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Es geht alles seinen Gang in der Gemeinde Saint-Ponoir im Departement Dordogne. In der Kirche versieht der Abbé sein Amt, in der Kneipe trinkt man seinen Roten, und auch in der Gendarmeriestation gibt es keine besonderen Vorkommnisse. Bis innerhalb eines Tages das gemächliche Leben in dieser ruhigen Gegend völlig durcheinandergerät. Ein pensionierter Oberst erschießt sich, die Frau des Bürgermeisters wird auf fatale Weise mit dem Gendarmen Clochaud ertappt, und der alte Lolliot hat Grund, sich einen ordentlichen Schluck zu gönnen, übersteht diesen letzten Kneipengang nicht und verschwindet zur Krönung der Situation als Toter aus der Leichenhalle. Es wird nötig, daß die Kriminalpolizei erscheint. Wie sich die verfitzten Fäden nun entwirren, beschreibt der Autor sowohl mit Präzision und Übersicht als auch locker, mit Witz und kuriosen Einfällen.
Werner Spengler
Der Leichenraub von Saint-Ponoir
Eulenspiegel Verlag Berlin
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Dieses eBook ist nicht für den Verkauf bestimmt.
2. Auflage © Eulenspiegel Verlag, Berlin • 1981 (1976) Lizenz-Nr.: 540/87/81 • LSV 7001 Umschlaggestaltung: Thomas Schallnau Printed in the German Democratic Republic Satz: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin Gesamtherstellung: LVZ-Druckerei „Hermann Duncker“. Leipzig — 111/18/138 6203516 DDR 4,—M
Jean Marie, Bürgermeister der kleinen Gemeinde SaintPonoir im südwestfranzösischen Departement Dordogne, galt als ein großer Kenner und Verehrer all der Dinge, die das Leben erst zum Genuß werden lassen. Dieser Ruf festigte sich noch, als seine Liebe und Wahl vor etwa einem Jahrzehnt auf die schöne und charmante Claude-Antoinette gefallen war und die damals Fünfundzwanzigjährige ihm vor Gott und dem Altar ewige Treue und Gehorsam schwur. Die blauäugige Blondine mit den üppigen, fraulichen Formen war in seinem Leben die Krönung aller Erfolge geworden. Böse Zungen behaupteten allerdings, daß nur der Besitz und die gutbürgerliche Existenz des Bürgermeisters die schöne Claude-Antoinette zu diesem Schwur verlockt habe. Eines aber galt schon als erwiesen: Der gute Geschmack hatte dem Maire Jean Marie keinen Segen gebracht, weder was den des Gaumens noch den der Wahl seiner Gattin betraf. Übermäßiges gutes Essen sowie die Liebe zum Wein und zu sonstigen geistigen Getränken hatten die Gesundheit und Widerstandskraft des jetzt Fünfundfünfzigjährigen frühzeitig erschöpft und mangelnde Bewegung den Körper des Gourmands aufgeschwemmt und geschwächt. Seit über zwei Jahrzehnten übte Jean Marie neben seinem Trüffelhandel in Saint-Ponoir das Amt des Bürgermeisters aus. Während dieser Zeit, die dem zweiten Weltkrieg folgte, in Paris die Regierungen häufig wechselten, veränderte sich hier nichts: Jean Marie blieb in Amt und Würden und verdankte dies wohl nicht zuletzt dem Umstand, daß der Gemeinderat auf keinen 5
Fall einen so leicht zu lenkenden und zu beeinflussenden Mann verlieren wollte. Geruhsam und eintönig vergingen die Jahre, nichts geschah, was man als ungewöhnlich hätte bezeichnen können. Nun aber waren gleich zwei Ereignisse von nicht alltäglichen Ausmaßen auf einmal über ihn hereingebrochen, deren Auswirkungen er sich nicht gewachsen fühlte. Unter geradezu fatalen Umständen war am Tage zuvor die überaus peinliche Tatsache in der Öffentlichkeit bekannt geworden, daß da noch ein Kenner die Reize der schönen Claude-Antoinette nicht nur zu würdigen, sondern auch zu genießen wußte. Diese Entdeckung ließ die Gemüter und Mäuler des kleinen Ortes nicht zur Ruhe kommen. Keiner aber ahnte, was jener Vorfall noch nach sich ziehen sollte. Benommen saß Jean Marie am frühen Morgen in seinem Lehnstuhl und dachte in seiner Hilflosigkeit darüber nach, was doch das Leben an unangenehmen Überraschungen bereithält. Der über den ehelichen Fehltritt der schönen ClaudeAntoinette erlittene Schock war für ihn schon sehr groß gewesen, als ein weiteres Vorkommnis den jetzt so Schonungsbedürftigen vollends erschütterte. Das, was sich in der vergangenen Nacht auf dem Friedhof der kleinen Gemeinde ereignet hatte, war aber auch so einmalig, so mysteriös, daß man an eine Täuschung der Sinne glauben konnte, und wahrscheinlich wäre auch ein weniger zartbesaiteter Mann unter all diesen Umständen aus dem Gleichgewicht geraten. 6
Nach der unfaßbaren Entdeckung wäre es nun als Bürgermeister seine Pflicht gewesen, den Gendarmerieposten in Excideuil von dem Vorfall in Kenntnis zu setzen. Das aber war das Dilemma, in dem er sich befand: Um keinen Preis hätte Jean Marie sich dazu überwinden können. Chef des kleinen Außenpostens war nämlich der Maréchal des logis de la gendarmerie Charles Clochaud. Wenn Jean Marie einen Menschen haßte, so war es Clochaud. Allein der Gedanke an den Gendarmen verursachte ihm ein derartiges körperliches Unbehagen, daß er auf seinem Rücken kalten Schweiß spürte und das Herz vor übermäßiger Erregung auszusetzen drohte. Er sah ihn im Geiste vor sich, diesen Typ des geborenen Landsknechtes: Nur mittelgroß, aber von ungewöhnlich kräftiger Statur, vermochte Clochaud den ehemaligen Unteroffizier der Kolonialarmee nicht zu verleugnen. Am wenigsten, wenn er, seinen schwarzen Schnurrbart zwirbelnd, prahlend und aufschneidend im Gasthaus „Zur heiteren Catherine“ saß. Die Ledergamaschen konnten die gewölbten Waden nur knapp umschließen, die Hosen spannten sich beängstigend um die prallen Schenkel, und der Uniformrock schien aus den Nähten zu platzen. Der genossene Alkohol, der Eifer des Erzählens und wohl auch die Erinnerungen röteten sein Gesicht und ließen die kleinen Augen gierig glänzen. Die Taten und Erlebnisse, die er aus Indochina und Nordafrika zu berichten pflegte, waren so angelegt, daß die einfältigen Zuhörer vor Schrecken und Entsetzen Mund und Augen aufrissen, ohne allerdings zu bemerken, daß die geschilderten Heldentaten in den 7
meisten Fällen an Wehrlosen begangene Exzesse waren. Ein Bild voller Kraft und strotzender Gesundheit, war der Maréchal des logis in seiner ganzen Erscheinung das Gegenteil von Jean Marie. Doch allein auf jene Äußerlichkeiten gründete sich die Abneigung des Bürgermeisters nicht, sondern vor allem auf den fatalen Umstand, daß die ihm angetraute Claude-Antoinette den männlichen Reizen eines solchen Bramarbas erlegen war. Vielleicht wäre diese Liaison ein Geheimnis geblieben, wäre den beiden Sündern nicht ein Malheur passiert. Durfte man dabei im ersten Moment noch an das Walten eines jener unvorhergesehenen Zufälle glauben, die so oft im Leben Schicksal spielen, so wurde es bald offensichtlich, daß die beiden einem Schelmenstreich zum Opfer gefallen waren. Der alte Lolliot, im allgemeinen nur Vater Lolliot genannt, hatte an dem für alle Beteiligten so ereignisreichen Tage im Schatten vor dem Gasthaus „Zur heiteren Catherine“ gesessen, um, wie üblich, mit seinem Freund Jerome zu streiten. Vater Lolliot galt in Saint-Ponoir als Faktotum. Eigentlich von Beruf Korbmacher, kam es selten vor, daß er sich aufraffte, einen Korb zu flechten. Lieber half er mal hier und mal dort, was für ihn den Vorteil hatte, daß er sein Essen bekam und die erhaltenen Centimes oder gar Francs für das Gasthaus verwenden konnte. Da er weder für eine Familie noch sonstigen Anhang sorgen mußte, fiel ihm diese Lebenshaltung nicht schwer. Augenblicklich schien es um die Centimes nicht gut bestellt zu sein, denn als der kleine, vorsintflutliche 8
Omnibus klappernd und ratternd zum Stehen kam, hatte Vater Lolliot noch nicht den winzigsten Schluck eines stärkenden Getränks genossen. Etwa zwanzig Backfische, Zöglinge eines katholischen Mädcheninternats, wohlbehütet von zwei Ordensschwestern, entstiegen dem Bus, um in der herrlichen Umgebung von Saint-Ponoir die wundervolle Gottesnatur zu genießen und an ihr zu lernen. Sofort und freudig erklärte sich Vater Lolliot bereit, die muntere Schar als Ortskundiger zu begleiten und zu führen. Die beiden Betreuerinnen wollten davon zunächst nichts wissen. Der Alte versprach ihnen jedoch, Vorgänge in Gottes Natur zu zeigen, wie sie sie noch niemals gesehen hätten. Als er sich erbot, ihnen den Ursprung allen Seins und Werdens unter dem freien Himmelsdom an praktischen Beispielen zu veranschaulichen, gaben die frommen Schwestern – nun selbst neugierig geworden – ihren Widerstand auf: Denn was kann die Allmacht Gottes wohl mehr offenbaren als das Entstehen aller Dinge und allen Lebens? Außerdem lag es nicht in ihrem Sinne, den gefälligen alten Mann zu kränken. Hinzu kam die Überlegung, daß es für ihre Zöglinge nur von Vorteil sein würde, ihr Wissen unter so sachkundiger Anleitung zu erweitern. Nicht im entferntesten ahnten die Arglosen, wie allzu wörtlich das alles eintreten sollte, was man ihnen da versprach. Es war aber auch ein Sommertag, wie man ihn sich für eine Exkursion nicht besser wünschen konnte. So weit der Blick reichte, spannte sich ein wolkenloser, tiefblauer Himmel. Eine in voller Kraft strahlende Sonne ließ die Luft über den fruchtbaren Tälern und den Eichenwäldern der Périgord zittern. 9
Kein Wunder, daß die Schönheit dieses Tages auch auf die Gemüter der den düsteren Schulräumen entronnenen Mädchen nicht ohne Eindruck blieb. Wohlgefällig beobachtete der in seinem Garten sitzende Abbé Périchelle, wie die Gruppe singend und schwatzend, geführt vom alten Lolliot und eskortiert von den beiden Ordensschwestern, vorbei an der kleinen Kirche dem nahen Wald zustrebte. Nördlich von Saint-Ponoir liegt eine malerische Erhebung. Will man sie direkt erreichen, muß man über struppiges Gras und durch wild verflochtenes Gestrüpp steil bergan. Colline l’Evêque, Bischofshügel, nennen die Einheimischen diese Anhöhe, auf der ein hölzernes Kreuz anzeigt, wo vor vielen Jahren ein reisender Bischof von Räubern erschlagen und ausgeplündert worden war. Die Höhe selbst besteht aus einem großen waldbestandenen Plateau von unerhörtem Reiz. Unter den Bäumen liegen blumenreiche Wiesen, voneinander durch niedrige Buschgürtel getrennt. Die letzte dieser kleinen Wiesen, direkt an dem nach Saint-Ponoir abfallenden Abhang gelegen, hatte sich der Maréchal des logis Charles Clochaud für seine Schäferstündchen ausgesucht. Von hier aus bot sich eine herrliche Aussicht über das weite Land. Unten im Tal, umgeben von grünen Matten, lag idyllisch Saint-Ponoir. In der Ferne glitzerte in der Sonne das silberne Band der Isle, und am Horizont zeichneten sich im Sonnenglast die Silhouetten der Kathedrale St-Front und der Kirche St-Étienne der Departementshauptstadt Périgueux ab. 10
Die schöne Aussicht war bei der Wahl des Platzes nicht ausschlaggebend gewesen, sondern die einzigartig günstige Lage, die der in der Geländeausnutzung wohlerfahrene ehemalige Unteroffizier sofort richtig erkannt hatte. Was auch im Tal geschah, konnte von hier aus bequem gesehen werden, während man selbst durch ein niedriges Gestrüpp gegen jede Sicht von unten geschützt wurde. All das machte den Ort wie geschaffen für ein Liebesnest. Der robuste Gendarm Clochaud hielt freilich nicht viel von empfindsamen Zärtlichkeiten. Er war mehr für das Wirkliche, Handgreifliche, sehr zum Leidwesen der sensiblen Claude-Antoinette Marie, die unter anderem auch eine seelische Gemeinsamkeit ersehnte. Eigentlich merkwürdig, wie sie an so einen wie Clochaud geraten konnte. Der Grund schien aber nicht in einem zu geringen Urteilsvermögen zu liegen, sondern in einem Mangel an anderer Gelegenheit. Wahrscheinlich war bei der liebebedürftigen Claude-Antoinette die Grenze erreicht, die ehelichen Entbehrungen an der Seite des immer kränklichen Jean Marie noch länger ertragen zu können oder zu wollen. Jedenfalls, wie es auch sein mochte, es hatte sich ergeben, daß Charles Clochaud und Claude-Antoinette Marie regelmäßig an bestimmten Tagen und zur gleichen Stunde das lauschige Fleckchen aufsuchten, um einige Stunden gemeinsam zu verbringen. Wie heimlich und unauffällig das auch immer geschah, dem ewig herumlungernden Lolliot blieb es nicht verborgen. So wußte er beim Eintreffen der Ausflügler, daß der kleine Wiesenfleck zur Stunde wieder besetzt war. 11
Schwierig wurde es für ihn, die ausgelassenen Backfische, nachdem er sie durch einen kleinen Umweg von hinten auf den Bischofshügel geleitet hatte, lautlos an das Liebesnest heranzuführen. Als er ihnen aber erklärte, daß nunmehr bald die Stelle kommen müßte, wo das Versprochene zu sehen sei, trat in der ganzen Gruppe erwartungsvolle Spannung ein. Leise bewegte sich die Schar in aufgelöster Ordnung durch das weiche Gras vorwärts, dabei emsig weiter Blumen pflückend und teils neugierig, teils ängstlich Ausschau haltend, wann denn nun das Verheißene endlich auftauchen würde. Plötzlich geschah es: Die Spitzengruppe der Mädchen entdeckte die beiden Sünder. Der drastische Anblick, der sich ihnen bot, schien alle Erwartungen der Wißbegierigen weit zu übertreffen. Für einen Augenblick herrschte atemlose Stille. Dann aber erhob sich wahres Indianergeheul. Je nach Mentalität der einzelnen Mädchen kamen Eindruck und Empfinden unterschiedlich zum Ausdruck. Viele glaubten ihren Augen nicht trauen zu können, wohingegen einige sofort an Adam und Eva dachten. Am schlimmsten erwischte es die Strenggläubigen, denn sie meinten nicht mehr und nicht weniger, als daß es der Leibhaftige selbst sei, der erschienen war, um eine arme Menschenseele zu würgen und sie mit in die Hölle zu zerren. Diese Sorge war unbegründet, denn die Seele der Frau Bürgermeisterin schwebte zu diesem Zeitpunkt mehr in den der Hölle gerade entgegengesetzten Sphären. So waren es auch die Abergläubischen, die in ihrem Entsetzen das schreckliche Geschrei begannen, während andere mit einfielen, ohne vorerst den Grund zu 12
kennen, und einfach aus Angst oder Spaß mitschrien. Einige dagegen brüllten nur deshalb aus Leibeskräften mit, um – damit eigene Verwirrung vortäuschend – noch etwas an diesem illustrativen Ort verweilen zu können. Schwester Beatrice, eine der beiden Betreuerinnen, hatte, kurz zuvor noch eine wunderliche Entdeckung gemacht. Am linken Flügel, etwas voranmarschierend, war sie mit zweien ihrer Zöglinge auf ein kleines Wiesenfleckchen gestoßen. Hier nun lagen Uniformstücke, wie sie von der Gendarmerie des Landes getragen wurden. An einem Ast hing sogar ein Lederkoppel mit einer großen Pistolentasche. Neben einem Paar derber Männerschuhe lagen in eigenartigem Kontrast dazu einige duftige weibliche Kleidungsstücke. Während die Schwester gerade eines der zarten Gebilde in den Händen hielt, um es zu betrachten, und dabei überlegte, was das wohl zu bedeuten habe, setzte das ohrenbetäubende Geschrei ein. Schlimmes ahnend, erschien die gute Beatrice, das Hemdchen der Frau Bürgermeisterin vor Aufregung wie eine Fahne schwenkend, auf der Walstatt. Am rechten Flügel hatte die sanftmütige Schwester Stephana vor Schrecken und Entsetzen wie versteinert ihren Wanderstab abwehrend gen Himmel gestreckt und glich in diesem Moment mehr dem schwertbewaffneten Racheengel des Jüngsten Gerichts als einer Dienerin Gottes auf Erden. Den Eindruck mußte wohl auch Charles Clochaud haben, der mit seinen kleinen Äuglein wie gebannt auf diese Erscheinung stierte. Sich in vollkommener Sicherheit wähnend und mit sich selbst viel zu sehr beschäftigt, hatten die Missetäter das heraufziehende Unheil nicht bemerkt und 13
waren erst durch das unversehens losbrechende Geheul in eine für sie gräßliche Wirklichkeit zurückgerissen worden. Der Schreck war zu groß – hatte die beiden buchstäblich gelähmt. Für den Bruchteil eines Augenblicks hielten sie das wohl alles noch für ein Trugbild, etwas Unwirkliches, einen bösen Traum. Mehr tot als lebendig starrte Claude-Antoinette auf die heulenden Mädchen. Kein Höllenschlund wäre ihr in diesem Augenblick zu tief gewesen, hätte sie nur darin untertauchen können. Dann aber – in Erkenntnis der Tatsache, daß etwas geschehen müsse – ließ sie sich, das Vorrecht des schwachen Geschlechts in Anspruch nehmend, an der zottigen Brust ihres Beschützers in eine tiefe Ohnmacht fallen. Der arme Charles Clochaud, nunmehr der rauhen Wirklichkeit allein überlassen, schwankte dann auch tatsächlich einen Moment, ob er es ihr nicht gleichtun sollte. Das Denken war noch nie seine Stärke gewesen. Er hatte es auch nie nötig gehabt. Das Reglement der Armee und die Dienstanweisung der Gendarmerie hatten dies stets für ihn getan und sein bisheriges Leben sicher geleitet und geregelt. Alle zu treffenden Entscheidungen konnte man diesen Büchern wohldurchdachter Weisheit entnehmen. Für eine solche Situation schienen aber weder das Reglement der Armee noch die Dienstanweisung der Gendarmerie irgend etwas vorgesehen zu haben; denn trotz krampfhaften, verzweifelten Nachdenkens konnte der Marechal des logis sich nicht erinnern, von einer Verhaltensvorschrift gehört zu haben, die auf seine momentane heikle Lage hätte angewandt werden können. So verängstigt im Gras kauernd, glich er denn 14
auch mit seinen gesträubten Schnurrbarthaaren eher einem von Treibern umstellten Eber als dem Chef des Gendarmeriepostens von Excideuil. Doch alles geht einmal vorüber und somit auch die Pein der Überraschten. Die beiden Schulschwestern hatten sich etwas gefangen und versuchten, ihre Schutzbefohlenen von diesem Ort des Satans hinwegzutreiben. Da erschien dem Sünderpaar ein weiterer Retter aus tiefster Not: Das Dienstpferd des Maréchal des logis, welches er auf diesen Ausflügen zu benutzen pflegte, durch den Lärm scheu geworden, hatte sich losgerissen. Wild schnaubend und ängstlich wiehernd, galoppierte es umher und hatte im Nu die ganze Mädchenschar auf den zum Ort abfallenden Abhang gejagt. Da gab es kein Halten mehr. Durcheinanderpurzelnd und -rutschend, kreischend und jammernd ging es durch scharfes Gras und dorniges Gestrüpp unaufhaltsam bergab. Die Exkursion war zu Ende. Der immer noch in seinem Garten sitzende Abbé Périchelle konnte kurz darauf verwundert beobachten, wie die Ausflugsgruppe aufgelöst und in großer Aufregung ihrem kleinen Omnibus zustrebte. Etliche der Mädchen hatten sich Gesichter und Hände zerschrammt, andere ihre schönen weißen Kragen verloren oder die dunkelgrauen Kleider zerrissen. Schwester Beatrice schwenkte noch immer – ohne sich dessen bewußt zu sein – ein farbiges Etwas, und eines der Mädchen hielt doch tatsächlich eine Ledergamasche krampfhaft unter den Arm geklemmt. 15
„Oh, welch ein Unglück! Die armen, armen Kinder…“, jammerte die sanftmütige Stephana vor sich hin. Einige der „armen Kinder“ kamen sich, den glänzenden Augen nach zu schließen, durchaus nicht bedauernswert vor und bedauerten wahrscheinlich nur das eine: nämlich diesen Ort, wo man so viel erleben und sehen konnte, so schnell wieder verlassen zu müssen. Erst nachdem der kleine Omnibus längst auf der nach Thiviers führenden Landstraße entschwunden war, traf auch der alte Lolliot wieder im Gasthaus „Zur heiteren Catherine“ ein. Das mit einem Monogramm versehene Hemdchen und die Ledergamasche, beides von der kleinen Reisegesellschaft zurückgelassen, hatte man indessen in die Gaststube in Sicherheit gebracht. Vater Lolliot wollte einfach nicht begreifen und verstehen, was geschehen war: Die Mädchen sollten doch bloß auf dem Bischofshügel das Kreuz besichtigen, wo sich vor vielen Jahren die grausige Bluttat ereignet habe. Wer kann mit Sicherheit sagen, was die Motive seines Handelns gewesen waren? Vielleicht hatte der alte Lolliot nur mal einen tollen Spaß inszenieren wollen. Möglich aber auch, daß in dem Einsamen, vom Leben wenig Begünstigten etwas rebellierte gegen das satte Bürgertum des Maire und dessen Frau und er ihnen mit seinen Mitteln heimzahlen wollte, was er so oft an Nichtachtung und Demütigung ertragen mußte. Oder er hoffte, einmal so recht im Mittelpunkt stehen und nach Herzenslust kostenlos trinken zu können. Wenn das letztere der Grund gewesen sein sollte, so hatte er sich nicht verrechnet. 16
Immer neue Gäste kamen „Zur heiteren Catherine“, um sich über die Ereignisse auf dem Bischofshügel zu informieren. Die Schilderungen wurden mit der genossenen Menge alkoholischer Getränke immer drastischer und obszöner. Einer wußte immer mehr als der andere, und selbst solche, die gar nichts wußten, erzählten ununterbrochen die Affäre des Tages. Am Ende hatte es fast den Anschein, als seien hier lauter Wortfetischisten zusammengekommen, um ihrem Laster zu frönen. Die Schenke dröhnte vor Lachen… Zweifelnden konnten sogar zwei Corpora delicti vorgelegt werden, denn man hatte ja die Ledergamasche und das duftige Kleidungsstück für diesen Fall zur Verfügung. Schade für die ganz Wißbegierigen, daß Vater Lolliot allzubald durch übermäßigen Genuß stark berauschender Getränke ausgefallen war und wie ohnmächtig auf einer Bank liegend seinen großen Tag verschlief. Alles in allem war es ein großes Spektakel gewesen. Bürgermeister Jean Marie war nicht der einzige, den der Fehltritt der schönen Claude-Antoinette bis ins Mark getroffen. Es gab noch einen, der um dieser Tatsache willen Seelenqualen litt: den Abbé Périchelle. Was hatte er nicht alles getan, um die Gunst der schönen Bürgermeistersfrau zu erringen, wie oft schon geglaubt, dem Ziel seiner Wünsche ganz nahe zu sein, und dann das entscheidende Wort doch immer wieder hinausgeschoben, aus dem gleichen lähmenden Angstgefühl, das ihn schon früher als Jüngling im Priesterseminar in Angoulême überfiel, wenn er des Nachts der strengen Anstaltsdisziplin entwich, um für wenige Stunden weltliches Glück zu genießen. Die durch17
standenen Ängste, wenn er, im Dunkel der Nacht von Säule zu Säule huschend, durch den düsteren Hof in den großen Garten schlich, um dort die Mauer und damit das Freie zu gewinnen, hatten sich in ihm als etwas schrecklich Verbotenes festgesetzt, von dem er nie mehr loskam. Sein Wesen war durch dieses Erleben geprägt worden. In jener Zeit hatte er das Heucheln gelernt, es lernen müssen, um vor den durchdringenden Augen des Superiors bestehen zu können. Nichts aber vermochte ihn zu halten, nicht die größte Furcht und nicht die Augen des Superiors: Der Drang nach draußen war stärker als alles andere. Der Trieb zum anderen Geschlecht wurde bei ihm zur Manie. Des Nachts im Schlafsaal, wenn alle anderen schliefen, lag er wach und gab sich lüsternen Träumen hin. Ein Leben der Enthaltsamkeit, wie die alleinseligmachende Kirche es ihren Dienern vorschrieb, dünkte ihm schrecklicher als der Tod. Erst nach dem Verlassen des Seminars hatte das Zölibat für ihn an Schrecken verloren, weil sich von nun an genügend Mittel und Wege fanden, die Verbote und Gebote mißachten zu können. Als der Abbé Périchelle vor Jahresfrist zum ersten Male der Frau des Bürgermeisters von Saint-Ponoir gegenüberstand, erschien ihm die schöne Claude-Antoinette als Verkörperung seines weiblichen Idealbildes. Das blonde Haar, die leuchtenden blauen Augen, der weiche, volle Mund mit dem sanften Lächeln und vor allem die üppigen Formen erweckten in ihm so unbezwingliche Leidenschaften und Begierden, daß es für ihn keinen Zweifel gab: Diese Frau mußte er erringen. Von jener Stunde an strebte er auf sein Ziel zu, ohne die nötige Vorsicht außer acht zu lassen. Der Abbé, ein korpulenter Fünfziger, hatte in dieser Beziehung ge18
nügend unangenehme Erfahrungen sammeln müssen, um nicht die Folgen voreiligen oder unvorsichtigen Handelns zu kennen. Oft genug hätte sich für ihn die Gelegenheit ergeben, den Versuch zu wagen, aber immer verleitete ihn ein unsicheres Gefühl, die Zeit noch etwas arbeiten zu lassen. Und sie hatte gearbeitet… Der Abbé, seiner Sache viel zu sicher – eben weil er die Verhältnisse und Umstände im Hause des Bürgermeisters so gut zu kennen glaubte –, hatte nicht im entferntesten mit einer Möglichkeit gerechnet, wie sie jetzt eingetreten war. Es traf ihn doppelt. Er fühlte sich düpiert und in seiner Eitelkeit gekränkt. Die Tatsache allein war niederschmetternd genug – aber daß sich sein angebetetes Wesen mit etwas so Gewöhnlichem abgab wie diesem Clochaud… Seit ungefähr drei Monaten erschien die Frau des Bürgermeisters bei ihm nicht mehr zur Beichte, sondern legte diese in Thiviers ab. Der Abbé Périchelle stellte darüber manche Vermutungen an, ohne es deuten zu können. Nun waren die Gründe offensichtlich geworden. Allein der Gedanke, sein Name wäre bei der Beichte der schönen Sünderin in das Ohr des dortigen Curé gedrungen, ließ sein Blut erstarren. Nicht weniger schreckte ihn die Vorstellung, daß man an Stelle des Gendarmen ihn in den Armen der vollbusigen ClaudeAntoinette überrascht hätte. Fast schien es, als habe eine Gottesfügung ihn vor all dieser Unbill bewahrt, aber er war zuwenig gläubig, um so etwas anzunehmen. Er hielt sich selbst für einen schlechten Diener seiner Kirche, wußte aber zu seiner Beruhigung auch, daß es noch viel schlechtere gab. Von seiner Familie gegen seinen Willen zur Priesterlaufbahn bestimmt, hatte er immer versucht, 19
diesem Leben die beste Seite abzugewinnen. Und das gelang ihm bisher recht gut. Der Abbé mußte sich sehr wundern über das, was in den letzten Stunden in dem ruhigen und friedlichen Saint-Ponoir vorging. Seine Bewohner waren seit dem Geschehen auf dem Bischofshügel nicht wiederzuerkennen. Dem Lärm nach zu urteilen, der von dem Gasthaus „Zur heiteren Catherine“ herüberschallte, spielte sich das ganze Leben nur noch dort ab. Der alte Noel, der sowohl die Funktion des Kirchendieners als auch die des Friedhofswärters ausübte, wußte dem Abbé darüber wüste Dinge zu berichten. Das unmäßige Trinken der Männer in Verbindung mit den unzüchtig geführten Reden grenzte schon an das Lasterhafte. Zu allem Überfluß mußte sich der Abbé von alledem auch noch selbst überzeugen. Am späten Nachmittag geschah es: Das turbulente Treiben war wohl für das Herz des alten Lolliot zuviel gewesen. Mitten im Kreise der Zecher hatte diesen der Tod überrascht. Mit wehender Soutane eilte der benachrichtigte Abbé Périchelle in das Gasthaus, um dem Sünder die Absolution zu erteilen. Aber zu spät! Der tote Lolliot lag bereits mit einem Tuch bedeckt, und man wartete auf das Eintreffen des Arztes aus Excideuil. Als der Abbé in der Gaststube in die geröteten Gesichter der Beschwipsten bückte, kostete es ihn Mühe, seine Würde zu wahren. Noch suchte er nach passenden Worten, um sich wieder entfernen zu können, da fiel sein Blick auf ein Bild. Seit wenigen Stunden hing es hier neben dem des Marschall Foch an der Wand, eine Mischung aus kindlicher Malerei und Kitsch. Darauf war der römische Kriegsgott Mars zu sehen, wie er die Liebesgöttin 20
Venus schützend an seine behaarte Brust drückte. Jedenfalls stand darunter zu lesen: Mars und Venus. Der Wirt behauptete augenzwinkernd, es sei ein Erbstück von seiner Tante. Die Ähnlichkeit des wild blickenden Kriegsgottes mit dem Wachtmeister Clochaud war so frappant, daß ein Zweifel gar nicht aufkommen konnte, wen oder was das Bild darstellen sollte. Obwohl die Venus dem Beschauer nur ihren bloßen Rücken zuwendete, mußte sie mit ihrem blonden Haarknoten und den üppigen Formen, noch dazu an der Brust des Gendarmen-Mars, als die Frau des hiesigen Bürgermeisters erkannt werden. Der einzige, der dies zu bezweifeln schien, war der Marschall Foch in seinem Bilderrahmen. Er hatte das linke Auge etwas zugekniffen und schielte mißtrauisch zu den beiden hinüber. Es konnte aber auch sein, daß er von seinem günstigen Platz aus nur etwas mehr von den Reizen der Liebesgöttin zu erhaschen hoffte, was wohl auch der Wunsch vieler der Anwesenden sein mochte. Der Abbé hätte es nie für möglich gehalten, daß ein Bild ihn so außer Fassung bringen könne. Dabei wußte er selbst nicht zu sagen, ob das die Eifersucht bewirkte oder die Wut darüber, daß das Ziel seiner Anbetung zum Gegenstand der allgemeinen Verhöhnung geworden war. So hatte er denn, als er dem Pfarrhaus zustrebte, nur noch den Wunsch: nichts mehr von alledem sehen und hören zu müssen und diesem wüsten Treiben zu entfliehen. Das Château Ramoulin an der westlichen Peripherie der Departementshauptstadt Périgueux, unmittelbar am Park Montaigne gelegen, war seit Generationen der 21
Wohnsitz der Familie Ramoulin. Die Bezeichnung Château mochte bei genauerem Hinsehen für das schmutziggraue, im Directoirestil erbaute Gebäude wohl nicht ganz zutreffend sein; dennoch wurde es seit eh und je nur so genannt. Die blendende Sonne am wolkenlosen Sommerhimmel ließ den vernachlässigten Zustand besonders deutlich sichtbar werden. Soeben betrat Oberst Ramoulin, ein vornehm wirkender älterer Herr mit schütterem Haar und kurzem, weißem Kinnbart, in großer Eile das Haus. Trotz der Wärme des Tages ging er betont korrekt gekleidet. Seine straffe Haltung ließ noch immer den ehemaligen Soldaten erkennen, obwohl es mehr als zweieinhalb Jahrzehnte zurücklag, daß die zuständigen Stellen der gerade ausgerufenen Vierten Republik den Offizier der Vichyregierung aus der Armee entlassen hatten. Die vor den Fenstern des im Obergeschoß gelegenen Arbeitszimmers heruntergelassenen Markisen dämpften das Tageslicht in dem großen Raum angenehm und nahmen den Empiremöbeln die Spuren des Alters. Oberst Ramoulin ließ sich an seinem Schreibtisch nieder und blickte finster auf seine beiden vor ihm stehenden Söhne. „Ich komme soeben von der Bank“, begann der Oberst mit brüchiger Stimme, in der unüberhörbar Erregung mitschwang. „Man hatte mich hingebeten, und ich war der Ansicht, daß es sich um unsere Hypothek handle. Eine irrige Annahme, wie sich herausstellte! Es wurde mir vielmehr ein Wechsel über achttausend Francs präsentiert, versehen mit meiner Unterschrift, zahlbar bei Sicht – heute…“ Der Oberst machte eine Pause und wischte sich mit einem Tuch über die Stirn, während seine Augen in den Gesichtern der Söhne forschten. 22
„Und?“ drängte Albert Ramoulin, ein gutaussehender, mittelgroßer Mann von etwa vierzig Jahren, verwundert. „Die Sache ist nur die“, grollte der Oberst, und seine Stimme bekam einen gefährlichen Unterton, „die Sache ist nur die, daß ich fünfundsiebzig Jahre alt geworden bin und niemals in meinem Leben einen Wechsel ausgestellt oder unterschrieben habe…“ Seinen Worten folgte eine bedrückende, lastende Stille. Nur aus dem Garten drang das aufreizende Tschilpen einiger aufgeregter Vögel. „Wie soll man das auffassen?“ brach Albert das Schweigen. Es klang verständnislos. „Das möchte ich ja gerade von euch hören!“ fuhr der Oberst auf. „Mir ist der Trassat auf dem Wechsel völlig unbekannt, aber vielleicht kennt ihn einer von euch?“ „Du glaubst doch nicht…!“ Albert Ramoulin starrte seinen Vater bestürzt an, dann ging sein Blick fragend zu dem abseits stehenden Bruder. „Was sagst du dazu, Alain?“ Doch Alain sagte nichts. Er betrachtete mit ausdrucksloser Miene das Tapetenmuster der Wand. Nur das rhythmische Mahlen der Kiefer verriet seine Unruhe. Albert kam ein Verdacht, der sich durch Alains Schweigen noch verstärkte und der Wut in ihm hochtrieb. Eine brüderliche Zuneigung hatte zwischen ihm und dem zehn Jahre jüngeren Alain nie bestanden, er mochte den labilen, haltlosen Weichling nicht. Wie wenig er ihn aber wirklich leiden konnte, wurde ihm in diesem Moment erst richtig bewußt, als er ihn so stehen sah: schmächtig, das weiche, verlebte Gesicht 23
in eine Haarmähne eingebettet, die sinnlichen Wulstlippen trotzig zusammengepreßt. „Alain“, wiederholte Albert hart und drohend, „antworte!“ Alain zögerte unschlüssig. In seinem Gesicht arbeitete es. „Ich habe den Wechsel ausgeschrieben“, bekannte er dann mit spröder Stimme, vermied es jedoch dabei krampfhaft, seinen Vater anzublicken. „Das ist doch –“ Albert, obwohl in Geldangelegenheiten und in seinem eigenen Lebenswandel nicht gerade zartbesaitet, verschlug es die Sprache. In den Augen des Obersten blitzte es auf. „Vielleicht erklärst du uns das einmal etwas näher!“ wandte er sich schroff an Alain. „Es ist doch für einen normalen Menschen unbegreiflich, daß jemand einen Wechsel in dieser Höhe ausstellt, obwohl er genau weiß, daß er die Summe niemals aufbringen kann. Oder siehst du eine Möglichkeit?“ „Nein“, antwortete Alain. Es hörte sich an wie ein trockenes Krächzen. „Dann sage uns endlich, was du dir dabei gedacht hast!“ fuhr der Oberst ihn an. „Immerhin sind achttausend Francs für mich ein unerschwingliches Vermögen. Mit meiner gekürzten Pension bin ich kaum in der Lage, die Belastungen des Grundstückes zu tragen, von einer Erhaltung gar nicht zu reden. Und obwohl du das weißt, wagst du es, mich in eine solche Situation zu bringen! Was hast du mit dem Geld gemacht?“ „Verspielt“, kam es gepreßt. „Verspielt? Eine solche Summe?“ Das Gesicht des Obersten blieb unbewegt, nur an den zitternden Händen war zu sehen, wie mühsam sich der alte Mann beherrschte. 24
„Wo hattest du denn den Einsatz her?“ wollte Albert wissen. „Das ist es ja eben.“ Alains Stimme klang fast weinerlich, als er zögernd und stockend berichtete: „Vor kurzem mußte Raymond Sel für seinen Vater geschäftlich nach Nizza. Er fuhr in seinem Sportwagen und nahm mich mit. Eines Abends sind wir nach Monaco gefahren, Raymond, um zu spielen, und ich, um zuzusehen. Als ich erkannte, wie leicht dort Geld zu gewinnen war, konnte ich nicht widerstehen und lieh mir von Raymond einen Einsatz. Anfangs gewann ich auch, jedoch nach wenigen Stunden hatte ich dreitausend Francs verspielt, die ich Raymond zurückgeben mußte. In den nächsten Tagen versuchte ich das verlorene Geld zurückzugewinnen. Es war aber vergebens. Am Ende schuldete ich Raymond achttausend Francs. Mehr konnte er mir nicht geben.“ „Na so ein Pech“, spöttelte Albert, „sonst hättest du wohl noch ein bißchen weitergespielt?“ „Erkläre uns das mit dem Wechsel!“ verlangte der Oberst ungeduldig. „Na ja“, druckste Alain, „Raymond hatte das Geld doch von einem Geschäftspartner seines Vaters in Nizza besorgen müssen. Und der Wechsel war dafür die Sicherheit.“ „Eine schöne Sicherheit“, sagte Albert. „Und weshalb fälschst du meine Unterschrift und unterschreibst nicht mit deinem Namen?“ wollte der Oberst hören. „Einen solchen Wechsel hätte Raymond nicht angenommen, weil er genau wußte, daß ich über keine Geldmittel verfüge.“ „Hast du den Verstand verloren!“ 25
„Was sollte ich denn machen?“ versuchte sich Alain mit kläglicher Stimme zu rechtfertigen. „Ach, und was soll ich nun tun?“ schrie der Oberst, mit dessen Beherrschung es zu Ende war. „Lasse ich den Wechsel zu Protest gehen, stellt man dich, einen Ramoulin, als Wechselfälscher vor Gericht, wollte ich aber die Unterschrift anerkennen, um uns vor dieser Schande zu bewahren, werde ich, der Oberst Ramoulin, zum Wechselbetrüger, weil ich die Summe nicht aufbringen kann.“ „Ich bin da anderer Meinung“, mischte sich Albert wieder ein. „Was haben wir damit zu schaffen? Wer so leichtfertig und gewissenlos handelt, soll auch die Konsequenzen tragen. So eine Infamie, bis zum heutigen Tage auch nicht das geringste davon zu erwähnen. Nein, wir haben damit nichts, überhaupt nichts zu tun!“ „Und an die Reputation des Namens Ramoulin denkst du wohl nicht?“ Der Oberst wies auf zwei an der Wand hängende Bilder. Das eine zeigte einen trutzig blickenden Mann mit Knebelbart in der Generalsuniform des zweiten Kaiserreiches, aus dem anderen blickte das glattrasierte Gesicht eines noch jungen Mannes in der Generalsuniform des ersten Weltkrieges streng in den Raum. „Mein Vater und auch mein Großvater haben nur für den Ruhm und die Größe des Vaterlandes und die Ehre unseres Namens gelebt. Mein ganzes Leben war ich bestrebt, dieser Verpflichtung gerecht zu werden. Und nun habe ich Söhne, die diese Begriffe nicht kennen – und einer ist sogar ein Wechselfälscher… Weit haben wir es gebracht!“ „Nun ja“, gab Albert zu, „was mich betrifft, so habe ich darüber meine eigenen Ansichten, die mit deinen 26
Anschauungen natürlich nicht übereinstimmen, obwohl ich ja auch Offizier war.“ „Mit fünfunddreißig Jahren noch Leutnant“, sagte der Oberst sarkastisch. „Besser noch als Oberst unter einer Regierung von Kollaborateuren“, konterte Albert. Oberst Ramoulin war bei diesen Worten blaß geworden. „Wie oft habe ich dir schon gesagt, daß ich dieses leidige Thema nicht mehr berührt haben möchte“, antwortete er zornig. „Du verkennst aus deiner heutigen Sicht vollkommen die damaligen Umstände, und ich verbiete dir ein für allemal, in dieser Form mit mir zu reden. Ich war kein Politiker und unterstand als Soldat der Befehlsgewalt meiner Vorgesetzten. Vielleicht hätte ich manches anders machen können oder auch anders machen müssen, aber ich habe es nun einmal nicht getan, und nun ist es zu spät. Letzten Endes bin auch ich nur ein Opfer von Verhältnissen geworden, für deren Entwicklung ich persönlich nichts konnte. Meine ethischen Grundsätze habe ich jedenfalls nicht verletzt, wie du es doch wohl mit deiner Unverschämtheit zum Ausdruck bringen wolltest.“ Albert fühlte, daß er zu weit gegangen war. „Deine Ehrenhaftigkeit will ich nicht in Frage stellen“, lenkte er ein, „aber du bist mit oder gerade an deinem Ethos gescheitert, was erwartest du also von mir, der ich zu diesen Dingen eine ganz andere Einstellung habe? Ich besitze weder den Mut der Phantasielosen noch den Ehrgeiz, mein Leben für die Interessen anderer aufs Spiel zu setzen, und außerdem fehlt mir die Devotion einer Domestikenseele. Du bezeichnest das wahrscheinlich als Feigheit und mangelnde Sub27
ordination, für eine Karriere sind das jedenfalls keine Voraussetzungen.“ „Und dabei habe ich einmal geglaubt, daß du die soldatische Tradition unserer Familie fortsetzen würdest.“ Der Oberst wurde bitter. „Ich weiß wirklich nicht, sind dies nun zu respektierende Erkenntnisse oder herbeigezogene Argumente, um das eigene Unvermögen zu entschuldigen.“ „Nenne es, wie du willst“, sagte Albert, „Unvermögen oder sonstwie, meine Meinung kennst du jedenfalls.“ Der Oberst winkte müde ab. „Lassen wir das, es führt ja doch zu nichts. Kommen wir zurück zur Sache: Können wir das Geld beschaffen?“ „Dich betrifft es“, fuhr Albert den Bruder wütend an, der unbewegt dastand, als ginge ihn dies alles nichts an, und keinerlei Anstalten machte, auf die Frage des Vaters zu antworten. Alain zuckte erschrocken zusammen. „Woher denn?“ antwortete er hilflos, aber so herausfordernd gleichgültig, daß es unter den vorliegenden Umständen geradezu unverschämt wirkte. Albert wollte aufbrausen, wurde aber von seinem Vater daran gehindert, der ihn fragte: „Und du?“ „Ich?“ wunderte sich Albert. „Woher soll ich eine solche Summe nehmen?“ „Vielleicht aus deinem Bekanntenkreis?“ Mißtrauisch blickte Albert mit zusammengekniffenen Augen den Vater an. Er war sich nicht im klaren, ob das nun eine Frage sein sollte oder ob sich hinter den Worten des Obersten Sarkasmus und eine Anspielung auf seine lukrativen Damenbekanntschaften verbarg. „Niemand leiht einem achttausend Francs ohne Sicherheit“, erwiderte er bestimmt. „Und selbst wenn 28
sich mir eine solche Gelegenheit bieten sollte, ich würde das Geld zu diesem Zweck nicht mal annehmen. Abgesehen davon, daß ich gar nicht wüßte, wovon ich es zurückzahlen sollte, wie käme ich denn dazu, mir eine solche Belastung aufzuladen.“ Und mit einem verächtlichen Seitenblick auf den Bruder fügte er noch hinzu: „Soll sich doch der Gedanken machen und die Sache in Ordnung bringen, der das Geld verjubelt hat. Was geht’s mich an!“ Alain zuckte nur die Schultern, sagte jedoch nichts. „Wir können also die achttausend Francs nicht beschaffen und den Wechsel nicht einlösen“, stellte Oberst Ramoulin resigniert fest. „Mein Gott“, stöhnte er, „was ist aus uns geworden!“ So mutlos hatte Albert ihn noch nie erlebt, selbst damals nicht, als der Oberst den Dienst in der Armee quittieren mußte. Er fühlte Mitleid mit dem alten Mann, dessen Mentalität es einfach nicht zuließ, die Dinge von einem anderen Standpunkt als dem überholter Überlieferungen aus zu sehen. „Nun betrachte es endlich einmal so, wie es ist!“ versuchte Albert seinen Vater zu beruhigen. „Alain hat den Wechsel gefälscht, und er hat die Folgen zu tragen. Immerhin ist er alt genug, um sich so etwas vorher überlegen zu müssen. Wir haben damit gar nichts zu tun, das habe ich schon einmal gesagt. Und was den Namen Ramoulin betrifft…“ „Hör auf!“ unterbrach ihn der Oberst schroff. „Ich bin kein levantinischer Krämer, sondern Oberst Ramoulin.“ Hierauf wandte er sich Alain zu. Er hatte schon zum Sprechen angesetzt, winkte dann aber nur geringschätzig ab, wie um das Sinnlose dieses Unterfangens zu unterstreichen. 29
Bedrückende Stille herrschte im Raum. Der Oberst starrte vor sich hin. Er schien die vor ihm stehenden Söhne vergessen zu haben. Endlich mußte er wohl zu einem Entschluß gekommen sein. „Geht!“ sagte er, ohne den Blick zu heben. „Laßt mich allein!“ Es klang hart und müde zugleich. Erlöst kam Alain dieser Aufforderung nach. Albert zögerte unschlüssig und sah nachdenklich auf den am Schreibtisch sitzenden Vater. Er wollte noch irgend etwas Verbindliches, Versöhnendes sagen, ließ es dann aber doch sein und entfernte sich ebenfalls. Der Oberst war allein. Unter der in Falten gezogenen Stirn kreisten die Gedanken unentwegt um die skrupellose Handlungsweise seines Sohnes Alain und die daraus entstandenen Folgen. Aber Folgen haben Ursachen, oftmals sogar weit zurückliegende. Inwieweit hatte er selbst bei der Entwicklung dieser Ursachen versagt, und wie groß war sein Anteil an Schuld und Verantwortung? Eine Frage, die ihn am meisten beschäftigte. Zu seiner Entschuldigung konnte er anführen, daß sein Einfluß auf die erwachsenen Söhne immer nur sehr gering gewesen war und noch dazu auf Alain gerade die abwegigen Dinge eine besonders starke Wirkung ausübten. Zum anderen gestand er sich ein, daß er, zu sehr mit seinen eigenen Problemen beschäftigt, viel zuwenig Zeit für seine Söhne erübrigt hatte. Doch dazu war es jetzt zu spät… Der Oberst stöhnte gequält, und wie hilfesuchend glitt sein Blick durch den Raum, in dem alles Erinnerung war. An diesem Schreibtisch hatte schon sein Vater gesessen. Hier mußte er diesem seine Schulzeugnisse 30
und später als Kadett die Zensuren der Kadettenanstalt vorlegen; hier wurde er gelobt und getadelt, belehrt und gerügt. Seine Gedanken gingen zurück in die Vergangenheit. Als wäre es gestern gewesen, so deutlich sah er vor sich all die Bilder, die in seinem Leben Ereignis gewesen waren: der Tag, an dem er sein Offizierspatent erhalten und sich seinem Vater, dem General Ramoulin, als Sous-Lieutenant vorstellen konnte; die infernalischen Materialschlachten des ersten Weltkrieges; die Heirat, die Geburt der Söhne und der allzu frühe Tod seiner Frau; die beschämenden und bedrückenden Bilder des zweiten Weltkrieges; der vernichtende Schock, als man ihn unter großzügiger Bewilligung einer geradezu lächerlich geringen Pension aus der Armee abschob. Und nun war er am Ende… Langsam zog der Oberst die Schublade seines Schreibtisches heraus, entnahm ihr einen schweren Armeerevolver und legte ihn vor sich hin. Auf der Konsole des in die Wand eingebauten Kamins tickte unentwegt eine alte Empireuhr in die Stille des Zimmers. Zwischen zwei goldenen Säulen war in einem Glasgehäuse das arbeitende Uhrwerk zu sehen und machte dem Auge das unaufhaltsame Verrinnen der Zeit sichtbar. Der Oberst nahm den Revolver in die Hand. Das metallene Klicken des ausrastenden Sicherungsflügels schlug schmerzhaft in seine Ohren. Ein letztes Mal sah er auf die an der Wand hängenden Bilder. Das durch die heruntergelassenen Markisen gedämpfte Licht ließ die Konturen auf ihnen zerfließen und erweckte in Verbindung mit der in der Tageshitze flirrenden Luft dem Auge den Eindruck, als wären die Gesichter mit Leben 31
erfüllt. Langsam hob er die Waffe und drückte sie an die Schläfe… Als der Schuß durch das Haus dröhnte, schreckten im Garten die Vögel auf und flatterten lärmend davon. Irgendwo fiel heftig eine Tür zu. Doch das alles hörte Oberst Charles Ramoulin schon nicht mehr. Adrienne Forestier wartete nun schon länger als eine halbe Stunde. Pünktlich war Albert Ramoulin selten, daran hatte sie sich schon gewöhnt; aber heute war es denn doch zuviel. Von Natur aus kalt und leidenschaftslos, übertrug sich diese Wesensart auch auf ihre ganze äußere Erscheinung. Im Gegensatz zu der hochsommerlichen Umgebung trug sie ein elegantes dunkles Kostüm und wirkte, unbeeindruckt von der Nachmittagshitze, frisch und kühl. Adrienne Forestier, begehrte Dame im Etablissement der Madame Boudet, sah ohne Zweifelt gut aus. Dunkel, schlank und nicht allzu groß, war sie ein Typ, für den sich vor allem anspruchsvolle Männer interessierten. Lediglich der etwas herbe Zug um den Mund störte ein wenig in dem sonst so ausdrucksvollen Gesicht, ohne jedoch den pikanten Gesamteindruck ihrer Person zu beeinträchtigen. Ungeduldig ging sie auf und ab. Immer wieder blieb sie vor der kleinen, aus Metall gegossenen Büste des Generals Daumesnil stehen und las die in den steinernen Sockel eingehauene Inschrift, ohne zu erfassen, was dort eigentlich stand.
