Der Racheschwur
von Günther Herbst scanned by : horseman kleser: Larentia Version 1.0
Wieder und wieder krachten die ...
14 downloads
172 Views
392KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Der Racheschwur
von Günther Herbst scanned by : horseman kleser: Larentia Version 1.0
Wieder und wieder krachten die Rammböcke der Belagerungsmaschinen gegen die Schutzmauer der ritterlichen Burg. Die Steine seufzten in ihrem Verbund, und der Mörtel rieselte in grauen Staubwolken auf die Belagerer hinab. Schon zeigten sich breite Risse und kopfgroße Löcher in dem Bollwerk. Lange könnte es nicht mehr dauern, bis die Mauer unter den wuchtigen Rammstößen zerbarst. Dann war der Weg frei für den Sturmangriff der gräflichen Getreuen. Graf Eduard fieberte dem Augenblick des Zusammenbruchs mit großer Erwartung entgegen. Er hatte Ritter Walther Rache
geschworen, der es gewagt hatte, sich gegen ihn zu erheben. Für dieses schändliche und treulose Tun mußte er zur Rechenschaft gezogen werden. Dann war es soweit. Unter ohrenbetäubendem Getöse stürzte ein Teil der Burgmauer ein ...
»Auf in den Kampf, Männer!« rief Graf Eduard. Seine Getreuen bedurften der Aufforderung nicht. Sie stürmten bereits vorwärts, mit gezückten Schwertern, mörderischen Streithämmern und stoßbereiten Lanzen. Das Licht der nachmittäglichen Sonne spiegelte sich im blinkenden Stahl der Waffen. Ihre gellenden Kriegsschreie ließen die Erde erbeben. Graf Eduard setzte sich an die Spitze seiner Männer. Zwar hatte er das fünfte Jahrzehnt seines Lebens fast vollendet, aber er war nach wie vor ein guter Kämpfer. Die Muskelkraft seines Armes, die Sicherheit seines Auges und die Geschmeidigkeit seiner Bewegungen suchten noch immer ihresgleichen. Er war auch jetzt noch Manns genug, es mit jedem Jüngeren aufzunehmen. Die Lücke, die sich in der Burgmauer aufgetan hatte, war breit genug, um die Angreifer ohne Schwierigkeiten hindurchschlüpfen zu lassen. Graf Eduard kletterte über den kleinen Hügel niedergestürzter Steine und stürmte auf den Innenhof der ritterlichen Burg. Seine Getreuen folgten ihm auf dem Fuße. Pfeile jagten den Eindringlingen entgegen. Sie kamen aus den Fenstern des Wohnturms, vom Wehrgang unterhalb des Daches, aus der Tür des Gesindehauses. Aber die Schüsse wurden hastig und überstürzt abgegeben, waren schlecht gezielt. Fast alle gingen fehl. Und diejenigen, die den Gräflichen doch gefährlich werden konnten, wurden von den Schilden aufgefangen oder glitten an den Harnischen ab. Verächtlich kräuselte Graf Eduard die Lippen. »Feiges Gesindel! Statt sich im offenen Kampf zu stellen, verstecken sie sich wie die Mäuse vor der Katze.« Verwundert war er nicht. Ritter Walther hatte sich nie durch besonderen Mut hervorgetan, hatte schon immer hinterhältige Arglist auf sein Banner geschrieben. Eduard bedauerte zutiefst, daß er den Schurken seinerzeit mit einem Lehen bedacht hatte. Aber damit hatte es jetzt ein Ende, ein für allemal. »Mir nach!« rief er und eilte im Sturmschritt auf die Eingangstür des Wohnturms zu.
Die Tür bestand aus schweren Bohlen und war mit eisernen Beschlägen verstärkt. Und sie war natürlich verschlossen. Aber dieser Umstand bereitete dem Grafen kein Kopfzerbrechen. »Öffnet die Tür«, befahl er. Zwei seiner Getreuen traten vor, die Streitäxte in den erhobenen Fäusten. Mit wuchtigen Hieben trieben sie den scharfgeschliffenen Stahl in das Holz. Die Tür zitterte in ihrer Verankerung, fingergroße Späne flogen durch die Gegend. Die Metallbeschläge beulten sich, platzten ab. Noch ein paar krachende Schläge, dann war die Tür gesprengt. Mit ein paar kräftigen Fußtritten ließ sie sich aufstoßen. Graf Eduard war der erste, der in den Wohnturm eindrang. Niemand stellte sich ihm entgegen. Unbehelligt erreichte er die nach oben führende Wendeltreppe. Seine Männer waren dicht hinter ihm. Sie brannten darauf, endlich mit einem Gegner handgemein werden zu können. Und dazu sollten sie bald Gelegenheit bekommen... Noch immer von niemandem behindert, hasteten die Männer die Treppe empor. Sie erreichten das Geschoß, in dem sich die Aufenthaltsräume der ritterlichen Getreuen befanden. Abermals standen sie vor einer verschlossenen Tür. Wieder krachten die Streitäxte gegen die Bohlen. Binnen kürzester Zeit war das Hindernis aus dem Weg geräumt. Auch jetzt war der Graf der erste, der die Schwelle überschritt. Nun aber stieß er auf Widerstand. Fünf, sechs, sieben Bewaffnete stürzten sich ihm entgegen. Mit erhobenen Schwertern drangen sie ungestüm auf ihn ein. Zu ungestüm ... Eduard gelang es, sie sich mit Hilfe des Schilds und seines eigenen Schwertes vom Leibe zu halten. Augenblicke später traten ihm seine Männer zur Seite. »Nieder mit den Verrätern!« Schlagend und stechend trieben sie die Männer des Grafen Walther zurück. Sie waren im Kriegshandwerk weitaus besser geschult als die hergelaufenen Gesellen Walthers, von denen nur einige wenige dem
Ritterstand entsprossen waren. Zwei Kämpfer verloren schon beim ersten Ansturm der Gräflichen ihr Leben, ein dritter sank todwund zu Boden, blutend und mit zerfetzter Brünne. Die vier übrigen streckten die Waffen und ergaben sich. Eduard hatte bereits erkannt, daß sich der Ritter Walther nicht unter ihnen befand. Er trat auf einen der Besiegten zu und setzte ihm die Schwertspitze auf die Brust. »Wo ist dein Herr? Sprich!« »Er ist ...« »Nun?« Eduard verlieh seiner Frage mehr Nachdruck, indem er die Spitze seiner Waffe zum Kinn des Mannes emporwandern ließ. »Ritter Walther ist oben auf dem Wehrgang«, beeilte sich dieser jetzt zu sagen. Der Graf ließ die Klinge sinken, beachtete den Mann nicht mehr. »Kommt!« Er verließ den Raum, kehrte zur Treppe zurück. Seine Getreuen schlössen sich ihm an, nachdem sie Walthers Männer ihrer Waffen entledigt hatten. Die Wendeltreppe wurde jetzt schmaler. Kaum konnten zwei Männer nebeneinander gehen. Dazu wurde die Schwerthand durch den mächtigen Stützpfeiler behindert, der sich rechter Hand erhob. Wenn die Gegner jetzt einen Angriff unternahmen, waren sie im Vorteil. Aber dieser Angriff blieb aus. Zumindest ein Angriff, der zum Kampf Mann gegen Mann geführt hätte. Statt dessen verteidigte der Ritter Walther seinen Zufluchtsort auf andere Weise. Auf eine Weise, die seiner hinterlistigen Natur entsprach. Ein schwappendes Geräusch wurde plötzlich über dem Grafen und den Seinen hörbar. Eduard hob den Kopf und sah ein gähnendes Loch in einer der Treppenstufen über ihm. Ruckartig blieb er stehen. Wäre er zwei Stufen weiter emporgestiegen, hätte ihn das Verderben ereilt.
Eine schwarze, dickflüssige Masse, eingehüllt in wirbelnde Dampfwolken, ergoß sich nach unten, klatschte eine halbe Körperlänge vor Graf Eduard auf die Treppe. Siedendes Pech! Eduard trat schnell zwei Stufen zurück, wartete ab, bis die Männer dort oben ihren Bottich entleert hatten. Bevor sie Zeit und Gelegenheit fanden, ihren tückischen Anschlag zu wiederholen, bewegte er sich bereits wieder vorwärts. Langsam und zähflüssig breitete sich das Pech auf den Stufen aus. Es gab noch einige Stellen, die nicht von der dampfenden Masse bedeckt waren. Diese Stellen nutzte der Graf, um die Klippe zu überwinden. Seine Männer taten es ihm nach. Schon stürmten sie alle dem Wehrgang entgegen, der sich am oberen Ende der Treppe befand. Eine weitere Attacke erfolgte nicht. Als Eduard die letzte Treppenstufe bewältigt hatte, sah er drei Männer im pechverschmutzten Wams. Sie hatten die Hände vor der Brust gefaltet und suchten Deckung an der Mauer. »Gnade, hoher Herr«, stieß der eine hervor. »Wir... wir haben nur auf Befehl gehandelt.« Eduard beachtete die Helfershelfer des verräterischen Ritters gar nicht. Kreaturen wie sie waren unter seiner Würde. Ihm ging es nur um einen Mann - um den Ritter Walther. Der Wehrgang umlief das ganze Geschoß. Von ihm hatte man einen guten Überblick über den Hof. Die Treppe, über die Eduard und seine Getreuen nach oben gekommen waren, bildete den einzigen Zugang. Walther hatte demnach keine Möglichkeit, heimlich die Flucht zu ergreifen. Die Streitmacht des Grafen teilte sich. Die eine Hälfte ging links, die andere Hälfte rechts herum. Als sich ihr Kreis wieder schloß, sahen sie den ungetreuen Ritter. Walther wollte gerade über eine Behelfsleiter zum Dachstuhl hinaufklettern, vermutlich um sich dort oben in einer dunklen Ecke zu verkriechen. Dieses Vorhaben sollte er jedoch nicht mehr in die Tat umsetzen.
Einer von Eduards Männern lief herbei und trat wuchtig gegen die Leiter. Walther mußte von den Sprossen springen, um nicht gemeinsam mit dem kippenden Stufengestell zu Boden zu stürzen. Schon wollten sich die gräflichen Getreuen auf den Abtrünnigen stürzen. »Halt!« rief Eduard mit rollender Baßstimme. Seine Männer ließen von Walther ab, wandten sich fragend zu ihrem Herrn um. »Legt keine Hand an ihn«, sagte der Graf. »Walther gehört mir!« Die Getreuen traten zurück, öffneten ihrem Gebieter eine Gasse. Eduard trat gemessenen Schritts auf den verräterischen Ritter zu, sein Schwert mit sehniger Hand umklammernd. »Du hast mich herausgefordert, Walther«, sagte er böse lächelnd. »Nun magst du beweisen, daß deine Herausforderung nicht tumbe Keckheit war, sondern einem aufrechten Gefühl der Überlegenheit entsprang. Zeige mir, daß du mir überlegen bist!« Ritter Walther war ein mittelgroßer, schlanker Mann. Das scharf geschnittene Gesicht hatte eine ungesunde, gelbliche Farbe. Sein Blick war flackernd und unstet. Furcht nistete in seinen Augen, die so grau waren wie das Wasser eines schmutzigen Tümpels. Eduard hatte das Gefühl, daß sich Walther jeden Augenblick vor ihm auf die Knie werfen würde, um um Vergebung zu bitten. Das tat er dann aber doch nicht. Statt dessen zog er sein Schwert aus dem Waffengürtel. »Wenn ich denn sterben muß, so seid gewiß, daß ich Euch mit in den Tod nehme, Graf Eduard!« verkündete er so mannhaft, wie es ihm der Graf gar nicht zugetraut hätte. »Wohlan denn, Schurke«, sagte Eduard und stellte sich in Positur. Der Ritter Walther griff an. Sein Schwert zuckte vor, wurde wieder eine Handbreit zurückgezogen, stieß erneut zu. Eduard ließ sich durch solche Manöver jedoch nicht beeindrucken. Er wich der Attacke seines Gegners aus, schlug dann seinerseits zu. Zwar gelang es Walther, den Angriff zu parieren. Aber der Hieb des Grafen war so mächtig, daß ihm fast das Schwert aus der Hand geprellt wurde.
Sofort setzte Eduard nach. Der ganze Zorn, den er auf seinen ungetreuen Lehensmann hatte, übertrug sich auf sein Schwert. Die Klinge wirbelte wie von selbst, deckte den Gegner mit einer ganzen Serie von mörderischen Hieben ein. Walther kam kaum dazu, Luft zu holen. Sein Schwertarm, der die ganze Wucht der Schläge auszu halten hatte, wurde schwerer und schwerer. Er war kaum noch in der Lage, ihn zu heben und die Klinge des Grafen abzuwehren. Und sehr bald schon kam das, was kommen mußte. Das Schwert des Grafen durchbrach die Deckung Walthers, kam voll durch. So mächtig war der Hieb, daß auch die Brünne des Ritters die Klinge nicht aufhalten konnte. Tief bohrte sich der kalte Stahl in die Brust des abtrünnigen Lehensmanns. Gequält stöhnte Walther auf und brach in die Knie. Blut trat aus der Wunde und färbte die silberne Brünne rot. Graf Eduard steckte sein Schwert in den Gürtel zurück. Mit einem Blick erkannte er, daß der Kampf ein schnelles Ende gefunden hatte. Walther war auf den Tod verwundet. Er hatte den gerechten Lohn für seine Abtrünnigkeit erhalten. Der Zorn, den Eduard noch soeben auf diesen Mann gehabt hatte, verrauchte nun. Fast dauerte ihn der besiegte Ritter. Wie Walther dort auf den Steinen des Wehrgangs kniete, hilflos und den nahenden Tod vor Augen... »Graf ... Eduard ...« Die Worte Walthers waren kaum zu verstehen, so leise kamen sie über seine blutleeren Lippen. Eduard trat näher, beugte sich über den sterbenden Mann. »Wenn du mich um Verzeihung für dein treuloses Tun bitten willst, so sei deine Bitte erfüllt, Walther«, sagte er teilnahmsvoll. »Ich zürne dir nicht mehr.« Der Ritter hob die Augen, die schon fast gebrochen waren und in einem Meer des Schmerzes schwammen. Dann aber blitzte es plötzlich in diesen Augen auf. Die kraftlos nach unten hängende Hand, die noch immer das Schwert umklammert hielt, fuhr hoch. Schon schoß die Klinge auf den Grafen zu.
*
Es war für Roland, den Ritter mit dem Löwenherzen, immer wieder eine große Freude, von König Artus in dessen Privatgemächern empfangen zu werden. Nicht einmal alle Ritter aus der berühmten Tafelrunde des Herrn von Camelot konnten sich einer Privataudienz beim König rühmen. Deshalb war sich Roland, der erst noch in die Tafelrunde aufgenommen werden wollte, der hohen Ehre, die ihm da zuteil wurde, durchaus bewußt. Auch Ginevra, die Gemahlin des Königs, war anwesend, als der Ritter mit dem Löwenherzen eintrat. Roland wußte, was einer Lady gebührte. Er beugte das Knie und küßte der hohen Herrin ehrerbietig die Hand. Ginevra dankte ihm mit einem huldvollen Lächeln. »Ich glaube, ich lasse die Herren jetzt besser allein. Gewiß beabsichtigt mein Gemahl, mit Euch über kriegerische Dinge zu sprechen, Ritter Roland. Und dabei sind wir schwachen Frauen ja bekanntlich fehl am Platze.« Sie nickte Roland zu und zog sich zurück. König Artus lachte. »Meine teure Frau irrt, Roland. Nicht über das Kriegshandwerk wollte ich mit dir reden, sondern über das genaue Gegenteil. Aber nimm doch Platz!« Roland ließ sich in einem mit Bärenfell überzogenen Sessel nieder, der dem des Königs gegenüberstand. Erwartungsvoll blickte er den Herrn von Camelot an. »Sie haben einen neuen Auftrag für mich, Majestät?« Fünfzig Aufgaben mußte Roland im Auftrag Artus' erfüllen. Dann würde ihn der König in seine Tafelrunde aufnehmen. »Ja, Roland«, nickte Artus, »ich habe eine neue Aufgabe für dich. Eine Aufgabe der Frömmigkeit und des Friedens.« Der Ritter mit dem Löwenherzen war leicht verwundert. Bei den bisherigen Aufträgen war es stets darum gegangen, gegen Bösewichter aller Art zu kämpfen. Von Friedlichkeit oder gar Frömmigkeit konnte man dabei wahrlich nicht reden.
»Hast du jemals eine Wallfahrt unternommen?« erkundigte sich König Artus. »Eine ... Wallfahrt? Eine Pilgerfahrt zu einem heiligen Ort?« »Das meine ich, gewiß.« Roland schüttelte den Kopf. »Ich habe bisher nie Veranlassung dazu gehabt.« »Nun«, lächelte der König, »diesmal gibt es einen Anlaß. Kennst du das Kloster zum Schwarzen Stein?« Wieder schüttelte der Ritter mit dem Löwenherzen den Kopf. »Das Kloster zum Schwarzen Stein liegt tief im Riesengebirge«, fuhr Artus fort. »Und mit diesem >Schwarzen Stein<, dessen Herkunft unbekannt ist, hat es eine besondere Bewandtnis. Man sagt ihm wundertätige Kräfte nach. Es heißt, daß jeder Kranke, der den Stein berührt, wieder gesundet. Auch dann, wenn sein Leiden unheilbar zu sein scheint.« Rolands Verwunderung hatte sich noch immer nicht gelegt. »Ich leide an keiner unheilbaren Krankheit, Majestät«, stellte er mit einem Stirnrunzeln fest. »Ich weiß, ich weiß, Roland. Du strotzt vor Gesundheit und würdest auch dann noch fürbaß schreiten, wenn du den Kopf unter dem Arm trägst. Aber nicht du sollst Hilfe bei dem Schwarzen Stein suchen, sondern ein alter Freund von mir, Graf Eduard von Arlinghaus. Der Graf hat sich vor mehreren Monden eine Schwertwunde zugezogen, die nicht heilen will. Deshalb möchte er zum Schwarzen Stein pilgern, um sich dessen wundertätige Kräfte zunutze zu machen.« »Und welcher Gestalt soll meine Aufgabe dabei sein?« wollte Roland wissen. »Der Weg ins Riesengebirge ist weit und beschwerlich und voller Gefahren. Graf Eduard hat mich gebeten, ihm einen tapferen Ritter zu senden, der ihn auf seiner Wallfahrt begleitet und ... beschützt. Möchtest du dieser tapfere Ritter sein, Roland?« »Es soll mir eine Ehre sein, Majestät.« Der König nickte befriedigt. »So sei es denn.« Er erhob sich von
seinem Sessel. Auch Roland stand auf und wollte sich empfehlen. Aber Artus hielt ihn noch zurück. »Eins sollte nicht unerwähnt bleiben«, sagte er. »Das Wunder des Schwarzen Steins offenbart sich nur demjenigen, der sich während der Wallfahrt eines gottesfürchtigen und lauteren Verhaltens befleißigt und jedweder Gewalttätigkeit abschwört. Dieserhalb ist es allen Wallfahrern gar strengstens untersagt, Waffen bei sich zu tragen.« Unwillkürlich machte der Ritter mit dem Löwenherzen ein betroffenes Gesicht. »Ich soll ohne mein Schwert...« »Ja, Roland. Kein Schwert, kein Bogen, keine Lanze. Des frommen Wallfahrers erstes Gebot ist seine augenscheinliche Friedensliebe.« »Und wenn Böswillige diesen Frieden zu stören trachten?« »Ich fürchte, in solchen Fällen wirst du dich auf deine blanken Fäuste verlassen müssen«, sagte der König. »Der Selbstverteidigung steht natürlich nichts im Wege. Aber auch hierbei ist zu bedenken, daß dem wahrhaft Frommen die Feindesliebe ein Bedürfnis seines reinen Herzens sein muß. Hast du noch Fragen, Roland?« »N ... nein«, antwortete der Ritter mit dem Löwenherzen. * Ritter Richard leerte den dritten Humpen und wischte sich den Schaum des dunklen Gerstensaftes von den Lippen. Er grinste. Wenn der hochgestellte Herr, der ihn herbestellt hatte, nicht bald kam, dann würde er sich mit einem Trunkenen unterhalten müssen. »Wirt, noch einen Humpen!« Diensteifrig eilte der fette Besitzer des >Golden Fox< herbei und stellte dem Gast ein neues Bier auf den Tisch. Mit einer tiefen Verbeugung entfernte er sich wieder. Wieder hatte Richard den Humpen fast geleert, als ein Mann im
schwarzen Umhang die Gaststube betrat. Auf dem Kopf trug er eine Kapuze, die er so tief in die Stirn gezogen hatte, daß von seinem Gesicht kaum etwas zu erkennen war. Richard schenkte dem Ankömmling nur einen flüchtigen Blick. Es handelte sich offenbar um einen Pfaffen, mit dem er nichts gemein hatte. Erst als der Mann an seinen Tisch trat, wurde er aufmerksam. »Ihr seid es, Sir Wilhelmus?« fragte er überrascht. »Beinahe hätte ich Euch nicht erkannt!« »Schweigt still«, zischelte der ältere Ritter, dessen langer, schlohweißer Bart unter der Kapuze mehr zu ahnen denn zu sehen war. »Wenn mir daran gelegen wäre, daß Ihr meinen Namen laut herausschreit, hätte ich mich gewiß nicht in dieser üblen Kaschemme mit Euch getroffen.« »Verzeiht, ich wußte nicht...« Mit einer herrischen Handbewegung schnitt Wilhelmus dem jüngeren Mann das Wort ab und zog sich einen Holzschemel heran. Argwöhnisch blickte er sich nach allen Seiten um. Aber es war niemand in unmittelbarer Nähe, der das Gespräch belauschen konnte. Mit Bedacht hatte Richard einen Tisch gewählt, der allein in der äußersten Ecke des großen Schankraums stand. Kaum hatte Wilhelmus Platz genommen, als auch schon der Wirt zur Stelle war. »Was darf ich bringen, Ehrwürdiger?« »Einen Becher Wein - vom besten.« Flugs brachte der Besitzer des >Golden Fox< das Gewünschte und entfernte sich wieder. Der Weißbart trank einen Schluck und verzog angewidert das Gesicht. »Eine solche Jauche trinken auf Schloß Camelot nicht einmal die Schweine«, stellte er fest. »Aber lassen wir dies. Schließlich bin ich nicht hergekommen, um meinem Gaumen etwas Gutes anzutun.« »Ihr wolltet mich sprechen, Sir Wil...« Der drohende Blick seines Gegenübers ließ Richard verstummen. Wilhelmus beugte sich über den Tisch. »Ihr wißt, daß Ihr mir noch etwas schuldig seid, Richard, nicht wahr?«
