Eno Daven
Der Pavillon der Kraniche
Zum Buch Mönch Rettichherz ist der Chemie und der Medizin kundig und wird in das ...
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Eno Daven
Der Pavillon der Kraniche
Zum Buch Mönch Rettichherz ist der Chemie und der Medizin kundig und wird in das Kloster der Strahlenden Tugend abberufen, um einige mysteriöse Todesfälle aufzuklären. Der alte Marquis von Wu, der das Kloster regierte, und zehn Brüder sind an einer rätselhaften Krankheit gestorben. Man spricht von Dämonen und Geistern. Doch Mönch Rettichherz stellt fest, daß die Brüder mit dem Gift der neun Schlangen in Berührung gekommen sind. Und nun ringt der große Lehrer Meister Gurke mit dem Tode. Kann er vor der mysteriösen Krankheit gerettet werden? Mönch Rettichherz begibt sich auf einen erlebnisreichen Weg durch düstere Machenschaften in sehr hohen Kreisen, unterirdische Gänge, verbotene Liebschaften, Visionen und Folterungen ...
Zum Autor Eno Daven wurde 1949 in Paris geboren. Er hat viele Berufszweige in Asien gleichzeitig beschritten: Wissenschaften, Psychoanalyse, Musik und Wirtschaft. Den Zen-Buddhismus praktiziert er seit zwanzig Jahren.
Eno Daven
Der Pavillon der Kraniche Ein Kriminalroman aus dem alten Tibet Aus dem Französischen von Sylvia Antz Scan, Korrektur, Layout by madraxx (2002) Deutsche Erstausgabe © 1996 by ECON Taschenbuch Verlag GmbH, Düsseldorf © 1994 by Editions Du Seuil Titel des französischen Originals: L‘Enigme Du Pavillon Aux Grues Aus dem Französischen übersetzt von Sylvia Antz Umschlaggestaltung: Init GmbH, Bielefeld Titelabbildung: Gomplete Encyclopedia of Illustration Park Lane, New York, 1979 Lektorat: Astrid Berz-Frenzel Gesetzt aus der Bodoni und Charlemagne Satz: HEVO GmbH, Dortmund Druck und Bindearbeiten: Ebner Ulm Printed in Germany ISBN 3-612-25115-5
PROLOG Das Mondlicht schwebte im Raum wie ein Duft und besänftigte die Trunkenheit der Gäste des kaiserlichen Zensors Zu. »Werdet Ihr uns nun endlich erklären, wer dieser Rettichherz war?« fragte General Huei. Zu rief einen Diener und sagte leise etwas zu ihm. Dann wandte er sich wieder seinen Gästen zu. »Dieser Mönch aus der Ch‘an-Sekte lebte gegen Ende der Tang-Dynastie. Nach einem, wie es scheint, bewegten Leben zog er sich in ein Kloster zurück, das einst auf einem von drei Bergspitzen umgebenen Plateau lag. Der Legende nach wurde er dort Meister, als Nachfolger eines anderen Originals gleicher Färbung. Die Tradition wollte es, daß alle Meister, die einander an der Spitze des Klosters nachfolgten, den Namen dieses Ortes annahmen, Ho Han. Die Legende sagt weiter, daß er ein bemerkenswerter Alchimist war.« »Aber warum trug er so einen lächerlichen Namen? Die Mönche heißen doch eher Großes Mitgefühl oder Reine Weisheit ...« Der Diener tauchte aus dem Dunkel auf, er trug ein Silbertablett, auf dem ein noch erdiger schwarzer Rettich und ein Küchenmesser lagen. Zu schnitt den schwarzen Rettich in zwei Teile und zeigte auf das durchtrennte weiße Fleisch, das von feinen Streifen durchzogen war, die von der Mitte ausstrahlten. Dann wandte er den Blick zu dem heraufdämmernden Morgen, räusperte sich und rezitierte: Schmutziger schwarzer Rettich, Nur die Bauern beugen sich vor dir,
Um dich aus dem Schmutz der Felder aufzusammeln. Schmutziger schwarzer Rettich, Die anderen verschlingen dich, Ohne auch nur einen Augenblick auf deinem reinen Weiß Das Rad des Guten Gesetzes zu sehen.
EIN PAAR LEICHEN IM OZEAN Der Meister von Ho Han saß reglos auf seinem hohen Stuhl und schwieg. Bei geöffneten Fenstern hörte man den Wind durch die tropfenden Pinienzweige schlüpfen und die Grillen im Gras zirpen. Endlich räusperte der Meister sich. »Ich habe euch Punkt für Punkt das Gute Gesetz dargelegt. Nun bitte ich euch, oh Mönche, eure Zweifel in Worte zu fassen und eure Fragen zu stellen. Er ließ seinen Blick auf der Versammlung von Laien und Geistlichen ruhen. Niedergeschlagene Augen und lauernde Augen, ungezwungene Mienen, dreiste Mienen, gefaltete und nochmals gefaltete Ärmel, akkurat formierte Schultern, zwischen den Fingern geknetete und gebogene Zehen. »Nun...? Laßt euer Leben nicht vergeblich verfließen!« Langsam trat ein Mönch hervor, die Hände gefaltet, und durchquerte die Reihen der älteren Schüler, die einen dichten Block um den Meister bildeten. Groß, spindeldürr; das Mönchsgewand mit der Anmut einer Vogelscheuche tragend, mit dem Gesichtsausdruck eines jungen Mannes, der sich keinen Deut darum sorgt zu gefallen, pflanzte er sich vor Ho Han auf und warf sich dreimal zu Boden. »Nun?« wiederholte er. »Großer Meister, unter den verschiedenen Punkten Eurer Lehre ist einer, den ich nicht begreifen kann, zweifellos aufgrund meiner geringen Fähigkeiten ...« »Gehst du um den Topf herum, wenn du scheißen willst,
Mönch? Los! Zur Sache!« Der Mönch schwankte. Er faßte sich. »Gut ... Wenn die Leichen selbst im Ozean des Dharma (Lehre Buddhas über die Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit, Anm. d. Übers.) kommen und gehen, wie sieht es dann im Himmel aus?« Ho Han richtete plötzlich seinen Fliegenwedel aus Roßhaar auf den Mönch. »Wer bist du, daß du diese Frage stellst ... ein Vogel?« »Weder Vogel noch Fisch. Ich gehe überallhin, ganz einfach.« »Überallhin, ganz einfach ...«, wiederholte Ho Han. »Wie der stinkende Geruch von Aas ...« »Wäre das nicht der des Himmels?« Die Versammlung erstarrte. Der Sekretär des Meisters, Sesamkorn, verzog belustigt den Mund. Ho Han war von seinem Stuhl aufgesprungen, umklammerte seinen Stock und ließ Schläge auf die Schultern des Mönchs niederhageln, der mit gefalteten Händen abwartete und dabei zählte. »Zu Zeiten meines verehrten Meisters Mia Ku Tao Lin«, donnerte Ho Han und nahm wieder Platz, »behandelte man Diebe mit weniger Sanftmut. Gibt es noch weitere Fragen? Los! Schnell, schnell, schnell!« Ein alter Laie näherte sich schüchtern. »Ich komme, um eine Frage zum Wohl der Witwe Chu zu stellen.« Der Meister winkte ihn aufmunternd herbei. Von dem Stock in seinen Bann gezogen, der auf einem Brett direkt neben dem hohen Stuhl lag, warf sich der Alte zu Ho Hans Füßen nieder. »Großer Meister, Frau Chu möchte, daß Ihr ihr erklärt, wovon der Lotos-Sutra genau handelt.« »Natürlich! Natürlich!« Mit seinem Fliegenwedel beschrieb Ho Han einen großen Kreis in der Luft, bevor er in gewinnendem Ton schloß: »Schau her. Ist das klar?«
Der alte Mann zupfte sich am Bart, schien zu zögern, warf einen letzten Blick auf den Stock, verneigte sich tief und kehrte zu seinem Platz zurück. »Sonst noch Fragen? Die Grillen hatten, erschreckt von dem Geräusch der Stockhiebe, wieder zu zirpen begonnen. Die Pinienzweige tropften, vom Wind geschüttelt
ABSTIEG INS TAL »Ihr habt es gesucht, und Ihr habt es gefunden! Ich nehme an, Ihr seid zufrieden ...« Lautere Heiterkeit trottete hinter Rettichherz den steilen Pfad hinunter, der zur Krankenstation führte. Es hatte wieder angefangen zu regnen. Soweit das Auge reichte, quollen graue Wolken, getrieben vom Wind, der vom Meer kam, über die Ho-Han-Berge. »Ihr habt keinerlei Respekt, nichts als Hochmut. Ihr glaubt, Ihr seid der Stärkste, nicht wahr? Aber Ihr seht ja, was Ihr zum Schluß erntet. Stockhiebe! Dahin führt er Euch, Euer Hochmut!« Rettichherz schlug die Augen zum Himmel empor und beschleunigte seine Schritte, um seinen Gehilfen abzuhängen. Vergebliche Mühe. Der andere ließ sich eine so schöne Gelegenheit nicht entgehen, seinem Grimm Luft zu machen. »Ihr besitzt keinerlei Bescheidenheit, überhaupt keine! Selbst vor dem Meister nicht. Ihr mußtet ihn sogar provozieren. Aber Ihr seid Euch nicht bewußt, wozu er fähig ist! Ich habe Euch doch gewarnt. Denkt nur an die Geschichte mit dem Ofen: Er hat dem Dorfoberhaupt sogar den Arm gebrochen ...« Rettichherz trat über die Schwelle der Krankenstation. Er drehte sich um und spielte dabei mit dem Türflügel. »Noch ein Wort, ein einziges Wort, und ich knalle dir die Tür auf’s
Maul!« Lautere Heiterkeit schluckte seine Bemerkungen herunter, trat seufzend ein und setzte sich auf einen Hocker, ohne den Gegenstand seines heimlichen Grolls aus den Augen zu lassen. Nichts ging mehr seit dem Tode des Ehrwürdigen Bronzeglocke, des alten heilkundigen Mönches. Er, Lautere Heiterkeit, erledigte die anfallenden Aufgaben. Er verabreichte den chronisch Kranken ihre Arznei und hatte sogar ein paar dringende Fälle erfolgreich behandelt. Aber er war nicht zufrieden. Nicht in der Lage, allein die Last der Krankenstation zu tragen, mußte er jeden Tag Leute wegschicken, die wegen geringfügiger Krankheiten, kleinen Erkältungen, kamen. Darunter litt sein Bodhisattva-Ideal, das Ideal jenes Schülers Buddhas, der gelobt hatte, alle fühlenden Wesen zu retten. Er würde erst wieder unter der Führung eines Arztes aufblühen, eines braven Mannes der Medizin, dem er assistieren würde, wie er einst dem alten Bronzeglocke assistiert hatte, einem weisen, geduldigen Mönch, der ihn nicht zwingen würde, seinen alten Trott aufzugeben, und bei dem er wieder das Gefühl bekommen würde, sich voll und ganz in Demut einem heiligen Werk zu widmen. Eines schönen Tages kam ein junger Verrückter, gesandt von dem Eremiten Fa Chang Ta Mei. Ein kleiner Unverschämter, Anfang Dreißig, der ihm zur Begrüßung kühl erklärte, ihm, einem Mönch von vierzig Jahren, daß er schon weiter sei auf seinem Wege und weder Ratschläge zu hören noch Respektbekundungen zu empfangen oder zu geben wünsche. Sesamkorn, den er diskret befragte, konnte ihm, mit der Urkunde in der Hand, das Unglaubliche nur bestätigen: Die Ordination dessen, den Ho Han unter dem Namen »Rettichherz« aufgenommen hatte, fiel mit dem Tod des Kaisers Hien Tsong zusammen. Das lag nun neunzehn Jahre zurück, also drei Jahre vor seiner eigenen Ordination.
Rettichherz faltete seinen großen Kesa, den er über seinen Kleidern trug, zusammen, legte ihn auf ein Regal, begann bis zu den Schultern in den Ärmeln seines schwarzen Gewandes zu kramen und brachte schließlich dicke Filzstreifen zum Vorschein. Sein Gehilfe richtete sich halb auf. »Barmherziger Buddha! Was ist denn das?« »Filz. Filz eignet sich ausgezeichnet dazu, Schläge abzuhalten. Die Faustkämpfer bedienen sich seiner, und auch die Fechter ... wenn sie üben.« »Aber dann ... wart Ihr sicher daß ...« »Sicher überhaupt nicht. Wenn Vorsicht durch Gewißheit bedingt würde, würde man sie Logik nennen.« Lautere Reinheit schnappte nach Luft wie ein Karpfen auf dem Ladentisch. Er erstickte fast dran, keine Erwiderung zu finden, und runzelte plötzlich entrüstet die Brauen. »Ihr habt ihn betrogen!« »Findet etwas anderes ...« »Also wirklich ... Man darf sich nicht auf diese Art über den Meister lustig machen! Wenn er von jemandem davon erführe ...« Rettichherz betrachtete ihn ohne Freundlichkeit. »Und wie sollte er davon erfahren?« Lautere Heiterkeit sah sich plötzlich seine Zehenspitzen betrachten mit dem Wunsch, sie zwischen seinen Fingern zu kneten, wie zuvor unter dem Blick Ho Hans. Den ganzen Tag folgte ein Regenschauer auf den anderen. Die beiden Mönche arbeiteten geräuschlos, ordneten die Heilkräutersträuße, die sie in einem Trockenraum neben der Krankenstation aufhängten. Sie waren noch nicht fertig, als der dumpfe Klang der Schläge auf den Holzfisch sie in den Meditationsraum rief. Eilige Gestalten, verschluckt vom Halbdunkel, gesellten sich zu jenen, die bereits reglos den Boden der großen Halle
bevölkerten. Einsamkeiten in Reih und Glied. Ho Han ergriff das Wort. »Sich um die Reinheit des Himmels Sorgen zu machen ... Ist das eine schickliche Beschäftigung für einen Mönch? Abhidharma (Regelkanon der frommen Buddhisten, Anm. d. Übers.) sagt nichts darüber. Aber während man diskutiert, mit einem Wort die Welt in zwei Teile schneidet, handelt der Mönch, um die fühlenden Wesen vor dem Leid zu retten, mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen. Unendlich sind die Mittel, aber die Zeit ist begrenzt. Man kann nicht sein ganzes Leben lang zögern. Versteht endlich, daß der rasierte Schädel des Mönchs rund ist, oder fast ...« Fast ... Vor fast vier Monaten hatte der Eremit Fa Chang Ta Mei Rettichherz in dieses abgelegene Kloster in den Bergen gesandt, vier Monate eines schwierigen Lebens; die hiesigen Mönche - hart, sonderbar, in der Mehrzahl völlig ungebildet, schwerfällig bis hin zu ihren Anfällen von Fröhlichkeit legten ihm gegenüber keinerlei Wohlwollen an den Tag. Vier Monate, in denen er sich jeden Tag gefragt hatte, warum er blieb. Er verstand sich nicht mit seinem bigotten Gehilfen, Lautere Heiterkeit. Um die Wahrheit zu sagen, verstand er sich mit keinem Mönch, außer vielleicht mit Sesamkorn, eine Annahme, die auf nichts anderem als auf kurzen Augenblicken des komplizenhaften Einverständnisses beruhte. Was Ho Han betraf, stießen seine Überschwenglichkeit und Brutalität ihn beinahe ab, vor allem, wenn er sie mit der Sanftheit Fa Chang Ta Meis verglich. Und er konnte nicht umhin, dies zu tun. Manchmal hätte er deswegen heulen können. Ärger, Unzufriedenheit, Wut, nicht der geringste Anschein von Heiterkeit, und, tief drinnen, Furcht. Er bemerkte einen fremden Mönch in der den Besuchern vorbehaltenen Ecke. Wer war er? Was wollte er? Man kam
nicht von ungefähr nach Ho Han. In vier Monaten waren nur Bauern gekommen, immer dieselben, oder fast immer. Fast ... Da geriet er selbst an diesen Ausdruck, der Ho Han so teuer war und unter dem er sich nichts vorstellen konnte. Das monotone Geräusch des Regens auf den Dächern machte ihn schließlich benommen. Am Ende der Dhyana, einer Meditation im Sitzen, erhob er sich ohne Eile; nichts ist flüchtiger als diese Betäubungen, nichts zerbrechlicher als dieser Anschein von Heiterkeit. Er hätte noch ein bißchen in diesem Zustand bleiben mögen, er fühlte sich wohl dabei. Kaum hatte er den Balken überschritten, der die Schwelle zum Meditationssaal darstellte, spürte er, wie sich eine Hand schwer auf seine Schulter legte. »Der Meister will dich sehen. Sofort.« Aufrechter Elefant sah nicht aus, als scherze er. Er war übrigens jemand, der so gut wie nie scherzte, er hatte sich etwas Starres und Zeremonielles aus den Jahren bewahrt, die er an der Spitze der kaiserlichen Garde verbracht hatte, nachdem er vorher in jedem Winkel des Reichs gekämpft hatte. War es die Erinnerung an seine Feldzüge oder aber an die Intrigen am Hofe, die ihn manchmal mitten in der Nacht schreiend aus dem Schlaf fahren ließen? Dann klopfte ein gebrochener Koloß mit verzerrtem und leichenblassem Gesicht an die Tür der Krankenstation, um sich ein Schlafmittel geben zu lassen. Rettichherz schlüpfte in seine Sandalen und folgte der massiven Gestalt, die sich im Regen bereits in Richtung von Meister Ho Hans Pavillon entfernte. Der Meister hatte ihn erst zweimal persönlich empfangen: bei seiner Ankunft im Kloster und an dem Tage, als er ihn mit der Leitung der Krankenstation betraut hatte. »Da haben wir die Bescherung!« hatte sich damals Unendliche Reinheit beklagt. »All diese kranken Bauern
werden wieder in Scharen kommen und unsere Ruhe und unsere Übungen auf dem Wege stören!« Ho Han hatte einen gereizten Blick in die Richtung seines Priors geworfen. »Wenn wir die Anwesenheit dieses jungen heilkundigen Mönches nur nutzen, um unsere Krankheiten zu lindern, sind wir nicht mehr wert als Schweine, die sich in ihrem Pfuhl wälzen und zusehen, wie der Hof abbrennt ...« Rettichherz hatte spöttisch gelächelt, was Ho Han nicht entgangen war. »Kuan Yin besitzt tausend Arme, Mönch ... Und doch ist es Mahavairokana, der die unzähligen Krankheiten der Menschen heilt.« »Genauso ist es, Großer Meister. Zwei unbedeutende Hände, um die unzähligen Krankheiten zu heilen, tausend heilige Arme, um ein einziges Leid zu lindern ...« Ho Han hatte einmal seinen Fliegenwedel bewegt. »Zwei Hände genügen, um zu töten, eine Zunge, um zu verraten. Was ist daran unbedeutend, oh Mönch?« Aufrechter Elefant beschleunigte seine Schritte. Vor dem Pavillon des Meisters angekommen, verneigte er sich, verschwand im Dunkeln und ließ Rettichherz alleine weitergehen. Das war für den Mönch ungewohnt. Vielleicht hatte ihn sein Gehilfe wahrhaftig verraten, um sich vor dem Stock zu schützen? Wenn dies der Fall war, würde Ho Han ihn zu einem strengen Verhör rufen. Aber nein! Dieser Grund war zu unwichtig, um soviel Eile zu rechtfertigen. Rettichherz hatte bereits die Gelegenheit gehabt festzustellen, daß die Mönche nicht zögerten, zum Meister zu gehen und ihm ihre kleinen Tempelgeschichten zu erzählen. Ho Han hörte allem und jedem zu. Dann tat er genau das, was er wollte, nicht immer im erhofften Sinne. Meistens tat er nichts. Diese dringliche Aufforderung stand nicht im Verhältnis zu der Sache mit den Filzstreifen. Es braute sich etwas
Ernsteres zusammen. Wenn eine Gefahr drohte, dann nicht vom Kloster, sondern von der Außenwelt Und von der Außenwelt konnte nur eine Gefahr kommen. In all den Jahren, in denen er immer auf der Flucht war, hatte Rettichherz keine Mühe gehabt, zu einer ihn auch in den kritischen Augenblicken leitenden Überzeugung zu gelangen: Der Eunuch Fang Hua würde niemals lockerlassen. »Herein!« Rettichherz verneigte sich tief vor der Türschwelle. »Mach uns Tee, Sesamkorn«, befahl der Meister von Ho Han. Dann wies er mit seinem Pinsel auf die Kissen vor dem niedrigen Tisch, während sein Sekretär in das Nebenzimmer ging. »Setz dich, Mönch. Ich beende diesen Brief, und dann bin ich für dich da.« Rettichherz setzte sich Ho Han gegenüber, den Rücken den weit geöffneten Fenstern zugewandt, die auf die Abhänge des Tse Han, des einen der drei Gipfel, hinausgingen. Die schmale, wächserne Hand des Meisters malte Idiogramme, die nach den Kalligraphieregeln des Hofes voller Anmut gewesen wären, wenn er sie nicht abrupt auf nur einer Seite des Blattes übereinandergezeichnet hätte. Selbst verkehrt herum war es einfach, die Schriftzeichen zu entziffern. Der Brief begann so: Eure Anfrage wegen unseres heilkundigen Mönches erstaunt uns und erfüllt uns mit Schrecken. Gleichwohl geehrt durch das Vertrauen, das Ihr uns bezeugt ... ›Er bietet mir Tee an, weil er mich ausliefern will‹, denkt Rettichherz mit Bitterkeit. Er kann dem Meister jedoch deswegen nicht böse sein. Ein buddhistischer Mönch ist nicht mehr wert als eine Nußschale in der eisernen Hand des
Reiches. Abseits der großen Straßen, genießt Ho Han nicht die Gunst eines hochrangigen Beschützers, und der Respekt, den er den Gläubigen der Umgebung einflößt, ist weder einer heiligen Reliquie noch einem berühmten Dichter zu verdanken, der sich an diesen Ort zurückgezogen hat. Natürlich ist der Ruf Ho Hans in diesen letzten Jahren gewachsen. Seit der jetzige Meister die Leitung übernommen hatte, befiehlt er seinen Mönchen, in den Teeplantagen zu arbeiten, um den Bedürfnissen der Gemeinschaft nachzukommen, anstatt auf die Beihilfen des Gouverneurs zu warten oder bei den Bergbauern betteln zu gehen. Aber was gilt die Meinung der Bergler von Han hinsichtlich der Staatsraison? Ist es nicht vor allem die Pflicht des Meisters, sein Kloster zu schützen? In der Tat ist Rettichherz mehr überrascht darüber, daß Fang Hua ihn so schnell gefunden hat, als darüber, daß Ho Han ihn verkauft hat. Aber Gefühle sind unwichtig. Fang Huas Helfershelfer sind nicht im Pavillon des Meisters. Sie müssen am Tor des Klosters auf ihn warten, und wenn Ho Han ihn nicht auf der Stelle von seinen Schülern festnehmen läßt, wird ihn nichts daran hindern, über diese Berge zu fliehen, die er bei seinen kräuterkundlichen Studien gut kennenlernen konnte. Sesamkorn kehrte zurück, beladen mit einem Teetablett. Mit einem Anflug des Bedauerns bewundert Rettichherz die alten Keramiken, deren grüne Farbläufer die geometrischen Einritzungen verwischen, während sie einen glücklichen Kontrast zu dem groben Tisch aus rotem Pinienholz bilden, auf dem man noch unter der Patina die Spuren der Querbeilhiebe erkennen kann. »Ah! Da ist der Tee!« Ho Han legt seinen Pinsel nieder und reibt sich die Hände. Der Sekretär bedient die beiden Männer und zieht sich zurück. »Der Duft des Himmels!« scherzt Ho Han und deutet auf
den wohlriechenden Dampf, der aus den Tassen steigt. »Dieser Tee ist ausgezeichnet«, erkennt Rettichherz steif an. »Ich habe ihn gerade bekommen. Er ist ein Geschenk des Abtes vom Kloster der Strahlenden Tugend. Ein Mann von vornehmem Geschmack. Ist das nicht eine angenehme Art und Weise, uns zu verlassen?« Rettichherz streift Türen und Fenster mit einem raschen, mißtrauischen Blick. Dann fragt er geradeheraus: »Warum schickt Ihr mich zurück, Meister?« »Dich zurückschicken? Wer redet von zurückschicken, Mönch? Es ist nur die Rede von deiner sofortigen Abreise zum Kloster der Strahlenden Tugend.« Rettichherz schenkt sich ohne ein Wort noch ein Tasse Tee ein. »Heute mittag kam ein Mönch, ein Reisender auf dem Weg nach Kwan Dong«, fährt der Meister fort. »Er überbrachte eine Botschaft des Abtes vom Kloster der Strahlenden Tugend, wo er Station gemacht hatte. Dieses hochberühmte Kloster steht seit Generationen unter der Schirmherrschaft der edlen Familie Wu, deren Oberhaupt, Fürst Wu, zu Beginn des Frühlings starb. Sein einziger Sohn hat den Fürstentitel auf ausdrückliche Genehmigung des Kaisers behalten ... oder vielmehr des Ministers Peng. Doch der Sohn folgt nicht den alten Pfaden seiner Väter. Es heißt, er sei den Geboten des Guten Gesetzes gegenüber völlig gleichgültig. Seine Mutter jedoch beehrt das Kloster weiterhin mit ihrem Schutz, was für eine Frau reichlich kühn ist, vor allem in diesen Zeiten ...« »Ja, der Kaiser bevorzugt die Taoisten, das ist allgemein bekannt.« »Das meine ich nicht. Vor allem mußt du wissen, daß das Kloster von einer Krise erschüttert wird, wie es sie nie zuvor in seiner Geschichte gab. Schwache Geister reden von Dämonen, Phantomen, Füchsinnen ... Jedenfalls hat es in ein
paar Wochen zehn Tote gegeben.« »Wieso?« »Das weiß kein Mensch, und aus eben diesem Grunde galoppieren die abergläubischen Gemüter rückhaltlos. Zudem war der Arzt unter den ersten, die starben.« »Wißt Ihr, wer die anderen Opfer sind?« »Ich weiß nur, was der Abt mir zu schreiben geruhte und sein Bote mir erzählte. Es scheint, als sei die Mehrzahl der Toten alte, vortreffliche Mönche gewesen. Sie litten unter Entkräftung und starben an Auszehrung, ohne daß die üblichen Arzneien oder Stärkungsmittel die geringste Wirkung hatten. Jetzt ist die Reihe an Meister Gurke, dem Kaiserlichen Großerzieher. Ein großer Teil des gegenwärtigen Ansehens des Klosters liegt in seiner außergewöhnlichen Persönlichkeit begründet und in seiner Lehre, die auf einer, sagen wir... erweiterten Auslegung des Begriffs der Reinen Frömmigkeit basiert Ich hatte einmal die Gelegenheit, einen seiner Vorträge zu hören ...« Ho Han unterbrach sich, starrte auf einen Punkt auf dem Berg, über den die Nacht hereinbrach, und schüttelte unmerklich den Kopf, bevor er fortfuhr: »Meinem beschränkten Geist ist es nicht gelungen, den Unterschied zwischen der erwachsenen Liebe und der reinen Frömmigkeit zu erfassen, und da seine ganze Rede darauf begründet war... Ich hätte ihm eine Frage stellen, ihm meinen Zweifel mitteilen müssen, aber ich konnte es nicht. Etwas hinderte mich daran, ihn anzusprechen ... wie soll ich sagen? ... etwas, genau, wie der Schatten eines Zweifels.« Er fahrt fort, den Berg finster anzustarren. Rettichherz macht eine ungeduldige Bewegung. »Meister, lassen wir diese Spitzfindigkeiten. In diesem Augenblick sterben Menschen.« »Menschen sterben in jedem Augenblick. Der Skandal ist, daß sie umsonst sterben, am Ende einer mühsamen, qualvollen Reise. Der Skandal ist, daß es so viele
menschgewordene Dämonen gibt, die ihnen das Gesetz verbergen ...« Ho Han lächelt, als er sieht, wie der Arzt sich auf die Lippen beißt. »Du glaubst, ich rede dummes Zeug, he?« »Überhaupt nicht.« »Doch! Aber das macht nichts. Meister Gurke zieht viele vortreffliche Schüler an, die sich bemühen, bei ihm ihre Praxis des Dharma zu vertiefen. Nicht alle Tage kommt es vor, daß ein Bauernsohn mit der Gunst des Kaisers überhäuft wird, das muß man sagen - ich rede von dem alten, natürlich. Meister Gurke hat seinen Nachfolger noch nicht benannt, und man beginnt ins Blaue hinein zu fantasieren. Die Gemüter erhitzen sich. Der Abt weiß sehr wohl, daß er die Mönche und die Bevölkerung von Wu Hien beruhigen muß, der Nachbarstadt, in der die Familie Wu residiert. Man hat es schon mit den üblichen Prozessionen und Zeremonien versucht, ohne daß dies etwas bewirkte. Er muß nun auf die eine oder andere Art zeigen, daß er noch Herr der Lage ist. Kurz, als der Abt von einem Pilger erfahren hat, daß das Kloster Ho Han einen in der Kunst der Medizin sehr geschickten Mönch zu den Seinen zählt, ließ er mir dieses Ersuchen bringen ...« Ho Han deutet mit einer gereizten Geste auf einen zusammengefalteten Brief in einer Ecke des Tisches. »Ich kann nicht ablehnen. Ich glaube zwar nicht, daß es irgend etwas nützt, auch wenn ich deine Fähigkeiten nicht in Zweifel stelle. Aber es ist mir nicht möglich, abzulehnen, das ist alles.« »Ich verstehe. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht.« »Natürlich, natürlich ...« Rettichherz verneigt sich und will sich verabschieden. »Warte! Du meinst doch nicht etwa, daß ich dich allein auf die Reise gehen lasse, bei all den Schwierigkeiten in der Provinz. Aufrechter Elefant wird dich begleiten. Er hat den notwendigen Schneid. Und dann ist er ein Mönch voller
Erfahrung, der bereits in großen Klöstern gewesen ist.« »Gut ... Und wenn Meister Gurke stirbt?« »In diesem Fall kommt sofort hierher zurück. Es wäre für einige eine große Versuchung, euch anzuklagen. Die Gemüter könnten von Angst und Haß so verstört sein, daß sie lieber Unschuldige opfern würden, als der Wirklichkeit ins Auge zu sehen. Für einen Anschein von Gewißheit werden sie jegliche Vernunft ableugnen. Bis zur nächsten Leiche.« »Ich verstehe.« »Du verstehst überhaupt nichts ... Sei sehr vorsichtig. Erkenne sorgfältig, was acht und was vier ist und warum dies fünf, sechs oder neun ergibt.« Rettichherz blinzelt etwas überrascht zum Zeichen der Zustimmung und begreift endlich, daß Ho Han sowohl den früheren taoistischen Alchimisten als auch den bescheidenen heilkundigen Mönch an das Krankenbett Meister Gurkes schickt. Er sagt leise: »Ihr sagt mir nicht alles, Meister.« »Und doch verberge ich dir nichts. Der Weg ist erst dann ganz weitergegeben, wenn er beinahe weitergegeben ist. Jeder weiß das. Wenn nicht, wird man wie der Mann in dem Sprichwort, der mit der Nase in den Dreck fällt, weil er sich auf die Fußspitzen reckte, um über den Horizont zu sehen. Geh! Pack deine Sachen und mach dich auf den Weg. Aufrechter Elefant ist schon bereit.« Rettichherz kniete nieder, und Ho Han legte seine rechte Hand zum Zeichen des Segens auf den rasierten Schädel des Mönchs.
RÄUBER UND REISENDE Die Regenschauer fielen in regelmäßigen Abständen, wie häufig in dieser Zeit gegen Ende des Frühlings, die in der Provinz Anhui Pflaumenzeit genannt wird. Auf dem Weg
stritten sich Schlamm und regenglänzende Felsbrocken darum, den Reisenden den Weg zu erschweren. Die Mönche waren vor Mitternacht aufgebrochen und erreichten nun den Gipfel eines Berges, den fün ften für diesen Tag, und einmal mehr drehte sich Aufrechter Elefant, auf dem Grat angekommen, nach Rettichherz um. »Bei diesem Tempo werden wir gerade noch zu Meister Gurkes Leichenverbrennung kommen.« Zwanzig Meter weiter unten machte ihm Rettichherz, in Schweiß gebadet, die Schulter voller Striemen von dem Riemen des Arzneikoffers, ein Zeichen zu warten. Vergeblich. Aufrechter Elefant setzte sich schon wieder in Bewegung und warf ihm über die Schulter zu: »Auf dem nächsten Berg ruhen wir uns aus.« Lüge. Dasselbe hatte er bereits auf den Gipfeln der beiden vorhergehenden Berge gesagt. Zu erschöpft, um zu protestieren, vollauf damit beschäftigt, die Fallen des Weges zu umgehen, kletterte Rettichherz humpelnd die letzten Meter hinauf, die ihn von dem Gipfel trennten, und rammte den Kopf in Aufrechter Elefants Rücken, der mitten auf dem Weg stehengeblieben war. »Sieh an, sieh an! Ein Glatzkopf!« Ein großer, zerlumpter, mit einer Hellebarde bewaffneter Mann versperrte ihnen den Weg. Auf seine Bemerkung hin kamen vier weitere Galgenstricke aus den Büschen zum Vorschein, die sie sogleich umringten. Der Wortführer stieß mit der Spitze seiner Waffe den Hut von Aufrechtem Elefant zu Boden. »Zwei Glatzköpfe auf diesen holperigen, gefährlichen Wegen ... Ihr müßt einen wichtigen Grund haben, um die Bequemlichkeit eures Tempels zu verlassen.« Er ging um die Mönche herum und musterte ihre Aufmachung. »Ein junger und ein alter... Vielleicht gehen sie ins Bordell, he? ... Aber nein, natürlich nicht Was sollen sie im
Bordell, wenn sie die Bäuerinnen umsonst aufs Kreuz legen können?« Dann pflanzte er sich vor Rettichherz auf und fuchtelte ihm mit einer reichlich schartigen Klinge zwei Finger breit vor der Nase herum: »Denn habgierig seid ihr noch mehr als geil. Das einzige, was euch aus eurem Loch hervorlocken kann, ist Geld, nicht wahr? Also, Ehrwürdige, gebt das Geld heraus und dann schert euch zum Teufel! Seid vernünftig.« Keiner der beiden Mönche rührte sich. »Seid doch nicht starrköpfig im Angesicht eurer Väter! Geld oder Leben, wie man so schön sagt. Krokodil! Sieh nach, was in diesem Koffer ist!« Der Räuber, der auf diesen Namen hörte, näherte sich Rettichherz, während er mit all seinen verfaulten Zähnen höhnisch grinste. »Dieser Koffer enthält nur Medikamente. Ich werde ihn euch nicht geben.« »Sieh an!« Krokodil zog so fest an dem Tragriemen des Koffers, daß er ihn zerriß und unter dem Gelächter seiner Kumpane rückwärts in den Dreck fiel. Mit einem Satz war er wieder auf den Beinen, das Schwert in der Hand. Er schäumte vor Wut. Mit einem Zornesschrei stürzte er sich auf den Mönch. Im nächsten Augenblick lag er wieder auf dem Boden. Sein Schwert wirbelte in Rettichherz’ Händen. »Dämon!« knirschte der Mann mit der Hellebarde. »Worauf wartet ihr noch, ihr anderen? Gebt es ihm!« Wild machten sich die Räuber bereit zum Gefecht. Stille trat ein, und man hörte nur noch das bedrohliche Sirren der Klinge, die über dem Kopf des Mönchs kreiste. »Das genügt, Tätowierte Schlange!« Der Mann mit der Hellebarde, der der Anführer der Räuber zu sein schien, drehte sich abrupt zu dem älteren Mönch um.
