DAS BUCH Eine dunkle Macht herrscht über die Menschen und die Magie der Insel Bhealfa. Während die reichen Bürger sich ...
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DAS BUCH Eine dunkle Macht herrscht über die Menschen und die Magie der Insel Bhealfa. Während die reichen Bürger sich teure Schutz- und Vergnügungszauber leisten, steht dem einfachen Volk nur billige Magie zur Verfügung, die die Menschen blenden soll und sie heimlich ausspioniert. Allein in Valdarr, der Hauptstadt der Insel, regt sich der Widerstand. Zur selben Zeit zieht der Qalochier Reeth Caldason durch die Lande, einer der letzten Angehörigen eines kriegerischen Stammes, welcher von den Machthabern nahezu ausgerottet wurde. Caldason ist ein Wanderer zwischen den Welten, einsam und stets auf der Suche nach Rache für sein Volk. Im Kampf gilt er als unbesiegbar, doch ein geheimnisvoller Zauber beschert ihm immer wieder seltsame Anfälle. Auf der Suche nach Heilung begegnet er dem jungen, noch unerfahrenen Zauberergehilfen Kutch, der ihm von einem magischen Geheimbund in Valdarr erzählt. Gemeinsam mit dem zwielichtigen Politiker Karr machen sich die ungleichen Gefährten auf den Weg. Abenteuerliche Kämpfe, ein gewagter Plan und die Sehnsucht nach Freiheit schweißen sie zusammen. Und sie sind nicht die Einzigen, die das Schicksal in die Hauptstadt Bhealfas führt... »Dieser Autor versteht sein Handwerk: interessante Figuren, eine Geschichte voller Magie, Action und Romantik.« Starburst DER AUTOR Stan Nicholls war viele Jahre in London als Lektor, Herausgeber, Journalist und Kritiker tätig, bevor er sich ganz dem Schreiben von Fantasy-Romanen für Kinder und Erwachsene widmete. Seit dem internationalen BestsellerErfolg von »Die Orks« gehört der Brite zur ersten Garde zeitgenössischer Fantasy-Autoren. Der Autor lebt mit seiner Frau in den West Midlands.
STAN NICHOLLS
DER MAGISCHE BUND Roman Deutsche Erstausgabe WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN HEYNE ALLGEMEINE REIHE 01/14047 Titel der Originalausgabe QUICKSILVER RISING Übersetzung aus dem Englischen von Jürgen Langowski Das Umschlagbild malte Geoff Taylor Umwelthinweis: Das Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt Deutsche Erstausgabe 07/2004 Redaktion: Angela Kuepper Copyright © 2003 by S. J. Nicholls Die Originalausgabe erschien bei HarperCollins Pubiishers Ltd. Copyright © 2004 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Printed in Germany 2004 http://www.heyne.de Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Satz-. Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Bercker, Kevelaer ISBN 3-453-87906-6
Es war ein Ort voll billiger Magie. Ein Schwärm winziger Sphinxe sammelte sich und flatterte direkt über ihren Kopf hinweg. Schnappende Kiefer, peitschende Flügel, zuckende Schwänze. Sie waren nicht sehr überzeugend. Die Farben stimmten nicht, und aus der Nähe betrachtet waren sie halb durchsichtig. Serrah wedelte gereizt mit der Hand, die durch die Erscheinungen hindurch fuhr, als wären sie morgendliche Nebelschwaden. Die Sphinxe zerfielen zu zahllosen winzigen Flocken, die wie glühender Rost durch die Luft
trieben. Die Spitzen der ausgebreiteten Flügel lösten sich als Letztes auf und verpufften regelrecht. »Sollen wir uns etwa die ganze Nacht hier versteckt halten, Krdacris?«, zischte Phosian. Er kauerte neben ihr, doch in der Gasse war es zu dunkel, um sein Gesicht zu erkennen. Seine Kleidung war, wie die ihre, eintönig schwarz. Eine Seidenmaske bedeckte Nase und Mund. Wo Haut herausschaute, war sie mit Asche beschmiert. Die Schwert5 klingen waren mit Fett und Ruß bestrichen, um das verräterische Funkeln zu dämpfen. Serrah sträubte sich innerlich gegen die Vertraulichkeit seines Tons und die Missachtung ihres Ranges. Doch sie musste Zugeständnisse an seine vornehme Herkunft machen, und so flüsterte sie nur: »Geduld.« Phosian seufzte. Serrah brauchte kein Licht, um sich den aufgeblasenen Ausdruck seines unreifen Gesichts vorstellen zu können. Im Augenblick regte sich nicht viel. Die Straße war eine Kloake, gesäumt von Baracken, die sich trostlos und windschief aneinander reihten. Das Pflaster glänzte silbrig im Schein des Halbmondes. Es wimmelte vor Fliegen, und es stank. Hin und wieder lief oder kroch oder flog oder schwebte ein billiger Zauber vorbei, verblasste und verschwand. Das Haus, das sie beobachteten, war größer als die anderen und stand etwas abseits. Zwei Wächter waren davor zu sehen, und an den Seiten und hinter dem Haus waren weitere Wachen postiert. Nicht zum ersten Mal fragte Serrah sich, ob ihre kleine Truppe ausreichte. »Reichen unsere Kräfte dafür aus?«, fragte Phosian und zeigte damit, dass auch er seine Zweifel hegte. Serrah überlegte, ob er wohl ihre Gedanken gelesen haben könnte. Doch diese Art von Magie gab es nur im Märchen. Und wenn sie existierte, dann war sie derart selten, dass nicht einmal seine Verwandten sie sich leisten konnten. »Die Stärke in der Zahl ist nicht alles«, sagte sie. »Ich würde jederzeit einen einzigen kampferprobten Mann einem ganzen Regiment von Wehrpflichtigen vorziehen.« 6 »Wie würdest du denn die da drinnen nennen? Sind es erfahrene Kämpfer oder grüne Jungs?« Der Sarkasmus war unüberhörbar. »Es sind gewissenlose Schweine«, erwiderte Serrah. Sie kochte immer noch, weil sie Phosian am Hals hatte. »Ich aber habe eine Truppe, der ich vertrauen kann.« Mit einer Ausnahme, dachte sie bei sich. »Wir haben Wochen gebraucht, um bis zu diesem Punkt zu kommen. Das dürfen wir auf keinen Fall aufs Spiel setzen«, fügte sie mit klirrend harter Stimme hinzu. Seine stumme Verachtung war beinahe körperlich spürbar. Wenn man wusste, wohin man schauen musste, und wenn man sich anstrengte, konnte man einige andere Mitglieder ihrer Gruppe erkennen, die sich verschwommen und grau von der Schwärze abhoben. Alle waren in Position. »Es wird Zeit«, entschied sie. »Du weißt, was du zu tun hast. Bleib in meiner Nähe.« Er grunzte herablassend. Sie hatte ein kurzes Stück Schnur dabei, dessen Ende sie mit Daumen und Zeigefinger zwirbelte, als drehte sie eine Münze herum. Plötzlich glühte die Spitze kirschrot. Das Licht war weniger auffällig als eine offene Flamme, und es produzierte keine Hitze. Ein sehr einfacher Zauber. Nichts weiter als ein glühender Strick, aber unverwechselbar für diejenigen, die das Zeichen kannten. Serrah gab rasch ihr Signal, dann löschte sie die Glut. Sie warteten. Der vorderste Wächter, ein Koloss mit rasiertem Kopf, stand müßig herum und starrte zum Nachthimmel hinauf. Das Breitschwert hatte er vor seinen 7 Füßen in den Boden gestoßen, mit der Hand strich er abwesend über den Griff. Weiter hinten machte ein schmächtigerer Gefährte wenig begeistert einen Rundgang. Ein Geräusch durchbrach die Stille. Ein hohes Summen, gefolgt von einem dumpfen Aufschlag; dann war es wieder still. In der Brust des großen Mannes steckte ein zitternder Pfeil. Er starrte ihn benommen an. Das Geräusch wiederholte sich, und sein Kamerad sackte in sich zusammen. Ein weiterer Pfeil traf den Riesen. Mit ausgebreiteten Armen stürzte er schwer zu Boden. »Los jetzt«, befahl Serrah. Sie stürzte aus den Schatten hervor und rannte zum Haus. Phosian folgte ihr, und sein dürrer Körper bildete einen auffallenden Kontrast zu ihrer athletischen Figur. Als sie den Hauseingang erreicht hatten, tauchten aus der Dunkelheit zwei weitere Mitglieder ihrer Truppe auf und gesellten sich zu ihnen. Wie Phosian waren auch sie mit Äxten bewaffnet. Die Doppeltür bestand aus Eiche und war mit Eisenbändern verstärkt. Auf Serrahs Zeichen hin fingen sie an zu hacken, und beinahe im selben Augenblick setzten auch die anderen aus ihrer Gruppe an der Rückseite des Hauses ihre Äxte ein. Serrah blickte forschend die Straße hinunter. Sie fühlte sich ungeschützt, denn die Agenten des Reichs waren in diesem Viertel nicht sonderlich beliebt, und sie musste damit rechnen, dass Einheimische angerannt kamen und
handgreifliche Einwände erhoben. Noch mehr aber machte sie sich Sorgen über das, was sie drinnen erwarten mochte. Die Tür gab nach. 8 Vor ihnen lag ein schwach beleuchteter Gang, am Ende war eine zweite Tür. Rechts zweigte ein Flur ab. Serrah winkte einem aus ihrer Gruppe, dort Wache zu halten. Dann ging sie mit Phosian und dem vierten Mitglied ihrer Abteilung vorsichtig und mit erhobenen Waffen weiter. Etwas kam aus dem Seitengang herbei. Sie blieben wie angewurzelt stehen. Es schlich und hatte einen pechschwarzen Pelz, große Reißzähne, Krallen und ausgesprochen schlechte Laune. Die harten, gelben Augen musterten hochmütig die Eindringlinge. Das Wesen knurrte und fauchte leise. Die Barbkatze reichte Serrah bis zur Hüfte. Hätte sie sich auf die Hinterpfoten gestellt, dann hätte sie Serrah die Pfoten auf die Schultern legen und ihr die Kehle herausreißen können. Sie blieben reglos stehen und sahen eine zweite Katze in den Gang tappen. Sie war ebenso groß und ebenso angriffslustig wie die erste. Die Ohren zuckten nervös, die große rosafarbene Zunge hing ein wenig aus dem Maul. Serrah war sich hinsichtlich dieser Geschöpfe nicht sicher. Doch sie ging das Risiko ein und machte einen vorsichtigen Schritt. »Pass auf ...«, warnte einer aus ihrer Truppe. Sie achtete nicht weiter darauf und näherte sich der vorderen Katze. Die Katze sprang. Serrah reagierte sofort. Sie ging blitzschnell in die Hocke und brachte gleichzeitig mit beiden Händen das Schwert nach oben. Zähneknirschend ließ sie die Klinge einen Halbkreis beschreiben. Das ansprin9 gende Tier wurde getroffen und in der Mitte zerteilt. Doch es war nicht aus Fleisch und Blut. Die getrennten Hälften der Barbkatze schwebten noch einen Moment in der Luft, dann stoben goldene Funken auseinander, und sie war verschwunden. Serrah richtete sich schnaufend wieder auf. »Wachzauber«, erklärte sie überflüssigerweise. Und gut gemacht, dachte sie. Kostspielige Magie. Die zweite Barbkatze drehte sich um und trottete in ihre Nische zurück. Die Gefährten ignorierten sie und machten sich bereit. »Lass uns losschlagen«, drängte Phosian gereizt. Serrah starrte ihn an, dann trat sie zu, und die Tür flog auf. Auf den ersten Blick schien der Raum leer zu sein. Er war groß und hatte eine hohe Decke, die Fenster waren verhängt. Kerzen und Fackeln spendeten Licht, einige hohe Kohlenpfannen standen herum. Kisten und Fässer waren an den Wänden aufgestapelt, verschlissene Polster und schäbige Möbelstücke waren willkürlich verteilt. Abgenagte Hühnerknochen, leere Weinflaschen, Krusten von altbackenem Brot und weiterer Abfall lagen auf dem Boden herum. An einer Wand stand eine unregelmäßige Reihe von Bänken. Auf ihnen waren Steingutflaschen, Schaugläser, Flakons, Krüge, Mörser und Stößel gelagert. Auch aufgeschlitzte Rupfensäcke lagen dort, aus denen getrocknete Pflanzen quollen, und aus zwei oder drei Kesseln stiegen weißliche Schwaden auf. Auf einem Tisch am Ende der Bankreihe lag etwas. Serrah kannte es nur zu gut: Haufen von kristallinem, gelbweißem Pulver. Der bloße Anblick jagte ihr einen eisigen Schauder durch den Körper. 10 Während die anderen sich noch orientierten, wurde Phosian übermütig. »Ruhig«, ermahnte sie ihn. »Schon wieder eine Verzögerung«, knurrte er. »Was sind wir denn? Bittsteller?« »Wir müssen sicher sein.« »Zum Teufel damit«, spie er ihr voller Verachtung entgegen. Dann drängte er sich an ihr vorbei und sprang in den Raum. »Phosian!«, rief sie entsetzt. Er hörte nicht auf sie. Mitten im Raum schwenkte er die Axt und rief: »Kommt raus, ihr räudigen Hunde! Stell euch uns!« »Idiot!«, hauchte Serrah. »Bleibt hier«, fuhr sie die Kameraden an und folgte ihm. »Widerlicher Auswurf!«, tobte Phosian und plusterte sich in unreifer Tollkühnheit auf. »Feiglinge! Zeigt euch!« »Phosian!« Sie näherte sich ihm vorsichtig, hatte jedoch Mühe, ihre Verärgerung zurückzuhalten. »Wenn ich einen Befehl gebe, dann gehorchst du!« »Meine Leute geben die Befehle, Ardacris. Vergiss das nicht.« »Deine Verwandtschaft ist mir egal. Wenn ich das Kommando habe, dann bist du einfach nur ...« Irgendetwas, das sich um sich selbst drehte und zwei glänzende böse Schneiden hatte, flog an ihr vorbei. Das Wurfbeil traf Phosian mitten ins Herz. Er schrie auf und taumelte zurück. Seine eigene Axt entglitt seinen Fingern und fiel klirrend auf die Bodenfliesen. Blut spritzte aus der Wunde, er verdrehte die Augen ins Weiße und ging zu Boden. Serrah keuchte.
11 Dann überschlugen sich die Ereignisse. Hinter den Fässern und Kisten und aus einem nicht einsehbaren Winkel tauchten Gestalten auf. Hinter ihr ertönte ein scharfes, knirschendes Geräusch. Sie fuhr herum. Eine zweite, innere Tür, schwer und ebenfalls mit Metall verstärkt, kam wie ein Fallgatter herunter und knallte auf den Boden. Jetzt war Serrah abgeschnitten von ihren Kameraden, die auf der anderen Seite sofort gegen die Tür zu hämmern begannen. Sie drehte sich um und stellte sich den Angreifern. Es waren fünf. Drahtige tätowierte Männer mit beinharten Gesichtern. Vernarbt, mit Zahnstümpfen im Mund und mit Augen wie Feuerstein. Männer, die im Handwerk der Gewalt geübt waren. Sie formierten sich wie ein Hufeisen und wollten sie von vorn und von der Seite aus in die Zange nehmen. Doch das Durcheinander im Raum führte dazu, dass die Hufnägel ungleichmäßig verteilt waren. Zwei Banditen hielten sich rechts, ein dritter dicht dahinter. Der vierte war links von ihr, und der letzte, direkt vor ihr, musste der Anführer sein. Er war bulliger, sah gemeiner aus, und sein höhnisches Grinsen war noch gehässiger als das der anderen. Einen Herzschlag lang bewegte sich keiner, und es herrschte Schweigen. Es schien, als musterte der Anführer sie gründlich. Endlich knurrte er: »Schmetterling.« Was immer sie erwartet hatte, es war nicht dies. Sie wusste keine Antwort. »Ein glänzender Schmetterling«, fügte er hinzu und starrte sie mit verhangenen Augen an. »Ein schwarzer seidener Schmetterling.« 12 Serrah verstand. Die Männer hatten ihre eigene Ware probiert. Sie waren berauscht, unberechenbar. Ramp. Ihr Blick wanderte zu dem Haufen weißen Pulvers, und sie spürte wieder die Kälte in sich aufsteigen. »Ramp ist verboten. Das müsstet ihr doch wissen.« Er verzog keine Miene. »Irgendwie muss man ja seinen Lebensunterhalt verdienen.« Sie betrachtete Phosian, der in einer roten Lache lag. »Ein schöner Lebensunterhalt.« Das Hämmern draußen wurde lauter. Jetzt waren auch aus anderen Teilen des Gebäudes Kampfgeräusche zu hören. Die Ablenkung reichte aus, damit Serrah unbemerkt die freie Hand unter die Falten ihres Hemds schieben konnte. »Ich kenne dich«, sagte der Anführer, der sie erneut in Augenschein nahm. »Trotz der Maske. Du bist bei uns bekannt.« Und offensichtlich nicht sonderlich beliebt. »Gut«, erwiderte sie trocken. Sie stieß mit dem Schwert gegen den Tisch. »Das Ramp ist illegal. Aufgrund der Vollzugsgewalt, die mir von der Regierung von Gath Tampoor verliehen wurde ...« Die Männer begannen schallend zu lachen. »Spar dir deine Puste zum Sterben«, knirschte der Anführer. »Na gut«, stimmte sie zu und schenkte ihnen ein Lächeln. »Dann wollen wir es hinter uns bringen.« Die Angreifer bewegten sich. Sie war schneller. Sie zog die Hand heraus und warf, was sie unterm Hemd gefunden hatte, zu den dicht gedrängten Banditen auf der rechten Seite. Zwanzig Wurfsterne mit scharfen Schneiden flogen in ihre Richtung. 13 Drei waren echt. Der Zauber war so gut, dass Serrah selbst nicht wusste, welche es waren. Auch ihre Opfer wussten es nicht. Verwirrt duckten sie sich und taumelten umher, um sich vor den fliegenden Sternen abzuschirmen. Die meisten zerplatzten harmlos beim Aufprall und regneten als silberne Blüten über ihre Körper und den Abfall in der Umgebung. Die rasiermesserscharfe Realität war eine ganz andere Sache. Ein echter Wurfstern spaltete die Kehle des mittleren Banditen. Blut spritzte, und er ging zu Boden. Der Kumpan rechts neben ihm, der einige Illusionen abgewehrt hatte, wurde in die Wange getroffen. Der Dritte, der auf der linken Seite vorstieß, bekam einen Stuckregen ab, als der letzte echte Stern über ihm in die Wand fuhr. Der blutige Kampf hatte begonnen. Serrahs Zauber waren damit verbraucht. Jetzt mussten die Klingen sprechen. Der Anführer brüllte Befehle, und der Mann zu Serrahs Linken kam näher. Sie zog rasch ein Messer, um neben dem Schwert eine zweite Waffe parat zu haben. Der Bandit fuchtelte mit dem Krummsäbel herum und tat einen weiteren Schritt auf sie zu. Sie blockte mit erhobenem Messer ab. Der Aufprall sandte eine heftige Erschütterung durch ihren Körper; gleichzeitig führte sie mit dem Schwert einen flachen, bogenförmigen Streich und zielte auf den Rumpf des Gegners. Er konnte mit knapper Not abwehren und ging zum Gegenangriff über. Serrah parierte und wich einen Schritt zurück. 14 Ihr blieb wenig Zeit, und die Chancen standen schlecht für sie. Dennoch griff sie energisch an. Mit beiden Klingen gleichzeitig fechtend, gelang es ihr, ihm den Krummsäbel zu entwinden. Sie setzte mit dem Messer nach und fügte ihm eine Wunde im Schwertarm zu. Heulend und fluchend zog er sich zurück, als das Blut aus der Wunde spritzte. Serrah setzte nach, während er, immer noch die Wunde umfassend, sie auf Abstand zu halten versuchte. Sie fegte seine Abwehr hinweg und stieß ihm die Klinge tief in die Brust. Kreischend versperrte er dem brüllenden Anführer den Weg.
Sechs Schritt entfernt sprang ein anderer Gesetzloser auf ein schäbiges Sofa. An den Stuckbrocken in seinem Haar konnte sie erkennen, dass es der Mann war, den ihr Wurfstern knapp verfehlt hatte. Serrah schlug nach seinem Kopf. Er duckte sich und griff an. Sie hieb auf seine Verteidigung los und wollte ihn erledigen, ehe der Nächste kam. Einige Atemzüge lang waren sie einander ebenbürtig, und es herrschte ein Patt. Dann, mehr durch Glück als gezielt, traf die Spitze ihrer Klinge sein Kinn. Die Hand ans Gesicht gepresst, stolperte er rückwärts und prallte gegen den Tisch. Das Ramp flog auf, und weißes Pulver wirbelte wie ein Schneesturm durch die Luft. Serrah presste den Handrücken vor den Mund und hielt den Atem an. Der Anführer schrie wütend auf. Schemenhaft sah sie den Banditen, den sie verwundet hatte. Der Wurfstern steckte seitlich in seiner Wange. Er verkroch sich in eine Ecke und kippte dabei die Kisten um. Der Lärm, den ihre Männer draußen machten, wurde lauter. 15 Serrahs Verschnaufpause währte nicht lange. Der Strolch mit dem stark blutenden Kinn löste sich aus dem Gewirr und griff zusammen mit dem Anführer erneut an. Serrah wehrte den Anführer mit einer energischen Parade ab und konzentrierte sich auf den Mann mit dem verletzten Kinn. Er hieb wild auf sie ein, doch sie lenkte den Schlag ab; seine Klinge beschrieb einen weiten Bogen, und da fand ihr vorschießendes Schwert die Lücke und traf seinen Bauch. Er stürzte tot zu Boden. Mit der vom Ramp beflügelten Wut griff der Anführer ein weiteres Mal an. Serrah wich zurück. Auf all dem Unrat konnte sie nicht sicher stehen. Einen Augenblick später prallten sie zusammen. Metall klirrte, als sie hackend und hauend aufeinander losgingen. Schließlich durchbrach sie seine Abwehr und versetzte ihm einen heftigen Tritt in den Bauch. Er krümmte sich und riss den Mund auf. Doch er besaß genug Geistesgegenwart, um seine Klinge hochzuhalten und ihr Nachsetzen zu stören. Serrah zog sich zurück. Sie sah, dass ihr Gegner mit der aufgeschlitzten Wange die Kisten beinahe weggeräumt und den Umriss einer Falltür freigelegt hatte. Jetzt war ihr klar, warum die Banditen es sich erlauben konnten, sich so lange hier aufzuhalten. Der Sekundenbruchteil, in dem ihre Aufmerksamkeit abirrte, wäre ihr beinahe zum Verhängnis geworden. Der tobende Anführer hob ein Tongefäß und schleuderte den Inhalt in ihre Richtung. Sie sprang zur Seite und entging gerade eben dem Schwall der Flüssigkeit. Das Gift spritzte auf Kisten, Stoff und Abfall; es brodelte und schmorte, und beißender Rauch stieg auf. 16 Ein paar Spritzer Vitriol trafen ihre Hand und ihre Seite. Es stach, als würde sie von brennenden Nadeln durchbohrt. Sie biss die Zähne zusammen, um den Schmerz zu unterdrücken, und bewegte sich weiter. Der Gesetzlose folgte ihr, lauerte auf seine Gelegenheit und schleuderte Hindernisse zur Seite, die ihm im Weg waren. Ihr Rückzug führte sie in die Nähe des Banditen, der mit den Kisten beschäftigt war. Blut tröpfelte von dem Wurfstern in seiner Wange. Er hatte sich hingekniet, zerrte an einem rostigen Metallring und hatte die Falltür ungefähr um eine Armeslänge hochgezogen. Serrah ergriff die Gelegenheit und schlug ihm den Kopf ab. Der Tote kippte um, die Falltür knallte zu. Sie keuchte. Ihre Muskeln schmerzten, und der Schweiß rann ihr über den Rücken. Doch es gab keine Atempause. Der Anführer holte sie ein und entfesselte rasend einen wahren Wirbelsturm von Hieben. Serrah kämpfte verbissen, mit gerunzelter Stirn und mit Blasen an den Händen. Einmal musste sie zur Seite springen, als sie auf dem falschen Fuß stand und er nach ihrer Achillessehne schlug. Ihr Konterschlag verfehlte ihn, traf eine hohe Kohlenpfanne und kippte sie um. Glühende Kohlestücke hüpften in alle Richtungen davon. Herumliegende Lumpen und einige Möbelstücke fingen Feuer. Ein Dutzend kleine Brände brachen aus. Sie kämpften weiter. Serrah stolperte über den hingestreckten Phosian und wäre beinahe gestürzt. Ein Schwertstreich, der sie enthaupten sollte, verfehlte sie nur knapp und zerfetzte ihren Kragen. 17 Ein schmorendes Sofa begann zu brennen. Das Feuer sprang auf ein Fass über und von dort aus zum Rest des Stapels. Die Flammen erfassten einen Fenstervorhang und rasten zur Decke empor. Dünner schwarzer Rauch erfüllte den Raum. Serrah war dankbar für ihre Gesichtsmaske, auch wenn dieser Schutz nicht verhindern konnte, dass ihre Augen brannten. Jetzt kam es nur noch auf Durchhaltevermögen und Nervenstärke an. Das Duell artete zu einer reinen Prügelei aus. Eine Reihe von Explosionen erschütterte den Raum, als die Töpfe und Krüge auf den brennenden Bänken in die Luft flogen. Die Kämpfenden duckten sich, um den umherfliegenden Scherben auszuweichen. Dann drang eine Axtschneide durch die Tür. Die jüngsten Ereignisse hatten den Banditen offenbar aus dem Tritt gebracht. Serrah setzte nach. Sie führte das Messer nach vorn, wich seiner nachlässigen Verteidigung aus und traf seine Brust. Er schrie auf, presste die Hand auf den klaffenden Schnitt und zog sich zurück. Dabei prallte er gegen einen umgekippten Stuhl und stürzte. Auf dem Boden liegend, versuchte er sie abzuwehren. Sie schlug ihm das Schwert aus der Hand; es sprang, Stahl auf Stein, klirrend davon. Er sah sie aus schmerzerfüllten Augen an und erkannte den Schmerz in den ihren.
»Schmetterling?«, flüsterte er. »Dieser Schmetterling hat einen Stachel«, erklärte Serrah und trieb ihm die Klinge in den Leib. Atemlos richtete sie sich auf und sah sich blinzelnd im Raum um. Das Feuer hatte sich rundherum ausgebreitet, und die Hitze war unerträglich. Von all dem Rauch tat ihr der Hals weh. 18 Wieder drang ein Axthieb durch die Tür, ein zweiter folgte. Holz splitterte, Metall gab nach, und ihre Gruppe brach durch. Mit erhobenen Waffen und aufgerissenen Augen blieben sie stehen und starrten. Serrah fing sich. »Meldung!«, verlangte sie heiser. Der Erste riss sich vom Anblick des Gemetzels los. »Äh ... das Nest ist ausgeräuchert.« Er blickte zu Phosian. »Keine ... keine weiteren Verluste.« »Gut. Und jetzt raus hier. Tempo.« Er nickte in Phosians Richtung. »Und was ist mit...?« »Nehmt ihn mit. Los!« Sie legten die angewinkelten Arme vor die Gesichter, um sich vor der Hitze zu schützen, und rannten los, um ihren Kameraden zu bergen. Dann scheuchte Serrah sie hinaus und bildete die Nachhut. Im Flur hatte sich bereits der Rauch gesammelt, und sie husteten und würgten, als sie wieder an der frischen Luft waren. Draußen warteten schon die anderen Gefährten. Sie legten Phosian ab. Serrah fühlte seinen Puls. Die Mitglieder ihrer Gruppe wechselten besorgte Blicke. Schließlich schüttelte sie den Kopf; im Grunde war es ihr längst klar gewesen. Sie sah die Gesichter ihrer Mannschaft und wusste, was die Männer dachten. »Ich mag es nicht, jemanden zu verlieren«, erklärte sie. »Nicht mal, wenn es ein eigenwilliger Trottel ist. Aber unsere Arbeit ist mit Gefahren verbunden, und wie man sieht, verläuft sie zuweilen tödlich. Es wird keine Disziplinlosigkeiten mehr geben. Die Mission ist erst erledigt, wenn wir wieder zu Hause sind.« »Von allen Leuten ausgerechnet ihn zu verlieren«, murmelte jemand. 19 Nach Serrahs Ansicht war der Verlust Phosians jedem anderen gestählten Mitglied in ihrer Mannschaft vorzuziehen, auch wenn sein Tod erheblich mehr Schwierigkeiten mit sich bringen würde. Sie konzentrierte sich auf die Dinge, die im Augenblick wichtig waren. »Hier wird es bald vor Anwohnern wimmeln, die gewiss nicht erfreut sein werden, uns zu sehen. Haltet die Augen offen. Und wenn wir auf Widerstand stoßen, keine Gnade.« Niemand wagte es, ihren Anweisungen zu widersprechen. Sie teilte Leute ein, die Phosians Leichnam tragen sollten, dann lief sie los. Hinter ihnen leckten die Flammen bereits am Dach der Ramp-Manufaktur. Pechschwarzer Rauch und fliegende Funken drangen aus den Fenstern. Vorsichtig zogen sie durch die Straßen und hielten sich im Schatten. Unterwegs legten sie die äußeren Schichten der Kleidung ab, knüllten Masken und Hemden zusammen und warfen sie in Büsche und schwach beleuchtete Gassen. Dann wischten sie sich die Asche aus dem Gesicht. Auch Serrah nahm die Maske ab und schüttelte ein Gewirr von blondem Haar heraus. Sie spuckte sich in die Hände und rieb sie gegeneinander. Inzwischen spürte sie die ersten Nachwirkungen - die Schmerzen der Kampfwunden und der Verätzungen durch die Säure machten sich bemerkbar. Auch das, was mit Phosian geschehen war, setzte ihr zu. Sie holte tief und gleichmäßig Luft und unterdrückte ein Zittern. Hinter sich hörte sie Geräusche, ein Gewirr leiser Rufe. Serrah trieb ihre Leute an und überlegte, ob sie sich trennen sollten. Doch sie erreichten ohne Zwischenfall ein Stück Ödland, wo nichts zu sehen war 20 außer einem fehlgeleiteten Zauber. Von Bäumen geschützt, standen ihre Pferde bereit. Zwei Männer wickelten Phosian in einen Mantel und legten den Toten über den Sattel. Als sie die Straße erreichten, näherte sich eine berittene Gruppe, doch sie kam nicht aus der Richtung, in der das gestürmte Gebäude lag. Die Reiter waren zu nahe und zu zahlreich, um ihnen zu entgehen. Serrah und ihre Gefährten zügelten die Pferde und tasteten nach den Schwertern. Doch als die Reiter nahe genug waren, konnte man im schwachen Licht ihre auffälligen roten Uniformen erkennen. »Die haben uns gerade noch gefehlt«, knurrte einer aus Serrahs Truppe. Die anrückende Abteilung, dreißig oder vierzig Reiter, war drei- oder viermal stärker als Serrahs Truppe, doch man konnte nur raten, wie viele von ihnen Chimären waren. Die Paladin-Clans verfügten über die allerfeinste Magie. In guter Ordnung trafen sie ein; ihre militärische Präzision bildete einen auffallenden Gegensatz zu Serrahs eher nachlässig gekleideter Truppe. Der Paladin-Hauptmann hielt seine Abteilung an. Der ziegenbärtige Mann mit dem harten Gesicht verschwendete keine Zeit auf Höflichkeiten. »Serrah Ardacris?« Sie nickte. »Eskorte für Chand Phosian.« Serrah schwieg, und niemand sonst wagte zu sprechen. »Wir wollen Chand Phosian abholen«, wiederholte der Paladin betont langsam, als spräche er mit einem zurückgebliebenen Kind. »Wo ist er?«
21 »Wir kommen gerade von einer Mission zurück«, erklärte Serrah ihm. »Wahrscheinlich treffen gleich Verfolger hier ein. Lasst uns verschwinden und ...« »Wo ist der Sohn des gewählten Prinzipals?« Er sah ihren Gesichtsausdruck. »Was ist geschehen?«, fügte er scharf hinzu. Widerstrebend winkte sie ihren Männern, Phosians Pferd nach vorn zu führen. Als der Hauptmann sah, welche Last es trag, lief sein Gesicht rot an. Er stieg ab und trat zu dem Pferd; die anderen sahen schweigend zu. Er zog den Mantel weg und legte Phosians bleiches Gesicht frei. »Im Kampf gefallen«, erklärte Serrah. Der Hauptmann schaute zu ihr auf. »Du warst sehr fahrlässig.« »Auf jeder Mission gibt es Verluste. Das weißt du so gut wie ich.« »Manche Verluste sind unverzeihlich.« »Ach, nun hör schon auf. Es war doch nur ...« Er wischte die Einwände mit einer Handbewegung beiseite. »Spare es dir, Ardacris. Du kommst mit uns.« 22 Vor den Imperien und vor der Geschichte war die Traumzeit. Die Energien der Erde waren schon damals bekannt und wurden beherrscht, und die Gründer beschlossen, die Wege der Kraft zu kennzeichnen. Gelehrte mutmaßten, damals in diesem goldenen Zeitalter sei die ganze Welt ausgeschmückt worden. Sie stellten sich vor, ein alles umspannendes, vielfarbiges Netz von Kraftlinien sei über Ebenen und Täler und Wälder und Weiden gelegt worden, auf dass der Geist des Landes und dessen Verbundenheit mit dem Himmel nachgezeichnet werde. Nachdem die Gründer vor vielen Zeitaltern von der Bühne abgetreten waren, geriet das Netz in Vergessenheit, auch wenn es nach wie vor die Magie speiste. Doch an manchen Stellen, sei es aus Achtung oder Furcht, wurde das Althergebrachte noch verehrt, wenngleich nicht ganz und gar verstanden. Einer dieser Orte war ein entlegenes Dorf, nicht weit von Bhealfas unwirtlicher Ostküste entfernt. Eine 23 indigofarbene Linie, so breit wie eine Männerfaust, lief mitten auf der Hauptstraße entlang und markierte den Fluss der Kraft. Die meisten Menschen bemühten sich, nicht darauf zu treten. Der Fremde aber, der bei Sonnenaufgang zu Fuß kam, scherte sich anscheinend nicht darum. Seine Erscheinung ließ die wenigen Bürger, die zu dieser Stunde unterwegs waren, die Köpfe drehen. Er war größer als der Durchschnitt und muskulös und bewegte sich entspannt und selbstbewusst. An Waffen hatte er zwei Schwerter, eines davon wie üblich in der Scheide, das zweite auf dem Rücken verzurrt. Er war sauber rasiert, obwohl die Mode eher bärtig war, und die Farbe seiner Augen entsprach dem langen, pechschwarzen Pferdeschwanz. Er hatte ein hübsches und markantes, vom Wetter gegerbtes Gesicht, dessen Ausdruck allerdings eher melancholisch zu nennen war. Die Kleidung war überwiegend schlicht und schwarz. Unbeeindruckt von den neugierigen Blicken und seines Weges gewiss, schritt er durchs Dorf. Die Sonne war schon ein Stück am Himmel emporgestiegen, als er die Siedlung am nördlichen Ende verließ, wo die Straße nur noch als kurvenreicher Weg weiterlief. Er entschied sich für einen Pfad auf der linken Seite, der rauer und stärker überwachsen war. Die indigofarbene Linie zog sich ein Stück in die Landschaft hinein und lief irgendwo aus. Endlich erreichte er ein Haus, das halb versteckt unter wild wuchernden Bäumen stand. Es war weitläufig und verfallen. Er ging zur Tür und klopfte. Ein zweites, lauteres Klopfen war nötig, ehe er eine Antwort erhielt. 24 Ein übernächtigter Bursche, der mit dem jungen Tag oder aber mit seiner Männlichkeit noch nicht ganz im Reinen war, öffnete die Tür. Er blinzelte, als er den Fremden sah. »Ja?« »Ich suche Grentor Domex.« Die Stimme klang freundlich und doch befehlsgewohnt. Der Junge starrte ihn an. »Und wer sucht ihn?« »Niemand, der dir etwas tun will. Ich bin kein Beamter und kein Spion, sondern einfach nur jemand, der den Zauberer konsultieren will.« »Ich bin nicht der Magier Domex«, gestand der Bursche. Der Fremde betrachtete ihn von oben bis unten, das pickelige Gesicht und den zarten Flaum auf dem Kinn. Sein ernster Gesichtsausdruck wurde ein wenig gelöster, und er lächelte leicht. »Ich will nicht beleidigend sein, mein Freund, aber das habe ich mir schon denken können. Ist dies denn wenigstens das Haus des Magiers?« Der Junge zögerte kurz, ehe er antwortete. »Ja, das ist es.« »Kann ich ihn sehen?« Der Bursche überlegte, dann nickte er und trat zur Seite. Die Tür führte direkt in einen großen, düsteren Raum, in dem die üblichen Gerüche des Zaubererhandwerks schwebten. Als der Fremde eingetreten war und seine Augen sich der Umgebung angepasst hatten, sah er vor sich etwas aufragen. Er blinzelte und erkannte es als menschliche Gestalt, die im Halbdunkel stand. Sie trat vor, bis sie von einem Strahl Tageslicht erfasst wurde, und zeigte sich. 25 Ein kampferprobter Krieger, das Schwert ausgerichtet, bereit zum Angriff.
Mit einer einzigen fließenden Bewegung fuhr die Hand des Fremden hinter seinen Kragen, zog ein kurzes Messer hervor und warf es. Die Klinge durchbohrte die Stirn des Kriegers, dann flog sie weiter und blieb in einem Holzbalken stecken. Der Krieger schmolz zu einem gelben Nebel zusammen, der rasch verschwand. Ein Geruch von Schwefel überlagerte die anderen schweren Düfte im Raum. Der Junge bemerkte, dass sein Mund offen stand. Eilig schloss er ihn. »Nur gut, dass Ihr Recht behalten habt«, sagte er verzagt. »Womit habe ich Recht behalten?«, fragte der Fremde zurück. »Dass es ein Zauber war.« »Ich wusste es nicht.« »Aber ...« »Wenn er echt gewesen wäre, dann hätte er eine Bedrohung dargestellt. Da er ein Zauber war, spielt es keine Rolle. So oder so ist die Sache erledigt. Hör zu, ich sagte dir doch, dass du keine Angst haben musst. Es besteht wirklich keine Notwendigkeit für solche lächerlichen Listen.« »Oh, das hatte nichts mit mir zu tun. Es war ein Schutzzauber des Magiers.« Der Fremde war zu dem Balken getreten und zog sein Messer wieder heraus. »Es war?« »Ja.« Der Bursche seufzte schwer, und sein argloses Gesicht war mit einem Mal von Kummer gezeichnet. »Ihr kommt wohl besser mit.« Er führte den Besucher in eine viel kleinere Nebenkammer. Dort gab es wenig außer einem Tisch, auf 26 dem eine mit einer schäbigen Decke verhüllte Gestalt lag. Ehrerbietig zog der Junge die Decke fort und entblößte das Haupt und die Schultern eines älteren, weißhaarigen Mannes. »So viel zu den Schutzmaßnahmen«, bemerkte der Fremde. Der Junge verzog gequält das Gesicht, hielt aber den Mund. Am Hals des Mannes waren Abschürfungen von einem Strick zu erkennen. Der Fremde deutete darauf. »Erhängt«, erklärte der Bursche. »Von Paladinen.« Die Augen des Fremden bekamen einen harten Glanz. »Warum?« »Der Magier hatte keine Lizenz. Das ist jetzt anscheinend ein Schwerverbrechen.« »Das war es schon immer. Man redet nur nicht offen darüber.« Er betrachtete noch einmal den Toten. »Ich kann keine Ähnlichkeit erkennen, daher nehme ich an, dass du nicht sein Sohn bist.« »Nein, sein Lehrling.« »Wie nennst du dich?« »Kutch Pirathon.« »Nun, dann sei gegrüßt, Kutch, selbst wenn ich in Zeiten großer Sorge zu dir komme. Ich bin Reeth Caldason.« Die Miene des Burschen verriet, dass er den Namen kannte. Mit großen Augen starrte er den Fremden an. »Der Reeth Caldason?« »Keine Sorge«, gab Caldason trocken zurück. »Ich bin nicht gefährlich.« »Da habe ich aber ganz andere Dinge gehört.« »Du solltest nicht alles glauben, was du hörst.« »Seid Ihr wirklich Reeth Caldason?« 27 »Warum sollte ich lügen?« »Und warum solltet Ihr es wagen zu lügen, wenn Ihr es nicht seid ... Das ist wahr.« Kutch betrachtete ihn voller Neugier. »Ich bin noch nie einem Qalochier begegnet. Ich glaube nicht mal, dass ich bisher überhaupt einen gesehen habe.« »Das können heutzutage sowieso nur noch wenige von sich behaupten«, antwortete Caldason eisig und abweisend. Er bewegte sich zur Tür. »Nun gut, es tut mir Leid, dass du diesen Verlust erlitten hast, aber ...« »Wartet.« Kutch schaffte es, gleichzeitig schüchtern und eifrig zu wirken. »Vielleicht kann ich Euch helfen.« »Wie denn?« »Das kommt darauf an, warum Ihr meinen Meister sprechen wolltet.« »Nun, es ging nicht um einen Liebestrank oder Gift für einen Feind.« »Nein, das kann ich mir denken. So etwas könntet Ihr überall bekommen.« »Ich will damit nur sagen, dass meine Bedürfnisse möglicherweise die Fähigkeiten eines ... eines Lehrlings übersteigen.« »Wie wollt Ihr das wissen, wenn Ihr es mir nicht verratet?« Caldason schüttelte den Kopf. »Vielen Dank, aber lieber nicht.« Wieder wandte er sich zum Gehen. Kutch fing ihn im größeren Raum ein weiteres Mal ab. »Ihr müsst wissen, dass ich gewisse Fertigkeiten besitze. Der Magier hat mich viele Dinge gelehrt. Ich stehe seit meiner Kindheit bei ihm in Ausbildung.« »Das kann noch nicht sehr lange sein.« Kutch überhörte den Seitenhieb. »Was habt Ihr schon zu verlieren?« 28 »Meine Zeit.« »Würden ein paar Minuten mehr denn wirklich so viel ausmachen?«
»Und vielleicht verliere ich auch meine Geduld.« Trotz des freundlichen Anscheins war der drohende Unterton in Caldasons Stimme nicht zu überhören. Als wäre man in einem Milchpudding unversehens auf eine Glasscherbe gestoßen. Sie hatten die Vordertür erreicht. »So lasst es mich Euch doch wenigstens vorführen«, stammelte Kutch. »Lasst mich Euch zeigen, was ich kann. Und wir könnten frühstücken. Ihr werdet doch sicher hungrig und durstig sein.« Caldason betrachtete den Burschen. »Du bist hartnäckig, das muss ich dir lassen.« Er seufzte müde. »Also gut. Ich werde mit dir etwas Brot teilen - falls du welches übrig hast.« »Reichlich. Und wir haben Geflügel, Käse und Fisch, und ich glaube, auch ...« Der Qalochier hob die Hand, um Kutchs Redefluss zu unterbrechen. »Ich werde allerdings nicht lange bleiben. Ich muss noch andere Zauberer aufsuchen.« »Nun, dann seid Ihr hier richtig. Ich kann Euch Namen nennen. Nicht, dass Ihr sie aufsuchen wollen werdet, nachdem ich Euch gezeigt habe, was ich zu tun vermag ...« »Schon gut«, knurrte Caldason. »Es ist schon gut«, sagte er noch einmal etwas freundlicher. »Wollt Ihr jetzt die Magie sehen?«, fragte Kutch kleinlaut. »Lass uns erst essen.« 29 Caldasons Bemerkung über das Brot war wörtlich gemeint. Mehr als Brot und etwas Wasser nahm er nicht zu sich. Er saß im Schneidersitz auf dem Boden, das Rückgrat gerade wie ein Ladestock, die Schwerter neben sich abgelegt. Geschickt zerteilte er den Brotlaib mit einem scharfen Messer und schob sich mit flacher Klinge kleine Stückchen in den Mund. Anscheinend hatte der Kummer Kutchs Appetit keinen Abbruch getan, denn er langte nicht eben unbescheiden zu. Er saß Caldason gegenüber, den Rücken an die Wand gelehnt und die Beine ausgestreckt, und aß aus einer Holzschale, die er sich auf den Schoß gestellt hatte. Ein Fensterladen war geöffnet, Staubflocken schwebten in den Lichtbalken. Caldason sah sich in dem Raum um, der voller Bücher war. Die Regale reichten vom Boden bis zur Decke; manche der Bücher hatten alte Einbände, andere zerfielen fast. Eine schlichte, kräftige Bank, ein paar Stühle und ein von Motten zerfressener Vorhang am einzigen Fleck, wo kein Bücherregal stand, vervollständigten die Einrichtung. Kutch legte den Löffel beiseite und schluckte. »Ich habe viele Geschichten über Euch gehört.« »Ich auch.« Schweigen. »Und?«, fragte Kutch schließlich. »Was, und?« »Sind sie wahr?« Caldason trank einen Schluck aus seiner Tasse. »Warum bist du überhaupt hier?« »Ihr habt das Thema gewechselt«, protestierte Kutch. »Nein, das will ich wirklich wissen.« 30 Der Bursche sah sich übertölpelt, doch er fügte sich. »Da gibt es nicht viel zu erzählen. Mein Vater starb, als ich noch klein war. Meine Mutter hatte Mühe, mich und meinen älteren Bruder durchzubringen. Er ging schließlich zum Militär, und ich wurde an Meister Domex verkauft. Seitdem habe ich meine Mutter und meinen Bruder nicht wieder gesehen.« »Warum hat Domex dich ausgewählt?« »Er sagte immer, er habe von Anfang an mein Potenzial erkannt.« Kutch zuckte unsicher mit den Achseln. »Die Zauberer kennen sich mit so etwas aus. Aber er war ein guter Herr.« »Wie kam er denn zu Tode?« »Ich vermute, es war ein Spitzel. Wir sehen hier gewöhnlich nicht viele Paladine oder Milizionäre. Auf einmal aber wimmelte es im Dorf von ihnen. Sie wussten genau, wo sie suchen mussten.« »Doch dir haben sie nichts getan?« Kutch lief rot an und ließ den Kopf hängen. »Ich ... ich habe mich versteckt.« Caldason schwieg eine Weile. »Gegen die Paladine kommt man nicht so leicht an«, sagte er schließlich. Seine Stimme klang unerwartet mitfühlend. »Du brauchst dich nicht zu schämen, Kutch, und du solltest keine Schuldgefühle haben.« »Ich wünschte, ich könnte das auch so sehen. Ich weiß nur, dass ich nicht für ihn da war.« Caldason hatte den Eindruck, dass die Augen des Jungen feucht wurden. »Aber was hättest du schon tun können? Gegen die Paladine kämpfen? Dann wärst auch du gestorben. Magie gegen sie einsetzen? Sie haben bessere.« »Ich komme mir vor wie ein Feigling.« 31 »Rückzug ist ein Zeichen von Klugheit, nicht von Feigheit. Es bedeutet, dass du überleben und an einem anderen Tag noch einmal kämpfen kannst. Warum hatte dein Meister eigentlich keine Lizenz?« Kutch schniefte und fuhr sich mit einer Hand über den Schopf, um das aufsässige blonde Haar zu glätten. »Er hielt nichts davon. Der Meister war ein Ketzer, wenn es ums System ging, und bei den meisten anderen Dingen
auch. Die Schweine hätten ihn sowieso nicht akzeptiert. Er war viel zu unabhängig in seinem Denken.« »Was du sagst, klingt mir ziemlich umstürzlerisch.« »Ich glaube nicht, dass Euch das sonderlich stört.« Wieder spielte ein seltenes, feines Lächeln um Caldasons Lippen. »Und was willst du jetzt tun?« »Ich weiß nicht. Ich war immer bei meinem Meister. Wir haben an verschiedenen Orten gelebt, aber wir waren immer zusammen. Ich fürchte, hier kann ich nicht bleiben. Die Paladine sind zwar fort, aber was mache ich, wenn sie zurückkommen und ihr Werk vollenden wollen?« »Es ist sicher klug, wenn du fortgehst. Hast du schon eine Ahnung, wohin du willst?« »An einen anderen Ort. An einen Ort, wo ... wo ich wirklich frei bin.« Caldason lachte humorlos. »Ihr macht Euch über mich lustig.« »Nein. Man macht sich über uns beide lustig.« »Wollt Ihr damit sagen, dass man nirgendwo wirklich frei ist?« »Ich habe den größten Teil von Bhealfa gesehen, außerdem einen Teil von Gath Tampoor und Rintarah und noch einige ihrer Protektorate, doch ich habe nir32 gendwo wahre Freiheit gefunden. Nur den Anschein, als gäbe es sie. Überall, wo ich hinkam, war unter dem Seidenhandschuh eine Eisenfaust verborgen.« Kutch war beeindruckt. Seine Munterkeit kehrte zurück. »Habt Ihr wirklich all diese Orte gesehen? Die Imperien? Beide Reiche?« »Ich bin weit gereist.« »Macht Ihr Euch keine Sorgen, erkannt zu werden?« »Ich versuche, keine unnötigen Risiken einzugehen.« »Ihr wart da draußen unterwegs und habt Paladine gejagt, nicht wahr?« Der Junge sprach im Verschwörerton, es fehlte nur noch das vertrauliche Zwinkern. Caldason ignorierte die Bemerkung und stand geschmeidig auf. »Die Zeit vergeht schnell. Wolltest du mir nicht deine Magie zeigen?« Auch Kutch stand auf, und wieder fühlte er sich zurückgewiesen. »Oben«, erklärte er und nahm einen bleiernen Kerzenhalter, um den Weg zu beleuchten. Die schmale, gewundene Stiege knarzte bei jedem Schritt, und die Decke war so niedrig, dass Caldason den Kopf einziehen musste. Auch hier war die Wand mit eingelassenen, gut gefüllten Bücherregalen verkleidet. Im oberen Stockwerk gab es eine weitere geräumige Kammer, das Gegenstück zu der im unteren Stockwerk, und ein Zimmer, das zweifellos die Werkstatt eines Zauberers war. Alles Zubehör des Magierhandwerks war vorhanden, dazu noch viele weitere Bücher und Pergamentrollen. Der Geruch der Tränke, Salben, Lösungen und des Weihrauchs war hier noch stärker als unten. Auf einer Bank lagen vier Objekte, jedes ungefähr von der Größe eines Hummerkorbes, die unter schwar33 zen Felldecken verborgen waren. Kutch ging hinüber und gestattete sich eine gewisse Theatralik. »Zu Eurer Unterhaltung«, erklärte er, »werde ich Euch die Wunder der Geheimkünste vorführen.« Mit großartiger Geste deckte er das erste Objekt auf. Es war eine große, dickbauchige Glasflasche mit einem riesigen Korken im Hals. Caldason beugte sich vor, um den Inhalt zu betrachten. Er sah maßstabgetreue Bäume, Büsche und Felsen. Einige Granitplatten waren aufgestellt, um eine kleine Höhle nachzubilden. Irgendetwas hatte dort drinnen geschlafen; jetzt erwachte es und öffnete geschlitzte grüngelbe Augen. Ein Miniaturdrache torkelte ins Licht. Er krümmte den Rücken und streckte die Flügel, hob den Kopf und riss das Maul auf. Das Brüllen des Geschöpfs wurde von dem dicken Glas gedämpft. Dann spuckte es eine orangefarbene Flamme und schwarzen Rauch. Kutch wählte den richtigen Moment, um mit der Vorstellung fortzufahren, und zog das Tuch vom nächsten Glas. In diesem Krug war eine Prärieszene nachgestellt. Die Grasnarbe erstreckte sich bis zum Rand eines geschickt arrangierten Waldes. Im Vordergrund stampfte ein strahlend weißes Einhorn im Gras; es stieg und stieß mit dem spiraligen Hörn zum Himmel hinauf. Im dritten Krug war eine Harpye zu sehen. Ihr Lebensraum war eine winklige, trüb beleuchtete Höhle. Sie hing mit dem Kopf nach unten wie eine Fledermaus; ledrige Schwingen flappten, wütende rote Augen starrten. Sie war kaum größer als Caldasons Daumen. Der vierte Krug war mit Wasser gefüllt und barg einen rosafarbenen Korallenpalast. Eine hinreißende Meerjungfrau schwamm mit wedelndem silber34 nem Schwanz und frei wehendem Haar langsam um die Türmchen. Aus dem sinnlichen Mund stiegen Perlenschnüre kleiner Luftblasen auf. Kutch strahlte stolz. »Gebt es zu, Ihr seid beeindruckt. Wisst Ihr, wie viel ein Homunkulus dieser Art auf dem offenen Markt kosten würde?« »Hast du sie gemacht?« »Also ... nein. Aber ich habe dabei geholfen.«
»Ich gebe gern zu, dass sie gut gemacht sind. Aber -versteh mich nicht falsch - es sind keine Originale.« »Nein«, räumte Kutch ein. Sein Lächeln wirkte ein wenig verkrampft. »Das habe ich auch nie behauptet.« Seine Antwort klang sogar etwas gereizt. »Ich meine ja auch nicht die Homunkuli, sondern das, was ich mit ihnen tun werde ...« Er überlegte, dann deutete er auf den Drachen. »Mit dem da.« Er holte zwei flache, polierte Steine aus einem überfüllten Regal. Sie waren rotbraun und gerade von der richtigen Größe, dass er sie bequem in den Händen halten konnte. »Ihr werdet jetzt eine Transformation sehen. Mit Hilfe der Zauberkraft werde ich diesem Drachen eine andere Gestalt geben. Das erfordert große Konzentration, also verhaltet Euch bitte ruhig.« Caldason zog eine Augenbraue hoch und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand. Kutch hielt die Steine an die gegenüberliegenden Seiten des Kruges, sodass die Flächen zueinander wiesen. Dann schloss er die Augen und rezitierte eine Anrufung, die, wie Caldason glaubte, in der älteren Sprache verfasst war. Der Drache beobachtete ihn. Lichtfunken erschienen auf den Steinflächen. Sie wuchsen, verbanden sich, breiteten sich aus und be35 gannen zu pulsieren. Der Drachenhomunkulus fletschte die Zähne, und sein gegabelter Schwanz peitschte. Kutch plapperte weiter, murmelte unverständliche Worte, das Gesicht vor Anstrengung verzerrt. Ein leichter Schweißfilm glänzte auf seiner Stirn. Das Strahlen, das von den glühenden Steinen ausging, wurde stärker. Dann gab es eine Art Ausbruch. Beide Steine sandten winzige leuchtende, langsam vorrückende Energiefäden aus, die sich in der Mitte trafen und ein glühendes, quer durch den Krug laufendes Hochseil bildeten. Es flackerte und knisterte. Der Drache schnappte und baute sich kampfbereit auf. Eine Sekunde später wuchsen zwei Ausläufer aus dem fließenden Energiestrom. Sie forschten am Boden der Flasche, suchten den hoppelnden Drachen und fanden ihn. Zwei knisternde Ströme knüpften sich an das widerwillige Zauberwesen. Sie zogen den stärkeren Strom, der zwischen den Steinen verlief, herunter. Er bog sich zur Form eines U und verband sich ebenfalls mit dem Dachen. Die gesamte von den Steinen erzeugte Energie lief nun durch das Geschöpf und hüllte es ein. »Jetzt kommt es!«, rief Kutch mit bebenden Lippen. »Die Transformation!« Es folgte eine gedämpfte Explosion. Der Behälter wurde heftig durchgeschüttelt, und die Innenseite war schlagartig mit zähflüssigem grünem Schaum bedeckt, in den sich Stücke von Schuppen und Knochen mischten. »Oooh!«, schrie Kutch erschrocken. Er ließ die Steine fallen. »Die sind heiß!« Er hüpfte herum, blies sich kräftig auf die Hände und wedelte mit ihnen. 36 »Du musst vielleicht noch etwas an deiner Kunst arbeiten«, meinte Caldason taktvoll. »Das verstehe ich nicht.« Er blies sich immer noch auf die Hände und verzog schmerzvoll das Gesicht. »Ich versuche es bei einem anderen.« »Spar dir die Mühe. Ich halte sowieso nicht viel von Magie.« Kutch fand diese Sichtweise ziemlich schockierend. »Nein?«, fragte er, und seine Pein war vergessen. »Aber was ist mit den Segnungen, die sie Euch bringen kann?« »Sagen wir mal, dass ich bisher noch nie viel davon gesehen habe.« »Ihr meint, Ihr könnt es Euch nicht leisten«, folgerte Kutch altklug. »So könnte man es ausdrücken.« Der Bursche wurde wieder ernst. »Ich verstehe wirklich nicht, was hier schief gelaufen ist.« Er betrachtete die Flaschen und flehte: »Lasst es mich noch einmal versuchen.« »Nicht, wenn es nach mir geht.« »Wenn Ihr mir nur noch diese Gelegenheit geben könntet, dann würde ich gewiss ...« »Nein. Es wird höchste Zeit, dass ich aufbreche. Ich muss weiter.« Kutch kam es so vor, als hätte Caldasons Stimme geradezu verzweifelt geklungen. Sein Besucher wirkte angespannt, vielleicht hatte er etwas zu verbergen. Kutch wollte noch etwas sagen, doch Caldason hatte das Arbeitszimmer bereits verlassen. Er eilte die Treppe hinunter. »So hört doch, es tut mir wirklich Leid, dass es nicht ganz so funktioniert hat, wie ich dachte«, ent37 schuldigte er sich, als sie das Erdgeschoss erreicht hatten. »Aber es ist doch wirklich nicht nötig ...« »Es hat nichts mit deiner Magie zu tun. Ich muss ...« Er schwankte, als würde er gleich stürzen. Kutch erschrak, doch Caldason hatte etwas an sich, das ihn daran hinderte, die Hand helfend auszustrecken. »Was ist los?« »Nichts.« Caldason fing sich wieder und richtete sich auf. »Alles in Ordnung.« »Lasst mich einen Heiltrank für Euch bereiten.« »Nein.« Sein Atem ging schwer. Er wiegte den Kopf in den Händen. »Was fehlt Euch denn?« »Nur eine Prise ... Realität.« »Das verstehe ich nicht.« Caldason gab keine Erklärung, sondern taumelte zu den Schwertern, die er am Boden liegen gelassen hatte. Er
schien der Bewusstlosigkeit nahe, als er sie aufhob. »Gibt es hier einen sicheren Raum?«, fragte er. »Einen sicheren Raum?« »Irgendeinen Raum mit einem Schloss. Und mit festen Wänden.« »Warum ...« »Gibt es einen?«, fauchte Caldason. Der Junge zuckte zusammen und dachte angestrengt nach. »Nun ja, nichts außer ...« »Was?« »Außer dem alten Dämonenloch.« »Ihr habt eins? Hier?« »Ja. Mein Meister hat es manchmal benutzt.« »Bring mich hin. Auf der Stelle!« Kutch bekam es mit der Angst. Er führte den Gast zur Kellertür, und Caldason ging, immer noch die 38 Schwerter haltend, unsicher die feuchte Treppe hinunter. Das Dämonenloch war ein kleines Verlies ganz am Ende des Kellers. Es war aus festem Stein gebaut und hatte eine stabile Tür, in die ein vergittertes Fenster eingelassen war. Drinnen waren starke Eisenringe im Boden befestigt, und die zugehörigen Ketten und Fesseln waren ebenfalls vorhanden. Caldason hob ein Schwert. »Bitte nicht«, flehte Kutch. »Es gibt doch keinen Grund, mich dort einzusperren. Ich werde niemandem etwas über Euch verraten.« »Nicht du wirst eingesperrt, sondern ich.« »Was?« Caldason hielt Kutch die in den Scheiden steckenden Schwerter hin. »Nimm sie! Und die hier auch.« Mehrere Messer folgten. »Versteck sie.« Er streckte eine Hand aus und stützte sich auf der Schulter des Jungen ab, während er sich die Stiefel auszog. Ein Gürtel mit Metallschnallen folgte. Seine Bewegungen wurden fahrig. Er schwitzte, und sein Atem ging schwer. »Was ist denn los?«, fragte Kutch. »Kommt jemand? Müssen wir uns verstecken?« »Wir müssen einander vertrauen. Und jetzt hör zu. Du darfst mich unter keinen Umständen hier herauslassen, bis ... nun ja, du wirst es schon sehen. Aber solange du Zweifel hast, lass mich drin.« »Ich verstehe das alles nicht.« »Mach einfach, was ich dir sage. Bitte.« Kutch konnte nur benommen nicken. »Sind das die Schlüssel für die Fesseln?« Caldason deutete zu einem Schlüsselbund, der am Rahmen der Zellentür an einem Haken hing. 39 »Ja.« »Dann kette mich an.« »Ihr wollt wirklich angekettet werden?« »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Beeil dich!« Mit zitternden Händen fesselte Kutch Caldasons Fuß- und Handgelenke. »Was ich auch sage oder tue«, wiederholte Caldason, »öffne auf keinen Fall die Tür. Nicht, wenn dir dein Leben lieb ist. Und jetzt verschwinde. Und halte dich fern.« Verwirrt zog Kutch sich von der Zelle zurück. Er schloss die wuchtige Tür und sperrte ab. Dann stellte er sich außen vors Gitter und beobachtete staunend, was sich drinnen abspielte. 40 In seinem Volk glaubte man, Ehre habe etwas zu bedeuten. Bis der Verrat auf tausend Pferden geritten kam. Die Angreifer nutzten den Schutz einer mondlosen Nacht, und sie hatten kein anderes Ziel als das Morden. Sie wurden von dürftigen Zäunen und offenen Toren willkommen geheißen. Die dünn besetzte Wache wurde überrascht. Der Alarm wurde zu spät gegeben. Sie machten sich ans Morden und genossen ihr Tun. Doch seine Leute waren vor allem Krieger, und sie stellten sich den Verrätern. Unendlich viele galt es vom Pferd zu holen und niederzumachen, und immer noch ließ die Flut der Angreifer nicht nach. Es bestand keine Hoffnung auf einen Sieg. Doch es war besser, mit dem Schwert in der Hand zu sterben. Er hatte seinen Anteil am Töten. Vergebens versuchte er, in all dem Durcheinander die Verteidigung zu organisieren. Wo immer er konnte, beschützte er die Schwachen. In der Verwirrung, inmitten von Rennen, Kreischen, Schreien und Brennen und Sterben, sah er eine Frau 41 und ihr Kind vor einem Angreifer kauern. Sie flehte, und das Kleine weinte und drückte sich die geballten Fäuste vor die Augen. Er hackte sich den Weg zu ihnen frei und streckte denjenigen nieder, der ihr Mörder hatte werden wollen. Die Frau fasste den Jungen an der Hand, und sie flohen. Dann musste er ohnmächtig zusehen, wie ein weiterer Reiter herbeistürmte, sie mit dem Speer durchbohrte und niedertrampelte. Tote und Verwundete lagen überall, die meisten von seinem eigenen Volk. Er lief und stolperte und rannte über
sie hinweg, während er sich duckte und Hiebe austeilte. Die Woge der Angreifer schien endlos. Er blickte zum Haupthaus. Das Zentrum der Gemeinschaft und des Lagers diente in kriegerischen Zeiten als Zuflucht. Einige wehrlose Einwohner, vor allem die Jungen, Alten und Kranken, waren hastig dorthin getrieben worden. Wahrscheinlich waren auch seine engsten Anverwandten darunter. Jetzt wollte er bei ihnen sein und dem Ende entgegensehen. Das Strohdach des großen Rundhauses brannte schon, ehe er sich den Weg zur Tür freigekämpft hatte. Als er ankam, mit Blut verkrustet und keuchend, stand das ganze Gebäude in Flammen. Opfer der Feuersbrunst, taumelnde Feuerbälle, tasteten sich kreischend aus dem brennenden Gebäude. Rings um den Eingang lagen die Beweise für eines von vielen Massakern inmitten des allumfassenden Gemetzels. Die Leichen von Angehörigen, Kameraden und Geschwistern, mit denen er durch sein Blut verbunden war. Verzweifelt dachte er an Flucht, um sich vielleicht mit anderen Überlebenden zu vereinen und dem Feind mit einem Gegenangriff beizukommen. 42 Eine Gruppe Angreifer wickelte Seile um die Zaunpfähle des Lagers und legte sie unter lautem Krachen um. Dutzende verschreckter Pferde galoppierten aus der Koppel und vergrößerten das Durcheinander. Ihre Panik lenkte von seiner eigenen Flucht ab. Er rannte zu einer Gruppe von Hütten, von denen einige bereits brannten, und huschte zwischen ihnen hindurch. Sein Ziel war der Außenzaun, das Weideland dahinter und schließlich der Wald. Er schaffte es nicht. Ein Trupp der auffällig gekleideten Angreifer erschien und schnitt ihm den Weg ab. Weitere versperrten den Ausgang. Er griff sie an und kämpfte mit der Wut der Verzweiflung. Zwei streckte er sofort nieder, einem zerfetzte er die Kehle, und dem anderen durchbohrte er das Herz. Dann war er inmitten der feindlichen Klingen. Er erlitt viele Verletzungen, doch er teilte auch großzügig aus. Ein weiterer Gegner fiel mit eingedrückter Brust und noch einer mit aufgeschlitztem Bauch. Seine tollkühne Wut brachte ein kleines Wunder zuwege. Alle bis auf zwei seiner Gegner wurden ausgeschaltet, und von diesen zweien wurde einer verwundet. Doch er hatte zu viele und zu schwere Verletzungen davongetragen, und seine Hoffnung auf Flucht schwand dahin. Vom Blutverlust geschwächt, brach er fast zusammen, alles verschwamm ihm vor den Augen, ein Schlag auf die Schultern zwang ihn auf die Knie. Das Schwert glitt ihm aus den tauben Fingern. In der Nähe glaubte er flüchtig die Gestalt eines alten Mannes zu sehen, der in schwarzen Rauch gehüllt an der Tür einer Hütte stand. Sein Blick glitt nach oben zum Antlitz seines Mörders. Ein Ozean der Zeit erstreckte sich zwischen ihnen. 43 Dann spürte er, wie sein geschundener Leib von eisigem Stahl durchbohrt wurde. Kaltes Wasser schlug ihm ins Gesicht. Er kam zu sich, verkrampfte sich, rang mit aufgerissenen Augen um Atem. Arme und Beine wurden festgehalten; instinktiv zerrte er an den Ketten, die ihn hielten. »Immer mit der Ruhe.« Caldason betrachtete blinzelnd den neben ihm knienden Burschen. »Ich glaube, es ist jetzt vorbei«, erklärte Kutch ihm. Caldason setzte sich unter Schmerzen auf und sah sich um. Sie befanden sich in dem beengten Dämonenloch. Der harte, unebene Steinboden war unbequem und nass. »Wie lange?«, knirschte er, nachdem er sich mit dem Handrücken das Blut von den Lippen gewischt hatte. »Es ging den ganzen Tag.« Kutch stellte den Eimer zur Seite. »Jetzt ist es spät am Abend.« »Habe ich irgendwelche Schäden angerichtet?« »Ihr habt nur Euch selbst verletzt.« Kutch betrachtete das geschundene Gesicht und die zerkratzten Arme des Qalochiers, das zerzauste Haar und die dunklen Ringe unter den immer noch recht wild dreinschauenden Augen. »Ihr seht schrecklich aus.« »Habe ich gesprochen?« »Ihr habt nicht viel getan, außer zu sprechen, auch wenn delirieren das bessere Wort wäre. Aber es war keine Sprache, die ich kannte. Ihr braucht keine Angst zu haben, ich könnte Geheimnisse verraten.« 44 »Ich habe kaum welche, aber trotzdem danke, Kutch.« »Ich habe noch nie jemanden wie Euch gesehen, Reeth. Es sei denn, sie waren vom Ramp berauscht oder von Dämonen besessen.« »Beides beschreibt nicht meine Lage.« »Nein, das war etwas anderes. Wolltet Ihr deshalb mit meinem Meister sprechen?« »Unter anderem.« »Unter anderem? Ihr hättet beinahe die Eisenringe aus dem Boden gerissen! Ihr hattet Schaum vor dem Mund, um Himmels willen! Und Ihr habt noch andere Schwierigkeiten?« »Sagen wir mal, es gibt Faktoren, die alles noch komplizierter machen.« Kutch musste einsehen, dass er nichts weiter aus Caldason herausbekommen würde. »Wie ich hörte, seid Ihr ein verwegener Kämpfer«, sagte er. »Liegt das an ... an diesen Anfällen?« Es war nicht ganz das passende Wort.
»Manchmal. Du hast gesehen, dass ich es nicht kontrollieren kann.« »Wie habt Ihr denn ...« »Kutch, mir tut alles weh, ich bin durchnässt, und ich könnte etwas zu essen und zu trinken gebrauchen.« Er hielt ihm die gefesselten Handgelenke hin. »Lass mich hier raus.« Kutch beäugte ihn misstrauisch. »Der Anfall ist vorbei, es besteht keine Gefahr mehr. Ich bekomme vor dem Ausbruch immer einige Warnungen. Wenn es noch einmal passiert, kehre ich hierher zurück.« Der Junge zögerte noch immer. 45 »Es ist ja nicht so, als befände ich mich in einem Zustand ständiger Umnachtung«, beharrte Caldason. »Ich bin doch kein Melyobar.« Trotz seiner Besorgnis musste Kutch lächeln, als er nach den Schlüsseln langte. Der Königshof des souveränen Staates Bhealfa war seit nahezu zwanzig Jahren nicht mehr zum Stillstand gekommen. Als er die Regentschaft - wenngleich technisch gesehen noch nicht den Thron selbst - übernommen hatte, war Prinz Melyobar achtzehn Jahre alt gewesen. Angesichts der ungewöhnlichen verfassungsmäßigen Lage, in der er sich befand - da sein Vater, der König, weder tot noch richtiggehend am Leben war - bestanden Zweifel hinsichtlich der Frage, ob die Herrschaft des Prinzen legitim sei. Die Klärung dieser Frage nahm eine lange Zeit in Anspruch. Melyobar lenkte sich ab, indem er Seher und Propheten konsultierte, von denen er etwas über seine kommende Regentschaft zu erfahren suchte. In dieser Zeit lernte er die wahre Natur des Todes kennen. Niemand weiß, welcher der vielen Mystiker, die er empfing, ihm als Erster die Idee eingab. Das Ergebnis war jedenfalls, dass der Tod für Melyobar die Gestalt eines greifbaren Wesens annahm. Eine belebte Gestalt sei es, die den Menschen gleich auf der Welt umher wandle und das Vergessen bringe. Noch schlimmer - der Tod sei ein Wesen, das insbesondere Melyobar selbst auflauere. Unterstützt vom Rat einiger anpassungsfähiger Wahrsager, überlegte sich der Prinz, dass man dem 46 Tod, wenn er umherging wie ein Mensch, auch entkommen könnte. Er wollte dem Tod entfliehen und ihn damit überlisten. So befahl Melyobar, ungeachtet der hohen Kosten, die Konstruktion einer beweglichen Behausung in Angriff zu nehmen. Sie war kleiner als der derzeitige Palast, doch ebenso üppig eingerichtet. Sie enthielt hunderte von Gemächern, sogar einen Ballsaal und einen Raum, der den Sitzungen mit seiner Marionettenregierung, dem Ältestenrat, vorbehalten war. Der neue Hof ähnelte einem Schiff ohne Segel, dessen Bug und Heck quadratisch ausliefen. Die Kraft, die es bewegte, war eine sündhaft teure Magie. Von handverlesenen Zauberern gelenkt, schwebte der Palast etwa in Höhe eines Mannes, der die Arme ausstreckte, lautlos über dem Boden. Die Geschwindigkeit, mit der er sich bewegte, entsprach der eines langsam galoppierenden Pferdes, doch das Tempo konnte in gewissen Grenzen geregelt werden. Zwei kleinere Fahrzeuge ähnlicher Bauart wurden mitgeführt und sollten dem Prinzen gegebenenfalls zur Flucht dienen. Dutzende von Höflingen hatten ein Vermögen für eigene Fahrzeuge ähnlicher Bauart ausgegeben und wetteiferten miteinander, was die Größe und die schmückende Ausstattung anging. Die Leibwache des Prinzen, Abgeordnete der Zauberer-Elite, Gelehrte, Gesetzeskundige und Diener waren in weiteren Landschiffen untergebracht. Die niedrigeren Ränge und die einfachen Gefolgsleute genossen keinerlei magische Hilfe. Sie waren auf Wagen angewiesen, gezogen von Pferdegespannen, die unter Lebensgefahr während der Fahrt ausgewechselt wur47 den. Alles hing von einem komplexen logistischen System ab, und die Verwalter, die es überwachten, belegten noch zusätzliche Fahrzeuge. Der große Geleitzug bewegte sich kreuz und quer durch ganz Bhealfa auf einer Route, die den Tod verwirren sollte. Zuweilen hatte dies zur Folge, dass erntereife Felder platt gewalzt und angeschwollene Flüsse an Furten überwunden werden mussten, manchmal wurde sogar ein Dorf zerstört, wenn man ihm nicht ausweichen konnte. Das Wichtigste war, um jeden Preis in Bewegung zu bleiben. An diesem Abend fuhr die Flottille durch eine relativ dünn besiedelte Gegend des Reichs. Sie strahlte im Licht der pendelnden Laternen und der flackernden Fackeln, und sie kam alles andere als leise daher. Polternde Hufe, quietschende Räder, Musik und Späher, die einander mit lauten Rufen vor Kollisionen warnten, kündigten das Kommen der Karawane an. Am Rande des Gefolges tauchte eine Kutsche auf und passte sich der Marschgeschwindigkeit an. Sie wurde von einer Vorausabteilung empfangen, welche die Papiere des Besuchers überprüfte. Dann eskortierte man die Kutsche zum Geleitzug, was schon unter normalen Bedingungen ein gefährliches Unterfangen war. Nach erstaunlich wenigen Erschütterungen erreichten sie den schwebenden Palast. Die Tür der Kutsche wurde geöffnet, und ein elegant gekleideter Passagier erklomm die Sprossen einer kurzen Leiter. Diener halfen ihm an Bord, und ein uniformiertes Begrüßungskomitee salutierte.
Der Besucher wurde in einen Vorraum geführt und einer oberflächlichen, aber dennoch unwürdigen Untersuchung unterzogen. Dabei ging es allerdings nicht 48 um Waffen, sondern eher darum, ob er auch der sei, für den er sich ausgab, und nicht etwa jenes Wesen, dem man mit so viel Aufwand zu entkommen versuchte. Mit der Obsession des Prinzen vertraut, ließ der Mann die Prozedur ohne Murren über sich ergehen. Endlich geleitete man ihn in ein verschwenderisch ausgestattetes Audienzzimmer. »Der imperiale Gesandte von Gath Tampoor«, verkündete ein Lakai, der sich gleich darauf diskret zurückzog. Der einzige andere Anwesende saß an einem kostbaren Schreibtisch und studierte ein Pergament, das mithilfe zweier silberner Kerzenleuchter flach gehalten wurde. Anscheinend hatte er die Ankunft seines Besuchers noch nicht bemerkt. Der Gesandte wusste seine Ungeduld zu beherrschen und beschränkte sich auf ein verhaltenes Hüsteln. Prinz Melyobar richtete sich auf und betrachtete den Besucher. Er wirkte verunsichert oder gar verwirrt und brauchte einen Moment, bis er den Diplomaten erkannte. »Ah, Talgorian.« »Euer Hoheit.* Der Gesandte neigte höflich den Kopf. Sie waren etwa im gleichen Alter, doch der Mann aus Gath Tampoor hatte sich erheblich besser gehalten. Er war schlank und durchtrainiert, der Prinz dagegen war von stämmigem Wuchs und hatte ein teigiges Gesicht. Talgorian trug einen sauber gestutzten Bart, Melyobars rundliches Gesicht war entgegen der vorherrschenden Mode glatt rasiert und das Haar fast durchgehend weiß. Der Gesandte zeigte wenigstens äußerlich die Gelassenheit eines Diplomaten, während Melyobar eher unruhig wirkte. 49 »Welchem Umstand habe ich Euren Besuch ...« Der Prinz ließ den Satz unvollendet, er war in Gedanken ganz woanders. »Unser regelmäßiges Treffen, Hoheit«, erinnerte Talgorian ihn so nachdrücklich, wie es das Protokoll eben zuließ. »Oh, natürlich.« »Und auch die Entsendung zusätzlicher Truppen sollte besprochen werden.« Er sprach betont langsam, ungefähr in der Art und Weise, wie sich ein Bauer einer störrischen Kuh nähert. »Ich meine hier bhealfanische Truppen. Für den neuen Feldzug gegen Rintarah, Hoheit, und gegen dessen aufsässige Anhänger.« Der Prinz schien ihn nicht zu verstehen. »Zu welchem Zweck denn?« »Wie ich schon dargelegt habe, mein Lord, geht es darum, Eure Souveränität und die Sicherheit des Reiches zu gewährleisten.« Wie schon so oft, hatte der Gesandte auch dieses Mal Mühe, die Contenance zu wahren. »Es wäre doch nicht gut, wenn Rintarah die Oberhand behielte, nicht wahr?« »Nein, das wäre nicht gut.« »Wir brauchen Eure gnädigste Zustimmung, um weitere Soldaten aus Bhealfas Reihen zur Unterstützung in dieser Sache abzuordnen.« Er schob eine Hand in die Jacke und zog ein zusammengerolltes, mit rotem Band verschnürtes Dokument hervor. »Ich will Euch nicht weiter belästigen und nur um Eure Unterschrift bitten, Hoheit. Die Einzelheiten könnt Ihr getrost mir überlassen.« »Ich "soll etwas unterschreiben?« »Alles ist in strikter Übereinstimmung mit dem Abkommen zwischen Eurer und meiner Regierung«, er50 klärte Talgorian behutsam. »Eine unbedeutende Formalität, mehr nicht.« Schweigen kehrte ein, während der Prinz seinen Gedanken nachhing. Schließlich sagte er: »Ihr dürft Euch nähern.« Der Gesandte trat vor und entrollte das Papier. Er legte es auf den Schreibtisch und sah zu, wie Melyobar zitternd seine Unterschrift darunter setzte. Als der Sandstreuer sein Werk getan hatte, tauchte der Prinz seinen Siegelring ins heiße Wachs und drückte ihn unbeholfen aufs Dokument. Nach dieser Prozedur riss Talgorian dem Herrscher den Erlass förmlich aus den Händen. »Vielen Dank, Hoheit«, schmeichelte er gewandt. Er war erleichtert, dass der Prinz keine Einwände gegen das Gesuch erhoben hatte. Es wäre ermüdend gewesen, ihn abermals darauf hinzuweisen, wo die wahre Macht lag. »Rintarah, sagt Ihr?« Melyobars Frage klang, als hätte er noch nie von dem rivalisierenden Reich gehört. Talgorian verkniff sich eine entnervte Antwort. »Ja, Euer Hoheit«, erwiderte er, während er das Dokument sorgfältig zusammenrollte. »Eine große Bedrohung für uns alle. Eure Truppen werden helfen, sie unter Kontrolle zu halten. Ganz zu schweigen von den Kriegsherren im Norden. Wir müssen uns auch gegen sie verteidigen.« Es klang, als spräche er mit einem Kleinkind. »Kriegsherren hat es schon immer gegeben. Sie kommen und gehen. Was gehen uns die Barbarenländer an?« Das war fast schon eine intelligente Bemerkung. Talgorian war beeindruckt. »Das ist wahr, Hoheit. Dieser Neue, über den wir Berichte bekommen ha51 ben, hat allerdings für eine gewisse Unruhe gesorgt. Zerreiss ist sein Name.« »Ich habe noch nie von ihm gehört.« »Höchstens, als ich ihn bei unserem letzten Treffen erwähnte«, murmelte der Gesandte.
»Was?« »Ich sagte, ich habe wohl vergessen, ihn Euch gegenüber zu erwähnen. Ich bitte um Verzeihung.« »Was ist so Besonderes an ihm?« »Nur die Tatsache, dass er innerhalb einer verhältnismäßig kurzen Zeitspanne einige beeindruckende Eroberungen vorzuweisen hat. Es ist immer gut, solche Entwicklungen im Auge zu behalten. Wir wollen doch nicht, dass Rintarah mit diesen Wilden ein Bündnis schließt und in unserer Region einen ungebührlichen Einfluss gewinnt.« »Wenn ihnen das gelingt, werden sie sogar besser dastehen als Gath Tampoor«, sagte Melyobar geradeheraus. »Was wissen wir denn über diesen ...« »Zerreiss, Hoheit.« »Was wissen wir über ihn?« »Im Augenblick noch sehr wenig. Eigentlich ist er sogar recht geheimnisvoll.« Zum ersten Mal während der ganzen Unterhaltung wirkten die Augen des Prinzen lebendig. »Vielleicht ... vielleicht ist er es«, flüsterte er. Talgorian war verwirrt. »Hoheit?« »Er. Er! Der Sensenmann. Derjenige, der uns das Leben nehmen will.« Seine Stimme klang, als läge er bereits im Grab. »Der Tod.« Der Gesandte hätte es sich gleich denken können. »Aber natürlich. Ein raffinierter Kerl.« Es klang schwach, und er wusste es. 52 Melyobar schien die mangelnde Begeisterung des Gesandten hinsichtlich dieser Idee nicht zu bemerken und erwärmte sich regelrecht für das Thema. »Ja, er könnte es sein. Ihr wisst ja, er ist ein Gestaltwandler.« »Ja, wirklich.« »Und wo könnte er besser Leben nehmen als im Barbarenland?« »Umso mehr ein Grund, angemessene Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen.« Talgorian versuchte, die Unterhaltung in ruhigeres Fahrwasser zu steuern. »Deshalb wird die Abordnung Eurer Truppen auch einen wichtigen Beitrag zur Aufrechterhaltung von Ordnung und Stabilität leisten.« Der Prinz ignorierte die Plattitüden. Er nickte in Richtung der Papiere auf seinem Schreibtisch und fuhr in verschwörerischem Ton fort. »Darf ich Euch etwas anvertrauen?« »Aber selbstverständlich.« Der Gesandte legte sich einen Ausdruck verletzten Stolzes zu, da man ihn einer Indiskretion für fähig hielt. »Dies hier ist geheim«, erklärte Melyobar ihm. Er legte die Hand auf die krakelig beschriebenen Blätter, beugte sich vor und sprach zischelnd weiter. »Das ist ein Teil meines Plans, den Tod zu töten.« So ungewöhnlich es für einen Diplomaten auch war, Talgorian sah sich außerstande, eine angemessene Antwort zu geben. Er wurde aus der peinlichen Lage erlöst. Ein kalter Windstoß, der irgendwie in die Gemächer eingedrungen war, ließ einen Vorhang rascheln. Mehrere Kerzen spuckten. Der Prinz schauderte und zog seinen Hermelinumhang enger um sich. Unstet irrte sein Blick im Zimmer umher. 53 »Es ist sicher das Beste, einen solchen Plan geheim zu halten«, antwortete Talgorian, um Melyobars Paranoia zu hätscheln. »Damit habt Ihr wohl Recht.« Der Prinz drehte die Papiere rasch um und beschwerte sie mit einem Tintenfass, das die Insignien des Königs trug. Angst zeichnete sein Gesicht. »Es gibt nur noch eine weitere Angelegenheit, die ich mit Euch besprechen möchte, Hoheit«, ergriff der Gesandte das Wort. »Es ist eine Angelegenheit von einer gewissen Wichtigkeit.« Der Prinz bemerkte Talgorians ernste Miene. »Worum geht es?« »Eure königliche Hoheit, habt Ihr schon einmal von einem Mann namens Reeth Caldason gehört?« 54 Die Stadt lag in einem weiten Tal zwischen niedrigen schwarzen Hügeln. Ein silbriger Fluss schlängelte sich hindurch. Türme und hohe Dächer waren im Zentrum zu sehen, Villen, Herrensitze und Wohnhäuser in den Außenbezirken. Hütten, Baracken und Schuppen standen am Hügel und bildeten eine unsaubere Korona. Den vorbeiziehenden Vögeln zeigte sich von droben alles, was man über den Fluss der Kraft wissen musste. Nicht, dass alles, was oben vorbeizog, tatsächlich ein Vogel war. In Merakasa, der Hauptstadt von Gath Tampoor und dem Zentrum des Reichs, wurde es niemals völlig dunkel. Wenn der Abend kam, wurden mit Wachs und Öl Lichter entzündet, deren Schein immer wieder von Ausbrüchen magischer Energien überdeckt wurde. So entstand ein ewiger, weicher Schimmer. Doch dieser Schimmer war ungleichmäßig; in den Armenvierteln gab es nur wenige Ausbrüche, während es um die Anwesen der Reichen herum prachtvoll strahlte. 55 Die Straßen wimmelten vor Menschen. Fliegende Händler und Krämer drängten sich neben Künstlern und Wandergesellen. Kaufleute führten Maultiere, die mit Tuchballen und Säcken voll Gewürzen beladen waren. Wagen voller Handelsgüter und Berittene teilten sich die Wege. Straßenhändler verkauften Früchte und Brot von
primitiven Ständen, und zerlumpte Jungen beäugten die Waren und lauerten darauf, etwas stehlen zu können. Große Gespanne folgten dem Strom der Menschen. Und der Nichtmenschen. Auch Nachgemachtes wanderte durch die Straßen, tappte oder huschte darüber oder schwebte über ihnen. Bei manchen handelte es sich um phantastische, mythische, groteske Geschöpfe, die dazu gemacht waren, zu unterhalten oder einzuschüchtern. Andere waren vom Alltäglichen kaum zu unterscheiden, da sie Haustiere oder käufliche Dirnen nachahmten. Manche waren ganz und gar überzeugend, andere hingegen weniger. Eine Frage des Preises. Hin und wieder löste sich ein Zauber, der abgelaufen war oder aufgehoben wurde, in stummem Feuerwerk auf. Ebenso regelmäßig tauchten neue Erscheinungen auf und entwickelten sich aus strahlenden Ausbrüchen mitten in der Luft. Der Vorrat war unerschöpflich. Lizenzierte Magieverkäufer bearbeiteten die Menge und verkauften Sprüche und Tränke, während ihre Leibwächter die Kundschaft im Auge behielten. Das Gedränge toste um die Mauern des Palastes, der von der Stadt Merakasa genährt wurde. Dicke hohe Wälle umgaben eine Stadt in der Stadt, weitläufig und vielfältig. Im Gegensatz zu den städtischen 56 Straßen waren die Wege im Innern jedoch verlassen, und irgendwie war drinnen auch der Lärm der Außenwelt nur noch gedämpft zu hören. Die innersten Palastgebäude waren prächtig und wiesen den magischen Glanz auf, der von großem Reichtum zeugte. Weiter außen liegende Zweckbauten waren dagegen sachlicher gehalten. Ein besonders freudloses Beispiel stand abseits von allen anderen. Das Gebäude war gedrungen und fensterlos. Es hatte mit der Staatssicherheit und der Erhaltung der Ordnung zu tun und war daher sehr groß. Doch alles, was es der Welt zeigte, waren zwei bescheidene Stockwerke. Nur die Unglücklichen, die hineingeschleppt wurden, erfuhren, dass es sich unterirdisch ausdehnte, denn dort gab es weitere Ebenen, Keller und Verliese. In den tiefsten Geschossen waren die Zellen für die Gefangenen untergebracht. Es war ein Bienenstock voller gemauerter Gänge, in die glatte, gesicherte Türen eingelassen waren. Hinter einer solchen Tür, am Ende eines abgelegenen Ganges, befand sich eine Zelle, die aussah wie alle anderen. Das einzige Mobiliar bestand aus einem harten Bett und einem Holzeimer. Ein minderwertiger Zauber spendete schwaches Licht. Auf der Pritsche saß eine Frau. Sie hatte nichts zu essen und zu trinken bekommen. Stiefel, Gürtel und alles, womit man sich Schaden zufügen konnte, war ihr weggenommen worden. Eine graubraune körperlange Kutte hatte die übliche Kleidung ersetzt. Die Frau verabscheute beengte Räume mit einer Inbrunst, die an blanken Hass grenzte, und dies verstärkte ihre Qualen noch. 57 Die Frau war pausenlos verhört worden. Ihre Antworten hatten nicht den Erwartungen entsprochen, doch man hatte ihr bisher nichts angetan. Sie fragte sich allerdings, wie lange dies so bleiben werde. Sie war erschöpft und verwirrt, und der anfängliche Zorn über die gemeine Behandlung und die Ungerechtigkeit hatte sich in stummen, grimmigen Groll verwandelt. Inzwischen war sie seit einigen Stunden allein. So kam es ihr jedenfalls vor - die unveränderliche Umgebung machte es schwer, die Zeit zu schätzen. Sie dachte, es könne Abend sein, doch sie hätte es nicht beschwören mögen. Sie hatte sich bereits an die Stille gewöhnt. Umso heftiger erschrak sie, als diese durchbrochen wurde. In der Ferne knallten Türen. Rufe wurden laut, dann hallende Schritte. Die Geräusche näherten sich. Eine Art Prozession war in ihren Gang eingebogen. Sie hörte gedämpfte Stimmen und Stiefel, die über Stein schlurften. Vor ihrer Zelle blieben die Leute stehen. Nach einer kurzen Pause wurde der Schlüssel herumgedreht, dann ging die Tür krachend auf. Sie spannte sich. Jemand stand im Rahmen, umgeben vom stärkeren Licht draußen, das im Grunde aber immer noch dürftig war. Es war eine große, fast bis zum Skelett abgemagerte Gestalt mit eingesunkenen Schultern. Der Besucher tat einen Schritt in die Zelle. Wer sonst noch draußen auf dem Gang stand, hielt sich zurück. Der Mann war kahlköpfig und hatte ein kantiges Gesicht, das an einen Geier erinnerte. Die himmel58 blauen Augen blickten aufmerksam, der Mund hatte schmale Lippen. Man konnte sein Alter kaum schätzen, doch er war vermutlich um die sechzig Jahre alt. Er trug die auf diskrete Weise luxuriöse Kleidung eines hochrangigen Staatsdieners. Sie erkannte ihn sofort, und vielleicht war ihr die Überraschung anzusehen. Nun trat er ganz in die Zelle und schloss hinter sich die Tür. Seine Eskorte blieb draußen. Er war die Sorte Mann, die keinen Schritt ohne Eskorte machte. Begegnet waren sie sich noch nie. Soldaten von ihrem Dienstgrad bekamen nicht viele Berühmtheiten zu Gesicht, es sei denn, man zeichnete sich auf besondere Weise aus, oder man ließ sich üble Dinge zuschulden kommen. Sie hatte diesen Mann allerdings mehrmals aus der Ferne gesehen und kannte ihn auch von Bildern und einigen Statuen. So absurd es war, sie dachte daran, aufzustehen und eine Geste der Unterwürfigkeit zu machen. Doch er begann zu sprechen, bevor sie sich rühren konnte. »Hauptmann Ardacris.« Er lächelte. Sie starrte ihn an und nickte, obwohl es eine Begrüßung und keine Frage gewesen war.
»Wisst Ihr, wer ich bin?«, fragte er. »Ja«, sagte sie zurückhaltend. Dann fasste sie sich. »Ja, Sir. Ihr seid Kommissar Laffon vom Rat für Innere Sicherheit, Sir.« »Gut.« Das Lächeln blieb unverändert. Er deutete zum Bett. »Darf ich?« Sie nickte und machte ihm Platz. Laffon hockte sich hin. Er betrachtete sie eine Weile, dann sagte er: »Serrah, Ihr braucht meine Hilfe.« 59 »Wirklich?« »Seid Ihr denn anderer Meinung? Ich kann Euch helfen, diese Angelegenheit zu klären und zu den Akten zu legen.« Er gab sich freundlich und gönnerhaft. »Ja ... ja, natürlich. Aber was kann ich schon tun, abgesehen davon, die Wahrheit zu sagen?« »Vielleicht gibt es noch etwas mehr als das.« Seine Gegenwart unterstrich, wie ernst ihre Situation war, und sie fühlte sich ein wenig eingeschüchtert. »Was soll ich denn für Euch tun?« »Erklärt mir, was passiert ist. Was mit dem Sohn des gewählten Prinzipals geschehen ist.« »Ich habe die Geschichte schon so viele Male erzählt, Kommissar. Warum sollte ich ...« »Seid so freundlich. Ihr könnt es ruhig etwas straffen.« Serrah holte Luft. »Meine Einheit war auf eine Bande von Ramp-Händlern angesetzt. Wir haben ihr Versteck fast einen Monat lang beobachtet. Letzte Nacht sind wir dort eingedrungen.« Es kam ihr vor, als wäre es schon viel länger her. »Phosian hat sich wie ein junger Hitzkopf aufgeführt. Er hat unsere Linien verlassen, und sie haben ihn getötet. Ich könnte noch hinzufügen, dass es nicht das erste Mal war, dass er Befehle missachtet hat, Sir. Er hatte so etwas schon öfter getan.« Laffon überdachte ihre Worte. Dann sagte er: »Nein, so ist es nicht gewesen.« Sie begriff überhaupt nichts mehr. »Sir?« »Das ist nicht die offizielle Version.« »Die offizielle Version? Ich dachte, es gebe nur eine Version. Die Wahrheit.« 60 »Nicht für die Öffentlichkeit«, berichtigte der Kommissar sie nachsichtig. »Vielleicht wollt Ihr mir dann sagen, wie es geschehen ist, Sir?« Ihr Zorn war wieder da. »Phosian ist als Held gestorben.« Eisbrocken klirrten in ihrer Magengrube. »Ach, wirklich?« Mehr fiel ihr nicht dazu ein. Spott hatte es werden sollen, doch es klang schwach. »Allerdings, Hauptmann. Außerdem wird es heißen, dass er wegen unfähiger Vorgesetzter tapfer sein Leben hingab.« »Bei allem Respekt, Sir, so war es nicht.« »Der Rat hat freilich genau dies beschlossen.« Nach wie vor gab er sich freundlich. »Meine Einheit ... meine Leute werden bestätigen, was ich gesagt habe. Fragt sie doch.« »Ah ja, die ergebene Truppe. Nichts als Achtung für Euch. Ich fürchte, sie werden alle sagen, dass Euer Verhalten nicht den geltenden Maßstäben gerecht wurde.« Sie wollte nicht glauben, dass ihre Leute freiwillig solche Aussagen machen würden. »Das entspricht nicht der Wahrheit, Kommissar. Alles wird verdreht, und nur, weil Phosian von so vornehmer Herkunft ist.« »Ich weiß, wie schwierig dies für Euch ist. Ihr könnt es Euch allerdings viel leichter machen. Gesteht einfach, was geschehen ist...« »Ich soll gestehen, was Ihr mir erzählt habt, Sir?« »Gesteht es, und ich verspreche, dass ich mein Möglichstes tun werde, um ein nachsichtiges Urteil für Euch zu erwirken.« »Ihr fordert mich auf zu lügen. Ganz zu schweigen davon, dass ich mich schuldig bekennen soll.« 61 »Ich bitte Euch, nicht den Feinden des Reichs in die Hände zu spielen.« »Wie bitte?« »Rintarah und deren Spießgesellen hier, den Aufständischen. Es würde nur ihre Sache stärken, wenn sie herausbekämen, dass der Abkömmling unseres Herrscherhauses ... nicht unbedingt vollkommen war.« Serrah lachte freudlos. »Das, Sir, ist - wenn Ihr mir den Ausdruck verzeihen wollt - der reinste Schwachsinn. Phosian war ein verdorbener, rücksichtsloser Junge. Jeder rintarahnische Spion, der sein Geld wert ist, weiß das ohnehin schon. Phosian kam in den Sinn, den Milizionär zu spielen, und aufgrund seiner Abstammung hat man ihn trotz meiner Einwände in eine Eliteeinheit gesteckt. Und jetzt soll ich für seine Dummheit büßen.« »Ihr solltet Euch lieber vorsehen, so über Eure Herrscher zu sprechen, Hauptmann.« Entdeckte sie da nicht einen dunklen Fleck auf seiner Rüstung des Wohlwollens? Ein kleines Schwellen des Truthahnhalses? »Ich war immer loyal«, sagte sie und brachte vor, was sie für ihren letzten Trumpf hielt. »Dann demonstriert Eure Loyalität, indem Ihr tut, was ich Euch sage.« »Spielt es überhaupt noch eine Rolle, was ich sage? Ich kann Euch doch sowieso nicht daran hindern, jede
beliebige Version zu verbreiten. Was soll dieses Spielchen noch, Sir?« Er ignorierte ihre Aufsässigkeit. »Es ist eine Frage der Glaubwürdigkeit. Die Aussage muss von Euch selbst kommen. Wenn Ihr Euer Versagen öffentlich einräumt, dann wird es keine Zweifel geben, keine 62 Lücken mehr, die von den Dissidenten und Unruhestiftern mit Gerüchten gefüllt werden. Und soweit Phosians Familie betroffen ist, so ist auch deren Ehre gerettet.« »Dann verlange ich ein öffentliches Verfahren. Ich will von meinesgleichen gerichtet werden.« »Das kommt nicht infrage.« »Als Bürgerin von Gath Tampoor habe ich gewisse Rechte.« »Ihr habt nur so viele Rechte, wie wir Euch zugestehen.« Laffons Ton wurde zusehends schärfer. »Wenn es um die Staatssicherheit geht, dann waschen wir unsere schmutzige Wäsche gewiss nicht in der Öffentlichkeit. Das dürfte Euch bekannt sein.« »Wenn ich dieser ... dieser Erklärung zustimme, was passiert dann hinterher mit mir?« »Wie ich schon sagte, werde ich meinen Einfluss nutzen, um dafür zu sorgen, dass Eure Bestrafung milde ausfällt.« Er hielt ihrem Blick stand. »Das ist ein Versprechen.« Serrah konnte nicht umhin, sich zu überlegen, wie bequem es für diese Leute wäre, wenn sie nach dem Geständnis einfach verschwände. Keine Gefahr, dass sie es sich wieder anders überlegte. Keine losen Fäden. Sie sah Laffon an und zweifelte zum ersten Mal in ihrem Leben am Wort eines Vorgesetzten. Es war eine erschreckende Vorstellung, die sie schwindeln ließ. »Und wenn ich mich weigere?« »Für diesen Fall kann ich keinerlei Versprechen abgeben.« Ich bin so oder so verloren, dachte sie. »Ich verdiene es nicht, auf diese Weise behandelt zu werden, Kommissar.« 63 »Niemand hat behauptet, die Welt sei gerecht. Wir müssen alle Opfer bringen zum Wohl des größeren Ganzen.« Wessen größeres Ganzes mag das wohl sein?, fragte sie sich. Er bedrängte sie weiter. »Werdet Ihr nun gestehen? Ja?« »Ich ... ich kann nicht.« Laffon seufzte, schwieg einen Augenblick. Schließlich sagte er: »Überlegt Euch Folgendes. Vielleicht ist meine Wahrheit ja wirklich die Wahrheit?« Serrah hob den gesenkten Kopf. »Das verstehe ich nicht.« Er kniff die Augen zusammen. »Eure Tochter - heißt sie nicht Eithne?« »Was ist mit ihr? Was hat sie damit zu tun?« »Ich glaube, sie wurde gerade fünfzehn, als es geschehen ist, oder?« »Warum erwähnt Ihr das?« Der Verlauf des Gesprächs behagte ihr gar nicht. Sie wollte nicht darüber nachdenken. »Wie tragisch«, murmelte er kopfschüttelnd. »So eine Verschwendung.« »Das hat doch nichts zu tun mit...« »Überlegt doch einmal, Serrah. Eure Tochter. Das Ramp. Ist es denn nicht möglich, dass ...« »Nein.« »... angesichts der Umstände, unter denen Eithne starb, kann man doch verstehen, dass Ihr, als Ihr die Drogen dort habt liegen sehen und die Händler vor Euch standen ...« »Nein.« »... dass Eure Urteilsfähigkeit gelitten hat? Dass 64 Ihr, was ja nur zu verständlich ist, rein gefühlsmäßig reagiert habt und ...« »Nein! Ich verstehe etwas von meinem Beruf. Ich arbeite mit Fakten, nicht mit Gefühlen.« »Wirklich? Die Art und Weise, wie Ihr Euch jetzt benehmt, passt aber nicht dazu.« Das hatte gesessen. Mit großer Willensanstrengung beruhigte sie sich wieder. »Meine Tochter hat mit alledem nichts zu tun. Ich bin letzte Nacht nicht das erste Mal gegen Ramp-Händler vorgegangen. Ich hasse sie, in der Tat, aber das hat die Art und Weise, wie ich meine Arbeit ausübe, nie beeinflusst. Es geht überhaupt nicht um mich. Es geht darum, dass Ihr ein Opfer braucht.« »Ich glaube, Ihr erfasst immer noch nicht die Tragweite dieser Angelegenheit, Ardacris.« Inzwischen war jegliches Mitgefühl verschwunden. »Was Ihr habt geschehen lassen, hat Nachwirkungen, die bis zur Imperatorin selbst reichen.« »Ich fühle mich geschmeichelt«, erwiderte Serrah zynisch. »Es reicht«, entschied Laffon. »Wir werden kein weiteres Wort mehr darüber verlieren.« Er wühlte in den Taschen herum und zog ein zusammengefaltetes Pergament hervor. Mit einem wütenden Ruck schüttelte er es auf. »Ihr könnt den ersten Schritt zu Eurer Rehabilitation machen, indem Ihr dies hier unterzeichnet.« Er hielt ihr das Geständnis hin. Jetzt fügte sich in Serrahs Kopf alles zusammen. Sie gab jede Hoffnung auf, Gerechtigkeit zu finden. Allein die Tatsache, dass dieser Papierfetzen nicht unterzeichnet wurde, hielt sie am Leben. Ihre einzige Chance war, sich zu sperren.