Der junge Ritter nickte. »Ihr habt vor Jahresfrist meinen Vater davor bewahrt, der Schande der Armut anheimzufallen, nachdem er all sein Hab und Gut bei einer metseligen Wette verloren hatte. Dafür schulden meine Familie und ich Euch Dank.« »Der Dank allein genügt mir nicht. Ich erwarte eine geziemende Gegenleistung!« »Dessen bin ich mir bewußt«, sagte Richard. »Was verlangt Ihr?« Wilhelmus beugte sich noch weiter über den Tisch und ließ seine Stimme zu einem Flüstern werden. »Kennt Ihr einen gewissen Roland?« »Den Ritter mit dem Löwenherzen?« »Nämlichen, ja.« »Ich hatte bisher noch nicht das Vergnügen, ihm persönlich zu begegnen. Aber er soll ein gar trefflicher Mann sein, der bei jedermann in hohem Ansehen steht.« »Pah«, machte der Weißbart. »Roland ist nichts anderes als ein hergelaufener Köhlerbursche, den glückliche Umstände in den Ritterstand erhoben!« »Ich hörte anderes«, wandte Richard ein. »Man sagt, daß sein Mut und seine Kampfeskraft ohnegleichen sind, und er dem Ritterstand große Ehre macht. Mit Verlaub gefragt, Ihr mögt den Roland nicht?« »Nichts hätte ich gegen ihn, würde König Artus nicht planen, ihn in seine Tafelrunde aufzunehmen.« »Und das wollt Ihr nicht?« »Eine solche Auszeichnung gebührt nur denjenigen, deren Blut über jeden Zweifel erhaben ist. Meinem Neffen Douglas Heißblut, zum Beispiel!« Richard nickte bedächtig. »Ich beginne, zu verstehen. Ihr wollt, daß der König statt des Roland Euren Neffen Douglas zum Tafelritter auserwählt.« »So ist es. Und deshalb muß Roland ... sterben!« Richard, der gerade einen kräftigen Schluck Gerstensaft durch seine Kehle rinnen ließ, verschluckte sich. »Ihr verlangt von mir, daß ich den Ritter Roland töte?«
»In. der Tat, dies ist mein Begehr. Erfüllt Ihr mein Verlangen, so sei die Schuld Eures Vaters ein für allemal getilgt.« Der junge Ritter machte ein betretenes Gesicht. »Mit Verlaub, Sir, ich bin gewiß kein Feigling. Aber ich glaube kaum, daß ich im Kampf mit einem gewaltigen Recken wie dem Ritter Roland erfolgreich bestehen kann. Sein Schwert würde mir den Schädel spalten, bevor ich an seiner Rüstung auch nur kratzen könnte.« »Dem wäre wohl nicht zu widersprechen«, gab ihm Wilhelmus recht. »Allerdings nur unter gewöhnlichen Umständen.« »Unter gewöhnlichen Umständen?« echote Richard. »Wenn Roland sein Schwert bei sich trägt, könnt ihr in der Tat nichts gegen ihn ausrichten. Wenn er jedoch waffenlos ist, und es Euch gelingt, keinen Argwohn in ihm aufkommen zu lassen ...« »Kein wahrer Ritter trennt sich jemals von seinem Schwert!« erwiderte Richard. Wilhelmus lächelte. »Der Ritter Roland wird sich sogar für längere Zeit von seinem Schwert trennen. Hört zu ...« Richard hörte zu. Und erklärte sich schließlich mit den Plänen des Weißbärtigen einverstanden. * »Ausgerechnet ins Riesengebirge«, seufzte der Knappe Pierre. »Schon allein der Name jagt mir Schauder des Entsetzens den Rücken hinunter. Bestimmt gibt es dort leibhaftige Riesen, die uns zermahlen und mit Haut und Haaren auffressen werden.« Wie ein Häufchen Unglück hockte er auf seinem Pferd, ein Bild des Jammers und des Leids. Louis, der zweite Knappe Rolands, lachte lauthals. »Du solltest froh sein, daß wir diese Wallfahrt unternehmen. Gewiß kann der sagenhafte Schwarze Stein auch dich von deiner Krankheit befreien.« »Krankheit?« wiederholte Pierre. »Von welcher Krankheit sprichst du? Ich bin so gesund wie du!«
»Wirklich?« Louis lächelte spöttisch. »Sind nicht Freßsucht und deren leibliche Folgen eine unheilbare Krankheit?« Entrüstet schnaubte Pierre, gab seinem Freund aber keine Antwort. Und es wäre ihm auch schwergefallen, etwas Passendes zu erwidern. In der Tat war er ein Mann, dem gutes und reichliches Essen über alles ging. Da er darüberhinaus allen körperlichen Anstrengungen tunlichst aus dem Wege ging, war es kein Wunder, daß sein nicht allzu großer, gedrungener Leib eine gewisse Fülligkeit nicht verbergen konnte. Louis hingegen war aus ganz anderem Holz geschnitzt. Er war schlank und drahtig und verfügte dennoch über ganz erstaunliche Körperkräfte. Während sein dicklicher Freund sich am liebsten der Muße und dem süßen Nichtstun hingab, liebte Louis das Abenteuer und ließ keinen Händel aus. Daß er einst sein Brot als Räuberhauptmann verdient hatte, konnte und wollte er nicht verleugnen. Roland, der auf dem Weg zur Burg Arlinghaus an der Spitze ritt, war mit beiden Knappen vollauf zufrieden. Wenn es brenzlig wurde, konnte er sich auf Pierre ebenso verlassen wie auf Louis. Alle beide waren ihm treu ergeben und würden sich lieber in Stücke hauen lassen, als ihn im Stich zu lassen. Die drei Männer hatten gerade ein Waldstück durchquert und kamen jetzt an einen Fluß. Der Fluß war nicht allzu breit, dreißig Klafter vielleicht, aber er führte wildes Wasser, das schaumsprühend über spitze, bemooste Klippen jagte. Es erschien wenig ratsam, den Fluß auf dem Rücken der Pferde zu durchschwimmen. Dies war jedoch auch nicht erforderlich. Louis' scharfes Auge hatte eine schmale Holzbrücke erspäht, die das Wasser ein Stück flußabwärts überspannte. Wenig später hatten Roland und seine Gefährten den Übergang erreicht. Pierre verzog das Gesicht. »Sieht höllisch baufällig aus. Ob dieser Steg unser Gewicht aushalten kann?« Louis grinste. »Unseres schon. Ob er allerdings auch das deinige zu tragen vermag ...« Der Ritter mit dem Löwenherzen hatte keine Bedenken, sich der
Brücke anzuvertrauen. Zwar hatten sich die Planken durch die Nässe verzogen. Aber sie waren fraglos stabil genug, um gleichzeitig auch zehn Männer gefahrlos hinüberreiten zu lassen. Entschlossen trieb er sein Reittier auf den Steg, der linker Hand von einem einfachen Bohlengeländer gesäumt wurde. Louis schloß sich ihm unverzüglich an. Und da wollte natürlich auch Pierre nicht zurückstehen und folgte ebenfalls. Roland warf einen Blick auf das Flußbett, das etwa eine gute Körperlänge unterhalb der Brücke lag. Der Fluß schien tiefer zu sein, als es vom Ufer aus den Anschein gehabt hatte. Roland konnte den Grund nicht erkennen. Aber auch hier ragten schroffe Felsen aus dem Wasser, die von der Strömung gepeitscht wurden und Gischtkronen trugen. Die drei Reiter hatten den Steg etwa zur Hälfte überquert, als am gegenüberliegenden Ufer urplötzlich mehrere Männer unter den Bäumen hervortraten. Vier, fünf kräftige Burschen waren es, mit abgerissener Kleidung und struppigen Bärten. Es hätte der Waffen in ihren Händen gar nicht bedurft, um Roland augenblicklich wachsam werden zu lassen. Allein die äußere Erscheinung der Kerle versprach wenig Gutes. Mit einem Schenkeldruck brachte der Ritter mit dem Löwenherzen sein Pferd zum Stehen. Auch Pierre und Louis zügelten sogleich ihre Reittiere. Die fünf Gesellen bauten sich jetzt am Ende der Brücke auf, machten jedoch keine Anstalten, diese zu betreten. Ein breitschultriger Hüne, dessen grobes Gesicht durch eine Augenklap pe verunziert wurde, schob sich nach vorne. »Bleibt, wo Ihr seid!« brüllte er. Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, traten zwei der anderen Kerle an seine Seite. Jeder der beiden hob einen gespannten Bogen. Zwei lange, gefiederte Pfeile lagen auf den Sehnen, bereit, jeden Augenblick loszuschnellen. Roland biß sich auf die Unterlippe. Zwar hatte die Wallfahrt zum Schwarzen Stein noch nicht begonnen, so daß er und seine Knappen
Waffen bei sich tragen durften. Aber diese Waffen nutzten ihnen jetzt nicht viel. Im Nahkampf wären er, Louis und Pierre gewiß mit diesen wüsten Gesellen fertig geworden. Der Umstand jedoch, daß er und die Seinen förmlich auf dem schmalen Steg gefangen waren, gab den Bogenschützen alle Vorteile in die Hand. »Was wollt ihr von uns?« rief er zum Ufer hinüber. Der Mann mit der Augenklappe lachte dröhnend. »Das fragt Ihr? Wir wollen Eure Pferde, Eure Waffen und Euer Geld. Gebt uns, was wir verlangen, und Ihr dürft Eures Weges schreiten. Weigert Ihr Euch jedoch, findet Ihr Euch auf dem Grund des Flusses wieder.« Das waren deutliche, unmißverständliche Worte, die der Anführer der Wegelagerer da von sich gegeben hatte. Roland warf einen schnellen Blick zum anderen Ufer zurück. Es war bereits zu weit entfernt, um rasch erreicht werden zu können. Auf dem schmalen Steg würde das Wenden der Pferde so viel Zeit in Anspruch nehmen, daß die Räuber in aller Gemütsruhe mehrmals ihre Pfeile abschießen konnten. Der Einäugige wurde ungeduldig. »Los, runter von den Gäulen«, kommandierte er. »Und zwar ein bißchen plötzlich!« Pierre war wachsbleich im Gesicht geworden. »Tun wir, was sie sagen. Wenn ich mir vorstelle, daß mir so ein Pfeil im Bauch steckt, wird mir ganz schlecht.« Davon hielt Louis gar nicht viel. »Geben wir unseren Pferden die Hacken zu spüren und reiten wir das Gesindel über den Haufen«, schlug er vor. »Nein«, sagte Roland, »das wäre unser Tod. Wir tun zunächst so, als würden wir auf die Kerle eingehen.« Langsam, ganz langsam stieg er vom Rücken seines Pferdes und stellte sich auf den schlüpfrigen Steg. Pierre beeilte sich, seinem Beispiel zu folgen. Louis hingegen zögerte. »Brauchst du eine besondere Einladung?« brüllte ihn der Anführer der Wegelagerer an. »Kannst du haben!« Er wandte sich an einen seiner Kumpane. »Jag ihm einen Pfeil zwischen die Rippen, Pankraz!«
Der Angesprochene richtete seinen Bogen auf Louis, kniff ein Auge zu, um besser zielen zu können. Das genügte, um den Knappen anderen Sinnes werden zu lassen. Im nächsten Augenblick stand auch er neben seinem Reittier. »Bist ein kluges Bürschchen«, lobte der Mann mit der Augenklappe höhnisch. »So, und jetzt macht Eure Waffen an den Pferden fest und packt auch Euer Geld dazu. Dann schickt die Gäule zu uns rüber.« Louis bebte vor Zorn. »Sollen wir uns von diesem Pack wirklich zu Hanswursten machen lassen, Ritter Roland?« »Mitnichten«, gab der Ritter mit dem Löwenherzen flüsternd zurück. »Hör zu. Du und Pierre, ihr bleibt hier bei den Pferden. Ich lenke die Kerle ab. Und wenn ihr Gelegenheit zum Eingreifen findet, dann schlagt zu!« »Ich ... verstehe nicht...« »Du wirst gleich verstehen, was ich meine!« »Legt die Waffen ab!« brüllte der Mann mit der Augenklappe. »Unsere Geduld ist jetzt zu Ende.« Roland griff zum Waffengürtel, zog sein Schwert aus der Scheide. Dann handelte er so schnell, daß alle ganz und gar überrascht wurden - seine beiden Knappen ebenso wie die Wegelagerer am Flußufer. Er stieß sich von den Planken der Brücke ab und warf sich mit einem mächtigen Satz in das schäumende Wasser. Er hatte sich vorher ganz genau angesehen, wohin er sprang. So geriet er nicht in Gefahr, auf einem der scharfkantigen Felsen aufzuschlagen, die aus dem Fluß herausragten. Tief tauchte er in das Wasser ein. Zwar trug er keinen Harnisch, aber auch das metallene Kettenhemd wog einiges. Das Gewicht zog ihn nach unten, so weit, daß er mit dem Schwert in der ausgestreckten Hand den Grund des Flusses berührte. Aber das war dem Ritter mit dem Löwenherzen durchaus recht. Je mehr Wasser zwischen ihm und der Oberfläche lag, desto sicherer konnte er sein, von den Pfeilen der Wegelagerer nicht getroffen zu werden. Bevor er untertauchte, hatte er seine Lungen mit Luft vollgepumpt.
Er würde es jetzt eine ganze Weile unter Wasser aushalten können. Der Fluß war kalt, eiskalt. Aber das machte Roland nichts aus. Wind und Wetter hatten seinen Körper abgehärtet. Der Frost, der ihm in die Glieder kroch, beeinträchtigte seine Handlungsfähigkeit in keiner Weise. Mehr machte ihm schon der Umstand zu schaffen, daß das Wasser trübe und schlammig war. Obwohl er die Augen weit aufgerissen hatte, konnte er kaum seine ausgestreckte Hand erkennen. Dennoch wußte er ganz genau, welchen Weg er einzuschlagen hatte. Mit kräftigen Schwimmbewegungen entfernte er sich von der Flußmitte und strebte dem Ufer entgegen. Die Strömung war recht stark. Sie zerrte mit aller Macht an Roland und versuchte, ihn mit sich zu ziehen. Der Ritter mit dem Löwenherzen kämpfte hartnäckig dagegen an. Wenn er zu weit abtrieb, hatte er nichts gewonnen. Seine Absicht war es, unmittelbar vor den Wegelagerern aus dem Fluß aufzutauchen, so daß diese von ihren Pfeilen keinen Gebrauch mehr machen konnten. Der Kampf gegen die Strömung kostete Kraft. Bald schon merkte Roland, daß ihm die Luft knapp wurde. Zu gerne hätte er kurz den Kopf aus dem Wasser gesteckt, um tief einzuatmen. Aber das konnte er nicht wagen. Damit würde er den am Ufer Lauernden seine Position verraten und eine Überraschung unmöglich machen. Im letzten Augenblick gelang es ihm, einer Klippe auszuweichen, die jetzt vor ihm aufragte. Mühevoll umschwamm er sie, wobei die Strömung alle Anstrengungen unternahm, ihn gegen den Felsen zu pressen. Endlich wurde die Kraft des Flusses schwächer. Das war ein deutliches Zeichen dafür, daß er jetzt nicht mehr weit vom Ufer entfernt sein konnte. Noch ein paar Schwimmstöße, dann wurde das Wasser flach. Er spürte Boden unter den Füßen, mußte seinem Ziel ganz nahe sein. Roland tauchte auf, stieß pfeifend die verbrauchte Luft aus, die seine Lungen zu sprengen drohte. Da waren die Wegelagerer, doch noch weiter von ihm entfernt, als er gehofft hatte. Sechs, sieben Körperlängen mochten es sein, die
zwischen ihm und den Kerlen lagen. Er hatte nicht vermeiden können, von der Strömung ein ganzes Stück abgetrieben zu werden. Bis zum Ufer mußte er noch zehn, zwölf Ellen zurücklegen. Auch die Wegelagerer sahen ihn jetzt. Sie erhoben ein lautes Gebrüll, fuchtelten mit den Armen in der Luft herum. Aber sie verloren nur wenig Zeit. Schon brachten die beiden Bogenschützen ihre Pfeile in Anschlag. Da hörte Roland die laute Stimme seines Knappen Louis. Aus den Augenwinkeln, die noch vom Flußwasser getrübt waren, sah er, wie der treue Bursche die Brücke entlangrannte - den Räubern entgegen. Für den Augenblick waren die Kerle unentschlossen, gegen wen sie sich nun zuerst wenden sollten. Diese Gelegenheit nutzte der Ritter mit dem Löwenherzen. Er stand noch bis zur Hüfte im seichten Wasser, stapfte jetzt los. »Schießt auf den Ritter!« brüllte der Mann mit der schwarzen Augenklappe. Das Wasser war flacher geworden, reichte Roland nur noch bis zu den Oberschenkeln. Aber er hatte immer noch mehrere Schritt bis zum Ufer zurückzulegen. Der erste Pfeil jagte auf den Ritter mit dem Löwenherzen zu. Schnell wie der Blitz warf sich Roland zur Seite. Gerade noch rechtzeitig, um der Flugbahn des mörderischen Geschosses auszuweichen. Der Pfeil streifte nur sein Kettenhemd, klatschte dann harmlos ins Wasser. Durch sein Ausweichmanöver hatte Roland den Boden unter den Füßen verloren. Er geriet mit Kopf und Oberkörper wieder unter die Wasseroberfläche. Das war sein Glück! Der zweite Pfeil pfiff wenige Zoll über den Wellen dahin, genau an der Stelle, wo er soeben noch gestanden hatte. Als Roland wieder auftauchte, waren die beiden Bogenschützen dabei, neue Pfeile auf die Sehnen zu legen. Inzwischen hatte sich auch Pierre aufgerafft, zum Ufer zu laufen. Louis war bereits fast am Ende des Steges angekommen. In der
Rechten schwang er einen Hirschfänger, mit dem er genauso gut umzugehen verstand wie die meisten Ritter mit ihrem Schwert. Der Einäugige und die beiden anderen Wegelagerer stellten sich ihm entgegen. Aus diesem Grunde fanden sie auch keine Zeit, sich um Roland zu kümmern, der jetzt wieder auf den Füßen war und sich durch das seichte Wasser zum Ufer vorkämpfte. Der eine der beiden Bogenschützen war außerordentlich behende. Schon hob er den Bogen wieder. Einen Schritt war Roland noch vom Ufer entfernt, da schwirrte der Pfeil bereits durch die Luft. Es schien keine Rettung mehr für den Ritter mit dem Löwenherzen zu geben. Unweigerlich würde ihn das Geschoß durchbohren, denn auf diese kurze Entfernung bot auch sein Kettenhemd keinen Schutz gegen die eiserne Spitze des Pfeils. Aber Roland gelang das schier Unmögliche. Seine rechte Hand zuckte nach vorne, so schnell, daß niemand mit den Augen zu folgen vermocht hätte. Die scharfe Klinge seines Schwerts traf den Pfeil in der Mitte, zerschnitt ihn in zwei Teile. Unschädlich fielen die beiden Bruchstücke in den feuchten Sand. Bevor der zweite Mann schußbereit war, stürmte der Ritter mit dem Löwenherzen die leicht ansteigende Uferböschung hinauf. Mittlerweile war Louis mit den drei anderen Kerlen handgemein geworden. Und es sah nicht gut für ihn aus. Zwei der Wegelagerer hatten lange Messer gezückt, die nicht weniger gefährlich waren als der Hirschfänger des Knappen. Und der dritte schwang einen Morgenstern mit mörderischen Eisenspitzen. Louis brauchte seine ganze Geschicklichkeit, um den ersten Attacken seiner Gegner auszuweichen. Pierre, der nicht der Schnellste auf den Beinen war, bemühte sich, seinem Freund zu Hilfe zu eilen. Roland war jetzt bis auf zwei Körperlängen an den zweiten Bogenschützen herangekommen. Da passierte ihm ein böses Mißgeschick. Seine Schnürstiefel waren im Wasser glatt und rutschig geworden. Als er auf den Wegelagerer losgehen wollte, glitt er auf dem mit Gras bewachsenen Hang aus und stürzte rücklings zu Boden.
Der Räuber lachte triumphierend. Er richtete den wieder gespannten Bogen auf Roland. Der Pfeil zielte genau auf die Kehle des am Boden Liegenden. »Grüß mir den Teufel, Ritter!« Roland blickte dem Tod ins Auge. Der Mann stand unmittelbar vor ihm. Es war vollkommen unmöglich, dem Pfeilschuß jetzt noch auszuweichen. Da jedoch, geschah etwas, womit weder die Wegelagerer noch Roland und seine ebenfalls schwer in Bedrängnis geratenen Knappen gerechnet hatten. »Halt!« ertönte eine befehlende Stimme im Rücken des schußbereiten Bogenschützen. Der Mann fuhr herum. Und sah, wie Roland auch, einen jungen Ritter mit blitzendem Schwert vor sich stehen. Der Ritter mußte, von allen unbemerkt, aus dem Wald gekommen sein. Nie in seinem Leben hatte Roland einen Angehörigen seines Standes so willkommen geheißen. Er hielt sich aber nicht lange damit auf, sich am Anblick des fremden Ritters zu erfreuen. Er richtete sich ruckartig auf. Bevor der abgelenkte Bogenschütze etwas unternehmen konnte, hieb er von unten mit dem Schwert gegen den Pfeil. Dieser löste sich von der Sehne und schoß hoch in den blauen Himmel. Im nächsten Augenblick stand Roland auf den Füßen. Der zweite Bogenschütze hatte einen neuen Pfeil hervorgeholt. Aber der Ritter mit dem Löwenherzen gab ihm keine Gelegenheit, den Bogen schußbereit zu machen. Mit einem wuchtigen Fußtritt streckte er den Kerl zu Boden. »Nehmt Euch dieser beiden Halunken an«, rief er dem fremden Ritter zu. Dann rannte er zur Brücke hinüber, wo sich Louis und Pierre mit den drei anderen Wegelagerern herumschlugen. Die drei sahen ihn kommen. Augenblicklich rutschte ihnen das Herz in die Hose. »Weg hier!« rief der Mann mit der schwarzen Augenklappe.
