kriegt was an die Ohren.« Damit wandte er sich ab und ging zu der Jolle, wo die anderen bereits auf ihn warteten. Es hatte sich herumgesprochen, daß Roger Lutz im Tacna-Tal zarte Bande zu einer jungen Indiofrau geknüpft hatte, die Witwe war. Ihr Mann war nachweislich in den Minen von Potosí umgekommen. Roger hatte tatsächlich hart im Klostergelände geschuftet, und aus diesem Grund hatte Pater Franciscus beide Augen zugedrückt, als er bemerkte, was sich da tat. Roger hatte die ganze Zeit über – während die Trupps sich ablösten – oben im Tal bleiben dürfen. Es war eine schöne Zeit für ihn gewesen, er würde sie nicht vergessen. Anacoana – so hieß die junge Witwe – war eine hübsche, zärtliche und kluge Frau. Sie konnte gut Spanisch, und er hatte sich ausgezeichnet mit ihr verständigen können, in allen Bereichen. Die Jollen brachten die Männer an Bord der »Estrella de Málaga«. Auch die, die sich noch auf der »San Lorenzo« befanden, setzten zu der Karavelle über. Ben Brighton hatte eine Besprechung anberaumt. Sie enterten an der Jakobsleiter auf und versammelten sich auf der Kuhl. Roger hieb seinem Freund Grand Couteau, den er jetzt wiedertraf, kräftig auf die Schulter. Wie Roger hatte auch Grand Couteau zu dem ersten Trupp gehört, der sich in das Tal hinaufbegeben hatte, doch er war dann, bei der ersten Ablösung, zur Ankerbucht zurückgekehrt. »Wie ist es dir denn so ergangen?« fragte Grand Couteau, als sie sich zum Backbordniedergang zurückzogen, der die Kuhl mit der Back verband. »Man hört ja die tollsten Geschichten von dir.« »Das ist eine Frau«, schwärmte Roger. »Von der könnte sich so manche Französin eine Scheibe abschneiden.« »Na, nun übertreibe mal nicht.«
»Es ist die reine Wahrheit.« »Gut für dich«, brummte Grand Couteau. »Aber alles hat ja mal ein Ende, leider. Es geht nach Arica, wir wollen den Dons ein bißchen ans Leder.« »Das trifft sich gut«, sagte Roger, und plötzlich war er sehr ernst. Er nestelte etwas aus seinem Wams hervor, ein zusammengefaltetes Stück Pergament. Er öffnete es und zeigte dem erstaunten Grand Couteau die Zeichnung eines häßlichen Spaniers, der einen Helm trug. »Hölle und Teufel!« entfuhr es Grand Couteau. »Wer ist denn das? Und wer hat das gemalt?« »Anacoana.« »Deine Indio-Frau?« »Ja. Dieser Kerl hier, ein spanischer Sargento, hat vor zwei Jahren ihren Mann aus dem Tal von Tacna verschleppt. Damals hat sie sich das Gesicht des Hundes sehr genau eingeprägt, unauslöschlich, verstehst du?« »Ja. Es will mir aber nicht in den Kopf, wie man aus dem Gedächtnis so ein Gesicht zeichnen kann.« »Sie hat eben ein Talent in dieser Richtung«, sagte Roger. »Ich habe auch Pater Franciscus nach diesem Kerl befragt, und er hat mir bestätigt, daß es sich um einen Sargento gehandelt hat. Aus Arica.« Grand Couteau stieß einen leisen Pfiff aus. »Das wird ja immer interessanter. Nun sieh dir diesen Hurensohn an. Ein übler Typ, nicht wahr?« »Ja. Damals tauchte er mit einem Trupp von acht Soldaten auf und requirierte zehn Indios für die Minen von Potosí.« »Diese Schweine«, sagte Grand Couteau. »Man sollte sie alle rauswerfen aus diesem Land.« »Unter den Requirierten befand sich auch Anacoanas Mann«, fuhr Roger fort. »Der Sargento schlug ihn vor Anacoanas Augen zusammen.« »Hoffentlich finden wir den in Arica wieder. Das gäbe ein feines Fest.« Grand Couteau blickte den Freund mit grimmiger Miene an. »Ich schätze, da melden wir uns als erste freiwillig, was?« Roger entgegnete: »Pater Franciscus hat mir alle Einzelheiten dieses Gesichts bestätigt. Die Zeichnung sei haargenau, hat er gesagt. Schau dir die Hakennase an.«
»Ich werde sie ihm breitschlagen«, sagte Grand Couteau. Er war ein kleiner Mann, aber schnell und wendig. Und er war ein Meister im Umgang mit dem Messer, daher sein Name, der seinen Kameraden als der einzig richtige geläufig war. »Das spitze Kinn und die eng zusammenstehenden Augen«, sagte Roger. »Das sind Details, die man sich leicht merkt und an denen man ihn erkennt.« Jan Ranse trat zu ihnen. »He, ihr beiden! Was habt ihr zu bereden? Ist das ein Geheimnis?« »Eigentlich nicht«, erwiderte Roger und zeigte ihm die Zeichnung. Dann berichtete er, was er gerade seinem Freund erzählt hatte. Jan Ranse hörte sich alles schweigend an. Er konnte Roger Lutz gut leiden und verstand, was ihn bewegte. Überhaupt, Roger war ein feiner Kerl und guter Kamerad, mit dem man durch dick und dünn ging und der für jeden seinen Kopf gegeben hätte. Deshalb hatten die Männer der »San Lorenzo« – auch Jan – ebenfalls beide Augen zugedrückt, was das Liebesabenteuer ihres Franzosen betraf, sehr wohlwollend sogar, denn jeder konnte bestätigen, daß Roger wirklich wie ein Kesselflicker im Tal gearbeitet hatte. Und ein bißchen hatten sie auch an sein mißlungenes Liebesabenteuer mit der Dame Juana gedacht, bei dem beide im Wasser gelandet waren, als man auf dem Weg nach Arica der Galeone der Komödianten begegnet war. Anschließend hatten die Mannen ihren armen Roger verdroschen. Nicht, daß sie deswegen so etwas wie Reue empfanden, aber Roger Lutz war eben Roger Lutz. Ein prächtiger Kerl, ein richtiger Draufgänger, und die Frauen flogen ihm zu. Man durfte das alles eben nicht so eng sehen, wie Jan zu sagen pflegte. Ben Brighton hatte auch nur still gelächelt, als ihm gemeldet worden war, Roger hätte oben, im Tal, noch zu tun und brauche nicht abgelöst zu werden. Jetzt aber war es unvermeidlich gewesen: Die Arbeit war getan, und alle waren an Bord zurückbeordert worden. Ben trat an die Schmuckbalustrade des Achterdecks der »Estrella« und sagte: »Männer, ich möchte mich jetzt dem Problem Arica zuwenden. Wir hatten bereits darüber gesprochen, daß es nur richtig sei, die Dons mit einen Besuch zu beehren. Wir können auf diese Weise einen guten Treffer landen und Hasard
und dem Potosí-Trupp den Rücken freihalten, falls die Dons in Arica jemals auf die Idee verfallen sollten, nach Potosí zu marschieren, beispielsweise mit einem Trupp Sklaven und Soldaten.« »Oder falls sie aus Potosí alarmiert werden, wenn dort etwas schiefläuft«, sagte Big Old Shane. »Das sollten wir auch nicht vergessen.« »Ich melde mich freiwillig für das Unternehmen Arica!« rief Roger Lutz. »Ich auch!« fügte Grand Couteau mit lauter Stimme hinzu. Ben hob beide Hände. »Langsam, langsam. Als erstes sollten wir besprechen, wie wir die Stadt und den Hafen am besten in Angriff nehmen.« »Ja«, sagte Jan Ranse, dann, etwas leiser und zu Roger gewandt: »Dir spukt wohl nur noch der miese Sargento im Kopf herum, was?« »Genau das. Und weißt du auch warum?« »Weil er Anacoanas Mann geschlagen und verschleppt hat.« »Und warum hat er ihn deiner Meinung nach geschlagen?« fragte Roger. »Warum ging der arme Teufel auf diesen Hund los?« Seine Augen wurden etwas schmaler. »Ich will es dir verraten. Pater Franciscus hat es mir berichtet, ein wenig verklausuliert zwar, aber doch deutlich genug. Anacoanas Mann hat den Sargento angesprungen, weil der im Begriff gewesen war, ihr Gewalt anzutun.« »So ein Schwein«, sagte Grand Couteau. »Für mich gibt es kein größeres Verbrechen«, sagte Roger. »Kerle, die mit Gewalt Liebe erzwingen wollen, sind für mich der letzte Dreck. Er wird das noch schwer bereuen, der Señor Sargento, wenn ich ihn erwischen sollte.« 2. Ben Brighton begann, das Vorhaben gegen Arica eingehender mit seinen Männern zu erörtern. Daß sich genügend Freiwillige finden würden, stand außer Zweifel. Wäre es nach den Crews beider Schiffe gegangen, dann wären sie alle nach Arica aufgebrochen. Das aber war praktisch und auch vom strategischen Standpunkt her völlig unmöglich. Ben wußte genau, daß er den Trupp, der bis zu dem Hafen der Spanier vorstoßen würde, möglichst klein
halten mußte, damit dieser auf keinen Fall Aufsehen erregte, ehe er die wichtigsten Details erkundet hatte. Zur Zeit betrug die zahlenmäßige Stärke der beiden Schiffsmannschaften neununddreißig Mann. Hinzu kam Araua als das einzige weibliche Wesen an Bord der »Estrella de Málaga« und außerdem das »Viehzeug«, wie Carberry zu sagen pflegte: Plymmie, Arwenack, Sir John und die Legehennen im Verschlag der Back der »Estrella«. Der Potosí-Trupp, der Ende November seinen langen Marsch begonnen hatte, bestand aus Hasard, Dan O’Flynn, Ed Carberry, Matt Davies, Gary Andrews, Stenmark, Pater David, Jean Ribault, Karl von Hutten, Fred Finley und Mel Ferrow. Außerdem begleitete den Trupp ein gewisser Pater Aloysius, der aus einem fernen, unbekannten Land namens Tirol stammte und als Bergführer offenbar hervorragend geeignet war. Ein Dutzend Männer, die auch für das Arica-Unternehmen sehr gut geeignet gewesen wären, fiel also aus, und Ben hatte sich sehr genau zu überlegen, wen er losschickte. »Hol’s der Henker«, sagte Mac Pellew, der als letzter an Bord der Karavelle aufenterte. »Nach Arica geht’s also? Wann denn? Heute nacht? Schießen wir dort alles in Schutt und Asche?« »Du redest mal wieder totalen Unsinn«, sagte Smoky. »Und du kriegst immer alles in den falschen Hals.« »Da geht es wieder los«, sagte Mac mit todtraurigem Gesicht. »Auf mir könnt ihr ja rumhacken, nicht?« »Wir segeln nicht nach Arica«, sagte Smoky. »Wir gehen zu Fuß hin. Das ist ja wohl klar.« »Klar ist das gar nicht«, sagte Mac beleidigt. »Trübe ist es in deinem Kopf, Mac«, sagte Batuti grinsend. »So trübe wie in deiner Suppe.« »Bitte sehr«, erklärte der Kutscher. »Für die Suppen bin ich verantwortlich.« »Na, schon gut«, sagte Smoky. »Aber halte dir eins vor Augen, Mac. Wir wollen in Arica nicht als Verrückte wüten und uns sämtliche Kriegsschiffe an den Hals holen, ehe Hasard und seine Gruppe wieder zurück sind. Wir wollen heimlich vorgehen. Und wenn was passiert, dann sollen die Dons anschließend rätseln, wer ihnen das angetan hat.«
»Fein«, sagte Mac mit dem Versuch eines Grinsens, das selbst Plymmie zum Heulen gebracht hätte. »Nun weiß ich Bescheid. Wie nett, daß ihr mich immer auf dem laufenden haltet.« »Du riechst so rauchig«, sagte Batuti. »Und du hast einen Anchoveta im Hemd, Mac.« »Was? Einen was habe ich? Wo?« »Im Hemd«, sagte nun auch Smoky. »Da, es stimmt wirklich. Du meine Güte, Mac.« Mac blickte an sich hinunter. Tatsächlich – aus seinem Hemdausschnitt glotzte ein noch nicht geräucherter Fisch hervor. Ziemlich verlegen stopfte Mac ihn sich ganz ins Hemd, so daß er nicht mehr zu sehen war. »So was«, brummelte er. »Wie konnte denn das passieren?« Dann verschwand er in der Kombüse. Er hatte vorerst wieder mal die Nase voll. Das Schott knallte hinter ihm zu. »Was ist da vorn los?« fragte Ben. »Hört ihr alle her? Ich bitte mir Ruhe aus!« »Aye, Sir«, sagte Philip junior. »Aber Mac Pellew fehlt noch, er ist eben mal in die Kombüse gegangen und lädt Anchovetas ab.« »Er soll dabeisein«, sagte Ben, »wie ihr alle, außerdem habe ich keine Lust, alles zweimal zu sagen.« Batuti hieb grinsend mit der Faust gegen das Kombüsenschott. »Mac, komm raus, Mann!« Mac öffnete das Schott mit einem Fluch. »Was ist jetzt wieder los? Man hat mir vorgeworfen, daß ich stinke.« »Nach Rauch und nach Fisch«, sagte Bill vergnügt. »Das lasse ich mir nicht nachsagen!« stieß Mac erbost aus. »Hör auf«, sagte Ben. »Waschen kannst du dich nachher immer noch. Jetzt hör erst mal her.« »Aye, Sir!« »Folgendes«, sagte Ben. »Wir müssen als erstes Arica genau erkunden und feststellen, wo wir die Dons am empfindlichsten treffen können.« »Doch wohl an ihren Pulverlagern«, sagte Shane mit grollendem Baß. »Wenn die in die Luft fliegen, gibt’s ein hübsches Feuerwerk. Eigentlich sollten wir damit bis zum Jahreswechsel warten, aber so lange Zeit haben wir wohl nicht, schätze ich.« »Die Munitionsdepots sind das Ziel Nummer eins«, sagte Ben. »Und die Vorratslager am Hafen?« fragte Ferris Tucker.
