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Von Arthur W. Upfield sind erschienen:
Bony und der Bumerang Ein glücklicher Zufall Das rote Flugzeug Mr. Jellys Geheimnis Bony stellt eine Falle Todeszauber Der Kopf im Netz Bony und die Todesotter Bony wird verhaftet Der Pfad des Teufels Die Leute von nebenan Die Witwen von Broome Tödlicher Kult Der neue Schuh Die Giftvilla Viermal bei Neumond Der sterbende See Der schwarze Brunnen Der streitbare Prophet Höhle des Schweigens Bony kauft eine Frau Die Junggesellen von Broken Hill Bony und die schwarze Jungfrau Bony und die Maus Fremde sind unerwünscht Die weiße Wilde Wer war der Zweite Mann? Bony übernimmt den Fall Gefahr für Bony
ARTHUR W. UPFIELD
Der Pfad des Teufels DEVIL’S S TEPS Kriminalroman
Aus dem Englischen von Bernhard Schmid
Wilhelm Goldmann Verlag
Deutsche Erstausgabe Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Das Papier enthält Recycling-Anteile. Der Goldmann Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Berteismann © 1946 by Arthur Upfield, renewed 1973 by James Arthur Upfield © der deutschsprachigen Ausgabe 1992 by Wilhelm Goldmann Verlag Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Funke, München Satz: Uhl+Massopust, Aalen Druck: Eisnerdruck, Berlin Krimi: 5195 Lektorat: Ulrich Genzier Redaktion: Ursula Walther Herstellung: Sebastian Strohmaier/sc Made in Germany ISBN 3-442-05195-9 10 9876543
1 Im Chalet Weitblick Der Wecker neben Biskers Bett rief ihn um halb sechs in den Alltag zurück. Er schien gepanzert und absolut stoßfest, denn er brauchte nur loszurasseln, schon krachte eine schwielige Hand herab und brachte ihn mit einer Wucht zum Schweigen, die eine weniger stabile Vorrichtung wohl unweigerlich plattgedrückt hätte. Um halb sechs war es an jenem ersten Septembermorgen noch ziemlich dunkel. In Biskers Zimmer war es pechrabenschwarz und, bevor er sich an die Rezitation der ersten Klage des Tages machte, auch vollkommen still. Biskers Stimme war betont laut. »Eine Million Meilen unter dem tiefsten Brunnen der Welt müßte man liegen«, sagte er, während in seinem Herzen das Pflichtgefühl mit dem Verlangen, einmal einfach zu streiken, rang. »Mein Gott, was bist du doch für ein rückgratloser Armleuchter! Der Teufel hol die ewige Sauferei! Mieses Schwein, du … wenn du nicht wärst, ich hätt’ längst genug Geld beisammen, um aus diesem eisigen, verregneten, lausigen Loch am Arsch der Welt zu verschwinden und wieder wohin zu gehen, wo’s noch tausend Tonnen gutes, trocknes Holz auf den Morgen hat und man den ganzen Tag im Bett bleiben kann, wenn einem danach ist. Verflucht und zugenäht! Und wenn die alte Kuh heute morgen auch nur zwei Worte zu mir sagt, dann mach’ ich sie auf der Stelle platt.« Er ließ ein Streichholz aufflammen und steckte die Sturmlaterne auf der hölzernen Kerosinkiste neben dem Bett an. Dann nahm er eine der beiden Pfeifen, in deren Kopf er tags zuvor die trockenen und angekohlten »Reste« der anderen gedrückt hatte. Was die hohe Schule der Nikotinvergiftung anging, war Bisker ein Connaisseur, und vor -5-
dem Aufstehen am Morgen verlangte ihn nach einer extrastarken Dosis, der im Verlauf des Tages lediglich normale Dosen folgten. Um keine Zeit zu vergeuden, lud er diese Spezialdosis bereits am Abend zuvor. Fünf Minuten paffte er so vor sich hin mit nichts als dem Gesicht über den Decken, und selbst das schützte ein borstiger und flekkiger grauer Schnurrbart zum Teil vor der Luft. »Man stelle sich vor, derart herunterzukommen!« rief er laut aus. »Und das mir, der ich fast mein Leben lang ein Teufelskerl von einem Viehtreiber gewesen bin. Da sieht man doch wieder mal, was der Schnaps aus einem Kerl macht. Aber, was soll’s?« Er rutschte aus dem Bett und enthüllte ein Paar nackter Säbelbeine unter dem Saum des Baumwollhemdes, das er über einem Flanellunterhemd trug. Er stieg in seine Hose, die weit geöffnet schien, um seine Beine und den kleinen Kugelbauch aufzunehmen, zog ein Paar alter Socken an und stieg schließlich in schwere Stiefel, die zu schnüren ihm der Mühe nicht wert war. Eine schwere Jacke und ein arg mitgenommener Filzhut komplettierten das Ensemble; jetzt fehlte nur noch das Arbeitszeug: eine Pfeife, ein Stück pechschwarzen Preßtabaks, ein Taschenmesser, ein Döschen Wachszünder und ein Korkenzieher. Er nahm die Lampe auf und ging nach draußen. Es war wärmer, als er gedacht hatte, auch wenn sein Atem sich dampfend unter den Qualm seiner Pfeife mengte. Mit Hilfe der Lampe folgte er einem schmalen Aschenpfad, bis dieser in einen größeren, asphaltierten Platz vor einer Reihe von Garagen mündete. Auf der anderen Seite dieses Areals taumelte er einen ebenfalls asphaltierten Pfad entlang, der ihn an einem großen Holzstoß vorbeiführte, und gelangte so schließlich an eine kleine Tür auf der Rückseite des Chalet Weitblick. Die Tür öffnete er mit einem Schlüssel, den er unter einem Ziegel hervorholte, und als er ins Haus trat, sah er sich in der Spülküche, in der er einen Teil seines Tages verbrachte. Von der Spülküche aus betrat er die eigentliche Küche, drehte das elektrische Licht an, blies die Laterne aus und füllte einen Wasserkes-6-
sel, den er auf einen kleinen Elektroherd stellte. Dann machte er sich so leise wie nur möglich daran, die Asche aus den vier Feuerstellen des Herdes in der Küchenmitte zu räumen, und heizte sie dann alle vier an. Als er mit dieser Arbeit fertig war, kochte auch schon das Wasser im Kessel. Bisker brühte sich einen Topf Tee auf, und während dieser zog, ging er in die Spülküche und heizte den Boiler an, der das heiße Wasser für Bäder und Schlafräume produzierte. Er goß eben Milch in zwei Tassen, als die Köchin in der Küche erschien. »Morgen!« sagte sie undeutlich, da sie noch ohne Zähne war. »Tag!« bellte Bisker. »Tasse Tee?« »Und ob! Vorher mach’ ich hier keinen Finger krumm.« Bisker goß Tee in die beiden Tassen. Die Köchin nahm die ihre schweigend entgegen, setzte sie auf dem Herd ab und sich auf einen Stuhl, den sie sich neben die mittlerweile bullernden Feuer gezogen hatte. Bisker nahm, die Tasse in der einen, die Pfeife in der anderen Hand, eine Position an einem der Feuer ein, von wo aus er die Köchin mit wilden Blicken bedachte. »Ein Mann sollte –«, hob er, mit der Pfeife in der Höhe seines Schnurrbarts herumfuchtelnd, an. »Ach, halten Sie doch den Mund!« flehte die Köchin. »Seien Sie lieber ’n Gentleman, und geben Sie mir Feuer.« Bisker schnaubte noch mal. Er stellte seine Tasse auf den Herd und zog aus einem der Feuer einen brennenden Span, den er der Köchin reichte. Sie riß ihn ihm aus der Hand und steckte damit die Zigarette an, die sie aus der Schürzentasche geholt hatte. Mrs. Parkes ging hart an die Vierzig. Sie war breit, ausgesprochen breit. Eine Unmenge von Nadeln zogen ihr das braune Haar straff an den Kopf. Ihr breites Gesicht war leichenblaß, und ihre kleine rote Nase nahm sich vor dem Hintergrund dieses Gesichts aus wie einer der Knöpfe eines Flohhüpfspiels. Bisker trank seinen Tee, ohne zu schlucken. »Noch eine?« fragte er. -7-
»Klar. Machen Sie nur immer voll. Für siebenunddreißig Leute zu kochen, dazu noch für die Chefin, drei Zimmermädchen, den Weinkellner und Sie. Was für ein Leben!« Bisker nahm die Tassen mit zur Anrichte an der Wand, füllte sie und brachte sie wieder zurück an den Herd, der sich eben zu erwärmen begann. »Wie haben Sie denn geschlafen?« erkundigte er sich, etwas munterer jetzt. »Besser, als wenn ich Sie neben mir gehabt hätte«, antwortete die Köchin. »Und sehen Sie zu, daß Sie sich früh genug rasieren, sonst pfeift Sie die Chefin gleich wieder an. Sie sind ja auch wirklich ’ne Schande fürs Haus. Gott sei’s gedankt, daß der Winter bald rum ist. Meinen Knochen nach muß es wieder Frost gehabt haben heute nacht.« »Gefroren hat es schon, aber so kalt, wie ich gedacht hab’, ist es auch wieder nicht«, konstatierte Bisker. »Der Wind muß wohl nach Westen gedreht haben, kurz bevor ich aufgestanden bin. Tja, ich denke, ich mach’ mich dann mal an die verfluchten Stiefel.« »Ja, und seien Sie leise«, befahl Mrs. Parkes, die eben ihre Zigarette ausdrückte. »Wollen schließlich nicht, daß der alte Drachen für drei Tage die Krätze kriegt.« Bisker stand vor der Köchin, rieb seine Handflächen gegeneinander und warf ihr einen boshaften Blick zu. »Eines Tages«, sagte er langsam, »da halten Sie sie fest, und ich schneid’ ihr den Hals ab – ganz langsam. Der alte –« Mrs. Parkes tat entrüstet. Sie schnappte sich ihre Tasse, funkelte Bisker böse an und sagte, etwas schrill: »Sie, hören Sie auf, so ’n blutrünstiges Zeug zu faseln, und machen Sie sich wieder an die Arbeit. Sie bringen mich noch in die ›Wahren Geschichten‹, und was wird dann mein Mann sagen, wenn er wieder heimkommt?«
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»›Steck dir die Zähne rein‹«, antwortete Bisker und zog sich rasch in die Spülküche zurück, aber rückwärts, als entferne er sich aus der Gegenwart einer königlichen Hoheit. Einer Schachtel auf einem der Regale entnahm er ein Stück Kreide, durchquerte die Küche und trat durch eine Tür in einen Flur, der ihn in den Salon brachte. Hier machte er die Lichter an, durchquerte auch den Salon und erreichte so schließlich den Flur, der ihn zu den Gästezimmern brachte. Weitere Lichter einschaltend, sammelte er das Schuhwerk der Gäste ein, wobei er auf den Sohlen mit Kreide die Nummern der Zimmer notierte. Es waren zehn Paar Herrenstiefel, sechzehn Paar Damenschuhe und drei Paar Kinderstiefel. Er nahm sie allesamt mit in die Spülküche und machte sich dann an einen weiteren Gang, um ein Paar Schuhe von der Tür jenes Zimmers zu holen, das Miss Eleanor Jade, die Besitzerin des Chalet Weitblick, bewohnte. Vor einer Werkbank machte sich Bisker an seine Arbeit am eben eingesammelten Schuhwerk. Sämtliche Paare waren von guter Qualität, und jedem einzelnen war anzusehen, daß es für seinen Zweck vorzüglich taugte. Diesen Morgen erwartete Bisker, sie trocken vorzufinden, da das Wetter die letzten vier Tage schön gewesen war. Um so leichter war er zu einigen Gottlosigkeiten hinzureißen, als er sich an ein Paar Herrenschuhe der Größe einundvierzig machte, auf deren Sohlen die Ziffer 5 zu lesen war. »Muß wohl gestern noch spät spazieren gewesen sein, der vermaledeite Deutsche«, lamentierte er. »Noch mehr Arbeit – als hätte unsereins nicht schon genug zu tun. Müssen ja drecknaß geworden sein.« Besagtes Paar Schuhe zu säubern dauerte dreimal so lang wie das vorhergehende. Nachdem er sie fertig hatte, begann er zu pfeifen, bis er ans letzte Paar kam. Hier handelte es sich um Damenschuhe der Größe neununddreißig, und zwar jene, die er vor der Schlafzimmertür von Miss Eleanor Jade abgeholt hatte. Wie schon die von Nummer fünf waren auch sie noch ganz feucht. »Ha! Ha!« gluckste Bisker. »Das alte Mädel! Dieser alte Drachen! Diese alte – alte –« Er hörte auf zu glucksen und machte sich daran, -9-
sie abzubürsten, die Schuhe, die er vor der Tür, hinter der Miss Eleanor Jade schlief, geholt hatte. »Nu laß mich mal sehen. Nummer fünf macht noch einen späten Spaziergang. Er kommt wieder rein, kippt einen oder zwei – muß ich mal George danach fragen – und trollt sich dann auf sein Zimmer, zieht seine Treter aus und haut sie mir vor die Tür zum Putzen. Ja, so ist das wohl gewesen. Aber was den alten Drachen angeht, da war das ganz anders. Die geht nicht so spät noch raus, um sich die Beine zu vertreten, und trotzdem sind ihre Schuhe genauso naß wie die von Nummer fünf. Der alte – Ah ja! Und wenn doch?! Ein kleines Techtelmechtel, eh! Ho! Ho! Der reinste Sherlock Holmes!« Nachdem er seine Aufgabe erledigt hatte, stellte Bisker das Schuhwerk auf ein großes Holztablett und ging wieder zu den Schlafzimmern. Als er sie schließlich wieder allesamt abgestellt, wo er sie aufgelesen hatte, war es schon beinahe hellichter Tag geworden. Er verließ das Haus und ging zu seiner Bleibe zurück, einer Hütte in einem abgelegenen Winkel des weitläufigen Gartens. Auf dem Weg bot sich ihm, der damit nicht das geringste anzufangen wußte, ein prächtiger Ausblick auf das Tal und die fernen Berge. Vor der breiten, von einer steinernen Balustrade gesäumten Terrasse neigte sich ein gepflegter Rasen sanft gegen den Drahtzaun weiter unten, der die Grenze zur Hauptstraße zog. Der Rasen wie auch die kleinen in Beete gesetzten Büsche waren weiß vom Frost, ein glimmerndes Weiß, das die Strahlen der Sonne reflektierte, die sich eben über die Berge vielleicht fünfunddreißig Meilen von hier, jenseits des Tales schob. Nachdem er sich rasiert und mit eiskaltem Wasser gewaschen hatte, kehrte Bisker in die Küche zurück, wo das Aroma kochender Speisen und siedenden Kaffees ihn vorübergehend die Qualen der ersten fünf Minuten nach dem Rasseln des Weckers vergessen ließen. Draußen war es jetzt milder. Der Mann der Wildnis in Bisker hatte den beträchtlichen Temperaturanstieg nach dem Sonnenaufgang rasch registriert. - 10 -
Ein uniformiertes Hausmädchen betrat die Küche mit einem leeren Tablett, auf dem sie Miss Jades Gästen den Morgentee serviert hatte. George, seines Zeichens Herr über den Weinkeller und Tischkellner, saß bereits beim Frühstück an einem Nebentisch, und Bisker schlenderte zu ihm hinüber. Ein anderes Dienstmädchen setzte ihm sein Frühstück vor, Speck und Eier sowie Toast und Kaffee, denn hungern ließ Miss Jade ihr Gesinde nun sicher nicht. »Morgen, George!« »Morgen, Bisker«, antwortete George, ein eleganter Mann um die Dreißig mit blassem Gesicht, schwarzen Augen und dunklem Haar. »Schöner Tag.« »Ja. Und nach dem Frost auch noch warm. Der Wind hat nach Westen gedreht. Wird schnell getaut haben. Womöglich regnet’s aber heute abend. Wann sind Sie denn gestern ins Bett gekommen?« »So um elf«, antwortete George. »Die Männer waren müde und sind früh ins Bett.« »Haben Sie sie auch alle schön warm eingepackt?« erkundigte sich Bisker mit vollem Mund. George lächelte auf seine überhebliche Art. »Alle außer den Bräutigam«, gab er zu. »Den habe ich der Braut überlassen.« Bisker zwinkerte ihm anzüglich zu. Er warf einen verstohlenen Blick über die Schulter, stellte fest, daß eines der Dienstmädchen und die Köchin in der Nähe standen, zwinkerte George ein weiteres Mal zu und verkniff sich eine böse Bemerkung. Zu der es denn auch nicht mehr kam, da George, der sein Frühstück beendet hatte, sich in Richtung Speisesaal entfernte. Bald darauf erhob sich auch Bisker und schlurfte aus der Küche. Er verließ das Haus durch die Spülküchentür und ging über den Hof zu dem Holzstapel, wo er sich, auf einem Hackstock in der warmen Sonne sitzend, einige Scheiben von seinem schwarzen Flake zu schneiden begann. Das kleine Problem mit den nassen Schuhen hatte sich aus seinem Kopf gestohlen. - 11 -
Nachdem er zehn Minuten so vor sich hin geraucht hatte, steckte er seine Pfeife wieder weg und nahm eine Axt, mit der er sich daran machte, etwa ellenlange Klötze in Scheite für den Herd zu spalten. Neben den Feuerstellen in Küche und dem Boiler waren auch noch der Salon und der Speisesaal zu versorgen, wo ständig große bullernde Feuer brannten, die die Gäste den freudlosen Gas- oder Elektroöfen auf ihren Zimmern bei weitem vorzogen. Eine halbe Stunde hackte Bisker Holz, dann nahm er einen Besen und machte sich an die alltägliche Pflege der asphaltierten Flächen sowie der Wege. Und als er sich schließlich um das Haus herum auf die lange Vorderseite gearbeitet hatte, hörte er Miss Jades Stimme. »Bisker! Haben Sie Mr. Grumman heute schon gesehen?« Bisker wandte sich um und blickte hinauf, wo er an der Balustrade der Terrasse seine Arbeitgeberin erspähte, deren juwelengeschmückte Hände im goldnen Licht der Sonne funkelten. »Nein, Madam«, antwortete er ihr. Er stand da und starrte »den alten Drachen« an und hatte dabei, wie immer, wenn er sie ansah, die Frage im Kopf, wie ein Mensch nur derart viel Glück haben konnte. Noch nicht einmal vierzig, war Miss Jades Haar noch schwarz wie die Nacht und ihre Augen dunkel und groß, und selbst jetzt, als sie direkt in der Sonne stand, war ihr Makeup perfekt. Ihre Sprache war, was Tonfall und Akzent anbelangte, von einer Makellosigkeit, wie sie wohl nur durch Jahre der Übung zu erlangen war. »Ausgezeichnet. Dann gehen Sie wieder an die Arbeit, Bisker«, befahl sie. Bisker gehorchte, aber seine Gedanken waren alles andere als die eines Gentleman. Er fegte jetzt den Weg, der parallel zur Vorderfront des Hauses verlief. Dieser kreuzte sich in der Mitte mit einem breiteren Weg, der von der Terrasse aus quer über den Rasen zu einem Gartentor unten am Zaun über der Straße führte. Er hatte schon fast das andere Ende des Weges erreicht, als er zu seiner Überraschung einen Mann in Arbeitskleidung von eben diesem Gartentor herauf- 12 -
kommen sah. Bisker sah sich unwillkürlich nach Miss Jade um, war es doch niemand außer den Gästen gestattet, den Grund und Boden von Weitblick durch dieses Tor zu betreten. Miss Jade hatte die Terrasse jedoch bereits wieder verlassen. Bisker ließ den Besen fallen und schlenderte den Rest des Weges hinunter, um diesen Ausschuß der Gesellschaft in Empfang zu nehmen. Er kannte ihn nämlich. »He, Fred!« rief er, vielleicht noch zehn Meter von dem Eindringling entfernt. »Weißt du nicht, daß die Sklaven nicht durch das Gatter da reindürfen?« Der Eindringling war hochgewachsen, schlank und knochig. Seine blauen Augen tränten. Von seiner Nasenspitze hing ein Wassertropfen. Mit der unbeirrbaren Ruhe eines Mannes, der sich von nichts und niemandem hetzen ließ, sagte er: »Komm mal hier runter. Ich muß dir was zeigen.« Er drehte sich um und ging wieder in Richtung Tor. Bisker hielt inne, warf einen raschen Blick hinter sich, um zu sehen, ob Miss Jade sie beobachtete, und folgte ihm dann. Als er sich an Freds Fersen geheftet hatte, sagte er hoffnungsvoll: »Hast wohl ’ne Pulle dabei?« »Was viel Beßres«, antwortete Fred, ohne sich nach ihm umzudrehen. »Eine nette kleine Überraschung für dich. Du und ich, wir zwei beiden, wir werden jetzt berühmt.« »Ich hab’ nicht vor, berühmt zu werden«, behauptete Bisker. »Also wenn du mich den ganzen Weg hier runtergeschleppt hast, wo du gar keine Flasche köpfen willst, dann bist du die längste Zeit mein Freund gewesen. Und das auch noch an einem derart kalten Morgen. Der alte Drachen wird mich wieder in Grund und Boden stieren mit ihren schwarzen Augen und was sonst noch allem, weil sie alles Mögliche wird wissen wollen, wer, zum Teufel, das war und den ganzen vermaledeiten Rest.« Als sie am Gartentürchen angekommen waren, konnte man sehen, daß in die rote Böschung neben der Hauptstraße eine Rampe ge- 13 -
schnitten war. Fred und Bisker gingen durchs Gartentor, besagte Rampe hinunter und kamen so auf die Schotterstraße, wo sie von der Terrasse aus, sollte dort jemand stehen, nicht mehr zu sehen waren. Fred blieb stehen, drehte sich um und richtete einen anklagenden Finger auf seinen Freund. »Wo waren Sie heute nacht?« fragte er. »Im Bett. Wo denkst du denn, daß ich gewesen bin?« »Und wo waren Sie, bevor Sie ins Bett sind?« »Wo – in meiner Hütte, ich hab’ doch mit dir zusammen einen Whisky gehoben, das weißt du doch selber«, antwortete Bisker unwirsch. »Hast du ein Massel«, bekam er darauf zu hören. »Hast du schon mal ’n Toten gesehen?« »Hunderte. Wieso?« »Weil ich einen gefunden habe.« »Mach Sachen. Wo denn?« »Du bist so nah an ihm dran, daß ich glatt ›heiß‹ schreien könnte.« »Glaubst du doch selber nicht.« »Und ob. Komm her, ich zeig’ ihn dir.« Fred führte Bisker an den tiefen Abzugsgraben, der am Fuß der Böschung die Straße säumte. Er ging voraus, von der kleinen Brücke über den Graben am unteren Ende der Rampe ein Stückchen die Straße lang. Der Graben war vor lauter Dornengestrüpp und allerlei winterlichem Unkraut fast nicht zu sehen. Als Fred stehenblieb, sagte er: »Hab’ ihn grade erst entdeckt, als ich auf dem Weg zur Arbeit hier langgekommen bin. Schau, da!« Er deutete in den Graben. Reglos stand Bisker da und starrte mit ungewöhnlich großen Augen in den Straßengraben hinab. Als erstes sah er, unter leuchtend grünen Streifen, einen lila Fleck. Dann sah er, gleichfalls unter leuchtend grünen Streifen, einen Teil eines Männergesichts. Die Hände auf seine eingeknickten Knie gestützt, beugte er sich nach vorn und starrte noch angestrengter hin.
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»Das ist ja einer von unsern Gästen«, sagte er langsam. »Ein Bursche namens Grumman. Sieht aus, als wär’ er tot.« »Und ob der tot ist!« ergänzte Fred. »Guck ihn dir ruhig mal so richtig aus der Nähe an.« Bisker richtete sich auf und betrachtete Fred, als hätte der ihm vorgeschlagen, einen Schritt über den Rand einer Klippe zu tun. Dann kniete er am Rand des Grabens nieder und ließ sich hinunter. Mit den Armen teilte er Gestrüpp und Unkraut über dem Körper eines Mannes im grauen Hausmantel und roten Lederslippern. Bisker erkannte einen Toten, wenn er einen sah, er hatte schließlich schon Tote gesehen. Er stellte die natürliche Deckung über der Leiche wieder her und kam wieder an den Straßenrand. Mit einem strengen Blick in den tränenden Augen sah Fred Bisker an. Bisker blickte nach oben und wollte eben etwas sagen, als von über ihnen eine Stimme kam: »Was gibt’s denn da unten?« Beide Männer schreckten schuldbewußt auf und sahen, nach oben blickend, einen schmächtigen, gut gekleideten Mann am oberen Rand der Böschung stehen. Bisker sagte: »Morgen, Mr. Bonaparte. Sie kommen besser mal selber runter und schauen sich die Leiche an, die wir gefunden haben.« »Haben Sie eben Leiche gesagt?« fragte Mr. Bonaparte. »Hat er«, bestätigte Fred. »Dann werde ich doch mal zu Ihnen stoßen.« In weniger als zehn Sekunden stand der Gast aus dem Chalet Weitblick neben Bisker und Fred direkt über der Leiche. »Ist jemand von Ihnen beiden da unten im Graben gewesen?« fragte Bonaparte. »Beide«, antwortete Bisker. »Fred hier, der hat ihn gefunden und mich von der Arbeit weg hier runter geholt.« »Ach – zu schade. Sind Sie ganz sicher, daß er tot ist?« »Und ob!« »Wissen Sie, wer es ist?« »Mr. Grumman«, antwortete Bisker. - 15 -
»Mr. Grumman, eh! Na sieh einer an! Bringen Sie mir doch einen Stock, so um die anderthalb Meter lang.« Fred fand einen Ast auf der talwärtigen Seite der Straße und brach einen Stock von der geforderten Länge ab. Mit dessen Spitze bewegte Mr. Bonaparte das störende Brombeergestrüpp beiseite, so daß er einen freien Blick auf das Gesicht des Toten und dessen Kleidung hatte. Dann schob er, gleichfalls mit dem Stock, die Vegetation wieder an ihren Platz, um die Leiche zu verbergen.
2 Biskers ungewöhnlicher Vormittag Miss Jade nahm ihr Frühstück in einer Ecke des Speisesaals ein. Der Speisesaal des Chalet Weitblick war Miss Jades ganzer Stolz, hatte sie ihn doch in der ausdrücklichen Absicht gestaltet, so gut wie nur möglich die herrliche Aussicht zur Geltung zu bringen. Die gesamte Vorderseite war verglast, was den Gästen gestattete, während des Essens einen der schönsten Blicke von ganz Viktoria zu bewundern. Das Dienstmädchen, das Miss Jade ihre Eier mit Speck brachte, sagte zu ihr: »Bisker wünscht Sie zu sprechen, Madam.« »Bisker wünscht mich zu sprechen?« entfuhr es Miss Jade. »Haben Sie gesagt, Bisker wünsche mich zu sprechen?« »Ja, Madam«, antwortete das Dienstmädchen und fügte vorlaut hinzu: »Hat er jedenfalls gesagt, Madam.« »Sagen Sie Bisker, ich säße beim Frühstück.« Das Mädchen entfernte sich über den dicken Teppich. Miss Jades scharf gezogene Brauen rückten etwas zusammen. Dazwischen erschienen nun zwei kurze Vertikalen, Vertikalen, die Miss Jade bereits beträchtliche Sorgen bereiteten und sich einzig und allein dadurch besiegen ließen, daß sie die Brauen in gehobenem Zustand behielt. - 16 -
Sie hörte, von der anderen Seite der wohlgeölten Schwingtüren des Speisesaals, die Stimme des Mädchens, und als sie Bisker selbst auf ihren Tisch zukommen sah, hätte sie sich beinahe verschluckt. »Bisker!« Es war fast schon ein Schrei. Bisker brach seinen Vormarsch keinesfalls ab, und das trotz Miss Jades schrecklicher Augen, die ihn unter gewöhnlichen Umständen zur Salzsäule hätten erstarren lassen. Er lächelte ein bißchen, mit etwas Häme gar, und als er, seinen alten Filz zwischen den schmuddligen Fingern drehend, ihren Tisch erreicht hatte, sagte er: »Sie haben doch nach Mr. Grumman gefragt, Madam.« »Wie können Sie es wagen, hier hereinzukommen, Bisker?« schrie Miss Jade. »Ich komme, um Ihnen Nachricht von Mr. Grumman zu bringen, Madam«, meinte Bisker beharrlich, das hämische Lächeln jetzt auch in den Augen. »Ich hab’ mir gedacht, das ist nicht grade ’ne Nachricht, von der Sie wollen, daß die Gäste sie gleich erfahren.« Bisker wartete. Er hatte eine Neuigkeit, deren Wirkung er auf keinen Fall schmälern wollte. Miss Jade betrachtete ihn eisigen Blicks. Ihr war dieser Bisker völlig neu. »Nun denn, was haben Sie mir über Mr. Grumman zu sagen?« fragte sie. »Er ist eingeschlafen, Madam, das ist alles.« »Eingeschlafen! Aber er ist doch gar nicht auf seinem Zimmer. Er ist doch noch weg.« »Ja, Madam, und zwar total – draußen im Graben auf der andren Seite vom vorderen Zaun. Er ist nämlich tot.« »Er ist –« begann Miss Jade mit hoher, lauter Stimme. Dann nahm sie sich, ihren Stuhl zurückschiebend, zusammen, erhob sich und starrte auf den rundlichen Bisker hinab. Leise sagte sie: »Haben Sie gesagt, Mr. Grumman sei tot, Bisker?« Bisker nickte. Nun war Miss Jade eine Frau von Charakter. Sie hatte in einer kleinen Vorstadtpension angefangen und sich durch eine Reihe von zu- 17 -
nehmend größeren Pensionen zu kleinen Gästehäusern emporgearbeitet, bevor sie schließlich die Inhaberin von Weitblick auf dem Mount Chalmers geworden war. Es war nicht ihre Art, sich in Panik versetzen zu lassen. Die Schwingtüren waren nicht so weit entfernt, als daß das Mädchen auf der anderen Seite nicht jedes Wort gehört hätte, das hier fiel. »Begleiten Sie mich in mein Büro, Bisker.« Bisker schlenderte gemächlich hinter ihr drein. Im Büro befahl sie einem ebenso jungen wie tüchtig anmutenden Mädchen, frühstücken zu gehen, wartete dann zehn Sekunden, schloß die Tür und wandte sich schließlich wieder an Bisker: »Nun, Bisker.« Bisker erzählte ihr, er habe einen Arbeiter zum Gartentürchen hereinkommen sehen, worauf er sofort »losgestürzt« sei, um den Mann aufzuhalten und aus dem Garten zu weisen, und wie dieser ihn zur Leiche von Mr. Grumman geführt hätte, um einen Blick darauf zu werfen. »Und Sie sind völlig sicher, daß der Mann tot ist?« fragte Miss Jade. »Also ich habe im letzten Krieg ’ne Menge Tote gesehen«, sagte Bisker. »Und Mr. Grumman, der ist tot. Der ist so steif und kalt wie meine Nase.« »Glauben Sie, er ist über die Böschung gestürzt?« »So wie er daliegt, schaut das nicht so aus«, antwortete Bisker und fügte munter hinzu: »Nicht daß es nicht möglich wäre. Ich sag’ ja nicht, daß er nicht vielleicht, sozusagen im Schlaf, über die Böschung hinausgelaufen ist. Aber jedenfalls ist er tot, und wir können ihn wohl schlecht einfach im Garten vergraben.« Miss Jades Brauen hoben sich weit höher, als nötig gewesen wäre, um die Vertikalen dazwischen zu tilgen. Als sie wieder sprach, war ihre Stimme kalt. »Seien Sie nicht albern, Bisker. Und behalten Sie es für sich, ich rufe die Polizei.«
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»Genau das hat auch Mr. Bonaparte gesagt, Madam«, entgegnete Bisker ihr. »Mr. Bonaparte?« »Ja, Madam. Mr. Bonaparte kam an den Rand der Böschung, grade als wir die Leiche untersucht haben. Jetzt ist er sozusagen dabei, sich umzuschauen. Er hat mich geschickt, Ihnen Bescheid zu sagen und Sie zu bitten, die Polizei und den Doktor zu rufen.« »Den Doktor! Aber Sie haben doch gesagt, Mr. Grumman sei tot.« Bisker sah seine Arbeitgeberin geduldig an. »Ist er ja auch, Madam. Aber laut Gesetz heißt es, daß bloß ein Doktor den Tod von ’nem Mann feststellen kann.« Es verschaffte Bisker eine gewisse Genugtuung, Miss Jade die Fassung verlieren und dieses eine Mal wenigstens als Beute ihrer Emotionen zu sehen. So stand er gelassen da und sah zu, wie sie mit bebenden Händen nach dem Telefon griff und das Fräulein vom Amt darum bat, sie mit der Polizei zu verbinden. Während sie wartete, sah sie zu ihm auf, und er sah zu seinem Erstaunen ein Flehen in ihrem Blick. In der Krise kam denn doch wieder der Mann zu seinem Recht. »Sie lassen besser mich mit denen reden«, schlug er vor. »Ich bitte darum, Bisker.« Nur zu gern überließ Miss Jade ihm den Apparat und setzte sich auf den Platz der Sekretärin. Dann sprach Bisker. »Mr. Rice, hier ist das Chalet Weitblick«, sagte er. »Bisker am Apparat. Einer von unsren Gästen, ein gewisser Grumman, liegt im Graben am unteren Ende von unsrem Garten. Außer Morgenmantel und Hausschuhen hat er nichts an, und er schaut ziemlich tot aus. Ich hab’ mir gedacht, Sie möchten sicher raufkommen und ihn sich anschauen.« Miss Jade stand mit einemmal kurz vor einem hysterischen Anfall. Bisker fuhr fort: »Nein, den Quacksalber haben wir noch nicht angerufen, Mr. Rice … Ja, ist gut! … Sie sind schon unterwegs? … Ist gut! Wir halten durch, bis Sie da sind.«
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Bisker setzte das Telefon ab und musterte für den Bruchteil einer Sekunde Miss Jade, bevor er sich, mit derselben sichtlichen Erleichterung zusammensackend, mit der sie sich gesetzt hatte, in ihren Bürosessel fallen ließ. Dann sagte er klagend: »Tut mir leid, Miss Jade, aber ich bin ganz aus dem Häuschen. Den armen Mr. Grumman so zu finden und alles. Ein kleiner Tropfen Brandy – ich meine …« Sofort sprang der Argwohn in Miss Jades Augen, aber die Erwähnung von Branntwein weckte auch in ihr das Bedürfnis nach einem Schlückchen. Sie drückte den Klingelknopf. Bisker erhob sich und schwankte an den Schreibtisch. Noch einmal griff er nach dem Telefon und verlangte eine Verbindung mit Dr. Markham. Er sah George in der Tür auftauchen und hörte freudigen Herzens Miss Jade zweimal Brandy mit Soda bestellen. Dann hörte er die Stimme einer anderen Frau. »Ist dort bei Dr. Markham?« fragte er, seiner Stimme bewußt etwas Tremolo gebend. »Hier ist das Chalet. Einer der werten Herren hier ist ernstlich krank geworden … Was ist? … Der Doktor ist nicht da? … Das ist ja blöd … Er ist bald wieder da? … Na schön! Sagen Sie ihm, daß er raufkommen soll, sobald er’s einrichten kann … Ja, es ist ernst.« Er hatte den Apparat eben wieder abgestellt, als George mit den Getränken erschien. Miss Jade befahl George, die Gläser auf den Schreibtisch zu stellen. Bisker wartete darauf, daß George sich zurückzog. Der Kellner war so gut geschult, daß auch nicht ein Muskel seines Gesichts sein Erstaunen verriet. Nachdem die Tür sich hinter George geschlossen hatte, sagte Miss Jade: »Nehmen Sie sich doch ein Glas, Bisker.« Miss Jade nahm drei Schlückchen von dem ihren. Bisker hielt sein Glas gegen das Licht, schnupperte an seinem Inhalt, trank es, ohne abzusetzen, aus und wischte sich schließlich mit der ganzen Länge seines Jackenärmels über den borstigen grauen Schnurrbart. Mit sichtlichem Bedauern setzte er das leere Glas wieder ab, als Miss Jade zu ihm sagte: »Sollte sich herausstellen, daß Mr. Grumman nicht Op- 20 -
fer eines Unfalls ist, Bisker, sondern vielmehr durch eine Gewalttat ums Leben kam, wird hier im Chalet alles äußerst bestürzt sein. Ich hoffe, Bisker, Sie werden sich mir gegenüber loyal verhalten. Die Gäste werden zweifelsohne alle abreisen, und das Haus wird einen schlechten Ruf zu tilgen haben. Lassen Sie uns hoffen, daß Mr. Grumman einem ganz normalen Unfall zum Opfer gefallen ist.« Biskers kleine graue Augen wurden ruhig. »Wie kommen Sie denn darauf, daß man Mr. Grumman ermordet haben könnte?« fragte er. »Seien Sie nicht dumm, Bisker«, fuhr Miss Jade ihn an. »Sie sagten doch, der Mann sei tot und liege in Morgenmantel und Hausschuhen in einem Graben! Sicher wird Ihnen diese Möglichkeit nicht entgangen sein?« »Aber ja doch, Madam, natürlich nicht«, gestand Bisker ein. »Selbstverständlich nicht. Wie lange wird Konstabler Rice wohl brauchen?« »Mit dem Auto fünf Minuten. Eine halbe Stunde, wenn er zu Fuß ist. Das ist er womöglich schon.« Sie lauschten. Dann sagte Bisker: »Nein, es ist ein Auto, das die Auffahrt von der Hauptstraße heraufkommt.« Die Polizeiwache, mit nur einem Beamten bemannt, befand sich in einem kleinen Dörfchen schätzungsweise eine halbe Meile oberhalb des Chalets, so daß Konstabler Rice linker Hand einbiegen müßte, um an die obere Seite des Chalets zu gelangen, wo sich Haupteingang und Garagen befanden. Kamen sie aus der Stadt, so fuhren die Autos durch ein breites Tor etwa hundert Meter unterhalb der Gartentür und der Rampe zur Hauptstraße. So wußten Miss Jade und Bisker auch, daß Konstabler Rice erst zum Haus kommen und Bonaparte und Fred gar nicht sehen würde, die sich vermutlich noch in der Nähe von Mr. Grummans Leiche aufhielten. Man hörte den Wagen, der von der Hauptstraße heraufkam, im Bogen an den Garagen vorbei vor den Eingang fahren, an dem sich die Rezeption befand. Beide waren der Meinung, es handle sich um Dr. - 21 -
Markham, und Miss Jade ging vom Büro aus direkt in die Empfangshalle. Bisker, der ihr auf dem Fuß folgte, hörte jetzt einen zweiten Wagen den Weg herunterkommen, der über dem Chalet von der Hauptstraße abzweigte. In die Empfangshalle trat ein Mann in einem grauen Straßenanzug von exzellentem Schnitt und ebensolcher Qualität. Als er Miss Jade bemerkte, nahm er den Hut ab und kam auf sie zu. Er war sorgfältig rasiert und hatte einen außergewöhnlich blassen Teint. In einem so bleichen Gesicht wie diesem stachen die schwarzen Augen besonders hervor. Er ließ ein förmliches »Guten Morgen« mit dem Hauch eines ausländischen Akzents vernehmen. Dann sagte er: »Ich bin gekommen, um meinem Freund Mr. Grumman einen Besuch abzustatten.« Miss Jade hatte sich jetzt wieder weitgehend unter Kontrolle. »Ach ja! Mr. Grumman ist heute morgen etwas indisponiert. Das heißt, wir glauben, er hat einen Unfall gehabt. Wir wollten eben – Ah!« Jetzt betrat Konstabler Rice die Empfangshalle. Er war kein großer Mann, machte aber einen tüchtigen Eindruck. Er trug Zivil. Mr. Grummans Besuch, der bemerkte, daß Miss Jade an ihm vorbeiblickte, drehte sich um und sah sich dem Konstabler gegenüber, dem sein Erstaunen ins Gesicht geschrieben stand. »Sieh einer an!« sagte er. »Wenn das nicht unser alter Freund Marcus ist! Marcus, und auch noch ohne das kleine schwarze Bärtchen! Nein, das wirst du nicht, Marcus!« Blitzartig ging Rice in die Hocke und sprang nach vorn. Er hatte den Boden bereits verlassen, als sie alle ein scharfes »Pflop« vernahmen. Miss Jade sah die Waffe in der Rechten des Besuchers, eine Waffe mit einer langen und häßlichen Schnauze – einem Schalldämpfer. Sein geschwinder Satz brachte den Polizisten zwar an die Stelle, wo der Besucher eben noch gestanden hatte, aber da dieser zur Seite gesprungen war, landete Rice auf dem Boden, wo er alle Viere von sich gestreckt und tatenlos liegen blieb. - 22 -
Reglos lag er da. Der Besucher wandte sich um zu Bisker und Miss Jade. Seine Augen waren zwei schwelende Kohlen, ein mattes Purpur hinter dem Schwarz. Miss Jade öffnete den Mund, um zu schreien, aber was dabei herauskam, war nichts weiter als der so lange zurückgehaltene Seufzer. Bisker stand da, die Fäuste in die Hüften gestemmt, seine Augen zwei kleine blaßgraue Punkte. Der Besucher ging rückwärts auf den Haupteingang zu; blieb dort, wie es schien, eine beträchtliche Weile stehen, verschwand und schlug die Tür zu. Weder Bisker noch Miss Jade machten auch nur die kleinste Bewegung. Sie hörten einen Wagen rasch die Auffahrt hinunter zur Hauptstraße fahren. Dann plumpste Miss Jade auf den mit Teppichen ausgelegten Boden. Bisker hatte den Eindruck, seine eigene Stimme aus wenigstens hundert Metern Entfernung zu hören. Er war bereits auf den Knien, als er sie sagen hörte: »Was denn, was denn, Mr. Rice! Hat es Sie so schlimm erwischt?« Er drehte den Konstabler um und versagte sich jede weitere Bewegung, als er starren Blicks auf das kleine runde Loch mitten in der Stirn des Polizisten sah, aus dem nun in einem dünnen Rinnsal Blut entwich. »Diese miese Ratte!« sagte er langsam. Dann war er auch schon auf den Beinen und rannte auf die geschlossene Eingangstür zu. Er riß sie auf und stürzte hinaus, lief ein Stück über die asphaltierte Auffahrt, blieb dann jedoch stehen und sagte noch einmal: »Diese miese Ratte!« Bei seiner Rückkehr in die Empfangshalle fand er Miss Jade auf allen Vieren vor, und weil ihr Haar gar so schief saß, hätte er am liebsten laut losgelacht. Statt dessen beugte er sich vor und zog sie auf die Beine, schleifte sie geradezu zurück ins Büro und plazierte sie dort in ihrem eigenen höchst bequemen Sessel. »Überlassen Sie alles mir«, befahl er und staunte nicht wenig über das Timbre seiner Stimme.
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Er trat an die Bürotür in der Absicht, die Tür zwischen der Empfangshalle und dem kurzen Flur zum Salon abzuschließen. Doch dann durchzuckte ihn der zweite »Geistesblitz« dieses Morgens. Er ging zurück zu Miss Jades Schreibtisch und drückte den Knopf, mit dem man nach George klingelte. Bisker stand an der Tür zwischen Flur und Halle, als dieser erschien. »Bringen Sie eine Flasche Whisky mit zwei Gläsern und dem Syphon«, befahl er ihm. George war darauf und dran, seinen Befehl in Frage zu stellen, als Bisker einen Schritt zur Seite tat, um ihm einen Blick auf den toten Polizisten zu gewähren. »Holen Sie den Whisky, rasch«, bellte Bisker ihn an, und George rannte fast, um dem Befehl nachzukommen. Als er zurückkam, ließ Bisker ihn in die Halle und verschloß die Tür. Er nahm George das Tablett ab. »Verriegeln Sie die Haustür – machen Sie schon – rasch.« Im Büro fand er Miss Jade noch immer zusammengesackt im Sessel. Mit weit geöffneten schwarzen Augen und ohne auch nur einmal zu blinzeln, blickte sie zu ihm auf. Sie öffnete den Mund, um zu schreien, aber Bisker sagte: »Sie halten jetzt lieber mal den Mund, Madam.« Er goß Whisky in eines der Gläser, gab einen Spritzer Sodawasser hinzu und reichte es Miss Jade, die ihn nach wie vor mit starrem Blick fixierte. »Nu reißen Sie sich doch zusammen, Madam. Kommen Sie – runter damit.« »Bisker!« schrie sie. »Ist Mr. Rice tot?« »Wie eine Hammelkeule, Madam«, antwortete Bisker. Miss Jane entging nicht die bemerkenswerte Metamorphose in Bisker; Bisker, der zurückhaltende Bisker, stets eine Entschuldigung auf den Lippen und dabei verlegen von einem Bein aufs andere tretend, und seltsamer noch fand sie es, daß er ihr so gefiel und seine Gegenwart ihr einen gewissen Trost verschaffte – ein Gefühl, das sie - 24 -
am allerwenigsten bei sich erwartet hatte. Ihre Arme streckten sich über den Schreibtisch, ihr Kopf fiel nach vorn, so daß er auf ihnen zu liegen kam; dann bekam sie einen Weinkrampf. Obwohl sie weinte, entging ihr doch nicht das Plätschern des Alkohols. Sie sah Bisker jedoch nicht dabei zu, wie er ein Glas bis an den Rand füllte, um es in einem Zug hinunterzustürzen. Sie hörte das Zischen des Syphons, als Bisker sein Glas mit Wasser füllte, um »nachzuspülen«. Dann hörte sie ihn am Telefon nach dem Melbourner Polizeipräsidium verlangen. Sie hörte so abrupt auf zu weinen, wie sie begonnen hatte. Sie richtete sich auf. Bisker hing telefonierend über dem Schreibtisch und schilderte, was passiert war. Sie war unsäglich müde. Fast schon mechanisch nahm sie das Glas, das Bisker ihr eingegossen hatte und begann mit raschen kleinen Schlückchen daran zu nippen. Hinter Bisker stand George, und sie dachte, wie außerordentlich es doch sei, daß George einen so ruhigen und beherrschten Eindruck machte. Einen Augenblick später setzte Bisker das Telefon wieder ab. »Der nächste Streifenwagen ist in einem der äußeren Vororte und ist in zwanzig Minuten hier«, sagte er ihr. »Ich soll dafür sorgen, daß keiner reinkommt, bis die da sind. Sie gehen wohl besser mal und sehen zu, daß die Gäste nicht merken, was passiert ist.« »Ich – ich –« hob Miss Jade an, aber Bisker fiel ihr ins Wort. Es war, um einen kleinen Plan in die Tat umzusetzen, den er sich zurechtgelegt hatte, vonnöten, Miss Jade und George loszuwerden. »George!« bellte er. »Helfen Sie Miss Jade hier raus.« Sie mußten Miss Jade schier aus dem Büro und durch die Empfangshalle tragen, vorbei an der ausgestreckt auf dem Boden liegenden Gestalt. An der Tür zum Flur funkelte Bisker George wild an und knurrte dann: »Bringen Sie Miss Jade hier weg, auf ihr Zimmer, irgendwohin. Und daß Sie mir ja selber auch den Mund halten. Haben Sie mich verstanden?« George nickte. Bisker schloß die Tür auf, und George half seiner Arbeitgeberin hinaus auf den kurzen Flur. Danach schloß Bisker die - 25 -
Tür wieder ab. Er schlenderte zurück ins Büro, wo er den Syphon hinter einen Polstersessel und die Gläser in eine Schreibtischschublade stellte, während er die zu drei Vierteln volle Flasche in seine Hüfttasche wandern ließ. Dann verließ er das Büro, ging zur Haustür, zog den Riegel zurück, ging hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Dann stand er unschlüssig auf dem eisernen Rost der Veranda. Hatte er genügend Zeit, die Flasche Whisky in seine Hütte zu bringen und unter der Matratze verschwinden zu lassen? Wohl kaum. Außerdem bestand die Möglichkeit, daß ihn einer sah und die Polizei davon Wind bekommen könnte und wissen wollte, wieso. Zu beiden Seiten der Haustür wuchs je ein Zierstrauch in einem großen Bottich. Bisker wählte den Strauch links von der Tür. Die Erde war mürbe. Er grub ein kleines, aber tiefes Loch gradewegs nach unten, so daß die Flasche nicht waagrecht zu liegen kam, da die Gefahr bestand, daß, wegen des Glasstöpsels, der wertvolle Inhalt verlorenging. Dann verschwand die Flasche im Loch. Bisker deckte sie zu; noch nicht einmal zehn Zentimeter Erde waren nötig, um den Stöpsel verschwinden zu lassen. Als er fertig war, setzte er sich auf die Kante des Bottichs, brachte Tabak, Messer, Pfeife und Streichhölzer zum Vorschein und begann einige Scheibchen von seinem Schwarzen Knaster zu schneiden. Er hatte eben das zweite abgeschnitten, als Mr. Napoleon Bonaparte um die Hausecke kam. »Ah! Bisker! Haben Sie den Ortspolizisten gerufen?« erkundigte sich Bony. »Hab’ ich, Mr. Bonaparte. Er ist – da drinnen.« »Ist es wahr? Wieso kommt er dann nicht?« Bonapartes blaue Augen musterten Bisker mit einem durchdringenden Blick. »Sie haben nicht zufällig den Wagen gesehen, der die Auffahrt heraufgekommen und vor ’n paar Minuten wieder hinuntergefahren ist?« fragte Bisker. »Doch, habe ich. Was ist mit ihm?« - 26 -
»Sie haben sich nicht zufällig die Nummer gemerkt, Mr. Bonaparte?« »Nein, ich war ja nicht in der Nähe der Auffahrt. Warum?« »Na ja, der Knabe in dem Auto ist in die Halle gekommen, als ich und Miss Jade auf Konstabler Rice gewartet haben. Der Knabe kommt rein und fragt nach Mr. Grumman, und Miss Jade, also die versucht ihn, na ja, hinzuhalten, als Rice hereinkommt. Dann hat der Knabe Rice gesehen, und Rice hat ihn erkannt; Rice versucht ihn anzuspringen, und da schießt er Rice mit ’ner Pistole mit Schalldämpfer über den Haufen.« »Ist es wahr? Ist der Konstabler schlimm verletzt?« »Der ist ziemlich tot«, antwortete Bisker und war enttäuscht, daß an dem Ausdruck milden Interesses auf Bonapartes dunklem Gesicht nicht die geringste Veränderung eintrat. Dann, als seine strapazierten Nerven sich schließlich zu entspannen begannen, platzte er mit allem heraus, was passiert war, und als er alles erzählt hatte, saß er zitternd auf der Kante des Bottichs, seine kurze Zeit als Autorität von eigenen Gnaden war vorbei. »Da können wir nichts andres tun, Bisker«, sagte Bony, »als auf die Polizei zu warten.«
3 Herrenstiefel, Größe fünfundvierzig Als der erste Streifenwagen eintraf, saß Kriminalinspektor Napoleon Bonaparte in einem Korbsessel auf der breiten Terrasse mit Blick auf das Tal und die Berge dahinter. Die vereinzelten Nebelschwaden über dem Tal nahmen sich aus wie kleine Wollflusen auf einem verknitterten Teppich mit rotgrünem Schachbrettmuster. Es war völlig windstill. Die Luft war mild und so klar, daß er deutlich das Grau der vom - 27 -
Feuer getöteten Bäume auf den Hängen der gut dreißig Meilen weit entfernten Berge sah. Er saß allein am hinteren Ende der Terrasse, rauchte seine schlecht gedrehten Zigaretten und lauschte auf das Geschnatter der übrigen Gäste, die mittlerweile bereits ahnten, daß hier irgend etwas faul war. Einige von ihnen hätten gern den nächsten Bus in die Stadt genommen, aber Miss Jade war indisponiert und ihre Sekretärin verschwunden. Er hörte den Streifenwagen, schon einige Minuten bevor er von der Hauptstraße abbog und das stärkere Gefälle der baumgesäumten Auffahrt heraufgebrummt kam. Drei Minuten später erspähte er Bisker in Begleitung eines großen Mannes in Zivil auf dem parallel zur Terrasse verlaufenden Weg. Sie kamen bis an die Treppe und bogen dann auf den Weg, der den Rasen scheitelte und sie ans Gartentor – und damit zu Grummans Leiche – bringen würde. Es verstrichen weitere zehn Minuten, bevor Bony mindestens zwei weitere Autos mit beträchtlicher Geschwindigkeit die Hauptstraße heraufkommen hörte. Auch sie bogen in die Auffahrt ein und kamen am hinteren Ende des Hauses zum Stehen. Bald nach ihrer Ankunft folgten mehrere Männer in Zivil dem Weg, den schon Bisker und der Zuerstgekommene eingeschlagen hatten. Von diesen trugen zwei Kameras und einer einen gewichtigen Lederkoffer. Da sein Gang nichts von der militärischen Zackigkeit seiner Begleiter hatte, vermutete Bony in ihm den Gerichtsmediziner. Nachdem sie durch das Gartentürchen die Rampe hinunter verschwunden waren, drehte Bony sich eine weitere Zigarette, steckte sie in Brand und fläzte sich etwas tiefer in seinen bequemen Sessel. Das Kissen hinter seinem Kopf war weich, die Konturen des Sessels schienen wie für seinen schlanken Körper gemacht, und der strahlende Sonnenschein, der sich über ihn ergoß, war wunderbar warm. Er überlegte, was wohl Oberst Blythe zu Grummans Ableben sagen würde. Und er überlegte, was die Polizisten wohl denken würden, wenn sie Mr. Grummans Zimmer betraten. Fest stand, daß ihnen - 28 -
mehr daran gelegen sein würde, den Mörder von Konstabler Rice zur Strecke zu bringen, als den von Mr. Grumman zu finden. Nicht daß man den Mann, der Grumman umgebracht hatte, nicht ebenfalls jagen würde, aber Rice war nun mal einer von ihnen, und allem Anschein nach war dieser Marcus für sie kein unbeschriebenes Blatt. Ganz besonderes Interesse hegte Bony für die Frage, was dieser Marcus mit Grumman zu tun gehabt haben mochte. Die Zeit verging, und schließlich kam Bisker mit den drei Kriminalern vom Gartentor herauf. Von seinem Platz aus sah Bony sie genau über der Kappe der steinernen Balustrade vor ihm. Die Gruppe wandte sich am oberen Ende des Wegs nach rechts und nahm den anderen in Richtung der Hausecke, wo Haupteingang und Empfangshalle lagen. Mit Sicherheit würden Halle und Büro vorübergehend von der Polizei mit Beschlag belegt. Den Salon würden sie aller Wahrscheinlichkeit nach für die Einvernahme der Gäste benutzen. Bonaparte empfand das Ganze als ausgesprochen erfrischend. Wozu er auch allen Grund hatte. Zunächst einmal hatte der Fall, an dem er seit zwei Tagen arbeitete, damit eine unerwartete und höchst bemerkenswerte Wendung genommen, und zweitens würde er seine Ermittlungen so fortsetzen müssen, wie er sie begonnen hatte – nämlich unabhängig von der Polizei. Es war dies bei weitem nicht das erste Mal, daß er für Oberst Blythe arbeitete. Das erste Mal war im April 1942 gewesen, als er dazu beigetragen hatte, die Anführer eines für Japan arbeitenden Spionagerings ausfindig zu machen. Diese Geschichte mit Grumman war in gewisser Hinsicht eine Folge der deutschen Kapitulation und hatte es erfordert, daß er, Bonaparte, von Brisbane nach Melbourne ging und in Melbourne zu einem Haus im vornehmsten Abschnitt der Toorak Road. Dort hatte Oberst Blythe ihm zu trinken und rauchen angeboten, um schließlich mit der Sprache herauszurücken. Hätte Oberst Blythe nicht die Tochter von Oberst Spender geheiratet, so stünde zu bezweifeln, ob Bony Mr. Grumman je zu Gesicht be- 29 -
kommen hätte. Blythe war etwas über vierzig, blond und blauäugig, kultiviert und charmant. Er hatte schon jahrelang mit dem britischen Kriegsministerium zu tun gehabt, bevor man ihn für nachrichtendienstliche Sonderaufgaben nach Australien abgestellt hatte, und das einzige, womit man ihn allem Anschein nach verstimmen konnte, war, die Leistungen des Militärischen Abwehrdienstes im Krieg zu erwähnen. Nur vier Tage vor diesem schönen Vormittag des ersten September hatte Oberst Spendor, seines Zeichens Polizeipräsident von Brisbane, nach Inspektor Napoleon Bonaparte schicken lassen und ihn barsch instruiert: »Mein Schwiegersohn – der Teufel soll ihn holen! – hat Arbeit für Sie. Ich würde Sie ihm garantiert nicht geben, wenn Sie nicht grade frei wären. Ich habe es einrichten können, daß man Sie noch auf einer Maschine um Viertel nach zwei mitnimmt. Bevor Sie zum Flugplatz fahren, melden Sie sich noch mal bei mir. Ich habe da ein paar Briefe für meine Tochter. Macht Ihnen doch nichts aus, oder? Ich würde es der verfluchten Zensur nämlich durchaus zutrauen, daß die alles aufmachen, was bei mir rausgeht. Und vergessen Sie nicht, ihr die besten Grüße von mir zu bestellen, und ihrem Gatten sagen Sie, daß er Sie nur für eine Woche kriegt und nicht einen Tag länger.« Dann hatte Bony in einem unauffällig möblierten Zimmer des besagten Hauses in South Yarra Mrs. Blythe besagte Briefe ausgehändigt und ihr versichert, Oberst Spendor sei ausgesprochen wohlauf wie im übrigen auch seine Gattin, jedenfalls als er sie die Woche zuvor getroffen hatte. Nachdem sie sich zurückgezogen hatte, machte sich Oberst Blythe an die Arbeit. »Meinen Sie, die Kriminaler haben Sie gesehen, als Sie aus der Maschine gestiegen sind?« fragte er, und Bony hatte ihm gesagt, daß er seiner Meinung nach keine besondere Aufmerksamkeit erregt hatte. »Gut! Na denn, mein Bester. Es geht um einen Knaben in einem Gästehaus etwa dreißig Meilen vor der Stadt. Hört auf den Namen Grumman, der Mann. Wenn ich die hiesige Abwehr bitte, diesem Grumman mal unter die Fingernägel zu gucken, dann schicken sie - 30 -
ihm wahrscheinlich einen Hauptgefreiten hinaus, der ihm einen Fragebogen vorlegt. Das haben die schon mal gemacht, diese hirnlosen Idioten! Und dann würden sie natürlich wissen wollen, was ich weiß, und nicht einen Finger krumm machen, ehe ich ihnen nicht irgendein albernes Formular ausgefüllt habe mit dem, was ich weiß, was ohnehin kaum der Rede wert ist. Also hören Sie, über die Einzelheiten reden wir später, hier erst mal ein Überblick. Mr. Grumman ist kein anderer als General Wilhelm Lode, der laut einer Meldung der Deutschen drei Monate vor ihrer Bruchlandung gefallen ist. Er gehörte – gehört noch heute – dem deutschen OKW an, einer Organisation von Militärexperten, die nicht totzukriegen ist und im Krieg wie im Frieden, ja selbst jetzt nach der Niederlage noch, weiterexistiert. Die Öffentlichkeit kennt das OKW unter dem Namen Generalstab. Als dem deutschen Generalstab klar war, daß das Spiel aus war, ließ man verlautbaren, General Lode sei gefallen. Und er ist nicht der einzige hohe Offizier, der angeblich gefallen ist. Lodes und die Aufgabe einiger weiterer Offiziere bestand darin, Pläne und Formeln modernster Waffen sowie wissenschaftliche Forschungsergebnisse in Sachen Kriegführung – darunter auch Erkenntnisse über die Anwendung von Atomenergie – so lange in Verwahrung zu nehmen, bis der Generalstab wieder in der Lage ist, sich an die Planung eines neuen deutschen Heeres für einen Dritten Weltkrieg zu machen. Wie Lode nach Australien gekommen ist, weiß ich nicht. Kennengelernt habe ich ihn 1932, und vor fünf Tagen habe ich ihn in der Collins Street gesehen. Sie sind der einzige, dem ich trauen kann, Bony. Ich will, daß Sie ihn mir gründlich auseinandernehmen, herausfinden, was er im Gepäck hat, seine Kumpane ausmachen und feststellen, wo er das Zeug versteckt hat, das er mit Sicherheit aus Deutschland herausgeschafft hat. Diese Pläne und Formeln sind wertvoller als sein Leichnam.« Tja, soweit die Einführung, die Bony in bezug auf Mr. Grumman erhalten hatte. So war er denn ins Chalet Weitblick gekommen, um - 31 -
sich für vierzehn Tage dort einzumieten. Er hatte Mr. Grumman kennengelernt, dessen Englisch im übrigen perfekt war, und vor diesem Morgen, an dem Mr. Grumman tot im Graben gefunden worden war, hatte er noch keine Gelegenheit gehabt, einen Blick in dessen Zimmer zu werfen, wo sich ihm dann eine große Überraschung aufgetan hatte. Jetzt war Grumman tot, und ein Freund von ihm, ein gewisser Marcus, der ihn hatte besuchen wollen, war überstürzt wieder aufgebrochen, nachdem er den Ortspolizisten erschossen hatte. Darüber hinaus war da noch besagte Überraschung, die jetzt in Grummans Zimmer auf die Ermittlungsbeamten wartete. Bonaparte war ganz in Gedanken verloren, als eine freundliche Stimme in unmittelbarer Nähe sagte: »Sie sind nicht zufällig Kriminalinspektor Napoleon Bonaparte, oder?« Bony öffnete die Augen, täuschte ein Gähnen vor und sah, den Blick hebend, unmittelbar vor seinen Füßen einen Mann in einem eleganten Anzug. »Und Sie?« fragte er. Der andere lächelte. »Unterinspektor Mason«, antwortete er. »Wir sind uns noch nicht begegnet, glaube ich. Aber Superintendent Bolt sagt, er kennt Sie ganz gut und daß er es kaum erwarten kann, die Bekanntschaft mit Ihnen zu erneuern. Er ist hier im Büro. Wollen Sie nicht mitkommen?« Bony lächelte und kam, durchaus nicht ungelenk, auf die Beine. »Dann führen Sie mich dem Großinquisitor mal vor«, bat er. »Wie steht’s denn um sein allseits beliebtes Temperament?« »So lala«, antwortete Mason, als sie die Terrasse entlanggingen. »Schon mal drunter gelitten?« »Och nein. Ist mir nur aufgefallen.« Als sie durch den Salon kamen, bemerkte Bony an einem kleinen Tisch einen der Gäste, dem zwei offensichtliche Kriminalbeamte in Zivil gegenübersaßen. Mehrere Grüppchen von Gästen unterhielten - 32 -
sich leise, einige ganz offensichtlich verärgert, andere lediglich aufgeregt. Die Leiche von Konstabler Rice war bereits aus der Halle geschafft worden. Im Büro saßen Kriminalrat Bolt und zwei Beamte der unteren Kategorien an Miss Jades Schreibtisch. Bolt war ein massiger Mann von knapp hundertzehn Kilo, ohne dabei allzuviel überschüssiges Fleisch an seinem enormen Körper zu haben. Sein Haupt hatte ganz entschieden die Form einer Kuppel, ein gelblicher Fels in einem Kranz grauer Haare, der ihm auf den Ohren zu sitzen schien. Seine kleinen braunen Augen leuchteten auf, als Bony und Mason ins Büro traten. Eine Hand vor sich hingestreckt, stand er auf. Trotz seiner fünfzig Jahre bewegte er sich mit der leichten Anmut einer Katze. »Sie sind es also tatsächlich!« sagte er, seine Stimme ein angenehmes Schnurren. »Wie geht’s denn so, Bony?« »Ausgesprochen gut, Super«, antwortete Bony und ergriff die ihm gebotene Hand, wobei er sorgsam darauf achtete, sich die eigene beim Gruß nicht zerquetschen zu lassen. »Ist ein hübsches Fleckchen hier, die Küche ist gut, auch der Service ist nicht übel.« »Und keine Arbeit, was?« »Jedenfalls keine, die der Rede wert wäre. Freut mich, Sie in derart gutem Zustand zu sehen.« »Danke. Kommen Sie doch auf einen Plausch hier rüber.« »Tja, wenn Sie die Zeit erübrigen können.« »Aber ja doch, für Sie habe ich immer Zeit«, sagte Bolt mit einem kollernden Lachen. »Darf ich Ihnen Dr. Black vorstellen, unsren hauseigenen Arzt. Und Inspektor Snook. Meine Herren, das hier ist Inspektor Napoleon Bonaparte aus Queensland.« Bony schüttelte allen die Hand, wobei er das lange, leichenblasse Gesicht des Polizeiarztes genauso zur Kenntnis nahm wie das kantige Antlitz des Inspektors. Er nahm die ihm angebotene Sitzgelegenheit und setzte sich zu ihnen; Mason war der fünfte in der Runde. »Schon lange hier?« erkundigte sich Bolt bei ihm.
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»Nein, erst ein paar Tage«, antwortete Bony, mittlerweile mit der Herstellung einer Zigarette beschäftigt. »Ich bin für eine Woche hier heraufgekommen wegen der Stille – genau die richtige Atmosphäre, um zu meditieren.« »Ah!« schnaufte der Polizeirat. »Um zu meditieren.« »Sie ist nicht immer nur ein Luxus, die Meditation; manchmal ist sie sogar vonnöten«, stellte Bony fest und sah, von seiner Aufgabe aufblickend, die anderen der Reihe nach an. »Dr. Black hier stimmt mir sicher zu, wenn ich sage, daß körperliche und geistige Entspannung für Kopfarbeiter von enormem Nutzen sind.« »Da bin ich ganz Ihrer Meinung«, kam es von Bolt, noch ehe der Arzt etwas sagen konnte. »Kauft Ihre Großmutter Ihnen das ab?« »Meine Großmutter?« »Ja! Und jetzt, mein lieber Freund und Kupferstecher, hören Sie mal auf, hier die Unschuld vom Lande zu markieren, und konzentrieren Sie sich. Ziehen wir beide an einem Strang, ja oder nein?« Bony seufzte. Er steckte sich die Zigarette an, die er sich gedreht hatte und in der Dr. Black ganz offensichtlich ein Ärgernis sah. Die Polizeibeamten nahmen kein Auge von ihm. Bony sagte: »Sagen Sie mal – wer ist Marcus?« Bolt beugte sich vor und funkelte ihn an. »Bony, erst sind Sie dran. Ziehen wir am selben Strang?« »Selbstverständlich.« »Gut!« »Mit einer kleinen Einschränkung«, murmelte Bony. »Ich kann mit Ihnen nur bis zu einem gewissen Grad an einem Strang ziehen, und ich will Ihnen auch gleich sagen, wie weit ich gehen kann, da Sie sicher nicht unnötig Zeit vertun wollen. Ich war an diesem Grumman interessiert, den man tot im Abzugsgraben neben der Straße gefunden hat – bin es immer noch. Ich bin mit einem Spezialauftrag nach Melbourne gekommen. Mein Chef hat mich an die von der Armee ausgeliehen. Mich interessieren Grummans Vergangenheit und deroder diejenigen, die ihn umgebracht haben. Sie sind natürlich auch an - 34 -
seinen Mördern interessiert, aber nicht ganz aus demselben Grund wie ich. Ich interessiere mich für diesen Marcus, weil er mit Grumman zu tun hatte. Sie interessieren sich für ihn, weil er Konstabler Rice umgebracht hat. Unsere Interessen werden sich daher nicht in die Quere kommen, sollten es jedenfalls nicht, und so bin ich durchaus bereit, mit Ihnen zusammenzuarbeiten, wenn Sie als Gegenleistung dafür mit mir zusammenarbeiten.« »Gut!« rief Bolt noch einmal, und diesmal rieb er sich die Hände dabei. »Na, denn mal los. Sie waren doch, kurz nachdem man sie gefunden hat, unten bei der Leiche, nicht wahr?« »Ja. Ich habe Bisker, das Faktotum hier, und einen zweiten Mann am Rand des Abzugsgrabens stehen sehen, kurz nachdem Bisker unten gewesen war, um sich die Leiche anzusehen, die der andere gefunden hatte. Ich habe mich umgesehen, in beiden Richtungen den Straßenrand untersucht, dann den oberen Teil der Böschung und schließlich auch noch den Boden zu beiden Seiten des Drahtzauns und oberhalb des kleinen Gatters.« »Haben Sie was gefunden?« fragte der Polizeirat, und vier Augenpaare bohrten ihre Blicke in Bonys nun völlig ausdrucksloses Gesicht. »Ausgesprochen wenig«, gestand er. »Unglücklicherweise hatten wir heute nacht einen ziemlich strengen Frost, der – wiederum unglücklicherweise – schon frühmorgens von einem feuchten Südwestwind abgelöst wurde, der für Tauwetter sorgte. Hier würde ich gern eine Frage stellen.« »Nur zu«, drängte Bolt. »Doktor, ich weiß, wie schwierig eine Antwort auf diese Frage ist. Trotzdem, wie lange, meinen Sie, war Grumman schon tot, als Sie die Leiche untersucht haben?« Der Polizeiarzt legte die Stirn in Falten. »Mit Sicherheit weniger als zwölf Stunden und sicher länger als fünf – von neun Uhr vierundfünfzig an gerechnet, als ich ihn untersucht habe.«
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»Fünf!« wiederholte Bony. »Das bringt uns mindestens zurück bis fünf Uhr morgens. Nach Biskers Angaben, der heute um zwanzig vor sechs aufgestanden ist, hatte der Westwind, das heißt, es war wohl eher ein laues Lüftchen aus westlicher Richtung, bereits eingesetzt, als er seine Hütte verließ. Bereits eingesetzt wohlgemerkt. Er setzte nicht etwa erst ein, als er seine Hütte verließ. Wir könnten es als gesichert betrachten, daß Grumman – ob nun auf eigenen Beinen oder nicht – sein Zimmer vor fünf verlassen hat, vor fünf und bevor besagtes laues Lüftchen aus dem Westen hier so unvermittelt eintraf, daß es sofort zu tauen begann. Er trug Slipper der Größe einundvierzig. Er wog, ich würde sagen, so um die siebzig Kilo. Ich habe nicht einen Abdruck von diesen Slippern gefunden, weder auf der Rampe von der Straße herauf zum Gartentor noch entlang der Straße. Aufgrund des Zustands der Böschung bin ich davon überzeugt, daß er nicht von dort oben heruntergefallen ist, und daß man ihn nicht von da aus hinuntergeworfen hat, dessen bin ich mir ebenfalls gewiß. Außerdem bin ich sicher, daß die Leiche nicht vom Straßenrand aus hinuntergeworfen wurde. Man hat sie vielmehr in den Graben getragen, dort sorgfältig plaziert und Gras und Gestrüpp davorgezogen, um sie vor zufällig vorbeikommenden Passanten zu verstecken.« »Dieser Mann da, dieser Fred, war aber ein zufällig vorbeikommender Passant«, gab Inspektor Snook zu bedenken. »Ganz recht«, pflichtete Bony ihm bei. »Er sah Teile oder einen Teil der Leiche, aber wir wollen nicht vergessen, daß die Leiche im Dunkeln dort abgelegt wurde, und zwar von einer oder mehreren Personen, die sich nicht wirklich vergewissern konnten, ob sie sie auch tatsächlich richtig versteckt hatten, woran ihnen, dem Zustand der Gräser und des Gestrüpps nach zu urteilen, aber gelegen war. Diese Details mögen ihnen unwichtig erscheinen. Meine Spurensuche wurde durch den Frost über die Maßen erschwert, da dieser zum Zeitpunkt, als man Grummans Leiche in den Graben schaffte, den Boden steinhart hatte werden lassen – der freilich wieder völlig auf- 36 -
taute, bevor man die Leiche fand. Auf der Rampe jedoch sah ich die Abdrücke von Herrenstiefeln der Größe fünfundvierzig. Der Mann, der sie trug, kam herauf, noch nachdem ich selbst gestern abend kurz nach acht heraufgekommen war, denn einer der Abdrücke seines rechten Stiefels überdeckt teilweise einen der meinigen. Und außerdem ging er die Rampe wieder hinunter, als der Boden bereits weit härter war als zu dem Zeitpunkt, da er hinaufgegangen war. Das Merkwürdige daran ist, daß ich während der Zeit, die ich jetzt hier bin, und das sind jetzt zwei Tage und eine Nacht, weder einen Mann mit so großen Stiefeln noch den Abdruck eines solchen Stiefels gesehen habe. Nicht einer der Gäste hier hat so große Füße, auch Bisker und der Mann, der die Leiche gefunden hat, nicht. Dieser Unbekannte ist im Augenblick nirgendwo unterzubringen und daher von besonderem Interesse. Ein Mann mit solcher Schuhgröße wäre immerhin groß genug, einen Mann von Grummans Gewicht in den Graben hinunterzutragen. Wie ist Grumman gestorben?« »Durch Gift«, antwortete ihm der Arzt. »Zyankali?« »Mit ziemlicher Sicherheit. Haben Sie eine Vermutung?« Bony zögerte. »Ja«, antwortete er ihm. An alle gewandt, sagte er: »Finden Sie den Mann mit Schuhgröße fünfundvierzig. Er ist kein Arbeiter. Sowohl seine Absätze wie auch seine Sohlen sind aus Gummi, das Warenzeichen hat die Form eines Diamanten und ist in die Sohlen eingeprägt, außerdem sind diese ungleichmäßig abgetreten, vor allem auf der Innenseite, zu den Zehen hin, was darauf hindeutet, daß der Mann viel reitet.« »Danke, Bony«, schnurrte Superintendent Bolt. »Mason, befragen Sie Miss Jade und das Personal, und stellen Sie fest, wer hier gestern abend nach acht noch zu Besuch gewesen ist – klar? Der Mann mit Schuhgröße fünfundvierzig.« Als Mason das Büro verlassen hatte, sagte Bolt zu Bony: »Sonst noch was Interessantes?« - 37 -
»Ja. Man hat ein Zimmermädchen zu Grumman geschickt, als er nicht pünktlich zum Frühstück erschien, wie es sonst seine Gewohnheit war. Zuerst klopfte sie an seine Tür, und als sie keine Antwort bekam, probierte sie zu öffnen und sah, daß nicht abgeschlossen war. Sie öffnete die Tür einen Spalt und rief Grummans Namen. Nachdem sie wieder keine Antwort bekam, öffnete sie ganz und sah hinein. Es waren zwar die Vorhänge vorgezogen, aber sie hatte dennoch genug Licht, um zu sehen, daß er weder im Bett noch im Zimmer war. Später, als ich dann hinein bin, mußte ich feststellen, daß Mr. Grummans Gepäck weggebracht wurde.« »Und Sie können uns nicht sagen, von wem?« fragte der Superintendent. »Nein. Ich habe nichts, worauf sich ein Verdacht gegen irgend jemanden begründen ließe. Ich persönlich finde das Ganze ausgesprochen ärgerlich«, fuhr Bony mit einem Anflug von Ironie fort. »Ich möchte die persönliche Habe des verschiedenen Mr. Grumman nämlich gern durchgehen.« »Sicher nicht dringender als wir«, meinte Snook barsch, und Bolt begann wieder zu kollern.