»Nichts wie weg hier!« Das ließen sich seine beiden Kumpane nicht zweimal sagen. Sie ließen augenblicklich von Louis und Pierre ab und rannten davon. Auch die beiden Bogenschützen und der Anführer der Wegelagerer ergriffen das Hasenpanier. In Sekundenschnelle waren alle fünf zwischen den Bäumen des Waldes untergetaucht. Roland betrachtete es unter seiner Würde, den Kerlen nachzusetzen. So viel Aufhebens war Gesindel dieses Schlages gar nicht wert. Er wandte sich an den fremden Ritter. »Wir danken Euch für Eure Hilfe«, sagte er. »Wenn Ihr nicht gekommen wärt...« Der Ritter lächelte. »Hilfe? Aber ich habe ja gar nichts getan. Gestattet, daß ich mich vorstelle. Mein Name ist Richard.« * »Ich kam zufällig des Weges, hörte das Kampfgeschrei und eilte herbei«, erklärte der Ritter Richard. »Und bevor ich richtig eingreifen konnte, suchten die Halunken bereits das Weite.« »Wir sind Euch dennoch zu größtem Dank verpflichtet«, erwiderte Roland. »Was können wir tun, um uns dankbar zu erweisen? Gibt es irgend etwas, das Euch Freude bereiten würde?« Der Ritter Richard schüttelte den Kopf. Sein gut aussehendes, männliches Gesicht verdüsterte sich. »Es gibt in dieser Welt nichts mehr, über das ich mich freuen könnte.« Erstaunt sah Roland ihn an. »Das sind bittere Worte für einen Mann Eures Alters. Zwei Drittel Eures Lebens liegen noch vor Euch. Wie kommt es, daß Ihr so freudlos in die Welt blickt? Eine enttäuschte Liebschaft vielleicht?« »Nein«, erwiderte Richard einsilbig. Roland zuckte die Achseln. »Ich will natürlich nicht in Euch dringen. Wenn Ihr nicht darüber reden wollt...« Die Miene des jungen Ritters wurde noch düsterer. »Wer redet schon gerne davon, daß er bald sterben muß?«
»Was sagt Ihr da?« »Ihr habt ganz richtig gehört«, sagte Richard. »Ich bin ein todgeweihter Mann.« »Aber ... wieso?« wunderte sich Roland. »Wenn ich Euch so betrachte ... Ihr seht kräftig und gesund aus. Das blühende Leben sozusagen!« »Der Schein trügt, Roland. Eine schleichende Krankheit hat sich in meinem Körper eingenistet, eine Krankheit, gegen die kein Heilkundiger ein Mittel weiß. Sie frißt und frißt in mir, und eines Tages in gar nicht so ferner Zukunft...« Richard brach ab und zwang ein mühevolles Lächeln auf seine Züge. »Aber sprechen wir über etwas anderes. Ich will Euch nicht mit meinem Leiden belästigen.« »Von Belästigung kann gar keine Rede sein«, widersprach der Ritter mit dem Löwenherzen entschieden. »Ich stehe in Eurer Schuld und betrachte es als meine Pflicht, Euch zu helfen.« »Es gibt keine Hilfe für mich.« »Seid Ihr da ganz sicher?« »Alle Heilkundigen, an die ich mich gewandt habe, sind sich sicher, daß meine Krankheit nicht kuriert werden kann, sondern zu einem qualvollen Tod führen wird.« Roland kratzte sich am Kinn, dachte angestrengt nach. »Vielleicht gibt es doch noch eine Rettung für Euch«, sagte er nach einer ganzen Weile. »Eine Rettung, die nicht von Badern und Ärzten kommt.« »Sondern?« »Habt Ihr je vom Kloster zum Schwarzen Stein gehört?« »Nein.« »Es liegt irgendwo im fernen Riesengebirge, und wir befinden uns auf dem Wege dorthin.« Roland erzählte dem jungen Ritter, welche Bewandtnis es mit dem legendären Schwarzen Stein hatte. Aufmerksam, sehr aufmerksam hörte Richard zu. »Glaubt Ihr wirklich, daß mir der Schwarze Stein helfen kann?« fragte er, als Roland zum Schluß gekommen war. »Man sagt, daß der Stein alle Leiden eines gottesfürchtigen
Menschen zu heilen vermag. Warum also nicht auch das Eure? Sagt selbst, Ritter Richard!« »Ich ... ich weiß nicht.« Roland klopfte seinem Standesgenossen auf die Schultern. »Warum begleitet Ihr uns nicht ins Riesengebirge? Ich glaube kaum, daß Graf Eduard von Arlinghaus etwas dagegen einzuwenden haben wird. Und was habt Ihr zu verlieren? Nichts! Ihr könnt nur gewinnen - Euer Leben nämlich. Nun, was sagt Ihr?« »Ich werde es mir überlegen.« »Tut das.« Roland nickte ihm zu und sah dann nach seinen beiden Knappen. Pierre und Louis hatten im Kampf mit den Wegelagerern ein paar Blessuren abbekommen. Louis blutete aus einer Stichwunde am linken Arm, während sein dicklicher Freund ein eingerissenes Ohr zur Schau stellte. Der Morgenstern des Einäugigen hatte ihn zum Glück nur gestreift. Beide Verletzungen waren halb so wild und würden in ein paar Tagen so gut wie vergessen sein, auch wenn Pierre jetzt noch jammerte und zeterte, als habe man ihm den Kopf abgerissen. Die beiden Knappen hatten die Wunden im Fluß gesäubert und sich dann gegenseitig verbunden. Seit der Flucht der Wegelagerer war inzwischen geraume Zeit vergangen. Die Halunken hatten sich nicht wieder blicken lassen. Und daran würde sich vermutlich auch nichts ändern. »Können wir weiterreiten?« erkundigte sich Roland. »Ich bin bereit«, erklärte Louis unverzüglich. Pierre murmelte etwas davon, daß er besser nach Camelot zurückkehren sollte, um seine mörderische Verletzung im Bett auszukurieren. Aber er murmelte es so leise, daß es sein Herr nicht verstehen konnte. In seinem Namen gab Louis bekannt, daß auch er zur Fortsetzung der Reise bereit war. Wenig später fügte es sich, daß nicht nur drei, sondern vier Männer zur Burg Arlinghaus reiten würden. Der Ritter Richard schloß sich den Gefährten an. Und er wollte auch die Wallfahrt zum Schwarzen Stein
mitmachen... * »Willkommen auf Burg Arlinghaus, Ritter!« Graf Eduard empfing Roland im großen Saal. Er streckte ihm erfreut die Hand entgegen und schüttelte sie. Sein Händedruck war kräftig und männlich und paßte ganz zu seiner stattlichen, breitschultrigen Statur. Obzwar sich in seinem dunklen Haar bereits eine Reihe von Silberfäden zeigte, und er die ersten fünf Jahrzehnte seines Lebens gewiß schon hinter sich hatte, war er nach wie vor ein ansehnlicher Mann. Das einzige, was an ihm nicht bärenstark wirkte, war sein linker Arm, der dick verbunden war und schlaff nach unten hing. Roland nahm sich die Freiheit, auf den Arm zu deuten. »Habt Ihr dort die Verletzung, die Euch so schwer zu schaffen macht, Graf Eduard?« erkundigte er sich. Der Burgherr nickte betrübt. »Ursprünglich war es nur ein ganz harmlos aussehender Kratzer, dann aber begann die Wunde gar schrecklich zu brennen und zu eitern, und so ist es bis zum heutigen Tage geblieben. Der Grund dafür ist mir inzwischen klar geworden. Der Haderlump, der mir den Kratzer zufügte, hatte die Spitze seines Schwerts in einen Giftsud getaucht, so daß bereits die kleine Berührung genügte, um mich auf Dauer dem Siechtum anheimfallen zu lassen.« Roland runzelte die Stirn. »Es muß ein gar ehrloser Schurke gewesen sein, der sich mit solcher Hinterlist seines Schwertes bediente.« »Er büßte mit seinem Leben für die Heimtücke, die nicht seine einzige war«, antwortete der Graf grimmig. »Walther war eine Schande für den gesamten edlen Ritterstand, was man von Euch gewiß nicht sagen kann. Seid Ihr jener Roland, der den Drachen Fasolt erschlug und die blutige Gräfin zähmte?« »Ja.«
»Dann bin ich ganz sicher, daß mir mein alter Freund Artus keinen trefflicheren Mann hätte schicken können. Man rühmt Euren Namen in allen Landen.« »Zu viel der Ehre, Graf Eduard«, sagte Roland bescheiden. »Ehre, wem Ehre gebührt. Stellt Euer Licht nicht unter den Scheffel. Ich frage mich, ob eine friedfertige Wallfahrt Eurem ungestümen Herzen nicht zu langweilig erscheint. Als ich so jung war wie Ihr, hätte ich Besseres im Sinne gehabt.« »Macht Euch darob keine Gedanken, Graf. Es soll mir ein großes Vergnügen sein, Euch auf Eurer Reise zu begleiten.« »Ihr wißt, daß Ihr keine Waffen bei Euch tragen dürft?« vergewisserte sich der Burgherr. »König Artus sagte es mir, ja. Und deshalb wird die Wallfahrt vielleicht doch nicht so ... langweilig, wie Ihr gerade meintet. Der Weg ins Riesengebirge ist weit, und es gibt viele Niederträchtige, die uns unterwegs Ärger bereiten könnten. Auf der Reise zu Eurer Burg bekamen wir bereits einen kleinen Vorgeschmack möglichen Übels.« Roland erzählte dem Grafen von dem Überfall der Wegelagerer und seinem Zusammentreffen mit dem Ritter Richard. »Habt Ihr etwas dagegen, wenn uns Richard auf der Pilgerfahrt zum Schwarzen Stein begleitet?« fragte er zum Abschluß. »Mitnichten, Roland, mitnichten«, entgegnete Graf Eduard. »Je größer unsere Gruppe ist, desto besser sind wir gegen mögliche Unbillen gewappnet. Nicht nur ich und Euer Freund Richard suchen Hilfe im Kloster zum Schwarzen Stein. Meine Absicht, ins Riesengebirge zu pilgern, hat sich herumgesprochen. Mehrere Leute, die ebenfalls an schweren Gebrechen leiden, sind hergekommen, um an der Wallfahrt teilzunehmen. Kommt, ich mache Euch bekannt.« Zunächst lernte Roland Bruder Gotthilf kennen, einen rotgesichtigen, wohlbeleibten Wandermönch, der an ständigen heftigen Gliederschmerzen litt. Diese Schmerzen, die manchmal so schlimm waren, daß er sich kaum bewegen konnte, wollte er im Kloster zum Schwarzen Stein loswerden - wenn es Gott gefiel. Dann war da der Kaufmann Mehlsack, der es an Leibesfülle leicht
mit Bruder Gotthilf aufnehmen konnte. Ob er wirklich so hieß oder wegen seines fetten Wanstes nur so genannt wurde, stand dahin. In jedem Fall aber litt der Kaufmann an Atemnot. Mehlsack besaß auch noch einen langen, dürren Diener, der auf den Namen Theophil hörte und auf Roland einen ausgesprochen dümmlichen Eindruck machte. Zum Schluß machte der Ritter mit dem Löwenherzen dann noch eine Bekanntschaft, die sein leicht entflammbares Herz schneller schlagen ließ. Sie hieß Eloise und war ein gar prächtiges Frauenzimmer. Ihr feingeschnittenes Gesicht wurde von wallendem Schwarzhaar umrahmt, das in der Sonne wie gesponnene Seide glänzte. Ihre strahlenden blauen Augen nahmen Roland auf der Stelle gefangen. Dazu kam ein Körper, der es jedem echten Mann sofort heiß in den Lenden werden ließ. Und Roland war ein echter Mann. Am liebsten hätte er das herrliche Mädchen unverzüglich in seine Arme gerissen und zum nächsten Bett getragen. Aber das tat er natürlich nicht, denn er wußte sehr wohl, wie man einer Dame vom Stande begegnete. Aus dem gleichen Grunde fragte er auch nicht, warum die schöne und so blühend aussehende Eloise zum Schwarzen Stein wallfahren wollte. Graf Eduard wußte es ebenfalls nicht, denn sie hatte auch ihm gegenüber Stillschweigen bewahrt. Aber Roland hoffte zuversichtlich, daß ihm die Jungfer während der Pilgerfahrt ihr Herz noch ausschütten würde. Eloise hatte eine Zofe namens Marie, ein junges, hübsches Ding mit prallen Rundungen, die normalerweise durchaus Rolands Wohlgefallen gefunden hätte. Neben ihrer Herrin verblaßte die Kleine jedoch so sehr, daß er kaum einen zweiten Blick für sie übrig hatte. Graf Eduard hatte schon alle Reisevorbereitungen getroffen. Dem Aufbruch am nächsten Tage stand nichts entgegen. * Seit mehreren Tagen waren die Wallfahrer nun unterwegs. Allzu schnell kamen sie nicht voran, wofür es verschiedene Gründe gab. Der armverletzte Graf und die beiden Mädchen waren für einen anhaltenden zügigen Galopp nicht geschaffen.. Bei einem solchen
hätte auch Bruder Gotthilf nicht mithalten können, denn der Mönch ritt nicht auf einem Pferd, sondern auf einem Esel, der sich zudem des öfteren als recht störrisch erwies. Und der Kaufmann Mehlsack entpuppte sich als gar wehleidiger Bursche, der am liebsten nach jeder zurückgelegten Meile eine ausgedehnte Rastpause eingelegt hätte. All dies gefiel Roland ganz und gar nicht. Zudem fühlte er sich ohne sein Schwert geradezu nackt. Schon jetzt begann er zu ahnen, daß die Wallfahrt alles andere als ein Vergnügen werden würde, und er wünschte sich, daß die Reise recht bald zu Ende sein möge. Aber davon konnte wahrlich noch keine Rede sein. Der Weg bis zum Riesengebirge war weit, sehr weit sogar. Gegenwärtig durchquerten die Wallfahrer ein leicht hügeliges Gelände, das recht steinig war und sich kaum zum Ackerbau eignete. Kein Wunder deshalb, daß es schon eine ganze Weile her war, seit sie die letzte menschliche Ansiedlung gesehen hatten. Mit einer gewissen Besorgnis blickte Roland zum Himmel. Zusehends neigte sich die Sonne dem Horizont entgegen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Dämmerung ins Land zog. Und der Gedanke, irgendwo im Freien übernachten zu müssen, wollte ihm überhaupt nicht gefallen. Hoffentlich erreichten sie vor Anbruch der Dunkelheit doch noch ein Dorf oder wenigstens ein Gehöft. Rolands Hoffnungen erfüllten sich. Als die ersten Abendnebel zu wallen begannen, begegnete den Wallfahrern ein Schäfer mit seiner Herde. Und wo Schafe waren, da konnte auch die nächste Ansiedlung nicht allzu fern sein. So war es denn auch. Der Schäfer tat ihnen kund, daß sich am Fuß der Hügelkette das Dorf Webern befand, in dem es auch einen großen Gasthof geben sollte. Eine gute halbe Stunde später tauchten die Lichter des Dorfes dann im Zwielicht auf. Der Gasthof war neben der Kirche das größte Haus in Webern. Während sonst fast nur ärmliche Holzkaten zu sehen waren, hatte man die beiden zentralen Gebäude aus festem Stein zusammengefügt. Neben dem geräumigen Schankraum hatte das
Wirtshaus auch mehrere Unterkünfte zwecks Übernachtung zu bieten und natürlich auch einen Stall, in dem die Reittiere versorgt werden konnten. Das Essen, das die Wirtsleute anzubieten hatten, erfüllte hingegen nur die einfachsten Ansprüche. Die karge Landschaft ringsum, die neben der Schafhaltung nur eine mühselige Feldwirtschaft erlaubte, machte sich auf dem Küchenzettel bemerkbar. Es gab kein Fleisch, sondern lediglich Grütze, Gemüse und Brot. Immerhin mußten die durstigen Kehlen nicht darben. Der Wirt hatte einen selbstgebrauten Haferbrand im Ausschank, und auch der herbe Wein, mit dem er die Krüge füllte, ließ sich gut trinken. Dennoch begann sich der klobige Holztisch, an dem die Wallfahrer die Abendmahlzeit eingenommen, alsbald zu leeren. Graf Eduard, dem die beste Schlafstube des Hauses vorbehalten war, zog sich als erster zurück. Sein verletzter Arm machte ihm wieder schwer zu schaffen, und er hoffte, im Schlaf eine Linderung seiner grimmigen Schmerzen zu erfahren. Zu Rolands Betrübnis blieb auch die schöne Eloise nicht lange. Wieder einmal hatte er keine Gelegenheit, seine Bekanntschaft mit dem Mädchen zu vertiefen. Seit der Abreise von Burg Arlinghaus hatte er nur das Nötigste mit ihr gesprochen. Eloise hielt sich ganz für sich und war auch während des Rittes ungewöhnlich schweigsam und in sich gekehrt. Fast schien es Roland so, als hätte sie eine Scheu vor den Menschen. Noch immer wußte er nicht, aus welchem Anlaß sie eigentlich die Pilgerfahrt zum Schwarzen Stein unternahm. Nicht nur er sah die junge Frau mit Bedauern gehen. Die Blicke, die ihr der Ritter Richard nachsandte, als sie mit ihrer Zofe den Schankraum verließ, sprachen für sich. Ein Funkeln lag in seinen Augen, ein Funkeln der Begierde, das Roland mit großem Mißvergnügen zur Kenntnis nahm. Dabei konnte er seinem Standesbruder diese Begierde gar nicht verübeln. Eloise war nun einmal eine Frau, die glühende Liebeslust in einem Mann entfachte. Richard bemerkte, daß der Ritter mit dem Löwenherzen ihn scharf musterte. Er verzog sein Gesicht zu einem Grinsen. »Ihr würdet auch
schnell Eure Hosen fallen lassen, wenn sie Euch in ihr Bettchen bittet, nicht wahr, Roland?« Der Kaufmann Mehlsack lachte wiehernd. »Mir wäre sie im Bett auch lieber als ein heißer Ziegelstein!« Roland blickte ihn durchdringend an. »Hüte dein loses Mundwerk, Krämerseele«, fuhr er den Dicken an. »Es steht dir nicht zu, solche Reden über eine Dame vom Stande zu führen, merk dir das!« Mehlsack verschluckte sich und fing an zu husten. Dann hatte er eine ganze Weile damit zu tun, seiner krankhaften Kurzatmigkeit wieder Herr zu werden. Bruder Gotthilf nickte dem Ritter mit dem Löwenherzen beifällig zu. »Recht habt Ihr, ihn zurechtzuweisen, mein Sohn. Es ist dem Herrn nicht gefällig, eine Frau nur als einen Gegenstand anzusehen, der der Befriedigung niederer Triebe dient.« Über die sogenannten niederen Triebe war Roland anderer Ansicht. In seinen Augen gehörte die Minne zu den schönsten Dingen, die es auf der Welt gab. Aber das konnte der Mönch, der ein Keuschheitsgelübde abgelegt hatte, natürlich nicht wissen. Dafür war ihm aber wohl die ewige Seligkeit gewiß, über die sich Roland allerdings jetzt noch keine Gedanken machte. Pierre und Louis beteiligten sich nicht an dem Gespräch. Sie saßen zusammen mit Mehlsacks Diener Theophil an einem anderen Tisch und widmeten sich dem Würfelspiel. Auch Roland hätte Lust und Laune gehabt, sich die Zeit beim Würfeln zu vertreiben. Aber er fand niemanden, mit dem er spielen konnte. Sich mit der Dienerschaft zu messen, geziemte sich nicht. Auch Mehlsack kam aus denselben Gründen nicht in Frage. Blieben also nur Bruder Gotthilf und Richard. Der Mönch lehnte sein Ansinnen rundheraus ab. »Die Würfel sind ein Werkzeug des Teufels, mein Sohn«, verkündete er im predigenden Tonfall. »Wer ihnen verfällt, der entsagt damit dem Himmelreich.« Auch diese Ansicht des frommen Mannes konnte Roland nicht teilen. Richard schien es jedoch anders zu sehen. Er murmelte etwas davon, daß man sich schließlich auf einer heiligen Wallfahrt befinde.
Außerdem sei er müde und wolle alsbald das Nachtlager aufsuchen, was er dann auch wenig später tat. Bruder Gotthilf folgte seinem Beispiel, und so blieb Roland allein zurück. Er suchte Trost beim Haferbrand, der von Becher zu Becher besser schmeckte. Letztendlich spürte er, wie seine Glieder schwer wurden. Während seine beiden Knappen und der Diener des Kaufmanns, zu denen sich mittlerweile auch einige Dorfbewohner gesellt hatten, noch in der Schankstube zurückblieben, machte er sich auf den Weg zu seiner Schlafkammer. Die Zimmer der Reisenden waren im ersten Stockwerk untergebracht. Eine Holztreppe, die unter jedem Schritt zum Erbarmen knarrte, führte nach oben. Roland war nicht mehr ganz sicher auf den Beinen. Sicherheitshalber hielt er sich an dem wackligen Geländer fest, als er die Stufen emporstapfte. Als er fast oben war, hörte er plötzlich einen ganz eigenartigen, halb unterdrückten Laut. Hatte da jemand gestöhnt? Nein, wahrscheinlich bildete er sich nur etwas ein. Der Haferbrand spielte ihm einen Streich. Roland ging weiter, war wenig später oben. Abermals hörte er das Geräusch. Und diesmal war er sich ganz sicher, daß kein Irrtum vorlag. Es hatte jemand gestöhnt - eine Frau, wenn er sich nicht allzu sehr irrte! Die Schwaden der Trunkenheit, die durch Rolands Kopf schwirrten, begannen sich augenblicklich zu lichten. Dies ging ihm nicht zum ersten Mal so. Schon des öfteren hatte es sich in der Vergangenheit gezeigt, daß er schlagartig nüchtern wurde, wenn es die Lage erforderte. Vor ihm lagen zwei Flure, die beide unbeleuchtet waren. Noch hatte er keine Gewißheit, von wo das Stöhnen gekommen war. Aufmerksam und mit angehaltenem Atem lauschte er. »Nein«, drang die Frauenstimme jetzt wieder an sein Ohr. »Hil...« Die Stimme brach ab.
Aus dem Flur, der, von der Treppe aus gesehen, rechts abging, war sie gekommen. Roland zögerte keine Sekunde länger, tastete sich in der Dunkelheit in den Flur hinein. Nach der richtigen Tür brauchte er nicht lange zu suchen. Zwar war die Stimme der Frau verstummt. Aber er hörte jetzt ganz deutlich die Geräusche eines Handgemenges, die aus dem Raum ihm schräg gegenüber kamen. Es war nicht schicklich, ungefragt und ungebeten in eine fremde Kammer einzudringen. Aber es schien außer Frage zu stehen, daß hier eine Frau in Not war. Rolands Eingreifen bedurfte also keiner Rechtfertigung. Kaum noch von den Nachwirkungen des Haferbrandgenusses beeinträchtigt, stieß er die Tür auf. Es brannte kein Licht in der Kammer. Aber der Schein des Mondes, der durch ein offenes Fenster einfiel, ließ das Geschehen umrißhaft hervortreten. Roland sah vor sich ein flaches Ruhelager. Und darauf. .. zwei Gestalten, eine Frau und einen Mann. Der Mann hatte die Frau gepackt. Mit der einen Hand hielt er ihr den Mund zu, und mit der anderen versuchte er, sie auf den Rücken zu zwingen. Die Frau war nur notdürftig bekleidet. Im Mondlicht sah Roland viel nackte Haut, die wie frisch gefallener Schnee schimmerte. Langes schwarzes Haar fiel auf einen schwellenden Busen, der an weißen Marmor denken ließ. Augenblicklich wußte Roland, wer die Frau war: niemand anders als die schöne Eloise. Und was den Mann anging ... Noch konnte ihn der Ritter mit dem Löwenherzen nicht erkennen. Aber seine Absichten waren gänzlich eindeutiger Natur. Er wollte der jungen Frau Gewalt antun. Nichts mehr spürte Roland jetzt von dem reichlich genossenen Haferbrand. Sein Kopf war so klar, als hätte er den ganzen Abend nur pures Quellwasser getrunken. Sicheren Fußes stürmte er in die Schlafkammer hinein. »Laß sie los, Haderlump!«
Der Mann war so in sein schändliches Tun vertieft gewesen, daß er Roland erst jetzt bemerkte. Er ließ die junge Frau los und fuhr wie von einem Peitschenhieb getroffen herum. Jetzt sah Roland, wen er vor sich hatte: den Ritter Richard! Einen Augenblick lang war Roland vollkommen überrascht. Niemals hätte er es für möglich gehalten, daß ausgerechnet sein Standesbruder wie ein wildes Tier über eine hilflose Frau herfiel. Aber der Augenschein sprach für sich. Richards ehrlose Tat ließ sich nicht wegleugnen. Eloise schluchzte. »Euch sendet der liebe Gott, Ritter Roland. Wenn Ihr nicht gekommen wärt, hätte mich dieser ... dieser ...« Ihre Stimme brach ab, als sie von einem Weinkrampf übermächtigt wurde, der sie wie Espenlaub beben ließ. Der Ritter Richard sprang vom Bett herunter, ordnete hastig seine Kleidung. Wenn Roland aber nun gedacht hatte, daß er sich reuig und zerknirscht geben würde, dann sah er sich getäuscht. »Was fällt Euch ein, hier einfach einzudringen?« fuhr er Roland an. »Belästige ich Euch, wenn Ihr Euch der Minne hingebt?« Die Unverfrorenheit des Mannes verschlug Roland die Sprache. Aber es gab eigentlich nur eine Antwort, die auch keiner Worte bedurfte. Und genau diese Antwort gab Roland dem Ritter. Er holte aus, ballte die Faust und schmetterte sie Richard mitten ins Gesicht. Roland verfügte über eine Kraft, um die ihn jeder Schmied beneidet hätte. Richard bekam es zu spüren. Der Schlag hob ihn förmlich vom Fußboden hoch, schleuderte ihn quer durch die Kammer und ließ ihn hart gegen die Wand neben dem Fenster prallen. »Das soll Euch lehren, Schurke«, sagte der Ritter mit dem Löwenherzen befriedigt. Er trat näher an das Lager heran und wandte sich an das Mädchen. »Geht es Euch gut, Jungfer Eloise? Hat er Euch bereits ... äh .. .« Das schöne Mädchen hatte sich ein Bettuch übergeworfen, das ihre Blößen halbwegs verdeckte. Sie schluchzte noch immer, bekam sich aber langsam wieder in die Gewalt.
»Ihr ... seid gerade noch rechtzeitig gekommen, Ritter Roland«, sagte sie leise. »Ich weiß gar nicht, wie ich Euch danken soll.« »Wenn es Euch gutgeht, habe ich allen Dank, den ich mir wünschen kann«, erwiderte Roland bescheiden. »Ich ...« »Paßt auf!« rief das Mädchen. Roland wandte sich um - keinen Augenblick zu spät. Richard war wieder auf die Füße gekommen und hatte sich heimlich von hinten an seinen Widersacher herangemacht. Silbrig glänzte eine Messerklinge im fahlen Mondlicht. Wie der Kopf einer Kreuzotter stieß die Waffe auf Roland zu. Nur durch eine schnelle Körperdrehung konnte Roland dem heimtückischen Angriff entgehen. Der eigene Schwung brachte Richard fast wieder zu Fall. Roland förderte seinen ungestümen Vorwärtsdrang, indem er ihm einen saftigen Tritt in das verlängerte Hinterteil versetzte. Richard fiel flach aufs Gesicht. Aber er hielt das Messer noch immer in der Hand. Nicht mehr lange allerdings. Roland setzte ihm den Fuß auf das Handgelenk und übte kräftigen Druck aus. Richard stöhnte. Seine Finger öffneten sich, das Messer entglitt ihnen. Mit einem Fußtritt beförderte Roland es aus der Reichweite seines Gegners. Wild loderte der Zorn in ihm. Sein Standesbruder hatte gleich mehrere schändliche Dinge getan. Er hatte vorgehabt, eine hilflose Frau gegen ihren Willen zur Minne zu zwingen. Er trug eine Waffe bei sich, obwohl das auf dieser Wallfahrt nicht erlaubt war. Und dann hatte er noch versucht, einen Freund mit dieser Waffe zu verletzen, wenn nicht gar zu töten. Das war zuviel! Roland packte den am Boden Liegenden bei den Schultern und riß ihn hoch. Richard unternahm alle Anstrengungen, sich zur Wehr zu setzen. Aber er war den Bärenkräften des Ritters mit dem Löwenherzen nicht gewachsen. Er mußte es geschehen lassen, daß er quer durch die Kammer zum Fenster geschleppt wurde. Dort wuchtete Roland ihn hoch und schleuderte ihn nach draußen.