»Die natürlich auch. Weiter: Wir müssen in Erfahrung bringen, welche Schiffe im Hafen liegen, wie sie bewacht sind und welche Stärke die Hafenbatterien haben.« Ben hielt kurz inne, dann fuhr er fort: »Kurzum, alles, was für uns wichtig ist, muß ausgekundschaftet werden. Dazu sollte ein Trupp nach Arica einsickern, der sich damit befaßt.« »Sehr gut«, sagte Jan Ranse, der jetzt am Großmast stand. »Und unser Trupp soll sich dann still und friedlich wieder zurückziehen, wie ich annehme?« Ben grinste. »Wenn die Situation es erfordert, ja. Ich stelle mir da Gefahren wie das Anrücken einer Stadtgarde oder verschärfte Kontrollen vor.« »Völlig klar«, sagte Smoky. »Wir dürfen kein übermäßiges Risiko eingehen.« »Aber nehmen wir mal an, die Situation erfordert ganz was anderes«, sagte Le Testu. »Beispielsweise sofortige Aktion. Was dann?« »Der Trupp wird eigenständig handeln«, erwiderte Ben. »Er hat freie Hand. Er wird aus Männern bestehen, die sich schnell auf jede Lage einzustellen verstehen und Entscheidungen von einem Moment auf den anderen treffen können.« »He, Gordon«, sagte Albert zu Gordon McLinn. »Du wirst, glaube ich, nicht nach Arica gehen.« McLinns Schläfenadern schwollen an. »Wie meinst du das? He, was soll das heißen?« »Beruhige dich«, entgegnete Roger Lutz gelassen. »Es bedeutet, daß Albert noch vor dem Dunkelwerden im Räucherofen landet, wenn er seine freche Klappe nicht halten kann.« »Sollte es sich ergeben, dann ist gegen eine Sabotageaktion nichts einzuwenden«, sagte Ben. »Aber nur, wenn die absolute Sicherheit des Trupps gewahrt bleibt und für Anonymität und Tarnung gesorgt ist.« »Dafür wird gesorgt!« rief Smoky. »Wann marschieren wir los?« »Der Trupp wird eine Jolle benutzen«, sagte Ben. »Ha!« stieß Mac Pellew hervor. »Da hast du’s! Du kriegst auch immer alles in den falschen Hals, Mister Smoky!« Er wollte lachen, aber es klang eher wie ein Jaulen. »Na gut«, sagte Smoky. »Also auf nach Arica per Jolle!«
»Noch ein Wort zu der möglichen Sabotageaktion«, sagte Ben. »Unser Ziel sollte es dabei sein, den Spaniern jede Möglichkeit zu nehmen, mittels ihrer Feuerwaffen aktiv zu werden.« »Feuerwaffen«, sagte der Kutscher nachdenklich. »Das impliziert Kanonen, Gewehre und Pistolen.« »Was hast du gesagt?« fragte Paddy Rogers. »Was für ein Wort war das?« »Implizieren bedeutet soviel wie einschließen.« »Wer soll eingeschlossen werden?« fragte Paddy mit verdutzter Miene. »Die Dons? In Arica?« »Du wirst auch nicht mit nach Arica segeln«, murmelte Albert, doch er enthielt sich eines lauten Kommentars, weil Roger Lutz bereits wieder zu ihm blickte. »Also«, sagte Ferris. »Wo kein Pulver ist, kann kein Blei und Eisen fliegen. Ist das richtig?« »Ich bewundere deinen Scharfsinn«, sagte Ben. »Alles klar«, sagte Al Conroy. »Ein tüchtiges Stück Arbeit wäre es, den Dons das ganze Pulver unter dem Hintern in die Luft zu jagen. Oh, das würde ich mir schon zutrauen.« »Wer führt nun den verdammten Erkundungstrupp?« fragte Luke Morgan ungeduldig. »Und wer gehört ihm an? Ich melde mich natürlich auch freiwillig.« Ben zwinkerte plötzlich den Männern der »San Lorenzo« zu. »Wäre das nicht mal eine Sache für euch?« fragte er. »Das wäre nicht schlecht«, erwiderte Jan Ranse. »Ich hätte nichts dagegen einzuwenden.« »Wir auch nicht!« rief Roger Lutz und Grand Couteau wie aus einem Mund. »Aber als Experten sollten Ferris Tucker und Al Conroy mit dabeisein«, fügte Ben noch hinzu. »Recht so!« rief Piet Straaten. »Los, auf geht’s, wir besorgen es den Dons! Das haben sie schon lange verdient! Und vielleicht halten sie in Arica Indios gefangen, die befreit werden müssen!« »Wir können gleich aufbrechen!« schrie Donald Swift. »Augenblick mal«, sagte Shane zu Ben. »Ist das dein Ernst?« »Ja.« »Und wir sollen hierbleiben und Daumen drehen?« »Es gibt auch noch andere Möglichkeiten, sich zu betätigen«, entgegnete Ben lachend. »Beispielsweise könnten wir die ›Estrella‹ aufklaren.«
Shanes Miene war verkniffen. »Was gibt es denn hier noch aufzuklaren? Der Kahn blitzt vor Sauberkeit, das Rigg ist in Ordnung. Wir werden uns höllisch langweilen, das schwöre ich dir.« Er war wirklich enttäuscht und verbarg es nicht. Inständig hatte er gehofft, mit Ferris Tucker und einigen anderen nach Arica aufbrechen zu können – eine Abwechslung in der Monotonie des langen Wartens auf Hasards Trupp. Aber Ben Brighton ließ sich nicht beeinflussen. Er war der Kommandant an Bord der »Estrella«, alle hörten auf seinen Befehl. Was Arica betraf, so hatte er seine Entscheidung bereits getroffen, und er wich nicht mehr davon ab – aus einigen plausiblen Gründen. * Es sollten und durften nicht immer die Männer des Seewolfs sein, die »bestimmte Arbeiten« verrichteten. Man sollte auch den »Vengeurs«, wie Jean Ribaults Männer von den Arwenacks genannt wurden, ruhig einmal den Vortritt lassen. Von dieser Voraussetzung ging Ben jetzt aus. Er sprach es natürlich nicht offen aus, zeigte sich aber als geschickter und diplomatisch begabter Schiffsführer, der von seinem Kapitän Hasard eine Menge gelernt hatte. Jetzt waren eben mal die Vengeurs an der Reihe. Außerdem brauchten sie auch eine Motivation, denn sie waren in der letzten Zeit ein wenig verunsichert worden. Da war die Sache mit ihrem Koch Eric Winlow gewesen, die ihnen immer noch in den Knochen steckte. Für Winlows Schlamperei waren sie von den Arwenacks, vor allem von Carberry, ziemlich verhöhnt worden. Und auch die Geschichte mit Roger Lutz und der Galeone der Komödianten war alles andere als eine ruhmreiche Begebenheit gewesen. Irgendwie brauchte die Crew eine Selbstbestätigung, und Ben wollte ihnen eine entsprechende Chance dafür geben. Ferris Tucker nahm Shane auf dem Achterdeck beiseite. »Hör mal«, sagte er halblaut. »Reg dich nicht auf, wir werden das Kind auch ohne dich schaukeln.« »Das glaube ich dir gern«, erwiderte der graubärtige Riese. »Und was tue ich? Ich stehe mir hier inzwischen die Beine in den Bauch.«
»Stehen solltest du schon, aber über den Dingen.« »Findest du? Du hast gut reden. Du bist ja mit dabei.« »Das spielt keine so große Rolle«, sagte Ferris. »Aber denk auch mal an die Sache mit Carrero.« »Ja?« »Den haben wir gestellt, und Montbars hätte sich am liebsten in den Hintern gebissen, als er ihn mit der Jolle entwischen ließ.« »Ist schon gut«, sagte Shane. »Und ich bin ja auch kein Narr. Die Burschen sollen ruhig mal wieder unter Beweis stellen, was in ihnen steckt, es kann nicht schaden.« Ferris grinste und hieb ihm auf die Schulter. »Weißt du was? Ich habe gar nichts dagegen, zusammen mit Al fachmännischer Berater des Trupps zu sein. Die Führung kann getrost einer der Le Vengeurs übernehmen.« Bens Gedanken bewegten sich in der gleichen Richtung, aber er wollte, daß Jan Ranse an Bord der »San Lorenzo« blieb. »Ich schlage Gustave Le Testu als Anführer des Arica-Trupps vor«, sagte er. »Le Testu verfügt, was Operationen an Land betrifft, über einschlägige Erfahrungen.« Le Testu lachte. »Das kann man wohl sagen. Ist es vermessen, zu verlangen, daß mich auch mein Freund Montbars begleitet? Ja – und auch Albert sollten wir mit dabeihaben. Der gibt mit seinem Buckel immerhin einen feinen und daher unbeachteten Spion ab.« »Langsam, langsam«, sagte Jan Ranse. »Wir haben das ja noch gar nicht beschlossen.« »Wer hat andere Vorschläge?« fragte Ben. »Wie wäre es mit Piet Straaten?« fragte Tom Coogan. »Abgelehnt«, entgegnete Jan Ranse. »Piet bleibt mit mir an Bord der ›San Lorenzo‹. Ihr dürft nicht vergessen, daß wir gefechtsklar und kampffähig bleiben müssen. Die Schiffe sind bereits unterbemannt. Wenn wir noch den Trupp abziehen, der nach Arica segelt, wird es fast kritisch. Es ist daher nur logisch, daß wir die besten Seekämpfer und Kanoniere an Bord behalten.« »Richtig«, sagte Ben. »Und auch aus diesem Grund sollten wir den Arica-Trupp so klein wie möglich halten. Wir müssen ständig damit rechnen, daß sich Dons in unsere Bucht verirren. Wir müssen in der Lage sein, uns mit ihnen zu schlagen.« »Ein kleiner, aber schlagkräftiger Trupp also«, sagte Le Testu. »Keine Angst, wir werden das schon hinkriegen. Auch zu dritt, wenn es sein muß.«
»Kommen wir zur Sache«, sagte Jan Ranse. »Unsere Ratsversammlung soll nicht ewig dauern. Wer ist mit Le Testu als Gruppenführer einverstanden?« Die Arme flogen hoch, keiner enthielt sich der Stimme, keiner war dagegen. Le Testu grinste. Montbars hatte ebenfalls ein dünnes Grinsen aufgesetzt. Albert rieb sich kichernd die Hände. »Das gibt Spaß«, sagte er. »Und die Dons werden sich wundern.« »Weiter«, sagte Le Testu. »Sind alle dafür, daß ich Montbars und Albert mitnehme?« »Ja!« riefen die Männer, und Pierre Puchan fügte noch hinzu: »Wir sind besonders froh, daß wir Albert für ’ne Weile los sind.« »Ihr könnt mich alle gut leiden, was?« zischte Albert. »Das ist schon immer so gewesen«, erwiderte Pierre fröhlich. »Seit wir uns kennen, nicht wahr?« »Als meine weiteren Begleiter schlage ich Roger Lutz und Grand Couteau vor«, sagte Le Testu. »Das dürfte reichen.« »Nimm auch Donald Swift noch mit«, sagte Jan Ranse. »Dann seid ihr sechs Mann, und es kommen noch Ferris Tucker und Al Conroy hinzu, also seid ihr insgesamt acht Mann. Meiner Ansicht nach ist das die richtige Zahl.« »Das finde ich auch«, sagte Ben. »Nicht zuviel und nicht zuwenig.« Wieder wurde abgestimmt, wieder waren die Männer einer Meinung. Der Trupp war zusammengestellt. Natürlich war auch Piet Straaten ein wenig enttäuscht, daß er nicht mit nach Arica segelte, aber er sah andererseits auch ein, was Jan Ranse sagte. Ständig mußte man für ein Gefecht gegen spanische Schiffe gerüstet sein. Die Erfahrung der vergangenen Wochen hatte gezeigt, wie ratsam es war, ständig auf der Hut zu sein. Die Wachsamkeit durfte keine Stunde nachlassen. Ben Brighton besprach die letzten Einzelheiten des Unternehmens mit Le Testu, Ferris und Al. »Ihr brecht noch am Nachmittag auf«, sagte er. »Natürlich nehmt ihr genügend Waffen, Pulver, Kugeln und Proviant mit. Ihr werdet die Jolle noch vor Arica verstecken und euch zu Fuß in die Stadt begeben.« »Das ist klar«, sagte Le Testu. »Es wäre ganz gut, wenn wir wüßten, wie die Stadt angelegt ist, aber es geht auch ohnedem.
Wir müssen nur herauskriegen, wo sich die Tore befinden und wo die Stadtfeste, falls es eine gibt, das ist erst mal das Wichtigste.« Ben lächelte und zog etwas aus der Tasche seines Wamses. »Ich bin ja auch einmal oben im Tal von Tacna gewesen, um mich vorzustellen, wie ihr wißt. Nun, Pater Franciscus war so freundlich, mir eine Karte von Arica anzufertigen.« Er faltete die Zeichnung auseinander und deutete mit dem Finger darauf. »Hier – der wohl wichtigste Punkt ist der Morro de Arica, eine Befestigungsanlage am Südende des Hafens.« Le Testu stieß einen leisen Pfiff aus. »Sehr gut. Das erleichtert uns natürlich einiges.« »Wie Pater Franciscus mir berichtet hat, ist der Morro de Arica überhöht gelegen«, erklärte Ben. »Damit beherrscht er die Hafenbucht.« Er händigte Le Testu die Karte aus, und dieser zeigte sie herum. Danach faltete er sie zusammen, steckte sie ein und bedankte sich bei Ben. »Großartig«, sagte Roger Lutz grimmig, nachdem er einen Blick auf die Karte geworfen hatte. »Dann haben wir also zwei Zeichnungen, nicht wahr?« Er holte noch einmal die Skizze zum Vorschein, die Anacoana angefertigt hatte und wies sie seinen Kameraden vor. »Sollte jemand in Arica diesen Kerl entdecken, dann gibt er mir sofort Bescheid, klar?« »Ja«, entgegnete Le Testu. »Aber du weißt, daß dies nicht unsere vordringliche Aufgabe ist, Roger. Du wirst dich genau nach meinen Befehlen richten.« »Selbstverständlich«, sagte Roger. »Das ist völlig klar. Du brauchst dir in der Hinsicht keine Sorgen zu machen.« Am Nachmittag verließ der achtköpfige Trupp mit der Jolle die Felsenbucht. Die Männer winkten ihren Kameraden an Bord der Schiffe noch einmal zu, dann verschwanden sie durch die Ausfahrt. Der letzte, von dem sie sich durch Zeichen verabschiedeten, war Jeff Bowie, der zu diesem Zeitpunkt gerade Wache an Land ging. Er hob die Hand und ließ sie wieder sinken. »Viel Glück«, sagte er, »und viel Erfolg, Leute, und laßt euch von den Dons nicht packen.« Wird schon schiefgehen, dachte er. 3.
Die Entfernung von der Flußmündung des Tacna bis nach Arica betrug nach den Berechnungen, die die Männer angestellt hatten, etwa fünfundzwanzig Meilen, wenn man dem Verlauf der Küste folgte. Le Testu und sein Trupp fanden bald heraus, daß sie sich nicht verkalkuliert hatten. »Kurz nach Mitternacht werden wir dort sein«, sagte Ferris Tucker. »Vorausgesetzt, der Wind schläft nicht ein.« »Den üblen Streich wird er uns ja wohl nicht spielen«, sagte Grand Couteau. »Er ist die ganzen Tage über nicht eingepennt, warum sollte er es jetzt tun?« »Die Natur ist unberechenbar, das weißt du wohl«, sagte Roger Lutz. »Aber auf ein bißchen Glück dürfen wir ja wohl hoffen.« Bei stetigem Südwestwind erreichten sie ihr Ziel tatsächlich, als Mitternacht gerade verstrichen war, am 16. Dezember also. Schweigend beobachteten sie die Lichter, die sie schon aus einiger Entfernung sehen konnten. Sie glitzerten und schienen sich zu bewegen, aber das war eine optische Täuschung. »Da hätten wir also Arica«, sagte Le Testu. »Die Lage scheint ruhig zu sein. Patrouillenboote der Dons kann ich nicht entdecken.« »Die können immer noch auftauchen«, murmelte Montbars. »Beschwör es lieber nicht.« »Oder sie kontrollieren die Küste mit Spähtrupps«, sagte Al. »Möglich ist alles.« »Das glaubst du doch selber nicht«, sagte Donald Swift. »Die Dons sitzen um diese Zeit lieber in ihren Kaschemmen und lassen sich mit Wein vollaufen.« Le Testu entblößte seine weißen Zähne. »Zu der Version neige ich auch. Das heißt aber noch lange nicht, daß wir unvorsichtig sein dürfen. Wir sind jetzt noch eine Meile von Arica entfernt, schätze ich. Wir sollten uns einen geeigneten Landeplatz suchen.« Sie nahmen Kurs auf das Ufer und stießen wenig später auf eine kleine Bucht. Sie bargen das Segel und legten an, und dann unternahmen Le Testu und Montbars einen kurzen Erkundungsgang. Rasch kehrten sie wieder zu den anderen Männern zurück. »Wir haben eine Hütte gefunden«, sagte Le Testu. »Sie ist leer. Für uns dürfte sie der ideale Unterschlupf sein.«
»Nichts wie hin«, sagte Ferris. »Aber wir sollten uns auch die nähere Umgebung ein wenig anschauen. Es wäre dumm, in eine Falle von irgendwelchen Küstenhaien zu stolpern.« Die Hütte, die sich, nur knapp zwanzig Schritte vom Ufer entfernt in einem Dickicht befand, wurde von dem gesamten Trupp inspiziert. Als sie im Inneren standen, sagte Al leise: »Der Bau scheint in Ordnung zu sein.« »He, hier hängen ja Netze!« raunte Grand Couteau. »Sicherlich haben hier einmal Fischer gewohnt«, sagte Le Testu. »Hier ist eine Tür«, sagte Donald Swift. »Wo geht’s denn da hin?« Er öffnete die Tür. Sie führte in einen Anbau, in dem sie auf zerrissene Netze, Reusen und Angelgeschirr stießen. Ihre Augen hatten sich inzwischen gut auf die Dunkelheit eingestellt, und sie untersuchten alles eingehend. »Also, das eine ist sicher«, sagte Le Testu. »Die Hütte steht schon seit Monaten leer.« »Was den Bewohnern wohl zugestoßen ist«, sagte Albert. »Ob sie in einem Sturm umgekommen sind? Möglich ist es.« »Wir werden es nie erfahren«, sagte Al. »Aber ungewollt erweisen sie uns noch einen großen Dienst. Dann mal los! Richten wir es uns so gemütlich wie möglich ein.« Ferris war wieder ins Freie getreten und sah sich aufmerksam überall um. Er kehrte zu den Kameraden zurück und meldete: »Es gibt einen kleinen Bach, nicht weit entfernt. Er fließt in die Bucht. Ich habe das Wasser probiert, es schmeckt gut.« »Und wenn es vergiftet ist?« fragte Albert. »Dann fällt Ferris gleich tot um«, sagte Roger Lutz. »Und dich stecke ich dann mit dem Kopf nach unten in den Bach, weil ich deine dusseligen Reden nicht mehr hören kann.« Albert zog es vor, zu schweigen. Die Hütte eignete sich wirklich hervorragend als Standquartier, wenn sie auch etwas baufällig war. Allein die Tatsache, daß sie in einem Gebüsch stand, war von großem Vorteil, denn Le Testu und seine sieben Begleiter konnten sicher sein, daß sie auch bei Tag nicht entdeckt wurden, weder von der Wasser- noch von der Landseite. Der Bach versorgte sie mit dem erforderlichen
Trinkwasser. Was wollten sie mehr? Besser hätten sie es nicht treffen können. Sie kehrten zu der Jolle zurück, legten den Mast um und zogen das Boot an Land. Mit vereinten Kräften schleppten sie es in das Dickicht und hinter die Hütte, so daß es von See aus ebenfalls nicht zu sehen war. Die Männer setzten sich in der Hütte zusammen, und Le Testu ließ eine Flasche Wein kreisen, die er von Bord der »San Lorenzo« mitgenommen hatte. »Wir bleiben erst mal hier«, sagte er. »Nach Mitternacht noch in Arica Erkundungen vorzunehmen, ist zu riskant.« »Ja«, pflichtete Montbars ihm bei. »Wenn es etwas früher gewesen wäre, hätten wir uns in die eine oder andere Kneipe schleichen und den Gesprächen lauschen können.« »Oder eine Señorita anquatschen können«, sagte Donald Swift. Sofort bekam er seinen üblichen verträumten Blick. »Schlag dir das aus dem Kopf«, sagte Le Testu. »Wir sind nicht deswegen unterwegs, vergiß das nicht.« »Einen Vorteil hätten wir, wenn wir jetzt noch aufbrechen würden«, sagte Al. »Wir hätten den Schutz der Dunkelheit.« »Morgen früh müssen wir darauf verzichten«, sagte Le Testu. »Aber dann herrscht in den Straßen und Gassen mehr Betrieb, und wir fallen weniger auf als jetzt.« »Ja, das sehe ich ein«, sagte Al. »Außerdem haben wir Zeit«, sagte Ferris. »Ich schlage vor, wir genehmigen uns eine Mütze voll Schlaf«, sagte Le Testu. »Morgen oder vielmehr heute früh sind wir dann frisch und ausgeruht.« »Und munter«, sagte Grand Couteau. »Und wir finden die Pulverdepots der Dons auf Anhieb, wetten?« »Ich an deiner Stelle würde nicht zu optimistisch sein«, warnte ihn Roger Lutz. »Sobald wir Arica betreten, kann es unliebsame Überraschungen geben. Keiner wird uns auf Anhieb entlarven, aber wenn wir Pech haben, kriegt man leicht heraus, daß wir keine Spanier sind.« »Los, schlaft jetzt erst mal«, sagte Le Testu. »Macht es euch so bequem wie möglich. Wer übernimmt die erste Wache?« »Ich«, erwiderte Montbars. »Gut. Auf einen Posten wollen wir nicht verzichten, sicher ist sicher.« Le Testu legte noch fest, wer die nächsten Wachen