65 »Nun?«, drängte Laffon. »Nein«, sagte sie. »Ihr weigert Euch?« »In der Tat.« »Überlegt Euch genau, was Ihr tut. Denn was als Nächstens geschieht, wird Euch nicht gefallen.« Sie schüttelte den Kopf. Laffon sah ihre Entschlossenheit und stand auf. »Ihr werdet bedauern, den harten Weg gewählt zu haben. Ich lasse Euch dieses Dokument hier, falls Ihr Eure Meinung ändern wollt.« Er ließ das Papier aufs Bett fallen. Ein kleines rötliches röhrenförmiges Objekt ließ er daneben fallen. Ein Unterschriftszauber, nutzlos für alles andere. Wahrscheinlich gerade stark genug, um ihre Unterschrift aufs Papier zu bringen. »Den werde ich nicht brauchen«, sagte sie. Er war schon im Begriff zu gehen, hielt aber noch einmal inne. »Vergesst nicht, dass Ihr Euch dies selbst zugefügt habt.« Drei Männer traten ein, als Laffon die Zelle verließ. Sie kamen so schnell, dass Serrah überrascht wurde. Sie waren kräftige Kerle mit ernsten Gesichtern. Jeder hatte ein kurzes, dickes Seilstück in der Hand, dessen Ende verknotet war. Serrah richtete sich auf. Ohne Vorwarnung schwang der Vordere den Seilknüppel gegen sie. Er knallte schwer auf ihre Schulter. Sie schrie auf und kippte zurück. Er drang weiter auf sie ein und schlug noch einmal zu. Der Schlag traf sie unter der Kehle. Sie kroch von ihm weg, trat wild aus und erwischte sein Scheinbein. Fluchend wich er zurück und behinderte die anderen beiden. Serrah rollte von der Liege herunter, landete schwer auf dem Boden und schnappte sich den Eimer. Sie 66 unterdrückte die Schmerzen, stand auf und schwang den Eimer. Er streifte die Schläfe des zweiten Mannes, der gerade angriff, und schlug ihn bewusstlos. Doch der Erste hatte sich schon wieder erholt. Er versetzte ihr einen kräftigen Schlag in die Magengrube, und sie krümmte sich. Der Dritte kam dem Ersten zu Hilfe, und zusammen versetzten sie ihr eine Reihe von Schlägen. Serrah wollte sie mit dem Eimer abwehren, den sie zugleich als Schild und als Waffe gebrauchte. Ein stechender Schmerz in den Knöcheln brach ihren Griff, und der Eimer flog davon. Der Mann, den sie niedergestreckt hatte, war wieder auf den Beinen und mischte sich in die Prügelei ein. Sie schützte ihren Kopf mit den Händen und zog sich zurück. Nach ein oder zwei Schritten hatte sie jedoch die Grenzen ihrer engen Zelle erreicht. Sie war in dem schmalen Raum zwischen Bett und Wand gefangen. Auch die Angreifer waren beengt und mussten sich abwechseln, um sie zu erreichen. Das hielt sie allerdings nicht davon ab, immer wieder auf Arme, Beine und den Rumpf einzuschlagen. Serrah tauchte halb weg und sprang aufs Bett, doch das machte es den Angreifern nur leichter. Sie setzten ihr erbittert nach, als wollten sie Korn dreschen. Sie sprachen kein Wort, sondern gingen konzentriert ihrer Aufgabe nach. Serrah kauerte sich zusammen und beschränkte sich darauf, es irgendwie durchzustehen. Als sie schon glaubte, es werde weitergehen, bis sie tot war, hörten die Männer auf. Sie empfand nur noch Schmerzen. Jeder Zoll ihres Körpers brannte. Von den Schlägen klingelte es ihr in den Ohren, und sie konnte nicht mehr klar sehen. Sie 67 war blutig, verschwitzt und kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren. Keuchend ließ sie sich auf den Rücken fallen. Einer ihrer Gegner beugte sich über sie. Er beugte sich herunter und packte den Rand ihrer Gefängniskutte. Mit einem heftigen Ruck zog er den Stoff bis über die Hüfte hoch. Die Männer lachten, johlten und gaben anzügliche Kommentare ab. Dann sagten sie ihr unumwunden und grob, was passieren würde, wenn sie noch einmal kommen mussten. Schließlich warf ihr jemand das Geständnis hin. Sie gingen und knallten die Tür hinter sich zu. Serrah hustete schwach, sie spürte einen stechenden Schmerz in den Rippen. Blut rann aus der Nase und dem Mundwinkel. Schon das bloße Nachdenken war eine Qual, vom Sich bewegen ganz zu schweigen. Eine unendlich lange Zeit blieb sie im Ozean der Schmerzen untergetaucht. Nach einer Weile gewann die Natur die Oberhand, und sie fiel trotz der Verletzungen in einen erschöpften Schlummer. Jetzt konnten die Albträume über sie herfallen. Höhnische Gesichter und prügelnde Keulen. Der Kerker schrumpfte, um ihr mit dicken Wänden das Mark aus den Knochen zu quetschen. Ihre Tochter wurde von einem pechschwarzen Strudel verschlungen, die Fingerspitzen erreichten Serrah gerade noch, bevor sie verschwand. Träume von Feuer und Leiden und Verlust. Erschrocken wachte sie auf. Das Blut war auf Gesicht und Armen verkrustet, schon zeichneten sich die Prellungen ab. Alles tat ihr weh, und ihr war übel. 68 Es kam ihr vor, als wäre das Licht in ihrer Zelle noch schwächer geworden. Die Stille war bedrückend. Dann meldete sich ein undefinierbares und dennoch vertrautes Gefühl: ihr sechster Sinn, der sie warnte, wenn jemand
sich leise von hinten näherte. Das Kribbeln, das ihr über die Wirbelsäule lief, verriet ihr, dass sie nicht allein war. Mühsam richtete sie sich auf, bis sie saß, und blinzelte im Zwielicht. Tatsächlich, es war noch jemand anders in der Zelle. An der Tür stand jemand. Reglos. Das Gesicht war nicht zu erkennen. »Wer ist da?«, rief Serrah. Ihre Stimme brach beinahe und klang heiser. Keine Antwort, der Eindringling zeigte sich nicht. »Zeige dich!« Immer noch nichts. Serrah fürchtete, ihre Folterer seien zurückgekommen und führten Schlimmeres im Schilde sie spielten mit ihr, um Serrahs Angst und ihre eigene Freude daran zu steigern. Doch es folgte kein Angriff, und so machte sie nach einer Weile Anstalten, sich unter Schmerzen aufzurappeln. Endlich gewann sie die Schlacht und konnte aufrecht stehen. Als sie sich bewegte, schlurfte sie wie eine gichtige Alte. Erst dicht vor der Gestalt bemerkte sie, dass der Eindringling mit dem Rücken zu ihr stand. Es war eine Frau, die einen dunklen, körperlangen und eng umgelegten Mantel trug. Hinter dem hochgeklappten Kragen schaute ein wenig blondes Haar hervor. Wieder sprach Serrah die Besucherin an. »Wer bist du?« Sie flüsterte jetzt beinahe. Die Gestalt drehte sich um. 69 Serrah sackte der Boden unter den Füßen weg. Der Schreck erfasste sie wie eine Flutwelle, alle Schmerzen waren vergessen. Sie konnte nicht sprechen, sie konnte sich nicht bewegen. Was sie sah, ließ sie an ihrem Verstand zweifeln. Die Erscheinung streckte eine Hand aus und berührte sie leicht am Arm. Die zärtliche Berührung war warm und unverkennbar. Real. Keinerlei Bedrohung lag darin. Serrah rang mit sich und wollte etwas sagen, doch ihr fielen keine Worte ein. Sie betrachtete die langen gelockten Haare der Frau, die haselnuss-braunen Augen, die leicht rundlichen Gesichtszüge mit dem Babyspeck. Die Besucherin lächelte. »Mutter«, sagte sie. 70 Eithne?«, flüsterte Serrah. Ihre tote Tochter grinste sie an. Serrah neigte nicht zu Ohnmachtsanfällen. Jetzt wäre sie beinahe umgekippt. »Eithne?«, sagte sie noch einmal. »Ja. Hab keine Angst.« »Aber ... aber wie? Du bist doch ...« »Ich bin lebendiger denn je, Mutter.« Die tiefen Augenhöhlen, die bleiche Haut, die leeren Gesichtszüge, alles war verschwunden. Sie war, wie sie immer gewesen war, vor ihrem Verfall und vor den letzten Tagen. Ihre Augen strahlten. »Ich bin zu dir zurückgekommen.« Serrah bemerkte, dass ihr Arm immer noch gehalten wurde. Sie spürte, wie sich die Finger des Mädchens in ihre Haut drückten. Wie konnte dies ein Gespenst sein, ein Zauber, der sie nur täuschen sollte? »Bist du es wirklich?«, fragte sie. »Ich bin es, Mutter.« Serrah hätte es so gern geglaubt. Sie machte einen Schritt und wollte ihre Tochter umarmen. 71 »Nein«, wehrte Eithne ab. Sie ließ Serrah los und wich zurück. »Es wäre im Augenblick zu schmerzvoll, ich bin ... empfindlich. Ich habe nur ...« Das Lächeln veränderte sich nicht. »Ich bin empfindlich. Genau wie du.« Serrah blieb mit ausgestreckten Armen stehen. Sie war wie benommen, weil sie ihr Kind nicht in die Arme nehmen durfte. Einen Moment lang war ihr Kontakt zur Realität ebenso flüchtig wie der zu ihrem Kind. »Ich verstehe das alles nicht«, sagte sie. »Du musst nur verstehen, dass ich hier bin. Sie haben mich zurückgeholt.« »Wer denn? Und wie?« »Die Zauberer vom imperialen Hof, stell dir vor. Du hast ja keine Ahnung, über welche Magie man dort verfügt. Eine wundervolle Magie.« »Du sagst, du hast Schmerzen?« »Nur eine kleine Unpässlichkeit. Das geht vorbei. Meine Rückkehr ... das war wie ein Aufwachen, so einfach ist das.« Serrah hatte noch nie davon gehört. »Aber sie können doch nicht...« »Sie können es. Sie haben es getan.« »Warum?« »Für dich. Für uns.« »Warum sollten sich so hoch gestellte Persönlichkeiten mit uns beschäftigen?« »Weil du dich in diese Situation gebracht hast. Sie zeigen dir einen Ausweg.« »Ich muss blind sein, denn ich sehe ihn nicht.« »Dann betrachte mich doch als eine Art Belohnung.« 72 »Wofür?« »Für etwas, das du noch nicht getan hast.«
Serrah war inzwischen sicher, worauf es hinauslief, hakte aber dennoch nach. »Was erwarten sie denn von mir?« »Du musst tun, was sie dir sagen, Mutter. Du musst gestehen.« »Eithne«, erwiderte Serrah. Es kam ihr seltsam vor, nach so langer Zeit den Namen wieder auszusprechen. »Ich habe nichts zu gestehen. Ich habe nichts Falsches getan.« »Spielt das denn eine Rolle?« »Ja.« »Aber spielt es auch eine Rolle, wenn ich wieder mit dir zusammen sein kann? Ich hätte mein ganzes Leben noch vor mir.« »Es gäbe kein gemeinsames Leben, wenn ich gestehe. Man würde mich einsperren oder noch Schlimmeres tun.« »Sie haben versprochen, Gnade walten zu lassen.« »Und das glaubst du ihnen?« »Die Tatsache, dass ich hier bin, beweist doch, dass sie ihre Seite des Handels einhalten wollen.« »Und wenn ich nicht gestehe?« Eithnes Gesicht war besorgt. »Das wäre schlecht für mich.« »Was meinst du damit?« »Der Spruch, mit dem sie mich erweckt haben, verfällt mit der Zeit. Sie müssten einen weiteren sprechen, der meinen Zustand dauerhaft macht. Und bald ...« »Wie bald?« »Einige Stunden.« 73 Sie wieder zu haben und sie wieder zu verlieren. Serrah standen die Tränen in den Augen. »Das bieten sie mir im Austausch für mein Geständnis an?« »Ja. Sie lassen mich wieder leben.« »Es auf diese Weise zu tun ist ... das ist mehr als grausam.« »Nein, Mutter! Es ist ein Wunder. Siehst du das denn nicht? Sie haben mir gesagt, dass du im schlimmsten Fall eine kurze Zeit im Gefängnis oder einem Erziehungslager verbringen musst. Danach können wir wieder zusammen sein.« Irgendwo in Serrahs Kopf entstand die Frage, wieso sie so schnell bereit gewesen war, sich auf ein Gespräch mit einer Toten einzulassen. Mit ihrem toten Kind. Wenn das kein Irrsinn war, dann war es zumindest eine gute Annäherung. »Eithne, ich ...« »Ich verzeihe dir.« »Du verzeihst mir?« »Dafür, dass du ... dass du nicht für mich da warst. Als ich krank war.« Es war umso schmerzlicher, weil es so beiläufig gesagt wurde. Die Schuld stach Serrah wie ein Messer in die Rippen. Tränen quollen ihr aus den Augen. »Es ... es tut mir wirklich Leid. Ich habe mein Bestes gegeben. Ich habe mich so sehr bemüht...« Eithne brachte sie mit erhobener Hand zum Schweigen. »Ich sagte doch, dass ich dir verzeihe. Aber ich . glaube nicht, dass ich es noch einmal könnte, wenn du das hier nicht unterzeichnest. Unterschreibe das Geständnis, Mutter.« Serrah war entsetzt, als sie den gebieterischen Ton hörte, mit dem ihre Tochter sprach. Es passte nicht zu ihrem Charakter. Selbst in ihren letzten schrecklichen 74 Wochen war Eithne eher heimlichtuerisch als fordernd gewesen. Ob sich ihre Persönlichkeit auf irgendeine Weise verändert hatte? Vielleicht durch die Erfahrung von Tod und Wiedergeburt? Oder weil der Rat es so bestimmt hatte? »Ich muss mich sammeln, Eithne. Ich muss über das nachdenken, was du sagst.« »Was gibt es da nachzudenken? Meine Zeit läuft ab, Mama. Du warst schon immer so wankelmütig.« »Das ist nicht wahr.« »Dann tu es einfach. Oder soll ich wieder dem Tod zum Opfer fallen?« Irgendetwas störte Serrah. Etwas, das sie mit ihren Gedanken noch nicht klar fassen konnte. Dann begriff sie es. »Wenn eine solche Wiederbelebung wirklich möglich ist«, fragte sie, »wieso tut man es dann nicht einfach mit Phosian? Ich meine, das konnten sie ja offensichtlich nicht. Sonst wäre ich nicht hier.« »Darüber weiß ich nichts«, antwortete Eithne nach einer Pause. Sie fühlte sich offenbar angegriffen. »Ich denke, es hat vielleicht damit zu tun, auf welche Weise jemand gestorben ist«, fügte sie hinzu. »Eine tödliche Wunde, eine Überdosis Ramp - wo ist da der Unterschied? Tot ist tot, oder nicht?« »Ich kenne mich mit Magie nicht aus. Es ist mir auch egal, wie sie es gemacht haben.« Serrah versuchte es mit einem Schuss ins Blaue. »Was meinst du eigentlich, was Rohan dazu sagen würde?« »Was?« »Rohan. Er hätte doch bestimmt eine Meinung dazu, oder?« Eithne war offensichtlich verblüfft, doch sie versuchte es zu verbergen. »Ich weiß nicht...« 75 »Du erinnerst dich doch an Rohan?« »Natürlich! Aber was hat das mit dieser Sache hier zu tun?«
Serrahs Herz sank. Doch sie musste es durchstehen. »Ich glaube, seine Meinung ist von Bedeutung, oder etwa nicht? Sei so gut.« Ihre Tochter seufzte. »Ich glaube ... ich glaube, er würde wohl sagen, dass du dich dumm benimmst, wenn du so störrisch bist, und du solltest lieber tun, was für uns beide das Beste ist.« »Ich dagegen hätte erwartet, dass du sagst: Sei nicht dumm, Mutter - ein Hund kann nicht sprechen. Und Rohan war eine Hündin, kein Rüde.« Böse sah sie das Geschöpf an, das sich für ihr Kind ausgab. »Du bist verwirrt.« »Das glaube ich nicht.« »Du zweifelst an mir, weil ich mich nicht mehr an einen Hund erinnere?« »An ein Tier, mit dem du während deiner ganzen Kindheit unzertrennlich warst. Oder besser, Eithne war es. Ich weiß nicht, was du bist, aber du bist nicht meine Tochter.« »Das ist doch lächerlich. Die Schläge haben dir geschadet. Du siehst die Dinge nicht mehr klar.« »Du meinst, ich soll sie nicht klar sehen.« »Schau mich an. Ich bin deine Tochter. Wie kannst du mich so verleugnen, Mutter?« »Nenne mich nicht so. Alles, was ich sehe, ist ein Schwindel.« »Unterzeichne das Geständnis. Rette uns beide.« Serrah glaubte nicht mehr an die Illusion. »Du bist nicht, was du zu sein vorgibst«, zischte sie. 76 Das Mädchen sah den Gesichtsausdruck und wich zurück. Serrah bemerkte, dass die Tür ein wenig offen stand. Sie bewegten sich im selben Augenblick. Trotz ihrer Schmerzen war Serrah schneller. Sie packte die Betrügerin an den Armen, sie rangen miteinander. Serrah bekam eine Hand frei, holte aus und versetzte dem Mädchen eine heftige Ohrfeige. Ihre Hand kribbelte wie von Nadelstichen. »Du dummes Miststück!«, heulte die Betrügerin. Ihre Stimme hatte sich verändert, sie klang jetzt tiefer. Von der jüngsten Entwicklung völlig überrumpelt, ließ Serrah sie los. Es war, als hätte ein summender Schwärm goldener Bienen das Gesicht des Mädchens bedeckt. Jetzt zerstreuten sich die unzähligen flimmernden Einzelteile, flogen in alle Richtungen davon und lösten sich auf. Ein Teilzauber, der das Gesicht des Trägers überdecken und in diesem Fall das Antlitz eines toten Kindes nachbilden sollte. Komplizierte Magie, die ein kleines Vermögen kostete. Als das Flimmern verschwand, stand Serrah vor einer Fremden. Eine einfache Frau, kein Mädchen, die ganz anders aussah als ihre Tochter. Nur der Körperbau war ähnlich, und sie schien sich zu fürchten. Serrah ging auf sie los, bekam jedoch einen Schlag in den Bauch, der ihr den Atem raubte und die Schmerzen der früheren Misshandlungen wiedererweckte. Keuchend sank sie auf die Knie. Die Frau verschwand blitzschnell durch die Tür und knallte sie hinter sich zu. Serrah rappelte sich auf und hämmerte mit den Fäusten dagegen. Sie tobte 77 und fluchte, bis ihre Hände blutig waren und ihre Stimme versagte. Irgendwann war die Leidenschaft verbraucht. Sie war zu Boden gesunken und dort liegen geblieben. Die Tür war von ihren Schlägen mit Blut verschmiert. Später zog sie die Knie an die Brust und wiegte sich leicht hin und her, bekümmert über den Täuschungsversuch ihrer Vorgesetzten. Körperliche Gewalt konnte sie noch ertragen, doch diese Tricks waren unerträglich. Eine Weile starrte sie auf den Querbalken des Türrahmens. Er stand ein Stück hervor, wie ein schmales Regal. Wenn sie ihre Kutte in Streifen riss und die Streifen zusammenband, hatte sie ein Seil, das sie um den Balken legen konnte. Dann musste sie nur noch eine Schlinge knüpfen, sich hochziehen, den Kopf hineinstecken und loslassen. Der Balken war nicht hoch genug, als dass sie sich den Hals brechen könnte. Sie würde also langsam ersticken, doch das war ihrem derzeitigen Zustand immer noch vorzuziehen. Ihre Benommenheit wurde von Geräuschen draußen vor der Zelle unterbrochen. Sie kamen wieder zu ihr. Serrah war halb aufgestanden, als die Tür aufgestoßen wurde. Im Rahmen stand einer der Männer, die sie geschlagen und bedroht hatten. Serrah wich zurück bis zum Bett. Der Mann machte zwei unsichere Schritte in ihre Richtung. Dann blieb er stehen, schwankte und stürzte vorwärts zu Boden. Zwischen seinen Schulterblättern ragte ein Dolch hervor. 78 Draußen waren noch weitere Leute. Serrah starrte sie blinzelnd und verwirrt an, als sie in die Zelle eindrangen. Die Gesichter schienen leer, und sie nahm an, es handle sich abermals um Zauber, um sie hinters Licht zu führen, doch dann erkannte sie mit groben Stichen genähte Stoffmasken. »Wer seid ihr?«, fragte sie die Eindringlinge. »Freunde«, erwiderte einer von ihnen kurz angebunden. »Komm schon! Wir dürfen keine Zeit verlieren!« Ihr kam der Gedanke, es könne ihre eigene Einheit sein. Doch bald wurde ihr klar, dass dem nicht so war. »Wohin wollen wir ...« »Raus hier.« Er fasste ihren Arm, und sie zuckte zusammen, als sie auf den Gang gezogen wurde. Es waren vier. Einer ging voraus, einer sicherte hinten, die anderen beiden blieben dicht bei ihr. Sie liefen durch einen langen Flur mit niedriger Decke. Er war schlecht beleuchtet, und die Männer, die vorne und hinten gingen,
behalfen sich mit kleinen Leuchtzaubern. Wieder fragte sie: »Wer seid ihr?« »Wir müssen noch ein Stück laufen, ehe wir hier herauskommen«, erklärte ihr einer der Begleiter. »Und wahrscheinlich werden wir auf Widerstand stoßen. Also bleib bei uns und bewege dich.« »Gebt mir eine Waffe«, bat sie. »Du bist nicht in der Verfassung zum Kämpfen.« »Ich muss mich verteidigen können, wenn es nötig ist. Ihr wollt mich doch hier herausholen, oder?« Nach kurzem Zögern reichte er ihr ein Messer mit langer Klinge. Das kalte, schwere Gewicht beruhigte sie auf der Stelle. 79 »Gebrauche es nur, wenn es nicht anders geht«, warnte er sie. »Wir sind hier, um das Kämpfen zu erledigen.« Sie schüttelte die Hände ab, die sie stützten, und ging ohne Hilfe weiter. Die Männer sagten nichts mehr, hielten sich aber in ihrer Nähe. Vor Schmerzen humpelnd, hatte Serrah Mühe, mit ihnen Schritt zu halten. Sie erreichten zwei Tote, die quer im Gang lagen -einer war ein Gefängniswärter, der Zweite trug die rote Tunika eines Paladins. Das bedeutete, dass es einen ziemlichen Ärger geben würde. Falls der Ärger überhaupt noch steigerungsfähig war. Sie stiegen über die Toten und näherten sich vorsichtig einer Ecke. Dahinter lag ein weiterer Gang, der dem ersten sehr ähnlich, aber kürzer war. Drei weitere maskierte Retter trieben sich am Ende herum. Sie eilten zu den dreien, und Serrah krümmte sich nach den hastigen Bewegungen vor Schmerzen. Als Nächstes führten sie sie zu einer Wendeltreppe, wo die Eindringlinge sich kurz und flüsternd berieten. Dann stiegen sie mit gezückten Waffen hinauf, Serrah in der Mitte der Gruppe. Nach fünf oder sechs Umdrehungen hatten sie das nächste Stockwerk erreicht. Dies war ein Kreuzungs, punkt, an dem aus sämtlichen Himmelsrichtungen Gänge zusammenliefen. Alle waren verlassen. Die Gruppe stieg weiter aufwärts. Im Stockwerk darüber, wo es nur einen einzigen Gang gab, endete die Treppe. Es war kaum mehr als ein Tunnel. Flüsternd und gestenreich erklärte derjenige, der ihr Anführer zu sein schien, dass die nächste Treppe am anderen Ende sei. Er zog den Zeigefinger 80 quer über seine Kehle und gab ihnen damit zu verstehen, dass dieses Wegstück besonders gefährlich sei. Als sie liefen, erkannte Serrah auch den Grund. Von ihrem Gang zweigten zahlreiche andere ab, doch alle in seltsamen Winkeln, was bedeutete, dass sie die Mündungen teils erst einsehen konnten, wenn sie schon auf gleicher Höhe waren. An zweien kamen sie ohne Schwierigkeiten vorbei. Als sie die Treppe schon sehen konnten, stießen sie auf einen weiteren Toten, der in einer roten Lache lag. Er war einer der ihren, der zweifellos als Wache zurückgeblieben war. Seine Maske war bis zum Haaransatz hochgezogen und sein Körper hatte zahlreiche Wunden. Sie sahen sich nervös um. Serrah packte das Messer fester und lauschte angespannt. Zwanzig oder dreißig Schritt vor ihnen zweigten zwei weitere Gänge ab, einer links und einer rechts und einander fast gegenüber. Unter Serrahs Gefährten wurden eilige Handzeichen gewechselt, dann schwärmten sie vorsichtig aus und rückten langsam vor. Zwei ihrer bisher unbekannten Retter blieben bei ihr, ohne sie zu berühren zwar, aber doch sehr nahe. Ungefähr auf halbem Weg winkte der Späher, und sie blieben stehen. Er kniete sich hin und hob einen kleinen Stein auf, den er vor sich auf den Boden warf. Der Stein landete klickend mitten im Gang. Das Echo verhallte. Nichts geschah. Sie entschieden sich für die einfachste Taktik überhaupt: Sie wollten alle zusammen zur Treppe rennen. Die Gruppe machte sich fertig, und Serrahs Begleiter schienen bereit, sie im Notfall einfach mitzuschleppen. Die Fingerspitzen ruhten griffbereit auf ihren Armen. 81 Der Anführer gab das Zeichen, und sie rannten los. Nach einem Dutzend schneller Schritte kam die Katastrophe. Bewaffnete Männer strömten aus den Gangmündungen. Es waren überwiegend Wärter und Milizionäre, dazu ein paar Paladine. Serrah schätzte ihre Zahl auf über ein Dutzend, also mindestens anderthalb mal so viele Kämpfer wie auf ihrer Seite. Aus dem Spurt der Retter wurde unverhofft ein Angriff. Sie hatten keine andere Wahl. Die vordersten Kämpfer beider Gruppen trafen aufeinander, Schreie waren zu hören, und Stahl klirrte. Serrah ließ sich widerstandslos durch das Chaos bugsieren. Als sich einzelne, unterscheidbare Zweikämpfe herauskristallisiert hatten, schüttelte sie die Hände ihrer Begleiter ab, die zwar in ihrer Nähe blieben, aber ihre Aufmerksamkeit dem näher rückenden Handgemenge zuwandten. Wer ihre geheimnisvollen Retter auch waren, sie kämpften wie besessen. Die Welle kam, und Serrah sah sich inmitten der Prügelei. Einige lange Augenblicke, so unglaublich es war, beteiligten sich alle mit Ausnahme ihrer selbst am Kampf. Sie schien abgeschirmt in einer Art Kokon zu stecken,
während zu beiden Seiten Duelle stattfanden. In ihrem geschundenen Körper pochte es. Sie fühlte sich ausgelaugt und verwirrt. Doch sie war voller Wut. Erbitterter Zorn und Hass auf ihre Verfolger fegte jeden anderen Gedanken beiseite. Sie musste töten. Der Kampf hatte ihre Leibwächter von ihr getrennt. Als sie angriff, hörte sie einen von ihnen rufen. Sie ignorierte den Ruf und stürzte sich ins Schlachtgetümmel. 82 Eine Klinge zischte knapp über ihrem Kopf vorbei, als sie sich duckte. Eine weitere verfehlte um Haaresbreite ihre Rippen. Das Ausweichen und Ducken war anstrengend. Es spielte keine Rolle. Sie suchte sich ein Ziel aus. Ein untersetzter Milizionär, der mit einem Retter kämpfte und fast die Oberhand gewonnen hatte. Serrah hatte keine Zeit für Ehre oder Anstand. Sie stieß ihm das Messer in den Rücken, und als er zu Boden ging, nahm sie sein Schwert. Der Gegner ihres Opfers wandte sich ab und griff den nächsten Feind an. Einer der maskierten Retter brach direkt vor ihr zusammen, seine Brust war durchlöchert. Sie sprang über den Toten hinweg und stellte sich einem Wärter entgegen, der mit einem Degen focht. Sie konnte seinen Hieb mit dem Messer abwehren und stach ihm das Schwert in den Bauch. In der Nähe verlor einer seiner Kameraden auf den feuchten Steinfliesen das Gleichgewicht und stürzte schwer. Ein maskierter Retter durchbohrte ihn und stieß ihm mit beiden Händen das Breitschwert ins Herz. Inmitten der Gewalttätigkeiten hielt Serrah inne und sah sich nach neuen Gegnern um. Der Gegner fand sie. Ein Paladin, der sich mit fließender Eleganz bewegte, griff sie an. Er war einen Kopf größer als Serrah und kräftig gebaut. Genau wie sie selbst kämpfte er mit Schwert und Messer. Die legendäre Kampfkraft und ihre Wildheit machte die Paladine zu Gegnern, die man schon unter günstigen Umständen tunlichst meiden sollte. Doch unter ungünstigen Bedingungen und da Serrah von Blutdurst getrieben war, gab es in ihrem Denken keinen Raum für Vorsicht. 83 Die Schwerter prallten gegeneinander. Der kräftige Schlag des Paladins jagte einen stechenden Schmerz durch Serrahs verkrampfte Armmuskeln. Sie schlug mit dem Messer nach ihm und zwang ihn, einen Schritt zurückzuweichen. Er schlug blitzschnell zurück und setzte zu einem von oben nach unten geführten Hieb an, der ihren Leib bis zur Hüfte hätte spalten können. Sie wehrte sich mit einer Kombination von Stichen und Schlägen, die ihn vorübergehend beschäftigt hielten. Mit blitzschnellen Manövern und aufeinander knirschenden Klingen gingen sie erbittert aufeinander los. Es schien, als wäre seine Verteidigung undurchdringlich. Doch dann, als neben ihrem Willen auch das Glück ihre Hand führte, drang Serrah durch. Er versuchte, einen seitlichen Angriff abzuwehren, doch ihr Hieb war zu stark, und sein Schwert zerbrach. Der Paladin hob sein Messer. Sie wich aus und trieb ihm ihren Stahl tief in den Bauch. Er sank auf die Knie und riss Mund und Augen auf. Serrah zog das Schwert zurück und versetzte ihm von der Seite einen Schlag gegen den Hals. Blut spritzte, der Paladin kippte um. Schwer atmend wich sie zurück und sah sich um. Das Kampfgetümmel ließ nach, ihre Verbündeten hatten die letzten Feinde niedergestreckt. Überall im , Gang lagen Tote. Zwei davon gehörten zu ihren Rettern. Einige weitere hatten leichte Verletzungen erlitten. Ein paar starrten sie an, doch niemand sagte etwas. Rasch wurden heilende Salben auf die Wunden gerieben, kleine Glasampullen wurden aufgebrochen und den Verletzten unter die Nasen gehalten, damit 84 sie die heilenden Dämpfe einatmen konnten. Dann kam das Signal zum Weitergehen. Dieses Mal bot ihr niemand mehr an, sie zu stützen. Ihre dezimierte Truppe erreichte die Treppe und stieg hinauf. Vier Stockwerke überwanden sie ohne Zwischenfälle, von den aufgescheuchten Ratten einmal abgesehen. Doch sie konnten die Verfolger hinter sich hören und liefen schneller. Die Anstrengung brachte Serrahs Körper an seine Grenzen. Sie fühlte sich, als strömte Lava durch ihre Adern. Endlich erreichten sie einen breiten und hohen Durchgang. Sie hatten die ebene Erde erreicht, hier war der Ausgang. Eine Handvoll maskierter Männer bewachte ihn. Leichen von Milizionären und Paladinen lagen an den Seiten herum. Die Wachen beäugten Serrah, doch niemand fragte nach den fehlenden Kameraden. »Wie sieht es aus?«, wollte der Anführer von Serrahs Gruppe wissen. »Unser Glück geht langsam zur Neige«, erwiderte einer der Wächter. »Wir müssen uns in Bewegung setzen.« Der Anführer nickte und bugsierte Serrah durch die Tür. Draußen war Nacht, ein leichter Regen fiel. Er deutete zur mächtigen Wand vor ihnen. Drei dicke Seile hingen dort. »Kannst du da raufklettern?«, fragte er. »Ja.« Er streckte eine Hand aus. »Deine Waffen.« Serrah packte die Klingen fester und schüttelte den Kopf. »Wie willst du sonst hochklettern?« Widerstrebend händigte sie ihm das Schwert und das Messer aus. Mit einem Mal fühlte sie sich nackt. Er reichte die Waffen an seine Leute weiter.
85 »Wer seid ihr?«, fragte sie noch einmal. »Es ist nicht der richtige Augenblick. Wir erklären es dir, wenn wir von hier geflohen sind.« Er deutete auf einen seiner Männer. »Er wird dich begleiten. Wir anderen folgen dicht hinter euch. Bleibt nur immer in Bewegung und haltet auf keinen Fall an.« Er fasste ihr Schweigen als Zustimmung auf und ließ die anderen antreten. »Los jetzt!«, rief er. Serrah und ihr Aufpasser rannten durch die Tür. Die kalte Nachtluft traf sie wie ein Schlag, und sie schnaufte erschrocken. Der Regen peitschte ihr ins Gesicht. Der Boden war weich wie ein Schwamm. Hinter sich hörte sie die anderen rennen. Jemand stieß einen Ruf aus. Sie drehte den Kopf herum. Ein großer Trupp Bewaffneter, darunter viele Paladine, stürmte hinter der Ecke des Gebäudes hervor und nahm die Verfolgung auf. Die Angreifer brüllten siegesgewiss. »Bleibt in Bewegung!«, ermahnte der Anführer sie noch einmal. Serrah prallte gegen die Mauer und packte ein herabhängendes Seil. Ihr Begleiter folgte ihrem Beispiel. Sie zogen sich hoch, doch an den nassen Wänden rutschten ihre Füße immer wieder ab. Es gab eine ohrenbetäubende Explosion. Lichtblitze waren zu sehen, hell wie der Tag. Sie blickte nach un-, ten. Irgendjemand verschoss magische Munition. Die Geschosse explodierten in großen grünen, roten und goldenen Wolken und spuckten ihre Täuschungen aus. Groteske Untiere und Dutzende von Nachbildungen ihrer Retter entstanden aus dem Nichts, um die Feinde zu verwirren. 86 »Nicht hinsehen!«, warnte ihr Gefährte sie. Sie begriff und wandte den Blick ab. Einen Moment später wurden sie in ein unerträglich grelles Licht getaucht, das die Wand heller beleuchtete als das volle Sonnenlicht. Dann flackerte das Licht und erstarb. Ein optischer Zauber. Ein Lichteffekt, der die Gegner blenden sollte. Sie fragte sich, welche Seite ihn eingesetzt hatte. Schreie und andere Kampfgeräusche drangen zu ihnen herauf. Sie kletterten weiter. Die Wand schien unendlich hoch. Als sie etwa zwei Drittel des Aufstiegs geschafft hatte, wurden Serrahs Arme taub, und ihre Kräfte ließen nach. Ihr Begleiter, der auf gleicher Höhe war, trieb sie weiter. Irgendetwas zischte durch die Luft und ließ ihn verstummen. Ein Pfeil steckte zitternd in seinem Rücken. Serrah wollte den Arm ausstrecken, doch er stürzte. Ihr Blick folgte dem Fall, sie sah ihn unten aufschlagen. Inmitten der Täuschungen und Blendzauber kämpften die Männer unter ihr auf dem Boden. Einige ihrer Retter hatten es bis zu den Seilen geschafft und zogen sich hoch. Sie kletterte weiter, weil sie fürchten musste, der nächste Pfeil könne ihr gelten. Endlich erreichte sie einen breiten Sims oben auf der Mauer. Sie rang schwer nach Atem, als sie sich schließlich hochziehen konnte. Dann kletterte sie zur anderen Seite und blickte nach unten. Auch außen an der Mauer hingen drei Seile. Sie waren an Mauerzinnen festgebunden. In der Seitenstraße direkt unter ihr war ein Heuwagen mit prallen Säcken abgestellt. Zwei maskierte Männer blickten zu ihr hoch und winkten heftig. Hinter ihr knallte und knisterte es. Irgendwo auf dem Gelände des Palasts wallte eine purpurfarbene 87 Wolke hoch. Sie nahm die Gestalt eines riesigen roten Drachen an, hoch wie ein Tempelturm, der mit blitzenden grünen Augen und zuckendem Stachelschwanz seine Feinde suchte. Es war ein Zauber, doch das Feuer, das er ausstieß, war mehr als real. Sie sah, wie mehrere Männer von den Flammen eingehüllt wurden. Die anderen, die schon an den Seilen hochkletterten, setzten trotz der überall einschlagenden Pfeile ihre Flucht fort. Serrah stieg über den Sims und ließ sich auf die Straße hinab. Sie konnte nur noch an Flucht denken und daran, wie widerwärtig sie es fand, auf Gedeih und Verderb jemand anders ausgeliefert zu sein. In diesem Augenblick schwor sie sich, es nie wieder so weit kommen zu lassen. Als sie zur Hälfte hinabgeklettert war, ließ sie das Seil los und sprang hinunter. Sie landete schwer, aber unverletzt auf den aufgestapelten Säcken. Einer der wartenden Männer wollte sie am Arm fassen, doch sie wich aus und sprang vom Wagen herunter. Dann rannte sie los. Die Männer riefen ihr etwas nach. Serrah unterdrückte die Schmerzen und rannte schneller. Vielleicht versuchten sie ihr zu folgen, doch davon sah sie nichts mehr. Bald war sie im Gewirr der geschäftigen Straßen verschwunden. Barfuss, mit zerfetzter Kleidung voller Blutflecken, das nasse Haar auf der Stirn klebend, humpelte sie durch Straßen, in denen niemand starrte. 88 Die ganze Nacht prasselte der Regen auf Bhealfas Osten herab, doch der folgende Tag versprach sonnig und freundlich zu werden. Kutch Pirathon saß an einem angeschwollenen Bach und warf müßig Kieselsteine ins rauschende Wasser. Er wurde allmählich unruhig. Zum hundertsten Mal blickte er zur baufälligen Steinhütte, die weiter oben am kahlen Hügel stand. Die schlecht eingepasste Tür blieb jedoch verschlossen wie sie war. Er seufzte und fuhr fort, den Wasserlauf zu bombardieren. Sonst gab es ohnehin nicht viel zu tun. Der Hügel hatte nichts weiter zu bieten außer tropfnassen Büschen, ein paar vertrockneten Bäumen und vielen Steinen. Seine einzige Gesellschaft bestand aus einem Schwärm kreisender Krähen. Dabei hätte er sich durchaus sinnvoll
beschäftigen können. Eigentlich wäre er sogar dazu verpflichtet gewesen. Er sollte sich den geistigen Übungen widmen, die notwendig waren, um in der Zauberkunst Fortschritte zu machen. Er sollte seine Zeit damit verbringen, seinen 89 Willen zu stählen, die Kraftströme des Lebens zu erkennen und zu kanalisieren. Doch diese Techniken hatte ihn sein Meister gelehrt, und er konnte es einfach nicht über sich bringen, an den alten Mann zu denken. Er wurde das Gefühl nicht los, dass er Domex im Stich gelassen hatte und dass der Meister noch am Leben sein könnte, wenn der Schüler nicht so verzagt gewesen wäre. Er hatte seine Pflichten vernachlässigt, und dieses Bewusstsein weckte seine Schuldgefühle. Doch im Augenblick wollte er nicht weiter darüber nachdenken. Seine Melancholie hätte sich noch verstärkt, wäre nicht in diesem Moment die Tür der Hütte knarrend geöffnet worden. Er blickte hinauf und sah Caldason herauskommen. Kutch warf einen letzten Stein ins Wasser, stand auf und klopfte sich die Hose ab. Er sah, wie der Qalochier ein paar Abschiedsworte an den alten Einsiedler richtete, den er konsultiert hatte. Dann kam er den unebenen Weg zu ihm herab. Sie kannten sich noch nicht lange, doch Kutch wusste bereits, dass Caldason kein Mann war, der von sich aus viel preisgab. Aus seinem Gesichtsausdruck war gewöhnlich kaum etwas herauszulesen, und dieser Augenblick bildete keine Ausnahme. »Was ist los?«, fragte Kutch. »Nichts.« »Oh.« »Aber du konntest ja nicht wissen, dass er mir nicht zu helfen vermag. Ich bin dir jedenfalls dankbar, dass du mich hergebracht hast.« Sie stiegen den Hügel hinab. Kutch wusste immer noch nicht genau, wo Caldasons Problem nun eigentlich lag, von den so genann90 ten Anfällen mal abgesehen. So stocherte er aufs Geratewohl herum. »Hat er ... äh ... hat er etwas über Euren ... Euren Zustand gesagt?« »Gesagt hat er eigentlich überhaupt nichts. Er hat seine Fragen auf eine Schiefertafel geschrieben.« »Ach so, natürlich.« »War er schon immer stumm?« »Nein. Als er noch ein Knabe war, hat sein Vater ihm die Zunge herausgeschnitten, damit er aufhörte, ständig über die Geheimnisse der Zauberkunst zu reden. So hat man es damals eben gemacht.« »Die Welt ist doch voller Freuden«, bemerkte Caldason zynisch. »Sein Vater hatte durch die Hand seines eigenen Vaters das gleiche Schicksal erlitten. Das Wissen wurde von Generation zu Generation weitergegeben, und das war der Preis. In manchen Zweigen der Zauberkunst hielt man das bis vor gar nicht so langer Zeit noch für völlig normal.« »Ich dachte, die Zauberer seien ohnehin zur Geheimhaltung verpflichtet.« »Das ist wahr. Aber ich bin nicht sicher, wie zuverlässig einige der lizenzierten Zauberer sind.« Kutch deutete mit dem Daumen zur Hütte. »Dem da kann man allerdings vertrauen.« »Warum ist er dann trotzdem verstümmelt worden?« »Das war eine zusätzliche Absicherung. Einige ältere Zauberer dachten, es sei eine gute Sache, und die Tradition solle wieder belebt werden. Vielleicht haben sie damit gar nicht so Unrecht. Es scheint ja zu funktionieren.« »Hättest du demnach keine Einwände gehabt, wenn dein Meister es mit dir getan hätte?« 91 »Naja ...« Sie gingen schweigend weiter. Nach einigen Minuten unternahm Kutch den nächsten Vorstoß. »Ihr scheint aber nicht besonders enttäuscht zu sein. Darüber, dass er Euch nicht helfen konnte, meine ich.-« »Ich habe gelernt, nicht enttäuscht zu sein.« »Es gibt noch andere Seher, die ich empfehlen kann.« »Vielleicht sind die Zauberer in der Provinz nicht das, was ich brauche.« »Viele von ihnen sind so gut wie jeder andere, den Ihr finden könnt«, erwiderte Kutch beleidigt. »Sie ziehen einfach nur die Einsamkeit des Landes vor. Da werden sie auch nicht so oft von den Behörden belästigt.« »Wie Domex? Schon gut, das war ein gemeiner Seitenhieb. Es tut mir Leid. Aber Tatsache ist, dass man in den Städten viel eher zu Geld und Ansehen kommen kann, und das scheint die Besten der Zunft anzulocken. Vielleicht kann ich dort den richtigen Zauberer finden. Falls es überhaupt noch welche gibt, bei denen ich es noch nicht versucht habe.« »Ach, nun kommt schon, Reeth, es muss doch tausende von Zauberern geben.« »Ich suche länger, als dir bewusst ist.« Kutch rechnete nicht damit, eine weitere Erklärung zu bekommen, und er sollte Recht behalten. Wieder schwiegen sie. Sie erreichten den Fuß des Hügels und schlugen den Weg zum Haus ein. Eine sanfte Brise rauschte in den Bäumen. Die Stille wurde nur durch einen fernen Vogelruf unterbrochen.
92 »Wie weit bist du denn eigentlich in der Magie fortgeschritten?«, fragte Caldason nach einer Weile. Nach der gescheiterten Vorführung mit den Homunkuli am Vortag hätte Kutch angenommen, dass sein Gefährte sich die Antwort selbst geben konnte. Doch dies war eben Caldasons Art, das Thema zu wechseln oder aber höflich zu sein. Wie auch immer, Kutch ging darauf ein. »Ich bin auf der vierten Stufe, kurz vor der fünften.« »Das klingt beeindruckend. Wie viele gibt es denn?« »Zweiundsechzig.« »Ach so.« »Aber vergesst nicht«, fügte Kutch rasch hinzu, »dass alles über der dreiundzwanzigsten als ziemlich esoterisch betrachtet wird.« »Ich glaube, ich muss die höchste nur mögliche Ebene in Anspruch nehmen.« Es war nicht zu erkennen, was Caldason wirklich dachte. Man konnte nicht sehen, ob er es ernst meinte oder ob es einer seiner seltenen Versuche war, humorvoll zu reagieren. »Es mag ja sein, dass ich mit den praktischen Studien etwas hinterher bin«, räumte Kutch ein, »aber ich verstehe wenigstens etwas von der okkulten Philosophie. Was auch immer Euch so zusetzt, es gibt gewiss ein magisches Heilmittel. Man muss es eben nur finden.« »Da bin ich aber nicht so sicher.« »Lasst mich Euch etwas über eines der Grundprinzipien des Handwerks erzählen.« »Vorsicht, du willst doch nicht deine Zunge verlieren.« »Ich werde nichts Wichtiges verraten. Wir lernen, dass die Magie Energie ist. Eine Energie, die nicht 93 zerstört werden kann. Sie kann nur in etwas anderes verwandelt werden.« »Das habe ich auch schon gehört.-« »Dann wisst Ihr auch, dass die Zaubersprüche, was Qualität und Dauerhaftigkeit angeht, große Unterschiede aufweisen.« »Aber sicher. Das entscheidet über ihren Preis.« »Ich rede jetzt nicht über den Wert in barer Münze. Ich meine ihre Stärke. Es gibt beispielsweise keinen Grund, warum nicht ein Gebäude ein Zauber sein und doch ewig halten sollte. Doch es wäre unglaublich teuer, diesen Zauber zu erschaffen und aufrechtzuerhalten.« Er deutete auf einen Felsbrocken neben dem Weg. »Dieser Stein könnte ein Zauber sein. Es wäre nur ein sehr einfacher Zauber. Aber das wäre den Leuten egal. Welchen Sinn hätte das?« »Worauf willst du hinaus?« »Ich nehme an, dass das, was mit Euch nicht stimmt, im Grunde magischer Natur ist.« Caldason ließ sich nicht anmerken, ob Kutch richtig lag, und so sprach der Bursche weiter. »Wenn Ihr unter einer Art von Zauberbann steht, dann sollte es möglich sein, die Energie von bösartig positiv in wohltuend negativ zu verwandeln. Auf die gleiche Weise, wie der Stein ein Nicht-Stein werden und das Gebäude zerfallen und wieder im Energiestrom aufgehen könnte. So sieht es jedenfalls in der Theorie aus.« Caldason dachte nach. »Du hast es besser ausgedrückt als die meisten Magier, mit denen ich gesprochen habe, Kutch. Doch warum war keiner von ihnen in der Lage, es auch zu tun?« Kutchs Wangen röteten sich infolge des Kompliments. Er fasste die Worte des Qalochiers zudem als 94 stilles Eingeständnis auf, dass dessen Problem tatsächlich magischer Natur war. »Ich weiß es nicht. Vielleicht ist der Zauberbann, falls es überhaupt einer ist, besonders mächtig. Oder er ist ein Produkt eines besonders esoterischen Zweigs des Handwerks. Ihr müsst wissen, dass es viele verschiedene Disziplinen gibt.« »Etwas, das so selten ist, dass die meisten Zauberer es überhaupt nicht kennen?« »Das könnte sein. Vielleicht ist es auch nur eine Frage des Gleichgewichts.« »Eine Frage des Gleichgewichts?« »Auch das ist ein Grundprinzip der Magie. Das Zauberhandwerk hat ebenso wie die mundane Welt, wie wir sie nennen, ihre Regeln. Wenn Ihr einen Stein fallen lasst, dann fällt er auf den Boden. Er gehorcht den Gesetzen der Welt. Ein Zauberspruch, der wie ein Stein aussieht, fällt vielleicht nach oben oder er fliegt, oder er verwandelt sich in etwas anderes. Doch er folgt dabei stets den Regeln, und eine dieser Regeln wird bestimmt von der Art des Zauberbanns, die ihn beherrscht.« »Ich verstehe nicht, was das mit dem Gleichgewicht zu tun haben soll.« »Mein Meister hätte gesagt, dass ein echter Stein fällt, weil zwischen unseren Erwartungen und der Erfahrung ein Gleichgewicht besteht. Wir erwarten, den Stein fallen zu sehen. Steine fallen immer herunter. Also fällt der Stein herunter. In der Magie besteht ein Gleichgewicht zwischen der Realität und dem Nicht-Realen. Es muss eine Symmetrie geben, damit der Zauber wirken kann. Auf ganz ähnliche Weise, wie das militärische und magische Gleichgewicht zwi95 sehen Rintarah und Gath Tampoor die beiden Reiche daran hindert, den jeweils anderen zu unterwerfen.« »Ich glaube, so weit kann ich das verstehen«, meinte Caldason. »Aber was hat das jetzt mit mir zu tun?« »Vielleicht seid Ihr zwischen dem Realen und dem Nicht-Realen gefangen wie in einer Schraubzwinge.«
»Wie Bhealfa.« Kutch lächelte. »Ja. Oder es könnte auch sein, dass das Gleichgewicht zerstört ist, sodass Ihr nicht erlöst werden könnt.« »Keine dieser Vorstellungen ist mir besonders angenehm.« Caldason mochte nur ungern von einem Jüngeren lernen, doch er war höflich genug, sich nichts anmerken zu lassen. »Seltsam nur, dass ein bescheidener Anwärter des vierten Grades ...« »Ich bin fast beim fünften.« »... also einer, der fast beim fünften ist, es mir auf einmal erklären kann.« »Ich habe Euch nichts gesagt, was Ihr nicht auch selbst hättet herausfinden können. Ihr sucht die Lösung in der Magie, Reeth, doch Ihr zeigt nur wenig Wissbegier für ihr Wirken.« »Ich betrachte die Magie als böse Kraft.« »Sie ist die Grundlage unserer Kultur.« »Die Grundlage der deinen, aber nicht der meinen. Es ist keine qalochische Kunst. Für dich ist die Magie eine nützliche und gute Sache. Für mich ist sie betrügerisch und verderblich. Sie stärkt das Unrecht.« Diese Behauptung erschien Kutch wie die reine Blasphemie. »Mein Meister sagte immer, die Magie kenne so wenig eine Moral wie das Wetter. Erst die Menschen, die sie anwenden, entscheiden darüber, ob es eine helle oder dunkle Magie wird, wie es eben 96 ihren jeweiligen Wünschen entspricht. Ihr solltet Euch mit den Leuten auseinander setzen.« Caldasons Antwort klang nicht mehr ganz so streng. »Ich muss zugeben, dass Weisheit darin liegt. Aber ohne die Magie gäbe es auch nicht die Versuchung.« »Ich habe die Absicht, meine Kräfte nur für das Gute zu verwenden.« »Daran zweifle ich nicht. Und wenn du über dieses Thema sprichst, zeigst du mehr Leidenschaft und Einsicht als bei allen anderen Dingen. Dann bist du kein halbes Kind mehr und redest eher wie ein Mann.« Die Wangen des Burschen färbten sich rot und gaben Caldason Recht. »Ich kann erkennen, dass die Magie deine Berufung ist«, fuhr Caldason fort. »Doch wer mag schon sagen, welche Verlockungen die Zukunft bringen mag?« Kutch versuchte, auf das Thema zurückzukommen, das er für wichtiger hielt. »Sagt mir, was mit Euch los ist. Ich weiß ja, dass ich nicht fortgeschritten genug bin, um Euch zu helfen, doch ich könnte Euch vielleicht dabei unterstützen, jemanden zu finden, der sich damit auskennt.« »Das, woran ich leide, ist geeignet... die Menschen zu erschrecken.« »Mich kann es nicht schrecken, und zusammen könnten wir ...« »Nein. Ich binde mich nicht. Ich brauche keine Gefährten. Und überhaupt, ich muss weiterziehen, und das weißt du auch.« Kutch war enttäuscht, doch er wusste, dass es sinnlos war, dem Mann zu widersprechen. »Ihr wollt doch 97 hoffentlich nicht vor der Beerdigung meines Meisters aufbrechen?« »Ich habe dir versprochen, bis dahin zu warten. Aber wir sollten uns beeilen, denn ich will heute noch diese Gegend verlassen.« Sie liefen weiter und sprachen nur noch wenig. Zwanzig Minuten später erreichten sie ein Waldstück. Sie umgingen es und kamen auf ihrer Wanderung durch bestellte Felder, die zum Dorf gehörten. Ein paar Bauern kümmerten sich um die keimenden Feldfrüchte. Keiner von ihnen grüßte sie, doch die beiden Wanderer hatten das deutliche Gefühl, genau beobachtet zu werden. Hinter den Wiesen kam das Dorf selbst in Sicht, behaglich in die Mulde eines flachen Tals geschmiegt. Selbst aus der Ferne war die indigoblaue Kraftlinie, die sich durch die Siedlung zog, deutlich zu sehen. Doch das Dorf war nicht ihr Ziel. Als sich der Weg gabelte, folgten sie der Küstenstraße. Ein kurzer Aufstieg brachte sie bis zum Rand der Klippe. Dahinter und tief unter ihnen erstreckte sich der weite, ruhige, glänzende Ozean. Auf dem Grasstreifen, der oben auf der Klippe gewachsen war, stand ein Scheiterhaufen, und darauf lag der Leichnam des Sehers Domex. Der Tote war in die prächtigen Gewänder seines Standes gekleidet, die Hände waren über der Brust gefaltet. Rings um ihn waren die Gerätschaften seines Berufs aufgehäuft. Ein Zauberbuch, Tagebücher und Schriftrollen, Beutel mit Kräutern und ein Zepter zählten zu den persönlichen Besitztümern, die ihn in die nächste Welt begleiten sollten. Der ganze Scheiterhaufen war von einer strahlenden, durchsichtigen Halbkugel umgeben. Sie schim98 merte in allen Regenbogenfarben wie eine Mischung aus Öl und Wasser. Kutchs erste Tat bestand darin, die Schutzhülle zu beseitigen. Er nahm einen kleinen, flachen Runenstein aus der Gürteltasche und näherte sich dem Scheiterhaufen. Fast unhörbar murmelte er einen Zauberspruch und drückte den Stein gegen die Blase. Der magische Schild löste sich geräuschlos auf. Dann sah er sich um. Die Klippe war verlassen, ebenso die kleineren Hügel in der Nähe. »Keine Trauernden«, sagte er, und seine Stimme klang belegt. »Ich hatte gehofft, einige Leute anzutreffen, weil er doch so viel für die Menschen hier getan hat.«
»Ich denke, sie haben angesichts der Umstände seines Todes zu große Angst«, erwiderte Caldason. »Richte nicht zu hart über sie.« Kutch nickte. Er suchte noch einmal in seiner Gürteltasche und zog ein Stück Pergament hervor. Seine Hände zitterten leicht, als er es entfaltete. »Es gibt da einige Worte, die jetzt gesprochen werden müssen«, erklärte er. »Aber natürlich.« Mit schwankender, leiser Stimme trug der Zauberlehrling den Grabgesang in der alten Sprache vor. Als er an einer bestimmten Stelle hängen blieb und ihm die Tränen in die Augen schössen - er war wirklich noch ein ganz junger Bursche -, legte Caldason ihm eine Hand auf die bebende Schulter. Kutch fing sich wieder und fuhr etwas ruhiger fort. Caldason konnte nicht verstehen, was gesagt wurde, doch der Rhythmus und die Atmosphäre übermittelten ihm die tiefe Trauer der Worte. Sein Blick wan99 derte zum Horizont, zu den fliegenden Wolken und den fernen Seevögeln. Endlich war der Grabgesang vorbei. Kutch knüllte das Blatt zusammen und warf es auf den Scheiterhaufen. Nach einer, wie er meinte, angemessenen Pause fragte Caldason: »Und wie zünden wir den Haufen jetzt an?« »Das muss ich tun«, schniefte Kutch. »Das Feuer muss mit Hilfe der Zauberkraft entfacht werden.« Er sah den Qalochier mit schüchternem, schiefem Grinsen an. »Ich bin deshalb ziemlich nervös.« »Es wird schon klappen.« »Ja.« Kutch räusperte sich umständlich und richtete sich auf. Caldason zog sich einen Schritt zurück, um ihm Platz zu lassen. Der Zauberlehrling hub mit einem sonoren Gesang an, der von einer Reihe komplizierter Gesten begleitet wurde. Er starrte mit gerunzelter Stirn den Stapel scharf an. Zuerst waren seine Worte und die Bewegungen unsicher, dann nahm sein Selbstvertrauen sichtlich zu und seine Stimme wurde lauter. Auf einen Schlag waren der Holzstapel und der Tote in blendend helles weißes Licht getaucht. Flammen brachen hervor und loderten mit unnatürlicher, magischer Energie. Der Scheiterhaufen brannte lichterloh. »Gut gemacht«, sagte Caldason. Sie blieben eine Weile nebeneinander stehen und sahen zu, wie das Feuer sein Werk tat. Dann zupfte Caldason sachte an Kutchs Arm. Der Bursche drehte sich um und blickte in die Richtung, in die Reeth deutete. 100 Auf der benachbarten Hügelkuppe stand eine einsame Gestalt und starrte zu ihnen herüber. Die Entfernung war zu groß, um Einzelheiten zu erkennen, doch man konnte sehen, dass es ein älterer, vornehmer Mann war. Das maßgeschneiderte weiße Gewand war von einer Qualität, die hochrangigen Würdenträgern vorbehalten war. Der Wind ließ den dreiviertellangen Umhang flattern. Die Haltung des Mannes war aufrecht und stolz, sein Ausdruck war düster. »Hast du eine Ahnung, wer das ist?«, fragte Caldason. Kutch kniff die Augen zusammen und betrachtete den Fremden. »Nein. Ich glaube nicht, dass ich ihn schon einmal gesehen habe. Vielleicht jemand, der Domex etwas schuldig war.« »Es scheint, dein Meister ist doch nicht ganz und gar vergessen.« Sie beobachteten die Gestalt eine Weile, dann richteten sie die Aufmerksamkeit wieder auf die Flammen, deren Hitze in ihren Gesichtern brannte. Als Caldason sich etwas später wieder umsah, war der Fremde verschwunden. Das Feuer toste und knackte und spuckte dicken schwarzen Rauch aus. Dieser Anblick schien Kutchs Erinnerungen zu wecken. »Wisst Ihr, wenn mein Meister überlebt hätte, dann hätte er Euch vielleicht wirklich helfen können.« »Mag sein.« »Ich werde mir meine Feigheit niemals verzeihen, Reeth.« »Ich dachte, wir wären zu dem Schluss gekommen, dass man dir keinen Vorwurf machen kann«, erwiderte Caldason entschieden. »Gegen seine Mörder 101 hättest du nichts ausrichten können, nun bekomm das doch endlich mal in deinen Schädel.« »Ich versuche es, aber es ist nicht leicht. Ich muss immer denken, wenn ich doch nur ...« Caldason brachte ihn mit erhobener Hand zum Schweigen. »Das reicht. Trübe diesen Augenblick nicht mit Schuldgefühlen. Sie sind sinnlos, glaube mir.« »Trotzdem denke ich, dass er etwas für Euch hätte tun können. Er war ein großer Mann, Reeth.« »Ich habe so das Gefühl, dass ich eine Art von Hilfe brauche, die ich tatsächlich niemals finden werde.« »Wer ist denn jetzt der Zweifler?« Danach schwiegen sie, jeder in seinen Gedanken verloren. Die Hitze ließ Ascheflocken über dem Scheiterhaufen tanzen. Orangefarbene Funken zuckten im Rauch. »Phönix«, flüsterte Kutch halb träumend. »Wie war das?« »Phönix«, wiederholte er, als hätte er eine Art Erscheinung. »Ich verstehe nicht...«
»Warum habe ich nicht gleich daran gedacht?« »Was, zum Teufel, redest du da, Kutch?« »Der Bund natürlich. Versteht Ihr nicht? Wenn Euch überhaupt jemand helfen kann, dann der Bund.« »Der Bund ist ein Märchen. Eine Geschichte, die Mütter ihren Kindern erzählen, um sie einzuschüchtern.« »Mein Meister war anderer Ansicht.« »Er hat sich geirrt. Diese Leute existieren nicht.« Es knackte und krachte laut, während die Flammen Holz und Knochen verzehrten. »O doch, sie existieren, Reeth«, beharrte Kutch mit glänzenden Augen. »Und ich werde es Euch beweisen.« 102 Sie sahen einen Vogel niedrig und schnell mit hektisch flatternden Schwingen vorbeifliegen. Er hatte die Gestalt und die Größe eines Raben, war jedoch von anderer Farbe - ein poliertes Silber, das in den Augen schmerzte. Nach einem Augenblick war er schon wieder zwischen den Bäumen und den Hügeln in Richtung des Dorfes verschwunden. Caldason und der Junge taten die Erscheinung als unwichtig ab. Kutch nahm den Faden wieder auf, als sie liefen. »Mein Meister hatte in dieser Hinsicht eine ganz klare Meinung«, beharrte er. »Er sagte, den Bund gebe es wirklich, und ich habe es ihm geglaubt.« »Er hat tatsächlich existiert«, räumte Caldason ein, »aber er wurde unterdrückt. Es ist schon lange her.« »O ja, man hat versucht, ihn auszulöschen. Doch einige sind entkommen, und der Bund ist wieder gewachsen.« »Also, mir ist noch nie ein Mitglied begegnet.« »Das heißt aber nicht, dass es sie nicht gibt.« 103 »Ich will nicht mit dir streiten, Kutch. Wenn Domex dir gesagt hat, dass es sie noch gibt, dann soll es mir recht sein. Aber warum glaubst du, ein Haufen nicht lizenzierter Zauberer könne mir helfen?« »Weil sie erheblich mehr sind als das. Es heißt, ihre Art der Magie gehe bis auf die Gründer zurück.« Caldason schenkte sich eine Antwort. Sein Schweigen mochte nachdenklich sein oder vielleicht auch ungläubig. Kutch wusste es nicht zu deuten. Weit hinter ihnen stieg eine weiße Rauchsäule vom Scheiterhaufen auf der Klippe auf. Kutch sah sich noch einmal um. Er ließ die Schultern hängen und verzog vor Kummer und Schmerz das Gesicht. »Was weißt du denn über ihren Anführer?«, fragte Caldason, doch vielleicht sprach er auch nur, um den Jungen abzulenken. »Phönix?« Kutch richtete sich ein wenig auf. »Wahrscheinlich nicht mehr als das, was auch Ihr gehört habt. Ihr wisst schon - dass er oder sie jemand mit großer Erfahrung in der Zauberkunst sei, dass er nicht gefangen und nicht getötet werden könne.« »Aber wie ist das möglich?«, fragte Caldason. In seinen Augen schimmerte echte Neugier. »Ist das nicht völlig egal? Wichtig ist doch nur, dass der Bund Eure größte Gelegenheit darstellen könnte, überhaupt Hilfe zu finden. Sie haben nicht nur die Magie, Reeth. Sie sind Patrioten, und sie wenden sich gegen Gath Tampoor. Das bedeutet, dass sie den Paladinen wie ein Stachel im Fleisch stecken, und damit seid Ihr natürliche Verbündete, würde ich meinen.« Caldasons Gesichtsausdruck wurde wieder hart. »Du weißt, was ich von Verbündeten halte. Außerdem 104 bin ich kein Patriot. Jedenfalls nicht, soweit Bhealfa betroffen ist.« Der Boden wurde wieder eben. Sie waren jetzt in Sichtweite der ersten Gebäude des Dorfs. »Ihr solltet sie jedenfalls zu finden versuchen«, schlug Kutch vor. »Wo denn?« »In Valdarr.« »Weißt du auch, wo genau in Valdarr ich suchen müsste?« »Nein ... nein, das weiß ich nicht. Aber das ist die größte Stadt. Es scheint doch nur vernünftig, dass der Bund dort ist, oder? Wir könnten ...« »Es gibt kein wir, und du vermutest nur, dass man sie dort finden kann. Wenn ich den Bund suche, dann werde ich allein gehen.« »Warum kann ich denn nicht mitkommen?«, flehte der Bursche. »Ich habe es dir doch schon erklärt. Ich reise allein.« »Ich würde Euch gewiss nicht im Weg sein, und ich kann für mich selbst sorgen.« »Nein. Die Menschen in meiner Nähe sterben ziemlich schnell.« »Ich weiß ja, dass es gefährlich ist, weil Ihr ein Gesetzloser seid und so weiter und außerdem auch noch Qalochier, aber ...« »Die Leute sterben nicht unbedingt so, wie du dir es jetzt vorstellst. Es gibt andere Tode außer dem gewaltsamen.« Kutch begriff es nicht. Doch sie hatten mittlerweile den Rand der Siedlung erreicht, und ihre Unterhaltung brach ab. »Hier entlang führt ein kürzerer Weg 105 zum Haus«, sagte er elend. Er führte Caldason in eine Seitenstraße.
Die Straße verengte sich zu einer bloßen Gasse, die im Schatten überhängender höherer Stockwerke der Gebäude lag. Sie wurde schmaler, schlängelte sich durchs Dorf, kreuzte andere schmale Wege, die alle verlassen waren. Schließlich erreichten sie eine abschüssige gepflasterte Straße. Auf der rechten Seite standen Ställe, auf der linken primitive Hütten. Zwanzig oder dreißig Schritt vor ihnen lief jemand mit raschen Schritten in die gleiche Richtung wie sie. »Das ist er«, flüsterte Kutch. »Der Mann, der bei der Bestattung war.« Caldason betrachtete die Gestalt und nickte. »Er geht ein gewisses Risiko ein.« »Wieso das?« »Er ist nicht mehr jung, und dem Schnitt seiner Kleider nach zu urteilen besitzt er Geld. Doch er hat keine Leibwächter.« »Er ist geschützt. Er hat einen Verteidigungsschild. Sogar von guter Qualität.« »Verdammt will ich sein, wenn ich ihn sehen kann, Kutch.« »Man muss wissen, wie man schauen muss. Kommt schon, lasst uns mit ihm reden.« Reeth hielt ihn am Arm fest. »Warum?« »Wollt Ihr nicht wissen, wer er ist?« »Nicht unbedingt. Wenn jemand so aussieht, als könnte er eine Bedrohung darstellen oder als könnte er mir helfen, dann werde ich neugierig. Für den da gilt wohl keines von beidem.« »Er war abgesehen von uns beiden der Einzige, der zur Beerdigung meines Meisters gekommen ist.« Kutch 106 machte sich mit einem Ruck frei. »Ich möchte wissen, warum.« Reeth zuckte mit den Achseln. »Na schön. Aber vergiss nicht, dass ich mich nicht lange aufhalten will.« Sie beschleunigten ihre Schritte. Kutch hatte Recht. Als sie näher kamen, konnte Caldason eine Hülle aus flimmernder Luft erkennen, vielleicht eine Handspanne dick, die den Körper des Fremden umgab. Sie schimmerte wie von großer Hitze. Der Mann hörte ihre Schritte, blieb stehen und drehte sich um. Der fragende Ausdruck des edlen, von grauen Haaren eingerahmten Gesichts wich Beunruhigung. Kutch hob beschwichtigend die Hände. »Wir wollen Euch nichts tun.« Der Fremde zog sich unsicher ein oder zwei Schritte zurück und starrte sie schweigend an. Reeth sah sich um. »Hier stimmt was nicht.« »Was denn?«, fragte Kutch. »Was ist los?« »Man muss schon wissen, wie man schauen muss«, erwiderte Caldason trocken. Etwas schob sich in ihr Sichtfeld, ein Gewirr von funkelndem Silber. Der falsche Vogel, den sie zuvor gesehen hatten, flatterte gemächlich herunter. Die Zeit schien stillzustehen, als er auf dem ausgestreckten Arm des Fremden landete. Strahlendes Gefieder sträubte sich. Die lebhaften roten Augen des Geschöpfs richteten sich auf ihn. »Verrat!«, kreischte der Vogel. Dann hob er die Schwingen, als wollte er wieder wegfliegen. Doch er implodierte und zog sich zu 107 einer winzigen, vibrierenden Kugel zusammen, die hell strahlte und dann verging. Der Fremde kniff die Augen zusammen und kam zu dem Schluss, dass die beiden vor ihm der Anlass der Warnung waren. Er machte Anstalten fortzulaufen. »Nein!«, rief Kutch immer noch wie benommen. »Wir wollen Euch doch nichts tun!« Caldason hatte nicht auf den Zauber und den Fremden geachtet. Er musterte die Türen und Ställe. Mit hartem Gesicht und hartem Starren zog er langsam sein Schwert. Endlich bemerkte auch Kutch, was Caldason sah. Er brachte gerade noch ein verblüfftes »Was ...« heraus, ehe es ihm dämmerte. Aus den schäbigen Stallungen und den im Schatten liegenden Winkeln tauchten Männer auf. Es war ein gutes halbes Dutzend, und wenn es noch irgendeinen Zweifel an ihrer Absicht gab, dann wurde er von den Klingen in ihren Händen zerstreut. Alle bis auf einen hatten einen Gesichtsausdruck, den Caldason schon viele Male gesehen hatte. Sie hatten Raubtiergesichter. Straßenpiraten. Männer, die gegen Lohn oder einfach aus Vergnügen töteten. Die Ausnahme war ein unbewaffneter Mann, dessen Gewänder weit weniger kriegerisch aussahen. Im Gegensatz zu den anderen trug er einen Mantel und führte einen mit Gold beschlagenen Stab, der zu kurz war, um eine Waffe zu sein. Die Räuber schwärmten aus und machten Anstalten, ihre drei Opfer zu umzingeln. Der Mann, dem Kutch und Reeth gefolgt waren, schien zu Sinnen zu kommen, war aber offenbar immer noch misstrauisch, ob er den beiden trauen konnte. Er blickte unent108 schlössen zwischen ihnen und den anrückenden Angreifern hin und her. Ohne die Gegner aus den Augen zu lassen, griff Caldason über die Schulter nach hinten und zog langsam sein zweites Schwert. Als er es in der Hand hielt, blitzte ein grelles weißes Licht auf.
Es dauerte nicht länger als eine Sekunde, doch es blendete sie alle. Noch während die Flecken vor seinen Augen tanzten, erkannte Caldason den Ursprung. Der unpassend gekleidete Räuber hatte den geschmückten Stab erhoben und zielte damit auf den älteren Fremden. Kutch schrie etwas Unverständliches. Reeth konnte sehen, dass der Fremde jetzt völlig ohne Schutz war. Sein magischer Schild war verschwunden, die schimmernde Blase fort. Ein Auflösungszauber. Caldason konnte nur hoffen, dass sie über nichts Schlimmeres verfügten. Einer der Angreifer auf der rechten Seite kam ihm mit erhobenem Schwert entgegen. Auf der linken Seite folgte ein Bandit seinem Beispiel. Die anderen blieben stehen, wo sie waren. Caldason versetzte Kutch einen heftigen Stoß und schleuderte ihn dem Fremden entgegen. Der Junge schrie, stolperte und prallte fast gegen den älteren Mann. »Bleib da«, fauchte Caldason, als hätte er einem Hund einen Befehl gegeben. Die Zange der Angreifer begann sich zu schließen. Caldason blieb reglos stehen, unverrückbar wie ein Fels. Kutch sah mit vor Angst geröteten Wangen zu und konnte nicht glauben, dass Caldason die Au109 gen geschlossen hatte und, völlig unangemessen, sogar heiter wirkte. Doch dieser Ausdruck hielt sich nur eine Sekunde, bevor der Kampf begann. Ein Schwert in jeder Hand haltend, wehrte er beide Angreifer zugleich ab, blockierte ihre Vorstöße gewandt auf der linken und der rechten Seite. Dann drehte er sich einmal und noch einmal herum, bis er sie vor sich hatte. Sie griffen sofort an. Vier Klingen durchschnitten die Luft. Stahl prallte wütend auf Stahl, als die drei Männer ihren eleganten Tanz begannen, der so alt war wie das Böse selbst und der nur mit dem Tod enden konnte. Zuerst schien es Kutch so, als wollte Reeth die Angreifer lediglich in Schach halten. Doch bald schon sah er seinen Irrtum ein. Caldason verfolgte eine ganz bestimmte Strategie. Sie griffen ihn zwar mit gleicher Heftigkeit an, doch er reagierte unterschiedlich. Den Mann auf der rechten Seite hielt er nur von sich ab. Den auf der linken bekämpfte er offen. Als sie ihn gemeinsam angriffen, blitzten seine Klingen von links nach rechts, von der Defensive zur Offensive, von weich zu hart. Als es dann geschah, kam es schnell und brutal. Ohne Vorwarnung schlug Caldason nach dem Mann, den er müde gekämpft hatte. Für die Zuschauer sah es aus, als hätte er lediglich rasch die Klinge quer über die Brust des Räubers gezogen. Doch es war ein tiefer Schnitt, der einen Blutschwall nach sich zog. Das Opfer gab einen Laut von sich, halb ein Schrei und halb schmerzerfülltes Stöhnen, und ließ das Schwert fallen. Der Angreifer schwankte und stürzte geschlagen zu Boden. 110 Es war das einzige Geräusch, das die Kämpfer bisher überhaupt von sich gegeben hatten. Kutch staunte, wie eigenartig dieser Kampf verlief. Kein Wortwechsel, keine gebrüllten Herausforderungen und keine gemurmelten Drohungen. Nur Stille, abgesehen vom angestrengten Grunzen der Männer und dem klirrenden Stahl. Es schien so, als nähmen die Räuber ihren Beruf sehr ernst und wären bei der Arbeit nicht zu Gesprächen aufgelegt. Jetzt kam Bewegung in den Kampf. Als Caldason seinen zweiten Gegner anging, mischte sich ein weiterer Räuber in den Kampf ein. Kutch hatte unterdessen ganz eigene Probleme. Zwei Banditen kamen auf ihn und den Fremden zu. Der Letzte der Bande, der mit seinem Magie verzehrenden Stab eher ein Zauberer als ein Kämpfer war, hielt sich zurück. Kutch und der Fremde rückten instinktiv näher zusammen. »Die haben es auf mich abgesehen«, zischelte der alte Mann. Es waren die ersten Worte, die er überhaupt sprach, und sie ließen den Jungen auffahren. Doch Kutch hatte keine Zeit zu antworten. Ihre Angreifer waren nur noch eine Schwertlänge entfernt und rückten näher. Der Fremde warf den Mantel zurück und zog zwei Dolche aus dem Gürtel. Allerdings sah er nicht gerade wie der geborene Kämpfer aus, und die Angreifer hatten die größere Reichweite und waren in der Überzahl. Die Räuber lächelten. Kutch bekam einen Schweißausbruch, doch er schob jeden anderen Gedanken beiseite und konzentrierte sich allein auf die Zauberkunst. Caldason hatte gerade einen kräftigen Schlag ausgeführt, als der dritte Angreifer sich einmischte. Der 111 Neuankömmling, ein massiger Kerl mit Vollbart, schwang eine Zweihandaxt. Caldason wich dem Hieb aus, tauchte darunter hinweg und konterte mit einem ausholenden Schlag, der den Axtkämpfer in Stücke geschnitten hätte, wäre dieser nicht hastig zurückgetaumelt. Beim Rückzug stolperte er fast über den Leichnam des Komplizen, den Reeth bereits getötet hatte. Der zweite Gegner des Qalochiers war geschickter. Er führte einen Säbel, griff schnell und gewandt an und tänzelte wie eine Barbkatze. Reeth wich dem Hieb aus und teilte einige Schläge aus. Dann mischte sich der Axtkämpfer wieder ins Geplänkel ein, und der Angegriffene musste sich erneut gegen zwei Gegner wehren. Kutch und der Fremde beobachteten ihre anrückenden Gegner und machten sich auf den Angriff gefasst. Der kam ganz plötzlich, als einer der Ganoven vorsprang und den alten Mann anging. Mit überraschender Beweglichkeit wich der Fremde dem Angriff aus und konnte mit seinen Messern dem Feind sogar eine Verletzung zufügen, die den Räuber veranlasste, sich vorerst zurückzuziehen. Doch sein Kumpan, ein widerwärtiger schlaksiger Kerl, stieß vor und griff nun Kutch an. Der Junge wich zurück und hatte große Mühe,
die Anrufung, die er halblaut murmelte, nicht völlig zu ruinieren. Der Fremde packte Kutchs Handgelenk und zog ihn näher an sich heran. Dabei zeigte er den vorrückenden Gaunern die Dolche, als könnte er damit etwas gegen die Schwerter ausrichten, und zog sich zusammen mit Kutch weiter zurück. Drei Schritte machten sie, dann standen sie mit dem Rücken an einer groben Ziegelmauer. Sie press112 ten sich dagegen, und der Fremde hielt in einem vergeblichen Versuch, tapfer zu wirken, die Messer vor sich. Neben ihm murmelte Kutch seine Anrufung und machte mit zitternden Händen kleine Bewegungen. Die Banditen weideten sich an der Angst ihrer Opfer. Abrupt entstand ein Schwärm kleiner Lichter, die wie leuchtende Sandkörnchen um Kutch und den Fremden wirbelten. Ebenso plötzlich verschwanden sie wieder, und ein dunstiger Schein lag um den Mann und den Burschen. Das höhnische Grinsen der Banditen gefror, und sie runzelten die Stirn. Vorsichtig geworden, hielten sie sich zurück. Caldason ging unterdessen nach dem Prinzip vor, den größten Gegner zuerst zu erledigen. Er wehrte den schwächeren seiner beiden Angreifer vorerst nur ab und konzentrierte sich darauf, den kräftigen Mann mit der Streitaxt zu besiegen. Unablässig deckte er ihn mit wuchtigen Schlägen ein. Mehrere Schläge wurden abgewehrt und glitten an der Schneide der Axt oder am dicken Holzgriff ab. Andere pfiffen dicht am Kopf des Ganoven vorbei. Dann sah Caldason seine Chance. Der Schlag, der durchbrach, war wild. Er zertrümmerte dem Axtkämpfer den Schädel und fällte ihn auf der Stelle. Noch während der Angreifer zu Boden sank, drang sein Gefährte vor und brannte offensichtlich darauf, Rache zu nehmen. Caldason fuhr herum und stellte sich ihm. Es gab einen heftigen, wilden Schlagabtausch, der ein jähes Ende fand, als Caldason das Schwert des Gegners zwischen seine beiden Klingen nahm. Der Räuber wollte sich befreien und bleckte vor Anstrengung die Zähne. Seine Muskeln spannten 113 sich, doch Reeth hielt ihn fest wie mit einer Schraubzwinge. Dann zog er die Schwertgriffe herum und verdrehte dem Mann das Handgelenk. Ein schmerzhafter Ruck, und dem Gegner war die Klinge entwunden. Sie überschlug sich in der Luft und fiel klirrend aufs Pflaster. Der Räuber stand nun mit leeren Händen und wehrlos da und sperrte vor Schreck den Mund auf. Er sollte nicht lange so stehen bleiben. Reeths Schwerter bewegten sich geschwind. Zwei Schläge, einer rechts und einer links, schlitzten die Brust des Angreifers auf. Einen Moment lang blieb er noch verblüfft stehen, während auf seiner schmierigen Hemdbrust ein rotes Kreuz aufblühte. Als er zusammenbrach, wandte Caldason sich sofort von ihm ab. Reeth sah Kutch und den älteren Fremden von einer schimmernden Hülle umgeben, die schließlich flackerte und zusammenbrach. Die beiden noch lebenden Banditen drangen mit gezückten Waffen auf sie ein. Doch jetzt teilte sich ihre Aufmerksamkeit zwischen der vermeintlich leichten Beute sowie Caldason und dem, was dieser mit ihren Kameraden getan hatte. Rasch überwand Reeth die Distanz zwischen ihnen. Die Banditen wandten sich ihm zu und vergaßen ihre ursprünglichen Opfer. Klirrend prallten die Klingen gegeneinander, Caldason parierte den scharfen Stahl und zahlte es ihnen Schlag um Schlag mit gleicher Münze heim. Einige unendliche Sekunden lang schien im Spiel der zuckenden Schwerter keiner die Oberhand zu behalten. Dann erkannte Caldason eine Lücke in der Verteidigung eines Angreifers. Immer wenn der Mann auf der rechten Seite einen Streich 224 führte, ließ er einen Herzschlag lang seine Deckung außer Acht. Reeth wich einem Stich aus, schlug nach dem Mann auf der linken Seite und ließ ihn zurückweichen. Eine rasche Drehung zum Gegner auf der rechten Seite, und er konnte mit der Klinge zustoßen. Sie drang durch die Rippen tief in die Eingeweide. Die Schwertspitze brach am Rücken des Räubers wieder hervor. Das Blut spritzte bis zu Kutch und dem Fremden, der sich hinter ihm duckte, und bewies eindringlich, dass der Schutzschild wirkungslos war. Der alte Mann strich sich mit dem Handballen über die Augen, um das Blut abzuwischen. Kutch war erschüttert, verlegen und voller Angst. Er schämte sich, dass seine Magie derart nutzlos war. Seine Konzentration litt unter dieser Einsicht, und seine Geisteskräfte erlahmten. Der Schild zerfiel zu dunstigen Flocken. Caldason zog die Klinge heraus und ließ den toten Gegner zu Boden sinken. Der letzte Räuber griff den Qalochier brüllend an und schlug mit dem Schwert um sich wie mit einer Machete. Reeth wich zur Seite aus und ließ den überstürzten Angriff ins Leere laufen, doch er konnte dem Hieb nicht vollständig entgehen. Die Schwertspitze riss ihm den linken Arm vom Handgelenk bis zur Beuge auf. Das Schwert wurde ihm aus der Hand geschlagen, und sein zerfetzter Ärmel färbte sich rot. Kutch schnaufte vernehmlich. Doch die Wunde störte Reeth nicht. Er rempelte den Mann von der Seite an und stieß fest genug gegen seine Schulter, um den nächsten Schlag abzulenken. Dann setzte er mit seinem zweiten Schwert nach und schlug gnadenlos zu. Die Abwehr des Banditen ließ 115
auf der Stelle nach. Ein Stiefeltritt von Reeth in den Unterleib des Mannes brachte sie endgültig zum Zusammenbruch, und der Bandit war vorübergehend wehrlos. Reeth nutzte den freien Raum und stieß mit der Klinge zu. Sie bohrte sich durchs Fleisch bis ins Herz des Opfers. Leblos stürzte der Bandit zu Boden. Caldason wandte sich vom Gemetzel ab und blickte zu Kutch und dem Fremden. Ihre Gesichter waren aschgrau. Einige Augenblicke vergingen in betäubtem Schweigen, das Kutch schließlich brach. »Reeth!«, rief er und deutete in Richtung der Ställe. Sie hatten den letzten Räuber vergessen. Denjenigen, den sie für einen Zauberer gehalten hatten. Er stand ein Stück die Straße hinunter im Halbschatten und war nahe genug, dass sie sein ängstliches Gesicht erkennen konnten. Aus einem Ende des Zauberstabs, den er in der Hand hielt, quoll ein dicker Strom von gelbem Rauch. Statt sich aufzulösen, wurde der Rauch zum Besitzer des Stabes gezogen und legte sich um dessen Körper. Dicke Stränge des Rauchs schlängelten sich von den Füßen bis zur Hüfte um ihn herum und breiteten sich rasch auch auf der Brust aus. Caldason entriss dem Fremden einen Dolch, fuhr herum und warf ihn nach dem Zauberer. Noch während das Messer flog, hatte der gelbe Rauch das Ziel fast vollständig eingehüllt. Als die letzten Rauchschwaden den Kopf des Zauberers bedeckten, verfestigte sich der Umhang aus Rauch schlagartig und wurde durchsichtig. Die fliegende Klinge traf den magischen Schild und prallte wirkungslos ab. 116 Der Zauberer drehte sich sofort um und rannte los. Mit dem gestohlenen Schild sah er aus, als wäre er von einer dünnen Schicht aus glänzendem, geschmeidigem Eis umgeben. Gerade so, wie die Hülle vom vorherigen Besitzer getragen worden war. »Lasst ihn gehen«, drängte der Fremde. Caldason hatte im Grunde nicht übel Lust, die Verfolgung aufzunehmen, doch er sah ein, dass es sinnlos war. Kutch hatte es unterdessen noch nicht einmal geschafft, sein Zittern unter Kontrolle zu bringen. Sie sahen dem fliehenden Überlebenden nach, der mit schlenkernden Armen und wallendem Umgang fortrannte. Fünfzig Schritt weiter, und er fand eine Ecke, hinter der er verschwinden konnte. Die drei starrten einander an. »Euer Arm ...«, sagte Kutch. Caldason betrachtete den blutenden Arm. Er riss sich ein Stück Stoff aus dem Hemd und presste es, anscheinend ohne große Besorgnis, auf die Wunde. »Das ist weiter nichts.« Der Fremde ergriff mit heiserer Stimme das Wort. »Danke. Ich danke Euch beiden.« Kutch war niedergeschlagen. »Ich habe doch kaum etwas getan«, meinte er seufzend. »So viel zu meinen Fähigkeiten in der Zauberkunst.« »Du hast es wenigstens versucht«, beruhigte Caldason ihn. »Und das allein zählt.« Der Junge nickte, offenbar nicht recht überzeugt, und wandte sich an den Fremden. »Wer seid Ihr denn nun? Warum habt Ihr die Bestattung meines Meisters besucht? Wer waren diese ...« »Dafür haben wir jetzt keine Zeit«, unterbrach Caldason. »Wenn wir noch lange hier herumstehen, haben 117 wir die Stadtwache am Hals.« Er heftete den Blick auf den Fremden. »Und das, so glaube ich, ist etwas, das Ihr sicher gern vermeiden würdet.« »Dein Freund hat Recht«, bestätigte der alte Mann an Kutch gerichtet. »Ich will alles erklären, doch es ist wirklich das Beste, nicht unter diesen Begleitumständen aufgegriffen zu werden.« Galdason beugte sich über den nächsten Toten und wischte die besudelten Klingen am Wams des Mannes ab. Dann richtete er sich auf und steckte die Waffen in die Scheiden. »Also los«, befahl er und packte den Arm des Fremden. Eilig ließen sie den Weg und die herumliegenden Leichen hinter sich zurück. 118 Soweit sie es sagen konnten, blieb ihre Ankunft in Domex' heruntergekommenem Haus unbemerkt. Kutch fischte einen großen eisernen Schlüssel aus den Falten seines Hemds und stocherte damit im Schloss herum. Als die rostigen Riegel aufgesperrt waren, öffnete Caldason die Tür ganz unzeremoniell mit einem Tritt. Er schob Kutch und den Fremden hinein und legte die Riegel wieder vor. »Fenster!«, befahl er. Kutch eilte und zog die Läden vor. Er war bleich und zitterte. Der Fremde schien gelassener. Er betrachtete Reeth genau, die Lippen schmal zusammengepresst und wissenden Blicks. Doch er hielt den Mund. Caldason schob ihn nicht eben sanft in Richtung des Hauptraums. Nachdem das Tageslicht bis auf winzige Ritzen in den Vorhängen ausgesperrt war, herrschte im Zimmer eine düstere, bedrückende Atmosphäre. Kutch zündete eine Lampe an. Er schützte die Kerze mit der hohlen Hand, ging zum Kamin und zündete auch die 119 Kerzen in zwei schweren bleiernen Kerzenhaltern auf dem Kaminsims an. Schatten spielten auf den Rücken der zerlesenen Bücher in den Wandregalen. »Jetzt setz dich«, sagte Caldason.
»Ihr kommandiert mich immer noch herum wie einen Hund«, klagte Kutch, aber er tat wie ihm geheißen. Der Qalochier betrachtete den alten Mann. »Ihr auch.« Er gab dem Mann einen Stoß ins Kreuz und dirigierte ihn zu einem schweren Polstersessel. Der Fremde ließ sich seufzend hineinfallen. Staubflocken tanzten im Sonnenlicht. Selbst aus der Nähe war das Alter des Mannes schwer zu schätzen. Er war gewiss über die Blüte seines Lebens hinaus, doch eher im Herbst als im Winter des Lebens. Es war der verhärmte Gesichtsausdruck, der ihn älter wirken ließ. Sorgenfalten durchfurchten das bartlose Antlitz. Das silberne Haar, womöglich eine Spur zu lang gewachsen für sein Alter, verlieh ihm etwas Ehrwürdiges. Er war gekleidet wie ein reicher Mann. Als er nun sprach, klang seine Stimme entspannter und beinahe einnehmend. »Ich bin Euch beiden zu Dank verpflichtet und schulde Euch eine Erklärung.« »Mir seid Ihr überhaupt nichts schuldig«, erwiderte Caldason unwirsch. »Es ist mir ziemlich egal, wer Ihr seid und welche Probleme Ihr vielleicht habt.« »Aber Ihr habt Euer Leben für mich riskiert.« »Mir blieb nichts anderes übrig.« Der Fremde fasste ihn scharf ins Auge. »Ich glaube, das ist noch nicht die ganze Wahrheit«, bemerkte er leise. »Ihr könnt denken, was Ihr wollt. Ich denke mir, dass Ihr mich in Eure Schwierigkeiten hineingezogen 120 habt und wahrscheinlich noch weitere im Anmarsch sind. Ich sollte am besten sofort verschwinden, statt auch nur einen Augenblick länger hier zu verweilen.« »Ich stimme Euch zu, dass es klug wäre zu gehen. Doch es wird eine Weile dauern, bis die Kunde vom Versagen dieser Männer ihre Herren erreicht. Ich glaube nicht, dass in diesem Augenblick noch weitere Banden gegen mich eingesetzt sind. Auf jeden Fall entspräche dies nicht der Art und Weise, wie sie vorgehen.« »Sie?« »Unsere Herrscher.« »Die Regierung?«, warf Kutch mit aufgerissenen Augen ein. Der Fremde nickte. »Wer seid Ihr denn?«, fragte der Junge. »Mein Name ist Dulian Karr.« Kutch fuhr auf. »Der Patrizier Karr?« »Du bist gut auf dem Laufenden.« »Von Euch hat doch jeder schon einmal gehört.« »Was macht ein Mitglied des Ältestenrats an einem Ort wie diesem?«, fragte Caldason. Er stand am Fenster und beobachtete den Pfad draußen, den Vorhang in der Faust zusammengerafft. Jetzt ließ er den Stoff zurückfallen. Wieder musterte Karr ihn. »Ihr seid mir gegenüber im Vorteil. Ihr wisst nun meinen Namen, doch ...« »Er ist Reeth Caldason«, warf Kutch ein und fügte wissend hinzu: »Der Gesetzlose.« Wenn der Patrizier erschrak, dann ließ er es sich nicht anmerken. Caldason ergriff als Erster wieder das Wort. »Du hast nur durch Zufall etwas über mich erfahren kön121 nen, Junge. Ich wäre dir dankbar, wenn du es für dich behalten könntest.« Die Worte bohrten sich wie ein Pfeil in Kutchs Brust. Er errötete unter Caldasons kaltem Blick und hub zu einer Entschuldigung an, die er mitten im Satz verzagt abbrach. Ein gespanntes Schweigen senkte sich über den Raum. »Und du musst Kutch Pirathon sein«, warf Dulian Karr ein, der Mitleid mit dem Jungen hatte. Sie starrten ihn an. »Woher wisst Ihr das?«, stammelte Kutch. »Grentor Domex war einer meiner ältesten Freunde. Er hat oft von dir gesprochen. Als ich herkam, hatte ich noch keine Ahnung, dass er tot ist.« »Also gut.« Caldason hob die Handflächen, als wollte er sich ergeben. »Ich sehe ein, dass wir es wohl nicht vermeiden können, die Geschichte Eures Lebens anzuhören. Aber fasst Euch bitte kurz.« Der gerade noch gescholtene Zauberlehrling fühlte sich ein wenig besser, als er hörte, wie Reeth schlagartig zu einem unbefangenen Tonfall wechselte, ein für das quecksilbrige Wesen des Mannes offenbar typischer Stimmungsumschwung. »Warum wolltet Ihr denn meinen Meister überhaupt aufsuchen?« »Und warum habt Ihr keine Leibwächter?«, ergänzte Caldason. »Ich hatte eine ganze Phalanx Leibwächter, als ich aufgebrochen bin. Gute Männer, jeder Einzelne von ihnen. Meine Feinde haben ihre Reihen ausgedünnt, bis nur noch ich übrig war. Deshalb waren die Angreifer vorhin auch nur mit einem Aufhebungszauber ausgerüstet.« »Trotzdem seid Ihr hergekommen.« 122 »Und trotzdem habt Ihr mich verteidigt. Ich nehme an, wir hatten ähnliche Gründe. Mir blieb keine andere Wahl.« Caldason schwieg. Er lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Kante des staubigen Tischs. »Und was die Frage angeht, warum ich hergekommen bin ... vor vielen Jahren schloss sich eine Gruppe von Gleichgesinnten, zu denen auch Grentor und ich zählten, zusammen, um ein gemeinsames Anliegen zu vertreten.
Unser Ziel war es, in Bhealfa die staatliche Souveränität wieder herzustellen. Wir wollten echte Freiheit genießen und nicht nur deren Anschein, und wir wollten die Unterdrücker vertreiben.« »Schöne Worte.« Es war unmöglich zu erkennen, ob Caldasons Bemerkung zynisch gemeint war. Karr ging darüber hinweg. »Wir waren wohl jung und idealistisch, aber das machte das Objekt unseres Zorns nicht weniger real. Zu gegebener Zeit wählte jeder den Weg, der ihm am besten geeignet schien, sein Ziel zu erreichen. Ich entschied mich für die Politik und versuchte, unsere Freiheit durch das gesprochene Wort zu erringen.« Er lächelte humorlos. »Andere gingen zum Militär oder versuchten sich als Händler oder gar als Banditen, und einige sind auf diesem Weg auch gefallen. Dein Meister, Kutch, ist geblieben, was er schon immer war: ein Einzelgänger. Wie heißt es noch? Ein viereckiger Pflock in einem runden Loch. Aber verdammt will ich sein, wenn ich zu sagen weiß, wer von uns mehr erreicht hat.« Seine Augen blickten nachdenklich in weite Fernen. Dann nahm er sich zusammen und sprach weiter. »Ich bin hergekommen, weil es Neuigkeiten über die Fortschritte ... über die Fortschritte eines Plans gibt. Ein 123 Plan, den Domex über die Jahre mit ersonnen und ausgeführt hat.« »Musstet Ihr denn wirklich persönlich kommen?« »Es gibt nicht viele andere, denen ich meinen Bericht hätte anvertrauen können. Und ich wollte ihn persönlich aufsuchen, weil wir uns so lange nicht gesehen hatten.« »Wie sieht der Plan denn aus?« »Verzeiht mir, aber das ist ein Geheimnis, das ich nicht mit Euch teilen kann.« »Warum erwähnt Ihr es dann überhaupt?« »Ihr habt mir das Leben gerettet, und dadurch habt Ihr ein gewisses Maß an Vertrauen verdient.« Caldason zuckte geringschätzig mit den Achseln. Kutch hatte den Wortwechsel schweigend mitverfolgt. Caldason bemerkte erst jetzt, wie niedergeschlagen der Bursche wirkte. »Was ist denn los?« »Ich höre gerade etwas über eine Seite meines Meisters, deren Vorhandensein ich nie geahnt hätte. Ich meine, ich wusste ja, dass er den Staat nicht geliebt hat. Jetzt stellt sich heraus, dass er an einer großen Sache beteiligt war. An einer wichtigen Sache. Aber ... aber ich wusste es nicht. Er hat mir nie davon erzählt.« »Es geschah zu deinem eigenen Schutz«, erklärte Karr. »Das Prinzip lautet, dass dich nicht gefährden kann, was du nicht weißt. Domex hatte sich einem selbstlosen Ziel verschrieben. Deshalb haben sie ihn umgebracht, welchen Vorwand sie auch vorschieben mögen. Zweifle nur ja nicht daran. Du kannst stolz auf ihn sein, Kutch.« Der Junge schluckte den Kloß in der Kehle herunter und nickte. »Sind die Pläne, die Ihr erwähnt 124 habt, der Grund dafür, dass die Regierung Euch töten will?« »Mag sein. Ich gebe mich nicht der Illusion hin, sie wüssten nichts. Es gibt Informanten und Spione in den Reihen der Dissidenten.« »Dieser Kundschafter-Zauber in der Gestalt eines Vogels - wurde er geschickt, um Euch vor dem Angriff zu warnen?« »Ja, er wurde von Verbündeten in Valdarr geschickt. Ich wünschte nur, er hätte sich früher gezeigt. In meinem Kreis gibt es Verräter, die mir unlängst sehr nahe gekommen sind. Ich denke allerdings, dieser letzte Anschlag auf mein Leben ist vor allem darauf zurückzuführen, dass ich ganz allgemein ein Stachel im Fleisch der Machthaber bin. Es käme ihnen sehr gelegen, wenn ich durch die Hand angeblicher Straßenräuber den Tod fände.« »Haben sie es denn schon einmal versucht?« »Sogar mehrmals.« Karrs Stimme klang beinahe so, als wäre er auch noch stolz darauf. Caldason unterbrach ihn. »Warum sollten sie so großen Wert darauf legen, einen aus den eigenen Reihen umzubringen?« Der Patrizier sah ihn mit schmalen Augen an. »Was meint Ihr damit?« »In meinen Augen seid Ihr ein Teil der Regierung oder kommt dem zumindest sehr nahe. Ihr spielt deren Spiel.« Karr lachte halb zynisch und halb amüsiert. »Ihr habt ein recht voreingenommenes Bild von der Regierung. Die Politik ist eben meine Art, den Staat herauszufordern. Ich behaupte nicht, viel bewirken zu können, und im günstigsten Fall werden meine An125 sichten gerade eben toleriert. Und doch ist es nun mal das, was ich tun kann.« »Wie viel Brot bringt das in hungrige Mäuler? Wann hilft es einem Schwachen, den Starken zu besiegen?« »Ihr habt schon Recht, die Politik ist ein Ränkespiel. Ich habe mich mein ganzes Leben in dieser schwarzen Kunst geübt. Man arrangiert sich, man verschließt die Augen, man schmeichelt denen, die uns unterdrücken.« »Das ist ein selten ehrliches Wort von einem Mann Eures Standes. Aber warum gebt Ihr Euch dann überhaupt damit ab?« »Weil ich der Ansicht war, dass die Regierung den Interessen der Bürger dienen solle. Ich dachte, das System könne die Ausschweifungen unserer Kolonialherren einschränken und vielleicht sogar ihre Macht brechen. Sie haben mich für diesen Glauben zur Rechenschaft gezogen.« »Davon habe ich gehört. Man hat Euch naiv, militant, aufsässig und radikal genannt...«
»Und Euch nennt man erbarmungslos.« »Es kommt eben immer darauf an, wer der Sprecher ist.« »Genau.« Kutch schaltete sich wieder ein. »Wenn es darum geht, denen Widerstand zu leisten, die das Volk schinden, ist es dann nicht gut, ein Radikaler zu sein?« Karr lächelte. »Gut gesprochen.« »Das hat mein Meister immer gesagt«, räumte der Junge ein wenig verlegen ein. »Dann muss man es dir anrechnen, dass du ihn ehrst, indem du seinen Gedanken aussprichst.« 126 Caldason drehte sich zu Karr um. »Ist dieser große Plan, den Ihr Euch da ausgedacht habt, auf irgendeine Weise auch ein politischer Schachzug?« »Die Politik ... ja, sie ist ein Teil davon.« »Was sind die anderen Teile?« »Protest kann mehr als eine Form annehmen.« »Das klingt ja beinahe, als hätte es mit dem Widerstand zu tun.« Karr hielt seinem prüfenden Blick stand. »Ich gehöre der Opposition an. Andere sind im Widerstand.« »Es ist bekannt, dass die Gruppen sich zusammengetan haben.« »Wie ich schon sagte, schmähen unsere Herrscher all jene, die sich gegen sie stellen. Sie wollen die Menschen glauben machen, alle Gegner der Regierung seien Terroristen.« »Heißt das, Ihr haltet die Widerständler für Terroristen?« »Aber nein. Und Ihr?« »Nein.« Er blickte zu Kutch und fügte sarkastisch hinzu: »Aber andererseits bin ich ja auch ein Gesetzloser, das dürft Ihr nicht vergessen.« »Was wollt Ihr damit sagen, Caldason?« »Jeder Plan, der etwas verändern soll, muss den Widerstand einschließen, wenn er Aussicht auf Erfolg haben will.« »Ich sage es noch einmal: Die Opposition hat viele Gesichter. Es gibt friedliebende Zeitgenossen und sogar Priester, die mit dem Regime nicht einverstanden sind, die aber dennoch mit Revolutionären, Agitatoren, Staatsfeinden und ähnlichen Leuten keine gemeinsame Sache machen wollen. Selbst die Bruderschaft der Gerechten Klinge ist wieder zum Leben 127 erwacht. Wusstet Ihr, dass sie sich neu organisiert hat?« »Das ist mir zu Ohren gekommen.« »Wer ist das?«, wollte Kutch wissen. »Ein alter Kriegerorden«, erklärte Karr. »Er wurde von Patrioten gegründet. Zu ihm zählen einige der besten Schwertkämpfer des Landes. Sie haben geholfen, eine Tradition fortzuführen, die wegen ihrer Tapferkeit früher allenthalben Achtung genoss. Oft sind sie in Zeiten aufgetaucht, in denen die Unabhängigkeit des Landes bedroht war.« »Und sie haben sich als ohnmächtig erwiesen, wenn Bhealfas derzeitiger Zustand ein Urteil erlauben soll«, bemerkte Caldason. »Vielleicht hätten sie mehr erreicht, wenn sie eine größere Unterstützung von uns erfahren hätten«, gab Karr schnippisch zurück. »Aber wenigstens tun sie etwas.« »Wenn Ihr glaubt, ein Haufen Idealisten mit altmodischen Vorstellungen von Ritterlichkeit habe viel zu Eurer Sache beizusteuern, dann mag es wohl so sein.« »Man kann unterschiedlicher Meinung sein, aber es ist nicht alles schwarz und weiß, wie Ihr zu glauben scheint. Ich und die wenigen Politiker, die so denken wie ich, brauchen alle Verbündeten, die wir nur gewinnen können. Wir sind wie Flöhe auf dem Rücken eines Ochsen.« »Das beschreibt die Größe Eures Vorhabens recht gut.« »Selbst ein Ochse kann durch genügend Flohstiche niedergestreckt werden.« . »Das träumt Ihr nur.« 128 Karr schnaufte vernehmlich. »Ihr scheint ja nicht gerade erpicht darauf zu sein, die bestehenden Machtverhältnisse zu ändern. Wenn ich mir ansehe, was die Qalochier erduldet haben, überrascht mich dies doch ein wenig.« Reeth fuhr auf, als er an das Land seiner Geburt erinnert wurde. »Euer Volk musste Massaker und gewaltsame Säuberungen hinnehmen«, fuhr Karr fort, »und wer von Euren Leuten in der Verbannung überlebte, sieht sich mit schlimmen Vorurteilen konfrontiert. Wenn überhaupt jemand Grund hat, das Regime zu hassen, dann sind es die Qalochier.« Kutch wusste, wie empfindlich Caldason reagieren konnte, wenn es um das Schicksal seines Volkes ging, und rechnete mit einer heftigen Reaktion. Er sollte nicht enttäuscht werden. »Das traurige Schicksal der Qalochier ist bekannt«, sagte Caldason mit mühsam beherrschter Stimme. »Doch wie ich sehe, schwingt kaum jemand für uns die Keule. Warum sollten wir nun Euch unterstützen?« »Weil es auch Euer Kampf ist. Und einige von uns haben sich tatsächlich zur Not der Qaloch geäußert. Darunter
auch ich.« »Viel genützt hat es ja wohl nicht.« »Ich kann Euren Zynismus verstehen, doch ...« »Wirklich?« Unvermittelt brach Caldasons Leidenschaft durch. »Hat man Euch schon einmal wegen Eurer Abstammung bespuckt? Wurden Eure Siedlungen niedergebrannt und die Frauen geschändet? Hat man Euch schon einmal wegen Eurer Ahnen so behandelt, als wäre Euer Leben weniger wert als eine Hand voll Dreck?« 129 »Wegen meiner Vorfahren ... nein.« »Nein, so etwas ist Euch nicht geschehen. Zugegeben, Euer Leben ist in Gefahr, aber im Gegensatz zu mir könnt Ihr Euch frei entscheiden. Ihr könntet Eure Agitation einstellen und dem Staat keinen Grund mehr geben, Euch zu verfolgen.« »Das würden meine Prinzipien nicht erlauben«, erwiderte Karr pikiert. »Ich respektiere Euch als Mann, der sich für seine Ziele in Gefahr bringt. Für mich aber gibt es keine Wahl. Meine Herkunft lässt es nicht zu. Und wenn es um Vorurteile und Heuchelei geht, stehen sich die beiden Reiche einander in nichts nach. Dieses Land befindet sich nun gerade unter dem Joch des einen Reiches, und früher war es das andere. Die Welt ist nun einmal, wie sie ist.« »In diesem Punkt stimmen wir nicht überein. Ich bin der Ansicht, dass man etwas verändern kann.« »Ob Gath Tampoor oder Rintarah, das macht doch keinen Unterschied.« »Ich rede nicht davon, ein herrschendes Reich durch das andere zu ersetzen oder die derzeitige Herrschaft abzumildern. Es könnte noch einen ganz anderen Weg geben.« »Eine kühne Hoffnung, Patrizier.« »Mag sein. Doch es hat sich schon zu lange nichts mehr bewegt. Alles ist festgefahren. Eine doppelgesichtige Justiz, die sich angesichts der Verbrechen der Bürger von Gath Tampoor blind stellt; Bhealfas Jugend wird ins Militär gepresst, um für das Reich Stellvertreterkriege zu führen; ferne Herrscher, die nichts mit dem Volk gemein haben; erpresserische Steuern ...« 130 »Das wissen wir doch alles«, unterbrach Caldason ihn. »Wir sind hier nicht auf einer Wahlversammlung.« Karr schien ein wenig gekränkt. »Ich sage ja nur, dass es nicht mehr lange so weitergehen wird.« »Warum denn nicht? Die Reiche sind stärker denn je. Selbst wenn wir fähig wären, eines zu besiegen, würde das zweite die Leere füllen.« »Das verhielt sich in der Vergangenheit so. Heute bin ich nicht mehr so sicher. Es gibt Anzeichen, dass die Rivalität ihre Macht zersetzt.« Kutch mochte es nicht recht glauben. »Macht Ihr Scherze?« »Es ist mir völlig ernst damit. Rintarah und Gath Tampoor leiden unter dem Druck, sich gegenseitig überbieten zu müssen. Beide schränken die Rechte der Bürger und Untertanen ein und pressen aus den Kolonien heraus, was sie nur bekommen können. Was ihre Stärke angeht ... nun, ein Ast mag kräftig scheinen, bis der Blitz einschlägt, und das Eis ist kurz vor dem Tauwetter am stärksten.« »Zu behaupten, die Reiche verlören ihre Macht, ist eine Sache«, wandte Caldason ein. »Doch es zu beweisen, ist eine ganz andere.« »Ich kann mich nur auf meinen Instinkt und auf alltägliche Erfahrungen berufen. Es liegt Brutalität in der Luft. Könnt Ihr es nicht spüren?« »Ihr meint, mehr als sonst?« »Ich kann Euch den Spott nicht übel nehmen. Aber seht Euch doch um. Die Unordnung nimmt allenthalben zu, und in den äußeren Bezirken herrscht die reinste Anarchie. Das könnten wir zu unserem Vorteil nutzen.« 131 »Offenbar wollt Ihr Euren Gegnern einen Schlag versetzen, doch Ihr habt mir nicht verraten, wie Ihr dies zuwege bringen wollt. Und da wundert Ihr Euch, dass ich Zweifel habe?« »Nein. Aber vielleicht denkt Ihr anders, wenn Ihr mehr erfahren habt.« »Ich glaube nicht, dass wir dazu lange genug in Verbindung bleiben werden, Karr.« Der Patrizier beäugte ihn nachdenklich. »Vielleicht doch. Ich habe ... Euch einen Vorschlag zu machen.« Er studierte Caldasons misstrauischen Gesichtsausdruck. »Falls Ihr mich anhören wollt.« Reeth überlegte, dann nickte er knapp. »Ich muss nach Valdarr zurück«, erklärte Karr. »Ich habe keinen Schutz, weder magischen noch menschlichen. Wenn Ihr nun ...« »Nein.« »Ihr sagtet doch, Ihr wolltet zuhören.« »Ich habe genug gehört. Ich bin kein Kindermädchen. Ich schließe mich niemandem an und trete in kein Bündnis ein. Wenn Ihr Schutz braucht, kann Kutch Euch einen Schutzzauber verkaufen.« Ob er es nun richtig verstand oder nicht, der Bursche fasste diese Bemerkung als Kritik an seinen Bemühungen während des Überfalls auf. Der Kommentar verletzte ihn, und das war ihm auch anzusehen. Doch die beiden Männer bemerkten es nicht. »Ich will Euch nicht auf irgendetwas verpflichten«, erklärte Karr. »Ich bitte Euch nur, mich wohlbehalten
hinzubringen. Danach geht jeder seiner Wege.« Caldason schüttelte den Kopf. »Ihr wollt doch sowieso nach Valdarr, Reeth«, unterbrach Kutch. 132 »Das habe ich nicht gesagt.« »Es klang aber ganz danach.« Caldason schwieg sich aus. Kutch, dem nach dem Tadel beinahe alles egal war, antwortete an Caldasons statt. »Reeth wollte den Bund suchen. Allerdings ist er wohl nicht sicher, ob er überhaupt existiert.« »Der Bund?«, meinte Karr. »Aber natürlich existiert er.« »Seht Ihr?«, meinte Kutch schadenfroh. »Ich hab's Euch doch gesagt.« »Was habt Ihr denn mit denen zu schaffen, Caldason?«, wollte Karr wissen. Der Qalochier runzelte die Stirn und machte ein finsteres Gesicht. »Das ist eine persönliche Angelegenheit.« »Aber natürlich. Das ist Euer gutes Recht. Falls es Euch jedoch um Magie gehen sollte und falls Ihr nicht mit den offiziell bestallten Zauberern arbeiten wollt oder könnt, dann gibt es nichts Besseres als den Bund. Ich muss allerdings einräumen, dass der Umgang mit ihm gewisse Gefahren mit sich bringt.« »Jeder Umgang mit der Magie hat seine Gefahren.« »Wohl wahr. Sie ist ein Teil des gesellschaftlichen Leims, der diese ungerechte Kultur zusammenhält. Unter der neuen Ordnung, die ich entstehen sehen möchte, wäre alles viel gerechter verteilt.« »Ich würde die Magie gleich ganz und gar abschaffen.« Karr erschrak sichtlich. »Wirklich? Und da nennt man mich einen Radikalen.« Er hätte noch mehr zu diesem Thema gesagt, doch Caldasons Gesichtsausdruck belehrte ihn eines Besseren. So beschränkte er 133 sich darauf, ein Angebot zu unterbreiten. »Ich kann Euch den Kontakt mit dem Bund ermöglichen. Dazu braucht man Beziehungen, wie ich sie habe. Ohne Hilfe habt Ihr kaum eine Chance, glaubt mir. Also, wie wäre es mit einem Handel? Ich führe Euch zum Bund, und Ihr begleitet mich nach Valdarr.« »Und ich komme mit!«, unterbrach Kutch. »Ich muss doch irgendwo hin. Hier kann ich nicht bleiben.« Karr ergriff die Gelegenheit. »Wenigstens um des Jungen willen, Caldason, wenn Euch schon alles andere einerlei ist.« Der Qalochier sah zwischen den beiden hin und her. »Ich werde von den Behörden gesucht«, erklärte er schließlich. »Das hat Folgen für jeden, der mit mir reist.« »Ich bin bereit, dieses Wagnis einzugehen.« »Sobald wir die Stadt erreichen, ist Kutch auf sich selbst gestellt. Ich brauchte eine Zusicherung, dass er nicht vor die Hunde geht.« »Ich kümmere mich darum, dass er gut untergebracht wird. Darauf gebe ich Euch mein Wort.« »Dann wollen wir eines klarstellen. Wenn ich Euch beide nach Valdarr gebracht habe, endet meine Verpflichtung, und wir trennen uns.« »Dann seid Ihr einverstanden?« Caldason seufzte. »Es sieht wohl so aus. Aber missversteht das nicht in der Weise, als unterstützte ich Euer Anliegen oder Eure Pläne oder was immer Ihr ausbrütet. Ich tue es für den Burschen hier.« Kutch strahlte. »Großartig.« »Freu dich nicht zu früh, wir sind noch nicht da.« »Danke, Caldason«, meinte Karr. 134 »Spart Euch den Dank. Vielleicht werdet Ihr es am Ende noch bereuen. Wie ich schon sagte ...« Er warf einen Blick zu Kutch. »Die Leute in meiner Nähe sterben schnell.« »Das gilt aber offenbar auch für Eure Feinde.« Kutch fiel etwas ein, das er die ganze Zeit verdrängt hatte. Er sprang auf. »Bei den Göttern, Reeth, ich hab's ganz vergessen! Euer Arm!« Auch Karr erinnerte sich jetzt. »Ja, Eure Verletzung. Wir sitzen hier herum und reden und ...« »Immer mit der Ruhe.« Caldason wehrte sie mit einer Geste ab. »Nun regt Euch meinetwegen nicht so auf.« Ohne besondere Eile rollte er den Ärmel seiner Weste hoch und dann den blutbefleckten Hemdsärmel darunter. Sein Arm war von verkrustetem Blut bedeckt. Er spuckte sich in die hohle Hand und wischte das Blut ab. Die Haut darunter war unverletzt. Es gab keine Wunde. »Ich sagte doch, dass es weiter nichts war.« Kutch starrte das heile Fleisch an. »Aber ...« »Manchmal sehen die Dinge in der Hitze des Kampfes ein wenig anders aus, als sie es sind«, erklärte Caldason ihm. »Ich hätte schwören können, dass Ihr einen Schwertstreich abbekommen habt«, wandte Karr verwirrt ein. »Vielleicht war es eine optische Täuschung. Es ist aber egal.« Er rollte den Ärmel wieder herunter. Seine Bewegungen hatten etwas Endgültiges, und das Thema war damit erledigt. Karr und der Zauberlehrling wechselten einen Blick. Keiner von ihnen hatte Lust, dem Mann zu widersprechen. »Dann macht Euch reisefertig«, sagte Caldason. »Wir brechen auf.«
135 Serrah Ardacris war alles egal. Es störte sie nicht, dass die gestohlenen Stiefel die falsche Größe hatten und ihre Füße schmerzten. Oder dass die Kleidung, die sie von Wäscheleinen gestohlen und von Müllhaufen stibitzt hatte, nicht zusammenpasste und schlecht saß. Sie interessierte sich nur am Rande dafür, dass sie seit zwei Tagen Abfall gegessen, Regenwasser getrunken und unruhig in Toreinfahrten geschlafen hatte. Serrah hatte sich natürlich nicht in die Nähe ihrer Behausung gewagt und auch mit niemandem, den sie kannte, Kontakt aufgenommen. Sie wusste, wie der Rat für Innere Sicherheit arbeitete, was im Bereich seiner Möglichkeiten lag und über welche Mittel er verfügte. Deshalb blieb sie in ständiger Bewegung. Sie war schmutzig und erschöpft, und die Wunden, die sie von den Schlägen davongetragen hatte, heilten schlecht. Mehr humpelnd als laufend irrte sie durch Merakasas wimmelnde Straßen. 137 Ihr Kopf schien wie mit Watte gefüllt, und irgendwo tanzten ferne Sterne. Sie fühlte sich benommen und körperlos, als beobachtete sie sich selbst aus großer Ferne. Dabei blieb sie vorsichtig und ging den Streifen und Paladinen aus dem Weg. Doch auf eine perverse Weise hoffte sie zugleich, man werde sie aufgreifen, damit endlich alles zu Ende sei. Ihr eigener Zustand war ihr zwar weitgehend einerlei, doch es gab zwei echte Ängste, die ständig an ihr nagten. Eine war, dass sie um eine Ecke kommen und Eithne vor sich stehen sehen könnte oder dass jemand sich für sie ausgab. Zweimal hatte sie es schon beinahe geglaubt, und ihr Magen hatte einen Übelkeit erregenden Satz gemacht, bevor sie den Irrtum erkannt hatte. Das Wissen, dass ihre Tochter im Grab lag, nützte ihr überhaupt nichts. Serrahs zweite Sorge betraf die Spürzauber. Der Gedanke an Bluthundgeister und schnüffelnde Gespenster riss sie hin und wieder aus der Benommenheit und jagte ihr kalte Schauer über den Rücken. Sie fragte sich, ob ihre früheren Herren sie so dringend erwischen wollten, um derart hohe Unkosten für gerechtfertigt zu halten. Während sie durch die Stadt streifte, kam und ging ihr Denkvermögen wie Ebbe und Flut. Bei Ebbe musste sie gegen den Drang ankämpfen, laut zu schreien oder den Kopf gegen eine Mauer zu schlagen, einfach um herauszufinden, ob es überhaupt irgendjemand bemerkte. Um sich zu bestätigen, dass sie existierte. In klaren Momenten grübelte sie über die Identität ihrer Retter und deren Beweggründe wie ein Hund, der einen abgenagten Knochen bearbeitet. 138 Sie wanderte aus einem wohlhabenden Bezirk heraus und gelangte in ein ärmeres Viertel. Nach Bürgern, die in feiner Kleidung umherstolzierten, sah sie nun Bettler mit ausgestreckten Händen. Nach den geschmückten Kutschen sah sie Schweine auf der Straße wühlen. Überraschend klein war die Distanz zwischen dem eindrucksvollen, hinreißenden Zauber des Reichtums und dem fragwürdigen, zwielichtigen Bann der Mittellosigkeit. Hier kauften sich die Armen preiswerten Zauber bei Straßenhändlern. Schäbige Ware, hereingeschmuggelt von ausländischen Manufakturen, in denen Kinder unter entsetzlichen Bedingungen und ohne fachkundige magische Aufsicht schuften mussten. Auch Fälscher hatten ihre Stände aufgebaut. Wenn die Menschen nicht wählerisch sein konnten, setzten sie eben auf Nachahmungen. Manchmal funktionierten die nachgemachten Zauber tatsächlich. Manchmal enttäuschten und verletzten sie die Menschen, und gelegentlich waren sie sogar tödlich. Es gab auch Schwarzhändler, die keine Lizenz besaßen. Die Strafen für ihr illegales Tun waren hoch. Zum Schutz beschäftigten sie Helfer, die Schmiere standen. Einige bezahlten auch Raufbolde, die für Ablenkung sorgen sollten, sobald sich die Gesetzeshüter blicken ließen. Die meisten schützten sich mit echten magischen Verteidigungen - Blendzauber, kreischende Todesfeen, Täuschungsbomben und so weiter. Serrah hätte ein Gespenst sein können, das in dem Gestank, der aus den Gossen stieg, durch die elende Menge schlich. Doch selbst hier, wo das Abnormale alltäglich war, wichen viele vor ihrer Wildheit zurück. 139 Sie bemerkte es nicht. Inzwischen hatte sich ein Gedanke herauskristallisiert, der schon eine ganze Weile durch den Nebel in ihrem Kopf getrieben war, und sie wusste, was sie brauchte. Eine Waffe. Seltsam, dass sie diesen Mangel nicht schon längst gespürt hatte. Zwei Tage waren vergangen, seit ihre Retter sie aufgefordert hatten, vor dem Klettergang an der Wand der Festung die Waffe abzugeben, und erst jetzt bemerkte sie, was ihr fehlte. Eine kleine, leise Stimme, die beinahe wie die Stimme der Vernunft klang, drängte sie, diesen Mangel zu beheben. Sie sah sich um, sah sich ernsthaft um, und betrachtete die Menschen ihrer Umgebung. Natürlich trug fast jeder mindestens eine Waffe. Serrah hatte keinen Zweifel, dass sie trotz ihrer Verletzungen jedem von ihnen nehmen konnte, was sie haben wollte. Dann sah sie ihn. Milizionäre patrouillierten immer zu zweit, und ganz besonders in einem Ghettobezirk. Der Uniformierte dort verließ gerade seinen Gefährten. Vielleicht wollte er sich nur zu einer Wache in der Nähe begeben oder irgendwelche Angelegenheiten besorgen, die mit seinem Dienst nichts zu tun hatten. Er war der Größere und eindeutig der Stärkere der beiden. Deshalb entschied sie sich für ihn. Es war die gleiche Art von
Widersprüchlichkeit, die Menschen, welche große Höhen fürchten, dazu veranlasst, sich an hohen Plätzen bis an die Kante vorzuwagen. In ihrer körperlichen Verfassung hätte Serrah einen Zivilisten auswählen sollen. Doch sie brannte darauf, gegen die Staatsmacht zu kämpfen. 140 Alte Instinkte übernahmen die Regie, ein Vermächtnis ihrer Erfahrung und ihrer Ausbildung. Sie bewegte sich wie ein Raubtier und schlich hinter ihm her. Wohin er auch ging, er hatte ein bestimmtes Ziel. Er lief schnell, drängte sich durch die Menge und zwang alle, die ihm in den Weg kamen, zur Seite zu treten. Er gab sich selbstherrlich wie der Hahn im Hühnerhof und zog Blicke auf sich, die von Ehrerbietung und Verachtung zugleich sprachen. Serrah folgte ihm in einiger Entfernung und achtete darauf, dass stets genug Leute zwischen ihm und ihr blieben, ohne jedoch seinen breiten Rücken aus den Augen zu verlieren. Der Milizionär bog in ruhigere Straßen ab. Serrah beschattete ihn, während er durch die gewundenen Straßen lief, die menschenleer, aber voller Abfall waren. Als er eine völlig verlassene Gasse betrat, beschleunigte sie ihre Schritte und schloss zu ihm auf. Ihr Herz hämmerte zum Zerspringen. »Halt!«, rief sie schließlich. Es war das erste laute Wort, das sie seit der Flucht gesprochen hatte. Der knirschende Klang ihrer Stimme überraschte sie selbst. Die Hand ans Schwert gelegt, drehte er sich um. Serrah starrte die Klinge an wie eine verhungernde Frau ein Stück Fleisch. »Nun?«, erwiderte er. Sie hob den Blick. »Ich will...« Ihre Stimme schwankte, versagte. Das Blut rauschte ihr in den Ohren. Sie sah ihn nur an. Auch er musterte sie. Die flackernden Augen mit den dunklen Ringen darunter, das aschgraue Gesicht, 141 das schmierige, verfilzte Haar. Die Prellungen und die Schürfwunden und der Dreck, und darunter das, was sie gewesen war oder noch sein konnte, eine recht hübsche Frau. Er entspannte sich, da er sie für ungefährlich hielt. »Was willst du?«, fragte er sie. Serrah konzentrierte sich auf ihren Plan. »Ihr habt etwas, das ich haben will«, erklärte sie und kam näher. Er rümpfte die Nase, als er ihren ungewaschenen Körper roch, und wedelte sich mit der Hand frische Luft zu. »Und du hast etwas, das ich nicht haben will.« Dann glaubte er sie zu verstehen. Ein anzügliches Grinsen spaltete den Vollbart und entblößte Zähne, die die Farbe von Lehm hatten. »Oh«, grunzte er wissend. »Du stehst auf Uniformen, was? Oder lockt dich meine Börse?« Er klopfte auf eine Schwellung in der Seite seiner Tunika. »Haltet Ihr mich für eine Hure?«, flüsterte sie. Echter Zorn stieg in ihr auf. »Dich würde ich um keinen Preis nehmen!« Sein Gelächter war grob und hässlich. Er wühlte in einer Tasche herum. »Hier. Und jetzt mach, dass du weiterkommst, Schlampe, und du kannst von Glück reden, dass dir nichts weiter geschieht.« Er warf ihr ein paar kleine Münzen zu. Sie blieben vor Serrahs Füßen unbeachtet im Dreck liegen. Sie starrte ihn an, und ihr Gesicht färbte sich vor Wut dunkelrot. »Eine Hure?«, wiederholte sie fast unhörbar. »Und eine ziemlich miese dazu. Warum verschwindest du nicht einfach und ...« Irgendetwas in ihrem 142 Auftreten hatte sein Misstrauen erregt. Er sah sie aus der Nähe an. »Kenne ich dich nicht?« Es war durchaus möglich. Vielleicht waren sie sich einmal in Uniform begegnet, in jener Zeit, die sie jetzt als ihr früheres Leben betrachtete. Doch sie wusste, dass er etwas anderes meinte, und schenkte sich die Antwort. Stirnrunzelnd langte er in die Tunika, ohne sie aus den Augen zu lassen. Er zog einen flachen, quadratischen Gegenstand heraus, der bequem in seine Hand passte. Das Ding ähnelte einem einfachen Handspiegel. Sie erkannte es sofort und ballte die Hände zu Fäusten. Der Zauber wurde durch Licht aktiviert. Serrah wusste, dass die spiegelnde Seite einen Moment lang leer werden und sich dann milchig trüben würde. Danach wurden die Informationen angezeigt, die zur Verfügung standen. Sie konnte sich ausmalen, was herauskommen würde. Der Milizionär sah auf die Scheibe, und sein Gesichtsausdruck bestätigte Serrahs Vermutung. Sein Gesicht wurde hart. Er starrte sie kalt an und wollte etwas sagen. Sie versetzte ihm einen Tritt zwischen die Beine. In rascher Folge wechselten sich Überraschung, Schreck und Schmerz in seinem Gesicht ab. Er stieß einen gequälten Schrei aus und krümmte sich. Der Zauber glitt aus seiner Hand. Der erste Tritt setzte Serrahs Wut frei. Ihre chaotischen Gedanken, ihre verwirrten Gefühle, die auf ihr lastende Angst, alles brach heraus und fand ein Ziel. Sie fiel über ihn her. 143 Wie eine Verrückte schlug sie nach seinem Kiefer und traf hart genug, dass ihre Fäuste schmerzten. Sie versetzte ihm Schläge auf die Brust und in den Magen, sie trat hart nach seinen Schienbeinen und Fußgelenken. Es hatte nicht viel mit dem zu tun, was man sie gelehrt und was sie im Kampf gelernt hatte. Es war ein Überfall; es brach aus ihr heraus, und es war völlig unbeherrscht.
