MYTHOR Der Koloß von Tillorn von Peter Terrid Band 13
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MYTHOR Der Koloß von Tillorn von Peter Terrid Band 13
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Vorwort Liebe Leserinnen und Leser, in den letzten Büchern der MYTHOR-Reihe konnten Sie verfolgen, wie dem Sohn des Kometen ein immer stärkerer Gegenspieler erwächst: Luxon, der listenreiche Gauner, der sich in den Besitz einiger Ausrüstungsgegenstände setzen konnte, die eigentlich Mythor gehören. Der Gipfel ist jedoch, daß Luxon sich selbst als den Sohn des Kometen betrachtet, daß er also den Titel »stehlen« will, um den sich Mythor seit langem verdient gemacht hat. Sollen die zahlreichen Kämpfe, die der junge Abenteurer seit dem Untergang der Stadt Churkuuhl überlebt hat, etwa alle umsonst gewesen sein? Lassen Sie sich von den weiteren Ereignissen im Süden der bekannten Welt überraschen. Die beiden Gegenspieler treffen an der Strudelsee ebenso aufeinander wie in der geheimnisvollen Stadt Sarphand – Raum genug für spannende Abenteuer. Geschrieben wurde »Der Koloß von Tillorn« von Peter Terrid, während Hans Kneifel die Romane »Der Meisterdieb« und »Die drei Dämonischen« beisteuerte. Viel Vergnügen wünsche ich schon jetzt bei der Lektüre! Klaus N. Frick
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Der Schatten des gleißenden Ringes aus kosmischen Trümmern, der die Welt in zwei Hälften teilt, beherbergt die Mächte der Finsternis. Aus dieser Dunkelzone greifen die gierigen Finger des Bösen nach der Welt der Menschen. Unter dem Befehl von Dämonenpriestern machen sich ihre Handlanger, die Caer, daran, den Norden der Welt zu erobern. Zu lange schon ist es her, daß der Bote des Lichts mit seinem strahlenden Kometentier den Menschen den Frieden brachte. Seither hofft man auf den »Sohn des Kometen«, der dem Bösen standhalten kann. Die Nomadenstadt Churkuuhl, die auf den Rücken gewaltiger Tiere über die nördliche Welt getragen wird, geht an der Küste des Meeres der Spinnen unter. Aus ihren Trümmern rettet sich ein junger Mann namens Mythor, dessen Herkunft unbekannt ist. Nyala, die Tochter des Herzogs von Elvinon, bewahrt Mythors Leben, denn sie glaubt daran, daß er jener Sohn des Kometen sei, dessen Kommen vorausgesagt wurde. In einem unterirdischen Tempel erfährt er, daß er sich diesen Titel erst erkämpfen muß. Nachdem Mythor vor einer Invasion der Caer fliehen konnte, erfüllt er die erste der Aufgaben, die ihm gestellt wurden: In Xanadas Lichtburg kann er das Gläserne Schwert Alton für sich gewinnen. Später gelangt Mythor zu Althars Wolkenhort, wo er nach harten Kämpfen den Helm der Gerechten erringen kann. So gerüstet macht sich der Sohn des Kometen auf die Suche nach weiteren Verbündeten, die er im Bereich der Zaubertiere zu finden hofft: ein Einhorn, einen Schneefalken und den Bitterwolf, der angeblich bei seiner Geburt geheult haben soll. Gemeinsam mit den Tieren erreicht Mythor das Land Ugalien, das ebenfalls von den Caer bedroht wird. Mythor lernt schnell, die aufgeputzten, selbstgefälligen Adligen mit ihren Ränkespielen zu verachten, und er erlebt sogar den 4
Beginn des gemeinsamen Kriegszugs gegen die Caer. Rasch wird ihm jedoch klar, daß der Krieg durch Schwarze Magie entschieden wird. Seine Warnungen verhallen ungehört, und am Tage der Schlacht geschieht genau das, was Mythor befürchtet hatte: Die Kämpfer des Lichts erleiden eine furchtbare Niederlage. Die Länder des Nordens können keinen Widerstand mehr leisten, und Mythor muß nach Süden fliehen. Überall trifft Mythor auf die Sendboten des Bösen. Vier Todesreiter setzen sich auf seine Spur, um ihn endgültig aus dem Weg zu schaffen. Und zu allem Überfluß trifft Mythor einen alten Bekannten wieder – Luxon, der ihn schon einmal betrogen hat und der nun behauptet, selbst der Sohn des Kometen zu sein! Nach vielen Abenteuern kommen Mythor erste Zweifel, ob wirklich er und nicht Luxon der echte Kometensohn ist… Vielleicht kann das Orakel von Theran in dieser Frage entscheiden? Aber als Mythor zu dem legendären Orakel vordringt und seine Fragen stellt, erhält er keine brauchbaren Antworten. Also sucht er jenen Ort auf, an dem man ihn einst als fünfjähriges Kind aufgefunden und mitgenommen hat. Aus den Trümmern eines gewaltigen Meteorsteins soll er gestiegen sein. Doch dieser Stein stellt sich als tödliche Gefahr für den Sohn des Kometen heraus: Nach einer Berührung des Steins fällt Mythor in eine Todesstarre. Zwar gelingt es den Weisen Großen, ihn zu erwecken, doch das schattengleiche dämonische Wesen, von dem er vorübergehend besessen war, fordert einen hohen Tribut von seinen Helfern. Mit dieser Bedrohung im Nacken zieht der Kometensohn weiter zum Koloß von Tillorn, dem nächsten Fixpunkt des Lichtboten, an dem er sich mit seinen Freunden Nottr und Sadagar verabredet hat. Verfolgt von dem furchtbaren 5
Schatten, von Drudins Sendboten und von feindlichen Vogelreitern, schließt sich Mythor einer Räuberbande an, um mit ihrer Hilfe den Koloß zu erreichen. In einem Höhlenlabyrinth unter den Splittern des Lichts, einer kleinen Inselgruppe in der Strudelsee, trifft er schließlich alte und neue Freunde…
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Peter Terrid
Der Koloß von Tillorn »Und es ist wirklich wahr, daß du eine Möglichkeit siehst, meine gewaltigen Schätze zurückzuerobern, mein Schiff, meine Ladung, meine Leute? Nur wir drei, sonst niemand? Gegen all die anderen? Glaubst du wirklich, daß das geht?« »Ich glaube es«, beantwortete Mythor die Frage des Händlers aus Morautan. Garaschi war aufgeregt, immerhin ging es um sein Hab und Gut – und außerdem um sein Leben. Die Galeere des Händlers lag gestrandet am Riff, das in weitem Bogen die Lichtsplitterinseln umgab und vor dem Wogenprall der Strudelsee wenigstens zum Teil schirmte. So hatte es jedenfalls der zungenfertige Garaschi behauptet. Zusammen mit Mythor und dem leonitischen König Lerreigen war er jetzt unterwegs zum Riff, um wenigstens den Versuch zu unternehmen, sich seiner Habe wieder zu bemächtigen. Die drei Männer durchschritten eine Welt, wie man sie sich geheimnisvoller, rätselhafter und unheilschwangerer kaum vorstellen konnte. Fahles grünes Dämmerlicht herrschte ringsum, in dem gespenstische Pflanzen wucherten. Zu hören war nur das stete Tropfen von Wasser, aus allen Richtungen zugleich und in gleicher Stärke, als Hintergrundgeräusch das stete Tosen der entfesselten Wassermassen, die in diesem Bereich der Welt keinem Gesetz, keiner Ordnung zu gehorchen schienen. Tief lagen die Höhlen unter Flutniveau, und doch liefen sie nicht voll – trockenen Fußes konnte Mythor die unterirdischen Gärten durchwandern. Er mußte 7
allerdings beständig darauf gefaßt sein, Feinden zu begegnen. Feindlich war vieles in dieser Welt. Die Pflanzen, deren Rätsel sich in so kurzer Zeit niemals würden lösen lassen; die Leute des sogenannten Schrecklichen, die sich in diese Höhlenwelt zurückgezogen hatten; die Cirymer, eine wilde Horde von Barbaren, die den Schrecklichen und Mythor gleichermaßen bekämpften. Der Gefahren größte aber war die völlige Unberechenbarkeit der Natur. Nichts stimmte mehr. Wasser blieb stehen, wo es hätte fließen müssen. Wände aus weiß schäumendem, dahinrasendem Wasser hatten sich gebildet, stiegen auf und fielen wieder zusammen. Und es gab Leben in diesem Wirbel aus Gischt und Wasser, Pflanzen und schrecklich anzusehende Tiere, die alles verschlangen, was sich in ihren Bannkreis verirrte. Man brauchte nur den Kopf aus einer Höhle herauszustrecken, um eine solche scheußliche Kreatur zu Gesicht zu bekommen. Irgendwo mochten auch noch die Coromanen umherirren, mit denen zusammen Mythor die Inseln erreicht hatte – Cepran und ein anderer. Sie waren in ihrer schrecklichen Furcht tief hineingerannt in das Labyrinth aus Pflanzen, und es gab wenig Hoffnung, daß sie jemals wieder das Licht des Tages erblicken würden. »Hier entlang«, sagte Garaschi. »Dieser Weg führt zu meinem Schiff.« Garaschi ging voran. Er war klein, schwarzhaarig, flink und genußsüchtig – aber keineswegs so feige, wie sein unaufhörliches Gerede zu klingen schien. Mythor wußte, daß der stämmige Mann notfalls auch zur Waffe griff, und er traute dem wendigen Händler zu, daß er sich seiner Haut zu wehren wußte, wenn es not tat. »Leise!« sagte Lerreigen. »Ich glaube, eine Stimme gehört zu haben!« 8
Die drei verharrten. Nichts war zu hören, dennoch bewegten sie sich mit größter Vorsicht weiter. Ein Graben wurde erreicht. Aus trockenem Sand wuchsen schillernde Blüten dem Sonnenlicht entgegen. War Mythor schon so lange in diesem Labyrinth umhergeirrt, daß er eine Nacht ausgelassen hatte? Er spähte hinauf zum Himmel. Es war heller Tag, und irgendwo hoch in der Luft sang ein Vogel. »Beeilt euch!« sagte Mythor, der gelernt hatte, solchen Bildern des Glücks gründlich zu mißtrauen. Die Splitter des Lichtes, wie diese Inselgruppe genannt wurde, waren fest in der Hand der Mächte des Dunkels – das war auf Schritt und Tritt zu sehen. Und wenn es in dieser Zone der Düsternis plötzlich ein einladendes Idyll gab, mit Blütenduft, Vogelgesang und lind labenden Lüften - dann war die Gefahr nicht weit, die jeden Unvorsichtigen das Leben kosten konnte und sollte. Die drei rannten los. Schon nach wenigen Schritten änderte sich das Bild schlagartig. »Weiter!« schrie Mythor. »Es ist nicht wirklich, rennt weiter!« Klebriger, zäher Schlamm schob sich schmatzend heran, schwarz und blasenwerfend. Er quoll auf die drei Männer zu. Im Hintergrund öffnete sich die Wand aus Wasser; weiß schäumend brach die Sturzwoge über den Graben herein. Mythor erreichte die jenseitige Höhle als erster. Er drehte sich um, griff nach Garaschis Arm und zog den Händler in Sicherheit. Lerreigen hatte sich selbst helfen können. »Es ist jedesmal das gleiche«, schimpfte Garaschi außer Atem. »Ich glaube fast, irgendjemand treibt ein Spiel mit uns… sonst hätte uns entweder der Schlamm oder das Wasser erwischt. Ich fürchte, wir sollten gar nicht erwischt werden. Und dann frage ich mich natürlich, was es an Üblem auf der Welt gibt, das zu erleiden schlimmer wäre als ein Tod in diesem Graben!« 9
Ganz von der Hand zu weisen war dieser Einwand nicht. In der Tat hatte auch Mythor ab und zu das beklemmende Gefühl, von irgendjemandem beobachtet zu werden. Das Gefühl war schrecklich – eine Gliederpuppe zu sein, die an unsichtbaren Fäden bewegt wurde, von nichts wußte, sich nicht zur Wehr setzen konnte und die sterben würde, wenn es dem Jemand an den Fäden so gefiel. Mythor wartete ein paar Augenblicke ab, um Garaschi zu Atem kommen zu lassen. Während er noch schnaufte und nach Luft rang, verwandelte sich vor den Augen der drei der Graben zurück – das Wasser lief ab, der Schlamm verschwand, und ein paar Herzschläge später wiegten wieder die Sommerblumen ihre Blüten im leichten Wind. »Man könnte verrückt werden dabei«, stieß Lerreigen hervor. »So geht es mir seit fast einem halben Mond - jeder Schritt ist mit Gefahren gespickt, aber keiner weiß, wozu das alles gut sein soll.« »Mir egal, wenn nur mein Schiff noch brauchbar ist«, stieß Garaschi hervor. »Wir können weitergehen.« Sie hatten noch zwei weitere Erlebnisse dieser Art, bis sie in Sichtweite des Riffes gelangten. Auf den ersten Blick war zu erkennen, daß Garaschis Aussichten nicht schlecht standen. Es war Ebbe, das Wasser stand sehr tief. Zwischen den schroffen Felsen des Riffes lag der braune Rumpf der Galeere, an der Unterseite grün und feucht schimmernd. »Sie haben das Schiff gekippt, um das Leck verstopfen und kalfatern zu können«, rief Garaschi erfreut aus. In der Tat war das Leck genau zu erkennen – es war die einzige helle Stelle an der Unterseite des Rumpfes, der von Algen und Muscheln bewachsen war. Der Wind kam von der See her und trug den Geruch nach Tang und Pech zu den drei Männern herüber. »Keine Wachen?« rätselte Mythor. Er traute dem Frieden 10
nicht. Menschen waren nicht zu erkennen. Das Schiff schien völlig verlassen zu sein. Trotzdem war zu sehen, daß man daran gearbeitet hatte, es wieder flott zu bekommen. Neben dem Rumpf lagen Haufen geborstenen Holzes, Reste von zerbrochenen Riemen. Das Schanzkleid war geflickt worden. »Wenn nur die Ladung noch an Bord ist«, meinte Garaschi hoffnungsvoll. »Wie viele Ruderer braucht so ein Schiff?« fragte Lerreigen halblaut. Die drei lagen in einer Mulde in Deckung. »Sechzig«, flüsterte Garaschi. »Die Ablösungen mit eingerechnet, dazu kommen sieben Leute dieses elenden Seemagiers, der uns angeblich einen sicheren Weg nach Sarphand weisen wollte, dieser vermaledeite Halunke, dieser Schurke, Schuft…« Mythor legte ihm eine Hand über den Mund, um den leise, aber sehr schnell und heftig hervorgestoßenen Redeschwall zu beenden. »Und wie viele Leute haben zu dir gehalten?« fragte er leise. Garaschi machte ein betrübtes Gesicht. »Nur zehn«, sagte er leise, nachdem Mythor die Hand von seinem Mund weggezogen hatte. »Nur zehn, und davon sind fünf beim Kampf niedergeschlagen worden. Der Rest hat sich davonmachen können. Vermutlich irren die Wackeren jetzt hilflos in diesem Inselgewirr umher.« »Auf deren Hilfe können wir also nicht zählen«, überlegte Mythor laut. »Zunächst schleichen wir uns etwas näher heran. Ich will wissen, wieviel Bedeckung die Piraten zurückgelassen haben.« »Nicht sehr viele«, warf Lerreigen ein. »Die Piraten des Schrecklichen liegen mit den Coromanen und einem Volk der Cirymer im Kampf um die Vorherrschaft auf den Lichtsplitterinseln.« 11
»Und da können sie sich behaupten?« fragte Garaschi. Lerreigen deutete auf die Inseln. Das Wasser stieg langsam wieder. . »Dieses Land läßt sich leicht verteidigen«, sagte er. »Die Natur hilft dem, der bereits auf den Inseln sitzt. Stürmen kann man eine solche Insel bestenfalls bei Ebbe, und selbst das ist außerordentlich mühselig. Der Schreckliche hat sich hier einen zum Namen passenden Schlupfwinkel geschaffen, ein gerissener Bursche.« »Ich mag es, wenn man Leute lobt, die mein Schiff gestohlen, meine Waren verschleppt, mich mißhandelt und einige meiner Leute vielleicht erschlagen haben. Das gefällt mir sehr!« Lerreigen verzog das rotbärtige Gesicht zu einem Grinsen. »Weiter!« drängte Mythor. Vorsichtig, um nicht gesehen zu werden, schoben sich die drei näher und näher an das Schiff heran. Scharf zeichnete sich der Rumpf gegen den hellen Himmel ab. Als plötzlich eine menschliche Silhouette zu sehen war, warfen sich die drei Männer blitzschnell in Deckung. »Nur einer?« flüsterte Mythor. »Es werden nur wenige sein«, flüsterte Garaschi zurück. »Der Schreckliche braucht jeden Mann, um seine Stellung halten zu können.« Noch näher krochen die drei an das Wrack heran. Dann war das Schiff erreicht. Mythor brauchte nur die Hand auszustrecken, um das nasse Holz berühren zu können. »Bestes Hartholz«, sagte Garaschi stolz. »Es ist ein gutes Schiff.« Mythor spähte nach oben. Jetzt war eine zweite Gestalt zu erkennen, ein Mann mit einem Speer in der Hand. Waren die Leute des Schrecklichen gewarnt worden? »Ich werde hinten aufentern«, sagte Mythor leise. »Bleibt hier und kommt mir zu Hilfe, wenn ich euch rufe.« 12
Er huschte davon. Am Bug des Schiffes hingen ein paar Taue herab, die Mythor aber nicht benutzen wollte, weil er eine Falle witterte. Er hatte sich eine Stelle am Heck ausgewählt. Er mußte auf eine Felsnadel klettern und dann mit einem Satz das Deck des Frachtschiffs erreichen. Die Felsnadel war bald erklommen. Das Heck des Schiffes war verlassen, aber gerade in dem Augenblick, in dem Mythor zum Sprung ansetzen wollte, erschien eine Gestalt. Ein Mann hielt einen Kübel in der Hand und goß mit weitem Schwung eine stinkende Flüssigkeit über die Bordwand. Mythor spannte die Muskeln an. Als der Mann sich umdrehte, um wieder unter Deck zu verschwinden, sprang Mythor. Es war ein gewaltiger Satz, und er brachte Mythor bis auf einen Schritt an den Kübelträger heran. Der Mann machte einen Fehler – anstatt sofort loszuschreien, wollte er sehen, was da hinter ihm so bedrohlich geklungen hatte. Diese Neugierde wurde ihm zum Verhängnis. Der Schwertknauf in Mythors Hand krachte dem Mann ins Genick und ließ ihn auf der Stelle die Besinnung verlieren. »Einer!« murmelte Mythor. Er hastete weiter. Den nächsten Posten erwischte er am Mast. Der Mann bückte sich gerade, um ein Tau aufzuschießen, und fiel einfach um, als Mythor ihm mit einem gekonnten Handgriff die Luft abdrehte. Der dritte stand in der Nähe der Bordwand. Mythor huschte auf ihn zu, der Mann hörte das leise Schaben von Mythors Schuhen auf den Decksplanken und fuhr herum. Seine Augen weiteten sich, die Hand griff sofort zum Schwert. Mythor war nicht nahe genug heran, um den Mann im ersten Ansprung überwältigen zu können. »Komm nur her«, sagte der Schwertträger. Er verzog das Gesicht zu einer boshaften Grimasse. Mythor stellte fest, daß 13
dem Burschen fast alle Zähne fehlten, der Rest war verfault. »Bald werden dich die Fische fressen.« Mythor rührte sich nicht. Er wartete ab, bis Lerreigen hinter dem Angreifer aufgetaucht war und ihn mit einem wuchtigen Fausthieb niedergestreckt hatte. Der König der Leoniter hatte den Satz gehört, richtig gedeutet und war blitzschnell aufgeentert. »Wie viele?« fragte der Rotbart. »Bislang drei«, antwortete Mythor. »Garaschi, du kannst heraufkommen – jetzt dürften wir in der Überzahl sein.« Der Händler turnte behende an einem Seil die Bordwand hoch und sprang an Deck. Seine listigen Augen suchten sofort die gesamte Fläche ab. Er lächelte glücklich. »Entweder liegt die Ladung noch vollständig verstaut, oder die Burschen haben es geschafft, ein Faß nach dem anderen auszuladen, ohne auch nur einen Krümel von dem Zeug herausfallen zu lassen – und das kann ich mir nicht vorstellen.« »Wir werden sehen«, knurrte Lerreigen. »Zeige uns den Weg unter Deck!« Garaschi hatte seine Waffe in der Hand, ein Krummschwert, mit dem er offenbar recht geschickt umzugehen wußte. Furchtlos schritt er voran. Eine hölzerne Treppe führte hinab ins Innere des großen Frachtschiffs. Garaschi bewegte sich mit äußerster Vorsicht, er wollte kein Geräusch machen. Niemand begegnete den dreien, als sie unter Deck nach weiteren Wachen suchten. Waren es tatsächlich nur diese drei gewesen? Mythor wollte nicht recht daran glauben. Er durchsuchte das Schiff von vorn bis hinten, und er fand auch die vierte Wache – friedlich schlummernd, im Arm eine leere Flasche, die einmal eine stark riechende Flüssigkeit enthalten hatte. Ein Fausthieb versetzte den Schläfer in so tiefen Schlummer, daß 14
er so bald nicht aufwachen würde; dann schleppte Mythor den Burschen hinauf an Deck. Mit Lederriemen gefesselt lagen die vier Schiffswachen auf dem Deck, als Garaschi erschien, das Gesicht glänzend vor Freude. »Es ist alles noch am Platz«, sagte er strahlend. »Und in einem Verschlag haben sogar meine Barbestände überlebt.« »Und sonst?« »Ein Raum ist versperrt«, sagte Lerreigen. »Dahinter habe ich Stimmen gehört – vielleicht Gefangene der Piraten.« »Dann sind sie in jedem Fall unsere Freunde«, sagte Mythor. »Führe mich hin!« Nach kurzer Zeit standen die drei Männer unter Deck vor einer Tür, die zugenagelt worden war. Alton beseitigte das Hindernis mühelos. »Kommt heraus!« forderte Mythor die Menschen auf, die hinter der Tür standen. »Einer nach dem anderen, und wehe dem, der eine Waffe trägt.« Die Tür wurde langsam geöffnet – und dann schoß eine Gestalt heraus, ein buntscheckiges Etwas, das Mythor anrannte und ihm einen Lockenkopf in den Bauch rammte, daß dem Sohn des Kometen beinahe die Luft wegblieb. Mythor bekam die Gestalt zu fassen und hielt sie fest. »Eine Frau!« rief er erstaunt. Er hätte sie auch als Furie bezeichnen können. Sie war kräftig gewachsen und stammte offenbar aus den Karsh-Ländern. Ihre Augen sprühten förmlich vor Wut. »Ich werde dich umbringen«, tobte sie und versuchte, nach Mythor zu treten. »Die Augen werde ich dir auskratzen, du elender Pirat!« »Olinga!« »Lerreigen!« »Ihr kennt euch?« fragte Mythor. Er hielt die kleine Raubkatze vorsichtshalber fest; die junge Frau sah ganz danach aus, als könnte sie ihre Drohung notfalls auch wahr 15
machen. »Das ist die Karsh-Frau, von der ich dir erzählt habe, Mythor«, sagte der Leoniter-König. »Sie gehört zu Nottr und Sadagar.« Mythor spürte, daß der Widerstand Olingas schwächer wurde. Die Frau sah ihn von oben bis unten an, dann zuckte sie mit den Achseln und lächelte. »Du bist Mythor? Nottrs Freund?« »Der bin ich«, bestätigte Mythor. Olinga, die nur ein langes, dünnes Tuch um den wohlgeformten Körper geschlungen trug, riß sich aus Mythors Griff los. »Ihr könnt herauskommen, Leute«, sagte sie über die Schulter hinweg. »Es sind Freunde.« Nacheinander erschienen fünf Männer in der Tür – es waren die fünf, die im Kampf von den Piraten niedergeschlagen worden waren. Garaschi strahlte über das ganze Gesicht. »Endlich eine gute Kunde«, sagte er zufrieden und umarmte seine Freunde. Die Männer machten einen ziemlich angeschlagenen Eindruck, wurden aber lebhafter, als sie Garaschi erkannten. Olinga sah zu Mythor hinüber. »Ich glaube, ich habe etwas Wichtiges für dich, eine Nachricht.« »Ich höre.« Olinga lächelte. »Ich habe den Schrecklichen nämlich gesehen, ohne Maske«, sagte sie selbstsicher. »Er war dabei, einen besonders prächtigen Bogen und einen gewissen Köcher zu betrachten.« »Berichte!« forderte Mythor sie auf. Olinga erzählte, was sie hatte sehen können. Mythors Gesicht versteinerte förmlich, während er ihr zuhörte. Als sie geendet hatte, bestand seine Reaktion darin, daß er einen Namen nannte. Es klang wie ein Wutschrei: »Luxon!«
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»Es muß Luxon sein oder Arruf, wie er auch genannt wird«, sagte Mythor grimmig. Es war Abend geworden, der Mond hing am Himmel. Es war Vollmond. Wolken trieben über die fahle Scheibe. »Immer wieder und überall stoße ich auf diesen Burschen«, murmelte Mythor. »Und hier schon wieder. Ich bin sicher, daß er auch Nottr und Sadagar auf dem Gewissen hat.« »Ich vermute, daß sie noch leben«, sagte Olinga hoffnungsvoll. »Tot nützen sie ihm nichts.« »Hat er sie auch an Bord bringen lassen?« fragte Mythor. »Das kann ich mir nicht vorstellen«, antwortete Olinga. »Er hat mich ausgefragt, wahrscheinlich auch Nottr und Sadagar. Jedenfalls weiß Luxon, daß ihr euch hier treffen wollt, und da will er deine Freunde bestimmt als Faustpfänder festhalten.« »Nun, das wird sich feststellen lassen«, sagte Mythor. »Wir sollten einen unserer Gefangenen befragen.« Lerreigen und Garaschi holten einen der vier. Sie waren inzwischen alle erwacht und sehr still geworden, als sie sich in der Hand ihrer ehemaligen Opfer gefunden hatten. Der Mann hatte einen dichten braunen Bart, er wirkte verschlossen und hart. »Bindet ihn an den Mast«, sagte Mythor. »Du bist ein Freund des Schrecklichen, wie er sich nennt.« Der Mann schwieg. Mythor seufzte leise. Er deutete auf Garaschi und Olinga, deren Gesichter deutliches Verlangen zeigten, sich sehr eindringlich mit dem Gefangenen zu befassen. »Willst du vorher oder nachher reden?« fragte Mythor. »Reden wirst du, das wissen wir beide…. also erspare uns die Arbeit, dich gesprächig machen zu müssen.« »Ich kenne den Mann«, sagte der Gefangene nach einigem Zögern. Er schien begriffen zu haben, daß man ihm vorerst 17
nicht ans Leben wollte. »Er nennt sich Luxon, und ich habe früher Geschäfte mit ihm gemacht, aber das ist lange Jahre her.« »Wo?« »Ich stamme aus Sarphand, und dort hat sich Luxon des öfteren sehen lassen«, antwortete der Angebundene. »Eigentlich wollte ich mich zur Ruhe setzen, ich habe genug verdient.« »Verdient hast du den Strang«, zischte Garaschi. Mythor winkte ab. »Für meinen Lebensabend reichte mein Vermögen aus«, sagte der Gefangene und sah Mythor an. »Aber dann kam Luxon eines Tages an, und was er mir gezeigt hat, hat mir den Atem verschlagen.« »Bogen und Köcher, nicht wahr?« Der Gefangene nickte. »Luxon sagte, es gebe beim Koloß von Tillorn noch mehr Zaubergerät dieser Art zu erbeuten – und der Versuchung konnte ich nicht widerstehen. Ich hatte genügend Freunde von früheren… Unternehmungen. Wir haben uns zusammengetan und dann…« »… dann haben sie mich überfallen, geprügelt und ausgeplündert. Und jetzt, mein Freund, jetzt werden wir eine hübsche Schlinge herstellen und sie dir um den Hals legen, und dann werde ich mit dieser meiner Hand…« »Wo ist Luxon jetzt?« wollte Mythor wissen. Der Gefangene schielte einen Augenblick lang auf den racheschnaubenden Garaschi, dann blickte er Mythor an. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Du lügst«, sagte Mythor hart. »Willst du, daß ich dich mit diesen beiden allein lasse?« Der Gefangene sah Mythor an, dann wanderte sein Blick zu Garaschi, der sich angelegentlich mit seinem Dolch beschäftigte, dann zu Olinga. Die Karsh-Frau leckte sich lächelnd 18
die Lippen, auch das war erkennbar als Drohung gemeint. Mythor sah, wie der Mann bleich wurde. »Ich weiß es nicht«, sagte er. Mythor begriff. Der Mann hatte Angst vor Luxon, so große Angst, daß er sogar Folter und Tortur in Kauf nahm, um Luxon nicht verraten zu müssen und seiner Rache zum Opfer zu fallen. »Es ist gut«, sagte Mythor. Er trat an den Mast und löste die Fesseln des Mannes. Danach band er die Handgelenke wieder zusammen. Mythor entging nicht, daß der Mann mit allen Sinnen herauszufinden versuchte, was hinter seinem Rücken vorging. Der Gefangene hatte entdeckt, was er hatte entdecken sollen – daß nämlich Mythor beim Fesseln einen Fehler gemacht hatte. Mit etwas Geschick und Hartnäckigkeit mußte es ihm gelingen, die Bande abzustreifen und sich zu befreien. »Wo sollen wir ihn hinbringen?« fragte Garaschi. »Zurück zu den anderen?« Mythor deutete auf den Bug des Schiffes. »Legt ihn dort ab, vielleicht will ich ihn noch etwas fragen.« Lerreigen und Garaschi beeilten sich, Mythors Anweisungen zu folgen. »Was hast du vor?« fragte Olinga. »Warum hast du mir nicht erlaubt, mit diesem Kerl zu reden… auf meine Art und Weise?« Mythor lächelte. Er wartete, bis die beiden Männer zurückgekehrt waren, dann erst antwortete er. »Der Bursche wird sich bald befreien«, sagte er und hielt Garaschi fest, der sofort empört aufsprang und den Fehler korrigieren wollte. »Ich werde mich an seine Fersen heften und ihm folgen – ich müßte mich sehr täuschen, wenn der Kerl nicht stracks zu Luxon rennen wird. Und wo der sich befindet, da ist der Koloß von Tillorn nicht weit.« 19
»Ein guter Einfall«, lobte Lerreigen. »Ich komme mit.« »Ich bin auch dabei«, sagte Olinga sofort. Garaschi sah zur Seite. »Ich würde lieber mit meinen Leuten hierbleiben«, sagte er offen. »An dem Schiff muß noch allerhand getan werden, bis es wieder flott ist. Vielleicht werden wir alle bald darauf angewiesen sein, mit der Galeere von hier zu verschwinden.« »Einverstanden«, sagte Mythor ohne Zögern und zu Garaschis großer Erleichterung. »Es ist besser, wenn wir hier einen Rückhalt haben. Außerdem werden wir dann nicht so leicht entdeckt.« Lerreigen sah unauffällig zum Bug hinüber. »Wie lange wird er brauchen, bis er die Fesseln abgestreift hat?« »Mindestens eine Stunde«, sagte Mythor. »Und dann fragt es sich, ob er versuchen wird, seine Kumpane ebenfalls zu befreien, oder ob er es vorzieht, sofort das eigene Fell zu retten.« »Der läuft sofort zu Luxon«, sagte Olinga verächtlich. »Da bin ich mir ganz sicher.«
Er brauchte zwei Stunden, bis er frei war, und er zögerte nicht einen Augenblick lang. Mythor sah, wie der Schatten an der Bordwand der Galeere hinabglitt und auf dem Boden landete. Der Pirat suchte das Weite. »Hinterher!« murmelte Lerreigen. Die drei lagen zwischen den Felsen des Riffes und warteten darauf, daß etwas geschah. Oben auf dem Schiff war es laut. Garaschi und seine Freunde feierten das Glück ihrer Befreiung. Mythor hatte das vorgeschlagen. Das Zechgelage sollte es für den Gefangenen glaubwürdiger machen, daß er 20
hatte entkommen können. Die drei Verfolger setzten sich auf die Spur des Flüchtlings. Der Vollmond erleuchtete das Land und gab genügend Licht, den Mann gut erkennen zu können. Offenbar wußte der Pirat genau, wohin er sich zu wenden hatte. Zielstrebig marschierte er los. Ihn zu verfolgen war keine leichte Arbeit. Mehr als einmal verlor Mythor den Flüchtigen für kurze Zeit aus den Augen, aber mit vereinten Kräften gelang es stets, die Spur wiederaufzunehmen und die Jagd in der Nacht fortzusetzen. »Ich möchte wissen, wo dieser Koloß zu finden sein soll«, schimpfte Olinga zwischendurch. »Wenn etwas so groß ist, dann müßte es doch weithin sichtbar sein. Kann einer von euch etwas erkennen?« Erkennbar waren die flachen Inseln, teilweise vom Wasser überspült, das in diesen Stunden langsam wieder abfloß. Mythor kannte sich auf dem Gebiet der Seefahrt nicht sehr gut aus, aber er hatte den Verdacht, daß auch dies nicht mit rechten Dingen zuging. Ebbe und Vollmond zur gleichen Zeit erschienen ihm recht seltsam. Olinga hatte recht. Von einem Koloß war nichts zu sehen. Mythor fragte sich, ob der Koloß nicht vielleicht weiter landeinwärts zu suchen sein würde. Möglich war auch, daß die Bezeichnung Koloß überhaupt nicht stimmte; vielleicht handelte es sich einfach um eine knapp überlebensgroße Statue. Das konnte erklären, warum von dem Gebilde noch nichts zu entdecken war. Der Flüchtling hetzte weiter. Er schien das Gebiet der Inseln sehr gut zu kennen, wahrscheinlich von seinen früheren Beutezügen mit Luxon her. Der Flüchtling wurde jetzt langsamer. Wenn Mythor das Land richtig überblickte, hatte er gerade eine der größten Inseln der gesamten Lichtsplitter-Gruppe 21
erreicht. Auch diese Insel erhob sich nicht sehr über das Flutniveau. Von Häusern, Gebäuden oder gar einem Koloß war nichts zu sehen. »Halt!« stieß Mythor hervor. »Versteckt euch!« Die drei Verfolger warfen sich auf den Boden. Gegen das helle Licht des Mondes hatte Mythor erkannt, daß es auf der Insel offenbar eine Art Wache gab. Der Schattenriß des Fliehenden strebte jedenfalls einer anderen Männersilhouette entgegen. Vom Boden aus waren die beiden recht gut auszumachen. Mythor sah, daß er sich nicht geirrt hatte. Es waren zwei Männer, die sich scharf gegen das Licht des Mondes abzeichneten. »Wir müssen näher heran«, raunte Olinga neben Mythor. Mythor nickte. Vorsichtig krochen sie auf den Ort zu, wo sich die beiden Männer treffen mußten. Es gab genug große Steine und Buschwerk auf der Insel, um den Heranschleichenden Deckung zu gewähren. Zudem schienen die beiden Männer sich auf der Insel völlig sicher zu fühlen; sie dachten gar nicht daran, daß jemand sie beschleichen konnte. »Gannar!« rief der Flüchtling. »Bist du das?« Mythor konnte sehen, wie der Angerufene zusammenzuckte. Anscheinend hatte der Posten den Herannahenden überhaupt nicht gesehen. Der Mann war offenkundig ein Stümper. »Wer da?« »Girold«, antwortete der Flüchtling. »Wo sind die anderen?« »Keine Ahnung«, antwortete der Posten. Mythor und seine Freunde kamen den beiden immer näher, und entsprechend klarer konnten sie die Unterhaltung der beiden verfolgen. »Wo ist Luxon? Ich muß ihn sprechen«, stieß Girold hervor, kaum daß er den Posten erreicht hatte. Gannar zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht«, sagte er 22
nervös und fuchtelte hilflos mit den Händen herum. »Ich habe keine Ahnung. Sie sind verschwunden.« »Was heißt verschwunden?« Der Wachtposten kämpfte mit seiner Nervosität; er konnte einem fast schon leid tun, so verwirrt war der Mann. »Luxon hat uns hier aufgestellt, damit wir aufpassen«, stieß er hervor. »Wir waren zu zehnt, und jetzt bin ich ganz allein. Ich habe keine Ahnung, wohin die anderen verschwunden sind, sie sind jetzt jedenfalls weg.« »Das gibt es nicht«, stieß Girold hervor. »Menschen verschwinden doch nicht einfach.« »Bleib doch hier und warte darauf«, jammerte die Wache. »Bald wird es auch mich erwischen. Dieser Platz ist nicht geheuer, das sage ich dir. Er wird uns alle vernichten.« »Wer? Luxon? Das ist doch Unfug.« »Nicht Luxon – der da!« Mythor sah, wie Gannar zur Seite deutete. Von Mythors Standort aus war nicht zu erkennen, was es dort gab. Mythor stieß Lerreigen und Olinga an. »Bleibt hier«, sagte er sehr leise. »Ich werde nachsehen, was es dort gibt.« Geräuschlos kroch er davon, den Körper dicht an den Boden gepreßt. Das Gelände war uneben, von Steinen übersät, die an Händen und Füßen kleine Verletzungen hervorriefen, aber Mythor achtete nicht darauf. Schritt um Schritt kroch er auf jenen Punkt zu, den der aufgeregte Wachtposten angedeutet hatte. Was gab es dort zu sehen? Senkrecht fielen die Wände hinab in die Tiefe, glatt, wie mit dem Messer geschnitten. Und dort unten lag er: der Koloß von Tillorn. Mythor hielt sich am Rand des Felsspalts fest und spähte hinab auf den Koloß. Der mochte dreißig Mannslängen messen, vom behelmten Haupt bis zu den Füßen. Er lag auf 23
dem Rücken, das Gesicht mit dem Helmvisier nach oben gekehrt. Der Koloß war ein Mann, ein Kämpfer mit Schild und Helm und Schwert. Auf den ersten Blick erkannte Mythor, daß das Schwert eine verblüffende Ähnlichkeit mit seiner eigenen Waffe aufwies – war es nach dem Modell des Gläsernen Schwertes Alton geschaffen worden? Der Riß im massiven Fels war mit Wasser gefüllt. Es sank langsam, die Fußspitzen des Kolosses ragten bereits aus dem klaren Wasser, das es zuließ, den Grund und Einzelheiten der Statue zu sehen. Offenbar war die riesige Gestalt aus einem einzigen Stück massivem Fels gehauen worden, einem graublauen, marmorierten Material, das erstaunlich glatt war. War dies das Versteck Luxons? Mythor war sicher, daß Luxon sich in der Nähe befand, aber er und seine beutegierigen Kumpane hatten sich verzogen. Vermutlich gab es Öffnungen in den Felsen, von denen aus man zu dem Koloß gelangen konnte. Oder mußte man die lotrecht abstürzenden Felsen hinabklettern? Er betrachtete noch einmal die liegende Gestalt, die das Ziel seiner Reise gewesen war. Er richtete sein Augenmerk auf den Schild, den der Koloß trug. War dieser Schild das Vorbild des Sonnenschilds, den es am Koloß zu gewinnen galt? Im Augenblick war dieser Schild wohl eher als Mondschild zu bezeichnen. Mythor sah, daß von seiner Warte aus das Spiegelbild des Vollmonds im Wasser den Schild beinahe berührte. Das Wasser war völlig klar und unbewegt, glatt wie ein Spiegel. Unwillkürlich versuchte sich Mythor vorzustellen, von welchem Ort am Rande des Talkessels das Mondbildnis tatsächlich in der exakten Mitte des Schildes zu sehen sein würde. 24
Sein Blick ging zur Seite, streifte den Rand des Felsspalts entlang. Und dann begriff er… Von einem Augenblick zum anderen verschwanden die beiden Gestalten, die Mythor gerade noch hatte sehen können. Girold und Gannar hörten von einem Herzschlag zum anderen auf zu existieren, als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Und Mythor verstand auch den Grund. Denn diese beiden hatten genau dort gestanden, wo das Abbild des Mondes das Zentrum des Sonnenschilds decken mußte. Nur von diesem einen Platz aus mußte es so aussehen, als spiegle sich der Mond mitten im Schild. Und da der Mond sich im Laufe der Nacht bewegte, mußte dieser Fixpunkt am Rande des Tales langsam wandern. So war einer der Posten nach dem anderen erreicht worden und verschwunden. Was für Kräfte hier am Werke waren, vermochte Mythor nicht zu sagen, eines aber war nach ein paar Herzschlägen klar: Die nächsten Opfer dieses gespenstischen Verschwindens mußten Olinga und Lerreigen sein. Mythor konnte die beiden sehen. Sie waren aufgesprungen, weil sie ebenfalls das Verschwinden der beiden LuxonMänner bemerkt hatten. Und nun rannten sie genau auf die verhängnisvolle Stelle zu. Mythor sprang auf. Er legte die Hände vor den Mund. »Olinga! Lerreigen! Zurück!« Der Warnruf kam zu spät. Mythor sah noch für einen Herzschlag die stämmige Gestalt der Karsh-Frau, dann war sie verschwunden.