übernehmen sollte, dann baute er sich ein einfaches Lager zurecht und rollte sich darauf zusammen. Binnen kurzer Zeit war er eingeschlafen. Neben ihm streckten sich auch die anderen auf ihren Schlafstellen aus. Montbars, der vor der Hütte seinen Posten bezog, lauschte ihrem Schnarchen und grinste ein bißchen. Wer schläft, sündigt nicht, dachte er, und mit den Señoritas ist nichts, ihr habt’s ja gehört. Etwas später unternahm er einen kleinen Rundgang. Er konnte den kleinen Bach gurgeln und plätschern hören. Einmal vernahm er auch ein Knacken im Unterholz eines nahen Waldes und ging in Lauerstellung. Dann sah er einen Nachtvogel, der aufstieg und kurz darauf verschwand. Er grinste wieder und beendete seinen Rundgang. Vampire, dachte er, hier soll es sie geben. Richtige Blutsauger, die nachts ihre Verstecke verlassen und nicht nur Tiere, sondern auch Menschen anfallen. Gibt es sie oder gibt es sie nicht? Er beschloß, die anderen danach zu fragen. Diese Neue Welt war ein seltsames Land, das immer neue Rätsel und Wunder bot. Nur die Spanier waren hier fehl am Platze, wie sie auch in Le Testus, Montbars’ und Alberts Heimat, der Bretagne, nichts zu suchen hatten. Man sollte sie ins Meer treiben, dachte Montbars, als er sich in der Nähe der Hütte niederließ und auf das schwärzliche Wasser der Bucht blickte. * Le Testu war früh auf den Beinen und trat zu Grand Couteau hinaus, der inzwischen Wache hatte. »Wie sieht’s aus?« fragte er ihn. »Die ganze Nacht ist ruhig verlaufen.« »Und es wird ein schöner Tag, was?« »Schön sonnig«, brummte Grand Couteau. »Zu Hause liegt jetzt Schnee, und die Leute schlagen sich im Wald ihre Weihnachtsbäume. Hier gibt es nicht eine einzige lausige Tanne, scheint mir.« »Hast du Heimweh?«
Grand Couteau blickte Le Testu an und grinste. »Das nicht. Aber ich kann mir Weihnachten nun mal schlecht ohne Schnee vorstellen. Und ohne Nadelbaum. Das ist alles.« Le Testu ging zum Bach und wusch sich. Als er zur Hütte zurückkehrte, waren fast alle aufgestanden, bis auf Donald Swift und Albert. Donald beugte sich über Albert, berührte dessen Schulter und flüsterte: »He – bist du tot?« Albert wandte den Kopf und sah ihn böse an. »Ich bin sehr lebendig und fühle mich sauwohl. Das paßt dir wohl nicht, was?« »Kannst du keinen Spaß vertragen?« »Gib mir mal einen Zweig, damit ich mich unter der Achselhöhle kratzen kann.« Montbars blickte die beiden nachdenklich an. »Was meint ihr, gibt es hier Vampire?« »Was für Dinger?« fragte Albert entsetzt. »Diese Biester, die einem das Blut aussaugen?« »In Tacna hat’s sie nicht gegeben, warum sollen sie hier sein?« fragte Donald ziemlich verständnislos. »Ist nur so ’ne Frage von mir«, sagte Montbars. »Ist mir heute nacht eingefallen.« »Die Tiere soll es geben«, sagte Le Testu, der gerade eintrat. »Karl von Hutten hat es mir mal gesagt. Das sind größere Fledermäuse mit dolchspitzen Zähnen. Sie übertragen die schlimmsten Krankheiten wie Pest und Cholera.« »Das reicht mir«, sagte Albert. Er stand auf und schüttelte sich. »Warum brechen wir nicht endlich nach Arica auf?« »Nach dem Frühstück geht es los«, sagte Le Testu. Sie wagten es, in dem Steinofen der Hütte ein Feuer zu entfachen und Wasser zu kochen. Jeder hatte seine Muck dabei, und zu dem heißen Wasser gab es einen kräftigen Schuß Rum. Ferris Tucker verteilte Schiffszwieback und Speck. Schweigend kauten die Männer darauf herum. »Wir bilden Zweiergruppen«, sagte Le Testu anschließend. »Die Gruppen brechen nacheinander auf. Montbars, du bist mit mir zusammen. Ferris, du gehst mit Al. Roger und Grand Couteau bilden die dritte Gruppe. Albert und Donald, ihr bleibt hier bei der Hütte als Wachtposten zurück.« »Was?« stieß Albert erbost aus. »So war das aber nicht vereinbart!«
»Willst du gegen meine Befehle motzen?« fragte Le Testu und Montbars sah Albert derart durchbohrend an, daß dieser es wieder mal vorzog, seinen Mund zu halten. Die Männer traten vor der Hütte zusammen, und Le Testu gab seine vorläufig letzten Anweisungen. »Ferris und Al – ihr werdet euch speziell mit dem Morro de Arica beschäftigen.« »Klarer Fall«, sagte Ferris. »Morros sind unsere Spezialität.« »Denkt auch an die sonstigen Hafenbatterien.« »Uns entgeht so leicht nichts, keine Sorge«, sagte Al. »Montbars und ich richten unser Augenmerk auf Munitionsund Vorratslager«, sagte Le Testu. »Roger und Grand Couteau, ihr habt festzustellen, wie stark das Stadtgefängnis besetzt ist und wie es bewacht wird.« »Ja, Monsieur«, sagte Roger Lutz. »Und vielleicht läuft uns bei der Gelegenheit auch unser Freund, der Hurensohn von einem Sargento, über den Weg.« »Du weißt, wie meine Order lautet«, sagte Le Testu noch einmal. »Jeder Ärger muß vermieden werden. Was das Stadtgefängnis betrifft, ist es wichtig für uns, zu erfahren, ob die Dons wieder Arbeitskräfte für den Transport nach Potosí sammeln.« »Was sehr wahrscheinlich ist«, sagte Ferris. Von dem Unternehmen zur Sklavenerfassung im Tacna-Tal wußten sie ja, daß Trupps aus Arica losgeschickt worden waren – oder noch unterwegs waren –, um Sklaven einzutreiben. Irgendwo mußten die armen Teufel zusammengepfercht werden, und da tippte Le Testu eben ganz einfach auf das Gefängnis von Arica. »Spätestens vor Einbruch der Dunkelheit sollten die drei Trupps wieder bei der Hütte sein«, sagte Le Testu. »Dann können wir hier weitere Schritte beraten. Das ist alles. Viel Erfolg, und paßt auf euch auf.« Sie zogen nacheinander los, als erste Le Testu und Montbars, dann Ferris und Al, dann Roger Lutz und Grand Couteau. Es war inzwischen ungefähr zehn Uhr. Albert blickte ihnen nach, bis sie im Gebüsch verschwunden waren. »Na, dann wünsche ich einen schönen Tag«, sagte er zu Donald. »Wollen wir hier über Vampire quatschen oder uns blöd anglotzen oder hast du einen besseren Vorschlag?«
Donald grinste. »Ich habe Würfel dabei. Wie wär’s mit einer Runde?« Alberts Augen nahmen einen besonderen Glanz an. »Das hättest du aber auch gleich sagen können. Um was würfeln wir?« »Meinetwegen um deinen Buckel.« »Ich hab’ doch gar keinen richtigen – ach, hör auf. Mußt du mich auch noch auf den Arm nehmen?« »Ich werde es nicht tun«, versprach Donald. »Los, ich stifte einen Silberling als Einsatz. Aber aufgepaßt, unsere Wachsamkeit darf nicht nachlassen.« »Das tut sie auch nicht«, sagte Albert. Er blickte sich aufmerksam nach allen Seiten um, ehe er nach den Würfeln griff und sie in den hohlen Händen durcheinanderschüttelte. Dann ließ er die Würfel in den Sand fallen. Alle drei zeigten die Eins. »Wie findest du das?« fragte Albert. »Das fängt ja gut an«, sagte Donald. Er hob die Würfel auf. »Aber wenn ich zwei Sechsen und eine Eins werfe, was ist dann?« »Du kriegst sie nicht.« Donald würfelte zwei Sechsen und eine Fünf. Albert stieß einen leisen Pfiff aus. Wieder nahm er die Würfel auf und so ging es weiter, während die sechs anderen Männer sich anschickten, Arica zu betreten. * »Wir sind Seeleute, vergiß das nicht«, sagte Le Testu, als sie sich den Hafenanlagen von Arica näherten. »Wer dich auch anspricht, du antwortest auf spanisch.« »Ich vergesse es nicht«, sagte Montbars. »Aber dieser Hafen ist größer, als ich ihn mir vorgestellt habe.« »Arica soll an die dreißigtausend Einwohner haben«, sagte Le Testu. »Das hat Pater Franciscus mir erzählt, als wir in seinem Tal waren.« »Donnerwetter.« Montbars verfolgte aus wachen Augen den regen Betrieb, der am Kai herrschte. Nein, dort konnten sie wirklich nicht auffallen. Sie blieben völlig unbeachtet, als sie sich unter die Männer und Frauen mischten, die unterwegs waren und ihren verschiedenen Tätigkeiten nachgingen. In einiger Entfernung entdeckten sie auch zwei Soldaten der Stadtgarde, aber die waren sehr schnell wieder in einer der
Gassen verschwunden. Der Patrouillendienst schien lax zu sein, kein Mensch wurde kontrolliert. »Die fühlen sich sehr sicher, was?« zischte Montbars seinem Freund zu. »Aber das ändert sich noch.« »Da vorn«, sagte Le Testu. »Könnte das nicht ein Waffendepot sein?« Sie näherten sich einem wuchtigen Bau aus Quadersteinen, der festungsähnlich zwischen den anderen Häusern am Hafen aufragte. Hier verharrten sie eine Weile und konnten beobachten, wie ein Soldat erschien, das Tor des Gebäudes öffnete und darin verschwand. Kurz darauf schob ein anderer Soldat das Tor von innen auf, sprach ein paar Worte zu dem Mann, der eingetreten war, und verließ das Gebäude. Er schritt davon, ohne sich umzusehen. »Das war die Wachablösung«, sagte Le Testu. »Hast du was erkennen können?« »Ja, durch den Torspalt«, erwiderte Montbars leise. »Der Bau ist voll mit Waffen. Schuß-, Hieb- und Stichwaffen. Lafetten und Geschützrohre. Kugeln aller Kaliber. Mehr habe ich nicht sehen können.« Le Testu grinste. »Das reicht ja auch. Es ist also wirklich ein Depot. Vielleicht sind im Inneren noch mehr Soldaten, nicht nur der eine.« »Ja, das ist möglich.« Das Depot befand sich in der südlichen Hälfte des Hafens – also ganz in der Nähe des Morro de Arica. Zu diesem Gemäuer schauten Le Testu und Montbars eine Weile auf, dann schritten sie weiter. Kurze Zeit darauf entdeckten sie nördlich des Depots, etwa in der Mitte des Hafens, hinter dem Kai mehrere Holzschuppen, in denen Lebensmittel, Fässer und Schiffsausrüstungen gelagert waren. Montbars stieß Le Testu mit dem Ellenbogen an. »Da könnte man ein bißchen zündeln«, murmelte er. »Keine schwierige Arbeit. Aber das Depot müssen wir sprengen, daran führt kein Weg vorbei.« »Die Ladungen müssen entsprechend stark sein, sonst stürzen die Mauern nicht ein«, sagte Le Testu. »Na, das werden wir noch ausgiebig genug mit Ferris und Al besprechen.«
Ferris Tucker und Al Conroy hatten sich unterdessen in die Nähe des Morros begeben und setzten sich dort unter einen Baum, von dem aus sie nahezu die ganze Anlage überblicken konnten. Sie wirkten wie zwei harmlose Seefahrer, die gerade erst eingetroffen waren und sich die Stadt ansahen. Mit gleichmütigen Mienen verfolgten sie, wie Soldaten das Gemäuer verließen und andere es betraten. Ein Marketenderwagen rollte heran, das Tor wurde ganz geöffnet, und Ferris und Al hatten eine günstige Gelegenheit, in den Hof zwischen den verschiedenen Festungsgebäuden zu blicken. »Sieh dir die dicken Mauern an«, sagte Ferris. »Es sind nicht nur die dicken Mauern, die mir zu denken geben«, sagte Al. »Mein lieber Mann«, sagte der rothaarige Riese. »Diese Befestigungsanlage ist eine ziemlich harte Nuß. Sie ähnelt einem kleinen Küstenfort, ist ganz von der Mauer umgeben und gespickt mit Kanonen.« »Kanonen ziemlichen Kalibers«, brummte Al. Sie betrachteten die Rohre der Geschütze, die zwischen den Zinnen hervorragten. »Ja, das sind wohl alles Culverinen«, sagte Ferris. »Auch ein paar Demiculverinen, aber die sind nicht der Rede wert. Auch die zwei Minions da oben nicht.« »Es sind Falkons«, sagte Al. »Ist mir auch recht«, sagte Ferris. »Hast du gesehen, daß innen, am Fuß der Anlage ein Steinturm aufragt?« Al pflückte eine kleine Blume und lächelte. »Klar. Ein trutziges Ding. Das Flachdach ist ebenfalls mit Zinnen und Schießscharten versehen. Und dort oben sind Drehbassen aufgebaut.« Das Tor war inzwischen wieder geschlossen worden, der Marketenderwagen befand sich im Inneren der Festung. Ferris hatte den Turm aber noch deutlich in Erinnerung: viereckig und aus dicken Steinquadern gemauert, mit länglichen Schlitzen, wahrscheinlich an allen vier Seiten, die als Schießscharten dienten. »Jawohl«, murmelte er. »Es ist der Pulverturm.« »Feine Sache«, brummte Al. »Da kommt keiner ran.« »Scheiße«, sagte Ferris. »Genau das«, pflichtete Al ihm bei.
Die ganze Anlage stand auf einer felsigen Landzunge, die zur Insel geworden war – durch menschliche Hand. Um ihren Morro zusätzlich zu sichern, hatten die Spanier einfach ein Stück der Landzunge weggesprengt und sie somit unterbrochen. Das fehlende Stück war durch eine Zugbrücke ersetzt worden, die vom Fort aus bedient wurde. Zur Zeit war sie heruntergelassen. »Die Zugbrücke«, sagte Ferris leise. »Nachts ziehen sie sie garantiert hoch. Aber das müssen wir noch feststellen.« »Wenn es dunkel wird«, sagte Al. »Na schön«, sagte Ferris. »Und wenn wir wissen, daß die Dons ihre verdammte Zugbrücke hochkurbeln, was haben wir dann gewonnen?« »Verlierst du schon die Geduld?« »Nein. Ich frage mich nur, wie wir an den Klotz herankommen.« »Mit einem Boot natürlich«, sagte Al. »Die einzige Möglichkeit ist, nachts an den Morro heranzupullen, um ihn zu knacken. Wir müssen über die Mauer weg und bis zum Pulverturm vordringen.« Ferris grinste dünn. »Bestens, dein Plan. Du vergißt nur die Wachtposten und die Kanonen. Bilde dir bloß nicht ein, daß die Dons pennen. Darauf können wir uns nicht verlassen.« »Das tue ich auch nicht«, entgegnete Al. »Und uns wird schon noch was Besseres einfallen.« Sie erhoben sich wieder und schlenderten davon, um nicht aufzufallen. Langsam lenkten sie ihre Schritte dem Hafen entgegen, als seien sie im Begriff, zu ihrem Schiff zurückzukehren. Dabei dachten sie unablässig darüber nach, wie man am besten in den Morro de Arica eindringen konnte. Aber es schien keinen anderen Weg zu geben – sie würden im Schutz der Dunkelheit mit einem Boot landen und die Mauer überklettern müssen. 4. Roger Lutz und Grand Couteau befanden sich unterdessen im Zentrum der Stadt. Sie hatten sich nach der Karte von Pater Franciscus orientiert, die ihnen von Le Testu mitgegeben worden war, und hatten mühelos die Plaza gefunden. Sie war ellipsenförmig angelegt. Dicht drängten sich die Steinhäuser
aneinander, deren Fassaden zum Teil weiß und grau gestrichen waren. Mehr als ein Dutzend Gassen öffneten sich zur Plaza. Roger und sein Freund benutzten eine dieser Gassen und mußten ausweichen, als eine vierspännige Karosse an ihnen vorbeirollte. »He«, sagte Grand Couteau wütend. »Der hätte mich beinah angefahren.« »Nicht so laut«, sagte Roger und zupfte ihn am Ärmel. Glücklicherweise hatte Grand Couteau die Geistesgegenwart gehabt, sich des Spanischen und nicht seiner Muttersprache zu bedienen. Er blickte der davonfahrenden Kutsche nach – sie überquerte die Plaza. Um ein Haar wäre er über die Füße eines auf einer Eingangstreppe sitzenden Mannes gestolpert. Er wandte sich halb um und murmelte eine Entschuldigung. Der Mann grinste die beiden an. Er war mager und hatte ein runzliges, verkniffenes Gesicht. Sein Alter war schwer zu schätzen, er mochte vierzig oder aber auch sechzig Jahre alt sein. »Legt euch mit dem nicht an«, sagte er. »Das ist Diego de Xamete, der Bürgermeister.« »Aha«, sagte Roger Lutz. »Und der braucht auf keinen Rücksicht zu nehmen, wie?« »Er tut, was er will«, erklärte der Spanier. »Und ich wünsche ihm, daß er sich den Hals bricht.« »Hast du einen besonderen Grund dafür?« fragte Grand Couteau überrascht. »Ihr seid neu hier, was?« »Wir kommen gerade aus dem Hafen«, antwortete Roger Lutz. Der Spanier musterte sie aufmerksam aus seinen kleinen, wachen Augen. »Ich kann mich nicht entsinnen, daß heute früh ein Schiff eingelaufen ist. Na, ist ja auch egal.« Er grinste immer noch. »Ich heiße Furio Benares. Und ihr?« »Ich bin Rujero«, erwiderte Roger. »Das ist Cotello, mein Freund.« Furio Benares nickte ihnen zu. »Herzlich willkommen in dieser verfluchten Stadt. Ich wäre schon längst abgehauen, aber dazu fehlt mir das Geld. Ich hatte einen kleinen Laden als Schiffsausrüster, aber der Hund von einem Bürgermeister hat mich kaputtgemacht. Er hat nicht nur hohe Steuern verlangt, er hat auch Schmiergeld kassiert – um wegen kleiner Unregelmäßigkeiten, die die Größe und Einrichtung meines
Ladens betrafen, beide Augen zuzudrücken. Ich mußte mir Geld leihen und konnte die Wucherzinsen nicht bezahlen. So ging ich pleite. Jetzt sitze ich da und verdiene mir mit Gelegenheitsarbeiten mein Brot.« »Bei wem hast du dir das Geld denn gepumpt?« fragte Roger. »Dreimal darfst du raten.« »Bei Diego de Xamete?« »Ja.« »Heiliger Strohsack«, sagte Grand Couteau. »Das scheint ja ein ganz übler Hai zu sein.« »Der schlimmste von allen«, brummte Benares. »Aber komm rein, ich lade euch auf ein Gläschen Wein ein. Ich bin froh, mal mit jemandem sprechen zu können.« »Nachher«, sagte Roger. »Auf dem Rückweg. Erst müssen wir ein paar Besorgungen erledigen.« »Laßt euch nicht übers Ohr hauen«, sagte Benares. »Die meisten Läden gehören dem Bürgermeister.« Roger und Grand Couteau gingen weiter und zur Plaza. »Dieser de Xamete scheint ein prächtiges Kerlchen zu sein«, sagte Roger leise. »Hast du ihn in der Kutsche gesehen? Er ist dick und fett wie alle diese Bastarde, die ein höheres Amt haben.« »Ich hätte Lust, dem eine Flaschenbombe in die Karosse zu werfen«, sagte Grand Couteau. Roger war fast versucht, zu lachen. »Wir können ja mal mit Ferris darüber reden.« Sie gingen über die Plaza, und Roger fiel plötzlich eine junge Frau mit pechschwarzen, gelockten Haaren auf, die in einer Schenke verschwand. »Hast du die gesehen?« fragte er Grand Couteau. »Mann, dieses Gesicht! Und die Figur! Hinreißend!« »Ich habe sie gesehen«, erwiderte Grand Couteau. »Aber sie ist eine Hure, mein Freund.« »Habe ich das bezweifelt? Die meisten Frauen in den Hafenstädten sind das, aber welche Rolle spielt das schon?« Grand Couteau seufzte. »Sicher hast du recht. Aber denk daran, Le Testu hat gesagt, wir sollen die Finger von Weiberröcken lassen. Das ist ein Befehl.« »Für heute«, sagte Roger. »Morgen oder heute abend sieht’s vielleicht schon wieder anders aus. Möglicherweise gehört es zu
den taktischen Mitteln, auch mal einen schrägen Vogel über die Zustände in Arica auszufragen.« »Du kannst es wohl nicht lassen, was?« »Vielleicht kennt sie den Sargento«, sagte Roger. »Da kannst du auch diesen Furio fragen«, sagte Grand Couteau. »Der wird dir bereitwillig Auskunft geben, wenn du ihm die Zeichnung zeigst.« »Immer vorsichtig sein«, sagte Roger. »Er könnte auch ein Spitzel sein. Noch wissen wir es nicht.« Sie gingen am westlichen Rand der Plaza entlang und näherten sich der Nordseite, und dann wurde ihre Aufmerksamkeit durch etwas völlig anderes gefesselt. Ein düsterer Bau ragte an der Nordseite auf, er stand hinter einer hohen Mauer. »Das ist das Stadtgefängnis, jede Wette«, sagte Roger. »Herrgott, nun sieh dir das an.« Vor dem Mauertor, der Plaza zugewandt, standen fünf Indios am Pranger, die Hälse zwischen den beiden aufklappbaren Holzhälften eingeschlossen. Sie waren nur mit ihren Lendenschurzen bekleidet und völlig hilflos den Passanten ausgeliefert. An der Mauer war eine Tafel angebracht, auf die jemand mit schwarzer Farbe etwas geschrieben hatte. Roger und sein Freund blieben stehen und lasen, was da stand. »Bürger von Arica«, las Roger leise vor. »Diese fünf Wilden haben sich geweigert, die ehrenvolle Aufgabe anzunehmen, für Seine Allerkatholischste Majestät, den König von Spanien, in den Minen von Potosí zu arbeiten. Dorthin aber werden sie zur Strafe jetzt erst recht gebracht.« Grand Couteau blickte zum Pranger, während Roger dies vorlas. Er sah, wie ein junger Spanier die Indios nacheinander ohrfeigte. Ein paar andere junge Männer lachten und spuckten die armen Teufel an. Eine dicke Frau schrie: »Ihr Affen! Früher habt ihr Menschen gefressen! Seid froh, daß man euch nicht aufhängt!« »O Mann«, sagte Grand Couteau mit verzerrtem Gesicht. »Mir steigt die Galle hoch, Roger. Halt mich fest.« »Reiß dich zusammen«, zischte Roger. »Es wäre mehr als dumm, wenn wir jetzt was unternehmen würden. Halt die Luft an und bezwing dich.«