4 Ein angenehmer Nachmittag Den Rest des Vormittags über saß Bony in seinem Korbstuhl am hinteren Ende der Terrasse. Es schien vor Kriminalbeamten in Zivil nur so zu wimmeln; sie liefen auf dem Rasen herum und die Wege hinauf und hinab; in dem von Grumman während der letzten Zeit bewohntem Zimmer, deren doppelte Verandatür unmittelbar hinter Bonapartes Sessel lag, gab man sich die Klinke in die Hand; auf der Terrasse vernahmen sie Gäste, die man bereits im Salon nach Identität, Beruf - 38 -
und Urlaubsplänen befragt hatte. Zwei von ihnen fotografierten das Haus, die Rasenflächen, die Verandatüren von Grummans Zimmer und das Innere desselben, nicht zu vergessen die Halle. Die Leute von der Spurensicherung suchten in Grummans Zimmer nach Fingerabdrücken, während Verkehrspolizisten in Motorradkluft die Auffahrt heraufgeröhrt kamen, Superintendent Bolt Bericht erstatteten, und dann, die Straße wieder hinunterröhrend, von der Bildfläche verschwanden. Ein Krankenwagen kam, um die Leichen abzuholen. Zwei der Männer vermaßen den Rasen, die Böschung zur Straße am unteren Ende des Zaunes und fertigten eine Rohskizze an, aus der später ein akkurater Plan entstehen würde. Um ein Uhr servierte man den Gästen das Mittagessen. Bedient wurden sie, neben den beiden Mädchen, die ihm zur Hand gingen, von dem stets effizienten George, dessen Bewegungen ebenso geschmeidig wie sein Auftreten von ausgesuchter Höflichkeit war. Inspektor Snook informierte die Gäste, daß jedwede Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit hiermit wegfalle, und als sie nach und nach aus dem Speisesaal abwanderten, fanden sie auch die Sekretärin wieder zu ihren Diensten sowie die mittlerweile wieder gefaßte Miss Jade bei ihren Pflichten als Herrin des Hauses. Um drei Uhr nachmittags waren alle bis auf sechs Gäste abgereist, die Polizei bis auf zwei Beamte wieder abgezogen. Das von Grumman bewohnte Zimmer hatte man versiegelt. Drei Rieseneisvögel in einem der die Auffahrt säumenden Eukalyptusbäume beschlossen, ihren aufgestauten Gefühlen mit einem Choral von geradezu sardonischer Heiterkeit Luft zu machen. Um halb vier war Bony der letzte Gast auf der Terrasse, so daß George ihm den Nachmittagstee auf dem Servierwagen hinausbrachte. »Ein ausgesprochen aufregender Tag, George, finden Sie nicht?« bemerkte der kleine Mischling, während er sich zu zwei von Mrs. Parkes Törtchen verhalf. »Ja, Sir, das kann man wohl sagen«, pflichtete George ihm bei. »Die nächste Aufregung haben wir wohl seitens der Presse zu erwarten.« - 39 -
»Ganz gewiß. Die Burschen dürften jeden Augenblick auftauchen. Sie sind sogar etwas spät dran, aber andererseits vermute ich, dürfte die Polizei die Geschichte wohl erst nach ihrer Rückkehr in die Stadt bekannt gegeben haben. Es hat ganz den Anschein, als hätten Sie ab sofort weniger zu tun.« George lächelte. »Oh, das Haus ist bald wieder voll. Die Leute werden schon aus reiner Neugier kommen. Noch eine Tasse Tee, Sir?« »Danke. Wie lange arbeiten Sie eigentlich schon hier?« Wieder lächelte George. »Drei Monate, eine Woche und vier Tage«, antwortete er. »Habe ich für die Greifer ausrechnen müssen. Jetzt muß ich aber weiter. Ich danke Ihnen, Sir.« Als er seinen Teewagen wegrollte, bemerkte Bony mit einem raschen Blick, daß er Tennisschuhe der Größe vierzig trug, leichte XBeine hatte und auf den Fußballen ging. Die Sonne ging gegen Westen, und schon reichte der Schatten des Hauses bis weit über die Hauptstraße hinaus. Das Tal lag in Farben gebadet, und die Berge am anderen Ende hatten das Taubengrau gegen einen warmen Braunton eingetauscht. Nicht eine Wolke durchbrach die blaue Kuppel des Firmaments, nicht ein Blatt bewegte sich, so windstill war es. Es war fast so warm wie an einem Sommerabend. George kam noch einmal zu Napoleon Bonaparte. »Inspektor Snook läßt sich empfehlen, Sir, und ob Sie vielleicht die Freundlichkeit hätten, ihn im Büro aufzusuchen?« Bony legte die Stirn in Falten. »Was, schon wieder!« rief er aus. »Zum Henker mit diesen Kriminalern! Ich nehme an, die werden uns wohl alle noch eine ganze Weile belästigen.« »Sie können in der Tat ausgesprochen irritierend sein, Sir«, sagte George mitfühlend. »Sie können?« äffte Bony ihn nach. »Sie sind es!«
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Er fand die Tür zum Büro geschlossen, klopfte also und ging nach einer lauten Aufforderung einzutreten, hinein. Er schloß die Tür wieder, durchquerte den Raum und setzte sich an den Tisch, an dem Inspektor Snook bereits saß. »Ich dachte, Sie würden gern hören, was wir bisher haben, bevor wir gehen«, sagte Snook. »Und dann gibt es da ein oder zwei Punkte, die nach einer Klärung verlangen.« »Schießen Sie los«, drängte ihn Bony. »Zunächst einmal: Marcus haben unsre Jungs bisher nicht ausmachen können«, sagte Snook mit einem Anflug von Ärger in der Stimme. »Innerhalb von zehn Minuten nach Biskers Anruf heute morgen hat man an sämtlichen Straßen, die von diesem Berg führen, Sperren errichtet und alle Fahrzeuge angehalten und durchsucht. Eine sorgfältige Befragung Biskers hat uns eine vernünftige Schätzung des Zeitraums zwischen Marcus’ Flucht und Biskers Anruf im Präsidium auf fünf Minuten ermöglicht, so daß die Straßen bereits fünfzehn Minuten nach Marcus’ Abfahrt gesperrt waren. Die nächstgelegene Straßensperre war in Manton, einer kleinen Stadt mit Bahnhof neun Meilen die Hauptstraße hinunter. Es besteht die Möglichkeit, daß Marcus in diesen fünfzehn Minuten über Manton hinauskam. Und es besteht die Möglichkeit, daß er zwischen hier und Manton auf eine von zwei Nebenstraßen abgebogen ist. Wie auch immer, ins Netz gegangen ist er uns nicht.« »Erzählen Sie mir was über ihn«, bat Bony. Snook lehnte sich zurück, legte die Fingerspitzen aneinander und schürzte die Lippen, bevor er antwortete. Dann sagte er: »Marcus ist die Nummer eins unter unseren Gangstern hier. Marcus ist unser Kosename für einen gewissen Alexander Croft alias Mick Slater alias Edward B. Martyn.« »Oh!« schnaufte Bony. »He, he! Edward B. Martyn! Kein Wunder, daß der Konstabler keine Chance hatte.« »Nein, Rice hatte wirklich keine Chance. Rice hatte sechs Jahre Dienst in Zivil hinter sich, und er war ein guter Mann. Voriges Jahr - 41 -
jedoch hat man ihn ziemlich übel zusammengeschossen, und als er wieder dienstfähig war, hat man ihm aus gesundheitlichen Gründen angeboten, hier für eine gewisse Zeit die Wache zu übernehmen. Er erkannte Marcus – zu seinem Unglück in einem Augenblick, in dem er unbewaffnet war.« »Ich habe von diesem Marcus unter dem Namen Martyn gehört«, versicherte ihm Bony. »Er hat jedoch nie was mit Verbrechen aus meiner Sparte zu tun gehabt. Übler Bursche, was?« »Der übelste, Bony. Eiskalt und tüchtig, und die Latte seiner Verbrechen ist länger als Ihr Arm.« »Auf was ist er denn spezialisiert?« »Rauschgift. Er ist ein internationaler Rauschgifthändler. Ist es das, was Sie interessiert?« »Nein.« Bony starrte zur Decke hinauf. »Nein. Wegen Rauschgift bin ich nicht hier. Ganz unter uns gesagt, mein augenblickliches Interesse gilt geheimen Kriegswaffen, Sprengstoffen und dergleichen. Jetzt frage ich Sie, wie paßt Rauschgift da hinein? Mit anderen Worten, welches Interesse hatte Ihr Knabe, Marcus, an meinem Knaben, Grumman?« »Keine Ahnung!« platzte Snook heraus. »Mir will diese ganze Geschichte hier nicht einleuchten – jedenfalls noch nicht. Übrigens, als Sie in Grummans Zimmer sind, war die Tür da verschlossen?« »Ja – mit dem Schlüssel, und zwar von außen«, antwortete Bony. »Ich hatte nämlich einen passenden Schlüssel dabei und war ziemlich erstaunt, den Schlüssel im Schloß zu finden. Dann habe ich erfahren, daß man das Zimmermädchen geschickt hatte, um nachzusehen, warum Grumman nicht zum Frühstück kam, und daß sie den Schlüssel im Schloß gefunden hatte.« »Was darauf hinausläuft, daß Grummans Gepäck bereits weggeschafft worden war, als das Mädchen einen Blick ins Zimmer warf.« »Aber ja. Ich bin sicher, daß Grummans Gepäck nicht erst fortgeschafft wurde, nachdem das Mädchen sich bei Miss Jade zurückgemeldet hatte und bevor ich im Zimmer war.« - 42 -
»Was schließen Sie daraus?« »Bis jetzt überhaupt nichts. Ich verstehe es nicht.« »Ich auch nicht«, gestand Snook. »Wir haben also Grumman, der gestern abend um fünf nach halb elf den Getränkekellner um etwas zu trinken bittet und sich dann schlafen legt. Nicht die geringste Andeutung, daß er das Haus noch mal verlassen wollte. Sie sagen, daß er weder in den Graben gefallen ist noch hineingeworfen wurde. Daß man seine Leiche vielmehr hineingelegt hat. Nun denn, wo hat man ihn vergiftet? Falls das in seinem Zimmer geschah, dann muß man seine Leiche zum Graben hinuntergetragen haben. Warum sich mit der Leiche abschleppen, um sie in diesem Graben zu verbergen? Und warum klaut man sein Gepäck?« »Womöglich um seine persönliche Habe einer gründlichen, wenn nicht gar minutiösen Untersuchung zu unterziehen, einer Untersuchung, zu der es mehr Zeit bedurfte, als zwischen Mord und Morgendämmerung blieb.« »Ja, da ist was dran«, stimmte Snook ihm nachdenklich zu. »Aber warum die Leiche zu verbergen versuchen? Und wenn man sie schon verbergen will, warum läßt man sie dann in diesem Graben? Warum nimmt man sie nicht dorthin mit, wo man seine Habe hinbringt – oder wenigstens an eine günstigere Stelle als diesen Graben ? Hier oben gibt es doch Millionen von Stellen, wo man eine Leiche verbergen könnte.« »Ich weiß auch nicht, warum. Womöglich ist ihr Plan schiefgelaufen. Wäre die Leiche verborgen geblieben, selbst nur für vierundzwanzig Stunden, dann hätte man währenddessen hier angenommen, Grumman habe sich bei Nacht und Nebel aus dem Staub gemacht, um seine Rechnung nicht bezahlen zu müssen. So könnte der Plan ausgesehen haben, aber als Fred über die Leiche im Graben stolperte, fiel der Plan ins Wasser.« »Wahrscheinlich war es so ähnlich«, pflichtete Snook ihm bei. »Seid ihr dem Mann mit der Schuhgröße fünfundvierzig auf die Spur gekommen?« - 43 -
Snook schüttelte den Kopf. Dann: »Ich postiere hier oben einige meiner Leute, um nach dem Herrn Ausschau zu halten.« Bony zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch gegen den Schirm der elektrischen Hängelampe. »Tun Sie mir einen Gefallen, Snook. Überlassen Sie den Herrn mit den großen Füßen mir. Ich habe nämlich vor, noch ein Weilchen hierzubleiben.« »Tatsächlich! Warum?« »Weil mir die Gegend gefällt.« »Quatsch!« bellte Snook. Bony mit einem funkelndem Blick fixierend, sagte er: »Gibt es einen besonderen Grund dafür, daß Sie für die Armee arbeiten – außerhalb von Queensland?« Über Bonys braunes Gesicht huschte ein Lächeln, das ihn zu verklären schien. Er hatte sein Gegenüber schon früher am Tag eingeschätzt und war sich bewußt, daß Snooks Verstand der eines Beamten par excellence war, ein Verstand, der von Regeln, Dienstvorschriften und Präzedenzfällen und weiß Gott sonst was bestimmt wurde. Von solchen Leuten wird eine Demokratie geleitet; große Verbrecher werden von ihnen sicher nicht vor ihren Richter geführt. Gelassen sagte er: »Die Armee bedient sich meiner Dienste, so glaube ich, weil keiner, der für die Armee von Interesse sein könnte, in einem unseligen Halbblut einen Polizisten vermuten würde. Ich bleibe noch hier, bis ich mir sicher bin, daß die Person in den Stiefeln der Größe fünfundvierzig nicht aus dieser Gegend ist, und ich bleibe so lange, bis ich sicher sein kann, daß die für Grummans Tod und den Diebstahl seiner Habseligkeiten verantwortlichen Personen den Bezirk verlassen haben. Aus diesem Grund, glaube ich, können Sie diesen Teil der beiden Fälle getrost mir überlassen.« Der Mann aus Melbourne erhob sich. »Na schön, Bonaparte. Machen wir es so. Werden Sie uns auf dem laufenden halten, sollte sich hier etwas tun?« »Gewiß. Ich fahre womöglich morgen in die Stadt und melde mich im Präsidium, um mir die Fotos von Marcus anzusehen.« - 44 -
»Ja, tun Sie das. Wir werden Ihnen jegliche Unterstützung zuteil werden lassen. Und nehmen Sie mir diesen Marcus ja nicht auf die leichte Schulter. Er ist der Teufel in Menschengestalt. Jetzt werd’ ich mal zusehen, daß ich weiterkomme. Ich überlasse die Burschen von der Presse Ihnen und Miss Jade und Bisker. Ein ziemliches Original, dieser Bisker. Sagt er doch dem Super glatt, daß er als Steuerzahler Anspruch auf Höflichkeit hätte. Der Alte hat ihn angesehen, als wäre der Mann ein sprechender Moskito.« Nachdem sie das Büro verlassen hatten, ließ sich Snook von einem Beamten in Zivil in die Stadt zurückfahren, während Bony in den Salon schlenderte und nach George klingelte. George war unterwegs, ihm etwas zu trinken zu holen, als Miss Jade in Erscheinung trat. Sie trug ein Nachmittagskleid und hatte sich wieder gefaßt. Ihre Kleidung hatte etwas Französisches. Bony erhob sich, verbeugte sich leicht und zeigte ihr sein strahlendstes Lächeln. »Ich habe George eben gebeten, mir etwas zu trinken zu bringen«, sagte er leichthin. »Darf er Ihnen vielleicht auch etwas bringen?« »Ich danke Ihnen, Mr. Bonaparte.« Miss Jade lächelte mit dem Mund, nicht jedoch mit den Augen. George kam mit Bonys Drink, und sie bestellte sich einen Cocktail. »Ich bin froh, daß Sie mir nicht auch davongelaufen sind, Mr. Bonaparte«, sagte sie ihm. »Davonlaufen? Aber gewiß nicht! Mich würden hier keine zehn Morde wegbringen«, sagte Bony fröhlich. »Ich bestehe auf meinem Urlaub. Ich mag dieses Haus, die Luft und die Aussicht. Und jetzt, wo diese unseligen Polizisten wieder fort sind, hoffe ich doch, meinen Urlaub in Frieden genießen zu können.« Sie stießen miteinander an. Sie akzeptierte eine Zigarette aus seinem Etui und blickte ihm über die Flamme des Streichholzes, das er ihr anriß, hinweg in die Augen. Er drehte sich eben eine Zigarette für sich selbst, als sie fragte: »Was für einen Eindruck hatten denn Sie von Mr. Grumman?«
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»Einen ausgesprochen guten, Miss Jade. Nur sein Akzent störte mich etwas. Wissen Sie, was für ein Landsmann er war?« »Ein Amerikaner, soviel ich mitbekommen habe. DeutschAmerikaner, glaube ich. Viel Geld. Meinen Büchern zufolge hat er noch etwa achtzehn Pfund bei mir gut. Er hat bei seiner Ankunft für eine ganze Weile im voraus bezahlt.« »Er war also schon länger hier gewesen?« »Ja – letzten Dienstag waren es fünf Wochen.« Miss Jade blies auf eine reizende Art einen Rauchring in die Luft und durchbohrte ihn gekonnt, bevor sie sich wieder an Bony wandte. »Was ich nicht verstehen kann, ist, wie man sein Gepäck hat wegtragen können, ohne daß es jemand gehört hat.« »Zur Verandatür hinaus über Terrasse und Rasen zur Straße, wo zweifelsohne ein Auto wartete.« Miss Jade nickte in stiller Zustimmung mit ihrem exquisit frisierten Kopf. »Können Sie sich einen Reim auf das alles machen?« fragte sie. »Nicht den geringsten, fürchte ich«, gestand Bony. »Ich bin noch nicht einmal in der Lage, das Ende eines Kriminalromans zu erraten. Meine Stärke ist die Schafzucht. Ich fürchte, Sie müssen schlimme Ängste ausgestanden haben, als dieser Mann den Ortspolizisten erschoß.« Miss Jade legte die juwelengeschmückten Hände aneinander. Dann rief sie mit großen Augen aus: »Oh, und ob, in der Tat. Was mir den größten Schrecken eingejagt hat, das waren die Augen des Mannes. Sie erinnerten mich an die Augen des Eichelhähers, den Bisker mal verwundet hat. Die Vögel kamen immer her, um mir die Beeren von meinen Bäumen zu stehlen, und so habe ich Bisker aufgetragen, einige von ihnen zu schießen. Einer davon fiel mir direkt vor die Füße, und er blickte zu mir auf und versuchte mir an die Beine zu fliegen, und in seinen Augen leuchtete ein rotes Licht. Die Augen dieses Mannes waren ebenfalls rot, leuchtendrot, als er so rückwärts gegen die Tür ging und diese grauenhafte Pistole auf uns gerichtet hielt. Ro- 46 -
te Augen in einem papierweißen Gesicht. Nie werde ich sie vergessen.« Ganz unvermutet wurde Miss Jade nachdenklich. Bony wollte schon etwas sagen, als sie ihm mit ihrer Rechten zu schweigen gebot. Dann sagte sie: »Auf die eine oder andere Weise erinnerte mich das Gesicht dieses Mannes an jemanden, den ich kenne, und jetzt, wo Sie gerade Kriminalromane erwähnen, fällt mir ein, wer dieser Jemand ist. Der Mann ähnelt einem der Leute aus der Gegend hier, einem Autor von Detektivgeschichten, Clarence B. Bagshott heißt er. Also, wenn das nicht bemerkenswert ist.« »Wieso, Miss Jade?« »Mr. Bagshotts Gesicht ist ausgesprochen weiß, und er hat dunkle Augen, die zuweilen, wenn er spricht, einen rötlichen Schimmer annehmen. Er ist selbst auch ein Geheimnis. Ich persönlich habe ihn ja noch nie gemocht. Also ich frage mich wirklich! Ich frage mich wirklich, ob der Mann, der hierhergekommen ist und Mr. Rice erschossen hat, nicht ein Verwandter von Mr. Bagshott ist! Es wäre gut möglich. Aber andererseits wäre das doch absurd, Mr. Bonaparte, finden Sie nicht?« »Wahrscheinlich Miss Jade, aber nicht unbedingt.« »Trotzdem, wie mir mal jemand gesagt hat, sind Autoren von Detektivromanen im Grunde ihres Wesens Verbrecher. Nur daß sie, anstatt tatsächlich Verbrechen zu begehen, ihren kriminellen Instinkten dadurch Luft machen, daß sie über Verbrechen schreiben.« Miss Jade starrte Bony geradewegs in die Augen. Dann kam langsam ein Lächeln über ihr Gesicht, das diesmal auch die Augen erfaßte. Sie lachte. »Wie dumm von mir, Mr. Bonaparte. Und obendrein setze ich mich der Gefahr einer Verleumdungsklage aus. Mr. Bagshott ist auf seine Art und Weise ein ausgesprochen gescheiter Mann, und, so nehme ich an, wie die meisten gescheiten Leute, ein wenig neurotisch. Was ist denn?« George betrat den Salon vom Flur zur Empfangshalle her.
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»Es ist eine Gruppe von Reportern gekommen, Madam. Sie fragen nach Ihnen.« »Verflixt!« rief Miss Jade gedämpft. Dann an Bony gewandt: »Sehe ich auch ordentlich aus – für den Fall, daß man mich fotografieren will?« Sie hatte sich erhoben, und Bony stand ebenfalls bereits, als er ihr mit großem Flair antwortete: »Madam, Sie sind die hübscheste Frau, der zu begegnen ich seit vielen Jahren das Privileg hatte. Etwas Reklame, da bin ich sicher, wird Sie sicher nicht verderben. Au revoir! Ich werde mir vor dem Essen noch ein wenig die Beine vertreten.«
5 Ein Schatz findet sich Der gigantische Schatten des Mount Chalmers wies mit einem dicken Finger über das breite Tal auf die großartige Bergkette, deren baumgesäumte Steilabbrüche sich jetzt besonders scharf abzeichneten. Nicht ein Blättchen rührte sich an den stattlichen Fieberbäumen entlang der Straße, auf der Bony dahinschlenderte. Aus einem tief eingeschnittenen Wasserlauf schickte, etwas früh für die Jahreszeit, ein Peitschenvogel seine trällernden Schreie, denen ein Laut folgte, der wie der Knall einer Peitsche klang, während auf den grasbewachsenen Böschungen zu beiden Seiten der Straße Stieglitze und Blaufinken beim Nesterbau waren. Für einen Mann der offenen semiariden Weiten des inneren Australien war diese Szenerie voll weicher Grüntöne, schokoladenfarbener Erde, silbriger Baumstämme und kriechender oder kletternder Ranken die reine Augenweide. Und dann die Luft, so klar, so kühl, ohne dabei kalt zu sein; und ihre Frische erinnerte die Nase an Wein.
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Was für ein Tag! Das Wetter war grandios gewesen, die Landschaft von unschuldig ländlichem Charme. Und dennoch hatte noch nie ein Tag Bony eine solche Reihe von nach Antworten verlangenden Fragen beschert. Er fragte sich, wie wohl Oberst Blythes Reaktion ausfallen würde, wenn er hörte, daß Grumman tot und sein Gepäck verschwunden war. Immerhin legte der Diebstahl des Gepäcks die Vermutung nahe, daß außer Oberst Blythe auch noch andere den Verdacht hegten, der hochkarätige Angehörige des OKW habe aus Deutschland Dokumente von unschätzbarem Wert herübergebracht. Er fragte sich auch, wie wohl Grummans Ende ausgesehen haben mochte. Bis zu einem gewissen Grad hatte Bony ja selbst am letzten Abend im Leben dieses Mannes teilgehabt. Um halb sieben hatte man ihm Grumman, zusammen mit vier weiteren Gästen – zwei Herren nebst Gattinnen –, als Tischgenossen zum Abendessen zugeteilt. Man saß an einem runden Tisch, Grumman dem Detektiv genau gegenüber. Der Deutsche war hager und von grobem Knochenbau. Er hatte hellblaue Augen und eine Rattenfalle von einem Mund. Sein angegrautes Haar trug er einigermaßen lang, für Bony ganz offensichtlich Teil einer Verkleidung. Das Haar kurz geschoren, ein Monokel im Auge, hätte er allzusehr nach dem ausgesehen, was er war – ein Preuße. Er sprach wie ein Deutscher, der viele Jahre in den Vereinigten Staaten von Amerika gelebt hatte, und sein Akzent hörte sich für Bony so entschieden amerikanisch an, daß er, hätte er nicht um Grummans Herkunft gewußt, nicht den geringsten Unterschied zum Englisch eines gebildeten Amerikaners herausgehört hätte. Grumman hatte bei Tisch einen ausgesprochen ungezwungenen Eindruck gemacht. Er sprach mit großem Interesse über Amerika und einige südamerikanische Städte. Sein Auftreten ließ nicht auf die geringste Reserviertheit schließen; er war nichts weiter als einer der vielen ebenso weitgereisten wie gebildeten Bewohner der
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amerikanischen Ostküste, die auf einer Vergnügungsreise rund um die Welt in Australien Station machen. Nach dem Essen schlenderten die fünf Leute, die mit Bony diniert hatten, in den Salon, wo man den Kaffee servierte und Miss Jade das Rauchen gestattete. Als Bony um halb acht den Salon verließ, um einen kleinen Spaziergang zu machen, unterhielt Grumman sich mit zwei der männlichen Gäste. Als er gegen Viertel nach acht wieder in den Salon kam, saßen Grumman und die beiden Männer noch immer in ein und denselben Sesseln. Grumman blieb mit den beiden Gästen bis fünf nach zehn zusammen, dann stand er auf und sagte, in Bonys Hörweite, er wolle noch einen scharfen Spaziergang machen, bevor er sich schlafen lege. Er verließ den Salon durch die Tür in den kurzen Flur zu Empfangshalle und Haupteingang. Er ging ohne Mantel und Hut aus dem Haus, denn, um diese aus seinem Zimmer zu holen, hätte er den Salon durch eine andere Tür verlassen müssen. Kurz vor Viertel vor elf kam Grumman durch dieselbe Tür wieder herein, durch die er gegangen war, und sein gerötetes Gesicht deutete in der Tat auf einen scharfen Spaziergang in der beißend kalten Luft. Ein älterer Herr, der bis dahin in einem Roman gelesen hatte, lud ihn ein, etwas mit ihm zu trinken, und Grumman bestellte sich einen Whisky. Nachdem er die Gastfreundschaft des Mannes erwidert hatte, ging er auf sein Zimmer; es war nun wenige Minuten vor elf. Grumman hatte das beste Zimmer des Chalets. Es bekam sein Licht durch ein Paar Verandatüren, die direkt auf die vordere Terrasse führten. Bonys Zimmer an der dem Berg zugewandten Seite des Hauses war weniger teuer und verfügte nur über ein gewöhnliches Fenster mit Blick auf die Straße, auf der Konstabler Rice gekommen war. Die Türschlösser waren die gleichen, und der Schlüssel von Bonys Zimmer paßte auch an Grummans Schloß. Er hatte sich dessen am Abend zuvor, kurz vor seinem Spaziergang, vergewissert. Gleichzei-
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tig konnte er sich vergewissern, daß Grumman sein Zimmer gar nicht verschloß, wenn er es tagsüber oder abends verließ. An der Skrupellosigkeit seiner Mörder bestand kein Zweifel. Wie hatten sie es wohl bewerkstelligt, den Mann zu vergiften? Das Gift war mit ziemlicher Sicherheit nicht in den Getränken gewesen, die George im Salon serviert hatte. Man mußte es ihm auf dem Zimmer verabreicht haben, und das nachdem er sich umgezogen und über seinem Pyjama den Hausmantel angelegt hatte. Er hatte im Salon zwei Whisky getrunken, den ersten auf Kosten des anderen Gastes, den zweiten auf eigene Rechnung. Der andere Gast hatte noch einen dritten vorgeschlagen, Grumman jedoch abgelehnt, so daß es wohl höchst unwahrscheinlich war, daß er, nachdem er sich ausgezogen, noch einen Schluck aus einem privaten Vorrat genommen hatte. Hatte er vor dem Zubettgehen noch von der Wasserkaraffe getrunken und dieses Wasser das Zyankali enthalten? Wohl kaum! Zum einen hatte er wohl kaum Durst gehabt, zum anderen trank ein Whiskytrinker kein Wasser – es sei denn, er hatte eine Tablette zu schlucken. Er fragte sich, ob diese »Idee« wohl auch Snook oder Mason gekommen war und ob man den Inhalt der Karaffe, falls sie etwas enthalten, für eine Analyse mitgenommen hatte. Außerdem überlegte er, wie dieser Marcus ins Bild paßte. Ein Drogenhändler, selbst einer von internationalem Format, konnte doch weder geschäftliche noch gesellschaftliche Beziehungen zu einem Mann wie Grumman haben. Womöglich hatte er Grummans Identität entdeckt und es auf eine kleine Erpressung abgesehen gehabt. Eines jedenfalls stand fest: Marcus war nicht für Grummans Tod und den Diebstahl seiner persönlichen Habe verantwortlich. Er unterbrach seinen Spaziergang für einen Blick auf das Chalet knapp siebzig Meter unter dem schmalen Sträßchen, dem er folgte. Zwei Männer ohne Hut und eine Frau mit einem scharlachroten Tuch über dem Haar kamen gemächlichen Schritts den Weg vom Gartentor herauf. Auf dem Platz vor dem Haupteingang parkten zwei Fahrzeuge, und noch während Bony so hinunterblickte, traten mehrere Män- 51 -
ner aus dem Haus und auf diese zu. Ein weiterer kam zusammen mit Bisker aus der Richtung von dessen Hütte. Außer dem Faktotum stiegen alle in die Autos, die dann die Auffahrt hinunter auf die Hauptstraße fuhren, und Bonys fest geschlossene Lippen umspielte ein kleines Lächeln, da es sich um die Zeitungsleute handelte. Hätten sie ihn gesehen, so hätte wahrscheinlich wenigstens einer von ihnen um seinen Beruf gewußt und ihn in alle Winde hinausposaunt. Er schickte sich eben an, seinen Weg fortzusetzen, um die obere Straße und auf ihr das Chalet zu erreichen, da sah er Bisker, der den abfahrenden Autos nachgesehen hatte, sich umdrehen und auf einen der Ziersträucher zu beiden Seiten der Eingangstür zugehen. Dort blieb er stehen, warf zuerst einen Blick durch die offene Tür in die Halle, dann einen in Richtung der Garagen. Mit einer flinken Bewegung streckte er die Hand, augenscheinlich, um die Erde in einem der Bottiche festzudrücken, zog die Hand jedoch mit einer ebenso flinken Bewegung wieder zurück, um dann einen weiteren verstohlenen Blick in die Runde zu werfen; dann ging er ganz unvermutet um die Ecke und betrat das Haus durch eine Hintertür gegenüber dem Holzstapel. »Noch ein kleines Geheimnis«, murmelte Bony entzückt. »Was an diesem Bottich mag wohl Biskers Interesse geweckt haben? Entweder er hat etwas von der Oberfläche der Erde darin genommen, ein Etwas, das ich nicht habe sehen können, oder er hatte etwas nehmen wollen, dann aber zuviel Angst gehabt, jemand aus der Halle oder bei den Garagen könnte ihn dabei sehen. Ich muß diesen Bisker etwas näher kennenlernen. Nun, jetzt brauche ich erst einmal eine Katzenwäsche und ein Abendessen. Hungrig wie ich bin. Muß wohl an der Luft liegen.« Keiner außer Bisker selbst konnte ahnen, wie ausgetrocknet er war. Miss Jade um einen Schluck »anzuhauen«, wagte er nicht. George zu bitten, ihm etwas gegen Bezahlung zukommen zu lassen, wagte er ebensowenig, da George oder Miss Jade sich womöglich an die volle - 52 -
Flasche Whisky erinnerten, die er sich, unter dem Vorwand, damit Miss Jades Lebensgeistern einheizen zu wollen, ins Büro hatte bringen lassen. Um sich in die Pinte eine Meile die Straße hinunter zu stehlen, dazu war es noch zu früh, da man noch nicht mit dem Abendessen begonnen und er somit noch Geschirr zu spülen hatte. Und überhaupt, warum eine Meile in die Pinte laufen, wo er doch nur zuzugreifen brauchte, um eine zu drei Vierteln gefüllte Flasche Whisky in der Hand zu haben? Was für ein Armleuchter war er doch gewesen! Sie sich bei Tageslicht holen zu wollen. Es hätte ihn jemand sehen können. Nur widerwillig riß Bisker sich von dem Bottich los und schlenderte mit seinem typischen Gang um die Ecke zur Spülküchentür. Da er zu dem Schluß gekommen war, daß ihm nichts anderes übrigblieb, als zu warten, bis er nach dem Essen »sauber gemacht« hatte, plante er, seine späteren Aufgaben zu reduzieren, indem er soviel wie nur möglich schon vor dem Essen erledigte. In der Spülküche erwarteten ihn bereits die ersten Arbeiten des Abends, und so füllte er einen Trog mit heißem Wasser und machte sich daran, den Stapel von Backblechen und anderen am Spätnachmittag benutzten Utensilien zu reduzieren. Als der Hausgong geschlagen wurde, hatte er somit bereits einen Vorsprung. Der Abend war schon fortgeschritten, als er das Haus verließ, und einmal mehr sah er sich auf der Stelle von der Versuchung befallen, sich die Flasche Whisky zu angeln. Die Gelegenheit war günstig. Die Gäste waren vermutlich auf dem Weg in den Speisesaal, die Sekretärin in ihrem Zimmer, um sich »fein zu machen«, und Miss Jade überwachte in der Küche die servierenden Mädchen. Trotz der fortgeschrittenen Dämmerung schnippelte Bisker erst an seinem Tabak herum und stopfte seine Pfeife, während seine Augen die Umgebung nach möglichen Feinden durchstreiften. Nichts rührte sich, noch nicht einmal eine Katze. Er blieb ganz beiläufig stehen, um sich seine Pfeife anzuzünden. Noch immer nicht die geringste Spur von Leben. Nach und nach arbeitete er sich um die Ecke an den Bot- 53 -
tich heran und setzte sich mit einer Nonchalance, derer er sich selbst gar nicht bewußt war, auf dessen Kante, sein Körper direkt über der heißersehnten Flasche. Das Licht der vom Dach über dem Eingang hängenden Lampe erreichte den Bottich zwar nicht mehr, aber da ihn einer, der aus der Tür hinaus auf die Veranda trat, sofort sehen würde, rutschte er weiter um den Strauch herum, bis der sich zwischen ihm und der Tür befand. Dann begann er mit seiner Rechten um den Strauch herum zu der Stelle zu tasten, die eine so unwiderstehliche, geradezu magnetische Anziehungskraft auf ihn ausübte. Seine Fingerspitzen hatten sich eben vorsichtig in die weiche Lehmerde zu graben begonnen, als an der Hausecke eine Gestalt auftauchte und langsam auf ihn zukam. Bisker zog seine Hand zurück, als hätte ihn eine Riesenameise gebissen. Sein Körper erstarrte, und da er es versäumt hatte, seine Pfeife auszumachen, fiel auch noch, ohne daß er es bemerkte, brennender Tabak auf seine alte Arbeitskleidung. »Guten Abend, Bisker!« begrüßte Bony ihn frohgemut. »Ha! Guten Abend, Mr. Bonaparte.« Biskers Stimme verriet den Zustand seiner Nerven. »Hübscher Abend!« »Das ist er gewiß. War der Gong schon zu hören?« »Vor fünf Minuten«, antwortete Bisker. »Dann muß ich mich wohl sputen. Guten Abend!« Bisker sah Bony in den Schein der Lampe über dem Treppenabsatz treten und in der Empfangshalle verschwinden. Er wartete – eine geschlagene Minute. Jetzt oder nie. Es war schon fast dunkel. Jetzt rasch gegraben, und dann ab in seine Hütte und Noch einmal zog Bisker seine Hand mit der gleichen Geschwindigkeit wie schon vorhin zurück. Bony tauchte wieder auf der kleinen Veranda auf und kam ohne Eile nach draußen, wo Bisker auf dem Bottich mit dem Zierstrauch saß. »Tut mir leid, Sie zu stören«, sagte ihm Bony. »Ich habe nur den Eindruck, Sie vor einiger Zeit schon mal gesehen zu haben, und ich - 54 -
werde diesen Gedanken einfach nicht mehr los. Stammen Sie aus der Gegend hier?« »Was, ich?« platzte Bisker heraus. »Ich und aus dieser armseligen nebelverseuchten und totgefrorenen Gegend? Nein, ich komm’ von westlich von Cobar, wo die Leute zivilisiert sind, jedenfalls die paar, die’s da gibt, und wo’s so viel Wald hat, daß man nicht zu erfrieren braucht. Sie sind Viehzüchter, nicht, Sir?« »Ja, Bisker. Ich habe eine Beteiligung in Thunder Downs im Westen von Queensland. Sind Sie da schon mal durchgekommen, durch Thunder Downs?« »Und ob«, antwortete Bisker, etwas munterer jetzt, wo seine Erinnerungen das Verlangen, an seine Flasche zu kommen, in den Hintergrund drängten. »Ich bin mit Vieh durchgekommen durch Thunder Downs – lassen Sie mich sehen, ja, siebenunddreißig ist das gewesen.« »Was treiben Sie denn dann hier unten?« fragte Bony und kannte die Antwort, noch bevor Bisker sie aussprach. Bisker zögerte nicht. »Ich bin auf Urlaub nach Melbourne gekommen und pleite gegangen. Und seither ständig pleite gewesen. Der Schnaps hat mich gewaltig am Wickel.« »Würden Sie gern wieder zurück in den Busch, Bisker? Wo sich’s noch lebt, wie sich das für einen richtigen Mann gehört, und wo’s keinen Schnaps gibt außer vielleicht einmal im Jahr unten in Cobar oder Broken Hill?« Durch Biskers Zögern wurde es still. Dann sagte er: »Ich kann mir einfach nicht genug Geld sparen, um wieder an eine Endstation von der Bahn zu kommen. Ich bin mal Hunderte von Meilen durch Gemüseland getippelt, und das tu’ ich mir nicht noch mal an.« Bisker tat einen Griff nach einem Strohhalm: »Ich nehme an, Sie würden mich wohl nicht vielleicht mit zurücknehmen, wenn Sie gehen, was, Mr. Bonaparte?« »Schon möglich«, räumte Bony ein. »Ich werd’s mir überlegen.«
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»Danke«, sagte Bisker und meinte es ernst. »Wissen Sie, wenn ich erst mal für zwei, drei Monate von der Trinkerei wegkäme, dann war’ ich schon wieder in Ordnung.« »Das wären Sie ohne Frage. Ich werde sehen, was sich machen läßt, Bisker. Jetzt muß ich aber zum Essen. Wann bekommen Sie denn was?« Bisker rutschte von der Bottichkante und sagte, jetzt gleich und daß er auf der Stelle rein müsse, und so konnte Bony sicher sein, daß, was auch immer Bisker an diesem Strauch da interessiert hatte, bis später würde warten müssen. »Wo stecken Sie denn?« wollte Mrs. Parkes von Bisker wissen, als er in die warme Küche trat. »Ich hatte zu tun«, antwortete Bisker in einem Ton, daß die Köchin ihn anstarrte. Ohne Eile ging er zum Tisch, an dem das Personal aß. Angesichts der Möglichkeit, in seinen geliebten Busch zurückzukehren, verblaßte sein Verlangen nach Whisky. Er aß, was man ihm vorsetzte, ohne so recht zu registrieren, was es war. Er gehörte nun mal zu jener kleinen Armee von Männern der Wildnis, die trotz harter Arbeit ihr hartes Leben in vollen Zügen genossen – bis sie Whisky witterten oder das Quietschen eines Korkens hörten. Von da an hält nichts und niemand mehr sie davon ab, ihren Lohn einzufordern und in die nächste Stadt oder wenigstens in die nächste Fernfahrerkneipe zu eilen. Und wie das Spinnenmännchen sind sie sich der Gefahr der Sirenen völlig bewußt. Er stand bereits wieder beim Abwasch über den schweren Utensilien, in denen das Abendessen zubereitet worden war, als seine Gedanken wieder zu der im Bottich vergrabenen Flasche zurückkehrten, und als er bei jenem Topf angelangt war, nach dem ihm die ganze Zeit über gewesen war – mit anderen Worten beim letzten –, da pfiff er in freudiger Erwartung durch die Zähne. Das Tagwerk beendet, ging er hinaus, ohne der Köchin auch nur eine gute Nacht zu wünschen. Er drückte sich über den Platz vor den
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Garagen zu seiner Hütte, wo er die Sturmlampe ansteckte und auf seinem offenen Herd Feuer machte. Als er damit fertig war, verließ er die Hütte und folgte dem Weg auf die offene Fläche, an deren Rand er stehenblieb, um einen forschenden Blick auf die jetzt in Dunkelheit gehüllte Szenerie zu werfen. Die kleine Veranda vor dem Haus erstrahlte im Licht der Lampe. In einigen Zimmern zur Linken brannte Licht. Das Dach des großen Hauses stützte den schwarzen, aber sternenbehangenen Himmel. Mit zwei Schlenkern warf Bisker die Stiefel ab, die er den ganzen Tag über nicht geschnürt hatte. In Socken schlich er über den geteerten Platz vor den Garagen. In seinem beschränkten Gesichtsfeld bewegte sich nichts Lebendiges, und den Strauch behielt er stets zwischen sich und der Veranda. Ohne das geringste Geräusch erreichte er den Bottich, wo er eine geschlagene Minute wie ein noch dunklerer Schatten stehenblieb. Jetzt oder … Bisker grub seine Hände in die weiche Lehmerde, und seine Finger stießen auf etwas sowohl Rundes als auch Weiches und auf etwas Ähnliches gleich daneben. Seine Finger gruben etwas tiefer in den Lehm und kamen schließlich mit etwas heraus, was sich anfühlte wie zwei Füllfederhalter in einem Lederetui. Dieser Gegenstand wanderte rasch in seine Tasche, dann tauchte er hektisch noch einmal in den Bottich – und stieß zu seiner ekstatischen Erleichterung wenige Zentimeter unter der Stelle, wo er die beiden Füllfederhalter, falls es welche waren, gefunden hatte, auf den Stöpsel der Whiskyflasche. Mit der Linken drückte er die Flasche an die Brust, während seine Rechte die Erde wieder glättete. Das beschäftigte ihn fünf Sekunden, dann schlich er zurück über den geteerten Vorplatz, sammelte seine Stiefel auf und huschte wie ein schwarzes Gespenst den schmalen Weg entlang zu seiner Hütte. Mit einem erleichterten Seufzer schloß er die Tür und trat an den Tisch, wo er im Licht der Lampe mit der heiteren Häme eines geldzählenden Geizkragens den Inhalt der Flasche studierte. - 57 -
Bisker setzte sich auf eine Kiste neben dem Tisch, setzte die Flasche an die Lippen und trank. Das flüssige Feuer lief ihm den Schlund hinunter, nahm seinen Weg in die Venen und besiegte die Depression, die sich wie ein enormes Gewicht auf sein Gemüt gelegt hatte. Er trank noch einmal, etwas langsamer diesmal und auch nicht soviel. Dann stellte er die Flasche ab, stopfte seine Pfeife und rauchte. Ha! Das Leben war doch gar nicht so schlecht. Die Flasche stellte einen Sieg dar, soviel stand fest. Und was für einen. Einen Sieg über den alten Drachen und George, diesen Malefiz, der selbst einer sterbenden Ente ein letztes Gräschen verweigern würde. Biskers Hand streifte über seine linke Jackentasche und berührte den ersten Gegenstand, den er aus dem Bottich genommen hatte. Er hatte richtig vermutet. In einem schwarzen Lederetui mit zwei starken Sicherheitsnadeln hinten dran fand er zwei große Füllfederhalter. Bisker besah sie sich. Dann zog er sich eine alte Zeitung heran, schraubte einen der beiden Füller auf und probierte seine grauenhafte Handschrift. Nichts. Er probierte es mit dem anderen, hatte aber auch damit keinen Erfolg. Zwei gute Füller, goldenes Gehäuse. Wie mochten sie wohl funktionieren? Bisker besah sie sich genauer. Er hob den goldenen Kolben an, drückte dann – nichts. Aber auf die Art und Weise hatte doch der Füller vom jungen Frank oben in Marlee Cliffs Tinte verspritzt, ein ähnlicher Füller wie der hier. Wozu war wohl die kleine Schraube am oberen Ende beider Füller gut! Bisker versuchte eine davon mit dem Daumennagel zu lockern, schaffte es aber nicht. Er setzte die Spitze seines Taschenmessers an und bekam sie nach anfänglicher Mühe los. Als er sie mit Daumen und Zeigefinger herausnahm, sah er, daß sie in einem winzigen Zylinder von noch nicht mal einem Zoll Länge gesteckt hatte. Den Zylinder umgab eine glänzende wachsartige Schicht. »Was, zum Teufel, mag da wohl drin sein?« fragte er sich leise. »Tja, das schneiden wir einfach auf und schauen mal nach.«
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Die Spitze der Schneide seines Taschenmessers war rasiermesserscharf. Damit begann er sich der Länge nach durch das doch ziemlich harte Wachs zu schneiden. Mit einemmal sprang das, was darunter war, auf, und Bisker saß da und blickte auf einen Streifen weißen Zelluloids noch nicht einmal anderthalb Zentimeter breit und vielleicht dreißig lang. Auf diesem Streifen war eine Reihe kleiner schwarzer Punkte von der Größe von Stecknadelköpfen. Dann stockte Bisker das Blut. Hinter ihm stand einer. Er hatte zwar nichts gehört, aber er wußte ganz plötzlich, daß hinter ihm einer stand. »Wo haben Sie die Füllfederhalter her, Bisker?« Das Blut in Biskers Atem begann wieder zu fließen. Die Füller! Puu! Er hatte schon Angst gehabt, wer auch immer hinter ihm stand, sei hinter der Flasche Whisky her. Aber die Stimme gehörte Mr. Bonaparte.
6 Biskers nächtliche Besucher »Halten Sie die Hände ruhig, Bisker. Sie zerreißen da sonst womöglich einen ausgesprochen wertvollen Film.« In Biskers Gesichtsfeld glitt Bonys langgliedrige braune Hand und legte sich fest um das Gelenk seiner eigenen. Gegen seine Schulter drückte sich der schlanke Körper des Gastes, der ihm versprochen hatte, drüber nachzudenken, wie man ihn aus der Knechtschaft von Miss Jade befreien könnte. Bisker staunte über die Kraft dieser Finger auf seinem Handgelenk. Dann tauchte Bonys andere Hand in Biskers Gesichtskreis, und deren Finger entwirrten den langen Streifen Zelluloid mit den vielen
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deutlichen schwarzen Punkten darauf. Ein Stück Kinofilm hätte man meinen können. »Ich lasse Ihre Hand jetzt los. Bewegen Sie sie nicht, bevor ich es nicht sage«, befahl Bony, und Bisker sah wie gebannt zu, als die beiden braunen Hände ihm den Streifen vorsichtig aus den Fingern nahmen. Er sah, daß das innere Ende an einer Aluminiumspindel befestigt war. »Nehmen Sie das Ende. Sachte jetzt. Nehmen Sie den Film am Rand und nicht loslassen.« Bony hatte den Streifen jetzt zwischen sich und Bisker ausgespannt und begann ihn mit äußerster Vorsicht wieder auf die Spindel zu rollen. Wortlos beobachtete Bisker die braunen Hände und warf dann einen Blick nach oben in das braune Gesicht, in dem wie zwei Edelsteine blaue Augen funkelten; dann blickte er wieder auf den Film, der langsam aufgewickelt wurde. Nach einer halben Ewigkeit, wie es Bisker – die Whiskyflasche hinter Bonys Händen im Auge – schien, wurde das Ende gegen die Rolle gezogen und die Rolle wieder in die wachsartige Hülle gesteckt. An der Schnittnaht zusammengepreßt wurde das Ganze zurück in den Füllfederhalter gesteckt. Als letztes wurde die Halteschraube eingedreht und das Schreibgerät in das lederne Etui gesteckt. Erst als er das Lederetui in Bonys Tasche verschwinden sah, machte Bisker den Mund auf. »Unverschämt sind Sie wohl gar nicht, was? Schließlich hab’ ich die verdammten Füller gefunden, nicht Sie. Könnt’ man womöglich ’ne Mordsbelohnung dafür kriegen.« An der Wand stand noch eine zweite Kiste, die Bony nun an den Tisch brachte, um sich Bisker gegenüberzusetzen. »Also was ist nun –« fing Bisker an, verstummte dann aber, wenn auch widerwillig, unter dem durchdringenden Blick dieser eiskalten blauen Augen in diesem braunen Gesicht. Er fühlte sich entschieden erleichtert, als die blauen Augen sich abwandten, um sich auf die Herstellung einer Zigarette zu konzentrieren, und das dadurch entstehende Schweigen, in dem das leise Knacken des Feuers ihm wie
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ein Geräusch aus einer anderen Welt vorkam, schien Bisker schier nicht mehr enden zu wollen. Dann, ohne dabei aufzusehen, sagte Bony: »Ziehen Sie die Jalousie herunter. Wenn sie unten ist, werde ich nachsehen, ob sich draußen jemand herumtreibt. Sie setzen sich dann wieder hierher, und daß Sie mir ja den Whisky nicht anrühren. Ist das klar?« »Ja, Mr. Bonaparte, aber – was soll das alles bedeuten?« »Das werde ich Ihnen in ein, zwei Minuten sagen. Also – die Jalousie.« Bisker war danach, aufzumucken, aber er gehorchte, und als er die Jalousie vors einzige Fenster gezogen hatte, legte Bony die eben fabrizierte Zigarette, sie sorgfältig ausbalancierend, auf den gläsernen Stöpsel der Whiskyflasche. Dann huschte er an die Tür, die er beim Hereinkommen nicht geschlossen hatte, öffnete sie weit genug, um nach draußen zu kommen und zog sie dann hinter sich zu. Die Nacht war trotz der Sterne dunkel. Er bewegte sich flink um die erste Ecke der Hütte, machte dort kehrt und kam noch einmal an der Tür vorbei, um zur anderen Ecke zu gelangen. Auf diese Art und Weise ging er um das ganze Gebäude, bis er, überzeugt davon, daß keiner mit ihm Verstecken spielte, wieder vor der Tür stand. Normale Augen hätten weder die Stämme der Eukalyptusbäume entlang der Auffahrt gesehen noch das von der Hüttentür aus kaum auszumachende Grau der Garagen oder die mit Sträuchern bestandene Böschung jenseits der von Fenstern durchbrochenen Hauswand, hinter der wiederum Bäume standen. Normale Ohren hätten auch das leise Flüstern des vom Luftzug bewegten Laubwerks oder die Schritte der Katze auf totem Laub nicht vernommen. Es gab jedoch selbst für Bonys Augen, mochten sie auch zur Hälfte die eines Eingeborenen sein, eine Menge undurchdringlicher Schatten, Winkel und leerer schwa rzer Tunnel, die eine Hundertschaft von Feinden hätten verbergen können, aber er kam zu dem Schluß, für den Augenblick leidlich sicher sein zu können, daß niemand sich nahe genug an Tür oder Fen-
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ster herangearbeitet hatte, um zu sehen, was Bisker aus dem Bottich mit dem Zierstrauch genommen hatte. Als er die Tür wieder öffnete, fand er den rundlichen kleinen Mann noch immer auf seiner Kiste sitzend vor. Nur daß er jetzt mit dem Gesicht zur Tür saß, die Augen weit geöffnet und der graue Schnurrbart wie Kakteenstacheln in seinem Gesicht. Bony schloß die Tür hinter sich und trat an den Tisch, setzte sich auf die zweite Kiste, nahm die Zigarette vom Stöpsel der Flasche und steckte sie an. »Sie können eine Tasse oder ein Glas holen, Bisker, und sich einen einschenken. Aus der Flasche trinken verletzt meinen Sinn für die feine Englische.« Bisker blinzelte, erhob sich und holte eine gesprungene Tasse an den Tisch. Bony reichte ihm die Flasche und sah zu, wie der Mann die Tasse zur Hälfte füllte. Die Tasse an den Mund gehoben, besah sich Bisker über ihren Rand hinweg seinen Besucher. Dann nahm er einen bescheidenen Schluck und wischte sich mit dem Jackenärmel über den Mund. Dann sah er sich aufgefordert, sich doch eine Pfeife anzuzünden. »Wo haben Sie die Füllfederhalter gefunden?« fragte Bony und ermahnte Bisker, möglichst leise zu sprechen. »In dem Bottich von dem Strauch links von der Veranda«, antwortete Bisker ihm. »Ich wollt’ mir nur meine Flasche hier holen, da spür’ ich die Spitzen von den Füllern da. Ich hab’ natürlich nicht gewußt, was es ist. Die Flasche, die –« »Wann und wo Sie zu der gekommen sind, erzählen Sie mir besser nicht«, unterbrach ihn Bony. »Sie sagen also, Sie haben zuerst die Spitzen der Füllfederhalter gespürt. Waren Sie einfach mitsamt dem Etui in die Erde gesteckt?« »Genauso war das, denk’ ich wenigstens«, pflichtete Bisker ihm bei. »Wie nahe dran waren sie denn an Ihrer Flasche?« »Vielleicht grade mal fünf Zentimeter weiter. Wissen Sie, als ich die Flasche versteckt habe, da hab’ ich Angst gehabt, der Stoff könnte mir auslaufen, wenn ich sie quer lege, also hab’ ich mit den Händen ein - 62 -
Loch gegraben, grade rund genug, daß sie reingeht, und tief genug, um noch ’n paar Zentimeter Erde über dem Stöpsel zu haben.« »Wann war das?« »Nur ’n paar Minuten, bevor Sie heute vormittag um die Hausecke gekommen sind und mich auf dem Bottich haben sitzen sehen.« »Hmmm! Lassen Sie mich mal überlegen.« Fest an seiner Pfeife ziehend, beobachtete Bisker das nun reglose Gesicht seines Besuchers. Zu gern hätte er ihm ein paar Fragen gestellt, aber ein Gefühl der Unterlegenheit hielt ihn davon zurück. »Haben Sie sich zwischen dem Zeitpunkt, an dem ich Sie heute morgen, als Sie auf dem Bottich saßen, verlassen habe, und dem Zeitpunkt, an dem die Polizei eintraf, von dem Bottich entfernt?« »Nein«, antwortete Bisker. »Ich bin sitzen geblieben.« »Zwischen der Abfahrt des Inspektors und der Ankunft der Reporter verging nicht ganz eine Stunde. Wo waren Sie während dieser Zeit?« »Beim Holzstapel, oder jedenfalls die meiste Zeit.« »Konnten Sie den Bottich vom Holzstapel aus sehen?« Bisker schüttelte den Kopf. »Haben Sie irgend jemanden in diese Richtung gehen sehen?« »Nein.« »Na schön. Dann sagen Sie mir mal folgendes: Glauben Sie, daß Sie die Flasche neben den Füllfederhaltern vergraben haben oder daß die Füllfederhalter erst danach neben der Flasche vergraben wurden?« Angesichts dieses Appells an seine Intelligenz heiterte sich Biskers Miene sichtlich auf. »Ich hätte die Flasche fünf oder zehn Zentimeter neben den Füllern verbuddeln können, ohne zu merken, daß sie da waren«, sagte er. »Wissen Sie, Mr. Bonaparte, ich hab’ nämlich erst mal so über den Daumen gepeilt, wie groß das Loch für die Flasche werden soll, und als ich sie dann wegsteckte, paßte sie aber auch haargenau rein.« Bisker ruhig im Auge behaltend, sagte Bony ihm, er solle einen Augenblick still sein. Er drehte sich auf seiner Kiste herum, so daß er mit - 63 -
dem Rücken zur Tischkante zu sitzen kam, und Bisker nahm die Ta sse und nippte an ihrem Inhalt. Bony war überzeugt davon, daß man die Füllfederhalter in ihrem Lederetui irgendwann vor dem Frühstück in den Bottich gesteckt hatte, höchst wahrscheinlich noch vor Tagesanbruch. Daß sie General Lode alias Mr. Grumman gehört hatten, das sagte ihm seine Vernunft. Außerdem war er ziemlich sicher, daß sich auf der Filmrolle, auf mikroskopische Größe reduziert, die Formeln und Pläne befanden, die in die Hände zu bekommen Oberst Blythe kaum erwarten konnte. Nun denn, da hatten also allem Anschein nach eine oder mehrere Personen Grummans persönliche Habe aus seinem Zimmer entwendet, und das in der offensichtlichen Absicht, sie in aller Ruhe nach dem Material zu durchsuchen, das man nach Beendigung der Kampfhandlungen auf dem europäischen Kriegsschauplatz aus Deutschland herausgebracht hatte und das Blythe jetzt haben wollte. Es konnten demnach unmöglich diese Personen – diese Person – gewesen sein, die das Etui mit den Füllfederhaltern in die Erde des Bottichs gesteckt hatten. War dieser Person oder diesen Personen ein anderer zuvorgekommen, der Grumman um die Füllfederhalter erleichtert hatte, noch bevor er gestorben und sein Gepäck aus seinem Zimmer entfernt worden war? Oder hatte Grumman schon geargwöhnt, man könnte versuchen, sich der wertvollen Filme zu bemächtigen, und sich ihrer daraufhin selbst entledigt, indem er sie ausgerechnet dorthin schob, wo Bisker seine Whiskyflasche zu vergraben beschloß? Nach dem Essen am Abend zuvor hatte Grumman im Salon seine Absicht verkündet, noch einen Spaziergang zu machen. Er hatte den Salon durch die Tür zu Halle und Veranda, zu deren Seiten die Bottiche mit den Sträuchern standen, verlassen. Hatte Grumman seine Füllfederhalter bei dieser Gelegenheit vergraben? Falls ja, dann mußte er sich tatsächlich Sorgen um ihre Sicherheit gemacht haben; er mußte befürchtet haben, man könne sie ihm zu stehlen versuchen. Oder aber er hatte erwartet, verhaftet zu werden. - 64 -
Und dennoch … Als er zurückkehrte und den Drink des Fremden akzeptierte, dessen Gastfreundschaft er dann sogar erwiderte, hatte er keinen besorgten oder gar ängstlichen Eindruck gemacht. Er war im Gegenteil seelenruhig und zeigte keinerlei Anzeichen von Nervosität, noch nicht einmal dem scharfen Auge Bonapartes. Angenommen, es war nicht Grumman, der die Füllfederhalter vergraben hatte, so mußte der Betreffende sie ihm gestohlen und vergraben haben – und nun auf eine günstige Gelegenheit warten, sie sicherzustellen. Es war höchst unwahrscheinlich, daß er etwas mit dem Diebstahl von Grummans Gepäck zu tun hatte. Überdies bestand die Möglichkeit, daß er den Bottich wenigstens mit Unterbrechungen im Auge behalten und somit mitbekommen hatte, daß Bisker sich dort herumgetrieben, ja sich sogar auf die Kante gesetzt hatte. In diesem Fall würde er jetzt davon ausgehen, daß Bisker sie an sich genommen hatte, und wohl vor nichts zurückschrecken würde, sie wieder in seinen Besitz zu bringen – noch nicht einmal vor Mord. Ein Menschenleben würde nichts im Vergleich zu Bedeutung und Wert dieser geheimen Formeln und Pläne wiegen. War dieser Marcus hinter ihnen hergewesen? Hatte Grumman Marcus in der Nacht, in der er starb, erwartet? Hatte er, Grumman, diesen Marcus so gefürchtet, daß er die Füllfederhalter selbst dort vergraben hatte, wo Bisker sie entdeckte? Wenn ja, hätte er dies tatsächlich getan, als er hinausging, um seinen Spaziergang zu machen, wo doch die Lampe über der Veranda für ihn nicht weniger gefährlich war als für Bisker, als der seine Flasche ausgraben wollte? Je länger er sich diese Fragen durch den Kopf gehen ließ, um so besser gefiel ihm die These, daß derjenige, der die Füllfederhalter in den Bottich gesteckt, gar nichts zu tun hatte mit dem- oder denjenigen, die Grummans Leiche zum Graben hinuntergetragen und sein Gepäck gestohlen hatten. Warum hatte er die Füllfederhalter vergraben? Sie waren doch leicht zu verstecken. Falls Grumman sie nicht selbst vergraben hatte, was ihm immer unwahrscheinlicher schien, dann mußte der andere - 65 -
dies getan haben, weil er befürchten mußte, man könnte sie an seiner Person oder bei seinen Sachen finden. Das wiederum würde darauf hindeuten, daß er nicht nur um Grummans Tod gewußt hatte, sondern darüber hinaus entweder zum Personal oder zu den Gästen gehörte und nicht eigens ins Haus gekommen war, um die Füllfederhalter zu stehlen. Weiter würde es bedeuten, daß der Dieb sich darüber im klaren war, daß man ihn und seine Habe durchsuchen könnte, noch bevor er das Haus, ohne Verdacht zu erregen, verlassen konnte. Der Wert des Inhalts der beiden Füllfederhalter war, angenommen es handelte sich um das von Oberst Blythe angesprochene Material, nicht zu beziffern. Um es Grumman abzujagen, hatte man sich bereits verzweifelter Methoden bedient, nicht zuletzt des Mordes an Grumman selbst. Wenn diese Leute tatsächlich davon ausgingen, die vergrabenen Füllfederhalter befänden sich in Biskers Besitz, so war sein Leben keinen Pfifferling mehr wert. Und Bisker? Hatte er die Füllfederhalter selbst gestohlen und in den Bottich gesteckt! Hatte er sie vergraben, damit man sie nicht bei ihm finden würde, nachdem man den Diebstahl entdeckt hätte? Hatte er sie als Füllfederhalter gestohlen und gar nicht wegen dem, was sie anstatt der Tinte Bemerkenswertes enthielten? Bony drehte sich abrupt um und blickte Bisker an. »Warum haben Sie die Füllfederhalter gestohlen, Bisker?« fragte er mit einem festen Blick in Biskers blasse Augen. Er sah Biskers Brauen sich heben, sah den unwilligen Ausdruck durch dessen Augen blitzen und wußte, noch bevor sein Gegenüber ärgerlich dementierte, daß Bisker sie nicht gestohlen hatte. »Schon gut! Ich glaube Ihnen ja«, versicherte er dem Faktotum. Wie weit konnte er Bisker um dessen eigener Sicherheit willen ins Vertrauen ziehen? Ein der Trunksucht Verfallener ist nie sicher, aber darüber hinaus sähe Bisker sich, falls tatsächlich jemand die Füllfederhalter in seinem Besitz wähnte, womöglich einem tödlichen Anschlag ausgesetzt. Bony überlegte weiter. Bisker war ein Mann des - 66 -
Busches. Mochte der Alkohol auch sein Ruin sein, so verfügte er doch über eine gewisse Charakterstärke. Bony glaubte, seinen Mann leidlich gut zu kennen, und kam denn auch zu dem Schluß, es mit ihm zu riskieren. Er sagte: »Ich werde Ihnen jetzt ein paar Dinge sagen, Bisker, und zwar um Ihrer eigenen Gesundheit willen. Ich habe allen Grund zu der Annahme, daß man diesen Grumman dieser Füllfederhalter wegen umgebracht hat. Sie haben ja gesehen, was in einem davon steckt. Bei dieser Reihe von kleinen Punkten handelt es sich um Industriegeheimnisse von unschätzbarem Wert. Sie haben sich bei diesem Bottich herumgetrieben, und der Mann, der die Füllfederhalter dort vergraben hat, könnte Sie gesehen haben, und wenn er nun hingeht, um sie sich zu holen, bringt er ihr Verschwinden womöglich mit Ihnen in Verbindung. Dann ist er womöglich hinter Ihnen her. Können Sie mir folgen?« Bisker nickte, und Bony verspürte eine gewisse Befriedigung, als er keinerlei Anzeichen von Furcht auf Biskers Gesicht bemerkte. »Ich gehe jetzt zurück auf mein Zimmer und hole mir ein paar Dekken«, fuhr Bony fort. »Ich werde hier bei Ihnen kampieren, und morgen werden Sie und ich zusammen nach Melbourne fahren, wo ich dafür sorge, daß man Sie zur Windee-Farm hinauf eskortiert. Der Chef dort wird Ihnen auf meine Bitte hin einen Job geben. Dort bleiben Sie dann, bis man Sie für die gerichtliche Untersuchung braucht.« »Dunnerlittchen, Mr. Bonaparte!« rief Bisker aus. »Also das könnt’ mir taugen.« »Na schön. Kein Wort zu niemandem, verstanden! Ich bin in ein paar Minuten wieder da, ich gehe mir nur ein oder zwei Decken holen. Haben Sie einen Schlüssel zu der Tür hier?« Bisker schüttelte den Kopf und sagte dann: »Da in der Ecke steht ein altes Beil. Das ist leicht und handlich.« »Ausgezeichnet. Und lassen Sie die Finger von der Flasche.« Bony ging zur Tür, öffnete sie und ging, sie hinter sich zuziehend, nach draußen. In der Dunkelheit wartete er einen Augenblick, bis sich - 67 -
seine Augen darauf eingestellt hatten. Dann schlich er mit dem geräuschlosen Schritt einer Katze einmal um die Hütte, dann den schmalen Weg zu dem Platz vor den Garagen hinauf und betrat das Haus durch den Haupteingang. An der Rezeption begegnete er Miss Jade. »Das haben Sie ausgesprochen raffiniert gemacht, Mr. Bonaparte«, sagte sie lächelnd. »Ja, was denn, Miss Jade?« »Wie Sie den Reportern aus dem Weg gegangen sind«, antwortete sie. »Sie haben mir entsetzlich zugesetzt, und dann die Blitzlichter, als sie mich fotografierten. Und die Fragen, die sie gestellt haben! Das ganze Haus haben sie fotografiert, und ich mußte mich auf die Terrassentreppe stellen. Morgen soll ich in allen Zeitungen sein. Denken Sie nur, was für eine Reklame, Mr. Bonaparte!« Bony lächelte entzückt. »Da werden Sie das Haus ja schon morgen abend wieder voll haben«, prophezeite er und fügte dann verbindlich hinzu: »Ich bin sicher, Miss Jade, die Inhaberin des Chalets Weitblick wird dem Haus selbst nicht den geringsten Abbruch tun.« Miss Jade war entzückt. Sie wollte unbedingt über das Rampenlicht sprechen, in dem sie und ihr Haus aller Erwartung nach stehen würden, und nur unter Aufbietung einer gewissen Unnachgiebigkeit in Verbindung mit einem Höchstmaß an Takt gelang es Bony, sich von ihr loszueisen und auf sein Zimmer zu gehen. Er stellte fest, daß man sein Fenster bis auf knapp zehn Zentimeter geschlossen und die Jalousie heruntergezogen hatte. Aus seinem Koffer brachte er eine kleinkalibrige Pistole zum Vorschein und prüfte geschwind deren Ladung. Er trug die Waffe in der rechten Seitentasche seines Anzugs. Vom Bett nahm er drei Decken, rollte sie zusammen und schnürte sie mit der Kordel seines Bademantels zu einem Bündel. Drei weitere Minuten beschäftigte er sich mit den Füllfederhaltern, dann knipste er das Licht aus und hob langsam und geräuschlos das Fenster. Auf diesem Weg verließ er das Haus.
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Er mußte am Holzstoß vorbei, um den Lichtkegel der Lampe über der Spülküchentür zu vermeiden. Vom Holzstoß aus schlich er zur Rückseite der Garagenzeile und kam so wieder auf den schmalen Weg, der zu Biskers Hütte führte. Wie ein Schatten »schwebte« er den Weg entlang. Die Hütte tauchte aus dem Nichts, und er hielt inne, als er bemerkte, daß der Lichtspalt, den er unter der Tür gesehen, als er beim Weggehen noch einen Blick über die Schulter geworfen hatte, verschwunden war. Er verließ den Weg und tastete sich langsam über ein Gemüsebeet zu der Hecke hinter der Hütte. Auf diese Weise erreichte er die Hüttenwand mit dem Fenster. Eine volle Minute stand er, das Ohr gegen die Scheibe gepreßt, davor. Nicht das leiseste Geräusch drang aus dem Inneren der Hütte. Lautlos schlich er um die erste Ecke, wartete dort einen Augenblick, drückte sich dann um die zweite und preßte sich neben der geschlossenen Tür gegen die Hüttenwand. Noch immer hörte er nichts von drinnen. Langsam veränderte er seine Position so, daß er auf der einen Seite des Türgriffs zu stehen kam, drehte diesen mit einer flinken Bewegung und stieß die Tür dann nach innen auf. Sie krachte gegen die Wand. »Bisker!« rief er. Bisker antwortete nicht. Bony rief seinen Namen ein zweites Mal. Die Stille in der Hütte hielt an. Bony wartete eine geschlagene Minute, bevor er um den Türrahmen zu blicken wagte. Zuerst war nichts auszumachen als das Bett, dann auch die rote Glut des Feuers auf dem offenen Herd. Auf der gegenüberliegenden Seite, vor dem Fenster, stand der Tisch, dessen dem Feuer zugewandte Seite das rote Glühen schwach beleuchtete. Die Selbstladepistole in der Hand glitt Bony weiter um den Türrahmen herum, bis er die Innenseite der Wand entlangzublicken vermochte. Es war niemand da, und daß keiner hinter der Tür stand, dessen konnte er sicher sein, so wie sie gegen die Wand geknallt war.
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Nichts bewegte sich im Düster des Raums, und nachdem er weitere zwei Minuten gewartet hatte, trat er, die Deckenrolle wie ein Schild vor sich hinhaltend, ein. Noch immer bewegte sich nichts, aber es bestand die Möglichkeit, daß jemand unter dem Bett oder dem Tisch steckte. Der Schein der Glut spiegelte sich im Glas der Laterne und der Whiskyflasche. »Sind Sie hier irgendwo, Bisker ?« rief er noch einmal, aber leise. Keine Antwort. Er legte seinen Deckenschild auf den Tisch, ging zur Tür und machte sie zu. Dann trat er wieder an den Tisch und steckte die Laterne an. Auf dem Boden neben dem Bett lag Bisker. Er lag auf dem Rücken, einen Arm parallel zu seinem Kopf, als versuchte die eine Hand noch nach dem kurzstieligen Beil zu greifen.