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An diesem kleinen Denkmal, am westlichen Ende des Parks Montaigne und damit schon außerhalb der Stadt, pflegte sie sich mit Albert Ramoulin zu treffen. Es war eine mit leidlich gepflegten Grünanlagen bedeckte Anhöhe, von der aus man einen weithingehenden Rundblick über das amphitheatralisch gelegene Périgueux und die sich im Umkreis erstreckende Périgord hatte. Nach Süden zu fiel das Gelände steil zur Isle ab, deren silbernes Band sich irgendwo im Westen zwischen den kleinen Kirchtürmen von Saint-Astier und Neuvic verlor. Auf dem Fluß tummelten sich bunte Boote, während dunkle Frachtkähne emsig der fernen Girondemündung zustrebten. Das herrliche Sommerwetter hatte die Menschen herausgelockt. Spaziergänger schlenderten müßig durch das Grün der Anlagen, und von ferne schallte das übermütige Geschrei badender Jugend. Auf den vereinzelt aufgestellten Bänken saßen überwiegend mit Handarbeiten beschäftigte Mütter und beaufsichtigten ihre Kinder. Doch Adrienne fand für all das keinen Blick mehr; nicht für die Landschaft, nicht für den Fluß und am allerwenigsten für die Mütter mit ihren Kindern. Jung und unerfahren, damals noch Angestellte in einem eleganten Pariser Schönheitssalon, war sie den Verlockungen der sogenannten großen Welt erlegen und dann schnell auf diesen Weg geraten. Nun aber, da sie die Dreißig überschritten, wurde es für sie Zeit, ihr Leben grundlegend zu verändern. Adrienne Forestier wollte mit dem Etablissement Boudet brechen, und die von ihr angestrebte Verbindung mit Albert Ramoulin sollte dazu die Voraus33
setzung sein und den Weg in ein normales bürgerliches Leben bahnen. Natürlich war sie sich der Schwierigkeit bewußt, einen Mann wie Albert Ramoulin zu einem solchen Schritt, wie er ihr vorschwebte, zu bewegen. Oftmals kamen ihr denn auch Zweifel und Bedenken. Noch nicht ein einziges Mal hatte Albert sich mit ihr in der Stadt getroffen und in der Öffentlichkeit gezeigt. Hier, außerhalb, trafen sie sich, um in der Umgebung spazierenzugehen. Obwohl darüber mehr als gekränkt, gab sich Adrienne, beherrscht und berechnend wie sie war, gelassen und ließ sich ihre Verbitterung nicht anmerken. Dennoch waren diese Spaziergänge für sie immer wieder ein Erlebnis. Albert war nicht nur ein ausgezeichneter Plauderer, sondern auch ein sachkundiger Führer. Sie hätte sich keinen besseren Begleiter wünschen können. Er kannte die Umgebung von Périgueux mit all ihren Sehenswürdigkeiten wie kein zweiter und wußte über alles etwas zu berichten. Über die Geschichte der ehemaligen Grafschaft Périgord und die kriegerische Vergangenheit der Türme Vésone und Mataguerre konnte er ebenso interessant erzählen wie über die Eigenart von Land und Leuten und die Bedeutung der umliegenden Steinbrüche und Tabakplantagen für die Stadt. Am liebsten aber ging Adrienne zu der Ruine des Schlosses Barrière. Zu diesem Ort, an dem einst Chevaliers mit ihren Damen so üppig in Glanz und Prunk gelebt hatten, zog es sie immer wieder hin. Bei alledem aber mußte sie sich eingestehen, daß ihr enges Verhältnis zu Albert Ramoulin vor allem darin bestand, daß er sich ständig unter vagen Versprechungen von ihr Geld lieh, ohne es jemals zurück34
zugeben. Nicht im geringsten lag es dabei in ihrer Absicht, ihn etwa auszuhalten. Dazu war sie viel zu egoistisch; aber da sie Albert nun einmal für sich gewinnen wollte, betrachtete sie dies als eine Vorauszahlung auf die von ihr angestrebte gemeinsame Zukunft, investierte dabei im Laufe der Zeit weit mehr, als die Klugheit gebot. Von solcherlei Gedanken und Zweifeln gequält, war Adrienne, langsam auf und ab gehend, zum soundsovielten Male vor dem kleinen Denkmal angelangt. Unschlüssig blickte sie auf ihre kleine Armbanduhr und wollte nach kurzem Überlegen gerade den Weg in Richtung des nicht allzu weit entfernt liegenden Château Ramoulin hinabgehen, als der Erwartete endlich auftauchte. Sie sah sofort, daß etwas Außergewöhnliches geschehen sein mußte. Albert, nur mit Hemd und Hose bekleidet, machte einen vollständig verstörten Eindruck. Die Haare hingen ihm wirr in die Stirn, und in dem vor Erregung und vom schnellen Lauf geröteten Gesicht zuckte es nervös, als er heftig atmend vor ihr stehenblieb und mit brüchiger Stimme hervorstieß: „Mein Vater… mein Vater ist tot… er hat sich erschossen…“ „Erschossen…“ Adriennes Augen wurden groß, sie fühlte in ihrer Herzgegend einen schmerzhaften Stich. Es war jedoch nicht Mitgefühl, Trauer oder Leid – sie kannte ja den Toten überhaupt nicht –, sondern einzig und allein der Schreck über das Gehörte; denn sie begriff sofort, was ihr da widerfahren war. Entgegen ihren Vorstellungen hatte Albert stets darauf beharrt, daß eine eheliche Verbindung zwischen ihnen nur einmal nach dem Ableben seines Vaters erfolgen könne. Er hatte das mit einer solchen Bestimmt35
heit zur Voraussetzung gemacht, daß der Tod des Obersten für sie zum Angelpunkt aller ihrer Hoffnungen wurde. Diese Heirat sollte ihr Ansehen restaurieren, sie von Makel befreien. Und nun, fast am Ziel ihrer Wünsche angelangt, stellte der Alte durch seinen Freitod das plötzlich alles in Frage. Würde jetzt ein solcher Schritt nicht gerade das Gegenteil bewirken? Mußte unter den obwaltenden Umständen nicht alle Welt annehmen, der in überlieferter Familientradition befangene Vater habe deshalb Hand an sich gelegt, weil er die Wahl seines Sohnes nicht billigen konnte! Wütend empfand Adrienne diesen Selbstmord wie eine gegen sie gerichtete Bosheit. In ihrem Kopf jagten sich die Gedanken; ihr berechnender Verstand arbeitete fieberhaft. „Ich verstehe nicht… Weshalb hat dein Vater das getan?“ wollte sie wissen. Matt winkte Albert ab: „… ich erzähle es dir später.“ „Und – was gedenkst du nun zu tun?“ „Was schon“, sagte er leise, „den Arzt und die Polizei verständigen.“ „Die Polizei –“ „Was soll ich denn sonst machen?“ „Bist du dir bewußt, was du damit auslöst“, gab sie zu bedenken. „Immerhin tragt ihr einen angesehenen Namen, dazu seid ihr katholisch… Willst du, daß man deinen Vater mir nichts, dir nichts verscharrt? Du wirst keinen Priester finden, der in einem solchen Falle auch nur eine Hand rührt!“ Albert zuckte hilflos die Schultern. Von seiner sonst so gern zur Schau getragenen Überlegenheit und leicht spöttischen Überheblichkeit war nichts mehr zu spüren. „Warum unnötig Staub aufwirbeln!“ meinte Adrienne. „Der Tod deines Vaters muß doch kein Selbst36
mord sein, es könnte ebensogut ein Unfall oder ein – was weiß ich…“ Albert schüttelte den Kopf. „Ich möchte wissen, wie du dir das vorstellst!“ „Wie schon“, erwiderte sie achselzuckend. „Es kommt doch nur darauf an, was auf dem Totenschein steht. Vielleicht kennst du einen Arzt, der es nicht so genau nimmt…“ „Ausgeschlossen“, widersprach Albert, „die Sachlage ist so eindeutig…“ Er brach ab und blickte weg. Sie sah, wie er schluckte. Die Erinnerung an den Anblick, der sich ihm im Arbeitszimmer seines Vaters geboten hatte, machte es ihm unmöglich weiterzusprechen. „Ach was“, entgegnete Adrienne, „da findet sich immer ein Weg. Du darfst nur nicht gleich überall hinrennen und Lärm schlagen. Weshalb denn nicht erst einmal Zeit gewinnen und überlegen. Wenn du den – das Unglück“, verbesserte sie sich, „erst morgen früh entdeckst, ist doch auch noch Zeit.“ „Ich weiß nicht, was sich dadurch ändern sollte“, meinte Albert resigniert und blieb unschlüssig stehen; denn sie waren, langsam den in Richtung der Stadt führenden Weg herabkommend, vor dem Château Ramoulin angelangt. Er sah sie fragend an. „Kommst du mit hinein?“ Aus seiner Stimme war deutlich der Wunsch herauszuhören, jetzt nicht allein gelassen zu werden. Adrienne zögerte. „Bitte versteh mich…“ Albert nickte müde, schien jedoch, seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, das keineswegs zu verstehen. Sie wußte, daß es nicht richtig war, jetzt einfach wegzugehen; aber sie empfand in diesem 37
Augenblick eine eigenartige Scheu, das Haus zu betreten. „Ich komme heute abend wieder vorbei, und dann reden wir weiter – ja“, sagte sie deshalb abschwächend. Und ihm die Hand reichend: „Laß dir das inzwischen mal durch den Kopf gehen, was ich gesagt habe!“ Wie zum Hohn blickte die Statue des Moralisten Montaigne von ihrem Standplatz auf dem Cours MichelMontaigne in Périgueux bei Tag und Nacht in die Fenster der sehr unmoralischen Zwecken dienenden Räume des Etablissements Boudet. Natürlich hatten die Erbauer des Denkmals das nicht beabsichtigt. Dem ständig von schlechtem Gewissen erfüllten Abbé Périchelle war es auf seinen verbotenen Wegen an dieser Stelle jedesmal wie eine drohende Mahnung erschienen. Das änderte sich, nachdem er sich der Mühe unterzog, in den Essays des Philosophen zu lesen. Der Mensch solle sich in die Vernunft der Natur fügen, stand dort geschrieben, und von Toleranz und der Freimachung der Persönlichkeit von kirchlichen Fesseln und Bevormundung. Der Natur nachzugeben und nicht bevormundet zu werden – das war so recht nach dem Herzen des Abbés, dabei ließ sich schwer erkennen, ob er das Gelesene falsch verstanden oder nur seinen Wünschen entsprechend auslegte. So beunruhigte ihn denn nicht mehr der mahnende Moralist, sondern nur noch seine auffallende geistliche Kleidung, die die Besuche des Etablissements Boudet sehr erschwerten. 38
Hatte er Verlangen nach den sich dort bietenden Freuden – und das war bei dem Abbé Périchelle ziemlich oft der Fall –, wurde das Betreten des Hauses der Madame Boudet für ihn jedesmal zum Problem. Immer wieder fürchtete er, gesehen und erkannt zu werden. So wagte er sich nur bei Dunkelheit hierher, um, sobald gerade kein Passant in der Nähe war, blitzschnell in dem einstöckigen, grauen Gebäude zu verschwinden. Sehr zustatten kam ihm dabei die gerade an dieser Stelle äußerst schlechte Straßenbeleuchtung und das dadurch vor dem Haus herrschende Halbdunkel. Der Abbé erachtete dies immer als einen besonderen Glücksumstand, bis ihm vor nicht allzulanger Zeit gerade die sonst so schützende Dunkelheit ein Abenteuer bescherte, bei dem ihm als Opfer einer Verwechslung Übles widerfuhr. Voll des süßen Weines, war der Abbé Périchelle zu später Stunde aus dem gastlichen Haus der Madame Boudet geschwankt, als das Unheil über ihn hereinbrach. Nichts Arges auch nur ahnend, hatte der Abbé seinen Schritt verhalten, um genießerisch die frische Nachtluft einzuatmen; doch just in dem Moment, da er den Blick aufwärts richtete, um sich an den am dunklen Nachthimmel vereinzelt schimmernden Sternen zu erfreuen, spürte er plötzlich einen heftigen Schlag auf dem Kopf, daß er Sterne zu Tausenden vor seinen Augen funkeln, flimmern und sprühen sah. Und ehe sein trunkener Geist noch begriff, kam er zu Fall, während ihm gleichzeitig ein mit wütender Kraft geschwungener Pompadour so derb auf den Mund geschlagen wurde, daß er glaubte, sein letztes Stündlein sei gekommen. 39
Der am Boden liegende Abbé konnte überhaupt nicht fassen, was ihm da geschah, wozu der in den letzten Stunden in überreichlichem Maße genossene Wein nicht unwesentlich beigetragen haben mochte. Als er dann jedoch als seine Angreifer drei Frauengestalten ausmachte, die sich wie Furien auf ihn stürzten, durchzuckte ihn der Schreck, daß dies die Erinnyen seien, die Rachegöttinnen der Unterwelt, die erscheinen, um erbarmungslos alle Frevler zu bestrafen. Der Intensität nach, mit der sie ihn bearbeiteten, mußten sie es sein. Der Abbé hielt abwehrend die Arme vor das Gesicht, um sich vor dem Pompadour zu schützen, den das eine Weib unablässig gegen ihn schwang. In dieser sah er sofort Alekto, die nie Ablassende. Aber das konnte ebensogut auch die zweite sein, die ihn, ohne abzulassen, mit Fußtritten traktierte. Der Abbé hätte es vordem nie für möglich gehalten, was so ein kleiner, spitzer Frauenschuh, mit voller Kraft in die richtigen Körperstellen getreten, für unerträgliche Schmerzen verursachen kann. Besonders roh aber verfuhr die dritte mit dem Bedauernswerten. Unentwegt piekste sie ihm mit wütendem Nachdruck die Spitze eines langen Regenschirmes in die weichen Teile des Leibes und zischelte dabei in einem: „Du wirst mich nicht mehr betrügen! Du wirst mich nicht mehr betrügen!“ Und das mochte Megaira, die Neiderin, gewesen sein. Der bejammernswerte Périchelle wand sich unter seinen Peinigern wie ein Aal. Was nützte es da, immer gut gegessen und getrunken zu haben, wenn dem im Kampf ungeübten Abbé die Kraft nicht einmal dazu reichte, sich aus seiner mißlichen Lage zu befreien. Ach, wie gern hätte der so arg Bedrängte um Hilfe gerufen; aber die Furcht, sich vor unberufenen Augen 40
zu kompromittieren, ließ ihn mannhaft alle Pein ertragen. Nur hin und wieder entrang sich ein klägliches „Au!“ und „Oh!“ und „Au!“ und „Oh!“ seinem ächzenden Munde. Als aber der Schmerz doch zu übermächtig wurde, begann er zu wimmern und zu jammern. „Gnade!“ hatte er mit weinerlicher Stimme gefleht. „Gnade, Ihr lieben Frauen, ach, Ihr lieben Frauen…!“ Doch die „lieben Frauen“ schienen von Gnade nicht viel zu halten. Mit kaum zu überbietender Heftigkeit wurde der arme Périchelle weiter durchgewalkt, daß ihm schier die Sinne schwinden wollten. Dann aber mußten sie erkannt haben, daß sie den Falschen verprügelten, denn so plötzlich, wie der Spuk gekommen, war er mit einem Schlage vorüber gewesen. Zerschunden und zerschlagen auf der feuchten Straße sitzend, gelang es dem Abbé nur mit Mühe, sich zu sammeln. Ach, wie oft hatte er gedankenlos in seinen Predigten über die Erlösung gesprochen, aber erst hier in diesem Augenblick die ganze Herrlichkeit dieses Begriffes gefühlt. Tagelang war er nicht imstande gewesen, sein Studierzimmer zu verlassen, ein Umstand, der ihm genügend Zeit gab, ausgiebig Betrachtungen über die ihm widerfahrene Unbill anzustellen. Und er gelangte zu der Erkenntnis, daß er durch ein böses Mißgeschick das Opfer einer Verwechslung geworden war. Da wollte ein rachsüchtiges Weib mit Hilfe Gleichgesinnter den Ehemann dafür strafen, daß er ihr Zustehendes anderen Ortes vergeudete – und ihn, Périchelle, hatte es erwischt. Die in den folgenden Tagen während der Messen im Angesicht seiner Gemeinde durchlebten Qualen 41
steigerten die Wut des Abbés ins maßlose. Er mußte vor aller Augen auf der Kanzel stehen und sah aus, als habe ihn ein Strafgericht heimgesucht. In dem zerkratzten Gesicht waren Augen, Nase und Mund und eigentlich alles geschwollen und zu allem Überfluß auch noch die Lippen aufgeplatzt und eingerissen, was ihn beim Sprechen ungemein hinderte. Die verwunderten und befremdeten Blicke seiner gläubigen Zuhörer waren bei alledem das Schlimmste gewesen. Niemals, so schwor sich der Abbé, wollte er jemals wieder auf Erden seinen Fuß in ein Paradies setzen. Doch die Zeit heilt alle Wunden und macht auch solche Schwüre vergessen. Und so dachte der Abbé Périchelle, als er an diesem Abend erwartungsvoll im Salon des Etablissements Boudet saß, an alles andere, nur nicht mehr an die guten Vorsätze jener Tage. Der Salon, im oberen Stockwerk des Hauses gelegen, diente den Mädchen zum Aufenthalt, wenn sie nicht gerade den Gästen des Etablissements zur Verfügung stehen mußten. Die Einrichtung war altmodisch wie überall im Haus. In der Mitte stand ein großer ovaler Tisch, umgeben von Stühlen mit hohen Lehnen. Darüber hing eine Seidenschirmlampe mit Perlenfransen, die vor einigen Jahrzehnten einmal modern gewesen sein mochte. Eine kleine Anrichte und zwei abgenutzte Fauteuils vervollständigten zusammen mit einem abgelaufenen Teppich das Interieur. Hier wurden keine Besucher empfangen. Dazu diente der Empfangsraum, der sich im Erdgeschoß gleich hinter der Eingangstür befand. Nur der Abbé Périchelle genoß die besondere Ehre, sich darin aufhalten zu dürfen. Und er genoß es sehr. Für die scharf beobachtende Adrienne war es immer wieder belustigend zu sehen, wenn der Abbé mit Ma42
dame Boudet Konversation machte, während seine Blicke, ganz andere Gedankengänge verratend, begehrlich die Mädchen abtasteten. Heute war Adrienne aber ganz und gar nicht aufgelegt, sich über den Priester zu amüsieren. Die für sie durch das Ableben des Obersten Ramoulin entstandenen Probleme beschäftigten sie viel zu sehr. Mit geschlossenen Augen lag sie in einem der Fauteuils und zermarterte sich den Kopf. Seit sie sich am Nachmittag von Albert getrennt hatte, kannte sie keinen anderen Gedanken mehr. „Nun nehmen Sie doch ein Stück von dem köstlichen Kuchen!“ forderte die an der Stirnseite des Tisches thronende Madame Boudet den zu ihrer Linken sitzenden Abbé Périchelle auf, wobei sie mit ihren kleinen fetten Händen auf einen vor ihr stehenden tiefgebräunten Napfkuchen wies. Dem Abbé war beim Anblick des duftenden Kuchens schon die ganze Zeit über das Wasser im Munde zusammengelaufen, ohne daß es ihm bis jetzt gelungen wäre, ein Stück davon zu nehmen. Jeder Versuch dazu wurde von Chi-chi, einem auf Madames Schoß liegenden kleinen weißen Malteserhündchen, bereits im Keim erstickt. Sobald er auch nur die Hand nach dem Kuchen ausstreckte, fletschte das kleine verhätschelte Biest böse knurrend die Zähne und machte Anstalten zuzuschnappen. Und als der Abbé voller Gottvertrauen einmal schnell zugreifen wollte, war es passiert. Nur mit knapper Not entging die zurückzuckende Hand dem Biß, um dafür jedoch im gleichen Augenblick das Glas mit dem Wein umzuwerfen, so daß der eben noch rubinrot im Licht funkelnde Inhalt sich über das weiße Tischtuch ergoß. „Was hat mein kleiner Liebling denn da wieder angestellt!“ schimpfte Madame zärtlich und schien damit 43
ohne Zweifel den außer Rand und Band geratenen Chichi und nicht den erschrockenen und betreten dreinschauenden Périchelle zu meinen. Dieser wünschte sich auch ganz und gar nicht, Madames Liebling zu sein. Madame Boudet, eine kleine, dickliche Person von unbestimmbarem Alter, erinnerte ihn nämlich mit der ständig dick aufgetragenen Puderschicht immerfort an ein weißes Marzipanschweinchen. Natürlich ließ sich der nur auf seinen Vorteil bedachte Abbé das nicht anmerken, wie auch das ehrerbietige Verhalten, welches er ihr gegenüber an den Tag legte, durchaus nicht seine wahre Meinung widerspiegelte, die er über Madame hegte. Daran vermochten auch die den Hals und die entblößten Schultern schmückende, mehrfach geschlungene wertvolle Perlenkette und die kostbaren Ringe an den fleischigen Fingern nichts zu ändern, mit denen Madame eine gewisse gesellschaftliche Stellung zu demonstrieren versuchte. „Mein Gott, da habe ich ja etwas Schönes angerichtet!“ sagte der Abbé, um sein Mißgeschick zu entschuldigen, und es war ihm wirklich unangenehm. „Aber ich bitte Sie, lieber Freund, das ist doch nicht der Rede wert“, beruhigte ihn Madame und blickte dabei strafend auf die mit am Tisch sitzende Mirabelle, ein Mädchen mit einem hübschen, aber geistlosen Puppengesicht, die sich vor Lachen nicht halten konnte. Sie erhob sich auch sofort, um den Schaden zu beheben. Mirabelle in ihrem hautengen Kleid begann den Abbé zu erregen. In der ersten Zeit seiner Besuche hatte er fast ausschließlich die Gefälligkeiten dieses Mädchens in Anspruch genommen. Die harmlos plappernde und zu allem willfährige Mirabelle entsprach ihm so recht, bis dann eines Tages eine betrübliche Panne passiert 44
war. Madame mußte in weinseliger Stimmung die Übersicht verloren haben und schickte den Abbé voreilig in Mirabelles Zimmer, in dem diese gerade dabei war, einem Kunden den Gegenwert für das bereits im voraus entrichtete Entree zu überlassen. Zu allem Überfluß war der Besucher auch noch ein Chinese gewesen, das heißt, der Abbé Périchelle hielt jeden für einen Chinesen, der so ähnlich aussah. Er kannte sich da nicht so recht aus. Jedenfalls schockierte ihn das so, daß er sich geschworen hatte, dieses Haus fortan zu meiden. Letztlich aber beschränkte sich der große Vorsatz lediglich auf die unschuldige Mirabelle. Verstohlen schielte er zu der bequem im Sessel liegenden Adrienne. Ihr Gesicht lag etwas im Halbdunkel und wirkte dadurch weich und entspannt, was den pikanten Eindruck auf den Beschauer noch erhöhte. Am liebsten wäre der Abbé sogleich auf sein Ziel losgegangen, jedoch die Damen des Etablissements Boudet so unverblümt zu inkommodieren, blieb allein den zahlenden Kunden vorbehalten… Seine Besuche bewegten sich in anderen Bahnen und nahmen fast immer denselben Verlauf. Als Freund des Hauses genoß er das Privileg, die etwas begriffsstutzige Madame Boudet stundenlang mit vielerlei Gesprächsthemen unterhalten zu dürfen. Seufzend unterzog er sich immer wieder dieser Aufgabe, und daß man ihn dabei stets gut bewirtete, blieb ein geringer Trost. Allerdings mußte er sich jedesmal in Geduld üben, bis es endlich soweit war, daß ihm Madame, zumeist schon zu weit vorgerückter Stunde, den bereits sehnsüchtig erwarteten Vorschlag machte, sich noch ein wenig mit einem ihrer Mädchen zu unterhalten…! Verschämt pflegte der Abbé sich dann zu sträuben und zu zieren, um nach einigem Zureden letztlich doch von 45
dem großzügigen Angebot mehr als ausgiebig Gebrauch zu machen. Es konnte aber auch vorkommen, daß Madame es einfach vergaß, den Herrn Abbé zu solcher Kurzweil zu überreden. Diese Gefahr bestand vor allem, wenn sie zu viel von dem roten Wein genossen hatte, den sie über alles liebte. Und so mag es verständlich erscheinen, daß den Abbé Périchelle nichts so sehr beunruhigte, als wenn Madame in weinselige Stimmung geriet. Dazu kam aber noch etwas. In diesem Zustand kannte sie nur ein einziges Gesprächsthema: ihren verstorbenen Mann. Stundenlang schwelgte sie mit rührseliger Stimme in Erinnerungen an ihren Jaques. Dem auf ganz andere Unterhaltung erpichten Abbé blieb dann nichts weiter übrig, als seine Ungeduld hinter einer teilnahmsvollen Miene zu bezähmen. Madames Dankbarkeit gegen ihren verstorbenen Mann war begreiflich, schließlich stammte alles, was sie besaß, von ihm. Jaques Boudet war ein kleiner Angestellter in einer kirchlichen Institution irgendwo in der Provinz gewesen. In so untergeordneter Stellung und mit einem nichtssagenden Aussehen hatte ihm das Leben alles, aber auch alles vorenthalten. Das stand in einem ungemein schmerzlichen Gegensatz zu seinen Sehnsüchten und Wünschen. Und als sich eines Tages eine Sammlung zur Betreuung gefallener Mädchen geradezu als Gelegenheit anbot, nutzte Jaques Boudet die Chance und lief mit dem Gelde seinen kleinlichen und gestrengen geistlichen Vorgesetzten davon. In einem Tingeltangel lernten sich die dort beschäftigte Madame und der flüchtige Jaques kennen und schätzen und erwarben kurz darauf von seinen mitgebrachten Mitteln 46
dieses Haus. Bei der Wahl des Geschäftes gaben Madames Fachkenntnisse den Ausschlag und nicht die Überlegung, die Sammlung für gefallene Mädchen doch noch für den ursprünglich bestimmten Zweck zu verwenden. Aber das Leben als Besitzer eines solchen Etablissements war dem kleinen Schreiber, der so viele Jahre der Entbehrungen auf einmal nachholen wollte, nicht bekommen. So wie ein Schankwirt oft in seiner eigenen Schenke der beste Gast ist, wurde es Jaques Boudet bei seinen Mädchen. Das freilich vertrug er nicht und starb bald darauf an der Auszehrung. Zu seinem Glück früh genug, um das Erscheinen der Polizei nicht mehr erleben zu müssen, die den Defraudanten für seine Missetat zur Rechenschaft ziehen wollte. Das alles lag viele, viele Jahre zurück, und Madame mußte damals ihre ganze Geschicklichkeit aufbieten, um nicht alles zu verlieren. Und noch etwas zeugte von Madames Gewandtheit: Als das Gesetz marchand in Kraft trat und alle öffentlichen Häuser verbot, hatte sie das ihre nicht geschlossen, sondern das öffentliche einfach in ein diskretes umgewandelt. Geändert wurde nur der Stil, alles andere aber belassen, wie es war. Es sprach auch für Madame, daß keine behördliche oder kirchliche Stelle in Perigueux dienstlich von dem Haus am Cours Michel-Montaigne Notiz nahm. Allerdings mochte da aber auch der Umstand mit hineinspielen, daß weder die Verantwortlichen noch die Honoratioren der Stadt sich einer so segensreichen Einrichtung berauben wollten. Dem Abbé Périchelle war das nur recht so… Und da Madame Boudet heute nur sehr wenig von dem roten Wein genossen, durfte er bestimmt auf einige Erbauung hoffen. Voll dieser süßen Erwartung, musterte er 47
begehrlich die in Gedanken versunkene Adrienne, dabei seine erhitzte Phantasie genießerisch spielen lassend, um sich mit solcher Art Raffinesse schon einen kleinen Vorgeschmack zu verschaffen. „Was gibt’s denn Neues in Saint-Ponoir?“ fragte da Madame auf einmal unvermittelt. Sie hatte sich eigentlich gar nichts dabei gedacht und mit dieser Floskel lediglich das Gespräch, welches sich gerade in langweiligen Nichtigkeiten zu erschöpfen drohte, etwas beleben wollen, und sie konnte wirklich nicht ahnen, wie sehr sie ihren Gast damit verstimmte. Der aus seinen lustvollen Gedankenspielen aufgeschreckte Abbé meinte nicht richtig gehört zu haben. Von den Ereignissen in seiner Gemeinde mehr mitgenommen, als er sich eingestehen wollte, war er hierhergeeilt, wie in eine Oase des Vergessens – und da mußte man ihm jetzt mit dieser Fragerei kommen, die sofort all die Mißhelligkeiten des vergangenen Tages wieder vor ihm erstehen ließen. „Erinnern Sie mich nicht daran!“ wehrte er ärgerlich ab, dabei schwang ein so wütender Unterton mit, daß Madame, nun wirklich neugierig geworden, sogleich wissen wollte: „Nanu, was ist denn passiert?“ „Ach“, stöhnte der Gefragte, „mehr als einem Hüter der Moral lieb sein kann, wenn Sittenlosigkeit die Hirne der Menschen verwirrt!“ „Wieso denn das?“ wunderte sich Madame. „Aber Sie klagen doch immer, daß in Ihrer kleinen Gemeinde so gar nichts los ist und wie sehr Sie darunter leiden…“ „Das habe ich doch ganz anders gemeint!“ erwiderte der Abbé gereizt, und es war ihm so unwillig entfahren, daß er sogleich sein verbindlichstes Lächeln aufsetzte, um nicht etwa durch einen Mißklang die in Aussicht stehende Erbauung zu gefährden. 48
Er hätte etwas darum gegeben, wenn es ihm jetzt vergönnt gewesen wäre, sich erfreulicheren Dingen zuwenden zu können, aber Madames Wißbegierde war geweckt. „Erzählen Sie doch mal, Sie haben mich wirklich neugierig gemacht!“ forderte sie ihn auf. ,Auch das noch!’ seufzte er in sich hinein und fand trotz krampfhaften Suchens keinen Ausweg, sich diesem Wunsche zu entziehen. Und eingedenk des Bibelwortes, daß man sich das Paradies verdienen müsse, ergab er sich in das Unvermeidliche und begann ausführlich die Begebenheiten dieses Tages zu schildern, ohne dabei jedoch zu vergessen, Zunge und Gaumen ausgiebig mit Wein zu netzen. Für die in ihrem Sessel dösende Adrienne ergab es sich zwangsläufig, daß sie alles mit anhören mußte. Sie bewegten andere Sorgen. Was scherte sie der Skandal dieser Spießbürger in Saint-Ponoir, was der Bischofshügel und was das Gasthaus „Zur heiteren Catherine“! Wie konnte das alles für den Abbé Périchelle nur so wichtig sein? Sie verstand das nicht. Das einzig wirklich Bedauerliche an der ganzen Geschichte war doch der Tod des alten Mannes, der bei alledem einen Herzschlag erlitten; aber gerade hierzu bemerkte der Abbé, daß der Alte es sich selbst zuzuschreiben habe und dies nur die gerechte Strafe sei, wenn er jetzt tot und starr dort in der Leichenhalle liege… Befremdet von dieser Äußerung, überlegte Adrienne gerade, wie ein Gottesmann so etwas Pietätloses sagen könne – da durchzuckte sie auf einmal ein Gedanke wie ein Blitz: Der Tote…! Der Tote in der Leichenhalle von Saint-Ponoir! Das war der Ausweg! 49
Und noch im gleichen Moment hatte ihr kaltberechnender Verstand auch schon den einzuschlagenden Weg erkannt… So wurde denn nicht nur der Wunsch des Abbé Périchelle erfüllt, als Madame wenig später Adrienne bat, den Herrn Abbé doch noch etwas Gesellschaft zu leisten… Noch nie zuvor hatte sie eine Bitte Madames mit so innerlicher Bereitwilligkeit erfüllt, und sie pries den Umstand, daß keines der anderen Mädchen zur Verfügung stand. Als sie dann dem Abbé in ihrem Zimmer gegenübersaß, konnte dieser sich nicht genug über das Interesse wundern, das ihm die sonst so unpersönliche Adrienne entgegenbrachte. Besonders seine Gemeinde Saint-Ponoir schien es ihr angetan zu haben, für die sie eine geradezu pedantische Wißbegierde zeigte. Merkwürdig fand er nur ihre sonderbare Vorliebe für Friedhöfe, denn sooft er auch das Thema verlassen wollte, sie kam immer wieder auf den Friedhof von Saint-Ponoir zu sprechen. Wie er denn angelegt sei, wollte sie wissen? Und nachdem sie erfahren hatte, daß der Friedhof außerhalb des Ortes an der nach Excideuil führenden Landstraße liege, erkundigte sie sich mitfühlend, ob der Weg dorthin für den Herrn Abbé sehr beschwerlich sei? Dann wieder schien ihr der Abstand zwischen Friedhof und Landstraße zu gering, um diesem Ort des Friedens die ihm gebührende Ruhe zu gewährleisten. Auch daß der Betreuer des Friedhofes nicht in der Nähe desselben, sondern im Ort wohne, fand sie unzweckmäßig… Langsam wurde es dem Abbé zu dumm! Die erfahrene Adrienne hatte seinen aufkommenden Unwillen bemerkt. Sogleich erhob sie sich und ging zu 50
einer kleinen Anrichte, und charmant und vieldeutig lächelnd fragte sie: „Trinken wir noch ein Gläschen?“ Und dabei auf eine Flasche Rotwein zeigend, fügte sie noch hinzu: „Sie müssen ihn aber so trinken wie ich – mit viel Zitrone…!“ Dabei füllte sie auch schon, ohne eine Bestätigung abzuwarten, zwei Gläser. Der Abbé hatte noch niemals in seinem Leben Wein mit Zitrone getrunken. Er konnte sich auch gar nicht denken, wofür das gut sein sollte. Zudem hatte er bereits mehr als reichlich von Madames rotem Beaujolais genossen, und das war ihm in seiner heutigen Gemütsverfassung irgendwie nicht bekommen. Am liebsten hätte er abgelehnt, brachte es aber zu seinem Pech nicht über sich, einer so reizenden und vielversprechenden Aufforderung zu widerstehen. „Aber es muß für heute das letzte sein!“ schränkte er wenigstens ein. „Ganz bestimmt!“ sagte Adrienne sehr sicher und schüttete mit dem Zitronensaft unauffällig zwei weiße Pulver in das für den Abbé bestimmte Glas… Dieser schwamm in eitel Wonne. Endlich nahmen die Dinge den gewünschten Verlauf! Mit sich und der Welt zufrieden, hob er das Glas – um sogleich beim ersten Schluck das Gesicht zu verziehen, als habe man ihm eine abscheulich schmeckende Arznei eingefüllt: Das Zeug war sauer und bitter wie der Schwamm von Golgatha! „Schmeckt es Ihnen nicht?“ fragte Adrienne harmlos, und es klang leicht besorgt. „Doch, doch!“ log der Abbé, den es im Halse würgte, und leerte das Glas mit Todesverachtung in einem Zuge, um die ihm heute so freundlich gewogene Adrienne ja nicht zu verstimmen oder gar zu kränken; 51
denn wie hätte er auch ahnen können, daß sich hinter all dieser Liebenswürdigkeit nur kalte, berechnende Absicht und brennende Ungeduld verbarg! Die beabsichtigte Wirkung ließ denn auch nicht lange auf sich warten. Dem Abbé wurde es mit einemmal so blümerant, daß er sich unbedingt hinlegen mußte. Als er auf die mitten im Zimmer stehende Ottomane zutaumelte, hätte er beinahe noch ein diskret hinter einem Vorhang verborgenes Bidet umgeworfen, und nur die geistesgegenwärtig hinzuspringende Adrienne verhinderte, daß sich der Inhalt in das Zimmer ergoß. Aber wie elend er sich auch fühlte, er hatte nicht vergessen, weshalb er hierhergekommen war. Noch sitzend versuchte er, die neben ihm stehende Adrienne zu sich herabzuziehen, doch diese versetzte ihm einen Stoß vor die Brust, daß er kraftlos hintenüberfiel. Verständnislos glotzte er sie aus großen Augen an. „Aber…?“ lallte er, doch dann versank er in ein empfindungsloses Nichts. Endlich! Minuten später hallten Adriennes Stöckelschuhe aufreizend durch die nachtstillen Straßen, als sie dem Château Ramoulin entgegenhastete… Etwas unruhig lief er ja, der Motor des klapprigen Peugeot, aber das lag wohl in der Natur der Sache: Der Wagen war eben zu alt. Das Beste daran schienen noch die Scheinwerfer zu sein, deren aufgeblendetes Licht das Nachtdunkel vor der mit mäßiger Geschwindigkeit fahrenden Limousine taghell erleuchtete. Albert Ramoulin hatte das Lenkrad mit beiden Händen umfaßt und starrte angespannt auf die wie ein helles Band unter den Wagen gleitende Landstraße, 52
während seine Gedanken unablässig nur um das eine kreisten: Der Schuß am Vormittag! Der Anblick, der sich ihm beim Betreten des Arbeitszimmers seines Vaters bot… Das war selbst für ihn, den in der Grausamkeit des Kolonialkrieges empfindungsarm gewordenen Offizier, zuviel gewesen. Der sonst so Selbstsichere erlitt einen Schock, dessen lähmende Wirkung ihm jede eigene Entscheidung nahm. Den ganzen Nachmittag und Abend hatte er grübelnd und unschlüssig in seinem Zimmer voller Ungeduld auf Adrienne gewartet. Endlich, gegen Mitternacht, kam sie! Er hatte zuerst gar nicht verstanden, was die vom schnellen Lauf Atemlose ihm da berichtete, und erst allmählich begriffen, was sie von ihm wollte. So absurd, so toll war ihm das alles erschienen, daß er nur den Kopf zu schütteln vermochte. Plötzlich jedoch durchfuhr ihn angesichts der unbestreitbaren Logik ihrer Überlegungen ein Gedanke – ein Gedanke, so bestechend, daß es seitens Adriennes keiner weiteren Argumente mehr bedurfte und es sie überraschte, wie schnell er mit einemmal auf ihren Vorschlag einging. Nicht eine Stunde war seitdem vergangen – und jetzt hatte er bereits Excideuil, den letzten Ort vor Saint-Ponoir, hinter sich gelassen. Und da sah er auch das Hinweisschild: Saint-Ponoir 3 km. Nun hieß es aufpassen! Albert war nur noch gespannteste Aufmerksamkeit, um nicht den ihm von Adrienne bezeichneten Anhaltspunkt zu übersehen. Eine unbegründete Sorge, denn nach etwa zweieinhalb Kilometern tauchte diese markante Stelle an der linken Seite der Landstraße im Lichtkegel der Scheinwerfer auf, ein übermannshoher obeliskförmiger 53
Stein, der unterhalb des Friedhofes von Saint-Ponoir zur Erinnerung an die Gefallenen des ersten Weltkrieges aufgestellt worden war. Kurz vor dem Gedenkstein fuhr Albert den Wagen hinter ein großes Gebüsch und schaltete die Beleuchtung aus. Er war am Ziel. Einen Moment noch blieb er zögernd sitzen, so, als müsse er sich erst überwinden, dann ergriff er eine neben ihm liegende Taschenlampe, ein kurzes Montiereisen sowie eine zusammengelegte Zeltbahn und stieg aus. Von allen Seiten drangen die vielstimmigen Geräusche des Nachtgetiers an sein Ohr. Es war gar nicht kühl, eher lau – doch ihn fröstelte… Nach einigen Schritten trat er aus dem die Sicht verwehrenden Gebüsch heraus. Er blieb stehen, um sich erst einmal zu orientieren. Suchend glitt sein Blick über die vor ihm liegende Mondscheinlandschaft. Die Nacht war bedeutend heller, als er es unter dem Blätterdach der Chausseebäume empfunden hatte. Und nur wenn sich hin und wieder eine der den Himmel durchfahrenden grauen Wolken vor den rein und weiß leuchtenden Mond schob, verdüsterte sich dieses Bild etwas. Alles bot sich so, wie von Adrienne beschrieben. Geradewegs vor ihm auf einer kleinen Anhöhe, an der niedrigen, hellgrauen Lehmmauer sogleich zu erkennen, lag der Friedhof von Saint-Ponoir. Davor zur Linken hob sich der nach dort ansteigende sandfarbene Weg deutlich von seiner dunkleren Umgebung ab. Ein Verfehlen war überhaupt nicht möglich. Langsam setzte sich Albert in Bewegung. Eine seltsame, prickelnde Unruhe erfüllte ihn, ähnlich dem Angstgefühl, das ihn jedesmal auf nächtli54
cher Patrouille während der Kampfhandlungen im Maghreb befallen hatte, wenn jede Fiber des Körpers in Erwartung lauernder, unbekannter Gefahren vor Spannung zittert. Als Albert vor dem Eingang des Friedhofes anlangte, stellte er fest, daß das eiserne Gittertor nicht verschlossen war; doch als er es dann aufstieß, quietschten die ungeölten Angeln so zum Gotterbarmen durch die Nacht, als wollten sie alle Welt auf ihr Leiden aufmerksam machen. Dadurch gewarnt, ließ er – unnötigen Lärm zu vermeiden – das Tor offenstehen; doch kaum hatte er sich weggewendet, als hinter ihm das schief hängende Eisentor mit weithin schallendem dumpfem Krach von allein wieder ins Schloß fiel. Albert hielt den Atem an: Verdammt! Es war wie verhext! Da wollte er sich nun besonders leise bewegen und machte dabei einen Lärm, der Tote aufwecken konnte. Aber still lagen die Grabhügel, nur aus der Ferne kam das rufende Klagen eines Nachtvogels. Unregelmäßig standen Grabsteine und Holzkreuze durcheinander, teils unter dem Dunkel der Bäume nur verschwommen zu erkennen, teils im gelben Mondlicht sich unwirklich plastisch von der Nacht abhebend. Und inmitten dieser makabren Umgebung – dazugehörig und das eine ohne das andere nicht denkbar – die Leichenhalle… Keine zwanzig Schritte lag sie entfernt. Der vom Friedhofseingang kommende Weg führte gerade darauf hin. Albert zögerte nun doch. Am liebsten wäre er umgekehrt; doch es stand zuviel auf dem Spiel. 55
Beklommen näherte er sich dem kleinen Backsteingebäude mit dem mattglänzenden Schieferdach. Im Gegensatz zu dem eisernen Haupttor war die schwere Eichenholztür verschlossen, doch ein kurzes Aufleuchten der Taschenlampe genügte, und er war im Bilde. Instinktiv schaute sich Albert noch einmal nach allen Seiten um, dann begann er sein Werk. Er stieß den mitgebrachten Montierhebel in Höhe des Kastenschlosses in die Spalte zwischen Wand und Tür, um den Riegel des Schlosses aus der Halterung zu sprengen. Nach mehrmaligen vergeblichen Versuchen hatte er den erforderlichen Halt gefunden und drückte nun mit aller Kraft die Tür nach innen. Der Widerstand war jedoch größer als angenommen. Er wollte schon aufgeben, weil es so nicht zu gehen schien, da spürte er auf einmal ein knirschendes Lösen, ein zitterndes Nachgeben und im letzten verzweifelten Anspannen aller Kräfte plötzlich – wie eine Erlösung – den Schlag der aufspringenden Tür. Als er sie ganz öffnete, gab es ein schauerlich knarrendes Geräusch, das sich anhörte wie qualvolles Ächzen und Stöhnen. Eingesperrte Luft schlug ihm entgegen. Im Licht der Taschenlampe erblickte er einen kleinen Raum, an dessen hinterer Wand abgestellt: Hacken, Schaufeln und anderes Friedhofsgerät. Wohlgeordnet hingen darüber starke Stricke. In der Mitte der rechten Wand befand sich eine Türöffnung. Vorsichtig, mit wachsender Erregung ging Albert darauf zu. Als er zaghaft hindurchschritt, gelangte er in einen etwas größeren Raum, der durch ein gegenüberliegendes Fenster matt erleuchtet wurde. Albert schaltete seine Taschenlampe aus, denn trotz des schwachen Lichtes konnte er alles gut erkennen. 56
Zur Linken standen in gleichmäßigen Abständen nebeneinander drei Pritschen – sonst nichts. Die beiden äußeren waren leer; auf der mittleren lag der Leichnam eines alten Mannes. Alberts Herz pochte. Ein schmaler Streifen Mondlicht fiel schräg über das Holzgestell, auf dem der Tote, nur mit Hemd und Hose bekleidet, ruhte. Albert fühlte sich in seiner Haut ganz und gar nicht wohl. Er stand und lauschte in die ihn geradezu schmerzhaft umgebende Lautlosigkeit. Unsicher blickte er sich um, und mit einemmal überkam es ihn. Es war diese absolute, drohende Stille, die ihn plötzlich überfiel und ihm nur noch den einen Gedanken ließ: Weg von hier! In einer Mischung aus Schauder, Entschlossenheit und verbissener Wut überwand er sich, hüllte mit zitternden Händen den Leichnam in die mitgebrachte Zeltbahn und lud ihn auf die Schulter. Die Totenstarre war bereits eingetreten und machte den Packen steif und unhandlich. Albert bewegte sich äußerst vorsichtig und gelangte mit Hilfe seiner Taschenlampe durch den stockdunklen Vorraum wieder ins Freie. Erlöst atmete er die frische Nachtluft, während sein wacher Blick über die Umgebung glitt. Der volle Mond beleuchtete in diesem Augenblick ein Bild, das in Albert den Eindruck erweckte, die imitierte Nacht auf einer Theaterbühne vor sich zu haben – eine nächtliche Bühne, auf der es vor allem darauf anzukommen schien, alles recht deutlich sichtbar zu machen. Etwas mehr Dunkelheit wäre ihm jetzt lieber gewesen. 57
Vorbei an Grabsteinen und Grabkreuzen ging er mit seiner Last den selben Weg zurück. Obgleich es vom Friedhof zur Straße abwärts ging, kam er unter dem Gewicht auf seiner Schulter arg ins Keuchen, wagte jedoch nicht, auf der freien mondbeschienenen Fläche eine Rast einzulegen. Immer mehr beschleunigte er seine Schritte, immer schneller und immer schneller kam er ins Laufen und immer mehr außer Atem. Als er dann endlich den zwischen dem Gebüsch an der Landstraße versteckten Wagen erreichte, zitterten ihm alle Glieder. Aufatmend ließ er seine Bürde zu Boden gleiten und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Auf Anraten Adriennes hatte er vor der Herfahrt den zweiten Vordersitz herausgenommen und konnte nun den Toten in der in ihrer ganzen Länge zur Verfügung stehenden rechten Wagenhälfte verstauen. Jetzt fehlt bloß, daß der Motor nicht anspringt, ging es ihm durch den Kopf, als er sich an das Steuer setzte und die Zündung einschaltete. Unheilvolle Gedanken ziehen das Unheil an, sagt das Sprichwort; aber nein. Zum Glück brummte der Motor beim Starten auf, als hätte er nur darauf gewartet zu zeigen, was noch in ihm steckt. Albert war sich nicht schlüssig. Sollte er wieder über Excideuil fahren oder lieber den Umweg über Hautefort in Kauf nehmen? Aber bei dem Zustand dieser Straße? Und mit den kleinen Holzbrücken über die Auvézère, noch dazu des Nachts, war das auch so eine Sache…! An der Abzweigung nach Hautefort angelangt, entschied er sich daher doch wieder für Excideuil, obwohl sich die Chaussee auf ungefähr zwei Kilometer Länge in einem unmöglichen, kaum noch befahrbaren Zustand befand. Nach dem verstreut umherstehenden 58
Baugerät zu urteilen, hatte man mit Ausbesserungsarbeiten begonnen. Doch was nützte das ihm! Die Räder fielen geradezu in die sich aneinanderreihenden Schlaglöcher, und der Wagen begann so heftig zu stoßen und zu schlagen, daß es Albert angst und bange wurde und er für seinen stummen Fahrgast das Schlimmste befürchtete. Er hielt deshalb kurz an und legte dem Toten eine zusammengerollte Decke und ein Kissen unter den Kopf, um diesen vor allzu hartem Aufschlagen zu schützen. Rumpelnd und schaukelnd ging die Fahrt im Schrittempo weiter. Der Wagen ächzte und krachte in allen Fugen und schien nach jedem harten Aufprallen sein altersschwaches Autoleben endgültig aushauchen zu wollen. Albert schwitzte Blut und Wasser. Sein Blick streifte die sich deutlich unter der Zeltbahn abzeichnende menschliche Gestalt, und er malte sich aus, wie es wäre, wenn er jetzt mit einem Achsenbruch oder sonstigem Schaden hier liegenbliebe… Allein bei dieser Vorstellung wurde es ihm heiß und kalt zugleich. Doch entgegen allen drohenden Anzeichen hielt der Peugeot durch. Albert hatte es mehr gehofft als geglaubt. So war seine Erleichterung verständlich, als das Holpern langsam nachließ und die Straße wieder in einen erträglichen Zustand überging. Aber… was war das…? Er hatte soeben die Kreuzung erreicht, von der aus die Seitenverbindung nach Château-l’Évêque abzweigt, als es trotz der einwandfreien Straße auf einmal wieder zu rumpeln und zu holpern begann. Das metallene Aufschlagen und gleichzeitige Abbremsen des Fahrzeugs sagten Albert alles. Mit gemischten Gefühlen stieg er aus. Er hatte sich auch nicht getäuscht: Die Felge des 59