Die Indios mußten nach vorn gebückt stehen, weil die Löcher für die Hälse niedriger als in gewöhnlicher Schulterhöhe angebracht waren. Sie wurden immer wieder geohrfeigt, bespuckt und vom Pöbel verhöhnt und beschimpft. »Ein schamloses Schauspiel«, murmelte Grand Couteau, als sie weitergingen, um nicht aufzufallen. »Man sollte diesen fetten Bürgermeister, dieses korrupte Schwein, an den Pranger stellen. O Hölle, ich brauche was zu trinken, sonst haue ich diese Kerle da noch um.« Sie suchten eine kleine Kneipe auf und bestellten sich jeder einen Becher Wein. Schweigend tranken sie und blickten aus dem Fenster auf die Plaza. Der Pöbel bereitete sich einen Spaß daraus, die Indios zu schlagen und mit den unflätigsten Ausdrücken zu beschimpfen. Am allerschlimmsten benahm sich die dicke Frau. »Da, jetzt werden sie erlöst«, sagte Roger plötzlich. »Was hat das zu bedeuten? Hat man sie begnadigt? Das kann ich nicht glauben.« Soldaten marschierten aus dem Gefängnis und öffneten die Holzhälften. Andere Soldaten trieben fünf Indios heran, und jetzt wurde klar, welchem Zweck die Aktion diente. Die fünf Indios wurden vom Pranger gezerrt und ins Gefängnis zurückgeführt. Dafür wurden die fünf »Neuen« an den Pranger gestellt und mußten die Prozedur über sich ergehen lassen. »Wir bleiben erst mal sitzen«, sagte Roger. Sein Gesicht war wie aus Stein gemeißelt. »Ich will wissen, wie das weitergeht.« Bald erfuhren es die beiden. Jede Stunde wurden die fünf Indios am Pranger ausgetauscht die jeweiligen »Sünder« wurden dabei einfach wahllos aus einer großen Menge von Indios herausgegriffen, die man unter Bewachung im Hof des Gefängnisses zusammengepfercht hatte. Roger Lutz und Grand Couteau registrierten das, denn sie konnten immer dann, wenn der Wechsel am Pranger stattfand, einen Blick in den Hof werfen. »Völliger Wahnsinn«, sagte Roger. »Diese Schweinerei soll der Abschreckung und Einschüchterung dienen.« »Es gibt sicherlich auch unter den Indios gute und schlechte Kerle«, sagte Grand Couteau gepreßt. »Aber das haben sie nicht verdient, wirklich nicht.«
Roger leerte seinen Becher. »Jedenfalls haben wir jetzt die Bestätigung, daß die Indios hier für den Abtransport nach Potosí zusammengetrieben und gesammelt werden.« »Ja«, sagte Grand Couteau. »Und vorher werden sie gedemütigt, ganz abgesehen davon, daß man sie hungern und dürsten läßt.« * Die Indios ergaben sich in ihr Schicksal. Was blieb ihnen anderes übrig? Wer zu fliehen versuchte, wurde auf der Stelle erschossen. Groß waren der Lebenswille, der Selbsterhaltungstrieb und die Hoffnung, eines Tages doch wieder in Freiheit in das Dorf zurückzukehren, aus dem die Soldaten sie mit Gewalt geholt hatten. So litten die Indios stumm, manche von ihnen völlig apathisch und abgestumpft, andere mit zusammengebissenen Zähnen und voll Haß. Roger und Grand Couteau konnten an ihren Mienen ablesen, was in ihnen vorging. Die einen resignierten, die anderen hätten sich auf die Spanier gestürzt, wenn sie nur eine Waffe gehabt hätten. »Sieh mal«, sagte Grand Couteau plötzlich. »Da wird Nachschub herangeführt.« Roger blickte über die Plaza, dorthin, wohin sein Freund wies, und sah die kleine Kolonne von etwa zwanzig Indios, die sich dem Stadtgefängnis näherte – elende, zerschundene Gestalten, von denen die meisten gebückt vorwärtsstolperten. Man hatte sie mit Ketten gefesselt, einige waren schon so schwach, daß sie unter der Last der Fesseln zusammenzubrechen drohten und unter der Wucht der Peitschenhiebe. Vierzehn Soldaten eskortierten den Leidenszug. »Paß auf«, sagte Roger plötzlich. »Das Kommando hat ein Sargento.« »Der Kerl, der mit der Peitsche auf sie einprügelt?« »Den meine ich.« Roger saß jetzt hochaufgerichtet und ließ den Spanier nicht mehr aus den Augen. »Zeig mir noch mal das Bild«, sagte Grand Couteau. »Nein, jetzt nicht.« »Du glaubst, daß er…«
»Ich bin sicher, daß er es ist«, zischte Roger. »Der Hund, den Anacoana gemalt hat. Das ist er, der Bastard, wie er leibt und lebt.« Der Zug war fast heran, und es hatte den Anschein, als wolle Roger aufspringen und nach draußen rennen. Aber Grand Couteau griff über den Tisch und packte seinen Arm. »Hör mal gut zu«, sagte er leise, aber eindringlich. »Du hast mich eben zurückgehalten, weil es Wahnsinn wäre, jetzt was zu unternehmen. Richtig?« »Richtig.« Roger verfolgte, wie der Sargento und die Soldaten die Indios in den Gefängnishof trieben. Seine Muskeln waren angespannt, er schien immer noch aufspringen zu wollen. »Mach jetzt keinen Quatsch«, sagte Grand Couteau. »Du kriegst ihn noch, ganz bestimmt.« »Ja.« »Dreh jetzt nicht durch, Mann!« Roger sah seinen Freund an. »Wer dreht denn durch? Ich vielleicht? Ich bin ganz ruhig und gelassen.« »Dann ist ja alles gut.« »Der Schankwirt sieht zu uns rüber«, murmelte Roger. »Achte darauf. Los, bestellen wir noch einen Wein.« »Willst du betrunken zur Hütte zurückkehren?« »Ach, rede doch keinen Unsinn«, sagte Roger. »Von dem bißchen Wein werde ich noch lange nicht blau.« Er hatte aber trotzdem das Gefühl, seinen aufwallenden Haß irgendwie betäuben zu müssen. Er winkte dem Wirt zu, und dieser kam zu ihnen an den Tisch und holte die leeren Becher. »Noch ’ne Runde«, sagte Grand Couteau. »Ja. – Wollt ihr auch an den Pranger?« »Wie bitte?« fragte Roger verdutzt. »Manche Leute sehen es als einen Zeitvertreib an, die Indios zu schlagen und zu treten«, sagte der Wirt. »Pfui Teufel. Ich kann Menschen nicht leiden, denen es Spaß bereitet, andere zu quälen.« »Wir auch nicht«, sagte Roger. »Aber das scheint hier in Arica üblich zu sein.« »Ich sollte meinen Mund halten«, flüsterte der Wirt. »Aber ich glaube, ihr sagt nichts weiter. In Arica liegt manches im argen, und es wäre gut, wenn mal jemand mit einem Eisenbesen
auskehren würde. Einer der größten Hurensöhne ist der Bürgermeister. Aber das behaltet ihr ja für euch.« »Klar«, sagte Roger. »Warum trinkst du nicht einen Becher Wein mit uns?« Das tat der Wirt, denn um diese Zeit hatte er keine anderen Gäste. Roger und Grand Couteau erfuhren unter anderem, wie der Sargento hieß: Zeno Manteca. »Er ist der größte Menschenschinder, den es gibt«, sagte der Wirt. »Wenn ihm jemand nicht paßt, macht er ihn fertig. Das gilt auch für uns Bürger der Stadt. Ich bin mal mit ihm aneinandergeraten, als er hier eine Schlägerei vom Zaun brechen wollte. Anschließend habe ich eine hohe Strafe zahlen müssen.« »An den Bürgermeister?« fragte Roger. »Ja.« »Das habe ich mir gedacht.« Der Wirt biß sich auf die Unterlippe. »Ich glaube, ich habe schon zuviel gesagt. Könnt ihr schweigen?« »Hör zu«, sagte Roger. »Ich bin ein Ehrenmann, und das gilt auch für meinen Freund Cotello hier. Wir können schweigen. Warum informiert keiner den Provinzgouverneur über das, was hier so vorgeht?« »Der Adelantado ist noch schlimmer als de Xamete«, erwiderte der Wirt. »Er sitzt in Potosí.« »Ach so«, sagte Grand Couteau. »Ja, von dem haben wir auch schon gehört. Aber ich finde es nicht richtig, daß man euch Bürger derart zur Ader läßt. Hat der Bürgermeister keine Angst, daß ihm was zustoßen könnte?« »Solange Männer wie Manteca ihn beschützen, kaum.« »Daran könnte sich etwas ändern«, sagte Roger Lutz, dann zahlte er die Zeche, bedankte sich bei dem Wirt und verließ mit Grand Couteau die kleine Kneipe an der Plaza. 5. Roger und Grand Couteau hielten sich noch einige Zeit länger an der Plaza auf. Roger schien von dem Gedanken, den Sargento Manteca wenigstens noch einmal zu sehen, geradezu besessen zu sein. »Wie wäre es, wenn wir noch mal zu diesem Furio Benares gingen?« fragte er seinen Freund.
»Um noch mehr Wein zu trinken?« »Nein, um weitere Einzelheiten zu erfahren«, entgegnete Roger. »Wie? Irre ich mich, oder hast du vorhin den Verdacht geäußert, dieses Kerlchen könnte auch ein Spitzel sein?« sagte Grand Couteau. »Ich hab’s gesagt«, brummte Roger. »Aber ich will mit den Erkundungen vorankommen und bin bereit, dafür einiges zu riskieren.« »Und ich halte es für besser, erst mal wieder zu verschwinden und mit Le Testu und den anderen zu beraten.« Roger schüttelte den Kopf. »Es ist noch nicht Abend. Wir haben noch Zeit. Die sollten wir nicht ungenutzt lassen.« »Wie du meinst«, murmelte Grand Couteau. »Daß ich zu dir halte, weißt du ja. Mit mir gibt’s keinen Streit, aber übertreibe die Sache mit dem Sargento nicht, Roger.« »Keine Angst, ich kenne meine Grenzen«, sagte Roger. Sie wollten sich wieder zu Furio Benares begeben, aber jetzt tat sich am Stadtgefängnis etwas. Das Tor wurde geöffnet, und der Sargento und die vierzehn Soldaten, die die Indios hergeführt hatten, verließen den Hof. »Sieh mal, wie die grinsen«, sagte Roger leise. Grand Couteau wandte nur halb den Kopf und beobachtete die Soldaten aus den Augenwinkeln. »Vielleicht hat man sie belobigt, wegen der erfolgreichen Jagd. Vielleicht haben sie sogar Münzen gekriegt. Ein Kerl wie der Bürgermeister ist sicherlich geizig, aber wenn’s um die Sklaven geht, könnte ich mir vorstellen, daß er mit den Silberlingen nicht spart.« »Weil Potosí sonst nicht genügend Nachschub erhält«, sagte Roger. »Und das wäre schlecht, nicht nur für den Adelantado, sondern auch für den Fettwanst de Xamete.« »Achtung«, sagte Grand Couteau. »Sie steuern eine Schenke an der Ostseite der Plaza an.« »Es ist die, in der die Schwarzhaarige vorhin verschwunden ist«, sagte Roger. »Das ist ja wirklich interessant.« Er war jetzt eiskalt. Grand Couteau ließ die Soldaten nicht aus den Augen. »Jetzt treten sie ein. Na klar, die wollen ihre Moneten auf den Kopf hauen. Nach getaner Arbeit ein bißchen Kurzweil.« »Gehen wir«, sagte Roger.
»Du willst wirklich…« »Keine Diskussionen«, sagte Roger. Er nickte seinem Freund knapp zu und dann marschierten sie quer über die Plaza und suchten ebenfalls die Schenke auf. Es handelte sich um eine Kellerschenke, zu der Steinstufen hinunterführten. Zwar war es noch Vormittag, doch die gewissen Damen hatten bereits Wartepositionen bezogen, wie die beiden sofort feststellten, als sie den in Halbdunkel gehüllten Schankraum betraten. Mehr als ein halbes Dutzend teilweise recht üppig geschminkter Señoritas oder Señoras erblickte Roger, und er registrierte auch, daß sich die Schwarzhaarige unter ihnen befand. Sie lächelten den Gästen zu – in erster Linie natürlich den Soldaten, die lärmend Platz nahmen. »Los, hierher«, sagte Roger zu Grand Couteau. Er griff nach dessen Arm und dirigierte ihn zu einem Tisch, der halb verdeckt hinter einer Säule stand. Sie ließen sich nieder. »Hier entdeckt uns so schnell keiner«, murmelte Roger. Grand Couteau konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Der Schankknecht sicherlich nicht. Aber wir haben ja auch schon was gegen unseren Brand getan. Wir können warten.« »Weißt du, wo wir uns hier befinden?« »In einer spanischen Schenke in Arica.« »Du bist ein Witzbold. Aber du verstehst doch, was ich sagen will, wie?« »Natürlich«, bestätigte Grand Couteau. »Das ist ein feines Etablissement. Du brauchst dir ja nur mal die Madames und die Steintreppen anzusehen, die aus dem Schankraum nach oben führen.« »Ja. Sie führen zu den Liebesnestern.« »Viele hübsche Kämmerchen«, sagte Grand Couteau seufzend. »Ja, jetzt gefällt mir Arica schon ein bißchen besser.« Roger lächelte verhalten. »Spanien ist seinen lieben Gewohnheiten auch in der Neuen Welt treu geblieben.« »Ja. Dagegen habe ich auch nichts einzuwenden.« »Und wir Seeleute wissen eh, wie es dort aussieht, wo Gefühle in Pesetas umgesetzt werden, nicht wahr?« »Das will ich meinen«, erwiderte Grand Couteau grinsend. »He, wir kennen uns doch aus. Du am allerbesten.«
Roger beugte sich etwas vor. »Billig ist es hier nicht. Das Etablissement ist um eine Nuance vornehmer als die Pinten am Hafen.« »Ja, dafür steht es ja auch an der Plaza inmitten der Stadt.« Roger sagte: »Ich könnte mir gut vorstellen, daß sich hier auch die Oberen der Stadt einschleichen, um der Lust zu frönen.« »Was du nicht sagst.« Grand Couteau grinste immer noch. »Wenn sie ihren zankenden Eheweibern entfliehen wollen?« »Ja.« Sie hielten wieder nach dem Schankknecht Ausschau, doch der war vollauf mit dem Sargento und den Soldaten beschäftigt. Er mußte Kelche und Wein in großen Krügen heranschaffen, und sofort begannen die Soldaten zu zechen. Die diensthabenden beziehungsweise »verfügbaren« Señoritas hatten sich genähert, und einer der Männer zog eine üppige Rothaarige zu sich auf den Schoß. »Komm, Dolores, trink einen Schluck mit mir!« rief er. »Ich heiße nicht Dolores!« stieß sie kichernd hervor. »Ich bin Samanta!« »Egal laß uns trinken!« »He, du«, sagte eine dreiste Brünette. »Sargento, was hast du unter deinem Brustpanzer?« »Nichts für dich«, sagte Manteca, dann deutete er auf die Schwarzhaarige. »Du – Margarita. Komm her!« Die Mädchen kreischten und kicherten, die Becher wurden gefüllt, gehoben und geleert. Es ging immer lauter zu. Margarita näherte sich dem Sargento und dachte: Du elender Bastard, hast du von dem Dicken dein Kopfgeld kassiert? Sicher er hat seine Silberlinge rollen lassen. Jetzt werden sie mit vollen Händen ausgegeben. Und morgen geht es wieder auf Affenjagd, nicht wahr? »Margarita!« rief der Sargento. »Du bist genau richtig für mich!« Er breitete die Arme aus und lachte dröhnend. Nie haßte sie ihren Beruf mehr als in solchen Augenblicken. Aber sie hatte keine andere Wahl. Sie mußte sich mit dem Sargento einlassen und mit den Wölfen heulen. Wie anders sollte sie jemals in den Besitz ihrer Hacienda in Andalusien gelangen? Die Silberlinge klimperten in den Taschen der Kerle, sie hatten sie wirklich als Lohn für das Einbringen der »Indio-Affen« kassiert, denn Diego de Xamete hatte es eilig, so viele Sklaven
wie möglich einfangen zu lassen. Gern gab er das Kopfgeld aus – einen Silberling pro Indio –, denn er bangte um sein Amt, daß der Provinzgouverneur Don Ramon de Cubillo als bedroht ansah, wenn nicht genug Arbeitskräfte herbeigeschafft wurden. So war das in Arica und die leichten Damen in der Schenke wußten, wie erfolgreich der Sargento Manteca mit seinen Kerlen war. Wollten sie an dem Verdienst teilhaben, mußten sie gute Miene zum bösen Spiel machen. Und was kümmerten sie schon die Indios? Jeder war sich selbst der nächste. Die einzige, die etwas mehr Herz und Verstand hatte, war Margarita, die feurige Andalusierin. Sie hätte dem Sargento am liebsten den Weinkrug auf den Kopf gehämmert, zumal er seinen Helm abgesetzt hatte, doch was erreichte sie damit schon? Sie seufzte ein wenig und griff nach dem vollen Becher Wein, den er ihr hinhielt. Wieviel schöner wäre es doch gewesen, sich mit dem gutaussehenden Schwarzhaarigen einzulassen, der soeben die Schenke in Begleitung eines anderen, kleineren Mannes betreten hatte. Das war ein Mann! Sie kannte ihn nicht, hatte ihn nie zuvor gesehen, wußte aber, daß er der ideale Liebhaber für eine Frau mit Temperament war. Im Laufe der Jahre bekam man in diesem Beruf einen Blick dafür. Sie war sicher, sich nicht zu täuschen. Doch der Schwarzhaarige hatte sich mit seinem Begleiter halb hinter der Säule niedergelassen und traf keinerlei Anstalten, einen Vorstoß zu unternehmen. Vielleicht hatte er kein Geld. Was tun? Es hatte ja alles keinen Sinn. Hier war der Sargento samt seiner grölenden Bande, hier waren die Silberlinge. »Prost!« brüllte Manteca. Er geriet jetzt so richtig in Fahrt. »Trink, Margarita! Wir wollen feiern! Wir müssen uns von den Strapazen erholen!« Sie stieß mit ihm an, trank und schenkte ihm einen glutvollen Blick. Die anderen lachten und grölten und griffen nach den Frauen. Und einer von ihnen schrie: »Wein, Schnaps und Weiber! Hölle, bin ich froh, erst mal keine Affen mehr anfassen zu müssen!« »Sie stinken!« rief ein anderer. »Wie die Pest!« »Nein, wie die Hölle!« korrigierte ihn sein Nebenmann. »Hört doch auf!« stieß die Rothaarige hervor. »Laßt uns von was anderem reden!«
»Margarita!« brüllte der Sargento. »Gesundheit, Liebe und Geld! Und Zeit, sie zu genießen, nicht wahr?« »Ja«, sagte sie. »Zier dich nicht so und komm her!« Sie bewegte sich dicht auf ihn zu und ließ sich von ihm auf seinen Schoß ziehen. Wieder lachte er, füllte ihren Becher von neuem und stieß mit ihr an. »So ist es gut! Recht so! Weiter so! He, paß auf, daß du den Wein nicht verschüttest!« »Und wenn ich ihn verschütte?« fragte sie. »Was ist dann?« »Dann müssen wir das Trinken üben!« brüllte er und sah sie mit unverhohlener Gier an. Die anderen brüllten vor Lachen, und die Mädchen kreischten und kicherten wieder. Roger Lutz blickte Grand Couteau über den Tisch hinweg an. »Das ist ein böser Kreis, der sich da schließt. Ich bedaure, daß wir keine Flaschenbombe dabeihaben.« »Meine Galle rebelliert«, sagte Grand Couteau. »Du denkst auch an die armen Kerle, die draußen am Pranger stehen?« »Natürlich.« »Und ich habe noch ein anderes Bild vor Augen«, murmelte Roger. »Das Bild, das Pater Franciscus mir gezeichnet hat – mit seinen Worten. Der Sargento, wie er Anacoana zu vergewaltigen versucht. Wie Anacoanas Mann ihn angreift und der Sargento ihn brutal zusammenschlägt.« »Wann kaufen wir ihn uns?« fragte Grand Couteau. »Er gehört mir«, erwiderte Roger. »Aber warte noch.« * Zeno Manteca, der Sargento, war der Inbegriff des Großmauls schlechthin. Er trank und grölte, lärmte und lachte und begrapschte Margarita. Er war ein Aufschneider, einer von der brutalen Sorte allerdings. »Soll ich dir erzählen, wie wir die Affen gefangen haben?« schrie er. »Das war ein Spaß! Sie versuchten, sich in allen möglichen Löchern zu verkriechen, aber wir haben sie trotzdem erwischt!« »Es interessiert mich nicht besonders«, erwiderte Margarita, und ihre Züge verhärteten sich kaum merklich.