»Gerade noch rechtzeitig«, sagte Lerreigen. Der König der Leoniter war kein Feigling, aber der Schreck saß ihm noch in allen Gliedern. 25
»Ich möchte wissen, ob man so etwas steuern kann«, sagte Mythor. Lerreigen schüttelte den Kopf. »Ich glaube es nicht«, sagte er. »Gäbe es jemanden, der dieses Verschwinden nach seinem Willen lenkt, warum hat er dann sowohl die Luxon-Leute als auch Olinga verschwinden lassen? Ich glaube weit eher, daß es sich um ein künstliches Gebilde handelt, eine Art Maschine. Sie wird funktionieren wie eine Sonnenuhr – einmal in Gang gesetzt und eingerichtet, arbeitet sie ohne Ziel und Plan, läßt Freunde und Feinde des Erbauers gleichermaßen verschwinden.« Mythor nickte betroffen. Lerreigens Gedankengang rar einsichtig und vernünftig. »Vielleicht sind Nottr und Sadagar ähnlichem Geschick zum Opfer gefallen«, sagte Lerreigen nach einigen Augenblicken des Schweigens. »Verfluchter Koloß!« Die beiden Männer saßen am Rande des Felsrisses, auf dessen Grund der Koloß lag. Die Mondscheibe war weitergerückt. Für die beiden bestand keine Gefahr mehr. »Man muß an das Ding herankommen können«, sagte Mythor nachdenklich. »Was hätte es sonst für einen Sinn?« Lerreigen blickte auf die riesige Gestalt hinab. »Ist der Koloß von Anbeginn an so erschaffen worden, wie er jetzt dort liegt? Oder ist er umgefallen, als das große Beben diesen Teil von Tillorn der Strudelsee zur Beute machte?« »Ich weiß es nicht«, mußte Mythor zugeben. »Ich nehme aber an, daß der Koloß schon immer gelegen hat -eine so riesige Gestalt wäre beim Umfallen sicherlich zerbrochen.« Lerreigen zuckte mit den Achseln. »Kräfte, die so groß sind, daß sie Leute verschwinden lassen, daß sie magische Beben auslösen und Land unter Wasser setzen – solche Kräfte könnten auch imstande sein, einen steinernen Koloß sanft umzulegen und dort abzusetzen.« 26
Mythor nickte. Quälende Gedanken beschäftigten ihn. War er vielleicht zu spät gekommen? Hatte Luxon es möglicherweise bereits geschafft, sich die Kräfte dieses Fixpunkts dienstbar zu machen und die Waffen des Lichtboten gegen den Sohn des Kometen einzusetzen? Traf das zu, war Mythors Spiel fast verloren – dann war der Emporkömmling, der dreiste Eindringling, erfolgreich gewesen. Dennoch durfte Mythor den Kampf nicht aufgeben. Mochte es auch so aussehen, als sei er Luxon unterlegen, so hatte er doch nicht das Recht, zu verzagen und der Auseinandersetzung aus dem Wege zu gehen. »Wo mag er stecken?« fragte Lerreigen in das bedrückend wirkende Schweigen. Mythor deutete auf die Wände des Felsrisses. »Irgendwo in diesem Fels, das vermute ich jedenfalls«, antwortete er. »Und es muß einen Zugang zu diesen Räumlichkeiten geben… irgendeinen gut verborgenen Eingang.« »Warum suchen wir diesen Eingang nicht einfach?« fragte Lerreigen. Er stand auf. »Das Sitzen hilft uns jedenfalls nicht weiter.« »Recht hast du«, entgegnete Mythor lächelnd. »Auf denn, suchen wir den Eingang.« Der erste Teil dieser Suche mußte zwangsläufig darin bestehen, daß sich die beiden überlegten, wo logischerweise der Eingang zu suchen sei – einen versteckten Zugang zu finden, der nach keinem logischen Gesichtspunkt, sondern einfach dem Zufall unterworfen irgendwo angelegt worden war, stellte eine unlösbare Aufgabe dar. Weiter als einhundert Schritt vom Rande des Felskessels entfernt würde der Eingang vermutlich nicht liegen. Das schränkte den Raum schon merklich ein. »Die größte Öffnung des Leibes ist der Mund«, überlegte 27
Lerreigen laut. »Ich schlage vor, daß wir den Rand des Talkessels dort absuchen, wo bei der Statue der Mund zu suchen wäre.« Der Gedanke erschien Mythor zwar nicht zwingend, dennoch einleuchtend. Die beiden Männer suchten eine kurze Zeit im Mondlicht nach diesem Weg, fanden aber nichts, was einem Eingang ähnlich gesehen hätte. Danach versuchten sie es am Scheitel der Statue, aber auch dort fand sich keine Öffnung, die in den Boden hinabgeführt hätte. Zwar drehten die beiden jeden Stein um, tasteten den Boden in jedem Gebüsch sorgsam ab, aber ein Loch fand sich nirgends. So gingen sie der Reihe nach die Merkmale des Kolosses durch. Sie suchten in Augenhöhe, in der Leibesmitte. Sie spähten nach dem Eingang am Fußende der Statue, aber es war nichts zu finden. Nach zweistündiger Suche war Lerreigen nahe daran, aufzugeben. »Sinnlos«, sagte er ächzend. »Wir werden nie herausbekommen, wie man in den Koloß kommt.« »Das bezweifle ich«, sagte Mythor, aber es klang nicht sehr zuversichtlich. Auch er war am Ende seiner Weisheit. Der Helm der Gerechten hatte ihn bis hierher geführt, aber weitere Hinweise waren von dem magischen Helm nicht zu erwarten. Vielleicht hätte Hark eine Möglichkeit gewittert, aber Mythor wußte nicht, wo der Bitterwolf zur Zeit umherstrich. »Es muß einen Weg hinab geben«, sagte Mythor. »Und dieser Weg muß durch logisches Nachdenken auffindbar sein, sonst haben wir überhaupt keine Chance. Ich frage mich, wie Luxon diesen Weg gefunden hat – der Mann ist schließlich kein Zauberer.« Lerreigen zuckte mit den Achseln. Mythor machte ein mißmutiges Gesicht. Er sah hinab zum Koloß, der friedlich dort lag, bleich im Mondlicht, halb vom Wasser umspült. 28
Mythor sah auf den Sonnenschild. Von dort war der gleißende Lichtstrahl gekommen, der ihn für einen winzigen Augenblick geblendet hatte, genau in dem Augenblick, in dem die beiden Männer verschwunden waren. Und beim zweiten Aufscheinen dieses Lichtes war Olinga verschwunden. Hatte der Eingang etwas damit zu tun? Gab der Sonnenschild den Hinweis auf den Platz, an dem der Zugang zu suchen war? Mythor blickte zum Himmel hinauf. Nach seiner Schätzung mußte Mitternacht bald erreicht sein. Auf welchen Punkt des Talkessels fiel das zurückgeworfene Licht des Mondes exakt um Mitternacht? Eine zweite Frage: Wohin fiel das Licht der Mittagssonne? An einem dieser Punkte war möglicherweise etwas zu finden. Mythor wußte, daß er ein großes Risiko einging. Wenn tatsächlich der Vollmond-Mitternachtspunkt den Eingang markierte, dann war dieser Eingang in wenigen Augenblicken im Bereich des gleißenden Strahls, der Menschen verschwinden ließ. »Komm«, sagte Mythor. Er rannte los, auf den betreffenden Ort zu. Es konnte nur noch wenige Augenblicke dauern, bis Mitternacht erreicht war. »Was hast du vor?« fragte Lerreigen unwillig, während er schnaufend hinterherhetzte. Mythor erreichte den Punkt. Bald konnte der Lichtstrahl ihn erreichen, es sei denn… Mythor machte einige Schritte zur Seite. Jetzt konnte er den Sonnenschild des Kolosses nicht mehr sehen. An diesem Punkt mußte der Strahl wirkungslos sein. Mythor schlug mit der Spitze des Schwertes auf den Boden. Sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln, als er den hohlen Klang hörte. Der Eingang war gefunden. 29
Er kniete nieder. Es gab einen schmalen Schlitz im Boden, gerade groß genug, eine Hand hineinzustecken. Mythor streckte die Rechte aus und griff zu. Er mußte sich anstrengen, um die schwere Platte anheben zu können, aber es gelang ihm. Stufen tauchten im Mondlicht auf; ein steinerner Pfad führte hinab in die Tiefe der Insel. »Da willst du hinunter?« fragte Lerreigen. »Ohne Fackeln?« »Es wird sich Licht finden«, meinte Mythor zuversichtlich. Er stieg die ersten Stufen hinab. Die Treppe war trocken und rauh, man konnte sehr gut darauf gehen. Nach wenigen Schritten konnte Mythor sich an der Seite abstützen. Seine Hand berührte harten Fels, das gleiche Material, aus dem auch die Treppe bestand. »Soll ich das Loch offenlassen?« fragte Lerreigen, der nach Mythor hinabgestiegen war. Mythor überlegte nicht lange. »Verschließe die Treppe!« schlug er vor. »Falls wir Verfolger auf den Fersen haben, sollen sie dieses Rätsel selbst lösen.« Lerreigen ließ den Verschlußstein wieder über den Einstieg gleiten. Es war jetzt vollständig finster um die beiden Männer. Sie hörten nur das harte Schlagen ihrer Herzen, das leise Scharren der Füße auf dem Fels, die ruhigen Atemzüge, sonst nichts. Vorsichtig stieg Mythor weiter hinab in die Tiefe. Die Treppe war schmal, rechts und links gab es Fels. Wer vorsichtig war, konnte schwerlich stürzen. Immer tiefer führte die steinerne Wendel hinab, und Mythor wußte schon nach kurzer Zeit nicht mehr, wie tief unter der Erde sie sich befanden. Hatte er das Niveau des Kolosses bereits erreicht – oder führte der Weg zum Koloß von Tillorn von unten her zu der liegenden Statue? »Langsamer!« sagte er plötzlich. Schwacher Lichtschein war sichtbar geworden. Mythor hatte sich nicht geirrt, es gab Licht in dieser Höhle. 30
Die Treppe endete in einem kleinen Raum, der von einer blakenden Öllampe erhellt wurde, die von der Decke herabbaumelte. Mythor lächelte zufrieden. »Also doch«, sagte er und sah Lerreigen an. »Hier lebt jemand, und wir werden diesen Jemand finden.« Es gab nur einen Ausgang aus diesem Raum. Mythor legte die Hand an den Griff des Schwertes und ging voran. Eine weitere Grotte öffnete sich, ein hoher, gewölbter Raum mit vielen Tropfsteinen. Seltsame Lichtspiele zuckten in der Grotte durcheinander, und es war nicht zu erkennen, woher das flackernde Licht kam. »Hier kann man leben?« fragte Lerreigen. »Eben… eben…«, äffte das Echo seine Worte nach. Der Leoniter zuckte unwillkürlich zusammen, begriff dann aber. »Vermutlich«, sagte Mythor halblaut. Nichts verriet, wohin sie sich nun wenden sollten. Ein Weg war nicht zu erkennen, aber Mythor zweifelte nicht daran, daß es einstweilen einfach geradeaus ging, und er setzte sich in Bewegung. Es tropfte leise von der Decke herab. Seit unzähligen Jahren war das ewig sickernde Wasser am Werk. Seltsame, skurrile Gestalten hatte es geformt, zum Teil gebildet aus dem Kalk, der in dem Wasser gelöst war, zum Teil gleichsam aus dem Boden geschnitten durch die höhlende Wirkung der fallenden Tropfen. Oder hatte auch hier die Schwarze Magie nachgeholfen? Fast schien es so. Die Gestalten, die Mythor und Lerreigen entgegengafften, waren erstaunlich lebensecht. Man konnte glauben, eine Meute blutgieriger Bestien, damit beauftragt, diese Grotten zu bewachen, sei langsam versteinert, von weißem Kalk überzogen worden. Gierige Mäuler waren zu erkennen, weit aufgerissen, mit gefährlichen Zahnreihen. Wie 31
gefrorene Tentakel hingen lange Zapfen von der Decke herab. Pranken, krallenbewehrt und geschuppt, ragten in die Luft, als wären sie nach den Vorbeigehenden ausgestreckt. Das unsichere, flackernde Licht trug seinen Teil dazu bei, den beklemmenden Eindruck noch zu verstärken, der von der schaurigen Umgebung hervorgerufen wurde. Sie bewegten sich nur langsam. Hinter jedem steinernen Pfeiler konnte eine Gefahr hocken, und dabei dachte Mythor nicht nur an jählings hervorspringende Kämpfer, sondern vielmehr an weitere geheimnisvolle und bedrohliche Strahlen. »Sieh nur!« flüsterte Lerreigen. Mythor blickte auf den Boden, auf die Stelle, wohin Lerreigen mit der Hand deutete. Eine Waffe lag dort, ein Dolch. Mythor nahm die Waffe auf. Sie war naß von dem herabtropfenden Wasser, aber sie zeigte keinerlei Kalkspuren oder Rostflecken auf der Schneide. »Die Waffe liegt erst seit kurzem hier«, stellte Mythor fest. Er lächelte und steckte den Dolch in den Gürtel. »Ich weiß auch, wer sie getragen hat… Steinmann Sadagar benutzt solche Dolche.« »Dann muß er hier irgendwo stecken!« rief Lerreigen aus. »Wir wollen ihn suchen!« Immer tiefer drangen die beiden Männer in die geheimnisvolle Unterwelt vor. Längst hatte Mythor die Orientierung verloren. Wo waren sie? Unter welcher der Lichtsplitterinseln lag der Gang, den sie durchschritten? Hatten sie vielleicht das Tal des Kolosses unterirdisch schon durchquert? Stundenlang – so schien es den beiden jedenfalls durchwanderten sie eine fast schweigende, feuchtkalte Welt, ein Arsenal des Grauens, das von einem Augenblick zum anderen erstarrt zu sein schien. Seltsame, bedrohliche Kräfte 32
mußten sich in diesen Höhlen bekämpft haben. Einmal sah Mythor unmittelbar neben einer Bestienfratze ein menschliches Antlitz, ein Frauengesicht, das lächelte. Es war kein größerer Gegensatz denkbar als dieses Paar, das nur einige wenige Schritte voneinander entfernt war und weiß im Licht einer Öllampe glänzte. Immer wieder sahen die beiden sich um. Langsam erkannten sie, daß die Grotten nicht so gefährlich waren, wie sie aussahen – es gab Hinweise und Anzeichen, daß die Schreckensbilder der Einbildungskraft der Besucher entsprangen, weniger dem Eingreifen magischer Kräfte. Mythor konnte einige besonders scheußliche Fratzen sehen, die roh und unfertig geblieben waren, grotesk verzerrt und verzogen. Die beiden Männer fröstelten. Das Wasser, das von oben rieselte, war nicht nur kalkhaltig. Es war auch kalt, und es gab keinerlei Schutz vor diesem leisen Regen. »Wenn man hier unten einen seiner Feinde einfach liegenläßt, ist man ihn früher oder später ein für allemal los«, sagte Lerreigen. »Ich stelle mir das schrecklich vor dazustehen, sich nicht rühren zu können und langsam von dieser kalten Feuchtigkeit versteinert zu werden.« Mythor lächelte zurückhaltend. »Ich glaube, so ein Vorgang wird ein paar Jahrtausende in Anspruch nehmen«, sagte er. »Jahrtausende«, wiederholte Lerreigen, der Mühe hatte, sich solch einen Zeitraum vorzustellen. Die meisten Bewohner der Welt zählten mit den Fingern; was über Finger und Zehen hinausging, war ein großer Haufen. Kriegserfahrene Könige und Fürsten brachten es fertig, in Tausendschaften zu denken, aber die wenigsten hatten jemals wirklich tausend Mann beieinander gesehen. Sich etwas so Riesiges in Jahren vorzustellen erforderte große Anstrengung. Während Lerreigen noch nachdachte, erreichten die beiden 33
Männer eine Halle. Hoch wölbte sich die Decke, und die hängenden und stehenden Kalkgebilde ließen den Eindruck eines unterirdischen Tempels mit einer großen Säulenhalle entstehen. »Hallo!« rief Mythor. Seltsamerweise bekam er kein Echo zu hören. In der Decke der Halle hingen zahlreiche Öllampen. Mythor fragte sich gar nicht erst, wie diese Lampen mit Brennmaterial versorgt wurden – er ahnte, daß es nicht mit natürlichen Dingen zuging. »Was ist das?« fragte Lerreigen erstaunt und deutete auf einige Gegenstände, die aussahen, als seien sie eigens zum Zweck der Betrachtung hier ausgestellt worden. »Es sieht aus wie Trümmerstücke«, meinte er anschließend. »Es fragt sich nur, wovon«, ergänzte Mythor. Sein erster Eindruck war der, daß es sich um Balken eines Schiffes handelte, das hier gestrandet war. Aber wie sollte ein solches Schiff in dieser Unterwelt stranden? Zudem waren die Stücke mit einer weißen Kalkschicht überzogen, die es schwermachte, Einzelheiten zu erkennen. »Und dort!« Lerreigen deutete auf eine Wand. Mythor trat näher und erblickte ein merkwürdig vertrautes Bildnis. Er erinnerte sich. Die Schlacht von Dhuannin. Die Vision. Fronja. Ein Schiff und doch keines. Kein Kiel, kein Rumpf, kein Mast, ein befremdliches Segel, ganz rund, von Tauen gehalten… Das Gemälde war ebenfalls von Kalk überzogen, nur schwer zu erkennen. Gab es einen Zusammenhang? »Schriftzeichen«, sagte Lerreigen und wies auf die Einkerbungen neben und unter dem Bild. »Runen!« Mythor schüttelte den Kopf. Er erkannte auf den ersten Blick, 34
daß es sich um Schriftzeichen handeln mußte, da hatte Lerreigen durchaus recht. Form und Regelmäßigkeit der Einkerbungen waren Beweise genug. Aber es handelte sich nicht um Runen, nicht um Zeichen, die Mythor hätte deuten können. Vielleicht wäre die runenkundige Fahrna dazu in der Lage gewesen, aber wahrscheinlich nicht einmal sie. »Kannst du das lesen?« fragte Lerreigen. »Leider nicht«, antwortete Mythor bedauernd. Lerreigen zuckte mit den Achseln. »Suchen wir weiter. Ich bin gespannt, was wir noch finden werden.«
Mythor sah sich um. Säcke mit Trockenfrüchten. Mehl. Dörrobst. Fleisch, gepökelt und getrocknet. Es gab Flaschen, Beutel, Säcke, Fässer, Kisten. Der Jemand, der hier lebte, hatte sich ein Lager eingerichtet. Es gab auch Öllampen zu sehen, daneben ein Bündel Fackeln. Er überlegte nicht lange, sondern entzündete eine der Fackeln. In ihrem Licht betrachtete er das kleine Lager. Sehr viele konnten es nicht sein, die hier lebten, dafür war das Lager nicht groß genug. Vielleicht gab es auch andere Stapelplätze in der Unterwelt der Lichtsplitterinseln. Mythor durchmusterte das Lager. An der rückwärtigen Wand gab es einen Metallspiegel. Er blickte kurz hinein… und erstarrte. Er sah nicht sich selbst in dem polierten Metall! Fronja sah ihn an, lächelte schwach. Mythor zwinkerte, stutzte. Dann drang Lerreigens Stimme an sein Ohr. »Hierher, Mythor! Beeile dich!« Mythor starrte das Bildnis im Spiegel an. Was hatte Fronja, was hatte ihr Abbild hier zu suchen? Er trat einen Schritt zur 35
Seite. Das Bild verschwand. »Schnell, Mythor! Ich habe sie gefunden!« Wieder trat Mythor vor den Spiegel. Wieder erschien das Bildnis Fronjas. Er begriff. Er würde später eine weitere Probe machen müssen, um völlig sicher sein zu können, aber er ahnte, daß er Fronjas Bild für immer in sich trug – er brauchte nur in einen Spiegel zu sehen, um sich das Bildnis vergegenwärtigen zu können. »Komm doch endlich!« Mythor riß sich los. Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß Lerreigen ihn gerufen hatte. Er verließ das Lager. »Wo steckst du?« »Hierher!« Lerreigens Stimme wies Mythor den Weg. Es gab eine Nebenhöhle zu der großen Halle, dort hatte Lerreigen etwas gefunden. Der Rotbart stand triumphierend auf dem glatten Fels und deutete auf eine Reihe von Löchern im Boden. »Dort sind sie!« rief er immer wieder. »Wir haben sie gefunden!« Mythor blickte nach unten. Es gab eine ganze Menge dieser Löcher im Boden. Durch die Öffnungen hindurch konnte man Menschen sehen – der erste, den Mythor zu Gesicht bekam, war der Lorvaner Nottr. Er winkte Mythor begeistert zu. »Hol uns hier heraus!« rief der Lorvaner ungestüm. Ein paar Gucklöcher weiter war Sadagar zu erkennen. Auch sein Gesicht leuchtete auf. »Hier ist auch Olinga!« rief Lerreigen. Offenbar lag unter diesem Höhlenboden eine Art Gefängnis – wobei völlig unklar blieb, wer die Gefangenen gemacht hatte. Mythor entdeckte nämlich zu seinem Erstaunen nicht nur eine betäubte Olinga, sondern auch eine Reihe von Leuten, 36
die vermutlich Luxons Gefolgsleute waren. »Wir holen euch!« rief Mythor. »Nur noch kurze Zeit, dann seid ihr frei.« Er erinnerte sich, daß in der Vorratskammer, die er gefunden hatte, auch ein Seil gelegen hatte. So eilte er in den Raum zurück – eine kurze Probe: Fronjas Bild erschien, sobald er in den Spiegel sah – und holte das Seil. Sadagar turnte behende an dem Strick in die Höhe. »Endlich«, stieß der hagere Mann hervor, als er neben Mythor in der Höhle stand. »Ich glaubte schon, du würdest uns nie finden.« »Wie seid ihr überhaupt in dieses Loch geraten?« fragte Mythor, während er das rettende Seil zu Nottr hinabließ. »Nottr hat mich hierhergeführt, in diese Grotten«, sagte Sadagar. Er nahm als erstes den Dolch wieder an sich, den Mythor gefunden und im Gürtel stecken hatte. »Dann war ich für ein paar Augenblicke allein, und plötzlich stiegen um mich herum seltsame Nebel auf – und dann verlor ich das Bewußtsein.« »Und was wolltet ihr hier?« erkundigte sich Mythor weiter. Nottr kletterte derweil an dem Seil empor in die Freiheit. »Nottr wollte mir die Stelle zeigen, wo er das Pergament gefunden hatte, du weißt schon, das mit dem Bild darauf.« »Wo ist Olinga?« fragte Nottr, kaum daß er Mythor knapp für die Rettung gedankt hatte. »Dort drüben!« sagte Lerreigen und löste das Seil. Nottr hastete auf die Öffnung zu. Sadagar grinste vielsagend. »Zu mir gekommen bin ich dann in dieser Grube«, berichtete der Steinmann weiter. »Zu essen und zu trinken bekam ich nur, während ich schlief… Wenn ich erwachte, war das Zeug da. Ein sehr seltsames Gefängnis. Und wie kommst du hierher?« »Auf der Suche nach Luxon«, erzählte Mythor. Er sah aus den Augenwinkeln heraus, wie Nottr mit großem 37
Eifer in das Gefängnis der Karsh-Frau hinabturnte. Der Lorvaner schien nicht nur ein wenig Feuer gefangen zu haben. Er stand in Flammen. »Der ist hier?« »Allerdings«, bestätigte Mythor. Während er mit Sadagar sprach, hatte er sämtliche Gefangenengruben überprüft. Luxons gesamte Anhängerschaft schien sich hier ein Stelldichein gegeben zu haben – Luxon selbst fehlte allerdings, sehr zu seinem Leidwesen. Sehr weit entfernt konnte er wohl nicht sein, vermutete Mythor. Nottr erschien wieder auf der Bildfläche. Seine Freude über das Wiedersehen mit der Karsh-Frau wurde offenkundig erwidert; für lange Begrüßungen indessen blieb den Menschen keine Zeit. »Nottr«, sagte Mythor eindringlich. »Es wird Zeit, daß du uns berichtest, was vorgefallen ist. Wie bist du an Fronjas Bildnis gekommen? Und wie bist du hier in Gefangenschaft geraten?« »Üble Sache das«, knurrte Nottr. »Sehr übel.« »Ein wenig genauer und ausführlicher, bitte!« Nottr zuckte mit den Achseln. »Meinetwegen. Ich habe das Pergament hier… gefunden… Es ist schon einige Monde her, aber das weißt du ja. Ich bin mit Sadagar hierher zurückgekehrt, um mir den Ort noch einmal genau anzusehen. Und dann war Sadagar plötzlich weg, verschwunden. Ich habe ihn natürlich gesucht, und dabei bin ich hier in diese Höhle gekommen. Und dann war er plötzlich da.« »Wer?« »Nun, der Alte«, setzte Nottr seinen Bericht fort. »Ein komischer Kerl, ganz klein und mickrig. Ich hätte ihn mit zwei Fingern erwürgen können.« »Das hast du aber hoffentlich nicht getan, oder?« »Nicht doch, ich töte doch keine Greise. Er war so klein wie 38
ein Kind von zehn Sommern, und er war ganz zierlich und hatte einen weißen Flaum, gar keine richtigen Haare, nur so einen Flaum. Und abstehende Ohren hat er gehabt. Er sah richtig lustig aus.« »Aha«, machte Mythor. »Nun, er hat gesagt, ich hätte ihm das Bild gestohlen und er wolle es zurückhaben.« »Woher wußte er das?« »Keine Ahnung«, sagte Nottr. »Als ich damals hier war, habe ich ihn nicht gesehen, und sehr lange bin ich zu der Zeit nicht geblieben – gemütlich ist es hier nämlich nicht, das könnt ihr ja sehen. Der Alte hat behauptet, es sei sein Bild, und dann hat er mir erzählt, was er mit mir machen will, wenn ich es nicht herausrücke.« Mythor dachte daran, wie Nottr schon einmal gräßlich gefoltert worden war – damals auf Schloß Ambur. »Ich habe mich entschuldigt, ganz höflich, aber er hat sich nicht beruhigen wollen und immer wieder gesagt, daß es mir sehr übel ergehen wird, wenn er das Bildnis der Kometentochter nicht zurückbekommt, weil nämlich…« »Wie hat er Fronja genannt?« Nottr stutzte. »Tochter des Kometen, hat er gesagt, auf Ehre!« Mythor schluckte. Was mochte das nun wieder bedeuten? Tochter des Kometen? War Fronja also seine Schwester? »Bist du sicher, Nottr? Erinnere dich genau, es hängt sehr viel von der Sache ab.« »Ganz sicher«, beteuerte Nottr. »Tochter des Kometen hat er gesagt, ich irre mich bestimmt nicht. Ich weiß nämlich noch, daß ich ihm gesagt habe, ich hätte das Bild dem Sohn des Kometen übergeben, aber das hat den alten Kerl… Heiliges Licht!« Mythor fuhr herum, als er Nottr plötzlich mit den Augen 39
rollen sah. Hinter ihm war völlig lautlos eine Gestalt erschienen, und auf den ersten Blick war klar, daß es sich um genau den Alten handelte, von dem Nottr berichtet hatte. Nottr machte sofort Anstalten, auf den Zwerg loszugehen, aber Mythor hielt ihn mit harter Faust zurück. Sadagar bremste Lerreigen, der sich ebenfalls auf den alten Mann stürzen wollte. Wie ein Kampf zwischen den dreien ausgegangen wäre, konnte Mythor nicht vorhersagen, aber die Tatsache, daß Nottr und Sadagar bereits Gefangene gewesen waren, und der Umstand, daß der Alte nicht den geringsten Versuch unternahm, sich zu wehren, ließen Mythor ahnen, daß er es zwar mit einem recht unscheinbar aussehenden Mann zu tun hatte, nicht aber mit einem ohnmächtigen. »Willkommen beim Koloß von Tillorn«, sagte der Zwerg mit heller Stimme. Mythor musterte das Gesicht des Mannes. Es erschien ihm zeitlos und uralt zugleich, als sei der Zwerg in der Lage, sogar jene Jahrtausende zu überdauern, von denen Mythor gesprochen hatte. »Wer bist du?« fragte Mythor. »Nenne mich Vangard«, sagte der Greis. Er hatte tatsächlich große und weit abstehende Ohren, und sein Haupt wurde von einem hellen Flaum bedeckt. »Ich bin Mythor. Man nennt mich den Sohn des Kometen!« Vangard zuckte zusammen. »Beweise das!« forderte er. Mythor lächelte. »Was willst du als Beweis?« fragte er. »Und wer gibt dir das Recht, mich nach Beweisen zu fragen?« »Das werde ich dir sagen, Mythor«, sagte Vangard. »Zuvor aber zeige mir, was du an Beweisen aufzuweisen hast.« Mythor zeigte ihm die Narbe, er zeigte ihm Alton und den Helm der Gerechten. Er berichtete auch, daß er den Bitterwolf, das Einhorn und den Schneefalken für sich gewonnen hatte. 40
»Und was suchst du beim Koloß?« »Den Sonnenschild«, antwortete Mythor. »Und einen Betrüger namens Luxon. Er hat sich einige der magischen Waffen zu beschaffen gewußt und behauptet nun, er sei der Sohn des Kometen.« »Was er mit diesen Waffen so gut beweisen kann, wie du es mit deiner Ausrüstung vermagst«, sagte Vangard. »Das genügt mir nicht, Mythor.« »Und das Bildnis?« fragte Mythor. Er wußte selbst nicht recht, warum, aber er fühlte sich auf geheimnisvolle Weise geradezu verpflichtet, dem Alten Rechenschaft abzulegen. »Sehe ich Fronja nicht ähnlich wie ein Bruder der Schwester? Und nennst du sie nicht selbst die Tochter des Kometen? Wer also soll ich sein, wenn nicht ihr Bruder und damit der Sohn des Kometen?« Vangard lächelte sanft. »Mein lieber junger Freund«, sagte er gelassen. »Zum Sohn des Kometen wird man nicht geboren… man muß dazu werden.« Mythor stand starr. Diese Eröffnung verschlug ihm die Sprache. Bislang war er davon ausgegangen, daß er als Sohn des Kometen feststehe, daß er dies nur zu beweisen hatte, indem er nacheinander die Fixpunkte des Lichtboten aufsuchte. »Ich verstehe nicht«, sagte er. Vangard lächelte noch immer. »Was hast du an den Fixpunkten des Lichtboten gefunden?« fragte er. »Magische Waffen«, berichtete Mythor verwirrt. »Alton, den Helm der Gerechten…« »Nichts sonst?« Mythor bewegte hilflos die Hände. Dann fiel ihm das Orakelleder ein. Er löste es von seinem Körper und zeigte es Vangard. »Ich habe es mir zu erklären versucht«, sagte er und deutete die Zeichen so, wie er sie verstand, als Hinweise, 41
Zeichen und Symbole für die Fixpunkte des Lichtboten. »Und das ist alles?« fragte Vangard. Sein Lächeln war unerschütterlich. Mythor wand sich förmlich unter dieser Frage. »Ich weiß es nicht«, gab er zu. »Es ist mehr, ich spüre es, aber ich begreife nicht ganz.« »Fangen wir von vorn an«, sagte Vangard. Mythor bemerkte, daß die anderen sich ein wenig zurückgezogen hatten und schwiegen. Nur er und Vangard bestritten die Unterhaltung. »Was hast du in der Gruft der Gwasamee bekommen? Ausrüstung?« »Nein, das nicht«, stieß Mythor hervor. »Ahnungen, Wissen, Bilder… Ich habe damals wenig verstanden. Jetzt würde ich vielleicht mehr begreifen.« Mythor unterbrach sich. Ein Gefühl ungeheurer Verwirrung hatte ihn befallen. Er fühlte sich außerstande, die einander widerstrebenden Gefühle und Gemütsregungen auszudrücken. Er sah Vangard an, starrte beinahe durch ihn hindurch. »Es geht nicht um die Waffen?« fragte er im Selbstgespräch. »Nicht um das bloße Wissen? Aber was ist dann an den Fixpunkten zu finden? Was ist es denn, das so schwer zu erringen ist?« Er fixierte Vangard. Ein ungeheurer Gedanke hatte ihn durchfahren. Er erinnerte sich an… … die Lichtburg, Xanadas grausiges Heim. Dort hatte er Alton gewonnen, die herrlichste der Waffen. Dort hatte der Königstroll zu ihm gesprochen… »Man muß sich der Waffen würdig erweisen«, murmelte Mythor. Vangard nahm er gar nicht mehr wahr. Er grub sich förmlich in sein Inneres hinein, horchte auf seine Gefühle, auf winzige Andeutungen. »Es geht nicht um die Waffen«, murmelte er wieder. »Es geht 42
darum, wie man sie erwirbt, wie man sie besitzt, wie man sie anwendet. Alton lag mir von Anbeginn an nicht recht in der Faust, und ich weiß auch, warum – weil ich etwas Schändliches getan hatte. Geht es darum, Vangard? Daß diese Prüfungen nicht dazu dienen, den Waffenerwerb zu erschweren… sondern… etwas zu lernen?« Vangard faßte ihn bei der Hand. »Grüble jetzt nicht darüber nach!« sagte er begütigend. »Dir wird frühzeitig alles einfallen, was du wissen mußt, um wahrhaft der Sohn des Kometen zu werden.« »Wahrhaft der Sohn des Kometen«, wiederholte Mythor wie gebannt, dann kehrte er binnen eines Herzschlags in die Wirklichkeit zurück. »Da ist ja immer noch dieser Betrüger!« »So nennst du ihn«, sagte Vangard. »Aber tröste dich, ich neige dazu, dir zu glauben. Du scheinst mir der rechte Sohn des Kometen zu sein. Ich werde dir helfen.« »Dank dafür, Vangard«, sagte Mythor. Noch etwas fiel ihm ein. »Ich will dir etwas zeigen, komm mit.« Mythor führte den Zwerg in das Vorratslager und zeigte ihm den metallenen Spiegel. »Jedesmal, wenn ich hineinschaue, sehe ich Fronjas Bild darin«, sagte Mythor. Jetzt sah er auch sich selbst, und er sah Fronja, und er sah, daß sie ihm zulächelte. Vangard lächelte ebenfalls. »Du trägst ihr Bildnis in dir, und dort wird es bleiben, auch wenn es von außen nicht zu erkennen ist. Jeder Spiegel wird es dir zeigen, wenn du willst.« Mythor lächelte zufrieden. »Und du wirst mir helfen?« fragte er den Zwerg. Vangard nickte. »Ich habe versucht, mich mit den eigentümlichen Gegebenheiten dieses Ortes vertraut zu machen«, sagte er zögernd. »Ich habe viel gelernt in diesen langen Jahren des Wartens, und es ist mir gelungen, einiges an Wissen zusammenzutragen und zu erwerben. Ich kann sogar 43
den mächtigen Schild des Kolosses in Maßen bedienen.« »Du fängst mit dem Schild das Mondlicht ein und holst damit Leute zu dir?« »Das war ich«, bestätigte Vangard. »Und ich werde dir auch den Weg weisen, der dich zum Koloß führen wird. Du weißt, daß der Koloß von Tillorn hohl ist?« »Ich habe es angenommen«, sagte Mythor. »Wissen darüber bekomme ich erst durch dich.« »Es ist einfach«, sagte Vangard. »Wir müssen warten, bis der Mond seine vollste Rundung erreicht hat. In dieser Nacht wird das Wasser aus dem Kessel zur Gänze verschwinden – dann kannst du von hier aus hinübergehen und den Koloß erklettern. Durch das Helmvisier kann man das Innere erreichen.« »Und was werde ich dort finden?« »Das vermag ich dir nicht zu sagen«, antwortete Vangard. »Meine Kraft reicht dazu nicht aus.« Mythor sah den alten Mann an. »Du weißt viel über mich«, sagte er. »Ich weiß nichts über dich. Wir werden warten müssen, bis das Wasser im Kessel völlig abgelaufen ist – bis dahin kannst du erzählen.« Vangard nickte.
»Was soll das heißen, wir haben ihn nicht bekommen?« Kaschkas starrte den Boten finster an. Der Cirymer trat nervös von einem Bein aufs andere. »Habt ihr eine neue Brücke gebaut?« wollte Kaschkas wissen. »Wir haben alles getan, was du uns aufgetragen hast«, bestätigte der Bote. »Wir sind auf die Inseln übergesetzt und haben nach diesem Coromanen Mythor und seinen zwei Freunden gesucht. Nur haben wir sie nicht mehr finden 44
können. Es sieht so aus, als seien sie irgendwie im Untergrund unter den Inseln verschwunden… Es gibt da so seltsame Löcher.« Kaschkas knurrte eine Verwünschung. Am liebsten hätte er den Mann mit der blanken Faust erschlagen, aber er brauchte ihn noch. Das nächtliche Gefecht mit den Coromanen war verlustreicher gewesen, als er angenommen hatte. Es gab noch viele Verletzte, die in den Zelten lagen und so schnell nicht wieder einsatzbereit waren. »Wir werden ihn wohl oder übel dort aufspüren müssen«, sagte Kaschkas. »Wenn er bei den Leuten des Schrecklichen Zuflucht sucht, ist er schon allein deswegen unser Todfeind.« Einer der Zeltältesten wölbte die Brauen. »Wir wollen ehrlich sein«, sagte er. »Du bist hinter dem Einhorn her, das Mythor geritten hat.« Kaschkas grinste. »Das auch«, gab er zu. »Wir sind zu schwach, um die Inseln nehmen zu können«, wurde Kaschkas vorgehalten. »Und selbst wenn wir es fertigbrächten, müßten wir befürchten, daß uns die Coromanen von hinten überfallen.« »Dazu wäre dieser Coroman Hassif genau der richtige Mann«, stimmte Kaschkas zu. »Von hinten ist er tapfer, der Lump. Offen anzugreifen, wagt er nicht. Vermutlich steckt dieser Krüppel dahinter, dieser Kalahar, der Leibmagier des Hassif. Ich stifte ein edles Pferd für den, der mir den verbeulten Kopf dieses Gnomen herbeischafft.« »Da wird sich niemand bemühen müssen«, sagte einer der Zeltältesten. »Die Coromanen schicken schon wieder eine Abordnung.« »Diesmal werden sie ihre Freude an dem Besuch haben«, sagte Kaschkas. »Ich werde jedem zweiten von diesen Schuften den Kopf vor die Füße legen lassen.« »Es sind Gesandte«, gab einer der Zeltführer zu bedenken. 45
Kaschkas machte eine verächtliche Geste. »Es sind Coromanen«, widersprach er. Die Abordnung der Coromanen kam langsam näher. Kaschkas dachte nicht daran, die Gesandten mit der üblichen Höflichkeit zu empfangen – ihm war der letzte Besuch der Coromanen eine Lehre gewesen. Das einzige, was tatsächlich echt gewesen war, waren Mythor, sein Einhorn und seine Begleiter gewesen – der Halunke Mythor war samt seinen Spießgesellen entflohen, und das Einhorn hatte Kaschkas in den Sand gesetzt und war davongejagt. Alles in allem war Kaschkas’ Zusammentreffen mit den Coromanen eine einzige Enttäuschung gewesen. Sie waren frech, die Brüder. Sie hatten allen Ernstes die Stirn, den häßlichen Gnomen – wie hieß er doch gleich? Kalahar, richtig – wieder vor Kaschkas’ Augen erscheinen zu lassen. Kaschkas hätte gern gewußt, was Coroman Hassif an diesem krummghedrigen Zwerg so bemerkenswert fand, daß er ihn in seine Dienste genommen hatte. Er schnippte mit den Fingern. Vier seiner Cirymer stürzten auf die Gesandtschaft los, und ehe sich’s der Gnom versah, war er gepackt und davongezerrt. Seine Gefährten machten keinerlei Anstalten, ihm zu helfen. »Zu Hilfe!« winselte Kalahar. Es bereitete Kaschkas großes Vergnügen, sich das Jammern des Gnomen anzuhören. Er nahm sich vor, Kalahar recht lange wimmern und winseln zu lassen. »Was wollt ihr?« fragte Kaschkas düster. »Friedensvorschläge unterbreiten«, sagte der Anführer der Coromanen. »Warum kommt Hassif nicht selbst?« fragte Kaschkas. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie sich Kalahar in den harten Fäusten der Cirymer wand und krümmte. »Ist er zu feige?« 46
»Unser Anführer ist keine Memme«, begehrte der Coromane auf. »Er ist bereit, sich mit dir zu treffen. Die Bedingungen kannst du nennen.« Kaschkas kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Er wollte nicht länger Kaschkas heißen, wenn dieses Angebot nicht einen sehr üblen Geruch hatte. Das stank geradezu nach Verrat und Heimtücke – Kaschkas kannte sich da bestens aus, schließlich war er selbst der abgefeimteste unter den Cirymern, und vor seiner Niedertracht hatte bislang jeder klein beigeben müssen. »Wann? Und wo?« Der Anführer der Coromanenabordnung breitete wohlwollend die Arme aus. Er lächelte. »Wo es dir beliebt, Held der Cirymer.« Den blöden Posten neben Kaschkas mochten solche Sprüche eingehen wie Salböl, Kaschkas konnten sie nur vorsichtig machen. Für wie dumm hielt man ihn, daß man ihm derart dick den Honig ums Maul zu schmieren trachtete? Er grinste. Wenn die Lumpen gehofft hatten, er würde die offene Großzügigkeit des Coroman Hassif mit gleicher Münze heimzahlen, so sollten sie eines Besseren belehrt werden. »So bald wie möglich«, sagte Kaschkas. Er deutete mit seinem Dolch auf eine Stelle vor seinem Sitz. »Und zwar hier!« »Wie es dir beliebt«, sagte der Coromane und deutete eine Verbeugung an. »Wir eilen, deine Wünsche dem Coroman Hassif zu übermitteln.« »He, Freunde! Vergeßt mich nicht!« Kaschkas deutete auf Kalahar, der sich freizustrampeln versuchte. »Er bleibt hier«, sagte er entschieden. »Oder braucht ihr ihn noch?« Der Coromane warf einen Blick auf Kalahar, der an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrigließ. Er grinste dreckig. »Von mir aus kann er hierbleiben«, sagte er 47
herablassend. »Es wäre allerdings ratsam, dafür zu sorgen, daß er sich nicht bei Hassif beschweren kann.« »Schurke!« schrie Kalahar, dem vor Entsetzen schier die Augen aus dem Kopf zu quellen schienen. »Du kannst mich doch nicht zurücklassen, du elender Halunke. Sie werden mich morden.« Der Anführer der Coromanen zuckte nur mit den Achseln. »Möglich«, sagte er knapp und wandte sich zum Gehen. Er grinste Kaschkas an, dann warf er noch einen Blick auf Kalahar. »Viel Vergnügen«, wünschte er und entfernte sich mit seinen Leuten. »Nun zu dir«, sagte Kaschkas. »Bringt ihn her!« Der Krüppel schwitzte vor Angst, er war ganz weiß geworden im Gesicht. »Schurke«, sagte Kaschkas fast liebevoll. »Mordbube, elender. Du wirst mir auf der Stelle erzählen, was dein nicht minder schurkischer Anführer ausgebrütet hat, oder, bei meinem Leben, du wirst für jedes Haar auf meinem Körper einen lauten Schmerzensschrei ausstoßen.« »Gnade!« winselte Kalahar und warf sich vor Kaschkas auf den Boden. »Erbarmen. Ich weiß von nichts.« »Zwerg!« herrschte Kaschkas den Coromanen an. »Ich warne dich, meine Geduld nicht zu reizen. Rede, oder du wirst schreien.« Kalahar hob den Kopf ein wenig und schielte Kaschkas von unten her an. Die Mundwinkel des Krüppels zuckten. »Ich…«, begann er. Kaschkas schnippte mit den Fingern. Zwei der Wachen sprangen hinzu und rissen Kalahar in die Höhe. »Ich werde dich rufen lassen, wenn du vom Schreien heiser bist«, versprach Kaschkas und machte eine heftige Armbewegung. »Nein!« gellte Kalahars Schrei. »Ich will reden.« 48
Kaschkas grinste boshaft. Seine Wachen stellten den Zwerg wieder auf die Beine. »Nun?« Kalahar schielte ängstlich nach allen Seiten. »Könnten wir das nicht drinnen besprechen?« fragte er halblaut und deutete auf die Leinwand des Zeltes. Kaschkas runzelte die Stirn. »Komm herein«, sagte er dann und betrat sein Zelt. Er traute dem Buckligen nicht zu, daß er versuchte, ihn zu überfallen. Kaschkas wußte sich seiner Haut zu wehren. Wohl aber war möglich, daß der Zwerg eine Schurkerei mit Gift oder ähnlichem im Schilde führte. Kalahar hätte einen solchen Anschlag zwar mit dem Tod büßen müssen, aber vielleicht fürchtete er den Tod weniger als den Zorn des Coroman Hassif, von dem Kaschkas wußte, daß seine Ausbrüche die Coromanen in Furcht und Schrecken zu versetzen vermochten. Kalahar huschte in das Zelt. »Du hast recht«, begann er ohne Umschweife. »Coroman Hassif plant tatsächlich einen Bubenstreich. Er will dich überlisten, überfallen und niedermachen.« Kaschkas grinste zufrieden. Hassif war also ein ganz gewöhnlicher Schurke und Halunke, habgierig, treulos, verräterisch bis ins Mark, niederträchtig, verschlagen, verlogen, blutgierig, rücksichtslos, ohne jedes Ehrgefühl – eine Seele, der sich Kaschkas verwandt wußte. Mit solchen Gesellen kannte er sich aus. »Was hat er vor?« fragte er. Er setzte sich in einen Sessel und nahm einen Humpen zur Hand. Das Bier war köstlich kühl. »Ich weiß es nicht genau«, begann Kalahar. Kaschkas machte ein müdes Gesicht. Er zuckte mit den Achseln, schüttelte den Kopf. »Du langweilst mich«, sagte er. »Wie oft soll ich die Wachen noch mit dir beschäftigen?« Kalahar rollte mit den Augen. »Ich weiß es wirklich nicht 49
genau«, katzbuckelte er, fortwährend nach den Wachen schielend, deren Beine mit den Lederstreifen der Schuhe er im Dreieck des Zelteingangs sehen konnte. Er deutete auf die Posten. »Kannst du ihnen trauen?« fragte er mit verschwörerischem Unterton. Kaschkas wölbte die rechte Braue. Wollte der Gnom etwa mit ihm allein sein? Der Gedanke war lächerlich. Zum einen traute Kaschkas ohnehin niemandem, sowenig, wie irgendeiner ihm selbst traute. Zum anderen plante Kalahar doch nicht allen Ernstes, sich an ihm zu vergreifen? Kaschkas befahl die Wachen herein und schickte sie dann weg. Kalahar sah den Posten zufrieden nach. Wieder nahm Kaschkas einen Schluck Bier. Der Blick, mit dem er Kalahar maß, verriet, daß seine Geduld damit ein Ende gefunden hatte. »Rede!« befahl der Häuptling der Cirymer. »Und ich sage dir: Rede weise! Meine Geduld ist erschöpft.« »Meine auch«, sagte Kalahar und richtete sich auf. Sein Gesicht bekam einen triumphierenden Ausdruck. »Einfältiger Narr, was wagst du mir zu sagen? Weißt du nicht, mit wem du redest?« »Heiliges Ungeziefer«, entfuhr es Kaschkas. Er hatte mit allerlei Überraschungen gerechnet, nicht aber damit, daß Kalahar überschnappte und größenwahnsinnig wurde. Fast tat er Kaschkas leid, als er sich hoch aufrichtete und so tat, als hätte er tatsächlich etwas zu sagen. Kaschkas behielt vorsichtshalber die Hand am Schwert. Man konnte nicht wissen, ob dieser Irre nicht wider jede Vernunft plötzlich auf ihn losging. »Du bedrohst mich mit der Folter, du elender Wicht!« tobte Kalahar, das Gesicht rot vor Zorn. »Du widersetzt dich meinen Plänen, überfällst Gesandte, nimmst Geiseln. Auf die Knie, Verruchter!« Kaschkas überlegte, was er tun sollte. Zum einen war er 50
entschlossen, den Irren auf der Stelle zu erschlagen; jeder andere, der in diesem Ton zu ihm zu reden gewagt hätte, hätte den Kopf bereits vor den Füßen gehabt. Auf der anderen Seite war Kaschkas gespannt, was sich der Wahnsinnige noch würde einfallen lassen. Langsam begriff der Cirymer, welche Überlegungen Coroman Hassif dazu bewogen haben mochten, den Gnomen als Leibnarren einzustellen – wenn man wußte, was der Gnom in einem seiner Anfälle veranstaltete, war er wahrscheinlich recht possierlich. »Auf die Knie!« brüllte Kalahar. In diesem Augenblick griff die Angst nach Kaschkas. Siedendheiß stieg sie in ihm empor, sackte bleischwer zurück in seinen Körper, legte sich mit kaltem Würgen auf Herz und Lunge. Er klapperte mit den Zähnen. Er kippte vornüber, fiel auf die Knie. Das kalte Grauen hatte ihn im Griff. Angst würgte ihn und schnürte ihm die Kehle zu. Zu riesiger Größe schien Kalahar angeschwollen, furchteinflößend wirkte die Gestalt auf den Anführer der Cirymer. Wie aus weiter Ferne drang Kalahars Stimme an sein Ohr. »Dafür wirst du mir büßen, Cirymer-Häuptling. Dein Schreien wird bis zum Koloß von Tillorn dringen.« Kaschkas zwinkerte heftig. Seine Augen schienen auf seltsame Weise gestört. Er hatte beinahe den Eindruck, als verwandle sich Kalahar vor seinen Augen in einen ganz anderen Menschen. Auch die Stimme wandelte sich. »Ich werde dich einstweilen verschonen, du Wicht«, stieß Kalahar hervor, begleitet von einem wild dröhnenden Lachen. Klang seine eigene Stimme nicht ähnlich? Kaschkas zitterte am ganzen Leib. Was er sah, erfüllte ihn mit schauderndem Entsetzen. Er sah sich selbst, ein gespenstisches Zwischenwesen, halb Kalahar, halb er selbst. Furchtgeschüttelt verstand Kaschkas plötzlich, in welche 51
Falle er getappt war. Nicht Mythor war es gewesen, der die Cirymer hatte täuschen können. Und Kaschkas wußte jetzt auch den Grund, warum der Schiefkörprige die Gesandtschaften der Coromanen stets begleitet hatte. Vieles verstand Kaschkas in diesen endlos langen Augenblicken des Grauens. Er begriff jetzt, wie es Kalahar geschafft hatte, die Coromanen zu kontrollieren, und Furcht ergriff den Cirymer, wenn er daran dachte, was Kalahar mit den Cirymern machen würde. Kaschkas versuchte nur für einen winzigen Augenblick, um Hilfe zu rufen. Es war vergeblich. Die Angst, auch sie künstlich geschaffen von Kalahars Magie, beutelte den Cirymer derart, daß er nur ein hilfloses Lallen über die Lippen brachte. Dann war das Werk vollendet. Kaschkas stand sich selbst gegenüber. Kalahar hatte seine Rolle übernommen. »Du brauchst dich nicht vor dem Tod zu fürchten«, sagte Kaschkas zu sich selbst. »Es wird viel schlimmer für dich sein, als mein Gefangener zu leben.« Der falsche Kaschkas verließ das Zelt. »Laßt den Buckligen nicht entkommen«, mahnte er die Wachen, die auf sein Winken hin herbeigeeilt waren. »Wenn er zu fliehen versucht, tötet ihn nicht, verwundet ihn nur.« Ohnmächtig mußte Kaschkas das mit anhören. Er konnte kein Glied rühren, so sehr hatte die Furcht ihn gelähmt. Haß tobte in Kaschkas, wütender Haß auf den Mann, dem er dieses grausige Schicksal zu verdanken hatte, aber nicht einmal die Glut dieses Hasses war imstande, den eisigen Panzer der Furcht zu durchbrechen, die Kaschkas gebannt hielt. »Da kommt er, Kaschkas!« hörte der Mann im Zelt rufen. Er erkannte die Stimme eines seiner Unterführer, dann seine eigene Stimme – seltsam verzerrt, aber dennoch typisch. 52
»Laßt ihn kommen«, sagte der falsche Kaschkas vor dem Zelt. »Vielleicht können wir uns mit ihm verbünden, wer weiß.« »Willst du dich ducken vor diesem Burschen?« fragte der Zeltälteste. „Kaschkas hörte sein eigenes boshaftes Lachen, mit dem er so oft Gefangenen den Schauderpelz auf die Haut gezaubert hatte. »Natürlich nicht«, sagte der falsche Kaschkas. Was mochte er vorhaben? überlegte Kaschkas. Was für eine Schurkerei hatte der Bucklige ausgebrütet? Kaschkas ahnte, daß er in dieser Beziehung seinen Meister gefunden hatte. An Niedertracht und schurkischer Gesinnung nahm es niemand mit Kalahar auf. »Sei mir willkommen, Coroman Hassif«, sagte Kaschkas draußen, während der Kaschkas drinnen sich nicht rühren konnte – und in diesem Augenblick auch nicht wollte. »Wir wollen miteinander reden«, sagte Hassif. Kaschkas konnte das dröhnende Organ des Räuberhäuptlings deutlich hören. Kannte Hassif denn seinen eigenen Leibmagier nicht? Oder war – Kaschkas durchfuhr eine Ahnung – auch Coroman Hassif nur Trugwerk? Täuschung wie der Kaschkas, der draußen redete und alle Cirymer zu täuschen vermochte? »Du willst zu den Inseln, auf denen der Schreckliche haust und heert?« fragte Kaschkas. »Das wollen wir auch… Warum verbünden wir uns dann nicht?« »Ein Coroman Hassif verbündet sich nicht«, sagte draußen die dröhnende Stimme. Kaschkas ahnte furchtgepeinigt, was kommen würde. »Nun, wir Cirymer denken auch nicht daran, uns dem Befehl eines Räubers und Wegelagerers zu beugen.« »Dann können wir das Gerede beenden«, sagte Hassif. Kaschkas konnte hören, wie er aufstand. 53
»Es fragt sich allerdings, wieviel die Coromanen noch wert sind, wenn es keinen Coroman Hassif mehr gibt«, sagte der falsche Kaschkas. Draußen war es für einen Augenblick still. Dann ertönte ein leiser Schmerzenslaut, sofort übertönt von einem erschreckten Aufschrei aller Umstehenden. Danach Schweigen, dann Hassifs verächtliche Stimme: »Schurke!« Dann Poltern, ein Geräusch von einem Körper, der auf den Boden fiel. Dann die Stimme des falschen Kaschkas: »Widersetzt sich noch einer meinem Befehl?« Kaschkas schloß die Augen. Kalahar hatte sein Spiel gewonnen. Coroman Hassif lebte nicht mehr – wenn er jemals gelebt hatte. Der neue Herr über Cirymer und Coromanen hieß Kaschkas. Der Täuscher trat ins Zelt. Er trug Kaschkas’ Dolch in der Hand, grinste und wischte das Blut an der Kleidung des Reglosen ab. »Und jetzt brechen wir zu den Lichtsplitterinseln auf«, sagte Kalahar zu seinem Opfer. »Du wirst staunen, was du noch alles zuwege bringen wirst.« Kalahar lachte laut und dröhnend, und Kaschkas stellte fest, daß er zum ersten Mal in seinem Leben weinte.