linken Hinterrades stand auf dem plattgedrückten Reifen. Trotz seines Fluchens konnte er bei diesem Mißgeschick noch von Glück sagen, daß es sich nur um einen leicht zu behebenden Reifenschaden und nichts Ernsteres handelte. Ohne weitere Zeit zu verlieren, kramte er den Wagenheber heraus und begann den Wagen hochzuwinden. Von Arbeit hatte Albert noch nie viel gehalten und dementsprechend stiefmütterlich auch sein Auto behandelt. Das sollte sich jetzt rächen. Schon das Abnehmen der Radkappe war ein Problem, doch die Radmuttern waren so hoffnungslos festgerostet, daß er sie einfach nicht zu lösen vermochte. Wütend damit beschäftigt, bemerkte er die von Périgueux her sich nähernde Beiwagenmaschine nicht. Erst als ihn der Lichtkegel des Scheinwerfers traf, hörte er auch den für ein Motorrad ungewöhnlich leise laufenden Motor. Er richtete sich auf, um die Ankommenden besser betrachten zu können, und erstarrte: Gendarmerie! Albert stieß eine Verwünschung aus. Er mochte die Sorte Ordnungshüter von jeher nicht. Dieses Ressentiment stammte noch aus seiner Militärzeit, in deren Verlauf er mit den arroganten Fatzken – nur so bezeichnete er sie – allerhand Unerfreuliches erlebt hatte. Aber so ungelegen wie jetzt… Ein Sergent-chef kletterte aus dem Beiwagen. Die Hand grüßend an das Käppi legend, erkundigte er sich höflich, ob er ihm helfen könne? Aber nein! wehrte Albert ab, es sei nur eine Lappalie… eine kleine Reifenpanne… nicht der Rede wert… Dabei bewegte er sich unruhig zwischen 60
Sergent-chef und Wagen hin und her, um jenen am Näherkommen zu hindern. Doch so leicht war der Menschenfreund in Uniform von seinem einmal gefaßten Vorsatz der Hilfeleistung nicht abzubringen. Er ließ das grelle Licht einer Handlampe aufleuchten, um den Schaden besser besehen zu können. „Wirklich nur eine Kleinigkeit“, ereiferte sich Albert, dem vor Schreck nichts anderes einfiel, und machte sogleich den verzweifelten Versuch, seine Worte zu bestätigen. Er stemmte sich mit solcher Kraft in den Radschlüssel, daß es ihm rot vor den Augen wurde und die anschwellenden Adern zu platzen drohten; doch die Mutter rührte sich nicht. „Vielleicht müßte man mit einem Hammer… oder einem anderen Werkzeug…“, überlegte der Sergentchef und macht doch tatsächlich Anstalten, mit seiner gräßlichen Lampe in dem Wagen herumsuchen zu wollen. Unglücklicherweise war bei diesem alten Fahrzeugtyp der Kofferraum nur vom Wageninnern aus zu erreichen, und darin lag ja… Albert stand der Schweiß auf der Stirn. Nein, er hatte keinen Hammer… und auch kein anderes Werkzeug… er hatte überhaupt nichts…! Und nur durch kräftiges Erfassen des Oberarmes konnte er den Verdutzten gerade noch im letzten Augenblick von dem Wagen zurückhalten. Dem Sergent-chef schienen nun doch Bedenken zu kommen, aber wohl mehr wegen Alberts Geisteszustand. Er schüttelte verständnislos den Kopf, ohne sich das merkwürdige Gebaren erklären zu können. Zu allem Überfluß stieg der Fahrer auch noch ab und kam herbeigeschlendert. Albert rauchte der Kopf. Krampfhaft überlegte er, wie er die beiden Kerle loswerden könnte. Doch zu Unrecht, wie sich sogleich 61
herausstellen sollte; denn er erwies sich als der Retter in der Not. Er hatte ein kurzes Rohr in der Hand, das er als Verlängerung auf den Radschlüssel aufsetzte, um mit Hilfe dieser Hebelwirkung die Radmuttern zu lockern. Und in wenigen Minuten war der Schaden behoben. Albert fühlte sich wie von einer Zentnerlast befreit, als die beiden Schutzengel endlich wieder auf ihrer Maschine saßen. Nur der Fahrer winkte noch einmal grüßend mit der Hand, dagegen ließ die pikierte Miene des Sergent-chef darauf schließen, daß er es mehr als bereute, mit diesem sonderbaren Kauz seine Zeit vertrödelt zu haben. Und das zum Abschied geringschätzig durch die Zähne gepreßte „Idiot!“ gab dieser Meinung nur zu beredt Ausdruck. Doch der Abstand war schon zu groß, als daß der so Geschmeichelte es noch hätte vernehmen können. Heilfroh, dieser heiklen Situation entronnen zu sein, setzte Albert die Fahrt in einem Tempo fort, das ganz von dem Wunsche diktiert wurde, dies leidige Unterfangen endlich hinter sich zu bringen. So dauerte es nicht lange, und er erblickte voller Erleichterung das an der rechten Straßenseite aus dem Dunkel auftauchende Ortsschild: Périgueux. „He… aufwachen…!“ hörte der Abbé Périchelle eine Stimme wie aus weiter Ferne und wurde dabei so heftig geschüttelt, daß er sich wohl oder übel entschließen mußte, der mit solchem Nachdruck vorgebrachten Aufforderung nachzukommen. Als er mit großer Willensanstrengung die Augen aufschlug, erkannte er, immer noch halb im Unterbewußtsein, daß es Adrienne war, die ihn da so gefühllos wachrüttelte. 62
„Nun wachen Sie doch endlich auf!“ herrschte diese ihn ungehalten an, als er die Augen sogleich wieder zu schließen versuchte. Ihm dröhnte der Kopf, und mit schwacher, klagender Stimme fragte er: „Was ist denn das für ein fürchterlicher Lärm?“ „Das sind die Glocken der Kathedrale St-Front, welche die Frommen an ihre Pflichten gemahnen“, belehrte ihn Adrienne boshaft und richtete ihn dabei energisch auf. „Oh!“ stöhnte der Abbé, dem inzwischen klar wurde, daß er sich noch im Etablissement Boudet befand, und fuhr mit beiden Händen an den schrecklich schmerzenden Schädel. So elend hatte er sich noch nie gefühlt. Es war ein Zustand, als wäre er soeben aus einer Narkose erwacht. Dieser rasende Kopfschmerz, diese gräßliche Übelkeit, und dazu drehte sich alles um ihn. Er bot einen kläglichen Anblick, wie er so inmitten des Zimmers auf der Ottomane saß und mit sich nichts anzufangen wußte. Adrienne konnte ihren Widerwillen nur schwer verbergen. Sie war ans Fenster getreten und wartete ungeduldig darauf, ihn loszuwerden. Hilfesuchend wanderte der Blick des Abbés durch den Raum und kam plötzlich vom Fenster nicht mehr los. „Aber… aber draußen ist es ja schon hell…“, stotterte er fassungslos, sich vor Schreck dabei verschluckend. Und dann vorwurfsvoll und fast weinerlich: „Aber warum haben Sie mich denn nicht früher geweckt?“ „Sie waren doch nicht eher wach zu kriegen“, log Adrienne, die soeben erst vom Château Ramoulin zurückgekommen war, wo sie die ganze Zeit über auf Alberts Rückkehr gewartet hatte. 63
„Mein Gott, wie soll ich denn jetzt bei Tage…“, jammerte der Abbé und versuchte vergeblich, auf die Beine zu kommen. Adrienne schürzte hochmütig die Lippen. „Sie dürfen eben nicht so viel trinken!“ „Aber ich habe doch nur einige Gläschen zu mir genommen“, versuchte der so Getadelte sich zu verteidigen. „So…“, erwiderte Adrienne gedehnt, „dann möchte ich wissen, wovon Sie hier wie ohnmächtig herumliegen?“ Auf diese Frage wußte der Abbé allerdings keine Antwort. Außerdem verspürte er in seinem augenblicklichen Zustand weder Kraft noch Lust, eine solche Konversation zu führen. Ihn peinigten jetzt die quälende Sorge und die Angst vor dem Heimweg. Stets hatte er dieses Haus nur bei Dunkelheit betreten und verlassen. Um keinen Preis hätte er dieses Prinzip verletzt – und nun mußte ihm dies passieren… Der Abbé knirschte vor hilfloser Wut. Es drängte ihn, von hier fortzukommen, obwohl der Gedanke an die helle Straße ihm den Angstschweiß aus den Poren trieb. Mit großer Überwindung erhob er sich unter Ächzen und Stöhnen und stand nun – ein Bild des Jammers – auf schwankenden Füßen und brachte mit zitternden Händen hastig seine Kleidung in Ordnung. Ihm gleichgültig den Rücken zukehrend, sah Adrienne indessen zum Fenster hinaus, für seine Nöte nicht das geringste Interesse zeigend. Ohne ein Wort des Abschieds taumelte der über diese Gleichgültigkeit erboste Abbé aus dem Zimmer, das er wenige Stunden vorher mit so großen Erwartungen betreten hatte. 64
Als er kurz darauf über den Cours Tourny wankte, zogen ihn die am Denkmal Fénelons aufgestellten Bänke mit geradezu magischer Gewalt an. Ach, wie gern hätte der Sterbenselende sich ein wenig auf einer derselben ausgestreckt und die Augen geschlossen; doch die Befürchtung, dabei einzuschlafen, als auch das brennende Verlangen, aus der Stadt herauszukommen, trieben ihn weiter. Es war noch sehr früh am Morgen und die Straße völlig unbelebt. Die würzige Morgenluft bekam dem Abbé nicht und wirkte sich äußerst ungünstig auf seinen Gang aus. Als er nach einigen – bei weniger Verwirrung der Sinne durchaus vermeidbaren – Umwegen die Place Bugeaud erreichte, stand dort der Omnibus schon bereit, als hätte er auf ihn gewartet. Nachdem er sich beim Chauffeur vorsorglich noch einmal vergewissert hatte, daß die Fahrt auch wirklich über Saint-Ponoir gehe, saß er in der äußersten Ecke des leeren Busses und hielt ängstlich nach bekannten Gesichtern Ausschau. Doch zu seiner Erleichterung fuhren außer ihm nur auch ein weiter vorn sitzender älterer Mann und einige in Körbe eingesperrte Hühner mit. Oh, war ihm schlecht! Er glaubte es kaum noch ertragen zu können. Doch als die Fahrt begann, mußte der vor Übelkeit zitternde Abbé erleben, daß der Höhepunkt seiner Qualen noch nicht erreicht war. Nach der Heftigkeit zu urteilen, mit welcher der jämmerlich Stöhnende auf seinem Sitz durchgeschüttelt wurde, schien das uralte Vehikel entweder überhaupt keine oder nur gebrochene Federn zu haben. Allerdings mochte der so unglücklich gewählte Platz auf der hintersten Bank des Fahrzeuges nicht unwesentlich dazu beitragen. Mit zusammengebissenen Zähnen bemühte 65
sich der Abbé, seine Folter zu ertragen. Und selbst die Gewißheit, daß alles und somit auch diese Tortur vergänglich sei, war ihm dabei nur ein geringer Trost. Als dann jedoch die schlechte Wegstrecke begann, die in der vergangenen Nacht schon Albert Ramoulin so viel zu schaffen gemacht hatte, nützte auch das Zusammenbeißen der Zähne nichts mehr. Die Augen quollen ihm fast aus dem Kopf und drückten nur allzu deutlich das aus, was der krampfhaft zusammengepreßte Mund nicht zu sagen vermochte. Vorsichtshalber trachtete er, in die Nähe der Tür zu gelangen. Dort hing er nun mit grünlich verfärbtem Gesicht, sich mit einer Hand am Gepäcknetz festhaltend, während die andere für alle Fälle den Türgriff umklammerte… „Von der Tür weg!“ schrie der mit den Schlaglöchern voll und ganz beschäftigte Fahrer erbost, der von den inneren Beweggründen Hochwürdens ja nichts ahnen konnte. Gehorsam und eingeschüchtert ließ sich dieser in den nächstgelegenen Sitz fallen. Seine Widerstandskraft war erschöpft. Er hätte sterben mögen! So etwa, vielleicht nicht ganz so schlimm, stellte sich der Abbé Périchelle – der noch nie in seinem Leben ein Schiff betreten hatte – die Seekrankheit vor. Als dann der Bus endlich, endlich auf dem Dorfplatz in Saint-Ponoir hielt, kam es dem Abbé vor, als erwache er aus einem bösen Traum. Die ihn plötzlich umgebende wohltuende Stille, die vertraute heimische Umgebung und die schon etwas wärmende Sonne erweckten in ihm wieder schwache Lebenskraft. Unsicher schaute er sich nach allen Seiten um und konnte sein Glück kaum fassen: Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Wie auf Stelzen ging er eilig 66
über den Platz dem Pfarrhaus zu und verschwand, von niemandem bemerkt, zwischen den Rosenstöcken seines Vorgartens. Vielleicht wäre es doch besser, eine Haushälterin zu nehmen, um sich die gefahrvollen Wege in die Stadt mit ihren Ungelegenheiten zu ersparen, überlegte der Abbé, als er sich ächzend auf sein breites Bauernbett fallen ließ. Doch sogleich verwarf er diesen Gedanken wieder. Nein, gerade diese Abstecher in die Stadt mit all ihren Verlockungen waren es ja, die ihm dies eintönige Leben hier erträglich werden ließen – und darauf wollte er nicht verzichten. Was gab es denn hier außer Langeweile und Ärger…? Doch mit dem Gedanken an Ärger kam sofort die Erinnerung an die Ereignisse des gestrigen Tages und den ganzen Wirbel, den der Fehltritt der Frau des Bürgermeisters hier im Ort ausgelöst hatte. Wütend warf er sich auf seinem Lager hin und her. Ach was, fluchte er vor sich hin, der Teufel sollte die blonde Claude-Antoinette samt ihrem Gendarm holen – und die Krakeeler aus der „Heiteren Catherine“ gleich mit. – Er aber wollte Ruhe, Ruhe und ab und zu einen Besuch im… Das mit dem Teufel jedoch sollte sich der dabei vom Schlaf übermannte Abbé Périchelle nicht ungestraft gewünscht haben. Dr. Bercourt war auf dem Wege nach dem Château Ramoulin, trödelte jedoch auf dem kleinen Wochenmarkt herum, als gebe es für ihn nichts Wichtigeres zu tun. Die unweit der Kirche St-Etienne aufgebauten Verkaufsstände boten in ihrer farbigen Vielfältigkeit aber auch einen anziehenden Anblick. 67
Aus der Umgebung herbeigekommene Bauersfrauen priesen auf Verkaufstischen zur Schau gelegte Hühner und Tauben, Eier und runde weiße Käse an. Mit flinken, geschickten Händen formten sie unter Zuhilfenahme zweier Klopfbretter vor den Augen der Kunden abgewogene Butterklumpen zu handlichen Stücken. Marktfrauen hantierten geschäftig zwischen aufgetürmten Obst- und Gemüsebergen, laut lärmend die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden auf sich lenkend. Fischweiber saßen, getreu ihren traditionellen Vorbildern unentwegt strickend und schnatternd, vor wassergefüllten Holzwannen, in denen lebende Fische ihrer Käufer harrten. Aus Holzbuden drang verführerisch der Duft von warmen Kuchen. Es war ein Bild wie eh und je und doch immer wieder neu, von prickelndem Reiz erfüllt. Dr. Bercourt, ein junger, blasser Mann, dessen starkgeschliffene Augengläser seine Kurzsichtigkeit verrieten, fühlte sich in dieser von pulsierendem Leben erfüllten Umgebung wohl. Inmitten der vielen Menschen empfand er seine Einsamkeit weniger stark. Er hatte erst vor einigen Wochen hier in Périgueux eine frei gewordene Arztpraxis übernommen und noch keinen persönlichen Anschluß gefunden. Das Schlimme aber: Es kamen auch keine Patienten. Sein an Altersschwäche gestorbener Vorgänger hatte übrigens auch keine gehabt; doch das war kein Trost. Nach einem erhungerten Studium und einer kargen Assistentenzeit war es für eine Verbesserung seiner Lebensumstände höchste Zeit, allein schon, um endlich die in ärmlichen Verhältnissen lebenden Eltern etwas unterstützen zu können. Doch ohne Verdienst ging das nicht. 68
Deshalb wurde von ihm sein Entschluß, sich in Périgueux niederzulassen, mehr als bereut, und es war ja auch nur die einmalig günstige Ratenbasis gewesen, die den mittellosen Dr. Bercourt bewogen hatte, gerade diese Praxis zu übernehmen. Sein anfänglicher Optimismus war im Laufe weniger Wochen einer immer stärker werdenden Mutlosigkeit gewichen, und so waren sein Erstaunen und seine Freude gleich groß gewesen, als ihn zu früher Morgenstunde eine Frauenstimme am Telefon um einen Hausbesuch bat. Allerdings nicht, wie sich dann sogleich herausstellte, weil ein Kranker seiner ärztlichen Kunst bedurfte, sondern um bei einem Verstorbenen die vorgeschriebenen Formalitäten zu erfüllen. Seine aufgekommene freudige Stimmung schlug bei dieser Wendung denn auch sofort wieder in Verstimmung um. Die Kranken hier schienen erst nach ihrem Tode einen Arzt zu benötigen, stellte Dr. Bercourt wieder einmal fest, um sogleich in einem Verzeichnis nachzusehen, wieviel Honorar ihm diese Bemühung einbringen würde. Und nun war er unterwegs, um diese Verdienstmöglichkeit wahrzunehmen. Er verließ das bunte Markttreiben und setzte sich in Richtung des Parks Montaigne in Bewegung. Als er diesen durchschritt, umgab ihn das satte Grün der Anlage und wohltuende Stille. An Gräsern und Blättern funkelte noch der Tau. Tief sog der blaßgesichtige Dr. Bercourt die würzige Morgenluft ein und nahm sich fest vor, hier einmal einen Spaziergang zu machen. Obwohl man ihm den Weg genau beschrieben hatte, dauerte es doch einige Zeit, ehe der ortsunkundige Dr. Bercourt das Château Ramoulin fand. Etwas außer Atem buchstabierte er die verblichenen Goldbuch69
staben auf einer neben dem Eingang angebrachten Marmortafel und zog an einem darüber hinausragenden Messingknauf. Eine Glocke ertönte mit dumpfem Klang, der ganz dem düsteren Eindruck des Hauses entsprach. Ein müde aussehender, etwas angegriffen wirkender Mann in mittleren Jahren öffnete die Tür. „Und ich bin Albert Ramoulin, der Sohn des Verstorbenen“, erwiderte dieser auf die Vorstellung Dr. Bercourts. Er führte den Arzt in das im Parterre gelegene Schlafzimmer des Hausherrn. Vor den weitgeöffneten Fenstern waren die Markisen heruntergelassen und verdunkelten den Raum. Albert Ramoulin zog sie empor, um das Tageslicht einzulassen. „Es ist so“, erklärte er dabei mit bedrückter Stimme. „Wir hatten am gestrigen Nachmittag eine Auseinandersetzung mit meinem jüngeren Bruder. Unser Vater hatte sich dabei sehr erregt und daraufhin sogleich zu Bett begeben. Das machte er öfter, wenn er verärgert war, und niemand durfte ihn dann stören. Er pflegte morgens sehr früh aufzustehen, und ich wußte, daß nur Krankheit ihn von dieser aus seiner Dienstzeit übernommenen Gewohnheit abzuhalten vermochte. Als er heute morgen nicht zur gewohnten Stunde erschien, glaubte ich, er sei unpäßlich – und als ich dann nach ihm sah…“ Er stockte und fügte gepreßt hinzu: „Ich kann nicht einmal sagen, wann…“ Dr. Bercourt winkte beruhigend ab und trat an das gegenüber der Fenster an der Längswand des Zimmers stehende Bett, um sich den Verstorbenen zu besehen. Dieser, mit einem Nachthemd bekleidet, auf dessen Brusttasche die Buchstaben C. R. als blaues Monogramm eingestickt waren, bot einen selten friedlichen Anblick, und ganz offensichtlich hatte ihn ein sanfter 70
Tod im Schlaf überrascht. In dem fast heiter wirkenden Gesicht waren weder Spuren von Ärger noch eines durchstandenen Todeskampfes zu erkennen. Ja, die ein wenig spöttisch verzogenen Mundwinkel erweckten sogar den Eindruck, als habe sich der Verblichene soeben noch über irgend etwas ungemein amüsiert. Allerdings erinnerte das magere, ungepflegt von Bartstoppeln bedeckte Gesicht den Beschauer mehr an einen Clochard und entsprach durchaus nicht der Vorstellung, die er sich von einem Oberst machte. Auf dem Nachttisch standen zwei Arzneifläschchen. Dr. Bercourt roch an dem Inhalt und besah sie sich genau. Es waren ein mildes Sedativum und ein harmloses Kreislaufmittel. „War ihr Vater in ärztlicher Behandlung?“ fragte er, auf die Flaschen zeigend. „Nein“, erwiderte Albert, dem es bei dem Gedanken an den alten Hausarzt Dr. Mory, einen Schulfreund seines Vaters, bei dieser Antwort ungemütlich wurde. „Hatte er ein Leiden, irgendwelche Beschwerden?“ wollte der Arzt wissen und beugte sich über den Toten. Albert schüttelte wie nachdenkend den Kopf. „Eigentlich nicht. – Das Herz war wohl nicht mehr so, wie es hätte sein sollen.“ Dr. Bercourt nickte. Trotz seiner Jugend war er ein ausgezeichneter Diagnostiker, ein Resultat seiner mehrjährigen Krankenhaustätigkeit, in deren Verlauf er reichlich beschäftigt und weidlich ausgenutzt worden war. So hatte er auch hier mit gewohnter Routine schnell seine Feststellungen getroffen, an deren Richtigkeit es für ihn keinerlei Zweifel gab. „Das Herz“, stellte er lakonisch fest und sah sich, sich aufrichtend, suchend um: „Wo kann ich mir die Hände waschen?“ 71
„Hier bitte“, wies Albert auf ein Waschbecken und ein daneben liegendes frisches Handtuch, und Dr. Bercourt begann sogleich, ausgiebig seine Hände zu seifen. „Heute wird es wieder heiß“, meinte er dabei mit einem Blick auf die geöffneten Fenster, durch die bereits die Wärme eindrang. Es war zu spüren, daß er durch ein harmloses Gespräch von dem traurigen Zwecke seines Besuches abzulenken versuchte. „Ja, es sieht so aus“, sagte Albert nur und wußte nicht so recht, darauf einzugehen. Unsicherheit, sich nicht der Situation entsprechend zu bewegen, hemmte ihn. Noch kurz vor Erscheinen des Arztes hatte er sich sein Verhalten diesem gegenüber genau zurechtgelegt, und nun fand er einfach nicht den ungezwungenen Ton, den er anschlagen wollte. Er fühlte selbst, wie unglücklich er herumstand. Dr. Bercourt deutete das bedrückte Wesen des anderen falsch. „Ihr Vater hat einen sanften Tod gehabt“, glaubte er trösten zu müssen, während er das soeben benutzte Handtuch wieder fein säuberlich zusammenfaltete und an seinen Platz zurücklegte. Albert zuckte bei diesen Worten nervös mit den Mundwinkeln und wurde noch um einen Schein blasser. Der Arzt bemerkte es nicht. Er hatte an einem in der Mitte des Zimmers stehenden Tischchen Platz genommen und war dabei, die darauf zurechtgelegten persönlichen Papiere des Obersten Ramoulin zu sichten. Dann entnahm er seiner Aktentasche einige Formulare und begann diese gewissenhaft auszufüllen. „Ja, ja, die Vorschriften“, unterbrach er nach einer geraumen Weile die nur vom Kratzen der Füllhalterfe72
der gestörte Stille und drückte abschließend seinen Stempel unter das Geschriebene. Für Albert kam dies wie ein Stichwort. „Weil Sie gerade die Vorschriften erwähnen“, ergriff er die Gelegenheit. „Es war immer der Wunsch unseres Vaters, nach seinem Tode nicht in einer Leichenhalle liegen zu müssen, sondern bis zuletzt in seinem Haus zu bleiben und von hier aus direkt zur Beerdigung übergeführt zu werden –“ „Nun, dem steht doch nichts im Wege – oder…?“ warf Dr. Bercourt ein und sah fragend auf. „Es ist nur wegen der zur Zeit herrschenden großen Hitze“, näherte sich Albert nun seinem Ziel. „Könnte die Beisetzung nicht schon morgen stattfinden?“ Der Arzt schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht. Die gesetzlichen Bestimmungen müssen eingehalten werden. Das Bestattungsbüro darf den Termin keinesfalls vor frühestens übermorgen festsetzen. – Außerdem bin ich als Privatarzt hierfür nicht zuständig“, fügte er hinzu. „Sie müßten sich da an den Präfekturarzt wenden.“ Um Gottes willen! dachte Albert und versuchte schnell wieder abzuschwenken, indem er mit betont gleichgültiger Stimme sagte: „So war meine Frage nun auch nicht gemeint. Ich möchte nur vermeiden, daß die Beerdigung bei der Wärme unnötig hinausgezögert wird. Man hat doch da schon von unglaublichen Zeitspannen gehört.“ „Aber dazu liegt doch hier überhaupt keine Veranlassung vor“, zerstreute Dr. Bercourt seine Bedenken und fuhr belehrend fort: „Solch große Zeiträume zwischen Ableben und Beisetzung entstehen meistens dann, wenn entweder besondere wissenschaftliche Gründe vorliegen oder aber das Verdachtsmoment 73
einer unnatürlichen Todesursache besteht. – Und das trifft doch hier beides nicht zu“, schloß er beruhigend. Albert konnte nur nicken. Die Kehle war ihm trocken. Dr. Bercourt hatte währenddessen seine Formulare wieder in der Aktentasche verstaut und warf einen Blick auf seine altmodische Sprungdeckeluhr, erhob sich und schob Albert einen der ausgefüllten Vordrucke hin. „Das wär’s“, sagte er, ohne zu ahnen, welches große Geschenk er damit überreichte. Albert verzog keine Miene und geleitete den Arzt beherrscht und gelassen hinaus. Erleichtert und heilfroh, daß alles so planmäßig verlaufen war, sah er dem Davoneilenden nach, wie der mit schnellen Schritten sich auf den Park Montaigne zu entfernte. Als der Abbé Périchelle – zum zweiten Male an diesem Morgen – erwachte, schien in Saint-Ponoir der Teufel los. Oder vielmehr: Der Teufel war dagewesen. So jedenfalls wurde es von den Abergläubischen behauptet, und das waren in einer vom religiösen Mystizismus beherrschten Gegend wie der Périgord nicht wenige. Aber nicht die helle Morgensonne, sondern der völlig aufgelöste alte Noel, der Totengräber des Ortes, weckte den Schläfer wild rüttelnd. „He… Abbé… Abbé… der Lolliot ist fort… der Lolliot ist fort…“, rief er dabei mit sich überschlagender Stimme. „Laß ihn doch“, lallte der Schlaftrunkene und wälzte sich ungehalten auf die andere Seite. „…der Lolliot ist weg… der Lolliot ist weg…“.rüttelte der aufgeregte Noel weiter und zerrte den Abbé hoch. „Wo ist er denn hin?“ fragte dieser, endlich die Augen aufschlagend, unwirsch und dann, als die Er74
innerung kam – plötzlich wach – verständnislos. „Weg? Was soll denn das heißen? – Ja, so etwas gibt es doch gar nicht!“ polterte der Abbé. „…doch… der Lolliot ist weg… er ist verschwunden…“, stotterte der Alte fassungslos. Eigentlich war Noel ein ganz vernünftiger Mensch. Das soeben Erlebte schien ihn aber völlig aus dem Gleichgewicht gebracht zu haben. Am Vortag wurde von dem aus Excideuil gekommenen Arzt der Tod Lolliots bescheinigt. Daraufhin hatte Noel zusammen mit seinem Eheweib den Toten hergerichtet und in die kleine Leichenhalle gebracht. Als er heute morgen daraus einiges Gerät holen wollte, entdeckte er das Unfaßliche. Zuerst fiel dem in Gedanken Versunkenen gar nichts auf, obwohl die Tür zu der kleinen Leichenhalle nur angelehnt war, während sie doch immer verschlossen sein mußte. Er achtete aber nicht weiter darauf. Er hatte schon des öfteren mal vergessen abzuschließen und dachte sich auch diesmal nichts Besonderes dabei. Erst beim Betreten des größeren Raumes stutzte er… Da standen drei rohe Holzpritschen – alle drei leer, obwohl auf der mittleren doch der tote Lolliot liegen mußte. Da gab es aber keinen Irrtum – der Lolliot war weg… Im ersten Moment konnte der Verdatterte es gar nicht erfassen. „Aber – aber ich habe doch selbst…“, stammelte er noch und war dann voller Entsetzen davongeeilt. Der Abbé versuchte auf die Beine zu kommen. Doch sein augenblicklicher Zustand ließ das nicht zu. Der im Etablissement Boudet geschlürfte süße Wein war wohl doch zu schwer gewesen. Selbst wenn der Bischof in Person erschienen wäre, er hätte ihm nicht 75
entgegeneilen können, der gräßlich schmerzende Schädel hätte selbst den Versuch zunichte gemacht. Er fühlte sich wie vergiftet und glaubte sich nie wieder erheben zu können. Doch die Pflicht kann Übermenschliches erwirken. Als der Abbé Périchelle wenig später mit Übelkeit im Magen und weichen Knien, die Ungelegenheiten dieser Welt verfluchend, dem Friedhof zuwankte, konnte er die These von der Mühseligkeit des Erdenwanderns, von der er in seinen Predigten so gern sprach, aus innerster Überzeugung nur bestätigen. Die mit Kindern, Hunden und sogar einigen Ziegen reichlich erschienenen Dorfbewohner fanden den schwankenden Gang ihres geistlichen Hirten besonders würdevoll und dem außergewöhnlichen Ereignis ganz angepaßt. Am Orte des mysteriösen Geschehens angekommen, wurde es für den Abbé erst schlimm. Wie oft hatte er von der Kanzel herab seine Gemeinde mit Fegefeuer, Hölle und Teufel bedroht. Nie hatte er daran gedacht, daß es sich einmal so auswirken sollte. Unter den Versammelten hatten sich zwei Parteien gebildet. Die einen vertraten mit geradezu intoleranter Hartnäckigkeit die Meinung, daß man es hier mit etwas Übernatürlichem zu tun habe, und waren fest davon überzeugt, daß der Teufel den Toten geholt habe, und er, der Abbé, müsse das bestätigen. Die anderen wollten die Entscheidung darüber, was hier geschehen sei, doch lieber dem geschulten und für diese Frage zuständigen Priester überlassen und erwarteten von ihm eine Erklärung. Der aber wäre am liebsten ebenfalls verschwunden. Woher sollte er wissen, wohin der Leichnam geraten 76
war? Ihm war geradezu jämmerlich zumute. Der Gedanke, was eine falsche Auslegung für ihn an Folgen nach sich ziehen konnte, wirkte besonders beunruhigend. Er hatte sofort gesehen, daß die Tür zur Leichenhalle gewaltsam aufgesprengt worden war, ohne es sich jedoch anmerken zu lassen. Der Abbé war vorsichtig genug, sich nicht aus dem Bereich des Mystischen zu entfernen, denn wehe ihm, wenn seine Erklärung nicht auf den alleingültigen Prinzipien der Kirche fußte. Wehe ihm aber auch, wenn das, was er äußerte, nicht mit den Dogmen und speziellen Ansichten der über ihm stehenden kirchlichen Würdenträger in Einklang zu bringen war. Wie konnten aber in diesem Fall diese Ansichten sein? Er wußte es nicht. Als Vertreter des Glaubens durfte er die Sphäre des Überirdischen und Übernatürlichen nicht verlassen, die geistlichen Herren hätten darin wohl keinen Spaß verstanden. Sich daran zu halten, barg aber ein fast noch größeres Risiko. Wie, wenn das Verschwinden des Toten sich als ein natürlicher Vorgang herausstellen sollte? Was dann geschehen würde, wenn er durch sein Ungeschick die Kirche der Lächerlichkeit preisgäbe, daran wagte der Abbé gar nicht erst zu denken. Und so machte es der Abbé Périchelle denn, als er das Wort ergriff, wie es so oft gemacht wird, wenn etwas gesagt werden muß, ohne daß man etwas zu sagen weiß: Er sagte viel, ohne damit etwas zu sagen, allein der Wirkung und dem salbungsvollen Wohlklang seiner Stimme vertrauend. Während der Abbé Périchelle auf dem Friedhof von Saint-Ponoir mit scholastischen Reden seine Zuhörer 77
verwirrte, suchte der Bürgermeister Jean Marie einen Ausweg aus der eigenen Bedrängnis zu finden. Aus seiner wohlgeborgenen bürgerlichen Behäbigkeit heraus hatte der Maire schon immer etwas gegen Habenichtse und den alten Lolliot im besonderen gehabt. Der boshafte und widerspenstige Alte, wie er ihn sah, war ihm ein stetiger Grund des Verdrusses und Ärgernisses gewesen. Nun aber arteten die Gefühle des Bürgermeisters durch die Ereignisse auf dem Bischofshügel in Haß aus. Statt die Ursache allein bei den wirklichen Schuldigen, seiner schönen Claude-Antoinette und dem feisten Clochaud, zu suchen, richtete sich seine Wut in erster Linie gegen den alten Lolliot. Ihm gab er vor allem die Schuld, nun als Mann und Persönlichkeit der Lächerlichkeit preisgegeben zu sein. Obwohl gläubiger Christ, erfüllte ihn der Tod des alten Lolliot mit Genugtuung und erschien ihm als gerechte Strafe für die erlittene Schmach. Er atmete im stillen förmlich auf und war froh, diesen Querulanten, welcher ihm zu Lebzeiten so viel zu schaffen gemacht hatte, endlich los zu sein. Nun aber brachte der niederträchtige Alte durch sein Verschwinden sogar noch im Tode den Bürgermeister wiederum in eine mehr als mißliche Zwangslage. Nie hätte es Jean Marie fertiggebracht, so wie es der Dienstweg vorschrieb, den hierfür zuständigen Gendarmerieposten in Excideuil und damit den Geliebten seiner Frau anzufordern. Da aber etwas geschehen mußte, wandte er sich in seiner Not, den vorgezeichneten Dienstweg ignorierend, an die Kriminalpolizei in Périgueux. Das Gasthaus „Zur heiteren Catherine“ war das einzige in Saint-Ponoir und ein sehr alter Bau. Es diente schon 78
seit einigen hundert Jahren diesem Zweck. Zu ebener Erde lagen ein großer und ein kleiner Gastraum, während das darüberliegende Stockwerk aus Fremdenzimmern bestand. Eine altmodische Tanksäule aus den zwanziger Jahren zeugte auf dem kleinen Vorplatz an der Straße vom Einzug der modernen Technik auch in den kleinsten Ort. Aus dieser Zeit stammten auch die am Haus befestigten Reklameschilder aus Blech. In vielen Farben wurde hier für alles geworben: Sportler in buntem Dreß forderten zum Genuß bestimmter Schokoladenriegel auf, grelle Schrift befahl den Verbrauch von amerikanischem Motoröl und Autoreifen, wogegen andere der Tafeln weit bescheidener nur für Limonade oder Kaugummi warben. Trotz dieser belebenden Farben wirkte das alte Gebäude düster. Den Eindruck hatte Inspektor Legrand auch von dem großen Gastraum, als er ihn betrat. Er war zu dieser Vormittagsstunde voll besetzt. Dicke Rauchschwaden hingen in der Luft und erschwerten das Atmen. Gleich rechts vom Eingang entdeckte der Inspektor sofort einen kleinen Tisch, an dem ein alter Mann ganz allein saß. Nachdem Legrand höflich um Erlaubnis gebeten hatte, nahm er dort Platz. Im Lokal herrschte großer Lärm und Unruhe. An allen Tischen wurde heftig diskutiert, es gab nur einen einzigen Gesprächsstoff: das am Morgen entdeckte, unfaßbare Geschehnis der vergangenen Nacht. Leider waren aus dem allgemeinen Stimmengewirr keine einzelnen Meinungen herauszuhören. Inspektor Legrand bedauerte das. Vielleicht hätte er aus den ver79
schiedenen Ansichten und Vermutungen doch diesen oder jenen Anhaltspunkt für sich herausfinden können. Seit zwei Stunden weilte er hier im Ort. Unter Führung des alten Noel hatte er die Leichenhalle besichtigt, aber lediglich festgestellt, daß die Tür mit einer Brechstange oder einem ähnlichen Gegenstand am Schloß gewaltsam aufgesprengt worden war. Der Inspektor wußte wirklich nicht, was er davon halten sollte. Keiner der bisher von ihm Befragten konnte sich das Geschehene erklären. Sowohl der Bürgermeister als auch der Priester des Ortes zeigten sich gleichermaßen hilflos, und mit den Aussagen der phantasieerhitzten Einheimischen ließ sich von vornherein nichts anfangen. Er hatte seinen Assistenten, Agent Duval, nach Excideuil geschickt, um von dem dortigen Arzt einige Auskünfte einzuholen. Nun saß er hier in der Gaststube, um die Rückkehr desselben abzuwarten, und hoffte doch noch irgend etwas zu erfahren, was ihm weiterhelfen würde. Der fünfunddreißigjährige Inspektor Legrand wirkte durch sein schütteres dunkles Haar älter. Dieser Eindruck verstärkte sich noch durch seine unvorteilhafte Kleidung. Seit Jahren trug er denselben unmodernen schwarzen Anzug. Im Verlauf seiner Tätigkeit bei der französischen Kriminalpolizei war er ein erfahrener Kriminalist geworden. Die Erfolge, die er in seiner Arbeit aufweisen konnte, sprachen dafür. Er verstand es aber nicht, sich bei seinen Vorgesetzten beliebt zu machen. Im Gegenteil, immer hatte man versucht, ihn so schnell wie möglich loszuwerden. Sein Fehler lag darin, menschliche Schwächen und kleinliche Regungen bei seinen Chefs nicht nur zu bemerken, sondern das sich auch anmerken zu lassen. So war es 80
nicht verwunderlich, daß seine bisherige Laufbahn aus vielen Versetzungen bestand. Andererseits gewann ihm sein angenehm wirkendes Wesen im Umgang mit anderen Menschen schnell Sympathie und Vertrauen. Auch hier bekam er zu seinem Tischnachbarn gleich Kontakt. Ein junges Mädchen lief flink, die Gäste bedienend, durch den Raum. Legrand bestellte für sich und seinen Tischgefährten ein Getränk, jedoch nicht ohne denselben vorher gefragt zu haben, ob er ihn einladen dürfe. Nachdem er noch eine Zigarre angeboten hatte, schien ihm die günstige Voraussetzung für eine Unterhaltung geschaffen. Er sollte sich nicht getäuscht haben und war im Nu mit seinem Gegenüber im lebhaftesten Gespräch. Der Alte, namens Jerome, erwies sich als ein guter Erzähler, und so erfuhr Legrand bald alles Wissenswerte über den kleinen Ort und seine Bewohner. Natürlich kamen sie dabei sogleich auf das mysteriöse Verschwinden des Toten zu sprechen, und da ihn die Meinung seines Gesprächspartners interessierte, fragte Legrand, was er von der merkwürdigen Geschichte halte. „Ja, was soll man dazu sagen“, antwortete der Alte, genießerisch an seiner Zigarre ziehend. „Das ist natürlich ein Ding – einfach unbegreiflich…“ „Einigen der Herrschaften hier scheint das nicht so unbegreiflich zu sein“, wies Legrand mit hintergründigem Lächeln auf die umstehenden Tische, an denen erregte Hitzköpfe rechthaberisch und mit eigensinniger Hartnäckigkeit ihre Ansichten darüber verfochten. „Das ist doch nur dummes Gerede“, winkte der andere verächtlich ab. „Da hat ein jeder seine eigenen Ansichten oder versucht sich das Vorgefallene auf seine Art zu erklären. Und dann kommen die unsinnigsten 81
Vermutungen zum Vorschein. Es gibt hier gar nicht wenige – ach was, wenige, die meisten“, korrigierte er sich, „die fest davon überzeugt sind, daß da übernatürliche Kräfte gewirkt haben. Stellen Sie sich das doch nur einmal vor! Fast möchte man es nicht für möglich halten, daß es so etwas in unserer heutigen Zeit noch gibt. Wie im tiefsten Mittelalter glauben erwachsene Menschen noch an den Teufel und wer weiß noch was. Dabei handelt es sich nicht etwa um vereinzelte Ausnahmen. Das sind die Folgendes priesterlichen Einflusses, besonders in Gegenden wie in der Périgord.“ „Diesen Eindruck habe ich allerdings auch gewonnen“, pflichtete Legrand ihm bei, der sich in den wenigen Stunden seines Aufenthaltes im Ort bei Gesprächen mit den Einheimischen schon selbst ein Bild von den Auswirkungen klerikaler Menschenverdummung hatte machen können. „Aber von diesen Hirngespinsten abgesehen“, kam er noch einmal auf seine Frage zurück, „wie erklären Sie sich denn das Verschwinden des Toten? Sie haben sich doch bestimmt Gedanken darüber gemacht, Monsieur Jerome.“ „Natürlich, und ob ich mir welche gemacht habe, schließlich war ich ja mit ihm befreundet. Ich finde es unerklärlich. Wer sollte denn ein Interesse daran haben, die Leiche eines unbedeutenden alten Mannes verschwinden zu lassen? Das ist gegen jede Vernunft – und doch muß etwas sein; denn sonst wäre der Tote noch da. Ich möchte annehmen, da steckt etwas ganz anderes dahinter, als sich im Moment vermuten läßt.“ Das schien Inspektor Legrand auch so. Aber was? Eigentlich hatte er in der Fahrt hierher mehr eine willkommene Abwechslung gesehen, eine günstige Gelegenheit, einige Stunden dieses herrlichen Sommer82
tages außerhalb der Diensträume zu verbringen, und den Anlaß als solchen gar nicht ernst genommen. Dazu trug nicht zuletzt das Verhalten seines Chefs bei, denn Kommissar Blanchard schickte ihn ohne jegliche technische Hilfe los und ließ erkennen, daß er das Ganze lediglich für ein Mißverständnis oder Versehen hielt. Nun war Legrand nachdenklich geworden und seine Ausflugsstimmung längst verflogen. Er mußte sich eingestehen, daß er einer Sache gegenüberstand, mit der er nichts, aber auch überhaupt nichts anzufangen wußte. Die bestellten Getränke waren inzwischen gekommen. Legrand hob auffordernd das Glas und nahm einen winzigen Schluck von dem Calvados, der ihm aber gar nicht zusagte. „Ihnen schmeckt er wohl besser?“ fragte er ein wenig amüsiert, als er sah, wie sein Tischgefährte den Ziderbranntwein in einem einzigen Zuge hinuntergoß und sich genußvoll mit dem Handrücken über den Mund wischte. „Oh, ich bin nicht verwöhnt“, erwiderte dieser, und sein Äußeres schien das zu bestätigen. Er war einfach, beinahe ärmlich gekleidet, wirkte jedoch sehr ordentlich und sauber. Die ganze Art seiner Rede und die Fähigkeit, sich auszudrücken, ließen auf ein Niveau schließen, das man nicht bei ihm vermutete, und bei aller Gesprächigkeit wirkte er durchaus nicht geschwätzig. Aber so interessant die Unterhaltung auch verlaufen war: etwas Greifbares eingebracht hatte sie nicht. Legrand hielt es für zwecklos, noch weiter herumzufragen. So war er froh, als sein Assistent Duval wieder auftauchte und er sich von seinem Gesprächspartner verabschieden konnte. 83
„Als Außenstehender kann man die hiesigen Verhältnisse wirklich nur schwer übersehen“, sagte er dabei. „Es war sehr nett von Ihnen…“ „Aber ich bitte Sie…“, wehrte der Alte ab. „Ich fand es sehr angenehm. Vielleicht treffen wir uns hier einmal wieder.“ „Ich würde mich wirklich freuen“, erwiderte Legrand und verließ, ihm noch einmal freundlich zuwinkend, den Raum. Als er in den Sommertag hinaustrat, atmete er tief durch und fühlte jetzt erst, wie sehr ihn die rauchgeschwängerte Luft in dem Gastraum bedrückt hatte. Duval, ein schlaksiger Kerl mit einer Gaunerphysiognomie, stand wartend neben dem Dienstwagen, mit dem er soeben zurückgekommen war, und versuchte hinter einem unsicheren Lächeln Verlegenheit zu verbergen. Der durch die Sonne geblendete Legrand bemerkte es nicht. „Wir fahren noch einmal zum Friedhof!“ wies er den Fahrer beim Einsteigen an und wandte sich dann zu Duval: „Hat sich in Excideuil was ergeben? Was sagte der Doktor?“ „Na, das ist ein komischer Kauz“, ereiferte sich Duval. „Sie können sich gar nicht vorstellen, Chef…“ „Sie sollen mich nicht immer Chef nennen!“ verwahrte sich Legrand ärgerlich. „Was ist das nur für eine dumme Angewohnheit von Ihnen?“ „…was für komische Menschen das dort sind“, fuhr Duval unbeirrt fort, sah aber dabei so krampfhaft aus dem fahrenden Wagen, als gebe es draußen auf der unbelebten Dorfstraße wer weiß was zu sehen. „Ich habe Sie nicht nach Excideuil geschickt, weil mich dort die Leute interessieren, sondern weil Sie sich 84
mit dem Arzt unterhalten sollten“, belehrte ihn der sonst so geduldige Legrand gereizt. „Na ja, ich will Ihnen doch bloß erklären, wie schwierig das war“, maulte Duval. „Mit solchen Studierten kann man einfach nicht vernünftig reden, und wenn ich nicht so geschickt wäre…“ „Also – was hat der Arzt gesagt?“ wurde der Inspektor ungehalten. „Daß er einen Totenschein auf Herzversagen ausgestellt habe und mehr auch nicht wisse.“ „Und – was sonst noch?“ Duval rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her. „Und dann wurde der Doktor krank“, sagte er mit unsicherer Stimme. „So, und dann wurde der Doktor krank“, wiederholte Legrand, der immer mehr zu der Erkenntnis gelangte, daß Duval selbst für einfache routinemäßige Aufgaben nicht zu verwenden war. Der Wagen hielt vor dem eisernen Gittertor des Friedhofseinganges, und sie stiegen aus. Als sie sich der Leichenhalle näherten, stand dort eine alte Vettel mit strähnigem Haar, die mit unangenehm krächzender Stimme in einem fort schrie: „Das war der Antichrist! – Das war der Antichrist!“ Dabei wurde sie von den immer noch in großer Zahl versammelten Neugierigen mit bewundernden Augen bestaunt, als wären es die tiefsten und höchsten Weisheiten, die diesem zahnlosen Munde entströmten. „Soll ich das Irrenhaus anrufen?“ fragte Duval, sichtlich froh, eine Ablenkung gefunden zu haben. Legrand ging nicht darauf ein, sondern sagte: „Mir ist nicht ganz wohl bei der Sache. Wer weiß, was daraus noch wird – und wir haben nicht die einfachste Spurensicherung aufzuweisen…“ 85
„Das ist doch nicht Ihre Schuld, wenn der Kommissar den Techniker nicht mitläßt“, versuchte Duval diese Bedenken zu entkräften. „Das beweisen Sie erst einmal, wenn es hart auf hart geht und ein Sündenbock gebraucht wird“, erwiderte der in diesen Dingen erfahrene Legrand. „Was heißt hier überhaupt Spuren sichern.“ Duval wies auf die überall herumtrampelnden Dorfbewohner, die schon vor dem Eintreffen des Polizeiautos die Leichenhalle und deren Umgebung mit Augen, Händen und Füßen ausgiebig „besichtigt“ hatten. „Das stimmt alles, aber ob man es uns abnimmt“, sagte Legrand und betrat das kleine Gebäude, um sich noch einmal darin umzusehen, während er Duval als Türwächter zurückließ. Was sollte man nach dieser Invasion der Einheimischen hier noch suchen? Was unter den gegebenen Umständen möglich war, hatte er sofort nach seiner Ankunft mit der ihm gewohnten Gründlichkeit getan. Doch es blieb ein Gefühl der Unsicherheit, das seiner Gewissenhaftigkeit entsprang und ihn bestimmt hatte, ein zweites Mal hierherzufahren. Es war wohl die Besorgnis, etwas übersehen oder nicht genügend beachtet zu haben. Doch je mehr er Augen und Gedanken mühte, um so deutlicher wurde ihm das Nutzlose dieses Unterfangens bewußt. Er war ratlos wie selten zuvor. Natürlich hatte er in seiner bisherigen Tätigkeit oftmals vor ähnlichen Schwierigkeiten gestanden, doch hatte sich dabei immer ein Motiv angeboten, auf dem man aufbauen konnte. Aber hier…? Nachdenklich stand er in dem Raum, aus dem der Tote verschwunden war, und betrachtete die drei leeren Holzpritschen. 86
„Das ist wirklich ein Ding“, murmelte er kopfschüttelnd und wandte sich dann mit verkniffenem Gesicht wieder dem Ausgang zu. „Na endlich, Chef!“ empfing ihn draußen Duval. „Ich komme mir vor wie ein Portier vor einem Museum.“ „Das wäre vielleicht nicht einmal der schlechteste Posten für Sie“, meinte Legrand und ging mit schnellen Schritten auf den vor dem Friedhofstor stehenden Dienstwagen zu, während sein Assistent, ohne die Zweideutigkeit dieser Worte zu erfassen, sich bemühte, ihm zu folgen. Auf der Rückfahrt überdachte der Inspektor noch einmal die Eindrücke der letzten Stunden. Eintönig summte der Motor des Renault und ließ das reizvolle Landschaftsbild schnell vorübergleiten, ohne daß es dem im Fond sitzenden Legrand zum Bewußtsein gekommen wäre. Verzweifelt versuchte er, wenigstens in Gedanken einen Anhaltspunkt zu finden. „- da steckt etwas ganz anderes dahinter, als sich im Moment auch nur vermuten läßt.“ Diese Worte des alten Jerome beschäftigten ihn am meisten, wohl, weil sie seinen eigenen vagen Empfindungen in dieser Sache so sehr entsprachen. „Wie können Sie denn den Duval, diesen Esel, allein auf die Menschen loslassen! Sind Sie denn von allen Geistern verlassen!“ Kommissar Blanchard, Chef des Kriminalkommissariats der Departementshauptstadt Périgueux, war mehr als ungehalten, er war wütend. Legrand verschlug es die Sprache, als er am nächsten Morgen im Dienstzimmer seines Vorgesetzten so empfangen wurde. „Ich weiß nicht…“, versuchte er sich zu verteidigen. Er fand keine Erklärung dafür, was den stets be87