»Ihre Weiber hättest du sehen sollen!« rief Manteca. »Sie hatten nichts an, nicht mal einen Lendenschurz. Ganz wilde Weiber!« »Und weißt du, was wir mit ihnen gemacht haben?« brüllte ein Soldat. »Ich kann es mir vorstellen!« schrie Samanta, die Rothaarige. Die Szene hatte sich unterdessen noch ein wenig mehr belebt. Weitere Gäste waren erschienen, ließen sich an Tischen nieder und verfolgten, was die Soldaten unternahmen. Einer der Soldaten war sich mit einem Mädchen handelseinig geworden, beide verschwanden über eine der Steintreppen nach oben. Die Tür einer Kammer schloß sich hinter ihnen. Die anderen lärmten und lachten, und es wurden anzügliche Bemerkungen über das Verhalten der beiden fallengelassen. Zu dem ersten Schankknecht hatte sich ein zweiter gesellt, der sich nun um das Wohl der Gäste zu kümmern begann, die nicht zu der Horde des Sargentos gehörten. Roger Lutz winkte diesem Mann zu, und er näherte sich ihnen, ein wuchtig gebauter, breitschultriger Typ mit groben Zügen. In seinen wasserblauen Augen war jedoch etwas, das Rogers und auch Grand Couteaus Aufmerksamkeit erregte. Sie schienen einen aufrichtigen Kerl vor sich zu haben, der geradlinig und klar dachte. »Wein«, sagte Roger. »Vom besten. Kein gepanschtes Zeug.« »Ich schenke keinen Fusel aus«, sagte der Schankknecht. »Bei mir gibt es keine krummen Touren. Wollt ihr roten oder weißen Wein?« »Roten«, erwiderte Roger. »Ist der Wirt denn damit einverstanden?« »Was der denkt, ist mir egal.« »Bist du schon lange hier in Arica?« fragte Grand Couteau. »Ich bin vor zwei Jahren aus Bilbao herübergekommen«, erwiderte der Schankknecht. »Ein Baske also«, sagte Roger. »Ich heiße Gerardo.« »Ich bin Rujero«, erklärte Roger. »Und das ist Cotello, mein bester Freund.« Gerardo, der Baske, grinste. »Ihr seid keine richtigen Spanier, das hört man. Auf welchem Kahn segelt ihr denn? Na ja, mich geht’s nichts an. Aber wenn ihr noch einen Platz an Bord frei
hättet, würde ich glatt anheuern, vorausgesetzt, die Reise geht zurück in die Alte Welt. Ich habe die Schnauze voll von diesem Nest.« Er sah sich um. »Aber ich bringe erst mal den Wein.« Er schritt eilig davon, und Roger und Grand Couteau tauschten einen Blick. »Merkst du was?« raunte Roger. »Die Bevölkerung teilt sich in zwei Lager.« »Ja, die einen ducken sich, zahlen und machen gute Miene zum bösen Spiel. Die anderen würden de Xamete, Manteca und Konsorten am liebsten den Hals abschneiden.« »Früher oder später könnte es eine Rebellion geben.« »Aber darauf können wir nicht warten«, sagte Grand Couteau. Roger pflichtete ihm bei. »Natürlich nicht. Wir können den herrschenden Unmut auch nicht ausnutzen. Aber es ist gut zu wissen, daß nicht alle bereit sind, auf Dauer dieser Bande die Stiefel zu lecken.« Gerardo, der Schankknecht, kehrte mit einem Krug Wein und zwei Bechern zu ihnen zurück. »Behaltet das für euch, was ich gesagt habe«, brummte er. »Leider segeln wir nicht über den Atlantik«, sagte Roger. »Sonst hätte ich mit unserem Kapitän gesprochen.« »Wirklich?« Gerardos blaue Augen hellten sich auf. »Na, vielleicht ein anderes Mal. Wäre gut, wenn ihr euch bei passender Gelegenheit an mich erinnern würdet.« »In Ordnung«, sagte Grand Couteau. »Aber warum willst du aus Arica abhauen?« »Wie haltet ihr’s mit dem König?« »Wir sind Seeleute auf einem Handelssegler«, entgegnete Roger. »Mit dem König haben wir nichts am Hut. Uns kann das alles egal sein. Der König sitzt im Escorial und ist weit weg.« »Trinkst du einen mit?« fragte Grand Couteau den Basken. Dieser schüttelte den Kopf. »Nein, danke.« Seine Stimme war in dem anschwellenden Lärm kaum noch zu verstehen. »Es ist nur – ich kann so widerliche Kerle wie den Sargento da nicht ausstehen. Er ist ein dreckiges Schwein.« »Einer von diesen Landsknechts- und Söldnertypen, nicht wahr?« fragte Roger. »Ja, genau das.«
»Und er steht immer da, wo ihm die stärkeren Bataillone das Überleben garantieren«, sagte Grand Couteau. »Der hängt seine Fahne nach dem Wind, so einer ist das.« »Auf Kosten anderer Menschen«, sagte Gerardo grimmig. »Ich hab’ meine eigenen Vorstellungen von der Welt. Ich bin für die Freiheit.« »Ja, Basken sind Rebellen«, sagte Roger lächelnd. »Das stimmt nicht ganz. Aber die meisten meiner Landsleute würden keine armen Teufel mit Peitschen dazu zwingen, Silber aus einem Berg zu kratzen. Sie würden das selber tun.« »Du bist in Ordnung, Gerardo«, sagte Grand Couteau. »Und wir denken so wie du. Nur lohnt es sich wohl kaum, hier Stunk anzufangen.« »Nein«, sagte der Baske. »Ich muß jetzt weiter. Vielleicht sprechen wir uns später noch.« Er ging zum nächsten Tisch, nahm die Bestellung entgegen und verschwand hinter dem Tresen. Dort war unterdessen auch ein glatzköpfiger Mensch aufgetaucht, bei dem es sich seinem prüfenden Blick und seinem zufriedenen Grinsen nach zu urteilen nur um den Wirt handeln konnte. Er scheuchte seine Schankknechte hin und her, und die leeren Krüge wurden nun immer schneller nachgefüllt. Zeno Manteca hatte seine große Stunde, er lachte grölend und hieb Margarita auf die Schenkel. Das tat ihr weh, aber sie biß die Zähne zusammen und zwang sich zu einem Lächeln. »Prost, Amigos!« brüllte Manteca, nachdem er zwei Humpen Wein in seine Kehle geschüttet hatte. »Ein feiner Tag! Und eine noch bessere Nacht! Wir feiern bis zum Morgen!« »Und übermorgen geht es weiter!« schrie einer seiner Soldaten. »In die Berge!« rief ein anderer. »Zu den Affen!« »Unter Einsatz unseres Lebens werden wir wieder wilde Bestien einfangen!« grölte Manteca. »Aber auch dieses Mal werden wir heil nach Arica zurückkehren, das schwöre ich euch!« »Sklaven für Potosí!« schrie ein Soldat, der bereits stark angetrunken war. »Und Silberlinge für uns!« »Ihr werdet gut bezahlt, was?« fragte ihn das Mädchen, das auf seinem Schoß saß. »Ja, das kann man wohl sagen.« »Und die Indios setzen sich zur Wehr?«
»Ja.« »Mit Musketen?« »Die haben sie doch nicht!« erwiderte der Soldat lachend. »Sie haben Pfeile und Bogen und Messer!« »Das müssen ja tolle Kämpfe sein«, sagte Margarita. »Pfeile gegen Kugeln!« »Hast du was gesagt?« fragte der Sargento und hob seinen Humpen wieder an die Lippen. »Ich habe nur laut gedacht.« »Ich wußte gar nicht, daß du auch denkst!« schrie er, und die ganze Bande grölte vor Vergnügen. Margarita biß sich auf die Unterlippe. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten und öffneten sich wieder. Am liebsten hätte sie Manteca ins Gesicht gespuckt. Sie mußte sich bezwingen, es nicht zu tun. 6. Aber ihr Blick richtete sich schon wieder auf den gutaussehenden Mann an dem Tisch hinter der Säule. Soeben hatte der eine Schankknecht – Gerardo, der Baske, den sie recht gut leiden konnte – ihm und dem anderen einen Krug Wein gebracht, und jetzt tranken die beiden, still und bescheiden. Himmel, dachte sie, das ist ein Kerl! Kann den denn nichts aus der Fassung bringen? Manteca kniff sie, und sie kreischte auf. Er lachte laut und häßlich und versuchte, ihr Wein in den Ausschnitt ihres rüschenbesetzten Kleides zu gießen. »Los!« brüllte er. »Stimmung! Zeig mal, wie du tanzen kannst!« Sie riß sich von ihm los und rutschte von seinem Schoß. »Jetzt habe ich aber genug«, sagte sie, mehr nicht. Dann verließ sie die Gruppe und schritt zu dem Schwarzhaarigen hinüber. Er ging ihr nicht mehr aus dem Kopf, sie wollte ihn herausfordern. Manteca stierte ihr aus seinen eng zusammenstehenden, etwas rötlich unterlaufenen Augen nach. Er grinste und kippte den Inhalt des Humpens in die Kehle. Er hielt das Ganze für einen Scherz.
»He!« schrie er. »Komm her! Zier dich nicht wie eine Gans! Hierher – oder ich hole dich!« »Achtung«, sagte Grand Couteau gedämpft zu seinem Freund. »Es gibt Ärger. Sie will zu uns.« Roger lächelte. »Und wenn schon. Diese Art von Ärger lasse ich mir gern gefallen.« »Du weißt doch…« »Was Le Testu gesagt hat? Aber ja doch. Und keine Sorge, es geschieht kein Unheil.« »Komm sofort zurück!« brüllte der Sargento durch den Raum. Margarita beachtete ihn nicht mehr. Mit etwas wippenden Hüften bewegte sie sich auf Roger zu, blieb dicht vor ihm stehen und musterte ihn provozierend. »Einen schönen guten Tag«, sagte Roger. »Ich heiße Rujero, und das ist mein Freund Cotello.« »Fein. Ich bin Margarita.« »Eine strahlende Blume im öden Bergland«, sagte Roger. Grand Couteau verdrehte die Augen. War dies der Zeitpunkt, poetisch zu werden? Verrückt, das alles. Aber zurück ging es nicht mehr. Grand Couteau lauschte dem einzigartigen Dialog der beiden, spähte aus den Augenwinkeln aber zu dem Sargento, der seinerseits höchst ungläubig zu ihnen herüberglotzte. Margarita lachte silberhell. »Gut hast du das gesagt, Rujero. Du bist fremd hier, ich habe dich noch nie gesehen.« »Wenn ich gewußt hätte, daß eine solche Schönheit in Arica blüht, hatte ich diesen Hafen schon eher angesteuert«, erklärte er. Er vollführte eine einladende Geste. »Warum setzt du dich nicht zu uns? Darf ich dir Wein anbieten?« »Ja, gern.« Er erhob sich und rückte ihr einen Stuhl zurecht. Sie nahm lächelnd Platz. Roger deutete eine Verbeugung an und setzte sich ebenfalls wieder. Grand Couteau hatte größte Mühe, ein Stöhnen zu unterdrücken. »Ein Glas für die Señorita«, sagte Roger. Grand Couteau gab Gerardo einen Wink, aber Gerardo sah ihn nicht, er war an einem anderen Tisch beschäftigt. Grand Couteau erhob sich selbst, ging zum Tresen und blieb vor dem glatzköpfigen Wirt stehen. »Bitte ein Glas, Señor.« »Einen Humpen oder einen Becher?« »Ein Glas.«
Der Wirt stieß einen Laut aus, der einem Grunzen nicht unähnlich war, bückte sich und holte ein richtiges Glas zum Vorschein. Er stellte es vor Grand Couteau hin und sagte: »Ich will hier keinen Ärger, verstanden?« »Wir wollen auch keinen Ärger.« »Sag deinem Freund, er soll friedlich sein.« »Das ist er auch.« »Klar«, brummte der Wirt. »Und das soll er auch bleiben, sonst gibt es Stunk. Die Soldaten verstehen keinen Spaß in solchen Sachen.« Grand Couteau zuckte mit den Schultern, nahm das Glas und kehrte an den Tisch zurück. Er setzte das Glas ab und ließ sich auf seinen Stuhl sinken. »Du sollst friedlich bleiben«, sagte er zu Roger. »Wie bitte?« »Das sagt der Wirt.« »Ah, ich verstehe schon.« »Rujero, du bist wirklich ein Mann mit Manieren«, sagte Margarita. »Ich bin ehrlich überrascht. So höflich bin ich noch nie behandelt worden, auch von den Señores nicht.« »Weil sie keine Señores sind«, sagte Roger. »Jede Dame hat einen Anspruch auf freundliche Behandlung.« Er goß ihr Wein ein, und sie prosteten sich zu, dann tranken sie. Mantecas sehr kleine Augen hatten sich noch ein wenig mehr geweitet, sie schienen ihm jetzt aus den Höhlen zu quellen. »Sargento!« brüllte einer der Soldaten.»Die bist du los! Sie hat sich einen anderen Freier gesucht!« Giftig sah Manteca ihn an. »Du hältst das Maul, verstanden?« »Ja, Sargento«, sagte der Mann erschrocken. Manteca richtete seinen wütenden Blick wieder auf das Dreiergrüppchen an dem Tisch hinter der Säule. Da soll doch der Blitz dreinschlagen, dachte er. »Du bist kein Spanier«, sagte Margarita halblaut zu Roger. »Ich höre das. Mir brauchst du nichts zu erzählen. Heißt du Rujero? Oder Roger?« »Roger.« »Siehst du, ich bin nicht auf den Kopf gefallen.« »Das merke ich«, entgegnete er. »Du bist ein kluges Mädchen. Es ist schön, sich mit dir zu unterhalten.«
»Du bist mir gleich aufgefallen, als du hier erschienen bist.« »Du mir auch. Schon auf der Plaza.« Margarita griff nach seiner Hand und betrachtete sie. »Wir sollten uns diese Gelegenheit nicht entgehen lassen, Roger. Ich kann mein Temperament nur schwer zügeln. Ich stamme aus Andalusien, und bei mir zu Hause ist ein Mann unendlich glücklich oder verloren, wenn eine Frau sich in ihn verliebt.« »Ich würde mich zu den Glückspilzen zählen«, sagte Roger. »Aber ich habe den Eindruck, daß dein Freund, der Sargento, mit unserem Plausch nicht ganz einverstanden ist.« »Er ist nicht mein Freund.« »Dann ist es gut. Wir sollten ihn ignorieren.« »Eben.« Sie hob die Hand und berührte seine Wange. »Wie lange bleibst du in Arica?« Roger bemerkte Grand Couteaus besorgten Blick und antwortete: »Nicht sehr lange, fürchte ich.« »Läuft dein Schiff wieder aus?« fragte sie. »Ja, bald.« »Wann?« »Vielleicht noch heute.« »Du weißt es nicht genau?« »Ich kann es nicht genau wissen«, erwiderte Roger. »Mein Kapitän ist unberechenbar. Zeit ist Geld, sagt er. Und er wird die Ladung so schnell wie möglich löschen.« Margarita lächelte. »Du bist ein schlechter Schwindler, Amigo. Es gibt kein Schiff, jedenfalls nicht hier in Arica. Aber das behalte ich für mich. Wir sollten diese einmalige Gelegenheit wirklich nutzen, finde ich.« »Ich erhebe keinen Einspruch.« Zeno Manteca begann sich aufzupumpen wie ein Ochsenfrosch. Dies war Grand Couteaus Überzeugung, denn er hatte mal einen richtigen Ochsenfrosch gesehen und wußte, daß sich diese Tiere mächtig aufblasen können. Manteca, so schien es, war innerlich dem Siedepunkt nahe und drohte jeden Augenblick zu platzen. Ob Margarita es richtig bemerkte oder nicht, blieb dahingestellt jedenfalls zeigte sie ihm die kalte Schulter und widmete sich immer intensiver dem sehr viel liebenswerteren Roger. Ja, das war einmal ein Mann! Und Margarita vermochte Männer sehr wohl einzuschätzen. Das war kein perverser Lüstling und
kein Schwadroneur, der groß herumtönte, wie viele harmlose und friedliche Indios er »überwältigt« hatte. Oh, sie wußte nur zu gut, was hinter allem steckte. Ihre Gefühle waren zwar gepanzert – zwangsläufig –, aber tief in ihrem Inneren hatte sie Mitleid. Waren die Indios nicht wie sie selbst? Ausgebeutete, Entwürdigte, Versklavte? Ihre Jungmädchenträume waren längst zum Teufel, geblieben war nur der Wunsch, sich die Hacienda in Andalusien zu kaufen und sich dorthin zurückzuziehen und alles zu vergessen, was in Arica gewesen war. Aber was sie beim Anblick von Roger Lutz plötzlich und unerwartet angeweht hatte, das war ein Hauch von Freiheit, kühner Unabhängigkeit und männlicher Härte, die sauber war und vor nichts und niemandem zurückwich. Der Sargento sprang plötzlich von seinem Stuhl auf. Der Stuhl kippte um. »Margarita!« brüllte er. »Komm sofort hierher, du verdammtes Hurenbiest!« Jetzt trat Stille ein. Margarita beachtete Manteca auch weiterhin nicht. Sie fühlte sich nicht angesprochen. Roger Lutz spielte sein Spiel, wie er es sich in den Kopf gesetzt hatte. Grand Couteau sah zwar höchst besorgt aus, doch das kümmerte Roger in diesem Moment nicht. Er ging jetzt aufs Ganze, setzte alles auf eine Karte. Wenn Manteca Streit haben wollte, dann konnte er ihn haben. * Zeno Manteca war im Gesicht hochrot angelaufen. Was nahm dieses Frauenzimmer sich heraus? Wollte sie ihn herausfordern? Vor der versammelten Mannschaft bloßstellen und blamieren? Und wer war dieser Schwarzhaarige, der sich herausnahm, mit ihr herumzuturteln, obwohl er doch genau hatte sehen können, daß er, Manteca, sie bereits für sich erkoren hatte? Die Soldaten beobachteten ihren Sargento. Einige von ihnen hielten unwillkürlich den Atem an. Es wurde spannend. Die Luft schien sich verändert zu haben – wie vor dem bevorstehenden Ausbruch eines Gewitters. Man hatte den Eindruck, es knistern zu hören.