»Fern von hier stand meine Wiege, in einem Land, das ihr nicht kennen werdet. Es schadet also nichts, wenn ich euch den Namen nicht nenne. Meine Eltern gaben mir den Namen Vangard, und sie hofften, es würde ein großer und bedeutender Mann unseres Volkes aus mir. Das Schicksal meinte es gut mit mir. Ich konnte einen Teil dieser Wünsche meiner Eltern erfüllen. Viel habe ich gelernt in langen, mühevollen Jahren, und es ist mir gelungen, mir einen Namen zu machen in meinem Volke. Ihr müßt wissen, daß ich Magier 54
geworden bin, und ich glaube, kein schlechter. Mein Volk hat mir oft gesagt, ich sei ihm von großem Nutzen gewesen bei der Abwehr aller Angriffe, die gegen uns aus der Schattenzone vorgetragen wurden. Ich mußte aber nach langen Jahren erkennen, daß wir etwas falsch gemacht hatten. Im gleichen Maße nämlich, in dem wir das Böse aus unserer Welt vertrieben und zurückdrängten, kam das Böse als Verhängnis über die Völker des Nordens.« »Willst du damit sagen…«, unterbrach Mythor. Vangard lächelte. »Du irrst dich nicht, ich stamme aus dem Süden der Welt.« »Darüber muß ich mehr wissen«, stieß Mythor hervor. »Es ist sehr wichtig, nicht nur für mich. Wenn du von jenseits der Schattenzone kommst…« »Ich stamme aus dem Süden, aber ich kann dir nicht viel darüber sagen«, setzte Vangard seinen Bericht fort. Seine Stimme verriet nicht, ob er vergessen hatte, was er wußte, oder ob er keine Lust hatte, Mythor mehr anzuvertrauen. »Ich habe mit meinen Ratgebern beraten, und wir sind zu dem Ergebnis gekommen, daß wir den Nordern Hilfe bringen mußten. Also wurde ein Schiff ausgerüstet, das mich zu den Völkern des Nordens der Welt bringen sollte. Mein Volk war gegen diese Fahrt, aber ich habe sie dennoch unternommen. An ihrem Ende jedoch stand Schiffbruch. Ich bin an den Gestaden des Nordens gestrandet, ohne Ausrüstung. Meine magischen Kenntnisse und Fähigkeiten waren arg geschrumpft.« Mythor sah den Magier aus dem Süden mitleidig an. »Es war nicht viel, was ich retten konnte. Eines der Dinge war das Bildnis der Tochter des Kometen, das Bild Fronjas.« Mythor nickte. »Ich habe dann die Sprache der Norder, das Gorgan, erlernt, und ich habe auch versucht, mein Wissen über die Dinge zu 55
mehren, die im Norden der Welt vorgingen. So erfuhr ich auch, daß es im Norden Stützpunkte des Lichtboten gebe, die darauf warteten, vom Sohn des Kometen aufgesucht zu werden. Das ist der einfache Grund, der mich hierhergeführt hat… die Hoffnung, eines Tages dem Sohn des Kometen gegenüberstehen zu können.« Mythor lächelte. »Nach deinen Eröffnungen weiß ich selbst nicht mehr recht, ob ich es bin«, sagte er. »Eines Tages«, berichtete Vangard weiter, »ist hier ein Stummer Großer erschienen, zusammen mit seinem Gefolge. Auf eine Weise, die mir nicht bekannt ist, muß er davon gehört haben, daß ich Fronjas Bild hier aufbewahrte. Er erschien, wie er gesagt hat, im Auftrag des Kometensohns, um das Bildnis von mir zu fordern. Ich habe es ihm aber nicht gegeben. Nur dem Sohn des Kometen selbst wollte ich es überreichen. Daraufhin ist es zu einer Auseinandersetzung gekommen, in der ich Sieger bleiben konnte. Zu meinem Bedauern wurde aber genau in dieser Zeit das Bildnis gestohlen.« Nottr senkte schuldbewußt den Kopf. »Und nun?« Vangard beantwortete Mythors Frage mit einem Lächeln. »Ich hoffe sehr, daß du derjenige bist, auf den ich gewartet habe. Ich bin zuversichtlich. Ich werde dir helfen, den Koloß zu erreichen.« Lerreigen wandte sich an Vangard. »Du hast Olinga und die anderen hierhergeholt?« »Ich war es«, bestätigte Vangard. »In langen Jahren der Suche und der Mühe habe ich gelernt, den großen Schild des Kolosses meinen Zwecken dienstbar zu machen.« »Wie?« fragte Sadagar sofort. Vangard vollführte lächelnd eine Geste der Abwehr. »Es ist an der Zeit«, sagte er zu Mythor. »Du willst zum Koloß? Dann mußt du aufbrechen.« 56
Mythor griff nach Alton und lächelte ebenfalls. »Mit dieser Waffe werde ich jeden bezwingen«, sagte er zuversichtlich, und an diesem Gefühl änderte sich auch nichts, als er den Ausdruck großen Zweifels im Gesicht des Magiers aus dem Süden entdeckte.
»Der Boden ist jetzt leidlich trocken«, sagte Vangard. »Du kannst hinübergehen. Aber nimm dich in acht – es gibt Gefahren auf diesem Weg!« Mythor stand in einer kleinen, gut getarnten Pforte. Vor ihm lag der Boden des Talkessels. Im Hintergrund war der Koloß selbst zu erkennen. »Du weißt, du mußt das Visier erreichen«, sagte Vangard zum Abschied. »Ich habe schon einige gesehen, die das geschafft haben – zurückgekehrt ist jedoch keiner.« Mythor nickte guten Mutes. »Ich schaffe es«, behauptete er. Er machte sich auf den Weg. Ein paar Schritte lang konnte er noch die kleine Pforte sehen, dann wurde sie verschlossen. Er war allein – zumindest sah es so aus. Der Mond stand hoch über dem Talkessel. Sein fahler Schein erhellte den Weg, eine feuchte, schlüpfrige Strecke unebenen Bodens. Mythor war darauf gefaßt, daß er sich den Weg würde freikämpfen müssen, aber er kannte keine Furcht. Er war voll Vertrauen, daß er mit der selbstgestellten Aufgabe fertig werden würde. Was dort drüben auf ihn wartete, wußte er nicht. Gefährlich würde es in jedem Fall sein. Er entfernte sich langsam von der Wand des Talkessels. Er blickte kurz nach oben, aber dort war außer dem sternübersäten Nachthimmel nichts zu sehen. Der Boden war sehr feucht und zum Teil mit glitschigem Tang überwachsen, auf dem man sehr leicht ausgleiten konnte. Es gab auch einige Löcher im Boden, kleine und große, 57
und Mythor mußte aufpassen, in dem Zwielicht nicht in eines dieser Löcher zu treten. Er hatte noch nicht die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als sich die erste der erwarteten Gefahren einstellte. Aus dem diffusen Dunkel des Talbodens löste sich ein Körper und kam mit hoher Geschwindigkeit auf Mythor zugerast: eine riesenhafte Meeresspinne, ein achtbeiniges Scheusal. Sie reichte ihm bis an den Gürtel, und das war eine Größe, die zur Vorsicht zwang. Mythor trat zur Seite. Die großen Augen der Spinne glänzten im Mondlicht, ausdruckslos und mörderisch zugleich. Mythor konnte dem ersten Ansturm gerade noch ausweichen. Dicht neben seinem Oberschenkel krachten die gierig geöffneten Kiefer der Spinne aufeinander, als sie vergeblich nach seinem Bein zu schnappen versuchte. Mythor hob Alton, aber die Spinne warf sich mit großer Geschwindigkeit zur Seite. Mythor reagierte sofort und duckte sich. Aus dem Hinterleib der Spinne kam ein schleimiger Klumpen herangeflogen und verfehlte Mythor nur knapp. Das Schwert zuckte durch die Luft und durchtrennte den klebrigen Faden, der hinter dem Klumpen hergezogen wurde und sich um ihn gelegt hätte, wenn er nicht schnell ausgewichen wäre. Mythor machte einen Satz auf die Spinne zu, ließ Alton herabsausen und tötete das riesige Tier mit einem einzigen gewaltigen Streich. Den Kadaver ließ er liegen. Er wandte sich wieder dem Koloß zu. Er war nur einen winzigen Bruchteil eines Herzschlags unaufmerksam gewesen, und dieser kleine Fehler wurde ihm zum Verhängnis. Unachtsam trat Mythor auf den Klebefaden der toten Spinne, und ehe er begriff, was er getan hatte, waren seine Beine 58
gebunden. Er konnte gerade noch einen Schritt machen, dann hatte er sich derart verheddert, daß er nach vorn kippte und auf dem Boden landete. Jetzt zählte wieder jeder Augenblick. Aus dem Hintergrund schob sich nämlich eine gallertige Kreatur langsam auf Mythor zu – sie schien aus dem Halseinschnitt des Kolosses hervorzuquellen, ein schleimig glitzerndes Etwas, das stark nach Nesselgift roch. Mythor benutzte Alton, um sich zu helfen. Der Faden war rasch durchtrennt, aber die Knöchel saßen wie geleimt zusammen. Behutsam mußte Mythor die Klinge des Schwertes an den Knöcheln vorbeischieben, um die Bindung aufschneiden zu können. Der Schleim kam näher gequollen. Der Nesselgeruch verstärkte sich. Mythor wußte – wenn dieses Geschöpf ihn auch nur berührte, war er verloren. Das Nesselgift würde ihn entweder auf der Stelle töten oder mit rasendem Schmerz so verwirren, daß er keine Chance mehr hatte. Der rechte Fuß kam frei, dann der linke. Es wurde höchste Zeit. Glucksend näherte sich weiterhin das Verhängnis. Mythor spießte ein Stück des Spinnenfadens mit Alton auf und bewegte den Arm. Wie ein Geschoß flog der Spinnfaden dem kriechenden Schleim entgegen; mit häßlichem Klatschen prallte er auf ihn. Im Innern der Gallerte gluckerte es wieder. Die Bewegung wurde langsamer, stellte Mythor fest. Als der Mond hinter der Wolke hervorkam, die ihn seit einer Weile verdeckt hatte, konnte Mythor den Angreifer in voller Ausdehnung sehen – ein kniehoher Teppich aus weißlich schillerndem Schleim, der sich langsam voranbewegte. Die Spitze dieser Gallerte war von einem im Wind wehenden Bündel von Nesselfäden überzogen. Dort war auch der Spinnfaden gelandet, der von dem Gift binnen weniger 59
Augenblicke zerfressen wurde. Mythor wandte sich zur Flucht. Gegen ein Geschöpf dieser Art mit der Waffe anzutreten versprach keinerlei Erfolg. Irgendwo in der riesenhaften Gallerte gab es einen Nervenknoten, eine Art Gehirn des Nesselwesens - wenn Mythor dieses Gehirn nicht sofort fand und angriff, wurde er von dem Schleimmonstrum einfach überrollt, zerdrückt und aufgesaugt. Es gab nur eines – Flucht. Mythor wandte sich zur Seite. Er wollte versuchen, an der Gallerte vorbeizukommen. Er war sich klar darüber, daß er damit in eine offene Falle rannte. Das Schleimwesen brauchte ihm nur zu folgen und in weitem Bogen einzuschnüren. Stak Mythor erst einmal im Innern eines solchen Bogens, gab es kein Entkommen mehr – es sei denn in das Innere des Kolosses. Mythor rannte los. Auf seinem Weg zu dem Koloß sah er ein Tier auf dem Boden liegen, eine halbverweste Kreatur, die allerdings ein besonders großes, zahnbespicktes Maul gehabt haben mußte. Diese Kiefer waren in dem Kadaver nämlich gut zu erkennen – aber auch das Geschoß, das diese Kreatur getötet hatte. Es war ein Pfeil aus dem Mondköcher. Mythor wußte sofort, was das hieß. Luxon hatte sich bereits auf den Weg gemacht, und wenn sein Leichnam nicht irgendwo herumlag, womit Mythor nicht rechnete, hatte der Schurke bereits das Innere des Kolosses erreicht. Eines war tröstlich an dem Gedanken: Wenn Luxon es geschafft hatte, mußte Mythor es auch schaffen können. Schließlich, davon war Mythor überzeugt, war er der bessere Mann. Ein neues Hindernis stellte sich ihm in den Weg. Aus einem schmalen Spalt im Boden stiegen plötzlich ein Dutzend langer, dünner Tentakel auf, die sich langsam suchend bewegten. 60
Mythor schlug mit Alton zu und trennte ein halbes Dutzend der Tentakel ab – die Gliederstücke krochen auf dem Boden weiter, während aus dem Spalt neue Tentakel nachwuchsen. Wieder schlug Mythor zu, wieder mit diesem wenig erfreulichen Ergebnis. Hinter ihm schob sich langsam auf der Suche nach Beute der zähe Glitzerschleim heran, leise, fast geräuschlos, aber deswegen nicht minder furchteinflößend und bedrohlich. Mythor rannte einige Schritte zurück, und er stellte wenig begeistert fest, daß die abgetrennten Tentakel offenbar seine Fährte aufgenommen hatten und hinter ihm herkrochen. Er nahm Anlauf. Mit einem kleinen Satz war er der Gefahr ledig, die von den selbständigen Kriechtentakeln ausging. Ein zweiter weiter Satz brachte ihn über die eigentlichen Fangarme hinweg. Ein scharfer Schmerz zuckte durch Mythors Knöchel, aber er mußte weiter, auch wenn der Knöchel in Flammen zu stehen schien. Sein Tempo ließ wesentlich nach. Der Glitzerschleim holte sichtbar auf. Der Nesselgeruch wehte Mythor in die Nase und mahnte ihn, sich zu sputen. »Ein fürchterlicher Ort«, murrte er, während er sich vorwärts bewegte, auf den Koloß zu. Unterwegs traf er auf zwei weitere amphibische Kreaturen, auch sie von Pfeilen aus dem Mondköcher getötet. Luxon mußte also in der Nähe sein. Hoch ragte die riesige Gestalt des Kolosses vor Mythor auf. Im Licht des Mondes wirkte der gigantische Block schwarz und drohend. Es war schwer, sich vorzustellen, daß dies ein Stützpunkt des Lichtboten sein sollte. Mythor blieb stehen, spähte zurück. Der todbringende Schleim war näher gekommen. In diesem Augenblick hatte er jenen Kadaver erreicht, den Mythor gerade passiert hatte. Er 61
konnte beobachten, wie die Nesselfäden ihr Opfer umschlangen, wie farbiger Rauch aufstieg und sich die zähe Masse des Monstrums langsam über den Kadaver wälzte, der nach einigen wenigen Augenblicken verschwunden war. »Weiter!« murmelte Mythor. Er hatte ein Gefühl, als würde der Knöchel langsam zersägt, aber er konnte damit laufen und humpelte somit weiter. Dann war der Koloß erreicht. Glatt war die äußere Hülle dieses Gebildes. Es gab keine Möglichkeit, sie zu erklimmen. Mythor tastete den Körper mit den Händen ab. Das Gestein war angenehm anzufassen, unglaublich glatt lag es in der Hand, die nirgendwo Halt fand, um seinen Körper hinaufziehen zu können. Er blickte sich gehetzt um. Sein Vorsprung war nicht groß. Er befand sich auf der Höhe des rechten Unterkiefers. Ob es vielleicht im Ohr…? Mythor hetzte weiter. Das verletzte Bein zog er hinter sich her. Und dann war das Ohr erreicht. Es gab in dem Helm, den der Koloß trug, eine Höröffnung, ein enges schwarzes Loch. Er zögerte einen Augenblick. Wenn er in dieses Loch hineinkroch, gab es kein Zurück mehr. In ein paar Augenblicken würde der Glitzerschleim ihn erreicht haben, und wenn er besonderes Pech hatte, kroch der Nesselschleim ihm nach, und wehe ihm, wenn er aus dem Ohr des Kolosses keinen Ausgang mehr fand. Mythor kroch in die Öffnung hinein. Es war stockfinster. Er schob sich langsam weiter, hinein in den Koloß. Er hatte keine Ahnung, wohin der enge Stollen führen mochte, aber seine Nase verriet ihm plötzlich mit fast schmerzhafter Deutlichkeit, daß der Nesselschleim sich genau so verhielt, wie er es am wenigsten brauchen konnte – die schleimige Bestie machte sich daran, ihm nachzukriechen. Der 62
Sohn des Kometen fühlte sein Herz schneller schlagen. Der Stollen wurde enger, aber er führte weiter. Mythor geriet ins Schwitzen. Jedes Stück, das er zurücklegte, kostete unglaubliche Kraft. Den Schmerz im Knöchel hatte er vergessen. Jetzt kam alles darauf an, so schnell wie möglich aus diesem Stollen herauszukommen. Mythor hatte das Gefühl, als führe der Gang langsam in die Höhe, auf den Koloß hinauf. Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Kühle Luft schlug ihm entgegen. Sie kam von vorn, aus der Richtung, in die er kroch. Es gab also einen Ausgang - und mehr wünschte er sich einstweilen gar nicht. Dann war das Ende des Stollens erreicht. Mythors Arme fanden eine Kante, er zog sich in die Höhe. Das Licht des Vollmonds zeigte ihm, wo er sich befand – auf der Oberlippe des Kolosses, knapp unterhalb der Nase. Und nur wenige Schritte entfernt glänzte im Licht des Mondes das Visier des Kolosses von Tillorn. Mythor lächelte zufrieden.
Das Visier glitt langsam in die Höhe, wie von Zauberhänden geführt. Mythor hatte nichts zu sagen brauchen; fast schien es, als wisse der Koloß, daß jemand in ihn eindringen wollte. Ein fahler Schein schlug Mythor aus dem Inneren des Visiers entgegen, ein Leuchten wie von einem besonders hellen Mond. Er trat auf den Eingang zu. Was er sah, erschreckte ihn nur wenig. Unmittelbar unter dem Visier des Kolosses von Tillorn war ein Gesicht zu erkennen – ein behelmtes Haupt, dem des Kolosses zum Verwechseln ähnlich, nur wesentlich kleiner. Mythor entsann sich der Zeichnung dieses Fixpunkts auf 63
dem Orakelleder: sechs Halbkreise, gegenüberliegend und sich überlappend. Die Folgerung daraus lag bei dem Anblick, der sich Mythor bot, auf der Hand: Es gab nicht nur einen Koloß von Tillorn – es gab deren sechs, einer in den anderen hineingeschachtelt. So, wie Mythor die Fähigkeiten des Lichtboten einschätzte, waren diese sechs ineinander verschachtelten Kolosse aus einem einzigen massiven Stück herausgeschlagen worden – eine schier unvorstellbare Leistung. Mythor stand auf dem Gesicht des zweiten Giganten, als ein leises Scharren hinter ihm andeutete, daß sich das Visier wieder schloß. Er lächelte. »Gefangen«, sagte er amüsiert. Er entsann sich Vangards Warnung – viele schon hatte der Magier aus dem Süden in den Koloß hineingehen sehen, keiner war jemals zurückgekehrt. Es gab also in diesen Räumen eine Gefahr, der diese Männer zum Opfer gefallen waren. Mythor sah sich um. Es gab Treppen in dem Zwischenraum zwischen dem äußeren und dem darunterliegenden Koloß – aber diese Treppen waren nicht mehr zu benutzen. Früher einmal mochte der Koloß aufrecht gestanden haben, und damals waren auch die Treppen sinnvoll gewesen. Jetzt lag der Koloß auf dem Rücken, und mit den Konstruktionen aus Holz ließ sich wenig anfangen. Immerhin gaben sie Mythor einen Hinweis, daß man sich im Inneren des Kolosses bewegen konnte und vermutlich auch sollte. Das Ziel ergab sich aus der Anordnung der Treppe – sie mußte irgendwo hinabführen zu den Füßen des Giganten. Mythor versuchte, sich die Verhältnisse früherer Zeiten vorzustellen. Damals hatte der Koloß aufrecht auf seinen Füßen 64
gestanden. Von dort führte eine hölzerne Treppenkonstruktion im Zwischenraum hinauf zum Gesicht des zweiten Giganten. Daraus ergab sich für Mythor die zwingende Schlußfolgerung, daß ein eventueller zweiter Zugang zum Koloßinneren oben in der Nähe des Gesichts zu suchen war. Da zweifelsohne jeder Mann mit Vernunft auf diesen naheliegenden Gedanken verfallen würde, beschloß Mythor, den Spieß umzudrehen – er wollte zu den Füßen des Kolosses vordringen. Der Treppe und ihrem Holz traute Mythor nicht. Die ganze Konstruktion machte auf ihn einen arg morschen und baufälligen Eindruck. Vielleicht gab es auch versteckte Fallen, eine Stiege beispielsweise, bei deren Betreten aus einem Versteck ein Dutzend Pfeile oder vergiftete Speere hervorschnellten. Es gab Leute, die sich solche Mordkonstruktionen ausdachten und auch tatsächlich bauten. Viele Jahre waren vergangen seit dem Umkippen des Kolosses, und diese Zeit war genutzt worden, wie er nun feststellte. Es gab Spinnen, die sich in der Höhlung heimisch fühlten und allenthalben ihre Netze gebaut hatten. Schon nach kurzer Strecke war Mythor über und über mit Spinnweben bedeckt. Es war eine sehr seltsame, schweigende Welt, in der er sich bewegte. Nichts außer seinen Atemzügen war zu hören, nur ab und zu leises Knirschen, wenn er über Hölzer hinwegturnte. Dazu kam die gespenstische Beleuchtung. Erst beim zweiten Hinsehen war Mythor aufgefallen, daß das unheimliche Licht, das offenbar keine sichtbare Quelle hatte, keinen Schatten erzeugte. War dies ein erstes Zeichen, daß der sechste Fixpunkt des Lichtboten als einziger den Mächten des Dunkels nicht in die 65
Hände gefallen war? Oder saßen auch hier bereits die Abgesandten des Bösen – wie beispielsweise die unheimlichen Gäste in der Lichtburg, in der Mythor das Gläserne Schwert gewonnen hatte? Xanada und der Nöffenwurm, zwei grausige Gesellen, die Mythor nur unter unsäglichen Mühen hatte bezwingen können. Lauerten hier ähnliche Gefahren, ähnliche Aufgaben auf den Sohn des Kometen? Zu sehen war von solchen Gefahren nichts. Mühsal war einstweilen alles, was auf Mythor wartete. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, auf der Oberfläche des ersten Innenkolosses zu spazieren. Die naheliegende Lösung, an der Wandung entlangzurutschen, bis er den Boden berührte, erschien ihm wenig ratsam – er witterte Unheil. Auf der Oberfläche aber mußte er sich vorsehen. Glatt und tückisch war der Marmor, und es gab wenig, woran man sich festhalten konnte. Dieser Innenkoloß war merklich einfacher gearbeitet als der äußere. Es fehlten die feinen Details, und Mythor mutmaßte, daß er im Zentrum des Kolosses nur noch einen Umriß vorfinden würde – vorausgesetzt, er kam so weit. Um einen Bereich des Kolosses machte Mythor vorsichtshalber einen Bogen – um den Sonnenschild. An dieser Stelle wölbte sich der Innenkoloß besonders hoch, und Mythor ahnte, daß dort besondere Kräfte am Werk sein mochten. Er kletterte auf der Nachbildung des Gläsernen Schwertes entlang. Die Zeichen waren zwar nur schwer zu erkennen, aber es gab sie. Wenn es noch eines Hinweises bedurft hätte, daß dies ein Fixpunkt des Lichtboten war, war er damit gegeben. Mythor erreichte die Füße des Innenkolosses. Dort war kein Eingang zu erkennen. Wenn einer existierte, war er hervorragend getarnt. Er stellte außerdem fest, daß der Innenkoloß nicht, wie er vermutet hatte, auf der Innenwand des Außenkolosses auflag 66
– es gab vielmehr zwischen den beiden Körpern den gleichen Zwischenraum, den Mythor auch oberhalb gefunden hatte. Der Zugang zum nächstinneren Koloß war relativ bald gefunden. Er fand schließlich eine Öffnung in der Nähe der Füße, am linken Unterschenkel. Um diese Öffnung erreichen zu können, mußte Mythor sich unter den Innenkoloß begeben – und er mißtraute der Stützkonstruktion, die diesen Koloß hielt. Es gab auch Hinweise, daß die Angelegenheit lebensgefährlich war – ein paar bleiche Knochen zeigten, daß jemand hier gestorben war, und die Zustandsform der Knochen ließ vermuten, daß der Betreffende keines sehr angenehmen Todes gestorben war. Mythor überlegte, bevor er handelte. Dann bewegte er sich vorwärts, auf die Öffnung am linken Unterschenkel zu. Es passierte, womit er gerechnet hatte. Der Innenkoloß begann sich zu bewegen. Er sank herab, und die Bewegung war so schnell, daß Mythor zerquetscht würde, bevor er die Öffnung erreicht hatte. Alles in Mythor schrie danach, entweder die Flucht anzutreten oder aber so schnell wie möglich zu dem Loch zu rennen. Aber er beherrschte sich. Flucht erschien ihm als sinnlos, sie hätte ihn buchstäblich keinen Schritt weitergebracht. Eile schien da wesentlich naheliegender zu sein, aber bittere Erfahrung hatte Mythor gelehrt, daß das Naheliegende nicht notwendigerweise das Richtige sein mußte. In der Tat – der Koloß sank nun langsamer. Mythor bewegte sich sehr zögernd, und er erreichte die Einstiegsöffnung in den nächsten Innenkoloß zu einem Zeitpunkt, da er nur noch wenige Handbreit Luft zwischen den beiden Wänden vorfand. Es gehörte unerhörte Nervenbeherrschung dazu, die letzte 67
Handbreit zurückzulegen. Der Koloß berührte Mythors Brust, ganz sacht, und die gewaltige Größe dieses Marmorblocks ließ es jedem geraten erscheinen, sich so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen. Mythor bewegte sich trotz des langsam zunehmenden Druckes gemächlich, und so schlüpfte er glatt und ohne große Mühe hinein in den zweiten, inneren Koloß. Obwohl er mit diesem Ergebnis gerechnet hatte, atmete er erleichtert auf, als die Gefahr vorüber war. Wehe dem Unglücklichen, der den Trick nicht erkannte – er wurde wahrscheinlich binnen weniger Augenblicke zermalmt. Mythor konnte mit sich und seiner Nervenstärke zufrieden sein – möglich, daß er im Kampf um die Geheimnisse des Fixpunkts seinem Rivalen etliche Stunden abgenommen hatte. »Weiter!« sagte er leise, sobald er seine hämmernden Herzschläge wieder beruhigt hatte. Das Bild hatte sich nur unwesentlich geändert: Wieder war ein Koloß zu erkennen, noch gröber strukturiert als der erste, aber in seinen Umrissen eindeutig. Auch hier gab es eine Treppe – sie führte von den Füßen des Kolosses hinauf zum Kopf und lag wie die gesamte Inneneinrichtung auf der Seite. Mythor ging weiter. Diesmal blieb er auf dem Boden und verzichtete darauf, den Koloß zu erklettern. Der Raum zwischen den Kolossen war nicht sehr groß. Es war bedrückend, eine ungeheuer schwere Last so dicht über sich zu wissen – nur gehalten von magischen Kräften und einer sehr zerbrechlich wirkenden Holzkonstruktion. Wer diesem Anblick nicht gewachsen war, konnte rasch einen Koller bekommen und verfiel möglicherweise völlig dem Wahnsinn. Auch in diesem Koloß herrschte das gleiche schattenlose Licht, das Mythor bereits kannte. Es schien ihm ein wenig heller zu sein als im ersten Zwischenraum. Er arbeitete sich weiter vorwärts. Sein Ziel war der Kopf 68
dieser Statue – dort vermutete er den Zugang zum nächsten Koloß. Bald entdeckte er die Überreste derer, die es bis hierher geschafft hatten, aber nicht weitergekommen waren. Er ahnte, daß der Koloß nur eine Wegrichtung kannte - vorwärts. Der Weg zurück war für jeden Eindringling versperrt. Die meisten der Wagemutigen, die eingedrungen waren, schienen an der nächsten Sperre gescheitert zu sein – zurück hatten sie nicht gekonnt, und so waren sie in diesem Zwischenraum elend zugrunde gegangen. Ein Skelett nach dem anderen erschien an Mythors Weg. Es war ein Weg des Grauens. Überall lagen bleiche Gebeine, fleischlose Schädel, die den neuen Wagemutigen höhnisch anzugrinsen schienen, als wollten sie die hämische Schadenfreude ausdrücken, daß auch Mythor ein Tod in Qual nicht erspart bleiben würde. Dann entdeckte Mythor einen Haufen feinen hellen Staubes – vermutlich die Überreste eines Menschen, der vor sehr langer Zeit hier gestorben war. Jemand hatte seinen Fuß in diesen Staub gesetzt. Der Abdruck war klar und deutlich. »Luxon!« murmelte Mythor. Der Abdruck schien sehr frisch zu sein, Luxon war also in der Nähe. In diesem Augenblick sah Mythor einen Schatten huschen. Er kam von oben. Er spähte hinauf. Vorher hatte er nichts davon bemerkt, aber jetzt erkannte er, daß er hinaufsehen konnte in das Innere des nächsten Kolosses. Und er konnte dort eine Gestalt erkennen, immer klarer und klarer. Es war, als öffne sich für Mythor ein Fenster. »Luxon«, murmelte Mythor wieder. Er sah den Widersacher ganz deutlich. Luxon hatte die nächste Ebene schon erreicht. Mythor sah, 69
wie er auf ein seltsames Gespinst einschlug, das ihm offenbar den Weg versperrte. Luxons Gesicht war von Wut und Haß gezeichnet, mit wilder Erbitterung hieb er auf das federnde Gespinst ein – offenbar ohne großen Erfolg. Mythor lächelte. Mit brutaler Gewalt ließ sich in einem solchen Raum nichts ausrichten. Wenn es zutraf, was Mythor hoffte, daß dieser Ort fest in Händen der Lichtmacht war, gab es nichts Falscheres, was Luxon tun konnte, als mit dem Schwert dreinzuschlagen. Auf solche Mittel reagierten die Kräfte des Lichtes nicht. Seltsam war, daß Luxon seinerseits Mythor nicht wahrzunehmen schien. Er drehte sich zwar einmal um, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, und obwohl er Mythor genau ins Gesicht blicken mußte, reagierte er nicht. Es schien dies ein weiteres Geheimnis des Kolosses zu sein. Mythor bewegte sich weiter. Er hoffte, Luxon erreichen zu können, bevor er das Gespinst zerhackte – woran Mythor allerdings zweifelte. Wenig später war er am Kopf der Kolossalstatue angelangt. Wie er nicht anders erwartet hatte, war der Zugang versteckt. Jeder Schritt im Inneren des Kolosses von Tillorn schien entweder mit Gefahr oder mit Rätseln gepflastert zu sein. Mythor machte sich an die Suche. Er brauchte länger, als er angenommen hatte, um am Schädel des Kolosses jene Stelle zu entdecken, auf die man drücken mußte, um den Eingang aufschwingen zu lassen. Dahinter lag ein Raum, wie ihn Mythor bereits kannte – hell und anscheinend schattenlos. »Hallo!« wollte Mythor rufen. Es lag ihm nichts daran, über Luxon herzufallen, er suchte den offenen Kampf. Mythor hörte nicht einmal den Klang seiner eigenen Stimme. Dieser Bereich des Kolosses von Tillorn war ein Raum absoluter Stille. Er war kaum eingedrungen – hinter ihm schloß sich sofort wieder der Eingang –, als er nicht einmal 70
mehr seinen eigenen Herzschlag vernehmen konnte. Diese Tatsache mochte belanglos erscheinen, aber sie erfüllte Mythor für einen fürchterlichen Augenblick mit wahrer Todesangst. Mochte sein wacher Verstand ihm auch sagen, daß das Verlöschen des Herzschlags nur auf magische Einflüsse zurückzuführen war, daß sein Herz nach wie vor schlug, daß er nicht in diesem Augenblick starb – das Gefühl war stärker als die Einsicht. Die plötzlich aufsteigende Todesfurcht war so groß, so wirklich, daß sie den Verstand lähmte. Nur der Helm der Gerechten nahm der magischen Beeinflussung die todbringende Kraft, und der rasende Ehrgeiz mochte Luxons Verstand vor dem Äußersten bewahren und ihn dies ertragen lassen. Mit jedem Schritt verstärkte sich das peinigende Gefühl, die Kontrolle über den eigenen Körper zu verlieren. Als erstes verschwand der Herzschlag, wenig später konnte Mythor nicht mehr sagen, ob er atmete oder nicht. Er spürte seine Brust nicht. Er hatte das Gefühl, langsam seinen ganzen Körper einzubüßen, und dieses Gefühl war schrecklich. Es gehörte unerhört viel Willensstärke dazu, nicht einfach davonzulaufen – wie es die anderen getan hatten, die den jämmerlichen Tod durch Hunger und Durst dem Grauen vorgezogen hatten, das in diesem Raum auf sie gewartet hatte. Irgendwo in diesen Räumlichkeiten mußte Luxon stecken – wenn er noch bei Sinnen war. Mythor glaubte nun begreifen zu können, warum Luxon wie besessen auf das Gespinst eingedroschen hatte, das ihm den Weg versperrte – die Todesfurcht hatte dem Mann im Genick gesessen, und wie furchtbar dieses Gefühl war, bekam er selbst in diesen Augenblicken zu schmecken. Daß Luxon sich aber auch von dieser Todesangst nicht zur 71
Gänze übermannen ließ, erwies sich ein paar Augenblicke später, als Mythor eben jenes Gestrüpp erreichte, vor dem er Luxon gesehen hatte. Es war ein Gespinst aus hellen Fäden, die in lockeren Schlingen von der Decke herabhingen. Mythor streckte die Hand aus, um den lästigen Vorhang einfach beiseite zu schieben, aber er kam nicht weit damit. Die losen Maschen des Gewirks zogen sich bei dieser Bewegung rasch zusammen, ein engmaschiges Netz hielt Mythor zurück, und dieses befremdliche Gewebe wurde um so dichter, je tiefer Mythor einzudringen versuchte. Er griff nach Alton, aber er sagte sich, daß rohe Gewalt das letzte sei, was sich in diesem Bereich der Welt sinnvoll einsetzen ließ. Es mußte einen anderen Weg geben. Er erkannte auch, daß die Fäden, die Luxon vor ihm zerschnitten hatte, sich längst wieder miteinander verwoben hatten. Irgendwie schien das Gewirk zu leben. Und irgendwo mußte es auch einen Anfang haben. Mythor suchte nach diesem Anfang. Seine Augen glitten musternd über die Schlingen, Windungen, Ausbuchtungen, Knoten und Verschlingungen. Er brauchte geraume Zeit, in der er sehr behutsam vorging, dann hatte er das Ende des Fadens gefunden. Vorsichtig zog er daran. Das Gewebe glitt zur Seite, öffnete ihm den Weg. Mythor lächelte. Er machte die wenigen Schritte, die nötig waren, dieses Hindernis zu überwinden. Hinter ihm fiel der lebende Vorhang geräuschlos zurück in seine alte Lage. Wieder hatte Mythor wertvolle Zeit wettgemacht. Er eilte weiter. Er strebte den Füßen des Kolosses entgegen, denn dort war mit Sicherheit der Zugang zum nächsten Raum zu finden. In der Tat gab es dort eine Öffnung. Mythor mußte sich bücken, um hindurchschlüpfen zu können. Als er wieder 72
aufsah, erkannte er, daß er in eine Falle gelaufen war. Luxon stand vor ihm. Nur ein paar Schritte entfernt, den Bogen in der Hand, einen Pfeil aufgelegt. In dem Augenblick, in dem Mythor das Gesicht seines Gegners sah, erkannte er das mordlustige Blitzen in dessen Augen, und im gleichen Augenblick ließ Luxon den tödlichen Pfeil von der Sehne schwirren. Er sah den Pfeil auf sich zukommen. Er kam langsam, fast gemächlich. Es war ein Kinderspiel, dem Geschoß auszuweichen. Mythor sah, wie sich Luxons Augen fassungslos weiteten. Offenbar – so reimte sich Mythor die Gegebenheiten zusammen – hatte Luxon ein ähnliches Fenster im Koloß gefunden wie er. Er hatte sehen können, wie der Sohn des Kometen aufholte, und er hatte sich an der richtigen Stelle auf die Lauer gelegt, um dem Rivalen ein rasches, heimtückisches Ende zu bereiten. Vergebens. Luxons Lippen öffneten sich zu einem Schrei. Dem Gesichtsausdruck nach zu schließen, wäre es ein Angstschrei geworden. Während der Pfeil sich langsam an Mythor vorbeibewegte, griff Luxon nach dem Schwert. Er zog die Waffe und stürzte auf Mythor zu. »Was soll das?« fragte Mythor laut. Er war erleichtert, seine Stimme wieder hören zu können. Offenkundig hatte jeder Innenraum des Kolosses von Tillorn seine eigenen magisch bestimmten Gesetzmäßigkeiten. »Gib auf, Luxon!« forderte er, während er die eigene Waffe zückte. »Es hat keinen Sinn, hier zu kämpfen.« Der Gegner schien nicht auf ihn hören zu wollen. Luxons Schwert fuhr in die Höhe, von oben her sollte der furchtbare Hieb Mythor treffen und ihn töten – doch schon während der 73
ersten Handbreiten des Abschwungs barst die Waffe in Luxons Hand. Klirrend fielen die Trümmer des Schwertes auf den Boden. Luxon ließ für einen Augenblick die Hände sinken. Er wirkte wie vom Schlag gerührt. Dann verzerrte sich sein Gesicht zu einer Fratze des Hasses. Mit ausgestreckten Armen stürzte er auf Mythor zu. Mythor unternahm keinerlei Abwehr. Er vertraute den Mächten, die diesen Raum erschaffen und unter ihr Gebot gestellt hatten. Seine Vermutung erwies sich als richtig. Er sah, daß Luxon ihn berührte, aber er spürte nichts davon, und Luxons Handbewegungen und der Ausdruck der Verzweiflung auf seinem Gesicht verrieten, daß der Angriff ins Leere gegangen war. Luxon bekam ihn einfach nicht zu fassen. »Sinnlos«, sagte Mythor, obwohl er fast sicher war, daß Luxon ihn gar nicht hören konnte. »Wenn du willst, können wir die Sache in einem ehrlichen, offenen Kampf austragen. Aber nicht hier und jetzt.« Er ließ den sich wie wahnsinnig Gebärdenden zurück und schritt weiter. Er hielt nichts davon, sich noch länger mit Luxon zu befassen – vermutlich hatten die Herren des Kolosses etwas dagegen. Luxon schien die besonderen Spielregeln dieses Ortes nicht begriffen zu haben, vielleicht weigerte sich sein Hirn auch, diese Regeln zu erfassen. Es wurde ihm hier nicht so leichtgemacht wie am Baum des Lebens; der Koloß von Tillorn war eine Prüfung gänzlich anderer Art. Die Tatsache, daß Luxons schurkischer Streich zur Gänze fehlgeschlagen war, ließ Mythor zu dem Glauben gelangen, daß sich der Koloß von Tillorn noch immer in der festen Hand der Lichtkräfte befand. Die Macht des Bösen hatte von dem Koloß noch keinen Besitz ergriffen. Es tat gut, das zu wissen – 74
vielleicht ließen sich hier endlich einige der Fragen beantworten, mit denen er sich seit geraumer Zeit herumschlug. Und vermutlich wurden die Kräfte des Lichtes mit jeder Schale stärker, die Mythor weiter ins Innere des Kolosses vordringen konnte. Luxon blieb sich selbst überlassen. Was aus ihm wurde, kümmerte Mythor vorläufig nicht, er wollte endlich das Herz des Kolosses erreichen. Er gelangte in den fünften der ineinander verschachtelten Kolosse, und hier traf er auf neue Gegner. Es waren fünf. Männer, Krieger, phantastisch gerüstet und gewappnet, furchteinflößende Gestalten. Die gepanzerten Arme vor der metallgeschützten Brust verschränkt, so standen sie da. Aus schmalen Sehschlitzen der Helme funkelten Mythor fünf dunkle, drohende Augenpaare entgegen. »Wer bist du?« »Mythor!« Der Sohn des Kometen nahm das Schwert zur Hand, aber er zog es noch nicht. »Kandar, Waroher, Aghoten, Moram, und ich bin Rungoth«, sagte der größte der fünf Krieger. Auf dem Helm wehte ein düsterroter Helmbusch, aber es war kein Wind zu spüren, der den Roßkamm hätte wehen lassen können. »Wir sind die Paladine des Heroen Rokkun… und wer bist du?« Mythor lächelte. »Der Sohn des Kometen«, sagte er schlicht. Lautes Gelächter klang ihm entgegen. »Lächerlich«, sagte Rungoth. »Willst du dich mit Rokkun messen, dem großen Helden, der unzählige Schlachten durchfochten hat, der das Einhorn zähmte…« »… das ich nun reite«, warf Mythor ein. »… der die Sprache des Schneefalken erlernte und den Bitterwolf zur Hand abrichtete…« »… die beide meine Gefährten sind«, ergänzte Mythor 75
trocken. »In meiner Hand seht ihr das Gläserne Schwert, das vor mir Althar getragen hat, und vor ihm Kanwall, sein Bruder, in der Schlacht von Kinweir. Aus Althars Hand empfing ich den Helm der Gerechten, den ihr sehen könnt. Der Bitterwolf gehorcht mir, auf Pandor reite ich, und Horus ist mein immerwachendes Auge in den Lüften.« Die Paladine des Heroen Rokkun bewegten die behelmten Häupter in langsamem Nicken. Sie schienen allerdings doch wenig beeindruckt von dieser Aufzählung. »Nichts bist du verglichen mit dem großen Rokkun, dessen Paladine wir sind. Du wirst dich mit uns messen, damit wir ersehen können, was für einer du bist.« Mythor schüttelte den Kopf. »Was ist damit gewonnen, wenn die Kämpfer des Lichtes in den eigenen Reihen furchtbar heeren? Wem ist damit gedient, wenn Freunde der Freunde Blut vergießen? Helfen wir nicht dem Bösen, wenn wir uns selbst furchtbare Wunden schlagen?« »Müßiges Geschwätz«, stieß Aghoten hervor. Er trug ein Büffelhaupt als Helmzier, das Fell fiel lang und schwer an seinem Rücken bis auf den Boden herab. In der Rechten trug er an langem Schaft eine doppelschneidige Streitaxt, sicherlich eine furchtbare Waffe in der Hand dieses Mannes. »So stell dich und steh!« sagte Aghoten. »So du dich zu deinen Göttern begeben willst, sprich ein letztes Gebet und wappne dich.« »Sollen sich die Kräfte des Lichtes wirklich bekämpfen?« fragte Mythor. »Feige?« Mit schneidender Schärfe, aber sehr leise gesprochen und darum doppelt boshaft fiel Kandars Frage in die kurze Stille. Aus blauschimmerndem Stahl war die Stachelkugel an der kurzen Kette, Kandars hirnzertrümmernde Waffe. Mythor lächelte. »Soll ich euch verwunden, töten vielleicht, um das zu beweisen?« fragte er. »Wollt ihr Altons Schärfe 76
