Bernhard Borge
Der Nachtmensch
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Bernhard Borge
Der Nachtmensch
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In dem einsamen Haus am Fjord haben sich junge Leute zu einem fröhlichen Wochenende getroffen. Sie ahnen nicht, daß unter ihnen ein wahnsinniger Mörder auf das nächste Opfer lauert... ISBN 3 548 10094 5 Titel der norwegischen Originalausgabe: Nattmennesket Übersetzt von Karl Christiansen Januar 1981, Verlag Ullstein Umschlagentwurf: Hansbernd Lindemann Umschlagfoto: Sabine Reinhardt, Overath
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Inhaltsverzeichnis Vorwort ..................................................................................4 ERSTES KAPITEL Worin Bugge Gesichtspunkte hat..............................................5 ZWEITES KAPITEL Worin ich aufs Land reise, um einige nette Leute zu treffen......17 DRITTES KAPITEL Worin ich mich verliebe .........................................................27 VIERTES KAPITEL Worin die Menschen nicht mehr so nett sind ............................37 FÜNFTES KAPITEL Worin die Verwirrung allgemein ist ........................................46 SECHSTES KAPITEL Worin sich hier und da einige Lichtstreifen zeigen ...................56 SIEBENTES KAPITEL Worin Hammer eine Spur findet, während Bugge Kreuzworträtsel löst........................................................................................69 ACHTES KAPITEL Worin Sonja einen Traum erzählt ............................................80 NEUNTES KAPITEL Worin sechs Alibis zerfleddern und Bugge ein neues findet......91 ZEHNTES KAPITEL Worin Lundmo explodiert .................................................... 102 ELFTES KAPITEL Worin die Frauen sich unter meinen Schutz drängen .............. 114 ZWÖLFTES KAPITEL Worin der Mörder wieder zuschlägt, aber nicht so viel Glück hat wie beim ersten Male ........................................................... 125 DREIZEHNTES KAPITEL
Worin Hammer seiner Sache sicher ist .................................. 136 VIERZEHNTES KAPITEL Worin das Unglaubliche geschieht ........................................ 147 FÜNFZEHNTES KAPITEL Worin Bugge analysiert........................................................ 158
Vorwort Wenn ich es hiermit unternehme, den Fall Gårholm zu veröffentlichen, so bin ich mir der Fragwürdigkeit meines Unterfangens völlig bewußt. Ich bin sicherlich nicht der rechte Mann, eine übersichtliche und wissenschaftlich korrekte Darstellung dieses psychologischen Dramas zu vermitteln. Wahrscheinlich setze ich mich damit einer vernichtenden Kritik der Fachleute aus und sollte anständigerweise meine Unterlagen einem routinierteren Kollegen überlassen. Wenn ich mich trotzdem erdreiste, an diese Aufgabe heranzugehen, so sind daran zwei Umstände schuld: erstens mein persönlicher Anteil an den Geschehnissen, zweitens die besondere Eigenart des Falles. Meiner Meinung nach nimmt der Fall Gårholm eine Sonderstellung in unserer Kriminalgeschichte ein, und vor allem bezeichnet seine Aufklärung etwas sensationell Neues. Einen solchen Stoff kann ein ehrgeiziger Schriftsteller unmöglich aus der Hand geben. Die meisten meiner Leser werden hier und da ein Fragezeichen an den Rand setzen, um so zu markieren, daß ihnen hier der Verstand stillstehe. Ihnen zum Trost möchte ich nur sagen, daß ich selbst nichts davon begriffen habe. Bernhard Borge
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ERSTES KAPITEL Worin Bugge Gesichtspunkte hat Es war einer jener blauen, sanften Abende gegen Ende April. Ich erinnere mich besonders gut an das Wetter; es lag etwas Neues und Erwartungsvolles in der Luft, ein herber Rauchgeruch, eine heimliche Verheißung von Sommer. Wir hatten daran gedacht, auszugehen und den kommenden Frühling mit einigen Gläsern von diesem oder jenem zu feiern, aber dann konnten wir uns nicht über das Restaurant einigen. Bugge konnte die Kellner bei Blom nicht ausstehen, und Hammer erklärte, daß der Grandkeller ihm zu kalt sei. »Also gehen wir zu mir«, sagte Storm. Und das taten wir. Storm bewohnte ein Junggesellenquartier draußen am Drammensvei, urgemütlich, ein Zimmer mit Küchenbenutzung. Er kam mit seinen Wirtsleuten gut aus. So pflegten wir uns abends bei ihm aufzuhalten, es uns in den Chesterfield-Sesseln bequem zu machen und zu gemeinsamer Freude und Erheiterung abwesende Freunde durchzuhecheln. Storm selbst ist Medizinstudent und interessiert sich folglich nicht für Medizin, im übrigen ist er jedoch ein intelligenter und netter Junge. Er ist etwas jünger als wir anderen: sechsundzwanzig Jahre, und versteht es, die Zeit zwischen dem ersten und zweiten Examen totzuschlagen. Einer seiner besonderen Vorzüge besteht darin, daß sein Vater Prozente auf Whisky erhält. In den letzten Jahren vertrat er Carnegies Rare Old Liqueur, falls Ihnen das ein Begriff ist. »Trinkt«, sagt stud. med. Storm. »Man muß einen Panzer von Whisky um sein Herz legen.« Das hat er aus Hamsun, denn es kommt vor, daß Mediziner literarisch gebildet sind. -5-
Wir waren eingetreten und hatten abgelegt. Storm trat an den kleinen Schrank neben dem Diwan und öffnete ihn. Es war jener kleine Schrank, den alle seine Bekannten ehren und lieben und der ihm viele außergewöhnlich gute und anhängliche Freunde verschafft hat. Er nahm einige kleine, vierkantige Flaschen heraus und setzte sie auf den Tisch. Die klare Flüssigkeit hatte einen delikaten, goldenen Glanz. »Fein!« sagte Hammer. »Man könnte ihn schon der Farbe wegen trinken.« »Ich werde die Gläser holen«, sagte Storm. Eigentlich hat er in diesem Buch nichts zu suchen; aber ich habe ihn mit in dieses Kapitel hineingenommen. Jener Abend bei ihm war nämlich das Vorspiel zu den späteren phantastischen Ereignissen, in die wir anderen verwickelt wurden. Hammer, Bugge und ich. Hammer ist ein frischgebackener Polizeiinspektor. Er hat nichts von diesem Bürokratischen, Vierkantigen an sich, das sonst die Männer des Staates auszeichnet. Im Gegenteil ist er ein ausgesprochen elastischer Typ, der es versteht, sich den Menschen anzupassen, mit denen er zusammenkommt, und den Situationen, in die er hineingerät. Er besitzt außerdem Anlagen für sein Fach. Stark wie ein Ochse, intelligent und mit einem guten Schuß spekulativer Phantasie. Seine letzte Beförderung hatte er der Erledigung des Sogne-Mordfalles zu verdanken, einer Leistung, die übereinstimmend als hervorragend bezeichnet wurde. Vielleicht hat er nicht den gleichen Sinn für das Paradoxe und Spitzfindige wie Bugge, doch hat er meiner Meinung nach etwas vom geborenen Detektiv. Kai Bugge ist Psychoanalytiker. Er nennt sich Therapeut und hat viel zu tun mit Leuten, die ein verkniffenes Gesicht haben, an Zwangsvorstellungen leiden und keine Straße überqueren können, ohne von tödlicher Furcht gepackt zu werden. Er genießt eine ungeheure Beliebtheit unter den Damen der Stadt, -6-
vor allem unter den etwas herbstlichen Jahrgängen. Alljährlich gibt es etwa zwanzig bis dreißig Ehemänner, welche finden, sie hätten nicht besonders viel von dem - na, Sie wissen schon, und dann schicken sie ihre Frauen zu Bugge. Anfangs wollen die Frauen nicht, aber dann wollen sie, und Bugge ist nach und nach eine Art lokaler Gottheit geworden, deren Gemeinde sich vom Parkvei nach Smestad, vom Drammensvei bis zum BisletStadion erstreckt. Kürzlich erklärte Frau Konsul Meyer auf einer Gesellschaft - entschuldigen Sie die Indiskretion -, es sei so schön, frei von Hemmungen zu sein, und so interessant, auf Bugges Diwan zu liegen und alles zu erzählen, was sie Meyer nicht zu sagen wagte. Bugge selbst sitzt in einem schneeweißen Arztkittel da und hört mit schläfrigen, intelligenten Augen und einem empfindsamen und verständnisvollen Munde zu. Diesen Kreuzzug gegen die Frigidität der Westendfrau faßt er jedoch nicht als seinen eigentlichen Beruf auf. Sein Spezialgebiet ist die Psychologie des Verbrechens. Vor einigen Jahren schrieb er ein Buch über »Das Verbrechen als Erlösung«, ein Buch, von dem ich herzlich wenig verstehe, und das wenige, was ich verstehe, erschreckt mich. Ich glaube, Eric Linklater hat den Ausspruch getan: Trinken, das ist, als ob man auf einen hohen Berg steigt. Nach zwei und einem halben Glas Whisky war ich schon ein gutes Stück auf dem Wege. Das Tiefland war im Begriffe zu verschwinden, Hügel und mittlere Höhen lagen unter mir, die Luft war rein und von Sonne gesättigt. Ich fühlte den Weltraum unmittelbar über meinem Kopfe; ich brauchte nur die Hand auszustrecken, so war er da. In diesem Zustand überkommt einen also eine unwiderstehliche Lust, von sich selbst zu reden. Ganz abgesehen davon, daß man immer eine unwiderstehliche Lust hat, von sich selbst zu reden. Ich blickte in mein Glas, worin sich's eine Hälfte Rare Old bei einer anderen Hälfte kalten Selters wohl sein ließ. Dann nahm ich es zwischen zwei Finger und führte es schräg zum Munde. -7-
»Wie findet ihr mein letztes Buch?« sagte ich. »Wirklich ausgezeichnet«, sagte Hammer. »Durchaus mit Leslie Charteris auf einer Höhe.« »Auch meine Meinung«, sagte Storm. »Es ist das Beste, was du bisher geschrieben hast. Besonders gefiel mir das Kapitel, wo Theodor Todd alle Bilder aus der Nationalgalerie stiehlt. Das ist eine Perle der norwegischen Literatur.« Bugge blies einige schwere Rauchringe zur Decke hinauf. »Ich möchte gern auch deine Meinung hören«, sagte ich. »Du weißt, daß ich dich für einen schlechten Schriftsteller halte«, sagte er. »Deine Bücher enthalten keine Spur Psychologie, und darum sind sie völlig uninteressant.« Damit hatte ich gerechnet. »Vor allem dein letztes Buch war miserabel. Eine langweilige und anmaßende Anhäufung von Belanglosigkeiten. Es wirkte völlig senil.« »Du meinst, daß ich mich an ein schlechtes Publikum wende?« »So ungefähr.« »Aber Herrgott«, sagte ich. »Man muß ja schlecht schreiben, wenn man davon leben soll. Was hilft es, daß man für die Ewigkeit schreibt, wenn man nicht für den Gyldendalverlag schreibt?« Ich merkte, daß dies saß, und zündete mit ruhigen, gemessenen Bewegungen eine Zigarette an. »Außerdem schreibe ich keine schöngeistigen Bücher. Ich schreibe Kriminalromane.« Bugge lachte. »Da haben wir's«, sagte er. »Du bist entschuldigt. Du schreibst Kriminalromane. Aber warum, zum Teufel, sollen die schlechtesten Autoren das Monopol für die Kriminalliteratur -8-
haben? Meiner Meinung nach ist der Kriminalroman eine der würdigsten und bedeutendsten Formen der Literatur und außerdem die einzige, die wirkliche Entwicklungsmöglichkeiten hat.« »Das ist ein tiefgründiges Paradoxon«, sagte Storm. »Laßt mich meine These verteidigen. Erstens erfordert der Kriminalroman mehr konstruktive Phantasie, mehr Sinn für Komposition und die Ökonomie der Mittel als irgendeine andere Literaturform. Jeder beliebige Petersen oder Olsen kann Schilderungen aus dem Volksleben bringen und einige hundert Seiten naturalistischen Alltags zusammenschmieren. Der Kriminalschriftsteller dagegen muß bündig sein; er muß Sinn haben für die Mathematik der Einzelheiten, denn alles muß in ein streng abgegrenztes Ganzes passen und auf eine ganz bestimmte Auflösung hinzielen. Nun wohl, das ist eine Bagatelle. Wichtiger ist: das Gebiet des Kriminalromans ist psychologisch am interessantesten. Nämlich das Individuum in offenem Konflikt mit Moral und Gesellschaft, der Zusammenbruch sorgfältig aufgebauter Hemmungen und Verschanzungen, der Zusammenbruch der ganzen Kultur in einem einzelnen Menschen. Wir brauchen alles, was wir vom Seelenleben wissen, wenn wir eine solche Katastrophe verstehen wollen. Und trotzdem interessiert sich die Literatur nicht dafür!« »Du willst doch nicht behaupten«, sagte Storm, »daß all der Schund, der in gelben und grünen Umschlägen auf den Markt geschleudert wird, auch nur das geringste mit Literatur zu tun hat?« »Fällt mir gar nicht ein«, sagte Bugge. »Das hat aber auch nichts mit Kriminalliteratur zu tun. Der erste Kriminalroman der Welt ist überhaupt noch nicht geschrieben.« Storm lachte. »Bravo«, sagte er. »Nur so weiter. Es ist noch mehr Whisky im Schrank.« -9-
Bugge atmete tief ein. »Nehmen wir einmal einen Kriminalschriftsteller von der üblichen schlechten Qualität, zum Beispiel unseren Freund Bernhard Borge.« Er nickte mir freundlich zu. »Worin besteht seine Technik? Er führt uns in eine Situation, wo sich, sagen wir einmal, ein Mord ereignet hat. Eine ganze Anzahl von Personen wird augenblicklich verdächtigt; der Verfasser gibt sich alle Mühe, auszupinseln, wie sie alle einen ganzen Haufen Mordmotive haben; man hat das Gefühl, sie seien seit Jahren schon mit dem Dolch im Gewande einhergegangen und haben nur auf die Gelegenheit gewartet. Aber dann wird plötzlich der Schuldige herausgepickt aus der Mörderbande, peng! Es war Kandidat Evensen aus Bergen. Das kleine, bleiche, anämische Kerlchen, dem wir nie etwas Derartiges zugetraut hätten, das sich aber für eine alte Gefängnisstrafe zu rächen hatte. Und dann sitzt man da mit einem faden Geschmack im Munde: warum gerade er? Warum nicht ebensogut der rotwangige und krakeelsüchtige Direktor Gundersen, der von seiner Frau betrogen wird? Oder Prokurist Winge mit dem gehetzten Blick und den zitternden Händen, der seit drei Jahren monatlich um 500 Kronen erpreßt wird?« Ich war irritiert. »Die Hauptsache ist«, sagte ich, »daß der Mörder auf jeden Fall ein Motiv hat. Einmal kann das Motiv Eifersucht sein, ein andermal Erpressung. Man kann nicht gut verlangen, daß mehr als ein Mörder da ist.« »Du meinst, du hättest das Rätsel gelöst«, sagte Bugge, »wenn du feststellst, daß das Mordmotiv Eifersucht war, Erpressung oder eine alte Gefängnisstrafe. Aber da, wo die Kriminalromane aufhören, fängt meine Neugierde erst an. Wieso tötet man aus Eifersucht? Es kommt ja täglich vor, daß jemand nach Hause kommt und seine Frau mit einem lieben Freund auf der Bettkante überrascht, ohne daß er deswegen ins Nebenzimmer eilt und das Gewehr von der Wand nimmt. -10-
Erpressung gehört zur Tagesordnung, aber es kommt sehr selten vor, daß aus diesem Grunde gemordet wird. Oder richtiger gesagt: man mordet nie aus diesem Grunde. Die Kriminalschriftsteller sind auf dem Holzwege, wenn sie glauben, daß die Psychologie des Verbrechens so seicht sei.« Hammer beugte sich vor. »So ein Stuß«, sagte er. »Ich habe schließlich mit einigen Mordsachen zu tun gehabt, und es waren immer solche banalen Motive, die den Menschen zur Tat treiben. Im Sogne-Mord zum Beispiel war es ja gerade ein verzweifelter Ehemann, der den Bettgenossen seiner Frau regelrecht köpfte.« »Fehlzündung«, sagte Bugge. »Was ich sagen wollte, ist, daß das angebliche ›Mordmotiv‹ der Kriminalromane und Polizeiberichte nur der äußere Anlaß ist, eine Fassade, die im Grunde genommen herzlich wenig besagt. Die wirkliche Ursache liegt tiefer; sie hat ihre Wurzeln in der Vorgeschichte des Mörders, vor allem in seiner Kindheit. Ich muß leider feststellen, daß ich mit euch Kriminalisten wenig zufrieden bin; ihr hört doch mit der Arbeit auf, wo sie erst ernstlich beginnen sollte, dort, wo sie tatsächlich interessant wird.« »Hör mal«, sagte Hammer. Das Gespräch fing an, ihn mitzureißen. »Was du da sagst, ist ja recht amüsant, aber ich kann nicht verstehen, was das mit unserer Arbeit zu tun haben soll. Unsere Aufgabe ist es ja gerade, herauszufinden, wer das Verbrechen begangen hat, nicht weshalb er es begangen hat. Wir müssen eine Fülle von Material und Indizien sammeln und haben keine Zeit, psychologische Abhandlungen zu verfassen. Der Witz liegt darin, daß die Sicherheit der Gesellschaft gewahrt wird und daß diese Sicherung so schnell und präzise wie möglich erfolgt.« »Sehr klug bemerkt«, sagte Bugge. »Doch ist der Gesellschaft ja wohl nicht damit gedient, daß schnelle und präzise Kriminalbeamte Verbrechen aufklären, ohne daß man jemals -11-
versteht, was Verbrechen sind. Wäre es nicht besser, wenn man ein wenig von dem, was geschieht, verstünde, so daß man ein andermal das Schlimmste verhüten kann? Es wäre dann sicherer, nach Anbruch der Dunkelheit auf der Straße zu gehen, und es wäre billiger für den Staat. Ganz abgesehen davon, daß mir Menschen leid tun, die mit geschorenem Haar auf einer Holzpritsche sitzen müssen und mit leerem Blick vor sich hinstarren.« »Ich stimme ganz mit dir überein«, sagte ich. »Selbstverständlich müßte etwas zur Verhütung von Verbrechen getan werden. Soziale Reformen und so weiter. Ihr Psychologen könntet ja die Verbrechertypen studieren und praktische Vorschläge machen. Aber die polizeiliche Arbeitsmethode braucht wohl nicht geändert zu werden. Oder hättest du etwas vorzuschlagen?« »Mit Vergnügen«, sagte Bugge. »Wenn ich ein Polizeibeamter wäre, dann würde ich einen ganz neuen Detektiv-Typ lancieren. Das heißt, eigentlich bin ich in meinem Fach als Psychoanalytiker schon Detektiv. Ich stehe bei jedem neuen Patienten sozusagen einem Mysterium gegenüber; es ist mit diesem Menschen etwas Unzulässiges, etwas Kriminelles geschehen, wenn man will: eine Art Verbrechen gegen die Seele. Meine Aufgabe ist es, dieses Verbrechen aufzuklären, ich muß Material sammeln, Indizien herbeischaffen, die Vergangenheit zu rekonstruieren versuchen. In jeder Äußerung, jedem Gedankensprung, in jeder Handlung, die der Patient begeht, kann eine Spur verborgen liegen; kein Detail ist zu unbedeutend. Glied für Glied muß aneinandergefügt werden, bis die Kette fertig geschmiedet ist zu einem logischen Ganzen. Und schließlich wird der Schuldige ans Tageslicht gezogen und unschädlich gemacht.« Bugge machte eine Kunstpause, zog einen Pik König aus dem Kartenspiel auf dem Tisch und betrachtete ihn mit interessierter Miene. -12-
»Ihr Männer von der Polizei arbeitet auf ähnliche Weise. Auch ihr sammelt Details, Fingerabdrücke, Uhrzeiten, Blutflecke, Kratzer im Flur und zerschlagene Armbanduhren. Ihr ordnet den Stoff logisch, gebt den Dingen Reihenfolge und Zusammenhang und schmiedet die Kette. Das ist alles ganz ausgezeichnet. Ihr begeht nur einen einzigen Schnitzer, der dafür um so peinlicher ist. Ihr seht die Dinge von außen, anstatt von innen. Ihr überseht völlig die psychologische Bedeutung. Eine Mordwaffe ist für euch nichts anderes als eine Mordwaffe, ein Blutfleck ist und bleibt ein Blutfleck, und eine zerschmetterte Armbanduhr ist schlicht und einfach eine Armbanduhr, die in Stücke geschlagen wurde.« »Offen gestanden«, sagte Hammer, »fängst du nun wirklich an, unverständlich zu werden.« »Hammer hat recht«, sagte ich. »Ich verstehe auch nicht mehr, worauf du hinaus willst.« Bugge sandte einen neuen Rauchring zur Decke. »Wenn ich vor die Aufgabe gestellt würde, ein Verbrechen aufzuklären, dann würde ich die Sache ganz anders anpacken als ihr Kriminalisten. Ich würde von der Arbeitshypothese ausgehen, daß der Verbrecher ein Mensch ist. Ein Wesen mit einem bestimmten Charakter, einer bestimmten Gruppe vo n Konflikten und einem bestimmten Verhalten gegenüber der Umwelt. Die moderne Psychologie hat uns gelehrt, daß alle Handlungen eines Menschen ihn selbst widerspiegeln. Wir glauben, daß wir aus Zufall handeln; in Wirklichkeit müssen wir dieses oder jenes tun; in der Regel ist gerade das ›Zufällige‹ das Unausweichlichste. Nun denn. In den Spuren, die der Verbrecher hinterläßt, würde ich versuchen, sein Spiegelbild zu finden. Ich würde die Details in seiner Tat ungefähr so untersuchen, wie wir es mit den Symptomen der Neurotiker tun, die Symbolik in der Wahl seiner Mittel finden, die innere Notwendigkeit in seinem Vorgehen. Ich würde mir nach und nach ein Bild von seinem Charakter und seiner Konfliktsituation -13-
machen und mich dem Kreise der Verdächtigen zuwenden können, um es in einer Menge kleiner Finessen wiederzufinden: Gewohnheiten und Unarten, Interessen und Aversionen, Neigungen, Sprechversehen und Vergeßlichkeiten, Sprünge im Gespräch. - Nachdem ich einige wenige eingekreist habe, würde ich versuchen, ihre Vorgeschichte zu erfahren, wichtige Episoden aus ihrem Leben, am liebsten den Schlüssel zu ihrem Kinderzimmer. Die Verbindungslinie zwischen Vergangenheit und Gegenwart muß so gezogen werden, daß das Verbrechen als einzige Lösung hervortritt, als einzige Logik für den Schuldigen. Ist dies klar, so ist damit die Kette geschmiedet.« Während dieses langen Monologs (Bugge liebt es, zu dozieren, vor allem, wenn er einige Gläser getrunken hat) erboste ich mich mehr und mehr über seine prahlerische Selbstsicherhe it. Außerdem war ich gekränkt über seinen Verriß meiner Kriminalromane, die ich selbst sehr unterhaltend finde. »Ausgezeichnet«, sagte ich. »Ganz ausgezeichnet. Und überaus interessant. Aber das riecht stark nach der Kriminalliteratur, die du verachtest. Das riecht nach Van Dine. Der neue eigenartige Detektiv- Typ, den du lancieren willst, ist in etwa fünfunddreißig Büchern verwertet worden und heißt Philo Vance.« Bugge lächelte freundlich. Er hatte den Pik König wieder in das Kartenpäckchen zurückgesteckt und angefangen, mit dem Kreuz As zu spielen. »Beschuldige mich nicht des Plagiats«, sagte er. »Du selbst bestiehlst P. G. Wodehouse, Leslie Charteris und Agatha Christie. Ich kann dir versichern, daß ich für Philo Vance nichts übrig habe. Er ist ein trauriges Produkt amerikanischer Vulgärpsychologie, Matteroffacts-Psychologie, des Behaviorismus. Im wirklichen Leben würde er es höchstens zum Kunstkritiker eines Heimatblättchens bringen.« »Plagiat oder nicht«, sagte Hammer, »es ist eine seltsame -14-
Theorie, und es würde mir Spaß machen, sie in die Praxis umgesetzt zu sehen. Weshalb läßt du dich nicht als Detektiv nieder?« »Tja. Hauptsächlich, weil hier im Lande nichts passiert.« »Die Statistik weist zwanzig Morde im Jahr nach.« Hammer zündete sich eine Zigarette an. »Ich habe eine Idee«, sagte er. »Du weißt, daß ich in letzter Zeit ziemlich avanciert bin. Man stellt mir jetzt anständige Aufgaben. Besonders nach dem Sogne-Fall werde ich als eine Art Asbjörn Krag angesehen. Ich bekomme die Aufgaben, die ich haben will. Falls sich also wider Erwarten in naher Zukunft etwas Interessantes ereignen sollte, dann gehe ich einfach hin, klopfe dem Chef auf die Schulter, und die Sache ist in Ordnung.« »Ich verstehe, worauf du hinaus willst«, sagte Bugge. »Du verstehst, worauf ich hinaus will. Kurz und gut: ich fordere dich heraus. Könntest du dir denken, etwas aus deinen Theorien zu machen und mit mir zusammenzuarbeiten? Wenn es gut geht, können wir ja fifty- fifty machen: du kriegst die Erfahrung und ich die Ehre.« Bugge lachte. »Ich durchschaue dich«, sagte Bugge. »Du willst mich zu einem Wettbewerb auf deinem eigenen Spezialgebiet verleiten, damit ich mich blamiere. Der Amateur wollte den Professional belehren; möge er die Folgen tragen! Aber warum nicht?« »Du willst also?« »Meine Eitelkeit sagt ja.« »Also abgemacht.« »Meinetwegen.« »Trinken wir darauf.« »Zum Wohle!« -15-
Storm hatte indessen dagesessen und sich mit Anstand gelangweilt. Er empfindet eine tiefe und ursprüngliche Verachtung für alles, was nach Psychoanalyse riecht. Wie alle Mediziner glaubt er nicht an die Seele, weil er sie nie gesehen hat. Übrigens hat er seine private kleine Theorie über die Neurosen. Er meint, daß sie 1895 entstanden, im gleichen Jahre, da Freud und Breuer ihre »Studien über Hysterie« herausgaben. Nun fand er, daß es an der Zeit sei, das Thema zu wechseln. »Habt ihr schon gehört, was der Jokum angestellt hat?« »Nein, erzähle«, antwortete ich. Wir füllten die Gläser und setzten uns noch bequemer in den Sesseln zurecht.
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ZWEITES KAPITEL Worin ich aufs Land reise, um einige nette Leute zu treffen Ich freute mich aufrichtig, daß ich den Sommer bei meinem Vetter Helge Gårholm in seiner Villa draußen an der Fjordmündung verbringen sollte. Nicht etwa, daß ich von dieser Umgebung besondere Arbeitsruhe erwarten konnte, doch hatte ich daran gedacht, auf diese Weise einmal richtige Sommerferien zu machen. Das heißt: ursprünglich hatte ich etwas ganz anderes vorgehabt. Ich hatte beschlossen, den ganzen Sommer wie wild zu arbeiten. Es gibt nichts, was in dem Grade zu Tätigkeit und Vertiefung mahnt wie eine solche menschenverlassene Steinwüste von einer Stadt. Und dann kann es ja auch ganz nett sein, gelegentlich einmal allein zu bleiben. »Er genoß seinen Geist und seine Einsamkeit«, wie es von Zarathustra heißt. Ich beschäftigte mich gerade mit meinem neuen TheodorTodd-Buch: Doch Theodor Todd tut das Gegenteil. Ich verspreche mir viel davon, denn die Fabel war gut; ich hatte meinen Helden ganz in das kosmopolitische Halbweltmilieu von Paris versetzt; ich hatte ihn als Spezialität Frankreichs größte Hochstapler bestehlen lassen, bis sie fast Hungers starben und auf die Wohlfahrt angewiesen waren. Er sollte den Kampf gegen amerikanische Gangster aufnehmen und die »Mona Lisa« einer Dollarprinzessin als Geburtstagsgeschenk verehren. Schließlich war es meine Absicht, ihn in die große Politik hineinzustellen zur großen Verwirrung des ganzen zivilisierten Europa. Wie Sie verstehen werden, handelt es sich um einen ausgesprochenen Erfolgsroman, und anfänglich ging die Arbeit auch glatt vonstatten. Doch nach dem Abend bei Storm verlor -17-
ich plötzlich die Lust am Schreiben. Ich bin nämlich außerordentlich empfindlich gegen Kritik, vor allem, wenn sie aus der Richtung kommt. Kurz gesagt, ich erhob selbst eine Reihe von Einwendungen gegen mich: daß meine Bücher vielleicht eine Idee zu leicht seien, daß ihnen die feine und verwickelte Psychologie mangle. Drei Tage lang war ich nicht imstande, auch nur eine Zeile zu schreiben, und schließlich wurde ich ärgerlich. Ich ließ meinen Theodor in einer Kneipe auf dem Montmartre stehen - in einer verzweifelten Situation unter Apachen und Berufsmördern -, worauf ich das Manuskript in den Schreibtisch pfefferte und die Schublade abschloß. Mir tat Entspannung not, daher war ich überaus froh, von meinem Vetter eine Einladung zu einem Aufenthalt an der See zu erhalten. Es war fast ein Jahr vergangen, seit ich Helge Gårholm zuletzt gesehen hatte, und ich war gespannt darauf, ihm wieder einmal zu begegnen; er gehört zu denen, die es irgendwie fertiggebracht haben, etwas Farbe ins Dasein zu bringen. Er war immer vom Hauch des Abenteuers umwittert gewesen, er hatte ein rastloses Wanderleben geführt; man weiß wenig von seiner Vergangenheit und ahnt im Grunde nie, was man von ihm halten soll. Fest steht allein, daß er Glück bei den Frauen hat. Sie finden ihn herrlich; sie vergöttern seine blonde Mähne, das harte, maskuline Gesicht und die sicheren Hände. Und er bedient sich dieser Vorzüge so gierig, wie es überhaupt möglich ist. Er hat einen Ruf so schlecht, wie man ihn sich nur wünschen kann, und benutzt jede Gelegenheit, ihn noch schlechter zu machen. Es war immer mein Traum gewesen, einen ebenso schlechten Ruf wie Helge zu bekommen, und es ist der Kummer meines Lebens, daß ich es nicht schaffte. Doch ist Helge kein gewöhnlicher Don Juan. Er fliegt nicht wie ein Schmetterling von Blume zu Blume, wenn Sie mein poetisches Bild verstehen. Er trampelt auf ihnen. Nun sagt man ja, daß die Frauen Brutalität gern haben, je mehr Nasenbluten, -18-
um so besser, aber Helge ist auf eine ziemlich abscheuliche Weise brutal. Er schlägt sie nicht, er behandelt sie zart und fein, doch wenn er sie ganz auf den Knien hat, geht er einfach davon und läßt sie sitzen und sich grämen. Und das Schlimmste ist, daß er es zweifellos gern hat, wenn sie sich grämen. Ich habe es ihm oft vorgeworfen und ihm gesagt, nun mußt du, verdammt noch mal, endlich bremsen, aber er hat dann geantwortet, daß Monogamie eine unnatürliche Einrichtung sei und daß das Leben auch in der Erotik eine natürliche Auslese fordere. Das sind die Antworten, die Bugge als »Rationalisierungen« bezeichnet. Kai Bugge hat nämlich, was Helge betrifft, eine spezielle Theorie. Er behauptet, daß er in einem Ödipuskomplex befangen sei, daß sein ausschweifendes Leben einer neurotischen Aufruhrhaltung entspreche, daß er eine infantile Kampfstellung gegenüber seinem Vater einnehme. Ich weiß nicht, ob diese Redensarten Ihnen etwas sagen, doch ihr Sinn ist in Kürze, dieser: der alte Gårholm ist ein Vollmensch, Geschäftsmann aus dem goldenen Zeitalter des Vorkriegskapitalismus, und er hat sich keine der Freuden des Daseins versagt. Seine Ehe mit Helges Mutter war unglücklich; sie war nie imstande, ihren Casanova von einem Mann festzuhalten, und vor einigen Jahren wurde sie tot in ihrem Bett gefunden. Die Diagnose lautete auf Herzschlag, doch ging das Gerede, daß ziemlich viele Veronaltabletten in der Hausapotheke fehlten. Dies in Verbindung mit der Tatsache, daß Gårholm viel mit einer gefeierten Schauspielerin zusammen gesehen wurde, führte dazu, daß mancher zwei und zwei zusammenzählte. Bugge behauptet, daß Helge eine erotische Vendetta gegen die Frauen führe, um seine Mutter zu rächen. Sie töteten sie, jetzt »tötet« er sie. Er hat sich auf Schauspielerinnen spezialisiert, die er mit raffinierter Technik in eine heftige Verliebtheit jagt, um sie dann in dem gegebenen Augenblick wegzuwerfen. Darin liegt eine Verachtung des Liebeslebens, -19-
und dieser Verachtung Ausdruck zu geben, ist ein Zug im Kampfe gegen den Vater, den alten Lebemann. Hinzu kommt noch etwas anderes. Allein hier in der Stadt gibt es etwa zwanzig bis dreißig Ehemänner, die mit meinem Vetter ein Hühnchen zu rupfen haben. Und das bedeutet etwa folgendes: In jedem Ehestand sieht er seinen Vater, den er immer wieder aufs neue überwinden muß. Deshalb hat er die Zerstörung von Ehen zu seiner zweiten Spezialität gemacht. Übrigens begnügt er sich nicht mit Ehen: kann er einen Mann, gleichgültig wen, zum Hahnrei machen, so ist ihm das eine Quelle tiefster Befriedigung. Da haben Sie meinen Vetter Helge Gårholm im Lichte der Wissenschaft. Es war herrliches Wetter an dem Vormittag, als ich auf der kleinen Eisenbahnstation eintraf, die zehn Kilometer Weges von der Villa »Seewind« entfernt liegt. Ich befand mich in glänzender Stimmung und freute mich darauf, junge und vergnügte Menschen kennenzulernen. Helge versteht es immer, sich den richtigen Kreis zu schaffen, d. h., er erneuert ihn unablässig, so daß man nie weiß, wen man bei ihm antreffen wird. Villa »Seewind« gehört eigentlich seinem Vater, aber der ist dauernd unterwegs, so daß Helge den Platz so gut wie annektiert hat. In jedem Sommer pflegt er hier einen Kreis von wohlgesinnten jungen Parasiten um sich zu versammeln, die von seinem Badestrand, seinem Whisky und seiner bezaubernden Gastlichkeit profitieren. Ferner von den übrigen Annehmlichkeiten des Hauses, deren es nicht so wenige gibt. Dieser Kreis wird im großen und ganzen aus Angehörigen der wohlgekleideten Oberschicht gebildet. Muntere Jugend aus dem Bezirk Frogner-Drammensvei, Sportler, Akademiker, junge Mädchen und nicht ganz so junge Mädchen. Die Auswahl erfolgt unter Berücksichtigung eines gewissen äußeren Stils, doch im übrigen stellt Helge keine Gegenforderungen an seine Gäste. Höchstens, daß vielleicht alle Damen der Reihe nach -20-
seine Geliebten werden und daß alle Herren der Reihe nach ihre Eifersucht an den Tag legen. Aber das ist ja nur gewöhnliche Höflichkeit. Der Zug hielt mit einem Ruck an, und die Schienen gaben einen langen, klagenden Laut von sich. Ich nahm meinen kleinen Handkoffer und manövrierte mich in den Sonnenschein hinaus. Es war etwas stickig im Abteil gewesen, und nun ließ ich mich mit Wohlbehagen von der kühlen, würzigen Sommerluft umfächeln. Ich füllte die Lungen und fand, daß es schön sei, zu leben. Helge stand auf dem Bahnsteig und wartete auf mich. Er war in einen großkarierten, hellen Sommeranzug gekleidet, der wie angegossen auf dem kräftigen Körper saß. Mir fiel auf, daß er besser aussah denn je zuvor. Als er mich erblickte, kam er herbei und drückte mir herzlich die Hand. »Hallo«, sagte er. »Nett, daß du gekommen bist.« Er nahm meinen Koffer, und wir setzten uns in seinen Wagen, einen grauen, schlanken Bugatti. Der setzte sich in Bewegung und glitt weich und lautlos über die Landstraße. »Wen hast du denn diesmal versammelt?« fragte ich. Er steckte eine Zigarette in den Mund. »Ich glaube, du kennst ein paar davon. Erstens ist da Arnold Kvam.« »Der Journalist?« »Ja, der die dämlichen Glossen im ›Aftenblad‹ schreibt. Netter Kerl, trinkt aber zuviel.« »Und schreibt zu schlechte Kriminalstücke«, sagte ich. »Nur weil er bei einer Zeitung angestellt ist, konnte er diese elenden Reißer loswerden.« Sie verstehen, daß ich auf diesem Gebiet meine bitteren Erfahrungen gemacht habe. »Du sollst nicht begehren deines Nächs ten Hab und Gut«, -21-
sagte Helge. »Nummer zwei meiner Gäste ist Lundmo. Dr. med. Arne Lundmo. Frischgebackener Arzt.« Helge hat immer irgendeinen Arzt zur Hand. Böse Zungen haben angedeutet, daß es sich vorzugsweise um Leute handele, die eine großzügige Einstellung zum Abortus Provocatus haben. Aber böse Zungen sind und bleiben böse Zungen. »Aggressiver Typ«, sagte Helge. »Er war es, der vor einigen Monaten diese Polemik mit deinem Freund Bugge hatte. Der Kampf ist noch unentschieden, weil keiner von beiden des anderen Fremdwörter verstand.« »Ich weiß, wer er ist. Wenn ich mich recht erinnere, sprach er der Psychoanalyse jegliche Bedeutung ab.« »Er spricht allem jegliche Bedeutung ab. Er ist der Typ des Zynikers, das heißt des ausgesprochenen Gefühlsmenschen. Ärzte sind im allgemeinen empfindliche Leute, aber Lundmo ist die reine Mimose. Sei vorsichtig, daß du bei ihm nicht ins Fettnäpfchen trittst.« »Hat er nicht zwei Schwestern?« »Ja, sie sind beide hier. Eva und Sonja.« »Eva kenne ich. Ich traf sie im letzten Jahr auf einem Fest. Sie ist sehr charmant, nicht wahr?« »Sie ist ein netter Kerl. Nicht gerade mein Typ, aber ich glaube deiner. Sie wirkt unberührt und zurückhaltend.« Ich spürte den Stachel. »Ist Sonja Lundmo nicht Schauspielerin?« »Ja.« »Talentiert?« »Als Frau absolut. Als Schauspielerin nicht besonders. Da ist Saisa Sjöström besser. Du weißt, sie spielte das junge Mädchen in dem Stück von Johan Borgen. Und im übrigen versteht sie sich auch auf ihre Sachen.« -22-
»Hast du sie auch hierherbekommen?« »Das eben wollte ich andeuten.« »Aber mit wem bist du denn zusammen? Ich meine zusammen.« »Du weißt, daß ich mich grundsätzlich nicht mit jemand Bestimmtem zusammentue. Abgestumpfte Instinkte bekommt man ohnehin früh genug. Daher betreibe ich in aller Bescheidenhe it ein wenig - Wechselwirtschaft, kann man es wohl nennen.« Ich blickte ihn von der Seite an. Seine eine Hand lag wie zufällig auf dem Lenkrad; die Zigarette wippte zwischen den schmalen Lippen und war ein Teil seines Lächelns. Ich kenne keinen, der so lächelt wie Helge. Es ist, als ob sich plötzlich etwas in dem kalten Gesicht löst; der Mund gleitet aus und pflanzt sich über den Rest des Gesichtes fort; die harten Züge schmelzen und werden warm. Wenn andere Leute lächeln, so ist das nur etwas Muskelmäßiges; sie ziehen die Mundwinkel mit zwei Muskeln hoch und lassen sie eine Weile so. Doch bei Helge ist es ein wirklicher Ausdruck, z. B. von Freude. Ich habe oft versucht, ihm die Technik abzulisten; die Pointe ist, daß Helge und ich einander sehr ähneln; aus einigem Abstand gleichen wir uns zum Verwechseln, aber auf das Lächeln hat er eben ein Monopol. Es ist vorgekommen, daß ich bis zu einer halben Stunde vor dem Spiegel stand und es mir einübte, aber nein. Ich tröste mich mit Bugges Wort: Charme ist oft ein Zeichen von Hysterie. Es gab eine kleine Pause im Gespräch. Wir waren in offenes Gelände mit unebenen, nackten Flächen zu beiden Seiten gekommen. Villa »Seewind« liegt ziemlich einsam; der kleine Bahnhof ist die nächste Baulichkeit. Zur Nacht kann es recht unheimlich sein, diesen Weg zu gehen, wenn die große, schwere Landschaft ganz still liegt und seltsame Formationen im Mondlicht bildet. Hier und da spreizen sich einige zerzauste -23-
Bäume; mit ein wenig ängstlicher Phantasie kann man sie für große, magere Männer halten, die schwarz und still am Wegesrand stehen und darauf warten, daß jemand kommt. An einer Stelle biegt der Weg in einen Wald ab - die Villa liegt am Rande dieses Waldes -, und dort erlebte ich im Vorjahr einen Anfall von Dunkelangst wie ein kleines Kind. Nun können Sie natürlich darüber lachen und sagen, das sei doch Unsinn, aber ich habe wirklich eine tödliche Angst vor solchen Bäumen. Vor allem, wenn viele von der Sorte da sind und wenn sie dicht beieinander stehen; dann habe ich das Gefühl, es sei mit den Bäumen, die etwas weiter drin im Walde stehen, etwas nicht in Ordnung. Da ist irgend etwas auf ihrer Rückseite, etwas Ungeheuerliches, etwas ohne Gesicht und Körper. Es bewegt sich nicht; es atmet nicht; es steht ganz atemlos und wartet. Nämlich auf mich, der dahergegangen kommt und vor Angst ganz außer sich ist. Ich habe Bugge gefragt, woher es wohl kommen mag, daß man dergleichen empfindet, aber er hat dazu etwas bemerkt, was mir so sinnlos zu sein scheint, daß ich es nicht der Wiedergabe für wert halte. »Ist da sonst noch jemand, den ich kenne?« fragte ich. »Nein, ich glaube nicht. Da ist Storm-Jensen, der Fechter, der vor einigen Jahren norwegischer Florettmeister wurde. Ein flotter Junge und stark wie ein Bär. Nicht viel Grütze im Kopf, das ist ja klar, aber etwas von einem Mannsideal. So etwas in der Art von Victor McLaglen.« »Du meine Güte!« »Also keine so häßliche Fassade, aber ungefähr der gleiche Körpertyp. Ein Pfundskerl. Nur mit Mühe und Not konnte ich ihm die Saisa ausspannen.« »Hast du ihm Saisa ausgespannt?« »Leider. Ich hatte keine Wahl.« »Aber ist es denn nicht gefährlich, sich mit einem solchen Burschen anzulegen?« -24-
»Das glaube ich nicht. Starke Leute sind nicht gefährlich. Nur die kleinen Hechte gehen einem an die Kiemen.« Er warf die Zigarette aus dem Fenster. »Und dann ist da noch ein Mädchen, das du sicherlich nicht kennst. Vesla Kramer. Sie ist zweiundzwanzig Jahre alt, Pfarrerstochter und unvorstellbar leichtsinnig. Der schönste Körper, dem es allerdings an Kopf mangelt.« »So, so.« »Eben. Und bei dieser Gelegenheit möchte ich dir gern gesagt haben, daß du zusehen mußt, wie du ein bißchen mitspielst. Hier wird nicht gekniffen. So wie du dich im letzten Jahr aufgeführt hast, warst du ein Schandfleck für unsere alte lasterhafte Familie.« Ich wurde milde irritiert. »Worauf willst du hinaus?« fragte ich. Helge lachte. »Mach nur nicht diesen verbiesterten Gesichtsausdruck«, sagte er. »Ich meine nur, daß du ein netter Junge bist; übrigens ähnelst du mir ja darin, daß du in den besten Jahren stehst, in der herrlichen Jugend, und daß du kurz gesagt nicht das Recht hast, interessant und zurückhaltend zu sein, so wie im letzten Jahr. Ich halte keinen Whisky für dich, damit du wie Antonius in der Wüste herumgehst.« Ich bin solche Dinge von Helge gewohnt. »Werden wir diesmal Paare sein?« »Leider nein; es sind nur vier Mädchen da. Ich hatte auch Mosse Bang und Lilien Winge eingeladen, aber die bekamen anscheinend Bedenken und konnten nicht kommen. Wir werden also sechs Mannsleute sein mit dir und mir, so daß zwei von uns das Nachsehen haben.« »Wer ist der sechste?« »Kåre. Ich vergaß wohl, ihn zu erwähnen.« -25-
Kåre ist Helges jüngerer Bruder und überhaupt der typische jüngere Bruder. Es steht Nummer zwei auf ihm geschrieben, klar und deutlich, so daß alle es sehen können. Helge behandelt ihn mit erdrückender Autorität, sieht durch ihn hindurch, antwortet nicht, wenn er fragt, und gibt ihm Befehle wie einem Hund. Kåre bewundert dafür Helge über alle Maßen. Während seiner ganzen Kindheit hatte er die abgelegten Anzüge seines Bruders bekommen, und in den letzten Jahren wiederholte sich dieses Verhältnis auf einem anderen Gebiet. Jetzt bekommt er nämlich Helges abgelegte Freundinnen. Wenn sie von Helge verschmäht und wild vor Verzweiflung sind, bekommen sie Kåre, um sich mit ihm zu trösten. Und er ist froh und dankbar und findet, daß es so am besten ist. Helge wandte sich um und blickte mich an. »Ich glaube übrigens, daß ich die Frau für dich gefunden habe«, sagte er. »Strenggenommen ist nämlich noch ein Mädchen hier draußen, und zwar Anna, das Dienstmädchen. Sie schwärmt für dich und hat alle deine Bücher gelesen. Sie liegen auf ihrem Nachttisch neben Brach ihr Herz? und Da kam der Scheich. Sie ist eine reine und unverdorbene Seele, und ihr Körper ist ohne Makel. Ihr einziger Fehler ist, daß sie zu billige Seidenstrümpfe trägt, mit einem Beigeschmack von Zwiebeln küßt und zu sehr nach Talkumpuder riecht. Ihr solltet ein Paar werden.« »So, so«, sagte ich. Ich legte keinen Wert mehr darauf, noch mit ihm zu reden, und war stumm wie ein Grab, bis der Wagen auf der Anfahrt vor der Garage hielt.