Ein klatschendes Geräusch wurde hörbar. Und ein wütendes Zetern von selten Richards. Als sich Roland aus dem Fenster beugte und nach unten blickte, sah er, daß der Ritter mitten auf einem Misthaufen gelandet war. * Als Roland am nächsten Morgen die Schankstube betrat, war Richard bereits anwesend. Gemeinsam mit Graf Eduard saß er am Tisch und ließ sich das Frühstücksmahl schmecken. Empört eilte Roland auf den Tisch zu und baute sich mit leicht vorgebeugtem Oberkörper vor seinem Standesbruder auf. »Ihr wagt es, Euch hier noch blicken zu lassen?« fuhr er den jungen Ritter an. Richard blickte hoch. Keinerlei Verlegenheit oder gar Scham spiegelte sich in seinen Gesichtszügen wider. »Ihr seid nicht sehr freundlich zu mir, Roland«, sagte er so, als sei niemals etwas vorgefallen. Der Ritter mit dem Löwenherzen holte tief Luft. »Habt Ihr das Gefühl, daß Euch besondere Freundlichkeit gebührt?« »Nun, Roland, wir wollen nicht vergessen, daß ich es war, der Euch vor Tagen das Leben rettete, als der Pfeil des Wegelagerers bereits auf der Sehne lag.« »Dies weiß ich wohl. Aber man kann das eine nicht mit dem anderen aufrechnen. Wer sich so weit vergißt, daß er über eine unschuldige Jungfrau herfällt...« Richard verzog sein .Gesicht zu einem Lächeln. »Woher sollt Ihr wissen, daß Eloise eine Jungfrau ist. Habt Ihr Euch bereits persönlich davon überzeugt?« Auf Rolands Stirn schwoll eine Zornesader. Seine Hände schossen vor und packten Richard am Hals. »Ihr habt die Frechheit ...« »Laßt das, Roland«, sagte Graf Eduard. Mit blitzenden Augen blickte Roland den Fürsten an. »Graf Eduard, Ihr wißt offenbar nicht...«
»Doch, Roland«, fiel ihm der Graf ins Wort, »ich weiß, was heute nacht vorgefallen ist. Es handelt sich um ein Mißverständnis.« »Um ein ... Mißverständnis?« »Ja. Ritter Richard hat mir alles erzählt. Er ist ein Opfer jenes Spiels geworden, das die Frauen so gerne mit der Liebe und ... dem Feuer spielen.« »Was?« Roland hatte seine Hände noch immer am Hals des Ritters, ließ sie aber sinken, als Richard sich mit einer ruckartigen Kopfbewegung freimachte. Nicht Schwäche war es, die ihn dazu veranlaßte, sondern der Respekt vor dem Grafen, der sich schließlich der Freundschaft König Artus' rühmen konnte. »Ihr habt recht gehört«, sagte Richard. »Den ganzen gestrigen Tag schon hat mir Eloise schöne Augen gemacht und mir zu verstehen gegeben, daß mein Besuch in ihrer Schlafkammer hoch willkommen sei. Als ich dann jedoch kam, um das stumme Versprechen einzulösen, muß sie es sich anders überlegt haben und ... aber alles weitere wißt Ihr ja selbst, Roland.« Der Ritter mit dem Löwenherzen stieß hörbar die Luft aus. »Das ist doch ...« »... die reine Wahrheit«, vervollständigte Richard seinen angefangenen Satz. »Die Wahrheit?« echote Roland empört. »Selten habe ich eine gemeinere Lüge gehört!« »Ihr glaubt mir nicht?« »Nicht eine einzige Silbe. Eloise soll Euch schöne Augen gemacht haben? Das ist... lächerlich!« »Seid Ihr da ganz sicher?« warf Graf Eduard ein. »Wie ich schon sagte - die Frauen lieben es, mit dem Feuer zu spielen. Und die schöne Eloise ist eine Frau.« »Gewiß, das ist sie«, stimmte Roland zu. »Aber sie trägt einen schweren Kummer mit sich herum, der sie alles andere vergessen läßt. Ich bin mir sicher, daß sie Richard nicht ein einziges Mal näher angesehen, geschweige denn ihn in ihre Kammer gebeten hat.« »Und doch war es so«, behauptete der junge Ritter.
»Lüge!« »Roland ...« Mit einer barschen Handbewegung schnitt Roland seinem Standesbruder das Wort ab. »Was reden wir? Soll die Jungfer Eloise den Schurken doch selbst als Lügner entlarven!« Er blickte sich im Schankraum um, konnte das Mädchen und ihre Zofe jedoch nirgendwo sehen. Ganz augenscheinlich befand sich Eloise noch in ihrer Kammer. Graf Eduard wiegte den Kopf hin und her. »Ich muß Euch beipflichten, Roland«, sagte er. »Die junge Frau wird in der Tat von einem schweren Kummer geplagt. Vielleicht wäre es ratsam, sie nicht noch einmal an den Vorfall von heute nacht zu erinnern.« Wild blickte Roland den Grafen an. »Und dieser Haderlump ...«, er stieß Richard einen Finger in die Rippen, »... soll ungeschoren davonkommen?« »Wäre es nicht möglich, daß Richard einem Mißverständnis zum Opfer gefallen ist?« sagte Eduard. »Könnte es nicht sein, daß er Eloises Gesten falsch gedeutet hat? Richard, was sagt Ihr?« Der junge Ritter hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. »Ich würde zwar tausend heilige Eide schwören, daß sie mir ...« »Schwört nicht zu schnell, Richard!« »Nun denn, vielleicht habe ich ihr liebeshungriges Augenblinzeln wirklich mißdeutet«, räumte der junge Ritter ein. »Sollte sie nur in die Sonne geblinzelt haben?« sagte Roland mit einem höhnischen Auflachen. Dreist blickte ihn Richard an. »Jetzt, wo Ihr es sagt... Ja, es wäre wohl möglich.« »So wollen wir das Vorkommnis also vergessen.« Erleichterung machte sich bei Graf Eduard breit. Roland aber war keineswegs gewillt, so mir nichts, dir nichts klein beizugeben. »Und was sagt Ihr dazu, daß er ein Messer bei sich trug, Graf Eduard? Auf dieser Wallfahrt. ..« »Ein Messer ist keine Waffe«, stellte Richard fest. »Wie sollten wir einen erjagten Hasen abhäuten, wenn wir nicht einmal ein
Messer mit uns führen dürften?« »Ihr wolltet keinen Hasen abhäuten, sondern mir das Messer in den Leib bohren!« »Dies will ich nicht leugnen«, gestand Richard. »Aber ich war in diesem Augenblick völlig außer mir und wußte nicht genau, was ich tat. Könnt Ihr das nicht verstehen, Roland?« »Nein!« »Versucht, es zu verstehen«, sagte der Graf. »Wenn das Blut überkocht, ist man manchmal nicht Herr seiner Sinne. Seid großzügig, Roland! Nicht Groll, sondern Friedfertigkeit ist geboten, wenn der Schwarze Stein sein wundertätiges Wirken entfalten soll. Nun, Roland?« Der Ritter mit dem Löwenherzen dachte an den Auftrag, den ihm König Artus erteilt hatte. Es fiel ihm schwer, aber er fügte sich dem Wunsch Eduards. * Und wieder neigte sich ein Tag dem Ende entgegen. Es war eine unwirtliche Gegend, durch die die Wallfahrer zogen. Kaum Menschen, dafür aber viel Wald und Heide. Es hatte geregnet, was der Himmel hergab, und dadurch waren die ohnehin schlechten Wege in einen noch schlimmeren Zustand geraten. Modriges, schlammiges Erdreich zerrte an den Hufen der Reittiere und machte das Fortkommen ausgesprochen mühsam und langwierig. Wie an jedem Tag erhob sich die Frage des Nachtlagers. Ritter Roland, der wie gewöhnlich an der Spitze der Reisegruppe ritt, lenkte sein Pferd neben den Grafen. »Wir kommen zu langsam voran«, stellte er fest. »Wenn wir nicht schneller reiten, werden wir von der Dunkelheit überrascht.« Der Graf nickte bedächtig. »Ihr habt recht, Roland. Aber ich fürchte, daß eine schärfere Gangart nicht im Bereich des Möglichen liegt.« Der Ritter mit dem Löwenherzen verzog den Mund. »Dann werde
ich vorreiten, um eine Schlafstatt ausfindig zu machen. Bei diesem Wetter im Freien . übernachten ...« Mißmutig ging sein Blick zum wolkenverhangenen Himmel. Ritter Richard hatte dem kurzen Wortwechsel zugehört. Er ließ sein Pferd zu den beiden anderen Männern aufschließen. »Wenn es Euch recht ist, übernehme ich die Suche nach dem Nachtlager«, schlug er vor. »Mein Pferd ist noch frisch und kommt mit den widrigen Bodenverhältnissen gut zurecht.« »Ihr?« Roland blickte ihn mit gerunzelter Stirn an. »Warum nicht?« Richard wußte, daß ihm sein Standesbruder noch immer zürnte. Seit dem Vorfall mit der Jungfer Eloise hatte er kaum mehr als ein paar Worte mit ihm gesprochen. »Ja, warum nicht?« sagte auch Graf Eduard. »Laßt Richard reiten, Roland. Mir wäre es lieber, wenn Ihr bei uns bliebet. Vor allem die Frauen fühlen sich in Eurer Gegenwart sicherer. Und wenn uns die Dunkelheit wirklich ereilt, bevor wir ein Dach über dem Kopf haben...« Roland zuckte die Achseln. »Wenn Ihr meint, Graf ...« »Ich kehre so schnell wie möglich zurück«, versprach Richard. Dann gab er seinem Reittier die Hacken zu spüren und sprengte den matschigen Weg entlang. Schnell blieben die anderen hinter ihm zurück. Es dauerte nicht lange, dann waren sie schon außer Sichtweite. Es lag Richard einiges daran, sich bei den anderen Wallfahrern wieder in ein besseres Licht zu setzen. Sie alle hatten ihm nicht vergessen, daß er über die schöne Eloise hergefallen war. Diese Narren! Keiner von ihnen ahnte auch nur im geringsten, warum er tatsächlich in die Schlafkammer des Mädchens eingedrungen war. Um sie zur Minne zu zwingen? Mitnichten! Gewiß, Eloise war eine Frau, die auch ihn nicht kalt ließ. Aber er würde sich niemals so weit gehen lassen, daß er sich bei einer Frau das mit Gewalt holte, was sie ihm freiwillig nicht geben wollte. Der Grund für seinen Überfall auf die Jungfer war ein ganz anderer
gewesen. Er hatte draußen auf dem Flur gewartet, bis er Roland die Treppe hinaufstapfen hörte. Dann war er schnell in die Kammer des Mädchens eingedrungen. Anschließend hatte sich alles genauso abgespielt, wie von ihm geplant. Eloise hatte geschrien, Roland war ihr zu Hilfe geeilt und das von ihm gewünschte Handgemenge mit dem Ritter König Artus' war Wirklichkeit geworden. Nur eins hatte Richard nicht bedacht: daß Roland auch in seiner Trunkenheit noch ein so formidabler Kämpfer sein würde. Seine Hoffnungen, den Auftrag des alten Wilhelmus ausführen und Roland mit dem Messer den Garaus machen zu können, hatten sich nicht erfüllt. Fast wäre er statt dessen selbst zu Tode gekommen. Wenn sich unterhalb des Fensters nicht der Misthaufen befunden hätte ... Ja, dieser Roland war wirklich ein Mann, dessen Taten die Troubadoure nicht umsonst rühmten. Dennoch hatte Richard den Mut noch lange nicht verloren. Es war ihm gelungen, Graf Eduard zu beruhigen, so daß man ihn nicht aus der Pilgergruppe ausgeschlossen hatte. Es würde sich also schon noch eine Gelegenheit bieten, den Ritter mit dem Löwenherzen ins Jenseits zu befördern. Er mußte sich nur Rolands Vertrauen wieder erwerben. Nicht zuletzt deshalb hatte er sich jetzt bereiterklärt, eine Unterkunft für die Nacht zu suchen, um den Standesbruder etwas zu entlasten. Der Weg wurde zusehends schlechter, war bald kaum noch als solcher zu erkennen. Richard mußte schon sehr genau hinsehen, um die Spuren noch erkennen zu können, die Karrenräder dort hinterlassen hatten. Der Wald war inzwischen in den Hintergrund getreten. Nur noch vereinzelte Baumgruppen säumten den Weg. Dafür war das Heidekraut und anderes Gesträuch, das oftmals ellenlang in die Höhe wuchs, allgegenwärtig. Richard hatte das Gefühl, von einem weißblauen Meer umgeben zu sein. Eine ganze Weile nachdem er die anderen verlassen hatte, erreichte er eine kleine Lichtung. Dort befand sich ein steinernes Wegkreuz, das Wind und Regen schon stark verwittert hatten. Viel anfangen konnte er mit dem Kreuz allerdings nicht. Es war umgestürzt, und der Richtungsarm zeigte in den Himmel.
Richard hielt sein Pferd an. Vor dem Wegkreuz waren die Spuren von Karrenrädern trotz des aufgeweichten Bodens recht deutlich zu erkennen. Sie kamen aus nordöstlicher Richtung, beschrieben einen kleinen Bogen und führten dann weiter nach Nordwesten. Richard stand am Scheideweg - im wahrsten Sinne des Wortes. Sollte er sich nach links oder nach rechts wenden? Er entschied sich für die rechte Abzweigung. Er hatte das Rechte getan, denn schon eine knappe Meile weiter sah er vor sich ein Gehöft liegen. Zügig ritt er darauf zu. Schon als er noch gut fünfzig Klafter entfernt war, trat ein Mann auf den Weg hinaus und blickte ihm entgegen. Richard zügelte sein Reittier und machte eine grüßende Handbewegung. Der Mann, der vor ihm stand, war groß und kräftig und trug eine graue Arbeitsschürze aus Hirschleder. Er erwiderte den Gruß mit einem Neigen des Kopfes. »Grüß Gott, Herr Ritter.« »Kann man hier übernachten?« erkundigte sich Richard. »Es soll uns eine hohe Ehre sein, Euch bewirten zu dürfen«, bekam er zur Antwort. »Ich fürchte, wir verstehen uns miß«, sagte Richard. »Ich bin nicht allein. Eine ganze Gruppe von Reisenden, Wallfahrern genau gesagt, folgt mir nach. Sie alle suchen für diese Nacht ein Dach über dem Kopf. Hast du so viel Raum?« Zweifelnd ließ er seine Blicke über die ärmlichen Gebäude des Gehöftes schweifen. Der kräftige Mann wiegte den Kopf hin und her. »Drei, vier Personen könnten wir beherbergen. Aber noch mehr ... Warum reitet Ihr nicht bis ins Dorf? Einen Gasthof gibt es dort zwar nicht. Aber ich bin ganz sicher, daß Ihr dennoch alle irgendwo unterkommen könnt.« »Wie weit ist das Dorf entfernt?« »Zehn Reitminuten vielleicht, mehr nicht.« Der Mann mit der Schürze blickte den Weg hinunter, den Richard gekommen war. »Sind Eure Begleiter weit hinter Euch zurück, Herr Ritter?«
»Warum fragst du?« »Wegen der Wegkreuzung. Das Kreuz ist beim letzten Wetter umgestürzt und noch nicht wieder aufgerichtet worden.« »Das habe ich gesehen.« »Die Stelle ist sehr gefährlich«, fuhr der Mann fort. »Wenn man den anderen Weg einschlägt...« »Was dann?« »Gerät man geradewegs ins Moor. Wir stechen dort Torf und kennen uns aus. Fremde jedoch, die sich verirren, schweben in höchster Lebensgefahr.« Der Mann warf einen besorgten Blick zum Himmel, der sich jetzt zusehends verdunkelte. »Besonders abends und in der Nacht, wenn das Auge nicht sieht, wohin der Fuß tritt. Vielleicht solltet Ihr schnell zurückreiten und Eure Mitreisenden warnen, Herr Ritter. Damit kein Unglück geschieht!« Richard legte die Stirn in nachdenkliche Falten. »Ist es wirklich so gefährlich im Moor?« »Ja. Schon so mancher Wanderer wurde mit Haut und Haaren ver schlungen und ward nie wieder gesehen.« Richard hatte es auf einmal sehr eilig. »Dann will ich mich sputen«, sagte er und wendete sein Pferd. »Hab Dank dafür, daß du mich auf die lauernde Gefahr aufmerksam gemacht hast.« So schnell es der aufgeweichte Boden zuließ, machte er sich auf den Rückweg. Aber sein Sinn trachtete nicht danach, Roland und die anderen zu warnen. Ganz im Gegenteil ... * Das, was Roland befürchtet hatte, war eingetreten. Die abendliche Dunkelheit hatte sich über das Land gesenkt. Und Richard war von seiner Herbergssuche noch immer nicht zurückgekehrt. Roland biß sich auf die Lippen. Wäre er doch lieber selbst losgeritten! Auf diesen Richard war kein Verlaß. Durchaus möglich, daß der Haderlump irgendwo eine Metze aufgetrieben hatte und sich
nun mit ihr vergnügte. Der Überfall auf Eloise hatte gezeigt, daß ihm alles mögliche zuzutrauen war. Die Sicht war inzwischen so schlecht geworden, daß Roland scharf aufpassen mußte, um nicht geradewegs in das Gestrüpp am Wegesrand hineinzugeraten. Böse Flüche lagen ihm auf den Lippen. Aber er unterdrückte sie, denn auf einer Wallfahrt geziemte es sich nicht, gotteslästerliche Worte auszustoßen. Dann endlich wurde näherkommendes, gedämpftes Hufgetrappel laut. Richard? Höchstwahrscheinlich. Wer sonst sollte um diese Zeit durch die einsame Gegend reiten? Es war der junge Ritter. Er wendete sein Pferd auf der Hinterhand und lenkte es neben Roland. »Nun?« fragte der. »Wir brauchen uns keine Sorgen zu machen«, gab Richard Auskunft. »Ich habe unterwegs einen Schäfer mit seiner Herde getroffen. Er hat mir den Weg zum nächsten Dorf beschrieben.« »Wie weit liegt es entfernt?« »Wenige Meilen nur.« Diese Worte hörte Roland gerne. Und auch die anderen, Graf Eduard eingeschlossen, waren ausgesprochen erleichtert. Die Aussicht, bald die Füße unter einen Tisch stecken zu können, machte es sogar möglich, die Schritte der Reittiere etwas zu beschleunigen. Wenig später wurde eine Stelle erreicht, an der sich der Weg gabelte. Seinem Gefühl folgend, wollte sich Roland nach rechts wenden. Aber Richard hielt ihn davon ab. »Um Gottes willen«, sagte er. »Wenn wir diesen Weg einschlagen, reiten wir in unser Verderben.« Roland hielt an. »Wie dies? Lauern Räuber den Reisenden auf?« »Moor und Sumpf! Der Schäfer hat mich inständig vor der tödlichen Gefahr gewarnt.« »Dann die andere Richtung«, nickte Roland. Mit einem Schenkeldruck setzte er sein Pferd wieder in Bewegung und lenkte es nach links. Die anderen folgten ihm. Der Weg wurde jetzt besser. Noch immer tief und schlammig, aber
breiter und besser von dem Gesträuch ringsum zu unterscheiden. Es war klar erkennbar, daß hier öfter Menschen und Karren entlangkamen, als auf dem Pfad, den sie bisher beschritten hatten. Langsam wichen die niedrigen Bäume und Sträucher, die den Weg säumten, zurück. Die Höhe der Pflanzen betrug bald nicht mehr als ein paar Zoll. In der Dunkelheit war nur schwer zu erkennen, was da wuchs. Aber Roland nahm an, daß es sich um Saatgut handelte, das die Bauern des nahen Dorfes angepflanzt hatten. Noch allerdings war von dem Dorf nichts zu sehen. Und auch eine ganze Weile später zeigte sich weit und breit kein Dorf, obwohl man inzwischen nach allen Seiten ein freies Blickfeld hatte. Nur gelegentlich noch ragte schattenhaftes Gehölz in die Höhe, gespenstisch im Abendwind schwankend. Auch von einem Weg im eigentlichen Sinne konnte keine Rede mehr sein. Weg und Feld waren längst ineinander übergegangen, bildeten eine einzige graue Fläche. Und diese graue Fläche bestand keineswegs aus Saatgut, sondern aus Moos und Flechten. Roland wandte sich im Sattel um und hielt nach dem Ritter Richard Ausschau, sah ihn aber nicht. »Richard?« »Ja?« Die Stimme des jungen Ritters kam von ganz hinten. Er hatte sich an den Schluß der Gruppe zurückfallen lassen. »Kommt einmal her«, rief Roland. Richard kam nach vorne, langsam und zögernd fast. »Entschuldigt, Roland«, sagte er. »Mein Pferd muß sich irgendwie vertreten haben. Ich glaube, es lahmt auf dem linken Vorderlauf. Deshalb kann ich nicht so schnell, wie ich gerne möchte.« »Müßt Ihr zurückbleiben?« »Nein, so schlimm ist es wohl nicht. Ihr wolltet mich etwas fragen, Roland?« »Ja«, nickte der Ritter mit dem Löwenherzen. »Seid Ihr ganz sicher, daß wir hier auf dem richtigen Weg sind?« »Genau diesen Weg hat mir der Schäfer beschrieben.«
»Hm«, machte Roland. »Der Boden ist weich und nachgiebig. Mir scheint, fast, daß er immer sumpfiger wird. Sollten wir doch ins Moor geraten sein?« »Das kann ich mir nicht vorstellen. Der Schäfer hat sich ganz gewiß nicht geirrt.« »Nun ...« Roland nagte an der Unterlippe. »Einer von uns sollte noch einmal vorausreiten, um den Weg zu erkunden. Würdet Ihr ...« »Ich würde mich dazu verpflichtet sehen«, unterbrach ihn der junge Ritter. »Aber ich glaube nicht, daß mein Pferd eine zusätzliche Anstrengung aushält. Wenn Ihr mir jedoch Euer Reittier zur Verfügung stellen würdet, Roland ...« »Dann reite ich lieber selbst«, brummte Roland. »Nein«, warf Graf Eduard ein, der sich unmittelbar hinter den beiden Rittern befand. »Ich würde es lieber sehen, wenn Ihr bei uns bleibt. Könnt Ihr nicht einen Eurer Knappen vorschicken?« »Ich würde Roland mehr vertrauen«, sagte Richard. »Knappen neigen zur Nachlässigkeit und ...»Louis hatte gehört, was Richard von sich gab. Er stieß einen ärgerlichen Knurrlaut aus. »Eure Knappen waren vielleicht nachlässig, Ritter Richard«, entrüstete er sich. Und leicht herablassend fügte er noch hinzu: »Wenn Ihr jemals welche gehabt habt!« Bevor sich Richard gegen diese offenkundige Respektlosigkeit verwahren konnte, erklärte Louis, daß er vorausreiten werde. Und schon gab er seinem Pferd die Zügel frei. Sekunden später war er in der Dunkelheit untergetaucht. Die anderen ritten unter Rolands Führung langsam weiter. Richard schien doch größere Schwierigkeiten mit seinem lahmenden Pferd zu haben. Trotz des gemächlichen Schrittes war er kaum in der Lage, Anschluß zu halten. Und dann gellte plötzlich ein Schrei durch die Dunkelheit. Roland zuckte zusammen. Er hatte die Stimme auf Anhieb erkannt. Sie gehörte keinem anderen als Louis. »Hilfe!« Halb vom Wind verweht, drang der Ruf des Knappen erneut
herüber. Die ganze Gruppe war stehengeblieben. Aufgeregt redeten alle durcheinander. »Was mag ihm zugestoßen sein?« Graf Eduard saß hoch aufgerichtet im Sattel und lauschte in die Nacht hinein. »Hilfe!« Wenn ein kühner und tapferer Bursche wie Louis, den so leicht nichts erschüttern konnte, so entsetzt um Hilfe rief, dann mußte er sich wahrhaft in einer bedrohlichen Lage befinden. Roland zögerte nicht länger. Oft schon hatte Louis für ihn sein Leben aufs Spiel gesetzt. Es verstand sich von selbst, daß er Gleiches mit Gleichem vergalt. Ohne sich weiter um die anderen zu kümmern, jagte er in die Richtung, aus der die Hilferufe seines Knappen gekommen waren. Rechts von ihm tauchten jetzt im matten Mondlicht dunkle Erdflecken auf, die wie große Gräber wirkten. Roland ahnte, was diese Bodenvertiefungen zu bedeuten hatten. Wahrscheinlich handelte es sich um Stellen, wo Torf gestochen worden war. Damit stand so gut wie fest, daß sie tatsächlich ins Moor geraten waren, vor dem der Schäfer ausdrücklich gewarnt hatte. »Louis?« rief er. »Louis, wo bist du?« »Hier, Ritter Roland!« Die Antwort klang noch weiter entfernt, als Roland gedacht hatte. Und sie kam auch keineswegs genau aus der Richtung, in die er geritten war. Sein Knappe befand sich ein ganzes Stück weiter links. Bei der Gleichförmigkeit der ebenen Landschaft und den herrschenden Lichtverhältnissen war es ungemein schwierig, sich zu rechtzufinden. Roland lenkte sein Pferd dorthin, wo er seinen treuen Gefährten vermutete. »Louis, was ist geschehen?« »Ich ... stecke im Sumpf. Mein Pferd ist...« Die Stimme des Knappen brach ab. Rolands Besorgnis wuchs. Immerhin wußte er jetzt, daß er den
richtigen Weg eingeschlagen hatte, denn Louis' Stimme war diesmal schon nicht mehr so weit entfernt gewesen wie zuvor. Er beeilte sich, achtete dabei gar nicht sonderlich auf den Boden unter den Hufen seines Pferdes. Louis befand sich in Lebensgefahr. Und wenn er nicht schnellstens Hilfe bekam ... Da geschah es. Wasser spritzte hoch. Und im nächsten Augenblick brach Rolands Pferd mit den Vorderbeinen im Morast ein. Geistesgegenwärtig riß der Ritter mit dem Löwenherzen an den Zügeln. Er wollte verhindern, daß das Tier auch mit den Hinterhufen den festen Halt verlor. »Ritter Roland!« kam wieder Louis' Stimme. »Macht schnell! Ich kann mich nicht mehr lange über der Oberfläche halten.« Sehr nahe war Roland jetzt an seinen Knappen herangekommen. Und doch konnte er ihm im Augenblick nicht helfen. Seine eigene Lage war äußerst bedrohlich. Tiefer und tiefer sackten die Vorderbeine seines Hengstes im Morast ein. Roland schwang sich aus dem Sattel, ohne dabei die Zügel loszulassen. Bevor er den Boden berührte, stieß er sich von der Flanke des Tieres ab. Wie beabsichtigt, landete er hinter dem Hengst. Bis über die Knöchel sank er in der Wasser- und Schlammschicht des Untergrundes ein, aber nicht tiefer. Und wie es schien, besaß der Boden an dieser Stelle genug Festigkeit, um seinem Stand Sicherheit zu leisten. Der Hengst wieherte angstvoll, warf wie wild den Schweif hin und her. Natürlich merkte das kluge Tier, daß es in Gefahr war. Aus eigener Kraft vermochte es jedoch nicht, sich aus dem Morast zu befreien. Roland half dabei. Breitbeinig stellte er sich hin, das Zaumzeug mit fester Hand umklammernd. Dann zog er daran. Die Krafterfordernis, das schwere Tier zu bewegen, war gewaltig, zumal es auch noch die Sogkraft des Sumpfes zu überwinden galt, die mit Macht auf den Hengst einwirkte. Vor Anstrengung traten an Rolands Schläfen dicke Adern hervor. Seine Arm- und Beinmuskeln
schwollen an, wurden so hart wie Eisenpflöcke. Sein Atem ging keuchend, und kalte Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn. Wenigen Männern in der ganzen Welt nur wäre es gelungen, das Werk zu vollbringen. Roland aber schaffte es. Zoll um Zoll lösten sich die Beine des Pferdes aus dem zähen, dickflüssigen Morast. Das brave Tier erkannte, daß ihm geholfen wurde. Rolands Ziehen am Zaum bereitete ihm fraglos große Schmerzen, aber es schnaubte nur leicht und wehrte sich nicht dagegen. Jetzt war schon einer der Hufe aus dem Sumpf heraus. Das Gewicht des Pferdes verlagerte sich auf die hinteren Läufe. Ein kraftvoller Ruck noch, der das Tier herumriß, dann standen auch die Vorderbeine wieder auf festem Untergrund. Roland hatte keine Zeit, sich weiter um sein Pferd zu kümmern. Es war in Sicherheit, das genügte für den Augenblick. Jetzt ging es um seinen Knappen. Das Einsacken des Pferdes und seine Befreiung hatte wertvolle Sekunden gekostet, Sekunden, die Louis' Lage ganz gewiß noch mehr verschlimmert hatten. »Louis?« rief er. »Ja, Ritter Roland.« »Wie steht es um dich?« »Schlecht. Ich ... versinke. Bis zu den Oberschenkeln bin ich bereits im Morast eingesackt.« Die Stimme des Knappen klang gehetzt und auch schon etwas hoffnungslos. »Halte aus. Ich komme!« Der Stimme nach zu urteilen, konnte Louis nicht mehr weit entfernt sein. Roland wußte ziemlich genau, wo er sich befinden mußte, auch wenn er ihn in der Dunkelheit noch nicht ausmachen konnte. Vorsichtig setzte er einen Fuß nach vorne, dann noch einen und noch einen. Er war leichter als das Pferd und hoffte, daß die Morastdecke sein Gewicht tragen würde. Eine Wasserschicht bedeckte den trügerischen Untergrund. Sie reichte ihm bis über die Knöchel.