»Du kennst meinen Namen?« Aufrechter Elefant nickte bedauernd. »Du bist immer noch derselbe, nach so langer Zeit: ein Hühnerdieb und Schwätzer noch dazu. Das ist wirklich beklagenswert.« Derjenige, der Tätowierte Schlange genannt wurde, musterte den Mönch stirnrunzelnd. Plötzlich leuchtete sein Gesicht auf. Dann ließ er seine Hellebarde fahren, fiel auf die Knie und berührte mehrmals mit der Stirn den Boden. »General! Wie konnte ich ...? Ihr, den ich mehr achte als meinen Vater, mehr als meinen Großvater! General ... Auf die Knie, alle miteinander, auf die Knie, Gewürm! Exkremente!« Die Räuber schauten sich an und warfen sich dann ihrerseits in den Straßenschlamm. »Genug der Ehrerbietung. Siehst du nicht, daß ich Mönch geworden bin?« »Und wenn Ihr krank, aussätzig und arm wärt, ich würde mich vor jedem Eurer Schritte in den Dreck werfen, General. Habt Ihr nicht das armselige Leben Eures unbedeutenden Dieners gerettet?« »Das habe ich aber nicht gerade getan, damit du Straßenräuber wirst ...« »Leider, Exzellenz, war der General, der an Eure Stelle trat, kein Mann nach meinem Geschmack. Er war ein Eunuch, von einer Grausamkeit ohnegleichen. Als ich sah, was er mit den Aufständischen von Nang Tscheu gemacht hat, bin ich lieber desertiert und in den Bergen meiner Provinz untergetaucht.« »Der Eunuch Fang Hua ...«, murmelte Rettichherz. Seine Stimme klang haßerfüllt. »All das liegt über zwanzig Jahre zurück, und nun treffen wir uns hier auf dieser Straße wieder, du als Räuber und ich als Mönch! Nun, Tätowierte Schlange, inspiriert dich das nicht zu einem Kommentar?«
»Ich bin noch nicht so lange Räuber, Exzellenz. Zuerst war ich Hausierer und Seemann.« »Kennst du die Gegend gut?« »Natürlich!« »Gut. Du kannst uns einen Dienst erweisen ...« »Alles, was Euch beliebt, Exzellenz.« »Ehrwürdiger!« »Ja, Ehrwürdiger.« »Wir sind auf dem Weg zum Kloster der Strahlenden Tugend. Kennst du vielleicht eine Abkürzung, auf der wir schneller nach Wu Hien kommen?« »Ihr konntet keinen besseren Führer finden, Ex- ... Ehrwürdiger. Ich kenne alle Wege, die schneller ans Ziel führen; eine Frage der Berufsehre ...« »Dann los, genug geschwätzt, zeig uns den Weg.« Tätowierte Schlange drehte sich zu seinen Männern um. »Kumpane, hier ist die Gelegenheit, einen Teil unseres bösen Kharmas auszulöschen, indem wir diesen Ehrwürdigen helfen, die in Not sind. Du, Krokodil, du trägst den Koffer des Mönchs, da du so blöd warst und den Riemen abgerissen hast. Vorwärts!« Der kleine Trupp setzte sich in Bewegung, abseits von den ausgefahrenen Wegen durch Gebüsch und Schluchten, die Rettichherz hundertmal das beklagen ließen, was Tätowierte Schlange ›ein wunderbares Zusammentreffen‹ nannte. Endlich, am späten Nachmittag, sahen sie Wu Hien vor sich liegen. In einiger Entfernung erhob sich vor ihnen das Schloß der Wu, es wachte über die Stadt und kontrollierte die Mündung des Flusses Hien in den Yang Tse. Zur Linken glänzten etwas abseits die grünen Dächer des Klosters im Regen. »Da sind wir, Ehrwürdige. Hier trennen sich unsere Wege. Ein neuer Richter ist in der Stadt angekommen. Er hat überall Spione eingesetzt. Ich will lieber unbemerkt bleiben.«
»Ich verstehe. Ich bin froh, daß ich dich lebendig wiedergefunden habe.« Der Räuber verneigte sich, und Aufrechter Elefant strich ihm mit der rechten Hand über den Kopf. »Vergebt meine Neugier, Ehrwürdiger, aber wißt Ihr, was da unten vor sich geht?« Aufrechter Elefant zog die Brauen hoch. »Ich meine ... im Kloster«, fügte der Räuber widerwillig hinzu. »Denn dort geht Ihr doch hin, nicht wahr?« Der Mönch machte eine vage Geste. »Es hat Tote gegeben, viele Tote«, fuhr Tätowierte Schlange fort. »Mönche. Man sagt, es ist eine Krankheit, aber es ist schlimmer als das ...« Er trat zu dem Mönch und senkte die Stimme. »Euch, der Ihr mir das Leben gerettet habt, kann ich ein Geheimnis anvertrauen, das nur die Mitglieder meiner Triade kennen. Das Kloster besitzt unterirdische Gänge. Hütet Euch vor diesen Gängen, eine Füchsin hat dort ihren Bau. Sie ist es, die die Mönche tötet.« »Und wo sind diese Gänge?« »Das kann ich Euch nicht sagen, aber wenn Ihr meine Hilfe braucht, es gibt ein Teehaus zwischen dem Osttor und dem Hafen, Zum Drachen. Der Wirt heißt Stehender Wind. Mehr kann ich Euch nicht sagen ...« »Du bist ein guter Junge, Schlange.« Der Räuber beugte sich herab, um mit der Stirn ein Stück des Mönchsgewandes zu berühren, und war im nächsten Augenblick im Gefolge seiner Männer im Gebüsch verschwunden. Rettichherz hob seinen Arzneikoffer auf die Schulter und betrachtete ohne Begeisterung den noch verbleibenden Weg. »Wir haben Glück, wenn wir noch vor Toresschluß ankommen. Vor allem jetzt, da unser Führer uns verlassen hat. In der Tat, ich wußte gar nicht, ›General‹, daß Eure Truppen auch solche Strolche in ihren Reihen zählten ...«
»Nenn mich nicht so ... oder du mußt mir erklären, bei wem du gelernt hast, dich auf diese besondere Weise zu schlagen. Wei-Schule, würde ich sagen ...« Aber Rettichherz hörte nicht mehr zu. Von plötzlicher Tatkraft gepackt, kletterte er den steilen Weg hinauf, der zum Schloß führte.
KOMMEN UND GEHEN IM KLOSTER DER STRAHLENDEN TUGEND Seit der Antike hatten die Fürsten Wu das felsige Vorgebirge besetzt, das den Zusammenfluß des Flusses Hien und des Stromes markierte. Durch diesen natürlichen Schutz war der Ort von großer Bedeutung. Das erste Fort aus gestampfter Erde wurde schon bald durch ein Schloß ersetzt, das mit der Zeit zu einer richtigen Festung wurde. Wer sie hielt, hatte alle Reisfelder der Umgebung fest in der Hand. Nahrung für die Stadt, ihre Umgebung und die mächtige Garnison des Schlosses. Die Berge machten die Festung gegen jeden Schwenkangriff uneinnehmbar. So waren Bürgerkriege und Invasionen aufeinander gefolgt, ohne die Fürsten jemals daran zu hindern, ihr unversehrtes Lehen weiterzugeben. Soviel Stabilität bedeutete mit Sicherheit die Gunst des Himmels. Weise hatten die Ahnen der Wu diese zu nutzen gewußt. Wu der Ältere konvertierte zum Buddhismus und verlieh die Ländereien des Hien-Tals dem kaiserlichen Großerzieher Tchen. Dieses Zeichen der Ergebenheit bewirkte, daß er vom Kaiser bemerkt wurde, der ihn zum Ehrenmitglied des Han Lin machte, des berühmten Geheimkabinetts der Tang, dem großen Inspirator kaiserlicher Entscheidungen, aber auch Netz aus Spionen und Geheimbund zwecks Umgehung der konfuzianischen Verwaltung. Bis zu dem kürzlich verstorbenen Fürsten Wu
war das Amt in der Familie geblieben. Gelegentlich unterbrach Rettichherz den gelehrten Vortrag seines Begleiters mit kleinen Ausrufen der Überraschung. Es war unnötig, Aufrechten Elefant zu kränken, indem er ihm zu verstehen gab, daß er genausoviel über die Geschichte der Wu wußte wie er. Im übrigen konnte jeder den ältesten Teil dieser Geschichte in bestimmten Abschnitten der Annalen nachlesen. Die Landschaft nahm seine Aufmerksamkeit immer mehr gefangen. Von der Ruhe profitierend, die der blutigen Unterdrückung des Aufstandes unter General An Lu Chan folgte, war die Stadt aus ihren Mauern geplatzt, und ihre Vorstädte, die auf der einen Seite bis zum Flusse Hien und auf der anderen bis zum Hafen am Strom reichten, bedeckten nun das ganze Land zwischen den beiden Wasserläufen. Die zwei Mönche folgten einem grob in den Fels gehauenen Weg am Rand einer Felswand. Einen Pfeilschuß vom Schloß entfernt verlor sich der Weg im Gebüsch. »Wir sind da!« Jenseits der Büsche brach der felsige Grat ab. Zwischen diesem Punkt und den Mauern des Schlosses schien eine ganze Felswand eingestürzt zu sein. Ein weites Geröllfeld aus flachen Steinen öffnete sich zu ihren Füßen und verlor sich im Nebel, in dem das Kloster versank. »Wir werden auf einem ziemlich ungünstigen Weg ankommen«, ließ sich Aufrechter Elefant vernehmen. »Für Buddhas gibt es keine ungünstigen Wege. Setzt Euch auf einen großen flachen Stein und rutscht hinunter.« Sie mußten nur ein bißchen schieben, um sich von einer majestätischen Steinflut bis zu einem Gegenhang tragen zu lassen, der sich durch die Anhäufung der Felstrümmer gebildet hatte. Ein Pinienwäldchen erstreckte sich bis zum Fluß. Als sie es durchquert hatten, sahen sie einen alten Bauern, der mit einem Stock in der Erde grub. Aufrechter
Elefant winkte ihm. »He, Mann! Sind wir hier im Kloster der Strahlenden Tugend?« Der alte Mann richtete sich auf und musterte die Fremden. Seine struppigen Haare ließen von seinem Gesicht nur ein vergnügtes Lächeln erkennen. »Befindet sich hier Meister Gurke?«, fragte Rettichherz. »Meister Gurke fischt im Bach, und dann ruht er sich aus. Wart Ihr es, die ich im Geröll gehört habe?« »Wir kommen von Ho Han. Der Abt hat diesen heilkundigen Mönch gerufen, um den kaiserlichen Großerzieher zu heilen.« Der Alte betrachtete Rettichherz einen Augenblick lang, als wolle er gleich in Lachen ausbrechen, dann wandte er sich an Aufrechten Elefant: »Oh! Eurem Ton nach zu urteilen, müßt Ihr es sehr eilig haben. Den Kaiserlichen Großerzieher ... Ihr findet ihn in dieser Hütte, da unten. Wenn er nicht schon tot ist ...« Aufrechter Elefant murmelte eine unverständliche Antwort und machte auf dem Absatz kehrt. Er ging so schnell, daß Rettichherz fast rennen mußte, um ihn einzuholen. »Habt Ihr ihn gehört, den alten Krebs?« fragte Aufrechter Elefant. »Was für eine Unverschämtheit, was für eine Frechheit!« Rettichherz lächelte. »Wenn alle so sind, wird es einem hier nicht langweilig.« »Ich hätte nie geglaubt, dies in einem Kloster dieser Bedeutung zu sehen. Und soviel ich weiß, gehören sie nicht, wie wir zur T’chan-Sekte ... Der Alte wollte sich über uns lustig machen, uns demütigen ...« »Beruhigt Euch, Ehrwürdiger. Vergeßt nicht, daß man Euch mir mitgegeben hat, um durch Euren diplomatischen Scharfsinn das zu mäßigen, was ich an ...« »... Eingebildetem, Spöttischem und Beunruhigendem
habe«, schloß Aufrechter Elefant. So belehrt, begnügte Rettichherz sich damit, sein Lächeln zu verstärken. Ein Bronzehorn erschallte plötzlich zu ihrer Rechten, während ein Donner aus Gongs und Trommelschlägen ertönte. Tiefe Kehlen stimmten ein Sutra an, das das kristallene Klirren der Glöckchen unterstrich. »Das Sutra von Mahavairokana, dem Königlichen Arzt. Kein Zweifel, hier ist es. Kommt.« Die Offizianten hatten sich auf der Steinterrasse vor dem Pavillon niedergelassen. Sie sahen zwei mit Staub und Schlamm bedeckte Mönche in dem schwarzen Gewand der T’chan-Anhänger vorbeigehen. Derjenige mit dem Koffer auf dem Rücken wandte sich an einen Mönch, der sich auf die Brüstung des um den Pavillon gebauten Balkons stützte. »Wir sind die Mönche aus Ho Han, nach denen euer Abt geschickt hat.« Der Mönch musterte Rettichherz mißtrauisch. »Aber ... der Pförtner hat mich nicht von eurem Kommen benachrichtigt.« »Wir haben eine Abkürzung genommen, damit wir schneller hier sind. Ich bin Rettichherz, der Arzt, und dieser Ehrwürdige hier ist mein Älterer, Aufrechter Elefant.« »Ich bin glücklich, euch endlich zu sehen. Ich heiße Fisch aus der Leere, Sekretär des Kaiserlichen Großerziehers.« »Ist es möglich, vor sein Angesicht geführt zu werden?« »Der Kaiserliche Großerzieher ruht.« »Bei diesem Lärm?« Fisch aus der Leere machte ein gekränktes Gesicht, das perfekt zu der Vorstellung paßte, die Aufrechter Elefant sich von der Haltung machte, welche man zur Schau trug, wenn man Sondersekretär eines großen Herren war, der in einer berühmten Zeit lebte. Aufrechter Elefant trat einen Schritt vor. »Mein Gefährte ist ein Arzt von großem Wissen, trotz
seines jungen Alters. Wenn er etwas tun kann, so soll er uns das jetzt gleich zeigen. Seid Ihr nicht auch meiner Meinung, Ehrwürdiger?« »Doch ... natürlich ...« Der Sekretär führte sie hinein, bis in das Zimmer des Meisters, wo er sich dreimal zu Boden warf. Die Mönche aus den Bergen taten desgleichen, da sie nicht hinter ihm zurückstehen wollten. »Großer Meister, hier sind die Mönche aus Ho Han, die sich nach Eurem Befinden erkundigen wollen.« Der Kranke auf seinem Lager öffnete halb die Augen und schloß sie wieder. Fasziniert von der wächsernen Gesichtsfarbe des Meisters trat Rettichherz näher, setzte sich auf eine Seite des Bettes und fühlte den Puls des Kranken. »Tut es Euch irgendwo weh?« »Er leidet nicht«, antwortete Fisch aus der Leere. »Wie steht es mit Eurem Appetit?« »Er hat seit vier Tagen nichts zu sich genommen, außer ein paar Tassen Tee.« Es schien vergeblich zu sein, den Kranken anzusprechen. Rettichherz drehte sich zu dem Sekretär herum. »Wie ist sein Stuhlgang? Die Farbe des Urins? Habt Ihr etwas davon aufgehoben?« »Nein.« »Tut dies, bitte. Mußte er sich übergeben?« »Nein.« Stirnrunzelnd tastete der Arzt genauer eines der Handgelenke des Meisters ab. »Da ist eine deutliche Mangelfunktion der Leber. Aber diese Leber ist weder geschwollen noch hart.« Der Kranke drehte sich mühsam zu Rettichherz um. »Du gibst dir viel Mühe«, ächzte er. »Wer ließ dich kommen?« »Der Abt dieses Klosters, Großer Meister. Er hat eine
Botschaft nach Ho Han geschickt.« »Ho Han. Dann bist du ein Anhänger T’chans ...« »Bemüht Euch nicht zu sprechen, Großer Meister«, flehte Fisch aus der Leere. »Schweig! Und sag diesen Idioten da draußen, sie sollen aufhören, mir das Trommelfell zu zerreißen.« »Aber das ist ein Sutra, das ...« »Geh!« Fisch aus der Leere ging rückwärts hinaus, die Hände gefaltet. »Wie lautet die Lehre von Ho Han?« fuhr Meister Gurke fort. Rettichherz fixierte einen Augenblick die Augen des Kranken, in denen ein spöttischer Schimmer zu tanzen schien. »Ho Han lehrt, daß ein Kranker sich pflegen muß und sich nicht den Tod wünschen darf.« »Ich dagegen, ich lehre die Ergebenheit durch die Praxis der universalen Liebe. Diese Liebe ist stärker als alles.« »Sie ist nicht stärker als der Tod, da ja einige Eurer nächsten Schüler bereits dieser seltsamen Mattigkeit erlegen sind, die ...« »Doch, doch ... sie ist stärker als der Tod.« Starrsinn eines Kranken oder unerschütterliche Überzeugung eines Weisen? Diese letzten Worte, durchdrungen von einer zutiefst menschlichen Sehnsucht, beschworen noch mehr das Bedauern einer verlorenen Seele herauf, die sich trotz allem weigert, auf ihre Schimäre zu verzichten. Rettichherz entfuhr ein langer Seufzer. »Ich nehme an, daß keiner von denen, die bereits umgekommen sind, unvorsichtig genug war, eine verdorbene Speise oder versumpftes Wasser zu trinken? (Meister Gurke schüttelte den Kopf.) Solltet Ihr Schalentiere oder Muscheln bekommen haben, die auf Eis oder in einem Fischteich aufbewahrt und nach und nach verzehrt wurden?«
»Ich bin strenger Vegetarier.« »Natürlich, vergebt mir. Wie dem auch sei, Ehrwürdiger Meister, was ich beobachte, läßt mich glauben, daß wir es mit einem giftigen Lebensmittel zu tun haben. Vielleicht ein Gewürz, das nicht bei allen Speisen verwendet wird ...« »Das einzige hier erlaubte Gewürz ist Sojasauce«, sagte Fisch aus der Leere, der gerade zurückkam. »Von den anderen rät der Abhidharma ab, wie Ihr wißt.« »Das ist eine sehr strenge Auslegung der Regeln.« »Sie gründet sich auf die offizielle Übersetzung des Originaltextes, die hier im Kloster von den größten Experten angefertigt wurde.« Meister Gurke bewegte sich in seinem Bett. »Warum hat die Rezitation des Sutra nicht aufgehört?« »Ich ... ich konnte sie nicht überzeugen, Großer Meister. Ohne Zweifel habe ich nicht mit genug Liebe gesprochen.« »Wenn Ihr gestattet«, sagte Aufrechter Elefant, »werde ich mich darum kümmern.« Er ging hinaus, nachdem er Rettichherz einen beredten Blick zugeworfen hatte. Dieser öffnete seinen Arztkoffer. »Ich werde Euch ein Medikament geben, um das Yang zu stärken. Aber es ist unerläßlich, daß Ihr mit Moxas, Nadeln oder jeder sonstigen Behandlung aufhört.« »Auch mit der Fußmassage?« fragte Fisch aus der Leere. »Wenn sie ihm nicht guttut, so kann sie ihm jedenfalls auch nicht schaden.« Das Summen des Sutra hörte plötzlich auf. Rettichherz fuhr fort: »Auch die Stille wird ihm nicht schaden ...« Er nahm ein Fläschchen und entkorkte es. »Hier! Drei Tropfen dieses Mittels in ein wenig lauwarmem Wasser ...« »Du gibst dir viel Mühe wegen nichts, Mönch.« »Ich bitte Euch, Großer Meister, redet nicht so«, protestierte Fisch aus der Leere. »Was soll aus uns werden ohne Euch?«
»Und was wird nur aus dir werden, da ich noch am Leben bin? Du bist nicht einmal in der Lage, die Rezitation eines Sutra zu unterbrechen!« Fisch aus der Leere warf sich platt auf den Fußboden und vergoß bittere Tränen. »Steh auf, Dummkopf! Und kümmere dich um diese beiden Mönche aus den Bergen, da du dich ja für meinen Sekretär hältst.« Fisch aus der Leere erhob sich schniefend, grüßte und ging hinaus, gefolgt von Rettichherz. »Man darf ihm nicht übelnehmen, was er sagt«, erklärte Fisch aus der Leere. »Er ist sehr krank, Ihr habt es gesehen, und der Tod von Reiner Weisheit, der über zwanzig Jahre lang sein Sekretär war, ist ihm sehr nahegegangen.« Er lehnte sich an die Tür des Pavillons. Da bemerkte Rettichherz, daß er abgespannt aussah und dunkle Ringe unter den Augen hatte. »Ihr schlaft zuwenig, das ist nicht vernünftig.« »Schlafen? Wie sollte ich schlafen, wenn ich jeden Augenblick um sein Leben fürchten muß? So viele Tote schon, und keiner weiß, warum ...«
DIE UNTERIRDISCHEN GÄNGE Die Nacht war über das Kloster hereingebrochen, Stechmücken umschwärmten die Fackeln. Der Regen hatte aufgehört, und der Dunst stieg in dichten Schwaden vom Fluß empor. Nachdem die beiden Mönche aus Ho Han den Badepavillon verlassen hatten, erholten sie sich bei einer Schale Reis mit Gemüse und gingen dann wieder in das Zimmer von Meister Gurke, der schlummerte. Leise erklärte Rettichherz Fisch aus der Leere, daß er die Kleider des Kranken wechseln und sein Bett frisch beziehen, sich aller Küchen- und Waschutensilien entledigen und dann das
Zimmer vom Boden bis zur Decke mit heißem Wasser reinigen müsse. Wenn die Annahme einer Lebensmittelvergiftung auch am wahrscheinlichsten war, durfte man doch die Möglichkeit einer Vergiftung durch eine Ansteckung nicht ausschließen. »Geh schlafen«, befahl ihm Aufrechter Elefant. »Ich wache hier und werde dich benachrichtigen, wenn wir dich brauchen.« Der Mönch ging hinaus und wurde sogleich von Insekten angefallen, die er mit Ärmelschwenken zu verjagen suchte. Der Dunst hing nun über dem ganzen Tal, unbewegt und feucht, schwer von den Gerüchen des Flusses und nach feuchter Erde. Die Gebäude des Klosters zeichneten sich gespenstisch im Schein der Fackeln ab. Er kam zu dem Schlafsaal für Besucher, als eine schmale Gestalt vor ihm auftauchte. »Seid Ihr der ehrwürdige Doktor aus Ho Han?« Die Stimme war jung, fast die eines Kindes. Ein Novize, zweifellos, oder einer jener jungen Leute, deren Eltern sie dem Kloster anvertrauten, damit sie dort etwas lernten. Ein großer Hut aus Reisstroh bedeckte den Kopf des Jungen und verbarg vollständig seine Züge. »Ich bin der, den du suchst. Was willst du von mir?« Der Knabe zog ihn am Ärmel, von der Terrasse herunter. »Ich habe eine Botschaft für Euch, Ehrwürdiger. Eine Dame will Euch sehen.« Rettichherz platzte heraus. »Jetzt schon!« »Aber sie ist nicht irgendwer! Sie wohnt im Palast der Wu.« »Noch besser ... Nun gut, sag diesem gepuderten Frätzchen, daß ich morgen früh in die Pagode kommen werde, zur gleichen Zeit wie die anderen Laien.« Er wollte seines Weges gehen, aber der Junge hielt ihn zurück.
»Sie will Euch jetzt sehen.« »Du redest dummes Zeug, mein Junge! Die Tore sind geschlossen.« »Ehrwürdiger, hört mir zu! Ich kann Euch in den Palast der Wu führen, ohne irgendein Tor des Klosters zu benutzen ...« Neugierig geworden, folgte Rettichherz seinem Führer auf dem Fuße, der ihn hinter die Bibliothek der Sutras brachte. Im Vorbeigehen bemerkte er, daß der Novize sich bewegte, ohne daß der Sand unter seinen Sandalen knirschte. Keine Fackel erhellte die Rückseite der Bibliothek. Sich im Halbdunkel vorantastend, fühlte Rettichherz, daß er an einer mit Flachreliefs geschmückten Wand entlangging. »Zieht den Kopf ein, Ehrwürdiger.« Er gehorchte, fühlte, wie er vorwärtsgeschoben wurde, hörte, wie eine Tür sich hinter ihm schloß, und befand sich in tiefster Dunkelheit. Er begriff sogleich, daß er in die unterirdischen Gänge eingedrungen war, die den Räubern so großen Schrecken einjagten, und mußte gegen die Panik ankämpfen. Wenn das eine Falle war, war er schön blöd hineingetappt. »Licht!« »Das brauchen wir nicht. Kommt. Vorsicht, da ist eine Treppe. Tastet Euch an der Mauer entlang, ich lasse Euch nicht los.« Automatisch begann er die Stufen zu zählen. Er kam auf fünfhundert und schloß, daß er sich endlich auf der Höhe des Palastes befinden mußte. Wie ein Echo auf seine Gedanken, verkündete der Novize: «Wir sind auf der obersten Stufe.« Er atmete schwer, aber seine Stimme schien noch jünger. Rettichherz blieb stehen, bis er wieder zu Atem kam. »Du scheinst diesen Weg gut zu kennen. Die Damen der Wu rufen dich oft, könnte man meinen.« Ohne zu antworten, zog ihn sein Führer zu einer weiteren Treppe, einer Wendeltreppe. Offensichtlich waren sie
innerhalb der Schloßmauern. »Wirst du mir endlich sagen, um welche Dame Wu es sich handelt?« »Sie ist eine echte Dame Wu, dessen könnt Ihr sicher sein.« »Unsinn! Alle Damen sind echt, außer denen, die aus dem Birngarten kommen und nur verkleidete Männer sind.« »Ihr wißt gut Bescheid für einen Mönch ...« »Genug! Ich will wissen, wer nach mir verlangt.« »Man wird es Euch sagen, wenn man es für richtig befindet.« Rettichherz packte das schmale Handgelenk, das sein Gewand hielt, und drehte es herum. »Antworte!« »Laßt mich los, Grobian!« Rettichherz bekam einen Tritt ans Schienbein und begann den Jungen zu schütteln, dessen Hut herunterfiel und eine Flut duftenden Haares über seine Hände ergoß. »Donnerwetter! Eine Frau!« »Laßt mich los! Ihr tut mir weh ...« »Immer langsam, meine Schöne ... Weißt du nicht, daß es sehr schlimm ist, sich als Novize auszugeben? Und noch schlimmer, sich über einen armen, verwilderten Eremiten wie mich lustig zu machen? Jetzt, da ich dich entlarvt habe, mußt du mit der Sprache herausrücken.« »Tut mir nicht weh! Ich bin nur eine Dienerin. Man nennt mich Kleine Jade. Man sagte mir, ich solle Euch im Kloster abholen und zum Westturm bringen.« »Wer?« »Eine Dame, die unter größter Geheimhaltung Neues über den Kaiserlichen Großerzieher erfahren will. Laßt mich los, ich bitte Euch!« Er zog seine Hand zurück. Das Mädchen holte eine kleine, abgeschirmte Laterne unter seinem Gewand hervor und machte Licht. Sie war sehr hübsch, und Rettichherz
fragte sich, ob dies nicht unbewußt der Grund gewesen war, warum er ihr so einfach gefolgt war. Er besänftigte sich. »Warum hat sie sich nicht an den Abt gewandt, wenn sie eine ›echte‹ Dame Wu ist?« »Meine Herrin weiß alles, was man von dem Abt wissen muß. Aber es heißt, daß Ihr ein großer Arzt seid. Sie will Eure Meinung hören.« Kleine Jade hob einen Teppich empor und ließ den Mönch in einem runden Zimmer allein, das nur eine Tür besaß und dessen Einrichtung aus einem Tisch und zwei Stühlen auf einem Perserteppich bestand. Rettichherz feuchtete einen Finger mit Spucke an und bohrte unauffällig ein Loch in das Papier des Fensters. Die Sterne funkelten an einem plötzlich wolkenlosen Himmel. Unterhalb der Mauer wurde der Dunst, der die Stadt bedeckte, von Dutzenden von Lichtern angestrahlt, den Laternen des Bordellviertels. Die Tür öffnete sich vor einer in prächtigen Brokat gekleideten Dame, deren Gesicht von einem dichten grauen Seidenmusselin bedeckt war. Ein Eunuch folgte ihr mit einer Lampe. »Ihr seid sehr jung für einen Mönch ... und für einen Arzt«, stellte die Dame fest und nahm Platz. Obwohl sehr beherrscht, verriet ihre Stimme eine starke nervöse Spannung. Rettichherz begrüßte die Eintretende nach der Etikette des Hofes und setzte sich erst, als sie ihn dazu aufforderte. »Ihr wünschtet mich zu sprechen, Eure Hoheit ...« Das leichte Erstarren in der majestätischen Haltung der Dame bestätigte ihm, daß er richtig geraten hatte. »Ihr seid der Mönch aus Ho Han? Den man gerufen hat, um Meister Gurke zu heilen?« »Ich habe diese enorme Verantwortung, Exzellenz.« »Woran leidet er? »Er breitete die Arme aus zum Zeichen der Hilflosigkeit. »An einer schweren Krankheit, die bereits zehn Mönche
getötet hat. Das ist so ziemlich alles, was ich weiß.« »Eure Untersuchung hat demnach nichts ergeben?« »Nur daß der Kaiserliche Großerzieher eine beängstigende Störung an Leber und Nieren aufweist und daß er kaum etwas zu sich nimmt.« »Und was spricht er? Was hat er Euch gesagt? Ihr habt ihn doch wohl ohne Zeugen untersucht, nicht wahr?« »Eure Exzellenz ist gut unterrichtet.« »Nicht so gut, wie ich es sein müßte. Ihr wißt sicher, daß der junge Fürst nicht dem Beispiel seines Vaters gefolgt ist. Er interessiert sich überhaupt nicht für das Schicksal des Klosters.« »Um so verdienstvoller ist es für Eure Hoheit, daß sie sich um das Schicksal Meister Gurkes sorgt. Die Nachrichten, die ich Euch zu bringen habe, sind nicht gut. Der Kaiserliche Großerzieher scheint sich sehr von diesem Leben gelöst zu haben, er ist gerade mal damit einverstanden, sich behandeln zu lassen. Indem ich seine Leber stärke und seine Nieren reinige, verhindere ich nur einen allzu schnellen Verfall seines Yang, aber mehr kann ich nicht tun. Leider bin ich nicht der Königliche Arzt der Sutras.« Die Fürstin Wu schwieg einen Augenblick. »Ihr habt also keine Ahnung, woher diese Krankheit kommen könnte? Könnte es sich - es ist ohne Zweifel unmöglich -, aber könnte es sich um ein Gift handeln?« Darauf wollte sie also hinaus. Sie hatte ihn nur in den Palast gelockt, um genau zu diesem Punkt seine Meinung zu erfahren. Rettichherz hätte viel darum gegeben, das Gesicht seiner Gesprächspartnerin sehen zu können. Seine Entscheidung war innerhalb eines Augenblicks gefallen. »Das steht absolut außer Frage.« Er hatte den deutlichen Eindruck, daß die Fürstin diese Antwort erwartet hatte. »Natürlich«, sagte sie zufrieden, »das steht völlig außer Frage.«
»Und dann, Eure Exzellenz, ist meine Meinung nur die eines Unwissenden angesichts der großen Geheimnisse der Natur ...« »Ein Unwissender, der die Sitten am Hofe kennt ... Es ist offensichtlich, daß Ihr trotz Eurer Jugend ein Mönch von großer Klarsicht seid. Ich möchte, daß Ihr in ein paar Tagen wiederkommt und mir über den Zustand des Kaiserlichen Großerziehers berichtet.« »Es wird mir eine große Ehre sein.« Die Fürstin Wu gab ihrem Eunuchen ein Zeichen, worauf der ein in rotes Papier gewickeltes Päckchen auf den Tisch zur Rechten des Mönchs legte. »Das kann ich nicht annehmen, Eure Exzellenz«, protestierte Rettichherz sittsam. »Ihr bringt einen armen Eremiten aus den Bergen wie mich in größte Verlegenheit.« »Ihr braucht nicht verlegen zu sein. Ich bin Euch dankbar, daß Ihr mir diese Nachrichten gebracht habt.« »Ein Mönch, der armselig bei Tigern und Affen lebt. Wozu könnte ihm all dieses Gold dienen?« »Genug! Es liegt mir ungemein daran, Euch meine Dankbarkeit für Eure gewissenhafte Behandlung auszudrücken.« Sie hatte schon soviel gesagt, ohne es zu wollen ... Er würde sie noch ein wenig drängen; nur um zu sehen, wie weit sie gehen würde, um das Wohlwollen des Arztes von Meister Gurke zu gewinnen. »Eine Dame wie Eure Exzellenz verfügt, wie Kuan Yin, über unzählige Mittel ...« Die Fürstin Wu warf verächtlich den Kopf zurück. »Ich weiß, worauf Ihr hinauswollt«, sagte sie nach einer Weile. »Ihr seid ehrgeizig, das ist eine hervorragende Eigenschaft. Ich selbst, wie Euch zu berichten man nicht versäumen wird, bin von ganz unten gekommen, um dahin zu gelangen, wo ich heute stehe. Und der Kaiserliche Großerzieher hat nichts anderes getan als das, was Ihr nun
Eurerseits versucht: vertrauensvoll einen Spinnfaden zu ergreifen, um sich bis zum Himmel zu schwingen. Seid versichert, Ehrwürdiger, daß ich, was auch immer der Ausgang der Krankheit Meister Gurkes sein mag, für Eure Zukunft Sorge tragen werde. In der Zwischenzeit behaltet dieses Gold, und möge es Euch nicht nur dazu dienen, bei Euren Tigern und Affen als Wurfgeschoß benutzt zu werden.« »Eure Exzellenz macht dem tausendjährigen Ruf des Hauses Wu alle Ehre.« Er verbeugte sich. Die Unterredung war beendet. Die Fürstin mußte viel wissen - genug, zweifellos, um die Fäden der ganzen Geschichte zu entwirren. Es war jedoch klar, daß sie nicht mehr sagen würde. Niemals. Eher würde sie ihren teuren Meister Gurke sterben sehen. »Huei wird Euch zu Eurem Zimmer begleiten. Ihr werdet die Nacht im Palast verbringen, ohne daß jemand es bemerkt. Morgen, bei Tagesanbruch, werdet Ihr wieder ins Kloster zurückkehren.« Darauf gab es nichts zu erwidern. Rettichherz folgte dem Eunuchen. Weniger eifrig allerdings, als er Kleiner Jade gefolgt war.