Zuerst tat ihr betäubtes Opfer nicht viel mehr, als die Schläge hinzunehmen. Dann überwand der Milizionär seine Benommenheit, und ein Kampf entbrannte, der zum größten Teil darin bestand, dass er versuchte, sein Schwert zu ziehen. Er schirmte sich mit erhobenem Arm ab und bekam die Klinge halb aus der Scheide. Sie packte sein Handgelenk mit einer Kraft, die ihr geschwächtes Äußeres Lügen strafte. Nach kurzem Handgemenge entstand ein Patt. Serrah durchbrach den Stillstand und stieß mit dem Kopf fest nach seiner Stirn. Der Aufprall sandte auch durch ihre Stirn einen stechenden Schmerz, doch sie war nicht so schwer getroffen wie er. Er schrie auf, taumelte zurück und ließ das Schwert los. Sie packte die Waffe, als sie aus der Scheide fuhr, benutzte den schweren Handschutz wie einen Schlagring und traf damit mehrmals seinen Kopf. Er ging bewusstlos zu Boden. Sie atmete schwer und zitterte. Als sie sich über den Bewusstlosen beugte, rieten ihre Instinkte ihr, ihn zu töten. Sie setzte die Klinge an seine Kehle, dann zögerte sie. Die kleine innere Stimme war wieder zu hören. Was sie auch sein mochte, Serrah war keine Mörderin. Jedenfalls nicht kaltblütig. So weit 144 war sie noch nicht heruntergekommen. Sie ließ das Schwert sinken. Der stöhnende Milizionär hatte auch einen Dolch dabei, den sie ebenfalls an sich nahm. Sie stahl ihm die Degenscheide und den Gürtel und schlang sich beides um die Hüfte. Sie musste den Gurt viel enger stellen, um den geringeren Hüftumfang auszugleichen. Nachdem sie für den Bruchteil einer Sekunde gezögert hatte, schnitt sie auch die Riemen seiner Börse durch. Als sie sich den Geldbeutel in die Tasche schob, musste sie daran denken, wie weit ihre ethischen Maßstäbe in so kurzer Zeit gesunken waren. Irgendwie kam ihr dies auch komisch vor, und sie hätte beinahe gelacht. Doch sie war sich nicht sicher, ob sie je wieder hätte aufhören können. So holte sie nur tief Luft und atmete langsam durch, um sich zu beruhigen. Der Lachanfall ging vorbei. Als sie sich entfernte, trat sie auf etwas. Es war der Zauber, den er fallen gelassen hatte. Das Ding lag mit der Vorderseite nach unten im Straßendreck. Sie kniete nieder und hob es auf, und als sie es umdrehte, sah sie, was sie erwartet hatte. Das kristallklare dreidimensionale Bild schwebte ein Stückchen über der Oberfläche. Serrahs Kopf und Schultern waren zu sehen, ihr Gesicht war von links im Profil abgebildet. Das Abbild wurde langsam in eine Frontalansicht ihres Gesichts überblendet. Dann kam ihr rechtes Profil und danach wieder das linke. Es war mehr als nur ähnlich. Es war eine Miniaturversion ihrer selbst, die sich langsam drehte, um sie von allen Seiten möglichst gut darzustellen. 145 Unter dem Abbild stand in roten Buchstaben: FLÜCHTIG und darunter die Lügen: MORD und LANDESVERRAT. Sie erinnerte sich, wann die Aufnahmen entstanden waren. Es war bei ihrem Dienstantritt beim Rat für Innere Sicherheit gewesen. Die neuen Rekruten mussten sich den beamteten Magiern vorstellen, die einen Zauber sprachen und das Bild für die Unterlagen der Streitkräfte festhielten. Dieser Vorgang lief für gewöhnlich schnell und geschäftsmäßig ab, und die Beamten gaben sich humorlos und sachlich. Die Rekruten störte es nicht, denn sie waren berauscht vom Glücksgefühl, in die Eliteeinheit aufgenommen worden zu sein. Sie staunte, als ihr bewusst wurde, dass dies erst wenige Jahre zurücklag. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit. Serrah starrte wie gebannt auf ihr Abbild. Es war, als betrachtete sie eine Fremde. Eine robuste, lebhafte junge Frau, die eine großartige Zukunft vor sich hatte. Eine, die dazugehörte und die von den vielfältigen Möglichkeiten im riesigen Reich profitieren konnte. Eine Frau, die noch nichts vom aufziehenden Sturm wusste. Mord. Verrat. Mit einiger Verspätung wurde ihr bewusst, was der Fahndungszauber wirklich zu bedeuten hatte. Wie groß war denn die Wahrscheinlichkeit, dass sie soeben auf den einen Milizionär gestoßen war, der zufällig ihr Bild bei sich hatte? Nein, dieser Zauber war offensichtlich an alle Ordnungshüter ausgegeben worden, und das bedeutete, dass hunderte oder sogar tausende davon in Umlauf waren und sie als gesuchte Person beschrieben. Die Behörden taten dies keines146 falls bei jedem gesuchten Verbrecher. Es war viel zu teuer. Landesverrat. Sie nahm das Ding und schlug es gegen die Pflastersteine. Kleine hellblaue Funken stoben auf, das Bild flackerte, wurde trüb und erlosch. Serrah schlug das Ding weiter auf den Boden, bis es Risse bekam. Plötzlich zerfiel der Zauber zu sandartigem, rotem Staub. Ein schwaches Leuchten schimmerte ein paar Sekunden lang über den Körnchen, dann erstarb es. Es war eine sinnlose Geste der Zerstörung, doch Serrah fühlte sich danach ein wenig besser. Sie richtete sich auf und rieb sich abwesend die staubige Hand an der Hose ab. Sie hinterließ kirschrote Streifen auf dem billigen Stoff. Die Kämpfernatur erwachte wieder in ihr, die Sinne schärften sich. Sie musste verschwinden. Auf einmal erklang ein entsetzliches Geräusch, ein rhythmisches Heulen, laut und schrill. Hinter ihr in der Gasse wurde es hell. Serrah fuhr herum. »Verdammt!«, fauchte sie mit zusammengebissenen Zähnen. Sie hatte den Alarmzauber des Milizionärs vergessen, hatte nicht nach seinem Medaillon geschaut! Jetzt hatte er es eingeschaltet, oder, falls der Zauber
kostspielig genug war, hatte es sich sogar von selbst eingeschaltet. Der Mann lag noch flach auf dem Rücken, Blut tröpfelte aus seiner Nase und dem Mundwinkel, doch er begann sich langsam zu regen. Kein Wunder, das ohrenbetäubende Heulen des Alarms hatte ihn wohl geweckt. Von einem Punkt auf seiner Brust stach ein stark gebündelter Lichtstrahl in den Himmel. Sie blickte hoch und sah, dass sich der Strahl weit oben 147 zu einer Scheibe erweiterte. Darin nahm ein Wolfskopf Gestalt an, das allseits bekannte Zeichen für einen Notfall. Bald würde man es in der halben Stadt sehen können, und dann würde es in diesem Viertel vor Milizionären, Paladinen, Regierungsagenten, Wachtrupps von Bürgern und weiß Gott was noch allem nur so wimmeln. Serrah floh und bewegte sich schneller, als es ihre schmerzenden Glieder eigentlich erlauben wollten. Von der Gasse zur Nebenstraße, aus der Nebenstraße zurück auf die belebten Hauptstraßen. In ihrer Eile machte sie keinen Unterschied zwischen Realität und Illusion. Ob Fleisch und Blut oder bloße Erscheinung, sie drängte sich rücksichtslos durch die Menge, und es war ihr egal, dass es sich nicht gehörte, die Zauber anderer Menschen zu beschädigen. Die empörten Besitzer riefen ihr Flüche hinterher und schüttelten die Fäuste, aber niemand verfolgte sie. Sie sah zu gefährlich aus. Nach einer Weile lief sie langsamer und kam allmählich wieder zu Atem. Außerdem bewegte sie sich nun unauffälliger, benutzte wieder Nebenstraßen und ging im Zickzack. Doch sie war von größerer Entschlossenheit erfüllt als irgendwann sonst in den vergangenen zwei Tagen. Eine Art Plan hatte in ihrem Kopf Gestalt angenommen. Nachdem der Fluss sich durch die Eingeweide der Stadt geschlängelt hatte, öffnete er den Mund und nahm einen Bissen aus dem Meer. Die so entstandene Wasserfläche war Merakasas Hafen. Serrah brauchte etwas mehr als zwei Stunden, um in diese Gegend zu gelangen. 148 Ein Gewirr von Masten, das die Dächer überragte, verriet ihr, dass der Hafen nicht mehr weit entfernt war. Einige Masten bewegten sich und glitten gemächlich mit flatternden Wimpeln vorbei. Noch höher kreisten Möwen kreischend in Schwärmen und stießen hier und dort herab. Es dämmerte schon, doch die Straßen waren noch voller Matrosen und Händler. Schauerleute schleppten Säcke und Fässer, Passagiere kamen und gingen, Handkarren, Pferde und Wagen zogen vorbei. Auf den Decks beluden und entluden Hafenarbeiter alle Arten von Fracht. Vieh, das in Schlingen an Ladebäumen hing, blökte vor Angst. Geflügel schlug mit den Schwingen gegen die Stäbe winziger Käfige, die zu zwanzig aufeinander gestapelt waren. Fischer weideten den Fang aus. In der Luft hing ein Gestank, bei dem Serrah sich am liebsten sofort übergeben hätte. Sie achtete darauf, den Zollbeamten, den Hafenwächtern und den gelegentlich in der Menge auftauchenden Paladinen aus dem Weg zu gehen. Mit hochgestelltem Kragen und gesenktem Kopf marschierte sie zielstrebig an der Reihe der Schiffe entlang und wog bei jedem von ihnen das Für und Wider ab. So gut wie alle Liegeplätze waren belegt, und nicht alle Schiffe waren Handelskreuzer oder gehörten der Marine. Auch private Jachten und Klipper hatten festgemacht. Ihre Segel trugen die Wappen der herrschenden Familien oder mächtiger Gilden. Um den Reichtum der Besitzer zur Schau zu stellen, waren einige Abzeichen sogar mit Zaubern versehen. Die Abbildungen wellten sich, glänzten und wechselten langsam die Farbe. Allenthalben tanz149 ten und wanden sich Löwen, Einhörner, Adler und Schlangen. Auf ähnliche Weise waren auch viele Galionsfiguren der Schiffe animiert. Eine davon, eine altmodische hübsche Jungfrau, wackelte mit üppigen Brüsten, auf denen unglaublich große rote Brustwarzen saßen. Als Serrah vorbeikam, zwinkerte ihr die Figur einladend zu. Serrah glaubte das Schiff als Frachter von der Diamantinsel zu erkennen. Auf jeden Fall war sein Schmuck recht vulgär. Endlich erreichte sie einen Dreimaster, ein Handelsschiff von stattlicher Größe. Je größer, je besser, denn dies bedeutete, dass das Schiff zu einem weit entfernten Ort fuhr und groß genug war, dass sie sich an Bord verstecken konnte. Und es war fast bereit zum Auslaufen. Die letzten Teile Ladegut standen auf dem Kai und warteten darauf, verstaut zu werden. Im Bug waren einige Matrosen, die ihr den Rücken zuwandten, in ein Gespräch vertieft. Serrah ergriff die Gelegenheit. Sie schnappte sich eine Kiste, hob sie auf die Schulter und verbarg so ihr Gesicht vor den schwatzenden Matrosen. Vorgebeugt stieg sie rasch das Fallreep hinauf. Sie rechnete schon mit einem herausfordernden Ruf oder mit Schritten, die sie verfolgten, doch nichts geschah. An Bord setzte sie die Kiste ab und sah sich um. Vor ihr war der Laderaum. Die Luke war bereits geschlossen und verriegelt. Sie ging nach achtern, hielt sich versteckt und blieb der Reling fern. Mittschiffs fand sie einen weiteren Laderaum, dessen Luke noch offen stand. Sie kroch bis zum Rand und starrte in den Abgrund. Eine große, dunkle Höhle tat sich auf; unter sich konnte sie gerade eben einen kleinen Berg 150 gefüllter Säcke liegen sehen. Bewegungen sah oder hörte sie dort unten keine. Es gab auch kein Seil und keinen Flaschenzug, an dem sie hätte nach unten klettern können.
Also sprang sie. Der tiefe Sturz nahm ihr den Atem, und sie hätte beinahe vor Schmerzen aufgeschrien. Wenigstens waren die Säcke weder mit Kohle noch mit Roheisen gefüllt. Sie rutschte von dem Stapel herunter und erreichte, abermals vor Schmerz zusammenzuckend, den Boden. Ihre Gelenke taten immer noch weh. Blinzelnd stand sie im Halbdunkel und versuchte sich zu orientieren. Das einzige Licht, abgesehen von der Ladeluke, war in Richtung Heck zu erkennen: Ein Loch mit den Umrissen einer Tür zeichnete sich dort undeutlich ab. Den neu erworbenen Dolch gezückt, hielt sie darauf zu. Die Dunkelheit und das aufgestapelte Frachtgut behinderten sie. Doch schließlich erreichte sie mit angestoßenen Schienbeinen und Ellenbogen den Eingang. Er führte zu einem weiteren Frachtraum, kleiner zwar, aber vermutlich immer noch groß genug, um einen Unterschlupf darin zu bauen. Auch hier fiel ein wenig Licht durch die halb geöffnete Luke herein, die derjenigen ähnelte, durch welche sie eingedrungen war. Am anderen Ende dieses Frachtraums gab es drei Holztüren. Sie wich dem schwachen Lichtbalken aus und ging darauf zu. Es brauchte eine gewisse Anstrengung, die erste Tür zu öffnen, doch dieser und auch die anderen beiden Räume enthielten nichts als Gerumpel. Sie überlegte kurz. Dann versteckte sie sich widerwillig, weil ihr die Vorstellung nicht gefiel, dass es nur einen Aus151 gang gab und dass sie eingesperrt sein würde, im rechten Raum. Sie ließ die Tür einen Spalt offen stehen, damit sie etwas Licht hatte. Der Raum hatte die Größe einer Kabine, war aber hauptsächlich mit Kisten und Ballen voll gestopft. Sie räumte das Frachtgut um und hielt hin und wieder inne, um zu lauschen, ob jemand käme. Nach einer Weile hatte sie hinten im Raum einen Fleck frei geräumt, der gerade groß genug war für sie, und eine Kiste stand bereit, um den Eingang zu verschließen, wenn sie in ihrer Höhle war. Sie glaubte, das Versteck könne einer flüchtigen Inspektion standhalten. Eine gründliche Suche war hingegen eine andere Sache. Sie erschrak, als sie ein lautes Krachen hörte. Das schwache Licht erlosch. Oben wurde die Luke verriegelt. Sie konnte hören, wie im ganzen Schiff die Luken mit lautem Hallen geschlossen wurden. Serrah tastete sich durch die Dunkelheit und kroch in ihr Versteck. Sie zog die Kiste hinter sich in die Lücke, ließ aber einen kleinen Spalt als Guckloch offen. Nicht, dass sie überhaupt etwas sehen konnte. So gut es ging, richtete sie sich auf den groben Rupfensäcken ein und vergewisserte sich, dass Schwert und Messer in Reichweite lagen. Die Dunkelheit schien ihr Gehör zu schärfen. Sie hörte den Rumpf krachen und Ratten huschen. In der Ferne vernahm sie auch gerufene Befehle und rennende Männer. Als sie sich etwas entspannt hatte, dachte sie über ihre Lage nach. Ein Gedanke, der schon länger an ihr nagte, betraf ihre alten Dienstherren vom Rat für Innere Sicherheit. Eigentlich hätten die Häfen beobachtet werden 152 müssen. Serrah konnte kaum glauben, dass man eine so nahe liegende Vorsichtsmaßnahme einfach vergessen hatte. Dennoch war sie ohne Probleme durchgekommen. Sie hoffte, dass es reines Glück gewesen war und nicht irgendeine komplizierte List. Die letztere Annahme führte nämlich geradewegs in den Verfolgungswahn. Sie zwang sich, über andere Dinge nachzudenken - etwa, wohin die Reise ging und woher sie Essen und Trinken bekommen sollte. Sie spürte, wie das Schiff den Anker lichtete und dann beim Ablegen noch einmal gegen die Hafenmole prallte. Von den Tauen befreit, wiegte sich das Schiff leicht auf den Wellen. Kleine Stücke ungesicherter Ladung rutschen auf dem Boden des Laderaums hin und her. Nach einer Weile hörten die Bewegungen auf, und das Schiff nahm Fahrt auf. Ihrem Gefühl nach war etwa eine Stunde vergangen, als sie neue Geräusche hörte. Erschrocken richtete sie sich auf und tastete nach den Klingen. Durch das Guckloch sah sie gedämpftes Licht. Zwei Matrosen kamen, einer von ihnen trug eine abgeblendete Laterne. Suchte man schon nach ihr? Würde jemand bemerken, dass die Tür des Lagerraums offen stand? Falls die Antwort ja lautete, dann war sie zum Kampf entschlossen. Sie packte die Griffe der Klingen fester. Ihre Handflächen schwitzten. Das ungute Gefühl, sich in einem Raum mit nur einem Ausgang zu verstecken, fiel ihr wieder ein. Sie begann ihre Entscheidung zu bereuen. Doch die Matrosen suchten nicht nach ihr. Sie bemerkten auch die offene Tür nicht und gaben sich keine Mühe, besonders leise zu sein. Einer setzte sich 153 auf eine Kiste, der zweite rollte ein Fass heran und hockte sich vor seinen Gefährten. Sie zogen Maiskolbenpfeifen hervor und stopften sie mit Grobschnitt. Als Serrah klar wurde, dass die Männer frei hatten oder sich vor der Arbeit drückten, entspannte sie sich ein wenig. Die Matrosen ließen einen Flachmann hin und her gehen, während sie rauchten und plauderten. Serrah bemühte sich, die Unterhaltung zu belauschen, doch sie bekam nur einige Bruchstücke mit. »... den Göttern sei Dank, dass wir nach Osten und nicht nach Norden fahren«, sagte einer. Was sein Gefährte erwiderte, konnte sie nicht verstehen. »Nicht, wenn man meinem Bruder glauben kann«, fuhr der Erste fort. »... eine Art von ... fegt alles weg, was ihm
in die Quere kommt.« Wieder konnte sie die Antwort des zweiten Mannes nicht verstehen, doch der Tonfall klang skeptisch. »... viele in Barbarengebieten, gewiss«, bemerkte derjenige, den sie besser verstehen konnte. »Aber keiner davon ...« Es war frustrierend. Wahrscheinlich hatte er den Kopf herumgedreht. Serrah presste das Ohr an den Spalt. »... anders, denk an meine Worte.« Das ergab keinen Sinn. Dann hörte sie ein einzelnes Wort. »... Zerreiss ...« Sie hatte den Namen schon einmal gehört, sie erinnerte sich nur nicht mehr, wo und wann. Wenigstens wusste sie jetzt, dass sie nach Osten fuhren. Das war immerhin schon etwas. Vom Rest des Gesprächs hörte sie zu wenig, um sich einen Reim darauf zu machen, doch sie lauschte weiter. 154 Mehrmals fiel noch der Name, als das Gespräch fortgesetzt wurde. Zerreiss. Wo hatte sie den Namen nur gehört? Serrah haderte mit ihrem Erinnerungsvermögen, doch dann wurde sie von der Erschöpfung übermannt. Sie stürzte in den Abgrund des Schlafs, der so tief und still war wie ein Grab. 155 Der Morgen dämmerte. Die ersten Sonnenstrahlen stachen durch das grüne Dach des Waldes, und die Bäume standen wie Gespenster im sich auflösenden Nebel. Silberner Tau verdampfte in der Wärme, und die Vögel stimmten den Morgengesang an. Ein Tag wie jeder andere begann. Wo der Wald endete, erstreckte sich Weideland. Bauernhäuser standen in einem Flickenteppich von Wiesen, Hütten kauerten hübsch auf sanften Hügeln. Kühe warteten darauf, gemolken zu werden, die Wiesen waren mit leise blökenden Schafen besprenkelt. Abrupt hörte der Vogelgesang auf. Das Vieh verstummte. Selbst das Summen der Insekten brach ab. So plötzlich senkte sich das Schweigen herab und so drückend war es, dass die Menschen aus den Häusern traten. Frauen wischten sich stirnrunzelnd die Hände an den mit Mehl bestäubten Schürzen ab, Kinder klammerten sich an ihre Rockschöße. Männer beschirmten mit flacher Hand die Stirn und sahen sich um. Auf den Feldern richteten sich die Arbeiter auf, 157 das Sonnenlicht funkelte auf den gekrümmten Schneiden ihrer Sicheln. Alle wollten wissen, was die unnatürliche Stille hervorgerufen hatte. Sehr leise war ein Geräusch zu hören. Es schien aus der Tiefe des Waldes zu kommen, vielleicht von der Gegend jenseits des Waldes. Die Bauern und ihre Angehörigen wechselten erstaunte, unsichere Blicke. Als der Lärm näher kam, wurde klar, dass es nicht nur ein einziges Geräusch war, sondern ein Gemisch vieler verschiedener Geräusche. Und angesichts der Ferne, aus der es zu kommen schien, musste es sehr laut sein. Dann spürten sie ein schwaches, stärker werdendes Zittern unter den Füßen. Vogelschwärme stiegen aus den Baumwipfeln auf und flohen vor dem, was sich da näherte. Voller Angst sammelten die Frauen ihre Kinder ein und schoben sie nach drinnen. Die Männer bewaffneten sich mit Mistgabeln und Äxten. Alle starrten die Krümmung des Waldrandes an, denn jetzt waren sie sicher, dass die Quelle der Geräusche sich aus dieser Richtung näherte. Hinter den Bäumen waren sogar schon Bewegungen zu erkennen. Um die Ecke des Waldes kam ein bunter Tross von Reitern, Fuhrwerken, Kutschen und viel größeren Dingen, die von Staubwolken eingehüllt waren. Die verständigeren und weltgewandteren Dorfbewohner errieten, was vor sich ging, doch es war zu spät. Ein einzelner Reiter bildete die Vorhut. Er zügelte das Pferd, dem der Schaum vor dem Maul stand, und sah sich um. Die Menschen, die ihn beobachteten, waren viel zu erschrocken, um ihn auf sich aufmerk158 sam zu machen. Es hätte ohnehin nichts geändert. Der Kundschafter, denn genau das musste er sein, nahm keinerlei Notiz von ihnen. Nachdem er einen Moment verharrt und den weiteren Kurs festgelegt hatte, trieb er sein Pferd wieder an und ritt quer über die Felder davon. Das verstörte Vieh floh vor ihm. Jetzt begannen die Zuschauer zu rufen und hektisch die Arme zu schwenken, doch ihre Schreie verloren sich im Getöse. Mehrere Dutzend Kavalleristen mit glänzenden Brustharnischen und aufgerichteten Standarten ritten herbei, eine seltene Prachtentfaltung für diese ländliche Provinz. Sie folgten dem Fährtenleser, und nach ihnen kam eine mindestens hundert Köpfe starke Truppe von Paladinen in strenger Formation. Und dann brach das Chaos mit voller Macht über das Dorf herein. Ein unordentlicher Haufen Reiter preschte vorbei; viele trugen Uniformen unterschiedlichster Machart, und ihre Zahl war unmöglich zu schätzen. Imperiale Gardisten ritten neben Wachleuten und Milizionären. Gerichtsdiener ritten neben gewöhnlichen Heeresabteilungen. Es gab Händler, Handelsvertreter, Landstreicher und Glücksritter im Überfluss; dazu wandernde Musikanten, Gildenbeamte, reiterlose Pferde, Wagenladungen voller freizügiger Dirnen. Flaggen, Lanzen und Banner wurden über dem Gedränge geschwenkt. Im Zug bewegten sich die Kutschen von Kaufleuten, Einspänner, Equipagen und die Fuhrwerke von Zauberern; auch gab es fahrbare Käfige mit exotischen, brüllenden Tieren, die von Ochsengespannen gezogen wurden. Der Lärm war unbeschreiblich.
159 Die Erde bebte, und tausend Gerüche von bratendem Fleisch bis zu Stallmist stiegen in die Luft. Felder wurden niedergelegt und niedergetrampelt und die Feldfrüchte zu Matsch zerdrückt. Vieh ging durch, Zäune wurden zerfetzt, Heuhaufen in alle Winde verstreut. Doch der Zorn der Bauern wich Ehrfurcht und Angst, als sie sahen, was als Nächstes auftauchte. Es waren Dutzende wundervoller schwebender Herrensitze und Schlösschen, die wie große Schiffe durch das Meer der Menschen pflügten. Prächtige Bauwerke aus Marmor, Granit, Holz und Buntglas mit wundervoll dekorierten Fassaden und verwinkelten Türmchen. Doch trotz ihrer Größe und Pracht wurden sie überstrahlt von dem Gebäude, das sie umringten. Wie eine fette Schnecke auf einer Ameisenstraße gemahnte es inmitten der anderen gar an ein Gebirge. Der riesige schwebende Palast, eine außerordentliche, wundervolle Anlage aus rosafarbenem, weißem, blauem und schwarzem Stein, besaß Wehrgänge mit Mauerzinnen, filigranes Streb werk, Burgfriede und Balkone. Die zahlreichen Türme, in die Schießscharten geschnitten waren, reckten sich so hoch, dass die Bauersleute sich die Hälse verrenken mussten, um die Spitzen zu sehen. Phantastische Zauber flogen kreuz und quer über dem gewaltigen Palast und nahmen die Gestalt von geflügelten Menschen und Pferden an. Es gab Drachen, Schlangen und Marienkäfer in der Größe von Schafböcken. Schulen von riesigen, lebhaft gefärbten Fischen schwammen und schwebten rings um die Türme. Andere Zauber zeigten das königliche Wap160 pen und die Embleme des Herrscherhauses. Auf schimmerndem Untergrund aus Gold wurden die Bilder mit Feuer gezeichnet. Die weniger prächtigen Paläste walzten über einsame Bäume und Gehölze hinweg. Sie zerdrückten Hecken und demolierten Scheunen. Bauern rannten um ihr nacktes Leben, als ein fliegendes Schloss eine Ecke eines Bauernhauses abriss und das ganze Haus einstürzen ließ. Die Burg hatte einen prahlerischen Wachturm, dessen Glocke beim Zusammenprall geschlagen wurde. Die Überlebenden unter den Bauersleuten konnten nur niederkauern und tatenlos das Zerstörungswerk beobachten. Die Bewohner der schwebenden Gebäude blickten auf all dies mit kaum verhohlener Langeweile herab. Als wäre es für sie etwas Alltägliches, die Heime der Menschen zu zerstören. Und genau so war es natürlich auch. Am Fenster einer hoch oben in Melyobars fliegendem Palast gelegenen Kammer stand ein ganz bestimmter Beobachter, der mit unbewegtem Gesicht nach draußen sah. »Wie lange will er uns noch warten lassen?«, ließ sich eine ungeduldige Stimme hinter ihm vernehmen. Andar Talgorian, der Imperiale Gesandte von Gath Tampoor, knallte die Fensterflügel zu und wandte sich zu dem Fragenden um. Der Oberste Clanchef Ivak Bastorran, der die Führerschaft über die Paladine durch Erbschaft errungen hatte, war bereits über die mittleren Jahre hinaus, und sein sauber geschnittenes Haar und der Bart trugen einen silbernen Schimmer. Doch seine Statur war 161 immer noch beeindruckend, das Vermächtnis eines Soldatenlebens, und die Augen blickten scharf und klug, nachdem er beinahe ebenso lang Erfahrung im Ränkeschmieden gesammelt hatte. Er trug die Clanuniform - rote Tunika, schwarze Hose, kniehohe lederne Reitstiefel -, als wäre sie ihm auf den Leib gegossen worden. Eng und elegant, ohne eine Falte. Die Stiefel glänzten fast so hell wie die Ehrenzeichen und die Litzen. »Es stört mich eben, zu dieser Stunde hierher kommen zu müssen«, beklagte sich Talgorian. »Das ist nichts Ungewöhnliches für einen Soldaten«, schnaubte Bastorran. »Eine Schande, dass Euch die Disziplin fehlt, die den echten Soldaten auszeichnet.« Ein kleiner Seitenhieb, eine kleine Gehässigkeit in einem endlosen Geplänkel zwischen zwei Männern, deren Macht ebenbürtig war, die jedoch ganz unterschiedliche Ziele verfolgten, wenn sie um die Aufmerksamkeit des Prinzen buhlten. Talgorian schluckte den Köder nicht und schwieg. Knapp unter der geschmückten Decke des verschwenderischen Vorzimmers hing ein Lauschzauber. Er hatte die Gestalt eines großen Ohrs aus Messing angenommen. Es gab keinerlei Zweifel über seinen Zweck, und es war auch keinerlei Heimlichkeit beabsichtigt. Unter dem Hemd trug Talgorian ein Medaillon, das einen Sperrzauber enthielt, der den Lauschzauber ausschalten konnte. Er war sicher, dass Bastorran etwas Ähnliches besaß. Besucher durften eigentlich keine magischen Vorrichtungen mit in den Palast bringen, doch es war nicht zu befürchten, dass Männer ihres Ranges kontrolliert wurden. 162 »Ich finde die Zeitverschwendung einfach unerträglich«, fügte Bastorran hinzu. »Es gibt wichtige Angelegenheiten, um die ich mich kümmern muss.« »Etwa die verstärkten Aktivitäten des Widerstandes?« Das hatte gesessen. Der Paladin starrte ihn finster an. »Wir nennen ihn eigentlich nicht so. Das klingt, als wären die Leute bloß über irgendetwas bekümmert. Ich nenne sie lieber Abweichler, Unruhestifter, Taugenichtse ...« »Wie Ihr sie auch nennt, sie sind aktiver als früher. In beiden Reichen und ebenso in den Kolonien. Nicht zuletzt auch hier in Bhealfa.«
»Die Clans haben alles im Griff. Wir haben Informanten in die Reihen der Aufständischen eingeschleust, und es geschieht kaum etwas, von dem wir nichts wissen.« »Alle Parteien haben wohl ihre Spione.« »Aber keine sind so hoch positioniert wie meine.« Talgorian hielt das für übertrieben, denn hätte es der Wahrheit entsprochen, dann wäre das Problem längst von den Paladinen erledigt worden. Er zog es vor, wieder aufs Thema zurückzukommen. »Nun, unsere Quellen sagen uns jedenfalls, dass die Rebellen mehr Angriffe und kriminelle Akte begehen als je zuvor. Das muss uns alle mit Sorge erfüllen.« »Es wäre keine große Sorge mehr, wenn man uns allein die Bekämpfung überließe.« »Ihr wisst genau, dass dies politisch nicht durchsetzbar ist.« »>Nicht durchsetzbar<, ich bitte Euch. Die Politik ist ein Sumpf. Alles bleibt im Morast stecken, während schnelles Zugreifen vonnöten wäre. Die Politik setzt 163 auf Verständigung, wo wir unbarmherzig zuschlagen sollten. Ihr seid aus freier Entscheidung dort hineingekommen. Es ist Euer Beruf, schöne Worte zu machen, die nicht mehr wert sind als ein Pferdeapfel. Ich dagegen begebe mich nur aus schierer Notwendigkeit auf diesen Abtritt.-« »Eure Ansichten zu diesem Thema sind durchaus bekannt«, gab Talgorian trocken zurück, »also lasst uns nicht alles noch einmal durchkauen. Tatsache ist doch, dass wir es hier mit Politik zu tun haben, ob es uns nun gefällt oder nicht, und das bedeutet, dass wir uns der Kunst der Zweckmäßigkeit widmen müssen. So werden die Dinge nun einmal erledigt.« »Meine Rede. Zweckmäßigkeit. Kompromisse, Konzessionen, Geben und Nehmen. Erlaubt uns, einen klaren Weg zu gehen, und Ihr werdet sofort bezeugen können, wie sich die Lage verbessert.« »Ich würde nicht unbedingt sagen, dass das derzeitige Regime besonders nachgiebig ist, und die Strafen, die von Eurem Clan verhängt werden, kann man auch nicht unbedingt als weichherzig bezeichnen.« Er wartete nicht ab, ob Bastorran ihm zu widersprechen gedachte, und fuhr fort: »Andererseits müsst Ihr jedoch zugeben, dass die Paladine, was den Widerstand angeht, in einer schwierigen Position sind, da Ihr ja Gath Tampoor und Rintarah dient. Ihr werdet niemals freie Hand haben, solange dies so ist.« »Da hätten wir also mal ein Thema, bei dem Eure Ansichten völlig klar sind«, erwiderte Bastorran hitzig. »Nun, wir schmieden eben Bündnisse. Das entspricht unserer Tradition.« Er sprach betont langsam, als müsste er ein zurückgebliebenes Kind unterweisen. »Wir 164 Paladine tragen unsere Waffen für jeden, der unserer Dienste bedarf.« »Für jeden, der sie bezahlen kann.« »Tut Ihr denn Eure Arbeit ohne Lohn? Ist Euer Patriotismus so groß, dass Ihr Eure Dienste kostenfrei anbietet? In dem, was wir tun, liegt kein Widerspruch. Vergesst nicht, dass wir aus gutem Grund keinem Staat angehören. Das macht es uns möglich, ungehindert und ohne Bindung an eine Nation zu dienen und zu kämpfen. Außerdem kann kein Clan beiden Reichen zugleich dienen.« »Dennoch ist ein Paladin, welchem Clan er auch angehört, letzten Endes allen Clans treu.« »Falls es einen Interessenkonflikt gibt, ziehen sich die Paladine zurück. Wenn das unmöglich ist, dienen wir treu, und das schließt, wenn nötig, auch die Verpflichtung ein, gegen Brüder anderer Clans in den Kampf zu ziehen.« Was allerdings in der Praxis noch niemals geschehen war, überlegte Talgorian. Und er war beileibe nicht der Einzige, der dachte, dass die Staatenlosigkeit der Paladine - ein Privileg, das keiner anderen Gruppe zugestanden wurde - das Musterbeispiel der Zweckmäßigkeit war. Das Wort »Söldner« lag in der Luft, doch ihm war nicht danach, es auszusprechen. Er wollte sich diesen Mann nicht noch mehr zum Feind machen. »Die Vorstellung, Ihr könntet gegeneinander die Waffen erheben«, sagte er, »vermochte ich noch nie so recht zu verstehen.« »Das ist kein Wunder, Ihr seid ja Zivilist«, gab der Paladin zurück. »Bei allem Respekt«, fügte er hinzu, auch wenn er keinerlei Achtung empfand. »Es geht schließlich um die Ehre.« 165 Talgorian zog zynisch eine Augenbraue hoch. »Die Wahrheit ist doch die, dass man den Clans niemals ganz und gar ...« Dass man ihnen nie wirklich vertrauen kann, hatte er sagen wollen. »Dass die Clans nicht die Bewegungsfreiheit haben, die eigentlich notwendig wäre, solange diese ... diese Tradition existiert«, erklärte er diplomatisch. »Im Lauf der Jahrhunderte haben schon viele versucht, meine Vorgänger zu überzeugen, von unseren Gebräuchen abzurücken. Ich bezweifle doch sehr, dass die gegenwärtige Regierung, was Euch selbst einschließt, in dieser Hinsicht erfolgreicher sein wird als alle anderen vor Euch, Herr Botschafter.« »Ich bin keinesfalls so anmaßend, so etwas zu glauben, Oberster Clanchef.« Sie tauschten ein professionelles, unaufrichtiges Lächeln und ließen das strittige Thema stillschweigend fallen. Es gab eine leichte Erschütterung, als der Palast irgendetwas niederlegte. Vielleicht einen Bauernhof oder einen Obstgarten. Nichts Wichtiges jedenfalls. »Ich will einräumen, dass es im Hinblick auf die Sicherheit viele schwierige Probleme zu lösen gibt«, sagte Bastorran. »Ich denke jetzt an die jüngsten Ereignisse, die unseren Rat für Innere Sicherheit betreffen«, fügte er erklärend hinzu, als er Talgorians misstrauischen Gesichtsausdruck bemerkte. »Und das Verschwinden eines
Hauptmanns einer gewissen Eliteeinheit.« Jetzt war es an Talgorian, seine Überraschung zu verbergen. »Meint Ihr denn, der Widerstand habe seine Hände im Spiel?« »Sie ist nach den Berichten eine einigermaßen wichtige Offizierin von mittlerem Rang. Falls sie über166 läuft, ist sie gewiss ein Gewinn für den Widerstand, und sie hatte Hilfe bei ihrer Flucht. Andererseits sind die Dinge oft komplizierter, als sie auf den ersten Blick zu sein scheinen.« »Was ist Euer Interesse an dieser Angelegenheit, wenn man von den Fragen der Sicherheit einmal absieht?« »Im Lauf ihrer Flucht wurden mehrere Clanmänner getötet. Der Verlust unserer eigenen Leute ist etwas, das wir nicht so ohne Weiteres hinnehmen.« »Wie ich erfahren habe, war ihre Flucht eine rein kriminelle Angelegenheit.« »Was es auch war, es hätte niemals geschehen dürfen. Die ganze Sache war von Anfang an verpfuscht. Wenn ein Angehöriger einer bedeutenden Familie getötet wird, wie es mit diesem Phosian-Jungen geschehen ist, und selbst wenn es Unfähigkeit und kein Mord war, dann sollten Köpfe rollen. Alles andere ermuntert den Mob nur, den Respekt vor der Autorität zu verlieren.« »Damit habt Ihr möglicherweise sogar Recht. Doch das Schicksal eines unbedeutenden Hauptmanns soll uns im Augenblick nicht weiter interessieren.« Er nickte in Richtung der mit kostbaren Schnitzereien geschmückten Doppeltür am anderen Ende des Vorzimmers. »Es käme uns beiden zugute, wenn wir im Gespräch mit dem Prinzen eine einheitliche Position vertreten könnten. Ich schlage vor, dass wir das Programm für ihn möglichst einfach gestalten.« »Tun wir das nicht immer?« »Ich meine, dass wir uns heute in dieser Hinsicht noch mehr Mühe geben sollten. Wir sollten uns auf 167 ein oder zwei Punkte von besonderer Bedeutung beschränken.« »Falls Ihr hofft, diese Audienz ausschließlich mit Euren eigenen Belangen ausfüllen zu können«, knurrte Bastorran verärgert, »dann solltet Ihr ...« »Aber nein, nein, darum geht es doch überhaupt nicht.« Er wedelte beschwichtigend mit der Hand. »Ich will einfach nur dafür sorgen, dass gewisse Dinge, die uns alle betreffen, mit gebührender Aufmerksamkeit behandelt werden.« »Manchmal frage ich mich, warum Ihr Euch überhaupt noch die Mühe macht, aufs Protokoll zu achten. Gath Tampoor wird so oder so tun, was es will, oder etwa nicht? Diese Insel ist ja nichts weiter als einer der Vasallenstaaten des Reichs.« »Ein Protektorat«, verbesserte Talgorian ihn. »Leider sind wir bei einigen Dingen, für die wir die Kooperation Bhealfas brauchen, gezwungen, einen Anschein von Legalität zu wahren. Einseitige Maßnahmen brächten die Bevölkerung nur noch mehr gegen uns auf. Das können wir natürlich überhaupt nicht gebrauchen, solange unsere Truppen so weit verteilt sind und die ehrgeizigen Pläne Rintarahs vereiteln müssen. Das wisst Ihr so gut wie ich.« Der Paladin nickte. »Und ob ich das weiß. Gesetze, Verträge, Etikette. Das ist das Schlimme an der Politik. So wird alles blockiert. Hinfort damit, wenn Ihr mich fragt.« Der Gesandte beherrschte seinen Unmut. »Wir müssen eben mit dem arbeiten, was wir haben, bis wir zu einem anderen Zeitpunkt auf direktere Weise vorgehen können.« 168 »Wie auch immer«, schnaufte Bastorran. »Was ist denn nun so überragend wichtig?« »Dieser Kriegsherr, von dem wir gehört haben. Zerreiss. Allen Berichten zufolge dehnt er seinen Einflussbereich in beunruhigendem Tempo aus.« »Ist das alles? Ihr macht Euch Sorgen wegen eines einzigen Barbarenhäuptlings? Ich dachte, es geht um wichtige Dinge.« »Es ist nicht ratsam, eine mögliche Bedrohung hinter unseren Grenzen zu übersehen.« »Ihr fürchtet, ein weiteres Reich könne aufsteigen, nicht wahr?« Er lachte geringschätzig. »Ihr macht Euch Sorgen, ein Rivale könne sich erheben?« Talgorians Antwort bestand aus einem eisigen Blick. »Ein kleiner Barbarenhäuptling besiegt ein paar andere«, fuhr Bastorran fort. »Dergleichen geschieht alle Tage. Er wird bald genug wieder in Vergessenheit geraten; so ist es doch immer. Es ist lächerlich zu glauben, die Wilden könnten für eines der Reiche eine Bedrohung darstellen.« »Natürlich nicht. Aber was ist mit unseren weit entfernten Protektoraten? Wenn uns der Nachschub aus diesen Quellen abgeschnitten wird, oder, noch schlimmer, wenn die Beute einem Kriegsherrn in die Hände fällt, dann wäre das in unruhigen Zeiten wie diesen noch eine weitere Bürde.« »Die Einöden im Norden sind weit entfernt. Ihr habt eine der beiden größten Flotten der Welt. Entfernung und Stärke der Bewaffnung sollten für Euch Verteidigung genug sein. Wie auch immer, ich glaube, Ihr überschätzt die Gefahr.« »Bei allem Respekt, Oberster Clanchef ...« Auch dieses Mal war die höfliche Floskel keineswegs ehr169
lieh gemeint. »Ich möchte doch anmerken, dass das diplomatische Corps von Gath Tampoor gewöhnlich etwas genauer auf auswärtige Angelegenheiten achtet, als es die Paladine gemeinhin tun. Und unsere Einschätzung ist die, dass wir, was diesen Zerreiss angeht, die Situation sehr genau im Auge behalten müssen.« Bastorran seufzte resigniert. »Also, was schlagt Ihr nun vor?« »Man sollte eine Expedition aussenden und überprüfen, was dort im Norden vor sich geht. Wir wissen leider kaum etwas über diesen Kriegsherrn und seine Absichten.« »Und wie sollten die Befehle der Expedition lauten?« »Wir wünschen mit Zerreiss Kontakt aufzunehmen, falls es möglich ist, oder die Lage zu erkunden, falls es nicht möglich ist. Doch es ist eine heikle Angelegenheit. Es könnte als Provokation empfunden werden, wenn wir eine imperiale Flotte senden. Wir dachten, eine Abteilung der bhealfanischen Streitkräfte wirke harmloser.« »Fein, dieser Unterschied zwischen einer Expedition aus Gath Tampoor und einer anderen, die unter der Flagge eines ... eines Protektorats segelt. Der Barbaren-Kriegsherr ist aber möglicherweise nicht fähig, solche Feinheiten wahrzunehmen.« »Dies zielt auch nicht auf ihn, sondern auf Rintarah. Wir wollen nicht allzu offen zeigen, dass wir uns Sorgen machen, und wir wollen nach Möglichkeit nicht ihre Aufmerksamkeit erregen.« »Sie würden es also schneller als Zerreiss durchschauen?« 170 »Wir könnten vielleicht damit durchkommen, dass es nichts weiter ist als eine bhealfanische Handelsmission.« »Doch in Wirklichkeit wären einige Eurer eigenen Leute an Bord?« »Selbstverständlich.« Bastorran dachte nach. Schließlich sagte er: »Im Prinzip habe ich dagegen keine Einwände. Doch wenn ich Euch beim Prinzen unterstütze, dann will ich umgekehrt auch Eure Unterstützung in Anspruch nehmen können.« »Aber gewiss. Denkt Ihr an etwas Bestimmtes?« »Noch nicht. Sagen wir einfach, Ihr seid mir einen Gefallen schuldig, ja?« Talgorian nickte. »Ich erwarte natürlich, über den Verlauf der Expedition auf dem Laufenden gehalten zu werden«, fuhr Bastorran fort, »und ich verlange, dass einige Paladine zur Besatzung zählen.« »Das lässt sich arrangieren. Dann sind wir also einig?« »In dieser Angelegenheit sind wir einig. Habt Ihr das Thema schon mit Melyobar erörtert?« »Die Expedition noch nicht. Über Zerreiss haben wir schon mehrere Male gesprochen.« »Und?« »Er hat nur ein Thema im Kopf. Wie üblich. Deshalb müssen wir auch zusammenarbeiten.« Er blickte zum Lauschzauber hinauf, und ein ungutes Gefühl ergriff von ihm Besitz, obwohl er von der besten Gegenmagie geschützt wurde, die man für Geld kaufen konnte. Instinktiv schob er sich näher an den Paladin heran und senkte die Stimme. »Ich nehme an, es gibt 171 keine neuen Nachrichten über ... über einen gewissen Qalochier?« »Ah.« Bastorrans Gesicht verdüsterte sich. »Leider nicht. Abgesehen von unbestätigten Meldungen und gelegentlichen verdächtigen Todesfällen von Clanmännern. Ihr kennt ja sicher die außergewöhnlichen Randbedingungen, die mit diesem Mann verknüpft sind.« »Ja. Allerdings ... ich will ganz offen sein. Ich stehe in dieser Angelegenheit unter einem gewissen Druck von höchster Stelle.« Er richtete den Blick nach oben. »Die Imperatorin?« Bastorran empfand wider Willen eine gewisse Ehrfurcht. »Ihr Kreis.« Beide wussten, dass es auf ein und dasselbe hinauslief. »Man ist, wie soll ich sagen, über das Ausbleiben von Fortschritten einigermaßen beunruhigt.« »Muss ich denn eigens betonen, dass wir auch ganz eigene Gründe haben, uns mit ihm zu befassen? Ihr könnt wirklich nicht behaupten, es mangele uns an Motivation. Bhealfa mag nur eine Insel sein, doch es ist eine verdammt große Insel, wenn man einen einzigen Mann sucht. Und das unterstellt zudem noch, dass er tatsächlich hier ist. Es gibt Gründe dafür, dies anzunehmen, doch er kann sich ebenso gut irgendwo in einem der Reiche oder in den Kolonien aufhalten.« »Mir sind diese Schwierigkeiten durchaus bewusst.« »Zudem wird uns die Arbeit durch die außerordentlichen Beschränkungen, die uns in dieser Angelegenheit auferlegt worden sind, nicht unbedingt leichter gemacht.« »Uns sind die Hände gebunden. Doch wir müssen die Angelegenheit zum Abschluss bringen. Ihr kennt 172 die Gefahren und Konsequenzen, die ein Fehlschlag heraufbeschwören würde.« Bastorran wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als es an der Tür klopfte. Ein Diener trat ein. Er begleitete einen weiteren Paladin, der weniger als halb so alt wie der Oberste Clanchef, aber ebenso makellos gekleidet war. Die Ähnlichkeit der beiden Männer war unverkennbar. Doch während Bastorran trotz seiner Starrheit und Direktheit immerhin noch in einem gewissen Maße der Vernunft zugänglich blieb, war dieser junge Mann, wie Talgorian wusste, ein unverbesserlicher Sturkopf. Arrogant war er und angeblich auch brutal.
»Ich glaube, Ihr habt meinen Neffen Devlor bereits kennen gelernt«, erklärte Bastorran. Es war nicht zu übersehen, dass der ältere Mann großen Gefallen am jüngeren fand. Eine Art väterlicher Stolz strahlte von ihm aus. »Aber natürlich«, erwiderte Talgorian. Er nickte knapp zum Gruß. »Ich hoffe, Ihr habt gute Tage, Kommandant.« »Es geht so.« Devlor Bastorran würdigte ihn kaum eines Blicks und vermochte es, mit seiner kurzen Erwiderung Gleichgültigkeit und Hochnäsigkeit zugleich zum Ausdruck zu bringen. Der ältere Mann strahlte nachsichtig und schlug freundschaftlich auf die Schulter seines Neffen. »Der beste Schwertkämpfer in zwei Reichen«, prahlte er. »Ich weiß es, weil ich ihn selbst ausgebildet habe.« Talgorian hatte diese und andere Prahlereien über den jüngeren Bastorran schon öfter gehört. Er nahm es mit höflichem, leerem Lächeln zur Kenntnis. 173 »Man sollte die Aufständischen einem Kerl wie Devlor hier überlassen«, fügte der ältere Paladin hinzu. »Dann würde ihr Geheul rasch verstummen.« Der Neffe öffnete den Mund zu einem grausamen Lächeln, dass die weißen Zähne blitzten. »Zweifellos«, bemerkte der Gesandte. Ivak Bastorran hatte keinen männlichen Erben. Den Gerüchten zufolge wurde Devlor darauf vorbereitet, die Führung der Clans zu übernehmen, wenn sein Onkel verschied. Deshalb bekleidete er auch in so jungen Jahren bereits einen so hohen Rang. Falls die Gerüchte sich als wahr erwiesen, so bahnte sich nach Talgorians Ansicht eine Menge Ärger an. Sein Gedankengang wurde unterbrochen, als der Bote zurückkehrte. Er verkündete, der Prinz wolle die Besucher jetzt sehen, und führte Bastorran und Talgorian in den Audienzsaal. Devlor kam zur Erleichterung des Gesandten nicht mit. Die Suite des Prinzen war in Unordnung. Papiere, Bücher, Blaupausen und allerhand Krimskrams bedeckten jede freie Fläche und einen großen Teil des dicken Teppichs. Der Duft von üppigen Blumensträußen und Gestecken konnte den Geruch von Schweiß und Furcht nicht ganz überdecken. Im hinteren Teil des Raumes stand ein großer Gegenstand, der mit einem blauen Samttuch bedeckt war. Sie wurden angemeldet, und der Lakai zog sich zurück. Der Gesandte und der Paladin sahen einander an, dann suchten sie sich einen Weg durch das Durcheinander. Melyobar schien ihre Anwesenheit kaum zur Kenntnis zu nehmen. Er war auf Händen und Knien und 174 sah Dokumente und Blaupausen durch. Rings um ihn lagen mehrere offene, schwere Bände mit Metallverschlüssen. Sein Verhalten entsprach dem Gewohnten - das vor der Zeit ergraute Haar war zerzaust, die vor Schweiß glänzenden Wangen gerötet. Ein kurzer Ausbruch von diskretem Räuspern machte ihm klar, dass seine Besucher gekommen waren. Der Prinz hob den Kopf und sah sie blinzelnd an. Etwas wie Erkennen dämmerte in seinen Augen, und er stand auf. Dabei hielt er sich an einem Stuhlrücken fest, als wäre er viel älter. Die Besucher verzichteten darauf, ihn zu stützen, weil sie nicht wussten, wie seine Reaktion ausfiele, wenn sie ihn berührten, und warteten mit gesenkten Köpfen. Als er schnaufend auf den Beinen stand, sagte der Prinz: »Ich freue mich, dass Ihr mal vorbeischaut«, als wäre es keine von langer Hand geplante Audienz. »Die Ehre liegt ganz auf unserer Seite, Hoheit«, erwiderte Talgorian taktvoll. Er versetzte Bastorran einen diskreten Stoß, der einen ähnlichen Allgemeinplatz von sich gab. »Es gibt wichtige Dinge zu besprechen«, verkündete Melyobar. »In der Tat, so ist es«, stimmte Talgorian zu und hoffte, zur Abwechslung einmal einen echten Gedankenaustausch zu erleben. »Wisst Ihr«, vertraute der Prinz ihnen an, »vor zwei oder drei Tagen glaubte ich tatsächlich, ich hätte ihn.« »Wen denn?«, fragte Bastorran, bevor Talgorian ihn bremsen konnte. Melyobar schien verstimmt. »Wen? Den Tod natürlich. Wen denn sonst?« »Oh. Ja. Natürlich, Hoheit.« 175 »In einem Dorf, irgendwo im Süden, glaube ich, sind meine Soldaten auf ihn gestoßen«, erzählte Melyobar. »Die Bauern haben ihn versteckt. Ich bin absolut sicher. Nicht, dass ich selbst dort gewesen wäre. Ich bin ja kein Narr. Aber haben sie ihn ausgeliefert? Nein, sie haben sich geweigert. Er hat sie mit Falschheiten eingewickelt. Die größten Lügen spricht er so selbstverständlich aus wie die Wahrheit. Noch überzeugender sogar. Im Lügen ist er der Meister.« Er starrte versonnen ins Leere. »Was ist geschehen, Majestät?«, fragte Talgorian vorsichtig nach. »Was geschehen ist? Sie haben sich hartnäckig geweigert, ihn auszuliefern, das ist geschehen. Haben behauptet, sie wüssten nichts von ihm. Diese elenden Hunde! Daher gab ich Befehle aus und ließ sie zu ihm schicken.« Seine Besucher waren verwirrt. »Sir?«, fragte Bastorran. »Ich ließ sie zu ihm schicken. Versteht Ihr? Ich habe sie in den Tod geschickt. Versteht Ihr? Na?« Er lachte über seinen kleinen Scherz. Sie gingen höflich darauf ein und kicherten und lächelten verkrampft.
»Dieses Mal ist er mir entwischt«, fuhr der Prinz ernster und fast wie im Selbstgespräch fort. »Und das hat mich nachdenklich gemacht. Waren meine Vorsichtsmaßnahmen ausreichend? War es genug, einfach vor ihm fortzulaufen? Könnte ich meine Verteidigung irgendwie verbessern?« Seine Brust schwoll selbstherrlich an, und er wandte sich triumphierend an die Gäste. »Ja, das könnte ich!« Er ging zu dem abgedeckten Gegenstand, packte ein honiggelbes Glo176 ckenseil, das an der Seite hing, und zog dramatisch daran. Die Umhüllung stieg hoch, gezogen von einem Gegengewicht und dünnen Drähten. Darunter kam ein recht großer Käfig zum Vorschein. Er war stabil gebaut, prächtig geschmückt und golden gefärbt. Vielleicht bestand er sogar aus Gold, wie es einem königlichen Besitzer zukam. Doch Talgorian vermutete, dass es sich um Eisen mit einem Goldüberzug handle. Die widerstandsfähige Käfigtür stand offen, sie wurde von starken Federn gehalten. »Nun?«, wollte der Prinz wissen. »Es ist... unglaublich«, flüsterte der Gesandte. Bastorran stimmte nickend zu und vergaß sogar, den Mund zu schließen. »Er ist so stark«, erklärte Melyobar begeistert. Er legte die Faust um eine Stange. »Von Handwerksmeistern aus den besten Materialien gebaut. Und er wird mit Zaubersprüchen noch weiter verstärkt.« Er sah seine beiden Gäste an. »Ihr könnt doch sicher erkennen, welchem Zweck er dient, nicht wahr?« Es dauerte einen Moment, bis das eisige Schweigen durchbrochen wurde. Talgorian wagte es als Erster. »Meinen Glückwunsch, Sir. Ein bemerkenswert klug ersonnenes Versteck.«. »Ja, dort kann Euch nichts und niemand erreichen, Hoheit«, ergänzte Bastorran, der den Hinweis des Vorredners aufgriff. »Absolut sicher.« »Was?« Der Herrscher sah sie stirnrunzelnd an. Sie warteten beklommen und mit ausdruckslosem Gesicht. »Für zwei angeblich so intelligente Männer ist das einfach ... es ist strohdumm!«, verkündete der Prinz und starrte sie weiter an. 177 Dann lachte er. Es war ein schrilles, höhnisches Wiehern, das beinahe schon gut gelaunt klang. »Nein, der Käfig ist nicht für mich, er ist für ihn!« Er hob einen Stapel Papiere hoch und rollte sie zusammen, während er weitersprach. »Sollte der Tod mich trotz all meiner Bemühungen jemals einholen, dann wird er in die Falle tappen. Es gibt hier nämlich einen Auslöser, versteht Ihr?« Er klopfte mit den zusammengerollten Papieren an den Käfig, und sofort fiel die Klappe zu und rastete mit lautem Knall ein. »Klug ausgedacht, was?« »Sehr klug«, quetschte Talgorian lahm hervor. »Es gibt jetzt nur noch ein Problem.« »Hoheit?« »Was, glaubt Ihr, sollte ich als Köder nehmen?« 178 Ich will Euch sagen, was wirklich geschehen ist.« Reeth, Kutch und der Patrizier rumpelten in Domex' gedecktem Wagen dahin. Er wurde von zwei Apfelschimmeln gezogen, und Caldason hielt die Zügel in den Händen. Kutch saß neben ihm, Karr dahinter im Inneren des Wagens, den Rücken an einen Haufen zusammengefalteter Säcke gelehnt. Sie waren die Nacht über gefahren und hatten auf dem Weg nach Süden, nach Valdarr, die Hauptstraßen gemieden. Jetzt dämmerte der neue Tag, und sie hatten begonnen, über Bhealfas Herrscher zu diskutieren. »Fahrt fort«, drängte Kutch, der darauf brannte, eine spannende Geschichte zu hören. »Über König Narbettons Schicksal sind viele Legenden verbreitet worden«, erklärte Karr, der die Aufforderung dankbar annahm. »Die offizielle Version ist die, dass er in den unruhigen Tagen vor etwa zwanzig Jahren, als Gath Tampoor Rintarah von dieser Insel vertrieb und sie selbst in Besitz nahm, den Tod fand. Manche sagen, er sei im Feuer umgekommen, das 179 den alten Palast zerstörte. Andere behaupten, er habe heldenhaft sein Leben geopfert und die verzweifelte Verteidigung gegen die Invasionstruppen selbst befehligt. Oder er habe Gift genommen, als er mit ansehen musste, wie sein Königreich von den Händen eines Besatzers in die eines anderen überging. All diese Geschichten sind Lügen. Selbst sein Staatsbegräbnis war ein Betrug.« Caldason drehte sich zu ihm um. »Wollt Ihr damit sagen, dass er noch lebt?« »Ja ... ja und nein. Als sie sich zurückzogen, führten die Zauberer von Rintarah eine Art magischen Angriff gegen Narbetton. Ein letzter Schuss zum Abschied, könnte man sagen. Als hätten sie die Brunnen vergiftet oder Salz auf die Felder gestreut. Vielleicht war es diese Tat, die den Geist seines einzigen Sohnes Melyobar verwirrt hat. Wie und was auch immer, der König fiel in eine Art Bewusstlosigkeit. Er ist weder lebendig noch tot, sondern in einem Zustand gefangen, in dem er anscheinend nicht altert. Niemand weiß, ob Rintarahs Magier dies beabsichtigt haben oder nicht oder ob es ein fehlgeschlagener Mordversuch war.« »Hast du so etwas schon einmal gehört, Kutch?«, fragte Caldason. Der Junge hob, da seine Meinung gefragt war, überrascht und hoch erfreut den Kopf. »Oh. Ja doch, so etwas
Ähnliches habe ich schon einmal gehört. Es gibt natürlich Schlafsprüche und bestimmte Zauber, die das Opfer in Trance versetzen. Aber diejenigen, die ich kenne, sind harmlos verglichen mit diesem hier, und sie können von jedem guten Zauberer aufgehoben werden.« 180 »Dieser hier kann nicht aufgehoben werden«, erwiderte Karr. »Alle großen Zauberer, die in Melyobars Diensten stehen, haben es versucht. Den Gerüchten nach ist der Prinz allerdings bei weitem nicht so unglücklich darüber, wie man meinen könnte. Schließlich würde ihm die Wiederbelebung seines Vaters die Macht rauben, und es gibt sogar Grund zu der Annahme, dass er für den alten Herrn sowieso nie viel übrig hatte. Freilich kommt Melyobars Verwirrung darin zum Ausdruck, dass er sich geweigert hat, den Titel des Königs anzunehmen. Vielleicht rechnet er doch noch damit, dass sein Vater sich erholt. Wer kann das schon sagen?« »Wisst Ihr, wo Narbetton jetzt ist?« »Niemand weiß es mit Sicherheit, doch alle meinen, er müsse irgendwo in Melyobars absurdem fliegendem Palast sein.« »Woher wisst Ihr dies alles?«, fragte Caldason. Karr lächelte. »Das ist einer der Vorteile, wenn man zur Kaste der Politiker gehört. Innerhalb der Regierung ist diese Geschichte kein Geheimnis.« »Wenn dem Volk diese Tatsachen bekannt werden, könnte Rintarah bei den Bhealfanern sogar noch unbeliebter werden. Käme das unseren gegenwärtigen Herren nicht gelegen?« »Ja, aber dann würden andererseits auch alle fragen, warum Gath Tampoor den König nicht aus seinem Elend erlöst.« »Und warum haben sie es denn noch nicht getan?« »Vielleicht können sie es nicht, obwohl dem Reich die mächtigste Magie zur Verfügung steht. Oder sie können es, aber sie ziehen es vor, Narbettons irren, beeinflussbaren Sohn als Herrscher zu haben. Wenn 181 der Prinz allerdings zunehmend unberechenbar wird, könnte sich auch dies wieder ändern. Von dem jahrelangen heimlichen Gerangel um die Fragen der Verfassungsmäßigkeit haben sie ganz gewiss profitiert.« Kutch hatte aufmerksam zugehört. »Die Art Magie, über die Ihr sprecht, muss zur Zeit der Gründer recht einfach zu wirken gewesen sein. Es gibt sogar Gelehrte, die sagen, die ganze Traumzeit sei ein einziger großer Zauber, eine Art Magie, durch welche die Realität in eine Art Illusion verwandelt wurde, in der alles formbar sei. Es heißt, die Gründer konnten tun, was immer sie tun wollten ... nun ja, genau wie im Traum eben.« Er grinste. »Es gibt wirklich Leute, die das glauben. Die Ansichten über all das, was mit den Gründern zu tun hat, gehen weit auseinander.« »Es war nicht die Magie der Gründer, die Narbetton gelähmt hat«, erklärte Karr. »Also müsste es eigentlich möglich sein, den Bann wieder aufzuheben.« »Theoretisch schon. Doch es gibt viele Spielarten der Magie, und manchmal ist ein Spruch schwer aufzuheben, weil er gewissermaßen das Gleichgewicht stört.« Kutch wandte sich an Caldason. »Genau wie Euer ...« Er hätte beinahe »Problem« gesagt. »Genau wie Euer Volk«, fuhr er fort. »Wie Euer Volk.« Caldason starrte ihn an. »Die Qaloch und ihre Magie, über die wir gesprochen haben, wenn Ihr Euch erinnert.« Kutch wurde nervös. »Und wie ... wie sie sich von ... von der anderen unterschieden hat, die ...« Er lief rot an und fühlte sich, als wäre er aus der heißen Bratpfanne ins noch heißere Feuer gesprungen. Caldason erlöste ihn mit versteinertem Gesicht. »Es ist wahr, dass die Qaloch eine andere Einstellung zur Magie und eine andere Beziehung zu ihr haben. 182 Im Gegensatz zu dir betrachten wir sie auch nicht als Maßstab für den Status eines Mannes.« Karr schien nicht bemerkt zu haben, wie knapp Kutch eine Taktlosigkeit vermieden hatte, oder aber er zog es vor, die peinliche Situation höflich zu übergehen. »Wie eigenartig«, sagte er nur. Voll unguter Vorahnungen fragte Kutch: »Warum haben die Menschen eigentlich solche Vorurteile gegen die Qaloch?« Einen Moment lang fürchtete er, alles nur noch schlimmer gemacht zu haben. Doch Caldason schalt ihn nicht. »Vielleicht ist ein Qalochier nicht der beste Zeuge, den du für eine Beurteilung der Lage finden kannst. Wir neigen dazu, den Stiefel zu sehen und nicht die Gründe, aus denen er unser Gesicht trifft.« »Ich glaube, teilweise sind es wohl Schuldgefühle«, warf Karr ein. »Die Qaloch waren immerhin Bhealfas Ureinwohner.« »Aber das ist doch nur eine Legende, oder?«, fragte Kutch. »Für mein Volk nicht«, erwiderte Caldason knapp. Wieder dachte Kutch, er hätte wohl besser den Mund gehalten. »Wie die Wahrheit auch aussieht«, ergänzte Karr, »es gibt keinen Zweifel, dass man den Qalochiern übel mitgespielt hat. Zu meinen Lebzeiten sind ihre letzten Enklaven vollständig verschwunden, was wohl Bhealfas Landhunger zu verdanken war.« »Es war nicht nur die Gier nach unserem Land«, erklärte Caldason. »Seht Euch doch um. Auf Bhealfa gibt es genügend Platz.« Er schien düsteren Gedanken nachzuhängen. »Was sonst könnte dieses Unrecht erklären?«
183 »Unsere Unabhängigkeit. Es gibt hier wenig Liebe für diejenigen, die sich nicht anpassen. Die Tatsache, dass wir ein Kriegervolk waren, hat uns natürlich nicht beliebter gemacht. Das Erste, was wir in die Hand bekommen, wenn wir diese Welt betreten, ist ein Schwert. Unser Ideal ist es, diese Welt auch mit einem Schwert in der Hand wieder zu verlassen.« Ein wehmütiger Ausdruck milderte den harten Glanz seiner Augen. »Wenn Ihr aber den wahren Grund dafür wissen wollt, dass wir benachteiligt werden, dann ist dies einfach die Tatsache, dass wir anders sind.« »Die Menschen, die Euch deshalb hassen, müssen sehr dumm sein«, meinte Kutch. »Man sollte seine Feinde nie unterschätzen. Oft mangelt es ihnen nicht an Hirn, sondern nur an Skrupeln.« »Gut gesprochen«, räumte Karr ein. Die letzten Stunden waren sie, meist unter einem Laubdach, durch eine mit großen Bäumen bestandene Landschaft gefahren. Jetzt dünnte der Bewuchs aus, und vor ihnen gabelte sich die Straße. Die unebenere Abzweigung führte nach Westen. »Hier abbiegen«, wies Karr ihn an. Caldason runzelte die Stirn. »Warum denn das?« »Nur ein kleiner Umweg.« »Ich dachte, Ihr wollt so schnell wie möglich zurück.« »Das trifft auch zu. Aber wir sind mindestens noch zwei Tagesreisen von Valdarr entfernt. Wir brauchen Wasser und Vorräte, und die können wir nicht allzu weit von hier bekommen.« »Wie weit?« 184 »Ein paar Stunden höchstens. Außerdem gibt es dort etwas, das ich Euch zeigen will.« »Ich halte nicht viel von Überraschungen, Patrizier.« »Diese werdet Ihr lehrreich finden. Vertraut mir, es wird keine große Verzögerung geben.« Ohne ein weiteres Wort bog Caldason ab. Die Straße, der sie nun folgten, war voller Schlaglöcher und mit Unkraut überwuchert. Zu beiden Seiten war jetzt eher Buschwerk als Wald oder Weideland zu sehen. Mehr als eine Stunde später erreichten sie die Ausläufer eines Moors. Hier wuchsen Büschel von Heidekraut und Moos, das sich an bleiche Felsblöcke klammerte. Die wenigen Bäume, die es in dieser Gegend gab, waren krank und wirkten wie Skelette. Im dünnen Sonnenlicht schimmerten sumpfige Wasserflächen, und in der Luft lag der Geruch faulender Pflanzen. Als sie eine Hügelkuppe erreicht hatten, bemerkte Kutch: »Das ist eine gottverlassene Gegend.« »Ein Land, das niemand haben wollte«, stimmte Karr zu. »Es war das Einzige, das sie finden konnten.« »Wer denn?«, wollte Caldason wissen. »Ihr werdet es bald sehen.« Karr deutete nach vorn. Sie fuhren in ein kleines, flaches Tal, in dem einige bescheidene Gebäude standen. Einen einheitlichen Baustil gab es nicht, und die größte Gemeinsamkeit war der heruntergekommene Zustand. Abseits der Hütten, Blockhäuser und Scheunen standen einige mit Stroh gedeckte Rundhäuser, die denjeni185 gen, in denen Reeth aufgewachsen war, nicht unähnlich waren. Die Siedlung, oder was es auch war, besaß weder eine Schutzmauer noch Gräben oder Wachtürme. Man konnte Menschen erkennen, die mit Traglasten herumliefen, Tiere führten oder in Gruppen ins Gespräch vertieft beisammen standen. Karr kniete hinten im Wagen und schaute über die Schultern der anderen beiden nach vorn. »Haltet an. Es gibt ein oder zwei Dinge, die Ihr wissen müsst, bevor wir hineinfahren.« Stampfend und mit peitschenden Schweifen blieben die Pferde stehen, als Galdason an den Zügeln zog. »Was ist los, Karr?«, wollte er wissen. »Dort ist das Dorf Broliad, oder besser, es ist das, was noch von ihm übrig ist. Benannt wurde es nach dem Gründer, der es vor einem Jahrzehnt aufgebaut hat. Auch er war ein Abweichler, der eine Reihe Gleichgesinnter überzeugen konnte, sich ihm anzuschließen. Sie waren ein bunt zusammengewürfelter Haufen, teilten aber das leidenschaftliche Verlangen, frei von staatlicher Einmischung leben zu können. Gewöhnlich werden sie als >die Ungehorsamem bezeichnet.« »Ich habe von ihnen gehört«, sagte Kutch. »Sind sie nicht Pazifisten oder so etwas?« »Überwiegend, ja. Sie haben versucht, sich mit gewaltfreien Mitteln gegen die Herrschaft des Reichs zu stellen. Sie wollen so weit wie möglich unabhängig von den Machthabern leben. Es ist ein hartes Los.« »Das ist kein Wunder«, erwiderte Caldason, der das Dorf betrachtete, »wenn sie sich hier als bequeme Ziele anbieten und sich weigern zu kämpfen.« 186 »Allerdings.« Karr hielt inne. »Mir ist bewusst, dass Euch dies sehr gegen den Strich gehen dürfte«, fügte er hinzu. »Nein, ich kann einen friedliebenden Mann, der den Mut hat, zu seinen Überzeugungen zu stehen, durchaus respektieren.«
»Das ist löblich. Aber das ist nicht das, was ich meinte.« »Was meintet Ihr denn?« »Es ist eine pazifistische Gemeinschaft, Reeth. Das bedeutet, dass es dort keine Waffen gibt. Besucher müssen ihre Waffen am Ortseingang abgeben. Sie machen keine Ausnahmen.« Auf Kutch wirkte Caldasons Miene so, als wollte dieser den Patrizier verprügeln. Doch er knurrte nur: »Vergesst es. Einen Qalochier aufzufordern, seine Waffen abzugeben, das ist wie ...« Ihm fiel kein passender Vergleich ein. »Dann hintergeht sie einfach«, schlug Karr vor. »Da spricht der Politiker, nicht wahr?« »Es ist die Vernunft. Gebt die leicht auszumachenden Waffen ab und behaltet etwas, das Ihr leicht verbergen könnt, wenn es schon unbedingt sein muss. Aber dort mit einer Waffe hineinzugehen, das ist ungefähr so überflüssig wie eine Axt als Bewaffnung, wenn man sich einem Korb mit Kätzchen nähert.« »Sie werden meinem Wort vertrauen, dass ich keine verborgenen Waffen habe?« »Nein. Aber mir werden sie glauben. Sie kennen mich.« »Brecht Ihr damit nicht ihr Vertrauen?« »Wenn Ihr die Waffen nicht einsetzt, kann ja nichts geschehen, oder?« Bevor Caldason etwas sagen konn187 te, wandte Karr sich zu Kutch um. »Und du kannst dir dieses Grinsen verkneifen, junger Mann. Magie ist hier auch nicht erlaubt.« Das war für Kutch sogar noch schockierender als die Verbannung aller Waffen. »Keine Magie? Überhaupt keine? Wie können die denn überhaupt leben?« »Dann haben sie am Ende vielleicht doch etwas Vernunft«, murmelte Caldason. »Ich dachte mir schon, dass es Euch interessiert«, erwiderte Karr. »Tatsache ist, dass sie nichts von dem erlauben, was Euch beiden so teuer ist. Versucht eine Weile damit zu leben.« Caldason seufzte resigniert und zog ein Messer hervor. »Was wollen wir hier überhaupt?«, fragte er, während er sich die Waffe in den Stiefel schob. »Wie ich schon sagte, ich kenne einige Leute aus dem Dorf und wollte mich ohnehin mit ihnen in Verbindung setzen, als ich Grentor besucht habe. Ich muss einige Dinge mit ihnen besprechen. Sie können uns gegen ein bescheidenes Entgelt mit genügend Proviant für den Rest unserer Reise versorgen, und Ihr lernt eine andere Art und Weise kennen, wie die Menschen Widerstand leisten.« »Ich habe schon eine Menge Widerstand gesehen, und das meiste davon war vergebens.« »Ich will ja nicht sagen, dass der Widerstand in Broliad besonders wirkungsvoll ist, aber meine Ehre gebietet mir, mich mit diesen Leuten zu treffen, und ich hätte Euch beide gern dabei.« »Also, ich würde das Dorf wirklich gern sehen«, erklärte Kutch. »Ihr lasst uns ja kaum eine andere Wahl, Patrizier«, erwiderte Caldason. 188 »Ihr könnt einfach weggehen. Oder Ihr könnt mit dem Wagen und dem Gespann wegfahren. Immerhin seid Ihr Reeth Caldason. Ein Gesetzloser ist meiner Ansicht nach ohne Weiteres zu so etwas fähig.« Caldason richtete sich auf, und die Muskeln in Hals und Arm spannten sich. »Bereit?« Ohne die Antwort abzuwarten, klatschte er den Pferden die Zügel auf den Hintern. Schweigend fuhren sie den Hang hinunter. Als sie die Siedlung erreichten, kamen ihnen die Bewohner schon entgegen. Sie trugen überwiegend selbst gewirkte graue und braune Kleider. Männer und Frauen waren etwa in gleicher Zahl vertreten, insgesamt etwas mehr als vierzig Menschen und ein Dutzend Kinder. Ein Rudel frei laufender Hunde, Ziegen und Hühner begleitete sie. Karrs Behauptung, dass er mit den Kommunarden bekannt sei, wurde durch die warme Begrüßung der Menschen bestätigt. Es gab reichlich Händeschütteln, Rückenklopfen und Umarmungen. Reeth und Kutch wurden nur als Freunde vorgestellt; Karr verzichtete darauf, ihre Namen zu nennen. Die Begrüßung, die sie erhielten, war natürlich weniger überschwänglich als die seine, doch im Grunde genauso freundlich. Obwohl Reeths dunkle Haut und die etwas eckigen Gesichtszüge seine Herkunft deutlich verrieten, zeigte niemand auch nur die geringste Feindseligkeit angesichts der Tatsache, dass nun ein Qalochier in ihrer Mitte weilte. Nachdem er seine Dolche ausgehändigt hatte, wandte Karr sich an Reeth. »Ihr müsst jetzt Eure Waffen abgeben«, sagte er. Caldason verkniff sich eine Antwort und löste die Riemen seiner Schwerter, dann nahm er eine Mes189 serscheide mitsamt Messer vom Gürtel. Er ließ alles in die ausgestreckten Hände eines Ungehorsamen fallen. Der Mann marschierte mit den Waffen lächelnd davon, während Caldason ihm finster hinterdrein blickte. »Ich habe mit unseren Gastgebern Geschäftliches zu besprechen«, erklärte Karr und nickte in Richtung einer bestimmten Gruppe von Kommunarden. Sie waren so bescheiden gekleidet wie alle anderen, und abgesehen von der Tatsache, dass sie etwas abseits standen, deutete nichts darauf hin, dass sie eine besondere Autorität genossen. »Es sollte nicht lange dauern. Ihr seid, wie man mir sagte, unterdessen in der Gemeinschaft willkommen. Ihr könnt Euch frei bewegen und ausruhen, etwas essen oder Euch erfrischen. Ich stoße später
wieder zu Euch.« Reeth und Kutch sahen ihm nach, als er mit den Kommunarden in eins der runden Häuser ging. Da die Aufregung vorbei war, zerstreuten sich auch die Zuschauer. »Tja, damit sind wir wohl entlassen«, sagte Caldason. Karrs Treffen dauerte dann doch erheblich länger, als er versprochen hatte. Der Morgen dehnte sich, es wurde Nachmittag und schließlich sogar früher Abend, ohne dass er sich blicken ließ. Kutch und Reeth vertrieben sich die Zeit, indem sie die Siedlung erkundeten. Ihr erster Eindruck sollte sich bestätigen. Die Gebäude waren in einem schlechten Zustand, die Türen hingen schief in den Rahmen, Weidezäune waren zerborsten, und die Farbe, mit der man das Holz versiegelt hatte, warf Blasen und 190 schälte sich ab. Die Tiere - sowohl das Vieh als auch die Haustiere - wirkten unterernährt. Ganz allgemein roch es nach Verfall. Die Kommunarden, die nicht weniger hager waren als ihr Vieh, überließen die Gäste sich selbst. Hin und wieder starrte jemand, doch sie wurden nicht belästigt. Angesichts der allgemeinen Unterernährung hatten Reeth und Kutch Hemmungen, nach etwas Essbarem zu fragen. Schließlich wurden sie in einen Speisesaal geführt, in dem alle Tische bis auf ihren frei waren. Sie bekamen eine wässrige Suppe, Schwarzbrot und Klaräpfel. Ein hinreichendes, aber langweiliges Mahl. Als gegen Abend die Schatten länger wurden, kehrten sie zum runden Haus zurück, das Karr betreten hatte. Die Tür war und blieb verschlossen. Caldason wurde ungeduldig. »Diese Verzögerung ärgert mich. Wie lange will der Mann sich denn noch Zeit lassen?« »Sie haben wohl eine Menge zu besprechen«, erwiderte Kutch achselzuckend. Er hatte beobachtet, wie sich die Stimmung seines Gefährten verdüstert hatte. »Ich werde ihnen Beine machen.« »Das könnte man für unhöflich halten, Reeth. Es ist besser, wir warten.« »Wie lange noch? Bis zum Morgen? Ich bin niemandes Diener.« Er schritt schnurstracks zum Gebäude. »Reeth, nein, wartet!« Zehn Schritte weiter blieb Caldason stehen. Die Tür hatte sich geöffnet, und ein helles Quadrat hob sich in der Abenddämmerung ab. Schwatzende Men191 sehen kamen heraus, freundliches Lachen war zu hören. Dann ließ sich auch Karr blicken. Mit fliegenden Rockschößen eilte er zu Caldason, die Arme entschuldigend ausgebreitet. »Es tut mir wirklich Leid. Es hat sich als langwieriger erwiesen, als ich vermutet hätte.« »Schon gut«, beruhigte Kutch ihn. Caldason war weniger nachsichtig gestimmt und zeigte sich sarkastisch. »Das muss wohl ein Teil Eures großartigen Projekts gewesen sein, was?« »Es war durchaus wichtig. Viel wichtiger, als ich im Augenblick sagen kann.« Er drängte sie vom Rundhaus fort. »Kommt mit mir, meine Freunde.« Dicht beisammen bleibend, entfernten sie sich von den Kommunarden. »Was haltet Ihr von diesem Ort?«, fragte Karr. »Wir hatten gewiss genug Zeit, uns eine Meinung zu bilden«, erwiderte Caldason. »Ja, ich sagte doch schon, dass es mir Leid tut. Aber was haltet Ihr nun davon?« »Die Leute sind anscheinend ganz in Ordnung, aber was das Dorf angeht, so bin ich nicht sonderlich beeindruckt.« »Kutch?« »Ich denke, ich würde mich Reeth anschließen. Es scheint nicht besonders gut zu funktionieren, und man glaubt, sie seien ... nun ja ... zehn Jahre hinterher?« Karr lächelte. »Ganz meiner Meinung.« »Wirklich?« »Ja. Auch ich glaube nicht, dass es auf diese Weise funktionieren kann. Die Beweggründe sind richtig, aber der Ansatz ist falsch.« 192 »Warum kommt Ihr dann hierher?«, fragte Caldason. »Ich habe es versprochen. Außerdem sage ich ja nicht, dass alles, was sie tun, grundsätzlich falsch ist. Doch dies ist nicht der Augenblick, darüber zu diskutieren.« Er blickte zu mehreren Kommunarden, die sich ihnen näherten. »Nun, der Tag neigt sich dem Ende zu, und wir haben in der letzten Nacht nicht viel Schlaf bekommen. Man hat uns eingeladen, bis morgen zu bleiben, und ich schlage vor, dass wir die Einladung annehmen. Morgen können wir dann in aller Frühe aufbrechen.« Kutch hatte keine Einwände, und Caldasons Schweigen werteten sie als Zustimmung. »Wir können uns aussuchen, wo wir nächtigen wollen«, erklärte Karr. »Es gibt hier Schlafsäle, die von den meisten Kommunarden benutzt werden, und ein oder zwei stillere Räume, wenn wir abgeschieden sein wollen.« »Ich würde mich lieber zurückziehen«, entschied Kutch. »Falls niemand etwas dagegen hat.«
»Kein Problem. Aber vergiss nicht, dass die Magie hier nicht erlaubt ist. Wir wollen unsere Gastgeber nicht spät am Abend noch durch einen Zauberspruch verärgern.« »Ich verspreche es. Und was ist mit Euch?« »Ich ziehe den Schlafsaal vor.« »Ich hätte nicht gedacht, dass Ihr Euch dafür entscheiden würdet.« »Weil ich ein Patrizier bin?« Karr grinste. »Nun schau nicht so verlegen drein, du hast schon Recht. Aber es entspricht meiner Politik, meine Bereitschaft zur Zusammenarbeit auch auf diese Weise zu demons193 frieren.« Er sah sich zu Caldason um. »Ihr seid so still, Reeth.« »Nur müde.« »Wo wollt Ihr denn schlafen?« »Hier draußen.« Karr war verblüfft. »Obwohl Euch ein warmes Bett angeboten wird? Und ein Dach über dem Kopf?« »Ich bin daran gewöhnt, im Freien zu nächtigen. Die Sterne sind das einzige Dach, das ich brauche.« Er deutete auf eine kleine Baumgruppe am Rande des Dorfs. »Dort werde ich mich hinlegen.« Die Augenbrauen des Patriziers hoben sich um eine Winzigkeit. »Wie Ihr wollt. Dann komm mit, Kutch.« Kutch wünschte Caldason eine gute Nacht und nahm ein wenig verletzt zur Kenntnis, dass er keine Antwort bekam. Sie ließen den Mann vor dem Rundhaus stehen. Karr führte den Jungen zu einer Hütte, die im Innern sauber war, wenngleich sie von außen heruntergekommen wirkte. Die Einrichtung war spartanisch, doch das Lager war groß genug, und es gab einen ausreichenden Vorrat an Decken. Der Patrizier erklärte Kutch, wo er selbst zu schlafen gedachte, dann schloss er die Tür von außen und ging. Auf einer umgedrehten Kiste standen Kerzen, doch Kutch beachtete sie nicht. Er war müde und legte sich voll bekleidet aufs Bett. Angesichts der Woge von Müdigkeit, die ihn mit einem Mal überkam, wäre ihm sogar ein Steinboden einladend erschienen. Er überlegte sich, dass er wenigstens das Wams ausziehen sollte, doch er hatte keine Lust, sich zu bewegen. Und die Stiefel natürlich. Die musste er auf 194 jeden Fall abstreifen. Gleich würde er es tun. Wenn er ein wenig ausgeruht hatte. Er wollte eine Weile liegen und sich dann ordentlich ausziehen. In ein oder zwei Minuten. Er glitt in einen samtigen, traumlosen Schlaf hinüber. Eine unmessbare Zeitspanne verging. Dann rüttelte jemand ihn wach. Eine dunkle Gestalt, die er nicht richtig sehen konnte, beugte sich über ihn. Er wollte schreien, doch eine Hand wurde auf seinen Mund gepresst. Die Gestalt beugte sich weiter vor. »Hilf mir«, flüsterte sie heiser. 195 Kutchs nächtlicher Besucher hatte die Tür einen Spalt offen gelassen. Eine Windbö stieß sie weiter auf, und ein silberner Lichtbalken fiel herein, der die Schatten vom Gesicht des Eindringlings vertrieb. Es war Caldason, die Augen aufgerissen und verstört. Er zog die Hand von Kutchs Mund. Der Bursche entspannte sich ein wenig, auch wenn ihn das vom Wahnsinn verzerrte Gesicht seines Freundes immer noch nervös machte. »Was ist denn?«, fragte er. »Was ist los?« Reeth legte einen Finger vor die Lippen. Seine Bewegungen wirkten fahrig wie bei einem Berauschten, doch er war völlig nüchtern. Kutch senkte die Stimme und wiederholte flüsternd seine Frage. »Was ist los? Seid Ihr krank?« Die Schlaftrunkenheit fiel von ihm ab, und nun konnte er erraten, was im Gange war. »Ist das wieder einer Eurer ...« 197 Caldason nickte. »Was kann ich tun?« »Ich brauche deine Hilfe ... wie beim letzten Mal.« Seine Stimme schwankte. Er sah sich im kleinen Zimmer um. »Der Raum hier ist nicht geeignet. Komm mit.« Benommen stieg Kutch aus dem Bett. Er sah, dass Reeth eine dicke Seilrolle mitgebracht hatte. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. »Rasch«, zischte Reeth. Er wollte hinaus. »Einen Augenblick.« Kutch rollte das Bettzeug zusammen und zog eine Decke darüber. Jemand, der einen flüchtigen Blick darauf warf, konnte sich vielleicht überzeugen lassen, dass die Pritsche belegt war. »Beeil dich.« »Ja doch.« Sie verließen die Hütte. Kutch schloss hinter sich leise die Tür. Es war mitten in der Nacht, und der Mond hing dick und voll am Himmel. Sie konnten niemanden in der Nähe
sehen, doch sie bewegten sich verstohlen und hielten sich dicht neben den Gebäuden, wo die Schatten tiefer waren. Caldason ging wie ein Mann, der gerade heftig gerannt war, atemlos und ein wenig unsicher. Kutch folgte ihm. Er fürchtete, jemandem zu begegnen, und er fürchtete sich vor dem, was Caldason dann tun mochte. Als sie die Ecke einer Scheune erreichten, hielt Caldason Kutch mit einer Geste auf. Sie lugten um die Ecke und sahen das, was in diesem Ort als Hauptplatz gelten mochte. Hier trafen vier gekrümmte Häuserzeilen aufeinander, und in der Mitte gab es eine offene 198 Fläche, wo sich die unbefestigten Straßen kreuzten. An diesem Ort versammelten sich die Kommunarden, wenn gemeinsame Entscheidungen getroffen oder die Köpfe der Neugeborenen benetzt werden sollten. Der Platz war viel zu groß, als dass sie ihn unbemerkt hätten überqueren können, zumal in einigen Gebäuden ringsum noch Licht brannte. »Was nun?«, hauchte Kutch. Caldason deutete nach vorn. Direkt hinter dem Rand der Siedlung lag das kleine Gehölz, das er sich zuvor als Schlafplatz ausgesucht hatte. Doch um dorthin zu gelangen, mussten sie die Deckung verlassen und den Platz überqueren. »Ich zuerst«, flüsterte er und legte sich das Seil über die Schultern. »Ich gebe dir ein Zeichen, wenn die Luft rein ist.« Kutch nickte und sah ihm nach. Caldason bewegte sich ungeschickt, halb vornüber gebeugt, als hätte er Bauchschmerzen. Er kam nur mühsam voran, doch er überwand den Platz ohne Zwischenfälle. Drüben stemmte er die Hände gegen eine Wand und blieb mit gesenktem Kopf stehen. Kutch war mulmig zumute. Dann hob Caldason den Kopf und drehte sich zu ihm um, blickte nach links und rechts und winkte. Der Junge rannte hinüber. Vorsichtig schlichen sie aus dem Dorf. Die festgetrampelte Erde wich getrocknetem Schlamm und federnden Grasbüscheln. Jetzt waren sie in offenem Gelände, und zwanzig Schritt weiter drangen sie in hüfthohes Buschwerk ein. Dann ragten die Bäume über ihnen auf, deren Zweige den Mond mit einem dürren Spinnennetz überzogen. 199 Caldason warf Kutch die Seilrolle zu. Das Gewicht ließ den Jungen mit eingeknickten Knien einen Schritt zurücktaumeln. »Fessle mich«, befahl Reeth keuchend. »Fessle mich an diesen Baum.« Er nickte zum größten Baum hin. »Und nimm das hier.« Er bückte sich und zog das Messer hervor, das er im Stiefel versteckt hatte. Caldason setzte sich mit dem Rücken an den Stamm. Als Kutch das Seil um ihn wand, sagte er: »Was habt Ihr nur gemacht, bevor Ihr mich getroffen habt?« Es war Galgenhumor, den Caldason jedoch ernst nahm. »Wenn ich in der Nähe von Unschuldigen war, habe ich mich so weit wie möglich entfernt. Wenn ich vor Feinden stand, war es mir egal.« »Was ist eigentlich los mit Euch, Reeth?« »Beeil dich doch! Und zieh das Seil fester an!« Kutch bekam noch einige Instruktionen, legte die Knoten und stand dann mit großen Augen vor seinem Werk. »Und jetzt verschwinde«, sagte Reeth. »Nein, warte! Wir müssen den Lärm unterdrücken, den ich machen könnte. Ich brauche etwas, auf das ich beißen kann.« »Was denn zum Beispiel?« »Wir müssen wohl das Seil nehmen. Schneide ein Stück mit dem Messer ab.« Kutch schnappte sich eine Armeslänge Seil vom Ende der Rolle und trennte mit der rasiermesserscharfen Klinge ein Stück ab. Er legte es um den Baum, sodass es wie das Zaumzeug eines Pferdes durch Caldasons Mund lief. »Gut«, sagte Reeth. »Und wenn du hier fertig bist, verschwindest du.« Er verdrehte die Augen, und sein 200 Atem ging schwerer. Er biss auf das Seil; Kutch zog es noch einmal fest und verknotete es hinter dem Baum. Dann tat er, wie ihm geheißen, und zog sich zurück. Aber nicht sehr weit. Da war nur noch der Schmerz. Beißender Geruch kitzelte in seiner Nase. Es stank nach verkohltem Holz und verbranntem Fleisch. Irgendwo, nicht weit entfernt, knisterte ein Feuer. Noch weiter weg waren Schreie und Rufe zu hören. Er musste auf dem Rücken liegen, denn er konnte den Himmel sehen. Auch der Himmel brannte. Brennendes Rot, davor fette schwarze Rauchfahnen. Ascheflocken tanzten in der Hitze. Dann verdeckte etwas sein Blickfeld. Eine Gestalt beugte sich über ihn. Verschwommen, undeutlich. Legte die Hände auf ihn. Er sah die Hände, als sie sich wieder von ihm lösten. Sie waren blutig. Er wollte etwas sagen, doch er konnte nicht. Es war, als hätte er vergessen, wie man spricht. Ein Becher wurde an seine Lippen gedrückt, doch anscheinend hatte er auch vergessen, wie man schluckt. Die Flüssigkeit wurde in seinen Hals gekippt. Was es auch war, es versengte seinen Hals wie flüssiges Blei, und als es seinen Magen erreichte, löste es einen brennend heißen Krampf aus.
Der Schmerz wurde unerträglich. Wieder waren die Hände da. Es kam ihm so vor, als machten sie bestimmte Bewegungen über ihm. Komplizierte, geheimnisvolle Bewegungen, deren Bedeutung er nicht erfassen konnte. Seine Qualen ließen etwas nach. Er hatte den Eindruck, der Mensch, der sich um 201 ihn kümmerte, müsse ein alter Mann sein, doch er war nicht sicher, ob er seinen Augen trauen konnte. Die Zeit verging. Seine Welt war erfüllt vom roten Himmel, vom brennenden Fleisch und den entfernten Schreien. Dann bemerkte er, dass das, worauf er lag, gehoben wurde. Man bewegte ihn, er wusste nicht wohin, und dies weckte seinen Körper. Die Schmerzen waren wieder da, jeder Stoß und jeder Ruck war wie ein Stich mit einem glühend heißen Dolch. Wieder wollte er sprechen oder wenigstens schreien, doch kein Laut kam über seine Lippen. Dann sah er, oder er glaubte es wenigstens, die Dächer brennender Häuser und brennende Bäume. Und droben den Himmel, rot von den Flammen. Endlich erreichte er einen geschützten Ort und sah statt des zornigen Himmels die Balken einer Holzdecke über sich. Er war erleichtert, als die Bewegungen aufhörten. Dann änderte sich die Realität schlagartig. Was er von der Umgebung hatte sehen können - die Holzdecke, die verschwommenen Gestalten, die sich um ihn kümmerten -, wurde fortgefegt. Oder besser, eine neue Szene legte sich darüber. Ein Traum in einem Traum. Er stand am Rand einer unermesslich tiefen Klippe. Drunten erstreckte sich eine weite Ebene. Blühende Städte lagen dort wie ausgesät. Wundervolle Gebäude aus Kristall, schimmernde Türme, weit geschwungene Brücken, die körperlos schienen wie Mondstrahlen. Gruppen von Türmen aus geronnenem Licht, eingerahmt von stählernen Regenbogen. Riesige schwebende Gebäude, schillernd wie Seifenblasen, veran202 kert mit zitternden Fäden. Orte, in denen Eis und Feuer sich zu atemberaubend anmutigen Linien verbanden und unmögliche, Schwindel erregende Winkel bildeten. Alles war im Fluss. Alles war in ständiger Veränderung begriffen, entwickelte sich, mutierte und bildete sich neu. Gebäude wuchsen, schrumpften oder lösten sich auf. Neue Gestalten erschienen - zackig, gegabelt, rechteckig, spitz, pyramidenförmig. Sie wellten sich, und die Beschaffenheit der Oberflächen veränderte sich ständig. Die Farben tanzten und wechselten über das gesamte sichtbare Spektrum und noch darüber hinaus. Fast auf einer Höhe mit dieser Klippe, doch weit entfernt, lagen Berge in unruhigem Schlaf. Auch sie waren einer langsamen Wellenbewegung unterworfen. Gipfel flachten sich ab, neue Gipfel erhoben sich. Risse öffneten sich, Lava ergoss sich. Droben wurde der Himmel willkürlich verändert. Von Grün über Grau zu Orange. Purpur wechselte mit Gelb ab, Gelb mit Rot, und das Rot wurde in Gold ertränkt. Scharen von Wesen waren in der Luft. Gestaltwandler waren es, die in einem Augenblick Tieren und im nächsten Menschen ähnelten; oft nahmen sie auch die Gestalt völlig unbekannter Wesen oder komplizierte abstrakte Formen an. Alle erregten Staunen, viele auch Abscheu. Er wusste, dass alles, was er sah, durch Energien angeregt wurde, die durch die Erde strömten. Ein Gitternetz der Kraft, das er eher spüren als sehen konnte, durchdrang die ganze Welt und erfüllte sie mit Lebensenergie. Die Kraft durchströmte auch ihn selbst und 203 pochte im Rhythmus seines schlagenden Herzens und seines pulsierenden Blutes. Seine Gefühle standen im Gegensatz dazu. Erfühlte sich an diesem Ort wie ein Fremder, wie ein Außenseiter, und er fürchtete ihn, obwohl er irgendwie dazugehörte. Als er den Zyklus von Zerstörung und Schöpfung um sich sah, wurde ihm bewusst, dass er nicht allein war. Ein Bewusstsein, ganz nahe, strahlte Verderbtheit und Bosheit aus. Es war reines Bewusstsein, und es war nicht nur ein einziges, sondern ein aus vielen Wesenheiten zusammengesetztes. Eine mächtige Verbindung von intelligenten Wesen, die eine Aura von Hass ausstrahlten. Er konnte es nicht sehen, es schien keine Substanz zu haben, doch er wusste, dass es in der Lage war, ihn auszulöschen. Es näherte sich. Ein Schatten fiel über ihn, der keine sichtbare Quelle zu haben schien. Der kalte Hauch sprach von nackter Angst. Er drehte sich um und rannte weg. Die schwarze, bösartige Macht verfolgte ihn. Er schwang sich in die Luft auf und flog so leicht und mühelos wie ein Vogel. Es war ein völlig instinktiver Vorgang. Er besaß keine Flügel; der Glaube allein erhob ihn vom Boden und steuerte seinen Flug. Die Gabe kam ihm völlig natürlich vor, und von all den Wundern, die diese Welt zu bieten hatte, schien ihm dieses noch das am wenigsten bemerkenswerte zu sein. Jetzt flog er zwischen unzähligen anderen Wesen durch die Luft und wand sich und wich aus, um nicht gegen sie
zu prallen. Die dunkle Intelligenz blieb hinter 204 ihm und drohte sich jeden Moment auf ihn zu stürzen. Er tauchte hinab, drehte sich, stieg hoch und versuchte den Verfolger abzuschütteln. Er raste mitten durch die Schwärme der grotesken, fliegenden Gestalten. Hinter ihm wurden sie ausnahmslos in die dunkle Umarmung des vielfältigen Bewusstseins hineingezogen und verstärkten dessen Macht und Hass. Das Wesen erschuf Blitze und schleuderte sie nach ihm. Er schwenkte ab und flog in Spiralen, um den knisternden, krachenden, blendenden Entladungen zu entgehen. Dann traf ihn eine davon. Jede Faser seines Seins wurde von der Energie verletzt. Er stürzte zu der sich ewig verändernden, schillernden Erde hinunter und sah sich von einer Kraft erfasst, die stärker war als die Schwerkraft. Er war gefangen und konnte nur noch wehrlos zusehen, wie die vielfältige Schwärze herabstieß und ihn erbarmungslos einhüllte. Er wusste, dass der Tod noch das Gnädigste war, das sie ihm antun konnte. Er schrie. Sofort war der feuerrote Himmel wieder da. Dann wurde auch er ausgeblendet, und die Holzdecke war wieder über ihm.. Er lag auf dem Rücken, starrte zu Balken und Brettern hinauf und spürte wie zuvor die Schmerzen. Er schrie, bis die Dunkelheit ihn verschlang. Am Spätnachmittag waren die drei Gefährten wieder nach Valdarr unterwegs. Karr versuchte sich als Wagenlenker, Kutch saß an seiner Seite, und Caldason hatte sich hinten unter den Segeltuchplanen verkrochen. 205 Es war ein unangenehmer Tag gewesen. Caldason war schweigsam und besorgt und antwortete nur, wenn man ihn ansprach, und manchmal nicht einmal dann. Kutch hatte keine Zeit gehabt, mit ihm über die nächtlichen Ereignisse zu sprechen. Nicht, dass der Qalochier sonderlich darauf zu brennen schien. Kutch hatte erschrocken und zugleich fasziniert beobachtet, was Reeth während der Nacht widerfahren war. Als der Anfall am frühen Morgen endlich vorbei gewesen war, hatte er festgestellt, dass das als Knebel dienende Seil so gut wie durchgebissen war. Irgendwie hatte Kutch den Mann zurück in die Hütte bugsiert. Es war reines Glück gewesen, dass sie nicht beobachtet worden waren. Dort hatte er ihn auf die Pritsche gebettet und sich selbst auf den Boden gelegt. Unruhig hatten sie noch einige Stunden geschlafen. Karr gegenüber hatten sie am nächsten Morgen natürlich kein Wort verlauten lassen. So früh wie möglich, nachdem sie sich bei den Kommunarden bedankt und ihre Waffen wieder in Empfang genommen hatten, hatten sie sich auf den Weg gemacht. Jetzt hockte Caldason zusammengesunken und erschöpft hinten im Wagen. Kutch, der immer noch nicht wusste, was dem Mann eigentlich fehlte, schwieg gedankenverloren. Nur Karr war ganz der Alte. Allerdings kam Kutch zu der Überzeugung, dass der Patrizier auf seine Weise genauso schwer zu durchschauen war wie Caldason. Der Unterschied bestand darin, dass Karr seine wahren Absichten hinter seiner Geschwätzigkeit verbarg, während Reeth in düsteres Brüten verfiel. Kutch nahm an, dass der Patrizier sogar eine gewisse Vorstellung von den nächtlichen Ereignissen hatte, auch wenn er kein Wort darüber verlor. 206 Nach einigem beiläufigen Geplauder über die Kommune und ihr Schicksal meinte Karr: »Ich wünschte, wir hätten vor unserer Abreise bemerkt, dass das Hufeisen da in Ordnung gebracht werden muss. Wie auch immer, wir werden bald in Sattelark sein.« Caldason ließ sich zu einer seiner seltenen Bemerkungen herab. »Können wir es nicht umgehen?« »Ich wüsste nicht, wo wir sonst ein Pferd beschlagen lassen könnten. Den Ort zu umgehen würde unsere Reise zudem um einen ganzen Tag verlängern. Ich will ebenso wenig trödeln wie Ihr. Wir werden rasten, die Pferde versorgen und ein wenig die Beine ausstrecken. Nicht mehr und nicht weniger.« Er wandte sich an Kutch. »Was ich noch sagen wollte: Warst du schon einmal in Valdarr?« »Nein, ich bin nicht einmal bis Sattelark gekommen. Zwar bin ich ein wenig mit meinem Meister umhergereist, aber wir haben immer nur Dörfer und Weiler aufgesucht. Ich bin wohl ein echter Bursche vom Land.« »Dann ist es gut, dass wir in Sattelark beginnen und uns langsam nach oben arbeiten. Das Leben in größeren Orten und in der Stadt kann anfangs ein wenig überwältigend sein.« Er lächelte den Jungen an. »Aber keine Sorge, du hast ja deine Aufpasser dabei.« »Einer davon ist ein gesuchter Gesetzloser und der zweite ein Ziel von Mordanschlägen«, warf Caldason ein. Die Bemerkung dämpfte die Stimmung erheblich, und sie fuhren schweigend weiter, bis Sattelark in Sicht kam. Es war eine geschäftige Stadt von beachtlicher Größe. Als sie einen Hufschmied gefunden hatten, er207 klärte dieser, er werde für das Beschlagen mehrere Stunden brauchen. »Ihr werdet keinen Hufschmied finden, der weniger zu tun hat«, prophezeite er ihnen. »Also gut«, erwiderte Karr und gab ihm einige Münzen. Der Mann spuckte darauf und ließ sie in die Gürteltasche gleiten. »Ich sorge auch dafür, dass Eure Pferde getränkt und gefüttert werden.«
»Eine Stärkung können auch wir gebrauchen«, meinte Karr. »Kommt mit«, sagte er zu seinen Gefährten. Sie liefen los und sahen sich nach einer Schenke um. Die Straßen waren voller Menschen. »Ist hier immer so viel Betrieb?«, fragte Kutch. Karr schüttelte den Kopf. »Nein, das ist ungewöhnlich.« Im Gedränge waren auch Wachleute und einige Paladine auszumachen, denen sie geflissentlich auswichen. Als sie sich dem Stadtzentrum näherten, wurde das Gedränge sogar noch größer. »Vielleicht sind gerade irgendwelche Feierlichkeiten im Gange«, meinte Kutch. »Die Leute scheinen nicht gerade in Festtagsstimmung zu sein«, gab Caldason zurück. Er hatte Recht. Mit wenigen Ausnahmen zeigten sich die Menschen ungewöhnlich still und bedrückt. Alle schienen sich in die gleiche Richtung zu bewegen. Reeth, Karr und Kutch folgten dem Strom der Menschen, teils aus Neugierde und teilweise auch, weil sie keine Aufmerksamkeit erregen wollten. Nach einer Weile erreichten sie den Hauptplatz der Stadt. Hunderte von Schaulustigen hatten sich be208 reits dort versammelt. Fliegende Händler und Gaukler versuchten ihr Glück, doch sie gingen ihrem Gewerbe nur mit geringer Begeisterung nach. Die Lieder, die von den fahrenden Musikanten gespielt wurden, klangen traurig. Kutch bemerkte einige Verkäufer mit Essbarem, die ihre Waren auf langen Tabletts auf dem Kopf balancierten. »Ich bin am Verhungern«, verkündete er. »Wollen wir nicht etwas essen?« »Warte.« Caldason legte dem Zauberlehrling eine Hand auf die Schulter und deutete zum Zentrum des Platzes. Kutch und der Patrizier reckten die Hälse, um es zu sehen. Die Menge drängte sich um eine hölzerne Plattform, die die Köpfe der Zuschauer überragte. Es hätte eine Bühne sein können, wären dort nicht mehrere, etwa mannshohe Pfosten aufgestellt gewesen. Kutch verstand es nicht. »Was ist das?« »Eine Plattform für Hinrichtungen«, erklärte Caldason. Kutch wurde leichenblass. »Oh«, flüsterte er. Auf einer Seite der Plattform war eine kleine Zuschauertribüne errichtet worden. Ein Baldachin bedeckte drei oder vier Sitzreihen, auf denen in diesem Augenblick fein herausgeputzte und gut genährte Zuschauer Platz nahmen, bei denen es sich wohl um die örtlichen Würdenträger handelte. Unter ihnen befanden sich auch einige, deren kostbare Kleidung und deren prunkvoller Schmuck sie als Bürger von Gath Tampoor auswiesen. Ein Trompetensignal brachte die murmelnde Menge zum Verstummen. Dann stieg eine kleine Prozession auf die Plattform. Die Führung hatte ein Beamter 209 übernommen, der den selbstherrlichen Gesichtsausdruck eines zu hoch aufgestiegenen Schreibers zeigte. Ihm folgten mehrere weitere Amtsträger, und hinter diesen kamen zwei verwahrloste Männer, bei denen es sich offensichtlich um die Angeklagten handelte. Sie wurden von Milizionären eskortiert. Die bereits gefesselten Gefangenen wurden an zwei der Pfosten gekettet. Im Gefolge befand sich auch ein staatlich zugelassener Zauberer. Er intonierte rasch einen Spruch und beschwor einen Redezauber, der in der Gestalt eines riesigen Mundes über der Plattform schweben und als Verstärker die Zuschauer informieren sollte. Der leitende Beamte trat vor und öffnete eine Pergamentrolle. Während er vorlas, ahmte der schwebende Mund seine Lippenbewegungen nach. »So geben wir hiermit bekannt«, dröhnte der Mund, »dass diese Männer angeklagt sind, den Frieden des Reichs, der von Seiner Königlichen Hoheit Prinz Melyobar gewährleistet und garantiert wird, gestört zu haben. Durch ihre Taten haben sie die Bürger Bhealfas in Gefahr gebracht, zum Abweichlertum verführt und betrogen. Außerdem sei festgestellt, dass sie darüber hinaus angeklagt sind, Mitglieder einer Verschwörergruppe zu sein, die sich kriminellen Taten zum Nachteil des Reichs verschrieben hat.« »Im Klartext meint er den Widerstand«, flüsterte Karr. »Alle Anwesenden sollen nun als Zeugen beobachten, wie an diesen Missetätern das Urteil in Übereinstimmung mit den gesetzlichen Bestimmungen vollstreckt wird«, fuhr der Mund fort. Was er von sich gab, ähnelte einem menschlichen Sprecher, war aber doch fremd210 artig genug, um als eindeutig nichtmenschlich erkannt zu werden. »Das Ausmaß ihrer Schuld soll bestimmt werden, und wenn ihre Redlichkeit in Zweifel steht, dann soll ihr Schicksal als warnendes Beispiel dienen. Die Angeklagten werden nun auf die Probe gestellt. Gott schütze den Prinzen!« Die Menge antwortete halbherzig, und es erhoben sich sogar ein oder zwei protestierende Stimmen. Berittene Paladine und die Milizionäre auf der Plattform forschten mit Blicken unter den Versammelten, um die Unruhestifter sogleich ausfindig zu machen. »Was heißt es, wenn sie auf die Probe gestellt werden?«, wollte Kutch wissen. »Sie werden einer magischen Prüfung unterzogen«, erklärte Caldason. »Wenn sie bestehen, bekommen sie Gefängnis oder müssen ins Exil, wenn sie scheitern, ist es ihr Tod.« »Was hat das damit zu tun, ihre Schuld oder Unschuld zu beweisen?« »In den Augen des Staates sind sie bereits schuldig. Hier geht es nur noch um das Schauspiel für die Öffentlichkeit. Oder um eine Warnung, je nachdem, wo die Sympathien der Menschen liegen.«
»Das ist doch ein Missbrauch der Zauberkunst.« Kutch kochte. »Warum bekommen sie denn keinen regelrechten Prozess?« »Derlei Milde wird nur den Herrschenden zuteil«, erklärte Karr ihm. »Allerdings dürfte die Hölle erkalten, bevor einer von ihnen tatsächlich mal vor Gericht erscheinen muss. Für uns andere ist die Gerechtigkeit ein Glücksspiel.« Der leitende Beamte gab auf der Plattform das Zeichen, dass die Prüfung beginnen solle. Der Zauberer 211 begann mit einem Ritual und rezitierte aus einem schweren Band, den ein Zauberlehrling für ihn offen hielt. Was er sagte, blieb für die Zuschauer im Dunkeln, denn es wurde nicht von dem schwebenden Mund übertragen. Im Abstand von Sekundenbruchteilen flammten mehrere grelle Blitze auf, und auf der Plattform erschienen drei rotierende grüne Wolken. Erschrockenes Keuchen war in der Zuschauermenge zu hören. Die Drehbewegungen verlangsamten sich, und die Wolken nahmen eine erkennbare Gestalt an. Die Zauber verdichteten sich zu gleichartigen Formen. Es waren drei Frauen, groß und mit marmorbleicher Haut, gekleidet in Seidengewänder, die bis zum Boden reichten. Ihr Haar war wie gesponnenes Gold, und sie trugen Lorbeerkränze. Ihre Augen waren mit schwarzen Binden verdeckt. Sie bauten sich in einer Reihe vor dem ersten Angeklagten auf. Durch den Redezauber verstärkt, verkündete der Beamte unheildrohend: »Nun seht die Personifizierung der Gerechtigkeit! Eine hält den Schlüssel zur Gnade in der Hand, die anderen besitzen den Schlüssel zur Vernichtung.« Er wandte sich an den ersten verurteilten Mann. »Du hast eine Spanne von zwanzig Herzschlägen, um deine Wahl zu treffen.« Er deutete nacheinander auf die drei statuengleichen Frauen. »Eins, zwei oder drei. Gefangener, du hältst dein Schicksal selbst in Händen. So möge nun die Prüfung beginnen.« Eine unsichtbare Trommel wurde gleichmäßig wie ein Herzschlag gerührt. Nervös blickte der Verurteilte von einem reglosen Zauber zum nächsten. Die Toten212 stille, die sich über die Menge gelegt hatte, wurde durchbrochen, als die Menschen ihre Lieblingszahlen zu rufen begannen. Karr bemerkte Caldasons zorniges Gesicht. Der Qalochier hielt den Griff des in der Scheide steckenden Schwerts mit weißen Knöcheln umfasst. »Nein, mein Freund«, flüsterte Karr und hielt Caldasons Hand fest. »Die Chancen stehen zu schlecht, selbst für Euch.« Caldason sah ihn mit wilden Augen an. »Denkt an den Jungen«, fügte Karr hinzu. Reeth kam wieder zu sich. Er schüttelte Karrs Hand ab und sah sich zu Kutch um. Der Junge starrte wie gebannt zur Plattform und beobachtete das Drama, das dort seinen Lauf nahm. »Zwei ... Nummer zwei... nimm die Zwei«, murmelte er halblaut. Abrupt hörten die Trommelschläge auf. Wieder verstummte die Menge. »Wie lautet deine Wahl?«, fragte der Beamte, und der schwebende Mund wiederholte die Worte. Die verzagte Antwort des Gefangenen war jenseits der Plattform nicht mehr zu verstehen, doch der Sprachzauber gab sie bekannt. »Er entscheidet sich für die ... Drei!« Diejenigen Zuschauer, die mit der Wahl einverstanden waren, stießen zustimmende Rufe auf. Es gab einige Jubelschreie und Buhrufe, doch die meisten Gaffer blieben stumm. »Nein«, stöhnte Kutch. »Es ist die Zwei, die Zwei.« »Dann soll sich die Genannte zeigen.« Der dritte Zauber schwebte nach vorn. Eine befehlende Geste vom Zauberer, und die Erscheinung verwandelte sich. Das Gesicht verschwamm und schmolz, und Sekunden später war wieder die sich 213 drehende grüne Wolke zu sehen. Wieder einige Sekunden später, und die grünen Schwaden verflogen und zeigten den wiederhergestellten Zauber. Doch er hatte sich verändert. Geschrei erhob sich aus der Menge, eine Mischung aus Enttäuschung, Zorn und auch Schadenfreude. Der Zauber war nun in Lumpen gekleidet. Das Haar war strähnig und grau, der Lorbeerkranz verfault. Die Hände und Arme waren bis auf die Knochen vom Fleisch befreit, und wo zuvor ein edles, schönes Gesicht gewesen war, zeigte sich nun ein gebleichter Schädel, ein grinsender Totenkopf mit klaffendem Maul. »Es bleibt bei der Verurteilung des Angeklagten. In Anwendung der diesem Tribunal übertragenen Amtsgewalt soll die Strafe nun vollstreckt werden.« Was als Nächstes geschah, ging wenigstens gnädig schnell vonstatten, wenngleich es schockierend genug anzusehen war. Ein bulliger Milizionär näherte sich dem Gefangenen und schwang einen Zweihänder. Die Klinge blitzte kurz in der Sonne auf, dann war der Hals des Mannes durchtrennt. Der Schädel kippte von den Schultern, hüpfte über die Plattform und kam am Rand der Fläche zum Liegen. Aus dem in Ketten hängenden Körper spritzte eine Blutfontäne und traf den zweiten, entsetzten Gefangenen, der am nächsten Pfahl festgebunden war. Ein Brüllen ging durch die Menge, von der Tribüne kam fein berechneter Applaus. Kutch wandte sich betäubt ab und barg das Gesicht an Reeths Seite, mehr Kind als Mann in diesem Augenblick. Erschrocken nahm Caldason ihn in den Arm.