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DRITTES KAPITEL Worin ich mich verliebe Die Villa »Seewind« ist eine jener flotten kleinen Sommervillen, wie sie in den dreißiger Jahren in großer Zahl gebaut wurden. Sie besteht aus Erd- und Obergeschoß, Keller und Boden und ist darauf berechnet, acht bis zehn Personen unterzubringen, die entschlossen sind, die Freuden des Sommers gemeinsam zu genießen. Das Haus liegt ein Stück im Walde auf einer Anhöhe; von einer großen Terrasse blickt man hinaus auf die See, die zweihundert Meter tiefer liegt. Draußen, vom Wasser her gesehen, sieht die Villa wie ein ungeheurer brauner Bauklotz aus, der auf gut Glück zwischen die Bäume geschleudert wurde. Das ganze Inventar ist hochmodern und auf eine Art arrangiert, die man als äußerst geschmackvoll bezeichnen kann. Der größte Teil des Erdgeschosses wird von einem Salon eingenommen, dessen Möblierung in einem warmen, goldbraunen Ton gehalten ist, ein großer Kamin schafft eine Stimmung unvergleichlicher Behaglichkeit. Die Schlafzimmer liegen im ersten Stock; wenn jedoch viele Gäste da sind, werden auch drei Zimmer des Erdgeschosses benutzt, die direkt mit dem Salon in Verbindung stehen. Der einzige Mangel dieses Hauses ist seine einsame La ge. Es besteht ein geradezu auffallender Gegensatz zwischen Innen und Außen. Der dunkle Fichtenwald umklammert das Haus gleichsam, und über der See, die drunten braust, liegt etwas Schwarzes und Unheilschwangeres. Aus den großen Glastüren, die nach der Seeseite hinausführen, strömt das Licht des Salons, und solange man sich in der Reichweite dieses Lichtes befindet, fühlt man sich sicher. Kommt man jedoch hinaus in die Dunkelheit, dann ist es, als ob sich einem eine kalte Hand um -27-
das Herz legt, und ein wunderliches Frostgefühl breitet sich im Körper aus. Etwas Ähnliches hatten wohl die Alten empfunden, wenn sie in den Wäldern der Vorzeit an ihren Lagerfeuern saßen. Doch Helge ist außerordentlich mit der Lage des Hauses zufrieden, weil er keine Nachbarn hat. Er behauptet, daß alle Nachbarn Voyeure seien, ein eigenartiger perverser Menschenschlag, der ständig hinter der Gardine verborgen seine Bewegungen mit einem Feldstecher verfolgt. Helge hat wirklich hübsche Pyjamas, liebt dergleichen aber trotzdem nicht. Ich kam ziemlich bald mit den anderen Gästen in Kontakt. Die meisten waren bereits seit zwei bis drei Wochen da, so daß ich eine gut entwickelte Cliquenstimmung vorfand. Ich setzte jedoch meine allerbeste Nachahmung des Helgelächelns auf und wurde gleich aufgenommen. Die meisten der Gäste befanden sich in meinem eigenen Alter, so um die Dreißig, die Damen waren etwas jünger. Von den Herren machten nur zwei den Eindruck einer Persönlichkeit: Kvam und Lundmo. Kvam hatte den etwas übernächtigen Ausdruck, den ma n bekommt, wenn man ständig in einer Redaktion hockt, Kaffee trinkt und die Remington malträtiert. In seinen Augen- und Mundwinkeln war etwas, das den Humoristen verriet, doch vor allem verriet seine Gesichtsfarbe den Alkoholiker. Lundmo hatte es trotz seines jugendlichen Alters geschafft, etwas von dem typischen Ärzteaussehen zu erwerben: dünnes Haar, ein scharfgeschnittenes, markantes Gesicht und einen kalten, abschätzenden Blick. Doch gleichzeitig war etwas Weiches in seinen Zügen, etwas Unsicheres und Tastendes in seiner Haltung, das mir gleich auffiel. Ich bin überzeugt, daß Bugge ihn nach fünf Sekunden Beobachtung einen Neurotiker genannt haben würde. Wenn nicht aus anderen Gründen, so jedenfalls, um einen Mediziner fertigzumachen. Storm-Jensen war ein ganz anderer Typ. Er war einer von -28-
jenen, die auf eine geradezu aufreizende Art Kraft und Gesundheit ausstrahlen. Sein Gesicht war mahagonibraun und anmaßend wie das Umschlagbild auf einem von Gyldendals Jugendbüchern. Ich mochte ihn nicht. Er hatte diesen Händedruck, der sagen will: wenn du nicht artig bist, setzt es Prügel! Von den Damen mußte man als erste die beiden Schauspielerinnen bemerken. Sonja Lundmo war klein, blond und schlank mit jener etwas trägen Haltung, die soviel verspricht. Ihr Haar war vom Nacken zu einem kleinen Knoten nach oben gebunden worden, was ihr außerordentlich gut stand. Sie wirkte intelligent, aber charakterschwach, und ich sah gleich, daß sie Helges Typ war. Saisa Sjöström war ein Vamp reinsten Wassers. Sie sah aus wie der Inbegriff der Phantasien eines ältlichen Lebemannes: dunkle Augen, ein großer flammendroter Mund, hohe Brüste, und dann die langsamen Pendelbewegungen in den Hüften. Sie gebrauchte ein Parfüm, das wie eine Mischung von Pfeffer und Honig roch, und sprach mit einer leisen, etwas heiseren Stimme. Das dritte junge Mädchen war nett und reizend und ganz frei von Vampmanieren, hatte aber trotzdem jenes leichte Glitzern im Auge, welches verriet, daß sie nicht mehr an den Storch glaubte. Es stellte sich heraus, daß sie Modezeichnerin war, und sie schien etwas mit Kåre Gårholm zu haben, der den Malern ins Handwerk pfuscht. Sie benutzten jede Gelegenheit, die Köpfe zusammenzustecken und herabsetzende Bemerkungen über die Herbstausstellung auszutauschen. Kåre hatte einmal in seinem Leben ein Bild eingesandt, das »Mörder 1936« hieß, und da es nicht angenommen wurde, behauptet er konsequent, daß jeder, dem es gelingt, jemals ein Bild auf der Ausstellung unterzubringen, für sein Leben als Maler erledigt sei. Als wir am späten Vormittag zum Strand hinuntergingen, um zu baden, kam ich mit Eva Lundmo ins Gespräch. Wir kannten einander flüchtig von früher; ich hatte sie einmal bei einem Fest -29-
in Oslo begrüßt. Damals hatte ich den Eindruck, daß sie ein wenig verschlossen sei. Doch nun stellte ich fest, daß sie ein wirklich charmantes Mädchen war. Ihr Gesicht hatte zarte, reine Züge, ihre Augen waren klar und leuchtend, und sie hatte eine pikante Art, den Mund vorzuschieben, wenn sie sprach. Ich meinte mich zu erinnern, daß sie brünett gewesen sei, stellte aber fest, daß sie herrliches goldblondes Haar hatte, genau wie ihre Schwester. Wir gingen nebeneinander, ein wenig hinter den anderen, und ich bemerkte, daß sie den rechten Fuß leicht nachzog. »Was ist denn mit Ihrem Bein los?« fragte ich. Sie lachte. »Das ist Sonjas Schuld«, sagte sie. »Ich setzte mich vor einigen Tagen in eine Schaukel und ließ mich von Sonja in Schwung bringen. Unglücklicherweise stieß sie mich so kräftig, daß ich herausfiel und mir den Fuß verstauchte. Aber es is t nicht so gefährlich.« »Ich meine mich zu entsinnen, daß Sie braunes Haar hatten, als wir uns das letzte Mal sahen«, sagte ich. »Haben Sie es gefärbt?« »Ehrlich gesagt: ja. Ich finde blond so hübsch. Finden Sie Sonjas Haar nicht reizend?« »Unbedingt. Wie fühlen Sie sich eigentlich als Schwester einer Primadonna?« »Sonja ist immer sehr nett zu mir gewesen. Ich habe mich ja auch ein wenig als Schauspielerin versucht. Und man sagte, ich hätte Talent. Aber ich spielte zu eigenwillig; ich konnte keine Anweisungen hinnehmen. Und deshalb war ich nicht zu gebrauchen.« »Was machen Sie denn jetzt?« »Ich studiere Medizin. Arne hatte mich dazu bewogen. Mein Bruder also.« -30-
Am Strand unten roch es herb nach Tang und Salzwasser. Doch in der Sonne schwirrten viele Stechfliegen, und wir mußten uns einen einigermaßen schattigen Platz zwischen zwei Felsen suchen. Helge hatte das Koffergrammophon mitgebracht, und eine von Nat Gonellas Swingmelodien tönte metallisch über den Fjord. Er hatte die Kleidung abgelegt und streckte seine blanken, braunen Muskeln im Sonnenlicht. Kvam war der einzige, der keine Miene machte, zu baden; er saß neben dem Grammophon und starrte auf Helges breite Schultern. »Willst du dich nicht ausziehen?« fragte mein Vetter. »Nein, ich habe einen Sonnenbrand auf dem Rücken.« »Aber du hast doch seit über einer Woche nicht gebadet.« »Ich mache mir nichts daraus.« »Herrgott, du hast doch wohl keine Angst, deinen Körper zu zeigen. Selbst wenn er vielleicht einen etwas trostlosen Anblick bietet.« Ich fand, das war ziemlich gemein gesagt. Der arme Kvam konnte ja nichts dafür, daß er um einige Kilo zu fett war, mit einem Ansatz von Hängebauch, ein wenig o-beinig und kurz gesagt nicht ganz so repräsentativ wie wir anderen. Helge war in ganz großer Form, lief unter die Bäume und überfiel Saisa, die sich gerade den Badeanzug überstreifte. Er nahm sie in die Arme und fegte mit ihr über den Strand. Sie schrie hingerissen, strampelte mit den Beinen und packte ihn am Hals. »Pfui Teufel«, sagte Kvam, der vor sich hinbrütete. »Frauen sind doch primitive Tiere.« Lundmo lachte ein zynisches Ärztelachen. »Kvam ist unglücklich in Saisa verliebt«, sagte er. »Quatsch. Du bist es ja, der vor ihr auf Knien liegt. Du hast dich wirklich oft genug darüber beklagt.« Lundmo hatte es plötzlich eilig, als erster draußen zu sein. -31-
»Herrlich!« rief er uns zu. »Prächtiges, warmes Wasser!« Sonja hatte ihren Badeanzug angezogen und ging zum Strand hinunter. Als sie Helge und Saisa erblickte, nahm sie etwas nassen Tang und warf ihn Helge in den Nacken. »Hör auf mit dem Blödsinn«, sagte sie. »Jetzt wollen wir baden.« Ich schwamm neben Eva hinaus. Ihr schlanker Körper glitt schnell durch das Wasser. Sie kraulte; etwas, das ich nie gelernt habe, und ich konnte nur mit Mühe und Not mitkommen. Als wir zweihundert Meter weit draußen auf einer kleinen Schäre an Land gingen, war ich völlig erledigt. Sie nahm die Badekappe ab und schüttelte ihr blondes Haar über die Schultern. »Sonnen wir uns ein wenig«, sagte sie. Wir legten uns hin. »Es ist so hart, auf dem Felsen zu liegen«, sagte ich. »Legen Sie lieber Ihren Kopf auf meinen Arm.« Sie tat es. Ihr Nacken war warm und vertraut. Wir lagen einige Minuten stumm da. »Es ist schön so im Sommer«, sagte ich. Um etwas zu sagen. Sie lag eine Weile still da und starrte in die Luft. »Wissen Sie, was ich finde?« fragte sie. »Nun?« »Daß es unheimlich hier draußen ist.« »Unheimlich?« »Ja. Es gefällt mir hier nicht. Erstens ist da das kalte, einsame Haus. Und dann der dunkle Wald. Wenn Sie wüßten, wie scheußlich es hier nachts ist!« »Ich bin hier schon früher gewesen und weiß Bescheid.« »Aber das ist es nicht so sehr. Doch dieser Gårholm; der Bursche ist durch und durch verdorben.« -32-
Ich war baff. Endlich eine Frau, die nicht von Helge begeistert war. »Aber er hat doch ein einnehmendes Wesen, nicht wahr?« »Ganz und gar nicht. Er ist ein Ekel. Wissen Sie, was ich glaube? Er versammelt alle diese Leute hier, nur um sie zu quälen. Ja, das ist es. Um sie zu quälen. Hörten Sie, was er drüben zu Kvam sagte? Und wissen Sie, wie er Vesla Kramer behandelt hat?« »Ich kann es mir denken.« Ich hatte ja bemerkt, daß Vesla Kramer mit Kåre ging. Abgelegte Kleider, kurz gesagt. »Storm-Jensen, Kvam und mein Bruder sind in diese Saisa Sjöström verliebt; deshalb hat er sie alle eingeladen, hier zu wohnen. So daß er triumphieren und sie quälen kann. Er ist den ganzen Tag sarkastisch und läßt durchblicken, wieviel begabter er ist als die anderen, wenn es sich darum handelt, eine Frau zu verführen.« »Hat er Ihre Schwester auch verführt?« Ich lächelte, als ich das sagte. Wenn es sich um eine Schauspielerin von fünfundzwanzig Jahren handelt, ist es wohl leicht übertrieben, das Wort »verführen« anzuwenden. Doch Eva nahm es ernst. »Ja, er hat meine Schwester verführt. Und das Schlimmste ist, daß er es gleichze itig ganz offen mit der Saisa Sjöström, diesem widerlichen Vamp, treibt. Er benutzt jede Gelegenheit, sie gegeneinander auszuspielen, so daß sie aufeinander eifersüchtig werden. Er besitzt nicht das geringste Taktgefühl und ist völlig rücksichtslos.« Helge war wirklich tüchtig. Meine Achtung für ihn stieg und stieg. »Und wer macht das Rennen?« »Ich glaube, Sonja. Aber es wechselt ständig zwischen ihnen, -33-
damit sich keine sicher fühle. Sie sind gräßlich eifersüchtig aufeinander; vorgestern hatten sie eine Sze ne. Ich bin verzweifelt, daß meine Schwester sich mit einem solchen Burschen eingelassen hat. Er wird sie ganz verderben. Er hat schon viele Frauen verdorben.« »Aber finden Sie nicht, daß er ihnen auch etwas dafür gibt? Was aufwiegt, daß er sie verdirbt?« »Pfui«, sagte sie. »Alle Männer denken so. Alle Männer sind abscheulich.« »Das kann unmöglich Ihr Ernst sein? Doch wohl nicht alle?« Ein kleines Lächeln. Ihr Nacken preßte sich tiefer in meinen Arm. »Nein, vielleicht nicht alle.« Ich fühlte: das galt mir. Wir schwammen wieder zurück. Am Strand hatten sie aufgehört zu baden und machten sich über die Butterbrote her. Storm-Jensen stand am Rande des Wassers und zeigte Vesla Kramer, wie der Beinschlag beim Kraulen von den Oberschenkeln ausgeht. Er machte eine Menge weicher und geschmeidiger Bewegungen und warf hin und wieder einen verstohlenen Seitenblick auf Saisa, um zu sehen, ob sie ihn bemerkte. Doch sie war ganz mit Helge beschäftigt. Helge war der Faulste der ganzen Bande. Er war nur ein paar Minuten draußen gewesen und lag jetzt mit dem Kopf auf Saisas Bauch und ließ sich von Sonja füttern. Kvam und Kåre saßen abseits am Grammophon, und es sah aus, als ob der Jour nalist Kåre wegen seiner Meinung über Fragen der Malerei interviewte. »Eins möchte ich gern wissen«, sagte Kvam. »Weshalb schwärmst du so für das Kriminelle in den Bildern, die du malst? Du malst ja fast nur Mord und Totschlag.« »Ich male meine eigene Weltanschauung.« »Wieso denn das?« -34-
»Ich meine, das Verbrechen ist das einzige Motiv, das der Kunst würdig ist. Die Kunst ist ja ihrem Wesen nach asozial; sie ist ein Ausdrucksmittel des Einsamen, des Ausgestoßenen, des Aufrührers. Deshalb darf sie nur asoziale Motive suchen.« Er fuhr sich mit einer schnellen, nervösen Bewegung durch das Haar. »Es ist Talentlosigkeit und Unsinn, wenn man euch erzählt, daß die Kunst eine moralische Aufgabe habe. Unsinn, sage ich, Unsinn. Das Gegenteil ist der Fall: Die Kunst hat eine amoralische Aufgabe. Alle wahre Kunst ist Destruktion.« Kåre sprach ziemlich laut und war plötzlich zum Mittelpunkt der Versammlung geworden. Er bemerkte es und fuhr anscheinend von seinen eigenen Worten hingerissen - fort: »Denn was ist Destruktion? Destruktion ist das Privileg der Persönlichkeit; das Individuum in der Entfaltung; alle Genies in der Geschichte waren große Zerstörer. Ist nicht Vernichtung der einzige wirkliche Fortschritt? Sehnen wir uns nicht nach der Kindheit zurück? Hassen wir nicht die Kultur, weil sie uns kompliziert und leer gemacht hat? Kribbelt es uns nicht in den Fingern, das ganze widerwärtige Spiel in Stücke zu schlagen und zu etwas Einfacherem und Freierem zurückzukehren, zum Ursprung, zum Tode? Die Kunst kann uns helfen. Die Kunst ist eine Entfaltung des Tiefsten in uns, des Asozialen, des Hasses. Und darum gibt es nur ein Motiv, das den wahren Künstler interessieren kann. Nämlich den Mord.« Helge hatte sich aufgerichtet. Er sah seinen Bruder mit einem gereizten Blick an. »Hör auf mit diesem dummen Gerede«, sagte er. »Solche blödsinnigen Paradoxa kann man in einem Schauspiel schreiben, das dann vom Nationaltheater angenommen wird. Aber es geht nicht an, dergleichen einigermaßen gesunden Menschen zu servieren.« Es ist seltsam, wenn Helge etwas sagt. Er hat diese -35-
merkwürdige Fähigkeit, einen Mann zum Schweigen zu bringen, wie wenn man einen Radioapparat abstellt. »Es muß wohl erlaubt sein, eine Auffassung zu haben«, sagte Kåre. Seine Stimme zitterte ein wenig, und seine Augen flackerten. »Halt's Maul«, sagte Helge. Sekundenlang herrschte eine peinliche Stille. Dann versuchte Sonja, die Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken. Sie hob einen Stein auf. »Wollen wir mal sehen, wer am weitesten werfen kann?« fragte sie. »Ich werfe viel weiter als du«, sagte Vesla. Sie fand einen kleinen eiförmigen Stein, und das gleiche tat Eva. Sie warfen der Reihe nach. Sowohl Vesla als auch Sonja warfen linkisch nach Mädchenart über die Schulter. Doch Evas Stein flog in einem hohen, sausenden Bogen aus ihrer Hand und fiel erst ganz weit draußen ins Wasser. Ihre Bewegungen waren sicher und blitzschnell, ihr Körper in anmutigem Gleichgewicht. »Nanu«, sagte ich. »Sie werfen ja wie ein Mann.« »Ich bin hoffentlich deshalb nicht weniger Frau?« sagte sie mit einem strahlenden Lächeln. In diesem Augenblick wußte ich, daß ich in sie verliebt war.
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VIERTES KAPITEL Worin die Menschen nicht mehr so nett sind Die ersten vier Tage waren prachtvoll. Der Himmel war wolkenfrei, Helges Whisky war vorzüglich, und Eva wurde schöner mit jeder Stunde. Wenn ich sie mit den anderen Mädchen verglich, so wirkten sie neben ihr geradezu schal und gleichgültig. Sie hatte etwas Unschuldiges und Primitives an sich, das Saisas rotlackierte Zehen, parfümierte Kleider und Pariser Unterwäsche vielfach aufwog. Ich widmete mich ihr hundertprozentig. Nicht etwa, daß ich zum Frontalangriff übergegangen wäre, wie Helge sich in seiner schnodderigen Art auszudrücken pflegte; ich fühlte, daß dies etwas Wertvolles war und daß ich behutsam vorgehen mußte. Wir schwammen lange Strecken im Sonnenschein, gingen spazieren und plauderten miteinander oder saßen im Salon vor dem Kamin und blickten ins Feuer. »Vorkriegserotik«, sagte Helge. »Jedermanns Familienblatt.« Doch ich spürte, daß der Kontakt mit jeder Stunde stärker wurde. Es war lange her, daß ich ein so schönes Gefühl der Harmonie mit einem anderen Menschen erlebt hatte. Von den anderen sah ich in dieser Zeit nicht viel. Der einzige, mit dem ich verkehrte, war Kvam, der Journalist. Helge hatte ihn richtig beschrieben, er war ein netter Kerl, trank aber zuviel. Den größten Teil des Tages verbrachte er drunten im Keller und ließ sich mit Whisky vollaufen. Auch ich weiß Whisky zu schätzen, halte aber doch Maß. Kvam mußte sozusagen jeden Abend ins Bett getragen werden. »Warum hören Sie nicht auf mit diesem Sport?« sagte ich. »Sie müssen sich doch darüber klar sein, daß Sie zum Teufel -37-
gehen.« »Saisa«, sagte er. »Ich bin verrückt nach Saisa.« »Verrückt?« »Ja. Ich liebe sie.« »Aber das ist doch lächerlich. Sie bekommen ebenso gute Pornographien für fünfundsiebzig Öre in den Kiosken.« »Spielt keine Rolle. Ich liebe sie.« »Aber müssen Sie deshalb unbedingt hier sitzen und sich das Leben nehmen?« Kvam machte eine abwehrende Geste. »Wir müssen alle sterben«, sagte er. »Einige nehmen einen Revolver, andere den Umweg über ein Krankenlager. Ich ziehe es vor, den Whiskytod zu sterben. Das geht still und ohne große Gebärden. Exit Arnold Kvam.« »Was haben Sie denn am Leben auszusetzen?« »Leben?« sagte Kvam. »Gibt's denn so was? Leben ist nur eine Art langsamen Sterbens.« Ich nahm ihm das Glas aus der Hand. »So redet man im Suff«, sagte ich. »Sie bemitleiden sich nur selber. Können Sie nicht versuchen, etwas Rückgrat zu zeigen?« »Ich habe kein Rückgrat mehr«, sagte Kvam. »Nun hören Sie mal«, sagte ich. »Da ist doch etwas, was Sie quält. Das könnte wohl nicht zufällig Helge sein?« Kvam richtete sich auf und blickte mir ins Gesicht. »Wissen Sie was?« sagte er. »Ich habe oft das Gefühl, daß wir Menschen in einer Art Panzer einhergehen. Eine Rüstung, wenn Sie wollen. Eine Rüstung, die uns beschützen und unser elendes kleines Ich vor einer boshaften Umwelt bewahren soll. Das ironische Lächeln, die apathische Ruhe, die kalte Logik - alles das sind Platten in unserer Rüstung. Wir machen es wie die Schildkröte; wir ziehen uns in eine Schale zurück, und der Feind -38-
glaubt, er beiße uns, wenn er seine Zähne in die Schale setzt. Doch er trifft uns nicht. Wir liegen drinnen, unter dem Panzer, klein und ängstlich und unverletzlich...« Er blickte sich nach einem neuen Glas um. Fand es und füllte es bis an den Rand mit Whisky. »Nur haben alle Rüstungen einen Fehler«, fuhr er fort. »Sie bedecken nicht den ganzen Körper. Sie haben Gelenke und schwache Punkte, die einem direkten Stoß nicht standhalten. Wer die Gabe hat, solche Punkte zu entdecken, der wird stärker als alle anderen. Er wird der Herrscher. Helge hat diese Gabe. Das ist es, was ihn so stark macht. Stark und abscheulich -« Er setzte das Glas an den Mund und tat einen tiefen Zug. Ich füllte mir auch ein wenig Whisky ins Glas. »Prost zum Untergang!« sagte ich. Ich ging und ließ ihn sitzen. Wie gesagt, versammelt Helge seltsame Menschen um sich, aber manchmal können sie auch zu theatralisch werden. Am Abend tanzten wir auf der großen Terrasse, die zur See hinausführt. Es war eine schöne, milde Sommernacht mit einem klaren Vollmond. Das Licht vom Salon strömte gelb und warm ins Dunkel hinaus und wurde von unseren weißen Kleidern zurückgeworfen. Es war, als ob das Waldesgrauen für eine Weile seine Macht verloren habe. Es lag Sommer und Frohsinn in der Luft, und Benny Carter übertraf sich selbst mit seinen Saxophonorgien auf der Grammophonplatte. Helge tanzte mit Sonja. Sie tanzten phantastisch gut miteinander, völlig eins mit der Musik; sie schmiegte sich an ihn und gab sich mit jeder Bewegung hin. Unwillkürlich mußte ich einen Blick auf die anderen Frauen werfen. Saisa Sjöström saß auf einer Bank und flirtete auffallend mit Storm-Jensen, er hatte die Hand auf ihrem Knie und sah ihr mit seinem starken Cowboyblick in die Augen. Vesla Kramer war auch in ausgelassener Stimmung; sie swingte mit Kåre herum, lachte -39-
wild und schlug ihn auf den Mund, wenn er ihr etwas ins Ohr flüsterte. Die Stimmung war gut; gesunde, moderne Jugend in den Sommerferien. Ich tanzte mit Eva. Ich befand mich in einem leichten, goldenen Whiskyrausch, und der schwache, würzige Duft ihres Parfüms ließ mich auf Wolken schweben. Eigentlich bin ich nie ein guter Tänzer gewesen, doch nun hatte ich plötzlich das Gefühl, mein ganzer Körper bestünde nur aus Rhythmus. Eva lag wie eine weiche Daune in meinen Armen, und mir war, als könnte ich sie bis zu den Sternen emporwirbeln. Dies ist das schönste Erlebnis, das man haben kann, der Augenblick, wo man sich sagt: Herrgott, hierauf habe ich mein ganzes Leben gewartet, und nun ist das alles so lächerlich einfach. Helge und Sonja waren mitten auf der Terrasse stehengeblieben. Er küßte sie mitten in der Lichtflut, die durch die Glastüren strömte. Seine braunen, kräftigen Arme hatten sie umschlungen und besaßen sie. Ich konnte sehen, wie ihr Körper erbebte. »Französischer Film«, sagte Kvam und lehnte sich an die Hauswand. »Wo ist der Whisky?« Saisa hatte sich plötzlich von Storm-Jensen losgerissen. Sie trat auf die Terrasse hinaus, raffte ihr Kleid bis zu den Hüften empor und begann zu steppen. Das Grammophon spuckte gerade einige wilde Synkopen aus, zwölf Saxophone schrien um die Wette, um den Wahnsinn der Dschungel zu beschwören, die Mysterien der Sümpfe, den Urwaldschrei. Es war, als ob sich ein ganzer Wald wilder Tiere an die Kehle spränge. Saisa steppte. Und sie konnte steppen. Die Musik ging gleichsam in elektrischen Wellen durch ihren Körper; der heiße Rhythmus fuhr ihr geradenwegs in die Schuhe. Sie war in unablässiger Bewegung, jähe Rucke, die Beine wirbelten unter ihr und klopften wie Trommelschlegel auf den Boden. Das dunkle Haar stand ihr wie eine Wolke um den Kopf; ihr Gesicht -40-
war weiß, ekstatisch. Sie glich einer Wilden, einem Kongomädchen, das das Grauen des Waldes in sich spürt und seine eigene Angst im Schein des Lagerfeuers tanzt. »Sie ist betrunken«, sagte Kvam, an den Mond gewandt. »Wie ein Seemann.« Kvam war ebenfalls betrunken und mußte sich setzen. Eva nahm meinen Arm. »Gehen wir ein Stück«, sagte sie. »Komm.« Ich hatte den Eindruck, daß ihr die Stimmung auf der Terrasse nicht gefiel. Vielleicht war sie ihr zu überhitzt. Sie hatte nicht so viel getrunken wie ich. Wir gingen den Weg entlang und schwiegen eine ganze Weile. Ich fühlte mich innerlich weich und warm und genoß das feine, rieselnde Gefühl des mich durchdringenden Alkohols. Ich glaube, wir gingen eine volle Viertelstunde in einer Art seliger Betäubung und ahnten des anderen Gegenwart nur als etwas Beglückendes in der Luft rings um uns. Ich wurde aus meinem Nirwana herausgerissen, als sie sich plötzlich an mich drängte. Sie war biegsam und warm, und bei der Berührung flutete eine heiße Welle in mir empor. Ich nahm sie in den Arm und küßte sie. Da erlebte ich eine Überraschung. Ich hatte sie für den unerfahrenen, passiven Typ gehalten und nicht geahnt, daß sie wirkliches Temperament verbarg. Ihre Augen wurden blank und wild, als ich sie küßte, und plötzlich fuhr sie mit dem Kopf zur Seite und biß mich in den Hals. Es war eine impulsive und raffinierte Liebkosung, und die Woge in mir wurde zu einem Meer. Ich preßte sie an mich, daß sie fast bewußtlos in meinen Armen lag. Ich weiß nicht, wie lange wir so standen und was plötzlich die Stimmung zerstörte. Merkwürdig war, daß ich mit einem Male nüchtern wurde. Ich entdeckte, daß wir draußen auf der großen Ebene standen, dort, wo der Weg sich aus dem Walde schwingt, -41-
es lag ein weißlicher Schimmer über ihr, der sie wie eine Traumlandschaft aussehen ließ. Die Bäume, die im Tageslicht ganz gewöhnliche Bäume gewesen, waren auf eine neue Art lebendig geworden. Am Tage standen sie steif und verrenkt da, die Wurzeln in den Boden gekrallt, doch jetzt bewegten sie sich, schwankten mit dunklen, unruhigen Stämmen, näherten sich gleichsam unmerklich dem Wegrand. Ich fühlte, was es war. Es war die Angst, die sich an mich heranschlich. Die alte, unerklärliche Angst. Da bemerkte ich, daß Eva von dem gleichen Grauen angesteckt war. Ihr Gesicht war verzerrt. Ich fühlte, daß sie zitterte, und ließ sie los. »Gehen wir zurück«, sagte ich. Wir gingen in den Wald hinein. Der Weg schlängelte sich in kurzen Wendungen dahin; er war weiß wie Silber, und die Tannennadeln knisterten unter unseren Schuhen. Das einzige, was ich hörte, war das Geräusch unserer Schritte und das schwere, monotone Brausen in den Wipfeln. Mein Schatten flog mir fremd und unkenntlich auf dem mondhellen Weg voran. Es war, als ob er an mir zerre, um mich wegzubekommen; es war gefährlich, hier zu verweilen, gefährlich, stehenzubleiben und sich umzusehen. Evas Hand klammerte sich um meinen Arm. »Spürst du es?« sagte sie. »Spürst du, daß dort im Dunkeln etwas liegt und lauert? Etwas, das sozusagen auf dem Sprung liegt?« »Unsinn«, sagte ich. Mich fror. »Ich glaube, daß etwas Entsetzliches geschehen wird«, sagte sie. »Etwas, wogegen wir ganz hilflos sind. Etwas, was geschehen muß.« »Was sollte das sein?« Ich legte, um sie zu beruhigen, meinen Arm um sie. Tat es -42-
vielleicht auch, um mich selbst zu beruhigen. »Hast du die Menschen dort beobachtet?« fragte sie. »Die sind alle verrückt. Sie tanzen. Aber das ist eine danse macabre. Sie fühlen, das Schicksal wartet hier auf sie in Wald und Nacht. Sie fühlen sich umringt. Und sie werden verrückt.« Es war seltsam, ein junges Mädchen so reden zu hören. Aber ich spürte das gleiche in diesem Augenblick. »Werden wir nicht überspannt!« sagte ich. Als wir auf der Terrasse anlangten, faßte Helge mich am Arm, blickte auf meinen Hals und lachte. »Bravo«, sagte er. »Fangen die Frauen an, dich zu vernaschen? Du machst Fortschritte, Bernhard Borge.« Ich war nicht sonderlich für Helges Humor aufgelegt und ging schlafen. Den ganzen nächsten Tag über hatte ich das Gefühl, daß sich die Atmosphäre verändert habe. Es war nicht mehr die milde, prächtige Sommerstimmung. Der Hauch von Freiheit und salziger See war verschwunden; der Himmel war bewölkt, und wenn ich auf den Wald rings um das Haus blickte, so war mir, als säße ich in einer Zelle mit dicken, grünen Wänden. Es war bedrückend. War es Überspanntheit? War Eva eine gewöhnliche, nervöse Frau, die mich mit einer völlig sinnlosen Angst angesteckt hatte? Oder war sie ein Mensch mit feineren und empfänglicheren Nerven als andere, eine von denen, die auf eine seltsame Weise die Fähigkeit haben, das Kommende zu ahnen? Jedenfalls nahm ich mir vor, gegen diese neue Stimmung des Grauens anzukämpfen. Die anderen Gäste gingen früh zu Bett; Helge war müde und ging schon gegen zehn Uhr schlafen, Sonja einige Minuten später. Um zwölf Uhr war es ganz still im Haus. Nur ein feiner Sprühregen schlug gegen die Fenster. Ich machte es mir auf dem großen Ledersofa vor dem Kamin -43-
im Salon bequem, umgab mich mit Kissen und Polstern, bis ich einem ruhenden Pascha glich, zog Bleistift und Schreibblock aus der Tasche und begann einen Entwurf zu meinem neuen Kriminalroman. Ein richtig gemütlicher, altmodischer Kriminalroman, worin der Mörder Klosterlikör trinkt und erstklassige Havanna zigarren raucht. Die großen Fichtenkloben im Kamin knackten behaglich; ein warmer Flammenschein flackerte die Wände entlang. Die Uhr mochte wohl gegen halb drei sein, und ich hatte mich bereits ein gutes Stück in das zweite Kapitel hineingeschrieben, als ich plötzlich Schritte vom Obergeschoß herunterkommen hörte. Füße in Morgenschuhen. Sie gingen durch die Halle nebenan und näherten sich der Schiebetür zum Salon. Die Tür wurde aufgeschoben, und eine Gestalt glitt in das halbdunkle Zimmer. Es war Saisa Sjöström. Sie trug ein glattes, straff sitzendes Satinnachthemd und hatte einen Kimono von schwarzen Spitzen über die Schultern geworfen. Sie sah mich nicht, sondern ging geradenwegs auf Helges Zimmer zu. Mir war klar, daß ich dies nicht beobachten sollte, so lehnte ich mich tiefer hinter dem Sofarücken zurück. Die Tür zu Helges Zimmer war nicht abgeschlossen, sie öffnete sie und glitt hinein. Ich hörte, daß sie das Licht drinnen anknipste. Einige Sekunden vergingen. Ich hatte mich bereits wieder über meine Notizen gebeugt, als es plötzlich geschah. Ein wilder, durchdringender Schrei hallte durch den Raum. Aus Helges Zimmer. Einen Augenblick lang saß ich still und blickte dumm vor mich hin. Dann lief ich zum Zimmer hinüber und riß die Tür auf. Ein entsetzlicher Anblick bot sich mir. Mitten im Zimmer stand Saisa Sjöström mit einem hysterischen Ausdruck im Gesicht. Und im Bett lag Helge, tot, mit durchschnittener Kehle, in seinem eigenen Blut -44-
schwimmend. Saisa schwankte. Sie fiel vornüber und verlor das Bewußtsein.