HUANG III Von dem monumentalen Portal des Wu-Palastes aus, das von zwei mit Blattgold bedeckten Bronzelöwen bewacht wurde, sah Rettichherz zu, wie die Sonne über der Landschaft aufging. Die überfluteten Reisfelder glitzerten wie Spiegel in der Sonne, reingewaschen von einem starken Regenguß, der kurz vor Tagesanbruch niedergegangen war. Auf dem Wasser herrschte bereits reger Verkehr. Sampans und Dschunken sowie riesige von Schaufelrädern angetriebene Lastkähne fuhren den trägen Fluß hinauf und
hinunter, die kleinen Barken der Bauern und Fischer schlüpften unter den Flüchen der Schiffer zwischen ihre schweren Rümpfe. Nachdem Rettichherz die Stadt durchquert hatte, näherte er sich dem Kloster, dessen große Glocke zum Ende der ersten Meditation läutete und die Zeremonie für das Heil aller fühlenden Wesen ankündigte. Schon wurde die Schlange der Gläubigen vor den von den riesigen Bildnissen grimmiger Gottheiten bewachten Toren immer länger, die voller Kraft und Muskeln wild mit den Augen rollten und ihre Waffen schwenkten, um den heiligen Raum zu schützen. Der Mönch hielt sich einen Augenblick abseits der Menge, den Rücken dem Fluß zugewandt, und ließ seinen Blick von einem Gesicht zum anderen schweifen. Er fühlte sich gut, und mit einer gewissen Fröhlichkeit fragte er sich, welcher dieser Frommen wohl glauben mochte, daß die Fürstin Wu, die Beschützerin des Klosters, den Tod Meister Gurkes kalt ins Auge faßte. Er hatte selbst nicht gedacht, so tiefe Wasser zu ergründen, und wenn er von der Fürstin mehr erfahren hatte, als sie ihm gesagt hatte, so nur aus einem Grunde: Die Kunst der Verstellung hatte der Dame Wu immer nur dazu gedient, ihren Ehrgeiz zu befriedigen, während sie für ihn selbst seit langen Jahren die Bedingung zum Überleben war. Übrigens verdankte er seine Befriedigung nicht nur dem, was er erfahren hatte. Er empfand eine wahrhaftige Wollust bei dem Gedanken, nicht innerhalb der Klostermauern geschlafen zu haben. Ein ganzes Volk drängte sich nun vor den Läden an der Schwelle des Tempels zu den ersten Prosternationen, während die Mönche vor den Altären der Buddhas der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, die in ihren zahlreichen Gestalten dargestellt waren, Sutras rezitierten. Diese Leute kamen sicher, um die gleichen Dinge zu erbitten wie die Bauern von Ho Han. Vielleicht waren sie ein
bißchen fantasievoller, weil sie um alle Verführungen der Stadt wußten, aber im Grunde mußte es auf dasselbe hinauslaufen: persönliche Vorteile in diesem Leben für die jüngeren, in einem anderen für die älteren. Rettichherz mischte sich unter die Menge, faltete die Hände und rezitierte das Mantra des Diamanten, wobei er das unendliche Mitgefühl des Eremiten Fa Chang Ta Meis und des Meisters von Ho Han anrief. Persönliche Vorteile ... das war lächerlich! Der Mensch war nur ein Instrument, eine vorübergehende Funktion, von der man sich nicht mißbrauchen lassen durfte. Die Heiligen, die er gekannt hatte, würden sich nicht selbst verleugnen; sie würden einfach über die Mauer des Menschen fliegen, gegen die er, Rettichherz, ständig stieß. Über diesen Gedanken wäre er um ein Haar mit einer Sänfte zusammengestoßen; er verlor das Gleichgewicht und fand sich im Dreck sitzend wieder. »Ehrwürdiger!« rief eine heisere Stimme. »So eilt ihm doch zu Hilfe, ihr Sklavenbande! Chen! Das war deine Schuld! Ich werde dir eine Tracht Prügel verabreichen lassen, die du nicht vergessen wirst!« Hinter den Vorhängen der Sänfte tauchte ein ergrauter schmächtiger Kaufmann auf und drohte seinen Dienern mit einem Stock. Wie immer in solchen Fällen drängte sich eine Menge um den Unfallort. Chen, der Träger, warf sich mit der Stirn auf den schlammigen Boden und flehte den Geistlichen um Verzeihung an, wahrend der Aufseher ihn mit Beschimpfungen zu Tode ängstigte. Rettichherz protestierte, aber seine Stimme ging in dem Tohuwabohu unter. Der Aufseher begann Chen mit Fußtritten zu traktieren. »Ich sagte: Genug!« Er packte den Aufseher am Arm und warf den guten Mann zu Boden. Der Tumult wurde einen Ton leiser. »Es tut mir leid, daß ich mit Eurer Sänfte
zusammengestoßen bin«, sagte Rettichherz zu deren Insassen. »Ich war völlig in Gedanken versunken und achtete nicht darauf, wohin ich ging. Euer Diener braucht sich nicht im Dreck zu wälzen und mich um Verzeihung anzuflehen. Und wenn Ihr weiterhin darauf besteht, ihm für einen Fehler Strafe anzudrohen, den ich begangen habe, werde ich mich Euch zu Füßen werfen, um für ihn um Gnade zu bitten.« »Ehrwürdiger! Tut mir diese Schande nicht an, ich bitte Euch!« »In diesem Fall nehme ich an, daß Ihr, wenn Ihr dem Schuldigen, der ich bin, vergebt, auch dem unschuldigen Chen vergeben werdet.« »Natürlich, Ehrwürdiger. Hörst du, Ungeziefer? Danke deinem Wohltäter!« »Ehrwürdiger!« schluchzte der Diener, ohne sich zu erheben, »in meinem nächsten Leben möchte ich als Büffel oder Pferd wiedergeboren werden, um mir einen Teil der Schuld aufzuladen, in der ich stehe.« »Das verbiete ich dir! Geh und verbrenne Weihrauch vor Manjusri und bemühe dich, Gutes um dich herum zu tun. Das ist alles, was ich von dir verlange.« »Das ist ein wahrer Buddha!« rief der Kaufmann aus, wobei er sich an die Menge wandte. Er verneigte sich mit gefalteten Händen, und das niedrige Volk der Träger und der fliegenden Händler tat es ihm nach. »Ich muß nun gehen«, fuhr Rettichherz fort. »Ich werde im Tempel erwartet.« »Hervorragend, ganz hervorragend! Ich bin gerade auf dem Weg dorthin, bevor ich meinen Tag beginne, um ein Gelübde zu erfüllen, das ich abgelegt habe. Bitte, Ehrwürdiger, nehmt in meiner Sänfte Platz.« Eine Ablehnung hätte den Kaufmann in Verlegenheit gebracht Also kletterte der Mönch in den kleinen Palankin. »Ich bin Huang III, ich handele mit Tee, Seide und
anderen Dingen des täglichen Bedarfs. Gehört Ihr zum Kloster?« »Ich komme aus dem Kloster Ho Han in den Bergen.« »Ach! So ist das!« »So ist was?« »Man sagt, der Meister von Ho Han sei ein großer Lo Han (Mönch, der in seiner Ausübung des Dharma hervorragend ist; Anm. d. Übers.), ein wenig exzentrisch, aber sehr stark, mit großen Zauberkräften begabt ...« »Mein Meister besitzt in höchstem Maße die wunderbare Fähigkeit des Mitgefühls. Ihr solltet ihn aufsuchen. Ihr würdet unendliche Verdienste auf Euch häufen.« »Gewiß, gewiß ... Aber ich folge bereits der Lehre des Abtes, eines Mannes von höchster Tugend.« Der Händler beugte sich zu dem Mönch vor, so daß dieser den starken Zwiebelgeruch seines Atems abbekam, und fügte mit gesenkter Stimme hinzu: »Auch er besitzt große magische Kräfte.« »Wirklich?« »Aber natürlich! Ihr seid nicht die einzigen, ihr Mönche aus den Bergen, die solche Kräfte habt! Wisset, daß ich, der ich zu Euch spreche, ein direkter Zeuge war.« »Wirklich?« wiederholte Rettichherz. »Wenn ich es Euch doch sage! Ihr seid nicht von hier, also könnt Ihr es nicht wissen. Ich bin der reichste Kaufmann dieser Stadt. Wenn ich noch dazu das Salzmonopol hätte ... Aber lassen wir das. Hört Euch meine Geschichte an, und dann werdet Ihr die Fähigkeit des Abtes beurteilen können: Obwohl ich der reichste Mann in der ganzen Stadt bin, war ich der unglücklichste, denn der Himmel verweigerte mir die Freude, einen Erben zu haben. Ich war sogar soweit gegangen, die Dienste aller taoistischen Magier in Anspruch zu nehmen, die hier vorbeikamen, da diese Esel von Apothekern mir seit langem erklärt hatten, daß ich unheilbar zeugungsunfähig sei.«
Rettichherz musterte den Händler. »Hattet Ihr eine Ohrenkrankheit, als Ihr so um die zwanzig herum wart?« »Mit zwanzig, genau! Aber dann seid auch Ihr ein Magier? Ein Eremit aus Ho Han, natürlich! Vergebt mir, daß ich an Euch gezweifelt habe, Ehrwürdiger, vergebt mir!« »Fahrt fort .« »Ich war damals in Tibet, in Begleitung des Haushofmeisters meines Vaters, und kaufte Pelze und Gewürze aus Indien. Ich wäre beinahe gestorben. Und was für schlimme Schmerzen das waren! Wenn ich Euch erzählte, daß meine ...« »Ich weiß.« »Natürlich, vergebt mir. Bei meiner Rückkehr verheiratete mein Vater mich mit dem Mädchen, das mir versprochen war. Die Jahre vergingen, aber meine Gemahlin konnte mir keinen Sohn schenken. Und meine Konkubinen auch nicht. Wie ich schon sagte, ich war der unglücklichste Mensch auf Erden. Buddha möge mir vergeben, aber ich hätte denjenigen mit Gold überhäuft, der mich von diesem Fluch befreit hätte, selbst wenn er im Dienst eines fremden Gottes gestanden hätte, des Gottes der Christen, der Moslems oder der Juden.« »Der Juden?« »Ihr kennt die Juden nicht? Ihr seid eben ein Eremit. Ich muß sagen, daß ich durch das ganze Reich gereist bin. Keine Provinz, in der ich keine Handelsbeziehungen geknüpft hätte! Kurz und gut, das Maß war voll, als dieser taoistische Scharlatan, dieser Mei Tschu, kam und sich bei dem jungen Fürsten im Palast einnistete.« Bei dem Namen Mei Tschu fuhr der Mönch merklich zusammen, allerdings nicht stark genug, daß der Händler, ganz mit sich beschäftigt, es bemerkt hätte. »Also lief ich hin, um ihn zu sehen. Denkt doch! Der Astrologe und Alchimist der Kaiserin ... und ich war nicht
der einzige. Man drängte sich in seinem Vorzimmer, aus mehr oder weniger ehrbaren Gründen. Ihr wißt, wie das ist ...« »Nicht wirklich.« Der Händler musterte forschend das verschlossene Gesicht Rettichherz’, unfähig zu entscheiden, ob dieser wirklich naiv war oder ihn zum Narren hielt. »Als ich endlich an der Reihe war«, fuhr er nach einer Weile fort, »bat ich diesen Schurken Mei, mir zu einem hübschen Jungen zu verhelfen. Er gab mir eine ekelhafte Arznei, die ich teuer bezahlen mußte. Soweit war ich schon, daß ich es unbedingt auf diesem Weg versuchen wollte, aus Verzweiflung und auch, weil ich schon zuviel Gold ausgegeben hatte. Da sagte mein Haushofmeister mir eines Tages, daß der Abt des Klosters der Strahlenden Tugend mich zu sprechen wünschte: Er hatte einen Traum gehabt, der meinen Sohn betraf.« Der Kaufmann hielt inne, faltete die Hände und fuhr in eindringlichem Ton fort: »Der Ehrwürdige Abt, ein wahrhaft heiliger Mann, empfing mich sehr liebenswürdig und erklärte mir, daß ich von den taoistischen Zauberern mißbraucht worden sei. Er sagte mir, daß ich in einem früheren Leben einmal eine Tigerin und ihr Junges getötet hätte und daß der Himmel mir keinen Sohn geschenkt hätte, um mich für diese Missetat zu bestrafen. Sein Traum bewies aber, daß der Erhabene mir vergeben hatte. Ich sollte ihm nur danken, indem ich ein paar Sutras betete. Kein Gold! Nur ein paar Sutras, und ich würde Vater werden. Ich fühlte mich wie ein Schiffbrüchiger, den ein heiliger Wind in Sichtweite der Inseln der Unsterblichkeit geführt hat.« Der Händler wischte sich eine Träne weg, schneuzte sich, näherte sein Gesicht dem von Rettichherz und lächelte schlau. »Und nun, Ehrwürdiger, ratet einmal, was geschehen ist!« »Eine Eurer Konkubinen erfuhr, daß sie schwanger ist.«
»Genau! Ist das nicht wunderbar?« »Die Wunder des Lebens übersteigen unsere beschränkte Sicht, Huang ... und Euer Abt ist ein großer Weiser. Wie hat dieser taoistische Scharlatan, dieser Huei, reagiert?« »Mei ... Er hat es sehr übelgenommen, wie all das Gesindel, das man auf frischer Tat ertappt. Ich habe meine Diener zu ihm geschickt, damit er mir mein Gold zurückgibt, das er mir abgenötigt hat, aber er wollte nichts davon wissen. Der Richter Ma weigerte sich mit ungeheuren Worten, meine Klage anzunehmen, er meinte, es sei nur recht, wenn man mich betrüge. Und dann besaß Mei die Frechheit, mich zu bedrohen. Er schickte seine Diener in mein Haus und prophezeite, daß man bald wissen würde, welchen Mächten dieses Kind zu verdanken sei, wenn es zur Welt käme.« Huang III streckte die Brust heraus. »Nun, dieses Kind kam auf die Welt, vor gerade einem Mond, kräftig und wohlgestaltet, wie sein Vater. Und Meis Drohungen haben nichts ausgerichtet ...« Er machte wieder sein pfiffiges Gesicht. »Aber ich bin nicht von gestern. Ich habe dem Erhabenen gelobt, jeden Morgen herzukommen und ihm zu Ehren Weihrauch zu verbrennen, und ich habe mich seines Schutzes versichert.« »Ich nehme an, diese Idee stammt von dem Abt ...« »Ehrwürdiger, Ihr wißt wirklich alles.« Die Sänfte kam in Sichtweite des Tempels, wo der Kaufmann seine Andacht zu verrichten pflegte. »Ihr seid mir sympathisch, Huang. Auch ich werde Euch einen Rat geben. Dieser taoistische Zauberer wird versuchen, einen Fluch über Euren Sohn zu werfen und vielleicht auch über seine Mutter.« Der Händler erbleichte und rollte erschreckt mit den Augen. Er wollte sich zu Boden werfen, aber in der engen Sänfte konnte er sich nur über die Knie des Mönchs kauern, die er immer wieder mit der Stirn berührte und dabei
wiederholte: »Ich bin verloren! Oh, rettet mich, Ehrwürdiger, rettet mich!« »Beruhigt Euch ... Ich werde Euch erklären, was zu tun ist. Befolgt genau meine Anweisungen, und Euer Sohn wird vor jedem bösen Einfluß geschützt sein.« In der Allee, die zu den Räumen des Kaiserlichen Großerziehers führte, traf Rettichherz geradewegs auf Aufrechten Elefant. »Man hat mir gerade mitgeteilt, daß du die Nacht nicht im Gästehaus verbracht hast.« »Ich bin sicher, daß ›man‹ Fisch aus der Leere heißt.« »Du hast gut lachen ... Du vergißt, wo wir sind. Es gibt hier Regeln, die befolgt werden müssen, und viele Leute, die beobachten, wer sie befolgt und wer nicht. Wo warst du?« Rettichherz sah sich um. Mehrere Mönche, die vorbeigingen oder mit verschiedenen Arbeiten beschäftigt waren, warfen verstohlene Blicke in ihre Richtung. »Laß uns nicht hierbleiben«, sagte er. Er zog seinen Gefährten in das Pinienwäldchen, das an Meister Gurkes Haus angrenzte, und berichtete ihm ausführlich von den Ereignissen seit dem Vorabend. Aufrechter Elefant lauschte, ohne mit der Wimper zu zucken; er hatte schon ganz andere Sachen gehört. Als Rettichherz die Episode mit dem Kaufmann beendet hatte, seufzte er: »Selbst wenn du die ganze Nacht im Blumenviertel durchgesoffen hättest, so eine Geschichte hättest du niemals erfinden können ... Was werden wir nun tun?« »Alles ans Werk setzen, um das Gift zu finden. Und zwar schnell«, sagte Rettichherz. »Das wird nicht einfach sein, wir können uns auf niemanden verlassen. Meister Gurke interessiert sich für nichts, und sein Sekretär verbringt seine Zeit damit, sich im Kreis zu drehen. Es hat ihn schon halb hysterisch gemacht,
die Desinfektion des Zimmers in die Wege zu leiten.« »Das ist nicht verwunderlich. Es handelt sich um seinen Meister im Dharma; die Angelegenheit eines ganzen Lebens ...« »Sieh an. All das hindert ihn nicht daran, die ältesten Schüler systematisch abzuweisen, die sich dem Großerzieher nähern wollen, was diese um so mehr mit den Zähnen knirschen läßt, als er immer noch nicht seinen Nachfolger bestimmt hat. Und was diesen wundertätigen Abt betrifft ...« »Geht schlafen, Ehrwürdiger, Ihr seht erschöpft aus.« Aufrechter Elefant seufzte. »Schlafen, in meinem Alter ...« »Dann nehmt ein Bad.« Und als der ehemalige Soldat die Brauen runzelte, fügte Rettichherz lachend hinzu: »Das sage ich als Arzt zu Euch.« Und er machte rasch auf dem Absatz kehrt.
EIN MANN VON VORNEHMEM GESCHMACK Während Rettichherz sich an das Krankenlager des Kaiserlichen Großerziehers begab, dachte er an Mei. Die unbeabsichtigt von der Fürstin Wu untermauerte Annahme einer Vergiftung fand sich durch die Anwesenheit des Alchimisten bestärkt, denn wenn es einen Menschen gab, der in der Lage war, die ausgeklügeltsten Gifte zu handhaben und sich den finstersten Ränkespielen zu widmen, dann war er es. Ursprünglich Schüler des Wei, hatte er zu Beginn des Prozesses, der diesen ins Gefängnis gebracht hatte, mit ihm gebrochen. Mei hatte in der Folge einen furchtbaren Opportunismus bewiesen, indem er die Aufmerksamkeit der Kaiserin auf sich zu lenken wußte, die ihn zu ihrem persönlichen Astrologen machte. Als sie starb, mußte er sich auf die Suche nach einem neuen Beschützer machen, und es war leicht vorzustellen, daß er keine Mühe
hatte, den jungen Fürsten zu umgarnen. Gewiß war es seinem Einfluß zu verdanken, daß der junge Mann seine Geringschätzung für die Angelegenheiten des Tempels zum Ausdruck gebracht hatte. Und dann? Mei stand im Genuß des Schutzes und eines Teils des Vermögens der Wu und hätte gewiß nicht gezögert zu töten, um mehr zu bekommen; Rettichherz war überzeugt, daß er es gewesen war, der das Gift zubereitet hatte. Aber welchen Nutzen konnte er sich vom Tod einiger Mönche erhoffen? Und selbst vom Tod des erhabenen Meisters Gurke? Jedenfalls besaß Mei, so ehrgeizig und skrupellos er auch sein mochte, nicht genug Grölle, um ein derartiges Komplott alleine durchzuführen. ›Solange man die Verkettungen von Ursache und Wirkung nicht genau kennt, kann man den fühlenden Wesen nicht helfen‹, pflegte der Meister von Ho Han zu sagen. Nun, im Augenblick sah man lediglich die Wirkung. Und Mei war nur einer unter vielen, aufgetaucht im richtigen Augenblick, um eine präzise Aufgabe in einer Geschichte zu erfüllen, die ihm zu hoch war. Die Ursachen blieben im Dunkeln verborgen, und die beiden, die davon Kenntnis haben mußten, Meister Gurke und die Fürstin Wu, schwiegen beharrlich. Fisch aus der Leere empfing ihn sehr kühl an der Türschwelle. Tief in seinem Innern geriet Rettichherz wieder einmal in Bewunderung über die Fähigkeit des klösterlichen Lebens, geheime Haßgefühle zu erzeugen, die ebenso plötzlich wieder verschwinden, wie sie entstanden sind, nach ein paar Stunden oder ein paar Jahren. Häufig werden Feinde von gestern enge Freunde, durch etwas verbunden, auf das sie nicht verzichten können und das nur wenige unter ihnen wirklich verstehen. Wie zwei Bilder im Spiegel, die, nachdem sie sich gegenseitig ihre Realität streitig gemacht haben, plötzlich in ihrem jeweiligen Spiegelbild die
ausreichende Berechtigung ihrer zerbrechlichen Existenz finden. War dies der Grund, warum Rettichherz keine Freunde hatte? Nach all den Gefahren und Schrecken, die er erlebt hatte, wäre es ihm als Zeitvergeudung erschienen, eine Freundschaft zu pflegen. Wenn er schließlich soweit gekommen war, die Gesellschaft von Aufrechtem Elefant zu schätzen, so nur deswegen, weil der ehemalige General nichts auf dieser Ebene zu erwarten schien, weil auch er sich keine Mühe gab zu gefallen. »Ich komme, um zu sehen, wie meine Arznei auf den Kranken gewirkt hat.« »Sehr liebenswürdig, Ehrwürdiger«, knirschte der Sekretär. »Ich hoffe, daß Ihr Euch in der Stadt gut amüsiert habt.« »Dazu hatte ich keine Zeit.« Der Arzt hockte sich am Lager Meister Gurkes nieder und fühlte seinen Puls, der ihm etwas normaler erschien. Der Kaiserliche Großerzieher schnarchte friedlich. Rettichherz erhob sich, bedeutete dem Sekretär, ihm ins Nebenzimmer zu folgen, und flüsterte ihm etwas ins Ohr. »Seid Ihr Euch bewußt, was Ihr da von mir verlangt?« japste Fisch aus der Leere. »Das wird sich im ganzen Kloster herumsprechen.« »Das ist möglich, aber Ihr müßt zugeben, daß der Tod Eures Meisters eine weitaus größere Aufregung verursachen würde. Es liegt an Euch, unauffällig vorzugehen ... und stapelt alles, was ihr finden könnt, in einem abgeschlossenen Raum auf.« »Trotzdem ...« »Ihr wißt doch, daß in dieser Sache jeder seine Verantwortung zu übernehmen hat. Geht es Meister Gurke besser oder nicht?« Der Sekretär nickte widerwillig. »Wollt Ihr, daß er gesund wird?«
»Natürlich!« »Also, dann seid nicht wie die wankelmütigen Söhne des hervorragenden Königlichen Arztes aus dem Lotus-Sutra. Tut, was ich von Euch verlange, mehr nicht. Es geht nicht darum, Euch eine Prüfung ablegen zu lassen, um Euer Verständnis von Meister Gurkes Dharma zu testen, sondern darum zu handeln, um ein leidendes Wesen zu retten.« Er verließ raschen Schrittes die Räume des kaiserlichen Großerziehers, so daß der Sand unter seinen Strohsandalen aufstob, und ging zur Pagode, wo sich der große Altar befand. Es war die Stunde, in der allen Buddhas der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gehuldigt wird. Er blieb vor einem Laden stehen, um dort Weihrauch zu erstehen, den man ihm zu einem übermäßig hohen Preis verkaufte, dann mischte er sich unter die Andächtigen und trat unter dem Schutz der Vier Wächter ein, riesenhaften bunten Statuen, die so aussahen, als wollten sie jeden Augenblick von ihrem Sockel steigen und sich in Bewegung setzen. Hinten in dem riesigen Saal thronte ein sitzender Buddha, dessen Haarknoten fast die Decke berührte, der Buddha der Zukunft, Maitreya, umgeben von Anhängern, die das Land des Westens beschworen. Beiderseits standen die Buddhas und Patriarchen, jeder auf seinem Platz, Träger seiner Merkmale, in der von der Tradition überlieferten Haltung. Die vergoldeten Statuen und Bildnisse spiegelten das Licht der Öllampen wider, und hinter ihnen entfaltete sich ein prächtiges Fresko, auf dem die wichtigsten Episoden aus dem Leben der im Tempel gegenwärtigen Buddhas und Patriarchen dargestellt waren. Der Mönch faltete die Hände und verbeugte sich tief vor Manjusri, legte die Hälfte seines Weihrauchs nieder und verneigte sich dreimal vor dem Buddha der Großen Weisheit.
»Oh Manjusri, mit Entschlossenheit bemühe ich mich, die verwirrten Fäden dieser Angelegenheit zu entwirren. Ich weiß, daß ich nur auf die Fehler der unersättlichen Verbrecher zählen kann, die in den Netzen ihres höllischen Kharmas gefangen sind. Das Verbrechen ist verknüpft mit dem Haß, Masche für Masche, bis sich irgendwo ein Manjusri findet, der dieses Netz, in dem die Wesen leiden, durchschneidet.« Dann trat er zu der Statue Kuan Yins, des Bodhisattvas des Mitleids, und verfuhr ebenso. »Oh Avalokitesvara, es kann sein, daß in dieser Angelegenheit Wahrheit und Mitleid kein gutes Paar bilden. Könnte ich doch durch das Mitleid erleuchtet werden und müßte mich nicht an das Augenscheinliche halten. Ich weiß, daß ich trotz meiner Anstrengungen keiner Eurer guten Jünger bin, und deswegen bitte ich Euch, darüber zu wachen, daß ich mich nicht von meinen Illusionen mitreißen lasse.« Beim Verlassen des Tempels stieß Rettichherz auf Aufrechten Elefant, der brummte: »Der ehrwürdige Abt geruht uns zu empfangen ... endlich! Da haben wir einen, der weiß, was sich gehört ...« »Wunderbar. Ich habe ihn eine ganze Menge zu fragen.« »Langsam ... Ich werde reden. Ein Mann wie er wird nicht daran gewöhnt sein, die Fragen eines unverschämten Jungen zu beantworten.« Rettichherz schlug die Augen zum Himmel und folgte seinem Gefährten. »Ehrwürdiger Abt!« sprach Aufrechter Elefant als Begrüßung nach den üblichen Kniefällen und Weihrauchopfern. »Ehrwürdiger!« protestierte der Abt. »Keine derartigen Umstände unter uns ...« Mit einer Geste wies er auf die mit Elefanten verzierten,
reich geschnitzten Teakholzstühle, die im Dreieck um einen mit Köstlichkeiten beladenen Tisch standen. Zwei Novizen hatten eine Auswahl an Kuchen und Früchten für die Mönche aus den Bergen zusammengestellt. Unter halbgeschlossenen Augenlidern musterte der Abt seine Gäste sorgfältig und unauffällig. »Wir waren alle überrascht, als wir entdeckten, daß der weise Mönch aus Ho Han so jung ist«, sagte er lächelnd zu Aufrechtem Elefant. »Und noch mehr, als wir feststellten, daß sich der Zustand des Kaiserlichen Großerziehers schon heute morgen beträchtlich gebessert hat. Was würdet Ihr zu etwas Pfirsich- und Zitronensorbet sagen? Wir haben hier einige Mönche aus Persien, die von den Muselmanen aus ihrem Kloster gejagt wurden. Sie haben uns ein paar Originalrezepte mitgebracht.« Rettichherz begann sich eine ziemlich genaue Vorstellung von dem zu machen, was der Meister von Ho Han gemeint hatte, als er den Abt des Klosters der Strahlenden Tugend als einen Mann ›von vornehmem Geschmack‹ bezeichnete. Es war eine wohlwollende Art zu umschreiben, daß es sich um einen Angeber handelte. Die Sorbets wurden gebracht Der Abt fuhr fort: »Sehr seltsame Menschen, diese Muselmanen. Stellt Euch vor, daß sie zum Beispiel den Heiligen Krieg führen.« »Sie tun nicht nur das«, sagte Rettichherz. »Ich hatte die Gelegenheit, eine ihrer medizinischen Abhandlungen zu überfliegen, und auch wenn ich nichts von ihrer Schrift verstand, so schienen mir ihre Zeichnungen doch in den meisten Punkten den unseren sehr ähnlich. Die Meridiane der Akupunktur schienen sie allerdings nicht zu kennen.« »Natürlich nicht! Diese Leute sind doch nichts als Barbaren.« Der Abt forderte seine Gäste auf, von den Sorbets zu kosten. »Sehr fein!« rief Aufrechter Elefant
»Nicht wahr?« brüstete sich der Abt. Er machte sich mit Feinschmeckermiene über die von den Barbaren so köstlich ersonnenen Sorbets her. »Ich habe gehört«, sagte er plötzlich, »daß Ihr von dem Sekretär des Kaiserlichen Großerziehers verlangt habt, die Räume zu reinigen und das Geschirr auszuwechseln. Dürfte ich den Grund dafür wissen?« Diesmal wandte er sich an Rettichherz. »Ehrwürdiger Abt, dafür gibt es zwei Gründe.« Er hob einen Finger. »Der erste betrifft das überaus Geheimnisvolle an der Krankheit Meister Gurkes.« »Des Kaiserlichen Großerziehers«, verbesserte Aufrechter Elefant »Des Kaiserlichen Großerziehers. Diese geheimnisvolle Krankheit bewegt die Gemüter. Es ist die Rede von Geistern ... Nun ist es allgemein bekannt, daß Geister und Dämonen es verabscheuen, daß man irgend etwas an dem Ort verändert, den sie heimgesucht haben. Wenn sie so oft in Ruinen spuken, so nur deswegen, weil kein Mensch auf die Idee kommt, dort sauberzumachen. Deswegen, so erklärt das Traktat des Gelben Kaisers (Taoistischer Klassiker über die Alchemie und die Praktiken der Unsterblichkeit; Anm. d. Übers.), ist ein Großputz und eine allgemeine Reinigung dazu geeignet, die Geister zu entmutigen, die darauf erpicht sind, die Ruhe des Kranken zu stören. Jedesmal, wenn man diesen alten Rat befolgte, hat er sich als unfehlbar erwiesen ... vorausgesetzt, man begleitet ihn mit der Rezitation der geeigneten Dharmas.« »Sehr gut! Ausgezeichnet!« stimmte der Abt zu. »Der zweite Grund«, fuhr Rettichherz fort und hob den zweiten Finger, »ist der, daß ich überzeugt bin, daß der Kaiserliche Großerzieher Opfer einer Vergiftung ist. Eines Giftanschlags. Ich rechne damit, daß der Schuldige von unseren Anordnungen Kenntnis erhält und sich an Ort und Stelle begeben wird, um unter den ausgesonderten Dingen
diejenigen in Sicherheit zu bringen, die ihn verraten könnten.« Der Abt schien nicht überrascht. Er schaute den Arzt argwöhnisch an, verärgert, sich allein auf seine Intuition verlassen zu müssen, um über die Ernsthaftigkeit seines Gegenübers zu urteilen. »Eure These ist scharfsinnig ... Ich habe niemals an eine Epidemie geglaubt. Zu viele Leute lebten bei den verstorbenen Mönchen und fühlten sich weiterhin wie Ihr und ich. Aber dann gleich einen Giftanschlag in Betracht zu ziehen ...« »Ehrwürdiger Abt«, ließ sich Aufrechter Elefant vernehmen, »muß man von drei Übeln nicht das geringste wählen? Eine Epidemie wäre eine Katastrophe für ein Kloster, das so bevölkert ist wie dieses. Die verdienstvollen Mönche, die unter Eurer Leitung die alten Texte studieren und übersetzen, wären gezwungen, ihre Talente, die aus dem Kloster der Strahlenden Tugend ein Beispiel für das ganze Reich machen, anderswo auszuüben. Auf der anderen Seite würde der Fluch eines herumirrenden Geistes eine äußerst unangenehme Situation heraufbeschwören, denn man müßte zugeben, daß all Eure Fähigkeiten zusammen mit denen des Kaiserlichen Großerziehers nicht mächtig genug gewesen wären, um dem entgegenzutreten, was irgendein taoistischer Dorfzauberer sich mit zwei Anrufungen des Himmelskaisers zu erledigen brüstet.« Der Abt, der nicht mit der Wimper gezuckt hatte, als man offen den Gedanken eines Giftmordes ausgesprochen hatte, reagierte bei dem Wort ›taoistisch‹ wie von der Tarantel gestochen und konnte sich nicht enthalten, einen Blick in Richtung des Palastes der Wu zu werfen. Rettichherz vollendete die von seinem Gefährten begonnene Argumentation: »Die These einer Vergiftung scheint mir demnach am besten geeignet zu sein, um die Ruhe in der Versammlung der Mönche zu bewahren. Von Vergiftung zu
sprechen muß nicht bedeuten, von einem Verbrechen zu sprechen. Ich muß darauf hinweisen, daß es noch eine Möglichkeit gibt, daß diese Vergiftung zufällig geschah. Und im Augenblick kann sich der Täter, so es einen gibt, in Sicherheit wiegen. Fest steht, daß ich Fisch aus der Leere gebeten habe, das ganze Geschirr und alle persönlichen Vorräte des Kaiserlichen Großerziehers unter Verschluß zu nehmen ...« Er beugte sich zu dem Abt vor. »Solltet Ihr jedoch Kenntnis über gewisse Fakten haben, die mir entgangen sein sollten, so bitte ich Euch inständig, Ehrwürdiger Abt, sie mich wissen zu lassen.« Der Abt hüstelte. »Junger Mönch, ich bin nicht mehr erstaunt, daß ein Mann Eures Alters den großen Kesa trägt. Euer Scharfsinn und Eure Logik sind Nagarjunas würdig. Ihr müßt wissen, daß unser Kloster seit dem Tod des alten Fürsten eine schwierige Zeit durchmachte. Glücklicherweise ist Ihre Hoheit, die Fürstin Wu, trotz der taoistischen Sympathien ihres jungen Sohnes weiterhin eine Anhängern Buddhas geblieben. Eine gewisse Zahl von Beamten und Eunuchen beurteilt mit Strenge den Ruf und den Reichtum von Klöstern wie unserem ... Jeder Skandal, der uns in Mißkredit bringen könnte, würde also der Clique des Ministers Peng zum Vorteil gereichen, mit der der junge Fürst eng verbunden ist. Das Leben, das man im Kloster führt, erscheint den Bauern und Händlern äußerst friedlich, aber wir, wir wissen genau, daß wir auf einem Pulverfaß sitzen.« Der Abt schaute die beiden Mönche nacheinander an. Da sagte der alte General: »Ich hatte die Gelegenheit, mich mit dem alten Fürsten zu unterhalten, am kaiserlichen Hof. Er war ein äußerst vornehmer Mann.« Der Abt ließ einen respektvollen Blick auf ihm ruhen. »Unglücklicherweise hat der junge Fürst nicht viel von den hervorragenden Eigenschaften seines Vaters geerbt Er
ist ein leichtsinniger Junge, der seine Zeit bei Hofe damit zugebracht hat, mit irgendwelchen Kameraden Ball zu spielen, anstatt sich für die klassischen Studien zu interessieren. Und dann war da diese ärgerliche Geschichte mit dem Zensor Ma. Ein echter Skandal. Hätte die Fürstin nicht eingegriffen, der alte Fürst hätte seinen Sohn eigenhändig umgebracht. Er starb einige Zeit darauf, und die Fürstin zog sich in Gesellschaft ihres Sohnes in den Palast zurück. Seit er hier ist, verbringt dieser junge Mann seine Zeit mit schändlichen Ausschweifungen, mehr oder weniger verheimlicht vor seiner Mutter. Diese versucht nicht einmal mehr, seine Erziehung zu leiten. Sie interessiert sich nur noch für ihre Frömmigkeit und die Prophezeiungen ihres Astrologen, eines gewissen Mei, der es fertiggebracht hat, den jungen Fürst unter seinem Einfluß zu halten. Ein geschickter Mann ...« Er schwieg und nahm von dem Gebäck. »Etwas anderes ... Seht Ihr eine Gemeinsamkeit zwischen den zehn verstorbenen Mönchen, Ehrwürdiger?« fragte Aufrechter Elefant. Der Angesprochene verzog zweifelnd den Mund. »Ich weiß nur, daß alle dem Kaiserlichen Großerzieher sehr nahestanden. Ihr Tod hat ihn sehr mitgenommen.« Ein Gedanke zuckte Rettichherz durch den Kopf. »Gab es fremde Mönche unter den Opfern?« »Ja, in der Tat«, bestätigte der Abt erstaunt. »Drei, wobei der eine nur vorbeigekommen war, um sich von dem Kaiserlichen Großerzieher zu verabschieden, ehe er nach Indien aufbrach. Aber ...« »Ein äußerst wichtiges Detail«, murmelte Rettichherz. »Das rückt diese Sache in ein ganz anderes Licht.« »Ihr sagtet?« »Ich überlege, Ehrwürdiger Abt ...« »Wir werden uns nun verabschieden, Ehrwürdiger Abt«, sagte Aufrechter Elefant und machte der Unterhaltung damit
ein Ende. »Seid für Euren Empfang bedankt.« Der Abt lächelte ihm herzlich zu. »Es tut mir gut, einmal vernünftig über diese schrecklichen Ereignisse zu reden. Ich werde Euch nie genug dafür danken können.« Es regnete wieder. Sie durchquerten den Steingarten, der den Pavillon des Abtes von den anderen Gebäuden trennte. Aufrechter Elefant gab sich seiner schlechten Laune hin. »Herzlichen Glückwunsch! Was hast du denn mit deinem ›äußerst wichtigen Detail‹ gemeint? Der gute Abt wird glauben, daß das Kloster Ho Han eine Irrenanstalt ist.« Rettichherz betrachtete ihn gelassen. »Was der Abt des Klosters der Strahlenden Tugend denken mag, ist mir um so gleichgültiger, als ich niemals mehr einen Fuß hierher setzen werde, sobald diese Angelegenheit beendet ist.« »Aber inwieweit sind diese fremden Toten von Bedeutung?« »Ich dachte, Ihr hättet es verstanden.« »Selbst wenn ich es verstehe, so verhält es sich wie mit dem Großen Weg; ich ziehe es vor, daß man es nur erklärt.« »Das bedeutet, daß alle Mönche des Klosters nichts mit der Sache zu tun haben, unseren hervorragenden Freund Fisch aus der Leere, den Sekretär Meister Gurkes, eingeschlossen. Der Beweggrund eines Mönchs kann nur religiöser Ehrgeiz sein oder Rache, nicht wahr?« »Nun ... ich sehe keinen anderen.« »Warum sollte dann ein Mönch, der seine Konkurrenten in der geistigen Nachfolge Meister Gurkes aus dem Weg räumen oder sich rächen will, sich an völlig Fremden vergreifen, von denen einer sogar nur auf der Durchreise war?« »Wir könnten es mit einem Verrückten zu tun haben, dem es Vergnügen bereitet, Meister Gurke zu quälen, indem er
seine Freunde tötet, bevor er ihm den Garaus macht.« »Sehr unwahrscheinlich. Ich glaube, die Sache ist in Wirklichkeit viel einfacher. Es fehlen uns nur ein paar wichtige Elemente, und wir sind wie die drei Blinden in der Fabel, von denen jeder auf seiner Seite ein Stück eines Elefanten abtastet. Derjenige, der den Fuß berührt, glaubt, es handele sich um einen Pfeiler ...« »... und derjenige, der den Rüssel berührt, denkt, es ist eine Schlange, das ist wahr ...« Rettichherz verschränkte die Arme. »Und was denkt der, der in den Haufen tritt, den der Elefant gerade fallen ließ?« Und er brach in Lachen aus.