214 Es folgte eine kleine Pause. Dann fragte Karr: »Woher hast du es gewusst, Kutch? Ich meine, woher hast du gewusst, dass er den falschen Zauber gewählt hat? Du warst deiner Sache viel zu sicher, als dass es ein bloßer Zufall sein konnte.« Kutch löste sich von Caldason. »Ich habe auch nicht geraten«, schniefte er verzagt und mutlos. »Sie benutzen hier erstklassige Magie, teure Produkte, die es schwierig machen, sie zu durchschauen. Aber unmöglich ist es nicht.-« Er zuckte mit den Achseln. »Ich glaube, ich habe es dank meiner Erfahrung erkannt.« »Kommt«, sagte Caldason. »Lasst uns gehen.« Noch bevor sie den Menschenauflauf verlassen hatten, kündigte der magische Lautsprecher des Beamten die nächste Prüfung an. Die Menge drängte wieder nach vorn. Drei neue Zauber waren auf der Bühne. Diese waren männlich und in weiße Togen gekleidet. Sie hatten langes schwarzes Haar, und sie trugen keine Augenbinden, sondern sie besaßen überhaupt keine Augen. Wo die Augen hätten sein sollen, war nur glatte Haut zu sehen. Die zweite Prüfung nahm ihren Gang, und wieder schlug die Trommel ihren Unheil drohenden Takt dazu. Doch der Angeklagte wollte nicht mitspielen. Er rief etwas, laut genug, dass einige Worte ein Stück weit zu hören waren. Es handelte sich um Bruchstücke von Sprüchen oder einer Ansprache. Das Einzige, das weit hinten noch zu verstehen war, klang wie: »... Freiheit! Lang lebe die ...« »Verwirkt1.«, brüllte der Mund. Wieder kam der Milizionär und tat sein Werk mit dem Schwert. Dieses Mal brauchte er zwei Hiebe. 215 »Wir sollten gehen«, drängte Karr leise. Die Menge löste sich wortlos auf, Füße scharrten. Reeth und Karr nahmen den Jungen in die Mitte, fassten seine Arme und führten ihn fort. »Dieses Mal wäre es Nummer drei gewesen«, verriet Kutch ihnen. Blinzelnd kämpfte er die Tränen nieder. 216 Tecellam, die Hauptstadt Rintarahs, lag inmitten I einer fruchtbaren Ebene. Im Hintergrund erhoben sich schneebedeckte Berge. Drei Flüsse gab es hier, einer durchströmte die Stadt, und die anderen beiden umschlossen sie. Bauernhöfe und Landgüter von gewaltiger Ausdehnung umgaben und versorgten die Metropole. Die Staatsphilosophie des östlichen Reichs war kollektivistisch orientiert, oder sie erweckte zumindest äußerlich diesen Anschein, und nirgends trat Rintarahs Doktrin deutlicher in Erscheinung denn in Jecellam. Die Straßen waren sauber und ordentlich, die Gebäude standen in akkuraten Reihen. Das Leben der Menschen war so weit wie möglich geregelt, und die Aufgaben wurden zentral organisiert. Die Stadt wurde gewissenhaft überwacht und war den Verlautbarungen des Staates zufolge praktisch frei von Verbrechen. Trotz der egalitären Ordnung gab es Ungleichheit, nicht zuletzt auch in der Verteilung der Magie. Die großartigsten und teuersten Produkte der Zauber217 kunst waren unweigerlich dort zu finden, wo die Wohlhabenden lebten. Und es gab reiche Bürger, ob das System dies nun einräumte oder nicht. Alles und jedes hatte seinen festen Platz in der Stadt. Es gab Wohnviertel und verschiedene Bereiche, in denen Dinge hergestellt, Jugendliche ausgebildet und Kranke gepflegt wurden. Weit entfernt von den Heimen der Privilegierten gab es auch Freudenhäuser mit behördlicher Lizenz. Sie befanden sich vor allem im ältesten Bezirk der Stadt, wo Sauberkeit und Konformität nicht ganz so streng durchgesetzt wurden und wo sich die Armen, die es angeblich nicht gab, zusammengefunden hatten. Es war eine Gegend, in die ehrbare Bürger sich nicht zu Fuß wagten, sondern wo sie in Kutschen mit verhängten Fenstern fuhren. Eine besonders berüchtigte Straße lag in der Nähe der Docks. Es hieß, die dort angesiedelten Bordelle seien auf alle nur denkbaren Gelüste eingerichtet. Ganz folgerichtig war dies ein Ort, an dem die Höchsten auf die Niedrigsten trafen. Die zahlreichen Etablissements in dieser Straße bewegten sich in dem Bereich zwischen schlimmster Erbärmlichkeit und farbenfroher Üppigkeit. Ein bestimmtes Gebäude lag annähernd in der Mitte dieses Spektrums. Wie alle anderen war es ständig geöffnet, denn der Bedarf an seinen Diensten war keineswegs auf die Nachtstunden beschränkt. Gegen Mittag waren jedoch nur wenige Frauen bei der Arbeit, und nur wenige Freier ließen sich blicken. Es war die Zeit des Tages, in der die Bürger, denen diese Betriebe insgeheim gehörten, ihr Geld sparten, indem sie auf Wächter verzichteten. 218 Wer dieses Haus aufsuchte, erblickte, sobald er die schwere Vordertür passiert hatte, vor allem Schäbigkeit und Verfall. Vor langer Zeit war das Innere einigermaßen luxuriös gewesen, doch inzwischen war es völlig heruntergekommen. Die Wandbilder mit antiken erotischen Szenen und Darstellungen aus allerlei Legenden waren verblichen. Die Schnitzereien waren verkratzt und brauchten dringend einen Anstrich, die Teppiche verschlissen. Der leichte Modergeruch ließ sich durch die Räucherstäbchen nicht völlig überdecken. Knarzende Stufen führten zu den oberen Stockwerken hinauf, die sich in ähnlichem Zustand befanden. Auf
jedem Flur gab es etwa ein halbes Dutzend Zimmer für die Kundschaft. Im obersten Stockwerk gab es nur zwei Räume, deren Türen verschlossen waren. Das größere der beiden Zimmer ähnelte allen anderen Räumen im Haus: schmierig und renovierungsbedürftig. Die wenigen persönlichen Gegenstände konnten die abweisende Atmosphäre kaum mildern. Der wichtigste Einrichtungsgegenstand war ein großes Bett. Ein Mann und eine Frau benutzten das Bett. Nackt und eng umschlungen. Er murmelte Koseworte, in die sich Obszönitäten mischten, und seine Stöße waren kraftlos. Alt war er und fast kahl, und sein Bart war grau durchsetzt. Er hatte eine schlaffe, von Adern gezeichnete Haut und einen Schmerbauch und schnaufte angestrengt. Die Frau unter ihm spielte dem äußeren Anschein nach mit, doch nur weil sie gelernt hatte, sich innerlich zu lösen und dabei an etwas anderes zu denken, 219 vermochte sie vorzugeben, dass der Akt ihr Freude bereitete. Ihre Haut war hellbraun und das Haar pechschwarz. Sie hatte markante Gesichtszüge, sah gut aus und hatte geschmeidige Glieder. Doch mit achtundzwanzig Jahren war Tanalvah Lahn beinahe schon zu alt für ihren Beruf. Seine Bemühungen schienen ewig zu dauern, sein Atem ging mühsam, knochige Finger bohrten sich schmerzhaft in ihre Schultern. Sie fing einen Hauch seines Körpergeruchs auf - ungewaschene Haut und alter Schweiß - und drehte, ohne das berufsmäßige Lächeln einzustellen, den Kopf zur Seite. Endlich kam sein Höhepunkt, und sie stimmte in sein Schreien und Stöhnen ein und zeigte gespielte Reflexe. Die Erleichterung war ihr stärkstes Gefühl, doch darein mischte sich Abscheu, die für sich zu behalten ihr schwer fiel. Keuchend und mit rotem Gesicht rollte er von ihr herunter. Sie hoffte, er möge keinen Anfall bekommen. Das war immer schlecht fürs Geschäft. Er lag keuchend da, ein Speichelfaden rann aus seinem Mundwinkel. »Du warst wundervoll«, log sie mit belegter Stimme. Er antwortete mit einem gleichermaßen unehrlichen Kompliment, denn sein Interesse an ihr ließ bereits nach. Froh, sich endlich von ihm entfernen zu können, stand sie auf. Auf einem wackeligen Schränkchen neben dem Bett stand eine irdene Schüssel mit kaltem Wasser. Sie tauchte ein Tuch hinein und wusch sich ab. Auch der Kunde erhob sich und zog sich an. Sie trocknete sich ab und langte nach ihren Kleidern, 220 schlüpfte rasch hinein und wollte ihn so schnell wie möglich loswerden. Als er sich anzog, offenbarte das feine Tuch seinen Stand. Er trug die elegante Livree eines höheren Bürokraten und einen hübschen Titel, den sie genau wie seinen Namen auf der Stelle wieder vergessen hatte. »Wie lange machst du das eigentlich schon?«, fragte er, während er an den Knöpfen herumfummelte. Erstaunlich, wie oft sie mit dieser Frage kamen. Sie hielt seine Neugierde für unecht, genau wie die aller anderen, und wahrscheinlich redete er nur, um ein Schweigen zu füllen, das sonst unbehaglich geworden wäre. »Die Herren haben mich schon bei meiner Geburt ausgewählt. Nach meiner ersten Blutung habe ich zu arbeiten begonnen.« Er zuckte zusammen, als sie so deutlich wurde. Wie die meisten Männer, so dachte sie, wollte er über die Vorgänge im Körper einer Frau nicht nachdenken, er wollte ihn lediglich benutzen. So ging er mit einer Schmeichelei über seine Verlegenheit hinweg. »Ah, das erklärt dein Können, meine Liebe.« Sie hätte ihm sagen können, dass man sie niemals gefragt hatte, ob sie diesen Weg auch gehen wolle. Oder wie sehr sie es inzwischen hasste. Stattdessen zeigte sie ihm ein geübtes, unverbindliches Lächeln. Im Nachbarzimmer gab es einen gedämpften Knall und ein Poltern. Es klang, als hätte Mahba einen temperamentvollen Kunden. »Wolltest du denn nie etwas anderes machen?«, fragte Tanalvahs Kunde. Auch das eine Frage, die sie schon oft gehört hatte. Zweifellos würde bald darauf 221 das ebenso abgegriffene Lass mich dich hier herausholen folgen, das er vergessen würde, sobald er gegangen war. Er regte sie auf. Sie wollte, dass er einfach nur ging. »Hör mal«, sagte sie und gab sich keine Mühe mehr, die Verärgerung aus ihrer Stimme zu verbannen. »Es war gut, aber jetzt...« Nebenan war ein schriller Schrei zu hören. Wieder polterte es, und es klang, als wäre etwas zerbrochen. »Mahba!«, rief Tanalvah. Sie schob die Hand unter ein Kissen und zog das Messer mit der schmalen Klinge hervor, das für alle Fälle dort lag. Dann stürmte sie hinaus und ließ den aufgeschreckten Freier hüpfend mit einem Fuß in der Hose zurück. Sie klopfte an die Tür des Nebenraums, doch die einzige Antwort bestand aus erneutem Poltern. »Mahba!«, rief sie. Sie schlug mit flachen Händen gegen die Tür. »Alles in Ordnung? Mahba!« Es kam keine Antwort, und jetzt wurde es drinnen still. Tanalvahs Kunde kam zu ihr heraus. »Hilf mir!«, bat sie ihn. »Brich die Tür auf!« Der Beamte sah sie eingeschüchtert an. »An einem Ort wie diesem und bei Leuten wie dir sollte man doch erwarten können, dass ...«
»Du alter Trottel!«, fauchte sie. »Meine Freundin ist da drin, und ich brauche Hilfe, verdammt!« »Wie ich schon sagte, besteht kein Grund ...« Ein Schloss klapperte, dann wurde die Tür einen Spalt weit geöffnet. »Mahba?«, flüsterte Tanalvah. Vor ihr stand ein vornehmer Mann in mittleren Jahren. Er war angekleidet, allerdings zerzaust, und 222 sein Gesicht zeigte Verlegenheit. Er sprach nicht. Und er versuchte auch nicht, sie aufzuhalten, als sie vortrat und gegen die Tür stieß. Die Tür schwang auf, und sie registrierte, dass sein weißes Hemd rote Flecken aufwies. »Was ist passiert?«, rief sie. »Was hast du getan?« Er starrte sie nur an. Sie schob sich an ihm vorbei, er leistete keinen Widerstand. Der Raum lag in Trümmern, die wenigen Habseligkeiten der Bewohnerin waren auf dem Boden verstreut. Ein Stuhl war umgekippt, auf dem Teppich lag ein zerbrochener Krug, und ein Fenstervorhang hing in Fetzen. Tanalvah achtete kaum auf all dies. Sie sah nur Mahba, die wie eine zerbrochene Puppe auf dem Bett lag, die Glieder in unnatürlichen Winkeln ausgestreckt, die toten Augen ins Leere starrend. Ein Seil war um ihren Hals geschlungen. Der Mund war halb geöffnet, die geschwollene Zunge ragte heraus. Das Gesicht war blau gefärbt, soweit Tanalvah es unter dem Blut und den Prellungen erkennen konnte. »Mahba!« Sie rannte zum Bett und ließ das Messer fallen. Sie schüttelte ihre Freundin, klatschte ihr auf die Wangen, rief ihren Namen. Dann sah sie sich zu dem blutbesudelten Mann um. »Was hast du nur getan?«, fragte sie noch einmal. Jetzt sprach er und versuchte seine Stimme zu beherrschen, doch er konnte das Schwanken nicht verbergen. »Hör mal... ich kann keine Probleme gebrauchen.« »Was?« 223 »Sie hätte sich eben nicht wehren dürfen«, gab er beleidigt zurück. »Wir haben doch nur etwas Spaß gehabt. Dafür wird sie ja schließlich auch bezahlt, oder?« »Sie ist tot. Mahba ist tot! Was für eine Art von ... von Spaß soll das sein?« »Wir können uns sicher einigen«, jammerte er und zog mit zitternder Hand die Geldbörse heraus. »Wir sollen uns einigen? Du Bastard hast meine Freundin umgebracht!« Ihre dunklen Augen blitzten zornig. Seine weinerlichen Rechtfertigungen waren auf einen Schlag vergessen. Echter Zorn zeigte sich in seinem Gesicht. Ihr kam der Gedanke, dass er möglicherweise vom Ramp berauscht war. Sie wusste, dass manche Kunden es nahmen, um die sexuellen Freuden zu verstärken. Er trat zu ihr, immer noch nervös, doch sein Blick war drohend. »Hör zu, Schlampe«, knurrte er. »Ich habe meine Verbindungen, ich kann dir das Leben zur Hölle machen. Du wirst große Schwierigkeiten bekommen.« »Du bist derjenige, der Schwierigkeiten bekommt«, versprach sie ihm. »Denkst du wirklich, die Behörden glauben einer qalochischen Hure mehr als einem Mann von Rang und Ansehen?« »Ich habe einen Zeugen.« Tanalvahs ältlicher Kunde, der an der Tür stand und nicht ein noch aus wusste, zuckte erschrocken zusammen. Der Mörder warf ihm einen viel sagenden Blick zu. »Nur wenn er in einen öffentlichen Skandal hineingezogen werden will.« 224 Darauf riss der alte Mann die Augen weit auf. »Nein, da will ich nicht hineingezogen werden«, stammelte er. »Auf keinen Fall. Ich meine, ich muss doch an meine Stellung denken, an meine Pflichten. An meine Familie.« Er wich zurück. »Aber ich werde Hilfe holen. Sobald ich hier heraus bin. Ich verspreche es.« »Nein!«, rief Tanalvah. »Geh nicht weg!« Er drehte sich um und rannte die Treppe hinunter. Für einen Mann seines Alters bewegte er sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Er würde auf keinen Fall irgendetwas für eine Prostituierte aufs Spiel setzen und ganz sicher nicht für eine Qalochierin. Sie hatte es in seinem Gesicht gesehen, sie hatte es schon oft gesehen. Mahbas Mörder glaubte so wenig wie Tanalvah, dass der alte Mann Hilfe holen würde. Er lächelte wie eine Schlange. »Na, kommst du jetzt zu Sinnen?« »Ich sehe nur, dass meine beste Freundin tot ist.« Unten fiel die Vordertür mit einem nach schrecklicher Endgültigkeit klingenden Knall zu. »Du dummes Miststück«, knurrte er. »Glaubst du denn wirklich, ich lasse mein Leben für das einer wertlosen Dirne ruinieren?« Er näherte sich ihr, nackte Wut funkelte in seinen Augen. Sie erinnerte sich an das Messer, das auf dem Bett lag. Er bemerkte ihren Blick. Sie sprangen gleichzeitig los und prallten zusammen. Sie kämpften um die Klinge, dann versetzte er ihr mit der Rückhand einen heftigen Schlag ins Gesicht, und sie landete auf dem Boden. Jetzt hatte er das Messer und ging auf sie los. Seine Stimme bebte vor Wut; was er sagte, war kaum zu verstehen. 225
Tanalvah blieb keine Zeit mehr zum Aufstehen, und so trat sie nach ihm. Mehr durch Glück als aus Absicht traf sie sein Schienbein. Er verlor das Gleichgewicht und fiel beinahe auf sie. Wieder rangen sie um das Messer. Tanalvah hatte die Hände um sein Handgelenk gelegt und hielt das Messer fest. Doch er war stärker. Die Klinge näherte sich unaufhaltsam ihrem Gesicht. Aus dem Augenwinkel sah Tanalvah Mahbas Arm leblos über die Bettkante hängen. Die Furcht, sie selbst werde das gleiche Schicksal ereilen wie die Freundin, verlieh ihr ungeahnte Kräfte. Sie packte fester zu und konnte das Messer aufhalten, doch zurückdrängen konnte sie es nicht. Sie senkte den Kopf, fand seine Hand und biss zu, so fest sie nur konnte. Er schrie auf und ließ das Messer fallen. Tanalvah schnappte es sich. »Bleib mir vom Leibe!'«, rief sie und zog sich vor ihm zurück, während sie mit dem Messer auf ihn zielte. Ob ihm die Klinge egal war oder er sie einfach nicht sah, er ging auf sie los. Sie spürte den Ruck, als das Messer in sein Fleisch eindrang. Ein Schnaufen leerte seine Lungen. Er machte ein Geräusch wie ein Seufzen. Sein Gesichtsausdruck schien eher erstaunt als schmerzvoll. Dann wurden seine Augen starr. Sie war auf den Knien und wollte seinen leblosen Körper stützen, dann stieß sie ihn entsetzt fort. Er stürzte schwer. Der Messergriff steckte in seiner Brust, ein roter Fleck breitete sich aus, wo das Herz sein musste. Keine Frage, er war tot. 226 Der Sprung über die schmale Linie zwischen Leben und Tod war so schnell geschehen, dass sie es noch nicht richtig verstehen konnte. Tanalvah wollte schreien, sich übergeben, weglaufen und sich verstecken. Beinahe wäre sie hysterisch geworden, dann kämpfte sie den Drang nieder, Hals über Kopf zu fliehen. Sie stand zitternd auf und sah, dass sie Blutflecken auf dem Kleid hatte. Eigentlich hätte sie jetzt die Behörden unterrichten und sich deren Gnade überantworten müssen. Bei diesem Gedanken hätte sie beinahe gelächelt. Wenn irgendjemandem die Schuld an diesem Vorfall gegeben wurde, dann ihr - das wusste sie genau. Doch ihr wollte kein Ausweg einfallen. Sie betrachtete den verschandelten, leblosen Körper ihrer Freundin. Dann bemerkte sie in den Trümmern auf dem Boden einen Gegenstand, dessen Anblick ihr einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Sie bückte sich und hob ihn auf. Es war ein teurer Zauber, der einem schmalen, in Leder gebundenen Buch ähnelte. Mahba hatte einen ihrer wohlhabenden Freier beschwatzt, ihr den Zauber zu kaufen, der wahrscheinlich zu ihren kostbarsten Besitztümern gezählt hatte. Tanalvah öffnete ihn, sah die glänzende schwarze Innenfläche und aktivierte den Zauber. Winzige funkelnde Flocken wirbelten in der Schwärze umeinander, nahmen an Zahl zu und gerannen zu einer festen Gestalt, bis ein lebendiges dreidimensionales Abbild entstand, das noch nicht sehr alt war. Es waren zwei lächelnde Kinder - ein fünfjähriger 227 Junge mit widerspenstigem rotem Haar und Sommersprossen auf den Wangen und ein achtjähriges Mädchen mit langen hellblonden Locken und einem ernsten Gesicht. Was sollte aus ihnen werden?, fragte Tanalvah sich. Ob sie in einem staatlichen Waisenhaus waren? Oder adoptiert von bevorzugten Beamten, die keine eigenen Kinder haben konnten? Höchstwahrscheinlich wurden sie aber für die Arbeit in der Landwirtschaft oder im Haushalt ausgebildet. Sie sah sich das Mädchen genauer an. Oder für ein Leben in einem Bordell wie sie selbst. Sie musste etwas tun, so schlecht die Chancen auch standen. Sachte legte sie den Zauber auf Mahbas Brust und faltete die schon erkaltenden Hände darüber. Sie küsste sie auf die Stirn und kämpfte blinzelnd die Tränen nieder, hob eine Seite des bestickten Betttuchs und bedeckte den Leichnam. An der Wand hingen eine Jacke und ein Mantel an den Kleiderhaken. Sie durchsuchte sie und fand einen Schlüssel, den sie einsteckte. Tanalvah sah ein letztes Mal zu ihrer Freundin und warf einen flüchtigen Blick auf die Leiche ihres Mörders, als sie darüber stieg. Hinter sich schloss sie leise die Tür. In ihrem eigenen Zimmer spritzte sie sich kaltes Wasser ins Gesicht und zog eilig frische Sachen an. Sie sammelte einige ihrer spärlichen Habseligkeiten ein und stopfte sie in eine Umhängetasche. Ihre Börse war unter einem Dielenbrett versteckt. Dort bewahrte sie das wenige Geld auf, das sie hatte beiseite legen können. Sie zog einen Umhang über und schlang sich ein Baumwolltuch um den Hals, damit 228 der untere Teil ihres Gesichts verdeckt war. Es war eine völlig unzulängliche Verkleidung, doch ihr fiel nichts Besseres ein. Sie verließ ihr Zimmer und schlich die Treppe hinunter, wobei sie den knarzenden Stufen auswich. Sie fürchtete, jemand könne in der Nähe sein und sie beobachten. Gewöhnlich wäre das Öffnen der Vordertür mit den zahlreichen Riegeln und Ketten eine zeitaufwändige Angelegenheit gewesen. Doch alle Sperren waren nach der überstürzten Flucht ihres Kunden geöffnet. Also war der alte Trottel doch zu etwas nutze gewesen. Sie atmete einige Male tief durch und ging dann hinaus. Draußen auf der Straße war sie nervöser als je zuvor im Leben. Jeder Passant war ein möglicher Ankläger und jeder Blick, den sie auf sich zog, eine Verurteilung.
Sie rechnete jeden Moment damit, dass die Volksmiliz erscheinen und sie festnehmen werde. Mit niedergeschlagenen Augen versuchte sie, wie eine ganz normale Frau auszusehen, die ihren Geschäften nachging. Sie hoffte, die Leichen würden erst am Abend entdeckt, wenn mehr Betrieb war. Dann hätte sie vielleicht gerade genug Zeit. Es war wohl am besten, wenn sie zu Fuß ging. Sie hätte eine der öffentlichen Pferdekutschen nehmen oder viel Geld ausgeben und eine private Kutsche mieten können, auch wenn sie damit das Risiko einging, gefragt zu werden, ob sie überhaupt das Recht dazu habe. Doch in einem Fahrzeug hätte sie sich eingesperrt und gefangen gefühlt. 229 Es war eine Wanderung voller Angst, voll düsterer Phantasien und schrecklicher Eingebungen. Schließlich erreichte sie jedoch das Wohnviertel und den Häuserblock, in dem Mahbas Wohnung lag. Sie wusste, dass das Innere des zweistöckigen Holzgebäudes sich kaum von den Räumen im Bordell unterschied. Abgesehen natürlich von dem, was sich im Innern abspielte. Mahba hatte wegen ihrer Kinder abseits von ihrem Arbeitsplatz eine Wohnung bekommen, denn eines der Kinder war von einer einflussreichen Person gezeugt worden. Sie war immer gut darin gewesen, die Freier um den Finger zu wickeln. Tanalvah hatte keine derartigen Beziehungen und lebte im Bordell. Sie nahm den Schlüssel heraus und betrat das Gebäude. Sie konnte nur hoffen, dass sie den Eindruck erweckte, sie habe das Recht dazu. Glücklicherweise lag Mahbas Wohnung im Erdgeschoss. Sie bestand nur aus zwei Zimmern, eines diente als Schlafzimmer und das zweite allen anderen Zwecken. Sie waren streng und schlicht, aber makellos rein und sauber. Tanalvah fühlte sich wie ein Eindringling. Sie ging zum einzigen Fenster, öffnete die Läden und schob den einzigen vorhandenen Stuhl davor, auf den sie sich setzte, um die Straße zu beobachten. Die Stunde, die nun folgte, schien endlos. Schließlich kam eine von vier Pferden gezogene große Kutsche. Sie hatte Bänke, auf denen schwatzende Kinder saßen, die vom Kindergarten nach Hause gebracht wurden. Der Wagen hielt auf der anderen Straßenseite, und zwei kleine Gestalten, einander bei den Händen haltend, stiegen aus. Sie lief zur Tür und auf die Straße hinaus. 230 Als die Kinder sie bemerkten, rannten sie ihr überrascht und entzückt entgegen. »Tante Tanalvah!«, riefen sie und ließen sich umarmen. Tanalvah umfing sie und kämpfte abermals die Tränen nieder. Dann kam die Frage, vor der sie sich gefürchtet hatte. »Wo ist Mami?« »Teg, Lirrin«, sagte sie. »Ich muss euch etwas über eure Mami erzählen.« 231 Natürlich hatte es eine Sintflut von Tränen gegeben. Die Kinder konnten die Neuigkeit noch nicht richtig aufnehmen, vom Verstehen oder echter Trauer ganz zu schweigen, und sie mussten schnell aufbrechen. Wenn sie entkommen wollten, dann durften sie sich nicht den Luxus erlauben, auch nur eine Sekunde zu verschwenden. Tanalvah Lahn war gerade lange genug in Mahbas Wohnung geblieben, um etwas Kleidung und Nahrung zusammenzupacken. Jetzt trug sie den Jungen, Teg, auf dem Arm, während Lirrin neben ihr lief. Die Kinder hatten rote Augen und waren vom Schock noch wie betäubt. Mit jeder Stunde, die verging, nahm das Risiko zu, und die Gefahr sollte sich bald vervielfachen, denn Tanalvahs Plan erforderte es, noch einmal ins Hafenviertel zurückzukehren, wo das Bordell lag. Sie sah keine andere Möglichkeit. Angesichts der zunehmenden Spannungen zwischen Rintarah und Gath Tampoor und der Aktivitäten der 233 Widerstandsbewegung, die nach Ansicht des Staates überhaupt nicht existierte, waren auf Jecellams Straßen sogar noch mehr Uniformen zu sehen als üblich. Damit schwebten Tanalvah, Teg und Lirrin in großer Gefahr. Sie sahen viele Angehörige der Volksmiliz, Paladine und einzelne andere Gesetzeshüter. Tanalvah hielt es schon für ein kleines Wunder, dass sie sich überhaupt so lange ungehindert bewegen konnten. Den Kindern war elend zumute. Nur einmal vergaßen sie für einen Augenblick ihren Kummer und wurden munter. Für den Fall, dass sie verfolgt wurden, hatte Tanalvah einen Umweg gewählt, der sie durch die Randzone einer wohlhabenden Wohngegend führte. In einer Straße mit gut unterhaltenen Gebäuden und akkurat gestutzten Bäumen bemerkten sie eine kleine Gruppe Jugendlicher, die von zwei Zauber-Gefährten behütet wurden. Magische Spielgefährten, die zugleich auf die Kinder aufpassten. Einer hatte die Gestalt eines mannsgroßen Affen, unterschied sich von einem echten Affen jedoch dadurch, dass er ein rosafarbenes Fell hatte. Er spielte auf einer Flöte, verdrehte die Augen und führte einen lustigen, ungeschickten Tanz vor. Der zweite Zauber war ein Bär. Doch während der Pelz des Affen rosa blieb, wechselte der des Bären ständig die Farbe. Er schimmerte orange, purpurn und grün. Das magische Tier stand auf den Hinterbeinen, und eine Glocke an seinem Lederhalsband klingelte munter, während es sich zur Melodie des Affen bewegte. Die Schutzbefohlenen der magischen Kindermädchen lachten und sprangen und sammelten Kindheitserinnerungen.
234 Tanalvah musste in Bewegung bleiben, sie fürchtete aufzufallen, wenn sie sich zu lange aufhielt. Tegs und Lirrins Stimmung sank bald wieder. Danach kamen sie in einen weniger wohlhabenden Bezirk. Die Häuser waren schlicht, und niedergedrückte Menschen schlurften durch die Straßen. Hier gab es keine kostspieligen Zauber. Dem Viertel fehlte der Glanz der teuren Magie, um die Trostlosigkeit zu erhellen. An einer Straßenecke teilte eine mildtätige Organisation kostenlose Zauber aus. Eine lange Schlange Bedürftiger hatte sich hinter dem Wagen gesammelt. Jeder bekam einen bescheidenen Zauber - Magie, mit der man einen vergänglichen Schwärm Kolibris oder eine singende Rassel für Babys erzeugen konnte. Andere Zauber gaben meditative Musikstücke oder erhabene Visionen zum Besten, um den Besitzlosen die Bürde der Armut zu erleichtern. Die Ärmsten, vor allem die Alten und Kranken, bekamen mitunter auch einen Zauber-Freund, der ihnen für einen Abend die Einsamkeit vertrieb. Tanalvah zog die Kinder weiter. Zehn Minuten später erreichten sie das Viertel, in dem sich das Bordell befand. Es gab keinerlei Anzeichen ungewöhnlicher Aktivität in der Gegend. Dies allein vermochte Tanalvah jedoch nicht zu beruhigen, da sie wusste, dass die Ordnungskräfte zuweilen verdeckt vorgingen. Der nächste Schritt war schwierig. Sie musste einige Dinge erledigen, und sie musste es allein tun. Teg und Lirrin mussten irgendwo bleiben. Da ihre Mutter sich große Mühe gegeben hatte, die Kinder von der Realität ihres Berufs fernzuhalten, konnte 235 Tanalvah nur hoffen, dass die Kleinen durch das, was nun kommen musste, nicht zu sehr erschrecken würden. »Können wir jetzt Mami sehen?«, fragte Teg. »Nein, mein Lieber«, erwiderte sie sanft. Sie erreichten jetzt das Hinterland, eine gewundene, trostlose Straße von schlechtem Ruf. Hier fanden sich Straßendirnen, die in der Hierarchie ihrer Zunft auf der untersten Stufe standen. Auch sie waren etwas, das es nach Darstellung der Behörden überhaupt nicht gab. Eine gewisse Gefahr ging von den regelmäßigen Razzien der Milizen aus, und auch die Kundschaft, die hier verkehrte, konnte jederzeit gewalttätig werden. Hin und wieder geschah sogar ein Mord. Die Straßendirnen sahen sich verstohlen nach Kunden um, jederzeit bereit, sich in die Schatten zu flüchten. Als Tanalvah langsam an ihnen vorbeiging und die Gesichter betrachtete, starrten die Mädchen sie an und fragten sich, wie eine Frau ausgerechnet mit Kindern hierher kommen konnte. Mit etwas Glück oder, wie Tanalvah selbst es gesagt hätte, dank einer glücklichen Vorsehung, fand sie fast sofort den Menschen, den sie gesucht hatte. Zuerst erkannte sie die Frau nicht, obwohl sie ihr erst vor wenigen Monaten das letzte Mal begegnet war. Die Frau war vor der Zeit gealtert, erbärmlich mager und hatte eine ungesunde Hautfarbe. »Freyal«, sagte Tanalvah, als sie zu ihr trat. »Tanalvah? Was machst du denn hier?« Sie gab sich vorsichtig, aber sie schien sich zu freuen, die Freundin zu sehen. »Wie geht es dir, Freyal?« 236 »Oh ... na ja. Du weißt ja, wie das ist.« Die tief in den Höhlen liegenden Augen irrten kurz zu den Kindern ab. »Aber du bist sicher nicht gekommen, um dich nach meinem Befinden zu erkundigen.« »Nein. Ich ... wir brauchen deine Hilfe.« Sie blickte nervös die Straße hinauf und hinunter. Einige andere Frauen wurden bereits neugierig. »Können wir reden?« »Also gut.« Trocken fügte sie hinzu: »Dann tritt in mein Boudoir.« Sie zog sich in eine Einfahrt zurück. Tanalvah und die Kinder folgten ihr. Aus der Nähe konnte Tanalvah trotz des schlechten Lichts immer noch die Falten in Freyais Gesicht erkennen. Falten, die noch nicht da gewesen waren, als sie zusammen im Bordell gearbeitet hatten, bevor Freyal eine Bemerkung zu viel herausgerutscht und sie hinausgeworfen worden war. Den anderen Frauen war es untersagt worden, danach noch einmal ihren Namen zu nennen. »Wer sind die beiden?« »Das hier ist Teg.« Tanalvah hob ihn hoch. Er steckte einen Daumen in den Mund, lief rot an und glotzte. »Und das hier ist Lirrin.« Die Stirn feierlich kraus gezogen, nickte das Mädchen knapp zur Begrüßung. Freyal nickte ebenfalls, und ihr abgemagertes Gesicht zeigte echte Wärme. »Ich möchte, dass du auf sie aufpasst«, sagte Tanalvah. »Für eine Weile jedenfalls.« Freyal war nicht begeistert. Eine fettige Haarsträhne baumelte vor ihrem Auge. Sie schob sie fort. »Ich weiß nicht, Tanalvah ...« »Es ist für eine von uns. Bitte, ich weiß sonst nicht, zu wem ich gehen soll.« 237 »Ich weiß nicht, ob ich ...« »Nur für zwei Stunden. Ich bezahle dir auch, was du sonst in dieser Zeit verdienen würdest.« Wieder blickte sie die Straße hinunter, die bis auf die arbeitenden Mädchen menschenleer war. »Obwohl du im Augenblick wohl überhaupt nichts verdienen würdest.«
»Was ist denn los, Tanalvah? Steckst du in Schwierigkeiten?« »Ich kann es dir jetzt nicht erklären, und vielleicht ist es sogar am besten, wenn du es überhaupt nicht weißt. Aber glaube mir, du tust ein gutes Werk, wenn du auf diese zwei aufpasst. Hier.« Sie fischte ein paar Münzen aus ihrer Börse. »Nimm das. Die zweite Hälfte bekommst du, wenn ich wieder da bin.« »Na ja ... also gut. Aber nicht länger als zwei Stunden.« »Gut. Moment noch.« Sie setzte Teg ab. Lirrin fasste ihn sofort an der Hand. »Ich muss noch einen Augenblick mit Freyal sprechen. Alles klar? Ihr zwei bleibt hier.« Sie nahm ihre Freundin beiseite, außer Hörweite der Kinder, und flüsterte: »Wenn ich in zwei Stunden nicht zurück bin, nimmst du die Kinder und lässt sie an der Tür des Waisenhauses in der Straße des Bemühens.« »Du steckst wirklich in großen Schwierigkeiten, was?« »Es wird aber nicht nötig sein. Ich werde zurückkommen. Es ist nur für den Fall, dass ... dass ich aufgehalten werde.« Es war eine schlechte Lüge, die keine der beiden glaubte. 238 »Ich weiß, dass ich viel von dir verlange, aber ich brauche jemanden, dem ich vertrauen kann«, fügte Tanalvah hinzu. »Du musst wirklich in der Klemme stecken, wenn du mich um Hilfe bittest. Aber du warst immer gut zu mir, Tanalvah, also mach dir keine Sorgen. Ich passe schon auf sie auf. Aber beeil dich und komm bald zurück.« »Danke.« Tanalvah wandte sich an die Kinder. »Ich muss jetzt etwas erledigen, aber ich bin nicht lange weg. Freyal hier ist unsere Freundin, sie wird inzwischen auf euch aufpassen.« Sie drückte und umarmte die Kinder. »Musst du jetzt gehen?«, fragte Lirrin, den Tränen nahe. »Ja, meine Liebe, es ist wichtig. Aber ich bin bald wieder da, das verspreche ich.« »Dann geh mal los«, sagte Freyal und hob Teg hoch. »Ich gehe mit ihnen zu mir. Es ist nicht weit, und dort sind sie sicher. Wir sind in spätestens zwei Stunden wieder hier.« Tanalvah warf ihnen einen letzten Blick zu und ging. Sie bewegte sich jetzt schneller, tauchte unter den ausgebreiteten Armen lüsterner Betrunkener weg, ignorierte die Pfiffe der Müßiggänger und lief zum Hafen. Sie fürchtete, die zwei Stunden könnten nicht ausreichen. Ob Vorsehung oder reines Glück, auch dieses Mal fand sie sofort, was sie suchte. In einer Schenke, die kein angesehener Bürger zu betreten gewagt hätte, und genau an dem Tisch, an den sie gedacht hatte, 239 sah sie den Mann, den zu sehen sie gehofft hatte. Er war der Kapitän eines Fischkutters und einer ihrer Kunden. Mit viel Überzeugungskraft und dem größten Teil ihres Geldes konnte sie ihn überreden, sie und die Kinder aus Rintarah herauszuschaffen. Hätte das Geld nicht ausgereicht, dann hätte sie ihn auf andere Weise bezahlt und, wenn nötig, auch seine Mannschaft. Sie ging auf einem anderen Weg zurück. Es war keine bewusste Entscheidung, am Tempel vorbeizugehen, doch Tanalvah wurde wie schon viele Male zuvor von ihm angezogen. Sie wusste zwar nicht viel über die Götter ihrer Religion, doch sie wollte sie andererseits auch nicht schmähen. Tempel, die den qalochischen Göttern geweiht waren, gab es allerdings nicht in der Stadt. Es gab auch sonst keinen Ort, an dem sie etwas über ihr religiöses Erbe hätte erfahren können. Das Wenige, das sie wusste, hatte sie bei den seltenen Begegnungen mit Menschen von ihrer Art gehört. So hatte Tanalvah sich an den alten Spruch gehalten, es in Jecellam zu halten, wie es die Jecellamer hielten, und ihre Gebete an eine lokale Gottheit gerichtet. Im Pantheon der Unsterblichen von Rintarah bekleidete die Göttin Iparrater keinen besonders hohen Rang. Es gab viele andere, die mächtiger, schneidiger, mutiger oder zorniger waren. Doch keine war so mitfühlend. Iparraters geringe Bedeutung innerhalb der Staatsreligion war für die Armen und Benachteiligten ein Grund, gerade sie zu lieben. Es hieß, sie bevorzuge die Hoffnungslosen, die Verzagten und die Schwachen. Sie war die Schutzpatronin und Hüterin des Bodensatzes der Gesellschaft, und Tanalvah war 240 nicht die Einzige in ihrem Gewerbe, die sich zu dieser Gruppe zählte. Das Aushandeln der Überfahrt war recht schnell gegangen, und daher hatte Tanalvah noch etwas Zeit, ehe sie sich mit Freyal und den Kindern treffen musste. So beschloss sie, für ein paar Minuten den Tempel aufzusuchen. Es war ein kleiner Tempel, geradezu unscheinbar, wenn man ihn mit den Kultstätten der Götter verglich, die von den Reichen und Mächtigen angebetet wurden. Gerade aus diesem Grund mochte sie ihn. Sie fühlte sich hier nicht so eingeschüchtert. Tanalvah lief zwischen den Marmorsäulen vor dem Eingang hindurch, durchquerte den Vorraum und erreichte den abgedunkelten Gebetssaal. Mehrere Dutzend Gläubige waren dort. Manche saßen mit gesenkten Köpfen auf den Bänken. Einige wenige Bittsteller warteten vor dem ewigen Feuer in einer Schlange, um die Pergamentstücke mit ihren Gesuchen in die Flammen zu werfen. Die meisten standen nur da und betrachteten die Göttin. Tanalvah war sich bewusst, dass die Gestalt auf dem Podium vor dem Schrein nur eine Nachbildung Iparraters war, ein Zauber, der von den Priesterinnen unterhalten wurde. Das machte die Erscheinung jedoch nicht weniger
bemerkenswert. Für Tanalvah war es ein Glaubenssatz, dass die Illusion eine echte Verbindung zur Göttin selbst besaß. Die schillernde Iparrater hatte etwas unendlich Trauriges an sich, wie man es von einer Göttin erwarten konnte, die so viel Verzweiflung auf sich nahm. Sie war eine tragische, ätherische Gestalt, von Kopf bis 241 Fuß in graue Gaze gehüllt und die Arme ausgestreckt, so als gedachte sie alle Sorgen ihrer Gläubigen auf ihre Schultern zu laden. Trotz der Melancholie, die von ihr ausging, war sie hinreißend. Ihr Gesicht war verschleiert, doch dank irgendeines eigenartigen Tricks der Zauberer oder dank der transzendenten Kraft der Göttin selbst bekam man einen unverkennbaren Eindruck von ihren verborgenen Gesichtszügen. Einen Eindruck von Freundlichkeit, Edelmut und unendlicher Gnade. Tanalvah kniete nieder. Sie betete für Mahbas Geist, für die Sicherheit der Kinder und schließlich auch für sich selbst. Da ihr bewusst war, wie schnell die Zeit verging, machte sie rasch das Zeichen der Göttin und berührte ihre Schlüsselbeine, erst links und dann rechts, mit dem Mittelfinger. Dann stand sie auf und wandte sich zum Gehen. In einem Seitenschiff bezahlte sie für eine geweihte Kerze, damit Mahbas Seele auf dem Weg ins Nachleben etwas sehen konnte. Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, dort im Anbau auch gleich das Orakel in Anspruch zu nehmen. Es war ein steinernes Abbild, eine verkleinerte Nachbildung von Iparraters Zauber. Gegen eine Münze wurden dort Prophezeiungen ausgegeben. Sie warf ein Geldstück in die Schale, dachte kurz daran, wie schnell ihre Mittel zur Neige gingen, und hielt die Hand unter den Ausgabeschlitz. Ein leichtes Prickeln breitete sich in ihren Fingern aus. Am Fuß der Statue stand eine Zinnschale mit einer farbigen Flüssigkeit. Die Oberfläche kräuselte sich und funkelte, und einige Worte erschienen. Bewegende Zeiten stehen dir bevor. 242 Tanalvah fand, vielleicht ein ketzerischer Gedanke, dass sie auf diese Idee auch selbst hätte kommen können. Wie versprochen wartete Freyal mit den Kindern. Tanalvah umarmte sie, dankte ihr und bezahlte sie. Dann nahm sie Lirrin und Teg bei den Händen und marschierte los. Sie sollte nie erfahren, dass Freyal schon vor Einbruch der Nacht ums Leben kam. Ihr Leichnam wurde nicht weit entfernt von der Straße gefunden, in der sie arbeitete. Als wahrscheinlichste Todesursache galten die Stichwunden, auch wenn sie zahlreiche andere Verletzungen erlitten hatte, die ebenfalls lebensbedrohlich hätten sein können. Irgendjemand schrieb den Mord einem einsamen Sadisten zu. Ein Berufsrisiko. Andere flüsterten, es seien Agenten des Staates gewesen und der Zustand des Mädchens lasse Folter vermuten. Sie habe möglicherweise ein Geheimnis gekannt. Irgendeine Information, an die die Behörden gelangen wollten. Doch niemandem war es wirklich wichtig. Auf dem Weg zum Schiff wurde Teg aufsässig. Er fing an zu weinen und wollte zu seiner Mutter. Sie zogen unwillkommene Blicke auf sich. Tanalvah beruhigte ihn, und auch Lirrin versuchte ihn zu besänftigen, obwohl sie selbst überwältigt war und mit ihrer Fassung kämpfte. Dies war ein Problem, das Tanalvah nicht gebrauchen konnte, als sie sich durch Nebenstraßen drängte, in denen es vor Informanten und möglichen Feinden ihres Volks nur so wimmelte. Sie hatten schon fast die Liegeplätze erreicht, als die Situation sich weiter zuspitzte. Der Junge bekam 243 einen Trotzanfall und wehrte sich heftig. Seine Schwester hatte sich dem großen Wasser hingegeben und schluchzte und weinte bittere Tränen. Köpfe drehten sich in ihre Richtung. Dann setzte über ihnen ein dröhnendes Gebrüll ein. Sie blickten hoch und sahen weit über sich einen AusruferZauber schweben. Er erinnerte an einen riesigen Adler und war so groß, dass er, wäre er gelandet, mit den Schwingen die ganze Straße überspannt hätte. Er war nicht allein. Weitere Zauber von der gleichen Art waren in der Ferne zu sehen. Die Stimme des Ausrufers, gut verständlich, aber nicht ganz menschlich zu nennen, wurde gewaltig verstärkt. Doch da der Zauber noch hoch in der Luft flog und kreiste, waren nur einige Bruchstücke seiner Meldung zu verstehen. M. .. einem Bürger von Rintarah ... Tatort geflohen ... qalochisch ... Lahn ...« »Das ist doch dein Name, Tante Tanalvah«, rief Lirrin. Tanalvah nahm das erschrockene kleine Mädchen hoch und rannte in die nächste Gasse. Sie betete, dass die Menschen auf der Straße zu sehr unter dem Bann des Zaubers gestanden hatten, um sie zu bemerken. Hastig suchte sie sich einen Weg durch kleine Gassen, trug Teg auf dem Arm und zerrte Lirrin hinter sich her. Jetzt plärrten beide Kinder, doch sie floh so rasch sie konnte zum Hafen. Sie hatte versprochen, zu einer bestimmten Zeit am Schiff einzutreffen, damit es die Abendflut nutzen konnte, und der Umweg brachte sie bedenklich in Verzug. Hin und wieder schwebte der Ausrufer-Zauber oder einer seiner Gefährten bis dicht über die Dächer. 244 Schwere Flügel schlugen träge, während er Tanalvahs Beschreibung und ihre angeblichen Verbrechen
verkündete. Tanalvah rechnete jeden Augenblick damit, trampelnde Stiefel hinter sich zu hören und die Keule eines Milizionärs im Rücken zu spüren. Doch sie erreichte unentdeckt den Hafen, und da lag auch das Schiff. Rege Geschäftigkeit herrschte unmittelbar vor dem Ablegen. Die Laufplanke war noch an Ort und Stelle, und an ihrem oberen Ende stand der Kapitän und sah zu ihr herunter. Tanalvah rannte mit rasendem Herzen hinüber, die Kinder eng an sich gepresst. Am Fuß der Laufplanke hielt sie schwer atmend inne. Der Kapitän musste die Ausrufer gesehen haben. Würde er eine flüchtige Frau mitnehmen? »Komm schon«, rief er und winkte hektisch. »Beeil dich.« Sie polterte die Laufplanke hinauf und hinterließ eine Spur kleiner Gegenstände, die aus der offenen Schultertasche purzelten. »Die Ausrufer«, keuchte sie. »Ich weiß«, gab der Kapitän zurück. »Geh mit dem da. Nun mach schon.« Ein Matrose bugsierte sie und die Kinder zur Brücke, wo sie außer Sicht waren. Der Kapitän gab lautstark den Befehl zum Ablegen. Die Matrosen rannten über das Deck, Seile wurden von Pollern gezogen, und die Laufplanke wurde eingeholt. Segel knatterten, und das Schiff entfernte sich von der Hafenmauer. Kurz danach kam der Kapitän zu Tanalvah auf die Brücke. »Wir sind noch nicht völlig in Sicherheit«, sagte er, »aber ich glaube, es wird nichts mehr passieren. Es sei 245 denn, sie haben die Marine draußen. Aber so wichtig bist du doch nicht, oder?« »Was? Oh. Ich glaube nicht. Nein, natürlich nicht... Ich bin dankbar, dass du uns mitnimmst, aber warum? Nachdem die Ausrufer zu sehen waren, meine ich.« Teg und Lirrin waren niedergeschlagen, aber sie weinten nicht mehr und starrten wie hypnotisiert das wettergegerbte Gesicht des Kapitäns und seinen ausladenden Schnurrbart an. »Ich selbst habe auch nicht viel für das Gesetz übrig«, erwiderte er. »Und es sind ja auch Kinder betroffen. Außerdem ist ein kleines Risiko die richtige Würze fürs Leben.« Sie lächelte. »Ich glaube, davon habe ich genug.« »Es könnte sogar noch etwas dazukommen, ehe wir in Sicherheit sind.« »Oh?« »Als du mich im Gasthaus angesprochen hast, warst du in so schlechter Verfassung, dass du nicht einmal gefragt hast, wohin ich euch bringe.« »Nein, ich habe nicht gefragt. Ich war wohl einfach erleichtert, hier wegzukommen.« »Mein erster Gedanke war die Diamantinsel. Es schien mir zu passen, wenn ich an dein ... äh ... an deinen Beruf dachte.« Er warf einen Blick zu den Kindern. »Aber als du die Kinder erwähntest, wurde mir klar, dass es nicht richtig gewesen wäre.« »Da hast du natürlich Recht. Also, wohin fahren wir nun?« »Nach Bhealfa.« »Aber das gehört doch zu Gath Tampoor!« »So sieht es aus. Und ein Schiff, das aus Rintarah kommt, ist in ihren Häfen sicher nicht willkommen. 246 Aber so werden wir es auch nicht machen. Ich habe dafür gesorgt, dass du auf ein anderes Schiff überwechselst, wenn wir weit genug von der Küste entfernt sind. Ich hatte schon einmal mit dem Kapitän zu tun, er ist vertrauenswürdig. Und da er aus Bhealfa stammt, wird er keine Mühe haben, euch alle an Land zu bringen. Doch es gibt Gefahren, das will ich nicht verschweigen.« »Du machst Geschäfte mit dem Feind?« »Ich mache Geschäfte mit Männern, die im gleichen Gewerbe tätig sind wie ich. Sie stehen nur zufällig auf der anderen Seite der Trennlinie, weil die Politiker und Kriegshetzer es so wollen. Und bevor du fragst, welche Geschäfte das wohl sind, will ich dir verraten, dass es um Schmuggel geht. Es ist nichts, was ich freiwillig tun würde, aber die Zeiten für Fischer sind schwer, weil die Fanggebiete im Norden nicht mehr so leicht zu bedienen sind.« »Warum nicht? Was ist denn dort?« »Zerreiss.« »Was?« »Nicht was, sondern wer.« Der Kapitän lächelte ironisch. »Manchmal vergesse ich, wie wenig die Regierung euch Landbewohner wissen lässt. Hier draußen auf dem Meer und in anderen Gegenden hören und sehen wir verschiedene Dinge ... Zerreiss ist ein Kriegsherr, der in den Barbarengebieten einige beeindruckende Eroberungen gemacht hat.« »Ich dachte, in jenem Teil der Welt gebe es eine Menge Kriegsherren.« »O ja, die gibt es. Doch dieser eine ist anders. Er ist ungewöhnlich.« Er betrachtete die Gesichter seiner Passagiere. »Aber ich bin ein schlechter Gastgeber. 247 Ihr seht aus, als könntet ihr etwas zu essen und zu trinken und etwas Ruhe vertragen.«
»Danke.« »Und danach könnt ihr mir erzählen, warum ihr aus Rintarah fliehen musstet - wenn ihr wollt. Und ich werde euch erzählen, was ich über Zerreiss weiß und warum seine Anhänger ihn den Mann nennen, der von der Sonne heruntergefallen ist.« 248 Nach Recht und Gesetz war Bhealfas Hauptstadt stets dort, wo der Prinz zu residieren geruhte. In der Praxis sah es jedoch so aus, dass die alte Hauptstadt Valdarr, die Melyobar mehr oder weniger aufgegeben hatte, diese Rolle immer noch weitgehend ausfüllte. In der Stadt gab es einen provisorischen Senat, der die alltäglichen Staatsgeschäfte regelte. Viele hielten ihn für eine reine Beruhigungspille für die Massen und für abweichlerische Gruppen. Die wirkliche Macht lag weder beim Senat noch beim Prinzen oder seiner Marionettenregierung, dem Ältestenrat, sondern in den Händen der Kolonialherren aus Gath Tampoor. Viele von ihnen lebten ebenfalls in Valdarr. Im Stadtkern fanden die vier Säulen von Bhealfas gesellschaftlicher Struktur - Monarchie, Gesetz, Religion und Magie - ihren sichtbaren Niederschlag in hohen, beeindruckenden Bauwerken. Doch unter Gath Tampoors Herrschaft, so hieß es, waren die Gebäude prächtiger als die Institutionen, die sie repräsentier249 ten: die Monarchie war zu einer wahnwitzigen Farce verkommen, das Gesetz legalisierte die Unterdrückung, und die Religion verteilte Beruhigungsmittel. Die Magie tat, was Magie eben tat. Von den höchsten Türmen im Zentrum bis zu den verfallenen Hütten in den Vororten badete Valdarr, genau wie jede andere Ortschaft von respektabler Größe, im Glanz der Zauberei. Ein Unwetter braute sich zusammen. Der Himmel über dem Horizont war schwarz, und in der Ferne zuckten Blitze, auf die grollender Donner folgte. »Was hältst du davon?«, fragte Caldason. »Nun ja ... die Stadt ist sehr groß«, meinte Kutch ein wenig eingeschüchtert. »Es ist eine mittelgroße Stadt. Kein Vergleich mit Merakasa oder Jecellam und sogar kleiner als einige Hauptstädte in den Kolonien.« »Für mich ist sie im Augenblick mehr als genug. Vielen Dank, Reeth.« Er blickte zu den Gewitterwolken hoch. In der Ferne spielten die Blitze, wieder war Donner zu hören. »Ich glaube, das zieht in unsere Richtung.« »Ein weiterer guter Grund, möglichst bald dort hinunter zu gelangen.« Caldason drehte sich um und schritt zum Wagen, der auf der Kuppe des flachen Hügels stand. Die Pferde hatten die Köpfe gesenkt und zupften Gras ab. Karr saß auf dem Kutschbock und beobachtete ebenfalls den Himmel. »Wartet Ihr immer noch auf Euer Zeichen, Patrizier?« »Ja, aber ich hoffe, ich muss nicht mehr lange warten.« 250 »Woher wissen Eure Leute überhaupt, dass Ihr hier seid und das Signal sehen könnt?«, fragte Kutch. »Sie kennen das ungefähre Datum meiner Rückkehr mit einigen Tagen Toleranz in beide Richtungen. Wobei sie natürlich voraussetzen, dass ich tatsächlich zurückkehre. Es besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sie schon einige Male einen Boten zu dieser Stelle hier geschickt haben. Er wird wieder kommen.« Caldason seufzte. »Dann dürfen wir uns also ausruhen. Schon wieder eine Verzögerung.« »Es ist wichtig, Reeth. Es gab koordinierte Bemühungen, mich zu töten. Wir warten auf Nachricht, dass wir uns gefahrlos meinem Haus nähern können.« Karr betrachtete wieder die Wolken. Kutch und Reeth überließen ihn sich selbst und schlenderten davon. Nachdem er eine Weile Valdarr bestaunt hatte, sagte Kutch: »Ihr habt mir versprochen, mich im Schwertkampf zu unterweisen, Reeth. Wäre dies nicht eine gute Gelegenheit?« »Tja, es schadet dir sicher nicht, wenn du ein paar Grundbegriffe des Schwertkampfes lernst.« »Ihr wisst ja, dass ich Gewalt eigentlich nicht mag. Aber Eure Kampfkunst macht mich neugierig. Wenn Ihr mir einige Tricks zeigt, zeige ich Euch etwas von meiner Magie.« »Tricks sind es wohl kaum«, berichtigte Caldason ihn schmallippig. »Und die Magie kannst du für dich behalten.« Dann fügte er freundlicher hinzu: »Also, was willst du nun wissen?« »Warum tragt Ihr zwei Schwerter?« »Es ist wichtig, für jede Arbeit das richtige Werkzeug zu haben.« Er zog die Waffe aus der Gürtel251 scheide. »Ein Rapier. Schmal, gerundete Klinge, sehr scharfe Spitze. Die ideale Waffe zum Fechten, wenn du gegen einen Gegner kämpfst, der ebenfalls ein Rapier in der Hand hält. Man kann es auch gegen einen Gegner mit einem Breitschwert einsetzen, das eher eine Schlagwaffe ist. In manchen Fällen ist man damit sogar im Vorteil.« »Wie das?« »Es gibt einen alten Spruch unter Schwertkämpfern: Die Spitze ist sicherer als die Schneide.« Er vollführte ein Manöver, das mit einem unglaublich schnellen Stoß endete. »Oft entscheidet die Spitze der Klinge den Kampf. Hier, nimm es.« Er hielt Kutch den Griff hin. Der Junge nahm die Waffe vorsichtig entgegen und wackelte ein wenig damit herum. »Es ist so leicht.« »Ja, und siehst du, wie biegsam es ist?« Er nahm das Rapier wieder an sich und bog die Klinge durch, bis sie den
Griff berührte, sodass ein O entstand. Als er losließ, schnellte die Klinge in ihre ursprüngliche Position zurück. »Ein Rapier ist wie ein chirurgisches Messer. Es ist ein Präzisionswerkzeug, bei dem eher die Spitze als die Schneide eingesetzt wird.« Er stach das Rapier in den Boden und ließ es zitternd dort stecken. »Auf der anderen Seite ...« Er langte nach hinten und zog das Schwert blank, das auf seinen Rücken geschnallt war. »Das hier ist ein Breitschwert. Die Klinge ist flach, es hat eine scharfe Schneide und eine Spitze. Nimm es.« Kutch fasste den Griff mit beiden Händen und trat einen Schritt zurück. Die Klinge sank zu Boden. »Bei den Göttern, wie könnt Ihr damit kämpfen? Ich kann es ja kaum hochheben.« 252 »Kämpfe mit dieser Waffe werden oft durch Stärke und Standvermögen entschieden.« Er riss das Rapier aus dem Boden und nahm Kutch das Breitschwert ab. Dann hob er beide, als wären sie leicht wie Federn. »Wenn man sie gleichzeitig gebraucht, sind sie phantastisch.« »Ja, ich habe es gesehen. Das hätte meinem Bruder gefallen. Er hatte einen kriegerischen Geist.« »Du tust gut daran, seinem Beispiel zu folgen. Mindestens so weit, dass du dich selbst verteidigen kannst.« »Ich glaube, man kann jeden Streit mit Vernunft lösen, und ... Ihr lacht?« »Nein, nein, eigentlich nicht. Es ist nur so ... Die Vernunft ist eine gute Sache, und sie sollte immer an erster Stelle stehen. So legen vernünftige Leute ihre Streitigkeiten bei. Aber nicht alle da draußen sind vernünftig, Kutch. Und wenn du es mit jemandem zu tun hast, der dir einfach nur den Bauch aufschlitzen will, dann ist die Vernunft eine schlechte Waffe.« »Außerdem kann ich mich mit der Zauberei verteidigen.« »Versteh mich nicht falsch, aber mir scheint, du bist noch nicht gut genug.« Er ließ die Bemerkung wirken und fügte hinzu: »Wenn du eine Waffe gebrauchen willst, dann würde ich dir das Rapier empfehlen. Da es leicht ist, passt es zu jemandem von deiner Statur.« Reeths Offenheit verletzte Kutch. »Selbst wenn ich eine Waffe trage, obwohl ich es doch eigentlich nicht will«, erwiderte er etwas mürrisch, »bin ich nicht sicher, ob ich die nötige Koordination besitze. Ich habe Euch kämpfen sehen, und es kam mir vor wie eine entsetzliche körperliche und geistige Anstrengung.« 253 »Ist es nicht das Gleiche mit der Magie? Musst du nicht auch dort eine Menge Denkarbeit verrichten?« »Beim Studium ganz gewiss. Selbstverständlich. Aber bei der Anwendung nicht. Die Magier müssen einen Zustand erlangen, den wir als Nicht-Wollen bezeichnen. Man leert das Bewusstsein und lässt die Energien durch sich fließen. Man wird eine Art Kanal.« »Beim Schwertkampf ist es genau das Gleiche. Es gibt noch einen alten Spruch: Das Schwert ist blind. In gewisser Weise sollte auch der Schwertkämpfer blind sein. Es heißt ja auch, dass man scheitert, wenn man sich zu sehr anstrengt.« »Ihr habt ein paar Sekunden lang die Augen geschlossen, bevor Ihr den Kampf aufgenommen habt, als diese Männer den Patrizier töten wollten. War das ein Teil davon?« »Ich habe mich auf die Instinkte eingestimmt, die man braucht, wenn man gut kämpfen will. Die Hand soll das Auge und das Bewusstsein leiten, nicht andersherum.« »Ich fürchte, das verstehe ich nicht.« »Ich zeige es dir.« Caldason sah sich um und deutete auf etwas. »Hole ein paar Stöcke. Nicht zu lang. Drei oder vier.« Er steckte beide Schwerter vor sich in den Boden. Kutch brach die Zweige einer Eiche in der Nähe. Sie waren etwa so dick wie der Daumen eines Mannes. Wie sie in seiner Hand lagen, reichten sie ungefähr von der Spitze des Mittelfingers bis zum Handgelenk. »Hier sind vier«, sagte er, als er zu Caldason zurückkehrte. 254 Karr unterbrach seine Himmelsbeobachtung und richtete die Aufmerksamkeit auf Reeth und Kutch. Wieder war in der Ferne Donnergrollen zu hören. Caldason betrachtete die Stöcke, die Kutch ausgesucht hatte. »Die sind gut geeignet. Wenn du so weit bist, wirf sie in die Luft. Wirf sie, so hoch du kannst.« Der hinge nickte. Er bog den Arm zurück und schleuderte die Stöcke hoch. Caldason schnappte sich das Breitschwert. Er ließ es durch die Luft sausen und teilte jeden der fallenden Zweige in der Mitte. Die hin und her zuckende Klinge bewegte sich zu schnell, als dass man ihr mit dem Auge folgen konnte. Kutch kniete nieder und begutachtete das Ergebnis. Die vier Stöcke waren sauber in der Mitte zerteilt, sodass acht etwa gleich große Stücke entstanden waren. »Erstaunlich!«, rief er. »Maximale Wirkung mit minimalem Aufwand«, erklärte Caldason. »Aber wie habt Ihr es gemacht?« »Indem ich es nicht versucht habe.« Er hob das Breitschwert, wirbelte es herum und steckte es wieder in die Scheide auf dem Rücken. Das Rapier kehrte mit einer ähnlich eleganten Bewegung in die Gürtelscheide zurück. Kutchs Augen funkelten, sein Kampfgeist war entfacht. »Ja«, sagte er dramatisch, »aber könnt Ihr auch so etwas?« Er zielte mit der Hand und zusammengepressten Fingern auf den Baum. »Haltet Euch fest!« Mit geschlossenen Augen begann er zu murmeln.
Eine halbe Minute lang geschah überhaupt nichts. Karr inspizierte seine Fingernägel, während Reeths Blick müßig hin und her wanderte. 255 Auf einmal entstand vor Kutchs Fingerspitzen ein schwaches Glühen. Das Licht pulsierte willkürlich, und eine wabernde Feuerkugel in der Größe eines Apfels erschien. Die Farbe wechselte zwischen orange und dunkelbraun. Kutch grunzte vor Anstrengung. Die Feuerkugel schwebte ein paar Zentimeter vor, dann plumpste sie entkräftet zu Boden. Sie zischte und platzte. Die Männer sahen sie an. »Nein, das kann ich nicht«, antwortete Caldason. »Verdammt auch«, murmelte Kutch ernüchtert und verlegen. Reeth legte ihm tröstend eine Hand auf die Schulter. »Man darf einfach nicht aufgeben.« Karr kam zu ihnen. »Sei vorsichtig, Kutch. Damit sollte sich jemand ohne Lizenz nicht in Valdarr erwischen lassen.« »Ein Zauberlehrling ohne Lizenz, ein abweichlerischer Politiker, der auf einer Todesliste steht, und ein gesuchter Gesetzloser«, zählte Caldason auf. »Und alle betreten bald die Stadt mit der höchsten Konzentration an staatlichen und imperialen Streitkräften in ganz Bhealfa.« »Valdarrs Größe ist unser Verbündeter«, erwiderte Karr. »Es gibt dort unzählige Plätze, an denen wir uns verstecken können.« »Schaut!«, unterbrach Kutch. Etwas kam in ihre Richtung geflogen und stürzte zu ihnen herab. Es war schwer zu erkennen, was es eigentlich war. »Vielleicht ist es das, worauf wir gewartet haben«, meinte Karr. »Ich hoffe, es kommt in einem günstigeren Augenblick als der letzte Bote«, bemerkte Caldason. 256 »Und wenn es nicht das ist, was wir erwarten?«, fragte Kutch. »Wenn es feindselig ist?« Keiner der Männer antwortete ihm. Doch Caldasons Hand wanderte unwillkürlich zum Griff des Rapiers. Das fliegende Objekt näherte sich und kreiste über ihren Köpfen. »Es ist gut«, beruhigte Karr sie. Das Wesen kam herunter und schwebte auf seiner Höhe. Dieses Mal hatte der Bote die Gestalt einer Libelle von den Ausmaßen eines großen Hundes angenommen. Das Wesen war prächtig gefärbt, schillerndes Blau und Grün waren auf dem länglichen Panzer zu sehen. Die silbernen Flügel schlugen so schnell, dass sie nur als verschwommene Streifen zu erkennen waren. Das Ding war auf groteske Weise schön. Die Libelle flitzte dichter herbei und wandte sich an Karr. Sie betrachtete ihn mit gewölbten Facettenaugen und zitternden Fühlern. Dann stieß sie ein lautes, unnatürliches Geräusch aus. »Weitergehen.« Der Zauber wiederholte die Botschaft noch zweimal. Dann zerlegte er sich und zerfiel zu einem Schauer leuchtender Körnchen, die vom Wind verstreut wurden. Die funkelnden Partikel erloschen, als sie auseinander trieben. »Es ist Zeit zu gehen«, verkündete Karr. »Kommt, ihr zwei, und trödelt nicht.« Als sie die Ausläufer der Stadt erreichten, hielt Karr, der den Wagen lenkte, vor einem Mietstall. 257 »Es ist besser, zu Fuß weiterzugehen. Wir müssen den Wagen und die Pferde abstoßen. Aber von Rechts wegen gehören der Wagen und die Pferde natürlich dir, Kutch, weil sie zuvor Grentor gehört haben. Das Geld, das sie erbringen, ist dein. Hast du Einwände?« »Nein, ich verstehe schon, was Ihr sagt. Aber ...« »Was ist denn?« »Nun, es mag albern klingen ... Aber sie sind das letzte Bindeglied zu meinem Meister.« »Nein, das sind sie nicht«, erwiderte Reeth. »Du selbst bist die Verbindung. Die Person, die du mit seiner Hilfe geworden bist. Das Wissen, das er dir geschenkt hat. Deine Erinnerungen an ihn. Das ist es, was einen Menschen lebendig hält.« Kutch nickte und wagte nicht zu sprechen. »Ein Stück weiter die Straße hinunter gibt es eine Schenke«, erklärte Karr. »Sie liegt am Weg in die Stadt und ist etwa eine halbe Meile entfernt. Dort könnt ihr auf mich warten. Ich komme nach, sobald ich den Verkauf abgewickelt habe.« Sie erklärten sich einverstanden und machten sich auf den Weg. Die Gewitterwolken wurden dunkler und kamen näher. »Ihr werdet doch eine Weile hier bleiben, nicht wahr, Reeth?«, fragte Kutch besorgt. »Ich habe es versprochen. Mindestens bis du dich eingerichtet hast und Karr mich mit diesen Leuten vom Bund bekannt gemacht hat. Falls er das überhaupt kann.« »Ich glaube, das kann er. Er scheint ein braver Mann zu sein.« »Da kommen dir natürlich deine umfangreichen Erfahrungen mit vielen verschiedenen Menschen sehr gelegen,
nicht wahr?« 258 »Vielleicht bin ich in dieser Hinsicht etwas unerfahren, aber er ist unser Freund geworden, und er hilft Euch bei Eurem Problem.« »Wir werden sehen. Aber ich werde nicht ewig in Valdarr bleiben, Kutch, vergiss das nicht.« Kutch war nicht glücklich darüber, doch er schwieg. Je weiter sie sich der Stadtmitte näherten, desto mehr Menschen begegneten ihnen. An einer weiten Straßenkreuzung hielt eine Gruppe von Gläubigen in weißen Gewändern eine Art Wache. Einer von ihnen hielt einer kleinen Zuschauergruppe einen Vortrag. »Die Sparsamen«, erklärte Caldason dem verwunderten Kutch. »Ich habe noch nie von ihnen gehört.« »Sie fürchten, die Magie könne eines Tages aufgebraucht sein, und verlangen, die Kraft müsse von Gesetz wegen sparsam verwendet werden.« »Die Magie kann doch gar nicht aufgebraucht werden. Die Magie entsteht immer neu und ist ewig.« Caldason sah sich stirnrunzelnd um. Eine Gruppe von Milizionären und ein paar Paladine mit versteinerten Gesichtern waren aufgetaucht. Sie beäugten die Protestierenden und ließen prüfende Blicke über die Menge wandern. »Wir sollten weitergehen«, schlug er vor. Weiter im Zentrum sahen sie auch Bürger aus Gath Tampoor. Caldason wurde bewusst, wie sehr sich die Bürger des Reichs von den Völkern unterschieden, die sie unterworfen hatten. Teilweise waren es die Qualität und der Schnitt ihrer Kleidung, besonders aber die magischen, sich ständig verändernden Gewänder der Reichsten und die Tatsache, dass sie häufig ein Gefolge dabei hatten. Doch es war auch 259 ihre Haltung, ihr Auftreten, eine gewisse Hoffart, wie sie nur von jenen ausstrahlte, die daran gewöhnt waren zu herrschen. Reeth und Kutch gingen weiter nach Valdarr hinein. Sie kamen an Männern vorbei, die am Straßenrand Lose für die Zauber-Lotterie verkauften. Eine Tafel auf einer Staffelei zeigte, welche Preise man gewinnen konnte. Der erste Preis war ein Füllhorn, das eine Woche lang einen unbegrenzten Vorrat der allerfeinsten Lebensmittel produzierte. Da die Speisen durch Magie erzeugt wurden, schmeckten sie vorzüglich, hatten aber keinerlei Nährwert. Einige Menschen hatten sich so gierig über die Geschenke des Füllhorns hergemacht, dass sie nichts anderes mehr hatten essen können und verhungert waren. Endlich erreichten sie den Gasthof. Er beschäftigte einen magischen Ausrufer, der die Passanten in den Gasthof locken sollte. Der Zauber hatte die Gestalt eines kleinen Drachen, etwa in der Größe eines Pferds. Er hockte auf der Hinterhand und hatte einen Ringelschwanz. Die Haut war grün, nur der geriffelte Schmerbauch war weiß. Der Produzent des Zaubers hatte sich einige künstlerische Freiheiten erlaubt und lange Wimpern, ausgesprochen sinnliche Lippen und riesige Augen hinzugefügt, gelb und mit roten Flecken, die wie umgedrehte Tränen geformt waren. Es war ein unerträglich freundlicher Drache. Als Caldason und der Junge sich der Schenke näherten, sagte der Drache: »Kommt doch rein!« Caldason ignorierte ihn und gab sich keine Mühe, seinen Widerwillen zu verbergen, da ihn ein Zauber angesprochen hatte. »Kommt doch rein!«, wiederholte der Drache. 260 »Das wollen wir ja auch«, antwortete Kutch. »Kommt rein und trinkt eine Flasche Bier oder einen Becher Grog!« Der Drache peitschte den Schwanz und schenkte ihnen ein schreckliches Lächeln voller riesiger Zähne. »Jeder ist willkommen! Trinkt einen wärmenden Becher Branntwein oder ein Gläschen Honigwein!« »Aber gern«, knurrte Caldason. Der Drache streckte in einer Geste, die Offenheit und Gastfreundschaft vermitteln sollte, beide Arme aus und versperrte dabei die Tür der Schenke. »Esst hier! Wir haben Fleisch, Geflügel, Fisch, und alles ist ...« Er spuckte eine rauchige rote Flamme aus. »Perfekt zubereitet.« »Vielen Dank«, sagte Kutch, obwohl es sinnlos war. »Die feinsten Eintöpfe, Brot, Früchte, Gemüse, aufgetischt von wundervollen Serviererinnen mit Apfelbäckchen!« Der Drache zwinkerte lüstern. Caldason griff nach dem Schwert. »Nein, Reeth«, sagte Kutch und hielt seine Hand fest. »Kommt mit. Er ist es nicht wert.« Sie marschierten an dem Drachen vorbei zum Eingang. »Kommt herein!«, rief der Zauber. »Jedermann ist willkommen! Genießt die ...« Die Tür fiel hinter ihnen zu. Drinnen war die Gaststätte schlecht beleuchtet und ziemlich heruntergekommen. Bedienungen, ob mit Apfelbäckchen oder andere, gab es nicht. Etwa zwanzig Gäste tranken, rauchten und unterhielten sich leise in kleinen Gruppen. Alle starrten Caldason an, doch der Qalochier schien sich nicht daran zu stören. Sein Körperbau,
261 seine Waffen und sein Gesichtsausdruck belehrten jeden, der auf die Idee kommen mochte, sich mit ihm anzulegen, eines Besseren, und auch dem Wirt wurde jeder Gedanke, ihn etwa nicht zu bedienen, sofort ausgetrieben. »Branntwein«, sagte Caldason. »Und Wein mit Wasser für den Jungen. Seid großzügig mit dem Wasser.« »Ich bin am Verhungern«, erklärte Kutch. »Was gibt es zu essen?« »Nur das da.« Der Wirt deutete mit dem Daumen auf eine Platte mit Schweinshaxen. Sie schimmerten grün und waren voller Fliegen. Er rieb mit einer Hand über seine schmierige Schürze und langte nach der Platte. »Äh ... nein«, sagte Kutch. »Ich glaube, ich verzichte lieber.« »Wie du willst.« Der Wirt brachte ihre Getränke und ließ sie über die Theke rutschen. Caldason legte ein paar Münzen auf das zerkratzte Holz. Sie setzten sich in einer ruhigen Ecke auf eine Bank, Reeth mit dem Gesicht zum Raum. Die anderen Gäste tuschelten und sahen immer wieder zu ihnen herüber. Caldason schien dies nicht zu stören, doch Kutch wurde mulmig zumute. »Wie haltet Ihr das nur aus?«, fragte er leise. »Manchmal halte ich es nicht mehr aus.« »Aber Ihr werdet doch hoffentlich niemanden töten, oder?« »Ich will es versuchen. Verschütte nicht dein Getränk.« Eine Weile tranken sie schweigend. Kutchs Gesicht wurde vom ungewohnten Alkohol lebhaft rot. 262 Nach einer Weile gesellte sich Karr zu ihnen. Er wollte nichts trinken und zeigte ihnen eine Geldbörse. »Wir haben einen guten Preis erzielt. Hier, Kutch.« »Behaltet es. Mir war noch nie sonderlich an Geld gelegen.« »Du wirst lernen müssen, damit umzugehen, denn du führst ab jetzt ein neues Leben.« Er stopfte sich die Börse in die Tasche. »Frage danach, wann immer du es brauchst.« Er sah sich um. »Es ist Zeit, dass wir aufbrechen.« »Wohin?«, fragte Caldason. »Mir steht ein Haus im Osten der Stadt zur Verfügung. Ihr werdet sehen, dass es recht bequem ist. Im Gegensatz zu meinem ersten Wohnsitz ist es den Behörden wahrscheinlich nicht bekannt. Es ist ein gutes Stück zu laufen, und aus nahe liegenden Gründen können wir nicht auf direktem Weg hingelangen. Deshalb sollten wir bald aufbrechen.« »Und wann bringt Ihr mich zu dem Bund?« »Es wird ein oder zwei Tage dauern, um dies zu arrangieren«, gab der Patrizier etwas pikiert zurück. »Seid geduldig.« Sie standen auf und verließen den Gasthof. Draußen spulte der Drache sein gewohntes Programm ab. Es war im Lauf des Tages immer dunkler geworden, und die Gewitterwolken hingen nun direkt über ihnen. Sie waren schwer vom Regen, doch bisher fiel noch kein Niederschlag. Karr hüllte sich eng in seinen Mantel. »Ich fürchte, es wird ein nasser Weg.« Er übernahm die Führung. Als sie liefen, waren Blitze zu sehen, es donnerte, und ein leichter Regen 263 setzte ein. Die Menschen eilten vorbei und brachten sich vor dem zu erwartenden Schauer in Sicherheit. Zwischen zwei Häusern klaffte eine Gebäudelücke wie ein fehlender Zahn. Nur die zerstörten Fundamente waren noch zu sehen. Die Mauern waren geschwärzt, was darauf hinwies, dass der Schaden bereits vor längerer Zeit durch einen Brand entstanden war. Das Grundstück war mit Müll übersät und erstickte beinahe am wuchernden Unkraut. Als die drei dort vorbeigingen, zuckte ein blendend heller Blitz auf, und gleich darauf folgte ein ohrenbetäubendes Donnern. Ein gelblich weißer Speer verband Himmel und Erde für den Bruchteil einer Sekunde. Der Blitzschlag ließ sie wie angewurzelt stehen bleiben. Der Regen wurde stärker. In der Mitte des leeren Grundstücks klaffte jetzt ein rauchender Krater. »Kommt weiter«, sagte Caldason. »Wartet mal«, meinte Kutch, der den Krater gesehen hatte. »Was ist denn?« Kutch hörte nicht auf ihn, sondern ging zu dem Loch. Die anderen beiden folgten ihm widerwillig. »Was geht hier vor?«, wollte Karr wissen. »Was ist los?« Kutch hatte den Rand des Kraters erreicht und blickte hingerissen nach unten. Die anderen beiden holten ihn ein. Caldason war mürrisch. »Was machst du da, Kutch?« »Es heißt, sie ziehen Blitze an«, antwortete Kutch wie in Trance. »Besonders wenn sie dicht unter der Oberfläche fließen wie diese hier.« Reeth und Karr blickten nach unten. 264
Der Blitz hatte beim Einschlag etwas freigelegt, das wie ein Kanal aussah. Durch den offenen Kanal, an der tiefsten Stelle der Grube, floss Quecksilber. Oder jedenfalls ähnelte es Quecksilber in Farbe und Konsistenz. Es floss an einer Seite des Kraters herein und durch einen Spalt auf der anderen Seite wieder hinaus. Eine Lache der Substanz hatte sich im Krater gesammelt. Die silberne Flüssigkeit, was es auch war, strahlte eine starke Kälte ab. Eine Art kristalliner Reif bildete sich an den Wänden des Kraters. Auch Karr war jetzt von Ehrfurcht ergriffen. »Ist es das, was ich glaube?« Kutch nickte. »Eine Kraftlinie. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal eine zu sehen bekomme. Wisst Ihr überhaupt, wie selten es geschieht, dass eine Kraftlinie auf diese Weise freigelegt wird?« Obwohl Sommer war, konnten sie ihren Atem deutlich in der Luft sehen. Caldason starrte den silbrigen Strom an. »Meinst du, das sei ... reine Magie?« »Nicht ganz. Es ist der Träger oder das Medium für die Magie. Wie ein Aquädukt. Die Kutsche der Magie, so nennen es die Gelehrten. Die Substanz, welche die Magie braucht, um sich zu manifestieren.« Sie sahen, dass die Regentropfen verdunsteten, bevor sie überhaupt das Quecksilber erreichten. Sie verpufften in winzigen Dampfwolken. Dennoch war es ungeheuer kalt. »Ist dies nicht gefährlich?«, fragte Karr. »Kutch?« »Hmm? O ja. Wahrscheinlich schon.« Reeth packte ihn am Arm. »Dann ist es sicher eine gute Idee, möglichst schnell hier zu verschwinden, nicht wahr?« 265 Sie zogen sich zurück. Jetzt erst bemerkten sie, dass sich auch andere Gaffer um den Krater gesammelt hatten. Als sie sich entfernten, drängten die Neugierigen nach und nahmen ihre Plätze ein. Zwei Männer mit Stahleimern stürmten an ihnen vorbei. »Stell dir nur vor, was das wert ist!«, rief einer dem anderen zu. Kutch erschrak. »Nein! Das sollten sie nicht tun, Reeth. Ihr müsst sie aufhalten.-« »Wie gefährlich ist es denn eigentlich?« »Die magische Energie kann sich spontan und ungerichtet manifestieren. Das könnte ... sehr gefährlich sein.« Weitere Neugierige strömten herbei, und um den Krater entstand ein leichtes Gedränge. Die Leute wurden unruhig, erschrockene Rufe, Schreie und sogar Kreischen waren zu hören. Es gab eine Explosion. Zwei Eimer und zwei Körper mit rudernden Gliedmaßen flogen in die Luft. »Ich hab's ja gesagt«, meinte Kutch. Der Krater wurde von einer Reihe greller Blitze erhellt, darauf folgten Lichteffekte in rasch wechselnden Grundfarben. Dicke Rauchwolken stiegen auf, und ein starker Geruch nach faulen Eiern wehte über die Menge hinweg. Die Menschen gerieten in Panik und rannten schreiend davon. Verschiedene eilig laufende Gestalten tauchten im Dunst am Kraterrand auf. Karr, Reeth und Kutch reckten die Hälse, um etwas zu erkennen. Plötzlich kletterte ein Kentaur aus dem Loch, stieg hoch und brüllte. Er galoppierte mitten durch die fliehenden Menschen, schlug nach ihnen und stieß sie zur Seite. 266 Dann tauchte ein großer Schwärm winziger fliegender Wesen auf, die wie zornige Wespen über die Schaulustigen herfielen. Es waren offenbar Feen mit grimmigen Gesichtern und bösen Krallen anstelle von Fingern. Kutch und der Patrizier schlugen hektisch nach ihnen, ruderten mit den Armen und ballten die Hände zu Fäusten. Reeth holte mit dem Breitschwert aus, und unter seinen Schlägen explodierten Dutzende der Geschöpfe. Gehörnte Dämonen sprangen aus dem Krater. Rote Haut, Zähne wie Meißel, irrlichternde Augen. Ziegen mit Kinderköpfen kletterten herauf. Schlangen mit vielen Beinen wie Tausendfüßler. Ein Schwärm weißer Fledermäuse breitete raschelnd zackige Schwingen aus. Riesige indigofarbene Skorpione mit silbernen Glocken, wo die Stacheln hätten sein müssen. »So in etwa muss die Traumzeit gewesen sein«, mutmaßte Kutch. Reeth schien über den Vergleich wenig erfreut. »Woher wissen wir, von welcher Qualität sie sind?«, rief Karr. Er meinte damit, ob es sich um körperlose und im Grunde harmlose Zauber handelte oder ob es die massive und teure Sorte war, die mit Menschen in Kontakt trat und ihnen Schaden zufügen konnte. »Ich weiß nicht, was bei einem Bruch von dieser Art ausgeworfen wird«, erklärte Kutch. »Wahrscheinlich beide Sorten.« Er wischte eine Wolke lästiger Elfen weg. »Woher wissen wir, wer zu welcher Sorte gehört?« Kutch konnte nur mit den Achseln zucken. »Versuch und Irrtum«, meinte Caldason, während er eine herabstoßende Fledermaus enthauptete. Das Tier löste sich in einem glühenden Schauer auf, der rasch verblasste. 267 Vier oder fünf kleine Wirbelstürme rasten nun aus der Grube hervor. Sie brachen in verschiedene Richtungen aus, sammelten Mengen von Blättern und Zweigen und zogen aus den dicken Fundamenten sogar Ziegelsteine, mit denen sie die Menschen schlugen. Eine Horde riesiger Spinnen mit vor Gift triefenden Fängen kam gerannt. Einige stürzten zu den benachbarten
Häusern und rannten die Mauern hinauf. Andere begannen goldene Netze zu weben, um die fliehenden Menschen zu fangen. Durch den Dunst und das Durcheinander glaubte Caldason eine Meerjungfrau zu sehen, die durch die Luft flog. Knorrige Zwerge, bösartige Kobolde und trunkene Feen hüpften aus dem Loch. Zwei schwarze Tauben flogen über ihnen und gurrten unnatürlich laut. Fontänen bunter Funken schössen aus Ritzen und erhoben sich über dem Krater. Lauter als all dieser Aufruhr waren Glocken zu hören. Mehrere Wagen kamen mit hoher Geschwindigkeit herbei, auf den Ladeflächen wurden Männer und Ausrüstung befördert. »Gott sei Dank!«, rief Karr. »Ein Reparaturtrupp.« Die Mannschaften sprangen von den Wagen und drängten sich durch das, was von der Menschenmenge noch geblieben war. Die Männer kletterten über die Körper derer hinweg, die am Boden lagen. Mit lauten Rufen und Drohungen scheuchten die Retter die noch lebenden Gaffer zurück. Der Reparaturtrupp bestand etwa zur Hälfte aus Zauberern, die Stäbe mit kompliziertem Schnitzwerk schwangen und sich darauf konzentrierten, die Magie aufzulösen. Ihre Stäbe spien neutralisierende Sprüche 268 aus. Wo die blendend hellen Bänder zuschlugen, implodierten die Zauber und lösten sich auf. Stück um Stück löschten die Zauberer alles aus und arbeiteten sich zum Krater vor, den sie schließlich umstellen konnten. Weitere Wagen und Berittene trafen ein. Darunter waren Milizionäre und, unvermeidlich, auch Paladine. »Wird höchste Zeit, dass wir verschwinden«, meinte Karr. »Sagte ich eigentlich schon, dass ich Großstädte hasse?«, murmelte Caldason, als sie sich fortstahlen. 269 Im Zentrum von Valdarr mischten sich die Bauwerke des alten Königreichs mit den neuen, prächtigeren Gebäuden der imperialen Eroberer. Eine der jüngsten Errungenschaften war ein großes Theater. Es war, vom ausgebrannten Palast abgesehen, der größte überdachte Raum in Bhealfa und bot vielen hunderten von Besuchern Platz. Wer den Mikrokosmos der bhealfanischen Gesellschaft sehen wollte, fand im Publikum genügend Anschauungsobjekte. Die privaten Logen blieben den politischen, militärischen und diplomatischen Funktionären aus Gath Tampoor vorbehalten. Es gab Plätze für Ehefrauen, Konkubinen und Kinder sowie deren prächtig herausgeputzte Kindermädchen und Gefährten. Kommandeure der Paladin-Clans, die Priesterschaft und hochrangige Zauberer besaßen ebenfalls eigene Logen, und ebenso diejenigen unter den bhealfanischen Würdenträgern, die beim Imperium wohl gelitten waren. 272 Wichtige Kaufleute, bedeutende Vertreter der zugelassenen Künste, Gildemeister und Wucherer nahmen auf den Baikonen Platz. Die Ränge blieben den »gewöhnlichen« Bürgern vorbehalten, wenngleich auch dort nur solche anzutreffen waren, die gute Beziehungen hatten und über ausreichend Mittel verfügten, um sich die Eintrittspreise leisten zu können. An diesem Abend gab es nur noch Stehplätze. Die einzige Ausnahme war die leere Loge des Prinzen, was aber niemanden überraschte. Die übergroße Bühne war schlicht, aber elegant hergerichtet. Es gab keine Aufbauten und keine überflüssigen Kulissen, sondern einfach nur geschickt arrangierte bunte Samttücher und in der Mitte einen regenbogenfarbenen Fächer. Raffiniertes, durch Zauber verstärktes Licht verlieh allem einen besonderen Schimmer. Ein einziger Künstler stand auf der Bühne. Er war stattlich und beinahe stämmig gebaut, wie es die Sänger klassischer Werke oft sind, und ein wenig kleiner als der Durchschnitt. Das dunkle Haar war kurz, und er hatte einen hübschen Kinnbart. Er trug ein schwarzes Bühnenkostüm mit einem gelben Kometen auf der Brust. Knapp über dreißig Jahre alt war er und auf eine solide Art sogar attraktiv zu nennen. Kinsel Rukanis war vielleicht nicht der größte Tenor in den beiden Reichen, aber er war immerhin ein ernsthafter Bewerber um diesen Ehrentitel. Es gab Rivalen, die technisch gewandter waren, und auch einige, die ihm in Umfang und Bildung der Stimme das Wasser reichen konnten, doch es gab ganz gewiss niemanden, der die Kraft seiner Interpretation übertrumpfen konnte. Seine Fähigkeit, die Leidenschaft 272 eines Librettos dem Publikum deutlich und zugänglich zu machen, hatte dem Künstler aus Gath Tampoor Ruhm und Reichtum eingebracht. Rukanis verzichtete auf die Verstärkung durch Zauber und verließ sich allein auf die Kraft seiner Lungen und seiner Stimme, um auch den letzten Winkel des andächtig verstummten Theaters zu erreichen. Er hatte ein bekanntes und beliebtes Repertoire vorgetragen, und natürlich waren Wenn es dunkelt und Die Geschichte deines Herzens am besten angekommen. Seine Interpretation von Flüsternde Götter wurde mit Entzücken aufgenommen, und Auf den Flügeln der Sterne brachte ihm Ovationen ein. Jetzt trug er ein Lied vor, das ihm selbst besonders am Herzen lag und das eines der bekanntesten überhaupt war: Weit bin ich gereist im Reich der Träume. Für dieses Finale lag es natürlich nahe, die Spezialeffekt-Zauber des Theaters einzusetzen. Rukanis ging mit solchen Effekten stets sehr sparsam um, denn er war der Ansicht, ein Konzert sei ein Konzert und keine Bilderausstellung.
Als er bei der zweiten Strophe angelangt war, materialisierte der Zauber. Es war ein erstklassiges Stück Arbeit. Ein ovaler Ring aus einander überlappenden Blasen, so groß wie eine Tür, tauchte neben ihm in der Luft auf. Der Ring füllte sich mit Wolken, die dick und weiß vor makellosem Blau schwebten. Das Bild blieb eine Weile stehen, während er sang. Dann bildeten sich Risse, und die Szene zerfiel. Eine lautlose Explosion zerfetzte den Ring in tausend winzige Kristallsplitter, die wie flüssiges Messing in alle Richtungen davon spritzten und im Licht noch einmal hell aufblitzten, ehe sie vergingen. Als 273 die Nebel sich lichteten, schwebte neben Rukanis eine Gestalt, die den Eindruck erweckte, sie schwimme frei im Wasser. Sie war hinreißend schön. Ihr goldenes Haar bildete einen wallenden Heiligenschein, und in den smaragdgrünen Augen lag leidenschaftliches Feuer. Die seidenen Gewänder flatterten leicht und schwebten auf unsichtbaren Strömungen. Die Zaubergestalt begann mit einem geschmeidigen, sinnlichen Tanz, die zierlichen Füße sprangen auf einer unsichtbaren Fläche, und ihre Schritte begleiteten die tragische Liebesgeschichte, die Rukanis vortrug. Seine Beschreibung der bittersüßen Gefühle und die Ausdruckskraft der Tänzerin ergriffen die Herzen der Zuschauer. Rukanis näherte sich dem Höhepunkt des Stücks, an dem die vom Schicksal geschlagenen Geliebten voneinander scheiden müssen. Als dieser Wendepunkt kam, begann der Zauber zu weinen. Doch er weinte keine Tränen, sondern Diamanten, die wie ein silberner Strom aus den bemerkenswerten Augen perlten. Die Tränen rollten die marmorhellen Wangen hinunter, verfestigten sich und prasselten als blitzende Edelsteine auf die Bühne. Sie sprangen in alle Richtungen davon, einige flogen zum Orchestergraben, ein paar andere erreichten die ersten Zuschauerreihen, verpufften aber, ehe sie den Boden berührten. Schmetternd sang Rukanis das Ende des Stücks. Tränen wurden getrocknet, der Zauber drehte sich herum und hauchte ihm einen Kuss zu. Dann verflüchtigte sich die Erscheinung, und ein feiner silberner Regen rieselte auf die Bühne herab, ohne sie je zu erreichen. Rukanis verbeugte sich. 274 Einen Herzschlag lang herrschte tiefe Stille. Dann begann das Publikum zu toben. Die Zuschauer klatschten und johlten und sprangen auf, um ihm Beifall zu zollen - sehr lebhaft in den Rängen, mit mehr Zurückhaltung auf den Baikonen und in den Logen. Mehrere schüchterne junge Mädchen, die Töchter von Würdenträgern, kamen von den Seiten mit Blumenbuketts. Es waren echte Sträuße, keine Zauber -ein großes Kompliment, das in den ständig wechselnden, absonderlichen Moden der Kulturwelt viel galt. Rukanis nahm die Blumen entgegen, küsste die Mädchen auf die Wangen und bedankte sich für den ohrenbetäubenden Applaus. Grinsend verneigte er sich und presste die dicken Blumensträuße an die breite Brust. Als der Applaus noch einmal zunahm, wich er langsam vom Bühnenrand zurück. Die Vorhänge wurden gezogen und verbargen ihn. Es war bekannt, dass er niemals Zugaben gab, egal wie fordernd und erlesen das Publikum auch war. Er blies die Wangen auf und schnaufte erleichtert. Kaum dass der Vorhang gefallen war, näherte sich ihm eine kleine Meute von Kollegen und Bühnenarbeitern, um ihm zu gratulieren. Sie klopften ihm auf die Schulter, drückten ihm die Hand und überschütteten ihn mit Lob, und er ließ es nachsichtig über sich ergehen. Artig schenkte er die Blumen jemand anderem, bedankte sich bei allen und begab sich zu seiner Garderobe. Jemand reichte ihm ein Handtuch. Er nahm es lächelnd entgegen und tupfte sich die schweißnasse Stirn ab. 275 Ein Bühnenarbeiter, an dem er vorbeikam, rief: »In Eurer Garderobe wartet ein Besucher, Herr.« »Weißt du, wer es ist?« »Ein Mann. Ich glaube, es ist der Name, den Ihr am Bühneneingang hinterlassen habt. Geheim, oder?« »Ah ja, danke.« Geheim. Der Name, den sie im Augenblick gebrauchten. Er hoffte, der Mann war vorsichtig gewesen und hatte etwaige Verfolger abgeschüttelt. Dann verwarf Rukanis den Gedanken. Sie hatten ihre Erfahrungen mit diesen Dingen und wussten, was sie zu tun hatten. Als er seine Garderobe betrat, fand er jemanden vor, den er noch nie gesehen hatte. Es war ein junger, kräftiger Mann, glatt rasiert, aber mit einem unbezähmbaren blonden Schopf. »Geheim, nehme ich an«, sagte Rukanis. Der Fremde lächelte. »Für unsere Zwecke ist dies mein Name, ja.« Sie gaben sich die Hände. »Es war eine wundervolle Vorstellung.« »Danke.« Rukanis blickte zur Tür. »Wart Ihr im Zuschauerraum?« Der Mann lächelte unverwandt. »Schwerlich. Ich habe einen Teil von hier aus gehört.« »Natürlich.« Geheim sah sich um. »Darf ich annehmen, dass dieser Raum sicher ist?« Rukanis zog einen Anti-Zauber-Anhänger aus dem Hemd hervor. »Gut. Aber eigentlich dürftet Ihr ohnehin nicht mit Lauschern rechnen, nicht wahr? Ein Mann wie Ihr sollte über jeden Zweifel erhaben sein.« »Ich bin nicht sicher, ob heutzutage überhaupt noch jemand über jeden Zweifel erhaben ist.«
276 »In der Tat. Wir wissen durchaus zu schätzen, wie gefährlich dies für Euch ist.« »Mit der Ausnahme von Gewalttaten bin ich bereit, für die Sache zu tun, was in meinen Kräften steht. Stört es Euch, wenn ich mich umkleide?« »Nur zu.« Rukanis suchte in einem Regal mit Kleidern herum. »Was wollt Ihr nun von mir?« »Zwei Dinge, wenn möglich. Zuerst das Übliche.« »Nachrichten überbringen.« »Ja. Wir müssen mehrere Informationen an unsere Leute in Gath Tampoor übermitteln. Ich sorge dafür, dass Ihr sie bekommt, bevor Ihr abreist. Lässt sich das machen?« »Das ist kein Problem. Und was noch?« »Der Empfang morgen Abend. Dort werden viele bedeutende Gäste erwartet ...« »Und ich soll die Ohren offen halten.« »Es ist überraschend, was sie von sich geben, wenn sie meinen, sie seien unter sich. Doch es gibt etwas ganz Bestimmtes, auf das Ihr dieses Mal achten sollt. Habt Ihr etwas über eine bhealfanische Handelsexpedition gehört, die in die Einöden im Norden aufbrechen soll?« »Nein.« Der Sänger zog ein frisches Hemd an. »Wir haben Gerüchte aufgeschnappt. Irgendetwas stimmt nicht damit. Es scheint, als wäre es eher eine Mission des Imperiums als Bhealfas, und wir wüssten gern den Grund.« »Ich werde darauf achten. Allerdings wünschte ich, ich könnte etwas Handfesteres tun.« »Unterschätzt nicht den Wert, den das Sammeln solcher Informationen hat. Glaubt mir, der Wider277 stand ist dankbar für das, was Ihr tut. Ganz zu schweigen von dem Geld, mit dem Ihr uns unterstützt. Und was das andere angeht... nun, Ihr seid als Pazifist bekannt und geachtet, aber dies führt eben dazu, dass wir Euch nur bei bestimmten Operationen einbeziehen können.-« »Ich verstehe.« »Noch etwas. Euer Kontaktmann hier in Valdarr. Direkt gegenüber der nördlichen Ecke des Platzes der Stille verläuft eine Straße ... eigentlich ist es kaum mehr als eine Gasse. Sie heißt Falkenweg. Am hinteren Ende findet Ihr eine Gerberei.« Er lächelte wieder. »Fragt dort nach Geheim. Habt Ihr das verstanden?« »Ia. Ich rechne allerdings nicht damit, dass ich Hilfe brauche.« »Ich hoffe, Ihr müsst sie nie in Anspruch nehmen. Aber vergesst nicht, dass es ein sicheres Haus und ein Briefkasten ist. Es ist immer gut, alle Gefahrenmomente zu berücksichtigen.« Rukanis nickte. »Ich muss jetzt gehen«, erklärte Geheim. »Und ich werde wohl einen kleinen Spaziergang machen. Nach einem Konzert tut mir die frische Luft immer gut.« Er legte sich ein Cape über die Schultern und wählte einen Hut mit breiter Krempe aus seiner Garderobe. Zusammen verließen sie das Theater. Die Straßen vor dem Haus waren belebt. Einen Augenblick lang blieben die Männer stehen und sahen dem Treiben zu. Rukanis holte tief Luft. »Ah. Ein schöner Abend. Ich würde gern zum Hafen laufen.« 278 »Passt auf Euch auf. Und vergesst nicht das sichere Haus. Ihr habt Euch den Weg hoffentlich eingeprägt?« »Aber gewiss.« Sie verabschiedeten sich und trennten sich. Rukanis mochte diesen Geheim. Es wäre angenehm, mehr über ihn zu erfahren. Aber das war natürlich ausgeschlossen. Selbst in gewöhnlichen Straßenkleidern konnte Rukanis leicht von Passanten erkannt werden. Er zog die Krempe seines Hutes herunter und ging zum Hafen. Viele Schiffe lagen hier vor Anker, und trotz der späten Stunde herrschte noch reges Treiben. Er wanderte an den Liegeplätzen vorbei und genoss die frische Luft und die Einsamkeit. Nach einigen Minuten blieb er kurz vor einer Brücke stehen, die eine schmale Stelle der Bucht überspannte. An eine Hauswand gelehnt, sah er den einund auslaufenden Schiffen zu und betrachtete die fernen Positionslichter. Doch er achtete nicht wirklich auf das, was er sah. Er dachte über die Wendung nach, die sein Leben zurzeit nahm. Er dachte darüber nach, wie er sich immer tiefer mit den Aufständischen eingelassen hatte und wie weit er noch mit ihnen gehen würde. Auf einmal hörte er einen Schrei. Oder glaubte einen Schrei zu hören. Oder bildete er es sich nur ein? Eine Möwe vielleicht? Er lauschte einige Sekunden, zuckte mit den Achseln und verfiel wieder in seine Träumereien. Wieder ein Schrei, dieses Mal näher und unverwechselbar. 279 Rukanis sah sich um. Eine Bewegung auf der Brücke erregte seine Aufmerksamkeit. Mindestens ein Mensch rannte darüber und kam ihm entgegen. Etwa hundert Schritt dahinter war eine Anzahl von Verfolgern zu sehen. Im Dämmerlicht konnte er sie nicht sehr gut erkennen. Beunruhigt ging er zur Brücke.