Manteca wußte, was die Soldaten von ihm erwarteten. Er durfte sich nicht geschlagen geben. Er mußte die Lage für sich entscheiden. Natürlich – er würde es diesem Fremden schon zeigen, und das Weib empfing ein paar Ohrfeigen, wenn sie nicht das tat, was er wollte. »Margarita!« brüllte er noch einmal. »Hierher!« »Unmöglich«, murmelte Gerardo, der Baske, der zu diesem Zeitpunkt an der linken Seite des Tresens stand. »So ruft man einen Hund!« Doch es konnte ihn niemand verstehen, auch der Wirt nicht, der mit dem anderen Schankknecht aus geweiteten Augen verfolgte, was sich anbahnte. Der Wirt wußte nicht, ob er eingreifen sollte Manteca war unberechenbar, und es konnte teuer werden, wenn er irgend etwas unternahm. Geradezu aufreizend lässig drehte sich Roger Lutz zu dem Sargento um. »Señor«, sagte er mit vorgetäuschter Höflichkeit. »Halten Sie doch bitte den Mund.« Manteca mußte nach Luft schnappen. »Wie bitte?« stieß er dann hervor. »Sie haben mich schon richtig verstanden«, sagte Roger, der nur ganz leicht den Kopf gewandt hatte. »Die Señorita hat sich entschieden, meinem Freund und mir Gesellschaft zu leisten, sehen Sie das nicht?« »Ich sehe es.« »Na also. Eine solche Entscheidung hat ein Kavalier zu respektieren. Vorausgesetzt, man ist ein Kavalier.« Manteca setzte sich in Bewegung und steuerte auf den Tisch zu, an dem Roger, Grand Couteau und Margarita saßen. Manteca wankte ein wenig, aber das lag nur zum Teil an dem Wein, den er getrunken hatte. Er war verunsichert und glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. Daß ihm jemand auf so kaltschnäuzige Weise Paroli bot, war ihm in Arica noch nicht passiert. Alle wußten, daß man sich vor Zeno Manteca in acht zu nehmen hatte. Alle, die ihn kannten. Aber hier hatte er einen Fremden vor sich, der offensichtlich darüber nicht unterrichtet war. »Nun«, sagte Roger in höflichem Tonfall. »Da habe ich aber gar keine Zweifel. Ein Sargento Seiner Majestät des Königs ist zweifellos ein Kavalier. Oder irre ich mich?«
Einer der Soldaten mußte unwillkürlich grinsen. »Feine Worte«, sagte er laut. »Er weiß sich auszudrücken, der Señor.« Der Sargento blieb stehen und drehte sich mit einem Ruck zu dem Soldaten um. »Schnauze halten!« fuhr er ihn an. »Ja, Sargento«, sagte der Soldat. Roger schenkte Margarita noch ein wenig Wein ein, dann füllte er auch Grand Couteaus und seinen Becher. »Sehr zum Wohl«, sagte er. »Es ist doch ein herrlicher Tag heute, nicht wahr?« Grand Couteau war innerlich auf das, was nun unweigerlich folgen mußte, vorbereitet. Roger wollte die Auseinandersetzung – er konnte es ihm nicht verübeln. Jetzt kam es darauf an, ruhig Blut zu bewahren. Grand Couteau saß reglos da, ließ den Sargento aber nicht aus den Augen. Margarita war sich nicht schlüssig, ob sie entsetzt oder amüsiert sein sollte. Wie weit trieb dieser Roger das Spiel? Hatte sie einen Fehler begangen? War es nicht unverantwortlich, diese beiden Männer wie zwei Kampfhähne gegeneinander aufzubringen? Es war sinnlos, sich etwas vorzuwerfen. Die Situation trieb ihrem unvermeidlichen Höhepunkt entgegen. Der Sargento drehte sich wieder um und rückte auf den Tisch los. Sein Gesicht war feuerrot, er schien zu schwitzen. Im übrigen hatte er beschlossen, kein Kavalier zu sein. Dazu war er auch viel zu primitiv. Außerdem spürte er, daß er hier verhöhnt wurde. Das durfte er nicht auf sich sitzen lassen. Er hatte seine Fassung wiedererlangt, blieb stehen und deutete mit dem ausgestreckten Arm auf die Andalusierin. »Zum letzten Mal, komm her, oder du erlebst was, du Luder!« schrie er. Roger musterte ihn verächtlich und zog die Augenbrauen ein wenig hoch. »Wie? Oh, ich habe mich also geirrt. Sie sind kein Kavalier.« »Nein!« »Die Entscheidung sollten Sie aber der Dame überlassen.« Manteca tat noch einen Schritt und griff nach Margaritas Arm, aber sie riß sich von ihm los und setzte sich auf einen anderen, noch freien Stuhl.
»Faß mich nicht an!« zischte sie. »Du verdammtes Miststück!« brüllte er sie an. »Das geht zu weit«, sagte Roger und erhob sich. »Dir werde ich den Marsch blasen!« brüllte der Sargento, dann richtete er den Zeigefinger drohend auf Roger. »Und dir auch. Was fällt dir ein, dich in meine Angelegenheiten zu mischen?« »Ich mische mich nie in die Angelegenheiten anderer Leute«, entgegnete Roger. »Aber ich lasse nicht zu, daß Sie die Señorita beleidigen und belästigen.« »Beleidigen?« stieß Manteca keuchend hervor. »Belästigen? Mann, sie ist eine Hure! Was willst du, Kerl? Nutten zu Edeldamen erklären? Bist du verrückt?« Roger trat zwischen Margarita und ihn. »Ich bin voll bei Verstand, Señor.« »Wer bist du?« brüllte der Sargento. »Ein Seemann«, erwiderte Roger schlicht. »So? Dir zeige ich, was eine Harke ist, du billiger Drecksaffe aus dem Vorkastell einer miesen Drecksgaleone!« Manteca hob beide Hände und ballte sie zu Fäusten. Roger spreizte die Hände. »Señor, ich halte einen Faustkampf unter Kavalieren für zu primitiv, auch, wenn Sie eben erklärt haben, daß Sie keiner sind. Ich habe aber nichts dagegen einzuwenden – wenn Sie schon so scharf darauf sind –, die Sache mit dem Säbel oder Degen auszutragen, wie es sich für Kavaliere geziemt.« »Wahnsinn!« brüllte der Sargento. »Sie haben also nicht genug Ehre im Leib, sich mit einem Mann im Duell zu schlagen?« fragte Roger scharf. Manteca glaubte, den Verstand zu verlieren. War das die Möglichkeit? Er suchte die Schenke auf, um zu zechen und herumzuhuren, wie es sich nach einer feinen Sklavenjagd gehörte, und jetzt wurde er von einem miesen Seemann zum Zweikampf herausgefordert? Das konnte nicht wahr sein. Seine Soldaten schienen es ebenfalls nicht zu fassen. Mit ungläubigen Gesichtern starrten sie den Sargento und den schwarzhaarigen Fremden an, der offenbar Selbstmordabsichten hatte. Margarita indes hatte noch mehr Feuer für Roger gefangen. War das ein Kerl! Wirklich, er schien weder Tod noch Teufel zu fürchten! Sie hatte sich in ihm nicht getäuscht. Und er schien
seine Kräfte sehr wohl einzuschätzen, sonst hätte er den Hund von einem Sargento nicht herausgefordert. Grand Couteau saß immer noch auf seinem Stuhl, aber er saß wie auf glühenden Kohlen. Er schwitzte ein wenig, überlegte sich aber bereits, wie sie am besten den Rückzug antraten. Und unauffällig hatte er die Hand am Stiefelschaft, wo sein Messer steckte. Rogers rechte Hand zuckte hoch und berührte die Wange des Sargentos nur ganz leicht. »Was ist los, Señor?« sagte er kalt. »Können Sie sich nicht entscheiden? Sind Sie zu feige?« * Manteca tastete nach seiner Wange. »Er hat mich geohrfeigt«, flüsterte er. »Mich!« Plötzlich ließ er seine Hand auf den Griff seines Säbels fallen und riß die Waffe mit einem Ruck aus der Scheide. Es gab ein schleifendes, metallisches Geräusch, dann brüllte Manteca: »Einen Säbel für diesen Hurensohn!« Die Señoritas kreischten auf. Manteca wartete nicht länger, er stürzte sich auf Roger, bevor dieser auch nur eine Chance erhielt, sich zu bewaffnen. »Unfair!« zischte Grand Couteau. Er wollte sein Messer zücken und sich auf den Sargento stürzen, doch die Situation entwickelte sich anders. Roger glitt elegant zur Seite. Es war eine gedankenschnelle Reaktion auf den wutentbrannten Ausfall des Spaniers. Ebenso blitzartig stellte er ein Bein vor und ließ den Sargento auf die Nase fallen. Manteca konnte nicht mehr ausweichen, er war viel zu sehr in Fahrt. Er stolperte und stürzte, und er hatte dabei noch Glück, daß er sich nicht mit seinem eigenen Säbel aufspießte. Gerardo, der Schankknecht, blickte zu einem der Soldaten, der sich bislang sehr ruhig verhalten hatte. Dieser Mann war ebenfalls ein Baske, er stammte aus Santander. Er war mit Gerardo befreundet, und untereinander verhielten sie sich wie Verschwörer. Schon oft hatten sie ausgesponnen, wie es mit
einem Attentat auf den dicken Bürgermeister wäre, aber immer wieder hatten sie den Plan verworfen, weil er zu riskant war. Jetzt aber reagierte der Soldat. Keiner hatte bemerkt, wie Gerardo ihm aufmunternd zugenickt hatte. Alle sahen nur, wie der Soldat aufstand, seinen Säbel zog und ihn Roger Lutz zuwarf. Der Soldat hatte einen Pik auf den Sargento. Jetzt ergab sich eine Gelegenheit, dem Kerl einige der Schikanen heimzuzahlen, mit denen er seine Untergebenen kujonierte. Auch die anderen Soldaten waren jetzt gespannt darauf, wie ihr Sargento die Sache regeln würde. Keiner traf Anstalten, ihm zu helfen. Warum auch? Es handelte sich um ein Duell, und das wird immer zu zweit ausgetragen, wie schon der Name sagt. Hier ging es um die Ehre. Und die Soldaten hatten absolut nichts gegen einen Säbelkampf: Es hatte ja alles seine Ordnung. Der Seemann – zwar ein merkwürdiger Kerl, aber zweifelsohne verdammt mutig – hatte sich bisher wirklich wie ein echter Caballero, ein Kavalier, verhalten. »Alle Achtung«, murmelte einer der Soldaten. »Der weiß sich zu schlagen.« »Und der Sargento ist ein gemeiner Hund«, brummte Gerardo, aber auch das hörte keiner. Roger fing den Säbel geschickt auf und grinste dem Soldaten zu, dann richtete er sein Augenmerk wieder auf den Sargento. Der rappelte sich mit einem Fluch auf, duckte sich und hieb mit der Klinge nach Roger. Es wurde wieder spannend. Roger wich aus, sprang vor und trieb den Sargento mit zwei wirbelnden Streichen in das Zentrum des Schankraums. Die Soldaten sprangen auf, die Señoritas kreischten wieder, aber im Nu war die Arena frei. Die Soldaten zogen sich mit den Señoritas zurück bis an den Tresen. Jetzt wurde ihnen etwas geboten. Roger zog vom Leder und bewies seine Bravour und Eleganz als Säbel- und Degenkämpfer. Zeno Manteca sah die Klinge seines Gegners tanzen und zucken, und er wich ein Stück zurück. Dann riß er den eigenen Säbel mit einer Verwünschung hoch und wehrte die Hiebe, die auf ihn einprasselten, brutal ab. Roger ließ ihm etwas Luft. Sofort ergriff der Sargento die Chance. Er versuchte es mit einem neuen Ausfall und stach dabei nach Rogers Unterleib. Roger rückte zur Seite der Sargento stach ins Leere. Um ein Haar verlor er das Gleichgewicht.
»Wieder unfair«, murmelte Grand Couteau. Am liebsten hätte er dem Kerl sein Messer zu schmecken gegeben. Aber es war Rogers Kampf. Roger lachte und ließ den Säbel durch die Luft pfeifen. Mantecas Brustpanzer hatte plötzlich eine gewaltige Schramme, und sein rechter Ärmel war aufgeschlitzt. »Du dreckiger Bastard!« brüllte Manteca und stürzte sich wieder auf Roger. »Recht so«, sagte Grand Couteau. »Weiter so.« Er blickte zu Margarita und nickte ihr grimmig zu, was soviel bedeuten sollte wie: Es wird schon klappen. Sie beobachtete mit halb staunender, halb faszinierter Miene, wie Roger sich mit dem Sargento schlug. Sie hatte schon andere Duelle gesehen, aber noch nie hatte sie einen Mann erlebt, der derart gut mit der Blankwaffe umzugehen verstand wie dieser schwarzhaarige Draufgänger. Was heute in Arica geschah, war wirklich ein Ereignis für sie, in jeder Hinsicht. 7. Manteca befand sich klar im Vorteil, weil er einen Brustpanzer trug. Roger hingegen war ungeschützt und jedem Stich ausgeliefert. Außerdem bediente sich der Sargento der übelsten Tricks, um sich Vorteile zu verschaffen. Während Roger keinen Deut von der ritterlichen, fairen Art des Duells abwich, schlug sich Manteca mit Haken und Ösen. Immer wieder versuchte er, mit dem Säbel Rogers Unterleib zu treffen oder seine Beine zu verletzen. Bei dem dritten Versuch dieser Art wich Roger nicht zur Seite aus, er sprang hoch und landete mit den Füßen sicher auf einem der Tische. Manteca fluchte und zog den Säbel in einem gewaltigen Streich quer von links nach rechts. Roger vollführte noch einen Satz. Die Säbelklinge huschte zwischen der Tischplatte und seinen Beinen hindurch. Dann setzte er wieder auf und kreuzte mit dem Sargento die Klingen. Eine Weile prallten die Klingen klirrend gegeneinander. Manteca wollte Roger von dem Tisch fegen, Roger hielt jedoch die Stellung. Plötzlich beging Manteca einen Fehler und verlor fast das Gleichgewicht. Roger setzte nach und zog ihm mit der Klinge einen Scheitel.
Manteca brüllte auf. Er schlug wie wild nach Roger, aber Roger sprang vom Tisch, tänzelte halb um ihn herum und wehrte seine heftigen Hiebe fast mühelos ab. »Du hättest den Helm aufbehalten sollen!« rief er dem Sargento zu. Den aber hatte Manteca abgesetzt, als er sich in der Schenke an den Tisch gesetzt hatte. Wer hätte auch ahnen können, daß man ihn ausgerechnet hier angriff? Wieder klirrten die Klingen und wetzten sich aneinander. Der Sargento riß den Säbel hoch, fing Rogers Säbel auf und stemmte sich mit aller Macht dagegen. Roger preßte gegen den Druck an, wurde aber gegen eine der Säulen zurückgedrängt. Er stieß mit dem Rücken gegen sie. Mantecas Säbel war ihm sehr nah, bedrohlich nah, und er hatte das verzerrte Gesicht des Kerls unmittelbar vor sich. »Jetzt stirbst du, du Bastard!« stieß Manteca hervor. »Noch lange nicht«, sagte Roger. Mit aller Macht drückte er den gegnerischen Säbel zurück. Die Klingen schrammten aneinander ab, Roger wich aus, der Sargento knallte den Säbel gegen die Säule. Roger konterte und schlitzte ihm auch den zweiten Ärmel auf. Manteca brüllte vor Wut. Das war sein Fehler – er wurde immer unbeherrschter, während Roger die Ruhe bewahrte. Der Sargento drehte sich im Kreis und hieb fluchend um sich. Roger wich ihm aus, blieb stehen, landete einen Treffer, wich wieder aus und schien plötzlich verschwunden zu sein. Der Sargento keuchte. Er wandte den Kopf und sah Roger hinter einer anderen Säule auftauchen. Er stürzte auf ihn zu, aber etwas schien seinen Blick zu irritieren. Heiß lief ihm etwas über das Gesicht. Hölle, dachte er, er hat mein Gesicht getroffen! Blut lief dem Sargento übers Gesicht. Er wischte es mit der freien Hand weg. Er fluchte, stolperte vor und drosch mit dem Säbel auf Roger ein, erwischte aber einen Stuhl und zerrte ihn zu sich heran, weil die Klinge sich tief in das Holz gegraben hatte. Roger wartete, bis der Sargento seinen Säbel wieder befreit hatte. Dann ging das Duell weiter. Systematisch umkreiste Roger seinen Gegner, es war die beste Taktik, ihn zu verunsichern. Der Sargento drehte sich wie ein Tanzbär, stolperte, fluchte und fiel plötzlich mit einem Schrei über Roger her.