7 Wie gewonnen, so zerronnen Zwanzig Minuten! Länger war er nicht weggewesen, und doch war Bisker während dieser Zeit etwas zugestoßen, was ganz entschieden nach einer Gewalttat aussah. Die Laterne auf dem Boden absetzend, ging Bony auf die Knie, um einen eingehenderen Blick auf Biskers Gesicht zu werfen. Sein Mund war leicht geöffnet, und er atmete leise. Seine Jacke war aufgeknöpft; neben ihm lagen ein Korkenzieher und ein Sparbuch. Seine Hosentaschen waren nach außen gekehrt, und es deutete alles darauf hin, daß man seine Taschen durchsucht hatte. Als Bony ihn bei der Schulter nahm und ihn sachte rüttelte, reagierte Bisker nicht im geringsten. Erst dann bemerkte Bony das Blut auf Biskers Hinterkopf, einen Flecken von der Größe einer Fünfschillingmünze. Eine Wunde, die unmöglich von einem Unfall herrühren konnte. - 70 -
Die durchsuchten Taschen deuteten darauf hin, daß derjenige, der ihm die Wunde beigebracht, nach den Füllfederhaltern gesucht hatte. Vom Bett hinter Bisker hatte man die Decken gerissen, die jetzt in einem Haufen auf dem Boden lagen. Die Matratze war umgedreht und hochkant gestellt, als hätte man auch darunter gesucht. Auf dem Boden kauernd, musterte Bony das Innere der Hütte. Auf dem Tisch stand die Flasche und enthielt noch so ziemlich genau dieselbe Menge Whisky wie vorhin, als er weggegangen war, um seine Decken zu holen. Auf dem Regal über dem Herd stand, die Schmalseite gegen den Raum gerichtet, ein Wecker. Bony erinnerte sich, die Uhr selbst dorthin gestellt zu haben, als er sich die Kiste an den Tisch gestellt hatte, um sich zu setzen, nur daß er sie anders ausgerichtet hatte. Auf einem Ende des Regals hatten mehrere billige Bücher gestanden, die jetzt auf der rechteckigen Betonschürze vor dem Herd lagen. Man hatte in der Hütte das unterste zuoberst gekehrt. Selbst der Inhalt eines arg ramponierten alten Koffers lag über den Boden verstreut. Jemand, der nicht damit vertraut war, wie Bonys Gesicht auf zum Zerreißen gespannte Nerven reagierte, hätte denken können, er lächle. Sein Mund war in die Breite gezogen, die Lippen so weit geöffnet, daß deutlich seine weißen Zähne zu sehen waren. Aber seine Augen, die das Licht der Laterne in einem bestimmten Winkel zum Schimmern brachte, lächelten nicht. Die Bewegung seiner Hände und Füße waren ihm längst nicht mehr bewußt. Kaum merklich bewegten sich die Nasenflügel wie bei einem witternden Fuchs. Bony langte über den bewußtlosen Bisker hinweg und zog dem Mann die Decken unter Kopf und Schultern sowie über Beine und Füße. Bisker hatte seine Stiefel nicht an, diese standen unter dem Tisch. Als er so neben Bisker auf dem Boden saß, holte Bony Tabak und Papier aus der Tasche und machte sich daran, sich eine Zigarette zu drehen. Er wußte, die Wände der Hütte würden kein Licht nach draußen dringen lassen, und auch die Jalousie war weit größer als das Fenster selbst, so daß sie es völlig verdunkelte. Der einzige Durchlaß, durch - 71 -
den man von außen hätte hereinschauen können, war das Schlüsselloch. Der dünne Spalt zwischen Tür und Schwelle dagegen lag zu tief, als daß jemand dort hätte ein Auge anlegen können. Bonys Ansicht nach beinhaltete seine Verantwortung nun zweierlei. Der eine Teil war Bisker, der andere der Inhalt des Füllfederhalterpärchens in dem Lederetui, das er in eine seiner Westentaschen geheftet hatte. Je eher Oberst Blythe das Material in Händen hatte, desto besser. Biskers alten Filzhut aufnehmend, stand Bony auf, ging lautlos zur Tür und hängte den Hut über die Klinke, um das Schlüsselloch abzudecken. Da es keinen Grund gab, warum sie beide frieren sollten, trat er an den Herd, neben dem sich ein Stapel ellenlanger Scheite häufte, bückte sich, noch immer mit dem Gesicht zur Tür, nahm einige der Scheite und warf sie, ohne näher hinzusehen, auf die rote Glut. Den Blick nach wie vor auf die Tür gerichtet, wandte sich Bony vom Herd ab und ging zum Tisch, wo er Whiskyflasche und Tasse aufnahm. Dann stieg er über Biskers Körper hinweg, kauerte, um weiterhin die Tür im Auge behalten zu können, hinter diesem nieder und versuchte die Lebensgeister des Mannes wieder zu wecken. Er brachte ihn zwar dazu, etwas von dem Alkohol zu schlucken, aber abgesehen davon, daß er leicht zu schnarchen begann, hatte das keinerlei Wirkung auf ihn. Das ermutigte Bony zu dem Gedanken, daß Bisker in Kürze wieder zu Bewußtsein kommen und somit imstande sein würde, ihm zu erzählen, was während der zwanzig Minuten seiner Abwesenheit geschehen war. Bonys Armbanduhr nach war es fünf Minuten nach neun. Um zehn war Bisker noch immer bewußtlos, und Bony, der sich um seinen Zustand zu sorgen begann, dachte langsam daran, zum Haus zu gehen, um den Arzt zu rufen. Er hatte das bisher unterlassen, in der Hoffnung, die durch Biskers Kopfwunde hervorgerufene Bewußtlosigkeit sei nur vorübergehend, was ihm in einem Fall, der auch so bereits verzwickt genug war, zusätzliche Komplikationen erspart hätte. Und dann hatte er natürlich gedacht, er könnte sich, falls - 72 -
Bisker das Bewußtsein wiedererlangte und ihm alles erzählte, einen Plan zurechtlegen. Den hiesigen Arzt zu rufen hieße auch, das Ganze der Polizei zu melden, und mochte er selbst die Füllfederhalter auch unerwähnt lassen, so erfuhren sie womöglich durch Bisker von ihnen, hatte der sich erst einmal wieder erholt. Immerhin gab es so etwas wie bundesstaatliche Rechte und polizeiliche Dienstvorschriften, die Superintendant Bolt dazu berechtigten, Füllfederhalter nebst Inhalt für sich zu beanspruchen. Es war acht Minuten nach zehn, als Bony den »Betrunkenen« kommen hörte. Er war nicht weit von der Hütte entfernt, vielleicht am oberen Ende des schmalen Wegs mit der offenen Fläche vor den Garagen. Leises Gebrummel ging über in einen Schwall wüster Flüche. Bony hörte, daß der Mann einen Schluckauf hatte; dann begann er zu lamentieren. »Warum machst du nicht die verfluchte Tür auf, Bisker? Ich stolper’ hier durch die stockfinstre Nacht und halt’ mich an ’ner Flasche fest, und du liegst in der Falle und schnarchst. Verflucht noch mal! Wenn ich noch lauter brüll’, dann kommt uns die Jade dahinter. Genau wie’s letzte Mal.« Ein kurzes Schweigen endete mit einem heiseren Appell: »Bisker, mach endlich die vermaledeite Tür auf, damit ich sehn kann, wo ich bin.« Bony blieb neben Bisker auf dem Boden sitzen. Von jenseits der Tür hörte er den »Betrunkenen«, dessen erster Gedanke augenscheinlich trotz allem Miss Jade galt, leise Selbstgespräche führen. Im Augenblick bettelte er wieder, und Bony hörte, daß er der Tür bereits ein gutes Stück näher gekommen war. »So einen sollt’ man doch an die Wand stellen! Versucht man einem Kumpel was zu trinken zu bringen, und der macht einem noch nicht mal die Tür auf, so daß man wenigstens ’n bißchen Licht dabei hat. He, Bisker! Wenn du jetzt nicht aufmachst, schrei’ ich das ganze Haus zusammen, bis Miss Jade kommt.«
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Es folgte noch mehr mit Flüchen durchsetztes Gemurmel, dann taumelte neben der Tür ein Körper gegen die Hüttenwand. Das Geräusch, das er machte, als er die Hüttenwand hinabrutschte, war für den lauschenden Bony höchst aufschlußreich. »Also, da bin ich«, verkündete der Herr draußen jetzt feierlich. »Der verfluchte Baum hier ist mir so recht wie irgendeiner, denk’ ich. Bist mir ein schöner Trottel, Bisker! Wo ist denn meine Pulle? Huuu … Jetzt hab’ ich doch glatt gedacht, ich hätt’ mein schnuckliges kleines Fläschchen verloren. Ich frag’ mich, wie weit’s wohl noch bis zur Hütte ist.« Etwas später rappelte sich der »Betrunkene« wieder auf die Beine, und Bony hörte ihn sagen: »Zum Henker, die Hütte muß wohl auf der andern Seite vom Baum sein. Werd’ mal drumrumgehen, dann seh’ ich sie vielleicht.« Bony hörte die Hände des Mannes, gelegentlich auch seine Füße gegen das Wellblech stoßen, aus dem die Hüttenwände bestanden. Er ging um eine Ecke, kam am Fenster vorbei, dann um die zweite Ecke, während er in einem fort vor sich hinlamentierte: »So ein Mordsbrokken von ’nem Baum. Das ist der größte Baum, den ich je gesehen habe. Der größte Baum in ganz Gippsland. Wenn nicht gar von ganz Australien.« Und als er wieder an der Tür landete, sagte er: »Wenn nicht gar von der ganzen Welt.« Stille … Dann: »Wo, zum Teufel, bin ich bloß? Ich hätt’ schwören können, ich war’ auf Bisker seinem Weg.« Dann begann er zu singen: »Ich bin der Stolz von Glasgee Town …« Bony erhob sich vom Boden und ging an die Tür, öffnete, riß sie auf – und starrte direkt in die häßliche schwarz polierte Mündung eines gedrungenen Revolvers. Über der Waffe sah er eine schwarze Maske vor einem Männergesicht. »Flossen hoch – aber dalli!« Der Befehl kam leise und drohend. Bony streckte die Arme, während ihm gleichzeitig die Zorneshitze den Nacken hinauf in den Kopf kroch. - 74 -
»Zurück! Zurück hab’ ich gesagt!« Bony ging nach hinten, und der Mann mit der schwarzen Maske betrat nach ihm die Hütte und schloß mit der freien Hand die Tür hinter sich. Er war von mittlerer Größe und Gewicht. Die Hand, die den Revolver hielt, war weiß, und ganz offensichtlich war ihr Besitzer jemand, der harter Arbeit aus dem Weg ging. Sein marineblauer Straßenanzug war außerordentlich gepflegt, die Hose wie auch die Ärmel des Jacketts von jemandem gebügelt, der etwas davon verstand. »Noch ’n bißchen weiter zurück, Mister«, lautete der nächste Befehl, und Bony trat zurück, bis er gegen den Tisch stieß. »Bißchen nach links. So. Jetzt setzen Sie sich auf die Kiste. Die Hände lassen Sie oben – ich werde sonst womöglich nervös.« Bony gehorchte. Der Eindringling bewegte sich rückwärts von ihm fort in Richtung Bisker und Sturmlaterne. Durch die Löcher in der Maske, die sich als dunkelblaues Taschentuch entpuppte, waren seine Augen zu sehen, die im Schein des Feuers schimmerten. Sie schienen nicht ein einziges Mal zu blinzeln. Selbst als ihr Besitzer in die Knie ging, um die Lampe hochzunehmen und auf den Tisch zu stellen, starrten sie Bony unentwegt an. »Also – wo ist Ihr Schießeisen?« fragte er. »Und machen Sie keine Zicken. Mir ist es viel lieber, Sie über den Haufen zu knallen und mir dann zu nehmen, was ich will. Also die Kanone?« »In meiner Tasche«, antwortete Bony mit tonloser Stimme. »Stehen Sie auf.« Bony gehorchte, und man drückte das gefährliche Ende der Waffe in seinen Magen. »Wenn Sie nur die geringste Phantasie haben, dann können Sie sich jetzt wohl vorstellen, wie das ist, eine Kugel im Bauch zu haben. In welcher Tasche?« »In der rechten.« Der Blick hinter der Maske bohrte sich in Bonys lodernde blaue Augen. Der Druck des Revolvers gegen seinen Magen blieb auf schreckliche Weise konstant. Er spürte die Hand in seine Tasche grei- 75 -
fen und die kleine Selbstladepistole entfernen. Es wollte ihn schier zerreißen vor Zorn, aber nicht vor Zorn auf den Maskierten, sondern auf sich selbst, weil er so dumm gewesen war, in eine derart simple Falle zu tappen. »Jetzt noch die Füller in dem kleinen Lederetui. Wo haben Sie sie?« »Spucken Sie doch die Gummis aus, und reden Sie so, daß man Sie versteht«, schlug Bony vor. »Ein Schlaukopf, was? Nun machen Sie schon. Was ist mit den Füllern?« Bony zögerte, kam dann jedoch zu dem Schluß, daß Ausflüchte sinnlos waren. »In meiner linken oberen Westentasche.« »Gut! Sie behalten die Hände oben und machen sich keine Gedanken über mich. Ich bediene mich gern selbst.« Bony hatte mit einemmal Schwierigkeiten, seinen starren Blick in die Augen des Maskierten aufrechtzuerhalten, und es sprach wirklich für ihn, daß er die in Stein gehauene Miene beizubehalten vermochte, da er hinter dem Maskierten Bisker auftauchen sah, der jetzt wieder auf den Beinen stand. Sicher eine Halluzination! Wenn er, Bony, es nur gewagt hätte, den Blick vom Gesicht des Maskierten zu nehmen, um sich zu vergewissern, daß es Bisker war, der hinter dem Burschen stand und sich jetzt schwankend nach rechts beugte, wo das Beil stand. Eine Hand knöpfte Bonys Jackett auf und tastete den Stoff nach den Füllfederhaltern ab, fand sie schließlich und machte sich daran, die Sicherheitsnadeln zu öffnen, die das Lederetui an den Stoff hefteten. Bony konnte Bisker jetzt noch nicht einmal mehr aus dem Augenwinkel sehen, und er begann sich zu fragen, ob nicht etwa der Wunsch der Vater dieser Vision gewesen war. Die Hand an seiner Weste begann mit den Nadeln die Geduld zu verlieren, was die Nadeln nur um so widerspenstiger machte. Die Hand tastete nach Bonys rechter Achsel und schoß dann hinüber zur linken.
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»Machen Sie die Nadeln selber auf, und geben Sie mir die Füller«, befahl der Mann. »Machen Sie’s doch selbst«, fuhr Bony ihn an. »Ich gebe Ihnen noch eine Chance. Und nur die eine. Also, was ist?« Die Stimme war scharf, hart und unbarmherzig. Bony senkte die Arme, langsam, da die Waffe mit einer geradezu erschreckenden Beständigkeit auf seinen Magen gerichtet blieb. Er sah sich gezwungen, den Kopf zu senken, um zu sehen, was er tat, und dann, als er einen Blick nach oben warf, sah er wieder Bisker, diesmal zur Rechten des Maskierten. Und Bisker hatte das Beil in der Hand. »Nun machen Sie schon! Was kaspern Sie denn da so lange rum?« wollte der Maskierte wissen. »Wieso machen Sie nicht die Augen auf und sehen selber?« schlug Bony vor und hoffte inständig, Bisker würde nichts unternehmen, während der andere ihm den Revolver in den Magen drückte. Er bekam das Etui vom Stoff der Weste, zog es aus der Tasche und hielt es vor sich hin. Man riß es ihm aus der Hand, und der Maskierte trat zwei Schritte zurück, zwei Schritte auf den wartenden Bisker zu. Bony wurden langsam die Arme müde, aber die Waffe in der ruhigen Hand des Maskierten deutete nach wie vor mitten auf seinen Magen. Hinter dem Maskierten sah er Bisker, und Bisker hielt das Beil hoch über seinem Kopf. Mehr als das Blatt konnte Bony nicht sehen. Es war voller Rostflecken und herzlich stumpf. In eben diesem Augenblick ertönte von außen ein lauter, langgezogener Schrei. Es hörte sich an, als hätte sich eine Kreissäge verklemmt und würde dann abrupt abgewürgt. Das maskierte Gesicht vor Bony kippte nach oben und blieb in dieser Haltung, erschreckt lauschend, stehen. Dann krachte unter lautem Getöse ein schwerer Gegenstand auf das Blechdach. Irgend etwas rutschte langsam herunter und landete mit einem dumpfen Plumps vor der Tür. »Was ist das?« fragte der Maskierte, und Bony hörte aus seiner Stimme die Besorgnis heraus.
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»Ein Freund von mir«, antwortete Bony, dem klar war, daß auf einem Ast genau über dem Dach zwei Opossums gekämpft und der Verlierer sich gezwungen gesehen hatte, sich auf das Dach fallen zu lassen. Die nächste Bewegung des Mannes brachte Bisker in eine unvorteilhafte Position. Wohl wissend, ein Hieb mit dem Beil könnte für Bony tödliche Folgen haben, wartete er in dem Glauben, daß das, was vorhin ihm passiert war, nun auch Bony passieren würde. Der Maskierte würde Bony befehlen, sich umzudrehen, seinen Revolver beim Lauf nehmen und ihm dann den Kolben über den Schädel ziehen. Biskers Absicht war es, noch zu warten, bis die umgedrehte Waffe gehoben wurde, um den Schlag auszuführen. Der Schrei des Opossums und der Krach auf dem Dach freilich nahmen dem Maskierten den Schneid; alles, an was er jetzt noch dachte, war Flucht. Bony noch immer in Schach haltend, wandte er sich halb um und begann sich in Richtung Tür zurückzuziehen, als er Bisker wie eine schlechte Imitation der Statue vom Speerwerfer dastehen sah. »Bißchen zu spät«, schrie er. »Wenn sich auch nur einer von euch beiden bewegt, kriegt er’s zuerst und der andere danach.« »Passen Sie auf die Stufe auf, wenn Sie rausgehen«, sagte Bony leise und erstaunte Bisker damit so sehr, daß das Beil über seinem Kopf zu schwanken begann und auf seiner Schulter zu liegen kam. Der Maskierte hatte nun die Tür erreicht und stellte sich mit dem Rücken davor, während seine freie Hand nach dem Griff tastete. Bonys Knie knickten allmählich ein und brachten seinen Körper in eine Position, von der aus er losspringen könnte, während sich Biskers Beil langsam wieder von der Schulter nach außen hob, als er sich vorbereitete, seinen »Speer« zu werfen. Die Hand des Mannes fand den Türgriff, und er trat zur Seite, um die Tür nach innen aufziehen zu können. Sein Revolver wankte noch immer nicht von der Linie genau zwischen Bisker und dem Detektiv.
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Das Ganze war einer Zeitlupenaufnahme nicht unähnlich, deren Tempo sich blitzartig normalisierte. Der Mann mit der Maske riß die Tür auf. Eine weitere Sekunde noch bedrohte er Bony und Bisker mit seiner Waffe, dann trat er rückwärts durch die Tür nach draußen, nur um gleich darauf einen Schrei auszustoßen, als er auf das Opossum trat, das, sich unter seinem Fuß davonrollend, dafür sorgte, daß der Mann auf dem Rücken landete. Als erstes erreichte Biskers Beil die Tür. Und das Blatt kam sogar durch den Spalt, aber der Stiel erwischte den linken Türpfosten, so daß das Werkzeug zu Boden fiel. Als nächster kam Bony, der durch die Tür wischte, ohne die Dielen zu berühren. Bisker, der als dritter an der Tür war, benutzte den Boden und war so vergleichsweise langsam. Kaum stand er vor seiner Behausung, hörte er auch schon Geräusche, die auf einen Kampf irgendwo in der Dunkelheit deuteten, und sein primitives Gehirn veranlaßte ihn dazu, umzukehren und Laterne und Beil zu holen. Die Laterne in der Linken, das Beil in der Rechten stürmte er dann ein zweites Mal hinaus – nur um Bony, die linke Hand an der Backe, auf sich zutaumeln zu sehen. »Unglücklicherweise ist er davongekommen, Bisker«, sagte Bony keuchend. »Er hat mich mit dem Revolver am Wangenknochen erwischt. Wir gehen besser rein und sehen nach, was er angerichtet hat. Wie fühlen Sie sich?« »Hat schon Zeiten gegeben, wo’s mir besser gegangen ist«, antwortete Bisker. »Aber es würd’ mir bei weitem schlechter gehen, wenn der Kerl mir meinen Whisky weggesoffen hätte.« Nachdem er die Lampe auf dem Tisch abgestellt hatte, wandte er sich Bony zu und sah eine dünne Blutspur die Finger der gegen die Wange gepreßten Hand herunterrinnen. Als Bony seine Hand wegnahm, sagte er: »Hmm! Ziemlicher Kratzer, das. Lassen Sie mich da man besser ’n Tropfen Kerosin drauftun.« Er holte eine Bierflasche voll Kerosin und versorgte Bonys Schürfwunde, indem er damit ein Taschentuch tränkte und die Flüssigkeit auf die geplatzte Stelle drückte; dann gab er Bony das Taschentuch, - 79 -
damit der es weiter dagegen drückte, um die Blutung zu stoppen. In die Handfläche seiner eigenen Hand schüttete Bisker ebenfalls von dem Kerosin und klatschte es sich auf die offene Stelle seiner Kopfhaut. Das alles verrichtete er mit einer Lässigkeit, angesichts der Bony ein Lachen nicht zu unterdrücken vermochte. »Das beste Mittel der Welt«, sagte Bisker geradezu munter. »Das zweitbeste wäre Whisky, aber so was verschwendet man nicht. Wie wär’s mit ’nem Schluck?« Bony gefiel dieser Bisker von Stunde zu Stunde besser, vielleicht weil Bisker durch die nervliche Anspannung mehr und mehr zu seinem alten Ich zurückfand. Er brachte den Gedanken zum Ausdruck, daß ihm der Vorschlag nicht ungelegen käme, und einige Minuten später, nachdem er festgestellt hatte, daß die Blutung gestillt war, setzte er sich zusammen mit Bisker an den Tisch und drehte sich, trotz des Kerosingeruchs an seinen Händen, eine Zigarette. »Was jetzt?« fragte Bisker, als wäre die letzten zehn Minuten über nichts vorgefallen, was ihm nicht ständig passierte. »Erzählen Sie mir erst mal, was Ihnen passiert ist«, entgegnete ihm Bony. »Mir? Tja, also ich stocher’ so im Feuer rum, als die Tür aufgeht. Ich hab’ gedacht, das wären Sie, der wiederkommt, und so sag’ ich mit dem Rücken zur Tür: ›Sie waren aber ganz schön fix‹, womit ich gemeint habe, daß Sie wirklich nicht lang gebraucht haben, sich Ihre Decken zu holen. Dann hör’ ich die Stimme von jemand ganz anderem: ›Stellen Sie sich grade hin, und drehen Sie sich um.‹ Also richt’ ich mich auf, dreh’ mich um und gucke auch schon direkt in die Mündung von ’nem Revolver. Als ich nach oben schau’, seh’ ich dann den Kerl mit der Maske vorm Gesicht. Sagt er: ›Heben Sie sie hoch!‹ Tja, was hätt’ ich tun sollen – ich meine, vielleicht ’n Lied singen oder ihm was vortanzen? Dann sagt er: ›Was haben Sie aus dem Bottich geholt?‹ und ich, ich sag’ ihm, daß ich meine Flasche Rattengift ausgebuddelt habe. Dann fragt er mich, was sonst noch, und ich: ›Sonst nichts.‹ Heißt er mich doch glatt einen - 80 -
Lügner – mich, stellen Sie sich das vor! –, aber es sah wohl ganz so aus, als müßte ich mir’s gefallen lassen. Dann sagt er: ›Sie haben ein Paar Füller in einem Lederetui gefunden, als Sie nach Ihrer Flasche gegraben haben. Die geben Sie mir jetzt, und zwar schnelle Ich sag’ ihm: ›Ich sag’ Ihnen doch, ich hab’ die Dinger nicht.‹ Sagt er: ›Dann hat sie Bonaparte. Drehen Sie sich um.‹ Also dreh’ ich mich um. Dann erwischt mich ’n Komet – genau zwischen die Augen. Und als ich wieder aufwache, lieg’ ich zwar mächtig bequem, hab’ aber ’nen ziemlichen Brummschädel, und dann hör’ ich den Kerl mit Ihnen über die Füller reden. Also dreh’ ich den Kopf und seh’ ihn dastehen, mit dem Rücken zu mir, und Sie haben die Hände oben. Also schnapp’ ich mir das Beil und wart’ auf meine Chance. Was soll ich schon groß machen, solange der Mann auf Sie zielt? Hätt’ ja womöglich losgehen können, der Revolver.« »Das hätte er in der Tat«, pflichtete Bony ihm gefühlvoll bei und berichtete dann, wie er sich hinters Licht hatte führen lassen. »Sie haben den Burschen nicht vielleicht an der Stimme erkannt?« Bisker schüttelte den Kopf, während er sich mit dem Whisky die Zähne spülte. »Haben Sie seine Hände bemerkt?« »Eigentlich nicht. Mich hat mehr der Revolver interessiert.« »Denken Sie nach. Haben Sie schon mal jemanden mit so einem Hut gesehen, wie der Bursche ihn getragen hat?« Bisker überlegte, seine grauen Augen auf die Größe von Erbsen reduziert. Dann sagte er: »Nein, an jemand besonderen mit so ’nem Hut erinnere ich mich nicht. Heutzutage laufen ja ’ne ganze Menge von Kerlen mit schwarzen Filzhüten und vorne nach unten gebogenen Krempen herum. Einer aus dem Busch ist er jedenfalls nicht, der Kerl, sonst hält’ er sich nicht gleich ins Hemd gemacht, bloß weil sich zwei Opossums raufen und einer davon aufs Dach fällt. Da hat’s ihn ja ganz schön gerissen.«
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Bony lächelte. »Na, jedenfalls hat es ihn mit Sicherheit gerissen, als er vor der Tür auf ihn draufgetreten ist. Sagen Sie, wie komme ich heute nacht noch nach Melbourne?« »Rufen Sie das Taxiunternehmen an, und lassen Sie sich einen Mietwagen schicken. In Manton kriegen Sie dann einen Zug.« »Hmmm! Und sonst – ohne nach einem Mietwagen zu telefonieren?« »Laufen, Manton ist neun Meilen von hier. Vielleicht kriegen Sie auch einen Wagen zum Anhalten, der Sie zufällig überholt.« »Meinen Sie, Sie könnten neun Meilen tippeln?« »Könnt’ ich schon. Aber warum?« »Sie täten womöglich besser daran, zusammenzupacken und gleich mit mir mitzukommen«, antwortete Bony. »Dann könnten Sie morgen zur Windee-Farm weiterfahren. Der Besitzer würde Sie einstellen. Ich könnte ihm telegrafieren, daß Sie kommen.« »Darf man fragen, was Sie selber vorhaben?« »Natürlich. Ich fahre noch heute nacht nach Melbourne und bin wahrscheinlich morgen wieder zurück, um den Rest meines Urlaubs hier zu verbringen.« Bisker starrte Bony an, dann verschob sich sein Blick auf die Whiskyflasche, wo er fünf Sekunden kleben blieb, bevor er wieder zu Bony zurückkehrte. »Als ich vorhin dagestanden habe, mit der Axt überm Kopf«, sagte er leise, als fürchte er, es lausche jemand am Schlüsselloch, »da ist mir was in den Sinn gekommen, was Sie anbelangt. Ich hab’ von Ihnen gehört – vor drei Jahren, ich war grade westlich von Cunnamulla. Daß Sie morgen wiederkommen, sagt mir, daß Sie noch nicht fertig sind mit dem Burschen, der mir eins übergebraten und Ihnen die Füller gestohlen hat. Nun, wie war’s, wenn Sie mich einstellen? Als Ihren Assistenten? Man brät mir nicht so einfach eins über und kommt damit durch.«
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Jetzt war die Reihe an Bony, seinem Gegenüber in die Augen zu starren und sein von Wetter und Whisky gegerbtes Antlitz zu mustern. Bisker fuhr fort: »Ich arbeite nun seit zwei Jahren für Miss Jade, und ich bin hier nicht grade rumgelaufen wie ’n Tauber. Ich hab’ diesen Krieg leider nichts erlebt und auch schon davor nichts mehr seit meinen drei Jahren Frankreich im Großen Krieg.« »Ich werd’s mir überlegen, Bisker, und sage Ihnen Bescheid, wenn ich wieder da bin«, entschied Bony. »Und denken Sie dran: Nur einer geschlossenen Klappe kommt nichts aus.«
8 Ein Schock für Oberst Blythe Das Haus in South Yarra, das Oberst Blythe mit seiner Gattin bewohnte, stand ein Stück abseits der Straße. Es war ein altes Haus, das mit dem knappen Hektar von einer hohen Mauer umgebenen Garten geradezu verwachsen schien. Neben den Hausangestellten hatte man dem Oberst noch zwei Bürokräfte, eine Stenotypistin und einen Boten, zur Verfügung gestellt. Wenn die Schreibstubenkräfte, denen Blythes Assistent, ein Hauptmann Kirby, vorstand, das Haus um fünf Uhr verließen, wurde das Anwesen bis neun Uhr morgens von Schutzpolizisten bewacht. Das Quartier der Schutzpolizisten lag in einem Nebengebäude hinter dem Haus. Anrufe nach den Bürostunden nahm ein Schupo entgegen, der im Haus Dienst am Vermittlungsschrank tat. Er verband die Anrufer mit dem Oberst oder Mrs. Blythe im Salon oder, nach elf, mit dem Oberst in dessen Schlafzimmer. Bony, der um sechs Uhr morgens am vorderen Tor ankam, mußte dem diensthabenden Polizisten dort erst sein Begehr erklären. Dieser - 83 -
kontaktierte dann seinen Kollegen vom Dienst am Schrank und, nach einer kleinen Diskussion, den Oberst, der sich durch den Apparat neben seinem Bett aus dem Schlaf gerissen sah. »Bringen Sie ihn herein – ins Arbeitszimmer«, befahl der Oberst und hieß seinen frühen Besucher drei Minuten später voller Erwa rtung willkommen. Nachdem der Schutzpolizist die Tür geschlossen hatte, bemerkte der Oberst den Schnitt über Bonys Wangenknochen. »Wohl einen kleinen Privatkrieg gehabt, was?« fragte er. »Na ja – ein Scharmützel«, gestand Bony ein. »Es ist sehr früh für einen Besuch, aber ich dachte mir, Sie hätten gern einen Bericht. Die Jagd auf Grumman entwickelt sich ausgesprochen interessant.« »Das kann man wohl sagen. Wie ich gestern nachmittag gehört habe, hat man Grumman tot aufgefunden. Gift, wie ich hörte. Und daß man einen Polizisten erschossen hat. Was zu trinken?« »Tee oder Kaffee – falls das irgendwie möglich ist«, willigte Bony ein. »Ich bin schon ein Weilchen auf den Beinen.« Oberst Blythe nahm das Telefon. Er sprach ruhig und mit gewohnt ungerührter Stimme, und der Schupo am Vermittlungsschrank war nur zu froh über die kleine Pause in der Küche. Dann sah Bony sich gedrängt, eine Zigarette zu akzeptieren und zu rauchen, während sein Gastgeber ihn kurz allein ließ, um eine Salbe für die Platzwunde auf seiner Wange zu holen. So erpicht er auch sein mochte, mehr über die Geschichte mit Grumman zu hören, seine erste Sorge galt doch seinem Besucher. »Das Zeug hier reinigt und heilt«, sagte er zu Bony, als er wiederkam. »Spachteln Sie nur ordentlich was drauf. Ist noch genug da.« »Danke. Der Schmiß fing schon an zu brennen. Den habe ich übrigens von einem Revolver. Meine eigne Schuld. Ja also, der arme alte Grumman wurde gestern morgen in einem Graben gefunden. Haben sich die Leute von der Kripo mit Ihnen in Verbindung gesetzt?« »Nein«, antwortete Blythe. »Ich habe meine Informationen aus anderen Quellen.«
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»Na ja, die Morgenzeitungen werden jede Menge darüber bringen«, versprach ihm Bony. »Aber ich werde mal die Einzelheiten durchgehen. Da ist so einiges dabei, was die Zeitungen nicht wissen.« Er berichtete, wie er Bisker und einen weiteren Mann am Rand des Grabens stehend angetroffen hatte, in dem Grummans Leiche lag, und wie er darauf in Grummans Zimmer gegangen war, nur um festzustellen, daß dessen persönliche Habe verschwunden war. Er erzählte vom Besuch dieses Marcus, und wie dieser Konstabler Rice erschossen hatte, und schloß schließlich mit der Frage an den Oberst, ob der etwas über Marcus alias Alexander Croft alias Mick Slater alias Edward B. Martyn wüßte. Oberst Blythe schürzte die Lippen und nickte. »Edward B. Martyn ist mir ein Begriff«, sagte er. »Hauptmann Kirby, mein Assistent, wird Ihnen jedoch mehr über ihn sagen können als ich. Kirby ist übrigens von Scotland Yard. Äh – einen Augenblick. Kommen Sie rein!« Der Schutzpolizist kam mit einem Tablett mit Kaffee und Gebäck herein, und Blythe deutete an, daß er und sein am Tor Dienst tuender Kollege vielleicht auch gern einen Kaffee hätten – mit einem Schuß Rum gegen die Kälte. Bony konnte sich des Gefühls nicht erwehren, Bisker habe einen Fehler begangen, ihn vergangene Nacht nicht zu begleiten. »Nun denn, fahren Sie fort«, drängte Blythe, als der Polizist mit seinem Kaffee mit Schuß wieder gegangen war. »Wie man Grumman vergiftet hat, das werden die von der Kripo wohl herausfinden«, fuhr Bony fort. »Eine Geschichte, die mich persönlich interessiert, Sie wahrscheinlich weniger. Sie waren ziemlich erpicht darauf, daß ich mit ihnen zusammenarbeite, und ich sah keinen Grund, es nicht zu tun – bis zu einem gewissen Punkt. Ich konnte erst nicht verstehen, warum man Grumman, doch vermutlich seiner Papiere wegen, umbringen und dann seine persönliche Habe verschwinden lassen sollte. Er wurde in Hausmantel, Slippern und Pyjama gefunden, so daß wir annehmen dürfen, daß er vor Mitternacht - 85 -
starb – was seinem Mörder wenigstens fünf Stunden Zeit gab, seine Habe nach den Papieren zu durchsuchen. Die Geschichte wurde noch verwirrender, als ich sah, wie sich das Faktotum an einem Bottich herumdrückte, in dem man neben dem Haupteingang des Hauses einen Zierstrauch gepflanzt hat.« Oberst Blythe lauschte mit wachsendem Interesse, als Bony mit der Geschichte von Bisker und seinem vergrabenen Whisky fortfuhr, bis seine Augen weit offen waren; er lächelte glücklich, als Bony die Szene in Biskers Hütte schilderte, in der er Biskers Handgelenk packte, um einer versehentlichen Zerstörung der aufgewickelten Filmspule vorzubeugen. »Gute Arbeit, mein Bester!« rief er aus. »Exzellent!« »Ja, da habe ich wirklich Schwein gehabt«, gestand Bony ein. »Einer der raren Zufälle, die mir hin und wieder zu Hilfe kommen. Nur daß man mir die Füllfederhalter im folgenden wieder abgenommen hat.« Er berichtete, wie er in Biskers Hütte zurückgekommen war und Bisker bewußtlos dort vorgefunden hatte, seine Taschen nach außen gekehrt und die Hütte durchsucht. Er berichtete von der Ankunft des »Betrunkenen«, und wie er auf dessen List hereingefallen war, und schließlich noch, wie der Mann mit der Maske ihn überfallen und ihm die Federhalter mitsamt Etui wieder abgenommen hatte. »Was für ein scheußliches Pech!« entfuhr es Blythe, als Bony seinen Bericht beendet hatte. »Sie müssen diesen Burschen schnappen. Wir müssen diese Filme finden, wissen Sie. Sie sind noch zehnmal gefährlicher in den Händen einer anderen Macht als in denen des Oberkommandos der Wehrmacht, da dieses die nächsten paar Jahre sicher nicht allzuviel damit wird anfangen können, und bis dahin wird unsere eigene Regierung die meisten dieser Geheimnisse durch Erfindungen unserer eigenen Wissenschaftler unschädlich gemacht haben.« »Es ist ziemlich unglücklich gelaufen«, sagte Bony traurig. »Es war ein wirklich schönes Schreibzeug. Ich hatte schon die Absicht, Sie zu bitten, es mir zu überlassen.« - 86 -
»Aber ja doch, Mann, die Federhalter hätten Sie gern haben können! Was uns interessiert, ist der Inhalt. Zum Henker! Was für ein schlimmes Pech! Was halten Sie von der Geschichte?« »Ich weiß noch nicht«, gestand Bony. »Ich bin jedoch stark geneigt zu glauben, daß der Mann, der mich hochgenommen und mir die Füllfederhalter abgenommen hat, nicht eigens dazu aus der Stadt gekommen ist. Er trug einen marineblauen Anzug, der derart gut gebügelt war, daß er ihn ganz offensichtlich weder schon längere Zeit getragen hatte noch damit in einem Auto gefahren war. Außerdem roch er stark nach Desinfektionsmittel, Sie wissen schon, das Zeug, mit dem man die Silberfischchen aus den Kleidern hält. Wäre er von weiter hergekommen oder auch nur kurze Zeit an der frischen Luft gewesen, der Geruch wäre bei weitem nicht so stark gewesen. Ob er etwas mit dem Mord an Grumman und dem Diebstahl seines Gepäcks zu tun hatte, darüber läßt sich streiten. Meiner Meinung nach ist er weder für Grummans Tod noch für den Diebstahl seiner Klamotten verantwortlich, denn schließlich hat er ja die Füllfederhalter in den Bottich gesteckt oder wenigstens gewußt, daß sie jemand dort vergraben hat, der Grummans Klamotten nicht zu stehlen brauchte. Was haben wir also? Jemanden, der Grumman ermordet und seine Klamotten gestohlen hat. Eine zweite Person, die die Füllfederhalter gestohlen und sie in diesem Bottich versteckt hat, und schließlich eine dritte Partei, diesen Marcus nämlich, der sehr gut hinter Grummans Papieren hergewesen sein konnte. Angesichts letzterem erhebt sich die Frage, was ein Drogenhändler wohl mit einem hohen deutschen Offizier zu schaffen hatte, der sich im Besitz von geheimen Plänen für Waffen befand.« Oberst Blythe seufzte hörbar. »Ein verteufeltes Durcheinander. Was gedenken Sie nun zu tun?« »Herausfinden, wer Grumman umgebracht hat, herausfinden, wer mir die Füllfederhalter gestohlen hat, die ich als Andenken behalten
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wollte. Herausfinden, wer der Mann mit der Schuhgröße fünfundvierzig ist und so einiges mehr, was mein Interesse geweckt hat.« Der Oberst begann auf dem schallschluckenden Teppich auf und ab zu schreiten. Bony goß sich seine dritte Tasse Kaffee ein und steckte sich seine dritte Zigarette an. Fünf Minuten lang sagte keiner von beiden auch nur ein Wort; dann blieb Blythe direkt vor dem sitzenden Bony stehen. »Wir müssen diese Federhalter beschaffen«, sagte er. »Womöglich schafft es diese vermaledeite Friedenskonferenz nicht, Deutschland für so lange unter den Stiefel zu zwingen, wie sich das gehörte, und der deutsche Generalstab sitzt in ein, zwei Jahren wieder im Sattel.« Bony bemerkte die Besorgnis im Gesicht seines Gegenüber. Blythe fuhr fort: »Zum Henker, Bony. Das sieht Ihnen so gar nicht ähnlich. Ich verstehe Sie einfach nicht. Da hatten Sie diese Federhalter schon – ach verflucht!« »Ich werde diese Federhalter wiederbeschaffen, keine Bange«, prahlte Bony. »Das wäre das erste Mal, daß ich einen mir übertragenen Fall nicht zu Ende bringe. Diese Federhalter gehören schon so gut wie mir. Sie sind wunderschön, ganz in Gold. Ich möchte einen davon meinem Ältesten, Charles, schenken, der eben sein Medizinstudium abgeschlossen hat, den anderen bekommt meine Frau.« »Sie können die Federhalter ja behalten – falls Sie sie wiederbekommen«, versprach Blythe. »Sie müssen sie einfach wiederbekommen. Der Inhalt dieser Federhalter ist unbezahlbar. Ich will nur den Inhalt. Und ich will ihn auf der Stelle.« »Oh!« Bonys Augen glänzten. »Wenn es nur der Inhalt ist, auf den Sie so scharf sind, das ist kein Problem.« Wieder stieß Oberst Blythe einen hörbaren Seufzer aus, diesmal vor Ungeduld. Er machte sich wieder daran, auf dem dicken Teppich auf und ab zu gehen. Da war er erst so überrascht gewesen, General Lode in der Collins Street zu sehen, dann hatte er sich große Hoffnungen gemacht, als Oberst Spendor ihm Bony schickte, hatte der schmächtige Kriminalbeamte doch während des Krieges mit so bemerkenswer- 88 -
tem Erfolg gearbeitet. Und dann hatte sie Bony auch schon in seinem Besitz, nur um sie sich von einem Mann mit einem Revolver wieder abjagen zu lassen! Was war das? Bony sagte eben: »Ich will die Federhalter, Sie wollen den Inhalt, Oberst. Tja, die Federhalter werde ich mir erst zurückholen müssen. Den Inhalt können Sie gleich haben.« Wieder machte Oberst Blythe vor dem sitzenden Bony halt. Er beugte sich vor, um einen Blick auf Bonys nach oben gerichtete Handflächen zu werfen. Seine eigenen Hände rauften sich das lange und immer noch blonde Haar. Wie ein Mann, der eine Vision zu haben glaubt, entnahm er Bonys Händen zwei dünne, mit einem wachsartigen Material überzogene Zylinder. Der Überzug des einen war mit einem Messer aufgeschlitzt worden und wurde jetzt von einem Stück Bindfaden zusammengehalten. Wortlos brachte er die beiden Zylinder an seinen Schreibtisch und knipste dort eine Lampe an. Mit einem Messer schnitt er den Bindfaden durch, und heraus platzte etwas, was ganz nach einer Filmrolle aussah. Er hielt sie gegen das Licht. Durch ein Vergrößerungsglas sah er sich einige Abschnitte an. Eine ganze Minute stand er so dort, während Bony ihn lächelnd beobachtete. Dann ging er ein drittes Mal hinüber und baute sich vor dem Kriminalbeamten auf. »Sie sind doch wohl der letzte Mensch, Sie verdammter Kerl, Sie!« gluckste er. »Sie – Sie – Sie taugen ja noch nicht mal zum Schnürsenkel eines Polizisten, wie der alte Paps immer sagt. Sie aufreizender, starrköpfiger, undisziplinierter Schatten eines Polizisten, Sie – wiederum laut Papa Spender. Oh, Freude schöner Götterfunken! Himmel!« »Seien Sie lieber etwas leiser, sonst wecken Sie noch Ihre Frau«, ermahnte ihn Bony und lächelte entzückt über die Wirkung seiner Überraschung. »Bitte vergessen Sie nicht, daß ich nur selten unnötige Risiken eingehe. Ich habe den Inhalt sofort in eine andere Tasche praktiziert, nachdem ich Bisker verlassen hatte, um mir die Decken - 89 -
aus meinem Zimmer zu holen. Zum einen war ich mir nicht sicher über den Mann, obwohl ich ihm geglaubt habe, als er mir sagte, er hätte die Federhalter nicht vergraben. Aber ich konnte natürlich nicht im Chalet übernachten, für den Fall, daß der Kerl mit dem Revolver herausfand, daß der Inhalt der Federhalter entfernt worden war, und mit Verstärkung zurückkommen würde. Ich konnte auch das Risiko nicht eingehen, nach einer Droschke zu telefonieren, ja noch nicht einmal das Risiko, mich vom Taxifahrer des Ortes zum Bahnhof bringen zu lassen. Also bin ich so bald wie möglich von dort fort und zum Bahnhof gelaufen, wo ich dann fünf Stunden warten mußte, um einen Zug in die Stadt zu erwischen. Und nachdem ich in der Stadt war, konnte ich es nicht riskieren, auf direktem Wege hierherzukommen – für den Fall, daß man mich erkannt hatte und mir jemand folgte.« Oberst Blythe vermittelte ganz den Eindruck, als wolle er ihm die Hand schütteln. »Sie haben gute Arbeit geleistet, mein Bester«, sagte er. »Papa Spendor sollte hocherfreut sein, Sie bald wieder bei sich zu haben. Um so besser! Da wird er nicht wieder gleich stöhnend zusammenfahren, wenn ich ihn das nächste Mal um Ihre Hilfe bitte!« »Ich werde, so denke ich, nicht gleich zurückkehren«, entgegnete Bony. »Oh! Aber Sie haben Ihren Job doch erledigt.« »Meinen Job ja, aber mein Urlaub ist noch nicht vorbei«, warf Bony ein. »Schon als ich das Chalet am Mount Chalmers sah, habe ich mich entschlossen, zwei Wochen zu bleiben. Nachdem ich vierundzwanzig Stunden dort verbracht hatte, habe ich einen ganzen Monat daraus gemacht. Tja, das Essen ist exzellent. Der Service ist gut. Und dann muß ich mir schließlich diese Füllfederhalter zurückholen.« »Aber Ihre Arbeit ist getan«, meinte Blythe beharrlich. »Was mich anbelangt, so können Sie ein ganzes Jahr Urlaub im Chalet Weitblick machen. Aber ich wage zu wetten, daß ich in der Morgenpost einen
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Luftpostbrief vom alten Paps habe, in dem er wissen will, wie lang ich Sie noch behalten will.« Bony erhob sich aus dem Sessel. »Sie werden mit Oberst Spendor als Schwiegervater wohl kaum mehr Schwierigkeiten haben als ich mit ihm in seiner Eigenschaft als Polizeichef«, sagte er. »Von mir aus kann er fluchen und toben, soviel er will. Ich gehe zurück zum Chalet Weitblick, um mir die Füllfederhalter zu holen, die ich meiner Frau und meinem Sohn Charles zugedacht habe. Diesen Marcus kann sich die Polizei von Viktoria schnappen. Der Mörder von Grumman aber gehört mir. Dasselbe gilt für den Mann mit dem Revolver, der mir die Füller abgejagt hat. Also wenn ich nach Brisbane zurückgehe, ohne mir diesen Revolverhelden zu greifen, ich würde für den Rest meiner Tage sein Gelächter hören. Also sagen Sie Oberst Spender einfach, daß Bony noch immer für Sie im Einsatz ist. Sonst …« Oberst Blythe ballte die Fäuste und grinste wie ein Schuljunge. »Sie würde ich mir gern mal vorknöpfen«, drohte er. »Und ich würde es sogar tun, wenn ich Ihren Mumm nicht so bewundern würde. Wie war’s jetzt mit einer Dusche und ein paar Stunden Schlaf, eh? Dann ein spätes Frühstück und ein Plausch mit Kirby über unsren Freund Marcus? Sie wären den Jungs aus Melbourne doch gern einen Schritt voraus, oder vielleicht nicht?« »Ja, das würde mich durchaus etwas beruhigen«, pflichtete Bony ihm bei.
9 Flaute im Chalet Weitblick Biskers Wecker rasselte auch am 2. September um halb sechs Uhr morgens, wie gewöhnlich, und wie gewöhnlich krachte auch diesmal - 91 -
eine schwielige Faust auf den Stopper. In der Hütte war es völlig dunkel. Bisker ächzte und war schon mitten in seiner morgendlichen Haßtirade, als ihm die Aufregung des Vortags einfiel. Er zündete die Lampe an und steckte sich die morgendliche, sorgsam mit Resten gestopfte Pfeife in den Mund, und während er so an seiner dreimal so giftigen Mischung sog, ließ er die jüngsten Ereignisse Revue passieren und rief sich Mr. Napoleon Bonapartes letzte Anweisungen ins Gedächtnis. Wie jeder aus dem australischen Busch hegte auch Bisker eine tiefe Verachtung für den bewaffneten Gangster aus der Stadt, der sich mit Hilfe einer Schußwaffe für kurze Zeit die Oberhand erzwang und sein Handwerk mit Waffengewalt ausübte, anstatt mit dem Verstand, der etwa nötig war, um eine Bank zu knacken. Deshalb war es auch ganz natürlich für Bisker, zu dieser frühen Stunde schon über den Unwillen nachzusinnen, den er nach der Mißhandlung seitens eines solchen Mannes mit ins Bett genommen hatte. Sich mit gewohnter Achtlosigkeit ankleidend und sich mit ebenso gewohnter Sorgfalt die Taschen mit Tabak, Ersatzpfeife, Taschenmesser, Schwefelholzdöschen und Korkenzieher füllend, nahm Bisker schließlich die Lampe auf und trat hinaus in den kalten, klammen und nicht gerade einladenden Morgen. Nachdem er die Tür geschlossen hatte, folgte er heute nicht dem Weg auf den freien Platz vor den Garagen. Ganz seinen Instruktionen gemäß schlich er die Hüttenwand entlang bis zur ersten Ecke und hielt dann geradewegs auf den oberen Zaun zu. Diesem folgte er bis zur Rückseite der Garagen, um an die Spülküchentür des Chalets zu gelangen; auf diese Weise konnte er keine eventuell von dem Mann mit dem Revolver hinterlassenen Spuren ruinieren, Spuren, die für Bony nach seiner Rückkehr aus der Stadt zweifelsohne von Interesse sein würden. Er hatte eben den Morgentee für sich und die Köchin aufgegossen, als Mrs. Parkes in der Küche erschien. »Morgen!« knurrte er. »Morgen!« bellte sie zurück. »Ist der Tee fertig?« - 92 -
»Ist er! Machen Sie’s sich am Feuer bequem. Ich werd’ mal den Diener spielen.« Mrs. Parkes zog sich einen Stuhl herüber und setzte sich vor eines der Feuer des großen Herdes in der Küchenmitte, und als sie saß, war der Stuhl unter ihr nicht mehr zu sehen. Ihr braunes Haar war noch nicht »gemacht«, und das Fehlen ihrer Zähne schien die Kluft zwischen der Knopfnase und der Linie ihres breiten Kinns noch zu betonen. Braune Augen starrten in das Feuer, kleine Augen, die im Augenblick nicht ein einziges Mal blinzelten. Wortlos nahm sie die Tasse Tee entgegen, die Bisker ihr brachte, und erst als sie sie geleert und Bisker zum Nachschenken zurückgereicht und eine Zigarette aus der Schürzentasche geholt und angesteckt hatte, begann sie sich zu artikulieren. »Ich frag’ mich, ob es wohl wieder einen Mord gegeben hat heute morgen?« »Keine Ahnung. Ist noch nicht hell genug, um Leichen zu entdekken«, sagte Bisker, eine schwache Hoffnung in der Stimme. »Aber die Zeitungen dürften heute interessant sein.« »Ja, das sollten sie wohl«, pflichtete Mrs. Parkes ihm bei. »Daß Sie mir ja alle Morgenzeitungen mitbringen, wenn Sie zum Laden hinunterkommen. Gott sei’s gedankt, daß ich nicht drin bin.« Gemächlich trat Bisker an die Anrichte an der Wand und füllte seine Tasse. Er kam wieder herüber, setzte sich an den Teil des Herds, den noch kein Feuer wärmte und schnitt, für eine zweite Pfeife, einige Scheiben von seinem schwarzen Flake. »Man kann nie wissen«, sagte er. »Einer von den Reportern hat mich alles Mögliche übers Personal gefragt, und da hab’ ich ihm von George erzählt und daß Sie hier Köchin sind.« »Das sieht Ihnen ähnlich. Und noch zehnmal mehr über sich selber. Na wie auch immer, ich bin froh, daß ich nichts damit zu schaffen habe und mein Alter keinen Grund hat, mir dumm zu kommen, wenn er wieder da ist. Ich weiß allerdings nicht, ob das hier noch ein respektables Haus ist. Einen Vorteil hat das Ganze freilich, ich brauch’ - 93 -
heute morgen bloß für sechs Gäste zu kochen, und bei dem Ruf, den das Haus jetzt hat, da werden es sich andere wohl zweimal überlegen, ob sie kommen.« »Heute früh werden’s nur fünf Gäste sein«, sagte Bisker. »Mr. Bonaparte ist gestern noch ganz spät in die Stadt und wird erst im Lauf des Tages wieder zurück sein.« »Oh! Woher wissen Sie das?« »Weil er’s mir gesagt hat. Ein netter Bursche übrigens. Redet wenigstens wie’n zivilisierter Mensch. Bei dem gibt das kein ›He! He, Sie da, Bisker! Holen Sie mal die Zeitung!‹ Was dagegen den andern Burschen anbelangt, diesen Grumman, also bei dem tut mir das nicht besonders weh, daß der den Löffel abgegeben hat. Der hat einem ja noch nicht mal guten Tag gesagt.« »Ich frag’ mich, wer den wohl abgemurkst hat«, sagte Mrs. Parkes langsam und genehmigte sich einen letzten Zug von ihrer Zigarette. »Wissen Sie, es tät’ mich überhaupt nicht wundern, wenn das dieser Bagshott gewesen wär’. Aus seinen Büchern weiß der doch genau Bescheid über Gifte, und wie man einem so was gibt. Ich hab’ ja gehört, daß der mit Karnickeln und so ’nem Zeug übt.« »Was Sie nicht sagen!« rief Bisker aus. »Aber zutrauen würd’ ich’s ihm auch. Ich hab’ nur nicht an ihn gedacht.« »Und das lassen Sie man besser auch«, sagte Mrs. Parkes. »Schauen Sie mal auf die Uhr. Was ist mit den Schuhen?« Bisker sammelte die Schuhe ein – vier Paar Herrenschuhe und das Paar, das er vor Miss Jades Zimmer mitnahm. Während er dabei war, holte er den Zettel aus der Tasche, den Bony ihm für Miss Jade gegeben hatte; diesen hinterließ er auf dem Tischchen neben der Tür zu Miss Jades Büro. Während er die Schuhe putzte, pfiff er so laut vor sich hin, daß Mrs. Parkes an die Spülküchentür kam, um ihm zu sagen, er solle »die Luft anhalten«. Diesen Morgen hatte er mehr Zeit als sonst, weil er keine so große Anzahl von Schuhen zu putzen brauchte, und so wanderte er ums Haus zum Haupteingang, der noch verschlossen war. Er stattete dem - 94 -
Bottich einen Besuch ab, um die Erde zu glätten, die er am Abend zuvor so grob aufgewühlt hatte. Das war nur gut so, da Miss Jade diese Unordnung gewiß bemerkt und Fragen gestellt hätte. Bei Tageslicht sah es ganz so aus, als hätte dort ein Kaninchen gegraben. Neben dem Loch, das er für die Whiskyflasche gemacht hatte – und das jetzt viel größer war, als er es gegraben hatte –, entdeckte er die Eindrücke von vier gestreckten Fingern nebst Daumen einer Männerhand. Als er das von der Flasche zurückgelassene Loch füllte, arbeitete Biskers Verstand mit einem für ihn ganz ungewöhnlichen Tempo. Er rief sich ins Gedächtnis, was er das erste Mal gemacht hatte, als er auf der Kante des Bottichs gesessen, und schließlich beim zweiten Mal, als er die Füller und die Flasche aus der Erde gezogen hatte; er konnte sich nicht erinnern, auch nur eine seiner Hände so flach in die weiche Erde gedrückt zu haben. Stammte der Eindruck von dem Mann mit dem Revolver? Eine Frage, die Bisker beschäftigte. Selbstverständlich wären keine Fingerabdrücke zu sehen, aber dafür um so deutlicher die Form der Hand, eine linke Hand, und der Eindruck war sicher nicht dort gewesen, als er sich am Abend zuvor bei Einbruch der Dunkelheit auf den Rand des Bottichs gesetzt hatte. Der Mann, von dessen linker Hand dieser Eindruck stammte, hatte neben dem Bottich gestanden und mit der Rechten gegraben, und der einzige, der außer ihm selbst ein Interesse an diesem Bottich haben konnte, das war der Mann mit dem Revolver. »Moment mal!« murmelte Bisker. Da gab’s doch noch einen – den Burschen, der die Füller vergraben hatte. Womöglich stammte der Abdruck von dessen linker Hand. Was sollte er tun? Ließ er den Abdruck, wie er war, so konnte der Mann mit dem Revolver oder der, der die Füller vergraben hatte, vorbeikommen, ihn sehen und glätten. Und womöglich hätte Mr. Bonaparte den Abdruck ja gern gesehen. Womöglich würde er ihn gern ausmessen, die Spannweiten messen und so die Handgröße feststellen. Tja, was tun? - 95 -
Es war schon fast heller Tag. Jeden Augenblick würde die Sonne aufgehen. Im Haus war noch alles ruhig, und es würde noch zehn, fünfzehn Minuten dauern, bis eines der Dienstmädchen die Haustür öffnen und die Veranda wischen würde. Bisker kam auf den Gedanken, ein Stück Blech über den Abdruck zu legen, sah dann aber ein, daß das nur die Aufmerksamkeit darauf lenken würde. Am besten, er ließ ihn einfach, wie er war. Er ging zurück zum Holzstapel und von dort aus die Rückseite der Garagen entlang. Auf diese Weise gelangte er zu seiner Hütte, wenn auch auf der rückwärtigen Seite, schlich die Wand entlang bis zur Tür, behielt aber dabei interessiert den Aschenweg im Auge, den er auf seinem Weg zum Haus gemieden hatte. Bisker fühlte sich an diesem Morgen ausgezeichnet. Er rasierte sich mit kaltem Wasser und gab sich ungewöhnlich viel Mühe dabei. Er wusch sich mit kaltem Wasser, und anstatt sein Haar der formenden Wirkung seines Hutes zu überlassen, kämmte er es, um dann, auf eine plötzliche Eingebung hin, in seiner Habe nach einer Schere zu suchen, mit der er, als er sie schließlich fand, seinen ungebärdigen Schnurrbart stutzte, womit er nicht nur etliche Jahre wegschnippelte, sondern auch noch achtzig Prozent des heruntergekommenen Eindrucks, den er gegenwärtig machte. Dergestalt fürs Frühstück gerüstet, knöpfte er seine alte Jacke und schnürte die schweren Stiefel, stand dann auf und betrachtete sein ungemachtes Bett. Er hob das obere Ende der Matratze und nahm darunter die Flasche hervor, der er dieses Abenteuer überhaupt erst verdankte. Sie war noch immer zu einem Viertel voll, und er betrachtete sie ein Weilchen, sein Verlangen deutlich ins wettergegerbte Gesicht geschrieben. Dann legte er die Flasche wieder unter die Matratze, verließ die Hütte und ging auf demselben Weg zum Haus zurück, den er bereits vorhin genommen hatte. In der Küche setzte er sich, um mit George zu frühstücken. »Wird wieder ein schöner Tag werden«, begann der Getränkekellner. - 96 -
»Ja«, stimmte Bisker zu. »Wird sich aber nicht halten. Wie geht’s dem alten Weibsstück denn heute morgen?« »Hab’ sie noch nicht gesehen.« George spießte ein Stück Frühstücksspeck auf seine Gabel und starrte Bisker an. Schon am Morgen zuvor, als er auf Miss Jades Klingeln hin gekommen war, hatte er einen völlig neuen Bisker gehört, und jetzt sah er auch noch einen neuen Bisker. Er fügte hinzu: »Was haben Sie denn mit sich angestellt?« »Mit mir angestellt?« echote Bisker. »Wieso?« George musterte Bisker, die dunklen Augen zusammengezogen. »Sie haben sich gekämmt und sich die Schnorre getrimmt«, sagte er vorwurfsvoll, worauf Bisker ihn streitlustig fragte: »Was, zum Teufel, ist so schlimm dran? Schließlich hab’ ich mir ja nicht gleich ’ne Tolle gedreht wie Sie!« »Schon gut, kein Grund, gleich an die Decke zu gehen. Würden Sie mir eine Zeitung mitbringen, wenn Sie in den Laden kommen?« »Womöglich! Wenn Sie so um zehn einen Schwenker rüberwachsen lassen.« »Ach, dabei fällt mir ein«, sagte George, und Bisker hätte sich in den Hintern beißen können, weil er ihn daran erinnert hatte. »Dabei fällt mir was ein. Sie haben doch gesagt, Miss Jade hätte gestern vormittag eine volle Flasche Whisky bestellt, und ich habe noch gar nicht nachgesehen, was aus der geworden ist.« Bisker schnaubte und betrachtete George mit offener Verachtung. »Also, was würde ein stinknormaler Mensch wohl denken, was aus so ’ner Flasche wird, wenn man sie in einem Zimmer voller Kriminaler stehen läßt? Ich bitte Sie, George, mir das mal zu flüstern.« George bot, sehr zu Biskers Freude, keinerlei Kommentar, und so sagte er: »Ist wohl ziemlich spät geworden gestern abend?« »Ziemlich. Alle haben sie von nichts andrem geredet als von den beiden Morden, was sie natürlich ziemlich durstig gemacht hat. Sie debattierten drüber, wer Grumman wohl umgebracht hat und wann.« »Meinen Sie, die Kriminaler kommen heute noch mal raus?«
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»Mit ziemlicher Sicherheit«, antwortete George. »Als der Bursche Rice erschossen hat, haben Sie da geglaubt, jetzt wird er Ihnen auch eine verpassen?« »Nein, nicht solang’ ich stehenblieb, George, und Sie können Gift drauf nehmen, ich stand da wie ’n Denkmal. Der alte Drachen auch. Der Kerl hatte eine ekelhaft fiese Visage, total teigig, George, und der Blick in seinen Augen hat mir ganz und gar nicht gefallen. Also ich weiß, wenn’s einem Kerl ernst ist.« »Wie groß war er denn – war er dick?« drängte George mit einem Blick über Biskers Schulter. Bisker wollte ihm eben antworten, als eines der Dienstmädchen ihn ansprach: »Bisker! Miss Jade will Sie sofort nach dem Frühstück im Büro sehen.« »Alles klar, Alice.« Dann, an George gewandt, meinte Bisker: »Wie groß der Mordbube gewesen ist, fragen Sie? Lassen Sie mich mal sehen. Ungefähr so groß wie Sie. Vielleicht auch zwei, drei Zentimeter größer. Sagen wir mal einsachtzig und so um die sechzig Kilo. Schwarzes Haar hat er gehabt, gewellt, und so einen Schatten auf der Oberlippe, grade so als hätt’ er sich eben den Schnurrbart abrasiert.« »Hmm! Das ist ja interessant, haben Sie der Polizei das erzählt?« »Ist wohl anzunehmen. Was ich denen im einzelnen alles erzählt hab’, weiß ich freilich nicht mehr.« »Ist Ihnen sonst was an ihm aufgefallen – an seinen Händen, seinen Schuhen? Was für eine Art Anzug hat er angehabt?« »Einen grauen Doppelreiher mit so ’ner bläulichen Krawatte. Seine Schuhe hab’ ich mir nicht angeschaut, aber seine Hände sind mir aufgefallen. Die waren schmal mit langen Fingern – so wie die Ihren. Irgend’n Ausländer – eine eiskalte Schlange von einem Kerl, der ich gern mal mit den Stiefeln draufspringen möchte. Dann werd’ ich mal sehen, was die alte Gewitterziege will. Bis später, George.« Als er ins Büro trat, fand Bisker Miss Jade beim Telefonieren, und während er dastand und darauf wartete, daß sie fertig wurde, hörte er, daß sie dabei war, eine Anfrage nach einem Zimmer zu beantwor- 98 -
ten. Sie sprach leise, aber bestimmt, und überhaupt schien sie Bisker an diesem Morgen wieder ganz die alte zu sein, eine Frau, die sich zu kleiden wußte, ein Wesen, das in einer anderen Welt lebte als er. Die Falten ihres schwarzen Rocks waren ein Wunder für sich, und die dunkelbraune Strickjacke formte ihre Büste, daß man hätte meinen können, eine Frau von vielleicht fünfundzwanzig vor sich zu haben. Frisiert schien sie eine Kammerzofe zu haben, die für genau diese Art von künstlerischer Arbeit geboren war, und ihr Make-up paßte perfekt zu ihrem Teint und dem Morgen. »Ah! Da sind Sie ja, Bisker!« rief sie, als sie auflegte. »Auf dem Tisch vor der Tür fand ich eine Nachricht von Mr. Bonaparte. Wissen Sie etwas darüber?« »Ja, Madam.« Bisker konnte sehen, daß sie seinen gestutzten Schnurrbart bemerkte. »Ich habe Mr. Bonaparte gestern abend bei einem Spaziergang unten am Laden getroffen. Er redete mit ein paar Leuten in einem Auto, und da hat er mich gebeten, Ihnen einen Zettel zu bringen, den er auf einem der Kotflügel von dem Wagen geschrieben hat.« »Wann war das denn?« »So um halb zehn, Madam.« »Warum haben Sie ihn denn dann nicht gestern abend gebracht?« »Ich hab’s vergessen, Madam.« »Vergessen!« echote Miss Jade, die Augenbrauen sorgfältig angehoben. »Ja, Madam«, gestand Bisker. »Tut mir leid, wenn’s was Wichtiges war.« »Nicht unbedingt wichtig, Bisker. Aber wagen Sie es nicht noch einmal, so etwas zu vergessen. Äh – mit dem Mittagsbus kommen einige Leute. Ein Herr und seine Gattin und zwei einzelne Herren. Vergessen Sie nicht, unten an der Haltestelle zu sein, wenn der Bus kommt.«
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»Geht in Ordnung, Madam.« Bisker machte eine unschlüssige Miene und fügte dann unsicher hinzu: »Was ist aber, wenn mich grade die Kriminaler am Wickel haben, wenn der Bus kommt?« »Kriminalbeamte, Bisker? Wie meinen Sie das?« »Na ja, Madam, ist doch ziemlich wahrscheinlich, daß da heute noch mal welche rauskommen. Um noch mal dasselbe zu fragen, was sie gestern schon gefragt haben. Ist ’n schöner Tag und damit ’n schöner Ausflug für die. Und dann werden natürlich auch wieder Reporter kommen und Fotografen. Trotzdem, ich werde mein Bestes tun, Madam.« Miss Jade betrachtete Bisker, als habe sie Visionen. Ihre Brauen hatte sie wieder gesenkt. Sie hatte sie sogar zusammengezogen, so daß die beiden schrecklichen Vertikalen dazwischen sich wieder deutlich abzeichneten. Dann sagte sie: »Ja, Sie haben wohl recht, Bisker. Das wird eine ausgesprochene Plage werden. Tun Sie Ihr Bestes, um am Bus zu sein. Das wäre im Augenblick alles. Aber warten Sie! Daß Sie mir nicht herumtrödeln, wenn Sie die Zeitungen holen.« »Sehr wohl, Madam.« Möglich, daß Bisker, wäre er nicht so rundlich gewesen, sich vor Miss Jade verneigt hätte. So aber zog er sich zurück, wie er sich, einer Gewohnheit zufolge, aus der Gegenwart von Mrs. Parkes empfahl: erst rückwärts zur Tür und dann nichts wie weg, da es schon vorgekommen war, daß Mrs. Parkes den einen oder anderen Gegenstand warf. Der erste Bus aus Manton, der Stadt mit dem Bahnhof, kam um zehn vor dem Laden am Mount Chalmers an, und Bisker war dort, um die Zeitungen für das Chalet in Empfang zu nehmen, einschließlich der beiden Exemplare, die George und Mrs. Parkes bestellt hatten. Der Laden war voller Einheimischer und Besucher, die es alle genausowenig erwarten konnten wie Bisker. Sein nächster Besuch galt dem Postamt, und als er an der Reihe war, die Briefe in Empfang zu nehmen, sah er am Vermittlungsschrank, mit dem Rücken zu ihm, - 100 -
eine ihm Unbekannte sitzen; ohne zu lächeln, schloß er dem Postmeister gegenüber ein Auge. Auch wenn Bisker auf dem Rückweg, der ihn eine halbe Meile bergaufwärts führte, keineswegs »trödelte», so hatte er, als er die Einfahrt zum Chalet erreichte, doch bereits den größten Teil der Titelseiten mit den Berichten über den »Doppelmord« am Mount Chalmers gelesen. Wie Fred, der Gelegenheitsarbeiter, vorausgesagt hatte, war Bisker nun berühmt. Mehrere Autos waren an ihm vorbeigekommen, und drei davon parkten vor dem Haupteingang. Auf der Veranda stand eine Gruppe von Männern. Zwei weitere fotografierten in verschiedenen Stellungen vom Rasen aus. Ein wenig unsicher ging Bisker durch die Gruppe auf der Veranda und gelangte so mit Post und Zeitungen ins Büro. Dort fand er Miss Jade im Gespräch mit Inspektor Snook. Wortlos legte er die Briefe und alle außer zwei Zeitungen auf den Schreibtisch der Sekretärin und zog sich auf dieselbe Art und Weise zurück wie schon vorhin, diesmal unter dem argwöhnischen Blick des Kriminalbeamten, der von Mrs. Parkes’ Sucht, mit Gegenständen um sich zu werfen, nie etwas erfahren sollte. Als der Mittagsbus eintraf, wartete Bisker bereits auf ihn. Das große, moderne Fahrzeug spie ein halbes Dutzend Leute und den Fahrer aus, der einige Koffer und eine Hutschachtel vom Gepäckständer hinten am Bus nahm. »Mr. und Mrs. Watkins!« rief Bisker. »Mr. Downes und Mr. Lee. Bitte vergewissern Sie sich, daß man Ihr Gepäck vollständig abgeladen hat.« Die Genannten sonderten sich vom Rest der Leute ab, und Bisker schätzte sie auf ihren »Trinkgeldwert«, eine Kalkulation, in der er es zu einer gewissen Geschicklichkeit gebracht hatte. Watkins war schwergewichtig und trug gute, sportliche Kleidung. Seine Frau war mit Pelzen und Schmuck überladen. Mr. Downes war ein Mann um die Vierzig, angegraut und mit einem knappen Oberlippenbärtchen, - 101 -
und Mr. Lee trug die Sachen eines Bauern auf Urlaub. Die Gruppe folgte dem schwer beladenen Bisker, der, über die Landschaft plaudernd, die Auffahrt hinaufschwankte. Bisker kam zu dem Schluß, daß Mr. Lee hinsichtlich des Trinkgelds wohl am meisten versprach.
10 Bony setzt seinen Urlaub fort Gegen drei setzte ein Auto Bony an der Auffahrt zum Chalet ab und seinen Weg die Bergstraße hinauf fort. Die Sonne war nicht mehr zu sehen, da der Himmel fast gänzlich mit Wolken bedeckt war, die langsam von Westen her aufzogen. Die nach wie vor klare Atmosphäre, gepaart mit der Windrichtung, deutete auf Regen noch vor dem folgenden Morgen. So wie er das Chalet verlassen hatte, kehrte er auch zurück. Er trug keinen Hut, und der Wind zerzauste ihm das feine schwarze Haar. Oberst Blythes Diener hatte ihm den Anzug gebürstet und aufgebügelt, so daß er ebensogut von einem kleinen Spaziergang nach dem Essen in Miss Jades schönem Speisesaal hätte zurückkehren können. Der Schmiß auf seiner Wange, wenn auch deutlich zu sehen, machte keinen so entzündeten Eindruck mehr. Statt gleich die erste Auffahrt hinaufzugehen, folgte Bony der Straße bis an die Rampe, die zum Gartentor führte. Am oberen Rand der Böschung, über der Stelle, wo man Grummans Leiche gefunden hatte, standen vier Männer, die Bonys Schätzung nach von der Presse waren. Am Gartentor traf er auf Inspektor Snook. »Ah – schönen Tag, Inspektor!« begrüßte er ihn. »Eine herrliche Landschaft – wunderbare Aussicht.« »Zum Teufel mit der Aussicht!« bemerkte Inspektor Snook. »Sind wohl grade angekommen?« - 102 -
»Grade eben«, gestand Bony mit einem provozierenden Lächeln. »Und? Was Neues?« »Nur was ich bei meinem Besuch in Ihrem Palast von einem Präsidium erfahren habe. Der Super war in einer nicht gerade bekömmlichen Verfassung.« Snook bedachte Bony mit einem harten Blick. »Bekömmlich!« wiederholte er. »Ja, genau das habe ich gesagt, mein Bester. Gereiztheit ist äußerst gefährlich für jemanden von Bolts Konstitution. Es führt zu Magenverstimmungen und schließlich zu Geschwüren, und Geschwüre wiederum zu – na ja, Sie wissen, wozu Magengeschwüre führen. Die Ursache seiner Verärgerung war die problemlose Flucht unseres Freundes Marcus. Er scheint den Gedanken zu hegen, Marcus sei nach Melbourne entkommen – oder Timbuktu oder weiß Gott wohin –, und als ich zu bedenken gab, daß Marcus sich womöglich in ein Haus hier am Berg zurückgezogen haben könnte, nahm seine Verärgerung noch zu.« »Haben Sie Marcus’ Akte studiert?« erkundigte sich Snook. »Hab’ ich. Ein ausgesprochenes Prachtexemplar. Vier nachgewiesene Morde und noch etwa ein Dutzend, derer man ihn verdächtigt, und das zwischen hier, New York und London. Hat ein Faible für Verkleidungen und was weiß ich, und einen Mangel an Sprachbegabung kann man ihm auch nicht gerade nachsagen.« »Und Sie glauben, er könnte noch irgendwo hier herumlungern?« sagte Snook mit einer Spur von Verachtung in der Stimme. »Wie kommen Sie darauf?« »Intuition«, antwortete Bony kühl. »Ah! Wie ich sehe, serviert George gerade den Gästen auf der Terrasse den Tee. Da müssen Sie mich wohl entschuldigen.« Inspektor Snook blickte Bony finster hinterher. Intuition! Na ja, was konnte man von einem zum Kriminalinspektor beförderten Mischling schon erwarten! Muß wohl einflußreiche Freunde haben, die ihm eine solche Position zuschanzen und ihn dann auch noch auf Vergnü- 103 -
gungsreisen für die vermaledeite Abwehr schicken. Was Marcus’ Flucht anbelangt, dafür kann er freilich auch nichts. Bei fünf Minuten mit einem Wagen, der jede Minute eine Meile frißt, und das auf einer Straße, auf der es sich gut und gern neunzig Meilen die Stunde fahren ließ, da stand einem doch die Welt offen, und diese fünf Minuten hatte Marcus gehabt. Als er die Terrasse erreicht hatte, erhaschte Bony Georges Blick und schlenderte in eine ruhige Ecke, wo er sich in einem sündhaft bequemen Liegestuhl niederließ und von dem lächelnden Kellner bedient wurde. »Sieht nach Regen aus«, bemerkte Bony. »Sehe ich da einige neue Gäste?« »Ja, Sir. Ein paar sind heute eingetroffen. Eben aus der Stadt zurückgekommen ?« »Gerade eben, George. Meine Freunde haben mich bis vor die Auffahrt gebracht. Hier wandert ja noch immer eine Menge Polizei herum.« »Nach einem Verbrechen ist das wohl so üblich, Sir.« »Natürlich«, stimmte Bony zu. »Noch eine Tasse Tee, Sir?« »Dankeschön.« »Wie ich sehe, haben Sie sich an der Wange verletzt, Sir. Und das ziemlich schlimm«, sagte George betulich. »Miss Jade hat einen Verbandskasten, sie könnte Ihnen die Wunde versorgen, wenn Sie es wünschen.« Bony lächelte. Er musterte die dunklen Augen, die da auf ihn herunterstarrten. »Womöglich komme ich nach dem Abendessen auf Ihr Angebot zurück«, sagte er. »Ich bin im Wagen meines Bekannten beim Aussteigen gegen irgendwas Vorstehendes gekommen. Man hat mir zwar ein Pflaster und was weiß ich draufgetan, aber ich habe alles wieder abgewaschen, bevor ich mich auf den Rückweg gemacht habe. Das
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Zeug sah ja noch schlimmer aus als der Schnitt selbst. Ich sehe gerade, daß einer der Gäste sich um Ihre Aufmerksamkeit bemüht.« »Ich danke Ihnen, Sir«, murmelte George und schob seinen Servierwagen davon. Der Wind enthielt eine eisige Spitze, so daß es Bony nicht lange auf der Terrasse hielt. Er hatte Inspektor Snook vom Gartentürchen heraufkommen sehen und außerdem das Dach des Busses, der gleich dahinter gehalten hatte, um die Presseleute mitzunehmen, die dort unten auf ihn gewartet hatten. Jetzt verließ Bony langsam und nachdenklich die Terrasse und schlenderte den Weg entlang, der ihn zur Auffahrt sowie zur Hausecke mit dem Haupteingang und den Garagen brachte. Er kam gerade rechtzeitig, um Snook und drei weitere Polizisten in Zivil in einen Wagen steigen und abfahren zu sehen. Er begann Miss Jades Büsche zu bewundern, von denen viele bereits blühten. Ihre Auswahl an Rhododendren war exzellent. Nachdem er die Auffahrt überquert hatte, um sie zu bewundern, kam er auf den Pfad, der zu Biskers Hütte führte. Der Weg war mit Schlacke bestreut. Er war hart und eben, aber bei weitem nicht hart genug, als daß Leute wie er darauf Stiefelabdrücke übersehen hätten können. Es gab eine Menge solcher von Biskers genagelten Stiefeln der Größe einundvierzig. Daneben waren noch weitere Abdrücke derselben Größe zu sehen, und zwar von einem Mann, der zur Hütte gegangen und dann wieder zurückgekommen war. Und dann gab es da noch die Abdrücke eines Schuhs oder Stiefels der Größe fünfundvierzig, der noch vor dem Besuch des Mannes mit Größe einundvierzig hier gegangen war, da die Abdrücke des letzteren die der Größe fünfundvierzig des öfteren überlagerten. Den Weg säumte zu beiden Seiten eine Linie gestrichener Bretter, und der Boden jenseits dieser Grenze war bestellt und mit einer Vielfalt von etwas weit auseinander stehenden Frühlingsblumen bepflanzt. Auf einem winzigen Hügelchen wuchsen einige Büschel Sonnenwenden.