Er hatte sie gerade erreicht, als eine Frau herunter gerannt kam. Sie war groß, hatte pechschwarzes Haar und trug ein Kind wie ein Paket unter einem Arm. Ein zweites, etwas älteres Kind hatte sie an der Hand gefasst. Alle drei wirkten verschreckt. Als sie ihn sahen, blieben sie atemlos und ängstlich stehen. Die Kinder hatten offenbar geweint. »Was ist los?«, fragte er. Die Frau starrte ihn an und schien zu einer Entscheidung zu kommen. »Helft uns«, keuchte sie, und ihre Stimme klang sehr verzweifelt. Er blickte zur Brücke. Vier Männer kamen gerannt. Sie waren schon recht nahe, man konnte die Uniformen erkennen. Zwei Wächter aus dem Hafen, ein Milizionär und zu allem Unglück auch noch ein Paladin. Weiter hinten, am anderen Ende der Brücke, folgte noch eine größere Gruppe. »Kommt schon«, sagte er und hob das zweite Kind hoch, das viel zu verängstigt war, um Einwände zu erheben. Die Frau stieß einen erschrockenen Schrei aus und konnte offenbar kaum glauben, dass sie einen Verbündeten gefunden hatte. Sie rannten los, jeder ein Kind unter dem Arm, und bewegten sich in Richtung der Lagerhäuser und zum Gewirr der Gassen in der Nähe des Hafens. 280 Ihre Verfolger polterten von der Brücke herunter und rannten hinter ihnen her. Serrah fühlte sich seltsam, als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Sie war froh, dem Schiff endlich den Rücken kehren zu können. Heimlich von Bord zu gehen war leichter gewesen, als sie befürchtet hatte. Sie sah sich im Hafen um und fragte sich, was sie nun tun sollte. In Bhealfa kannte sie niemanden. Als Erstes musste sie aus dem Hafenviertel verschwinden. Häfen wurden normalerweise gut bewacht, und sie konnte nicht erwarten, hier das gleiche Glück zu haben wie bei der Flucht aus Merakasa. Falls es überhaupt Glück war. Sie trabte in Richtung der Nebenstraßen. Als sie um eine Ecke bog, wäre sie fast mit einer Gruppe von Menschen zusammengeprallt: einem großen bärtigen Mann mit Cape und Hut, einer dunkelhaarigen Frau, wahrscheinlich von qalochischer Herkunft, und zwei Kindern. Sie waren aufgeregt und ängstlich, und zuerst dachte Serrah sogar, sie selbst sei die Ursache. Nachdem sie sich vier Tage an Bord versteckt hatte, bot sie ganz sicher keinen angenehmen Anblick. Doch sie erkannte rasch, dass nicht sie das Problem war. Irgendjemand hetzte diese Leute, und die Verfolgten sahen nicht so aus, als könnten sie noch viel weiter rennen. Vier Männer näherten sich mit gezogenen Schwertern. Serrah erkannte die Uniformen. Die Qalochierin starrte sie an und flüsterte: »Bitte.« Der Mann schwieg. Er sah nicht nach jemandem aus, der häufig weglaufen oder kämpfen musste, doch 281 sein Gesichtsausdruck sprach Bände. Die Kinder waren vor Furcht gelähmt. Serrah drehte sich um und baute sich zwischen ihnen und den heranstürmenden Häschern auf. Die vier Männer zögerten, als sie die heruntergekommene Frau sahen, die ihnen mit wildem Blick und vor der Brust verschränkten Armen den Weg versperrte. Mit erhobenen Klingen näherten sie sich vorsichtig. Einer der beiden Hafenwächter übernahm die Führung. Der Paladin, von dem man eigentlich erwarten konnte, dass er in einer solchen Situation die Befehlsgewalt für sich beanspruchte, hielt sich wie die anderen ein wenig zurück. »Aus dem Weg«, verlangte der Wachmann. »Da du mich so freundlich fragst«, erwiderte Serrah, »sage ich einfach nein.« »Es ist eine offizielle Angelegenheit. Verschwinde.« »Hör mal, ich weiß ja nicht, was das hier soll, aber ...« »Tritt zur Seite, Miststück!« Sie zog das Schwert mit einer raschen, fließenden Bewegung, und alle, die es sahen, zuckten zusammen. Der Mann mit dem Hut schnaufte hörbar. Das kleinere der beiden Kinder, der Junge, weinte leise. »Wenn du deine Nase in Dinge steckst, die dich nichts angehen«, drohte der Wachmann, »dann wird es das Letzte sein, das du getan hast.« Er wagte sich ein Stück weiter vor und rief den anderen zu: »Kommt schon, sie ist doch nur eine verdammte Frau.« Serrah sprang los und schlug nach ihm. Sie zog ihm die Klinge durchs Gesicht und zerschnitt ihm das Fleisch. Der Mann schrie, ließ das Schwert fallen und 282 presste beide Hände auf die klaffende Wunde. Seine blutige Nase kollerte über das Pflaster. »Da, nimm das«, sagte sie mit dämonischem Grinsen. Das Paar und die Kinder keuchten erschrocken und stießen erstickte Rufe aus. Auch die anderen drei Bewaffneten waren erschrocken, doch sie hielten sich tapfer. »Schafft ihn weg«, befahl der Paladin, der jetzt den Befehl übernahm. Der zweite Wachmann zog seinen heulenden Kameraden zur Seite. »Und pass auf sie auf«, fauchte der Paladin. Der Milizionär bemühte sich, die Familie zu bewachen und gleichzeitig den Eindruck zu erwecken, Serrah nicht anzugreifen. Da nun sein Weg frei war, ging der Paladin auf sie los. Ihre Schwerter klirrten laut gegeneinander. Serrah liebte
das Geräusch. Ihre lange aufgestaute Wut brach sich Bahn. Er war gut. Die Schlagfolge, mit der er sie eindeckte, war makellos. Sein klassischer Stil war einerseits beeindruckend, andererseits aber auch eine Schwäche. Die traditionell ausgebildeten Kämpfer, wie es die Paladine gewöhnlich waren, hatten Schwierigkeiten mit Serrahs unberechenbarer Kampfweise. Serrah hatte ebenfalls die traditionelle Ausbildung genossen, doch im Lauf ihrer Arbeit bei der Spezialeinheit des Rates für Innere Sicherheit hatte sie auch die Tricks der Straßenkämpfer gelernt. Es war der Unterschied zwischen dem Kampf, um zu gewinnen, und dem Gewinnen um jeden Preis. Der Paladin führte einen niedrigen Schlag gegen ihre Beine und hoffte sie damit umzuwerfen. Serrah wehrte ab, und der Stich, mit dem sie antwortete, ließ 283 ihn rasch zurückspringen, weil er sonst aufgespießt worden wäre. Sie setzte sofort nach und hackte wie wild auf seine Klinge ein. Er schaffte es, sie in Schach zu halten, allerdings nur gerade eben, und sein überlegener Gesichtsausdruck verflog rasch. Nach wenigen Sekunden hatte Serrah ihren Gegner vom Angriff in die Verteidigung gedrängt, und der nächste Schritt war, ihn möglichst rasch zu erledigen. Doch dann kam ihr ein neues Element in die Quere. Der Milizionär, der den Paladin in der Defensive sah, beschloss, ihm zu helfen. Jetzt musste sie gegen zwei Gegner kämpfen. Die ersten paar Schläge verrieten ihr, dass der Milizionär viel Kraft, aber wenig Erfahrung hatte. Sie konnte ihn leicht abwehren. Einige Augenblicke lang wechselte sie mit beiden Männern abwechselnd die Schläge und konnte sie sich vom Leibe halten. Doch ein Patt wie dieses behagte ihr überhaupt nicht. Mit einigen ausholenden Streichen und tiefen Stichen trieb sie den Paladin ein Stück zurück. Dann wirbelte sie zum zweiten Mann herum und hackte auf ihn ein, und als sie eine genau berechnete Lücke in der Deckung offen ließ, schnappte er gierig nach dem Köder. Sie schlug seine Klinge zur Seite und durchbrach damit seine Abwehr. Mehr als diese Lücke brauchte sie nicht. Ihr Schwert drang tief in seine Brust ein, er strauchelte und stürzte. Als Serrah sich von ihm zurückzog, hatte sie Zeit, einen raschen Blick zu der Familie zu werfen. Die vier hatten sich an die Wand gepresst und beobachteten entsetzt den Kampf. Jetzt griff der Paladin sie wieder an, und nach allem, was er bisher gesehen hatte, kämpfte er nun 284 mit dem Mut der Verzweiflung. Seine Strategie bestand einfach darin, auf sie einzuprügeln, bis sie aufgab, und er war beim Austeilen der Schläge sehr sorglos. Serrah gefiel es. Ein unbeherrschter Gegner war ein Geschenk. Sie fing alles ab, was er auf sie losließ, bis er müde wurde. Als seine Kraft nachließ, setzte sie zum Gegenangriff an. Während sie auf ihn einschlug, beobachtete Serrah die beiden Wachleute. Sie waren ein paar Dutzend Schritte entfernt; der Verwundete saß auf dem Boden und hielt sich die Hände vor das blutende Gesicht. Sein Gefährte kniete neben ihm. Beide starrten Serrah an, die nun zu der Ansicht gelangte, es sei an der Zeit, zu einer Entscheidung zu kommen. Ein Hieb ihrer Klinge öffnete die Abwehr des Paladins, und sie hätte ihm auf der Stelle den Garaus gemacht, hätte der zweite Wachmann nicht ausgerechnet diesen Augenblick gewählt, um sie anzugreifen. Er schwang das Schwert in weiten Bögen und kam auf sie zu. Sie duckte sich unter einem Stich ihres Hauptgegners hinweg und wandte sich dem neuen zu. Gekonnt blockte sie seine herabsausende Klinge mit der Schneide ihres Schwerts ab. So störte sie seinen Rhythmus und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Ein seitlicher Schlag hielt den Paladin auf Distanz. Dann richtete sie wieder die ganze Aufmerksamkeit auf den Wachmann und zielte auf seinen Schwertarm. Zwei Streiche, und sie hatte eine Wunde geschlagen. Der dritte traf ihn voll, riss seinen Unterarm der Länge nach auf und ließ das Blut spritzen. Er schrie vor Schmerzen auf und konnte nicht anders, als seine Faust zu öffnen und die Waffe fallen zu lassen. Sie stieß hart zu und durchbohrte sein Herz. Der 285 Wächter sackte zusammen und stürzte, und sein verletzter Kamerad kroch, eine Hand vor das Gesicht gelegt, rasch zu ihm. Serrah wandte sich wieder dem Paladin zu. Wenn überhaupt, dann kämpfte er jetzt noch verbissener als zuvor und zwang sie sogar, sich ein oder zwei Schritte zurückzuziehen. Sie wehrte seinen Angriff ab und ging ihrerseits zum Angriff über. So wogte der Kampf einige Augenblicke auf der Straße hin und her, und die beiden Gegner fanden sogar teilweise zu ihrer traditionellen Fechtausbildung zurück. Die Schläge und Gegenschläge fielen wie metallischer Regen. Endlich lockte sie den Paladin aus der Deckung, indem sie ihm scheinbar ungeschütztes Fleisch als Ziel bot. Er schluckte den Köder, drang auf sie ein und wollte diese irre, lästige Frau aufschlitzen. Sie aber wich aus, schlug seine Klinge zur Seite und traf seine Brust. Er kreischte, schlug wild nach ihr und fing sich einen zweiten, mit voller Kraft geführten Stoß ein. Ihr Schwert bohrte sich zwischen seine Rippen und zerstörte einen Lungenflügel. Er spuckte rotes Blut, dessen Farbe der seiner Tunika entsprach, und ging auf die Knie, dann kippte er nach vorn. Er lag still, von kleinen Zuckungen abgesehen. Serrah holte tief Luft. Sie blickte zum Wachmann, der seine Nase verloren hatte. Er kauerte neben dem
Gefährten, den sie getötet hatte. Der Mann war schon durch ihren bloßen Anblick vor Schreck erstarrt. Sie ging zu ihm hinüber und ließ das Schwert leicht in der Hand pendeln. Er duckte sich. »Nein!« 286 Der dicke Mann, der den Hut seltsam schief auf dem Kopf hatte, wollte sie aufhalten. Sie hörte auf, das Schwert zu schwenken, und sah ihn an. »Das ist doch nicht nötig«, sagte er aufgeregt. »Er kann uns nichts mehr tun. Lass ihn leben. Bitte.« Die dunkelhaarige Frau nickte zustimmend und hauchte eine Art Bitte, um ihn zu unterstützen. Doch es waren die Gesichter der Kinder, die für Serrah den Ausschlag gaben. Sie bückte sich zu dem zitternden Wächter hinunter und wischte ihr blutiges Schwert an seinem Wams ab. Er zuckte zusammen. Dann richtete sie sich auf, steckte die Waffe in die Scheide und schritt zu den anderen hinüber. Sie sahen sie mit großen Augen an. »Wir müssen hier verschwinden«, sagte der Mann. »Da kommen noch mehr«, ergänzte die Frau, während sie die Kinder eng an sich drückte. Serrah sah sich um. »Habt ihr Vorschläge, wo man hier ein gutes Versteck findet? Ich bin neu in dieser Gegend.« »Ja«, sagte der dicke Mann. »Ich glaube schon. Komm mit. Aber beeil dich!« Er schob sie vor sich her. Erst jetzt fand Serrah die Muße, ihn näher zu betrachten. »Kennen wir uns nicht?« Er verzog gequält das Gesicht. »Könnten wir das bitte später erörtern?« Sie flohen und ließen den zitternden Wachmann und drei Leichen in sich ausbreitenden dunklen Lachen zurück. 287 Und Ihr wollt ganz sicher keinen Wein?«, fragte Karr und bot noch einmal die Flasche an. Reeth schüttelte den Kopf. Der Patrizier beäugte Caldasons bescheiden mit trockenem Brot, Käse und ein paar Weintrauben gefüllten Teller, auf dem der Besitzer wenig begeistert herumstocherte. »Ihr seid ja nicht gerade anspruchsvoll.« »Ich nehme, was ich brauche, und nicht mehr.« Er war in düsterer Stimmung. Kutch, der kräftig zulangte, fragte dagegen: »Kann ich denn etwas davon haben, bitte?« Karr lächelte. »Du scheinst eine Vorliebe für das Zeug zu entwickeln, seit Reeth dich in die Schenke mitgenommen hat. Hier.« Er goss ein wenig Wein in einen Becher und füllte aus einem Wasserkrug nach. Als er ihn anreichte, litt Kutchs dankbarer Gesichtsausdruck ein wenig unter der Enttäuschung über die Verwässerung. Sie aßen schweigend. 289 Der große, stabile Tisch, an dem sie saßen, stand in einer recht geräumigen Küche in einem großen Haus am Rande Valdarrs. Auf einer kleinen Anhöhe und am Ende einer Straße gelegen, hinter der es nur noch offene Felder gab, war es von einer hohen Mauer mit kräftigen Eisentoren umgeben. Es hatte mehrere Ausgänge, und als Caldason es zu Gesicht bekam, nahm er sogleich und völlig richtig an, dass es ausgewählt worden war, weil es sich leicht verteidigen ließ. Gleich nach ihrer Ankunft setzte ein stetiges Kommen und Gehen diskreter Besucher ein. Karr stellte Reeth und Kutch einige Gäste vor, beschränkte sich jedoch gewöhnlich darauf, nur den Namen zu nennen und keine persönlichen Details preiszugeben. Die meisten wurden freilich überhaupt nicht vorgestellt. Einige Personen schienen auch ständig im Haus zu leben und standen dem Herrn als Diener und Leibwächter zur Verfügung. Schließlich legte Karr seufzend sein Messer weg. »Diese Atmosphäre kann einem Mann schon den Appetit verschlagen. Was beschäftigt Euch, Caldason?« »Was glaubt Ihr denn?« »Der Bund.« Er sagte es in dem Tonfall eines Mannes, der eben dies schon viel zu oft gehört hatte. »Es ist schon mehrere Tage her. Und Ihr habt...« »Ich habe es versprochen. Ja, ich weiß. Ich versuche es wirklich, Reeth, Ihr müsst mir glauben. Es ist nicht gerade leicht, mit diesen Leuten Kontakt aufzunehmen, und sie machen auch nicht unbedingt an jeder Ecke für sich Werbung.« »Ihr sagtet, Ihr hättet schon mit ihnen zu tun gehabt.« »Das ist wahr. Wir sind mit ihnen verbündet wie mit jeder anderen Gruppe von Gleichgesinnten. Doch 290 wenn man mit ihnen Verbindung aufnehmen will, so geschieht es immer zu ihren Bedingungen.« »Wie dem auch sei, wir hatten eine Vereinbarung.« »Und ich bemühe mich nach Kräften, meinen Teil einzuhalten. Genau in diesem Augenblick arbeitet jemand daran. Aber um es ganz offen zu sagen, Reeth, ich habe abgesehen von Euch noch einige andere Probleme, um die ich mich kümmern muss. Es sind sogar recht viele, obwohl wir erst einige Tage hier sind.« »Mir kommt es vor, als wäre ich schon viel länger hier«, bemerkte Caldason bissig. Karr hielt es für besser, die Bemerkung zu ignorieren. »Ich habe mich mit Menschen getroffen, die meine Hilfe brauchen, weil ihnen von Regierungsbehörden die Kinder weggenommen oder weil ihre Brüder zu Unrecht abgeurteilt worden sind. Menschen, die sich Krankheiten zugezogen haben, nachdem man sie zur Arbeit in den Bergwerken im Osten gezwungen hat. Menschen, deren Söhne zwangsrekrutiert oder deren Häuser
beschlagnahmt wurden, um Bürokraten aus Gath Tampoor unterzubringen. Um nur ein paar der Probleme zu nennen.« »Bekommt Ihr immer so viele Anfragen?«, fragte Kutch. »Ihre Zahl nimmt zu, je stärker das Imperium die persönlichen Freiheiten beschneidet. Und außerdem«, fügte er hinzu, da er schon einmal in Fahrt war, »haben wir gerade erfahren, dass Ivak Bastorran sich zusammen mit seinem sadistischen Neffen in Bhealfa aufhält. Wir versuchen herauszufinden, ob diese hochrangigen Paladine aus einem bestimmten Grund hier sind und ob es etwas gibt, das wir wissen sollten.« 292 Als die Clans erwähnt wurden, trat ein harter Glanz in Caldasons Augen. »Also gut, dann habt Ihr also mit den Problemen vieler Menschen zu tun'«, räumte er ein, »aber die alltägliche Arbeit könnt Ihr doch sicher Euren Helfern überlassen, oder?« »In einem gewissen Ausmaß ist dies möglich. Doch hin und wieder tritt etwas ein, das den gewöhnlichen Rahmen sprengt. Und wir hatten unlängst nicht nur eine, sondern gleich drei ... eigenartige Begebenheiten. So könnte man es wohl ausdrücken. Ich glaube, mindestens eine davon könnte auch Euch interessieren, Reeth.« »Oh, wirklich?« »Es gibt, wie ich schon sagte, drei Geschichten, und sie sind offenbar miteinander verflochten. Aber ich will versuchen, sie möglichst einfach darzustellen. Das heißt, falls Ihr sie hören wollt.« »Ich will sie hören«, sagte Kutch. Caldason schwieg. »Sie geben ein interessantes Tischgespräch ab.« Karr setzte den in Maßen selbstgefälligen Ausdruck eines Gastgebers auf, der bei Tisch eine gute Geschichte zu erzählen weiß. »Vor kurzem ist ein Mitglied einer vornehmen Familie Gath Tampoors in Merakasa vor seiner Zeit zu Tode gekommen«, erklärte er. »Das Regime gab einem weiblichen Hauptmann einer Spezialeinheit, die vom Rat für Innere Sicherheit unterhalten wird, die Schuld.« »Was sind das für Spezialeinheiten?«, wollte Kutch wissen. »Es sind Einheiten, die wie viele andere Dinge im Reich offiziell überhaupt nicht existieren. Kleine Gruppen von Elitekämpfern, deren Aufgabe darin besteht, 292 Staatsfeinde zu ermorden. Damit sind Abweichler, Revolutionäre, Oppositionsmitglieder oder Banditen gemeint ... wer auch immer so viel Ärger macht, dass es sich lohnt, ihn umzubringen.« Kutch sah den Patrizier schockiert an. »Diese Offizierin«, fuhr Karr fort, »wurde für den Tod des jungen Mannes verantwortlich gemacht. Ein Pflichtversäumnis, so nannte man es wohl. Ob das tatsächlich der Fall war oder ob sie nur der Sündenbock war, wissen wir noch nicht. Der Widerstand in Merakasa hat die Offizierin als potenzielle wichtige Verbündete betrachtet. Nachdem ihre Vorgesetzten sie verraten hatten, dachte man, sie sei womöglich bereit zu reden oder sich sogar den Abweichlern anzuschließen. Also hat man sie aus dem Gefängnis befreit, und dies sogar direkt unter der Nase von Kommissar Laffon. Allerdings mussten sie schwere Verluste hinnehmen.« »Was ist aus der Frau geworden?«, wollte Caldason wissen. »Die Flucht war kaum gelungen, da setzte sich die Frau schon wieder ab und verschwand. Erst jetzt ist sie wieder aufgetaucht, und zwar hier in Valdarr. Doch ihre Geschichte ist nur das erste Drittel, wie ich schon sagte. Die Frau in der nächsten Geschichte könnte unterschiedlicher nicht sein. Sie stammt aus Je-cellam, aber sie ist nicht in Rintarah geboren. Sie hat anscheinend in einem staatlich kontrollierten Bordell als Freudenmädchen gearbeitet.« Kutchs Wangen liefen zart rosa an. Karr kam zum entscheidenden Punkt. »Und jetzt kommt der Teil, den Ihr womöglich interessant findet, Reeth. Sie ist Qalochierin.« 293 Caldason ließ sich wie immer nicht anmerken, was in ihm vorging. »Sie hat irgendwie mit dem Tod von zwei Menschen zu tun«, fuhr Karr fort. »Darunter war ein mittlerer Staatsbeamter. Auch sie ist hier aufgetaucht. Bei ihr waren zwei Kinder, die nicht ihre eigenen sind. Der Widerstand von Rintarah ließ uns wissen, dass die Frau ohne ihre Hilfe entkommen konnte.« »Heißt das etwa, die Widerstandsbewegungen hier und in Rintarah stehen miteinander in Kontakt? Es gibt Verbindungen?« »Nun mach nicht so ein überraschtes Gesicht, Kutch. Der Widerstand ist universell. Er überbrückt unbedeutende politische Differenzen.« Caldason brachte die Unterhaltung wieder auf die richtige Bahn. »Ihr habt uns drei Geschichten versprochen.« »Ja. Die dritte betrifft einen Mann aus Gath Tampoor, der durch seinen Beruf berühmt geworden ist. Er ist ein Pazifist, der insgeheim den Widerstand unterstützt. Als die beiden Frauen hier in Valdarr seinen Weg kreuzten, kam es zu Gewalttaten, und möglicherweise ist damit auch seine Karriere beendet, doch dies muss noch geklärt werden.« »Warum erzählt Ihr uns von diesen Leuten?«, fragte Caldason. »Weil der Untergrund allen dreien Schutz gewährt hat. Verlorene Schafe, die zurück zur Herde geführt werden,
wenn man so will. Es ist möglich, dass Ihr ihnen bald selbst begegnen werdet.« »Warum?« »Es gibt keinen bestimmten Grund dafür. Aber man weiß ja nie, was die Zukunft einem bringt, nicht wahr?« 294 »Hört auf, mich in Eure Pläne hineinzuziehen, Patrizier. Denkt nicht einmal daran. Ihr wisst, was ich gesagt habe, als ...« Ein leises Klopfen unterbrach sie. Der Mann, der eintrat, war einer der vielen Ungenannten, die als Helfer und Wächter im Haus Dienst taten. Er wandte sich an Karr und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Karr nickte und bedankte sich, und der Mann ging leise wieder hinaus. »Nun, Euer Wunsch wird erfüllt, Reeth. Euch wurde anscheinend eine Audienz bei Phönix persönlich gewährt.« »Das wird aber auch Zeit.« »Und er will auch dich sehen, Kutch.« »Mich? Warum denn?« »Das musst du schon Phönix selbst fragen.« »Ich bin nicht sicher, ob der Junge mitkommen soll«, wandte Caldason ein. »Ach, nun hört schon auf, Reeth!«, klagte Kutch und verzog das Gesicht wie ein Kind, das fürchtet, den Nachtisch zu verpassen. »Es könnte gefährlich werden, und ich wäre ohnehin lieber allein.« »Anscheinend handelt es sich um eine Bedingung«, widersprach Karr. »Beide oder gar keiner.« »Welch ein Unsinn.« »Nun, Ihr seid schon so weit gekommen ...« Reeth überlegte. »Also gut. Wann?« »Heute noch. Sie haben schon jemanden geschickt, der Euch abholen soll.« Der Bund hielt Wort. Eine Stunde später traf der Bote ein. Er war klein und knochig, hatte einen ordentlich getrimmten Bart 295 und sprach wenig. Sie sollten ihn Ockley nennen. Er wusste nicht oder wollte nicht sagen, warum Kutch in die Audienz bei Phönix einbezogen werden sollte, und er rückte auch nicht damit heraus, wohin genau sie gingen. Wieder eine Stunde später befanden sie sich am entgegengesetzten Ende der Stadt. In diesem lebhaften Viertel gab es kleine Manufakturen, in denen Kleider, billige Möbel, einfache Zauber und andere alltägliche Bedarfsgüter hergestellt wurden. Ein Marktplatz bediente die Gegend und verstärkte das Verkehrsaufkommen. Scharen von Fußgängern schoben sich um die Wagen und Maultiere herum, die be- und entladen wurden. Händler schleppten Säcke mit Gemüse und Kisten voller Fisch. Wie überall gab es auch hier Männer und Frauen, die Caldason mit Verachtung oder gar mit offener Feindseligkeit betrachteten. Es war nicht ungewöhnlich, dass selbst Kinder die Abneigung teilten und offen zeigten. »Wie lange brauchen wir noch, bis wir da sind, Ockley?«, fragte Caldason. »Es ist nicht mehr weit. Wir haben natürlich einen Umweg gemacht.-« »Können wir nicht etwas schneller gehen?« »Wir tun nichts, was die Aufmerksamkeit auf uns lenken könnte. Ich denke, gerade Ihr müsstet das verstehen.« Reeth und Kutch wurden langsamer und ließen sich ein paar Schritte zurückfallen, um sich leise zu unterhalten. »Ist er nicht ein fröhlicher Zeitgenosse?«, meinte Kutch. 296 »Ich sehe ein, dass wir vorsichtig sein müssen, aber diese endlose Trödelei ist ganz und gar nicht nach meinem Geschmack.« »Ihr mögt Städte ohnehin nicht besonders, nicht wahr?« »Nein, ich mag sie nicht. Sie sind von der Natur abgeschnitten, und das widerspricht der Art und Weise, wie mein Volk die Dinge sieht. Außerdem ist in den Städten die Magie am stärksten konzentriert.« »Ich glaube, genau das ist der Grund dafür, dass ich mich allmählich hier wohl fühle. Aber zwischen Magie und Natur besteht doch kein Gegensatz. Die Magie ist ein Teil der Natur.« »Das will ich nicht in Abrede stellen. Was mir nicht gefällt, ist die Art und Weise, wie sie angewendet wird.« Ein Passant starrte Caldason unhöflich an, der den Blick gelassen erwiderte, bis der Mann wegsah. »Freut Ihr Euch nicht darauf, eine Qalochierin kennen zu lernen? Ich meine die Frau, die der Patrizier erwähnt hat.« »Würdest du dich freuen, einen anderen Zauberlehrling kennen zu lernen?« »Nun, ich würde eher sagen, dass ich neugierig wäre.« »Das entspricht mehr oder weniger meinem Gefühl.« »Aber ich bin gespannt auf Phönix. Ihr auch?« Caldason antwortete nicht. Sie gingen schweigend weiter und starrten Ockleys Rücken an. Dann blieb ihr Führer abrupt vor einem Holzgebäude stehen, dessen Seiten wand mit Flugblättern beklebt war. 297
»Was ist das?«, fragte Reeth, als sie ihn eingeholt hatten. Ockley nickte in Richtung der Plakate, die Veranstaltungen ankündigten, bestimmte Anliegen unterstützten oder bekämpften oder nach verlorenen Dingen und Menschen suchten. Die Zettel waren in vielen Schichten übereinander geklebt, die älteren Zettel schälten sich ab und waren teilweise verunstaltet. Auf einem der neueren Plakate, das noch glatt und unbeschädigt war, konnte man lesen: GESUCHT REETH CALDASON SCHWERVERBRECHER. VERRÄTER. FLÜCHTIGER GESETZLOSER. EINE GROSSZÜGIGE BELOHNUNG WIRD AUSGESETZT FÜR DIE ERGREIFUNG DES QALOCHIERS REETH CALDASON, DER ALS MÖRDER, AUFWIEGLER UND FRIEDENSSTÖRER GESUCHT WIRD. ES IST DIE PFLICHT EINES IEDEN BÜRGERS, DER CALDASONS AUFENTHALTSORT KENNT ODER ETWAS ÜBER SEINE AKTIVITÄTEN WEISS, UNVERZÜGLICH DEN BEHÖRDEN MELDUNG ZU MACHEN. WARNUNG WER DEN FLÜCHTIGEN WISSENTLICH AUFNIMMT, MUSS MIT BESTRAFUNG ENTSPRECHEND DEN GESETZLICHEN BESTIMMUNGEN RECHNEN. MAN SETZE SICH IM ZWEIFEL SOFORT MIT DER ÖRTLICHEN WACHSTUBE ODER DER GARNISON DER PALADINE IN VERBINDUNG. ERLASSEN DURCH KÖNIGLICHE PROKLAMATION. 298 Darunter war eine durch Zauber bewirkte, dreidimensionale Darstellung Caldasons zu sehen. Das Bild zeigte allerdings jemanden, der älter und schwerer war und einen Vollbart hatte. »Das sieht Euch aber überhaupt nicht ähnlich«, rief Kutch. Caldason brachte ihn zum Schweigen. »Es gibt nicht viele Fahndungsbilder, die mir ähnlich sind. Vielleicht weil es mir gelungen ist, brauchbare Aufnahmen von meinem wahren Aussehen gar nicht erst entstehen zu lassen. Diese Bilder sind nicht mehr als eine Annäherung.« »Es ist unwahrscheinlich, dass man Euch nach diesem Bild identifiziert«, stimmte Ockley zu. »Aber der Zettel ist frisch geklebt, und das bestätigt mich darin, dass wir uns vorsichtig bewegen müssen.« Kutch kratzte mit den Fingernägeln an der oberen Kante des Plakats herum und wollte es offenbar abreißen. »Lass es hängen«, sagte Caldason. »Es ist sowieso nicht das Einzige.« »Kommt jetzt«, drängte Ockley kurz angebunden. Jawohl, Herr, hauchte Kutch mit saurer Miene wortlos hinter seinem Rücken. Sie nahmen ihre Wanderung wieder auf. Ockley bestand darauf, dass sie auch weiterhin Umwege machten. So kamen sie durch die belebten Stadtviertel, durch Straßen, an denen Händler ihre Stände aufgebaut hatten, und nahmen lärmende, gepflasterte Nebenwege. Schließlich erreichten sie eine schmale Straße, wo die oberen Stockwerke der Gebäude hervorsprangen. Darunter am Boden zog sich ein offener Abwasserkanal dahin. 299 Aus einem Fenster über ihnen kippte jemand einen Eimer Schmutzwasser aus, das sie nur knapp verfehlte. Lautes Lachen und verächtliches Johlen hallte ihnen entgegen. Eine Gruppe Betrunkener taumelte aus einem Gasthof. Einer torkelte einige Schritte voran, um sich an einer Hauswand zu erleichtern. Die anderen deckten Caldason und seine Begleiter mit Verwünschungen ein, wobei die meisten Beleidigungen auf seine Abstammung zielten. Er blieb stehen und starrte sie an. Die Rufe nahmen an Lautstärke und Verächtlichkeit zu. »Kommt schon.« Ockley schniefte wie eine zimperliche Schulvorsteherin. »Ignoriert sie.« Caldason rührte sich nicht. Die beiden lautesten Betrunkenen standen ein Stückchen vor den anderen. Dem Äußeren nach lagen Welten zwischen ihnen. Der eine war ein Wiesel mit unsteten Augen und schlechter Haut. Der andere hatte einen Kopf wie eine Melone und einen Körperbau wie ein Berg. Doch er war muskulös und nicht fett. Mehrere Passanten blieben neugierig stehen. »Wir können kein Aufsehen gebrauchen«, zischte Ockley. »Qalochischer Abschaum«, rief das Wieselgesicht. Sein großer Freund zielte mit dem Finger auf Kutch. »Dein Strichjunge, was?« Er bückte sich und deutete auf seinen gewaltigen Hintern. Die Betrunkenen grölten. Caldason trat auf die Straße. »Reeth!«, flehte Kutch. »Lasst sie, es ist doch nicht wichtig.« Caldason hörte nicht auf den Jungen, sondern ging langsam zur Meute hinüber. Begleitet von Pfiffen und 300 aufmunternden Rufen ihrer Kumpane, kamen das Wiesel und der Berg ihm entgegen. Auf dem Gehweg vor dem Gasthof trafen sie aufeinander. Die anderen Betrunkenen schienen zufrieden damit, einfach zuzusehen und ihren Spott beizusteuern. Das Wiesel, ein drahtiger und offenbar im Straßenkampf erfahrener Mann, übernahm die Führung. »Na, du Abschaum, hast du uns etwas zu sagen?« Caldason lächelte ihn freundlich an. »Nichts, was du zu begreifen imstande wärst, mein Freund.« »Ach, ja? Also, du bist nicht mein Freund. Du bist ein verdammter qalochischer Bastard. Hast du das kapiert?«
»Oh, aber es gibt einen Unterschied zwischen dir und mir. Ich bin stolz darauf, ein Qalochier zu sein, und das möchte ich um keinen Preis ändern, selbst wenn ich könnte. Du dagegen kannst gegen den gebrochenen Unterkiefer nichts machen, selbst wenn du wolltest.« Das Wieselgesicht sah ihn verwirrt an. »Welcher gebrochene Unterkiefer?« Reeths linke Hand schoss vor und packte die Kehle des Mannes. Ein kräftiger Ruck, und das Gesicht kam der fliegenden rechten Faust des Qalochiers entgegen. Es gab ein vernehmliches Knacken. Wiesel schnaubte schmerzvoll, presste die Hände ans Kinn und verdrehte gequält die Augen. »Der da«, meinte Caldason. Es war so schnell gegangen, dass niemand Zeit gehabt hatte zu reagieren. Die anderen Betrunkenen verstummten und verzogen die Gesichter. Das Wiesel sank stöhnend auf die Knie. 301 Der Berg blickte auf seinen geschlagenen Kumpan hinab, dann sah er Galdason an. Wut glomm in seinen stumpfen Augen. »Das wirst du noch bedauern, du qalochischer Drecksack«, grollte er. Caldason lächelte freundlich wie zuvor. »Zeig's mir, du Quarktasche.-« Der Berg kochte. Die Adern auf seinem Stiernacken traten hervor wie Ankertaue. »Mach dich lieber darauf gefasst, dass du gleich deine hübschen Schwerter brauchst, kleiner Mann. Nicht, dass sie dir viel nützen werden.« Er ballte die Hände zu findlingsgroßen Fäusten. »Ich glaube nicht, dass ich sie brauchen werde. Nicht bei einem wie dir, der mir weit unterlegen ist.« Der Riese rastete aus. Er brüllte und torkelte, die Fäuste schwingend, auf Reeth zu. Reeth wich ihm gewandt aus, drehte sich schnell um und versetzte dem Berg von einem Mann einen Schlag mit beiden Fäusten zugleich in die Seite. Es fühlte sich an, als hätte er Granit getroffen. Der Gegner schien eher gereizt als verletzt. Caldason duckte sich, als eine riesige Faust geflogen kam. Er tauchte darunter hinweg und ging nahe heran, um den Bauch des Mannes mit einer Serie von harten, wuchtigen Schlägen einzudecken. Sie hatten eine etwas stärkere Wirkung, doch viel kam nicht dabei heraus. Der Fleischberg ging auf ihn los, baumstammdicke Arme wurden ausgebreitet und suchten den Gegner zu umarmen und zu erdrücken. Reeth wich rasch zurück und entkam. Doch der Berg bewegte sich schneller, als Reeth es für möglich gehalten hätte, und ließ einen weiteren Schlag los, der dieses Mal auch traf. Die Faust 302 rutschte seitlich von Caldasons Kopf ab, und er hatte Glück, den Schlag nicht frontal abbekommen zu haben. Schon der halb verfehlte Schlag reichte beinahe aus, um ihn zu Boden zu zwingen. Er ging sofort zum Gegenangriff über. Er zielte hoch und verpasste dem Mann einige Schläge aufs Kinn. Rechte Faust, linke Faust, dann wieder die rechte. Der Berg taumelte, blinzelte mit wässrigen Augen und torkelte unsicher. Seine Deckung war lächerlich. Caldason bückte sich, schlug darunter hindurch und bearbeitete erneut den Magen des Mannes. Dann zog er sich rasch zurück und entging einem Gegenangriff. Eine schnelle Bewegung, die er aus dem Augenwinkel wahrnahm, ließ Reeth herumfahren. Das Wiesel griff noch einmal an; die Wut half ihm anscheinend, die Schmerzen im Kinn zu überwinden. Er kam mit gesenktem Kopf, hielt das verletzte Kinn unten und bot Reeth ein möglichst kleines Ziel. Reeth sprang zur Seite, außer Reichweite des Bergs, und brachte ihn damit im rechten Winkel auf Kollisionskurs mit seinem anstürmenden Kumpan. Nachdem Wieselgesicht plötzlich das Ziel verloren hatte, konnte er nicht mehr rechtzeitig bremsen und wäre einfach vorbeigelaufen, hätte Reeth ihm nicht von der Seite einen wuchtigen Schlag auf den Kopf versetzt. Wieselgesicht überschlug sich, alle viere von sich gestreckt. Mit einem lauten Krachen, bei dem weitere Knochen brachen, landete er auf dem Boden, rutschte noch ein Stück und blieb bewusstlos liegen. Wütend setzte der Berg nach. Reeth wich einem Schwinger aus, der ihn sicherlich zu Boden gestreckt hätte. Seine Antwort bestand darin, sich um sich 303 selbst zu drehen und dem Gegner zwei Tritte in die Kniekehle zu versetzen. Jetzt hatte der Berg echte Schmerzen, und er verlor das Gleichgewicht. Caldason wollte den Kampf rasch zu Ende bringen, doch der Mann fing sich und blieb störrisch stehen. Gleich darauf ging er sogar wieder zum Angriff über. Caldason wich aus und bemerkte einen Holzeimer auf dem Gehweg. Er war mit Erde gefüllt und beherbergte einige vernachlässigte Topfblumen. Caldason tauchte unter einem Schwinger des Bergs hindurch und packte den Eimergriff. Der Eimer war erfreulich schwer. Er schwang ihn mit aller Kraft in einem weiten Bogen herum und traf den Kopf des anrückenden Mannes. Als der Eimer mit einem satten Knall einschlug, zuckten die Zuschauer zusammen und schnauften vernehmlich. Der Berg schwankte. Reeth schwang den Eimer noch einmal, dann noch einmal. Erde und Blüten flogen umher. Mit glasigen Augen tappte der Berg noch ein oder zwei Schritte weiter, bevor er niederging wie eine gefällte Eiche. Caldason warf den Eimer weg und blickte zu den anderen Trunkenbolden vor der Schenke hinüber. Sie sahen ihn entsetzt an. »Der Nächste!«, knurrte er. Volle zwei Sekunden starrten sie ihn wie betäubt an, dann flohen sie, ließen die gefallenen Kameraden zurück und verstreuten sich in alle Winde.
Kutch und Ockley liefen zu Reeth und schoben ihn eilig vorwärts. »Diese Art von Aufmerksamkeit können wir wirklich nicht gebrauchen«, klagte Ockley. 304 »Ich weiche vor niemandem zurück«, erklärte Caldason. In seiner Stimme lag etwas, das keine Widerrede duldete. Ockley bugsierte Reeth und Kutch wieder durch die Nebenstraßen von Valdarr. Sie brauchten eine weitere halbe Stunde, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Caldason nahm an, dass sie es erheblich schneller hätten schaffen können, doch Ockley wählte noch großzügigere Umwege als zuvor. Der Mann vom Bund schwieg zwar, war aber offensichtlich wütend über Caldasons Einlage. Caldason hingegen wurde zunehmend ungeduldiger. Endlich deutete Ockley diskret auf ein bestimmtes Gebäude. Es war ein großes Lagerhaus, das offenbar nicht mehr in Betrieb war. Die Fenster waren verrammelt und die Türen vernagelt. Der Bau wirkte vernachlässigt. Um etwaigen Beobachtern zu entgehen, betraten sie eine Gasse, die hinter das Lagerhaus führte. Wenn überhaupt, dann war diese Seite noch stärker verfallen als die Vorderfront. Holz und Schutt lag in Haufen herum, und das Unkraut gedieh. Auch hier waren die Türen und Fenster vernagelt. »Ist dies hier das Hauptquartier des Bundes?«, fragte Kutch ungläubig. »Nur für heute«, erklärte Ockley ihm. Er schlich zu einer Tür und klopfte eine Reihe von Signalen. Zunächst geschah nichts, dann wurde die Tür einen Spalt weit geöffnet und schließlich ganz aufgezogen. Drinnen schien sich mehr als eine Person aufzuhalten, doch es war zu dunkel, um Genaueres sehen zu können. »Kommt jetzt«, befahl Ockley. »Schnell.« 305 Caldason zögerte einen Herzschlag lang und warf einen Blick zu Kutch. Die Hand auf den Schwertgriff gelegt, trat er ein. Kutch und Ockley folgten ihm. Diejenigen, die sie eingelassen hatten, sagten kein Wort. Die Tür wurde zugeworfen und gesichert. Einen Augenblick lang standen sie in völliger Dunkelheit. Dann ging überall das Licht an. Hoch über ihren Köpfen flammten runde Leuchtzauber auf und strahlten helles, starkes Licht ab. Reeth und Kutch sahen sich blinzelnd um. Abgesehen von Ockley waren noch ein halbes Dutzend weitere Menschen im Raum, die sich in einem weiten Halbkreis aufgebaut hatten. Sie waren in einfache graue Gewänder gekleidet und trugen Masken, die alles außer den Augen bedeckten, waren aber offenbar nicht bewaffnet. Keiner von ihnen sagte etwas oder bewegte sich. Der Raum war riesig, voller Staub und mit zahlreichen Spinnennetzen dekoriert. Abgesehen von einigen leeren Kisten und harmlosem Müll war er völlig leer und gab keinerlei Hinweise auf die Geschäfte, die hier früher getätigt worden waren. Es roch nach Staub, Schimmel und Verfall. »Hier entlang«, sagte Ockley und führte sie zu einer Tür, die in die gegenüberliegende Wand eingelassen war. Die sechs maskierten Wächter blieben, wo sie waren. Jenseits der Tür gab es eine schmale Holztreppe, die von oben her schwach beleuchtet war. Angetrieben von Ockley, stiegen Reeth und Kutch die knarzenden Stufen hinauf. Nach zwei Absätzen erreichten sie einen türlosen Ausgang, hinter dem ein weiterer Raum lag, kleiner 306 als der untere und ebenfalls mit magischen Mitteln beleuchtet. Im Gegensatz zu den anderen Räumen, die sie gesehen hatten, war dieser allerdings sauber. Die Bodenbretter waren erst vor kurzem geschrubbt worden, und in der Mitte standen ein Tisch und mehrere nicht zusammenpassende Stühle. Der süße Duft von Weihrauch zog durch den Raum. »Was jetzt?«, fragte Caldason. »Bitte macht es Euch bequem«, erwiderte Ockley. »Phönix wird gleich bei Euch sein.« Er nickte in Richtung einer Tür, die sie bisher nicht bemerkt hatten. Nur ihr Umriss hob sich schwach von der Wand ab, und sie hatte keinen Griff. Caldason wollte eine weitere Frage stellen, doch als er sich umdrehte, sah er, dass Ockley schon verschwunden war. »Wahrscheinlich ist er froh, uns los zu sein«, meinte Kutch. Doch seine Stimme klang ein wenig beunruhigt. »Das Gefühl beruht auf Gegenseitigkeit.« Sie betraten den Raum, Caldason sah sich misstrauisch um und begutachtete jede schäbige Einzelheit. Er ging zu der beinahe unsichtbaren Tür und stieß dagegen, doch sie gab nicht nach. Sie schloss mit der Wand glatt ab, und so bekam er auch keinen Ansatzpunkt, um sie aufzuziehen. Er gab auf und gesellte sich zu Kutch, der schon am Tisch saß. »Ich kann nicht glauben, dass ich gleich Phönix begegnen werde«, vertraute ihm der Junge mit leiser Stimme an. »Er ist auch nur ein Mann.« »Na ja, aber doch ein sehr außergewöhnlicher, wenn man all den Geschichten glauben kann.« 307 »Vergiss nicht, dass du auch über mich eine Menge Geschichten gehört hast.« Kutch lächelte. »Nachdem ich Euch in Aktion gesehen habe, scheinen sie nicht einmal weit hergeholt.«
»Was sagen denn diese Geschichten über ihn?« »Sie sind nicht frei von Widersprüchen, um die Wahrheit zu sagen. Aber alle stimmen darin überein, dass er ein großer Magier und sehr alt sei. Und dass er in gewisser Weise dem Tod zu trotzen wisse oder, geheimnisvoller ausgedrückt, nicht getötet werden könne.« »Ach, ja«, machte Caldason nachdenklich. Kutch entging dieser gedankenverlorene Moment, und er fuhr fort. »Er soll sehr weise sein, aber das kann man wohl auch von jemandem erwarten, der sehr alt ist.« »Darauf würde ich mich nicht verlassen. Meiner Erfahrung nach ist das keineswegs immer der Fall.« »Nun ja, ich will es jedenfalls unbedingt herausfinden. Hoffentlich lässt er uns nicht zu lange warten.« »Ich denke, dein Wunsch geht in diesem Augenblick in Erfüllung.« Die Tür wurde geöffnet. Langsam, Zentimeter um Zentimeter. Auf der anderen Seite war es dunkel. Sie konnten im Schatten eine Gestalt ausmachen, aber keine Einzelheiten erkennen. Das Einzige, das sie mit Sicherheit sagen konnten, war, dass die Gestalt überraschend klein war. Sie trat vor ins Licht, und was immer die Besucher erwartet hatten, es sollte anders kommen. Vor ihnen stand ein Kind - ein etwa zehn Jahre altes Mädchen. Sie war mager, ihre Arme und Beine waren fast wie Stöcke. Das Haar trug sie zu zwei Rat308 tenschwänzen zusammengebunden, ihre Augen waren himmelblau, und sie hatte lange blonde Wimpern. Ihre Kleidung bestand aus einem weißen Kleid, das mit winzigen Blumen bestickt war, und glänzenden schwarzen Schnallenschuhen. Sie war keinesfalls hübsch zu nennen, und ihr Aussehen wurde durch den finsteren Ausdruck ihres sommersprossigen Gesichts keinesfalls gemildert. Kutch starrte sie an. Caldason wurde wütend. »Was hat das zu bedeuten? Schon wieder ein Trick? Weitere Verzögerungen?« »Das ist ein recht unhöfliches Benehmen für einen Gast«, antwortete das Mädchen. Ihre Stimme klang ein wenig schrill; sie sprach in einer Art Singsang, und sie schien verärgert. »Besonders nachdem Phönix so freundlich war, Euch eine Audienz zu gewähren.« »Soll das ein Witz sein?« »Reeth«, murmelte Kutch. »Ich glaube ...« »Und Phönix ist auch nicht glücklich darüber, dass Ihr Euch auf der Straße geprügelt habt wie irgendein gewöhnlicher Kneipenschläger«, fuhr das Kind fort. »Zumal man Euch eingeschärft hat, auf dem Weg hierher vorsichtig zu sein.« »Zum Teufel mit Phönix und seinen Meinungen. Ich bin nicht hergekommen, um mir Vorträge von einem Kind anzuhören.« »Äh ... Reeth«, sagte Kutch, »vielleicht solltet Ihr ...« Caldason hörte nicht auf ihn. »Ich dachte, wir sollten uns hier mit dem Anführer dieser ... dieser Sekte treffen. Wenn ich darauf aus gewesen wäre, mich von einem Kind beleidigen zu lassen, dann wäre ich in einen Kindergarten gegangen und hätte mir diesen Unsinn hier erspart.« 309 »Ihr seid kein besonders freundlicher Mann«, erklärte das Kind verstimmt. »Wir sind hier, um Phönix zu sprechen«, erklärte Caldason trügerisch ruhig. »Wir sind auf seine Einladung hin gekommen. Ich weiß nicht, wer du bist, kleines Mädchen. Vielleicht bist du ja seine Enkeltochter. Jedenfalls wäre es nett, wenn du zu ihm laufen und ihn holen könntest.« »Ihr wollt Phönix sprechen?« »Ja.« »Jetzt sofort?« »Ja«, sagte er zähneknirschend. »Sonst gehen wir.« »Also gut.« Auf einmal schenkte sie ihm ein Lächeln. Es war einem kindlichen Grinsen so unähnlich und wirkte so abnormal, dass die beiden Gäste übereinstimmend dachten, das finstere Starren sei ihnen sogar noch lieber gewesen. Und dann geschah etwas mit dem Mädchen. Etwas Eigenartiges. Reeth und Kutch sahen staunend zu, was sich vor ihren Augen abspielte. 320 Das Mädchen verwandelte sich vor ihren Augen. Ihr Gesicht schien zu schmelzen und sich aufzulösen. Ein Dunstschleier hüllte sie ein gleich Hitzewellen in der Luft, und Lichteffekte spielten um sie. Der wirbelnde Nebel und die blitzenden Lichter verdichteten sich, bis Reeth und Kutch nichts mehr sehen konnten. Als das Licht erlosch, löste sich auch der Dunst auf. Zuerst konnten sie einen Umriss sehen, einen Haufen von etwas, das Fleisch sein mochte, welches pulsierend auf dem Boden lag. Dann erkannten sie eine kauernde Gestalt, die sich auf ähnliche Weise schüttelte wie ein Hund, der aus dem Wasser kommt. Die Gestalt richtete sich auf und war nun viel größer als das Kind. Die Gesichtszüge verfestigten sich. Ein sehr alter Mann stand vor ihnen. Er hatte einen weißen Bart und lange Gliedmaßen. Unzählige Falten durchzogen sein wettergegerbtes Gesicht. Er trug ein dunkelblaues knöchellanges Gewand mit silbernen Borten. 311
Caldason hatte sein Schwert halb gezogen. »Was, zum Teufel ...« »Nein, Reeth, wartet!«, rief Kutch. »Ich glaube ... ich glaube, es ist alles in Ordnung.« »Hört auf ihn, Qalochier«, sagte der alte Mann. »Hier besteht keine Gefahr für Euch.« Seine Stimme war wie gereifter Rum mit warmem Honig. Er reckte sich, ballte die Hände zu Fäusten und nahm die Schultern zurück wie ein Mann, der gerade aufgewacht ist. Reeth schob das Schwert in die Scheide zurück. »Dann seid Ihr also Phönix.« »Der bin ich. Verzeiht mir mein kleines Täuschungsmanöver.« »Ich bin nicht in der Stimmung für solche Scherze, Zauberer.« »Es war kein Scherz«, gab der alte Mann kühl zurück. »Wollt Ihr dieses Spiel etwa Ernst nennen?« »Meine Absicht ist todernst. Es geht darum, der Gefangennahme oder Schlimmerem durch die Hände unserer Feinde zu entgehen. Eine Aufgabe, mit der Ihr, wie ich glaube, auch selbst gut vertraut seid. Mein Äußeres ist dem Staat bekannt, weshalb eine Maske vonnöten ist.« »Eine eigenartige Verkleidung.« »Aber äußerst wirkungsvoll. Außerdem hat sie den Vorzug, mich zu amüsieren.« »Wie habt Ihr das überhaupt gemacht?«, platzte Kutch heraus. »Ah, der Zauberlehrling.« Mit festem Blick betrachtete der Alte den Jungen. »Ich glaube, das könntest du ebenso gut erklären wie ich.« 312 Überrascht und ein wenig überwältigt stammelte Kutch: »Ich?« »Nun, versuch es doch einfach.« »Nun, Herr Magier ... Meister ... ich kann mir vorstellen, dass der Spruch, den Ihr verwendet habt, Euch nicht wirklich auf die Größe eines Kindes verkleinert hat. Er hat Euch ... unsichtbar gemacht, und das Bild des Kindes hat Euren Platz eingenommen. Es ist im Grunde ... äh ... eine Illusion, wie es auf einer gewissen Ebene ja jegliche Magie ist. Doch eine ... äh ... es war eine komplizierte, beeindruckende Illusion. Ein höchst außergewöhnlicher Zauber, Herr.« Kutch lächelte unsicher, nachdem er seine Erklärung angeboten hatte. Phönix lächelte und entblößte unerwartet weiße, gleichmäßige Zähne. »Ausgezeichnet. Falsch in allen wichtigen Punkten, aber hervorragend, was die Erfindungsgabe angeht.« Kutchs Gesicht verriet seine Enttäuschung. »Es gibt jederzeit Neues zu lernen, mein Junge«, fügte Phönix nicht mehr ganz so schroff hinzu. Er wandte sich an Caldason. »Nun gut, dies hat einen unglücklichen Auftakt genommen, und so hätte es eigentlich nicht kommen sollen. Ich weiß, dass Ihr Hilfe für eine ernste Krankheit sucht, und ...« »Was wisst Ihr schon davon.« Phönix war nicht erbaut über Caldasons barsche Antwort und wurde auch selbst wieder spröder. »Soll ich über Eure Symptome spekulieren? Mal sehen. Ihr habt Anfälle von Gewalttätigkeit, die für andere gefährlich sind, und wenn man Euch nicht bremst, dann kämpft Ihr wie ein Berserker. Ihr hört Stimmen. Wenn Ihr verwundet seid, dann heilen die Verletzun313 gen bemerkenswert schnell ... Reicht das für den Anfang?« »Ihr scheint erheblich besser informiert zu sein als ich. Aber ich höre keine Stimmen.« »Oh, haben die Stimmen sich noch nicht erhoben? Lasst ihnen nur ein wenig Zeit.« »Wollt Ihr Euch über mich lustig machen?« »Aber nein, Caldason. Ich will Euch nicht provozieren, und ich will mich nicht über Euch lustig machen. Ich sage nur, dass uns Euer Zustand oder etwas sehr Ähnliches nicht völlig unbekannt ist.« Caldason fasste Hoffnung, die sich auf seinem sonst so schwer durchschaubaren Gesicht abzeichnete. »Wirklich?« »Einen Mann, der eine solche Last trägt wie Ihr, würde ich doch nicht anlügen.« »Könnt Ihr mir helfen?« Phönix seufzte. »Vielleicht. Aber bevor wir darüber sprechen ... es wäre gut, wenn Ihr das, was geschehen wird, nicht falsch deuten würdet.« »Was meint Ihr damit?« »Kommt herein!«, rief Phönix. Zwei Männer betraten den Raum. Einer war ein Fremder, kräftig gebaut und etwa dreißig Jahre alt, bis auf einen Schnurrbart glatt rasiert und bewaffnet. Der Zweite war Dulian Karr. Kutch wich erschrocken zurück. Caldason starrte misstrauisch. »Was soll das, Karr? Was macht Ihr hier?« »Verzeiht mir, Reeth. Aber bitte, hört Euch an, was wir zu sagen haben.« »Dies sollte eine vertrauliche Unterredung sein. Jetzt läuft halb Valdarr hier herum. Was habt Ihr mir 314 nun zu sagen, das Ihr nicht vorher anvertrauen konntet?« »Eine Menge, wie Ihr gleich sehen werdet. Hier kann ich es mit größerer Autorität sagen. Ihr seid jetzt Phönix begegnet.« Er drehte sich zu dem Fremden um. »Dies ist Quinn Disgleirio, der die Bruderschaft der Gerechten
Klinge vertritt. Ein Mann, dem man vertrauen kann.« Disgleirio nickte. »Und ich hoffe, Ihr wisst inzwischen, dass Ihr mir trauen könnt, Reeth«, fuhr Karr fort, »und ebenso jenen, mit denen ich Euch in Verbindung gebracht habe.« Er machte eine Geste zu Phönix und Disgleirio. »Ihr seht hier ein Bündnis von drei Partnern. Eine Verbindung von abweichlerischen Magiern, von Kriegern und politischen Kräften.« »Ist mir eine Ehre«, gab Caldason sarkastisch zurück. »Das will ich doch meinen. Falls es Euch gelingt, Euren Zorn zu zügeln und nicht gleich hinauszustürmen, werdet Ihr Dinge erfahren, die nur wenigen anderen je zu Ohren gekommen sind. Wir haben die Absicht, großes Vertrauen in Euch zu setzen, Reeth. Es ist an der Zeit, dass wir völlig offen miteinander sind.« »Ihr unterstellt, dass ich an Euren Plänen überhaupt interessiert bin.« Disgleirio antwortete ihm dieses Mal. »Wir bieten Euch Hoffnung, Mann. Ihr habt lange und mühevoll nach einer Lösung für Eure Probleme gesucht, und jetzt ist die Lösung in Reichweite. Ihr solltet nicht einfach daran vorbeigehen, sondern uns anhören.« »Und wenn mir nicht gefällt, was Ihr sagt?« »Einiges davon wird Euch sicher nicht gefallen«, erklärte Karr. »Aber wenn Ihr uns angehört habt und 315 danach immer noch nicht den nächsten Schritt tun wollt, dann werden sich unsere Wege trennen. Wir sind schon zufrieden damit, Euch unsere Geheimnisse anzuvertrauen, und wir werden Euch keine Steine in den Weg legen.« Caldason dachte über das Angebot nach. »Ich werde Euch anhören. Aber ich brauche keinen Debattierclub. Fasst Euch kurz.« Rundum war erleichtertes Lächeln zu sehen. Auf Phönix' Einladung begaben sie sich zum Tisch und setzten sich. »Ich danke Euch, Reeth«, sagte Karr. »Ihr habt von Phönix gehört, dass er vielleicht eine Lösung für Euer Problem weiß. Ich schlage vor, wir beginnen damit.« Der Magier richtete seinen ruhigen Blick auf Reeth. »Der Patrizier hat von Aufrichtigkeit gesprochen, Caldason.« Er nickte Kutch zu. »Denkt Ihr, dieser Bursche soll die Wahrheit über Euer Leiden erfahren? Er hat treu zu Euch gestanden, und wir anderen wollen das Gleiche tun. Also klärt uns auf.« »Es gibt einige Aspekte, die ... die für manche Menschen beunruhigend sind.« »Nicht für uns«, versicherte Karr ihm. »Ich weiß auch nicht, was hier los ist, Reeth«, fügte Kutch leise hinzu, »aber ich bin sicher, dass Ihr unter Freunden seid.« Caldason betrachtete der Reihe nach die Gesichter, sagte aber nichts. »Ich behaupte nicht, Euren Zustand genau zu kennen«, erklärte Phönix. »Der Patrizier hat mir von Euren Anfällen erzählt.« »Ich wusste es schon, als wir bei den Kommunarden waren, Reeth«, räumte Karr ein. »Ihr wurdet ge316 sehen. Wie hättet Ihr auch hoffen können, unbemerkt zu bleiben?« »Alles andere hat sich dann von selbst ergeben«, fuhr Phönix fort, »als ich in den Aufzeichnungen nach Fällen gesucht habe, die Euren Symptomen entsprechen. Solche Fälle sind sehr selten, doch mit etwas Sorgfalt kann man sie finden.« Er hielt inne und dachte über seine nächsten Worte nach. »Es heißt, ich könne dem Tod trotzen. Das ist nicht wahr.« Einen kleinen Augenblick lang war wieder sein Grinsen zu sehen. »Vielleicht wird dies nicht einmal Melyobar gelingen. Ich muss gestehen, dass ich den Geschichten über meine Langlebigkeit nicht widersprochen habe. Sie sind von Wert für den Eindruck, den der Bund hinterlässt. Doch wie sieht es mit der Dauer Eures eigenen Lebens aus, Caldason? Gäbe es nicht auch eine gewisse Berechtigung, über Euch ganz ähnliche Geschichten zu erzählen?« »Wie Ihr schon sagtet, verheilen meine Wunden schnell. Gebrochene Knochen fügen sich zusammen, ich werde niemals krank.« »Nie?« »Ich bin mitten durch den Ausbruch der schwarzen Pocken in Shalma und durch den Ausbruch der Knochenfäule in Deeve gewandert. Auch andere Seuchen konnten mir zu anderen Zeiten nichts anhaben.« Kutch starrte ihn staunend und mit einer gewissen Ehrfurcht an. »Heißt das, Ihr seid unsterblich?«, flüsterte er. »Nein. Ich würde eher sagen, dass ich äußerst widerstandsfähig bin. Unverwundbar bin ich nicht. Es scheint eine Grenze zu geben. Ich kann mir beispielsweise vorstellen, dass abgetrennte Gliedmaßen nach317 wachsen würden. Wenn aber jemand mein Herz durchbohrt oder meinen Kopf abschlägt, dann muss ich wohl sterben. Andererseits wurde ich einmal vergiftet und habe überlebt.« »Wer hat Euch das Gift gegeben?« »Ich selbst.« Stille herrschte, während die Anwesenden die Eröffnung verdauten. Phönix brach das Schweigen. »Altert Ihr?« »Unmerklich. Meine äußere Erscheinung hat sich im Lauf der Jahre kaum verändert.« »Wie lange seid Ihr schon so wie jetzt?« »Seit dem letzten großen Massaker an meinem Volk am Keskall-Pass.« Karr konnte sein Erstaunen nicht verbergen. »Aber das ist siebzig Jahre her!«
»Zweiundsiebzig«, berichtigte ihn Reeth. »Damit seid Ihr älter als mein Meister im Augenblick seines Todes. Dennoch seht Ihr ...« Kutch brach mitten im Satz ab. »Ich weiß.« »Ist es eine Art Fluch?« »Es fühlt sich gewiss so an, als wäre es einer. Aber ich glaube, es ist kein Fluch von der Art, wie du es dir vorstellst, Kutch.« »Jetzt verstehe ich auch, was Ihr damit meintet, dass Eure Freunde auf andere Weise als durch Gewalt sterben.« »Ich habe schon zu viele altern und aus der Welt scheiden sehen. Ich bin nicht erpicht darauf, diese Erfahrung zu wiederholen.« »Aber was ist nur mit Euch passiert?«, wollte Phönix wissen. »Was ist am Keskall-Pass geschehen?« 328 Caldason verzog schmerzlich das Gesicht. »Ich ... ich weiß es nicht. Irgendwie habe ich das Massaker überlebt, obwohl ich mehrere Verletzungen hatte. Verletzungen, die eigentlich tödlich hätten sein müssen. Irgendjemand hat mir geholfen. Ansonsten weiß ich nicht viel. Meine Erinnerungen sind wirr und ungeordnet und lückenhaft. Nur manchmal in meinen Träumen ... nein, eigentlich sind es keine Träume, sondern eher Visionen oder ...« Er schüttelte den Kopf und brach ab. Er konnte es nicht erklären. »Ist es nicht so, dass die Qaloch über lange Zeit gute Beziehungen zu den Herrschern Bhealfas unterhalten haben?« »Ja. Unsere Unabhängigkeit wurde geachtet, und unsere Grenzen waren unverletzlich. Irgendwie hat sich das verändert.« »Und die Paladine haben die Verträge gebrochen und Euer Volk beinahe ausgerottet.« »Sie waren die Instrumente unseres Untergangs, und dafür wollte ich sie zahlen lassen. Aber trotz ihrer Macht waren sie nicht die Herren. Ich habe bis heute nicht herausgefunden, wer die Qaloch für eine so große Bedrohung hielt, dass er einen Völkermord gegen uns in Gang setzen musste.« Disgleirio hatte bisher meist geschwiegen. Jetzt schaltete er sich ein. »Es war mir eine Ehre, Qalochier als Kameraden in der Schlacht neben mir zu wissen und mit ihnen gemeinsam die Tyrannei der Reiche zu bekämpfen. Sie waren die mutigsten und besten Kämpfer, die ich je erlebt habe.« Caldason dankte ihm mit einem kleinen Nicken und einem winzigen, flüchtigen Lächeln. 329 »Dies sind schwierige Fragen, die wir wahrscheinlich niemals völlig erhellen werden«, verkündete Phönix. »Ich muss es herausfinden«, widersprach Caldason. »Ich verstehe. Aber es wäre wohl besser, wenn wir uns zunächst auf Euer Gebrechen konzentrierten.« »Ein Gebrechen«, wiederholte Disgleirio nachdenklich. »Und doch gewährt es Euch Unsterblichkeit oder wenigstens etwas Ähnliches ... Würden nicht viele Menschen töten, um dergleichen zu gewinnen?« »Was sie von denen unterscheidet, die sich selbst töten möchten, weil sie es bereits haben«, gab Caldason zurück. »Es kommt eben darauf an, ob man es als eine Gunst des Schicksals sieht. Ich sehe es nicht so, weil es Nachteile gibt, und ich fürchte, der Preis wird letzten Endes der sein, dass ich den Verstand verliere. Ich habe das Gefühl, mit irgendetwas verbunden zu sein ... mit etwas Bösem und unglaublich Mächtigem.« »Ich sagte Euch ja schon, dass dem Bund Zustände bekannt sind, die dem Euren ähnlich sind«, erinnerte Phönix ihn. »Genauer gesagt, haben wir von solchen Dingen gehört, ohne ihnen jedoch tatsächlich begegnet zu sein.« »Was habt Ihr gehört?« »Genug, um zu wissen, dass die Magie der Gründer im Spiel sein könnte.« »Aber die Magie der Gründer ist tot«, unterbrach Kutch. »Du weißt doch genau, dass dem nicht so ist, mein Junge. Die Magie der Gründer ist überall ringsum. Die Gründer sind tot, doch ihr Erbe ist die Magie, die für uns so selbstverständlich ist.« 320 »Und wie hilft mir das jetzt weiter?«, fragte Caldason. »Die Magie der Gründer war die mächtigste Magie, die es je gegeben hat. Unsere Fähigkeiten sind lächerlich im Vergleich zu ihren. Eure Suche nach einer Heilung war stets zum Scheitern verurteilt, weil keine Magie, die wir besitzen, Euch die Last abnehmen könnte. Vielleicht, nur vielleicht, ist die Lösung in der Magie der Gründer zu finden.« »Wie ist das möglich? Die Gründer und all ihre Werke sind schon vor Beginn der Geschichtsschreibung verschwunden.« »Der Bund ist sehr alt. Manche glauben, die Vorläufer unserer Gemeinschaft reichten bis in die Traumzeit zurück. Ich weiß nicht, ob dies zutrifft, doch wir erforschen die Gründer schon seit sehr langer Zeit. Wir haben versucht, so viel wie möglich über sie und ihre Gesellschaft herauszufinden. Das ist einer der Gründe dafür, dass wir von den Behörden und den lizenzierten Zauberern so misstrauisch beäugt werden.« »Es ist doch gewiss nicht mehr viel da, das Ihr erforschen könnt.« »Es ist sehr wenig. Die Leistungen der Gründer gingen aus der Geschichte in die Erinnerungen über. Aus den Erinnerungen wurden Erzählungen, die von unseren barbarischen Vorfahren weiter getragen wurden. Die Erzählungen haben sich in Legenden verwandelt, und die Legenden sind zu Mythen gereift. Unsere Ernte an
Wissen ist nach so vielen Jahrhunderten erbärmlich klein.« »Habt Ihr denn etwas erfahren, das mir helfen könnte?« 321 »Man könnte sagen, dass wir eine Ahnung haben, wo das entsprechende Wissen gefunden werden könnte. Wenn wir Recht behalten und wenn wir es beherrschen können, dann besteht Hoffnung für Euch. Für uns alle sogar.« »Das klingt mehr als vage.« »Aber immer noch besser als alles, was Ihr bisher habt, würde ich meinen.« »Nun sagt schon, worum es sich bei diesem Wissen handelt. Was ist es, und wo ist es zu finden?« »Es gibt keine eindeutigen Antworten auf diese Fragen. Ich will es dennoch versuchen. Eine der beharrlichsten Legenden über die Gründer besagt, dass sie abgesehen von unserem System der Magie noch gewisse andere Vermächtnisse hinterlassen haben. Darunter soll etwas sein, das wir die Quelle nennen. So bezeichnen wir die riesige Fundgrube an Wissen, die sie besessen haben müssen. Immerhin haben die Gründer die gleichen irdischen Energien genutzt wie wir, und daher müssen es ihre Techniken gewesen sein, die den unseren so weit überlegen waren.« »Welche äußere Form sollte diese Lagerstätte des Wissens denn haben?« »Das ist eins der Probleme«, gestand Phönix. »Wir könnten es uns als eine Art Zauberbuch vorstellen, ein Buch voller Sprüche oder etwas Ähnliches. Eine ganze Bibliothek. Aber dabei darf man nicht vergessen, dass die Gründer nicht so gedacht haben wie wir. Es könnte auch etwas ganz anderes sein. Etwas, das wir uns überhaupt nicht vorzustellen vermögen.« »Aber was es auch sei, Ihr sagt, es könne mir helfen?« 322 »Falls es existiert, dann wäre die Lösung Eures Problems noch eins der kleineren Wunder.« Caldason wirkte niedergeschlagen. »Ihr wisst nicht einmal, ob es überhaupt existiert oder ob es nicht auch wieder nur ein Märchen ist.« »Zugegeben, wir sind nicht völlig sicher. Lange Zeit waren wir selbst überzeugt, es sei nur eine Geschichte ohne echte Substanz. In der letzten Zeit haben unsere Forschungen allerdings Zweifel daran geweckt. Wenn wir Recht haben, dann können wir daraus einen gewaltigen Gewinn ziehen, der nicht zuletzt darin besteht, die Ketten der Reiche zu zerstören. Wenn man eine starke Tyrannei zerschlagen will, dann braucht man eine starke Gegenmacht.« »Es fügt sich alles zusammen, Reeth«, ergänzte Karr. »Ihr könntet Euch von dem Bann befreien, und mit der Magie der Gründer könnte der Widerstand eine Waffe in die Hand bekommen, die es uns erlaubt, beide Imperien zu bekämpfen.« »Also gut, ich verstehe, worauf Ihr hinauswollt. Aber bisher hat mir noch niemand erklärt, wo diese Quelle sein soll.« »Habt Ihr schon einmal von Clepsydra gehört?«, fragte Phönix. Caldason schüttelte den Kopf. »Nein. Schon wieder ein Märchen, was?« Der Magier zog es vor, sich nicht beleidigen zu lassen. »Wir glauben das nicht.« »Ich habe davon gehört«, warf Kutch ein. »Es ist jedem geläufig, der mit der Zauberkunst zu tun hat.« »Was ist es denn?«, fragte Caldason. »Ein Mythos.« 323 »Nicht so voreilig«, warnte Phönix. »Wir glauben, dass es real sein könnte. Und die Frage, was es ist - nun, möglicherweise ist es die absonderlichste noch existierende Hinterlassenschaft der Gründer. Vorausgesetzt, sie existiert wirklich noch. Soweit wir es sagen können, handelt es sich um eine Art Gerät, mit dem man den Fluss der Zeit messen kann. Nicht die unwichtige Zeit alltäglicher Belange, nicht die Stunden, Tage und Wochen, von denen wir beherrscht werden. O nein. Es heißt, die Gründer hätten einen Weg gefunden, um vorherzusagen, wann die Welt enden wird, und sie hätten die Clepsydra erschaffen, um die Äonen bis zum Tag der Zerstörung zu messen. Möglicherweise war sie sogar dazu gedacht, diese Katastrophe zu verhindern.« Caldason wurde sichtlich unruhig. »Worin besteht nun die Verbindung zwischen diesem Ding und der Quelle?« »Es gibt Geschichten, die beide miteinander in Verbindung bringen. Andererseits ist es sogar möglich, dass die Clepsydra mit der Quelle identisch ist. Es heißt, sie habe mehr als eine Funktion. Vielleicht eine Kombination von praktischen und religiösen Aspekten.« »Es könnte in Verbindung stehen, es ist womöglich die Quelle ... Nichts als Mutmaßungen.« »Es würde Wochen dauern, Euch all das Forschungsmaterial vorzulegen, das wir zu diesem Punkt gesammelt haben, und so kann ich Euch im Augenblick nichts weiter geben als mein Wort. Die Beweise sind eher indirekt, aber sie sind überzeugend.« »Was nützt Euch das alles, wenn Ihr nicht wisst, wo sich die Clepsydra befindet?« 324 »Das ist der springende Punkt. Wir halten es für möglich, dass wir ihren Standort gefunden haben.« Der Qalochier wirkte mit einem Mal interessiert. »Wo denn?« »Ich zeige es Euch.« Phönix stand auf und vollführte mit flinken Händen eine Beschwörung. Eine glühende grüne Kugel erschien
über dem Tisch in der Luft. Sie verformte sich zu einem großen Tuch oder einer hauchdünnen Folie. Eine weitere Geste, und sie schwebte auf den Tisch herunter und verharrte knapp darüber. »Bhealfa«, verkündete der Zauberer. Jetzt, da es erklärt war, konnte man das Bild auch verstehen. Es war ein Abbild der Insel aus der Vogelperspektive, die Höhenlinien und Konturen waren in hellem Grün dargestellt. Die Zauberkarte wellte sich leicht in einem Hauch, der nach Weihrauch roch. »Wir glauben, die Clepsydra befindet sich vor der Nordspitze Bhealfas.« Phönix zeigte auf die Gegend. »Irgendwo hier oben in dieser Inselgruppe.« »Das sind ja Dutzende von Inseln«, wandte Kutch ein. »Hunderte sogar, aber die meisten sind winzig. Es ist eine sehr unwirtliche Gegend mit häufigen Stürmen, gefährlichen Gezeiten und zahllosen weiteren natürlichen Gefahren. Außerdem wird die Gegend wahrscheinlich auf irgendeine Weise verteidigt, höchstwahrscheinlich durch die Magie der Gründer.« Caldason starrte die tanzenden grünen Punkte an. »Dann muss ich genau dorthin.« Disgleirio schaltete sich ein. »Wir, das heißt der Vereinte Revolutionsrat, möchten Euch zur Suche danach einladen. Ihr habt die notwendigen Fähigkeiten und gewiss die beste Motivation.« 325 »Ich brauche Eure Erlaubnis nicht«, erwiderte Caldason. »Denkt doch nach, Reeth«, sagte Karr. »Selbst wenn wir den Ort eingrenzen können, wie wollt Ihr ohne Hilfe dorthin gelangen? Selbst wenn Ihr hinkommt, wisst Ihr noch nicht, wonach Ihr suchen müsst oder wie Ihr nutzen sollt, was Ihr findet, falls Ihr wider Erwarten tatsächlich so weit kommt. Nein, wir müssen eine gemeinsame Suche organisieren.« »Was schlagt Ihr vor?« »Der Widerstand wird eine Expedition unternehmen, die angemessen mit Helfern und Vorräten ausgerüstet wird, dazu werden entsprechende Kampfeinheiten und eine Abteilung Zauberer an Bord sein.« »Wann?« »Wir brennen so sehr wie Ihr darauf, dieses Objekt zu finden. Doch es braucht Zeit, so etwas zu organisieren. Insbesondere, weil alles unter größter Geheimhaltung geschehen muss.« »Wie lange?«, bohrte Caldason. »Ich kann Euch keine genaue Antwort geben. Wochen sicherlich. Vielleicht Monate.« »Das reicht mir nicht, Karr.« »Das reicht Euch nicht, verdammt!« Der Patrizier explodierte. »Der Widerstand hat noch andere dringende Aufgaben zu erledigen. Unsere Ressourcen sind knapp. Aber glaubt mir, Ihr könntet auch aus eigener Kraft nicht schneller dorthin kommen.« Er beruhigte sich wieder und fuhr besonnener fort: »Wir möchten Euch ein Angebot unterbreiten. Wir werden die Expedition so schnell wie möglich auf die Beine stellen, und Ihr sollt dabei sein. Als Gegenleistung helft Ihr dem Widerstand.« 326 »Ich bin nicht bereit, mich irgendeiner Bewegung anzuschließen.« »Wir wissen, dass Ihr ein Einzelgänger seid. Es gibt allerdings Zeiten, in denen man nur mit Zusammenarbeit weiterkommt. Und in diesem Fall ist eine Zusammenarbeit sinnvoll, weil wir ähnliche Interessen verfolgen. Ihr müsstet nur etwas Geduld haben.« »Das ist ein Ratschlag, der einfacher zu geben als zu befolgen ist. Was soll ich tun, um meine Seite des Handels zu erfüllen?« »Ihr sollt Aufgaben übernehmen, die Euren Fähigkeiten entsprechen, wobei ich allerdings nicht verschweigen will, dass es gefährlich wird.« »Ein paar Einzelheiten wären sicher ganz nützlich.« »Die werdet Ihr bekommen, wenn und falls Ihr sie braucht. Reeth, Ihr müsst begreifen, dass Euch gar nichts anderes übrig bleibt. Seid Ihr dabei?« Nach einer kurzen Pause sagte Caldason: »Ich muss darüber nachdenken.« »Tut das, mein Freund. Können wir denn bald mit Eurer Entscheidung rechnen?« »Lasst mir etwas Zeit, um die Chancen abzuwägen.« »Geht in Ordnung.« Kutch, immer noch nervös in solch erlauchter Gesellschaft, deutete auf die gesprenkelten Punkte auf der Karte. »Äh ... Phönix ... wie wollt Ihr es denn anfangen, diese Clepsydra-Insel zu finden?« »Das ist eine gute Frage«, gab der Magier zurück. »Und dazu eine, die mir sehr gelegen kommt, denn sie bringt mich auf unser nächstes Thema.« Er winkte mit der Hand, und die Karte fiel in sich zusammen, als wäre sie von der Faust eines Riesen zerschmettert worden. Sie verblasste und verschwand. »Eine unserer 327 Methoden ist das magische Spähen. Du weißt doch sicher etwas darüber, oder?« »Nun ja, ich habe etwas darüber gelesen, und mein Meister ...« »Ich meinte, ob du auf eine etwas persönlichere Weise darüber im Bilde bist.« »Das verstehe ich nicht.« »Ich glaube, wir haben hier heute zwei Personen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, Kutch. Unseren
qalochischen Freund ...«, er nickte Caldason zu, »und dich selbst.« »Was ... was meint Ihr damit?« »Du hast meine kleine Illusion vorhin rasch durchschaut. Dies und dazu noch das, was Patrizier Karr mir über die Exekutionen erzählt hat, die du in Sattelark mit angesehen hast, bringen mich auf die Idee, dass du möglicherweise eine sehr seltene und besondere Gabe besitzt.« »Ich?« »Ich denke, du könntest ein Aufklärer sein.« Kutch sagte nichts, doch seine Miene sprach von Erstaunen und Unglauben. »Könnte mir jemand erklären, was ein Aufklärer ist?«, fragte Caldason. »Und was, zum Teufel, ist magisches Spähen?« Phönix lächelte. »Jede Magie hinterlässt ein bestimmtes Aroma, das von den dazu fähigen Menschen wahrgenommen werden kann. Es gibt nur sehr wenige solcher Menschen, und die Fähigkeit ist angeboren. Man kann sie nicht lehren. Die Art und Weise, auf die solche Menschen die Qualität der Magie wahrnehmen, kann sich unterscheiden. Am seltensten ist die Gabe der Aufklärung. Ein Aufklärer 328 kann buchstäblich durch jede Art von Magie hindurchschauen. Er kann einen Zauber von der Realität unterscheiden, ganz egal wie kompliziert oder teuer der Zauber auch sei. Es ist eine unglaublich seltene Gabe.« »Besitzt Ihr sie?« Das brachte den Magier zum Lachen. »Nein. Aber was würde ich nicht dafür geben, wenigstens einen entsprechenden Geschmackssinn zu haben.« Etwas nüchterner fuhr er fort: »Der Bund sucht gezielt nach Menschen mit solchen magischen Fähigkeiten, und im Augenblick könntet Ihr die Zahl dieser Menschen in unseren Reihen an den Fingern einer Hand abzählen. Ich würde mich äußerst glücklich schätzen, wenn ich einen weiteren in diesem neuen Bündnis, das wir geschmiedet haben, begrüßen dürfte.« Kutch schaute immer noch recht verwirrt drein. »Das kann doch nicht sein.« »Als wir den Patrizier zum ersten Mal sahen«, meinte Caldason, »damals in deinem Dorf, da wusstest du lange, bevor ich etwas sehen konnte, dass er einen Schutzschild hatte.« »Vielleicht habe ich nur bessere Augen oder ...« Kutch ließ den Satz unvollendet. Er glaubte es selbst nicht. »Können wir irgendetwas tun, um es herauszufinden, Phönix?«, fragte Karr. »Wenn der Junge zustimmt, könnten wir einen Test durchführen. Wir bekämen damit zwar kein endgültiges Ergebnis, aber es wäre ein guter Hinweis. Würde es dir etwas ausmachen, Kutch?« »Nein, ich würde es selbst gern erfahren.« »Sehr schön.« 329 Der Magier verließ den Raum durch die kleinere Tür. Wenige Sekunden später kehrte er zurück, und hinter ihm folgten die sechs maskierten, in Grau gekleideten Wächter, die vorher unten gestanden hatten. Sie stellten sich mit dem Gesicht zum Tisch an der Wand auf. Kutch erhob sich und machte ein paar Schritte auf sie zu. Phönix legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Fünf dieser Männer sind echt. Sie sind Menschen aus Fleisch und Blut und Mitglieder des Bundes«, erklärte er. »Einer ist ein Zauber. Kannst du erkennen, welcher es ist?« Die sechs Männer waren absolut identisch und wirkten sehr real. Allen stand der Schweiß auf der Stirn. Sie blinzelten in natürlichen Abständen. Man konnte sogar sehen, dass sich die Gesichtsmasken beim Atmen leicht bewegten. Die Prüfung weckte unangenehme Erinnerungen an die Exekutionen, und Kutch hatte Mühe, sich zu entspannen. Phoenix schien seine Unsicherheit zu bemerken. »Nur die Ruhe«, sagte er. »Lass dir Zeit. Es gibt keine Strafe, wenn du es nicht schaffst.« Kutch betrachtete die reglos dastehenden Gestalten. Sein Blick wanderte hin und her, er sah von einem zum anderen und nahm alles auf. Schließlich sagte er: »Der da.« Er zeigte auf einen der Männer. »Der Zweite von rechts.« »Bist du sicher?« Der Junge nickte. Phönix machte eine komplizierte Geste. Zuerst langsam, dann mit zunehmender Geschwindigkeit löste sich die durch Zauber manifestierte Gestalt auf und 330 flog in unzähligen goldenen Körnchen auseinander. Die glühenden Partikel lösten sich auf. Phönix gab ein Zeichen, und die fünf noch anwesenden Wächter drehten sich um und gingen langsam hinaus. »Kein wirklicher Beweis, wie ich schon sagte, aber gewiss ein starkes Indiz. Wie hat es sich angefühlt? Ich meine, was hat deine Aufmerksamkeit erregt und dir gesagt, dass es eine Täuschung war?« Kutch ranzelte die Stirn. »Eigentlich war da nichts Besonderes. Es kam mir nur so vor ... irgendwie war es wohl offensichtlich, glaube ich. Als machte man in einer Herde ein lahmes Pferd aus.« »Deshalb hat Domex dich als Lehrling angenommen«, sagte Karr. »Er erkannte, dass du über diese Gabe verfügst. Leider hat er nicht lange genug gelebt, um dir zu helfen, sie zu entwickeln.« »Jetzt können wir es tun«, versprach Phönix. »Der Bund könnte dich ausbilden, dir helfen, deine Kräfte zu
bändigen, und dich lehren, sie weiter auszubauen.« »Und du fändest deinen Platz im Widerstand, Kutch«, fügte der Patrizier hinzu. »Wir haben einen Plan entworfen, an dem dein Meister einen entscheidenden Anteil hatte. Du kannst dabei mitwirken, wenn du willst.« »Er ist doch noch ein Junge«, wandte Caldason mit einer gewissen Schärfe ein. »Drängt ihn nicht so.« »Der Widerstand hat Mitglieder, die jünger sind als er. Wie auch immer, die Entscheidung liegt bei ihm. Was sagst du dazu, Kutch?« »Nun ...« »Du sollst genau wie Reeth etwas Zeit zum Nachdenken bekommen. Willst du das tun?« 332 »Ja ... ja, ich werde nachdenken.« »Gut. Und vielleicht wird das, was wir über den großen Plan zu sagen haben, Euch beiden helfen, zu einer Entscheidung zu kommen.« »Eure schöne Revolution wird nie wirklich beginnen«, sagte Caldason. »Nicht einmal mit der Aussicht, diesen hübschen altmodischen Zauber zu finden und einen neuen kindlichen Aufklärer zu rekrutieren.« »Revolution? Wer redet hier von einer Revolution? Bei den Göttern, nein. Wir haben etwas viel Kreativeres vor.« 332 Es wird Zeit, dass Ihr Euren Teil der Abmachung einhaltet und aufrichtig mit mir sprecht«, sagte Caldason. »Wenn es kein Aufstand werden soll, wie sieht Euer Plan dann aus?« Kutch, Phönix und Disgleirio, die allesamt am alten, massiven Tisch im Lagerhaus saßen, verstummten. Sie sahen Karr an. »Es ist nicht nur mein Plan«, berichtigte er freundlich. »Viele haben dazu beigetragen.« »Mir ist egal, wer ihn sich ausgedacht hat«, gab Caldason ungeduldig zurück. »Wie sieht er nun aus?« »Ich will es mal so sagen ...«, begann der Patrizier, was Caldason prompt zum Seufzen brachte. »Wenn Eure Heimat erobert und besetzt wird, dann ist der erste Impuls natürlich, zu kämpfen und die Eindringlinge hinauszuwerfen. Ihr kennt dieses Gefühl, Reeth. Aber was tut Ihr, wenn der Feind zu mächtig ist? Und wenn ein zweiter, ebenso mächtiger Feind nur darauf wartet, einzugreifen und die Herrschaft an sich zu reißen? Gegen ein Reich zu kämpfen bedeutet im 333 Grunde, gegen beide zu kämpfen, versteht Ihr? Deshalb ist ein sehr großer Teil der Bevölkerung nicht aktiv am Widerstand beteiligt. Sie sehen nicht ein, wozu es gut wäre.« »Der Fluch der Politik«, grollte Caldason. »Umständliche, langwierige Manöver.« Karr nahm es mit Humor und lächelte. Der Qalochier fügte hinzu: »Was Ihr gerade gesagt habt, klingt nach Verzweiflung.« »Nein, ich beschreibe einfach nur das Problem. Wenn Aufgeben nicht infrage kommt, und das kommt für uns hier und tausende von anderen Menschen nicht infrage, dann muss, man eine andere Lösung suchen.« »Und Ihr glaubt sie gefunden zu haben.« »Ja. Viele hier wollen nicht unter der Herrschaft eines der Reiche leben. Nun gut, dann werden wir auch nicht so leben. Wir werden uns aus dem Gesamtbild zurückziehen.« »Das Leben ist kein Kinderspiel. Ihr könnt nicht einfach sagen, dass Ihr nicht mehr mitspielen wollt.« »Das ist uns durchaus bewusst«, erwiderte Karr. »Und ebenso den Angehörigen der vielen Menschen, die ihr Leben für die Sache gaben«, fügte er etwas schärfer hinzu. »Also gut, das war ein billiger Seitenhieb. Aber was habt Ihr nun eigentlich vor?« »Einfach ausgedrückt, werden wir nicht bleiben und kämpfen, sondern weggehen.« »Weggehen?«, fragte Kutch verwirrt. »Wohin denn?« »An irgendeinen Ort, an dem wir unsere Kräfte konzentrieren können und dem Einfluss beider Reiche entzogen sind.« 334 »Das ist doch verrückt«, erklärte Caldason. »Welchen Sinn hätte es denn, sich irgendwo als lebende Zielscheibe hinzustellen?« Karr ließ sich nicht beeindrucken. »Erinnert Ihr Euch an die Kommune, die ich Euch gezeigt habe? Es sind brave Leute, aber sie haben den falschen Ansatz. Man kann sich nicht abseits halten, wenn man ringsum von Feindseligkeit umgeben ist. Jedenfalls nicht, wenn man gedeihen will.« »Genau das sage ich doch.« »Ihr habt Recht damit. Ich hatte gehofft, dass Ihr aus dem Besuch bei den Kommunarden diesen Schluss zieht. Erfolg oder Scheitern hängt vom Ort ab.« »Ich wüsste wirklich gern, wie Ihr dieses Problem lösen wollt.« »Wir haben viel darüber nachgedacht, Reeth. Ich kann nicht behaupten, dass es leicht wird, aber wir glauben, dass es machbar ist.« Er beugte sich vor, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und faltete die Hände. »Ich will es erklären.« Phönix hob eine Hand und unterbrach Karrs Redefluss. »Verzeihung«, sagte er, »aber bevor wir weitersprechen, sollten wir uns einige Erfrischungen gönnen.«
Niemand hatte Einwände, und so rief er einen der grau gekleideten Wächter herein und erteilte ihm Anweisungen. Kurz darauf kehrte der Mann mit seinen Gefährten zurück und brachte Teller und Flaschen herein. Es gab Brot, Früchte und Fleisch, außerdem Wein, Bier und Wasser. Sie bedienten sich mit Essen und Trinken, nur Caldason begnügte sich mit Wasser. Karr nahm einen Schluck Wein und fuhr fort. »Ursprünglich wollten wir irgendwo hier in Bhealfa ein 335 Stück Land annektieren. Ein entlegenes Gebiet, vielleicht an der Küste. Diese Idee haben wir aus nahe liegenden Gründen schon recht früh wieder verworfen.« »Aha, so vernünftig wart Ihr also immerhin«, meinte Caldason trocken. »Dann haben wir uns überlegt, ob es irgendwo jenseits dieser Gebiete Möglichkeiten gibt, vielleicht einen Teil eines anderen Landes. Aber wir wollen natürlich die Kontrolle über das gesamte von uns besetzte Gebiet bekommen, und deshalb musste es eine Insel sein.« »Vielleicht ist es Eurer Aufmerksamkeit entgangen, aber wir sind bereits auf einer Insel.« »Bhealfa kommt nicht infrage«, erklärte Disgleirio. »Hier wären zu viele gegnerische Kräfte zu bekämpfen, und außerdem besteht die Möglichkeit, dass man abgeschnitten und ausgehungert wird.« »Nicht, wenn wir uns selbst versorgen können«, meinte Karr. »Glaubt Ihr wirklich, die Reiche lassen Euch lange genug in Ruhe, bis Ihr dieses Ziel erreicht habt?« »Wir rechnen damit, dass sie nicht merken, was geschieht, bis es zu spät ist. Die ganze Operation muss unter absoluter Geheimhaltung abgewickelt werden.« »Patrizier, es wird schwer, so etwas geheim zu halten, wenn man bedenkt, wie viele Menschen eingeweiht werden müssen.« »Die meisten wissen nur das Allernötigste. Der Widerstand ist in Zellen organisiert. Es gibt genügend Sicherungen.« »Es braucht nur einen einzigen Gefangenen, der über wichtige Informationen verfügt und der gefoltert 336 wird. Dann werden die Reiche aus sehr großer Höhe auf Euch runterpinkeln.« Disgleirio spießte ein Stück Fleisch auf. »Machen sie das nicht sowieso schon mit unserer schweigenden Zustimmung?« »Euer langes Leben hat Euch zum Pessimisten gemacht, Reeth«, warf Karr ein. »Ich bezeichne mich lieber als Realisten. Und das bin ich ganz sicher im Vergleich zu Euch, wenn Ihr glaubt, ein solcher Plan könne gelingen. Ihr redet über nichts anderes als darüber, einen neuen Staat zu gründen.« »Und eine Anlaufstelle.« »Überlegt doch nur, was ein funktionierender Staat braucht.« Caldason zählte es an den Fingern ab. »Ein Heer oder wenigstens eine Miliz, um das Land zu verteidigen. Waffenschmiede, gewöhnliche Schmiede, Wagner, Bauern, Hirten, Metzger, Bäcker, Bauarbeiter, Heiler, Schneider, Schuster, die unvermeidlichen Verwaltungskräfte, ganz zu schweigen von einer Flotte, um alles dorthin zu bekommen, und ...« Karr hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Genug! Ihr habt Recht, wir brauchen all dies und noch mehr. Glaubt Ihr wirklich, wir hätten das nicht selbst durchdacht? Dies ist der Höhepunkt einer lebenslangen Arbeit.« »Bei den Göttern, Mann, wie viele Leute braucht Ihr denn, um dies zu verwirklichen?« »Es kommt natürlich darauf an, wo wir es tun. Aber es wären gewiss viele tausende. Und diese tausende sind alle auf unserer Seite, und sie sind motiviert.« »Vielleicht hat Reeth Recht mit seinen Zweifeln, dass Ihr es nicht schafft«, sagte Kutch mit glänzen337 den Augen, »aber ich finde, es ist... eine erstaunliche Idee.« »Ja, sie übt eine gewisse Faszination aus, nicht wahr?«, räumte Karr grinsend ein. »Allein schon die Vorstellung, etwas wie dies aufzubauen, etwas, das noch nie versucht worden ist, scheint atemberaubend. Das Lösen der Rätsel, die Probleme, die bewältigt werden müssen... All das ist auf seine Weise befriedigend.« Caldason wurde wider Willen neugierig. »Was ist mit den nichtmateriellen Zutaten? Politik, Religion, derlei Dinge.« »Seht Ihr? Es ist ein faszinierendes Thema. Wollen wir eine Staatsreligion haben? Wohl nicht. Wir würden es dem Einzelnen überlassen. Welches politische System wollen wir aufbauen? Natürlich eines, an dem die Bürger so stark wie möglich beteiligt sind, auch wenn uns noch nicht ganz klar ist, wie dies erreicht werden kann.« »Es gibt auch einige Dinge, die man nicht vorher planen kann«, fügte Disgleirio hinzu. »Die Leute sollen jedenfalls die Möglichkeit bekommen, selbst zu entscheiden, wie sie leben wollen.« »Was ist mit der Magie?«, sagte Caldason. »Was ist damit?«, fragte Phönix. »Wenn man sowieso von vorn anfängt, wäre dies eine gute Gelegenheit, sie komplett abzuschaffen.« Der Magier konnte sein Entsetzen nicht verbergen, und er gab sich auch keine Mühe. »Da könnten wir auch gleich versuchen, ohne Trinkwasser auszukommen«, sagte er mit harter Miene. Karr war sichtlich bemüht, die Unstimmigkeit sogleich wieder auszuräumen. »Wir wissen ja, dass die 338
Magie Euch Schaden zugefügt hat, Reeth, aber Ihr müsst auch realistisch sein. Sie ist ein äußerst wichtiges Bedürfnis.« »Ein Bedürfnis? Ich erlebe sie als Fesseln und Ketten. Sie befreit uns nicht, sie hält uns gefangen.« »Nicht alle Menschen denken wie die Kommunarden oder wie Ihr. Für die meisten Menschen ist die Magie eine alltägliche Notwendigkeit, und wir wollen ihnen dies nicht rauben. Vergesst nicht, dass wir uns gegen Diktaturen wenden. Wir wollen nicht selbst zu Diktatoren werden.« »Ihr irrt Euch. Die Magie bringt den Menschen nichts Gutes.« Jetzt wurde Karr zornig. »Allein schon ihr Wert als Waffe macht sie zu einem entscheidenden Baustein unserer Verteidigung. Wollt Ihr denn, dass wir uns unbewaffnet den Zauberkräften der Reiche stellen?« »Ihr vergesst, dass die Magie an sich neutral ist«, fügte Kutch hinzu. »Ihr wisst, dass sie keine Moral besitzt. Die Magie ist nur so gut und so schlecht wie diejenigen, die sie kanalisieren. Ich glaube, man kann dem Widerstand trauen, dass er sie geschickt einsetzt.« Phönix kam ihm zu Hilfe. »Gut gesprochen, Junge.« »Wenn es keine Magie gäbe, dann brauchte man auch nicht darüber nachdenken, ob sie für gute oder schlechte Zwecke eingesetzt wird«, wandte Caldason ein. »Das Gleiche könnte man über Eure Schwerter sagen«, widersprach der Magier. »Man kann es über alle Waffen sagen. Wenn sie nicht existieren, entfällt auch die Versuchung, sie zu missbrauchen.« 339 »Nein«, erwiderte Caldason tonlos. »Geschärfter Stahl hat etwas Ehrliches. Grundlage der Magie sind jedoch die Täuschung und die Korruption.« »Dem können wir nicht zustimmen«, entgegnete Karr. »Lassen wir das Thema fallen.« »So viel zu meiner Beteiligung.« »Wenn Euch so viel daran liegt«, fauchte der Patrizier, »dann macht bei uns mit und versucht uns zu überzeugen. Aber lasst es für den Augenblick ruhen.« Caldason sah ihn böse an. Disgleirio räusperte sich umständlich. Es war theatralisch, doch es gelang ihm, die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich zu ziehen. »Wir haben nicht viel Zeit, und überall warten dringende Aufgaben auf uns. Ganz zu schweigen vom Risiko, das wir eingehen, wenn wir uns zu lange hier aufhalten. Wenn es also sonst nichts mehr zu sagen gibt...« »Nur noch dies«, erwiderte Karr. »Als ich meine ersten unsicheren Schritte auf dem politischen Parkett machte, hatte ich das Glück, eine kurze Zeit einen Mentor zu haben. Ein alter und ehrwürdiger Mann war er, doch in ihm brannte immer noch das Feuer eines Radikalen. Er sagte mir: Tu nichts für die Geschichte und für die Nachwelt. Tu es für dich selbst und zum Wohl deiner Mitmenschen. Denn ganz egal, wie groß deine Geste ist, die Geschichte wird dich eines Tages vergessen.« Ich habe dies stets für wahr gehalten, und ich empfehle Euch allen, die gleiche Haltung einzunehmen.« Er wandte sich an Reeth und Kutch, und die alte Überschwänglichkeit kehrte zurück. »Wir könnten noch viel mehr über den Plan sagen, und das werden wir zu gegebener Zeit auch tun. Doch es gibt noch einige andere Leute, die ich 340 Euch beiden vorstellen will. Sie könnten Euch die Entscheidung, ob Ihr Euch uns anschließen wollt, etwas leichter machen. Seid Ihr dabei?« Karr, Reeth und Kutch verabschiedeten sich und gingen diskret zusammen hinaus. In der Nähe des verfallenen Lagerhauses wartete eine Kutsche auf sie. Weder das Fahrzeug noch der ihnen unbekannte Kutscher hatten irgendwelche besonderen Merkmale. Die Fenster waren mit halb vorgezogenen Blenden abgedeckt. Als sie losfuhren, fragte Kutch: »Wohin fahren wir jetzt?« »In ein anderes sicheres Haus«, erklärte Karr. »Obwohl es eigentlich gar kein Haus ist. Ihr werdet schon sehen.« »Ist es weit?« »Am Stadtrand. Die Fahrt sollte nicht allzu lange dauern.« Er richtete die Aufmerksamkeit wieder auf Valdarrs belebte Straßen. Nach einer Weile ging die Stadt in offenes Land über. Aus Straßen wurden Fahrwege, und die Häuser standen in größeren Abständen. Sie erreichten einen niedrigen Hügel, eigentlich kaum mehr als ein Erdhaufen und gewiss von Menschen angelegt. Auf der Kuppe stand eine Windmühle. Sie war sehr hoch und weiß, doch die Farbe blätterte ab. Die vier großen Flügel drehten sich langsam im leichten Wind. »Ihr wickelt Eure Geschäfte an recht eigenwilligen Orten ab«, bemerkte Caldason. »Das lässt sich nicht vermeiden«, gab Karr zurück. Die Kutsche entließ sie, und sie liefen über den knirschenden Kies zum Eingang der Mühle. Der Wind 341 ließ das Tuch über dem Gerippe der Flügel knattern. Holz krachte, und man vernahm das dumpfe Knarren der Zahnräder. Als die drei den ebenen Grund erreichten, sahen sie eine Gruppe niedriger Nebengebäude hinter der Mühle. Es gab keinerlei offensichtliche Anzeichen dafür, doch Caldason war nicht der Einzige, der sich beobachtet fühlte. Mit seiner behandschuhten Hand klopfte Karr laut an die Bohlen der stabilen Tür. Sie wurde fast
augenblicklich geöffnet, und die Geräusche des Antriebs drangen heraus. Eine Abteilung bewaffneter Männer empfing die Besucher. Als sie Karr erkannten, wurden sie durchgewinkt. In der Mitte des großen runden Raumes befanden sich drei miteinander verbundene Zahnräder. Sie waren riesig und bestanden aus Eisen, das klirrte und knirschte, während sie sich drehten. Der Raum wurde von Zauberkugeln erhellt, um die Brandgefahr zu vermindern. Etwa ein Dutzend Kugeln oder mehr schwebten dicht unter der hohen Holzdecke wie bauchige glühende Pilze. Im starken Licht hob sich der feine Mehlstaub deutlich in der Luft ab. Zahlreiche Menschen bevölkerten den Raum, und ihre gedämpften Unterhaltungen wetteiferten mit dem Lärm der Maschinen. Es waren überwiegend Männer aller Altersgruppen, doch es gab auch eine Reihe von Frauen und Kindern. Sie saßen auf Kisten, Stapeln leerer Säcke oder auf den wenigen Bänken und Stühlen. Viele standen auch. Einige Jüngere hatten sich auf dem Boden zusammengerollt und schliefen. Eine Frau trat vor und kam Karr und den anderen entgegen. Sie war in mittleren Jahren und stämmig gebaut. Das Haar war streng zurückgekämmt, und 342 sie sah sehr hart aus. Doch das Lächeln, das sich in ihrem Gesicht ausbreitete, als sie den Patrizier sah, milderte den Eindruck ein wenig. »Das ist Goyter«, erklärte Karr. »Sie befehligt diese kleine Gruppe.« Er begrüßte die Frau, dann deutete er auf seine Gäste. Wenn Caldasons Name ihr etwas sagte, dann ließ sie sich nichts anmerken. »Es ist schön, Euch kennen zu lernen. Seid Ihr wegen der Investitur hier?« »Nicht als Teilnehmer«, beantwortete Karr die Frage. »Aber hoffentlich bald.« »Investitur?«, fragte Caldason. »Alle, die hier anwesend sind, werden offiziell als Mitglieder des Widerstandes aufgenommen«, erklärte Goyter. »Wir führen bei der Aufnahme, um das Ereignis zu feiern, eine kleine Zeremonie durch.« Der Qalochier betrachtete die wartenden Rekruten. »Die Bewegung scheint sehr unterschiedliche Mitglieder anzuziehen.« »Die Unterdrückung ist weithin spürbar«, erwiderte Karr. »Manche sind aus Prinzip hier. Andere haben sich uns aus persönlichen Gründen angeschlossen. Kommt und lernt ein paar kennen. Du auch, Kutch.« Er nickte Goyter zu, und sie kehrte zu ihren Pflichten zurück. Das Lächeln verschwand, kaum dass sie sich umgedreht hatte. Karr führte Reeth und Kutch tiefer in den Raum hinein. Sie stiegen über liegende Körper und ausgestreckte Beine und wichen Gruppen schwatzender Anwärter aus. Schließlich fand er jemanden, den er kannte, und hielt auf ihn zu. Der Mann war wohl nicht viel älter als zwanzig, ärmlich gekleidet, aber of343 fenbar gut in Form. Karr stellte ihn nicht mit Namen vor. »Könntest du uns sagen, warum du hier bist?«, fragte er. »Für meine Freunde hier?« »In Ordnung, Herr.« Der junge Mann zögerte. Er handelte wohl lieber, als viele Worte zu machen. »Eigentlich ist es ganz einfach. Ich wollte schon immer dem Land dienen, wie es mein Vater vor mir getan hat. Er war beim regulären Heer. Deshalb habe ich mich bei der Miliz beworben. Doch was man mich dort tun ließ und was ich mit ansehen musste ...« Sein Gesicht verdüsterte sich, als die Erinnerungen kamen. »Was denn beispielsweise?« »Gesetzlich erlaubte Proteste mit unverhältnismäßig großem Gewalteinsatz unterdrücken. Leute unter Druck setzen, bis sie als Informanten dienen. Verdächtige foltern oder ermorden ... unendlich viele Dinge, die eine Ordnungstruppe niemals tun sollte.« Eifer schien ihn zu beleben. »Ich hatte mich beworben, um die Freiheit der Menschen zu schützen und nicht, um sie zu beseitigen.« »Erzähle uns, wie der Wendepunkt für dich kam«, sagte Karr. »Es war ein schlimmer Befehl zu viel, Herr. Es war ganz einfach. Ich musste den Befehl verweigern, und so etwas tut man nicht in der Miliz. Also bin ich desertiert. Mein Vater wäre entsetzt darüber gewesen, doch ich dachte, ich diene dem Volk eher, wenn ich mich dem Widerstand anschließe, statt dem Reich und seinen Marionetten zu dienen.« Karr schüttelte dem jungen Mann die Hand. »Deine Unbestechlichkeit ehrt dich.« 344 Als sie sich von ihm entfernten, näherte sich ihnen eine Frau. Ihr verhärmtes Gesicht und die bekümmerten Augen sprachen von einer Tragödie, die sie vor der Zeit hatte altern lassen. Offenbar war sie ebenfalls mit Karr bekannt. Sie begrüßten sich, und er stellte ihr die gleiche Frage wie dem Deserteur. »Warum ich hier bin?« Sie schien ehrlich erstaunt. »Wo sonst könnte ich nach dem sein, was geschehen ist?« »Was ist denn geschehen, gnädige Frau?«, fragte Kutch höflich und mitfühlend. Die Frau starrte ihn an, als sähe sie ihn erst jetzt. Nach einer kleinen Pause erklärte sie: »Ich habe zwei Jungen verloren. Einer war wohl nicht viel älter als du, die Götter mögen dich segnen.« »Wie sind sie ...« »Der Älteste musste in den Krieg. Es war einer dieser sinnlosen Kriege gegen Menschen, mit denen wir keinen Streit haben. Der Staat hat den Jüngsten getötet.« »Wegen Feigheit hingerichtet«, ergänzte Karr. »Ich kannte ihn. Wenn er ein Feigling war, dann will ich nackt in
einen Barbkatzenbau kriechen.« »Sein einziges Verbrechen bestand darin, dass er aussprach, was er dachte«, fuhr die Frau fort. »Dafür haben sie ihm das Leben genommen. Und deshalb bin ich hier und unterstütze den Widerstand, so gut ich kann.« Karr bedankte sich bei ihr, und sie zog sich auf ihren Platz auf dem Boden zurück. In der Nähe fand er eine weitere Frau, die er kannte. Sie war wie die anderen vom Kummer gezeichnet, auch wenn ihr jugendliches Aussehen noch einigermaßen erhalten geblieben war. 345 Der Patrizier erzählte ihre Geschichte selbst. »Du hast bei einer gewaltsamen Räumung dein Heim verloren, weil dort ein Palast für einen Aufseher aus Gath Tampoor gebaut werden sollte. Ist das richtig?« Sie nickte. »Aber das war noch nicht das Schlimmste. Als sich die Leute in unserem Viertel zusammenschlössen, um sich gegen den Plan zu wehren, gab es ein Blutbad. Mein Mann und mein Bruder wurden regelrecht abgeschlachtet.-« »Sie haben Paladine hingeschickt«, ergänzte Karr. »Bastarde«, zischte die Frau. Sie bemerkte Caldasons mitfühlenden Gesichtsausdruck und warf ihm einen wissenden Blick zu. »Ihr seid Qalochier?«, fragte sie. Er bestätigte ihre Vermutung mit einem kleinen Nicken. »Dann wisst Ihr ja, was es heißt, durch ihre Hand zu leiden. Wenn es nach mir ginge, dann hätte jeder, der sich gegen diese Clan-Schweine wendet, einen Orden verdient. Ich wünsche jedem Schwertarm, der sich gegen sie erhebt, Stärke und Glück.« Ihr Lächeln war nicht warm, aber wissend. Die Bemerkung war zudem deutlich genug, um Caldason zu verstehen zu geben, dass sie seine Identität erraten hatte. Doch sie beendeten den Wortwechsel, ohne es auszusprechen, und gingen weiter. »Seht Ihr den da?« Karr deutete auf einen bärtigen, stämmigen Mann, der auf einem Fass hockte. Er trug eine Wollmütze und einen langen, dunkelblauen Mantel. »Noch ein Deserteur. Er war bei der Marine. Der Erste Offizier einer Sklavengaleere, man stelle sich vor. Er verabscheute die Brutalität und lief zu uns über.« 346 Jeder Schritt brachte eine neue Geschichte zutage. Karr deutete auf weitere Freiwillige. »Die beiden da an der Tür - bekehrte Banditen. Sie haben uns einige nützliche Fertigkeiten geschenkt. Der da. Seht Ihr ihn? Ein Priester. Hat wegen einer Gewissensfrage seine Gelübde gebrochen. Das Paar dort drüben - ein Kaufmann und seine Frau. Sie ...« »Ich glaube, wir haben es verstanden«, unterbrach Caldason ihn. »Ihr bekommt eine Menge Unterstützung.« »Ja. Der Widerstand wird aus einem stärkeren Reservoir denn je zuvor gespeist.« »Dann werden all diese Leute in Euer Inselparadies auswandern?« Karr lachte leise. »Das wohl kaum. Einige werden es vielleicht tun. Wir werden sehen.« Caldason sah sich im Raum um. »Das ist eine bunte Mischung.« »Ich glaube, man sollte sie eher vielfältig nennen. Sie haben eine große Bandbreite von Erfahrungen, die wir allesamt brauchen können. Noch wichtiger, sie haben etwas, das sich nicht so leicht messen lässt. Leidenschaft. Damit kann man Berge versetzen.« »Reiche zu versetzen könnte sich als weit schwieriger erweisen.« »Warum müsst Ihr eigentlich immer ...«, begann Karr empört. »Pst!« Kutch legte einen Finger an die Lippen. Goyter war auf eine Kiste gestiegen und bat um Ruhe. Zwei Männer gingen zu den verbundenen Zahnrädern in der Mitte des Raums, packten einen dicken Hebel, spannten die Muskeln an und legten ihn um. Die Räder wurden langsamer, das Knirschen 347 f£» dehnte sich, bis sie schließlich quietschend stehen blieben. Ein letztes Zittern lief durch die Mühle, und ein Schauer feinen weißen Pulvers rieselte von oben herunter. Als die Maschinen standen und das Schwatzen aufgehört hatte, wirkte die Stille befremdlich. Inzwischen hatten sich alle erhoben und sahen Goyter an. Karr, Reeth und Kutch standen im Hintergrund, was ihnen ganz recht war. »Ihr wisst alle, warum wir hier sind«, rief Goyter. »Ich will nicht länger reden als unbedingt nötig. Ihr habt eine Entscheidung getroffen, die euer Leben verändern wird. Vielleicht wird sich sogar unsere ganze Welt zum Besseren wandeln. Es ist eine Entscheidung, die ihr nach diesem Abend nicht mehr zurücknehmen könnt, so viel muss euch klar sein. Ist hier vielleicht jemand, der nicht weitergehen will?« Keine Hand wurde erhoben, niemand bewegte sich. »Bisher hat noch keiner gekniffen«, vertraute Karr ihnen flüsternd an. »Ich weiß auch nicht, was wir tun würden, wenn jemand an diesem Punkt einen Rückzieher machen würde. Wahrscheinlich müssten wir ihn töten.« Reeth und Kutch wechselten einen Blick. Sie waren beinahe überzeugt, dass er nur scherzte. »Gut«, fuhr Goyter fort. Ihre kräftige, klare Stimme erreichte mühelos auch den hintersten Winkel des Raumes. »Wenn ihr mich fragt, dann glaube ich, dass ihr euch richtig entschieden habt.« Ihr Blick wanderte über die Gesichter der Zuhörer. »Dies ist ein seltenes Ereignis, das ihr nie mehr vergessen werdet. Genießt den Augenblick.« Sie dachte kurz nach, ehe sie fortfuhr. »Es ist Zeit, den Eid abzulegen. Hebt die rechte 348
Hand und sprecht mir nach.« Sie brauchte keine schriftliche Gedächtnisstütze für den Schwur und rezitierte aus dem Kopf. »Aus eigenem freiem Entschluss und frei von Zwang ...« Sie hielt häufig inne, damit die Anwärter die Worte wiederholen konnten. Caldason betrachtete die Rekruten Alte und Junge, Menschen in mittleren Jahren, sogar einige Kinder, die zu klein waren, um es wirklich zu verstehen, hatten die Hände gehoben und machten ein feierliches Gesicht. »... schwöre ich hiermit treu zu dienen ...« Einige blickten ernst oder inbrünstig, aufgeregt, ängstlich, triumphierend oder hatten einen glasigen Blick. Einigen standen die Tränen in den Augen. Einer oder zwei taten gelangweilt. »... denen widersetzen, die uns unterdrücken und ...« Caldason blickte zu Karr und sah, dass dieser, den Blick unverwandt auf Goyter gerichtet, lautlos den Eid mitsprach. »... verpflichte mich mit Verstand, Körper und Geist dem ...« Auch Kutch sah fasziniert zu. Die hehren Ideale und die edlen Worte zogen ihn in den Bann. »... die Schwachen zu schützen, für die Gedemütigten zu kämpfen und für die Verstummten zu sprechen ...« Wären die Gefühle im Raum einförmig gewesen, wären Sentimentalität und fromme Überzeugung die einzige Regung der Anwärter gewesen, dann hätte Caldason es als nichtig abgetan. »... das unveräußerliche Recht jedes Menschen ...« Doch es schien ihm, als gäbe es im Raum so viele Regungen, wie es Menschen gab. Irgendwie verlieh 349 die Vielfalt dem, was geschah, eine tiefe Bedeutung. Es war eine Kraft, die ihm nicht unbekannt war, doch er hatte sie lange nicht mehr gespürt. »... nicht ruhen, solange die Freiheit...« So unterschiedliche Menschen - vielfältig, hatte Karr gesagt -, und doch gab es zwischen ihnen eine Verbindung, eine Übereinstimmung in den Zielen. Das Gefühl, das in ihm wuchs, zog etwas aus den Tiefen seiner Erinnerung hervor. Es war die Erinnerung an einen Traum. »... dies schwöre ich mit diesem Eid.« Das Ende der Vereidigung ging in großem Klamauk unter. Die Leute klatschten, es gab halblaute Jubelrufe, einige nahmen ihre Gespräche wieder auf. Caldason rief sich mit Mühe ins Hier und Jetzt zurück. »Seid doch still!«, rief Goyter, um die neuen Rekruten zum Schweigen zu bringen. »Diejenigen unter euch, die zu Heim und Familie zurückkehren, werden nicht gleichzeitig aufbrechen, sondern in kleinen Gruppen. Die Wächter an der Tür kümmern sich darum. Diejenigen, die nicht zurückkehren, bleiben einfach, wo sie sind. Eure Gruppenführer werden zu euch kommen. Wir wollen dies leise und vernünftig tun, Leute.« Die Antwort bestand aus donnerndem Applaus. »Einige gehen nicht zurück?«, fragte Kutch. »Sie wurden ausgewählt, um im Untergrund zu arbeiten«, erklärte Karr. »Sie geben ihr bisheriges Leben auf und verschwinden im Untergrund. Eine neue Identität, neue Ziele. Andere dienen am besten, indem sie in den Rollen ausharren, die sie bisher schon ausgefüllt haben.« »Das klingt, als wäre alles sehr gut organisiert.« 350 »Wir lernen immer noch dazu. Wir haben Jahre gebraucht, um die Struktur der Bewegung aufzubauen. Doch jetzt führt das neue Bündnis dazu, dass wir ein noch größeres Netzwerk aufbauen müssen.« »Das ist alles so schrecklich aufregend«, seufzte Kutch. »Für dich ist dieses Ereignis hier sehr romantisch, nicht wahr, Kutch?«, sagte Caldason. »Ein kleines Abenteuer.« »Nun ja, ich glaube ...« »Das ist es nicht. Es sind reale Menschen, die reale Risiken eingehen und vielleicht dafür sterben müssen. Es geht um Ehefrauen oder Brüder oder Väter, es geht um Menschen, die verstümmelt oder gefoltert wurden oder denen noch Schlimmeres widerfahren ist. Warum erzählt Ihr dem Jungen nicht einmal von dieser Seite der Angelegenheit, Karr?« »Ihr seid der geborene Zyniker«, erwiderte der Patrizier ironisch, obschon seiner Stimme anzuhören war, dass er tatsächlich ein wenig verärgert war. »Ja, all dies trifft zu. Menschen werden verletzt, sie müssen sterben, und das Elend ist unvermeidlich. Es ist ein gefährliches Unterfangen. Doch Kutch hat ebenfalls Recht. Es ist auch ein Abenteuer. Wahrscheinlich das größte Abenteuer, das wir jemals erleben werden. Und was die romantische Seite angeht, so muss man fragen, welche Romantik größer ist als die der Freiheit.« Caldason verzichtete auf eine Antwort. Die Ersten brachen auf und wurden von den Wachen mit unbewegten Gesichtern einzeln oder zu zweit hinausgelassen. Diejenigen, die blieben, wurden von den Vorgesetzten zu Einheiten zusammen351 gefasst. Goyter bewegte sich zwischen ihnen hin und her, beruhigte aufgeregte Gemüter und beantwortete Fragen. »Was wird jetzt mit uns, Karr?«, fragte der Qalochier schließlich. »Eine Angelegenheit liegt noch vor uns, die Ihr hoffentlich nicht als lästige Pflicht betrachten werdet. Ich denke,
es ist an der Zeit, dass Ihr die Leute kennen lernt, die ich zuvor erwähnt habe. Die Hand voll Flüchtlinge, die an unsere Ufer gespült wurden. Ah.« Er wandte sich zur Tür um, wo eine gewisse Unruhe entstanden war. Eine kleine Gruppe von Menschen wurde hereingeführt. Sie trugen Umhänge und Kapuzen. Mehrere Neuankömmlinge waren offenbar erfahrene Mitglieder des Widerstandes, die als Führer und Begleitschutz dienten. Ihre Schutzbefohlenen waren ein Mann, zwei Frauen und zwei Kinder, auf den ersten Blick eine sehr eigenartige Gesellschaft. Vielfältig, dachte Reeth. Niemand, und am wenigsten Caldason, konnte wissen, dass sich nun alles ändern sollte. 352 Die Neuankömmlinge warfen die Kapuzen zurück und legten die Mäntel ab. Oder wenigstens die Frauen taten es. Beide schüttelten ihr Haar frei. Eine hatte blondes, die andere pechschwarzes Haar. Caldason erkannte die Schwarzhaarige sofort als Qalochierin. Solche Begegnungen waren mehr als ungewöhnlich, und er dachte, sie müsse wohl das Gleiche empfinden. Die Kinder, die sich als ein kleiner Junge und ein Mädchen entpuppten, sobald sie sich der Mäntel entledigt hatten, waren anscheinend unendlich müde. Alle waren sie müde. Der eher klein geratene und kräftig gebaute Mann behielt die Kapuze auf. Er mochte einen guten Grund dafür haben, doch so zog er nur noch mehr Aufmerksamkeit auf sich. Caldason war gespannt darauf, eine Qalochierin kennen zu lernen. Auch auf den Mann, der sich verborgen hielt, war er neugierig. Doch eigentlich hatte er nur Augen für Serrah Ardacris. 353 Instinktiv erkannte er die Kriegerin in ihr, und er hätte sie auch erkannt, ohne gehört zu haben, was Karr zuvor über sie gesagt hatte. Sie besaß jene mühelose Anmut, die guten Tänzern und Kämpfern zu Eigen ist - athletisch, geschmeidig, leichtfüßig und muskulös auf eine Weise, die ihre Weiblichkeit nicht infrage stellte. Das von Anstrengung gezeichnete Gesicht war eigentlich sogar recht hübsch zu nennen. Es verriet ihre Stärke. Wenn die Menschen von Charakter sprechen, dachte Caldason, dann meinen sie gewöhnlich Stärke, und das Gesicht dieser Frau zeigte ihre Stärke. Sie war ganz und gar präsent, und ihre Haltung sprach von Selbstvertrauen und Eigensinn. Ergänzt vielleicht durch eine kleine Spur von Wahnsinn. Serrah betrachtete ihn auf ähnliche Weise, wie er sie musterte. Es war ein normaler Vorgang des gegenseitigen Erkennens bei zwei Menschen, die ein ähnlich gewaltsames Leben führten. Ihr Blick hielt seinem stand, galt aber nicht ausschließlich ihm. Sie beobachtete ständig die Umgebung und die Menschen in der Nähe, sie war entspannt und zugleich sehr wachsam. So verhielt sich auch Caldason, obgleich er es besser verbergen konnte, weil er mehr Zeit zum Üben gehabt hatte. Irgendjemand legte den Hebel um, und die Zahnräder drehten sich weiter. »Dies ist nicht der richtige Ort für eine Begegnung«, übertönte Karr den Lärm, »auch wenn wir hier unter uns sind. Wir sollten uns ein wenig zurückziehen.« Er winkte Goyter. Nach einer hastigen, geflüsterten Beratung sagte er zu Reeth und Kutch: »Einen Augenblick, bitte.« Dann ging er zur Gruppe der Neuankömmlinge an der Tür. 354 Reeth warf Kutch einen Blick zu. »Es war ein langer Tag, nicht wahr? Viele neue Eindrücke.« Der Junge nickte. »Kommst du damit zurecht?« »Ja. Es geht schon irgendwie. Ich bin nur etwas überwältigt. Zu erfahren, dass ich ein Aufklärer sein könnte, die Pläne des Widerstandes hören, etwas über Euch erfahren ...« »Nach diesen turbulenten Ereignissen müssen sich die Dinge erst wieder beruhigen.« »Es ist nie ruhig, wenn Ihr in der Nähe seid, Reeth.« Karr sagte etwas zu den Neuankömmlingen, und alle blickten zu Caldason und Kutch herüber. Reeth fiel vor allem auf, wie Serrah ihn anstarrte. Stolz, durchdringend. Da war wieder die Stärke. Karr kehrte zu ihnen zurück, und die neu Angekommenen folgten ihm. »Hier herüber, dort können wir uns zurückziehen.« Caldason und der Junge schlössen sich dem Geleitzug an, und Karr führte sie zu einer kleinen Tür im hinteren Teil des Raumes. Er öffnete sie, schob alle hindurch und warf die Tür hinter dem Letzten zu. »Schon besser«, verkündete er. Hier drinnen war es ruhiger und kühler. Sie befanden sich in einem Lagerhaus, einem lang gestreckten, niedrigen Gebäude, in dem links und rechts neben dem Mittelgang Säcke und Fässer aufgestapelt waren. Auch hier spendeten Zauberkugeln das nötige Licht, wenngleich weniger als in der Mühle, sodass es ein wenig dunkler war. Caldason sah sich rasch um und stellte zufrieden fest, dass sie allein waren. »Ich glaube, Ihr könnt jetzt die Kapuze abnehmen, Kinsel«, meinte der Patrizier. 355 Der stämmige Mann leistete dem Vorschlag Folge und entblößte ein freundliches Gesicht mit einem sauber gestutzten Bart. »Gott sei Dank.« Er hatte eine weiche Bassstimme. Das offene Lächeln war echt. Karr erwiderte das Lächeln. »Dann ist es wohl Zeit, Euch einander vorzustellen.« Er deutete auf die anderen. »Reeth Caldason und Kutch Pirathon.«
Kutch sagte »Hallo«, Caldason beschränkte sich auf das gewohnte, fast unmerkliche Nicken. Karr deutete auf die andere Gruppe. »Serrah Ardacris, Tanalvah Lahn.« Serrah schwieg und hielt sich völlig reglos. Tanalvah lächelte und erwiderte den Gruß. »Und das hier sind Lirrin und Teg.« Die Kinder fassten einander bei den Händen und schlugen die Augen nieder. »Hallo, Kinder«, gab Kutch zurück. Der kleine Junge schenkte ihm einen schüchternen Blick. »Und das ist Kinsel Rukanis«, fuhr Karr fort. »Einigen dürfte er wohl bekannt sein.« »Mir nicht«, sagte Caldason unumwunden. Rukanis schien nicht beleidigt. »Es freut mich sehr, Eure Bekanntschaft zu machen.« »Ich habe schon von Euch gehört, Meister Rukanis«, erklärte Kutch. »Ich habe einmal ein Bild von Euch gesehen. Zwar habe ich Euch nie singen hören, aber wie man sagt, sollt Ihr sehr gut sein.« »Danke, Kutch. Ich hoffe, du wirst eines Tages Gelegenheit haben, mich zu hören.« »Kinsel ist einer der berühmtesten und begabtesten klassischen Sänger im Reich«, erklärte Karr. Rukanis wischte das Kompliment weg, und seine Wangen bekamen etwas Farbe. »O ja«, sagte Caldason. »Der Pazifist.« 356 »Dies ist nicht gerade die luxuriöseste Umgebung«, unterbrach Karr, »aber bitte, setzt Euch doch.« Tanalvah hockte sich auf eine Kiste und nahm Teg in die Arme. Lirrin blieb dicht neben ihr, hielt sich an Tanalvahs Kleid fest und lutschte verschämt am Daumen. Kinsel ließ sich neben ihnen auf einer anderen Kiste nieder, Kutch entschied sich für einen Haufen dicker Säcke, der Patrizier für ein Fass. Caldason und Serrah blieben stehen und beäugten einander. »Nun, wie ist es Euch denn ergangen?«, fragte Karr die Neuankömmlinge. »Es ist übrigens selbstverständlich, dass wir jedem hier vertrauen können. Ihr könnt unbefangen sprechen«, fügte er hinzu. Serrah Ardacris ergriff als Erste das Wort. »Man hat uns von Pontius zu Pilatus geschleppt. Was glaubt Ihr eigentlich, wie wir uns fühlen?«, entgegnete sie scharf. »Dafür muss ich mich entschuldigen.« Er wandte sich an Reeth und Kutch und erklärte die Zusammenhänge. »Es war nötig, unsere Freunde in Bewegung zu halten, nachdem sie uns um Hilfe gebeten hatten.« »Es wäre gut, wenn wir endlich einmal ausruhen könnten«, sagte Tanalvah mit einem Blick auf die Kinder. »Und sei es nur um der beiden willen.« »Aber natürlich. Wir haben inzwischen eine sichere Bleibe für Euch gefunden. Ihr werdet bald dorthin kommen und könnt Euch erholen.« Er wandte sich an Rukanis. »Bei Euch sieht es natürlich anders aus, Kinsel. Wir müssen dringend eine Lösung für Euch finden.« »Kennen sie die Begleitumstände?«, fragte der Sänger mit einem Nicken in Reeths und Kutchs Richtung. »Teilweise.« 357 »Ich bin seit sieben Jahren beim Widerstand«, erklärte Rukanis ihnen. »Ich will Euch nicht mit den Einzelheiten langweilen, doch meine Gründe lassen sich, wenn man meine Ansichten in Bezug auf Freiheit und Freizügigkeit berücksichtigt, recht einfach darstellen. Wie Ihr schon angedeutet habt, Caldason, bin ich strikt gegen Gewalt. Ich glaube allerdings nicht, dass ich damit weniger nützlich für unser Anliegen bin. Mein Beruf erfordert viele Reisen, und ich habe Zugang zu den höheren Rängen der Herrscher. All dies kam bisher dem Widerstand zugute. Es ging reibungslos, bis ...« Er warf einen Blick zu Serrah. »Ich glaube ... wir alle sind dieser Frau zu großem Dank verpflichtet. Ohne sie wären wir nicht hier.« »Wir sind ihr äußerst dankbar dafür«, stimmte Karr zu. Serrah gab nicht zu erkennen, wie das Kompliment bei ihr ankam. »Doch die Begleitumstände, unter denen Ihr Euch kennen gelernt habt, könnten zu gewissen Problemen führen«, fuhr er fort. »Unsere Spione berichten uns, dass Ihr bisher nicht unter Verdacht steht, Kinsel. Schließlich seid Ihr auch erst kurze Zeit verschwunden. Das heißt aber nicht, dass Ihr nicht kompromittiert seid.« »Wie lautet Euer Rat?« »Die Entscheidung liegt bei Euch. Ich denke aber, es könnte an der Zeit sein, Euer Leben als berühmter Sänger aufzugeben und Euch in den Untergrund zurückzuziehen. Ihr habt viel erreicht, und wir sollten unser Glück nicht über Gebühr strapazieren.« Rukanis seufzte schwer. »Um ehrlich zu sein, ich habe auch schon darüber nachgedacht. Das Problem ist allerdings meine alltägliche Arbeit. Ich trage Verantwortung. Menschen hängen von mir ab. Ich kann 358 nicht einfach verschwinden und sie im Ungewissen lassen.« Karr lächelte boshaft. »Könnte es nicht sein, dass Ihr einfach den Gedanken hasst, Euer prachtvolles Leben aufzugeben?« »Es ist bei weitem nicht so prachtvoll, wie Ihr vielleicht glaubt. Und so wichtig mir das Singen ist, die Arbeit für den Widerstand ist mir noch wichtiger. Wie auch immer, wer hat eigentlich davon gesprochen, ich müsse mit Singen aufhören? Ich habe selbstverständlich die Absicht, unter unserer neuen Ordnung wieder aufzutreten.« »Dann denkt Ihr also darüber nach, uns bis dahin ganz und gar zur Verfügung zu stehen?«, hakte Karr nach. »Darüber will ich erst nach dem Empfang heute Abend reden.« »Vielleicht solltet Ihr das lieber vergessen, Kinsel. Es ist zu riskant.« »Riskanter, als einfach nicht aufzutauchen und einige mächtige Leute zu verärgern? Was ist denn mit den
Informationen, auf die ich achten sollte? Sind die nicht immer noch wichtig?« »Wir können andere Quellen finden. Denkt vor allem an Eure eigene Sicherheit.« »Hör auf ihn, Kinsel«, mischte sich Tanalvah ein. »Du scheinst nicht zu verstehen, wie gefährlich dies alles ist.« Die Kinder sahen mit großen Augen zwischen ihr und Rukanis hin und her. »Schon gut, Tan«, beruhigte er sie sanft. »Ich kann schon auf mich aufpassen. Mach dir meinetwegen keine Sorgen.« 359 »Dann können wir Euch wohl nicht umstimmen, was?«, erkannte Karr. »Ihr wart schon immer sehr eigensinnig. Also geht nur und nehmt an dem verdammten Empfang teil. Ich lasse vorher die Umgebung von einigen unserer Leute erkunden. Sie werden in der Nähe bleiben, falls es Ärger gibt.« »Was ist denn so Besonderes an diesem Empfang?«, fragte Caldason. »Alle Versammlungen hoher Staatsbeamter sind für uns wichtig, weil dort immer unbedachte Bemerkungen fallen. Diese ist von besonderer Bedeutung, da die Kommandanten der Flotten anwesend sein werden.« »Warum interessiert Ihr Euch für diese Leute?« »Wir haben Gerüchte gehört, dass eine Expedition ausgerüstet werden soll. Angeblich nur eine Handelsmission, doch das Militär ist offenbar stark beteiligt. Wir vermuten, dass die bhealfanische Flagge genutzt wird, um irgendein Abenteuer des Reichs zu tarnen. Den Gerüchten nach fährt die Flotte nach Norden, also könnte es etwas mit dem Kriegsherrn Zerreiss zu tun haben.« »Der Mann, der von der Sonne herunterfiel«, sagte Tanalvah. »Was?«, fragte Karr stirnrunzelnd. »Auf dem Schiff, mit dem wir hergekommen sind, habe ich gehört, dass er so genannt wird. Es heißt, sein eigenes Volk habe ihm diesen Titel gegeben. Den Grund dafür kenne ich aber nicht.« »Mir ist bekannt, dass er einige wohlklingende Namen trägt, doch diesen habe ich noch nicht gehört.« »Mir ist etwas Ähnliches zu Ohren gekommen«, ergänzte Serrah. »Ebenfalls von Matrosen, und die sind 360 gewöhnlich eine gute Informationsquelle. Jedenfalls wenn sie nüchtern sind. In Gath Tampoor hat meine Einheit eine Unterweisung über diesen Mann bekommen.« »Darüber würde ich gern mehr erfahren.« »Versprecht Euch nicht zu viel davon. Es waren recht allgemeine Informationen. Nicht mehr als das, was Ihr sowieso schon wisst.« »Ich glaube, ich kann erkennen, worauf es hinausläuft, Karr«, sagte Caldason. »Ihr hofft, den Kriegsherrn als Verbündeten zu gewinnen. Eine Stärkung des Widerstands, wie Ihr sie Euch auch durch die Magie der Gründer erhofft.« »Dieser Gedanke ist uns tatsächlich gekommen. Der Feind meines Feindes ist mein Freund und so weiter. Andererseits sind wir auch besorgt, Zerreiss könne sich womöglich mit Gath Tampoor verbünden. Ein entsprechendes Abkommen würde beiden Seiten nützen, und dann gäbe es eine weitere Kraft, die gegen uns wirkt.« »Was hält sie eigentlich davon ab, genau dies mit dieser Clepsydra und dem zu tun, was Ihr als Quelle bezeichnet? Sie haben gewiss davon gehört. Warum haben sie nicht schon längst beide ausfindig gemacht und die Magie der Gründer gegen den Widerstand eingesetzt? Ganz zu schweigen davon, dies gegen Rintarah einzusetzen. Und da ich gerade dabei bin, warum hat nicht auch Rintarah schon längst versucht, sie zu finden?« »Darauf haben wir keine Antwort.« »Die nahe liegende Antwort wäre die, dass diese Artefakte nicht existieren und dass die Reiche das wissen.« 361 »Oder dass sie die Berichte für Legenden halten und sich nicht die Mühe machen, der Sache auf den Grund zu gehen. Wir jedenfalls glauben, dass es dort etwas gibt, das zu untersuchen sich lohnt, Reeth.« »Dann solltet Ihr mich so schnell wie möglich dort hinschicken.« »Glaubt mir, wir werden uns alle Mühe geben. Aber Ihr vergesst etwas. Wir legen uns für Euch ins Zeug, und Ihr könntet umgekehrt auch etwas für uns tun. Wie wäre es, wenn Ihr das Gleiche tut wie Serrah und Tanalvah und Euch in aller Form dem Widerstand anschließt? Ich weiß, dass Ihr erst darüber nachdenken wolltet, aber was gibt es da eigentlich noch nachzudenken?« Caldason sah von einem Gesicht zum anderen. Bei der reglos dastehenden Serrah blieb sein Blick am längsten hängen. »Also gut«, sagte er. Entsetzt über Reeths plötzlichen Sinneswandel, rief Kutch: »Vergesst mich nicht!« »Ausgezeichnet«, meinte Karr begeistert. »Ihr könnt gleich hier an Ort und Stelle mit einer improvisierten Zeremonie vereidigt werden.« »Setzt mich nur vernünftig ein«, erklärte Caldason. »Mir wird schnell langweilig, wenn ich nichts zu tun habe.« »Macht Euch deshalb keine Sorgen. Ihr werdet von jetzt an Euren Lebensunterhalt verdienen, das könnt Ihr mir glauben.« Caldason hörte nur mit halbem Ohr zu. Seine ganze Aufmerksamkeit galt Serrahs undurchschaubarem Gesichtsausdruck.