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FÜNFTES KAPITEL Worin die Verwirrung allgemein ist Ein Mann, der sich sein Brot mit dem Schreiben von Kriminalromanen verdient und dessen Phantasie sich täglich mit Leichen und Mördern beschäftigt, sollte wohl alle Voraussetzungen haben, einer solchen Situation kaltblütig gegenüberzustehen. Doch ich fiel völlig aus dem Gleichgewicht. Ich zitterte am ganzen Leibe, und mir wirbelte es im Kopf, so daß ich einen Augenblick glaubte, ich sei wahnsinnig geworden. Es war wie ein Alpdruck. Die Gäste kamen die Treppe heruntergestürmt. Kåre, der zwei Zimmer von Helges Raum entfernt schlief, kam als erster zu mir herein. Er war im Schlafanzug und wirkte halb benommen. Als er Helge erblickte, fuhr er zusammen und wurde hellwach. »Oh«, sagte er nur. Eva, Vesla, Storm-Jensen, Kvam, Lundmo und die Hausgehilfin Anna stürzten in das Zimmer und blieben vor dem Bett stehen. Vesla schrie und brach in einen Weinkrampf aus; Eva war kreideweiß und lehnte sich schwer gegen mich. StormJensen und die Hausgehilfin faßten Saisa unter den Armen und führten sie zu dem Sofa im Salon. Lundmo trat ans Bett und begann die Leiche zu untersuchen. Keiner von uns sagte ein Wort. Ich ging hinaus ans Telefon und meldete ein Ferngespräch mit Voranmeldung für Polizeiinspektor Hammer in Oslo an. Durch unermüdliches Telefonieren gelang es mir darauf, den Lensmann des Distriktes aus den Federn zu holen. Ich hatte den ersten Schreck überwunden und war nun wieder Herr der Lage. Plötzlich mußte ich daran denken, daß es jemanden gab, der nicht in der ersten schrecklichen Minute herausgestürzt war. -46-
Sonja Lundmo. Sie war einfach abwesend, was seltsam erscheinen mußte, wenn man in Betracht zog, daß sie Wand an Wand mit Helge hauste und daß sich eine Tür zwischen den beiden Zimmern befand. Ich beschloß, dies zu untersuchen, und ging von Helges Zimmer aus zu ihr hinein. Die Tür war unverschlossen. Durch das offene Fenster hörte man das leichte Rieseln des Regens draußen. Sogleich fiel mir ein eigenartiger Brandgeruch auf. Sie schlief. Sie schlief so fest, daß ich während eines kurzen panischen Erschreckens glaubte, auch sie sei tot, ermordet von einem unbekannten und entsetzlichen Wesen dort draußen im Dunkel der Nacht. Schließlich gelang es mir, sie zu wecken. Mit kleinen todmüden Augen starrte sie mich an und fragte mich, was ich wolle. »Helge ist tot«, sagte ich. »Ermordet.« Sie riß die Augen auf und sah mich an. Ihr schönes Gesicht wurde hart und kalt. »Wenn das ein Scherz sein soll, so ist er unglaublich billig«, sagte sie. Sie hüllte sich in einen Morgenrock und ging ins Nebenzimmer. Ein leises Stöhnen entfuhr ihr, als sie den Toten erblickte. Dann sank sie in die Knie und blieb, mit dem Kopf an Helges Bein ruhend, ganz still liegen. Ich trat zu Lundmo. »Zu welchem Resultat sind Sie gekommen?« fragte ich. »Helge wurde um Viertel nach zwei getötet. Vielleicht etwas früher. Hier können Sie übrigens die Mordwaffe sehen. Sie lag unter dem Bett.« Er hielt mir ein Messer entgegen, dessen Griff vorsichtig in ein Taschentuch gehüllt war. Es hatte eine grob gezackte Schneide und war, soweit ich sehen konnte, eines von der Art, wie man sie in der Küche zum Ausnehmen von Fischen gebraucht. Die scharfen Zähne waren mit Blut besudelt. -47-
»Das ist ja eine merkwürdige Waffe«, sagte ich. »Die Mordmethode ist noch merkwürdiger. Der Täter hat dieses Messer nicht zum Stechen benutzt; er hat ihm einfach die Kehle durchgesägt. Die große Halsschlagader ist geteilt. Sehen Sie selbst.« Ich schloß die Augen. Lundmo stand ganz unberührt da und dozierte über Helges Leiche, als ob es sich um eine ganz gewöhnliche Sektion an der Universität handele. Ich weiß ja, daß Ärzte anders als wir normalen Menschen reagieren; sie haben täglich mit dem Tode zu tun, stehen auf Du und Du mit ihm. Doch ich konnte Lundmos Kälte nicht ertragen. Ich ging hinaus. Es herrschte eine apathische, gedrückte Stimmung im Salon. Storm-Jensen stand über Saisa gebeugt und versuchte Whisky durch ihre kalten Lippen zu träufeln. Kåre streichelte Vesla Kramer mit verzweifelten, steifen Bewegungen über den Rücken. Sie saß in Tränen aufgelöst da. Es war, als ob allen die Zunge gelähmt sei. Was sollte man auch sagen? Die einzige Bemerkung, die in diesen Minuten fiel, kam von Kvam. Er trat auf mich zu, blickte mich mit einem ziemlich müden Blick an und sagte: »Dies bedeutet, daß ich mich um drei Uhr betrinke, statt wie gewöhnlich um neun Uhr.« Worauf er sich fester in seinen Schlafrock wickelte und gesetzten Schrittes in den Weinkeller hinunterstieg. Eine Viertelstunde später bekam ich Hammer ans Telefon. Seine Stimme war schlaftrunken und gereizt: »Hallo.« »Hallo. Hier ist Bernhard Borge.« »Verflucht noch mal...« »Schon gut. Kraftausdrücke sind überflüssig. Es handelt sich um einen Mord. Helge Gårholm wurde vor einer -48-
Dreiviertelstunde umgebracht.« »Von wem?« »Ja, ich rufe selbstverständlich an, um dir das zu sagen. Als eine kleine Anekdote mitten in der Nacht. Vielleicht versuchst du einmal in deine Kleider zu springen und hier herauszukommen. Soviel ich weiß, hast du eine Art Anstellung bei der Osloer Polizei.« Es war still am anderen Ende. Er schluckte ein paarmal. »Verflixt und zugenäht«, sagte er. »Ich komme sofort. Wo bist du?« Ich beschrieb ihm die Lage. »Und denk an deine Abmachungen vom Frühjahr«, sagte ich. »Bringe Kai Bugge mit. Selbst wenn du genötigt bist, in seine Wohnung einzubrechen.« »Wird gemacht«, sagte er. »Wir werden in etwa vier bis fünf Stunden bei euch sein.« Draußen begann der Tag zu grauen. Gegen halb vier kam der Lensmann mit einem Polizisten und einem Polizeiarzt vorgefahren. Nach einer kurzen Besichtigung des Tatortes begann er, uns zu verhören. »Herr Lensmann«, sagte ich. »Ich habe bereits die Osloer Polizei benachrichtigt. Die will den Fall übernehmen.« »So, so«, sagte er. So verdrossen, wie es nur ein Provinzbeamter sagen kann, wenn er sich vor denen in der Weltstadt zurückgesetzt fühlt. In diesen ersten unheimlichen Stunden nach dem Mord widmete ich mich Eva. Sie war zusammengebrochen und fieberte unter Kälteschauern, so daß ich ihr einen Grog bereiten mußte, um sie wieder aufzumuntern. Sie saß in einem Stuhl und starrte mit einem wunderlich leeren Blick vor sich hin. »So ist es also geschehen«, sagte sie. »Das, was kommen mußte. Weißt du noch, was ich gestern sagte? Ach Herrgott, -49-
jetzt ist es über uns, es ist über uns...« Sie klapperte mit den Zähnen, während sie redete. Ich hielt ihr das Glas an den Mund. »Denk nicht daran«, sagte ich. »Und trink dies hier. Das wärmt.« Ich legte ihr eine große, dicke Wolldecke um die Schultern, setzte mich auf die Sessellehne und legte den Arm um sie. Mir war, als sei sie ein kleines Kind, das ich umhegte und gegen böse Mächte beschützte. Ihr sollte jedenfalls niemand etwas Böses antun. Um acht Uhr hupte es draußen. Ich ging zur Pforte hinunter. Hammer stieg aus dem Wagen und winkte. »Hallo, Borge«, sagte er. »Ich habe den Psychologen mit im Gepäck.« Bugge kam auch heraus. Er nickte und lächelte mir zu, mit diesem wohlwollenden, ein wenig indolenten Lächeln, das er aufsetzt, um seine Patienten zu beruhigen. Und sofort empfand ich ein tiefes Gefühl der Sicherheit beim Anblick dieses Mannes. Er hat etwas Ausgeglichenes und eine kühle Klarheit an sich, die fast wie Brom auf erhitzte Nerven wirkt. In dieser Sekunde verstand ich das Geheimnis seines Erfolges. »Es ist scheußlich, zu so barbarischer Nachtstunde aus dem Bett gerissen zu werden«, sagte er. »Aber daran gewöhnt man sich nach und nach.« Ich führte sie zu den anderen. Nach einer kurzen Vorstellung erklärte Hammer den Gästen, daß sie genötigt sein würden, bis zur Aufklärung des Mordes hierzubleiben. Oder doch jedenfalls, bis die wichtigsten Tatsachen geklärt seien. Das würde möglicherweise zwei bis drei Tage dauern. Während dieser Zeit müßten sie sich in unmittelbarer Nähe des Hauses aufhalten, so daß sie ihm jederzeit zur Verfügung stünden. Innerhalb des Grundstücks hätten sie volle Bewegungsfreiheit. -50-
Darauf begleitete ich Hammer und Bugge in Helges Zimmer. Ich bemerkte, daß selbst der hartgekochte Hammer einen kleinen Schock erlitt, als er den Toten sah. »Pfui Teufel«, murmelte er. »Das gehört zum schlimmsten, was mir jemals vorgekommen ist.« Bugge stand eine Weile still da und betrachtete Helge. »Es ist schade um ihn«, sagte er. »Er war im Grunde ein netter Junge. Vielleicht etwas schnoddrig, ein wenig zu sehr drauf versessen, mit anderen zu spielen, ein wenig monoman auf seinem Gebiet. Doch er war ein lebendiger Mensch. Und es straft sich, allzu lebendig zu sein.« »Sparen wir uns die Grabreden«, brummte Hammer. »Gehen wir an die Arbeit. Ich schlage vor, daß wir systematisch vorgehen und damit beginnen, die Anwesenden zu verhören. Oder was meinst du dazu, Herr Kollege?« »Fang nur an«, sagte Bugge. »Da wir Borge gerade hier haben, können wir ja gleich mit ihm beginnen.« Hammer fing an, mich auszuquetschen. Was ich zu erzählen hatte, war nicht viel. Ich hatte etwa drei Stunden lang im Salon gesessen und gesehen, wie Saisa Sjöström um halb drei zu Helge hineinging. Kurz darauf hatte ich den Schrei gehört. Damit der Leser sich orientieren kann, füge ich einen Grundriß des Erdgeschosses bei. Hammer trat ans Fenster. »Das Fenster ist geschlossen«, sagte er. »Die Riegel sind fest. Du bist sicher, daß es geschlossen war, als du zum ersten Male in das Zimmer kamst?« »Ja, Helge schlief immer bei geschlossenen Fenstern.« »Also gibt es nur zwei Möglichkeiten: der Mörder kann durch die Salontür gekommen sein, oder er ist durch das Nebenzimmer eingedrungen. Wer ist dort einquartiert?« -51-
»Sonja Lundmo.« »Eine von Helges -?« »Ja.« »Interessant. Wie lautet das medizinische Gutachten hinsichtlich der Todesursache?« »Lundmo, einer der Gäste hier, erklärt, daß Helge um Viertel nach zwei oder etwas früher getötet worden sei. Der Polizeiarzt, -52-
der die Leiche eine Stunde später untersuchte, sagte, daß es zwischen zehn nach zwei und halb drei geschehen sei.« »Das schließt wahrscheinlich die Möglichkeit aus, daß der Mörder durch den Salon gekommen ist. Denn in der fraglichen Zeit warst du ja dort. Du bist völlig sicher, daß niemand vor Saisa Sjöström Helges Zimmer betrat?« »Absolut. Es hätte mir nicht entgehen können, wenn jemand von der Terrasse, der Halle oder der Küche in den Salon gekommen wäre.« »Und du hörtest vor dem Schrei nichts aus dem Raum?« »Nein. Es ist ziemlich hellhörig hier, so daß ich ein starkes Geräusch, wie etwa von einer Schlägerei, sicher gehört hätte. Doch prasselte es ziemlich lebhaft im Kamin, so daß ich schwächere Geräusche vielleicht nicht hätte wahrnehmen können.« Wir gingen in Sonjas Zimmer. Das Fenster stand immer noch offen. Hammer ging hin und blickte den Abhang davor hinab. »Weißt du, ob dieses Fenster heute nacht offenstand?« »Ja, dessen bin ich ganz sicher. Eine Weile nachdem wir Helge gefunden hatten, war ich hier, um Sonja zu wecken.« »War Sonja Lundmo die einzige, die nicht von dem Schrei aufwachte?« »Ja. Sie schlief sehr fest. Ich brauchte lange, um sie wachzukriegen.« »Sonja Lundmo ist Schauspielerin, nicht wahr?« Ich merkte seinem Tonfall an, was er andeuten wollte. »Großer Gott«, sagte ich. »Du meinst doch wohl nicht, daß sie nur so tat, als ob sie schliefe?« »Ich meine gar nichts«, sagte er. »Ich will nur Auskünfte haben.« Er beugte sich aus dem Fenster und untersuchte genau die -53-
Außenwand und den aufgeweichten Boden davor. Nach einer Minute stiller Beobachtung zog er den Kopf wieder zurück. »Eines steht fest«, sagte er. »Der Mörder ist nicht durch das Fenster hereingekommen. Es hat heute nacht geregnet, und die Erde ist so weich, daß er es nicht hätte vermeiden können, Spuren zu hinterlassen, wenn er auf diesem Wege gekommen wäre. Doch findet sich keine Andeutung von Fußspuren. Auch kann er sich nicht an der Fassade entla ng bewegt haben, denn es gibt keinen Vorsprung, auf den er sich hätte stützen können. Die Tür dort in der Wand, wohin führt die?« »Die führt ins Zimmer von Kåre, Helges Bruder. Hier im Erdgeschoß haben nur Kåre, Sonja Lundmo und Helge geschlafen. Die anderen wohnen oben.« Wir gingen in Kåres Zimmer. Die Tür war nicht abgeschlossen. Einige Stücke bemalter Leinwand waren gegen die Wände gestellt; mitten auf dem Flur stand eine Staffelei mit einem angefangenen Bild. Als Maler gehört Kåre zu einem dieser modernen Ismen, die den Leuten einreden möchten, daß alle Dinge aus Zylindern und Vierecken bestehen. Ich hatte seine Bilder eigentlich nie recht beachtet und ihm im Grunde auch nichts Ordentliches zugetraut. »Kåre hat eines mit den großen Künstlern gemein: die Affektation.« So hatte Helge seinen Bruder charakterisiert. Doch plötzlich mußte ich an den Monolog denken, den er vor einigen Tagen unten am Strande gehalten, und sah mir die Gemälde, die dort standen, interessiert an. Die Leinwand auf der Staffelei trug vorläufig nur eine Skizze; darunter in der Ecke stand mit Kohle: »Der Sieger.« Soweit ich die wilden Striche deuten konnte, stellten sie einen Kampf zwischen zwei Männern dar. Der eine, klein von Wuchs, war im Begriff, die Oberhand zu gewinnen; er hatte seine Hände fest um die Kehle des anderen gepreßt - eines Riesen, der aus neun Zylindern und einem Viereck bestand - und zwang ihn gerade in die Knie. Komisch war, daß dies sich auf den anderen Bildern -54-
wiederholte, nur mit kleinen Abweichungen in Titel, Farben und Komposition. »Seltsam«, sagte ich. »Das hatte ich bisher nie bemerkt. Er malt ja eigentlich nur ein Motiv.« Hammer interessierte sich offenbar nicht für moderne Kunst. Er war völlig mit irgend etwas am Fenster beschäftigt. »Dieses Fenster stand jedenfalls heute nacht nicht offen«, sagte er. »Es muß seit mindestens einer Woche geschlossen gewesen sein. Auf den Riegeln liegt eine dicke Staubschicht.« »Das kann stimmen«, sagte ich. »Kåre hat eine Abneigung gegen frische Luft. Das ist wohl eine Eigenheit bei Künstlern.« Bugge war zu uns hereingetreten. Er hatte die ganze Zeit in Helges Zimmer gestanden und die Mordwaffe mit einem ziemlich geistesabwesenden Ausdruck betrachtet. »Nun, lieber Kollege«, sagte er. »Wie weit bist du in diesen fünf Minuten gekommen?« »Das werde ich dir ziemlich genau sagen«, meinte Hammer. »Die einzige Möglichkeit, von außen einzudringen, bestand für den Mörder darin, daß er durch das Fenster in Sonja Lundmos Zimmer eindrang. Es ist jedoch niemand heute nacht durch das Fenster gekommen. Und das beweist etwas ziemlich Einleuchtendes: Der Mörder befindet sich zur Zeit innerhalb der vier Wände dieses Hauses.« Bugge lächelte schläfrig. Er zog ein schmales Silberetui aus der Tasche und schnellte eine Zigarette hervor. »Ausgezeichnet«, sagte er. »Du übertriffst meine kühnsten Erwartungen. Sicherlich werde ich neben dir den kürzeren ziehen.«
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SECHSTES KAPITEL Worin sich hier und da einige Lichtstreifen zeigen Die erste von den anderen Gästen, die verhört wurde, war Saisa Sjöström. Sie hatte sich von der heftigen Erschütterung erholt, doch wirkte ihr Gesicht übernächtig und müde. Der grünliche Schimmer in ihren Augen war erloschen und einem Ausdruck der Bitterkeit und des Mißtrauens gewichen. Doch gehörte sie zu dem Typ, der sich niemals eine Vernachlässigung seines Äußeren erlaubt, selbst nicht unter Umständen, die das entschuldigen würden. Sie trug ein blendend weißes Tenniskleid, das kühl und fest auf dem bildhübschen Körper saß. Sie erklärte ohne Umschweife, daß sie mit Helge verabredet hatte, um halb drei zu ihm herunterzukommen. Die Tür sei offen gewesen; sie sei zu ihm hineingegangen, habe das Licht angeschaltet, und dann habe sich ihr ein entsetzlicher Anblick geboten. Sie habe aufgeschrien, und dann seien ihr die Sinne geschwunden. Darüber hinaus habe sie weder etwas gesehen noch gehört. »Gingen Sie direkt in sein Zimmer, ohne anzuklopfen?« »Nein, ich klopfte an.« »Stimmt das, Borge?« Hammer wandte sich an mich. Das war peinlich. Es ist mir zuwider, ungalant gegen Damen zu sein, vor allem, wenn sie jung und anziehend sind. Doch fand ich, daß ich ehrlich sein müsse. »Nein«, sagte ich. »Das stimmt nicht. Fräulein Sjöström ging geradeswegs hinein, ohne anzuklopfen.« Saisa wurde sichtlich verwirrt. Sie hatte offenbar nicht -56-
bemerkt, daß ich mich in dem Salon befunden hatte. Doch faßte sie sich sofort wieder. »Vielleicht irre ich mich«, sagte sie. »Ich war in den letzten Stunden so nervös, daß es mir fast unmöglich ist, meine Gedanken zu ordnen.« »Was wollte Helge Gårholm so früh am Morgen vo n Ihnen?« Ich fand diese Frage taktlos. Saisa lächelte ihn freundlich an. »Das geht Sie gar nichts an«, sagte sie mit ihrer sanftesten Stimme. »Ich möchte Ihnen raten, sich eines anderen Tones zu bedienen«, brauste Hammer auf. »Ihre Sache steht nicht so gut, daß Sie Grund hätten, sich aufs hohe Pferd zu setzen.« »Was meinen Sie damit?« Ihr Mund wurde hart. »Wollen Sie etwa andeuten?« »Daß Sie des Mordes an Helge Gårholm verdächtig sind? Nein, das habe ich nicht gesagt. Aber daß Sie die einzige sind, die man zu dem Zeitpunkt in das Zimmer des Ermordeten hat gehen sehen, als die Untat begangen worden sein kann. Sie verstehen vielleicht, daß das gefährlich für Sie ist?« »Unverschämtheit!« rief Saisa und stampfte mit dem Fuß auf. »Sie unterstellen, daß ich Helge ermordet habe. Daß ich einen Mann ermordet habe, den ich liebte? Halten Sie mich für verrückt? Ich liebte ihn, verstehen Sie das?« Sie war außer sich. Ihre Wangen hatten sich wieder gerötet, ihre Augen funkelten. Sie glich einem jungen Tier. Plötzlich befand ich mich in der Feuerlinie. »Dieser schleimige Borge hat wohl geplaudert, wie? Hat wohl gesagt, daß ich eifersüchtig auf Sonja Lundmo war? Aber das stimmt nicht, kann ich Ihnen sagen. Sie war es, die auf mich eifersüchtig war, und sie hatte Grund dazu. Ich liebte Helge, und ich kam heute nacht hierher, um von ihm geliebt zu werden. Nun wissen Sie's.« -57-
Sie war ganz dicht an Hammer herangetreten und sprach ihm direkt ins Gesicht. »Sie sollten sich lieber diese Lundmo-Mädchen etwas näher ansehen, ehe Sie mit solchen albernen Unterstellungen kommen. Sie gehören beide zu diesem netten, hübschen Engeltyp, von dem alle das Beste glauben. Aber diese Art Frauen hat alle Bosheit und Intrigen der Hölle im Leibe. Außen sind sie weiß und innen schwarz. Sonja ist die Schlimmste von ihnen, und sie ist's, die Helge umgebracht hat.« Ich war erschüttert über diese Gemeinheit. Versuchte sie wirklich, Eva hier hineinzuziehen? Auch Hammer war offensichtlich verärgert; er winkte ab. »Das alles interessiert hier nicht«, sagte er. »Dies ist ein polizeiliches Verhör und keine Klatschecke im Theatercafe. Wenn Sie keine sachlichen Auskünfte geben können, dürfen Sie sich vorläufig zurückziehen.« Sie warf den Kopf in den Nacken und verließ das Zimmer. »Verteufeltes Frauenzimmer«, sagte Hammer. »Sie hat jedenfalls Temperament genug, um einen Menschen umzubringen.« Er warf einen Seitenblick auf Bugge, doch der saß am Fenster und blickte interessiert in ein Wochenblatt. Hammer begann die Hausgehilfin Anna zu verhören. Sie war eine nette Erscheinung, schlank und von einnehmendem Wesen; trotz Helges Empfehlung hatte ich sie mir noch nicht so genau angesehen. Sie bestätigte, daß die Mordwaffe aus der Küche stammte und zum Ausnehmen der Fische benutzt wurde. Weiter erzählte sie, daß sie gegen Mittag des Vortages nach dem Messer gesucht habe, doch sei es da von seinem Platz auf dem Küchentisch verschwunden gewesen. Am Tage davor habe sie es zuletzt gebraucht. »Sie haben keine Idee, wer es genommen haben könnte?« »Nein. Jeder könnte es gewesen sein. Die Gäste pflegen nachts in die Küche zu gehen und sich aus dem Eisschrank zu -58-
versorgen.« »Aber in letzter Zeit hat sich niemand anders hier aufgehalten als die jetzt hier Wohnenden?« »Nein.« »Jedenfalls«, sagte Hammer, zu Bugge und mir gewandt, »haben wir damit wohl ein Indizium, daß sich der Mörder im Hause befindet.« Storm-Jensen, Vesla und Kvam wurden rasch hintereinander verhört. Keiner von ihnen hatte etwas zu berichten. Sie waren gegen dreiundzwanzig Uhr zu Bett gegangen und vor Mitternacht eingeschlafen. Storm-Jensen war nicht so sehr Tarzan wie gewöhnlich; er wirkte etwas bedrückt. Obwohl er keinen Grund hatte, Helge besonders hochzuschätzen, war ihm die Sache offenbar auf die Nerven gegangen. Vesla hatte dunkle, schwere Ringe unter den Augen und antwortete sehr einsilbig auf Hammers Fragen. Sie war vielleicht die einzige, die den Eindruck echten Kummers erweckte. Kvam dagegen wirkte völlig unberührt. Er war eine Idee nüchterner als sonst, und ich hatte ihn im Verdacht, daß er Natron genommen hatte. Eva, deren Zimmer sich über dem Helges befindet, hatte sich ebenfalls früh schlafen gelegt, ohne jedoch Ruhe zu finden. Sie hatte ein schweres, bedrückendes Angstgefühl empfunden, eine düstere Vorahnung, daß irgend etwas in dieser Nacht geschehen würde. Ich verstand sie; genau so hatte ich es empfunden. Einmal - zwischen zwei und halb drei Uhr - sie konnte es nicht genau sagen - meinte sie ein leises Geräusch aus dem Zimmer unter ihr vernommen zu haben. Es hörte sich an wie das Knarren einer Tür. Sie hatte geglaubt, es sei Sonja. »Meinen Sie, daß die Tür zum Zimmer Ihrer Schwester geöffnet wurde?« »Ich glaube, ja. Aber ganz sicher bin ich nicht. Ich fühlte mich ängstlich und unruhig, und es ist durchaus denkbar, daß ich es mir nur eingebildet habe.« -59-
»Sie sagen, daß Sie glaubten, es würde etwas in jener Nacht passieren. Hatten Sie Grund zu einer solchen Annahme?« »Nein, das hatte ich selbstverständlich nicht. Aber es lag etwas in der Atmosphäre, etwas Unheilverkündendes; ich weiß nicht, wie ich in diese Stimmung geriet. Allerdings habe ich früher schon Ähnliches erlebt, daß ich eine Vorahnung von kommenden Ereignissen hatte.« Lundmo und Kåre konnten auch nicht viel zur Aufklärung beitragen. Sie hatten beide geschlafen und waren erst von Saisas Schrei geweckt worden. Lundmo betonte, daß der Mord spätestens um Viertel nach zwei verübt worden sein konnte. Als Helge gefunden wurde, war sein Blut schon so weit geronnen, daß mindestens eine Viertelstunde vergangen sein mußte, seitdem ihm die Kehle durchgeschnitten worden war. Lundmo trug immer noch die kalte, wissenschaftliche Maske, wenn er sprach. Für ihn war das alles nur ein Kapitel interessanter Physiologie. Sonja Lundmo hatte sich in Schwarz gekleidet. Das war so ein kleiner Zug, der mir auffiel. Mir wurde bewußt, wie geschmacklos es von Saisa war, sich bei solcher Gelegenheit in schimmerndes Weiß zu kleiden. Vielleicht bin ich aber in solchen Dingen zu bürgerlich. Sonja war entsetzlich blaß, und sie sprach leise und langsam. Hin und wieder war es, als ob ihre Stimme zitterte. Sie erzählte, daß sie sich plötzlich gegen zehn Uhr todmüde gefühlt habe; sie sei ins Bett gegangen und fast sofort eingeschlafen. »Borge erzählt, daß Sie unglaublich fest geschlafen haben. Tun Sie das immer?« »Nein, im Gegenteil. Ich pflege beim geringsten Anlaß aufzuwachen. Ich verstehe nicht, was mit mir los gewesen sein kann.« »Und Sie hätten also nicht gemerkt, wenn jemand durch Ihr Zimmer gegangen wäre?« -60-
»Kaum. Ich schlief wie ein Stein. Soviel ich verstehe, hatte Borge alle Mühe, mich wachzukriegen.« »Hatten Sie den Eindruck, daß jemand hier im Hause war, der Helge nach dem Leben trachtete?« Sie blickte Hammer an. Sie hatte kühle, intelligente Augen, doch lag zugleich Wärme darin. »Ich weiß nicht. Es war wohl niemand da, der ihn eigentlich gern mochte. Man mußte ihn entweder lieben oder hassen. Er war so rücksichtslos, so völlig ohne Skrupel. Aber er war ein Mann. Und Männer sind so selten. Nur wenige wagen es, dem Leben gerade ins Gesicht zu sehen und jeden Widerstand niederzuschlagen, der ihnen den Weg versperrt. Vielleicht ist es gefährlich, so zu leben. Vielleicht wurde er gehaßt, weil er so war, wie die anderen gern sein wollten.« »Das scheint ja ein recht eigenartiges Milieu hier zu sein«, sagte Hammer, als Sonja gegangen war. »Du, Borge, mußt doch gewisse Eindrücke gewonnen haben, da du doch einige Tage hier gewohnt hast. Erzähle, was du von diesen Menschen weißt.« Ich führte kurz aus, was ich wußte, ließ ihn wissen, welches Bild ich mir während meines Aufenthaltes in der Villa »Seewind« von diesem Kreise gemacht hatte. Ich schilderte die Spannung zwischen den beiden Schauspielerinnen und beschrieb das Fünfeck Saisa-Helge-Kvam- Lundmo-StormJensen. Ich malte das seltsame Bruderverhältnis zwischen Kåre und Helge aus und gab Kåres etwas makabre Gesichtspunkte auf dem Gebiete der Kunst zum besten. Zum Schluß versuchte ich, etwas von dem Grauen des Ortes zu vermitteln, das Bedrückende des großen Waldes und des Nachtdunkels. Hammer lächelte, als ich fertig war. »Zweifellos bist du mehr Kriminalschriftsteller als realistisch eingestellter Beobachter«, sagte er. »Aber vielleicht hast du recht. Vielleicht hat hier draußen etwas in der Luft gelegen, das -61-
den zurückgedrängten Haß bei einem dieser Menschen ausgelöst hat. Für mich sieht es tatsächlich so aus, als ob die meisten hier mit einem Mordmotiv herumgehen. Ich glaube, ich habe mir ein einigermaßen richtiges Bild von Helge Gårholm gemacht, obwohl ich ihn nur flüchtig kannte. Er war die personifizierte Herausforderung; ich glaube, er hätte selbst in einer unterdrückten Kleinbürgerseele den Mordwunsch wecken können. Die Frauen haßten ihn aus Liebe und die Männer aus Eifersucht...« Hammer zog seine Dunhill-Pfeife aus der Tasche, füllte sie mit grober, duftender Garter Mixture und zündete sie an. Sofort hatte er das urgemütliche Detektiv-Gepräge, das zu beschreiben alle Kriminalschriftsteller miteinander wetteifern. Er ging eine Weile auf und ab und blies große Rauchwolken in den Raum. Bugge hatte seine Illustrierte aus der Hand gelegt und warf ihm einen freundlich-ironischen Blick zu. »Du siehst so energisch aus«, sagte er. »Ist es gestattet, zu fragen, wie viele Glieder der großen logischen Kette du bisher zusammenschmieden konntest?« »Gern, lieber Watson«, sagte Hammer. »Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob nicht einer der Beteiligten ein hieb- und stichfestes Alibi hat. Keiner befand sich zur Zeit des Mordes in der Gesellschaft eines anderen. Doch praktisch scheidet das ganze Obergeschoß durch Borges Aussage aus. Das heißt mit Ausnahme von Saisa Sjöström. Man konnte eben nur durch den Salon in Helges Zimmer kommen. Wenn Borge nicht ganz vernagelt gewesen ist, so scheidet diese Möglichkeit aus. Auch sind wir uns darüber einig, daß der Mörder nicht durch ein Fenster gekommen sein kann. Es bleiben also noch drei Möglichkeiten: Entweder wurde der Mord von Saisa Sjöström, von Sonja Lundmo oder von Kåre Gårholm verübt...« Er zog eine Weile an seiner Pfeife. »Diese drei sind einfach die einzigen, die Gelegenheit hatten, den Mord zu begehen. Vorausgesetzt, daß wir von Borge -62-
absehen.« Ich lachte laut auf. »Bitte sehr«, sagte ich. »Ich stehe zur Verfügung.« »Sehen wir uns die Alternativen an«, fuhr Hammer fort. »Sonja Lundmo kann direkt von ihrem Zimmer zu Helge hineingegangen sein und ihn getötet haben, während er schlief; es hat keinen Kampf gegeben, und schon die Mordwaffe schließt aus, daß er wach gewesen sein könnte. Dann ging sie zurück und simulierte die Schlafende. Ist es nicht etwas auffällig, daß sie ausgerechnet in dieser Nacht so fest schlief? Alternative zwei: Kåre Gårholm kann Sonja Lund mos Zimmer als Ausgangsbasis benutzt haben, er konnte sich hin und zurück durch ihr Zimmer schleichen, vorsichtig, wie ein Dieb in der Nacht, ohne sie zu wecken. Und Saisa Sjöström kann Helge ganz einfach getötet haben, als sie um halb drei zu ihm ging. Apropos, hast du ihre Hände gesehen, als sie im Salon an dir vorüberging?« »Ihre Hände? Nein. Sie trug einen Kimono über den Schultern, so daß er die Arme verbarg. Weshalb fragst du?« »Weil es von Interesse ist. Das heißt nämlich: Sie kann das Messer unter dem Kimono in der Hand gehabt haben.« »Aber das ist doch unlogisch. Ein Mörder schreit doch nicht und ruft Leute herbei. Er schleicht sich weg.« »Es ist durchaus nicht unmöglich, daß sie für einen Augenblick die Nerven verlor, als sie es getan hatte. Sie kann in einer Art Halbbewußtsein gehandelt haben, in einem Dämmerzustand, und dann kam sie mit einem Male zur Besinnung. Der Schock, Helge tot zu sehen, war für sie ja stärker als für die anderen. Sie war die einzige, die in Ohnmacht fiel. Eine natürliche Reaktion für einen labilen Menschen, der plötzlich der furchtbaren Tatsache ins Auge sehen muß, daß er ein Mörder ist.« »Aber da vergißt du ja eine ganz entscheidende Tatsache. Daß -63-
nämlich Helge spätestens Viertel nach zwei getötet wurde und daß Saisa erst eine volle Viertelstunde später kam.« »Lundmo sagt, daß Helge spätestens Viertel nach zwei getötet wurde. Das ist der springende Punkt. Deiner eigenen Aussage nach ist Lundmo in Saisa verliebt. Er war der einzige medizinische Fachmann, der zugegen war, als die Leiche gefunden wurde, und er wußte, daß der Polizeiarzt erst eine ganze Weile später kommen würde. Jedenfalls so spät, daß der Zeitpunkt des Todes sich nicht mehr genau bestimmen ließ. Der Polizeiarzt behauptet, daß dieser Zeitpunkt zwischen zehn nach zwei und halb drei liege. Doch Lundmo setzt ihn - ohne daß jemand die Behauptung kontrollieren könnte - auf Viertel nach zwei fest. Er hat Saisa damit ein medizinisches Alibi gegeben.« Ich ertappte mich dabei, daß ich Hammer bewunderte. Er vereinigt in sich Nüchternheit und Phantasie auf eine Art, die einem unbedingt Achtung abzwingen muß. Und er hat die Fähigkeit, den Kern eines Problems zu erfassen, die kleine Finesse, die wir anderen Sterblichen so leic ht übersehen. Schon fand ich, daß er Bugge eine gute Pferdelänge voraus war. Denn bisher hatte Bugge ja eigentlich nur so dagesessen und die Rolle eines Zuschauers gespielt. »Außerdem ist noch eins zu bemerken, daß nämlich Saisa behauptet, sie habe bei Helge angeklopft, obwohl dies nicht der Fall war. Wer einen Schlafenden töten will, pocht nicht an die Tür. Er schleicht sich so leise wie möglich hinein. Doch wird er hinterher sicherlich behaupten, daß er angeklopft habe...« Hammer entnahm seiner Tasche ein kleines Pulverglas. Vorsicht ig nahm er das Mordmesser zwischen zwei Finger und streute eine Schicht Aluminiumpulver über den Griff. Dann blies er darüber hin und untersuchte das Ergebnis durch eine kleine Lupe. »Keine Fingerabdrücke«, sagte er. »Selbstverständlich keine Fingerabdrücke.« -64-
Ich überlegte einige Sekunden. »Also muß der Mörder Handschuhe angehabt haben«, sagte ich. »Und Saisa Sjöström trug jedenfalls keine Handschuhe, als ich sie fand. Selbst wenn sie Helge getötet hätte, wo und wie hätte sie die Handschuhe in so kurzer Zeit verstecken können? Nachdem sie hineingegangen war, war höchstens eine halbe Minute vergangen, als ich hinterherstürzte.« Hammer lachte. »Du operierst mit Begriffen aus dem orthodoxen Kriminalroman«, sagte er. »Selbstverständlich braucht sie keine Handschuhe angehabt zu haben. Sie kann das Messer in einem Taschentuch gehalten haben. In einem dieser entzückenden kleinen Spitzentaschentücher, wie die Damen sie in der Hand zusammengerollt tragen oder auch an den unmöglichsten Stellen des Körpers aufbewahren. Niemand könnte das bemerken -« Ich mußte kapitulieren. Doch nun fühlte ich mich mitgerissen. Ein leises, prickelndes Gefühl der Spannung erfüllte mich bis in die Fingerspitzen. Es war, als ob man in einem seiner eigenen Bücher lebte. »Aber die Motive?« sagte ich. »Findest du wirklich, daß du ein hinreichendes Mordmotiv bei einem der drei gefunden hast, die du verdächtigst?« »Durchaus«, sagte Hammer. »Sieh dir die beiden Schauspielerinnen an: sie hassen sich, und sie hassen auch Helge, der mit ihnen nur spielt. Sie peitschen sich zu irrsinniger Eifersucht auf, und eines Tages platzt die Bombe. Da hast du ein crime passionel nach bestem französischem Rezept. - Und dann sieh dir Kåre Gårholm, Helges jüngeren Bruder, an, der während seiner ganzen Entwicklung systematisch tyrannisiert wurde. Jahrelang kultiviert er seinen Haß, verbirgt ihn, kriecht vor seinem Bruder, bis es ihn eines Tages übermannt. Ein Künstler, der in seinen Bildern unablässig um das Kriminelle kreist, hat ja einen offenbaren Hang zum Verbrechen. Wir haben allen -65-
Grund, ihn zu verdächtigen -« Plötzlich rührte sich Bugge in seiner Ecke. In seinen Augen funkelte es polemisch. »Hammer«, sagte er. »Ich habe alle Achtung vor dir als Polizeibeamten. Die konkreten Tatsachen meisterst du ganz virtuos. Doch gerade jetzt hast du dich aufs Glatteis begeben. Du hast das freie Gelände des Handgreiflichen verlassen und dich in die Wildnis des Seelenlebens begeben. Und da verirrt man sich nur allzu leicht.« »Nur heraus mit der Sprache«, sagte Hammer. »Ich bin für Kritik empfänglich.« »Du versuchst es so darzustellen, als ob fast alle hier im Hause ein Motiv zu diesem Mord hatten«, sagte Bugge. »Und da du zufällig gerade drei aufs Korn genommen hast, suchst du alles zusammen, was du in der Eile finden kannst. Ohne zu untersuchen, ob es wirklich einen inneren Zusammenhang zwischen dem Motiv und dem Verbrechen gibt, so wie es ausgeführt wurde. Versteh mich recht: das ist eine völlig unfruchtbare Methode.« »Ich glaube, du mußt dich etwas genauer auslassen.« »Ihr Polizeileute habt eine alte, eingefuchste Methode, eine Art Blitzmethode zur Aufklärung von Verbrechen. Gewiß kann sie oft zum Ziele führen, dafür versagt sie aber in wirklich komplizierten Fällen. Ihr kreist den Verbrecher mit Hilfe materieller Indizien ein, und wenn ihr glaubt, ihn endlich gefunden zu haben, dann klebt ihr das Motiv wie eine Art Etikett außen drauf. Das Motiv ist für euch etwas ganz Unwesentliches, etwas, was erst zum Schluß kommt. Doch ich würde den umgekehrten Weg gehen. Ich würde mir sofort die Frage stellen: Welches Motiv entspricht diesem Verbrechen?« Bugge hatte die Mordwaffe aufgenommen und wog sie in der Hand. »In jedem Jahr werden Tausende von Morde begangen«, sagte -66-
er. »Doch es gibt nicht zwei, die einander ganz gleich wären. Und weshalb? Weil die Menschen immer noch Menschen sind und keine genormten Roboter. Weil alle ihre Handlungen - auch die Verbrechen - das Gepräge der Persönlichkeit tragen. Hier haben wir einen getöteten Menschen vor uns; ermordet mit einem gezahnten Messer, wohlgemerkt; das ist etwas Neues, etwas, wovon wir noch nicht gehört haben. Und wie ist es geschehen? Wurde dieses Messer als Stichwaffe benutzt, wie man es erwarten sollte? Nein, es wurde als Säge benutzt. Als ob es darum gegangen sei, die Zähne tief in seine Kehle dringen zu lassen -« Er machte eine bezeichnende Bewegung mit dem Messer. Mir lief unwillkürlich ein Schauer über den Rücken. Bugge blickte Hammer fest an. »Vielleicht wirst du sagen, daß es nur Zufall sei, wenn die Dinge sich so oder so ereignen, ein Mord so oder so durchgeführt wird. Der Zufall ist ein großer Sack, in den wir alles hineinstecken, was wir nicht verstehen. Doch es gibt keinen Zufall. Warum hat der Mörder ein großes und unhandliches, ja sogar gezahntes Messer genommen, wenn ein kleines Taschenmesser den gleichen Dienst getan hätte? - Weil er es mußte; weil jede Einzelheit von seinem inneren Konflikt bestimmt wurde, weil nur diese Art des Mordes ihn befriedigen konnte. Er hatte keine andere Wahl.« Bugge sprach ruhig, aber mit überzeugender Eindringlichkeit. »Du glaubst, daß mehrere Leute ein Motiv für den Mord an Helge Gårholm haben. Aber zu diesem, ausgerechnet zu diesem Mord kann nur einer ein Motiv haben, nämlich der Mörder selbst. Alle die anderen ›Motive‹ sind nur Fehlauffassungen, sie sind mit diesem Verbrechen nicht physisch verbunden, haben keinen logischen Zusammenhang mit dem Geschehenen. Es gibt nur einen, dessen ganze Persönlichkeit, ganze seelische Krise, kurz gesagt: ganzes Motiv zu diesem Verbrechen paßt wie der Schlüssel zu einem Schloß. Und das ist der, den wir finden -67-
sollen -« Hammer paffte nachdenklich an seiner Dunhill-Pfeife. »Deine Theorien sind überaus interessant und elegant«, sagte er. »Und tatsächlich brenne ich immer mehr darauf, sie in die Praxis umgesetzt zu sehen.« Es lag eine kaum merkliche Ironie in seiner Stimme.