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Diese Büschel standen nur wenige Meter von Biskers Hütte entfernt, und der Boden in seiner Nähe bot Anzeichen dafür, daß man ihn in allerjüngster Zeit aufgewühlt hatte. Der Boden zu beiden Seiten des Wegs war grob umgegraben, und es hatte seither viel geregnet, was die dunkle Lehmerde nicht nur weitgehend eingeebnet, sondern auch mit einer feinen Struktur versehen hatte. Dort, wo Bony mit dem Bewaffneten gerungen hatte, waren ganze Flächen in noch höherem Maße eingeebnet, und er konnte die Eindrücke von Schuhspitzen und Absätzen sehen, daneben auch einige Abdrücke des abnormal großen Schuhs oder Stiefels der Größe fünfundvierzig. Sie stammten von demselben Mann, der sie auch hier auf dem Weg und auf der Rampe zur Hauptstraße hinterlassen hatte. Hier, etwas abseits vom Weg, waren diese Abdrücke bei weitem weniger tief, als man es bei einem normal ausschreitenden Träger eines Schuhwerks von dieser Größe vermutet hätte, während die Abdrücke auf dem Weg völlig normal waren. Bony setzte seinen Weg in Richtung Biskers Hütte fort, und zwar langsam und mit dem Interesse eines von der waldartigen Szenerie dieses baumbestandenen Gartens sowie der rauchblauen Aussicht dahinter völlig vereinnahmten Gastes. Die Hände hinter dem Rücken ineinandergelegt und immer wieder innehaltend, um dies oder jenes mit seiner bewundernden Aufmerksamkeit zu bedenken, erreichte er schließlich die Hütte. Er umkreiste das Gebäude, sah seine eigene Spur neben der des Räubers mit dem Schuhwerk der Größe fünfundvierzig, der hier den Betrunkenen markiert und dabei vorgegeben hatte, die Hütte für einen überdimensionalen Baumstamm zu halten. Nachdem er die Hütte einmal umkreist hatte, wanderte Bony auf den rückwärtigen Zaun des Grundstücks zu, kam dann wieder zurück und an der Vorderseite der Bäume hinter der Hütte, in der Nähe von deren Fenster, vorbei. Er stellte fest, daß man, hier unter den Bäumen stehend, mit Leichtigkeit in die Hütte sehen konnte, solange die Jalousie nicht zugezogen war und innen die Laterne brannte. Und
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so fand er denn auch hier die Spur des Mannes mit dem Schuhwerk der Größe fünfundvierzig. Ein Mann von Größe und Gewicht des Mannes mit dem Revolver mußte zwei deformierte Füße haben, um einen derart großen Schuh zu tragen, und seine Füße waren die einzigen Extremitäten, die Bony während ihrer Begegnung am Abend zuvor nicht gesehen hatte. Hatte es sich hier um ein Gespann gehandelt – der Mann mit den großen Stiefeln und der mit der Waffe? Auf dem Weg gab es schließlich auch noch die Abdrücke von Stiefeln oder Schuhen der Größe einundvierzig; in ihnen könnten die Füße des Mannes mit der Waffe gesteckt haben. Womöglich war gar nicht er es gewesen, mit dem Bony neben dem Weg gerungen hatte. Dieser Sachverhalt beschäftigte ihn, als Bisker geraden Wegs von der Rückseite der Garage her auf ihn zukam. »Nun, Bisker! Was macht der Kopf?« fragte Bony den kleinen dikken Mann mit den buschigen Augenbrauen und dem nun gestutzten grauen Schnurrbart. Biskers Lächeln beschränkte sich auf seinen Mund. »Hatt’ ich schon ganz drauf vergessen, Sir«, antwortete er und starrte auf Bonys verletzte Wange. »Schaut ganz so aus, als hätten Sie sich was Schlimmeres eingefangen als ich. Ich bin froh, Sie wieder hier zu haben. Ich hab’ einen Hinweis gefunden.« »Ah!« machte Bony bühnenreif. Bisker warf einen verstohlenen Blick in die Runde, als hätte er den Anflug von Melodram in Bonys Stimme sofort erfaßt. »Jawohl, einen Hinweis. Der Mann mit dem Revolver, als der im Bottich unter dem Strauch nach den Füllern gegraben hat, da hat er sich mit der linken Hand auf der Erde abgestützt und dabei die Abdrücke von sämtlichen Fingern mitsamt Daumen und Handballen hinterlassen, so daß wir die Form und die Größe von seiner Hand schätzen können. Er ist noch da, oder jedenfalls war er’s, als ich mir das letzte Mal ’nen Überblick verschafft habe.« »Und das war wann – um wieviel Uhr?« - 107 -
»Vor ungefähr zwei Stunden.« »Das hilft uns womöglich weiter, Bisker, aber wir können den Abdruck jetzt schlecht untersuchen. Es laufen zu viele Leute herum. Wissen Sie, wo wir etwas Gips herbekommen könnten?« »Und ob ich das weiß! Wir haben welchen im Werkzeugschuppen.« »Ausgezeichnet. Später, nach dem Essen, werde ich einen Abguß machen, obwohl das im Dunkeln nicht leicht sein wird. Sie könnten dabei womöglich mehr Erfolg haben, da Sie die genaue Lage des Abdrucks kennen. Wenn Sie für heute Schluß gemacht haben, dann stellen Sie den Gips in Ihrer Hütte bereit. Wie ist Ihr Tag denn so gelaufen?« »Nicht allzu schlecht«, sagte Bisker und fügte nach einer deutlichen Pause hinzu: »Einer der Kriminaler hat mich geschnappt, damit ich ihn hier zur Hütte bringe. Er ließ sich meine ganze Habe zeigen und hat dann irgendwas gesucht und mir dabei die Bude auf den Kopf gestellt. Ich hab’ ihn gefragt, was er zu finden hofft, und er hat gesagt, daß er sich nur umschauen will, sozusagen.« »Und Sie wissen nicht, hinter was er wohl her war?« Bisker schüttelte den Kopf. »Haben Sie ihn auf dem Weg hergebracht?« Bisker grinste. »Nicht doch«, antwortete er und lächelte jetzt sowohl mit dem Mund als auch mit den Augen. »Wir sind erst zum Werkzeugschuppen, wo er rumgestöbert hat, und wie wir wieder raus sind, da ist mir eingefallen, was Sie über den Weg gesagt haben, also hab’ ich ihn sozusagen abgedrängt und bin mit ihm den hinteren Zaun entlang. Nachdem er hier durch war, haben wir sozusagen noch einen Rundgang durch den Garten gemacht, bis runter zum vorderen Zaun und dann rechts zur Auffahrt und wieder zurück.« »Ihres Wissens nach hat also seit gestern abend den Weg niemand betreten?« »Nicht einer, soviel ich weiß.« »Gut!«
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Bony sah sich um wie ein Mann vom Land in der Stadt. Dann deutete er auf einen Strauch ein Stückchen weiter den Weg hinauf und bat Bisker, ihm zu folgen und so zu tun, als würden sie beide sich darüber unterhalten, für den Fall, daß sie jemand beobachtete. Als sie vor dem Strauch standen, fragte er: »Sie haben nicht zufällig die Füße des Mannes mit dem Revolver gesehen?« »Nicht unbedingt«, antwortete Bisker. »Nachdem ich wieder zu mir gekommen war und noch bevor ich aufgestanden bin, hab’ ich gesehen, daß er Schuhe angehabt hat.« »Welcher Art?« »Art?« echote Bisker. »Na ja, ganz normale Schuhe eben, würd’ ich sagen. Lassen Sie mich überlegen. Ja, ganz normale Schuhe – sahen mir vielleicht ’n bißchen groß aus für einen Knaben von seiner Größe, das ist alles.« »Groß sahen sie aus, eh?« hakte Bony nach. »Versuchen Sie sich zu erinnern. Ich habe sein Gewicht auf gut sechzig Kilo geschätzt und seine Größe auf etwa einsachtundsiebzig, einsachtzig. Also ungefähr mein eigenes Gewicht. Und ich habe Schuhgröße vierzig.« Bisker starrte mit in Falten gelegter Stirn zu Boden, sah sich aber außerstande, mit absoluter Sicherheit zu sagen, daß die Schuhe des Mannes abnorm groß gewesen waren – eben »nur ’n bißchen groß für einen Knaben von seiner Größe«. »Und Sie haben keine Ahnung, hinter was der Kriminaler her war?« fuhr Bony fort. »Keinen Schimmer.« »Hat man Sie gestern oder heute irgendwann mal gefragt, wo Sie herkamen, bevor Sie die Stellung hier angenommen haben?« »Hat man, ja. Ich hab’ ihnen die Wahrheit gesagt, daß ich aus dem Busch komme und hier auf ’ner Sauftour hängengeblieben bin, weil ich pleite war und deswegen auch den Job hier habe annehmen müssen. Warum?« Lächelnd erklärte Bony ihm, was seiner Ansicht nach der Grund für die Durchsuchung gewesen war. Er fragte, wann man sich mit Biskers - 109 -
Vorgeschichte beschäftigt hatte, und Bisker sagte, das sei noch am Tag zuvor gewesen. An diesem Vormittag hatte man ihn nach seinen früheren Anstellungen gefragt. Man hatte Grumman mit Zyankali vergiftet, und Leute aus dem Busch konnten Zyankali oder Strychnin problemlos zusammen mit ihren Lebensmitteln erwerben, um damit Füchse oder Kaninchen ihrer Bälge wegen zu vergiften. Bisker begann glucksend in sich hineinzukichern und sagte dabei wiederholt: »Was sagt man dazu?« »Was stimmt Sie so freudig?« fragte Bony freundlich. »Na ja, weil das schon komisch ist«, gluckste Bisker. »Wenn der Greifer nach Gift gesucht hat, hält’ er mich bloß zu fragen brauchen, ob ich welches habe, und wenn ich in der richtigen Stimmung gewesen war’, was ich freilich nicht gewesen bin, dann hätte ich ihm ’ne fast volle Flasche Strych hinzaubern können, die ich in meinem Bündel gehabt hab’, als ich nach Melbourne gekommen bin. Sie steht jetzt in ’ner Blechdose auf einem Dachbalken in meiner Hütte. Ich hebe sie da zusammen mit meiner Tabakreserve und einem Tropfen ›Frostschutzmittel‹ auf, das ich mir sozusagen für eine richtige Dürre aufspare. Der Greifer hat noch nicht mal zum Dach hinaufgeschaut.« »Wieviel haben Sie davon?« »Das ist so ziemlich ’ne ganze Medizinflasche voll gewesen, die ich da in die Büchse getan habe.« Bony seufzte; er wußte um die außerordentliche Sorglosigkeit der Leute aus dem Busch im Umgang mit Giften. Er sagte: »Da haben Sie aber Glück gehabt, Bisker, daß Sie in Ihrem Schatz nicht auch Zyankali haben und daß man auch sonst keines bei Ihnen gefunden hat.« Bisker wollte wissen, wa rum, und als Bony ihm sagte, daß Grumman an einer Zyankalivergiftung gestorben sei, stieß er einen leisen Pfiff aus und machte einen Augenblick lang eine grimmige Miene, bevor er wieder zu seiner gegenwärtigen guten Laune zurückfand. Ein Regentropfen landete auf Biskers bloßem Haupt. Der Nachmittag ging bereits in eine frühe Dämmerung über. - 110 -
»Ich habe Ihnen Ihre Decken wieder aufs Zimmer gebracht«, sagte Bisker. »Und sie unter die Steppdecke gelegt, genau wie Sie’s mir gesagt haben. Hab’ mich auch noch fast erwischen lassen dabei, als ich wieder zum Fenster raus bin. Es war so finster, daß ich fast mit Miss Jade zusammengerumpelt wäre, die vom oberen Tor her auf die Spülküchentür zukam. Und dabei ist Mitternacht schon vorbei gewesen.«
11 Bony meditiert Bony entschloß sich, zu Miss Jade von nun an besonders charmant zu sein. Nicht daß dies irgendwelche Reserven an Mut erfordert oder seine angeborene Zurückhaltung strapaziert hätte; Miss Jade war alles andere als abstoßend, und Bony hatte noch einiges mehr zu bieten als nur Verstand. Diesen Entschluß faßte Bony unmittelbar, nachdem er Bisker verlassen hatte und durch den leichten Regen den schmalen Schlackenweg entlang zum Platz vor dem Chalet schlenderte; denn hinter dem Wort »Intuition«, das er dem kühlen Inspektor Snook gegenüber ausgesprochen hatte, als er anzudeuten wagte, daß sowohl Grummans Mörder als auch dieser Marcus noch in der Gegend seien, hinter diesem Wort verbarg sich durchaus noch etwas mehr. Mit dem Rücken zur geschlossenen Tür musterte Bony sein Zimmer. Mit seinen knapp drei mal gut vier Metern war es relativ groß für ein Schlafzimmer in einer Herberge dieser Art; das Licht kam von zwei Fenstern in ein und demselben Rahmen. Das schwindende Tageslicht verstärkte den Schatten zwischen dem großen Bett und dem Fuße des Kleiderschranks, aber die plattierte Haarbürste, der Verschluß der lederbezogenen Schachtel mit seinen Rasierutensilien, das - 111 -
Pomadetöpfchen sowie die Elfenbeinschatulle für die Manschettenknöpfe auf dem Frisiertisch glänzten wie altes Silber. Ein Dienstmädchen hatte sich hier zu schaffen gemacht, seit er den Raum am Abend zuvor verlassen hatte. Alles war an seinem Platz. Und selbst wenn das Sonnenlicht durch die Fenster geströmt wäre, die, wie schon den ganzen Tag über, hochgeschoben waren, man hätte nicht ein Stäubchen gesehen. Auf dem kleinen Nachttischchen stand eine Vase mit rosaroten Amarien, und an den Wänden hingen große Fotos mit Ansichten des Hausberges sowie des Tals davor. Ein Schlafplatz, der so gar nichts gemein hatte mit dem Inneren einer Hirtenhütte, eines Zeltes unter einem Mulgabaum oder der Kabine auf dem Logger, wo ihn seinerzeit einige in japanischen Diensten stehende Herren drei Wochen lang eingesperrt hatten. Ein Schlafzimmer selbst besser noch als das, das er – wenigstens hin und wieder – mit seiner Frau in seinem eigenen Haus in Banyo teilte. Aber wen kümmerten schon die Kosten, wenn Oberst Blythe das Geld aus irgendwelchen Kanälen zauberte? Bisker hatte ihm erklärt, daß den einen Raum neben dem seinen jetzt ein Mr. Watkins mit Gattin, den anderen Mr. Sleeman bewohnte. Mr. Sleeman, der schon seit geraumer Zeit im Chalet wohnte, hatte er bereits kennengelernt. Das Ehepaar Watkins war erst an diesem Tag angekommen. Bony fand es äußerst angenehm, in dieses Zimmer zurückzukehren. Einer, der wie er den bei weitem größten Teil seines Berufslebens im Inneren Australiens zugebracht hatte, gab einen Luxus, wie dieser Raum mit seinen dicken Teppichen und dem Heizstrahler ihn darstellte, nicht so schnell wieder auf. Selbiges galt für diesen Fall mit gleich zwei Morden, auch wenn Bonys eigentliche Arbeit, nämlich die für den Oberst, längst erledigt war. Die elektrische Uhr in der Wand, von der der Besucher, im Bett liegend, die Zeit abzulesen vermochte, sagte ihm, daß es achtzehn Minuten vor fünf war. Um halb sechs würde man zum Abendessen rufen. Der Regen fiel jetzt ein klein wenig dichter und trommelte leise - 112 -
auf das Dach. Bony schaltete den Heizstrahler an, zog sich einen Klubsessel heran, um sich, die Utensilien zur Zigarettenherstellung auf den breiten Armstützen, davorzusetzen und die Ereignisse der letzten beiden Tage Revue passieren zu lassen. In der Annahme, daß Offenheit in diesem Fall wohl die beste Politik wäre, hatte Bony sich Superintendent Bolt insofern anvertraut, als er ihm erklärte, wo sie beide standen, wofür Bolt ihm nicht nur Kopien der bisher von der Queenslander Polizei zusammengetragenen Aussagen sowie von Berichten des Erkennungsdienstes zugänglich gemacht, sondern auch die Tür zu einer vorbehaltlosen Zusammenarbeit geöffnet hatte. Bonys Intuition ließ ihn auch nicht einen Augenblick daran zweifeln, daß der Mord an Grumman von jemandem hier im Haus begangen worden war, und Bolt neigte dazu, ihm hierin zuzustimmen. Man hatte ihm das Gift in die Wasserkaraffe seines Schlafzimmers getan, und der Mörder hatte unvorsichtigerweise den Rest des vergifteten Wassers in der Karaffe gelassen, anstatt sie zu leeren, das Gefäß zu reinigen und neu zu füllen. Untermauert wurde Bonys »Eingebung« von dem Umstand, daß die Kleidung des Mannes mit dem Revolver erst in allerjüngster Zeit aus einem Karton geholt und einzig und allein wegen des Überfalls auf Bisker und ihn getragen worden war. Dies deutete darauf hin, daß er keine nennenswerte Entfernung zurückgelegt haben konnte, um hierherzukommen, sondern in der Nähe des Chalets, wenn nicht gar in der Herberge selbst wohnte. Vom Personal des Chalets wußte man, daß Grummans Habe zwei schwere Überseekoffer, drei große Koffer, einen Satz Golfschläger nebst Ledertasche sowie eine Reisetasche umfaßte. Bony neigte dazu, einer der folgenden beiden Vermutungen den Vorzug zu geben. Die erste: der Mörder hatte in den beiden Füllfederhaltern gefunden, wonach er suchte und sich dann dazu entschlossen, Leiche und Gepäck verschwinden zu lassen, um den Verdacht zu erwecken, Grumman habe »sich aus dem Staub gemacht«, um die Rechnung nicht zahlen zu müssen. Irgendwie freilich - 113 -
war sein Plan nicht aufgegangen, und nachdem Rice erschossen worden war, mußte er die Federhalter, wohl in dem Glauben, er könne in Verdacht geraten, im Bottich des Zierstrauchs versteckt haben. Die zweite Vermutung: Grumman hatte, aus welchem Grund auch immer, das Etui selbst in den Bottich gesteckt. Dabei war er von jenem Mann gesehen worden, der später sowohl Bony als auch Bisker überfallen hatte, ein Mann, der um den Inhalt der beiden Füller wußte und folglich von dem Mord an Grumman freizusprechen war. So wie es aussah, waren an jenem Abend zwei Männer hinter den von Grumman aus Deutschland herausgeschafften Geheimnissen hergewesen. Wenig wahrscheinlich schien ihm, daß dieser Marcus etwas mit dem Mord an Grumman oder dem Mann, der Bony und Bisker überfallen hatte, zu tun haben könnte. Hätte er gewußt, daß Grumman tot war, wäre er wohl kaum am nächsten Morgen ins Chalet gekommen, um nach ihm zu fragen, und das auch noch ganz offen und, abgesehen davon, daß er seinen Schnurrbart abgenommen hatte, ohne jede Verkleidung. Er hatte in seine Pläne noch nicht einmal die, wenn auch entfernte Möglichkeit mit einbezogen, hier einem Polizisten zu begegnen; und daß er sich mit einem solchen konfrontiert sah, der ihn darüber hinaus noch erkannte, war für ihn nicht weniger unselig gewesen als für Konstabler Rice. Marcus war kein Narr. Er war Schauspieler gewesen. Er hatte als Imitator viel Geld verdient. Auf jede Gelegenheit, bei der er sich seinen Weg hatte freischießen müssen, kamen ein Dutzend anderer, bei denen er auch den gewieftesten Polizisten nur mit Hilfe seines Talents für Schauspielerei und Maske durch die Finger geschlüpft war. Bony argumentierte, daß Marcus, falls er tatsächlich aus Melbourne gekommen war, um sich mit Grumman zu treffen, sich wohl eine bessere Verkleidung zugelegt hätte, als lediglich seinen Schnurrbart abzunehmen, da er andernfalls dort Gefahr gelaufen wäre, von einem aufgeweckten Streifenpolizisten oder einer Verkehrsstreife erkannt zu werden; immerhin hat Melbourne, egal in welcher Richtung, einen - 114 -
Durchmesser von fünfzehn bis zwanzig Meilen. Es schien also mehr als wahrscheinlich, daß Marcus die Nacht, in der Grumman ermordet wurde, in einem Haus unweit des Mount Chalmers verbracht und keinerlei Gefahr gesehen hatte, von einem ihm zufällig über den Weg laufenden Polizisten erkannt zu werden, wenn er seinen Unterschlupf verließ, um Grumman einen Besuch abzustatten. Superintendent Bolt war hierin einer Meinung mit Bony, und bevor nicht sämtliche Bezirke, in denen Marcus sich verkrochen haben konnte, durchkämmt wären, sollten die Straßenpatrouillen in der Gegend um den Mount Chalmers auch nicht abgezogen werden. Bony lächelte geradezu erheitert. Was für ein wunderschöner Fall das doch war. Ein herrliches Kuddelmuddel von einem Fall, und als Bonbon hatte er auch noch Konkurrenz von einem Team der viktorianischen Kripo unter Leitung des berühmten Superintendent Bolt. Er konnte mit jeglicher Unterstützung rechnen – bis zu einem gewissen Punkt. Er, Bony, würde kooperieren – bis zu einem gewissen Punkt. Um dem Ganzen noch etwas zusätzliche Würze zu geben, hatte es obendrein noch einen entschiedenen Beigeschmack von Gefahr, wie er bereits am eigenen Leib zu spüren bekommen hatte. Was Bolt wie auch Snook überrascht hatte, war, daß Marcus, als Rice ihn vor Bisker und Miss Jade beim Namen genannt, nicht auch sie erschossen hatte. Hätte er das getan, so wäre noch nicht einmal bekannt geworden, daß er sich in Viktoria aufhielt. Es war fast schon dunkel, als er sich erhob, die Jalousien vor die Fenster zog und das Licht anknipste. Es war halb sechs. Jetzt galt es, sich die Kleidung für den Abend zurechtzulegen, ein sauberes Hemd, einen frischen Kragen und Unterwäsche aus dem Koffer zu holen und dann, dergestalt ausstaffiert, Miss Jade um Hilfe bei der Versorgung seiner Wunde anzugehen. Die Garderobe fürs Abendessen hing im Schrank, Jackett wie Hose an einem hölzernen Bügel. Er nahm die Kleidungsstücke, eines nach dem anderen, um sie direkt unter dem Licht in Augenschein zu nehmen, und kniff unter einem leichten Kräuseln der Stirn die Augen zu- 115 -
sammen. Im Jackett befand sich ein silbernes Zigarettenetui mit Zigaretten von bester Qualität, die er nur für den Fall dabei hatte, daß ihm in »besserer Gesellschaft« nach Rauchen sein sollte. Das Etui enthielt zehn Zigaretten. Nun hing das Jackett allerdings nicht so am Bügel, wie er es in der Nacht, als Grumman ermordet worden war, aufgehängt hatte. Die Zigaretten im Etui waren herausgenommen und nicht wieder genauso hineingelegt worden, wie er sie zurückgelassen hatte. Bony öffnete den Riemen seines Koffers und hob den Deckel. Er entnahm die einzelnen Kleidungsstücke erst, nachdem er sich ihrer Position vergewissert hatte, und als er auf diese Art und Weise Hemd, Kragen und Unterwäsche entnommen und neben dem Koffer aufs Bett gelegt hatte, war er überzeugt, daß man seine gesamte Habe herausgenommen, untersucht und dann sorgfältig wieder zurückgelegt hatte – wenn auch nicht haargenau so, wie man sie vorgefunden hatte. Er war sich dessen vollkommen sicher, hatte er sich doch, während der zwanzig Minuten, die er sich von Biskers Hütte entfernt hatte, eigens die Mühe gemacht, sich die Lage eines jeden seiner Kleidungsstücke sorgfältig einzuprägen. Nicht daß man etwas mitgenommen hätte, noch nicht einmal eine der achtunddreißig Pfundnoten, die er in die Tasche des Koffers gesteckt hatte. Freilich enthielt der Koffer keinerlei Dokumente, die der Suchende hätte begutachten können. Bony hatte alle seine Papiere bei Oberst Blythe deponiert, bevor er ins Chalet Weitblick gezogen war.
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12 Viel Aufhebens um Grummans Gepäck »Oh, guten Abend, Mr. Bonaparte!« Miss Jade trug ein Abendkleid aus schwarzem, mit weißem Satin besetztem Chiffon. Ihr schwarzes Haar schimmerte unter dem elektrischen Licht der Empfangshalle, und ihr Make-up war die Vollkommenheit selbst. »Guten Abend, Miss Jade«, murmelte er und verbeugte sich auf seine unnachahmliche Weise. Im Smoking wirkte er eher wie der durchschnittliche indische Radscha als wie der Mann aus dem australischen Busch, der ihm sonst anzusehen war. Auch sein Haar, nicht weniger schwarz als das von Miss Jade, glänzte im Licht. Sein dunkles Gesicht betonte das Weiß seines Kragens, hatte aber, von einem Paar lächelnder Augen erhellt und belebt, so ganz und gar nichts Finsteres. Das Weiß der Zähne konkurrierte mit dem des Kragens. »Was haben Sie denn mit Ihrer Wange gemacht?« Bony gab die Erklärung, die er schon George geboten hatte, und nannte den Kellner dann als Quelle für seine Annahme, Miss Jade befinde sich im Besitz eines Erste-Hilfe-Kästchens. »Aber selbstverständlich, Mr. Bonaparte«, sagte Miss Jade wärmstens. »Gehen Sie doch schon mal in mein Büro, ich komme mit den Utensilien nach. Was für ein schlimmer Schnitt! Haben Sie ihn denn überhaupt schon versorgt?« »Doch, ja, mein Freund hat mir eine Salbe gegeben«, antwortete Bony. »Er meinte, ich soll sie nur immer feste draufspachteln. Sie reinigt und heilt zugleich. Das Wort ›spachteln‹ stammt übrigens von ihm, nicht von mir.«
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Miss Jade trat näher und prüfte mit den Fingerspitzen vorsichtig den Schnitt. Sie beobachtend, bemerkte er, daß ihre Augen sich ein ganz klein wenig verengten, was er mit Gefallen zur Kenntnis kam, deutete es doch darauf hin, daß Miss Jade nicht so kalt war, wie sich aus ihrem sonstigen Verhalten schließen ließe. »Sie ist völlig sauber, so viel steht fest. Ich bin in einer Minute bei Ihnen«, sagte sie ihm, bevor sie aus der Halle schwebte, um sich für ihren Akt der Barmherzigkeit zu rüsten. Im Büro traf er auf die Sekretärin, eine blonde junge Frau von vielleicht zweiundzwanzig Jahren, nicht gerade hübsch und somit ausgezeichnet geeignet, Miss Jades eigene Persönlichkeit besser zur Geltung zu bringen – etwas, woran Miss Jade bei Miss Philps Einstellung auch zweifelsohne gedacht haben dürfte. Als Bony eintrat, blickte sie, den Schatten der jüngsten Ereignisse in ihren Augen, von ihrer Arbeit auf. »Miss Jade hat mich angewiesen, hier auf sie zu warten«, verkündete Bony und lächelte dabei auf seine freundliche Art und Weise. »Es macht Ihnen doch nichts aus?« Miss Philps wollte schon sagen, es sei schließlich nicht ihr Büro, aber die lächelnden Augen wischten die Erklärung beiseite. Sie hatte, Folge der Morde, einen schweren Nachmittag voll grimmiger Polizisten mit verkniffenen Lippen hinter sich und war daher nicht gerade die Ruhe selbst und ihr seelisches Gleichgewicht erheblich gestört. Sie sagte: »Warum setzen Sie sich nicht! Miss Jade wird sicher gleich hier sein.« »Ich danke Ihnen. Ich hoffe, ich störe Sie nicht.« »Nein, natürlich nicht.« Miss Philps lächelte zum erstenmal. »Wissen Sie, ich bin es gewohnt, daß man mich bei der Arbeit unterbricht. Wie gefällt Ihnen der Mount Chalmers denn?« »Ausgezeichnet. Es ist das schönste Fleckchen Erde in ganz Australien, und dabei war ich noch gar nicht unten in den Farnschluchten, die, wie ich gehört habe, von einer ganz eigenen Schönheit sind. Wissen Sie, es ist hier alles so völlig anders als in meinem Teil des Lan- 118 -
des. Da ist alles flach, weit offen und der glühenden Sonne ausgesetzt und heiß.« Bony hob eben zu einer Beschreibung von West-Queensland an, als Miss Jade mit einer Schüssel voll warmem Wasser und einer großen Pappschachtel mit einem roten Kreuz auf dem Deckel zurückkam. »Trotzdem würde ich den Busch zu gern mal sehen«, sagte sie strahlend. »Ich bin leider nie weiter gekommen als Mildura. Sie müssen das Land sicher lieben, Mr. Bonaparte.« »Ja, ich nehme wohl an«, gestand Bony ein. »Man hat dort immerhin jede Menge Bewegungsfreiheit und braucht zum Abendessen keinen Smoking und gestärkte Kragen zu tragen oder ganz besonders manierlich zu sein und all das.« »Sind Sie denn nicht gern manierlich?« fragte Miss Jade und gab einige Tropfen Desinfektionsmittel in die Schüssel. »Vielleicht war es nicht ganz das richtige Wort«, entgegnete er. »Förmlich hätte es wohl besser getroffen. Sehen Sie, Miss Jade, wären wir beide im Busch, äh, dann – dann würden Sie mich nach vier Tagen schon Bony nennen und ich Sie bei Ihrem Vornamen.« Miss Jade näherte sich ihm mit einem in Desinfektionsmittel getränktem Wattebausch. Sie lachte leise: »Wenn auch nur irgend jemand hier am Mount Chalmers hören sollte, daß ich Sie Bony nenne und Sie mich Eleanor, so würde es sofort überall heißen, wir beide wären ein Paar«, sagte sie halb im Ernst. »Man muß in einer Gegend wie der unseren hier sehr vorsichtig sein, wissen Sie. So, das brennt jetzt womöglich ein bißchen.« »Nicht selten kommt das Vergnügen aus dem Schmerz«, murmelte Bony. »Kein Schmerz, keine fachgerechte Behandlung durch Sie, Miss Jade. Als mein Freund mir die Salbe gab, sagte er nur: ›Hier, spachtle dir hiervon drauf.‹« »Männer sind nun mal so.« Das Desinfektionsmittel brannte keineswegs, auch der Balsam nicht, den Miss Jade mit der Spitze des kleinen Fingers auftrug. Der Balsam beruhigte die Blessur auf der Stelle, die schon zu schmerzen begonnen hatte. Mit einem Streifen - 119 -
Gaze und einem schmalen Pflaster vollendete Miss Jade die Operation und bat Bony, einen Blick in den Wandspiegel zu werfen. »Dadurch wirken Sie beim Essen nicht gleich unansehnlich, Mr. Bonaparte, und außerdem hält es die Luft von der Wunde fern, was sie schneller verheilen läßt.« Er wandte sich um und sah, wie sie eben die Fingerspitzen aus der Schüssel mit Antiseptikum zog, um sich dann die Hände an einem Handtuch abzutrocknen. »Ich danke Ihnen«, sagte er ernst. »Ich sehe wohl ganz präsentabel aus und fühle mich entsprechend. Sollte ich nächste Woche wieder in das Auto eines Freundes steigen, werde ich es so einrichten, daß ich mir die andere Backe zerschneide. Eine Zigarette?« Miss Jade warf einen raschen Blick auf die Uhr im Büro, bevor sie akzeptierte. Die Zigarette hatte kaum ihre Lippen berührt, schon war auch, von einer braunen Hand gehalten, ein Feuerzeug zu Diensten. Über die winzige Flamme blickte sie in die blauen Augen, die sie auf wunderliche Weise betrachteten. Während dieses Sekundenbruchteils kam sie zu dem Schluß, daß sie durchaus nichts dagegen hätte, ihn Bony zu nennen. Einen Inhaber eines Gästehauses, der nichts von Psychologie versteht, gibt es nicht. Miss Jade wußte, die Leute, mit denen am schwersten zurechtzukommen war, das waren jene, die am seltensten verreisten, und daß die besonders lauten unter besonders gravierenden Minderwertigkeitsgefühlen litten. Ihre Gäste im Chalet Weitblick waren gutsituiert, und ihre hohen Preise garantierten ihr ein hohes Maß an Exklusivität. Sie empfand die leise und klare Sprache dieses Mannes aus dem Busch sowohl als charmant als auch verwirrend; letzteres, weil sie immer angenommen hatte, Menschen, die weit abseits der Bahnlinien wohnten, könnten nur grobe und ungehobelte Zeitgenossen sein. Sie spürte die Kraft des Verstandes hinter der breiten, niederen Stirn, eine Kraft, die sich ihr in diesem einzigartigen Augenblick blitzartig offenbart hatte, und nachdem ihre Zigarette brannte, wandte sie sich ab - 120 -
und sagte etwas zu Miss Philps, um zu verhindern, daß Bonaparte womöglich ihre Gedanken las. »Ich hoffe doch, Sie sind mit Ihren Tischpartnern zufrieden, Mr. Bonaparte. Ich werde Mr. Sleeman bitten, sich zu Ihnen zu setzen, und dann noch die beiden Gäste, die erst heute angekommen sind, ein Mr. Downes und ein Mr. Lee.« Mit einem raschen Lächeln fügte sie hinzu: »Sie werden keine Damen am Tisch haben. Mr. und Mrs. Watkins haben ausdrücklich um einen eigenen Tisch gebeten.« »Ich bin sicher, das Arrangement wird zu meiner vollsten Zufriedenheit ausfallen«, pflichtete Bony ihr bei und fügte auf seine distinguierte Art und Weise hinzu: »Madam, in diesem Haus findet sich nur eine Dame, der mein Interesse gilt.« Worauf Miss Jade, von Herzen entzückt, entgegnete: »Was bin ich froh, nur einen Herrn aus Queensland hier zu haben.« »Was ich ebenfalls höchst erfreulich finde, Miss Jade. Und vielen Dank, daß Sie sich um meine kleine Verletzung gekümmert haben. Au revoir!« Miss Jade persönlich arrangierte die Sitzverhältnisse an Bonys Tisch und stellte Bony und Mr. Sleeman sowie einem anderen Herrn, Mr. Raymond Leslie, der schon seit einigen Wochen im Chalet wohnte, die neuen Gäste vor. Leslie war Maler. Er kannte jeden Quadratzentimeter am Mount Chalmers und einen Gutteil der Berge auf der anderen Seite des Tals. Er schien ein gewisses Vergnügen daraus zu ziehen, auf dem Stuhl zu sitzen, der bis vor kurzem noch Mr. Grummans Platz gewesen war, was er Mr. Lee und Mr. Downes, den beiden neuen Gästen am Tisch, auch sofort kundtat, wobei er in höchsten Tönen Grummans schroffe Sprechweise und seine Gabe für kraftvolle Schilderungen lobte. Von dem eher schweigsamen Bonaparte schien er dagegen wenig zu halten und noch weniger von dem noch stilleren Mr. Sleeman. Bony betrachtete die beiden neuen Gäste insgeheim, von denen Lee ihm als der transparentere schien. Als der große, wettergegerbte Mann sagte,
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er besitze »eine kleine Ranch in der Riverina«, war das offensichtlich die Wahrheit. Er war unverkennbar Viehzüchter. Downes war eher schmächtig, sein Haar bereits etwas angegraut, obwohl er nicht den Eindruck machte, als hätte er die vierzig bereits überschritten. Ihn auf seinen Beruf hin abzuschätzen war schwierig, und er selbst zeigte keinerlei Neigung, sich darüber auszulassen. Sein Schnurrbart war kurz, gepflegt und dunkel, unter den schwarzen Augen hatte er kleine Tränensäcke, und seine langgliedrigen Hände waren weiß. Zu Bonys Linken sitzend, begnügte er sich damit, Raymond Leslies Erzählungen über Mr. Grumman zu lauschen, der sich im übrigen über die Behandlung seitens der Kriminalbeamten beklagte, die offensichtlich jeden im Verdacht hatten. Zu Bonys Rechten saß Mr. Sleeman, der, wie man Bony erzählt hatte, ein britisches Ingenieursbüro vertrat. Er war von der leisen Sorte, interessant und des Abends anfällig für eine gewisse kleine Schwäche, in der George eine nicht unwesentliche Rolle spielte. »Nun scheint es sich ja wieder zu beruhigen hier, was meinen Sie?« murmelte er Bony, Raymond Leslies Schnellfeuertirade unterlaufend, zu. »Haben Sie sich gestern abend davongemacht, um der Atmosphäre zu entkommen?« »Kaum«, antwortete Bony. »Ich war ein Stück die Straße langspaziert und habe dabei zufällig einige Freunde von mir mit einem Wagen getroffen. Ich hatte sie schon seit einigen Jahren nicht mehr gesehen. Sie haben mich für den Abend in ihr Haus in der Nähe der Stadt mitgenommen.« »Und da sind Sie wohl in einen Krieg geraten?« fragte Sleeman mit einem Glitzern im Blick. »Aber nein! Es ging da ziemlich friedlich zu. Ich stieg aus dem verflixten Auto. Mein Freund fuhr und hatte die Lichter am Armaturenbrett ausgeschaltet, da kam meine Wange in etwas unsanften Kontakt mit einem Vorsprung an der Windschutzscheibe. Waren gestern abend nur fünf Gäste da?«
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»Das war alles, ja. Elder ist heute morgen abgereist. Wohnt sich aber jetzt besser hier, weil es friedlicher ist jetzt, wo all diese plappernden und schreienden Weibsleute fort sind.« Alice, eines der Mädchen, bediente am Tisch. Bony unterzog sie zum erstenmal einer gründlichen Musterung. Sie war groß, ein munteres Ding und tüchtig. Zu jung, dachte er, um unmittelbar in den Mordfall Grumman verwickelt zu sein, nicht zu jung jedoch, um während seiner Abwesenheit seine Klamotten zu durchsuchen. In ihrer Aussage der Polizei gegenüber hatte sie gesagt, sie stamme aus Barnesdale, sei ledig und stünde erst seit vier Monaten in Miss Jades Diensten. Zu ihren Pflichten hatte es gehört, Grummans Zimmer sauber zu machen; außerdem war sie es gewesen, die jeden Morgen die Wasserkaraffe geleert, gereinigt und wieder aufgefüllt hatte. Grumman, so habe sie bemerkt, hätte bis zum Morgen immer etwa die Hälfte des Wassers getrunken. Er habe ein Fläschchen Tabletten auf der Frisierkommode stehen gehabt; um was es sich dabei gehandelt hatte, habe sie jedoch nicht gewußt. Der Maler sagte gerade: »Ja, die Polizei hat das Zimmer des armen Grumman gründlich durchsucht. Sein ganzes Gepäck haben sie mitgenommen. Oder wenigstens war es verschwunden, als ich heute nachmittag den Flur zu meinem Zimmer entlangkam und einen Blick durch die offene Tür werfen konnte.« »Ich habe gar nicht gesehen, wie sie das weggeschafft haben«, warf Sleeman ein. »Oh, aber sie müssen es wohl mitgenommen haben«, sagte Leslie. »Was sonst hätte man damit machen sollen? So was wird doch Staatseigentum, bis die Verwandtschaft ausfindig gemacht ist.« »Na ja, womöglich haben Sie ja recht, obwohl ich die Polizeifahrzeuge sowohl gestern als auch heute habe abfahren sehen, ohne daß ich bemerkt hätte, daß sie Grummans Gepäck mitgenommen hätten.« »Wahrscheinlich haben sie es Miss Jade zur Aufbewahrung gegeben«, schlug Downes vor.
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»Vielleicht! Aber das scheint ihrer üblichen Vorgehensweise zu widersprechen«, argumentierte Leslie, der sich zum erstenmal an diesem Abend widersprochen sah, was ihm offenbar gar nicht gefiel. Und als Mann mit einem braunen Bart und somit ganz offensichtlich der Meinung, daß Leute, die sich mit Kunst beschäftigen, auch einen bohemienhaften Eindruck vermitteln sollten, war er natürlich mit einem entsprechenden Temperament ausgestattet. »Tja, dann werden wir Miss Jade eben fragen«, sagte Downes und widmete sich wieder seinem Teller. Vorgetragen wurde die Angelegenheit Miss Jade später im Salon, Leslie war es, der das Thema anschnitt. Es war etwa neun Uhr. Die Watkins’ hatten sich trotz des Regens zu einem Spaziergang aufgemacht, nachdem Mrs. Watkins lautstark verkündet hatte, ihr Mann leide an einer »grauenhaften« Verdauungsstörung. Leslie und der Schafzüchter unterhielten sich in einer Ecke des Raumes. Sleeman schrieb Briefe, Downes las, ebenso Lee. Bony lag der Länge nach in einem der Sessel. »Mr. Grummans Gepäck!« echote Miss Jade. »Ich weiß nicht, was die Polizei damit gemacht hat.« »Da haben Sie’s, Sleeman!« rief der Maler. »Was habe ich Ihnen gesagt?« Bony richtete sich ein klein wenig auf, um die anderen beobachten zu können. Miss Jade stand in der Nähe von Lee und dem Maler. Downes hatte sein Buch auf die Knie gelegt und betrachtete Sleeman mit offensichtlichem Interesse. Sleeman sagte eben im Brustton der Überzeugung: »Ich bleibe dabei: Ich bin sicher, die Polizei hat Grummans Sachen nicht weggebracht. Wie ich schon beim Essen gesagt habe, ich habe sämtliche Polizeifahrzeuge abfahren sehen, gestern wie heute.« »Tja, wo zum Teufel steckt es dann?« fragte Leslie. »In seinem Zimmer ist es jedenfalls nicht mehr.«
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»Nein, das Zimmer ist leer«, unterstützte ihn Miss Jade. »Inspektor Snook hat heute nachmittag, kurz bevor er abfuhr, das Siegel abgenommen. Inzwischen hat es eines der Mädchen sauber gemacht.« »Und die Polizei hat Ihnen gegenüber Grummans Gepäck nicht erwähnt?« hakte Leslie mit einer, wie es schien, grundlosen Heftigkeit nach. Miss Jade schüttelte den Kopf. »Dann geben Sie nach, Sleeman«, befahl Leslie. »Ich kann von meiner Überzeugung nicht abrücken«, erklärte Sleeman standhaft. »Alles, was ich weiß«, trug Miss Jade zur Diskussion bei, »ist, daß man mir gestern morgen mitgeteilt hat, man habe das Zimmer versiegelt, und es stünde mir erst wieder zur Verfügung, wenn die Polizei ihre Durchsuchung abgeschlossen hätte. Und, wie ich Ihnen schon gesagt habe, hat mir Inspektor Snook erst heute nachmittag, kurz vor seiner Abfahrt, gesagt, daß ich das Zimmer wieder betreten könne.« »Sehr merkwürdig«, bemerkte Downes von seinem Sessel aus. »Vielleicht hat jemand vom Personal gesehen, wie das Gepäck fortgeschafft wurde. Ah – hier ist der Kellner.« »George!« rief Miss Jade. »Haben Sie gesehen, was aus Mr. Grummans Gepäck geworden ist?« George kam herüber, ein Tablett mit einer Flasche, einem Glas und etwas Wasser für Mr. Sleeman in der Hand. Er mußte in Gedanken gerade weit weg gewesen sein, da er leicht ins Stolpern kam, als er seinen Namen hörte; dann kam er, seiner Arbeitgeberin zugewandt, in der Mitte des Salons zum Stehen. Fast, so bemerkte Bony, wäre das Wasser in dem Glaskrug auf das Tablett geschwappt. In seiner leisen, aber deutlichen Stimme antwortete George: »Nein, Madam.« »Vielleicht hat Bisker der Polizei das Gepäck hinausgetragen oder wenigstens gesehen, wie man es weggebracht hat. Würden Sie rasch mal hinauslaufen und Bisker danach fragen?« »Sehr wohl, Madam.«
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George reichte Mr. Sleeman das Tablett, und Sleeman verhalf sich zu einem großzügigen Schluck Whisky, gab etwas Wasser hinzu und machte es sich in seinem Sessel gemütlich. George trug sein Tablett zurück in seine Anrichte. »Wissen Sie, das ist doch wirklich merkwürdig«, platzte Leslie heraus. »Nicht daß ich Ihnen nicht glaube, Mr. Sleeman, wenn Sie sagen, Sie hätten alle Polizeifahrzeuge gesehen, aber wissen Sie, irgend jemand muß den Krempel doch mitgenommen haben. Was hatte Grumman denn, Miss Jade?« »Oh, er hatte zwei große Überseekoffer und mehrere normale«, antwortete Miss Jade. »Ich erinnere mich noch, daß Bisker und George sie aus dem Auto gebracht haben, das Mr. Grumman hergebracht hat. Sie haben sie am Büro neben der Halle vorbeigetragen, und ich stand eben an der offenen Tür. Ich erinnere –« Miss Jade sah sich in dem Maße übertönt, in dem der Schrei an Höhe und Lautstärke gewann. Es war ein Schrei aus der Kehle einer bis ins Mark entsetzten Frau. Obwohl er schon auf einer hohen Note begonnen hatte, stieg er die Tonleiter noch um etliches höher, um dann bei der letzten geradezu unglaublich lange stehenzubleiben. Dann verstummte er ganz plötzlich. Miss Jade erstarrte zu einer junonischen Statue. Bony kam auf die Beine, aber geradezu bemerkenswert flink war Mr. Downes. Er befand sich in der Nähe der Tür, die zu Rezeption und Büro führte. Bony dagegen befand sich in der Nähe der Tür, durch die George gekommen und wieder gegangen war. Dann ertönte der Schrei von neuem. Er begann auf einer hohen Note, stieg höher, wurde dann zu einem stoßweisen Gurgeln, um dann noch einmal zu einem langgezogenen, ohrenzermarternden Kreischen zu werden. Er kam durch die Tür, durch die George gegangen und die offen geblieben war. Bony sprang von der Position neben seinem Sessel los. Leslie und Lee blieben, wo sie waren. Downes war gar noch flinker als Bony; trotzdem war Bony als erster durch die Tür.
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Hinter sich hörte er Leslie brüllen. Und er hörte Miss Jade aufschreien. Die Tür führte zu einem Korridor, in dessen Mitte sich die Flügeltür zum Speisesaal befand. Am hinteren Ende stand eine weitere Tür weit geöffnet, durch die Bony den Küchenherd sehen konnte. Der Schrei war verstummt, fing nun aber von neuem an. Die zu Tode geängstigte Frau befand sich zweifelsohne in der Küche.
13 Die Küchenparty Den gellenden Schrei noch in den Ohren kam Bony in die Küche des Chalet Weitblick gerannt, ihm auf den Fersen der etwas herbe Mr. Downes, dann Sleeman, Lee, Miss Jade und der Maler. Jenseits des großen Herdes erblickte Bony die Rückansicht von Mrs. Parkes, ihr massiger Körper ganz in Schwarz und von den beiden Bändern ihrer weißen Schürze in zwei saubere Hälften geteilt. Die Ärmel ihrer Bluse hatte sie bis über die Armbeuge gerollt, dort, wo bei normalen Leuten die Ellenbogen zu sehen sind. Einen Arm hatte sie gehoben, und in der Hand hielt sie mit festem Griff ein Plätteisen gepackt. Auf dem Tisch, an dem das Personal zu essen pflegte, kniete Alice, das Dienstmädchen. Ihre Hände ruhten auf abgewinkelten Knien, den Kopf hatte sie in den Nacken gelegt. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Mund stand weit offen, und aus eben diesem Mund drang jetzt ein weiteres langgezogenes Kreischen. In dem Augenblick, in dem sie innehielt, um nach Luft zu schnappen, herrschte Mrs. Parkes sie an: »Halt endlich die Gosche, Alice! Überlaß den nur mir!« Einen, zwei, drei Augenblicke lang schlug die beklemmende Ruhe sie alle in ihren Bann. - 127 -
Dann sagte Mrs. Parkes im Plauderton: »Da kommt er, der Kerl!« »Oh! Oh! Oh!« rief Alice in ansteigender Tonfolge und setzte zu einem neuen Schrei des Entsetzens an. Langsam, Bony an eine rotierende Puppe in einem Schaufenster erinnernd, drehte sich Mrs. Parkes in Richtung der auf dem Tisch kauernden Alice. Während sie sich umwandte, kletterte das Kreischen des Mädchens die Tonleiter hinauf. Dann, in der klassischen Position des Speerwerfers, ließ Mrs. Parkes das Plätteisen sausen. Mit einem dumpfen Schlag landete das Geschoß auf einem Etwas am Boden, rutschte ein Stück weiter und krachte dann gegen die Wand. »Ich hab’ ihn!« schrie Mrs. Parkes. »Jetzt mach aber, Alice! Runter vom Tisch und hör auf, dich aufzuführen wie ’n kleines Mädel, das keiner küßt.« Die Köchin schritt aus und Bony, mit der ganzen Gesellschaft im Schlepptau, hinter ihr drein. Schließlich blieb Mrs. Parkes stehen und starrte triumphierend auf die übel zugerichtete Leiche einer gewaltigen Ratte. Miss Jade übernahm das Kommando. »Mrs. Parkes«, rief sie aus. »Was tun Sie da?« Mrs. Parkes drehte sich um, eine Bewegung nicht unähnlich der eines Hafenkrans, der eine Ladung vom Schiff auf den Kai hinüberschwenkt. »Ich mach’ überhaupt nichts – jedenfalls nicht grade«, sagte sie. »Ich hab’ bloß einen Ratz abgemurkst, der durch die Spülküchentür reingekommen sein muß, weil George sie offengelassen hat, als er vor ’ner Minute hinaus ist.« Eiliges Getrappel kam von den Dielen der Spülküche, dann kam George und hinter ihm Bisker in die Küche gerannt. Das Gesicht des Getränkekellners war totenbleich und seine Augen riesengroß. Biskers Schnurrbart schien, wie seine Augenbrauen, gradewegs nach vorne zu stehen. Mrs. Parkes ging zu dem Mädchen auf dem Tisch, dessen Augen noch immer geschlossen waren und dessen Mund noch offen stand, als wolle sie jeden Augenblick wieder loskreischen. - 128 -
Bony, der sich etwas zur Seite gewandt hatte, konnte die Reaktionen der anderen beobachten. Raymond Leslies brauner Bart schien flach unter seinen auf getriebenen Augen zu liegen. Den Schafzüchter berührte das ganze am wenigsten. Sleemans Augen blinzelten in rascher Folge, und Downes stand völlig reglos, ohne jeglichen Ausdruck auf dem Gesicht. Seine Augen starrten weit aufgerissen vor sich hin, seine Arme waren angewinkelt, die Finger beider Hände gestreckt wie die Beine eines Krebses. Als Miss Jade sich wieder meldete, kam auch wieder Leben in die anderen. Sie war die erste, die ihre Fassung wiedererlangte. »Alice, hören Sie mit diesem Lärm auf!« befahl sie. Das Mädchen jedoch schien wie aufgezogen. Mrs. Parkes wälzte sich die drei Meter über den Kachelboden zum Tisch und gab dem Mädchen eine schallende Ohrfeige. Dann hob sie es vom Tisch wie eine Vase und ließ das arme Ding, es an ihren mächtigen Busen drükkend, in ihren Armen verschwinden und sagte: »Na, na, Kleines, halt mal schön stille. Miss Jade will wissen, was der ganze Zirkus hier soll. Ist ja schon gut! Ich hab’ das Vieh doch erwischt. Na, na, jetzt aber …« »George, haben Sie die Spülküchentür offengelassen?« wollte Miss Jade wissen. George kam ins Schnaufen. Seine Augenlider zuckten. »Nein, Madam«, antwortete er. »Die Tür war schon offen, als ich rausging, um Bisker wegen Mr. Grummans Gepäck zu fragen.« »Bisker, haben Sie die Spülküchentür offengelassen?« wollte Miss Jade daraufhin wissen. Biskers Schnurrbart zuckte. Dann zuckten seine Augenbrauen, und Bony hätte am liebsten gelacht, als er sich fragte, wie es wohl aussehen würde, wenn Augenbrauen und Schnurrbart gleichzeitig zuckten. Wie die anderen konnte auch er nicht umhin, auf die schrecklichen Schreie zu reagieren. Bisker sagte, er erinnere sich nicht, die äußere Spülküchentür offengelassen zu haben. Wie ein welker Blätterpilz stand er unter Miss Jades vernichtendem Tadel, einem Tadel, den Bisker für - 129 -
ungerechtfertigt hielt, da außer ihm zweifelsohne noch andere durch diese Tür ein- und ausgingen. Mr. Sleeman machte schließlich einen Vorschlag, der Bonys volle Zustimmung fand. »Na ja«, mischte er sich ein, »Ende gut, alles gut.« Die Drinks, die George ihm den Abend über auf dem Tablett serviert hatte, stimmten ihn milde. »Miss Jade! Darf ich Sie um einen Gefallen bitten? Wären Sie so freundlich, mir zu gestatten, George damit zu beauftragen, uns allen etwas zur Stärkung unsrer Nerven zu bringen? Immerhin sahen sie sich einer großen Belastung ausgesetzt, und ein kleines Stärkungsmittel würde sie sicher wiederherstellen.« Miss Jades Zorn schmolz dahin. »In Anbetracht der Umstände«, fuhr Mr. Sleeman fort, »erlaube ich mir vorzuschlagen, daß George uns gleich hier serviert, so daß wir auf Mrs. Parkes anstoßen können. Es war der großartigste Wurf mit einem Plätteisen, den ich je erlebt habe.« Miss Jade neigte den Kopf in Mr. Sleemans Richtung, und schon trat George vor. Ohne die Hilfe eines Notizblocks nahm er die Bestellungen entgegen und ging. »Eine verdammt gute Idee, Sleeman«, sagte Raymond Leslie. »Ich dachte schon, man hätte wieder einen umgebracht.« »Oh! Oh! Oh!« begann das Mädchen in den mächtigen Armen der Köchin. »Nu ist aber Schluß, Alice, sonst kriegst gleich noch eine genuscht«, sagte Mrs. Parkes freundlich. »Na, na, ein kleiner Tropfen Brandy wird dich schon beruhigen.« Mr. Sleeman begann eine Anekdote über seine Frau und seinen Sohn zu erzählen, der einmal die Maus, die er sich als Haustier hielt, hatte laufen lassen. Mr. Downes hörte geduldig zu. Miss Jade machte sich dran, Bisker aufzutragen, gleich am folgenden Vormittag den Holzstoß auszuräuchern, da die Ratte wohl von dort gekommen sein mußte. Entschieden verwahrte sich Bisker dagegen, sein Holzstapel könnte Ratten beherbergen, sah sich jedoch niedergeredet. Bony ging hinüber, um einen Blick auf das tote Tier zu werfen, in dem er sofort eine Buschratte erkannte, die selbst für diese Spezies von beachtlicher - 130 -
Größe war. Dann kam George mit den Drinks, und Mr. Sleeman rief nach einem dreifachen Hoch für Mrs. Parkes. Es wurde freilich nur ein einziges und obendrein eher kleinlautes Hoch, als klarwurde, daß das ganze Miss Jades Billigung entbehrte. Darauf löste sich die kleine Küchenparty auf. In einer Atmosphäre der Enttäuschung ging Bony für eine Viertelstunde zurück in den Salon, um danach in die Empfangshalle und zum Haupteingang hinaus zu entschwinden, ganz offensichtlich in der Absicht, einen Spaziergang zu machen, da der Regen aufgehört hatte. Bisker stopfte sich gerade seine Morgenpfeife mit der Tagesausbeute an »Resten«, als Bony in seine Hütte trat. »Der Regen wird den Handabdruck des Mannes in der Erde des Bottichs wohl ruiniert haben«, sagte er Bisker. »Jetzt noch einen Gipsabguß zu machen wäre sinnlos. Aber wie auch immer, ich habe mir den Abdruck gemerkt. Gehen Sie grade ins Bett?« »Nein, erst in ’ner Stunde«, antwortete Bisker. »Ist noch etwas Whisky in der Flasche?« »Ein kleiner Tropfen, den ich mir als Schlummertrunk aufgespart habe.« »Na schön! Ich werde Sie nicht lange aufhalten. Äh – sagen Sie mal, wenn Sie hier morgens weggehen, wie kommen Sie da ins Haus?« Bisker ließ sich nicht aufhalten, mit großer Sorgfalt seine Morgenpfeife zu stopfen, und ohne von seiner wichtigen Aufgabe aufzublikken, sagte er: »Bevor George schlafen geht, sperrt er die Spülküchentür von außen ab und legt den Schlüssel unter einen Ziegel, der eigens dafür dort rumliegt. Dann geht er ums Haus herum zur Vordertür und sperrt sie für die Nacht ab. In der Früh dann hol’ ich mir den Schlüssel unter dem Ziegel vor und geh’ zur Spülküchentür rein, um mich an die Arbeit zu machen.« »Haben Sie Miss Jade gestern nacht durch die Spülküchentür ins Haus gehen sehen?« »Ja, hab’ ich.«
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»Hat sie dazu den Schlüssel unter dem Ziegel benutzt, wissen Sie das?« »Nein, hat sie nicht. Muß wohl ihren eignen gehabt haben. Ich hab’ gehört, wie sie aufgesperrt hat, und dann hab’ ich gehört, wie sie wieder zugesperrt hat, als sie drin war. Was mich anbelangt, ich stand ja wie ’n Stein an den Holzstapel gedrückt. Ich hätte schwören können, daß sie mich gesehen hat, aber das ist natürlich unmöglich.« »Um wieviel Uhr war das genau?« »Tja, nach meiner Uhr war das zwei Minuten nach halb eins.« »War das Haus um diese Zeit schon abgeschlossen?« »Aber ja. Nicht ein Licht war mehr zu sehen. Ich hab’ schon drauf geachtet, daß die alle in der Koje lagen, bevor ich mit den Decken durch Ihr Fenster bin.« Bony beobachtete Biskers Finger und nahm mit innerlichem Schaudern das Quantum an »Resten« zur Kenntnis, das der Mann in eine Pfeife drückte, die er gleich als erstes am Morgen zu rauchen gedachte. »Sie putzen doch sämtliche Stiefel und Schuhe, nicht wahr?« fragte er. »Ja«, antwortete Bisker. »Denken Sie mal genau zurück, und sagen Sie mir, ob Sie je ein Paar Stiefel der Größe fünfundvierzig geputzt haben.« »Größe fünfundvierzig!« wiederholte Bisker und blickte nach oben in Bonys Augen. »Das sind ja schon Mordsdinger. Also ich hab’ Größe einundvierzig, Sie vierzig. Dunnerlittchen! Größe fünfundvierzig! Ein Knabe mit derartigen Quanten, also das muß entweder ’n ziemlicher Brocken sein oder einer von der Polente. Ich erinnere mich noch dran, mal ’n Paar Herrenschuhe Größe dreiundvierzig geputzt zu haben – aber fünfundvierzig! Also Fred, der hat zweiundvierzig, und das liegt schon über dem Durchschnitt.« »Wer ist Fred?«
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»Na der Knabe, der Grumman im Graben gefunden hat. Sie wissen doch, der bei mir gewesen ist, als Sie gestern früh zu uns an die Böschung gekommen sind.« »Was macht der denn so?« »Arbeitet mal hier, mal da, Holzmachen, den Garten umgraben. Hierher kommt er einmal die Woche den Rasen mähen.« Bisker legte seine Morgenpfeife beiseite und machte sich dann daran, von seinem schwarzen Knaster einige Scheibchen für die Pfeife abzuschneiden, die von seinem Mund baumelte. »Gar kein so übler Bursche, der Fred. Hat früher mal Schafe geschoren. Ich und er, wir sind so was wie Spezis. Wenn der eine von uns mal was gewinnt, dann teilen wir uns ’ne Pulle.« »Gewinnt?« »Ja. Beim Pferderennen. Fred ist da ziemlich gut. Und dann staub’ ich ja auch manchmal was von einem der Gäste ab. Manchmal sogar ’n halbes Pfund. Zweimal hab’ ich sogar gleich ’n ganzes Pfund gekriegt, Trinkgeld, wissen Sie.« »Oh!« Bony drehte sich eine Zigarette und steckte sie an. »Hat George Sie nach Grummans Gepäck gefragt?« Biskers Miene hellte sich auf. »Ja«, antwortete er. »Ich hab’ ihm gesagt, also ich hätt’ nicht gesehen, daß die Polizei was davon rumgeschleift hätte. Aber natürlich hätte das auch passieren können, ohne daß ich es mitgekriegt habe. Ich war ja schließlich nicht die ganze Zeit über vor der Haustür. Was hat’s denn damit auf sich?« »Nicht viel, Bisker. Wir sind nur beim Abendessen darauf zu sprechen gekommen. Einer der Gäste meinte, er hätte rein zufällig einen Blick in Grummans Zimmer geworfen und gesehen, daß sein ganzes Gepäck weg war, und ein anderer Gast meinte, die Polizei könnte es nicht mitgenommen haben, da er die Autos hätte abfahren sehen. Dann sagte Miss Jade, sie wüßte auch nichts darüber. Nur eine kleine Diskussion, das ist alles. Als Sie gestern morgen Grummans geputzte Schuhe wieder vor sein Schlafzimmer gestellt haben, wann war das ungefähr?« - 133 -
»Ungefähr Viertel vor sieben.« »Und Sie haben nicht vielleicht Licht unter seiner Tür gesehen?« »Nein.« »Es war also absolut nichts ungewöhnlich an Grummans Schlafzimmertür?« »Gemerkt hab’ ich jedenfalls nichts, Mr. Bonaparte.« »Und an seinen Schuhen war an diesem Morgen auch nichts ungewöhnlich ?« »Sie waren ein bißchen naß, daran erinnere ich mich.« Biskers wettergegerbtes Gesicht weitete sich zu einem Grinsen. »Ja, daran erinnere ich mich«, fuhr er kollernd fort. »Es war nämlich das einzige nasse Paar, das ich an dem Morgen zu putzen hatte – das heißt, das einzige außer einem andren.« »Was Sie nicht sagen!« sagte Bony auffordernd, als Bisker vor einer weiteren Erklärung innehielt. »Ja, das andre Paar, das war das von unsrem alten Drachen«, fuhr Bisker fort. »Ich sag’ noch zu mir: Ho! Ho! Dieser Malefizdeutsche, dieser Ausländer, der ist heute nacht im Gras rumgelaufen, und der alte Drachen muß auch im nassen Gras rumspaziert sein. Eine kleine Liebelei, sag’ ich mir. Schaut doch ganz danach aus, finden Sie nicht?« Bony lächelte. »Ich nehme doch an«, sagte Bony, »daß Sie von Miss Jade sprechen. Der Abend zuvor war aber doch trocken, es hatte gefroren. Ich bin selbst nach dem Abendessen spazieren gewesen, habe mich aber natürlich an die Straße und die Wege gehalten. Also meine Schuhe waren nicht naß.« »Das stimmt. Ihre Schuhe waren knochentrocken. Genauso wie alle andren, außer eben denen von den beiden.« »Haben Sie Miss Jade schon vor gestern nacht mal so spät noch ins Haus kommen sehen?« Bisker schüttelte den Kopf. »Hmm!« brummte Bony. »Interessant. Sehen Sie sich doch Miss Jades Schuhe morgen früh besonders genau an. Sehen Sie nach, ob es dieselben sind, die Sie heute morgen geputzt haben.« - 134 -
»Wird gemacht. Glauben Sie, Miss Jade hat was mit dem Mord an Grumman zu tun gehabt?« »Bisker, reden Sie nicht solches Zeug«, sagte Bony scharf. »Wenn Sie weiter mein Assistent sein wollen, dann stellen Sie mir ja nicht noch mal so eine dumme Frage – oder überhaupt eine, wo wir schon dabei sind. Bewahren Sie einfach Stillschweigen über alles und jedes und tun genau das, was ich sage und wann ich es sage. Klar?« Bisker nickte. »Gut!« sagte Bony forsch. »Jetzt möchte ich, daß Sie etwas für mich erledigen. Ich nehme doch an, Sie kennen jedes Zimmer und jeden Schrank im Haus?« »So isses, Mr. Bonaparte.« »Gut, glauben Sie, Sie könnten mir einen Plan vom Inneren des Hauses zeichnen, einen mit allen Zimmern und allen Schränken und dem Lagerraum?« »Ja, ich denk’ doch, ja.« »Ausgezeichnet. Ich habe Papier und Stifte mitgebracht. Machen Sie’s gleich. Lassen Sie sich Zeit, und wenn Sie einen Schnitzer machen, dann fangen Sie noch mal von vorn an. Ich habe genug Papier dabei.« Bisker machte sich an die Arbeit, seine Pfeife vergessend und die Bleistiftenden eines nach dem anderen in Splitter kauend. Bony saß schweigend dabei und beobachtete ihn. Es regnete wieder, und die Tropfen trommelten auf das niedere Blechdach über ihren Köpfen.
14 Ein bißchen Tratsch muß sein Es vergingen vier Tage, die Bony nichts weiter einbrachten als ein oder zwei Pfunde. Allem Anschein nach kam auch die Polizei wäh- 135 -
rend dieser vier Tage nicht voran, denn am fünften Tag, als Bony Superintendent Bolt im Präsidium besuchte, erfuhr er, daß man weder etwas über den Verbleib von Marcus hatte in Erfahrung bringen können, noch eine Spur von Grummans Gepäck gefunden hatte. »Unser lieber Freund wird den Staat wohl inzwischen verlassen haben«, grollte der Polizeirat. »Wahrscheinlich ist er ganz offen gereist, mit dem Flugzeug oder per Bahn, und der einzige, dem er nicht ähnlich sieht, ist wohl Alexander Croft, egal, welchen Namen er sich inzwischen zugelegt hat.« »Macht es Ihnen was aus, wenn ich noch mal einen Blick in seine Akte werfe?« fragte Bony. »Selbstverständlich nicht. Suchen Sie nach etwas Bestimmtem?« »Ja. Ich würde mir gern Ihre Bilder von ihm näher ansehen. Kirby, Sie wissen schon, Oberst Blythes rechte Hand, hat gemeint, Scotland Yard hätte womöglich Fotos von Croft, worauf der Oberst nach London kabelte, um der Sache nachzugehen. Die Leute aus London haben ihm geantwortet, sie hätten tatsächlich Fotos von Marcus und würden sie in die Luftpost geben.« Bony begann mit dem Bleistift, mit dem er sich eben etwas notiert hatte, gegen seine Zähne zu klopfen. »Als ich das letzte Mal hier war, habe ich drei Fotos von Marcus gesehen. So wie ich das sehe, wurden sie vor elf Jahren gemacht, als man Marcus wegen Totschlags eingesperrt hatte. Was Scotland Yard ihm hat nachweisen können, weiß ich nicht, es ist auch kaum von Bedeutung im Vergleich zu der Tatsache, daß man dort Fotos von ihm hat. Nun denn, mit deren Fotos und denen, die wir hier haben, könnten Ihre Sachverständigen da eine einigermaßen akkurate Form bauen, nach der man ein Modell von Marcus’ Kopf anfertigen könnte, was meinen Sie?« »Das könnten sie zweifelsohne, nur mit welchem Grad von Akkuratesse, das kann ich Ihnen nicht sagen«, erwiderte Bolt. »Wozu soll das gut sein?« »Nun ja, sehen Sie, ein Mann kann seine Züge so effektiv verändern, daß ihn weder seine eigene Frau noch der klügste Polizist wie- 136 -
dererkennen würde, aber selbst Freund Marcus würde nicht auf den Gedanken kommen, die Form seines Schädels zu verändern. Aufnahmen vom Profil geben Auskunft über die Form, und wie ich mich erinnere, haben Sie auch eine von der Rückseite seines Kopfes. Ich denke, schon ein annähernd akkurates Gipsmodell würde es uns ermöglichen, uns die Form seines Schädels einzuprägen, und anhand dieser könnte womöglich jemand auch die beste Verkleidung durchschauen.« »Hmm!« Bolt musterte Bony mit seinen stechenden kleinen Augen. »Könnte sich womöglich lohnen. Ich wollte nur, ich hätte Ihre Zuversicht, daß Marcus sich nach wie vor in unserem Staat aufhält. Wir sind da inzwischen anderer Meinung. Erstens hatte er genügend Zeit, um an den Straßensperren vorbeizukommen, bevor sie überhaupt standen, und zweitens haben sich seine Verkleidungskünste nicht nur in Australien, sondern auch in Europa und Amerika als erfolgreich erwiesen.« Bolt, der zusah, wie Bony sich eine Zigarette drehte, kam zu dem Schluß, daß er wohl noch nie einen schlechteren Selbstdreher gesehen hatte. Obwohl er viele vollgepackte Stunden vor sich hatte, wartete er geduldig, bis sein Besucher und Kollege die Zigarette fertiggestellt und in Brand gesteckt hatte. Sich Bonys Ungeduld gegenüber Dienstvorschriften und juristischem Kleinkram bewußt, eine Ungeduld, für die er insgeheim gewisse Sympathien hegte, war er imstande, Bonys spezielle Talente zu schätzen und sie als Ergänzung zu den orthodoxen und modernen Methoden der Kriminalistik zu sehen. Der Hüne von einem Superintendent war, wie schon immer, erpicht darauf, sein Wissen zu erweitern. »Es gibt da noch etwas, was man immer zu verkleiden vergißt«, sagte Bony und blies behutsam eine Rauchlanze über Bolts konische Schädeldecke. »Ich meine damit die Füße und den Gang. Kein Mensch geht wie der andere, und da ich Menschenspuren ebenso zu lesen verstehe wie Sie einen Bericht, könnte ich anderen beibringen, wie man das macht. Vor langer Zeit einmal habe ich meinem Präsi- 137 -
denten den Vorschlag gemacht, man sollte neben den Fingerabdrükken auch die Fußabdrücke zu den Akten nehmen. Ich habe vorgeschlagen, sämtliche Verurteilten und, in einigen Fällen, auch Verdächtige über nassen Beton gehen zu lassen, erst in Stiefeln oder Schuhen, dann barfuß. Die Platte sollte die Abdrücke von mindestens sechs Schritten enthalten und sollte dann für die Akten fotografiert werden. Jeder Absolvent meiner Fährtenleserschule wäre nicht nur in der Lage, Spuren zu folgen, die einem normalen Kriminalbeamten gar nicht auffallen würden, er würde auch die Spuren sämtlicher Personen wiedererkennen, deren Fußabdrücke bei den Akten sind. Hätte ich die Spur unseres Freundes Marcus je gesehen, ich würde sie jetzt überall wiedererkennen, so daß jegliche Verkleidung mir gegenüber zwecklos wäre.« »Gute Idee, denke ich«, sagte Bolt langsam. »Gesunder Menschenverstand«, erklärte Bony und lächelte dann. »Aber Sie wissen ja, wie Behörden sind.« »Aber ja«, brummelte Bolt. »Und vor allem weiß ich, wie die Leiter unserer australischen Behörden sind. Die einzige Art und Weise, Ihre Schule auf die Beine zu stellen, wäre ins Ausland zu gehen und sich Spiffoski zu nennen, und schon hätte die Polizei sämtlicher Bundesstaaten den Plan übernommen, natürlich nicht ohne zu betonen, was für einen Fortschritt in der Kriminalistik er darstellt.« Bonys Augen öffneten sich weit und schlössen sich, als er zu lachen begann, wieder um die Hälfte. »Spiffoski!« wiederholte er kehlig. »Bony Spiffoski! Für Bony sollte ich wohl was Russisches finden. Ah – Boniski Spiffoski! Wenn ich wieder in Brisbane bin, rufe ich den Sekretär des Präsidenten an und sage: ›Morgen, Lowther. Sagen Sie dem Oberst, daß Inspektor Boniski Spiffoski sich heute morgen wieder zum Dienst gemeldet hat.‹ Wird sich gut machen. Und ich sitze in der Schreibstube direkt unter dem Büro des alten Knaben und höre, wie er im Sessel herumhopst und von Lowther wissen will, wer, zum Teufel, und so weiter und so fort. Aber was soll’s – es würde ja doch nicht funktionieren. Lowther hätte - 138 -
nicht den Schneid dazu. Na ja, ich mach’ mich denn mal auf den Weg in Ihr Archiv, Super.« Er erhob sich lächelnd. »Und überlegen Sie sich das mal mit dem Modell von Marcus’ Kopf. Ich werde Oberst Blythe bitten, Ihnen die Fotos vom Yard rüberzuschicken.« Bolt, nun ebenfalls auf den Beinen, sagte, man könne »es ja mal probieren«. Er begleitete Bony zur Tür, lächelte breit und schüttelte ihm die Hand, dann ging er wieder an seinen Schreibtisch und gab dem Archiv Anweisung, Inspektor Bonaparte zu Diensten zu sein. Als einige Minuten später Inspektor Snook eintrat, erwähnte Bolt Bonys Plan, auch Fußabdrücke zu den Akten zu nehmen, mit keinem Wort. Es war Freitag und bereits halb sechs, als Bony das Präsidium in der Russell Street durch eine kleine Tür auf der Rückseite des Gebäudes verließ. Er blieb stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden und eine Bestandsaufnahme sämtlicher Personen in Sichtweite vorzunehmen. Es waren kaum ein Dutzend, und es waren noch weniger gewesen, als er das große Gebäude durch eben dieselbe unauffällige Tür betreten hatte. Noch bevor er über die Spring und die Flinders Street in die Swanston Street gelangt war, konnte er mit ziemlicher Sicherheit sagen, daß man ihn weder auf seinen Weg zum, noch vom Präsidium verfolgt hatte. Er brachte eine halbe Stunde in einer Teestube zu und wurde dann zu einer kleinen Einheit im Strom der Menschen, der sich zum Bahnhof wälzte. Die Geschwindigkeit des Stroms war die eines flott ausschreitenden Spaziergängers, und die wenigen Leute, die gegen ihn ankämpften, um in die entgegengesetzte Richtung zu gelangen, wurden arg gestoßen und gebeutelt. An der Kreuzung Flinders Street sah sich Bony zum Stehen gezwungen und als Teil des Flusses vorübergehend eingedämmt, und der Damm schien schier aus den Nähten zu platzen, als die Ampeln wieder auf Grün schalteten und die Verkehrspolizisten winkten. Für Bony hatte das Erlebnis etwas Erheiterndes. Er sah sich über die Straße gespült, die Bahnhofstreppe hinauf, durch die große Halle und - 139 -
die Schranken, ein Tropfen in einem Fluß, der mehr als eine Stunde lang Hochwasser führte. Während er auf den Bahnsteig auf den Zug nach Manton wartete, beobachtete er, wie der Fluß die Rampe hinunterströmte und aus den Unterführungen herausquoll, um schließlich, dicht gegen die Bahnsteigkante gedrängt, zum Stehen zu kommen. Züge fuhren ein, und der Fluß ergoß sich in sie. Bis auf den letzten Platz besetzt, sausten sie, die Kanten »abschöpfend«, wieder hinaus, und sofort verdichtete sich der menschliche Strom ein weiteres Mal die Bahnsteigkante entlang, um sich dann in den nächsten Zug zu ergießen. Brisbane hatte dergleichen nicht zu bieten. Sein Zug brauchte fast eine Stunde bis nach Manton. Als er den wartenden Bus erreichte, war dieser fast voll, und er erhaschte gerade noch einen Sitz ganz vorne. Die Plätze befanden sich in zwei Reihen, eine auf jeder Seite, sowie eine weitere hinten, und so hatte er denn zwei Nachbarn: zur Linken einen Mann und zur Rechten ein Büromädchen. Am Fuße des Mount Chalmers, etwas über die halbe Strecke in Richtung Chalet Weitblick, war der Bus kaum noch halb voll, und das Mädchen zu Bonys Rechten, das sich mit einem anderen Mädchen unterhalten hatte, erwähnte leise den Namen Clarence B. Bagshott. Dieser Name riß Bony augenblicklich aus einer meditativen Phase, und wie er sogleich mitbekam, fuhr der Autor von Kriminalromanen hier im selben Bus mit ihm. Ein Stückchen weiter stieg die Freundin seiner Nachbarin schließlich aus, und nach einer kleinen Weile sagte er flüsternd: »Gehe ich recht in der Annahme, daß Bagshott, der Schriftsteller, hier in diesem Bus ist?« Das Mädchen nickte und sah ihn scharf an. Bony lächelte. »Verzeihen Sie mir bitte, wenn ich Sie so einfach anspreche«, bat er. »Aber sehen Sie, ich habe mehrere von Bagshotts Büchern gelesen, und ich bin neugierig, wie er wohl sein mag.« Als sie wieder sprach, bewegte sie kaum die Lippen. »Der da in der Ecke ganz hinten, das ist er.« - 140 -
Die Innenbeleuchtung war gut – für einen Bus –, und so studierte er mit Interesse diesen Mann, der sich, wie Bony von Bisker wußte, Mrs. Parkes’ Ansicht nach Giftexperimenten an Kaninchen verschrieben hatte, um die so gewonnenen Erkenntnisse in seinen Kriminalromanen unterzubringen. Bony war enttäuscht. Nie zuvor war er bewußt einem Schriftsteller aus Fleisch und Blut begegnet, und so hatte er sich vorgestellt, Schriftsteller seien eine besondere Spezies Mensch, eine Spezies, die weder ganz den Dichtern glichen noch ganz den Malern. Er hatte erwartet, in Bagshott einen Mann mit massiver Stirn, großen, starren Augen, einer lauten, tragenden Stimme und auffallender Kleidung zu finden. Clarence B. Bagshotts Erscheinung war jedoch enttäuschend gewöhnlich. Er trug einen Regenmantel über einem marineblauen Anzug. Den Hut hatte er auf die Knie gelegt, so daß Bony das Gesicht studieren konnte. Er hatte eine niedere, schmale Stirn, dafür war sein Hinterkopf außergewöhnlich breit. Seine Augen waren ständig wach, und wenn er lächelte, dann schien er durchaus menschlich. Noch während Bony ihn unauffällig musterte, hob er den Hut und schlug die Beine übereinander, und in diesem Augenblick bemerkte Bony seine Schuhe. Sie waren – und das war das einzig Merkwürdige an seiner Erscheinung – außergewöhnlich groß. Unglücklicherweise befanden seine Füße sich im Schatten der Beine des Mannes neben ihm, so daß Bony sich, was deren Größe anbelangte, nicht sicher sein konnte. Auf jeden Fall lag sie über dreiundvierzig. Das Mädchen sagte: »Na, was halten Sie von ihm?« Als Mensch hielt Bony ihn für ausgesprochen gewöhnlich. Er hatte ihn im Who’s Who nachgeschlagen mit dem Ergebnis, daß er sich der Stellung des Autors innerhalb der schreibenden Zunft nun bewußt war. Er dachte, das Mädchen hätte ihm die Frage gestellt, um ihm seinen Eindruck vom Schriftsteller zu entlocken, und folglich antwortete er: »Nicht viel.«
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Mit ihrem Reisegefährten schon so gut wie vertraut, sagte das Mädchen darauf: »Ist auch wirklich nicht weit her mit ihm.« »Ach ja?« murmelte Bony, um sie zu ermutigen. »Nein«, sagte sie aus dem Mundwinkel heraus, während sie geradeaus vor sich hinstarrte. »Sehen Sie das Mädchen, mit dem er redet?« Bony bestätigte, das Mädchen zu sehen. »Tja, sie ist alleinstehend.« Bony wartete auf weitere Aufklärung, da er nichts Ungehöriges daran finden konnte, daß Bagshott sich in einem öffentlichen Verkehrsmittel mit einer Frau unterhielt, sei sie nun alleinstehend oder verheiratet. Dann lieferte ihm seine Reisebegleiterin weitere Informationen in Form einer weiteren Frage. Immer noch aus dem Mundwinkel heraus sagte sie: »Sehen Sie das Kind neben dem Mädchen? Das ist ihr’s. Und einige hier meinen, daß es auch seins ist.« »Gütiger Gott!« murmelte der »schockierte« Bonaparte. »Und, ist dem so?« Angesichts seines wachsenden Interesses kam seine Reisegefährtin in Fahrt. »Sagt man jedenfalls«, sagte sie, und er fragte: »Wer ist ›man‹?« »Oh, jeder hier am Berg«, erwiderte sie lässig. »Er ist verheiratet, wissen Sie. Er wohnt in dem Haus gegenüber der Werkstatt oben auf dem Berg. Mit ’ner Mordshecke drum herum. Seine Frau kriegt man nicht zu sehen. Er läßt sie nicht raus. Also wenn ich bei der Polizei wär’, ich wüßte schon, was da zu tun wär’.« »Was denn?« fragte Bony auf eine mitreißende Art. »Na, ich würde da einmal die Woche reingehen, um zu sehen, ob Mrs. Bagshott überhaupt noch lebt. Dem würd’ ich glatt zutrauen, daß er sie eines Nachts umbringt und sie im Garten verscharrt, damit er das Mädel mit dem Kind heiraten kann. Ein ganz übler Kunde ist das, sag’ ich Ihnen.« Die harte nasale Stimme, so bewußt leise gehalten, verstummte, und Bony versuchte einmal mehr die Größe von Bagshotts Schuhen - 142 -
zu schätzen. Der Schatten jedoch blieb undurchdringlich, und so gab Bony es schließlich auf. Er würde schon noch Zeit und Gelegenheit haben, Clarence B. Bagshott unter die Lupe zu nehmen und nicht nur die Größe seiner Schuhe festzustellen, sondern auch wie er sie trug und welche Spuren sie hinterließen. Das Fahrzeug fuhr langsam im zweiten Gang und nahm eben eine Kurve mehr als dreihundert Meter über dem Tal. Ganz unten in diesem Schlund leuchteten die Lichter der Ortschaften wie Sternenhäufchen, und weit hinten in der Ferne wie Millionen von vom Himmel gefallener Sterne auf schwarzem Samt die Lichter von Melbourne. »Wohnt Mr. Bagshott eigentlich schon lange hier?« erkundigte er sich, wiederum flüsternd, bei seiner Begleiterin. »So um die zehn Jahre«, lautete ihre Antwort. »Und hält sich für was Besonderes.« Bony betrachtete Bagshott noch einmal im Lichte dieser letzten Information. In diesem Augenblick sprach er gerade lachend, und seine Reisegefährtin und das Kind lachten beide mit ihm. Was er sagte, war nicht zu hören, aber er machte ihm nicht den Eindruck, als sei er eingebildet oder gar arrogant. Trotzdem, seine Füße waren von größtem Interesse. Und falls tatsächlich er es war, der in der Nacht von Grummans Ermordung die Spuren auf der Rampe und in der folgenden die auf dem Weg zu Biskers Hütte hinterlassen hatte, dann würden seine Füße noch von weit größerem Interesse sein. Bony sah es ausgesprochen ungern, vor Bagshott aussteigen zu müssen. Wäre der Schriftsteller zuerst ausgestiegen, so hätte er Gelegenheit gehabt, seine Schuhe deutlich im Licht zu sehen, wenn er an ihm vorbei zur Tür des Busses ging.