Die Hoffnung, daß er nicht einsacken würde, erwies sich schnell als trügerisch. Als er einen weiteren Schritt in Richtung seines Knappen machte, verlor sein tastender Fuß den festen Halt. Roland sank bis zum Knie ein. Nur mit Mühe schaffte er es, sich der Umklammerung des Sumpfes wieder zu entziehen. So ging es nicht! Fieberhaft überlegte der Ritter mit dem Löwenherzen, wie er an Louis herankommen konnte. Da bekam er ganz überraschend Unterstützung. »Ritter Roland, wo seid Ihr?« ertönte eine Stimme in seinem Rücken. Die Stimme gehörte Pierre, seinem zweiten Knappen, der ihm ganz offensichtlich nachgeritten war. »Hier bin ich«, meldete sich Roland. »Aber sei vorsichtig, wenn du herkommst. Der Boden ist...« »Steckt Louis im Sumpf?« rief der dickliche Knappe dazwischen. »Ja, ja«, erwiderte Roland ungeduldig. Pierre hielt ihn mit seiner Fragerei nur auf und raubte ihm die Zeit. Zeit, die er brauchte, um Louis zu retten. Aber er tat dem dicklichen Knappen unrecht. »Ich weiß, wie wir Louis rausholen können«, rief Pierre. Roland hörte, wie der Knappe näherkam. Unberitten, wie es schien. Außerdem schien er irgend etwas mit sich herumzuschleppen. Hoffnung keimte in Roland auf. Pierre war zwar ein etwas träger, aber sehr pfiffiger Bursche. Manchmal fielen ihm Dinge ein, an die andere nie gedacht hätten. Vielleicht war es auch diesmal so. »Halte aus, Louis«, rief er wieder zu seinem anderen Knappen hinüber. »Hilfe naht!« Wenig später sah er die schattenhaften Umrisse von Pierres Gestalt aus der Dunkelheit auftauchen. Ächzend und keuchend schob sich der Knappe näher. Er schleppte in der Tat etwas mit sich, etwas Breites, Flaches, das Roland noch nicht erkennen konnte. Dann stand Pierre neben ihm. Und jetzt sah er auch, was sein
Knappe da angeschleppt hatte: eine aus Brettern zusammengefügte Holzplatte. Die Bedeutung dieser Platte war Roland sofort klar. »Woher hast du das, Pierre?« »Sie lag dort, wo die Einheimischen den Torf stechen«, gab der Knappe Auskunft. »Als ich Louis um Hilfe rufen hörte, dachte ich mir gleich, daß wir sie brauchen können.« »Und ob wir sie brauchen können!« Roland riß dem Knappen die Platte geradezu aus der Hand. Schon im nächsten Augenblick hatte er sie auf die Oberfläche des Sumpfes geworfen. Sie ging nicht unter, schwamm auf der mehrere Zoll dicken Wasserschicht. Und auch als der Ritter mit dem Löwenherzen auf die Platte trat und sich niederkauerte, bestand keine Gefahr, daß sie im Morast steckenblieb oder gar versank. »Soll ich mitkommen?« fragte Pierre. »Nein, das schaffe ich schon allein. Außerdem weiß ich nicht, ob die Bretter das Gewicht von drei Männern tragen können.« Roland beeilte sich jetzt. Mit den Händen im Wasser rudernd, setzte er die Platte und sich in Bewegung. Wie ein Floß trieb das provisorische Brett dahin. Die ersten paar Klafter gab es keinerlei Schwierigkeiten. Dann aber hing die Holzplatte auf einmal fest. Zu allem Überfluß ertönte auch Louis' Stimme wieder: »Macht schnell, Ritter Roland! Der Sumpf geht mir schon bis zur Brust.« Mit verzweifelter Hast tauchte Roland beide Hände in den Morast und schaufelte den zähflüssigen, braunen Brei zur Seite. Er arbeitete so schnell wie ein Jagdhund, der einen Fuchsbau aufgräbt. In wenigen Augenblicken war er über und über mit Schlamm bespritzt. Aber das kümmerte ihn mitnichten. Wie ein Wilder schaufelte er weiter. Und er schaffte es, das Floß wieder flott zu bekommen. Es lag jetzt wieder auf dem flachen Wasser und trieb weiter, von Rolands kräftigen Armbewegungen vorwärtsbewegt. Und dann sah er eine Bewegung vor sich. Louis! Noch ein paar mächtige Armzüge, dann war der Ritter mit dem
Löwenherzen bei seinem Knappen. Louis' Lage war in der Tat verzweifelt. Tief, ganz tief steckte er im Sumpf. Der Morast war ihm schon bis zu den Schultern gestiegen. Nur der Kopf schaute noch heraus. »Schnell, Ritter Roland«, keuchte der Knappe. »Ich ...« Seine Stimme wurde zu einem erstickten Gurgeln, als auch noch sein Gesicht unterging. Blitzschnell beugte sich Roland vor und griff zu. Ein Stück unterhalb der Oberfläche bekam er Louis' Haar zu packen. Er nahm auch noch die andere Hand zur Hilfe und zog mit aller Kraft. Das, was ihm kurz zuvor schon bei seinem Pferd gelungen war, schaffte er auch jetzt. Zoll um Zoll kam der Kopf des Knappen wieder nach oben. Louis japste, keuchte, schnappte nach Luft. Schlamm quoll ihm aus Mund und Nase. »Verzeih mir, wenn ich dir ein paar Haare ausreiße«, sagte Roland mit einem kurzen Auflachen. Die Spannung, die sich in den vergangenen Minuten in ihm angestaut hatte, löste sich. Er hatte seinen treuen Knappen fest und sicher. Jetzt konnte nichts mehr passieren. Wenig später hatte er Louis auf das Floß hinaufgezogen. * »Wenn ich diesen Schäfer in die Finger bekomme ...« Der Ritter Richard ballte die Fäuste und knirschte mit den Zähnen. Roland warf seinem Standesbruder einen bösen Seitenblick zu. »Könnte es nicht sein, daß Ihr nicht verstanden habt, was Euch der Einheimische erklärte?« »Erlaubt mal«, erwiderte Richard empört. »Haltet Ihr mich für einen tumben Tor?« »Für was ich Euch halte, behalte ich lieber für mich«, sagte der Ritter mit dem Löwenherzen. »Aber beantwortet mir die Frage, welches Interesse der Schäfer daran haben sollte, uns sehenden
Auges ins Verderben zu schicken.« »Der Mann war ein Dummkopf, der nicht rechts von links unterscheiden konnte. Oder aber ...« »Ja?« »Es gibt manche Leute unter dem einfachen Volk, die uns Rittern gegenüber einen tiefen Haß hegen. Durchaus möglich, daß der Schäfer zu dieser Sorte gehörte. Ja, wenn ich es mir recht überlege, dann umspielte ein tückisches Lächeln sein Gesicht, als er mir den Weg beschrieb. Ich bin davon überzeugt...« »Laßt es gut sein, Richard«, mischte sich Graf Eduard in das Gespräch. »Die Hauptsache ist, daß letzten Endes doch alles gut ausgegangen ist, nicht wahr?« »Fast«, sagte der Knappe Louis, der gemeinsam mit Roland auf dessen Hengst saß. »Nur daß mein Pferd dem Sumpf zum Opfer gefallen ist!« »Laß dich deshalb nicht verdrießen, Knappe«, erwiderte der Graf. »Du lebst, dafür solltest du Gott, dem Herrn, danken. Und was dein Pferd angeht... Wir werden dir im nächsten Dorf ein neues kaufen.« »Und wo ist das nächste Dorf?« knurrte Roland. »Nachdem wir nur mühsam wieder aus dem Moor herausgefunden haben, sind wir vermutlich weiter denn je davon entfernt.« »Wir werden es schon finden.« Davon war Roland nicht überzeugt. Zwar lag das Moor inzwischen hinter ihnen, aber es war keine Frage, daß sie sich in der Dunkelheit heillos verirrt hatten. Sie ritten nicht über einen Reiseweg, sondern quer durch ein schier unendliches Heidegebiet. Wenn es hier irgendwo ein Dorf gab, dann hatten sie es höchstwahrscheinlich längst passiert, ohne es zu bemerken. Langsam, sehr langsam nur noch, kamen sie voran. Und das lag nicht einmal so sehr daran, daß Roland und Louis auf einem Pferd sitzen mußten. Die beiden Frauen, der Mönch, der fette Mehlsack und auch Graf Eduard, alle an körperlichen Gebrechen leidend, hatten während des langen Tages viele Kräfte gelassen und waren recht erschöpft. Lange würden sie es nicht mehr im Sattel aushalten
können. Eine Meile legten sie noch zurück, ohne daß sich die Landschaft ringsum änderte. Kein Dorf, kein Gehöft, kein Weiler tauchte aus der Nacht auf. So weit das Auge im fahlen Mondlicht reichte, war nichts als Heidekraut zu sehen, das im schwachen Wind hin und her wogte wie ein reifes Kornfeld. Roland, der trotz der zusätzlichen Belastung seines Pferdes durch Louis an der Spitze der Wallfahrer ritt, ließ sich bis auf die Höhe des Grafen zurückfallen. »Wir sollten nicht weiterreiten, Herr Graf«, sagte er. »Weit kommen wir ohnehin nicht mehr. Also können wir genausogut an Ort und Stelle bleiben.« »Hier?« »Warum nicht? Das Heidekraut schützt uns vor dem Wind, und es gibt genügend Stellen, an denen wir uns für die Nacht einrichten können.« Sein Vorschlag fand alsbald allgemeine Zustimmung. Und auch nach einem passenden Lagerplatz mußte nicht lange gesucht werden. Eine von Pflanzenwuchs weitgehend freie Sandkuhle eignete sich gar vorzüglich. Die beiden Packesel, die Louis als Reittier verschmäht hatte, wurden abgeladen. Der Diener des Kaufmanns und die beiden Knappen machten sich gleich daran, aus Ochsenhäuten und Planen aus Sackleinen ein Zelthaus zu errichten. Zu jagen gab es in der nächtlichen Heidelandschaft nichts. Die beiden Ritter konnten sich deshalb darauf beschränken, Feuerholz zu sammeln, während die Jungfer Eloise und ihre Zofe Marie Vorbereitungen trafen, aus dem mitgeführten Proviant ein kärgliches Essen zu bereiten. Bald brannte das Lagerfeuer, um das sich alle Reisenden versammelten. Roland bedauerte, daß sein Freund Volker vom Hohentwiel, der berühmte Minnesänger, nicht anwesend war. Er hätte mit seinen Balladen die Stimmung der Wallfahrer heben können. So blieb diese gedrückt und trübe. Als die Grütze fertig war, verspürte niemand so rechte Lust zum Essen. Zu müde waren sie
alle, zu abgespannt und übellaunig. Lustlos löffelten sie den geschmacklosen Brei in sich hinein. Zu allem Überfluß fing es dann auch noch an zu regnen. Schnell zogen sich die geplagten Pilger unter das Zeltdach zurück. Die Nacht stand wirklich unter keinem guten Stern. Und sie würde kaum besser werden, denn das Schlafen in dem engen, zugigen Behelfshaus war alles andere als ein vergnügliches Unterfangen. Gänzlich unerwartet sollte die Nacht dann doch noch einen gänzlich anderen Verlauf nehmen. Louis, der außerhalb des Zeltes noch einmal nach den Pferden sah, stieß einen unterdrückten Ruf aus. »Ritter Roland!« Der Ritter mit dem Löwenherzen, der gerade dabei war, der schönen Eloise in einer Ecke des Zeltes ein halbwegs angenehmes Lager zu bereiten, eilte sofort nach draußen. »Da kommt jemand«, flüsterte der Knappe. Roland hörte den Näherkommenden auch. Der Mann - daß es ein solcher war, ließ sich am kräftigen Schritt erkennen - gab sich keinerlei Mühe, lautlos zu wirken. Noch war er nicht zu sehen, aber das würde gewiß gleich der Fall sein. Ein paar Augenblicke später wurde er im Lichtschein des niederbrennenden Lagerfeuers sichtbar. Ein junger, kräftiger Bursche in derber, wetterfester Kleidung war es, der mit einem breiten Grinsen auf das Zelt zutrat. »Die Herrschaften seien gegrüßt«, sagte er. Auch Ritter Richard und Graf Eduard waren inzwischen aus dem Zelt herausgekommen. »Wer bist du?« fragte Roland. »Und vor allem - wieso läufst du nachts hier in dieser Einöde herum?« »Einöde?« echote der Bursche. »Oh, so öde ist es hier gar nicht. Ich wohne ganz in der Nähe. Deshalb sah ich auch den Lichtschein Eures Feuers.« »Du wohnst in einem ... richtigen Haus?« »Gewiß, gewiß.«
Roland tauschte einen Blick mit seinen Reisegefährten. Ein richtiges Haus! Damit hatte nun wirklich niemand gerechnet. »Können wir dort übernachten?« erkundigte sich der Graf. »Zu wie vielen seid ihr?« erkundigte sich der Bursche und lugte neugierig ins Zelt hinein. »Ein knappes Dutzend.« »Kaufleute? Aber ich sehe gar keinen Wagen.« »Wir sind Pilger«, machte ihm Graf Eduard klar. »Nun, wie sieht es aus mit der Übernachtung?« »Ein knappes Dutzend, hm.« Der junge Bursche machte ein nachdenkliches Gesicht. »Es wird eng werden. Wir besitzen nur ein kleines Bauernhaus, müßt Ihr wissen, Herr.« »Wir würden gut für eine Beherbergung zahlen«, sagte der Graf. »Denk nicht, daß wir arme Leute sind und von Almosen leben, die man uns auf unserer Wallfahrt zusteckt.« Der Bursche antwortete nicht. Aber die Blicke, mit denen er vor allem Louis und Roland maß, sprachen für sich. Und wirklich sahen die beiden, denen der Sumpf noch an den Kleidern haftete, nicht sonderlich wohlhabend aus. Als ihm Graf Eduard dann allerdings sagte, daß er der Fürst von Arlinghaus war, verlor sich seine zweifelnde Miene. »Ihr seid uns herzlich willkommen«, sagte er. Wenig später brachen Pierre, Louis und Mehlsacks Diener das aufgebaute Zelt wieder ab. * Das Haus, zu dem sie der Bursche Xaver brachte, war doch größer als erwartet. Es handelte sich um ein Doppelhaus, aus Holz und Stein gebaut. In dem einen Teil waren die Wohnräume, in dem anderen Teil die Stallungen und Arbeitsräume untergebracht. Eine Scheune und ein Schuppen vervollständigten das Bild des Gehöfts. Die Bewohner waren recht zahlreich. Drei, vier Knechte und mehrere Mägde kamen den Reisenden zu Gesicht, die halfen, die
Reittiere zu versorgen und das mitgebrachte Hab und Gut ins Wohnhaus zu bringen. Und dann war da natürlich auch noch der Besitzer des Gehöftes, Friedbert Buschner mit Namen. Er war ein dünner und irgendwie düster aussehender Mensch, der sich aber alle Mühe gab, gastfreundlich und ehrerbietig zu erscheinen. Vielleicht waren es auch nur sein pechschwarzes Haar und der nach unten hängende Schnauzbart, die ihm diesen finsteren Anschein gaben. Friedberts Frau Huberta war vom Äußeren her das genaue Gegenteil. Klein, rundlich und hellhaarig, wie von der Sonne ausgebleichtes Leinen. Aber auch sie gefiel Roland auf Anhieb nicht. Sie hatte so einen kalten, lauernden Ausdruck in den Augen, der ihn geradezu abstieß. Aber letzten Endes kümmerte es ihn nicht weiter. Er wollte mit der dicklichen Huberta ganz bestimmt nicht der Minne huldigen. Ein Dach über dem Kopf, ein guter Tropfen und, wenn es ging, auch etwas Kräftiges zwischen die Zähne, um den Grützebrei vergessen zu lassen - das war alles, was er sich von den Bauersleuten wünschte. Und da wurde er nicht enttäuscht. Friedbert lud alle Wallfahrer in seine gute Stube ein. Und trotz der vorgerückten Stunde versprach er, noch ein Schaf schlachten zu lassen. Bevor das Fleisch auf den Tisch kam, bewirtete er seine Gäste mit einem großen Krug Wein. In der Zwischenzeit ließ er die Schlafkammern herrichten, was bedeutete, daß alle seine Knechte und Mägde für diese Nacht in die Stallungen ausweichen mußten. »Ein großes Haus, Knechte und Mägde«, sagte Graf Eduard. »Du mußt einen sehr großzügigen Landesherren haben, daß du dir das alles erlauben kannst.« »Ich zahle meine Kopfsteuer und leiste meine Abgaben«, erwiderte Friedbert Buschner. »Ansonsten bin ich ein freier Mann und mein eigener Herr, der niemandem verantwortlich ist.« »Ein freier Mann?« »Ich habe mich freigekauft«, bestätigte der Bauer. »Erstaunlich, erstaunlich«, fand der Graf, der zu Hause selbst über ein Heer von unfreien Bauern verfügte. »Wenn ich bedenke, daß du
noch reichlich jung bist... Du mußt tierisch geschuftet haben, um dir deine Freiheit bereits jetzt erkauft zu haben.« Friedbert Buschner nickte dazu nur, sagte aber nichts. Dabei glitt ein Lächeln über sein bärtiges Gesicht, das nur sehr schwer zu deuten war. Das Lächeln gefiel Roland ganz und gar nicht. Er spürte förmlich, daß der Bauer nicht nur durch seiner Hände Arbeit zu Wohlstand gekommen war. Er hielt es durchaus für möglich, daß Buschner nicht die ehrenhafteste Vergangenheit war. Er ließ seine Gedanken jedoch nicht laut werden, sondern beschäftigte sich mit seinem Humpen. Der Wein war äußerst süffig, auch wenn er einen ausgesprochen herben Beigeschmack hatte. Ganz offenbar enthielt er einen Zusatz von Harz, wie es in manchen Landesgegenden üblich war. Der Wein fand am Tisch nicht allgemeines Wohlgefallen. Graf Eduard, ansonsten einem guten Tropfen keineswegs abgeneigt, schob seinen Becher zurück. »Mundet Euch der Wein nicht?« erkundigte sich Buschner, der wie ein geübter Mundschenk hinter dem Grafen stand und ihm eigentlich gerade nachschenken wollte. »Mein Gaumen ist Besseres gewohnt«, sagte Eduard. »Hoffentlich würzt du den Hammel nicht ebenso scharf.« »Oh, ich bin zutiefst betrübt. Darf ich Euch etwas anderes bringen lassen? Einen Brombeerbrand vielleicht? Oder...« »Schon gut, schon gut. Ich esse gleich einen Bissen und begebe mich dann zur Ruhe.« »Hammel ohne einen kräftigen Schluck ist wie Brot ohne Rinde«, sagte der Mann mit dem hängenden Schnauzbart. »Kostet meinen Brombeerbrand, und Ihr werdet hoch zufrieden sein. Huberta, bringe unserem erlauchten Gast...« »Nein«, wehrte Eduard ab. Der Bauer machte ein verkniffenes Gesicht. »Ihr beleidigt mich! Noch nie hat jemand meinen Willkommenstrunk abgelehnt. Trinkt, Herr Graf.«
Beinahe fordernd sagte er dies, fast so, als hinge seine Seligkeit davon ab, daß der Fürst etwas trinke. Roland empfand diese Hartnäckigkeit als äußerst unziemlich. Er stellte seinen Humpen ab und hieb mit der Faust auf den Tisch. »Hörst du schlecht, Bauer?« fuhr er Buschner an. »Wenn der Herr Graf nein sagt, dann meint er es auch! Außerdem scheinst du zu vergessen, wer du bist. Graf Eduard beleidigt dich? Magst du auch ein Freier sein, so steht der Graf doch so hoch über dir, daß er dich gar nicht beleidigen kann. Merke dir das!« Ein bitterböser Blick war es, den der Buschner dem Ritter zuwarf. Wenn Blicke töten könnten, wäre Roland auf der Stelle entseelt von der Bank gefallen. Aber der Bauer bekam sich wieder in die Gewalt, zwang sich sogar zu einem Lächeln. »Verzeiht, Herr Ritter«, sagte er. »Ich wollte nicht anmaßend sein. Darf ich Euch den Becher noch einmal füllen?« Roland war kein nachtragender Mensch. Er erwiderte das Lächeln und hob den geleerten Humpen. »Schenk ein!« Friedbert Buschner tat es. Und er beeilte sich, auch den anderen neuen Wein zu kredenzen, wenn auch die beiden Frauen und überraschenderweise Louis darauf verzichteten. »Ich habe heute genug bitteres Zeug in den Mund bekommen«, erklärte der Knappe. »Einen Brombeerbrand denn?« erwies sich der Bauer abermals als hartnäckig. Louis schüttelte nur den Kopf. Einen Augenblick lang sah es so aus, als ob Buschner auch jetzt wieder versuchen wollte, Louis zu nötigen. Das tat er dann aber doch nicht. Deutlich war seiner Miene jedoch das offenkundige Mißfallen abzulesen. Warum nur? fragte sich Roland. Er verfolgte den Gedanken allerdings nicht länger. Was kümmerte ihn schließlich dieser Bauer, den er schon morgen wieder vergessen haben würde? Der Hammel ließ auf sich warten. Müdigkeit breitete sich am Tisch aus. Der dicke Mehlsack gähnte unverhohlen, und Bruder Gotthilf tat
es ihm gleich, wenn er dabei auch die Hand vor den Mund hielt. Auch Richard, Pierre und der dümmliche Theophil sahen so aus, als ob sie am liebsten den Kopf auf die Tischplatte gelegt hätten um innerhalb weniger Augenblicke einzuschlafen. Selbst Roland, der einen gehörigen Stiefel vertragen konnte, ohne Ermüdungserscheinungen zu zeigen, verspürte den dringenden Wunsch, sich niederzulegen. Und dabei hatte er so übermäßig viel gar nicht getrunken. Louis stand plötzlich auf und kam vom Ende des Tisches zu Graf Eduard hinüber. Er beugte sich zu dem Fürsten nieder und sprach leise mit ihm. Was geredet wurde, konnte Roland nicht verstehen. Er neigte den Kopf zur Seite, um besser hören zu können. Und dabei stellte er mit nicht gelinder Überraschung fest, daß es ihn echte Anstrengung kostete, den Hals zu drehen. Er blinzelte, wobei er gegen die Schwere seiner Lider ankämpfen mußte, die das Bestreben hatten, von selbst zuzufallen. Tod und Teufel, was war auf einmal los mit ihm? Wie durch Nebelschwaden sah er, wie Louis sich von Graf Eduard abwandte und zur Tür ging. »Wartet, Knappe«, sagte der Bauer. Louis wandte sich langsam um. »Was willst du?« »Darf ich fragen, wohin Ihr wollt?« Buschner lächelte. »Was kümmert es dich?« fragte der Knappe barsch. »Bin ich dir Rechenschaft schuldig?« »Nun«, sagte der Schnauzbärtige. »Ich frage nur aus Höflichkeit, die jedem meiner Gäste gebührt.« »Wenn du es genau wissen willst... Ich will mich nur davon überzeugen, daß unsere Pferde gut untergebracht sind.« »Das ist nicht erforderlich«, sagte Buschner schnell. »Meine Knechte sind die Zuverlässigkeit in Person.« »Dennoch möchte ich mich selbst überzeugen«, beharrte Louis und streckte die Hand nach der Tür aus. »Bleibt, wo Ihr seid, Knappe!« sagte der Bauer scharf. Seine knarrende Stimme veranlaßte Roland, sich