schmecken, um zu wissen, daß es tatsächlich eine Waffe des Lichtes ist, die euer Fleisch schlitzt?« »Memme!« »Ich bin bereit«, sagte Mythor kalt. »Gehört ihr zu jener Sorte Helden, die zu fünft über einen herfallen?« »Wenig weißt du von den Heroen, daß du solche Schandtat auch nur andeutest. Ich zweifle, daß du überhaupt für das Licht streitest.« Mythor gab mit einer Kopfbewegung zu verstehen, daß er den Gedankengang verstanden hatte. »Wo ist Rokkun?« fragte er. Kandar machte eine wegwerfende Geste. »Was fragst du?« sagte er herablassend. »Du wirst hier sterben, und es ist nicht vonnöten, dich mehr wissen zu lassen, als du schon weißt.« »Ich dachte, dies sei ein Platz des Lichtboten«, sagte Mythor. »Deshalb bin ich hergekommen. Waffen, Wissen und Weisheit wollte ich mir wagend gewinnen. Die Waffen besitze ich, das Wissen ist noch unvollständig – und daß es mir vielleicht an der Weisheit gebricht, kann mich jetzt nicht mehr grämen, sehe ich doch an euch, wie wenig weise man sein muß.« Kandar ballte die Hand zur Faust. Das Metall des Panzerhandschuhs klirrte leise. »Was soll das heißen?« »Wer ist Herr dieses Hauses?« fragte Mythor. »Ist es Rokkun? Warum laßt ihr ihn nicht entscheiden, ob ich für die Kräfte des Lichtes eintrete? Warum soll der blinde Zufall des Kampfes über Recht und Richtigkeit entscheiden? Bin ich erst als Lichtkämpfer anerkannt, wenn ich die Paladine des Heroen getötet habe?« »Deine Rede ist dreist«, sagte Moram. »Sie ist aufrichtig, Lichtpaladin«, sagte Mythor gelassen. »Bist du anderer Meinung?« Die fünf standen ruhig. Sie bildeten einen Bogen; was dahinter war, ließ sich nicht ersehen. Eine schimmernde weiße 77
Wand, formlos und nicht greifbar, war hinter den Paladinen zu erkennen; weiß und ohne erkennbare Struktur war auch der Boden. Es war, als falle von allen Seiten Mondschein in den Raum, der keinen Eingang zu haben schien, keinen Ausgang, weder Decke noch Boden. »Du weigerst dich, zu kämpfen?« »Ich finde es unsinnig«, sagte Mythor. »Aber wisset eines – wenn ihr den Weg zum Heroen Rokkun nicht freigeben wollt ohne Kampf, dann werden wir kämpfen, und die Mächte des Dunkels werden frohlocken, wenn sie die Kunde von eurem Hinscheiden erfahren.« »Deine Sprache ist tollkühn«, sagte Moram. »Sie ist zuversichtlich«, verbesserte Mythor. »Warum laßt ihr den Heroen Rokkun nicht entscheiden?« Die fünf Paladine sahen sich an. Stumme Zwiesprache hielten sie mit den Augen. Schließlich wandten sie sich wieder Mythor zu. »Geh!«
Vor den fünf Paladinen hinter sich empfand Mythor keinerlei Furcht. Er wußte, sie würden ihr Wort halten. Sie hatten ihm gestattet weiterzugehen; sie hatten ihm den Weg frei gemacht. Jetzt war er unterwegs zum Heroen Rokkun, von dem er sich keine rechte Vorstellung machen konnte. Zahlreich waren die Heldentaten dieses Mannes Rokkun, der einer der größten unter den großen Helden gewesen sein mußte, jedenfalls hatten die Paladine ihn eindringlich daraufhingewiesen. Wenn alles stimmte, was die fünf von sich gegeben hatten, mußte sich Mythor in der Tat ärmlich vorkommen. Kaum etwas hatte er aufzubieten, was sich mit den Taten des unvergleichlichen Rokkun hätte messen können. Dennoch war er guten Mutes, als er weiterging. Um ihn herum war Weiße. Kaltes, helles Licht, bläulich, 78
schemenlos, konturenlos. Ein Meer aus mattweißer, lichter Kälte, in der sich Mythor fast geräuschlos bewegte. Kein Ton war zu hören, nicht einmal der Hauch seines Atems, nicht der Schritt seiner Füße, nicht das leise Klirren der Waffen an seinem Gürtel. Es war eine seltsame Welt, abweisend und anheimelnd zugleich. Die Reinheit und Weiße sorgten dafür, daß er sich klein, schmutzig, fast erbärmlich vorkam. Er sah die Spuren zahlreicher Kämpfe auf seiner Kleidung, Narben, Schrammen auf den Waffen. Schmutz an den Füßen. Die Haare waren wirr und schweißverklebt, und ein wenig war die Anstrengung der letzten Tage und Stunden an Mythors Gesicht und Haltung ablesbar. Die Umgebung aber in ihrer lichten Klarheit ließ in ihm das Gefühl aufkommen, als sei es unehrenhaft, zu schwitzen, Hunger oder Durst zu haben, ein Weib zu begehren oder sich an wilder Hatz im Wald auf Sauen zu erfreuen, am Würfelspiel, am würzschweren Wein. Die Umgebung, das kalte Weiß, das ihn eng umschloß, ließ Mythor bewußt werden, daß er von der höchsten Einsicht noch weit entfernt war. Was Vangard ihm gesagt hatte, fand in diesem Raum eine seltsame Bestätigung -zum Sohn des Kometen wurde man nicht geboren, man wurde dazu gemacht, hauptsächlich durch sich selbst. Mythor versuchte sich vorzustellen, welches Maß an überlegener Ruhe, weiser Abgeklärtheit, Weltentrücktheit und Einsichtstiefe einer aufbringen mußte, der für immer hier leben wollte. Mit fast schmerzhafter Deutlichkeit vermittelte der Raum Mythor das sichere Gefühl, daß er von dem Weg, den er zu gehen gewillt war, erst ein kaum sichtbares Stück zurückgelegt hatte – und das galt vor allem für die innere Entwicklung. Der Raum, den er durchschritt, war nicht abmeßbar, er entzog sich dem Zugriff des Wirklichen; es gab ihn, aber er 79
war nicht handfest, nicht greifbar. Und es war vor allem die Unbegrenztheit dieses Raumes, die scheinbare Endlosigkeit, die bewirkte, daß er sich ganz klein fühlte. Er wußte nicht, wie lange er schon durch diesen Raum gewandert war – fast kam er sich vor wie ein Pilger auf der Reise ins Ungewisse. Nach seinem Gefühl schritt er seit Stunden wacker aus, und dennoch konnte er nicht erkennen, daß er eine nennenswerte Strecke zurückgelegt hatte. Mythor wußte, wie groß der äußere Koloß war – knapp dreißig Mannslängen –, und er wußte, daß dieser Innenraum zwangsläufig kleiner sein mußte als der äußere Koloß. Wie hätte er sonst hineingepaßt? Dennoch: Er kam sich vor wie in einer riesigen Halle, die kein Ende nahm. Weiter und weiter wanderte Mythor. Seltsam, daß er keinerlei Angst verspürte. Er verstand von dem, was es um ihn herum gab, so gut wie nichts, aber er fürchtete sich nicht. Dies war kein Raum, in dem Furcht oder ähnliche Empfindungen zu Hause waren. Im Gegenteil, Mythor überkam als feines Ahnen das Gefühl, einer überaus wichtigen Sache dienstbar zu sein, Teil zu sein eines großen, alles überwölbenden Ganzen. Er lächelte. Rätselvolle Empfindung: Er verspürte zwei Regungen, die sich eigentlich widersprachen: Demut und Stolz, und er wußte, daß beide Empfindungen von diesem seltsamen Raum hervorgerufen wurden. Irgendwo in der Ferne, sehr weit voraus, erschien ein winziger schwarzer Punkt in dem endlosen bläulichen Weiß. Mythor marschierte darauf zu. Er vermochte nicht zu sagen, worauf er losmarschierte – es mochte ein gigantisches Tor sein, es mochte nichts weiter sein als ein kleiner Punkt. Es gab keine Vergleichsmöglichkeiten in dieser alles umfassenden Weiße. 80
Das Etwas kam näher. Es schien sich zu bewegen, auf Mythor zuzukommen. Das Etwas war schwarz. Ein Ring. Ein steinerner Ring aus dem gleichen grauen Marmor, aus dem der gesamte Koloß gebildet war. In dem Ring herrschte eine kalte, endlose Schwärze. Nichts war darin zu erkennen. Mythor sah, daß der Ring den Boden zu berühren schien. Hatte er das Tor gefunden? Immer weiter ging er darauf zu, auf das lockende Schwarz inmitten des eintönigen Weiß. Es schien, als werde er gleichsam hineingesogen in diese grundlose Schwärze. Mythor schätzte, daß der marmorne Ring mehr als mannshoch war. Das Nichts inmitten des grauen Marmors wirkte wie die Pupille eines ungeheuer großen Auges, schwarz, unergründlich, verlockend und beängstigend in einem. Mythor ging geradlinig darauf los. Dann hatte er den Ring erreicht. Einen Herzschlag lang zögerte er, dann trat er hinein. Heiß schoß die Angst in ihm hervor, versiegte dann blitzartig und machte einem Gefühl völliger Teilnahmslosigkeit Platz. Hinter der Schwärze gab es einen weiteren Raum. Mythor hatte den letzten, den innersten Koloß erreicht. Wieder der graue marmorierte Fels. Kleine blaue Flammen tanzten die Geäder entlang und versickerten im Fels. Ein warmes Dämmerlicht tauchte den Raum in ein mildes Rot, in dem jeder Umriß weich war, warm und nahezu behaglich. Mythor sah sich um. Er entdeckte Rokkun. Mehr als mannshoch war die Gestalt, ein vollständiges Ebenbild des riesigen Kolosses von Tillorn. Mythor schätzte, daß der Hüne mehr als zweieinhalb Meter maß. Er hatte die gleiche Haltung, die auch der Koloß eingenommen hatte. Ihm fehlte allerdings der Sonnenschild und natürlich das Gläserne Schwert. 81
Das Helmvisier war geschlossen, die Gestalt stand reglos. Lebte Rokkun? Mythor trat vorsichtig näher. Es sah nicht so aus, als gebe es noch Leben in der Gestalt. Der Hüne bewegte kein Glied, auch nicht die Brust, um zu atmen. »Willkommen«, sagte eine tiefe Männerstimme. Mythor schrak zusammen. Der Hüne hatte sich nicht bewegt. Wer hatte gesprochen? »Was willst du, Fremder, in Rokkuns Reich?« Mythor sah sich um. Er suchte die Stimme, und er fand etwas anderes: den Sonnenschild. Er hing an der Wand. Mythor deutete auf das Rund des Schildes. »Ich will den Sonnenschild holen«, sagte er einfach. »Er gehört mir«, sagte Rokkun. Mythor konnte immer noch nicht feststellen, woher die Stimme kam. Der Einfachheit halber tat er so, als stamme sie von der marmornen Gestalt. »Benutzt du ihn, Mann aus Stein?« fragte Mythor. »Draußen in der wirklichen Welt werden die Menschen gepeinigt und gemartert, weil die Kräfte des Bösen überhandnehmen. Jeder Mann, jede Waffe wird in diesem Kampf gebraucht – der Sonnenschild ist zu schade, hier zu verstauben.« Etwas klirrte, Stahl auf Stahl. Dazu erklang ein heiserer Schrei der Wut. Mythor drehte sich um. Hinter ihm war der marmorne Ring zu erkennen, durch den er Rokkuns Refugium betreten hatte. In dem Raum zwischen den Steinen schimmerte es strahlend weiß. Und aus diesem Weiß heraus klang der Lärm. »Wie du hören kannst, bin ich nicht der einzige, der dich besucht«, sagte Mythor. Er vermutete, daß Luxon sich mit den Paladinen Rokkuns herumraufte. Mochte er, die fünf würden sich ihrer Haut zu wehren wissen. Möglich, daß sie das Problem Luxon für Mythor erledigten -ein für allemal. »Der Sonnenschild ist mein Eigentum, und ich denke nicht 82
daran, ihn leeren Schwätzern zu überantworten.« »Die Welt widerhallt vom Klagegeschrei derer, die unter den Geißeln der Caer seufzen, und du fichst müßig mit Kämpfern des Lichtes um einen Besitz, der dir nichts mehr nützen kann.« »Schwätzer«, sagte Rokkun. Es war ein rätselhafter Raum, in dem sich Mythor aufhielt. Dunkelgrau, fast schwarz waren die Wände, die Decke, der Boden, erfüllt von einem hellroten Zwielicht. Das seltsame Licht gab dem Standbild ein bedrohliches Aussehen, aber Mythor empfand dennoch keine Furcht. Er war voller Zuversicht, daß er der rechte Mann am richtigen Ort sei – der Sonnenschild war für ihn bestimmt, er würde ihn sich holen. »Hast du auch meine Paladine hereingelegt mit deinen salbungsvollen Worten?« »Nein«, sagte Mythor ruhig. »Ich lege niemanden herein, am wenigsten solche, die ich zu meinen Freunden rechnen will, weil sie mit mir gegen die Übermacht des Bösen kämpfen.« »Pah«, machte Rokkun. »Du nennst dich den Sohn des Kometen? Und du kannst nichts als reden?« »Man nennt mich so«, bestätigte Mythor. »Und ich pflege mit Taten zu sprechen, wenn es not tut. Hier sehe ich keinen Grund, die Waffe zu benutzen. Ich werde dieses herrliche Schwert, die lichte Waffe, nicht schwingen gegen Freunde im Licht.« »Es wird dir wenig anderes übrigbleiben, eitler Prahler«, sagte Rokkun. »Es schert mich nicht, wozu du dich berufen fühlst in deinem Wahn – auch der Sohn des Kometen selbst kann die Lichtwelt nicht mit der Flinkheit seiner Zunge gegen die Mächte des Grauens schirmen.« »Steinerner Narr«, gab Mythor grimmig zurück. »Wieviel Arbeit wird den Kämpfern der Dunkelheit noch bleiben, wenn wir uns gegenseitig schwächen?« »Dein Problem, Verwegener«, sagte Rokkun. »Jede Zeit hat 83
ihre Helden, ihre Gesetze. Meine Zeit scheint sehr lange vorbei zu sein, wenn die Helden von heute nur mit dem Maul dreinzuschlagen wissen.« »Du bist seit langem tot und vergangen«, sagte Mythor kalt. »Dein grimmiges Gehabe paßt nicht mehr zur Sache.« »Mag sein«, versetzte Rokkun. »Dennoch – der Sonnenschild ist mein, er wird mein bleiben, und wenn du ihn gewinnen willst, wirst du mich überwältigen müssen.« »Dein Verstand muß aus Stein sein«, sagte Mythor unwillig. Rokkun lachte nur.
Das Lachen war laut und dröhnend, und es schien wie das rote Leuchten von allen Seiten zugleich zu kommen. Aus dem Weiß des Ringes heraus erklang lautes Schwerterklirren. Luxon schien einige Arbeit mit den Paladinen zu haben. Mythor hielt nach Rokkun Ausschau, und als er den Heroen sah, wußte er, daß er einen furchtbaren Kampf würde ausfechten müssen. Es war die zweieinhalb Meter hohe Steinfigur, die sich plötzlich in Bewegung setzte, und sie stapfte mit hartem Schritt genau auf Mythor zu. Der Hüne war unbewaffnet, nur von seinem Panzer geschützt, ohne Schild. Ihn mit Altons schneidender Schärfe zu bekämpfen erschien Mythor nicht anständig. Er legte die Waffe beiseite. Mit steinerner Faust schlug Rokkun drein, und bereits sein erster Hieb kostete Mythor beinahe das Leben. Ein furchtbarer Hieb, begleitet von ohrenbetäubendem Gelächter, fegte Mythor von den Beinen. Mythor hatte den Schlag erst im letzten Augenblick kommen sehen, und er schaffte es nicht mehr ganz, auszuweichen. Er spürte den Aufprall am Brustkorb, und fast glaubte er, das 84
häßliche Knirschen und Knacken hören zu können, mit dem seine Rippen brachen. Er flog unter der Wucht des Hiebes gegen die Felswand, und wieder schien etwas in ihm zu brechen. Der Hieb hatte ihm die Luft aus den Lungen getrieben. Mit offenem Mund blieb Mythor liegen und rang verzweifelt nach Atem. In seiner Brust wütete der Schmerz. Er mußte alle Nervenkraft zusammennehmen, um sich zur Seite zu werfen. Rokkun ließ sich Zeit, er spielte mit Mythor, wie es ihm gefiel. Mit schweren Schritten stapfte der Steinerne auf Mythor zu. Mythor spürte das Beben des Bodens, wenn der Steinerne auftrat. Das schlimmste war, daß Mythor das Gesicht seines Widerparts nicht sehen konnte. Rokkuns Gesicht war von dem Helm verborgen, das Visier war heruntergeklappt. Nur der Mund war zu sehen, aber der zeigte keinerlei Ausdruck. Verächtlich war das laute Lachen, das von den Wänden widerhallte. Es war offenkundig – Rokkun dachte nicht daran, Mythor schnell zu töten, er wollte ein langes Spiel des Schreckens mit ihm vollführen, ihn zu Tode quälen. Dazu gehörten zwei, und Mythor verspürte keine Lust, sich nach und nach jeden Knochen brechen zu lassen. Er kam auf die Beine. Vor seinen Augen tanzten feurige Ringe, sein Atem ging pfeifend, und die Brust schmerzte noch immer. Der Koloß kam auf ihn zu. Mythor brach in die Knie, und der Zufall wollte es, daß Rokkuns nächster Schlag ins Leere ging. Mythor spürte die steinerne Faust mit ungeheurer Wucht knapp über seinen Scheitel zischen. Hätte Rokkun getroffen, Mythors Hirnschale wäre – Helm hin, Helm her – zerschmettert gewesen. So traf Rokkun mit dem Hieb nur die Felswand. Funken stoben auf, Felssplitter flogen durch die Luft. Mythor spürte, 85
wie der Schlag sich bis in den Boden hinein fortsetzte. Mit aller Spannkraft schnellte er sich zur Seite, und so entging er dem Fußtritt, der ein zweites Mal das Gewölbe erschütterte. Rokkun stieß ein wütendes Knurren aus. Unter normalen Umständen hätte Mythor das als gutes Zeichen gewertet – der Gegner konnte seine Taktik nicht durchspielen. Mythor durchkreuzte die Pläne seines Feindes. In diesem Fall konnte das nur bedeuten, daß Rokkun das grausige Spiel verschärfen würde. Einstweilen merkte Mythor nichts davon. Er kam langsam wieder ein wenig zu Luft, konnte schneller ausweichen und entging daher den nächsten Hieben und Faustschlägen. Am liebsten hätte Mythor zu Alton gegriffen, aber geschickt hatte Rokkun ihm den Weg zu seiner Waffe verwehrt. »Was soll dieser Unsinn?« ächzte Mythor, als Rokkun sich einmal umdrehen mußte und Mythor so eine kurze Verschnaufpause gönnte. »Was versprichst du dir davon, mich zu töten – wenn es dir überhaupt gelingt?« Es war die reine Frechheit, diesen Halbsatz überhaupt auszusprechen, denn es war Mythor längst klar, daß Rokkun mit ihm Katz und Maus spielte, mit dem gewichtigen Unterschied allerdings, daß es in dieser Höhle kein Loch mehr gab, in das sich die Maus hätte verkriechen können. Rokkun antwortete nicht auf diese Frage. Er rückte Mythor wieder auf den Leib, behäbig, aber unwiderstehlich in seiner steinernen Gewalt. Mythor sprang zur Seite, machte einen weiten Satz und stand hinter Rokkun. Er versuchte, nach dem ausgestreckten Arm des steinernen Hünen zu greifen, ihn herumzuwerfen. Der Hebelwurf, den Mythor im Sinn gehabt hatte, mißlang kläglich. Rokkun brauchte sich nicht einmal anzustrengen, um mit einer ruckartigen Bewegung seines Oberkörpers Mythor von den Beinen zu reißen und wie eine Gliederpuppe durch 86
den Raum zu schleudern. Am anderen Ende prallte Mythor gegen die Wand und sackte dort zu Boden. Er raffte sich wieder auf. Gab es denn wirklich kein Mittel, mit dem Rokkun erfolgreich hätte bekämpft werden können? Alton einzusetzen widerstrebte Mythor noch immer, obwohl er wußte, daß Rokkun ihn keinesfalls schonen würde, bekam er Mythor erst einmal gründlich zu fassen. »Hahaha!« lachte Rokkun lärmend. Er schien bester Laune zu sein, trabte auf Mythor zu und wischte mit einem Arm durch die Luft. Wie ein Geschoß kam die Steinfaust heran und zertrümmerte einen Felsvorsprung, der aus der Wand geragt hatte. Klirrend sausten die Splitter durch den Raum. Mythor hatte sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht. Er hatte längst das Gesetz des Handelns Rokkun überlassen, es war ihm nichts anderes übriggeblieben. Er saß fest in dieser Höhle, und irgendwann einmal mußte er zwangsläufig so müde werden, daß er Rokkun nicht mehr würde davonlaufen können. Und dann… Mythor spürte Blutgeschmack auf den Lippen. Er atmete schwer, wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann stutzte er. Irrte er sich? Oder war es tatsächlich warm geworden im sechsten Koloß von Tillorn? Wieder mußte sich Mythor vor dem wütenden Rokkun in Sicherheit bringen, dann konnte er einmal kurz die Wände des Hohlraums berühren. Sie waren warm, wurden von Augenblick zu Augenblick heißer. »Wird dir heiß, Mythor?« fragte Rokkun und lachte schallend. Mythor wußte jetzt, daß er kaum eine Chance mehr hatte. Er mußte Alton erreichen und das Gläserne Schwert gegen den steinernen Heroen einsetzen, sonst war er rettungslos verloren. 87
»Macht es dir Spaß, Mythor?« fragte Rokkun. »Du kannst dich freuen, in all der Zeit ist außer dir keiner bis zu mir vorgedrungen, jedenfalls kann ich mich nicht erinnern.« Einen Augenblick lang blieb Rokkun stehen. Zum ersten Mal bewegte der Steinerne den Kopf. Er pendelte hin und her, als sei Rokkun für ein paar kurze Augenblicke in Erinnerungen versunken. Mythor versuchte, mit einem weiten Satz an Rokkun vorbeizukommen. Das gelang auch. Die Strecke war kurz, aber die Zeit war auch sehr knapp. Er erreichte den Ort, wo Alton lag, streckte die Hand nach der Waffe aus, bekam sie zu fassen und warf sich sofort wieder zur Seite, Alton nur gerade mit den Fingerspitzen haltend. Die furchtbare Faust des Steinernen zermalmte den Fels, auf dem Alton gelegen hatte. »Ach«, sagte Rokkun verächtlich, »fühlst du dich nun stark? Komm doch, wenn du dich erkühnst.« Mythor fühlte das Gläserne Schwert in seiner Faust, und das gab ihm neue Sicherheit. Er blieb stehen. Rokkun stapfte auf ihn zu. »Zurück!« rief Mythor. Es war sehr heiß geworden. Auf seiner Stirn stand dickperliger Schweiß. »Hahaha«, lachte Rokkun und stapfte weiter. Mythor wollte ihn nur zurückdrängen, nur verwunden. Er schlug zu, zielte auf den linken Oberarm des Hünen. Vielleicht gelang es mit Altons Schärfe, Rokkun zu beeindrucken. Vergebens. Mit ungeheurer Geschwindigkeit schoß Rokkuns Rechte zur Seite. Die Steinfaust packte Alton an der Klinge und hielt das Schwert fest. Mythor erstarrte fast vor Schreck. Es war, als stecke das Schwert im Fels unverrückbar fest. Durch die heiße 88
Höhle gellte Rokkuns Hohngelächter. Für einen Augenblick stand Mythor reglos. Er war völlig überrascht. Rokkun nutzte den Augenblick. Er warf Alton fort, packte zu und bekam Mythor zu fassen. Mythor wartete auf den Schmerz berstender Knochen, aber nichts dergleichen geschah. Hart zwar packte Rokkun zu, aber er zerquetschte Mythor nicht. Er hielt ihn einfach fest, drehte ihn herum und drückte ihn an seine steinerne Brust. Mythor sah auf den harten, steinernen Mund des Kolosses, der zu einem angedeuteten Lächeln verzogen war. Es wurde immer heißer. Er fragte sich, woran er sterben würde – an der immer quälender werdenden Hitze oder am sich langsam verstärkenden Druck von Rokkuns mörderischer Umarmung. Er bekam kaum noch Luft, seine Brust hob sich in krampfhaften Stößen. Schweiß sickerte ihm von der Stirn in die Augenhöhlen, brannte sich dort fest. Sein Blick verschwamm. Er hob die Hände, um die Augen frei zu wischen. Es half nicht viel. Der Augenblick war gekommen. Mythor spürte, daß er Luft brauchte, daß seine Lungen gierig sogen, spürte, wie seine Brust sich zu dehnen versuchte, aber an dem steinernen Klammergriff des Heroen Rokkun zerstob diese letzte Sammlung aller Körperkräfte. Es war vorbei. Haltlos irrlichterte Mythors umflorter Blick. Er sah, zum Greifen nahe, den Sonnenschild vor sich an der Wand hängen, das Ziel seiner Anstrengungen, die nun zu seinem Tod führen sollten. Wenigstens einmal wollte er den Schild in der Hand halten. Während sich rote Schleier vor seine Augen schoben und qualvoller Schmerz seinen Brustkorb durchraste, tasteten seine 89
Hände nach dem Schild, bekamen ihn zu fassen, hoben ihn an. Ein Schrei löste sich von Mythors Lippen. Der Druck der steinernen Arme ließ nach. Mythor bekam wieder Luft. Er spürte den Schild in den Händen, er fühlte, wie kühle, klare Luft in seine Lungen eindrang. »Du hast gesiegt, Mythor«, sagte Rokkun. Seine Stimme war klar zu hören, tief, und wohlwollend, vermischt mit leiser Trauer. »Nimm, was nun dir gehören wird.« Mythors Blick war noch immer umflort. Der letzte Druck des Steinernen hatte ihm das Blut ins Gesicht getrieben, er brauchte daher einige Minuten, bis er wieder klar sehen und denken konnte. Von weit her drang Rokkuns Stimme an sein Ohr. »Trage ihn mit Würde und für die Sache der Gerechtigkeit!« sagte Rokkun. Ungeheure Kraft strömte in Mythor. Fast schien es, als übergebe Rokkun nicht nur den Schild, als ströme auch seine Heldenkraft in Mythor über. Hell wurde es vor Mythors Augen. Er sah den klaren blauen Himmel, die langsam treibenden Wolken. Er drehte sich um. Nichts mehr war von Rokkun zu sehen, auch seine Stimme war beinahe erloschen. Nur als feines Wispern war sie zu hören, und sie schien aus Mythors Innerem zu ertönen. Dann war sie ganz verschwunden. Ehrfürchtig hielt Mythor den Sonnenschild in Händen. Kreisrund war der Schild, und er durchmaß etwa eine halbe Mannslänge. Der Schild war gewölbt, die Höhlung war dem Träger zugekehrt. Eine lederne Schlaufe diente als Halt. In der Mitte des Schildes gab es eine Erhöhung, einen Buckel. Der Schild bestand aus Metall, das matt schimmerte. Dann begriff Mythor auch die Zeichen auf dem Orakelleder. 90
Sechs halbe Kreise, gegenüberliegend, einander überlappend – das Symbol war auch auf dem Sonnenschild zu finden, auf der Oberfläche in das Metall graviert. Mythor wog die magische Wehr in seinen Händen. Er wollte versuchen, Rokkuns Willen zu erfüllen, sie mit Würde zu tragen. Er spürte etwas von der Stärke und Kraft Rokkuns in sich, und er wußte, daß er diese Kraft brauchen würde für seinen Kampf. Er benötigte sie, um als Kämpfer der Lichtwelt die Ruhe und Gerechtigkeit aufzubringen, die nötig waren, wenn man tatsächlich das Recht vertreten und schützen wollte. Schwer wog die Verantwortung, die Mythor auf sich geladen hatte, als er Rokkuns magischen Schild übernommen hatte. Die Wirklichkeit drängte sich in Mythors Gedanken. Er kletterte durch die Öffnung, die der Sonnenschild verdeckt hatte, und sobald er das Freie erreicht hatte, begriff Mythor, was es mit dem Sonnenschild – zum Teil -auf sich hatte. Der Sonnenschild Rokkuns war der Brennpunkt seines großen Abbilds gewesen, den der äußere Koloß von Tillorn trug. So erklärte sich auch die geheimnisvolle Wirkung des Mondstrahls – Magie war daran schuld, gebündelt durch den Sonnenschild. Diese Tatsachen warfen ein bezeichnendes Licht auf die Fähigkeiten des Süder-Magiers Vangard. Wenn er - wie er behauptet hatte – fast alle seine Fähigkeiten eingebüßt hatte, war es um so erstaunlicher, daß er in der Lage gewesen war, Rokkuns kostbares Eigentum von der seltsamen Grotte aus nach seinem Willen zu lenken. In ihm dämmerte dumpf die Ahnung, daß Vangard erheblich mehr magische Fähigkeiten und Kenntnisse besaß, als er bei dem Gespräch mit Mythor eingestanden hatte. Mythor hörte einen Schrei, einen Ruf der Wut und 91
Enttäuschung. Unverkennbar Luxon. Mythor trat ein paar Schritte zur Seite. Offenbar war es dem Halunken gelungen, sich tatsächlich der fünf Paladine zu entledigen – vielleicht waren sie aber auch bei Rokkuns Verschwinden den gleichen Weg gegangen wie Rokkun. Jedenfalls erschien Luxon in der Öffnung, die Mythor durch die Wegnahme des Sonnenschilds geschaffen hatte. Er kroch ins Freie. Mythor legte die Hand an den Schwertgriff. Minutenlang starrten sich die beiden Männer an. Es war zu sehen, wie es in Luxon arbeitete. Er hob den Sternenbogen, nahm den Mondköcher zur Hand. Mythor rührte kein Glied. »Da, nimm!« sagte Luxon. Seine Stimme verriet grenzenlose Müdigkeit. »Ich gebe mich geschlagen, du hast gewonnen.« Sternenbogen und Mondköcher fielen auf den Boden, landeten vor Mythors Füßen. Mythor war verblüfft. Damit hatte er nicht im Traum gerechnet. »Du bist der Bessere«, sagte Luxon achselzuckend. »Nur du bist würdig, diese Waffe zu tragen und zu führen. Ich gebe sie dir zurück.« Mythor zögerte, dann nahm er die beiden Waffen auf. Er lächelte und streckte Luxon die Hand hin. Und lächelnd schlug Luxon ein.
Die Sonne stand niedrig über dem Horizont; Mythor deutete es als gutes Vorzeichen. Zusammen mit Luxon schritt er der Küste entgegen. Hinter ihm stapften die Freunde – Sadagar, Nottr, der kaum den Blick von Olinga wandte, und Vangard. Zuversicht erfüllte Mythor. Er sah hinauf zum Himmel, wo 92
Horus seine bedächtigen Kreise zog. Der Schneefalke hatte etwas am Horizont entdeckt. Vermutlich kamen die Cirymer angeprescht, um ihn wieder einzufangen, überlegte Mythor. Es war nicht leicht, das feste Land zu erreichen. Vangard vermochte zwar vieles, aber zur Gänze bändigen konnte er die Strudelsee nicht. Es waren zwischen den Lichtsplitterinseln Kräfte am Werk, die zu groß waren für einen Magier allein – vielleicht sogar zu gewaltig, um überhaupt jemals wieder aufgehalten zu werden. Wahrscheinlich, so dachte Mythor, würde die Strudelsee mit ihren Tücken bis ans Ende der Zeiten bestehenbleiben, einschließlich der flachen Inseln und des Kolosses, der nun nichts weiter mehr war als eine Sammlung ineinander verschachtelter Steinfiguren. Mythor hatte von Luxon erfahren, daß er sich nicht geirrt hatte – zusammen mit Rokkun waren auch dessen Paladine verschwunden. Durch magische Kraft in dieser Welt gehalten für viele Jahre und Jahrzehnte, waren sie nun auf ewig hinübergeglitten in jenes Reich, aus dem es eine Wiederkehr nicht geben konnte. »Ich bin gespannt, was der Halunke Kaschkas sich hat einfallen lassen«, sagte Mythor. Luxon lächelte. »Er wird uns angreifen«, sagte er. »Aber wir werden uns zu wehren wissen.« Mythor hielt den Sonnenschild in der Hand und lächelte ebenfalls. »Eine gute Gelegenheit, den Schutz des Schildes zu erproben«, meinte er. Sie erreichten das feste Land. Hark wartete dort auf Mythor, ein wenig entfernt hatte sich Pandor eingefunden und knabberte an dem Gras. Lerreigen, der neben Vangard das Land erreichte, quollen fast die Augen aus dem Kopf, als er sah, was Pandor auf dem Rücken trug - den leonitischen Königssattel. Aber er schwieg vorerst und beherrschte sich. »Da kommt der Haufen«, sagte Sadagar und deutete auf die 93
heranstürmende Schar. »Sie haben sich zusammengetan«, stellte Mythor fest, der mit einem Blick abschätzen konnte, daß sich Kaschkas’ Streitmacht beachtlich vergrößert hatte. »Es sind ziemlich viele«, stellte Sadagar fest. Nottr stieß ein zufriedenes Grunzen aus, während Olingas Blick etwas Schmachtendes bekam – offenbar freute sich die Karsh-Frau, neue Heldentaten des Lorvaners beobachten zu können. »Ich werde das allein erledigen«, sagte Mythor. Luxon zog die Brauen hoch, sagte aber nichts. Langsam schritt Mythor voran. Hark gesellte sich zu ihm, Horus zog seine Kreise ein wenig enger. Den Sonnenschild hielt Mythor in der Linken, die Rechte hielt Alton, das Gläserne Schwert. Das Haupt war bedeckt vom Helm der Gerechten, über der Schulter hingen Sternenbogen und Mondköcher – Mythor wußte, daß er diesen Kampf nicht würde verlieren können. Eine gewaltige Masse Staub drängten die Reiter vor sich her, als sie auf Mythor zugaloppierten. Er sah Kaschkas allen voran, vermutlich danach gierend, Mythor mit eigener Hand zu erschlagen. Mochte er es versuchen. Mythor blieb stehen. Er verfolgte genau, was die Cirymer und Coromanen taten. Sie versuchten es zunächst einmal mit Ferngeschossen. Pfeile kamen herangeschwirrt, Speere wurden geschleudert, wildes Kampfgeschrei gellte höhnend zu Mythor herüber. Mythor hob langsam den Sonnenschild. Ein Schrei löste sich von den Lippen der Freunde, und Mythor selbst war verblüfft. Wie von Geisterhand gelenkt änderten die Geschosse ihre Bahn; sie kehrten um, flogen denen entgegen, die sie geschleudert und verschossen hatten. Mit ihren eigenen Geschossen wurden die Angreifer bedacht, und manch einer 94
hatte gut gezielt und wurde vom eigenen Pfeil niedergestreckt. Wutgeschrei entbrannte im Lager der Angreifer. Angstgeschrei schloß sich dem an. Nicht nur die Pfeile flogen zurück. Im gleichen Maße kehrten auch Haß und Wut in die eigenen Reihen zurück. Wie ein magischer Spiegel warf der Sonnenschild das Böse dem Bösen zurück; Entsetzen und Vernichtung trug er in die Reihen der Feinde. Sie fielen übereinander her, übermannt vom Haß, der nun gegen sie selbst gerichtet war. Blut floß, das Geschrei wurde lauter. Im Kampfeseifer waren die Coromanen und Cirymer auf Speerwurfweite herangekommen. Mythor konnte Kaschkas sehen, der sich schier die Haare raufte, weil er seine Leute nicht mehr unter Kontrolle bekam. Aus den Reihen der Angreifer klang Gelächter auf. Aberwitzige Angriffslust hatte einige bis zu diesem Ort geführt; nun wurden sie selbst davon überwältigt, und mehr und mehr begannen den Verstand zu verlieren. Der Wahnsinn griff nach den Cirymern und Coromanen, verblendete sie, daß sie sich gegenseitig Wunden schlugen, auch auf den eigenen Leib einschlugen. »Was für eine Waffe«, murmelte Mythor. Er brauchte nichts zu tun. Die Sonne spiegelte sich im Schild, und er brauchte den hellen Schein nur langsam die Reihen der Cirymer entlangwandern zu lassen, um den Heerbann der Coromanen und Cirymer heillos in Verwirrung zu stürzen. Pferde gingen durch, warfen die Reiter ab, Speere sausten steil hinauf in die Luft und fielen lotrecht wieder herab, Tod und Verderben in die eigenen Reihen zu tragen. Dann sah Mythor Kaschkas. Und er sah auch, daß es nicht Kaschkas war, der ihm gegenübertrat, sondern Kalahar, der Leibmagier des 95
selbsterfundenen Coroman Hassif. Das erklärte auch, wie sich die verfeindeten Haufen hatten zusammentun können. Mythor hob den Schild, richtete den Widerschein auf Kalahar. Sofort hörte der Kampf auf. Ein gräßlicher Schrei gellte über die Ebene. Wie vom Blitz gefällt brach Kalahar zusammen. Mythor begriff. Mit einem Schlag waren die Illusionskünste des Magiers auf ihn zurückgeworfen worden, und er hatte das nicht ertragen. Lebte er überhaupt noch? Oder hatte seine eigene Täuschungsmagie ihn getötet? Mythor ließ den Schild sinken. Lautes Stöhnen drang aus den Reihen der Verbündeten. Die Männer begriffen langsam, was sie getan hatten. Mythor sah, wie Kalahar sich langsam aufrichtete, wie er zu ihm herüberstarrte. Mythor erwartete einen neuerlichen magischen Angriff, aber der blieb aus – Kalahar hatte, so deutete Mythor seine resignierende Geste, seine Fähigkeiten weitgehend eingebüßt. »Lauf, Kalahar!« schrie Mythor. »Flieh, wenn du noch zu fliehen vermagst.« Er hob noch einmal den Schild, und einige Augenblicke später waren die Coromanen auf der Flucht, davongejagt von der Angst, die ihnen wie eine Geißel im Nacken saß. Nottr trat langsam zu Mythor. »Die kenne ich«, sagte er und deutete auf die Cirymer, »kein übler Haufen, aber schlecht geführt.« »Laßt mich los, ihr elenden Halunken«, brüllte jemand. »Bei allen Erdteufeln, wollt ihr mich wohl losbinden!« Das Organ war unverkennbar das von Kaschkas. Nottr sah Mythor an. Er leckte sich die Lippen. Der Ausdruck seines Gesichts war bittend. »Ich würde ihn gern fordern«, sagte Nottr halblaut. 96
Mythor wußte, was das bedeutete. Trat Nottr gegen Kaschkas an und schlug er ihn, war er damit Anführer der Cirymer. Als deren Häuptling aber konnte er schwerlich Mythor auf weiteren Wanderungen durch die Welt begleiten. Er lächelte. Er dachte an den zerschundenen, schmerzzerwühlten Körper des Freundes, so jämmerlich zerschlagen, daß er kaum mehr als lebendes Wesen zu erkennen gewesen war – damals, als man ihn hatte verbrennen wollen und vorher bis hart an den Rand des Todes gefoltert hatte. Nottr hatte wie durch ein Wunder überlebt. Er hatte es verdient, daß man seine Glieder künftig schonte. Er war bereit gewesen, sein Leben für Mythor zu wagen, und teuer hatte er seine Treue büßen müssen unter den Eisen der Folterknechte. Es war an der Zeit, daß er vom Leben den Ausgleich für diese Schmerzen erhielt. »Viel Vergnügen«, sagte Mythor. Nottr grinste. Er zog sein Schwert und schritt den Cirymern entgegen. »He!« brüllte er jubelnd. »Kaschkas, verlauster Bursche! Komm heraus, damit ich dich verprügeln kann, du Jämmerling.« Mit zerrauften Haaren kam Kaschkas herangestürzt, in der Hand ein langes Schwert. »Nottr!« rief der Cirymer grimmig. »Endlich bekomme ich dich zu fassen.« Die beiden Kämpfer trafen sich zwischen beiden Gruppen. Wenn Kaschkas darauf gehofft hatte, daß seine Leute ihn durch Rufe unterstützten, so sah er sich getäuscht. Schweigend verharrten die Cirymer; sie standen noch unter dem Schock der letzten Ereignisse. Kaschkas griff an. Mythor sah bald, daß Nottr sich keine leichte Aufgabe vorgenommen hatte. Der Anführer der Cirymer war kein übler Kämpfer, nicht zu Unrecht war er der Lageroberste der Cirymer. Er schlug eine bestechend gute Klinge, einfallsreich, 97
wendig und kraftvoll. Indessen half ihm das wenig. Nottr war ausgeruht, von Siegeszuversicht erfüllt und von der Hoffnung getragen, endlich ein wenig Ruhe zu finden. Und er wußte – stärkster Antrieb in diesem Kampf – Olingas Augen hinter sich. Er brauchte zwar fast eine halbe Stunde, bis er Kaschkas bezwungen hatte, und er kam auch nicht ungeschoren davon, dann aber hatte er den Cirymer besiegt. Blut tropfte von Nottrs Schwertarm herab auf die Klinge und von dort auf den Hals Kaschkas’, der am Boden lag und wußte, daß er verloren hatte. Mythor trat hinzu. »Genug des Tötens«, sagte er. »Gibst du dich geschlagen, Kaschkas?« Der Cirymer preßte die Lippen aufeinander, dann machte er eine Geste der Zustimmung. Nottr nahm das Schwert in die Linke und zog Kaschkas mit dem verletzten Arm auf die Füße. »Du kannst bei uns bleiben, wenn du willst«, sagte Nottr. Olinga schob sich an seine Seite und betrachtete mit wohligem Schauder die fingertiefe Wunde an Nottrs Oberarm. Nottr selbst schien die Verletzung kaum zu spüren. »Ich bleibe«, sagte Kaschkas. Die Cirymer hoben die Schilde und schlugen mit den Schwertern darauf. Nottr grinste und zog Olinga an sich. Er hatte eine neue Heimat gefunden, die Cirymer würden von nun an sein Stamm sein. »Das muß gefeiert werden«, sagte Nottr grinsend. »Tagelang.« Olinga wurde tatsächlich rot.