herrschten Blanchard in eine solche Erregung versetzt haben mochte. „Ich weiß nicht!“ echote der aufgebrachte Kommissar. „Aber ich weiß was! Können Sie mir bitte einmal erklären, was dieser Schwachkopf Duval gestern in Excideuil zu suchen hatte?“ „Der dort ansässige Doktor Martell hat in der Sache, in welcher ich gestern in Saint-Ponoir war, den Totenschein ausgestellt. Ich gab Duval den Auftrag, sich bei dem besagten Arzt einige zusätzliche, über die Angaben auf dem Totenschein hinausgehende Fragen beantworten zu lassen.“ „So, und das machen Sie nicht selbst, sondern schicken dieses Rhinozeros? Ja, haben Sie denn den Verstand verloren?“ schrie der erboste Kommissar. Der verwirrte Legrand war nahe daran, das selbst zu glauben, denn noch nie hatte er den Kommissar schreien oder Schimpfworte gebrauchen hören. Stets und immer spielte Blanchard den distinguierten Herrn. Der Agent Duval hatte Legrand durch sein kaum zu überbietendes Ungeschick im Umgang mit Menschen schon mehr als genug Scherereien und Ungelegenheiten bereitet. Diesmal schien er jedoch, dem Verhalten des Chefs nach zu urteilen, alles bisher Dagewesene überboten zu haben. „Wissen Sie denn überhaupt, was sich der Idiot gestern wieder geleistet hat?“ Der ahnungslose Legrand konnte nur den Kopf schütteln und ließ sich in einen der schäbigen Sessel fallen, die vor dem Schreibtisch für Besucher bereitstanden. „Dann will ich Ihnen diese Freude nicht länger vorenthalten“, fauchte der Kommissar. „Gestern mittag erhielt ich einen Anruf aus Excideuil. Ein Doktor Martell 88
verwahrte sich auf das entschiedenste gegen die ihm zugefügten Kränkungen und Beleidigungen seitens eines Angehörigen unseres Kommissariats. Wie mir der maßlos empörte Arzt berichtete, drang in den gestrigen Vormittagsstunden ein Mensch in Zivil, der sich fortwährend als Polizist ausgab, ungeachtet des Protestes der übrigen wartenden Patienten in sein Ordinationszimmer ein und wollte ihn verhören. Es kam zu einem heftigen Wortwechsel, in dessen Verlauf der Eindringling den Arzt mit Verdächtigungen und beleidigenden Äußerungen überhäufte. Durch die übermäßige Aufregung erlitt der kränkliche Doktor Martell einen Herzanfall, so daß ein anderer Arzt zu seiner Behandlung gerufen werden mußte. Die Patienten hatten zuerst gedacht, es wolle sich nur jemand vordrängen, nun aber meinten sie, einen Irren vor sich zu haben. Die von ihnen herbeigerufene Gendarmerie stellte fest, daß es sich bei dem angeblich Verrückten um den Polizisten Duval vom Kriminalkommissariat in Périgueux handelte…“ „Mein Gott!“ stöhnte Legrand und konnte sich nun auch den verdächtigen Eifer erklären, mit dem Duval von seiner Fahrt nach Excideuil berichtet hatte. Der Kommissar fuhr fort: „Doktor Martell erklärte mir weiter, daß er seit über vierzig Jahren als Arzt in Excideuil ansässig sei. Er habe, wie viele seiner Kollegen, bewußt das angenehmere Leben in der Stadt gegen das beschwerlichere eines Landarztes eingetauscht, und dies einzig und allein der hilfebedürftigen kranken Menschen wegen. Ein solches Leben in diesen rückständigen Landgegenden sei jedoch ein ständiger Kampf gegen Aberglauben und Vorurteile unwissender Menschen, die völlig unter dem Einfluß von Quacksalbern und Gesundbetern stehen und dem Arzt nur 89
Mißtrauen und Zweifel entgegenbringen. Unter diesen Umständen bedeute eine solche Diskriminierung vor allen Leuten mehr als nur eine persönliche Kränkung. Doktor Martell ist äußerst aufgebracht und nicht gewillt, den unerhörten Vorfall hinzunehmen. Er wird bei dem Präfekten Beschwerde einlegen.“ Kommissar Blanchard brachte das alles in einem Tonfall vor, als lese er einen dienstlichen Bericht ab. Dabei bemühte er sich in Miene und Haltung, seinen Mißmut über ein Geschick zum Ausdruck zu bringen, welches ihn mit solchen Mitarbeitern strafte. Nun war auch in dem sonst so gelassenen Legrand die Wut hochgekommen. Der Ärger über das soeben Gehörte legte sich ihm wie ein Druck gegen die Schläfen. „Und was sagt Duval dazu?“ fragte er mit trockener Stimme. Blanchard trommelte gereizt mit den Fingerspitzen auf seiner Stuhllehne: „Das zu hören, bin ich äußerst begierig! Leider hatte ich bis jetzt noch nicht das Vergnügen, der Kerl ist nämlich nirgends zu finden.“ „Ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll.“ Legrand schüttelte den Kopf. „Er bekam von mir lediglich den Auftrag, Doktor Martell um einige Auskünfte zu bitten –“ Kommissar Blanchard winkte ab: „Lassen wir das, bis Duval kommt! Sagen Sie mir lieber, was in SaintPonoir los war!“ „Mein Bericht darüber liegt hier.“ Legrand zeigte auf einen auf dem Schreibtisch liegenden Aktendeckel. „Dort ist tatsächlich in der vorletzten Nacht die Leiche eines alten Mannes verschwunden.“ „Gibt es irgendwelche Anhaltspunkte?“ fragte Blanchard. 90
Legrand zuckte die Schultern: „Nicht den geringsten. – Jedenfalls habe ich keinen erkennen können. Meiner Meinung nach ist das so merkwürdig, so einmalig, daß es dazu wohl keine Parallele geben dürfte.“ „Das möchte ich nicht sagen“, widersprach Kommissar Blanchard. „Aus meiner Pariser Zeit kenne ich einen ähnlichen Fall. Dort war eines Tages die Leiche eines bildhübschen jungen Mädchens verschwunden. Die Sache machte damals in der Öffentlichkeit ziemlich Furore, natürlich auf Kosten der Polizei, wurde dann aber bald aufgeklärt. Einer der Friedhofswärter, so eine Art ‚Glöckner von Notre-Dame’, hatte die Tote des Nachts in sein Haus gebracht und versteckt – ein Fall von Nekrophilie wie aus dem Lehrbuch des Psychiaters.“ „Aber das ist doch etwas ganz anderes“, entgegnete Legrand. „In diesem Falle bietet sich das Motiv doch beinahe von selbst an, wogegen man in Saint-Ponoir auch mit der größten Phantasie nicht durchzublicken vermag, was da eigentlich…“ Legrand wurde durch das Klingeln des Telefons unterbrochen. Blanchard nahm den Hörer ab. „Hier Capitaine Dupont“, schallte eine schneidende Stimme mit einer Lautstärke gegen das Trommelfell des Kommissars, daß dieser mit schmerzlich verzogenem Gesicht erschrocken zusammenfuhr. Trotz seiner Verärgerung hatte Legrand Mühe, ein Lächeln zu unterdrücken. Es war zu komisch anzusehen, wie der Gendarmeriechef durch sein Gebrüll den Kommissar erschreckte. Der Commandant de la gendarmerie de la région Périgueux, Capitaine Dupont, ein kleines drahtiges Männchen, war bekannt dafür, daß er die ihm fehlende körperliche Gewichtigkeit durch besonders martialisches Auftreten zu ersetzen suchte. „Hören Sie, 91
Monsieur le commissaire!“ schallte es wie aus einem Lautsprecher auf das Ohr Blanchards. „Soeben erhalte ich von unserem Außenposten Excideuil Meldung, daß sich Ihre Leute in Saint-Ponoir in Angelegenheiten einmischen, die in den Kompetenzbereich der Gendarmerie fallen. Mir ist nicht bekannt, Sie um Mitarbeit ersucht zu haben. Sollten unserer Brigade de recherche dadurch unnötige Schwierigkeiten erwachsen, werde ich den Herrn Präfekten von dieser unerhörten Sachlage persönlich in Kenntnis setzen. Außerdem erwarte ich von Ihnen eine Erklärung, Monsieur le commissaire, daß sich solche Vorkommnisse in Zukunft nicht wiederholen!“ „Aber – aber so lassen Sie sich doch erklären…“ Der Kommissar rief es fast flehend, obwohl der Gendarmeriechef bereits aufgelegt hatte. „Morbleu!“ fauchte er dann wütend. „Das hat man davon, wenn man es allen recht machen will!“ Der ehrgeizige Blanchard hatte auch allen Grund, sich zu ärgern. Sein Wahlspruch lautete, es mit jedem zu halten, der ihm nützen, und mit keinem zu verderben, der ihm schaden könnte. Davon ließ er sich auch leiten, als er Legrand und Duval nach Saint-Ponoir schickte. Was dort auch immer geschehen sein mochte, so hatte er überlegt, es schien eine günstige Gelegenheit, in einem Falle, der das Interessengebiet der Kirche so stark berührte, sich das Wohlwollen einflußreicher klerikaler Kreise zu erwerben. Leider übersah er dabei die Zuständigkeit der Gendarmerie. Nun durfte er statt des Wohlwollens des Bischofs das Mißfallen des Präfekten erwarten. Für einen Karrieremacher wie Blanchard ein harter Schlag. Legrand gönnte es ihm von ganzem Herzen. Der Kommissar, ein hochgewachsener eleganter Mann mit 92
glatt anliegendem blondem Haar, war ständig bemüht, durch die Wirkung seiner bestechenden Erscheinung zu arrivieren. Gegen höhere Stellen von aalglatter Verbindlichkeit, ja beinahe unterwürfig, gab er sich seinen Untergebenen gegenüber herablassend und arrogant. Es war nicht Neid oder Mißgunst, was den im Gegensatz dazu unscheinbaren Legrand seinem Vorgesetzten gegenüber so empfinden ließ, sondern entsprang einem Gefühl der Schadenfreude über das Mißgeschick dieses ewigen Besserwissers. Hinzu kam eine gewisse Genugtuung darüber, den so überheblichen und blasierten Kommissar, der weder durch herausragende geistige Fähigkeiten noch charakterliche Qualitäten belastet wurde, so hilflos vor sich zu sehen. Blanchard schien das zu fühlen und die Gegenwart seines Inspektors als unbehaglich zu empfinden. „Sie können gehen, Legrand“, sagte er mit belegter Stimme, „wir sprechen später noch über alles.“ Legrand erhob sich. „Wie Sie wünschen, Chef.“ Im Cafe Gascogne an der Place Bugeaud in Périgueux pflegte Albert Ramoulin seine langen, durch keinerlei Arbeit getrübten Tage zu verbringen. Der Wirt dieses Estaminets, Gascogne, ein älterer Mann von mürrischem Wesen und ungepflegtem Äußeren, legte jedoch großen Wert darauf, sein Geschäft nicht mit Café, sondern als Bar bezeichnet zu sehen. Abgesehen davon, daß er weder in das eine noch in das andere hineinpaßte, konnte man über diesen Begriff durchaus unterschiedlicher Meinung sein. Vor wenigen Jahren noch war das hier anders gewesen. An rohen Holztischen hatten an den Markttagen die kleinen Landleute aus der Umgebung mit den Händlern schwatzend und schmatzend beiein93
andergesessen und ihre kleinen Freuden und großen Sorgen begossen. Besonders an den Tagen des großen Schweinemarktes ging es immer hoch her. Da kam der Wirt Gascogne hinter seinem primitiven Schanktisch mit dem Einschenken der Gläser kaum nach und hatte Mühe, die Wünsche der Durstigen zu erfüllen. „He, Gascogne, willst du uns verdursten lassen?“ – „He, Gascogne, wo bleibt der Wasserwein?“ – „He, Gascogne!“ – „He, Gascogne!“ hatte es ständig gerufen, wobei die Schreier selbst nicht wußten, ob der Wirt nun wirklich so hieß oder nur so genannt wurde, weil er aus der Gascogne stammte. Zu diesem Zeitpunkt fühlte er sich zwischen seinen alten Holztischen, dem dürftigen Schanktisch und dem dahinterstehenden wackeligen Flaschenschrank noch als Cafetier. Nach dem Tode seiner ersten Frau, einer nichtssagenden, eingeschüchterten Person, wurde es bald anders. Eines Tages heiratete der Witwer Gascogne ganz überraschend seine jetzige Frau, Suzanne, oder er war von ihr geheiratet worden, das wußte keiner so recht. Sie war vor Jahren als dralles junges. Ding irgendwoher aus dem Flämischen gekommen, um bei ihm Stellung zu nehmen. Die Folgen waren für das „Café“ und den Besitzer gleichermaßen unvorhergesehen wie umwälzend. Dort, wo einst Gascogne die Gläser für die Durstigen füllte, thronte nun hinter einem modernen Bartisch Suzanne in einer tiefdekolletierten Bluse und stellte ihre wirklich beachtenswerten Reize zur Schau, während der Wirt nur noch Nebenarbeiten in Küche, Hof und Keller machte. Das Gläserfüllen hatte die kleine Joette übernommen, ein halbwüchsiges Mädchen mit 94
wissenden Augen, die auch in einer chromblitzenden Kaffeemaschine Espresso bereitete. An Stelle der rohen Holztische standen im ganzen Raum verteilt kleine Tische mit runden Marmorplatten und dazu passende Stühle. Verschwunden mit den rohen Tischen und Bänken war auch die Kategorie Gäste von ehedem. Nur die reichen Viehhändler kamen noch, denen von aufgeputzten Mädchen auf teils elegante, teils eindeutige Weise das Geld abgenommen wurde. Als Albert Ramoulin zu fortgeschrittener Abendstunde das Café Gascogne betrat, sah ihm die sonst so vielsagend blickende Suzanne mürrisch fragend entgegen. „Weshalb bist du denn heute morgen nicht gekommen?“ empfing sie ihn mit leiser, aber vorwurfsvoller Stimme, noch ehe er sie richtig begrüßen konnte. „Ich habe den ganzen Vormittag bei Valerie auf dich gewartet…“ Und sie meinte damit ihre Freundin, in deren Wohnung sie sich mit Albert heimlich zu treffen pflegte. „Mein Vater ist gestorben, und da bin ich vor lauter Aufregung und Laufereien nicht zur Besinnung gekommen“, erklärte Albert beschwichtigend. „Trotzdem hättest du mir wenigstens Bescheid geben können“, ärgerte sich Suzanne. „Ich habe dir immer gesagt, wie schwer es mir fällt, das Geschäft allein zu lassen.“ „Mein Gott, du weißt doch, wie so etwas geht“, versuchte sich Albert zu entschuldigen und verlangte eine Packung Zigaretten. Er reichte ihr eine Zehnfrancnote, und wie üblich gab sie ihm großzügig auf fünfzig heraus. „Und wann sehen wir uns wieder bei Valerie?“ fragte sie, dabei schon wieder etwas versöhnlicher. 95
„Morgen vormittag ist die Beerdigung – und in den nächsten Tagen wird es noch allerhand zu regeln geben…“ „Na gut, das lasse ich gelten“, sagte Suzanne. „Ich dachte schon, du hättest eine andere…!“ „Blödsinn!“ knurrte Albert und ging, im Vorübergehen flüchtig einige Bekannte begrüßend, zu seinem Stammplatz. Er bestellte bei der Bedienung einen groben Kognak und fühlte wohltuend, wie sich in dieser vertrauten Atmosphäre sein ganzes Ich entkrampfte. Unbeachtet von den Gästen, von denen jeder jeden kannte, bemühte sich auf dem Bildschirm eines zur Unterhaltung aufgestellten Fernsehgerätes ein Komiker mit verzweifelter Mimik, seine Zuschauer zum Lachen zu bewegen. Irgendwoher aus dem Hintergrund tönte eine Musikbox und ließ den Komiker auf dem Bildschirm auch akustisch nicht zur Entfaltung kommen. An den Tischen wurde geplaudert, geflirtet und Vingtet-un gespielt. Emsig hantierte die kleine Joette mit ihren Tassen und Gläsern, ab und zu einen ihrer herausfordernden Blicke um sich werfend. Albert nahm einen Schluck von dem Kognak, der ihn wohlig durchrann, und hätte sich – als sein Blick dabei zufällig den Eingang streifte – beinahe verschluckt: In der Tür stand Adrienne und sah sich suchend um. Während er noch überlegte, wie er sich vor ihr unsichtbar machen könnte, hatte sie ihn auch schon entdeckt und kam auf ihn zugeeilt. „Gott sei Dank, daß ich dich gefunden habe.“ Sie atmete erleichtert auf und nahm neben ihm Platz. „Ich war schon bei dir zu Hause, aber…“ „Ich hatte dich doch ausdrücklich gebeten, nicht hierherzukommen“, äußerte Albert seinen Unwillen. 96
„Aber weshalb denn, es ist doch ganz nett hier?“ betrachtete Adrienne ungezwungen ihre Umgebung. Albert kochte. Er kannte Adrienne zu gut, um so viel Harmlosigkeit für bare Münze zu nehmen. „Aber wir hatten es ausgemacht“, sagte er mit einem wütenden Unterton. „Ausgemacht“, wiederholte Adrienne abwertend. „Soll ich vielleicht auf der Straße stehen? Mir langt’s sowieso schon!“ Und auf seinen verständnislos fragenden Blick fügte sie erklärend hinzu: „Ich habe mich mit Madame überworfen.“ „Was hast du…?“ fuhr er hoch. „Na und…?“ Sie schürzte die Lippen. „Einmal mußte es doch kommen. Ob ich nun einige Tage früher oder später zu dir ziehe, darauf kommt es doch nicht mehr an.“ „Du willst…?“ Albert blieb die Luft weg. „Na, wo soll ich denn sonst hin?“ wunderte sie sich mit leiser Rüge in der Stimme, daß er sich der selbstverständlichsten Sache von der Welt gegenüber so begriffsstutzig zeigte. „Gerade heute – ausgerechnet heute mußt du dich mit Madame überwerfen…“, knirschte Albert. Adrienne blieb kalt. „Es hat sich so ergeben – außerdem habe ich lange genug einstecken müssen…“ Albert schwieg. Er wollte das Gespräch in dieser Umgebung nicht weiterführen und vor allem Adrienne gegenüber erst einmal Zeit gewinnen. Er war froh, daß sie allein am Tisch saßen und kein Dritter unfreiwillig zuhörte. Nicht ein einziges Mal hatte Albert seit Adriennes Erscheinen in Richtung des Bartisches zu blicken gewagt; aber es nützte ihm nichts. Die dort thronende Suzanne übersah mit einem einzigen Blick die Sachlage. Sie 97
hatte schon gestutzt, als die gutaussehende Adrienne so unbeirrt auf Alberts Tisch zusteuerte – doch das klar zutage tretende Einvernehmen zwischen den beiden sagte ihr alles. Suzanne bebte vor Eifersucht. Ihr Hals überzog sich vor Erregung mit flammender Röte, von der sich das todblasse Gesicht in auffallendem Kontrast abhob. Ohnmächtiger Zorn schnürte ihr fast die Luft ab und ließ den üppigen Busen nur mühsam atmen. Der schadenfrohe Blick der kleinen Joette traf sie wie ein Stich. Der Versuch, ein unbeteiligtes Lächeln aufzusetzen, gab ihrem Gesicht den eingefrorenen Ausdruck einer Maske. Die Hilflosigkeit, hier im Blickfeld aller Augen so exponiert untätig sitzen zu müssen und nichts, aber auch gar nichts tun zu können, trieben ihr Tränen der Wut in die Augen. Und durch diesen Tränenschleier sah sie verschwommen, wie Albert bei der Bedienung zahlte und dann – ohne auch nur einen Blick herüberzuwerfen – mit der Fremden das Lokal verließ. Suzanne ballte hilflos die Fäuste. „So ein Schuft… so ein Schuft…!“ war das einzige, was sie mit tränenerstickter Stimme zu flüstern vermochte. Im Château Ramoulin herrschte im Gegensatz zu der draußen lastenden nächtlichen Schwüle eine verhältnismäßig angenehme Temperatur. In dem im oberen Stockwerk gelegenen Zimmer Alberts nahm Adrienne ihre Lieblingsstellung ein. Lang ausgestreckt lag sie mit geschlossenen Augen in einem Sessel und rührte sich nicht. Albert saß am Tisch und schenkte sich in kurzen Abständen aus einer Kognakflasche ein. Er trank hastig, gedankenversunken, zu 98
sehr beschäftigte ihn das Problem Adrienne und wie er es verhindern könnte, daß diese sich hier einquartierte. Den ganzen Weg vom Café Gascogne hierher hatte ihn dieser Gedanke beschäftigt, und er war wohl dadurch etwas zu einsilbig neben ihr hergegangen, denn sie schien sichtlich pikiert. Merkwürdig, ging es ihm durch den Kopf, am vorgestrigen Nachmittag noch war er froh gewesen, sie bei sich zu wissen, und hatte in seinem derangierten Zustand nichts sehnlicher gewünscht, als daß sie bei ihm bleiben möge – und jetzt wußte er nicht, wie er sie loswerden sollte. Wie schnell sich doch so etwas ändert, überlegte Albert und wurde sich der Auswirkung des durchstandenen Schocks noch einmal richtig bewußt. Erst seit gestern, nach dem Besuch des Dr. Bercourt, war das wieder anders geworden. Die danach erforderlichen Wege mit ihrer Ablenkung hatten nach und nach und die dann erschöpft durchschlafene Nacht sein inneres Gleichgewicht einigermaßen wiederhergestellt. Den ganzen heutigen Tag über war er im Hause geblieben. Erst am Abend, als ihn die in allen Räumen lastende Einsamkeit und Stille zu erdrücken drohte und er dem Verlangen, unter Menschen zu sein, nicht widerstehen konnte, war er ins Café Gascogne gegangen. Zorn übermannte ihn, wenn er nur daran dachte, mit welcher Impertinenz diese Frau versuchte, ihm ihren Willen aufzudrängen. Und es würde noch schlimmer kommen, stellte Albert ergrimmt bei sich fest, wenn es ihr gelingen sollte, sich hier einzunisten. Um jeden Preis mußte er 99
das verhindern! Das bedurfte allergrößter Geschicklichkeit und Vorsicht. „Ich kann dich wirklich nicht verstehen“, begann er daher tastend. „Wirklich nicht.“ „Was kannst du nicht verstehen?“ Adrienne fragte es betont freundlich harmlos, so daß der leise mitschwingende aggressive Unterton besonders gefährlich herausklang. Sie wußte genau, wohin er wollte. Albert hatte das Gefühl, als ob sich vor ihm ein geschmeidiges Raubtier zum Sprung duckte. „Unsere augenblickliche Situation ist doch schon prekär genug“, bemühte er sich deshalb möglichst ohne Vorwurf in der Stimme zu sprechen, „und da verstehe ich nicht, daß du sie noch so unnötig komplizierst…“ Er machte eine abwartende Pause – wartete jedoch vergebens: Adrienne sagte nichts. Aus halbgeschlossenen Augen beobachtete sie, wie das Ausbleiben des erwarteten Einwandes ihn verwirrte. Seine Miene verriet deutlich Unsicherheit. Bequem im Sessel hingestreckt, genoß Adrienne ihre vorteilhafte Position. Das Licht einer auf dem Tisch stehenden kleinen Schirmlampe verbreitete im Raum nur eine begrenzte Helligkeit. Selbst etwas außerhalb derselben entging ihr keine Regung im Gesicht des voll im Lichtschein sitzenden Albert. Der war gerade damit beschäftigt, die eingetretene Kunstpause durch neuerliches Einschenken und Leeren des vor ihm stehenden Glases zu überbrücken. Ihr Schweigen irritierte ihn sichtlich, das war an dem bereits vom Alkohol geröteten Gesicht abzulesen. Er räusperte sich verlegen und fuhr dann, als durchaus keine Entgegnung kommen wollte, mit belegter Stimme fort: „Du darfst das nicht mißverstehen – aber ich halte es für einen großen Fehler, wenn du zum jetzigen Zeitpunkt hier einziehst. Be100
denke doch, seit dem Tode meiner Mutter hat es hier im Haus keine Frau gegeben – und plötzlich, mein Vater ist noch nicht einmal unter der Erde, wohnst du hier! Glaubst du nicht auch, daß das unter den Leuten ein unnötiges Gerede gibt?“ „Die Leute“, meinte Adrienne geringschätzig. „Was kümmern mich die Leute!“ „Ich glaube, wir hätten im Moment allen Grund, vorsichtig zu sein und jedes unnötige Aufsehen zu vermeiden“, widersprach er, mühsam seinen Groll unterdrückend. Nur zu deutlich hörte er aus ihren Worten den unbeirrbaren Willen, sich unbedingt hier einzurichten, und spürte, daß er auch mit den überzeugendsten Argumenten nichts dagegen ausrichten würde. Sie wollte heraus, mit nicht mehr zurückzuhaltender Gier heraus aus dem Milieu ihres bisherigen Lebens und würde unzugänglich sein gegen alles, was dagegen sprach. Das war ihm klar. Sonderbar berührte ihn, mit welcher geradezu oberflächlichen Leichtfertigkeit die sonst so überlegende und alles im voraus berechnende Adrienne seine doch immerhin ernsthaft in Betracht zu ziehenden Vernunftsgründe negierte. Es schien ihm, als habe sie ein Stadium erreicht, in dem sie nichts anderes mehr zu sehen vermochte als nur das eine Ziel. Vielleicht hätte Albert unter anderen Umständen ihren Beweggründen noch ein gewisses Verständnis entgegenbringen können; nicht aber in seiner jetzigen Lage. Er hatte in dieser Liaison eine Quelle zur Aufbesserung seiner finanziellen Mittel gesucht. Und nun wurde ihm wie zum Hohn eine solche Rechnung präsentiert… 101
Ein dumpfer Haß ballte sich in ihm gegen dieses egozentrische Weib zusammen, das sich ihm mit einer anmaßenden Selbstverständlichkeit aufzwang. Und dabei sah er, so wie die Dinge lagen, nicht die geringste Möglichkeit, sich von ihr zu befreien. Sosehr Albert auch bestrebt war, die ihn bewegenden Gedanken und Gefühle zu verbergen, die ihn mit ihren Blicken belauernde Adrienne wußte nur zu gut, was in ihm vorging. Sein hinter Vernunftsgründen getarnter Widerstand reizte sie. Sie versagte es sich, darauf einzugehen, und wandte sich dem ihr im Moment brennender erscheinenden Problem zu, indem sie mit ungehaltener Stimme forderte: „Laß doch dieses nebensächliche Gerede! Sag mir lieber, wann die Beisetzung ist!“ „Morgen vormittag…“ Albert sah auf seine Armbanduhr und stockte. Es war kurz nach Mitternacht. „Heute vormittag um zehn Uhr“, verbesserte er sich. Adrienne hatte sich aufgerichtet. Alle Lässigkeit war von ihr abgefallen. „Und – wie geht es vor sich?“ „Wie besprochen“, erwiderte Albert. „Der Sarg wird erst kurz vor der Beerdigung hier abgeholt. Wenn die Leute vom Bestattungsbüro kommen, habe ich ihn bereits geschlossen…“ „Hoffentlich macht es sie nicht stutzig! Gehe ja geschickt mit ihnen um!“ Albert wies auf die vor ihm stehende Cognacflasche. „Ich werde ihnen damit schon plausibel machen, daß ich bei der Hitze gar nicht anders handeln konnte“, erklärte er mit einer Selbstsicherheit, die in einem befremdenden Widerspruch zu seinem bisherigen zaudernden Verhalten stand. „Außerdem herrscht im Schlafzimmer meines Vaters infolge der geöffneten 102
Fenster eine solche Temperatur, daß ihnen das von selbst einleuchtet“, fügte er beruhigend hinzu. Adrienne wurde durch seine Worte allerdings mehr beunruhigt als beruhigt. Zu sehr hörte sie aus seiner Redeweise die euphorische Wirkung des Alkohols und die sich darin bergenden Gefahren heraus. Für sie ein Grund mehr, die Dinge doppelt unter Kontrolle zu halten. „Dein Vater liegt wohl in seinem Schlafzimmer?“ fragte sie. Albert schüttelte den Kopf. „Nein – der andere… Mein Vater liegt noch unten im –“ „Was?“ fuhr sie auf. „Der Tote aus Saint-Ponoir liegt wohl immer noch hier herum…? Aber der hätte doch längst aus dem Haus sein können“, echauffierte sie sich. „Du sitzt natürlich lieber im Cafe, statt dafür Sorge zu tragen, daß alles sicher läuft.“ „Eben weil ich sichergehen will, habe ich alles so gelassen, wie es ist“, wehrte er ihre Vorwürfe ab. „Es braucht doch nur aus irgendeinem Grund der Doktor noch einmal zurückzukommen… oder jemand vom Bestattungsbüro… und der Tote ist nicht mehr da… Was denn dann?“ trumpfte er auf, ohne damit den geringsten Eindruck zu machen; denn obwohl Adrienne sich eingestehen mußte, daß an dieser Überlegung ohne Zweifel etwas dran war, fragte sie: „Ja, aber wann willst du ihn denn fortschaffen – in einigen Stunden ist es doch hell…? Und überhaupt – hast du dir schon überlegt, wohin?“ Albert zuckte die Schultern. ,,Na irgendwo vergraben – was denn sonst? „Womöglich noch im Garten, damit wir ständig wie auf einem Pulverfaß sitzen!“ bemerkte sie bissig und bestimmte dann: „Nein, du wirfst ihn in die Isle! Dann 103
wird kein Mensch etwas daraus machen können, egal wo die Strömung des Flusses ihn auch antreibt.“ Albert nickte zustimmend und griff dabei nach der Flasche, die ihm Adrienne ungestüm entriß. „Nun laß endlich das Saufen!“ schimpfte sie ungehalten. „Du wirst uns noch in Teufels Küche bringen…“ Verdutzt sah Albert der entschwindenden Flasche nach. In diesem Moment wurde ihm ihre herrische Bevormundung so unerträglich, daß er alle Vorsätze vergaß. „Wieso ich? Du hast doch diese verrückte Idee gehabt!“ sagte er gereizt. Adrienne schluckte. Die Klugheit gebot ihr, nicht darauf einzugehen, überhaupt schien es ihr in diesem Stadium ratsam, im eigenen Interesse einzulenken; aber ganz ließ ihr Widerspruchsgeist es nicht zu, sie konnte sich nicht verkneifen zu nörgeln: „Ich jedenfalls hätte mir den Toten beizeiten vom Hals geschafft – der müßte längst in der Isle schwimmen…!“ „Verdammt noch mal!“ Albert schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Ich habe dir doch gesagt, weshalb…“ „Jaja – ich habe es verstanden“, beschwichtigte sie ihn, obwohl es sie große Überwindung kostete. „Na also, dann ist es ja gut“, gab sich Albert zufrieden. „Für mich ist es eine Beruhigung, den Toten noch hier zu wissen – und ebenso, daß ich meinen Vater im Keller aufgebahrt habe; ich wüßte im ganzen Haus keinen Ort, wo er kühler und sicherer läge.“ „Nur gut, daß wenigstens du beruhigt bist“, sagte Adrienne voller Sarkasmus. „Nun höre endlich auf zu kritteln und mir Vorwürfe zu machen!“ Albert winkte ab. „Ich weiß nicht, was du willst – es hat doch alles geklappt! Was soll schon noch passieren?“ 104
Adrienne schwieg und sah auf das Fenster, vor dem die Nacht lastete. Sie hätte im Moment selbst nicht sagen können, was sie bedrückte. Es war bisher alles so verlaufen, wie sie es sich ausgedacht und geplant hatte – und dennoch: Sie wurde einer unerklärlichen Unruhe nicht Herr. Nur langsam fand sich ihr Blick zurück ins Zimmer und blieb auf Albert haften, der ein wenig schläfrig vor sich hin starrte. Sein Gesicht zeigte so deutlich die Spuren des genossenen Alkohols, daß in ihr sogleich erneut Ärger aufkam und sie nur mit Mühe eine Bemerkung unterdrücken konnte. Er war nicht betrunken, nein; aber allein die Tatsache, in einer so prekären Lage überhaupt zu trinken, fand sie unverständlich und unverzeihlich. Gerade der kommende Morgen würde an Albert noch einmal Anforderungen stellen, die äußerste Konzentration und Gewandtheit verlangten, und es beunruhigte sie der Gedanke, daß unter diesen Umständen sein Verhalten den Erfordernissen nicht gerecht werden könnte. Daran vermochte auch die von ihm an den Tag gelegte Selbstsicherheit nichts zu ändern. Ein Nachtfalter, vom Lichtschein angelockt, flatterte lebhaft um die kleine Tischlampe. Albert schlug nach ihm und wollte etwas sagen; er hatte schon zum Sprechen angesetzt, den Mund geöffnet – doch da geschah etwas Unerwartetes: Ein Schrei gellte von unten her durch das Haus, drang, die Stille der Nacht zerreißend, durch Türen und Wände – ein Schrei, in furchtbarem Entsetzen ausgestoßen. Albert und Adrienne fuhren zusammen. Ihre Augen trafen sich in starrem Schreck. Sie saßen wie gelähmt… 105
Mit hastig trippelnden Schritten eilte die wütende Suzanne durch den nächtlichen Park Montaigne. Niemals hätte die nur im Geschäftsleben resolute, sonst aber ängstliche und schreckhafte Suzanne sich zu dieser Stunde allein hierher gewagt. Doch sie befand sich in einem seelischen Zustand, der gar keinen Raum mehr für Gedanken an irgendwelche mögliche Gefahren ließ. Eine Mischung vielerlei Gefühle trieb sie mit unwiderstehlicher Gewalt vorwärts, und es gehörten neben brennender Eifersucht verletzte Eigenliebe und gekränkte Eitelkeit genauso dazu wie Haß und Rachsucht gegen ihre Nebenbuhlerin. Nach Alberts Weggang aus dem Café Gascogne war sie im ersten Moment wie benommen gewesen und unfähig, irgend etwas zu tun. Wieder etwas zur Besinnung gekommen, hatte sie die kleine Joette beauftragt, den beiden unauffällig nachzugehen, und nach deren Rückkehr erfahren müssen, daß Albert mit der Fremden in das Château Ramoulin gegangen sei. Diese Nachricht löste in ihr eine unerträgliche Nervenmarter aus. Hinzu kam, daß der Wirt Gascogne sie ausgerechnet in diesem Stadium ständig mit, wie sie es nannte, „dußligen“ Fragen und ihr gleichgültige Gäste sie mit belanglosem Geschwätz quälten. Das Geschäft lief auf Hochtouren, und in ohnmächtiger Verzweiflung mußte sie einsehen, daß sie keinesfalls vor Mitternacht hier herauskommen würde. Während ihr Blick immer und immer wieder die so langsam, ach, viel zu langsam vorrückenden Zeiger der großen Wanduhr suchte, stellte sie sich in quälenden Einzelheiten das Tete-à-tete der beiden vor. Es waren, ihren bebenden Lippen und zusammengeballten Fäusten nach zu schließen, ziemlich deutliche Bilder, die ihr die auf eigener Erfahrung fußende Phantasie vorgaukelte… 106
Endlich war Mitternacht. Ohne dem verdutzten Gascogne auch nur die geringste Erklärung abzugeben, warf sie sich ihre wollene Stola über, ergriff ein kleines Täschchen und eilte in die Nacht hinaus. Und nun hastete sie, erfüllt von Rachedurst gegen Albert und das fremde Weib, die eigene Vertrauensseligkeit und ihre hohen, spitzen Pfennigabsätze verwünschend, auf das Château Ramoulin zu. Wie ein reißender Wolf wollte sie einbrechen in das Liebesnest dieser Turteltauben, und sie spürte jetzt schon die befriedigende Wonne, mit der sie sich auf die Nebenbuhlerin stürzen würde. Doch dazu hätte es dieses Vorsatzes gar nicht bedurft; allein der Gedanke, daß es ihr Geld war, mit dem Albert die Fremde aushielt, machte sie so rasend, daß sie nach Vergeltung geradezu lechzte. Als sie an dem dunklen Gebäude anlangte und das matt erleuchtete Fenster im oberen Stockwerk erblickte, pochte ihr Herz so stark, daß sie sich, mit der Hand an einen Baum stützend, erst einmal beruhigen mußte. Der Arzt hatte ihr jede größere körperliche Anstrengung, vor allem jegliche Aufregung untersagt. Und das nicht ohne Grund, wie sie jetzt spürte. Die Nacht war hell und klar. Auf dem nahen Militärflugplatz rotierte ein zum Himmel gerichteter Scheinwerfer und ließ, als sei er eigens eingesetzt, Suzanne den Weg zu weisen, seinen Lichtkegel in gleichmäßigen Intervallen über das Haus und seine Umgebung huschen. Leise bewegte sie sich auf die vor ihr liegende Haustür zu und fand diese, wie erwartet, verschlossen. Mit behutsamen Schritten schlich sie zur linken Längsseite des Hauses. Prüfend sah sie sich um und mußte entmutigt feststellen, daß die Fenster des Erdgeschosses für sie unerreichbar hoch lagen. 107
Doch ins Haus mußte sie…! Sie mußte hinein! Aber wie? Indem sie noch überlegte, fiel ihr Blick auf ein zu ebener Erde angebrachtes Kellerfenster. Die Scheibe war zerbrochen. Ohne langes Besinnen nahm Suzanne ihr Glück wahr. Vorsichtig, um sich nicht an der scharfen Glaskante zu verletzten, griff sie hinein und konnte das Fenster ohne große Schwierigkeit entriegeln. Das Öffnen machte ihr dann allerdings etwas Mühe, das gequollene Holz wollte nicht nachgeben und stellte an ihre Geduld einige Anforderung; denn sie durfte ja kein Geräusch machen, um das von ihr so hoch veranschlagte Überraschungsmoment nicht zu gefährden. Geschafft. Suzanne frohlockte: Der Weg war frei! Und keine Zeit verlierend, drängte sie ihren Körper durch den Rahmen und ließ sich, mit beiden Händen ängstlich das Fensterkreuz umklammernd, in das unter ihr liegende Dunkel hinab. Ihre Befürchtung, einen unsicheren Sprung wagen zu müssen, war unbegründet. Ohne daß sie ihre Hände von dem sicheren Halt zu lösen brauchte, erreichten ihre Füße den Boden. Der völlig leere Raum, in dem sie nun stand, war nicht ganz so dunkel, wie es von draußen den Anschein gehabt hatte. In dem nur schwach hereinschimmernden Licht erkannte sie in der gegenüberliegenden Wand eine türgroße Öffnung. Vorsichtig tastete sie sich hindurch und stand inmitten schwärzester Finsternis. Suzanne kramte in ihrem Täschchen und fand nach kurzem Suchen erleichtert eine Schachtel Zündhölzer. Sie riß eines an und hob es hoch über ihren Kopf. Ehe sie sich aber noch ein Bild von ihrer Umgebung zu machen vermochte, ließ ihr Eifer sie vorwärts schreiten, und heftig stieß sie in Lendenhöhe gegen ein vor ihr 108
stehendes Hindernis, das sogleich wegrutschend nachgab und hart auf den Boden schlug. Die kleine Flamme erlosch. Suzanne stand mit angehaltenem Atem und lauschte in die Dunkelheit, ob das Geräusch sie verraten haben könnte. Doch nichts regte sich. Erneut rieb sie ein Zündholz an und sah nun im schwachen Licht, daß sie bei ihrem Anprall eine bis dahin auf zwei hölzernen Böcken ruhende Holzplatte von dem rechts vor ihr stehenden Gestell heruntergeschoben hatte. Und noch etwas sah Suzanne: Ein weißes Laken war von der Platte herabgeglitten und gab nun frei, was es verdeckt hatte. Sie konnte in dem unsicheren Licht nicht erkennen, was da vor ihr lag; doch dann – das Streichholz in ihrer Hand begann schon zu verglimmen – wußte sie plötzlich, was das war… Sie stand wie erstarrt. Ihr Blut stockte vor Entsetzen. Und obwohl nun erneut Dunkelheit sie umgab, sah sie vor ihren Augen noch immer das grausige Bild: diesen nur aus einer Hälfte bestehenden Kopf, dieses gräßlich starrende eine Auge, den blutverkrusteten Bart… Unwirklich gellte ihr der eigene Schrei in den Ohren. Sie taumelte zurück, stieß mit dem Rücken gegen einige hinter ihr an der Wand aufgestapelte Blechgefäße, und mit ohrenbetäubendem Lärm dröhnte, polterte und schepperte um sie her alles zu Boden. Suzanne war mit ihrer nervlichen Widerstandskraft am Ende. Die Dunkelheit steigerte ihr unbeschreibliches Grauen ins Unerträgliche, und jeden Augenblick meinte die so fürchterlich Geschockte ohnmächtig zu werden. Ihrer Sinne kaum noch mächtig, wankte sie auf den Durchgang zu, durch den sie hereingekommen; und 109
schmerzhaft sich an einem vor ihr her rollenden Eimer stoßend, stolperte sie zurück. Nichts mehr von Haß und Eifersucht, vergessen Rachedurst und Überraschungsmoment, nur noch ein Gefühl beherrschte sie: Hinaus…! Hinaus…! Als sie dem nahen Fenster zustrebte, wurde irgendwo weit hinter ihr eine Tür aufgestoßen. Elektrisches Licht flammte auf… In irrer Angst suchte die bebende Suzanne das Freie zu gewinnen. Mit verzweifelter Anstrengung zog sie sich am Fenster hoch und zwängte sich mit immer mehr erlahmenden Kräften Zentimeter um Zentimeter nach draußen. Die hinter ihr nahende Gefahr trieb ihr rieselnde Schauer über den Körper und entrang ihrem Munde kurze erstickte Schreie. Und vielleicht wäre es ihr ohne diese unbändige, alle Energien entfachende Furcht gar nicht gelungen, den Keller auf diesem Wege wieder zu verlassen. Von Angst und Entsetzen gejagt, hetzte Suzanne davon. Die wollene Stola bedeckte längst nicht mehr ihre Schultern. Den rechten Schuh hatte sie auch verloren, und mit einem heftigen Schwung ihres Beines wurde der sie am schnellen Laufen hindernde linke Pumps ebenfalls vom Fuß geschleudert. Das Täschchen mit beiden Händen gegen das wild in der Brust hämmernde Herz pressend, rannte sie auf ihren zartbestrumpften Beinen dem schützenden Dunkel des nahen Parks entgegen. Sie wollte schreien, schreien – doch nur ein kraftloses Krächzen entrang sich der ausgetrockneten Kehle… Albert löste sich zuerst aus der Erstarrung. „Verdammt…!“ entfuhr es ihm, dabei war er auch schon auf den Beinen und drückte den Schalter der 110
Deckenleuchte. Und während die erschrocken blickende Adrienne von dem gräßlich durch das Haus gellenden Schrei noch immer wie gelähmt saß, eilte er bereits aus dem Zimmer und jagte zum Keller hinunter, aus dem wild schepperndes Poltern heraufdröhnte. Er stieß die schwere Kellertür auf und schaltete das elektrische Licht ein. Für einen Moment verhielt er und lauschte. Nichts regte sich. Oder doch? War da nicht etwas?… Ein scharrendes Geräusch? Hörte sich das nicht an wie keuchender Atem, ächzendes Stöhnen? Oder täuschten ihn die erregten Sinne? Langsam stieg Albert die Treppe hinab. Zwischenwände machten den Keller unübersichtlich. Er nahm ein am Geländer lehnendes Rohrstück in die Hand und bewegte sich vorsichtig vorwärts. In kurzen Abständen blieb er stehen lauschte, aber nichts regte sich, um ihn war Stille. Dann gewahrte er die am Boden liegenden Blechgefäße, die umgerissene Liegestatt des toten Vaters, das weit geöffnete Kellerfenster… Albert atmete erregt. Mit zitternden Händen brachte er die Holzplatte in ihre ursprüngliche Lage und breitete das herabgefallene Laken darüber. Seine Gedanken gingen wild durcheinander. Ratlos sah er sich um, stand eine Weile unschlüssig, überlegte und begab sich wieder nach oben. Adrienne hatte in der Zwischenzeit nicht gewagt, das Zimmer zu verlassen, und saß nach wie vor in ihrem Sessel. Bei seinem Eintreten richtete sie sich auf und sah ihn aus weitgeöffneten Augen an. „Was – was war denn das?“ empfing sie ihn mit leiser Stimme, aus der alle Sicherheit entschwunden war. Albert zuckte hilflos die Schultern. „Es war jemand im Keller…“ . 111
„Aber… wer…?“ Ihre Augen wurden noch größer. „Ich weiß es nicht…“ Albert sagte es mit müder, verständnisloser Stimme, ließ sich kraftlos in den Sessel fallen und preßte die geballten Fäuste gegen die Schläfen. „Verdammt noch mal!“ brach es aus ihm heraus. „Da hat man einen todsicheren Plan, führt ihn auf das gewissenhafteste durch, nimmt wer weiß was auf sich, ist fast am Ziel – und dann stöbert jemand im Keller herum…“ Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Es ist nicht zu fassen – es ist einfach nicht zu fassen…“ Adrienne war wie benommen. Da glaubte sie alles, aber auch alles einkalkuliert zu haben – und nun… Nur zu klar sah sie die Gefahr und die möglichen Folgen, die diese Komplikation heraufbeschwor. Ärgerlich biß sie sich auf die Unterlippe. Sie hatte durchaus kein Verlangen, womöglich hier im Hause mit den beiden Leichnamen angetroffen zu werden, und so drängte es sie, möglichst schnell fortzukommen. Nicht im entferntesten dachte sie daran, ihr Vorhaben aufzugeben. Dafür stand für sie zuviel auf dem Spiel. Die eigene Person dabei zu gefährden, ließ ihr Egoismus natürlich nicht zu, und so wollte sie die weitere Entwicklung lieber aus sicherer Entfernung abwarten. „Ich glaube, es ist besser, wenn ich nicht hierbleibe und vorerst zu Madame zurückgehe“, begann sie vorsichtig ihren Rückzug einzuleiten. „Oder was meinst du?“ Albert starrte nachdenklich auf ein vor ihm an der Wand hängendes Photo, als könnte ihm von dort Rat und Hilfe kommen. Es war das Hochzeitsbild seiner Eltern und zeigte den Vater stolz in Uniform und die Mutter, glücklich lächelnd, im schlichten Kleid mit Kranz und Schleier. Beim Anblick dieses Bildes kamen 112
ihm die bitteren Worte des Vaters in Erinnerung, die so sehr das ausdrückten, was er nun selbst empfand: „Mein Gott, was ist aus uns geworden!“ Nein – weiß Gott – es war nicht mehr viel übriggeblieben vom Stolz der Familie Ramoulin. Adrienne wurde ungeduldig. Wieder und wieder wanderte ihr Blick verstohlen über das schonungslos dem hellen Deckenlicht preisgegebene Mobiliar aus Großvaters Zeiten, das so gar nicht zu dem immer modern und flott auftretenden Albert passen wollte. „Albert“, mahnte sie schließlich, „ich hatte dich etwas gefragt!“ Er fuhr aus seinen Gedanken hoch und sah sie ein wenig geistesabwesend an. „Egal, wer da auch im Keller gewesen sein mag“, meinte er dann, ohne auf ihre so unnötige Frage einzugehen, „wir müssen jetzt mit allem rechnen… Ich fürchte, es wird nicht lange dauern, und wir haben die Polizei hier – dann ist es sowieso aus…“, fügte er resignierend hinzu. Adriennes herrische Aktivität kehrte bei dieser unerwünschten Reaktion sogleich zurück. „Gar nichts ist aus!“ widersprach sie heftig. „Wir müssen jetzt nur folgerichtig handeln, weiter nichts! Ein Dieb oder Einbrecher könnte zum Beispiel schon gar nicht zur Polizei gehen…“, gab sie zu bedenken. „Und wenn es kein Dieb war?“ „Wer sollte denn sonst nachts in fremde Keller einsteigen?“ entgegnete sie mit einer Überzeugung, die jeden Zweifel ausschloß. Albert zuckte die Schultern. „Das wissen wir eben nicht – und deshalb solltest du es nicht zu leicht nehmen!“ 113
„Ich nehme gar nichts leicht. Natürlich müssen wir jetzt mit allem rechnen“, gab sie zu. „Und wenn schon! Laß die Polizei kommen – sie wird nur das feststellen können, was der Doktor bescheinigt hat“, winkte sie geringschätzig ab. „Die können sich den Toten ansehen und bekommen einen ordnungsgemäß vom Arzt ausgestellten Totenschein vorgelegt – was wollen die dann noch? Aber da anzunehmen ist, daß sie überall herumschnüffeln“, fügte sie warnend hinzu, „muß schnellstens dein Vater aus dem Haus!“ Albert schüttelte den Kopf. „Wir verstricken uns ja immer mehr. Nein“, sagte er bestimmt, „mir reicht’s! Meinen Vater legen wir in seinen Sarg, und den Toten bringe ich zurück nach Saint-Ponoir, damit ich mir wenigstens diese Sache vom Halse schaffe – und dann soll werden, was will…“ Adrienne sah ihn fassungslos an. „Bist du verrückt?“ fuhr sie heftig auf. „Das ist doch Irrsinn!“ wurde sie entgegen ihrer sonstigen Kühle geradezu leidenschaftlich. „Du kannst jetzt nicht einfach aufgeben! Siehst du denn nicht, daß jetzt die einzige Chance im Weitermachen liegt?“ „Vor allem sehe ich, daß wir höchstwahrscheinlich bald die Polizei auf dem Halse haben werden…“ „Aber darum geht es ja gerade“, zwang sie sich zur Ruhe. „Eben deshalb kannst du jetzt nicht den Fehler machen und deinen einzigen Trumpf aus der Hand geben! Was willst du ihnen vorweisen, wenn sie kommen sollten?“ „Du hast doch gehört: Mir reicht’s!“ erwiderte er gereizt. „Was glaubst du wohl, was du denen noch vormachen kannst, wenn die erst einmal hier sind?“ „Nun verliere nicht die Nerven! Weshalb sollten sie anders reagieren als der Arzt?“ 114