Rogers Reflexe waren nicht beeinträchtigt. Er reagierte wieder gedankenschnell. Mantecas wilde Attacke traf ins Leere, aber er spürte, wie sich siedendheiß etwas in seine rechte Achselhöhle bohrte. Wieder hatte der Kerl ihn erwischt! Panik ergriff Manteca. Er stöhnte. Sein Kopf, sein Gesicht, seine Achsel schmerzten wie verrückt. Er konnte den Arm kaum noch richtig bewegen. Er packte den Säbel mit beiden Händen, fuhr zu Roger herum und riß den Säbel hoch. Breitbeinig bewegte er sich auf ihn zu. Dann hackte er mit voller Wucht zu, um ihm den Schädel zu spalten. Wieder verschwand Roger wie ein Spuk zur Seite. Mantecas Säbel hieb in die Bohlen der Schenke. Er riß ihn wieder an sich, schwenkte ihn hin und her und ließ die Klinge Roger um die Ohren pfeifen, aber es war wie verhext, er traf ihn nicht. Roger legte all sein Können in den letzten, entscheidenden Angriff. Konzentriert blockte er die Streiche des Sargentos ab. Die Klingen krachten schwer gegeneinander. Mantecas Bewegungen wurden langsamer. Blitzschnell stach Roger zu – zweimal. Jetzt war Manteca erneut an der Achsel getroffen, tiefer dieses Mal, und am Hals. Etwas schien den Spanier zu lähmen. Er blieb stehen. Seine Arme sanken herunter. Der Säbel entglitt seinen kraftlos werdenden Fingern. Er blutete aus seinen Wunden. Plötzlich brach er zusammen und blieb mit dem Gesicht nach unten reglos auf den Bohlen liegen. »Saubere Arbeit«, sagte Grand Couteau. »Viel zu sauber für diesen Dreckskerl.« Roger legte den Säbel einfach auf einen der Tische. Er kehrte zu Margarita zurück und sagte: »Es war mir eine Ehre.« Sie sprang auf und küßte ihn kurz und heftig. Dann flüsterte sie: »Er ist tot, nicht wahr?« »Da bin ich ganz sicher.« »Aber die Soldaten – sie haben es noch nicht begriffen.« »Roger«, sagte Grand Couteau. »Komm jetzt.« Langsam näherten sich die Soldaten ihrem Sargento. Nur der Mann aus Santander hielt sich im Hintergrund und blinzelte Gerardo zu. Der Wirt und der andere Schankknecht standen mit fassungslosen Mienen hinter dem Tresen.
Die Señoritas wußten nicht, wie sie sich verhalten sollten. Einige lächelten schwach. Auch sie hatten noch nicht richtig erfaßt, daß Zeno Manteca sein Leben ausgehaucht hatte. Margarita griff nach Rogers Hand. »Hier entlang«, hauchte sie. »Nicht auf die Plaza.« Sie führte Roger zu einem Seitenausgang, Grand Couteau folgte ihnen. Gerardo, der Baske, der sich im stillen zu ihrem heimlichen Komplicen ernannt hatte, eilte zu dem Sargento, kniete sich hin und beugte sich über ihn. Er drehte ihn auf den Rücken. Blicklos und starr waren Mantecas Augen zur Decke gerichtet. »Tot«, sagte Gerardo. Die Soldaten rückten entsetzt näher. Erst allmählich ging ihnen auf, was wirklich geschehen war und welche Tragweite es haben würde. Diese kurze Zeitspanne genügte Roger und Grand Couteau. Sie schlüpften ins Freie. Margarita hauchte Roger noch einen Kuß auf die Wange und raunte: »Wir sehen uns wieder, nicht wahr?« »Irgendwann«, erwiderte er. Dann waren die beiden verschwunden. »Alarm!« schrie einer der Soldaten plötzlich. »Der Sargento ist tot!« »Nehmt den Mörder fest!« schrie ein anderer. »Holt Verstärkung!« rief ein dritter. Der erste Rufer stürzte zum Ausgang, aber plötzlich hatte er einen Schemel zwischen den Beinen, von Margarita geschleudert. Er stolperte, fluchte und schlug der Länge nach hin. »Wer war das?« brüllte er. »Ich«, sagte Gerardo, der dicht hinter ihm war und so tat, als wolle er ebenfalls die Verfolgung aufnehmen. »Tut mir leid, aber es ist mir umgekippt, das verdammte Ding!« Der Soldat rappelte sich fluchend wieder auf. Die anderen drängten nach, und alle stürmten sie ins Freie, wobei sie immer noch nicht registriert hatten, daß Roger und Grand Couteau den Seitenausgang benutzt hatten. »Alarm!« brüllte wieder einer von ihnen. Aus Richtung des Stadtgefängnisses rannten weitere Soldaten herbei. »Der Sargento ist tot!« Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, von Gasse zu Gasse. Die Menschen von Arica blieben
mit verwunderten Mienen stehen. Am Pranger ließ man von den Indios ab, und selbst der dicke Bürgermeister Diego de Xamete warf einen Blick aus einem der Fenster seines Domizils, weil er sich nicht zu erklären wußte, was es mit dem Geschrei auf sich hatte. Margarita stand in der Kellerschenke vor dem toten Sargento Zeno Manteca und stemmte beide Fäuste in die Seiten. »Völlig klar«, sagte sie zu dem herbeieilenden Wirt. »Er hat es selbst so gewollt.« »Du hast ihn herausgefordert!« schrie der Wirt sie an. »Ich doch nicht. Er wollte sich schlagen.« »Margarita hat keine Schuld!« rief jetzt auch die rothaarige Samanta. »Laß sie bloß in Ruhe!« »Der Fremde hat ehrlich gekämpft«, sagte Gerardo. »Das hat jeder gesehen. Der Sargento hingegen hat ihn gemein überlisten wollen.« Fast alle ergriffen jetzt für Margarita Partei, vor allem die Mädchen. Der Wirt sah sein »Betriebskapital« bedroht. Wenn ihm die Señoritas wegliefen, war er eine seiner wichtigsten Einnahmequellen los, und es würde nicht leicht sein, so schnell Ersatz zu finden. »Schon gut«, sagte er. »Es gibt ja genug Zeugen. Es war ein redliches Duell, nicht das erste, das in Arica stattfindet. Mir geht es nur darum, daß mir keiner was anhängen kann.« »Dich kann keiner belangen«, sagte Margarita verächtlich. »Sei also unbesorgt.« Roger und Grand Couteau hasteten unterdessen durch die Gasse, aus der heraus sie die Plaza betreten hatten, davon. Plötzlich aber sahen sie am anderen Ende drei Soldaten, die beim Erklingen der Alarmrufe ihre Hälse reckten. Roger blieb stehen. Grand Couteau stoppte ebenfalls. Sie blickten sich nach allen Seiten um. Von der Plaza her näherten sich trappelnde Schritte. Was sollten sie tun? »He!« zischte plötzlich jemand ganz in ihrer Nähe. Sie drehten sich um und entdeckten Furio Benares, das Kerlchen, das sie bei ihrem Eintreffen kennengelernt hatten. »Hierher!« zischte der Kleine. Die beiden Franzosen hatten keine andere Wahl. Ob er nun ein Spitzel war oder nicht – egal, er war ihr rettender Anker in der
Not, wie es schien. Sie eilten zu ihm. Er führte sie in das Haus, in dem er wohnte, und zeigte ihnen den hinteren Ausgang. »Hier geht’s weiter«, sagte er. »Rasch – ihr könnt es noch schaffen. Den Wein trinken wir ein andermal.« Roger grinste. »Dafür ist jetzt keine Zeit. Schade.« »Ist der Sargento wirklich tot?« »Mausetot.« »Recht so. Noch schöner wäre, wenn ihr auch dem Bürgermeister eine Lektion erteilen würdet – wer immer ihr seid.« Grand Couteau zwinkerte ihm zu. »Vielleicht tun wir das noch.« »Viel Spaß dabei.« Benares zwinkerte zurück. »Danke«, sagte Roger. Sie verließen das Haus durch die Hintertür. Kurz darauf befanden sie sich bereits im Menschengewirr des Hafenviertels, das ihnen hervorragenden Schutz und Deckung bot. Die Soldaten suchten unterdessen in der falschen Richtung nach ihnen, und so gelang es Roger und seinem Freund, ungesehen und unbehelligt Arica zu verlassen. * »Hallo«, sagte Albert mit fröhlichem Grinsen, als Le Testu und Montbars aus dem Dickicht auftauchten. »Da seid ihr ja. Schön, euch wiederzusehen.« »Laß die Sprüche«, sagte Le Testu und blickte zu Donald Swift, der eine verdrossene Miene schnitt. »He, was ist denn mit dir los?« »Hat dich ein Vampir gebissen?« fragte Montbars. »So was Ähnliches. Ich habe beim Würfeln verloren.« »Ach, euch soll der Teufel holen«, sagte Le Testu. »Wo sind die anderen?« »Noch nicht wieder hier«, erwiderte Albert. »Ihr seid die ersten.« Wenig später trafen aber auch Ferris Tucker und Al Conroy ein und berichteten, was sie in Arica gesehen hatten. Le Testu erzählte, wie es Montbars und ihm ergangen war und was ihre Beobachtungen ergeben hatten. »Aber wo stecken Roger und Grand Couteau?« fragte Ferris.
»Die werden auch gleich hier sein«, entgegnete Le Testu. Einige Zeit verstrich, aber die beiden tauchten nicht bei der Hütte auf. »Hölle«, sagte Le Testu. »Hoffentlich ist ihnen nichts zugestoßen. Das fehlte uns noch.« »So etwas können wir uns nicht erlauben«, sagte Albert. »Aber das wissen die beiden auch.« »Und was ist, wenn sie von einer Patrouille kontrolliert worden sind?« fragte Montbars. »Laß mich nicht daran denken«, sagte Le Testu. »Das würde unser ganzes Unternehmen in Frage stellen, das weißt du doch. Wir müßten unverrichteter Dinge wieder abziehen.« »Oder unsere Leute aus dem Gefängnis rausholen«, sagte Ferris grinsend. »Zu was haben wir eigentlich unsere Flaschenbomben dabei?« Le Testu blickte ihn an. »Hör auf. Ich finde das absolut nicht witzig.« Die Zeit schien nur langsam zu verrinnen. Doch bald ließ das Licht nach, und die ersten Schatten der Dämmerung krochen vom Land her über die See. »Ich halte die Warterei nicht mehr aus«, sagte Al. »Wie wäre es, wenn wir nachsehen, was aus ihnen geworden ist?« »Nicht nötig«, ertönte eine Stimme aus dem Gebüsch. »Wir sind schon da.« Roger Lutz und Grand Couteau traten zu den Kameraden. Sie wurden auf das herzlichste begrüßt. Dann setzten sich die acht Männer in der Hütte zusammen, und auch Roger und Grand Couteau schilderten, was sich an der Plaza zugetragen hatte. »Hol’s der Henker«, sagte Le Testu, als die beiden ihren Bericht abgeschlossen hatten. »Ihr habt Kopf und Kragen riskiert.« »Jedenfalls ist Manteca jetzt tot«, sagte Roger grimmig. »Und ich habe Anacoanas Mann gerächt. Das war ich ihr schuldig. Ich hatte es ihr versprochen. Gustave, du kannst mir deswegen den Kopf abreißen, wenn du willst.« »Nein, das tue ich nicht.« »Du bestrafst mich also nicht?« »Unsinn«, entgegnete Le Testu. »Ich kann dich verstehen. Es liegt mir fern, dich zu tadeln. Du hast gehandelt, wie es jeder von uns getan hätte.«
Roger atmete auf. »Ich danke euch, Freunde. Ich sage euch ganz ehrlich, es hätte mich schwer getroffen, wenn ihr mich wegen des Duells verdammt hättet.« »Du kennst uns eben schlecht«, sagte Montbars. »Aber erzähl noch ein bißchen mehr von dieser Andalusierin, dieser Margarita.« »Später«, sagte Le Testu. »Zurück zur Stadt und ihrem Hafen jetzt. Eins scheint sich bei unserer Erkundung herauskristallisiert zu haben. Wir werden den Morro de Arica nicht knacken können.« »Nur vom Wasser aus«, sagte Ferris. »Mit Booten«, fügte Al hinzu. »Aber wir dürfen die Mauer nicht vergessen, sie stellt ein großes Hindernis dar. Sie ist verflucht hoch.« »Zu hoch«, sagte Le Testu. »Wir sind acht Mann. Wir können das nicht schaffen. Noch nicht.« »Du schreibst den Morro also ab?« fragte Montbars. »Abschreiben ist nicht der richtige Ausdruck«, erwiderte Le Testu. »Nur erscheint mir der Einsatz bei dem Risiko, den die Wachtposten darstellen, zu hoch. Außerdem ist etwas anderes vorrangig. Zu dem jetzigen Zeitpunkt dürfte es wichtiger sein, die gefangenen Indios zu befreien, die jederzeit nach Potosí in Marsch gesetzt werden können. Um den Morro kümmern wir uns vorläufig nicht. Mein Vorschlag lautet: Wir sprengen das Waffendepot und zünden die Vorratsschuppen an.« »Den Plan halte ich für gut«, sagte Ferris. »Sobald sich die allgemeine Aufmerksamkeit dem Hafen zuwendet und alles dorthin eilt, um zu gaffen oder die Brände zu löschen, überfallen wir den Gefängnishof.« Montbars lachte und rieb sich die Hände. »Das ist nach meinem Geschmack. Wir befreien die Indios und bringen die Soldaten ein bißchen durcheinander. Sie haben den Tod ihres Sargentos vielleicht noch gar nicht richtig verdaut und sind verunsichert.« »Das ist ein Trumpf für uns«, sagte Grand Couteau. »Und was geschieht anschließend mit den Indios?« fragte Albert. »Wenn wir sie befreit haben, meine ich?« »Wie sie sich dann durchschlagen, ist ihre Sache«, sagte Le Testu. »Aber es ist ja wohl zu erwarten, daß sie ihre Chance nutzen.« Roger nickte. »Gewiß. Sie werden sie nutzen, keine Sorge.«
»Wer besorgt das Sprengen und Zünden?« fragte Donald. »Wer wohl?« sagte Ferris. »Wir natürlich, Al und ich. Und du wirst uns begleiten. Was hältst du davon?« »Ich könnte mir nichts Besseres vorstellen. Ich tue alles, was ihr von mir verlangt, nur laßt mich nicht wieder mit Albert würfeln.« »Dazu ist keine Zeit und Gelegenheit mehr«, sagte Le Testu trocken. »Wir fünf anderen pirschen uns bis zur Plaza und halten uns dort auf. Wir warten ab, bis der Krach im Hafen losgeht und das Chaos im vollen Gange ist. Dann handeln wir und setzen uns anschließend so schnell wie möglich wieder hierher ab. Klar?« »Alles klar«, murmelten die Männer. »Wenn ich richtig verstanden habe, können wir in Arica auf Unterstützung hoffen«, sagte Montbars. »Was ist mit Benares und diesem Basken Gerardo?« »Sie würden teilnehmen«, erwiderte Roger. »Aber wir sollten sie heraushalten.« »Das ist auch meine Meinung«, erklärte Le Testu. »Erstens, weil ich davon überzeugt bin, daß wir auch alleine mit unserem Vorhaben fertig werden, zweitens, weil ich andere nach Möglichkeit nicht in Schwierigkeiten bringen will.« Montbars pflichtete ihm bei. »Da hast du recht. Es war auch nur so ein Gedanke von mir. Ich träume eben immer vom Aufstand.« »Du bist der geborene Rebell«, sagte Albert. »Aber das wissen wir ja.« »Was du nicht weißt, ist, wie es sich anfühlt, wenn ich dir mein Messer zu schmecken gebe«, sagte Montbars und fixierte Albert mit etwas gesenktem Kopf. »Alle hacken auf mir herum«, sagte Albert. »Das ist nicht gerecht. Es ist eine Gemeinheit.« »Du lernst es eben nie, deinen Mund zu halten«, sagte Donald. »Das ist dein großer Fehler. Eines Tages landest du in der See, mit einer Kanonenkugel an den Beinen.« »Ja, das wird wohl sein Schicksal sein«, sagte Montbars. Die Männer aßen noch ein wenig und tranken aus der Flasche, die Le Testu herumreichte: Sie warteten darauf, daß es dunkel wurde. Am liebsten wären sie sofort nach Arica marschiert, denn man soll das Eisen schmieden, solange es noch heiß ist, meinte Grand Couteau. Doch Le Testu hatte sich für eine andere Taktik
entschieden. Erst sollte sich in Arica die Stimmung wieder beruhigen. Dann, wenn es richtig dunkel war, würden sie handeln. 8. Gegen zehn Uhr brachen die beiden Gruppen auf. Die Hütte blieb hinter ihnen zurück. Schweigend bewegten sie sich durch das Gebüsch und hielten zielstrebig auf den Pfad zu, der nach Arica führte und den sie jetzt gut genug kannten. Ferris, Al und Donald hatten Pulverfässer mitgenommen. Auch im Depot von Arica waren Fässer mit Pulver gelagert, so daß ihre Aktion den entsprechenden »Effekt« haben würde. Natürlich hatten sie auch Lunten dabei. Le Testus Trupp war schwer bewaffnet, auch mit Flaschenbomben. Roger nahm eine davon in die Hand und betrachtete sie grinsend. Ja, er wußte, welche besondere Verwendung eine dieser Wurfgranaten finden würde. Und Margarita, Gerardo und Furio Benares, das Kerlchen, würden sich freuen. Vielleicht freuten sich auch noch andere – wie über den Tod des Sargento Manteca. Die Männer unter der Führung von Le Testu erreichten Arica und drangen vorsichtig in Richtung der Plaza vor. Hier war es von unschätzbarem Vorteil, daß sich Roger Lutz und Grand Couteau bereits auskannten. Sie nutzten alle Schleichwege und Gäßchen aus, die sie während ihrer Flucht kennengelernt hatten. Die Dunkelheit schützte und tarnte sie. Niemand schien sie zu beobachten, niemand behelligte sie. Nur einmal marschierte ein Trupp von Soldaten in einiger Entfernung an ihnen vorbei, aber sie drückten sich in eine Toreinfahrt und verharrten abwartend. Die Schritte entfernten sich und verklangen bald. »Die sind weg!« zischte Montbars. »Um die brauchen wir uns nicht mehr zu kümmern.« »Vielleicht suchen sie noch nach uns«, brummte Grand Couteau. Les Testu blickte ihn an. »Dann laß sie mal schön suchen. Ist es noch weit zur Plaza?« »Nein«, erwiderte Roger leise. »Wir sind gleich da.« Um kurz vor elf Uhr erreichten sie die Plaza und nahmen unauffällig in der Nähe des Stadtgefängnisses Aufstellung – Le
Testu und Montbars nicht weit vom Pranger entfernt, Albert im Gang neben einer der Schenken. Roger und Grand Couteau versteckten sich auf einem Hinterhof, durch dessen offenes Tor sie jedoch direkt zum Tor des Gefängnisses sehen konnten. »Jetzt kann’s losgehen«, sagte Grand Couteau. »So eine heiße Nacht hat Arica bestimmt noch nicht erlebt«, sagte sein Freund. Grand Couteau lachte leise. »Aber einen Vorgeschmack haben sie ja heute nachmittag schon erhalten.« »Das war gar nichts im Gegensatz zu dem, was jetzt folgt.« Le Testu und Montbars spazierten am Pranger vorbei und betrachteten unauffällig die Indios. »Ihr armen Teufel«, murmelte Le Testu. »Gleich seid ihr frei.« »Was meinst du«, sagte Montbars leise. »Ob Hasard und Jean oben in Potosí Erfolg haben?« »Ich glaube fest daran.« »Potosí und Arica müßten in die Luft fliegen, das wäre was.« »Sei jetzt lieber still«, murmelte Le Testu. Er deutete mit dem Kopf zum Tor. Dort wurde soeben der Wachtposten abgelöst. »Den nehmen wir uns nachher als ersten vor.« »Sicher«, brummte Montbars, dann schwieg er. Sie verschwanden in einer Gasse. Sie schienen zwei Seeleute zu sein, die sich auf der Suche nach weiblicher Gesellschaft befanden. Niemand wurde auf sie aufmerksam – auch Margarita nicht, die sich mit einer Flasche Wein auf ihr Zimmer zurückgezogen hatte. Sie blickte auf die Plaza und dachte: Auf dein Wohl, Roger und darauf, daß Manteca jetzt in der Hölle schmort. * Um elf Uhr wurden Ferris Tucker, Al Conroy und Donald Swift aktiv. Sie lösten die Bretter von den Rückwänden zweier großer Holzschuppen am Hafen und drangen ins Innere ein. Kein Posten tauchte auf, alles war ruhig, und niemand schien etwas Böses zu ahnen. Ferris und Donald befanden sich in dem einen Schuppen, Al in dem anderen. Ferris tastete die Fässer ab und grinste seinen Begleiter an.