DHARANIS Rettichherz begab sich zu Meister Gurkes Pavillon. Auf der Terrasse erblickte er Fisch aus der Leere in heftigem Streit mit dem Mönch, der am Vorabend die Rezitation der Sutras geleitet hatte. »Es ist Meister Gurkes Wunsch, daß Ihr mit diesen Zeremonien aufhört. Er fühlt sich so viel besser«, rief der Sekretär mit verkniffener Miene. »Das würde ich gerne selbst aus dem Mund des Kaiserlichen Großerziehers hören«, gab der Mönch schnippisch zurück. »Ich sage Euch doch, er schläft. Eure Zeremonien sind nicht nur unnütz, sie stören auch seine Ruhe.« »Es steht Euch gut an, uns zu kritisieren!« »Ich kritisiere Euch nicht, ich nenne die Tatsachen beim Namen: die Besserung des Gesundheitszustandes des Kaiserlichen Großerziehers ist dem Eingreifen dieses Eremiten aus den Bergen zu verdanken.« »Sieh an! Ein leichtsinniger, junger Bursche, der nichts
anderes im Kopf hat, als ins Bordell zu rennen, kaum daß er die Gesellschaft der Affen einmal verlassen kann!« Rettichherz stieg die Stufen hinauf und stellte sich neben den Sekretär. »Ein schöner Tag, Ehrwürdige, findet Ihr nicht?« Der Mönch der Sutras steckte die Nase in die Luft und grunzte einen Gruß, verärgert über die Störung durch einen Unbekannten. Die Rezitation der heiligen Texte hatte ihn am Abend zuvor zu sehr gefangengenommen, als daß er die Physiognomie des Arztes wahrgenommen hätte. Rettichherz wandte sich an Fisch aus der Leere. »Ehrwürdiger Sekretär; ich hätte mit dem Zeremonienmeister zwei Worte zu reden. Wißt Ihr, wo ich ihn finden kann?« »Er steht neben Euch, Ehrwürdiger Doktor.« »Ah! Welch glücklicher Zufall!« rief er begeistert aus und wandte sich an den brummigen Mönch. »Seht, Ehrwürdiger, ich muß mit Euch über die Rezitation der Dharanis reden. Wir müssen sie bestmöglich auf die Krankheit des Kaiserlichen Großerziehers abstimmen. Ich habe die Nacht meditierend in dem Pinienwäldchen verbracht; das ist eine sehr wirkungsvolle Methode, um die Natur des Patienten und die des unwissenden Arztes, der ich bin, in Einklang zu bringen ... Ich habe also sorgfältig die verschiedenen Aspekte von Meister Gurkes Leiden geprüft. Ich werde Euch nicht mit den heilkundlichen Einzelheiten langweilen, die nur eine Seite unter vielen dieser Meditation darstellen. Dagegen müßt Ihr wissen, daß der Kaiserliche Großerzieher unter einer schweren Störung des Yang leidet, da dieses Gegenstand einer exzessiven Stimulation ist. Deswegen muß es unbedingt durch sinnvolle Yin-Beiträge ins Gleichgewicht gebracht und im Augenblick alles verbannt werden, was Yang ist.« Der Zeremonienmeister schaute Rettichherz von unten an, verwirrt durch seinen gelehrten Ton.
»Und daher«, fuhr der Arzt ernst fort, »ist es notwendig, den Kranken Flüssigkeiten trinken zu lassen, die Yin sind, um ihm Arznei zu geben, die den Yang-Überschuß in den vergifteten Organen zerstreut.« »Natürlich«, stimmte der Zeremonienmeister zu. »Das ist vollkommen zutreffend.« »Aber dabei darf man es nicht belassen. Ansonsten würden wir nur einen unendlich kleinen Teil der Arbeit tun. Wir Buddhisten haben gegenüber den anderen Religionen den Vorteil, die dualistischen Einteilungen und Klassen hinter uns lassen zu können.« »Absolut! Wir kennen keine Klassen.« »Unter diesen Umständen, Ehrwürdiger, darf ich auf Euch zählen, daß die Liste der Dharanis befolgt wird, die ich Euch im Laufe des Vormittags zukommen lassen werde?« »Aber natürlich!« beeilte sich der Zeremonienmeister zu antworten, während sich die Miene des Sekretärs verdüsterte. »Es gibt da jedoch einen heiklen Punkt, und ich hätte gerne, daß wir uns einig werden. Dies erfordert einen äußerst festen Entschluß. Es gibt, seht Ihr, zwei Möglichkeiten: die erste ist, Dharanis in seiner nächsten Nähe zu rezitieren, aber das kann seinen Schlaf stören, und der Schlaf ist wiederum Yin.« Der Zeremonienmeister nickte zustimmend. »Die zweite Möglichkeit besteht darin, Yang-Dharanis zu rezitieren, ich habe Yang gesagt, aber an verschiedenen Orten, die mit den normalen Tätigkeiten des Kranken in Verbindung stehen, so daß der Überschuß an Yang durch das Mitgefühl abgeleitet wird. An dem Ort, wo der Kaiserliche Großerzieher das Gute Gesetz predigt, wo er seine nächsten Anhänger unterrichtet, wo er gerne spazierengeht, an jedem dieser Orte muß hundert Mal die Reihe der Yang-Dharanis rezitiert werden. Das erfordert große Konzentration ...« »Aber das ist wunderbar! Welch eine Subtilität in Euren
Methoden! Und was die Konzentration angeht, da könnt Ihr Euch auf mich verlassen!« »Welch ein bewundernswertes Verfahren!« übertraf ihn Fisch aus der Leere, der das Manöver des Arztes erriet. Rettichherz schaute den Zeremonienmeister feierlich an. »Ich habe Euch da eine äußerst geheime Methode offenbart, Ehrwürdiger, da ich weiß, daß Ihr ein Mönch von seltener Tugend seid. Kann ich auf Euch zählen, daß sie strengstens befolgt wird?« »Ehrwürdiger Doktor, ich bin sehr geehrt, meine bescheidenen Fähigkeiten in den Dienst des Kaiserlichen Großerziehers stellen zu können. Ich warte nur noch auf die Liste der Yang-Dharanis.« »Ihr werdet sie bekommen, sobald ich sie mit dem Ehrwürdigen Sekretär fertig habe. Wir müssen die Einzelheiten zusammenstellen, die dem Ablauf des täglichen Lebens des Kranken entsprechen.« »Natürlich! Alles muß passen. Ich werde stehenden Fußes meine Kollegen von unseren neuen Anordnungen in Kenntnis setzen und eine ausführliche Liste mit den Orten aufstellen, an denen wir unseres Amtes walten müssen.« »Euer Eifer ist des größten Lobes würdig, und ich bin sicher, daß der ehrwürdige Abt, mit dem ich mich gerade unterhielt, davon sehr beeindruckt sein wird. Bis bald, mein Freund.« Der Zeremonienmeister grüßte und ging mit kleinen Schritten davon. Fisch aus der Leere schaute den Arzt nachdenklich an. »Ich muß mich bei Euch entschuldigen, Ehrwürdiger. Ohne Euch wäre ich damit nicht fertiggeworden. Ihr seid wirklich ein Mönch von großer Weisheit.« »Eine Weisheit, die man aufschnappt, wenn man sich in den Bordellen herumtreibt, nehme ich an.« »Ihr habt alles gehört?« »Es ist schwierig, jemanden zu überhören, der so laut tönt
wie Euer Zeremonienmeister. Lassen wir das. Habt Ihr getan, worum ich Euch gebeten habe?« »Zwei Novizen haben alles in ein Zimmer geräumt. Hier ist der Schlüssel.« »Wenn Ihr könnt, würde ich gerne alle diese Gegenstände mit Euch durchgehen. Ich werde Euch bestimmt Fragen über die Gewohnheiten Eures Meisters stellen müssen. So werden wir wertvolle Zeit gewinnen.« »Wie es Euch beliebt.« Die persönlichen Gegenstände Meister Gurkes waren in einem Verschlag zusammengetragen worden, der hinter seinen Räumen lag. Der Sekretär schloß die Tür auf und trat beiseite, um Rettichherz vorangehen zu lassen. Der Arzt kauerte sich nieder und begann den Inhalt aller Säcke zu kontrollieren, roch daran, kostete eine Fingerspitze von Lebensmitteln und Gewürzen, ging von einer Ecke des Raums zur anderen, anscheinend ohne System. »Wenn Ihr mir sagen würdet, was Ihr sucht, könnte ich Euch helfen.« »Das ist sehr liebenswürdig von Euch, aber ich bin fast sicher, daß Ihr nicht die erforderlichen Kenntnisse besitzt, um das zu tun ...« Kaum hatte Rettichherz diese Worte ausgesprochen, wurde ihm bewußt, wie beleidigend sie klingen konnten. Er hob den Kopf und fügte hinzu: »Verzeihung!« Dann bedeutete er dem Sekretär, näherzutreten und sich neben ihn zu hocken. »Früher oder später müßte ich Euch doch unterrichten. Also kann ich es genauso gut hier tun; der Ort bietet alle Voraussetzungen für eine vertrauliche Unterredung. Also: Die Krankheit Meister Gurkes existiert nicht. Es kann sein, daß er Opfer einer Lebensmittelvergiftung wurde, aber viel wahrscheinlicher ist, daß wir es mit einem Verbrechen zu tun haben.«
»Wie entsetzlich!« »Bewahrt Euren Gleichmut. Es ist im Moment nicht dienlich, daß dieses Gerücht in Umlauf gerät. Noch nicht. Solange sich die Ärzte um den kaiserlichen Großerzieher zu schaffen machen, kann sich der Giftmischer in Sicherheit glauben.« »Ich verstehe ... Und was läßt Euch an einen Giftanschlag glauben?« »Die Erfahrung ... Es gibt widersprüchliche Details, aufgrund derer ich nach und nach alle möglichen Hypothesen ausschließen konnte, auch die einer Epidemie.« »Trotzdem standen alle Mönche, die starben, Meister Gurke sehr nahe ...« »Genau. Aber es waren alles erfahrene Mönche, die auch noch mit anderen Personen in Berührung kamen, angefangen bei ihren eigenen Schülern. Nun ist aber kein einziger dieser Schüler erkrankt. Und was Euch betrifft, der Ihr in nächster Nähe Meister Gurkes lebt, so lese ich, abgesehen von der Müdigkeit, kein einziges Anzeichen für eine Krankheit in Eurem Gesicht.« »Ich weiß nicht, was ich sagen soll ... Dieser Gesichtspunkt ist mir völlig entgangen.« »Das ist ganz normal, Ihr konzentriert Euch ausschließlich auf Euren Meister.« Der Sekretär begann zu schluchzen. »Mein lieber Meister ... Aber wie kann man einem so weisen, so guten Mönch übelwollen ...?« »Das ist ja gerade einer der merkwürdigen Aspekte dieser Angelegenheit. Aber bevor wir nach dem Motiv suchen, will ich sichergehen, daß es überhaupt ein Verbrechen gab. Dazu gibt es nur ein Mittel: Wir müssen das Gift finden.« Er beschrieb das Zimmer mit einer Handbewegung. »Und ich habe allen Grund zur Annahme, daß es sich hier in diesem Verschlag befindet.« Fisch aus der Leere schien nachzudenken. Er seufzte und
sagte: »Wurden die zehn Mönche, die gestorben sind, auch vergiftet?« »Aller Wahrscheinlichkeit nach.« »Glaubt Ihr, daß sie alle das gleiche Gift zu sich nahmen?« »Das ist die einzige Hypothese, die derzeit unsere Ermittlungen leitet.« »Dann müssen wir etwas finden, das alle Opfer zu sich nehmen konnten, und nur sie ...« »Genau. Und das wollte ich Euch fragen.« Der Sekretär stand auf und ließ seinen Blick durch den ganzen Raum schweifen. »Da gibt es wohl diese eingelegten Pflaumen, und diesen gelben Tee aus den Bergen ...« Er hielt entmutigt inne. »Nein, das ist nicht möglich.« »Warum nicht?« »Mein Meister war der letzte, der von der Entkräftung befallen wurde. Wenn er mit all diesen Mönchen, die ihn besuchen kamen, eine Speise geteilt hätte, wäre er einer der ersten gewesen, die erkrankten.« »Das beweist nur, daß das, wonach wir suchen, nicht etwas ist, das man mit allen teilt, wie Tee oder Gebäck. Es wird seltener verzehrt, bei besonderen Gelegenheiten. Aber früher oder später mußte Meister Gurke davon kosten. Und es war egal, daß vorher zehn Mönche sterben mußten.« »Das ist ungeheuerlich.« »Dieser Bereich ist wie der des Mitgefühls: er hat keine Grenzen. Manche bewegen sich darin mit der Leichtigkeit eines Fisches im Wasser, ohne jemals zu ahnen, daß sie in einem Meer von Flammen schwimmen. Und sehr oft werden sie sehr alt, reich, von allen hochgeachtet.« Der Sekretär schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »In der Welt, aber nicht in unserem Kloster ...« Er machte ein paar Schritte, blieb dann stehen, trat von einem Fuß auf den anderen. Rettichherz nahm seine Suche
wieder auf. »Etwas fehlt«, sagte der Sekretär plötzlich. »Ein Krug gelben Weins. Ich habe ihn gestern hier in einer Ecke des Zimmers gesehen. Ich glaube, er bot davon alten Freunden an.« »Und er selbst, trank er niemals davon?« »Mein Meister hatte gelobt, sechs Monate lang keinen Alkohol zu trinken.« »Warum?« »Weil ... nun, weil er eines Abends zuviel getrunken hatte.« Sie stellten den ganzen Verschlag auf den Kopf. Vergeblich. Rettichherz setzte sich auf eine Kiste und verschränkte die Arme. »Wir sind hereingelegt worden. Man hat unsere Absichten erraten und ist uns zuvorgekommen. Und was noch schlimmer ist: Ich kann Meister Gurke nicht retten, wenn ich das Gift nicht kenne.« Man hörte das Geräusch herbeieilender Schritte. Ein Novize trat ein. Er war außer Atem und warf sich zu Boden. »Ehrwürdiger, kommt schnell in die Krankenstation. Es gibt ein neues Opfer.« Die Nachricht hatte sich wie ein Lauffeuer im Kloster verbreitet. Mit angelegten Ellbogen stürzte Aufrechter Elefant in die Krankenstation. Im Behandlungszimmer stützten zwei Mönche einen Novizen, der über einen Eimer gebeugt nach Luft rang. »Ich habe ihm ein starkes Brechmittel gegeben«, erklärte Rettichherz. Den halb bewußtlosen jungen Mann immer noch stützend, stellte er Aufrechten Elefant dem Arzt des Klosters vor, einem kleinen, alten, ganz buckligen Mönch, der nur einen Wunsch zu haben schien: sich aus allem herauszuhalten. »Der mit der Krankenpflege beauftragte Mönch war unter
den ersten Vergifteten. Dieser Ehrwürdige ersetzt ihn vorübergehend. Sagen wir, der Abt hat ihm stark zugesetzt, einige Zeit hierzubleiben, anstatt seine Reise nach Kanton fortzusetzen.« Der Novize bekam einen Krampf und spie eine Menge Galle aus. »Er scheint außer Gefahr zu sein«, stellte Rettichherz fest. Er legte den Jungen auf eine Bahre und lagerte seinen Kopf hoch. Fisch aus der Leere trat näher. »Kennt Ihr diesen Novizen?« Der Sekretär verzog den Mund. »In keinster Weise.« Ärgerlich den Kopf schüttelnd, begann Rettichherz im Zimmer hin und her zu laufen, bis ein rothaariger Mönch kam, der sich als der Verantwortliche für die Novizen vorstellte. »Sehr geehrt«, sagte der Arzt. »Nun, Ehrwürdiger, was könnt Ihr mir über diesen Novizen sagen?« »Er ist keines unserer besten Stücke. Er gehört zu einer kleinen Gruppe, die näher überwacht werden muß. Erst vorgestern habe ich sie beim Dominospielen überrascht ... Aber man darf nicht zu streng mit ihnen sein, sie sind nur hier, um ein wenig Erziehung zu genießen. Sein Vater, zum Beispiel, hat einen Weihrauchladen und ein Teehaus an der Straße zum Kloster. Diese Kinder sind ein bißchen die unseren.« »Ich verstehe«, sagte Rettichherz trocken, dem das mütterliche Getue des dicken Mönchs Unbehagen bereitete. »Habt Ihr heute morgen die Novizen bestimmt, die die Sachen des Kaiserlichen Großerziehers umräumen sollten?« »Wie gewöhnlich.« »Die von heute morgen gehören also beide zu dieser Gruppe?« »Aber ja ...« »Alles klar, ich habe verstanden.«
Er stürzte sich auf den Novizen, warf ihn mit einem Fußtritt von der Bahre und packte ihn am Kragen. »Was hast du mit dem Weinkrug gemacht?« Der Junge hob die Hände. »Wirst du wohl reden, du Miststück ...« Er schüttelte ihn wie einen Pflaumenbaum. Der Novize war nicht sehr schwer; seine Fülle berührten nicht mehr den Boden, so daß er schwankte wie ein Glockenschwengel. Der dicke Rothaarige wollte eingreifen. »Seht Ihr nicht, daß er krank ist?« »Halt’s Maul! Misch dich da nicht ein!« Der dicke Mönch wich erschrocken in eine Ecke zurück und begann zu jammern. Aufrechter Elefant trat zu Rettichherz. »Ich bin sicher, dieser gute Junge wird uns alles sagen. Nicht wahr, du wirst den guten Onkeln alles sagen, he?« Sein Lächeln hatte einen ziemlich beunruhigenden Ausdruck. »Ich habe nichts getan ... ich bin krank ...« »Und du hast auch nichts gesehen, du Idiot!« höhnte Rettichherz. Seinen Widerwillen überwindend, war Fisch aus der Leere nähergetreten. »Mein Junge«, sagte er streng, »du hast dich in eine sehr schlimme Lage gebracht. Hier bemüht sich jeder, dir zu helfen, und du leugnest beharrlich die Tatsachen. Der Wein in diesem Krug enthält ein Kraut, das alle Novizen krank macht, die, wie du, verrückt genug sind, einen Schluck Alkohol zu stehlen und dem Gesetz des Klosters die Stirn zu bieten. Wenn dem nicht so wäre, glaubst du, der Kaiserliche Großerzieher hätte diesen wertvollen Wein in der Reichweite junger Dummköpfe wie dir herumstehen lassen?« Der Novize brach in Tränen aus. »Ich habe nichts gemacht, Ehrwürdiger, Ihr dürft mir
nichts tun. Es waren die Brüder Tchong!« »Aber der Krug, wo ist der?« schrie Rettichherz ihn an. »Unter der Treppe der Ölmühle ... Ehrwürdiger, rettet mich!« Rettichherz ließ den Jungen los, der wie ein nasser Lappen zu Boden sackte. »Die Brüder Tchong gaben mir diesen Wein, um ihre Spielschulden zu bezahlen. Das sind wirklich gemeine Kerle ...« Er sprach ins Leere. Es war nur noch der Verantwortliche der Novizen da, der ihm tröstend mit der Hand über den Rücken strich, und der alte bucklige Arzt, der ihm ein Handtuch und eine Schale heißes Wasser brachte, ohne ihn dabei anzusehen. »Ich habe ihn!« rief Aufrechter Elefant triumphierend. Er schwenkte einen kleinen glasierten Krug. Der Sekretär nahm ihn in die Hand. »Das ist er. Wenn ich denke, daß ich ihn die ganze Zeit vor Augen hatte!« Schweigend betrachteten sie das vornehme Geschirr in den Farben von Honig und Jade. »Wieso seid Ihr eigentlich nicht vergiftet worden?« fragte Rettichherz plötzlich erstaunt. »Aber... die Ordnung verbietet es offiziell, berauschende Getränke zu sich zu nehmen.« »Niemals wird man die unendlichen Verdienste der Weihe genug rühmen können. Zum Glück legt Ihr die Regeln so streng aus, sonst wärt Ihr nicht da gewesen, um uns von diesem Krug zu erzählen.« Er nahm ihn aus den Händen des Sekretärs und drehte ihn in alle Richtungen. Auf einer Seite klebte ein Papier, das man für ein Etikett halten konnte. »Ein Gedicht ...« Er hockte sich nieder, um es zu lesen. Auf das dünne
Reispapier hatte ein eleganter Pinsel folgende Verse gemalt: Heute nacht hat der kalte Wind die Blüten der Chrysanthemen zerstreut. Aus meinem Traum erwacht, schaudere ich. Die Dame aus dem Pavillon der Kraniche, was ist aus ihr geworden? Aufrechter Elefant verzog das Gesicht. »Ein ganz gewöhnliches Gedicht ... Fürst Wu pflegte früher erhabenere Gedichte zu schreiben.« »Fürst Wu?« »Ja. Hier ist sein Siegel. Es trägt seinen Künstlernamen: Der Ritter des Bambus und des Mondes. Vor langer Zeit genoß ich das Vorrecht, mehrere seiner besten Sammlungen lesen zu dürfen. Er muß völlig betrunken gewesen sein, als er das hier geschrieben hat.« Rettichherz drehte sich zu dem Sekretär um. »Wußtet Ihr, woher dieser Wein kam?« »Ich hatte das Gedicht nicht einmal bemerkt.« »Glaubt Ihr, daß es auf ein besonderes Ereignis anspielt?« »Ich kenne mich mit diesen Dingen überhaupt nicht aus; Meister Gurke hat mir das oft genug vorgeworfen. Er liebte es, in Gesellschaft seiner Freunde zu trinken und Gedichte zu verfassen. Wenn der alte Fürst in Wu residierte, verbrachte er manchen Abend in seiner Gesellschaft, mit vielen anderen Mönchen, die nun tot sind. Ich verstehe das nicht. Der Kaiserliche Großerzieher und der Fürst waren gute Freunde, und das seit langem ...« Er bemühte sich, seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. »Es gibt hier einen Mönch, eine Art Original, der sich um die Gärten kümmert und sich eine Bambushütte am Fluß gebaut hat ...« Er wurde von dem Zeremonienmeister unterbrochen, der angetrippelt kam.
»Ehrwürdiger, ich suche Euch überall. Ihr habt mir den Text für die Dharanis nicht gegeben.« »Ihr habt vollkommen recht! Bei all diesen Ereignissen ...« »Nehmt, ich habe etwas zum Schreiben mitgebracht.« Er drückte ihm einen Pinsel, ein Fläschchen frisch geriebene Tinte und ein langes Blatt Papier in die Hand. Rettichherz legte das Blatt auf eine Stufe und kritzelte eine Liste der längsten Dharanis darauf, die er kannte. »Hier, Ehrwürdiger. Und nun leistet gute Arbeit.« »Sowie wir die Sutras aus der Bibliothek geholt haben.« Der Zeremonienmeister ging mit wehenden Ärmeln davon. »Wenn dir dies doch für immer den Geschmack an den Zeremonien verderben könnte ...« »Oh!« rief der Sekretär, belustigter, als er zugeben wollte. »Ihr Eremiten habt wirklich vor nichts Respekt.« »Das stimmt. Und wenn ich Euch sagen würde, daß wir im Winter, wenn es zu sehr friert, selbst die Statuen Buddhas verbrennen, um uns zu wärmen ...«
DAS GIFT DER NEUN SCHLANGEN Mit der Hilfe des buckligen Arztes aus Kanton hatte Rettichherz in aller Eile in einer Ecke der Krankenstation ein alchimistisches Laboratorium eingerichtet. »Wir werden versuchen, das Gift vom Wein zu scheiden«, erklärte er Aufrechtem Elefant und Fisch aus der Leere. In diesem Augenblick erklang der Gong, um die Mönche zur Nachmittagsmeditation zu rufen. Der Sekretär wand sich unentschieden. »Der Gong ruft«, sagte er schwach. »Ja, der Gong ruft«, wiederholte Rettichherz und schüttete vorsichtig drei Löffel Wein in einen emaillierten Tiegel.
»Wir müssen mit den anderen in den Gebetsraum gehen«, beharrte der Sekretär. »Ja, wir müssen mit den anderen in den Gebetsraum gehen«, stimmte Aufrechter Elefant zu, ohne sich von der Tischecke wegzurühren, an der er saß. Fisch aus der Leere schaute nacheinander die beiden Mönche aus Ho Han an, und ein unerwartetes Lächeln spielte um seine Lippen. Er lehnte sich an die Wand, ohne etwas hinzuzufügen. Eine Sitzung mehr oder weniger? Was konnte das schon ausmachen! Je weiter man von der Wirklichkeit entfernt ist, um so weniger frei fühlt man sich, und Fisch aus der Leere hatte sich, mit zuviel Eifer und guten Absichten, bemüht, das Spiegelbild des Mondes aus dem Teich zu fangen. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft im Kloster der Strahlenden Tugend fühlte er sich wirklich frei und glücklich. Rettichherz schwenkte den Tiegel über der Flamme und erhitzte langsam den Wein, während er darauf achtete, daß dieser nicht sprudelte, damit nur der Alkohol verdunstete. »Wir dürfen keinen Fehler machen. Die meisten Gifte sind empfindlich gegen zu große Hitze, und es ist besser, den Rückstand nicht kochen zu lassen. Wir werden ihn nun filtern.« Der Arzt aus Kanton trat lautlos hinzu und reichte ihm einen mit Seidenpapier bespannten Trichter. Rettichherz schüttete den Inhalt des Tiegels hinein. »Nun entledigen wir uns der wasserlöslichen Bestandteile.« Sein Kollege brachte ihm eine Kanne mit Regenwasser. »Danke, Ehrwürdiger.« Er ließ einen winzigen Wasserstrahl auf das Papier rinnen und wartete, bis der letzte Tropfen heruntergefallen war. »So.« Vorsichtig faltete er das nasse Papier auf einem weißen Porzellanteller auseinander. Die anderen traten näher. In der Mitte des Blattes war eine Art hellgrauer Fleck, der, aus der
Nähe betrachtete, einer Fingerspitze Schlamm glich. Draußen läutete die große Glocke. Das Abendgebet war beendet. Sie hatten nicht gemerkt, wie die Zeit verging. »Habt Ihr Salz, Ehrwürdiger? Wir werden einen entscheidenden Versuch machen.« Sein vorläufiger Assistent machte sich sogleich daran, ein Stück Salz von der Größe einer Haselnuß in einem Mörser zu zerstoßen. »Danke, Ehrwürdiger«, sagte Rettichherz und nahm den Mörser entgegen. »Nun schaut alle her, denn ihr werdet vielleicht bezeugen müssen, was ihr gerade seht. Wenn sich dieses feuchte Gift beim Kontakt mit dem Salz rot färbt.« Mit Hilfe eines dünnen Bambusspachtels nahm er eine Prise feines Salz, das er auf die Mitte des Blattes Papier streute. Sehr schnell färbte sich die Mischung braun, dann von ziegelrot zu karminrot. Der heilkundige Arzt aus Kanton fuhr entsetzt zurück. Er hob die Arme zum Himmel. »Amithaba Buddha!« rief er. »Das Gift der neun Schlangen!« Aufrechter Elefant und Fisch aus der Leere echoten wie aus einem Munde, ohne zu verstehen. Im selben Augenblick erhoben sich draußen die murmelnden Stimmen der Dharani-betenden Mönche, begleitet von den Steinglocken, Trommeln und Gongs. Verehrung allen Buddhas! Verehrung der ungehinderten Lehre! Om! Khya, khya, khyai, khyai! Hung! Hung! Rettichherz ergriff den Weinkrug und drehte sich zu dem kleinen Arzt um, der noch krummer ging als gewöhnlich. »Ich brauche Euch nicht zu bitten, das hier einzuschließen und gut zu bewachen, Ehrwürdiger ...« Er wies auf das Papier, das aussah, als hätte es einen Blutfleck. »Jetzt, da das Salz reagiert hat, ist der größte Teil des Giftes zerstört. Aus
diesem Grunde wurde es in gelben Wein getan und nicht in ein anderes Nahrungsmittel. Zu Reiswein oder Wein aus Persien werden gerne salzige Dinge gegessen, aber nicht zu gelbem Wein. Und was das Gift betrifft, so kann Euch mein ehrwürdiger Kollege mehr darüber sagen, als ich es könnte, denn er ist weit gereist. Es ist ein Gift, das man eher in Indien als in China findet, und ich glaube nicht, daß in den Annalen der Geschichte jemals davon die Rede war.« »Der Ehrwürdige hat vollkommen recht«, sagte der Mönch aus Kanton. »Ich habe schon mehrmals von diesem Gift gehört, aber ich sehe es jetzt zum ersten Mal. Es ist ein Gift, das bei den Maharadschas Nordindiens benutzt wird. Es ist in Alkohol löslich. Seine Herstellung ist sehr langwierig und erfordert große alchimistische Erfahrung. Dieses Gift ist geschmacklos, es bewirkt keine Krämpfe, keine Lähmung, keinen gewaltsamen Tod, nichts erregt besondere Aufmerksamkeit. Das Opfer erlischt langsam, wie eine Lampe ohne Öl. Man glaubt an eine unheilbare Krankheit, wie es so viele gibt.« »Es ist das ideale Gift, wenn man nach einem Thron strebt«, bemerkte Aufrechter Elefant, plötzlich sehr düster. »Glücklicherweise kann es nur sehr begrenzt angewendet werden: Das Gift verliert jegliche Wirkung in Verbindung mit Salz. Unser Giftmischer wußte das sehr wohl, und das Böse war getan.« Rettichherz faltete das Seidenpapier zusammen und steckte es in eine Hülle. Dann fuhr er fort: »Einmal eingenommen, konzentriert sich das Gift in der Leber. Das ist alles, was ich weiß. Ich muß gestehen, daß ich das Gegenmittel nicht kenne.« Aufrechter Elefant und Fisch aus der Leere drehten sich zu dem Arzt aus Kanton um, der mit untröstlicher Miene ebenfalls sein Unwissen zugab. »Aber es ist Euch doch gelungen, den Gesundheitszustand Meister Gurkes zu bessern!« protestierte der Sekretär.