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SIEBENTES KAPITEL Worin Hammer eine Spur findet, während Bugge Kreuzworträtsel löst Nach diesen einleitenden Gesprächen begann Hammer mit seiner Feinarbeit. Ausgerüstet mit einer Pinzette, einem Metermaß und verschiedenen Chemikalien, machte er sich daran, Helges Zimmer systematisch zu untersuchen. Bugge und ich kamen uns ziemlich überflüssig vor, und wir zogen uns zurück - zu den anderen Gästen im Salon. Gegen zehn Uhr kam ein Auto aus Oslo; Helges Leiche wurde zur Obduktion abgeholt, nachdem einige Aufnahmen gemacht worden waren. Mit einem Gefühl der Erleichterung sah ich, wie sein entseelter Körper davongefahren wurde. In den letzten sieben bis acht Stunden hatte der Schatten des Todes über diesem Hause gelegen; jetzt konnte man gleichsam wieder frei atmen. Ich merkte den anderen an, daß sie ebenso empfanden wie ich. Die eisige, apathische Atmosphäre verschwand, und die Zungen lösten sich. Man hatte sich von der Nähe des Toten bedrückt gefühlt, doch nun kam der alte Instinkt wieder zum Durchbruch, der Kern allen gesellschaftlichen Lebens: die menschliche Neugierde. Es bildeten sich kleine Gruppen, die mit eifrigen Gesichtern und lebhaften Gesten das Geschehene diskutierten. Vielleicht versuchten sie, es auf diese Weise von sich abzuwälzen, es zu etwas zu machen, was sie nichts anging, zu einem Gesprächsthema. Wie dem auch sei: die Atmosphäre war entspannt. Bugge enttäuschte mich ein wenig. Ich hatte erwartet, daß er mit der verbissenen Energie eines Wissenschaftlers an diese Aufgabe herangehen würde, doch statt dessen entspannte er sich -69-
völlig. Bugge ist ein ausgesprochener Gesellschaftsmensch; er besitzt in hohem Maße die Fähigkeit, Kontakt zu finden und den Mittelpunkt einer Versammlung zu bilden. Trotz einer gewissen Neigung zu geistigem Snobismus versteht er es doch, eine vertrauliche und gemütliche Stimmung um sich zu schaffen. Er besitzt Charme in einem ganz anderen Sinne als Helge Gårholm. Doch ich konnte nicht einsehen, daß es ausgerechnet jetzt angebracht sein sollte, solche Eigenschaften zu entfalten. Bugge kam schnell mit diesen Menschen in Kontakt und lenkte das Gespräch sehr bald in ganz andere Bahnen. Ich glaube nicht, daß ich übertreibe, wenn ich feststelle, daß er im Laufe von fünf Minuten die Atmosphäre eines gemütlichen Kaffeeklatsches schuf. Mit Lundmo diskutierte er die Wartezeit der Mediziner an der Universität, mit Kåre wechselte er Bemerkungen über Picasso, und mit Kvam fällte er ein vernichtendes Urteil über die gesamte Tagespresse, ausgenommen das Blatt, bei dem Kvam beschäftigt ist. StormJensen erzählte er, daß er sich brennend für die Fechtkunst interessiere, und Storm-Jensen, dessen Jungenbuch-Gesicht wieder von der Glut des Lebens erfüllt war, vertraute ihm das Geheimnis seiner Karriere an: er ficht linkshändig. Saisa Sjöströms Herz gewann er unverzüglich, indem er einen sachkundigen Blick auf ihre Beine warf und sie fragte, ob sie glaube, daß die fleischfarbenen Strümpfe eine Renaissance erleben werden. Vesla und Eva waren vom ersten Augenblick an ganz Ohr, und auch Sonja Lundmo taute auf und fing an, ihm drollige kleine Geschichten aus dem Osloer Theaterleben zu erzählen. Wer hätte geglaubt, daß dies dieselben Menschen waren, die eben noch unter dem Alpdruck des Todes gestanden hatten? Ich muß gestehen, daß mir diese neue Stimmung gefiel. Es war, als säße man in einer gemütlichen Ecke des Theatercafes und strömte Wohlbehagen auf einen Kreis von Freunden aus. Aber worauf wollte der Mann nur hinaus? Nannte er das hier -70-
etwa moderne Tiefenpsychologie? Schrieb er hierüber unverständliche Wälzer in fremden Sprachen? Eine Weile später hatte ich ihn unter vier Augen. »Was, zum Teufel, denkst du dir eigentlich?« sagte ich. »Läufst hier herum und tust so, als seist du der Gastgeber einer Cocktailpartie. Ich hatte mir eigentlich eingebildet, es sei deine Absicht, einen Mord aufzuklären.« Er lächelte ein wenig mit dem einen Mundwinkel. »Was hast du denn gedacht, daß ich tun sollte?« sagte er. »Meinst du vielleic ht, ich sollte jedem einen Fragebogen nebst Füllhalter vorlegen? Frage eins: Haben Sie Helge Gårholm ermordet? Frage zwei: Welche Motive hatten Sie zum Mord an Helge Gårholm?« »Du brauchst nicht ironisch zu sein«, sagte ich. »Dazu hätte ich wohl eher Grund.« »Ich weiß, was du von mir erwartest«, sagte er. »Du verlangst den ganzen Apparat deiner eigenen stinklangweiligen Kriminalromane. Stundenlange Verhöre, scharfsinnige und verwirrende Fragen, blitzschnelle Vorstöße gegen den Verdächtigen. Aber es gibt etwas, was mehr bedeutet als diese abgedroschenen Romantricks. Und das ist: die Menschen kennenzulernen. Sie kennenzulernen, nicht wie sie auf dem Verhörstuhl mit dem Licht eines Scheinwerfers im Gesicht dasitzen; sondern so, wie sie im Alltagsleben sind.« »Wenn du glaubst, daß du den Mörder findest, indem du über fleischfarbene Strümpfe sprichst...«, sagte ich. »So habe ich mit meiner Auffassung völlig recht. Was glaubst du wohl, wie weit ich bei meinen Analysepatienten kommen würde, wenn ich ein Sherlock-Holmes-Gesicht aufsetzen und scharfsinnige und verwirrende Fragen stellen wollte? Keinen Schritt weit! Ich würde sie verängstigen und überhaupt nichts erfahren. Man muß einen Umweg machen. Man muß sich ihnen behutsam nähern, ihnen entgegenkommen, ihr Wohlwollen -71-
erwerben. Und wenn dann eines Tages der Kontakt da ist, kann man die Wahrheit erfahren.« »Ich glaube, ich verstehe, was du meinst«, sagte ich. »Du willst das Vertrauen des Mörders gewinnen. Du willst ihn mit deinem Charme einwickeln, bis er einfach nicht mehr umhin kann, dir die ganze Wahrheit zu erzählen -« Ich sagte das so sarkastisch, wie ich konnte. Doch Bugge focht das nicht an. »Ganz recht«, sagte er. »Du nimmst mir das Wort aus dem Munde. Ich will das Vertrauen des Mörders gewinnen. Ein Detektiv, dem es nicht gelingt, das Vertrauen des Mörders zu gewinnen, sollte sich auf die Aufklärung von Fahrraddiebstählen beschränken.« Ich durchschaute ihn. Der Bursche war einfach faul. Er gönnte sich wohl nur einen kleinen Urlaub von all seinen Westendfrauen. Wenige Stunden später fand ich meine Auffassung bestätigt. Ich war mit Eva ein wenig spazierengegangen; sie brauchte etwas frische Luft; ihr zartes, reines Gesicht war schwermütig und vergrämt. Die Wogen der letzten Nacht hatten sich noch nicht in ihr gelegt. Sie war nicht sonderlich aufgeschlossen, aber ich tat mein Bestes, um ihre Nerven zu beruhigen. Ich habe Zartgefühl und verstehe mich darauf, mit Frauen umzugehen, obwohl ich nicht im eigentlichen Sinne des Wortes ein Helge bin. Als ich zurückkam, saß Bugge oben in meinem Zimmer. Er hatte einen Bleistift in der Hand und beugte sich über etwas, was wie eine Zeitung aussah. Ich trat näher, um zu sehen, was er trieb. Er beschäftigte sich mit der Lösung eines Kreuzworträtsels! »Hallo«, sagte er, als er mich erblickte. »Kannst du mir mit einem Wort helfen: 10 waagerecht. Biblischer Männername; vier Buchstaben. Erster Buchstabe K, dritter Buchstabe i.« -72-
»Unter uns gesagt«, bemerkte ich, »findest du nicht, daß du jetzt etwas zu weit gehst? Ich bin allerlei von dir gewöhnt, aber so nach und nach komme ich doch zu der Überzeugung, daß du dir mit uns allen einen üblen Scherz erlaubst, oder sollte das zu deiner Arbeitsweise gehören? Es tut mir sehr leid, aber wenn das deine Art ist, Mordfälle aufzuklären, bedaure ich dir sagen zu müssen, daß ich Hammers Methode zumindest für ernsthafter und demnach auch für aussichtsreicher halte. Oder glaubst du vielleicht, du befindest dich in einer Art Sommerpension, wo es sich nur darum handelt, die Zeit totzuschlagen?« »Es ist möglich, daß mein Verhalten Grund zur Kritik geben kann, doch soll man einen Menschen nie voreilig kritisieren. Sieh dir spaßeshalber einmal dieses Kreuzworträtsel etwas näher an und sag mir, was du hinzuzufügen hast.« Ich tat ihm den Gefallen. Und er schob mir eine Zeitung mit folgender Aufgabe zu:
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Waagerecht: 1. Rhythmische Bewegung 4. Körper 7. Ausruf 8. Italienischer Notenname 9. Raubfisch 10. Biblischer Männername 12. Wird genäht 14. Dasein 16. Geländevertiefung 17. Bedrängnis 19. Heideblume 20. Augenblick 21. Spielkarte 22. Winzig 24. Griechischer Buchstabe 25. Europäer
Senkrecht: 1. Behälter 2. Wie 7. waagerecht 3. Im Munde 4. Schnur 5. Präposition 6. -ing; Männername in Björnsons »Sigurd Jorsalfar« 11. Kosename für Ilse 13. Mädchenname 15. Mit den Zähnen 16. Verwandte 18. Trinkgefäß 23. Chemisches Zeichen für Nickel
»Soweit ich sehe«, sagte ich, »ist das ein ganz gewöhnliches Kreuzworträtsel. Aber solche Aufgaben scheinen ja nicht gerade deine starke Seite zu sein; die drei übriggebliebenen Wörter sind doch kinderleicht. 10 waagerecht soll selbstverständlich Kain heißen, 15 senkrecht ist beißen, und 3 senkrecht heißt Zähne. Lächerlich einfach.« »Ganz recht. Ich muß nur darauf aufmerksam machen, daß nicht ich, sondern irgendeiner der Gäste hier dieses Rätsel gelöst hat.« »Aber welches Interesse hast du dann, daran herumzumurksen?« Bugge nahm mir die Zeitung wieder aus der Hand und legte -74-
sie vor sich auf den Tisch. »Nun überleg einmal«, sagte er, »gebrauche deine Phantasie, falls du welche hast. Es sind hier einige recht schwierige Fragen in diesem Rätsel; zum Beispiel wissen die wenigsten, daß Eta ein griechischer Buchstabe ist und daß Birting eine Gestalt in Björnsons ›Sigurd Jorsalfar‹ ist. Diese Fragen hat der Rätselfreund gelöst. Dagegen ließ er drei Fragen unbeantwortet, die so leicht sind, daß ein neunjähriges Kind darüber gelacht hätte. Er weiß nicht, daß Kain ein biblischer Männername ist; er weiß nicht, daß er Zähne im Munde hat, und hat vergessen, daß er damit beißen kann. Findest du nicht, daß das etwas auffällig ist?« »Ich gebe zu, das ist etwas seltsam. Aber das ist ja leicht erklärlich. Der Betreffende hat die Zeitung einfach aus der Hand gelegt, bevor er mit dem Rätsel fertig war. Vielleicht wurde er gestört, vielleicht wurde er es auch müde, sich mit diesem Quatsch zu beschäftigen. Ich kann mir jedenfalls nichts Stumpfsinnigeres als Kreuzworträtsel vorstellen.« »Ich kann mir dagegen nichts Amüsanteres vorstellen«, sagte Bugge. »Jedenfalls nicht, wenn sie so sind wie dieses hier. Es sagt nämlich eine ganze Menge über den aus, der es gelöst hat. Weit mehr, als man wahrscheinlich durch ein direktes Verhör erfahren würde. Nicht auf der Anklagebank verrät sich der Mensch, sondern in den vielen unbedeutenden Dingen, die er im Alltagsleben tut, in seinen fast unsichtbaren Fehlgriffen, in den winzigen Sackgassen des Daseins.« Ich blickte ihn an. »Nun reicht es mir aber«, sagte ich. »Jetzt näherst du dich der Parodie. Möchtest du ernstlich andeuten, daß du den Mörder durch ein Kreuzworträtsel gefunden hast?« Bugge antwortete nicht. Er steckte die Daumen in die Weste und begann, auf dem Läufer hin und her zu gehen. »Um das Thema für einen Augenblick zu wechseln«, sagte er. -75-
»Hast du jemals etwas über den Begriff Verdrängung gehört?« »Selbstverständlich«, sagte ich ein wenig verwundert. »Selbstverständlich hab' ich das. Ich bin ja nicht ganz so unwissend, wie du mich gern hinstellen möchtest. Selbstverständlich weiß ich, was es heißt, verdrängte Komplexe zu haben.« »Ausgezeichnet. Und was ist das denn?« »Nein, nun hör mal zu. Ich werde mich ja schließlich nicht examinieren lassen!« »Das ist typisch für die Halbbildung unserer Zeit«, sagte er, »ein paar zentrale Begriffe der modernen Wissenschaft aufzuschnappen und sie dann in der Literatur und im Gespräch zu verwässern. Moderne Romane sind ein einziger großer Brei von unverdautem Freud. Und die meisten Menschen führen Ausdrücke wie ›Komplexe‹ und ›Verdrängungen‹ im Munde, ohne jemals zu begreifen, was damit gemeint ist.« »Was hat denn das mit dem Kreuzworträtsel zu tun?« sagte ich. »Versuche nun nicht, dich von dem Ausgangspunkt wegzureden.« »Ich erwähnte die Verdrängung«, sagte Bugge, »weil sie eine der wichtigsten psychologischen Reaktionen ist und weil dieses Kreuzworträtsel zufällig ein Schulbeispiel dafür ist.« »Da bin ich aber gespannt«, sagte ich. Bugge setzte seine Wanderung fort. Sein Blick wirkte etwas geistesabwesend, während er redete. »Die Verdrängung«, sagte er, »ist eine Art Justiz, die die menschliche Seele über sich selbst ausübt. Sie richtet sich gegen alles, was unser moralisches, bewußtes Ich nicht anerkennen kann, gegen perverse und destruktive Neigungen. Wir gehen alle mit einer Menge Vorstellungen einher, die wir nicht ins Bewußtsein vordringen lassen, wir schieben sie zurück, hinunter in die Dunkelkammer der Seele, hinunter ins Unbewußte. Und -76-
wir verdrängen nicht allein diese einfachen, direkt verbotenen Vorstellungen, sondern auch das, was irgendwie mit ihnen verbunden ist, alle Assoziationen. Wir verdrängen ganze Vorstellungskomplexe. Und dieser Verdrängungsprozeß beeinflußt unsere Gefühle und Handlungen im Alltagsleben. Er beeinflußt unseren Geschmack, unsere Ästhetik, unsere Fehlgriffe und unsere Unterlassungen. Diese sind am wichtigsten. Sie bestimmen, welche Dinge wir nicht tun, welche Bücher wir nicht lesen, welche Wörter wir in einem Kreuzworträtsel nicht finden...« Er hatte die Zeitung wieder in die Hand genommen. »Du räumst ein, wie auffällig es ist, daß derjenige, der sich an diesem Rätsel versucht hat, die einfachsten Wörter nicht fand. Drei Wörter, die so einfach waren, daß selbst du sie sofort herausbekamst. Aber vielleicht ist es dennoch nicht so auffällig, daß diese Felder leerstehen. Vielleicht haben diese Wörter das verbotene Gebiet der Seele berührt, vielleicht erregen sie Angst in dem Rätsellöser, weil sie zu einem verdrängten Komplex gehören. Daher übersieht er sie, daher wird er der Sache müde und legt den Bleistift hin, ehe er fertig ist. Das Verdrängte duldet kein Tageslicht. Und ein Mörder verdrängt immer die Vorstellung seines eigenen Verbrechens!« »Wie kannst du wissen, daß du es mit dem Mörder zu tun hast?« sagte ich. »Erstens: Was verbindest du mit dem Namen Kain?« »Besonders bibelfest bin ich ja nicht, aber ich entsinne mich doch immerhin, daß er seinen Bruder Abel erschlug.« »Eben. Kain war der erste Mörder. Er tötete seinen Bruder, weil der Herr diesen begünstigte und sein Opferfeuer annahm. Helge Gårholm war ein Abel, ein Begünstigter; sein Feuer durfte brennen. Der Mörder war ein Kain, ein Stiefsohn der Natur, dessen Flamme sich niederduckte. Und Kain hat Angst vor seinem eigenen Namen - selbst wenn er ihn in einem -77-
Kreuzworträtsel findet.« »Aber die anderen Wörter?« »Die gehören auch in den gleichen Komplex, in den Mordkomplex. Entsinnst du dich nicht, daß das Messer Zähne hatte? Und daß Gårholm nicht mit der Spitze des Messers, sondern mit den Zähnen getötet wurde? Daß es mit anderen Worten eine Art Biß war. Zähne und beißen hat der Mörder in diesem Rätsel verdrängt, weil er diese Wörter mit seiner eigenen entsetzlichen Tat verbindet. Vielleicht rufen sie etwas aus seiner Vergangenheit in ihm wach, das tiefere Motiv des Verbrechens. Das Schlimmste, was ein Mensch erleben kann, ist, daß er seinem Schuldgefühl von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht. Daher vermeidet er das.« Ich hatte fast den Eindruck, daß Bugge mich verulkte. Er konnte mir doch wohl nicht im Ernst einen solchen Blödsinn aufbinden? Obwohl ich gern einräume, daß es ein recht interessanter Blödsinn war. So interessant, daß ich Lust verspürte, ihm zu widersprechen. »Hier stimmt doch offenbar etwas nicht«, sagte ich. »Du stellst es ja so hin, als ob der Mörder an schrecklichen Hemmungen leide. Er ist so gehemmt und voller Schuldgefühl, daß er von einem lächerlichen Kreuzworträtsel ins Bockshorn gejagt wird. Aber wie willst du dies mit der Tatsache in Einklang bringen, daß er ein Mörder ist? Du willst mir doch wohl nicht einreden wollen, daß ein Mörder Moral hat?« »Selbstverständlich hat der Mörder Moral«, sagte Bugge. »Es kommt vor, daß ein Mensch tötet, weil er zuviel Moral hat, weil er vor lauter Moral nicht mehr atmen kann. Er ist wie ein Dampfkessel, der platzt, nicht weil er undicht ist, sondern weil er zu dicht ist. Es fehlt an Ventilen, und folglich explodiert er. Es gibt keinen gefährlicheren Sprengstoff als verdrängte Triebe.« In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen, und -78-
Hammer kam herein. Sein Gesicht war rot und erhitzt, und in der Hand hielt er etwas, das aussah wie zwei verkohlte Zeugfetzen. »Seht euch das einmal an«, sagte er. »Die fand ich im Ofen von Sonja Lundmos Zimmer.« Es waren die Überreste von einem Paar Damenhandschuhe. Das meiste davon war von den Flammen verzehrt, aber auf dem einen, dem rechten Handschuh waren deutlich Blutflecke zu erkennen, wo das Leder vom Feuer verschont geblieben war. Auf dem weißen Futter drinnen konnte man die Initialen S. L. erkennen. »Also doch Handschuhe«, sagte ich. Ich warf einen Blick auf Bugge. Wie würde er auf Hammers neuen Triumph reagieren? Wird er jetzt einräumen, daß es Zeitverschwendung ist, sich in Kreuzworträtsel zu vertiefen und Lehrbuchtiefsinn über die Psychologie des Verbrechens zu verzapfen? Doch Bugge betrachtete die Handschuhe mit völlig gleichgültiger Miene. »Materielle Indizien«, sagte er, »sind von geringem oder gar keinem Interesse.«
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ACHTES KAPITEL Worin Sonja einen Traum erzählt Hammer schien Bugges Auffassung nicht zu teilen. »Eines steht fest«, sagte er. »Der Mörder trug diese Handschuhe, als er Gårholm tötete. Die Halsschlagader wurde durchgeschnitten, und das Blut spritzte über den einen Handschuh, den, der das Messer hielt. Noch etwas steht fest. Nämlich, daß Sonja Lundmos Stellung zur Zeit außerordentlich schwach ist.« Er verließ das Zimmer und kam einen Augenblick darauf mit Sonja zurück. Er führte sie an den Tisch, auf dem die Handschuhe lagen. »Kennen Sie die da?« fragte er. Sie verfärbte sich fast augenblicklich. »Das sind meine«, sagte sie. »Wer ist denn darauf verfallen? Wer hat meine Handschuhe verbrannt?« »Der Mörder«, sagte Hammer. »Der Mörder hat die Handschuhe verbrannt, nachdem er Helge Gårholm das Leben genommen hatte. Und er hat sie in dem Ofen Ihres Zimmers verbrannt. Was halten Sie davon?« Ich muß hier eine kleine Nebenbemerkung einschalten. Der alte Gårholm, der diese Villa vor einigen Jahren hatte bauen lassen, hatte eine starke Abneigung gegen Zentralheizung. Er hatte etliche üble Erfahrungen mit Ungeziefer gemacht und ließ infolgedessen altmodische Öfen in diesem sonst hypermodernen Hause aufstellen. Sonja antwortete nicht auf Hammers Frage. Sie blickte ihm nur verängstigt in die Augen. Ich stand da und bohrte in meinem Gedächtnis. Woran erinnerten mich doch die verbrannten -80-
Handschuhe in Sonjas Zimmer? Plötzlich fiel es mir ein. »Heiliger Strohsack«, sagte ich. »Nun hab' ich's. Es roch doch so seltsam verbrannt in Fräulein Lundmos Zimmer, als ich sie wecken ging. Ungefähr wie verbranntes Leder. Die Handschuhe müssen kurz vorher in die Glut geworfen worden sein.« »Ist es hier draußen üblich, mitten im Sommer Feuer anzumachen?« fragte Hammer. »Oder geschah es vielleicht nur bei dieser besonderen Gelegenheit?« Er fixierte Sonja mit einem kalten, abschätzenden Blick. Im allgemeinen ist Hammer ein netter und zugänglicher Bursche, doch im Bedarfsfalle wird er bis in die Pupillen Polizeiinspektor. »Ich pflege bei offenem Fenster zu schlafen«, sagte sie mit etwas trotziger Stimme. »Die letzten Nächte waren ziemlich regenkalt, und deshalb hatte ich das Mädchen gebeten, etwas Feuer zu machen, ehe ich mich schlafen legte.« »Wer könnte Ihnen eventuell die Handschuhe entwendet haben?« »Keine Ahnung. Ich hatte sie in der Nachttischschublade neben meinem Bett liegen. Zuletzt sah ich sie gestern abend, sie müssen also herausgenommen worden sein, während ich schlief.« »Klingt es wahrscheinlich, daß Sie nicht aufwachen, wenn jemand zwanzig Zentimeter von Ihrem Kopfkissen entfernt in einer Schublade wühlt?« »Ich habe Ihnen ja bereits gesagt, wie fest ich schlief. Borge kann bestätigen, daß es stimmt.« »Borge kann nur bestätigen, daß es ihm höllisch schwerfiel, Sie aus dem Bett zu holen. Aber schließlich ist es ja kein Kunststück, sich schwer zu machen und die Augen zuzukneifen. Vor allem nicht, wenn man in Betracht zieht, daß Sie sich von der Bühne her darauf verstehen müßten.« -81-
Hammer führte den reinsten Nervenkrieg. Ich sah, daß Sonja sich zusammennehmen mußte, um einigermaßen ruhig zu bleiben. »Warum sagen Sie es nicht gerade heraus«, fragte sie, »daß Sie mich des Mordes an Helge Gårholm anklagen?« »Weil ich nichts beweisen kann«, sagte Hammer. »Diese Handschuhe sind jedoch ein Indizium, das ziemlich peinlich für Sie sein kann. Ich möchte Ihnen raten, alles zu erzählen, was Sie wissen, wenn Sie Unannehmlichkeiten vermeiden möchten.« »Ich habe Ihnen alles erzählt.« »Das glaube ich nicht.« Hier fiel Bugge plötzlich ein. »Entschuldigen Sie«, sagte er, »falls ich zu indiskret sein sollte. Aber können Sie sich entsinnen, was Sie in dieser Nacht träumten?« Sonja blickte ihn an, ein wenig verwirrt. Das war ja unleugbar eine Frage, die aus dem Rahmen des Üblichen fiel. Aber dann lächelte sie, von Bugges freundlicher Stimme beruhigt. »Ja«, sagte sie. »Ich entsinne mich. Es war eine Art Alpdruck. Ich befand mich in einem Schuhgeschäft, wo es plötzlich zu brennen begann. Von allen Seiten schlugen mir die Flammen entgegen, und ich versuchte verzweifelt, zur Tür hinauszukommen. Zuletzt glückte es mir; ich kam auf eine Treppe, die in dichten, erstickenden Rauch gehüllt war. Er lag wie ein Nebel über der ganzen Stadt. Ich begann, durch diesen Nebel zu laufen; ich lief und lief, bis mir schwarz vor den Augen wurde...« »War das alles?« »Ja. Ich kann mich nicht an mehr erinnern.« »Ausgezeichnet.« Bugge erhob sich. »Ich schlage vor, daß wir Fräulein Lundmo von dem Rest dieses Verhörs dritten Grades verschonen.« -82-
»Was meinst du eigentlich mit einer solchen Frage, Bugge?« sagte Hammer einige Minuten später, als wir wieder allein waren. »Das war nur eine kleine Stichprobe«, sagte Bugge. »Du willst wissen, ob diese junge Dame wirklich schlief, als der Mord verübt wurde, oder ob sie nur simulierte. Folglich frage ich sie, was sie geträumt hat. Ein Mensch, der träumt, schläft bekanntlich.« »Aber es ist doch die einfachste Sache von der Welt, einen solchen Traum zu erdichten.« »Im Gegenteil. Es ist weit schwieriger, als man annehmen sollte. Es ist unvergleichlich viel leichter, über unsere bewußten, wachen Handlungen etwas zusammenzulügen, als über das, was in unserem Unterbewußtsein vor sich geht.« »Du glaubst mit anderen Worten, daß Sonja Lundmo schlief, als der Mörder um ihr Bett herumschlich?« »Ich glaube das nicht, ich weiß es!« »Ich darf deiner genialen Intuition wohl nicht meine praktische Erfahrung entgegenstellen«, sagte Hammer. »Aber laß mich trotzdem sagen, was meiner Meinung nach diese Handschuhe beweisen. Vor allem beweisen sie, daß Saisa Sjöström nicht den Mord begangen haben kann. In den dreißig Sekunden, die ihr zur Verfügung standen, hatte sie nicht die Zeit, folgendes zu tun: in Sonja Lund mos Zimmer zu gehen, ein Paar Handschuhe zu finden, sie anzuziehen, in Gårholms Zimmer zurückzugehen, Gårholm zu ermorden, wieder in Sonjas Zimmer zu gehen, die Handschuhe in den Ofen zu werfen, zurück in Gårholms Zimmer zu gehen und einen Schrei auszustoßen. Einverstanden?« Bugge antwortete nicht. Ich nickte. »Zweitens liegt eine verborgene Finesse darin, daß die Handschuhe in den Ofen geworfen wurden. Der Mörder hat versucht, sie zu vernichten. Wenn es seine Absicht war, -83-
Verdacht auf Sonja Lundmo zu werfen - welches die einzige andere Erklärung für die Verwendung dieser Handschuhe ist -, so würde er sie nicht verbrannt haben, sondern hätte sie irgendwo hingelegt, wo sie unbeschädigt gefunden worden wären. Die andere Alternative besteht darin, daß Sonja Lundmo die Mörderin ist. Sie verbrannte die Handschuhe einfach, um die gefährlichste Spur zu entfernen...« »Gar nicht so dumm gedacht«, sagte Bugge. »Doch hast du eine Schwäche für die Vereinfachung menschlicher Motive: Du operierst mit billigen Alternativen: entweder gehört der Mörder in diese oder in jene Rubrik. Aber weshalb dieses ›Entweder oder‹? Warum nicht ›Sowohl - als auch‹? Nimm einmal an, daß der Mörder zwei widerstrebende Tendenzen in sich spürt: er will den Verdacht auf Sonja Lundmo wälzen, doch gleichzeitig ist eine Instanz in ihm, die ihm dies untersagt. Was tut er? Er wählt eine Kompromißlösung, die beide Tendenzen umfaßt: er benutzt Sonja Lundmos Handschuhe und verbrennt sie hinterher. Es besteht immer noch eine Möglichkeit, daß die Polizei diese Spur findet, aber er hat sein Gewissen betäubt, indem er versuchte, sie zu verwischen. Solche Kompromiß handlungen ergeben sich regelmäßig, wenn ein Mensch sich in einem nervösen Konflikt befindet.« »Vielleicht eine etwas gesuchte Erklärung?« meinte Hammer. »Es wirkt gesucht, wenn man behauptet, daß die Erde rund sei, wo doch jeder sieht, daß sie flach ist wie ein Teller. Alle wissenschaftlichen Theorien wirken gesucht; die Wahrheit liegt nie eben um die Ecke; man muß sie suchen, um sie zu finden...« Bugge lehnte sich gemächlich im Lehnstuhl zurück, faltete die Hände und schlug ein Bein über das andere. Manchmal macht er den Eindruck, als ob er sich selbst allzusehr genieße. »Ich möchte noch auf etwas anderes hinweisen«, sagte er. »Du hast herausgefunden, daß der Mord von einer Frau begangen wurde. Doch das widerspricht der Psychologie dieser -84-
Tat. Es liegt etwas Maskulines in diesem Verbrechen; es ist auf eine seltsam aktive, brutale Weise vollführt worden, die den Mann verrät. Bedenke, welche Konzentration eine solche Tat erfordert, welche Geistesgegenwart, welche physische Kraft. Im Laufe einer Sekunde soll die Kehle durchschnitten werden; das Opfer darf keine Zeit haben, zu erwachen oder sich zu verteidigen. Dieser Mord deutet auf ein kräftiges Handgelenk, das vielleicht eine ähnliche Waffe zu meistern gewohnt ist, zum Beispiel ein Florett.« Hammer lächelte mit aller Breite und Herzlichkeit, die ein Polizeiinspektor in ein ironisches Lächeln legen kann. »Du spielst auf Storm-Jensen an«, sagte er. »Und in deiner tiefen Verachtung für konkrete Tatsachen übersiehst du selbstverständlich, daß der Mörder nicht aus dem Obergeschoß gekommen sein kann. Aber da ist noch eine Sache, von der du mit echt wissenschaftlicher Gründlichkeit absiehst. Wir beide haben ja Storm-Jensen während der letzten NorwegenMeisterschaft im Fechten gesehen, nicht wahr? Ist dir denn damals nicht eine Kleinigkeit aufgefallen?« Bugge antwortete nicht. Er ahnte wohl, daß er mit seiner letzten Andeutung einen logischen Bock geschossen hatte. »Storm-Jensen ficht mit der Linken«, sagte ich. »Er hat es selbst erst vor einer Stunde erzählt.« »Eben. Storm-Jensen ist Linkshänder. Doch vielleicht entsinnst du dich, daß die Blutflecken auf dem rechten Handschuh saßen?« Es war interessant, dieser Diskussion zwischen Bugge und Hammer beizuwohnen. Beide wichen nicht einen Zoll breit von ihren Gesichtspunkten ab, und nun benutzten sie jede Gelegenheit, einander mit kleinen Pfeilen zu spicken. Ich gönnte Bugge die kleine Blamage mit dem Handschuh. Selbstsichere Menschen verdienen ab und zu eine kalte Dusche. Übrigens bestätigte sich aufs neue meine Auffassung, daß Hammer der -85-
Überlegene bei diesen Untersuchungen war; Bugges ewiges Theoretisieren zog im praktischen Leben kläglich den kürzeren. Für mich bestand kein Zweifel mehr, wer bei diesem Wettlauf zuerst am Ziel sein würde. Sonst brachte dieser Tag kein Ergebnis von Belang mehr. Hammer fuhr fort, Helges, Sonjas und Kåres Zimmer gründlich zu untersuchen, und rief die Gäste in kleinen Abständen zu erneuten Verhören herein. Wer nicht gerade verhört wurde, saß draußen im Salon, und die ganze Stimmung erinnerte auffällig an das Wartezimmer eines Zahnarztes. Erst gegen Abend, als Bugge wieder anfing, mit seinen gesellschaftlichen Talenten zu experimentieren, kam Leben und Bewegung in den Kreis. Das Gespräch kam von dem Augenblick an automatisch in Gang, als er sich neben Sonja Lundmo aufs Sofa setzte. Die harten, bleichen Masken wurden zu Gesichtern und erhielten Leben. Doch ich hatte das Gefühl: wenn Bugge den Raum verließe, würde alles wieder wie vorher sein. Ich stellte fest, daß er sich in besonderem Maße Sonja widmete. Er blickte ihr ständig in die Augen, während er auf seine selbstsichere, aber zugleich nonchalante Art sprach. Er strahlte irgend etwas aus, was meinem Gefühl nach auf sie gerichtet war. Und sie wiederum war ganz von ihm gefangen; sie lehnte sich an ihn, suchte gleichsam Schutz bei ihm. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, daß er Helges alte Rolle zu übernehmen plane. Doch dann wies ich diesen Verdacht zurück. Selbst Bugges Geselligkeit hatte ihre Grenzen. Kvam kam mit einer Flasche Dimple Scots und einigen Gläsern aus dem Keller. Er begann einzuschenken. »Laßt die Toten die Toten begraben«, sagte er. »Die Lebenden haben jedenfalls Whisky.« Lundmo hob sein Glas. »Prost«, sagte er. »Und vergessen wir, daß wir uns mit einem Mörder in einem Zimmer befinden.« Ich saß neben Eva und fühlte, wie es sie kalt überlief. Das -86-
steckte mich an; ich spürte eine Kältewelle in mir und griff unwillkürlich nach einem Glas. Es war schon spät, die Sommernacht preßte sich schwer und dunkel gegen die großen Fenster. Vom Kamin warfen die Flammen einen gelben Schimmer über unsere Gesichter. Es war eine seltsame Stimmung im Raum. Kvam stand da und wog das Glas in seiner Hand. Er befand sich noch im ersten Stadium eines neuen Rausches. »Mit einem Mörder in einem Zimmer«, sagte er. »Das klingt ganz hübsch, nicht wahr? Es ist doch recht seltsam, zu denken, daß sich hinter einem dieser Gesichter ein Raubtier verbirgt. Wenn ich ganz ehrlich sein soll, habe ich eine Schwäche für Raubtiere. Ich bewundere den Mörder. Ich selbst habe es nie weiter als bis zum Selbstmörder gebracht.« Er schwankte ein wenig. Dann setzte er das Glas an den Mund, und die gelbe Flüssigkeit verschwand mit einem Glucksen in seiner Kehle. Vesla wandte sich Bugge zu. Ihr Gesicht war wach und angespannt. »Das kann nicht sein«, sagte sie. »Es kann nicht möglich sein, daß sich der Mörder hier unter uns befindet. Er muß doch von draußen gekommen sein, nicht wahr? Es kann doch nicht einer von uns sein?« Bugge lächelte. »Mein Freund Hammer scheint der Auffassung zu huldigen, daß sich der Mörder gegenwärtig hier im Salon befindet. Doch man soll Polizeibeamte nie ernst nehmen. Sie sind eifrige Spürhunde. Nur schade, daß ihnen der Geruchsinn fehlt.« Kåre hatte eine ganze Weile dagesessen und in die Flammen gestarrt. Jetzt griff er wieder nach seinem Glase. »Ich bin einer Meinung mit Kvam«, sagte er. »Ich bewundere den Mörder.« »Was sind das für Redensarten!« rief ich. »Einen Mörder -87-
bewundern!!« »Ich bewundere den Mörder«, fuhr Kåre fort, »weil er sich souverän über die Zahmheit unserer Kultur hinwegsetzt. Weil er seine Ketten zerreißt und Panik unter den Menschen verbreitet. Er läßt dem Ursprünglichen in ihm freien Lauf, er gibt dem Tiger, was des Tigers ist. Und was tun wir anderen? Wir Ritter von der bleichen Kultur? Sind wir nicht allesamt Hasser?« Seine Hand zitterte ein wenig, als er das Glas leerte. »Ja, wir sind Hasser. Aber wir zerstören unseren Haß, zivilisieren ihn, lenken ihn in andere Kanäle. Wir nennen ihn Ironie, Humor, Kunst, Journalismus. Man hat uns die Klauen beschnitten, und nun liegen wir fauchend hinter den Käfiggittern des großen Zoologischen Gartens, den man Gesellschaft nennt. Doch eines Tages, wenn der Wärter nicht achtgibt, entschlüpft das Raubtier. Vielleicht hat es seine Zähne noch. Es kehrt zurück zu seiner Funktion, zurück in die Wälder, zur Urfreude, zur Urangst. Es mordet.« »Ein Hoch auf den Mörder«, sagte Kvam. Er stieß mit der Whiskyflasche an. Lundmo warf den Kopf zurück und lachte. »Ich glaube, Kåre ist der Mörder«, sagte er. »Er brauchte wohl ein Motiv für sein nächstes Bild.« Dieser Zynismus war Eva zuviel. Schon als Kåre sprach, hatte sie zu zittern angefangen, so daß ich meinen Arm um sie legen mußte. Vesla stampfte mit dem Fuß auf. »Redet nicht so abscheulich«, sagte sie. »Habt ihr wirklich vergessen, daß Helge umgebracht wurde?« »Nein«, sagte Kvam. »Das werde ich so bald nicht vergessen. Das ist eine meiner schönsten Erinnerungen.« Bugge goß Öl auf die Wogen. Er wandte sich an StormJensen und begann eine Diskussion über den norwegischen Sport seit 1930. Eine Stunde später brachen wir auf, um zu Bett zu gehen. -88-
Bugge kam auf mich zu. »Hammer und ich übernachten auch hier«, sagte er. »Ausgezeichnet«, sagte ich. »Oben ist noch ein unbenutztes Zimmer.« »Dann lege ich mich da hinein. Hammer kann dein Zimmer übernehmen.« »Und wo soll ich bleiben?« »Du kannst dich in Helge Gårholms Zimmer legen.« Ich sah ihn verblüfft an. »In Helge Gårholms Zimmer?« sagte ich. »Was ist denn das für ein Einfall?« »Das ist kein Einfall, sondern nur eine rationelle Ausnü tzung der vorhandenen Räume.« »Aber es hat doch keinen Sinn, daß ich herunterziehe? Da ist es doch viel einfacher, wenn Hammer -« »Hammer zieht es vor, oben zu schlafen. Und du hast doch sicher nichts dagegen, unten zu übernachten.« »Offen gesagt, verstehe ich nicht -« Bugge blickte mich mit dem etwas provozierenden, freundlichen Gesichtsausdruck an, der für ihn typisch ist. »Du hast wohl nicht zufällig Angst vor Gespenstern?« Ich schnaufte verärgert. »Wie du willst«, sagte ich. »Von mir aus gern. Aber ich bleibe dabei, daß es ein ausgesprochen lächerlicher Einfall ist.« Bugge ist manchmal etwas zu exzentrisch. Dann hat er die seltsamsten Einfälle. Dazu kommt dann eine Art Suggestivkraft, mit der er es fertigbringt, andere Menschen zu bewegen, sich diesen Einfällen zu fügen. Selbst wenn sie sinnlos sind. Ich holte meine Sachen und ging in Helges Zimmer. Das Mädchen hatte das Bett frisch bezogen; die reinen Laken schimmerten mir kühl und einladend entgegen. Ich freute mich -89-
auf den Schlaf. Es war, milde gesagt, ein aufreibender Tag gewesen.