zusammenzureißen. Was fiel diesem Kerl ein, so mit seinem Knappen umzuspringen? Louis nahm nur von einem Befehle entgegen: von ihm. Roland wollte gerade die Stimme erheben, um den Bauern zurechtzuweisen. Da steckte Buschner einen Finger in den Mund und stieß einen schrillen, durchdringenden Pfiff aus. Die Tür, vor der Louis stand, flog so heftig auf, daß der Knappe unwillkürlich zurückprallte. Drei der Knechte standen im Rahmen. Einer von ihnen hielt eine Sense, die beiden anderen lange, gefährlich aussehende Messer in der Hand. Und nicht nur diese Tür war aufgesprungen. Am anderen Ende der großen Stube gab es noch eine andere Tür. Auch diese war ruckartig geöffnet worden. Wie auf der gegenüberliegenden Seite drängten mehrere Einheimische herein, ebenso bewaffnet und mit denselben grimmigen Gesichtern. Unter ihnen befand sich auch der junge Bursche Xaver, der die Wallfahrer zu dem Gehöft gebracht hatte. Buschner wich an die Wand neben der zweiten Tür zurück. Ein böses Lächeln zeigte sich auf seinem finsteren Gesicht. »Verehrte Herrschaften«, sagte er laut. »Leider wird es heute abend mit dem Hammelbraten nichts mehr werden. Aber wir haben statt dessen ein anderes Schlachtvieh zu bieten ... Euch selbst!« Sekundenlanges, tiefes Schweigen folgte diesen mörderischen Sätzen. Und Roland hatte das Gefühl, als seien nicht nur die Worte, sondern auch jede Bewegung im Raum eingefroren. Seine Glieder, seine Augen, seine Zunge, alles war schläfrig und wie gelähmt, im Kopf drinnen jedoch war er hellwach. Blitzartig begriff er, was sich abspielte. Dieses Gehöft war eine Fälle, eine Falle, in die er und seine Begleiter blinden Auges hineingetappt waren. Er hatte schon von einsamen Herbergen am Wegesrande gehört, in denen man Reisende ausraubte und anschließend umbrachte. Und wenn dies hier auch kein Gasthaus, sondern nur ein Bauernhaus war, so machte dies doch keinen Unterschied. Kein Zweifel, daß seine Wallfahrergruppe nicht die erste war, die dem Buschner und seinen Spießgesellen auf den Leim gegangen war. Die Frage nach seinem Wohlstand
beantwortete sich damit von selbst. Und auch die Frage, wieso plötzlich diese tiefe Müdigkeit Platz gegriffen hatte, war gar keine Frage mehr. Natürlich hatte der Bauer den Wein nicht nur mit würzigem Harz versetzt. Er hatte noch etwas anderes hineingemischt, das die Müdigkeit verursachte. Darum war er auch so hartnäckig darum bemüht gewesen, sie alle zum Trinken anzuspornen. Aber Roland sah sich noch nicht als Opfer, das man ohne Gegenwehr abschlachten konnte. Er baute auf seine Gabe, Trunkenheit so schnell abschütteln zu können wie kaum ein zweiter. Bevor die Helfershelfer des verbrecherischen Bauern sich auf die überraschten Wallfahrer stürzen konnten, sprang er von der Bank auf. Seine rechte Hand fuhr zur Hüfte, wo sein Schwert in der Scheide zu stecken pflegte. Zwei Erkenntnisse auf einmal geboten seinem Ungestüm Einhalt. Zum einen wurde ihm in dem Augenblick, in dem seine Hand ins Leere griff, bewußt, daß er auf dieser Reise gar kein Schwert bei sich trug. Und zum zweiten merkte er, wie sehr er noch unter dem Einfluß des Mittels stand, daß der schurkische Buschner in den Wein gepanscht hatte. Trunkenheit und Schläfrigkeit der Glieder waren unterschiedliche Dinge. Einen Rausch vermochte er kraft seines ehernen Willens in kürzester Zeit zu überwinden, die jetzt auf ihm lastende Müdigkeit hingegen nicht. Es war äußerst schmerzlich für ihn, an sich selbst beobachten zu müssen, wie langsam der Körper den Befehlen des Kopfes gehorchte. Selbst wenn sein Schwert da gewesen wäre, hätte er es jetzt noch immer nicht in der Faust gehabt. Als sei Rolands Aufspringen ein Signal für die Kumpane Buschners gewesen, stürmten diese jetzt johlend in die Stube herein. Louis, der der Tür am nächsten war, wurde als erster mit ihnen handgemein. Aber die Kerle waren mit dem Knappen gerade an den Falschen gekommen. Louis hatte dem Wein nur sehr mäßig zugesprochen, stand nicht unter seinem unheilvollen, lähmenden Einfluß. Er war unbedingter Herr seiner sieben Sinne, und der Zwischenfall im Moor hatte ihm nichts von seiner Kraft und Behendigkeit genommen.
Der Kerl mit der Sense war der erste, der es zu spüren bekam. Wild die im Fackellicht der Stube blitzende Klinge schwingend, drang er auf Louis ein. Wäre der benommen gewesen, hätte ihm der mächtige Sensenhieb, glatt den Schädel vom Rumpf getrennt. So hingegen ging der Schlag fehl, weil sich Louis gedankenschnell duckte. Im nächsten Augenblick hatte Rolands Getreuer zugepackt und den Sensenarm des Knechtes ergriffen. Ein kräftiger, genau angesetzter Ruck, und der Arm brach wie ein morsches Stück Holz. Der Kerl stieß einen gellenden Schrei aus und ließ die Sense fallen. Noch bevor sie den Boden berührte, fing Louis sie auf. Jetzt bewaffnet, stellte er sich den anderen beiden Schergen des Bauern entgegen. Unterdessen waren die Männer, die durch die andere Tür gekommen waren, nicht untätig geblieben. Zu viert waren sie, und zwei von ihnen hatten sogar Schwerter in den Fäusten, die sie vermutlich anderen Opfern des Ritterstandes entwendet hatten. Sie rannten auf den Tisch zu, Triumphgeschrei auf den Lippen und Mordlust in den Augen. Theophil, der Diener des Kaufmanns, und der Knappe Pierre saßen an der Kante des Tisches. Der Schreck riß Theophil von der Bank hoch. Viel zu langsam allerdings, um dem Verderben entgehen zu können. Ein Schwert traf ihn von hinten in den Rücken und durchbohrte ihn förmlich. Pierre war glücklicher dran. Auch ihm machte die Müdigkeit gar übel zu schaffen. Aber auch in diesem Zustand verließ ihn seine pfiffige Schläue nicht. Getreu dem Wahlspruch, daß Tapferkeit nicht immer der Weisheit letzter Schluß ist, ließ er sich einfach von der Bank fallen und kroch unter den Tisch. Dort war er vor den Mordwaffen der Halsabschneider sicher. Für den Augenblick zumindest. Die Ermordung Theophils ließ alle Reisenden zweifelsfrei erkennen, daß es dem Bauer und seinen Leuten nicht nur darum ging, Beute zu machen. Sie wollten ihre Opfer auch zum Schweigen bringen, wollten ihnen nicht nur Hab und Gut, sondern auch das Leben rauben. Dem Kaufmann Mehlsack gereichte diese schreckliche Erkenntnis sogar zum Vorteil. Vor Entsetzen bekam er
einen seiner Anfälle von Atemnot und fiel in Ohnmacht. So mußte er wenigstens nicht mit ansehen, was um ihn herum geschah. Bruder Gotthilf versuchte auf seine Weise, mit dem Furchtbaren fertig zu werden. Er faltete die Hände, neigte den Kopf und fing an, ein Gebet vor sich hin zu sprechen. Auch der Ritter Richard war nicht in der Lage, Widerstand zu leisten. Er hatte mehr getrunken als die anderen. Deshalb lastete die Müdigkeit auf ihm am stärksten. Stocksteif saß er da und hatte die allergrößte Mühe, die Augen offenzuhalten. Eloise und ihre Zofe hatten nur am Wein genippt. Aber sie waren schwache Frauen und deshalb von vornherein kein Gegner für das mörderische Gesindel. So blieben allein Roland und Graf Eduard, mit denen sich die Halunken auseinanderzusetzen hatten. Der Fürst hatte nur einen einzigen Schluck getrunken und war deshalb von der einschläfernden Wirkung des Weins nicht betroffen. Aber in seinem verletzten Arm wütete der nicht heilen wollende Brand. Dennoch zeigte er, daß er ein Mann war, der dem edlen Ritterstand alle Ehre machte. Mitnichten war er gewillt, sich abschlachten zu lassen wie ein Stück Vieh. Solange er noch einen Finger rühren konnte, würde er kämpfen. Und er konnte nicht nur einen Finger, sondern eine ganze Hand bewegen. Als der erste Mordknecht mit dem Schwert auf ihn losgehen wollte, packte er den schweren Weinkrug auf dem Tisch und schmetterte ihn dem Angreifer entgegen. Dessen Schwert glitt an der irdenen Wandung des Gefäßes ab. Als er zurücktaumelte, hätte er beinahe einem seiner Kumpane mit der Klinge die Kehle aufgeschlitzt. Das verschaffte dem Grafen eine kurze Verschnaufpause. »Roland, Richard, tut etwas!« rief er den beiden Rittern zu. »Steckt den Finger in den Hals und erbrecht den gepanschten Wein. Vielleicht könnt ihr so eurer Schläfrigkeit Herr werden.« Roland, der immer noch zwei Schritte neben dem Tisch stand, hatte bisher noch keine unmittelbare Berührung mit einem der mörderischen Halunken gehabt. Vielleicht deshalb nicht, weil er einen ganz und gar verteidigungsunfähigen Eindruck machte. Der
Vorschlag des Grafen deuchte ihm vernünftig. Hatte nicht schon so mancher nach dem Genuß von verdorbenem Fleisch oder giftigen Pilzen sein Leben gerettet, indem er seinen Magen entleerte? Mehr als eine kurze Verschnaufpause blieb ihm gewiß nicht. Louis hielt zwei der Kerle mit der Sense fern. Aber der Graf, dessen einzige Waffe ein irdener Weinkrug war, würde fraglos in wenigen Augenblicken überwältigt sein. Roland tat, wie ihn Eduard geheißen hatte. Tief bohrte er Zeigeund Mittelfinger in den Schlund. Unverzüglich stellte sich ein drängendes Würgegefühl ein, dem der Ritter mit dem Löwenherzen willig nachgab. Im hohen Bogen schoß ihm der gepanschte Wein aus dem Mund, einmal, zweimal, dreimal. War es jene Einbildung, die bekanntlich stark machen sollte, daß er sich gleich wacher fühlte? »Schweineritter!« brüllte ihn der Buschner Friedbert an. »Warum gehst du nicht in den Stall zu den Säuen?« Und an seine Knechte gewandt, schrie er: »Macht ihn nieder, bevor er tatsächlich wieder zu Kräften kommt!« Und schon kamen sie, die beiden Kerle mit den Schwertern und ein dritter, der mit klobiger Faust einen nagelgespickten Dreschflegel umklammerte. Letzterer war schon fast heran. Aber wirklich nur fast, denn als er mit seinem nachgemachten Morgenstern auf Roland einschlagen wollte, rutschte er auf der Lache Erbrochenem aus und stürzte auf den Fußboden. Die zwei anderen, die gleich hinter ihm waren, stolperten über ihn, gerieten in Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren. Der Ritter mit dem Löwenherzen handelte, ohne groß und lange nachzudenken. Wie von selbst flog sein rechter Fuß nach vorne, nicht so schnell wie unter normalen Umständen, aber doch unerhört wirksam. Der eine der Schwertschwinger wurde voll an der Kniescheibe getroffen. Hinter dem Tritt steckte die geballte Kraft einer Burgramme. Der Kerl schrie wie am Spieß und fing mit schmerzverzerrtem Gesicht an, auf einem Bein zu hüpfen, wobei er seinen Kumpan behinderte. Das nutzte Roland aus. Mit der Faust
schlug er zu, mitten hinein in das Gesicht des Mannes, der noch auf seinen Füßen stand. Im nächsten Augenblick stand er allerdings nicht mehr. Er flog mehrere Ellen zurück und krachte mit dem Hinterkopf gegen die Wand. Das gab ihm den Rest. Er rutschte an der Wand entlang, brach in die Knie und kippte dann vornüber aufs Gesicht. Besinnungslos blieb er auf dem Fußboden liegen. Der Mordbube, der ausgerutscht war, bemühte sich, wieder auf die Beine zu kommen. Es blieb bei dem Bemühen. Roland, der nun in der Tat langsam, aber sicher die dumpfen Anwandlungen der Müdigkeit verdrängen konnte, rammte ihm das rechte Knie unter das Kinn. Der Kopf des Kerls flog zurück, als habe man ihm einen Hammerschlag versetzt. Vermutlich hätte es Rolands nächsten Hiebs gar nicht mehr bedurft, um auch diesen Gegner kampfunfähig zu machen. Der Schurke mit der verletzten Kniescheibe bekam es angesichts Rolands urwüchsiger Kraft, die seine Kumpane gerade spielend außer Gefecht gesetzt hatte, mit der Angst zu tun. Er wollte davonlaufen. Da aber zeigte der Knappe Pierre, daß er auch noch da war. Seine Hand fuhr unter dem Tisch hervor und packte den Mann am Bein. Kräftig zog er daran. Die Folge war, daß auch dieser Halunke nähere Bekanntschaft mit dem Fußboden schloß. Roland, der inzwischen den herrenlos umherliegenden Dreschflegel an sich genommen hatte, sorgte dafür, daß er in absehbarer Zeit wohl nicht wieder aufstehen würde - wenn überhaupt. Tatendurstig blickte sich der Ritter mit dem Löwenherzen nach dem nächsten Gegner um. Er mußte zweimal hinsehen, um überhaupt noch einen zu finden. Louis, der die erbeutete Sense handhabte wie seinen geliebten Hirschfänger, hatte einem seiner beiden noch verbliebenen Widersacher den halben Arm abgetrennt. Und den anderen trieb er gerade so in die Enge, daß es für Roland nichts mehr zu tun gab. Nur zwei der Mordbuben waren noch übrig: derjenige, der bisher vergeblich versucht hatte, den löwenhaft mit dem Weinkrug kämpfenden Grafen zu besiegen, und ... Friedbert Buschner selbst. Die beiden sahen ihr Heil jetzt nur noch in der
Flucht, wandten sich zur Tür. Aber Roland, der im Kampf seine Schläfrigkeit mittlerweile fast ganz abgelegt hatte, war vor ihnen da. Mit erhobenem Dreschflegel, dessen Nägel rötlich leuchteten, sagte er: »Versucht nur, an mir vorbeizukommen. Wenn ihr es schafft, dann gewiß mit eingeschlagenem Schädel.« Diese Worte, denen Bauer und Knecht anhörten, daß sie blutig ernst gemeint waren, genügten vollauf. Die beiden Schurken ergaben sich und baten um Gnade. Für diese Nacht wurde ihnen noch Gnade zuteil. Ob allerdings ihr Landesherr, dem sie morgen übergeben werden sollten, ebenfalls solche Milde walten lassen würde, durfte mit Fug und Recht bezweifelt werden. * Die Wallfahrt schien kein Ende zu nehmen. Langsam bekam Roland das Gefühl, daß er das >Kloster zum Schwarzen Stein< erst dann zu sehen bekommen würde, wenn sein blondes Haar längst grau geworden war. Noch jedenfalls lag das Ziel in weiter Ferne. Allerlei Widrigkeiten waren dem Ritter mit dem Löwenherzen und seinen Schutzbefohlenen auch weiterhin untergekommen. Mehrmals hatten Wegelagerer versucht, sie um ihre Habe und ihre wertvollen Pilgergaben zu erleichtern, hatten selbstsüchtige Landesherren ihnen ihre Macht gezeigt, hatten sie sich mit den Gefahren der Natur auseinanderzusetzen gehabt. Und auch vom Übel einer Krankheit waren sie nicht verschont geblieben. Die Zofe Marie hatte es so schwer auf der Brust gehabt, daß sie wohl oder übel mehrere Tage in einem Gasthaus zubringen mußten. Weiterer Aufenthalt war entstanden, weil sich Bruder Gotthilfs Gliederschmerzen streckenweise so verschlimmert hatten, daß er beim besten Willen nicht im Sattel sitzen konnte. Und auch Roland selbst war nicht unbeschadet davongekommen. Eine Kreuzotter hatte ihn gebissen. Und obwohl die Bißwunde am Fuß sofort ausgebrannt worden war, hatte er tagelang doch erhebliche Beschwerden gehabt. Inzwischen
aber waren diese längst wieder behoben. Die einzige Erinnerung an den Schlangenbiß war die Narbe, die wohl noch längere Zeit sichtbar sein würde. Wieder einmal schickte sich ein Tag an, zur Neige zu gehen. Und wie schon so oft stand die Sorge um ein halbwegs bequemes Nachtlager im Vordergrund. Besonders groß war die Sorge an diesem Tag jedoch nicht, denn die hügelige, reich bewaldete Landschaft, die sie gegenwärtig durchzogen, war mit fruchtbarem Land gesegnet und hatte an menschlichen Niederlassungen keinen Mangel. Es ergab sich dann, daß es die Wallfahrer doch vorzogen, entgegen ihren sonstigen Gepflogenheiten unter freiem Himmel zu nächtigen. Als sie sich einer kleinen Waldlichtung näherten, sahen sie schon von weitem, daß diese Lichtung bevölkert war. Sie sahen es nicht nur, sie hörten es auch. Lautes Lachen, Fiedelspiel und Gesang klangen ihnen entgegen. Ein heiteres Völkchen schien sich dort versammelt zu haben. Dennoch ließ Roland die gebotene Vorsicht nicht außer acht. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, daß sich Heiterkeit plötzlich in Bösartigkeit verwandelt hätte. Er wies die anderen an zu warten und ritt allein voraus, nur begleitet von Louis. Fahrendes Volk war es, das auf der Lichtung seinen Lagerplatz aufgeschlagen hatte. Mehrere Wagen, mit Planen bedeckt, standen unter den Bäumen, und eine ganze Reihe von kleinen Zelten gruppierte sich im Halbkreis darum. Etwa zwei Dutzend Menschen waren zu sehen, Männer, Frauen und Kinder, von der gebeugten Greisin bis zum Säugling, der an der Mutterbrust hing. Die Leute spielten, sangen, kochten, wuschen Wäsche in dem vorbeirauschenden kleinen Bach, beschäftigten sich mit allerlei Handarbeiten, kurzum, sie machten ihre Hausarbeit. Als Roland und Louis am Rand der Lichtung auftauchten, zeigten sich die Leute in keiner Weise überrascht oder gar erschreckt. Die meisten fuhren mit ihrer gegenwärtigen Beschäftigung fort, wenn auch zahlreiche neugierige Augen auf den beiden Ankömmlingen
ruhten. Worte in einer Sprache, die weder Roland noch sein Knappe verstanden, huschten hin und her. Es dauerte nicht lange, da löste sich aus dem Kreis der Fahrenden ein würdig aussehender, weißhaariger Mann und trat den beiden Reitern entgegen. »Willkommen beim Stamm der Karlis«, begrüßte er sie lächelnd. »Wollt Ihr Euch nicht .zu uns gesellen? Essen, Trinken und Unterhaltung bieten wir Euch gerne feil.« Der Aussprache des Mannes war anzuhören, daß er nicht in seiner eigenen Zunge sprach. Aber er war trotzdem gut verständlich. Er gefiel Roland. In der Vergangenheit hatte er schon Angehörige des fahrenden Volkes getroffen, denen Tücke und Falschheit im Gesicht geschrieben stand und die auch nur darauf aus waren, andere zu betrügen und zu bestehlen. Bei diesem Mann jedoch - auch bei seinen Leuten - war von Tücke und Falschheit nichts zu spüren. Ihre Heiterkeit und Freundlichkeit waren echt. Roland erwiderte den Gruß des Weißhaarigen und machte ihm dann klar, daß er und Louis nicht allein waren. »Eigentlich suchen wir eine Herberge, in der wir die Nacht verbringen können«, sagte er zum Schluß. »Habt ihr eine solche in der näheren Umgebung gesehen?« »Ja«, sagte der Alte, »im nächsten Dorf, etwa fünf Meilen entfernt, gibt es ein Gasthaus. Aber ich würde Euch nicht raten, dort abzusteigen. Das Essen ist für die Schweine, das Gesöff verursacht Kopfschmerzen und Bauchgrimmen, und in den Betten tummeln sich Läuse und Wanzen. Ihr seid besser beraten, wenn Ihr die Nacht bei uns verbringt.« »Ein Nachtlager im Freien lieben wir nicht so sehr«, entgegnete der Ritter mit dem Löwenherzen. »Wir haben Kranke und Frauen bei uns, die die Kühle des Abends nur schlecht vertragen.« »Macht Euch dieserhalb keine Gedanken«, lächelte der Weißhaarige. »Wenn Ihr wollt, stellen wir Euch gerne einige unserer Wagen zur Verfügung. Wir ziehen es ohnehin vor, in unseren Zelten zu schlafen.«
Louis beugte sich im Sattel vor. »Ich würde zustimmen«, raunte er seinem Herrn zu. »Seht Ihr die Mädchen dort am Bach? Vielleicht wären ein paar von ihnen nicht abgeneigt...« Er hüstelte und kniff das rechte Auge zu. Roland hatte die Mädchen keineswegs übersehen. Er war ein Mann in der Blüte seiner Jugend und wurde trotz seiner gewaltigen körperlichen Stärke oft schwach, wenn er einer schönen Frau gegenüberstand. Und diese Töchter des fahrenden Volkes dort drüben ... »Wir nehmen eure Einladung mit Freuden an«, sagte er zu dem Weißhaarigen. * Zigan, der alte Anführer des Stammes der Karli, hatte nicht zu viel versprochen. Selten war für das leibliche Wohl der Wallfahrer so gut gesorgt worden wie am Lagerfeuer der Fahrenden. Es gab Fleisch, gekonnt gebraten und gar köstlich gewürzt, und einen roten Wein, der den Gaumen vor Freude jauchzen ließ. Und es gab Geselligkeit, Musik und Tanz, daß es eine wahre Freude war. Selbst die Reisenden, denen das Leben wegen ihrer Leiden oftmals eine Plage war, vergaßen an diesem Abend ihre Pein. Zwar konnten sie nicht daran denken, das Tanzbein zu schwingen, aber die allgemeine Fröhlichkeit nahm auch sie so gefangen, daß sie sich keineswegs als Ausgestoßene fühlten. Roland hingegen wagte mehr als ein Tänzchen. Der köstliche Rotwein und die schwungvolle Fiedelmusik gingen ihm ins Blut und machten ihn ausgelassener, als es sonst seine Art war. Und mit seiner stattlichen Erscheinung und seinem Blondhaar erfreute er sich bei den Frauen des Stammes, die allesamt schwarzhaarig waren, großer Beliebtheit. Nach höfischer Sitte war es zwar nicht ziemlich, daß sich die Frauen ihre Tänzer selbst suchten. Aber die Karli-Töchter hatten offenbar niemals etwas von höfischer Sitte gehört. Sie forderten die Männer ihrer Wahl zum Tanze auf. Und diese Wahl fiel immer