»Ich werde nach dem Norden ziehen«, sagte Nottr. »Dort bin ich zu Hause.« Er schwankte ein wenig hin und her. Im Zelt brannte ein 98
großes Feuer in einer Glutschale. Bei diesem Schein saßen die Männer zusammen und tranken. Jeder wußte, daß dies eine Stunde des Abschieds war. »Ich werde mich nie wohl fühlen in Städten«, sagte Nottr mit glasigen Augen. »Aber wenn du noch einmal in die Wildländer kommst, Freund und Gefährte, dann besuche mich. Was mein ist, soll auch dein sein – ohne Einschränkung.« Olinga wurde schon wieder rot. Offensichtlich hatte Nottr sie in die Regeln der Gastfreundschaft bei seinem Stamm eingeweiht. »Ich sehe ein, daß du im Süden nichts verloren hast«, sagte Mythor sanft. »Ziehe in deine Heimat zurück, erfreue dich deines Lebens und deines Weibes und werde glücklich. Du gehörst dorthin, da hast du recht.« Er wandte sich an Lerreigen. »Du hast den Sattel gesehen?« Der Rotbart nickte. »Du bist der neue König der Leoniter?« fragte er. Seine Stimme verriet ein wenig Betroffenheit, aber nicht sehr viel. Mythor lächelte. »Ich war es, bin es jetzt nicht mehr. Die Leoniter brauchen einen König, der sich um sie kümmert, keinen, der in der Welt umherirrt. Ich gebe dir den Sattel zurück, nimm ihn und werde den Leonitern wieder der König, der du gewesen bist. Du bist der rechtmäßige König.« Lerreigen schlug in die Hand ein, die Mythor ihm reichte. »Und noch eines«, sagte Mythor. »Ich werde dir ein Pfand mitgeben. Nimm meine Tiere mit, das Einhorn, den Bitterwolf, den Schneefalken!« Lerreigen sah Mythor verblüfft an. »Auch sie gehören nicht hierher«, sagte Mythor. »Bringe sie ins verwunschene Tal zurück und setze sie dort aus. Sie gehören dorthin. Wenn ich ihrer bedarf, werde ich sie dort zu finden wissen. Einstweilen genügt es mir, zu wissen, daß wir 99
einander sicher sein können. Ich glaube, daß dies im Sinne des Lichtboten ist.« Lerreigen sah Mythor schweigend an. »Ich werde diesen Auftrag ausführen«, sagte er dann ruhig. Er hob den Becher. »Ich wünsche dir Glück auf deinem ferneren Weg – und mir, daß wir uns dereinst wiedersehen.« »Keine Tränen, Freunde«, sagte Mythor heiter. Er tat den Freunden Bescheid – bis ihm auffiel, daß einer fehlte. Vangard, der Magier aus dem Süden der Welt, war nicht zu sehen. Er war ohnehin bescheiden und unauffällig, daher war sein Verschwinden niemandem aufgefallen. »Sadagar, wo ist Vangard?« Steinmann Sadagar lächelte. »Er ist gegangen«, sagte er bedeutungsvoll. »Aber er harrt deiner.« »Wo?« »Rate!« Mythor wußte Bescheid. »Am siebten Fixpunkt des Lichtboten, nicht wahr?« »Allerdings«, bestätigte Sadagar. »Dort wirst du ihn treffen, das läßt er dir durch mich ausrichten.« »Und du selbst?« »Ich werde bei dir bleiben«, sagte Sadagar. »Ich und natürlich auch der Kleine Nadomir.« Mythor lächelte. Sein Blick fiel auf Luxon. Der erwiderte den Blick. »Ich werde dir folgen«, sagte Luxon einfach. »Von nun an werden wir miteinander kämpfen, nicht gegeneinander. Kennst du dein nächstes Ziel?« Mythor nickte. »Es gibt praktisch nur einen Ort«, sagte er. »Nur dort kann der letzte Stützpunkt des Lichtboten sein – in Logghard, der ewigen Stadt.« Luxon nickte. »Tief in der Düsterzone liegt Logghard«, sagte er leise. »Seit Äonen wird sie von den Südländern gegen die 100
Mächte der Finsternis verteidigt, bis jetzt mit Erfolg. Wir werden nach Logghard reisen. Welchen Weg willst du nehmen?« »Garaschi, was ist mit deiner Galeere?« Der Händler rollte mit den Augen. »Ein Schiff«, sagte er. »Ein Wunderwerk. Es schwimmt, es treibt, es fliegt aber die Wellen auf den weißen Schwingen der Ruderblätter. Meine Glückseligkeit kennt keine Grenzen. Es ist alles beieinander, das Schiff, die Ladung, die Freunde. Ich werde euch geleiten, Freunde, zusammen werden wir nach Sarphand fahren. Dort könnt ihr meinethalben eure große Reise in den Süden beginnen. Was ich tun kann, euch zu helfen, wird getan werden. Ihr habt Garaschis Wort darauf.« Er hob den Becher und stürzte den schweren Wein hinunter. »Aber vorher müssen wir noch den einen oder anderen Krug leeren«, sagte Nottr und schnitt die Verschlußkapsel von der bauchigen Amphore. Im Glutbecken knisterte die Holzkohle. »Wir werden so bald nicht wieder zusammenkommen, daher trinkt, Freunde, und laßt es euch gutgehen. Will noch jemand etwas essen? Sadagar, dürrer Knochen… greif zu. Wer weiß, wann du wieder etwas so Gutes bekommen wirst. Und du, Garaschi, lang zu… du bist mager geworden in den letzten Tagen, kaum mehr wiederzuerkennen.« Gelächter klang auf, als Garaschi entsetzt mit den Augen rollte und sofort gierig nach einem Stück Braten griff. Mythor verließ leise das Zelt. Es war dunkel geworden. Vollmond, und die Nacht war sternenklar. Nottr hatte recht, es war ein Abend zum Feiern. Laue Luft, gute Freunde, schwerer Wein und gutes Essen – und gute Laune, getragen von Erfolgen und Siegen. Mythor indessen war nicht sehr nach Feiern zumute. Er wußte, daß er erst den Anfang des Weges gegangen war, der 101
vor ihm lag. Die weitaus größte Strecke lag noch in der Zukunft – angefüllt mit Gefahren aller Art. Er lächelte. Er war guten Mutes, auch diese Fährnisse überstehen zu können. Er atmete tief durch. Aus dem Innern des Zeltes ertönte das Zusammenklingen der Becher, das Lachen der Freunde. Mythor lächelte wieder. »Auf denn«, sagte er zu sich selbst. »Auf nach Sarphand.«
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Hans Kneifel
Der Meisterdieb Ein knallender Peitschenschlag kündigte das Ereignis an. Die erste Gruppe Sklaven wurde hereingetrieben. Sie gingen gebückt über die Stufen des Steges. An einigen Handgelenken und Hälsen klirrten schwere Ketten. Es war nahe Mittag, die Sonne brannte stechend fast senkrecht herunter und trieb den Schweiß aus der Haut. Wieder knallte die goldverzierte Peitsche des obersten Marktaufsehers. Vom Meer herauf kam der Geruch nach totem Fisch und fauligem Wasser. Eine Fistelstimme schrie: »Die neuen Sklaven – da sind sie!« Aus dem Hintergrund lachte jemand sarkastisch. »Sie sind nicht gerade das, was wir erwartet haben!« »Wartet nur ab!« antwortete der Aufseher. Auch heute wurde in Sarphand ein Sklavenmarkt abgehalten. Zwar war der Markt eine ständige Einrichtung seit undenklich weit zurückliegenden Zeiten, aber das Angebot erreichte in diesen Tagen eine erstaunlich hohen Anzahl. Es war ein Markt für Käufer, nicht für die Sklavenhändler – es gab zu viele Frauen, Kinder und Männer, die unfrei geworden waren. Dieses Verhältnis verdarb die Preise. Eine Reihe von einem Dutzend junger, kräftiger Manner stand im grellen Sonnenlicht. Sie waren fast nackt, und die Sonne zeigte erbarmungslos die Blößen ihrer Körper. Lichtblitze funkelten von den Ketten. »Anfangen!« schrie ein bärtiger Sarphander aus dem Schatten hervor. Der Sklavenmarkt war ein kleiner Stadtplatz, eingekesselt 103
von schmalen, aber hochragenden Hausfronten. Ein Teil des Platzes war mit hellen Sonnensegeln überspannt, so daß die Bieter meist im Schatten saßen. Hin und wieder warf einer der Hausbewohner einen Blick mäßigen Interesses aus dem Fenster, musterte die menschliche Ware und zog sich wieder zurück. Heute, so ging das Gerücht, sollten sich unter den Sklaven einige bemerkenswerte Delikatessen befinden. Diese Männer dort oben jedenfalls waren nicht das Erwartete. Der Aufseher rief das erste Gebot aus. »Ein männlicher Sklave aus den Nordländern. Willig und kräftig, aber er muß von seinem neuen Herrn erst herausgefüttert werden. Darian ist sein Name. Sein Fänger rechnet mit einem Erlös von…« Daß Menschen ihresgleichen verkauften und fingen, war in Sarphand eine Selbstverständlichkeit. Seit jeher war die Felsenstadt ein Umschlagplatz für jede Art von Ware gewesen. Ein Bieter nannte für Darian eine lächerliche Summe. Der Aufseher, der von jedem Verkauf eine Prämie erhielt und dafür für Ordnung zu sorgen hatte, rief halb lachend über soviel Unverfrorenheit, halb in gespieltem Zorn: »Für dieses Gebot behalte ich ihn selbst. Seht die mutigen Augen und das schmale Gesicht. Die großen Ohren werden begierig jeden Wunsch des Herrn hören, die Augen heften sich aufmerksam auf die Lippen dessen, der ihm befehlen wird. Biete das Doppelte, unbekannter Freund, und Darian ist dein Eigentum.« Der Handel begann schleppend und lustlos. Unter den Sonnensegeln und im Schatten vorspringender Dächer befanden sich steinerne Bänke. Zwischen ihnen und den beiden kleinen Brunnen hatte man Sessel und einfache Stühle aufgestellt. Verkäufer von parfümiertem Wasser gingen zwischen den Gaffern hin und her, versuchten, die Becher des duftenden Getränks zu verkaufen. Hunde und Kinder spielten zwischen den Beinen der Erwachsenen. Aus den Löchern im 104
gepflasterten Boden kamen heiße Luft und Gestank. Auf den Giebeln und Simsen zwitscherten und gurrten bunte Vögel. Aus den offenen Türen umliegender Schenken erschollen Geschrei, derbe Seemannsflüche und das Kichern der Mägde, die mit Steuermännern und Kapitänen schäkerten. Über allem hing ein Geruch, der aus Angstschweiß, Seeluft und jenem trockenen Wind gemischt war, der den Geruch der ätherischen Öle aus den Tälern voller Sträucher mit sich schleppte, von denen Sarphand umgeben war. »Sarpha Yahid der Siebzehnte, er ist mächtig und von vortrefflicher Klugheit, gab mir den Auftrag«, rief der Marktaufseher, als die erste Gruppe der Sklaven verkauft war, »den heutigen Sklavenmarkt abzuhalten! Als nächste Gruppe werden drei Männer und Frauen hereingebracht, auf deren Körpern Nummern angebracht sind. Jedermann weiß, was dies zu bedeuten hat. Fangt an, zu Ehren des Siebzehnten Yahid!« Zwischen den granitenen Mauern wurde ein mächtiger Gong geschlagen. Die Echos des metallischen Lautes hallten von den Häusern wider und ließen den Vogelschwarm aufflattern. Ein kleiner, gedrungener Mann schob sich seitlich auf den Steg. Er trug ungewöhnlich prunkvolle Kleidung und eine Peitsche, deren Griff mit Gold verziert war. Er winkte nach hinten. Zwei Sklaven kamen mit großen Krügen und gossen Wasser auf die Platten des Stegs. Es bildete große Lachen, verdunstete aber sofort. Die nächste Sklavengruppe kam, begleitet von zwei Wächtern, die an den ledernen Fesseln und den Ketten zogen. Diese Gruppe bestand aus Angehörigen sechs verschiedener Völker. Man hatte ihnen die letzten Fetzen der Kleidung vom Leib gerissen, damit die Käufer Vergleiche anstellen konnten. Die drei jungen Frauen gingen trotz ihres bemitleidenswerten Zustandes schnell in die Hände der Bieter 105
über. Die Männer wurden zurückgeschickt, und eine neue Gruppe wurde aufgerufen. Heute war der Sarpha oder ein wichtiger Mann seines Hofstaats nicht unter den Käufern; es ließ darauf schließen, daß die Völkerwanderung aus dem Norden das Kaufinteresse vieler reicher Männer gemildert hatte. Zu groß war der Überfluß. Aus der Menge ließ sich eine dunkle Stimme vernehmen: »Die Stadt an der Saphirbucht wird bald das Monopol des Menschenhandels haben.« »Sarphand war schon immer der größte Umschlagplatz an der Strudelsee!« schrie ein anderer. »Die Stadt der Terrassen lebt davon, du Narr!« Die Aufmerksamkeit der Streitenden wurde abgelenkt. Ein breitschultriger Sklave schob die Menge auseinander. Hinter ihm folgten vier muskulöse Riesen, halb nackt und mit breiten Goldarmbändern und sogar goldenen Sklavenhalsketten geschmückt. Sie trugen eine breite Prunksänfte, auf der das Zeichen des Siebzehnten Sarpha gleißte. Aber auf den Vorhängen, durch die der Insasse vor den Blicken geschützt wurde, prangte das Wappen Loppos, des Obereunuchen: eine liegende Acht, darüber ein Messer. »Ausgerechnet Loppo!« flüsterte man in der Menge. »Er ist unersättlich.« Eine Pause entstand in dem Handel, den gerade zwei Männer um ein heranwachsendes Mädchen mit breiten Hüften austrugen. Alle Augen wandten sich von der Sänfte ab und einer zweiten Sänfte zu, die unter einem Torbogen herangetragen wurde. Die Sklaven, von denen dieses Gefährt geschleppt wurde, kleideten sich in weiße Gewänder, und selbst von ihnen ging eine gewisse Arroganz aus: Sie waren die Leibeigenen eines Herrn, der zugleich als unbegreiflich reich und rätselhaft galt, und seinen prunkvollen Palast in 106
Sarphand schien er nur höchst selten zu bewohnen. »Das wird die Sensation…«, stöhnte der Marktaufseher. Er dachte an das seltsame Paar, das noch zum Handel stand, an die einbeinige Norderin, an die anderen Sklaven, um die Loppo und der Besitzer der weißen Sänfte mit den schwarzen Kantenverzierungen sich gegenseitig überbieten mochten. »Croesus!« murmelte diesmal die Menge. »Er ist wieder in Sarphand.« Die Sklaven stellten die Sänften in achtungsvollem Abstand so auf, daß die beiden Insassen durch schmale Schlitze auf den Steg sehen konnten. Die Fenster und Türen der umliegenden Häuser bevölkerten sich. Die aufgeregten Vögel ließen sich trotz der dröhnenden Gongschläge wieder auf ihren alten Plätzen nieder. Ein Vorhang der Sänfte von Loppo, dem Obereunuchen, wurde hochgeschlagen. Die Sänfte des Croesus blieb geschlossen. Die vier Sklaven verschränkten die Arme vor der Brust und blieben an den vier Ecken regungslos stehen. »Croesus bietet gegen Loppo! Was wissen sie wirklich?« fragten sich viele. Sarphand war eine aufregende Stadt, ein Ort voller schroffer Gegensätze und greller Schönheit. Fünfhundert mal tausend Menschen, grob gezählt, bevölkerten sie. Sarphand am südlichsten Ende von Salamos lag auf einem mehr als hundert Mannslängen hohen Felsen, der über der Strudelsee weit überhing und zum Landesinneren in zahllosen unregelmäßigen Terrassen abfiel. Der rötliche Granit und anderes Gestein von ähnlicher Färbung, von vielen Adern durchzogen, hatten der Stadt einst den verheißungsvollen Namen gegeben: Goldstadt. Unfaßbare Armut und schwindelerregender Reichtum wohnten dicht beieinander, und jedermann hatte sich daran gewöhnt, daß auf den 107
Schwellen der Paläste lumpenverhüllte und schmutzstarrende Krüppel und Bettler schliefen. Vertreter aller bekannten Völker trafen sich in Sarphand. Der Herrscher war durch Reichtum und Wohlleben verdorben worden. Ihm lag nicht viel am Wohlergehen seiner Untertanen, und so kam es, daß sich Sarphand mehr oder weniger selbst regierte, daß die Ordnung des fruchtbaren Küstenstreifens zwischen den Grenzen der Heymalländer und Tillorn von einzelnen Familien, Handelsherren, Gilden und der Furcht vor den Wilden Fängern aufrechterhalten wurde. Für einen Mann, dessen Arm stark und dessen Börse gefüllt war, bedeutete Sarphand eine Traumstadt voller Möglichkeiten. Für einen Armen war sie der steingewordene Alptraum. Unrecht und Korruption, Intrigen und düstere Geheimnisse gediehen in Sarphand wie wuchernde Pflanzen. Beide Männer in den Sänften gehörten zu jenen, ganz unzweifelhaft, deren Lebensinhalt eben diese Intrigen und Geheimnisse waren. Aus diesem Grund bemächtigten sich der etwa fünfhundert Gaffer Aufregung und erwartungsvolle Spannung. Der nächste Sklave, ein verhungert wirkender Norder, wurde vom Podium gezerrt und kauerte sich zitternd, die Striemen der Peitsche auf der Haut, zu Füßen seines neuen Herrn nieder. Eine alte Frau wurde zurückgeschickt. Sie war nicht einmal weit unter dem geforderten Preis an den Herrn zu bringen. Bleichhäutige Zwillinge wurden von einem dicken, dunkelhäutigen Mann gekauft. Ununterbrochen schlug der Hammer des Auktionators auf die dröhnende Holzplatte; der Mann rief einen Namen und machte eine Eintragung. Noch boten weder der Eunuche noch der geheimnisvolle Croesus. Sie saßen schweigend in ihren Sänften und sahen dem Treiben zu. Ein alltäglicher Sklavenmarkt. Niemand in Sarphand 108
empfand mit den Opfern auch nur das geringste Mitleid. Fast jeder wußte, daß dasselbe Schicksal auch ihn treffen mochte. Das Schicksal war unberechenbar und traf mit der Willkür eines Blitzes aus heiterem Himmel. Menschen waren nichts anderes als eine ähnlich langlebige Ware wie Schiffstaue, Planken oder Goldmünzen mit dem Bild Sarphas des Ersten. Das Erscheinen eines Mannes in kostbaren Lederstiefeln, einem langen weißen Gewand und einem Gesichtsschleier, der nichts anderes als zwei flammende Augen frei ließ, brachte die nächste kleinere Abwechslung in das Geschehen. Er trat, nachdem der verkaufte Sklave vom Steg gestoßen worden war, genau beim Klang des Bronzegongs auf das Podium. Seine Stimme drang dunkel unter dem dünnen Schleier hervor. An den Fingern der Hand, die er wie anklagend in den Himmel stieß, funkelten breite Ringe und auffallend große Steine, deren Feuer die zunächst Stehenden blendete. »Ich bin der Karawanenhändler Abudirg«, sagte er deutlich vernehmbar. »Vor Jahren hat mich ein Betrüger hereingelegt. Jedermann kennt die traurige Geschichte. Nunmehr habe ich die Gelegenheit, gleichermaßen diesen Betrüger eines Besseren zu belehren, es ihm heimzuzahlen und eine Ware anzubieten, die euch alten Lustgreisen den Geifer auf die Lippen treiben wird. Eine junge Frau von ungewöhnlichem Aussehen und ein Junge von prachtvoller Gestalt, nur als Paar abzugeben, und die beiden sind die unvergleichlichen Perlen dieser heutigen Veranstaltung. Aufseher, walte deines Amtes!« Ein Peitschenschlag knallte, der Gong dröhnte abermals dreimal auf. Ein halbwüchsiger Junge und eine junge Frau wurden, nachdem Abudirg den Steg verlassen hatte, vom Aufseher heraufgebracht. Sie waren ohne Fesseln. Das weiße Haar der Frau bildete einen seltsamen Kontrast zu ihrer gebräunten Haut und dem makellosen Körper. Abudirg hatte den Jungen und die Frau weder hungern noch dürsten lassen. 109
Vor der Versteigerung waren diese Sklaven gebadet und ihre Haut mit Öl massiert worden. Er wußte, daß nur bestens erhaltene Ware den höchsten Preis erzielte. Ein Raunen und Murmeln ging durch das Publikum. »Wie hoch ist der Preis?« brüllte ein Interessent. Der Aufseher des Marktes nannte eine erstaunliche Summe. Sie wurde durch nichts anderes gerechtfertigt als dadurch, daß die feingliedrige Frau mit dem silbern scheinenden Haar und der trotzig dreinblickende Junge ein seltsames Paar bildeten. Obwohl auf diesem Markt schon schönere Frauen um weniger Geld verkauft worden waren, ging von beiden Sklaven eine Aura des Ungewöhnlichen aus. »Aber beachtet, daß sie nur als Paar verkauft werden!« rief der Auktionator und ließ seinen Blick blinzelnd über die Bieter schweifen. »Einhundertzehn!« rief jemand. »Einhundertzwanzig!« schrie ein anderer. Etwa fünfundzwanzig Männer wollten sich gegeneinander überbieten, bis einer der Sklaven Loppos rief: »Loppo bietet dreihundert.« »Dreihundertfünfzehn«, erscholl es aus der Sänfte des Croesus. Zum erstenmal breitete sich wirkliches Schweigen zwischen den Mauern aus. Aus der Sänfte von Loppo drang ein unterdrückter Fluch. Dann hörte man seine helle Stimme. »Dreihundertfünfundzwanzig.« »Dreihundertfünfzig«, sagte kalt ein Trägersklave des Croesus. Aus der Menge der reichen Kaufleute, die sich zu einer Gruppe zusammendrängten, überbot ein fuchsgesichtiger Mann mit goldenen Ohrringen und Kräuselhaar: »Dreihundertsechzig.« Die junge Frau kreuzte die Arme vor der Brust, der Junge 110
schien sich wie schutzsuchend an ihre Schulter zu drängen. Hinter ihnen stand wachsam, die Augen über die Menge schweifen lassend, der Marktverwalter. Der Auktionator beendete die kleine Pause, indem er rief: »Dreihundertsechzig sind vom Kaufherrn Nachird geboten. Zum ersten, zum…« Der erstaunliche Croesus lüftete auch jetzt sein Geheimnis nicht um einen Fingerbreit. Sein Sklave hob in einer fast verächtlichen Bewegung die Hand und warf ein: »Vierhundert.« Dieser Preis war mehr als ein stolzes Angebot. So handelte nur jemand, der unbedingt diesen Sklaven und keinen anderen haben wollte, aus welchem Grund auch immer. Mehrere Bieter wischten sich die Schweißtropfen von den Stirnen und winkten ab. Für sie hatte das Spiel keine Bedeutung mehr. »Vierhundertzehn«, sagte Loppo heiser und hustete verärgert, mit einem parfümierten Tüchlein vor seinem Gesicht wedelnd. Ein fremder Kapitän erhöhte um zwanzig. Der Eunuch fügte zehn hinzu. Croesus setzte den Betrag um weitere zwanzig herauf. Zwei Kaufherren, durch den Handel mit Kupfernägeln für die Hausbootplanken absurd reich geworden, gaben das Rennen auf, als der Beschnittene weitere zwanzig Münzen hinzufügte. Sie hatten sich das Paar teilen wollen. Aber für mehr als vierhundertfünfzig Goldmünzen war nicht einmal diese zweifache Rarität wohlfeil. Trotzdem bot man weiter. Fünfhundert… fünfhundertdreißig… sechshundert… und bei siebenhundertfünfzig gab der Eunuch Yahids des Siebzehnten mit vor Aufregung schriller Stimme auf. Der Vorhang seiner Sänfte wurde zurückgeschlagen. Aber noch hoben die Träger seine Sänfte nicht auf. Loppo wartete auf das Ende dieser 111
einmaligen Versteigerung. »Croesus hat siebenhundertsechzig geboten. Zum ersten…«, begann der Auktionator. Die wartende Menge barst förmlich vor Aufregung, und selbst die Mienen der Sklaven belebten sich. Sie erkannten undeutlich, daß sie für einen bestimmten Mann wichtig geworden waren. »… zum zweiten und zum dritten. Der Zuschlag erfolgt gegen Zahlung barer Münze an Croesus.« Schon war einer der selbstbewußten Sklaven mit einem klirrenden Beutel unterwegs. Er erklomm das Podium, zählte die Münzen auf den Tisch des Auktionators und übersah geflissentlich, wie sich der Marktaufseher in vollster Zufriedenheit die Hände rieb. Der muskelstarrende Sklave schob die Börse in seinen breiten Doppelgürtel zurück, packte die junge Frau mit eisernem Griff an einem Arm und den Knaben, der sich nicht zu wehren wagte, mit einem ebensolchen Griff. Ruhig bugsierte er sie vom Podium, schob sie auf die Sänfte zu und ließ sie vor der Seitenwand anhalten. Von links und rechts kamen zwei andere Sklaven und schoben die Vorhänge beiseite. Die Menge hielt den Atem an – endlich würden sie einen Blick auf den geheimnisvollen Croesus werfen können. Sie sahen nichts anderes als einen zweiten, dünneren Vorhang, der sich erst öffnete, als die Körper der beiden Sklaven hinter dem äußeren Stoff verschwunden waren. Schützend stellten sich die Sklaven, die Hände an den Griffen der flammenförmigen Dolche, vor die Sänfte. Die beiden neuen Sklaven erlebten, wie sich der Vorhang teilte. Sie sahen nichts anderes als den Körper eines braungebrannten, wegen der Hitze leicht bekleideten Mannes. Sein Kopf war von einem ebensolchen Tuch verhüllt, wie es Abudirg getragen hatte. 112
Eine Stimme, die nach einigem Nachdenken und einigen Herzschlägen der Überraschung beiden Menschen bekannt vorkam, sagte: »Nehmt Platz! Es wird ein wenig eng werden.« Wortlos gehorchten sie und kauerten sich dem Fremden gegenüber auf die Polster. Sofort hoben die Sklaven die Sänfte hoch und trugen sie in auffallend schnellem Tempo durch die brodelnde und murmelnde Menge davon. Der Mann sprach leise weiter: »Ich habe es gerade noch geschafft, Kalathee und Samed. Jetzt seid ihr sicher.« Er schlug das Tuch vor seinem Gesicht zurück und lächelte. Sie kannten dieses herausfordernd kühle und gewinnende Lächeln. Trotzdem zuckten sie zusammen. Nur Kalathee konnte hervorbringen: »Du, Luxon?« Dann fühlte sie, wie ihr Körper schlaff wurde. Vor ihren Augen tanzten feurige Räder, und schließlich hüllte sie für kurze Momente eine wohltuende Dunkelheit in ihren schützenden Mantel. Samed starrte Luxon an und begriff fast nichts. Das Bewußtsein, einem schlimmen Schicksal entgangen zu sein, stellte sich erst viel später ein.
Schon an Bord von Garaschis Galeere hatten sich seine aufgeregten Gedanken beruhigt. Zahllose neue Abenteuer hatten in seinem Bewußtsein unauslöschliche Spuren hinterlassen. Und nun war in Mythor die Überzeugung, wirklich der Sohn des Kometen zu sein, weiterhin gewachsen. Es war eine zwangsläufige Folge der Ereignisse, die mit der Bekanntschaft des Süders Vangard am Koloß von Tillorn ihre logische Fortsetzung gefunden hatten. Jetzt, im wohltuenden Schatten der duftenden Bäume, ein Glas kühlen Weines in der Hand, gab es abermals eine Gelegenheit, nachzudenken und die Einzelheiten der Expedition nach Logghard zu planen, die 113
Gegenwart und die eigenen Empfindungen mit der wahrscheinlichen Zukunft zu verbinden. Fronja! Logghard! Der Sonnenschild. Und schließlich, nach den Andeutungen des Stummen Großen Vierfaust, das Erlebnis am Meteorstein – das alles hatte schwerwiegende Gründe. Nichts geschah aus Zufall. Die Regeln dieser Welt mochten verwirrend und ihre Auswirkungen mehr als rätselhaft und verschlungen sein, aber es gab jene Regeln. »Eine davon«, sagte sich Mythor leise und blickte über die abfallenden Ränge und Terrassen der Stadt hinunter, »ist sicherlich auch die Bereitschaft Luxons, mir den Bogen und den Köcher zu geben.« Am nachhaltigsten hatte ihn das Erlebnis am Meteorstein berührt, dort, wo ihn die Marn vor siebzehn Sommern beim Schrei seines Bitterwolfs aufgefunden hatten. Er war ein Ausgesetzter, verlassen in der Steppe von Salamos. Der Bitterwolf hatte damals seine Warnung hinausgeheult, und das hatte ihn vor siebzehn Jahren gerettet. Hastig stürzte er einen großen Schluck aus dem Becher hinunter. In ihm hatte vor kurzer Zeit jenes fremde Bewußtsein -oder was immer es war – getobt. Er nannte es in Gedanken manchmal den Feind, manchmal den Schatten oder den Feind im Dunkeln. »Und jetzt…?« fragte er sich. Nun, er hatte den Sonnenschild, das Schwert, den Helm der Gerechten sowie den Sternenbogen und den Mondköcher. Er schien frei zu sein von den Fesseln, die ihn an seine unmittelbare Vergangenheit banden. Bevor er versuchte, den siebenten Kristallisationspunkt des Lichtboten aufzusuchen, mußte er sich in Sarphand bemühen, von den Großen die letzten Rätsel seiner Herkunft zu erfahren. »Ich ahne«, sagte er leise und bewegte unruhig den Pokal in 114
seinen Fingern, »daß sie vor meiner Zeit bei den Marn mit mir in einem bestimmten Zusammenhang stehen. Irgendwie kennen wir uns.« Auch der neue »Freund«, Luxon, der Mann vieler Rätsel, hatte ihn dazu ermuntert. Er war sicher, daß die Großen sagen und beweisen konnten, ob Mythor wirklich der Sohn des Kometen sei. Mythor war weit davon entfernt, an einen klaren und andauernden Sinneswandel seines Konkurrenten glauben zu können – zu oft war er schon von Luxon betrogen worden. Trotzdem hatten Steinmann Sadagar, Luxon und er die Lichtsplitterinseln verlassen und waren von Bord der Galeere gegangen. Gestern nacht hatten sie die Stadt betreten. Sie hatten einen schmalen Weg gewählt und waren zu Fuß gekommen, nachdem sie die Waffen und die Ausrüstung bis zur Unkenntlichkeit verkleidet und sich selbst mit Hilfe von Farbe und Kleidungsfetzen maskiert hatten. Sowohl für Luxon-Arruf als auch für Mythor bedeutete die Stadt ein mehr als gefährliches Pflaster. Im Sternenlicht schlichen sie über den Pfad, wichen den dunklen Stellen aus, und Luxon führte sie auf ein Gebäude zu, das von Bäumen umgeben auf einer der obersten Plattformen oder Stufen lag. »Hier gibt es Dutzende von Männern«, flüsterte Luxon in der Dunkelheit, »die nichts lieber täten, als sich an mir zu rächen. Ich habe ihnen in meiner Jugend zum Teil recht übel mitgespielt.« Zwischen Büschen, in denen Leuchtkäfer umherschwirrten, tappten sie eine grasbewachsene Treppe aufwärts. Von rechts waren die bedächtigen Schritte einer Doppelwache zu hören. »Und ich gelte als Frevler wider Shallad Hadamur«, knurrte Mythor, während Sadagar um sich schaute und die Finger an den Griffen seiner Wurfmesser entlanggleiten ließ. Stundenlang waren sie über Pfade, die nur Luxon kannte, durch die Nacht geschlichen. 115
Hadamur ließ sich als die Reinkarnation des Lichtboten vergöttern. Jeder andere Mann, besonders ein Einzelgänger wie Mythor, würde seinen Zorn herausfordern. Und in einer Stadt, die Mythor nur vom Hörensagen und aus Luxons Erzählungen kannte, waren Gefangenschaft und Tod näher als an anderen Orten. Und schließlich hatte sich im ersten Morgenlicht eine schmale, eiserne Pforte vor ihnen geöffnet. Luxon flüsterte mit einer Wache unverständliche Worte. Dann ließ man sie ein. Todmüde sanken sie auf die üppigen Lagerstätten. Sie wußten nicht, in welchem Bauwerk dieser Felsenstadt sie sich befanden. Aber wenigstens in diesem Punkt vertraute Mythor ihrem Führer Luxon: Sie waren in Sicherheit. Mythor hörte hinter sich ein leises Klirren und leichte Schritte. Durch einen weißen Vorhang kam ein junges Mädchen auf die Terrasse, die im Schatten lag. Das Mädchen trug einen gläsernen Krug, in dem bernsteinfarbener Wein schimmerte. »Herr«, sagte sie. »Dein Gastgeber wünscht, daß es dir an nichts fehlen soll. Noch einen Schluck Wein?« Mythor erwiderte ihr Lächeln und sagte: »Danke. Nicht nur einen Schluck, sondern einen vollen Pokal. Wer ist mein Gastgeber? Ich habe zahllose Fragen.« Er kannte einen Teil dieses Palasts. Der Besitzer mußte reich sein, fast unermeßlich reich. Das Haus war aus dein Felsen geschlagen, teilweise aus Bruchstein und zu anderen Teilen aus glatten weißen Mauern erbaut. Jeder Raum war kostbar eingerichtet, und überall herrschten Ruhe und Kühle. »Dein Gastgeber und mein Herr ist Croesus«, sagte das Mädchen, beugte sich vor und goß Mythors Pokal voll. Der Geruch des Weines und der des Öls, mit dem der Körper des Mädchens eingerieben war, vermischten sich. 116
»Was hat Croesus mit Luxon zu tun?« wunderte sich Mythor. »Und wo ist Sadagar?« »Er sucht dich, und gleich wird er hiersein«, meinte das Mädchen. »Croesus ist ein Mann voller Rätsel. Er kommt von weit her, und in der Stadt gibt es tausend Gerüchte über ihn. Selbst ich habe ihn niemals von Angesicht gesehen. Aber nur selten wohnt er in seinem Palast.« Mythor hatte den überhängenden Felsen und die unzähligen Hausboote im Hafen gesehen und versucht, sich ein Bild von Sarphand zu machen. Das Leben in dieser Stadt bewegte sich auf vielen Ebenen und Stufen. Überall gab es Treppen, Rampen und breite, brückenartige Stege. Der rote Felsen war im Lauf der Jahrtausende von der Brandung der Strudelsee ausgewaschen worden, und bevor sie sich auf den nächtlichen Weg gemacht hatten, konnten sie noch erkennen, daß ein phantastisches Gebilde aus steinernen Formen entstanden war, ein Netzwerk aus Grotten, Höhlungen und Scheinbildnissen, die ihr Aussehen beim schwindenden Licht oder unter den Strahlen der wandernden Sonne ständig veränderten. In einer gigantischen Grotte lag der Hafen, dessen Becken durch starke Mauern geschützt war. »Wo ist dieser Croesus, offenbar ein Mann großen Reichtums, jetzt gerade?« fragte Mythor. Der Felsen der Goldstadt mochten, ebenso wie viele Gebäude, voller geheimer Tunnels und großer Schächte sein, in denen man die Waren aus dem Hafen heraufzog oder sich ungehindert und ungesehen von einem Ort Sarphands zum anderen bewegen konnte. Jeder Fremde war hier dem Wissen weniger Eingeweihter schutzlos ausgeliefert. Ihr seid in Sicherheit, hatte Luxon gesagt. Ihr könnt ruhig schlafen. Mythor wandte sich wieder an das Mädchen, das abwartend lächelnd vor ihm stand. »Du gibst keine Antwort?« Sie hob die runden, gebräunten Schultern und antwortete 117
verlegen: »Unser Herr weiht uns nicht in seine Geheimnisse ein. Aber er verließ mit seinen Wachen vor kurzem das Haus. Es heißt, daß er bald zurückkommen wird.« »Also muß ich auf ihn warten. Oder auf seinen Boten.« »So ist es, Herr.« Ihre Augen wanderten von seinem Gesicht und hefteten sich auf einen Torbogen. Mythor drehte sich langsam um und hob die Hand, als er Steinmann Sagadar erkannte, für den eine andere Sklavin den Vorhang zur Seite zog. Auch Sadagar wirkte ausgeschlafen, erholt und verwundert. »Wir sind hier in Luxus und Reichtum gelandet«, bemerkte Steinmann trocken und nahm aus der Hand des Mädchens einen gefüllten Pokal entgegen. »Es muß ein Traum sein, der schnell im Sonnenlicht vergeht, Mythor.« »Das mag sein. Aber davor werden wir vielleicht noch unseren Gastgeber Croesus kennenlernen«, entgegnete Mythor. »Was weißt du?« Steinmann schüttelte den Kopf. »Nichts. Ich stellte viele Fragen, aber ich bekam kaum eine brauchbare Antwort.« »So erging es mir auch«, beschied ihn Mythor und entspannte sich. »Aber jetzt höre ich aus dem Innern dieses Hauses gewisse Geräusche. Mir scheint es, als sei ein hoher Herr mit Gefolge erschienen.« Die Sklavin huschte davon und flüsterte voller Begeisterung: »Croesus ist zurückgekommen!« Der Vorhang schlug hinter ihr zu. Sadagar und Mythor wechselten einen überraschten Blick. »Wenigstens scheint dieser Croesus seine Sklaven oder Diener nicht zu peitschen.« Langsam folgte Mythor dem jungen Mädchen. Der Palast war an die Südseite des Stadtfelsens gebaut. Unterhalb von ihm schmiegten sich viele Gebäude an den Fels, die wie Kaufmannshäuser und Lagerhallen aussahen. Zahlreiche 118
kleine und große Terrassen sprangen an allen Mauern des Croesus-Palasts vor. Die Wurzeln uralter Bäume verschwanden in riesigen Löchern im Fels oder in gemauerten, hausgroßen Kästen, die in Sarphand als Ayolen bezeichnet wurden. »Was für seinen blütenweißen Charakter spricht«, murmelte Sadagar. Ein Torbogen führte in eine große Halle. Die Decke wurde von kostbar bemalten Rundbögen gebildet. Zahlreiche schlanke Säulen erhoben sich aus dem spiegelnden Boden des Saales. Als Mythor und Steinmann den Saal betraten, öffnete sich am oberen Ende einer breiten Treppe abermals ein Vorhang. Das Tageslicht wurde von dünnen, weichen Stoffen gefiltert. Zwei große Männer, in weißes Zeug gekleidet, bauten sich neben den Säulen auf. Sadagar und Mythor blieben überrascht stehen, als zuerst ein Mann leichtfüßig die Treppe herunterkam und dabei den Gesichtsschleier abriß. »Luxon!« entfuhr es Steinmann. »Beim Nadomir! Du mußt jener…« »Richtig«, sagte Luxon lachend. »Ich spiele in Sarphand notgedrungen eine Doppelrolle.« Er sagte es so leise, daß es nur die zwei Männer hören konnten. Dann drehte er sich um und zeigte auf die Treppe. »Eure Überraschung wird nicht geringer sein als die jener beiden, die gleich eintreten.« Ein dritter Leibwächter führte eine junge Frau und einen Jungen in den Saal. Nach den ersten Schritten erkannten Mythor und Steinmann, daß es keine anderen waren als Kalathee und Samed. Kalathee blieb auf der Treppe stehen und blickte schweigend von einem zum anderen. »Ich traue meinen Augen nicht mehr«, sagte sie überrascht. »Mythor! Sadagar! Und scheinbar 119
ein Herz und eine Seele!« Samed starrte die Männer schweigend an. Luxon setzte sein freundlichstes Lächeln auf und hakte die Daumen in den Gürtel seines kostbaren Gewandes. »Hoffentlich wird Abudirg mit dem Erlös seines Sklavenpaars zufrieden sein! Hätte er gewußt, daß ausgerechnet ich sie ersteigert habe, hätte es wohl einige Aufregung gegeben.« »Abudirg?« fragte Mythor, dem die Zusammenhänge erst langsam klar wurden. »Dann hast du also als Croesus, der Geheimnisvolle, Kalathee und Samed demjenigen Mann abgekauft, der sie in der Wüste gefangengenommen hat?« »So ist es«, sagte Luxon. Er sah im Blick Kalathees die ersten Zweifel auftauchen. Hatte sie sich, so dachte sie wohl, dem falschen Mann angeschlossen? Mythor sah nicht so aus, als sei er von Luxon besiegt worden. »Hast du«, wandte sie sich leise an Luxon, »eingesehen, daß Mythor ein größeres Anrecht auf das ersehnte Ziel hat? Wie darf ich eure neue Freundschaft verstehen?« Luxon winkte einen seiner Bewaffneten herbei und antwortete: »Der Schein trügt. Zuerst einmal werden wir es uns nach den langen Tagen der Kämpfe und Entbehrungen gutgehen lassen. Tahara! Geh hinunter zum Meister meiner Küche und trage ihm auf, er soll in zwei Stunden ein köstliches Mahl zubereiten. Wir wünschen auf der kleinen Terrasse zu essen, von der aus wir den Palast Sarpha Yahids sehen können.« »Es wird augenblicklich geschehen, Herr«, sagte Tahara und verbeugte sich tief. Mythor lehnte seinen Rücken gegen eine Säule, sah sich schweigend um und versuchte, die Stimmung in diesem Palast richtig zu deuten. Luxon war Croesus, und abermals tat sich eine neue Facette seiner überraschenden Persönlichkeit auf. Tarnung, Verstellung und ständig wechselnde Rollen schienen 120
sein Leben zu bedeuten. »Zum Sohn des Kometen wird man nicht geboren«, sagte Mythor etwas sarkastisch. »Man muß es werden. Man muß darum ringen. Wie es schon Vangard, der Süder, richtig sagte.« »Wir werden beim Essen genügend Gelegenheit haben«, meinte Luxon geschmeidig, »diese Fragen zu klären.« Mythor blieb weiterhin skeptisch. Aber immerhin hatte sich Luxon in den letzten Tagen hilfreich und zuvorkommend gezeigt. Daß aus einem Gegner ein Freund geworden sein sollte, das vermochte nicht einmal Mythor ernsthaft zu glauben. Trotzdem lächelte er Kalathee an und sagte: »Ich denke, jeder von uns hat echte Möglichkeiten, der Sohn des Kometen zu werden.« »Die Großen werden entscheiden«, fügte Luxon hinzu. Wieder blickte Kalathee voller Unsicherheit von einem der beiden Männer, die sich so erstaunlich ähnlich waren, zum anderen. »Und bis dahin ist wohl noch Zeit«, knurrte Sadagar. »Wann soll dein Gastmahl stattfinden, Luxon?« »Irgendwann in zwei Stunden. Kommt mit mir zur Terrasse!« bat Luxon. Der Tag war ziemlich heiß, aber in den Räumen herrschten Kühle und Halbdunkel. Auf der kleinen Terrasse bewegte ein kühler Wind, der von der Strudelsee herkam, die Blätter der wuchtigen Bäume. Tische und Sessel, die aus Rohrgeflecht und hellem Stoff bestanden, befanden sich im Schatten der ausladenden Äste. Die Palastsklavinnen brachten Krüge voller kalter Getränke, die fruchtig schmeckten und auf der Zunge perlten. Die Gäste und Luxon ließen sich in den Sesseln nieder. »Ich bin, mußt du wissen«, wandte sich Luxon an Kalathee, »in mich gegangen. Ich habe lange hin und her überlegt.« »Und was haben deine Überlegungen erbracht?« wollte sie 121
leicht gereizt wissen. »Ich finde, daß sowohl Mythor als auch ich, jeder auf seine Art, noch zum echten Sohn des Kometen werden können. Ich bringe zweifellos viele Voraussetzungen mit, denn ich kenne die Welt mindestens ebenso gut wie Mythor. Trotzdem will ich die Großen entscheiden lassen.« »Was bedeutet das für mich?« fragte Mythor ruhig. »Du mußt dein Versprechen geben, ebenso, wie ich es gebe, daß jeder von uns sich der Entscheidung der Großen beugen wird. Wie immer sie ausfallen mag.« »Ich habe wohl keine andere Chance«, murmelte Mythor. »Wohl kaum. Du hast mindestens die gleiche Chance wie ich. Ohne die wunderbaren Zauberwaffen sind wir uns ähnlicher, als es den Anschein hat. Auch unsere Lebensgeschichten sind einander sehr ähnlich.« »Ich kenne meine eigene kaum«, knurrte Mythor finster. »Und an deiner Geschichte wird manches falsch und verwirrend sein.« »Mag sein«, sagte Luxon mit strahlendem Lächeln. »Aber du wirst es hören und erkennen müssen: Mein Leben war voller Gefahren und Aufregungen. Zuerst aber müssen wir sicherstellen, daß keiner von uns mächtiger ist.« »Nadomir! Wie soll das vor sich gehen?« wunderte sich Sadagar. »Indem wir die wunderbaren Waffen und selbst das Orakelleder in der Schatzkammer meines Palasts verstecken. Die Tür hat zwei Schlösser. Jeder von uns bekommt einen Schlüssel. Keiner kann die Tür ohne den anderen öffnen.« »Das ist reichlich kühn!« sagte Mythor verblüfft. »Wozu dieses Spiel?« »Es ist kein Spiel«, wiederholte Luxon mit ernstem Gesicht. »Weit gefehlt, Mythor. Aber wenn wir uns der Entscheidung der Großen stellen, müssen wir gleich stark oder gleich 122