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NEUNTES KAPITEL Worin sechs Alibis zerfleddern und Bugge ein neues findet Im allgemeinen brauche ich nur den Kopf aufs Kissen zu legen, um einzuschlafen. Ich schlafe so leicht ein, daß mich ein Kind darum beneiden könnte. Doch in dieser Nacht war es plötzlich, als ob ich mit dem Kopf auf einem Stein läge. Ruhelos wälzte ich mich hin und her; ich versuchte intensiv, mich zu entspannen und auf den Schlaf zu konzentrieren. Aber es nützte nichts. Was war mit mir los? Draußen war Mondschein. Ein silberweißes Strahlenbündel fiel schräg in das dunkle Zimmer. Eine ganz gewöhnliche Sommernacht Anfang August. Und dennoch! Es ist seltsam, wenn man erst einmal in eine Stimmung des Grauens geraten ist; man wird dann plötzlich von dieser Stimmung hypnotisiert, bis man findet, daß die ganze Welt davon erfüllt ist. So empfand ich es jetzt. Ich lag da und starrte auf die kahlen Wände, auf die Schatten, die von Tisch und Stühlen auf den Boden geworfen wurden, und auf den weißen Mondlichtstreifen, der quer über mein Bett fiel; in diesem Zimmer war Helge gestern nacht ermordet worden; in diesem Bett hatte er gelegen, nichtsahnend, während ein fremdes und entsetzliches Wesen sich an ihn heranschlich. Sich langsam seinem schlafenden Kopf näherte, sic h über ihn beugte und ihm die Kehle durchschnitt... Und dieses Wesen war vielleicht noch in diesem Hause? Lag vielleicht in einem der nächsten Zimmer, zehn bis fünfzehn Meter entfernt, und wartete? Bereitete sich wie ein erregtes Tier auf seinen nächsten Sprung vor? -91-
Es vergingen mehrere Stunden, ehe ich in einen schlafähnlichen Zustand versank. Doch zu einer Entspannung kam ich nicht. Es war ein Alpdruck. In rasendem Tempo jagte ein fieberhaftes Traumbild das andere. Ich ging in einem großen, dunklen Walde, wo die Bäume sich mit langen gespreizten Ästen über mich beugten. Der Boden unter mir war zäh und klebrig; meine Beine wollten sich nicht davon lösen, mit jedem Schritt blieb ich fester hängen. Ich blickte nieder und sah, daß der Grund unter mir rot und flüssig war; es schwappte mir warm um die Knöchel, und ich fühlte plötzlich, daß ich in Blut watete. Verzweifelt versuchte ich zu laufen, aus dem Walde herauszukommen; ich wollte in ein kleines, weißes Haus flüchten, das, wie ich wußte, irgendwo in der Nähe sein mußte. Doch plötzlich kam mir ein anderer Mensch entgegen. Irgendwo aus dem Walddunkel kam er her, trat zwischen den Stämmen hervor und näherte sich auf dem vom Mondlicht überrieselten Pfade. Es war Helge. Sein Gesicht war weiß mit einem grünlichen Schimmer, die Augen waren weit aufgerissen, das Blut spritzte aus einer ungeheuren Wunde am Halse. Er kam geradenwegs auf mich zu, wie ein Schlafwandler, und packte mich an beiden Handgelenken. Ich schrie - Ein neues Traumbild folgte. Ich hatte plötzlich das Gefühl, daß ich selbst Helge sei und im Halbschlaf im Bett läge. Es war, als ob ich darauf wartete, daß etwas geschähe. Die Tür knarrte, sie öffnete sich, und etwas Lebendiges kam herein. Ich versuchte, mich im Bett zu erheben, konnte es aber nicht; ich vermochte nicht einmal den Kopf zu wenden; das Lebendige hinter mir kam näher; ein Wesen ohne Gesicht und Körper. Es kam ganz dicht an mein Bett heran und beugte sich über mich. - Wenn man aus einem Traum erwacht, findet man sich nie sogleich in der Wirklichkeit ringsum zurecht. Man hat noch die Inferno-Stimmung des Traumes in sich und faßt die Umgebung unwillkürlich als eine Fortsetzung des Alpdrucks auf. Ich erwachte klitschnaß am ganzen Leibe und setzte mich mit einem Ruck im Bett auf. Ich -92-
hatte ein geradezu panisches Gefühl, daß ich nicht allein im Zimmer sei. Das ist das Schlimmste, was man erleben kann: die Begegnung mit der Angst aus der Kindheit. Wir sogenannten Erwachsenen können uns für affektlos und ausgewogen halten, solange wir im Tageslicht und bei vollem Bewußtsein einhergehen. Doch wenn wir schlafen, tauchen wir unter in der Schreckwelt des Kindes, und wenn wir aus einem Traum erwachen, sehen wir die Dinge mit den angsterfüllten Augen eines Fünfjährigen. Hypnotisiert starrte ich auf einen Schatten am Fenster. War es ein Mensch? Oder lag es an der Gardine? Nimm dich zusammen, sagte ich zu mir. Du bist jetzt wach, Bernhard Borge. Du träumst nicht. Nimm dich zusammen! Ich träumte nicht. Die Gestalt am Fenster war Wirklichkeit. Sie löste sich von den anderen Schatten und trat einen Schritt vor. Ich ballte die Fäuste und preßte den Rücken gegen das Kopfgestell des Bettes. Mein Herz hämmerte, so daß ich glaubte, es müßte zerspringen. »Wer ist da?« fragte ich. »Antworte, zum Teufel! Wer ist da?« »Tut mir leid, daß ich dich weckte«, sagte eine Stimme. »Das war nicht meine Absicht.« Ich streckte den linken Arm aus und knipste die Nachttischlampe an. Meine Hand zitterte so, daß ich kaum den Knopf finden konnte. Bugge stand mit den Händen in der Tasche da und lachte. »Was, zum Kuckuck, soll das heißen?« »Du mußt entschuldigen«, sagte er. »Das war nur so ein Einfall von mir. Ein Experiment. Du siehst übrigens sehr erregt aus. Schläfst du unruhig? Nimm eine Zigarette -« Er zog sein Etui hervor und reichte es mir. Ich zog eine -93-
Zigarette heraus, zündete sie an und ließ den Rauch tief in die Lungen sinken. Der größte Schreck war jetzt vorbei, aber ich war peinlich verblüfft. War der Mann denn völlig verrückt geworden? Ich stellte ihm diese Frage. Er zuckte die Achseln. »Es kann zweifellos seltsam aussehen«, sagte er, »daß ich die Rolle eines Nachtgespenstes spiele und meinen Freund, den Kriminalschriftsteller, erschrecke. Die Sache ist aber die, daß ich eine recht eigenartige Entdeckung gemacht habe.« »Was hast du denn entdeckt?« »Zieh deinen Schlafrock und die Pantoffeln an, dann wirst du sehen.« Er öffnete die Tür zu Sonjas Lundmos Zimmer. Sonja saß mit einem Buch im Bett und rauchte eine Zigarette. »Fräulein Lundmo ist im Bilde«, sagte Bugge. »Im Bilde worüber?« »Über mein kleines Experiment.« »Und worauf läuft dein kleines Experiment hinaus?« »Ich habe ganz einfach für einige Minuten die Rolle des Mörders gespielt. Das ist der Grund für mein Auftreten.« »Ich verstehe nicht, was das für einen Sinn haben soll.« »Dann will ich es dir erklären. Ich teile bis zu einem gewissen Grade Hammers rein technisches Interesse für die Durchführung des Mordes. Unter anderem, woher der Mörder gekommen ist. Hammer meint, aus dem Erdgeschoß.« »Und du meinst?« »Zum Beispiel aus dem Obergeschoß.« »Aber das ist ja unmöglich. In dem Falle müßte der Mörder ja die Fähigkeit haben, sich unsichtbar zu machen, oder er müßte der größte Akrobat der Welt sein.« »Durchaus nicht. Er braucht nur das Turnpensum der -94-
Volksschule absolviert zu haben. Sieh doch einmal, spaßeshalber, zum Fenster hinaus.« Ich tat, wie er sagte, und erblickte, was draußen herunterhing. »Das Brandseil«, sagte ich. »Daran hatte ich nicht gedacht.« »Ja, es ist im Grunde allzu naheliegend, als daß man daran denken sollte. Über Fräulein Lundmos Zimmer liegt meines, und das stand, wie du weißt, gestern nacht leer. Der Mörder konnte ganz einfach hineingehen, das Brandseil herunterlassen und hier durch das offene Fenster klettern. Keine Fußspur auf dem Boden draußen, kein riskanter Weg über Treppe, Halle und Salon. Kurz gesagt, ein einfaches, aber geniales Umgehungsmanöver. Später ist er den gleichen Weg, den er gekommen ist, zurückgegangen und hat das Tau hinter sich hochgezogen. Um dann schließlich mit den anderen hinunterzustürzen, als die Katastrophe entdeckt wurde.« Er schnippte die Asche von der Zigarette. »Ich hatte bisher eigentlich nie verstanden, welchen Zweck diese Brandseile haben. Bekanntlich entstehen nie Brände aus, dem gleichen Grunde, der es einem unmöglich macht, einen Ofen zum Brennen zu bringen. Aber nun weiß ich Bescheid.« Ich fühlte mich gleichzeitig beeindruckt und irritiert. Daß Hammer dies übersehen haben konnte! »Dieses Tau«, sagte ich, »beweist ja an sich nichts. Es kann sich so zugetragen haben, wie du sagst, doch kann es auch ganz anders gewesen sein.« »Richtig«, sagte Bugge. »Dies ist ein materielles Indizium und beweist folglich nichts. Aber trotzdem macht es mir Spaß, einmal in Hammers Sphären einzudringen...« Er trat ans Fenster und packte das Tau. »Offen gestanden, bin ich recht zufrieden mit meinem ersten Arbeitstag als Polizist«, sagte er. »Folglich habe ich mir einige Stunden Schlaf verdient. Ich nehme den kürzesten Weg hinauf. -95-
Gute Nacht.« Er schwang sich aus dem Fenster und war einen Augenblick später verschwunden. Gleich darauf wurde das Tau hochgezogen. Sonja und ich blickten uns an. »Reizender Mann«, sagte Sonja. Sie blies eine große Rauchwolke auf das Buch hinab, das aufgeschlagen vor ihr lag. Ich zuckte die Achseln und ging hinüber, um mich wieder schlafen zu legen. Es herrschte herrliches Morgenwetter, als ich am nächsten Tag erwachte. Der Sonnenschein strömte wie ein Wasserfall von Licht durchs Fenster, und die düstere Stimmung der letzten Nacht war wie fortgeblasen von mir. Ich pfiff vor mich hin, während ich mich anzog, und sang aus »La Traviata«. Als ich auf die Terrasse hinausging, um eine Morgenzigarette vor dem Frühstück zu rauchen, stand Bugge da. »Gehen wir ein wenig spazieren«, sagte er. Ich folgte der Aufforderung. Bugge benutzt mich mit Vorliebe als eine Art Sparringspartner, wenn er sich mit einem schwierigeren Thema beschäftigt. Nicht etwa, daß er mich für einen würdigen Gegner hielte; er ist wohl eher geneigt, meine geistigen Fähigkeiten zu unterschätzen, doch er braucht offenbar einen Vorwand, um seine eigene Stimme hören zu können. Reden klärt das Denken, pflegt er zu sagen. Damit meint er vermutlich sein eigenes Denken; ich für mein Teil werde in der Regel nur noch konfuser, wenn ich Bugges Rhetorik höre. Wir gingen in den Wald hinein. Das Sonnenlicht bildete flimmernde Farbwirkungen zwischen dem Laub und den Kiefernnadeln; tiefer drin improvisierten die Vögel ein kleines Morgenkonzert. Die Luft war klar und duftete nach Tau. Ich war in einer gelösten Gemütsverfassung; endlich hatte ich das Gefühl, außerhalb des Geschehenen zu stehen; ich konnte es jetzt mit den Augen eines Kriminalschriftstellers sehen, der ein interessantes Motiv studiert. -96-
»Diese Entdeckung, die du heute nacht gemacht hast«, sagte ich, »welche logischen Konsequenzen hast du eigentlich daraus gezogen?« »Nur die, daß sechs Personen ihr sogenanntes Alibi verlieren«, sagte Bugge. »Es macht mir Spaß, nachzuweisen, wie unhaltbar diese Einkreisungstaktik ist, in die sich die Polizei verliebt hat. Nun hat Hammer es fertiggebracht, das Netz um einige Personen zusammenzuziehen, die zufällig so unglücklich waren, sich mit dem Ermordeten im Erdgeschoß zu befinden. So kommen alle Justizmorde zustande - aus der blinden Liebe des Polizeibeamten zu willkürlichen äußeren Umständen.« »Ich gebe zu, daß Hammer in diesem Falle Pech hatte«, sagte ich. »Er hat eine Möglichkeit übersehen, die tatsächlich gegeben ist. Doch ist es selbstverständlich richtig, daß man feststellt, wer ein Alibi hat und wer nicht.« »Solche äußeren Alibis sind völlig ohne Interesse«, sagte Bugge. »Was, zum Donnerwetter, bedeutet es schon, wenn jemand das bombensicherste Alibi der Welt hat, wenn er, psychologisch gesehen, der Mörder sein muß? Und andererseits: Was bedeutet es, wenn man kein Alibi besitzt? Das sollte wohl das sicherste Zeichen dafür sein, daß man unschuldig ist.« »Wie willst du denn ein Alibi wie das Storm-Jensens wegerklären?« »Storm-Jensen ist linkshändig, während der Mord mit der rechten Hand begangen wurde. Was beweist das? Daß StormJensen nicht der Mörder sein kann? Mag sein, daß es abnorm für einen Linkshänder ist, die Rechte bei einem Kraftaufwand zu gebrauchen. Aber es ist auch abnorm, zu morden. Ist es unwahrscheinlich, daß eine abnorme Handlung von abnormen Phänomenen begleitet wird?« »Aber das ist ja direkt an den Haaren herbeigezogen.« »Durchaus nicht. Ich kann dir einen sehr interessanten Fall aus der amerikanischen Kriminalgeschichte erzählen. Ich habe -97-
ihn in meinem Buch Das Verbrechen als Erlösung analysiert, einem Buch, das auf dem Nachttisch eines jeden Detektivs liegen sollte. Es handelt sich kurz um folgendes: Ein Mann hat als Kind mit seiner rechten Hand etwas Verbotenes getan; er hat seinen kleinen Bruder mit einem Messer in die Schulter gestochen. Zur Strafe wird ihm die Hand für vierundzwanzig Stunden auf dem Rücken festgebunden. Nach dieser Episode wird er linkshändig. Warum? Zur Selbstbestrafung. Er straft sich unbewußt selbst, indem er die ›böse‹ Hand passiv macht; er lähmt seine eigene Aggressivität, indem er seine Hand ›lähmt‹. Dieser Mann wird als Erwachsener zum Verbrecher und begeht einen Mord. Er ersticht einen anderen Mann mit der rechten Hand. Weshalb? Der Mord ist für diesen Mann die verbotene Handlung, die begehrenswerte Wiederholung des Kindheitserlebnisses. Und daß er sich von seinen Hemmungen losreißt, das Gesetzwidrige tut, kommt symbolisch darin zum Ausdruck, daß er die ›verbotene‹ Hand gebraucht. Unser Freund Hammer hätte in diesem Falle gesagt: der Mann ist linkshändig, ergo kann er einen solchen Mord nicht begangen haben.« »Versuchst du wirklich, Storm-Jensen zu verdächtigen?« »Keineswegs. Das einzige, was ich im Augenblick zu verdächtigen versuche, ist die Arbeitsweise der Polizei.« »Aber hast du selbst denn auch nur einen einzigen festen Punkt in dieser Geschichte gefunden? Soweit ich sehe, beschränkt sich deine Tätigkeit auf die negativste Art der Kritik. Du reißt alles nieder, was Hammer aufbaut. Aber hast du eine einzige positive Beobachtung gemacht?« Meine Stimme war etwas scharf. Bugge kennt kaum etwas Amüsanteres, als mich mit seinen arroganten Redensarten auf die Palme zu bringen, und er sah mich mit vergnügtem Gesichtsausdruck an. »Dein Zorn ist möglicherweise berechtigt«, sagte er. »Zu meiner Verteidigung muß jedoch festgestellt werden, daß ich -98-
zwei sehr wichtige Entdeckungen gemacht habe.« »Und die wären?« »Erstens gelang es mir, ein unantastbares Alibi nachzuweisen.« »Unantastbar? Ich meinte, nach deinen Theorien gäbe es kein unantastbares Alibi.« »Aber dieses Alibi ist unantastbar, weil es kein Alibi im gewöhnlichen Sinne ist. Man könnte es in keinem Gerichtssaal geltend machen. Es ist ein psychologisches Alibi.« »Worauf spielst du jetzt an?« »Auf Sonja Lundmos Traum.« »Wie kannst du wissen, daß sie wirklich diesen Traum nicht erdichtet hat, um uns glauben zu machen, daß sie schlief?« »Weil ich einen Teil meiner Zeit damit zugebracht habe, zu studieren, was ein Traum eigentlich ist. Hast du von dem elementaren Phänomen gehört, daß man während des Schlafes Sinneseindrücke wahrnehmen kann?« »Selbstverständlich.« »Daß man ferner diese Sinneseindrücke im Schlaf in Traumbilder umsetzt?« »Das weiß jeder.« »Man weiß es, aber man bedient sich bekanntlich selten seiner Kenntnisse. Du entsinnst dich, wonach es in jener Nacht in Sonja Lundmos Zimmer roch, nicht wahr?« »Ja. Es roch stark nach verbranntem Leder. Das waren ja die Handschuhe, die Hammer fand.« »Eben. Und vielleicht erinnerst du dich auch an Sonjas Traum?« »Daß sie sich in einem brennenden Schuhgeschäft befand...« »Da sind wir bei der Pointe. Sie stand in einem brennenden Schuhgeschäft, und der Geruch von brennendem Leder verfolgte -99-
sie durch den ganzen Traum. Woher stammte dieses Traumbild: das brennende Schuhgeschäft? Es stammt von den Geruchseindrücken, die sie während des Schlafes empfing - es stammt von den brennenden Lederhandschuhen! Mit anderen Worten: Sonja Lundmo schlief.« Ich lachte. »Und das nennst du ein Alibi«, sagte ich. »Wenn du dies den Geschworenen serviertest, würde selbst der Richter die Würde des Gerichts verletzen und in ein schallendes Gelächter ausbrechen.« »Selbstverständlich«, sagte Bugge. »Du wiederholst nur, was ich gerade gesagt habe. Dieses Alibi würde vor den Gerichten wertlos sein. Es hat bisher noch keinen Juristen gegeben, der etwas von der Existenz der Seele gewußt hätte. Aber weil dieses Alibi zum Tode verurteilt ist, ist es doppelt wertvoll. Es beweist nämlich, daß es nicht fabriziert ist. Sonja Lundmo hat nicht einmal selbst gewußt, daß sie das vollkommene Alibi lieferte, sie ist ganz unfreiwillig zu dem Beweis gekommen, daß sie nicht die Mörderin sein kann.« Wir waren wieder auf der Terrasse angelangt. Die eine Glastür stand offen, und der Duft frischgekochten Kaffees zog bezaubernd durch die Morgenluft. »Ehe wir uns den lukullischen Freuden hingeben«, sagte ich, »würde es mir Spaß machen, zu erfahren, worin deine andere große Entdeckung bestand.« »Meine andere Entdeckung«, sagte Bugge mit Nachdruck zögernd, »besteht darin, daß ich weiß, wer den Mord an Helge Gårholm verübte.« Ich blickte ihn, ehrlich gesagt, ein wenig verblüfft an. Ich war schon einiges von ihm gewohnt, aber dies kam mir doch ziemlich überraschend. »Ist es erlaubt, zu fragen: wer?« sagte ich. -100-
»Selbstverständlich ist es erlaubt, zu fragen«, sagte Bugge. »Andererseits ist es aber auch erlaubt, nicht zu antworten. Ich beabsichtige, noch etwas mehr Material zu sammeln, ehe ich die Bombe platzen lasse. Oder um deinen verstorbenen Kollegen Conan Doyle zu zitieren: Die Zeit ist noch nicht reif, lieber Watson.« Ich fing seinen Blick auf. Diesmal bemerkte ich eine gewisse Unsicherheit in seinen Augen. »Bluff«, sagte ich. »Bluff, Herr Psychoanalytiker.« Ich warf den Zigarettenstummel weg und trat ihn aus. Ich hatte ihn ganz heruntergeraucht, so daß er mir die Finger versengte.
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ZEHNTES KAPITEL Worin Lundmo explodiert Hammer nahm Bugge und mich auf die Seite, nachdem wir uns einige Scheiben Schinken mit Ei einverleibt hatten. »Ich habe einen recht interessanten Bericht aus Oslo erhalten«, sagte er. »Die Obduktion hat ergeben, daß Gårholm Veronal im Magen hatte.« »Helge nahm nie Schlafmittel«, sagte ich. »Selbstverständlich nicht. Die Sache ist klar. Der Mörder hatte ihm - sei es im Tee oder auf andere Weise - am Abend unauffällig eine Dosis unbemerkt verabfolgt, um sich dagegen zu sichern, daß er im kritischen Augenblick erwache. Helge ging ja ungewöhnlich früh ins Bett, nicht wahr?« »Ja, ebenso Sonja. Beide waren todmüde.« »Es ist möglich, daß wir damit die Erklärung für Sonjas todähnlichen Schlaf gefunden haben. Möglicherweise war er trotzdem echt gewesen. Der Mörder kann auch ihr ein Veronalpulver eingegeben haben, um ungestört durch ihr Zimmer gelangen zu können.« »Gratuliere«, sagte Bugge. »Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt!« Bugge hatte bereits früher am Morgen Hammer mit dem Hinweis auf die Brandseil- Theorie geärgert. Hammer schätzte das nicht. Von nun an reagierte er spontan auf jeden Vorstoß, den Bugge unternahm. »Ich sage, daß das eine mögliche Erklärung ist«, sagte Hammer mit etwas brüsker Stimme. »Doch es ist nicht sicher, daß sie stimmt. Sonja Lundmo kann die Verona lvergiftung simuliert haben in der Gewißheit, die Obduktion werde -102-
enthüllen, daß Helge auf gleiche Weise eingeschläfert wurde. Sie kann berechnet haben, welche Schlüsse man daraus ziehen wird; daß nämlich sie und Helge Opfer des Mörders werden sollten.« »Ein wenig zu raffiniert, findest du nicht?« sagte ich. »Hinter diesem Mord steht eben ein raffinierter Verbrecher. Ein Mensch, der seine Mittel haargenau berechnet und mit mathematischer Präzision alles aufeinander abstimmt. Übrigens interessiert mich stark, woher dieses Schlafpulver stammt. Gibt es hier eine Hausapotheke?« Ich überlegte. »Nein«, sagte ich. »Aber soviel ich weiß, führt Lundmo eine kleine Tasche mit verschiedenen Medikamenten bei sich. Wahrscheinlich befindet sich auch Veronal darunter.« »Von Lundmo kann ich mir noch kein rechtes Bild machen«, sagte Hammer. »Ich glaube, wir sollten uns ihn einmal etwas näher ansehen.« Bugge lächelte. »Es brennt, es brennt«, sagte er. »Alle Chirurgen sind heimliche Sadisten.« Wir gingen in Lundmos Zimmer hinauf. Er lag auf dem Bett und blätterte in einer Zeitung, als wir eintraten. »Hallo«, sagte er. »Will man mich verhaften?« »Keineswegs«, entgegnete Hammer. »Es handelt sich nur um eine Bagatelle. Haben Sie zufällig etwas Veronal?« »Leiden Sie an Schlaflosigkeit?« »Eigentlich nicht. Ich stelle Ihnen diese Frage mehr von Amts wegen.« »Ich verstehe nicht ganz, worauf Sie hinauswollen, aber Sie werden ein Glas mit Veronaltabletten in meiner Nachttischschublade finden.« -103-
Hammer zog die Schublade heraus und fand sofort, was er suchte: eine braune Ledertasche. Er öffnete sie und zog ein Fläschchen mit ovalen, weißen Tabletten heraus. Lundmo beobachtete ihn mit interessierter Miene. »Woher dieses plötzliche Interesse für das Medizinstudium?« fragte er. Hammer antwortete nicht. Er schüttelte das Fläschchen; es war nicht ganz voll. »Haben Sie diesem Fläschchen einige Tabletten entnommen?« »Nein.« »Wie erklären Sie sich dann, daß es nicht voll ist?« »Darf ich mal sehen?« Er nahm Hammer das Fläschchen aus der Hand. »Alle Wetter, es muß jemand hier gewesen sein und einen Teil der Tabletten entwendet haben. Das ist ja seltsam.« »Haben Sie eine Ahnung, wer das gewesen sein könnte? War sonst jemand in Ihrem Zimmer?« »Nicht, daß ich wüßte. Ich habe mich nicht so viel hier oben aufgehalten. Aber ich bin offen gestanden neugierig, worum es sich eigentlich handelt. Weshalb interessieren Sie sich so für diese Veronaltabletten?« Ich achtete auf seinen Gesichtsausdruck; nicht ein Muskel verzog sich; seine Augen waren schmal und kühl. »Ich interessiere mich für diese Tabletten, weil der Mörder sich ihrer bedient hat. Helge Gårholm wurde mit Veronal eingeschläfert, bevor er getötet wurde.« »Aber nein! Das ist doch wohl nicht möglich?« Seine Stimme drückte nur natürliche Verwunderung und Überraschung aus. Entweder war dieser Mann ein fabelhafter Schauspieler, oder er reagierte normal wie ein interessierter, aber außenstehender Zuschauer. »Wußte irgendeiner der anderen Gäste hier im Hause von -104-
diesem Schlafmittel?« »Meine Schwestern wußten davon, und ich glaube, daß ich es auch in irgendeinem Zusammenhang Gårholm gegenüber erwähnt habe.« Bugge war an diesem Verhör sichtlich uninteressiert. Dagegen hatte er unten in der offenen Nachttischschublade etwas entdeckt, was seine Aufmerksamkeit in hohem Maße fesselte. Es waren zwei Fotos. Er hatte sie herausgenommen und hielt sie in der Hand, während er sie genau untersuchte. »Seltsam«, sagte er, »höchst seltsam.« Lundmo warf ihm einen schnellen Blick zu. »Was finden Sie so seltsam?« fragte er. »Ich kann nicht verstehen, daß diese Bilder irgendein Interesse haben könnten. Es sind nur zwei schlechte Amateurfotos.« »Dieses eine Bild hier ist Ihr Vater, nicht wahr?« »Ja, das stimmt. Das andere ist unser früheres Kindermädchen. Sie wohnt direkt bei der Station hier; ich besuchte sie vor ein paar Tagen. Da gab sie mir diese Bilder...« »Wie lange ist es her, daß diese Aufnahme von Ihrem Vater gemacht wurde?« »Das kann wohl zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre her sein. Aber was tut das zur Sache? Wieso fragen Sie?« »Ich stellte nur fest, daß zwischen Ihrem Vater und Helge Gårholm eine außerordentliche Ähnlichkeit besteht.« Er reichte Hammer das Bild. Hammer sah es an und nickte. »Das ist ja seltsam«, sagte er. »Diesen Mann hätte ich tatsächlich für Helge Gårholm gehalten, wenn er nicht so altmodisch gekleidet wäre. Übrigens hat er auch eine starke Ähnlichkeit mit Borge.« »Kann ich mal sehen?« sagte ich. Es war das reichlich verblichene Foto eines jungen Mannes, der einen Anzug der gemütlichen alten Zeit vor dem ersten -105-
Weltkriege trug. Eng sitzende Beinkleider und einen steifen Hut. Das Gesicht war etwas brutaler als das Helges, doch im übrigen war die Ähnlichkeit frappierend. Er hatte auffallend viele Züge mit Helge und mir gemein. »Das ist ein merkwürdiges Zusammentreffen«, sagte ich. »Daß drei Menschen einander fast zum Verwechseln ähnlich sehen.« »Die sogenannten seltsamen Zusammentreffen«, sagte Bugge, »haben die Tendenz, seltsame Ereignisse auszulösen. Zum Beispiel einen Mord.« Lundmo betrachtete Bugge plötzlich mit einem ganz veränderten Ausdruck. Der dünne Mund war hart geworden, und ich bemerkte ein schnelles Zucken an seinen Schläfen. »Was versuchen Sie da eigentlich anzudeuten?« fragte er. »Nichts Bestimmtes«, sagte Bugge. »Übrigens, was ist eigentlich Ihre Spezialität als Chirurg? Wohl nicht zufällig Halsoperationen?« Lundmo wurde puterrot. Ich muß wohl etwas schwer von Begriff sein, denn ich verstand nicht, wieso das etwas sei, dessen man sich schämen müsse. Es ist ja eine ehrliche und humane Sache, Leute am Hals zu operieren. Doch Lundmo schien ganz anderer Meinung zu sein. »Falls Sie glauben, Sie können mich mit Ihren analytischen Spitzfindigkeiten aus der Fassung bringen, so sind Sie im Irrtum«, sagte er. Seine Stimme war kalt und metallisch. Bugge machte eine leichte Handbewegung, freundlich entgegenkommend. »Sie mißverstehen mich. Ich bin Fachpsychologe und hege nur ein rein wissenschaftliches Interesse für meine Mitmenschen.« »Ich hätte Lust, Ihnen über Ihre ›Fachpsychologie‹ und ›wissenschaftlichen Interessen‹ einige unangenehme Wahrheiten -106-
zu sagen«, entgegnete Lundmo. Es war ihm deutlich anzumerken, wie erregt er war. »Ich kenne Ihre schriftstellerische Produktion ausgezeichnet, ganz abgesehen von Ihren psychoanalytischen Verdiensten, und ich möchte Ihnen gern gesagt haben, daß ich Sie für einen Schwindler halte. Für genau so einen Schwindler wie alle Ihre Brüder im Geiste. Sie schlagen Geld aus unbefriedigten Westendfrauen; Sie beuten das Bedürfnis kranker Menschen nach Schwüle aus; Sie schreiben dicke Bücher voll haarspalterischer Idiotismen und gemeiner Schweinereien und nennen das Wissenschaft. Ihre gesamte Geistesrichtung ist ein Hinterhaltsangriff auf die gesunde Forschung; Psychoanalytiker sind die Piraten der Wissenschaft...« Bugge machte eine Verbeugung. »Einer so klar und sachlich durchdachten Kritik muß ich mich selbstredend beugen«, sagte er. »Ich habe in meinem Leben bisher vierzehn Mediziner kennengelernt und folglich Ihre Argumentation ziemlich genau schon vierzehnmal gehört. Ihr ganzer Stand unterliegt einer Art kollektiver Zwangsvorstellung, wenn es um die Psychoanalyse geht. Man könnte von einem ›Anti-Freud-Komplex‹ reden.« »Und wie wollen Sie den deuten?« Lundmos Stimme war von beißender Ironie erfüllt. »Sehr einfach. Das medizinische Studium wird von einem bestimmten Menschentyp mit stark destruktiven Neigungen gewählt, von sogenannten Sadisten. Die Beschäftigung mit der ärztlichen Wissenschaft ermöglicht eine glänzende Abreaktion für eine Reihe krimineller Impulse. Der Chirurg zum Beispiel hat fast uneingeschränkte Möglichkeiten, in Menschenfleisch herumzuschneiden, und erhält noch obendrein den Segen der Gesellschaft. Aber dieser Menschentyp wird von den Entdeckungen der Psychoanalyse in besonderem Maße peinlich berührt. Daher die monomane Einstellung gegenüber Freud. Der Mediziner leugnet die Seele, weil er sie fürchtet.« -107-
»Ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen solchen Blödsinn gehört«, sagte Lundmo. »Es ist typisch für Ihren Stand, alle Gegner aus dem Felde zu schlagen, indem Sie sie in Grund und Boden deuten. Es ist ganz egal, wie idiotisch das Ganze ist, wenn nur eine Deutung dabei herauskommt. Möglicherweise können Sie ein paar unbefriedigte Frauen und einige halbvernagelte Akademiker mit Ihrer analytischen Unterleibswissenschaft verblüffen. Ich kann Ihnen aber versichern, daß ich dagegen immun bin.« Hammer beobachtete die beiden mit einem verständnisvollen Lächeln. Er kannte diese Fehde schon von jenem Abend in Storms Wohnung. »Wir wollen dies nicht ausarten lassen«, sagte er. »Diese Diskussion gehört in eine psychiatrische Zeitschrift und nicht auf den Schauplatz einer Mordtat. Haben Sie noch irgendwelche sachdienlichen Mitteilungen zu machen, Lundmo?« »Nein.« »Gut. Das wäre vorläufig alles. Entschuldigen Sie das kleine Intermezzo.« Als wir draußen waren, wandte Bugge sich mir zu und lachte. »Die Provokations-Methode«, sagte er. »Ich verstehe nicht«, sagte ich. »Was meinst du damit? Glaubst du, daß Lundmo Helge umgebracht hat?« Er antwortete nicht, sondern fuhr fort zu lachen. Ehrlich gesagt, wirkt er manchmal leicht geistesgestört auf mich. Eine Stunde später fuhr Bugge mit Hammers Wagen davon. Er wolle sich ein wenig umsehen, sagte er. Wir anderen wurden von Hammer angewiesen, uns drinnen oder in unmittelbarer Nähe der Villa aufzuhalten, so daß wir ihm zur Verfügung stehen konnten, wenn er uns brauchte. Es kann einem schon zum Problem werden, einen Vormittag totzuschlagen, wenn man an einen bestimmten Ort gebunden -108-
und im Grunde nicht besonders begeistert für das Programm ist. Ich verspürte wenig Lust, an dem neuen Kriminalroman weiterzuarbeiten, den ich in der Mordnacht angefangen hatte: Er wirkte blaß neben dieser brutalen Wirklichkeit, in die ich so plötzlich hineingeraten war. Ich wollte gern mit Eva zusammen sein, aber sie hatte Kopfschmerzen und war auf ihrem Zimmer geblieben. Es blieb kein anderer Ausweg, als in den Keller hinunterzugehen und den Vormittagsdurst zu löschen. Storm-Jensen und Sonja Lundmo saßen schon unten. Abgesehen von Kvam, selbstverständlich. Storm-Jensen stand in Hemdsärmeln da und schüttelte einen Cocktail. »Hallo«, sagte er, als ich hereinkam und mich setzte. »Haben Sie etwas Neues zu erzählen?« »Furchtbar wenig«, sagte ich. »Fast habe ich den Eindruck, daß die ganze Angelegenheit sich festgefahren hat.« »Wir befinden uns also mit anderen Worten in einem richtigen Kriminalmysterium?« »So ungefähr.« Kvam lachte. »Ich hätte gedacht, daß Kriminalmysterien nur in netten und lebensfernen Büchern mit gelben Umschlägen vorkommen«, sagte er. »Im wirklichen Leben wird der Mörder ja sofort geschnappt - fast ehe er Zeit zum Morden hat.« Sonja setzte sich neben mich. Sie trug immer noch Schwarz: schwarze Schuhe, schwarze Strümpfe, schwarzes Kleid. Das dünne Kleid ließ alle ihre ewigweiblichen Linien zu ihrem Recht kommen. Ihr Gesicht war weich und lebhaft. Ich mußte unwillkürlich an die lustige Witwe denken. »Glauben Sie nicht, daß Kai Bugge es schaffen wird?« fragte sie. »Ich habe mich schon gefragt«, sagte Storm-Jensen, »warum dieser Kai Bugge eigentlich hier herumstrolcht. Was hat der -109-
Bursche hier zu suchen?« »Warum strolchen die Menschen überhaupt herum?« fragte Kvam. »Was haben wir Menschen hier auf Erden schon zu suchen?« Kvam befand sich in der melancholischen Phase des Rausches. Er beugte sich über sein Glas und versuchte, sein Spiegelbild im Whisky zu entdecken. »Bugge ist ein Freund von Polizeiinspektor Hammer«, sagte ich, »und daß er in diese Geschichte hineingezogen wurde, beruht auf einer alten Abmachung. Übrigens behauptet er, mit Sicherheit zu wissen, wer Helge Gårholm ermordet hat.« Ich fühlte, daß mich drei Augenpaare ziemlich gründlich fixierten. Storm-Jensen setzte den Cocktail-Shaker hin. Irrte ich mich, oder hatte er etwas von seiner frischen Gesichtsfarbe verloren? »Was sagen Sie da?« rief er. »Weiß er -?« »Und trotzdem behaupten Sie, daß die Sache sich festgefahren habe?« sagte Sonja. »Ich kenne Bugge«, sagte ich, »und weiß, daß er eine Schwäche für unehrliche Methoden hat. Die Hauptsache ist für ihn, daß er einen Schein von Autorität in allen Lebenslagen bewahrt. Diesmal ist ihm wohl klargeworden, daß er sich übernommen hat, folglich ist er genötigt, sich eines Bluffs zu bedienen.« »Wen meint er denn gefunden zu haben? Hat er sich Ihnen anvertraut?« Storm-Jensen setzte sich auf den vor mir stehenden Stuhl. »Nein. Er tut geheimnisvoll und will vorläufig nicht mit der Sprache heraus.« »Aha. Also Bluff. Ich glaube, ich habe den Kerl auch schon durchschaut. Er ist einer von diesen geschwollenen SalonIntellektuellen, die versuchen, andere mit ihrer Persönlichkeit zu -110-
düpieren. Ich hätte ihn gern mal für eine Viertelstunde unter vier Augen - ein Stück abseits und mit bloßen Fäusten -« »Sie meinen wohl, daß er Sie an Helge erinnert?« »Ja. Nein. Das heißt: Was meinen Sie eigentlich damit?« Ich stellte wieder einmal fest, daß ich Storm-Jensen nicht ausstehen konnte. Er glotzte mich mit einem geradezu gewittrigen Blick an. Völlig unmotiviert. Es ist immer unangenehm, sich mit einem Menschen zu unterhalten, der gleichsam nur auf eine Gelegenheit wartet, einem eins auf die Kinnspitze zu versetzen. Sonja schüttelte den Kopf. »Sie täuschen sich völlig in Kai Bugge«, sagte sie. »Ich glaube, er ist ein genialer Mensch. Wenn jemand Helges Mörder finden sollte, so müßte er es sein.« Kvam blickte von seinem Glas auf. »Warum soll denn der Mörder um jeden Preis gefunden werden?« sagte er. »Kann man ihn denn nicht in Ruhe lassen? Der Mörder hat doch nichts Böses getan. Er hat etwas mehr Temperament als andere Menschen, Herrgott noch mal, aber das ist doch nur ein Vorzug. Wie würde es gehen, wenn nicht die Mörder hin und wieder unserer Zivilisation etwas Rot auflegten? Wir würden vor Langeweile sterben! Übrigens bin ich auch nicht von diesem Bugge besonders begeistert. Herumzulaufen und im Seelenleben anderer Leute herumzuwühlen - ist doch witzlos.« »Bugge ist ein genialer Mensch«, wiederholte Sonja. »Außerdem ist er ein anziehender Mann. Das kann man nicht von allen behaupten.« Das war sicher auf den armen Kvam gemünzt. Aber gleichzeitig blickte sie mich an, als ob sie plötzlich auf mein Gesicht aufmerksam geworden sei. Ihr Mund wurde seltsam weich, und mit einem Male legte sie mir die Hand auf die -111-
Schulter und lehnte sich an mich. »Sie ähneln Helge«, sagte sie. »Jetzt sehe ich erst, wie sehr Sie Helge ähneln.« »Finden Sie?« sagte ich etwas verlegen. Wenn mir etwas Überraschendes begegnet, kann ich meine Stimme nicht immer völlig beherrschen. »Absolut. Der Mund, die Nase, die Augen - das ganze Gesicht. Ich hatte es vorher nicht bemerkt; ich hatte überhaupt nicht auf andere Männer geachtet, als ich mit Helge zusammen war.« Sie sprach mit einer leisen, verschleierten Stimme, die mir direkt ins Blut ging. »Ihr Wort traf mich wie ein Strahl Wein ins Herz«, heißt es wohl bei Hamsun. Genau so ein Gefühl hatte ich. Es hatte immer einen tiefen Eindruck auf mich gemacht, wenn eine schöne Frau mit einer solchen Stimme zu mir sprach und mich mit Helge Gårholm verglich. »Waren Sie - waren Sie sehr in Helge verliebt?« sagte ich. »Ich war nicht in ihn verliebt«, sagte sie. »Ich liebte ihn.« Storm-Jensen erhob sich. »Mir wird ganz übel von all diesem Gerede um Helge«, sagte er. Er zog seine Jacke an und ging. Kvam lachte. »Katzenjammer!« sagte er. »Katzenjammer der Eifersucht. Der Teufel soll sich für etwas anderes als Alkohol interessieren.« Sonja saß so dicht neben mir, daß ich den Duft ihrer Haut spürte. Sie roch nach Chanel, einem Geruch, der meinen Puls immer schneller klopfen läßt. Ich fühlte die Woge in mir hochbranden, diesen feinen, sprudelnden Rausch, den nachzuahmen hoffnungslos unmöglich ist, selbst mit dem teuersten Whisky. Ich muß wohl für einige Sekunden nicht ganz bei Sinnen gewesen sein, denn ich hatte nicht bemerkt, daß jemand anderes -112-
hereingekommen war. Es war Eva. Ich fuhr zusammen, als sie mir die Hand auf die Schulter legte. »Ach, du bist es«, sagte ich. »Bernhard«, sagte sie. »Ich muß mit dir über etwas reden.« »Etwas Wichtiges?« »Ja. Komm einen Augenblick mit hinaus.« »Wie du willst.« Ich erhob mich und begleitete sie hinaus. Und ich bemerkte, daß Sonja mir mit den Augen folgte.