wieder auf den Ritter mit dem Löwenherzen, der nichts dagegen einzuwenden hatte. Die Mädchen des Stammes waren schön, anmutig und begehrenswert. Im Laufe des Abends setzte sich in Rolands Kopf jedoch ein anderer Gedanke fest. Es gab eine Frau, die er noch schöner, anmutiger und begehrenswerter fand. Eloise! An diesem Abend, das schwor er sich, würde er einen abermaligen Versuch unternehmen, den Eispanzer aufzubrechen, der sie umgab. Während der langen Reise hatte er sich immer wieder um sie bemüht. Aber Eloise war ihm stets nur mit Höflichkeit und äußerster Zurückhaltung begegnet. Er hatte einfach keinen Weg zu ihrem Herzen gefunden. Vielleicht gelang es ihm heute. Als ausnahmsweise einmal keine Karli-Tochter seine Tanzdienste in Anspruch nahm, trank er sich mit einem kräftigen Schluck Rotwein noch etwas mehr Mut zu und ging dann zu Eloise hinüber. Die schöne Pilgerin saß mit ihrer Zofe etwas abseits von dem heiteren Treiben. Wahrscheinlich war sie die einzige im weiten Rund, die sich nicht von der allseitigen Fröhlichkeit anstecken ließ. Zwar verfolgte sie Musik und Tanz mit den Augen, machte aber keinerlei Anstalten, selbst daran teilzunehmen. Ihr fein geschnittenes Gesicht war so ernst wie immer, und in ihren Augen lag jene Schwermut, die sie anscheinend niemals abzulegen vermochte. Lächelnd trat Roland vor sie hin und machte eine gar artige Verbeugung. »Darf ich Euch zum Tanze bitten, mein Fräulein?« fragte er mit einschmeichelnder Stimme. Er behielt sein Lächeln bei und blickte, erwartungsvoll auf sie hinab. Eloise antwortete nicht sofort, sah ihn nur mit großen Augen an. Dann, nach einer ganzen Weile, schüttelte sie langsam den Kopf. »Es tut mir leid, Ritter Roland, aber...« »Aber?« fragte Roland drängend. »Bin ich in Euren Augen ein grober Klotz, mit dem sich eine Dame vom Stande nicht einläßt? Ein Unhold gar, den man meiden muß wie Pest und Teufel?« »Das ist es gewiß nicht, Ritter Roland. Und das wißt Ihr auch recht
gut. Ihr habt viel für uns alle getan. Ohne Euch wären wir niemals bis hierher gekommen. Besonders ich stehe tief in Eurer Schuld. Glaubt nicht, daß ich vergessen hätte, wie Ihr mich vor der Schändung durch den anderen Ritter bewahrt habt.« »Nun denn«, sagte Roland, »so tanzt mit mir und beweist mir dadurch Eure Dankbarkeit.« Wieder schüttelte Eloise langsam den Kopf. »Es geht nicht«, sagte sie leise. »Und noch einmal frage ich: warum nicht?« »Ich ... ich kann Euch den Grund nicht nennen. Habt die Freundlichkeit, Euch damit zufrieden zu geben, daß es um ein Gelübde geht.« »Ein Gelübde, das Ihr abgelegt habt?« »Ja.« »Was habt Ihr geschworen, Jungfer?« »Auch das kann ich Euch nicht sagen«, erwiderte Eloise. Roland biß sich auf die Unterlippe. »Na, dann nicht«, sagte er nicht gerade freundlich und wandte sich ruckartig ab. Er konnte und wollte nicht verhehlen, daß er verärgert war. Eloise verschmähte ihn nicht nur, sie hatte auch kein Vertrauen zu ihm. Und dies erbitterte ihn über alle Maßen. Mit verkniffenem Gesicht kehrte er zum Lagerfeuer zurück. Er langte nach einem der Rotweinkrüge, von denen mehrere zur freien Bedienung herumstanden, und füllte einen Becher bis zum Rande. Wütend leerte er ihn bis zur Neige. Als er sich sogleich nachschenken wollte, legte sich von hinten eine weiche Hand auf seine Schulter. »Versucht Ihr Euren Kummer im Wein zu ertränken, Herr Ritter?« sagte eine weibliche Stimme, die nicht ganz frei war von Spott. Roland, der sich auf eine der im Moos ausgebreiteten Decken gesetzt hatte, wandte den Kopf zurück. Hinter ihm stand ein KarliMädchen, das ihm bisher noch gar nicht aufgefallen war. Ein sehr schönes Mädchen mit ellenlangen Beinen, die lockend unter dem kurzen Kleid hervorblickten. Ihre Brüste ließen ihn an Vollreife,
pralle Äpfel denken, die zum Anfassen aufforderten. Und in ihren glutvollen Augen lagen alle Versprechungen, die eine Frau machen konnte. »Kummer?« »Wie kommst du auf den Gedanken, daß ich Kummer habe, mein Kind?« »Liebeskummer, meine ich.« »Liebes ...« »Ich habe gesehen, wie Ihr bei der feinen Dame dort drüben wart«, sagte die Tochter des fahrenden Volkes. »Sie hat Euch eine Abfuhr erteilt, nicht wahr?« »Einem Mann wie mir erteilt man keine Abfuhr«, sagte der Ritter mit dem Löwenherzen grollend. »Verzeiht, wenn ich zu einem falschen Urteil gekommen bin«, sagte das Mädchen lächelnd. »Nun, wenn die feine Dame dort drüben nicht hinderlich im Wege steht, dann könnt Ihr mit mir tanzen, oder?« Warum nicht? dachte Roland. Wenn die schöne Eloise glaubte, ihn verschmähen zu müssen ... Er nahm das Mädchen bei der Hand und zog es in den Kreis, in dessen Mitte sich die Paare drehten. Ringsum saßen die anderen Angehörigen des Karli-Stammes und begleiteten die Melodien der Fiedeln mit rhythmischem Händeklatschen. Auch mehrere der Wallfahrer hatten sich dort eingereiht. Selbst der meist jammernde Mehlsack und Bruder Gotthilf klatschten mit in die Hände und waren guter Dinge. Bald wurde das schnelle Stück, bei dem die Tänzer nur herumwirbelten, durch eine langsame Melodie abgelöst. Die Fiedeln schluchzten und schmeichelten und schickten ihre Töne mitten hinein in die Herzen. Ganz eng preßte sich das Mädchen jetzt an Roland. Ihr prächtiger Busen war so nahe, daß Roland kaum den Blick von ihrem weiten Ausschnitt abwenden konnte. »Wie heißt du, mein Kind?« fragte er ein bißchen heiser. »Hanka.«
»Hanka«, wiederholte Roland. »Das ist ein sehr schöner Name.« »Gefällt er Euch, Herr Ritter?« »Sehr.« »Und ich? Gefalle ich Euch auch?« »Noch besser als dein Name!« Das Mädchen lächelte und rückte noch ein bißchen enger an ihn heran. Sie lehnte den Kopf gegen seine breite Brust und sagte eine Weile nichts. Dann hob sie den Kopf und bedachte ihn mit einem glühenden Blick aus ihren tiefdunklen Augen. »Wenn es Euch hier zu laut werden sollte, Herr Ritter ... Ich kenne einen ganz ruhigen Platz, wo man gänzlich ungestört sein kann. Wollt Ihr mich dorthin begleiten?« Und ob Roland das wollte! * Auch der Ritter Richard amüsierte sich ausgezeichnet. Das Essen war ganz hervorragend gewesen, der Wein mundete gar prächtig, und das Mädchen, mit dem er nun schon zum wiederholten Mal tanzte, würde ihm wahrscheinlich auch noch den Rest der Nacht versüßen. Wie stets war Richard jedoch nicht ganz bei der Sache. Er hatte es sich auf der Wallfahrt angewöhnt, jederzeit ein waches Auge auf seinen Standesbruder Roland zu halten und darauf zu lauern, daß sich der blonde Ritter eine Blöße gab, die er ausnutzen konnte. Aber wie es schien, war Roland mit dem Teufel im Bunde. Alles, was Richard bisher unternommen hatte, um ihn aus dem Weg zu räumen, hatte nicht zum Erfolg geführt. Er war dem Sumpf entronnen, hatte den Biß der Kreuzotter überlebt, die von Richard gar listig in seinen Stiefel geschmuggelt worden war, und hatte es auch geschafft, einen künstlich herbeigeführten Steinschlag schadlos zu überstehen. Einer direkten Konfrontation mit Roland ging Richard geflissentlich aus dem Wege. Die Lehre, die er ganz am Anfang der Reise bei der vorgetäuschten Vergewaltigung der Jungfer Eloise bezogen hatte, wirkte noch in ihm nach. Aber er gab die Hoffnung nicht auf, den
Ritter mit dem Löwenherzen doch noch in eine tödliche Falle locken zu können. Es mußte ihm ganz einfach gelingen, denn sonst würden er und seine Familie den Zorn des alten Wilhelmus zu spüren bekommen. Aus den Augenwinkeln sah Richard, wie Roland zur Jungfer Eloise hinüberging und mit ihr sprach. Fast hatte es den Anschein, als wolle er sie zum Tanzen auffordern. Richard grinste. Glaubte Roland etwa, daß er das Mädchen wirklich dazu bewegen konnte? Diese Eloise war kalt wie ein Fisch, schien die Männer geradezu zu hassen. Richard hätte Schwert und Pferd darauf gesetzt, daß der Ritter mit dem Löwenherzen gleich wieder zurückkam - allein. Und so war es dann auch. Eloise hatte ihn abblitzen lassen, das konnte man Roland schon vom Gesicht ablesen, als er dem Mädchen den Rücken zuwandte. Wieder grinste Richard. Das Mädchen, mit dem er tanzte, mißdeutete seine Belustigung. »Lacht Ihr mich aus, Ritter?« erkundigte sie sich. »Tanze ich nicht so, wie Ihr es von Euren vornehmen Damen an den Fürstenhöfen des Landes gewohnt seid?« Richard beeilte sich, ihr zu versichern, daß davon gar keine Rede sein könne. Unter keinen Umständen wollte er sich die Gunst der kleinen Schwarzhaarigen verscherzen. Er hatte schließlich mit ihr im Laufe der Nacht noch einiges vor. Er begann, ihr allerlei Schmeicheleien ins Ohr zu flüstern, die sie auch begierig aufnahm. Dann, eine kurze Weile später, merkte er, daß sie ihm nicht mehr richtig zuhörte. Ihre Blicke hingen an Roland, der inzwischen mit einer anderen Stammestochter tanzte. Das Blut stieg ihm in den Kopf. Dieser Roland wurde immer mehr zum Ärgernis. »O je«, sagte das Mädchen. »Wenn das der Janos sehen würde!« »Was?« »Euren blonden Ritterfreund und Hanka. Sie tanzen so, als ob sie gleich vor aller Augen mit der Minne anfangen würden.« Richard war etwas beruhigt. Anscheinend galt die Aufmerksamkeit seiner Tänzerin mehr ihrer Stammesschwester als Roland. »Was wäre, wenn der Janos die beiden sehen könnte?« erkundigte
er sich hellhörig. »Janos würde Hanka umbringen.« »Warum?« »Janos ist Hankas Bräutigam. Und er ist schrecklich eifersüchtig.« Richard wurde noch hellhöriger. »Und wo ist der Janos?« »Er hält Wache drüben auf der Pferdeweide. Wenn er hier wäre, würde es Hanka bestimmt nicht wagen, mit Eurem Ritterfreund anzubändeln.« »So, so«, sagte Richard gedankenvoll. Während er weitertanzte, behielt er Roland und das Mädchen an seiner Seite fortwährend im Auge. Und so sah er auch, daß die beiden wenig später den Kreis der Tänzer verließen und zu einem der Planwagen hinübergingen, um darin zu verschwinden. Was sie dort zu tun gedachten, wäre selbst einem Narren offenkundig gewesen. Wenn das der Janos wüßte! dachte Richard bei sich. Man müßte ... Gedacht, getan. Unter einem Vorwand und dem Versprechen, gleich wiederzukehren, ließ er seine Tänzerin allein und machte sich auf die Suche nach dem Janos. Er wußte, wo die Pferdeweide war, denn auch die Reittiere der Wallfahrer befanden sich dort. Die Wiese lag ein paar hundert Klafter von der Lichtung entfernt, außerhalb des Waldes. Deshalb hatten es die Karli wohl auch für erforderlich gehalten, dort einen Wächter zu postieren. Schnell hatte Richard die Weide erreicht. Ein kleines Lagerfeuer brannte, an dem ein einzelner Mann saß. Der Mann war groß und ungemein kräftig. Richard lächelte. Durchaus möglich, daß es dieser Bursche mit Roland aufnehmen konnte. Er ging zu dem Mann hinüber. »Bist du der Janos?« Der kräftige Mann, der dabei war, aus einem Stück Holz eine Flöte zu schnitzen, blickte auf. »Ja, Herr Ritter, ich bin der Janos.« »Und deine Braut ist die Hanka?« »Ja! Sie ist das schönste Mädchen von der ganzen Welt. Findet Ihr nicht, Herr Ritter?« »Du liebst sie sehr?« »Mehr als mich selbst. Und sie liebt mich auch von ganzem
Herzen.« Dummkopf, dachte Richard. Der Mann war zwar groß und stark, aber im Kopf hatte er offenbar nur Stroh. Wahrscheinlich glaubte er auch noch, daß ihm sein Mädchen treu ergeben war. Dabei konnte davon wahrlich keine Rede sein. Es war Hanka gewesen, die Roland leidenschaftlich umgarnt hatte, nicht umgekehrt. Aber das würde er dem Burschen ganz bestimmt nicht auf die Nase binden. »Nun«, sagte Richard gedehnt, »wenn ich du wäre, würde ich hier nicht so ruhig sitzen.« »Warum nicht?« fragte der Bursche arglos. »Weil deine schöne Braut Hanka in großer Gefahr ist, entehrt zu werden. Ich sage es nicht gerne, aber mein Gewissen gebietet es mir: Mein Ritterbruder Roland ...« »Ist das der Recke mit den blonden Haaren?« »Genau der«, bestätigte Richard. »Auch wenn Roland vom selben Stande ist wie ich, muß ich gestehen, daß er ein arger Schurke ist. Besonders dann, wenn es um schöne Frauen geht.« Der Janos war sichtlich verwirrt. Gewisse dunkle Ahnungen schienen in ihm aufzusteigen. »Was ... was meint Ihr, Herr Ritter?« fragte er und ließ seine halbfertige Flöte achtlos ins Gras fallen. »Roland pflegt den Frauen soviel Wein einzuflößen, daß sie ganz trunken davon werden. Und wenn sie dann hilflos und schwach sind, fällt er wie ein wildes Tier über sie her und schändet sie auf das übelste.« »Das ... tut er?« »Er tut es bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Auch die beiden Frauen, die sich in unserer Reisegruppe befinden, wären längst zu seinen bedauernswerten Opfern geworden, wenn ich mich Roland nicht in den Weg gestellt und sie geschützt hätte.« Ein Schatten huschte über das derbe Gesicht des kräftigen Mannes. »Und Ihr glaubt, daß Hanka ...« »Ich habe gesehen, wie er deiner Braut einen ganzen Krug Rotwein eintrichterte!« Janos sprang auf die Füße. Er überragte Richard um Haupteslänge,
war tatsächlich ein Mann wie ein Baum. Mit hochrotem Kopf ballte er die Fäuste. »Wenn es der Ritter wagt, Hand an Hanka zu legen ...« »Das hat er wahrscheinlich bereits. Ich hielt es für meine Christenpflicht, dich davon ins Bild zu setzen.« Janos zückte ein Messer, das fast so lang war wie ein Schwert. Sein Gesicht hatte sich zu einer Grimasse des puren Hasses verzerrt. Er zitterte vor mühsam gezügeltem Zorn. »Ich danke Euch dafür, daß Ihr mir Bescheid gesagt habt, Herr Ritter«, sagte er. Im nächsten Augenblick stürmte er bereits zum Waldrand hinüber. »Janos!« Der kräftige Mann drehte sich noch einmal um. »Herr Ritter?« »Sag dem Roland nicht, daß ich ihn bloßgestellt habe. Er würde sich fürchterlich an mir rächen.« »Der blonde Ritter wird sich an niemandem mehr rächen!« antwortete Janos wild. Er verschwand zwischen den Bäumen. * Der ruhige Ort, den Hanka in Aussicht gestellt hatte, war so ruhig nicht. Es war einer der Planwagen, die am Rande der Lichtung standen, und natürlich drang der fröhliche Lärm der Feiernden ungetrübt herüber. Ansonsten aber gab es nichts auszusetzen. Warme weiche Decken sorgten für ein angenehmes Lager, und das Licht des Lagerfeuers, das durch einen Spalt in der Plane eindrang, sorgte für eine geradezu zauberhafte Atmosphäre. »Und hier stört uns wirklich niemand?« fragte Roland leise. Das Mädchen an seiner Seite lachte. »Seid unbesorgt. Dieser Wagen gehört mir und meinem Bräutigam. Und der ist gar nicht hier im Lager.« »Du hast einen ... Bräutigam?« »Janos heißt er und ist ein braver Bursche. Aber natürlich kann er sich mit einem Mann wie Euch nicht messen, Ritter Roland.« Hankas
Hand fuhr sanft durch sein Haar und kraulte ihn zärtlich hinter dem Ohr. Nun denn, dachte Roland. Er war gewiß kein Tugendwächter. Und wenn das Mädchen glaubte, dem Bräutigam Hörner aufsetzen zu können... Er hatte wahrlich nichts dagegen. Er schlang die Arme um sie und zog sie langsam auf das weiche Deckenlager hinunter. Seine Lippen suchten und fanden ihren Mund und verschlossen ihn mit einem leidenschaftlichen Kuß. Hanka erwiderte die Leidenschaft voll und ganz. Ihre Lippen teilten sich, und ihre geschickte Zunge begann mit einem gar köstlichen Liebesspiel. Süße Schauer durchrieselten den Ritter mit dem Löwenherzen. Dieses Mädchen war für die Liebe geboren, das spürte er gleich. Obgleich er noch voll bekleidet war, fanden ihre Hände den Weg zu seinem Körper und fuhren sinnesaufpeitschend darüber hinweg. Auch seine Hände blieben nicht untätig. Die eine schlüpfte wie von selbst in den weiten Ausschnitt des Kleides und streichelten die sanften Hügel ihres Apfelbusens. Die andere Hand wanderte an ihrem nackten Bein hinauf und näherte sich langsam dem lockenden Tal zwischen den Schenkeln. Hanka stöhnte vor Lust. »Oh, Roland, was ist deine Zärtlichkeit doch im Vergleich zu der Plumpheit meines Bräutigams ...« Sie schloß die Augen und gab sich ganz dem wonnevollen Spiel seiner Hände hin. Geschickt löste Roland jetzt die Knöpfe und Schlaufen des kurzen Kleides und streifte es ihr sanft vom Leibe. Darunter war sie vollkommen nackt. Im flackernden Rotschein des Feuers offenbarte sich Roland eine Körperlandschaft, die sein Blut immer mehr in Wallung geraten ließ. Innerhalb kürzester Zeit hatte er sich ebenfalls seiner Kleidung entledigt. »Komm, mein starker Ritter«, flüsterte Hanka. »Komm zu mir!« Das ließ sich Roland nicht zweimal sagen. Wieder küßte er sie und spürte, daß ihre Lippen heiß wie Feuer brannten. Sie war bereit. Behutsam legte er sich auf sie und ...
Die hintere Plane des Wagens wurde mit einem lauten, fetzenden Geräusch zur Seite gerissen. Irritiert fuhr Roland hoch. Sollte der Wind... Es war nicht der Wind. Es war ein junger Mann von mächtigem Körperbau, der jetzt auf den Wagen sprang. Zornesadern standen auf seiner Stirn, und die blutunterlaufenen Augen rollten wie Kiesel im Wellenschlag eines Flusses. »Ehrloser, niederträchtiger Ritterhund«, brüllte der Mann und stürmte vor. Auch Hanka hatte ihn jetzt gesehen. Ihr Gesicht nahm einen entsetzten Ausdruck an. »Janos!« »Ganz ruhig, Hanka«, gab der Mann zurück. »Ich weiß, daß du bei diesem schändlichen Treiben unschuldig bist.« Janos also war es, der Bräutigam, dessen Plumpheit in Liebesdingen dem Mädchen einen minnekundigen Ritter begehrlich gemacht hatte. Roland war ein Mann von Ehre. Natürlich würde er den vor Eifersucht tobenden Burschen niemals wissen lassen, daß die Braut die treibende Kraft bei diesem Liebesakt gewesen war. Zu Worten und Erklärungen fehlte jetzt ohnehin die Zeit, denn der baumstarke Mann war jetzt heran. Die eine Hand hatte er bisher auf dem Rücken gehalten, zog sie jedoch nun mit einer wilden Geste hervor. Ein ellenlanges Messer blitzte tödlich im Feuerschein. »Stirb, schändlicher Ritterhund!« Wie ein Blitz zuckte die mörderische Klinge auf den Ritter mit dem Löwenherzen herab. Im letzten Augenblick wälzte sich Roland zur Seite und zog dabei das Mädchen mit sich. Zolltief bohrte sich das Messer genau an der Stelle in das Holz des Wagenbodens, an der die beiden Liebenden gerade noch gelegen hatten. Janos knurrte wie ein Wolf, dem das Beutewild aus den Fängen gesprungen war. Er riß das Messer aus dem Holz heraus. Da die Klinge aber so fest saß, schaffte er das nicht auf Anhieb. Roland
nutzte die Gelegenheit und sprang auf die Füße. »Halt ein, mein Freund«, sagte er. »Wir können doch ...« Der Bursche hörte gar nicht zu. Er hatte das Messer jetzt wieder in der Faust und ging erneut auf seinen Nebenbuhler los. Wieder zuckte die scharfe Klinge auf Roland zu. Diesmal jedoch war der Ritter mit dem Löwenherzen auf den Angriff vorbereitet. Er wich mit einer schnellen Körperbewegung zur Seite und packte den Unterarm des Rasenden. Dann versuchte er, dem Gegner das Messer aus der Hand zu winden. Aber Janos war stark, bärenstark. Er ließ die Waffe nicht los, versuchte statt dessen, sich loszureißen. Roland mußte sich gewaltig anstrengen, um dieses Vorhaben zu vereiteln. Hanka stieß einen kleinen, spitzen Schrei aus. Sie raffte ihr Kleid an sich und sprang fluchtartig vom Wagen hinunter. Roland konnte es ihr nicht verdenken. Dem vor Eifersucht beinahe berstenden Bräutigam jetzt Auge in Auge gegenüberzustehen, hätte er an ihrer Stelle auch vermieden. Ihm blieb keine Muße, sich weiter mit der Gedankenwelt des Mädchens zu beschäftigen. Janos beanspruchte seine ganze Aufmerksamkeit. Der Bursche keuchte vor Anstrengung, gab aber nicht nach. Die ineinander verschlungenen Arme der beiden Männer waren wie ein Knoten, den keine Macht der Welt lösen konnte. Dann zeigte sich, daß der Sohn des Karli-Stammes nicht nur stark, sondern auch listig war. Es gelang ihm, den Ritter mit dem Löwenherzen zu überraschen. Mit einem unvermuteten Tritt in die Kniekehle brachte er Roland aus dem Gleichgewicht. Der verlor den Boden unter den Füßen und stürzte rücklings zu Boden. Aber er gab den Arm des Gegners dabei nicht frei, riß den Burschen mit sich nach unten. Fraglos bekam Janos dabei die Oberhand - im wahrsten Sinne des Wortes. Roland lag mit dem Rücken auf der Decke, die ihm gerade noch als süßes Liebeslager gedient hatte. Und sein Widersacher lag auf ihm. Es verstand sich, daß Janos dadurch mehr Bewegungsfreiheit hatte.