362 Viele Dinge ereigneten sich im Lauf der nächsten paar Tage. Der Empfang, an dem Kinsel Rukanis teilnahm, verlief ohne Zwischenfälle. Im Hinblick auf das Sammeln vertraulicher Informationen erwies er sich allerdings als enttäuschend. Der Sänger erfuhr so gut wie nichts über die angebliche Handelsexpedition in den Norden, abgesehen davon, dass sie in einigen Wochen auslaufen sollte. Kaum jemand wunderte sich, als Kinsel und Tanalvah Lahn zusammenzogen und mit Teg und Lirrin wie eine Familie zusammenlebten. Kutch begann unter Phönix' persönlicher Aufsicht seine Ausbildung als Aufklärer. Es war schwerer als erwartet, und nach den Lektionen war er meistens erschöpft und manchmal sogar, höchst untypisch für ihn, ausgesprochen mürrisch. In einem der ärmsten Viertel Valdarrs gab es einen Aufstand, der sich aus einem Streit über die Zuteilung von sauberem Trinkwasser entwickelt hatte. Die mas363 sive Reaktion der Behörden führte dazu, dass elf Menschen getötet und unzählige weitere verwundet wurden. Später am gleichen Tag brannte jemand einen Stützpunkt der Miliz nieder, was erneute Vergeltungsschläge nach sich zog. Eine kleine Gruppe der Aufständischen benutzte umgebaute illegale Zauber und beschwor ein riesiges fliegendes Schwein herauf. Es schwebte über der Stadt und spuckte bunte Buchstaben aus, die sich zu holprigen Spottversen verbanden. Ein Lokalpolitiker war das Ziel dieses Spotts. Die Behörden mussten Zauberer heranschaffen, die mit Anti-Magie-Geschossen das Schwein neutralisierten. Zuvor hatte jedoch die anatomisch unmögliche Leistung, die in dem Gedicht beschrieben wurde, einen großen Teil der Bevölkerung amüsiert. Ein unbedeutender Angehöriger der bhealfanischen Königsfamilie wurde auf offener Straße von einem Mann angegriffen, der eine Kümmernis hatte. Der Mann wurde von Leibwächtern mit durch Zauber verstärkten Schlagstöcken niedergestreckt. Reeth Caldason und Serrah Ardacris bereiteten sich unterdessen auf einen Raubüberfall vor. Der Vereinigte Revolutionsrat hatte die Bildung einer Spezialeinheit verfügt, die jener ähnlich war, die Serrah in Merakasa befehligt hatte. Doch Serrah wurde nicht als deren Leiterin eingesetzt. Diese Rolle wurde aus Gründen, die dem Rat allein bekannt waren, dem widerstrebenden Caldason aufgenötigt. Falls Serrah Probleme damit hatte, die zweite Position nach ihm zu bekleiden, so zeigte sie es nicht. Vielleicht lag es daran, dass sie ohnehin nicht viele Gefühle zeigte. Oder auch daran, dass in der Praxis sie und Caldason die Truppe gemeinsam führten. 364 Unter ihnen gab es zwei »Unteroffiziere« sowie acht »Soldaten« an der Basis der Pyramide. Die Hälfte der Mitglieder kam aus den Reihen des Widerstandes, die andere Hälfte aus der Bruderschaft der Gerechten Klinge. Die Männer wurden von Quinn Disgleirio persönlich ausgewählt, und alle waren erfahrene Kämpfer. Da es jedoch an Kampfzauberern mangelte, fehlte der Einheit das dreizehnte Mitglied. Nach einem harten Trainingstag in einem kleinen Wald jenseits der Stadtgrenzen wurden Reeth und Serrah zu Karrs Versteck gerufen. Niemand sonst nahm an der Besprechung teil. Sie fand in einem Keller statt, dessen Eingang durch einen Zauber verborgen wurde. Für normale Augen war dort nur eine massive Wand zu sehen. Da der Raum öfter für Planungen und Einsatzbesprechungen benutzt wurde, war der Keller hell erleuchtet und gut eingerichtet. Sie saßen auf einer von mehreren großen Bänken und nahmen Erfrischungen zu sich. Serrah und Caldason, die an schlichte Kost gewöhnt waren, beschränkten sich auf leichte Speisen und klares Wasser. Karr gönnte sich einen Becher verdünnten Branntwein. Er trank einen Schluck und fragte: »Geht alles seinen Gang mit der Truppe?« »Es scheint so«, erklärte Caldason. »Sie arbeiten gut zusammen und befolgen die Befehle. Keine Probleme bisher.« »Stört es nicht, dass Ihr ein Qalochier seid? Ich hatte gehofft, dass es keine Rolle spielt, aber selbst in unseren Reihen gibt es Menschen mit Vorurteilen.« »Es ist ebenso wenig ein Thema wie die Tatsache, dass Serrah eine Bürgerin Gath Tampoors war, würde ich meinen.« 365 »Gut. Glaubt Ihr denn, die Truppe ist bereit für den ersten Einsatz?« »Ich denke schon.« »Serrah?« Sie nickte. Ihre Augen lagen nicht mehr so tief in den Höhlen, und ihr Gesicht hatte etwas Farbe bekommen. Genügend Schlaf, bessere Ernährung und die Tatsache, dass sie wieder ein Ziel vor Augen hatte, halfen ihr, wieder sie selbst zu werden. »Sie sind bereit und brennen darauf. Vor allem, wenn eine Chance besteht, meinen alten Herren Schaden zuzufügen.« »Ich glaube, dann wird Euch gefallen, was wir uns ausgedacht haben.« Karr nahm noch einen Schluck. »Es ist kein Geheimnis, dass wir uns unter anderem durch Diebstahl finanzieren. Natürlich bestehlen wir nicht das gemeine Volk. Wir stehlen bei den Herren, bei den Eroberern, die ihre Vasallen auspressen. Man könnte uns als
ethisch untadelige Räuber bezeichnen. Etwas in dieser Art möchte ich Eurer Einheit vorschlagen.« »Ein Politiker, der sich an kriminellen Aktionen beteiligt?«, spottete Caldason. »Wo soll das nur enden?« Karr lachte. »Kaum zu glauben, was?« Etwas ernster fügte er hinzu: »Aber natürlich gibt es da einen echten Widerspruch. Kein anständiger Diener des Volkes sollte in die Illegalität getrieben werden, ganz gleich, wie wichtig die Sache auch ist. Es kommt die Zeit, da die Widersprüche zu schwerwiegend sind, um sie noch zu vereinbaren. Ich glaube, dieser Punkt ist nun erreicht.« »Was wollt Ihr denn tun?«, fragte Serrah. »Bald wird der Tag kommen, an dem ich die Bühne der legalen Politik verlassen muss. Ich werde tun, was 366 ich Kinsel empfohlen habe: Ich werde aussteigen. Die Dinge sind so weit gediehen, dass eine legale Opposition nicht mehr viel ausrichten kann. Energisches Handeln ist der einzige Weg, den ich jetzt noch sehe.« »Es überrascht mich, dass Ihr es überhaupt so lange ausgehalten habt«, meinte Caldason. »Man klammert sich eben an seine Illusionen, versteht Ihr? Früher konnte man in der Politik etwas bewegen, aber irgendwann verliert man den Blick für die Tatsache, dass es nicht mehr geht. Ihr seht das Gebirge von leeren Versprechungen und vorsätzlichen Lügen nicht mehr und redet Euch ein, die hohlen Phrasen hätten etwas zu bedeuten.« »Ihr singt jetzt eine andere Melodie. Es ist noch nicht lange her, dass Ihr der Ansicht wart, die Politik habe immer noch ihren Wert.« »Teilweise lag es daran, dass ich Kinsel so bekümmert gesehen habe. Das hat mich ernüchtert. Vor allem aber ist es die Gesamtsituation. Je mehr wir dem Staat zusetzen, desto stärker wird die Unterdrückung. Damit musste man rechnen, aber das macht es auch schwerer, auf offiziellen Kanälen überhaupt noch etwas zu erreichen. Und für mich wird es schwerer, zwei Leben gleichzeitig zu leben.« »Also geht Ihr in den Untergrund.« »Höchstwahrscheinlich. Doch ich habe mich noch nicht endgültig entschieden, also behaltet es bitte für Euch, ja?« Sie nickten. »Ich bin vom Thema abgekommen«, fuhr Karr schließlich fort. »Eure Mission hat höchste Priorität, und sie ist von einer Art, die wir besonders mögen. 367 Wir werden die Steuern umverteilen, die den Provinzen abgepresst wurden.« »Umverteilung-«, wiederholte Serrah. Das Wort gefiel ihr. »Ja. Wir geben dem Volk nicht alles zurück, aber nachdem unsere Bedürfnisse befriedigt sind, geben wir so viel wie möglich weiter.« Caldason zog die Augenbrauen hoch. »Dann erhebt Ihr auch selbst Steuern.« »Die Menschen geben es gern, Reeth, glaubt mir. Man könnte es so sehen, dass der Staat für den Widerstand Spenden sammelt. Die Sammlung, um die es uns hier geht, findet nur einmal alle drei Monate statt. Dann wird der Zehnte aus den äußeren Provinzen eingezogen - in diesem Fall aus einem weiten Gebiet im Osten der Stadt. Dort ist fruchtbares Ackerland, es gibt einige recht große Städte und viele Dörfer, wie Ihr wisst. Es müsste eine ordentliche Beute werden.« Er zog ein großes zusammengerolltes Pergament hervor und nickte zur Bank hin. »Könntet Ihr dort etwas Platz machen?« Sie nahmen das Essen und die Getränke beiseite. Karr entrollte das Pergament, das sie an den Ecken beschwerten. »Eine gezeichnete Karte«, murmelte Serrah. »Wie altmodisch.« Sie zeigte einen Randbereich Valdarrs, wo ein Dorf von der wachsenden Stadt verschluckt wurde. Die Gegend sah aus wie das Profil eines Gesichts mit einer unmöglich langen Nase. Eine Ansammlung von Häusern stach aus dem Stadtbild hervor in die jungfräuliche Landschaft. Das äußerste Ende des verschluckten Dorfs, die Nasenspitze, reichte bis zu einem klei368 nen Fluss. Auf dem jenseitigen Ufer standen nur noch wenige Häuser, und an dieser Stelle hatte man eine Brücke gebaut. Auf der Stadtseite machte die Straße einen scharfen Knick und wurde schmaler, um sich durch die Häuser zu winden. »Das ist auf Meilen die einzige Brücke«, erklärte Karr. Er brauchte nicht zu betonen, dass es der ideale Ort für einen Überfall war. Caldason deutete auf die Karte. »Seid Ihr sicher, dass sie diesem Weg folgen werden?« »Sie wechseln jedes Mal die Route, aber wir haben zuverlässige Hinweise, dass sie hier entlangkommen werden.« »Wann?« »Das ist das Problem. Heute Abend. In etwa vier Stunden.« »Bei den Göttern, Karr«, rief Serrah. »Das kommt aber etwas überraschend, meint Ihr nicht auch?« »Ja. Aber der Hinweis ist gerade eben erst bei uns eingegangen. Also heute Abend oder erst in drei Monaten, doch dann wissen wir womöglich die Route nicht.« »Über welche Zahlen reden wir hier eigentlich?«, wollte Caldason wissen. »Wie gut ist der Transport
geschützt?« »Ein oder zwei Kutschen für die Ladung. Begleitschutz zwischen zwölf und zwanzig Mann, wenn es so ist wie bei früheren Transporten. Es sind sicher einige Paladine darunter.« »Dann sind sie in der Überzahl.« »Ich bin sicher, dass Euch in dieser Hinsicht etwas einfällt. Vielleicht können wir ihre Zahl mit einigen Ablenkungsangriffen dezimieren.« 369 »Hmm«, machte Serrah. »Sie verfügen doch sicher auch über gute Zauber, oder?« »Sie haben höchstwahrscheinlich die übliche magische Bewaffnung. Aber die werdet Ihr auch haben. Nur dass Ihr keinen ausgebildeten Zauberer dabeihabt, der ordentlich damit umgehen kann. Es ist eine gefährliche Mission, ich will nicht so tun, als verhielte es sich anders. Deshalb möchte ich auch sicher sein, dass Eure Truppe in Bestform ist.« »Das ist sie«, versicherte Caldason ihm. »Wir kommen damit zurecht.« »Ich wäre nicht ganz so zuversichtlich«, warnte Serrah. »Es kommt sehr überraschend, wir sind in der Unterzahl, wir hatten noch keinen echten Einsatz, wir ...« »Ach, hör auf. Du weißt doch, dass wir es schaffen können.« »Planung, Reeth. Planung ist der Schlüssel für jede erfolgreiche Operation. Wie viel Vorbereitung können wir in vier Stunden noch leisten? Wie sieht unsere Strategie aus, wenn wir scheitern?« »Es scheint mir eigentlich eine recht klare Lage zu sein. Das Gebiet ist ideal für den Überfall auf einen Transportzug, und wir haben die Überraschung auf unserer Seite.« »Blind drauflos zu stürmen ist schlimmer, als überhaupt nichts zu tun, glaube mir. Vergiss nicht, dass ich Erfahrung in der Leitung solcher Einheiten habe. Wir sollten den Mitgliedern mindestens die Wahl lassen, ob sie mitkommen wollen oder nicht.« »Es ist kein Picknickausflug, Serrah. Wir wollen eine disziplinierte Einheit führen. Wir können den Leuten nicht die Wahl lassen, ob sie nicht lieber kneifen wol370 len. Du machst dir zu große Sorgen um die Männer. Ihnen wird schon nichts passieren.« »Dir wird nichts passieren, meinst du.« »Bitte?« »Du genießt diese Unverletzlichkeit, nicht wahr? Nun, wir anderen haben diesen Luxus nicht. Das darfst du nicht vergessen, wenn das Leben unserer Truppe auf dem Spiel steht und wenn du waghalsig zuschlagen willst.« »Ich würde das, was ich habe, jederzeit mit dir tauschen«, gab Caldason eisig zurück. »Und unverwundbar bin ich auch nicht. Man kann mich töten oder verstümmeln, wenn die Verletzung schwer genug ist.« »Das sagst du jetzt. Ich denke nur an die Sicherheit der Gruppe.« »Oh, sicher. Das ist ja etwas, über das du sehr gut Bescheid weißt, nicht wahr?« Sie sah ihn böse an. »Was?« »Es heißt, du hättest drüben in Merakasa einen Sohn reicher Eltern umkommen lassen. Er gehörte doch zu deiner Truppe, oder?« »Es heißt, du habest unschuldige Frauen und Kinder ermordet.« »Das ist Unsinn.« »Siehst du?« Karr sah zu, als wären sie mit Ballwerfen beschäftigt. »Ich bin nicht waghalsig, wenn es um Menschenleben geht«, grollte Caldason. »Aber ich bin es?«, gab Serrah zurück. »Das habe ich nicht gesagt.« »Wann nimmst du denn Rücksicht auf das Leben anderer Menschen? Etwa wenn du einen deiner unkontrollierten Ausbrüche hast?« 371 »Das ist nicht fair. Ich habe nicht...« »Entschuldigung«, knirschte Karr. »Darf ich um Eure Aufmerksamkeit bitten? Danke. Wenn Ihr zwei nicht zusammenarbeiten könnt, dann muss ich Eure Einheit auflösen. Das wäre eine Schande, weil wir diesen Einsatz als Probe für noch ehrgeizigere Missionen betrachten. Die Mission wird uns Mittel verschaffen und Euch ein Stück näher zur Clepsydra bringen, Reeth. Könntet Ihr Eure schöpferische Spannung vielleicht ein wenig mehr auf die zu verrichtende Aufgabe umlenken?« Er strahlte sie an. »Was meint Ihr?« Sie sahen einander an. Serrah zuckte mit den Achseln. »Na gut«, sagten sie gleichzeitig. Es dämmerte schon, als sie vor Ort eintrafen und sich einrichteten. Ihnen blieb nur noch eine Viertelstunde, bis der Geleitzug eintreffen sollte. Sie entschieden sich für eine schmale Stelle der Straße. Auf einer Seite gab es Nebengebäude und verlassene Grundstücke. Gegenüber reichte der Wald bis zur Straße heran, auf einer kleinen Lichtung standen zwei Hütten. Caldason und Serrah blieben im Sattel und zogen sich in den Wald zurück. Die Brücke lag rechts von ihnen, war aber außer Sicht. Sie konnten nur einen Späher sehen, der in einer Kurve stand und die Zufahrt überblickte.
Links von ihnen lag die Stadt, über der die gewohnten magischen Leucht Erscheinungen blitzten wie Millionen schwärmender Libellen. Das ferne Grollen des städtischen Lebens drang bis zu ihnen. Hier draußen in Valdarrs Hinterland gab es kaum magische Entladungen. Nur wenige Menschen waren 372 hier unterwegs. Ein sanfter Wind trug den Duft von Geißblatt und Gras nach einem frischen Regen heran. Abgesehen vom Geräusch einiger Äxte, die Holz schlugen, war es still. Der Himmel nahm die Farbe von Zitronen und Blut an, als die Sonne unterging. Sterne funkelten vor dem purpurnen Samt. Serrah holte tief Luft und atmete langsam wieder aus, als genösse sie einen guten Tabak. Der Einsatz hatte ihre gereizte Stimmung offenbar deutlich verbessert. »Wenigstens ist hier draußen die Luft besser«, meinte Caldason. »Das ist mir normalerweise gar nicht bewusst«, sagte sie. »Ich bin ein Stadtmensch«, fügte sie erklärend hinzu. Es war das erste Mal, dass sie ihm gegenüber etwas Persönliches preisgab. »Mir ist die Realität des offenen Landes lieber«, antwortete er. »Das ist aber eine seltsame Wortwahl: Realität.« »Es ist die qalochische Art und Weise, die Welt zu sehen. Für uns sind Städte eine unnatürliche Art zu leben. Irreal.« »Hast du dich nicht an sie gewöhnt? Trotz all deiner ...« »Trotz all meiner Jahre? Nein. Eigentlich wird es immer schlimmer. Immer mehr Leute, die ziellos um immer mehr Gebäude hasten. Immer mehr Magie, die nur der Selbsttäuschung dient. So kommt der Geist niemals zur Ruhe.« Sie blickte zum Späher. »Veränderungen sind unvermeidlich. Du kommst nicht dagegen an.« 373 »Wenn du so lange lebst wie ich, dann wird dir das sehr bewusst, glaub's mir. Aber manche Dinge ändern sich nie. Die Leute beispielsweise ändern sich kaum. Sie schwelgen in Unwissenheit und sind stets für Grausamkeit zu haben.« »Ich würde mir gern vorstellen, dass es da auch ein wenig Freundlichkeit und Weisheit gibt.« »So würde ich das auch gern sehen.« Doch sein Tonfall verriet, dass er nicht daran glaubte. Einen Moment lang sah es so aus, als wollte Serrah widersprechen, doch stattdessen kam sie auf den Einsatz zurück. »Es kann nicht mehr lange dauern«, sagte sie und blickte ein weiteres Mal zum Späher hinüber. Zwei aus ihrer Truppe tauchten gegenüber auf einem niedrigen Hügel auf. Sie schleppten Seilrollen. Plötzlich verstummten die Äxte, und es wurde still. »Wenigstens haben sie es rechtzeitig geschafft«, murmelte Serrah. Späte Vogelstimmen durchbrachen die Stille. Sie wühlte in den Satteltaschen herum und holte einen zylinderförmigen Zauber hervor. Er war kaum länger als die Faust, in der sie ihn hielt. »Ich verstehe nicht, warum du einen Heuler brauchst«, brummte Caldason. »Ein Hornsignal reicht doch auch.« »Hast du denn ein Hörn?«, gab sie bissig zurück. »Und könntest du es spielen, wenn du eins hättest?« »Man spielt nicht damit, sondern man stößt ins Hörn.« »Ich möchte nicht auf deine Lungen angewiesen sein. So ist es sicherer. Niemand wird das Ding hier überhören.« Er legte einen Finger an die Lippen. »Hör mal.« Ein langes Pfeifen, das sicher nicht von einem Vo374 gel kam, drang herüber. Sie blickten zum Späher, der hektisch winkte. »Sie kommen.« Serrah nahm die Zügel ihres Pferds in eine Hand und hielt mit der anderen den Zauber bereit. Die Männer, die auf den Dächern postiert waren, duckten sich. Caldason zog sein Breitschwert. »Inzwischen müssten alle an ihrem Platz sein. Ruhig jetzt.« Einige Minuten vergingen. Dann gab der Späher ein zweites Signal, bevor er in Deckung ging. Das Klappern von Hufen war zu hören, Wagenräder ratterten über die Bohlen der Brücke. Dann tauchte die Spitze des Konvois auf: zwei berittene Paladine, dahinter vier Milizionäre. Als Nächstes kam ein gedeckter Wagen, ein Vierspänner mit Kutscher und Bogenschützen zur Bewachung. Zwei weitere Milizionäre ritten dahinter, direkt vor dem zweiten Wagen. Der Geleitzug endete so, wie er begonnen hatte: mit vier Milizionären und zwei Paladinen. »Was meinst du?«, flüsterte Serrah. »Achtzehn oder zwanzig?« »Ja, ungefähr doppelt so stark wie wir. Könnte schlimmer sein.« Der ganze Geleitzug befand sich jetzt auf dem geraden Straßenstück. Den Soldaten war bewusst, dass sie eine schmale Straße mit Deckung zu beiden Seiten vor sich hatten, und sie beschleunigten, um den gefährlichen Abschnitt schnell hinter sich zu bringen. Gleich mussten sie Serrahs und Reeths Versteck erreichen. »Ruhig«, sagte er mit einem Blick zum Zauber, den sie in der Hand hielt. »Warte den richtigen Zeitpunkt ab.« 375 »Schon gut«, zischte sie. »Ich weiß schon, was ich tue.«
»Und steck dir was in die Ohren.« Er bot ihr kleine Wachskugeln an. Sie musste den Zauber in die Achselhöhle klemmen, um eine Hand frei zu bekommen. Die Begleittruppen musterten besorgt und nervös beide Seiten der Straße. Da der Geleitzug sich nun schneller bewegte, befürchtete Caldason, er werde vorbei sein, bevor seine Männer tun konnten, was getan werden musste. Eine Sekunde später erreichten die beiden führenden Paladine den Auslösepunkt. »Jetzt!«, rief er. Serrah schlug das untere Ende des Zaubers fest gegen den Schenkel und löste ihn damit aus. Der Heuler gab ein ohrenbetäubendes Geräusch von sich. Es war schrill und schien bis auf die Knochen durchzudringen. Reeth und Serrah hatten Mühe, ihre Pferde am Durchgehen zu hindern. Rings um sie stiegen kreischende Vögel aus den Bäumen. Auch die Pferde des Geleitzuges scheuten und brachen aus und behinderten sich gegenseitig. Die erschrockenen Reiter hatten Mühe, in der Verwirrung nicht die Kontrolle über sie zu verlieren. Einige besaßen die Geistesgegenwart, ihre Waffen zu ziehen, und die Bogenschützen legten Pfeile ein. Serrahs Zauber lief ab, und sie warf ihn weg. Die abrupte Stille war fast so schmerzhaft wie der Lärm zuvor. Sie folgte Reeths Beispiel und zog sich die Ohrstöpsel wieder heraus. Der Heuler sollte gleichzeitig als Ablenkung und als Signal für den Rest der Truppe dienen, aber nichts schien zu geschehen. Der Konvoi bewegte sich weiter, 376 wenngleich nicht mehr sehr geordnet. Er war jetzt fast auf gleicher Höhe mit Reeths und Serrahs Versteck. »Verdammt!«, fauchte sie. »Was, zum Teufel...« Ein neues Geräusch war zu hören. Das Krachen von splitterndem Holz und ein Knistern und Knacken, als etwas Schweres langsam umfiel. Vor dem Geleitzug kippte ein dicker Baum auf die Straße und versperrte den Weg. Er war höher, als die Straße breit war. Der Wipfel krachte auf der anderen Seite auf eine Scheune, die völlig zerstört wurde. Die Äste federten, als der Baum auf die Straße fiel, und aus dem eingestürzten Gebäude stiegen lebhaft tanzende Staubwolken auf. Der schnell fahrende Konvoi hatte Mühe, rechtzeitig anzuhalten. Er kam erst knapp vor der Straßensperre zum Stillstand. Das abrupte Bremsmanöver ließ den ersten Wagen zur Seite ausbrechen, und er blieb schief auf der Straße stehen. Einer der folgenden Milizionäre fiel aus dem Sattel. Die Reiter im hinteren Teil des Geleitzuges versuchten die Pferde zu wenden. Doch sie kämpften noch fluchend mit den unruhigen Tieren, als ein zweites gewaltiges Krachen ertönte. Die Truppe hatte einen zweiten Baum gefällt und dem Konvoi die Rückzugsmöglichkeit genommen. Jetzt war er eingesperrt. »Los!« Caldason ließ sein Pferd die Hacken spüren und brach aus der Deckung hervor. Serrah kam direkt hinter ihm. Auch sie zog ihr Schwert. Hätten sie gegenseitig ihre Gedanken lesen können, dann hätten sie festgestellt, dass sie in diesem Augenblick sehr ähnlich empfanden. Ihre Sinne waren ebenso geschärft wie ihre Klingen. 377 Weitere Angehörige des Kommandos verließen ihre Verstecke. Sie ritten zwischen den Bäumen hervor ins Freie, kamen aus Gebäuden von vorn und hinten. Eine kleine Truppe nur, doch gut postiert und vorbereitet, um die gefangenen Steuereinnehmer zu bekämpfen. Ein Bogenschütze auf dem zweiten Wagen reagierte schnell. Der Pfeil, den er abschoss, pfiff an Serrahs Ohr vorbei. Er legte rasch den nächsten Pfeil ein und schoss noch einmal. Der zweite Pfeil war für Caldason bestimmt und verfehlte ihn nur, weil dieser sich einen Sekundenbruchteil vor dem Einschlag duckte. Der Pfeil bohrte sich in eine Eiche und blieb zitternd stecken. »Der gehört mir!«, rief Serrah und hielt auf den Wagen zu. Auch Caldason hatte sich schon ein Ziel ausgesucht. Einer aus seiner Truppe war verwundet worden und vom Pferd gefallen. Als er mühsam wieder auf die Beine kam, ritt ein Paladin herbei, um ihm den Garaus zu machen. Reeth galoppierte zu den beiden und stieß die herunterfahrende Klinge des Paladins mit seiner eigenen zur Seite. Der Rekrut brachte sich kriechend in Sicherheit, und der Qalochier und der Paladin, beide im Sattel vorgebeugt, wechselten Schwertstreiche. Der Bogenschütze, den Serrah sich ausgesucht hatte, wurde von den Kämpfen verdeckt, die rings um den Wagen ausgebrochen waren. Aus dem Getümmel tauchte ein Milizionär auf, der einen Speer mit böse gezackter Spitze trug. Er hielt ihn waagerecht und ritt auf sie zu. Sie wich aus und vermied es, getroffen zu werden. Als der Reiter sie passierte, schlug sie mit 378 dem Schwert zu und zerhackte seine Lanze. Wütend warf er den nutzlosen Schaft weg, zog sein eigenes Schwert und wendete, um noch einmal anzugreifen. Serrah duckte sich, und die Klinge fuhr harmlos über ihren Kopf. Ihr Schwert dagegen zerschnitt ihm die Brust. Er kreischte und stürzte, und das reiterlose Pferd donnerte weiter. Caldason war durch den Zweikampf mit dem Paladin gebunden. Sie wechselten Schläge, blockten Angriffe ab und suchten Lücken in der Deckung des Gegners. Die verunsicherten Pferde schnaubten und scharrten. Reeth brach schließlich das Patt, drang durch und traf den Schwertarm seines Gegners. Ein rascher Folgeschlag, und seine Klinge durchbohrte das Herz des Paladins. Der Tote sackte auf seinem durchgehenden Pferd zusammen
und wurde davongetragen. Verbündete wie Feinde wichen ihm eilig aus. Serrah spaltete einem Milizionär den Schädel. Als er zu Boden ging, konnte sie den Bogenschützen wieder sehen. Er befand sich allein auf dem Wagen, der Kutscher war offenbar ins Schlachtgetümmel hineingezogen worden. Er hatte den Bogen gespannt und zielte auf einen ihrer Kameraden. Es blieb keine Zeit mehr einzugreifen. Der Pfeil flog, traf sein Ziel und beendete einen Zweikampf, den ihr Gefährte sonst gewonnen hätte. Sie nahm das Schwert von der rechten in die linke Hand und zog ein kurzes Wurfmesser aus dem Gürtel. Dann zielte sie und warf, so fest sie konnte. Die Klinge schlug eine Handspanne neben dem Kopf des Bogenschützen ins Holzgehäuse der Kutsche ein. Er sah sich erschrocken um, bemerkte sie und griff nach seinem Köcher. Sie tastete nach einem weiteren 379 Messer. Er zog einen Pfeil heraus und legte ihn ein. Sie nahm den Arm zurück. Er spannte den Bogen. Sie warf das Messer. Er ließ den Pfeil fliegen, der ihre rechte Schulter knapp verfehlte. Serrah hätte schwören können, dass sie das Kitzeln der Federn auf der Haut spürte, als er vorbeiflog. Der Bogenschütze stand noch. Doch sie sah, dass er gleich fallen würde. Das Messer steckte in seinem Schlüsselbein. Ein roter Fleck breitete sich auf dem grauen Rock aus. Er schwankte, dann stürzte er. Sie lenkte ihr verängstigtes Pferd zur Kutsche. Jemand, der zu Fuß unterwegs war, stürmte auf sie los und wollte sie aus dem Sattel zerren. Sie trat aus und beförderte ihn zurück in den Dreck. Als sie den Wagen erreicht hatte, kletterte sie auf den Kutschbock. Dort fand sie Bogen und Köcher. Serrah nahm beides an sich und sah sich im Getümmel um. Mittendrin war Galdason mit zwei Gegnern gleichzeitig beschäftigt. Ein berittener Paladin war neben ihm, und ein Milizionär rannte zu Fuß mit einem Streitkolben hinterdrein. Er musste seine Verteidigung aufteilen und sich abwechselnd gegen Reiter und Keulenschwinger zur Wehr setzen. Er konnte die Angreifer zwar abhalten, doch er machte keine Fortschritte. Dann kam aus dem Nichts ein Pfeil geflogen und traf den Rücken des Paladins. Als der Mann stürzte, sah Reeth aus dem Augenwinkel Serrah auf dem Wagen stehen und Pfeile ins Kampfgetümmel schießen. Dann richtete er die Aufmerksamkeit wieder auf den Mann mit dem Streitkolben, den er mit einigen senkrecht geführten Schlägen entwaffnete. Der nächste Schlag tötete den Angreifer. 380 In einer jener kleinen Kampfpausen, wie sie selbst in den heftigsten Auseinandersetzungen immer wieder vorkommen, konnte Reeth sich einen Überblick verschaffen. Er gelangte rasch zu der Ansicht, dass seine Seite schon so gut wie gewonnen hatte. Zwar wurde noch überall gekämpft, doch das Blatt schien sich zu ihren Gunsten zu wenden. Er bemerkte einen noch lebenden Paladin, der sich zu Fuß vom Konvoi entfernen wollte. Er hatte etwas in der Hand, das verdächtig nach einem Notsignal-Zauber aussah. Darauf konnten sie gut verzichten. Reeth hielt auf den Mann zu. Serrah hatte nur noch einen Pfeil. Sie suchte sich ein möglichst lohnendes Ziel. Sie traf, und der Einschlag riss den Mann von den Beinen und warf ihn zu Boden. Sie ließ den Bogen fallen, nahm das Schwert und stürzte sich wieder in den Kampf. Reeths Duell mit dem Paladin verlief hitzig und war schnell vorbei. Während Reeth das Schwert aus dem Leichnam zog, sah er sich nach dem Zauber um. Er fand ihn im hohen Gras am Straßenrand und zertrat ihn mit dem Stiefelabsatz. Der Zauber spuckte blaue Funken und orangefarbenen Rauch, als er verging. Dann drehte er sich um und sah, dass alle bis auf sechs oder sieben Begleiter des Konvois ausgeschaltet worden waren. Die letzten Aufrechten waren zu Fuß und hatten sich vor einem der verfallenen Gebäude am Straßenrand verschanzt. Sie zogen sich zurück, während die Mitglieder der Bande im Halbkreis vorstießen. Als Caldason zu ihnen aufgeschlossen hatte, standen die Belagerten bereits mit dem Rücken zur Wand. 381 In der kurzen Zeit, die ihnen für die Vorbereitung des Überfalls geblieben war, hatten Caldason und Serrah auch über die Geschwindigkeit nachgedacht. Sie hatten gewisse Vorkehrungen getroffen, um die Wächter so schnell wie möglich zu überwältigen. Reeth gab den Männern auf dem Dach ein Zeichen, und diese führten ihre Befehle aus. Das Dämmerlicht machte es schwer zu erkennen, was dort oben vor sich ging. Irgendetwas wurde vom Dach geworfen - eine Sekunde lang sah es aus wie eine gescheckte schwarze Wolke. Sie senkte sich herab und nahm im Fallen die Form einer Kuppel an. Ein großes, beschwertes Fischernetz senkte sich auf die überlebenden Begleiter. Sie schrien und schlugen um sich, um dem Netz zu entkommen. Die Bandenmitglieder stürmten vor und schalteten sie mit Schwertknäufen und Keulen aus. Dann wurden die Gefangenen entwaffnet und das Netz wurde mit Seilen festgezurrt. Viele Fliegen saßen jetzt in einem großen Spinnennetz. Serrah gesellte sich zu Caldason. »Die da sind noch einmal glimpflich davongekommen.« »Wäre es dir lieber, wir bänden sie hinter ein Gespann und schleiften sie über eine holprige Straße?« Sie lächelte. »Verdient hätten sie es.« »Mag sein. Aber ich habe mich immer bemüht, mich nicht auf ihr Niveau herunter zu begeben. Ich glaube, du
siehst das ähnlich.« Bevor sie antworten konnte, fuhr er fort: »Wir müssen uns jetzt beeilen. Lass uns verschwinden.« Die Verwundeten und Toten wurden eingesammelt und auf Pferde gebunden. Dann machten sie sich gemeinsam daran, den Baum wegzuräumen, der vor 382 ihnen den Weg versperrte. Den zweiten ließen sie, wo er war, um Verfolger zu behindern. Den verletzten Gegnern taten sie nichts zuleide. Hätten sie selbst verloren, wäre es ihnen gewiss schlechter ergangen. Die Gefangenen wurden einfach sicher verschnürt zurückgelassen und durften auf Rettung warten - und zweifellos mussten sie auch mit Bestrafung rechnen, weil ihre kostbare Fracht dem Widerstand in die Hände gefallen war. Ein oder zwei Meilen weiter war ein Treffpunkt vereinbart worden, wo die Beute auf kleinere Fahrzeuge umgeladen und verteilt werden sollte. Caldason nahm selbst die Zügel des vorderen Wagens, Serrah setzte sich neben ihn. »Unsere erste erfolgreiche Mission«, sagte sie. »Meinst du?« Auf einmal war seine Stimme kalt. »Du nicht?« Er antwortete nicht, und so herrschte während des restlichen Weges ein unbehagliches Schweigen. Caldasons Augen aber ruhten die ganze Zeit auf der funkelnden Pracht und den falschen Regenbogen über der Stadt. 383 Ein feuerroter Streifen spaltete den Himmel. Es hätte ein Komet sein können, aber höchstwahrscheinlich protzte nur jemand mit seinem Reichtum. Von der Hügelkuppe im Umland aus gesehen reichte Valdarr bis zum Horizont und schien nahtlos mit dem Nachthimmel zu verschmelzen. Die darüber gestäubten Sterne waren ein stummes Spiegelbild der schillernden Farben und der bunten Eruptionen in der Stadt darunter. Zwei Menschen saßen auf einem bleichen, schon lange abgestorbenen Baumstamm. Sie kümmerten sich jedoch nicht um den Ausblick. »Was meinst du damit, es sei nicht gut genug verlaufen?«, wollte Serrah wissen. »Wir haben drei Männer verloren«, erinnerte Caldason sie. »Und doppelt so viele wurden verwundet. Das ist mir bewusst. Es ist tragisch, aber allen war klar, worauf sie sich einließen. Mit Ausfällen muss man immer rechnen.« 385 »Dabei warst du so besorgt, möglichst niemandes Leben zu gefährden.« »Ich wollte verhindern, dass jemand wegen eines waghalsigen Angriffs sein Leben verliert.'« »Hast du dich nicht auch schlecht gefühlt, wenn du damals in Merakasa Mitglieder deines Teams verloren hast?« Serrah verzog schmerzlich berührt das Gesicht. »Entschuldige. Natürlich hast du dich schlecht gefühlt«, sagte er. »Das sollte kein Seitenhieb wegen der Dinge sein, die dir geschehen sind.« »Schon gut.« »Aber es ist eine Frage der Verantwortung, und ...« »Ja, ich weiß. Natürlich habe ich mich verantwortlich gefühlt, wenn einer aus meiner Truppe getötet oder verletzt wurde. Das gilt sogar für den Trottel, der mir diesen ganzen Mist eingebrockt hat, und in dem Fall sehe ich wirklich keinen Grund, mir etwas vorzuwerfen. Allerdings muss ich sagen, dass du dir für einen Mann, der so sehr an den Kampf gewöhnt ist, ungewöhnlich große Sorgen zu machen scheinst.« »Du verstehst mich nicht. Es hat ... ich glaube, du würdest sagen, es hat mit Kontrolle zu tun.« »Du hast Recht, ich verstehe es nicht.« »Als die Qaloch aus ihrem Land vertrieben wurden, hat man uns abgeschlachtet. Ich war ohnmächtig und konnte weder mir selbst noch irgendjemandem sonst helfen. Die Menschen, denen ich bei meiner Ehre hätte beistehen und die ich hätte beschützen müssen, wurden direkt vor meinen Augen niedergemacht. Ich hatte keine Kontrolle.« »Wie hättest du sie auch haben können? Ich weiß nicht alle Einzelheiten über das, was deinem Volk ge386 schehen ist, aber ich kenne die Kräfte, gegen die du kämpfen musstest. Und man hat euch überrascht, euch ein Messer in den Rücken gestoßen.« »Das klingt, als wärst du über Verrat gut im Bilde.« »Wenn es keinen Verrat gäbe, wäre ich nicht hier und müsste versuchen, mich auf die vielen Dinge einzustellen, die sich in meinem Leben verändert haben.« »Genau. Verraten zu werden ist ebenfalls eine Form der Ohnmacht.« »In dem Sinn, dass ich keine Kontrolle über die Ereignisse hatte, trifft dies zu. Doch am Ende könnte es trotz aller Schmerzen, die damit verbunden waren, dennoch befreiend sein. Ich habe gelernt, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Ich habe die wahre Natur des Systems erkannt, dem ich gedient habe.« Reeth hatte den Eindruck, dass sie versuchte, sich selbst aufzumuntern, um das Beste aus ihrer Lage zu machen. Er behielt den Gedanken allerdings für sich. »Ich war niemals blind gegenüber der Ordnung der Dinge«, sagte er.
»Und ich war niemals ein Teil dieser Ordnung.« »Dann bist du der ideale Kandidat für den Widerstand.« »Das habe ich schon öfter gehört.« »Für diese Menschen ist Freiheit mehr als nur ein Wort, Reeth.« »Am Ende werden sie doch wieder nur ein neues Gesellschaftssystem aufbauen.« »Aber ein viel besseres als dasjenige, das wir haben. Oder jedenfalls hat es das Potenzial dazu.« »Dann bist du also ebenfalls eine gute Kandidatin für den Widerstand?« »Solange es mir entspricht.« 387 »So ungefähr sehe ich das auch. Nicht, dass es mir leicht fällt. Die heutigen Ereignisse haben es mir auch nicht eben leichter gemacht.« »Ist es nicht ironisch?« Ein leichtes Lächeln spielte um Serrahs Lippen. »Ich muss lernen, eine neue Art von Autorität zu akzeptieren, und du musst lernen, überhaupt irgendeine Art von Autorität zu akzeptieren. Ich frage mich, ob wir überhaupt für so etwas geschaffen sind.« Er ließ die Frage unbeantwortet und stellte eine Gegenfrage. »Was hältst du eigentlich von diesem großen Plan, den Karr entworfen hat?« »Einen Inselstaat gründen? Ich glaube, ich weiß nicht mehr darüber als du. Man könnte es wohl visionär nennen. Eine Utopie sogar. Aber es hat eine gewisse Anziehungskraft.« »Willst du dorthin gehen und mitmachen?« »Du unterstellst, dass man mich einladen wird. Falls man mich bittet... nein, ich bin nicht sicher. Ich müsste erst noch viel mehr darüber erfahren. Würdest du hingehen?« »Ich bin nicht überzeugt, dass Karrs Traum jemals verwirklicht werden wird.« »Und doch sind wir hier und helfen den Widerständlern.« »Oder wir helfen uns selbst.« »Wenn du es so ausdrückst, klingt es nicht besonders großherzig.« »Mag sein.« In der Nähe waren die Pferde angebunden. Sie hatten die Köpfe gesenkt und fraßen im hohen Gras. »Was auch immer der Grund ist, wir sind jetzt hier«, sagte Reeth. »Wir müssen unsere Truppe wieder in Form bringen.« 388 »Wir können nur besser werden.« »Sie verlassen sich auf mich. Ich will nicht, dass noch mehr ...« Sie starrte ihn an. »Schuldgefühle?« »Wäre das so seltsam?« »Nein ... nein, überhaupt nicht.« Ihr Gesichtsausdruck war nachdenklich und ernst und lud nicht unbedingt zu weiteren Fragen ein. Er wechselte das Thema. »Du hast Recht, wir können nur besser werden. Ich will die Wahrscheinlichkeit, dass es Verluste gibt, so weit wie möglich drücken.« »Wenigstens haben wir eine gute Mannschaft.« Sie hatte sich aus ihrem Tagtraum gelöst. »Sie sind eifrig, sie lernen schnell ...« »Das müssen sie auch. Karr sagte ja, der heutige Raubüberfall sei nur ein Probelauf für weitere Missionen. Jede Wette, dass er uns etwas aufgetragen hat, das im Grunde recht einfach war. Was als Nächstes kommt, wird erheblich schwieriger. Wir müssen dafür bereit sein.« »Keine Sorge«, sagte sie. »Du wirst die Kontrolle haben.« Die Sterne waren vom Stadtzentrum aus nicht zu sehen. Dort gab es zu viel Konkurrenz durch das Strahlen der Magie. Auf dem Balkon eines unauffälligen Hauses in einem besseren Viertel saß ein anderes Paar und genoss die Aussicht. Sie liebte die weiche, warme Nachtluft. Er schenkte mit Honig versetzten Wein aus einer Karaffe ein. Sie stießen an und prosteten sich schweigend zu. 389 Valdarr funkelte und pulsierte und entfaltete ein Feuerwerk von Illusionen, die allein für sie erschaffen schienen. Hin und wieder flammte unten in den Straßen eine Wolke von Funken auf und verkündete die Geburt eines Zaubers, oder ein verblassender Geist mit verbrauchter magischer Ladung wehte vorbei. Der Rhythmus der übernatürlichen Schöpfung, Verwandlung und Zerstörung kannte kein Ende und keinen Anfang. Für Tanalvah Lahn war dieser Ort der reinste Himmel. »Mir wird erst jetzt bewusst«, sagte sie, »dass ich mich bisher noch nie wirklich sicher gefühlt habe.« »Es ist schön, dass du das sagst«, antwortete Kinsel. »Oh. Ich wollte damit nicht andeuten ...« »Ich weiß schon, was du meinst.« Lächelnd streichelte sie seine Wange. »Dank dir sind wir geschützt. Unser Retter und unser Held.« Er küsste ihre Handfläche. »Da überschätzt du mich aber.« »Nein. Du bist ein rechtschaffener Mann, Kinsel. Du hättest einfach vorbeigehen können. Doch stattdessen hast du mir und diesen armen Kindern Hoffnung geschenkt. Du weißt nicht, was das für mich bedeutet. Die einzigen
Männer, mit denen ich bisher zu tun hatte, waren ...« »Ja.« Er nickte, denn er hatte verstanden und wollte ihr die Qual ersparen, ihre schlechten Erinnerungen auszubreiten. »Aber das ist jetzt vorbei. Du musst nichts mehr tun, das du nicht tun willst. Nie wieder.« »Ich finde es erstaunlich, dass dich mein früheres Leben nicht zu stören scheint. Hast du deshalb wirklich keine schlechte Meinung von mir?« 390 »Natürlich nicht, Tan. Du hattest doch keine Wahl. Ich betrachte das auf ähnliche Weise wie die Länder, die von den Imperien besetzt wurden.« Sie verstand ihn nicht. »Wie denn das?« »Die Eroberer können Land und Güter an sich nehmen, aber sie können niemals die Menschen besitzen, die frei sein wollen.« »In den Bordellen von Jecellam haben die anderen Frauen immer gesagt, dass die Freier zwar den Körper, aber nicht den Geist und die Seele besitzen können. Nicht unser wirkliches Selbst.« »Genau das meine ich. Und so sieht es auch beim Widerstand aus. Das Wichtigste, das wir haben, ist die Idee. Unsere Feinde können unsere Gedanken nicht in Besitz nehmen oder zerstören. Dies ist unsere stärkste Waffe, ob wir nun über die Magie der Gründer, über Kriegsherren als Verbündete oder über sonst etwas verfügen oder nicht.« »Du siehst jetzt schrecklich ernst aus«, sagte sie lächelnd. »Wirklich?« Er war etwas verlegen. »Nun ja, ich bin tatsächlich ernst. Ich habe immer an das Ideal des Widerstandes geglaubt. Es ist meine Leidenschaft.« Tatsächlich war sein Gesichtsausdruck jetzt beinahe feierlich. »Das ist eine Leidenschaft, von der ich hoffe, dass du sie teilen wirst.« »Ich beginne mich für diesen Gedanken zu erwärmen. Aber welche Chancen hat Karr eigentlich, seinen Plan zu verwirklichen? Kann es wirklich einen Ort geben, an dem wir völlig frei sind?« »Ich habe ja gerade schon gesagt, dass es einen solchen Ort bereits gibt.« Er tippte sich an die Stirn. »Da oben.« 391 »Du weißt doch, was ich meine.« Sie sprach mit gespielter Strenge, die von ihrem Lächeln gleich wieder aufgehoben wurde. Kinsel erwiderte das Lächeln. »Ja. Ich glaube, der Plan kann verwirklicht werden. Wir müssen ihn einfach verwirklichen, auch wenn es furchtbar anstrengend wird und wenn viele mit dem Leben dafür bezahlen müssen. Welche andere Möglichkeit haben wir denn?« »Du hattest die Möglichkeit, dich zu entscheiden. Du hättest in deiner privilegierten Welt bleiben können, ohne jemals ein Risiko einzugehen.« »Mein Leben hat nicht dort begonnen, Tan. Ich wurde als Sohn einfacher Eltern geboren. Meine Begabung hat mich emporgetragen. Doch vorher habe ich gelernt, wie die Dinge wirklich liegen. Meine frühesten Erinnerungen drehen sich um etwas, das ich gesehen habe ...« Er unterbrach sich. »Nun, es heißt ja auch, dass man den ersten Bissen stets mit dem Auge zu sich nimmt, nicht wahr?« »Müssen wir Geheimnisse voreinander haben?«, fragte sie. »Nein, zwischen uns sollte es keine Geheimnisse geben. Dies sind Wunden, keine Geheimnisse, und ich bin noch nicht wirklich bereit, sie mir genau anzusehen.« Sie drückte seine Hand. »Ich bin bereit, wenn du mich brauchst.« Er nickte dankbar, dann nahm er den Faden wieder auf. »Selbst wenn ich mit einem silbernen Beißring im Mund geboren worden wäre, ich glaube, ich hätte mich dennoch für diese Seite entschieden. Aber wer kann das schon sagen? Vielleicht hätte ein Leben im 392 Überfluss mein Gewissen eingeschläfert. Auch so habe ich noch zehn Jahre geschwankt, ehe ich mich dem Widerstand angeschlossen habe.« Einige Nachtigallen flogen gemächlich vorbei. Sie leuchteten und strahlten in allen Farben und gaben unharmonische Laute von sich, die nicht an Vögel denken ließen. »Wirst du tun, was Karr sagte, und dein öffentliches Leben aufgeben?«, fragte Tanalvah. »Zu gegebener Zeit«, antwortete er. »Ich habe Angst um dich. Nimm doch den Schutz des Widerstandes in Anspruch und gehe in den Untergrund. Bitte.« »Ich kann es nicht. Noch nicht.« »Du hättest leicht erkannt werden können, als du stehen geblieben bist, um uns zu helfen, und das wäre meine Schuld gewesen. Auch die Tatsache, dass du auf einmal eine Familie hast, muss die Leute neugierig machen. Du bist in einer sehr gefährlichen Lage.« »Es wäre natürlich nicht deine Schuld gewesen«, widersprach er störrisch. »Und wir sind ja nicht erwischt worden.« »Darum geht es doch gar nicht. Du gehst ein ungeheures Risiko ein. Gib dieses Leben auf, Kinsel. Tu es für mich und die Kinder, wenn schon nicht für dich. Es finden sich andere Wege, wie du dem Widerstand dienen kannst.« »Aber das ist es doch gerade ... Der wertvollste Beitrag, den ich leisten kann, ist genau der, den ich jetzt leiste.«
»Es muss doch etwas anderes geben, das du ...« »Nein, hör mir zu. Es sind nicht viele Leute beim Widerstand, die Zugang zu den höchsten Kreisen der 393 Regierung haben. Ich kann mich glücklich schätzen, einer dieser wenigen zu sein, und die Informationen, die ich sammle, sind meist von großer Bedeutung. Dies ist jetzt, da wir uns der Verwirklichung von Karrs Plan nähern, ganz besonders wichtig. Ich kann mich nicht einfach zurückziehen.« »Der Patrizier könnte eine andere Funktion für dich finden«, bohrte Tanalvah. »Ich bin ganz sicher.« »Meine pazifistische Einstellung schränkt die Bandbreite der Dinge, die ich tun könnte, sehr stark ein.« »Es gibt viele Menschen im Widerstand, die ähnlich denken wie du.« »Die arbeiten vor allem als Buchhalter. Daran ist nichts Falsches, aber es ist nicht so wichtig wie das, was ich zurzeit tue. Ich bin von großem Nutzen für den Widerstand. Warum soll ich mich in einen Schreiber verwandeln?« »Du wirst deine Meinung wohl nicht ändern, was?« »Im Augenblick nicht, meine Liebe. Aber du solltest dir um mich keine Sorgen machen. Ich bin stets vorsichtig, und ich kenne die Gefahren.« Sie war alles andere als überzeugt. »Mir macht noch etwas anderes Sorgen«, gestand sie ihm. »Du bist wirklich eine Kriegerin, was?«, neckte er sie zärtlich. »Ich habe dich gerade erst gefunden, und ich will dich nicht gleich wieder verlieren.« Er küsste sie leicht auf die Wange. »Was meinst du damit?« »Deinen Pazifismus.« »Bist du damit nicht einverstanden?« »Nein, das nicht. Ganz im Gegenteil. Es ist nur ...« Jetzt sprudelte es aus ihr heraus. »Du weißt, dass ich 394 einen Menschen getötet habe. Ich wollte es nicht, es war ein Unfall oder wenigstens nicht beabsichtigt. Aber wie kannst du mich achten, wenn ich eine Mörderin bin? Es ist schon schlimm genug, dass ich eine Hure war, aber ...« »Nenn dich nie wieder so. Du bist auch keine Mörderin. Und eines musst du mir glauben, Tan: Ich könnte nichts Schlechtes über dich denken, ganz egal, was du getan hast. Du hast ein Leben ausgelöscht, und das bereitet mir Unbehagen, aber ich sehe es als berechtigte Notwehr. Wenn du nicht...« »Ich weiß. Es ist aber so, dass ich auch meine Maßstäbe habe. Ich folge Iparrater, die das menschliche Leben als etwas Unantastbares über alles andere stellt. Ich habe ihre Regeln gebrochen, und das bedeutet, dass ich auch ihren Schutz verliere.« »Das glaube ich nicht, denn sie ist ja auch die Göttin des Mitgefühls. Sie wird verstehen, dass du nicht anders handeln konntest und dass deine Motive rein waren.« Er seufzte nachdenklich. »Die Leute denken, es sei einfach, gewaltlos zu leben. Doch ich habe durch meine Taten andere in Lebensgefahr gebracht und zweifellos auch den Tod einiger Menschen verursacht. Wir können immer nur das tun, was wir für richtig halten und was dem größeren Ganzen dient. Du hast nicht mehr Grund, dir Vorwürfe zu machen, als ich.« »Das beruhigt mich. Trotzdem frage ich mich, ob deine Ansichten nicht durch deine Gefühle für mich beeinflusst sind.« »Das ist schon möglich. Aber ich glaube es nicht. Ich habe festgestellt, dass das Leben eine endlose Folge moralischer Kompromisse ist. Das gilt für dich 395 wie für alle anderen Menschen. Du solltest keine Schuldgefühle mit dir herumschleppen.« »Würdest du das Gleiche auch über Serrah Ardacris sagen?« »Serrah? Ja, ich glaube schon. Warum fragst du?« »Wie ich hörte, hat sie aus dem Morden einen Beruf gemacht.« »Das ist zu hart formuliert. Ich glaube, auch sie war der Ansicht, das Richtige zu tun. Ich kann nicht billigen, was sie getan hat, bevor sie nach Bhealfa kam, aber ich bin dankbar, dass sie uns hilft.« »Ich auch, versteh mich nicht falsch. Es ist nur ... sie scheint so bekümmert zu sein. Als hätte sie eine enorme Last auf ihre Schultern geladen.« »Weißt du etwas über ihr früheres Leben?« »Nur, dass sie eine Meuchelmörderin war.« »Sie hat eine Spezialeinheit befehligt. Ihre Vorgesetzten haben ihr einen Burschen aus einer vornehmen Familie Gath Tampoors zugewiesen. Kaum mehr als ein Knabe, der sich für einen Krieger hielt. Als er umkam, hat man sie zum Sündenbock gemacht.« »Sie muss deshalb sehr verbittert sein.« »Das ist noch nicht alles. Karr hat mir einige Erkenntnisse mitgeteilt, die wir über sie in Erfahrung gebracht haben. Anscheinend hat sie vor ein paar Jahren ihre Tochter verloren. Ramp war der Grund.« »Das erklärt, warum sie so gequält wirkt. Sie hat wirklich alles verloren. Wie traurig.« »Du siehst, dass der Widerstand seltsame Bundesgenossen anzieht. Unglückliche und sogar bizarre Lebensgeschichten sind dort nichts Ungewöhnliches.« »Das ist mir bereits aufgefallen. Da wäre beispielsweise dieser junge Zauberlehrling.«
396 »Kutch.« »Ja. Für seine jungen Jahre hat er schon viel Schlimmes erlebt. Aber er hat sich seine Unschuld bewahrt. Ich glaube, er ist ein ganz reizender Kerl.« »Und Caldason?« Ihr Lächeln verschwand. »Ach, der. In meinem Beruf habe ich viele Männer gesehen, die hartherzig und roh waren. Männer, die keine Achtung vor Frauen und keine echten Gefühle für sie hatten. Die Schlimmsten strahlten eine Art gefährlicher Kälte aus. Aber einem wie ihm bin ich noch nie begegnet. Er macht mir Angst.« »Es überrascht mich, dass du das sagst.« »Warum? Weil wir beide dem gleichen Volk angehören und eigentlich viele Gemeinsamkeiten haben müssten?« »Nun ja ...« »Mich haben Menschen auf der Straße angesprochen und nach Qalochiern gefragt, von denen ich noch nie etwas gehört hatte. Sie glauben, wir müssten uns alle untereinander kennen. Jeder Qalochier ist durch Herkunft und Geschichte mit jedem anderen verbunden, aber das heißt noch lange nicht, dass wir uns alle gegenseitig mögen müssen. Ich meine, wie kommst du denn mit all den anderen Sängern zurecht?« Kinsel musste grinsen. »Jetzt, da du es erwähnst - nein, ich komme nicht sehr gut mit ihnen zurecht.« »Es heißt, er habe Anfälle - hast du das gewusst? Gewalttätige, verrückte, erschreckende Ausbrüche, und dabei wird er zur Gefahr für sich selbst und andere. Ein Berserker.« »Aber ihr stammt doch beide aus einem Kriegervolk.« 397 »Soweit ich gehört habe, geht es weit über das Kriegerische hinaus«, sagte sie mit gerunzelter Stirn. »Er hat etwas Seltsames an sich, Kinsel. Er soll schon sehr alt sein, aber man sieht es ihm nicht an. Und diese Augen ... weißt du, was ich glaube?« »Was denn?« »Ich glaube, er will anderen das geben, was er selbst nicht bekommen kann. Den Tod.« »Aber dann sehe ich keinen Grund, ihn zu fürchten. Er ist auf unserer Seite.« »Männer wie Caldason kennen nur eine Seite: ihre eigene.« Sie zuckte mit den Achseln. »Vielleicht bin ich aber als Prostituierte auch zu zynisch geworden.« »Lass uns das alles für den Augenblick vergessen. Dies ist unser erster gemeinsamer Abend in unserem neuen Heim. Wir sollten feiern.« Er langte unter den Tisch und zog ein kleines Kästchen hervor. Es bestand aus Kastanienholz, war mit glattem Lack versiegelt und hatte weder Verschluss noch Scharnier. Auf dem Deckel war der Umriss eines Herzens eingearbeitet. Er stellte das Kästchen vor ihr ab. »Was ist das, Kinsel?« »Für dich. Mach nur und öffne es.« »Wie denn?« »Das Herz.« Tanalvah legte die Fingerspitzen auf das Herz. Das Kästchen schien zu seufzen, und sie zog die Hand wieder zurück. Ein Zickzackmuster von Linien erschien auf dem Deckel. Das Herz wurde fächerförmig zerteilt, und die Segmente hoben sich wie die Blätter einer aufblühenden Blume. Aus dem Innern drang ein strahlendes weißes Licht. 398 Tanalvah sah hingerissen zu. Kinsel wiederum beobachtete sie und freute sich über ihr Staunen. Das weiße Licht verdunkelte sich zu einem sanften Schimmer, und dank der unglaublichen Möglichkeiten der Magie bildeten die Blütenblätter auf einmal keinen zackigen Kranz mehr, sondern eine vollkommen runde flache Schale. Sie ähnelte einem Pilz, und der untere Teil des Kästchens entsprach dem dicken Stiel. In der Mitte des Kreises gab es eine kleine Eruption, und etwas Rauch stieg auf. Eine türkisfarbene Wolke blühte auf, wallte nach außen und verdichtete sich zu einer sich drehenden Pyramide. Die Form hielt sich eine Sekunde, dann zerplatzte auch sie und verschwand. Zwei kleine Gestalten, so groß wie eine Männerhand, blieben zurück. Ein Mann und eine Frau waren es, die fließende Gewänder aus erlesener Seide trugen. Musik erklang. Seufzende Streicher und liebliche Gesangsstimmen überlagerten einen gemächlichen, aber mitreißenden Rhythmus. Der winzige Mann verneigte sich, seine Partnerin knickste. Dann fanden sie zusammen, fassten sich bei den Händen und begannen zu tanzen. »Das ist wunderschön«, flüsterte Tanalvah mit glänzenden Augen. Die winzigen Tänzer drehten sich und bewegten sich, schwebten und bogen sich. Ihr geschmackvoller Schmuck fing das Licht ein und funkelte hell. Die Säume ihrer Kleider flogen hoch, wenn sie sich umeinander drehten. »Oh!«, rief Tanalvah, als sie die Gestalten erkannte. »Das sind ja wir!« »Ja, nur dass er besser tanzt, als ich es je könnte.« 399 »Das müssen wir ändern!« Lachend zog sie ihn auf die Füße. »Nein, nein!«, protestierte er. »Ich bin ein schrecklicher Tänzer!« »Du wirst ja rot!«
»Das würdest du auch, wenn du so miserabel tanzen würdest wie ich.« Aber sie hatte schon die Arme um ihn geschlungen, und er legte die Arme um sie. Schlurfend imitierten sie die kleinen Figuren, die auf der schneeweißen Bühne tanzten. So bewegten sie sich eine Weile hin und her; die Musik bestimmte ihre Schritte, und die großen Gestalten ahmten die kleinen nach. Dann durchbrach ein fordernder Ruf die Träumerei. »Ah«, sagte Tanalvah. »Sie sind wach.« Wieder rief eine Kinderstimme von drinnen. Die Worte waren nicht zu verstehen, doch die Stimmlage war nicht zu verkennen: Angst, die auf einen schlechten Traum folgt. »Ich gehe schon«, bot Kinsel an. »Bist du sicher?« »Ich würde es gern tun.« Sie zögerten noch einen Moment, wechselten einen zärtlichen Blick, küssten sich und lösten sich voneinander. Sie setzte sich hin und bestaunte ihren Zauber, während er ins Haus ging. Teg und Lirrin teilten sich ein Zimmer, die Betten standen nebeneinander. Das Mädchen hatte sich aufgesetzt. »Was ist denn?«, fragte Kinsel. »Hatte einen schlechten Traum«, erklärte Lirrin und rieb sich mit den Fäusten die Augen. 400 »Es ist schon gut«, beruhigte er sie, während er sich neben sie setzte. »Es ist nicht echt.« »Wirklich nicht?« »Nein, ganz bestimmt nicht. Träume sind nur kleine Schauspiele, die in unseren Köpfen ablaufen, wenn wir schlafen. Sie können dir nichts tun.« »Ich kann auch nicht schlafen«, mischte sich Teg ein. »Warum denn nicht?« »Weil die einen schlechten Traum hatte.« Er zielte mit dem Zeigefinger anklagend auf seine Schwester. »Also gut, nun beruhigt euch wieder, ihr beiden.« Kinsel packte sie in die Decken. »Tanalvah ist da, und ich bin auch da. Wir halten die Träume fern.« »Wie denn?«, fragte Lirrin mit der verschlagenen Logik eines Kindes. »Nun ja, ich kenne ein Lied, das euch beschützt. Meine Mutter hat es für mich gesungen, als ich in deinem Alter war, Teg. Möchtet ihr es hören?« Verschlafen sagten sie ja. Er stimmte das Schlaflied an, sang leise und hüllte sie mit warmen, tröstenden Worten ein. Bald wurden ihre Augenlider schwer. Draußen erhellte das allnächtliche Schauspiel die Metropole. 401 Teder, der sie bemerkte, hielt sie für Geschwister, die leinen Botengang erledigten. Ein kleines Mädchen, neun oder zehn Jahre alt, mit einer Schürze mit Blumenmuster und schwarzen Schnallenschuhen, das blonde Haar zu Rattenschwänzen gebunden. Sie lief neben einem schlaksigen älteren Jungen, der fast schon ein junger Mann war, und hielt seine Hand. Wie allen heranwachsenden Burschen war dies natürlich auch ihm sehr peinlich. »Was ist mit dem da?«, rief das kleine Mädchen laut und deutete auf einen Mann, der auf der anderen Straßenseite vor einer Schenke lümmelte. »Bitte, Meister«, flehte Kutch entsetzt, »ich wünschte, Ihr würdet nicht die Leute auf uns aufmerksam machen.« »Unfug!«, schnaubte Phönix. »Die Leute sollen sich um ihren eigenen Kram kümmern. Und jetzt tu, was ich dir gesagt habe. Der Mann da drüben. Ja oder nein?« Kutch betrachtete das Ziel und traf seine Entscheidung. »Ja.« 403 »Gut!« Phönix schnippte zufrieden mit den Fingern. Der Zauber, der einen Mann imitiert hatte, verschwand in einer Kaskade verlöschender Funken. Ein Fußgänger lief mitten hindurch und wedelte abwesend mit der Hand, um den Mief zu vertreiben. »Bleib wachsam, Junge, bleib wachsam!«, herrschte Phönix ihn an. Ein Fremder, der vorbeikam, sah sie seltsam an und wurde langsamer, um zu gaffen. Das falsche Kind starrte zurück. »Geh weiter da! Hier gibt es nichts zu sehen!« Der Mann eilte mit gesenktem Kopf davon, und Kutch lief rot an. Sie gingen weiter und prüften alles und jedes auf der Straße. Endlich sagte Kutch: »Der da.« »Nein! Nur die mit meiner Signatur. Nicht die billigen, gefälschten Sachen. Nur diejenigen, die ich gemacht habe.« »Der da ist nicht echt. Der auf der Bank.« »Das kann sogar ich erkennen«, gab Phönix gereizt zurück. »Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe. Welches sind die beiden wichtigsten Regeln beim Aufklären?« »Hinschauen und nichts glauben.« »Genau. Mach weiter.« Die Straßen waren bevölkert wie noch nie, und jetzt hüpfte Phönix sogar neben ihm einher, die winzigen Füße
flogen und die Rattenschwänze wippten. Der Junge fühlte sich sofort wieder unbehaglich. Phönix bemerkte seinen Blick. »Tja, du wolltest doch, dass ich mich natürlicher bewege, oder? Dann sieh dich weiter um und mach deine Arbeit.« Kutch seufzte. 404 Gleich darauf blieb sein Blick an etwas hängen. Er verwarf es wieder, sah noch einmal hin und murmelte: »Oh, das ist raffiniert.« Er deutete darauf. »Das da.« »Gut gemacht.« Der Zauberer machte eine rasche, komplizierte Geste. Eine öffentliche Kutsche für die Bürger schloss zu ihnen auf. Vier Pferde waren davor gespannt und das Fahrzeug war voller Fahrgäste. Der Wagen, die Zugpferde und Fahrgäste, der Kutscher und sein Helfer, alle wurden einen Moment lang durchsichtig. Die Skelette der Pferde und Menschen waren zu sehen und zeigten, welche Sorgfalt Phönix auf den Spruch verwendet hatte. Dann zerfiel alles zu glühenden Flocken und zerstob. Ein Luftzug war zu spüren, wie es oft der Fall war, wenn große Zauber verpufften. Eine kleine Unannehmlichkeit für die anderen Passanten, aber nichts, an das sie nicht gewöhnt waren. »Du hast es gesehen, nicht wahr?«, fragte Phönix. »Nicht nur der Wagen war ein Zauber, sondern auch die Signatur, die ich in den Zauber eingeflochten habe.« »Ja, Meister. Es ein wenig wie ... ich weiß auch nicht ... wie ein Wasserzeichen auf einem Stück Pergament.« Phönix nickte und gestattete sich ein kleines Lächeln, das die Sommersprossen in Bewegung brachte. »Du machst gewisse Fortschritte, mein Junge.« Dann, etwas schärfer: »Komm schon, komm schon, ich habe noch viele weitere heraufbeschworen.« »Aber wir müssen doch zum Treffen.« »Wir werden rechtzeitig dort sein, wenn du nicht trödelst. Ich habe auf dem Weg noch einige Zauber 405 vorbereitet, also sieh dich genau um, Bursche, und zweifle. Sieh dich um und zweifle an allem.-« Sie gingen jetzt schneller weiter, und Kutch deutete auf verschiedene Dinge, woraufhin Phönix ihn entweder lobte oder kritisierte. Für etwaige Beobachter waren sie nichts weiter als Bruder und Schwester, die sich auf dem Heimweg zankten. Nur dass in ihrem Kielwasser eine ungewöhnlich große Zahl von Zaubern verpuffte. Sie näherten sich Karrs Versteck in etwas ruhigerer Stimmung. Getrennt schlichen sie hinein und durchliefen die vielfältigen Vorsichtsmaßnahmen, die gewährleisten sollten, dass sie wirklich die waren, für die sie sich ausgaben. Irgendwo auf einem Flur auf halbem Weg zwischen Vordertür und Keller blieben sie stehen, damit Phönix wieder seine normale Gestalt annehmen konnte. Als sie den unterirdischen Konferenzsaal erreichten, trafen sie auf Caldason, Serrah, Karr und Quinn Disgleirio, die schon auf sie warteten. »Gut, dann können wir anfangen«, sagte Karr. »Bitte.« Mit einer ausholenden Geste bot er ihnen Plätze am größten Tisch an, und sie setzten sich. »Darf ich annehmen, dass wir vor Lauschern geschützt sind?« »Das habe ich selbst erledigt«, versicherte Phönix ihm. »Reeths Truppe hat sich gestern gut geschlagen«, begann Karr, »und einen ansehnlichen Beitrag für unsere Schatzkammer beschafft. Bedauerlicherweise haben wir dies mit dem Tod von drei Männern und der Verwundung von fünf weiteren bezahlen müssen.« 406 »Ich übernehme die volle Verantwortung dafür«, sagte Caldason. »Ich kritisiere Euch nicht, Reeth«, gab der Patrizier ruhig zurück. »Ich berichte nur und gedenke der Toten, indem ich sie hier erwähne. Die Verluste sind tragisch, aber wir bewerten die Mission als Erfolg.« Caldason schien es zu akzeptieren. Serrah warf ihm einen Seitenblick zu. Wie üblich war sein Gesichtsausdruck unergründlich. »Das Geld, das Ihr gestern befreit habt«, fuhr Karr fort, »wird nicht ausschließlich die Kriegskasse des Widerstandes füllen, nachdem wir einen Teil an die Leute zurückgegeben haben. Ihr seid heute hier, um zu erfahren, was wir mit dem Geld getan haben. Aber zuerst ...«Er deutete zur offenen Tür. Mehrere Helfer brachten Tabletts mit Getränken und Gebäck herein. Sie stellten alles auf den Nebentischen ab und eilten wieder hinaus, dann wurde die Tür gesichert. Karr hob einen Becher und wandte sich an die Gesellschaft. »Auf Eure Gesundheit.« »Und Verwirrung unseren Feinden«, fügte Phönix hinzu. Caldason nahm lediglich einen winzigen Schluck, auch Serrah spielte ihre gesellige Stimmung nur. Kutch dagegen wünschte, er hätte weniger Wasser im Wein. Karr stellte den Becher weg und fuhr fort. »Wisst Ihr, es ist wirklich seltsam, aber einer der wichtigsten Aspekte der Reiche betrifft eine Tatsache, die wir kaum wahrnehmen.« Damit hatte er ihre Aufmerksamkeit gefesselt. »Wir vergessen in Bezug auf Gath Tampoor oder sogar in Bezug auf beide Reiche, dass 407 sie trotz ihrer militärischen Macht und ihrer Wirtschaftskraft im Grunde Bürokratien sind. Das müssen sie auch sein, weil es so viel zu verwalten gibt.« »Ich kann das nach meinen Begegnungen mit den Schreibern in Merakasa bestätigen«, warf Serrah ein.
»Alle existierenden Staaten sind auf Bergen von Papier aufgebaut«, sagte Karr. »Was hat das mit uns zu tun?« »Eine Menge. Wir stoßen hier auf ein schwaches Glied in der Kette, die uns fesselt, und wenn wir dort zuschlagen, tun wir etwas Gutes für uns selbst.« »Wie könnte es uns helfen, wenn wir die Papierschaufler angreifen?« »Es kommt eben darauf an, was sie schaufeln«, erwiderte Disgleirio. »Genau das ist der entscheidende Punkt«, stimmte Karr zu. »Gath Tampoors bhealfanische Gefolgsleute produzieren jeden Tag gewaltige Mengen von Informationen. Der größte Teil dieses Verwaltungskrams ist für uns ohne Bedeutung. Aber ein Teil ist für sie und für uns sehr wichtig. Ich denke jetzt an die Akten, die sie über Personen und Gruppen angelegt haben, die als Staatsfeinde betrachtet werden. Ich glaube, auch dies könnt Ihr bestätigen, Serrah.« »Ja. Der Rat für Innere Sicherheit hat etliche Akten über Kriminelle und politische Aktivisten angelegt. Meine Einheit hat immer darauf zurückgegriffen, wenn wir Einsätze geplant haben.« »So sieht es auch hier in Bhealfa aus. Es gibt ganze Heere von Informationssammlern, die Akten über Dissidenten zusammenstellen. Ich bin ziemlich sicher, dass sie über jeden hier im Raum bereits eine Akte haben, möglicherweise mit Ausnahme des jun408 gen Kutch hier. Tut mir Leid, dass ich dich enttäuschen muss, mein Junge.« Es gab ein wenig Gelächter, Disgleirio schien ehrlich amüsiert. »Aber wenn wir diese Akten in die Hände bekommen könnten ...« »Ihr wollt damit offenbar andeuten, dass Ihr einen Weg gefunden habt«, mutmaßte Caldason. »Ich glaube ja. Der größte Teil des Geldes, das Ihr gestern mit Eurer Truppe geraubt habt, wurde als Bestechungsgeld verwendet. Ich will Euch zeigen, was wir dafür bekommen haben.« Er nickte Phönix zu. Der Magier zückte einen kleinen Würfel und klopfte damit auf den Tisch. Ein Zauber materialisierte und bedeckte fast die gesamte Tischfläche. Es war ein wundervoll ausgearbeitetes, maßstabgerechtes Modell eines Stadtviertels. Selbst die Häuser, die verfallen waren, wurden richtig dargestellt. Im Straßenpflaster waren winzige Risse zu sehen, und auf den Türmen wehten Flaggen. »Ihr erkennt dies vielleicht als Teilansicht des Zentrums von Valdarr wieder«, erklärte Karr. »Hier finden wir ein wundervolles Beispiel dafür, dass der Ordnungssinn unserer Herrscher zu unseren Gunsten arbeitet. Sie haben alle Akten, die für uns von Bedeutung sind, an einem einzigen Ort gesammelt. Hier.« Er deutete auf ein Gebäude. Es war ein verzierter Bau mit mehreren Türmen. Kutch sagte: »Das ist doch ein Tempel, oder?« »So scheint es. Das Gebäude ist mit schweren Zaubern bestückt, die es so erscheinen lassen. In Wirklichkeit sieht es ganz anders aus. Wenn Ihr so freundlich sein wollt, Phönix?« Der Zauberer klopfte leicht auf den Würfel, und was ein Tempel gewesen war, schmolz zu einem viel schlich409 teren, funktionelleren Gebäude zusammen. Selbst in diesem Maßstab konnte man sehen, dass es kräftige Türen und gesicherte Fenster besaß. »Was ist mit den Gläubigen?«, fragte Kutch. »Werden die nicht misstrauisch?« »Der Tempel ist aufgemacht als ein privater Ort der Andacht, der den einflussreichen Bürgern vorbehalten ist. Gewöhnliche Leute dürfen dort nicht hinein.« »Und wie sollen wir hineinkommen?«, wollte Serrah wissen. »Hier.« Er gab Phönix ein weiteres Zeichen, und dieser manipulierte erneut den Würfel. Das Gebäude vergrößerte sich bis auf die Ausmaße eines Puppenhauses und nahm den ganzen Tisch in Anspruch. Die anderen Gebäude und die Straßen wurden verdrängt und verschwanden. Dann verschwand auch das Gebäude, und zurück blieb nur eine dreidimensionale Darstellung des Fundaments. Es war von Tunneln durchzogen. »Ihr seht hier die Abwasserkanäle und dort diejenigen, die frisches Wasser aus artesischen Brunnen zuführen. Alles, was ein modernes Haus braucht.« »Das ist ja ein regelrechter Irrgarten«, sagte Serrah. Ihre Stimme klang ein wenig beunruhigt. »Ja, aber wir haben einen Weg hindurch gefunden. Das war Quinns Aufgabe, daher soll er es auch erklären.« Disgleirio benutzte einen Dolch, um auf die entsprechenden Stellen zu deuten. »Dieser große Kanal hier ist der Schlüssel. Wie Ihr sehen könnt, zweigen viele kleinere Leitungen von ihm ab. Wir mussten nur noch diejenige finden, die direkt das Gebäude speist. 410 Das ist diese hier.« Er zielte mit der Messerklinge auf eine unterirdische Verbindung. »Wie groß sind die Tunnel?«, fragte Serrah. »Das ist unterschiedlich. Manche sind erstaunlich groß, andere sind kleiner. Alle scheinen groß genug zu sein, damit Menschen hindurchkriechen können, auch wenn es manchmal etwas eng wird.« »Welche Kanäle benutzen wir?«, fragte Caldason. »Die Frischwasser- oder die Abwasserkanäle?« »Die Abwasserkanäle.« »Das klingt reizend«, murmelte Serrah.
»Glücklicherweise könnt Ihr die größeren Kanäle nehmen«, erklärte Disgleirio, »und die meisten haben schmale Laufstege an den Rändern. Seht Ihr?« Er deutete auf einen Kanal. Caldason betrachtete das Modell. »Wie kommen wir eigentlich in das System hinein?« »Dieser große Abwasserkanal läuft unter mehreren Nachbargebäuden entlang. Zu einem davon haben wir Zugang. Der Kanal verläuft direkt unter dem Keller. Das ist längst geklärt, und wir sind auch schon bis zum Tunnel durchgebrochen.« »Serrah hat Recht damit, dass es ein Labyrinth ist. Da unten kann man sich leicht verlaufen.« »Ihr werdet eine Karte haben. Und natürlich gibt es dort kein Licht, also werdet Ihr magische Beleuchtung brauchen.« »In welchem Teil des Gebäudes werden wir herauskommen?« Disgleirio nickte Phönix zu. Das Archivgebäude tauchte wieder auf, dieses Mal war es durchsichtig. Disgleirio deutete auf einen Bereich im Erdgeschoss in der Nähe der rückwärtigen Wand. »Ungefähr hier. 411 Wir vermuten, dass dies die Stelle ist, wo man am leichtesten durch den Boden brechen kann.« »Warum steht ein so großer Teil des Inneren leer?«, fragte Serrah. »Was befindet sich im Rest des Erdgeschosses und in den oberen Stockwerken?« »Wir haben nur Pläne für das, was Ihr im Augenblick sehen könnt«, antwortete Karr. »Unser Informant konnte nicht mehr liefern. Wir haben erfahren, dass es im Erdgeschoss abgesehen von einer Wachstube nicht viel Interessantes gibt. Die Unterlagen werden in den oberen Stockwerken aufbewahrt.« »Aber völlig sicher seid Ihr nicht?« »Nein, wir sind nicht völlig sicher. Ihr könnt jedoch sicher sein, dass es dort drinnen magische Alarmanlagen und Fallen gibt. Ganz zu schweigen von den menschlichen Gegnern, auf die Ihr stoßen könntet.« »Auf die wir stoßen könnten?«, rief Serrah. »Das Gebäude wird doch vermutlich vor Menschen wimmeln, oder?« »Gewöhnlich schon. Aber vergesst nicht, was in ein paar Tagen gefeiert wird.« Disgleirio schaltete sich ein. »Ja, der so genannte Freiheitstag.« »Genau. Es ist unsere Pflicht, an diesem Tag unsere Loyalität und unsere große Liebe für die Besatzer zu demonstrieren. Kein Schreiber wird an diesem Tag in seiner Stube hocken, und es wird nur eine Notbesatzung an Wächtern anwesend sein, wenn überhaupt. In den Straßen wird es die üblichen vorgeschriebenen Paraden und Aufmärsche geben. Das dürfte den größten Teil der Sicherheitskräfte recht gut binden.« »Seid Ihr in dieser Hinsicht wirklich sicher?«, wollte Serrah wissen. 422 »Unsere Spionage arbeitet seit fast zwei Jahren daran. Es wird ein schwerer Schlag für die Machthaber sein, wenn unser Plan gelingt, und wir haben natürlich alle Eventualitäten eingeplant. Das heißt aber nicht, dass es nicht sehr gefährlich ist. Deshalb bitten wir Euch auch und geben keinen Befehl. Wir arbeiten hier nur mit Freiwilligen.« »Dann ist da noch die Frage, wie wir Eure Truppe wieder auf die volle Stärke aufstocken können«, fügte Disgleirio hinzu. »Wir können auf Mitglieder der Bruderschaft der Gerechten Klinge zurückgreifen, aber das bedeutet, dass Ihr neue Männer mitnehmen müsst, mit denen Ihr noch nicht gearbeitet habt. Darum werdet Ihr wohl nicht herumkommen. Wir können nichts weiter tun, als Euch unsere Besten zu geben.« »Bevor Ihr Euch entscheidet«, fuhr Karr fort, »gilt es noch etwas anderes zu bedenken. Ich sagte schon, dass dieses Gebäude durch Magie gut geschützt sein dürfte. Das bedeutet, dass Ihr einen Zauberer dabei haben solltet und nach Möglichkeit einen Aufklärer. Die sind, wie Ihr wisst, allerdings dünn gesät. Ich würde also vorschlagen, dass Kutch diesen Part übernimmt. Unter normalen Umständen würde ich nicht darum bitten, aber die Zeiten sind alles andere als normal.« Kutch war wie vom Donner gerührt. »Wartet mal, Karr«, grollte Caldason. »Er ist noch ein Junge, und der Einsatz ist riskant. Seine Unerfahrenheit könnte uns alle in Gefahr bringen.« Er wandte sich an Kutch. »Tut mir Leid, aber so sehe ich es nun einmal.« »Ich glaube, Kutch sollte die Entscheidung selbst treffen. Nur zu, Kutch. Was meinst du?« 413 Der Junge war rot angelaufen, als er sich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit sah, und antwortete stotternd. »Ich will tun, was immer ich tun kann, um zu helfen. Ich weiß, dass ich nicht viel Erfahrung habe, aber ich lerne schnell. Macht Euch meinetwegen keine Sorgen, Reeth, ich lasse Euch nicht im Stich.« Caldason wandte sich an Phönix. »Ist seine Ausbildung zum Aufklärer denn schon abgeschlossen?« »Aber keineswegs.« Der Magier hob eine Hand, um die Proteste zu unterdrücken. »Er hat allerdings gute Fortschritte gemacht, und er ist für die Aufgabe geeignet. Außerdem haben wir, wie der Patrizier schon sagte, keine andere Möglichkeit. Das Aufklären ist eine sehr seltene Gabe, und die Begleitung eines Aufklärers kann über Erfolg oder Scheitern der Mission entscheiden.« Reeth dachte darüber nach. »Bist du sicher, Kutch? Weißt du, worauf du dich da einlässt?« »Seit ich Euch kenne, habe ich eine viel bessere Vorstellung davon gewonnen, was Gewalt bedeutet, Reeth.« »Oh, das will ich als Kompliment auffassen. Also gut. Kutch wird aber nur unter der Bedingung mitgenommen, dass er verschwindet, sobald er seine Aufgabe erledigt hat. Ich will ihn nicht mehr als unbedingt nötig in Gefahr
bringen.« »Handhabt es, wie Ihr es für richtig haltet«, sagte Karr. »Was ist mit dir, Serrah? Bist du dabei?« »Ich bin dabei.« Caldason seufzte. »Wenn wir annehmen, dass die übrigen Mitglieder der Truppe sich ebenfalls freiwil414 Hg melden, was sie ziemlich sicher tun werden, dann dürfte die Sache damit geklärt sein.« »Ausgezeichnet, Reeth.« Karr strahlte wohlwollend. Kutch setzte einen Ausdruck fröhlicher Selbstgefälligkeit auf, Caldason aber war nicht ganz so glücklich. »Wie sieht der Plan aus, wenn wir drinnen sind?«, fragte Serrah. »Brandstiftung«, erklärte Karr. »Phönix' Leute haben wirkungsvolle Brandbeschleuniger entwickelt. Leicht zu tragen, aber stark genug für unsere Zwecke.« »Es wäre sicher von Nutzen zu erfahren, was in diesen Akten steht«, überlegte Kutch. »Das wüssten wir alle gern«, meinte Karr lächelnd. »Aber das ist ein Vergnügen, das wir uns leider verkneifen müssen. Es wäre unmöglich, auch nur einen kleinen Prozentsatz der Akten zu entnehmen. Nein, wir müssen sie zerstören und unsere Befriedigung aus dem Wissen gewinnen, dass wir einen empfindlichen Schlag gegen unsere Unterdrücker geführt haben.« »Bringt mich diese Mission meinem Ziel irgendwie näher?«, fragte Caldason. »Das tut sie. Vertraut mir.« »Dann sollten wir besser gleich mit den Vorbereitungen beginnen.« 415 Überall auf der Ebene wüteten Brände und färbten den Nachthimmel rot. Eine ganze Stadt stand in Flammen. Gebäude brachen zusammen, Vieh ging durch. Die Pflanzen auf den umliegenden Feldern brannten lichterloh, Bäume verwandelten sich in riesige Fackeln, der Rauch wurde vom kalten Nordwind verweht. Keuchend und mit Tränen in den Augen strömten die Besiegten aus der Siedlung, verscheucht von den Eroberern. Das letzte Viertel der Stadt war gefallen. Es befand sich direkt neben dem großen Schlachtfeld, das mit Toten aus den Reihen der Verteidiger und Angreifer übersät war. Die Zahl der Ersteren übertraf die der Zweiten bei weitem, wie man es angesichts des Vorteils, den der Sieger auf seiner Seite hatte, auch erwarten konnte. Schon streiften Plünderer durch die Überreste des Blutbads, sammelten ihre Beute und beendeten das Elend der Überlebenden mit scharfen Klingen. Der neue Herr beobachtete alles von einer Hügelkuppe aus. 417 Er war der Erwachte. Imperator der Barbaren. Schatten der Götter. Der Mann, der von der Sonne heruntergefallen war. Er war Zerreiss. In seiner Kleidung unterschied er sich nicht von den einfachen Soldaten. Er trug keine feinen Gewänder, keinen goldenen Panzer. Wenn überhaupt, dann war er sogar ein wenig zierlicher gebaut als die meisten anderen Männer seines Volks und gewiss nicht größer. Die mittleren Lebensjahre hatte er noch nicht ganz erreicht. Er sah jugendlich aus, was auch sein wettergegerbtes Gesicht und der Bart nicht verbergen konnten. Seine Gesichtszüge waren gleichmäßig und durchschnittlich, gewiss nicht außergewöhnlich. Und doch war er ein Phänomen. Er hatte etwas an sich, das man nur »Ausstrahlung« nennen konnte. Andere bezeichneten es als Autorität, Charme, Haltung, Verlockung, Charisma, Stärke. In Wahrheit aber waren Worte viel zu schwach, um seine Einzigartigkeit zu beschreiben. Er hatte alle diese Züge und noch etwas mehr. Etwas Unerklärliches. Es war, als verkörperte er eine namenlose Kraft der Natur. Eine Kraft, die allen, die in ihre Reichweite kamen, einen unauslöschlichen Stempel aufdrückte. Sie schmeichelte, inspirierte und erregte stets die Ehrfurcht der Menschen. Und sie vermochte fanatische Hingabe oder Furcht zu wecken. An diesem Tag war der Kriegsherr gekommen, um Dunkelheit zu bringen. Nur echtes Feuer erleuchtete den Tafelberg. Künstliches Licht gab es längst nicht mehr. Die Laternen seiner Invasionsflotte, die in einer flachen Bucht ankerte, wurden mit Öl und Talg gespeist. Seine Horde, de418 ren Zahl die Ebene schwärzte, war mit Fackeln ausgerüstet. Die Männer rühmten seinen letzten Sieg und sangen seinen Namen wie eine Anrufung. Es klang, als brandete eine große Welle gegen Felsen. Das rhythmische Pochen von hunderttausend Herzen und der Gesang von ebenso vielen Stimmen mischten sich mit dem Trommelschlag. Ein Wächter führte den Häuptling der Besiegten zu ihm. Der Mann fiel auf die Knie und unterwarf sich verängstigt. »Steh auf«, sagte der Kriegsherr leise. »Ich habe keinen Bedarf an Götzendienern.« Der Gefangene sah sich einem Blick ausgesetzt, der allwissend schien. »Du hast uns vernichtet. Wo sonst sollte ich sein, wenn nicht auf meinen Knien?« »Dein Volk hat gut gekämpft. Erniedrige dich nicht selbst.«
Langsam erhob sich der Häuptling. »Wir haben keine Bedrohung für dich dargestellt. Warum hast du uns mit Krieg überzogen?« »Welche andere Möglichkeit habt ihr mir gelassen? Hättet ihr euch mit mir verbündet, dann wäre euch dies erspart geblieben.« »Mein Volk kann kein Bündnis mit dem Teufel eingehen.« Der Kriegsherr lachte, und es klang nicht einmal unfreundlich. »Hältst du mich für böse?« »Sieh dich doch um.« Der Häuptling deutete mit einer ausholenden Bewegung auf das brennende Land und seine zerstörte Siedlung. »Ist das nicht schlimm genug?« »Nein, das ist Zurückhaltung.« 419 »Du hältst dich doch nicht etwa für einen wohlwollenden Eroberer?« »Ich halte mich überhaupt nicht für einen Eroberer. Ich bin gekommen, um euch zu befreien.« Jetzt war es an dem Häuptling, trotz seiner schlimmen Lage zynisch zu lachen. Zerreiss lächelte entspannt und guter Dinge. »Wie soll es nun weitergehen?« »Mit meinem Tod«, erwiderte der Häuptling mit geschwellter Brust. »Du kannst dich mir immer noch anschließen. Viele haben es bereits getan.« »Ich erwarte keine Gnade.« »Deine Tapferkeit gereicht dir zur Ehre. Aber warum solltest du dein Leben fortwerfen? Ich biete dir, deiner Familie und deinen Angehörigen meine Nachsicht an. Deinem ganzen Volk. Du musst mir nur die Gefolgstreue schwören.« »Und danach in Schande leben?« »Du wärst dann ein Teil eines größeren Ganzen. Welche Schande kann darin liegen?« »Wohl eher Teil eines großen Wahnsinns.« Einige Atemzüge lang waren die Augen des Kriegsherrn wie Stein. »Sieh dir mein Heer an. Sieh dir an, wie viele verschiedene Völker die Soldaten stellen. Sie halten sich nicht für Unterworfene.« »Aber warum baust du diese große Streitmacht auf? Welches Ziel hast du denn, abgesehen von der Unterwerfung deiner Nachbarn?« »Ich habe es dir gesagt. Befreiung.« Falls der Häuptling auf eine Klärung gehofft hatte, so wurde er enttäuscht. Die Ausdrucksweise des Kriegsherrn blieb rätselhaft. »Es heißt, du seiest weiser, als 420 du an Jahren zählst«, sagte der Häuptling, »und deine Fähigkeiten als Feldherr sind unumstritten. Doch verfolgst du offenbar ein großes Ziel, das du nicht offen nennst.« »Du brauchst lediglich zu wissen, dass man dem, was ich bringe, keinen Widerstand entgegensetzen kann.« »Ich muss einfältiger sein, als ich dachte. Alles, was du sagst, gibt mir neue Rätsel auf.« »Stell dich zu mir unter mein Banner, und alles wird sich klären.« »Ich kann nur eines sehen: Du stößt immer weiter nach Süden vor. Bald wirst du ins Reich jener eindringen, die nicht so leicht bezwungen werden können. Du wirst Kräften begegnen, die mächtiger sind als deine eigenen, Zerreiss.« »Wir werden sehen.« Der Kriegsherr zeigte sich unbeeindruckt. »Aber du hast deine Entscheidung noch nicht getroffen. Soll mein Heer Feuer entfachen oder Feuer bekämpfen? Bist du auf meiner Seite oder ... warte!« Er schloss die Augen und legte den Kopf schief, als wäre er von einem Geräusch unterbrochen worden, das nur er selbst hören konnte. »Es kommt«, hauchte er. »Was?« Der Gefangene sah sich im Gefolge des Kriegsherrn um. Die Leute wirkten wie ein Holzschnitt, mitten in der Bewegung erstarrt. Sie lauschten. Auch das Heer drunten rührte sich nicht und stand still. Obwohl ans nördliche Klima gewöhnt, begann der Häuptling zu zittern. »Dies soll dir die Entscheidung erleichtern«, sagte Zerreiss zu ihm. Der Häuptling konnte es jetzt spüren. Ein dumpfes Vibrieren in den Knochen, ein Geräusch, das zu tief 421 war, um mit dem Ohr wahrgenommen zu werden. Ein deutliches Gefühl von einem Zusammenprall. Er starrte den Kriegsherrn fassungslos an. »Wer ... was seid Ihr?« »Ich bin der zu Fleisch gewordene Zweifel«, erklärte Zerreiss. Und die Erde begann zu beben. Der Königspalast von Merakasa war eine riesige Insel der Stille in einem kochenden Meer der Unordnung. Entrückt vom magischen Chaos der Stadt, existierte hinter den innersten Mauern des Palasts eine andere Welt. Wege wanden sich anmutig durch prächtige Gärten, in denen dicht an dicht die Bäume standen. Die Farben unzähliger Blüten entzückten das Auge. Doch kein Vogel hatte jemals hier gesungen. Näher zum Palast hin gingen die Grünanlagen in weite Höfe aus weißem Marmor über. Hier gab es Laubengänge, Bögen und Bänke, auf die niemand sich jemals setzte. Wo das Gras endete und die Bodenfliesen begannen, wurde die Tradition geachtet, unterirdisch verlaufende Kraftlinien zu markieren. Farbige Streifen, makellos gerade, fanden aus allen Himmelsrichtungen zusammen - ein Spinnennetz aus roten, schwarzen, pfirsichfarbenen, blauen und einem Dutzend weiteren Tönen, und alle waren frisch eingefärbt.