„Der Arzt –“, wiederholte Albert mitleidig. „Wie kannst du den Arzt mit diesen Schnüfflern vergleichen?“ „Nun gut – aber das ist kein Grund –“ „Für dich vielleicht!“ unterbrach er sie. „Du kannst gut reden! Wenn es hart auf hart kommt, hast du damit nichts zu tun…“ „Bitte, werde nicht ungerecht!“ bat sie. „Ich habe mich doch weiß Gott engagiert!“ „Das kann man wohl sagen“, meinte Albert bissig, der seine Abneigung kaum mehr zu verbergen vermochte. So groß war der Widerwille, den sie in den letzten Stunden in ihm entfacht hatte, daß dieser im Augenblick alle anderen Überlegungen überwog. Adrienne glaubte noch immer, Albert durch Zureden beeinflussen zu können. „Mach es so, wie ich gesagt habe“, beschwor sie ihn, „und du wirst sehen –“ „Nichts werde ich“, schnitt er ihr das Wort ab und erhob sich. Ihre bevormundende Stimme reizte ihn und machte ihn nervöser, als er schon war. „Nun sei vernünftig!“ Adrienne sagte es fast flehend. Albert winkte ab und wandte sich zur Tür. „Ich habe dir gesagt, was ich machen werde.“ Adrienne nagte wütend an ihrer Unterlippe. Unbewußt fühlte sie, daß das, was sie für mangelnde Courage hielt, etwas anderes sein mußte. In dem am Park Montaigne gelegenen Polizeirevier führte nachts der Polizist Poivre das Kommando. Freilich bestanden die ihm unterstellten Kräfte, mit denen er hier am westlichen Stadtrand von Périgueux Ordnung und Sicherheit zu gewährleisten hatte, nur aus dem Polizeiaspiranten Gilou, einem ängstlichen jungen 115
Mann, der sich später einmal als gefürchteter Leiter eines Morddezernats einen Namen zu machen gedachte. Natürlich war es gegen die Vorschrift, einen noch in der Ausbildung stehenden Anwärter allein auf nächtliche Streife zu schicken; doch was sollte Poivre machen – alle Versuche seines Revierleiters, den Nachtdienst personell zu verstärken, wurden von der Präfektur mit Etatschwierigkeiten abschlägig beschieden. Nur einen Hund hatte man ihnen bewilligt, einen Schäferhund. Aber auch da mußten die Etatschwierigkeiten mitgesprochen haben; denn was der nunmehr zum Hundeführer avancierte Gilou auf seinen nächtlichen Streifengängen an der Leine hielt, hatte mit einem Polizeihund nur das ähnliche Aussehen gemein und war noch ängstlicher als er selber. Diese so glücklich übereinstimmende Wesensart der beiden barg in sich natürlich einen unschätzbaren Vorteil: Sie schloß nämlich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus, daß einer den anderen durch draufgängerisches Temperament in eine unerwünschte, gefährliche Situation bringen könnte. Poivre hatte der Hund keine Erleichterung gebracht, er stand nach wie vor vor dem Problem, gegen die Vorschrift handeln zu müssen. Er suchte sie indessen damit zu umgehen, daß er den Aspiranten Gilou mit seinem Hund sehr selten nach draußen ließ und die beiden fast nur zu seiner Verfügung hielt. Das schien ihm insofern notwendig, weil er selber die Dienststelle nicht verlassen durfte; denn was sollte er tun, so überlegte er, wenn ihn ein telefonischer Notruf erreichte und er, vor der Tür rufend, von dem gerade patrouillierenden Gilou nicht gehört wurde? Wer sollte dann den bedrängten Bürgern zu Hilfe eilen? 116
Gilou und der Hund waren übrigens der gleichen Meinung, noch dazu die Räumlichkeiten hier alle Voraussetzungen für einen angenehmen Aufenthalt boten. Das Polizeirevier hatte einen großen, unmittelbar an der Straße gelegenen Dienstraum, von dem seitlich eine Tür in einen breiten, vollständig kahlen Durchgang führte, in dem sich drei Ausnüchterungszellen befanden, deren Stahlgitter allerdings auch schwereren Fällen standzuhalten vermochten. Hinter diesem Durchgang lag ein etwas kleinerer Raum, der den Polizisten zum Aufenthalt diente – und hier ließ es sich der Aspirant Gilou während der Nachtzeit wohl sein. Die Einrichtung bestand zwar nur aus einem in der Mitte stehenden rohen Holztisch mit Stühlen, einigen Spinden und einem Stahlschrank zur Aufbewahrung der Reservewaffen und der Munition – aber das Herrlichste darin waren die drei übereinanderstehenden Wandbetten, in denen der Ordnungshüter Gilou seine nächtlichen Streifengänge verschlief. Das grelle Licht einer an der Decke hängenden Glühlampe störte ihn dabei ebensowenig wie die vielen an den Wänden angebrachten Magazinbilder mit verführerisch blickenden unbekleideten Damen. Ja – nicht einmal der Gedanke an die schutzlos der Nacht preisgegebenen Bürger beunruhigte sein Gewissen. Allerdings mußte man ihm zugute halten, daß das seine Kompetenz auch weit überschritten hätte. Die lag ja bei dem für den Dienstablauf verantwortlichen Poivre. Aber der beunruhigte sich ebenfalls nicht. Die in den vergangenen Jahren gemachten Erfahrungen zeigten nämlich, daß die Polizeiwache eine reine Formsache war. In dieser Gegend geschah nichts, aber auch nichts, was die Anwesenheit polizeilichen Schutzes er117
forderte. Und wenn wider aller Erwartung und Erfahrung doch etwas passiert wäre – hier hätte man sowieso nichts bemerkt; denn der Agent de police Poivre, ein kleiner, dunkler Fünfziger, der seine schmächtige Statur und auch sonstige Mittelmäßigkeit durch ein messerscharf rasiertes Menjoubärtchen zu überspielen suchte, hatte ganz andere Interessen, als sich um Schutz und Sicherheit der Bürger zu kümmern… Das, was für Gilou sein Wandbett, war für Poivre das nächtliche Dienstzimmer. Hier war seine Welt – und hier, nur hier lebte er. Dieser merkwürdige Umstand entsprang jedoch nicht etwa einer allzu freudigen Dienstauffassung oder einem übersteigerten Pflichtgefühl, sondern war in viel tiefer liegenden, komplizierten psychologischen Ursachen zu suchen. Das beeinflussende Moment lieferte zweifelsohne seine Ehe mit Madame Poivre, einer hageren Bohnenstange, die es in sich hatte. So war der permanente Nachtdienst kein bloßer Zufall. Man mußte die ständig geifernde Xanthippe schon persönlich kennen, um zu verstehen, wie dringend der so unglücklich unter den Pantoffel Geratene die nächtlichen Dienststunden zu seiner Erholung und Entspannung benötigte, ganz abgesehen davon, daß der von früh bis spät mit Hausarbeit überlastete Poivre für die Ausübung des Tagesdienstes auch gar keine Zeit gefunden hätte. Aber da war noch etwas, was diesen Nachtdienst so unerhört reizvoll machte: Es war die einzigartige Möglichkeit, die er Poivre bot, sich ungestört dem vollen Genuß seines Hobbys hinzugeben. Freilich mochte die Bezeichnung Hobby in diesem Falle nicht ganz zutreffend sein und bei genauerer Betrachtung 118
der Dinge ein wenig zu schwach erscheinen; doch man konnte es schon so nennen: Poivre war ein Fetischist! Doch da das wissenschaftlich untermauerte Urteil eines Spezialisten darüber nicht vorlag und allzuoft voreilig über einen Menschen der Stab gebrochen wird, so war auch hier nicht auszuschließen, daß mit dieser terminologischen Bezeichnung in unverantwortlicher Leichtfertigkeit etwas als Laster unterstellt wurde, was in Wirklichkeit ein so hartes Wort keinesfalls verdiente. Doch ob nun Laster oder harmloses Vergnügen, Hobbyist oder Fetischist, man sollte Verständnis aufbringen für einen Mann, dem ein böses Geschick selbst das vorenthielt, was sogar den Allerärmsten noch das Leben versüßt; denn selbst das Zubrot der Armen – wie der gallische Volksmund so schön die Freuden der Ehe umschreibt – mußte der am häuslichen Herde darbende Poivre entbehren. Was Wunder also, wenn er – in Ermangelung eines Besseren – im Betrachten weiblicher Aktbilder einen Ausgleich suchte. Und da auf dem Gebiet der Nudität die skandinavischen Spitzenerzeugnisse den Weltmarkt beherrschten, so waren es vorwiegend Hefte dieser Produktion, an denen sich Poivre während der nächtlichen Dienststunden ergötzte. Diese Importware besaß leider den Nachteil, daß er die dazugehörigen Texte nicht lesen konnte. Vor allem die Erläuterungen zu den kleinen pornographischen Witzbildchen versprachen etwas ungemein Derbes, das zu wissen sich wohl gelohnt hätte. Deshalb hatte Poivre schon ernsthaft erwogen, Sprachunterricht zu nehmen, um über diesen Umweg in die Geheimnisse der nordischen Worte einzudringen. Sonst aber war er mit dem Gebotenen sehr zufrieden, denn dieser Mangel wurde mehr als ausgeglichen 119
von den im ganzseitigen Format gehaltenen lebensechten Farbaufnahmen, zu deren Verständnis es wirklich keines erläuternden Textes bedurfte. Es mochte freilich ein wenig bedenklich stimmen, daß es ausschließlich die Busen waren, die dabei sein Wohlgefallen in so hohem Maße erregten. Und auch wie er dieselben betrachtete, entbehrte keinesfalls der Zweideutigkeit; denn Poivre wurde der ihn bei dieser Kurzweil befallenden Emotionen einfach nicht Herr. So kam es, daß er beim Anblick jener weiblichen Attribute ständig Ausrufe des Erstaunens, des sachverständigen Lobes oder anerkennender Bewunderung von sich gab. Ganz schlimm aber zeigte es sich, wenn ihm beim erwartungsvollen Umblättern ein besonders gelungenes Prachtexemplar vor das staunende Auge kam. Dann entriß ihm die Begeisterung jedesmal einen leisen Schrei grenzenlosen Entzückens, der jedoch meist in einem entsagungsvollen Seufzer endete. Zu sehr drängte sich ihm beim Anblick der eminenten Gebilde der Vergleich auf, was ihm das eigene Ehebett in jeder Hinsicht vorenthielt, und dieser schmerzliche Gedanke war geeignet, seinen Enthusiasmus zu dämpfen. Übrigens war das Wort Vergleich ein wenig unglücklich gewählt, denn die Brettgestalt Madame Poivres zeigte an jenen Körperstellen nicht einmal die Spur eines solchen Ansatzes. Heute war es, obwohl schon Mitternacht, in dem großen Dienstzimmer noch nicht soweit. Poivre hatte den ganzen Abend in ein Journal Linien ziehen müssen, und da er in allem, was nicht sein Hobby betraf, ein wenig ungeschickt war, hatte die Arbeit längere Zeit in Anspruch genommen. Obendrein mußte er den zur Straße führenden Vorraum fegen. 120
Nun aber konnte der Kult beginnen. Poivre nahm an seinem in der Mitte des Raumes stehenden Tisch Platz und zog die über ihm hängende Bürolampe zu sich herab. Das neueste seiner skandinavischen Hefte lag bereits aufgeschlagen vor ihm und versprach wieder einiges, wie Poivre mit einem schielenden Seitenblick feststellte. Mit hundertfach geübtem Griff zauberte er aus einem Versteck seines rechten Schreibtischfaches eine kleine Cognacflasche und nahm daraus einen langen Zug. Auch das brauchte Poivre, jedoch nicht des Durstes wegen, nein, sondern weil dieses geistige Getränk so angenehm prickelnd die Sinne erregte und die so leicht entflammende Phantasie entzündete. Doch unvollkommen wäre alles geblieben ohne seinen geliebten Kaffee, den wunderbar belebenden Göttertrank, der so sehr die Wirkung des Weinbrandes vervollkommnete. Fernweh überkam ihn dann in der Stille der Nacht und sehnsüchtiges Verlangen nach zarten Abenteuern, deren Unerfüllbarkeit allein die skandinavischen Hefte zu lindern vermochten. Bedächtig schraubte Poivre den Verschluß von seiner Thermosflasche, und ein köstlicher Duft erfüllte den Raum, als er das schwarze Gebräu in die Tasse goß. Schnell stärkte er sich noch einmal mit einem kräftigen Schluck aus der Flasche und wollte sich gerade behaglich dem Kaffee zuwenden, als plötzlich die Tür aufgestoßen wurde. Erschrocken und ungehalten über die unerwartete und unwillkommene Störung fuhr Poivre zusammen. Eine junge Frau, mehr tot als lebendig, taumelte herein. Dem verwirrten Gesichtsausdruck, den stier blickenden Augen und überhaupt dem ganzen Eindruck nach war die Person offenbar betrunken. Außerdem hatte sie keine Schuhe an, und es war komisch anzu121
sehen, wie sie auf ihren zarten Nylons zur gegenüberliegenden Wand wankte und sich dort erschöpft auf einen der für Besucher bestimmten Stühle niederfallen ließ. Poivre, von der Eigenart der Situation überwältigt, erhob sich, und aus diesem neuen Blickwinkel sah er nur noch eines: einen unter röchelnder Atemnot zitternden und wogenden schneeweißen Busen. Und wenn das für die Gäste des Cafés Gascogne bestimmte Dekolleté den Zweck hatte zu animieren – so erfüllte es diese Absicht auch in dieser Umgebung voll und ganz… Wie gebannt starrte Poivre auf die Inkarnation seiner jahrelangen geheimen Träume und Wünsche. Sein vom vielen Betrachten solcher Dinge geübter Blick konstatierte sogleich, daß dieses kräftige Gebilde unzweifelhaft in die Kategorie der Prachtexemplare gehörte. Mit so magischer Gewalt zog ihn das Wunder der Natur an, daß er sich nicht einmal die Zeit nahm, den Durchgang zu benutzen, sondern einfach über die hölzerne Barriere stieg, die ihn von der Besucherin trennte und dazu diente, die Beamten vor der Zudringlichkeit des Publikums zu schützen… Und dann geschah das, was nach den Gesetzen der Moral, des Anstandes und auch der Dienstvorschrift der Polizei nicht hätte geschehen dürfen. Von oben betrachtet, zeigten sich nämlich die beiden Hügel dem Beschauer in einer Fülle, die den ersten Eindruck weit übertraf. Glaubte Poivre zu träumen, wollte er sich nur von der Wirklichkeit überzeugen oder war die Versuchung zu stark – denn seine Hand fuhr, von unwiderstehlicher Gewalt getrieben, in den sich bietenden weiten Ausschnitt. Die kraftlos auf dem Stuhl zusammengesunkene Suzanne erwartete polizeiliche Hilfeleistung freilich in 122
ganz anderer Form. Dem Schrecken im Keller des Château Ramoulin entronnen, war sie, von Grauen und Entsetzen geschüttelt, durch den nächtlichen Park gelaufen, Furcht im Nacken und voller Angst, jeden Augenblick von hinten gepackt zu werden. Wie eine Errettung aus tiefster Not leuchtete ihr von weitem die an der Polizeiwache angebrachte Ampel mit der Aufschrift Police entgegen, und mit letzter Kraft war sie hier angelangt, Schutz und Geborgenheit suchend. So unerhört durchfuhr die erschöpfte Suzanne diese empörende Herausforderung, daß es ihre Lebensgeister sofort neu entfachte. Wie eine Löwin stürzte sie sich auf den Buben, der sie so frech attackierte. Der sich beim Aufrichten ihres Körpers in seinem Halter spannende Busen klemmte die Hand des Dreisten ein. So heftig stieß die Zornige den Zudringlichen von sich, daß das zarte Gewebe – solcher Belastung nicht gewachsen – zerriß und mit der gefangenen Hand auch alles übrige zur vollen Entfaltung freiließ. Sofort griff Poivre mit beiden Händen zu, wobei es ihn vor Wonne wie ein elektrischer Schlag durchströmte. Im gleichen Moment jedoch fühlte er noch einige andere Schläge. Es war Suzannes kleine Faust, die mehrmals voll sein linkes Auge traf, in das sie ausgezeichnet hineinpaßte. Er fand sich plötzlich mit dem Rücken auf die hölzerne Barriere gedrückt und bekam von der zur Tigerin gewordenen Löwin jämmerlich das Gesicht zerkratzt. Und da Poivre noch immer nicht losließ – er hatte die Nerven verloren und hielt sich nur noch aus Angst fest –, versuchte sich die entfesselte Bestie durch Bisse in das sich ihren Zähnen anbietende Faunsgesicht zu befreien. Nun rächte sich für Poivre, daß er die einfachsten Verteidigungsgriffe nicht beherrschte. Unterricht in 123
diesem Fach war seitens der Polizei oft genug erteilt worden, aber da Madame Poivre das Reinigen von Wohnung und Treppenhaus, das Gemüseputzen und die Arbeit in der Waschküche als wichtiger erachtete, hatte er niemals an diesen Schulungen teilnehmen dürfen. Zu seinem Glück entsann sich der Röchelnde im Zustand höchster Not der Alarmklingel. Die auf dem Tisch tastende Hand stieß die dampfende Thermosflasche um, deren schwarzer Inhalt sich über das farbige Aktfoto ergoß und in einem teuflischen Vernichtungswerk ohnegleichen auch alle darunter befindlichen Bilder durchtränkte. Dann aber hatte Poivre das Gesuchte gefunden, und mit dem ganzen Gewicht seines Körpers preßte sich der Verzweifelte auf den Klingelknopf. Gellend hallte die Alarmglocke durch den Aufenthaltsraum und riß den Aspiranten Gilou aus erquickendem Schlaf. Und da er in dem obersten der drei Betten lag – dies hatte den Vorteil, daß man bei eventueller Kontrolle nicht sogleich entdeckt wurde –, krachte der Kopf des so unsanft Emporgeschreckten mit solcher Wucht gegen die Zimmerdecke, daß der furchtbare Schmerz ihn sofort zurückwarf. Nichts anderes dachte der soeben aus dem Reiche des Morpheus zurückkehrende, als daß Eindringlinge dabei seien, ihn, den unschuldigen Gilou, fertigzumachen. Aber als kein weiterer Angriff gegen ihn erfolgte, bequemte er sich unter dem Druck der unentwegt schrillenden Glocke, seinen müden Körper aus dem Bett zu wälzen. Dabei vergaß er in seinem benommenen Zustand die Höhe des Bettes einzukalkulieren – und so dauerte es eine geraume Weile, bis er nach überstandenem Sturz aus dieser Höhe wieder auf die Beine kam. Japsend taumelte Gilou umher, heilfroh, bei diesem Mißgeschick 124
nichts gebrochen zu haben. Die Klingel dröhnte schmerzhaft in seinen Ohren und ließ ihn wütend feststellen, daß sie für diesen kleinen Raum viel zu groß war und ihren Platz besser in einer Feuerwache haben sollte. Der pausenlos um Hilfe läutenden Alarmglocke nach zu schließen, mußte es eine schreckliche Gefahr sein, in der sich sein Diensthabender befand. Bei Gilou kamen nun Pflichtbewußtsein und ein Gefühl der Kameradschaftlichkeit gegen den ihn immer nachsichtig und verständnisvoll behandelnden Poivre auf. Aber nur für einen Augenblick, dann gewann sofort wieder der Selbsterhaltungstrieb die Oberhand, und er entschloß sich, vor voreiligem Handeln doch erst nachzusehen, um was es da draußen eigentlich ging. Für einen Moment war er versucht, den wie tot unter dem untersten Bett schlafenden Hund zu wecken, ließ diesen Gedanken aber wieder fallen, weil er befürchten mußte, daß das Tier vor Schreck oder in Verkennung der Situation Lärm schlagen könnte. Es schien ihm zu riskant, die unbekannten Angreifer – oder worum es sich auch handeln mochte – solcherart auf sich aufmerksam zu machen, zumal der einzige Fluchtweg, das Fenster, vergittert war. So schlich Gilou denn allein an den drei Ausnüchterungszellen vorbei, um die Lage zu rekognoszieren. Am Dienstraum angekommen, legte er eine kurze Pause ein, um das aufgeregt pochende Herz zu beruhigen – dann nahm er allen Mut zusammen, öffnete die Tür einen winzigen Spalt und sah vorsichtig hindurch. Der sich ihm bietende Anblick erleichterte ihn ungemein. Und als er aufatmend erkannte, daß es tatsächlich nur ein einzelnes Weib und auch wirklich kein weiterer Gegner war – da brachen in Gilou der Pflicht125
eifer und das Zugehörigkeitsgefühl zu Poivre mit solcher Macht durch, daß er, ohne noch eine einzige Sekunde zu zögern, sich in das Kampfgeschehen stürzte. Suzanne empfing den neuen Angreifer mit einem Tritt, des um Haaresbreite Gilous Karriere als Mann und damit auch als Polizist beendet hätte. Dieser war über diesen Empfang denn auch mehr als verdattert. Er erkannte sofort, daß körperliche Gewalt allein nichts ausrichten würde, und war sofort entschlossen, stärkere polizeiliche Machtmittel in Form einer stählernen Knebelkette einzusetzen. Von diesem Moment an lief das Zusammenspiel der Polizeikräfte reibungslos. Poivre, nunmehr der Bedienung der Alarmklingel enthoben, griff sofort wieder mit beiden Händen voll zu. „Verdammter Flic!“ keuchte die schäumende Suzanne, und in diesem Augenblick allein darauf bedacht, ihre empfindlichen Reize vor Beschädigung zu bewahren, verlor sie den Aspiranten aus den Augen. Diese Ablenkung nützte Gilou, ein solches Instrument zur Zähmung auch widerspenstigster Naturen herbeizuschaffen. Erst als sich die Kette um ihr zartes Handgelenk schlang, erkannte Suzanne – auf solche Heimtücke nicht gefaßt – die teuflische Gefahr. Zu spät! Gilou drehte zu, und der für stärkste Konstitution bestimmte Schmerz setzte den Schlußpunkt. Mit einem Wehelaut sackte der eben noch sich aufbäumende Körper zusammen, das Wasser schoß ihr in die Augen, jeglicher Widerstand erlosch. Und als die beiden Unholde sie nun fortschleppten, befürchtete die arme Suzanne auf Grund ihrer bislang 126
hier gemachten Erfahrung für ihre Frauenehre das Schlimmste. Diese Sorge erfüllte sich jedoch nicht. Suzanne wurde in die mittelste der Ausnüchterungszellen eingeschlossen und fand nun Zeit und Gelegenheit, über die Folgen ihres Widerstandes gegen die Staatsgewalt nachzudenken. Erschöpft saß sie auf einem Hocker, von den vielfältigen Abenteuern und Anstrengungen dieser Nacht physisch und psychisch so mitgenommen, daß ihr nicht einmal das Unschickliche ihrer zerrissenen Kleidung bewußt wurde. Poivre aber hatte sich einen Stuhl geholt und saß im Gang vor der Zelle, in eiserner Pflichterfüllung fest entschlossen, von der Gefangenen keinen Blick zu wenden. Diesmal wußte Albert besser Bescheid. Kurz vor dem obeliskenförmigen Stein lenkte er seinen altersschwachen Peugeot über einen steinernen Übergang auf den zu der kleinen Anhöhe führenden Weg und hielt wenig später direkt vor dem Friedhofseingang von Saint-Ponoir. Er stieg aus und atmete wie befreit die reine Nachtluft ein. Mit einem flüchtigen Blick streifte er die ihm nun schon vertraute Umgebung und begab sich auf die andere Seite des Wagens. Die Nacht unterschied sich in nichts von der vorgestrigen, sie war genauso hell, ebenso lau, um ihn waren die gleichen vielstimmigen Geräusche des Nachtgetiers – dennoch empfand sie Albert ganz anders. In ihm war nichts mehr von Unruhe, Erregung oder Angst. So sehr hatte er sich in den vergangenen zwei Tagen auf das Außergewöhnliche der ihn umgebenden 127
Umstände eingestellt, daß er sich ohne jede Gefühlsregung den in die Zeltbahn gehüllten Toten auf die Schulter lud, allein von der Notwendigkeit getrieben, sich des unangenehmen Corpus delicti wieder zu entledigen. Das Öffnen und Schließen des eisernen Gittertores wurde wieder von dem ihm so sattsam bekannten jämmerlichen Quietschen begleitet. Mit schnellen Schritten trug er seine Last zu der vor ihm im Schatten der Bäume stehenden Leichenhalle, von der nur das merkwürdige, entfernt an eine Pagode erinnernde Dach aus dem Dunkel herausragte. Im Lichtschein seiner Taschenlampe stellte er fest, daß sich das von ihm demolierte Türschloß noch in demselben beklagenswerten Zustand befand, in das seine Brechstange es zwei Nächte zuvor versetzt hatte. Er stieß die unheimlich knarrende Eichenholztür auf, und der Lichtkegel seiner Taschenlampe glitt über das im Hintergrund des Raumes abgestellte Friedhofsgerät zu der Türöffnung in der rechten Wandseite. Mit der Örtlichkeit vertraut, schritt Albert hindurch auf die mittelste der an der linken Wandseite stehenden drei Pritschen zu. Behutsam ließ er den Packen von seiner Schulter auf das Holzgestell gleiten. Er entfernte die Hülle aus Zeltbahn, legte den toten Körper mit einigen wenigen Handgriffen zurecht, und ohne sich auch nur einen Augenblick länger als unbedingt erforderlich aufzuhalten, trat er den Rückweg an. Kommissar Blanchard fühlte sich zu dieser Morgenstunde so recht in seinem Element. Hier bot sich eine Gelegenheit, den distinguierten Herrn zu spielen, wie sie nicht alle Tage vorkam. 128
Er lehnte sich mit wohlabgemessener Nonchalance in seinem Schreibtischsessel zurück und betrachtete mit offensichtlichem Wohlgefallen die vor ihm sitzende Suzanne. Weit weniger gefiel ihm in dieser Situation die nüchterne, abgenutzte Einrichtung seines Dienstzimmers, die so gar nicht den passenden Rahmen für seine elegante Erscheinung abgeben wollte. Solcher Bedenken hätte es nicht bedurft, denn Suzanne hatte nur Augen für diesen großen, gepflegten Mann mit den ausgesuchten Manieren, der sie vom ersten Augenblick an faszinierte. Schon bei ihrem Eintreten war der Kommissar auf sie zugeeilt, hatte sie mit einer gekonnten Verbeugung begrüßt und in vollendeter weltmännischer Manier zu ihrem Sessel geleitet. Das war natürlich Labsal gewesen für das Selbstbewußtsein einer Frau, der kurz zuvor noch so unwürdige Behandlung widerfahren war. Allerdings gab es für den Kommissar auch allen Grund, seine Besucherin mit der ausgesuchtesten Höflichkeit zu behandeln. Wenn die der jungen Frau auf dem Polizeirevier am Park Montaigne zugefügten Kränkungen damit auch nicht aus der Welt zu schaffen waren, so oblag es doch nun seinem diplomatischen Geschick, diesen dem Ansehen der Polizei so überaus schädigenden Tatbestand zumindest der Öffentlichkeit vorzuenthalten. Der Leiter der Polizeiwache, ein kurz vor seiner Pensionierung stehender Beamter, welcher nichts mehr verantworten wollte, hatte bei seinem morgendlichen Dienstantritt in der Person der inhaftierten Suzanne ein Problem vorgefunden, dem er sich in keiner Weise gewachsen fühlte, so daß er sogleich seiner vorgesetzten Dienststelle Meldung erstattete und sich wegen der undurchsichtigen Nebenumstände vorsichtshalber auch 129
noch mit dem Chef des Kriminalkommissariats in Verbindung setzte. Blanchard brauchte einige Zeit, um zu begreifen – dann aber, etwas ganz Außergewöhnliches, schickte er sogar seinen Dienstwagen, um die Zeugin herbeizuholen. Er erkannte mit feinem Gefühl, daß sich hier eine Gelegenheit bot, die eigene Person in das richtige Licht zu setzen, wenn nicht sogar einen lang ersehnten Wunsch erfüllt zu bekommen, endlich seinen Namen in Verbindung mit einer Mordaffäre oder anderem Kapitalverbrechen in den Schlagzeilen der Lokalpresse wiederzufinden. Und diese Aussicht schien ihm zu dieser Morgenstunde nahe gerückt wie selten zuvor; denn was die nervös ihr Täschchen in den Händen drehende Suzanne berichtete, übertraf – sowohl was ihr Erlebnis im Keller des Hauses Ramoulin als auch das auf der Polizeiwache am Park Montaigne betraf – die am Telefon gemachten Andeutungen des Revierleiters bei weitem und würde die Handlungsweise des Kommissars durchaus rechtfertigen. Inspektor Legrand lehnte mit auf dem Rücken gefalteten Händen an der rechten Zimmerwand und beobachtete mit unbewegter Miene, wie die Augen des Kommissars immer wieder von dem anziehenden Gesicht seiner Besucherin zu der Stelle herabglitten, wo eine große Sicherheitsnadel nur notdürftig die zerrissene Bluse über einem formvollendeten Busen zusammenhielt. Als Suzanne ihn ob dieser Unschicklichkeit mit einem leicht vorwurfsvollen Blick strafte, der jedoch einer gewissen Koketterie nicht entbehrte, quittierte Blanchard es mit einem verlegenen Räuspern und rettete sich schnell in den dienstlichen Bereich, indem er sagte: „Also fassen wir zusammen. Sie sind durch ein zu ebener Erde gelegenes Fenster in den 130
Keller eingestiegen, um durch diesen in das Haus des mit Ihnen befreundeten Albert Ramoulin zu gelangen. Dort haben Sie einen aufgebahrten Toten vorgefunden. Im Lichtschein eines Streichholzes konnten Sie den Leichnam eines alten Mannes erkennen. Die eine Gesichtshälfte war blutverkrustet und gräßlich entstellt. Ob es sich dabei um den verstorbenen Vater Ihres Bekannten handelte, können Sie nicht sagen, weil Sie ihn nicht persönlich kannten. Ist das so richtig?“ Suzanne nickte. Der Kommissar resümierte weiter: „Sie haben bei dem Anblick einen lauten Schrei ausgestoßen und dann noch im Dunkeln irgendwelche Geräte oder Gefäße umgeworfen, was großen Lärm verursachte…“ „Ich war ja halb wahnsinnig vor Angst und Entsetzen…“, warf Suzanne ein. „Aber ich bitte Sie“, lächelte der Kommissar verständnisvoll, „eine Frau – mitten in der Nacht – allein in einer solchen Situation…!“ Suzanne honorierte sein Einfühlungsvermögen mit einem dankbaren Blick, dessen Charme seine Wirkung nicht verfehlte, denn Blanchard war sichtlich ein wenig durcheinandergeraten, als er fortfuhr: „Nein – bitte – Sie dürfen meine Worte nicht als Wertung Ihres Verhaltens auffassen. Mir geht es einzig und allein darum, festzuhalten, daß Ihre Anwesenheit in dem Keller bemerkt wurde. Wer da kam und das Licht einschaltete, haben Sie jedenfalls nicht mehr gesehen?“ Suzanne schüttelte den Kopf. „Ich war so von Panik erfüllt…“ Um ihren Mund zuckte es verlegen und gab ihr in diesem Moment etwas Hilfloses. Noch auf dem Polizeirevier am Park Montaigne hatte sie mit Hilfe der in ihrem Handtäschchen befindlichen Utensilien ihr Make-up 131
erneuert, und nur die müden Schatten um die Augen erinnerten in dem ansprechenden Gesicht noch an die durchstandenen Strapazen der vergangenen Nacht, was ihr ungewollt den leidvollen Ausdruck verlieh, der auf bestimmte Männer so unwiderstehlich wirkt. Legrand, durch die ihm eigene Distanz zu solchen Dingen und auch eine etwas allzu puritanische Dienstauffassung vor derartigen Empfindungen weitgehend geschützt, blieb im Gegensatz zu seinem Chef davon völlig unbeeindruckt und beobachtete amüsiert, wie das verlockende Fluidum dieser Frau den Poseur stimulierte. Für den Betrachter eine Nuance zu affektiert, fuhr sich der eitle Blanchard mit seiner gepflegten Hand über das glatt anliegende blonde Haar, und offensichtlich bestrebt, seine schöne Besucherin vor solcher Emotion zu bewahren, sagte er abschwächend: „Das ist ja auch nicht das Problem. Wir untersuchen die Sache, und dann wird sich schon herausstellen, was es mit dem Toten für eine Bewandtnis hat.“ „Das hätte durch das Revier längst geschehen müssen“, mischte sich Legrand ein. „Wir wissen noch nicht, worum es sich überhaupt handelt; aber angenommen, wir haben es mit etwas Kriminellem zu tun, ist die wertvollste Zeit bereits ungenutzt verstrichen. Ich begreife das nicht!“ Er tippte sich an die Stirn. „Hier hätte man sofort an Ort und Stelle klären sollen…“ „Ach was, hören Sie auf!“ schnitt ihm der Kommissar mit einer unwilligen Geste das Wort ab, erbost, daß Legrand sich nicht entblödete, die Arbeitsweise der hiesigen Polizei im Beisein dieser Frau so kritisch herabzuwürdigen. „Eine Klärung an Ort und Stelle wäre in dem Fall doch faktisch einer Haussuchung gleichge132
kommen – und dazu bedarf es nach wie vor einer Anordnung des Staatsanwaltes“, schulmeisterte er. „Sie wissen selbst, wie schwierig es ist, zur Nachtzeit eine solche Genehmigung zu bekommen. Was erwarten Sie also von den kleinen Revierbeamten?“ „Zumindest, daß sie ihren Dienst korrekt und ordnungsgemäß verrichten“, ließ sich Legrand nicht abbringen. „Bei einer sofortigen Meldung an den Kriminaldienst hätte sich schon ein Weg finden lassen. Immerhin besteht die Möglichkeit, unter gewissen Voraussetzungen die Genehmigung vom Untersuchungsrichter nachträglich einzuholen. Hier steht wohl fest, daß überhaupt nicht gehandelt wurde.“ „Das ist es, was mich so maßlos empört!“ wandte sich Suzanne ihm zu. „Man hat mich überhaupt nicht zu Wort kommen lassen. Ich – eine unbescholtene Bürgerin – werde auf das schändlichste behandelt… eingesperrt… während dort…“ „Ein unbegreifliches Mißverständnis…“, fiel ihr der Kommissar ins Wort, „…eine unverständliche Handlungsweise…“, verbesserte er sich sogleich, als er sah, welch eine in Unmut umschlagende Verwunderung diese unglückliche Formulierung auf dem hübschen Gesicht hervorrief und wie es in ihren Augen unwillig aufblitzte. „Ein Mißverständnis – für das die Öffentlichkeit wohl kaum Verständnis aufbringen dürfte!“ konnte sich Suzanne denn auch nicht enthalten, spitz zu bemerken. „Die Öffentlichkeit…? Aber Madame, was soll die Öffentlichkeit hierbei!“ Der aalglatte Blanchard stellte sich harmlos, und um dieser anzüglichen Rede zu begegnen, sagte er verwundert: „Außerdem verstehe ich Sie nicht, es müßte doch in Ihrem eigenen Interesse 133
liegen, die Sache nicht unnötig hochzuspielen. Und weshalb auch!“ gab er zu bedenken. „Ich brauche wohl nicht zu betonen, daß die Angelegenheit auf das strengste disziplinarisch untersucht und Ihnen nötigenfalls seitens der Polizei jede gewünschte Genugtuung widerfahren wird.“ Suzanne zeigte eine abweisende Miene. Die Anspielung des Kommissars auf die intimen Beweggründe, die dieses nächtliche Abenteuer ausgelöst hatten, vor allem der darin enthaltene maliziöse Unterton, hatte sie getroffen. Kommissar Blanchard, der ihr Verhalten falsch deutete, geriet langsam in eine gereizte Stimmung. „Wenn Ihnen das nicht genügt, kann ich Sie von irgendwelchen vorgefaßten Schritten natürlich nicht abhalten“, wurde er kühl. „Sollte dadurch Ihre Glaubwürdigkeit als Zeugin in Frage gestellt werden, könnte das unsere Arbeit außerordentlich erschweren.“ „Meine Glaubwürdigkeit…? Was ist denn mit meiner Glaubwürdigkeit?“ „Nun, die beiden Polizisten vom Revier werden höchstwahrscheinlich eine ganz andere Schilderung des Hergangs geben, als Sie es getan haben“, erklärte ihr Blanchard. „Dann steht Aussage gegen Aussage. Genaugenommen sogar zwei gegen eine, immerhin handelt es sich dabei um Beamte.“ „Soll das heißen, daß Sie mir nicht glauben?“ Blanchard zuckte die Schultern: „Hier geht es doch nicht allein darum, was ich Ihnen glaube, sondern wie es die Stellen sehen, von denen ich in meiner Arbeit abhängig bin, also Staatsanwalt, Untersuchungsrichter und nicht zuletzt – wenn Sie so wollen – die öffentliche Meinung. Vom Präfekten gar nicht zu reden“, fügte er hinzu. „Sie müssen zugeben, daß Ihr Erlebnis im Keller 134
des Hauses Ramoulin“, er suchte nach einer passenden Umschreibung, „nun – ein wenig ungewöhnlich klingt. Kurz darauf passiert Ihnen eine weitere – verzeihen Sie den Ausdruck – unglaubliche Geschichte. Wie leicht kann der Eindruck entstehen, daß es sich um irgendwelche Hirngespinste handelt.“ „Ja… aber…“ Suzanne begriff überhaupt nichts mehr. War das noch derselbe Mann, der sie so galant und verständnisvoll empfangen hatte? Mehr fragend als hilfesuchend ging ihr Blick zu Legrand, doch dieser zeigte verständlicherweise wenig Lust, sich noch einmal einzumischen. Kommissar Blanchard verfolgte Suzannes Blick mit wachsender Verstimmung. Er mochte Legrand ohnehin nicht, weil er hinter jedem Blick und jeder Bewegung von ihm ständig spöttische Überheblichkeit und verborgenen Hohn zu spüren meinte. Noch nie zuvor hatte ihn dieser Leisetreter – mit diesem Ausdruck bezeichnete er Legrand wegen seines ruhigen und bescheidenen Wesens – allein durch seine bloße Gegenwart so gehemmt und aus dem Konzept gebracht wie heute morgen. Vor diesem lästigen Beobachter gelang es ihm einfach nicht, die Wirkung seiner bestechenden Persönlichkeit voll zur Geltung zu bringen. Natürlich wäre es ihm ein leichtes gewesen, Legrand unter einem Vorwand aus dem Zimmer zu schicken, sich aber eine solche Blöße zu geben, dazu war er denn doch zu routiniert. Fast noch mehr aber ärgerte sich der Kommissar, dem Gesprächsverlauf durch sein taktisches Ungeschick diese gereizte Wendung gegeben zu haben. Was scherte ihn letzten Endes das Polizeirevier am Park Montaigne. Schließlich trug er dafür nicht die Verantwortung. In seinem Eifer, das Ansehen der Polizei zu 135
wahren – oder genauer gesagt, sich in dieser Sache an höherer Stelle Verdienst zu erwerben –, hatte er die Besucherin sichtlich vor den Kopf gestoßen. Und gerade das war ganz und gar nicht seine Absicht gewesen. „Sie dürfen mich nicht mißverstehen!“ sagte er daher und war bemüht, sich seinen Mißmut nicht anmerken zu lassen. „Niemand will Ihnen im geringsten etwas unterstellen, aber wir müssen die Dinge doch so sehen, wie sie nun einmal liegen.“ Der Kommissar wies mit einer verbindlichen Handbewegung auf seinen Mitarbeiter: „Wie Inspektor Legrand bereits sagte, wissen wir nicht einmal, womit wir es zu tun haben. Alles, was wir in dieser Sache unternehmen, um sie zu klären, gründet sich allein auf Ihre Aussage, und da solche Ermittlungen mit schwerwiegenden Eingriffen in das Leben der Betroffenen verbunden sein können, müssen wir vorsichtig sein und uns absichern. Was glauben Sie, wenn erst irgendwelche Anwälte in Aktion treten und ich nicht jede meiner Maßnahmen mit exakt begründeter Notwendigkeit – gesetzlich untermauert, versteht sich! – belegen kann? In diesem Falle wäre ich ausschließlich auf Ihre Glaubwürdigkeit als Zeugin angewiesen. Verstehen Sie nun meine Bitte, Madame“, schloß er geschmeidig, „alles zu vermeiden, was unsere Arbeit erschwert?“ Suzanne nickte müde. Sie war nicht mehr in der geistigen Verfassung, um solchen Gedankengängen noch folgen zu können. Die Nachwirkungen der vergangenen Nacht machten sich jetzt mit Gewalt bemerkbar. „Ich fühle mich sehr abgespannt“, klagte sie. „Könnten wir nicht abbrechen!“ 136
„Aber natürlich – wir wollen Sie doch nicht unnötig quälen.“ Kommissar Blanchard kam diesem Wunsche sofort entgegen. Er drückte einen an seinem Schreibtisch angebrachten Klingelknopf, um der im Nebenraum vor einem Lautsprecher sitzenden Protokollantin durch einen kurzen Summerton das Ende der Vernehmung anzuzeigen, und stand auf. „Wir haben soweit alles durchgesprochen“, sagte er, hinter seinem Schreibtisch hervortretend. „Sollte es sich als notwendig erweisen, werden wir Sie wieder herbitten.“ Suzanne wollte etwas erwidern, in diesem Moment trat jedoch ein uniformierter Polizist ein und brachte das fertige Protokoll. Der Kommissar sah es kurz durch und bat sie, es zu lesen und zu unterschreiben. Ohne dem ersteren nachzukommen, setzte Suzanne ihren Namen darunter und erhob sich ebenfalls. Blanchard, nun wieder ganz die Liebenswürdigkeit selbst, reichte ihr die Hand. „Ich lasse Sie selbstverständlich nach Haus fahren“, sagte er dabei, galant berücksichtigend, daß sie nur auf Strümpfen vor ihm stand. Suzanne dankte ihm höflich, an ihrem eingefrorenen Lächeln war zu erkennen, daß von ihrer anfänglichen Eingenommenheit für diesen Mann nicht mehr viel übriggeblieben war. Als sie sich von Legrand verabschiedete, fragte dieser: „Sie waren sicher öfter im Hause Ramoulin – können Sie mir eine Beschreibung der Räumlichkeiten geben?“ Suzanne schüttelte den Kopf. „Ich war noch nie dort – vergangene Nacht ausgenommen…“, fügte sie mit leiser Stimme hinzu. „Ach, schade.“ Legrand stellte sich enttäuscht, um damit geschickt seine Fangfrage zu verwischen, öffnete 137
ihr zuvorkommend die Tür und geleitete sie höflich hinaus. Kommissar Blanchard sah seiner Besucherin mit gemischten Gefühlen nach. Der ständig um seine Lippen spielende, ein wenig überhebliche Ausdruck war einer unzufriedenen Miene gewichen. Er konnte sich nicht entsinnen, jemals so die Linie verloren zu haben wie an diesem Morgen. Gefolgt von dem gelangweilt hinterhertrottenden Assistenten Duval, ging Inspektor Legrand auf das alleinstehende zweigeschossige Gebäude zu. Auf einer neben der Eingangstür angebrachten schwarzen Marmortafel stand in verblichenen Goldbuchstaben der Name RAMOULIN, aber sosehr er auch an dem darüber herausragenden Messingknopf zog, außer dem dumpfen Klang der Glocke war im Haus nichts zu hören. Er trat einige Schritte zurück und betrachtete unschlüssig die Front der geschlossenen Fenster. Seine Begeisterung für diesen Auftrag war von Anfang an nicht groß gewesen und sank bei dem Gedanken, jetzt unverrichteterdinge wieder umkehren zu müssen, auf den Nullpunkt. Nach dem Weggang der Besucherin hatte Kommissar Blanchard mit ihm alles noch einmal ausgiebig durchgesprochen. Obwohl die Zeugin nicht im geringsten überspannt wirkte, durfte nicht außer acht gelassen werden, daß ihren Angaben durchaus ein Motiv wie Eifersucht oder Rachegefühle zugrunde liegen konnte. Dem stand allerdings entgegen, in welcher Verfassung die Frau auf dem Polizeirevier angelangt war; ohne Schuhe, in einer Verwirrung und Erregung, daß man sie dort sogar für 138
betrunken hielt. Daraus war immerhin zu schließen, daß sie unmittelbar zuvor einen heftigen Schock erlitten haben mußte – und ein so unvermutet in einem Keller entdeckter Toter wäre dafür durchaus eine Erklärung. Aber auch eine solche Tatsache barg aus polizeilicher Sicht nichts Besonderes, denn zweifelsohne handelte es sich dabei um den verstorbenen Hausherrn. Schließlich hatte der Sohn des Verblichenen der Zeugin am Vorabend selbst vom Ableben seines Vaters Mitteilung gemacht. So betrachtet, also keineswegs ein Fall für die Polizei. Doch der pedantische Blanchard war viel zu vorsichtig, um vorschnell eine Entscheidung zu treffen. „Gehn Sie doch mal hin, und sehen Sie nach, was an der Sache dran ist!“ hatte er schließlich gemeint und gerade durch den betont ungezwungenen, jovialen Ton, mit dem er es sagte, dem hellhörigen Legrand gezeigt, wie wenig er mit dieser Geschichte anzufangen wußte. Übrigens war es eine im ganzen Kommissariat bekannte Gewohnheit Blanchards, undurchsichtige oder heikle Fälle auf Subalterne abzuschieben, um nötigenfalls einen Sündenbock zu haben, im Falle eines Erfolge jedoch den Lorbeer selbst einzuheimsen. Und nun war Inspektor Legrand hier, um dem Wunsche seines Chefs zu entsprechen. Langsam ging er links um das Haus herum – da sah er auch schon das Kellerfenster mit der zerbrochenen Scheibe. Sein Entschluß stand sofort fest. Trotz der vorgerückten Vormittagsstunde war weit und breit kein Mensch zu sehen. Zudem verbarg ihn das ringsum stehende Gesträuch. Zwei Umstände, die sein Vorhaben ungemein begünstigten. 139
Er winkte seinen zurückgebliebenen Assistenten heran. „Worum geht es denn, Chef?“ Duval kam schlaksig angeschlendert. „Sie bleiben hier stehen, und ich werde mich mal da drinnen umsehen!“ erklärte ihm der Inspektor und öffnete dabei mühelos das Kellerfenster. „Dürfen wir denn das?“ wollte Duval wissen. Legrand winkte ungeduldig ab und zwängte sich durch den engen Holzrahmen in den Keller hinab. Der nicht allzu große, vom Tageslicht erleuchtete Raum, in dem er nun stand, war völlig leer. Legrand schaltete seine Flachbatterie ein, eine Speziallampe in der Größe eines Zigarettenetuis, und schritt durch die türgroße Öffnung in der gegenüberliegenden Wand. Beim Lichtschein seiner Lampe sah er, daß er sich in einem langgestreckten, fensterlosen Raum oder, besser gesagt, in einem breiten Gang befand, der sich bis zu einer nach oben führenden Steintreppe erstreckte. Von einigen an der rechten Wandseite aufgestapelten Blechgefäßen abgesehen, war auch dieser völlig leer. Legrand leuchtete sorgfältig den Boden ab und entdeckte tatsächlich zwei abgebrannte Zündhölzer. Mit der ihm eigenen Gründlichkeit durchsuchte er die übrigen Kellerräume – und da stieß er auf etwas Interessantes: In einem derselben standen zwei Holzböcke, so wie sie zu Handwerksarbeiten und auch in Waschküchen Verwendung finden, daneben lehnte an der Wand eine hölzerne Platte, eine ungestrichene Tür ohne Schloß und Beschläge, wie sich beim näheren Hinsehen herausstellte. 140
Genaugenommen brauchte das nichts zu besagen. In jedem Keller konnten solche Gegenstände stehen. Unter den vorliegenden Umständen gewannen diese Dinge eine Bedeutung, die selbst ein mittelmäßiger Kriminalist nicht übersehen konnte. In Inspektor Legrand verdichtete sich immer mehr der Eindruck, daß die Cafetiere Suzanne hier gewesen sein mußte. Ihre genaue Ortsbeschreibung und die dazu geschilderten Details ließen daran gar keinen Zweifel. Überhaupt – je länger er sich damit beschäftigte, um so mehr neigte er dazu, den Angaben dieser Frau Glauben zu schenken. Freilich fand Legrand die nächtliche Entdeckung der Eifersüchtigen durchaus nicht so spektakulös, wie es beim ersten Eindruck erscheinen mochte. Schließlich war ein in einem Trauerhaus aufgebahrter Toter nichts Ungewöhnliches. Die von der Zeugin geschilderten Verletzungen an der Leiche verlangten allerdings Klärung, weshalb er es als unbedingt erforderlich erachtete, sich schnellstens über die Todesursache des Hausherrn zu informieren. Für einen Moment fühlte sich Legrand versucht, auch die oberen Stockwerke einer Besichtigung zu unterziehen, hielt es dann aber für geratener, den Rückweg anzutreten. Immerhin hatte er bis jetzt mehr riskiert, als er verantworten konnte. „Hat es sich gelohnt? Haben Sie etwas gefunden?“ empfing ihn Duval, der übrigens nicht wußte, worum es ging, und sich heute zum erstenmal als nützlich erwies, denn ohne die Hilfe des Assistenten wäre es Legrand schwerlich gelungen, durch das enge Kellerfenster wieder nach oben ins Freie zu gelangen.