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15 Clarence B. Bagshott Auf der Terrasse des Chalets auf der faulen Haut liegend, genoß Bony den Blick auf die Berge und das Tal, die sich in all ihrer Farbenpracht vor ihm hinbreiteten. Auf den breiten Armlehnen seines Stuhls standen eine Tasse Tee und ein Teller von Mrs. Parkes’ Mürbgebäck. Im Augenblick hätte er mit seinem Leben zufriedener nicht sein können. Er lernte neue Menschen kennen; etwas, was er stets als erfrischend empfand. Selbstredend waren sie ein ganz anderer Schlag als die Menschen aus dem Landesinneren, aber so nach und nach konnte er diese Leute aus dem Süden verstehen, und dieses wachsende Verständnis steigerte wiederum sein Interesse. Da war zum Beispiel das Ehepaar Watkins. Die beiden hatten dafür gesorgt, im Speisesaal einen Tisch für sich allein zu haben. Watkins hatte schwere Hängebacken; seine Frau war massig und mit Puder, Lippenstift und Schmuck geradezu überladen. Warum hatten die beiden wohl auf einen separaten Tisch bestanden, wo sie doch ständig so laut sprachen, daß jeder sie hören konnte? In ihren Gesprächen ging es ausschließlich ums Reisen – ihre eigenen Reisen nach Neuseeland, Tasmanien und Sydney. Merkwürdig, auf welche Arten sich Minderwertigkeitsgefühle so äußern. Bisker und der Mann, der eben den Rasen mähte, waren fünfzigmal so viel gereist wie die Watkins’, aber man hätte nie gehört, daß einer der beiden seine Reiseabenteuer an die große Glocke gehängt hätte. George erwähnte mit keinem Wort, daß er sechs Jahre lang Steward auf einem Passagierdampfer gewesen war. Nie kam ihm ein lautes oder gar dogmatisches Wort über die Lippen. Er glich einer gut geölten Maschine, die geräuschlos über die Schiene des Lebens glitt. - 144 -
George hatte mehr zu bieten als das Ehepaar Watkins zusammengenommen, denn unter seiner zuvorkommenden Art hatte er Charakter, einen Charakter, den der feinfühlige Bonaparte eher spürte, als daß er ihn sah. Bolt hatte seine Zufriedenheit zum Ausdruck gebracht, was Georges Vergangenheit anbelangte, und das meiste darüber hatte er aus anderen Quellen erfahren und nicht aus dessen eigenen Mund. Ein Vergleich von Miss Jade mit Mrs. Watkins ließ letztere oberflächlich erscheinen. Obwohl Miss Jade Bonys romantische Ader ansprach, mußte er sich eingestehen, daß er sie nicht verstand. Sie verfügte über Charakter – darüber herrschte keinerlei Zweifel. Sie wußte sich zu beherrschen und vermochte so über andere zu gebieten. Nicht ein einziges Mal hatte Bony auch nur die Spur einer Nachlässigkeit an ihr bemerkt, weder hinsichtlich ihrer Kleidung noch hinsichtlich ihrer Erscheinung oder Sprache. Dieser rigorosen, aber von so warmen weiblichen Zügen wie Mitgefühl und Verständnis gemilderten Selbstdisziplin verdankte sie ihren geschäftlichen Erfolg. Von den Gästen hatten nur Sleeman und Downes Charakter; ob dieser freilich gut oder schlecht war, darüber war Bony sich noch nicht im klaren. Raymond Leslie, der Maler, war ein Windbeutel, und Lee, der Schafzüchter, schien in einer an Vieh und Futtermitteln nicht interessierten Gesellschaft außerhalb seines Elements. Daß das Chalet Weitblick augenblicklich fast keine Gäste hatte, schien allen, Miss Jade nicht ausgeschlossen, zu behagen. Bony beschloß, sich durch einen Spaziergang etwas Bewegung zu verschaffen und dabei womöglich mehr über diesen Mann, Clarence B. Bagshott, zu erfahren und ihn vielleicht gar zu Gesicht zu bekommen. Ohne sich die Mühe zu machen, seinen Hut zu holen, verließ er die Terrasse und setzte seinen Weg in Richtung Gartentor fort. Fred schob den Mäher über den leicht abschüssigen Rasen zur Linken des Wegs; etwa die Hälfte dieses Teils hatte er bereits gemäht. Das Gras war, wie Bony schon bemerkt hatte, von bester Qualität und besonders üppigem Wuchs, stand jedoch gar nicht so hoch, wenn man be- 145 -
dachte, daß es, jedenfalls seines Wissens nach, die letzten acht Tage über nicht gemäht worden war. »Wächst wohl nicht so schnell, das Gras hier, wa s?« sagte er, als Fred sein Gerät an den Rand des Weges schob. Der Mann war hochgewachsen und schlaksig und vielleicht fünfzig Jahre alt. Er richtete seine blaßblauen Augen auf Bony, dem sofort die abnormal rote Nase und der schwächliche Mund auffielen. »Um die Jahreszeit wächst es nie so stark.« Freds gedehnte Sprechweise identifizierten ihn auf der Stelle als einen Mann aus dem Landesinneren. »Es fängt jetzt erst an. Noch vierzehn Tage, und Sie werden sehen, wie’s hier wächst. Den Winter über wird’s nicht länger wie ’n Hundefell, aber wenn’s Frühling wird, ist es nicht mehr aufzuhalten. Dann explodiert hier sozusagen auf einmal alles.« »Tja, der Frühling ist ja wohl nicht mehr weit, wenn man nach der Luft heute geht«, bemerkte Bony. »Wie weit ist es denn bergaufwärts bis zur nächsten Werkstatt?« »Och, so eine Meile.« Ein Lächeln huschte über das wettergegerbte Gesicht des Mannes. »Ich persönlich marschier’ auch lieber bergaufwärts los. Wenn man erst runterwärts geht, dann geht das den ganzen Heimweg über bergauf.« »Das ist wahr«, stimmte Bony ihm zu. »Wo wohnen Sie denn?« »Ich? Oh – unten am Fuß der Straße, man biegt gleich am Obstladen von der Hauptstraße ab. Hab’ mir da unten so vor zehn Jahren meine eigne Hütte gebaut. Die Straße hört auch direkt bei meiner Hütte auf. Aber wenn Sie von da aus den Feldweg weitergehen, dann kommen Sie direkt zur Teufelstreppe.« »Zur Teufelstreppe!« wiederholte der Detektiv. »Hört sich romantisch an.« »Ja.« Freds Augen streiften über die Terrasse, wahrscheinlich um Miss Jade auszumachen. »Bagshott, also der Schriftsteller, der hat den Namen erfunden. Es ist eine Klamm, an der Sie auf einem Pfad entlanglaufen können, von oben bis ganz hinunter. Das Reservatskomitee macht alle heilige Zeit mal ein paar neue Stufen aus den - 146 -
Baumfarnen da unten, so daß man beim Rauf- oder Runtergehen nicht ausrutscht und meterweit den Schlamm hinunterschlittert. Die Teufelstreppe fängt an der Hauptstraße an, da, wo sie über einen Bach geht, und sie hört am Waldrand im Tal auf.« »Möglich, daß ich diese Teufelstreppe demnächst mal hinuntersteige. Ach, Bagshotts Haus, das ist doch noch hinter der Werkstatt, oder?« »Ja, so um die hundert Meter. Ist nicht zum Verwechseln. Ist eine Mordszypressenhecke ums ganze Haus. Im Garten sehen Sie ’n paar Antennenmasten. Wie ich gehört habe, war im Krieg mal der Geheimdienst bei ihm oben – wegen der Masten. Sieht so aus, als hätt’ dieser Bagshott den Japanern oder weiß Gott wem was zugefunkt. Ist schon ’n komischer Knabe, obwohl ich ja denk’, daß er ganz in Ordnung ist – ich meine, einer der so lange im Busch gewesen ist, wo die Leute ja wenigstens halbwegs zivilisiert sind. Sie kommen doch auch aus dem Busch, oder?« »Ja«, gestand Bony. »Und Sie auch. Wie gefällt’s Ihnen denn in der Gegend hier so?« »Och, in gewisser Weise ist es schon auszuhalten. Aber die Leute! Also aus denen werd’ ich einfach nicht schlau.« Bonys Brauen hoben sich ein klein wenig, und er machte ein interessiertes Gesicht. Fred suchte Terrasse und Garten nach Miss Jade ab. »Tja, wissen Sie, das ist so«, erklärte Fred. »Wenn Sie hier nicht Krawatte und Schlips tragen, sind Sie gleich der letzte Dreck. Wenn Sie hier mal einen verlöten, sind Sie gleich Abschaum. Versucht man freundlich zu sein, spucken sie einen an. Und sagt man ihnen, sie sollen sich zum Teufel scheren, dann kreischen sie einen an und laufen herum und erzählen jede Lüge über einen, die ihnen grade einfallen will. Also wenn Bisker nicht wär’, da wär’ ich nicht mehr hier. Das ist der einzige zivilisierte Mensch hier im Bezirk. Heiliger Bimbam! Jetzt muß ich aber wieder ’n bißchen was tun!«
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Miss Jade war aus einer der auf die Terrasse hinausführenden Verandatüren aufgetaucht, so daß es Fred nicht länger hielt. Bony winkte, und Miss Jade winkte ihm fröhlich zurück. Nachdem er das Gartentürchen und die Rampe hinter sich gelassen hatte, schlenderte Bony die Hauptstraße hinauf. Es dauerte nicht lange, und er überquerte die Straße, auf deren talwärtiger Seite man weiße Begrenzungspfähle eingeschlagen hatte. Hier hatte man neben der Straße einen Sandweg angelegt, dessen Oberfläche glatt und weich genug war, um die Spuren zahlloser Stiefel und Schuhe festzuhalten. Die ersten Abdrücke, die er erkannte, waren die von Mr. Watkins nebst Gattin. Hin und wieder waren sie von denen Freds überlagert, der hier heute morgen auf seinem Weg zur Arbeit im Chalet langgekommen war. Ein gutes Stück weiter fand er, unter zahlreichen anderen, die er noch nie gesehen hatte, die Schuhabdrücke von Leslie, dem Maler. Die Straße wand sich schlängelnd um die Schulter des Berges, auf dessen Kuppe er hier und da ein Haus oder eine Wiese erspähte, unterbrochen von Flächen mit hohem Adlerfarn aus dem, glatt und schlank, die mastartigen Stämme von Fieberbäumen ragten. Jetzt wand sich die Straße die Hänge einer weiten Senke entlang, auf deren Grund massenhaft Baumfarne wucherten, deren frische grüne Wedel sich vom Dunkelgrün der älteren deutlich unterschieden. Er sah den Obstladen, noch bevor er ihn erreicht hatte, und als er dort angekommen war, wandte er sich an einen Mann, der neben einer mit Äpfeln, Orangen, Limonaden und Lutschern überladenen Auslage in der Tür stand. »Ist es noch weit bis zum Haus von Mr. Bagshott?« »Ach was! Paar Schritte und ’n Sprung. Das Haus mit der großen Hecke drumrum. Können Sie gar nicht verfehlen.« »Dankeschön.« Durch die Tür des Ladens sah Bony einige kleine von Stühlen flankierte Tische. - 148 -
»Haben Sie so richtig herbes Ginger Ale?« erkundigte er sich. »Und ob! Das Beste vom Besten.« Der Mann ging voran in den Laden, und Bony setzte sich an einen der Tische. »Sind ja heute nicht gerade viele unterwegs«, sagte er versuchsweise. »Während der Woche nie. Heute nachmittag und morgen, da haben wir hier dann Autos genug – Hunderte.« Der Ladeninhaber stellte ihm eine Flasche Ginger Ale und ein Glas hin, holte sich dann auf Bonys Einladung noch einmal das gleiche und setzte sich dem Kriminaler gegenüber. »Haben Sie vor, Bagshott zu besuchen?« erkundigte er sich. »Nein, nein. Ich kenne ihn ja gar nicht«, antwortete Bony. »Ich habe nur seine Bücher gelesen, und als ich hörte, daß er hier oben lebt, hat mich die Neugierde gepackt, mir mal sein Haus anzusehen. Ich hätte selbst nichts dagegen, hier zu leben.« Der Ladenbesitzer machte es sich bequem. »Ein paar von seinen Büchern sind ziemlich gut, andre weniger«, lautete sein Urteil. »Er kann schon schreiben, aber in seinem Kopf, da stimmt das nicht ganz, wenn Sie wissen, was ich meine. Gibt sich mit keinem hier ab. Hat mir mal erzählt, daß er sich die Leute vom Leib hält und daran auch nichts ändern will. Kann’s ihm freilich auch nicht verdenken. Die sind ja schon ein komischer Schlag hier, und wenn ich das schon sage, der ich seit gut vierzig Jahren hier lebe.« »Wieso, was ist mit den Leuten hier?« erkundigte sich Bony freundlich. Der Ladeninhaber stand auf, um zur Tür zu gehen und hinauszuspucken. Als er wiederkam, sagte er: »Tja, sehen Sie, das ist so: Der Haufen hier, der ist weder Fisch noch Fleisch. Die sind weder vom Land noch aus der Stadt. Und dann gibt’s hier zwei Sorten. Die einen, die sind hergezogen, um hier auf den Sensenmann zu warten, und dann gibt’s die, die schon fast ihr ganzes Leben lang hier sind – so wie ich. Bagshott sind sie alle gleich schnuppe, hat er mir jedenfalls - 149 -
gesagt. Und dabei hat er sich mordsmäßig aufgeregt. Natürlich war er drüben im Westen vor Jahren mal in einen Mord verwickelt. Ich hab’ ja nie so recht mitgekriegt, was da nun dran ist, aber nach allem, was ich gehört habe, hat er mal ein oder zwei Leuten einen Kerl auf den Hals gehetzt, damit er sie umbringt.« »Ist es wahr!« sagte Bony. »In einen Mord verwickelt – oder zwei! Ist er dafür ins Gefängnis gegangen?« »Das weiß ich selber nicht so recht. Aber wohlgemerkt, das ist genau die Art Mensch, die einen Mord begehen würde, bloß um drüber zu schreiben.« »Hmm! Merkwürdiger Kauz. Scheint mir keinen allzu guten Charakter zu haben.« »Wem sagen Sie das?« »Ich habe gehört«, sagte Bony, die Stimme senkend, »ich habe gehört, Bagshott hätte da oben einen Sender und daß während des Krieges mal der Geheimdienst bei ihm gewesen ist, um ihn dabei zu erwischen, wie er Nachrichten an die Japaner funkt. Ist da was dran, was meinen Sie?« »Ich denke schon. Ich war ja während des Kriegs nicht hier oben. Ich war unten in einer Munitionsfabrik. Aber gemunkelt hat man so was.« »Und dann habe ich noch gehört, er hätte Umgang mit einer alleinstehenden Frau, die ein Kind von ihm hat.« Der Ladeninhaber schürzte die Lippen und setzte ein weises Gesicht auf. Dann zwinkerte er der Reihe nach mit beiden Augen. »Also ganz persönlich seh’ ich ja daran nichts Verkehrtes. Trotzdem, es hat hier oben nun mal die Runde gemacht.« »Und sogar, daß er Kaninchen fängt, die er vergiftet, um sie sterben zu sehen, damit er die Erkenntnisse daraus dann in seinen Büchern verwenden kann«, machte Bony weiter. »Oh, das ist eine Tatsache«, behauptete der Mann. »Ich hab’ ihm mal davon erzählt, und da hat er mir gesagt, daß er sich neben den
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Karnickeln auch schon mal einen Hund vom Ort hier schnappt, an dem er dann irgendwas Besondres ausprobiert.« »Und daß er seiner Frau nie erlaubt, das Haus zu verlassen.« »Sagt man, ja, aber ich glaub’ das nicht. Ich finde, man sollte einen Mann nicht schlimmer hinstellen, als er ist. Und der ist schon schlimm genug, nach allem, was man so hört.« »Ausgesprochen schlimm«, fügte Bony mit Nachdruck hinzu. »Na, ich werd’ mich dann mal wieder auf den Weg machen. Vielleicht seh’ ich Sie ja noch ein andermal.« Seinen Spaziergang auf dem Pfad neben den weißen Begrenzungspfählen fortsetzend, gestand Bony sich ein, daß dieser Clarence B. Bagshott über eine pittoreske Persönlichkeit verfügen mußte. Irgend etwas mußte ja wohl dran sein an alledem, und falls er tatsächlich schon einmal in einen Mord verwickelt war – Moment, waren es nicht zwei oder gar mehr gewesen? –, dann könnte er auch gut in den Mord an Grumman verwickelt sein. Er kam an einem Haus vorbei, das ein Schild über dem Tor als Polizeiwache auswies, sah jedoch keine Spur von Unterinspektor Mason. Dann kam er an einer Werkstatt mit Zapfsäulen vorbei, und schließlich kam ein Haus in Sicht, von dem über einer hohen Zypressenhekke nur das Dach zu sehen war. An der Hecke entlang führte eine Nebenstraße. Auf diese Nebenstraße führte eines der Tore, das zweite direkt auf die Hauptstraße. Letzteres stand offen, und als er näher kam, fuhr rückwärts ein Auto heraus. Aus diesem stieg der Mann, den man ihm im Bus als Clarence B. Bagshott ausgedeutet hatte. Bagshott war mittleren Alters und von schmalem, hohem Wuchs. Er trug eine khakifarbene Exerzierhose, ein Paar alte Stiefel, ein Exerzierhemd und keinen Hut, und als er das Tor schließlich geschlossen hatte, stand Bony schon neben dem Wagen. Wache haselnußbraune Augen musterten ihn. Die Brise hob das dunkelbraune Haar, das dem Mann tief in die Stirn wuchs. Und dann sah Bony, daß die haselnußbraunen Augen in ihm erkannten, was er war: ein Halbblut.
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Er sagte: »Sie können sich glücklich schätzen, hier oben zu wohnen.« Bagshott lächelte und sagte: »Ist schon was anderes, als sein Bündel westlich vom Paroo herumzuschleppen. Aus welchem Teil kommen Sie?« »Westlich von einer Linie vom Paroo nach Longreach im Norden«, antwortete Bony. »Na wenn das nicht!« Bagshott strahlte. »Ich bin schon seit zweiunddreißig nicht mehr im Westen gewesen. Wie sieht’s denn da dieser Tage so aus?« »Im Augenblick ausgesprochen schlecht. Wir bräuchten dringend Regen. Das Vieh ist in schlechtem Zustand.« »Nicht grade die beste Ausgangssituation für den Sommer, was? Na ja, ich muß dann mal los.« Bagshott ging um den Wagen herum, um einzusteigen, blieb dann aber stehen und blickte über die Motorhaube herüber. »Ich verspreche mir schon seit einiger Zeit einen Monat Urlaub in Wanaaring. Kennen Sie das?« Bony nickte mit leuchtenden Augen, den Duft des eben genannten Ortes in der Nase. »Ich habe mir versprochen, mich mal einen ganzen Monat lang in Wanaaring mit Bier vollaufen zu lassen«, fuhr Bagshott fort. »Die erste Woche werd’ ich bloß auf allen Vieren durch die Gegend krabbeln. Aber danach wird’s mir so richtig gutgehen. Ich war schon lange nicht mehr unter zivilisierten Menschen. Machen Sie’s gut!« Bony lachte entzückt. Das Auto fuhr rückwärts auf die Straßenmitte, um schließlich vorwärts die Hauptstraße hinunterzufahren. Bagshott lächelte ihm zu, als er vorbeikam, und Bony spazierte weiter. Die gestrichenen Antennenmasten betrachtend, ging er vielleicht noch hundert Meter. Dann machte er kehrt und schlenderte lässig zurück, bis er wieder an Bagshotts Tor kam, wo er für zwei Sekunden innehielt. Deutlich waren die Abdrücke der Reifen in dem groben weichen Sand zu sehen. Dasselbe galt für die von Bagshotts Schuhen. Sie hatten die Größe fünfundvierzig und Gummisohlen, die nach wie vor - 152 -
ein bekanntes Warenzeichen trugen. Es waren die Schuhe – oder zumindest ein Zwillingspaar derselben –, die ihre Eindrücke auf der Rampe zum Chalet und rund um Biskers Hütte hinterlassen hatten.
16 Der Teufel geht spazieren Samstagvormittag war es, als Bony Clarence B. Bagshott vor dessen Tor begegnete und mit ihm sprach, und als er zum Chalet zurückkam, hörte er, eben auf dem Weg von der Hauptstraße herauf, den Gong zum Mittagessen rufen. Es war ein Uhr, und Fred kam vom Essen zurück, um sich weiter ums Gras zu kümmern. Er hatte den Teil links vom Weg zum Gartentürchen hinunter geschafft und schickte sich nun an, auch den rechten Abschnitt zu mähen. Als Bony den famosen Speisesaal betrat, saßen die anderen Gäste bereits zu Tisch. »Sie waren wohl auf Wanderschaft?« fragte Raymond Leslie. »Ja«, antwortete Bony. »Ein herrlicher Vormittag für einen Spaziergang. Es besteht kein Zweifel daran, daß diese Bergluft einen hungrig macht. Ich glaube, ich habe noch nie so klare Luft gesehen wie heute. Übrigens, Sie sind doch schon einige Zeit hier oben. Sind Sie schon mal Clarence B. Bagshott begegnet?« »Bin ich nicht. Der Mann ist ein absoluter Plebejer!« »Haben Sie etwas von ihm gelesen?« bohrte Bony weiter. Raymond Leslie setzte sich kerzengerade auf, und die Spitze seines braunen Bartes bewegte sich von der Brust weg nach außen, bis er törichterweise Kapitän Kettle zu ähneln glaubte. Um die Wirkung noch zu betonen, legte er Messer und Gabel beiseite, bevor er sprach. »Mein lieber Bonaparte, wenn ich Literatur lese, dann lese ich auch Literatur – und keinen Schund.«
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Er sprach so laut und nachdrücklich, daß das Ehepaar Watkins das schrille Geplapper über das Forellenfischen irgendwo in Tasmanien unterbrach, und Bony bemerkte, daß auch Miss Jade aufmerksam lauschte. Der Maler hatte die Aufmerksamkeit sämtlicher Personen im Raum, und er wünschte sie zu behalten. »Ein Mensch von Bildung liest Bagshotts Zeug nicht«, fuhr er fort. »Außer den Lesern von Feuilletonromanen kennt ihn ja auch keiner. Unsere wunderbare australische Literatur hat auf ihrem Weg zur Anerkennung auch ohne Bagshotts Quatsch schon genug Hindernisse zu überwinden. Sie nennen seine Bücher australisch, und unglücklicherweise lesen die Leute sie und beurteilen danach die australische Literatur.« Leslie funkelte Bony an, der schließlich demütig sagte: »Ich habe nur gefragt, ob Sie seine Bücher gelesen haben. Ich habe nämlich noch keines gelesen, da mir noch keines untergekommen ist. Ich habe Sie außerdem gefragt, ob Sie Bagshott mal begegnet sind, da Sie ja schon einige Zeit hier sind.« »Dem möchte ich noch nicht mal begegnen, Bonaparte«, sagte Leslie ungehobelt. Dann meldete sich die ruhige Stimme von Mr. Downes: »Also um die Wahrheit zu sagen, ich habe mehrere seiner Bücher gelesen. Und mir gefallen sie. Sie wollen doch damit nicht etwa sagen, daß es mir an Bildung fehlt, Mr. Leslie?« Alle an Bonys Tisch blickten auf Mr. Downes, dessen Miene nun jeglichen Ausdrucks entbehrte. Leslie wollte schon etwas sagen, als er Mr. Downes’ Blick erhaschte. Drei geschlagene Sekunden lang starrte er in Downes schwarze Augen. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, und er fing doch tatsächlich zu stottern an. »Äh – nicht doch, Downes, von Ihnen würde ich das doch nicht sagen«, plapperte er. »Das war nur ganz allgemein gesprochen.« »Da bin ich aber froh, Leslie«, sagte Downes mit Messer und Gabel hantierend. »Ich verstehe natürlich voll und ganz Ihren Enthusiasmus für die wahre australische Literatur«, und Bony hätte am liebsten los- 154 -
gelacht über seine unmißverständliche Betonung des zweiten Personalpronomens. »Er ist mir heute vormittag begegnet«, sagte Bony ganz beiläufig, worauf die Spannung verflog und Leslie sich ausnahm wie ein gestrandeter Fisch. Aus dem Augenwinkel warf Bony einen Blick auf Miss Jade und sah sie, ihre Hände reglos und den Kopf leicht gebeugt, in einer Haltung konzentrierter Aufmerksamkeit, auf daß ihr auch nicht ein Wort entging. »Ich kam zufällig an seinem Haus vorbei, als er gerade seinen Wagen aus dem Tor rangierte. Ich habe eine Bemerkung über die Gegend gemacht, und er schien mir ausgesprochen freundlich und heiter. Er meinte, er hätte sich eine einmonatige Bierdiät oben in Wanaaring versprochen.« »Warum dazu nach Wanaaring fahren – wo immer das auch ist?« fragte der mit einem mal überaus interessierte Sleeman. »Tja, sehen Sie, als ich das letzte Mal in Wanaaring war, da gab es dort drei Bierstuben und vielleicht fünfzehn Häuser«, erklärte Bony. »Die Einheimischen sind ausgesprochen freundlich, und im Biertrinken sind sie ganz groß, wenn sie dabei hin und wieder vielleicht auch nicht allzu höflich sind, aber effizient sind sie allemal. Das Klima dort ist entweder sehr heiß oder sehr staubig und meistens beides zugleich. Das sind aber noch nicht alle Vorteile.« Als Bony innehielt, drängte Sleeman ihn weiterzusprechen. »Tja, sehen Sie, da oben in Wanaaring – es liegt übrigens einige hundert Meilen westlich von Bourke in Neusüdwales –, also man fühlt sich da einfach keinerlei Zwängen unterworfen. So ist es den Leuten dort herzlich egal, was der Nachbar denkt, wenn man lieber ohne Kragen aus dem Haus geht. Und dann ist die Polizei dort ebenso freundlich wie diplomatisch. Sollte die Sie auf allen Vieren antreffen, so befiehlt sie Ihren Freunden, Sie ins Bett zu bringen oder in die Gefängniszelle des Ortes, wo man Sie ein paar Stunden liegen läßt, bis Sie Ihre Sinne wieder beisammen haben.« »Wie kommt man denn dahin, nach Wan… – na ja, da, wo Sie sagen?« fragte Sleeman. - 155 -
»Bleiben Sie mal besser hier«, schlug Downes vor, und zum erstenmal wurde Bony Zeuge eines Lächelns auf dessen normalerweise teilnahmslosem Gesicht. »Und dieser Clarence B. Bagshott denkt also daran, nach Wan… – na ja, Sie wissen schon, zu fahren?« fragte Sleeman beharrlich. »Teufel auch! Da wäre ich doch zu gern dabei.« Wieder meldete sich Downes, und wieder lächelte er dabei. »Ich sage trotzdem, Sie sollten lieber hierbleiben, Sleeman. Die Polizei ist ja womöglich nicht mehr so tolerant, wenn sie gleich zwei Burschen auf einmal auf allen Vieren herumkrabbeln sieht.« »Wen meinen Sie?« »Na, Bagshott und Sie«, antwortete Downes entwaffnend. Mr. Sleeman fand den Gedanken jedoch weiterhin attraktiv, und er wurde ganz erpicht darauf, Bony weitere Informationen über Wanaaring und den einfachsten Weg dorthin aus der Nase zu ziehen. Raymond Leslie hielt sich an die Schweigepflicht, die Downes Augen ihm offensichtlich auferlegt hatten. Das Essen, eben noch von seiner unerfreulich ungehobelten Einlage bedroht, wurde schließlich noch ein voller Erfolg, und Bony zog sich, ausgesprochen zufrieden mit sich, in seinen Korbsessel am hinteren Ende der Veranda zurück. Er war dankbar, an so einem ruhigen und erholsamen Nachmittag keinen Rasenmäher schieben zu müssen, dankbar dafür, hier rauchend auf dem Gipfel der Bequemlichkeit zu sitzen und die Farben sich über die Hänge der fernen Berge ergießen zu sehen, als die Sonne sich an den Abstieg vom Zenit machte. Die Motorengeräusche der Autos, die, die Hauptstraße heraufbrummend, Wochenendausflügler heranbeförderten, waren an diesem Samstagnachmittag beständiger als sonst. Bony erinnerte sich an den vorhergehenden Sonntag, als das Chalet noch bis auf den letzten Platz belegt und der Verkehr auf der Straße geradezu erstaunlich gewesen war. Der Mann vom Obststand hatte für morgen einen herrlichen Tag und besonders starken Verkehr prophezeit.
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Bony döste ein Weilchen vor sich hin, konnte jedoch nicht wirklich einschlafen, weil sich ihm ständig Leslies zorniges Gesicht ins Bewußtsein drängte, unweigerlich gefolgt von Mr. Downes mit seiner eisigen Stimme und den stechenden Augen, die den Maler zum Schweigen gebracht hatten – wie einen Mann in einer Bar, dessen Frau plötzlich auftaucht. Bony erwachte lange genug, um es sich bequemer zu machen, bemerkte, daß Fred noch immer den Rasen mähte und fühlte sich etwas irritiert durch den Rundfunkempfänger im Salon, in dem eben ein Pferderennen übertragen wurde. Mit geschlossenen Augen versuchte er wieder Ruhe zu finden, doch diesmal war es Bagshott, der sich ihm so beharrlich aufdrängte. Er fragte sich, wie viele von den Geschichten, die man sich hierorts über ihn erzählte, wohl wahr waren, und entschloß sich dann, in diesem Punkt mit Miss Jade zu Rate zu gehen, die dem Klatsch dieser Gegend mit einem gewissen Maß an Nervosität zu begegnen schien. Nichtsdestoweniger war da die Tatsache, daß Bagshott Schuhe der Größe fünfundvierzig trug und jemand in der Nacht von Grummans Ermordung auf der Rampe und später rund um Biskers Hütte die Abdrücke eben solcher Schuhe hinterlassen hatte. Heute hatte Bagshott nicht die Schuhe getragen, von denen die Spuren stammten, da die Lage des Warenzeichens der beiden Paare nicht übereinstimmte. Dennoch, diesen Bagshott galt es unter die Lupe zu nehmen. Dem lethargischen Bonaparte kam es so vor, als sei er nun schon eine ganze Weile hier im Chalet Weitblick. Oberst Blythe hatte er nun schon seit fünf Tagen keinen Besuch mehr abgestattet, und Blythe dürfte bereits mindestens ein Brief von Oberst Spender vorliegen, der mit aufgeregten Worten zu wissen verlangte, was Bony denn so lange trieb. Eine solche Anfrage war Bonys geringste Sorge. In diesem Haus hier war, mit Zyankali, ein Mann ermordet worden. Seine in schweren Überseekoffern untergebrachte persönliche Habe war verschwunden. Ein Bursche vom Ort hatte sich Grummans unbezahlbare - 157 -
Geheimnisse »unter den Nagel gerissen«, und nur durch den Eingriff Fortunas waren diese in Bonys Besitz gelangt. Tja, und all dieser Aufregung war eine Periode der Ruhe gefolgt. Es war merkwürdig, daß es bei allen Ermittlungen zu einer solchen Flaute kam, der ebenso unweigerlich eine weitere Periode fieberhafter Aktivität folgte. Das Verbrechen ist eine höchst eigenartige Äußerung der menschlichen Psyche. Es liegt nie lange still, und schon gar nicht der Mord. »Also ich kann Ihnen einfach nicht gestatten, noch länger zu schlafen, Mr. Bonaparte.« Bony öffnete zuerst ein Auge, dann das andere. Und dann stand er schon auf den Beinen und lächelte in Miss Jades schwarze Augen. »Vergeben Sie mir, Madam!« sagte er, augenblicklich hellwach. »In Ihrer Gegenwart zu schlafen ist ein unverzeihliches Verbrechen. Ist das Dach eingefallen?« »Nein, aber George hat eben einen Ausfall unternommen – mit dem Tee –, und ich dachte, ich würde ihn gern zusammen mit Ihnen trinken. Darf ich?« Bony machte eine gerade noch wahrnehmbare Verbeugung, und in seinen hüpfenden blauen Augen spiegelte sich seine Freude. »Nichts, was mir eine größere Freude wäre, Miss Jade«, sagte er ihr mit Überzeugung sowohl in der Stimme als auch im Blick. George wartete schon mit dem Servierwagen direkt hinter Miss Jade, und noch bevor sie ihn anweisen konnte, brachte er auch schon einen Zwilling von Bonys Stuhl, arrangierte mit sachkundigen Händen das Kissen und beeilte sich dann, ein kleines Tischchen herbeizuschaffen und vor sie hinzustellen. Etwa in der Mitte der Terrasse, unmittelbar vor der Treppe zum Weg ans Gartentor, der den Rasen in zwei Hälften teilte, saß bereits eine Gruppe, bestehend aus dem Ehepaar Watkins, Lee, Sleeman und Downes, beim Tee. »Wissen Sie, Miss Jade«, murmelte Bony. »Am frühen Nachmittag war ich richtiggehend froh darüber, daß die Zahl Ihrer Gäste so klein ist. Wie selbstsüchtig von mir. Aber jetzt bin ich noch einmal so froh. - 158 -
Wäre die Zahl größer gewesen, Sie hätten wohl kaum Gelegenheit gehabt, mir eine solche Ehre zu erweisen.« Miss Jade lächelte, und wenn sie lächelte, war sie Bony um so lieber. Aus dem Munde eines anderen Mannes hätten sich derartige Worte womöglich zynisch angehört, und sie hätte das wohl auch sofort gemerkt. Bei Bony hörte es sich ganz ungezwungen, natürlich und aufrichtig an. »Ich hätte durchaus mehr Gäste haben können, Mr. Bonaparte, aber nach dem, was hier geschehen ist, hielt ich es für unfair dem Personal gegenüber, wenn die Leute sich hier drängen. Wir dagegen sind gerade genug, um das Personal zu beschäftigen und die Organisation aufrechtzuerhalten. Nächste Woche werden wir wieder voll belegt sein. Ich wollte nicht von einer – äh – Menge Gaffer umgeben sein, wenn Sie verstehen.« »Ganz und gar. Gaffer mit Geld sind so unangenehm wie solche ohne.« Bony machte eine Bewegung mit seiner freien Hand, um auf die Szenerie zu verweisen, die sich ihnen bot – Fred und der Rasenmäher im Vordergrund gegen den Hintergrund des Tals und der Berge, an deren augenblicklicher Farbenpracht schon bessere Maler als Raymond Leslie gescheitert waren. »Was für eine Gegend! Hier zu wohnen! Wissen Sie, Miss Jade, Sie sind eine Frau mit bemerkenswertem Glück.« »Ja, das bin ich«, gestand sie. »Vor einigen Jahren, als ich hier zwischen Bäumen und Farnen stand und zwischen die Baumstämme hindurch über das Tal auf die Berge blickte, da sagte ich mir: ›Hier werde ich mir mein Traumhaus bauen.‹ Und siehe da – es ward gebaut. Ich bin jedoch noch nicht alt genug, um die Tage und Nächte zu vergessen, als ich mein erstes eigenes Haus hatte und meine Füße mich umbrachten und mein Rücken gebrochen schien. Ich hatte nur eine Frau zur Hilfe, und ich war Köchin, Serviererin und Geschäftsführerin alles in einem.« »Und das Geheimnis allen Erfolges – Persönlichkeit«, konstatierte Bony. - 159 -
»Das Geheimnis allen Erfolges ist Organisation«, konterte Miss Jade. »Das Studium des Details, so daß unnötige Arbeit vermieden wird. Erfolg hängt nicht von der Erscheinung der Gastgeberin ab – wie das womöglich bei einer Bierstube der Fall ist.« Bony kicherte. »Ich nehme Ihren Tadel entgegen – wenn auch sitzend. Wie kommen Sie denn mit den Einheimischen hier zurecht?« Miss Jades Augen öffneten sich ein klein wenig. »Sie haben mit den Leuten gesprochen – mit Einheimischen?« »Ich habe ein bißchen getratscht«, gestand er. »Ich denke, ich verstehe jetzt die Bemerkung, die sie machten, als ich meine Phantasie spielen ließ und uns beide auf einer abgelegenen Farm im Landesinneren sah, wo Sie mich Bony und ich Sie beim Vornamen nennen könnte. Ich bedauere, wenn auch ungewollt, die Ursache für die kleine Unannehmlichkeit beim Essen gewesen zu sein, aber ich habe eine ganze Reihe von Bagshotts Sachen gelesen und hörte mit aufrichtigem Interesse, daß er hier oben lebt. Es hat ganz den Anschein, als sei er in den Augen derer, mit denen ich mich über ihn unterhalten habe – wie man sich eben so über Prominente unterhält –, ein durch und durch verwerflicher Kerl. Ich frage mich, inwieweit es sich dabei wohl um Tratsch handelt.« »Was hat man Ihnen erzählt?« fragte Miss Jade, ihre Augen ganz plötzlich hart. »Lassen Sie mich systematisch vorgehen. Erstens, daß er seit Jahren etwas mit einer alleinstehenden jungen Frau hat, weil deren achtjähriger Sohn angeblich von ihm ist. Zweitens, daß der Militärische Abwehrdienst gegen ihn ermittelt hat, weil man ihn verdächtigte, Nachrichten an die Japaner zu funken. Drittens, daß er seine Frau wie eine Gefangene hält und daß er sie höchstwahrscheinlich jeden Augenblick umbringen und im Garten verscharren wird. Viertens, daß er in einen oder womöglich gar zwei oder drei Morde verwickelt war. Und fünftens, nun, die Nummer fünf will mir im Augenblick nicht einfallen. Sie konnte wohl auch nicht so schauerlich sein wie eins bis einschließlich vier, sonst hätte ich sie mir gemerkt.« - 160 -
»Meinen Sie das im Ernst?« fragte Miss Jade. Bony nickte und sagte: »Absolut.« Miss Jade legte den Kopf zurück und lachte. Ihr Lachen veranlaßte die Gruppe an der Treppe, zu ihr herüberzublicken. Es erreichte sogar Fred, der sofort zur Terrasse heraufsah. Er hatte nun auch den linken Teil des Rasens zu drei Vierteln gemäht und arbeitete augenblicklich in der Nähe des Zauns unten an der Straße. In diesem Moment hörte Bony einen schrillen Pfiff von der hinteren Ecke des Hauses und außerhalb seines Gesichtskreises, der Fred veranlaßte innezuhalten und, mit beiden Händen gestikulierend, zu verstehen zu geben, daß er gehört hatte. Dann machte er sich wieder an die Arbeit, und Miss Jade, die offensichtlich weder den Pfiff gehört noch Fred auf das Signal hatte antworten sehen, sagte, die Stimme noch immer voller Lachen: »Um Gottes willen, Mr. Bonaparte, laufen Sie mir ja nicht herum und fragen die Leute nach mir.« »Ach!« rief Bony ernst aus. »Ihr Charakter ist doch nicht etwa noch schlimmer als der von Mr. Bagshott?« »Wahrscheinlich zumindest nicht besser. Man muß hier etwas vorsichtiger sein als in der Vorstadt, wissen Sie. Sie brauchen nicht alles zu glauben, was man sich über Mr. Bagshott erzählt. Also, es ist wirklich zu albern. Er lebt nun schon seit einigen Jahren hier. Ich habe von den netten Leuten hier noch nie etwas Derartiges gehört. Ja, was ist denn?« »Mir ist eben der fünfte Punkt eingefallen. Man erzählt sich, daß er Kaninchen und Haushunde fängt, die er vergiftet, um ihnen beim Sterben zuzusehen, damit er in seinen Büchern über die Wirkung von Giften schreiben kann.« »Unsinn!« fuhr Miss Jade ihn an, und zum erstenmal sah Bony Zorn in ihren Augen. »Ich war einmal auf einer Versammlung, auf der Mr. Bagshott gesprochen hat, und ich hatte den Eindruck, daß er nicht lange um den heißen Brei herumredet, ohne sich darum zu kümmern, welchen Eindruck er macht. Er ist temperamentvoll! Tja, so wie ich auch zuweilen.« - 161 -
»Ich bin immer temperamentvoll. Sagen Sie, ist Bagshott eine gesellige Natur?« Miss Jade musterte Bony ruhigen Blicks. »Das weiß ich wirklich nicht. Er verkehrt nicht mit den Leuten, die ich hier kenne.« »Haben Sie ihn schon mal gesehen?« »Nur auf der Versammlung, auf der ich damals war, wie ich schon sagte.« »Vergeben Sie mir. Das hatte ich ganz vergessen.« Bony wandte sich ab und blickte über die steinerne Balustrade hinweg auf den Rasen. Fred stand da, die Hände in die Hüften gestützt, und starrte über den abschüssigen Rasen zum Haus herauf. »Tja«, fuhr er fort, »wie in allen nahezu ländlichen Bezirken sind wohl auch hier die Klatschbasen wahre Profis. Die Leute aus dem Busch sind da ganz anders, wissen Sie. Sie scheinen so viele wichtigere Dinge im Kopf zu haben, und dann leben sie natürlich auch sehr verstreut, was sie zu sehr herzlichen Menschen macht. Ich frage mich, was dieser Mann da wohl so interessant findet.« »Der vertrödelt nur die Zeit, für die ich ihn bezahle«, sagte Miss Jade, einmal mehr Herrin über ein effizient geführtes Haus. Sie erhob sich und Bony mit ihr. Als sie an die Balustrade traten, kam George eben mit seinem Servierwagen von der anderen Ecke der Terrasse herüber. Miss Jade rief aus: »Aber das sieht ja ganz so aus, als wären da Fußspuren im Gras!« »Sieht in der Tat so aus«, pflichtete ein interessierter Bony ihr bei. »Sie beginnen hier in der Nähe der Stufen und verlaufen parallel zum Weg bis hinunter zum Gartentor, das heißt bis dahin, wo Fred mit dem Rasenmäher stehengeblieben ist. Das ist doch sehr außergewöhnlich.« Als er George mit dem Teewagen die Teeutensilien von ihrem Tischchen räumen hörte, wandte Bony sich um und rief ihn leise,
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worauf der Mann mit höflichem Interesse herüberkam und einen Schritt hinter Miss Jade stehenblieb. »Was halten Sie von diesen Spuren, George?« fragte Bony. »Ich – ich weiß nicht, Sir«, antwortete George. »Sie sehen – sie sehen –« »Mir sehen sie ganz nach Abdrücken von Herrenstiefeln aus«, wiederholte Bony. »Sehen Sie die Abstände zwischen ihnen hier an diesem Ende. Geht es Ihnen nicht gut, George?« »Doch, doch, Sir. Nur leichte Kopfschmerzen, weiter nichts.« Nun gesellten sich auch die anderen zu ihnen, und George zog sich zurück, um den Tisch fertig abzuräumen, an dem Miss Jade und Bony gesessen hatten. Miss Jade deutete auf die merkwürdigen Spuren auf ihrem schönen Rasen. Alle waren sich einig, daß sie von einem Mann stammten. »Das Gras ist ja strohgelb, wie verbrannt – als hätte jemand Säure darauf gegossen«, bemerkte Downes. »Als wäre hier jemand mit Schuhen aus glühendem Stahl langgekommen«, ergänzte Sleeman. »So was habe ich noch nie gesehen.« »Hier muß wohl der Teufel langgekommen sein«, sagte Downes. »Ich frage mich, wie so was wohl zustande kommt.« Miss Jade meldete sich zu Wort, und ihrer Stimme war ihr Zorn anzuhören. »Warum hat er dann nicht den Weg genommen, der schließlich kaum einen Meter weiter links liegt? Vielleicht weiß der Gelegenheitsarbeiter etwas darüber.« Die Treppe zum Weg parallel zur Terrasse hinuntersteigend, verließ sie diese als erste und nahm dann den Weg hinunter zum Gartentor. Die füllige Mrs. Watkins folgte zusammen mit ihrem Gatten. Nach ihnen kamen Sleeman und Lee. Downes warf einen raschen Blick auf George, und auch Bony blickte in diese Richtung, nur um den Kellner, die Hände voll Teegeschirr, auf den Rasen hinausstarren zu sehen. Dann ging auch Downes die Treppe hinunter, und Bony folgte ihm. - 163 -
17 Bagshott gerät in Verdacht »Fred, wie kommen diese Spuren hierher?« fragte Miss Jade, den Unglücklichen mit einem zornigen Blick aus ihren weit geöffneten Augen bedenkend. Fred nahm seinen uralten Filzhut ab, zog die Nase hoch und betrachtete mit einem Ausdruck profunden Jammers die Spur. Dann blickte er wieder in die schwarzen Augen, die sich nach wie vor auf ihn konzentrierten. »Ich weiß nicht, Madam«, sagte er. »Ich hab’ sie selber erst grade gesehen.« »Erst gerade gesehen!« wiederholte Miss Jade. »Hören Sie mal, Sie mähen dieses Stück Rasen nun schon den ganzen Nachmittag. Was soll das heißen, Sie haben sie gerade erst gesehen?« Eine schwierige Frage, und Fred machte erst gar nicht den Versuch, sie zu beantworten. Er starrte nur traurig den Hang hinunter, über den in schier kerzengerader Linie die Fußspur verlief. Dann ging er, als hätte man ihm eine große Verantwortung abgenommen, hinter Bony her, der der Spur, die Hände auf dem Rücken ineinandergelegt und den Kopf nach vorn gebeugt, folgte. Die Abdrücke, mochten sie nun von Stiefeln oder Halbschuhen stammen, waren nicht weniger deutlich zu sehen als in weichem Sand. Die Größe des Schuhwerks, von dem sie herrührten, war fünfundvierzig. Jeder einzelne der Abdrücke war nahezu vollkommen, aber eben nur nahezu, denn es fehlten ihm einige wesentliche Details. Ein solcher Abdruck im Sand hätte Bony Eigenheiten wie die Zonen größter Belastung und die Art und Weise, wie die betreffende Person den Fuß hob, enthüllt. Solche Eigenheiten waren die eigentlichen Merkmale - 164 -
eines Abdrucks. Gras vermochte diese wesentlichen Eigenheiten jedoch nicht zu enthüllen – es registrierte lediglich den flachen Abdruck einer Sohle. Als er an den Rand des noch ungemähten Rasenabschnitts gelangte, sah Bony, wie er die Abdrücke hatte übersehen können, als er vor dem Essen den Weg heraufgekommen war. Das ungemähte Gras hatte eine Länge von etwa fünf Zentimetern und stand keineswegs im rechten Winkel zum Boden. Die »verbrannten« Stellen waren zwar auch im ungemähten Gras zu sehen, aber bei weitem nicht so deutlich. Bony sah, daß der Mann, dessen Füße die Abdrücke hinterlassen hatten, bis zum Zaun auf dem Rasen geblieben war, wo er sich dann im rechten Winkel auf den Weg begeben hatte, um durchs Gartentor zu gehen. An der Innenseite des Zauns entlang, noch über der oberen Kante der Böschung zur Straße hin, stand ein Streifen Gras, gut einen Meter breit, das nie einen Mäher gesehen hatte, so daß es dort höher, zwa nzig, fünfundzwanzig Zentimeter hoch, stand und entsprechend verwildert und grob war. Auf der Gartenseite des kleinen Gatters inspizierte Bony die Oberfläche der Rampe, die zur Straße hinunterführte. Sie war vergleichsweise weich. Er sah seine eigenen Abdrücke vom heutigen Tag. Über denjenigen, die er hinterlassen, als er das Haus verlassen hatte, befanden sich diejenigen anderer Personen; jene, die er bei seiner Rückkehr gemacht hatte, waren dagegen nach wie vor bis hinunter zur Straße intakt, woraus zu ersehen war, daß er die Rampe zum Gartentor als letzter heraufgekommen war. Er sah die Fußspuren von Mr. und Mrs. Watkins, von Fred, von Lee und Sleeman und solche von Leuten, die er nicht kannte, und bei denen es sich, wie er später erfuhr, um vier Leute handelte, die das Ehepaar Watkins besucht hatten. Miss Jade und ihre wenigen Gäste standen noch immer in einer Gruppe beisammen auf dem oberen Teil des Rasens. Fred stand hilflos neben seinem Rasenmäher. Downes, der jetzt langsam der Spur - 165 -
folgte, befand sich zwischen Fred und Bony. Ebenso langsam ging Bony ihm entgegen. »Ausgesprochen merkwürdig«, bemerkte Downes einen Augenblick später, als sie beide an den Rand des ungemähten Rasenabschnitts zurückkehrten. »In der Tat«, stimmte Bony ihm zu. »Also ich verstehe das nicht. Sie etwa?« Downes schüttelte den Kopf. Bony ging in die Knie, um sich die Spuren näher anzusehen. Das Gras war nicht verbrannt, es war nur abgestorben – und das gründlich, bis hinunter auf die Erde. Sonst wuchs das Gras überall üppig. Bony nahm ein Federmesser aus der Tasche seines Jacketts und machte sich daran, die Erde um die Wurzeln des abgestorbenen Grases herum aufzulockern. Dann strich er mit den Fingern einige der Wurzeln nach oben und stellte fest, daß sie auch knapp unter der Erde noch tot waren. Erst ab einer Tiefe von etwa vier Zentimetern fand er lebende Wurzeln. Er erhob sich und ging zurück auf den ungemähten Abschnitt des Rasens, wo er abermals neben einem der Abdrücke in die Knie ging. Hier strich er das leicht überhängende Gras beiseite und legte so die tote Stelle bloß. Er zupfte einen der abgestorbenen Halme ab und fand ihn ausgesprochen spröde, wenn auch nicht in dem Maße, daß er ihn zwischen den Handballen hätte pulverisieren können. Also mit Hitze oder Säure hatte man dieses Gras nicht verbrannt. Es war lediglich abgestorben – ganz in der Art reifer Getreidehalme. Eine Handvoll der abgestorbenen Halme ausreißend, stand er wieder auf und präsentierte sie Downes zur näheren Inaugenscheinnahme. Downes nahm sie entgegen, hielt sie näher an die Augen und befühlte sie mit den Fingerspitzen. »Sieht nicht so aus, als wäre es durch irgend etwas verbrannt worden, oder?« sagte er in seiner kalten und präzisen Sprechweise. »Nein«, stimmte Bony ihm zu. »Es scheint ganz natürlich abgestorben zu sein. Und dennoch kann es sich schlecht um ein natürliches - 166 -
Phänomen handeln, da die Stellen, an denen es abgestorben ist, so ganz offensichtlich die Form von Herrenstiefelsohlen haben. Also so etwas liegt außerhalb meiner Erfahrungen.« »Meiner ebenfalls«, sagte Downes, und, das Gras, das er aus Bonys Hand entgegengenommen hatte, fallen lassend, wandte er sich ab und ging zu Miss Jade und der Gruppe um sie herum zurück. Bony warf das gepflückte Gras für alle sichtbar weg, behielt aber heimlich etwas davon in der Hand und steckte es in die Tasche. Fred machte sich wieder ans Mähen. Einige aus der Gruppe fragten wie im Chor nach des Rätsels Lösung, aber weder Bony noch Downes konnten damit aufwarten. »Das ist das Bemerkenswerteste, was mir je untergekommen ist«, platzte Sleeman heraus. »Muß wohl der Teufel gewesen sein, der geraden Wegs aus der Hölle gefahren ist, um hier auf Ihrem Rasen herumzuspazieren, Miss Jade. Und sehen Sie nur die großen Füße!« Als er einen seiner eigenen Schuhe auf einen der Abdrücke stellte, blieb ein breiter Rand um den ganzen Schuh. »Welche Größe haben Sie denn?« fragte Downes. »Vierzig«, antwortete Sleeman. »Oh, also von mir stammen diese Abdrücke nicht. Das sehen Sie ja wohl alle.« »Aber es sind doch Spuren eines Mannes, nicht wahr?« wollte Mrs. Watkins mit schriller Stimme wissen, und ihr Mann versicherte ihr, das seien sie in der Tat. »Ich frage mich, wann das wohl passiert ist?« sagte Lee, der Schafzüchter. »So was hab’ ich noch nie gesehen. Also ein Mann mit derart großen Füßen muß ja noch größer sein als ich.« »Oder er ist kleiner und hat verwachsene oder kranke Füße«, fügte Downes dem hinzu. Er bemerkte George oben auf der Treppe zur Terrasse. »Ach, einen Augenblick, George!« rief er. Der Kellner kam die Treppe herunter auf sie zu. Seine Miene war wie immer von höflicher Gelassenheit. »Kennen Sie jemanden mit so großen Füßen?« fragte Downes auf die Abdrücke deutend. - 167 -
»Nein, Sir!« antwortete George, dem Blick des Fragestellers ruhig begegnend. Er stellte einen seiner Schuhe über einen der Abdrücke und sagte dann zu Downes: »Also ich trage Größe vierzig.« »Ich bin selbst neugierig, wann das wohl passiert ist«, sagte Downes. »Sie, Lee, als Mann vom Lande sollten uns das doch sagen können.« »Ja, Mr. Lee, schätzen sollten Sie das doch wenigstens können«, fügte Miss Jade hinzu. Lee sah aus, als fühle er sich nicht sehr wohl in seiner Haut. »Wann wurde der Rasen zum letztenmal gemäht?« fragte er. »Lassen Sie mich nachdenken«, bat Miss Jade. »Ja, ich erinnere mich. Zum letztenmal gemäht wurde er Samstag voriger Woche.« »Tja, dann wurden die Abdrücke nicht vor Samstag voriger Woche gemacht.« Lee grinste. »Bin wohl keine große Hilfe, was? Was ist mit Ihnen, Bonaparte? Haben Sie eine Meinung dazu?« »Rasen fallen nicht gerade in meinen Wissensbereich«, sagte Bony. »Bei mir zu Hause wächst nur Büffelgras, und dem könnte auch eine Dampfwalze nichts anhaben. Ich denke, daß die Spuren etwas mit dem Frost zu tun haben.« Dies brachte ihm weitere Fragen ein, die Bony eine wie die andere nur ausweichend beantwortete. Er hatte seine Theorie darüber, wie es kam, daß diese Fußabdrücke auf Miss Jades Rasen gar so unauslöschlich waren, und neigte stark zu der Ansicht, daß man sie in der Nacht von Grummans Ermordung hinterlassen hatte. Von augenblicklichem Interesse für ihn war die Reaktion Downes’, Miss Jades und des Kellners. Von der für sie als Besitzerin eines gepflegten Rasens nur allzu natürlichen Verärgerung einmal abgesehen, schien ihm Miss Jades Zorn völlig unangebracht. Bony dachte, er diene womöglich nur dazu, über ein ganz anderes Gefühl hinwegzutäuschen, womöglich sogar dazu, ein bestimmtes Wissen zu verbergen, so etwa das Wissen, daß die Abdrücke von den Füßen Clarence B. Bagshotts stammten. Es wäre nun wirklich ein bemerkenswerter Zu-
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fall, wenn es auf dem Mount Chalmers gleich zwei Männer mit Schuhgröße fünfundvierzig gäbe. Das Interesse, das Downes an den Tag legte, könnte natürlich auch auf einen, wie man so schön sagt, analytischen Verstand zurückzuführen sein. Er fragte sich, was Downes wohl war und wo er herkam, und beschloß, Bolt darum zu bitten, alles über ihn in Erfahrung zu bringen, was nur in Erfahrung zu bringen war. Was George anbelangte, nun, George war mit einemmal zu einer Art Rätsel geworden. Als er die Spuren entdeckte, war er sofort ins Stottern geraten und hatte ganz krank ausgesehen. Er hatte erklärt, unter leichten Kopfschmerzen zu leiden, hatte aber nicht die geringste Unpäßlichkeit erkennen lassen, als er den Stuhl für Miss Jade und den Tisch zurechtgerückt hatte. Und jetzt – hol’s der Kuckuck! –, wie um die Geschichte noch zu komplizieren, lief Fred doch tatsächlich, seinen Mäher vor sich herschiebend, auf dem Rasen auf und ab und pfiff: »The Camerons Are Corning.« Und das auf die Schelte, die er von seiner Arbeitgeberin erhalten hatte. Nach dem Abendessen gab Bony im Salon bekannt, er gehe noch auf einen Spaziergang, und verließ den Salon in Richtung Empfangshalle und diese dann durch den Haupteingang. Dann spazierte er, ein Liedchen summend, die Auffahrt hinunter. Am geöffneten Tor angekommen, machte er kehrt und ging wieder zurück, wobei er jedoch den feinen Kies vermied und sich unter den die Auffahrt säumenden Bäumen hielt. Bevor er die offene Fläche vor der Haustür erreichte, schwenkte er in Richtung von Biskers Hütte und bemerkte, an deren Rückseite vorbeikommend, daß das Innere im Dunkeln lag. Auf diesem Weg gelangte er auf die Rückseite der Garagen und schließlich und endlich an das offene Tor, das auf die obere Straße hinausführte. Um keine Geräusche zu verursachen, ging er neben der Straße bis hinunter an die Stelle, wo sie in die Hauptstraße mündete. Diese ging er dann hinauf, vorbei an der Abzweigung, an deren Ende Fred
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wohnte und auf deren anderen Seite sich der Obstladen befand, dem er früher am Tag einen Besuch abgestattet hatte. Bald kam er an die Werkstatt und die Polizeiwache. Hier gab es eine elektrische Straßenlaterne, und es ließ sich unmöglich so einrichten, daß er die Wache völlig unbemerkt betrat. In der Wachstube fand er Unterinspektor Mason, der auch gleich auf die Beine sprang und ihn mit einem Lächeln willkommen hieß. »Na, wie behandelt die Welt Sie denn so?« fragte Mason. »Nicht allzu schlecht. Und Sie?« »Ziemlich schlecht«, antwortete Mason. »Einen Stuhl?« »Danke. Wenn Sie so freundlich wären und die Tür schließen würden. Und sperren Sie ab. Ist einer von Ihren Leuten in der Nähe? … Gut! Sagen Sie ihm doch, er möchte sich vorn am Tor herumtreiben, solange ich hier bei Ihnen bin.« Als Mason wiederkam, fand er Bony mit der Herstellung einiger seiner Zigaretten befaßt. »Nun, was gibt es Neues?« fragte Bony. »Nichts von Bedeutung, muß ich leider sagen. Ich habe mir jedoch schon überlegt, wie ich wohl Kontakt mit Ihnen aufnehmen soll, da ich für Sie einen Brief aus dem Präsidium habe. Hier ist er.« Bony riß den Umschlag auf und fand darin eine Nachricht von Superintendent Bolt, in der es hieß, daß man nach den im Besitz der Polizei von Viktoria befindlichen Fotos von Marcus den gewünschten Gipskopf angefertigt habe. Ein Professor der Anthropologie habe dabei mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Dieser habe erklärt, das Ergebnis sei, wenn auch von den Abmessungen her nicht hundertprozentig akkurat, so doch ausreichend, um einem zur Ergänzung der Daten, an Hand derer man ihn identifizieren könne, auch ein Bild vom Kopf des Fotografierten zu geben. Wenn die Fotos aus London einträfen, so würde man sie mit dem Gipsmodell vergleichen und nötigenfalls Änderungen vornehmen. Bony reichte Bolts Brief über den Schreibtisch hinweg Mason und rauchte, während der Unterinspektor las. - 170 -
»Wie verläuft denn die Suche hier oben?« fragte er. Mason schürzte die Lippen. »Wir sind dabei sehr gründlich vorgegangen, denke ich«, antwortete er. »Wir haben uns jeden angesehen, der ständig hier lebt, und alle diejenigen unter die Lupe genommen, die sich ein möbliertes Haus gemietet haben. Wir haben eine illegale Schnapsbude gefunden, vier Spielhöllen und einen Mann, der wegen Diebstahl ausgeschrieben war, aber keine Spur von unserem Freund Marcus.« »Hmm! Schade! Sie haben hier einen Nachbarn namens Bagshott. Wissen Sie etwas über den?« »Jede Menge«, antwortete Mason mit einem breiten Lächeln. »Ich habe alle seine Bücher gelesen und weiß alles über ihn von einem Cousin bei der Kripo in Perth. Vor drei Tagen erst bin ich bei ihm gewesen, damit er mir was unterschreibt. Er ist Friedensrichter. Als ich ihm gegenüber meinen Cousin erwähnte, den er sehr gut kennt, hat er mich gleich zum Tee eingeladen. Ich hatte es zu eilig, aber er sagte, wenn ich nicht bleibe und seine Frau kennenlerne, dann würde er mir die Leviten lesen.« »Haben Sie seine Füße bemerkt?« fragte Bony. »Nicht unbedingt. Warum?« »Sie sollten sich immer die Füße der Leute ansehen – ganz besonders die Füße, Mason. Sie verraten einem mehr über den Charakter eines Menschen als sein Gesicht. Und dann können die Leute auch schlecht irgendwohin, ohne die Füße mitzunehmen. Es gibt Füße, die versengen sogar einen absolut kräftigen, grünen Rasen.« »Wie das?« »Nehmen Sie mal Papier und Bleistift zur Hand und machen Sie sich einige Notizen, während ich Ihnen beschreibe, was auf dem Rasen des Chalets Weitblick passiert ist.« Als er die Fußspuren beschrieben und Mason sich seine Notizen gemacht hatte, fuhr Bony fort: »Ich habe da eine Theorie, was diese Fußspuren anbelangt, aber da es sich lediglich um eine Theorie handelt, behalten Sie sie bitte für sich. Ihre Notizen über die Abdrücke legen Sie bitte einem der Verwalter der - 171 -
städtischen Grünanlagen vor und bitten ihn um seine Meinung zu deren Ursache. Womöglich ist es auch nötig, die Meinung zweier solcher Herren einzuholen. Sie erinnern sich doch, daß Grummans Leiche unter dem Hausmantel nur einen Pyjama trug und daß sie ganz offensichtlich in diesen Graben gelegt und der Versuch gemacht wurde, sie zu verbergen. Meiner Theorie nach stammen die Abdrükke von den Füßen des Mannes, der Grummans Leiche aus seinem Zimmer hinunter zum Graben getragen hat. Das somit doppelte Gewicht des Mannes auf dem durch den strengen Frost in jener Nacht über die Maßen spröden Gras – der ausgesprochen rasche Tauvorgang setzte ja erst bei Sonnenaufgang ein – drückte die Halme mitsamt den oberen Wurzeln derart nieder, daß sie abstarben. Falls dem so ist, stammen die Fußabdrücke von Grummans Mörder. Und ich beginne langsam zu glauben, Grummans Mörder heißt Clarence B. Bagshott.« »He!« rief Mason daraufhin aus. »Bagshott trägt Schuhe der Größe fünfundvierzig«, erklärte Bony. »Und die Größe des Schuhwerks, dessen Umrisse sich in Miss Jades Rasen eingebrannt haben, ist fünfundvierzig. Sie werden zugeben, daß Füße dieser Größe selten sind. Erinnern Sie sich jedoch daran, daß ich gesagt habe, ich beginne zu glauben, nicht ›ich glaube‹, daß Grummans Mörder Clarence B. Bagshott heißt. Ich muß Bagshotts Abdrücke noch mit anderen vergleichen, die ich auf dem Grund um das Chalet gefunden habe. Sie sehen also, wie wichtig es ist, eine sachverständige Meinung darüber einzuholen, wie diese Abdrücke auf den Rasen gekommen sind.« Mason lehnte sich zurück und musterte Bony mit gehobenen Brauen. »Na, wenn das nichts ist. Man lernt doch wirklich nie aus«, sagte er langsam. »Wir lernen ständig dazu, Mason, jedenfalls die mit Intelligenz Begabten unter uns. Es gibt da noch etwas, was ich gern erledigt sehen würde. Ich bin nicht so recht zufrieden mit dem, was Bolt über Miss - 172 -
Jade und den Kellner, diesen George, hat. Sie haben die Angaben, die die beiden Ihnen über sich selbst gemacht haben, zweifelsohne überprüft, aber ich würde doch eine nochmalige Überprüfung vorschlagen. Dann gibt es da zwei Gäste, die mich interessieren. Der eine ist ein Maler namens Leslie. Er wohnt schon seit einiger Zeit hier oben und kennt die Gegend wie seine Westentasche. Beschaffen Sie mir alles über ihn, was Sie nur kriegen können, zusätzlich zu dem, was Sie von ihm selbst erfahren haben an dem Tag, als Grummans Leiche gefunden wurde. Am Tag nach Grummans Mord kamen vier neue Gäste ins Chalet. Wenn Sie sich bitte ihre Namen notieren würden.« Mason tat wie geheißen, während Bony diktierte. »Von diesen vieren scheint mir Downes, was seine Angaben über sich selbst anbelangt, der am wenigsten Aufrichtige. Dieser Lee ist womöglich gescheiter, als er scheint. Die beiden Watkins sprechen ewig über ihre Reisen, aber es könnte sich hier um eine vorgetäuschte Schwäche handeln. Ach, übrigens! Geben Sie mir doch mal einen Umschlag.« Aus der Tasche zog Bony das tote Gras von Miss Jades Rasen und legte es in den Umschlag, den Mason zur Verfügung stellte. »Der Stadtgärtner möchte sich das Gras vielleicht näher ansehen, da es von den Stiefelabdrücken stammt«, erklärte er. »Sagen Sie dem Super, er möchte mir doch Marcus’ Kopf hier raufschicken, damit ich ihn mir ansehen kann. Sagen Sie ihm außerdem, daß ich meinen ruhigen Urlaub in vollen Zügen genieße und auf keinen Fall gestört werden will. Darf ich Ihr Telefon benutzen?« »Aber gewiß.« Bony ließ sich mit Windsor 0101 verbinden. Er mußte drei Minuten warten, bis er Oberst Blythe in der Leitung hatte. Dann hörte Mason ihn sagen: »Guten Abend, Herr Oberst! Mr. Boniski Spiffoski am Apparat … Ja, der Russinski Kriminalinski … Haben Sie das nicht gewußt? … Wie bitte? … Ach! Oberst Spendor wird langsam ärgerlich, na so was! … Ja, der ärgert sich ständig über irgendwas – vor allem über mich … Ja. Sagen Sie ihm, ich bin bald wieder zurück. Einer dieser Tage. Ich - 173 -
habe einen herrlichen Urlaub. Ich dachte mir nur, das würde Sie interessieren und daß Sie gern mal wieder meine süße Stimme hören würden. Nein, nein, bitte machen Sie sich keine Gedanken über Oberst Spendor … Ja, ich weiß … Wenden Sie sich an Ihre Frau. Die weiß, wie man den alten Knaben beruhigt … Ein Flugzeug! … Aber ich werde nicht nach Brisbane zurückfliegen … Nein, ich fahre über Wanaaring … Mit dem Auto, ja doch. Ich mache zusammen mit einem Freund eine einmonatige Bierkur – hoffe ich jedenfalls … Gute Nacht!«
18 Fungi und Schwertfisch Da am folgenden Tag Sonntag war, herrschte auf der Hauptstraße den ganzen Tag über, besonders aber nach zwei Uhr nachmittags, starker Verkehr. Es war ein Tag, der Bony noch lange Zeit im Gedächtnis bleiben sollte. Zunächst aber gab es erst einmal Frost, der sämtliche freiliegenden Flächen mit Reif überzog. Miss Jades Rasen war weiß, nicht aber die vereinzelten Sträucher darauf, was Bony daran erinnerte, daß Bisker gesagt hatte, die Sträucher seien am frühen Morgen des Tages, an dem man Grummans Leiche gefunden hatte, reifbedeckt gewesen. Seit diesem Morgen hatte es keinen Frost mehr gehabt. Das Tal lag unter einer dicken, reglosen Nebeldecke, eine Nebeldecke, die, wie es im Wetterdienst später hieß, eine Stärke von wenigstens tausend Fuß hatte. Als Bony auf die Terrasse des Chalet Weitblick trat, stand die Sonne schon ein gutes Stück über der Bergkette jenseits des Tals, eine Szenerie, die ihm erst einmal den Atem verschlug.