»Nur vorübergehend, das will ich Euch nicht verbergen. Im Grunde ist die Medizin, die ich ihm gab, nur ein weiteres Gift, das die Wirkung des Giftes der neun Schlangen zunichte macht, aber Euren Meister genauso sicher umbringen würde, wenn ich es ihm weiterhin verabreichte. Habt Ihr nicht bemerkt, daß ich ihm heute gar nichts mehr gegeben habe? Eine Behandlung mit diesem Gift ist genauso, als wolle man auf Messers Schneide einen brennenden Fluß überqueren. Jede Bewegung verschlimmert die Lage nur.« Der Sekretär schüttelte verzweifelt den Kopf. »Das ist wirklich grauenhaft.« Rettichherz musterte ihn einen Augenblick, eine winzige Veränderung in seinem Verhalten wahrnehmend. »Aber es bleibt eine kleine Hoffnung. Laßt uns woanders darüber reden. Bei diesem Lärm versteht man sein eigenes Wort nicht mehr.« Seit einigen Minuten ließ Aufrechter Elefant Zeichen der Ungeduld erkennen und entpuppte sich noch weniger als Freund von Zeremonien, als er gedacht hätte. Er ging als erster hinaus. Die Dharanis zerrten an seinen Nerven. Der Arzt aus Kanton blieb allein zurück, krummer als je zuvor. Der Regen hatte wieder aufgehört, und die drei Mönche setzten sich auf eine Steinbank in dem Pinienwäldchen. Fisch aus der Leere war aufgeregt. »Hört zu, es gibt noch einiges, was ich nicht verstehe. Warum sollte der alte Fürst Meister Gurke, der doch sein Freund war, einen Krug vergifteten Wein schenken? Und wie hat er sich das Gift verschafft?« Aufrechter Elefant legte ihm eine Hand auf den Arm. »Es ist unnütz, zu tun wie der Mann in dem Sutra, der von einem Pfeil getroffen wird und sich weigert, ihn herausziehen zu lassen, solange man ihm nicht gesagt hat, wer der Schütze
war, welchem Stamm er angehörte und wie er gekleidet war.« »Zumal nichts uns beweist, daß der alte Fürst wußte, daß der Wein vergiftet war.« »Wartet! Mir fällt da plötzlich etwas ein ... Der Krug war offen, als er von einem Diener des Fürsten bei meinem Meister abgestellt wurde.« »Das könnte vieles erklären, ist aber im Augenblick unwichtig. Mein ehrwürdiger älterer Bruder hat recht: was zählt, ist das Gegengift.« »Aber wie werdet Ihr es Euch beschaffen, wenn Ihr nicht wißt, worum es sich handelt?« »Da ist doch dieser Alchimist ... im Palast der Wu. Er ist ein Schüler des großen Meisters Wei.« »Wei?« fragte Aufrechter Elefant. »Den der Eunuch Fang im Kerker erdrosseln ließ? Ich erinnere mich noch gut an diese Geschichte. Der große Meister war von einem seiner jungen Schüler beschuldigt worden, mit dem Minister Schu ein Komplott geschmiedet zu haben, um den Kaiser zu vergiften und seinen Bruder an seiner Stelle auf den Thron zu setzen.« Rettichherz warf seinem Gefährten einen bewundernden Blick zu. »Ihr habt ein Gedächtnis, das eines Annalenschreibers würdig wäre ...« »Das Gedächtnis war jedoch keine Eigenschaft, die zu meiner Zeit am kaiserlichen Hof sehr geschätzt wurde«, sagte Aufrechter Elefant. Der Sekretär kam auf den Punkt zurück. »Glaubt Ihr wirklich, daß dieser Mei das Rezept für das Gegengift kennen könnte?« »Ich glaube es nicht, ich bin sicher. Aufgepaßt! Die Dharani-Beter kommen direkt hierher.« Der Trupp der Mönche steuerte tatsächlich auf das Pinienwäldchen zu, Glöckchen und Trommeln vorneweg,
das Dharani der Glorreichen Krone Buddhas anstimmend: Verehrung dem Glückseligen, der der Beste des Besten in den drei Welten ist Verehrung dem Erleuchteten, dem Glückseligen. Om! Läutere uns, läutere uns! Oh, der Du immer unparteiisch bist, der Du mit Deinem alles durchdringenden Licht in Deiner wirklichen Natur die Reinheit selbst bist, befreit von den fünf Bereichen des Lebens! Die drei Mönche trennten sich. Da Fisch aus der Leere sich nach dem Befinden seines Meisters erkundigen und Aufrechter Elefant dem Tumult der Gesänge entgehen wollte, blieb Rettichherz allein zurück. Aber seine Einsamkeit dauerte nur einen Augenblick. Es schien festzustehen, daß in diesem Kloster niemand jemals seine Ruhe haben konnte. »Ehrwürdiger«, rief ein Mönch aus dem Sekretariat des Abtes, »ich suche Euch überall!« »Was ist nun schon wieder geschehen? Könnt Ihr dem armen Eremiten, der ich bin, nicht ein wenig Ruhe gönnen?« »Der ehrwürdige Abt erwartet Euch in seinem Palankin. Es findet eine kleine Zeremonie bei dem Kaufmann Huang statt, im Beisein des Richters, und Huang III ließ den Abt wissen, daß er sehr geehrt wäre, einen so weisen Eremiten, wie Ihr es seid, dabei begrüßen zu dürfen. Der Abt kann nicht ablehnen. Huang ist sehr großzügig mit seinen Gaben an das Kloster, vor allem seit er einen Sohn bekommen hat, wie es ihm unser heiliger Abt vorausgesagt hatte.« »Ach ja ... die Weissagung des Abts ...« Rettichherz unterdrückte ein ironisches Lächeln. »Sagt mir, ich habe in Huangs Gesellschaft einen jungen Mann gesehen, und dieser junge Mann hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Eurem heiligen Abt ...« »Ihr müßt auf Huangs Haushofmeister anspielen. Er ist
der zweite Sohn des Bruders unseres ehrwürdigen Abtes, also sein Neffe.« »Sehr interessant Ein ziemlich gutaussehender Mann, dieser Haushofmeister, wie Euer Abt übrigens auch.« »Er ist ein äußerst begabter junger Mann. Eine Zeitlang wurde er im Kloster unterrichtet. Zudem ist sein Betragen absolut einwandfrei.« »Man spürt, daß er sehr ehrgeizig ist, findet Ihr nicht?« »Das kann man wohl sagen. Es bei Huang zu etwas zu bringen, das ist ein schönes Kunststück für jemanden, der noch so jung ist. Aber er schließt gute Geschäfte ab und ist sehr fleißig.« So vertraulich miteinander plaudernd, waren sie an dem Portal angekommen, wo der Zug des Abtes sie erwartete. Letzterer winkte dem Arzt, neben ihm Platz zu nehmen. »Sieh an! Ein Tag hat genügt, um Euch in der guten Gesellschaft unserer kleinen Stadt Fuß fassen zu lassen!« sagte er. »Mein Meister Ho Han hatte mich gewarnt: man muß dieser Sitte mißtrauen, die darin besteht, Mönchen aus den einsamen Bergen eine Sonderbehandlung zu gewähren. Ich bin nur hier, um Euch nicht in Verlegenheit zu bringen; ich hasse diese Art von Veranstaltungen.« Der Abt nickte nachdenklich und gab das Zeichen zum Aufbruch. »Wer ist dieser Huang eigentlich?« fragte Rettichherz ihn treuherzig. »Ich bin ihm gestern nur kurz begegnet, gerade lange genug, um ein paar Worte mit ihm zu wechseln, über seinen Sohn, Euer wunderbares Eingreifen und diesen Alchimisten ... Kuei, glaube ich ...« »Mei«, verbesserte der Abt, und das Lächeln, das sich um seine Lippen ausgebreitet hatte, verschwand, als Rettichherz seine Rolle bei der Geburt von Huangs Sohn erwähnte. »Ich kann mir diesen Namen einfach nicht merken«, sagte der Arzt. »Woher kommt er, dieser Mei?«
»Vom Hof des Kaisers natürlich. Er war der Astrologe und Alchimist der verstorbenen Kaiserin. Nach ihrem Tod folgte er der Fürstin Wu, die das Verhalten ihres Sohnes in der Affäre um den Zensor Ma vergessen machen wollte. Dadurch konnte auch die Position des Ministers Peng gefestigt werden, der den Gerüchten nach hinter dieser Geschichte steckte.« Rettichherz dachte, daß er bestimmt einige Punkte bei dem wohlunterrichteten Aufrechten Elefant würde klären können. Hatte nicht auch der Meister von Ho Han darauf angespielt? »Die Fürstin Wu«, fuhr er in respektvollem Ton fort, »gehörte zu der Umgebung Ihrer Majestät. Es ist eine große Ehre für Euer Kloster, eine so einflußreiche Schirmherrin zu haben, Ehrwürdiger.« »Gewiß«, antwortete der Abt zerstreut. »Man sagte mir, daß Ihr das Gift gefunden habt? In einem Weinkrug, den der alte Fürst geschickt hatte? Das ist unglaublich!« »Deswegen lege ich Wert darauf, Zeugen zu haben, die diesen Sachverhalt bestätigen können, Ehrwürdiger Abt. Im übrigen behauptet der Sekretär des kaiserlichen Großerziehers, daß der Krug mit dem Wein offen ankam.« »Dieses Detail war mir nicht bekannt. Dafür fällt mir ein, daß der alte Fürst gerade in Chang Han gestorben war, als der Kaiserliche Großerzieher dieses Geschenk erhielt.« »Sehr interessant. Das könnte einiges ändern ...« Er wollte gerade eine weitere Frage stellen, als draußen ein fröhliches Geknalle ertönte. Der Abt schob die Vorhänge beiseite. »Ich glaube, wir sind da.« Hinter dem siebenstöckigen, orangefarbenen Baldachin des Abtes wurde der Palankin in den Ehrenhof der Residenz des Kaufmanns Huang getragen. Ein Orchester stimmte eine heitere Melodie an, bei der Zimbeln und Flöten miteinander zu wetteifern schienen, um den Gauklern zum Tanz
aufzuspielen, während Huang persönlich unter tiefen Verbeugungen und Kniefällen seinen Gästen entgegengelaufen kam. »Ehrwürdiger Abt! Ehrwürdiger Mönch! Diese armselige Bleibe wird durch Eure Gegenwart erleuchtet. Welche Ehre! Welche Glückseligkeit! Wir sind außer uns vor Freude!« Der Abt machte vage ein paar segnende Gesten in Richtung der im Hof angetretenen Menge der Dienerinnen und Diener und schritt dann an der Seite Rettichherz’ zu dem Pavillon aus roter Seide, den man extra für diesen Anlaß in den Gärten errichtet hatte. Auf den geschnitzten Holzbalkonen, auf den Giebeln der mit Chimären und Reitern geschmückten Dächer, überall hatte Huang Seidentücher mit großen Idiogrammen aufhängen lassen, die seine Freude und Dankbarkeit gegenüber dem Erhabenen Buddha ausdrückten. »Platz da!« befahl er den Tänzerinnen und Gauklern. »Macht Platz für unseren überaus heiligen Abt. Verschwindet!« »Laßt es gut sein, laßt es gut sein ... Es ist ein Festtag für jeden, und wir wollen nicht stören. Ich werde nur meinen Kesa ablegen. Für die Zeremonie werde ich ihn dann wieder anziehen.« Er winkte, und ein Mönch seines Gefolges half ihm aus dem heiligen Gewand. Rettichherz schaute ihm zu, ohne sich zu rühren. Ein anderer Mönch trat zu ihm. »Legt Ihr Euren nicht ab, Ehrwürdiger?« »Für all diese kleinen Tänzerinnen und Gaukler ist dies eine einmalige Gelegenheit, ihren Blick auf dem Gewand des Glückseligmachenden ruhen zu lassen. Sollte der eine oder andere von ihnen insgeheim in seinem Herzen dieses Gewand als das erkennen und verehren, was es ist, und sei es nur für einen Augenblick, so würde sein Karma der Hölle sich sogleich auflösen, und es würde ihm gegeben sein, ein freies Leben zu führen, ohne jede Fessel. Aus Achtung vor
der Lehre meines Meisters werde ich den Kesa auf diesem stinkenden Sack aus Haut und Knochen belassen.« »Ihr seid wirklich ein sonderbarer Mönch«, sagte der Abt. »Aber wenn es sich dabei um die Lehre Eures Meisters, des großen Weisen von Ho Han, handelt, habe ich nichts dagegen zu sagen.« Dann wandte er sich an Huang und fragte: »Ist Seine Exzellenz, der Richter Ma, noch nicht angekommen?« »Er wird nicht mehr lange auf sich warten lassen«, erwiderte der Kaufmann. »Man hat mir gerade gesagt, daß sein Zug eben den Yamen (Gericht; Anm. d. Übers.) verlassen hat.« Er bot den Geistlichen eine mit vegetarischen Köstlichkeiten beladene Platte an. »Nehmt doch von diesen Kuchen mit den fünf Geschmacksnoten oder von diesen Aniskürbischen ...« »Wie geht es dem Kind?« fragte Rettichherz. »Wunderbar! Es sieht genauso aus wie ich, bevor ich bei den Barbaren des Westens erkrankte. Wollt Ihr es sehen?« »Mit Vergnügen.« Der Kaufmann zog ihn zu einer Ecke des Pavillons, wo ein junges Mädchen eine an Seilen hängende Wiege schaukelte, während ein alter Diener dem Säugling Luft zufächelte, der trotz des Lärms mit geschlossenen Fäustchen schlief. Es war ein schöner Junge, mit ganz feinen Härchen und einem runden Kopf. Huang war vor Liebe und Stolz wie blind; der Säugling war das genaue Ebenbild des heiligen Abtes. »Sehr gut«, sagte der Mönch, der wohl wußte, daß zuviel Lob seinem Gastgeber Unbehagen bereitet hätte. Huang war abergläubisch. »Segnet ihn, bitte«, bat das junge Mädchen errötend. Rettichherz begriff, daß er die Mutter vor sich hatte. Er legte seine Hand auf die Stirn des Kindes und flüsterte ein paar Segensworte. Ohne daß die junge Mutter es von ihm verlangt hätte, tat er das gleiche bei ihr. Sie warf sich zu
Boden und küßte einen Zipfel seines Kesa. Gerührt zerdrückte der Kaufmann eine Träne. »Wißt Ihr, Ehrwürdiger«, sagte er, »ich habe Eure Anweisungen befolgt ... alle Eure Anweisungen. Ich habe die ganze Nahrung, die für meinen Sohn zubereitet wurde, diesem kleinen Affen da hinten gegeben«, er wies auf einen kleinen Wickelschwanzaffen, der auf einem Querbalken in halber Höhe des Zeltmastes hockte, »und ich ließ meiner Frau durch meinen Haushofmeister Speisen bringen, der diese Aufgabe gerne und mit der größten Diskretion übernahm.« »Davon bin ich überzeugt. Ihr habt jedenfalls das Richtige getan. Stillt die Mutter das Kind selbst?« »Ja, Ehrwürdiger. Dieses Mädchen hat Milch im Überfluß, wie ein schwellender Fluß.« Zwei Diener kamen herbei. »Er ist da! Gerade biegt er in die Straße ein.« In der Tat konnte man den Klang von Trommeln und Gongs vernehmen, die dem Palankin des Richters vorangingen. »Ich wußte, ein heiliger Mönch wie Ihr würde mir Glück bringen«, sagte Huang und beugte sich nieder, um ebenfalls einen Zipfel des Kesa zu küssen. »Er ist gekommen!« Eilends lief er dem Beamten entgegen, um ihn mit Komplimenten zu überhäufen. Rettichherz gesellte sich wieder zu dem Abt, der von den Leckereien kostete. »Sagt mir, Ehrwürdiger Abt, warum legt Huang so viel Wert darauf, daß ein so offizieller Beamter wie ein Richter an dieser Zeremonie teilnimmt, die doch eher familiären Charakter hat?« Der Abt verspeiste das letzte Stückchen seines Kuchens. »Das ist ganz einfach. Dieser gute Kaufmann ist nicht von ungefähr so vermögend. Er ist ein unnachgiebiger Geschäftsmann und hat noch nicht alle Hoffnung verloren, das Gold wiederzubekomrnen, das er diesem Taoisten ganz
umsonst in den Rachen geworfen hat. Er hat wohl die Absicht, dem Richter zu schmeicheln, bis er schließlich seine Klage annimmt.« »Warum will der Richter sie denn nicht annehmen?« Mit der Sorgfalt eines Feinschmeckers wählte der Abt eine andere Leckerei. »Diese Kuchen sind wirklich vorzüglich und sehr teuer. Seine Exzellenz, der Richter Ma, ist jung, das hier ist sein erster Posten. Er steht in dem Ruf, sehr prinzipientreu zu sein. Eine derartige Zurschaustellung des Überflusses kann ihn nur ...« Rettichherz nickte und begann ohne weitere Gewissensbisse von den Kuchen zu speisen, die offensichtlich von den Gewinnen des Salzschmuggels bezahlt worden waren. Umkreist von Huang III, der unaufhörlich von einem Fuß auf den anderen trippelte, hielt der Richter Ma seinen Einzug in den Pavillon. Alle begrüßten ihn mit einer offiziellen Verbeugung. Sein ausgezehrtes Gesicht und seine tief in den Höhlen liegenden Augen verrieten einen sorgenvollen Geist. Seine ganze Haltung ließ erkennen, daß er ein Mann war, der gewohnt ist, seine Autorität durchzusetzen und respektiert zu werden. »Eure Exzellenz, ich stelle Euch unseren ehrwürdigen Abt vor und einen der beiden Mönche, die aus Ho Han gekommen sind, um dem Kaiserlichen Großerzieher Hilfe zu bringen.« Der Beamte begrüßte den Abt und musterte den Arzt streng. »Ihr seid ziemlich jung für einen Mönch. Ganz im Gegensatz zu den Traditionen. Wo kämen wir hin, wenn alle Söhne so ihre Pflichten gegenüber ihren Eltern vernachlässigen würden?« »Eure Exzellenz möge mir vergeben, aber leider muß ich Euch enttäuschen. Ihr sagt, ich bin jung, jedoch habe ich
eine Vielzahl von Jahren in den Bergen verbracht. Und es ist noch länger her, leider, daß meine Eltern starben ...« »Man erzählt, daß Ihr ein äußerst tüchtiger Arzt seid. Ich dachte, diese Wissenschaft sei die Gabe der Unsterblichen.« »Es gibt keinen Daumenbreit auf dieser Erde, der nicht das Dharma in seiner Gesamtheit enthält, Exzellenz«, antwortete Rettichherz liebenswürdig. »Was würdet Ihr zu einer Erfrischung sagen«, rief Huang mit gezwungener Leutseligkeit. »Gute Idee«, brummte der Richter und nahm gegenüber den Mönchen Platz. »Was haltet Ihr von einem Trinkspruch auf die Gesundheit des Nachkommens unseres Gastgebers? Man könnte glauben, daß in diesem Fall die Religion der Barbaren aus dem Westen noch zu etwas anderem gedient hat, als nur die Toten aus den Flammen zu retten, die sie ihnen in der Hölle verspricht. Unser ehrwürdiger Abt hat durch seine erleuchteten Ratschläge dazu beigetragen, die alte Tradition des Ahnenkultes wenigstens dieses eine Mal zu bewahren.« Er hob sein Glas in die Runde, und alle Gäste taten es ihm sogleich nach. »Viel Glück!« »Viel Glück!« wiederholte die jubelnde Menge. »Viel Glück!« Plötzlich ertönte ein schrilles Geschrei draußen vor dem Zelt, auf der Seite der Estrade, auf der die Musiker spielten. Ein Trupp von etwa zwanzig Bediensteten in der Livree der Wu trieb sie mit Stockschlägen auseinander, während ein Koloß sich gut sichtbar für alle dort postierte und mit donnernder Stimme rief: »Huang III, wo bist du, stinkendes Furunkel?« »Das edle Haus der Wu erweist mir viel Ehre«, brachte der Kaufmann heraus. »Schweig! Wir kommen von dem großen Meister Mei, von dem du dich abgewendet hast, nachdem er dich endlich
in die Lage versetzt hat, einen Sohn zu zeugen. Du hast den Meister für seine Mühe nicht bezahlt, und du wagst es, ein Vermögen zu vergeuden für einen Empfang, zu dem du deinen Wohltäter nicht einlädst?« »Mei ist ein Schurke!« japste Huang, scharlachrot im Gesicht. »Er ist es, der mir Geld schuldet!« »Mein Herr hat dieses Kind gemacht, nicht die Kahlköpfe der Religion der Barbaren! Indem du dich von deinem Wohltäter abwendest, hast du die Quellen des Yin und des Yang bei deinem Sohn versiegen lassen! Ich werde es dir noch in diesem Augenblick beweisen! Schau! Schaut alle her!« Der Riese machte eine theatralische Geste zum Zelt hin, wo man das Kind weinen hörte. Alle wandten sich um, während das Geschrei aufhörte: die junge Mutter hatte ihr Gewand geöffnet und den Kleinen an die Brust gelegt. Erstaunt schaute sie auf all die Leute, die sie anstarrten. Rettichherz stieß den Kaufmann mit dem Ellbogen an. »Seht nur, der Affe ...« An seiner Leine baumelte der Wickelschwanzaffe im Leeren und zuckte schwach mit den Pfoten. Der Mönch stand auf und durchtrennte die Silberkette mit einem scharfen Schnitt. Er untersuchte das zitternde Tier sorgfältig und murmelte: »Jetzt ist alles klar.«
MEISTER GURKES SCHWEIGEN Huang III war vor Angst wie versteinert und wußte nicht, wie er sich verhalten sollte. Rettichherz ging mit dem Affen in den Händen zu ihm. »Huang, Ihr habt absolut nichts für Euren Erben zu befürchten. Dank Eurer Vorsicht ...« »Nun, Huang, was hat dieser Skandal zu bedeuten?« Der Richter war zu ihnen getreten und zupfte empört an seinem
Kinnbärtchen. Rettichherz warf ihm einen belustigten Blick zu. »Anscheinend handelt es sich um eine weitere Episode in der Sache, Exzellenz, die Huang diesem furchtbaren Schurken Mei vorhält. Glücklicherweise ist Huang ein besonnener Mann und weiß sehr wohl, daß die meisten Zaubersprüche ihre Wirkung klug verabreichten Giften verdanken. Schaut dieses Tierchen an, das gerade noch fröhlich herumgesprungen ist! Huang ließ ihm die Nahrung geben, die für Mutter und Kind bestimmt war, und beide bekamen heimlich andere Speisen. Seht das Ergebnis, Exzellenz: Der Affe wurde von einer tödlichen Schwäche überwältigt, genau zu dem Zeitpunkt, als die Anhänger Meis den Himmel anriefen, um das gute Recht ihres Herrn zu demonstrieren.« Der Richter starrte den Affen durchdringend an, dann richtete er sich mit einem Ruck zu seiner ganzen Größe auf. »Wachen! Ergreift diese Individuen!« Die Männer des Yamen - es waren ihrer viele, und sie waren bewaffnet - stürzten sich auf die Bediensteten des Hauses Wu. Huang hatte seine Sinne wieder beisammen, bemächtigte sich eines großen Stockes und trieb seine Diener ebenfalls zum Angriff. »Elendes Ungeziefer! Euch an meinem Sohn zu vergreifen! Das werdet Ihr mir bezahlen!« Die anderen hatten Verteidigungsstellung eingenommen. Sie wurden überwältigt. Huang konnte sich nicht mehr beherrschen; im Gefolge der Männer des Richters versetzte er den schon am Boden Liegenden Tritte und Stockhiebe. »Genug! Diese Leute sind Gefangene des Yamen. Man führe sie in den Kerker. Die Verhandlung findet morgen früh statt.« Er trat zu Rettichherz. »Würdet Ihr bitte als Zeuge zur Verhandlung kommen, Mönch!« Der Arzt verneigte sich und steckte das zitternde Äffchen in seinen Ärmel.
»Ich weiß nicht viel, Exzellenz. Meister Mei weiß viel mehr. Ich habe Huang nur vor den üblen Methoden der Hexer und Zauberer gewarnt. Wir Eremiten aus den Bergen müssen häufig Bauern zu Hilfe kommen, die sich aus dem einen oder anderen Grund in eine derartige Lage gebracht haben.« »Wurdet Ihr aus diesem Grunde zu dem Kaiserlichen Großerzieher gerufen?« »Der Kaiserliche Großerzieher hat keine Ratschlage von einem unwissenden, ungeschlachten Mönch entgegenzunehmen. Seine Erfahrung und seine große Weisheit stellen ihn über gewöhnliche Schicksalsschläge. Wenn er krank ist, so deswegen, weil seine Krankheit ihm eine mächtige Hilfe ist, um den fühlenden Wesen zu Hilfe zu kommen.« Der Richter runzelte die Brauen und schaute den Abt fragend an. »Der ehrwürdige Rettichherz hat die Dinge so dargelegt, wie sie sind«, sagte der Abt. Der Richter zuckte die Schultern. »Ich verstehe kein Wort von Eurer seltsamen Lehre. Kommt morgen zur Verhandlung, das ist alles, was ich von Euch verlange.« Er drehte ihnen den Rücken zu und gab seiner Eskorte das Zeichen zum Aufbruch. Huang folgte ihm unter lauten Beteuerungen seiner Dankbarkeit und seines Wunsches nach Rache. Der Abt sah ihnen nach, wie sie sich entfernten. »Es ist schade, daß ein Mönch von Eurem Format in den Bergen lebt«, murmelte er an Rettichherz gewandt. »Wir könnten Euch hier mannigfach Gelegenheit geben, Eure Fähigkeiten im Dienste der Sangha (Gemeinschaft der Mönche; Anm. d. Übers.) voll auszuschöpfen. Vergeßt nicht, daß der Kaiserliche Großerzieher selbst sein Noviziat in diesem Kloster gemacht hat.«
»Ich fühle mich geschmeichelt, Euch meine geringen Fähigkeiten überschätzen zu sehen, Ehrwürdiger Abt, aber ich bin nur ein einfacher Mönch. Ich kann keine Wunder tun, wie Ihr es zum Beispiel bei Eurem Neffen tut.« Der Abt erstarrte, seine Augen blickten hart. »Ihr habt vielleicht recht ...«, sagte er. Die Gongs und Trommeln erklangen wieder und verkündeten den Aufbruch des Richters Ma. Die Gefangenen folgten in einer Reihe hinter dem Palankin des Würdenträgers, den Strick um den Hals. Endlich brachten die Gäste Huangs III ihre Überraschung zum Ausdruck und ließen ihren Kommentaren freien Lauf. Rettichherz streichelte das Äffchen in seinem Ärmel. »Da du nun schon durch meine Schuld vergiftet wurdest, oh Affe«, sagte er, »bin ich nur um so mehr entschlossen, dieses Gegenmittel zu finden. Ich bin nun sicher, daß Mei sein Geheimnis kennt. Dieser Schmuggler Huang ist reicher, als er sagt, und Mei ist viel zu gierig, um die Gefahr einzugehen, das Huhn zu töten, das goldene Eier legt.« Von der Treppe der Pagode erblickte Rettichherz den Arzt aus Kanton beim Verlassen der Sutra-Bibliothek. Er lief schneller, um ihn einzuholen. »Ehrwürdiger, würdet Ihr Euch um dieses Tier kümmern?« Er holte den Affen aus seinem Ärmel und zeigte ihn seinem Kollegen. »Man könnte meinen, er sei ebenfalls vergiftet worden.« »Genau.« »Gut.« Der Mönch stopfte den Affen in den Kragen seines Gewandes und ging mit seinem ruhigen Schritt davon, immer noch genausoweit den Ereignissen im Kloster entrückt. Es war perfekt. Rettichherz schaute ihm nach. Als Rettichherz an Meister Gurkes Pavillon ankam,
erklang der Gong und rief die Mönche, Novizen und alle im Kloster wohnenden Laien, die dies wünschten, zum AbendDhyana. Auch der Arzt schlug die Richtung zur Halle ein. Mehrere hundert Menschen saßen dort reglos, jeder in Gedanken versunken, in jene Fragen, die ständig wiederkehrten wie Mücken zum Aas. Kein Mittel, um sie zu verjagen, man kann nicht fliehen, bleibt Gefangener derselben Wände, irrt in einer einzigen Dimension umher. Und es nützt nichts, eine weitere geistige Dimension zu erlangen, außer man ist ein Freund von Fakirkunststücken. Wirklich wichtig ist nur, zu begreifen, wie das Ganze funktioniert. Dann gibt es nichts Unzugängliches mehr. Als die große Glocke die Mönche, Novizen und Laien verabschiedete, hatte Rettichherz seine Freiheit wiedererlangt. Er erzählte Aufrechtem Elefant von den Ereignissen, deren Zeuge er bei Huang III geworden war. »Man könnte meinen, daß Meis Gier seinen eigenen Untergang herbeigeführt hat. Richter Ma wird ihn morgen früh verhaften lassen, gleich nach der Verhandlung. Zweifellos werden die Stadttore bereits bewacht.« »Ich bin nicht sicher, ob der Richter innerhalb des Palastes der Wu auch nur die geringste Macht besitzt. Dieser Zwischenfall ist für Huang ausgezeichnet, aber wir dürfen deshalb nicht über das Schicksal unseres Giftmischers ein vorschnelles Urteil fällen, selbst wenn dieser dummerweise seine Unterschrift unter sein Verbrechen gesetzt hat ...« Aufrechter Elefant begann zu lachen. »Er konnte nicht wissen, daß er es mit einem im Umgang mit Giften erfahrenen Mönch zu tun haben würde. Ich selbst war weit entfernt von der Vorstellung, daß du so viel darüber weißt ... Ich frage mich, wie viele Menschen du in die Hölle geschickt hast, ehe du die Sache eingehend geprüft hattest.« Die beiden Männer starrten sich einen Augenblick lang an, der eine in dem Bewußtsein, daß er zu weit gegangen
war, der andere ließ erkennen, daß er sich am Rand eines Abgrunds bewegte. Dann machte Rettichherz wieder das belustigte Gesicht, das ihn unverwundbar erscheinen ließ. »Sicher nicht so viele wie Ihr, General ... Aber dieses eine Mal bin ich es, der Euch eine Lektion erteilen und an die Regel erinnern wird. Dummheit und Unordnung unseres irrenden Lebens lösen sich in dem Augenblick, in dem wir uns dank der wunderbaren Mächte der Weihe in den Ozean des Dharma flüchten.« »Du hast recht. Und ich erlaube dir, dieses eine Mal, ganz laut zu sagen, daß ich ein altes Rindvieh bin.« Rettichherz verneigte sich. »Ich habe Euch zu danken, Ehrwürdiger. Dank Eurer Hilfe habe ich verstanden, daß man in diesem Ozean weder Tote noch Leichen außer acht lassen darf, auch wenn sie jegliche Starrheit verloren haben.« Aufrechter Elefant kratzte sich am Kopf. »Eine Leiche, die jegliche Starrheit verloren hat, ist ein verwesender Körper. Er stinkt.« »Genau. Und das hängt nicht vom Himmel ab.« Aufrechter Elefant lachte wieder. »Endlich ein Dieb, der wenigstens begriffen hat, daß die Melone bis zum Stengel süß ist!« Eine Weile gingen sie schweigend ihres Weges. Dunst stieg vom Fluß empor und umgab die Lampen mit einem fahlen Hof. Vor dem Pavillon des Kaiserlichen Großerziehers erblickte Rettichherz den Zeremonienmeister. »Ich habe Euch gesucht!« rief er. »Es handelt sich um die Rezitationen morgen früh. Ich nehme an, wir beginnen wie heute?« »Ehrwürdiger, Ihr habt einen Punkt ganz außer acht gelassen, und mir fiel gerade ein, daß Ihr Euch morgen früh darum kümmern müßt. Habt Ihr die Dharanis vor allen im Tempel gegenwärtigen Buddhas und Patriarchen gebetet?« »Aber es gibt doch schon die gewöhnlichen
Rezitationen.« »Es handelt sich nicht um eine gewöhnliche Rezitation, Ehrwürdiger.« »Natürlich ... Ich verstehe! Der Tempel darf nicht ausgelassen werden, das könnte sogar schädlich sein.« Der Zeremonienmeister verabschiedete sich von den Mönchen aus Ho Han und verließ rasch die Terrasse, ungeduldig, seine Befehle zu erteilen. »Wie geht es Euch, Großer Meister?« fragte Rettichherz, als er das Zimmer des Kaiserlichen Großerziehers betrat. Dieser schaute ihn ohne zu antworten an und ließ sich schweigend untersuchen. »Ich werde Euch etwas von dieser Medizin hier geben, die ich Euch vorgestern verabreicht habe. Aber Ihr dürft keine Besserung erwarten. Ich kann Euch nur in dem Zustand halten, in dem Ihr seid. Und auch dann wird es nicht lange wirken.« »Um so besser!« rief der Kranke. »Ihr habt also beschlossen zu sterben?« Als sein Patient schwieg, nahm der Arzt seufzend Platz. »Ihr helft mir überhaupt nicht.« »Ihr mir auch nicht.« »Das stimmt«, räumte Rettichherz ein. »Ah! Immer muß dieser Abt sich in Dinge einmischen, die ihn nichts angehen ...« Rettichherz zog es vor, nicht zu antworten. Er hatte Besseres zu tun. »Ihr wurdet durch Wein aus einem Krug vergiftet, den der alte Fürst Euch zum Geschenk gemacht hatte.« Meister Gurke begnügte sich mit einem schwachen Lächeln und schaute an die Decke. »Wißt Ihr, wie der alte Fürst starb?« bohrte der Arzt weiter. »Ich widme den weltlichen Ereignissen keinerlei
Aufmerksamkeit.« »Und der Poesie?« Er zog eine Abschrift der Verse hervor, die in Schönschrift auf dem Zettel an dem Krug gestanden hatten. Der Kranke warf nur einen Blick darauf. »Die Dame aus dem Pavillon der Kraniche ... was ist aus ihr geworden?« rezitierte er halblaut, wobei einen Augenblick lang ein bitterer Zug um seine bleichen Lippen spielte. »Wieso stellt Ihr solche Fragen, mein junger Freund?« »Ich hörte, daß man nie die Gelegenheit vorübergehen lassen sollte, einen Weisen nach der Wahrheit zu fragen.« »Hört nicht auf das, was man sagt. Vertraut allein auf Eure Erfahrung.« Rettichherz stand plötzlich auf. »Meine Erfahrung zeigt mir, daß Ihr versucht, jemanden zu schützen. Ich weiß weder wen noch aus welchem Grund. Aber ich weiß, daß ich das Gegenmittel bei Mei holen werde, und zwar spätestens heute nacht!« Der Kaiserliche Großerzieher stützte sich auf einen Ellbogen. »Ich verbiete Euch ausdrücklich, Euch in diese Sache einzumischen! Ich werde den Abt benachrichtigen und Euch aus dem Kloster werfen lassen.« Die Anstrengung ließ ihn um Atem ringen. Er fiel auf sein Lager zurück. »Tut, wie es Euch richtig erscheint, das wird nichts ändern. Wir haben jetzt ein vergiftetes Äffchen, das ich unbedingt retten will. Zumindest es will leben, und ich werde verhindern, daß es ein Opfer von Meis Gier wird.« Meister Gurke runzelte seine buschigen Augenbrauen. »Was wollt Ihr damit sagen?« »Sollte das bedeuten, daß Ihr die Geschichte hören wollt?« »Erzähl mir alles, was du weißt. Alles!«
Rettichherz berichtete ihm von den Ereignissen, die Huang III betrafen. »Das sieht diesem Dummkopf von Abt ähnlich!« Sichtlich äußerst unzufrieden, betrachtete der Kaiserliche Großerzieher schweigend den Arzt. Dann wurde er umgänglicher. »Du hast einen seltenen Scharfsinn bewiesen. Ich sehe, daß du zu denen gehörst, die ihre Unternehmungen zu Ende führen, was es sie auch kosten mag ... Und das kam dich schon sehr teuer zu stehen, nicht wahr? Kannst du diese Schwäche nicht in den Griff bekommen und aufhören, dich in anderer Leute Angelegenheiten einzumischen?« In seinem Ton klang Mitgefühl an, und zwar zum ersten Mal. Rettichherz wollte nicht leichthin antworten. Er schaute Meister Gurke an, wog sorgfältig das Für und Wider ab und verneinte schließlich. »Gut! Es ist Jahre her, daß jemand zu mir nein gesagt hat, Mönch. Ich hatte fast vergessen, wie das ist. Ich werde dich also nach deinem Gutdünken handeln lassen! Unter einer Bedingung ...« »Ich höre.« »Ich liege nicht mehr im Sterben, und du bist erschöpft. Du wirst bis morgen warten, ehe du Mei aufsuchst.« »Bis morgen? ... Einverstanden.«
INTRIGEN Am nächsten Morgen durchschritten die beiden Mönche aus Ho Han im Regen das westliche Ausfalltor, fest entschlossen, vor der Verhandlung des Richters Ma keine Zeit zu verlieren. Das Teehaus Zum Drachen, das sie suchten, befand sich am Fuß der Wälle in einer schlammigen Straße, auf der die Schweine auf der Suche nach etwas Eßbarem herumliefen. Die sechs Tische in der Bude waren
bereits von Tagelöhnern besetzt, die als Kulis im Hafen arbeiteten. Trotz der frühen Stunde herrschte ein fröhlicher Lärm, die einen steckten die Nase in eine Schale dampfender Nudeln, die anderen in einen Becher Reiswein. Die Ankunft der beiden Mönche wurde kaum bemerkt. Das Gespräch drehte sich endlos um die Zeremonie, die am Vorabend bei Huang III abgehalten worden war. Zwischen den Gästen sitzend, konnten die beiden Mönche wieder einmal feststellen, welches Geschick der menschliche Geist darin besaß, die Wirklichkeit in Märchen zu verwandeln. »Also, da war dieser Eremit aus den Bergen, dem Huang am Abend zuvor am Stadttor begegnet war und der Chen vor dem Stock gerettet hat. Wie es scheint, ist er von einem Lichtschein umgeben und über tausend Jahre alt, obwohl er kaum wie dreißig aussieht.« »Teufel! Das weiß ich wohl: Ich war selbst dort, sogar Huang hat sich vor ihm in den Dreck geschmissen! Niemand konnte all diesem Licht ins Gesicht sehen!« »Darum wollten Meis Männer einen Zauber auf die Mutter und das Kind werfen. Daß einem das Blut bis ins Mark gefriert! Schwarze Wolken zogen sich zusammen, und wimmernde Geister warteten nur darauf, sich des Lebensatems dieser wehrlosen Wesen zu bemächtigen!« Der Erzähler machte eine Pause, um die Wirkung seines Berichts zu beurteilen. Alle Anwesenden hielten den Atem an. »Nun«, fuhr er fort, »der Mönch hat eingegriffen. Er hob die Hand, und die Wolken verschwanden. Er brauchte nur seinen Stab zu schwenken, und die Geister machten, daß sie fortkamen, um anderswo ihr Unwesen zu treiben. Einfach so: pffft!« »Das stimmt! Meis Männer konnten es nicht fassen. Sie, die mit jedem kurzen Prozeß machen, der ihnen in die Finger gerät, sie wußten nicht mehr, was sie tun sollten.«
»Aber warte, das ist noch nicht alles. Es gab da einen Riesen unter Meis Häschern. Als er sah, daß der Mönch die Geister in die Flucht geschlagen hatte, warf er sich mit einem wilden Schrei auf ihn. Die Truppen des Richters waren wie versteinert!« »Und dann?« fragte Aufrechter Elefant. »Dann, Ehrwürdiger, hat der Eremit einen Zauberspruch gemurmelt, und ein Abgrund voller Flammen tat sich unter den Füßen des Riesen auf, der ihn zu bedrohen wagte. Wenn ich es Euch sage! Jeder hat die schwarzen Rauchwirbel gesehen, jeder hat den Schrei des Riesen gehört, als er in die Höllentiefen stürzte!« Der Erzähler leerte den erstbesten Becher, den er in die Finger bekam. Ein anderer Kuli protestierte, daß das seiner sei, aber man hieß ihn schweigen, denn man wollte die Geschichte noch einmal hören, vor allem die Stelle, als der Riese in den Feuerschlund stürzte. Rettichherz und Aufrechter Elefant schauten sich an und standen wie ein Mann auf. »Wir suchen den Wirt besser direkt auf. Mir brummt der Kopf, wenn ich von deinen Heldentaten erzählen höre«, sagte Aufrechter Elefant. »Und mir wird schwindelig. Zum Glück ist der Große Weg endlos: Die menschliche Dummheit steht ihm darin in nichts nach.« Hinten in der Bude machte sich ein Mann, der so dreckig war, daß er besser in einen Abort gepaßt hätte, zwischen zwei Ofen zu schaffen. Als die Mönche sich näherten, hob er die Nase von seinen Töpfen und deutete auf die entfernteste Ecke an der Straße. »Setzt Euch dorthin, Ehrwürdige. Ich kann Euch erst bedienen, wenn alle gegangen sind, aber ich versichere Euch, Ihr werdet es nicht bereuen.« Aufrechter Elefant tat so, als beuge er sich über den Nudeltopf, um genüßlich den Duft einzuatmen. »Stehender Wind, wir kommen von Tätowierter
Schlange.« Ohne ein Wort deutete der Inhaber auf den Hinterhof. Sie traten hinaus, wobei sie ein paar Hühner aufscheuchten. »Ich frage mich, ob wir nicht unsere Zeit vergeuden«, sagte Rettichherz. »Wenn die Auskünfte des Wirts das gleiche Niveau haben wie das Geschwätz seiner Kundschaft ...« Sie setzten sich unter ein Vordach. Die Hühner begannen wieder im Regen herumzuscharren, der ihnen das Gefieder zusammenklebte. Endlich erschien der Wirt, mürrisch wischte er sich die Hände an seinem Kittel ab. »Sie sind wie wild, heute morgen, wie wild, sage ich Euch! Sie sollten besser schuften, anstatt sich an Ammenmärchen zu berauschen und meine Nudeln auf Kredit zu fressen!« Er ließ sich auf einen großen Reissack fallen und schnaufte schwer. »Also, Tätowierte Schlange schickt Euch?« »Wir sind die Mönche aus Ho Han, die, über die Euch Eure Kunden seit heute morgen die Ohren volldröhnen«, sagte Rettichherz. »Auf dem Weg nach Wu Hien haben wir Tätowierte Schlange und seine Kumpane getroffen.« »Tätowierte Schlange ist ein alter Bekannter von mir«, versicherte Aufrechter Elefant. Der Wirt des Teehauses betrachtete sie leicht bestürzt. »Ehrwürdige ... Heiligste Männer ... dann seid Ihr...?« Rettichherz nickte. »Mit weit weniger Fähigkeiten, als Eure Kunden erzählen, das könnt Ihr uns glauben. Tätowierte Schlange sagte uns, daß Ihr uns vielleicht helfen könnt. Wir hätten gern ein paar Auskünfte.. »Wenn ich Euch behilflich sein kann ... Die Freunde meines Bundesbruders sind auch meine Freunde.« »Gut. Wißt Ihr, wie der alte Fürst Wu starb?« »Das ist kein Geheimnis. Er starb in Chang Han, der Hauptstadt. Ich habe von ein paar Bediensteten davon
gehört. Er war ein alter Mann und er starb, ohne zu leiden, wie eine Lampe, die erlischt. Ein schöner Tod ... Er hatte sogar noch Zeit, seine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen und seine wichtigsten Außenstände zu regeln. Er starb, ohne Aufsehen zu erregen ... wenigstens dieses eine Mal.« »Wieso ›wenigstens dieses eine Mal‹?« »Er war ziemlich exzentrisch. Es scheint, daß seine Gedichte seinerzeit am Hof des alten Kaisers sehr geschätzt wurden.« Aufrechter Elefant nickte bestätigend. »Und dieser Mei, woher kommt der genau?« fragte er. »Aus Chang Han natürlich! Nur in der Hauptstadt findet man derartige Vögel. Man sagte mir, daß er so etwas wie ein Astrologe bei der alten Kaiserin gewesen sei. Die Fürstin Wu diente am Hofe als Kammerzofe, trotz ihrer Herkunft ...« »Sie war eine Konkubine«, präzisierte Aufrechter Elefant. »So ist es. Die Fürstin kommt aus einem Fischerdorf von der anderen Seite des Flusses, dem Dorf der Kormorane, wie es genannt wird. Ihre Eltern haben sie gegen vier Stück Seide und zehn Scheffel Reis an die Wus verkauft. Ein Astrologe hatte ihnen vorausgesagt, daß ein Mädchen aus diesem Dorf die Nachkommenschaft ihrer Linie sichern werde, oder so ... Jedenfalls ist genau das geschehen.« Der Schankwirt stand auf und setzte sich neben die beiden Mönche auf einen ächzenden Hühnerkäfig. Dann fuhr er in leiserem Ton fort: »Der alte Fürst war kein großer Frauenliebhaber, nach dem zu urteilen, was man erzählt, er war vielmehr ein Freund des ›anderen Ufers‹. Ihr könnt Euch also vorstellen, daß seine Eltern alles tun wollten, um dem Glück nachzuhelfen. Er war bereits der letzte männliche Überlebende des Geschlechts der Wu!« »Die drei Brüder, die im großen Kanal ertranken ... Ich erinnere mich an diese Geschichte«, sagte Aufrechter
Elefant. »Die alte Fürstin Wu hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, um ihren letzten Sohn zu beschützen. Es ist nicht erstaunlich, daß er einen weibischen Charakter bekam.« Rettichherz machte eine zustimmende Bewegung. Die Geschichte war ihm bekannt. Er kam auf das zurück, was ihn beschäftigte: »Warum hat sich Mei in Wu Hien vergraben?« »Er ist der Fürstin gefolgt, nehme ich an. Da ist auch die Sache mit dem Zensor Ma, in die er verwickelt war, aber mit dem Tod des alten Fürsten war diese endgültig abgeschlossen.« »Jetzt höre ich schon zum zweiten Mal von dieser Geschichte. Worum handelt es sich?« Stehender Wind erhob sich. »Das, Ehrwürdige, werde ich Euch bei einer Schale guter Nudeln erzählen. Den besten in ganz Wu Hien!« Die Mönche folgten ihm in die Garküche, die die Kulis nun verlassen hatten. Sie setzten sich an einen Tisch, und gleich darauf gesellte sich der Wirt mit einem Tablett zu ihnen. »Hört, was ich erfahren habe. Der Zensor Ma gefiel dem Minister Peug nicht, der ihn loswerden wollte. Er spielte sehr gut PiPa (Eine Art chinesische Laute; Anm. d. Übers.), und aus diesem Grund stand er in der Gunst des Kaisers. Nachdem der Minister über das Problem nachgedacht hatte, kam ihm schließlich ein Gedanke. Eine teuflische Idee. Zunächst ließ er bei dem Kaiser verlauten, der Zensor Ma würde sich insgeheim über ihn lustig machen, indem er ihn als froschäugig bezeichnete. Er hat Zeugen gedungen, die diese Verleumdung bestätigten. Natürlich hat dies den Kaiser kaum beeindruckt, da er den Haß seines Ministers auf den Zensor kannte. Aber zur gleichen Zeit verbündete sich Peng, immer noch heimlich, mit dem jungen Fürsten und gab ihm zu verstehen, daß er nach dem Tod seines Vaters weniger alte Dichter als mächtige Freunde brauchen würde,
auf die er sich verlassen konnte. Der junge Fürst, mehr den weltlichen Vergnügungen und dem Ballspiel denn der Poesie zugetan, ließ sich leicht überzeugen.« Er machte eine Pause, um einen Becher Wein zu trinken, und fuhr dann in seinem Bericht fort: »Peng drängte den jungen Fürsten, mit dem Zensor Ma zu verkehren und ihn sich zum Freund zu machen, was ziemlich leicht war, denn dieser junge Mann besitzt, wie es scheint, eine natürliche Anmut, die ihn auf Anhieb jedem sympathisch macht, der sich ihm nähert. Zudem war der alte Fürst froh, daß sein Sohn sich für etwas anderes als das Spiel interessierte, und er tat sein Möglichstes, um diese Freundschaft zu bestärken, indem er den Zensor unter den fadenscheinigsten Vorwänden einlud. Am Hof begann man zu munkeln, daß die Partei der Aristokraten wieder die Oberhand über die von Peng angeführte Clique der Emporkömmlinge bekäme, die unter der Hand vom Eunuchen Fang unterstützt wurde. Einige setzten sich sogar eine Neuauflage des Staatsstreichs des Süßen Taus (versuchter Staatsstreich gegen den Kaiser durch Gelehrte, unter der Tang-Dynaste; Anm. d. Übers.) in den Kopf, aber diesmal mit Erfolg. Jedenfalls riet der junge Fürst eines schönen Morgens dem Zensor Ma, eine neue Melodie für die PiPa zu komponieren, zusammen mit einem komischen Lied über einen Frosch, der so stolz auf seine schönen goldenen Augen war und schließlich im Magen eines Kranichs endete. Der junge Mann stellte ihm die Sache als eine durchsichtige Satire auf den Minister Peng dar. Noch am selben Abend, als er aufgefordert wurde zu spielen, um seine Majestät zu zerstreuen, sang der Zensor Ma sein Lied, und es wurde totenstill; am nächsten Tag fand man ihn in seinen Räumen, erhängt an einer gelben Seidenschnur.« Der Wirt unterbrach sich wieder, wollte zu seinem Becher greifen, merkte, daß er bereits leer war, und ging die Flasche holen, zur großen Freude von Aufrechtem Elefant, der sich einschenkte, ohne daß ihn jemand dazu aufgefordert hätte.