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Legrand wußte nicht, was er hätte antworten sollen. Er zuckte nur die Schultern und klopfte sich seinen Anzug ab. Duval verriegelte währenddessen, vorsichtig durch das Loch in der Scheibe greifend, das Fenster und sah seinen Vorgesetzten fragend an: „Und nun, Chef?“ „Zum Cours Tourny – und dann sehen wir weiter…!“ Der alte Noel war ein wenig in Schweiß geraten. Er lehnte die Schaufel an einen Baum und setzte sich auf eine in der Nähe stehende Steinbank, um ein wenig zu verschnaufen. Gemächlich stopfte er billigen Blattabak in seine Pfeife, zündete sie genießerisch an und betrachtete, behaglich seinen Knaster schmauchend, die vor ihm liegende Landschaft. Obwohl der Friedhof von Saint-Ponoir auf einer Erhebung lag, konnte der durch eine bewaldete Anhöhe verdeckte Ort von hier aus nicht gesehen werden. Nur das Kreuz auf dem Bischofshügel wies die Richtung. Unten erstreckte sich die von Excideuil kommende Landstraße in der brütenden Mittagssonne. Kein Fahrzeug, kein Laut, nichts störte die wohltuende Stille. Nur das Summen der Insekten erfüllte die warme, sommerliche Luft. Am Vortage war es nicht so ruhig gewesen. Stundenlang hatte die Gendarmerie auf dem Friedhof umhergesucht, Skizzen gezeichnet und immer und immer wieder den alten Noel verhört. Er sah auf seine Taschenuhr. Es ging auf Mittag zu. Die Gendarmen wollten an diesem Morgen wiederkommen, und deshalb sollte er sich zur Verfügung halten. Ärgerlich brummelte der Alte vor sich hin. Er dachte nicht daran, den ganzen Tag für nichts und wieder 142
nichts herumzusitzen und zu warten, bis es den Herren vielleicht doch noch einfiel, sich herzubequemen. Noel hatte indessen die Zeit nicht müßig verbracht, sondern sie ausgenutzt und begonnen, ein Grab auszuheben. Zwar war es nötiger, die beschädigte Tür der Leichenhalle zu reparieren, aber da ihm solche Arbeit nicht lag, pflegte er sie meistens hinauszuzögern. Seine Stärke waren Graben und Schaufeln, im Notfall vermochte er noch ein Brett anzunageln, aber damit waren seine handwerklichen Fähigkeiten erschöpft. Ein Mangel, der ihm in all den Jahren, in denen er Kirche und Friedhof des kleinen Ortes betreute, manche Schwierigkeit bereitete. Aber das waren Lappalien im Vergleich zu dem, was der an ein beschauliches und geruhsames Leben gewöhnte alte Mann in den beiden letzten Tagen durchstehen mußte. Solange er lebte, würde er das nicht vergessen, dieses Gefühl, als er vor der leeren Holzpritsche stand, nicht fähig, sich das Verschwinden des toten Lolliot zu erklären. Dazu die nicht enden wollenden Verhöre durch die Kriminalpolizei und die Gendarmerie, bei denen er sich immer wieder aufs neue über sein vorgestriges Verhalten geschämt und geärgert hatte. Je mehr er darüber nachdachte, um so weniger verstand er, wie ein Mann in seinem Alter so kindisch davonlaufen konnte. Schuld daran war bestimmt der Schock, dieser unerhörte Schreck über das Unfaßbare, so tröstete er sich schließlich. Das würde ihm ein zweites Mal gewiß nicht passieren. Müde blinzelte er in die hochstehende Sonne. Die Wärme und die ihn umgebende Stille machten schläfrig. Nein – er wollte nicht länger hier warten, sondern lieber im Gasthaus „Zur heiteren Catherine“ einen kühlen Roten trinken und dann in seiner Kammer 143
hinter geschlossenen Fensterläden die gewohnte Mittagsruhe halten. Sollten die Gendarmen sehen, wie sie fertig wurden. Er erhob sich, schulterte sein Gerät und begab sich gemächlichen Schrittes zur Leichenhalle. Nachdem er sein Werkzeug abgestellt, schlurfte er gedankenversunken in den nebenanliegenden Raum, um, wie üblich vor seinem Weggang, noch einmal nach dem Rechten zu sehen. Im Geiste schon in der „Heiteren Catherine“, streifte sein müder Blick die zu seiner Linken stehenden drei Holzpritschen Der Alte blieb erstarrt stehen. Träumte er…? Die drei hölzernen Lager mußten doch leer sein – alle drei leer; aber auf der mittelsten lag – der verschwundene Lolliot…! Mit zitternden Händen faßte der alte Noel haltsuchend hinter sich, spürte die kalte Wand und tastete sich an dieser – den Blick wie gebannt auf den Toten gerichtet – mit schlotternden Knien ins Freie. Keines klaren Denkens fähig, hastete er durch die Grabreihen, erreichte erschöpft die Landstraße und eilte mit keuchendem Atem dem nahen Saint-Ponoir entgegen. Kommissar Blanchard setzte sich bequem zurecht und zeigte dabei auf den vor seinem Schreibtisch stehenden Sessel, in dem wenige Stunden zuvor die Kaffeehauswirtin Suzanne Gascogne gesessen hatte. „Nun?“ „Also ich habe die Sache unter die Lupe genommen“, kam Inspektor Legrand der Aufforderung seines Chefs nach und nahm Platz. „Ich bin zum Hause Ramoulin gefahren, dort war niemand anzutreffen, und da nutzte ich die Gelegenheit, den Keller einer Besichtigung zu unterziehen.“ 144
„Sie waren in dem Keller?“ Der Chef des Kriminalkommissariats von Périgueux hob mißbilligend die Augenbrauen. „Ohne Haussuchungsgenehmigung?“ Legrand lächelte hintergründig: „Eine solche Möglichkeit konnte ich mir doch unmöglich entgehen lassen.“ „Aber…!“ wunderte sich der Kommissar, in dessen Vorstellungsvermögen eine derart krasse Mißachtung der Vorschriften, noch dazu durch einen so zuverlässigen und gewissenhaften Beamten, nicht gleich Raum fand. Der Inspektor kam ihm zuvor: „Ich weiß, was Sie sagen wollen, aber es war eine einmalige Möglichkeit…“ „Trotzdem unverantwortlich!“ nörgelte Blanchard. „Haben Sie denn nicht bedacht, was uns solche Initiative einbringen kann?“ „Irgendwie mußte ich diese vertrackte Geschichte ja anpacken“, verteidigte Legrand seine Handlungsweise. Der Kommissar runzelte die Stirn. „Auch auf die Gefahr hin, einen Hausfriedensbruch angehängt zu bekommen! Ist denn wenigstens etwas dabei herausgekommen?“ „Ich denke schon – jedenfalls besteht für mich jetzt kein Zweifel mehr, die Frau war wirklich in dem Keller.“ „Das muß ja nicht unbedingt in der vergangenen Nacht gewesen sein“, gab der Kommissar zu bedenken, „sie kann die Räumlichkeiten ebensogut von einem früheren Zeitpunkt her kennen. Wir hatten das bereits heute morgen erwogen.“ Legrand schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, daß wir es hier mit irgendwelchen Hirngespinsten zu tun haben. Außerdem bin ich auf einige Dinge gestoßen, die mir zu denken geben.“ 145
„Und das wäre?“ wollte Blanchard wissen. „Als erstes einmal meine Feststellungen in dem Keller selbst“, erwiderte der Inspektor und schilderte dann dem Kommissar ausführlich seine dort gewonnenen Eindrücke. „Ein bißchen hypothetisch das alles, finden Sie nicht auch?“ meinte dieser. „Schon möglich“, entgegnete Legrand, „aber die Hauptsache kommt noch. Auf dem Rückweg habe ich das Bestattungsinstitut am Cours Tourny aufgesucht. Dort erfuhr ich, daß die Beisetzung des Obersten Ramoulin – bei dem Verstorbenen handelt es sich um einen ehemaligen Stabsoffizier – “, fügte er erklärend hinzu, „heute um zehn Uhr stattgefunden hat. Deshalb hatte ich in dem Hause niemanden angetroffen. Aber nun das Wichtigste: Auf meine Frage teilte man mir mit, daß den Totenschein ein Dr. Bercourt ausgestellt habe. Ich bin dann sofort zu dem Arzt hingefahren, um mich über die genaue Todesursache des Obersten Ramoulin zu informieren. Ein Faktor, dem ich entscheidende Bedeutung für jede weitere Arbeit beimaß. Und das bestätigte sich, denn Dr. Bercourt, ein noch junger Arzt, der auf mich in jeder Beziehung vertrauenerweckend wirkte, erklärte mir, daß der Oberst Charles Ramoulin – “, er machte eine kurze Pause, wohl um die Wirkung des Kommenden zu erhöhen, und sagte dann mit Betonung, „an einem Herzversagen gestorben sei… Wohlgemerkt: an einem Herzversagen!“ wiederholte Legrand mit Nachdruck. Er entnahm einer kleinen, abgeschabten Brieftasche ein Papier und reichte es über den Schreibtisch: „Hier ist die Durchschrift des Totenscheins.“ Kommissar Blanchard las das Formular aufmerksam durch und meinte kopfschüttelnd: „Merkwürdig – auf 146
der einen Seite hören wir von einem gräßlich entstellten Toten, und dann gibt es noch nicht einmal einen Unglücksfall… Können Sie das in Übereinstimmung bringen?“ „Dann läge der Betreffende ja wohl verarztet im Krankenhaus beziehungsweise nach seinem Ableben in einer Leichenhalle und nicht in einem solchen Zustand im Keller“, gab Legrand zu bedenken. „Eben“, pflichtete ihm der Kommissar bei. „Ich schaue da einfach nicht durch. Ob uns diese Frau doch was aufgetischt hat?“ Der Inspektor unterdrückte ein Lächeln. Es war jetzt schon das zweite Mal, daß der Kommissariatschef so offensichtlich die Aussage seiner schönen Besucherin vom Vormittag anzweifelte. Vor allem, wie betont objektiv, wie kritisch er es jedesmal tat, gab zu dem Verdacht Anlaß, daß er damit sein so merklich von persönlichen Gefühlen bestimmtes Verhalten der Frau gegenüber verwischen wollte. „Ich sagte ja schon, daß ich das nicht glaube“, entgegnete Legrand. „Nach meiner Erfahrung ist sie auch gar nicht der Typ dafür. Nein – das ist schon so gewesen, wie sie uns berichtet hat. Aber trotzdem – oder gerade deshalb“, verbesserte er sich, „ist an der Sache etwas faul!“ „Dann haben Sie Ihre Meinung also grundlegend geändert?“ „Wieso geändert? Heute morgen hatte ich ja noch keine“, sagte Legrand. „Nun gut – und was sollte Ihrer Ansicht nach jetzt geschehen?“ „Wir werden nicht umhinkönnen, uns zu entscheiden – vielmehr, Sie müssen es; denn Sie tragen die Verantwortung!“ 147
Kommissar Blanchard schluckte. Die Spitze hatte gesessen. „Eben deshalb bin ich gezwungen, meine Entschlüsse sorgfältig abzuwägen. Und dazu benötige ich die Hilfe meiner Mitarbeiter“, parierte er den Seitenhieb. „Ich kann keine Anordnung treffen, solange ich nicht weiß, womit ich es zu tun habe.“ „Das herauszufinden, sind wir ja da“, meinte Legrand. „Allein durch Rätselraten kommen wir nicht weiter. Entweder wir legen die ganze Geschichte als Weibergespinst ad acta – oder wir steigen hart ein. Eines kann es nur geben!“ Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, solche Besserwissereien oder sogar Belehrungen durch blasiertes Gehabe abzutun, sagte Kommissar Blanchard nur: „Das schon… jedenfalls möchte ich keinen Fehler machen, der uns nur unnötigen Ärger einbringt!“ „Was denn für Ärger…?“ Legrand wunderte sich. „Die Angaben der Zeugin machen es uns doch zur Pflicht, ihnen nachzugehen, sie zwingen uns dazu. Selbst wenn es sich als unbegründet erweisen sollte, könnte uns daraus niemand einen Vorwurf machen. Im Gegenteil! Schwierigkeiten bekommen wir, wenn sich die Sache als etwas Kriminelles herausstellt und wir trotz Kenntnis den Fall nicht bearbeitet haben…“ Er deutete mit einer warnenden Handbewegung an, daß er sich so etwas gar nicht auszumalen wage, und fügte hinzu: „Aber das liegt natürlich bei Ihnen…!“ Blanchard rutschte unruhig auf seinem Schreibtischsessel hin und her. Die Logik dieser Argumente barg für ihn etwas Erschreckendes. Im Geiste sah er die fettgedruckten Schlagzeilen der Zeitungen schon vor sich: Polizei schläft – Polizeichef unfähig – Polizeiapparat zu träge… Er wußte nur zu gut, wie schnell so etwas ging. Und dann gar der Gedanke an den Präfek148
ten. Bei dieser Vorstellung wurde es ihm erst recht heiß und kalt; denn nichts auf der Welt fürchtete dieser Karrieremacher so sehr wie den Präfekten. Nein – die momentane Situation gefiel ihm gar nicht. „An so angesehene Familien kann man nicht behutsam genug herangehen“, bemühte er sich, sein Zaudern zu erklären. „Man weiß nie, wie weit die Querverbindungen nach oben reichen…!“ „Was gehen uns die Querverbindungen dieser Familie an!“ Legrand wurde unwillig. „Wir erfüllen doch nur unsere Pflicht.“ Kommissar Blanchard lächelte mitleidig. „So naiv sind Sie doch nun wahrhaftig nicht. Sollten Sie wirklich noch keine diesbezüglichen Erfahrungen gemacht haben?“ „Das will ich nicht bestreiten“, sagte Legrand, „aber es kommt immer auf die besonderen Umstände an. Wenn unwiderlegbare Beweise vorliegen, nützen auch Beziehungen nichts mehr.“ „Dafür sorgen dann schon die linken Abgeordneten und die ihnen nahestehende Presse…“, stichelte Blanchard, der seinen Mitarbeiter im Verdacht hatte, mit dieser Richtung zu sympathisieren, und jede sich bietende Gelegenheit wahrnahm, ihn aus seiner Reserve zu locken. „Da bin ich ganz Ihrer Meinung“, stimmte Legrand mit verstecktem Spott zu, und sogleich wieder das Thema wechselnd, fragte er: „Wieso glauben Sie, daß wir es hier mit maßgebenden Personen zu tun bekommen könnten?“ „Na, ich denke, der Verstorbene war ein Oberst!“ „Und wenn schon“, der Inspektor sah seinen Chef befremdet an, „machen wir in unserer Arbeit Unterschiede zwischen Leuten mit und ohne Einfluß?“ 149
„Das habe ich natürlich nicht gemeint“, versuchte Blanchard abzuschwächen. „Aber gerade in einem so undurchsichtigen Fall empfiehlt es sich, ein wenig vorsichtig zu sein und in unserem eigenen Interesse darauf zu achten, wen wir vor uns haben!“ „Wir sollten lieber zusehen, schleunigst etwas Greifbares in die Hände zu bekommen, anstatt uns über die Verbindungen gewisser Leute Sorgen zu machen!“ Der Kommissar holte bei dem ungewohnt aggressiven Ton seines Mitarbeiters unwillkürlich tief Luft. „Aber wie? Wo denn ansetzen? Natürlich könnten wir den Bekannten der… eh… diesen Albert Ramoulin einmal vorladen…“ „In diesem Stadium -!“ Legrand winkte ab. „Wenn der Kerl wirklich Dreck am Stecken hat, ist er garantiert präpariert. Der lacht uns doch nur aus…! Nein, nein“, fuhr er fort, „wenn wir weiterkommen wollen, müssen wir das anders anfassen.“ Er sah einen Moment überlegend vor sich hin und fügte bedauernd hinzu: „Schade, daß die Beisetzung schon stattgefunden hat. Ich hätte mir den Toten gern angesehen!“ „Was versprechen Sie sich denn davon?“ Der Kommissar wies auf den vor ihm liegenden Totenschein. Legrand zuckte die Schulter. „…aber irgend etwas stimmt doch hier nicht…!“ „An den Angaben des Arztes?“ „Daran gibt es bestimmt nichts zu deuteln, davon bin ich überzeugt.“ „Dann also die Aussage der Frau -?“ „Nein, nein, im Gegenteil, ich bezweifle keines von beiden. Das ist ja das Verwirrende. Die Zeugin schildert uns den Verstorbenen mit erschreckenden Merkmalen von Gewalteinwirkung – und der Doktor 150
konstatiert Herzversagen… Eine solche Diskrepanz kann man unmöglich auf sich beruhen lassen!“ Kommissar Blanchard rieb sich nachdenklich das Kinn. „Sie meinen, wir sollten eine Exhumierung beantragen?“ „Ich halte es für das Nächstliegende, jedenfalls sehe ich keinen anderen Weg.“ „Hm…“ Der Kommissar überlegte, er schien sich nicht ganz schlüssig und sagte: „Ich werde mich nachher erkundigen, wie der Staatsanwalt darüber denkt.“ Jawohl, dachte Legrand, laß den Staatsanwalt entscheiden, dann brauchst du es nicht. Der von Natur ausgeglichene und gelassene Legrand konnte seine Gereiztheit nur schwer verbergen. Dieser Mensch machte ihn krank. Der Kommissar schien einfach nicht in der Lage, einen Fall allein aus der erforderlichen Notwendigkeit heraus zu bearbeiten. Alles und jedes betrachtete er nur unter dem persönlichen Gesichtspunkt, ob es dem eigenen Ansehen, seiner Karriere nützen oder womöglich schaden könnte. So war es nicht verwunderlich, daß er sich bei seinen Entscheidungen stets vorsichtig auf Kosten anderer abzusichern versuchte. Nicht einen einzigen brauchbaren Gedanken hatte Blanchard während des Gesprächs geäußert, nur Wenn und Aber, Bedenken und Nörgeleien. Und ohne sich dessen recht bewußt zu werden, war der Inspektor plötzlich in Betrachtungen verfallen, nach welch unerklärlichen Gesetzen Menschen dieser Art auf solche Posten kommen. „Würden Sie bitte veranlassen, daß man mich bei Staatsanwalt Mansard anmeldet!“ unterbrach Kommissar Blanchard Legrands Überlegungen. Er schloß 151
seinen Schreibtisch ab, steckte den Schlüssel ein und sagte: „Ich werde in ein bis zwei Stunden zurück sein.“ Der Inspektor nickte, erhob sich, um der Aufforderung seines Chefs nachzukommen. Als er wenig später das gegenüberliegende kleine Bistro betrat, empfing ihn die adrette, mit weißem Schürzchen und frischgestärktem Häubchen angetane Bedienung sogleich mit den Worten: „Sie kommen wohl vom Friedhof?“ Und es war unverkennbar, daß das junge, hübsche Mädchen für ihren häufigen Gast etwas übrig hatte. „Wie… wieso?“ stotterte der in Gedanken versunkene Legrand. „Weil Sie eine Leichenbittermiene machen.“ „Ach so.“ Legrand lächelte nun auch und bestellte sich ein Getränk. Trotz der Mittagsstunde hatten sich erst wenige Gäste eingefunden, und der Inspektor empfand das ebenso angenehm wie die wohltuende Kühle im Raum. Von seinem Platz aus blickte er durch eine der beiden großen Schaufensterscheiben direkt auf den Eingang des Kriminalkommissariats. Er nippte an seinem Aperitif und sah, wie Kommissar Blanchard aus dem Portal trat. Groß, elegant, im hellgrauen Sommeranzug, dazu graue Schuhe, grauer Hut und taubenblaue Krawatte. Mit drei Fingern der rechten Hand lässig seine schwarze Kollegmappe schwenkend, schritt er in straffer Haltung, sich seiner Erscheinung voll bewußt, über den in der Sonne flimmernden Platz. Legrand schüttelte den Kopf. Einen solchen Snob von Kriminalkommissar gab es nicht einmal im Film. Leise vor sich hin fluchend, hatten die beiden Totengräber das erst am Vormittag zugeschüttete Grab 152
wieder aufgeschaufelt und waren nun dabei, mit Hilfe zweier Stricke, unterstützt von einigen uniformierten Polizisten, den Sarg heraufzuziehen. Der Friedhofsverwalter, der dies mit wichtiger Emsigkeit leitete, schob mit vor Anstrengung krebsrotem Gesicht die für ihn viel zu schweren Bohlen über die Gruft, damit die Männer den schweren Eichensarg darauf absetzen konnten. Kommissar Blanchard, Staatsanwalt Mansard und der Polizeiarzt, ein dunkler Südländer mit der mißvergnügten Miene des Magenleidenden, dem man schon von weitem ansah, daß ihm alles zuviel wurde, standen dabei, ohne daß es einem von ihnen eingefallen wäre, dem sich plagenden Verwalter zur Hand zu gehen. Staatsanwalt Mansard, ein älterer Mann mit langweiligem Durchschnittsgesicht, war, was die Eleganz anbelangte, in seinem altmodischen Habit das Gegenteil von Blanchard und diesem nur in seinem Geltungsbedürfnis eine verwandte Seele. Seine Entscheidung in der Sache hatte denn auch sofort festgestanden. Auf eine derartige Gelegenheit wartete der auf Publicity erpichte Staatsanwalt schon lange. So war es dem erschrockenen Blanchard nur mit Mühe gelungen, ihn davon abzuhalten, sofort einige Fotoreporter zu bestellen, die den Procureur de la république an dem geöffneten Grabe in Aktion zeigen sollten; denn der clevere Blanchard verspürte wenig Lust, sich von dem nichtssagenden Vertreter der Staatsanwaltschaft die Schau stehlen zu lassen oder sich vor den unnötig herbeigerufenen Presseleuten vielleicht den Vorwurf ungenügender Vorermittlungen einzuhandeln. Um die Wichtigkeit dieser Amtshandlung, vor allem jedoch die Bedeutung seiner eigenen Person zu unterstreichen, trug Staatsanwalt Mansard eine Band153
schleife in den Farben der Trikolore im Knopfloch seines Revers und gedachte wehmütig der Zeiten, da seine Vorgänger sich bei ähnlichen Anlässen noch mit der blauweißroten Schärpe schmückten. In der Pose eines Feldherrn beobachtete er ungeduldig, wie die beiden Arbeiter sich mühten, die für die Ewigkeit bestimmten Sargnägel wieder herauszuziehen. Es war der Wunsch Kommissar Blanchards gewesen – und das entsprach auch völlig der Vorstellung Inspektor Legrands –, den für die Ausstellung des Totenscheines verantwortlichen Arzt bei der Exhumierung dabei zu haben. Der Inspektor hatte daher Dr. Bercourt mit dem Dienstwagen abgeholt, und als sie jetzt eintrafen, war es keine Minute zu früh. Von den Kirchtürmen Périgueux’ schlug es die achte Stunde. Die letzten Besucher hatten den Gottesacker längst verlassen. Man konnte beginnen. Der Friedhofsverwalter sah fragend auf den Staatsanwalt, und als dieser kopfnickend seine Zustimmung gab, wurde der Sargdeckel abgehoben. Die untergehende Sonne beleuchtete ein grausiges Bild… „Mon dieu…!“ machte der Staatsanwalt seinem Erschrecken Luft und trat betroffen einen Schritt zurück. Auch Inspektor Legrand hielt unwillkürlich den Atem an. Bei allem Unvermögen, sich die Zusammenhänge erklären zu können, stand eines für ihn allerdings fest: Das war der Tote, den die Kaffeehauswirtin Suzanne gesehen hatte. Nur Kommissar Blanchard zeigte nicht das geringste Erstaunen. „Ich wußte gleich, daß hier etwas nicht stimmt!“ schimpfte er wichtig, und mit dem zusammengerollten 154
Papier in seiner Hand auf den zerschmetterten Schädel des Toten zeigend, wandte er sich kopfschüttelnd an Dr. Bercourt: „Wollen Sie mir das bitte erklären! Um zu sehen, was hier los ist, bedarf es doch nicht einmal einer Untersuchung…“ „Erklären… was denn erklären?“ Dr. Bercourt hatte die Brille abgenommen, und während seine Finger mechanisch mit dem Taschentuch die scharfgeschliffenen Gläser polierten, sah er den Kommissar aus seinen kurzsichtigen Augen verständnislos an. „Aber Sie haben doch den Totenschein ausgestellt!“ „Ich habe diesen Leichnam noch nie gesehen!“ Kommissar Blanchard entfaltete das Formular und hielt es dem Arzt unter die Nase. „Das haben Sie doch geschrieben… oder nicht?“ Dr. Bercourt setzte seine Brille auf. „Ja – schon… aber…“ Der Zeigefinger des Kommissars fuhr über das Papier. „Hier steht es einwandfrei: Oberst Charles Ramoulin, Todesursache: Herzversagen, Datum, Stempel und von Ihnen unterschrieben.“ „Aber ich sage Ihnen doch: Ich habe diesen Toten noch nie gesehen!“ „Soll das heißen, daß Sie ein solches Dokument ausstellen, ohne eine Untersuchung vorzunehmen – ja, ohne sich den Verstorbenen auch nur anzusehen?“ „Das ist doch…“ Dr. Bercourt bebte vor Empörung. „War der Oberst Ramoulin zu Lebzeiten Ihr Patient?“ mischte sich Inspektor Legrand ein. Er hatte den Arzt nicht über die Sachlage informiert und fühlte sich deshalb veranlaßt, ihn aus seiner Verlegenheit zu befreien. Der Doktor schüttelte den Kopf. 155
„Haben Sie ihn persönlich gekannt?“ wollte Legrand wissen, und – als auch das verneint wurde – auf den geöffneten Sarg zeigend: „Dann können Sie uns also nicht sagen, ob das mit Bestimmtheit Oberst Ramoulin ist?“ Dr. Bercourt zuckte die Schultern. „Anscheinend liegt hier ein Mißverständnis vor – jedenfalls ist das nicht der Tote, für den ich diesen Schein ausgestellt habe.“ „Ich werde verrückt!“ Blanchard wußte nicht mehr, woran er war. Staatsanwalt Mansard wollte gern etwas Geistreiches sagen, etwas, das die außerordentliche Wichtigkeit seiner Person in dieser Situation hervorheben sollte. Leider fiel ihm nichts ein. „Merkwürdige Geschichte…“, murmelte er vor sich hin, und um nicht ganz und gar so passiv herumzustehen, vor allem jedoch in der Hoffnung, den Wirrwarr endlich erklärt zu bekommen, wandte er sich an den neben ihm stehenden Polizeiarzt und fragte: „Sehen Sie da durch?“ „Ich bin doch kein Hellseher“, knurrte der mürrisch. „Schluß – wir brechen ab!“ Kommissar Blanchard wurde energisch. „So kommen wir nicht weiter. Ich verlange Obduktion!“ Und an Inspektor Legrand gerichtet: „Alles Nötige veranlassen, dazu Identität feststellen, Genehmigung zur Haussuchung und Haftbefehl gegen den… eh… Albert Ramoulin beschaffen!“ Legrand nickte. Er gab den neben dem Sarg stehenden Polizisten noch einige Anweisungen und ging mit dem verstört dreinblickenden Dr. Bercourt den anderen Herren nach, die sich bereits in Richtung des Ausgangs entfernten. 156
„Bitte hier!“ Inspektor Legrand geleitete Albert Ramoulin höflich in das Dienstzimmer Blanchards, der ihn hinter seinem Schreibtisch erwartete. Albert hatte Mühe, seine innere Erregung zu verbergen. Das Fluidum der Polizeistube legte sich ihm beklemmend auf die Brust. Einer auffordernden Geste des Kommissars nachkommend, nahm er in einem der abgenutzten Besuchersessel Platz. Inspektor Legrand holte einen Stuhl heran und setzte sich ihm schräg gegenüber. Nur jetzt keine Unsicherheit zeigen! hämmerte sich Albert ein. Kein Mensch konnte ihm etwas anhaben. Sein Vater war unter der Erde – der andere Tote wieder in der Leichenhalle in Saint-Ponoir. Nicht auszudenken – er wagte es sich gar nicht vorzustellen –, wenn diese Schnüffler mit ihrer Haussuchung früher gekommen wären… Es waren die gleichen Gedanken, die ihn bewegten, als der Inspektor vorhin mit noch zwei Polizisten in Zivil vor seiner Tür stand, ohne jeden Kommentar das Haus durchsuchte und ihn schließlich aufforderte, zur Klärung eines Sachverhaltes mit zum Kommissariat zu kommen. Der Kommissar nahm einen dünnen Aktenordner zur Hand und drückte dabei unauffällig eine Taste, die das in seinem Schreibtisch eingebaute Tonbandgerät einschaltete. „Ich danke Ihnen, daß Sie sich herbemüht haben“, eröffnete er das Gespräch. Es ließ sich nicht erkennen, ob es Hohn oder eine Höflichkeitsfloskel sein sollte. Überaus verbindlich reichte er eine Schachtel Gauloises hinüber und fragte: „Rauchen Sie?“ „Danke!“ sagte Albert mit erzwungenem Lächeln und bediente sich, eine leichte Verbeugung andeutend. 157
Inspektor Legrand gab Feuer. Dabei entging ihm nicht, wie die Hand des anderen zitterte. Tief sog Albert den Rauch der Zigarette ein, konzentrierte sich: Nach seiner Überlegung konnte das alles nur mit dem unbekannten nächtlichen Eindringling in Verbindung stehen. Eine andere Erklärung fand er einfach nicht. Doch was der Polizei auch berichtet sein mochte – eines stand fest: Sie hatten keine Beweise! Die auffallende Zuvorkommenheit, mit der man ihm hier begegnete, das ganze Verhalten der beiden Polizisten ließ seiner Meinung nach deutlich erkennen, wie wenig sie aus dieser Sache zu machen wußten, ja, daß sie – trotz der Haussuchung – die Geschichte wahrscheinlich nicht einmal ernst nahmen. Er ahnte nicht, welch satanische Freude es Blanchard bereitete, mit seinen Trümpfen im Hinterhalt Katze und Maus zu spielen. Der Kommissar, sich ebenfalls eine Zigarette anzündend, fuhr in leichtem Plauderton fort: „Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, weshalb wir Sie hergebeten haben…“ „Wieso… woher sollte ich das wissen?“ Albert stellte sich verwundert. „Aber vielleicht haben Sie die Güte und erklären mir endlich, was das alles zu bedeuten hat!“ Die betonte Aggressivität in seiner Stimme sollte nicht nur Empörung ausdrücken, sondern ließ auch durchblicken, daß er nicht gewillt war, noch weitere polizeiliche Willkür hinzunehmen. „Von Ihrem Inspektor“, er wies auf den wie unbeteiligt dasitzenden Legrand, „konnte ich auf meine Fragen bis jetzt leider keine Antwort erhalten.“ Kommissar Blanchard lächelte unmerklich. Die dreist gespielte Sicherheit seines Gegenübers amüsierte ihn. Und weil sie ihn zugleich reizte, schlug er bedächtig 158
den Aktendeckel auf, der einen längst erledigten Vorgang enthielt, und begann interessiert darin zu blättern. „Albert Ramoulin – “, buchstabierte er halblaut vor sich hin, obwohl es gar nicht dort stand, schüttelte mehrmals ungläubig den Kopf, als könnte er das, was er hier lese, nicht begreifen, und fragte dann: „Was sind Sie von Beruf?“ „Ich bin Offizier“, kam es widerwillig. „Hier in Périgueux?“ „Nein – ich bin zur Zeit nicht im Dienst.“ „Sind Sie beurlaubt – oder krank?“ Der Kommissar ließ nicht nach. Albert nagte unschlüssig an der Unterlippe. Der mysteriöse Aktendeckel beunruhigte ihn. „Ich bin aus der Armee ausgeschieden“, bekannte er schließlich nach einigem Zögern. „Hm – und welche Tätigkeit üben Sie jetzt aus?“ Die Wißbegierde des Kommissars schien unerschöpflich. „Was… ausüben…?“ Kommissar Blanchard hatte den Eindruck, der andere wolle ihn nicht verstehen. „Ich meine beruflich“, half er nach. „Beruflich…“ Albert zuckte die Schultern. „Nichts.“ „Nichts!“ wunderte sich Blanchard. „Bekommen Sie eine Pension?“ „Nein.“ „Sind Sie vermögend?“ „Na, erlauben Sie mal, das ist doch wohl meine Privatsache“, verwahrte sich Albert. „Aber ich bitte Sie, weshalb sind Sie denn so aufgebracht!“ sagte der Kommissar. „Das sind Routinefragen, wie wir sie tagtäglich stellen. Sie als Offizier sollten dafür Verständnis haben!“ 159
„Verständnis? Ich möchte Sie mal sehen, wenn man Ihnen ohne Grund das Haus durchwühlt.“ „Ja, richtig, das Haus“, griff der Kommissar unbeirrt das Stichwort auf. „Sind Sie der Eigentümer?“ „Nein – es gehört meinem Vater.“ Blanchard schnipste mit aufreizender Bedächtigkeit ein imaginäres Stäubchen vom Revers seines Anzuges. „Lebt Ihr Vater mit Ihnen zusammen – ich meine, wohnt er auch dort?“ zog er langsam die Schlinge enger. Albert stutzte, spürte sofort, was auf ihn zukam, war sich plötzlich klar, daß er diesen Mann und die ganze Situation falsch eingeschätzt hatte, überlegte fieberhaft, wie er sich jetzt verhalten sollte – wußte nur eines: Auf keinen Fall durfte er auf eine so harmlos gestellte Frage unbeherrscht reagieren. So bemühte er sich, besonders ruhig zu wirken, als er sagte: „Mein Vater ist verstorben.“ „Aber – “, der Kommissar schien begriffsstutzig, „aber Sie sagten doch soeben, daß ihm das Haus gehöre…“ Albert hob leicht die Schultern. „Die Beerdigung hat gestern erst stattgefunden, ich wüßte nicht, wie ich das im Moment anders definieren könnte“, erwiderte er kühl. Blanchard fixierte Albert aus halbgeschlossenen Augen. Die eigene Selbstgefälligkeit empörte sich gegen die so überlegen zur Schau gestellte Kaltschnäuzigkeit seines Gegenübers. Er empfand sie als unerträgliche persönliche Herausforderung. „Woran ist Ihr Vater gestorben?“ ging er daher ohne weitere Umschweife auf sein Ziel los. Albert hielt den Atem an. Kleine Schweißperlen traten ihm auf die Stirn, krampfhaft preßten sich seine feuchten Handflächen auf die Sessellehnen. 160
„Mein…“ Vor übermächtiger Erregung versagte ihm die Sprache. Er holte tief Luft, versuchte sich mit aller Kraft zu sammeln und brachte dann nur mit gepreßter Stimme heraus: „Herzversagen.“ Kommissar Blanchard hatte ein kleines, stählernes Lineal ergriffen und bog es mit spielerischer Lässigkeit zwischen den Fingern. „Herzversagen!“ Ein süffisantes Lächeln umspielte seinen Mund. „Ist das bei einem Duell passiert?“ erkundigte er sich voller Sarkasmus. „Duell…?“ „Na, der Kopfschuß Ihres Vaters muß doch eine Ursache haben“, schlug der Kommissar zu. Albert saß wie erstarrt. Seine wild durcheinanderwirbelnden Gedanken ließen sich nur schwer ordnen. Kopfschuß –! Was wußte dieser Schnüffler…? Er konnte doch unmöglich im Bilde sein. Nervös feuchtete Albert seine Lippen an, versuchte vergebens, im Gesicht des Kommissars zu lesen. Nur jetzt fest bleiben, hämmerte es in seinem Kopf. Vielleicht gab es noch eine Chance, wenn er hartnäckig durchhielt. Mit aller Selbstbeherrschung bemühte er sich, Gelassenheit vorzutäuschen, dennoch klang seine Stimme verdächtig spröde, als er sagte: „Ich verstehe Sie nicht – hier muß ein Mißverständnis vorliegen. Wie ich Ihnen bereits sagte, ist mein Vater einem Herzversagen erlegen.“ Er griff nach seiner Brieftasche, entnahm ihr ein Papier und reichte es über den Schreibtisch. „Bitte – wenn sie sich überzeugen wollen!“ Kommissar Blanchard winkte verächtlich ab. „Sagen Sie mal, Monsieur Ramoulin, für wie einfältig halten Sie uns eigentlich – was glauben Sie denn, wen Sie vor sich haben? Wahrscheinlich hat der häufige Umgang mit Rekruten Ihr Beurteilungsvermögen ge161
trübt. Ich denke, es wird Zeit, daß ich Ihre Menschenkenntnis etwas erweitere.“ Betroffen ließ Albert die Hand sinken. Noch mehr als die Worte des Kommissars traf ihn die bedenkliche Tatsache, daß sein Haupttrumpf keine Beachtung fand. Dessenungeachtet erwiderte er scharf: „Dürfte ich erfahren, Monsieur le commissaire, was Sie Ihrer Meinung nach berechtigt, in diesem Ton mit mir zu sprechen!“ Kommissar Blanchard verzog keine Miene. „Ich habe den Eindruck, Sie sind sich des Ernstes Ihrer Lage nicht bewußt.“ Er ließ das Lineal einige Male durch die Luft schnellen und sagte dann hart: „Immerhin stehen Sie unter Mordverdacht!“ Albert starrte den Kommissar an, als habe er nicht recht gehört. „Jawohl, Mordverdacht!“ wiederholte dieser noch einmal mit Nachdruck. „Ihr Vater wurde erschossen – das steht einwandfrei fest. Weshalb wollen Sie aller Welt weismachen, er sei an einem Herzversagen gestorben? Dafür gibt es doch nur einen Grund: Sie haben ihn umgebracht!“ „Was…?“ Albert sprang auf. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Kommissar Blanchard entnahm seiner Schublade das Duplikat des Totenscheines und hielt es ihm vor die Augen. „Erklären Sie mir bitte, wieso das gewaltsame Ende Ihres Vaters mit einer natürlichen Todesursache angegeben wird!“ Ohne ein Wort zu sagen, ließ sich Albert mit zusammengepreßten Lippen kraftlos in den Sessel .sinken. „Sie ziehen es also vor zu schweigen!“ Der drohende Unterton in der Stimme des Kommissars verhieß nichts 162
Gutes. „Wahrscheinlich glauben Sie noch immer, daß mit der gestrigen Beisetzung die Angelegenheit für uns zum unlösbaren Problem geworden ist. Diese irrige Ansicht läßt sich leicht berichtigen: Sie können sich Ihren Vater gern ansehen – wir haben ihn exhumiert…“ Sosehr Albert sich auch zu beherrschen versuchte – bei dieser Eröffnung zuckte er doch zusammen. Kommissar Blanchard beobachtete es mit Genugtuung und fuhr bissig fort: „Wenn erst die Ergebnisse der Autopsie und der kriminaltechnischen Untersuchungen vorliegen, werden Sie schon reden, verlassen Sie sich darauf! Übrigens – was Sie wissen sollten“, ging er wieder in einen sachlicheren Tonfall über, „bei der Durchsuchung Ihres Hauses fanden meine Leute in einer Schreibtischschublade einen Revolver. Eine leere Patronenhülse in der Trommel und frische Pulverrückstände im Lauf legen die Vermutung nahe, daß es sich um die Tatwaffe handelt. Ein ballistisches Gutachten wurde bereits angefordert. Außerdem habe ich eine daktyloskopische Überprüfung angeordnet, dabei wird sich zeigen, ob Ihre Fingerabdrücke mit den auf der Waffe sichergestellten identisch sind. Sie sehen, Monsieur, die Beweiskette schließt sich – und wenn Sie partout nicht sprechen wollen…“ Der Kommissar zuckte wie bedauernd die Schultern, was wohl andeuten sollte, daß er ihm dann auch nicht helfen könne, und fügte warnend hinzu: „Sie wären nicht der erste, den man auf Grund solcher Indizien auf die Guillotine schickt!“ „Das ist doch Wahnsinn!“ Albert Ramoulin schüttelte verzweifelt den Kopf. „Natürlich habe ich den Revolver in der Hand gehabt – aber deswegen muß ich nicht meinen Vater…“ „Na also, Sie geben jedenfalls zu…“ 163
„Gar nichts gebe ich zu“, verwahrte sich Albert. „Das ist geradezu lächerlich! Daran glauben Sie doch selbst nicht, daß jemand ein so ungeheuerliches Verbrechen begeht, wie Sie es mir unterstellen wollen, und dann die benutzte Waffe griffbereit für die Polizei in eine Schublade legt…“ „…und bei alledem nicht einmal Handschuhe verwendet“, fiel ihm Kommissar Blanchard spöttisch ins Wort. „Sie vergessen dabei nur, daß Superkluge“, sein sprechender Blick ließ keinen Zweifel, wen er damit meinte, „daß Superkluge oftmals glauben, gerade durch eine solche Handlungsweise über jeden Verdacht erhaben zu sein.“ „Aber… das ist absurd…“ Erschöpft fuhr sich Albert mit seinem Taschentuch über die schweißglänzende Stirn. „Nein – es war anders“, sagte er dann resigniert. „Sooo – wie denn?“ triumphierte der Kommissar. Albert schluckte. „Mein Vater hat sich erschossen.“ „Ach, sieh einer an – und warum das Märchen vom Herzversagen?“ Albert saß mit hängenden Schultern – fand nicht gleich die erklärenden Worte. „Antworten Sie!“ herrschte ihn der Kommissar an. „Ich wollte das Ansehen meines Vaters wahren.“ Der Kommissar sah ihn lauernd an. „Und dazu benötigten Sie einen falschen Totenschein?“ Albert nickte. „Und wie kamen Sie dazu?“ „Ich brauchte, um den Arzt zu täuschen, den Leichnam eines Mannes, der eines natürlichen Todes gestorben war und dem Alter nach mein Vater sein konnte.“ Blanchard wiegte skeptisch den Kopf. 164
„Und einen solchen hatten Sie gleich zur Hand? Woher denn?“ „Aus Saint-Ponoir“, sagte Albert leise. „Aus…“ Der Kommissar starrte ihn an, als habe er nicht recht gehört, dann glitt sein Blick zu Legrand, der seine Verblüffung ebenfalls nicht verbergen konnte. Der Gesichtsausdruck Kommissar Blanchards wirkte alles andere als geistreich. „Erklären Sie mir das einmal näher!“ wandte er sich wieder Albert zu. Dem war anzusehen, wie schwer es ihm fiel, dieser Aufforderung nachzukommen. „Nun lassen Sie sich doch nicht jedes Wort abkaufen!“ Blanchard wurde ungeduldig. Albert holte tief Luft. Dem Wissen der Polizei vermochte er nicht mehr viel entgegenzusetzen. Das hatte er eigentlich schon in dem Augenblick begriffen, als er erfahren mußte, daß sein Vater nicht mehr unter der schützenden Erde lag. „Am besten, ich erzähle von Anfang an“, und mit der leidigen Wechselaffäre seines Bruders beginnend, schilderte er die Ereignisse der letzten Tage. Mit unbewegter Miene, als wäre ihm das alles bekannt, hörte der Kommissariatschef zu, ohne auch nur die geringste Zwischenfrage zu stellen. Eine ausgezeichnete Methode, den allwissenden Routinier herauszukehren und gleichzeitig zu verbergen, wie wenig man die Sache tatsächlich übersah. Als Albert geendet hatte, sah Blanchard ihn eine Weile durchdringend an und sagte: „Und das sollen wir Ihnen abnehmen?“ „Aber es war so!“ Kommissar Blanchard winkte verächtlich ab. 165
„Hören Sie doch auf! Sie wollen uns doch nicht im Ernst weismachen, daß Sie ein solches Ding abziehen, nur um den Ruf Ihres Vaters zu wahren!“ Inspektor Legrand, der sich bisher aus taktischen Erwägungen zurückgehalten hatte, richtete sich plötzlich aus seiner lässigen Haltung auf. „Sagen Sie, Monsieur Ramoulin“, nahm er zum erstenmal während des Verhörs das Wort, „woher oder wieso wußten Sie, daß ausgerechnet in der Leichenhalle von Saint-Ponoir ein so genau Ihren Zwecken entsprechender Leichnam zu finden war?“ Albert war sichtlich um eine Erklärung verlegen. Er hatte es bis jetzt bewußt unterlassen, Adrienne auch nur mit einer Silbe zu erwähnen, und hätte es auch weiterhin gern vermieden, sich hier durch eine so charakterisierende Beziehung zu kompromittieren. Während er noch überlegte und nach einer plausiblen Ausrede suchte, sagte der Kommissar: „Na bitte, nicht einmal das können Sie beantworten.“ Fahrig strich sich Albert eine Haarsträhne aus der Stirn. Sein unsteter Blick verriet Unsicherheit. „Ist denn das so wichtig?“ versuchte er auszuweichen. „Für uns schon, sonst hätte ich Sie ja wohl nicht danach gefragt“, belehrte ihn Legrand. „Und für das Gericht vermutlich auch“, ergänzte Blanchard bissig. „Ich verstehe Sie nicht“, Legrand schüttelte den Kopf, „erst erzählen Sie uns lang und breit eine Geschichte, ringen sich mühsam ein Geständnis ab, und wenn es gilt, diese Aussage in Ihrem eigenen Interesse zu belegen, kommen sie mit Einwänden.“ Albert sah unschlüssig vor sich hin. Die nervös über die Sessellehne gleitenden Finger verrieten, wie er mit 166
sich kämpfte. Schließlich sagte er mit leiser Stimme, ohne dabei aufzusehen: „Von einer Bekannten… ich habe es von einer Bekannten erfahren.“ Kommissar Blanchard nahm einen Bleistift zur Hand und schob sich ein Blatt Papier zurecht. „Wie heißt diese Bekannte?“ „Adrienne Forestier.“ „Und wo wohnt die Dame?“ „Pension Boudet am Cours Michel-Montaigne“, kam es nach einigem Zögern nur widerwillig. „… Pension Boudet… Michel-Montaigne…“, notierte der Kommissar mit unbewegtem Gesicht; nichts ließ erkennen, ob er jemals den Namen der „Pension“ gehört hatte. „So – “, sagte er, sich wieder aufrichtend, „und nun möchte ich noch wissen, wo wir Ihren Bruder finden?“ Albert zuckte die Schultern. „Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen.“ „Sie können nicht oder wollen nicht?“ vergewisserte sich Blanchard lauernd. „Ich habe keine Ahnung, wo er sein könnte, wirklich nicht.“ „Wenn ich Sie richtig verstanden habe“, mischte sich Legrand wieder ein, „dann hat Ihr Bruder unmittelbar nach der Aussprache mit Ihrem Vater das Haus verlassen und ist seitdem nicht zurückgekehrt. Ist es das erste Mal, oder gehört es zu seinen Gewohnheiten, tagelang fortzubleiben, ohne seinen Aufenthalt zu hinterlassen?“ „Alain führt ein sehr ungebundenes Leben. Mitunter sehe ich ihn wochenlang nicht.“ „Und was treibt er dann so?“ 167
„Was weiß ich.“ Albert zuckte die Achseln. „Mich interessiert das am allerwenigsten.“ „Nun gut, aber es muß doch eine Möglichkeit geben, ihn zu erreichen. Geht er denn keiner Beschäftigung nach?“ Albert schüttelte verneinend den Kopf. „Welch eine Frage auch!“ höhnte Blanchard. „Ihre Lordschaften – und erwerbstätig…“ „Na ja, es hätte doch sein können“, meinte Legrand trocken und forschte dann weiter: „Hat er eine Freundin, oder verkehrt er in einem Kreis, wo man ihn suchen könnte?“ „Ich sagte Ihnen schon, darum habe ich mich nie gekümmert. Der einzige, den ich kenne, ist sein Freund Raymond Sel.“ „Ist das der mit der Wechselgeschichte?“ wollte Legrand wissen. Albert nickte. „Es ist der Sohn des bekannten Mobilienhändlers Sel an der Place Bugeaud.“ Kommissar Blanchard notierte auch das und sagte zu Legrand: „Ich glaube, das wär’s vorerst – oder?“ „Im Moment habe ich keine weitere Frage“, erwiderte der Inspektor, erhob sich, holte aus dem Nebenraum ein Glas frisches Wasser und reichte es Albert. „Danke!“ sagte dieser, feuchtete sich mit einigen kleinen Schlucken den ausgedörrten Mund an und fragte dann matt: „Kann ich nun gehen?“ „Gehen?“ wiederholte Blanchard gedehnt. Er fingerte unter seiner Schreibunterlage ein Papier hervor, strich einige Male glättend darüber und sagte, darauf zeigend: „Ich habe vorsorglich auf Ihre Person einen Haftbefehl ausstellen lassen, und so, wie die Dinge 168
liegen, halte ich es für mehr als gerechtfertigt, davon Gebrauch zu machen.“ „Aber… ich habe doch alles gesagt!“ „Alles gesagt – “ Der Kommissar machte eine geringschätzige Handbewegung. „Sie haben zugegeben, was wir Ihnen nachweisen konnten, und selbst das ist nicht sicher. Also werden wir es nachprüfen!“ „Dazu brauchen Sie mich wohl nicht einzusperren“, begehrte Albert auf. „Machen Sie doch nicht solch Aufhebens wegen einer so… so belanglosen Geschichte!“ Kommissar Blanchard zog mißbilligend die Augenbrauen hoch. „Ich weiß nicht, was Sie unter belanglos verstehen, für mich ist Mordverdacht alles andere…“ „Hören Sie endlich mit diesem Unsinn auf!“ erregte sich Albert. „Ich habe Ihnen doch… Was wollen Sie denn noch?“ „Die Wahrheit finden“, erwiderte der Kommissar kühl, „nur die Wahrheit finden. Und dazu benötigen wir Fakten. Wenn die Ergebnisse der kriminaltechnischen Untersuchungen vorliegen, reden wir weiter. Bis dahin werden wir Sie hierbehalten, Monsieur Ramoulin.“ „Unter diesen Umständen möchte ich sofort meinen Anwalt sprechen!“ „Sie können im Vorzimmer telefonieren“, erlaubte Blanchard gönnerhaft. Es war ihm anzusehen, wie sehr er seine Überlegenheit auskostete. „Kommen Sie!“ sagte Legrand in seiner gelassenen Art und öffnete die Tür. Albert erhob sich langsam. Ohne den Kommissar noch eines Blickes zu würdigen, ließ er sich hinausführen.