»Feine Sache«, raunte er ihm zu. »Wir haben hier Öl und Petroleum. Ist das nicht wunderbar?« »Das gibt ein feuriges Fest.« »Darauf kannst du dich verlassen.« Ferris begann, einige der Fässer zu öffnen. Öl und Petroleum liefen aus den gestapelten Fässern auf den Boden. Al verfuhr genauso und sie zündeten gleichzeitig die Lachen, die sich auf dem Boden ausbreiteten. Dann waren sie auch schon wieder im Freien und gaben sich gegenseitig Zeichen, daß der erste Teil der Aktion geklappt hatte. Im nächsten Moment war es soweit: Fast explosionsartig fauchten die Flammen hoch, und im Nu brannten die beiden Schuppen. Ferris, Al und Donald hatten sich entfernt und befanden sich bereits in der unmittelbaren Nähe des Waffendepots, als sich der rötliche Schein des Feuers drohend über dem Kai und den Piers ausbreitete und die ersten Rufe ertönten. Ferris fuhr vor dem Tor des Depots entsetzt herum und blickte zu den Schuppen. »Feuer!« stieß er entsetzt hervor. »Feuer!« »Feuer – Feuer«, stammelte auch der Posten des Depots, der völlig verdattert dastand und vor lauter Betroffenheit den Mund weit aufsperrte. »Vorwärts!« fuhr Ferris ihn an. »Wasser holen! Löschen! Willst du hier einschlafen und warten, bis ganz Arica brennt?« Der Posten war derart irritiert, daß er den Befehl sofort befolgte. Er wirbelte herum, stürzte ins Depot und holte sich einen der dort bereithängenden Ledereimer. Dann stürzte er wieder nach draußen und rannte wie von Furien gehetzt zum Kai. Ferris winkte Al und Donald zu, und sie drangen in das Depot ein. Ehe sie handelten, schauten sie sich nach weiteren Wachtposten um, doch es schien keine zu geben. Draußen trappelten Schritte vorbei, die Rufe wurden lauter. Jemand fiel hin und rappelte sich schimpfend wieder auf. »Feuer!« und »Wasser!« wurde immer wieder geschrien. Al riegelte das Tor des Depots von innen ab. Ferris und Donald griffen bereits nach den Pulverfässern und stapelten sie, dann war auch Al bei ihnen, und gemeinsam bauten sie eine Pyramide aus den Fässern. In das unterste Faß führte Ferris eine Lunte.
»Alles klar«, sagte er dann. »Nun gib mal Feuerstahl und Flint her, Mister Conroy.« »Aber gern, Mylord«, sagte Al grinsend. Sie schlugen Feuerstein und Feuerstahl aneinander, und die Funken sprühten und griffen auf die Zündschnur über, die mit gierigem Knistern zu brennen begann. Bei den beiden Schuppen war unterdessen der Teufel los. Soldaten brüllten Befehle, Seeleute rannten als Helfer herbei. Man geriet sich gegenseitig ins Gehege, dann aber wurde eine Kette gebildet bis zum Hafenwasser. Die Ledereimer wurden gefüllt, weitergereicht und das Wasser in das Feuer gekippt, aber die Schuppen waren schon nicht mehr zu retten. Ungesehen verließen Ferris, Al und Donald das Depot. Sie schlossen die Tür und grinsten sich an. Sie hatten sich mit Ledereimern bewaffnet. »Das ist eine gute Tarnung«, sagte Ferris. »Los, Freunde.« Eifrig marschierten sie los und taten so, als ob sie ebenfalls Wasserholer wären. Dann aber verzogen sie sich aus dem Bereich des Depots und der beiden Schuppen und warteten in angemessener Entfernung in der Deckung eines alten, wackligen Bretterverschlages ab. Gleich ist es soweit, dachte Ferris. Das Depot flog mit einem infernalischen Donnern und Krachen auseinander. Eine glühende Woge brach aus seinem Inneren hervor, Steinbrocken wirbelten durch die Luft. Funken sprühten. Ganz Arica schien zu erbeben. Der alte Verschlag – die Deckung des Trios – drohte umzukippen. Ein einziger Schrei gellte durch den Hafen. Das Feuer breitete sich aus. Durch den Funkenflug entzündete sich das Dach eines weiteren Schuppens. Die Schindeln und Bretter waren knochentrocken. »Seht mal, wie hübsch das brennt«, sagte Donald. »Jetzt schwebt der rote Hahn über Arica.« »Im Hafen bahnt sich ein Chaos an«, sagte Ferris. »Los, wir spielen ein bißchen mit, das rundet die Szene ab.« Sie rannten wieder los und hielten auf die Plaza zu. Unterwegs schrien und gestikulierten sie. »Hilfe!« brüllte Ferris. »Brand! Feuer! Wasser! Hilfe! Wir brauchen Löschtrupps!« »Feuer, Feuer!« brüllten auch Al und Donald.
»Der ganze Hafen steht in Flammen!« schrie Ferris drei entgegenkommenden Soldaten zu. »Santa Madre!« rief der eine Soldat. »Wie konnte das passieren?« »Alles brennt!« rief Al. »Wir brauchen Wasser! Und Männer!« »Das Feuer greift auch auf die Stadt über, wenn nicht gelöscht wird!« brüllte Ferris und alle Bürger, die aus ihren Häusern stürzten, konnten es hören. »Alle Mann in den Hafen!« schrie Ferris. Das Täuschungsmanöver gelang. Wer sich auf den Straßen befand und aus den Häusern stürmte, hatte jetzt nichts Eiligeres zu tun, als zum Hafen zu eilen. So gelang Le Testu und seinen Kameraden auch der nächste Teil des Unternehmens: das Stürmen des Stadtgefängnisses. * Der Wachtposten vor dem Tor des Gefängnisses hob den Kopf und versuchte, etwas von dem zu erkennen, was im Hafen vor sich ging. Daß es brannte, konnte er deutlich genug sehen. Ein roter Feuerhauch strich über das Hafenviertel hinweg, mehrere Häuser schienen in Flammen zu stehen. »Feuer, Feuer!« Ein rothaariger Mann, den der Soldat zuvor noch nie gesehen hatte, stürmte auf die Plaza. »Zu Hilfe!« »Wir brauchen Wasser! Löschtrupps!« brüllte ein anderer Mann, den der Posten ebenfalls nicht kannte. »Gleich brennt die ganze Stadt!« schrie ein dritter Mann. Der Soldat wurde unruhig, er wartete auf Befehle. Er wußte nicht, wie er sich verhalten sollte. Warum erschien der Sargento nicht? Der Sargento war tot. Und der Bürgermeister? Begriff der immer noch nicht, was los war? Der rothaarige Riese hielt genau auf den Posten zu. »Feuer! Zu Hilfe!« »Stehenbleiben!« schrie der Posten. Mehr bekam er nicht heraus, denn Le Testu fällte ihn mit einem wuchtigen Hieb, der genau seinen Nacken traf. Der Soldat brach zusammen, ohne auch nur ein Stöhnen von sich zu geben. Montbars, Roger Lutz, Grand Couteau und Albert waren wie ein Spuk heran. Le Testu, Ferris, Al und Donald waren bereits am Tor und brachen es auf.
Mitternacht in Arica und im Hafen war der Teufel los. Der rote Hahn tanzte und wütete, und die Löschtrupps mit den Ledereimern, Pützen und Kübeln hatten alle Hände voll zu tun. Immer mehr Männer, aber auch Frauen hasteten zum Hafen. Die Plaza war wie leergefegt. Le Testu, Ferris, Al und Donald hatten das Tor mit vereinten Kräften geöffnet. Le Testu war als erster mitten zwischen den Indios, die sie mit ungläubigen, teils entsetzten Mienen anblickten. »Wer von euch versteht Spanisch?« rief er ihnen zu. Ein alter Mann mit schlohweißem Haar erhob sich. »Ich.« »Flieht!« sagte Le Testu. »Rasch, ehe es zu spät ist. Befreit auch eure Brüder, die am Pranger stehen. Aber beeilt euch, um Himmels willen!« Zunächst waren die Indios noch verdutzt und scheu, aber es befanden sich außer dem Greis genügend unter ihnen, die die spanische Sprache verstanden. Und sie begriffen, daß diese Fremden Freunde waren, die ihnen zur Flucht verhelfen wollten – schon die nächste Aktion dieser Männer zeigte es ihnen. Aus einem Trakt des Gefängnisgebäudes stürzten Wächter. Sie schrien und fluchten und hoben ihre Musketen. »Was ist da los?« brüllte einer von ihnen. »Eindringlinge!« »Zurück!« rief ein anderer, aber es war nicht genau zu ermitteln, ob er damit die Eindringlinge stoppen oder seine Landsleute zurückhalten wollte. Es war ohnehin zu spät – Ferris hatte die erste Höllenflasche gezündet und schleuderte sie über die Köpfe der Indios hinweg vor die Tür des Nebentraktes. Die Flasche flog krachend auseinander. Die Spanier brüllten auf, vergaßen das Schießen und sanken verletzt zu Boden oder warfen sich in Deckung. Le Testu, Montbars und die anderen feuerten aus ihren Waffen – die Wärter zogen sich zurück. Als eine zweite Flasche gegen die Mauer des Gebäudes flog, brüllten sie vor Entsetzen auf. Wieder krachte die Explosion, wieder feuerten Le Testus Männer auf den Gegner. Jetzt waren die Indios nicht mehr zu halten. Wie eine Sturmflut brachen sie aus dem Hof, rasten auf die Plaza, befreiten ihre Stammesbrüder vom Pranger und ergriffen die Flucht. Als die Wärter soweit waren, zurückzufeuern, war der Gefängnishof bereits wie leergefegt.
Le Testu und der Trupp zogen sich zum Tor zurück. Ferris nickte Le Testu zu. Sie waren sich einig. »Es wird Zeit, daß wir uns absetzen«, sagte Le Testu. »Sonst könnte es bei dem vielen Feuer auch für uns brenzlig werden«, sagte Ferris grinsend. Sie feuerten noch ein paar Schüsse ab, dann stießen sie durch das Tor auf die Plaza. Montbars und Grand Couteau rammten das Tor zu. Der Trupp lief am Rand der Plaza entlang, und Le Testu hatte vor, ihn auf dem schnellsten Weg zum Stadtrand zu dirigieren, aber da geschah es. Aus einer Hauptstraße, die auf die Plaza führte, ertönte das Klappern von Hufen und das Rattern von Wagenrädern. Roger blieb unwillkürlich stehen und blickte zu der Mündung der Straße. »Grand Couteau«, sagte er. »Der Teufel soll mich holen, wenn das nicht der dicke Bürgermeister ist.« Er täuschte sich nicht. Die vierspännige Prunkkarosse, der sie bei ihrem ersten Besuch in der Stadt begegnet waren, rollte im Eiltempo heran. »Platz für den Bürgermeister!« brüllten zwei Stadtgardisten, die auf dem Bock saßen. »Ja!« stieß Roger begeistert aus. »Machen wir ihm Platz, Leute!« Er wollte seine Flaschenbombe zünden, aber Ferris hatte die Lunte seiner Wurfgranate mit Als Hilfe bereits entfacht. Knisternd brannte die Lunte herunter. Ferris wartete eiskalt noch einen Moment. Die Karosse rollte über die Plaza. »Platz!« schrien die Gardisten wieder. Ferris bückte sich ein wenig und ließ die Flaschenbombe unter die Karosse rollen. Er hatte genau den richtigen Zeitpunkt abgepaßt sie flog in dem Moment auseinander, in dem sich der Kutschboden über ihr befand. Die Karosse erzitterte, als habe man mit Riesenhämmern auf sie eingeschlagen. Die Gardisten brüllten auf, und im Inneren ertönte ein greller Laut, der wie eine Mischung aus Kreischen und Quieken klang. Die Tür flog auf, ein dicklicher Mensch kugelte ins Freie und landete jammernd auf dem Pflaster. Seine Hose rauchte. Die Gardisten trachteten danach, die vier Pferde zu zügeln, doch die waren nicht mehr zu halten. Sie wieherten schrill und
bäumten sich auf, dann gingen sie durch. Die Karosse jagte davon. Sehr arm und schwach wirkte Diego de Xamete, wie er da auf dem Pflaster der Plaza lag. Er sah die Männer nicht, die grinsend davoneilten, und er hatte auch nicht die geringste Ahnung, wie das ganze Unheil zusammenhing. Warum es die Karosse um ein Haar zerfetzt hatte, war ihm ebenso unklar. Er wußte nur das eine: Ihm taten sämtliche Knochen weh, und kein Mensch eilte ihm zu Hilfe, um ihm wieder auf die Beine zu helfen. Schon gar nicht Margarita, die aus dem Fenster ihres Kämmerchens schaute: Sie klatschte begeistert in die Hände und trank noch einen Schluck Wein. Zwei von den über die Plaza huschenden Gestalten glaubte sie wiedererkannt zu haben. Und sie konnte sich auch denken, wer das Feuer gelegt, für die Explosionen gesorgt und die Indios befreit hatte. Roger, dachte sie, ich wünsche dir alles erdenklich Gute. Vielleicht sehen wir uns unter diesen Umständen doch nicht mehr wieder. Aber ich hoffe, du bist wohlauf. Das gilt auch für deine Freunde, wer immer sie sind. Diego de Xamete, seines Zeichens Bürgermeister von Arica, erhob sich klagend von den harten Katzenköpfen der Plaza und rieb sich den Allerwertesten. Was für eine Figur gab er ab! Humpelnd bewegte er sich von dannen, die Garde und die Dienerschaft waren verschwunden. Keiner stützte ihn. Was war los? Es brannte und alle waren am Hafen, um beim Löschen zu helfen. Das Durcheinander war vollkommen. De Xamete war den Tränen nahe, er sah Arica dem Untergang geweiht. Doch jetzt öffnete sich das Tor des Stadtgefängnisses, und bewaffnete Soldaten eilten auf ihn zu. »Was ist los?« schrie er sie an. »Die Indios sind auf und davon!« rief ein Soldat zurück. »Was? Alle?« »Alle, Señor.« »Wenn der Sargento Manteca noch am Leben wäre, wäre das nicht passiert«, sagte de Xamete fassungslos. »Ich werde euch dafür bestrafen, ihr Hunde.« »Es ist nicht unsere Schuld, Señor«, sagte ein älterer Soldat. »Bewaffnete Banditen sind eingedrungen. Sie hätten uns um ein Haar alle über den Haufen geschossen.«
»Und sie hatten Knallflaschen«, sagte ein anderer. De Xamete sah ihn aus geweiteten Augen an. »Sie hatten was?« »Pulverflaschen«, erwiderte der Mann. »Eine davon scheint auch unter Ihre Kutsche gerollt zu sein.« »Diese Satansbrut! Wer sind sie?« »Wir wissen es nicht«, entgegnete der ältere Soldat, und das entsprach den Tatsachen: Keiner hatte auch nur einen Verdacht, wer die Fremden sein mochten, die sich zu diesem Zeitpunkt ungehindert aus Arica absetzten. Gegen ein Uhr morgens, am 17. Dezember 1594 also, schoben sie ihre Jolle ins Wasser, setzten den Mast und segelten nordwestwärts – zurück zur Mündung des Rio Tacna. Lichterloh brannten hinter ihnen das Depot, die Schuppen und noch andere Gebäude am Hafen. Die Aktion war ein voller Erfolg, mehr hätten sie sich nicht erhoffen können. Jetzt galt es, zu den Kameraden an Bord der »Estrella de Málaga« und der »San Lorenzo« zurückzukehren und ihnen Bericht zu erstatten… Ende Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 460 Der Pulverturm von Burt Frederick Die Welt schien unterzugehen. Anfangs war es wie ein Grollen, das tief aus dem felsigen Untergrund heraufdrang – wie aus einem Höllenschlund. Der Boden wurde erschüttert und brachte die Gebäude und Mauern der Festungsanlage zum Wanken. Eine erste grelle Explosionsstichflamme schoß durch die Dachplattform des Pulverturms hoch in den Himmel. Dann flog das Dach auseinander, und im urgewaltigen Brüllen der Detonation wirbelten Quadersteine hoch, als handele es sich um Würfelchen aus leichtem Holz. Die Explosionen setzten sich fort. Vor den Augen Al Conroys, Batutis und von Roger Lutz löste sich der Pulverturm buchstäblich in seine Bestandteile auf…
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