»Der alte Fürst bekam, wie, weiß ich nicht genau, Wind von der Rolle, die sein Sohn bei dieser Tragödie gespielt hatte, und raste vor Wut. Wie es scheint, hat er den jungen Mann mit dem Schwert in der Hand bis in die Räume der Fürstin verfolgt und erst die Waffe gesenkt, als diese ihm sagte, daß man seinem eigenen Nachkommen nicht nach dem Leben trachten und riskieren darf, alle Ahnen ohne Kult zu lassen. Der alte Fürst beugte sich und schickte seinen Sohn nach Wu Hien, unter guter Bewachung. Kurz darauf ist er gestorben. Der Minister Peng hat den jungen Fürsten in seinen Titeln bestätigt, und die Angelegenheit war abgeschlossen.« »Das ist eine der niederträchtigsten Geschichten, die ich je gehört habe«, sagte Aufrechter Elefant und schenkte sich nach. »Ist der Zensor Ma mit dem Richter Ma verwandt?« fragte Rettichherz. Der Schankwirt leerte ein weiteres Glas. »Diese Frage habe ich mir auch schon gestellt. Ich weiß nur, daß der Richter nicht sein Sohn ist. Er hat sich kurz nach dem Tode des alten Fürsten hier niedergelassen. Es ist ein sehr niederer Posten für einen jungen Mann, der als einer der Besten bei den Staatsexamen abgeschlossen hat. Zweifellos ist der Clan der Ma in Ungnade ...« Die Trommeln des Yamen ertönten. Rettichherz erhob sich. »Die Verhandlung beginnt. Danke für all diese Auskünfte, mein Freund.« Er verabschiedete sich von dem Wirt mit einer Reihe geheimnisvoller Gesten, die dieser erwiderte. Die beiden Männer tauschten eine Art erkennendes Lächeln. Aufrechter Elefant schaute tief in seinen Becher und bemühte sich, nicht zu zeigen, daß er das Manöver der beiden Anhänger der Sekte des Weißen Lotus verstanden hatte.
Die beiden Mönche aus Ho Han bahnten sich mühsam einen Weg durch die Menge, die sich drängte, um der Verhandlung des Richters Ma beizuwohnen. In der ersten Reihe zupfte Huang III nervös an seinem Bart. Er schien besorgt. »Seine Exzellenz, der Richter Ma!« verkündete einer der Beamten des Yamen mit Stentorstimme, um das Tohuwabohu zu übertönen. Beim Eintritt des Richters wurde es still. »Führt die Gefangenen herein!« befahl der Gerichtsschreiber auf ein Zeichen des Richters. Den Kopf in Halseisen, erschienen die Diener Meis unter dem Hohngeschrei der Menge. »Ruhe!« brüllte der Gerichtsschreiber. »Ruhe!« Die beiden Stockträger des Yamen schwenkten drohend ihre schweren Rohrstöcke. Der Gerichtsschreiber entrollte die Anklageschrift. »Die hier anwesenden Gefangenen werden beschuldigt, bei Huang III, seines Zeichens Kaufmann, Unruhe gestiftet und mit Gift nach dem Leben der Konkubine Perle, die Herr Huang zu heiraten beabsichtigt, und seines Sohnes, des jungen Huang, getrachtet zu haben. Darauf steht die Todesstrafe.« Der Gerichtsschreiber rollte das Papier sorgfältig zusammen. »Man möge den Mann vor den Richter führen, der Totschläger genannt wird!« Die Wachen stießen den wunderbarerweise aus seinem Flammenschlund entkommenen Riesen vor und hießen ihn, vor dem Richter niederzuknien. »Gibst du die Tat zu?« fragte der Gerichtsschreiber. Der Mann warf ihm einen wütenden, verächtlichen Blick zu. »Ich gebe zu, bei Huang Unruhe gestiftet zu haben. Sonst nichts.«
Sogleich ergriff der Richter Ma einen Bambuspflock und warf ihn unter dem Beifall der Zuschauer auf den Boden. Die Stockträger stürzten sich auf den Totschläger, streckten ihn auf einem Brett aus und begannen, mit ihren Stöcken auf ihn einzuschlagen. Dreißig Schläge. Dreißigmal spannte der Körper des Riesen sich an. Erst gegen Ende der Folter begann er zu schreien. »Nun?« sagte der Gerichtsschreiber. »Leugnest du immer noch?« »Ich habe niemanden vergiftet« Er blieb dabei, auf eine erneute Tracht Prügel gefaßt. Der Richter fand, daß es ihm nicht an Mut fehlte, und schaltete sich ein. »Du gewiß nicht. Aber jemand hat es getan, und ich bin sicher, du weißt, wer.« Er ließ die Stille ein paar Augenblicke im Raum schweben, dann gab er dem Gerichtsschreiber ein Zeichen: »Ruft den Zeugen Huang!« Der Kaufmann trat vor den Richter und verneigte sich dabei nach jedem Schritt. Rettichherz fiel auf, daß er an allen Gliedern zitterte. »Zeuge Huang! Berichtet, was Ihr gesehen habt und worauf die Klage sich gründet, die Seine Exzellenz anzunehmen geruhte.« Der Händler warf sich zu Boden. »Eure Exzellenz, ich ziehe meine Klage zurück«, murmelte er mit kaum hörbarer Stimme. Ein Schrei der Verwunderung stieg aus der Versammlung empor. Der Richter wollte hochfahren, hielt sich aber zurück. »Erklärt Euch, Huang, oder ich werde Euch wegen Beleidigung des Gerichts festnehmen lassen!« Der Händler begann sich zu rechtfertigen. Er lag immer noch am Boden, das Gesicht im Staub, vor Angst zitternd. »Eure Exzellenz, der Brauch besagt, daß die gegnerischen Parteien lieber eine Verständigung suchen sollten, als Eure
Exzellenz wegen flüchtiger Kleinigkeiten zu belästigen. Nun fügt es sich, daß Ihre Hoheit, die Fürstin Wu, mir heute morgen die außerordentliche Ehre erwies, mich zu sich zu bitten, um einen Kompromiß zu finden. Wie Ihr wißt, Eure Exzellenz, ging es bei dem Streit, den ich gegen Meister Mei führte, um eine Summe Geldes, das ich ihm als Gegenleistung für das Versprechen eines männlichen Erben gegeben hatte. Ihre Hoheit gab mir heute morgen alle Zusicherungen, was die Rückzahlung dieses Betrages betrifft ...« Huang preßte sich noch fester auf den Boden. Es sah aus, als wolle er in die Erde kriechen. »Deswegen flehe ich Eure Exzellenz an zu vermerken, daß ich meine Klage zurückziehe ...« Richter Ma betrachtete schweigend seinen Fächer, während der Gerichtsschreiber die höhnende Menge zur Ruhe rief. Er hüstelte. »Sehr gut. Die Eintracht zwischen Nachbarn zu fördern und die Hierarchien zu respektieren, das entspricht tatsächlich den Bräuchen, die der Meister lehrt. Niemand kann Huang einen Vorwurf daraus machen, daß er der Bitte Ihrer Hoheit, der Fürstin Wu, entsprochen hat.« Frenetisch warf sich der Kaufmann wieder und wieder zu Boden. Noch hinten im Saal war das dumpfe Geräusch zu hören, mit dem seine Stirn auf die Fliesen schlug. Der Richter schloß seinen Fächer mit einer brüsken Handbewegung. »Gleichwohl werden die Gefangenen unter der Anklage der Gerichtsbeleidigung im Yamen bleiben«, erklärte er. »Die Verhandlung wird morgen fortgesetzt.« Er stand auf und verließ wütenden Schrittes den Saal. Die Wachen nahmen die protestierenden Gefangenen mit, ein paar Stockschläge hagelten noch herab, während sich das Gericht leerte. Die erregte Menge diskutierte weiter über die überraschende Wendung, die die Rückziehung der Klage
verursacht hatte. Die beiden Mönche verließen das Gericht als letzte und gingen gleich zum Kloster zurück. Rettichherz dachte bitter, daß er sich von Meister Gurke hatte zum Narren halten lassen. Und von der Dame Wu. Der Kaiserliche Großerzieher hatte ihn zum Reden gebracht, hatte seine Sympathie geweckt und seinen Argwohn eingeschläfert, und die Fürstin, unverzüglich benachrichtigt, hatte nach Huang geschickt und sein Schweigen erkauft. Die Lage schien ausweglos. Jedoch hatte Meister Gurke diesen Zug nicht machen können, ohne seine Deckung zu verlassen. All das gehorchte einer Logik. Die beiden Männer setzten sich auf die Steinbank im Pinienhain. Aufrechter Elefant schwitzte, wahrscheinlich war das die Wirkung der drei Gläser Wein, die er nacheinander getrunken hatte. »Ich gehe wirklich nicht gern in die Stadt«, beklagte er sich. »Bei dieser Hitze!« »Wir werden bald nach Ho Han zurückkehren können, Ehrwürdiger, vielleicht sogar schon morgen abend.« Der alte Mönch betrachtete seinen jüngeren Gefährten argwöhnisch. »Ich wüßte gerne, wie.« Rettichherz wich der Frage mit einer vagen Geste aus. »Wir müssen diesen falschen Novizen finden.« »Welchen falschen Novizen?« »Die Dienerin der Fürstin Wu, die mich am Abend unserer Ankunft holen kam. Kleine Jade. Sie kennt den Gang, der zum Palast der Wu führt. Das ist das beste Mittel, um dort hineinzukommen.« »In den Palast hineinzukommen? Du bist ja vollkommen verrückt!« rief Aufrechter Elefant. »Habt Ihr eine andere Lösung, um das Gegenmittel für das Gift der neun Schlangen zu finden?«
»Ich sage noch einmal, das ist Wahnsinn.« Rettichherz stand auf und packte ihn an den Schultern. »Jetzt, da Huang seine Klage zurückgezogen hat, bleibt uns nichts anderes übrig, Ehrwürdiger. Die Fürstin mußte den hohen Preis bezahlen, um den Kaufmann zum Schweigen zu bringen. Sie hält mich für einen Ehrgeizling. Ich bin beinahe sicher, daß sie mir Kleine Jade schicken wird, um mit mir eine ähnliche Vereinbarung zu treffen. Also ... Postiert Euch hinter der Bibliothek und wartet, bis sie aus dem Geheimgang kommt. Ihr werdet beobachten, wie sie den Mechanismus betätigt, und mich benachrichtigen. Natürlich werde ich allein in den Palast gehen.« »Und die Dienerin?« »Sie wird mich vergeblich im Kloster suchen, wo ich nicht sein werde. Das müßte mir genug Zeit lassen, um Meis Räume zu erreichen.« »Und wenn du einmal dort bist? ... Nein. Laß mich raten. Du wirst ihn begrüßen und ihm sagen: ›Guten Tag, lieber Meister, bitte gebt mir ein wenig Gegenmittel für das Gift der neun Schlangen, Ihr wißt ja ... das Gift, mit dem Ihr bereits zehn Mönche getötet und beinahe den Kaiserlichen Großerzieher umgebracht habt ...‹« »Das, Ehrwürdiger, ist meine Sache, aber Ihr könnt sicher sein, daß es Mei eine Freude sein wird, mir das Rezept für das Gegenmittel zu geben.« Am späten Nachmittag bezog Aufrechter Elefant also Posten hinter einer Gruppe von Baumbussträuchern, ein paar Meter von der Mauer zur Bibliothek entfernt. Es regnete Bindfäden, und seine wachsende schlechte Laune rief seine alten Magenschmerzen hervor. Er hatte den unangenehmen Eindruck, ein vollkommener Idiot zu sein, nicht nur wegen dieser lächerlichen Rolle, die man ihn spielen ließ, sondern auch, weil Rettichherz schließlich das letzte Wort gehabt
hatte. Und noch dazu, um sich in die Höhle des Löwen zu stürzen! Dieser junge Arzt war wirklich sehr schwer in Schach zu halten, und sein Wille war unbeugsam, selbst für einen ehemaligen General der kaiserlichen Garde ... Geduld! Wenn die Dienerin sich nicht zeigte, würde er etwas zu hören kriegen ... Der Abend kam. Bald verließen die ersten Übersetzer die Bibliothek beim Klang des Metalls (Stück Eisen in Form einer Wolke, mit dem die Mönche ins Refektorium gerufen werden; Anm. d. Übers.), das die Mönche zur Abendmahlzeit rief. »Ich fresse meinen Ärger in mich hinein wie ein Anfänger«, dachte Aufrechter Elefant, »ich bin wirklich ein Idiot. Ich habe diesen Auftrag übernommen, und ich werde ihn zu Ende führen, ohne mich weiter darüber zu beklagen. Andernfalls würde das bedeuten, daß ich ein ruhigeres Gemüt besaß, als ich noch Soldat war. Was nützt es, sich zu schmeicheln, ein Mönch zu sein, wenn das nur dazu führt, sich von dem Leiden zermürben zu lassen?« Der Schmerz, der ihm den Magen zusammenkrampfte, verschwand augenblicklich, an seiner Quelle versiegt. Aufrechter Elefant war kein Mensch, der seine Zeit mit sinnlosem Leiden verlor. Dazu hatte er zuviel gesehen. Plötzlich schwenkte ein Teil der Wand beiseite und gab einen niedrigen, schmalen Eingang frei. Ein Novize trat heraus und schaute sich vorsichtig um. Ein Strohhut verbarg sein Gesicht. Kleine Jade entfernte sich von dem Gang, den sie offen ließ. Sie mußte sich sehr gut mit dem Kommen und Gehen im Tempel auskennen, um so ein Risiko einzugehen. Kaum war sie um die Ecke der Bibliothek gebogen, verließ der Mönch seinen Beobachtungsposten und lief in die entgegengesetzte Richtung, barfuß, um keinen Lärm zu machen. Rettichherz tauchte aus dem Dunkel auf. »Nun?« »Sie ist gerade gekommen, und sie hat den Gang offen
gelassen.« »Nutzen wir sofort die Gelegenheit, ehe sie sich anders besinnt.« Rettichherz raffte ein Bündel mit Laienkleidern auf, die er sich von Fisch aus der Leere geliehen hatte, und wandte sich, von seinem Gefährten gefolgt, zur Bibliothek. An der Bambusgruppe blieben sie stehen. Rettichherz zog sich um. »Wenn ich bis morgen früh nicht zurück bin« sagte er, »wißt Ihr, was Ihr zu tun habt, nicht wahr?« Und ohne Aufrechtem Elefant die Zeit zu lassen, ihm viel Glück zu wünschen, verließ er die Deckung und verschwand in der gähnenden Öffnung. Der alte Mönch stieß einen Seufzer aus und ging auf dem Weg davon, den Kleine Jade genommen hatte. Bald erblickte er sie, wie sie vor dem Pavillon Meister Gurkes herumlungerte. »Nun, Kleiner, was machst du da? Suchst du jemanden?« Der falsche Novize erbebte, bemühte sich aber, Haltung zu bewahren. »Ich sorge mich um die Gesundheit des Kaiserlichen Großerziehers, Ehrwürdiger, wie jedermann.« »Das ist gut. Das ist sehr gut. Komm mit, ich habe Arbeit für dich.« Und ohne eine Antwort abzuwarten, schob er das Mädchen zu dem Verschlag.
MEI Rettichherz erklomm die Treppe im Dunkeln und fand ohne allzu große Mühe den Wandbehang wieder, durch den er in der Nacht nach seiner Ankunft im Kloster den Gang verlassen hatte. An jenem Morgen hatte er sich, als er von der Verhandlung zurückkam, den Westturm des Palastes genau angesehen, zu dem Kleine Jade ihn, wie sie gesagt
hatte, geführt hatte. Er besaß nur drei Fenster, darunter ein kleines, ziemlich weit oben, das wohl die Maße desjenigen haben mußte, durch das er die Stadt im Nebel hatte liegen sehen. Er setzte alles auf eine Karte. Da Mei sich regelmäßig astronomischen Beobachtungen zu widmen pflegte, mußte er in dem oberen Teil des Schlosses wohnen. Er ging zu dem Fenster, fand das Loch wieder, das er hineingebohrt hatte, und schaute hinaus. Der Himmel über der Stadt hatte sich gelichtet; die dicken Wolken zogen nach Westen. Er machte sich wieder auf den Weg. Die einzige Tür ging auf einen Flur hinaus, der in einen verlassenen Innenhof am Fuße des Observatoriumsturmes mündete. Er stieg die Außentreppe hinauf, sie wand sich zu der Terrasse empor, die den Palast der Wu beherrschte. »Bist du es?« fragte eine Stimme. Eine hochgewachsene Gestalt riß sich von einer AmarylKugel los und trat auf ihn zu. »Ich habe dich gar nicht kommen hören ... Hast du die seltsame Position der Weberin zum Rinderhirten bemerkt? Das bedeutet Unglück für die Menschen.« »Ich weiß, Großer Meister.« Die Gestalt erstarrte. »Du bist nicht Tchan! Wer bist du? Was willst du hier?« Der Mann stürzte zu einem Gong. Mit einem Satz war Rettichherz bei ihm. »Schlagt nicht zu früh Alarm. Solltet Ihr die Vergangenheit vergessen haben?« Einen Augenblick musterten sie sich im flimmernden Licht der Sterne. »An Hui!« flüsterte Mei plötzlich. »An Hui ...« Es war unmöglich zu entscheiden, ob er wirklich überrascht war oder nur vorgab, es zu sein. »Guten Abend, Großer Meister. Ihr seht wohl, daß es nicht nötig ist, Alarm zu schlagen.« »An Hui ... ich glaubte, du seist tot. Du bist doch kein
Geist?« Rettichherz begann zu lachen und deutete einen Tanzschritt an. »Schaut meine Füße! Geister haben keine Füße, das ist allgemein bekannt.« »Wahrhaftig, du hast Füße ... und eine stolze Unverfrorenheit, ungebeten hierher zu kommen!« »Wie immer...« »Wie immer... Komm, laß uns ein paar Becher leeren, um unser Wiedersehen zu feiern.« Er zog ihn in das untere Stockwerk, in ein großes, luxuriös eingerichtetes Zimmer, das als Laboratorium diente, und wies auf einen Stuhl aus Elfenbein. »Wenn Ihr gestattet«, sagte Rettichherz, »werde ich Euch Euren Wein wärmen, wie ich es für Meister Wei zu tun gewohnt war.« »Meister Wei ... Er war sehr stolz auf dich. Du warst sein bester Schüler... Aber was hat dich hierher verschlagen?« Rettichherz machte sich mit dem Wein und den Bechern zu schaffen, er zuckte mit den Schultern. »Nach seinem Tod mußte ich mich verstecken. Ich bin hier und da umhergeirrt ... Die Räuber in den Sümpfen und in den Bergen sind immer froh, jemanden zu finden, der ihr Fieber und ihre Wunden heilt« »Ein ganz schön trauriges Leben für jemanden, der alle Geheimnisse des großen Wei kannte, ein Leben als Verbannter.« »Meister Wei ist zu früh gestorben, um mich seine größten Geheimnisse zu lehren. Über viele Dinge wißt Ihr mehr als ich.« Der Alchimist lächelte flüchtig, wider Willen geschmeichelt. »Das ist möglich ... Im Grunde waren Wei und ich uns sehr nahe, auch wenn wir uns selten begegneten. Er war ein bemerkenswerter Geist, er wollte immer Beweise,
Experimente, immer lag der Kadaver eines vergifteten Tieres in seinem Laboratorium. Einmal, weißt du noch, ist es ihm sogar gelungen, sich einen Bären zu beschaffen. Er sagte, der Bär sei das Tier, das dem Menschen am nächsten komme. In der Tat wartete er nur auf die Gelegenheit, sich an menschlichem Material zu versuchen.« Rettichherz mußte sich Mühe geben, sich seine Erregung nicht anmerken zu lassen, und konzentrierte sich auf den Wein, den er in den Krug schenkte. »Ich frage mich, ob er das nicht auch schließlich getan hat«, schloß der Alchimist. »Der große Wei war ein außergewöhnliches Wesen, das sich nur den Regeln des Himmels beugte. All diese Dinge wie Gesetze und Familientreue waren völlig abstrakt für ihn, nicht wahr?« Rettichherz servierte den Wein. »Zweifellos. Aber er hat sich in seiner Zelle vergiftet. Bei sich selbst handelte er vollkommen logisch.« Mei hob seinen Becher. »Auf das Gedenken des großen Wei, des größten Alchimisten dieser Dynastie, eines wahren Unsterblichen!« Er leerte seinen Becher mit einem Zug, ohne zu sehen, daß Rettichherz den Inhalt des seinen über die Schulter goß. »Du weißt, An Hui, Wei hatte wirklich das Stadium der alchimistischen Perfektion erreicht. Du hast sicher gehört, daß man in seinem Sarg nur seine Sandalen aufgefunden hat ...« ,Das sagt man immer über Alchimisten. Aber in diesem Punkt folge ich den Spuren meines Meisters. Solange ich es nicht mit meinen eigenen Augen gesehen habe ...« »Du bist ein Ungläubiger«, grollte Mei. »Ich weiß, was ich sage, ich habe den leeren Sarg gesehen.« Rettichherz nickte und füllte die Becher aufs neue. »Ich weiß, was ich sage«, wiederholte der Alchimist. »Der Eunuch Fang selbst ließ mich rufen, um den Tatbestand festzustellen und ihm eine Erklärung zu liefern.