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Identität überprüfen, hatte Kommissar Blanchard angeordnet. Inspektor Legrand entnahm seinem Schreibtisch ein Branchenverzeichnis, schlug die Rubrik „Arztpraxen“ auf und zog sich den Fernsprechapparat heran. Schon nach wenigen Versuchen bestätigte ihm am anderen Ende der Leitung ein Dr. Mory, daß er der Hausarzt der Familie Ramoulin sei, und sogleich machte sich Legrand mit dem Dienstwagen auf den Weg, ihn abzuholen. Dr. Mory, ein sympathischer alter Herr, erwies sich als sehr zugänglich. Bereits auf der Fahrt zu dem Gebäude, in dem der medizinische Sachverständige der hiesigen Polizei wirkte, erfuhr der Inspektor allerlei Wissenswertes. Der Arzt erzählte ihm, daß er den Verstorbenen schon von Jugend an kenne, sie seien Freunde gewesen, um so größer sein Befremden, als er das Ableben des Obersten erst nach dessen Beisetzung und das auch nur zufällig durch einen Patienten erfuhr. Diese ihm seitens der Söhne des Verblichenen nach so vielen Jahren enger persönlicher Beziehungen gezeigte Mißachtung sei unverständlich und habe ihn sehr verletzt. Legrand wollte sich gerade nach den näheren Verhältnissen im Hause Ramoulin erkundigen, als der Fahrer vor ihrem Ziel, einem alten Quaderbau, hielt. Ein griesgrämiger Mensch führte sie in einen kühlen Kellerraum, der von einer grellen Deckenlampe erhellt wurde. Ein leise surrender Ventilator hielt die feuchte Luft in ständiger Bewegung und erzeugte ein unangenehmes Frösteln. Dr. Mory trat ohne weitere Umstände an den in der Mitte stehenden Seziertisch und schlug eigenhändig die 170
darüber gebreitete Gummiplane zurück. Obwohl ihn Inspektor Legrand im Rahmen des Erforderlichen informiert hatte, er also wußte, was ihn hier erwartete, konnte der Arzt seine Betroffenheit nicht verhehlen. Eine geraume Weile verging, bis er mit brüchiger Stimme bestätigte: „Es ist Charles Ramoulin.“ Als Inspektor Legrand wieder auf der sonnüberfluteten Straße stand, war ihm zumute, als sei er einer Gruft entronnen. Er bat seinen Begleiter in ein gegenüberliegendes Bistro, wo sie an einem für zwei Personen bestimmten Marmortischchen Platz nahmen. „Ich glaube, wir haben eine kleine Stärkung verdient“, meinte Legrand und bestellte Cognac und heißen Kaffee. Dr. Mory nickte schmerzlich. „Das kann man wohl sagen!“ „Sie haben uns sehr geholfen“, sagte der Inspektor, „wir wissen nun, daß es wirklich Oberst Ramoulin ist. Ich werde ein Protokoll anfertigen und im Laufe des Tages bei Ihnen vorbeikommen, damit Sie es mir unterschreiben können. Übrigens, was ich nicht vergessen wollte: Ich wüßte gern, wer der Zahnarzt des Verstorbenen war. Ist Ihnen das zufällig bekannt?“ Als dies bejaht wurde, fügte er erklärend hinzu: „Es ist nur für den Fall, daß eine Gebißbestimmung angeordnet werden sollte.“ Dr. Mory schrieb die benötigte Anschrift auf die Rückseite eines Rezeptformulars und reichte es über den Tisch, dabei sagte er: „Kann ich Ihnen sonst noch behilflich sein? Was in meinen Kräften steht, will ich gern tun. Obwohl ich mich im Moment, ehrlich gesagt, etwas mitgenommen fühle.“ Und dazu wie entschuldigend: „Wenn ich auch von Berufs wegen einiges gewöhnt bin, aber die letzte halbe Stunde ist mir an den 171
Nerv gegangen. Dabei begreife ich nicht, was hier eigentlich passiert ist?“ „Das wissen wir selbst noch nicht“, erwiderte Legrand. „Fest steht nur, daß ein Unglücksfall auszuschließen ist. Davon konnten Sie sich selbst überzeugen. Bleibt also die Frage: Selbstmord oder Mord? Vorläufig müssen wir beide Möglichkeiten in Betracht ziehen. Sollte sich ein Motiv finden, ein Motiv für das eine oder das andere, wären wir vermutlich einen Schritt weiter.“ Er sah sein Gegenüber fragend an: „Können Sie uns da helfen?“ Der Arzt schüttelte den Kopf. „Ich kann mir das alles nicht erklären. Natürlich lebte der arme Charles nach seiner Entlassung aus dem Dienst in bescheidenen Verhältnissen, es gab manche Misere, aber doch immer in einem erträglichen Rahmen. Er war viel zu korrekt, um sich etwa in ausweglose Schulden zu stürzen oder in irgendwelche unsaubere Geschichten einzulassen. Er besaß, wie gesagt, keine Reichtümer – hatte keine Feinde…“ „Sagen Sie mir etwas über die familiären Beziehungen des Verstorbenen?“ bat Legrand. „Seine beiden Söhne lebten mit im Haus.“ „Bestand ein gutes Verhältnis zwischen ihnen?“ „Nun – so würde ich es nicht bezeichnen“, meinte der Arzt, „dem stand zu vieles entgegen. Die Entwicklung der Söhne entsprach nicht den Vorstellungen des Vaters. In dieser Hinsicht blieben seine Erwartungen unerfüllt.“ „Wieso… in welcher Beziehung?“ „… ja… eigentlich in jeder…“ „Vielleicht sollten Sie mir das einmal verdeutlichen.“ „Ich rede ungern über so persönliche Dinge anderer“, erwiderte Dr. Mory, „aber wenn es für Sie 172
von Belang ist, komme ich wohl nicht umhin“, fügte er hinzu und begann dem interessierten Legrand einen Überblick der Lebensumstände im Hause Ramoulin zu geben. Allerdings mit Zurückhaltung und darauf bedacht, durch taktvolle Umschreibungen niemandem zu nahe zu treten. Der erfahrene Legrand hörte dennoch genug heraus. So hatte er sich seit der Vernehmung Albert Ramoulins den Lebensstil der beiden Brüder, ihre ganze moralische Einstellung vorgestellt. Leider erbrachte das alles wenig Neues. Irgendein Anhaltspunkt, von dem man weiter ausgehen konnte, fand sich nicht. Enttäuschend. Schließlich hatte er seinen Gesprächspartner nicht allein aus Höflichkeit eingeladen, sondern auch aus der Berechnung heraus, mehr über die Ramoulins zu erfahren und dabei vielleicht auf völlig neue Fakten zu stoßen. Inspektor Legrand rieb sich nachdenklich das Kinn. „Ich hätte noch eine grundsätzliche Frage: Sie kannten doch den Oberst sehr genau. Halten Sie es überhaupt für denkbar, daß er, weshalb auch immer, das möge einmal dahingestellt bleiben, Hand an sich gelegt hat – oder schließen Sie das prinzipiell aus?“ wollte er wissen. Der Arzt wiegte den Kopf: „Was soll ich da sagen – das vermag wohl niemand mit Sicherheit zu beantworten.“ „Aber gerade hierüber wäre Ihre Meinung für mich sehr wichtig.“ Dr. Mory zuckte unsicher die Schultern. „…da bin ich wirklich überfragt.“ „Vielleicht gibt es Hinweise aus früheren Gesprächen, Andeutungen – irgendwelche Symptome.“ Der Inspektor ließ nicht nach. 173
Der Arzt schüttelte den Kopf. „Was letzteres betrifft, ich weiß nicht, ob ich Sie da richtig verstehe, aber wenn Sie auf etwas Bestimmtes anspielen, wie Persönlichkeitsveränderung, Melancholie, Depressionen oder ähnliches, das hat es bei meinem Freund Ramoulin nie gegeben.“ „Na ja, Sie müssen es wissen“, gab sich Legrand zufrieden. „Darf ich Ihnen noch einen Cognac bestellen?“ Er zeigte auf das leere Glas seines Gegenübers. „Nein, nein,“ wehrte dieser ab, „bei der Hitze wäre das nicht gut! Es war sowieso eine Ausnahme.“ Legrand trank seinen Kaffee aus und sagte, die Tasse absetzend: „Wenn es Ihnen recht ist, fahre ich Sie jetzt wieder zurück.“ Dr. Mory warf einen Blick auf seine Taschenuhr und nickte: „Ja – es wird Zeit.“ Nachdem Inspektor Legrand Dr. Mory vor dessen Praxis abgesetzt hatte, fuhr er noch zur Pension Boudet. Adrienne Forestier empfing ihn kühl und distanziert, beantwortete jedoch bereitwillig seine Fragen. Ja, es stimme, bestätigte sie die Angaben Albert Ramoulins, von einem Sterbefall in Saint-Ponoir wäre kürzlich gesprochen worden, und zwar im Zusammenhang mit einer turbulenten Geschichte, die sie vom dortigen Abbé erfahren habe. Wieder in der Dienststelle, begab sich Legrand sofort zu Blanchard und erstattete Bericht. „Jedenfalls wissen wir nun von dem Hausarzt, daß der Exhumierte tatsächlich Charles Ramoulin ist“, meinte der Kommissar. „Soll ich zu den Aussagen der Frau den Geistlichen hören?“ fragte Legrand. 174
„Ach was“, winkte Blanchard ab, „verlieren wir uns nicht in Nebensächlichkeiten. Ist doch egal, woher der Kerl von der Leiche erfahren hat. Fakt ist jedenfalls, daß er sie sich beschaffte. Übrigens“, fiel ihm ein, „der Bürgermeister von Saint-Ponoir rief an und teilte mit, daß der verschwundene Leichnam wieder da ist. Ich glaube, wir sollten die Gendarmerie in Kenntnis setzen, daß wir die Angelegenheit in Verbindung mit einem Mordfall geklärt haben.“ Legrand wiegte bedenklich den Kopf. „Sind Sie sicher, daß es sich um Mord handelt?“ „Daran gibt es doch wohl keinen Zweifel.“ „Ich weiß nicht…“, kam es achselzuckend, „bis das nicht definitiv erwiesen ist, würde ich mich nicht so entschieden festlegen – beim derzeitigen Stand unserer Ermittlungen halte ich das für sehr voreilig!“ Der Kommissariatschef runzelte die Stirn. Das hörte sich ja an, als wollte ihn sein Untergebener schulmeistern. Er hatte eine Entgegnung auf der Zunge, hielt es dann aber doch für geraten, sich keine unnötige Blöße zu geben, und sagte nur: „Der Tatbestand spricht schließlich für sich.“ „Trotzdem dürfen wir auch eine andere Möglichkeit nicht ausschließen“, gab Legrand zu bedenken. „Allein der fingierte Totenschein zeigt wohl ganz klar, womit wir es hier zu tun haben.“ „Daß die Geschichte nicht astrein ist, darüber gibt es überhaupt keine Diskussion“, gab der Inspektor zu. „Ich finde nur, daß die Fakten nicht ausreichen, um sich einseitig auf Mord festzulegen.“ Kommissar Blanchard trommelte unmutig mit den Fingerspitzen auf die Kante seiner Schreibtischplatte. „Haben Sie eine andere Version?“ „Wenn ich sie hätte, würde ich sie auch äußern.“ 175
„Nun, dann will ich Ihnen sagen, wie ich es sehe“, erwiderte der Kommissar. „Der Sachverhalt weist so eindeutig auf ein Verbrechen hin“, konstatierte er in belehrendem Ton, „daß es sogar einem Hilfspolizisten einleuchten muß. Wir haben das Eingeständnis dieses Albert Ramoulin. Was wollen Sie denn noch? Weshalb wohl, glauben Sie, schleppt sich dieser Mensch eine Leiche ins Haus? Das macht nur ein Verrückter – oder ein kaltberechnender Verbrecher, der damit etwas bezweckt. Aber was? Das ist die Frage. Wer einen solchen Dreh abzieht, macht das nicht wegen einer Lappalie. Und darum gibt es für mich nur eine Erklärung: Mord! Hier sollte ein Mord oder meinetwegen ein Totschlag verschleiert werden. Das liegt klar auf der Hand.“ Er zündete sich eine Zigarette an, zog den Aschenbecher herüber und fuhr fort: „Allerdings bin ich nach nochmaligem Durchdenken aller Details in einem entscheidenden Punkt zu einer anderen Schlußfolgerung gelangt. Obgleich alle Indizien auf Albert Ramoulin zielen, halt ich nicht ihn, sondern seinen Bruder für den Täter.“ „Alain Ramoulin?“ Der Kommissar nickte: „Hier bietet sich das Motiv, das wir suchen. Der Kerl hat im Glücksspiel ein kleines Vermögen durchgebracht und über diese Summe einen Wechsel gefälscht, der natürlich eingelöst werden muß. Er ist völlig mittellos.“ Seine Stimme bekam einen triumphierenden Unterton: „Wenn das keine Beweggründe sind! Ob er nun seinen Vater bei einer Auseinandersetzung, im Affekt, tötete oder ihn aus dem Wege geräumt hat, um in den Besitz von Geld oder Wertsachen zu gelangen, wird sich noch herausstellen. Es wird sich zeigen, inwieweit Albert Ramoulin einer 176
Mittäterschaft schuldig ist oder ob er nur seinen Bruder decken wollte.“ „Na ja, dann brauchen wir es nur noch zu beweisen“, sagte Legrand gelassen. „Das werde ich“, entgegnete Blanchard sehr bestimmt, „und dazu muß schnellstens Alain Ramoulin her. Versuchen Sie ausfindig zu machen, wo er sich aufhält!“ „Das habe ich bereits getan“, erwiderte der Inspektor. „Ich war vorhin im Büro des Mobilienhändlers Sel. Der Chef der Firma gab mir die Auskunft, daß sein Sohn geschäftlich in Nizza sei, zu erreichen im Hotel Régine in der Rue Bardon.“ „Ist denn erwiesen, daß Ramoulin auch dort ist?“ „Der Mobilienhändler nimmt es an.“ „Was heißt, nimmt es an“, nörgelte der Kommissar, „ist er nun dort oder nicht?“ „Mitgefahren ist er jedenfalls.“ „Nun gut“, gab der Kommissariatschef nach. „Beantragen Sie einen Haftbefehl gegen Alain Ramoulin, und geben Sie ein Fernschreiben nach Nizza durch, zwecks Festnahme und Überführung nach hier!“ Legrand erhob sich. „Ich werde es sofort veranlassen.“ Ohne Eile überquerte Alain Ramoulin den Bahnhofsvorplatz von Monte Carlo und ging auf den schräg gegenüberliegenden Aufzug zu. Zum Stufensteigen viel zu bequem, machte er von dieser Annehmlichkeit Gebrauch und langte in weniger als einer Minute am Casino an. Von seinem Freund Raymond Sel, den er gegen neun Uhr an der großen Freitreppe treffen wollte, war weit und breit nichts zu sehen. Ein Blick auf die Arm177
banduhr zeigte freilich, daß er noch Zeit hatte, und so lenkte er – von nervöser Unrast getrieben – seine Schritte zu der nahen Südterrasse. Die Aussicht, die sich von hier bot, war einmalig schön: Zur Linken dehnte sich, so weit das Auge reichte, spiegelglatt das Ligurische Meer. Im Schein der sinkenden Sonne strebten kleine Boote der Hafeneinfahrt zu, um vor Einbruch der Nacht den schützenden Ankerplatz zu erreichen. Obwohl noch heller Tag, warf das Leuchtfeuer auf der dem Quai du Commerce vorgelagerten Mole bereits in regelmäßigen Abständen einen warnenden Lichtstrahl um sich. Am jenseitigen Ufer der kleinen Bucht erstreckte sich die Stadt Monaco auf ihrem aus dem Wasser ragenden Felsengrund. Alain Ramoulin hatte für all das keinen Blick. Dazu war seine innere Unruhe viel zu groß. Für ihn hing alles davon ab, daß ihm Raymond Sel an diesem Abend noch einmal Geld lieh, mit dem er spielen und gewinnen konnte. Er sah darin die einzige Möglichkeit, aus seiner Misere herauszukommen. Und so beschäftigte ihn unentwegt der beängstigende Gedanke, daß der Freund in der Zwischenzeit mit Périgueux ein Ferngespräch geführt und dabei von dem geplatzten Wechsel erfahren haben könnte. Raymond Sel, einziger Sohn und Mitinhaber des väterlichen Mobilienbüros, war am frühen Morgen mit seinem Sportwagen losgefahren, um in der Gegend geschäftliche Besprechungen zu führen und Außenstände einzutreiben. Alain Ramoulin, durch quälende Kopfschmerzen gehindert, ihn, wie üblich, zu begleiten, blieb in ihrem gemeinsamen Hotelzimmer in Nizza zurück und fuhr erst am Abend mit dem Zug nach. Er wollte heute alles auf eine Karte setzen, um die verspielten achttausend Francs zurückzugewinnen. 178
Ohne das Geld wagte er sich kein zweites Mal nach Hause, das stand für ihn fest, und dabei war die Angst vor seinem Bruder Albert fast ebenso groß wie die vor dem Vater. Als er, über die abendlich belebte Promenade kommend, wieder an seinen Ausgangspunkt anlangte, war Raymond Sel noch immer nicht da. Für diesen Fall hatten sie ausgemacht, daß sich Alain im Lesesaal aufhalten sollte, und so stieg er die breite Freitreppe empor. Ein livrierter Portier riß vor ihm eine spiegelnde Glastür auf. Ein wenig beklommen betrat Alain das Vestibül des Casinos und begab sich in das linker Hand gelegene Commissariat, um sich zu legitimieren. Mit unbewegtem Gesicht überprüfte ein Angestellter die in seinem Paß vermerkten Personalien. Nachdem er sich noch an Hand eines Folianten vergewissert hatte, daß es sich um keine – im Sinne der Spielbank – Persona non grata handelte, stellte er eine Eintrittskarte aus, auf deren Rückseite Alain seinen Namen setzen mußte. Damit lag der Weg in die heiligen Hallen frei. Der in der ersten Etage gelegene Lesesaal war nur schwach frequentiert. Er nahm in einem schweren Ledersessel Platz und ließ, nervös mit einem Magazin spielend, die Eingangstür nicht aus den Augen. Minuten später trat auch Raymond Sel ein und setzte sich zu ihm. „Bist du schon lange hier?“ „Gerade herein“, erwiderte Alain und stellte mit einem schnellen Blick erleichtert fest, daß der Freund glänzender Laune war. Die Erklärung dafür bekam er auch sogleich, denn Raymond sagte: „Ich bin nicht allein. Habe heute in Menton eine tolle Frau kennengelernt, ihr Mann ist hoher Beamter oder so was Ähnli179
ches. Wir sitzen drüben im Erfrischungssaal. Ich will dich nur holen!“ „Wie… wie lange willst du denn in dem Erfrischungssaal bleiben?“ erkundigte sich Alain argwöhnisch. „Na, mal sehen… solange es uns gefällt… wir können etwas trinken und plaudern… machen uns einen angenehmen Abend.“ „Und wann gehen wir in den Spielsaal?“ „Um Himmelswillen!“ wehrte Raymond ab. „Ich kann doch die Madame nicht mit in den Spielsaal nehmen. Soll ich vielleicht den Grandseigneur mimen und für sie die Einsätze zahlen? Wenn ich Pech habe, bin ich in einer halben Stunde pleite!“ Alain unterdrückte seinen Unmut. Er fieberte vor Ungeduld, an den Roulettisch zu kommen, und so stand sein Sinn keineswegs danach, in irgendwelchen Restaurationsräumen die Zeit zu vertrödeln und zur Unterhaltung Raymonds neuester Errungenschaft beizutragen. Diese Frau kam ihm höchst ungelegen, obwohl er mit dem Auftauchen eines solchen Weibsbildes hätte rechnen müssen; denn der flotte, immer unbekümmert wirkende und obendrein gutaussehende Raymond Sel war ständig auf galante Abenteuer aus, und natürlich blieb ihm bei diesen Attributen der Erfolg nicht versagt. „Na, gehn wir…?“ drängte Raymond. Alain schüttelte den Kopf. „Ich möchte lieber spielen!“ „Ach was, das läuft dir nicht fort, morgen ist auch ein Tag“, meinte Raymond, der nicht ahnte, daß dem vor nervöser Unruhe gepeinigten Alain die Minuten zur Ewigkeit wurden. „Schließlich sind wir ja deswegen hergekommen“, nörgelte er. 180
„Mann, du mit deinem Spielen – “ Raymond mokierte sich. „Hast du denn noch nicht genug?“ „Ich will meine achttausend Francs zurückgewinnen!“ „Wenn ich so etwas höre… ich will… ich will… als ob es auf das Wollen ankäme! Du hast doch erlebt, wie es läuft!“ „Eben… denkst du, ich lasse denen das Geld!“ Raymond sah Alain prüfend an. „Willst du mich auf den Arm nehmen, oder ist bei dir eine Schraube locker? Die Spielbank ist doch keine Sparkasse, wo man einfach hingeht und das eingezahlte Geld wieder abhebt.“ „Das weiß ich allein… jedenfalls hole ich das Geld wieder heraus, verlaß dich drauf!“ Alain blieb hartnäckig. „Hm…“ Raymond lachte trocken auf. „Möchte wissen, wie du das anstellen willst! Vielleicht durch ein bißchen Corriger la fortune? Ist beim Roulett nicht drin, mein Lieber, und wenn man auf den Zufall angewiesen ist – na, du hast selbst gesehen, wie groß die Chancen sind!“ „Wenn man planlos spielt“, widersprach Alain, „aber ich habe mir ein System ausgedacht.“ „Ach – sieh mal einer an, unser kleiner d’Alembert hat sich ein System ausgedacht“, höhnte Raymond, „ein System… die Wunderwaffe der Narren!“ „Wenn ich dir sage…“ „Höre mit diesem Unsinn auf!“ Raymond winkte ärgerlich ab. „An diesem Problem haben sich schon größere Geister die Zähne ausgebissen. Ich weiß wirklich nicht, woher du deinen kindischen Optimismus nimmst!“ „Wieso denn… andere gewinnen doch auch!“ 181
„Ja… wenn sie Glück haben…“ „…und da ich bis jetzt keines hatte und nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung jeder Fehlschlag den Erfolg um so näher bringt, ist dieser Optimismus ja wohl begründet…“ „… nach Bernoulli oder Pascal?“ „Begreifst du denn nicht! Nur durch Spielen kann ich das Verlorene zurückgewinnen.“ Alain ließ sich nicht beirren. „Der Hauptfehler, den meiner Meinung nach viele begehen, ist der“, fuhr er fort, „daß sie bei einer Pechsträhne, anstatt weiterzuspielen, die Nerven verlieren und abbrechen… zu früh aufhören… eben das eine entscheidende Spiel zu früh…“ „Du hast wohl nicht alle…“ Raymond wurde wütend. „…Wahrscheinlichkeitsrechnung… System… bist das dritte Mal hier und schwingst große Töne wie ein alter Hasardeur. Daß die meisten nicht deshalb aufhören, weil sie die Nerven, sondern ihr ganzes Geld verloren haben… nicht weiterspielen können… auf die Idee bist du wohl noch nicht gekommen!“ „Ereifere dich nicht so… es sehen schon die Leute her!“ zischte Alain, und diese Ermahnung war nicht unbegründet, denn wie die mißbilligenden Blicke einiger der Umsitzenden erkennen ließen, wurden sie in dieser nur hin und wieder vom Rascheln eines Zeitungsblattes, von dezent unterdrücktem Hüsteln und gedämpftem Flüstern beherrschten Atmosphäre des gepflegten Lesesaales bereits als störend empfunden. „Da kann man doch gar nicht ruhig bleiben, wenn man dich so infantil daherreden hört“, schimpfte Raymond mit verhaltener Stimme, nachdem er sich mit einem schnellen Blick über seine Umgebung von der Berechtigung dieses Einwandes überzeugt hatte, und 182
setzte mürrisch hinzu: „Mann, mir ist der ganze Abend verdorben!“ „Ich verstehe dich nicht“, Alain schüttelte den Kopf, „wir haben uns eigens hier treffen wollen, um zu spielen! Weshalb ziehst du nun solch einen Film ab?“ Raymond tippte sich an die Stirn. „Ja… spielen…“, betonte er mit Nachdruck, „ein bißchen zum Spaß – aber nicht va banque… nicht hasardieren… vielleicht noch die Bank sprengen! Das ist ja der entscheidende Unterschied dabei, ob jemand die Taschen und die Konten voll hat und sich ein solches Amüsement leisten kann oder ob da einer, weil er nichts hat, das Schicksal herausfordert und all seine Hoffnung immer wieder auf ein neues Spiel setzt. Nicht einmal ein gnädiger Zufall kann da helfen, weil dieser Typ nämlich keinesfalls zu früh die Nerven verliert, wie du es bezeichnest, diese Sorte hört nicht eher auf, bis auch der letzte Centime verloren ist… bis sie völlig am Ende sind… Und da hilft keine mathematische Gesetzmäßigkeit und keine Wahrscheinlichkeitsrechnung und kein System! Mit wirklich absoluter Sicherheit gewinnt nur einer dabei! Sieh dich hier um, sieh dir den Prunk an, den Aufwand – dazu bestreitet die Spielbank noch nahezu den gesamten Haushalt des Fürstentums Monaco! Was glaubst du denn, wo das herkommt… he…?“ Alain war viel zu sehr auf einen Spielerfolg versessen, um sich für solche Belehrungen zu interessieren. Er sah auf die kunstvolle Intarsiatur des zwischen ihnen stehenden ovalen Lesetischchens. Sagte nichts. Was ihn im Moment allein beschäftigte, war der Gedanke, wie er es am zweckmäßigsten anstellen könnte, daß ihm der Freund jetzt eine größere Summe Geld lieh. Und weil er dessen Mentalität nur zu gut kannte und aus Erfahrung wußte, daß ein Raymond, 183
der sich ihm gegenüber im Unrecht fühlte, am ehesten dazu geneigt sein würde, bot es sich wie von selbst an, die im Erfrischungssaal sitzende Beamtengattin als willkommenen Vorwand zu nehmen und ein wenig den Zurückgesetzten, Gekränkten zu spielen. Raymond Sel wurde ungeduldig. Schließlich durfte er seine Dame nicht unzumutbar lange warten lassen. Den Freund einer Frau wegen hintenansetzen und sich einfach selbst überlassen ging ebenfalls nicht. In der Hinsicht hatte es auch noch nie Schwierigkeiten gegeben, weil sich Alain bei diesen Gelegenheiten stets mit schon zur Gewohnheit gewordener Selbstverständlichkeit anpaßte. Um so mehr wurde Raymond von dessen Reaktion überrascht, die er sich nicht zu erklären vermochte, und sagte unwillig: „Damit konnte ich wirklich nicht rechnen, daß du plötzlich solche Kapricen an den Tag legst und dich ausschließt. Was soll ich denn nun machen?“ Alain sah befremdet auf. „Ach, das nennst du Kapricen, nur weil ich mich an unsere Absprache halte! Immerhin hatten wir vereinbart, heute zum Roulett zu gehen. Weshalb bringst du diese Frau mit, wenn es für dich von vornherein feststeht, daß du sie nicht mit in den Spielsaal nehmen willst?“ „Weshalb… weshalb…“, erwiderte Raymond, „ich war mit dir verabredet, wollte aber auch ihre Gesellschaft nicht missen… da habe ich sie eben überredet mitzukommen. Wie konnte ich ahnen, daß du ausgerechnet heute so versessen auf das Spielen bist! Noch dazu, wo du erst eine hohe Summe verloren hast“, fügte er hinzu. „Na, dann widme dich der Dame, wenn dir an ihr so viel gelegen ist“, versetzte Alain, die letzte Bemerkung 184
geflissentlich überhörend. „Auf mich brauchst du keine Rücksicht zu nehmen…“ „Rede keinen Unsinn!“ sagte Raymond, den nichts so empfindlich traf wie ein versteckter Vorwurf, der ihn der Selbstsüchtigkeit bezichtigte, wozu Alain übrigens den wenigsten Grund gehabt hätte, denn gerade ihm gegenüber benahm sich Raymond Sel kameradschaftlich und freigebig, was sich nicht zuletzt auch darin äußerte, daß sich der ständig in Geldschwierigkeiten lebende Alain ohne die Hilfe des Freundes wohl kaum einen Aufenthalt an der Riviera hätte leisten können. Keiner wußte das besser als Alain selbst, dessenungeachtet zeigte er eine Miene, als habe ihn die ganze Welt verraten. „Menschenskind…“, Raymond schüttelte mehr unsicher als ärgerlich den Kopf, „du machst ein Gesicht, als hätte ich dir wer weiß was angetan. Also gut“, lenkte er ein, „ich fahre sie zurück, damit du dich zufriedengibst.“ „Meinetwegen mußt du dir keinen Zwang auferlegen.“ Alain machte eine wegwerfende Handbewegung. „Weshalb auch – deshalb sitze ich doch allein hier herum.“ „Du kannst ja inzwischen schon mal dein Glück versuchen“, schlug Raymond vor. „Was soll ich allein im Spielsaal!“ nörgelte Alain, dem in Wahrheit nichts lieber gewesen wäre als das, wenn er nur über das erforderliche Geld verfügt hätte. „Bis Menton ist es nur ein Katzensprung“, erwiderte Raymond, „in spätestens einer Stunde bin ich zurück. Sag mir lieber, in welchem Saal wir uns treffen!“ Alain zuckte mißmutig die Schultern. „Am besten, du gehst in die Salle Touzet“, riet Raymond, „wir waren schon dort – es ist hinten der letzte 185
Saal. Du erkennst ihn an der Wandmalerei – Frauen und Schwäne.“ „Meinetwegen“, sagte Alain, und dann scheinbar beiläufig: „Laß mir für alle Fälle etwas Geld da!“ „Wieviel?“ kam es bereitwillig. Alain wiegte wie überlegend den Kopf. „… zwei-, dreitausend… fünftausend?“ „Mann…“, erschrak Raymond, „bist du verrückt, soviel habe ich selbst nicht!“ „Ich denke, du hast heute Außenstände eingeholt?“ „Ja, schon…. aber…“ „Na, dann kannst du es mir doch geben!“ drängte Alain. „Bring mich nicht dauernd in Konflikte… das sind schließlich Geschäftsgelder…!“ „Du bekommst es nachher gleich wieder.“ „Und wenn es weg ist?“ „Dann werde ich selbstverständlich dafür geradestehen“, kam es beruhigend. „Du bist ja ein solcher Nabob…“ Raymond konnte sich nicht enthalten. Über Alains Gesicht huschte ein Schatten. Diesmal brauchte er den Gekränkten nicht zu spielen. Die Bemerkung des Freundes hatte ihn getroffen. „Weshalb halte ich eigentlich ellenlange Vorträge, wenn du es ohnehin nicht begreifst!“ Raymond ärgerte sich, „…mußt eben unbedingt spielen… und um so hohe Summen!“ fügte er ungehalten hinzu. „Das sollte dich nicht belasten.“ Alain bemühte sich um einen lässigen Tonfall. „Bis wir wieder in Périgueux sind, hast du das Geld jedenfalls zurück. Darauf gebe ich dir mein Ehrenwort!“ Raymond war sichtlich unschlüssig. 186
„Eh bien… du mußt es wissen…!“ meinte er schließlich mit einem leichten Achselzucken, entnahm seiner Brieftasche unauffällig einige Banknoten, legte sie diskret zwischen ein zusammengefaltetes Zeitungsblatt und schob es über den Tisch. „Zweitausend“, sagte er dabei. „Zufrieden?“ Alain zog es zu sich heran. „Na ja…“, druckste er, „hättest ruhig noch tausend drauflegen können.“ Raymond machte eine unmutige Bewegung mit dem Kopf. „Möchte nur wissen, was du dir denkst! Solche Beträge, wie du anzunehmen scheinst, habe ich nicht in der Tasche. Die Kunden geben meistens Schecks, und ich selbst sehe keine Veranlassung, unnötig viel Bargeld mit mir herumzuschleppen.“ „Immerhin wolltest du heute die Spielbank aufsuchen, da darf man wohl annehmen, daß du ein bißchen Bewegungsfreiheit haben möchtest.“ „Für mich hätte es gereicht“, entgegnete Raymond anzüglich. Alain versagte sich eine Antwort. In Gedanken schon im Spielsaal, drehte er ungeduldig das zusammengefaltete Zeitungsblatt mit der kostbaren Einlage in den Händen. „Ich möchte nun gehen“, sagte Raymond und erhob sich. „Also wie abgemacht.“ Alain wartete, bis sich die Tür hinter dem Freund schloß, sprang auf und verließ ebenfalls den Raum. Während Carlo Grimaldi, der Ahnherr der Fürsten von Monaco, noch mit roher Waffengewalt seine an übermäßigem Besitz leidenden Mitmenschen von ihren Reichtümern befreite, bedienen sich seine Nachkommen seit einigen Generationen dazu eleganterer Mittel. 187
Die Obliegenheiten der rauhen Mannen Grimaldis haben die dienstbaren Geister eines perfektionierten Hotelwesens und die Croupiers in der Spielbank von Monte Carlo übernommen und erfüllen diese Aufgabe mit der gleichen Gründlichkeit. Man kann heutzutage ohne Übertreibung sagen: Das Fürstentum Monaco bietet auch Besuchern mit verwöhntesten Ansprüchen einen angenehmen Aufenthalt, verbunden mit einer reichhaltigen Palette an Abwechslung und Vergnügen. Mrs. Firefield aus Chicago, die seit knapp einer Woche mehrere der vierhundert Zimmer im Hotel de Paris in Monte Carlo bewohnte, teilte diese Meinung allerdings nicht. Die Unzufriedenheit bezog sich freilich nicht auf die gebotene Gastronomie – die war in diesem Prachtbau, dem ersten Haus am Platz, selbstverständlich first-class und ohne Tadel –, sondern auf den Umstand, daß die von starken erotischen Emotionen geplagte Lady Abwechslung und Vergnügen, so wie sie es begehrte, bislang nicht finden konnte. Seit John Firefield, Hauptaktionär der Firefield Inc. Heereslieferant der US Army, sich mit Leib und Seele allein dem Busineß verschrieben hatte, suchte und fand seine bessere Ehehälfte Ausgleich und Trost bei jungen Männern. Abgesehen von einigen senilen Schwätzern, mit denen sie absolut nichts anzufangen wußte, war es der nymphomanen Amerikanerin trotz allen Bemühens noch nicht geglückt, an diesem Gestade eine so dringend gewünschte Bekanntschaft zu machen. Es mochte unsinnig, ja widersprüchlich klingen, doch selten war sich Mabel Firefield so vereinsamt vorgekommen wie an dem bevorzugten Treffpunkt der internationalen High Society. Allmählich begann sie ihren 188
Trip an die Riviera zu bereuen. Hotels und Palmen gab es in Kalifornien und Florida schließlich auch, und dort fand sie immer, was sie suchte Mrs. Firefield ruhte in halbaufrechter Stellung auf einem Liegesessel aus blitzendem Chromstahl und betrachtete mißmutig das sich vor den Fenstern ihres Hotelzimmers ausbreitende südländische Panorama des Hafens von Monaco, über dem sich ein wolkenloser, azurblauer Himmel wölbte. Gleichgültig glitt ihr Blick über die prachtvolle, mit Topfpalmen und anderen Sukkulenten geschmückte Terrasse des Hotels l’Hermitage zur Avenue de Monte Carlo, von dort zu den am Quai de Plaisance vertäuten Luxusjachten und wanderte dann, vorbei an ankernden Schiffen, zum jenseitigen Ufer der kleinen, hufeisenförmigen Bucht, wo sich am Fuße des Tête de Chien überaus malerisch die Stadt Monaco erstreckte. Über dem westlich daran anschließenden La Condamine schickte sich die Sonne an, ihren Tageslauf zu beenden. Aber noch hatte sie so viel Kraft, daß die sich auf dem glatten Wasserspiegel brechenden Strahlen das Auge schmerzhaft blendeten. Ein Bild, das schon manchen Besucher beeindruckte. Doch sie fesselte es nicht. So groß waren Ärger und Enttäuschung über den bisher unbefriedigenden Verlauf ihres Aufenthaltes, daß nicht einmal die herrliche Aussicht den Groll der dollarschweren Amerikanerin zu mildern vermochte. Mabel Firefield haderte mit sich und der Welt. Damned, es mußte doch möglich sein, hier etwas Männliches aufzutreiben, überlegte sie wütend. Die für eine Lady so erschreckende Denkweise durfte sicherlich mit unverschuldet übernommenen Erbanlagen von Vorfahren erklärt werden, die noch als Pioniere den 189
Westen der Vereinigten Staaten unsicher gemacht hatten. Natürlich hatte sie bereits erwogen, sich die Cleverness eines der Hotelportiers zu kaufen, um der eigenen erfolgversagten Kontaktfreudigkeit durch diskrete Vermittlung nachhelfen zu lassen. Leider war die Möglichkeit nicht gegeben, die anderen Ortes so oft erprobte Hilfe auch hier in Anspruch zu nehmen. Bei aller Servilität, die man dem Gast entgegenbrachte, herrschte an der Rezeption dieses Hauses eine persönliche Unnahbarkeit, die ein derartiges Ansinnen von vornherein ausschloß. Sie nahm mit Rücksicht auf ihre schlanke Linie bereits sehr zeitig ein leichtes Abendessen ein und wußte dann nichts mit sich anzufangen. Schließlich konnte sie nicht ständig im Garten des Palais des Beaux-Arts umherlaufen, von der Terrasse nach dem Meer die Fernsicht nach Ventimiglia und Bordighera bewundern oder auf der Westpromenade den Sonnenuntergang erwarten. Und sich zu so früher Abendstunde schon in einem der Gesellschaftsräume unnötig zu ermüden, verspürte sie noch weniger Lust. Da schien es schon angebrachter, die Zeit bis zum Ausgehen bequem ausgestreckt auf diesem Schaumstoffpolster zu überbrücken, um den kommenden Nachtstunden mit Frische begegnen zu können. Doch eine sie schon seit Tagen quälende innere Unruhe ließ keine Entspannung zu. Im Gegenteil. Das Alleinsein erzeugte in ihr eine immer stärker werdende Unrast. Zum soundsovielten Male schon mußte das Zimmermädchen erscheinen, um nichtige Wünsche und Befehle der kapriziösen Amerikanerin entgegenzunehmen. 190
Auf einem bequem in Reichweite herangefahrenen Teewagen stand inmitten bunter Illustrierter und aufgeschlagener Modejournale ein flaches, elfenbeinfarbenes Gerät. Zwei Reihen Druckknöpfe – die daneben aufgemalten, eindeutig ihren Sinn erklärenden kleinen schwarzen Silhouetten machten den Apparat auch für Analphabeten geeignet – sicherten dem finanzkräftigen Benutzer ein Heer von Bedienung, wie es sonst wohl nur Könige und Fürsten kannten. Die handliche drahtlose Rufanlage nutzte Mabel Firefield heute weidlich. Friseuse, Schuhputzer, Näherin, sie alle waren schon dagewesen. Als letzter verließ soeben ein junger, blonder Hotelpage das Appartement, und schon suchten ihre leicht kurzsichtigen Augen ein neues Bildchen auf dem Wunderkasten. Ein kurzer Druck auf den Knopf – nur Augenblicke später ein dezentes Anklopfen, und der Zimmerkellner stand im Raum. „Madam?“ Die Form der Anrede ließ erkennen, daß er sich bewußt war, in diesem Gast die Angehörige einer Englisch sprechenden Nation vor sich zu haben. Die Amerikanerin sah auf. In tadelloser Haltung harrte in gebührendem Abstand ein blendend aussehender Mann von etwa dreißig Jahren ihrer Befehle. Was Mabel Firefield sogleich faszinierte, waren die dunklen Augen in dem interessanten Gesicht und das tiefschwarze, sorgfältig gepflegte Haar. Ein ausgesprochen südländischer Typ. Wie gebannt blickte Mabel Firefield auf die bestechende Erscheinung. „Madam haben einen Wunsch?“ erlaubte sich eine angenehme, wohlklingende Stimme in Erinnerung zu bringen. 191
Einen Wunsch…? Die Frage barg für sie etwas Aufreizendes und entzündete sofort ihre Phantasie. Die eben noch so gelangweilte und gereizte Amerikanerin war auf einmal nicht wiederzuerkennen. Der mißmutige Ausdruck auf ihrem Gesicht wich einem gewinnenden Lächeln, und sie bat überaus liebenswürdig: „Könnte ich etwas Erfrischendes haben?“ „Was belieben Madam? Eine Grapefruit… Sorbet… vielleicht ein Melbaeis?“ Mrs. Firefield wiegte überlegend den Kopf. „Nein… nichts Süßes. Bringen Sie mir bitte eine kleine Flasche Champagner!“ „Sehr wohl, Madam.“ Der Zimmerkellner machte eine knappe Verbeugung und wollte den Raum verlassen, als die Amerikanerin plötzlich fragte: „Möchten Sie auch ein Glas trinken?“ „Ich muß um Verständnis bitten, Madam, alkoholische Getränke sind den Angestellten des Hauses während ihrer Arbeitszeit nicht erlaubt.“ „Ist das so streng?“ „Sehr streng, Madam.“ „Nun, dann nehmen Sie sich nach dem Dienst eine Flasche auf meine Rechnung!“ Der Hotelkellner verbeugte sich artig. „Madam sind sehr gütig, ich bedanke mich.“ Die Amerikanerin nickte gönnerhaft und schob sich gekonnt lässig eine der von ihr bevorzugten überlangen Damenzigaretten zwischen die Lippen. Ein leichtes Neigen des Kopfes quittierte das augenblicklich gereichte Feuer, und den genußvoll inhalierten Rauch durch die Nase blasend, erkundigte sie sich: „Ich habe Sie noch nie gesehen, wie kommt das?“ „Für gewöhnlich arbeite ich im Nordflügel, Madam.“ „Bleiben Sie jetzt ständig hier?“ 192
„Nein, nur diese Nacht, Madam.“ „Sind Sie Franzose?“ „Nein, ich bin Italiener, Madam.“ „Sie sprechen ein ausgezeichnetes Englisch“, lobte sie, „damit könnten Sie mühelos in den Staaten bestehen. Würde Sie das nicht reizen?“ „Ich weiß nicht, Madam, mit einem solchen Gedanken habe ich mich noch nicht befaßt.“ „Vielleicht sollten Sie es!“ meinte sie mit hintergründiger Betonung. „Ein Mann wie Sie müßte doch darauf brennen, sich Dollars zu machen – oder?“ „Wer möchte das nicht, Madam!“ Den Hotelkellner traf ein mehr als wohlgefälliger Blick. „Nun – wenn Sie wollen…“, sie betupfte mit einem feinen Batisttuch ihren Mund, „ich will gern behilflich sein – “ „Madam sind sehr freundlich… ich weiß wirklich nicht…“ Der Hotelangestellte konnte eine aufkommende Unruhe nicht verhehlen. Er war lange genug in diesem Metier, um die ihm so offensichtlich entgegengebrachte Leutseligkeit nicht für uneigennützige Herzensgüte zu nehmen, und war sich demzufolge der hinter solcher Extravaganz lauernden Komplikationen aus Erfahrung nur zu bewußt. Mrs. Firefield nickte ihm unkonventionell zu. „Es liegt bei Ihnen… wir können jederzeit darüber reden.“ Die Haltung des Zimmerkellners straffte sich. „Gestatten Sie bitte den Hinweis, Madam, dem Personal ist jedes private Gespräch mit den Gästen untersagt!“
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„Ach was“, winkte sie ab. „Am besten, Sie kommen zu mir, wenn Sie frei haben, damit wir uns in Ruhe unterhalten können.“ Die dunklen Augen des Italieners bekamen einen abwehrenden Ausdruck. „Pardon, Madam, den Angestellten des Hauses ist das Betreten der Hotelzimmer außerhalb ihrer Arbeitszeit streng verboten!“ Die Amerikanerin konnte ihren Verdruß nur mit Mühe verbergen. Damned, da baute man diesem Habenichts eine goldene Brücke, und dieser blöde Kerl „Lassen wir das mit dem Champagner… ich habe es mir überlegt.“ „Sehr wohl, Madam.“ Der Hotelkellner deutete eine Verbeugung an und verließ aufatmend den Raum. Mabel Firefield sah ihm mit unzufriedener Miene nach, warf einen Blick auf ihre goldene Armbanduhr, erhob sich umständlich und vertauschte ihren hauchdünnen seidenen Hausmantel mit einem Abendkleid. Dann trat sie an einen in die Wand eingelassenen Safe, dessen Kombinationsschloß nur mit Hilfe eines Schlüssels in Verbindung mit einer einzustellenden Kennziffer zu öffnen war. Sie entnahm ihm eine lederbezogene Schatulle und schüttete den darin enthaltenen Schmuck auf ein zierliches Korbtischchen. Bedächtig wählte sie einige Ringe, ein paar funkelnde, tropfenförmige Ohrgehänge und eine mattschimmernde, doppelreihige Perlenkette. Prüfend betrachtete sie sich im Spiegel. Diese ausgesuchten Kostbarkeiten konnten vor jedem fachkundigen Auge bestehen und zeigten jedermann deutlich, 194
welcher gesellschaftlichen Schicht ihre Trägerin angehörte. Achtlos stopfte sie eine Handvoll Banknoten in ein samtenes Handtäschchen und verschloß den Wandtresor. Mabel Firefield war zum Casinobesuch bereit. Als Alain Ramoulin nach dem Verlassen des Lesesaales die breite, marmorne Treppe zum Vestibül des Casinos hinabging, sah er die Welt schon wieder mit anderen Augen. Natürlich waren zweitausend Francs in der Brusttasche kein Vermögen, immerhin – wenn auch nur geliehen – genügten sie, ihm Selbstvertrauen und Optimismus zurückzugeben. Nach wenigen Schritten erreichte er das Atrium, wo kunstvolle Blumenarrangements und exotische Gewächse sich mit der in satten Farben an der Wand dargestellten OLIVENERNTE IN MONTE CARLO zu einer gelungenen Komposition ergänzten. Alain hatte dafür keinen Blick. Ohne unnötig Zeit zu verlieren, wandte er sich nach links, dem großen Vorraum der auf dieser Seite liegenden Spielsäle zu. In der Manier eines Snobs warf er an der Wechselkasse dem hier waltenden Angestellten die zweitausend Francs hin: „Changer… zwanzig à fünfzig… zehn à hundert!“ „A votre service, Monsieur“, beeilte sich dieser mit einer leichten Verbeugung dem nachzukommen, ließ mit taschenspielerischer Geschicklichkeit zwanzig blaue und zehn gelbe Jetons durch die Finger gleiten und zählte sie dem Gast hin. Alain schob die Chips in die Jackettasche seines dunklen Anzuges und schlenderte bemüht zwanglos 195