Die lebhaften Farbstreifen liefen auch im Innern des Palasts durch Flure und über Wände weiter und setzten sich quer über die Fußböden der Räume fort. Tief im Herzen des Palasts kreuzten sie sich im Sanctum Sanctorum, das nur die Herrscherdynastie Gath Tampoors betreten durfte. Es war ein Saal mit dicken 422 Mauern und einem von unglaublich hohen Säulen getragenen Kuppeldach, erhellt von einem Licht, dessen Quelle nicht zu sehen war. Der Raum war auf zurückhaltende Weise kostbar geschmückt und sparsam, aber geschmackvoll eingerichtet. Seltene Essenzen, die in Eisenpfannen verdunsteten, verströmten erlesene Düfte. Aus allen Richtungen liefen die Linien hier zusammen, gaben ihre Geradlinigkeit auf, krümmten sich, vermischten sich und verflochten sich zu einem riesigen Kreis auf dem Boden. Auch ihre Farben vermischten sich und verschmolzen zu strahlendem Silber. Innerhalb des Kreises und mit ihm verbunden schimmerte das polierte Emblem von Gath Tampoor - der gestufte Schweif eines stilisierten Kometen, der einen prächtigen Drachen umschloss. Unter dem Einfluss ewiger Zauber spuckte das zusammengerollte schuppige Ungeheuer orangefarbene Flammen. Eines der großen Drachenaugen war ein leeres Loch. Es war eine Grube mit glatten Wänden, die groß genug war, um ein Pferdefuhrwerk aufzunehmen. Der Inhalt aller Kraftlinien füllte den Teich an seinem Grund. Dies war die Kutsche der Magie. Quecksilbern und mit der Konsistenz von Honig liefen dort die Kräfte zusammen und vermischten sich. Die glänzende Oberfläche des Teichs, bewegt durch das Einströmen der Flüssigkeit, gerann häufig und nahm die Umrisse von etwas an, das am ehesten als Fenster bezeichnet werden konnte. Ein Fenster, das Bilder von unzähligen Orten zeigte. Freilich hätten die meisten Betrachter weder die Bilder noch das Fenster als das erkannt, was sie waren. 423 Eine kleine Gruppe von Menschen hatte sich um das Auge versammelt. Einer von ihnen, eine Frau, hatte die höchste Position im ganzen Reich inne. Die anderen waren mit ihr blutsverwandt. Sie hatten unglaublich teure, mit Zauber verstärkte Gewänder angelegt, und einige wurden von magischen Gefährten begleitet. Je nach Geschmack zeigten sich Letztere entweder wunderschön oder abstoßend. Die Imperatorin Bethmilno XXIV. war schon sehr alt, doch es wäre ein tödlicher Fehler gewesen, hätte man sie deshalb für senil gehalten. Sie hatte einen weißen Gesichtspuder dick aufgelegt. Ihre Lippen waren eine scharlachrote Wunde, die Augen und Wimpern geschwärzt. Das künstlich gedunkelte Haar war hochgesteckt und wurde von langen silbernen Nadeln gebändigt. Ihre Kleidung war in hellen Farben gehalten und mit kostbaren Zaubern versehen, damit das komplizierte Muster ständig in Bewegung blieb. Die Anwesenden betrachteten das Loch. Die starke Kälte, die von dort ausstrahlte, konnte ihnen offenbar nichts anhaben. »Da!«, rief die Imperatorin und deutete auf etwas, das sich schemenhaft im Quecksilber regte. »Und da noch einmal.« »Hat es den gleichen Ursprung, Großmutter?«, fragte ein junger Mann. »Ja, es ist im Barbarenland. Dieses Mal aber nicht mehr so weit im Norden.« »Diese Störungen im Netz werden stärker und geschehen häufiger«, bemerkte ein älterer Mann. »Ich kann kaum glauben, dass ein einzelner Mensch eine solche Wirkung entfalten kann.« 424 »Und doch scheint es so«, sagte Bethmilno, »obwohl er nur ein unwissender Wilder ist.« »Hat es so etwas schon einmal gegeben?« »Nein.« »Es hätte gleich im Keim erstickt werden sollen«, grollte jemand anders. »Es ist höchste Zeit, dass wir uns mit diesem Emporkömmling befassen.« Die Imperatorin musterte ihn streng. »Du wirst doch nicht ernsthaft glauben, dieser Kriegsherr stelle auf irgendeine Weise eine Gefahr für uns dar? Wann war irgendeine Bedrohung aus dem Volk schon jemals eine Gefahr für uns? Dies als Gefahr für das Imperium zu verstehen würde nun wirklich bedeuten, es zu ernst zu nehmen.« Sie hielt inne und fügte nach einer Weile hinzu: »Aber wir sind nicht so weit gekommen, indem wir unvorsichtig waren. Und es gibt Überlegungen, die über die Probleme hinausgehen, die ein einziger Kriegsherr aufwerfen könnte.« »Rintarah«, warf das Enkelkind pflichtschuldigst ein. Die Imperatorin lächelte nachsichtig, doch ihr Gesichtsausdruck wäre jedem Außenstehenden bestenfalls scheußlich vorgekommen. »Ich wünschte, andere hier wären bereit, sich ebenso gut wie du auf die Realität zu konzentrieren, mein Lieber. Wir dürfen nie vergessen, wer der wahre Feind ist.« Sie musterte nacheinander die Anwesenden. »Rintarah, natürlich. Es ist immer Rintarah. Ein Bündnis zwischen Rintarah und dem Barbaren könnte das Gleichgewicht der Kräfte empfindlich stören.« »Genau wie eine Allianz mit den Aufständischen«, fügte der erste Mann hinzu. »Auch diese Möglichkeit werden wir im Auge behalten. Ich für meinen Teil betrachte den Widerstand 425 freilich eher als eine lästige Störung denn als echte Gefahr. Schlecht organisiertes Gesindel.« »Nicht alle teilen diese Ansicht.« »Das ist mir bewusst. Wir ergreifen jede nur denkbare Vorsichtsmaßnahme.«
»Und dennoch treffen uns ihre Schläge.« »In dem Maße, wie eine Mücke einen Büffel behelligt.« »Die wahre Gefahr ist doch sicher, dass sich der Widerstand und Rintarah gegen uns verbünden könnten, nicht wahr?«, warf einer ihrer Verwandten ein. »Aus ihrer Sicht wäre es vernünftig, sich zusammenzutun.« »Dies halte ich für die unwahrscheinlichste Möglichkeit. Die Aufständischen sind gleichermaßen gegen beide Reiche eingestellt, und ihre Bewegungen in beiden Reichen stehen miteinander in Verbindung. Nein, Rintarah könnte sich so wenig mit ihnen verbünden, wie wir es können.« »Der Widerstand erweckt den Anschein, eine größere Organisation zu sein. Das muss die Ursache sein für ...« »Eine Sache solltest du begreifen, was den Widerstand angeht«, unterbrach die Imperatorin, von Kopf bis Fuß ganz die herablassende Monarchin, »wie lange du auch immer zum Verstehen brauchst. Und was ich sage, gilt auch für alle anderen Untertanen. Ihr natürlicher Zustand ist die Anarchie. Schau dir nur an, wie sie mit der Magie umgehen, die wir ihnen gewähren. Sie hassen es, kontrolliert zu werden, und doch haben sie es, von einer Minderheit abgesehen, noch niemals geschafft, sich zusammenzutun und etwas dagegen zu unternehmen. Sie sind wie Vieh, und das Vieh hat 426 nun einmal nicht genug Vorstellungskraft, um das Gehöft zu führen.« »Das ist wahr. Aber einige sind auch so störrisch wie Ochsen.« Sie tat die Einschätzung mit einer Handbewegung ab. »Man kann sich darauf verlassen, dass sie vom Tross ihrer Gefährten wieder hinuntergezogen werden. Unterschätze nicht die Macht der Gleichgültigkeit. Ganz allgemein gesprochen sind diese Leute viel zu sehr mit dem Tand beschäftigt, den wir ihnen hinwerfen, als dass sie uns belästigen könnten. Das soll aber natürlich nicht heißen, dass wir den so genannten Widerstand ignorieren. Wir unternehmen Schritte gegen ihn und ebenso gegen diesen so genannten Kriegsherrn.« »Welche Schritte denn?« »Wir sind ständig mit der Essenz verbunden«, sie nickte zur Grube hin, »um einen Hinweis auf die Natur seiner Kraft zu bekommen. Außerdem haben wir eine Erkundungsmission genehmigt, die unter bhealfanischer Flagge in die nördlichen Einöden segeln wird. Eine Vorsichtsmaßnahme soll darin bestehen, dass die Mannschaft hochkarätige Zauber im Arsenal haben wird.« Sie bemerkte die besorgten Gesichter und sah sich genötigt, ihre Verwandten zu beruhigen. »Kein Grund zur Sorge. Die Magie wird von vertrauenswürdigen Dienern überwacht, und sie ist auf die Zauberer zugeschnitten und nicht erneuerbar. Es besteht keine Gefahr, dass sie unerlaubt verbreitet wird.« »Und der Widerstand?«, warf jemand ein. »Ich habe befohlen, drakonische Maßnahmen zu ergreifen. Die Paladine erweisen sich in dieser Hin427 sieht als wertvolles Werkzeug, und sie sollen größere Entscheidungsfreiheit hinsichtlich der Strategie bekommen. Wir verstärken auch die Unterwanderung des Widerstands, und diese Politik trägt bereits Früchte.« »Was ist, wenn es trotz dieser Bemühungen zur Auseinandersetzung mit dem Kriegsherrn kommt?« »Ich will einräumen, dass wir ihn möglicherweise im offenen Kampf stellen müssen. Aber ihr könnt sicher sein, dass dies weit entfernt von unseren Außengrenzen geschehen wird, und es besteht kein Zweifel, wie der Kampf ausgehen wird.« Während sie sprach, kratzte die Imperatorin abwesend an einem kleinen Schorf auf dem Nasenrücken herum. Der Hautfetzen löste sich ab, sie begutachtete ihn und schnippte ihn fort. »Soweit unsere eigenen Untertanen betroffen sind, könnte das sogar von Vorteil sein. Es gibt doch nichts Besseres als einen Krieg, um das Volk abzulenken.« Jemand, der bisher noch nicht gesprochen hatte, räusperte sich und bemerkte: »Es gibt möglicherweise noch einen weiteren wichtigen Faktor, den wir bisher noch nicht angesprochen haben.« Die Imperatorin hob fragend eine Augenbraue. »Ach?« »Ich meine den Qalochier«, sagte ihr Verwandter zögernd. Sie kniff die Augen zusammen, als der Mann erwähnt wurde. Füße scharrten. Einer der magischen Begleiter, der mit seinem Besitzer in emotionaler Verbindung stand, wechselte von hübsch zu hässlich. »Was ist mit ihm?«, fragte sie schmallippig. »Du weißt doch, dass unsere Spione melden, er könne sich den Aufständischen angeschlossen haben. 428 Möglicherweise ist dies die gefährlichste Entwicklung überhaupt.« »Das weiß ich. Die Lage wird bereits geprüft.« »Dieses Problem ist allerdings nicht so überschaubar wie alle anderen, nicht wahr? Angesichts der Regelungen, denen unser Vorgehen im Hinblick auf diesen Mann unterworfen ist, sind uns die Hände gebunden.« »Höchste Zeit, dass diese Regeln einmal überprüft werden«, murmelte jemand. »Du weißt, dass das unmöglich ist«, knurrte Bethmilno. »Also soll er frei herumlaufen, damit er tun und lassen kann, was er will? Bis er endlich selbst erkennt, wie viel Chaos er anzurichten in der Lage ist?« »Nein«, gab die Imperatorin trocken zurück. »Reeth Caldason wird tot sein, bevor es so weit kommen kann.« Im Quecksilberteich brodelte es dunkel. Im Zentrum Jecellams, inmitten all der ordentlichen, gut überwachten Straßen, gab es einen weitläufigen
eingefriedeten Gebäudekomplex. Im äußeren Ring der schmucklosen Anlage wurde die Verteilung von Essen, Gesetzen und Lügen beaufsichtigt. Die Gebäude im Kern des Komplexes waren den Regierungsgeschäften vorbehalten und stellten den Sitz der Macht dar. Hier hielt der Zentralrat seine Beratungen in Räumen ab, die nur von ihm benutzt wurden. Gath Tampoor war der westlichen Tradition gefolgt und hatte einen Drachen als Symbol gewählt. Rintarah dagegen lehnte sich an das östliche Erbe an. Das Staatssymbol war ein Schild mit einem Adler, 429 der mit ausgebreiteten Schwingen flog. Im Hintergrund waren Blitze zu sehen. Das Bild war überall zu finden: auf Flaggen, auf Mosaiken, auf öffentlichen Verkehrsmitteln und" im Buntglas von Tempeln. Doch die bemerkenswerteste Manifestation blieb dem Auge nur weniger auserwählter Menschen vorbehalten. Sie befand sich im großen Sitzungssaal, einem weitläufigen Raum, in den das Sonnenlicht niemals Eingang fand. Wie in Gath Tampoor liefen auch hier im Allerheiligsten des Staates die Kraftlinien aus allen Richtungen zusammen. Sie mündeten in die kräftigen Beine eines mächtigen Tischs, der groß genug war, um vierzig Menschen Platz zu bieten. Der Tisch war in der Form des Schildes von Rintarah gebaut, und der Adler und die Blitze waren in die Fläche eingearbeitet. Zauberenergien belebten das Abbild, sodass die gewaltigen Schwingen des Vogels langsam flatterten und die Blitze zuckten. In diesem Augenblick war der Rat jedoch nicht am Tisch versammelt. Die Erörterungen fanden am anderen Ende des Raumes statt. Dort gab es eine Öffnung, jener in Merakasa nicht unähnlich, wenngleich schlichter angelegt. Der einzige Schmuck bestand aus einem hüfthohen Messinggeländer, das die Grube umgab. In jeder anderen Hinsicht jedoch war es genau die gleiche Anlage wie in der anderen Hauptstadt: ein Loch mit glatten Wänden, in das die Kanäle flüssiges Quecksilber speisten, um einen wallenden Teich am Grund zu füllen. Indem sie sich als Rat ausgaben, erweckten die Herrscher von Rintarah den Eindruck, ihre Bestallung sei durch irgendeine Art von Wahlverfahren zustande gekommen. Dem war jedoch nicht so. Die 430 Ratsmitglieder waren miteinander verwandt, und es gab keinerlei demokratischen Unsinn. Etwa ein Viertel der Mitglieder waren an diesem Tag anwesend. Sie starrten auf das bewegte Quecksilber hinunter. Der Älteste des Rates bekleidete eine Position von größter Machtvollkommenheit, die in etwa dem Rang der Imperatorin von Gath Tampoor gleichkam. Sein Name war Felderth Jacinth, und ähnlich wie Bethmilno war auch er in vorgerücktem Alter. Er war groß und langgliedrig, seine Haut war makellos, und er besaß noch die volle Haarpracht, auch wenn diese körperlichen Vorzüge recht deutliche Spuren von unnatürlichen Eingriffen aufwiesen. Der prächtige bunte Brokat, den er trug, verlieh ihm etwas Majestätisches. Er bildete ganz gewiss einen Kontrast zu seiner Umgebung. »Ich habe den starken Verdacht«, verkündete er, während er die Störungen in den Energiemustern beobachtete, »dass Gath Tampoor dahinter steckt.« »Wie können sie etwas tun, das wir nicht können?«, wollte ein Verwandter wissen. »Ein Durchbruch, eine neue Anwendungsform der Zauberkunst, wer weiß?« »Ein Durchbruch, der uns nicht gelungen ist? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit dafür?« »Mir fällt es leichter, dies zu glauben, als anzunehmen, ein unwissender Eroberer könne so etwas tun. Diese Unregelmäßigkeiten wiederholen sich immer häufiger, und sie nehmen an Stärke zu. Etwas Mächtigeres als ein einzelner Mann muss dort im Spiel sein.« Er packte das Geländer, und seine Knöchel traten weiß hervor. Möglicherweise lag dies aber auch am dünnen Blut. 431 »Vielleicht ist ein ganz anderer Faktor dafür verantwortlich«, warf jemand ein. »Du meinst diejenigen, die sich selbst als Widerstand bezeichnen?« Der Älteste schnaubte verächtlich. »Wie soll das möglich sein? Welche Macht haben die Bürger schon, abgesehen von jener, die wir ihnen geben? Nein, die Menschen sind Schlafwandler. Überstiege nicht ihre Nützlichkeit geringfügig die Unannehmlichkeiten, die sie uns bereiten, dann hätte ich längst für eine radikale Bereinigung plädiert.« »Wer soll uns dann die Wiesen mähen?«, klagte ein Witzbold. Seine Bemerkung wurde mit Gelächter quittiert. Der Älteste Jacinth jedoch blieb ernst. Fast zu sich selbst sagte er: »Diese Schwankungen der Energie könnten natürlich auch ein Trick sein. Ein Trick, mit dem Gath Tampoor uns hereinlegen will.« Ein anderer Verwandter war skeptisch. »Ein Trick, der die Essenz beeinflussen kann? Das ist ebenso schwer zu glauben. Und zu welchem Zweck überhaupt?« Der Älteste seufzte frustriert. »Das alles kann unsere Frage, wie wir mit dem Kriegsherrn verfahren, leider nicht beantworten, gleich, mit wem er sich verbündet oder nicht verbündet hat.« »Was ist eigentlich mit der Expedition, von der unsere Spione berichtet haben?«, bohrte der Skeptiker. »Sie soll von Bhealfa in die Einöden im Norden gehen. Wenn es wirklich eine Forschungsexpedition ist, sollten wir daraus dann nicht schließen, dass man in Gath Tampoor über diesen Zerreiss ebenso wenig weiß wie wir?« »Falls es tatsächlich eine Forschungsexpedition ist. Es könnte auch eine Finte sein. Fehlinformationen, 432 um uns von der Tatsache abzulenken, dass sie längst ein Bündnis mit ihm geschlossen haben. Oder es könnte das Ziel der Expedition sein, ein Bündnis zu schmieden.«
»Aber wenn sie so wenig wissen wie wir, dann würden sie doch ebenfalls so eine Expedition ausrüsten wie diese, oder?« »Ich muss einräumen, dass diese Möglichkeit nicht auszuschließen ist«, erwiderte Jacinth mit versteinerter Miene. »Sollten wir nicht in diesem Fall so schnell wie möglich eine eigene Expedition aussenden?« »Ich muss gestehen, dass ich bereits daran gedacht habe. Ich habe bisher gezögert, allein auf der Grundlage von Gerüchten über eine bhealfanische Expedition etwas Derartiges zu tun. Angesichts dieser neuerlichen und stärkeren Störungen der Kraft denke ich jedoch, du könntest Recht haben. Ich werde sofort den Befehl geben, dass entsprechende Vorbereitungen getroffen werden.« »Das bedeutet, dass wir in eine Art Wettrennen mit Gath Tampoor eintreten«, überlegte ein Ratsmitglied. »Es gibt mehr als eine Möglichkeit, ein Rennen zu gewinnen«, erklärte der Älteste. »Was sie dem Kriegsherrn auch geboten haben, wir werden sie überbieten. Später, wenn er seine Schuldigkeit getan hat, können wir es immer noch widerrufen. Er ist ja schließlich nichts weiter als ein Barbar, der Glück gehabt hat. Das dürfen wir nicht vergessen.« »Bhealfa scheint in der letzten Zeit oft Erwähnung zu finden, wenn wir über Probleme sprechen.« »Es ist eine Brutstätte für Aufständische, daran besteht kein Zweifel.« 433 »Ich dachte eher an ein ganz bestimmtes Problem«, fuhr der Ratsherr fort. »Die letzten Meldungen, die wir über Caldason erhalten haben, kamen aus Valdarr. Wenn er sich nun mit dem Widerstand eingelassen hat...« »Er hat bisher keinerlei Neigung gezeigt, so etwas zu tun.« »Jedenfalls soweit wir es wissen.« »Willst du damit sagen, zwischen dem Qalochier und dem Kriegsherrn könne eine Verbindung bestehen?« »Ich weiß es nicht. Beachte aber die Folge der Ereignisse. Caldason taucht in Valdarr auf und tut sich anscheinend mit bekannten Aufständischen zusammen. Das haben uns jedenfalls die Paladine berichtet. Ungefähr zur gleichen Zeit gewinnt der Kriegsherr an Macht wie noch nie zuvor.« Jacinth dachte über das Argument nach. »Hm. Caldason ist unseres Wissens der einzige Mensch, der fähig sein könnte, die Struktur auf die Art und Weise, die wir hier beobachten, zu verändern.« »Kann er das wirklich tun?« »Falls er ein Bewusstsein seiner selbst gewinnt, ist er möglicherweise dazu imstande.« »Und falls es jemals einen Hals gegeben hat, den am Seil aufzuhängen sich lohnt, dann ist es der des Qalochiers.« »Ihn und seine ganze verdammte Sippe sollte man einfach auslöschen. Ich würde zu gern die Samthandschuhe ausziehen und mich eingehend mit Caldason befassen. Ich war schon oft in Versuchung, gegen das Protokoll zu verstoßen und ihn einfach umzubringen.« 434 »Ist das denn möglich?« »Welche Möglichkeit meinst du?« »Beide. Kann das Protokoll gebrochen werden, und kann man ihn umbringen?« »Sein Leben zu beenden würde besondere Maßnahmen erfordern. Und was das Protokoll angeht ... nun, das wäre noch erheblich schwerer.« »Aber nicht unmöglich?« »Wer kann das sagen? Es ist Neuland. Es könnte immerhin klug sein zu erforschen, welche Schritte in dieser Hinsicht überhaupt möglich sind.« Die Anwesenden nickten zustimmend. »Im Augenblick müssen wir uns allerdings auf das Nahe liegende konzentrieren. Die Stunde ist gekommen, da wir mit unserem wichtigsten Agenten in den Reihen des Widerstands Kontakt aufnehmen müssen. Macht das Netz bereit.« Mit gewandten Bewegungen, die von viel Erfahrung zeugten, vollzogen zwei seiner Helfer eine stumme Beschwörung. Sofort setzte sich die Essenz mit einem anderen Knoten an irgendeinem anderen Ort des Energienetzes in Verbindung. Kaltes Feuer loderte im Brunnen auf. Es harte die Form einer riesigen Kerzenflamme, in deren Zentrum sich eine Gestalt abzeichnete. Sekunden später verfestigte sie sich und war als Abbild eines Menschen zu erkennen. Der Älteste Jacinth trat vor und begrüßte seinen Spion im Herzen des Widerstands. 435 Es hieß, die Clans der Paladine besäßen außerhalb der Reiche mehr Grund und Boden als sonst jemand. Wo immer sie eingesetzt waren, unterhielten sie Logenhäuser, und sie waren überall außer in den Einöden des Nordens im Einsatz. Oft hatten sie den Besitz als Lohn oder Entschädigung für die Leistungen bekommen, die sie den jeweiligen Regierungen erbracht hatten. Nicht selten geschah es auch, dass die Clans als Gegenleistung für ihre Dienste darauf bestanden, dauerhaft Grundbesitz übertragen zu bekommen. Das war eine widersprüchliche Politik für eine angeblich staatenlose Bruderschaft, doch es war eine sehr einträgliche. In Bhealfa beanspruchte das Hauptquartier der Paladine in bester Lage ein großes Stück von Valdarr. Die Anlage war eine recht beeindruckende Festung und nicht weniger imposant als die staatlichen Gebäude ringsum. Als die Dämmerung anbrach, funkelte goldenes Licht auf den Steinmauern, die nach einem kurzen Schauer noch feucht waren.
437 Ein Labyrinth von Tunneln durchzog den Untergrund der Festung. Zwei Männer, einer schon fast alt zu nennen, der andere noch nicht lange dem Jünglingsalter entwachsen, liefen durch hallende Gänge. Sie gingen dicht nebeneinander her und unterhielten sich mit gedämpften Stimmen. Gelegentlich kamen sie an Wächtern vorbei, die sogleich Haltung annahmen. »Wir haben zu viele Meldungen bekommen, um noch irgendeinen Zweifel hegen zu können«, beharrte Devlor Bastorran. »Er ist hier in der Stadt. Warum fällt es dir so schwer, dies zu glauben, Onkel?« Seine Stimme klang beinahe entnervt. Das Clanoberhaupt Ivak Bastorran hätte normalerweise entschiedene Einwände dagegen gehabt, auf diese Weise angeredet zu werden, doch die Liebe zu seinem Neffen dämpfte seinen Zorn. »Es ist gut möglich, dass er hier ist. Es wäre nicht das erste Mal, dass er nach Valdarr eindringt. Ich sage nur, dass es äußerst gefährlich ist, ohne ausreichende Kräfte und ohne gründliche Planung gegen ihn vorzugehen.« »Aber das ist doch ein Teil unseres Auftrags, oder? Es ist unsere Aufgabe, gegen Gesetzlose einzuschreiten.« »Galdason ist kein gewöhnlicher Krimineller. Das solltest du inzwischen eigentlich wissen.« »Er ist uns schon seit Jahren ein Dorn im Auge. Ich habe angenommen, du legtest Wert darauf, ihn zu erwischen.« »Ich brenne mehr darauf, ihn zu bestrafen, als du dir vorstellen kannst. Doch diesen Gesetzlosen müssen wir fangen, nicht töten. Er darf nur unter ganz bestimmten Bedingungen angegriffen werden.« 438 »Welchen Sinn hat das? Warum muss dieser Abschaum mit Samthandschuhen angefasst werden?« »Das verstehst du nicht, Devlor.« Der jüngere Mann schmollte. »Da hast du Recht, ich verstehe es nicht.« »Noch führst du nicht die Clans, mein Junge. Wenn ... falls du die Führung übernimmst, wirst du mehr erfahren, als du jetzt weißt. Vielleicht wirst du es dann besser verstehen.« »Was hat das denn zu bedeuten?« »Es bedeutet, dass wir unsere Dienste denen zur Verfügung stellen, die uns bezahlen. In Caldasons Fall haben diejenigen, die uns sogar sehr gut bezahlen, gewisse Regeln aufgestellt. Die Clanmänner, die er getötet hat, sind gestorben, weil sie ihn angegriffen haben, ohne zu wissen, wer er ist, oder weil sie ungehorsam waren und dachten, sie könnten ihn besiegen. Sie haben mit ihrem Leben bezahlt.« »Wir vertreten die Clans. Wir können tun, was wir wollen. Warum sollten wir die Regeln befolgen, die von anderen aufgestellt werden, wenn diese offensichtlich unsinnig sind?« »Wir genießen ein großes Maß an Autonomie, doch auch für uns gibt es Grenzen. Wenn wir den Bogen überspannen, dann könnten sich bestimmte Gruppen bedroht fühlen, und dies würde auch unsere Unabhängigkeit gefährden. So etwas will ich nicht als Erbe hinterlassen. Wenn du mein Nachfolger werden willst, dann musst du deine Ungeduld bezähmen lernen.« Sie gingen eine Weile schweigend weiter, und wieder nahmen die Wächter Habtachtstellung ein. Dann erreichten sie eine Ecke. 439 »Erzähl mir doch von den neuen Berichten der Spione«, sagte der Onkel. »Die Aufständischen hecken irgendetwas aus. Ich weiß noch nicht, was es ist, aber es sieht so aus, als wäre es etwas Wichtiges.« »Wem willst du den Einsatz übertragen?« »Ich würde diese Sache gern selbst in die Hand nehmen.« Ivak überlegte. »Also gut. Aber halte dich streng an die Regeln und sei vorsichtig. Es wäre ein Freudenfest für die Aufständischen, wenn sie jemanden von deinem Rang besiegen könnten. Ganz zu schweigen von dem Schlag, den sie damit den Clans und auch mir persönlich versetzen würden.« »Ich bin kein Narr, Onkel.« »Ich weiß. Aber du kannst sehr eigensinnig sein. Ich habe deinen Eltern, die Götter mögen wohlgefällig auf sie blicken, gewisse Versprechungen gemacht, und deine Unversehrtheit hat dabei eine große Rolle gespielt.« »Glaubst du wirklich, irgendjemand könnte mich besiegen?« »Mit einer Klinge? Das bezweifle ich. Aber es gibt noch andere Wege, um das Leben eines Mannes in Gefahr zu bringen.« »Mach dir meinethalben keine Sorgen, ich kann schon auf mich aufpassen.« Der Durchgang, durch den sie jetzt schritten, verlief aufwärts. Sie näherten sich einer Reihe offener Türen, durch die Tageslicht hereinfiel. Bastorran der Ältere kam auf alltäglichere Dinge zu sprechen. »Wie viele sind es heute?« »Oh, etwa zwanzig oder so.« 440 »Ich finde, es ist eine mühsame Aufgabe«, seufzte er. »Ich kann sie auch fortschicken, wenn ...« »Nein, tu das nicht. Wir können hin und wieder durchaus einen Vorteil daraus ziehen, dass wir diesen Leuten Audienzen gewähren. Es ist wohl die übliche bunte Truppe?«
»Mehr oder weniger. Einer ist dabei, der dich wirklich interessieren könnte. Ein Zauberer namens ...« Er zog ein gefaltetes Stück Pergament aus der Tasche und sah nach. »Ein gewisser Frakk. Wie ich hörte, hat er sich in der Vergangenheit mit einigen nützlichen kleinen Erfindungen hervorgetan.« »Hast du eine Vorstellung, was er dieses Mal will?« »Nein, aber er sagt ...« Er blickte noch einmal auf das Pergament. »Er sagt, es sei etwas Revolutionäres, das uns möglicherweise von großem Nutzen sein könnte.« »Das sagen sie alle. Wir nehmen ihn als Ersten dran und sehen uns an, was er zu bieten hat.« Sie kamen in einem großen Innenhof heraus, der ringsherum von hohen Mauern begrenzt wurde. Clanmänner lernten hier den Schwertkampf, und die Klingen klirrten laut in der frischen Morgenluft. Andere trainierten mit Stäben oder schössen mit Pfeilen auf Strohpuppen. Die Gruppe der Bittsteller wurde von diesen Ertüchtigungen fern gehalten. Sie saßen am anderen Ende des Hofs auf Bänken. Als die Bastorrans auftauchten, standen sie auf. Einige versuchten sich vorzudrängen. Wächter hielten sie zurück und versperrten ihnen mit Stäben den Weg. »Wir wollen dies hier so schnell wie möglich erledigen«, sagte Ivak. 441 Devlor nickte. Er rief die Wächter. »Schickt den Zauberer Frakk herüber!« Der Magier, ein kleiner, dicker Kerl mit rotem Gesicht, löste sich aus der Menge. Er wirkte sehr aufgeregt und kam in Begleitung eines dürren Burschen, der größer war als er, aber höchstens ein Drittel seiner Körperfülle besaß. Einige andere, die auf ihre Audienz warteten, grollten halblaut. Wächter schoben die beiden weiter. Der Zauberer näherte sich schüchtern den Paladin-Offizieren. Höflich nahm er den breitrandigen Schlapphut ab und entblößte einen kahlen Schädel. Dabei wäre er beinahe über seinen übertrieben langen Mantel gestolpert. Der Bursche folgte ihm und mühte sich mit einer großen, offenbar schweren Ledertasche ab. Vor den Bastorrans absolvierte der Zauberer eine linkische Verbeugung. »Gatleff Frakk, zu Euren Diensten, meine Herren.« Der Bursche stand offenen Mundes dabei, bis ihm eine Ohrfeige von Frakk verdeutlichte, dass auch er das Haupt zu neigen hatte. Er ließ die Tasche fallen. Frakk sah den Burschen böse an. »Und das ist mein Lehrling Mudge.« Der Junge errötete. »Also gut«, antwortete ihm der ältere Bastorran, »wir können uns die Artigkeiten schenken, denn wir haben nicht viel Zeit. Was hast du uns zu zeigen?« »Mit Eurer Erlaubnis, Clanoberhaupt.« »Ja doch, ja doch, nun mach schon.« Der Magier winkte einer Gruppe stämmiger Helfer, die am Rand des Platzes neben einem unbespannten Wagen standen. Auf sein Signal spuckten sie sich in 442 die Hände, rollten die Ärmel hoch und schoben den Wagen in seine Richtung. Er selbst wandte sich an seinen beschränkten jungen Assistenten. »Die Tasche, Junge. Die Tasche« Mudge erwachte zum Leben. »Oh. Ja, Meister.« Er bückte sich und öffnete den Verschluss der Tasche, dann hob er mühsam etwas heraus. Ivak Bastorran seufzte schwer. Der Zauberer kam seinem Lehrling zu Hilfe. Es gab ein kurzes Durcheinander, und der Junge fing sich einen Klaps auf die Handgelenke ein. Endlich hatten sie einen schweren Würfel befreit, der die Farbe von rotem Ocker hatte. In die Seitenflächen waren Runen geritzt. Sie schlurften damit zum Wagen, schnauften und hievten das Ding auf die hintere Klappe. Dann zückte Frakk einen Zauberstab und klopfte in gleichmäßigen Abständen auf den Würfel. Als Nächstes umkreiste er den Wagen und tippte auf ähnliche Weise auf alle vier Räder. Ivak grunzte. Devlor verschränkte die Arme vor der Brust. Frakk räusperte sich und setzte seine Werbevorführung fort. »Niemand hat bislang daran gedacht, die Kraft der Magie auf diese Weise zu nutzen. Der Würfel«, er deutete darauf, »ist mit magischer Energie aufgeladen, und ich habe einen einzigartigen Spruch entwickelt, um sie daraus wieder abzugeben. Darf ich fortfahren?« »Ja, bitte«, sagte Ivak. Der Zauberer richtete sich zu voller Größe auf, so beeindruckend diese eben war, sprach eine Anrufung und stach dramatisch mit dem Stab in Richtung Wagen. 443 Nichts geschah. Er fuchtelte ein wenig mit dem Stab herum, dann schüttelte er ihn. Die Paladine sahen verächtlich zu. »Äh ... lasst es mich noch einmal versuchen«, bat Frakk. Er sagte den Spruch ein weiteres Mal und stach erneut mit dem Zauberstab zu. Nichts veränderte sich, der Wagen blieb ein Wagen. Dann hörten sie ein krachendes Geräusch. Holz ächzte leise, Metall klirrte. Der Wagen bebte. Langsam, ganz langsam begann er sich zu bewegen. Nach und nach nahm er Fahrt auf, bis er sich mit der Geschwindigkeit eines gemächlich schreitenden Mannes bewegte.
Frakk heulte triumphierend. Der Wagen rollte klappernd und quietschend über den Hof bis nahe an eine Mauer. Eine rasche Geste des Zauberstabs hielt ihn auf. Mit stolzem Lächeln hob Frakk den Stab und versuchte sich an einer weiteren Beschwörung. Der Wagen wiegte sich, dann fuhr er rückwärts. Wie zuvor bewegte er sich zunächst recht langsam und wurde im Laufe der Fahrt schneller. Als er an Frakk und den anderen Beobachtern vorbeifuhr, war der Wagen schnell genug, um einen kleinen Luftzug zu erzeugen. Die Zuschauer sahen, dass die sich drehenden Räder von einem purpurnen Schein umgeben waren, der sich knisternd um die Speichen gelegt hatte. Während der Wagen polternd und ruckend über den Hof fuhr, beschleunigte er weiter, und als er sich der gegenüberliegenden Wand näherte, war er etwa so schnell wie ein von Pferden gezogenes Fuhrwerk. 444 Mit vor Stolz geschwellter Brust und nicht ohne eine gewisse Selbstzufriedenheit wedelte Frakk mit dem Zauberstab, um den Wagen anzuhalten. Er fuhr weiter. Wieder winkte er mit dem Stab und sein Lächeln wirkte ein wenig gezwungen. Der Wagen wurde nicht langsamer. Jetzt wurde der Magier nervös. Er hackte mit dem Stab in der Luft herum, hüpfte auf und ab und rief etwas. Mit lautem Krachen prallte der Wagen gegen die Wand. Holz splitterte, Metall verbog sich. Ein Rad löste sich, sprang über den Boden und kollerte davon. Das purpurne Strahlen, das den Wagen eingehüllt hatte, erlosch spuckend. Schweigen senkte sich über den Hof. »Er hat ein Fuhrwerk ohne Pferde erfunden«, sagte Devlor. »Ein Fuhrwerk ohne Pferde«, wiederholte sein Onkel. Sie sahen einander an. Dann lachten sie schallend. Sofort stimmten die anderen Menschen im Hof in das Lachen ein. Auch die übrigen Bittsteller auf den Bänken fingen an zu lachen, und die Wächter schlössen sich ihnen an. Clanmänner unterbrachen ihre Kampfübungen, ließen die Klingen und Bogen sinken und lachten ebenfalls. Die Männer, die den Wagen geschoben hatten, die Waffenschmiede, die Hufschmiede, die Diener und alle anderen lachten. Auch der Magier lachte verwirrt. Er knuffte seinen Lehrling und lachte sichtlich gequält. Ivak Bastorran, der sich vor Lachen schüttelte und bereits Tränen in den Augen hatte, wandte sich an den Zauberer. »Ich sollte ... dich ... auspeitschen lassen ... weil du unsere Zeit verschwendet hast.« 445 Der Zauberer lachte nicht mehr. »Was für eine dumme Idee«, stimmte Devlor zu. Er schnappte nach Luft und tupfte sich die Augen trocken. »Wer braucht denn so etwas«, er deutete mit dem Daumen auf den demolierten Wagen, »wo wir doch Pferde haben?« »Das ist die schwachsinnigste Idee, die ich je gesehen habe«, platzte Ivak heraus. »Danke, Frakk«, sagte Devlor und klopfte dem Zauberer, der zusammenzuckte, auf die Schulter. »Du hast ein wenig Spaß in meinen Tag gebracht. Hast du eigentlich schon daran gedacht, dieses Ding als Kuriosität auf die Diamantinsel zu verkaufen?« »Noch besser«, heulte Ivak, »vielleicht will Melyobar es erwerben!« Frakk bemühte sich verzweifelt, inmitten der Heiterkeitsausbrüche einen Rest von Würde zu bewahren. An einem anderen Ort in Bhealfa fuhr der Palast des Prinzen am folgenden Morgen über einen dünn besiedelten Streifen Küstenland. Der königliche Hof, das Gefolge und die unzähligen Mitläufer zogen an einem langen, goldenen Strand entlang. Schwärme von Spionzaubern schwebten weit oben und bewegten sich in der gleichen Geschwindigkeit. Sie gehörten Freunden und Feinden und versuchten gelegentlich, einander mit Neutralisierungszaubern auszuschalten. Doch selbst aus dieser Höhe konnten die fliegenden Augen kaum die Prozession in ihrer gesamten Länge überblicken. Der Palast, der sich im Zentrum der dahin kriechenden Masse befand, war für sich genommen bereits eine Insel von ansehnlicher Größe. Die beglei446 tenden Wohnsitze - die Herrenhäuser und Schlösser der Höflinge - waren kleiner, aber immer noch gigantisch. Zwischen diesen schwebenden Kolossen war eine Heerschar von Reitern und Fahrzeugen jeglicher nur vorstellbaren Art unterwegs. So groß war das Ausmaß dieser Gesellschaft, dass die Mitreisenden an einem Rand durch die Wellen planschten, während sie auf der anderen Seite über struppige Dünen holperten. Vom Strand war nichts zu sehen. Der königliche Palast hatte aus nahe liegenden Gründen keine Fundamente im üblichen Sinn. Allerdings gab es eine Art Keller, der sich einfach dadurch von den übrigen Bereichen abhob, dass die drei oder vier Stockwerke, aus denen er bestand, keinerlei Fenster oder andere Öffnungen besaßen. Wer sich in diesem Bereich des Palasts bewegte, hatte das Gefühl, tatsächlich unter der Erde zu sein. Doch nur wenige hätten sich freiwillig dorthin
begeben. Prinz Melyobar konnte sich zwar an kein einziges konkretes Beispiel erinnern, doch aus Gewohnheit sah er sich als Opfer von Verrat. So ergriff er zahlreiche Vorsichtsmaßnahmen, um sich zu schützen, und ein Ausdruck seiner Sorge war die Prätorianergarde. Es waren handverlesene Elitekämpfer, deren Treue durch schreckliche Eide und regelmäßige Prüfungen gewährleistet wurde. Der Prinz traute ihnen natürlich nicht, weil er niemandem traute. Doch auf sie baute er ein wenig mehr als auf alle anderen. Er war viel früher aufgestanden als üblich und wurde von zweien oder dreien dieser Erlesenen begleitet, während er sich durch die unteren Regionen des Palasts bewegte. Sie trafen auf zahlreiche weitere Wächter und mussten viele gesicherte Türen passie447 ren. Endlich erreichten sie eine Tür, hinter der ein Bereich lag, den nur der Prinz allein betreten durfte. Er entließ den Begleitschutz und winkte den Männern, sich zu entfernen. Die Tür war massiv - mehrere Schichten Stahl und Hartholz, dick wie ein ausgewachsener Baum. Sie trug den Abguss eines Löwengesichts. »Lass mich ein«, verlangte der Prinz. »Ich verlange einen Beweis für die Identität«, erwiderte der Löwe. »Legt Eure Hand in die Öffnung.« Melyobar legte eine Hand in einen Schlitz in der Wand. Er spürte ein leichtes Kribbeln. »Willkommen, Euer Majestät. Bitte tretet ein.« Wäre der Prinz ein Betrüger gewesen, dann hätte er die Hand und kurz darauf auch sein Leben verloren. Starke Bolzen wurden geräuschvoll entriegelt. Die Tür schwang langsam auf. Als Melyobar eintrat, flammten Zauberlichter auf, und die Tür schloss sich hinter ihm mit einem satten Knall. Die Schlösser wurden wieder zugesperrt. Er befand sich nun in der königlichen Schatzkammer. Dieser Raum war der erste einer ganzen Reihe von geräumigen, miteinander verbundenen Tresoren. Bogengänge führten jeweils von einem zum nächsten. Die hier gelagerten Reichtümer wurden auf ein Viertel des gesamten Reichtums seines Landes geschätzt. Doch das war es nicht, was ihn an diesem Morgen hierher geführt hatte. Der erste Raum, den er durchquerte, war dem Metall vorbehalten. Unzählige Beutel mit gültiger Münze waren wie Sandsäcke vom Boden bis zur Decke aufgestapelt, und zwischen den Reihen blieben nur schmale Wege frei. Auf einem Eichentisch lag eine 448 Vielzahl einzelner polierter Geldstücke. Sie alle waren mit seinem Profil geprägt, eine schmeichelhafte Darstellung seines früheren Erscheinungsbildes. Als Nächstes erreichte er eine Kammer, in der das Silber gelagert war. Barren waren in massiven Blöcken bis in Kopfhöhe gestapelt, außerdem gab es silberne Statuen, Pokale, Bilderrahmen, Besteck und Kunstgegenstände in großer Zahl. Der Glanz des kalten Mondmetalls. In starkem Gegensatz dazu der nächste Raum, in dem das Gold aufbewahrt wurde. Warm glänzende, gelbe Barren lagen rechtwinklig übereinander und bildeten Ansammlungen in der Größe von Hühnerställen. Schmuck, Helme, Brustharnische und Beinschienen, Trinkpokale und Teller. Gelbe Götzenbilder, die schimmerten, wenn sie dem Sonnenlicht ausgesetzt wurden. Im Raum dahinter gab es Edelsteine und Halbedelsteine. Es blitzte blau und rot und grün aus Schränken und Regalen. Perlen, Saphire, Rubine, Smaragde, Amethyste, Jade, Beryl und Jettstein. Halsketten, Armreifen, Broschen und Dolche, mit Jaspis und Achat verziert. Im benachbarten Raum war das Licht gedämpft, damit die Schätze nicht das unvorsichtige Auge blendeten. Dort waren Diamanten aller Größen, manche so groß wie Hühnereier, auf schwarzen Samttabletts gelagert oder in Kronen, Diademe, Tiaren und in blitzende Ringe eingearbeitet. Unzählige Facetten blinkten wie eine Million Sterne. Danach betrat er einen Raum, in dem seltene, kostbare Zauber aufbewahrt wurden. Sie hatten sehr unterschiedliche Formen und Größen: Phiolen, Tafeln, 449 Kegel, Röhren, runde Steine, Pyramiden und Stachelräder. Zauber für Liebe und Tod, Glück und Unglück, Offenbarung, Vertuschung und tausend andere bedeutende Illusionen. Gefrorene Sprüche, gelagert wie kostbarer Wein, von dem im benachbarten Raum eine große Menge eingekellert war. In Regalen lagen mit Spinnweben überzogene Flaschen in langen Reihen, darunter auch übergroße Behältnisse. Wieder dahinter waren in einem eigenen Raum die Kunstwerke versammelt: Gemälde, Wandbehänge, Statuen, Schnitzereien und Friese. Melyobar ging an all diesen Kostbarkeiten fast achtlos vorbei. Höchstens, dass er hier und dort mit dem Finger über eine staubige Fläche fuhr. Nur ein einziges Mal blieb er stehen: im vorletzten Raum, in dem sich nichts befand außer wertlosem Tand. Hier erregte der Inhalt einer offenen, zerkratzten Kiste seine Aufmerksamkeit. Sie enthielt einen Ball, einen Reifen, einen Stock und eine Handpuppe. Schließlich erreichte er die innerste Kammer. Sie war ganz anders als alle anderen. Was sie beherbergte, war ihm jedoch das Teuerste und etwas, das er beinahe so sehr fürchtete wie den Tod selbst. Er fasste sich ein Herz und trat ein.
Drinnen roch es süßlich nach Verfall. Kein Verwesungsgestank war es, sondern der Geruch von Fleisch, das allmählich schwindet. Der Geruch von überreifem Ehrgeiz und verlorener Hoffnung. Der Raum war nicht überfüllt wie die anderen. Die spärliche Möblierung bestand aus einem Stuhl, einer Kommode und einem Himmelbett. Eine fast völlig durchsichtige magische Halbkugel hüllte das Bett ein, auf dem der Leichnam seines Vaters lag. 450 König Narbetton sah aus, wie man es von einem König erwartete: majestätisch und stark, das Gesicht voller Falten, die von jener Weisheit zeugten, die auf Alter und Erfahrung beruht. Er hatte den Körperbau eines Kriegers, wie trotz des Altersverfalls noch zu erkennen war. Bekleidet war er mit kostbaren Gewändern, und auf dem Haupt saß eine goldene Krone. Reichsapfel und Zepter ruhten auf einer Seite des breiten Bettes, auf der anderen lag das kostbare Breitschwert. Der König wurde seit beinahe zwei Jahrzehnten in magischer Stasis gehalten. Ein endloser Aufmarsch von Magiern hatte versucht, den Zauberbann zu durchbrechen. In letzter Zeit hatte sich Melyobars Haltung jedoch offenbar verändert, und der Strom der Zauberer war versiegt. Narbetton schien zu schlafen, obgleich es praktisch unmöglich war, seinen Atem zu fühlen. Das Haar, der Bart und die Nägel wuchsen weiter, was ihm die Erscheinung eines Löwen verlieh. Der Prinz schlich, wieder Kind geworden, ins Schlafgemach. Er zog sich den Stuhl mit der hohen Lehne herüber, setzte sich und legte im Schoß die Fingerspitzen beider Hände zusammen. »Wie geht es dir heute, Vater?«, fragte er beinahe flüsternd, als hätte er Angst, seinen Vater zu erzürnen. »Ah, gut, gut. Das freut mich zu hören.'« Er legte den Kopf schief, als lauschte er. »Was meintest du, Vater? O ja, im Reich ist alles in Ordnung. Es gibt nichts in den Regierungsgeschäften, über das du dich sorgen müsstest.« Melyobar lauschte wieder aufmerksam. »Nein. Wie ich schon sagte, ist alles ... hmm, ja. Natürlich, aber ...« 451 Der Prinz sackte in sich zusammen und lauschte seinem Vater. »Warum? Nun, ich wollte in einer Sache deinen Rat einholen. Du bist der Einzige, der wirklich - nein, Vater. Nein. Ich werde nicht zulassen, dass er dich holt, das verspreche ich.« Wieder gab es eine Pause. »Aber deshalb bin ich doch hier. Es hat mit ihm zu tun. Ja, wirklich. Darf ich erklären? Darf ich, Vater? Darf ich? Vielen Dank.« Melyobar sammelte sich. »Wie ich schon sagte, brauche ich in dieser Angelegenheit deinen Rat. Ich habe in der letzten Zeit häufig darüber nachgedacht und ... er kann es. Er kann es, Vater. Ich denke, du wirst feststellen, dass er es kann. Also schön. Wenn ich jetzt ... also gut. Wie du weißt, habe ich meine ganze Kraft darauf verwandt, eine Lösung für das Problem zu finden. Ich bin immer in Bewegung geblieben, um ihm zu entgehen und ihn zu verwirren. Ich habe mich mit einer undurchdringlichen Wand abgesichert. Ich habe Jagdtrupps ausgeschickt, die allerdings nie Erfolg hatten, weil ich, wie ich genau weiß, den Kampf persönlich aufnehmen muss. In der letzten Zeit freilich ist mir bewusst geworden, dass ich den Wald vor Bäumen nicht sehe. Hm? Was ich damit meine?« Er überlegte, atmete hörbar aus und erklärte: »Stell dir vor, ich suchte in einem Wald nach einer bestimmten Art von Baum. Welche Art? Oh, das ist jetzt egal. Es spielt jetzt keine Rolle. Bitte, Vater. Sagen wir einfach, es gebe nur einen einzigen Baum von dieser Art, welche Art es auch sei, aber ich kann ihn nicht finden, weil er sich zwischen all den anderen Bäumen versteckt hat. Nun stell dir vor, wie einfach es wird, wenn all die anderen Bäume gefällt werden und nur dieser eine, den ich suche, stehen bleibt.« 452 Es gab eine lange Pause. »Verstehst du es nicht? Vater, du musst es verstehen. Schau mal, ich kann den Tod nicht finden, weil er sich zwischen all diesen lebendigen Menschen versteckt. Es gibt Millionen. Wenn sie nicht da wären, dann höbe er sich deutlich ab, nicht wahr? Schließlich wäre er dann der Einzige, der noch am Leben wäre. Gewissermaßen. Und ich. Und vielleicht meine Leibwache, die sich ihn vornehmen könnte, weil er kein Versteck mehr hat. Ja, Vater. Du natürlich auch. Natürlich. Aber natürlich bist du auch noch da, Vater. Du weißt so gut wie ich, dass ich dich auch meinte, ich habe es nur zu erwähnen vergessen, mehr nicht. Ich lasse doch nicht zu, dass er dich holt. Das verspreche ich dir. Vertrau mir nur. Wie war das?« Melyobar nickte. »Ja, das ist richtig. Und wer weiß? Vielleicht ist er über die vielen Toten, die ich ihm serviere, sogar so erfreut, dass er mich verschont. Ja, und dich natürlich auch, Vater. Nein, ich habe dich nicht vergessen.« Der Prinz dachte über die nächste Bemerkung des Königs nach. »Ganz genau. Ich wusste doch, dass du den Kern des Problems erkennen würdest. Also, ich dachte daran, ihnen zu befehlen, sich selbst zu töten. Eine königliche Proklamation. Ich muss aber zu meinem Bedauern sagen, dass nicht alle meine Untertanen bereit sind, die Befehle zu befolgen, und es reicht schon, wenn nur einige wenige nicht willig mitmachen, um den Plan ganz und gar zu ruinieren. Untertanen können schon sehr selbstsüchtig sein. Dann habe ich mir überlegt, Mordkommandos einzusetzen und ihnen den Auftrag zu geben, alle anderen umzubringen. Und dann könnte ich ihnen den Befehl 453 geben, sich gegenseitig umzubringen. Aber man kann Meuchelmördern nicht trauen. Ich habe mich auch gefragt, ob es vielleicht einen Zauberspruch gibt, mit dem man alle Menschen auslöschen kann, doch ich glaube, so etwas existiert wohl nicht. Auch Gift habe ich in Erwägung gezogen, aber ich weiß nicht, wie ich die Leute dazu bringen soll, es zu nehmen. Sag mir, Vater, wie kann man das ganze Volk auslöschen?«
Prinz Melyobar lauschte aufmerksam den Dingen, die der König ihm zu sagen hatte. »Ich wusste, dass dein Rat weise sein würde. Es scheint keine leichte Aufgabe zu werden, aber was sein muss, muss sein. Ich werde sofort mit der Arbeit beginnen.« Er sah abwesend ins Leere, und sein Gesicht verdüsterte sich. »Ich wünschte, es könnte schon morgen sein. Morgen ist der Freiheitstag. Ha! Welche Freiheiten habe ich denn, während ich versuche, seinen Klauen zu entfliehen? Wie die Narren werden sie in ihren Paraden marschieren. Anarchie und Aufruhr! Sie schirmen ihn ab. Was gäbe ich darum, diesen Wald niedermähen zu können.« Er lächelte den reglosen Leichnam seines Vaters an. »Ja, ich wünschte, es könnte sofort sein.« 454 Der Vormittag in Valdarr war warm und sonnig. Die wenigen Wolken waren rein weiß wie Eisberge und zogen gemächlich über den makellos blauen Himmel. Kutch hatte sich zu dem Sänger, zu Tanalvah und den Kindern auf dem Balkon von Kinsel Rukanis' Haus gesellt. Der junge Zauberlehrling gab mit seinen zunehmenden Fähigkeiten als Aufklärer an. »Da drüben.« Er deutete auf drei Gestalten, einen Mann und zwei Frauen, die auf einer Straße spazierten. »Er ist echt, die Frauen nicht. Und der Vogel auf dem Dach gegenüber. Auch der ist ein Zauber.« »Erstaunlich«, bemerkte Kinsel. »Ich hätte den Unterschied keinesfalls erkennen können.« »Nun ja, Ihr müsst natürlich meinem Wort glauben.« »Keine Sorge, Kutch«, sagte Tanalvah lachend. »Wir glauben dir.« »Und was ist mit dem da?«, mischte sich Lirrin ein und deutete auf etwas, das aussah wie ein überdimensionaler Kobold der auf dem Balkon des Nachbar455 hauses umher schlich. Teg sah mit großen Augen verständnislos zu. »Ich fürchte, der zählt nicht, meine Liebe«, antwortete Tanalvah. »Oder vielmehr, ja, es ist ein Zauber, aber das können wir alle sehen. Ich meine, wir wissen ja, dass es keine Kobolde gibt, nicht wahr? Deshalb können wir auch erraten, dass etwas so Ungewöhnliches Magie sein muss. Kutch dagegen kann Dinge erkennen, die überhaupt nicht so aussehen, als wären sie Magie.« Lirrin und Teg lauschten aufmerksam, mit staunenden Kindergesichtern und glänzenden Augen. »Ich weiß so gut wie nichts über die Wirkungsweise der Magie«, räumte Kinsel ein. »Wie die meisten anderen Menschen nehme ich sie einfach als gegeben.« »Ich auch«, stimmte Tanalvah zu. »Also, wie machst du es nun eigentlich?«, fragte Kinsel. »Oder noch besser, was machst du? Falls es nicht irgendein dunkles Geheimnis ist.« »Es ist kein Geheimnis. Aber das Aufklären zu beschreiben ist nicht so einfach, weil es hauptsächlich ... es ist etwas Instinktives. Meine Ausbildung dreht sich darum, den Instinkt zu schärfen. Ich kann Euch aber die Theorie dahinter erklären.« »Das würde ich gern hören. Lasst uns Platz nehmen.« Sie setzten sich an den Tisch, und die Kinder liefen fort, um zu spielen. »Zerbrecht nichts, ihr beiden, und macht nicht so einen Lärm!«, rief Tanalvah ihnen hinterher. »Ja, Tante Tanalvah!«, riefen sie zurück, während sie Türen knallend ins Haus liefen. 456 »Erwachsenengespräche finden sie wohl langweilig«, sagte sie lächelnd. »Also, wie funktioniert es nun, Kutch?«, fragte Kinsel noch einmal. »Ihr dürft nicht vergessen, dass ich immer noch ein Neuling bin, daher bin ich vielleicht gar nicht in der Lage, all Eure Fragen zu beantworten.« »Du bist aber trotzdem erheblich besser qualifiziert als wir alle!« »Also gut.« Er trank einen Schluck. »Die wichtigsten Prinzipien beim Aufklären haben alle mit den Grundlagen der Magie selbst zu tun. Wenn man das eine versteht, weiß man auch etwas über das andere.« »Vergiss nicht, dass du es hier mit zwei Leuten zu tun hast, die weder das eine noch das andere kennen«, erinnerte Tanalvah ihn. »Das gilt auch für die meisten anderen Menschen. Woher sollten sie es wissen? Nicht jeder ist dazu gemacht, ein Zauberer zu sein. Jedenfalls muss man berücksichtigen, dass das System auf der Unbeweglichkeit des Glaubens beruht, sodass die Magie zur alltäglichen Realität werden kann.« »Ich glaube, du hast mich bereits abgehängt«, gestand Kinsel. »Ich tappe im Dunklen«, sagte Tanalvah. »Du musst uns für furchtbar begriffsstutzig halten, Kutch.« »Aber keineswegs. Ich meine, ich weiß doch auch nichts über das, was Ihr bisher gemacht habt. Euer Gesang, Kinsel, öder Eure ...« Er wechselte einen Blick mit Tanalvah. Ein peinliches Schweigen senkte sich über die Runde. Kutch räusperte sich vernehmlich. »Jedenfalls könnte es sinnvoll sein, wenn ich Euch sage, wie mein Meister Domex es ausgedrückt 457 hat.« Seine Gastgeber lächelten verstohlen. »Er sagte, unsere Wahrnehmung der Magie gleiche ein wenig der Art und Weise, wie die Sprache entstanden sein muss.« Wieder schauten sie verständnislos drein. »Eigentlich ist es ganz einfach. Stellt Euch eine Ära vor, vor langer, langer Zeit, als unsere Vorfahren noch unglaublich primitiv waren.«
»Soll das vor oder nach den Gründern gewesen sein?«, fragte Tanalvah. »Danach, würde ich sagen. Wir wissen es aber nicht. Die Gründer sind ein Geheimnis, völlig rätselhaft für uns. Wir wissen nicht einmal, ob sie in unserem Sinn menschlich waren.« »Das ist aber ein beängstigender Gedanke. Entschuldige, ich wollte dich nicht unterbrechen.« Kutch lächelte. »Schon gut. Aber es ist wahrscheinlich das Beste, in diesem Zusammenhang überhaupt nicht an die Gründer zu denken. Wenn man sie einbezieht, wird alles nur viel komplizierter. Stellt Euch einfach eine Zeit vor, als die Menschen noch sehr primitiv waren, und stellt Euch weiterhin vor, dass sich irgendwann die Sprache entwickelt hat. Es kann doch so vonstatten gegangen sein, dass irgendjemand mal auf einen Baum gedeutet und ein Geräusch von sich gegeben hat, mit dem er die Bäume von allem anderen unterschieden hat. Irgendwann hat jeder verstanden, dass ein Baum ein großes Ding mit Blättern ist, und von diesem Augenblick an hatten die Bäume einen Namen. So war es auch mit allen anderen Dingen: mit der Sonne, mit dem Mond, mit den Flüssen, mit den Bergen, mit den Barbkatzen, was man sich nur vorstellen kann. Als alle sich auf die entsprechenden Geräusche geeinigt hatten, also auf die Worte, 458 mit denen die Dinge beschrieben werden sollten, war die Entstehung eines Vokabulars im Gange. Eine Sprache hat sich entwickelt. Die Philosophen nennen diesen Vorgang eine Übereinstimmung. Es bedeutet, dass alle sich auf eine bestimmte Realität geeinigt haben.« »Diejenigen unter uns, die glauben, die Menschen seien von den Göttern geschaffen worden«, wandte Tanalvah ein, »sind allerdings der Ansicht, dass die Götter uns auch die Sprache geschenkt haben.« »Ja, aber das wäre nicht nötig gewesen, wenn sie uns bereits mit der Fähigkeit erschaffen hätten, uns mit Worten zu verständigen. Wir sind ja auch nicht mit der Fähigkeit erschaffen worden ... ach, ich weiß nicht, Pferde zu zähmen vielleicht. Die Götter haben uns ein Gehirn gegeben, damit wir lernen und uns entwickeln können. Sonst hätten sie uns ja auch gleich vollkommen erschaffen können.« »Dass wir uns bessern sollen und erleuchtet werden, scheint gewiss ein Aspekt im Plan der Götter zu sein.« »Das ist ja alles schön und gut«, unterbrach Kinsel, »aber was hat das mit der Magie zu tun?« »Es gibt Parallelen, was die Wahrnehmung angeht«, erklärte Kutch. ^Ganz einfach ausgedrückt, nehmen wir die Magie wahr, weil wir alle darin übereinstimmen, dass man die Magie wahrnehmen kann. Aber wir tun es natürlich völlig unbewusst.« Der Sänger dachte darüber nach. »Ist das nicht beinahe so, als sagte man, dass die Magie unabhängig von uns überhaupt nicht existiere?« »Nein. Der Baum ist ja immer noch da, ob wir ihm nun einen Namen geben oder nicht. Mit der Magie ist 459 es genau das Gleiche. So, wie wir den Dingen in der Welt ringsum einen Namen gegeben haben, haben wir auch ein Vokabular für die Magie entwickelt, das ist alles.« »Und wie hängt dies nun mit dem Aufklären zusammen?« »Es scheint so etwas wie die Fähigkeit zu sein, in das primitive Bewusstsein zurückzugehen, bevor die Dinge einen Namen hatten und bevor es eine allgemeine Übereinstimmung über die Magie gegeben hat.« »Das ist faszinierend.« »Du bist ein sehr kluger junger Mann, Kutch«, lobte Tanalvah ihn. Der Junge errötete ob dieses Kompliments. »Ich muss noch viel lernen. Und es hat eigentlich auch nichts mit Intelligenz zu tun, es ist reines Glück. Die Fähigkeit zum Aufklären ist sehr selten. Ich hatte einfach das Glück, sie geschenkt zu bekommen.« »Aber eigentlich muss dieses Talent doch in uns allen stecken«, überlegte Kinsel. »Wir stammen schließlich von jenen Vorfahren ab, die damals die Welt organisiert haben. Muss es nicht irgendwo ganz tief drinnen in jedem Menschen vorhanden sein?« »Ich nehme es an. Ich vermute nur, es fällt den Aufklärern leichter, mit diesem primitiven Bewusstseinszustand in Kontakt zu kommen. Vielleicht ist die Fähigkeit zum Aufklären nicht einmal ein Fortschritt, sondern sogar ein Rückschritt. Eher, dass etwas fehlt, als dass man etwas zu viel hat. Ich weiß es nicht. Niemand weiß es genau. Es ist eben einfach da. Andere Leute haben die Fähigkeit, das Geschlecht von Kindern vorherzusagen oder wahrzunehmen.« 460 »Dann kann man diese Fähigkeit also weiterentwickeln, aber man kann sie nicht ausbilden, wenn sie nicht von Anfang an vorhanden ist?« »Sie muss von Anfang an da sein. Manchmal wird sie aber durch das Training geschärft.« »Und wie genau trainierst du?« »Indem ich schaue, aber nicht glaube. Ich nehme nichts als gegeben an. Das sind die Grundprinzipien des Aufklärens. Schauen und zweifeln. Besser kann ich es nicht erklären. Ich nehme aber an, dass Phönix mehr dazu sagen könnte.« »Wie kommst du denn mit ihm zurecht?«, wollte Tanalvah wissen. »Es muss doch schwierig sein, sich auf einen neuen Meister einzustellen.« »Er ist ein Meister aber nicht meiner. Mein Meister wird immer Domex bleiben. So ist es eben. Ich kann von anderen lernen, aber ich werde sie nie als meine Meister anerkennen, auch wenn ich sie der Höflichkeit halber so
nennen mag. Phönix kann mir viel zeigen, doch ich glaube, er ist... nun, vielleicht ein bisschen verrückt.« Darüber lachten sie alle. »Wie lange musst du denn noch trainieren?«, fragte Kinsel. »Mein Leben lang. Die Magie ist eine lebenslange Verpflichtung.« »Und das willst du auch ganz ernsthaft tun?«, fragte Tanalvah. »Immerhin hat dich dein verstorbener Meister in die Kunst eingeführt, als du noch viel zu jung warst, um selbst zu entscheiden.« »Ich bin so froh, dass er es getan hat. Es war das, was ich schon immer wollte, auch wenn ich es damals noch nicht wusste. Ich bin Domex sehr dankbar. Er war ein guter Meister, und er war freundlich.« 461 »Du dankst ihm«, erwiderte Kinsel, »und das ist die schönste Grabrede, die sich ein Mann nur wünschen kann. Hör zu, du weißt ja, dass ich heute Abend singen werde. Es ist das Konzert zum Vorabend des Freiheitstages. Eigentlich eine furchtbare Farce, aber ich bin dazu verpflichtet. Tanalvah und die Kinder werden dort sein. Willst du nicht auch kommen?« »Oh, es tut mir Leid, aber ich kann nicht. Ich muss mich auf morgen vorbereiten.« »Die Mission, aber natürlich. Wie dumm von mir. Da brauchst du eine gute Nachtruhe.« »Außerdem muss ich mit Reeth vorher noch einige Vorbereitungen treffen.« »Der Mann beunruhigt mich«, sagte Tanalvah unumwunden. »Ich hoffe nur, er ist der Richtige, um die Mission zu befehligen.« »Tan!«, protestierte Kinsel. »Das war nicht als Beleidigung gemeint. Aber er bringt Zerstörung mit sich, wo immer er auftaucht.« »Aber Ihr seid doch beide ...«, begann Kutch. »Qalochier, ja.« Sie warf Kinsel einen Blick zu. »Es ist nicht das erste Mal, dass ich danach gefragt werde. Die Tatsache, dass wir dem gleichen Volk angehören, spielt allerdings keine große Rolle. Ich will dir nur sagen, Kutch, dass Caldason bekanntermaßen ein gefährlicher Mann ist. Und er ist anders als alle anderen. Seine Krankheit, die vielen Jahre, die er gelebt hat... ich will dir nur sagen, dass du vorsichtig sein sollst.« »Ich denke, er ist der ehrenwerteste Mann, dem ich je begegnet bin.« »Das ist er gewiss. Aber er hat etwas Dunkles in seiner Seele.« 462 Kutch war nicht beleidigt, dass Tanalvah Caldason so beurteilte, denn im Grunde wusste er, dass sie Recht hatte. So sagte er nur: »Ich denke, er glaubt nicht an die Götter. Oder falls er jemals an sie geglaubt hat, dann hat er den Glauben verloren.« »Trotzdem werde ich für ihn beten.« Sie schwiegen einen Moment, bis Kutch schließlich sagte: »Es wird Zeit, dass ich gehe. Danke für Eure Gastfreundschaft.« Kinsel schüttelte ihm die Hand. »Viel Glück für morgen.« »Ja, pass gut auf dich auf, Kutch.« Tanalvah drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Es scheint, ich habe einen Rivalen«, scherzte Kinsel. »Teg! Lirrin!«, rief er. »Kommt und verabschiedet euch von Kutch.« Die Geschwister stürmten herbei und tobten um die Beine der Erwachsenen. »Was ist mit diesem Vogel da?«, fragte Lirrin und zielte mit dem Finger in den Himmel. »Wir spielen jetzt nicht mehr«, sagte Tanalvah. »Kutch muss gehen.« »Schon gut«, sagte Kutch. »Das ist ein ganz normaler Vogel, Lirrin. Aber die schwarzweiße Katze da unten ist eindeutig ein Zauber, und ...«Er zuckte zusammen, starrte angestrengt zur Straße hinunter und hob den Blick, um die nähere Umgebung zu inspizieren. Dabei starrte er wie ein Neugeborenes, das zum ersten Mal die Rassel sieht. Er schloss die Augen und sah noch einmal hin, doch sein Gesichtsausdruck, der von Unbehagen und Verwirrung zeugte, änderte sich nicht. Fahrig legte er sich eine Hand auf die Stirn und schwankte leicht. 463 »Kutch!«, rief Kinsel. Er fasste die Schultern des Jungen. »Kutch, was ist denn los?« Er bekam keine Antwort. Kutch stand einfach da und starrte halb betäubt ins Leere. Tanalvah bekam Angst. »Was ist denn los? Kutch?« Auch die Kinder schienen jetzt verängstigt. Kutch wurde sich seiner Umgebung wieder bewusst. Er blinzelte, schüttelte den Kopf, holte Luft. »Entschuldigung.« Er rang sich ein schwaches, wenig überzeugendes Grinsen ab. Tanalvah legte ihm sachte eine Hand auf die Brust. »Was ist mit dir, Kutch? Was ist?« »Ich dachte ...« Er schüttelte noch einmal den Kopf. »Nein, es war nichts. Es war überhaupt nichts.« »Dein Gesicht. Einen Augenblick war es ...« »Mir geht es gut. Wirklich.« Kinsel ließ sich jedoch nicht so leicht beruhigen. »Bist du sicher? Hör mal, setz dich doch einen Augenblick, trinke etwas und ...« »Nein, danke. Ich bin nur müde, weiter nichts. Ich habe in der letzten Zeit zu wenig geschlafen und zu viel aufgeklärt.« »Du musst besser auf dich Acht geben«, sagte Tanalvah. »Für einen so jungen Mann trägst du eine große
Verantwortung. Hörst du?« »Ja, Tanalvah, ich verstehe.« Er löste sich von ihr. »Entschuldigung, aber ich muss jetzt wirklich gehen. Reeth wartet auf mich.« Er hatte keine Ahnung, was ihn an diesen Ort verschlagen hatte oder wo dieser Ort sein mochte. Doch er hatte ein Gefühl dafür, wer er war. Es schien, als befände er sich auf einer Lichtung 464 in einem Gehölz oder einem Wald. Die Bäume hatten dicke Stämme, und er konnte nicht sehr weit sehen. Sie waren hoch und hatten ausladende Kronen, nur ein kleiner Kreis blauen Himmels war oben auszumachen. Caldason wurde bewusst, dass er ein Schwert in der Hand hielt. Er sah an sich herunter. Sein Oberkörper war nackt, und er hatte Narben von schlimmen Verletzungen. Doch sie heilten bereits, und so wusste er, dass eine gewisse Zeit vergangen war. Er hatte keine Vorstellung, was sich hier abspielte, doch irgendwie kam es ihm auch bekannt vor. Jemand stand vor ihm. Er konnte sich nicht erklären, warum er die Gestalt nicht schon längst bemerkt hatte. Sie war nur undeutlich zu sehen, und er bemühte sich, sie genau ins Auge zu fassen. Es war ein alter Mann. Jemand, den er zu erkennen glaubte, doch er konnte ihn nicht ganz einordnen. Eine Erinnerung, die am Rande seines Bewusstseins lauerte. Er wollte sprechen, wollte etwas zu dem Greis sagen, doch er konnte nicht. Es schien, als wäre auch die Gabe der Sprache eine Erinnerung, die er nicht mehr heraufbeschwören konnte. Er konnte dem Mann auch nicht entgegen gehen. Seine Beine wollten ihm einfach nicht gehorchen. Der alte Mann rührte sich nicht. Sein Gesicht zeigte weder ein Lächeln noch eine ernste Miene, und er hielt sich völlig reglos. Dann aber bewegte er sich. Er hob eine Hand und formte mit den Fingern ein eigenartiges Zeichen. Es gab ein Geräusch, und jetzt erst bemerkte Caldason, dass es zuvor völlig still gewesen war. Nun 465 aber hörte er deutlich, wie Luft verdrängt wurde. Ein Geräusch wie von Flügeln in der Luft. Etwas kam in seine Richtung. Ein Schwärm irgendwelcher Objekte, die in geringer Höhe aus dem Wald geflogen kamen. Er sah, dass es Messer waren. Etwa ein Dutzend oder mehr schwirrten ihm entgegen. Sie kamen viel zu schnell und präzise, um von menschlicher Hand geworfen worden zu sein. Noch seltsamer war, dass sie sich bewusst zu bewegen schienen. Sie änderten ihre Geschwindigkeit und ihre Flugrichtung. Das vorderste Messer zielte genau auf ihn. Instinktiv hob er sein Schwert. Das Messer schlug seitlich gegen die Klinge und prallte ab. Dann befand er sich mitten in einem Ansturm von fliegendem Metall. Er hackte nach den heransausenden Klingen, lenkte sie ab, blockte sie ab, fegte sie zur Seite. Sie griffen hoch und niedrig an, und wenn er sie wegschlug, schössen sie in alle Himmelsrichtungen davon und gaben ein schrilles Pfeifen von sich, bevor sie verschwanden. Nur dank seiner großen Kampferfahrung und seiner geübten Reflexe konnte er die glänzenden, gefährlich scharfen Klingen abhalten. Eine streifte ihn und brachte seiner Schulter einen schmerzhaften Schnitt bei. Es war keine schwere Verletzung, doch sie schärfte seine Sinne noch weiter. Diese war die einzige Klinge, die ihn traf. Die Messer verschwanden so schnell, wie sie aufgetaucht waren. Er sah sich um, ob noch etwas käme, doch es war nichts zu sehen. Er berührte den Schnitt auf der Schulter, und als er die Hand wegnahm, waren die Finger blutig. Er kostete das Blut, das warme, salzige Blut, mit der Zunge. 466 Der alte Mann war noch da und starrte ihn mit einem rätselhaften Gesichts aus druck an. Zweifellos war er für die fliegenden Messer verantwortlich. Doch Reeth mochte nicht glauben, dass dahinter eine böse Absicht steckte, so verrückt dies auch scheinen mochte. Caldason blinzelte, und der alte Mann war verschwunden. Oder vielmehr, er wurde durch einen anderen Anblick ersetzt. Vier Männer standen jetzt dort, wo der Greis gewesen war. Sie waren offenbar viel jünger, doch ihre Gesichter waren von Kapuzen bedeckt, die nur die Augen freiließen. Jeder war in einer anderen Farbe gekleidet: Rot, Braun, Weiß und Blau. Jeder war auf eine andere Weise bewaffnet. Der Rote ging mit einem Stab auf ihn los. Irgendwie hatte auch Caldason auf einmal einen Stab und nicht mehr sein Schwert in der Hand. Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Der Rote griff an. Caldason wehrte den ersten heftigen Schlag ab, die Stäbe krachten laut gegeneinander. Es gab ein kleines Gerangel, dann lösten sich die Kämpfer wieder voneinander. Mit einem mächtigen, tief geführten Hieb wollte der Rote Caldason die Beine wegreißen. Reeth sprang über den Stab hinweg und konterte mit einem Schlag, der auf den Kopf des Gegners gezielt war und diesen nur um Haaresbreite verfehlte. Sie wechselten eine Reihe von harten Schlägen. Die drei Gefährten des Angreifers schauten einfach zu und versuchten weder sich einzuschalten noch zu stören. Der Kampf wurde wilder, beide Männer teilten abwechselnd Hiebe aus, die den anderen bis ins Mark er467 schütterten. Auch die Geschwindigkeit nahm zu, und die Stäbe sausten blitzschnell durch die Luft.
Endlich fand Caldason eine Lücke in der Deckung des Gegners und konnte mit seinem Stab den letzten Schlag des Roten ablenken. Als der Mann taumelte, schlug Caldason dem Mann seinen eigenen Stab so fest er konnte auf den Schädel. Der Rote stürzte und fiel in sich zusammen, bis nichts außer einem Haufen roter Flocken übrig blieb. Eine Bö, die kein Wind war, verstreute den Staub in alle Richtungen. Reeth wich keuchend einen Schritt zurück. Ohne ihm eine Pause zu gönnen, trat der braun gekleidete Mann vor. Er war mit zwei Holzstöcken bewaffnet, die mit einer langen, kräftigen Kette verbunden waren. Caldason war nicht überrascht, in seinen eigenen Händen einen ähnlichen Dreschflegel zu sehen. Nun folgte eine ganz andere Art von Kampf. Die Gegner umkreisten einander, suchten eine Lücke und schlugen zu. Der Braune zielte mit einem Stock auf Caldasons Gesicht und hätte es auch getroffen, wenn der Qalochier sich nicht schnell geduckt hätte. Reeth erwiderte und traf die Brust des Braunen. Der Mann taumelte ein oder zwei Schritte zurück. Mit den Dreschflegeln musste es früher oder später zwangsläufig zum Nahkampf kommen. Sie gingen gleichzeitig aufeinander zu. Caldason zielte auf den Kopf des Braunen, traf jedoch nicht, sondern verfehlte ihn knapp. Als er zurückwich, war sein gestreckter Arm für einen Moment ungedeckt, und der Braune ergriff die Gelegenheit, mit seinem eigenen Stock zuzuschlagen und dessen Kette um Caldasons Unterarm zu wickeln. Er zog kräftig daran und hatte den 468 Qalochier in einer eisernen Umarmung gefangen. Jetzt verwandelte sich die Auseinandersetzung beinahe in einen Ringkampf, in dem jeder seinen Vorteil zu finden suchte. Reeth setzte seine ganze Kraft ein, konnte seinen Stab mit der freien Hand erreichen und wechselte. Dann schwang er ihn wie eine Keule und schlug ihn seitlich gegen den Kopf des Gegners, bis dessen Griff erlahmte. Der Braune torkelte zurück, und Caldason ging wie ein Berserker auf ihn los. Seine Kette wickelte sich um die Hand des Gegners, verdrehte sie und übte einen entsetzlichen Druck aus. Der Braune strauchelte und trat ohnmächtig aus. Caldason verstärkte seinen Griff. Als die Gegenwehr des Braunen schwächer wurde, sank dieser langsam zu Boden, doch bevor er ganz niederging, verlor er seine Substanz und verwandelte sich in eine gelbe Wolke, die verschwand. Caldason blieb mit leeren Händen zurück. Der Weiße kam heran. Er hatte zwei Messer, und wieder stellte Reeth fest, dass er selbst auf die gleiche Weise bewaffnet war. Sie tanzten umeinander und duckten sich, ihre Klingen zischten durch die Luft und suchten Fleisch. Hin und wieder trafen die Messer mit metallischem Klirren aufeinander, und der Aufprall schmerzte in Caldasons schwitzenden Händen. Der Weiße trieb ihn mit einer Serie ausholender Hiebe zurück, die jeder für sich geeignet waren, dem Qalochier den Bauch aufzuschlitzen, wenn sie getroffen hätten. Reeth sprang zur Seite und griff die ungeschützte Flanke des Weißen an, als dieser vom Schwung des Angriffs vorbei getragen wurde. Caldason fügte dem Weißen eine schwere 469 Wunde zu, die ihn genügend ablenkte, um einen weiteren Hieb folgen zu lassen, der auf keinerlei Gegenwehr stieß. Reeth verschwendete keine Zeit. Er fuhr herum, fand den ungeschützten Rücken des verblüfften Feindes und stach beide Dolche hinein. Der Weiße erstarrte, warf den Kopf zurück und zerbrach in tausend milchweiße Scherben. Sie lösten sich zu feinem Staub auf. Caldason spürte ein Gewicht in den Händen. Er hielt eine zweischneidige Streitaxt, denn so war auch der Blaue ausgerüstet, der jetzt, seine Waffe schwingend, zum Angriff überging. Reeth konnte dem ersten Ansturm nur entgehen, indem er sich fallen ließ. Die Axt zischte durch die Luft, wo gerade noch sein Hals gewesen war. Er krabbelte auf allen vieren außer Reichweite, dann rollte er sich ab, kam wieder auf die Füße und konnte im letzten Augenblick den nächsten Schlag abwehren. Die Äxte prallten heftig gegeneinander, doch beide Gegner hielten ihre Stellung und hackten mit gewaltigen Hieben aufeinander ein. Stahlspäne flogen durch die Gegend, als die Schneiden sich trafen. Es war ein Kampf, der nur durch ermüdende Schinderei gewonnen werden konnte. Der Blaue versuchte es mit einem Tiefschlag, der Reeth verkrüppelt hätte, doch dieser wich rasch zurück, täuschte und schwang die Axt, um den nächsten Angriff vorzutragen. Der Hieb trennte dem Mann den Kopf ab. Der Blaue stand noch ein oder zwei Sekunden aufrecht, dann wurde er von einem türkisfarbenen Strudel verschluckt. Zehn Schritt entfernt machte der abgetrennte Kopf eine ähnliche Verwandlung durch und löste sich in blaugrünem Dunst auf. 470 Caldason atmete schwer, seine Muskeln brannten nach der Anstrengung. Der Schweiß lief ihm in die Augen, und alle Knochen taten ihm weh. Der alte Mann tauchte wieder auf, und jetzt lächelte er. Er sagte noch immer kein Wort, doch es schien, als wollte er sprechen, denn er öffnete den Mund. Allerdings kamen keine Worte heraus, sondern er spuckte Feuer. Dicke rote und gelbe Feuerbälle, die höllisch heiß waren. Reeth hatte jetzt keine Waffe mehr. Er konnte nur versuchen, den Feuerkugeln möglichst geschickt und wendig auszuweichen. Er rann, sprang, rollte sich ab und spürte die sengende Hitze, wenn sie ihn knapp verfehlten.
Einige trafen Bäume und ließen sie sofort in Flammen aufgehen, andere fielen zu Boden, hüpften wieder hoch und hinterließen überall dort, wo sie auftrafen, flammende Abdrücke. Dann hörte es auf. Der undurchschaubare alte Mann hatte den Mund geschlossen und hob eine Hand. Caldason hatte wieder ein Schwert. Er sah sich um und fragte sich, was noch alles kommen mochte. In der Nähe regte sich etwas auf dem Boden. Ein Bereich des Grases erhob sich wie eine heranwachsende Kuppel und platzte auf. Irgendetwas brach durch. Es war totenbleich, ledrig, feucht. Es war groß und bebte. Das Ding wand sich aus der Erde heraus und richtete sich auf. Zuerst hielt Reeth es für einen riesigen Wurm, der so dick war wie ein Mann. Doch auch wenn es einem Wurm ähnelte, war es in Wirklichkeit eher eine Schlange oder ein Tausendfüßler. Es hatte ein riesiges klaffendes Maul mit langen, nadelscharfen Zähnen. 471 Die Augen waren schwarze Scheiben, über die sich gelb-grüne Adern zogen. Das Wesen schob sich immer weiter aus dem Loch heraus. Sein schreckliches, sabberndes Maul stand weit offen. Die entsetzlichen Augen waren auf Caldason gerichtet. Reine Heimtücke lag in ihnen, Bosheit und Hunger. Reeth beschloss, dagegen anzugehen, solange das Wesen noch nicht ganz aus dem Loch heraus war. Die Götter allein mochten wissen, wie viel von dem Leib noch in der Erde steckte. So begann er, auf das sich windende weiche Fleisch des Ungeheuers einzuhacken. Was bei diesem Biest wohl als Blut galt, spritzte heraus: schwarz, dick wie Sirup und dampfend. Das Wesen gab ein schreckliches, ohrenbetäubendes Brüllen von sich, halb ein schmerzvolles Bellen und halb ein mordlustiges, trotziges Heulen. Mit überraschender Geschwindigkeit kam das riesige Maul herunter und schnappte nach Reeth. Der Gestank des Atems war überwältigend. Während er sich kriechend in Sicherheit brachte, hieb Caldason mit der Klinge um sich. Mehr durch Zufall als gezielt, traf er einen Zahn des Ungeheuers und brach ihn zur Hälfte ab. Darauf war neuerliches Brüllen zu hören, und das Ungeheuer zuckte wild und schleimig. Caldason lief im Zickzack über die Lichtung, und der Kopf des Geschöpfs fuhr herunter, um ihn zu schnappen. Als die Kiefer sich schlössen und ihn knapp verfehlten, rasteten die rasiermesserscharfen Zähne mit einem lauten Knacken ein. Reeth lief weiter, ließ sich aber keine Gelegenheit entgehen, dem Untier seinerseits Verletzungen zuzufügen. Einige Male hatte er damit Erfolg, doch 472 er wusste, dass dies nicht reichte. Deshalb blieb er, als der Kopf das nächste Mal herunterkam, an Ort und Stelle stehen. Einen Augenblick lang war sein ganzes Gesichtsfeld von dem entsetzlichen Antlitz des Wurmwesens ausgefüllt. Er hob das Zweihandschwert und stieß es dem Wesen mit aller Kraft ins Auge. Eine zähe grüne Flüssigkeit lief heraus und besudelte ihn. Als er sich ein paar Schritte zurückzog, stieg der Wurm fast senkrecht hoch und riss das Schwert mit. Wieder brüllte das Tier, und gewaltige Zuckungen liefen durch den Schlangenleib. Es wand sich, verkrampfte sich und stürzte mit gewaltigem Krachen zu Boden. Einen Augenblick lang zuckte und schauderte es noch, dann blieb es reglos liegen. Der Kadaver schrumpfte, verströmte einen fauligen Geruch und fiel in sich zusammen wie ein verbranntes Stück Pergament. Was übrig blieb, wurde fortgeweht. Caldason wischte sich den stinkenden Dreck aus den Augen und spuckte aus, was ihm in den Mund eingedrungen war. Dann drehte er sich um und wandte sich dem alten Mann zu, der gelassen in der Nähe stand. Er wollte ihn anschreien und fragen, was dies alles zu bedeuten hatte und warum er solchen Qualen ausgesetzt war. Ein Schatten fiel über Caldason. Der alte Mann nickte ihm leicht zu und blickte nach oben. Reeth folgte dem Blick. Ein Adler stieß herab. Doch es war kein gewöhnlicher Adler, denn er hatte die Größe eines ausgewachsenen Stiers. Die Flügel reichten von einem Ende der Lichtung bis zum anderen. Er hatte Klauen, die so groß 473 waren wie Pflugscharen, und einen Schnabel, in dem ein Zugpferd Platz gefunden hätte. Bevor er sich bewegen konnte, stürzte der Adler auf Reeth herab und riss ihn vom Boden hoch. Er mochte sich wehren, wie er wollte, er konnte nicht mehr ausrichten als ein kleines Kind. Der Vogel stieg schnell auf. Caldasons Gewicht schien keinerlei Belastung für ihn darzustellen. Bald waren sie hoch im Himmel, wo der Wind gnadenlos an ihm zerrte. Der Wald drunten war bis zur Größe einer Faust geschrumpft. Der Adler legte sich schräg und wählte einen neuen Kurs, dem er rascher als zuvor folgte. Reeth konnte Felder, Flüsse, Ebenen und ferne, schneebedeckte Berge vorbeiziehen sehen. Endlich kam ein Fluss. Zunächst war es nur ein silbernes Band, dann, als sie hinabstießen, ein breiter, schnell fließender Strom. Der Adler flog tiefer, bis nur noch der Fluss unter ihnen lag. Die Ufer waren zu weit entfernt, um sie noch zu erkennen. Der Vogel öffnete die Klauen und ließ ihn fallen. Reeth schrie auf, als er stürzte. Die Welt drehte sich um ihn, und sie schien zum größten Teil aus Wasser zu bestehen.
Er schlug schwer auf; der Aufprall und die Kälte raubten ihm den Atem. Er ging unter und wurde von seinem Schwung tief unter die Oberfläche gedrückt. Er tauchte wieder auf, hinaufgetragen von den Strudeln und hektischem Wassertreten, doch er blieb nicht lange oben. Eine Unterströmung erfasste ihn, hielt ihn fest und zog ihn hinab. Sein Haar war wie eine schwarze Flamme, als Reeth immer tiefer in den Fluss gedrückt wurde. 474 Die Lungen drohten zu platzen, die Glieder waren zu schwach, um ihn weiter zu tragen, doch etwas anderes hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Durch das träge, mahlende Wasser sah er noch eine andere Szene. Er sah jenen Ort, den er schon mehrmals gesehen und schon immer gefürchtet hatte. Das Reich der lebenden Architektur und der fliegenden Wesen. Der Ort, an dem alles im Fluss war. Wo eine besondere Art von Bösartigkeit, etwas völlig Fremdartiges, darauf wartete, ihn in Besitz zu nehmen. Er ertrank. Er fuhr aus dem Schlaf hoch und schnappte nach Luft. Er brauchte eine Weile, um sich zurechtzufinden. Benommen setzte er sich auf, hockte sich schweißüberströmt auf die Bettkante und stützte den Kopf in die Hände. »Geht es Euch nicht gut?« Caldason schaute rasch auf. Kutch war gekommen und stand auf der anderen Seite des Raumes im Schatten. Der Junge starrte ihn an. »Ich habe Euch gehört«, erklärte der Junge. »Da bin ich hereingekommen. War das ... wieder einer?« Caldason nickte. »Kann ich etwas tun?« Caldason schüttelte den Kopf und stand auf. Worauf sein Blick auch vorher geruht hatte, es befand sich nicht in diesem Raum. Er sah schrecklich aus. »Wir haben morgen viel vor, lass uns die nötigen Vorbereitungen treffen.« Seine Stimme war tonlos, abwesend. 475 Kutch kam zu der Ansicht, dass dies kein guter Augenblick war, um Caldason zu berichten, was er früher am Tag gesehen hatte. »Komm her«, sagte Tanalvah. Teg kam widerstrebend getrödelt. Sie befeuchtete mit der Zunge die Ecke eines seidenen Taschentuchs und rieb über seine Wange. »Halt still. So.« Der Junge verzog das Gesicht und trollte sich wieder. Er trug hübsche neue Kleidung: ein langärmliges Oberhemd und eine mitternachtsblaue Hose, dazu glänzend polierte schwarze Halbstiefel. Lirrin trug ein neues Kleid, das ebenfalls blau, aber viel heller war. »Ihr zwei seht wirklich reizend aus«, lobte Tanalvah sie. »Nicht wahr, Kinsel?« »Ja, sie sind reizend, und du bist es auch.« »Danke, gnädiger Herr.« Sie drehte sich einmal um sich selbst und zeigte ihm ihr neues Abendkleid. Die schwarze, fein gesponnene Seide schwebte wie ein Hauch in der Luft, wenn sie sich bewegte. »Die Kleider sind wirklich wundervoll. Die schönsten, die wir je besessen haben.« »Für dich ist nur das Beste gut genug.« »Aber du siehst auch sehr gut aus, Kin.« Er lächelte und spielte abwesend mit seiner Samtkrawatte. »Wir werden heute Abend im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. »Das kann ich mir vorstellen.« »Und nicht nur heute Abend. In Zukunft werden wir...« »Sollen wir es wirklich wagen? Pläne schmieden, meine ich? Das käme mir fast so vor, als wollte ich das Schicksal auf die Probe stellen.« 476 »Ja, wir können Pläne schmieden.« Er nahm ihre Hände. »Dies ist ein neues Leben, ein besseres Leben für uns alle.« »Es wird nicht besser, wenn wir zu spät kommen. Die Kutsche müsste schon längst da sein.« »Da kommt sie doch!«, rief Lirrin, die am Fenster aufgepasst hatte. »Dann sputet euch, ihr zwei, wir müssen los.« Tanalvah scheuchte die Kinder vor sich her. Der Sänger, die Hure und die beiden Waisenkinder liefen aus dem Raum und die Treppe hinunter. Auf der anderen Straßenseite stand ein Haus direkt gegenüber von Kinsels Wohnsitz. Im ersten Stock, hinter einem Fenster, das durch einen Tarnzauber geschützt wurde, standen zwei Männer und beobachteten sie. Sie sahen die Gruppe das Haus verlassen und in die wartende Kutsche steigen. »Nun?«, fragte Devlor Bastorran. Der Mann, der bei ihm war, trug die Uniform eines Hafen Wächters. Er war, bis auf eine Ausnahme, in jeder Hinsicht ein gewöhnlicher Mann. Die Ausnahme war seine Nase. Wo sie hätte sein sollen, trug er einen schwarzen Lederschutz, der einer Augenbinde nicht unähnlich war. Allerdings war sein Hilfsmittel massiv und gepolstert, sodass es einer Nase ähnelte. »Ja, Herr«, antwortete er. »Das sind sie.« Er sprach, was angesichts seines Zustands unvermeidlich war, mit einem recht seltsamen Tonfall. »Bist du sicher?« »Ich bin sicher. Solche Dinge merkt man sich.« »Und die Frau?«, fragte der Paladin. »Sie und die Gören waren ebenfalls am Hafen, doch sie ist nicht die Schlampe, die mir dies hier an-
477 getan hat.« Er berührte behutsam seine falsche Nase, als könnte sie abfallen. »Zweifellos werden wir sie bald gründlich kennen lernen.« »Von mir aus kann es gar nicht schnell genug gehen, Herr. Aber was wird dann?« »Dann werden sie büßen.« 478 Die Feiern am Freiheitstag, obschon von einem Großteil der Bevölkerung nur widerwillig absolviert, begannen zeitig. Valdarr wurde mit Papierschlangen und Fahnen geschmückt. Überall in der Stadt gab es Märsche, Militärparaden und Vorführungen. Unterhaltungskünstler traten in den Straßen auf, Ansprachen wurden gehalten, und alles geschah im Namen der erzwungenen Bruderschaft mit Bhealfas Eroberern. Nicht jeder nahm an den Festlichkeiten teil, und einigen boten sie auch eine gute Deckung. Der größte Teil von Caldasons Spezialeinheit war zusammen mit anderen Widerstandskämpfern rings um das Archiv postiert und tarnte sich in der Menge der übrigen Zuschauer. Drei Querstraßen vom falschen Tempel entfernt stand eine Schule. Genau wie alle anderen öffentlichen Gebäude und die meisten privaten Unternehmen war sie an diesem Feiertag geschlossen. In der vorhergehenden Woche hatten sich Agenten des Widerstands, die sich als Regierungsbeamte ausgegeben 479 hatten, Zugang zum Keller der Schule verschafft. In einem nicht benutzten, verwaisten Bereich waren sie zum Hauptabwasserkanal durchgebrochen, der unter dem Gebäude verlief. Caldason, Serrah, Kutch und vier weitere kampferprobte Mitglieder ihrer Gruppe standen vor dem Loch. Bis auf Kutch waren alle schwer bewaffnet. Alle hatten zwei oder drei Flaschen brennbares Öl in speziell angefertigten Gürteltaschen dabei. Reeth deutete auf einen Mann aus ihrer Gruppe. »Du wirst hier an diesem Ende Wache stehen. Die anderen kommen mit uns rein.« Kutch dachte im Stillen, dass Caldason trotz des offenbar sehr beunruhigenden Erlebnisses am Vortag wie üblich völlig gelassen wirkte. Um seine eigene Gelassenheit stand es nicht ganz so gut. »Und du, Kutch«, fuhr der Qalochier fort, »kehrst hierher zurück, sobald wir wohlbehalten das Archiv erreicht haben. Ich lasse dich von jemandem begleiten.« »Aber Reeth ...« »Erste Lektion: Widersprich niemals einem Befehl.« Kutch gab auf und ließ die Schultern hängen. »Ihr drei«, Caldason deutete auf drei weitere Männer, »geht in diesem Tunnel gegen die Strömung, bis ihr die erste Abzweigung erreicht. Dort bleibt ihr, bis Serrah, Kutch und ich zu euch stoßen. Ist das klar?« Sie nickten. »Geht jetzt.« Er wandte sich an den Mann, der Wache halten sollte. »Stell dich da drüben bei der Tür auf.« Der Mann entfernte sich. Ein Seil hing ins Loch hinunter, das Ende war an einem Deckenbalken verknotet. Die drei Männer ließen sich daran hinab. 480 »Achtet auf die Flaschen«, rief Reeth ihnen hinterher. Serrah legte ein schwarzes Stirnband an. Kutch scharrte nervös mit den Füßen. »Serrah, Kutch, seid ihr bereit?« »Ich bin bereit«, erwiderte der Junge. Serrah sah ins Loch hinunter. »Nein.« »Was ist?« »Kutch«, sagte sie, »würdest du uns einen Augenblick entschuldigen?« »Äh ... ja, sicher.« Er schaute verwirrt drein. Sie zog Caldason beiseite. »Was ist denn los?«, fragte er. »Glaubst du, eine so kleine Gruppe reicht für die Mission aus?« Überzeugend klang es nicht, und sie schien unter Spannung zu stehen. »Das haben wir doch schon vor Tagen entschieden, wie du dich erinnerst. Was beschäftigt dich nun wirklich?« »Ich ...« »Serrah, wir können uns jetzt keine Komplikationen erlauben. Wenn es ein Problem gibt, dann spuck es aus. Bist du krank?« »Nein, es ist nur ... du wirst mich doch nicht auslachen, wenn ich es sage?« »Warum sollte ich dich auslachen?« Ihr Blick wanderte zu Kutch und dem Wachtposten, dann wieder zu Caldason. Es fiel ihr nicht leicht, die richtigen Worte zu finden. »Es ist nur so ... ich mag es nicht, unter der Erde zu sein. Alles, was eng und beschränkt ist, gibt mir ein Gefühl von schrecklicher Hilflosigkeit. Es war schon schlimm genug, als ich in Merakasa in dieser Zelle gesessen habe, aber das hier ...« Sie schauderte.
481 »Warum hast du es mir nicht vorher gesagt?« »Ich dachte, es sei kein Problem. Ich dachte mir, es wird schon gut gehen, wenn wir erst einmal hier sind.« Ihm wurde bewusst, dass es keineswegs ihrem Charakter entsprach, auch nur die kleinste Schwäche zuzugeben. Das konnte er gut verstehen. »Wenn du jetzt kneifst, sind wir zu schwach besetzt, und ich muss die Mission abbrechen.« »Ich kneife nicht!«, zischte sie. Kutch und der Wächter sahen herüber. »Ich kneife nicht«, sagte sie leiser. »Es ist nur so, dass ...« Sie blickte zum Loch im Boden. »Es gefällt mir nicht, dort hinunterzusteigen.« »Willst du mit dem Wächter den Posten tauschen und lieber hier bleiben?« Sie biss sich auf die Unterlippe und dachte über das Angebot nach. »Nein. Ich brauche nur einen Moment, um mich auf die Situation einzustellen.« »Wir haben nicht viel Zeit«, gab er zurück. »Aber denk mal über Folgendes nach«, fügte er freundlicher hinzu. »Du wirst dort unten nicht allein sein, und dieser Kanal ist recht groß. Hoch genug, um darin zu stehen.« »Und die anderen danach?« »Dahinter kommen einige, die etwas enger sind, das ist wahr. Aber wir sollten uns ziemlich schnell durch das Kanalsystem bewegen können. Vergiss nicht, dass wir Karten haben. Hör mal, du kannst doch ein Stück weit mitkommen, und dann sehen wir, wie du dich fühlst. Wenn es dich überfordert, kannst du immer noch zurückgehen und mit dem Wachtposten tauschen. Was sagst du dazu?« 482 Sie schluckte, dann nickte sie. »Gut. Komm jetzt.« Sie gesellten sich wieder zu Kutch. »Alles klar?«, fragte er. »Ja«, versicherte Caldason ihm. »Nur eine Abstimmung der Strategie in letzter Minute. Wir müssen uns jetzt in Bewegung setzen. Du steigst als Erster runter, Kutch. Es ist nicht sehr tief, und unten am Grund ist ein Sims. Die anderen haben schon Lampen aufgestellt, und wir haben die hier.« Er tippte auf das Amulett, das Kutch trug. Der Zauber leuchtete auf. »Glaubst du, es geht?« »Ja, Reeth.« Er war bleich, bewahrte aber die Fassung. »Serrah ist die Nächste, und dann folge ich. Los jetzt.« Reeth hielt für Kutch das Seil fest, als dieser nach unten stieg. Ein paar Sekunden später rief der Zauberlehrling von unten herauf: »Ich bin angekommen!« Caldason wandte sich an Serrah und hielt auch für sie das Seil fest. Sie zögerte nur einen kleinen Moment, dann griff sie danach und kletterte rasch Hand über Hand hinunter. Reeth nickte dem Wachtposten zu und stieg als Letzter hinunter. Auf dem schmalen Laufsteg traf er wieder auf die beiden anderen. Sie befanden sich jetzt auf einem kleinen Gehweg, der am Rand des Abwasserkanals verlief. Sie waren sehr erleichtert gewesen, als sie diese Wege entdeckt hatten. Das Wasser strömte träge vorbei, und die Luft war feucht. Der Geruch war unangenehm, aber nicht allzu schlimm. Der Tunnel hatte gekrümmte Wände, die nahtlos in die Decke übergingen, und war gerade hoch genug, um aufrecht 483 zu gehen, wie Reeth es versprochen hatte. Weit voraus, wo die anderen Mitglieder der Truppe warteten, konnten sie Lichter sehen. Caldason sah sich zu Serrah um. Leise genug, um nur von ihr gehört zu werden, flüsterte er: »Lass es ruhig angehen und folge mir auf dem Sims bis zu den anderen. Es ist nicht weit.-« Das entsprach nicht völlig der Wahrheit. Die Kreuzung war vermutlich drei- oder vierhundert Schritt entfernt. Sie brachen auf und arbeiteten sich durch den Tunnel, Kutch in der Mitte und Serrah als Nachhut. Die Wände waren glitschig und mit Flechten bewachsen, die im Licht der Zauberkugeln gespenstisch glühten. Hin und wieder war ein Rascheln zu hören, vermutlich von Ratten, die unsichtbar blieben. Plötzlich wäre Kutch beinahe ausgerutscht. Serrah packte seinen Arm. »Vorsicht«, mahnte sie. »Du willst doch hier nicht baden gehen.« Danach lief Kutch erheblich vorsichtiger weiter. Endlich erreichten sie die Abzweigung, an der die drei Männer auf einem breiten steinernen Sims warteten. Sie stiegen hinauf. Hier teilte sich der Hauptkanal in zwei Seitenarme. Einer lief nach Nordwesten, der andere nach Nordosten. Die beiden Tunnel waren enger als derjenige, den sie gerade verließen. Auch dort gab es noch Gehwege, doch sie waren schmaler. »Wir müssen da rein«, sagte Caldason und deutete auf den nordöstlichen Tunnel. »Es wird ein wenig mühsam, aber nach einer Weile erreichen wir eine weitere Kreuzung. Ihr drei geht voraus. Kutch, Serrah und ich folgen.« Sie gingen weiter, langsamer jetzt, weil es auf dem Sims recht eng wurde. 484 Als die drei Mitglieder ihrer Gruppe und Kutch außer Hörweite waren, wandte Caldason sich noch einmal an
Serrah. »Nun? Kannst du noch?« »Es wird schon gehen.« »Bist du sicher?« »Ich will keine Vorzugsbehandlung«, gab sie gereizt zurück. »Die bekommst du auch nicht. Mir liegt nur daran, dass die Mission erfolgreich verläuft.« »Schon gut. Aber du musst mich wirklich nicht ständig fragen, wie es mir geht.« »Das werde ich auch nicht tun, Serrah. Nach diesem Abschnitt hier gibt es kein Zurück mehr.« »Ich verstehe.« »Also gut, dann wollen wir zu den anderen aufschließen. Ich bleibe dicht hinter dir.« Als sie weitergingen, fragte sie unvermittelt: »Ist mit Kutch alles in Ordnung?« »Warum fragst du?« »Er scheint ... irgendetwas scheint ihn zu beschäftigen.« »Das ist doch auch nicht anders zu erwarten, oder? Schließlich hat er noch nie etwas wie dies hier getan.« »Ich dachte, es könnte vielleicht mehr dahinter stecken.« »Ich werde ihn im Auge behalten. Und du passt jetzt auf dich selbst auf. Und bleib in Bewegung.« Sie folgten den anderen. Dieses Mal mussten sie viel länger laufen. Der Tunnel veränderte sich nicht und schien kein Ende zu nehmen. Alles, was die Monotonie unterbrach, waren ein oder zwei Stellen, an denen der Weg verwittert war, sodass einige Stücke herausgebrochen waren. 485 Doch die Löcher waren nicht groß, und niemand bekam nasse Füße. Es dauerte etwa eine halbe Stunde, bis sie eine weitere, noch größere Kreuzung erreichten. Nicht weniger als vier Tunnel trafen hier in einer Kammer mit hohem Dach zusammen. Ein breiterer Steg lief ringsherum, und ungefähr auf halbem Weg waren Metallsprossen in die glitschige Wand eingelassen. Die Leiter führte zu einer hölzernen Klappe in der Decke. Das Tosen des Wassers war hier viel lauter. »Wir haben den größten Teil des Weges hinter uns«, erklärte Caldason. »Aber von hier an wird es etwas schwieriger.« Er nickte zur Leiter hin. »Woher wissen wir überhaupt, dass wir durch diese Luke hindurchkommen?«, fragte einer aus ihrer Gruppe. »Nach dem Informanten, der uns die Pläne verschafft hat, ist die Luke lediglich mit einem Bolzen verschlossen. Wir werden es gleich sehen.« Er ging als Erster zu den Sprossen hinüber und kletterte hoch. Oben drückte er gegen die Falltür. Sie ging nicht auf, aber das Holz war alt und morsch, die rostigen Scharniere hatten sich teilweise gelöst, und die Konstruktion gab ein Stück nach. Ein anderer aus ihrer Gruppe reichte Caldason einen kleinen Holzhammer, und er schlug dagegen. Die Klappe hob sich ein oder zwei Fingerbreit. Reeth stieg noch eine Sprosse weiter hinauf und drückte kräftig. Die Falltür sprang mit einem Krachen auf. Ein kleiner Schauer morscher Holzsplitter ließ ihn blinzeln. »Ich hab's!«, rief er hinunter. Er schob sich durchs Loch nach oben. 486 Nun stand er in einem anderen Tunnel, der etwa die gleichen Ausmaße hatte wie derjenige, den er gerade verlassen hatte. Allerdings gab es hier keinen Laufsteg. Sie mussten von nun an durch das träge fließende Wasser waten. Glücklicherweise war es nur wenige Zentimeter tief. Etwa dreißig Schritt voraus war eine weitere Abzweigung zu erkennen. Caldason half den anderen herauf, und sie liefen platschend zur nächsten Kreuzung. Drei Tunnel stießen dort aufeinander. Zwei weitere Öffnungen, etwa in Kopfhöhe, waren in einem Seitengang zu sehen. Schmutziges Wasser rann von dort herunter, und Moos wuchs rings um die Mündungen. Dies waren die schmälsten Kanäle, die sie bisher gesehen hatten. »Hier unten kann man sich aber leicht verlaufen«, meinte Kutch. »Du vergisst unsere Hilfsmittel.« Caldason zog eine Karte hervor und sah noch einmal nach, um sich zu vergewissern. »Ja, das dachte ich mir. Wir müssen den Kanal auf der rechten Seite nehmen.« Er warf einen kurzen Blick zu Serrah. Falls ihr die Aussicht, in einen so engen Kanal eindringen zu müssen, Probleme bereitete, dann wusste sie diese gut zu verbergen. »Wir müssen vornüber gebeugt laufen, vielleicht sogar auf allen vieren kriechen«, erklärte er. »Ich hoffe also, dass ihr nicht gerade eure Feiertagskleidung angezogen habt. Wahrscheinlich wird es da drin nicht besonders angenehm, aber wenn wir der Karte glauben können, dann brauchen wir es nicht sehr lange zu ertragen. Alles bereit?« Gemurmelte Zustimmung war die Antwort. 487 Sie tappten weiter zum Seitenkanal. Caldason wies die anderen an, vor ihm hinaufzusteigen. Er wollte noch einmal sehen, wie es Serrah ging, ganz egal, was sie sagte. Zwei Gruppenmitglieder halfen einem dritten hinauf, dann zog dieser die anderen beiden hinterher. Während der Aufstieg im Gange war, sah Reeth sich zu Serrah um. Sie nickte knapp und nachdrücklich, und er antwortete ebenso knapp, ehe sie die Hände ausstreckte und sich hinaufziehen ließ. Reeth sprang hoch und bekam die Kante des Abwasserkanals zu fassen. Von oben wurde er gezogen, und unten
stieß er sich mit den Beinen ab, bis er oben ankam. Er hatte, was die Größe des Tunnels anging, in dem sie jetzt standen, richtig gelegen. Sie konnten sich nur im Gänsemarsch und tief gebückt bewegen. Wie Affen schlurften sie durch den Gang. Doch es dauerte nicht lange, bis sie auf etwas Unerwartetes stießen, das auf der Karte nicht eingezeichnet war. Der Tunnel wurde plötzlich sogar noch schmaler. Serrah, die vor Reeth war, sah sich über die Schulter nach ihm um. Ihr Gesichtsausdruck verriet nichts, doch er konnte sich vorstellen, was sie empfand. Sie mussten nun kriechen, und bald wurde es so eng, dass ihre Köpfe nur noch knapp unter der Decke waren. Jetzt kamen sie viel langsamer voran, und die Kriecherei schien ewig zu dauern. Reeth konnte nur ahnen, was Serrah durchmachte. Er war bereit, jederzeit eine Hand auszustrecken und sie zu beruhigen, falls es nötig werden sollte. Nach einiger Zeit drang von vorn ein scharfes Flüstern zu ihnen. Es klang zuversichtlich, und bald da488 nach traf der Tunnel im rechten Winkel auf einen weiteren Gang, der viel größer war und in dem sie wieder aufrecht stehen konnten. Sobald sie draußen waren, holte Serrah tief Luft und streckte sich. Sie sagte nichts, und Reeth sprach sie von sich aus nicht an. Kutch betrachtete empört den Dreck, der sich vorn auf seiner Hose und auf den Ärmeln seiner Jacke gesammelt hatte. »Sind wir nicht bald da?«, fragte er. »Es ist jetzt nicht mehr weit«, erklärte Reeth. »Und wenn wir dem hier glauben können«, er wedelte mit der zusammengefalteten Karte, »dann ist der restliche Weg nicht mit dem zu vergleichen, was wir gerade hinter uns gebracht haben.« Er bemerkte, dass Serrah ihn anstarrte, und glaubte Erleichterung in ihren Zügen zu erkennen. Im schlechten Licht konnte er sich allerdings nicht sicher sein. »Wir müssen dort auf der linken Seite um die Kurve.« Er ging los, und die anderen folgten ihm. Sie stießen auf den Zusammenfluss zweier weiterer Kanäle. »Da«, sagte er und zeigte den anderen, wohin die nächste Etappe ihrer Reise sie führen würde. Als sie sich dem nächsten Tunnel näherten, ergriff Caldason die Gelegenheit sich zu vergewissern, wie es Kutch erging. »Alles klar?« Der Zauberlehrling nickte. »Ja, prima. Und Ihr?« Caldason nickte ebenfalls. »Ich hoffe, dass du nicht mehr sehr lange gebraucht wirst. Nur eines noch. Wenn du allein zurückgehen müsstest, würdest du dann den Weg finden?« 489 Der Junge war sichtlich beunruhigt. »Nun ... ich glaube schon. Meint Ihr denn, das muss sein?« »Nein, keine Sorge. Ich will nur alle Möglichkeiten durchspielen. Es ist aber wichtig, sich zu merken, wohin man geht. Einfach als Vorsichtsmaßnahme.« »Ich glaube, bis jetzt konnte ich es mir merken.« »Gut. Es wird nicht mehr lange dauern.« Kutch überlegte noch einmal, ob er seinem Freund erzählen sollte, was er am Vortag gesehen hatte, doch dann dachte er, es sei wohl kaum der richtige Augenblick. Der Tunnel, den sie nun betraten, hatte eine gerade Decke aus Steinquadern. Er war so niedrig, dass sie leicht gebückt laufen mussten. Sie waren noch nicht sehr weit gekommen, als der Gang eine scharfe Rechtskurve beschrieb. Caldason hielt sie auf. »Jetzt müssen wir möglichst präzise vorgehen«, erklärte er. »Nach der Karte sind es von dieser Ecke aus noch zwischen zwanzig und dreißig Schritt. Wir sollten also wohl vom Mittelwert ausgehen und fünfundzwanzig Schritt ansetzen. Damit müssten wir direkt unter der Stelle sein, an der wir herauskommen wollen. Wir wollen ganz sichergehen. Ich messe die Schritte ab und dann tun ein paar von euch das Gleiche.« Er ging langsam los und zählte die Schritte. Als er bei fünfundzwanzig war, standen die anderen direkt hinter ihm. Es gab keinen Zweifel mehr über die Stelle. Reeth blickte nach oben. Er stand fast exakt unter einem quadratischen Block in der Decke. »Der hier ist so gut wie jeder andere. Lasst uns beginnen.« Sie holten das Werkzeug heraus, das sie mitgebracht hatten: Schlegel, Meißel und Brechstangen. Sie 490 schlugen den Block ringsherum frei, was dank der niedrigen Decke recht einfach war. Mörtel und Steinsplitter rieselten herunter. Schließlich konnten sie Brechstangen in die Spalten setzen, die sie ausgestanzt hatten. Nach kurzem Kampf fiel plötzlich der ganze Block aus der Decke und krachte laut auf den Boden des Abwasserkanals. Sie hielten sich einen Moment lang absolut still und lauschten, doch nichts war zu hören. In der Öffnung konnten sie Holzbohlen sehen. Wieder machten sie sich ans Werk und arbeiteten sich mit dem Meißel durch. Die Stücke reichten sie nach unten weiter. Als sie durch waren, fanden sie eine weitere Schicht Bretter, die von Balken getragen wurde.