Und Fang ist jemand, der sich nichts vormachen läßt. Es hätte mich den Kopf kosten können. Schließlich hat Meister Wei mir einige Ungelegenheiten bereitet.« Rettichherz hob seinen Becher. »Nun dann ... auf Minister Peng!« schlug er vor. »So sei es! Auf Minister Peng! Das ist ein Mann nach meinem Herzen!« Er trank den Wein und hielt Rettichherz den leeren Becher hin, der ihn sogleich wieder füllte. »Denn man kann sagen, was man will, An Hui, aber Weis ganze Wissenschaft gestattete es ihm nicht, auch nur ein Viertel des Reichtums zu erwerben, den ich heute besitze.« »Meister Wei steckte sein ganzes Gold in die Alchimie.« »In Unsinn, ja! Er verstand es nicht, die Mächtigen zu hofieren, und wählte schließlich das falsche Lager. Wenn man die vom Himmel errichteten Hierarchien so verachtet, kann man nur in Schwierigkeiten geraten.« Mit einer unbewußten Bewegung rieb er sich den Bauch. Ein unmerklicher Schimmer glomm in Rettichherz’ Augen auf. »Dann seid Ihr so reich? Seid so hoch gestiegen?« »Mehr als du dir vorstellen kannst. Aber, pah! Das ist noch gar nichts. Ich habe der Kaiserin den Hof gemacht, und nun der Fürstin Wu ... Blökende, unentschlossene Weiber! Was blieb mir denn anderes übrig? Der Eunuch Fang hatte mir sein Vertrauen entzogen, nachdem Weis Leiche verschwunden war.« »Selbstverständlich ...« gab Rettichherz zu und schenkte seinem Gastgeber nach. »Wenn der Fluß dem Fisch verboten ist, kann er nicht sehr groß werden ...« Der Alchimist ließ ein gellendes Lachen hören, sein vom Alkohol gerötetes Gesicht nahm plötzlich einen unangenehmen Ausdruck an. »Aber jetzt bist du da, An Hui, und ich habe endlich das Mittel, in den großen Fluß der Gunst Fangs
zurückzukehren.« Ehe der Mönch reagieren konnte, läutete der Alchimist ein Glöckchen, das er im Ärmel trug. Man vernahm Schritte auf der Treppe, und vier mit Säbeln bewaffnete Männer stürzten ins Zimmer. »Packt ihn!« kreischte Mei. Rettichherz drehte sich um und schüttete einem der Männer den Inhalt des Kruges ins Gesicht, der sich schreiend die Augen zuhielt. Dann stürzte er zur Treppe, mußte aber den Rückzug antreten. Zwei weitere Schüler Meis waren herbeigelaufen und versperrten ihm den Weg. Der Kampf war kurz, sie waren zu zahlreich. Rettichherz wurde überwältigt und vor den frohlockenden Alchimisten gebracht. »An Hui, mein lieber An Hui, du kennst die Schwäche des Eunuchen Fang ... Sein Groll ist grenzenlos. Ich werde dich ihm ausliefern. Ich bin sicher, er wird mir sehr dankbar sein und mir einen Posten anbieten, der meiner Fähigkeiten und des Vertrauens würdig ist, das er von nun an in mich haben kann.« Rettichherz hatte den Kopf gesenkt. »Du mußt mich ja für ziemlich blöd halten, mein armer An Hui!« fuhr der Alchimist fort. »Glaubst du, daß ich so weit gekommen wäre, wenn ich wie ein Blinder durchs Leben ginge? Einer meiner Männer hat dich heute morgen im Yamen gesehen. Du kennst doch meinen Diener Tchong noch? Er hat sich an dich erinnert und dich unter deiner Mönchskutte wiedererkannt ... da habe ich angefangen nachzudenken. Minister Peng kümmert sich einen Dreck um dich, und der Präfekt ebenfalls. Aber Fang, das ist etwas anderes, nicht wahr? Oh! Ich bin sicher, er wird sehr zufrieden sein.« Er gab seinen Häschern ein Zeichen, und diese begannen, Rettichherz zur Treppe zu schleifen. »Hör zu ...«
Der Alchimist hielt seine Männer zurück. »Sprich, mein Kleiner, sprich nur! Du bist geradewegs in die Höhle des Löwen gelaufen, du hast sehr wohl das Recht, dein Liedchen zu pfeifen wie ein Vogel im Käfig ... ein sehr wertvoller Vogel!« Rettichherz warf ihm einen giftigen Blick zu. Er erstickte fast vor Haß. Es gelang ihm jedoch, soviel Selbstbeherrschung zu bewahren, um ihm entgegenzuschleudern: »Du bist wirklich zu dumm, verfluchter Scharlatan! Du bist es, der in der Falle sitzt!« »Hüte deine Zunge! Verdirb mir nicht meinen Triumph ...« »Der Augenblick deines Triumphs ist vorbei, Mei. Du wirst mir nicht nur meine Freiheit wiedergeben, sondern auch das, weswegen ich gekommen bin.« »Und zwar?« »Das Gegenmittel für das Gift der neun Schlangen.« »Grotesk! Werft diesen Sklaven in einen Kerker!« Meis Männer packten Rettichherz, aber bevor sie ihn wegschleppen konnten, schrie er: »Der Wein, den ich dir gab, war vergiftet, du Dummkopf! Hat Wei dir nie von dem Bitteren Atem erzählt?« Der Alchimist erstarrte, fuhr, diesmal bewußt, mit der Hand über seinen Magen. »Du lügst«, knirschte er. »Das ist unmöglich. Schafft ihn mir aus den Augen!« »Achte auf die Wirkung dieses Giftes und bedenke, dass du nicht der einzige bist, der Wei ein paar Geheimnisse gestohlen hat!« Diese letzten Worte hallten auf der Treppe wider, während die Männer des Alchimisten ihn rücksichtslos über die Stufen schleiften. Mei spürte, wie ein paar Schweißtropfen über seine Wangen perlten. »Das ist unmöglich«, murmelte er, »vollkommen
unmöglich ...« Im gleichen Augenblick merkte Kleine Jade, daß Aufrechter Elefant ihr eine Falle gestellt hatte. »Ich muß wieder in meinen Schlafsaal zurück, Ehrwürdiger ...« »Später, später ... Dieser Verschlag muß aufgeräumt werden, und zwar jetzt!« Einmal mehr beugte sich der falsche Novize über das Durcheinander, ordnete die Gegenstände, wie es kam, denn die Befehle des Mönchs aus Ho Han widersprachen sich andauernd. »Nach links, das Porzellan, nach links!« »Aber Ihr sagtet doch rechts ...« »Ich soll rechts gesagt haben? Sag mal, Kleiner, wo hast du gelernt, was Respekt ist? Zuerst einmal sagt man ›Ehrwürdiger‹, wenn man mit einem Mönch spricht. Solltest du das vergessen haben?« »Nein, Ehrwürdiger.« »Gut! Dann stell dieses Porzellan auf die linke Seite.« Der falsche Novize brach in Schluchzen aus. »Ich habe genug! Ihr habt nicht das Recht, Euch so zu benehmen. Und was wird meine Herrin sagen?« »Deine Herrin? In einem Kloster?« Mit einer wütenden Handbewegung riß sich das Mädchen den Hut vom Kopf. »Ich bin nicht aus dem Kloster. Ich gehöre zum Palast der Wu, ich stehe im Dienst der Fürstin, und Ihr werdet bereuen, was Ihr mir angetan habt!« »Ach ja? Und sich in den Tempel schleichen und dort herumschnüffeln, darf man das vielleicht ungestraft?« Sie begann mit den Füßen aufzustampfen. »Laßt mich gehen! Ihr wißt nicht, was Ihr anrichtet!« »Alles was ich weiß ist, daß wir ganz brav auf die Rückkehr des ehrwürdigen Arztes warten werden.«
Die Dienerin rang die Hände vor Angst. »Wohin ist er gegangen?« »Ich glaube, er ist dorthin gegangen, wo du hergekommen bist. Er wollte zu dem Alchimisten Mei.« »Welch ein Unglück! Ich bin heute abend nur gekommen, um ihn zu warnen, damit er so schnell wie möglich von hier weggeht. Mei hat seinen Untergang geschworen, und wenn er der Überwachung meiner Herrin entwischt, werden wir alle im Kerker enden! Mei hat sich ihrer bedient, um voranzukommen, aber die Dinge nahmen eine andere Wendung, als er hoffte, wegen des alten Fürsten und der vergifteten Mönche. Wenn er Euren Gefährten zu fassen kriegt, sind wir alle verloren!« Weinend sank sie inmitten des herumliegenden Geschirrs zu Boden. Aufrechter Elefant betrachtete sie einen Augenblick schweigend, dann stieß er die Tür des Verschlags auf und rief leise: »Ehrwürdiger Fisch aus der Leere ... ich brauche Euch.«
GESTÄNDNISSE Man hatte Rettichherz in eine dunkle Kammer gesperrt, die aus gegebenem Anlaß als Zelle diente. Die Dinge hatten sich nicht ganz so entwickelt, wie er es geplant hatte, aber noch war nichts verloren. Mit seinen Träumen von Reichtum würde Mei um so mehr am Leben hängen. Vor fünfzehn Jahren hatte Rettichherz selbst im Dienste Meister Weis und seiner furchtbaren Experimente gestanden. Es war keine Zeit, an die er gern zurückdachte. Jedesmal, wenn Mei zu Besuch kam, redete er seinem älteren Kollegen in der Kunst der Alchimie nach dem Munde, nannte sich seinen Schüler und legte ein unterwürfiges Benehmen an den Tag, bereit zu den schlimmsten Niederträchtigkeiten, nur damit er ein Rezept bekam oder einen Trick lernen
durfte. Auch zu stehlen. Einmal hatte Rettichherz ihn dabei überrascht, wie er in Meister Weis Papieren kramte. Als er Wei warnte, hat dieser gelacht. Sein trockenes und freudloses Lachen. »Mach dir keine Sorgen, An Hui. Mei ist ein Dieb, ich bin ein Dieb ... das ist das erste der alchimistischen Gesetze des Tao. Wir stehlen schamlos die Geheimnisse der Großen Natur. Warum sollten wir zögern, einen Kollegen zu bestehlen? Das heißt, bei geringstem Risiko Wissen zu erwerben. Vergiß nie, daß Mei ein Feigling ist. Vielleicht ist seine Feigheit sogar noch stärker als sein Egoismus!« Rettichherz lächelte in der Dunkelheit und entspannte, soweit es möglich war, seine schmerzenden Muskeln, in die die Ketten schnitten, mit denen sie ihn an den Handgelenken fast an der Wand aufgehängt hatten. Hatte nicht auch der Meister von Ho Han etwas zu diesem Thema gesagt? Eines Tages hatte Rettichherz sein Herz in beide Hände genommen und war zu Ho Han gegangen, der gerade Tee pflückte. »Meister, was denkt Ihr von den taoistischen Alchimisten?« Ho Han hatte gelächelt, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. »Ich kenne keinen taoistischen Alchimisten, also kann ich dir nichts darüber sagen.« »Aber Ihr habt davon gehört, und Ihr wißt, daß ich ein Schüler Weis war ... War Wei, Eurer Meinung nach, ein Unsterblicher?« »Ein Unsterblicher?« Ho Han war in lautes Lachen ausgebrochen, ein anderes Lachen als das Weis, fröhlich, mitteilsam, unwiderstehlich, und Rettichherz hatte mit ihm gelacht und war ohne eine weitere Antwort gegangen. Und wie immer war die Antwort gekommen, als er sie nicht erwartete. Eines Abends hatte ein alter Grundbesitzer,
gebeugt von der Last der Jahre, ein reicher Mann in diesen trostlosen Bergen, dem Meister einen Besuch abgestattet. Rettichherz servierte den Tee, da der Sekretär abwesend war. »Ehrwürdiger«, begann der Alte nach den üblichen Höflichkeitsbezeugungen, »man hat mir gesagt, daß Ihr wie ein nach China gekommener Buddha seid und die Macht Eures Zaubers beträchtlich ist ...« Ho Han schlürfte ruhig seinen Tee weiter, ohne erkennen zu lassen, ob er überhaupt zugehört hatte. »Ehrwürdiger«, beharrte der alte Mann, »ich möchte Euch fragen, wieviel eine kleine Zeremonie kosten würde, die mich diesen Winter vor Krankheiten schützt ...« »Diesen Winter? Nur diesen Winter?« Er sprach, ohne aufzublicken. »Natürlich, wenn Ihr mehr tun könnt ...« Der Meister stellte seine Tasse ab und schaute den Mann gütig an. »Was wünscht Ihr genau, lieber Mann?« »Nun ja ... zehn Jahre. Ja, zehn Jahre bei guter Gesundheit!« »Pah! ... Ist das alles?« »Zwanzig?« »Zwanzig Jahre. Also gut, wenn es das ist, was Ihr wollt ...« Es trat einen Augenblick Stille ein, während der Bauer sich bemühte, die List und Begierde zu verbergen, die sein faltiges Gesicht belebte. Endlich entschloß er sich. »Sagen wir fünfzig!« »Gut! Bei so einer Kleinigkeit regelt die Einzelheiten bitte mit meinem Sekretär.« Der Greis war verblüfft. »Soll das heißen, Ehrwürdiger, daß Ihr...?« Ho Han winkte Rettichherz herbei, damit er Tee
nachschenkte. »Lieber Mann, Ihr müßt zugeben, daß Eure Bitte nicht leicht verständlich ist. Ob ich Euer Leben um drei Monate oder drei Jahrhunderte verlängere, wo liegt da der Unterschied? Wenn ich meinen Weg auf dieser Welt des Leidens beendet habe, wen werdet Ihr dann bitten, Euch noch einige Zeit leben zu lassen, nur um zu sehen, wie um Euch herum die Enkel Eurer Urenkel erlöschen?« Der alte Mann verzog das Gesicht. An diesen Gesichtspunkt hatte er nicht gedacht. Aber bald gewann seine Gier die Oberhand über seine vorübergehende Traurigkeit. »Dann könnt Ihr aus mir einen Unsterblichen machen? Ich habe genug Geld, um Euch zu bezahlen, seid beruhigt.« Ho Han lächelte breit, und der Alte lächelte mit ihm. »Was ist die Unsterblichkeit in einer Welt wie der unseren, die wehrlos dem Krieg, dem Elend, dem Alter und der Trauer ausgesetzt ist? Um Eure Unsterblichkeit wirklich zu genießen, lieber Mann, müßt Ihr zuerst lernen, Euch nicht mehr vom Leiden zermürben zu lassen.« Fast widerwillig wackelte der Greis mit dem Kopf. »Es stimmt, was ihr da sagt, Ehrwürdiger. Aber wie soll ich das machen?« »Für den Anfang könntet Ihr jeden Tag zur Abendmeditation kommen.« »Aber wieviel wird mich das kosten?« »Nichts, im Augenblick. Ihr werdet mich bezahlen, wenn Ihr unsterblich geworden seid.« »Oh ja, Ehrwürdiger, einverstanden! Das ist wirklich sehr großzügig von Euch!« Er verabschiedete sich höchst erfreut und erhob sich mit zahlreichen Kniefällen, bevor er ging. Ho Han hatte Rettichherz angesehen, seine Augen lachten. »Was meinst du, wann wird dieser Mensch verstehen, daß
das, was ihn umbringt, sein Egoismus ist?« Und Rettichherz hatte lauthals gelacht, mit einem Schlag befreit von der riesigen Last der vieldeutigen Lehre Weis. Die Unsterblichkeit anzustreben hieß nicht, eine Eroberung zu unternehmen; es bedeutete, den Egoismus und die Angst zu überwinden. Plötzlich wurde die Tür geöffnet, und zwei von Meis Schülern kamen herein, eine Fackel in der Hand. In ihrem Blick konnte man eine gewisse Bestürzung lesen: Sie hatten den Gefangenen durch die Tür aus vollem Herzen lachen gehört. »Der Große Meister will dich sehen.« Sie brachten ihn wieder in denselben Raum, in dem sie ihn überwältigt hatten, und fesselten ihn mit starken Stricken mit gekreuzten Armen an zwei Säulen. Der große Meister saß in einem Sessel und machte keinen behaglichen Eindruck. Als er Rettichherz erblickte, richtete er sich auf und nahm eine drohende Haltung an. »Du kannst noch reden, An Hui, und dir viel Leid ersparen.« »Ihr auch, Großer Meister. Ihr gebt mir das Rezept des Gegenmittels für das Gift der neun Schlangen, ich gebe Euch meines, und damit sind wir quitt. Ein vernünftiger Kompromiß ist einem Streit immer vorzuziehen, nicht wahr? Um so mehr, als Ihr hier als Verlierer hervorgehen werdet ... Kennt Ihr die Wirkung des Bitteren Atems? Zuerst bekommt man Magenbeschwerden, die immer stärker und schmerzhafter werden. Dann breiten sie sich auf die Eingeweide aus, die zu bluten anfangen. Danach beginnen Leber und Milz zu schwellen, bis sie platzen wie überreife Pflaumen.« »Bring ihn zum Schweigen, Tchong!« brüllte Mei einen seiner Schüler an. Dieser ließ sich das nicht zweimal sagen. Während zwei
andere an den Stricken des Mönchs zogen, begann er mit seinem Stock auf ihn einzuschlagen. »Eins! ... Zwei! ... Drei! ...« Während er die Schläge leise zählte, konnte Mei nicht verhindern, daß er bereits die Schmerzen spürte, die man ihm beschrieben hatte, und tastete seine Leber ab. »Einundzwanzig! ... Zweiundzwanzig! ... Dreiundzwanzig! ...« Tchong arbeitete verbissen, ohne seinem Opfer einen Laut entlocken zu können. »Hör auf!« befahl Mei. »Nun? Was sagt er?« Tchong trat zu dem Gefolterten, der langsam und ganz tief atmete. »Er sagt nichts, Großer Meister.« »Idiot! Du schlägst nicht fest genug zu. Hong! Nimm seinen Platz ein und schlag fest zu!« Hong war einer der beiden Häscher, die den Mönch aus seiner Zelle geholt hatten. In seinem tiefsten Innern fühlte er sich nicht wohl in seiner Haut, denn er fürchtete, daß sein Meister mit einem dieser Eremiten von wundertätigen Kräften nicht fertig werden würde. Schon bei Huang hatten die Dinge eine schlechte Wendung genommen ... »Vierundzwanzig! ... Fünfundzwanzig! ...« Er zählte mit lauter Stimme, um zu verbergen, daß seine Hiebe nicht allzu furchtbar und zumindest weniger fest als die Tchongs waren, der ostentativ am anderen Ende des Laboratoriums schmollte. »Und dreißig!« schloß er brüllend. »Nun, An Hui, wirst du nun vernünftig?« Es trat eine Stille ein, die immer länger wurde. Wütend schlug der Alchimist mit der Faust auf die Lehne seines Sessels und drehte sich zu Hong um. »Dummkopf! Du hast ihn getötet!« »Ich habe ihm nur sieben absolut unbedeutende kleine Hiebe gegeben, Großer Meister! Es ist Tchongs Schuld!« Am anderen Ende des Zimmers grinste Tchong höhnisch. Da
räusperte Rettichherz sich und sagte: »Ich warte immer noch auf eine vernünftige Geste Eurerseits, Mei ...« Der Alchimist sprang auf, mit den Nerven am Ende. Er konnte nicht mehr an sich halten. »Du wirst dich nicht mehr lange über mich lustig machen! Hong, noch dreißig Hiebe!« In seinem Innersten flehte Hong den Mönch um Verzeihung an. Noch nie hatte er seinen Meister in einem derartigen Zustand gesehen. So das Gesicht zu verlieren, ohne sich dessen überhaupt bewußt zu werden! »Eins! ... Zwei! ...« Er arbeitete ohne Elan. Meis Augen traten aus den Höhlen, es war ein Bild des Entsetzens. Unaufhörlich tastete er seinen Magen ab, weiß wie ein Leintuch. »Ah! Er redet ... Gerade sagt er irgendwas!« Hong näherte sein Gesicht dem des Mönchs. »Denen, die von einer übermäßigen Gier besessen sind, saget, sie sollen an Kuan Yin denken, und sie werden von ihrer Gier befreit. Denen, die Opfer gewaltiger Wutanfälle sind, saget, sie sollen an Kuan Yin denken, und sie werden von ihren Wutanfällen befreit. Denen, die vom Wahnsinn besessen sind, saget, sie sollen mit Verehrung an Kuan Yin denken, und sie werden von ihrem Wahn befreit. Oh Jünger, dies ist die Größe der geistigen segensreichen Macht. Mögen alle fühlenden Wesen immer und ewig an den erhabenen Bodhisattva denken ...« Hong wich erschrocken zurück. »Großer Meister, der Eremit ... er sagt Zaubersprüche vor sich hin ...« »Na und ...? Dreifacher Narr! Mach weiter!« Hong warf seinen Stock weit von sich. »Nein! Nein!« stöhnte er. »Ich nicht!« Tchong kam vom anderen Ende des Raumes zurück, den Blick voller Verachtung. Er hob den Stock auf und hieb
damit durch die Luft. »Ich werde es ihm zeigen ...« Er hob den Knüppel, als ihn der Schrei einer Frau mitten in der Bewegung innehalten ließ. »Hört auf!« Mit Ausnahme von Rettichherz drehten sich alle zum Eingang des Laboratoriums um und verbeugten sich instinktiv, als sie die Fürstin Wu in Begleitung ihrer Dienerin Kleine Jade erkannten. Von der Terrasse und gleichzeitig aus dem unteren Stockwerk war Kampfeslärm zu hören. Tchong und Hong stürzten herbei, um das Observatorium zu verteidigen. Die Fürstin hatte sich dem Gemarterten genähert und fuhr zu Mei herum. »Was habt Ihr mit diesem Mönch gemacht? Ungeheuer!« Und sie eilte hinzu, um die Stricke zu lösen. Halb bewußtlos rezitierte Rettichherz immer noch das Sutra des Erhabenen Buddhas. Als die Dame Wu die heiligen Worte psalmodieren hörte, stieß sie einen Schrei aus und fiel zu Füßen des Geistlichen nieder, faltete die Hände und rezitierte ihrerseits: »Er besitzt die sanfteste Stimme, eine Stimme, die die Welt beherrscht, die Stimme des Ozeans, eine Stimme, die alle Stimmen der Welt übertönt. Konzentrieren wir unsere Gedanken auf Kuan Yin. Er ist eine wahre Zuflucht, ein Beschützer in schweren Augenblicken, im Leid, im Tod, in der Not. Kuan Yin betrachtet alles mit Mitgefühl, und wie der Ozean birgt er in sich die Unendlichkeit der Tugenden; deswegen sollen wir ihn anbeten ...« Dann begann die Fürstin zu schluchzen und klammerte sich an das zerrissene Gewand des Mönchs. »Ehrwürdiger, Ehrwürdiger! Ich flehe Euch an, hört mein Geständnis!« »Nein!« brüllte Mei. »Tut das nicht! Ihr habt den Verstand verloren!«
Rettichherz schaute ihn völlig ausdruckslos an. »Laßt sie ihr Herz erleichtern ...« Die Fürstin fiel auf die Knie und begann vor dem immer noch gefesselten Mönch mit klarer Stimme zu sprechen, die den immer noch tobenden Kampfeslärm übertönte. »Ehrwürdiger, ich klage mich an, aus Schwäche auf Meis Ratschläge gehört und meinen Gatten, den Fürsten Wu, vergiftet zu haben, damit er seinen Sohn nicht zugunsten eines anderen enterbt. Ich klage mich an, den Tod der zehn an Gift gestorbenen Mönche des Klosters der Strahlenden Tugend in Kauf genommen zu haben und dem Kaiserlichen Großerzieher nicht zu Hilfe gekommen zu sein. Ich klage mich außerdem an, Meis Drohungen nachgegeben und die Affäre Huang vertuscht zu haben, indem ich ihn kaufte. Ich weiß, daß die Hölle Yama bereit ist, sich über mir zu schließen ... Ich gebe mich Kuan Yins Mitgefühl und Eurer Gerechtigkeit anheim!« Rettichherz schaute sie sanft an. »Könnt Ihr mir einen großen Dienst erweisen?« »Alles, was Ihr befehlt, Ehrwürdiger. Ich bin eine Missetäterin ...« »Natürlich ... Könnt Ihr mich bitte losbinden?« Kleine Jade eilte herbei. »Nein, nein, es ist an Eurer Herrin, mich zu befreien. Sie muß unmittelbar verstehen, was Befreiung ist.« Ungeschickt bemühte sich die Dame Wu, die Knoten zu lösen. »Ich kann es nicht. Die Fesseln sind zu fest.« Das Mädchen zog einen kleinen Dolch aus ihrem Haarknoten und reichte ihn ihr. Die große Dame nahm ihn, dankte ihrer Dienerin zum ersten Mal in ihrem Leben und machte sich verbissen an den Stricken zu schaffen, die schließlich nachgaben. Beinahe wäre Rettichherz zu Boden geglitten. Von zwei Männern gestützt, trat er zu dem Alchimisten, der auf seinem Stuhl hockte. »Nun sollten wir unsere Verhandlungen wieder
aufnehmen, Mei ...« Der Alchimist blitzte die Fürstin wütend an. »Ihr werdet mit mir untergehen!« schrie er. »Ich werde nicht zulassen, daß Ihr mir alleine alles anlastet ...« Die Fürstin Wu erbebte, hielt seinem Blick aber stand. Da wandte Mei sich an den Mönch: »Und was dich angeht, An Hui, so wirst du alle Spione auf den Fersen haben, das verspreche ich dir!« Rettichherz seufzte. »Zukunft und Vergangenheit sind wie Schatten. Reden wir lieber von dem Gegengift.« In diesem Augenblick stürzten bewaffnete Männer herein. An ihrer Spitze Aufrechter Elefant, gefolgt von Krokodil und Tätowierter Schlange, den Räubern aus den Bergen, alle blutbespritzt. »Man könnte meinen, wir seien gerade recht gekommen, um deine Haut zu retten ... Der Erhabene möge mir vergeben, aber ich fürchte, daß alle Anhänger dieses Elenden ihren Herrn in den Höllen Nagas erwarten ...« Fisch aus der Leere tauchte ebenfalls auf und bekräftigte diese Erklärung mit einem mitfühlenden Nicken. Rettichherz lächelte ihnen zu. »Sagen wir, Ihr habt Euch mitreißen lassen ... Was getan ist, ist getan. Genug geschwätzt. Das Gegenmittel!« Mei wies mit dem Kinn auf einen Tontopf, der abseits in einem Regal stand. Rettichherz nahm ihn in die Hand, roch an der Substanz und schien zufrieden. Dann erblickte er einen anderen Topf, hob den Deckel hoch und entnahm ihm ein schwärzliches Kügelchen, das er auf der Stelle herunterschluckte. Aufrechter Elefant hatte Mei am Kragen gepackt. »Was machen wir mit ihm?« »Wir nehmen ihn mit ins Kloster. Ich will sichergehen, daß das Gegenmittel wirkt, wie es sollte, bevor wir ihn Richter Ma übergeben.«
Nachdem sie die Fürstin der Fürsorge von Kleiner Jade anvertraut hatten, stiegen die Mönche, die Räuber und ihr Gefangener den Turm des Observatoriums hinunter und verließen den Palast durch den unterirdischen Gang. Als sie im Kloster ankamen, war es früher Morgen. Nebelschwaden hingen zwischen den Gebäuden, ein Duft nach Reissuppe und Gemüse entstieg der Küche und kündigte das Ende der Morgenmeditation an. Das Trüppchen wandte seine Schritte der Krankenstation zu. Rettichherz ging geradewegs zu dem kranken Affchen, das der Arzt aus Kanton in einem Vogelkäfig untergebracht hatte. Er legte das Tier auf einen Tisch und verabreichte ihm das Gegenmittel, nachdem er etwas davon in Wasser aufgelöst hatte. »Wie lange wird es dauern, bis es wirkt?« »Ungefähr einen halben Tag«, antwortete Mei. »Und was wird aus mir?« »Später ... wenn ich wirklich sicher sein kann.« Er wandte sich an Fisch aus der Leere. »Wo können wir diesen Mann einsperren?« »Im Vorratskeller der Mühle. Unsere Räuberfreunde werden Wache stehen. Ich werde ihnen etwas zu essen bringen lassen.« Aufrechter Elefant schaute ihn an und dachte, daß in diesem entschlossenen Jungen kaum der pingelige Sekretär Meister Gurkes wiederzuerkennen war. Die Geschehnisse hatten ihn verwandelt. Was hatte ihn nur dazu bringen mögen, sich so jung in diesem Kloster zu vergraben, ihn, der vom Temperament her eher für das abenteuerliche Leben gemacht zu sein schien, das Soldaten oder Verbrecher führen? Durch welche unsinnige Anstrengung hatte er diese ganze Angriffslust verdrängt, die sich so prachtvoll im Laufe der Nacht entfaltet hatte? Es war wirklich nicht gesund, sich allzu früh für das religiöse Leben zu entscheiden. »Bringt den Gefangenen an den Ort, den der Ehrwürdige
Euch zeigen wird«, sagte er zu den Räubern. »Gehorcht ihm in allem.« Krokodil und Tätowierte Schlange stießen einen graugesichtigen, schwankenden Mei vor sich her, der sich an der Tür festklammerte und Rettichherz flehend ansah. »Du hast versprochen ... Ich habe dir das Gegenmittel gegeben, und nun sieh, wie du mich behandelst!« Fisch aus der Leere riß ihn los. »Und die ehrwürdigen Mönche, die sterben mußten? Wie hast du die behandelt?« »Aber das war ich nicht!« »Das reicht! Los!« Kaum waren sie hinausgegangen, brach Rettichherz bewußtlos auf dem Holzboden zusammen. Aufrechter Elefant lief zu einem mit einem Deckel verschlossenen Holzeimer, in dem der Heißwasservorrat für den Morgen aufbewahrt wurde, und eilte seinem Gefährten zu Hilfe. Er hob seinen Kopf hoch und zwang ihn, dieses traditionelle Heilmittel zu schlucken. Rettichherz hustete und schlug die Augen auf. »Ehrwürdiger, ich glaube, ich brauche Ruhe. Ich dachte nicht, daß dieses indische Opium so stark ist, das ich in Meis Laboratorium geschluckt habe. Es beruhigt völlig den Schmerz, schwächt aber genauso sehr. Ich werde mich hinlegen.« Mit der Hilfe Aufrechten Elefants stand Rettichherz auf und ging in den angrenzenden Schlafraum, wo er sich auf eine Matte fallen ließ. Im nächsten Augenblick schnarchte er schon. Aufrechter Elefant verließ gerade zu dem Zeitpunkt die Krankenstation, als die Meditation zu Ende war. Die Mönche strebten dem Refektorium zu, und er mischte sich unter sie. Die Ereignisse hatten ihm Appetit gemacht. Danach würde er den Abt aufsuchen. Aber was sollte er ihm erzählen? Bis auf ein paar Einzelheiten war die Sache klar.
Es wäre unnötig, die Rolle der Fürstin Wu zu erwähnen, die immer noch die offizielle Schirmherrin des Klosters war. Und Mei war erledigt. Er mochte behaupten, was er wollte, der ideale Schuldige, dem man alle Verbrechen und alle Skandale anlasten würde, das würde er sein und niemand anders. Nicht umsonst hatte Aufrechter Elefant früher am kaiserlichen Hof verkehrt.
DER SCHATTEN EINES ZWEIFELS Rettichherz erwachte mit einem gewissen Ekelgefühl in der Magengegend aus einem traumlosen Schlaf. Bei der ersten Bewegung, die er machte, erschien der kleine Arzt aus Kanton an der Tür des Schlafraums. »Braucht Ihr etwas, Ehrwürdiger?« Rettichherz lächelte ihm zu und versuchte aufzustehen. Sein Rücken war so steif wie ein Brett, und er mußte auf allen Vieren kriechen, ehe er sich aufrichten konnte. »Ich hätte gern eine Tasse Tee.« »Es gibt auch Grütze, falls Ihr Hunger habt ...« »Der Tee genügt im Augenblick, Ehrwürdiger. Wie geht es unserem kleinen Patienten?« Der Arzt aus Kanton wies auf den Käfig, in den er den Affen gesperrt hatte. »Es geht ihm viel besser. Ich konnte ihn eben sogar dazu bringen, eine Karotte zu fressen.« Rettichherz lächelte. Schluck für Schluck trank er zwei Tassen Tee und untersuchte dann das Tier, das unbekümmert mit dem Strunk der Karotte spielte, die es bekommen hatte. »Sehr gut.« Dann betrachtete er durch das offene Fenster den kurzen Schatten der Bambussträucher. Die Sonne schien, und er hatte den ganzen Morgen geschlafen.
»Ich glaube, wir können nun, ohne länger zu zögern, dem Kaiserlichen Großerzieher das Gegenmittel verabreichen«, sagte er. »Würdet Ihr das bitte übernehmen?« »Ihr seid es, dem das Verdienst zusteht. Wie könnte ich wagen ...?« Statt einer Antwort reichte Rettichherz ihm den Topf mit dem Gegengift. »Gebt ihm eine normale Dosis. Morgen werden wir sehen, wie es ihm geht, und uns beraten. Ich nehme an, wir werden es ihm noch ein paar Tage lang geben müssen, denn das Gift der neun Schlangen hatte Zeit genug, Übles zu tun ... Und selbstverständlich müssen wir fortfahren, das Yang zu stärken.« »Selbstverständlich ... Aber was soll ich dem Kaiserlichen Großerzieher antworten, wenn er mich fragt, warum Ihr ihn nicht mehr behandelt?« »Sagt ihm, Ehrwürdiger, daß ich ihn bald besuchen werde, um mich von ihm zu verabschieden.« Das Gesicht des Arztes aus Kanton verdüsterte sich. »Ihr kehrt also in Euer Kloster nach Han zurück? Wie ich Euch beneide, Ehrwürdiger! Ich für meinen Teil weiß noch nicht, ob ich zur Sommerklausur in Shao Lin sein kann ...« »Macht Euch darüber keine Sorgen«, sagte Rettichherz. Und schleppenden Schrittes ging er zur Tür. Er mußte allein sein, um nachzudenken, und so begann er zum Fluß hinunterzusteigen, wo er sicher war, niemanden zu treffen. Was sollte mit Mei geschehen? Einen Feind wieder freilassen, der nichts Eiligeres zu tun hatte, als ihn an den Eunuchen Fang zu verkaufen? Ihn der kaiserlichen Gerichtsbarkeit ausliefern, mit allen Risiken, die das für die unvorsichtige Fürstin Wu und für ihn selbst beinhaltete? Es war, als hätte er zwischen der Pest und der Cholera zu wählen. Abgesehen davon, daß er nicht die Wahl hatte. Es gab zwar eine radikale Lösung, die alles bereinigen würde, aber es gab schon so viele Leichen ...
Mei hatte zugegeben, das Gift geliefert zu haben, das den alten Fürsten getötet hatte, aber er leugnete vehement jegliche Verantwortung für den Tod der Mönche. Und als er im Laboratorium überwältigt worden war, hatte er nur recht schwach der Fürstin gedroht, die sich nicht hatte aus der Fassung bringen lassen. Das konnte nur eines bedeuten: er wußte nichts vom Kern der Geschichte. Wenn er mehr gewußt hätte, wären seine Drohungen präziser gewesen. Wieder einmal wurde offenkundig, daß nur Meister Gurke und die Dame Wu den wahren Sachverhalt kannten. Aber ersterer war jetzt auf dem Weg der Besserung, und letztere hatte sich durch ihr Geständnis von der Last ihrer Schuld befreit. Außerdem wurde niemand mehr durch das Gift bedroht. Nun, da die Krise vorbei war, würden die Fürstin und der Kaiserliche Grofierzieher weniger denn je reden. Widerwillig gelangte Rettichherz zu dem selben Schluß wie Aufrechter Elefant: Mei war der perfekte Schuldige, solange er nicht genug wußte, um irgend jemand anderen entscheidend zu belasten. Sein Wort würde gegen das der anderen stehen, und dann war es keinen Pfifferling mehr wert. Man würde ihn verurteilen, weil er der Fürstin die Waffe zu ihrem Verbrechen geliefert hatte und weil er versucht hatte, den Erben Huangs und seine Konkubine zu vergiften. Die kaiserliche Justiz hätte einen idealen Schuldigen, den sie sich einverleiben konnte, und da die Menschheit nicht über die Maßen betrübt sein würde, solch ein Individuum verschwinden zu sehen, wären alle zufrieden. Rettichherz selbst sah dem Tode Meis nicht ohne eine gewisse Erleichterung entgegen. Nur würde das alles mitnichten den Kern des Problems regeln. Mit Meis Verurteilung würde die Akte endgültig geschlossen, und man würde nie erfahren, durch wessen Schuld die zehn Mönche gestorben waren. Es war eine Lösung, die Richter Ma (einen überzeugten Anhänger des Konfuzianismus, der den Buddhismus noch als ›Religion der
Barbaren aus dem Westen‹ behandelte und der ein Unrecht immer noch einer Unruhe vorzog) zufriedenstellen würde, und auch den Abt, da seinem Kloster der Skandal erspart bliebe, und schließlich auch Huang, der sich für gerächt halten würde. Diesem konnte Mei nur noch in Form einer Leiche nützlich sein, wobei sie die seltene Tugend besitzen würde, andere Leichen zu verbergen. Und warum sollte er sich nicht mit allen einig erklären? Warum sollte er, ein armer Arzt, verfolgt unter seiner Mönchskutte, etwas anderes wünschen? Letztendlich war es ihm ziemlich egal, daß eine Justiz, an die er seit langem nicht mehr glaubte, sich mit einer so wackligen Lösung zufriedengab, es war ihm sogar egal, daß ein reicher Abt den Tod von zehn ehrbaren Mönchen unter Gewinn und Verlust verbuchte: Er machte sich kaum noch Illusionen über die geistlichen Würdenträger. Nein, was er ablehnte, das war nur, die Wirklichkeit einstimmig verhöhnt zu sehen im Namen von Ordnung, Tradition, persönlicher Bequemlichkeit, Annehmlichkeiten und Interessen, alles Begriffe, derer man sich einst bedient hatte, um das Massaker an seiner Familie zu rechtfertigen. Wenn er die Verfolgungen und den wilden Haß des Eunuchen Fang überlebt hatte, dann nicht, um die Waffen vor einem Problem zu strecken, das alle verschleiern wollten. Wenn er Mönch geworden war, so weil er im Buddhismus den gleichen ihn schon immer stimulierenden Respekt vor der Wirklichkeit gefunden hatte. Heute aufzugeben, das hieße, auf alles zu verzichten, was seinem Leben Sinn gegeben hatte, Justizirrtümer und Verfolgungen zuzulassen. Das war unmöglich, einfach unmöglich. Die Wahrheit mußte ans Licht kommen. Oh! Nicht in den Augen aller, da viele entschlossen waren, ihr nicht ins Gesicht zu sehen, aber in seinen Augen, und in den Augen eines jeden, der sie zu kennen wünschte. Der Alchimist leugnete, an der Vergiftung der Mönche beteiligt zu sein.
Warum hätte er lügen sollen? Der Mord an dem alten Fürsten brachte ihm schon die Todesstrafe ein. Man konnte also einräumen, daß er in diesem Punkt die Wahrheit gesagt hatte. Aber wer hatte dann die zehn Mönche umgebracht? Wer konnte ein Interesse daran haben? Der Richter? Der Abt? Die Dame Wu? Das war kaum plausibel. Der Sekretär Meister Gurkes? Meister Gurke selbst? Kaum weniger unwahrscheinlich. Blieb eine Lösung, die ihm durch den Kopf gegangen war, als der Novize sich mit dem gestohlenen Wein vergiftet hatte: Es gab gar keinen Schuldigen, und all diese Toten waren nur die Folge eines unglücklichen Zufalls. Natürlich wurde diese Hypothese durch nichts gestützt. Aber nichts widersprach ihr auch ausdrücklich. Ganz in Gedanken versunken, war Rettichherz einem immer schmaler werdenden Pfad gefolgt, der durch das hohe Gras zum Flußufer führte. Er blieb stehen. Etwas stimmte nicht bei seiner Überlegung. Wenn alles nur die Frucht des Zufalls war, warum hatte sich Meister Gurke dann in ein hartnäckiges Schweigen zurückgezogen? Warum nahm er eine feindselige Haltung ein, sobald man ihn heilen wollte? Warum hatte dieser angesichts des Todes standhafte Mensch, der angeblich nichts von den weltlichen Geschehnissen wußte, plötzlich seine Passivität durchbrochen und die Rettichherz abgenötigte Frist dazu benutzt, um die Dame Wu zu warnen? Zweifellos wollte er sie schützen, aber wovor? Mutlosigkeit überkam ihn. Er verzog das Gesicht und setzte sich ins Gras, denn das Opium begann seine Wirkung zu verlieren. Er fühlte sich müde, besiegt, gedemütigt. Er würde nach Ho Han zurückkehren, ohne seinen Auftrag erfüllt zu haben. Seine Intelligenz und sein Wissen waren zu nichts nutze. Er selbst war zu nichts nutze. Er war nichts. Plötzlich klang linker Hand, von jenseits des Schilfs, ein Lied zu ihm herüber.
Am Ende dieses Lebens bin ich endlich friedsam. Die Welt ist aus meinem Geist verschwunden. In diesem heilen Zustand ist die Zukunft nichts. Eine Geburt in einem Sandelholzwald ... Er erhob sich und ging näher heran. Ein Mann in Lumpen schlug den Takt auf den gelockerten Planken eines Pontons und starrte auf seine Angel, die im Wasser hing. Er erkannte ihn wieder. Es war der alte Gärtner, der sie am Tag ihrer Ankunft so grob empfangen hatte. Unbewußt begann er die Fortsetzung des Liedes vor sich hinzusingen: Der Wind in den Pinien löst meinen Gürtel. Meine Laute erklingt auf den fernen Bergen. Die höchste Wahrheit? Lied eines Fischers inmitten des Schilfs. Zwei Kormorane flogen knapp über der Wasseroberfläche über den Fluß. Der alte Mann drehte sich um, musterte Rettichherz mit einem Blick, den dieser gut kannte. Einem Blick von ruhiger Wärme, dem Blick seines Meisters Ho Han. Dann warf er mit einer Handbewegung sein langes weißes Haar zurück und entblößte sein Gesicht Und das war die Erleuchtung. Rettichherz warf sich nieder. Er war in der Finsternis umhergeirrt, während alles von Anfang an klar, nichts verborgen gewesen war. Er hatte nicht zu sehen gewußt, er hatte nicht hören wollen. »Er fischt in der Strömung, und dann ruht er sich aus«, hatte der Alte gesagt, als sie ihn gefragt hatten, wo Meister Gurke sei. Und das war wahr. Meister Gurke, das war er. »Wer kommt da und belästigt mich?« brummte er. Rettichherz stand auf und faltete die Hände.
»Da Ihr die Poesie liebt, Großer Meister, hier ist meine Antwort: Der Schnee ist jungfräulich, ohne jeden Abdruck Im Dunst sieht man die Pinien nicht Ein Vogel pickt die Reste einer Mahlzeit. Auf dem Baum Lumpen: der alte Mönch ist tot.« Der alte Mann wurde umgänglicher. »Und, weiter?« »Ich bin entzückt, Euch bei guter Gesundheit zu sehen, nach all den Jahren.« Der alte Mann wandte den Kopf und begann wieder zu fischen, als wäre er allein. Rettichherz setzte sich hinter ihn auf die Planken. Er fühlte seinen Schmerz nicht mehr. Er war ausgeruht, und heiter dachte er an seine Unzulänglichkeiten. Nichts war jemals verborgen gewesen. Man brauchte nur zu schauen. Ho Han selbst, der dem alten Gärtner doch nie begegnet war, Ho Han hatte gesehen. Und etwas hatte ihn daran gehindert, den falschen Meister Gurke zu fragen. Der Schatten eines Zweifels ... Irgendwann schwamm ein toter Hund vorbei, die Pfoten in die Luft gereckt, davongetragen von der Strömung. Nach einer langen Zeit verließen die beiden Männer den wackeligen Ponton und gingen zu der Schilfhütte, in der der alte Mann lebte. »Stellt Wasser auf, ich werde nachsehen, ob noch etwas Tee da ist«, sagte er. Rettichherz horchte und blies in die Glut. Der Ort lag weit vom Kloster entfernt, abseits von jeglicher Behausung. Die Sumpfvögel schrieen ungeniert. Er glich in vielem der Einsiedelei Fa Chang Ta Meis, des Freundes der Frösche. Der Alte warf eine Handvoll grüner Teeblätter in das Wasser, das zu brodeln begann.