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Die Nebelwolken über der Talsohle massierten sich zu einer Art undurchdringlichem Packeisfeld. Über dem Eis, weit drüben im Nordwesten, befand sich eine Insel: der Gipfel des Mount Macedon. Im Osten davon ragte ein gigantischer Finger am Arm des Mount St. Leonard durch das Packeis. Vom Mount St. Leonard schwenkte die Kette in weitem Bogen hinüber zu den Baw-Baws, einer blauen Küste, deren weniger markante Details eine tiefstehende Sonne samt und sonders in Indigo getaucht hatte. Zu enden schien diese Eiswüste nur einen Steinwurf vor Miss Jades Gartenzaun. Die Beschaffenheit ihrer Oberfläche variierte zwar hinsichtlich der Formen, das leuchtende Weiß jedoch war überall gleich. Weit drüben im Süden schienen mächtige Eisberge zu treiben, denen das Sonnenlicht die leuchtende Pracht gelber Narzissen verlieh. Auf der gegenüberliegenden Küste kräuselte sich das Packeis zu gischtigen weißen Wellen, die jeden Augenblick über das felsenbewehrte Festland hereinzubrechen drohten. Eine ganze Quadratmeile lag da wie eine Damastdecke so flach. Eine weitere glich eher der gerafften Schleppe eines Brautkleids. Dort, wo Bony stand, war das Sonnenlicht warm. Nicht ein Lüftchen bewegte die Blätter der Bäume in seiner Nähe. Wie vom Himmel herunter, nicht etwa von unterhalb des Treibeises hervor, heulte, verzweifelt in seiner Blindheit, ein Zug. Zwei Stunden später schmolzen, als trieben sie auf einem Meer aus warmer Milch, die Eisberge im Süden dahin, und die Wellen, die auf das Gestade der fernen Berge zurollten, waren gigantisch geworden. Scheinbar weitläufige Erhebungen warfen das Treibeis zu kleinen Hügeln und winzigen Bergen auf, die, am Chalet vorbei, über Melbourne hinweg auf die Bucht hinausglitten. Ein Wind kam auf, der ungeheure Eismassen zu gigantischen Wällen auftürmte und in die tintenschwarze Finsternis darunter ebenso gewaltige wie grausige Abgründe grub.
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Schließlich und endlich tauchte aus diesen Abgründen mit seinen Wiesen und Wäldern das Tal, um sich, im Verein mit der Sonne, Bonys entrücktem Blick zu präsentieren. Das einzige, was hier störte, war die Stimme von Mrs. Watkins, die immer und immer wieder den einen Satz wiederholte: »Ach, wie wunderschön!« Das zweite Ereignis, das diesen Tag für Bonaparte so denkwürdig machte, passierte am Nachmittag, als er, nachdem er sich zu einem Spaziergang die Hauptstraße hinauf entschlossen hatte, am rückwärtigen Teil von Clarence B. Bagshotts Garten vorbeikam. Dieser hintere Teil war nicht von einer Hecke umschlossen, und auf der anderen Seite des Zauns war der Kriminalschriftsteller höchstpersönlich dabei, ein Stück seines Grundes umzugraben. Bony lehnte sich gegen einen der eisernen Zaunpfähle und legte die Arme auf den obersten der Stacheldrahtstränge. Etwas zur Linken hin lag das Tor, das zu Bagshotts Garage führte. Vor ihm und hinter Bagshott standen die beiden Antennenmasten, seinerzeit Anlaß für die Mutmaßungen, ihr Besitzer könnte Kontakt zu den Japanern gehabt haben. Schließlich stieß Bagshott seinen Spaten in die feste Erde und beugte sich vor, um mit einem Stock nach etwas zu stochern, und eben dieses stachelte die Neugierde des kiebitzenden Bonaparte derart auf, daß er ausrief: »Was haben Sie denn gefunden?« Bagshott wandte sich ihm zu. »Springen Sie über den Zaun und sehen Sie selbst«, rief er. Es war nicht gerade ein Zaun, über den sich so einfach »springen« ließ, aber Bony schaffte es schließlich, ohne seine Kleidung in Mitleidenschaft zu ziehen, und gesellte sich zu Bagshott, um ihm dabei zuzusehen, wie er mit dem Stock etwas umdrehte, was aussah wie ein ziemlich kleines weichschaliges Ei. »Schon mal so einen gesehen?« fragte der Schriftsteller ihn, ohne aufzublicken. »Nein, was ist das?«
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»Der privilegierte Naturkundler nennt es Clathrus Gracilis, der Mann auf der Straße Gitterling. Wenn dieses Ding da, das jetzt wie ein kleines Ei aussieht, ›schlüpft‹, oder sagen wir mal lieber, platzt, dann kommt ein Netz heraus, das ausgebreitet groß genug ist, einen Tennisball zu umschließen, und gleichzeitig gibt es seine Sporen frei. Ich habe nie einen ›schlüpfen‹ gesehen, hoffe aber, es gelingt mir noch. Vor einigen Minuten habe ich ein Netz gefunden. Hier drüben.« Bagshott schritt über seinen Grund und Boden, gefolgt von dem kleineren Mann, dessen Interesse am Leben alles Lebendige umfaßte. Bony bemerkte, ohne eigens darauf zu achten, wie Bagshott in den übergroßen Schuhen, die er trug, seine Füße hob. Die Schuhe waren alt; längst hatten sie im harten Einsatz ihren Glanz verloren. Aber Themen wie Fußspuren und Mord sahen sich augenblicklich unter einen geistigen Teppich gefegt, um diesem ganz neuen Interesse Platz zu machen, das ihrer beider Gedanken in Anspruch nahm. »Ah – hier ist es!« Bagshott blieb stehen und beugte sich vor und Bony mit ihm. Er sah ein zartes netzartiges Etwas, das in der Tat einen Tennisball hätte umschließen können. Es war elastisch und seine matten Brauntöne von mattgrünen Flecken durchsetzt. Nicht einer der Fäden des Netzes war zerrissen. »Soviel ich weiß, gibt es weit mehr als fünfzigtausend Arten von Fungi«, bemerkte Bony, als er dieses spezielle Exemplar in die Hände nahm. »Diese Art habe ich noch nie gesehen. Ein kleines Wunder, finden Sie nicht?« »Ja.« Bagshott betrachtete den Pilz in Bonys Händen. »Ich weiß selbst nicht viel darüber«, fuhr er fort. »Es gibt einige außerordentliche Arten von Konsolenpilzen und Lorcheln, die hier in den Schluchten auf der Unterseite von umgestürzten Bäumen wachsen. Ich habe einen oder zwei davon im Haus. Sie halten sich ausgezeichnet. Aber dieser korbartige hier stellt sie alle in den Schatten. Man möchte gar nicht glauben, daß so viel Netz aus einem so kleinen Behälter stam- 177 -
men kann, nicht? Nach allem, was ich weiß, gibt es, wenn es aus der Schale platzt, die Sporen frei und schwillt dann aufgrund seiner Fähigkeit, Feuchtigkeit zu absorbieren, an.« »Es muß hier auf diesem Berg viele solche Wunder geben«, sagte Bony und spürte, daß Bagshotts haselnußbraune Augen auf ihm ruhten. »Ein bezauberndes Fleckchen Erde. Ich habe heute vormittag fast zwei Stunden lang den Nebel über dem Tal beobachtet. Ich hätte nie gedacht, daß es in Australien so etwas geben könnte. Wissen Sie, Sie haben wirklich großes Glück, hier wohnen zu können. Sie interessieren sich wohl für Naturkunde und dergleichen?« »Ja, aber nur oberflächlich. Sogar in diesem Garten gibt es viele merkwürdige Dinge. Manchmal grabe ich hier sogar ein Flußkrebschen aus. Man möchte gar nicht glauben, daß man die hier so hoch über dem nächsten Gebirgsbach findet; sie sind fast weiß. Sie müssen mal nachts einen Spaziergang querfeldein machen und auf die Regenwürmer lauschen. Sie machen ein schmatzendes Geräusch, geradeso wie das Wasser aus einer auslaufenden Badewanne. Und außerdem sind sie hier meterlang. Kommen Sie doch herein. Ich zeige Ihnen meine ›Konsole‹.« Bony sah sich aus diesem, ganz offensichtlich der Zucht von Gemüse und Himbeeren vorbehaltenen Teil von Bagshotts Garten geführt und durch einen Torbogen in der Hecke in den Teil, der das Haus umgab und dessen Zierbäume und blühende Sträucher eine völlig abgeschiedene Welt bevölkerten. Seine Augen waren aber auch mit der Oberfläche der Wege beschäftigt. Wo er auch hinblickte, er entdeckte die Abdrücke von Bagshotts Schuhen, und beileibe nicht nur jener, die der Mann im Augenblick trug. Alle diese Abdrücke wiesen die gleichen Eigenheiten auf, die ihm verrieten, daß der Verursacher über große geistige Energien verfügte, leicht neurotisch war und sein rechtes Bein länger als das linke. Für Bonaparte, der die botanischen Gärten von Städten besucht und so viele von einem unnatürlichen Ordnungssinn geprägte Gartenanlagen gesehen hatte, war dieser Garten hier eine ganz neue Erfah- 178 -
rung. Hier und da erspähte er kurze Korridore, in denen anscheinend alles so wachsen durfte, wie die Natur es für richtig hielt, und er dachte, die dadurch verlorengegangene Aussicht sei das Opfer durchaus wert. Bagshott antwortete eben auf eine Bemerkung Bonys: »Ja, ein schöner Bezirk. Aber wie das mit allem so ist, verliert für das Menschentier auch die Schönheit ihren Reiz in dem Maße, in dem es sich an sie gewöhnt. Es gibt Tage, da vergehe ich fast vor Sehnsucht nach den trockenen, steinigen Ebenen im Landesinneren und würde weiß Gott was drum geben, meine Augen anstrengen zu müssen, um den Horizont zu sehen. Für den Busch würde ich das alles hier liegen und stehen lassen. Man kann auch zu respektabel werden.« In sich hineinlachend, warf er Bony einen Blick zu. »Manchmal finde ich die Respektabilität ausgesprochen anstrengend. Einer dieser Tage werde ich einfach ausbrechen.« »Sie haben viele Jahre im Busch zugebracht, habe ich recht?« »So um die zwanzig«, erwiderte Bagshott. »Ich bin auch ein bißchen rumgekommen.« »Und Sie sind wirklich fest entschlossen, einen ganzen Monat in Wanaaring zu verbringen?« »Und ob ich das bin«, antwortete Bagshott mit Nachdruck. »Seit zehn Jahren lebe ich jetzt nicht mehr im Busch. Schon seit vor dem Krieg habe ich keinen Urlaub mehr gehabt, und ich werde langsam, aber sicher ein geistig instabiler Sauertopf, dem seine fortgeschrittenen Alterungserscheinungen zu schaffen machen. Das würde Ihnen genauso gehen, wenn Sie länger in einer Gegend wie dieser leben würden. Kommen Sie rein.« Bony sah sich in ein kleines Zimmer mit einem Schreibtisch, einer Chaiselongue, Stühlen und einigen überfüllten Bücherregalen geführt. An den Wänden hingen einige Originale von Illustrationen der Geschichten des Mannes. Außerdem hing da die Haut einer offensichtlich riesigen Schlange.
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»Was halten Sie davon?« fragte Bagshott, als er sah, daß Bony sie betrachtete. »Nettes Exemplar, was? Ich habe sie selbst geschossen. Sehen Sie den Einschuß? Sie war fast acht Meter lang.« Die Haut war hübsch gemustert mit grünen, von einem grauen Band in der Mitte nach außen führenden Linien, und das alles auf mattbraunem Hintergrund. Bony war überwältigt. »Das hier«, sagte Bagshott, »das ist ein Stück Eukalyptusrinde. Bemerkenswerte Ähnlichkeit mit einer Schlangenhaut, finden Sie nicht?« Bony mußte die Rinde betasten, bevor er sie als Realität akzeptieren konnte. »Nun denn, jetzt setzen Sie sich erst mal hin, und benehmen Sie sich«, kommandierte Bagshott und winkte seinen Besucher auf einen der Stühle. Bony war zunächst verblüfft, da er sich keiner Unmanierlichkeiten bewußt war, doch dann trat ihm ein humoriges Glitzern in die Augen, denn sein Gastgeber hatte damit nichts weiter sagen wollen, als daß er es sich bequem machen solle. Nun bekam er das Exemplar des konsolenförmigen Pilzes zu sehen, das, mit einer leichten Lasur überzogen, hart wie Stein geworden war und unzerbrechlich schien. Er hielt es noch in den Händen, als sein Gastgeber verschwand. Ohne Erklärung allein gelassen, sah Bony sich in diesem Raum um, in dem also Kriminalgeschichten ersonnen wurden. Er war ausgesprochen männlich und trotz seiner geringen Größe komfortabel und bot einen Blick auf die Zierbäume vor dem Hintergrund der hohen Hecke, die die Hauptstraße ans andere Ende der Welt verbannte. Ganz zufällig erspähte er auf dem Sims des großen Kamins einen außergewöhnlich großen Angelhaken. Er war eben dabei, diesen zu betasten, als Bagshott wiederkam. In Gedanken war Bony Hunderte von Meilen weit weg. Er saß im Heck eines Fischerboots, seine vor Spannung klammen Finger auf der großen Rolle einer Angelrute, durch deren Führungsösen ein eben gehaktes Prachtexemplar von einem Fisch Hunderte von Metern - 180 -
starker Leine auf das tanzende Meer hinauszog. Und als sein Gehirn wieder auf die Gegenwart umschaltete, blickte er nach oben und sah Bagshott, der ihn mit einem merkwürdigen Ausdruck musterte. »Wenn Sie wirklich einmal so richtig das Gefühl haben wollen zu leben«, sagte er, »dann fahren Sie mal raus und angeln Schwertfische.« »Ich hatte durchaus schon das Gefühl, so richtig zu leben«, versicherte Bony. »Tatsächlich! Wo denn?« »Vor Bermagui. Schon mal dort gewesen?« »Na und ob, verdammt noch mal!« Bagshott schrie geradezu, seine Augen von merkwürdigen Feuern erleuchtet. »Kommen Sie mal mit.« Bony sah sich praktisch vom Stuhl gerissen und aus dem Raum in einen anderen geschleppt, wo sie, auf eine Plakette montiert, der Kopf eines Speerfisches erwartete. Bony stand in der Mitte des Raumes und blickte zu der meergrün und blau schimmernden Trophäe des größten Kämpfers der sieben Meere hinauf. Bagshott sprach über die Sportfischerei, aber was er sagte, kam Bony gar nicht so recht zu Bewußtsein, denn sein Verstand glich einer von Kopf und Schwert dieses Fisches und dem mächtigen Haken, den er nach wie vor in Händen hielt, entzündeten Fackel. Er konnte das Meer geradezu riechen. Er spürte die Anspannung jedes einzelnen Nervs, mit der man auf den richtigen Augenblick zum Eingreifen wartet. Eine Million Bilder liefen vor seinem inneren Auge ab, als er noch einmal die großartigsten Augenblicke seines Lebens durchlebte. Dann überhäuften er und Bagshott einander, ohne auf die Antworten des anderen zu warten, mit Fragen. Mrs. Bagshott kam herein, und ihr Gatte ließ Bony noch nicht einmal die Zeit, sich nach den Regeln der Konventionen mit ihr bekannt zu machen. Sie hatte ihren Mann auf seinen Angelausflügen begleitet und kannte die Materie nicht weniger gut als ihr Gatte und dieser Fremde in ihrem Haus. Fünf Minuten lang redeten sie alle zur gleichen Zeit; Bony bekam Fotografien von Fischen und Meeresszenerien zu sehen, Ausblicke - 181 -
auf Küsten, die er auf der Stelle erkannte und in seinem Gedächtnis Erinnerungen an selbst erlebte Begebenheiten wachriefen. Dann schob ihn der ungestüme Bagshott wieder zurück in sein Arbeitszimmer, wo Mrs. Bagshott auf dem Schreibtisch ein Tablett mit Tee und Gebäck bereitgestellt hatte. Als seine Gastgeberin wacker herauszubekommen versuchte, ob er nun Zucker oder Milch oder keines von beiden nahm, während der Herr des Hauses ihn mit Fragen über das Sportfischen bombardierte, wußte er langsam, aber sicher nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. Und dennoch genoß er jeden Augenblick, und Mrs. Bagshott machte nicht im geringsten den Eindruck, als befürchte sie, im Garten verscharrt zu werden, obwohl es natürlich schon an ein Wunder grenzt, welche Berge sich so durch Glauben – und/oder Arsen – versetzen lassen. Er ließ die beiden schließlich, an der Einfahrt zu ihrer Garage stehend, zurück, und machte sich auf den Weg zum Chalet, seine Gedanken etwas chaotisch angesichts einer so kunterbunten Mischung von netz- und konsolenförmigen Fruchtkörpern, Schwertfischen, Schlangenhäuten, Baumrinden und den Abdrücken eines Paars übergroßer Schuhe. Er befand sich etwa auf halbem Wege zum Gästehaus, als er Mason begegnete. Mason kam eben im Auto aus der Stadt zurück. Ohne auszusteigen, erzählte ihm der Unterinspektor, er habe Marcus’ Büste dabei, und Bony wäre am liebsten hergegangen und hätte sie in tausend Stücke getreten. Mason hatte noch weitere Informationen, und Bony erklärte sich einverstanden, später am Abend noch einmal in der Polizeiwache vorbeizuschauen. Bony erzählte, daß er eben Bagshott besucht hatte, und Mason fragte ihn, ob er eine Verhaftung des Burschen in Betracht ziehe. »Verhaftung!« wiederholte Bony. »Von wegen Verhaftung! Ich gehe mit ihm und seiner Frau auf Schwertfische.« Mit diesen Worten ließ er Mason stehen, der ihm, Verständnislosigkeit und Verwirrung ins Gesicht geschrieben, durchs Fenster der Fahrertür hinterherblickte.
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19 Bony gibt sich die Ehre Etwa gegen vier Uhr begann das Barometer in der Halle des Chalet Weitblick zu fallen, und als Bony von seinem Besuch bei den Bagshotts zurückkam, war der Himmel mit weißen, Wind und Regen verheißenden Wolkenbändern geschmückt. Er fand Sleeman und den Maler im Salon und sah sich zu einem Drink eingeladen, den er nur unter der Bedingung akzeptierte, daß es bei dieser einen Runde blieb; er wußte ja, daß er noch Arbeit auf der Polizeiwache zu erledigen hatte, bevor er sich an diesem Abend zu Bett begab. Zu seiner Überraschung brachte Alice, das Dienstmädchen, die Getränke, und, nach Georges Abwesenheit befragt, erklärte sie, George hätte einen Anruf aus der Stadt erhalten. Er hätte sich für den Rest des Tages frei genommen und käme frühestens am folgenden Morgen mit dem ersten Bus aus Manton zurück. Als sie Sleeman das Tablett entgegenhielt, legte der ihr die Spitze eines Fingers auf den Handrücken und sagte: »Sorgen Sie dafür, daß heute abend die Spülküchentür geschlossen bleibt, Alice. Wir wollen nicht noch einen Nervenschock wie den, den Sie uns neulich Abend versetzt haben. So ein Zirkus wegen einer Ratte.« Das Mädchen errötete. »Ich kann Ratten einfach nicht haben«, sagte sie. »Von Ratten krieg’ ich eine richtige Gänsehaut. Schlangen machen mir nichts. Davon hab’ ich zu Hause auf der Farm von meinem Vater schon mehr umgebracht, aber Ratten find’ ich abscheulich, Sir. Dankeschön, Sir.« Nachdem sie, von Sleeman unterzeichnet, den Quittungsblock zurückerhalten hatte, tänzelte sie zur Servicetür hinaus, und Raymond Leslie machte sich daran, eine Geschichte zu erzählen, die Bonaparte - 183 -
nicht besonders interessierte. Er war froh, wieder wegzukommen, nachdem er sich bei der Pointe der Geschichte ein Lächeln abgetrotzt hatte. Beim Abendessen stellte er fest, daß Downes fehlte, und erfuhr auf eine diesbezügliche Bemerkung hin, daß dieser am Nachmittag Besucher gehabt hatte und mit ihnen weggefahren war. Außerdem informierte man Bony, daß das Ehepaar Watkins abgereist war. Als er daraufhin Miss Jade ganz allein an einem Tisch Platz nehmen sah, stand er auf, überquerte den schier trostlos anmutenden Speisesaal und verbeugte sich vor ihr. »Madam, ich möchte Sie um Ihre Gunst bitten«, sagte er leise. Miss Jade hob den Kopf und kam, mit einem Blick in seine strahlenden Augen, zu dem Schluß, daß er das weder zynisch noch ironisch meinte. Mit der Linken machte er eine Bewegung in Richtung des Tisches, an dem die drei anderen Herren saßen. »Ob Sie vielleicht das Abendessen mit uns einnehmen möchten, Miss Jade?« sagte er. »Wir würden es als große Ehre betrachten, und ich bin sicher, wir würden uns zumindest bemühen, ein interessantes Gespräch zu führen.« Miss Jade stand auf. »Das ist äußerst liebenswürdig von Ihnen, Mr. Bonaparte«, sagte sie in dem für Gäste reservierten Tonfall. »Ich wäre entzückt. Morgen werden uns die Gäste geradezu überschwemmen, und das Haus wird einen nicht mehr so verlassen anmuten.« »Eine schlechte Nachricht«, sagte Bony ernst. »Ein Haus voller Gäste wird Sie von uns, die wir uns heute so glücklich schätzen dürfen, ablenken.« Sie gingen hinüber an den einzigen besetzten Gästetisch, und Bony sagte mit großer Geste: »Meine Herren, Miss Jade macht uns die große Ehre, einem Abendessen mit uns zuzustimmen. Ich habe ihr versprochen, wir würden sie intelligent unterhalten.« »Wir werden in dieser Hinsicht unser Bestes tun«, rief Lee, der Schafzüchter mit dröhnender Stimme, und rückte Miss Jade einen Stuhl zurecht. - 184 -
Dieses Abendessen mit Miss Jade als Mitglied ihrer Tischrunde war das dritte Ereignis dieses Tages, an das Bony noch viele Jahre zurückdenken sollte. Miss Jades Gegenwart wirkte sich ausgesprochen anregend auf sie aus, und sie wiederum wirkten anregend auf Miss Jade. Sie war lebhaft und bildete einen ausgezeichneten Kontrast zu Leslie, dem Maler, und Bonaparte. Einige Minuten nach halb neun betrat Bony die Polizeiwache des Bezirks Mount Chalmers und fand zu seinem Erstaunen bei Mason Superintendent Bolt. Als er ins Büro trat, schlüpfte Mason hinaus, um die Vordertür zu schließen. Bolt, als er Bony im Smoking sah, sagte: »Kein Zweifel, manche Burschen haben doch wirklich ein Mordsglück im Leben. Den ganzen Tag auf der faulen Haut liegen und auf Kosten des Steuerzahlers essen und picheln, während gewöhnliche Sterbliche wie ich oder Mason hier sich ihre Brötchen sauer verdienen müssen.« »Ist schon eine Affenschande, Super«, lamentierte Bony. »Aber sagen Sie mir doch den Grund dafür, daß Sie hier heute abend auf Kosten des Steuerzahlers in einem so protzigen Wagen aufkreuzen.« »Ich bin nur vorbeigekommen, um mit Ihnen zu reden, Bony«, polterte der Hüne. »Ein gewisser Freund von Ihnen hat mich angerufen und angefragt, ob ich nicht mal bei Ihnen vorbeischauen könnte – nachsehen, ob Sie noch alle Tassen im Schrank haben. Er scheint zu glauben, Sie hätten den Verstand verloren.« »Tatsächlich!« Bolt nickte und schob einen übergroßen Umschlag über den Tisch. »Von Oberst Blythe«, erklärte er. »Der Oberst meinte, es sei auch was von Ihrem Chef an ihn selbst dabei und daß ich dafür sorgen soll, daß Sie’s auch lesen. Er scheint der Meinung zu sein, zuviel Luxus bekomme Ihrem Verstand nicht, und rät Ihnen, dem Wink Ihres Präsidenten zu folgen und nach Hause zu fahren.« Bony hob den Blick von seiner Aufgabe, der Herstellung einer Zigarette. Nicht die Spur eines Lächelns begegnete dem des Superintendent. Er sagte, und das langsam: - 185 -
»Es kommt vor, daß mein Präsident und einige andere, die ich hier nicht nennen möchte, bei mir einen ungeheuren Überdruß bewirken. Der größte Fehler meines Präsidenten ist, mir einen Fall zuzuteilen und dann auf der Stelle Ergebnisse zu erwarten. Kaum hatte er mich an Oberst Blythe ausgeliehen, verlangte er auch schon wieder nach meiner Rückkehr. Ich wage gar nicht daran zu denken, wo ich beruflich abgeblieben wäre, wenn ich je auch nur ein einziges Mal auf ihn gehört hätte. Nun denn, lassen Sie uns an die Arbeit gehen – erst die Arbeit, dann das Spiel. Haben Sie über neue Entwicklungen zu berichten?« Superintendent Bolt schüttelte seufzend den Kopf. »Marcus ist uns durch die Maschen geschlüpft«, gestand er. »Und von Grummans Gepäck ist auch nichts aufgetaucht, nicht ein einziges Stück. Langsam, aber sicher mache ich mir Sorgen über so viele Nieten, und unser Präsident hier, der ist dem Ihren nicht unähnlich, wenn es um Resultate geht. Und was wissen Sie?« »Daß man ein Spiel mit Geduld gewinnt«, antwortete Bony. »Haben Sie etwas unternommen, um die Leute noch mal zu überprüfen, die ich Mason genannt habe?« »Ja.« Bolt holte ein Notizbuch aus der Tasche und entnahm diesem einige Blatt Durchschlagpapier. »Mit der Frau, Eleanor Jade, ist alles in Ordnung, was Ihre Vergangenheit anbelangt. Sie hat klein angefangen und sich hochgearbeitet. Gegen sie liegt nicht das geringste vor, und als sie um eine Schanklizenz eingab, befürwortete die Polizei den Antrag. Alles an ihr ist klar und gradlinig. Was man vom Getränkekellner, George Banks, nicht sagen kann. Er hat uns gesagt, er stehe schon seit über drei Monaten in Miss Jades Diensten und daß er zwischen dieser Anstellung und seiner Entlassung aus der Luftwaffe in diversen Hotels gearbeitet hätte. Nun, er hat während der in seinen Referenzen angegebenen Zeiten in diversen Hotels gearbeitet, aber als wir ihn den Ausstellern dieser Referenzen beschrieben, hat ihn keiner wiedererkannt. Banks ist schwarzhaarig, blaß und von mittlerer Größe, die Aussteller der Refe- 186 -
renzen jedoch erinnerten sich – übereinstimmend –, daß der George Banks, der bei ihnen in Stellung war, über einsachtzig groß, schlank, blond und grauäugig gewesen ist. Wir gehen davon aus, daß George Banks nicht der richtige Name des Kellners ist und daß die Referenzen geklaut oder geborgt sind. Den echten George Banks konnten wir bisher noch nicht auf treiben. Ich habe mir den Kellner bisher nicht vorgeknöpft, weil ich mich an unsere Abmachung unsere jeweiligen Arbeitsbereiche betreffend gehalten habe.« »Wofür ich Ihnen auch danke, Super. Was ist mit den anderen Gästen?« »Nun, Ihr Freund der Maler, Raymond Leslie, ist ziemlich sauber«, fuhr Bolt fort. »Er ist sehr bekannt in seiner Branche, und auch die wiederholte Überprüfung konnte seine Aussage nicht durchlöchern. Ihr anderer Freund, Wilfred Downes, ist ja in der Nacht von Grummans Ermordung nicht in Weitblick gewesen. Ich habe einen Mann losgeschickt, sich bei Miss Jade nach ihm zu erkundigen, während sie alle beim Mittagessen saßen. Miss Jade erklärte, Downes sei ihres Wissens nach nichts weiter als ein wohlhabender Herr. Er sei bereits 1937 in ihrem Gästehaus in St. Kilda gewesen, für etwa sechs Wochen. Er habe sie am Abend des Tages, an dem man Grumman gefunden hatte, angerufen und behauptet, eben erst von ihrem neuen Unternehmen hier oben erfahren zu haben und gefragt, ob sie ihn nicht vielleicht unterbringen könne. Das ist alles, was wir bisher über ihn wissen. Mit der Überprüfung von Lee und den Watkins sind wir noch nicht durch.« Die Unterlippe zwischen Daumen und Zeigefinger nehmend, sah Bony den Hünen ruhigen Blicks an. »Ich danke Ihnen, Super«, sagte er. »Nun, Mason, was haben Sie bei der Parkverwaltung erfahren?« »In der Hauptsache nur die Bestätigung Ihrer eigenen Theorie«, antwortete der Unterinspektor. »Die Grassorten sind für die Gegend hier ausgesprochen geeignet. Die beiden Sachverständigen, mit denen ich gesprochen habe, sind sich darin einig, daß die Spuren durch - 187 -
übermäßiges Gewicht entstanden sind, und zwar als das Gras aufgrund des Frosts steif und spröde war. Dieses übermäßige Gewicht hat Halme wie obere Wurzeln schwer in Mitleidenschaft gezogen; die Sonne während des folgenden plötzlichen Tauwetters hat das angeknickte Gras dann verbrannt; es konnte dem Frost einfach nicht so standhalten wie das unversehrte Gras.« »Was hat es mit dieser Teufelsfährte denn nun auf sich?« mischte sich Bolt ein. »Mason hat mir erzählt, was Sie ihm gesagt haben, aber worum geht es dabei?« »Tja, sehen Sie, das Ganze läuft auf folgendes hinaus«, begann Bony seine Erklärung. »Grumman wurde in jener Nacht vergiftet, seine Leiche aus seinem Zimmer über den Rasen zum Gartentor am unteren Ende des Grundstücks getragen, dann hinaus auf die Straße und in den Graben, in dem man sie gefunden hat. Grumman wog etwas über siebzig Kilo. Gehen wir davon aus, daß das Gewicht des Mannes, der die Leiche in den Graben transportiert hat, sechzig Kilo betrug, dann ergibt das zusammengenommen ein Gewicht von mehr als hundertdreißig Kilo, also über zweieinhalb Zentner, und das auf die Fläche der Sohle eines Herrenschuhs konzentriert. Als Grummans Mörder mit der Leiche den Rasen hinunterging, hinterließ er Fußabdrücke so deutlich, als wäre er auf Sand gelaufen, sie haben sich ins Gras eingebrannt, als wären die Schuhe glühend heiß gewesen.« »Ah!« schnaufte Bolt. »Und Sie sind ja ein Meister im Fährtenlesen, nicht wahr?« »Ich habe einige Übung darin, das kann man wohl sagen«, gab Bony bescheiden zu. »Dann kennen Sie wohl auch die Schuhgröße, was?« »O ja! Größe fünfundvierzig.« »Größe fünfundvierzig! Dieselben Stiefel oder Schuhe, die Sie in der Nacht, in der man Grumman abgemurkst hat, auf der Auffahrt gesehen haben.« »Ich kenne den Mann, von dessen Schuhen diese Abdrücke höchstwahrscheinlich stammen.« - 188 -
»Ach nein!« rief Bolt aus. »Sie kennen den Mann, der diese Fußabdrücke gemacht hat?« »Verzeihung, aber das habe ich nicht gesagt. Ich sagte, ich kenne den Mann, von dessen Schuhen diese Abdrücke höchstwahrscheinlich stammen.« Zwei Augenpaare bohrten sich in Bonys Augen. Bony verstummte. »Nun, machen Sie schon, Mann!« drängte der Superintendent. »Wer ist es?« »Es wäre unfair von mir, den Namen des Mannes anzugeben, von dessen Schuhen die Abdrücke auf Miss Jades Rasen höchstwahrscheinlich stammen«, sagte ihm Bony entschieden. »Wenn ich den Namen des Mannes kenne, dessen Füße sich in den Schuhen des Mannes befanden, dem sie höchstwahrscheinlich gehören, dann werde ich Ihnen vorschlagen, seine Festnahme zu veranlassen.« »Dann sind Sie also der Ansicht, daß man die Schuhe, von denen die Abdrücke stammen, gestohlen und bei dieser Gelegenheit benutzt hat?« erkundigte sich Bolt. »So könnte es jedenfalls gewesen sein. Noch bin ich mir über nichts sicher. Morgen, Mason, wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie den Bagshotts einen Besuch abstatten und ihnen sagen würden, in Ihrem Bezirk hätte ein Mann, der behauptete, Kleidung und Schuhe für die Kriegsopfer in Europa zu sammeln, operiert. Daß der Mann jedoch einschlägig bekannt sei und die Polizei nun gern wüßte, ob er auch bei den Bagshotts gewesen sei und ob sie ihm wohl alte Kleidungsstücke oder Schuhe überlassen hätten. Würden Sie das tun?« »Aber gewiß.« »Wieso die Bagshotts hereinlegen?« wollte Bolt wissen. »Weil die Abdrücke auf Miss Jades Rasen von Schuhen oder Stiefeln der Größe fünfundvierzig stammen und Bagshott Schuhe dieser Größe trägt.« »O – ho!« schnaufte der Superintendent. »Ich behaupte nun, daß, nur weil die Schuhe eines Mannes gewisse Abdrücke hinterlassen haben, daraus nicht notwendigerweise folgt, - 189 -
daß sich auch die Füße dieses Mannes in den Schuhen befanden, als sie diese Abdrücke hinterlassen haben.« »Und Sie haben offensichtlich Grund zu der Annahme, daß Bagshotts Füße nicht in den Schuhen waren, als seine Schuhe die Abdrükke auf Miss Jades Rasen hinterließen.« »Damit, Super, bringen Sie die Situation auf den Punkt. Nun, dann schenken Sie mir noch einige Minuten mit der Büste unseres lieben Freundes Marcus.« Mason machte sich daran, einen ganz gewöhnlichen Butterkarton auszupacken. »Professor Phisgig betont nachdrücklich, daß es sich bei dem Ergebnis nur um eine grobe Annäherung handelt«, erklärte Bolt. »Das Gesicht ist den Fotos bemerkenswert ähnlich; nur die Kopfform, so betont der Professor, ist nicht akkurat.« Mason stellte die Büste auf den Tisch. Sie entsprach der normalen Größe eines Männerkopfes. Es hätte sich gut und gern um die Kopie einer antiken griechischen Skulptur handeln können. Die Züge jedenfalls waren von klassischer Symmetrie. Bony betrachtete den Kopf eine ganze Minute. Fast ebenso lang besah er ihn sich im Profil, um dann drei Minuten auf den Hinterkopf zu starren. Schließlich stellte er ihn auf den Boden und besah ihn sich, wiederum von hinten, aus der Vogelperspektive. Bolt rauchte ungerührt vor sich hin. Mason tat gar nichts; er starrte nur schweigend auf den Kopf. »Wäre Lombroso heute noch am Leben und könnte diesen Kopf studieren, und würde man ihn dann bitten, den Charakter des Originals zu umreißen, er würde sagen, Marcus sei der brave Sproß einer Familie des oberen Mittelstandes«, bemerkte Bony. »Statt dessen ist er der mißratene Sproß einer Aristokratenfamilie«, warf Bolt ein. »Unser italienischer Kriminologe lag ja wohl ohnedies ein wenig daneben – oder wenigstens hin und wieder.« »Ich stimme mit ihm jedoch insofern überein, als er behauptet, daß das Genie eine Form von Degeneration ist«, argumentierte Bony. - 190 -
»Weiter als bis hierhin freilich folge ich ihm nicht. Jede Regel hat allerdings ihre Ausnahmen, und die Regel lautet, daß das Böse einem Menschen ins Gesicht geschrieben steht. Marcus ist da eine Ausnahme. Ach, übrigens, erinnere ich mich da richtig, in Ihren Akten gelesen zu haben, man wisse mit Sicherheit, daß Marcus sich 1937 in Viktoria aufgehalten hat?« »Ja. Er hat dort im Juni jenes Jahres einen gewissen Langdon umgebracht.« »Und er wurde nicht gefaßt?« Bolt schüttelte den Kopf. Bony erhob sich wieder. »Ich werde mich dann mal auf den Weg machen«, sagte er. »Ich danke Ihnen, meine Herren und Mitstreiter, für Ihre Zusammenarbeit. Ich habe da so eine Ahnung, daß Marcus gar nicht so weit weg ist, wie Tatsachen und Annahmen uns glauben lassen.«
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20 Schatten am Himmel Es war Viertel vor zehn, als Bony wieder in den Salon des Chalet Weitblick trat und dort Sleeman, Downes und Lee vorfand. Sleeman schlief, Lee las, und Downes saß an einem der Tische und schrieb Briefe. Der Letztgenannte sagte: »Meinen Sie, es braut sich ein Wetter zusammen?« »Sieht ganz so aus«, antwortete Bony. »Der Wind kommt von Norden, und die einzigen Sterne stehen im Osten. Jedenfalls kriegen wir morgen nicht wieder diese Nebelwolke über dem Tal. Aber sie war schon einen Blick wert, finden Sie nicht?« »Ja, sehr schön. Möchten Sie einen Drink?« Sleeman wachte lange genug auf, um etwas zu murmeln, und Downes betrachtete ihn etwas geringschätzig. Bony schüttelte den Kopf, lächelte, nahm sich eine Zeitschrift und richtete sich in einem der Sessel ein. Downes machte sich wieder ans Schreiben. Miss Jade erschien nicht, und Bony fragte sich, wo sie wohl sein mochte, da das Büro im Dunkeln gelegen hatte, als er durch die Empfangshalle gekommen war. Es dauerte nicht lange, dann stand Lee auf und setzte sich neben ihn. Der große Mann bewegte sich mit einem Minimum an Mühe. »Wie sieht’s denn bei Ihnen daheim mit Regen aus?« fragte er, die Unterhaltung eröffnend. Mr. Bonaparte, der hier als Schafzüchter mit einer Farm in WestQueensland galt, konnte, da er – nur für den Fall der Fälle – die Wetterberichte der letzten sechs Monate studiert hatte, diese Frage beantworten. - 192 -
»Ende Juli hatten wir ordentlich Regen, und dann in der dritten Augustwoche«, sagte er. »Ich kann mir vorstellen, daß Sie bei Ihnen zu Hause gern mehr Regen hätten.« Sie diskutierten Probleme der Weidewirtschaft, bis Downes seine Briefe einsteckte und sich zu ihnen gesellte. »Wie war’s mit was zu trinken, bevor Sleeman aufwacht?« schlug er vor. »Mir ist nach einem Schlummertrunk.« »Ich bin dabei«, stimmte Lee ihm zu. »Ich ebenfalls, bestehe aber darauf, daß das hier auf meine Kappe geht und daß es – wie bei Ihnen – bei einem bleibt«, fügte Bony hinzu. Lee erhob Einspruch. Downes betrachtete ihn mit seinem ruhigen Blick, ein kaltes Lächeln auf dem Gesicht. »Wenn Sie sich wirklich in eine Orgie stürzen wollen«, murmelte er, »so schlage ich vor, Sie wecken, nachdem Bonaparte hier und ich unseren Schlummertrunk hatten, Sleeman auf. Dennoch, da Bonaparte darauf besteht, die Runde zu übernehmen, der Vorschlag jedoch von mir stammt, machen wir doch zwei daraus, und ich übernehme die zweite.« »Dann machen Sie doch um des Friedens willen drei daraus«, flehte Lee. »Mein lieber Freund, ich bin schon so großzügig gewesen, das Limit auf zwei heraufzusetzen«, entgegnete Downes in einem Ton, der Lee keine Möglichkeit zum Widerspruch ließ. Downes ging hinüber zum Klingelknopf, um den Getränkekellner zu rufen, und Alice betrat den Salon mit ihrem Tablett. »Wie ist denn dieser Ort nun wirklich – Sie wissen schon, von dem Sie uns gestern abend erzählt haben, wo Sleeman mit Bagshott, dem Schriftsteller, auf allen Vieren herumkrabbeln wollte?« fragte Downes Bony. »Wanaaring!« Bony lächelte übers ganze Gesicht. »Tja, wie die meisten Städte draußen im Busch hat auch Wanaaring nach den Tagen des Wohlstands in der guten alten Zeit einen traurigen Niedergang - 193 -
hinter sich. Warum Bagshott ausgerechnet auf Wanaaring kommt, weiß ich freilich nicht. In Wanaaring treffen viele Straßen aufeinander, es ist ein Zentrum für die umliegende Viehwirtschaft. Und natürlich haben Viehzüchter wie Knechte einen ordentlichen Durst zu stillen, wenn sie in die Stadt kommen.« »Wie würde er hinkommen, falls er ginge?« hakte Downes nach. »Mit dem Auto nach Mildura, dann den Darling River hinauf nach Wilcannia, und von Wilcannia nach Nordwesten über Momba und ein paar andere Farmen, deren Namen mir im Augenblick nicht einfallen.« »Hmmm!« machte Downes. »Wissen Sie, langsam, aber sicher gewinnt diese Spritztour eine gewisse Attraktivität. Ich bin noch nie im richtigen Busch gewesen. Ich hätte wirklich Lust, mir einen Wagen zu kaufen und ihn mir mal anzusehen. Bagshott beschreibt ihn ja ziemlich genau.« Das Thema beschäftigte sie, bis Sleeman aufwachte, weil Downes und Bony sich, in der Absicht, sich auf ihre Zimmer zurückzuziehen, erhoben. Sie ließen Lee und Sleeman allein, und Sleeman drückte auch schon den Klingelknopf nach Alice. Vor ihren Zimmern wünschten sie einander eine gute Nacht, Downes bewohnte ein Zimmer ein Stück weiter den Korridor hinauf. Es war fünf vor elf. Um Viertel nach elf schaltete Bony das Licht aus und setzte sich in seinen Sessel. Er wartete eine Viertelstunde, dann schob er lautlos das Fenster nach oben und kletterte über das Fensterbrett in die dunkle Nacht hinaus. Er hatte seine Abendkleidung abgelegt; statt des weißen Hemds mit Kragen trug er einen blauen Wollschal, statt der feinen Schuhe schwarze Leinentennisschuhe. Er hatte keinen ausdrücklichen Grund dafür, das Haus schon so früh und überdies durchs Schlafzimmerfenster zu verlassen, obwohl er sich für viel später durchaus einiges vorgenommen hatte. Biskers grober Grundriß des Hauses und seiner Nebengebäude war äußerst gewissenhaft ausgeführt, und Bony hatte ihn in allen Einzelheiten auswendig gelernt. Mit den Gästezimmern und den öffentli- 194 -
chen Räumen war er natürlich bereits vertraut; über die Schlafquartiere des Personals, die Lagerräume und die Funktionen der diversen Nebengebäude wußte er kaum weniger gut Bescheid. Nachdem er sein Schlafzimmerfenster hinter sich gelassen hatte, sah er sich in einem Winkel des Haupthauses, der durch die Schlafquartiere des Personals, das Weinlager, die Vorratskammer und, im Scheitelpunkt des Winkels, die Wäschekammer entstand, die sich allesamt linker Hand ans Haus schmiegten. In keinem der Gästezimmer auf dieser, der oberen Seite des Hauses brannte noch Licht, nur im Zimmer der Köchin, das am hinteren Ende der Personalquartiere lag. Da über dem Berg tiefe Wolken standen, war es dunkel und er somit unsichtbar. Er schlich um die Ecke der Personalquartiere und kam so zu Biskers Holzstoß, der wohl um die hundert Tonnen enthalten mußte. Sich hinter diesem vorbeidrückend, überquerte er die Straße zum Tor, durch das Konstabler Rice von der Polizeiwache gekommen war. Auf der anderen Seite der Straße kam er hinter die Garagenzeile und gelangte schließlich hinter Biskers Hütte. Von drinnen drang kein Licht nach außen. Leise öffnete er die Tür, und Biskers Anwesenheit verriet sich sofort durch sein lautes Schnarchen. Nicht weniger leise schloß er die Tür. Da die Jalousie vorgezogen war, herrschte im Innern der Hütte eine um einige Grade tiefere Dunkelheit als in der dunklen Nacht draußen; trotzdem gelangte er problemlos ans Bett, fand die Holzkiste, mit dem Wecker, den beiden Pfeifen, dem Tabak, einem Messer, Streichhölzern, Korkenzieher und Sturmlaterne. Er streckte die Hand aus, griff nach Biskers Schulter unter den Decken und tätschelte sie sachte, aber unnachgiebig, bis der Mann aufwachte. »Ich bin’s, Bonaparte! Sprechen Sie leise«, flüsterte er, und Bisker, schon die Frage auf den Lippen, wer das denn sei, gehorchte. »Was gibt’s? Ist was passiert?« fragte er.
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»Nein, alles in Ordnung. Ich möchte mich nur ein Weilchen mit Ihnen unterhalten. Ich werde Sie nicht lange aufhalten. Wann ist George weg?« »Mit dem Bus um halb vier. Er hat versprochen, morgen früh wieder da zu sein.« »Hat er Ihnen gesagt, warum er wegwollte?« »Ja«, antwortete Bisker. »Er hat gesagt, er will sich mit ’nem Kumpel von ’nem Schiff treffen, das wo bloß drei Tage im Hafen liegt.« »Haben Sie ihn wegfahren sehen?« »Ja.« »Was hatte er an?« »Seinen Sonntagsstaat. Trilby, marineblauer Doppelreiher und so weiter.« »Sind Sie ihm irgendwann mal nahe gekommen?« »So nah wie jetzt Ihnen, warum?« »Hat seine Kleidung nach Mottenkugeln gerochen?« »Jedenfalls nicht so, daß ich’s gemerkt hätte«, antwortete Bisker. »Na schön! Lassen wir das mal. Sind Sie je im Weinlager gewesen?« »Ja, schon oft, Schnapskisten reintragen, manchmal auch, um leere Flaschen rauszuräumen.« Weitere Fragen klärten Bony darüber auf, daß das Weinlager, mit knapp sieben mal vier Metern, ziemlich geräumig war. Es hatte zunächst als Bar gedient, aber die Praxis, die Gäste dort trinken zu lassen, war vor zwölf Monaten aufgegeben worden. Man sorgte dafür, daß der Vorrat an Wein, Spirituosen und Bier auf keinen Fall zu knapp wurde. Die Tür sei mit einem Sicherheitsschloß versehen, und auf der Innenseite des Fensters befänden sich dicke Eisenstäbe. »George hat einen Schlüssel, nehme ich an?« fragte Bony. »Hat er.« »Ob er den Schlüssel wohl Miss Jade oder der Sekretärin gegeben hat, bevor er wegfuhr, was meinen Sie?« »Könnt’ ich nicht sagen. Ich nehm’s an – nur für den Fall, daß er nicht mehr wiederkommt.« - 196 -
»Aber er würde doch sicher schon seiner Sachen wegen wiederkommen, oder?« »Natürlich. Hab’ ich nicht dran gedacht.« »Haben Sie irgendeinen Grund zu der Annahme, daß er nicht mehr wiederkommt?« »Nein. Ich hab’ das nur ganz allgemein gemeint.« »Na schön! Jetzt noch eine letzte Frage. Was für ein Schloß befindet sich an der Tür von Georges Schlafzimmer?« »Ein ganz ordinäres. Sein Zimmer ist das gleich neben dem Weinlager.« »Neben seinem Zimmer gibt es einen unbewohnten Raum voller Gerümpel, dann zwei Dienstmädchenzimmer und schließlich das der Köchin. Ist das richtig so?« »Stimmt genau, Mr. Bonaparte.« Bisker hätte zu gern einige Fragen gestellt, dachte jedoch an Bonys Ermahnung und schwieg. Als Bony nichts mehr sagte, stellte er ihm, nach einem Schweigen von gut drei Minuten, dann doch eine Frage: »Kann ich helfen oder was?« »Wenn Sie wollen, ich denke, ich könnte Sie brauchen.« »Ich kann mich im Dunkeln anziehen.« »Gut! Aber vorher noch eine Frage: Haben Sie Mr. Downes zurückkommen sehen?« »Ja, und wegfahren auch.« »Ist er mit denselben Leuten zurückgekommen, mit denen er weggefahren ist?« »Mit demselben Mann. Es war nur einer, der, der auch den Wagen gefahren hat. Er kam so um halb drei, und wiedergekommen sind sie kurz vor neun. Das Auto war ein Studebaker. Der Typ, der ihn gefahren hat, das war so ’n Kleiner. Er hat mich reingeschickt, um Mr. Downes zu sagen, daß Mr. Jackson da ist.« »Und dieser Mr. Jackson hat das Haus überhaupt nicht betreten?« »Nein. Er ist am Auto stehengeblieben.« »Gut. Jetzt zu Mr. Leslie. Haben Sie ihn gesehen, als er heute nach dem Abendessen weggegangen ist?« - 197 -
»Ja. Er ging kurz nach acht. Er ging die Auffahrt zur Hauptstraße hinunter. Ich hab’ ihn aber nicht wiederkommen sehen.« »Was ist mit Miss Jade?« »Die ist früh ins Bett. Ich war so um neun in der Küche und hab’ noch ’ne Tasse Kaffee getrunken, als der alte Drachen reingekommen ist und Alice gesagt hat, daß sie Kopfweh hat und ins Bett geht und Alice pünktlich um elf das Weinlager zusperren und ins Bett gehen soll.« »Hmmm! Na gut, ich denke, wir haben alles unter Kontrolle, Bisker. Stehen Sie auf, und ziehen Sie sich an, und sagen Sie nichts. Ich werde Sie auf Wachposten an den Holzstoß stellen, damit Sie die Spülküchentür im Auge behalten. Und ich will kein Wort mehr hören, nachdem wir hier draußen sind.« »Alles klar! Dauert nur ’n paar Minuten, bis ich meine Klamotten anhab’.« »Was ist mit Ihren Stiefeln? Haben Sie welche mit Gummisohlen?« »Nein, aber ich hab’n Paar Gummistiefel, und ich kenn’ sämtliche weichen Stellen, auf die man treten kann.« »Ausgezeichnet. Dann ziehen Sie sich an, und zwar warm.« Einige Augenblicke später verkündete Bisker, daß er fertig sei, und zusammen verließen sie die Hütte, Bony vornweg in Führung hinter den Garagen entlang bis zum Holzstoß. Es war zwanzig Minuten vor Mitternacht. Vom anderen Ende des Holzstoßes aus, wo Bony stehenblieb, konnte man die Spülküchentür, die Straße zum oberen Tor und den Haupteingang im Auge behalten, letzterer nun verschlossen und unbeleuchtet. »Ich möchte, daß Sie hier stehenbleiben und sich nicht von der Stelle rühren, ganz gleich, was passiert«, flüsterte Bony. »Ich komme später wieder hierher.« Mit einem leisen Grunzen gab Bisker zu verstehen, daß er verstanden hatte, und Bony verschwand in der Dunkelheit. Die Nacht war voller Geräusche, der böige Wind fegte tosend durch die Bäume, die - 198 -
die Zufahrt und die obere Straße säumten. In einiger Entfernung, sowohl unterhalb als auch oberhalb des Chalets, fuhr er mit einer Lautstärke durch die Baumwipfel, daß man hätte meinen können, eine Horde zorniger Riesen käme über die Berghänge auf das Haus zu, um sich dann hinter ihm wieder zu entfernen. Obwohl Bisker einen schweren Überzieher trug, wurde ihm bereits kalt, als er auf der Straße oben leichte Schritte hörte. Die Person kam zum oberen Tor herein, und Bisker, als Mann mit Buscherfahrung, glitt auf den mit Spänen übersäten Boden am Rande des Holzstoßes, um die sich nähernde Person gegen den Himmel sehen zu können, der, wenn auch finster, so doch nicht so schwarz war wie hier unten am Boden. Die Schritte kamen rasch näher, und Bisker erkannte fast auf Anhieb, daß es sich um die einer Frau handelte. Dann sah er sie ziemlich deutlich gegen den Himmel, und noch während sie sich in seinem Blickfeld befand, blieb sie stehen, bückte sich und zog ihre Schuhe aus. Als sie weiterging, bewegte sie sich geräuschlos, und Bisker sah sie auf die Spülküchentür zugehen, dort einen Augenblick stehenbleiben, die Tür öffnen und ins Haus treten; dann hörte er, wie sie die Tür hinter sich absperrte. »Möcht’ bloß wissen, wo sich der alte Drachen um diese nachtschlafene Zeit rumtreibt?« fragte er tonlos den Wind. »Nu laß mich mal überlegen. Sie war in der Nacht draußen, in der sie Grumman den Hahn abgedreht haben, und dann die nächste drauf wieder. Dann hat sie zwei Nächte ausgelassen, und dann ist sie wieder raus und so um dieselbe Zeit wieder nach Haus gekommen. Seitdem war sie nicht mehr weg, bis heute nacht. Würd’ doch zu gern wissen, ob Mr. Bonaparte irgendwie erwartet hat, daß sie grade heute wieder loszieht.« Tonlos begann Bisker in den Wind zu spotten: »›Ich habe Kopfschmerzen und gehe schlafen!‹ Himmel, Arsch und Seidenzwirn! Unser alter Drachen. Um Mitternacht noch rumzusumpfen, wenn’s nicht schon noch später ist.«
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Seine Selbstgespräche halfen ihm die Zeit totzuschlagen und nicht an die zunehmende Kälte zu denken. Ein kräftiger Windstoß brachte einen Regenschauer, der ihm mit eisigen Zähnen ins Gesicht biß, und als der Wind vorüber war und wie ein Riese weiter den Berg hinabstiefelte, bildete er sich, in der vergleichsweisen Stille, die plötzlich herrschte, ein, wieder Schritte von der Straße jenseits der Einfahrt zu hören. Noch bevor er sich sicher sein konnte, kam jedoch, so laut, daß er selbst das Motorengeräusch eines Treckers übertönt hätte, auch schon der nächste Windriese durch die Bäume gebraust. Der Riese stiefelte vorbei, und Bisker spitzte die Ohren. »Muß ich mich wohl getäuscht haben«, schnaufte Bisker in seinen Schnurrbart. »Heiliger Bimbam, doch nicht!« Er sah die Gestalt auf der Zufahrt, eine Gestalt, die aufgrund seiner eigenen liegenden Position am Fuße des Holzstoßes, geradezu turmhoch wirkte. Er sah sie gegen den fast schwarzen Nachthimmel. Ohne das geringste Geräusch zu verursachen, schien sie an ihm vorbeizuschweben, und Bisker erschauerte. Sie schwebte auf den freien Platz vor dem Haupteingang zu und verschwand aus seinem Blickfeld. »Muß wohl Mr. Bonaparte gewesen sein«, sagte er sich. »Heiliger Bimbam, den versuch mal einer zu hören. Schleicht rum wie so ’n vermaledeiter Eingeborner. Ja ja, da amüsieren wir uns ja wieder mal mächtig heute nacht.« Eine halbe Stunde später hätte er beinahe laut aufgeschrien. Er lag auf dem Rücken, um weiter den Himmel als Hintergrund zu haben, als er spürte, wie sich eine Hand um einen seiner Knöchel schloß, und dann sah er, wie einen Vampir, eine Gestalt über sich aufragen. Etwas Schwarzes verstellte ihm den Himmel, und dann sah er zwei kleine stahlfarbene Fünkchen vor sich. Er war heilfroh, als er die Stimme hörte, auch wenn sie ihm wie ein Echo aus seinem eigenen Schnurrbart erschien. »Haben Sie den Mann gesehen, der zum oberen Tor hereingekommen ist?« fragte Bony.
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Bisker spürte Bonys Ohr an seinen Lippen, als er hauchte: »Ja. Sie auch? Wo ist er hin?« »Ins Haus, und zwar durch die Haustür. Mit seinem eigenen Schlüssel, denke ich. Er ist rein und hat wieder zugemacht. Als ich die Tür eben versuchte, war abgeschlossen. Sonst noch jemanden gesehen?« »Ja, Miss Jade. Sie kam vor ’ner guten Stunde zurück. Von der oberen Straße.« »Und Sie konnten den Mann nicht erkennen?« »Nein. Alles, was ich erkennen konnte, war, daß hier so ’ne Art Schatten vorbeigeschwebt ist. Ich dachte, ich hätte Schritte auf der Straße hinter der Einfahrt gehört, war mir aber nicht sicher wegen dem Wind.« »Woher wollen Sie wissen, daß die Frau, die gekommen ist, Miss Jade war?« Die Frage löste bei Bisker nur Schweigen aus, und Bony sagte: »Dann wissen Sie also nicht, ob das wirklich Miss Jade war, eh?« »Aber wir wissen doch, daß Miss Jade schon spätnachts draußen gewesen ist, oder nicht?« konterte Bisker, um sich zu verteidigen. »Sehr gut! Lassen wir es mal dabei. Es war eine Frau, aber wer, das wissen wir nicht. Würden Sie noch ein Weilchen hierbleiben?« »Und ob! Solange Sie wollen.« »Gut! Dann bleiben Sie hier, bis ich wieder da bin. Kann sein, daß das einige Zeit dauert. Ich gehe durch die Spülküchentür ins Haus.« Die schattenhafte Gestalt, die eben noch direkt über ihm gekauert hatte, huschte davon, und Bisker konnte weder sehen noch hören, wie Bony verschwand.
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21 Der nächtliche Herumtreiber Gebückt vor der Spülküchentür stehend, tastete Bony nach dem Schlüssel unter dem Backstein und verschaffte sich mit diesem Zugang zum Haus; er steckte den Schlüssel ein und zog die Tür hinter sich zu. Bei geschlossener Tür spielte das Orchester des Windes nur noch mit einer Violine und einer gedämpften Pauke. Im Haus selbst herrschte tiefe Stille, und Bony lehnte sich erst einmal gegen die Tür, um sich eine Minute Zeit zum Nachdenken zu gönnen. Er konnte davon ausgehen, daß die Frau, die Bisker durch diese Tür ins Haus hatte gehen sehen, tatsächlich Miss Jade gewesen und daß sie mittlerweile längst in ihrem Zimmer, wahrscheinlich bereits im Bett und eingeschlafen war. Der Mann, der durch die Vordertür gekommen war, bot da ein ganz anderes Problem, da seine Identität noch nicht einmal durch eine gewagte Vermutung zu ermitteln war. Bony konnte nicht wissen, ob es einer der Gäste war oder ein Einbrecher. War es einer der Gäste, dann konnte er unterstellen, daß er auf sein Zimmer gegangen war und mittlerweile im Bett lag, wenn er auch noch nicht unbedingt schlafen mußte. War es ein Einbrecher, dann wäre er ausgesprochen wach und ging irgendwo im Haus seiner gesetzwidrigen Beschäftigung nach. Folglich könnte ein Einbrecher Bonys Plänen für diese Nacht weit gefährlicher werden als ein Gast. In seiner Linken hielt Bony eine Art Blindenstock, den er sich am Abend aus einem Busch geschnitten hatte, grün und geschmeidig, etwa einszwanzig lang. Warum wachsen einer Katze Haare über den Augen? Doch nur damit sie sie vor einem Hindernis warnen, das sie bei völliger Dunkelheit nicht zu sehen vermag. Bonys Gerte diente einem ähnlichen Zweck, nämlich zu verhindern, daß er gegen Dinge - 202 -
lief, die dann womöglich zu Boden polterten, oder – mit demselben Ergebnis – über irgendwelche Gegenstände stolperte. Mit dieser Gerte vor sich her stochernd, durchquerte er die Spülküche zur Verbindungstür mit der Küche. Er meinte, auf einen möglichen Einbrecher frühestens draußen vor der Küche zu treffen, und so lehnte er sich, als er den Flur auf der anderen Seite erreicht hatte, erst einmal gegen die Wand und lauschte, lauschte ganze sechzig Sekunden lang, die einem unter solchen Umständen zur Ewigkeit werden können. Er wußte, daß der Korridor eine Länge von etwa acht Metern hatte und an seinem anderen Ende sich der Serviceeingang zum Salon befand. Ein zweiter Flur teilte den Korridor in zwei Teile. Bog man nach links, gelangte man in Empfangshalle und Büro, während man rechterhand zum Weinlager, zum Zimmer des Kellners, einer Rumpelkammer und den drei Schlafzimmern des Personals gelangte. Falls der Mann, den Bony das Haus durch den Haupteingang hatte betreten sehen, ein Einbrecher war, dann durfte man ihn zunächst im Büro vermuten, zweitens im Weinlager und drittens, nun gut, irgendwo sonst im Haus. Bony mußte ihn erst ausfindig machen, bevor er sich selbst an die geplante Arbeit machen konnte. Sich mit seinem »Katzenhaar« den selbst seinen scharfen Augen verborgenen Weg erfühlend, bewegte sich Bony geräuschlos über das Linoleum des Korridors. Als er den kreuzenden Flur erreicht hatte, ging er auf diesem, jetzt auf Teppich, in Richtung der Tür zum Empfang. Die Tür stand offen, was ihn jedoch nicht weiter beunruhigte, da er sie, mit Ausnahme jenes Tages, an dem die Polizei in Miss Jades Büro die Gäste verhört, noch nicht ein einziges Mal geschlossen gesehen hatte. Die Wanduhr in der Halle tickte laut vor sich hin, und obwohl Bony eine weitere geschlagene Minute lauschte, war außer dem Ticken der Uhr und dem Wind in den Bäumen vor dem Haus nichts zu hören. Mit der Einrichtung der Empfangshalle vertraut, ging er hinüber zur Bürotür, von der er wußte, daß sie mit einem Sicherheitsschloß ausgestattet war. Ein Ohr gegen die Tür gelegt, lauschte er angestrengt, - 203 -
bis er schließlich zu dem Schluß kam, daß der Unbekannte mit Sicherheit nicht an Miss Jades Safe zugange war. Nun zum zweiten Ziel. Seine Gerte wie ein Florett führend, durchquerte er abermals die Halle, stellte fest, daß er die Tür um zwei Ellenlängen verfehlt hatte, und sah sich von seiner Gerte vor einer Stuhlkante gewarnt. Dann ging es durch die Tür, den Korridor lang, über den Flur zwischen Küche und Salon hinaus, und schließlich erreichte er, ohne auch nur im geringsten in seiner Aufmerksamkeit nachzulassen, die Tür des Weinlagers, an der sich ebenfalls ein Sicherheitsschloß befand. Er legte ein Ohr gegen das kalte Holz. Nicht das leiseste Geräusch von drinnen. Außer dem Stöhnen des Windes vor dem Haus und dem Ticken der Uhr in der Empfangshalle präsentierte sich ihm das Innere des Hauses mit der Stille eines Banktresors. Er hatte noch immer sein Ohr an der Tür des Weinlagers, als ein Stück weiter hinten leise eine Tür geöffnet wurde. Gewöhnliche Ohren hätten das Geräusch womöglich noch nicht einmal registriert, und als er später an diesen Augenblick zurückdachte, hätte er gar nicht sagen können, ob es tatsächlich das Geräusch gewesen war oder die Veränderung des Luftdrucks, die ihn gewarnt hatte. Die Tür zum Weinlager befand sich glücklicherweise nur anderthalb Meter hinter der Kreuzung der beiden Korridore, so daß er mit zwei raschen Schritten um die Ecke war und sich, vorsichtig zurückspähend, sicher sein konnte, sich nicht durch irgendein Geräusch verraten zu haben. Obwohl er lauschte, war aus dem Flur nichts mehr zu hören – bis er, ganz, ganz leise, ein anhaltendes Schaben vernahm, das langsam deutlicher wurde. Das Blut seiner Mutter juckte ihm in Nacken und Haarwurzeln; das seines Vaters floß ihm stark und beruhigend durchs Herz. Der Eingeborene in ihm blähte die Nüstern und riß die Augen auf, drängte ihn, vor dem unsichtbaren Schrecken zu fliehen; der Weiße in ihm ließ ihn, Gliedmaßen und Gedanken unter Kontrolle haltend, an der Ecke verharren.
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Bony wußte, was es mit diesem leisen, langsam deutlicher werdenden Schaben auf sich hatte. Es stammte von der Hand eines Mannes, der sich ansonsten geräuschlos näherte, die Hand jedoch an der Wand entlanggleiten ließ, um sich von ihr durch die absolute Dunkelheit leiten zu lassen. Ohne selbst das geringste Geräusch, noch nicht einmal ein Schaben, zu verursachen, huschte Bony mit Hilfe seines »Katzenhaars« zurück zur Tür der Empfangshalle, wo er sich umdrehte und horchend verharrte. Nun war nichts mehr zu hören. Die Augenblicke verrannen. Das Ticken der Uhr in der Halle war in seinen Ohren zu Hammerschlägen geworden, und er wünschte, er hätte sie vorhin abgestellt. Der Lichtschein erschien ihm zuerst wie ein Suchscheinwerfer. Er dachte, der Mann, der nun an der Kreuzung der beiden Flure stand, könne gar nicht anders, als ihn entdecken, erkannte dann jedoch sofort, daß das Licht, von einer mit mehreren Schichten eines Seidentaschentuchs umwickelten Taschenlampe stammend, nicht stark genug war. Auf diese Weise abgeblendet, konnte es dem Mann unmöglich mehr enthüllen, als vielleicht einen Meter des Wegs vor ihm. Das Licht verlöschte, aber noch bevor man es ausknipste, sah Bony den Mann, der im Begriff war, den Flur zum Salon hin zu nehmen. Einige rasche Schritte brachten ihn an die Kreuzung – wo er, mit angehaltenem Atem, um besser hören zu können, um die Ecke spähte. Das Licht wurde wieder angeknipst, und diesmal konnte Bony die Gestalt des Mannes ausmachen, der sich eben in den Korridor zwischen Speisesaal und Salontür wandte, in den Korridor also, der zu den Gästezimmern führte. Wieder wurde das Licht gelöscht. Bony zählte bis drei und erreichte dann, weniger vorsichtig wegen des Teppichs unter seinen Füßen, die Abzweigung zu den Gästezimmern, wo er, Brust und Bauch an den Grat der Ecke gedrückt, verharrte, um mit nutzlosen Augen in die schwarze Leere vor ihm zu spähen. Das Licht blieb gelöscht, und Bony war sich leidlich sicher, es war nur benutzt worden, um den Mann in den Flur zu bringen, auf dem sein Zimmer lag. So handelte es sich denn doch um einen Gast und - 205 -
nicht um einen Einbrecher. Aber das konnte nicht sein! War es ein Gast, er hätte sein Zimmer doch durchs Schlafzimmerfenster verlassen und auf diesem Wege wieder dorthin zurückgelangen können. War es ein Gast mit ruchlosen Absichten, warum hatte er dann das Haus durch die Vordertür verlassen und wieder betreten? War es kein Gast, was wollte er dann im Korridor mit den Gästezimmern? Nur fünf der sechsundzwanzig Zimmer waren belegt, und zwar von Raymond Leslie, Downes, Lee, Sleeman und ihm selbst. Diese Fragen hämmerten fast ebenso laut auf ihn ein wie zuvor das Ticken der Uhr. Hatte sich der Mann verlaufen? Kehrte er überhaupt zurück? Bony konnte nicht das geringste mehr hören. Er wartete, das »Katzenhaar« vor sich gestreckt, seine Beine gespannt, um sofort zurückspringen zu können, wenn die Spitze der Gerte mit einem Körper in Berührung kam. Dann spürte er einmal mehr die winzige Veränderung des Luftdrucks und wußte, daß der Mann eine der Schlafzimmertüren geöffnet hatte. Eine Wiederholung dieser Veränderung blieb aus, und Bony wußte auch warum, als er sich bildlich vorstellte, wie der Mann die Tür langsamer und mit weit größerer Vorsicht schloß, als er sie geöffnet hatte. Mit Sicherheit hatte er eines der sechsundzwanzig Zimmer betreten, von denen fünf belegt waren. Aber welches? Es schien unvernünftig zu unterstellen, er sei in ein unbelegtes Zimmer gegangen, um das Haus durch dessen Fenster wieder zu verlassen. Das würde voraussetzen, daß er wußte, welche der Zimmer belegt waren und welche nicht, was wiederum voraussetzen würde, daß er ein Gast war. Wie sonst hätte er so etwas wissen können? Bony ging mit einiger Sicherheit davon aus, daß der Mann einer der Gäste war. Trotzdem, warum drang er dann durch die Vordertür ins Haus ein? Mittlerweile sicher, daß der Mann in eines der Zimmer gegangen war, setzte Bony seinen Weg den Korridor entlang fort, und zwar auf der Seite, auf der sich die fünf belegten Zimmer befanden, deren letztes sein eigenes war. Dann fiel ihm ein, daß vor diesen die Schuhe der - 206 -
Gäste standen und er womöglich anstoßen könnte. Diesen Gedanken verfolgend, durchzuckte ihn ein weiterer. Angenommen, bei dem Mann, dem er gefolgt war, handelte es sich in der Tat um einen Gast, dann standen seine Schuhe womöglich noch nicht vor der Tür, um auf Biskers morgendliche Pflege zu warten. Das »Katzenhaar« zitternd vor sich haltend, schlich Bony den Flur entlang, kaum daß er mit der Linken die Wand berührte. Er kam an eine verschlossene Tür, dann an eine zweite, eine dritte, eine vierte, hinter der Raymond Leslie schlief – oder wenigstens schlafen sollte. Ja, hier standen auch, gleich neben der Schwelle, Leslies Schuhe. Bony stieg über sie hinweg und ging weiter. Er passierte die fünfte Tür, dann die sechste und kam dann an die siebte, vor deren Schwelle er mit seiner Gerte die Schuhe von Mr. Lee ertastete. Er konnte ihn hinter der Tür schnarchen hören. Das nächste Zimmer war das von Downes, auch hier stand ein Paar Schuhe vor der Tür. Bony passierte drei weitere unbelegte Zimmer und kam dann an Sleemans Tür. Und vor dieser standen keine Schuhe. Die nächste Tür war seine eigene, und zu seinen Füßen fand er die Schuhe, die er tagsüber getragen, genauso, wie er sie abgestellt hatte, bevor er durchs Fenster hinausgeklettert war. Ebenso langsam wie leise öffnete Bony die Tür und schlüpfte ins Zimmer, wo er sich umdrehte und gegen den Rahmen lehnte, so daß er sowohl den Korridor überwachen, als auch ein Ohr auf das Innere des Zimmers haben könnte, in dem der heimlichtuerische Herr mit der umwickelten Taschenlampe sich ja womöglich befand. Er mochte wohl etwa fünf Minuten so dagestanden haben, als er wieder jene Veränderung des Luftdrucks verspürte, weil jemand eine Tür öffnete. Das war alles. Nicht das geringste Geräusch. Kein Licht. Welche der sechsundzwanzig Türen dieses Korridors man geöffnet hatte, konnte er nicht sagen, und auch ob der Öffner dieser Tür weggegangen war, um sich den Korridor entlang zurück zur Haustür zu
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stehlen oder die Tür einfach wieder geschlossen hatte, vermochte Bony nicht zu entscheiden. Das einzige Geräusch, das seine Trommelfelle erreichte, war das Ticken der Uhr in seinem eigenen Zimmer. Das Lärmen des Winds vor dem Haus schien aus großer Entfernung zu kommen und vermochte mögliche Geräusche im Haus nicht zu übertönen. Viele Minuten wartete Bony so an seiner Tür. Kein Licht ging an, das darauf hätte hindeuten können, daß der Eindringling die Ecke am Ende des Korridors erreicht hatte, und bald kam Bony zu dem Schluß, die Tür sei nur geöffnet worden, um es dem Betreffenden zu ermöglichen, Bisker ein Paar Schuhe zum Putzen in den Flur zu stellen. Das wiederum konnte nur Sleeman getan haben, dessen Schuhe nicht vor seiner Tür gestanden hatten, als Bony vorbeigekommen war. Bony verließ seinen Türrahmen und huschte an der Wand entlang zur benachbarten Tür. Zu seinen Füßen ertastete er mit seiner Gerte ein Paar Schuhe. Die Tür war geschlossen. Bony drückte ein Ohr gegen die Türfüllung und dann ein Auge ans Schlüsselloch. Der Schlüssel verhinderte, daß er hineinsehen konnte, selbst wenn das Licht an gewesen wäre. Und als er sich bückte, hörte er von drinnen das schwache Knarren von Bettfedern. So war es denn also Sleeman gewesen, dem er gefolgt war und der ein Zimmer im Korridor jenseits des Weinlagers verlassen hatte. Mit Sicherheit hatte er nicht eines der Dienstmädchen besucht! Deren Zimmer lagen im anderen Korridor, in dem sich das Weinlager, das Zimmer des Kellners und die Rumpelkammer befanden. Und warum hatte Sleeman das Haus durch die Vordertür betreten? Hatte es sich bei dem Mann, der zur Haustür hereingekommen war, vielleicht gar nicht um Sleeman gehandelt? Hatte Sleeman sein Zimmer wegen eines amourösen Abenteuers verlassen? Hatte er sein Zimmer durch die Tür verlassen und war durch die Tür zurückgekommen? Schlich etwa der Mann, der durch die Vordertür gekommen war, noch immer irgendwo im Haus umher? - 208 -
Da er, Bony, es vorgezogen hatte, das Haus durch die Spülküchentür zu betreten anstatt durch sein Schlafzimmerfenster, durch das er es verlassen hatte, schien es ihm höchst unwahrscheinlich, daß Sleeman einen ähnlichen Grund gehabt hatte, das Haus durch sein Schlafzimmerfenster zu verlassen und es durch die Haustür wieder zu betreten. Bony war durch die Spülküchentür gekommen, um die Rumpelkammer in Augenschein zu nehmen und, eventuell, das Zimmer von George, und diese Räume waren über die Spülküchentür leichter zu erreichen als über sein Schlafzimmer. Er beschloß, das Ganze mit Bisker zu besprechen. Er verschloß seine Tür, ließ den Schlüssel in seine Tasche gleiten und kletterte zum zweitenmal in jener Nacht zum Fenster hinaus, um schließlich, ebenfalls zum zweitenmal in jener Nacht, seine Hand um Biskers Knöchel zu schließen. »Was gesehen?« hauchte er in Biskers Ohr. »Nicht ein bißchen, außer einem Stern, der hin und wieder durchzuspitzen versucht«, antwortete Bisker. »Wie sind Sie denn vorangekommen?« »Ziemlich gut. Sie haben niemanden gesehen, der das Haus durch die Vordertür verlassen hätte?« »Nein. Außer dem vermaledeiten Wind hab’ ich nix gehört und nix gesehen.« »Sie kennen doch Sleemans Zimmer, nicht?« »Das ist Nummer siebzehn.« »Wann haben Sie da zum letztenmal die Fenster geputzt?« »So vor vierzehn Tagen.« »Lassen die sich ganz normal öffnen und schließen?« wollte Bony wissen. »Nein«, antwortete Bisker. »Das untere klemmt so übel, daß es nicht hochzukriegen ist. Außerdem hat er nur ein Doppelfenster, nicht zwei wie Sie. Miss Jade wollte es reparieren lassen, aber der Schreiner war noch nicht da.«
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22 Am frühen Morgen Ein zweites Mal in der Spülküche, die Tür hinter sich geschlossen, verbrachte Bony noch einmal eine Minute mit Lauschen, bevor er in die Küche weiterging und von dort zu den sich kreuzenden Korridoren. Hier wartete er und lauschte zwei Minuten lang, bis er sicher sein konnte, daß keiner im Haus um seine Anwesenheit wußte. Er hatte, wenn auch nicht völlig, die Anwesenheit eines zweites Nachtschwärmers als unwahrscheinlich verworfen. Trotzdem drückte er ein Ohr gegen die Tür des Weinlagers, konnte jedoch nicht das geringste Geräusch ausmachen. Die nächste Tür, an die er kam, war die zum Zimmer des Kellners, und obwohl er hier einige Minuten stehenblieb, trat er nicht ein, sondern ging weiter zur Tür des Raumes, den man dem Gerümpel überlassen hatte. Auch vor dieser Tür blieb er stehen und lauschte, um sicherzugehen, daß niemand dahinter war, bevor er zu Georges Zimmer zurückkehrte. Er hatte einen Ring Dietriche dabei, die Oberst Blythe ihm zur Verfügung gestellt hatte, als er ihn mit dem Fall Grumman betraute, aber als er am Griff drehte, fand er die Tür unverschlossen und den Schlüssel auf der Innenseite im Schloß. Nachdem er die Tür geräuschlos geschlossen hatte, stand er eine Weile da und horchte. Dann knipste er seine Taschenlampe an, über deren Birnchen er sein Sacktuch gewickelt hatte. Es war niemand hier – genau wie er vermutet hatte. Er wandte sich zur Tür, zog den Schlüssel ab und betrachtete ihn im gedämpften Licht seiner Lampe. Er sah, daß er ölig war, das Öl aber schon alt und nicht erst in jener Nacht aufgetragen. Er steckte den Schlüssel ins Schloß zurück und schloß ab.