schwach sein.« Sadagar schüttelte den Kopf und brummte: »Die Welt ist voller Unsicherheit, Lüge und Verblendung. Du wirst sicher verstehen, Luxon, daß wir nicht jedes Wort glauben, das aus deinem Mund kommt. Ich weiß, wie oft Mythor von dir getäuscht wurde. Ich werde aus diesem Grund in der Dunkelheit der Nacht den Kleinen Nadomir anrufen und um Rat bitten.« Luxon machte eine wegwerfende Handbewegung und entgegnete höflich: »Sein Rat wird sein, meinem Vorschlag zu folgen.« Sadagar traute anderen Menschen ebensowenig, wie er von ihnen erwartete, daß sie ihm glaubten. Seine Gedanken waren keineswegs rein und lauter. Aber er war sehr unsicher, was die beabsichtigte Anrufung des Nadomir betraf. Und das Vorhaben Luxons, Mythors Waffen wegzuschließen, erschien ihm als die Krönung aller schändlichen Täuschungsversuche. Noch waren der Helm der Gerechten und die anderen Waffen im Besitz Mythors – noch hatte sich sein Freund nicht entschlossen. Luxon winkte, und die Sklavinnen begannen, Becher, Teller und Schalen aufzutragen. Luxon stand auf, ging an die Brüstung der Terrasse und warf einen langen Blick auf die tiefer gelegenen Bezirke Sarphands. »Diese Stadt«, sagte er schließlich, »ist mein Schicksal. Hier wuchs ich auf, hier lernte ich jeden Stein kennen. Sarphand und seine Sitten und Schicksale haben mein Leben bestimmt und meinen Charakter geformt.« Plötzlich schien sich Luxons Wesen vollständig geändert zu haben. Er wirkte ernst und verantwortungsbewußt. Das Lächeln verschwand von seinem Gesicht, und als er sich wieder der kleinen Tischgesellschaft zuwandte, war selbst Steinmann Sadagar nahe daran, Luxon jedes Wort zu glauben. 123
»Ich bin fünf Sommer alt«, sagte Luxon mit veränderter Stimme. »Mein Name ist Arruf. Ich bin ein Sklave.« Mythor zog unbehaglich die Schultern hoch und sah, daß Luxon tief in seine Erinnerungen eingetaucht war. Nur einige Herzschläge lang tauchte er daraus wie aus einem Traum auf, um seinen Dienern Anweisungen zu geben. Lichter und Kerzen erschienen, und Tafeln voller Leckerbissen wurden aufgetragen. Über die goldene Stadt, ihre Felsen und den Brandungsgischt der Strudelsee legte sich die trüb-goldene Dunkelheit des Sonnenuntergangs. Luxon begann, seine Lebensgeschichte zu erzählen. Sadagar und Mythor fragten sich, wieviel davon wahr und wieviel Legende und eigene Erfindung waren. Chamor zog eine Grimasse, schielte nach dem Schreibsklaven und fing dann an, seine Holztafel mit Schriftzeichen vollzumalen. Seine Schrift war ungelenk, aber er war eifrig. Arruf nahm die Holzkohle, rief sich den letzten Satz ins Gedächtnis zurück und zeichnete Buchstaben um Buchstaben nach. Er hatte eine viel schönere, geradlinigere Schrift als der gleichaltrige Chamor, der einzige Sohn seines Herrn. »Seid ihr fertig?« fragte der Sklave. Er war alt und weißhaarig. Seine Hand zitterte aber nicht, als er Chamors Tafel ergriff und dicht vor seine Augen hielt. »Nein!« sagte Chamor schrill. »Arruf zwickt mich immer.« »Ich habe dich nicht gezwickt, du…!« schrie Arruf. Er haßte Chamor. Er war es leid, das Spielzeug für den verwöhnten Sohn des reichen Mannes zu sein. Der Sklave betrachtete die Holztafel sehr genau, rieb mit der Kuppe des Zeigefingers einige Buchstaben aus und schüttelte dann seinen Kopf. »Ein Drittel ist falsch, Chamor«, sagte er voll bedächtiger Traurigkeit. »Wenn du ein so reicher Mann 124
werden willst, wie dein Vater es ist, mußt du richtig schreiben und viel besser rechnen können. Verstehst du?« »Arruf hat mich immer ans Knie getreten!« rief Chamor aus. »Ich hab’s genau gesehen«, antwortete der Sklave. »Arruf hat dich weder gezwickt noch getreten.« »Aber er hat nichts geschrieben!« Chamor streckte Arruf seine Zunge heraus und trat ihm unter dem niedrigen Tisch gegen das Knie. »Er hat mehr geschrieben und besser als du«, sagte der Sklave. Arruf wuchs zusammen mit Chamor in diesem kleinen Palast auf. Er wußte nicht, was der Vater Chamors tat, aber er war reich und gut zu seinen Dienern. Oft war er tagelang nicht im Haus. Dann verwandelte sich Chamor in einen kleinen Satan und schikanierte ihn. »Er hat nicht mehr geschrieben!« beharrte Chamor und wurde von Augenblick zu Augenblick wütender. »Doch. Du mußt dich anstrengen, damit du so schön schreiben kannst wie Arruf!« »Ich will nicht so sein wie Arruf!« plärrte Chamor. »Du sollst auch nicht so wie Arruf sein«, meinte der Sklave in unerschütterlicher Ruhe. »Du sollst besser sein als Arruf.« »Ich will aber nicht.« Arruf wußte, daß er besser rechnen und schöner schreiben konnte. Er turnte auch besser als Chamor. Trotzdem war Chamor glücklicher als Arruf, denn er hatte zumindest einen Vater. Es war Shakar, der Herr dieses Hauses, der keine Frau mehr sein eigen nannte und sich mit dunkelhaarigen Sklavinnen abgab. »Es ist nicht an mir«, begann der Schreibsklave des Herrn Shakar, zu dessen Obliegenheiten auch die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben des Hauses gehörte, »dir zu sagen, was du zu tun hast. Ich sage dir, daß ich dem Befehl deines 125
Vaters gehorche. Er befahl mir, dich das Schreiben und Lesen zu lehren – genau das werde ich tun. Du solltest also besser nicht versuchen, deine Faulheit hinter Arruf zu verstecken.« »Ich werde es meinem Vater sagen«, schrie Chamor und trommelte mit den Absätzen auf dem Boden, »er wird dich auspeitschen!« Er warf seinen Griffel nach Arruf, aber er verfehlte ihn, weil sich Arruf blitzschnell geduckt hatte. Der Sklave holte kurz aus und versetzte dem Jungen eine Maulschelle, die Chamor vom Hocker warf. Augenblicklich begann Chamor ein durchdringendes Geheul auszustoßen. Arruf zuckte zurück; er wußte, daß ihn der Sohn des Hauses in den kommenden Stunden zum Ziel seiner Wut machen würde. Trotzdem… Arruf wurde gut gekleidet. Kein Sklave und keiner der freien Männer und Frauen in Shakars Palast ärgerte ihn. Jeder mochte ihn, schenkte ihm ein mehr oder weniger flüchtiges Lächeln oder eine Süßigkeit. Es fehlte ihm nichts, und er genoß eine ebenso gute und auch harte Erziehung wie der Junge, dessen Spielzeug er weitaus mehr war als dessen Spielgefährte oder Freund. Nein, Chamor war kein Freund. Er war der verwöhnte Sohn eines reichen Mannes, der sich nicht selbst lange genug um seinen Sohn kümmern konnte oder wollte. Sein Geschrei hörte übergangslos auf. Wer war Shakar? Arruf kannte ihn nicht wirklich. Er wußte, daß er selbst auch noch zu jung und zu dumm war, um einen Menschen richtig zu erkennen. Nur eine Ahnung schlummerte in ihm, nicht mehr, nur ein Gefühl. Shakar, ein reicher, großer Mann von seltsamer Düsterkeit, mit verschlossenen Zügen und stets schweigsam. Shakar schien viel größer und hagerer zu sein als alle anderen Männer, mit denen es Arruf zu tun gehabt hatte. Zu ihm 126
jedoch war dieser unverständliche Mann liebenswürdig, ja fast liebevoll; ein Umstand, den Arruf bei weitem nicht begriff. Der Sklave wandte sich an Arruf und sagte halb wütend, halb hilflos: »Gibt es ein Mittel, diesen kleinen Rasenden zur Ordnung zu bringen?« Chamor starrte ihn aus großen, erschrockenen Augen an. »Ich kenne keines«, sagte Arruf wahrheitsgemäß. »Wenn ich ihn schlage, verpetzt er mich bei seinem Vater.« »Wenn ich ihn bei seinem Vater verpetze«, sagte der zögernde Sklave, »lernt er überhaupt nichts mehr.« »Er lernt ohnehin nicht viel. Sein Vater wird ihn eines Tages enterben«, sagte Arruf und wunderte sich selbst über seine eigene Klugheit. »Du bist dumm und gemein. Ich hasse dich!« schrie Chamor, spuckte auf seine Tafel und wischte seine Schreiberei mit dem Handballen aus. Der Schreibsklave zog die Schultern hoch. Er war ratlos. Was sollte er tun? Es oblag nicht ihm, den jungen Herrn zu strafen. Nach einiger Überlegung sagte er schließlich: »Ich werde heute von euch nichts mehr verlangen. Ich gehe, um mit dem Herrn zu sprechen. Er wird entscheiden.« Chamor streckte ihm die Zunge heraus, sprang auf und rannte davon. Plötzlich hatte Arruf das Gefühl kommenden Unheils. »Und ich?« fragte er bekümmert. Aus dem Innern des Palasts kamen das Geschrei des anderen Jungen und wütende Antworten einer männlichen Stimme. »Du kannst hier im Schatten sitzen bleiben und weiter schreiben«, sagte der Sklave. »Du kannst es recht gut. Übe weiter.«
Die Tage kamen und gingen. Die Stunden wechselten 127
einander ab; Schlaf, Essen, Arbeiten, Lernen und Streitigkeiten mit Chamor füllten die Zeit aus. Die Launen des Sohnes von Shakar beschäftigten weiterhin die Sklaven, und nur einige Tage lang, nachdem Shakar ihn gestraft hatte, war Chamor das Musterbild eines fleißigen und gehorsamen Jungen. In den Nächten aber herrschte im Palast Ruhe. Freie und Sklaven schliefen, und nur die leichten Tritte der bewaffneten Wachen unterbrachen das Zirpen der Grillen und die Schreie der Nachtvögel in den Zweigen. Arruf hatte sich in seinem Lager zusammengerollt, sein Kopf ruhte auf dem zerknitterten Kissen. Seine Arme und Beine zuckten immer wieder, und ab und zu stieß er einen undeutlichen Laut aus. Arruf träumte einen gräßlichen Traum. Außerhalb der Mauern schlichen schwarz gekleidete Gestalten durch die nächtlichen Schatten. Blanker Stahl blitzte in den Händen von Meuchelmördern auf. Ächzend sanken die Wächter zu Boden und verbluteten auf den Stufen. Knirschend öffneten sich die schweren Portale. Das Tappen nackter Füße und dünner Sohlen erfüllte die Zimmer und Korridore des Palasts. Ein schriller Schrei zerriß die nächtliche Ruhe. Irgendwo klirrte Metall auf Metall. Einige Flüche ertönten, dann schlug ein schwerer Körper auf die Bodenfliesen. Klappernd zerbarsten große, irdene Gefäße. Wieder ein heller Schrei, der in einem Gurgeln endete. Arruf erwachte schweißüberströmt und richtete sich auf seinem Lager auf. Vor dem kleinen Fenster des Raumes huschte eine Gestalt in rasendem Lauf vorbei. Er sah nur ihren Schatten. Ein zweiter Schatten rannte hinterher, und dann blitzte im Mondlicht ein Dolch auf. Ein klagender Schrei, ein Keuchen, dann verschmolzen beide Schatten miteinander. Von außerhalb des Palasts drang Lärm aus allen Richtungen. Zitternd vor Angst, kauerte Arruf in seiner Kammer. Die 128
Geräusche schneller Schritte entfernten sich. Mit einem donnernden Krachen schlug das Portal zu. Dann breitete sich für kurze Zeit eine tödliche Ruhe in dem kleinen Palast aus. Noch immer wußte Arruf nicht, was draußen vorgefallen war. Er versteckte sich unter den Decken und weinte. Er schrie vor Angst auf, als ihn eine Hand vorsichtig an der Schulter rüttelte. Das erste Tageslicht kam durch das Fenster. Trotzdem hielt der Mann, der riesengroß neben dem Lager aufragte, eine Öllampe mit vielen kleinen Flammen in der Hand. Arruf erkannte das verschlossene raue Gesicht des Herrn Shakar. Sofort wußte er, daß fürchterliche Dinge geschehen sein mußten. Shakar starrte ihn schweigend an, schließlich setzte er sich neben Arruf auf das Lager. »Du hast nichts gesehen und gehört, Arruf?« Arruf schluckte, zuckte die Schultern, und schließlich stotterte er hervor: »Ich habe geträumt. Da waren Geräusche und Messer, und jemand rannte schreiend davon.« »Es war kein Traum«, berichtigte Shakar mit trauriger Stimme. »Meuchelmörder sind in den Palast eingedrungen. Sie haben Menschen getötet und Gold geraubt.« Plötzlich wußte Arruf, ohne daß der Name gefallen wäre, daß die Mörder auch seinen Spielgefährten Chamor getötet hatten. Er war ganz sicher. Shakar sprach weiter, und es hörte sich an, als ob er ein Selbstgespräch führe: »Es war ein Mordanschlag, der eigentlich dir gegolten hat. Aber die Mörder verwechselten dich mit Chamor, und nun ist Chamor für dich gestorben. Du weißt es nicht, aber schon einmal mußte ich einen Knaben für dich opfern. Es wird also Zeit, daß ich dich in ein neues Versteck bringe.« »Warum… muß ich aus dem Palast fort?« würgte Arruf unter Tränen hervor. Schwer legte sich die Hand des Wahlvaters auf seine magere Schulter. 129
»Es geht nicht anders. Der nächste Dolch würde dich treffen, Arruf.« »Wer will mich töten?« fragte Arruf. »Das verstehst du noch nicht. Du aber mußt leben. Eines fernen Tages wirst du dein Erbe antreten müssen. Deswegen werden dich fremde Menschen wegbringen und verstecken.« »Werde ich dich wiedersehen, Herr?« Shakar schüttelte langsam den Kopf. Die Lampe in seinen Fingern zitterte. Die Lichter und Schatten tanzten an den Wänden. »Wann muß ich fort?« Shakar zeigte auf die Tür. Arruf stand auf und ging über die kühlen Fliesen zur Tür. Dort standen zwei Männer, die ihn aufhoben und aus dem Palast brachten. Eine Sänfte nahm ihn auf, und es wurde ihm unmöglich gemacht, zu sehen, wohin man ihn brachte.
Nach einer Weile, in der die Teilnehmer des abendlichen Mahles schweigend ihren Gedanken nachhingen, fragte Kalathee fast flüsternd: »Und du hast deinen Wahlvater niemals mehr wiedergesehen?« »Nein«, antwortete Luxon. »Ich erinnere mich deutlich an sein Gesicht. Aber mit Wissen habe ich ihn niemals wieder getroffen. Mag sein, daß er sich mir in irgendeiner Verkleidung zeigte, aber…« »Wohin brachte man dich?« wollte Mythor wissen. Er war nicht sicher, ob er Luxons Erzählung glauben sollte. Welches Erbe mochte der Wahlvater gemeint haben? Das Erbe des Lichtboten etwa? »In einen finsteren Winkel von Sarphand, auf der untersten Ebene der Stadt. Ich ging von einem Versteck zum anderen. Höhlen, Löcher und Schlupfwinkel, andere Bilder habe ich 130
nicht aus dieser Zeit. Ich erinnere mich an ein Leben, das von unvorstellbarer Einsamkeit war.« Luxon winkte einer Sklavin und ließ sich den Becher füllen. Dann holte er tief Luft und fuhr fort: »Als fünfjähriger Junge, wißbegierig und nicht abgestumpft, brauchte ich Freunde. Aber ich fand in dieser Zeit nicht einen einzigen. Gesichter und Gestalten kamen und gingen in unaufhörlichem Wechsel. Kaum wußte ich, wie einer meiner Lehrer, Herren oder Sklavenhalter hieß, verschwand er schon wieder und machte einem anderen Platz. Und dann kam die Zeit der Kämpfe.« Luxon ließ sich schwer in einen Sessel fallen, warf seinen Gästen einen Blick völligen Desinteresses zu und sagte: »Ich weiß nicht, wer gegen wen kämpfte. Aber immer wieder war ich in nächster Nähe. Ich kann heute die einzelnen Szenen nicht mehr deutlich auseinanderhalten, denn damals mochte ich sechs oder sieben Sommer alt gewesen sein, nicht mehr. Aber immer wieder tauchen Bilder von Kämpfen und vom Töten auf. Ich wurde in viele verschiedene Kleider gesteckt. Man gab mir viele unterschiedliche Namen. Aber ich blieb bei Arruf, denn dies war das einzige Mittel für den elternlosen Jungen, sich selbst zu begreifen, eine eigene Persönlichkeit zu bleiben. Heute, zurückblickend, muß ich folgendes sagen: Nach den ruhigen Jahren im Palast Shakars mußten wohl die darauffolgenden Zeiten eine Vorbereitung auf die Zeit als Sklave sein. Ich weiß es nicht. Über mich wurde bestimmt. Ich wurde niemals gefragt. Ob es ein einzelner Mächtiger war, der mein Leben führte, oder ob der Zufall diese Sommer und Winter bestimmte, weiß ich selbst heute noch nicht.« Während Luxon über seine ersten Eindrücke in Sarphand berichtete, hatten seine Gäste zögernd gegessen und getrunken. Mit Sicherheit hörten die Sklaven des Palasts zum erstenmal die Geschichte ihres Herrn, den sie als Croesus kannten. 131
»Du warst ein Sklave?« fragte Kalathee entgeistert. »Ich war alles mögliche«, bekannte Luxon. »Nichts ist mir fremd. Mein Leben war an seinem Anfang wirr und bitter, und heute ist es hart und voller Abenteuer. Aber . damals war ich nicht einmal andeutungsweise mein eigener Herr. Zumindest das hat sich inzwischen zum Teil geändert.« »Zum Teil. Das trifft zu«, brummte Mythor, der sich langsam aus der Geschichte Luxons löste. Luxon oder Arruf, der Dutzende anderer Namen gehabt hatte – was war noch alles in der Erinnerung dieses erstaunlichen Mannes begraben? Steinmann Sadagar betrachtete die dramatischen Berichte nüchterner und ohne besonders tiefe Ergriffenheit. »Warum enthüllst du die Geheimnisse deines Lebens vor uns allen, Luxon?« Luxon schenkte ihm einen langen Blick und antwortete: »Weil ich zu erklären versuche, warum ich mich darauf vorbereite, als Sohn des Kometen gegen die Schattenwelt zu kämpfen.« »Begreiflich«, murmelte Sadagar. »Wir sind begierig, mehr zu erfahren.« »Wenn ich meine Erinnerungen deuten könnte, wenn es einen klaren Sinn ergäbe«, stöhnte Luxon, und wieder fing Mythor an, ihm zu glauben, »wäre ich glücklich. Aber vielleicht könnt ihr mir helfen, wenn ihr alles erfahren habt. Ich werde mich bemühen, nichts anderes als die Wahrheit zu berichten. Aber auch meine Erinnerung ist einer persönlichen Auslegung unterworfen.« Mythor sagte sich, daß er diesen Mann sowohl als Konkurrenten als auch in seiner Eigenschaft als Kämpfer, als Betrüger, als Gastgeber falsch eingeschätzt hatte. Wie er ihn allerdings einschätzen sollte, wußte er noch immer nicht. Gerade Luxons Vorschlag, die Waffen hinter den massiven Türen der Schatzkammer zu verstecken, machte ihn zusätzlich 132
mißtrauisch. Vor rund zweimal zehn Sommern war der Sklavenmarkt von Sarphand kleiner und an anderer Stelle. Einen Sklaven zu kaufen, Kalathee, war damals noch ein aufregendes Erlebnis. Der Markt befand sich in einem engen Geviert von Mauern, auf der untersten Terrasse der Stadt, fast schon im freien Gelände seitlich der Straße. Ich fühlte, damals in einem Versteck der mittleren Stadt, wie man mir einen Sack über den Oberkörper stülpte, mitten in der Nacht. Ein Schlag in den Nacken betäubte mich. Ich merkte nur noch, wie man mich in rasender Eile wegschleppte. Irgendwann wachte ich wieder auf. Mein Gesicht war von verschorftem Blut überkrustet. Ich lag auf stinkendem Stroh im Dunkeln, aber am Geruch erkannte ich, daß ich an eine gänzlich andere Stelle geschafft worden war. Warum? Von wem? Ich begriff nichts. Nur mein Schädel schmerzte wie rasend. Stunden später näherten sich Schritte. Mit gräßlichem Knirschen öffnete sich eine Tür. Licht fiel in mein Gefängnis und zeigte mir, daß ich in einer winzigen Kammer lag, in einem Gewölbe, dessen Wände aus riesigen, von schimmligen Moospolstern bedeckten Quadern bestanden. Eine dünne Kette verband den Sklavenring um meinen Hals mit einem Krampen in der Decke. »Hier! Wasser und etwas Essen. Das letzte für lange Zeit, denke ich. Du bist einer der nächsten!« sagte eine widerwärtige Stimme. Ein Kanten Brot und ein Krug mit schartigem Rand wurden mir in die Hände gedrückt. Als die Tür zuschlug, verschwand auch der helle Lichtschimmer aus der Gruft. Trotz meiner Schmerzen aß und trank ich. Einen Zipfel der Gewandfetzen tränkte ich mit dem Wasserrest und versuchte, mein Gesicht abzuwischen. Es dauerte abermals Stunden, bis zwei Männer kamen. Sie 133
lösten das Schloß an meinem Halsring und zerrten mich einige Treppen hinauf. Der modrige Geruch und die stinkende Feuchtigkeit blieben hinter uns zurück. Was hatte es zu bedeuten – ich sei einer der nächsten? Ich erfuhr es, als man mich in die blendende Grelle des Sonnenlichts hinausstieß. Ich stand zitternd auf einem Podest aus ausgetretenen Steinen. Dutzende gieriger Augenpaare starrten mich an. Im Halbkreis saßen Frauen und Männer vor mir auf den Resten alter Säulen und auf breiten Holzbohlen. Als ich taumelnd zum Stehen kam, lachten sie höhnisch. Ein Peitschenhieb, dessen Schmerz mich einen Satz machen ließ, traf meine nackten Schultern. In meinen Schrei hinein sagte eine knarrende Stimme: »Und hier die Perle dieser Versteigerung. Ein wohlgenährter, mutiger Knabe, voll gerissener Klugheit, schnell und wortgewandt. Als Genosse eines Diebes, eines Bettlers oder Beutelschneiders ist er ein unentbehrlicher Bestandteil des Stadtbilds. Wer bietet mehr als sieben Eisenmünzen?« Ich war mager, keineswegs mutig und wortgewandt schon gar nicht. Mitleidlos begutachteten mich die Käufer. Schließlich hob ein fast zahnloser alter Mann die dürre Hand und krächzte: »Acht Münzen. Höher gehe ich nicht. Ich bin Alaid Gur, der Bettler.« Ich bot sicherlich einen mehr als jämmerlichen Anblick. Mager, wie nur ein Knabe von sieben Sommern sein konnte; schmutzig und mit wenigen Kleidungsfetzen, mit blutverschmiertem Gesicht und den frischen Striemen der Peitsche. Ich zitterte und wand mich unter dem Griff eines Knechtes. Niemand bot mehr als acht Münzen, und dann packte mich eine Hand und stieß mich von den Quadern hinunter. Ich fiel vor die Füße des alten Bettlers, die in löchrigen Stiefeln steckten. Sofort traf mich der scharfe Hieb eines biegsamen Stockes. 134
Die schrille Stimme des Bettlers sagte: »Jetzt gehörst du mir. Du tust, was ich sage. Aufstehen!« Ich kam zitternd und schluchzend auf die Beine. Mit halb geschlossenen Augen, kalt wie die eines Raubvogels, musterte mich Alaid Gur. »Wie nennt man dich?« »Arruf«, brachte ich heraus. Wieder zuckte der Stock loch und brannte eine blutige Spur über meine Schultern. »Das heißt: Arruf, Herr Gur! Verstanden?« belehrte lieh der Bettler. Ich haßte ihn und beschloß, ihn bei der ersten Gelegenheit zu töten. Ich senkte den Kopf, würgte leinen Haß hinunter und erwiderte halblaut: »Ich heiße Arruf, Herr Gur.« Der Bettler packte mich mit seinen eisenharten Klauen am Oberarm und schleppte mich mit sich. Einige Knechte öffneten und schlossen vor und hinter uns schmale Türen. Aus kleinen Kammern hinter den mächtigen Mauern der Karawanserei drangen Schluchzen, die Geräusche von Schlägen, Gestöhne und Flüche. Die Zimmer und Gewölbe schienen voller Sklavinnen und Sklaven zu sein. Mein neuer Herr, der Bettler Alaid Gur, humpelte eine lange Treppe aufwärts und gelangte so auf eine weiter oben liegende Terrasse der wunderbaren, von heiterem Leben erfüllten Stadt Sarphand. Ein halbes Jahr, mehr als hundertfünfzig verfluchte Tage und Nächte, war ich in Gurs Gewalt. Ich durfte mich nur dann waschen, wenn ein Regenguß über die Terrassen Sarphands hinwegrauschte und den Dreck über die Stufen, Treppen und Rampen spülte. Denn nur einem schmutzigen, vor Hunger zitternden Knaben warfen die Vorübergehenden kleine Münzen zu. Statt der Leckerbissen, die sich Gur von dem Erbettelten an den Hintertüren der Schenken kaufte, bekam ich Stockschläge. Meine einzige Kleidung waren der Sklavenring und ein vor Schmutz starrender Lendenschurz, dessen ausgefranste Ränder die Haut meiner Schenkel aufrieben. Mondelang eiterten die 135
Wunden, bis mich schließlich ein barmherziger Medizinmann in die Hände bekam und eine übelriechende graue Salbe daraufstrich. Als Gur die Salbe bemerkte, prügelte er mich wieder. Ich trank Regenwasser und aß Brotrinden. Fast jeder, der mich sah, war voller Mitleid, denn meine Knochen stachen durch die Haut, von der nicht einmal ich sagen konnte, ob sie von der Sonne verbrannt oder dreckig war. Meine jungen Muskeln aber gediehen unter dieser Behandlung. Sie wurden dünn wie Leder und hart wie Bronze. Und ich lernte jeden Stein in Sarphand kennen. Wohlgemerkt, von der unteren Straßenkante her, nicht von den Terrassen oder aus dem Schatten der Palastgärten. Der lederne Beutel, den Alaid Gur unter seinem schmierigen Hüftgürtel trug, füllte sich mehr und mehr mit Münzen, die mir von mitleidigen Menschen zugeworfen worden waren. Ab und zu verschwand der Alte in der Stube eines Wechslers. Dann hatte er viele eiserne und silberne Münzen in einige wenige aus Gold getauscht, die in seinem Sack nicht viel Platz wegnahmen. Bei einem der Gänge, die er stets im Schutz der Dunkelheit unternahm, mußte ihn einer aus der Gilde der Halsdurchschneider gesehen haben. Es war eine schwüle Sommernacht, und ich wachte auf, als aus einer Dachrinne das Wasser eines Gewitterregens genau auf mein Gesicht plätscherte. Im kurzen Licht des nächsten Blitzes sah ich zwei glühende Augen und die Schneide eines Dolches. Der Dolch zeigte kurz auf mich, dann schwenkte er zur Seite. Der nächste Blitz ließ mich erkennen, wie der schwarzbärtige Mann vor mir die Spitze der Waffe in den Körper Alaid Gurs bohrte. Der Alte hob sich mit letzter Kraft hoch, wandte seinen Kopf und sah seinen Mörder. Er murmelte mit schwacher Stimme etwas, das keiner von uns verstand. 136
Während er starb, durchtrennte der Dieb die Lederschnur, mit der Gur seine Münzen gesichert hatte. Ich lachte auf und schrie: »Ich wünschte, ich hätte es getan!« Die Befriedigung, daß mein Peiniger verstand und in den letzten Herzschlägen seines Lebens genau das spürte, was er mir wohl ein halbes Jahr lang hatte angedeihen lassen, erfüllte mich. Seine Augen brachen, als ich dem Dieb zuschrie: »Wenn du mich nicht mitnimmst, mußt du mich auch umbringen.« Aber ich stand längst im Regen auf meinen Füßen und war bereit, in rasender Flucht davonzurennen. »Mitnehmen?« staunte er. »Wohin?« »Zu den anderen. In deine Zunft oder wie ihr es nennt.« »Du meinst… zu König Aagolf?« »Ist mir gleich, wie er sich nennt. Bloß fort aus diesem Dreckleben!« schrie ich. »Entscheide dich! Sonst schreie ich, daß die Wachen zusammenlaufen.« Der mörderische Dieb steckte den geschliffenen Dolch in seinen Stiefelschaft und winkte mir. »Komm!« sagte er. »Schnell.« Wir flüchteten durch den Regen, hasteten entlang den Mauern, treppauf und treppab, durch den krachenden Donner und durch die Gassen der menschenleeren Stadt. Schließlich zerrte mich der Mann durch einen schmalen Spalt in einer halb zerfallenen Mauer. Von ihren Quadern wurde eine Palastfront gestützt. Ich konnte wieder sprechen, ohne gegen den Donner anbrüllen zu müssen. »Wohin bringst du mich?« »In unser Versteck. Vielleicht straft mich Aagolf dafür.« »Warte es ab«, sagte ich. Wir tasteten uns durch schmale Spalten, stolperten über Schmutz und Gerümpel und bogen immer wieder nach rechts und links ab. Schließlich tauchten vor uns einige Lichter auf. Die Gerüche nach Essen und menschlichem Schweiß schlugen mir entgegen. Im Lauf der 137
letzten sechs Monde hatten sich meine Sinne noch zusätzlich geschärft; ich kannte jeden Geruch und besaß nun den Instinkt eines Tieres, eines jener struppigen, mageren Köter, mit denen ich mich um Knochen und Abfälle gebalgt hatte. »Ist das euer Versteck?« flüsterte ich, als wir den Rand einer Art Höhle erreichten, die sich in verschiedene kleinere Bereiche aufteilte. An vielen Stellen brannten Feuer, leuchteten die Flammen von Öllampen und Fackeln. Auf den ersten Blick konnte ich sehen, daß sich rund fünf Dutzend Sarphander in der rußigen Höhle befanden. Frauen und Männer in jedem Alter und von jedem Aussehen, abgerissen, prachtvoll gekleidet oder in Lumpen. »Ja. Unser Versteck. Jeder, der es verrät, ist des Todes.« »Ich werde nichts sagen«, versprach ich. »Wer ist Aagolf?« Der Mörder faßte mich hart an der Schulter, zerrte und schob mich aus dem Dunkel an einigen wachsamen Posten vorbei in die Nähe eines lodernden Feuers. Bratenstücke drehten sich an eisernen Spießen. Es roch so verlockend, daß ich mich zusammennehmen mußte, um nicht einen der heißen Fleischbrocken aus den Flammen zu reißen. Wir bahnten uns einen Weg durch eine bizarre Vielfalt alten Gerümpels. Dann stand ich, zitternd vor Furcht und Hunger, vor einem Podest wie jenem, auf dem ich verkauft worden war. Ein magerer Mann mit einem kantigen schwarzen Schädel starrte mich an. Dann bellte er mit einer Stimme, die scharf war wie eine Dolchklinge: »Wer ist dieser verhungerte Strolch?« »König Aagolf«, antwortete der Dieb und warf seinem Herrn den prallgefüllten, schweren Beutel meines bisherigen Peinigers zu. »Das ist Arruf, der Bettelknabe von Alaid Gur. Er sah zu, wie ich Gur tötete. Er verlangte, vor deine Augen gebracht zu werden. Er ist mager, halb verhungert, aber er hat unter dem Stock Gurs eine harte Lehrzeit durchgestanden. Ich 138
meine, er paßt zu uns. Aber es wird deine Entscheidung sein!« Inzwischen wußte ich, daß es in Sarphand mindestens zwei unterschiedliche Möglichkeiten gab, zu leben und die Welt zu sehen. Von oben herunter, so, wie es mir in den unvergeßlich schönen Tagen im Palast Shakars ergangen war, und von unten herauf, etwa an der Seite eines bestialischen Bettlers, wie es der Ermordete gewesen war. Hier entdeckte ich nun eine dritte Möglichkeit. Es war ein Zwischenreich, die Mitte zwischen oben und ganz unten. Der »König« starrte mich an. Unter dem Blick seiner stechenden schwarzen Augen wurde mir heißer und heißer. Zugleich begann mein Magen zu knurren. Meine Knie schlugen wie im Frost gegeneinander. Der König sah merkwürdig aus. Noch nie hatte ich einen solchen Menschen gesehen. Auf dürren Beinen und mit einem Becken, das so schmal war wie meines, saß ein mächtiger Oberkörper, fett und muskelstarrend. Um den Hals trug er eine schwere goldene Kette mit einem runden Medaillon daran. Sein Kopf war geformt wie ein Würfel mit schräg abgerundeten Kanten. Dünnes, gekräuseltes schwarzes Haar, pechschwarze Brauen, ein ebensolcher Schnurrbart und ein fast eckiger Backenbart, die Brust voll schwarzen Haargekräusels. Er wirkte wie ein riesenhafter Zwerg, dessen Ahnen aus fernen Ländern kamen, wo die Sonne die Haut verbrannte. Endlich stieß er mit seiner knirschenden Stimme wieder ein paar Worte hervor. Sie galten mir. »Arruf, wie?« Ich dachte an Gurs biegsamen Stock und antwortete zögernd und ehrerbietig: »Ja, Herr König Aagolf. Ich bin der arme Waisenknabe Arruf. Ich will dir dienen bis zum Tod. Aber erst dann, wenn ich gegessen habe.« Das dröhnende Gelächter des Königs schien die moderbedeckten Quader auseinanderbrechen zu wollen. »Du wirst mein persönlicher Diener, Kerlchen! Ich zeige dir, wie 139
man stiehlt und betrügt. Aber du wirst einen prügelnden Herrn gegen einen strengen Herrn eintauschen.« Ich antwortete voller Demut: »Ich tue alles für dich, Herr König Aagolf. Aber gebt mir zu essen und zu trinken. Als Verhungerter nütze ich niemandem.« Der König der Diebe und Mörder stieß abermals ein unartikuliertes Gelächter aus und winkte eine Dirne zu sich heran. Er brüllte: »Hier ist ein Neuer. Arruf. Gebt ihm zu essen, bis er speit. Er steht unter meinem Schutz. In seinen flinken braunen Augen sehe ich Gerissenheit, völligen Mangel an Skrupeln und eine starke Fähigkeit zu Lug und Trug, die zu uns paßt; und wenn er uns verrät, tötet ihn ohne Bedauern. Komm her, verwelkte Rose meiner alten Tage!« Er bedachte mich mit einem schauerlichen Grinsen, das zwei Reihen gelber und schwarzer Zahnstummel zeigte, dann riß er ein vollbusiges Weib mit roten Haaren an sich. Mein diebischer Beschützer zog mich zum nächsten Feuer und drückte mich auf eine stinkende Matratze. »Iß und trink«, sagte er laut und versuchte, den Lärm in der schwarzen, raucherfüllten Höhle zu übertönen, »und wenn du satt bist, kannst du ruhig schlafen. Niemand wird dir etwas antun.« Das war der erste Kontakt, den ich mit einer Schicht des Lebens von Sarphand hatte, die mir neu war. Zum erstenmal nach rund einem Jahr schmeckte mir, was ich aß und trank. König Aagolf hielt sein Versprechen. Ich war so etwas wie sein persönlicher Laufbursche. Ich trug Botschaften in jeden Teil der Stadt. Ich war derjenige, der die Beute wegtrug, wenn die Wachen einen Dieb schnappten. Wenn ich richtig und schnell gehandelt hatte, wurde ich gelobt und bekam ein kleines Geschenk: etwa ein Paar Stiefel aus köstlich weichem Leder oder einen ledernen Lendenschurz, der meine Haut nicht mehr aufscheuerte. Oder einen Anhänger aus roten 140
Korallen. Ich lernte jeden Winkel von Sarphand kennen, den ich bis zu diesen Tagen noch nicht kannte. Den Hafen beispielsweise und das Umland. Sogar den Palast des Sarpha betrat ich mehrmals, ohne daß man mich schnappte. Dieses Leben gefiel mir. Ich ertrug jede Laune des Königs der Diebe fast fröhlich. Ich wußte, daß diese zweite Lehrzeit auch eines Tages enden würde. Und je mehr ich in dieses Leben hineinsank, desto sicherer wurde ich in meiner Überzeugung: Eines fernen Tages, wenn ich groß, stark und erwachsen war, würde ich der König der Diebe sein! Versagte ich allerdings, wurde ich geschlagen. Die Schläge verursachten Schmerzen. Also versuchte ich, keine Schläge mehr zu erhalten. Ich lernte ununterbrochen, nicht zu versagen und meine Aufgaben perfekt zu erledigen. Wie erleichtert man einen Eunuchen, der auf dem Weg zum Markt war, um sein Gold? Ich weiß es heute besser als fast jeder andere. Wie stiehlt man dem scheinbar blindem Bettler die weniger wertlosen Münzen aus der Schale? Ich lernte es: indem man ihn mit einem silbernen Spiegel für einen Augenblick blendet. Wie verschleppt man ein Lamm für das abendliche Essen in der Höhle? Wie schafften es zwei Mädchen und drei Männer, auf dem Markt Sarphands Melonen, andere Früchte und Hühner zu stehlen, ohne daß es überhaupt jemand merkte, und wenn doch, dann erst eine halbe Stunde später? Ich lernte alles und noch mehr. Vor allem lernte ich, daß ein Egoist gegenüber anderen Menschen gewisse Vorteile hat. Er ist als erster satt beispielsweise, denn was man gegessen hat, kann einem niemand mehr nehmen. Die Klippen des Lebens waren voller scharfer Kanten, und ich schaffte es, an ihnen vorbeizuschwingen, ohne verletzt zu werden. Ich schwamm nicht immer an der Oberfläche, aber in riskanten Momenten tauchte ich auf und brachte mich in Sicherheit. Ich lernte wie 141
eine Ratte in der nassen Finsternis der Kanäle: Entweder überlebte man oder man starb. Es bildete sich in dem Kind, das ich damals war, ein messerscharfer Verstand heraus, der nur ein Ziel hatte: überleben um jeden Preis. Aagolfs Prügel waren mir eine wichtige Hilfe. Er schlug mich, während er lachte, und irgendwie taten die Hiebe nicht so weh wie bei diesem Abschaum, dem Bettler Gur. Ich weiß heute nicht mehr, ob es eine Jahreszeit lang war oder zwei. Wahrscheinlich waren es mindestens zwei Sommer, die ich in der Höhle verbrachte und all das lernte, was ein junger Sklave und Dieb noch nicht kannte. Ganz langsam kamen die anderen darauf, daß ich viel besser als Köder denn als Beteiligter zu gebrauchen war. Also… Ich war es, der mitten auf dem Markt zusammenbrach, von oben bis unten mit Blut bedeckt – es war das Blut einer gestohlenen Henne – und schrie, daß es von den Mauern widerhallte. Die dicken Marktfrauen stürzten sich auf mich und versuchten, den Blutfluß zu stillen. Als sie sich in einem aufgeregten Haufen um mich herum gesammelt hatten, plünderten meine Freunde die Marktstände und die Wagen, mit denen die Bauern ihre Ware aus dem Umland Sarphands herbeigekarrt hatten. Ich wurde zum Köder. Ich merkte bald, daß es sehr viel mehr Spaß machte, die Menschen zu betrügen, als sie zu bestehlen. Es erforderte mehr Mut, weil ich stets allein war. Es erforderte aber auch mehr Geistesgegenwart und mehr Verstand, diese Rollen zu spielen. Wer warf sich vor die Füße der Sänftenträger und markierte einen Anfall, bei dem mir gelber Schaum vor die Lippen trat und ich mich herumwälzte, als sei ich tollwütig oder geisteskrank? Ich war es, ich, Arruf. Inzwischen war ich viel größer geworden. Mein Haar war gewachsen; die Favoritin des Königs klaubte eigenhändig die 142
Läuse und anderes Ungeziefer aus meinen Haaren. Ich war auch keineswegs mehr verhungert, dreckig und voller Schorf. Ich war sauber und hatte einen ehrlichen Blick. Die Marktfrauen, die ich gestern bestohlen hatte, dieselben Marktweiber steckten mir heute die leckersten Bissen zu und tätschelten mich. Wer hinkte, das rechte Bein in einer primitiven Schiene, vor dem Palast des Sarpha auf und ab und provozierte einen Wächter, mit dem Speerschaft nach ihm zu stoßen? Ich war es, Arruf. Ich zerdrückte auch die Blase mit verdünntem Ochsenblut und schrie so laut, daß sich die Bürger zusammenrotteten und den Wächter ablenkten. In der Zwischenzeit arbeitete unsere Bande und stahl alles, was nicht eingemauert, festgeschraubt oder angenagelt war. Wenn ich wieder zu mir kam, den Wächter anlächelte und ihm mit schwacher Stimme versicherte, daß ich keinen Schaden genommen hatte, merkte ich, daß mein Lächeln, mein Augenaufschlag und meine Gesten auf andere Menschen eine fast zauberische Wirkung hatten. Der Wächter war erleichtert. Er lächelte zurück. Ich stand auf, mein Gesicht zuckte, Tränen rollten aus meinen großen Augen, und während ich die Treppen zur nächsten Ebene hinunterhinkte, zogen sich meine Freunde blitzschnell zurück, beladen mit allem, was sie während meiner Ohnmacht hatten an sich raffen können. Nach dem fünfzehnten Erlebnis dieser Art setzte sich in mir das Wissen fest, daß meine Begabung darin lag, andere Menschen um den Finger zu wickeln. Danach setzte ich meine Fähigkeiten gezielt und ohne jede Skrupel ein. Ich. Ich. Ich war mir der Wichtigste. Meine Persönlichkeit begann sich zu bilden und zu verstärken. Und dann, rund sechs Monde später – oder waren es mehr? – kam die Nacht, in der ich Sheba-Nocciyah traf. 143
Oder traf sie in Wirklichkeit mich? Entschuldigt, Freunde, aber ich weiß wirklich nicht mehr, wann das war. Ob ich nun zehn Sommer oder zwölf alt war oder ob es ein paar Sommer mehr waren – diese Nacht verwischte alle meine Erinnerungen. Luxon blickte seinen leeren Becher an, als sei es ein Fremdkörper. Kalathee, Sadagar und Mythor schwiegen. Mythor verglich seine eigene Jugend mit der Jugend Luxons, und er mußte sich sagen, daß der andere Mann das Leben zwangsläufig aus einer anderen Warte sehen mußte. Er selbst war vergleichsweise heiter und behütet aufgewachsen, und auch diesen Teil von Luxon-Arrufs Erzählungen glaubte er unbesehen. Es war klar, logisch und verständlich, daß Luxon anders handeln mußte als er selbst. Samed war in seinem Sessel eingeschlafen; auf einen Wink Luxons kam einer der weißgekleideten und schweigenden Leibwächter, hob den Jungen vorsichtig hoch und trug ihn in die kühle Dunkelheit des Palastes zurück. Luxon sprang auf die Füße, warf einer Sklavin den Becher in den Schoß und sagte, als berühre ihn diese Geschichte nicht im mindesten: »Freunde! Es ist Abend und Nacht geworden in Sarphand. Wir gehen alle im Schutz meiner dolchbewaffneten Wächter aus. Ich kenne eine herrliche, volksnahe Taverne. Es ist Der Strudel und die Lichtfähre. Sie werden uns mit Tanz, Getränken, Leckerbissen und einer Vielzahl von Attraktionen verwöhnen. Kommt mit mir. Ihr werdet Sarphand von einer der schönsten Seiten kennenlernen! Kommt! Selbst du, Sadagar, deine Miene wird sich aufhellen.« »Meinetwegen!« knurrte der Steinmann. Auch er versuchte sich aus den Bildern und Eindrücken dieser Erzählung zu lösen. Er wußte, daß, wenn auch nur die Hälfte zutraf, dieser Mann Arruf etwas ganz Besonderes war. 144
Sein Lebensweg verlief im Zickzack zwischen der Gosse und den Palästen, zwischen Armut und Reichtum, zwischen Hunger und Übermaß. Er konnte gar nicht anders sein, als er war – er war stark, reich und listenreich geworden. Er war weder besser noch schlechter als Freund Mythor. Aber er war gänzlich anders. Sadagar stand auf und zupfte an seiner schwarzen, samtenen Jacke. Im Licht der Öllampen funkelten und blitzten die silbernen magischen Symbole in Perlmuttstickerei. »Gehen wir!« sagte er. »Auch ich möchte einen lebenden Teil von Sarphand kennenlernen. Und unter der Führung Arrufs erleben wir Sarphand bei Nacht gewiß an der spannendsten Stelle. Führe uns an eine Stelle, Arruf-Luxon, an der glutäugige Mädchen meiner harren.« Luxon strahlte ihn mit dem Lächeln an, mit dem er seinerzeit den Köder für die Diebesbande des König Aagolf abgegeben haben mochte. Er sagte knapp: »Genau dorthin bringe ich euch. Selbst meinen mürrischen Freund Mythor werde ich mit diesem Abend verzaubern. Und dort erzähle ich euch auch die Geschichte von Sheba-Nocciyah. Einverstanden?« »Meinetwegen«, knurrte Mythor.