»Das ist der Fußboden des Gebäudes«, meinte ein Mitglied der Gruppe. »Jetzt kommt es darauf an«, sagte Caldason. »Wenn Karrs Informant zuverlässig war, dann dürfte niemand dort oben sein. Wenn er sich geirrt oder gelogen hat, laufen wir womöglich in eine Falle. Also bleibt wachsam und seid bereit, zu kämpfen oder zu fliehen.« Zehn Minuten später hatten sie eine Schicht dicken, gefärbten Stoff freigelegt. »Das ist wahrscheinlich ein Teppich«, sagte Reeth. »Wir sind jetzt nur noch einen Schnitt entfernt.« »Ich würde gern als Erste hinaufgehen«, bot Serrah an. Reeth konnte sich vorstellen, dass sie möglichst schnell aus dem Gewölbe herauskommen wollte. Dennoch fragte er: »Warum?« »Das Loch scheint recht eng zu sein. Ich bin die Kleinste und vielleicht auch die Beweglichste, also sollte ich vorausgehen. Das heißt, ich bin die Kleinste 491 außer Kutch, aber der sollte ja ohnehin nicht an vorderster Front stehen.« Kutch wollte entgegnen, dass auch er gern als Erster gehen würde. »Nein«, unterbrach Caldason ihn. »Serrah hat Recht. Wir brauchen für alle Fälle einen erfahrenen Kämpfer. Deine Fähigkeiten sind zu kostbar, um sie auf diese Weise zu gefährden.« Dann sagte er zu ihr: »Also gehst du als Erste. Aber komm sofort zurück, falls du dort irgendjemanden bemerkst.« »Gut.« Zwei Mitglieder der Bande bückten sich, damit sie auf deren Rücken klettern konnte. Sie richtete sich auf und schnitt mit dem Messer ein Loch in den Teppich. Stücke des Stoffs rieselten hinunter. »Ich bin durch«, sagte sie. Sie steckte den Kopf durch das Loch. Kurz danach bückte sie sich wieder. »Es scheint niemand in der Nähe zu sein. Ich steige rauf.« Ihre Beine und Füße verschwanden. Gleich darauf steckte sie den Kopf durchs Loch. »Alles klar hier. Kommt rauf.« Sie verschwand wieder. »Also gut, alles nach oben«, befahl Caldason. Seine Mannschaft kletterte durch das Loch. Sie kamen in einem großen Flur heraus, der mit Marmorsäulen und Holzpaneelen geschmückt war. Ein Mosaik, das den Drachen von Gath Tampoor zeigte, bedeckte einen Abschnitt der Wand und verriet, dass es sich hier keineswegs um einen Ort der Andacht handelte - es sei denn, die Andacht für die Kolonialherren war gemeint. Serrah war schon am anderen Ende des Flurs und untersuchte eine riesige Doppeltür, die vermutlich 492 nach draußen führte. Außer dieser gab es noch eine Reihe weiterer Türen im Flur. »Dass sich keiner zu weit entfernt«, befahl Caldason. »Das können wir erst riskieren, wenn wir uns hier umgesehen haben. Kutch, es wird Zeit, dass du etwas tust für dein Gehalt. Kannst du dich mal umsehen, ob du Alarmzauber, Wächter, Sprengfallen und so weiter entdeckst? Und sei vorsichtig.« Kutch schlich durch den Flur und sah sich aufmerksam um. Reeth drehte sich zu den übrigen drei Gruppenmitgliedern um und wählte einen aus. »Du bewachst unseren Ausgang. Versuche uns zu warnen, wenn etwas passiert. Benutze im Notfall einen Heuler. Irgendwann werde ich Kutch wieder herschicken. Wenn er kommt, schaffst du ihn raus, so schnell es geht, und dann kannst du dich auch selbst zurückziehen. Verstanden?« Der Mann nickte. »Inzwischen kannst du dich damit vergnügen, überall das Öl zu verteilen.« »Man sollte doch meinen, dass es hier drinnen irgendwelche Sicherungsmaßnahmen gibt«, meinte einer der anderen. »Das Gebäude wird nach außen abgeschirmt, weil sie nur von dort aus mit Angriffen rechnen. Aber wir dürfen wohl kaum davon ausgehen, dass es hier drinnen keine Sicherungen gibt. Es gibt ganz bestimmt welche, und in einem Haus wie diesem sind sie gewiss von hoher Qualität.« Er sah sich um. »Es soll doch hier irgendwo eine Wachstation geben.« »Sie ist da drüben«, berichtete Serrah. »Nicht besetzt. Kutch überprüft sie gerade.« 493 Noch während sie sprach, kehrte der Zauberlehrling zurück. »Nun?«, fragte Caldason. »Ich habe bisher noch nichts bemerkt. Allerdings habe ich erst diesen Flur und die Wachstation untersucht.« Er kam näher heran und fügte leise hinzu: »Reeth, vergesst nicht, dass ich immer noch ein Neuling bin. Ich kann nicht beschwören, dass ich alles sehe.« »Ich weiß. Aber mit dir sind wir immer noch erheblich besser dran, als wir es ohne dich wären. Und jetzt beruhige dich und mach einfach deine Arbeit. Als Erstes überprüfen wir die Räume hier unten.« Er bestand darauf, dass sie zunächst zusammen vorgingen, während der eingeteilte Wächter am Loch zurückblieb. Sie gingen von rechts nach links die Türen durch, vom Ende des Flurs aus, wo die Außentüren waren, bis zu der Stelle, an der sie durchgebrochen waren. Hinter den ersten paar Türen fanden sie nichts weiter als Büros und verschiedene Nebenräume. Kutch konnte keinerlei Spuren magischer Vorrichtungen entdecken. Die dritte Tür, ebenfalls zweiflügelig, offenbarte einen überraschenden Anblick. Es war ein riesiger Raum mit
Schreibpulten und Stühlen mit hohen Lehnen. Es mussten hunderte sein. Ein Paradies für einen Verwaltungsfachmann. »Karr hatte Recht, was die Bürokratie angeht«, meinte Serrah. Sie probierten noch weitere Türen aus, fanden aber nichts Besonderes. Keiner der Räume hatte Fenster, und keiner war verriegelt. Serrah machte eine entsprechende Bemerkung. 494 »Das bestätigt, dass sie ihre Verteidigungsanlagen an der Außenseite des Hauses angebracht haben«, überlegte Caldason. »Mit einem Angriff von innen haben sie nicht gerechnet. Wie du schon sagtest, es sind Bürokraten.« Die letzte Tür führte in ein breites Treppenhaus. »Es scheint, als wären unsere Informationen zuverlässig«, erklärte Caldason. »Da oben werden die Akten aufbewahrt. Seid jetzt besonders wachsam. Kutch, du gehst mit mir voran.« Kutch wirkte ein wenig eingeschüchtert, doch er spielte mit. Sie liefen die Treppe hinauf. Sie war gewunden, sodass sie das obere Ende nicht gleich sehen konnten. An den Wänden hingen beeindruckende, durch Zauber verstärkte Bilder von Würdenträgern des Reiches - Generäle und Admiräle salutierten, Angehörige des Königshauses und Politiker hatten sich staatsmännisch aufgebaut. Als sie um die Windung der Treppe kamen, sahen sie, dass die Stufen bis zu einem breiten Absatz führten. Zu beiden Seiten der obersten Stufe standen große, quadratische Säulen aus rosafarbenem Stein, die mit goldenen Streifen verziert waren. »Halt«, sagte Kutch. Sie blieben stehen. Caldason legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er bemerkte, dass der Junge zitterte. »Was ist denn los?« »Hat jemand ein Messer?« »Aber natürlich«, antwortete Serrah. Kutch warf einen Blick zu seinen Kameraden und der Kampfausrüstung, die sie mitschleppten. »O ja, natürlich. Wie dumm von mir. Habt Ihr Eure Wurfmesser dabei, Serrah?« 495 Sie zog eins aus der Scheide im Ärmel. »Ist das gut?« »Könntet Ihr es nach der Tür dort gegenüber der Treppe werfen? Und könntet Ihr es zwischen den Säulen hindurch werfen?« »Klar.« Sie nahm den Arm zurück und ließ die Klinge fliegen. Der Wurf war gut gezielt und hätte die Tür getroffen. Doch als das Messer zwischen den Säulen hindurchflog, zuckte etwas, das an Blitze erinnerte, aus ihnen hervor. Tanzende rote Peitschenschnüre ergriffen das Messer im Flug und zerstörten es mit einem lauten Knall. »Ich denke, damit hast du dir einen Platz in der Truppe verdient«, sagte Serrah zu Kutch. »Wie weit reicht dieser Schutz?«, wollte Caldason wissen. »Müssen wir jetzt auf einem anderen Weg hinaufklettern?« »Ich glaube nicht«, erwiderte Kutch. »Serrah, könntet Ihr das Gleiche noch einmal tun?« »Noch ein Messer? Das wird teuer. Es sind gute Klingen.« »Wenn ich Recht habe, werdet Ihr das zweite nicht verlieren. Versucht dieses Mal niedrig zu werfen, sodass es etwa in Kniehöhe durch die Säulen fliegt.« Sie stieg ein paar Stufen höher und warf noch einmal, dieses Mal aus dem Handgelenk. Das Messer erreichte die Säulen, flog hindurch und blieb in der Tür stecken. Einer nach dem anderen stiegen sie hoch und krochen auf Händen und Knien zwischen den Säulen durch. Dann standen sie vor der Tür, aus der Serrah ihr Messer zog. Es war die einzige Tür, obwohl der Flur sehr lang war. 496 »Kannst du da drinnen etwas auffangen, Kutch?«, fragte Caldason. »Nein, ich glaube nicht.« Sie stellten fest, dass die Tür verschlossen war. »Vorsicht jetzt«, warnte Reeth, als die anderen Gruppenmitglieder mit Brechstangen kamen. Sie zogen die Waffen und machten sich kampfbereit. Die Tür wurde ohne Schwierigkeiten geknackt. Dahinter lag ein schwach beleuchteter Flur mit einer zweiflügeligen Tür am anderen Ende. Sie liefen darauf zu. »Habt ihr nicht auch das Gefühl, dass diese Mission immer wieder ins Nirgendwo führt?«, meinte Serrah. »Halt!«, rief Caldason. Sie blieben stehen und hoben die Schwerter. Kutch schaute verwirrt drein. »Was ist los, Reeth?« »Da unten.« Er deutete zum Boden. Kutch konnte nichts sehen, bis sie ihre Leuchtzauber darüber hielten. Ein dünner, fast unsichtbarer Draht war in Knöchelhöhe quer über den Flur gespannt. »Offenbar gibt es hier nicht nur magische Fallen«, sagte Reeth. »Geht ein Stück zurück.« Sie gehorchten und brachten sich in Sicherheit. Er stieg über den Draht. Nichts geschah. Dann winkte er den anderen, nacheinander seinem Beispiel zu folgen.
»Ich frage mich, was der Draht auslöst«, meinte Kutch. »Ich bin froh, dass wir es nicht unfreiwillig herausgefunden haben. Wir können es aber gern auf dem Rückweg probieren.« 497 Sie erreichten die hintere Tür und wollten sie vorsichtig wie die erste knacken, doch diese war nicht einmal verschlossen. Dahinter standen sie auf einem Eisenbalkon, der zu einem rings um den ganzen Raum führenden Laufsteg führte. Unten im Saal sahen sie hunderte von Aktenregalen; außerdem waren sämtliche Wände mit Regalen versehen. Selbst auf dem Balkon, auf dem sie sich befanden, gab es Regale, die vom Fußboden bis zur Decke reichten. Alle Regale und Schränke waren mit etwas voll gestopft, das nach Büchern aussah. Alle waren einander völlig gleich. Hoch, mit braunem Leder eingebunden, die Rücken ordentlich beschriftet. Es mussten viele tausende sein. Auch hier war wieder das Wappen von Gath Tampoor zu sehen. Es nahm einen großen Teil der Decke ein, weil anderswo vermutlich kein Platz geblieben wäre. »Ich glaube, wir sind endlich angekommen«, sagte Caldason. Vom Laufsteg aus, auf dem sie sich befanden, führten mehrere Treppen zum Aktenlager hinunter. Er war schon halb zur nächsten unterwegs. »Halt!«, rief Kutch. Wieder blieben alle stehen. »Der Boden«, rief der Junge und deutete auf eine Stelle direkt vor ihnen. »Da stimmt was nicht.« »Mir kommt er sehr real vor«, meinte einer der anderen. Kutch beugte sich vor und zog eines der gebundenen Bücher aus einem Regal. Es war offenbar schwerer als erwartet. Er warf es auf den Boden, und es flog glatt hindurch. Einen Sekundenbruchteil lang ver498 schwand die durch Zauber manifestierte Oberfläche, dann bildete sie sich neu. Die Öffnung hielt sich lange genug, um zu erkennen, dass das Loch darunter viel tiefer reichte als nur bis zur nächsten Ebene. Es war eine Art Schacht oder Grube. »Die Götter mögen wissen, was am Grund dieses Lochs ist«, sagte jemand. »Solange wir nicht selbst dort sind, ist alles in Ordnung«, meinte Reeth. »Gut gemacht, Kutch.« Sie kehrten um und gingen zur nächsten Treppe. Alle bewegten sich sehr langsam. Erst als sie unten im Saal standen, wurden ihnen die Ausmaße des Archivs voll bewusst. Sie fühlten sich klein zwischen den Regalen und den endlosen Aktenreihen. Caldason bat Kutch, den Saal so gründlich wie möglich in Augenschein zu nehmen, und gab ihm zwei weitere Gruppenmitglieder als Schutz mit. Dadurch blieb Reeth mit Serrah allein zurück. Er ergriff die Gelegenheit und fragte sie, wie sie sich fühlte. »Nicht schlecht. Danke, dass du so rücksichtsvoll ...« Er nickte. »Schon gut.« Sie sahen sich aufmerksam um und versuchten sich vorzustellen, welche Mengen von Informationen in diesen Aktenbergen gespeichert sein mochten. Kutch kehrte zurück. »Hier in der unmittelbaren Umgebung scheint alles sauber zu sein. Aber es ist ein riesiger Saal, und ich kann nicht garantieren, dass ich nichts übersehen habe.« »Wir müssen bald hier verschwinden. Sucht euch gute Stellen für die Brände. Ihr wisst ja, wie ihr den 499 Brandbeschleuniger anwenden müsst. Wir übernehmen dieses Ende hier.« Kutch und die anderen verschwanden wieder. Reeth und Serrah kippten die Flüssigkeit aus. Sie ließen sie auf Akten, Bücher, Stapel von Pergamenten und alles andere rinnen, das brennen mochte. Kutch, noch nicht sehr weit entfernt, stieß auf einmal einen Ruf aus. Sie eilten zu ihm. Sie fanden ihn und die anderen beiden Männer vor einer nackten Wand. »Die Tatsache, dass nichts davor steht und dass sie so nackt ist, hat meine Aufmerksamkeit erregt«, erklärte Kutch. »Es muss die einzige leere Wandfläche im ganzen Saal sein.« »Ein Tarnzauber«, vermutete Serrah. Kutch nickte und ging darauf zu. »Kommt mit, ich zeige es euch. Es kann nichts passieren.« Er führte sie durch die Wand. Sie spürten nicht mehr als einen leichten Lufthauch, als sie durch die Illusion traten. Dahinter lag eine große Nische, die mit Gittern gesichert war. Im Innern des Käfigs waren weitere Aktenregale zu sehen, mindestens einige hundert. »Die besonders wichtigen Fälle«, mutmaßte Serrah. Im Käfig gab es ein kleines Tor, das ihnen nicht viel Widerstand entgegensetzen konnte. Sie brachen ein und sahen sich rasch um. Reeth las einige Etiketten auf den Rücken der Akten. »Ich kann mit diesen Namen nicht viel anfangen«, räumte er ein. Die anderen murmelten zustimmend. »Wie auch immer, wie haben nicht genug Zeit, so aufschlussreich es auch sein könnte. Lasst uns weitermachen.«
500 Die anderen gingen hinaus, nur Reeth blieb noch einen Augenblick in der Nische und verteilte die brennbare Flüssigkeit. Als er ebenfalls gehen wollte, erregte ein kleines Regal mit gebündelten Akten seine Aufmerksamkeit. Sie waren alphabetisch sortiert: ABBROM, ADAZE, BARAMAK, BEKKLE, BURR, CAID ... CALDASON. Er zog die Akte aus dem Fach. Auf der Vorderseite war sein voller Name ausgeschrieben. Er fegte das bürokratische Durcheinander von einem Tisch, legte den Ordner auf die Fläche und öffnete ihn. Alle Seiten waren herausgeschnitten. Er zog einige andere Ordner heraus, um zu vergleichen. Sie waren vollständig. Er starrte seinen eigenen an. »Reeth!«, rief Serrah. »Komm schon!« Caldason verteilte die letzten paar Tropfen aus seiner Flasche und verließ den Käfig. Sie erwarteten ihn in der Nähe der Treppe. »Serrah, hilf mir mit den Zündern. Die anderen gehen schon vor. Ihr könnt hier nichts mehr tun. Wir treffen uns später.« Kutch wollte widersprechen. »Seid Ihr sicher, dass ich nicht...« »Nein. Du hast uns sehr geholfen, aber jetzt befolge die Befehle und verschwinde hier. Und achtet auf dem Rückweg auf die Fallen.« Sie machten kehrt und polterten die Treppe hoch. »So, jetzt zeig mir mal die Zünder«, sagte Serrah. Reeth wühlte in den Taschen herum und zog drei oder vier heraus, die er ihr in der offenen Handfläche zeigte. Es waren kleine Röhrchen mit einem Verbindungsstück in der Mitte. 501 »Auf einer Seite befindet sich leicht brennbares Ol. Auf der anderen ist Vitriol. Wenn du auf beide Enden drückst, bricht die Sperre, und die Säure brennt sich zum Öl durch. Wenn sie es erreicht, wird die Ladung gezündet. Es ist eine sehr heftige Zündung. Genial, was? Phönix' Leute haben sie hergestellt.« »Wie lange dauert es, bis sich die Säure durchgefressen hat?« »Etwa zwanzig Minuten.« »Das ist knapp.« »Wenn wir bis dahin wieder im Tunnel sind, kann uns nichts mehr passieren. Hier.« Er gab ihr die Hand voll Zünder. »Du kannst da drüben beginnen, ich beginne hier. Drücke einfach auf die Enden und verteile sie.« Sie trennten sich, um die Zünder zu legen. Ein paar Minuten später trafen sie sich gegenüber der Treppe. »Und jetzt raus hier«, sagte Caldason. Sie gingen zur Treppe. Hinter einem Regal kam etwas hervor und schnitt ihnen den Weg ab. Es war eine große, voll ausgewachsene Barbkatze. Sie war länger, als Reeth groß war, und wog etwa dreimal so viel wie er. Ihre Krallen hatten die Ausmaße von Dolchen, und die weißen Reißzähne blitzten. Und sie war voll von Bösartigkeit. Die Katze war angespannt, als wäre sie zum Sprung bereit. Mit gelben, hungrigen Augen sah sie die beiden Menschen an. Weißer Schaum sammelte sich vor dem Maul. »Ach, mach dir deshalb keine Sorgen«, sagte Serrah leichthin. »Das habe ich schon einmal erlebt.« 502 »Was?«, flüsterte Caldason. »Ein Wachzauber. Man gewöhnt sich dran.« Sie winkte ihm weiterzugehen. »Warte mal. Wenn es ein Zauber ist, wieso hat Kutch ihn dann nicht bemerkt?« »Er lernt doch noch, das hat er selbst gesagt. Vielleicht war der Zauber auch außer Reichweite. Ich verscheuche sie.« »Nein. Dies ist ein Gebäude des Imperiums. Das Reich kann sich die bestmögliche Verteidigung leisten, und was wäre besser als eine lebendige Barbkatze? Das ist echter Reichtum.« »Mach dich nicht lächerlich«, schnaubte sie. »Viele Leute benutzen solche Wachzauber, um ihren Besitz zu sichern.« Die Barbkatze sträubte ihr Fell und öffnete das Maul, als lachte sie höhnisch. Reeth und Serrah konnten sogar das grollende Schnurren hören. »Wenn das eine echte Barbkatze ist«, sagte sie, »dann bin ich ...« Die Katze stieß ein gewaltiges Brüllen aus. Sie richtete sich halb auf und schlug nach einem Stapel gebundener Akten. Die Krallen zerteilten die Ordner wie frischen Schnee. Ein kleiner Schauer aus Lederschnipseln und zerfetztem Papier ergoss sich auf den Boden. »Verdammt«, fluchte Serrah. Dann griff die Bestie an. 503
Mit glühenden Augen und sabberndem Maul ging die Barbkatze auf sie los. Sie bewegte sich mit jener unglaublichen Geschwindigkeit, die für ihre Art typisch war. Serrah wich nach rechts aus, Reeth nach links. Einen Sekundenbruchteil später schoss die Katze dort durch die Luft, wo sie gerade eben noch gestanden hatten. Brüllend vor Enttäuschung schlitterte sie über den polierten Boden, drehte sich um und wollte gleich noch einmal losspringen. Das plötzliche Verschwinden der Beute hatte sie überrascht. Sie sah sich verblüfft um. Reeth und Serrah hatten die Schwerter gezogen und sich ein gutes Stück von der Katze entfernt. Sie standen an entgegengesetzten Enden des Saales, sodass sie einander sehen konnten und die Barbkatze zwischen sich hatten. Dies dämmerte endlich auch dem Raubtier. Es drehte den großen zottigen Kopf von links nach rechts und wieder zurück und überlegte, welche Beute es zuerst schlagen sollte. 505 »Nicht bewegen, Reeth«, rief Serrah. Ein gut gemeinter Rat, doch ihn zu geben, war ein Fehler. Die Katze drehte den Kopf zu ihr herum, und der Entschluss, welcher Happen zuerst geschnappt werden sollte, war gefasst. Federnd setzte sie sich in Bewegung und trottete auf Serrah zu. Serrah verschwand zwischen den Lagerregalen und suchte sich einen Weg durch die Gänge. Die Katze folgte und pirschte sich mit zuckendem Schnurrbart an. Serrah schlich durch den Irrgarten und versuchte so oft wie möglich die Richtung zu wechseln. Während das Tier beschäftigt war, bewegte Caldason sich vorsichtig zum anderen Ende des Saals. Er konnte die Barbkatze nicht mehr sehen, hörte sie jedoch schnüffeln und knurren und Dinge umstoßen, die klappernd und krachend auf den Boden fielen. Auch Serrah konnte er hören. Sie lief auf Zehenspitzen, um möglichst wenig Lärm zu machen. Eine müßige Hoffnung, denn wenn er Serrah hören konnte, dann konnte es das Raubtier mit seinen empfindlichen Ohren sogar noch besser. Reeth kam bis auf drei oder vier Reihen an die Stelle heran, an der er die Katze vermutete. Er prüfte die Standfestigkeit eines Regals, indem er vorsichtig daran rüttelte. Dann sah er, dass es im Boden verschraubt war. Es stand fest und bewegte sich nicht. Vorsichtig kletterte er hoch. Serrah war die Maus und bemühte sich, die Katze abzuschütteln. Sie bewegte sich willkürlich und bog immer wieder ab, um die Barbkatze abzuschütteln. Natürlich war es zwecklos, sich auf ein Spiel einzulassen, das die Katze viel besser beherrschte, und das wusste Serrah genau. 506 Sie schlich zum Ende einer Regalreihe und lugte um die Ecke, gerade als die Katze das Gleiche am anderen Ende tat. Sie sahen einander. Eine Sekunde verstrich, die Serrah vorkam wie ein Jahrhundert. Dann rannte die Barbkatze los. Serrah zog sich eilig zurück und rannte an einem anderen Regal entlang, bog scharf ab und lief die nächste Reihe hinunter. Die Barbkatze folgte ihr und brüllte wütend. Reeth war unterdessen auf ein Regal geklettert. Er konnte Serrah sehen. Sie hockte nur ein paar Regale entfernt. Die Barbkatze beschnüffelte zwei Reihen weiter den Boden. Er riskierte es. »Pst!« Er musste noch einmal flüstern, ehe sie ihn hörte und sich nach der Quelle des Geräuschs umsah. Sie kam nicht gleich auf die Idee, nach oben zu schauen. »Hier oben!«, zischelte er. Jetzt sah sie ihn. Auch die Katze sah ihn. Wieder zögerte das Tier, da es zwei Mahlzeiten zugleich in Sichtweite hatte. Serrah nutzte den Augenblick, verließ ihre Deckung und rannte zu Reeth hinüber. Die Katze nahm sofort die Verfolgung auf. Serrah erreichte Caldasons Regal und kletterte hoch. Das Tier schnappte nach ihren Füßen. Reeth fasste Serrahs Hand und zog sie zu sich hoch. Die Barbkatze starrte nach oben, die Augen blitzten smaragdgrün. Serrah keuchte nach der Anstrengung. Abgerissen sagte sie: »Das ... das ist dumm ... wir können ... können nicht ewig hier oben bleiben.« »Nein, wir müssen bald verschwinden. Die Zünder sind aktiviert und ... Katzen können klettern, nicht wahr?« 507 »Verdammt!« Die Barbkatze hatte sich auf die Hinterbeine gestellt und bearbeitete mit den vorderen Tatzen die Regale, um einen Ansatzpunkt zum Klettern zu finden. Serrah beugte sich vor und schlug mit dem Schwert nach ihr, doch ihre Reichweite war zu klein. Unbeeindruckt versuchte das sabbernde Tier, aufs Regal zu gelangen. Caldason schnappte sich einen Stapel eingebundener Akten und warf ihn auf das Tier hinunter. Sie prasselten auf dessen Kopf und veranlassten es, wieder auf den Boden zu springen. Die Katze geriet allmählich in Rage. Sie umkreiste das Regal und sprang immer wieder mit schnappenden Zähnen hoch; dann machte sie Anstalten, am Regal hochzuklettern, um ihre Beute zu erwischen. Serrah und Reeth warfen weiter mit Akten und konnten das Raubtier ein wenig in Schach halten. »Früher oder später kommt sie hier herauf«, sagte Reeth. »Und wir haben bald keine Akten mehr.« Sie nahm einen Ordner und warf ihn nach der Katze. Er prallte von der Schnauze ab und steigerte die Wut des Tiers. »Keine Sorge, hier wird sowieso bald alles brennen, dann brauchen wir uns darüber keine Gedanken mehr zu
machen.« »Das ist nicht der richtige Augenblick, um Witze zu reißen. Was wollen wir jetzt tun?« »Barbkatzen sind nicht sehr klug, und wie wir schon gesehen haben, können wir sie verwirren.« Das Regal bebte unter dem Aufprall des schweren Tiers, das wieder hochzuklettern versuchte. Akten prasselten aus den Regalen herunter. 508 »Was meinst du damit? Dass wir es zu Tode verwirren können?« Sie musste sich festhalten, weil jetzt das ganze Regal wackelte. Er warf ein weiteres Buch nach der Katze, was ein zufrieden stellendes Heulen hervorrief. »Wir müssen sie ablenken, damit wir fliehen können.« »Leichter gesagt als getan, Reeth. Das Biest ist schnell. Bei den Göttern, da fällt mir etwas ein.« »Was denn?« »Was ist, wenn sie Kutch und die anderen erwischt hat, nachdem sie uns verlassen haben?« Auch er hatte schon daran gedacht. »Ich glaube, das hätten wir gehört. Und wenn die Katze einen von ihnen erwischt hätte, dann wäre sie jetzt gesättigt und nicht so sehr an uns interessiert.« »Das ist aber ein netter Einfall. Und, was machen wir jetzt?« »Vielleicht können wir sie lange genug verwirren, um zu verschwinden, wenn wir ihr zwei Ziele bieten.« »Ich hatte schon befürchtet, dass du das sagen würdest. Wie sieht dein Plan aus?« »Plan? Wir springen hier runter und rennen wie der Teufel in verschiedene Richtungen.« »Das ist alles?« »Weißt du was Besseres?« »Nein, verdammt, so wenig wie du.« »Jetzt ist nicht der richtige Augenblick, um hochmütig zu werden, Serrah. Immerhin warst du diejenige, die dachte ...« »Schon gut, schon gut. Du musst es mir nicht noch unter die Nase reiben. Wenn ... wenn wir hier runter sind, dann müssen wir da rauf, nicht wahr?« Sie deutete zum Balkon über der Treppe. 509 »Ja, dort sind wir hereingekommen. Wenn wir die Türen hinter uns schließen können, haben wir eine Chance.« »Die Treppen werden das Biest kaum stören.« »Da hast du Recht. Wir müssen eben zuerst dort sein.« »Die Katze wird nicht einfach herumstehen und uns zusehen, wie wir verschwinden.« »Vielleicht können wir sie aufhalten. Wie viele Wurfmesser hast du noch?« »Sechs oder sieben. Aber ich glaube nicht, dass sie ausreichen, um eine Barbkatze zu töten.« »Nein, sicher nicht. Aber es könnte ihr etwas Stoff zum Nachdenken geben.« Wieder bebte das Regal heftig. Nicht mehr lange, und es würde umstürzen. Serrah warf der wütenden Katze einen weiteren Aktenstapel auf den Kopf. »Was wir auch tun, wir müssen es bald tun, oder?« »Genau. Lenk sie ab und wirf ein Messer, dann rennen wir los.« »Wir sollten nicht direkt zur Treppe rennen, oder? Sie könnte uns mühelos einholen.« »Ich weiß. Wir müssen einen Umweg machen. Bereit?« »Wie ich dieses Leben liebe.« Sie zog ein kurzes Wurfmesser aus dem Ärmel. Die Katze lief aufgebracht drunten hin und her und erwartete neue Bombardements mit Akten, schien aber immer noch entschlossen, ihre Peiniger zu erwischen. Das bewegliche Tier war ein schwieriges Ziel, doch Serrah entschied sich schließlich für den Kopf und ließ das Messer fliegen. 510 Die Katze sprang der Klinge entgegen und pflückte sie mit den Zähnen aus der Luft, schüttelte das Messer, wie eine Katze einen toten Vogel schüttelt, und ließ es fallen, sodass es klappernd über den Boden rutschte. Die Barbkatze achtete nicht weiter darauf, sondern setzte die nervöse Wanderung fort, wütender als zuvor. »Unter normalen Umständen wäre das ein bewundernswerter Trick«, bemerkte Serrah. »Versuch's noch einmal, aber dieses Mal lenke auch ich sie ab. Ziele dieses Mal nicht auf den Kopf.« Serrah holte ein zweites Messer hervor. Caldason schnappte sich eine Akte aus ihrem schwindenden Vorrat. »Pass auf«, warnte er. Serrah nickte. Dieses Mal warf er die Akte nicht direkt nach dem Tier, sondern zielte über dessen Kopf hinweg auf eine Stelle dahinter. Der Ordner flog durch die Luft. Die Katze sah ihm mit erhobenem Kopf nach. Bevor er landete, sprang die Katze hinterdrein, wie ein Hund einen Stock verfolgt. Serrah warf das Messer. Es traf das Tier seitlich an der Vorderpfote und drang tief ein. Die Katze brüllte vor Schmerz und Wut. »Jetzt!«, rief Caldason. Sie sprangen hinunter und rannten sofort in unterschiedliche Richtungen davon. Die Barbkatze zögerte einen Augenblick und drehte den Kopf hin und her. Dann entschied sie sich für Caldason und setzte ihm nach. Das Messer steckte noch in ihrem Bein, und sie humpelte leicht und lief vielleicht sogar etwas langsamer als vorher. Ob es langsam genug war, würde sich gleich herausstellen.
Caldason rannte so schnell er konnte zum anderen Ende des Saales. Er wusste nicht, wie es Serrah ergan511 gen war, doch da er keine Schreie gehört hatte, nahm er an, dass sie im Augenblick in Sicherheit war. Dann hörte er das Tier hinter sich - das Pochen der Pfoten auf dem Holzboden, das Kratzen der Krallen, das schwere pfeifende Atmen. Er blickte über die Schulter. Die Katze kam näher. Er wollte nicht noch einmal auf ein Regal klettern und die Situation wiederholen, aus der er gerade entflohen war. Als ihm dieser Gedanke kam, sah er ein frei stehendes Regal. Er sprang dahinter und drückte mit aller Kraft. Das Regal schwankte. Akten prasselten herunter. Dann brach es mit lautem Krachen zusammen und versperrte der Barbkatze den Weg. Eine Staubwolke stieg auf. Doch das Hindernis konnte die Katze nicht lange aufhalten. Trotz des Messers im Bein sprang sie mühelos darüber hinweg und hinterließ einen Sprühregen von Blut auf den herumliegenden Akten und den Trümmern des Regals. Reeth war schon ein Stück weiter und versuchte, einen Weg zu finden, der ihn wieder zur Treppe brachte. Oder falls nicht, dann wenigstens zu irgendeiner anderen Treppe, die nach oben auf den Laufgang führte. Er rannte im Zickzack und hoffte, einen kleinen Vorsprang herauszuarbeiten, doch die Katze war dicht hinter ihm. »Reeth!« Er sah in die Richtung, aus der Serrahs Ruf gekommen war. Sie hatte inzwischen den Laufgang erreicht und rannte darauf entlang, um die Jagd im Auge zu behalten. Als die Katze nahe genug war, warf Serrah ein weiteres Messer, doch sie verfehlte die Raubkatze, und es blieb im Holzboden stecken. Dann warf sie 512 Akten und kleine Einrichtungsgegenstände und was sie sonst noch heben konnte, nach dem Tier. Die knurrende Barbkatze lernte, ein wenig Abstand zu halten. Sie war immer noch hinter Caldason her, doch sie war etwas langsamer geworden. Reeth dagegen rannte, als wären ihm alle Dämonen der Hölle auf den Fersen, und konnte den Vorsprung ein wenig ausbauen. Die Katze rutschte in einer Lache der brennbaren Flüssigkeit aus, die sie verteilt hatten. Mit glitschigen Tatzen kam sie langsamer voran, und Reeth bekam eine kleine Verschnaufpause. »Hierher!«, rief Serrah. »Hierher!« Sie deutete auf eine Treppe, die er auf seiner hastigen Flucht nicht bemerkt hatte. Er rannte darauf zu. »Der Boden«, rief sie. »Vergiss nicht den Boden!« Er erinnerte sich, dass diese Treppe diejenige war, die zu der Zauberfalle mit der Grube darunter führte. Wieder rannte er mit höchster Geschwindigkeit los. Als er die Treppe erreichte, war die Katze nur noch wenige Schritte hinter ihm. Reeth spurtete hinauf und rannte so schnell er konnte los, dann sprang er mit aller Kraft. Er wusste nicht, ob er es schaffen würde. Er war nicht sicher, wo der falsche Boden endete und wo der richtige begann. Er bereitete sich auf einen Schwindel erregenden Absturz vor. Doch er landete mit einem Knall auf festem Eisen und fiel Serrah praktisch in die Arme. Sie sahen sich um. Der struppige Kopf der Barbkatze tauchte am oberen Ende der Treppe auf. Dann war das ganze Tier zu sehen. Das Messer steckte immer noch im Bein, hatte sich aber anscheinend ein wenig gelockert. Die Katze blieb stehen. 513 »Komm schon«, sagte Serrah halblaut. »Komm schon ... nur noch ein kleiner Schritt, du Miststück.« Die Katze betrachtete sie verschlagen. Dann starrte sie einen Augenblick lang unschlüssig den Boden an. Schließlich machte sie kehrt und verschwand die Treppe hinunter. »Kann man das glauben?«, sagte sie. »Sie hat aufgegeben.« Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, da tauchte die Katze schon wieder auf. Sie kam schnell die Treppe herauf gerannt und sprang, und die großen Muskeln hatten genügend Kraft, um das Tier über das Loch zu tragen. Die Katze flog über die Täuschung hinweg und landete mit einem dumpfen Aufprall auf ihrer Seite. »Los!«, rief Caldason. Sie drehten sich um und rannten auf dem Laufsteg entlang, die Katze dicht hinter ihnen. Die Tür, durch die sie gekommen waren, war nicht mehr weit. Sie spurteten, um sie rechtzeitig zu erreichen, und schafften es um Haaresbreite. Sie stürzten hindurch, packten die Türflügel und warfen sie zu. Die Barbkatze prallte auf der anderen Seite mit einem Krachen dagegen. Der Aufprall war so stark, dass es sie beinahe von den Füßen riss. Sie kämpften einen Augenblick, um die Tür ganz zu schließen, doch die Katze war zu stark. »Wir können uns nicht halten«, sagte Caldason mühsam. »Rennen?« »Rennen.« Sie machten kehrt und rannten um ihr Leben. Die Barbkatze platzte durch die Tür, deren Flügel laut gegen die Wände knallten. 514 Dann fiel ihnen beiden gleichzeitig etwas ein. »Der Stolperdraht!«, riefen sie wie aus einem Mund. Sie sprangen darüber, doch Serrah landete unglücklich, strauchelte und fiel. Reeth blieb stehen und zog sie auf die Füße. Die Katze holte auf. Sie konnten nicht mehr entkommen. Reeth tastete nach seinem Schwert, Serrah
schrie auf. Das Tier verfing sich im Draht. Er spannte sich straff vor den Vorderpfoten. Einige Sekunden lang starrte das Tier das neue Ärgernis verwirrt an. Irgendwo war ein Rumpeln zu hören. In beiden Seitenwänden und in der Decke öffnete sich ein schmaler Schlitz. Plötzlich schwang aus der rechten Wand ein großes Pendel hervor, das mit einem Stab im oberen Schlitz befestigt war. Die rasiermesserscharfe Klinge durchtrennte die Barbkatze in der Mitte. Es geschah so schnell, dass das Tier nicht einmal mehr Zeit hatte, einen Laut von sich zu geben. Das widerliche Pendel schwang weiter und verschwand in der Öffnung der gegenüberliegenden Wand. Blut und grausige Überreste einer getöteten Barbkatze blieben zurück. »Jetzt wissen wir, was die Vorrichtung tut«, meinte Serrah. Er stützte sie. »Komm schon.« Sie stolperten den Flur hinunter und durch die nächste Tür, dann krochen sie durch die Säulen und rannten die Treppe hinunter. Im unteren Stockwerk war niemand zu sehen. »Hoffen wir, dass die anderen gut hinausgekommen sind«, keuchte Serrah. Sie sah zum Loch, das sie geschnitten hatten. Ihr Gesichtsausdruck brauchte keine weitere Erklärung. 515 »Wir haben keine Wahl«, erinnerte Reeth sie. »Es sei denn, du möchtest zur Vordertür hinausspazieren.« Sie begannen den Abstieg. Im Hauptquartier der Paladine, nicht weit vom Archiv entfernt, war der Freiheitstag ein Tag wie jeder andere. Hier gab es keine Feiern, abgesehen von denen, die aus diplomatischen Gründen als Geste an die Auftraggeber der Clans in Gath Tampoor unumgänglich waren, und alles ging seinen gewohnten Gang. Gleiches galt auch für die Tiefen der Festung, in denen die Verliese und andere unschöne Einrichtungen untergebracht waren, darunter auch mehrere hochmoderne Folterkammern. In einer hatte Devlor Bastorran gerade die vormittägliche Arbeit inspiziert. Auf einer blutbefleckten Bodenplatte lag ein zerstörter menschlicher Körper. Dicht daneben stand einer der besten Inquisitoren des Clans. Er wischte sich die Hände mit einem Tuch trocken, seine Metzgerschürze hatte Blutflecken. Devlor schritt ungeduldig hin und her. »Wo ist er? Ich will den Kopf dieses Boten haben!« Die Tür ging auf, und Ivak Bastorran trat ein. »Endlich!«, rief Devlor. »Diese Angelegenheit ist äußerst dringend, Onkel.« Der Oberste Clanchef betrachtete den verstümmelten Leichnam. Der Anblick schien ihn nicht weiter zu stören. Devlor deutete mit einem Daumen auf den Boden. »Der Mann da wurde aufgegriffen, als er versuchte, 516 Bhealfa mit dem Schiff zu verlassen. Seine Reisedokumente waren gefälscht, und man stellte fest, dass er eine große Geldsumme bei sich trug.« »Inwiefern ist das für uns von Bedeutung?« »In zweierlei Hinsicht. Bei näherer Untersuchung der Dokumente stellte sich heraus, dass sie von der Machart waren, die wir von den Rebellen kennen. Noch wichtiger: Dieser Mann hat als Schreiber im geheimen Archiv hier in der Stadt gearbeitet. Wir müssen aber wohl annehmen, dass es jetzt kein Geheimnis mehr ist.« Mit einem Mal genoss er die ungeteilte Aufmerksamkeit seines Onkels. »Fahre fort.« »Angesichts der Bedeutung dieser Einrichtung ließen wir den Verräter herbringen. Wie du siehst, war es nötig, ihn einer gewissenhaften Befragung zu unterziehen.« Während er sprach, kamen zwei Gehilfen herein und hoben den Leichnam auf, um ihn zu beseitigen. Der Foltermeister kippte einen Eimer Wasser auf dem Boden aus. »Und wie lautet das Ergebnis des Verhörs?«, fragte Ivak. »Er hat gestanden, dass er den Rebellen gewisse wichtige Informationen gegeben hat. Wir wissen nun, was sie zu tun gedenken und wie sie es tun. Ich sagte doch, dass sie etwas Großes vorhaben.« »Hat es mit dem Archiv zu tun?« »Ja. Ob Zerstörung oder Diebstahl, konnte der Schreiber uns nicht verraten. Ich nehme an, er hat in dieser Hinsicht die Wahrheit gesagt.« »Welcher Art waren die Informationen, die er ihnen gegeben hat?« 517 Devlor faltete ein Stück Pergament auseinander. »Hier! Dies ist eine Karte der Abwasserkanäle und der Wasserleitungen im Zentrum von Valdarr, wobei die Umgebung des Archivs besonders sorgfältig gezeichnet ist.« »Verdammt!« »Der Gefangene wusste nicht, wann sie von diesen Informationen Gebrauch machen wollen, aber welchen besseren Tag als den heutigen könnte es geben?« »Du brauchst nichts mehr zu sagen. Kümmere dich persönlich darum und nimm dir alle Kräfte, die du brauchst.« »Ich habe ein ungutes Gefühl, Onkel. Wir sollten so schnell wie möglich dort nachsehen.«
»Am Freiheitstag, wenn die Straßen überfüllt sind? In dieser Hinsicht haben sie es sehr gut geplant.« »Dann müssen wir die Menschen überzeugen, uns durchzulassen. Es ist doch eine Frage der nationalen Sicherheit, und es geht nicht nur um den guten Ruf der Clans. Ich werde keine Verzögerungen dulden.« »Dann geh, und keine Gnade für die Aufständischen!« Der Neffe rief einen Adjutanten herbei, der Haltung annahm. »Sattle mir ein schnelles Pferd!«, befahl Devlor. In einem Haus, nicht weit vom falschen Tempel entfernt und mit Blick auf das Gebäude, saßen Kutch und die anderen vier Bandenmitglieder und warteten. Sie hatten keine Schwierigkeiten gehabt, aus den Kanälen und der Schule herauszukommen. Danach waren sie in der Menge untergetaucht und auf ver518 schiedenen Wegen zum Versteck gelaufen, um sich zu säubern und die verschmutzten Sachen zu wechseln. Allmählich fragten sie sich, wie es Caldason und Serrah ergangen sein mochte. Die beiden hätten längst da sein müssen, doch bisher war noch nichts von ihnen zu sehen. Besonders Kutch machte sich Sorgen. Er hatte nicht ohne seine Freunde gehen wollen. Nicht, dass er viel hätte ausrichten können, wenn etwas schief gegangen wäre, aber diese Einsicht vermochte ihm die Schuldgefühle nicht zu nehmen. Er musste immer wieder an seinen verstorbenen Meister denken. Auch ihm hatte er in der Stunde der Not nicht beistehen können. Die anderen waren freundlich zu Kutch und bemühten sich, ihn zu beruhigen. Er fühlte sich jedoch unverstanden. Einer der Männer, der am Fenster stand, riss den Zauberlehrling schließlich aus seinen Gedanken. »Da ist etwas im Gange.« Eine große Abteilung Paladine traf ein. Die Kutschen pflügten rücksichtslos durch die Menge. Berittene Clanmänner stießen die Menschen zur Seite, und ihre unberittenen Kameraden vertrieben die Passanten mit Schlägen. Auch Milizionäre waren unterwegs, die nicht weniger brutal mit den Müßiggängern verfuhren. Eine hässliche Situation braute sich zusammen. »Sieht aus, als wäre man uns auf die Schliche gekommen«, sagte jemand. »Wie haben sie das nur herausgefunden?«, fragte ein anderer. »Das Gebäude brennt ja noch nicht einmal.« »Vielleicht wird es auch nicht brennen, wenn sie früh genug eintreffen, um den Brand zu löschen.« 519 Sie sahen zu, wie die Paladine, begleitet von einem Trupp Zauberer, zum falschen Tempel eilten. Sekunden später verschwand die magische Tarnung, und das viel schlichtere Gebäude dahinter kam zum Vorschein. Erstaunte Schreie waren in der aufgeregten Menge zu hören. »Reeth und Serrah!«, rief Kutch. »Wir müssen sie warnen!« »•Das übersteigt jetzt unsere Möglichkeiten, mein Junge«, sagte einer der Männer. »Wir können nur hoffen, dass sie rechtzeitig herausgekommen sind.« Die Paladintruppe hielt sich nicht mit Feinheiten auf, als es darum ging, das Archiv zu betreten. Ihre Magier beseitigten rasch die Schutzzauber am Eingang, dann schlugen sie einfach die Türen ein. Als sie ins Gebäude eindrangen, brüllte ein Offizier einige Befehle und teilte Zauberer ein, die Sprengfallen auszuschalten. Clanmänner wurden ausgesandt, um Eindringlinge zu finden oder um jeden Schaden zu beseitigen, der bisher angerichtet worden war. Sie entdeckten das brennbare Öl, das in den unteren Büros verteilt worden war. Eine Abteilung wurde losgeschickt, um das Loch zu untersuchen, das in den Fußboden des Flurs geschnitten worden war. Der Offizier führte die größte Abteilung die Treppe hinauf, und die Zauberer schalteten unterwegs die Schutzzauber aus. Sie fanden die tote Barbkatze, wichen ihr aus und verteilten sich auf dem Laufsteg. Die Männer eilten in den Saal hinunter und begannen hastig zu suchen. Das Öl, das überall ausgekippt worden war, verriet, dass die Eindringlinge die Absicht gehabt hatten, einen 520 Brand zu legen. Doch da keine Zünder erkennbar waren, fragte sich der Offizier, ob die Eindringlinge gestört worden waren, ehe sie ihr Werk vollendet hatten. Dann kam ein Untergebener zu ihm und meldete, man habe im Raum verteilt eine Anzahl unbekannter Gegenstände gefunden. Einen davon übergab er dem Offizier, der das winzige Röhrchen untersuchte. Er kratzte an der Kerbe in der Mitte herum, schüttelte das Objekt, hielt es ans Ohr und versuchte, die beiden Teile auseinander zu ziehen. Schließlich starrte er es verwirrt an, wie es da in seiner Handfläche lag. In diesem Augenblick zündete die Ladung. Die Explosion verwandelte ihn umgehend in eine Feuerkugel und ebenso alle anderen, die im Umkreis von fünf Schritten bei ihm standen. Die Bäche und Teiche mit Öl gerieten sofort in Brand, und die Flammen fraßen sich bis zu den Aktenregalen, die ebenfalls Feuer fingen. Überall im Saal explodierten jetzt die Zünder und versprühten Feuer und Vitriol. Brennende Männer kreischten und taumelten und halfen dem Feuer, sich noch weiter auszubreiten. Ganze Reihen von Akten fingen Feuer, die Flammen sprangen von Gang zu Gang über. Erstickende Wolken aus fettigem schwarzem Rauch erfüllten die Luft.
Wer noch rennen konnte, rannte zu den Treppen. Das Feuer leckte vor den Männern empor und ergriff Besitz von den Akten, die auf dem Laufsteg gelagert waren. Hitze und Rauch drangen bis in den Flur, in dem die Reste der Barbkatze lagen, und die Funken und der Dunst erreichten sogar die Haupttreppe dahinter. Auch im Erdgeschoss waren jetzt viele Brände ausgebrochen. Die Büros und die große Schreibstube wa521 ren ein einziges Inferno. Die Abteilung, die den aufgebrochenen Tunnel untersuchen sollte, hatte ihren Posten verlassen müssen. Fetzen brennender Wandbehänge wurden nach oben gesogen, kokelnde Möbel gingen in Flammen auf. Überall gingen weitere Zünder mit lautem Knall los. Die Überlebenden taumelten keuchend und würgend zu den massiven Vordertüren. Der beißende Rauch stach in ihren Augen. Sie stürzten auf die Straße, wo das Volk inzwischen den Aufstand probte, nachdem es von den Ordnungskräften so brutal behandelt worden war. Mitglieder des Widerstandes fachten die Wut noch weiter an, und die Feuerwehr der Stadt hatte keine Chance, rechtzeitig das brennende Haus zu erreichen. Devlor Bastorran hatte nicht die geringste Ahnung, was sich im Archiv abspielte. In Begleitung einer Elitetruppe von Leibwächtern und eines Clanzauberers stand er im Keller der Schule. Sie hatten Laternen und Leuchtzauber mitgebracht und untersuchten den Durchbruch. Devlor bemerkte, dass der Magier das Gesicht verzog. »Was ist los? Ist dir etwa der Geruch unangenehm?«, höhnte er. »Es wird gleich noch viel übler riechen, wenn die Rebellen noch da unten sind.« »Ja, Herr.« »Fertig?« »Ich bin bereit, Herr.« »Und du bist sicher, dass wir geschützt sind?« »Ja, Herr. Aber, Herr, ich muss auf die Gefahren hinweisen, die mit dem von Euch vorgeschlagenen 522 Vorgehen verbunden sind. In einem engen Raum und besonders hier könnte ...« »Wagst du es, mir zu trotzen? Hüte deine Zunge und führe deine Befehle aus. Und beeil dich!« Der eingeschüchterte Zauberer nickte. Unsicher begann er mit einer Beschwörung, und während er sprach, zog er eine Rauchglasflasche aus einer sackartigen Tasche seines Gewands. Als die Beschwörung gesprochen war, entfernte er vorsichtig den Stöpsel. Er trat an den Rand des Lochs, hielt die Flasche auf Armeslänge vor sich und kippte sie, als wollte er etwas ausgießen. Was herauskam, war eine zähe weiße Substanz ähnlich dem Saft eines Baums oder flüssigem Gummi. Es drang langsam und in einem Stück als körniger Strang hervor. Das vordere Ende entwickelte einen Auswuchs, der einer geschälten Zwiebel ähnelte. Auf diesem Knoten saß ein Paar winziger Augen. Der Strang wurde länger und elastischer, und während er dem Loch entgegenströmte, blähte er sich auf. Wenige Sekunden später hatte er die Ausmaße eines Mannes erreicht. Die Augen waren nun so groß wie Untertassen. Doch er besaß keine Masse. Er gab ein Geräusch von sich, das sich mit Worten kaum beschreiben ließ. Der beste Vergleich wäre ein keuchender Atemzug gewesen, überlagert vom Knacken eines Insektenpanzers, der von einem Stiefel zerdrückt wird. Als ihr letzter Rest aus der Flasche entwichen war, fiel die Gestalt nicht einfach herunter. Sie sank durch die Luft, als schwebte sie im Wasser. Immer noch an Größe zunehmend, verschwand sie im Loch. Der Spürzauber war auf der Jagd. 523 Caldason und Serrah hatten den halben Weg durch das Tunnelsystem geschafft, als sie ein schwaches Grollen hörten. »Ist jetzt das Gebäude in die Luft geflogen?«, fragte Serrah. »Ich glaube schon.« Ein paar Minuten später wurde das Wasser, das um ihre Füße rann, wärmer. Es nahm seltsame Farben an und brachte winzige Trümmerstücke mit. »Jetzt müssen wir nur noch hier rauskommen«, sagte Caldason. Sie tappten weiter durch die feuchten Abwasserkanäle. »Glaubst du, Kutch und die anderen sind in Sicherheit?«, fragte sie. »Ich wüsste nicht, warum sie es nicht geschafft haben sollten. Und ich glaube auch nicht, dass die Barbkatze sie gefressen hat.« Sie lächelte, während sie sich platschend einer Tunnelkreuzung näherten. 525 Ein Stück weiter sagte sie: »Warum gehen wir eigentlich diese Risiken ein?« »Was meinst du damit?« »Ich weiß nicht, wie es bei dir aussieht, aber ich bin irgendwie zum Widerstand gekommen, ohne es selbst richtig zu merken.« »Nach allem, was ich von dir weiß, bist du nicht abgeneigt, Risiken einzugehen.«
»Ich gehe kontrollierte Risiken ein, und ich habe etwas getan, an das ich geglaubt habe. So schien es mir jedenfalls damals.« »Du hast die Seiten gewechselt, das erfordert eine gewisse Neuorientierung.« »Zunächst habe ich nur meiner Seite die Gefolgschaft aufgekündigt; ich bin nicht gleich ausgezogen, um mich dem Widerstand anzuschließen. Leute vom Widerstand waren es auch, die mich in Merakasa befreit haben, aber das wusste ich da noch nicht. Ich bin ihnen dafür etwas schuldig.« »Für mich gibt es keine Seiten. Ich bin aus einem ganz bestimmten Grund hier.« »Diese Clepsydra, die Quelle, oder was es auch ist.« Er nickte. »Dann bin ich also aus Versehen hier, und du bist es, weil du etwas suchst. Aber steckt nicht vielleicht doch ein wenig mehr dahinter, Reeth?« »Darüber haben wir uns schon einmal unterhalten.« »Die Dinge verändern sich.« »Binnen weniger Tage?« »Sie können sich in einer einzigen Minute verändern, glaub's mir. Aber ich wollte eigentlich nur sagen, dass ich, je mehr ich über die Widerständler er526 fahre und je besser ich deren Anliegen verstehe, umso mehr zu der Überzeugung gelange, dass sie etwas haben, für das es sich zu kämpfen lohnt.« »Mag sein, aber ich bin für hehre Ziele nicht zu haben.« »Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich das glauben soll.« Sie liefen eine Weile schweigend weiter. »Hattest du mal irgendwann eine Familie?«, fragte sie. Er ließ sich Zeit, bis sie glaubte, er werde überhaupt nicht mehr antworten. Dann sagte er: »Mein Volk wurde bei den Säuberungen getötet.« »Ja. Aber danach. In all den vielen Jahren danach.« »Nein. Und du?« »Ja.« Jetzt war es an ihr, ihn warten zu lassen. »Ich möchte lieber nicht darüber reden.« »Warum hast du dann damit angefangen?« »Weil ich dachte, ich könnte darüber reden.« Er verstand es nicht ganz, also schenkte er sich die Antwort. Eine Minute später fragte sie: »Was ist eigentlich das Schlimmste daran, so lange zu leben?« Er lachte schnaubend. »Du sprudelst ja heute über vor Fragen.« »Ich möchte die Menschen gern verstehen. Ich glaube, das habe ich mir angewöhnt, als ich eine Abteilung befehligt habe. Nicht, dass ich mich da immer sehr gut bewährt hätte. Aber was ist das Schlimmste?« »Soll ich dir das wirklich sagen?« »Ja.« »Erinnerungen. Die Last der Erinnerungen. Falls dir das etwas sagt.« 527 »Ich glaube, das sagt mir etwas. Ich denke aber, man muss gar nicht so lange leben, um diese Bürde zu spüren.« Sie schien in einer seltsamen Stimmung zu sein, als geriete sie in eine Art von Melancholie. Vielleicht hatte es mit ihrer Angst vor beengten Orten zu tun. Er drängte sie nicht weiter, und so konzentrierten sie sich darauf, rasch weiterzukommen. Wieder vergingen vier oder fünf Minuten. Dann hörten sie etwas. Es war ein schwer zu beschreibendes Geräusch, ein gedehntes Heulen oder Kreischen, auch wenn beide Worte im Grunde unzulänglich waren. Jedenfalls war es erschreckend genug, um sie anhalten zu lassen. Einen Moment später ertönte es erneut, dieses Mal näher. »Was war das denn?«, fragte Serrah. »Ich bin nicht sicher. Aber ... das Geräusch, das wir vorher gehört haben ... vielleicht hatte es doch nichts mit dem Feuer zu tun.« »Dieser Gedanke ist mir auch schon gekommen.« Keiner wollte aussprechen, was beiden durch den Kopf ging. Wieder hörten sie das Geräusch. Es war lauter und hielt länger an und jagte ihnen kalte Schauer über den Rücken. »Das ist ein Spürzauber, nicht wahr, Reeth?« »Ich glaube, das könnte es sein. Hast du schon einmal einen gehört?« »Nur einmal, das hat mir gereicht. Es heißt, sie saugen den Opfern die Lebenskraft aus dem Leib.« »Das tun sie wirklich. Ich habe es gesehen.« »Sie sind erbarmungslos, Reeth. Sie geben niemals auf. Wenn sie uns einen hinterher geschickt haben ...« 528 »Ich weiß.« »Was sollen wir tun?«
»Vor allem einen kühlen Kopf bewahren. Spürzauber sind letzten Endes doch nicht mehr als überschätzte Bluthunde.« »Sie sind erheblich mehr als das, und du weißt es. Bei den Göttern, verglichen mit ihnen war die Barbkatze ein ...« Etwas erregte ihre Aufmerksamkeit, und sie starrte über seine Schulter. Er sah sich um und folgte ihrem Blick. Am Ende eines benachbarten Tunnels war eine Krümmung, und dort kam etwas zum Vorschein. Weiße, zarte Fühler zuerst, die die Ecke fast zu streicheln schienen. Ihnen folgte ein größerer Körper. Es war wie eine Wolke, die allerdings ständig ihre Gestalt veränderte und eher flüssig als dunstig wirkte. Im Innern war eine Art Glühen, das an eine schwache Lampe in einem Zelt erinnerte, und der Kern war dunkel und pulsierte. Oben schaute ein dicker Stängel aus dem Körper hervor; an dessen Ende befand sich ein Auswuchs, der zwei verschleierte Augen trug, die denen einer Kröte ähnelten. Der Stängel bewegte sich suchend von einer zur anderen Seite. Manche Menschen bezeichneten die Spürzauber als »denkenden Nebel«. Caldason hatte auch den Begriff »schweres Licht« gehört, was ebenfalls eine treffende Beschreibung zu sein schien. Er packte Serrahs Arm. »Los, komm!« Sie rannten los. Als sie sich umschauten, war der Spürzauber noch weit hinter ihnen, doch er kam rasch näher. Wieder stieß das Wesen einen entsetzlichen Schrei aus. 529 Bald konnten sie den schmalen Tunnel sehen, in dem sie kriechen mussten. Serrah beobachtete ihn unbehaglich. »Eins muss ich dir sagen, Reeth. Die Vorstellung, dass wir da rein müssen und der Spürzauber uns verfolgt...« »Er folgt uns so oder so, ganz egal, wohin wir gehen.« »Aber ich würde lieber nicht dort drin von ihm erwischt werden.« »Vielleicht gibt es noch einen anderen Weg. Er ist nicht gerade einfach, aber ...« »Was meinst du damit?« »Vertrau mir.« Er drängte sie zu einem Seitentunnel, in dem sie noch nicht gewesen waren. »Wohin gehen wir? Was ist los?« »Ich habe eine Idee.« »Willst du sie mir verraten?« »Ich fürchte, sie wird dir nicht gefallen.« »Das kann ich doch wohl am besten selbst...« »Warte mal, ich muss etwas überprüfen.« Er zog sie zur Seite, holte die Karte hervor und betrachtete sie. »Genau, hier entlang.« Sie setzten sich wieder in Bewegung und erreichten eine weitere Tunnelkreuzung. Die Laute, die der Spürzauber von sich gab, hörten nicht mehr auf. In das Heulen mischte sich das Glucksen und Schnüffeln des Wesens. »Weißt du überhaupt, was du tust?«, fragte Serrah. »Hab ein wenig Geduld.« Er sah noch einmal auf die Karte. »Wenn das hier stimmt, dann müssten wir ...« »Reeth«, flüsterte sie. »Was ist?« »Hinter uns ...« Er drehte sich langsam um. 530 Der Spürzauber näherte sich. Er schwebte direkt unter der Decke, die Tentakelarme tasteten den Tunnel ab, während er sich bewegte. Die schwarzen funkelnden Augen waren auf sie gerichtet. »Hier entlang!«, rief Caldason. Sie rannten los, und das Brackwasser spritzte hoch. Der Spürzauber bewegte sich schneller, und sein Körper streckte sich und zog sich zusammen, um die Bewegung zu unterstützen. Die langen Tentakel flatterten hinter ihm wie ein Kometenschweif. Reeth und Serrah rannten jetzt mit höchster Geschwindigkeit. »Wohin wollen wir denn?«, fragte sie. »Wir müssen da rein.« Er deutete auf eine Tür, die in die Tunnelwand eingelassen war. »Hoffen wir, dass sie nicht versperrt ist.« Sie erreichten die Tür und griffen gleichzeitig nach der Türklinke. Die Tür ging auf, und sie stürzten hindurch. Der Spürzauber holte auf. Durch den Türrahmen gesehen, bot er einen entsetzlichen Anblick. Die Tentakel schlängelten sich zum Eingang, die Stielaugen bogen sich, um die Opfer zu mustern. Sie knallten die Tür zu. Auf ihrer Seite gab es Riegel, die sie rasch verschlossen. Sie schnappten nach Luft. »Das wird ihn nicht lange aufhalten«, keuchte Serrah. »Nein. Aber wir haben ein oder zwei Minuten gewonnen.« Er zog wieder die Karte hervor. Der Spürzauber sickerte durch die Spalten der Tür. Weißer Kleister tröpfelte von oben, an den Seiten und unten herein, und es roch nach Bimsstein. 531
»Diese rot gefärbten Bereiche«, erklärte Caldason, indem er auf die Karte tippte, »markieren Stellen, die man meiden sollte.« »Warum das?« »Sie sind gefährlich. Hier unten sammeln sich viele Dämpfe. In diesen roten Bereichen sind sie besonders hoch konzentriert.« Er nickte den Tunnel hinunter. »Da drüben ist ein Zugang zu einem dieser Bereiche.« Serrah wollte etwas erwidern, doch er war schon unterwegs. Sie holte ihn ein. »Wie soll uns das helfen? Spürzauber atmen nicht, falls du daran denkst, ihn auf irgendeine Weise zu vergiften.« »Ich hatte etwas anderes vor.« Abgesehen von einigen Partikeln war der Spürzauber inzwischen durch die Tür gedrungen und formierte sich neu. Sie erreichten eine Falltür, die offenbar nicht verschlossen war. Reeth hockte sich daneben. »Da unten ist ein mehrere hundert Schritt langes Tunnelstück. Laut der Karte gibt es am anderen Ende eine weitere Falltür.« »Aber wie hilft uns das weiter?«, fragte sie noch einmal. Ihrer Stimme war deutlich anzumerken, wie unbehaglich sie sich fühlte. »Wie lange kannst du den Atem anhalten?« »Was?« Er sah sich zum Spürzauber um, der fast vollständig wieder die alte Gestalt angenommen hatte. »Wir haben nicht viel Zeit, also pass gut auf. Das Gas da unten ist aus den Abwässern entstanden. Es ist leicht brennbar. Wenn wir am anderen Ende herauskommen, während der Spürzauber noch hinter uns ist, und dann das Gas zünden ...« 532 »Bist du verrückt?« »Wenn wir hier bleiben, gibt es nur ein denkbares Ende.« »Weißt du denn überhaupt, ob wir durchkommen, ohne zu ersticken?« »Nein.« »Oder ohne von dem Zeug zu erblinden?« »Nein, eigentlich nicht.« »Oder ob die Falltür am anderen Ende nicht versperrt ist?« »Keine Ahnung.« Sie holte tief Luft. »Also los.« Er riss ein Stück Stoff aus seinem Hemd und zerteilte es in zwei Stücke. Die Fetzen tauchte er in das nicht ganz so schmutzige Wasser, das hier von den Wänden tröpfelte. Ein Stück reichte er Serrah. »Halte dir das vors Gesicht, es müsste einen Teil der Gase abhalten.« »Bäh.« »Lass uns rennen.« Er packte den Griff der Falltür. »Warte mal ... Wie zünden wir das Gas?« Reeth schob die Hand in die Hosentasche und zog einen der Zünder heraus, die sie auch im Archiv gelegt hatten. »Ich dachte, die brauchen zwanzig Minuten Vorlauf.« »Ich habe ihn schon in Gang gesetzt.« »Wann?« »Als wir den Spürzauber gehört haben. Ich dachte, der Zünder wäre vielleicht nützlich. Ich kann ihn ja jederzeit wegwerfen.« »Reeth, wie lange ist es eigentlich her, dass wir den Spürzauber zum ersten Mal gehört haben?« 533 »Ich habe nicht richtig darauf geachtet.« »Oh, wie reizend.« »Es gibt übrigens noch einen wichtigeren Grund, nicht zu trödeln. Schau nur.« Der Spürzauber hatte sich wieder zusammengesetzt und eilte ihnen hinterher. »Bei den Göttern, Reeth, ich hasse dich dafür.« »Los jetzt.« Er packte den Ring der Falltür. Sie holten tief Luft und drückten sich die feuchten Tücher vor Mund und Nase. Die Falltür war eingerostet und schwer, und es kostete sie eine gewisse Anstrengung, sie zu heben. Sobald sie offen stand, drang eine übel riechende, giftige Gaswolke heraus. Reeth und Serrah hatten schlagartig Tränen in den Augen, als sie hinunterkletterten. Über ihnen fiel die Klappe mit einem Knall wieder zu. Trotz der Leuchtzauber, die sie als Anhänger trugen, konnten sie kaum die Hand vor Augen sehen. Der Tunnel war eng, und sie mussten auf Händen und Knien kriechen. Der Spürzauber erreichte gerade die Falltür und schickte sofort einige Stränge seines milchigen Körpers aus, um sie zu untersuchen. Die Klappe passte genau in die Öffnung, und die Spalten ringsherum waren fast nicht zu sehen. Das hielt den Spürzauber aber nicht auf. Er suchte sich einen winzigen Spalt und drang hindurch. Reeth und Serrah kamen unterdessen nur langsam voran. Die Dämpfe waren so dicht, dass sie das Gefühl hatten, sich durch eine ätzende Flüssigkeit zu bewegen. Hätte es mehr als eine mögliche Richtung ge534
geben, dann hätten sie sich im Handumdrehen verirrt. Ihre Haut juckte und war gereizt. Nicht weit hinter ihnen strömte der Spürzauber in den Tunnel. Trotz der kleineren Öffnung drang er viel schneller ein als bei der Tür. Spürzauber waren fähig, aus Erfahrung zu lernen und ihr Verhalten anzupassen. Der Zauber, der sie erschuf, war darauf ausgerichtet, möglichst effiziente Jäger und Mörder zu erzeugen. Serrahs Lungen platzten beinahe. Sie konnte Reeth, der vor ihr kroch, kaum noch sehen. Sie überlegte, welche Todesart die wahrscheinlichste sei. Vermutlich holte sie gleich der Spürzauber in diesem schrecklich engen Tunnel ein. Oder sie stellten fest, dass die zweite Falltür verriegelt war, und mussten im Gas ersticken. Die Vorstellung zu sterben war ihr gar nicht so fremd, aber sie hatte gewisse Vorbehalte hinsichtlich der Todesart. Angesichts der augenblicklichen Möglichkeiten wäre es ihr am liebsten gewesen, wenn der Zünder sich aktiviert hätte. Sie fragte sich beiläufig, ob das wohl ausreichen würde, um Reeth umzubringen. Der Spürzauber verkündete seinen Sieg über die Falltür mit einem schrecklichen Heulen. Unbeeindruckt vom Gas und unbehindert von der schlechten Sicht nahm er die Verfolgung wieder auf. Das Heulen des Spürzaubers war in dem engen Gang ohrenbetäubend laut. Es hallte ringsum, als würde ein Stein in einem Metalleimer geschüttelt. Serrah konnte den Kopf gerade weit genug drehen, um im Tunnel zurückzuschauen. Sie rechnete nicht damit, etwas zu sehen, doch trotz des dichten Dunstes erspähte sie das Glühen des Wesens, das sie verfolgte. 535 Reeth bewegte sich schneller, und sie bemühte sich, sein Tempo zu halten. Ihre Schienbeine und Handflächen waren wund, und der enge Raum weckte den Wunsch in ihr zu schreien. Der Spürzauber heulte indessen so laut, dass Serrah glaubte, er müsse ihr direkt auf den Fersen sein. Sie erwog die Möglichkeit, sich selbst die Kehle durchzuschneiden, um ihn um seine Beute zu betrügen. Reeth hielt an, und sie wäre beinahe gegen ihn geprallt. Er richtete sich auf, was nur bedeuten konnte, dass sie das Ende des Tunnels erreicht hatten. Serrah betete, dass sie hier herauskommen würden. Sie konnte keinesfalls noch länger die Luft anhalten. Plötzlich war Reeth oben und streckte die Hand zu ihr aus. Sie kletterte hoch, tastete mit den Füßen nach einem Halt und verließ endlich das Loch. Er zog sie ganz nach oben. Serrah schnappte nach Luft, in ihren Augen standen die Tränen. Drunten tauchte der bleiche Körper des Spürzaubers auf. Die Fühler tasteten nach der Öffnung. Reeth zog den Zünder aus der Tasche und warf ihn dem anrückenden Spürzauber entgegen in den Tunnel. Dann knallte er die Luke zu und sie legten sich beide darauf. Sie rechnete damit, dass der Aufprall den Zünder aktivierte, doch nichts geschah. Sie blieben schwer atmend auf der Klappe liegen. Der Spürzauber schob sich unter die Klappe und suchte sich einen Weg. Geduldig forschte er, denn die unerbittliche Entschlossenheit war ebenso ein Teil seiner Natur wie der Blutdurst. Ein greller Blitz erhellte den Tunnel, und gleich darauf stand der ganze untere Gang in Flammen, die 536 mit der Heftigkeit eines Hochofens brannten. Der Spürzauber wurde von der Explosion und der Hitze in Atome zerlegt, verzehrt und pulverisiert. Die Wucht der Explosion hob sogar die Falltür, obwohl Serrah und Reeth noch darauf lagen. Ein stechender Geruch hing in der Luft. Sie blieben eine Weile still liegen. Als sie schließlich aufstanden, sagte Serrah: »Verdammt, bring mich irgendwo hin, wo ich den Himmel sehen kann.« Devlor Bastorran und seine Truppe hatten sich lange vor der Explosion aus dem Keller des Schulhauses zurückgezogen. Ein atemloser Bote war gekommen. »Herr, das Archiv steht in Flammen! Auf den Straßen brechen Unruhen aus! Der Oberste Clanchef will, dass Ihr die Massen wieder unter Kontrolle bringt.« »Diese Bastarde vom Widerstand. Verdammt sollen sie sein! Also gut, alles raus hier!« »Was ist mit dem Spürzauber, Herr?«, fragte der Magier schüchtern. »Wenn da unten noch Rebellen gewesen wären, dann hätte er sie längst erwischt, oder? Wir sind dieses Mal zu spät gekommen, und es ist sinnlos, hier noch mehr Zeit zu vergeuden.« So verließen sie das Gebäude. Sie waren noch nicht sehr weit gekommen, als Reeth den Kopf aus der Grube steckte. Da die Luft rein war, stiegen er und Serrah heraus. »Du hast ja keine Ahnung, wie gut es sich anfühlt, aus diesem Dreckloch herauszukommen«, sagte sie und reckte sich. 537 »Ich habe den Aufenthalt da unten auch nicht gerade genossen, aber wir sind noch nicht in Sicherheit. Wenn dieser Spürzauber gezielt auf uns angesetzt wurde und kein Verteidigungszauber war, den wir versehentlich ausgelöst haben, dann wissen sie, dass wir die Kanalisation benutzt haben.« »Warum sind dann keine Wächter hier?« »Vielleicht haben sie sich darauf verlassen, dass der Spürzauber die Arbeit erledigt.«
»Das klingt vernünftig, und es entspricht ihrer Vorgehensweise.« Sie schwieg einen Moment. »Das war ein kluger Schachzug, Reeth, auch wenn ich dabei um ein Jahrzehnt gealtert bin.« »Dein Alterungsprozess ist vermutlich noch lange nicht zu Ende. Wir müssen immer noch hier heraus und ein sicheres Haus erreichen.« »Reeth, was ist, wenn der Spürzauber schon im Tunnel war, als Kutch und die anderen dort unterwegs waren?« »Dieser Gedanke ist mir auch gekommen. Aber wenn die Spürzauber mit ihren Opfern fertig sind, bleiben die ausgesaugten Leichen zurück. Wir haben da unten jedoch nichts dergleichen gefunden.« »Das heißt aber nicht, dass ...« »Nein. Es gibt allerdings nichts, was wir jetzt noch tun könnten. Wir müssen uns darauf konzentrieren, selbst herauszukommen.« »Genau. Und sobald wir draußen auf der Straße sind, sollten wir uns trennen.« »Einverstanden. Bist du bereit?« Sie schlichen aus dem Keller nach oben. Die Treppe und die Flure, durch die sie kamen, waren verlassen. Doch es sah ganz anders aus, als sie die offene Außentür erreichten und nach draußen blickten. 538 Die Straße selbst, ein breiter Boulevard, war voller Menschen, die den Freiheitstag gefeiert hatten. Die Stimmung war jedoch umgeschlagen, seit Gerüchte über die Unruhen, die mehrere Straßen entfernt ausgebrochen waren, bis hierher vorgedrungen waren. Die Menschen waren immer noch aufs Vergnügen aus, doch ihr Vergnügen war im Begriff, Formen anzunehmen, die der Staat nicht vorgesehen hatte. Milizionäre versuchten die Leute unter Kontrolle zu halten. Beunruhigender für Reeth und Serrah war allerdings die Gruppe Paladine auf der Treppe des Schulgebäudes. Einer war ein hochrangiger Kommandant. »Was jetzt?«, überlegte Caldason. »Schau zur Straße. Siehst du die Pferde da vor dem Wagen? Wahrscheinlich ist nur ein Mann als Wache dort geblieben.« »Heute ist kein guter Tag zum Reiten.« »Wir werden einen ordentlichen Vorsprung bekommen, wenn wir uns in der Menge verstecken können.« »Was ist mit denen da?« Er nickte zu den Paladinen hin. »Das Einfachste ist oft das Beste.« »Dann los.« Sie rannten die Steintreppe hinunter, stießen mitten in die Gruppe der Rotjacken und ließen sie auseinander fahren. Dann rannten sie zu den Pferden. Die Paladine verfolgten sie, doch andere liefen den Ordnungshütern in den Weg, um sie aufzuhalten. Serrah erreichte die Pferde als Erste. Der Kutscher sprang mit gezogenem Schwert vom Sitz herunter, um sie anzugreifen. Aus dem vollem Lauf heraus warf sie zielsicher ein Messer nach dem Mann, das in seiner 539 Schulter stecken blieb und ihn zur Seite taumeln ließ. Der Weg war frei. Sie packte die Zügel eines Pferds, schob den Stiefel in den Steigbügel und stieg auf. »Los!«, rief sie. Reeth war ein paar Schritte hinter ihr. »Verschwinde! Ich komme nach!« Sie zögerte kurz, dann gab sie ihrem Pferd die Hacken und galoppierte ins Gedränge der Müßiggänger hinein. Einige berittene Paladine nahmen die Verfolgung auf, was von der Menge mit lautem Geschrei als willkommene zusätzliche Unterhaltung aufgefasst wurde. Als Reeth auf ein Pferd stieg, schoss einer der ihn verfolgenden Milizionäre einen Pfeil auf ihn ab, der den Kopf des Pferds knapp verfehlte. Unverletzt, aber verschreckt stieg das Pferd, und Reeth rutschte auf die Ladefläche des offenen Wagens. Er kam unglücklich auf, quetschte sich die Rippen und wand sich vor Schmerzen. Als er sich wieder aufrichtete, sprang neben ihm jemand auf den Wagen. Es war der Paladin-Kommandant, der bereits sein Schwert gezogen hatte. Reeth zog rasch die eigene Waffe und fing den Angriff ab. Im Kampfgetümmel traf ein ausholender Hieb des Paladins den Hebel der Handbremse. Die vier Pferde stampften ohnehin schon nervös, weil der Lärm sie beunruhigte. Als die Bremse sich löste, gab es einen Ruck, und der Wagen schwankte. Begleitet vom Gebrüll der Menge, gingen die Pferde durch. 540 Die verstörten, führerlosen Kutschpferde rannten in vollem Galopp. Müßiggänger, Paladine und Milizionäre wichen erschrocken aus. Hinten auf dem Wagen fochten Caldason und Devlor Bastorran einen erbitterten Kampf aus. Caldason hatte keine Ahnung, wer sein Gegner war, doch er entdeckte bald, dass er einen Schwertkämpfer von seltenem Können vor sich hatte. Selbst unter den widrigen Umständen, auf einem von durchgehenden Pferden gezogenen Wagen, wusste der Paladin mit hervorragender Geschicklichkeit und beachtlicher Wendigkeit zu kämpfen. Auch legte er eine gewisse Sorglosigkeit an den Tag, die Reeth als grundlegendes Merkmal seines Fechtstils auffasste. Gute Kämpfer neigten dazu, sich selbst zu überschätzen, und dies konnte sich leicht gegen sie wenden.
Doch eine Voraussetzung dafür war, dass der Wagen mit den durchgehenden Pferden nicht verunglückte, was freilich mit jeder Minute wahrscheinlicher wurde. 541 Sie fuhren durch ein Schlagloch, und die Räder hoben sich kurz vom Boden ab. Beide Männer mussten sich mit der freien Hand festhalten. Mit einem Krachen, das ihnen durch alle Knochen fuhr, kam der Wagen wieder herunter, und sofort kämpften sie weiter. Der Paladin ließ eine Serie von Schlägen los, die Reeth nur unter Aufbietung all seiner Geschicklichkeit abwehren konnte. Er konterte mit einer Reihe harter Streiche, die jeden schwächeren Gegner sofort zu Boden gestreckt hätten. Der Kampf nahm an Verbissenheit zu. Ein berittener Paladin tauchte neben ihnen auf. Er passte seine Geschwindigkeit dem durchgehenden Gespann an und versuchte, die Tiere aufzuhalten. Doch die Geschwindigkeit, die holprige Straße vor ihnen und die panischen Zugpferde, alles hatte sich gegen ihn verschworen. Er beugte sich zu weit hinüber und verlor die Kontrolle über sein eigenes Pferd. Es bockte vor Angst und warf ihn aus dem Sattel. Der Paladin stürzte und überschlug sich. Sein Schrei verlor sich hinter dem Wagen. Das Pferd machte einen Satz und rannte ins Menschengedränge davon. Unaufhaltsam raste der Wagen dem stärker belebten Stadtzentrum entgegen. Die Menschenmassen und die vielfältigen Geräusche erschreckten die Pferde noch mehr. Eine dicke Rauchsäule stieg im Stadtzentrum auf und markierte die Stelle, an der das brennende Archiv stand. Reeth und der Paladin kämpften weiter. In der Kunst des Schwertkampfes waren sie einander eben542 bürtig. Beide versuchten es mit immer komplizierteren Kombinationen von Stößen und Paraden, doch keiner vermochte die Abwehr des anderen zu durchdringen. Die Hiebe und Schläge wurden wilder und wilder geführt. Fußgänger wichen schreiend aus, als der führerlose Wagen sich näherte. Exotische, absonderliche oder aber ganz gewöhnliche Zauber, denen kein Gefühl für den Selbstschutz eingegeben war, wichen häufig zu spät aus; die Pferde rannten mitten durch sie hindurch und zerfetzten die Erscheinungen zu schimmernden Staubwolken, die mit goldenen Explosionen in sich zusammenfielen. Die teureren Modelle bildeten sich danach neu. Auch Bastorran wusste nicht gleich, gegen wen er kämpfte, doch da sein Gegner offensichtlich ein Qalochier war und hervorragend mit dem Schwert umzugehen verstand, konnte er sich seinen Teil denken. Die Möglichkeit, dass er Caldason vor sich hatte, spornte ihn zu noch größerer Anstrengung an, und er scherte sich einen Teufel um die besonderen Befehle, die eigens für diesen Mann ausgegeben worden waren. Die Welt raste verschwommen vorbei, im allgemeinen Lärm waren keine einzelnen Geräusche mehr zu unterscheiden. Voraus marschierte eine Kapelle von einer Straßenseite zur anderen. Als die Musiker die durchgehenden Pferde sahen, flohen sie. Viele ließen ihre Instrumente einfach fallen. Der Wagen rumpelte durch die beiseite springenden Musikanten, zerdrückte Lauten und Pfeifen mit seinen Rädern und ließ die Trommeln in alle Richtungen rollen. Offenen Mundes und die Fäuste 543 schüttelnd, gafften die Menschen dem Wagen hinterher. Schreie und Verwünschungen wurden gegen die rasch verschwindende hintere Klappe gerichtet. Die Schwerter der Kämpfenden blitzten, obwohl die Klingen wegen der Schlaglöcher immer wieder vom vorgesehenen Weg abkamen. Für die Kämpfer gab es nichts außer ihrem Kampf. Er war das Zentrum ihrer Welt, ganz egal wie turbulent es in der Umgebung zuging und wie verzweifelt ihre Auseinandersetzung wurde. Sie kämpften und kämpften, Stahl hämmerte auf Stahl, und der Schweiß stand beiden Männern auf der Stirn. Die Gespannpferde hatten mittlerweile Schaum vor den Mäulern. Als es durch einen kleinen Park ging, sprangen Spaziergänger um ihr Leben, Picknickdecken wurden zerfetzt, und Erdklumpen flogen links und rechts davon. Dann bog der Wagen in eine schmale Straße ein und hüpfte und polterte über die Pflastersteine. Mütter rissen ihre Kinder von der Straße, Passanten drückten sich an die Wände. Hier ragten Fahnen aus den oberen Fenstern. Reeth und Bastorran mussten sich im Kampf immer wieder ducken, damit sie nicht von den Stangen getroffen wurden. Die hängenden Stoffbahnen klatschten ihnen um die Ohren. Als Nächstes schwenkte der Wagen in eine breite Straße ein und näherte sich einer Parade, deren Pferdewagen überlebensgroße Karikaturen imperialer und bhealfanischer Edelleute trugen. Einer der Wagen, auf dem eine riesige, aus Holz und Pappmache angefertigte Nachbildung des Kopfes von Prinz Melyobar zu sehen war, blockierte dem durchgehenden Pferdegespann den Weg. 544 Instinktiv bogen die Tiere ab und wichen dem anderen Wagen aus, doch ihr eigener Wagen traf die Kante des anderen, und dies reichte aus. Der vornehmste Kopf der Nation löste sich aus der Verankerung und kollerte auf die Straße, rollte weiter zwischen die Zuschauer und legte einen Teil von ihnen um wie Kegel. Immer noch fuhr der Wagen weiter, und ein Trupp berittener Paladine und Gesetzeshüter folgte ihm. Die Fahrgäste aber gingen auf der Ladefläche unbeeindruckt ihrer Rauferei nach. Sie schössen die breite Straße hinunter, pflügten eine Schneise durchs Gedränge der Zuschauer und prallten mit Aufbauten und Kutschen zusammen. Besonders tapfere, dumme oder betrunkene Menschen liefen gelegentlich vor den Wagen und wollten ihn mit erhobenen Armen anhalten.
Am anderen Ende der Straße befand sich Bhealfas Königliches Münzamt. Die Straße machte direkt vor dem Gebäude einen scharfen Knick. Ob der Wagen dieser Kurve folgen würde, war zweifelhaft. Selbst Reeth und Bastorran erkannten die Gefahr. Ihr Hauen und Stechen ging unvermindert weiter, doch sie warfen immer wieder besorgte Blicke nach vorn. Das panische Pferdegespann raste unbeirrt weiter. Vor ihnen ragte das nüchterne Gebäude des Münzamts auf. Im allerletzten Augenblick bogen sie ab, doch der Richtungswechsel kam zu schnell und zu abrupt. Eine Seite des Wagens hob sich vom Boden ab und zwang die Kämpfenden, sich festzuhalten. Einige Sekunden fuhr der Wagen auf zwei Rädern, dann kippte er um und krachte auf die Straße. Caldason und Bastorran 545 sprangen halb hinunter und wurden halb hinuntergeworfen. Die Pferde waren jetzt frei und rannten weiter und schleiften die Reste des Geschirrs hinter sich her. Reeth stürzte auf die Straße und rollte sich ab. Benommen und blutend richtete er sich wieder auf. Der Paladin lag näher am zerstörten Wagen, er regte sich nicht. Ein kleines Heer berittener Verfolger hatte den Ort des Geschehens beinahe erreicht. Reeth humpelte ins Gedränge der Gaffer und verbarg sich in der Menge. Freundliche Hände halfen ihm und schoben ihn weiter. Serrah hatte es leichter. Sie wurde mehrere Straßen weit gehetzt, doch sie hatte keine Schwierigkeiten, die Verfolger abzuschütteln. Bei der erstbesten Gelegenheit band sie das Pferd an ein Geländer und versteckte sich in der Menge. Vergebens wartete sie eine Weile auf Caldason. Sie wusste nicht, dass er in die entgegengesetzte Richtung geflohen war. Schließlich gab sie es auf und beschloss, sich allein auf den Weg zu Karrs Haus zu machen. Sie konnte nur hoffen, dass Reeth schon dort war. Es war ein weiter Weg bis zu ihrem Ziel, und das Gedränge auf den Straßen machte es ihr nicht leichter. Serrah war noch nicht lange in Bhealfa und kannte hier kaum einen Menschen. Die Wahrscheinlichkeit, einen ihrer wenigen Bekannten in einer solchen Menschenmenge zu treffen, war äußerst gering. Doch als sie sich durch das Gewimmel auf der Straße drängte, spürte sie auf einmal eine leichte Berührung auf der Schulter. Sie legte die Hand ans 546 Schwert und drehte sich um. Sie rechnete mit Anschuldigung, Enttarnung, Verhaftung. Doch stattdessen stand Tanalvah vor ihr. »Was machst du denn hier?«, platzte sie heraus. Tanalvah lächelte. »Das könnte ich dich auch fragen.« Sie beugte sich vor. »Ist alles gut gegangen?«, flüsterte sie. »Ja. Ich habe aber irgendwo in diesem Durcheinander Reeth verloren.« »Der kann schon selbst auf sich aufpassen.« Sie sah Serrah von oben bis unten an. »Ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber du siehst ziemlich erhitzt und gehetzt aus.« »Ich bin ja auch direkt von einem heißen Ort hierher gerannt.« »Ich verstehe. Vielleicht solltest du dich etwas säubern, bevor du weitergehst. Und es ist sicher auch empfehlenswert, wenn du so schnell wie möglich von der Straße verschwindest.« »Was schlägst du vor?« »Ich wollte gerade dort hinein.« Sie nickte zu einem Tempel. Es war ein beeindruckender Bau, den man der gesamten Götterhierarchie und keinem Einzelgott geweiht hatte. »Da drin kannst du dich erfrischen. Kinsel wird mich nachher mit der Kutsche abholen, aber die Götter wissen, wann er in diesem Tumult dazu kommt. Wir können dich dann mit zurücknehmen.« Serrah blickte zum Tempel. »Gut.« Sie kannte Tanalvah nicht besonders gut, aber irgendwie war sie trotzdem froh, sie getroffen zu haben. Sie bahnten sich einen Weg durchs Gedränge und betraten das Tempelgelände. 547 Serrah hatte seit Jahren keinen Fuß mehr in einen Tempel gesetzt. Nicht mehr, seit sie Eithne verloren hatte. Hinter den Toren lag ein Innenhof, der Tempel selbst stand ein Stück weiter zurück. Auch hier waren viele Menschen unterwegs. Große Feiertage wecken mitunter auch die religiösen Gefühle der Menschen. Im Hof gab es mehrere Brunnen. Mit einem galanten Taschentüchlein, das Tanalvah ihr zur Verfügung gestellt hatte, reinigte Serrah sich Hände und Gesicht. Sie war nicht die Einzige, die sich hier säuberte, und so achtete kaum jemand auf sie. Tanalvah sah ihr schweigend zu. »Glaubst du eigentlich an Zufälle?«, fragte sie schließlich. »Ich weiß nicht. Eigentlich habe ich noch nie so richtig darüber nachgedacht.« »Ich glaube nicht daran. Ich glaube, dass uns die Götter manchmal genau das geben, was wir brauchen. Wir müssen es nur erkennen. So bewerte ich beispielsweise auch die Tatsache, dass Kinsel und ich zusammengekommen sind.« »Was willst du mir damit sagen?« »Dass wir uns vor diesem Tempel hier unter all den vielen Menschen in einer Stadt von der Größe Valdarrs getroffen haben, ist doch wirklich ein seltsamer Zufall, findest du nicht?«
»Das Leben ist voller zufälliger Begegnungen und zufälliger Ereignisse.« »Wenn du es so sehen willst, na gut, aber wenn du diese Dinge als Zeichen und als Gelegenheiten erkennst ...« »Meinst du wirklich, es sei eine Art Zeichen gewesen, dass wir uns über den Weg gelaufen sind?« 548 »Du musst es mir sagen, wenn ich zu aufdringlich werde. Aber schon als ich dich zum ersten Mal sah, kam es mir so vor, als wäre viel Traurigkeit in dir. Ich dachte das schon, bevor ich überhaupt etwas über dich wusste. Jetzt, da ich ein wenig mehr über deine Vergangenheit weiß, glaube ich zu erkennen, was deine Bürde ist.« Gewöhnlich hätte Serrah Tanalvahs Mitgefühl abgewehrt, doch in diesem Moment drangen die Worte zu ihr durch. Das allein war in Serrahs Augen schon ein halbes Wunder. Sie hatte, besonders in den letzten Tagen, oft über Eithne nachgedacht. Ihre Tochter tauchte im Wachzustand wie im Traum immer wieder in ihren Gedanken auf. »Komm mit«, bot Tanalvah an und deutete zum Tempel. »Nein, lieber nicht...« »Ich habe festgestellt, dass es hilft. Erzähle es den Göttern, wenn es anders nicht geht. Und wenn sonst nichts dabei herauskommt, dann findest du wenigstens ein bisschen Ruhe.« Aus irgendeinem Grund, vielleicht nur, weil Tanalvah sie in einem empfänglichen Augenblick angesprochen hatte, willigte Serrah ein. »Also gut.« Sie betraten den Tempel. Er war riesig; die große Halle war in verschiedene Abschnitte unterteilt, deren jeder einer bestimmten Gottheit vorbehalten war. Die Seitenschiffe hatten ihre eigenen Altäre, einige waren geschmückt und andere schlicht, und jede Gottheit wurde auf einem erhöhten Podium durch einen Zauber dargestellt. Dicke Weihrauchwolken hingen in der Luft. »Ich folge Iparrater«, erklärte Tanalvah. »Ich habe festgestellt, dass sie mir Trost schenkt. Hast du auch eine Lieblingsgottheit?« 549 Serrah schüttelte den Kopf. »Meine Göttin ist für alle da, die unsicher sind und sich verloren fühlen. Es gibt sicher Schlimmeres, als ihr deine Last anzuvertrauen.« Serrah zuckte mit den Achseln. Für sie war eine Gottheit so gut wie die andere, sofern sie überhaupt zu irgendetwas gut waren. Sofort bedauerte sie, an diesem heiligen Ort einen so ketzerischen Gedanken gehabt zu haben. Auch diese Reaktion überraschte sie selbst. Es war wie ein Sprung zurück in die Kindheit, eine Rückbesinnung auf ihre Erziehung. Tanalvah wandte sich ergeben an Iparrater und kniete zum Gebet nieder. Serrah kam sich linkisch vor und blieb einfach stehen. Sie starrte das verschleierte Antlitz der Göttin an. Als Tanalvah ihr Gebet gesprochen hatte, stand sie auf und ging zum kleinen Steinorakel an der Seitenwand der Kapelle. Sie legte eine Münze in die Schale und schob die Hand in den Weissagungsschlitz. Im Gegensatz zu dem Orakel, das sie aus Jecellam kannte, gab dieses hier seine Prophezeiungen auf kleinen Karten mit Goldschnitt aus. Als ihre Karte aus einem Schlitz gerutscht kam, las sie sorgfältig den Text und steckte die Karte ein. Sie bemerkte, dass Serrah sie beobachtete. »Du kannst hier auch um Rat bitten.« »Ich habe keine Münzen dabei.« »Hier.« Lächelnd gab sie ihr eine. »Es hilft, wenn du an eine Frage denkst, während du es tust.« »Danke.« »Mach du nur. Ich warte hier, wenn du mich brauchst.« 550 Serrah war abermals verunsichert. Sie wusste im Grunde gar nicht genau, warum sie sich überhaupt darauf einließ. Trotzdem legte sie die Münze in die Schale. Zu allem Überfluss hatte sie keine Ahnung, was sie fragen sollte. So schloss sie die Augen und hoffte, ihr werde etwas einfallen. Sofort kam ihr ein Gedanke. Ihre Frage lautete: Werde ich je von meiner Verzweiflung befreit werden? Sie schob die Hand in den Schlitz. Als ihre Karte herauskam, las sie die kurze und präzise Antwort. Sie starrte lange darauf. Tanalvah gesellte sich wieder zu ihr, und als sie Serrahs Gesichtsausdruck sah, sagte sie: »Ich weiß nicht, was du gefragt hast, aber manchmal sind die Antworten nicht das, was sie zu sein scheinen. Meine eigene Frage in Bezug auf Kinsel hat zu einer sehr unklaren Antwort geführt. Oft dauert es eine Weile, bis man es versteht.« »Ja«, antwortete Serrah leise. Sie steckte die Karte weg. Danach sagte sie überhaupt nichts mehr, abgesehen von einigen einsilbigen Antworten auf Tanalvahs Fragen, die sich bemühte, ein Gespräch zu beginnen. Auch als Kinsel sie abholte und auf dem ganzen Rückweg zu Karrs Haus blieb sie verschlossen. Sie hüllte sich in Schweigen und sagte kaum ein Wort. Reeth traf eine Weile nach Serrah in Karrs Versteck ein. Man sagte ihm, sie sei auf ihr Zimmer gegangen und wolle nicht gestört werden. Er war froh, Kutch wohlbehalten vorzufinden. Karr gesellte sich zu ihnen, und Caldason erzählte, was sich im Archiv zugetragen hatte. 551 »Sie konnten nur von dem bevorstehenden Überfall wissen, wenn sie über interne Informationen verfügten«,
erklärte der Patrizier. »Wir wissen, dass wir Spione in unseren Reihen haben, doch dies deutet auf eine hoch gestellte Quelle hin. Wir müssen die Sache untersuchen, und zwar ohne Verzögerung.« »Aber das erklärt nicht das Fehlen meiner Akte, oder?«, warf Caldason ein. »Ich meine, wenn sie wussten, dass wir ins Archiv einbrechen wollten ...« »Sie hätten Eure Akte nicht einfach zerstört, sondern sie hätten drinnen auf Euch gewartet.« »Genau.« Karr runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, Reeth, diese Sache scheint tiefer zu greifen, als ich es im Augenblick ermessen kann.« »Habt Ihr Reeth schon von Devlor Bastorran erzählt?«, wollte Kutch wissen. »Was meinst du damit?«, fragte Caldason. »Der Paladin, gegen den Ihr auf dem Wagen gekämpft habt«, sagte Karr, »war kein Geringerer als der jüngere Bastorran. Der vorbestimmte Nachfolger des Obersten Clanchefs.« »Ich fühle mich geschmeichelt. Er war ein verdammt guter Kämpfer, das muss ich ihm lassen.« »Glaubt mir, jetzt wird er erst recht Euer unversöhnlicher Feind sein. Anscheinend ist er schwerer gestürzt als Ihr, aber er wird bald wieder auf den Beinen sein. Und dann müsst Ihr wirklich um Euer Leben fürchten.« Seine Miene hellte sich ein wenig auf. »Wie auch immer, ich glaube, wir können die Mission als Erfolg verbuchen. Und dein Beitrag, Kutch, war besonders wertvoll.« »Danke, Herr.« 552 »Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen wollt, ich habe viel zu tun«, sagte Karr. »Kommt doch später zu uns aufs Dach, dann können wir auf den Erfolg des Tages anstoßen.« An der Tür blieb er noch einmal stehen. »Ich habe einige Neuigkeiten zu verkünden, also verpasst es nicht.« Als er gegangen war, sagte Reeth: »Er hat schon Recht, Kutch. Du hast dich wirklich gut geschlagen. Ich bin stolz auf dich.« »Danke, Reeth.« »Warum schaust du so finster drein? Du solltest dich eigentlich freuen.« »Ich freue mich auch. Es ist nur ... es gibt etwas, das ich Euch sagen wollte. Nein, eigentlich wollte ich Euch um Rat bitten. Ich will schon seit mehreren Tagen mit Euch darüber reden. Dies ist das erste Mal, dass ich Euch allein und nicht mit anderen Dingen beschäftigt antreffe.« »Du hast meine volle Aufmerksamkeit. Was ist los?« »Es hat irgendwie mit dem Aufklären zu tun.« »Du weißt, was ich von der Magie halte, und ein Fachmann bin ich sowieso nicht. Vielleicht solltest du mit Phönix reden.« »Das werde ich auch tun. Ich muss aber gestehen, dass ich es vor mir hergeschoben habe. Ich fürchte, er könnte meine Ausbildung abbrechen.« »Also gut. Was es auch ist, erzähle es mir.« »Es ist schwer zu erklären. Ich habe einige Male, wenn ich das Aufklären geübt habe, etwas ... ich habe etwas gesehen.« »Das ist doch auch der Sinn der Sache, oder?« »Nein, ich meine nicht, dass ich etwas durch die Magie gesehen habe. Es war eher so, dass ich einen 553 flüchtigen Einblick ... in etwas ... in eine andere Welt dahinter bekommen habe.« Jetzt war Caldasons Neugier erwacht. »Erzähle mir alles, was du noch weißt.« Kutch erzählte es ihm. So erschüttert hatte der Junge Caldason noch nie erlebt. >Erschüttert< - das war das richtige Wort dafür. »Was ist denn los, Reeth?«, flehte er. »Was ist los? Liegt es an irgendetwas, das ich gesagt habe?« »Es liegt an allem, was du gesagt hast.« »Das verstehe ich nicht.« »Mit dem, was du gerade beschrieben hast, bin ich sehr vertraut.« Er starrte dem Jungen in die Augen. »Kutch, du siehst meine Träume.« »Was?« Irgendwo im Haus erklang ein Schrei. Sie sprangen auf und rannten zur Tür. Als Caldason sie öffnete, stand Tanalvah schon davor. Sie schien völlig aufgelöst. »Schnell!«, flehte sie. »Serrah! In ihrem Zimmer! Sie ...« Reeth drängte sich an ihr vorbei, Kutch folgte auf dem Fuße. Sie rannten den Flur hinunter, bogen um eine Ecke und erreichten die offene Tür. Serrah hatte sich erhängt. Das dicke Seil, das ihren Hals umschlang, war an einem Deckenbalken befestigt. Auf dem Boden lag ein umgekippter Stuhl. »Ihre Beine!«, rief Reeth. »Heb die Beine an und fange ihr Gewicht ab!« Kutch gehorchte sofort. Caldason stellte den Stuhl wieder auf, sprang darauf und schnitt das Seil mit seinem Messer durch. Serrahs schlaffer Körper fiel herunter, und Kutch hatte Mühe, ihn zu halten, bis 554
Reeth ihm half und einen Teil des Gewichts übernahm. Sie legten sie aufs Bett. »Serrah!«, rief Reeth, während er ihr einige Ohrfeigen versetzte. »Serrah!« Weitere Menschen drängten sich in den Raum. Sie hatten Tanalvahs Schrei gehört. »Ich wollte doch nur helfen«, stöhnte sie. Kinsel kam und tröstete sie. »Dich trifft keine Schuld.« Reeth schüttelte Serrah und klatschte immer wieder mit der flachen Hand auf ihre Wangen, während er ihren Namen rief. Serrahs Augenlider flatterten, sie holte keuchend Luft. Als sie endlich die Augen öffnete und Reeth sah, flüsterte sie: »Mistkerl.« Kutch bemerkte eine kleine Karte mit Goldschnittkante auf dem Boden. Sie war beschriftet. Er bückte sich und hob sie auf. Auf der Karte stand: NICHT IN DIESEM LEBEN. Am Abend versammelten sie sich wie vorgesehen auf dem Flachdach, doch das Treffen verlief erheblich ernster als geplant. Valdarr beging den Freiheitstag mit Feuerzauber. Kometen flogen über den Himmel, goldene Streifen zogen ihre Bahn, und frei schwebende bunte Räder ließen riesige silberne Funken fliegen. Drunten brannte immer noch das Archiv. Das Feuer hatte inzwischen sogar auf mehrere Nachbargebäude übergegriffen. »Ich hatte gehofft, dies sei ein Augenblick, um zu feiern«, erklärte Karr. »Und wir dürfen nicht die Tatsache aus dem Auge verlieren, dass dies trotz aller 555 persönlichen Sorgen und Nöte wirklich ein Anlass zum Feiern ist.« Er blickte zu Serrah. Sie saß abseits für sich allein und starrte zur Stadt. »Wir haben heute einen Schlag gegen die Machthaber geführt. Es scheint nicht mehr als ein Mückenstich auf der Haut unserer Unterdrücker zu sein, aber trotzdem war es ein Sieg.« Sein Blick wanderte von Serrah zu Reeth und zu Kutch, zu Tanalvah und Kinsel. »Ich habe Neuigkeiten für Euch.« Er hielt inne, um die dramatische Wirkung zu erhöhen. Den theatralischen Politiker konnte er offenbar immer noch nicht abstreifen. »Unsere Suche ist vorbei. Wir haben endlich den richtigen Ort für unseren neuen Staat gefunden. Wir unternehmen den ersten Schritt auf einer langen Reise. Es wird nicht leicht werden. Und die Reise wird nicht ohne Schmerzen verlaufen. Aber ich hoffe und bete, dass sie uns die Erlösung bringen wird.« Seine Worte wurden nicht mit Beifallsstürmen aufgenommen, es gab weder Applaus noch Gratulationen. Nur stilles Akzeptieren. Kinsel und Tanalvah suchten gegenseitig Trost in ihren Augen. Kutch schwelgte in Visionen von einem anderen Ort. Serrah kämpfte still mit ihren inneren Dämonen. Reeth Caldason aber blickte gen Norden. 556 DANKSAGUNG Als Dankeschön dafür, dass ein Fremder sich in einem fremden Land etwas weniger fremd fühlen durfte, ist dieses Buch den folgenden Personen gewidmet: den Jungs Mike Chinn, Peter Coleborn, John Howard, Joel Lane und David Surton und den Mädels Jan Edwards, Sue Edwards und Sandra Sutton. Und natürlich Anne, meiner Ehefrau.