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Die Jalousie war vorgezogen. Die Decken auf dem Einzelbett waren sauber am Fußende gefaltet, obenauf, ebenfalls gefaltet, Laken und Kissen; die Matratze war am Kopfende zu einem Zylinder gerollt, was Bony merkwürdig fand, bedachte man, daß George doch nur die eine Nacht wegbleiben sollte. Das Zimmer hatte keinerlei Waschgelegenheit. Es gab eine Kommode und auf dieser einen Standspiegel sowie Rasierzeug und Toilettenartikel eines Mannes. Alle diese Dinge waren von exzellenter Qualität. Neben ihrem Lederetui lagen zwei Haarbürsten mit Elfenbeinrücken. Es gab Töpfchen mit Rasiercreme und Pomade, einige Kämme, mehrere Zahnbürsten und eine Tube Zahnpaste. Außerdem standen da noch, in kleinen billigen Rahmen, drei Gruppenfotos. All diese im gedämpften Lichtstrahl der Taschenlampe zur Schau gestellten Gegenstände deuteten darauf hin, daß ihr Besitzer nachlässig, ja schlampig war, ein Charakterzug Georges, der dem aufmerksamen Bony bis dahin verborgen geblieben war. Das Bett mit seinen penibel und so offensichtlich überflüssigerweise gefalteten Decken und Laken, zeugte von Ordnungssinn; hier auf der Kommode dagegen herrschte das Chaos. Er machte sich an eine Untersuchung der Schubladen. Er fand darin Unterwäsche, Hemden und Kragen, Sokken und einen Trainingsanzug. Die Hemden waren gewaschen und gebügelt. Es waren fünf, und die Wäscherin hatte sie gebügelt und gefaltet, als wären sie zum Verkauf bestimmt. Bony nahm jedes einzeln heraus und gründlich unter die Lupe – und stellte fest, daß die Falten nicht mehr den Originalen entsprachen. Mit anderen Worten, die Hemden waren »geöffnet« und dann wieder gefaltet und in die Schublade zurückgelegt worden. Als nächstes widmete Bony seine Aufmerksamkeit einem ledernen Überseekoffer, alt zwar, aber noch in gutem Zustand. Das Schloß war offensichtlich kaputt und der Deckel nur mit einem der drei Gurte verschlossen. Innen lagen weitere Kleidungsstücke: ein Bademantel, einige ältere Hemden, ein Anzug aus marineblauer Serge, mehrere Paar Schuhe sowie Bücher und ungerahmte Fotos von Personen auf - 211 -
Schiffen wie auch welche von Schiffen selbst. Der Inhalt des Koffers roch schwer nach Mottenkugeln. Sorgfältig ging Bony den blauen Anzug durch, dessen Hosenbeine nicht weniger scharf gefaltet waren als die Ärmel des Jacketts. Das Mottenmittel war dasselbe, das er am Anzug des Mannes bemerkt hatte, der Bisker und ihn überfallen hatte, um sich der leeren Füllfederhalter zu bemächtigen. Nachdem er den Inhalt des Koffers wieder zurückgelegt hatte, schloß er den Deckel und machte sich daran, den Strahl seiner Taschenlampe in die Ecken sowie unter Bett und Kommode zu richten. Unter dem Bett stand ein Paar ganz gewöhnlicher Schuhe sowie ein Paar Tennisschuhe von guter Qualität. An Holznägeln hinter der Tür hingen ein Überzieher und ein alter Filzhut. Fragen! In der Dunkelheit, die auf das Ausschalten der Taschenlampe folgte, gegen die Wand gelehnt, stellte Bony sich einige Fragen und suchte nach Antworten. War der blaue Anzug in diesem Koffer der, den der Mann mit dem Revolver getragen hatte? Er war ihm ähnlich. Er roch, obwohl es deren nicht wenige gab, nach demselben Mottenmittel, dessen Geruch auch den Kleidern des Bewaffneten angehaftet hatte. Und der alte Filz auf dem Kleiderhaken hier sah dessen Hut durchaus ähnlich. Daß es sich bei dem Mann mit dem Revolver um George gehandelt hatte, dessen war Bony sich nun sicher, auch wenn er das Tuch nicht gefunden hatte, das ihm als Maske gedient, und auch nicht die Gummieinlage, die er sich in den Mund gesteckt hatte, um seine Stimme zu verstellen. Und dann hatte er weder den Revolver des Mannes gefunden noch seine eigene Pistole. Er fand jedoch etwas anderes von großem Interesse in diesem Zimmer. Bony hatte genügend Gelegenheit gehabt, den Kellner des Chalets zu studieren, und er war sich sicher, keinesfalls daneben zu liegen, wenn er ihn als einen Mann von pedantischer Korrektheit beschrieb. Er war sich sicher, daß George seine Toilettenartikel nie in derartiger Unordnung auf der Kommode zurückgelassen hätte. Er - 212 -
war sich überdies sicher, daß es nicht zu Georges Gepflogenheiten gehörte, so sorgfältig gewaschene Hemden auseinanderzunehmen, um sie dann so schlampig wieder zu falten. Von Ausbildung und Charakter des Mannes einmal ganz abgesehen, warum hätte er diese Hemden auseinandernehmen sollen? Dann war da das Bett. Angeblich sollte er nur für eine Nacht wegbleiben, und doch war das Bettzeug gefaltet, als erwartete er, daß das Zimmer für längere Zeit leerstehen würde als nur für eine Nacht. Die Wahrscheinlichkeit, daß George sowohl sein Bett selbst machte, als auch sein Zimmer selbst sauber und in Ordnung hielt, war groß. Jetzt war hier trotz des gefalteten Bettzeugs und der eingerollten Matratze alles in Unordnung. Ebenso wie er davon überzeugt war, daß George der Mann mit dem Revolver war, so war er sich auch sicher, daß es sich hier um den Raum handelte, dem Sleeman einen Besuch abgestattet hatte, um hier nach etwas zu suchen. Anstatt das Bett wieder zu machen, hatte er, womöglich um den Abwesenden glauben zu machen, hier habe sich während seiner Abwesenheit eines der Mädchen zu schaffen gemacht, das Bettzeug sauber gefaltet und die Matratze eingerollt. Augenscheinlich war Sleeman nicht in der Lage gewesen, das Bett wieder in seinen ursprünglichen Zustand zu bringen, nachdem er es auseinandergerissen hatte, um die Matratze durchsuchen zu können. Wahrscheinlich waren die Haarbürsten in ihrem Lederetui gewesen, und Sleeman hatte nur vergessen, sie wieder hineinzugeben, so wie er auch die anderen Gegenstände nicht mehr genau an ihren Platz zurückgestellt hatte. Was war dieser Sleeman? Er benutzte eine Lampe, um sich durch Korridore zu stehlen, mit denen selbst ein Anfänger im Einbrechermetier nach einem eintägigen Aufenthalt im Haus vertraut gewesen wäre. Er war hergekommen, um ein Zimmer zu durchstöbern und hatte seine Arbeit auf die dümmste Art und Weise zu vertuschen versucht.
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Ja, was war dieser Sleeman? Was interessierte ihn an Georges Zimmer so sehr? Und falls er es gewesen war, der da so spät nach Mitternacht noch von weiß Gott wo zurückgekommen war und das Haus durch die Vordertür betreten hatte, wo war er dann gewesen und warum so spät? Durchaus nicht enttäuscht, verließ Bony Georges Zimmer und ging zurück zu jenem, das augenblicklich als Rumpelkammer diente. Auch die Tür zu diesem war unverschlossen. Der Schlüssel steckte auf der Innenseite der Tür, und eine Inaugenscheinnahme ergab, daß auch dieses Schloß geölt worden war – kürzlich, wenn auch nicht in dieser Nacht. Dieser Raum war zu drei Vierteln mit alten Möbeln, Holzkisten, Linoleumrollen, altmodischen hölzernen Fenstergittern und Bildern in reichverzierten Goldrahmen gefüllt. Die Möbel, obwohl schon älter, waren von bester Qualität und ausgesprochen solide, Zeugen einer Zeit lange vor diesem modernen Gästehaus in einem Bergkurort. Bonys erstes Interesse galt dem Staub in diesem Raum. Er hatte Bisker weder eigens nach seinem Inhalt gefragt noch in Erfahrung zu bringen versucht, wie lange dieser schon hier stand, aber dem Eindruck nach zu urteilen, den Bisker ihm vermittelt hatte, diente dieser Raum seinem Zweck schon sehr lange. Und doch war die Staubschicht auf den Möbeln hier so dünn, daß sie wohl kaum älter sein konnte als einen Monat. Ein interessanter Punkt. Nun, jetzt, wo er hier war, würde er gleich sehen, was es hier zu sehen gab. Die Möbel waren aufeinandergestapelt, und das nicht gerade mit viel Luft dazwischen. Er stellte seine Lampe auf den nächstbesten Gegenstand, den er neben die Tür rückte, um so ihr direktes Licht zu haben. Vor dem Fenster war keine Jalousie, aber er war jetzt geneigt, es darauf ankommen zu lassen, daß man ihn von außen beobachtete. Er machte sich daran, Stühle, Tische und Sofas von dem Stapel zu hieven, fest entschlossen, sich Zugang zur gegenüberliegenden Wand zu verschaffen. Er sah sich gezwungen, dabei mit äußerster Vorsicht - 214 -
zu Werke zu gehen, da im Raum nebenan eines der Zimmermädchen schlief. Obwohl an diese Art von Arbeit, wie überhaupt an diese Art von Ermittlungen, nicht gewöhnt, verursachte er dennoch nicht das geringste Geräusch. Und nachdem er fast zwanzig Minuten so vor sich hin gearbeitet hatte, begann er, wenn auch unbewußt, ein Liedchen zu summen, so rasch nahm seine Erregung dabei zu. In einer der hinteren Ecken stieß er schließlich auf zwei große Überseekoffer, drei große Koffer, eine kleine lederne Reisetasche und eine Tasche mit Golfschlägern. Jeder dieser Gegenstände trug die Initialen »B. G.«. Sowohl die Übersee- als auch die anderen Koffer waren mit den Aufklebern diverser Schiffahrts- und Bahnlinien übersät. Deshalb also lag der Staub auf den Möbeln hier nur so dünn. Man hatte sie gründlich abgestaubt, bevor man Grummans Gepäck aus seinem Zimmer geholt und hier in dieser Ecke verstaut hatte. Jetzt, nachdem das Gepäck hier war, hatte sich der Staub längst wieder gelegt, so daß Finger- oder Handabdrücke noch nicht einmal dann zu finden gewesen wären, wenn der Betreffende so dumm gewesen wäre, dabei ohne Handschuhe zu Werke zu gehen. Bony machte sich an die Aufgabe, die Möbel wieder an ihren Platz zu stellen. Mit seinem Taschentuch staubte er dabei jedes Stück ab und schüttelte das Tuch dann wiederholt aus, in der Hoffnung, dabei so viel Staub wie nur möglich aufzuwirbeln, der, wenn er sich wieder gelegt hätte, seine Arbeit kaschierte. Ihm war warm geworden, als er das Haus durch die Spülküchentür, die er wieder verschloß, verließ, freilich nur von der körperlichen Anstrengung und nicht etwa von der geistigen Erregung, die seinen Verstand vielmehr kühlte. Er flüsterte Bisker zu: »Haben Sie vielleicht noch etwas Tee und Zucker in Ihrer Hütte?« »Nein«, erwiderte Bisker. »Aber Henkelmann und Wasserhahn.« »Gut! Dann gehen Sie in Ihre Hütte, machen Feuer und füllen den Henkelmann. Ich mops uns inzwischen in der Küche Tee, Zucker und was zu futtern. Wo wird das aufbewahrt?« - 215 -
»Tee und Zucker finden Sie auf dem Regal über dem Elektroherd. Die Dosen sind nicht groß, ich könnte sie gleich in der Früh, wenn ich reingeh’, wieder mitnehmen«, wies Bisker ihn an. »Im Büffet neben dem Fenster steht eine Büchse Plätzchen. Ich hab’ die Köchin sie gestern abend da hinstellen sehen.« »In Ordnung! Ich bringe alles mit. Bringen Sie nur mal schnell Ihren Henkelmann zum Kochen.« Zum drittenmal in dieser Nacht betrat Bony nun die Küche, hielt sich dort jedoch nur einige Minuten auf, um dann zum letztenmal durch die Spülküchentür zu entschwinden. Er ließ den Schlüssel unter dem Ziegel und trug seinen Schatz in Biskers Hütte. Längst züngelten entschlossen die Flammen um Biskers rußgeschwärzten »Buschkessel«, während Bisker selbst dastand und zusah, wie Bony ein Tuch aufrollte und so eine halbe Lammkeule, einen Laib Brot, Butter, Brotmesser und Dosen mit Tee, Zucker und Milch zum Vorschein brachte. »Sie sind ’n verdammtes Faß!« rief er aus. »Ich bin nur hungrig«, sagte Bony. »Nachtarbeit macht mich immer hungrig. Was halten Sie denn im Augenblick vorn Wetter?« »Also ich würd’ wetten, daß wir keinen Regen mehr kriegen«, erwiderte Bisker. »Der Wind kommt jetzt aus Südost, und die Sterne kommen durch. Paßt Ihnen das?« »Und ob mir das paßt. Aber jetzt erst mal stillgeschwiegen, bis Ihr Henkelmann hier kocht. Und machen Sie den Tee so richtig stark.« Bisker nickte und machte sich daran, sich seiner aus zwei Überziehern, Schal, Filzhut und Gummistiefeln bestehenden äußeren Hülle zu entledigen. Hin und wieder warf er einen Blick auf Bony, aber der drehte sich, mit dem Rücken an der Wand auf der Benzinkiste neben dem Tisch sitzend, eine Zigarette. Bisker war glücklich – richtig glücklich. Er fror trotz der beiden Überzieher, und so tat die zunehmende Wärme des Feuers das ihre zu seinem Glück. Das Innere der Hütte, die aus der Küche entwendeten »Fressalien«, das alles versetzte ihn zurück in seine Heimat. - 216 -
Bony rauchte mit geschlossenen Augen, und Bisker glaubte, er sei wohl völlig fertig. Völlig fertig! Bonys Verstand war kristallklar und aufgedreht wie ein Rennpferd in der Startmaschine. Das Wasser im »Buschkessel« begann gewaltig zu brodeln, und Bisker warf lässig zwei Handvoll Tee hinein, ließ das ganze vier Sekunden aufkochen, nahm die große Büchse mit dem Henkel dann vom Feuer und stieß sie auf dem Boden auf, damit die Blätter sich schneller setzten. Der Lärm riß Bony aus seiner Meditation, und er stand auf und machte sich daran, Brot zu schneiden, die Scheiben reichlich mit Butter zu bestreichen und, das Fleisch in Scheiben schneidend, Sandwiches zu fabrizieren. Bisker öffnete die Büchse Kondensmilch, indem er mit seinem Tabakmesser Löcher hineinstieß. Er goß Milch und Tee in zwei polierte Blechtassen, und Bony sagte: »Ganz wie in alten Zeiten, eh?« »Das können Sie laut sagen!« pflichtete Bisker ihm bei und begann, laut schlürfend, an der siedendheißen Flüssigkeit zu nippen. »Ach, übrigens, haben Sie zufällig die Nummer des Wagens gesehen, der Mr. Downes mitgenommen und dann wieder hergebracht hat?« »Ja. NX 052 B.« »Prima Arbeit, Bisker. Danke. Und jetzt sagen Sie mir mal zwischen zwei Bissen, ob Sie je in dem Zimmer neben dem von George gewesen sind, dem, in dem das Gerümpel steht?« »Ja.« »Und wann zum letztenmal?« Bisker überlegte. Dann sagte er: »Vor zwei Monaten. Der alte Drachen ließ mich mit einem Staubsauger über die Möbel und alles drübergehen. Das letzte Mal hat das Joan gemacht, eins der Mädchen. Aber die ist nicht mehr hier. Soweit ich mich erinnere, ist sie kurz darauf gegangen.« »Wissen Sie, wann diese Möbel da hineingestellt wurden?« »Nein. Das war schon vor meiner Zeit. Man geht aber, seit ich hier bin, so alle drei Monate drüber.« - 217 -
Sie aßen eine Weile schweigend weiter, dann fragte Bony: »Erinnern Sie sich vielleicht an eine schwere Mahagonitruhe gleich an der türwärtigen Seite des Stapels?« Bisker grinste. »Das können Sie sagen«, antwortete er. »Ich hab’ schon ein Auge auf diese Truhe geworfen, seit ich sie zum erstenmal gesehen habe. Ich habe Miss Jade gefragt, ob sie sie mir verkauft, aber der alte Drachen hat klipp und klar nein gesagt! Großartige Truhe. Ich hätt’ sie gern hier für meine Klamotten – und vielleicht auch mal ein oder zwei Fläschchen, wenn ich mal einen Sieger erwisch’.« »Als Sie sie abgestaubt haben, haben Sie da den Deckel gehoben und reingesehen?« »Hab’ ich.« »Und? War was drin?« »Nichts.« »Keine alten Stiefel?« Bisker schüttelte den Kopf und starrte Bony lange an. Bony machte für jeden von ihnen ein neues Sandwich zurecht. »Hat ganz den Anschein, als würde Miss Jade an diesen Möbeln einiges liegen«, bemerkte Bony, als er Biskers Blick bemerkte. »Muß wohl so sein. So oft wie sie den Krempel abstauben und aufpolieren läßt. Ich frag’ mich wirklich, warum!« »Ich mich auch.« Nachdem sie wieder eine Weile schweigend gegessen hatten, fragte Bony: »Sind Sie schon mal im Zimmer von George gewesen, seit er hier arbeitet?« »Aber ja doch, schon oft. Ich und George, wir spielen hin und wieder ’ne Partie Poker. George ist ’n guter Spieler, und ich bin auch nicht so übel. Wir spielen um Streichhölzer, weil ich irgendwie nie zu Geld zu kommen scheine.« »Hmm! Na schön, dann sagen Sie mir mal eins.« Bony sah Bisker ruhig, aber stet an. »Als Sie in seinem Zimmer waren, ist Ihnen da aufgefallen, daß George ein Schlamper wäre?« - 218 -
»Der ein Schlamper?« wiederholte Bisker mit einem Schnauben. »Ich sag’ Ihnen, mir ist meiner Lebtag noch keiner untergekommen, der mit seinem Zeug so pingelig ist wie George. Bei dem muß immer alles genau am rechten Fleck sein. Wir setzen uns zum Kartenspielen immer an seine Kommode, und immer wenn wir fertig sind, nimmt er all die Bürsten und was weiß ich, was er eben so vor dem Spiel weggeräumt hat, also das nimmt er dann alles und macht damit rum, bis alles wieder auf dem richtigen Fleck steht. Genauso ist das mit seinem Bett. Ich hab’ mich mal draufgesetzt, da ist er gleich hochgegangen und hat’s wieder gemacht.« »Er ist seit etwas über drei Monaten hier, sagen Sie. Wie oft ist er in dieser Zeit in die Stadt gefahren?« »Gestern war das erste Mal. Er hat mir mal gesagt, daß er sein Geld sparen will.« »Sie wissen also nicht, ob er Freunde hatte?« »Aber ja doch! Er hat einen Kumpel, Mick hat er den immer genannt«, antwortete Bisker. »Mick ist ihn ein paarmal hier draußen besuchen gekommen. Kommt aus Irland, so in etwa im Alter von George. Lassen Sie mich mal überlegen! Ja, Mick, der ist so vor drei Wochen hier gewesen. Nachmittags. In einem Wagen, der aber unten an der Straße haltgemacht hat. Der Fahrer hat ’n paarmal gehupt, und George ist runter, seinem Kumpel entgegen, der eben die Auffahrt raufkam. Haben sich über ’ne halbe Stunde lang das Maul fußlig geredet – bis der alte Drachen wild geworden ist, weil’s Zeit für den Nachmittagstee gewesen ist.« »Wenn George mit dem ersten Bus heute früh zurückkommt, welchen Zug muß er da in Melbourne nehmen?« fuhr Bony fort. »Den, der um halb neun in der Stadt losfährt.« »Tja, dann bedanke ich mich mal, Bisker«, sagte Bony zufrieden, während er sich noch eine Zigarette drehte. »Ich habe unsren kleinen Imbiß hier ausgesprochen genossen. Ihrer Uhr nach ist es zwanzig vor fünf, und ich habe noch was zu erledigen. Wenn Sie weiterhin ein Auge offen halten würden, wäre ich Ihnen äußerst verbunden. Sehen - 219 -
Sie sich besonders Mr. Sleemans Schuhe an, wenn Sie sie putzen, und sollte jemand Mr. Downes oder Mr. Lee besuchen kommen, dann merken Sie sich die Leute und die Autonummern. Sie wissen ja, wie man das macht, ohne dabei allzusehr aufzufallen.« Bisker versicherte ihm, er würde an den Leuten kleben wie eine Klette und aufpassen wie ein Schießhund, und schließlich stand Bony um halb sechs in der rauhen Luft der Stunde vor Sonnenaufgang vor der Polizeiwache und drückte die Nachtklingel. Mason erschien in Pyjama und Hausmantel, um ihn einzulassen und in sein Büro zu führen. Nichts an Masons Besucher hätte verraten, daß er Möbel umgeschichtet und abgestaubt hatte, ja noch nicht einmal, daß er die ganze Nacht über auf den Beinen gewesen war. Nachdem er Bisker verlassen hatte, war Bony durchs Fenster zurück in sein Zimmer geklettert, wo er sich rasiert und gewaschen und einen ordentlichen Anzug und ein fesches Paar Schuhe angezogen hatte. Der Hut, den er auf den Schreibtisch legte, war tadellos – seinen Regenmantel verunzierte auch nicht ein Fältchen. »Tut mir leid, Sie schon so früh zu stören, Mason«, sagte er mit seiner ruhigen, verbindlichen Stimme. »Aber wenn das Verbrechen ruft, dann geht das nicht anders. Wer hat heute Nachtdienst in der hiesigen Telefonvermittlung?« »Einer unserer Leute«, antwortete Mason, und Bony nahm den Apparat zur Hand und hielt ihn dem Unterinspektor hin. »Fragen Sie ihn, wer gestern nachmittag Dienst hatte.« Als Mason den Apparat wieder absetzte, sagte er: »Der Postmeister.« »Na schön! Jetzt, Mason, muß ich über Ihren Kopf hinweg handeln, ich habe allen Grund dazu. Können Sie sich mit Superintendent Bolt in Verbindung setzen?« Mason sagte, er könne, und sah sich daraufhin darum gebeten. Während er auf die Verbindung wartete, sagte Bony zu ihm: »Bitte setzen Sie sich mit der Kraftfahrzeugzulassungsstelle in Verbindung - 220 -
und stellen Sie fest, wem der Studebaker mit der Nummer NX 052 B gehört. Und dann befragen Sie, sobald es Ihnen passend erscheint, die Bagshotts wegen diesem angeblichen Kleider- und Schuhsammler. Ich werde mich später am Tag wieder hier einfinden. Ist er dran? Ich danke Ihnen.« Bony nahm den Hörer von Mason entgegen und lehnte sich zurück. Mason hörte ihn sagen: »Ah! – Wünsche einen schönen guten Morgen, Super. Bonaparte am Apparat … Äh – es geht um diesen George Banks … Sie erinnern sich doch noch an den Namen … O ja. Stimmt ja! … Wissen Sie, ich denke, man sollte ihn wegen dieser gefälschten Referenzen in Haft nehmen … Nicht ernst genug! … Na ja, vielleicht nicht, aber ich bin trotzdem der Ansicht, es wäre nicht das Dümmste. Ich habe auf die eine oder andere Weise den Eindruck gewonnen, daß er gewisse Reiseutensilien sowie anderes persönliches Eigentum aus dem Zimmer des verstorbenen Mr. Grumman entfernt hat.« Bony verstummte, und der ihn beobachtende Mason sah, wie sich langsam ein Lächeln auf seinem dunklen Gesicht ausbreitete. Nach einer kleinen Weile, sprach Bony wieder: »Mason hier ist nicht in der Lage, den Mann früh genug zu verhaften. Banks ist gestern nachmittag in die Stadt gefahren und hat seiner Arbeitgeberin versprochen, gleich frühmorgens mit dem ersten Bus wieder zurückzusein. Um das zu schaffen, muß er in der Stadt den Zug um halb neun erwischen. Ich halte es für höchst wahrscheinlich, daß Banks verborgene Schußwa ffen bei sich führt; ich benutze hier die Mehrzahl, weil ich Grund zur Annahme habe, daß sich auch meine eigene Pistole in seinem Besitz befindet. Ich hänge an dieser Pistole und würde sie gern wiederhaben, verstehen Sie? Sie paßt so vorzüglich in meine Hand. Was ich weiß? Insgesamt nur sehr wenig … Nein. Da kann ich Ihnen nicht zustimmen. Falls Banks Ihren Leuten entwischt oder mit einem Auto zurückkommt, so will ich ihn auf keinen Fall im Chalet verhaftet sehen. Der ist dort für die nächsten paar Tage gut aufgehoben. Wissen Sie, Miss Jade hatte nun schon genug Aufregung im - 221 -
Haus … Oh, ich weiß, aber andererseits nehmen sich Polizeibeamte, richtige Polizeibeamte, zu denen ich, laut meinem Präsidenten, ja nicht gehöre, vor dem Hintergrund einer Wache, einem Büro der Kripo, ja sogar einem Gerichtssaal durchaus passend aus, aber von einem Gästehaus in den Bergen vom Format eines Chalet Weitblick kann man das nun wirklich nicht sagen. Schon mal, weil ihre Anwesenheit sich nachteilig auf die Köchin auswirkt, zum anderen aber auch, weil ich nicht will, daß meine Freundin, Miss Jade, mehr gestört wird, als unbedingt nötig ist. Wenn Sie also George ohne großes Trara schnappen könnten, wäre ich Ihnen sehr verbunden. Aber bitte keine Verhaftung hier. Meine Nerven würden das nicht durchstehen.«
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23 George kommt nicht zurück In den Bäumen der unmittelbaren Umgebung des Chalet Weitblick wohnte eine Familie von neun Rieseneisvögeln. Diese klugen Vögel kannten jeden Winkel des Gartens, jeden Fußbreit des Rasens, jeden Ast eines jeden einzelnen Baumes, und anderen Rieseneisvögeln war der Aufenthalt in diesem Reich strengstens untersagt. Gerade daß sie noch die tagsüber schlafenden Opossums duldeten. Vier dieser neun Vögel hatten sich auf Biskers Holzstapel postiert, die übrigen fünf saßen in Sichtweite, und alle warteten sie auf Frühstücksabfälle, als Bony das Tor im oberen Zaun erreichte. Es war ein bewölkter Morgen. Das Tal war nebelfrei. Die Sonne stand noch nicht über den Bergen, und der Wind war kalt und trokken. Just hinter dem Tor verlor sich der grobe Sand der Zufahrt in dem schlammigen Bankett der oberen Straße, und in eben diesem waren deutlich die Abdrücke von Miss Jades sowie die von Mr. Sleemans größeren Schuhen zu sehen. Mr. Bonaparte hatte keinerlei Schwierigkeiten, ihre Fährten zu lesen. Sowohl Sleeman als auch Miss Jade waren nach Erreichen der öffentlichen Straße rechts auf deren geschotterte Fahrbahn abgebogen. Sie hatten diese, noch einmal den Schlammstreifen überquerend, wieder verlassen, um auf die mit feinem Kies bestreute Zufahrt und auf dieser zum Haus zu gelangen, wobei Bony freilich weit mehr daran interessiert war festzustellen, wo sie gewesen waren. So nahm er denn die obere Straße. Er war nur einige Meter weit gekommen, da entdeckte er am Rand der Fahrbahn Sleemans Spuren. Miss Jade war auf der Straße geblie- 223 -
ben, Sleeman dagegen war auf dem weicheren Bankett weitergelaufen. Bony kam alsbald an eine Kreuzung, und da Sleeman sich nach links gewandt hatte, wandte er sich ebenfalls nach links und ging weiter. Die Straße führte ihn bergwärts, und nicht ein einziges Mal hatte Sleeman den weicheren Boden ihrer Flanke verlassen. Miss Jades Spur dagegen sah Bony erst wieder, als sie auf der Höhe eines etwas abseits und hinter einer Barriere dichtstehender Tannen vergleichsweise abgeschieden gelegenen Hauses die Straße verlassen und durch ein Tor den Garten dieses Hauses hinter den Tannen betreten hatte. Sleeman dagegen war weitergegangen. Bony folgte seinen Spuren. Nach etwa fünfzig Metern war der Mann stehengeblieben, um wieder umzukehren und sich, dem Gartentor genau gegenüber, auf einen Felsen zu setzen. Nachdem er seinen Weg noch etwa eine halbe Meile fortgesetzt hatte, kehrte auch Bony um, passierte forsch das Haus hinter den Tannen und ging zum Chalet zurück. Er wußte nun, was passiert war. Miss Jade hatte ihr Haus zu sehr später Stunde verlassen, um dem Haus hinter den Tannen einen Besuch abzustatten. Mr. Sleeman war ihr gefolgt und hatte sich auf den Felsen gesetzt, während sie im Haus war, um dann später, ganz gemächlich, zurückzukehren, das Gästehaus durch die Vordertür zu betreten und die »Razzia« im Zimmer des Kellners durchzuführen, bevor er sich in sein eigenes zurückgezogen hatte. Bony mußte seine Ansichten über Sleeman gründlich revidieren. Von den fünf Männern am Frühstückstisch erschien Sleeman als letzter. »Sleeman tut sich heute offensichtlich schwer, aus dem Bett zu kommen«, bemerkte Downes mit einem ruhigen Blick auf Lee. Der Viehzüchter grinste breit und lachte dann. »Er wollte gestern nacht nicht ins Bett«, sagte er. »Alice hat uns erzählt, Miss Jade hätte ihr gesagt, daß sie pünktlich um elf dichtma- 224 -
chen soll. Was mir natürlich gefallen hat, weil unser Freund noch Durst gehabt hat, ich aber keinen – jedenfalls bis dahin nicht mehr.« »Netter Bursche«, erklärte Raymond Leslie, und keiner der anderen versuchte zu widersprechen. Sleeman betrat den Speisesaal und sah sich aufs herzlichste begrüßt. Er erschien gepflegt und, wie gewöhnlich, kreuzfidel. Er grüßte jeden einzeln und bestellte sein Frühstück ohne übertriebene Rücksichten auf seine Verdauung. Wie alt er wohl sein mochte? Bony tat sich schwer, Sleemans Alter zu schätzen. Zwischen vierzig und fünfzig, weiter kam er nicht. Er war gut beieinander, und seine kleine »Schwäche« stand ihm keineswegs deutlich ins Gesicht geschrieben. Wie Downes und ganz im Gegensatz zu Lee oder Leslie hatte er kaum etwas über sich erzählt. »Was für Wetter kriegen wir denn heute?« erkundigte er sich mit einem Blick durch das große Fenster auf das herrliche Panorama. »Schönes, würde ich sagen«, antwortete ihm Leslie. »Ich werde heute mal die Teufelstreppe, wie man sie hier nennt, hinuntersteigen. Wir haben neulich über sie gesprochen, wissen Sie noch? Auf halbem Weg führt der Pfad in der Schlucht durch ein kleines Baumfarnwäldchen. Die Farne stehen dort wenigstens vier Meter hoch, einige sind sogar höher, sie müssen also schon uralt sein. Unter ihnen zu sitzen erinnert mich an die Bilder vom Karbon und vorgeschichtlichen Ungeheuern, die auf ihren Hinterbeinen an die saftigen jungen Farne heranzukommen versuchen, die seinerzeit aus den Baumwipfeln sprossen.« Lee erbot sich, den Maler zu begleiten. Sleeman sagte, er müsse im Haus bleiben, um etwas Geschäftskorrespondenz zu erledigen. Downes erwartete Besuch. Bony sagte, er würde lieber ein wenig faulenzen und etwas lesen. Nach dem Frühstück legte Bony einen leichten Überzieher an und ging mit einem Buch hinaus auf die Terrasse, wo er sich einen Stuhl in seiner Lieblingsecke suchte. Er wäre bei weitem lieber auf sein Zimmer zurückgekehrt, um sich auszuschlafen.
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Kurz vor zehn kamen der Mann aus der Riverina und der Maler um die Hausecke und schlugen den Weg zum Gartentürchen ein. Leslie hatte einen Ranzen mit seinen Zeichenutensilien dabei. Sie gingen langsam, die Teufelsfährte diskutierend, die Miss Jades Rasen so grob verunzierte, und verschwanden schließlich die Auffahrt hinunter auf die Hauptstraße. Um zehn sah Bony das Dach des Busses aus Manton, der vor der Zufahrt zum Stehen kam. Eine oder zwei Minuten später sah er Bisker mit einer Ladung Koffer die Auffahrt heraufkommen. Hinter ihm drein kam ein älteres Paar. Um elf brachte Alice, das Zimmermädchen, ihm eine Tasse Tee und Gebäck. Um halb zwölf spazierte Downes, in Überzieher und Hut, die Auffahrt hinunter, und wenige Minuten, nachdem er verschwunden war, hörte Bony einen Wagen die Hauptstraße heraufkommen. Er hielt irgendwo außerhalb seines Blickfeldes an, wendete und fuhr dann den Weg, den er gekommen war, wieder zurück. Dann sah er Bisker zwischen den die Zufahrt säumenden Bäumen auftauchen, worauf er seinen Stuhl ganz beiläufig verließ und die Treppe zum Rasen hinunterschlenderte, wo er einen oder zwei Augenblicke stehenblieb, um die Teufelsfährte zu betrachten, bevor er zu der dem Eingang am nächsten liegenden Hausecke hinüberschlenderte. Er fand Bisker beim Putzen der gepflasterten Veranda vor der Haustür. »Selbe Nummer, selber Fahrer«, informierte Bisker ihn. Bony nickte ihm dankend zu und ging dann auf die obere Straße, bog nach links auf die Hauptstraße ein und folgte ihr bis zum Obststand. Von da folgte er ihren Windungen, bis er sie verließ, um die Polizeiwache zu betreten. »Wo ist denn der Unterinspektor?« fragte er einen Hauptkonstabler. »Man hat mir aufgetragen, Sie zu informieren, Sir, daß Unterinspektor Mason nach Manton gefahren ist. Der Gesuchte hat nicht versucht, in der Stadt den Zug um halb neun zu nehmen, und der Unterinspektor hielt es für wahrscheinlich, daß er per Kraftfahrzeug an seinen Arbeitsplatz zurückkehren würde. Den Beamten in Manton - 226 -
war der Gesuchte nicht bekannt, aber sie haben eine Personenbeschreibung. Ich soll Ihnen vorschlagen, Sir, eventuell mich zu den Bagshotts gehen zu lassen, um sie in der mit dem Inspektor besprochenen Angelegenheit zu befragen.« Bony schürzte die Lippen und ließ sich die Situation durch den Kopf gehen, dann sagte er: »Nehmen Sie Verbindung mit Superintendent Bolt auf. Ich schreibe Ihnen eine Nachricht, die Sie ihm dann bitte vorlesen möchten.« Der Hauptkonstabler nahm den Hörer ab, und Bony schrieb rasch etwas auf einen Block, den er dann über den Schreibtisch schob. Sie mußten fünf Minuten auf die Verbindung warten. Dann nannte der Hauptkonstabler seinen Namen und den der Wache und sagte: »Eine Nachricht für Sie, Sir. Sie lautet folgendermaßen: ›Schlage vor, jedes auslaufende Schiff nach dem Gesuchten zu durchsuchen.‹ Ende der Nachricht … Geht in Ordnung, Sir.« »Ich werde hierbleiben, während Sie mit den Bagshotts reden. Und fragen Sie dabei folgendes.« Bony umriß dem Mann, wa s er wissen wollte, und der Hauptkonstabler rückte ab. Etwa eine Viertelstunde später war er wieder da. Das Ergebnis seiner Mission war die Information, daß dort in der Tat vierzehn Tage zuvor ein Mann sich mit Hilfe eines angeblich amtlichen Ausweises der viktorianischen Sektion des Komitees für Kleidung für Europa als Sammler für Schuhwerk und Kleidung für die europäischen Flüchtlinge ausgegeben hatte. Mrs. Bagshott hatte mit dem Mann gesprochen und beschrieb ihn nun als stattlich und mit leichtem irischen Akzent. Sie hatte ihm mehrere Kleidungsstücke und einige Paar Schuhe gegeben, darunter auch ein Paar ihres Gatten. Der Hauptkonstabler öffnete eine Schreibtischschublade und entnahm ihr einen Zettel. Er sagte: »Sie wollten doch wissen, wem ein Studebaker mit der Nummer NX 052 B gehört. Der Besitzer ist ein gewisser William Jackson, Myall Road 17 in Southeast Cumberland.« »Ah! Ja, danke.« Bony schwieg einen Augenblick und fügte dann hinzu: »Wenn ich weg bin, warten Sie eine Stunde, setzen sich mit - 227 -
Superintendent Bolt in Verbindung und bitten ihn, mir sämtliche verfügbaren Informationen über diesen William Jackson zukommen zu lassen. Sagen Sie außerdem, daß ich mich so gegen neun Uhr heute abend selbst mit ihm in Verbindung setzen werde, mit dem Super, meine ich. Informieren Sie außerdem Unterinspektor Mason, daß ich gegen neun heute abend wieder hier sein werde und inzwischen meinen Urlaub zu genießen gedenke und somit nicht gestört zu werden wünsche.« Den Kopf voller Gedanken verließ Bony die Polizeiwache und ging auf der Hauptstraße zurück, wobei er, als er daran vorbeikam, dem Inhaber des Obststandes ein fröhliches »Guten Tag« zurief. Er kam gerade noch rechtzeitig ins Chalet zurück, um den Gong zum Mittagstisch rufen zu hören. Downes war noch nicht wieder zurück. Lee und Leslie hatten Miss Jade gesagt, sie würden irgendwo unterwegs zu Mittag essen. Bony und Sleeman saßen also allein an ihrem Tisch, während am Nachbartisch ein Mr. Phelps nebst Gattin saß, die mit dem Frühbus angekommen waren. Weitere Gäste wurden im Lauf des Nachmittags erwartet. »Miss Jade ist leicht ungehalten, kann ich mir vorstellen«, bemerkte Sleeman leise zu Bony. »George ist noch nicht wieder da, und heute und morgen kommen haufenweise neue Leute. Er hat ihr hoch und heilig versprochen, bis heute morgen wieder zurück zu sein. Waren Sie spazieren?« »Ja, ich bin ein oder zwei Meilen die Hauptstraße hinaufgeschlendert. Eine schöne Straße und eine schöne Umgebung, finden Sie nicht auch?« Sleeman nickte. »Bezaubernd«, pflichtete er ihm bei. »Ich gehe womöglich am Nachmittag etwas hinaus. Haben Sie Lust mitzukommen?« Bony brachte lächelnd sein Bedauern zum Ausdruck und sagte, er habe die Absicht, mal so richtig auszuspannen und einen Roman zu lesen. Die Unterhaltung zerfiel; Sleeman war offensichtlich nicht ganz - 228 -
wohl dabei, mit Bony allein zu sein. Und Bony war etwas müde nach einer Nacht voll Arbeit. Später ließ Bony sich im Überzieher und einer warmen Decke um die Beine in einem Stuhl auf der Terrasse nieder und dachte über Sleeman nach. War Sleeman es gewesen, der in der Nacht, in der Bony Oberst Blythe den Inhalt der beiden Füllfederhalter überbracht, seine Habseligkeiten durchsucht hatte? Er neigte dazu, dies zu bezweifeln, da die Person, die seine Sachen durchsucht hatte, ein Fachmann gewesen war, während Sleeman im Zimmer von George bestenfalls Amateurarbeit geleistet hatte. Aber warte mal! Was nun, wenn Sleeman gewußt hatte, daß George nicht mehr ins Chalet zurückkommen würde? Dann hätte er doch nicht den geringsten Grund gehabt, alles wieder peinlichst genau an seinen Platz zurückzulegen. Sieh einer an! Aber wozu soviel Gedanken? Die Zeit würde es an den Tag bringen. Die Zeit würde alles enthüllen, was Bony wissen mußte. Inzwischen hatte er noch zwei Stunden bis zum Nachmittagstee. Und so schlief denn Bony in der kühlen, klaren Luft des Mount Chalmers den Schlaf der Gerechten. Das Geplapper eben angekommener Gäste weckte ihn. Zehn oder auch ein Dutzend Fremde standen an der Balustrade der Terrasse und bewunderten die Aussicht. Er fühlte sich wieder frisch und hatte seine Sinne beisammen. Was hatte er sich gleich wieder in bezug auf Sleeman überlegt? Ah ja! Hatte Sleeman schon gestern nacht gewußt, daß George nicht mehr zum Chalet zurückkommen würde? Diese Möglichkeit beschäftigte seine Gedanken noch, während Miss Jade ihm beim Nachmittagstee die neuen Gäste vorstellte. Danach suchte er Bisker auf. »Was von George gesehen?« fragte er. Bisker schüttelte den Kopf, und dann sagte er: »Mr. Downes ist auch noch nicht wieder da.« »Und Sie hatten nicht den Eindruck, daß George womöglich nicht mehr zurückkommen würde?«
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»Nein. Der schien wirklich vorzuhaben, heute früh wieder da zu sein«, antwortete Bisker. »Ich frag’ mich, was dem wohl passiert ist.« »Das frage ich mich auch. Jetzt heißt es abwarten.« An diesem Abend saßen fast an jedem Tisch in Miss Jades Speisesaal Gäste. Downes war gegen fünf Uhr zurückgekehrt und kurz darauf auch Lee und der Maler. Die Teufelstreppe und die Wunder, die sie gesehen hatten, stellten den Hauptanteil der Unterhaltung an jenem Abend. Sowohl Downes als auch Bony sahen sich von Leslie unterhalten, der auch mit Worten ganz vorzüglich zu malen wußte. Sleeman bekundete erneut sein Interesse an Wanaaring. Kurz nach acht schlüpfte Bony davon und nahm den Weg zur Polizeiwache, wo ihn, neben Unterinspektor Mason, auch Superintendent Bolt erwartete. »Was soll das Ganze?« wollte der Hüne von einem Polizeirat ohne Umschweife wissen. »Ah, guten Abend, Super«, entgegnete ihm Bony und lächelte ihm naiv in die harten Augen. »Guten Abend, Mason. Schön warm haben Sie’s hier drin. Haben Sie unseren Freund ausfindig gemacht?« »Nein«, fuhr Bolt ihn an. »Ist er nicht wieder im Chalet?« »Nein, er ist nicht zurückgekommen.« Bolt starrte den Mischling an, der sich eben mit entnervender Ruhe eine seiner grauenhaften Zigaretten drehte. Dann platzte ihm der Kragen: »Was wissen Sie über diesen George Banks? Nun kommen Sie schon, Bony, heraus damit!« »Erinnern Sie sich an einen Mann, der auf den Namen Mick hört? Etwa siebzig Kilo, von mittlerer Größe, dunkle Augen, leicht irischer Akzent?« erkundigte sich Bony. Bolt schüttelte den großen Kopf. Dann rief er aus: »Warten Sie! Das könnte auf Mick den Kitzler passen. Aber der hat das Land doch so um die Zeit, als der Krieg ausbrach, verlassen und hielt sich laut einer Meldung – dreiundvierzig, glaube ich, war das – in London auf.« »Was war seine Spezialität?« fragte Bony.
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»An erster Stelle kitzelte er aus Soldatengattinnen militärische Geheimnisse heraus. Gleich dahinter kam Erpressung. Was ist mit ihm?« »Nichts, außer daß Ihr Mick der Kitzler womöglich der Freund von unserem George Banks ist. Wenn Sie sich mit Oberst Blythe in Verbindung setzen, dann kann der uns womöglich mehr über diesen Mick sagen.« »Oh – na gut!« bellte Bolt. »Aber nun fangen Sie mal von vorn an, und rücken Sie endlich raus mit der Sprache. Was ist mit Grummans Gepäck? Wo ist es? Und was wissen Sie über diesen George Banks?« »Sie werden Oberst Spendor von Mal zu Mal ähnlicher, Super«, beklagte sich Bony. »Mit Ungeduld erreicht man gar nichts. Außerdem ist sie schlecht für den Blutdruck. Nun hören Sie mal ganz ruhig zu. Dieser Mick, bei dem es sich durchaus um Ihren Mick den Kitzler handeln könnte, war bei Mrs. Bagshott und gab sich als Mitglied einer Organisation aus, die Kleider und Schuhe sammelt, und Mrs. Bagshott gab ihm einige Paar Schuhe, darunter auch ein Paar ihres Mannes. Ich habe mich mit den Spuren um das Chalet Weitblick herum beschäftigt. Die Größe der Schuhe, von denen sie stammen, ist fünfundvierzig. Von diesen Schuhen stammen auch die mittlerweile als Teufelsfährte bekannten Abdrücke auf Miss Jades Rasen. Ich habe Ihnen davon erzählt, als Sie das letzte Mal hier waren. Sie werden sich daran erinnern, daß ich stark daran zweifle, daß Bagshotts Füße in seinen Schuhen gesteckt haben, als diese Spuren entstanden sind. Die Schuhe, die Mrs. Bagshott weggegeben hat und von denen die Spuren am Chalet stammen, befinden sich jetzt in einer Truhe in der Rumpelkammer des Chalets. In eben dieser Rumpelkammer befindet sich auch Grummans Gepäck. In einem Koffer in Georges Zimmer befindet sich ein blauer Anzug, den der Maskierte mit dem Revolver getragen haben könnte, der Bisker und mich in Biskers Hütte überfallen und mir zwei Federhalter geraubt hat.« »Ihnen zwei Federhalter geraubt hat?« bellte Superintendent Bolt.
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»Ja. Und gute obendrein. Ich will sie wiederhaben. Sie gehören mir. Ich habe einen davon meiner Frau und den anderen meinem Ältesten, Charles, zugedacht.« Der Blick, mit dem Bolt Bony betrachtete, spiegelte seine Verzweiflung wider. »Geben Sie mir mal was zu rauchen, Mason«, brummte er. An Bony gewandt, sagte er dann: »Machen Sie nur so weiter. Ich und Mason, wir kommen auch von allein dahinter – kein Problem.« »Ausgezeichnet! Ich dachte mir schon, daß Sie das können«, murmelte Bony lächelnd. »Ich finde das Ganze im Augenblick jedoch noch etwas vage. Die Beweise sprechen gegen Banks, aber sie sind noch keineswegs komplett. Sie genügen, ihn zu verhaften, aber ich bin noch nicht ganz so weit, Ihnen Bericht zu erstatten. Deshalb habe ich auch vorgeschlagen, ihn zu verhaften, weil er sich die Referenzen eines anderen angeeignet hat, irgendwas, solange man ihn damit nur für ein, zwei Tage ruhigstellen kann. Es stehen noch eine ganze Reihe von Angelegenheiten aus; Ihr Freund Marcus ist nur eine davon.« »Marcus!« Bolt sah Bony durchdringend an. Dann sagte er beinahe schreiend: »Was wissen Sie über ihn?« »Wie ich gestehen muß, nicht sehr viel, Super, jedenfalls nicht genug, um schon ›warm‹ rufen zu können. Um noch einmal auf diesen Mick den Kitzler zurückzukommen. Haben Sie ein Foto von ihm in Ihren Akten?« »Weiß nicht. Sollten wir wohl.« Bolts lauter Zorn wich einer Phase stillen Ingrimms. »Nun hören Sie mal, Bony, ich spreche jetzt von Freund zu Freund mit Ihnen. Marcus ist Dynamit. Wenn Sie mit dem herumspielen, spielen Sie mit Dynamit. Er ist ein bösartiger wilder Tiger. Wenn der auch nur den leisesten Verdacht schöpft, daß Sie ihm auf die Schliche gekommen sind, dann bläst er Ihnen das Lebenslicht aus – genauso fix wie dem armen Rice.« Bony erhob sich. Er stand da und betrachtete die Oberseite des großen kuppelartigen Schädels, bevor er seinem Blick gestattete, sich zu senken und diesen kleinen starren braunen Augen zu begegnen. - 232 -
»Ich danke Ihnen, Super«, sagte er nüchtern. »Ich bin noch nicht ganz so weit, die Ermittlungen in diesem Fall abzuschließen, aber das Ende ist in Sicht. Also seien Sie so gut, und lassen Sie mich noch ein paar Tage dranbleiben. Sehen Sie inzwischen zu, daß Sie Banks’ Kumpan erwischen, bei dem wir mal davon ausgehen, daß es sich um Mick den Kitzler handelt. Und schnappen Sie sich Banks. Er muß Grummans Gepäck in die Rumpelkammer geschafft haben; er und sein Kumpan müssen die Leiche in den Graben hinunter geschafft und dabei ein Paar von Bagshotts Schuhen getragen haben. Na ja, das werden wir erfahren, wenn wir die Fische im Netz haben. Jedenfalls sind diese beiden für Grummans Tod verantwortlich. Falls Sie tatsächlich ein Foto von Mick dem Kitzler haben, dann stellen Sie fest, ob Mrs. Bagshott ihn identifizieren kann. Und lassen Sie’s mir hier, ich werde es morgen abend abholen. Ich möchte es einem Mann zeigen, der diesen Mick gesehen hat. Aber bitte noch keine Polizei im Chalet.« Bolt atmete auf und stieß einen ungeheueren Seufzer aus. »Ich hätte wirklich gute Lust, Sie in Schutzhaft zu nehmen, Bony«, knurrte er. »Ich weiß Bescheid über Sie, ich kenne Ihre Fälle, und deshalb weiß ich auch, daß dieser raffinierte, aalglatte Verbrecher vom Typ des Gangsters außerhalb Ihres Erfahrungsbereichs liegt.« »Das macht die Arbeit doch um so interessanter«, konterte Bony. »Haben Sie was über diesen William Jackson, den Eigentümer des Studebakers, herausgefunden?« Bolt warf Mason einen funkelnden Blick zu, worauf der Unterinspektor einen Durchschlag zum Vorschein brachte. »Gegen Jackson liegt nichts vor«, las er. »Ein Farbenfabrikant. Büros in der Finders Lane. Seine Firma ist in East Richmond.« »Geht aus dem Bericht nicht vielleicht hervor, daß er hier in der Nähe ein Haus hat?« erkundigte sich Bony. »Nein. Aber ich – ich habe eine Liste aller Hausbesitzer hier am Berg.« »Sehen Sie doch mal nach William Jackson.« - 233 -
Mason machte sich an einer Akte zu schaffen, fuhr dann mit der Fingerspitze Namenkolonnen entlang. Dann: »Ah! Hier! William Jackson besitzt ein Anwesen namens Ridge House. Das kenne ich. Das ist ungefähr zwei Meilen von hier, an der Hauptstraße.« »Dabei klingelt es ja offensichtlich bei Ihnen«, brummte Bolt, als er das freudlose Grinsen bemerkte, das in Bonys blauen Augen aufblitzte. »Heiliger Bimbam! Jetzt hätte ich gleich noch größere Lust, Sie einzusperren, zu Ihrer eigenen Sicherheit.« »Super, wenn Sie jetzt einen falschen Schritt tun, dann verlieren Sie Ihren lieben Freund Marcus«, sagte Bony. An Mason gewandt, sagte er: »An einer Straße weg vom Chalet Weitblick steht nach einer Abzweigung linkerhand hinter einer Reihe von Tannen ein Haus. Wer wohnt da?« Mason dachte rasch nach. »Eine Frau namens Eldrige und ihre Tochter. Die Tochter ist behindert, das ist amtlich.« »Ich danke Ihnen, Mason. Und Ihnen auch, Super.« Bony setzte seinen Hut auf. »Ich mach’ mich jetzt mal auf den Weg. Ich komme morgen abend zur gleichen Zeit wieder vorbei. Tschüß!« »Einen Augenblick«, fuhr Bolt ihn an. Auch er stand auf. »Würden Sie uns wenigstens einen von unseren Leuten ins Chalet einschleusen lassen – nur um ein Auge auf Sie zu haben, wenn Sie sich mal umdrehen, damit Sie sich keine Kugel einfangen? Ich habe da einen Mann, der Ihnen einen ausgezeichneten Müßiggänger spielt.« Bony schüttelte den Kopf. Er lächelte in Bolts besorgte Augen. »Mir passiert schon nichts, Super. Vielleicht kann ich Ihnen schon morgen abend den Schlegel für den großen Gong in die Hand drükken.«
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24 Mick der Kitzler packt aus Am folgenden Abend, Superintendent Bolt und Unterinspektor Mason waren eben zu dem Schluß gekommen, Bony würde nicht mehr vorbeischauen, hörten sie ihn auch schon der Gattin des Hauptkonstablers versichern, er würde den Weg zum Büro schon finden. »Muß wohl durch die Hintertür hereingekommen sein«, bemerkte Mason. »Meinetwegen kommt er durch den Kamin, Hauptsache er ist endlich da«, brummte Bolt. Er stieß einen seiner gewaltigen Seufzer aus und fügte dann hinzu: »Ich hatte diese Warterei schon langsam satt. Und Sie sind jetzt mal still und hören gut zu. Womöglich macht er ja eine Bemerkung, die darauf hindeutet, wen er für diesen Marcus hält.« Die Tür öffnete sich, und Bony kam herein, warf einen Blick auf die billige Uhr über dem Kamin und strahlte die beiden sitzenden Männer an, die seit mehr als zwei Stunden voller Ungeduld auf ihn warteten. Mason musterte ihn mit teilnahmsloser Miene; der Hüne funkelte ihn an. Bony sagte: »Tut mir leid, daß ich zu spät komme, aber einer der Gäste hat mich zu einer Partie Dame überredet. Er erwies sich als so guter Spieler, daß ich die Partie erst um halb elf beenden konnte.« »Eine interessante Partie, nehme ich an?« »Ausgesprochen«, pflichtete Bony ihm bei und setzte sich dem Superintendent gegenüber an den Schreibtisch. »So geschickt, wie mein Gegner seine Damen eingesetzt hat. Ich bin sicher, Sie würden ihn gern kennenlernen. Ich werde ihn Ihnen einer dieser Tage vorstellen. Er hätte sicher seine Freude an der einen oder anderen Partie mit Ihnen.« »Dame interessiert mich nicht besonders – nicht im Augenblick jedenfalls«, sagte Bolt unhöflich. - 235 -
»Sie sollten sich Tag und Nacht dafür interessieren«, sagte Bony, der sich eine Zigarette drehte. »Ein großartiges Gehirntraining, und außerdem schärft es unser Interesse an unseren Mitmenschen. Was haben Sie denn heute abend für mich?« »Einen Ihrer Freunde im Sack und einen weiteren Ihrer Kumpane in der Leichenhalle.« »Hmm! Ein kleiner Fortschritt also, eh? Ich hoffe doch nicht, Sie glauben Freund Marcus in der Leichenhalle zu haben.« »Ein Milchmann hat auf seiner Runde heute morgen vor dem Tor eines Hauses in Coburg die Leiche eines Mannes gefunden. Die Hausbewohner sagen aus, sie hätten gegen drei Uhr morgens einen Wagen in der Straße halten gehört, und da sie zu Protokoll gaben, den Toten nicht zu kennen, nimmt man an, daß man ihn vom Auto an die Stelle getragen hat, wo er gefunden wurde. Das Tor liegt übrigens genau in der Mitte zwischen zwei Straßenlampen. Es handelt sich bei der Leiche um Ihren Freund George Banks.« Während Bolt sprach, sah Bony ihn mit leicht gehobenen Brauen an, und falls der Superintendent erwartet hatte, die schönen Brauen würden sich vor Erstaunen wieder senken, so mußte er wohl enttäuscht gewesen sein. Als Bony nichts sagte, fuhr er fort: »In seinen Taschen fanden sich Referenzen aus früheren Dienstverhältnissen, ausgestellt für George Banks. Daneben noch zwei Briefe von Mick, in denen er sich mit ihm verabredet, alles längst vorbei. Weiter fand man ein Paar dünne Gummihandschuhe und eine Brieftasche mit Schatzanweisungen im Wert von dreiundfünfzig Pfund. Neben etwas Kleingeld hatte er noch ein massiv goldenes Zigarettenetui mit den Initialen ›B. G.‹ bei sich.« »Und natürlich keine Schußwaffen, oder?« lautete Bonys Kommentar. »Keine Schußwaffen.« »Und die Todesursache?« »Eine Kugel im Gehirn – nachdem man ihn verprügelt hat.« »Gütiger Gott!« - 236 -
Die kleinen braunen Augen bohrten sich in die großen blauen Augen Inspektor Bonapartes. Er sagte: »Es bietet sich an, davon auszugehen, daß er verprügelt wurde, weil man Informationen benötigte.« Bony nickte beifällig. »Entweder weil man sie dringend benötigte, oder einfach weil man fest entschlossen war, sie zu bekommen«, sagte er. »Das goldene Zigarettenetui mit Grummans Initialen ist interessant. Und dann die Gummihandschuhe. Wen von meinen Freunden haben Sie denn verhaftet?« »Mick den Kitzler. Wir haben ihn auf einem Dampfer der BlackFunnel-Linie entdeckt, der zur Zeit im Hafen liegt. Sollte morgen auslaufen. Wir haben ihm die Leiche gezeigt. Daraufhin ist er zusammengebrochen und hat eine Aussage gemacht. Hier ist eine Kopie davon.« Bony nahm die Blätter wortlos entgegen, steckte sich eine weitere Zigarette an, lehnte sich zurück und las: Mein voller Name ist Michael Francis O’Leary, geboren bin ich in Sydney im Jahre 1907. Mein Vater war Ire, meine Mutter Engländerin. Ich hatte einen Bruder, Daniel, der 1911 in London geboren wurde. Anfang 1945 war ich in geheimer Mission in Deutschland; ich stand damals im Dienst der britischen Regierung. Man hatte mich dafür ausgesucht, weil ich dadurch, daß ich meine letzten Schuljahre in Deutschland absolviert habe und später sowohl dort als auch in anderen europäischen Ländern viel herumgekommen bin, nicht nur die Sprache akzentfrei sprach, sondern auch mit dem deutschen Geist vertraut war. Und dann natürlich weil ich schon immer mit Frauen umzugehen verstand. Bei diesem speziellen Auftrag lernte ich die Geliebte eines hohen Heeresoffiziers namens Lode kennen, durch die ich erfuhr, daß der Mann ein Mitglied des deutschen Generalstabs war. Lode war völlig vernarrt in die Frau, und da sich die Frau in mich vernarrte, sah ich mich in einer starken Position. Im März dieses Jahres betrachtete der deutsche Generalstab den Zusammenbruch des Reichs als unvermeidlich und beauftragte Generalmajor Lode, streng geheime Formeln sowohl von Drogen als auch von Explosivstoffen - 237 -
sowie eine Menge weiterer Informationen außer Landes zu schaffen, die für den Generalstab äußerst wichtig waren, dessen Angehörige schließlich wußten, daß man sich im Fall von Niederlage und Besatzung durch die Alliierten für einige Jahre würde auflösen müssen. Zu irgendeinem Zeitpunkt in der Zukunft könnte man sich dann wieder organisieren und sich daran m achen, den nächsten Versuch, die Welt zu erobern, vorzubereiten. Man hatte die Möglichkeit einer Niederlage, so scheint es, schon vor dem Krieg in Betracht gezogen, nämlich als man erkannte, daß Hitler einen Krieg beginnen würde, noch bevor das Land bereit war. In den Vereinigten Staaten gab es einen Mann namens Grumman, ein kurz nach dem Ersten Weltkrieg naturalisierter Deutscher. Dieser besuchte Deutschland 1937 oder 1938, bei welcher Gelegenheit man seine Ähnlichkeit mit Lode entdeckte, woraufhin man folgenden Plan ersann. Da es im Generalstab bereits beschlossene Sache war, die Geheimnisse zur Aufbewahrung außer Landes zu schaffen, bis man sich wieder reorganisieren könnte, fotografierte man Formeln und Pläne etcetera und verkleinerte die Aufnahmen auf die Größe von Stecknadelköpfen auf Mikrofilm. Die Filme sollten auf Spulen gewickelt und in zwei Füllfederhalter praktiziert werden. Es sollten noch zwei weitere Kopien hergestellt und von je einem Offizier verwahrt werden, die man ebenfalls noch vor dem Zusammenbruch außer Landes schaffen wollte. Über diese beiden weiß ich jedoch nichts. Lode verließ Deutschland per U-Boot und landete irgendwo an der Küste Floridas. Grumman erwartete ihn don und übergab ihm sämtliche Ausweise, seine persönliche Habe und Einzelheiten über seine Geschäfte. Grumman selbst ging an Bord des U-Boots und kehrte nach Deutschland zurück. Lode wurde zu Grumman und damit amerikanischer Staatsbürger. Ich verließ Deutschland Anfang April 1945, nachdem ich meinen Auftrag für die britische Regierung erledigt hatte. Gewissen Beamten paßte es ganz und gar nicht, daß ich mich von ihrer Abteilung trennte, aber ich habe ihnen erst gar keine Chance gelassen, einen Aufstand zu bauen. Anfang dieses Jahres kam ich in Australien an, und zwar auf demselben Schiff wie Grumman. Auf dem Schiff freundete ich mich mit Grumman, der in Wirklichkeit natürlich Lode war, an und empfahl ihm das Chalet Weit- 238 -
blick am Mount Chalmers als netten ruhigen Ort ein Stück abseits der Stadt. Das deshalb, weil ich wußte, daß mein jüngerer Bruder dort für die Bar zuständig war, und ich dachte, wir beide zusammen könnten ihm seine Geheimnisse abjagen, deren Verkauf genug bringen würde, um unsere Schäfchen ein für allemal ins Trockene zu bringen. Grumman ging in Sydney an Land. So auch ich. Ohne daß er es bemerkte, behielt ich ihn während der ganzen Woche, die er in Sydney war, im Auge. Nicht ein Deutscher nahm Kontakt mit ihm auf. Er kam per Bahn nach Melbourne; ich kam mit demselben Zug. Eine Woche lang wohnte er im Australia, wo ich auch abstieg. Noch immer keine Kontaktaufnahme. Dann nahm er sich meinen Rat zu Herzen und stieg im Chalet Weitblick ab, und ich kam ebenfalls hierher und stieg in einem anderen Gästehaus ab. Mein Bruder hielt mich über Grummans Tun und Gewohnheiten auf dem laufenden. Grumman fühlte sich vollkommen sicher, er traf keinerlei außergewöhnliche Maßnahmen dagegen, belästigt und/oder bestohlen zu werden. Wann immer er abends weg war, wenn er aus dem Haus ging, um vor dem Schlafengehen noch einen kurzen Spaziergang zu machen, durchsuchte mein Bruder Daniel seine Sachen, und Daniel war darin ein Meister. Er konnte die Füllfederhalter jedoch nicht finden, was ich auch gar nicht erwartete, obwohl durchaus die Möglichkeit bestand, daß sie im Leder seiner Überseekoffer steckten oder in den Sohlen von Schuhen, die er gar nicht trug. Ich war sicher, daß er die Füller noch hatte, daß er sie nicht weitergegeben hatte, und daß er das auch nicht tun würde, bis man es ihm befahl, und das konnte nur einer aus dem »Schwertorden«, einer geheimen Organisation preußischer Militärs, die angeblich noch über dem deutschen Generalstab steht. Daniel hat mir gesagt, daß kurz nach Grummans Ankunft im Chalet Weitblick ein Mann namens Sleeman auftauchte. Diesem Sleeman kam Daniel auf die Schliche, als er ihn heimlich aus Grummans Verandatür schleichen sah, während Grumman seinen allabendlichen kurzen Spaziergang machte. Wir waren uns nicht schlüssig, was Sleeman war – ob nur ein ganz gewöhnlicher Gauner, der abstauben wollte, was nicht niet- und nagelfest war, oder ein Mitglied irgendeiner Organisation, die hinter Grummans Ge- 239 -
heimnissen her war. Daniel sagte, daß er abends ziemlich reichlich trank, daß Sleeman aber der Typ Mann wäre, der auch voll Whisky noch alles unter Kontrolle hat, was er denn auch voll ausnützte, indem er den Angetrunkenen markierte, wo doch gerade das Gegenteil der Fall war. Ich war zuversichtlich, daß Grumman die Füller noch in seinem Besitz hatte. Seine Vorgesetzten hatten sich für die Füllfederhalter als Versteck für die Mikrofilme entschieden, weil Füllfederhalter, abgesehen davon, daß es sich um ausgesprochen gewöhnliche Gegenstände handelt, in der oberen Westentasche getragen werden, jedenfalls von Zivilisten, und deshalb jedesmal die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wenn der Besitzer die Kleidung wechselt, so wie eine ganz gewöhnliche Uhr, deren Kette quer über den Bauch hängt und deshalb jedesmal in die Hand genommen werden muß, wenn man sich auszieht. Ich war überzeugt davon, daß Grumman die Füller, wenn er sich auszog, mitsamt ihrem Etui in die Brusttasche seines Schlafanzugs heftete. Als Grumman Besuch von zwei Männern und zwei Frauen bekam, wurde ich langsam nervös. Es war das erste Mal seit seiner Ankunft in Australien, daß aus heiterem Himmel Besuch von Freunden a uftauchte, und so kam ich zu dem Schluß, daß die Sache keinen Aufschub mehr duldete. Die Nacht, in der Grumman ermordet wurde, gab Daniel ihm eine ordentliche Prise Bromid in den letzten Drink vor dem Schlafengehen. Auch in Sleemans letzten Drink gab er etwas davon. Das war noch vor elf, noch bevor das Licht vor dem Haus gelöscht wurde. Als man dann um elf Uhr das Licht ausmachte, kam ich von der Straße herauf und wartete vor Grummans Verandatür. Etwa nach einer Stunde öffnete Daniel die Tür von innen. Ich ging hinein, zog Vorhänge und Jalousien vor und machte das Licht an. Anstatt jedoch Grumman durch das Bromid betäubt zu finden, fanden wir ihn tot. An dem Bromid ist er nicht gestorben, schließlich ist Sleeman an derselben Dosis auch nicht gestorben. Wir wußten nicht, an was Grumman gestorben war, aber mir kam damals der Gedanke – und ich bin heute noch dieser Ansicht –, daß Sleeman ihm das Wasser in der Karaffe vergiftet hatte, weil Grumman nämlich etwas davon in ein Glas gegossen und getrunken hatte – mit anderen Worten, Sleeman - 240 -
hatte dasselbe vor wie wir mit unserem Bromid, nämlich bei Grumman alles gründlich auf den Kopf zu stellen. Wie auch immer, da wir dachten, daß Sleeman Grumman vergiftet hatte, und wußten, daß Sleeman wenigstens vier Stunden schlafen würde, durchsuchten wir die Leiche und fanden die Füller mit Sicherheitsnadeln in die Tasche seiner Schlafanzugjacke gesteckt. Daniel nahm die Füller an sich, und da wir beide ziemlich aus dem Häuschen darüber waren, Grumman tot aufgefunden zu haben, vergaß ich sie mitzunehmen, als ich über den vorderen Rasen zurück auf die Hauptstraße ging. Am nächsten Morgen kam ein Mann Grumman besuchen, den ich nicht kannte und der dort einen Polizisten erschoß. Daniel bekam Muffensausen, und als er ging, um die Vordertür zu verriegeln, damit die Gäste nicht reinkamen, bevor die Polizei nicht da war, schob er die Füller mitsamt ihrem Etui in die Erde eines Bottichs mit einem Strauch, weil er dachte, die Polizei könnte ihn womöglich durchsuchen. Nachdem sich die erste Aufregung gelegt hatte und die Verhöre vorbei waren, sah Daniel gegen Abend, daß sich der Hausknecht brennend für den Bottich interessierte. Und so nahm er, als er nach Einbruch der Dunkelheit an den Bottich ging, um die Federhalter zu holen, diese aber schon weg warm, natürlich an, daß der Hausknecht gesehen hatte, wie er sie in den Bottich geschoben hatte, und daß er sie sich geholt hatte. Als er an die Hütte des Mannes kam, sah er eben einen Gast namens Bonaparte hineingehen und dachte, der wolle wohl, daß der Hausknecht am nächsten Tag einen Botengang oder sonst etwas für ihn erledigte. Nachdem dieser Bonaparte die Hütte wieder verlassen hatte, überfiel Daniel den Knecht, aber der schwor, Bonaparte hätte die Füller mitgenommen. Daniel schickte den Knecht schlafen, mußte aber feststellen, daß der Mann die Wahrheit gesagt hatte, da er die Füller nicht hatte. Er ging also los, um sich Bonaparte zu schnappen, sah diesen aber schon wieder zur Hütte zurückkommen. Nachdem Bonaparte einige Minuten in der Hütte gewesen war, bekam ihn Daniel durch einen Trick dazu, ihm die Tür zu öffnen. Er überfiel Bonaparte und nahm ihm die Füller ab.