Zwei weißgekleidete Palastwachen saßen am Rand der offenen Terrasse. Sie hatten die Hände an den edelsteinverzierten Griffen ihrer Dolche. Zwei andere lehnten sich in der Nähe des Holzkohlenfeuers an die Lehnen der steinernen Bänke. Über der Stadt und der offenen Hälfte ier Schenke leuchteten die blinkenden Sterne von Sarphand und der Saphirbucht. Die verschiedenfarbigen Lichter in der Bucht bewegten sich langsam im Takt der Dünung. Die Hausboote im Hafen waren so weit entfernt, daß keinerlei Einzelheiten mehr zu erkennen waren. Luxon und seine Dienerinnen aber 145
hatten vor dem Ausflug aus dem Palast das Aussehen der vier Menschen verändert; Sadagar glich einem Leibwächter, Mythors Gesicht war dunkel gefärbt worden, sein Haar seitlich zu einem dicken Zopf gebunden, Luxon selbst wirkte wie ein zerknitterter Greis und trug abgerissene Kleidung. Und Kalathee, ebenfalls bis zur Unkenntlichkeit geschminkt, war nichts anderes als eine schamlose Palastsklavin. Die Gruppe saß in einem Winkel, abseits der anderen Gäste, und der Lärm im Strudel verhinderte, daß Wortfetzen der Unterhaltung von Ohren gehört wurden, für die sie nicht bestimmt waren. Trotzdem befanden sie sich mitten im Gewimmel der nächtlichen Stadt. »Sheba-Nocciyah«, sagte Luxon träumerisch und hob seinen Becher. Dunkles Bier schäumte über dessen Rand. »An keine andere Frau erinnere ich mich so eindringlich.« Fünf Musiker saßen auf einer schmalen Balustrade im Hintergrund der Schenke und spielten auf kleinen Trommeln, einer Doppelflöte, einer Harfe und einem trichterförmigen Horn, das Mythor nicht kannte. »Spann uns nicht auf die Folter!« sagte Sadagar. »Wie groß sind die Unterschiede zwischen dem Sarphand deiner Jugend und heute?« »Sarphand war kleiner, es gab viele Paläste und Handelshäuser noch nicht, und auch die Festung des Sarpha am überhängenden Felsen war kleiner und wäre damals leichter zu erobern gewesen«, lautete die Antwort. Luxon deutete hinauf. Undeutlich zeichneten sich gegen den Nachthimmel die Konstruktionen der Wurfmaschinen ab. Wieder kam in Luxons Blick etwas Träumerisches. »Ich wurde von König Aagolf wegen meiner schlanken Hüften und schmalen Schultern ausgesucht. Der Palast war nicht mehr als ein großes Haus mit starken Mauern, aber es 146
gab nur eine Möglichkeit, unbemerkt ins Innere zu gelangen. Ein winziges Fenster, das mit kühnem Sprung von einem Baum aus zu erreichen war. In diesem Haus lebte die Prinzessin Sheba-Nocciyah, einige Monde vor ihrer Heirat mit einem Prinzen, dessen Name mir entfallen ist. Ich hatte sie nur einige Male aus der Ferne gesehen, inmitten ihres Hofgesindes. Aagolf wußte, daß ihre Familie reich war und daß die Truhen in ihren Gemächern voll von Schmuck waren, auch von Kostbarkeiten, die der ferne Prinz geschickt hatte.« Mythor hörte scharf zu, aber immer wieder warf er wachsame Blicke in die Runde. Unterhalb der Terrassenbrüstung fluteten die Bewohner Sarphands hin und her. Bettler kauerten in den Winkeln, reiche Bürger kamen und gingen in Gruppen, um sich zu unterhalten oder in die Läden der Handwerker zu spazieren. Ein Wasserverkäufer schlug seinen Gong. Ein Hund jaulte auf, Gelächter ertönte, und aus dem Dunkel stob ein Vogelschwarm auf. Es würde schwierig sein, in dieser Stadt zu überleben, sagte sich Mythor, wenn man sie nicht so genau kannte wie Luxon.
In einer wolkenverhangenen Nacht kletterten zwei Männer aus der Diebesbande und ich auf den Baum. Sie schlangen mir ein dünnes Seil um die Hüften und schlugen einen Knoten, der leicht zu öffnen war. Ich schob mich langsam auf dem mächtigen Ast vorwärts. Er wurde immer dünner und bog sich mit raschelnden Blättern tiefer und tiefer. Schon jetzt konnte ich durch das kleine Fenster blicken und sah einen herrlich eingerichteten Raum. Kostbare Teppiche und ein Bett voller schwellender Polster wurden von Kerzen beleuchtet. Hinter mir zischten die Männer. Sie waren ungeduldig. Ich tastete mich weiter vorwärts. Der Ast mit seinen dünnen 147
Zweigen schüttelte sich und bog sich noch tiefer abwärts. Jetzt war das Fenster genau vor mir, aber knapp eine Mannslänge entfernt. Aus der Öffnung kam ein Duft, den ich noch niemals gerochen hatte. Wieder ein aufforderndes Zischen aus dem Baum hinter mir. Ich rutschte noch weiter vorwärts. Der Ast bog sich weiter, dann sprang ich. Wie ein federnder Balken schleuderte mich der zurückschnellende Ast schräg aufwärts. Meine ausgestreckten Hände faßten das Holz, meine Finger krallten sich um den Rahmen. Ich zog mich hoch und rutschte auf dem Bauch durch die Fensteröffnung. Mit den Schultern kam ich leicht durch den Rahmen, aber die Hüften scheuerten, und ich wand mich mit zappelnden Beinen hindurch. Ich machte eine Rolle vorwärts, und noch ehe ich auf den Beinen stand, hatte ich mich umgesehen. Ich wußte sofort, daß der Raum leer war. Ich drehte mich um und winkte aus dem Fenster zurück ins Dunkel. Ein dritter Zischlaut war die Antwort. Jetzt war ich allein. Niemand hatte mir vorgeschrieben, wie ich vorzugehen hatte. Aber ich sollte so schnell wie möglich mit dem kostbaren Schmuck zurückkommen. Ich knotete schnell das Seil los, das augenblicklich zurückgezogen wurde. Dann huschte ich zur nächsten Tür, öffnete sie einen Spalt und lauschte. Im Erdgeschoß des Hauses wurde gegessen; ich hörte Gespräche, das Klappern von Schüsseln und leises Klirren von Glas. Essensgerüche zogen verlockend durch das Treppenhaus. Sofort öffnete ich eine kleine Truhe, die auf einem niedrigen Tisch stand. Darüber hing ein Spiegel, eine polierte Metallplatte. Die Kerzenflammen verdoppelten sich in dieser golden scheinenden Fläche. Als ich die Truhe öffnete und das schwarze, weiche Tuch zurückschlug, wurde der Raum noch heller. Hunderte von Edelsteinen in goldenen und silbernen 148
Fassungen, die schweren Glieder von Ketten und zahllose Armreifen funkelten und strahlten. Ich hängte mir einige Ketten um den Hals und schob Ringe um mein mageres Handgelenk. Ich suchte Fingerringe heraus und ließ sie in den dünnen Ledersack fallen. Ich nahm nur die Hälfte aller wertvollen Dinge aus dieser Truhe, faltete das Tuch zusammen und schloß die Truhe. Meine nackten Sohlen machten kein Geräusch, als ich um das Bett herum auf einen anderen, größeren Tisch zu rannte. Nur die Schmuckstücke schlugen klirrend gegeneinander. Mit leisem Knirschen öffnete sich der Deckel. Die Truhe war voller Becher, Teller, Schüsseln und deiner Öllampen. Jedes Stück war von erlesener Kostbarkeit. Aber ich konnte nur den geringsten Teil davon wegschleppen. Also fing ich an, die kleineren Kostbarkeiten in den Beutel einzufüllen. Ich arbeitete schnell und versuchte, den Wert der Diebesbeute richtig abzuschätzen. Ich hob einen kleinen, herrlich gearbeiteten Kelch in die Höhe und hielt ihn ins Licht der Kerzen. Die blauen Edelsteine funkelten und strahlten und warfen kleine Blitze in alle Richtungen. Diesmal würde mich Aagolf wohl kaum prügeln. Ich fühlte plötzlich einen Luftzug hinter mir, dann bohrte sich die Spitze einer Waffe in meinen Nacken. Eine leise Stimme sagte: »Einen solch jungen Dieb habe ich noch nie erlebt. Sarphand ist in der Tat voller Überraschungen.« Vor mir, an der weißen Wand, hob sich ein verschwommener Schatten hoch. Es schien eine junge Frau zu sein. Fieberhaft überlegte ich, wie ich mich retten konnte – die Magd der Prinzessin hatte mich ertappt. Ich ließ den Beutel auf den Teppich fallen und drehte mich ganz langsam um. Die Dolchspitze wanderte von meinem Genick zum Hals. Als ich den Kopf hob, liefen Tränen aus meinen Augen. Ich schluckte, blinzelte und würgte hervor: 149
»Ich… bin kein Dieb… Prinzessin?« Vor mir stand Prinzessin Sheba-Nocciyah – niemand anders konnte das sein. Sie trug ein enganliegendes, hellblaues Gewand, das ihre Arme, die Schultern, den Hals und die Mitte ihres schlanken Körpers frei ließ. Ihre Augen schienen Funken zu sprühen, aber die schlanke Hand, die mir den Dolch in den Hals bohrte, zitterte nicht. »Wie bist du ins Haus gekommen?« fragte sie, noch immer gefährlich leise. Dann bewegten sich ihre Augen in die Richtung des Fensters. »Ich verstehe«, sagte sie. »So war es. Du bist klein genug, um…« »Sie… sie haben mich gezwungen!« flüsterte ich, und ich verbiß mein Lachen, als ich merkte, daß meine Tränen weiter flossen. »Sie hätten mich sonst gepeitscht oder getötet. Glaub mir, Prinzessin.« Sie war unglaublich schön und sehr jung. Sie mochte keine zwanzig Sommer zählen. Sie war selbstbewußt und würde nicht zögern, mich zu töten. Ich erkannte dies sofort. »Wirf das Zeug aufs Bett!« befahl sie. Ich leerte den Sack aus, nahm die Reifen vom Handgelenk und hob die funkelnden Ketten von meinem Hals. Ununterbrochen liefen mir die Tränen über die Wangen. Ich sagte mit weinerlicher Stimme: »Bitte, töte mich nicht, Prinzessin.« »Woher kommst du?« »Aus einer Höhle. Dort leben die Diebe. Sie haben mich gezwungen. Ich mußte dich bestehlen.« Ich sah, daß uns niemand beobachtete. Die Tür war verschlossen und verriegelt. Ein Fluchtversuch war sinnlos und selbstmörderisch. Aber aus dem Gesicht der Prinzessin verschwand die eiserne Entschlossenheit, mich, den Dieb, zu bestrafen. Ich schenkte der Prinzessin ein schüchternes Lächeln und zog die Schultern hoch. 150
»Danke!« sagte ich erleichtert. Sie blickte mich mit ihren wunderschönen Augen unter den bogenförmig geschwungenen Brauen schweigend an und fragte dann spöttisch: »Wofür dankst du mir?« »Daß du mich nicht umgebracht hast. Es ist eine gerechte Strafe. Aber auch sie hätten mich…« »Ich weiß. Du hast tatsächlich die wertvollsten Stücke. Wer hat dich gelehrt, was wertvoll ist?« »Die anderen Diebe. Wenn du mich hinausjagst, werden sie mich umbringen.« »Warum?« »Weil ich versagt habe.« »Eure Bräuche sind hart. Du tust mir fast leid.« »Ich wollte nicht. Sie zwangen mich. Stoße mich nicht aus dem Palast«, bettelte ich. »Sollte ich das?« Sie schien in mir keine Gefahr mehr zu sehen, denn sie schob den kleinen Dolch in die kostbar verzierte Scheide zurück. Dann setzte sie sich auf den Rand des Bettes und starrte mich unverwandt an. Sie schien zu überlegen, was sie mit mir anfangen sollte. Ich stand regungslos da und hoffte, daß meine Vorstellung gut genug gewesen sei. Meine Lippen zuckten, gleich würde ich in lautes Wimmern ausbrechen. Ich fing zu zittern an. Noch immer beobachtete mich die blutjunge, schöne Frau mit den großen Mandelaugen. Ihr Blick war fester als der König Aagolfs. Jetzt merkte ich, daß mir all meine Raffinesse und jede Verstellungskunst nichts nützten, wenn die Prinzessin nicht wollte. »Ich werde meinen Prinzen bitten, dich im Haus zu behalten. Wenn du größer bist, wirst du einen guten Eunuchen abgeben. Dieses Zimmer wirst du niemals wieder betreten. Verstanden?« »Ja. Prinzessin, eine Frage! Darf ich?« stammelte ich. 151
Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Kam ich ohne Beute zurück, würde ich bestraft werden. Für eine Weile war ich wohl im Palast sicher. Das Schicksal allerdings, das sie mir zugedacht hatte, würde ich sicherlich nicht annehmen. »Frage!« sagte sie und lächelte zum erstenmal. »Du bist die schönste Frau, die ich in Sarphand gesehen habe. Warum hast du mich überraschen können? Ich habe gute Ohren.« Sie hob ihre zierlichen Schultern und antwortete halb schnippisch: »Ich kann manches, was du nicht weißt. Du kannst dich entscheiden… Dein Name?« »Arruf.« »Entscheide dich: Du kannst hierbleiben, aber du wirst mein Diener. Wenn du von einem Angehörigen dieses Hauses ertappt wirst, wenn du etwas Verbotenes in den Fingern hast, ergeht es dir wahrhaftig schlecht. Ich glaube, du hast verstanden.« »Ich werde dir jeden Wunsch von deinen schönen Augen ablesen!« sagte ich beschwörend. Sie hatte angebissen. Ich war gerettet – so schien es. Die Prinzessin ging mit schwingenden Hüften zur Tür, hob den komplizierten Riegel hoch und deutete hinaus. »In der Küche bekommst du etwas zu essen. Schlafen wirst du bei dem jungen Gärtner. Morgen bei Sonnenaufgang wirst du erfahren, was du zu tun hast.« Ich ging langsam hinaus. Gerade rechtzeitig erinnerte ich mich, daß ich hinter den Falten meines Lendenschurzes einen Ring versteckt hatte. Ich blieb stehen, senkte den Kopf und fingerte das Schmuckstück hervor und lächelte mit meinem schönsten, unschuldigsten Lächeln mitten in ihr Gesicht. Dann legte ich den Ring in ihre Hand. »Du siehst, Prinzessin, daß ich schnell lerne. Ich bin nichts anderes als ein kleiner, hungriger Dieb. Aber dich könnte ich niemals mehr bestehlen.« 152
»Ein Umstand«, sagte sie unheilvoll, »der dein Leben retten mag.« Wir beide hielten unsere Versprechen. Ich war zum zweitenmal in meinem Leben in einem Palast und hatte ein wirklich besseres Leben als in den letzten Jahren. Wenige Pflichten, stets in der Nähe einer jungen Frau, die sich benahm, als sei sie meine ältere Schwester! Sie versuchte, mich auf meine zukünftige Aufgabe vorzubereiten. Bei Shakar hatte ich Rechnen und Schreiben gelernt, ich hatte das Betteln begriffen, meine Schultern waren gegerbt von den verschiedenen Erziehungshilfen, und jetzt lernte ich das Zeremoniell eines kleinen Palastes kennen. Prinzessin ShebaNocciyah vertraute mir tatsächlich. Und in der kommenden Zeit lernte ich, wie man sich bei Tisch richtig verhielt, wie man höflich zu Damen war, wie ich mich in einem so großen Haushalt zu bewegen hatte. Es war ein süßes Leben für mich. Und ich verliebte mich, ein Zwölfjähriger ohne Eltern und von unbekannter Herkunft, in die Prinzessin. Es war in meinem Leben die erste wirklich ehrliche Beziehung. Ich wurde nicht gezwungen und nicht geprügelt. Ich vollbrachte, einigermaßen kaltblütig, eine einsame Spitzenleistung der Phantasie und der Zurückhaltung. Überall strahlte Luxus und blendete meine Diebesaugen. Zweimal kam der Prinz auf Besuch und musterte mich mit hohläugigen Blicken. Im Geist schien er bereits sein Messer zu wetzen, das mich zum Eunuchen machen sollte. Tage, Wochen und Monde vergingen ruhig, und nur ab und zu erschreckte mich der Gedanke, was meine früheren Freunde und vor allem König Aagolf von mir dachten. Zweifellos hockten sie in ihrer Höhle und warteten, siedend vor Wut, auf mich und auf die Beute, die ich nicht abgeliefert hatte. Ich fühlte mich wohl; noch hatte mich der Dämon der Unrast 153
nicht gepackt. Meine Existenz war wurzellos. Auch hier konnte und würde ich nicht bleiben. Ich hatte andere Pläne. Unausgegoren waren sie allerdings, aber wie ein Traum leiteten sie mich, wie ein ununterbrochener Traum, der mir sagte, daß ich mein Leben nicht als Eunuch in diesem ruhigen, schönen Palast beenden würde… allerdings auch nicht als König der Diebe. Ich hatte ein neues Ziel: Ich würde solche Frauen wie die Prinzessin lieben. Noch war ich zu jung dazu, und noch hatten andere Männer die besseren Möglichkeiten – mehr Gold, mehr Macht, mehr Einfluß! Aber die Zeit, erkannte ich damals, verlief für jeden in der gleichen Geschwindigkeit. Eines Tages würde ich alt genug und reich genug sein, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen. Klug genug war ich schon damals. Von Prinzessin Sheba-Nocciyah aber lernte ich alles, was Frauenherzen bewegt und womit ich mich bei ihnen unentbehrlich machen konnte. Sie war meine beste Freundin und eine meiner unbarmherzigsten Lehrmeisterinnen. Ich werde sie niemals vergessen können.
Sofort fragte Mythor zurück: »Und auf welche Weise hast du ihren Palast verlassen?« Luxon stieß ein sarkastisches Gelächter aus und bekannte: »Am Tag ihrer prunkvollen Hochzeit mit dem Prinzen packte ich ihr schönstes Geschmeide in den alten Lederbeutel und flüchtete.« »Wohin?« wollte Kalathee wissen. »In die Gruft, in der König Aagolf auf mich wartete.« »Er wird entzückt gewesen sein, dich nach einem Herbst oder so wiederzusehen«, spottete Steinmann Sadagar. »Er war wütend. Sie alle kochten vor Wut und Zorn.« »Wie hast du dich aus dieser Schwierigkeit befreien 154
können?« fragte Mythor. Die weißgekleideten Wächter, die dem Bier nur zögernd zusprachen und ihre Augen wachsam hin und her gehen ließen, schwiegen und hörten zu. »Ich brachte einen kleinen Schatz mit mir. Und ich war nicht zum Eunuchen gemacht worden.« Mythor sagte mißmutig: »Sicherlich hat dich dein kostbares Mitbringsel gerettet. Welches Schicksal erwartete dich nach diesem Akt der Verzweiflung?« Nachdenklich antwortete Luxon: »Sie hätten mich um ein Haar umgebracht. Zufällig schnappten die Stadtwächter einige von uns. Man dachte nun, ich sei an diesem Verrat schuldig. Es war keineswegs so, aber Aagolf ließ sich nicht von mir überzeugen. Einige Diebe wurden gehenkt. Anderen hackte man die rechte Hand ab. Der Glanz der Kostbarkeiten blendete indes auch den König, und er geruhte gnädig, dieses Geschenk anzunehmen. Aber er handelte ebenfalls unter einem gewissen Zwang. Er hätte sein Gesicht verloren, wenn er mich nicht unter wüsten Drohungen ausgestoßen hätte. Also stieß er mich aus der Diebesbande aus, gleichzeitig aus ihrem Schutz. Wieder einmal war ich völlig allein. Ich zählte damals etwa dreizehn oder dreizehneinhalb Lenze. Ich war jedem Knaben in meinem Alter mehrfach überlegen. Die Schulen der Schreibsklaven und die harte Schule des Lebens, wie man zu sagen pflegt, hatten mich geprägt. Mir blieb nichts anderes übrig, als eine Bande Gleichaltriger zu gründen. Wie man in diesem Fall zu verfahren hatte, wußte ich. Es dauerte nur einen Mond, dann war ich der König Arruf einer Bande aus rund zwei Dutzend Jungen und wenigen Mädchen. Wir begannen, Sarphand zu terrorisieren. 155
Aber das ist eine andere Geschichte.« Mythor wechselte mit Sadagar einen langen, schweigenden Blick. Beide wußten, daß ihnen Luxon mehr oder weniger die Wahrheit erzählt hatte. So war sein Leben verlaufen. Er war davon geprägt worden wie jeder von ihnen von den Erlebnissen seiner Jugend. Aber Luxon hatte viel mehr Höhen und Tiefen durchgemacht als sie selbst. Wenigstens glaubten sie dies. Ein Schankmädchen kam und füllte ihre Becher wieder, während die Musikanten ununterbrochen weiterspielten, das Gewimmel in den Gassen nicht geringer wurde und nur der Mond seinen Weg zwischen den Sternen weiter fortsetzte. Wann endlich schlief diese Stadt eigentlich? Luxon zog Kalathee an sich, die sich willig und gern an seine Brust schmiegte. Dann zuckte wieder sein freundschaftliches Lächeln auf, mit dem er Außenstehende zu betören wußte. Er wandte sich an Mythor: »Du glaubst mir, Freund Mythor?« »Ich glaube dir. Je mehr sich deine Berichte deinem wirklichen Alter und somit dem heutigen Tag nähern, desto größer wird allerdings meine Skepsis.« »Dein gutes Recht. Aber inzwischen wirst du erkannt haben, daß in Sarphand kein anderes Leben möglich war.« »So ist es«, bekannte Mythor. »Aber davon kann niemand die Berechtigung ableiten, der Sohn des Kometen zu sein.« »Abermals wahr gesprochen«, entgegnete Luxon. »Du mußt auch noch die folgenden Erzählungen hören und dir daraus deine Meinung bilden. Sie steuern mich, ohne daß ich darauf auch nur den geringsten Einfluß hätte, unweigerlich auf diesen und keinen anderen Punkt zu.« »Die Nacht ist noch jung«, knurrte der überaus skeptische Sadagar. »Und wir werden noch viele Erzählungen dieser Art hören können«, fügte Mythor hinzu. Noch lagen seine Waffen in dem kleinen Raum, in dem er die letzte Nacht geschlafen 156
hatte. Er war sicher, daß seine Wachsamkeit von den vielfarbigen Erinnerungen von Arruf-Luxon nicht eingeschläfert werden konnte. »Keine Frage. Ich breite vor euch mein bisheriges Leben aus wie ein offenes Buch mit farbigen Bildern. Lest, falls ihr lesen könnt.« Der gutmütige Spott in seiner Stimme war nicht zu überhören. Luxon beugte sich vor und starrte in den weißen Schaum des Bieres, das seinen Becher füllte. Er erinnerte sich – diesmal ohne Publikum. Er wußte in erschreckender, weil ehrlicher Deutlichkeit, daß er in diesen Tagen und Monden und Jahren seine Fähigkeit, andere Menschen zu verzaubern, zu belügen, zu benutzen, gründlich gelernt hatte. Sicherlich: Die Fähigkeit war tief in ihm vergraben gewesen. In diesen harten Lehrjahren wurde sie ans Tageslicht gezerrt und voll bewußt ausgebaut und angewandt. Wenn er jetzt beabsichtigte, Mythor und die anderen zu betrügen, dann arbeitete er mit den Zinseszinsen des Kapitals, das damals angehäuft worden war, damals, als seine Schultern mager gewesen waren, als er hungerte und widerwillig lernte, als man ihn mehr prügelte als streichelte – in jenen fernen, harten Jahren, die unmittelbar (unter dem Eindruck seiner Erinnerungen!) wieder in die Gegenwart gezerrt worden waren. Nur aus diesem Grund entbehrte seine Stimme jeglicher Schärfe, als er sich anschickte, diesen Menschen die nächsten Stationen seines Lebens so ehrlich wie möglich vor Augen zu führen.
Drohend und massig lag der Palast des Sarpha am goldfarbenen, überhängenden Felsen der Hafenbucht. Noch innerhalb des Mauerbereichs standen die schweren 157
Wurfmaschinen. Sie waren lange nicht mehr benutzt worden, denn Yahid der Siebzehnte war kein Mann des Krieges. Auch war Sarphand nicht angegriffen worden. An den Palast des Herrschers schlossen sich die prachtvollen Regierungsgebäude an, die Prunkschlösser der herrschenden Schicht Sarphands. Der Mondschein – die Sichel des Gestirns wurde von Nacht zu Nacht schmaler und schärfer – ließ die Umrisse der Gebäude scharf hervortreten. Lichter waren dort zu sehen; die Fackeln der Wachtposten und der helle Schein, der aus zahllosen erleuchteten Fenstern und Türen auf die Terrassen drang. Die Menge, die eben noch durch die Straßen, die Basare und die Torbögen geströmt war, tröpfelte spärlicher. Die Nacht wurde dunkler, in den Gassen erloschen mehr und mehr der winzigen Lichter. Die Stunde der Wilden Fänger rückte näher. Ein betrunkener Seemann taumelte, vom Gelächter der Gäste begleitet, zwischen den Tischen hindurch und fegte leere Bierkrüge von den Platten. Auf den Stufen von der Terrasse zur Gasse stolperte er und überschlug sich einigemal, ehe er wieder auf die Beine kam und fluchend seinen Weg zum Hafen suchte. Der Wirt kam an den Tisch, an dem Luxon und seine Gäste saßen. »Ihr Herren«, sagte er liebenswürdig, aber durchaus selbstbewußt, »seht nach dem Mond! In einer Stunde schließe ich den Strudel und die Lichtfähre. Wollt ihr noch einen Becher meines herrlichen Bieres?« Luxon warf ihm gutgelaunt eine kleine Goldmünze zu und rief: »Für jeden von uns einen großen Krug. Dein Bier macht angenehm müde, Herr Wirt. Und gib auch den Wächtern etwas davon.« »Wird geschehen, Herr!« Der Wirt ging an den schwelenden Kohlen des Herdfeuers vorbei, und seine Mädchen brachten kurz darauf das Bier. Sadagar gähnte ungeniert und warf 158
einen Blick über die Terrassenbrüstung in die fast leere Gasse. Jetzt hatte sich der wenigen Menschen, die durch die Straßen gingen, eine bestimmte Hektik bemächtigt. Die Stunde der Wilden Fänger rückte wahrlich näher heran. Noch fürchtete Sadagar diese für ihn sagenhaften Gestalten nicht. Kalathee, die ebenso aufmerksam wie jeder andere die Erzählungen Luxon-Arrufs verfolgt hatte und sich redlich bemühte, Luxon noch besser zu verstehen, richtete eine Frage an ihn. Sie wurde immer sicherer, daß es tatsächlich Luxon sein würde, der irgendwann den Titel »Sohn des Kometen« tragen mußte. Nicht Mythor. »Nachdem sie dich ausgestoßen haben, was geschah dann, Luxon?« Unverkennbar war in ihrem Gesicht, trotz der Schminke, der Ausdruck der Verliebtheit und der Hingabe. »Dann versammelte ich alle Jungen, die ich kannte. Es waren solche Jungen wie ich, aufgewachsen im Elend, schnell, ohne Erbarmen, geschickt, auf merkwürdige Weise klug, aber ungebildet. Wir bildeten eine Jugendbande. Wir stahlen alles, was erreichbar war. Wir waren, unter meiner Leitung, erfolgreicher als die Bande des Königs Aagolf. Uns erging es gut, wir verbargen uns in den unzähligen Höhlen, Spalten und Gelassen des Felsenmassivs, und es wurde für die erwachsenen Diebe so schlimm, daß sie arbeitslos und arm wurden.« »Ich kann mir vorstellen«, warf Mythor ein, »daß König Aagolf sich das nicht lange hat gefallen lassen.« Luxon lachte schallend. »Du hast recht! Er war nach drei Monden rasend vor Wut. Zuerst versuchten sie uns zu fangen. Aber wir waren kleiner und schneller. Dann aber baute er eine gefährliche Falle für die sechs wichtigsten Anführer der Bande auf, also für mich und fünf meiner Freunde.« 159
»Welche Falle?« »Heute weiß ich es genau«, sagte Luxon. »Er lockte uns in einen Hinterhalt. Dort sollten die Wilden Fänger uns ergreifen und auf ein Schiff bringen, eine Lichtfähre, die uns in den Süden entführen sollte. Der Plan war gut eingefädelt, aber er funktionierte nicht so, wie es sich Aagolf gewünscht hatte.« »Sondern? Sprich!« Luxon leerte seinen Humpen und deutete auf die Gasse. »Ich erzähle diese Geschichte auf der Terrasse meines Palasts. In Sarphand wird es für jeden, der die Stadt nicht so gut kennt wie ich, trotz bewaffneter Leibwächter in kurzer Zeit lebensgefährlich. Oder wollt ihr von den Wilden Fängern gejagt werden wie ich damals?« »Keineswegs, Fürst der Diebeswelt«, antwortete Mythor und schaute in seinen Krug. Er trank das Bier aus und stand auf. »Hast du eigentlich jemals wieder etwas von Prinzessin ShebaNocciyah gehört?« Wieder lachte Luxon. »Sie hätte auch noch mehr von ihrem Schmuck verschmerzen können. Ihr Prinz heiratete sie, nahm sie mit sich, und es kamen nur noch schlechte Nachrichten. Inzwischen ist sie allein, fett und kinderreich.« »Ein unrühmliches Ende!« »Nicht für mich«, meinte Luxon und winkte seinen Leibwächtern. Selbst in der Maske des älteren Mannes bewegte er sich richtig, mit zögernden Gesten und unsicherem Gang. Die kleine Gruppe brach auf, und geschützt von den Leibwächtern, kamen sie unbehelligt zurück in den Palast des Croesus.
Arruf legte einen Finger an die Lippen und blickte von einem seiner Bandenmitglieder zum anderen. »Still«, flüsterte er. »Niemand darf uns sehen. Wir warten, 160
bis das Mondlicht aus dem Hof verschwunden ist.« Die anderen Jungen nickten. Sie waren in schwarze Kleidungsfetzen gehüllt. Auch ihre bloßen Arme und die Gesichter waren mit Ruß geschwärzt. Im Mondlicht funkelten die Augen, und die Zähne glänzten schwach. »Wohin… nachher?« »In den Schacht des Lastenaufzugs, dort, beim Turm!« befahl Arruf. »Verstanden, Arruf.« Sie standen unter einem vorspringenden Balkon. Einige dürre Büsche rankten sich an den Mauern hoch. Im Haus befanden sich heute nacht nur drei alte Wächter. Sie paßten auf die Ware des Kaufmannes Hardigan auf, auf eine Ladung kostbarer Spezereien. Arruf hatte bereits einen Abnehmer für die Beute, und seine Bande hatte ebenfalls einen kleinen Vorschuß kassiert. Die Jungen waren mit Tragenetzen ausgerüstet, mit biegsamen Schlüsseln, Seilen und Mauerankern. Aber noch mußten sie warten, bis es völlig dunkel war, denn die Ware stand im Hof des Hauses. Andere Mitglieder der Jungenbande waren in weitem Umkreis verteilt. Sie kauerten ungesehen und regungslos in verschiedenen Verstecken. Auf geheime Zeichen hin würden sie eingreifen oder zufällig vorbeikommende andere Wachen ablenken. Langsam wanderte die helle Linie des Mondlichts über das schmutzige Pflaster. Schweigend warteten die Jungen und überlegten sich immer wieder die einzelnen Griffe, die aufeinanderfolgenden Aktionen und den Fluchtweg. Sie hatten tagelang jede Einzelheit des Hauses beobachtet und ausspioniert. Schließlich wisperte Arruf: »Gebt acht! Die Wilden Fänger streifen durch die Stadt. Wenn wir über die Mauern klettern, können sie uns sehen. Nur dann.« 161
Die anderen nickten schweigende Zustimmung. Einige Zeit später zischte Arruf: »Los!« Die sechs Jungen sprangen geräuschlos auseinander. Zwei Seile rollten sich auf, als die Anker senkrecht durch die Luft wirbelten. Die umwickelten Enden hakten sich fast ohne Klirren hinter den Dachzinnen fest. Die Jungen kletterten schnell und gewandt an den Seilen hoch. Zwei andere huschten nach rechts und links und versuchten, die schweren Schlösser zu öffnen. Nur schwache, knirschende Geräusche bewiesen, daß hier jemand an der Arbeit war. Im Haus rührte sich nichts. Arruf blieb stehen, drückte sich noch tiefer in den Schatten und sah sich um. Er verschmolz förmlich mit der Umgebung und versuchte, jede Bewegung und jeden Laut, jede noch so winzige Einzelheit zu erkennen und richtig zu deuten. Es war totenstill. Fast zu still, sagte sich der junge Meisterdieb und fühlte, wie sich in seinem Rücken die schmale Tür öffnete. Sofort schlüpfte er ins Haus. Hinter sich verschloß er die Tür dergestalt, daß sie nur von innen, da aber mit einem einzigen Ruck zu öffnen war. Auch innerhalb des Hauses war es dunkel, still und absolut ereignislos. Die sechs Jungen kamen von allen Seiten, von unten und von den obersten Stockwerken. Sie tasteten sich über Treppen, die sonst laut knarrten, jetzt aber kein Geräusch von sich gaben, sie kamen durch stockfinstere Korridore und warfen nicht einmal die Spucknäpfe um. Und schließlich erreichten sie fast gleichzeitig die Tore, Durchgänge und Türen, die in den rechteckigen Hof hinausführten. Arruf war aus zwei Gründen mißtrauisch. Langsam zog er den langen Dolch aus dem löchrigen Stiefelschaft. Seine empfindliche Nase nahm den Geruch nach Feuer und Rauch wahr. Wo blieben die Wachen? Wagten sie 162
tatsächlich, in irgendwelchen Winkeln zu schlafen? Eine einzelne Öllampe wurde angezündet. Funken wurden geschlagen, ein Junge blies auf den Schwamm, und dann züngelte eine winzige Flamme auf. Arruf stützte sich links und rechts gegen den Türrahmen. Vor ihm lag der Hof, und er sah in dem schwachen Licht die kleinen Krüge, die mit Stroh umwickelt und von Seilnetzen geschützt waren. Und plötzlich, als seine fünf Diebe aus fünf verschiedenen Richtungen auf die Beute zusprangen, tauchten an etwa einem Dutzend Stellen hell lodernde Fackeln auf, deren Flammen lange Funkengarben versprühten. Hinter den Fackeln erhoben sich große Gestalten, lederne Masken vor den Gesichtern, in mattes oder glänzendes Leder gekleidet. Ein Fangnetz schwirrte durch die Luft und traf einen der Jungen. Ein Entsetzensschrei gellte auf: »Eine Falle! Die Wilden Fänger.« Überall tauchten diese Gestalten auf, von denen man sagte, daß sie aus allen Schichten der Bevölkerung stammten. Schon jetzt hatten sie einen der Jungen gefangen. Zwei andere Diebe liefen im Zickzack über den Hof, sprangen durch die offenen Durchlässe und wurden dahinter von den stumpfen Spießen der Fänger niedergeschlagen. Es war tatsächlich eine Falle, dachte Arruf verzweifelt und wandte sich zur Flucht. Er raste eine Treppe hinauf, durch einen stockdunklen Korridor und eine andere Treppe wieder hinunter. Aus dem Dunkel heraus kam eine Hand, packte ihn an der Schulter, wirbelte ihn herum, und dann drückte ihn die stumpfe Spitze eines Speeres gegen die schimmelbedeckte Wand des Korridors. »Du bist Arruf?« drang eine düstere, dunkle Stimme hinter der Maske hervor. »Ja… ja«, stotterte Arruf angsterfüllt. Einer seiner Diebeskollegen rannte hinter einer Reihe von 163
Säulen entlang. Drei Fänger mit lodernden Fackeln kesselten ihn ein, einer schleuderte ein Netz über den Körper des Jungen. Ein Schlag mit einem Speerschaft ließ den Jungen lautlos zusammenbrechen. Überall im Haus hallten Schreie, Flüche und Geräusche wider. »Wir haben euch aufgelauert«, sagte der Wilde Fänger. Auch er gehörte zu den völlig unbekannten Gestalten, die sich in den Nächten in Sarphand austobten. »Ihr seid verraten worden.« »Von Aagolf, nicht wahr?« murmelte Arruf niedergeschlagen. Auch er würde auf ein Schiff gebracht werden und mußte in Logghard gegen die Horden der Dämonen kämpfen – das war das Schicksal, das die Eingefangenen unzweifelhaft erwartete. »Ja. Dir sagt der Name Shakar noch etwas?« Neue Hoffnung durchzuckte Arruf. Der Fänger warf schnelle Blicke nach rechts und links und lüftete dann blitzschnell seine Maske. Undeutlich sah Arruf sein Gesicht. Es erinnerte ihn flüchtig an einen Diener, den er vor undenkbar weit zurückliegender Zeit in Shakars Palast gesehen hatte, vor dem Mord an Chamor. Sofort senkte sich die durchlöcherte Ledermaske wieder über das Gesicht. Trotzdem hielt der Druck des Spießes Arruf unverrückbar an der Wand fest. Wieder gellte ein Entsetzensschrei durch das kalte Gemäuer des Hauses. Unter den Wilden Fängern, sagte sich Arruf, waren Menschenschinder und der Abschaum der umliegenden Länder. War er in die Hände eines Wahnsinnigen gefallen? Diesmal brauchte er Furcht und Angst nicht zu spielen. Er zitterte voll Entsetzen. »Ich übernahm dieses merkwürdige Amt nur, um dich eines Tages vielleicht zu finden, Arruf.« Gleichzeitig mit der Bewegung, mit der der Fänger den Spieß 164
zur Seite wirbelte, schleuderte er ein Seil um Arrufs Oberkörper. Die Arme wurden Arruf schmerzhaft hart gegen die Seiten gepreßt. »Komm!« sagte der Fänger und zerrte ihn in die Richtung einer Pforte davon. Er sprach leise weiter. »Sei gewarnt!« flüsterte er. »Halte dich fern von den Schergen des Shallad Hadamur. Du bist alt genug, um einen Teil der Wahrheit zu erfahren. Höre gut zu, Arruf! Der Meuchelmörder, der Chamor tötete, sollte dich umbringen. Der Shallad gab den Auftrag, dich umzubringen. Auch andere sind, ohne daß du es weißt, an deiner Stelle gestorben.« Inmitten des Lärmens schob und zerrte der Wilde Fänger den Jungen weiter. Langsam breitete sich in dem dunklen Haus wieder etwas Ruhe aus. Die wuchtigen Tritte der Fänger, die mit ihrer Beute abzogen, hallten unter den Torbögen wider. »Ich kann nicht glauben, was du sagst!« sagte Arruf gepreßt. »Kann das die Wahrheit sein?« »Du mußt es glauben! Es ist die reine Wahrheit, Arruf. Die Opfer waren groß, aber ich meine, sie waren es wert. Noch etwas!« Seine Stimme wurde wieder hart und drängend. »Such den Magier Echtamor! Er ist ein Eingeweihter. Ich werde versuchen, den einen oder anderen deiner Jungen zu befreien. Nehmt euch in acht – die Stadt ist voller Feinde! Und jetzt unternimm einen schnellen Fluchtversuch! Ich werde dich verfolgen, denn die anderen Fänger würden mich töten, wenn sie wüßten… Schnell!« Er riß an dem Seil, die Schlingen lockerten sich. Im selben Moment erreichten sie das Eingangstor, das ein wuchtiger Fußtritt des Fängers aufsprengte. Zwei Seilschlingen fielen von Arrufs Körper, und er machte einen Satz nach vorn. Der Fänger stolperte und warf im Fallen seinen Spieß nach Arruf. 165
Das Geschoß streifte seine Schulter und krachte gegen die Mauer. Arruf schlug einen Haken und rannte nach rechts. Der Fänger raste hinter ihm her und stieß schauerliche Flüche aus, die aus den Schlitzen und Löchern der Maske hervordrangen. Arruf kannte seinen Fluchtweg sehr genau und hetzte auf seinen dünnen Sohlen über das glitschige Pflaster der Gasse. Seine Gedanken wirbelten in seinem Kopf. Er verstand nur die Hälfte von dem, was ihm der Wilde Fänger zugeflüstert hatte. Einige Mannslängen in Richtung auf das Versteck zu entdeckte Arruf vor sich zwei Gestalten. Die Dunkelheit war fast vollkommen; er sah nur einen kleinen und einen wuchtigen Schatten, die vor ihm durch die Gasse schwankten. Arruf bückte sich und hob einen Stein auf. Mit einem Satz sprang er auf die Mauer zu, stützte sich ab und rannte hinter dem Fänger und dessen Opfer her. Hinter ihm erschollen noch immer die Schreie des Mannes, der ihn freigelassen hatte. Arruf blieb kurz stehen, zielte und schleuderte den Stein. Mit einem trockenen Geräusch traf er den Schädel des Fängers und prallte vom Leder oder von einer Versteifung der Kopfmaske ab. Als der Mann taumelte, zog Arruf seinen Dolch, packte das Seil und schnitt es durch. Mit einem weiteren Schnitt durchtrennte er die Handfesseln des Jungen und riß ihn mit sich. Sie rannten mit nachtwandlerischer Sicherheit auf das Versteck zu, tauchten zwischen den stinkenden Büschen in den Mauerspalt hinein und tasteten sich, auf allen vieren kriechend, vorwärts. Als sie die kleine Höhle erreichten, fand Arruf den Feuerstein, den Schwamm und die winzige Öllampe. Im zitternden Flammenschein sah er schweigend zu, wie sein Kamerad das schmierige Tuch zwischen den Zähnen 166
herausriß, ausspuckte und sich aufrichtete. »Dieser Aagolf«, sagte er wütend, aber noch unter dem ausgestandenen Schrecken zitternd, »hat vier von uns erwischt. Sie werden nach… Logghard gebracht.« »Wir werden uns rächen!« versprach Arruf. »Nur wir beide konnten fliehen… Danke, daß du mich befreit hast, Arruf.« »Schon gut. Sag, kennst du einen Magier, der sich Echtamor nennt?« Der andere überlegte und antwortete schließlich: »Ja. Ein alter, verwahrloster Zausel. Er wohnt irgendwo im Schatten der Palastmauern, dort oben.« »Du weist mir den Weg dorthin«, bestimmte Arruf. »Selbstverständlich.« Arruf hob die Lampe hoch, schob einige Planken zur Seite und stolperte durch einen vielfach gewundenen Felsspalt weiter in den anderen Teil des Höhlensystems. Hier lebten Teile der Diebesbande. Einige Jungen schliefen entlang den Wänden auf Lagern aus Laub und Zweigen, über die sie gestohlene Decken und Felle gebreitet hatten. Einer wachte auf, blinzelte Arruf zu und drehte sich wieder zur Wand. Arruf warf sich auf sein Lager, streckte sich aus, verschränkte die Arme im Nacken und versuchte zu begreifen, was er erlebt hatte. Daß vier der Jungen, die unter seiner Obhut gestanden hatten, nicht mehr zurückgekommen waren, erfüllte ihn mit Trauer und mit Wut gegen Aagolf. Er würde es ihm heimzahlen.