durch die breite Flügeltür in die dahinterliegende Salle Schmit, durchquerte zielstrebig den sich daran anschließenden zweiten Spielsaal, die nach dem Erbauer des Casinos benannte Salle Garnier, und betrat dann mit einem Gefühl erwartungsvoller Spannung die Salle Touzet. Unzählige Facetten brachen auch hier das kristallene Licht schwerer Lüster und warfen es auf die prunkende Ausstattung. Der Raum war erfüllt vom gedämpften Stimmengewirr der die Spieltische umdrängenden Besucher, vom monotonen Singsang der Croupiers, vom Klappern der Jetons. Das spezifische Fluidum dieser prickelnden Atmosphäre legte sich Alain erregend auf die Sinne. Für einen Moment verhielt er den Schritt, erspähte eine Möglichkeit und zwängte sich, für diesen Rahmen ein wenig zu dreist, zwischen einigen indigniert blickenden Damen und Herren hindurch an einen unweit stehenden Spieltisch. Und als daran gerade einer der begehrten Stühle frei wurde, setzte sich Alain rasch, ohne einer schon daneben wartenden, elegant gekleideten älteren Dame auch nur die geringste Chance zu lassen. Die tiefhängenden Roulettlampen warfen Helligkeit auf das Tableau und die es umrahmenden Gäste, in deren Gesichter sich je nach persönlichem Temperament und Spielverlauf die gegensätzlichsten Gefühlsregungen widerspiegelten. „Mesdames et messieurs, faites vos jeux“, ertönte die Aufforderung des Kopfcroupiers, und sofort wurden von allen Seiten – von Zurufen der jeweils gewünschten Spielvariante begleitet – farbige Chips auf die in beirrender Vielfalt vorhandenen Felder geworfen. 196
Es schien einfach unmöglich, in diesem unübersehbaren Durcheinander den Überblick zu behalten, doch souverän beherrschten die Croupiers das verwirrende Geschehen. Ordnend und dirigierend glitten ihre silberbeschlagenen Rechen über das grüne Tuch und schoben die unterschiedliche Werte repräsentierenden Jetons auf Zahlen und Transversalen, auf Dutzenden und Kolonnen, Simples chances und plein. „Rien ne va plus“, rief der Kesselcroupier in singendem Tonfall und gab dem Roulett mit würdevoller Bewegung einen leichten Stoß. Leise surrend kreiste die kleine weiße Kugel über die schwarzroten Zahlenfelder, wurde allmählich langsamer und ließ sich dann, den Gesetzen der Mechanik gehorchend, in eine der siebenunddreißig Vertiefungen fallen. „Six, pair, noir, manque“, gab eine farblose Stimme bekannt. Schnell fuhren die Rechen über das Tableau. Mit großer Fingerfertigkeit häuften die Croupiers die eingeholten Spielmarken zu Türmchen und schoben sie den Gewinnern hin. Scheelen Blicks beobachtete Alain, wie zu seiner Linken ein vor Aufregung schwitzender wohlbeleibter Mann, dem man den Provinzler ansah, für nur einen riskierten Louis Jetons im Werte von siebenhundert Francs einstrich. Noch mehr erregte seinen Neid eine schmuckbeladene, hagere Dame vis-à-vis, die eine so große Menge goldfarbener Hundert-Franc-Plaques kassierte, daß es ihm fast den Atem benahm. „Wollen Sie einen todsicheren Tip?“ flüsterte ihm in diesem Augenblick von hinten ein Systemverkäufer ins Ohr. Alain winkte geringschätzig ab. 197
So wie die meisten derjenigen Spieler um ihn her, welche eifrig Zahlen aufs Papier warfen und sie dann mit Tabellen verglichen, um daraus Folgerungen für den nächsten Coup zu ziehen, war auch er überzeugt, mit dem eigenen System am ehesten das Roulett überlisten zu können. Da Alain jedoch zu wirklich ernsthaften mathematischen Gedankengängen weder die Fähigkeit noch Ausdauer besaß, so bestand sein System – wie er es dem Freund gegenüber so großtönig bezeichnet hatte – denn auch nur darin, in ununterbrochener Aufeinanderfolge immer dieselbe Zahl zu spielen und den Einsatz ständig zu erhöhen; denn da nach einer unbestreitbaren Logik die Siebenundzwanzig – für diese hatte er sich aus welchen Gründen auch immer entschieden – wie jede der anderen 36 Zahlen auch irgendeinmal kommen mußte, konnte es nur eine Frage der Zeit sein, so schlußfolgerte er, bis sich der ihn von allen drückenden finanziellen Sorgen befreiende Erfolg einstellen würde. Allerdings ergab sich dabei ein Problem. Um den benötigten hohen Gewinn erzielen zu können, mußte man mit einem dementsprechenden Aufwand operieren. Da waren zweitausend Francs nicht viel oder, genauer gesagt, reichten bei der sich zwangsläufig daraus ergebenden Progression nicht aus für eine Serie, wie sie zu einer solchen Manipulation erforderlich gewesen wäre. Aus dieser ein wenig spät gekommenen Erkenntnis heraus entschied sich Alain, fünf Spiele gleichbleibend mit je fünfzig Francs zu bestreiten und erst von der sechsten Partie an den Einsatz jedesmal um diesen Betrag zu erhöhen. „Mesdames et messieurs, faites vos jeux“, kam es stereotyp von der Stirnseite des Tableaus. 198
Es galt. „Plein, vingt-et-sept“, rief Alain und warf blitzschnell einen blauen Jeton auf das rote Feld der Siebenundzwanzig. „Maximum finale…“, schrie der durch Fortunas Huld in Ekstase geratene Provinzler neben ihm, hielt jedoch im gleichen Moment mit einer wütenden Bewegung inne, weil ein anderer bereits seine Zahl blockiert und ihn damit gehindert hatte, die eben so mühelos erlangten Chips wieder unter die Leute zu bringen. „Rien ne va plus“, sang der Kesselcroupier. Wie von magischer Gewalt angezogen, hingen sofort wieder alle Augen an der rotierenden Scheibe, fieberten die Blicke nach dem Glückstreffer. Für Alain Ramoulin kam es hingegen darauf an, zumindest die erste Hälfte seiner Spiele ohne einen solchen zu überstehen; denn nur die hohen Einsätze am Ende seiner Serie konnten ihm den Gewinn bringen, den er brauchte, um seine Schulden zu tilgen. Da jedoch die Möglichkeit, bei dem Roulett einen Glückstreffer zu erzielen, nur sehr gering ist, überwand er diese Anfangsphase ohne Schwierigkeit. „Vingt-et-un, impair, noir, passe“, wurde verkündet. Wieder fuhren die Rechen über das Tableau, griffen die flinken Hände der Croupiers in die bunte Masse der Spielmarken. Alain erhöhte zum ersten Male. Es war sein sechstes Spiel. Jetzt wurde es Ernst. Mit größter Konzentration beobachtete er das hektische Geschehen, verbissen darauf bedacht, sich von nichts und niemandem die Kontinuität seiner Reihe unterbrechen zu lassen. „Mesdames et messieurs…“
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Noch ehe der Croupier seine Aufforderung auszusprechen vermochte, hatte Alain bereits wieder gesetzt. Immer von neuem zog die weiße Kugel ihre Bahn. Die Anspannung Alains steigert sich, nun, da es dem Ende entgegenging, von Spiel zu Spiel. Und dieses Ende war da, noch ehe er richtig begriff. „Vingt-et-quatre, pair, rouge, passe“, zählte der Mann am Kessel auf. Es war die zehnte Partie in Alains Serie, ohne daß die Siebenundzwanzig gekommen wäre… Die schwarzschimmernde Scheibe wurde mit behutsamer Hand geräuschlos abgebremst, gelangte zum Stillstand. Wieder nannte der Croupier eine Zahl, eine Zahl, die nicht Siebenundzwanzig hieß. Alain fuhr sich über die Stirn, auf der Angstschweiß perlte. Er war bei einer Progression von dreihundertundfünfzig Francs angelangt und wurde sich plötzlich mit erschreckender Deutlichkeit bewußt, daß ihm jetzt nur noch der Zufall helfen konnte, der Zufall, den er so findig durch sein System hatte ausschließen wollen. Mit feuchter Hand umklammerte er die letzten vier Hundert-Franc-Plaques. Für einen Moment trug er sich mit dem Gedanken, diesen Einsatz zu teilen, sich um den Preis der halben Ausbeute eine zusätzliche Gewinnchance zu sichern. „Mesdames et messieurs…“, schreckte ihn die Stimme des Kopfcroupiers aus seinen Überlegungen. Um ein Haar hätte er den Anschluß verpaßt. Blitzschnell warf er alle vier Plaques auf die Siebenundzwanzig. „Rien ne va plus…“ 200
Das Roulett begann sich zu drehen. Für Alain Ramoulin ging es nun um alles. Aus nervös zugekniffenen Augen verfolgte er die kreisende Elfenbeinkugel, von deren unberechenbarer Laune für ihn so entscheidend viel abhing; doch entgegen allem inbrünstigen Hoffen beendete sie auch diesen Lauf nach unerforschlichen Gesetzen: wurde langsamer, hüpfte noch schnell über einige Zahlenfächer und blieb zitternd im Grün der Null liegen. „Zero. Alles für die Bank“, sagte der Kesselcroupier monoton. Gierig fuhren die Rechen über das Tableau, um den Gewinn für die Spielbank einzuheimsen. Ein wenig beklommen saß Alain Ramoulin in einem der schweren Sessel und konnte noch immer nicht begreifen, wie schnell er in das elegante Luxusappartement des Hotel de Paris gekommen war. „Take it easy“, hatte die Amerikanerin gesagt, dabei gelächelt und genießerisch an einer langen Zigarettenspitze gesogen, die sie geziert zwischen den Fingerspitzen hielt. Alain Ramoulin befand sich nach dem Verlust der von Raymond Sel geliehenen 2000 Francs nicht in der Gemütsverfassung, Konversation zu machen. Er lehnte, einer momentanen Benommenheit nachgebend, an einer marmornen Säule des Spielsaales Salle Touzet und sah befremdet auf die vor ihm stehengebliebene Lady mit dem verlebten Gesicht. Dieses Weibsbild konnte gut reden. Nur ein einziger der in ihrem tropfenförmigen Ohrgehänge funkelnden Brillanten hätte genügt, ihn von allen Sorgen zu befreien. Was wollte sie eigentlich von ihm? Anteilnahme am Mißgeschick anderer gab es in diesem Milieu nicht. Andererseits glaubte er nicht, daß ihre Worte spöttisch gemeint waren. 201
Das sollten sie auch nicht. Mrs. Firefield aus USA hatte sie einzig und allein gebraucht, um mit diesem jungen Mann ins Gespräch zu kommen. Er war ihr sofort aufgefallen, wohl deshalb, weil sein lasterhafter Gesichtsausdruck sie an die smarten Boys erinnerte, die daheim in Chicago am Michigan-Rundell bei Tag und Nacht darauf warteten, zahlungskräftigen Damen delikate Wünsche zu erfüllen. Nachdem sie dann noch sein Fiasko am Spieltisch beobachtet hatte, war die mannstolle Amerikanerin so gut wie sicher, daß sich ihr hier die lang erwartete Chance bot. Und ohne sich die geringste gesellschaftliche Zurückhaltung aufzuerlegen, ergriff sie mit der ihr eigenen Dreistigkeit die Initiative. Alain Ramoulin beherrschte das Englische nur mäßig. Das slanggefärbte Amerikanisch aus der Gangsterstadt in Illinois verstand er besonders schlecht. Nur soviel vermochte er herauszuhören, daß er zu einem Drink eingeladen wurde, weil ein Drink in so einer Lage immer gut sei. Einer solchen Stärkung bedurfte er tatsächlich dringend… Allerdings führte ihn seine Begleiterin nicht in eine Bar, sondern steuerte nach dem Verlassen des Casinos geradewegs auf das Hotel de Paris und dort schnurstracks auf den Lift zu, der sie nach oben in das von ihr gemietete Appartement brachte. Dies alles war, sofern es nicht irgendwelcher Hochherzigkeit entsprang, natürlich wenig ladylike. Wohlbedacht schaltete sie beim Eintreten nur ein indirektes Licht ein, das dem Raum eine intime Beleuchtung gab. Mit einladender Geste wies sie auf eine die Mitte des eleganten Salons ausfüllende Polstergarnitur, stellte eine Flasche Irish Whisky auf das dazwischenstehende Rauchtischchen und ließ sich ihrem Gast 202
gegenüber ebenfalls in einem der bequemen Sessel nieder. Wohlig stöhnend streifte sie ihre Pumps ab und zog ungeniert die Füße auf den breiten Sitz empor. Dann erst schenkte sie in zwei große Gläser reichlich Whisky ein, forderte zum Trinken auf, um sofort nachzugießen. Es war offensichtlich, wie diese Frau mit allen Mitteln versuchte, ihren Besucher zu animieren. Freilich wirkte dabei die Sprachschranke störend, die eine flüssige Unterhaltung nicht zuließ. Ungeachtet dessen ging der Flascheninhalt schnell zur Neige. In abwartender Pose beobachtete die ältliche Amerikanerin lüstern ihr Opfer. Alain kaute verlegen an seiner Unterlippe. Die schwüle Situation wurde ihm von Minute zu Minute unerträglicher. Am liebsten wäre er aufgestanden und gegangen. Aber mit magnetischer Gewalt hielt es ihn hier fest. Immer wieder glitt sein Blick zu den kostbaren Ringen seiner Gastgeberin, kam nicht los von dem Ohrschmuck. Die Amerikanerin mußte seine begehrlichen Blicke falsch gedeutet haben. Sie erhob sich, gab ihm zu verstehen, daß sie sich beeilen werde, und mit einem vielversprechenden Kopfnicken, das für ihre Rückkehr alles verhieß, eilte sie auf hauchfeinen Strümpfen davon. Alain sah ihr mit gemischten Gefühlen nach. Er überlegte. Ob die reiche Ausländerin ihm Geld lieh, wenn er sie darum bat? Womöglich schenkte sie es ihm sogar, ging es ihm durch den Kopf. Er ließ den Gedanken wieder fallen. Es war zu naiv, so etwas anzunehmen. Die im Überfluß Lebenden verschenken nichts. Weshalb sollte sie auch? Für das, was sie so offensichtlich wollte, vermochte sie jeden Strichjungen mit einigen 203
Dollars abzuspeisen. Nein, in dieser Hinsicht war bestimmt nichts zu erwarten. Doch die Chance, die sich ihm hier mit der Frau bot, war so einmalig, daß er sie nicht ungenutzt lassen durfte. Aber wie? Seine Augen durchforschten den Raum, suchten das samtene Abendtäschchen, das er mit Banknoten prall gefüllt wußte. Er konnte es nicht entdecken. Alain hielt es nicht mehr in seinem Sessel. Er stand auf, ging mit lautlosen Schritten auf die Portiere zu, hinter der seine Gastgeberin verschwunden war, und betrat, nachdem er sich vergewissert hatte, daß sie nicht darin war, ein pompös eingerichtetes, hell erleuchtetes Schlafzimmer. Das Abendtäschchen war auch hier nirgends zu sehen. Aber etwas anderes: Auf der schwarzen Marmorplatte des Nachttischchens blitzte der abgelegte Schmuck. Alain fühlte, wie sein Herz pochte. Ein Griff nur… Doch jeden Augenblick konnte die Besitzerin dieser Kostbarkeiten eintreten. Sie würde Lärm schlagen. Und dann? Dieser Hotelbau war eine riesige Falle! Er lauschte mit angehaltenem Atem. Hinter einer kleineren Tür zu seiner Linken rauschte Wasser. Langsam, ganz langsam bewegte er den silberglänzenden Drehgriff und blickte vorsichtig durch den geöffneten Spalt in einen grün gekachelten, sehr geräumigen Baderaum. Aus chromblitzenden Hähnen lief Wasser in eine eingebaute Wanne, in der sich Schaum wölbte. Die Amerikanerin hatte sich entkleidet und war gerade dabei hineinzusteigen. Für einen Augenblick meinte Alain, in der Nackten eine ihm unbekannte Person vor sich zu haben. Dabei war ihm freilich zugute zu halten, daß man Mabel Firefield mit ihrer jugendlich schlank gebliebenen Figur und dem zu einem Längs204
knoten eingerollten aschblonden Haar von hinten tatsächlich für ein junges Mädchen halten konnte. Nicht zuletzt wohl auch ein Ergebnis ständiger Körperkosmetik und Massage. Durch Alains Kopf jagten bei dem Anblick die einander widersprechendsten Überlegungen. Welch eine Gelegenheit! Er brauchte sich nur heranzupirschen, die Hände um diesen Hals zu legen und zuzudrücken. Sie könnte dann keinen Lärm mehr schlagen. Oder noch besser, die mageren Schultern hineindrücken, tief hineindrücken in den weißen Schaum. Vielleicht glaubte dann alle Welt an einen Unfall. Und wenn nicht: Kein Mensch kannte ihn hier, wußte, wer er war, daß es ihn überhaupt gab. Aber sogleich kamen auch warnende Bedenken. Und wenn etwas schiefging? Hatte er es nötig, ein solches Risiko einzugehen? Schließlich saß die Amerikanerin in einem Wannenbad, ihm stand also ausreichend Zeit zur Verfügung. Bis sie wieder hier draußen erschien, könnte er längst über alle Berge sein. Mit äußerster Behutsamkeit schloß er die Tür, flog mit einem Schritt an den Nachttisch, raffte hastig die darauf liegenden Schmuckstücke in die Tasche und schlich auf leisen Sohlen hinaus. Er benutzte den Lift. Jede Sekunde war kostbar. Das verkrampfte Gesicht und die eckigen Bewegungen verrieten, welche Anstrengung es ihn kostete, im Blickfeld der Rezeption betont gemächlich durch die Hotelhalle zu schlendern. Kalten Angstschweiß auf dem Rücken, erwartete er, jeden Augenblick angerufen oder angehalten zu werden. Die letzte Barriere: Ein livrierter Portier riß die gläserne Flügeltür auf. Alain war mit seinen überreizten Nerven am Ende. Dazu kam die Wirkung des reichlich genossenen Alko205
hols. Er sah vor sich auf dem Parkplatz das leuchtende Rot des Alfa Romeo und rannte los. Raymond Sels Finger trommelten ungeduldig auf dem Lenkrad. „Menschenskind“, schimpfte er, „wo bleibst du denn, ich habe dich in allen Sälen gesucht…“ „Los, ab! Schnell!“ keuchte Alain mit vor Erregung heiserer Stimme und schwang sich in den Zweisitzer. Raymond Sel reagierte trotz seiner Verblüffung sofort. Mit aufheulendem Motor schoß der Sportwagen davon, hinein in die Rue de la Scala, erreichte nur Augenblicke später den Boulevard de l’Ouest und entschwand mit einem in der Ferne sich immer mehr verlierenden hellen singenden Ton in Richtung Nizza. Inspektor Gaudin von der Kriminalpolizei in Nizza hätte heute einen freien Abend gehabt, wenn dieses Fernschreiben aus Périgueux nicht gekommen wäre. Mit verdrießlichem Gesicht betrat er die zu ebener Erde gelegene Rezeption der Pension Régine, eines mittelmäßigen Hotels garni in der Rue Bardon, um seinen Auftrag auszuführen. Der Geschäftsführer an der Annahme bestätigte ihm, daß ein Alain Ramoulin seit einigen Tagen Gast sei, aber momentan leider nicht im Hause weile. Erfahrungsgemäß sei auch kaum damit zu rechnen, daß die beiden Herren, der junge Mann sei in Begleitung eines Freundes, vor Mitternacht das gemeinsam bewohnte Zimmer im ersten Stock aufsuchen würden. Man mußte also warten. Ächzend ließ sich der wohlbeleibte Inspektor in einen antiquierten Korbsessel fallen und machte es sich bequem. Die Hände über dem gewölbten Bauch gefaltet, beobachtete er aus lis206
tigen Äuglein unter der tief in die Stirn gezogenen Hutkrempe hervor das Kommen und Gehen in dem nicht sehr großen Raum. Ein Glück, daß die Kollegen in Périgueux die Adresse dieses Ladens angegeben hatten. Ersparte es doch mühsames Fahnden, was aber nichts daran änderte, daß die Verhaftung für ihn eine unangenehme Aufgabe blieb. Der gleichsam träge wie vorsichtige Inspektor Gaudin war stets bedacht, einen großen Bogen um Gewaltverbrecher zu machen. Und hier handelte es sich sogar um einen Mörder! Mit Leuten, die alles zu gewinnen und alles zu verlieren hatten, hatte er schon einige schlechte Erfahrungen gemacht. Verständlich, daß er vorsichtshalber lieber mit einem stärkeren Aufgebot angerückt wäre als mit nur drei Beamten in Zivil, die gut postiert der kommenden Dinge harrten. Der Geschäftsführer wäre bei der Sache gern neutral geblieben, aber ein kurzer Hinweis auf die Wichtigkeit der polizeilichen Lizenz für das Hotelgewerbe hatte ihn schnell vom Gegenteil überzeugt. Von da an belauerte er mit unsteten Blicken die gläserne Eingangstür und schien es kaum erwarten zu können, seine staatsbürgerliche Pflicht zu erfüllen. Der Inspektor fuhr hoch. Verdammt, da wäre er doch beinahe eingenickt. Die elektrische Uhr an der gegenüberliegenden Wand zeigte ein Viertel vor zwei. Er faßte gerade den Entschluß, seine Müdigkeit mit einem starken Kaffee zu bekämpfen, als die Erwarteten eintraten. Raymond Sel ließ sich an der Annahme den Zimmerschlüssel geben und beobachtete verwundert das merkwürdige Gebaren des Geschäftsführers, der, das linke Auge zugekniffen, unentwegt mit dem Kopf 207
wie ein Ziegenbock in die Richtung des etwas abseits stehenden Alain stieß. Der aber bemerkte es nicht. Viel zu sehr war er mit sich selbst beschäftigt, als daß er seiner Umgebung irgendwelche Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Dazu kam die Nachwirkung der Nervenanspannung der letzten Stunden, und er fühlte sich nach all der Erregung und den durchstandenen Ängsten äußerst erschöpft. Doch zugleich durchströmte ihn ein unbeschreibliches Hochgefühl: Er war reich! Der Schmuck befreite ihn von allen drückenden finanziellen Sorgen. Nun begann ein neues Leben – „Alain Ramoulin“, sagte da eine harte Stimme, „Sie sind festgenommen.“ Ein massiger Mann mit feistem Gesicht war vor ihn hingetreten und zeigte einen Polizeiausweis. Alain verschlug es die Sprache. Er stand da wie vom Donner gerührt. Wurde er genarrt? Das war doch nicht möglich! Es gab doch keine Wunder! Vor kaum zwanzig Minuten hatte er das Zimmer der Amerikanerin verlassen – kein Mensch kannte ihn in Monte Carlo… Wie konnte denn die Polizei ihn hier in Nizza erwarten? Verstört schaute er um sich, griff mechanisch in die Tasche und hielt dem verdutzten Inspektor Gaudin den gestohlenen Schmuck hin. Die Beamten mußten bei dieser Bewegung bewaffneten Widerstand befürchtet haben. Sofort zogen zwei ihre Pistolen, und der dritte schlug rasch eine stählerne Acht um Alains Handgelenke. Betroffen sah Raymond Sel zu, wie man den Freund hinausführte. An zwei uniformierte Polizisten gekettet, betrat Alain Ramoulin das Kriminalkommissariat von Périgueux und wurde sofort zu Kommissar Blanchard gebracht, der 208
soeben von seiner morgendlichen Einsatzbesprechung kam. Als der herbeigerufene Inspektor Legrand sich wenig später im Dienstzimmer seines Chefs einfand, sah er mit einem Blick: Der Mann, der dort zusammengesunken auf einem Stuhl hockte, war fertig. Blanchard zeigte auf das Häufchen Unglück und sagte nur: „Alain Ramoulin.“ Legrand las den mitgekommenen Begleitbericht. Danach war der Gesuchte kurz vor zwei Uhr in Nizza verhaftet worden. Und jetzt saß er bereits vor ihm! Erstaunlich. Nicht nur was die autotouristische Leistung des Fahrers der unten im Hof haltenden Polizeilimousine betraf. Der Inspektor mußte lächeln. Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Verantwortlichen dort ihren Kollegen in der Provinz ein wenig weltstädtische Perfektion demonstrieren wollten. Und noch etwas stand in dem Begleitschreiben. Unmittelbar vor seiner Festnahme hatte der Übeltäter einer reichen Amerikanerin ihren wertvollen Schmuck geraubt und mußte wegen dieses Deliktes zum gegebenen Zeitpunkt den dafür zuständigen Behörden wieder überstellt werden. „So, mein Freund, nun wollen wir uns mal ein bißchen unterhalten“, sagte Kommissar Blanchard, sich in Positur setzend. Der Angeredete blickte ängstlich auf. Ein leichtes Zittern ging durch seinen Körper, und für einen Moment schien es, als wolle er vom Stuhl fallen. „Soll ich ihm einen Kaffee holen?“ fragte Legrand. „Nichts gibt’s!“ sagte Blanchard. „Erst wird gesungen! Er braucht nur schnell ein Geständnis abzulegen und zu unterschreiben – und alles ist in Ordnung. Dann bekommt er nicht nur einen Kaffee, sondern 209
meinetwegen auch eine schöne Zigarette. Also fangen wir an: Weshalb hast du das getan?“ Alain Ramoulin schluckte. „Los, antworte!“ herrschte ihn der Kommissar an. „Ich brauchte Geld“, kam es schwach. „Wofür?“ „…“ „Um den gefälschten Wechsel einzulösen?“ „Ja.“ Der Kommissar nickte zufrieden. „Und wieviel Geld hast du dir mit dieser Untat verschafft?“ Alain schüttelte matt den Kopf. „Kein Geld – nur Schmuck.“ „So – nur Schmuck“, echote der Kommissar und wollte dann wissen: „In welchem Wert?“ Der Gefragte zuckte die Schultern. „Das weiß ich nicht.“ „Ich meine, was hat er gebracht?“ Alain sah den Kommissar verständnislos an. „Na, wo ist denn das Zeug hingekommen?“ wurde dieser ungeduldig. „Die Polizei hat ihn“, antwortete Alain. „Die Polizei…?“ Legrand, der, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, achtsam dem Verhör folgte, hatte sofort bemerkt, daß etwas schieflief. „Wenn ich richtig verstehe“, mischte er sich ein, „sprechen Sie von den Sachen, die Sie in der vergangenen Nacht gestohlen haben – stimmt’s?“ Alain wandte sich dem Beamten zu, der ihn so höflich mit Sie anredete, und nickte bereitwillig. Das war für Kommissar Blanchard zuviel. „Du jämmerlicher Ganove“, fuhr er hoch, kam hinter seinem Schreibtisch hervor, packte den Überraschten, der nicht wußte, wie ihm geschah, an der Brust und 210
zog ihn empor. „Willst du uns hochnehmen, oder bist du so dämlich“, zischte er. „Was scheren uns deine Diebereien in diesem Puffhotel – doch nur soweit, wie sie zeigen, was für ein Dreckskerl du bist. Uns interessiert hier nur eines: Weshalb hast du deinen Vater erschossen?“ „Meinen Vater… erschossen…?“ Mit offenem Mund starrte Alain ihn entgeistert an, versuchte er das Gehörte zu erfassen. Der Kommissar stieß ihn auf seinen Stuhl zurück. „Nun markiere nicht den Sprachlosen, sonst reden wir anders!“ „Was… was ist mit meinem Vater…?“ stotterte Alain. „Das kann alles nur eine Verwechslung sein!“ „Das ist keine Verwechslung“, sagte der Kommissar kalt und nahm wieder hinter seinem Schreibtisch Platz. „Wir haben unwiderlegbare Beweise und die Aussage deines Bruders Albert, der das bestätigt.“ „Das …das ist doch nicht möglich…“, stammelte Alain. Der Kommissar sah ihn eisig an. „Wir sehen keinen Grund, es zu bezweifeln. Weshalb sollte er seinen nächsten Verwandten einer solchen Tat bezichtigen, wenn es nicht stimmt?“ kam es lauernd. Alain fuhr sich mit der Hand über die Stirn, seine Lippen bewegten sich. Er fühlte beängstigend, daß etwas auf ihn zukam, was er in seiner Tragweite noch nicht übersah. Inspektor Legrand, der ihn beobachtete, war sich nicht ganz schlüssig. Er mußte zugeben, daß die Vorstellungen Blanchards, was die Beweggründe dieses Burschen betrafen, der Logik nicht entbehrten. Andererseits: Der Schreck, die Verwirrung, die dieser äußerte, waren nicht gespielt. Das zu beurteilen, traute sich Legrand nach so vielen Jahren Polizeidienst zu. 211
Das waren nicht der Schreck oder die Verwirrung, die Übeltäter oftmals zeigten, wenn man sie ihrer Taten überführte. Dieser Mensch wußte offenbar wirklich nicht, worum es ging. „Was wurde Ihnen bei Ihrer Festnahme gesagt, weshalb man Sie verhaftet?“ fragte der Inspektor. Alain schüttelte den Kopf. „Nichts.“ „Aber jetzt weißt du’s“, schrie ihn Blanchard an. „Ich habe dir doch gesagt, wir haben die Beweise, dazu deinen Bruder als Zeugen. Die Sache ist für uns klar. Wir wollen es nur aus deinem Mund bestätigt haben.“ „Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden…“, wehrte sich Alain mit weinerlicher Stimme. „Das wirst du gleich merken, paß mal auf“, zischte der Kommissar. Allerdings war dieser Optimismus verfrüht, wie sich erweisen sollte. Nach zwei Stunden mußte er das Verhör ergebnislos abbrechen. Alain Ramoulin wurde abgeführt, ohne ein Geständnis abgelegt zu haben. „Schweinehund“, fluchte Blanchard hinter ihm her und wendete sich dann Legrand zu: „Was halten sie von dem Kerl?“ „Ja – ich weiß nicht…“ Er vermied es, sich festzulegen. „Keine Sorge, der wird schon noch auspacken“, meinte der Kommissariatschef wütend. „Nachmittag nehmen wir uns noch mal Albert Ramoulin vor. Wir müssen versuchen, sie gegeneinander auszuspielen. Daß mir keine Panne passiert, die beiden dürfen sich nicht zu Gesicht bekommen. Sorgen Sie dafür!“ Er erhob sich. „Ich muß jetzt leider zur Präfektur. Gegen zwei Uhr bin ich zurück. In der Zwischenzeit können Sie sich mit den Vermögensverhältnissen der Ramoulins beschäftigen.“ 212
„Das sind knapp vier Stunden“, warf Legrand ein. „Wo soll ich denn da anfangen?“ „Am besten, Sie sehen sich noch mal in dem Hause um. Vielleicht finden sich Kontoauszüge oder andere Belege, die Hinweise auf irgendwelche Bankverbindungen oder Kapitalanlagen geben. Versuchen Sie festzustellen, was es sonst an Wertsachen gibt oder gab. Und noch etwas Wichtiges: Achten Sie auf ein möglicherweise vorhandenes Testament oder Papiere, aus denen hervorgeht, daß eins existiert.“ „Mach’ ich“, beruhigte Legrand den Davoneilenden und dachte: Aber zuerst trinke ich im Bistro gegenüber einen Aperitif. „Daß Sie mir nicht ‚versehentlich’ etwas einstecken“, ermahnte Legrand den Assistenten Duval. „Aber Chef…“, protestierte der empört und stellte eine daumengroße Buddhafigur aus Elfenbein schnell wieder auf ihren Platz. Der Inspektor ließ seinen Assistenten in der Bibliothek zurück und unterzog auch die anderen Räume einer Besichtigung, die auf ihn ohne Ausnahme einen verblichenen Eindruck machten wie die verwitterten Goldbuchstaben des Namens Ramoulin draußen an der Eingangstür. Alles war alt und abgewohnt und ließ auf Geldmangel oder Gleichgültigkeit seiner Bewohner schließen. Das konnte nicht immer so gewesen sein. Das stilvolle Mobiliar und vieles andere zeigten, daß hier einmal gepflegte Wohlhabenheit geherrscht haben mußte. Aufmerksam betrachtete Legrand einige Bilder und andere Dinge, die man für Kunstgegenstände halten mochte. Der Kommissar hatte gut reden: Woher sollte er, Legrand, wissen, was das Zeug wert war! Im Arbeitszimmer des verstorbenen Hausherrn ließ er sich 213
an dem wuchtigen Schreibtisch nieder und begann ihn zu durchstöbern. Legrand schüttelte, in seine Gedanken versunken, den Kopf. Ein merkwürdiger Fall! Es fiel schwer, sich eine Meinung zu bilden. Dazu war die Geschichte zu undurchsichtig. War es Mord – war es Selbstmord? Das einwandfrei zu klären würde schwerfallen, trotz aller modernen Hilfsmittel. Die Überlegungen des Kommissars waren nicht von der Hand zu weisen. Dennoch – Legrand vermochte sie nicht zu teilen. Natürlich sprachen die Verdachtsmomente gegen die beiden Brüder. Vor allem der alle Begriffe übersteigende Leichentausch. Ähnliches hatte der Inspektor in seiner Dienstzeit nicht erlebt. Aber gerade die Unverschämtheit der Tat war es, die in ihm Skepsis weckte. Der weichliche Schwächling Alain schien ihm nicht der Mann für solche Dinge, und Albert Ramoulin hielt er für zu intelligent, etwas mit einem so unerhört komplizierten Aufwand zu betreiben, wofür ein vorgetäuschter Unfall genügt hätte. Deshalb glaubte Legrand nicht, daß er seinen Vater umgebracht hatte. Und somit auch nicht an Blanchards Theorie, daß Albert Ramoulin mit alledem seinen Bruder decken wollte. Weshalb dann aber das alles? Weshalb? Denn Albert Ramoulins fadenscheinige Erklärung, daß er das alles nur getan habe, um das Ansehen seines Vaters zu wahren, nahm er ihm selbstverständlich nicht ab. Aus den gesichteten Papieren entnahm Legrand lediglich die Kontoauszüge von einer hiesigen Privatbank, auf denen regelmäßig der Eingang einer mageren Pension und die Ausgänge der Abgaben für das Grundstück erschienen. Nach Vermögen sah das wahrlich nicht aus. 214
Nachdem der Inspektor noch etliche Kästen und Schrankfächer durchwühlt hatte, begab er sich in das Zimmer Albert Ramoulins. Ein altmodischer Sekretär war das einzige, was Aufmerksamkeit verdiente. Er klappte die Schreibtischplatte auf und nahm ein gleich obenauf liegendes, ins Auge fallendes Schriftstück zur Hand. Legrand mußte zweimal hinsehen: Es war die Police einer Lebensversicherung, ausgestellt auf Oberst Charles Ramoulin über 30 000 Francs. Mit erstaunt hochgezogenen Augenbrauen betrachtete der Kommissar die ihm von Inspektor Legrand mit vielsagender Miene gereichte Versicherungspolice. „Na also, da haben wir’s ja“, sagte er in einem Ton, als habe er nichts anderes erwartet. Er las das kriminaltechnische Gutachten, und dann erkundigte er sich: „Ist der Kerl schon da?“, und als der Inspektor nickte: „Lassen Sie ihn reinführen!“ Diesmal wurde Albert Ramoulin kein Sessel angeboten, er mußte mit dem harten Stuhl vorliebnehmen, auf dem am Morgen schon sein Bruder Alain gesessen hatte. Der Kommissar musterte ihn eine geraume Weile und begann dann sehr ruhig: „Wollen Sie das Ihnen unwürdige Theater nicht aufgeben, Monsieur Ramoulin? Wir sollten in unserer aller Interesse zu einem Ende kommen. Legen Sie ein Geständnis ab, sagen Sie uns, wie’s gewesen ist!“ „Das habe ich doch gestern getan. Was soll ich Ihnen denn noch sagen!“ Blanchard machte eine ungehaltene Handbewegung. „Nun fangen Sie nicht schon wieder an!“ 215
Albert schüttelte ratlos den Kopf. „Ich weiß wirklich nicht, was Sie noch von mir wollen.“ „Nun passen Sie auf!“ änderte der Kommissariatschef seine Taktik. „Die kriminaltechnischen Untersuchungen sind abgeschlossen, die Ergebnisse habe ich hier.“ Er zeigte auf das vor ihm auf dem Schreibtisch liegende Gutachten. „Folgendes ist erwiesen: Die tödliche Kugel stammt aus dem von uns sichergestellten Revolver. Auf der Waffe wurden zwei verschiedene Fingerabdrücke festgestellt: die Ihres Vaters – und Ihre!“ „Das habe ich doch schonerklärt“, erwiderte Albert. „Ich habe die Waffe angefaßt, als ich sie in die Schublade legte.“ „War das gleich, nachdem Sie geschossen hatten – oder später?“ „Wie oft soll ich das sagen: Ich habe nicht geschossen“, erregte sich Albert. „Ihr Bruder behauptet es jedenfalls.“ „Was… was behauptet mein Bruder?“ „Daß Sie Ihren Vater umgebracht haben.“ „Soll das ein Witz sein?“ Blanchard zuckte die Schultern. „Weshalb sollte er Sie grundlos mit einer so ungeheuerlichen Anschuldigung belasten wollen?“ „Das ist unmöglich. So etwas kann mein Bruder nicht gesagt haben.“ „Wir haben seine Aussage im Protokoll – und auf Band“, sagte der Kommissar. „Das ist unmöglich“, wiederholte Albert. „Stellen Sie ihn mir gegenüber!“ „Alles zu seiner Zeit“, sagte Blanchard. „Zuvor jedoch muß geklärt sein, ob oder inwieweit er mitschuldig ist Und solange das nicht feststeht, halte ich mich 216
an Sie, denn da liegt der Fall klar. Die Autopsie hat einwandfrei ergeben, daß Ihr Vater erschossen wurde. Wir haben die Tatwaffe mit Ihren Fingerabdrücken – und wir kennen Ihr Motiv!“ „Mein Motiv-?“ staunte Albert. „Weshalb sollte ich denn meinen Vater…“ „Deshalb“, sagte der Kommissar und hielt ihm die Police hin. Die erwartete Schreckwirkung blieb aus, obwohl Albert Ramoulin eine gewisse Betroffenheit nicht verbergen konnte. Das Gesicht Blanchards zeigte dennoch deutlich Genugtuung. „Na, was sagen Sie nun? Ist das ein Motiv?“ „Nein“, erwiderte Albert. „Jedenfalls nicht für das, was Sie mir unterstellen wollen.“ „Von ‚unterstellen’ kann bei diesen Beweisen wohl keine Rede mehr sein“, entgegnete der Kommissar gelassen. Es war auffällig, mit welcher Ruhe er dieses Verhör führte, ein Zeichen, wie sicher er seiner Sache war. Albert spürte es, er erkannte mehr und mehr das Bedrohliche der Situation, wie sich zunehmend der Mordverdacht gegen ihn erhärtete. Unter diesem Gesichtspunkt fiel es nicht schwer, die Wahrheit zu gestehen, und er sagte: „Ich wollte nach dem Freitod meines Vaters die Versicherungssumme retten, die bei Selbstmord nicht ausgezahlt wird, deshalb habe ich mir den falschen Totenschein beschafft.“ Kommissar Blanchard lächelte mokant: „Siehe an. Zuerst ein Irrtum, dann wollten Sie das Ansehen Ihres Vaters wahren und nun diese Version. Bezeichnend, daß Sie immer nur das zugeben, was wir Ihnen be217
weisen. Ich sagte Ihnen schon einmal: Für wie einfältig halten Sie uns eigentlich!“ „Wer hat die laufenden Beiträge für diese Versicherung bezahlt?“ mischte sich nun der am Fenster stehende Inspektor Legrand in das Verhör ein. „Ich“, kam es zögernd. „Ach“, stellte sich Legrand erstaunt, der das bereits von der zuständigen Agentur erfahren hatte. „Finden Sie das nicht merkwürdig?“ Albert zuckte unsicher die Schultern und erklärte: „Nach dem Tode unserer Mutter hatte die Lebensversicherung für den Vater ihren Sinn verloren. Weil jedoch eine Auszahlung zu Lebzeiten nicht vorgesehen war, kam eine Kündigung nicht in Frage, deshalb wollte er sie ruhen lassen. Ich habe damals diese Angelegenheit für ihn erledigt, und dabei kam mir der Gedanke, die Beiträge weiterzuzahlen.“ „Wußte Ihr Vater das?“ fragte der Inspektor. „Nein.“ „Sie faßten also schon zu diesem Zeitpunkt den Vorsatz, sich durch die Beseitigung Ihres Vaters diese Versicherungssumme zu verschaffen“, sagte der Kommissar sehr bestimmt. „Das ist nicht wahr“, protestierte Albert. „Ich habe mir niemals ein baldiges Ableben meines Vaters gewünscht, niemals, sondern in alldem nur eine Möglichkeit gesehen, zu Geld zu gelangen, wenn das ohnehin Unabwendbare einmal eintreten sollte.“ Blanchard winkte verächtlich ab. „Sie glauben doch nicht im Ernst, daß Ihnen das jemand abnimmt. Bei dem Tatbestand! Cui bono? mein Lieber. Und das ist hier wohl eindeutig erwiesen. Dazu Ihr Lügen – ja, Sie sind ja nicht einmal jetzt bereit, die Karten offen auf den Tisch zu legen. Nun, das ist Ihre Sache“, meinte er 218
betont gleichmütig. „Für uns ist der Fall abgeschlossen und wird an die Staatsanwaltschaft übergeben. Ob mit oder ohne Geständnis ist unerheblich. Das Beweismaterial reicht mehr als aus für einen in jeder Hinsicht abgesicherten Mordprozeß.“ „Mordprozeß…“ Albert Ramoulin verfärbte sich. „Ich wollte einen Versicherungsbetrug begehen… einen Versicherungsbetrug…“, keuchte er, „…und das habe ich zugegeben. Vielleicht habe ich dabei auch gegen irgendwelche anderen Gesetze verstoßen – aber einen Mord…“ „Darüber wird das Gericht befinden“, sagte der Kommissar kühl. „Übrigens“, erkundigte er sich, „wollten Sie nicht mit Ihrem Anwalt Verbindung aufnehmen?“ „Der ist zur Zeit in Urlaub und kommt erst in den nächsten Tagen zurück“, antwortete Albert, sich zur Ruhe zwingend. „Na ja, sollten Sie bis dahin irgendwelche Aussagen machen wollen, ich bin zu jeder Zeit für Sie zu sprechen“, sagte der Kommissariatschef abschließend und drückte auf einen Summer. Albert erkannte, daß jedes Wort vergebens war. Blaß, die Zähne zusammengebissen, ließ er sich von dem gerufenen Polizisten hinausführen. l „Brauchen Sie mich noch?“ fragte Legrand. Blanchard überlegte einen Moment und meinte: „Sie können anfangen, den Abschlußbericht vorzubereiten. Ich bin mir nur noch nicht klar, welche Rolle dieser Alain dabei gespielt hat, ob er mit unter Anklage gestellt werden muß. Aber das soll der Staatsanwalt entscheiden“, fügte er mit einer gleichgültigen Handbewegung hinzu. In Wahrheit war ihm dieser Fall nicht so gleichgültig. Im Gegenteil. Nur sollte sein Untergebener nicht ge219
wahr werden, welches Gefühl der Genugtuung, ja des Triumphes ihn erfüllte. Deshalb auch seine auffällige Zurückhaltung, der zur Schau gestellte Gleichmut bei dem soeben geführten Verhör. Lange genug hatte er auf eine solche Gelegenheit gewartet; denn daß dieses Kapitalverbrechen breiteste Aufmerksamkeit erregen würde, stand außer Frage. Und er, Blanchard, wollte schon Sorge tragen, seine Person dabei in der Öffentlichkeit und höheren Orts gebührend in den Vordergrund zu schieben. Ihm wurde freilich sofort bewußt, wie sehr der spöttische, überhebliche Legrand ihn dabei stören und hindern würde. Der Leisetreter mußte endlich fort. Es wurde höchste Zeit. Am besten, er ließ ihn versetzen – und wenn er ihn fortloben sollte. Zu diesem Entschluß gelangt, begann er seinen Vorsatz auch schon einzuleiten. „Sie haben eine ausgezeichnete Arbeit geleistet“, sagte er anerkennend, „wirklich ausgezeichnet. Ich werde es bei der Präfektur lobend erwähnen.“ Die Verwunderung auf dem Gesicht seines Inspektors entging ihm, weil er seine Gedanken bereits weiterspann: Ich muß mit Staatsanwalt Mansard alles gut durchsprechen, es soll ablaufen wie im Film: Der Auftritt des Kommissariatschefs Blanchard wird der Höhepunkt im Mordprozeß Ramoulin werden! Als Abbé Périchelle am Friedhof von Saint-Ponoir anlangte und seinen Schritt zu einer kurzen Pause verhielt, um das von der Anstrengung des ansteigenden Weges heftig pochende Herz wieder zur Ruhe und sich ein wenig zu Atem kommen zu lassen, schlug es vom Kirchturm in Excideuil elf Uhr. Oh, diese Hitze! Das hochsommerliche Wetter hielt unvermindert an. Wie unüberlegt von ihm, die Beisetzung des da220
hingegangenen Lolliots auf die Mittagsstunde anzusetzen. Auf den ersten Blick glich der kleine Friedhof einem Festplatz. Ganz Saint-Ponoir war auf den Beinen. Nur Bürgermeister Marie fehlte; er lag krank an Leib und Seele daheim im verwaisten Ehebett. Erst als der Priester mit ernstem Gesicht an das ausgehobene Grab trat und sein Brevier aufschlug, verstummte allmählich das laute Geplapper und Stimmengewirr. Nach einem kurzen Gebet hielt der Seelenhirte eine Lobrede auf den heimgegangenen Lolliot, die freilich nicht im geringsten mit seiner persönlichen Meinung über den gottlosen Gesellen übereinstimmte. Als sich der dunkle Eichensarg, eine Spende aus der Gemeindekasse, in die Grube senkte, ergriff der Abbé Périchelle eine Handvoll Erde und warf sie nach. Weithin schallte dabei seine Stimme: Sit tibi terra levis!
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