»Wie geht es Ho Han?« fragte er. Da diese Frage von dem echten Meister Gurke kam, war sie kein einfaches Zeichen der Höflichkeit: Er fragte einen Schüler Ho Hans nach der Lehre seines Meisters. »Wie einer Leiche im Ozean«, erwiderte Rettichherz, ohne zu überlegen. »Nehmt diese Tasse Tee«, befahl ihm Meister Gurke. Der Mönch gehorchte, und sie tranken. »Euer Bruder wird bald genesen sein, Großer Meister. Zu dieser Stunde ist ihm das Gegenmittel verabreicht worden.« Der alte Mann nickte schweigend. »Für meinen Bruder gibt es kein Gegenmittel. Wie soll man erklären, daß der Traum tötet? Für eine Traumkrankheit braucht man ein imaginäres Gegenmittel. Was kürzlich geschah, ist nur das Spiegelbild der Vergangenheit.« Rettichherz schaute auf den Boden seiner Tasse. Das Loch in dem geborstenen Dach spiegelte sich auf der Teeoberfläche und ließ Licht eintreten. »Was bedeutet dieses Gedicht, Großer Meister? Heute nacht hat der kalte Wind die Blüten der Chrysanthemen zerstreut. Aus meinem Traum erwacht schaudere ich. Die Dame aus dem Pavillon der Kraniche was ist aus ihr geworden?« Meister Gurke stellte seine Tasse ab. »Manchmal weckt uns der Lärm eines zu Boden fallenden Kissens mitten in der Nacht. Noch ganz erschrocken, gibt der Schläfer diesem die Schuld.« »Ich danke Euch, Großer Meister. Jetzt kann ich in mein Kloster zurückkehren.«
DER PAVILLON DER KRANICHE
Auf dem Rückweg zum Kloster der Strahlenden Tugend begann Rettichherz wieder an Mei zu denken, den Gefangenen in der Mühle, der in Todesängsten darauf wartete, daß er das Gegengift bekam, und er lächelte wie ein Lausbub, der mit dem Streich zufrieden ist, den er jemandem gespielt hat. Mei würde ein komisches Gesicht machen, wenn er erfuhr, daß er statt des Bitteren Atems nur ein starkes Brechmittel geschluckt hatte. Seine Vorstellungskraft und seine Angst zu sterben hatten ihr Übriges getan, sicherer als alle Gifte zusammen. Meister Wei hatte recht gehabt: Sein feiner Kollege war nichts weiter als ein Feigling, der ruhig noch ein bißchen vor Angst und Schrecken zittern konnte. War das nicht für ihn eine einmalige Gelegenheit, zu der weltlichen Wirklichkeit Zugang zu erlangen? Freudig empfing Fisch aus der Leere den Arzt vor dem Pavillon des Kaiserlichen Großerziehers. »Meister Gurke geht es viel besser«, sagte er. »Kann ich ihn besuchen?« »Gewiß! Er hat nach Euch gefragt ...« Die beiden Mönche betraten das Zimmer, in dem der Kaiserliche Großerzieher auf seinem Bett saß und las. Er legte das Blatt weg, das er in der Hand hielt, und empfing sie mit einem geringschätzigen Lächeln. »Sieh an! Da ist ja dieser starrköpfige Mensch aus Ho Han ... Willst du dir deinen Dank abholen?« Rettichherz trat vor, und Fisch aus der Leere fiel auf, daß er sich jeder Respektbezeigung enthielt. »Ich erwarte keinen Dank. Ich habe gerade mit Eurem Bruder gesprochen. Nun bleibt mir nur noch eine Frage, um meine Neugier zu befriedigen: Warum wollte der alte Fürst Euch töten? Wegen der Dame im Pavillon der Kraniche? Oder wegen der schmerzlichen Enttäuschung, die er verspürte, als er entdeckte, daß der junge Fürst nicht sein
Sohn ist?« Fisch aus der Leere war sprachlos angesichts der Ungeheuerlichkeit dieser Anschuldigung. Der Kaiserliche Großerzieher lief dunkelrot an. »Du bist wirklich vom Schlag meines Bruders! Geblendet von dem Guten Gesetz, geflüchtet in das Gute Gesetz, verliebt in das Gute Gesetz!« spie er hervor. »Und ich ... ich bin geblendet von der Liebe, geflüchtet in die Liebe, verliebt in die Liebe! Wo ist da der Unterschied? Kein Mensch hat jemals auch nur den kleinsten Unterschied gesehen! Wenn die Leute mich baten, über das Gute Gesetz zu sprechen, sprach ich zu ihnen von meiner Liebe, für die ich alles aufgegeben habe, und die Reine Erde entfaltete sich vor ihren geblendeten Augen. Wenn man mir eine Frage über die Sutras stellte, antwortete ich, indem ich an meine Liebe dachte, und ich hatte immer das letzte Wort.« »Diesmal werdet Ihr mich nicht täuschen! Das ist nur äußerer Schein! Eure Liebe hat Euch nur fehlgeleitet, Euch immer mehr von den Menschen entfernt, und mehrere sind daran gestorben. Die Mönche hätten alle sterben können, bis auf den letzten, und ihr hättet keinen Finger gerührt noch ein Wort der Wahrheit gesprochen. Das ist das wahre Ergebnis Eurer Auslegung. Das Gute Gesetz dagegen hat noch nie einen Menschen getötet! Wie dem auch sei, Ihr habt es gesagt: Ich bin vom Schlage Eures Bruders ... bei dem Ihr noch nie das letzte Wort gehabt habt.« »Natürlich hatte ich das! Wie hätte ich sonst im Pavillon der Kraniche seine Stelle einnehmen können, als er in Klausur ging? Er mußte sehr wohl zugeben, daß ich recht hatte! Seit der alte Fürst auf die dummen Ratschläge eines Astrologen hin den Plan gefaßt hatte, meine geliebte Goldene Lotusblüte zu heiraten, konnte ich mich ihr nicht mehr nähern. Wir waren zusammen im Dorf der Kormorane aufgewachsen, wir liebten uns von frühester Jugend an, und wir hätten unser Leben glücklich am Wasser verbracht ... Ich
hätte im Fluß gefischt, sie hätte die Schweine gefüttert, wir hätten eine ganze Schar hübscher Kinder gehabt ... Der Himmel hat anders entschieden. Aber weder Berge noch Meere können Liebende trennen!« Auf dem Gesicht des alten Mannes war eine Art Verwirrung zu lesen, und Rettichherz dachte an das, was sein Bruder zu ihm gesagt hatte: vergiftet von dem Traum ... »Mein Bruder, der zwei Jahre älter ist als ich, war ins Kloster gesteckt worden, wo er erstaunliche Fähigkeiten zum Studium und Verständnis des Gesetzes entwickelte. Der alte Fürst traf ihn am Tag seiner hohen Weihe und verliebte sich sofort in ihn. Mein Bruder besaß alles, um ihm zu gefallen: ein gutes Aussehen, einen lebhaften Geist und eine große Leichtigkeit im Verfassen von Gedichten. Damals war der Fürst um die Dreißig, und seine Homosexualität brachte seine Eltern zur Verzweiflung, die nur noch ihn hatten, um ihre Nachkommenschaft zu sichern. Goldene Lotusblüte vertraute mir später an, daß die Frauen ihn derart abstießen, daß er sich niemals ihrer bedienen konnte, weder auf die eine noch auf die andere Weise, denn seine Sinne erregten sich nicht in ihrer Gegenwart ... Mein Bruder wurde bald ein Vertrauter des Fürsten, verweigerte sich ihm aber beharrlich, was seine Begierde nur noch mehr anfachte. Durch ihn kam auch ich in den Palast der Wu ... gerade oft genug, um meine geliebte Goldene Lotusblüte gelegentlich auf einem Balkon zu erblicken. Mit Hilfe tausendfacher List sandten wir uns herzzerreißende Briefe. Ich hatte begonnen, unter der Anleitung meines Bruders wie ein Wilder zu studieren, in der Hoffnung, mir einen Namen zu machen, zum Richterstand Zutritt zu erlangen, mich in die Umgebung des Fürsten einzuschmeicheln, der ein Freund der Gelehrten war ... Ich studierte auch den Buddhismus, nicht aus Überzeugung, sondern in dem Bemühen, wie mein Bruder die Gunst der Wu zu erlangen. Ich studierte unablässig, nahm mir kaum Zeit zum Essen und schlief so wenig wie
möglich, bis sich mein Bruder schließlich ernsthaft Sorgen um mich machte ... Mein lieber Bruder, er konnte nach Belieben in den Räumen des Fürsten ein- und ausgehen und Goldene Lotusblume sehen!« Fisch aus der Leere ließ sich kein Wort seines alten Meisters entgehen, und diese Rede, die überschäumte wie zu lange fermentierter Most aus einem plötzlich geplatzten Faß, wandelte seine Verblüffung in Zorn. »Ihr habt mich getäuscht! Die ganze Zeit habt Ihr uns alle getäuscht!« Meinte er wirklich, was er sagte? Rührte sein Zorn nicht vielmehr daher, daß er sich hatte täuschen lassen? Daß er die ganze Zeit über, da er den Betrug vor Augen hatte, nicht fähig gewesen war, etwas davon zu wittern? Der Kaiserliche Großerzieher schenkte ihm nur einen kurzen, ausdruckslosen Blick. »Ich wußte, daß Goldene Lotusblüte mich verzweifelt brauchte«, fuhr er fort. »Das Leben, das ihr die Ehefrauen und Konkubinen des Fürsten bereiteten, war abscheulich. Man zerbrach sich den Kopf, wie man ihr mit tausend Provokationen und Demütigungen ihre unbedeutende Herkunft in Erinnerung rufen konnte. Zumal die Prophezeiung des Astrologen wie eine Drohung auf ihren Rivalinnen lastete. Sie wußten alle, daß die erste, die den Wu einen Sohn gebären würde, den Titel der Fürstin bekommen würde. Eines Abends hielt ich es nicht mehr aus, und ich fand den Mut, einen Plan in die Tat umzusetzen, der in meinem zermarterten Hirn gekeimt war. Ich verabreichte meinem Bruder ein Schlafmittel und zog, als er schlief, seine geistlichen Gewänder an, nachdem ich mir Bart und Haar abrasiert hatte. Im Halbdunkel war die Ähnlichkeit täuschend. So begab ich mich zu den Räumen des Fürsten, und kein Mensch bemerkte etwas. Ich muß dazu sagen, daß der Fürst an diesem Abend betrunken war und vor Begierde nach einem jungen Pagen entbrannt war. Kaum daß er mich
überhaupt bemerkte ... Leider konnte ich nicht lange von meiner List Gebrauch machen: Zwei Tage darauf mußte der Fürst in die kaiserliche Hauptstadt reisen, wo seine Mutter gestorben war. Er nahm meinen Bruder mit, in der Absicht, ihn dem Kaiser vorzustellen, und natürlich seine Frauen. Ich blieb allein zurück, verzweifelt. Indem ich mich als öffentlicher Schreiber verdingte und mir unterwegs etwas zum Leben suchte, gelangte ich schließlich aus eigenen Mitteln nach Chang Han. Endlich in der Hauptstadt angekommen, erfuhr ich von einem Diener der Wu, daß mein Bruder zu höchstem Wohlstand gelangt war, da man ihm den begehrten Titel des Kaiserlichen Erziehers verliehen hatte ... Ich suchte ihn auf, und er empfing mich freudig. Seit den vier Monaten, die er am Hof war, und trotz der Gunst, die er genoß, lief er immer noch im Kreis herum wie ein Fuchs im Käfig. Mein Bruder ist ein einfacher Mann, der nie den geringsten Ehrgeiz besaß. Der Posten, den ihm seine außergewöhnlichen Fähigkeiten eingebracht hatten, versetzte ihn in eine Lage, aus der er keinen Nutzen zu ziehen wußte. Viele Höflinge drängten sich um ihn, wenn er redete, und versuchten, seine Gunst auf sich zu ziehen, in der Hoffnung, er möge für sie beim Kaiser ein gutes Wort einlegen ... Und er, er erzählte ihnen etwas vom Guten Gesetz! Mit so einer Haltung konnte er sich nur Feinde machen, und ich versäumte nicht, ihn darauf hinzuweisen. Er antwortete mir, daß er sich nur noch eines wünschte: an die Ufer des Flusses Hien zurückzukehren und dort ein ruhiges Leben nach den Regeln Buddhas zu führen.« »Und da habt Ihr die Rollen getauscht«, sagte Rettichherz leise. »Nicht so schnell! So einfach war das nicht. Die Ähnlichkeit zwischen meinem Bruder und mir war nicht vollkommen ... Aber die Trennung von meiner geliebten Goldenen Lotusblüte verlieh mir jegliche Kühnheit. Auf meinen Rat hin verkündete mein Bruder, daß er sich ein Jahr
lang zu einer einsamen Meditation im Park der Wu in Chang Han von der Welt zurückziehen wolle, um Verdienste zum Wohle des Kaisers und seines Beschützers, des Fürsten Wu, anzuhäufen. Gerührt von seinem Eifer, gab ihm der Kaiser seine Zustimmung, und der alte Fürst stellte ihm sogleich den Pavillon der Kraniche zur Verfügung. Dort haben wir unsere Identität getauscht. Ich wußte, daß sich nach einem Jahr kein Höfling mehr so genau an die Züge meines Bruders erinnern würde, um den Tausch zu bemerken. Mein Bruder würde zu seinem geliebten Ufer zurückkehren, und ich würde Zugang zu einem Posten erhalten, der meines Ehrgeizes würdig war... und hätte die Möglichkeit, Goldene Lotusblüte von Zeit zu Zeit zu sehen.« »Das war ein listiger Plan«, gab Rettichherz zu. Kreidebleich vor Zorn hatte Fisch aus der Leere einen Tintenstein gepackt und warf ihn dem alten Mann vor die Füße, wo er in tausend Stücke zerbrach. »Ihr habt den Kaiser betrogen! Ihr habt den Himmel betrogen! Wie konntet Ihr es wagen ...?« Der Kaiserliche Großerzieher schaute ihn an, länger diesmal, aber immer noch völlig ausdruckslos, und sagte nur dieses eine Wort: »Idiot!« Dann wandte er sich wieder an Rettichherz. »Was ich nicht vorhergesehen hatte war, daß meine geliebte Goldene Lotusblüte mich eines Abends heimlich besuchte. Sie glaubte, meinen Bruder vorzufinden, mit dem sie über mich zu reden pflegte, wenn das Leben bei den Wu ihr zu schwer wurde. Sie bemerkte den Rollentausch sofort, wir fielen einander in die Arme und weinten Tränen der Freude und der Liebe ... Im Pavillon der Kraniche erlebte ich die schönsten Augenblicke meines Lebens. Und dann sagte Goldene Lotusblüte mir eines Tages, sie glaube, sie sei schwanger. Dieses Mal stand unser Leben auf dem Spiel. Wir durften nicht zögern. Ich ließ dem Fürsten eine Nachricht zukommen, um ihm mitzuteilen, daß ich eine
Vision bezüglich seiner Nachkommenschaft gehabt hätte. Die Zeit für die Erfüllung des Orakels sei gekommen. Wenn er mit Goldener Lotusblüte schlief, nachdem er einen bestimmten Trank zu sich genommen hatte, den ich ihm geben würde, würde seine Nachkommenschaft gesichert sein. Immer noch um den Fortbestand des Geschlechts der Wu bemüht, gehorchte der Fürst. Er trank den Liebestrank, der in Wahrheit nur ein Schlafmittel war, und Goldene Lotusblüte wußte ihn zu überzeugen, daß er sie in jener Nacht genommen hatte. Acht Monate später gebar sie einen Jungen ... Angesichts dieses Wunders befahl mir der Kaiser, meine Klausur zu verlassen, und verlieh mir den Titel des Kaiserlichen Großerziehers. Ich hatte alles: Glück, Wohlstand und Ruhm! Ich waltete meines Amtes, wie es sich gehörte, der ganze Hof war sich einig in der Feststellung, daß dieser Rückzug von der Welt ein Wunder bewirkt hatte: der linkische, naive Mönch hatte sich in einen würdigen, strengen Herrn des Gesetzes verwandelt. Ein paar Geistliche gestanden mir, so sehr sie damals über meine Haltung bestürzt gewesen seien, als ich aus Wu Hien ankam, so sehr stellte jetzt mein erleuchtetes Betragen jedermann zufrieden. Nur der Zensor Hui legte sich gelegentlich mit mir an. Eines Tages ging er so weit, mich zu fragen, und zwar so, daß jeder es hören konnte, wo ›das Original vom Fluß‹, diesen Spitznamen hatte er meinem Bruder gegeben, hingekommen sei. Er war ein Mann, der zuviel Feingefühl besaß für das, was er damit anfangen konnte ... die Ereignisse sollten das in der Folge zeigen.« Rettichherz wandte den Kopf und machte ein paar Schritte zur Tür hin. Er wollte sich nicht ablenken lassen, aber wenn es etwas gab, wodurch er den Faden der Geschichte verlieren konnte, dann war es diese Bemerkung über den Zensor Hui, seinen Vater. Seinem Gesprächspartner immer noch den Rücken zugewandt, zwang er sich zu sagen: »Fahrt fort.«
»Nach dem Tod des Kaisers gab mir die Clique, die aufgrund der Machenschaften des Eunuchen Fang an die Macht kam, zu verstehen, daß ich meine Talente als Erzieher auch bei dem neuen Herrscher ausüben sollte. Fang hatte seine eigenen Männer unterzubringen. Ich kehrte ins Kloster der Strahlenden Tugend zurück. Dort erfuhr ich, daß mein Bruder sich in einer Einsiedelei am Ufer des Flusses niedergelassen hatte und für ein wenig Reis und Tee die Blumen pflegte. Alle hielten ihn für geistig beschränkt, und kaum jemand erinnerte sich noch daran, daß er mein Bruder war. Die Jahre vergingen, die Geschichte geriet schließlich in Vergessenheit ... Ich war der Schatz dieses Tempels. Wenn die Familie Wu nicht bei Hofe war, kam der Fürst manchmal herunter, um in meinem Pavillon etwas zu trinken und Gedichte zu verfassen. Ich wurde von allen geachtet und konnte weiterhin meine geliebte Goldene Lotusblüte sehen, indem ich die unterirdischen Gänge benutzte, deren Geheimnis mir der Fürst anvertraut hatte.« »Und dann brachte sich Euer Sohn mit Minister Peng in Unannehmlichkeiten«, warf Rettichherz ein. »Und das war, als hätte man den alten Fürsten aus einem Traum geweckt ...« »Es war der Onkel dieses kleinen Richters Ma, einer dieser strengen Gelehrten, die in der Umgebung des Fürsten kreisten, der ihm den Floh ins Ohr zu setzen begann. Immer muß es Leute geben, die sich in Dinge einmischen, die sie nichts angehen! Der Zensor Ma verfolgte seine Idee, die darin bestand, seinen Neffen von den Fürsten Wu adoptieren zu lassen. Um das zu bewerkstelligen, mußte er sie zunächst veranlassen, den Sohn zu verstoßen, dessen liederlicher Lebenswandel die schlimmsten Befürchtungen rechtfertigte ... Die vorzeitige Geburt meines Sohnes lieferte einen soliden Ausgangspunkt, man begann Goldener Lotusblüte angenehme Fragen zu stellen. Auf Drängen dieses Schurken Mei, der seinen eigenen Vorteil darin sah und zweifellos
heimlich Anhänger der Clique Fangs war, beschloß sie, ihn zu ermorden, während das Heil im Schweigen gelegen hätte. Sie wollte den Titel ihres Sohnes retten! Sie ist eine Mutter ...« Es war zu Ende. Er hatte sein Geheimnis gelüftet und seine Leidenschaft in herausforderndem Ton offenbart, und nun schrumpfte er zusammen bei der Erinnerung an jene andere Leidenschaft, von der er ausgeschlossen war und die zuzugeben er sich verpflichtet sah, ohne sie verstehen zu können. Rettichherz seufzte und sagte: »Der Fürst hatte keine Beweise und hätte immer nur gezweifelt, wenn er nicht vergiftet worden wäre. Als er in den letzten Zügen lag, nahmen seine Zweifel ein Ende, und er dachte nur noch daran, sich zu rächen. Er schrieb sein Gedicht und schickte Euch diesen Wein, von dem er wußte, daß er Euch früher oder später umbringen würde. Die zehn Mönche wurden von einem Toten umgebracht. Der Fall ist nicht gerade alltäglich ...« Der alte Mann nickte langsam. »Ich habe lange gebraucht, bis ich verstand«, sagte er. »Als die ersten starben, glaubte ich an eine Alterskrankheit. Danach habe ich an eine Epidemie gedacht. Ich hatte gelobt, keinen Alkohol zu trinken, und ich wachte nicht so genau darüber, was meine Gäste tranken, um mißtrauisch zu werden. Erst nachdem ich selbst von diesem gelben Wein getrunken hatte, habe ich das Gedicht entdeckt. Erst dann habe ich begriffen, und ich brauchte die ersten Symptome nicht abzuwarten, um zu wissen, daß ich verloren war.« »Und Ihr wäret lieber gestorben, als mit mir über diese Sache zu reden.« »Ich liebe Goldene Lotusblüte immer noch. Ich hatte der Dame im Pavillon der Kraniche nur noch eines zu bieten: mein Schweigen.« Rettichherz schaute ihn noch einen kurzen Augenblick an
... und verließ das Zimmer, gefolgt von Fisch aus der Leere. Der Kaiserliche Großerzieher sah ihnen nach. Dann drehte er sich zur Wand. Die Strohsandalen der Mönche klatschten heftig gegen ihre Fersen, als sie mit großen Schritten den Weg zur Mühle hinuntereilten. Rettichherz packte den Sekretär kurz am Arm. »Was werdet Ihr nun tun?« fragte er ihn. Fisch aus der Leere zuckte mit den Schultern. »Ein bißchen reisen, glaube ich ... Auf jeden Fall werde ich nicht hierbleiben.« Rettichherz deutete ein Lächeln an. »Sehen wir nach, wie es unserem Gefangen geht!« »Um ihn brauchen wir uns keine Sorgen mehr zu machen, jetzt, da Ihr ihm seine Arznei gegeben habt.« »Welche Arznei?« »Aber ... die, die Ihr ihm von dem Novizen bringen ließt ... Ihr wißt doch? Der den Wein gestohlen hatte ...« »Ich habe überhaupt nichts geschickt!« Ein schrecklicher Verdacht durchfuhr Rettichherz. Er nahm die Beine in die Hand. »Kommt! Vielleicht ist es noch nicht zu spät!« Und er verdoppelte sein Tempo. »Öffnet die Tür!« rief er schon von weitem den bestürzten Wächtern zu. »Macht auf! Schnell!« Tätowierte Schlange gehorchte und trat beiseite, als der Mönch hineinstürzte. »Mei! Mei!« Ein Röcheln antwortete ihm. Von Krämpfen geschüttelt, wand sich der Alchimist am Boden zwischen zwei Sesamsäcken. Rettichherz eilte zu ihm. »Mei!« wiederholte er verzweifelt. Der Sterbende warf ihm einen verstörten Blick zu. »Sei verflucht, An Hui!« murmelte er. »Verflucht ...! Du
hast mich betrogen!« »Ich kann nichts dafür! Sagt mir, wo Ihr Schmerzen habt, vielleicht kann ich Euch noch retten!« Mei schüttelte den Kopf. »Unnötig ... Das ist ein starkes Gift ... Schierling, glaube ich ...« Rettichherz roch seinen Atem und fühlte seinen Puls. Der Alchimist hatte recht. Sein Puls flatterte, und die Krämpfe, die seine Glieder schüttelten, wurden immer heftiger. »Würdiger Schüler von Wei, was?« keuchte er. »Ich hoffe, du machst dir Notizen ...« Rettichherz hielt seine Hände fest. »Habt Ihr einen letzten Willen?« »Ich hoffe, daß Fang dich irgendwann zu fassen kriegt, Verfluchter ... Er sucht immer noch seine Perlen, die schwarzen Perlen der Hui ... Das Geheimnis ...« Ein letzter Krampf schüttelte seinen ganzen Körper, und seine Hand schloß sich um die Rettichherz’, als wolle er ihn mit sich in den Tod ziehen. Der Mönch befreite sich aus seiner Umklammerung und schloß die Augen des Alchimisten. »Oh erhabener Buddha! Dieser Mann ist tot. Wer wird sich bemühen, ihn zu seiner Erweckung zu geleiten?« Fisch aus der Leere trat gemessenen Schrittes näher. »Wer hat ihn getötet?« Rettichherz richtete sich langsam auf. »Ich lege überhaupt keinen Wert darauf, es zu erfahren ... Es ist zu niederträchtig. Jetzt werde ich nicht mehr stehenbleiben, bevor ich wieder in Ho Han bin.« Er verließ die Mühle, ließ Fisch aus der Leere und die Räuber stehen und ging in das Gästehaus, um seine Sachen zusammenzusuchen. Als er wieder herauskam, wartete der ehemalige Sekretär des Kaiserlichen Großerziehers auf ihn, in Gesellschaft von Aufrechtem Elefant. »Trotzdem müßten wir uns von dem Abt verabschieden«,
sagte letzterer. »Du kannst nicht einfach so weggehen ...« Rettichherz schaute ihm gerade in die Augen. »Ihr habt den Abt gesehen, während ich schlief. Was habt Ihr ihm erzählt?« »Aber ...« »Es ist besser, wenn ich allein reise, Ehrwürdiger. Ich brauche etwas Ruhe ...« Aufrechter Elefant fiel das Kinn herunter, und seine Schultern sackten nach vorn. »Wie du möchtest ... Sag Ho Han, daß ich Fisch aus der Leere ein Stück des Wegs begleite, mit dem Mönch aus Kanton, vielleicht bis nach Shao Lin ...« »Das werde ich tun.« Er mußte gehen. Wenn er noch einen Augenblick länger blieb, lief er Gefahr, mit dem ehemaligen General Worte zu wechseln, die beide danach bereuen würden. Und das würde zu nichts führen. Rettichherz konnte nicht mit Aufrechtem Elefant einer Meinung sein, selbst wenn dieser geglaubt hatte, das Richtige zu tun, indem er Mei aufs höchste vor dem Abt belastet hatte, der das Kloster der Strahlenden Tugend leitete. Er grüßte sie mit gefalteten Händen. »Gute Reise, Ehrwürdige.« »Gute Reise«, erwiderten sie. Rettichherz ging zwischen ihnen durch und lenkte seine Schritte zum Klosterportal. Dort schien ein junger Mönch auf ihn zu warten und sprach ilm an. »Ihr seid doch der ehrwürdige Doktor aus Ho Han? Der alte Fischer, der die Blumen pflegt, bat mich, Euch das zu übergeben. Nehmt!Der Mönch drückte ilun ein in armseliges Papier gewickeltes Päckchen in die Hand. »Danke.« In dem sonnendurchglühten Hof drängten sich die Gläubigen vor den Ständen, um Weihrauch oder Verdienste zu erwerben, während sich weiter entfernt die kehligen Stimmen der Mönche erhoben, die immer noch unter der
unerschütterlichen Leitung des Zeremonienmeisters ihre Dharanis rezitierten.
DER LEERE BECHER Auch wenn Rettichherz außer Atem kam, als er den letzten Steilweg hinaufkletterte, der nach Ho Han führte, fand er in der Luft der Berge eine Leichtigkeit, die er, wie ihm schien, seit langem nicht mehr genossen hatte. Der Blick ging weit über die Täler, in denen noch ein paar graue Wolken hingen. Die Pflaumenzeit war bald vorbei. Der Regen würde erst am Ende des Sommers wiederkommen, wenn die Taifune vorbeizogen. Der Weg schlängelte sich durch mit blühenden Rhododendren und Wildrosen übersäte Wiesen zum Kloster, das weit oben auf einem grünen Hochplateau lag, zwischen drei Gipfeln, die noch großartiger und noch schroffer waren als die Statuen, die den Tempel der Strahlenden Tugend bewachten. Die Gegenwart war hier die gleiche wie in Wu Hien oder in Chang Han oder jenseits der Meere, und doch war sie anders, eine ewige Gegenwart, die weder durch Trauer um die Vergangenheit noch durch quälende Berechnungen für die Zukunft vergiftet wurde. Oder fast ... Rettichherz begegnete einem halben Dutzend Mönchen, die sich in die Teegärten begaben. Man grüßte einander, ohne stehenzubleiben. An der Tür der Krankenstation standen Bauern Schlange. Lautere Heiterkeit mußte am Werk sein. Einige Patienten, die warteten, bis sie an die Reihe kamen, erkannten ihn und verbeugten sich. Er erwiderte ihren Gruß und ging zum Tempel, um seine Lieblings-Bodhisattvas, Manjusri und Kuan Yin, zu begrüßen.
Ein Mönch kniete dort auf dem Boden und war gerade dabei, die Holzplanken sorgfältig mit einem Scheuerlappen aufzuwischen. Beim Geräusch nackter Fülle auf den Dielen hob er den Kopf. Rettichherz verneigte sich; es war Meister Ho Han. »Ich bin froh, Euch bei guter Gesundheit zu sehen, Meister.« Ha Han wrang den Lappen über dem Eimer aus, ohne ihm zu antworten. Eine furchtbare Enttäuschung trieb Rettichherz Tränen in die Augen. Er faltete die Hände und wandte sich zu den Statuen um. »Oh Manjusri! Nun, da ich wieder hierher zurückgekehrt bin, merke ich, daß ich nicht mehr Gutes getan habe als eine Ziege, die mit Steinwürfen aus einem Gemüsegarten gejagt wird. Oh Kuan Yin! Diejenigen, die ein herausragendes Wissen besitzen, haben sich dessen bedient, um Verbrechen zu begehen, und diejenigen, die nichts wußten, haben dies nicht genutzt, um nachzuforschen und zur Wahrheit zu gelangen. Welches Mitgefühl kann ich empfinden?« Während dieses Geständnisses, das ihm sein Schüler aufzwang, hatte Ho Han seinen Putzlappen beiseite gelegt und sich aufgerichtet. Rettichherz begann mit den rituellen Kniefällen. »He! Du! Siehst du nicht, daß du alles dreckig machst, was ich gerade geputzt habe?« Rettichherz wich zurück und schaute sich um, wußte nicht mehr, wohin er die Füße setzen sollte. Ho Han hob anklagend einen Finger. »Solltest du vergessen haben, daß du dich nach einer Reise zuerst bei dem Meister melden sollst? Geh und mache mit Sesamkorn einen Termin aus! ... Nachdem du dich gewaschen hast, natürlich! Und ich hoffe, du hast nicht vergessen, mir ein Geschenk mitzubringen! Erst dann kannst du hierherkommen und nach Herzenslust vor diesen vergoldeten Holzkerlen herumblöken. Und nun zieh ab!«
Und als der Mönch zu gehorchen zögerte, kam der Putzlappen zwei Fingerbreit an seinem Gesicht vorbeigeflogen und klatschte gegen einen Pfeiler. »Raus!« Rettichherz rannte die Treppe hinunter, immer vier Stufen auf einmal nehmend, raffte hastig seine Sandalen und sein Gepäck zusammen und flüchtete in die Krankenstation. Dort wurde ihm bewußt, daß er über und über mit einer grauen, schweißverklebten Staubschicht bedeckt war. Er lief zum Ufer des Sturzbaches, der vom Quin Han herunterkam, einem der drei Gipfel, die das Kloster umgaben, und wusch sich dort von Kopf bis Fuß, bis seine Haut vor Kälte blau wurde. Zurück in der Krankenstation, machte er sich Tee und wärmte seine tauben Finger an der dampfenden Tasse. Mit dem restlichen heißen Wasser rasierte er sich und war gerade rechtzeitig fertig, um dem Ruf des Metalls zu folgen, das die Mönche zum Mittagessen ins Refektorium rief - Reis und Gemüse in Salzwasser. Wie gewöhnlich. Ho Hans Sekretär verließ als erster den Speisesaal. Rettichherz stürzte hinter ihm her. »Wann könnte ich den Meister besuchen, Ehrwürdiger?« fragte er ihn. »Wenn ich mich nicht irre, hat er mir etwas dazu gesagt ... Ach ja! Kommt bei Sonnenuntergang. Und vergeßt sein Geschenk nicht!« Bildete er es sich nur ein? Rettichherz kam es vor, als lachte der Sekretär sich ins Fäustchen. Und was war das für eine Geschichte mit dem Geschenk? Er hatte das Kloster der Strahlenden Tugend so schnell verlassen, daß er nicht einmal daran gedacht hatte, dem Meister etwas mitzubringen. Aber was wollte er nun, dieser alte Uhu? Sollte er ins Tal, nach Wu Hien zurückkehren? Selbst wenn der Kaiser ihm das befehlen würde, er würde nicht gehorchen. Nie mehr würde er das Kloster von Ho Han verlassen!
Und wie um diesem Beschluß Nachdruck zu verleihen, verbringt er den Nachmittag damit, die Krankenstation von oben bis unten aufzuräumen, eine Arbeit, die er sich immer wieder vorgenommen hatte ... Da sein Gehilfe sich nicht zeigt, muß erst Sesamkorn an seine Tür klopfen und ihn an seine Verabredung erinnern, damit er bemerkt, daß es schon dunkel wird. Hastig zieht er ein sauberes Gewandt und seinen Kesa über, geht hinaus und bleibt auf der Schwelle stehen: Gerade fällt ihm noch ein, daß der Meister auf sein Geschenk wartet. Er leert den Inhalt seiner Tasche aus. Aus dem Kloster der Strahlenden Tugend hat er nur einen Rest Weihrauch, die Tael-Rolle, die ihm die Fürstin Wu gegeben hat, und das Päckchen mitgebracht, das ihm der junge Mönch von Meister Gurke, dem Eremiten am Flußufer, ausgehändigt hat. Wie es kommt, stopft er alles in seinen Ärmel und eilt, so schnell ihn seine Füße tragen können, zum Pavillon des Meisters. Ho Han sitzt auf der Terrasse, die auf die Ausläufer des Tse Han hinausgeht, den westlichsten Gipfel. Die Aussicht ist herrlich. Ein großer Mond geht auf und taucht die Berge in silbernes Licht. »Setz dich, Rettichherz. Also, was hast du mir mitgebracht?« Der Meister trägt eine beunruhigende Heiterkeit zur Schau. Niemals hatte Rettichherz erlebt, daß er Wert auf ein Geschenk legte, er, der gewöhnlich widerwillig die Geschenke empfängt, die der Unterpräfekt und der Präfekt ihm regelmäßig zu schicken sich gehalten sehen. »Diese Leute machen das nur, um ein Pfund unseres berühmten grünen Tees zu bekommen«, beklagt er sich. »Und außerdem bin ich verpflichtet, ihnen einen Dankesbrief zu schreiben, den sie dann überall herumzeigen!« Der Arzt kramt in seinem Ärmel und zieht das heraus, was er eine Minute zuvor dort hineingesteckt hatte, breitet
den Weihrauchrest, die Taels und das armselige zerknitterte Päckchen auf dem Tisch aus. Ho Han zeigt mit dem Finger auf letzteres. »Weißt du, was da drin ist?« Rettichherz schüttelt vorsichtig den Kopf. Er hat gesehen, daß der Meister seinen Stock in Reichweite hat. »Nun gut, mach es auf!« Rettichherz löst die Umhüllung. Ein Blatt Reispapier fällt heraus, gefolgt von einer Schachtel aus geflochtenen Gräsern, die ebenso leer wie schön ist. Ho Han nimmt das Papier. »Laß mal sehen ... ›An den Meister von Ho Han, von einem alten Reiher, durch Vermittlung eines jungen Kormorans.‹ Oh! Da ist ein Gedicht. Sesamkorn, bring Reiswein. Den braucht man, wenn man Gedichte lesen will...« Der Sekretär, bereits mit einer dampfenden Karaffe und drei Bechern von respektabler Größe beladen, stellt ein Tablett vor ihn hin. »Du wirst uns das Gedicht vorlesen«, sagte Ho Han zu Rettichherz. »Aber zuerst leere einen Becher, damit du lernst, was es heißt, zu spät zu kommen!« Rettichherz trinkt folgsam. »Und noch einen, damit du lernst, mir sofort mein Geschenk zu geben, anstatt mir diesen Mist vor die Nase zu halten.« Er deutete auf den Weihrauch und die Rolle Goldstücke. Rettichherz trinkt seinen Becher, seine Gefährten leeren die ihren auf einen Zug. Der heiße Wein zusammen mit der warmen Luft treibt eine Hitzewelle in seine Wangen. Er atmet tief ein und liest mit lauter Stimme, im Licht einer Lampe, die Sesamkorn herangerückt hat: Wenn die Nacht kommt, wache ich am Ufer des Flusses. Ho Han dagegen lebt in den moosigen Bergen.
Der Rinderhirte dort oben strahlt über meinem geborstenen Dach. Über die drei Gipfel von Ho Han steigt der Mond herab. Duft des Wassers, Geruch des Windes. Ein großes Schweigen tritt ein. Dann schüttelt sich Ho Han. »Nicht schlecht ... ich glaube, dieser junge Dummkopf hat noch einen Becher verdient. Und ich auch.« Kühn geworden durch die aufsteigende Trunkenheit, wagt Rettichherz es endlich, die Frage zu stellen, die ihm auf der Zunge brennt. »Wollt Ihr denn nicht wissen, Meister, was im Kloster der Strahlenden Tugend geschehen ist? Oder was aus Aufrechtem Elefant geworden ist?« Ho Han beginnt zu lachen. »Gestern ist ein Pilger hier vorbeigekommen und hat uns von dem großen heilkundigen Mönch erzählt, der in Wu Hien Wunder gewirkt hat. Während du auf den Wegen herumgebummelt und dich bemitleidet hast, waren andere schneller als du ... Nun werde ich Euch ein Gedicht aufsagen! Einen Fisch im Schnabel, auf einem alten Baumstumpf sitzend, Sieht er die Leichen im Fluß vorbeitreiben, Zwischen den weißen Lotusblüten, ohne zu verstehen, Allein und aufrecht unter den schreienden Affen. Schade! Er lacht nicht darüber, genauso lächerlich zu sein. Die drei Mönche brechen in Gelächter aus. Rettichherz hebt den Finger. »Ihr habt ganz recht, wenn Ihr Euch über mich lustig macht, mein Meister, aber seid Zeuge, daß ich heute nacht den Eid ablege, das Kloster nie mehr zu verlassen! Und nun
kommt mein Gedicht: Ein toter Hund schwimmt auf dem Wasser dahin. Weit weg verschlingt der Ozean den Fluß in einem Zug, und zehn oder dreizehn treibende Leichen. Die meckernde Stimme des alten Fischers besänftigt die blutrünstigen Tiger. Die Wolken auf den blauen Felsen verlassen das Tal im Gänsemarsch. Ho Han schüttelt mitleidig den Kopf. »Lieber Freund, nicht einmal, wenn man sich am Wasser eines Rinnsals verschluckt und hustet, muß man den Versen derart Gewalt antun! Noch einen Becher für deine Mühe!« »Ein Fluß oder ein Rinnsal, was ist der Unterschied?« ruft Rettichherz aus. »Für mich gibt es keinen. Aber für dich handelt es sich noch um zwei getrennte Welten, was deine Lippen auch dazu sagen mögen.« Gekränkt trinkt Rettichherz seinen Becher auf einen Zug aus und stellt ihn umgedreht vor seinen Meister, der unmerklich zu lächeln beginnt.