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ELFTES KAPITEL Worin die Frauen sich unter meinen Schutz drängen »Was ist denn los?« sagte ich, als wir das Haus verlassen und uns auf eine der kleinen Bänke vor der Terrasse gesetzt hatten. Ihr Gesicht hatte einen gequälten Ausdruck. Dunkle Ringe lagen unter ihren schönen Augen; mit einem wunderlich starren Blick sah sie vor sich hin. Ich legte den Arm um sie. »Bedrückt dich etwas?« sagte ich. »Heraus mit der Sprache! Du weißt, du kannst dich auf mich verlassen.« »Bernhard«, sagte sie. »Das ist so grauenhaft, so grauenhaft « »Aber Liebe«, sagte ich beruhigend. »Du mußt das alles nicht so tragisch nehmen. Wir sind alle im gleichen Boot, eine Nervenprobe ist es ja, aber das ist doch kein Grund, die Ohren hängen zu lassen. Was ist denn so grauenhaft?« Sie blickte mir fest in die Augen, prüfend, ein paar Sekunden lang. Dann wandte sie ihren Blick wieder woanders hin. »Nein«, sagte sie. »Ich kann es dir wohl doch nicht erzählen.« »Selbstverständlich kannst du es mir erzählen. Ist es eine Art Geheimnis, was dich bedrückt?« »Ja.« »Etwas, das mit Helges Ermordung zu tun hat?« »Ja.« »Und du willst nicht damit heraus?« »Ich kann es nicht sagen, ich kann nicht.« »Aber, Herrgott, du hattest mich doch herausgebeten, weil du mir etwas sagen wolltest. Es hilft doch immer, sich einem -114-
anderen anzuvertrauen, wenn einen etwas bedrückt. Hast du irgend etwas entdeckt?« »Ja.« »Also heraus damit!« Sie blickte mich wieder an. Ihr Gesicht hatte den seltsamen Zug von Angst, der mir von unserer nächtlichen Waldwanderung in Erinnerung war. »Ich weiß, wer Helge Gårholm ermordet hat«, sagte sie. »Was?« Ich ließ ihre Schulter los und starrte sie an. »Das ist doch seltsam. Du bist der zweite, der mir diesen Satz heute sagt. Sicher bin ich bald der einzige hier, der nicht weiß, wer den Mord begangen hat. Ich muß wohl anfangen, mit einem sphinxartigen Gesicht herumzulaufen, und sagen, daß ich es auch weiß. Es ist ja eine Schande, daß ein Kriminalschriftsteller so schlecht orientiert ist.« Sie schüttelte den Kopf. »Du mußt nicht scherzen, Bernhard«, sagte sie. »Es ist mir wirklich Ernst.« »Aber wie in aller Welt kannst du so etwas wissen? Wer ist denn der Mörder?« »Ich kann es nicht erzählen. Aber ich weiß es. Weiß es so gewiß, als ob ich das Ganze gesehen hätte, als es sich abspielte. Oh, es ist furchtbar -« Sie verbarg das Gesicht in den Händen. »Hast du dies schon lange gewußt? Hast du es Hammer während des Verhörs verschwiegen?« Sie nickte. »Ich habe es die ganze Zeit gewußt«, sagte sie. »Ich wußte es im gleichen Augenblick, als wir in Helges Zimmer kamen und seine Leiche sahen. Ich bemerkte eine Kleinigkeit, die von allen anderen übersehen wurde.« -115-
Ich wühlte in meinem Gedächtnis. Eine Kleinigkeit, die von allen übersehen wurde? Was konnte das gewesen sein? »Aber wenn du deiner Sache so sicher bist, dann besteht doch kein Grund, sie geheimzuhalten. Es ist ja strenggenommen deine Pflicht, darüber zu berichten. Wenn nicht mir, dann jedenfalls der Polizei, Hammer also. Nicht wahr?« Sie antwortete nicht, starrte nur mit einem abwesenden Blick zwischen die dunklen Fichten. »Warum soll das so schwer sein?« sagte ich. »Wenn ich in deiner Lage wäre, würde ich mich nicht einen Augenblick bedenken, so schnell wie möglich mit der Sprache herauszurücken. Es ist ja sinnlos, daß ein Mörder ungestraft herumlaufen und seine Raubtierinstinkte an zivilisierten Menschen abreagieren soll. Trotz allem leben wir doch in einer Art zivilisierter Gesellschaft und nicht im Dschungel...« Ich hoffte, daß diese kleine Moralpauke Eindruck auf sie machen würde. Ich fing an, neugierig zu werden; was mochte hinter ihrer Behauptung liegen? Was wollte sie entdeckt haben, das ich völlig übersehen hätte? Hatte sie vielleicht telepathische Fähigkeiten? »Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte sie. »Ich bin nie zuvor in einer solchen Lage gewesen. Wenn ich sage, was ich weiß, so - nein, das ist unmöglich. Das kann ich nicht tun. Doch wenn ich es nicht sage -« »Was dann?« »Dann wird noch mehr geschehen.« »Noch mehr?« »Ja. Vielleicht noch etwas Schlimmeres. Etwas noch Entsetzlicheres.« »Meinst du, daß der Mörder immer noch gefährlich ist? Daß er noch einmal töten könnte?« Sie nickte. -116-
»Wie kannst du so etwas glauben?« »Ich glaube es nicht; ich weiß es.« »Und wer würde wohl das nächste Opfer sein?« Sie wich meinem Blick aus. Weshalb hatte sie kein Vertrauen zu mir? Ich wußte ja, daß sie mich sehr gern hatte; ich hegte sogar einen begründeten Verdacht, daß sie in mich verliebt war. Sie war in jener Nacht im Walde so leidenschaftlich gewesen. Vielleicht war es nur eine Frage der Taktik, wie ich ihr die Wahrheit entlockte. »Ich träumte heute nacht so seltsam«, sagte sie. »Ich stand in einem ungeheuer großen Haus vor einer verschlossenen Tür, die in ein Zimmer führte. Ich wußte, daß sich in dem Zimmer etwas Geheimnisvolles und Schreckliches ereignete, und näherte mich dem Schlüsselloch, um hineinzusehen. Die Tür war so riesengroß, daß ich mich auf die Zehenspitzen stellen mußte. Es war stockdunkel drinnen, doch in dem Augenblick, als ich hineinsah, hatte ich das Gefühl, als ob mir die Haut vom Leibe geschunden würde; ich fühlte mich am ganzen Rücken wund. Die Tür wurde von innen aufgerissen, und Helges Mörder kam mir entgegengestürzt; er rief: ›Sonja‹ und schleuderte mich zu Boden, so daß ich mir den einen Fuß brach. Ich hinkte in das dunkle Zimmer und sah nun, daß da zwei Tote lagen. Der eine war Helge, und der andere -« »Wer war das?« »Nein, es war wohl doch nur Helge. Er lag bei einem Spiegel, so daß es so aussah, als ob es zwei seien, zwei Leichen, deren Gesichter einander zugewandt waren. Als ich erwachte, hatte ich das Gefühl, als ob dieser Traum eine Warnung sei.« »Eine Warnung wovor?« »Daß der Mörder zweimal zuschlagen werde.« Ich mußte unwillkürlich lächeln. »Du bist doch wohl nicht etwa ein klein wenig -117-
abergläubisch?« »Nein. Aber ich glaube an Träume. Ich glaube, daß Träume wahr sind.« »Daran tun Sie recht.« Ich wandte mich um. Es war Bugge, der hinter uns stand. Er klopfte eine Zigarette gegen den Handrücken fest und steckte sie in den Mundwinkel. »Es scheint, als ob Fräulein Lundmo diesen Fall um eine Reihe neuer Gesichtspunkte bereichern will«, sagte er. »Eva ist im Augenblick nur etwas überspannt«, sagte ich. »Das ist ja übrigens auch wohl begreiflich.« Ich faßte sie unter den Arm. »Statt hier zu sitzen und uns in die Schrecken des Todes zu vertiefen, wollen wir in den Keller hinuntergehen und uns etwas Gutes zusammenmixen.« Etwa eine Stunde später erzählte ich Hammer von diesem Gespräch. Er war sehr interessiert. Beim Zuhören bekamen seine Augen das übliche Polizeifunkeln. »Der Fall ist klar«, sagte er. »Wieso klar?« »Eva Lundmo weiß, wer der Mörder ist, will aber nicht mit der Sprache heraus. Warum? Weil sie den Betreffenden decken will. Weshalb will sie ihn decken? Weil es sich um jemand handelt, der ihr nahesteht. Jemand, den sie nicht mit lebenslänglich Zuchthaus bestraft wissen will.« »Du meinst -?« »Ich meine, daß die Fäden beginnen, sich zu sammeln. Bald werden sie einen Knoten bilden.« »Aber - falls das, was du sagst, richtig ist, weshalb sollte sie da überhaupt andeuten, daß sie weiß, um wen es sich handelt? Sie muß doch wissen, daß sie sich damit dem Hammerschen -118-
Verhör dritten Grades aussetzt.« Mein Freund lachte. »Du kennst die Frauen nicht«, sagte er. »Es ist für eine Frau ebenso schwierig, ein Geheimnis zu bewahren, wie für ein Kamel, durch ein Nadelöhr zu gehen. Eine Frau muß sich mitteilen, und dieser Drang ist um so stärker, je größer und gefährlicher das Geheimnis ist. Sie vertraut sich dann regelmäßig jemandem an, bei dem sie sicher ist, daß er für die weitere Verbreitung sorge n wird, in diesem Falle also dir. Erst dann hat die liebe Seele Ruh'.« Ich war mir Hammers nicht mehr so sicher. Es war mir aufgefallen, daß dieses »Der Fall ist klar« eine Art Refrain bei ihm war. Vom ersten Augenblick an hatte er sich mit amerikanischer Energie auf die Indizien gestürzt und war unaufhörlich zu »kla ren« Resultaten gekommen, die er im nächsten Augenblick ebenso klar aufgeben mußte. Er hatte schon mehrere Böcke geschossen und sich jedesmal mit größter Selbstverständlichkeit an den nächsten Abschuß gemacht. Sollte es möglich sein, daß dieser Mann, einer der tüchtigsten Detektive der Hauptstadt, diesmal seine Kräfte überschätzt hatte? War er diesem Fall nicht gewachsen, weil er außerhalb der konventionellen Kriminaltechnik lag? Ich fühlte, daß Bugges Einstellung auf mich abgefärbt hatte. Es kam an diesem Tage weiter nichts Bemerkenswertes heraus; die Ergebnisse waren noch bescheidener als am Vortage. Hammer nahm Eva ins Gebet, erreichte aber nichts. Sie wollte nichts sagen. Sie erklärte nur, daß ihre Gewißheit nicht auf einem echten Indiz beruhe und daß sie deshalb auch nichts zu berichten habe, was für die Polizei von Interesse sein könnte. Es gelang Hammer nicht, sie vom Gegenteil zu überzeugen, und er machte einen ziemlich erledigten Eindruck, als er mit ihr fertig war. Im Laufe des Nachmittags gab es noch einige kleine Anläufe zur Geselligkeit. Storm-Jensen, Kvam, Lundmo und Vesla Kramer bildeten eine Bridge-Partie im Salon. Ich bin ein völlig hoffnungsloser Bridge-Spieler und habe mich überha upt nie -119-
besonders für die Mysterien des Kartenspiels interessiert. Folglich zog ich mich zurück und machte es mir mit einem guten Buch in meinem Zimmer bequem. Ich mochte wohl ein paar Stunden auf meinem Bett liegend gelesen haben, als die Tür sich öffnete und eine Frau hereinkam. Ich blickte vom Buch auf und erwartete Eva zu sehen. Doch es war Sonja. »Hallo«, sagte ich verwundert. »Hallo, Bernhard.« Das war seltsam. Ich konnte mich nicht entsinnen, daß sie mich je zuvor bei meinem Vornamen genannt hätte. Und in dem Klang ihrer Stimme lag etwas, was mich noch mehr erstaunte. Was mochte sie von mir wollen? Sie ging geradenwegs auf mich zu und setzte sich auf die Bettkante. Ich setzte mich auf und blickte sie an. »Was gibt es?« sagte ich. »Sie müssen mir helfen«, sagte sie. »Sie müssen mir unbedingt helfen.« Ihre großen, glänzenden Rehaugen hatten einen seltsam hilflosen Ausdruck. »Es handelt sich um diesen Hammer. Er hat mich im Verdacht, Helge ermordet zu haben. Jedesmal, wenn ich ihm begegne, sieht er mich mit einem unmißverständlichen Blick an. Er wird mich verhaften, und ich werde vielleicht verurteilt werden. Ich weiß, daß verschiedene Dinge zu meinen Ungunsten ausgelegt werden könnten und daß so wenig dazu gehört, verurteilt zu werden. Was soll ich tun? Sie müssen mir helfen.« Der Ritter in mir erwachte. Hier war schon die zweite junge Frau, die an diesem Tage zu mir kam, um Rat und Schutz zu suchen. Offenbar strahlte ich etwas aus, was dem anderen Geschlecht Vertrauen und Mitteilungsbedürfnis einflößte. Nennt -120-
man das nicht mit einem Fremdwort Sex-Appeal? »Seien Sie ohne Sorge«, sagte ich beruhigend. »Ich kann Ihnen versichern, daß Hammer sich zur Zeit mitten in einem Labyrinth befindet, aus dem er nicht so bald herausfinden wird. Er verfügt nicht über genug Beweismaterial, um auch nur einen einzigen von uns verhaften zu können, am allerwenigsten Sie.« »Sind Sie dessen so sicher?« »Durchaus. Weshalb glauben Sie übrigens, daß ich Ihnen helfen könnte?« »Weil - ja - weil -« Weiter kam sie nicht. Ganz plötzlich wurde ich von dem gleichen Gefühl überwältigt, das ich bereits am Vormittage hatte. Sonja saß ganz dicht neben mir. Die schwarze Seide straffte sich um ihre festen Brüste. Von ihrem Gesicht und Hals strömte mir der berückende, milde Duft entgegen. Chanel. Ich konnte mich nicht mehr beherrschen - weiß übrigens auch nicht, welchen höheren Sinn es haben könnte, sich in solchen Situationen zu beherrschen. Ich riß sie an mich und küßte sie. Vielleicht ist es ein Vorurteil, aber ich liebe es nicht, in solchen Situationen beobachtet zu werden. Doch plötzlich hatte ich das Gefühl, daß sich Neugierige in der näheren Umgebung befanden; ganz am Rande der Netzhaut nahm ich wahr, daß sich zwei Menschen vor dem Fenster befanden und uns beobachteten. Ich wandte den Kopf. Da stand Bugge und sah uns mit interessierter Miene zu. Sonja entdeckte ihn ebenfalls und erhob sich mit einer schnellen und ein wenig verlegenen Bewegung. Sie brachte ihr Haar in Ordnung, vielleicht auch ihr Kleid. »Verzeihung«, sagte Bugge und beugte sich zu uns herein. »Es war nicht meine Absicht, zu stören. Ich wollte dich nur bitten, mir bei der Befestigung einer Hängematte behilflich zu sein.« -121-
Sonja begab sich in ihr Zimmer. Verdammt, daß Bugge nicht mehr Taktgefühl hatte. War er vielleicht eifersüchtig? »Eine Hängematte?« sagte ich. »Was, in aller Welt willst du denn damit?« »Darin liegen«, sagte Bugge völlig unberührt. »Im Liegen denkt es sich am besten. Außerdem herrscht draußen ein prächtiges Wetter, und ich habe immer eine Schwäche für Hängematten gehabt.« An diesem Abend ging ich früh zu Bett. Es war draußen noch ziemlich hell, als ich Agatha Christies Wer schrieb an Louise? auf den Nachttisch legte und die Lampe ausknipste. Ich pflanzte das Gesicht ins Kissen mit dem festen Vorsatz, völlig traumlos und ruhig zu schlafen. Wenn man über die Dreißig hinaus ist, ist es ja eine Schande, sich ins Bockshorn jagen zu lassen, weil man in dem Zimmer eines Ermordeten schläft. Dergleichen konnte man sich allenfalls in dem Alter leisten, als man die Beine auf dem Diwan hochzog, wenn eine Spukgeschichte erzählt wurde. Also: Gute Nacht, Bernhard Borge, genieße die verdiente und ungestörte Ruhe des harmlosen und reifen Mannes! Aber seltsam. Die Ruhe des harmlosen und reifen Mannes ist nicht immer so ganz ungestört. Diese Nacht war noch schlimmer als die vorhergehende; ein Angsttraum folgte dem anderen, es war ein unablässiger Strom des Schreckens, eine Orgie des Grauens, die nicht einmal ein Edgar Allan Poe hätte zu Papier bringen können. Und unablässig starrte mich Helge an, schmerzverzerrt, totenbleich... Ich erwachte einige Stunden nach Mitternacht mit dem gleichen Gefühl, das ich in der letzten Nacht hatte: daß sich ein Fremder im Zimmer befinde. Sofort tastete ich nach der Nachttischlampe; ich war darauf gefaßt, daß Bugge sich eine neue nächtliche Expedition zu mir herausgenommen hatte, um eines seiner lächerlichen »Experimente« durchzuführen. Doch diesmal sollte er nicht den Triumph erleben, mich aus der -122-
Fassung gebracht zu haben. Das bescheidene Licht der kleinen Nachttischlampe ergoß sich ins Zimmer. Immerhin war es stark genug, um mich sofort erkennen zu lassen, daß ich mich geirrt haben mußte. Ich war allein. Also nur die Nerven. Ich wollte gerade die Lampe ausknipsen, um mich auf die andere Seite zu legen, als ich wie von einem elektrischen Schlag getroffen zusammenfuhr. Mein Blick hatte das Fenster gestreift. Und plötzlich nahm ich ein Gesicht wahr, das mir wie gefroren entgegenstarrte. Das dauerte vielleicht eine oder zwei Sekunden, dann war es verschwunden. Ich war noch so sehr vom Licht der Lampe geblendet und übrigens auch so schlaftrunken, daß ich die Gesichtszüge nicht wahrgenommen hatte. Ich wurde mir nicht darüber klar, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte oder um jemanden, den ich kannte. Ich hatte nur eine Art intuitiven Gefühls, daß ich sekundenlang einem geisteskranken Wesen ins Auge geblickt hatte. Ich hatte das Gesicht eines Wahnsinnigen gesehen. Ich pflege des Nachts einen Fensterflügel offenzulassen. Dieses Wesen hatte mich jedoch durch die geschlossene Fensterseite angeblickt. Mein Herz ging wie der Kolben eines Dieselmotors. Ich stieg in die Pantoffeln, wagte mich ans Fenster und lehnte mich hinaus. Ich hatte das Gefühl, daß jemand dort draußen auf mich warte, daß ich gleich einen Hieb gegen die Schläfe erhalten würde oder daß zwei magere, sehnige Hände nach meiner Kehle greifen würden. Doch nichts geschah. Nichts Ungewöhnliches war draußen zu sehen. Nur ein bewölkter, nachtschwerer Himmel und dunkler Wald. Und dann die schwarze See, die sich kräuselte und brauste. Ich zog den Kopf zurück und ließ mich wieder ins Bett fallen. War ich völlig durchgedreht? Hatte ich geträumt oder mir etwas eingebildet? Lächerlich, sich so ins Bockshorn jagen zu -123-
lassen. Dies Gesicht am Fenster ist ja ein reichlich banaler Dreh, der, bis ins Unendliche wiederholt, als Höhepunkt der Spannung in allen Kriminalromanen der Welt gilt. Ich entsann mich, daß ich gerade in Agatha Christies Buch etwas Ähnliches gelesen hatte. Immer wieder zeigt sich ein Gesicht vor dem Fenster einer Frau, die glaubt, daß sie von einem Mörder verfolgt werde. Vielleicht hatte sich gerade dieses Kapitel in meinem Unterbewußtsein festgesetzt? Man träumt ja so leicht von dem, was man liest. Erst am hellen Morgen schlief ich wieder ein.
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ZWÖLFTES KAPITEL Worin der Mörder wieder zuschlägt, aber nicht so viel Glück hat wie beim ersten Male Was jedoch an diesem Morgen geschah, hatte ich nicht erwartet; höchstens hatte ich mit dem Gedanken gespielt, um ihn dann wieder abzuweisen. Ich hatte nicht geglaubt, daß Evas Vorahnungen ein besonderes Gewicht beizumessen sei. Offensichtlich war die Überraschung für die anderen ebenso groß; es wirkte wie eine Bombe auf uns alle, daß der Mörder ein neues Opfer gefunden haben sollte. Ich erwachte dadurch, daß Hammer mich an der Schulter rüttelte. Im allgemeinen ist ja dieser Mann das personifizierte Gleichgewicht, doch nun wirkte er sichtlich erschüttert. »Na?« sagte ich morgenfroh gähnend und mich mit allen Gliedern streckend, soweit es mein Schlafanzug zuließ. »Du siehst ja beunruhigend energisch aus. Habt ihr den Mörder erwischt?« »Im Gegenteil«, sagte Hammer mit einem Gesicht so hart wie in Stein gehauen. »Der Mörder hat einen von uns erwischt.« Ich wurde hellwach. Meine Augenlider gingen hoch wie zwei Rollgardinen. »Was sagst du da? Ist Bugge -?« »Nein, nicht Bugge. Es handelt sich um deine Freundin Eva Lundmo.« Ich spürte, wie mein ganzer Körper zu zittern begann. Eva? »Ist sie tot? Antworte! Hat sie jemand umgebracht?« »Jedenfalls umzubringen versucht. Vorläufig ist sie nur bewußtlos. Es ist wohl nicht so gefährlich; sie wird es sicher -125-
überleben.« Im Nu hatte ich den Schlafrock übergeworfen und war in den Salon geeilt. Dort lag Eva ohnmächtig und blutend auf einem Sofa. Ihr Bruder stand über sie gebeugt und fühlte ihren Puls. Die übrigen Gäste bildeten einen engen Kreis um die beiden; die meisten hatten sich noch nicht einmal angezogen; Saisa Sjöström war so gut wie nackt. Aber dafür hatte im Augenblick niemand Sinn; denn hier lag ein junges Mädchen, eine der ihren, als Opfer eines Mordüberfalls vor ihnen, dies war ein Schock, der sie ganz ausfüllte. Was hatte das zu bedeuten? Wer würde der nächste sein? Ich ging geradenwegs auf Lundmo zu und packte ihn am Arm. »Ist es gefährlich?« fragte ich. »Es besteht wohl keine Gefahr, daß sie stirbt?« Er richtete sich auf. »Nein«, sagte er. »Sie wird gleich wieder bei Bewußtsein sein. Sie kommt mit einigen Schrammen und - vielleicht - einer leichten Gehirnerschütterung davon.« »Gott sei Dank«! Ich sah sie an. Offenbar hatte sie eine ziemlich große Wunde an der Stirn; Lundmo hatte einen Gaze-Verband darüber gelegt. Die ganze rechte Wange und der rechte Arm waren abgeschürft. Doch im übrigen schien sie in Ordnung zu sein. Lundmo wandte sich an die übrigen Gäste und sprach zu einer Art Auditorium: »Eva hat Glück gehabt«, sagte er, »unwahrscheinliches Glück. Aber daß sie so davongekommen ist, soll sich der Bursche nicht auf seine Kreditseite buchen, wenn die Stunde der Abrechnung kommt. Eine elendere Feigheit und viehischere Roheit, als in dieser Weise ein junges Mädchen anzufallen, kann ich mir kaum vorstellen. Wenn ich diesem Unmenschen jemals -126-
an die Kiemen gerate, dann wird es ihm leid tun, daß er auf die Welt gekommen ist...« Während er sprach, blickte er uns einen nach dem anderen in die Augen. Er wandte sich an den Mörder, der sich hinter einem dieser betretenen Gesichter verbarg. Ich ließ den Blick vom einen zum anderen gleiten und versuchte etwas Verdächtiges zu entdecken, irgendein kleines, verräterisches Zeichen. Aber leider bin ich wohl nicht besonders scharfsinnig. Ich habe es bisher noch nie fertiggebracht, in den Kriminalromanen, die ich gelesen habe, den wirklichen Mörder zu erraten - ausgenommen die Romane, die ich selbst geschrieben habe. Alle diese Menschen wirkten ganz natürlich verstört und überrascht; da war keiner, dessen Auftreten sich sonderlich von dem der anderen unterschieden hätte. Es ergab sich, daß Storm-Jensen Eva zuerst in diesem Zustande, entdeckt hatte. Sein Zimmer lag oben direkt neben der Treppe; vor zehn Minuten hatte er einen heftigen Lärm, ein Hinunterpoltern gehört. Nachdem er sich einen Augenblick besonnen hatte, hatte er den Schlafrock übergeworfen und war die Treppe hinabgeeilt. Doch im Erdgeschoß war nichts zu sehen, noch war niemand aufgestanden, denn es war erst sieben Uhr. Er glaubte schon, daß er sich vielleicht verhört hätte, daß es sich nur um eine Einbildung handelte, als ihm plötzlich auffiel, daß der kleine Teetisch in der Halle verschwunden war. Es war eins dieser kleinen, modernen Tischchen auf Rädern; es hatte seinen festen Platz dicht vor der Treppe, die in den Keller hinunterführt. Der Keller liegt ziemlich tief, und die Treppe ist dementsprechend steil und hat viele Stufen. Unten am Fußende der Treppe lag Eva, neben ihr der umgestürzte, demolierte Teetisch. Storm-Jensen hatte sie in den Salon hinaufgetragen, und nun kamen nach und nach alle die anderen, die von dem schweren Gepolter erwacht waren. Der einzige, der nicht erwachte, war ich, aber ich pflege gerade um diese Zeit besonders tief zu schlafen. -127-
»Sie trafen also niemand auf der Treppe oder im Parterre, bevor Sie Fräulein Lundmo fanden?« Es war Hammer, der Storm-Jensen examinierte. »Nein. Alles war wie leergefegt. Wir pflegen ja hier draußen bis tief in den Tag hinein zu schlafen. Nur Eva scheint eine Frühaufsteherin zu sein.« »Wieviel Zeit verstrich etwa von dem Augenblick an, wo Sie den Lärm hörten, bis Sie hier unten standen?« »Das kann ich nicht so genau sagen. Etwa eine halbe Minute, möchte ich annehmen.« »Ist es denkbar, daß jemand Zeit gehabt hat, die Treppe zum Obergeschoß hinaufzulaufen und sich dort zu verstecken, bevor Sie aus Ihrem Zimmer kamen?« »Nein, das ist ausgeschlossen. Mein Zimmer liegt direkt der Treppe gegenüber, und die Stufen knarren dermaßen, daß ich es unmöglich hätte überhören können, wenn jemand heraufgelaufen wäre.« »Aber es läßt sich natürlich denken, daß jemand Zeit hatte, in eins der Zimmer im Erdgeschoß zu verschwinden, nicht wahr?« »Sie meinen?« »In eines der Zimmer, die mit dem Salon in Verbindung stehen.« »Ja, das ist natürlich möglich.« »Als die anderen angelaufen kamen, hatten Sie da den Eindruck, daß sie alle aus ihren eigenen Zimmern kamen?« »Soweit ich das in der Eile wahrnehmen konnte, ja. Sowohl Kåre als auch Sonja sah ich aus ihr en Zimmern in den Salon kommen. Und alle, die im Obergeschoß wohnen, kamen die Treppe herunter, so daß sie sich jedenfalls oben aufgehalten haben müssen.« »Na ja. Vielen Dank also. Das wäre alles.« Wenige Minuten später kam Eva wieder zu Bewußtsein. Sie -128-
schlug die Augen auf und blickte sich ziemlich verwirrt um. Es machte einen tiefen Eindruck auf mich, sie so hilflos zu sehen; unwillkürlich ballte ich die Fäuste; ich spürte einen Strom des Hasses aufquellen gegen dieses Raubtier, das unsichtbar unter uns streifte und seine Opfer niederschlug. Ich erschauerte bei dem Gedanken, daß Eva sich in den Klauen dieses Wesens befunden hatte und daß es beinahe zum Ziele gekommen war. Vielleicht verwünschte es jetzt sein Pech, vielleicht bereitete es den nächsten Vorstoß vor... Hammer befand sich sofort an Evas Seite. »Fühlen Sie sich so, daß Sie mir einige Fragen beantworten können?« Er blickte Lundmo an, um seine Zustimmung zu erlangen. Lundmo berührte sie an der Schulter: »Wie fühlst du dich, Eva? Alles okay?« Sie nickte. Sie stand zur Verfügung. Was sie zu erzählen hatte, war kurz folgendes: Sie war an diesem Morgen sehr früh aufgestanden, und da sie nicht wieder einschlafen konnte, war sie hinuntergegangen, um sich eine Zigarette zu nehmen. Während sie in der Halle auf und ab ging und ihre Medina genoß, fiel ihr Blick auf eine Zeitschrift, die auf dem kleinen Teetisch lag. Sie blätterte ein wenig darin, setzte sich auf den Teetisch und ließ die Beine herabbaumeln. Da hörte sie, daß irgend jemand in die Halle kam; sie nahm an, daß es Kåre, Sonja oder ich sei; und wandte sich daher nicht sogleich um. Sie erwartete, ein »Guten Morgen« oder etwas Ähnliches zu hören, aber da der Betreffende sich stumm verhielt, wollte sie sich schließlich umwenden. Dazu kam sie jedoch nicht, denn im selben Augenblick schob eine kräftige Hand sie bereits über den Rand der Kellertreppe. In rasendem Tempo polterte sie hinunter, verspürte noch einen heftigen Schlag gegen den Kopf und verlor das Bewußtsein. »Sie können also nicht sagen, wer Sie hinunterstieß?« »Nein. Ich konnte nicht den flüchtigsten Schimmer von ihr -129-
von ihm meine ich, wahrnehmen.« Hammer warf Bugge einen Seitenblick zu. Bugge nickte. »Seltsamer Lapsus«, sagte er. »Wieso sprechen Sie erst von ihr, um sich dann zu berichtigen? Das hört sich ja so an, als ob Sie eine Theorie von dem Geschlecht des Mörders hätten -« Eva schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, wer es war«, sagte sie. »Es war mir nur so herausgerutscht - ein gewöhnliches Sprechversehen.« Hammer fixierte sie, ein wenig inquisitorisch, fand ich. Lag nicht eine gewisse Unsicherheit in ihrem Blick? Log sie? »Sie tun nicht nur uns, sondern auch sich selbst einen Dienst, wenn Sie alles erzählen, was Sie wissen«, sagte Hammer. »Sie sind ebenso wie wir daran interessiert, daß dieser Mensch unschädlich gemacht wird; nur durch einen reinen Glückszufall sind Sie diesmal davongekommen. Sie können nicht damit rechnen, daß Sie das nächste Mal wieder solchen Dusel haben. Solange sich der Mörder auf freiem Fuß befindet, ist er eine Gefahr - vor allem für Sie!« Sie schien einen Augenblick lang mit sich zu kämpfen. »Ich habe Ihnen alles erzählt, was ich weiß«, sagte sie dann. »Ich habe dem nichts hinzuzufügen. Wie ich Ihnen schon sagte, habe ich nicht gesehen, wer mich die Treppe hinunterstieß.« »Aber gestern haben Sie noch gesagt, Sie wüßten, wer Helges Mörder sei. Es kann doch kein Zweifel darüber bestehen, daß dieser selbe Mensch nun versucht hat, Ihnen das Leben zu nehmen!« »Davon weiß ich nichts.« »Weshalb wollen Sie diese Person denn um jeden Preis decken?« Sie antwortete nicht. Ihr Gesicht war entsetzlich bleich, sie schloß die Augen und legte den Kopf auf das Sofakissen zurück. -130-
»Es hat keinen Sinn, daß Sie sie noch länger quälen«, sagte Lundmo, »sie hat sich von diesem Schock noch nicht erholt und braucht Ruhe.« Es war Hammer deutlich anzumerken, daß er sich nicht geschlagen geben wollte. Sein Gesicht nahm den alten Draufgängerausdruck an. Doch dann siegte sein ausgeprägtes Gefühl für Ritterlichkeit. Er zuckte resigniert die Achseln und ging in die Halle hinaus, um sich die Kellertreppe näher anzusehen. Bugge hatte sich mit mir auf mein Zimmer zurückgezogen. Bugge ging, die Daumen in die Weste gehakt, auf und ab. Er wirkte auffallend konzentriert und angespannt. Im allgemeinen pflegt ja Bugge den genau entgegengesetzten Eindruck zu machen. Wiederholt hat er damit geprahlt, er sei der faulste Mann des Nordens, und das will nicht wenig besagen. Er wandte sich zu mir und blickte mich an. Seine Augen waren von einem neuen Glanz erfüllt. »Nun fange ich an, ein wenig Spannung zu empfinden«, sagte er. »So etwas Ulkiges ist mir bisher noch nicht vorgekommen.« »Ich finde, wir nähern uns der Tragödie«, bemerkte ich. »Der Tragödie - nicht zuletzt für Hammer und dich. Hier geht nun der Mörder herum und hat völlig freie Hand, obwohl sich ein routinierter Polizeibeamter und ein genialer Kriminalpsychologe im Hause befinden.« »Abgesehen von einem schnell kombinierenden und scharfsinnigen Kriminalschriftsteller. Vergiß den nicht.« »Vielleicht findest du, daß du immer noch das Recht hast, ironisch zu sein. Aber laß mich dir in aller Bescheidenheit eine Frage stellen: Wenn du mit deinem phänomenalen psychologischen Instinkt den Mörder längst herausgefunden hast, warum konntest du dann nicht voraussehen, was heute geschah?« »Darauf hatte ich gerade seit vierundzwanzig Stunden -131-
gewartet.« »Darauf gewartet?« »Eben. Das paßt so haargenau in mein System - oder richtiger in das System des Mörders, daß es geradezu unheimlich ist.« Wieder Bluff. Wie, zum Teufe l, konnte ich diesen Mann dazu bringen, Farbe zu bekennen? Jedesmal, wenn ich ihn festzunageln meinte, entglitt er mir wie ein Quecksilbertropfen. »Aber nun verlange ich, daß du mir wenigstens eins sagst. Mit was für einem Verbrecher haben wir es zu tun? Was ist das für ein Mensch, der hier herumschleicht und solche Wahnsinnstaten begeht?« »Du deutest die Antwort ja selbst an. Was für Menschen begehen Wahnsinnstaten? Wahnsinnige, nicht wahr?« »Du meinst?« »Daß wir es mit einem im populären und wissenschaftlichen Sinne Verrückten zu tun haben. Mit einem Psychopathen.« »Aber -?« Ich wußte nicht recht, wie fortfahren. Diese Behauptung hatte mich überrumpelt; ich mußte plötzlich an das Gesicht denken, das mich letzte Nacht angestarrt hatte, dieses bleiche, desparate Gesicht, das ich für eine Halluzination, ein Traumbild gehalten hatte. »Aber unter den Gästen hier befindet sich keiner, der auch nur für einen Augenblick den Eindruck eines Geisteskranken gemacht hätte. Es sind doch alles ganz normale Menschen -« »Kein Mensch ist normal. Im Grunde sind wir allesamt verrückt, davon kann sich jeder überzeugen, indem er seine eigenen nächtlichen Träume untersucht. Was heißt denn überhaupt verrückt sein? Das heißt, daß man nicht imstande ist, sich den Forderungen der Kultur anzupassen; der Kontrolle und Bändigung der ursprünglichen Kräfte in uns. Keinem gelingt diese Anpassung völlig; allnächtlich flüchten wir uns im Traume -132-
zurück in unsere alten Jagdgründe, zurück zum Barbaren, zum Verbrecher, zum Kind. Wir werden verrückt...« »Aber?« »Ja, es gibt ein Aber. Der wirklich Verrückte, der Psychopath ist trotzdem anders als wir. Wieso? Der Psychopath tut in der Welt der Wirklichkeit das, was wir uns in der Phantasie erschleichen. Wir anderen träumen, daß wir töten, der Psychopath wird aber in der Tat zum Mörder; für ihn verschmelzen Traum und Wirklichkeit und werden eins. In allen Menschen lebt das Kind, das gegen die Kultur rebelliert; bei den meisten von uns siegt die Kultur; es wird eine Art Kompromißfrieden geschlossen; das Kind lebt weiter und tobt sich in den Träumen aus. Aber beim Psychopathen siegt das Kind. Es bemächtigt sich seiner ganzen Persönlichkeit, seines ganzen Bewußtseins; die Kultur geht in einem einzelnen Gehirn zugrunde. Das ist eine Katastrophe, die dem Untergang des Römischen Reiches verwandt ist.« Ich räusperte mich. »Von solchen philosophischen Nebelbildungen verstehe ich nichts«, sagte ich. »Könntest du mir statt dessen nicht eine ganz naive Frage beantworten? Wie hängt es zusammen, daß ein Mensch lebensgefährlich irrsinnig sein und sich trotzdem völlig normal im Alltagsleben aufführen kann? Unter einem Geisteskranken stelle ich mir im allgemeinen einen Menschen vor, der die Zunge aus dem Halse heraushängen läßt und ›bäh, bäh‹ sagt. Soviel ich weiß, befindet sich hier niemand, auf den diese Beschreibung zutrifft...« »Eine ausgezeichnete Beobachtung«, sagte Bugge. »Aber ganz so einfach ist es nicht. In diesem Falle haben wir es nicht mit dem. Bähbäh-Typ zu tun, der übrigens auch recht interessant ist. Wir stehen dem gegenüber, was wir einen Nachtmenschen nennen können.« »Einen was?« -133-
»Einen Nachtmenschen. Einen Menschen, der einen dünnen Firnis des Normalen bewahrt, solange er das Tageslicht und wache Menschen um sich wahrnimmt, der aber spontan in sein eigenes Gegenteil umschlägt, wenn das Dunkel und die Einsamkeit sich melden.« »Das hat einen Beigeschmack vom Kriminalroman des vorigen Jahrhunderts. Dr. Jekyll und Mr. Hyde, nicht wahr?« »Ganz recht. Einer der wenigen Kriminalromane von einigem psychologischen Wert. Ein wenig vulgär geschrieben, etwas zu sehr auf das bürgerliche Publikum berechnet, aber trotzdem eine gelungene Studie der Persönlichkeitsspaltung. Der Mensch, den wir suchen, ist eben eine solche Doppelpersönlichkeit; am Tage der korrekte und einne hmende Dr. Jekyll, des Nachts Mr. Hyde, das Ungeheuer, der Werwolf.« Ich lachte. Vielleicht klang mein Lachen nicht ganz echt; strenggenommen war das, was Bugge sagte, eher grotesk als spaßig. »Ich bin ja allerlei von dir gewohnt«, sagte ich. »Aber trotzdem kann ich nicht umhin, zu lachen, wenn du anfängst, vom Werwolf zu reden. Du mußt entschuldigen, daß ich nicht an Tausendundeine Nacht glaube.« Bugge blieb ganz ernst. »Nein, das entschuldige ich nicht«, sagte er. »Es ist für einen aufgeklärten Menschen eine Schande, nicht an die alten Märchen zu glauben. Alle Mythen enthalten grundlegende psychologische Wahrheiten.« In diesem Augenblick kam Hammer zu uns herein. Ich sah sofort, daß etwas los war; seine ganze Erscheinung strahlte Triumph aus. Er blickte Bugge mit eigentümlicher Miene an. So muß Bismarck Napoleon III. nach der Schlacht bei Sedan angeblickt haben. »Endlich«, sagte er. »Das war aber auch, weiß Gott, hohe Zeit.« -134-
»Nun?« Bugge warf ihm einen verstohlenen Blick zu. »Der Mörder hat ausnahmsweise mal das Pech gehabt, seine Visitenkarte am Tatort liegenzulassen«, sagte Hammer. »Er hatte es eilig und kriegte so schnell nicht alles mit. Dies hier lag direkt neben der Kellertreppe; es war so gefallen, daß ich es nicht sofort bemerkte -« Mit der selbstverständlichen Geste eines Imperators legte er ein kleines, zerknülltes Damentaschentuch auf den Tisch. »Riech daran«, sagte Hammer. Ich hielt es an die Nase und schnupperte. Schon wurde mir klar, worauf der Mann hinaus wollte. Ich kenne dieses Parfüm unter tausend anderen heraus. Es war Chanel.