Und der eifersüchtige junge Mann nutzte seinen Vorteil. Ganz langsam gelang es ihm, Rolands Hand, die noch immer seinen Unterarm umklammerte, nach unten zu drücken. Zoll um Zoll näherte sich die Spitze des Messers der Kehle des Ritters. Roland wußte, daß es um sein Leben ging. Der rasende Bräutigam würde nicht zögern, ihm die Klinge tatsächlich in den Hals zu bohren, um seine Eifersucht zu befriedigen. »Du stirbst, Ritterhund«, keuchte Janos. »Niemand vergreift sich ungestraft an meiner Braut!« Roland verschwendete keine Kräfte darauf, ihm eine Antwort zu geben. Seine Hauptsorge war es, die mörderische Messerspitze fernzuhalten, die sich mittlerweile bis auf wenige Handbreiten seiner Kehle genähert hatte. Er spannte die Muskeln seines rechten Armes so an, daß sie wie ein dickes Seil hervortraten. Gleichzeitig atmete er tief ein und hielt die Luft an. Dann konzentrierte er seine ganze Kraft auf einen einzigen Augenblick. Mit einem mächtigen Ruck stieß er seinen gebeugten Arm nach oben, wobei sich seine Lungen wie ein Blasebalg leerten. Und er erreichte, was er wollte. Seiner geballten Kraftentladung war auch der bärenstarke Fahrende nicht gewachsen. Er wurde zurückgeschleudert, fand sich nun seinerseits rücklings auf dem Boden des Planwagens wieder. Aber er hielt das Messer nach wie vor mit fester Hand umklammert. Beide Männer sprangen gleichzeitig wieder auf die Füße. Roland war es jedoch, der als erster das Gesetz des Handels wieder bestimmte. Bevor Janos sein Messer heben konnte, ballte der Ritter mit dem Löwenherzen die Faust und schmetterte sie seinem Widersacher unter das Kinn. Der Tritt eines Pferdehufs hätte keine größere Wirkung hinterlassen können. Janos taumelte drei, vier Schritte zurück und flog, wie von einem Katapult geschleudert, vom Wagen hinunter. Unterhalb der Ladefläche entschwand er aus Rolands Blickfeld. Roland wurde sich bewußt, daß er so nackt war, wie Gott ihn geschaffen hatte. Noch hatte sich unten vor dem Wagen niemand eingefunden. Aber das würde sich gewiß in allerkürzester Zeit
ändern. Sein Zweikampf mit Janos war alles andere als geräuschlos abgelaufen. Schnell zog er sich in den äußersten Winkel zurück und fing hastig an, sich wieder anzukleiden. Als er noch damit beschäftigt war, drang ein gurgelndes Stöhnen an sein Ohr. Er blickte nach hinten. Und sah dort den Ritter Richard stehen - mit einem blutigen Messer in der Hand, bei dem es sich zweifellos um das Messer Janos' handelte. »Da bin ich ja gerade noch rechtzeitig gekommen«, sagte Richard. »Der Kerl wollte gerade sein Messer nach Euch schleudern. Im letzten Augenblick konnte ich ihn entwaffnen und...« »Ihr habt ihn getötet?« fragte Roland scharf, während er die letzten Knöpfe seines Wamses schloß. »Ich wollte es nicht«, erwiderte der junge Ritter. »Aber im Verlauf des Handgemenges ... Es war mehr oder weniger ein Unglücksfall.« Roland biß die Zähne zusammen. Gewiß, Janos hatte ihm nach dem Leben getrachtet. Aber dazu hatte er - aus seiner Sicht - einen guten Grund gehabt. Daß der junge Bursche nun aber selbst tot war... Teufel, das hatte er wirklich nicht gewollt. Nun geschah das, was geschehen mußte. Das fahrende Volk eilte herbei. Rufe der Bestürzung, der Trauer und auch des Zornes wurden laut. Die Angehörigen des Karli-Stammes hatten entdeckt, was ihrem Bruder widerfahren war. Roland hegte die schlimmsten Befürchtungen. Die Sippe des alten Zigan war ein heißblütiges Völkchen. Überschäumende Herzlichkeit konnte sehr schnell in glühenden Haß umschlagen. Wenn dies jetzt geschah, dann befanden sich alle Wallfahrer in größter Gefahr. Er hörte, wie sich der Ritter Richard rechtfertigte: »Glaubt mir, daß es nicht in meiner Absicht lag, euren Bruder zu töten. Es war ein Unglück! Aber er wollte mit dem Messer auf den Ritter Roland los, und da konnte ich nicht untätig zusehen ...« Roland trat an den Rand des Wagens. Nahezu alle Angehörigen des Karli-Stammes hatten sich eingefunden. Nur Hanka, der eigentliche Stein des Anstoßes, war nicht zu sehen. Roland räusperte
sich, wollte etwas sagen, kam jedoch nicht dazu. Der weißhaarige Zigan hatte schon das Wort ergriffen. »Es mag sein, wie Ihr sagt, Herr Ritter. Wir kennen das heiße Blut Hankas, und wir kennen auch die Blindheit Janos. Es war vielleicht vorherbestimmt, daß es eines Tages zu einem Ende mit Schrecken kommen würde. Ich will Euch glauben, daß Ihr Janos nicht zum Fleiße getötet habt. Aber versteht unseren Schmerz. Deshalb solltet Ihr unser Lager verlassen - jetzt gleich.« Ganz ruhig, fast gelassen hatte Zigan gesprochen. Seine Miene wirkte dabei wie eine aus Holz geschnitzte Maske, starr und unbeweglich. Nun aber gerieten die Züge seines Gesichts in Aufruhr, und in seinen Augen loderte ein wildes Feuer. »Geht endlich!« Nicht viel später ritten die Wallfahrer davon, um die Nacht doch im nächsten Dorf zu verbringen. Keiner von ihnen sagte etwas, und auch das Schweigen der Karli war so tief wie ein eiskalter Bergsee. Auf Roland und seinen Gefährten schien eine drückende Last zu ruhen, die sich nicht so schnell abschütteln ließ. Allein der Ritter Richard erweckte den Anschein, als sei er nicht sonderlich betroffen. Als vom Lager des fahrenden Volkes nichts mehr zu sehen war, kräuselte sogar ein Lächeln seine Lippen. Und langsam begann sich Roland zu fragen, ob Richard den Janos wirklich nur getötet hatte, um sein Leben zu retten ... * Auch die längste Reise geht irgendwann einmal zu Ende. Seit Tagen schon zogen die Wallfahrer nun durch das Riesengebirge, und das Kloster zum Schwarzen Stein war nicht mehr fern. Die Aussicht, das angestrebte Ziel endlich zu erreichen, belebte die durch Strapazen und mühsam überstandene Gefahren ermatteten Lebensgeister aller, und so ritten sie zügig, beinahe forsch dahin. Der Weg, dem sie folgten, war gegenwärtig nicht sonderlich beschwerlich. Täler und Anhöhen, bekränzt mit grünendem Tann
und bunt leuchtendem Felsgestein, wechselten einander ab. Aus dem strahlend blauen Himmel lächelte eine freundliche Sonne auf das Land hinab. Am Abend, so hofften sie, würden sie Einkehr im Kloster halten. Dann kamen sie an einen Scheideweg. Rechter Hand schlängelte sich der Weg zu einem Berggipfel empor, während er auf der anderen Seite einem kleinen Fluß folgte, dessen Bett sich irgendwo im Tal verlor. Roland zügelte sein Pferd, und auch die anderen machten halt. »Nun ist guter Rat teuer«, stellte der Ritter mit dem Löwenherzen fest. »Links oder rechts, das ist die Frage.« Es gab kein Wegkreuz, das ihnen verriet, welcher Pfad zu nehmen war. Sie mußten die Entscheidung von sich aus fällen. »Werfen wir eine Münze«, schlug Graf Eduard vor. »Wenn das Konterfei des Landesherren nach oben fällt, folgen wir dem Lauf des Flusses.« Gesagt, getan ... Der Fürst förderte einen Silberdenar zutage, warf ihn hoch in die Luft und fing ihn wieder auf. »Am Fluß entlang«, verkündete er die Entscheidung, die der Zufall gefällt hatte. »So sei es denn«, nickte Roland. Gerade wollte er seinen Hengst wieder in Bewegung setzen, da trat gänzlich unvermutet ein Mann aus dem Schatten der Tanne hervor, die stolz und rank an der Weggabelung dem Himmel entgegenwuchs. Verblüfft starrte Roland den Mann an. Er hatte ihn nicht kommen sehen und wunderte sich über sein plötzliches Erscheinen. Der Fremde trug eine schwarze Mönchskutte und hatte ein rosiges, freundliches Gesicht. Am rechten Kinnwinkel prangte eine kleine Warze. »Wo ... kommt Ihr her?« fragte er mit leicht gerunzelter Stirn. Der Wandermönch lächelte. »Von dort«, erwiderte er und deutete mit dem Daumen auf die Tanne. Dies war gewiß nicht die Antwort, die Roland angestrebt hatte.
Aber letzten Endes kümmerte es ihm auch nicht weiter, wo der fromme Mann bisher gesteckt hatte. Die Hauptsache war, daß er nun jemanden nach dem rechten Weg fragen konnte, was er auch sogleich tat. »Reitet den Hügel hinauf«, sagte der Mönch. »Und in spätestens drei Tagen werdet Ihr das Kloster zum Schwarzen Stein vor Euch liegen sehen.« »In spätestens... drei Tagen?« echote Roland. »So ist es.« Der Ritter mit dem Löwenherzen verzog das Gesicht. »Aber das ist doch nicht möglich! In der Herberge, in der wir die letzte Nacht verbrachten, sagte man uns, daß wir bei zügigem Ritt unser Ziel noch heute erreichen würden. So lang kann der Weg also nicht mehr sein.« »Dieser Weg schon«, erwiderte der Mönch. »Mag sein, daß der andere kürzer ist.« »Am Fluß entlang, meint Ihr?« Der Mönch nickte. »Am Fluß entlang geht es schneller.« Roland schüttelte verständnislos den Kopf. »Warum wollt Ihr uns dann den Berg hinauf schicken? Bereitet es Euch Vergnügen, die Strapazen unserer langen Reise noch zu verlängern? Für einen frommen Mann ist dies ein sehr unfrommes Tun!« »Mitnichten, mein ritterlicher Freund. Ich wollte Euch nur vor Schaden bewahren.« Roland glaubte jetzt zu verstehen. »Ah, am Flußweg lauert räuberisches Gesindel, ist es das?« »Nein. Kein Räuber würde es wagen, dort sein Unwesen zu treiben. Wißt Ihr nicht, daß das Land am Fluß dem Rübezahl gehört?« »Dem ... Rübezahl? Wer, um des Himmels willen, ist denn der Rübezahl?« Nun war es an dem Mönch, Verwunderung zu zeigen. »Ihr fragt allen Ernstes, wer der Rübezahl ist?« »Ich und wir alle haben nie von ihm gehört!« »Jedes Kind kennt ihn«, sagte der Mönch. »Ihr müßt von sehr weit
herkommen, wenn er Euch kein Begriff ist.« »Wahr gesprochen. Viele, viele Tagesritte liegen hinter uns«, bestätigte Roland. »Nun«, erwiderte der Mönch, »dann laßt Euch sagen, daß der Rübezahl ein guter Geist ist, der seine Hand schützend über das Land hält. Und er liebt es gar nicht, wenn die Menschen den Frieden des Landes stören. Dann kann er sehr unangenehm werden und neigt dazu, die Störenfriede zu bestrafen.« »Wir wollen den Frieden des Landes nicht stören, sondern lediglich hindurchreiten.« »Dies allein ist in den Augen Rübezahls schon Störung genug«, sagte der Mönch. Roland lachte plötzlich. »Ein Geist ist er, dieser Rübezahl?« »Der gute Geist der Berge, ja.« »Papperlapapp. Es gibt keine Geister, keine guten und auch keine bösen!« »Ihr zweifelt den Rübezahl an?« »Genau das tue ich«, bekräftigte Roland. »Vermutlich entspringt das Leben dieses angeblichen Geistes jenen Märchen, die Ammen und Greise den kleinen Kindern erzählen, wenn sie nicht brav und folgsam sind. Uns können solche Mären nicht erschrecken.« »Ihr glaubt also, den Rübezahl herausfordern zu können?« »Es gibt keinen Rübezahl«, sagte Roland überzeugt. »Und deshalb werden wir dem Flußweg folgen, basta!« »So tut denn, was Ihr nicht lassen könnt«, sagte der Mönch. Er nickte den Wallfahrern zu, kehrte gemächlichen Schrittes zu der Tanne zurück und ließ sich in ihrem Schatten nieder. Roland gab seinem Hengst die Zügel frei. Und die anderen Wallfahrer folgten seinem Beispiel. * »Nun, was habe ich gesagt? Wir wären Narren gewesen, wenn wir den tagelangen Umweg gemacht hätten, den uns dieser
abergläubische Mönch vorschlug!« Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen ließ Roland sein Pferd weiter ausschreiten. Eine ganze Weile war vergangen, seit die Wallfahrer den Ratschlag des Mannes in der Kutte mißachtet und den Flußweg eingeschlagen hatten. Zügig, sehr zügig waren sie vorangekommen. Der Pfad, nicht sehr breit, aber ganz vorzüglich begehbar, schlängelte sich nach wie vor am Fluß entlang, überbrückte Höhen und Tiefen und gehörte ganz gewiß zu den angenehmsten Wegen, die die Wallfahrer auf der gesamten langen Reise beschritten hatten. Und der angebliche Berggeist, dieser Rübezahl, hatte sich niemals blicken lassen. Die Sonne hatte mittlerweile ihren Höhepunkt überschritten und strebte nun gemächlich dem Horizont entgegen. Aber es würde noch einige Stunden dauern, bis sie der Abenddämmerung wich. Bis dahin, das hoffte der Ritter mit dem Löwenherzen zuversichtlich, würden sie das Kloster zum Schwarzen Stein bestimmt erreicht haben. Roland war ausgesprochen heiterer Laune. Von seinem Freund, dem berühmten Minnesänger Volker vom Hohentwiel, hatte er die Liebe zur Musik gelernt. Deshalb pfiff er jetzt eine lustige Melodie vor sich hin, nicht unbedingt schön und wohlklingend, dafür aber recht laut. Wenig später verging ihm das Pfeifen allerdings. Schräg über sich hörte er ein Knirschen und Splittern. Er hob den Kopf, blickte in die Höhe. Und sah einen gewaltigen Felsblock, der sich aus der Steilwand zu seiner Linken löste. »Anhalten!« brüllte er und riß gleichzeitig wild an den Zügeln seines Pferdes. Der Felsblock neigte sich immer weiter vor, wurde wie von unsichtbaren Händen noch eine kurze Weile in der Schwebe gehalten und polterte dann mit Getöse nach unten. Etwa fünf Klafter vor den Wallfahrern schlug der mächtige Gesteinsbrocken auf dem Weg auf. Er war mehr als zehn Ellen hoch und fast genauso breit.
»Potztausend!« sagte Roland. Auch den anderen war der Schreck in die Glieder gefahren. »Wenn wir nur ein kleines bißchen schneller geritten wären ...« Der Ritter Richard war grau wie Hafermehl im Gesicht geworden. »Das ... das haben wir dem Rübezahl zu verdanken«, sagte der dicke Kaufmann Mehlsack. Und er war nicht der einzige, der diese Ansicht verkündete. Eloises Zofe stimmte Mehlsack sogleich zu. Und auch Pierre murmelte etwas davon, daß mit Geistern nicht zu spaßen sei. Roland wollte davon nichts hören. »Unsinn«, sagte er. »Es kommt des öfteren vor, daß ein Felsbrocken niederstürzt!« »Wirklich?« meldete sich eine Stimme zu Wort. Eine Stimme, die Roland nicht kannte. Erstaunt blickte er sich um. Und sah einen alten grauhaarigen Mann, der auf einem kleinen Felsvorsprung stand und auf die Wallfahrer hinunterblickte. Der Mann trug ein einteiliges, schmuckloses Gewand aus grobem Tuch und hatte nur ein paar Lederriemen um die Füße geschlungen. Ein Einsiedler, wie es schien. Etwas verwirrt nahm Roland zur Kenntnis, daß am rechten Kinnwinkel des Eremiten eine kleine Warze saß. »Wo kommst du her?« fragte Roland scharf. »Von dort«, antwortete der Alte und deutete mit dem Daumen an der Felswand hoch. Ärgerlich wandte sich Roland ab. Er stieg von seinem Pferd und ging auf den Felsklotz zu, der auf den Weg gestürzt war. »Pest und Teufel«, knurrte er unfromm, als ihm klar wurde, daß der Brocken den Weg so blockierte, daß es den Pferden niemals gelingen würde, um ihn herumzugehen. Und ganz gewiß konnten sie auch nicht darüber hinwegklettern. Ein mehrstimmiger Aufschrei in seinem Rücken ließ ihn herumfahren. »Was ist los?« »Der Einsiedler«, ächzte Mehlsack. »Er ist.. .« Roland blickte zu dem Felsvorsprung hoch, auf dem der Alte gestanden hatte.
Der Mann war nicht mehr da! »Er hat sich vor unseren Augen ... in Luft aufgelöst«, berichtete der Kaufmann stockend. »Narretei!« gab Roland wütend zurück. Graf Eduard beugte sich im Sattel vor. »Ich weiß nicht, ob es wirklich Narretei ist, Roland«, sagte er ernst. »In jedem Fall war er auf einmal spurlos verschwunden.« »Ein Geist«, flüsterte Mehlsack. »Der Rübezahl!« Pierre machte ein unbehagliches, ängstliches Gesicht. »Wir sollten umkehren, Ritter Roland.« »Ja«, sagte auch der Ritter Richard. »Jetzt sind wir schon so lange unterwegs, daß uns ein Umweg von drei Tagen auch nicht mehr erschüttern kann.« Hätte ein anderer als Richard diesen Vorschlag gemacht, wären Roland vielleicht gewisse Bedenken gekommen. Ihm ging nicht aus dem Kopf, daß der alte Mann eine Warze gehabt hatte - genau wie der Mönch am Scheideweg. Aber der Teufel sollte ihn holen, wenn er das tat, was Richard sagte. »Wir räumen den Felsbrocken aus dem Weg und reiten weiter«, erklärte er entschlossen. Aller Augen richteten sich auf Graf Eduard. Der aber zuckte mit den Schultern. »Ritter Roland hat uns bis hierher geleitet. Er soll uns auch weiter leiten.« Es kostete viel Zeit, zerschundene Hände und ein Meer von Schweiß - dann war es mit vereinten Kräften gelungen, den Felsblock in den Fluß zu wälzen. Die Wallfahrer zogen weiter. Aber eine gute Stunde später waren sie abermals gezwungen, abrupt stehenzubleiben. Ein mörderisches, ohrenbetäubendes Krachen und Bersten erhob sich vor ihnen. Und dann sahen sie, wie ein paar Pferdelängen von ihnen entfernt plötzlich der Boden wegsackte. Ein breiter Spalt war entstanden, der die ganze Breite des Weges einnahm. Als die Wallfahrer in das gähnende Loch hineinblickten, konnten sie nicht einmal den Grund erkennen.
»Hier geht es geradewegs in die Hölle«, sagte Pierre schweratmend. »Laßt uns umkehren, Ritter Roland. Fraglos ist auch dies ein Werk des Rübezahl.« Zustimmendes Gemurmel erhob sich. Roland jedoch war nicht bereit, sich geschlagen zu geben. Er hatte alle seine Ziele stets mit Beharrlichkeit verfolgt und gedachte, dies auch jetzt zu tun. »Es gibt keine Geister«, sagte er im Brustton der Überzeugung. »Wirklich nicht?« Als Roland hochblickte, sah er auf der anderen Seite der Bodenspalte einen jungen Ritterknappen stehen, dessen auffälligstes Merkmal eine kleine Warze am rechten Kinnwinkel war. »Verschwinde!« brüllte Roland. »Dich gibt es nicht!« Und der junge Mann verschwand, als habe es ihn nie gegeben. Selbst Graf Eduard sprach sich nun dafür aus, besser einen Umweg in Kauf zu nehmen. Roland biß sich auf die Unterlippe. »Sagtet Ihr nicht vorhin, daß ich stets ein guter Führer war, Herr Graf?« »Gewiß aber ...« »Dann folgt mir auch weiterhin!« Eine ganze Weile später hatten die Wallfahrer aus den Stämmen einiger am Wegesrand stehender Bäume einen Steg gebaut, über den die Pferde hinwegschreiten konnten. Langsam begann sich die Sonne nun dem Ende ihres täglichen Kreislaufes zuzuneigen. Die Wallfahrer hatten wieder ein gehöriges Stück Weg zurückgelegt, und es konnte jetzt wirklich nicht mehr lange dauern, bis das Kloster zum Schwarzen Stein vor ihnen auftauchte. Das dachte Roland jedenfalls. Aber seine Gedanken entpuppten sich als Trugschluß, denn nicht das ersehnte Ziel tauchte vor ihnen auf, sondern eine mächtige Felswand, vor der der Weg auf einmal endete. Es ging nicht weiter, und diesmal konnten alle Mühen dieser Welt das Hindernis nicht überwinden. Roland ballte die Fäuste und reckte sie zu der Felswand empor.
»Nun gut«, schrie er, »ich leugne nicht länger, daß es dich gibt, Rübezahl. Du hast gewonnen!« Da ertönte ein lautes, dröhnendes Gelächter, das gleichzeitig von allen Seiten zu kommen schien. Und als das Gelächter schließlich abebbte, war auch die Felswand verschwunden. Nun hatten die Wallfahrer freien Blick auf die dunklen Gebäude mit dem kleinen Kirchturm in der Mitte, die sich keine hundert Klafter von ihnen entfernt an den Fuß eines Hügels schmiegten. Das Kloster zum Schwarzen Stein ... Die Wallfahrer waren endlich am Ziel und drückten ihre Freude durch einen vielstimmigen Jubelschrei aus. Noch ahnten sie nicht, daß sie von der Erfüllung ihrer Wünsche weiter denn je entfernt waren ...
ENDE DES 1. TEILS
»Ehrwürdiger Abt, kommt schnell!« Albian, gerade damit beschäftigt, eine Abschrift des Gleichnisses vom Büßer Johannes zu verfertigen, ließ den Federkiel sinken. Erneut gellte die Stimme Bruder Bertholds auf. Albian sprang von seinem Stuhl hoch und eilte hinaus in den Klosterhof. Mehrere Mönche standen zusammen und diskutierten heftig. Sie alle machten erschrockene, angstvolle Gesichter. »Was ist geschehen?« fragte Albian, der Abt. Bruder Berthold deutete mit zitternder Hand auf das Wachhäuschen neben der Klosterpforte. »Graf Kasimir und seine Mannen nahen. Und es besteht kein Zweifel, daß die Raubritter Mord und Totschlag auf ihr Banner geschrieben haben.«
Die Jagd nach dem
Schwarzen Stein
ist in vollem Gange. Alle wollen den wundertätigen Stein in ihren Besitz bringen: die Raubritter, Ritter Roland und die Pilgerer, die Mönche. - Liebe Leser, holen Sie sich den Band 20 in 14 Tagen bei Ihrem Zeitschriftenhändler. Sicherlich sind Sie schon gespannt auf den zweiten Teil unserer neuen Fortsetzungsgeschichte. Der Autor ist Günther Herbst! DM 1,60