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Ich vergaß anzugeben, daß Daniel, bevor er den Knecht überfiel, in einen seiner alten Anzüge stieg und sich ah Maske ein Tuch vors Gesicht band. Bonaparte verließ Weitblick noch spät in der Nacht und kam erst am folgenden Nachmittag wieder zurück. Nachdem ich gewartet hatte, bis sich die Polizei wieder beruhigt hatte, rief ich Daniel an und verabredete mich mit ihm in der Stadt. Wir trafen uns in einem Café, und Daniel gab mir die Füller. Ich fand an deren hinterem Ende eine Schraube, die, wie ich wußte, die Spule hielt, auf die die Mikrofilme g ewickelt waren. Nur daß kein Mikrofilm drin war, weder in dem einen noch in dem anderen. Der Gast, dieser Bonaparte, mußte die Filme während seiner Abwesenheit von der Hütte des Knechts entfernt, sie in die Stadt gebracht und dort jemandem übergeben haben. Ich habe die Leiche meines Bruders Daniel gesehen. Die Schweinereien, die man mit ihm gemacht hat, bevor man ihn umbrachte, entsprechen genau den Methoden, die der deutsche »Schwertorden« angewandt hätte, falls der ihm Informationen über den Verbleib des Inhalts der beiden Füller hätte abpressen wollen. Für wen Sleeman und Bonaparte arbeiten, weiß ich nicht, bin aber sicher, daß keiner von beiden dem »Orden« angehört, weil man sie da nicht aufnehmen würde. Bony legte die Aussage auf den Tisch und fabrizierte kommentarlos eine Zigarette. Bolt schwieg, bis Bony ein Streichholz angerissen hatte, dann sagte er: »Nun, was halten Sie davon?« »Waren Sie bei Oberst Blythe und haben ihm diese Aussage gezeigt?« erkundigte sich Bony. »Ja. Er sagt, daß die Briten O’Leary als Agenten beschäftigt hatten und daß der erste Teil der Aussage im wesentlichen korrekt sein dürfte.« »Ich sehe das anders, Super. Von einigen Einzelheiten im zweiten Teil ausgehend, würde ich sagen, daß die Aussage alles andere als korrekt ist. O’Leary leugnet die Komplizenschaft bei der Vergiftung Grummans, indem er sagt, sein Bruder hätte Grumman einen Schlaf- 242 -
trunk in den letzten Drink gegeben, und dennoch trug er, als er in Bagshotts Schuhen den Rasen hinunterging, einen schweren Gegenstand, bei dem es sich um Grummans Leiche handelte. Aber diese Details können fürs erste warten. Von unmittelbarerem Interesse ist im Augenblick das Schicksal seines Bruders.« »Und ob!« pflichtete Bolt ihm bei. »Haben Sie denn nicht wenigstens eine Ahnung, wer die Mörder sein könnten? Was ist mit diesem Sleeman?« »Kann sein, daß Sleeman da mit drin steckt, aber außer zu einem Spaziergang für ein paar Stunden gestern nachmittag hat Sleeman das Chalet nicht verlassen. Wollen wir uns doch mal mit Hilfe der nackten Tatsachen, die wir haben, eine Geschichte vorstellen. Da vermutet jemand, daß George – wie wir Daniel O’Leary hier mal nennen wollen –, daß also George Grumman umgebracht und die Füllfederhalter gestohlen hat. Man entführt George, nachdem er sich in der Stadt mit seinem Bruder getroffen hat – der übrigens nicht angibt, was mit den Füllfederhaltern passiert ist, nachdem die beiden entdeckt haben, daß man die Mikrofilme schon entnommen hat. Die Entführer finden die Füllfederhalter bei George und stellen fest, daß die Geheimnisse, die sie enthielten, verschwunden sind. Was hat George mit den Filmen gemacht? George will nicht reden. Man übt Druck auf ihn aus, und George erzählt, vielleicht unter Druck, sein Abenteuer mit Bisker und mir. Sie sagen ihm, das kann er seiner Großmutter erzählen. Wer war der Mann, mit dem er sich an diesem Tag in der Stadt getroffen hat? George macht den Mund nicht auf. Sie üben etwas mehr Druck auf ihn aus. Noch immer will George den Mund nicht aufmachen, er will ja schließlich nichts sagen, was seine Folterknechte zu seinem Bruder führen könnte. Und so erschießt man ihn denn letzten Endes. Ich neige zu der Annahme, daß George wie ein Held gestorben ist. Nachdem man den eigensinnigen George umgebracht hat, erinnert man sich seiner Geschichte über das Abenteuer mit Bisker und mir,
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und man wird zweifelsohne versuchen, sie nachzuprüfen. Hmm! Das könnte interessant werden.« »Das wird es ganz sicher, wenn die an Ihnen ihre besonderen Überredungskünste anwenden«, sagte Bolt langsam und mit Nachdruck. Zum erstenmal machte jetzt Mason eine Bemerkung. »Könnte es sich bei den Leuten, die sich George vorgeknöpft haben, nicht um Freunde unseres Kumpans Marcus handeln?« sagte er. »Immerhin wollte Marcus Grumman doch im Chalet besuchen. Er hat Grumman also gekannt.« Bolt wartete darauf, daß Bony Masons Anregung widersprach, aber es kam nichts. »Das ist durchaus wahrscheinlich, obwohl wir keine Beweise dafür haben. O’Leary deutet das in seiner Aussage mit keinem Wort an, obwohl er gewußt haben muß, daß der Mann, der Rice erschossen hat, gekommen war, um Grumman zu besuchen. Nun konnte aber keiner der beiden Brüder über Marcus wissen, was wir über ihn wissen. Obwohl wir keinerlei Beweise dafür haben, neige ich dennoch zu der Annahme, daß Marcus hinter dem Mord an George steckt.« »Und da dem so ist, sind jetzt womöglich Sie und Bisker dran«, sagte Bolt. »Lassen Sie mich überlegen«, bat Bony. »Überlegen Sie nicht«, drängte Bolt. »Sagen Sie uns lieber, wo Marcus ist, wenn Sie’s wissen.« Bony lächelte, und Bolt hätte sich am liebsten über den Schreibtisch gebeugt und ihm eine gelangt. »Sagen Sie mir eines: Wie ist es Ihnen gelungen, O’Leary zu diesem Geständnis zu bekommen?« fragte Bony. »Nun ja, nachdem wir ihn unter dem Vorwand, ihm im Präsidium einige Fragen stellen zu wollen, mitgenommen hatten, legten wir George in der Leichenhalle aus, und ich brachte O’Leary dorthin, um zu sehen, ob er ihn wohl identifizieren könnte. Als er die Leiche sah, brach O’Leary zusammen, was ich ihm auch nicht verdenken kann. Nach einer Weile beruhigte er sich langsam wieder und sagte dann, - 244 -
der Tote sei sein Bruder und daß er eine Aussage machen wolle, weil er sich im Gefängnis sicherer fühle. Im folgenden kam dann heraus, daß er der festen Überzeugung ist, daß die Leute, die es George besorgt hatten, Angehörige dieses geheimen deutschen ›Ordens‹ sind, die Grumman seit seiner Landung in Amerika beschattet hatten.« »Womit er durchaus recht haben könnte, Super«, fügte Bony hinzu. »Nein, wir werden uns Marcus noch nicht schnappen. Genausowenig wie wir uns auf einen Streit mit unserem guten Mr. Sleeman einlassen werden. Das muß noch ein Weilchen warten. Wir werden diesen Verein von Folterern Gelegenheit geben, den nächsten Zug zu machen.« Der hünenhafte Superintendent beugte sich weit über den Schreibtisch und funkelte Bony an. Seine Stimme hörte sich an, als zerreiße man Wellblech. »Einmal angenommen, die machen eine kleine Spazierfahrt mit Ihnen und knipsen Sie aus, wie sollen wir Marcus dann schnappen? Wenn Sie ihn kennen und wissen, wo er steckt, dann sagen Sie uns das, bevor man Sie sich schnappt, foltert und umbringt.« Langsam, und Bolts böses Funkeln erwidernd, sagte Bony: »Falls die mich tatsächlich ausknipsen, werde ich ganz schön was zu staunen haben, weil das nämlich das erste Mal ist, daß mir das passiert. Und jetzt gute Nacht. Und passen Sie auf Ihren Blutdruck auf.«
25 Drei fröhliche Zecher Bisker war nicht der einzige von Miss Jades Personal, dem man einen Wecker zur Verfügung gestellt hatte; auch Mrs. Parkes, die Köchin, hatte einen bekommen. Im Gegensatz zu Bisker freilich war sie außerstande, ihrem Zorn auf Uhren, Miss Jade und die Welt im allgemeinen in Worte zu fassen, und sei es auch nur, weil sie - 245 -
grundsätzlich ohne Zähne schlief und, bevor sie sich die Kehle mit heißem Tee angefeuchtet hatte, ohnehin sprachlos war. Als sie an diesem speziellen Morgen die Küchentür öffnete, staunte sie nicht schlecht, den Raum in völliger Dunkelheit vorzufinden. Nicht nur, daß kein Licht brannte – und nicht ein Feuer im Herd –, auch von dem Kessel Tee, mit dem Bisker sie sonst erwartete, keine Spur, ganz zu schweigen von Bisker selbst. Auf diesen entschiedenen Schock hin kam Mrs. Parkes zu dem Schluß, ihr Wecker müsse sie viel zu früh geweckt haben, sah dann jedoch an der Küchenuhr, daß ihr das Rasseln keineswegs einen Streich gespielt hatte. Es war tatsächlich fünf Minuten nach sechs. Fünf Minuten nach sechs! Und nicht ein Feuer im Herd, kein Kessel Tee und die Schuhe von gut vierzig Gästen zu putzen! Kein Tee! Dieser närrische Bisker muß vergessen haben, seinen Wecker zu stellen, und verschlief nun das letzte bißchen Verstand, das er noch hatte. Zahnlos und von übermächtigem Zorn erfüllt, eilte Mrs. Parkes durch die Küche, drehte das rote Licht des Elektroherds an, stellte den Kessel darauf und machte sich auf den Weg, Bisker aufzustören. Durch die finsterste Stunde vor der Morgendämmerung laufend, ließ sie schon mal ihre Armmuskeln spielen, um sich auf die Schwerarbeit vorzubereiten, die ihr bevorstand. Zu ihrem Erstaunen, ganz zu schweigen von ihrem Verdruß fand sie Biskers Bett jedoch leer, und da der Mann sein Bett nur einmal im Monat machte, hätte sie nicht sagen können, ob er nun in dieser Nacht darin geschlafen hatte oder nicht. Wieder in der Küche, stellte Mrs. Parkes fest, daß der Kessel auf dem Elektroherd pfiff, aber selbst dieser ermutigende Ton machte keinerlei Eindruck auf den rasenden Zorn, der ihr jetzt zu schaffen machte. Aus der Küche stampfte sie durch die Korridore in Richtung der Personalunterkünfte und weckte die beiden Dienstmädchen, die sonst nicht vor sieben aufzustehen brauchten. Als sie in die Küche kamen, hatte Mrs. Parkes im Herd Feuer gemacht und rauchte über einer Tasse Tee ihre erste Zigarette. - 246 -
»Geht mal eine von euch beiden los und sagt Miss Jade, daß alles drunter und drüber geht«, sagte sie mit unnötigem Nachdruck und fügte hinzu: »George ist noch nicht wieder da, und jetzt ist auch noch Bisker beim Teufel. Die Gäste werden sich ihre Schuhe heute wohl mal selber putzen müssen.« Um der Tragik dieses Morgens die Krone aufzusetzen, begann auch noch eines der Mädchen zu kichern und rannte hinaus. Die schiere Masse der Köchin, ihre Aufmachung, das große Pfannkuchengesicht mit der Flohhüpfknopfnase genau mittendrin, die Höhle ihres zahnlosen Mundes, dazu in der einen Hand die Tasse Tee, in der anderen eine Zigarette, das war Alice einfach zuviel. Fünf Minuten später trat Miss Jade in die Küche. Sie trug einen Hausmantel aus purpurner Seide und mit weißem Satin gesäumte Hausschuhe aus Kaninchenfell. »Was gibt es denn, Mrs. Parkes?« Mrs. Parkes brauchte etwas über zwei Minuten, um ihr ihr Leid zu klagen. Miss Jade hörte zu, ohne auch nur den Versuch zu machen, ihre Köchin zu unterbrechen, und als deren Mechanismus sich totgelaufen hatte, sagte sie nichts weiter als: »Wenn Bisker auftaucht, dann schicken Sie ihn zu mir.« Aufgrund so kleiner Ereignisse geraten Weltreiche ins Schwanken und fallen krachend zusammen. Als das Mädchen mit der morgendlichen Tasse Tee an Bonys Tür klopfte, schlüpfte er aus dem Bett und entfernte die Falle, einen Stapel leerer Tabakdosen vor der Tür, der ihm einen unbefugten nächtlichen Besucher angekündigt hätte. Von dem Mädchen erfuhr er, daß Bisker nicht zur Arbeit erschienen war. Miss Jade lasse Grüße sowie ihr Bedauern ausrichten, und ob wohl Mr. Bonaparte, unter den gegebenen unglücklichen Umständen, so freundlich wäre, seine Schuhe heute morgen selbst zu putzen? Bony schaltete den Heizstrahler an, und setzte sich davor, um bei einer Zigarette an seiner Tasse Tee zu nippen. Er hatte Bisker seit dem Nachmittag tags zuvor nicht mehr gesehen. - 247 -
In seinem Hausmantel, ein Badetuch über der Schulter, verließ Bony sein Zimmer, noch bevor er zu Ende geraucht hatte. Er schlenderte, ohne dabei einem der anderen Gäste zu begegnen, den Hauptkorridor entlang zu den Bädern, durchquerte schließlich die Empfangshalle und verließ durch den eben für den Tag geöffneten Haupteingang das Haus. Es war ein schöner Morgen. Die längst aufgegangene Sonne badete Bäume und Garten in ihrer Farbenpracht. Über der Sohle des Tals segelten, wie Schafwolle auf dem Boden eines Schurschuppens, kleine Nebelfelder dahin. Nicht eine Wolke trieb über den klaren und leuchtend blauen Himmel. Nicht ein Lüftchen störte das Laub der Bäume. Als er auf den Aschenpfad zu Biskers Hütte gelangte, las Bony darauf die Morgenpostille. Er sah die breiten Abdrücke der Pantoffeln der Köchin. Er sah die Spuren von Biskers Stiefeln, deren jüngste Eindrücke ihm sagten, daß Bisker, als er zum letztenmal hier langgekommen war, seine Hütte verlassen hatte. Sonst fanden sich keine Spuren aus allerjüngster Zeit. Bony betrat die Hütte. Die Jalousie war nicht vorgezogen, aber das war kaum von Bedeutung, da Bisker sie ohnehin nur selten benutzte. Das Bett war, wie bereits gesagt, ungemacht, aber als Bony mit den Händen unter die Decken fuhr, kam er zu dem Schluß, daß Bisker letzte Nacht nicht in seinem Bett geschlafen hatte. Auf der Kiste neben dem Bett stand Biskers Wecker, sonst jedoch nichts außer der Pfeife, die Bisker gewohnheitsmäßig mit »Resten« stopfte, um sie für die ersten Züge des folgenden Tages zu präparieren. Die Pfeife erzählte Bony eine kleine Geschichte. Ihr Kopf war nämlich leer. Bisker hätte sie vor dem Schlafengehen gestopft. Sie war nicht gestopft; also war Bisker letzte Nacht nicht wiedergekommen, um schlafen zu gehen. Bony ging einmal um die Hütte herum, bevor er auf den Platz vor den Garagen zurückkehrte. Er hatte keine frischen Spuren entdeckt, und hier auf dem Weg waren nur die von Bisker und der Köchin. Während er sich anzog, waren seine Gedanken ganz woanders. - 248 -
Hatten die Leute, die George gefoltert und erschossen hatten, sich jetzt Bisker geschnappt? Falls ja, so stand es in der Tat schlecht um die Zukunft des Hausknechts. Natürlich bestand noch die Möglichkeit, daß Bisker in die Pinte im Ort gegangen war und dort übernachtet hatte. Womöglich wußte sein Kumpan, dieser Fred, der den Rasen mähte, etwas über seinen Verbleib. Bony machte sich große Sorgen um Bisker, als er sich fürs Frühstück zu Downes, Lee, Sleeman, dem Maler sowie einem weiteren, erst am Abend zuvor eingetroffenen Mann gesellte. Der Neue an ihrem Tisch war groß, stattlich und wettergegerbt, und Bony fragte sich, ob Bolt ihm wohl entgegen ihrer Abmachung einen seiner Leute hergeschickt hatte. »Das hat mir nichts ausgemacht«, sagte der Schafzüchter eben. »Ich bin es gewohnt, mir meine Schuhe selber zu putzen.« »Das dürfte Miss Jade das Leben nicht grade erleichtern, wo doch schon George weggeblieben ist«, warf Sleeman ein. »Vielleicht ist er in die Kneipe, um sich einen auf die Lampe zu gießen, und fand es dann zu schön, um aufzuhören.« Lee erzählte einige Geschichten von Männern aus dem Busch, die bei ihm gearbeitet hatten, daß die Schnaps nur zu riechen brauchten, schon konnten sie nicht anders, als ihr Geld zu verlangen und in die nächste Kneipe zu laufen. Downes hörte zu, sagte aber selbst nur wenig. Einmal warf er ein, daß doch an arbeitswilligen Hausgehilfen wohl kein Mangel herrschen könne. Nach dem Frühstück suchte Bony Miss Jade im Büro auf. »Was hat es denn mit Biskers Abwesenheit auf sich?« fragte er. »Er ist einfach auf und davon, Mr. Bonaparte, und das genau in einem Augenblick, in dem wir ohnehin schon Not am Mann haben, wo George doch noch immer nicht zurück ist und wir das Haus voller Gäste haben.« Miss Jade war verärgert, richtig zornig, und Bony dachte bei sich, sie sei an diesem Morgen schöner denn je. »Vielleicht ist er oben in der Kneipe«, schlug er vor.
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»Nein. Ich habe eben mit dem Geschäftsführer dort gesprochen. Man hat Bisker dort seit zwei Wochen nicht mehr gesehen.« »Ist er schon einmal ohne Erlaubnis weggewesen?« hakte Bony nach. »Nicht ein einziges Mal. Ich muß ihm das wirklich lassen. Er war weder weg, noch hat er auch nur ein einziges Mal verschlafen.« Miss Jades Lächeln beschränkte sich ganz auf die Lippen. »Der Mann hat eine ganze Reihe von Tugenden, das muß ich der Gerechtigkeit halber sagen, aber was nützen mir all seine Tugenden, wenn ich das Haus voller Gäste habe und obendrein noch der Getränkekellner abwesend ist?« »Das ist wirklich unangenehm«, murmelte Bony. »Mrs. Parkes, meine Köchin, wissen Sie, die ist vielleicht wütend«, sagte Miss Jade. Sie hatte sich völlig unter Kontrolle, aber der Zorn war ihren schwarzen Augen abzulesen. »Gute Köchinnen sind schwer zu bekommen und noch schwerer zu halten«, fuhr sie fort. »Aber Männer sind dieser Tage auch nicht leicht zu bekommen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als in der ganzen Gegend herumzutelefonieren und zu versuchen, eine Hilfe zu bekommen.« »Was ist mit Fred?« »Der würde womöglich kommen – wenn ich ihn nur ausfindig machen könnte. Aber er ist mal hier, mal da, er arbeitet ja nur als Tagelöhner.« »Wenn Sie mir sagen, wo er wohnt, ich würde mal nach ihm sehen. Er könnte ja zu Hause sein. Wenn nicht, dann werde ich eben versuchen, ihn für Sie zu finden.« »O Mr. Bonaparte, würden Sie?« Miss Jade war aufrichtig erleichtert. »Gehen Sie zum oberen Tor, und nehmen Sie die Zufahrt zur Hauptstraße. Die gehen Sie dann hinauf bis zum Obststand und gehen dann die Straße linkerhand in Richtung Schlucht. Freds Häuschen steht rechts unweit der Schlucht.«
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»Ausgezeichnet. Ich werde sofort einen Spaziergang dorthin machen«, versicherte ihr der nun lächelnde Bony, und Miss Jade ging so weit, ihm den Unterarm zu drücken. Bony verbeugte sich mit den Worten: »Könnte ich vielleicht Ihr Telefon hier benutzen, bevor ich mich auf die Jagd nach Fred mache?« »Selbstverständlich. Soviel Sie nur wollen. Ich lasse Sie allein und gehe frühstücken.« Miss Jade lächelte ihn an, worauf er sich ein weiteres Mal verbeugte. Sie schloß die Bürotür hinter sich. Er rief die Vermittlung an und verlangte die Polizeiwache des Bezirks Mount Chalmers. Der Hauptkonstabler war am Apparat. »Ich möchte bitte den Unterinspektor sprechen.« »Unterinspektor Mason? Wer spricht denn da?« »Der Name tut nichts zur Sache«, antwortete Bony. »Ich rufe aus dem Chalet an.« Der Hauptkonstabler sprang sozusagen in Habachtstellung. »Oh. Ja, Sir, ich werde den Unterinspektor sofort holen.« Die Leitung blieb dreißig Sekunden lang leer. Dann sprach Mason. Bony sagte leise: »Können Sie mich hören?« Nachdem man ihm versichert hatte, daß man ihn hörte, fuhr er fort: »Ich möchte, daß Sie sich mit dem Super in Verbindung setzen und ihm sagen, daß er sich seinen Freund Marcus und einen Gast namens Sleeman greifen soll. Marcus’ jüngster Deckname ist Downes. Haben Sie das? Ich überlasse alles dem Super.« »In Ordnung! Ich bin sofort mit ein paar Männern bei Ihnen.« »Warten Sie, Mason«, bat Bony. »Unternehmen Sie nichts, bevor Sie sich nicht mit Bolt in Verbindung gesetzt haben. Denken Sie daran, das Haus ist voller Gäste. Denken Sie außerdem daran, daß Ihre Karriere ruiniert ist, falls Marcus Ihnen durch die Lappen geht. Niemand von Ihnen kennt Downes. Sie müssen es schon mir überlassen, ihn Ihnen zu zeigen.«
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»Hmm! Da haben Sie wohl recht. Na schön! Ich setze mich mit dem Super in Verbindung. Wo erreichen wir Sie, wenn wir Sie dringend brauchen?« »Mir ist jedes Arrangement recht«, sagte Bony. »Erinnern Sie den Super an Marcus’ Kumpan, wie auch immer er heißt, der etwas weiter die Hauptstraße hinunter im Ridge House wohnt. Ich schlage vor, Sie führen dort so rasch und gründlich wie nur möglich eine Razzia durch. Haben Sie vielleicht Bisker gesehen? Warten Sie!« Die Bürotür ging auf. »Ich danke Ihnen«, fuhr Bony fort, seine Stimme etwas lauter nun. Über dem Telefonhörer sah er Downes auf der anderen Seite der geöffneten Tür stehen. »Ja, ich werde Miss Jade informieren … Ja, ich bedanke mich vielmals!« Bony legte den Hörer auf den Apparat und griff mit der freien Hand nach dem Hebel, der ihn mit der Vermittlung verband. »Miss Jade ist frühstücken gegangen«, sagte er Downes. »Oh!« murmelte Downes. »Ich komme wegen des Telefons. Ich wußte nicht, daß Sie hier sind. Sind Sie fertig?« »Nein, aber es dauert nicht lange.« Marcus’ Augen waren leicht zusammengekniffen. Er zog sich zurück, und die Tür schloß sich. Bony drehte am Hebel. Er war sicher, daß Marcus alias Downes gleich draußen vor der Tür stand, und diese war so beschaffen, daß Downes jedes mit normaler Stimme ins Telefon gesprochene Wort hören konnte. Als sich die Vermittlung meldete, verlangte er eine Verbindung mit dem Inhaber des Bus- und Taxiunternehmens, bei dem er sich mit absichtlich gesenkter Stimme erkundigte, ob er nicht vielleicht wisse, wo Fred gerade arbeite. Die Information war nicht zu haben. Aus der Empfangshalle kamen die Stimmen mehrerer Gäste, und Bony war sich bald sicher, Downes würde nicht so einfach vor der Tür stehen bleiben, falls er dies nach seinem Hinausgehen tatsächlich getan hatte. Trotzdem wartete er und drehte sich eine Zigarette dabei, bevor er das Büro verließ und,
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als er Downes nirgendwo entdeckte, zur Haustür hinaus und hinauf zum oberen Tor schlenderte. In dem weichen Schlamm zwischen der Zufahrt zum Chalet und der geschotterten öffentlichen Straße fand er die Abdrücke von Biskers Stiefeln, die ihm sagten, daß der Mann zur Hauptstraße hinuntergegangen war. Gemächlichen Schritts spazierte Bony die Straße entlang, bis sie in die Hauptstraße mündete. Dort blieb er stehen, um die Aussicht zu bewundern, wobei er hin und wieder einen Blick auf die Nebenstraße warf, die er eben heruntergekommen war. Von Downes war nichts zu sehen. Da er, während er so dastand, auch nicht eine Menschenseele entdecken konnte, schlenderte er schließlich weiter, diesmal die Hauptstraße hinauf. Er mochte sich etwa auf halbem Weg zwischen der Einmündung der Nebenstraße und dem Obststand an der Straße befinden, als er hinter sich ein Auto kommen hörte. Es fuhr schnell, und noch bevor es ihn erreicht hatte, trat er ganz beiläufig von der Straße und lehnte sich gegen den Stamm eines prächtigen Fieberbaumes. Als der Wagen sich näherte, trat er noch weiter zurück, bereit, beim ersten Zeichen eines Angriffs hinter den dicken Stamm zu springen. Außer dem Fahrer saß jedoch niemand im Wagen, und der sah Bony noch nicht einmal. Bony trat auf die Straßenmitte, von wo er, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, den mächtigen Baum hinaufblickte. Der verebbende Motorenlärm des Autos war das einzige Geräusch in der Stille dieses wäldlichen Idylls. Nachdem er den Baum eine Weile bewundert hatte, setzte er, sich hin und wieder ganz beiläufig umdrehend, seinen Weg die Hauptstraße entlang fort. Am Obststand, der noch nicht geöffnet hatte, bog Bony in die Nebenstraße ein, die hier, ziemlich steil abfallend und kerzengerade, abzweigte. Der Belag dieser Straße bestand aus feinem Kies, und zu ihrer Rechten führte ein Fußgängerweg entlang. Und auf diesem Weg fand er die Abdrücke von Biskers Stiefeln wieder. - 253 -
Beim Anblick dieser Spur fiel Bony ein Stein vom Herzen, da es wohl offensichtlich war, daß Bisker, als er diese Spuren hinterließ, sich auf dem Weg zu seinem Freund Fred befand. Bony begann ein kleines Liedchen zu summen. Er beschleunigte seine Schritte und war etwa zur Hälfte die Straße hinunter, als er unten zwei Gestalten aus dem Waldsaum auftauchen sah, die sich mitten auf die Straße stellten. »Nun, das dürfte wohl auf der Höhe von Freds Haus sein«, sagte er laut. »So wie die beiden da unten dastehen, könnte man meinen –« Er begann wieder zu summen, hörte jedoch rasch wieder auf, weil er lachen mußte. Die beiden Männer kamen auf ihn zu. Immer wieder gerieten sie nah aneinander, um sich dann wieder auseinander zu bewegen. Der eine war groß; der andere war klein. Der eine war schmal, der andere dicklich. Der Große trug eine Sturmlaterne. Die Lampe brannte stark rußend. Neben einem Baum blieb Bony stehen und wartete. Die beiden Trinker kamen näher. Die kleine Flamme der Lampe nahm sich lächerlich aus angesichts der warm strahlenden Sonne, die freilich die dünne Rauchfahne nicht kaschieren konnte, die sich oben herauswand. Bisker stolperte, und Fred lamentierte: »Warum paßt du nicht auf, wo du hinlatschst? Wieso zum Teufel schlepp’ ich die Lampe mit, wenn du noch nicht mal siehst, wann du über so ’n kleinen Ast da steigen mußt?« »Dann leucht’ einem doch ordentlich, verdammt noch mal«, konterte Bisker. »Wie zum Geier soll ich die verfluchten Äste denn sehen, wenn du mit der Lampe rumfuchtelst, als würdest du irgend’nem jungen Flittchen am Fenster Zeichen geben.« So schwankten die beiden auf der perfekt angelegten Sandstraße an Bony vorbei, der schließlich hinter seinem Baum hervortrat und hinter den beiden dreinspazierte.
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»Ich hält’ ja wirklich verflucht Lust, die ganze Nacht zu bleiben«, grummelte Bisker, der sich mit dem Sprechen schwertat. »Wie viele Flaschen von dem Scotch hast du ’n noch in deiner Pofe, Fred?« »Vier. Und noch ’n paar Dutzend Flaschen Bier«, antwortete Fred. »Die wer’n uns schon nicht verdunsten, und morgen abend kannst du ja wieder runterkommen, und wir machen wieder einen drauf. Heiliger Birnbaum! War das ein Abend, was, Bisker? Was für ’n Abend!« Bisker rülpste und lachte dann schallend. »Verflucht noch mal, der beste, den wir je gehabt haben, Fred«, sagte er, und keiner der beiden war sich des nur zwei Schritte hinterdreinkommenden Bony bewußt. »Weißt du, Fred, wie ich dir am Samstagnachmittag gepfiffen hab’, daß Black Prince gewonnen hat, und wie ich gesehen hab’, wie du mit den Armen rumgefuchtelt hast, da hab’ ich mir gesagt: ›Mensch, was werden ich und der olle Fred mit dem Zaster einen draufmachen. Hundertzehn Scheine sind wirklich kein Pappenstiel‹, sag’ ich zu mir. ›Da kannst du ’ne Menge echtes Gift von kaufen‹, sag’ ich zu mir.« »Und – hick – ob, Bisker, das kannst’u«, pflichtete Fred ihm bei. Mit einemmal blieb Bisker stehen. »Ich geh’ erst gar nicht heim«, verkündete er. »Der alte Drachen kann mich mal kreuzweise. Ich kehr’ wieder um und genehmige mir noch ’n paar. Weißt du, bis wir so richtig hackezu sind.« »Sind wir doch schon«, widersprach ihm Fred. »Paß auf! Paß doch auf, wo du hinlatschst! Siehst du denn den Baumstamm da vor dir nicht?« Die beiden blieben stehen und betrachteten feierlich einen Zweig von vielleicht anderthalb Zentimeter Durchmesser, der sich von seinem Elternast getrennt hatte und auf die Straße gefallen war. Fred hielt die Lampe näher hin und stieg dann mit einem hohen Schritt drüber weg, drehte sich um und hielt seinem Begleiter die Hand hin, um ihm behilflich zu sein. Bisker nahm die Hand absurderweise und
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stieg ebenfalls mit einem großen Schritt über den Zweig. Bony stand daneben, ohne daß auch nur einer der beiden ihn gesehen hätte. »Nu wird’s aber wirklich mal Zeit, daß das vermaledeite Reservatskomitee dich für ’n paar Tage einstellt, um die Straße hier aufzuräumen, Fred«, sagte Bisker, und Fred erklärte ihm, daß er für die nächsten beiden Jahre schon genug Arbeit hätte – bei »hundert Leuten«. Langsam bewegte sich die Gesellschaft die Straße hinauf auf die Hauptstraße zu. Dann, als Bisker das Kreuz streckte, sah er sich um und erblickte Bony. »He, Fred, die Malefizsonne ist grad aufgegangen. Kannst die verfluchte Lampe schon mal ausblasen.« »Was soll ’n das heißen, die Sonne ist aufgegangen?« wollte Fred wissen. »Tja, meine Herren, die Sonne ist aufgegangen, und wir sind noch weit von zu Hause«, sagte Bony ernst. Bisker beschattete sich mit einer schmutzigen Hand die Augen. »Heiliger Birnbaum!« sagte er und schwieg dann still. »Man wird schon daraufwarten, daß Sie Feuerholz machen«, fuhr Bony fort. »Miss Jade macht sich große Sorgen um Sie, Bisker.« »Das kann ich mir denken«, pflichtete ihm Bisker mit beißendem Spott bei. »Der alte Dra…« »Fred, bitte. Miss Jade ist nicht alt.« »Klar issie nicht alt«, versicherte Bisker geschwind. »Ist wohl eine Freundin von Ihnen, Mr. Bonaparte?« »Eine sehr gute Freundin, Bisker.« »Dann issie auch meine Freundin. Alle Ihre Freunde sind auch meine Freunde. Komm schon, Fred. Was trödelst du noch rum? Komm mit rauf und hilf mir verflucht noch mal, etwas Holz für Mrs. Parkes zu machen.«
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»Ich danke Ihnen, meine Herren«, sagte Bony. »Ich wußte doch, Sie würden eine Dame nicht wegen ein paar Scheiten Holz hängen lassen. Nehmen Sie meine Arme, und schon geht es ab nach Hause.« Mit Bisker am rechten Arm hängend und Fred, die immer noch brennende und rußende Sturmlaterne in der freien Hand, krampfhaft am linken, gelangten sie auf die Hauptstraße. Diese stolperten sie dann schwankend und aus voller Kehle singend hinunter. Sie begegneten einem Wagen, und der Fahrer hielt an. Es war der Hauptkonstabler des Bezirks Mount Chalmers. Seine Augen waren so groß wie kleine Kürbisse. Bony hörte lange genug auf zu singen, um ihm zu sagen: »Bolt soll vorsichtig zu Werke gehen.« Der Hauptkonstabler starrte ihnen nach. Bony, in der Mitte, sang einen Refrain über eine alte graue Stute auf einer Farm und ihr Gnadenbrot.
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26 Marcus’ falscher Zug Beim Mittagessen mit seinen üblichen Tischgenossen war Bony bester Laune. Nachdem er seine gute Tat für den Tag vollbracht hatte, sah er sich mit Miss Jades süßestem Lächeln belohnt, einem Lächeln, an das der dafür ausgesprochen empfängliche Bonaparte noch lange zurückdenken sollte. Als man sich der oberen Zufahrt zum Chalet näherte, hatte Bony dem Gesang einen Riegel vorgeschoben und, am Holzstoß angekommen, seine Begleiter mit subtiler Diplomatie zum Arbeiten gebracht, indem er mit dem Vorschlag, Bisker solle sich doch vielleicht setzen und Fred Mrs. Parkes das Holz machen lassen, für etwas Wettbewerb sorgte. Was natürlich zur Folge hatte, daß Bisker sich weigerte, so einfach nichts zu tun, und Fred es ablehnte, nur so herumzusitzen, so daß schließlich bis zum Mittagsgong genügend Holz für sämtliche Feuer der nächsten Tage gemacht war. Als diese Arbeit vollbracht war, führte Bony seine neuen Freunde in Biskers Hütte, kehrte zu Miss Jade zurück, erbat von ihr eine Flasche zur Stärkung, verabreichte den beiden Männern das Tonikum und sorgte dafür, daß sie sich für den Rest des Nachmittags Biskers Bett teilten. Miss Jade hatte sich inzwischen der Dienste eines Mannes aus dem Ort versichert, der Georges Stelle einnahm, so daß die Organisation im Chalet Weitblick bald wieder wie am Schnürchen lief. Nach dem Mittagessen machte sich ein Gutteil der Gäste zu einem Spaziergang auf. Andere, in der Hauptsache die älteren Leute, zogen sich für ein Nickerchen auf ihre Zimmer zurück. Ein Mietwagen traf ein und holte einige der Gäste zu einer Fahrt um den Berg ab, und als - 258 -
die Droschke das Chalet wieder verlassen hatte, waren kaum ein Dutzend Leute auf der Terrasse geblieben. Einer von ihnen war Bony, der in seinem Lieblingssessel am hinteren Ende saß. Eine Gruppe bildeten Sleeman und Lee mit dem neuen Gast an ihrem Tisch, einem gewissen Tully. Downes hatte einen Stuhl hinter ihnen, während hinter Downes wiederum einige Männer mit ihren Gattinnen Grüppchen bildeten. Der Tag war schön und mild geblieben. Die Rieseneisvögel schwiegen, nur die Peitschenvögel in einer fernen Schlucht gaben hin und wieder ihre eigentümlichen Laute von sich. Die zerrupfte »Wolle« über dem Tal war von der Sonnenwärme aufgefegt worden, und die fernen Berge bekamen jetzt, am frühen Nachmittag, ihr kunterbuntes Cape um die Schultern gelegt. Der einzige Makel an Mutter Natur schier endloser und herrlicher Szenerie war die Teufelsfährte auf Miss Jades Rasen. Jetzt ein Nickerchen zu halten war Bonaparte selbstverständlich unmöglich. In Erwartung der Dinge, die da kommen sollten, stand sein Verstand unter Strom. Schließlich würden jeden Augenblick Bolt und seine Mannen hier auftauchen, um Marcus alias Downes zu Leibe zu rücken. Er fragte sich, ob man inzwischen das Haus von Marcus’ Freund durchsucht hatte und wie sich wohl die Vorbereitungen für Marcus’ Verhaftung anließen. Bolt würde nicht das geringste Risiko eingehen. Sicher hatte er die halbe viktorianische Polizei mobilisiert und bewegte sich jetzt mit der unerbittlichen Präzision einer Maschine auf den Brennpunkt Chalet Weitblick zu. Ein Rieseneisvogel lachte träge. Er saß hoch oben im Laub eines Fieberbaums unweit des Haupteingangs, und Bony fragte sich, ob der Vogel etwas Ungewöhnliches ausgemacht hatte. Abgesehen von diesem leicht spöttischen, leicht satanischem Gelächter war nichts zu hören. Die stille Atmosphäre schien im festen Griff eines Riesen, der dafür sorgte, daß nichts, aber auch gar nichts den Zauber des Tals und der Berge dahinter störte.
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Bony hatte sich entschlossen, bei Marcus’ Verhaftung nicht mitzuwirken, sofern die Umstände ihn nicht dazu zwangen. Zum einen gehörte er nicht der viktorianischen Polizei an, ja er war noch nicht einmal an diese ausgeliehen worden, zum anderen hatte er sich bereit erklärt, mit Bolt zusammenzuarbeiten, und das hatte er bereits getan, indem er ihm den Mann geliefert hatte, der nicht nur für den Tod eines viktorianischen Polizisten verantwortlich, sondern darüber hinaus auch international für seine Skrupellosigkeit bekannt war, einen Mann, dessen Verhaftung einige Anerkennung mit sich bringen würde. Für Bony verrannen die Minuten nur träge, und schließlich kam der erste interessante Schritt, seitdem er sich in diesem geradezu sündhaft bequemen Stuhl niedergelassen hatte, von Downes. Der stand auf und näherte sich, mit mühelosen, geradezu katzenhaften Bewegungen hinter Sleeman und dessen Gesellschaft vorbeigehend, Bony s Stuhl. »Hätten Sie nicht Lust auf eine Partie Dame?« fragte er. »Es ist nicht die richtige Zeit für ein Spiel, ich weiß, aber mir ist nicht nach schlafen – oder lesen.« Bony schwang die Füße auf den Boden und setzte sich auf. »Ich bin dabei«, willigte er ein. »Wo? Hier?« »Warum nicht? Ich hole das Brett, es ist im Salon.« Downes ging weg, noch einmal hinter Sleeman, Lee und dem bulligen Tully vorbei. Bony bemerkte, daß sowohl Tully als auch Sleeman Downes beobachteten, bis er durch die Verandatür im Salon verschwunden war, und daß beide sorgfältig darauf bedacht schienen, nicht in seine Richtung zu sehen, als Downes, das Brett und die Schatulle mit den Steinen in Händen, wieder auftauchte. Er nahm unterwegs einen Kartentisch mit und stellte ihn in die Nähe der Balustrade, und noch bevor Bony ihm dabei zur Hand gehen konnte, hatte er auch schon zwei Stühle bereitgestellt, einen auf jeder Seite des Tisches, und den mit Blick auf den Rasen besetzt, so daß Bony
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sich damit begnügen mußte, mit Blick auf das Haus zu sitzen. Das Ganze ging mit zwangloser Höflichkeit vonstatten. »Sie dürfen sich die Farbe aussuchen«, sagte Downes gelassen und stellte die Steine auf. »Dann nehme ich schwarz. Heute nachmittag gehe ich lieber kein Risiko ein – nicht mit einem Gegner wie Ihnen.« »Ich gehe bei meinen Gegnern grundsätzlich kein Risiko ein«, erklärte Downes mit dem Anflug eines Lächelns. »Man sollte Dame, wie überhaupt jedes Spiel oder das Leben selbst, nicht auf die leichte Schulter nehmen.« »Da bin ich ganz Ihrer Meinung. Sie haben den ersten Zug.« Downes spielte ohne Schnörkel und, wenn er mit Bony spielte, ohne auch nur einen Gedanken an seine Verteidigung zu verschwenden. Er kam rasch zur Sache und lehnte sich dann zurück, während er darauf wartete, daß Bony seinen Zug machte. Bony nahm sich Zeit zu überlegen und zog dann mit mehr Bedacht. Unter welcher Achsel Marcus wohl seine Waffe tragen mochte? Er trug nur Einreiher, die vorne etwas auftrugen und an den Schultern gepolstert waren. Beide Seitentaschen waren dort, wo sie hingehörten. Marcus war an der Reihe, das Brett zu studieren. Seine Hände ruhten ohne die geringsten Zeichen von Nervosität zu beiden Seiten des Bretts auf dem Tisch. Nicht ein einziges Mal hob er die Hand, um sich übers Kinn zu streichen oder den Schnurrbart, der so perfekt war, daß Bony ihm selbst bei diesem Licht seine Künstlichkeit nicht anzusehen vermochte. Bonys nächster Zug dauerte einige Minuten, da er das Brett studierte, um hinter den Grund für Marcus’ jüngsten Zug zu kommen. Dieser hatte nicht dem entsprochen, den Bony erwartet hatte. Zu schade, daß er nicht festzustellen vermochte, in welche Achsel sich die verborgene Waffe schmiegte, so daß er unmöglich vorhersehen konnte, welche Hand Marcus bewegen würde, wenn es zur Sache ging. Marcus brauchte nach Bonys Zug nur drei Sekunden, um sich für seinen Gegenzug zu entscheiden. Er zwang Bony, zwei seiner Steine - 261 -
zu schlagen, schlug dann drei von Bonys und brachte seine Dame hinter Bonys Verteidigungslinie. Also so ging das ja nicht! Bony würde seine Gedanken schon von Achseln und Schußwaffen und Händen befreien und sich auf das Spiel konzentrieren müssen. Es war wirklich an der Zeit, daß Bolt aufkreuzte und sich sein Gehalt für den Tag verdiente. Aber womöglich kam Bolt ja erst nach dem Abendessen. Ach, nun vergiß das mal, Bony, und spiel! Ah – Marcus hatte sich eine Mordsblöße gegeben! Aber warte! Womöglich war das ja eine Falle. Wenn er, Bony, nun so zog, würde Marcus so ziehen, und da könnte er dann diesen folgen lassen. Nein, damit würde er sein Zentrum ungeschützt lassen. Ist wohl besser, du versuchst eine Bresche in Marcus’ linke Flanke zu schlagen. Der Mann scheint mehr an der Aussicht interessiert als an unsrer Partie, und doch spielt er beileibe nicht, als hätte er ganz andres im Kopf. Bony machte seinen Zug und lehnte sich in seinen Stuhl zurück. Tabakrauch trieb ihm ins Gesicht, ein Aroma, das ihm ganz und gar nicht zusagte. Es kam aus Tullys Pfeife, und Tully saß halb liegend, die Hände hinter den Kopf gelegt, in seinem Korbsessel. Der stille Nachmittag blieb still. Seit Beginn ihrer Partie war nur ein Auto am Chalet vorbeigekommen, und das war talwärts gefahren. Dann machte Marcus einen dummen Zug. Warum hatte Marcus diesen Zug nur gemacht? Es sah seinem Spiel überhaupt nicht ähnlich. Die Minuten verrannen, und noch immer studierte Bony das Brett – bis er sich ziemlich sicher war, daß hinter dem Zug seines Gegners keinerlei Kalkül steckte. Was hatte das zu bedeuten? War er nicht bei der Sache? An was mochte er denken? Was sah er nur? Bonys Hand schwebte schon über dem Brett, wurde dann jedoch wieder zurückgezogen, als er sich wieder an das Studium der Steine machte. Marcus lehnte sich eben zurück, ganz offensichtlich völlig entspannt, den Blick an Bony vorbei auf etwas jenseits der Balustrade gerichtet. In Bony wuchs die Versuchung, sich umzudrehen, aber damit hätte er mit seinem Körper womöglich eine ebenso dumme - 262 -
Bewegung gemacht wie Marcus beim Zug mit dem Damestein. Falls er sich umdrehte, um festzustellen, was Marcus da sah, wüßte Marcus sofort, daß er wegen irgend etwas nervös war, und es war von größter Bedeutung, den Argwohn des Mannes bis zum Eintreffen Bolts auf einem Minimum zu halten. Was nur betrachtete er da so intensiv? Bony machte, Marcus’ dummen Zug ausnützend, seinen eigenen. »Hm! Da scheint mir doch glatt der erste Fehler unterlaufen zu sein«, sagte Downes, als er sich gezwungen sah, zwei von Bonys Steinen zu schlagen, um dann einen weit härteren Verlust hinzunehmen. »Tut mir leid, Bonaparte, ich fühle mich nicht ganz wohl. Eine Verdauungsstörung, nehme ich an.« Downes stand auf, langsam und beide Hände auf dem Tisch behaltend. »Vielleicht sollten Sie einen kleinen Spaziergang machen«, schlug Bony, das Gewicht vom Stuhl nehmend und diesen dann eine Vierteldrehung herumrückend, vor. Dies brachte ihn in eine Position, die ihm einen Blick auf Sleeman, Lee und den stattlichen Herrn namens Tully gestattete. Downes trat zurück und damit weg vom Tisch. Bony sah, wie er die Brust »öffnete«, eine Bewegung, die den Abstand zwischen den Kragenaufschlägen seines Jacketts vergrößerte. Dann sah er Bolt und Mason sowie einen dritten Mann unten auf dem Rasen. Die drei Polizisten befanden sich auf halbem Wege vom Gartentor herauf. Der Superintendent deutete auf die Teufelsfährte, als sie, langsam und scheinbar überlegend, auf die Treppe zur Terrasse zukamen. Lässig räusperte sich Bony und nahm seinen Tabaksbeutel und die Papierchen vom Tisch. Downes trat langsam vom Tisch zurück. Sleeman beobachtete die nahenden Polizisten. Tully saß auf der Kante seines Stuhls und fixierte mit starrem Blick Bony, so daß Bony sicherer war denn je, daß es sich bei Tully um einen Polizisten handelte, dessen Aufgabe in seinem Schutz bestand.
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»Ich werde mir lieber eine Tablette holen«, sagte Downes kühl zu Bony. »Wird nicht lange dauern. Vergessen Sie nicht, Sie sind am Zug.« Bony nickte. Während Downes gesprochen hatte, war sein Blick auf Bolt und dessen Begleiter gerichtet. Dann, für einen Augenblick, der ihm wie eine Minute erschien, starrte er Bony in die Augen, und Bony bemerkte einen leichten Purpurton hinter den schwarzen Pupillen. Bolt und die beiden Männer bei ihm befanden sich nur noch knapp zehn Meter von der Terrassentür entfernt, als Downes eine halbe Drehung vollführte und sich anschickte, zwischen Tully und der langen Reihe der Verandatüren hindurchzugehen. Dann deutete Mason auf etwas jenseits der hinteren Hausecke, und Bolt verlangsamte seinen Schritt. Mason sagte etwas, und Bolt blieb stehen, um sich anzusehen, auf was Mason da deutete. Bony konnte nicht sehen, was Mason so interessierte, aber in Wirklichkeit versuchten die drei nur Zeit zu gewinnen, um Inspektor Snook und seiner Truppe zu gestatten, sich am Haupteingang zu postieren. Weitere Kriminalbeamte in Zivil kamen vom oberen Tor und betraten das Haus durch die Spülküchentür. Jenseits des Zaunes um das Chalet Weitblick umzingelte eine Hundertschaft Polizisten das Grundstück. Bony nach wie vor anstarrend, erhob sich Tully. Mit einer kaum merklichen Bewegung des Kopfes deutete er auf Downes, und Bony nickte. Dann drehte sich der große Mann ganz beiläufig nach rechts und sagte zu Downes: »Bleiben Sie mal besser, wo Sie sind – für ein oder zwei Minuten. Sieht ganz so aus, als wäre das Haus umzingelt.« Tullys Rechte fuhr in die Tasche seines Tweedjacketts. Er stand nun breitbeinig da. Downes direkt zugewandt, und Downes blieb, die Absätze etwas angehoben, die Arme locker neben dem Körper, stehen. Die Finger beider Hände waren nach außen gespreizt, genauso wie Bony sie an dem Tag gesehen hatte, als man auf Alices Schreie hin in die Küche gelaufen war. Bony, der dieses lebende Bild betrachtete, hörte, fast hinter ihm, schwere Stiefel die Terrassenstufen heraufkommen. Mit beiden Hän- 264 -
den hielt er den Tisch umfaßt, sein Körper war leicht vorgebeugt, das Gewicht zum Teil auf den Zehen. In diesem Augenblick bewegte sich Downes und das mit unglaublicher Geschwindigkeit. Sein Körper schien mit einemmal angehoben, und noch im selben Sekundenbruchteil stand er schon einige Schritte weiter links. Ein Schuß zerriß die Stille des Nachmittags, als Tully durch die Tasche seines Jacketts feuerte. Aber Downes hatte seine Position mit einer solchen Fixigkeit verändert – Bony konnte der Bewegung kaum folgen –, daß die Kugel aus Tullys Waffe in die Wand hinter ihm einschlug. Seine Rechte zuckte nach oben, dann wieder ein Stück nach unten. Sie war leer gewesen, als er sie gehoben hatte, als er sie wieder senkte, hielt er eine Selbstladepistole darin. Auf dem Gesicht des Mannes zeigte sich jetzt ein teuflisches Grinsen. Seine Augen waren weit aufgerissen und rot. Für Bony wurden sie in dieser minimalen Zeitspanne sogar noch größer. In diesem Gesicht spiegelte sich die Lust des Mörders; Downes zögerte einen Augenblick, bevor er abdrückte, um seine Erregung voll auszukosten. Und eben dieses Zögern rettete Tully das Leben. Downes drückte ab, in der Absicht, Tully die Kugel genau in die Mitte der Stirn zu setzen, so wie er schon Konstabler Rice und andere umgebracht hatte, aber noch im selben Augenblick, in dem sein Finger den Abzug drückte, krachte ihm der Tisch, auf dem er eben noch Dame gespielt hatte, gegen die Beine. Das Tischchen war nicht schwer, aber die Wucht des Aufpralls immerhin stark genug, um ihn sein Ziel verfehlen zu lassen, so daß Tully die Kugel in die rechte Schulter bekam. Nachdem er den Tisch geworfen und damit Mason und Bolt, die eben die Terrassentreppe heraufgesprungen kamen, mit Damesteinen überschüttet hatte, hechtete Bony nach Tullys Stuhl, und noch bevor Tully zu Boden ging, flog dieser auch schon in Downes Richtung. Downes wich ihm aus und schoß auf Bony, der bereits hinter einem der anderen Stühle kauerte. Eine Frau kreischte. Bolts sonore Stimme ertönte wie die eines Windriesen. Downes schoß noch einmal auf - 265 -
Bony in dem Augenblick, da er durch die offene Verandatür in den Salon verschwand. Durch den Salon laufend, gelangte Downes an die Kreuzung der Korridore, von wo aus er schon die Polizisten an der Küchentür sah. Er wandte sich nach rechts und hastete in Richtung Empfangshalle und Haupteingang, nur um dort Snook und einige mehr auf sich zukommen zu sehen. Er wandte sich nach links – in Miss Jades Büro. Der Tag war für Mrs. Parkes nicht gerade der beste gewesen. Er hatte schon schlecht angefangen, als sie in die finstere, kalte Küche gekommen war, in der weder Bisker noch sein Tee auf sie warteten. Die kichernde Alice hatte die Laune der Köchin nicht gerade gebessert, und als sie dann, später am Morgen, Bisker und Fred unter der Aufsicht eines Gastes bei der Arbeit entdeckte, war ihr Tag vollends ruiniert. Auch für die Mädchen war der Tag nicht gerade leicht gewesen, da sie beide auch die Arbeiten erledigen mußten, die normalerweise George erledigte, so daß sich bereits während des Mittagessens die aufgekratzten Gemüter nach einem Ventil für ihren Zorn sehnten, bis schließlich, als das Personal sich zu Tisch setzte, der offene Krieg ausbrach. Bereits den ganzen Tag über hatte Mrs. Parkes das Bedürfnis nach Bewegung geplagt, und zwar nach ungestümer Bewegung – der Art von Bewegung, die einem in der Zwangsjacke angestauter Gefühle Steckenden nicht nur körperliche, sondern auch geistige Erleichterung verschafft, und als das zweite Mädchen sie schließlich eine »zahnlose alte Vettel« hieß, war das Maß voll. Nach Worten ringend entledigte sich Mrs. Parkes ihrer Schürze. Sie warf das Kleidungsstück zu Boden und stellte sich darauf. Die beiden Mädchen mit dem Zeigefinger ihrer rechten Hand totstechend, brachte sie schließlich folgendes heraus: »Ich bin hier fertig, hört ihr? Ich bin fertig, das sag’ ich euch! Jetzt könnt ihr beiden euch um die verdammte Kocherei kümmern. Nicht für ’nen Wald voll Affen werd’ ich noch länger in diesem armseligen, rattenverseuchten Saftladen hier - 266 -
bleiben. Ihr könnt das alles haben hier! Jeden – einzelnen – vermaledeiten – Topf – hier – drin! Ihr könnt mir den Buckel runterrutschen, ihr – ihr – ihr zwei …« Ihre enorme Körperfülle auf ihren verhältnismäßig kleinen behausschuhten Füßen wendend, stampfte Mrs. Parkes aus der Küche in den Korridor, bog dort nach links ab und gelangte so in die Empfangshalle. Ohne anzuklopfen, trat sie in Miss Jades Büro, wo Miss Jade, einen Brief schreibend, an ihrem Schreibtisch saß. »Mrs. Parkes!« rief Miss Jade entsetzt darüber, daß die Köchin in diesem ständig von Gästen frequentierten Teil des Hauses in Arbeitskleidung auftauchte. »Was wollen Sie denn hier?« »Ich bin hier fertig«, verkündete Mrs. Parkes dramatisch. »Ich brauch’ mich von niemandem eine zahnlose alte Vettel heißen zu lassen. Ich gehe. Ich bin fertig. Sie können mir meinen Lohn bis gestern abend fertigmachen. Ich nehme den Bus um halb fünf.« Miss Jade war wie gelähmt. Sie saß da und starrte ihre vor Wut schäumende Köchin an. Sie sah sich gezwungen, gegen den Schrekken anzukämpfen, den ihr die Aussicht auf ein Haus ohne Köchin einjagte, eine Katastrophe weit schlimmer noch als der Verlust des Getränkekellners und Bisker zusammengenommen. Sie stand auf und zeigte sich Mrs. Parkes in all ihrer prächtigen Rankheit. Mrs. Parkes platzte wieder los, und Miss Jade versuchte vergeblich, ihr Einhalt zu gebieten, um endlich eine Erklärung zu bekommen. Und dann ging die Tür auf, und die beiden Frauen sahen sich vor dem drohenden Lauf einer Pistole unter einem Paar feuersprühender schwarzer Augen. »Zurück!« bellte Downes. »In die Ecke, oder ich blas’ euch aus wie zwei Kerzen.« Die durch die Pistole unterstrichene Drohung war weit weniger beängstigend als die Augen des Mannes und zeitigte bei den beiden Frauen sehr unterschiedliche Reaktionen. Miss Jades eben noch wachsende Verzweiflung wich einem ebenfalls wachsenden Zorn, einem Zorn, den sie sich selbst nicht so recht zu erklären vermochte. Im - 267 -
Gegensatz dazu war Mrs. Parkes’ Zorn schlagartig verschwunden, als die Hitze in ihrem Kopf einer Kälte wich, die sie oft schon verspürt hatte, wenn es ihren Gatten in die Schranken zu weisen galt. »In die Ecke da, rasch«, rief Downes. »Ich sage das nicht noch mal.« Jemand hämmerte gegen die Tür. Hinter dieser waren die Stimmen vieler Männer zu hören. Durch eine Laune der akustischen Gegebenheiten, vielleicht auch aufgrund ihrer Erregung hatte keine der beiden Frauen die Schüsse auf der Terrasse gehört, so daß diese urplötzliche Bedrohung ihres Lebens mit um so schrecklicherer Gewalt über sie hereinbrach. Miss Jade hatte gute Lust, einfach zu schreien, merkte aber rasch, daß sie dazu nicht in der Lage war. Sie erinnerte sich eines Paars flammender Augen und des zusammenbrechenden Konstablers Rice. Die Festigkeit der Wand hinter ihr wirkte wie die Hand eines Riesen, die sie aufrechthielt, während sie ihrem Tod ins Angesicht sah. Sie sah Mrs. Parkes nicht, spürte die Frau jedoch an ihrer Seite. Die Tür widerstand einem erschreckenden Aufprall. Als dieser sich wiederholte, feuerte Downes einmal durch die Füllung. Und doch sah sich die Tür ein weiteres Mal durch den gleichen Gegenstand von außen zum Beben gebracht, diesmal begleitet vom Geräusch splitternden Holzes. Jetzt wartete Downes, die Pistole mit beiden Händen umfaßt, und genau in diesem Augenblick machte er einen fatalen Fehler. Keiner der Großen dieser Welt, dem nicht hin und wieder ein Fehler unterläuft. Je größer der Mann, desto alberner der Fehler, den er macht. Marcus war einer der Großen seines Metiers, und dennoch unterlief ihm ein Fehler solchen Ausmaßes, daß seine Laufbahn mit einer geradezu farcenhaften Note endete. Noch nicht einmal Bisker wäre dieser Fehler unterlaufen; er hatte nämlich gesehen, und das mit weit geöffneten Augen, wie Mrs. Parkes mit dem Plätteisen eine laufende Ratte erlegt hatte. Downes drehte Mrs. Parkes doch tatsächlich den Rücken zu.
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Den großen Händen der Frau bot sich im Augenblick nur ein Wurfgeschoß, und das war die tragbare Schreibmaschine der Sekretärin. Der normalen Hand wäre sie etwas zu groß gewesen, dem normalen Arm zu schwer, um sie zu werfen, aber die Hand, die hier nach ihr griff, war beim besten Willen nicht normal und der Arm dahinter schon unterhalb des Ellenbogens so dick wie das Bein eines durchschnittlichen Mannes oberhalb des Knies, von den stählernen Muskeln ganz zu schweigen. Die Maschine traf Marcus am Hinterkopf, und der Mann landete mit derselben schrecklichen Plötzlichkeit auf dem Teppich, mit der auch Konstabler Rice zu Boden gegangen war. Mit erstaunlicher Behendigkeit hob Mrs. Parkes die Schreibmaschine wieder auf und hielt sie, über einem der gefährlichsten Männer der Welt stehend, mit gestreckten Armen vor sich hin, auf ihrem breiten Gesicht der Hauch eines Lächelns, als versuche sie den armen Marcus mit schierer Willenskraft dazu zu bewegen, sich aufzusetzen und damit einen Nachschlag herauszufordern. Miss Jade begann hysterisch zu lachen. Die Tür brach schließlich nach innen auf. Auch am Fenster erschienen nun Polizisten. Bolt, Snook und Mason kamen mit der berstenden Tür hereingefallen. Bony trat nach ihnen ein. Sie sahen, wie Mrs. Parkes Marcus die Schreibmaschine mit gelassener Verachtung ins Kreuz fallen ließ, sich dann umdrehte, die völlig überdrehte Miss Jade in die Arme nahm und deren schwarzen Kopf gegen ihren enormen Busen drücke. Dann hörten sie sie sagen: »Na was denn, Kleines! Stell dich doch nicht so an. Ist ja schon gut! Wenn ich was schmeiße, dann treff’ ich auch.«
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27 Der Rebell geht fischen »Es wird Sie interessieren, Oberst, daß Superintendent Bolts spezieller Freund, Marcus, wie er hier wohl heißt, auf dem besten Wege ist, sich vom Zusammenstoß mit einer Schreibmaschine zu erholen. War ja auch keine allzu große. Sie werden sich ja wohl an die Geschichte mit Mrs. Parkes erinnern.« »Prachtvolles Weib«, schnaufte Oberst Blythe. Es war dies der vierte Tag nach Mrs. Parkes Wurf mit der Schreibmaschine, und Bony stattete dem Oberst seinen Abschiedsbesuch ab. Er fuhr fort: »Allem Anschein nach war Marcus mit dem amerikanischen Grumman befreundet gewesen, und nach der Lektüre der ersten Aussage Micks des Kitzlers werden Sie sich erinnern, daß der amerikanische Grumman mit General Lode die Plätze getauscht hat und, wie zu vermuten ist, nach Deutschland zurückgebracht wurde. Marcus wußte von alledem nichts, und als er hörte, ein Amerikaner namens Grumman wohne im Chalet Weitblick, wollte er ihn natürlich besuchen. Zunächst einmal, da er ja bei seinem Freund Jackson am Mount Chalmers wohnte, meldete er sich telefonisch bei dem Exgeneral. Und als Lode sich nicht an Grummans Freund Marcus erinnerte, versuchte er Marcus abzuwimmeln, aber da war er bei Marcus natürlich an der falschen Adresse. Ridge House, wo er bei seinem Freund wohnte, liegt nur zwei Meilen vom Chalet, und da er leidlich sicher sein konnte, keinem Polizisten über den Weg zu laufen, machte er sich, abgesehen davon, daß er sich einige Wochen zuvor den Schnurrbart abgenommen hatte, auch nicht die Mühe, sich zu verkleiden.
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Unter den gegebenen Umständen, die, wenn auch selten, so doch sicher nicht phantastisch sind, sah niemand die Nummer des Wagens, in dem sein Freund Marcus zum Chalet fuhr. Daß sich vor dem Chalet gerade niemand aufhielt, als Marcus zu Besuch kam, ist nicht unbedingt außergewöhnlich, bedenkt man die Zeit des Besuchs und daß das Faktotum, Bisker, zusammen mit Miss Jade im Büro auf den Dorfpolizisten wartete. Nachdem er das Chalet verlassen hatte, kauerte er sich auf den Boden des Wagens, bis Jackson vor seinem Haus hielt. Dort verließ Marcus den Wagen, und Jackson fuhr weiter in sein Büro in der Stadt. Er muß gerade noch durchgekommen sein, bevor man die Straßensperre errichtete. Marcus schneiderte sich daraufhin Downes auf den Leib. Er fuhr mit dem Bus in die Stadt, wo er Miss Jade wegen einer Unterkunft anrief, um dann per Bus zum Chalet zurückzukehren. Er war der Ansicht, er wäre wohl nirgendwo sicherer, und darüber hinaus würde er erfahren, was mit seinem Kumpan, Grumman, passiert war und wa rum.« »Ziemlich eiskalter Kunde«, warf der Oberst ein. »O ja, das ist er wohl«, pflichtete Bony ihm bei. »Lassen Sie sich mal von Bolt seine Akte geben. Als er zu der Überzeugung kam, daß George Banks wußte, was mit Grummans Gepäck und damit Grumman selbst passiert war, beschloß Marcus, in Erfahrung zu bringen, was der Weinkellner wußte. Eine Aufgabe, die er seinem Freund Jackson zuwies. Jackson und zwei Komplizen schnappten sich George kurz nach dem Treffen mit seinem Bruder, Mick dem Kitzler, und verschleppten den Kellner in Jacksons Fabrik, wo man sich daran machte, aus dem Opfer nicht nur herauszubringen, wo Grummans Gepäck abgeblieben war, sondern auch wie und warum man Grumman umgebracht hatte. Nachdem man ihn erschossen hatte, entledigte man sich der Leiche, wie Sie ja wissen. Interessant ist, daß Banks ihnen weder sagte, daß er die Federhalter in diesem Bottich mit dem Strauch versteckt hatte, noch was sie ent- 271 -
hielten. Man hat die Füller bei Jackson gefunden, als man ihn verhaftete, sie befinden sich jetzt in meinem Besitz. Ich schätze sie sehr. Bolt und seine Leute haben nach der Razzia auf Jacksons Haus am Mount Chalmers rasch und gut gearbeitet. Was ich Ihnen hier erzähle, hat die viktorianische Polizei aufgrund der von Jackson und seinen Komplizen erhaltenen Beweismittel und Aussagen rekonstruiert. Diese Aussagen füllen auch die Lücken in der von Mick dem Kitzler, so daß für Bolt die Geschichte nun klar ist. Die Brüder hatten geplant, Zyankali in Grummans Wasserkaraffe zu geben und dann die Leiche mitsamt dem Gepäck verschwinden zu lassen, damit es aussah, als wäre Grumman ›geflitzt‹, ohne die Rechnung zu bezahlen. Mick sollte dazu einen Lkw stehlen, der für gewöhnlich vor dem Haus eines Holzfuhrunternehmers parkte. Dieses Haus stand zwei Meilen die Hauptstraße hinauf, und der Lkw war so geparkt, daß Mick nur die Handbremse zu lösen und das Fahrzeug, ohne es anzulassen, die Straße hinunter zu steuern brauchte – bis vors Chalet. Dann, nachdem man Leiche und Gepäck aufgeladen hätte, könnte man das Fahrzeug weitere drei Meilen die Bergstraße hinuntersteuern, ohne den Motor anzulassen. Sie wären schließlich an eine Stelle gekommen, wo Gepäck und Leiche vielleicht auf Monate hin sicher versteckt gewesen wären, und zwar in einer Felsspalte einige hundert Meter den Abhang neben der Straße hinunter. Nachdem man in Grummans Zimmer gewesen war und die Füllfederhalter gefunden hatte, machte Mick sich auf den Weg, den Lkw zu holen, während George, in einem Paar von Bagshotts Stiefeln, die Leiche zur Hauptstraße trug und dort auf den Lkw wartete. Der kam jedoch nicht, aus dem einfachen Grund, weil der Fuhrunternehmer tags zuvor einen Platten gefahren hatte. Man hatte den Laster vor sein Haus geschleppt, wo er den Reifen abmontiert und zur Reparatur weggeschickt hatte. So beschlossen sie, Grummans Leiche im Graben zu verstecken und sie dann in der folgenden Nacht verschwinden zu lassen, aber da sie im Dunkeln arbeiten mußten, waren ihre Bemühungen, sie zu ver- 272 -
bergen, nicht besonders erfolgreich. Das Gepäck schleppten sie durchs Haus und ›begruben‹ es in der Ecke einer Rumpelkammer hinter einem Stapel von Möbeln, die Miss Jade nicht mehr brauchte. Das, mein lieber Oberst, war wirklich saubere Arbeit«, sagte Bony. »Denken Sie nur. Mitten in einem Haus voll schlafender Gäste und andrer Leute die schweren Überseekoffer durch die Korridore zu schleppen und stapelweise Möbel umzuräumen – und das alles, ohne jemanden zu wecken. Ihr Plan war gut, das muß man ihnen lassen. Sie gingen sogar so weit, ein Paar von Bagshotts Schuhen zu tragen, ihrer abnormen Größe wegen, nur für den Fall, daß sich die Polizei für Grummans Abreise interessieren sollte – nur daß der Lkw einen Platten haben könnte, das haben sie nicht in Betracht gezogen. Ich denke, damit wäre alles geklärt, bis auf das Hühnchen, das ich noch mit Ihnen zu rupfen habe. Ich hatte mit Bolt vereinbart, daß ich bei den Ermittlungen in und um Chalet Weitblick völlig eigenständig vorgehen sollte, aber Bolt hat diese Abmachung in krasser Weise gebrochen, als er einen Polizisten, einen gewissen Tully, ins Chalet einschleuste, und das mit der Ausrede, daß er mich vor den Personen beschützen sollte, die George Banks umgebracht hatten und die, wie wir annahmen, herausfinden würden, daß ich die Filme aus den Füllfederhaltern genommen hatte. Herausgekommen ist dabei, daß Tully schwer verwundet wurde. Und Sie, Sie haben mir nicht gesagt, daß Sie bereits einen Mann ins Chalet geschickt hatten, noch bevor ich überhaupt von Brisbane heruntergekommen war, was nicht nur zur Folge hatte, daß Marcus ihn während des Aufruhrs auf der Terrasse schwer verletzte, mir wurden dadurch auch noch eine ganze Reihe von Ungelegenheiten bereitet, ganz zu schweigen davon, daß man meine Zeit verschwendet hat.« »Mein guter Mann, was zum Teufel reden Sie denn da?« fragte ihn Blythe. »Ich spreche von Major Sleeman von der Abwehr, den man damit beauftragt hatte, Grumman auf den Zahn zu fühlen. Major Sleeman war bereits Gast im Chalet Weitblick, als ich dort eintraf.« - 273 -
Oberst Blythe machte eine Handbewegung, mit der er auf ironische Weise seine Verzweiflung zum Ausdruck brachte. Dann drückte er den Klingelknopf, um Hauptmann Kirby zu rufen. »Kirby, wissen Sie etwas über einen Major Sleeman, der sich im Chalet Weitblick aufhalten soll?« fragte er den ehemaligen Mann von Scotland Yard, als dieser eintrat. »Nein, Sir.« »Dacht’ ich’s mir doch.« Blythe erhob sich, ein ausgesprochen zorniger Mann mit einemmal. Zu Bony sagte er in einem vernichtenden Tonfall: »Würde man sämtliche Dorftrottel dieses Landes zusammentreiben und mit diesen sogenannten Nachrichtenoffizieren vergleichen, es würde sich herausstellen, daß die Dorftrottel um tausend Prozent intelligenter sind!« »Es tut mir ja so leid, daß Ihr Aufenthalt hier durch diese außergewöhnlichen Ereignisse gestört wurde«, sagte Miss Jade mit ernster Miene zu Bony. »Ich hoffe, Sie werden dennoch einmal wiederkommen.« »Ich danke Ihnen, Miss Jade. Ich hoffe auch, wiederkommen und meine Frau mitbringen zu können. Mein Aufenthalt hier war wunderbar, und ich kehre mit aufrichtigem Bedauern nach Brisbane zurück. Ich werde Sie in ein kleines Geheimnis einweihen: Ich bin in Wirklichkeit ein Kriminalinspektor, der hier sozusagen beruflich Urlaub gemacht hat.« Miss Jades Brauen sprangen in die Höhe, und sie rief aus: »Mr. Bonaparte – ist das wahr?« »Ja, das ist es, und ohne Ihr Wissen habe ich einige Beziehungen spielen lassen, um Ihren Namen aus allem herauszuhalten, was noch nachkommen wird, ich meine, schließlich wird es zu Ermittlungen und Prozessen kommen. Mr. Sleeman ist ein Nachrichtenoffizier des Militärischen Abwehrdienstes, der sich ebenfalls für Grumman interessierte. Er hat herausgefunden, daß Sie spätnachts ein Haus hier in der Nähe besuchen. Man hat mir aufgetragen, von Ihnen in Erfah- 274 -
rung zu bringen, warum Sie diesem Haus Ihre Aufwartung so spät machen.« »Aber – das hat nicht das geringste mit Mr. Grumman zu tun«, wies Miss Jade ihn zurecht. In ihren Augen sah er für einen Sekundenbruchteil ihre Angst aufblitzen. »Wahrscheinlich nicht. Ich persönlich bin auch nicht der Meinung, daß Ihre Besuche in diesem Haus etwas mit dem Fall Grumman zu tun haben, aber Mr. Sleeman glaubt es, und ich habe es so einrichten können, daß mein Wort den Leuten genügen wird, alle weiteren Ermittlungen diesbezüglich einzustellen. Wissen Sie, der Fall Grumman zieht Kreise weit über seine Ermordung hinaus.« Miss Jade sank tiefer in den Sessel im Salon des Chalets und musterte das dunkle Gesicht mit den mitfühlenden Augen. Wie alle Frauen, die diesen leisen, fast wehmütigen Mann kennenlernten, mußte auch sie feststellen, daß sie ihm vertrauen konnte. Sie wollte, was nur allzu natürlich war, die Ereignisse der letzten Tage so rasch wie nur möglich hinter sich lassen und wieder friedlich ihren Geschäften nachgehen, die schließlich darin bestanden, hier, hoch oben auf diesem friedlichen Berg, ein Gästehaus zu führen. Sie stellte Bony eine merkwürdige Frage: »Für wie alt halten Sie mich?« »Vier-, vielleicht fünfunddreißig«, wagte er zu schätzen. »Ich bin einundvierzig«, sagte sie. »Ich war nie verheiratet, bekam aber mit fünfundzwanzig eine Tochter.« Miss Jade sprach leise und sah ihn dabei nicht länger an. »Es ist nicht so, daß ihr Vater sich geweigert hätte, mich zu heiraten, oder daß er mich verlassen hätte. Es war schon alles für die Hochzeit vorbereitet, aber sehen Sie, am Tag bevor wir heiraten sollten, kam er bei einem Autounfall ums Leben. Im Alter von fünf Jahren erkrankte meine Kleine an Kinderlähmung, und sie hat sich nie wieder davon erholt trotz allem, was ich für sie getan habe. Das war noch, bevor ich mein Gästehaus in St. Kilda aufmachte, und ich mietete ein Haus und richtete es mit all den Dingen ein, die mein künftiger Gatte und ich von unserem Ersparten - 275 -
gekauft hatten. Ich engagierte eine Frau, die dort wohnte und sich um das Kind kümmerte, das außerdem nicht ganz normal ist. Als ich hier heraufkam und mir das Haus hier baute, warnte man mich schon damals vor den Klatschbasen, aber ich wollte meine Tochter nun mal bei mir haben, also erwarb ich das Haus an der oberen Straße, und brachte die Möbel mit herauf. Einige davon mußte ich hier unterbringen. Ich werde sie immer behalten, weil sie der Mann gekauft hat, den ich geliebt habe, der Vater meiner unglücklichen Tochter. Das ist alles, Mr. Bonaparte. Sonst ist da wirklich nichts dran. Ich muß nur so vorsichtig sein, wenn ich sie besuche, damit die Leute es nicht herausfinden.« Für eine Weile herrschte Schweigen zwischen ihnen. Dann sagte Bony, und er legte ihr dabei eine Hand auf ihr Handgelenk: »Ihr Geheimnis wird gewahrt bleiben. Und mit Rücksicht auf Ihr Motiv, die Angelegenheit geheimzuhalten, kann ich mir vorstellen, daß Ihnen auch Clarence B. Bagshott dabei jegliche Unterstützung zuteil werden ließe.« »Ich danke Ihnen, Bony.« Er strahlte. Sich ihres Versprechers gewahr werdend, biß sie sich auf die Unterlippe. »Oh, ich bin untröstlich, Mr. Bonaparte!« rief sie aus. »Ich wollte keines –« »Aber warum nicht! Alle nennen mich Bony – von meinem Präsidenten bis hin zu meinem Jüngsten. Es kommt für uns alle mal die Zeit in unsrem Leben, in der wir einen Freund brauchen, und Sie können mich als solchen betrachten. Wie ich höre, haben Sie die Absicht, erst nach dem Sommer wieder Gäste aufzunehmen. Ich muß mich deshalb wirklich bedanken, daß Sie mich nicht vor die Tür gesetzt haben. Sie sollten einen Urlaub ins Auge fassen. Machen Sie doch eine Reise nach Brisbane, und bleiben Sie bei mir und meiner Frau. Im Frühling ist es dort oben sehr schön. Ich werde ihr sagen, sie soll Ihnen ein paar Zeilen schreiben. Wir leben sehr still, nicht so großartig wie Sie hier, aber wir haben unsere Herzen, wie ich mit - 276 -
Freude sagen darf, auf dem rechten Fleck. Ah – das wird wohl Clarence B. Bagshott sein.« Sie erhoben sich zu den Klängen einer Hupe, mit der jemand zu morsen schien. Bony hielt Miss Jade eine Hand hin, und sie nahm sie mit einem verschleierten Blick in den Augen. Er lächelte sie an, und sie tat ihr Bestes, dieses Lächeln zu erwidern. Dann machte er einen kleinen Diener, ging zur Verandatür hinüber und verbeugte sich nochmals, und sie sagte: »Au revoir, Bony! Und vielen, vielen Dank für alles.« Er verließ die Terrasse und ging die Teufelsfährte entlang den Weg zum Gartentor hinunter. Nebelschwaden trieben um ihn herum. Auf halbem Weg drehte er sich um, winkte Miss Jade und sah, wie sie zurückwinkte. Am Gartentor angekommen, konnte er sie dann nicht mehr sehen. Bisker stand neben einem Wagen am Fuße der Rampe. »Ich habe Ihre Sachen alle verstaut, Mr. Bonaparte«, sagte er ihm. »Ich danke Ihnen, Bisker, und auf Wiedersehen. Sollten Sie Miss Jade wirklich mal verlassen wollen, und ich würde sagen, Sie müßten ganz schön dumm sein, wenn dem so wäre, Sie brauchen nur an die Windee-Farm zu schreiben, und der Besitzer wird Ihnen das Fahrgeld schicken.« Er drückte Biskers schmutzige Hand und stieg zu Clarence B. Bagshott in den Wagen. Bagshott sagte: »Setzen Sie sich, setzen Sie sich. Ich habe einen Freund von Ihnen dabei.« Bony drehte sich um und blickte nach hinten – und entdeckte Oberst Blythe. Blythe trug ausgesprochen alte Kleidung und auf dem Kopf eine Stoffmütze von geradezu schändlicher Schäbigkeit. »Also, ich werd’ nicht mehr!« rief Bony aus, ein bei ihm äußerst seltenes Erstaunen in den Augen, Blythe lachte vergnügt. »Ich bin vom Geheimdienst!« sagte er. »Kriminalinspektor Napoleon Bonaparte hat es abgelehnt, per Flugzeug nach Brisbane zurück- 277 -
zukehren, da ihm, wie er behauptet, vom Fliegen schlecht wird. Trotz eines Tobsuchtsanfalls von Oberst Spendor plante der kleine Bony, mit Bagshott über Land nach Brisbane zurückzureisen, dessen Wagen freilich in Bermagui wegen eines Schadens für drei, vier Tage liegen bleiben sollte, was Bony und Bagshott dazu nutzten, auf Thunfische zu gehen, da die Schwertfische um diese Jahreszeit nicht in der Gegend sind. Und so kam es, daß Oberst Blythe, der zusammen mit besagtem Napoleon Bonaparte dazu beigetragen hatte, der britischen Regierung gewisse Pläne und Formeln von unschätzbarem Wert zu beschaffen, daß also besagter Oberst Blythe sich ebenfalls entschloß, ein paar Tage auf Thunfische zu gehen. Und nun fahren Sie schon zu, Clarence B.« Bagshott ließ ein begeistertes Lachen hören. Rasch in gesetzeswidrige Geschwindigkeiten kommend, schoß der Wagen die nebelverhangene Hauptstraße hinunter. »Das wird ja der reinste Vatertagsausflug«, rief er aus. »Wie wär’s mit einem Halt an der ersten Kneipe?«
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