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DREIZEHNTES KAPITEL Worin Hammer seiner Sache sicher ist »Nun?« sagte Bugge wieder. »Was ist dein nächster Schritt?« »Mein nächster Schritt«, sagte Hammer, »ist sehr naheliegend. Ich gedenke, Sonja Lundmo wegen Mordes an Helge Gårholm zu verhaften.« Er wirkte, als habe er auf diesen Augenblick ziemlich lange gewartet. Seine Stimme war selbstsicher, sein Blick fest und bestimmt. »Es ist doch wohl nicht möglich«, sagte ich, »daß ein solches junges Mädchen - hast du einen entscheidenden Beweis?« »Alles fügt sich ineinander. Wiederholen wir, was wir wissen: Helge war ein Schürzenjäger, der sich eine Ehre daraus machte, alle Frauen zur Verzweiflung zu bringen. Sein letztes Unternehmen war, Saisa Sjöström und Sonja Lundmo gegeneinander auszuspielen, zwei Frauen mit den primitivsten Eigenschaften ihres Geschlechts, der Fähigkeit zu lieben und zu hassen und vor allem dem Mut, Konsequenzen aus ihrer Leidenschaft zu ziehen. Es endete damit, daß er Saisa vorzog; sie war es, die in jener Nacht zu ihm kam, nicht um zu töten, sondern um zu lieben. Sonja wußte, daß sie ihre Rolle ausgespielt hatte, und sie beschloß, sich zu rächen.« »Warum tötete sie statt dessen nicht Saisa? Das sollte doch näher liegen?« »Die Kriminalstatistik zeigt, daß eine Frau so gut wie nie eine andere Frau tötet. Komischerweise. Der Haß richtet sich gegen den Mann, den sie liebt und der sie mißbraucht hat. Sonja entschließt sich, Helge zu ermorden. Sie betäubt ihn mit Veronaltabletten aus dem Bestand des Bruders - beachte, daß sie die Medizintasche kannte -, sie schleicht sich in der Nacht zu -136-
Helge hinein und schneidet ihm die Kehle durch; es besteht keine Gefahr, daß er vorher erwacht. Dieser Mord ist typisch weiblich, ein feiger Mord, ein gegen einen schlafenden Mann gerichtetes Attentat, mit einem Messer, der Lieblingswaffe der Frauen, verübt. Sie benutzt Handschuhe, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen, und da begeht sie ihren ersten Fehler. Wie ich bereits erwähnte, ist es ein stark belastendes Indizium, daß diese Handschuhe halb verbrannt im Ofen gefunden wurden -« »Wie ich bereits erwähnt habe...«, versuchte Bugge ihn zu unterbrechen. Doch Hammer überfuhr ihn einfach. »Ich kenne deine verstockten theoretischen Auffassungen, und ich glaube nicht daran. Selbstredend wurden diese Handschuhe von Sonja verbrannt, weil sie sie vernichten wollte. Ihre Handschuhe sollten nichts mit dem Mord zu tun haben. Genug davon. Sie simuliert Schlaf, um den Verdacht von sich abzulenken. Sie sollte auch das Opfer des Mörders sein!« »Das ist ja alles kalter Kaffee«, sagte ich. »Das hast du ja alles früher schon gesagt.« »Na ja. Aber ich komme noch einmal darauf zurück, damit ihr den Faden und den Zusammenhang erkennt. Nun kommen wir zum nächsten Punkt. Eva entdeckt, was es mit diesem Mord auf sich hat; fast rückt sie dir gegenüber mit der Wahrheit heraus, aber schließlich wagt sie es doch nicht. Sie deckt den Mörder. Weshalb? Weil sie weiß, daß ihre eigene Schwester den Mord an Helge Gårholm verübt hat!« »Könnte es nicht jemand anderes sein, den zu decken sie ein ebenso starkes Motiv hätte? Zum Beispiel ihren Bruder?« Ich fand, daß ich es Sonja schuldig war, sie zu verteidigen. Sie hatte mich ja gewissermaßen zu ihrem Anwalt gemacht und mir einen Honorarvorschuß in Gestalt eines Kusses gegeben. »Es paßt nicht in den Gesamtzusammenhang, daß Lundmo diesen Mord begangen haben soll. Wäre es der Fall, dann hätte -137-
er ganz bestimmt das Glas mit Veronaltabletten entfernt. Also. Der nächste Punkt ist, daß der Mörder entdeckt: Eva ist gefährlich. Sonja wird sich darüber klar, daß Eva die Wahrheit weiß. Sie benutzt die erste beste Gelegenheit, ihre Schwester aus dem Wege zu räumen...« »Du sagtest doch eben etwas über die Kriminalstatistik. Geht nicht daraus hervor, daß eine Frau so gut wie nie eine andere umbringt? Wie soll denn das nun zusammenpassen?« Es freute mich, Hammer bei einem Widerspruch zu ertappen. Ich fühlte mich wie der Verteidiger vor einem Schwurgericht, wenn er mit einer eleganten Handbewegung feststellt, daß der Staatsanwalt ein Rindvieh ist. Hammer biß sich auf die Unterlippe. »So etwas ist natürlich nicht allgemein gültig«, sagte er. »Wenn ein Mensch erst zum Mörder geworden ist, dann ist kein Ende abzusehen. Droht ihm eine Gefahr, so muß er aufs neue töten, ganz gleich, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt, um Bruder oder Schwester. Und damit kommen wir zum nächsten Indizium. Im letzten Verhör versucht Eva, ihre Schwester weiterhin zu decken. Aber sie verrät sich durch ein Sprechversehen. Ich frage sie, ob sie weiß, wer sie die Treppe hinabstieß, und sie antwortet, daß sie nicht das geringste von ihr gesehen habe - von ihm - verbessert sie sich sofort. Das heißt, sie denkt unwillkürlich an Sonja, und so entfährt ihr das ihr; sofort darauf entdeckt sie ihren Fehler und korrigiert ihn. Ist das nicht eine ›Fehlleistung‹, wie Freud es nennt?« Er wandte sich an Bugge. Versuchte er, sich auf den geheiligten Gefilden des Konkurrenten hervorzutun? »In diesem Falle machst du dich einer Fehlleistung schuldig«, sagte Bugge. »Jedoch«, sagte Hammer, »liefert dieses Taschentuch das letzte und entscheidende Indiz. Man kann sich ja leicht vorstellen, wie sich die Dinge zugetragen haben. Sonja kommt -138-
zufällig in die Halle - ohne eine bestimmte Absicht. Da erblickt sie Eva, wie sie mit dem Rücken zu ihr auf dem Teetisch sitzt und bekommt eine plötzliche, spontane Eingebung: Stoß sie die Treppe hinunter! Sie handelt ganz impulsiv: dieser Mordversuch ist nicht wie der erste geplant und vorbereitet; er ist improvisiert. Nur eine Frau kann in ihrer Verzweiflung etwas so Unüberlegtes, so Explosives tun.« »Gehören nicht erhebliche Körperkräfte dazu, so etwas zu tun?« »Kaum. Ich habe den kleinen Teetisch untersucht; er rollt auf Gummirädern; man braucht ihn nur anzurühren, so fegt er schon davon. Nein, es paßt alles zusammen. Es handelte sich nur um einige Sekunden, dann stürzte sie wieder in ihr Zimmer, sprang in die Koje und simulierte Schlaf. Aber in der Verwirrung hat sie Namen und Adresse am Tatort hinterlassen; sie hat ihr Taschentuch in der Eile verloren, das traditionelle kleine Taschentuch, das nie in der Hand einer jungen Dame fehlt...« Hammer machte eine Kunstpause und blickte uns Beifall heischend an. Bugge zündete sich eine Zigarette an. »Ist das alles?« fragte er. »Ja, das ist alles. Findest du, daß es nicht genügt?« Bugge brach in ein herzliches Lachen aus. »Ein solcher Hintertreppenroman ist mir noch nicht vorgekommen«, sagte er. »Das ist ja schlimmer als Borges Detektivbücher zu zwei Kronen fünfzig. Lernt ihr das auf der Polizeischule?« Hammer betrachtete ihn mit einer Mischung von Verachtung und tiefer Verärgerung. »Was hast du eigentlich dagegen einzuwenden?« »Alles. Absolut alles. Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber du hast nicht einen einzigen richtigen Schluß gezogen.« »So?« »Nicht so zu verstehen, als ob ich Wert darauf legte, dich -139-
herabzusetzen. Du bist auf Draht gewesen, hast eine Reihe Beobachtungen gemacht und eine Menge Material gesammelt. Du hast alles mitgekriegt, nur die Wahrheit nicht.« »Darf ich meinen hochverehrten Kollegen fragen, ob er etwas vorzuschlagen hat?« »Mit Vergnügen. Ich schlage vor, daß du davon absiehst, den größten Schnitzer deines Lebens zu begehen, ganz davon abgesehen, daß du dich an einem offenkundigen Justizmord mitschuldig machen würdest.« »Ich soll, mit anderen Worten, davon absehen, Sonja Lundmo zu verhaften, obwohl alle Indizien auf sie weisen und jede anständige Jury genötigt sein würde, sie wegen vorbedachten Mordes zu verurteilen?« »Eben. Man kann es auch so ausdrücken.« »Nun gut. Dann habe ich auch einen Vorschlag. Ich bezweifle, daß du über Material verfügst, das meine Indizien widerlegen könnte. Aber ich verlange fair play und fordere dich auf, deine Karten auf den Tisch zu legen. Es geht nicht an, in anmaßender Weise negative Kritik zu üben, ohne daß man selbst seiner Sache sicher ist.« »Ich bin meiner Sache sicher.« »Ausgezeichnet. Dann sollst du auch Gelegenheit haben, zu zeigen, was du kannst. Ich gebe dir vierundzwanzig Stunden, um Helge Gårholms Mörder zu finden.« »Eine Herausforderung?« »Nenn es, wie du willst. Ich will sehen, welche Trümpfe du auszuspielen hast. Morgen genau um diese Uhrzeit gedenke ich mit meinem Arrestanten im Wagen in die Stadt zurückzufahren. Wenn du auf überzeugende Weise einen anderen dieses Verbrechens überführen kannst, werde ich mich beugen. Falls nicht, verhafte ich Sonja Lundmo.« »Vierundzwanzig Stunden ist fast zuviel. Du bringst mich in -140-
Versuchung, in Faulheit zu verfallen. Aber sei es drum. Ich nehme an.« Ich weiß nicht, woran die beiden mich erinnerten. Vielleicht an zwei Hasardspieler, die einander - jeder mit einem Pik As in der Manschette - belauern. Hatte Hammer seinen letzten Trumpf ausgespielt? Und verfügte Bugge vielleicht überhaupt gar nicht über ein Pik As, sondern nur über eine bescheidene Kreuz Zwei? Ich war geneigt, das letztere zu glauben. Einige Stunden später machte ich eine peinliche Entdeckung. Mein Tagebuch war verschwunden! Ich stellte mein ganzes Zimmer auf den Kopf, aber es war nicht aufzufinden. Ich gehöre zu denen, die ein Tagebuch im weitesten Sinne des Wortes führen, eine sorgfältige Buchhaltung über alle meine kleinen Stimmungen und Erlebnisse; es ist so reizvoll, ein solches Gedenkalbum zu besitzen, wenn man alt geworden ist oder wenn man an dunklen Winterabenden allein ist und mit dem Leben nicht fertig wird. Bugge behauptet übrigens, daß die Führung eines Tagebuches ein neurotischer Zug sei. Tagebuchschreiber sind Menschen, die ständig einen schriftlichen Beweis dafür haben müssen, daß sie leben, sagt er. Oder daß sie wenigstens gelebt haben. Es gibt Menschen, die an ihre Vergangenheit gebunden sind und immer in ihrem eigenen Leben »zurückblättern« müssen. Sagt Bugge. Aber ich habe ja dem, was Bugge sagt, nie besonderes Gewicht beigemessen. Es ärgerte mich jedoch, daß dieses Buch offenbar in fremde Hände gefallen war. Was man einem kleinen schwarz gebundenen Buch, gekauft bei Arne Steen, Buch- und Papierhandlung, Kirkevei, anvertraut, ist ja eigentlich nicht für die Öffentlichkeit gedacht. Summa summarum enthielt es alles, was auf diesen Seiten bereits wiedergegeben wurde, und dazu noch einige Eintragungen persönlicher Art. Ich konnte mir denken, daß Storm-Jensen, Kvam und andere bei der Lektüre ihrer Charakteristik ein saures Gesicht ziehen würden. Vor allem -141-
mißfiel mir der Gedanke, daß Storm-Jensen erfahren könnte, was ich von ihm hielt. Wer konnte ein Interesse daran haben, mein Tagebuch zu lesen? Selbstverständlich alle. Alle Menschen haben ein Interesse daran, anderer Leute Tagebücher zu lesen. Aber wer konnte so frech sein, es zu stehlen? Der nun folgende Nachmittag war, milde gesagt, makaber. Wir blickten uns nur von der Seite an, maßen uns nur mit den Augen: Ist er es? Ist sie es? Keiner traute dem anderen. Es wurden einzelne Versuche unternommen, Konversation zu machen, aber sie scheiterten kläglich. Kvam tat das einzig Richtige in einer solchen Situation; er verschwand im Keller und machte sich über die siebzehnte Flasche Whisky her. Es war komisch, wie wir anderen reagierten. Nach Anbruch der Dunkelheit waren wir alle im Salon versammelt. Keiner hatte Lust, allein zu sein, sei es in seinem Zimmer oder sonst irgendwo. Wir suchten die Nähe des anderen, nicht um miteinander zu reden, sondern um der Einsamkeit zu entrinnen. Storm-Jensen versuchte etwas Stimmung zu machen, indem er eine Platte auflegte und einige Foxschritte mit Saisa Sjöström improvisierte. Aber es wirkte schlapp und freudlos. Die Nacht begann sich gegen die Fenster zu legen. Man konnte Bugge nicht den Vorwurf machen, daß er seine Vierundzwanzigstundenfrist sonderlich ernst genommen hätte. Er war, wenn möglich, noch um einige Grade unausstehlicher geworden als zuvor; nun machte er sich nicht einmal mehr die Mühe, den Gesellschaftslöwen zu spielen. Ich hatte den Eindruck, daß er das Ganze aufgegeben hatte. Erst in den späten Abendstunden kam er ein wenig mit Kåre ins Gespräch. »Ich habe mir Ihre Bilder ein wenig angesehen«, sagte er. »Sie interessieren mich. Sie haben wohl keine Lust, mir eins davon zu verkaufen?« Kåre warf die Tolle zurück, die ihm über die rechte -142-
Augenbraue zu fallen pflegt. »Ich bin Künstler«, sagte er. »Kein Krämer.« »Vielleicht irre ich mich, aber ist es nicht so, daß Künstler von ihrer Kunst leben?« »Ganz recht, Sie irren sich. Künstler leben nicht von ihrer Kunst. Sie sterben daran.« Offensichtlich war es auch hier schwierig, ins Gespräch zu kommen. Doch Bugge hatte anscheinend nicht die Absicht, sich geschlagen zu geben. »Interessanter Gesichtspunkt«, sagte er. »Apropos, was versuchen Sie eigentlich abzureagieren, wenn Sie malen?« »Was versuchen eigentlich Sie abzureagieren, wenn Sie im Privatleben anderer Menschen herumwühlen?« Kåre war schlechter Laune. Kein Wunder: die Atmosphäre rings um ihn war alles andere als heiter. Im übrigen war Kåre schon immer ein schwieriger Gesprächspartner gewesen; er sagt selten etwas, wenn er dazu aufgefordert wird; dafür kommen manchmal die seltsamsten Dinge aus ihm heraus, so ganz zufällig. Bugge saß eine Weile stumm da und betrachtete ihn aus halbgeschlossenen Augen. Ich fragte mich, ob mein Freund verärgert sei. Aber Bugge ist hieb- und stichfest gegen alle Unverschämtheiten. Und schon begann er von neuem mit gedämpfter, liebenswürdiger Stimme. »Ich glaube, ich verstehe mich ein wenig auf Sie und auf das Geheimnis Ihrer Kunst«, sagte er. »Hat Ihr verstorbener Bruder Ihnen nicht einmal eine ziemliche Tracht Prügel verabfolgt.« »Was sagen Sie da?« Kåre hatte plötzlich den arroganten Ton aufgegeben und starrte Bugge sprachlos an. »Genauer ausgedrückt: hätte er Sie nicht einmal beinahe erwürgt?« -143-
Ich war nicht weniger verblüfft als Kåre. »Heiliger Brahma!« sagte ich. »Wie kannst du das wissen? Ich habe dir doch nichts davon erzählt -« »Es stimmt also?« »Und ob! Ich entsinne mich der Geschichte noch recht gut; als Jungen spielten wir einmal Messerwerfen oder so etwas Ähnliches auf der Straße, und Kåre geriet mit Helge in eine Schlägerei. Ihr lagt euch damals immer in den Haaren, weißt du noch, Kåre? Helge war der Stärkere, er kriegte dich unter und drückte dir die Kehle zu, bis du ganz blau im Gesicht wurdest weißt du noch?« »Ja, danke; du brauchst mich nicht daran zu erinnern.« »Wir anderen mußten eingreifen; als wir Helge von dir losgerissen hatten, warst du besinnungslos. Das war eine üble Geschichte. Ich verstehe nur nicht, wieso Bugge dahintergekommen ist.« »Das würde mich auch interessieren«, sagte Kåre. Seine Stimme klang seltsam gepreßt. »Ziemlich naheliegend«, sagte Bugge. »Ich konstatiere nur, daß es diese Szene ist, dieses Motiv, das sich auf allen Ihren Bildern wiederfindet - nur mit vertauschten Rollen. In Wirklichkeit war es Ihr Bruder, der auf Sie losging, der Große, der den Kleinen würgte, aber auf diesen Bildern, in Ihrer Phantasie, ist es umgekehrt; der Kleine würgt den Großen.« Ich fand, daß dies für Kåre etwas peinlich zu werden begann. Sein Gesicht war ziemlich, verkrampft, doch fuhr er fort zu reden, als habe er ein objektives Interesse an diesem Thema. »Sie meinen also mit anderen Worten, daß ich an irgend etwas in meiner Vergangenheit gebunden sei - an eine Art Schock?« »Ganz recht. An einen Schock gebunden, das ist der Ausdruck. Hier haben Sie die Erklärung dafür, warum die meisten Menschen so einseitig sind, warum sie sich unablässig -144-
selbst wiederholen. Ihre Seele trägt die Spuren einer frühen Katastrophe, eines Schocks, um den sie unablässig kreisen und den sie immer aufs neue erleben.« »Das ist natürlich eine interessante Theorie, doch trifft sie in meinem Falle nicht zu. Ich habe nicht einen einzigen Augenblick an diese alte Geschichte gedacht, wenn ich malte. In meinen Bildern habe ich immer abstrakten Ideen Ausdruck gegeben - nie solchen unwesentlichen Erlebnissen. Herrgott eine Schlägerei an der Straßenecke im Alter von zehn Jahren! Schließlich sind es ja nicht gerade solche Dinge, die man wieder erlebt.« Diese Sätze kamen stoßweise. Er mußte nach Worten suchen. Bugge betrachtete ihn mit einer seltsamen Miene. »Ich stelle fest, daß Sie diese Episode gerade in diesem Augenblick erleben«, sagte er. »Was wollen Sie damit sagen?« »Das Sprechen fällt Ihnen schwer. Ihre Stimme ist gepreßt. Sie spannen die Halsmuskeln an. Kurzum: Sie erleben gerade jetzt einen Augenblick, der sich vor zwanzig Jahren abspielte. Sie liegen mit dem Rücken auf dem Boden und schnappen nach Luft; Sie kämpfen gegen ein Paar eisenharte Fäuste an, die sich fest um Ihre Kehle klammern -« So hatte ich Bugge noch nicht gesehen. Er beugte sich im Sessel vor und erdolchte Kåre geradezu mit seinen Worten. Kåre wirkte wie aus allen Wolken gefallen, einen Augenblick sah er so aus, als ob er tatsächlich nach Luft schnappe. Dann lehnte er sich im Stuhl zurück und lachte schallend. »Gott sei Dank, daß ich nichts mit Psychologie zu tun habe!« sagte er. »Da würde ich über kurz oder lang völlig durchdrehen.« Ich war geneigt, Kåre zuzustimmen. Gegen zweiundzwanzig Uhr servierte Anna den Tee. So -145-
wollte es der Brauch in der Villa »Seewind«, daß wir einmal im Laufe des Abends Tee tranken; wir hatten diese Gewohnheit selbst während des jetzigen Belagerungszustandes beibehalten. Kein Mörder und kein Polizeibeamter kann mich im übrigen daran hindern, meine Abendtasse duftenden chinesischen Tees zu trinken. Sie ist für mich unentbehrlicher als die Muttermilch für den Säugling. Es zeigte sich, daß Anna eine der Tassen zerbrochen hatte; vermutlich ein Ausdruck für den Aufruhrdrang des Proletariats; solche Menschen haben ja keine Achtung vor dem rechtmäßigen Eigentum der Oberklasse. Es fehlte also eine Tasse; Eva und ich mußten uns zusammensetzen und aus einer Tasse trinken. Die Situation war in den letzten Stunden keineswegs gemütlicher geworden. Wir saßen stumm um den Kamin gruppiert, jeder mit seiner Tasse, und starrten in die Flammen. Ich weiß, woran mich das erinnerte; es war eine Art Höhlenstimmung; eine Gruppe Menschen, die sich um das Feuer der Höhle geschart hatte, aus Angst vor einem wilden Tier im Waldesdunkel. Es lag etwas Anheimelndes in diesem Flammenschein; er beruhigte. Mich muß er jedenfalls in ganz ungewöhnlichem Maße beruhigt haben; ich wurde plötzlich übermüde und mußte mich zurückziehen. Ich brachte noch mit Mühe ein schläfriges »Gute Nacht!« heraus, schleppte mich auf mein Zimmer und fiel ins Bett. Ich hatte nicht einmal mehr Lust, mich auszuziehen.
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VIERZEHNTES KAPITEL Worin das Unglaubliche geschieht In dieser Nacht ereignete sich das Tollste, was ich je erlebt habe. Wenn ich an diese Stunden zurückdenke, so ist es, als ob ich mir einen völlig unwirklichen Traum ins Bewußtsein zurückrufe, einen Alpdruck, eine Stimmung aus den wildesten Phantasien der Kindheit. Es begann damit, daß ich geweckt wurde. Ich schlief ungewöhnlich fest; ich befand mich irgendwo tief in den Schächten der Unterwelt, als ich merkte, daß mich jemand schüttelte. Langsam stieg ich zur Oberfläche empor und schlug die Augen auf. Bugge stand über mich gebeugt; neben ihm Hammer. »Na, Gott sei Dank«, sagte er. »Ich habe eine halbe Ewigkeit gebraucht, um dich wach zu kriegen.« Ich setzte mich im Bett auf und rieb mir die Augen. Dann blinzelte ich nach seiner Armbanduhr. »Wie spät ist es?« »Halb eins. Die anderen haben sich gerade hingelegt.« »Halb eins? Was, zum Te ufel noch mal, soll das heißen, mich zu nachtschlafender Zeit zu wecken? Wo ich gerade so gut schlief.« »Ich bin mir darüber klar, daß du gut schliefst. Ich erlaubte mir nur, dich zu wecken, um dich vor einem noch besseren und tieferen Schlaf zu retten. Vor einem Schlaf, in den einzugehen du noch zu jung bist.« »Ich verstehe nicht -. Was ist das für ein Blödsinn?« Ich blickte Hammer an. Aber Hammer schüttelte den Kopf und lächelte. -147-
»Frage nur mich nicht«, sagte er. »Ich war es nicht, der dich zu wecken vorschlug. Bugge ist übergeschnappt.« Ich fixierte Bugge mit einem anklagenden Blick. Alle Anklage, die ich mit zwei vor Müdigkeit halb verklebten Augen auszudrücken vermochte, lag darin. Bugges barocke Einfälle fingen an, mich zu ärgern. Nun langte es mir. Er setzte sich auf meine Bettkante. »Hast du gute Nerven?« fragte er. Seine Rechte spielte mit einer Zigarette. »Einigermaßen, hoffe ich. Wenn man davon absieht, daß du anfängst, mir auf die Nerven zu gehen.« »Na ja, das ist selbstverständlich. Immerhin wirst du in Kürze ziemlich solide Nerven benötigen. Du wirst nämlich einen Mörder sehen.« »Wie bitte?« »Ja, ganz recht. Einen Mörder. Hier. In diesem Zimmer.« »Wann?« »In einer, höchstens zwei Stunden.« Ich war sprachlos. Hammer lachte. »Ich bin völlig einverstanden mit Borges jetzigem Gesichtsausdruck. Dies riecht, offen gesagt, nach amerikanischem Film. Ist es wirklich dein Ernst, Bugge?« »Mein tödlicher Ernst.« »Aber weshalb - sag mir bloß, weshalb sollte der Mörder hierher kommen?« »Weil er kommen muß. Weil ihn eine innere Kraft treibt, eine Kraft, über die er keine Kontrolle hat, eine Kraft, die ihn zum Mord getrieben hat. Hast du nie gehört, daß der Mörder eine seltsame Vorliebe für den Ort seiner Tat hat? Der Tatort saugt ihn an. Er wird ihm früher oder später zum Verhängnis.« »Blödsinn«, sagte Hammer. »Sinnloses Geschwätz.« -148-
Bugge beachtete ihn nicht. Er hob die eine Hand mit einer lässigen Bewegung und deutete auf meine kleine Nachttischlampe. »Würdest du so nett sein, die auszumachen?« »Warum denn das?« »Es wäre denkbar, daß der Mörder weniger aufgelegt ist, uns einen Besuch abzustatten, wenn er sieht, daß der Raum erleuchtet ist.« »Aber -« »Tu, wie ich dir sage.« Ich streckte widerwillig die Hand aus und drückte auf den weißen Knopf. Ein leises Klick, und das Zimmer lag im Dunkeln. »Theater«, murmelte Hammer. Nie werde ich die halbe Stunde, die jetzt folgte, vergessen. In den ersten Minuten war ich noch zu schläfrig, um die seltsame Stimmung deutlich wahrzunehmen, aber nach und nach schärften sich meine Sinne. Es war eine blaugraue, herbstliche Sommernacht; das Wetter war genau so wie in der Nacht, da Helge ermordet wurde; ein leichter Landregen schlug gegen die Fensterscheiben, ein dünnes Wassergewebe zwischen Himmel und Erde. Der Geruch nasser Heide und nasser Fichtennadeln zog durch das offene Fenster. Ich sichtete den Wald draußen, diese hohen, schwarzen Bäume, in denen es seltsam brauste, mit einem dunk len, hohlen Ton, der sich mit dem kalten Zischlaut des Regens mischte. Noch ein dritter Laut tönte im Chor, das ferne mahlende Geräusch draußen von der See her, das gedämpfte Getöse des Meeres. Aber sonst war alles still. »Zum Teufel noch mal«, sagte ich. »Können wir nicht wenigstens das Fenster schließen? Es wird kalt hier.« »Das Fenster bleibt offen«, sagte Bugge. Seine Stimme war hart und fest. -149-
Nach und nach hatten sich meine Augen an die Dunkelheit gewohnt, doch war es so dunkel im Zimmer, daß ich Bugges und Hammers Gestalt nur als Schatten wahrnahm. Wir saßen alle drei stumm und unbeweglich da; nur die glühenden Zigarettenenden bewegten sich hin und wieder. Die Sekunden schleppten sich dahin und wurden zu Minuten. Es vergingen fünf Minuten - zehn - fünfzehn - zwanzig - nichts geschah. Kein ungewöhnliches Geräusch war zu hören, sei es aus den anderen Zimmern oder von draußen. Nur das monotone Stakkato des Regens. Doch ich fühlte, wie dieser merkwürdige Wartezustand immer stärker auf mich einwirkte. Ich spürte, wie mein Blut schneller zu pulsieren begann, die Spannung zerrte an meinen Nerven. War es wirklich möglich, daß der Mörder heute nacht hierher käme? Wann wird er kommen? Auf welchem Wege? Und wer? Hammer schien jedoch die Situation nicht besonders interessant zu finden. Er hatte in den letzten Minuten unruhig auf seinem Stuhl gesessen; ab und zu scharrte er mit dem Fuß; er war ungeduldig. Schließlich ließ er den Zigarettenstummel fallen, zertrat ihn und stand auf. »Verbindlichen Dank«, sagte er. »Ich glaube fast, daß ich es vorziehe, mich jetzt hinzulegen. Auf die Dauer wird das hier langweilig.« »Schsch!« zischte Bugge. Undeutlich nahm ich seine warnend erhobene Hand wahr. Hammer blieb stehen, zögernd. Was war das? Einen Augenblick später war es mir klar. Es war ein Geräusch, ein neues Geräusch von draußen. Es übertönte nur schwach den Lärm der Regentropfen, und ich hätte es sicherlich nicht bemerkt, wenn ich nicht so intensiv darauf eingestellt gewesen wäre, daß da irgend etwas im Anzuge war. Es hörte sich an, als ob sich ein großes Insekt an der Außenwand des Hauses bewegte. Hammer ging einen Schritt in Richtung auf das Fenster zu. -150-
Bugge glitt von der Bettkante hoch und packte ihn am Arm. »Idiot«, flüsterte er. »Rühr dich nicht. Du vermasselst ja alles.« Von draußen fiel ein dunkelblauer Schimmer auf den Boden. Der größte Teil des Raumes lag in tiefe r Dunkelheit. Bugge drückte die Zigarette aus und trat zurück, indem er Hammer mitzog. Hammer war plötzlich zahm und folgsam. Draußen war es wieder für einige Sekunden still geworden. Ich spürte, daß das Wesen dort draußen den Atem anhielt und lauschte, mit angespannten, mißtrauischen Sinnen wartete. Es hatte schwach unter Hammers Fuß geknarrt, als er über die Dielenbretter ging, und vielleicht hatte Bugge ein wenig zu laut geflüstert? Mein Herz pochte, daß ich meinte, man müsse es im ganzen Hause hören. Wird der seltsame nächtliche Gast die Gefahr ahnen und sich zurückziehen? Den Besuch auf ein andermal verschieben? Aber dann war das Geräusch wieder da. Diesmal vernahm ich ganz deutlich, wie irgend etwas an der Wand entlang kroch, irgend etwas, das sich dem offenen Fenster näherte - von oben. Im nächsten Augenblick glitt etwas Schmales, Dunkles vor die Öffnung. Es war ein Seil. Es zeichnete sich scharf gegen den blaugrauen Nachthimmel ab, pendelte einige Sekunden vor und zurück, schürfte schwach am Fenstersims. Eine kurze Weile hing es still, dann begann es plötzlich zu zittern, schnelle Rucke setzten es aufs neue in Bewegung. Ein Mensch war im Begriff, sich daran zu meinem Fenster hinabzulassen! Es vergingen noch einige Sekunden, Sekunden, lang wie Ewigkeiten, dann wurde eine Gestalt in der Fensteröffnung sichtbar. Es war ein seltsam makabrer Anblick, wie dieses -151-
Wesen sich mit langsamen, weichen, fast lautlosen Bewegungen zu seinem Ziel hinunterließ. Es erinnerte mich an eine Spinne, die behutsam und sorgfält ig ihren Faden spinnt, um dann zu ihrem Opfer hinunterzugleiten, graziös und unerbittlich. Einen kurzen Augenblick lang blieb die Gestalt still in der Luft hängen, setzte dann den Fuß vorsichtig auf das Fenstersims und glitt ins Zimmer hinein, dann mit katzenartiger Geschmeidigkeit auf den Boden. Der Mörder stand in meinem Zimmer, drei Meter von mir entfernt! Ich hörte die schnellen, heißen Atemzüge, wie von einem erregten Tier. Weder früher noch später habe ich so wie in diesem grotesken Augenblick Angst empfunden, meine Kehle schnürte sich zusammen; ich wollte schreien, schreien Mir war, als verginge eine Ewigkeit, ehe etwas Neues geschah, etwas Erlösendes. Vom Nachttisch, bei dem sich Bugge postiert hatte, ertönte ein Knipsen. Das Licht der kleinen Lampe erfüllte den Raum wie eine Explosion. Ich brauchte nur den Bruchteil einer Sekunde, um meine Augen dem weißen Licht anzupassen. Doch brauchte ich mehrere Sekunden, um mein Bewußtsein dem anzupassen, was ich sah: Direkt vor uns - mit einem wilden, unbeschreiblichen Ausdruck im Gesicht - stand Eva Lundmo! Ihre rechte Hand umklammerte ein Messer, dasselbe gezackte Messer, mit dem Helge ermordet worden war! Es gibt Augenblicke im Leben, wo alles in uns zusammenzustürzen droht, wo all das, worauf wir gebaut hatten, zerfällt, die Vernunft wird Chaos, und Chaos wird Vernunft. Ein solches Gefühl hatte ich in diesem Augenblick; ich starrte apathisch vor mich hin, ich meinte, daß ich verrückt geworden sei, regelrecht verrückt. Hammer und Bugge waren offenbar ebenfalls von diesem Anblick hypnotisiert worden, denn keiner von ihnen handelte -152-
spontan. Eva bekam genau die Sekunde, die sie benötigte, um sich zu orientieren, und sie handelte blitzschnell. Im Nu war sie aus dem Fenster gesprungen, eine improvisierte Leistung, die man einer jungen Frau kaum hätte zutrauen mögen. Hammer hatte sich als erster wieder gefaßt. »Verflucht und zugenäht«, sagte er. »Laßt sie nicht entwischen. Das Auto!« In der kleinen Garage war nicht Platz genug für Hammers Auto gewesen. Es stand draußen auf der Landstraße. Eva hatte offenbar die gleiche Eingebung wie Hammer gehabt; sie lief in Richtung auf das Auto. Hammer sprang aus dem Fenster, und wir anderen folgten ihm auf den Fersen. Wir stürzten direkt auf die Landstraße zu, um ihr den Weg abzuschneiden. Zu spät. Das Geräusch eines Motors, der angelassen wurde, und dann das Sausen der Autoräder ließ uns einsehen, daß wir zu langsam gewesen waren. Hammer fluchte abscheulich. »Übrigens ist es gar nicht so gefährlich«, sagte er dann. »Die alte Kiste kann nicht mehr als fünfzig bis sechzig Stundenkilometer machen. Wir können sie einholen. Sehen wir, daß wir einen der anderen Wagen aus der Garage herausholen.« Die Garagentür war verschlossen. Neue Flüche von Hammer. Sonja war von dem Lärm aufgewacht - vielleicht hatte sie auch nicht geschlafen -, jedenfalls war sie völlig angekleidet. Sie steckte den Kopf aus dem Fenster und sah uns verwundert an. »Was ist los?« »Den Garagenschlüssel!« rief Hammer. »Schnell!« Sonja warf sich einen Mantel um und kam zu uns heraus. Wir bekamen die Garagentür auf und sprangen in Sonjas Auto einen sechszylindrigen Viersitzer, den man mühelos auf einhundertfünfzig bringen konnte. Sonja setzte sich neben -153-
Hammer nach vorn; sie hatte keinerlei Ahnung, was eigentlich los war, wollte aber dabeisein. Bugge und ich saßen hinten. Dann begann die Verfolgung. Es vergingen nicht viele Minuten, bis wir das andere Auto vor uns auf dem Wege sahen. Hammer fuhr wie ein Rasender; er hatte sich vornüber gebeugt, krümmte sich förmlich über das Steuerrad; er erinnerte an einen Jockei im Derby-Endspurt. Der Motor sang in einem hohen, jaulenden Diskant; die langen, schlanken Lichtkegel durchbohrten die Dunkelheit und fraßen sich Meter für Meter zu der Fliehenden vor. Die Kurven wurden mit einer grenzenlosen Verachtung für die Wirkungen der Zentrifugalkraft genommen. Aber auch Eva konnte fahren. Sie holte aus Hammers altem Ford das Äußerste heraus; er war mindestens auf achtzig; mit keuchenden Lungen stürmte er dahin; kräftige Knalle im Auspuffrohr ließen erkennen, daß seine Leistungsfähigkeit damit auf die Dauer überspannt wurde. Hammers Wagen ist ja für kleine, romantische Sonntagsfahrten ins Grüne berechnet und nicht für Verbrecherjagden oder Wettrennen. Dies hier war ein Hindernisrennen zwischen einem Araber und einer Schindmähre; ein Hindernisrennen, über dessen Ausgang von vornherein kein Zweifel bestehen konnte; der Vorsprung war zu klein. Wir waren tief in den Wald hineingekommen; die hohen Bäume rasten an uns vorbei und bildeten riesige Zäune zu beiden Seiten des Weges. Der kalte Regen peitschte mir ins Gesicht und kühlte meine glühendheiße Haut. Nun war der Abstand zwischen den beiden Wagen nur noch zwanzig bis dreißig Meter. Eva wandte einen Augenblick den Kopf und blickte sich um; ihr wild starrendes Gesicht glänzte im Scheinwerferlicht auf, und in der gleichen Sekunde wurde ich mir bewußt, daß es diese fremden Züge, dieses verzerrte Gesicht waren, die ich in jener Nacht vor meinem Fenster gesehen! Diese gespenstische Erscheinung, die ich mir nicht hatte -154-
erklären können und deren ich mich fast schämte, weil ich glaubte, sie sei meiner eigenen überhitzten Phantasie entsprungen. Eva war wahnsinnig - ein Nachtmensch! Zwanzig Meter trennten uns noch - neunzehn - achtzehn siebzehn. Bugge hatte die ganze Zeit stumm neben mir gesessen mit einem neuen, seltsamen Fieberglanz im Blick. Plötzlich beugte er sich zu mir vor und rief mir ins Ohr: »Sie biegt vom Weg ab! Sie tötet sich!« Ich begreife nicht, welche Art merkwürdiger Intuition Bugge solches sagen ließ. Tatsächlich geschah es einige Sekunden später. Hammer hatte weitere fünf Meter aufgeholt, in einem Augenblick würde er an ihr vorbeifahren und sie zum Stehen bringen -, da drehte sie plötzlich das Lenkrad heftig nach der einen Seite, und der Wagen raste mit voller Fahrt direkt in einen Baum. Er wurde völlig zerschmettert, der Benzintank explodierte mit einem ohrenbetäubenden Knall, und hohe Flammen schlugen empor. Hammer bremste hart; der Wagen rutschte auf vier kreischenden Rädern. Wir sprangen heraus. Aber es war nichts mehr zu machen. Eva war auf der Stelle getötet worden. Es war nicht einmal möglich, ihre Leiche aus den Flammen zu retten. Wir mußten passiv dabeistehen und diesem unheimlichen Schauspiel zusehen. Ich persönlich brachte das nicht fertig; ich mußte mich abwenden; mich fror. Was Sonja betrifft, so war es zuviel für sie gewesen. Sie lag bewußtlos im Wagen. Ich packte Bugge am Arm. »Kannst du mir dies hier erklären?« sagte ich. »Träume ich, oder ist es Wirklichkeit? Kann es möglich sein, daß dies Wirklichkeit ist? Ich verstehe überhaupt nichts mehr -« »Du verstehst aber wohl so viel, daß sie gekommen war, um dich zu ermorden.« -155-
»Mich zu ermorden? Sie? Unfaßbar.« »Gar nicht so unfaßbar, wie es auf den ersten Blick aussieht.« »Wie konntest du wissen, daß es heute nacht geschehen sollte?« »Aus verschiedenen Gründen. Ich kannte ihren Seelenzustand schon ziemlich lange; ich wartete auf diese Explosion, und folglich beschattete ich sie. Du entsinnst dich vielleicht, daß ihr heute abend aus derselben Tasse trankt?« »Ja!« »Nun denn. Sie steckte heimlich ein paar Veronaltabletten in den Mund, um sie beim Trinken ganz unauffällig in den Tee fallen zu lassen. Da hast du das Geheimnis deiner plötzlichen Schläfrigkeit. Sie betäubte dich, ihr neues Opfer, auf die gleiche Weise mit Veronal, wie sie es mit Helge getan. Sie wollte nicht riskieren, daß du erwachtest, wenn sie kam, um dich zu töten. Sie hatte selbst dafür gesorgt, daß eine Tasse zerbrochen wurde, damit ein natürlicher Grund dafür dasein sollte, daß sie mit dir aus einer Tasse trank. Kurz gesagt: eine ganz raffinierte Mörderin - verwandt mit den tüchtigsten aus dem Geschlecht der Borgia.« »Aber weshalb - wieso - wie -«, ich tappte immer noch völlig im Finstern. Warum sollte Eva Helge töten? Er war ja ein Fremder für sie - hatte nicht die geringste Rolle in ihrem Leben gespielt. »Und weshalb sollte sie mich töten wollen? Es bestand ja nicht die Andeutung eines Konflikts zwischen uns, nicht der Schatten eines Motivs -« »Wenn eine Handlung anscheinend völlig sinnlos ist und jeder Veranlassung entbehrt, dann kann man sicher sein, daß ein besonders tiefes und starkes Motiv vorliegt. Eva Lundmo hatte Grund zu töten; ihr Bewußtsein hatte kein Motiv, aber ihr Unterbewußtsein hatte eins. Kein Mörder weiß, weshalb er tötet; gerade deshalb kann er den Drang, zu töten, nicht beherrschen.« »Vielleicht kannst du mir etwas über die Motive sagen. Jetzt -156-
ist es an der Zeit, daß du den Schleier ein wenig lüftest. Ich habe in vertrauensvoller Gemeinschaft mit einem Menschen gelebt, der sich als Vampir erwies, mit einem Menschen, der unter der Maske der Liebe nur auf eine Gelegenheit wartete, mich auf die hinterhältigste Weise kaltzumachen. Du wirst verstehen, daß es mich interessiert, die Zusammenhänge zu erfahren.« Bugge warf einen Blick auf die Armbanduhr. »Ich fahre heute nacht in die Stadt zurück«, sagte er. »Ich habe hier draußen nichts mehr zu tun; meine Patienten warten auf mich. Ich glaube nicht, daß du viel von einer mündlichen Erklärung profilieren würdest, aber ich kann sie dir ja schriftlich in einem Brief geben. Ich werde sie eines Tages für dich niederschreiben, wenn ich gerade nichts anderes zu tun habe. Im übrigen glaube ich nicht, daß du sie kapieren wirst.« »Hältst du mich für einen Idioten?« »Noch schlimmer: du bist normal. Du bist der Durchschnitt. Es ist unverzeihlich, Perlen vor die Kriminalschriftsteller zu werfen. Aber sei's drum.« Wir gingen zum Auto zurück und stiegen ein. Ich warf einen Seitenblick auf Hammer; er sah ärgerlich und verbiestert aus und machte nicht eine einzige Bemerkung zu dem Geschehenen. Ich setzte mich neben Sonja und legte den Arm um sie; ihr Kopf fiel mit einer weichen, unbewußten Bewegung gegen meine Schulter. Und da blieb er liegen.
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FÜNFZEHNTES KAPITEL Worin Bugge analysiert Es liegt außerhalb des Rahmens meines kleinen Buches, den Wirrwarr von Affekten, die Sprachlosigkeit, die schreckgemischte Neugierde zu beschreiben, womit die Gäste der Villa auf die Nachricht von Evas Selbstmord reagierten. Ich komme gleich zur Sache und veröffentliche hiermit den Brief, den Bugge mir einige Wochen später sandte. Ich mache ausdrücklich darauf aufmerksam, daß seine Ausführungen kritisch und mit allen erdenklichen Vorbehalten gelesen werden sollten. Bugge hat einen beträchtlichen Hang zur Phantasterei; als Wissenschaftler ist er ausgesprochen einseitig und hat nach meiner Meinung einen allzu übertriebenen Hang zur Originalität. Die folgende Erklärung enthält eine Reihe von Behauptungen und Schlüssen, die bei jedem gesund denkenden Leser laute Proteste hervorrufen werden. Was mich betrifft, so muß ich gestehen, daß mir das meiste völlig schleierhaft ist; offen gesagt, verstehe ich heute weniger von der menschlichen Natur als je zuvor. Aber trotzdem wage ich das Experiment, diesen Brief zu veröffentlichen, es ist ja denkbar, daß einzelne Leser über ein höheres Intelligenzmaß verfügen als der Verfasser. Ich überlasse das Wort meinem Freunde Kai Bugge: Lieber Bernhard! Hoffentlich hast Du Dich inzwischen einigermaßen von dem seltsamen Sommerurlaub im Hause »Seewind« erholt. Ich setze voraus, daß Du genügend Abstand von den Ereignissen gewonnen hast, um meinen Ausführungen folgen zu können. Allerdings bin ich mir völlig darüber klar, daß Du mit Deinen geistigen Voraussetzungen nur einen Bruchteil meiner Theorie -158-
wirst verdauen können, aber es kommt auf den Versuch an. Du hast selbstverständlich bemerkt, daß die Zeitungen diesem Fall die größte Aufmerksamkeit gewidmet haben. Meine alten Freunde, die Psychiater, nahmen die Gelegenheit wahr, sich munter zu tummeln. Eva Lundmos Fall war ja ein Leckerbissen, ein glänzender Vorwand für sie, mit lateinischen Phrasen um sich zu werfen und ihre unerhörte medizinische Gelehrsamkeit zu demonstrieren. Aber du wirst vielleicht auch bemerkt haben, daß diese gele hrten Forscher es nicht fertigbrachten, auch nur eine einzige wirkliche Erklärung für den Fall Eva Lundmo beizubringen, sie hatten die und die psychopathischen Symptome an der Mörderin festgestellt, hatten konstatiert, daß sie die und die Form von Geisteskrankheit hatte und an dem und dem lateinischen Ausdruck litt. Ist das eine Erklärung? Im Gegenteil; es ist das eine komplizierte Art, darzutun, daß man sich in völliger Unwissenheit befindet. Wenn man die Psychiater als Wissenschaftler bezeichnen will, dann kann man ebensogut sagen, daß das Telefonbuch eine Wissenschaft sei. Laß mich erst eine grundsätzliche Frage stellen: Ist es möglich, die Handlungsweise eines Geisteskranken zu erklären? Ist Geisteskrankheit nicht gerade geistiges Chaos? Ist nicht das Verhalten des Geisteskranken völlig sinnlos? Kann man es nicht auch wie die Psychiater machen: den Typ der Geisteskrankheit feststellen und damit fertig? Nein, das kann man nicht. Der Geisteskranke tut nämlich nur scheinbar Sinnloses; in Wirklichkeit handelt er immer aus einer inneren, einer unbewußten Logik heraus, und alle seine Handlungen haben einen deutlichen Zusammenhang. Daß ein Mensch geisteskrank ist, besagt nur, daß sein Bewußtsein kapituliert hat; das Unbewußte hat Revolution gemacht und die Macht ergriffen. Aber das Unbewußte ist in mancher Hinsicht logischer und von unerbittlicherer Konsequenz als das Bewußtsein. Alles, was ein Geisteskranker tut, hat einen Sinn; wir können seine Handlungen deuten und nachweisen, wie alles -159-
in ein geheimes System paßt. Mit dieser Voraussetzung gehen wir Psychoanalytiker an jeden neuen Fall von Psychopathie heran, und mit dieser Voraussetzung ging ich auch an diesen Mord heran. Sofort, als ich Helges Leiche sah, wußte ich, daß es sich um einen psychopathischen Mord handelte. Mordwaffe und Mordmethode wiesen deutlich in diese Richtung. Und ich wurde in meiner Auffassung bestärkt, als es sich erwies, daß Helge vor dem Mord mit Veronal eingeschläfert worden war. War es nicht auffallend, daß das Opfer erst betäubt und darauf mit einem Messer getötet werden sollte? War es nicht viel einfacher, einen gewöhnlichen Giftmord zu arrangieren? Ein tödliches Gift zu verwenden, statt ihm diese kleine Dosis Veronal beizubringen und das Messer zu schleifen? Lundmo hatte genügend Gift in seiner Tasche, um die ganze Gesellschaft umzubringen. Warum also diese umständliche, melodramatische und vor allem riskante Methode? So argumentiert die bewußte Logik. Aber die unbewußte Logik argumentiert anders. Eva Lundmo hatte keine Wahl; sie mußte mit einem Messer töten - oder genauer gesagt: mit den Zähnen. Hier stutzt Du wohl ein wenig und setzt ein Fragezeichen an den Rand. Und ich werde einen Augenblick bei diesem Fragezeichen innehalten. Weißt Du, welche ungeheure Rolle die Symbole in unserem Leben spielen? Das Symbol ist ein unentbehrliches Hilfsmittel in unserem Dasein; jedesmal, wenn unsere Triebe zu gefährlich werden oder unmöglich zu befriedigen sind, nehmen wir unsere Zuflucht zum Symbol. Damit wird erreicht, daß wir uns selbst bluffen, was unbedingt notwendig ist, wenn wir eine Art seelischen Gleichgewichts aufrechterhalten wollen. Das Bewußtsein darf nie wissen, was das Unterbewußtsein tut. Das Symbol verbirgt dem bewußten Auge unsere wirklichen Absichten und befriedigt gleichzeitig den unbewußten Trieb. Ein genialer Kompromiß. Wir leben in -160-
einer Welt der Symbolik; unsere Träume, unsere Kunst und unsere Religion sind davon durchsäuert. Und zu guter letzt findest Du die Symbolik auch im Verbrechen wieder. Eva Lundmo wollte ihr Opfer in Wirklichkeit totbeißen. Aber sie konnte nicht, sie wagte es nicht; die letzte Schanze des Bewußtseins war stehengeblieben und hemmte sie. Was tut sie? Sie beißt ihn tot - symbolisch! Sie tötet ihn mit einem symbolischen Gebiß! Ich weiß, daß Deine bürgerliche Logik sich ob einer so phantastischen Behauptung in Schmerzen winden wird. Ich habe, wie Du siehst, einen breiten Rand gelassen, so daß Du reichlich Platz für Fragezeichen hast. Tu mir jedenfalls den Gefallen, ruhig und beherrscht weiterzulesen - ohne aus der Haut zu fahren. Diese Auffassung von dem Mord hatte ich bereits, nachdem ich mich nur wenige Minuten bei dem Opfer aufgehalten hatte. Zu diesem Zeitpunkt handelte es sich nur um eine Hypothese; ich räume gern ein, daß sie auf den ersten Blick recht fragwürdig erscheinen mochte. Aber dann kam mir das unansehnliche kleine Kreuzworträtsel einer Sonnabend-Ausgabe von »Aftenposten« in die Hände. Und von diesem Augenblick an war ich meiner Sache sicher. Du erinnerst Dich unserer psychologischen Diskussion im Zusammenhang mit diesem Rätsel? Ich erwähnte bei dieser Gelegenheit, daß die Worte »Zähne« und »beißen« nicht gelöst worden waren, weil diese Worte das Verbrechen berührten; sie rührten an seine seelischen Wurzeln; sie weckten Angst, Gewissensangst. Fängst Du jetzt nicht an, den Zusammenhang zwischen dem Mord und dem Kreuzworträtsel zu sehen? Fängst Du nicht an, zu ahnen, daß die Handlungen der Geisteskranken einen Sinn haben? Daß sich auch durch ihr Leben ein roter Faden zieht? Es klingt seltsam, daß ein Kreuzworträtsel einen Mörder soll -161-
entlarven können, aber das ist hier tatsächlich der Fall. Es führte mich direkt ans Ziel. Ich brauchte mich nur in der Gesellschaft umzufragen, wer es gelöst habe. Eva hatte keine Bedenken, einzuräumen, daß sie es war. Das Bewußtsein weiß nicht, was das Unbewußte tut. Aber damit, daß ich wußte, wer den Mord begangen hatte, war ich noch nicht am Ziel. Ich stand erst am Rande des Mysteriums; ich wußte nicht, warum sie die Tat verübt hatte. Weshalb wollte sie einen anderen Menschen zu Tode beißen? Warum war sie irrsinnig? Eine Spur vor allem führte mich zur Lösung dieses Problems die beiden Fotos in Lundmos Nachttischschublade. An zweiter Stelle steht Dein Tagebuch, dem ich eine Fülle guten Materials entnehmen konnte. Du hast wohl schon längst erraten, daß ich es war, der Dein Tagebuch gestohlen hatte. Ich weiß, es ist ein ungeschriebenes Gesetz - vielleicht ist es sogar geschrieben -, daß man nicht in anderer Leute Tagebücher sehen soll. Aber in diesem Falle hatte ich gewichtige Gründe. Ich wußte, daß Du Deine Tagebücher mit detaillierten Charakterisierungen der Leute füllst, denen Du begegnest, und daß Du jede Kleinigkeit, die sich in Deinem Alltag ereignet, sorgfältig aufzeichnest. Ich durfte erwarten, daß ich eine Menge Informationen über Eva in dem Buch finden würde, vor allem wenn man in Betracht zieht, daß Du in sie verliebt warst. Verliebte junge Leute pflegen ihren Tagebüchern gern die Eigenheiten der Geliebten anzuvertrauen. Diese Aufzeichnungen haben mir in einer Reihe von Punkten geholfen, wo ich sonst die Phantasie hätte zu Hilfe nehmen müssen, und ich war Dir sehr dankbar. Du sollst das Buch bei nächster Gelegenheit zurückbekommen; ich gedenke nicht, mich als Erpresser zu betätigen; Du darfst ganz beruhigt sein. Wie gesagt: die beiden Fotos führten mich gleich auf die Spur. Das eine stellte, wie Du Dich erinnern wirst, ihren Vater dar. Wir waren uns ja darüber einig, daß ihr Vater sowohl Helge -162-
als auch Dir überraschend ähnlich sah. Konnte hierin nicht der Schlüssel zum Mysterium liegen? Ich benutzte, wie Du Dich erinnerst, die Gelegenheit, Lundmo zu verdächtigen - teils tat ich es, um einen Mediziner in Weißglut zu bringen, teils um Hammer und Dich zu verwirren. Vor allem war es wichtig, Dich in Unwissenheit zu lassen; hättest Du den wirklichen Zusammenhang geahnt, dann würdest Du wahrscheinlich alles Weitere vereitelt haben. Das andere Foto stellte das alte Kindermädchen der Familie Lundmo dar. Sie wohnt in dem kleinen Stationsort ganz hier in der Nähe; am selben Vormittag nahm ich Hammers Wagen und besuchte sie. Ich wollte Auskünfte über Evas Kindheit und Jugend haben - wer hätte mir die besser geben können als ihr eigenes Kindermädchen? Ich mußte meine ganze Überredungskunst aufbieten, meinen ganzen Analytikercharme, um sie zum Reden zu bringen, aber dann glückte es auch. Dieses Kindermädchen gab mir die wirkliche, tiefere Erklärung für Evas Fall. Du entsinnst Dich vielleicht, daß ich einmal sagte, daß man in die Vorgeschichte des Mörders zurück müsse, in seine Kindheit, um das tatsächliche Motiv für sein Verbrechen zu finden. In Evas Kindheit bilden zwei Erlebnisse den Ausgangspunkt. Eva war bis zu ihrem vierten Lebensjahr das jüngste Kind und der erklärte Liebling ihrer Eltern. Der Vater war der Typ des bürgerlichen Haustyrannen - ein Cäsar im Beamtenformat -, er erzog seine Kinder autoritär und liebevoll im schlimmsten Sinne des Wortes, kurz: er gehörte einem weit verbreiteten und sehr schädlichen Typ des Familienoberhaupts an. Diese Mischung von Brutalität und Treibha usliebe, die die Grundlage der puritanischen Kindererziehung bildet, hat in den neurotischen Charakter unserer Zeit tiefe Spuren gegraben. Eva war sehr stark an ihren Vater gebunden. Als sie vier Jahre alt war, wurde die Schwester Sonja geboren, und ihr wandte sich -163-
nun die Aufmerksamkeit der Eltern zu. Eva stand plötzlich allein, der Liebe ihres Vaters und ihrer Mutter beraubt. So empfand sie es jedenfalls selbst, da sie in der Gewohnheit aufgewachsen war, ständig geküßt und liebkost zu werden. Als sie entdeckte, daß die Andere, die Neue sie verdrängt hatte, unternahm sie einen verzweifelten Versuch, sie aus dem Wege zu schaffen. Eines Tages, als sie mit dem Kindermädchen ausgeht und den Kinderwagen schiebt, benutzt sie die Gelegenheit, da das Mädchen einen Augenblick wegblickt, und schiebt den Wagen einen steilen Abhang hinunter. Mit anderen Worten: ein Mordversuch. Deutet dies nicht darauf hin, daß Eva angeborene kriminelle »Anlagen« hatte? Kaum. Alle Kinder sind von Natur kriminell; sie handeln spontan und unmittelbar nach einem Lustprinzip; sie stehen jenseits von Gut und Böse. Wenn ein erwachsener Mensch zum Verbrecher wird, so besagt das gewissermaßen, daß er in seine Kindheit zurückkehrt. Evas »Mordversuch« führt dazu, daß der Kinderwagen in voller Fahrt gegen einen Baum prallt, Sonjas Fuß wird verletzt, und das Kind ist für eine ganze Reihe von Jahren im Gehen behindert, bis es durch eine Operation wiederhergestellt wird. Eva bekommt Prügel, und von nun an wird die Schwester erst recht vorgezogen. Einige Zeit darauf kommt der eigentliche Schock - das, was wir in unserem analytischen Jargon »das infantile Trauma« nennen. In einem Anfall sexueller Neugierde pirscht sich Eva zum Schlafzimmer der Eltern, guckt durchs Schlüsselloch und wird Zeuge einer intimen Szene. Der Vater hört sie draußen herumschleichen; er fährt zur Tür, reißt sie auf und ertappt das Kind auf frischer Tat. Der puritanische Tyrann in ihm gewinnt die Oberhand; er wird rasend und gibt dem Kind eine -164-
fürchterliche Tracht Prügel. Es ist ganz klar, daß dieser Vater einen völlig pathologischen Charakter hatte. Bei diesem Auftritt bricht das Kriminelle bei Eva zum zweiten Male durch; in der Selbstverteidigung beißt sie ihren Vater in die Hand, so daß sie blutet. Er trägt sie ins Kinderzimmer und wirft sie aufs Bett, während sie von einem Weinkrampf geschüttelt wird. Wir haben nun an die beiden Grundmotive in Eva Lundmos Leben gerührt, an das Verhältnis zur Schwester und an das zum Vater. Wir werden sehen, wie diese Grundmotive mit logischer Notwendigkeit zum Mord an Helge Gårholm führen mußten, zum Mordversuch an Dir und schließlich zum Selbstmord. Während ihrer ganzen Kindheit war Eva ein stilles und verschlossenes Mädchen; eine solche Verschlossenheit ist an sich schon immer verdächtig und kündigt den bevorstehenden Zusammenbruch an. Sie hat in dieser Zeit keine Symptome von Geisteskrankheit gezeigt, doch war sie während der ganzen Zeit offenbar dazu disponiert. Das Fundament wurde in der Kindheit gelegt. Die Psychopathie lag und lauerte in ihr und wartete nur auf eine Gelegenheit zum Ausbruch. Die Gelegenheit kam. Eva verliebte sich in Helge Gårholm. Entdecktest Du hier nicht den Zusammenhang? In Deinem Tagebuch lese ich, daß sie jede Gelegenheit wahrnahm, ihn zu verleumden. Es gibt kein Zeichen, das sicherer auf Verliebtheit deutet. Weshalb sollte sie sich in diesen Burschen verlieben? Die naheliegende Antwort ist: er war ein großer Herzensbrecher, und folglich mußten alle Frauen - einschließlich Evas - auf ihn fliegen. Doch in Wirklichkeit gab es nur einen Menschen, den Eva liebte - und haßte! - nämlich ihren Vater. In Helge fand sie ihren Vater wieder; sie fand ihres Vaters Züge in Helges Gesicht! So wie Helge aussah, hatte ihr Vater vor zwanzig Jahren ausgesehen; er rief ein Gespenst aus ihrer Kindheit ins Leben; sie richtete ihre alten, vergessenen Leidenschaften gegen ihn. Das Unglück wollte es, daß Sonja sich in denselben Mann -165-
verliebte. Und was geschieht? Die jüngere Schwester wird wieder vorgezogen. Damit wiederholt sich die Kindheit für Eva ; unbewußt setzt sie die neue Situation mit der alten gleich, dem Kampf um den Vater; von diesem Augenblick an bricht die Psychopathie in ihr aus. Ich blättere in Deinem Tagebuch und finde die Aufzeichnung Deines ersten Gesprächs mit Eva. Du gehst mit ihr zum Strand hinunter und bemerkst, daß sie das rechte Bein nachzieht. Sie erzählt, daß sie sich von Sonja habe schaukeln lassen und daß sie dabei abgestürzt sei und sich den Fuß verstaucht habe. Hört es sich nicht seltsam an, daß ein erwachsener Mensch aus einer Schaukel fallen sollte? Vor allem, wenn es sich um ein so handfestes Mädchen wie Eva Lundmo handelt? Aber etwas anderes ist noch seltsamer: daß sie sich nämlich den rechten Fuß verstaucht, den gleichen Fuß, mit dem ihre Schwester damals lahmte. Ein wunderlicher Zufall, nicht wahr? Es ist denkbar, daß sich diese Episode in Wirklichkeit gar nicht ereignet, sondern nur in ihrer Phantasie abgespielt hat. Jedenfalls ist sie aber ein Symptom, ein erstes psychopathisches Symptom. Die Episode mit dem Kinderwagen, der Versuch, die Schwester zu töten, diese Erinnerung sitzt in Evas Unterbewußtsein fest und ist eine ständige Quelle des Schuldgefühls. Hier haben wir die tiefere Ursache dafür, daß das Wort »Kain« im Kreuzworträtsel ungelöst stehenblieb; Eva hat einen Kainskomplex, sie hält sich für eine Schwestermörderin. Und hier finden wir gleichzeitig die Erklärung für diesen eigenartigen Fall aus der Schaukel: in diesem Fall wiederholt sie die Kindheitsepisode mit vertauschten Rollen. Sie ist an die Stelle ihrer Schwester getreten und wird selbst von dieser vertreten, während die Schaukel die Rolle des Kinderwagens übernimmt. Das Schuldverhältnis ist damit vertauscht: sie wird von der Schwester gestoßen, die Schwester ist die Mörderin. Nun ist es Eva, die auf dem rechten Fuße lahmt. Eva wird Sonja, und Sonja wird Eva. -166-
Das Motiv, mit der Schwester zu tauschen, kehrt ständig bei ihr wieder. Vor allem, weil sie beständig versucht, das alte Schuldgefühl loszuwerden, und ferner, weil die Schwester immer die Bevorzugte war. Nachdem Sonja den Abhang hinuntergestoßen worden war und lahmte, war sie der Liebling der Eltern. Indem sie die Dinge auf den Kopf stellt, indem sie sich selbst »hinabstoßen« läßt, indem sie sich selbst den Fuß verletzt, erzielt Eva die Illusion, daß sie selbst die Bevorzugte sei! Sie wird nie mit diesem alten Problem fertig; seelisch ist sie noch eine Fünfjährige und bedient sich der Mittel einer Fünfjährigen. Ein typischer Zug ist, daß sie sich das Haar blond färben ließ - die Schwester hat nämlich blondes Haar! -, daß sie sich ferner als Schauspielerin versuchte - denn ihre Schwester ist Schauspielerin! Unsere Handlungen sind selten das Ergebnis einzelner Motive; es gehören mehrere Motive zu jeder Handlung. Dies gilt in hohem Grade auch für Evas Fall. Eine Reihe von Motiven aus der Kindheit schlingt sich bei diesem Mord zu einem Knoten, und die Katastrophe wird dadurch ausgelöst, daß Sonja sie in dem erotischen Kampf um den »Vater«, um Helge, überwunden hat. Das Verhältnis zur Schwester spielt erstens eine entscheidende Rolle bei dem Mord. Untersuchen wir dies näher. In der Kindheit versuchte sie die Schwester zu töten, um den Vater zurückzugewinnen, aber als sie diesmal tötete, ermordete sie den »Vater« selbst. Warum? Oberflächlich könnte man es sagen: aus Eifersucht; sie gönnt der Schwester nicht das, was sie selbst nicht hat. Aber nun kommen wir zu einer interessanten Finesse. Eva nähert sich Dir. Sie findet nämlich die Züge ihres Vaters auch in Deinem Gesicht. Der Vater, Helge und Du werden für sie zu ein und derselben Person. Daraus entspringt das erste tiefer liegende Mordmotiv: sie tötet nicht den »Vater«; sie entfernt ihn von Sonja und überführt ihn in Deine Gestalt. Damit dreht sie die -167-
Kindheitssituation um; nun ist sie es, die den Geliebten besitzt, während die Schwester mit leeren Händen dasteht! Dies allein genügt jedoch nicht zur Erklärung des Verbrechens. Sie würde den Geliebten nicht töten können, wenn sie nicht von einem gegen ihn gerichteten stark sadistischen Trieb beherrscht würde. Und hier ist das andere Kindheitserlebnis entscheidend. Bei dem Schlafzimmer-Auftritt hat der Vater ihr eine kräftige Tracht Prügel verabfolgt, und sie hat ihn in der Notwehr in die Hand gebissen. An diesen Schock, der eine ungeheuerliche Mischung von Lustgefü hl, Schreck und Schmerz war, ist sie seelisch gebunden. Als dies geschah, war sie ungefähr fünf Jahre alt. Alle Menschen machen in diesem Alter einen bestimmten Entwicklungsabschnitt durch, das Grausamkeitsstadium; denk nur daran, wie gern kleine Jungen Tiere quälen. Es besteht eine Gefahr, daß ein Mensch sein ganzes Leben lang auf diesem Stadium stehenbleibt, wenn er als Kind einen Schock erlebt, eine große Sensation, die an die grausamen Triebe appelliert. Dies eben geschah mit Eva. Die große Sensation fü r sie war, daß sie den Vater biß. Durch diesen Biß ist sie an den Vater sadistisch gebunden. Hier haben wir das Motiv Nummer zwei des Verbrechens. Mit dem ersten Motiv »tötet« sie ihn nicht; sie entfernt ihn von Sonja und findet ihn in Deiner Gestalt wieder. Mit dem zweiten Motiv tötet sie ihn, das heißt töten im Sinne von verletzen, Schmerz zufügen; der Mord ist eine Liebeshandlung, die Wiederholung des alten Schocks, die große Sensation. Die Wiederholung kommt dadurch klar zum Ausdruck, daß sie ihn mit einem gezackten Fischmesser umbringt - einem symbolischen Gebiß. Das ist vielleicht etwas viel auf einmal; Du wirst mich selbstverständlich unterbrechen und ausrufen, daß dies eine phantastisch gesuchte Erklärung sei, an den Haaren herbeigezogen usw. Aber nachdem ich eine so drastische -168-
Behauptung aufgestellt habe, werde ich versuchen, sie mit dem zur Verfügung stehenden Material zu untermauern. Eva reagiert mit einem starken Angstgefühl gegen ihren sadistischen Trieb. Sowohl vor als nach dem Mord an Helge war sie von einem Zustand angstvoller Erwartung erfüllt; sie hatte »Vorahnungen«; sie ahnte, daß etwas Entsetzliches geschehen würde, sie hatte vor sich selber Angst. Vor allem fürchtete sie ihren eigenen sadistischen Ausdruck: den Biß. Dies ergab sich deutlich aus dem Kreuzworträtsel. Aber sie verriet sich auch damals, als Kåre seinen Vortrag über das Tier im Menschen hielt, als er folgerte, daß es sich eines Tages losreißen würde und daß es noch im Besitz seiner Zähne sei. Als er in diesem Zusammenhang das Wort Zähne erwähnte, verzerrte sich Evas Gesicht vor Schreck. Es war, als habe sie ein Gespenst gesehen. Ich blättere in Deinem Tagebuch und finde genau das Beispiel, das ich suche. Es ist eine wirklich schöne und tief empfundene Schilderung Deines nächtlichen Spaziergangs mit ihr. Bei dieser Mondscheinschwärmerei wurdest Du plötzlich zum Faun und küßtest sie, worauf sie Dich in den Hals biß. Kurz darauf überfiel Euch eine seltsame Stimmung der Angst, und Deine Freundin begann rätselhaft über etwas Furchtbares zu reden, was da kommen müsse, über irgend etwas Gefahrdrohendes, das im Dunkel lauere. Woher rührte diese Angst? Anscheinend taucht sie ganz plötzlich und unbegreiflich auf. Mit einem Schlage beseitigt sie die alkoholisch-erotische Stimmung. Was ist die Ursache? Eva hatte ihrem sadistischen Impuls nachgegeben, sie hatte Dich gebissen - und sie reagiert mit einer spontanen und heftigen Angst. Psychologisch gesehen sind dieser Biß und der Mord mit dem gezackten Messer ein und dasselbe, eine Liebeshandlung gegen die geliebte Person. Ihre Angst ist das hervorbrechende Schuldgefühl der Mörderin. Aber sie ist sich der Ursache der Angst nicht bewußt; sie empfindet sie als Dunkelangst, Angst vor einer unbekannten und drohenden -169-
Gefahr. Das Unheimliche, das sie empfindet, lauert in der Dunkelheit, dieses Tier, das auf dem Sprung liegt, was ist das? Es ist das Tier in ihr selbst, der Mörder in ihrer eigenen dunklen Seele, er, der damit droht, auszubrechen! Du wurdest von dieser Angst angesteckt, auch Du empfandest dieses plötzliche undefinierbare Grauen vor Nacht und Dunkelheit. Dies war, soweit ich sehe, ein elementarer Fall von Telepathie, Gefühlstélépathie, wie sie oft bei Menschen auftritt, die erotisch aufeinander eingestellt sind. Laß mich einen kleinen Sprung in der Darstellung machen. Du wirst Dich erinnern, daß ich im Laufe einer Diskussion mit Hammer bemerkte, daß eine Frau diesen Mord nicht begangen haben könne, sondern daß es ein Mann sein müsse, eine maskuline Hand müsse das Messer geführt haben. Das sagte ich selbstverständlich in erster Linie, um Euch beide hinters Licht zu führen. Aber es war trotzdem ein Kern psychologischer Wahrheit darin. Gewissermaßen war der Mann in Eva der Mörder; es war eine maskuline Hand, die das Messer geführt hatte. In der Schilderung der Badeszene beschreibst Du, wie die Mädchen sich beim Steinwerfen aufführen. »Sowohl Vesla als auch Sonja hatten den typischen ›Mädchenwurf‹ über die Schulter, während Eva wie ein Junge warf... ihr Stein flog in einem hohen sausenden Bogen aus ihrer Hand.« Die Tötung eines anderen Menschen ist an sich schon eine maskuline Handlung. Wie hatte Eva die beiden Geschlechter aufgefaßt? Die Frau ist das Schwache, das Passive, der Märtyrer. Der Mann ist der Starke, der Aktive, der Brutale. Eva protestiert gegen die Rolle als Frau; sie war selbst Märtyrerin gewesen; nun kehrt sie das Verhältnis um, wird selbst Mann und macht den Mann zur Frau; das heißt, sie macht ihn passiv; sie tötet ihn. Sie rächt sich am Mann, indem sie ihn so behandelt, wie er sie in ihrer Kindheit behandelte. Diese Haltung gegenüber dem männlichen Geschlecht wirst Du bei sehr vielen Frauen finden; denke nur an die Frauenrechtsbewegung! Aber -170-
bei Eva war sie bis zur äußersten Konsequenz geführt und stellte das dritte Motiv für ihr Verbrechen dar. Es ist einleuchtend, daß eine solche Tendenz besonders stark hervortreten mußte gegenüber einem ausgesprochenen Vertreter des Männchentyps von Helges Art, einem rücksichtslosen Don Juan, einem brutalen und bezaubernden Scharlatan, der seine Ehre daransetzt, die Frauen zu quälen, sie zu Märtyrern zu machen. In ihrem Verhältnis zum Vater ist Eva Sadistin; im Verhältnis zur Schwester spielt sie fast die entgegengesetzte Rolle. Sie spielt die Rolle der Mißhandelten, der Verfolgten; es ist ihr darum zu tun, das Schuldverhältnis der Kinderwagenepisode auf den Kopf zu stellen. Es ist ein Zug ihres Systems, daß sie versucht, die Schwester als die Schuldige hinzustellen, als Helges Mörderin. Dies tritt ganz deutlich zutage. Sie benutzt Sonjas Handschuhe bei der Mordtat; sie schläfert ihre Schwester mit Veronal ein, teils um unbemerkt durch ihr Zimmer gehen zu können, teils um sie an der Erlangung eines Alibis zu hindern. Komischerweise verschafft ihr gerade der Schlaf, nämlich der Traum, ein Alibi. Dann erzählt Eva, sie wisse, wer der Mörder sei, und tut so, als ob sie ihn decke, weil er ihr nahestehe, offenbar um den Verdacht auf Sonja zu lenken. Und schließlich arrangiert sie einen Mordanschlag gegen sich selbst derart, daß die Indizien deutlich auf die Schwester weisen. Sie braucht nur Sonjas Taschentuch neben die Kellertreppe zu legen, um Hammer auf den Leim zu führen. Und während des folgenden Verhörs leistete sie sich ein raffiniertes Sprechversehen, das Hammer selbstverständlich falsch deutete. Indem sie erst »ihr« sagte und sich gleich darauf mit »ihm« berichtigte, deutete sie an, daß sie eine Frau zu decken versuchte! Wir sollten doch auf jeden Fall glauben, daß ein Mann sie die Treppe hinuntergestoßen hatte; wir durften absolut nicht glauben, daß es ihre Schwester war! Das heißt: gerade das sollten wir selbstverständlich glauben. Wir sollten begreifen, daß Sonja ihr nach dem Leben trachtete, weil sie zuviel wußte. Hammer kam -171-
auch ganz richtig zu diesem Ergebnis. Dieser »Mordversuch« auf der Kellertreppe ist sehr interessant; hier finden wir aufs neue ihr typisches psychopathisches Symptom; sie wiederholt hier noch einmal die Episode mit dem Kinderwagen. Sie ist die Schwester im Kinderwagen geworden, der durch den rollenden Teetisch repräsentiert wird; die Schwester übernimmt Sonjas Rolle, sie ist die Schuldige, die Mörderin, und der Steilhang wird durch die Treppe ersetzt. Dies ist mit anderen Worten ein Schauspiel, das sie nicht für uns allein aufführt, sondern vor allem für sich selbst. Durch dieses Arrangement sagt sie ihrem Gewissen: Sie war es, die stieß! Sie war es, die tötete! Sie ist Kain, und ich bin Abel! Ein weiterer Zug ihrer Psychologie ist ihr ausgeprägter Neugierdekomplex. Das Kindheitserlebnis mit dem Vater verknüpfte sich mit der Neugierdehandlung, ihrem Versuch, das »Geheimnisvolle« zu erforschen. Nach diesem Erlebnis wird die Neugierde aus dem Bewußtsein verdrängt, aber nur, um sich in anderen Formen wieder einzuschleichen. Intellektuell bleibt sie auf der Stufe infantiler Neugierde stehen. Typisch ist, daß sie als Erwachsene anfängt, Medizin zu studieren - eine Information, die ich Deinem Tagebuch entnehme. Auch die verdrängte Neugierde gehört in den Motivkomplex des Verbrechens. Von den übrigen Motiven mitgerissen, bricht die Neugierde durch die Barriere der Hemmungen hindurch und macht sich Luft. Sie will Verbotenes sehen und tun, das Geheimnisvolle, das sich im Schlafzimmer der Eltern abspielt. In ihren unbewußten Vorstellungen ist der sadistische Akt, der Mord, identisch mit dem Beischlaf. Das Kind hat immer eine sadistische Auffassung vom Geschlechtsleben. Im Zusammenhang mit ihren unheimlichen Vorahnungen erzählte Eva Dir einen Traum, der einer näheren Untersuchung wert ist. Man könnte ihn einen »Schlüsseltraum« nennen; er enthüllt den zentralen Punkt ihres Phantasielebens. Ich -172-
wiederhole diesen Traum frei nach Deinem Tagebuch: Eva steht in einem ungeheuer großen Haus vor einer verschlossenen Tür. Sie weiß, daß sich in dem Zimmer dahinter Schreckliches abspielt, und nähert sich dem Schlüsselloch. Die Tür ist so riesengroß, daß sie sich auf die Zehenspitzen stellen muß, um heranzureichen. Es ist dunkel drinnen, und in dem Augenblick, als sie hineinguckt, spürt sie, wie ihr die Haut vom Leibe geschunden wird, sie fühlt sich über den ga nzen Rücken wund. Die Tür wird aufgerissen, und Helges Mörder kommt ihr entgegengelaufen, wirft sie zu Boden, so daß sie sich den Fuß bricht. Sie hinkt ins Zimmer und sieht Helge darin ermordet liegen. Er liegt neben einem Spiegel, so daß es so aussieht, als ob zwei Leichen mit einander zugewandten Gesichtern nebeneinander liegen... Der erste Teil des Traumes ist leicht zu deuten. Sie erlebt wieder die Situation aus der Kindheit; daß sie selbst ein Kind ist, kommt deutlich durch die Dimensionen der Umgebung zum Ausdruck; das Haus ist riesengroß, und sie muß sich auf die Zehenspitzen stellen, um an das Schlüsselloch heranzureichen. Das Gefühl, plötzlich über den ganzen Rücken wund zu sein, ist das Wiedererlebnis der Prügel, der Strafe für den Blick ins Verbotene. Dieses kleine Stück Kindheitsgeschichte wird im Traum mit dem Ereignis des Tages verknüpft, dem Mord an Helge. Das Schreckliche, das sich drinnen im Zimmer ereignet, ist, daß Helge ermordet wird. Dies beleuchtet, was ich bereits gesagt habe. Der Traum zieht eine unmittelbare Verbindungslinie zwischen dem alten Erlebnis und dem Mord; er setzt ein Gleichheitszeichen zwischen dem, was im elterlichen Schlafzimmer vor sich ging, und der sadistischen Sensation. Der überraschende Punkt des Traumes ist, daß Helges Mörder aus dem Zimmer gelaufen kommt. Was soll das heißen? Eva war ja selbst Helges Mörder. Und weshalb ruft er: Sonja? Weil Sonja in ihrer Traumphantasie der Mörder ist; Sonja wirft sie -173-
um, so daß sie sich den Fuß bricht - noch einmal die Kinderwagen-Episode -, Sonja ist die Schuldige. Es sieht so aus, als ob Eva sich dies fortwährend wiederholen mußte; das ist ein Wunsch, der sich immer wieder vordrängt. Der letzte Teil des Traumes ist am interessantesten. Sie sieht Helge neben einem Spiegel liegen, so daß dort zwei Leichen zu liegen scheinen. Dieses Bild deutet sie selbst als Prophezeiung; es ist eine Warnung, daß der Mörder zweimal töten werde. Diese Deutung ist völlig richtig; Eva spürt den Drang nach einem weiteren Mord; das nächste Opfer war Helges Spiegelbild; das nächste Opfer warst Du! Und damit sind wir beim letzten Akt der Tragödie, einem Akt, den ich selbst in Szene setzte und den ich nach bestem Vermögen zu einem einigermaßen gelungenen Abschluß führte. Ich habe im Laufe der Jahre einiges über die Psychologie des Verbrechens gelernt. Eine der wichtigsten Erfahrungen, die ich gemacht habe, war die: ein Mörder tötet nie willkürlich, selbst wenn er ein Massenmörder ist. Er tötet nur, wenn er in eine bestimmte psychologische Situation kommt, in ein gewisses Spannungsverhältnis gegenüber der Umwelt. Worin bestand die psychologische Situation, die Eva zum Mord trieb? Sie bestand wie bereits erwähnt - darin, daß sie von ihrer Schwester im erotischen Kampf um den »Vater« überwunden wurde. Ich stellte mir nun die folgende Frage: Sollte es nicht möglich sein, diese Situation zu rekonstruieren? Sollte es nicht möglich sein, Eva zu einem neuen Mordversuch zu provozieren? Wäre es nicht eine Idee, Dich als Lockvogel zu benutzen? Sie hatte ja bereits ein Auge auf Dich geworfen; Du hattest eine auffallende Ähnlichkeit sowohl mit ihrem Vater als auch mit Helge. Gewiß fehlt Dir die Grausamkeit und Brutalität, die Dich zu dem geliebten Opfer machen würde, aber immerhin? War es nicht einen Versuch wert? Ich beschloß, es mit diesem Experiment zu versuchen. Mein -174-
Plan war, Dich in eine solche Situation zu bringen, daß Eva einen neuen Helge in Dir sehen würde. Mein erster Schachzug bestand darin, daß ich Dich überredete, in Helges Zimmer zu ziehen. Damit warst Du gleich von der Atmosphäre des Ermordeten umgeben, Du atmetest die gleiche Luft, Du gingst auf demselben Flur und vor allem: Du schliefst in demselben Bett. So wurde die Identifizierung zwischen Dir und Helge in Evas Bewußtsein immer mehr verstärkt. Mein nächs ter Zug war, daß ich Sonja auf Dich scharf machte. Ich bemühte mich, einen engen Kontakt mit ihr herzustellen und sie unter meinen Einfluß zu bringen. Aus meiner mehrjährigen Praxis als Psychoanalytiker habe ich mir eine recht gute Taktik erarbeitet. Ich begann damit, daß ich sie von allen Deinen Vorzügen und einnehmenden Seiten überzeugte; ich gab an mit Deinen erotischen Eroberungen, und vor allem betonte ich ständig die große Ähnlichkeit zwischen Dir und Helge. So wurde Sonjas Interesse für Dich immer stärker, und sie begann, wie Du Dich entsinnen wirst, einen leichten Flirt mit Dir. Du warst offensichtlich stark auf diesen Flirt eingestellt und kamst ihr nach besten Kräften entgegen. Einem geübten Blick mußte klarwerden, wohin der Hase lief: Du fingst an, Sonja der Eva vorzuziehen! Damit war mein Experiment gelungen; das Dreieck HelgeSonja- Eva war faktisch rekonstruiert! Eva reagierte so, wie ich es vorausgesehen hatte. Sie überraschte Dich das erste Mal im Keller bei einem Tête-à-tête mit Sonja, und von diesem Augenblick an begann sie, Dich zu beschatten. Sie überraschte Dich, als Du Sonja auf Deinem Zimmer küßtest. Es ist drollig, diese Szene in Deinem Tagebuch zu lesen. Du schreibst: »... ganz am Rande der Netzhaut nahm ich wahr, daß zwei Menschen vor dem Fenster standen und uns betrachteten. Ich wandte den Kopf. Da stand Bugge...« Man sollte meinen, daß Du meiner bescheidenen Person zuviel Ehre -175-
antust, wenn Du von mir in der Mehrzahl sprichst. War es ein Schreibfehler? Nein, Deine Netzhaut hatte durcha us richtig gesehen, und die Zahl zwei kam Dir in die Feder, weil Du Dich dieses Sinneseindrucks unbewußt richtig erinnertest. Es standen zwei Menschen vor Deinem Fenster; Eva stand neben mir und starrte Euch an; sie zog sich blitzschnell zurück, als Du den Kopf wandtest. Sie wollte nicht gesehen werden, und sie selbst hatte genug gesehen. Die alte Eifersucht kochte wieder in ihr auf. Aus Deinen Aufzeichnungen geht hervor, daß sie Dich auch in der Nacht ausspioniert haben muß; das Gesicht, das Du am Fenster gesehen und das Dir fast das Blut in den Adern erstarren ließ war sie. Sie wollte feststellen, ob Sonja zu dieser Zeit bei Dir sei. Und dann kam die Explosion. Ich will die Analyse nicht weiter vertiefen, sondern zum Schluß nur noch ein kleines Streiflicht auf Evas Selbstmord werfen. Du entsinnst Dich sicher, daß sie sich während der Flucht einmal umblickte. Da entdeckte sie die Schwester im Auto, das sie verfolgte. Zum letzten Male wiederholte sie die Episode aus der Kindheit; diesmal war es das Auto, das die Rolle des Kinderwagens spielte; das Auto bog vom Wege ab und fuhr gegen einen Baum, genau so, wie es Sonjas Kinderwagen einmal getan. Zum letzten Male verdrehte sie wieder die alte Situation. Die Schwester »stieß« sie in den Tod! Die Schwester war Kain! Im Bewußtsein dieses illusorischen Triumphes starb Eva Lundmo. Hier endet Bugges Analyse, und ich weiß nicht, ob ich noch etwas von Belang hinzuzufügen habe. Seit sich diese Dinge ereigneten, sind bereits einige Jahre vergangen, und vielleicht ist es von Interesse, daß ich mich -176-
inzwischen mit Sonja Lundmo verheiratet habe. Sonja ist eine überaus bezaubernde und tüchtige Frau, und bisher hat sie noch keine Tendenzen gezeigt, die darauf hindeuten, daß sie beabsichtigt, mich zu lustmorden. Im Gegenteil haben wir es immer überaus nett gehabt, und unter gemeinsamen Bemühungen gelang es uns sogar, ein paar Kinder in die Welt zu setzen. Bugge besucht uns häufig und paßt auf, daß die Erziehung in Übereinstimmung mit seinem gerade erschienenen Lehrbuch der Psychoanalyse erfolgt. Das älteste der Kinder ist gerade zwei Jahre alt geworden, und das jüngste ist eine prächtige Range von acht Monaten. Soweit ich es zu beurteilen vermag, hat bisher keines von beiden das infantile Trauma erlebt und ist auch nicht in die tieferen Formen der Schizophrenie verfallen. Soweit es in meiner Macht steht, will ich versuchen, solches zu verhindern. Wenn die Kleinen wißbegierig durchs Schlüsselloch gucken müssen - von mir aus gern. Bugge hat mich dringend vor der Herausgabe dieses Buc hes gewarnt. »Du mußt doch kapieren, daß du dich auf so was nicht einlassen darfst. Fahre fort, ehrlich und redlich Schundliteratur zu schreiben, und laß dich nicht auf etwas ein, was mit der Seele zu tun hat. Du wirst dein ganzes Publikum verlieren. Ich gebe dir mein Wort darauf, daß es mit einem Fiasko enden wird.« Sagt Bugge. Deshalb habe ich mir also gedacht, es trotzdem herauszugeben.
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