Arruf ließ sich später von seinem Freund schildern, wo er Echtamor finden könne. Er ging allein, nicht ohne seinen Dolch in den Stiefelschaft zu 167
stecken. Im hellen Licht des Tages bewegte er sich aus dem unteren Bereich der Stadt in vorsichtigen Schlangenlinien über Treppen und Gassen aufwärts bis an die untersten Stützmauern des Sarpha-Palasts. Der Eingang zur Wohnung – oder zur Zauberhöhle Echtamors war gekennzeichnet durch eine löcherige Markise, die einst mit magischen Zeichen in Silberstickerei verziert gewesen war. Sie baumelte an ihren Haltestangen schlaff über einer Tür, die ebenso alt und rissig war, einst voller wertvoller Schnitzereien, jetzt jedoch schmutzig und fast unkenntlich. Arruf blickte voller Skepsis die Tür an und dachte bei sich: Wie hoch auch immer der Gipfel seiner Macht gewesen sein mag – Echtamor hat ihn wohl endgültig überschritten. Er hob die Schultern und stieß die Tür auf. Über seinem Kopf fing eine Art klirrendes Glockenspiel zu klappern und scheppern an. Dasselbe geschah, als Arruf verwirrt die knarrenden Bohlen wieder zurückschob und sich gegen das Holz lehnte. Mit schwacher Stimme, überwältigt von dem muffigen Geruch des Gelasses, rief er: »Ich suche den mächtigen Magier Echtamor.« Er sah sich im Halbdunkel um. Nur langsam gewöhnten sich seine Augen an die schlechten Lichtverhältnisse. Er stand in einem winzigen Vorraum, der zu der Markise und dem Tor paßte. An den Wänden hingen ausgestopfte Fabeltiere, aber sie waren weder groß noch dämonisch. Undeutliche Geräusche kamen aus dem Raum vor Arruf. Schließlich, nachdem er das harte Klirren zerbrechenden Glases gehört hatte, schlurften zögernde Schritte heran. Und ausgerechnet an dieser Stelle sollte er sich vor den Meuchelmördern des Shallad Hadamur in Sicherheit wiegen können? »Ich bin Arruf!« rief der Junge. Ein Vorhang öffnete sich. Eine schwarzgekleidete Gestalt, 168
ebenso mager wie Anruf, aber einen Kopf größer. und viele Jahrzehnte älter, starrte den Jungen an. Die Augen stechend wie Dolche. Die Hände, die den Vorhang auseinanderstreiften, erinnerten den Jungen an Vogelklauen. Der Magier sagte mit rostiger Stimme: »Du suchst Echtamor. Ich bin der Magier des Totenreichs, Echtamor genannt.« »Dann bist du… ein Eingeweihter?« »So ist es. Niemand ist mehr in die Mysterien eingeweiht als ich. Dich hat ein glücklicher Zufall hierhergebracht. Komm herein!« Eine Hand schoß blitzschnell nach vorn, krallte sich in Arrufs Schulter und riß den Knaben förmlich durch den Vorhang. Der Magier wirbelte sein Opfer herum und stieß es weiter in den Raum hinein. Wände und Boden eines ziemlich großen, aber dunklen Zimmers waren mit Möbeln, muffigen Teppichen, allerlei unerklärlichen Gegenständen und düsteren Bildnissen an langen Schnüren überfüllt. »Ein merkwürdiges Willkommen, das du mir bereitest, Magier!« sagte Arruf. »Was kannst du mir bieten, daß ich nicht sofort wieder aus deiner stinkenden Kammer flüchte?« Der Magier grinste ihn an. Sein Gesicht glich einem gelblichen Totenschädel. »Ich biete dir Schutz vor den Meuchelmördern, die im Auftrag von Hadamur handeln und dir nachstellen.« »Bis zum heutigen Tag«, sagte Arruf mit neu erwachtem Mut, »habe ich diese Anschläge überlebt.« »Dieser Umstand kann sich rasch ändern. Nur im Schatten meiner mächtigen, beschwörenden Arme genießt du den vollkommenen Schutz.« »Deine Macht«, sagte Arruf, der von Augenblick zu Augenblick mehr Selbstsicherheit zurückgewann, »war vor langer Zeit sicher sehr groß. Heute aber sehe ich, daß deine Zaubertiere von Motten zerfressen sind und auch deine Macht 169
entsprechend gebrochen ist.« »Du irrst, Grünschnabel«, fuhr ihn der Magier an. »Hier herein! Und ich sehe, daß wir zwei ein feines Gespann sein werden. Deine Augen haben einen jenseitigen Blick wie… wie jene, die ich vor Jahren hatte.« »Jenseitig?« wollte Arruf wissen. »Was meinst du damit?« »Durch dich«, entgegnete der Magier und kicherte wahrhaft dämonisch auf, »werde ich wieder leicht mit jenem Reich in Verbindung treten können, das mir die uneingeschränkte Macht über Menschen, Dinge und Zustände beschafft.« Arruf senkte den Kopf. Er wußte genau, daß es ihm ein leichtes war, einen bestimmten Einfluß auf Menschen auszuüben. Vielleicht, sagte er sich, war dies ein Ausdruck dafür, daß er auch in der Lage war, mit übergeordneten Mächten zu paktieren; ein Umstand, den er sich in seinen wirrsten Träumen niemals überlegt hatte. »Warten wir es ab«, sagte er schließlich. »Vermutlich bin ich in dieser Hinsicht so blind wie ein neugeborener Hase.« Er wußte nicht, daß der alte, zahnlose Echtamor auf den ersten Blick festgestellt hatte, daß Arruf in dieser Beziehung ein unbeschriebenes Blatt war. Über seine Fähigkeit, Menschen zu bezaubern und zu benutzen, würde Arruf leichter und schneller eine Verbindung zur Welt der Geister, Dämonen und Schwarzen Magie herstellen können. Echtamor wollte Arruf als Vermittler zwischen den Reichen, und er nahm ihn sich. Fünf Monde voll von schrecklichen Erlebnissen brachen für Arruf an. Aber ein Bann hielt ihn innerhalb der stinkenden Stube des Magiers fest. Jeder Versuch, aus dem Einflußkreis Echtamors zu fliehen, schlug spätestens an der rostigen Klinke der Eingangstür fehl. Der Junge begriff, daß nur ein außergewöhnlicher Einfall ihn davor retten konnte, in den Krallen des alten Magiers wahnsinnig zu werden oder den Dämonen als Beute in den 170
Schoß zu fallen. Während Echtamor seine magischen Zeichnungen auf den schmutzigen Boden malte und seine Beschwörungen murmelte, versank Arruf immer tiefer in eine Art von Schlaf, wie er ihn niemals gekannt hatte. Das war schon der zwölfte Versuch des alten Magiers, ihn, Arruf, in das Reich der Dämonen zu schicken. Das Bewußtsein des Jungen sollte sich von seinem Körper lösen und ein Bote sein. An dreizehn Stellen des Raumes brannten die Flammen von Öllämpchen, die einen betäubenden Geruch absonderten. Die schmalen Rußfäden tanzten in langsam drehenden Spiralen aufwärts und vereinigten sich über dem harten Ruhelager des Jungen zu einem Muster, das seinen Verstand zu verwirren drohte. Immer wieder schlief Arruf ein, erwachte jäh wieder und fühlte, wie seine Widerstandskraft schwächer und schwächer wurde. Schon fünfmal hatte sich sein Verstand in einem fremden Land befunden, einem Land, voll von seltsamen Wesen, die sich in dem nebligen Halbdunkel bewegten und seltsame Dinge miteinander taten. Als er wieder erwacht war, zerschlagen und halb von Sinnen, mußte er dem Magier Wort für Wort berichten, was er erlebt hatte auf seinem Weg durch die Traumwelt. Diese Vorstöße waren immer gefährlicher gewesen, sie hatten immer tiefer und weiter hinein in dieses Zwischenreich geführt. Diesmal beschloß Arruf, sich nicht mehr benutzen zu lassen. Er schloß die Augen und zwang seine Phantasie, statt an die Beschwörungen zu denken, sich andere, angenehmere Dinge vorzustellen. Trotzdem glitt er wieder aus seiner Welt hinaus und befand sich nach einem Zeitraum, von dem er nicht sagen konnte, wie lange er dauerte, vor einem Dämon. 171
Dieser Dämon, eine undeutliche graue Masse mit Hunderten verschieden großer, in verschiedenen Farben leuchtender Augen, bewegte Teile seines Körpers wie dünne Tentakel und griff nach Arrufs Schulter. Ein lautloser Dialog, der nur in Arrufs Gedanken stattfand, fing an. Arruf erklärte diesem eher freundlich wirkenden Dämon, daß Echtamor ihn zu beschwören trachtete, um aus dem Abhängigkeitsverhältnis zwischen sich und dem Dämon Vorteile zu ziehen. Dann wagte Arruf etwas, das ihn das Leben oder den Verstand kosten konnte. Er nahm einen Tentakel in die Hand und bewegte sich auf seinem Weg zurück in die Zauberstube des Magiers. Durch die Kammer fegte plötzlich ein Wirbelwind. Die Kerzenflammen wurden ausgeblasen. Möbelstücke kippten und barsten. Eisige Kälte breitete sich schlagartig in dem Zimmer aus, in dessen Luft alle nur denkbaren Trümmer umherwirbelten. Aus einer Wolke griff langsam ein dünner Tentakel heraus, der immer deutlicher, immer dichter wurde und durch die Luft tastete, bis er den Körper des Magiers gefunden hatte. Arruf lag unbeweglich auf seiner Pritsche. Er erlebte trotzdem die Vorgänge mit, die sich in seiner unmittelbaren Nähe abspielten. Der Tentakel legte sich in mehreren Schlingen um den Körper des totenbleichen, zitternden Magiers, und dann schrie eine unhörbare Stimme: »Du willst dir einen mächtigen Dämon Untertan machen, Echtamor! Denke aber daran, daß wir nur den Gesetzen der wahrhaft Mächtigen unterworfen sind. Du gehörst nicht zu den Eingeweihten. Nur deshalb will ich dich nicht vernichten. Aber einen Denkzettel sollst du haben!« Die Tentakelspitze berührte mitten im Sturm die Stirn des Magiers. Echtamor stieß einen gellenden Schrei aus. Der Teil des Dämons zog sich wieder in das seltsame Zwischenreich 172
zurück, der rasende Wirbelwind hörte auf. Arruf öffnete die Augen und sah, wie Echtamor zusammensank. Seine Augen waren leer, und seine Hände fuchtelten sinnlos durch die Luft. Arruf stand auf und bewegte sich aus dem magischen Stern hinaus. Er kam ungehindert bis zur Tür, und als er sie zu öffnen versuchte, baute sich vor ihm keine Sperre auf. Er öffnete die Tür und warf einen Blick zurück. Der Magier wirkte, als sei er verrückt geworden. Er hinderte ihn nicht daran, einige wichtige Dinge an sich zu raffen, sich einen Schinken über die Schulter zu werfen und langsam in die Nacht Sarphands hinauszugehen. »Auch dieses Kapitel ist zu Ende!« sagte Arruf fast fröhlich, pfiff ein Liedchen und suchte sich seinen Weg in die diebische Unterwelt von Sarphand. Es war weit nach Mitternacht. Die Stadt und der Palast des Croesus lagen in tiefster Ruhe. Noch standen die Sterne über Sarphand, aber die schmal gewordene Sichel des Mondes neigte sich bereits wieder dem jenseitigen Horizont zu. In dem reich geschmückten Raum, in dem Mythor schlief, brannte nur eine Öllampe. Ein kühlender Nachtwind bewegte die dünnen weißen Vorhänge. Mythor streichelte die nackte Schulter des Mädchens und murmelte schläfrig: »Dann kennst du also Croesus oder Arruf gut, Sadyn?« Sie flüsterte, die Lippen dicht an Mythors Ohr, zurück: »Jeder von uns kennt ihn und würde für ihn sterben.« »Das ist aber nicht typisch für Palastdiener, meine ich«, sagte in gutmütigem Spott der Recke und wußte im gleichen Augenblick, daß es auch nicht zur Gewohnheit zählte, daß Palastdienerinnen schweigend in die Zimmer huschten und dem Gast gestanden, daß sie sich seit dem Augenblick, als er den Palast betreten hatte, nach seiner Umarmung gesehnt 173
hatten. »Da magst du recht haben.« Ihre Finger fuhren über seine Haut und erzeugten ein Gefühl aufregender Wärme. »Aber wir sind nicht nur Diener. Wir sind seine Freunde, seine Vertrauten.« »Ihr alle?« fragte Mythor mehr als verwundert. Dieser Mann wurde ihm langsam unheimlich! »Ja. Wir alle. Wir sind frei und bewegen uns in völliger Sicherheit. Croesus oder Arruf oder meinetwegen auch Luxon kommt stets dann in den Palast zurück, wenn er sich erholen muß, wenn er Wunden des Körpers oder des Geistes auszukurieren hat, wenn er sich verstecken muß. Mich hat er aus den Fängen der Sklavenhändler befreit, eine andere Frau rettete er von einem brennenden Hausboot, seinen schweigsamen Wachen hat er Geld, Besitz und begehrenswerte Frauen verschafft. Noch niemals hat uns Arruf hintergangen. Er würde es auch niemals tun. Denn unserer absoluten Treue ist er sicher.« Staunend hatte Mythor zugehört. Ein Lichtreflex ließ seine Augen bernsteingelb schimmern. Er zog Sadyn an sich und fragte weiter: »Dann kennst du auch seine Geschichte, als er dem Magier entkommen war?« »Jeder von uns kennt sie. Einige der Diebe aus der Jungenbande sind hier im Palast.« »Darfst du mit mir darüber sprechen, Sadyn?« »Luxon hat nichts dagegen. Er hätte euch diese Geschichte morgen freiwillig erzählt. Ich weiß, daß ihm viel daran liegt, Kalathee von seiner Wahrheitsliebe zu überzeugen… und dich auch, Mythor.« »Bei mir wird es schwieriger sein«, bekannte der breitschultrige Mann und schob sein dunkles Haar in den Nacken. Er blickte bewundernd den vollkommenen Körper der jungen Frau an und griff mit der freien Hand nach dem 174
Becher. »Einer der heutigen Wächter erzählte es mir«, fing Sadyn an und lächelte. »Arruf fand schnell wieder Anschluß an seine eigene Bande. Aber inzwischen waren er und die anderen Jungen älter geworden. Auch einige Abtrünnige von König Aagolfs Bande waren zu ihnen gestoßen, und zusammen mit Arruf stahlen sie sich innerhalb der Zunft bis an die Spitze empor. Sie waren so erfolgreich, daß Arruf damals bereits den Grundstock zu seinem Vermögen legte. Er kaufte diesen Palast von einem heruntergekommenen Kaufmann. Nun fingen auch die Mädchen und Frauen an, sich nach dem schlanken, jungen Mann mit dem gewinnenden Lächeln umzudrehen. Eine Hetäre verführte ihn, und zum Dank stahl Luxon nur ein wenig von ihrem Besitz; er konnte es einfach nicht über sich bringen, die Finger vom Gold zu lassen. Unzählige Liebschaften wechselten einander ab. Die Frauen von Sarphand sind leidenschaftlich und schneller zur Liebe bereit als andernorts, mußt du wissen.« Mythor küßte Sadyn hingebungsvoll und murmelte lachend: »Das habe selbst ich als Fremder aus den Nordlanden begriffen.« »Luxon schlug aus diesem neuen Vorteil sehr schnell Kapital. Er war schon damals so schlau und gerissen wie heute. Aber niemals verriet er seine Freunde.« Also darf ich mich nicht zu seinen Freunden zählen, bemerkte Mythor bei sich und dachte an die Waffen, die noch immer dort drüben standen und an kostbaren Nägeln an der Wand hingen. »Im Lauf der nächsten abenteuerlichen Jahre änderte sich der Ruf, den Arruf in Sarphand hatte. Er fing an, die Reichen zu bestehlen, und schenkte große Teile der Beute den Armen, von denen es wahrlich genug in Sarphand gab und noch immer 175
gibt. Und zudem schaffte es Arruf, daß die Bestohlenen niemals den Eindruck hatten, ausgeraubt worden zu sein. Er übertölpelte sie im Spiel, betrog sie im Handel, verschaffte sich auf ihre Kosten unzählige Vorteile. Er sah Möglichkeiten, wo kein anderer sie ahnte. Mit seinen Geschichten über die erfolgreichen Raubzüge erheiterte er die Konkurrenten der Bestohlenen und bestahl sie ihrerseits kurz danach. Alles lachte über seine Erzählungen, und in Wirklichkeit lachten sie über sich selbst.« Jetzt, im Jahr dreiundzwanzig des Yahid, mußte sich Mythor gestehen, gab es bereits mehrere Geschichten dieser Art, bei denen man wohl über ihn lachen würde. In dieses Gelächter allerdings vermochte er nicht einzustimmen. »Es klingt«, wandte Mythor ein, »als ob Luxons Leben in jenen Jahren eine ununterbrochene Kette von heiteren Diebeszügen gewesen sei?« »Es mag so klingen, wenn ich es erzähle«, flüsterte Sadyn und strich über die kreisrunde Narbe hinter Mythors Ohr. »Aber natürlich gab es von Mond zu Mond mehr Menschen, die ihm seine Erfolge neideten. Und die Anzahl seiner Feinde wurde nicht geringer. Neider und Feinde, einzeln und gemeinsam, versuchten alles mögliche, um Arruf zu fangen, ihn zu berauben, ihn zu töten oder wenigstens so zu verwunden, daß er möglichst lange nicht in der Lage sein würde, auf seine Art weiterzumachen. Aber immer dann, wenn es für Arruf zu schwierig wurde, zog er sich hierher zurück. Niemand ahnt etwas davon, daß er und Croesus ein und dieselbe Person sind.« »Ich werde es bestimmt nicht verraten. Ohne seinen Schutz bin ich in Sarphand ebenfalls verloren.« »Das weiß ich, denn sonst hättest du von mir kein Wort erfahren«, meinte Sadyn. »Aber ebenso zahlreich wie Luxons Feinde waren seine Freunde. Seine wahren, echten Freunde. Er 176
schaffte es, weiterhin nur jene Leute zu übertölpeln, die gerade an der Macht waren und ihren Einfluß dazu ausnutzten, sich zu bereichern. Unser Herr verstand es mehr als geschickt, die Politik in Sarphand zu beeinflussen – indem er hier nahm, dort schenkte, jenen einen Vorteil erwies, sich kleine und große Freunde verschaffte und mit deren Hilfe versuchte, seine Feinde zu erledigen. Aber als kluger Mann vergaß er niemals, daß sich solche Freundschaften auf Sand gründen. Mehr und mehr baute er mit den ergaunerten Reichtümern den Palast aus und arbeitete erfolgreich an der geheimnisvollen Gestalt des Croesus. Wenn Arruf verschwand, tauchte Croesus auf. Niemand hat es bis heute gemerkt.« Schweigend nahm Mythor weiterhin Anteil an dem abenteuerlichen Leben Luxons; je mehr er davon hörte, desto größer wurde seine Unsicherheit. Jetzt aber versuchte er, nicht an Luxon zu denken, sondern sich der jungen Frau zu widmen. Immerhin würde er wenigstens eine Erinnerung an Sarphand haben, die nichts mit Kampf oder Intrige zu tun hatte. Sadyn beendete ihre kurze Erzählung. »Und stets dann, wenn genügend Zeit nach irgendeinem Zwischenfall vergangen war, erschien Arruf wieder in Sarphand. Man bejubelte ihn immer lauter als König der Diebe und als Wohltäter der Rechtlosen. Die jeweilige Obrigkeit mußte einsehen, daß ihr das Zähneknirschen nichts mehr nützte. Niemand konnte es mehr riskieren, einen solchen Volkshelden durch gedungene Mörder töten oder durch die Wilden Fänger verschwinden zu lassen. Wie konnte man eine solche schillernde, erfolgreiche und letzten Endes beliebte Gestalt ungefährlich machen? Die Herrschenden handelten schnell. Sie ließen sich genau das Richtige einfallen. Vielleicht hatte es ihnen ein Vertrauter Arrufs empfohlen. Aber diese Geschichte erfahrt ihr am besten 177
von Croesus.« Mythor sollte noch lange an diese Nacht denken. Es waren Stunden voller zärtlicher Leidenschaft, die bis zum Morgengrauen dauerten. Sie ließen ihn für eine Weile vergessen, daß er sich trotz dieses Zwischenspiels im Zentrum der Gefahren befand und daß Sarphand als Ausgangspunkt eines neuen Vorstoßes ins Unbekannte auch nur eine Stadt unter vielen war, ein Punkt an der Straße der Abenteuer. Mythor wandte sich voller Verblüffung an Luxon. Er deutete auf die moderbeschichteten Quader, auf die Wände, von denen fauliges Wasser troff, auf die nackt zutage tretenden Felswände. »Das hier… das soll deine Schatzkammer sein?« Luxon hob die Schultern und winkte dem Wächter, der sämtliche Waffen trug und schweigend näher kam. »Würdest du in diesem Palast, den du nun einigermaßen kennst, etwas sorgfältig verstecken wollen – an welcher Stelle würdest du es tun?« Mythor zog unwillig die feuchtklamme Luft durch die Nase und gab zu: »Vermutlich an keiner anderen Stelle.« Mehrere Fackeln verbreiteten Licht in dem kleinen Gelaß. Der Raum war, abgesehen von einigen Bildwerken aus dunklem Stein, völlig leer. Der Boden aus schwarzen Steinplatten und die schmale Treppe aus demselben Material waren sauber. Es gab also keine Fußspuren. Ein verirrter Sonnenstrahl fiel durch ein winziges Loch unter der wuchtigen Decke und zeigte staubverkrustete Spinnennetze. Luxon löste einen verborgenen Metallstift im Sockel einer Figur, drehte die halb mannshohe Figur nach rechts und nach links und kippte sie nach vorn. In drei Schritt Entfernung klappte ein Stück Fels heraus. Mythor bemühte sich, die Nahtstelle zu erkennen, aber der Stein war derart kunstvoll bearbeitet, daß niemand den haarfeinen Spalt sah. Luxon wiederholte die Bewegung und zog dann aus dem Gürtel zwei 178
verschieden geformte Schlüssel. »Ich weiß, daß du mißtrauisch sein mußt«, sagte er leise. »Überzeuge dich selbst. Wir sind sicher. Probiere die Schlüssel aus!« Im Fels befanden sich zwei Löcher. Eines war rund, das andere länglich. Mythor versenkte die beiden Schlüssel, die mehr aussahen wie eigentümliche Amulette, in die Öffnungen. Nur dann, wenn gleichzeitig beide Schlüssel gedreht wurden, öffnete sich an wiederum einer anderen Stelle der Wand ein kantiges Stück des Felsens. Dahinter befand sich eine kleine Kammer. Sie war aus dem Fels geschlagen worden, und in den Fächern und Nischen standen große und kleine Krüge, Kassetten und Kistchen, aus denen Ketten und Geschmeide hervorquollen. Es war die Schatzkammer Luxons, überreich gefüllt. Die drei Männer bückten sich und traten ein. Luxon steckte eine Fackel in die Wandhalterung und deutete auf die matt schimmernden Münzrollen. »Nur vier Menschen, dich eingeschlossen, wissen von dieser Kammer. Niemand wird die Waffen antasten, außer uns beiden. Gleichzeitig.« »Wie lange werden die Waffen hier bleiben?« fragte Mythor. »Bis die Entscheidung endgültig gefallen ist!« beharrte Luxon. Der Sonnenschild wurde gegen einen Stapel von Metallbarren gelehnt, Sternenbogen und Mondköcher hingen kurz darauf an einem goldenen Knopf, der Helm der Gerechten wurde neben zwei Krügen voller funkelnder Silbermünzen abgelegt, und das Gläserne Schwert lag schließlich in einem Fach, in dem nur einige winzige | Goldfiguren standen. »Zufrieden?« fragte Luxon. »Dieses Wort werde ich erst gebrauchen, wenn ich als der Sohn des Kometen anerkannt bin«, sagte Mythor und setzte ein kaltes Grinsen auf. »Oder wenn ich diese Gewißheit habe«, versetzte Luxon 179
voller heiterer Liebenswürdigkeit. Sie warfen einen letzten Blick in die Runde. Das Gold und die anderen Kostbarkeiten funkelten verwirrend, aber Mythor hatte nur Augen für seine Waffen. Er verließ vor Luxon die Schatzkammer und wartete. Noch steckten die Schlüssel in den winzigen Löchern. Luxon lächelte Mythor wieder gewinnend an, aber er vermochte ihn nicht zu überzeugen. Sie bewegten die Schlüssel, die Schatzkammer schloß sich fast geräuschlos. Mythor sagte: »Gib mir den flachen Schlüssel, Luxon!« »Gern.« Der Wächter zog zwei dünne, weiche Lederschnüre aus der Tasche, fädelte sie durch die Ösen der Schlüssel und gab Luxon und Mythor die Schlüssel zurück. Luxon wußte, daß diese Amulette so dürftig und ärmlich aussahen, damit sie bei dem ärmsten Dieb keinen begehrlichen Blick hervorrufen würden. Die Klappe drehte sich zurück, die Statue kippte, der Fels schloß sich. Nichts deutete darauf hin, daß dieser leere Raum den Eingang zu einer Schatzkammer bildete. Als sie hintereinander die Treppe hinaufgingen, wobei Luxon und der Wächter die Fackeln trugen, fragte Mythor: »Wie haben eigentlich die wahren Herrscher Sarphands darauf reagiert, daß du der bekannteste Dieb der Stadt und des Umlands wurdest, damals?« Luxon lachte laut; die Felswände der Treppe warfen das Gelächter hart zurück. »Sadyn hat dir aus meinem Leben berichtet, nicht wahr?« Er machte eine Pause und pfiff leise. »Ausgerechnet ihre Gunst hast du erringen können. Sie ist wirklich wählerisch, und diesmal hat sie besonders guten Geschmack bewiesen. Nun, ich will antworten. Die Herrschenden und ihre Hofschranzen wußten Rat. Jemand sagte ihnen, daß sie es so wie mit sich selbst machen 180
sollten. Sie sollten mich, den Meisterdieb Arruf, in ihren Stand erheben. Die Beratung fiel wohl zu meinen Gunsten aus, denn eines Tages kamen offizielle Boten zu mir und befahlen mich in den Palast des Sarpha. Ich ging hin, nicht ohne eine Unmenge an Vorbereitungen für eine schnelle Flucht getroffen zu haben.« »Und du wurdest tatsächlich geadelt?« fragte Mythor und sah zu, wie die Männer die Fackeln löschten. »Keine Spur!« »Wie gelang es dir trotzdem zu überleben?« »Das erzähle ich euch heute, wenn wir fröhlich tafelnd auf der Terrasse sitzen!« versprach Luxon. »Vielleicht ist nicht jeder von uns sonderlich fröhlich!« »Ich bin es auf alle Fälle«, versicherte Luxon und verschwand durch eine der vielen Türen seines Palasts.
Als Arruf auf die unterste Stufe der breiten, prachtvoll umsäumten Treppe trat, rief er sich bewußt in die Erinnerung zurück, wo er sich befand. Er stand fast auf der Spitze des riesigen Felsens, auf dem Sarphand ruhte. In Wirklichkeit war der Fels von Tunnels, Schächten, Höhlen, Spalten und Löchern durchsetzt wie ein alter Käse von den Löchern der emsigen Maden. Die Diebe und die Bettler, zu denen auch er gehörte, lebten in diesen Hohlräumen. Nur wenigen von ihnen war ein Schicksal gegönnt, das dem seinen glich: Nur wenige wurden dergestalt mit Ehrungen überhäuft, daß man sie nicht mehr zu fürchten brauchte. Dieser Brauch war auch von den Vorgängern des heutigen Sarpha praktiziert worden. »Nun denn«, sagte Arruf zu seinen Begleitern. »Wagen wir uns also in die Höhle der Macht.« Bis auf einen versteckten Dolch war er waffenlos. Nicht so seine Begleiter, deren Gesichter von dünnen schwärzen 181
Ledermasken verhüllt waren. Je mehr Stufen der langen Treppe überwunden wurden, desto größer wurde die Zahl der Personen, die sich an diesem Abend im Palast und außerhalb befanden. Arruf wußte, daß ihm heute im Palast keine Gefahr drohte, wenigstens nicht offiziell vom Sarpha. Sarpha Yahid der Siebzehnte saß zwischen den schlanken Säulen, und als Arruf die funkelnden Steine in den Armlehnen des Thrones sah, unterdrückte er schnell sein eindeutiges Gefühl. Der Saal war keineswegs sehr prunkvoll; eher eine ineinander übergehende Menge verschieden großer Räume, von Säulen und Bögen gestützt, mit einem Boden aus großen Steinplatten, die durch die Jahre hindurch von den Sohlen der Palastkamarilla poliert worden waren. Zwischen Yahid und den drei Männern befanden sich schätzungsweise fünfzig Anwesende, die Bediensteten nicht eingerechnet. Die Nacht war schwül, Nebel und Feuchtigkeit lasteten schwer, aber auf der Spitze des Stadtbergs wehte ständig ein leichter Wind, der den Rauch aus den Feuerschalen seitlich abtrieb und unter den unterschiedlich hohen Decken verwirbelte. Ruhig schritten Arruf und seine beiden Freunde geradeaus. Sie waren fluchtbereit und wußten, daß im entscheidenden Augenblick andere Männer eingreifen würden, ohne sich bewußt zu verraten. Ein schwarzgekleideter Mann erkannte Arruf, stieß das Ende eines langen Stabes auf den Boden und rief mit voller, wohltönender Stimme: »Arruf und zwei Freunde, zum heutigen Abend geladen, treten ein. Sie verneigen sich vor der Würde des Herrschers.« Aus einer anderen Ecke ertönte das tiefe Donnern eines riesigen Gongs. Arruf blieb stehen, als er dreißig kleine Schritte vom Thron entfernt war. Dann verbeugte er sich tatsächlich, aber keinen 182
Fingerbreit mehr, als es unbedingt nötig war. Die Begleiter taten es ihm gleich. In den Sälen, in denen bisher erwartungsvolles Stimmengemurmel und leises Gelächter geherrscht hatten, breitete sich erwartungsvolle Stille aus. Arruf wäre es lieber gewesen, er befände sich auf einem Hafenmarkt Sarphands. Der Sarpha winkte. Er war mehr oder weniger der Herr über fünfhundert mal tausend Menschen. Arruf schritt näher an den Thron heran und blieb vor dem Podest stehen. »Hier bin ich«, sagte er. »Eine überflüssige Bemerkung. Noch sehen meine Augen gut. Du weißt, warum du hier bist, ich weiß es, wir alle wissen es. Es ist beschlossen worden, dich in den Adelsstand zu erheben und dir, damit du mit deinem… nun, schändlichen Treiben aufhörst, ein gut bezahltes Amt zu geben.« Arruf antwortete nach einer kurzen Pause, in der er eine Reihe erstaunter Ausrufe, zustimmender Bemerkungen und ein hämisches Gelächter registrierte, ohne die Spur von Sarkasmus: »Beides, Herr, ehrt mich mehr, als du dir vorzustellen vermagst. Aber ich kann weder das Amt noch die Ehrung annehmen.« Verwundert erhob sich der Sarpha halb von seinem Sitz. Dabei wurde trotz der geringen Beleuchtung deutlich, daß er alles andere als ein kraftsprühender Mann voller Energie und Tatkraft war. »Nein? Darf man den Grund erfahren?« grollte er. »Der Grund ist klar und einfach«, sagte Arruf leichthin. »Als Meisterdieb von Sarphand kann ich nicht garantieren, daß ich das Amt, welches auch immer, auch nur annähernd ehrlich ausübe. Und Frauen und Männer, die ihre Ämter ohne die erforderliche Ehrlichkeit ausüben, kennt diese Stadt übergenug.« Das Schweigen, das jetzt herrschte, war eisig und ließ 183
erkennen, daß alle Anwesenden mit einem Wutausbruch und darauf folgender harter Bestrafung rechneten. Aber selbst zu Arrufs Verwunderung begann der Sarpha ein keuchendes Lachen auszustoßen, das seine schwammige Gestalt erzittern ließ. »Deine Antwort gefällt mir«, ächzte er, nachdem er sich mühsam wieder beruhigt hatte. »Sie ist ehrlich.« »Selbst Diebe können ehrliche Antworten geben«, pflichtete ihm Arruf bei. »Du anerkennst meine Gründe, Sarpha Yahid?« »Du hast mein Herz gewonnen. Also kein Amt, keine Ehrung! Aber der Sarpha von Sarphand wünscht sich, daß du deine Aktivitäten und diejenigen deiner Freunde anderen Städten und anderen Personen angedeihen lassen mögest. Kannst du das versprechen?« »Ich bin fast überfordert«, bekannte Arruf und senkte den Kopf, »aber ich werde versuchen, dieser Empfehlung Folge zu leisten.« Er wußte, daß er durch diesen huldvollen Akt der Gnade innerhalb der Stadt so gut wie unangreifbar geworden war. Seine Feinde waren, wenigstens für die nächste Zeit, in ihren Absichten gelähmt. Allerdings: Verließ er die Stadt, würde man alles versuchen, ihn unschädlich zu machen. Schon heute wußte er von einem halben Dutzend Männern, die auf seinen Kopf Prämien von erstaunlicher Höhe ausgesetzt hatten. Ausnahmslos befanden sich diese ehrenwerten Herren zwischen dem Thron und dem Eingang der Halle. »Es würde dein Leben verlängern und mein Leben angenehmer machen. Du darfst dich zurückziehen, Arruf. Der nächste Besuch an dieser Stelle wird weniger angenehm sein… für dich allerdings unangenehmer als für mich.« »Herr«, antwortete Arruf, und niemand erkannte, wie er es meinte, »deine Güte und Nachsicht lassen mich schwindlig werden.« 184
Der Sarpha deutete auf den Ausgang und bemerkte ironisch: »Dann sieh zu, daß du nicht über die vielen Stufen stolperst. Der Fall von hier oben bis in die Höhlen der Diebe ist tief, und nur die besten Männer vermögen ihn zu überstehen.« »Ich weiß, Sarpha«, meinte Arruf, verbeugte sich knapp und verließ ruhig den Saal. Seine Freunde folgten ihm und beobachteten die Umstehenden sehr sorgfältig. Jetzt hatte er alles erreicht, was ihm Sarphand bieten konnte. Arruf aber wollte mehr. Er wollte die Macht. Zwar war er als Herrscher über die Diebesgilde der König eines Reiches der Macht. Zwar öffneten sein Lächeln, seine verbindlichen Manieren und seine Freigebigkeit ihm die Tür zu nahezu jedem Frauengemach, und über die Körper der Frauen erreichte er die Geldsäcke der Männer, doch nun hatte er keine Geduld mehr. Er wollte an die Macht, und er wollte es schnell.
Als Nachspeise brachten die Dienerinnen eine Mischung aus prickelndem weißem Wein, der mit gefrorenem Saft unbekannter Früchte gebunden war und in dem winzige Stückchen süßer Früchte schwammen. Arruf-Luxon hob seinen Becher und sagte: »Jetzt weißt du, mein sonnenhaariger Liebling, wie mein Leben bis vor etwa acht Monden verlief.« Kalathee bemerkte zurückhaltend, aber so gut wie überzeugt: »Vieles, was du uns berichtet hast, entspricht wohl der Wahrheit. Aber ich kenne andere Geschichten, die in schroffem Gegensatz zu diesen Erklärungen stehen.« Luxon küßte sie auf den Nacken und sagte unumwunden: »Ich wußte nicht, wer du warst. Ich konnte nicht sicher sein, ob meine Wahrheiten bei dir sicher aufgehoben sind. Also mußte ich hier und dort von der Wahrheit ein wenig abweichen. Ich hoffe, du kannst mir vergeben, teuerste 185
Kalathee?« »Was bleibt mir anderes übrig?« »Ich würde untröstlich sein, wenn du im Zorn von mir gehen würdest«, entgegnete Luxon. »Aber nicht anders verlief mein Leben. Die jüngste Vergangenheit ist euch allen bekannt, selbst dir, Sadagar. Warum also blickst du noch immer so finster?« Sadagar verzog sein spitzes, faltiges Gesicht zu einer schwer zu deutenden Grimasse und zeigte mit langem Finger auf Mythor. »Ich sehe nach all den spannenden Geschichten nur, daß Mythor waffenlos wurde und sich dir und deinem Listenreichtum ausgeliefert hat. Niemand weiß, warum er dieses Risiko offenen Auges eingeht. Ich jedenfalls vermute hinter deiner plötzlichen Wahrheitsliebe die nächste Falle.« »Weit gefehlt, mein Freund«, versuchte Arruf Steinmanns Bedenken zu zerstreuen. »Da ich danach strebe, der Sohn des Kometen zu sein, verbieten sich Lug und Trug von selbst.« »Nadomir hilf«, murmelte Sadagar. »Ich weiß es nicht. Aber ich ahne Böses.« »Du wirst sehen, alles löst sich in Freude und Heiterkeit auf. Genieße die herrlichen Tage in meinem Palast!« »Ich gebe mir die größte Mühe«, antwortete Sadagar giftig. Als ihn unter dem Tisch der Tritt Mythors ans Knie traf, setzte er ein gezwungenes Lächeln auf und hob seinen Becher. »Wie schön«, knurrte Luxon, dem dieser jähe Stimmungswechsel nicht entgangen war. »Ihr sollt auch den Rest erfahren. Ehe wir, Sadagar, Mythor und ich, uns in das nächtliche Grauen des heutigen Sarphand stürzen, müssen Ehrlichkeit, Wahrheit und gegenseitiges Vertrauen herrschen. Vertrauen kommt vom Kennen, und ihr müßt mich kennenlernen. Also. Sei’s drum. Vor recht genau acht Monden fing es an. Wie ihr nun ganz sicher wißt, führte ich bereits damals mein 186
Doppelleben als Arruf und Croesus; diese Zeit ist jedem aus Sarphand bekannt. Aber selbst heute lasse ich es mir nicht nehmen, völlig unerkannt durch Sarphand zu gehen, tagsüber ebenso wie in den Nächten. Damals war es riskant, sich nach Sonnenuntergang in viele Gassen zu wagen, heute beginnt die Stunde der Wilden Fänger erst später. Aber der klügste Teil des tollkühnen Wagemuts ist es, das Risiko zu mindern. Ich bin, nebenbei, einigermaßen geschickt in der Kunst der Tarnung. Aus meinen Zeiten als Meisterdieb kenne ich einen alten Hirten, der aus zwei Dutzend merkwürdiger Bestandteile eine Salbe rührt. Die Zutaten stinken ausnahmslos, aber die Salbe riecht nach Narde und köstlicher Ambra. Die Salbe heißt Tausend-Monde, und ihre Wirkung ist für kurze Zeit dementsprechend. Ich habe gestern abend, auf dem Weg zur Schenke, ein wenig um meine Augen und Mundwinkel gestrichen – sie macht einen Menschen um mehr als tausend Monde älter. Die Wirkung hält nicht lange an, und die Tausend-Monde-Salbe muß vorsichtig benutzt werden. Jedenfalls kleide ich mich wie ein alter Mann. Auf Greise machen die Wilden Fänger niemals Jagd, denn sie brauchen für Logghard junge, kräftige Kämpfer. Unerkannt schlich und schleiche ich mit runzligem Gesicht und faltigem Hals durch Sarphand. Ab und zu, wenn mich der Drang überkommt, maskiere ich mich nicht nur als Greis, sondern als verkommener Bettler. Dann bleibt auch das eine oder andere Schmuckstück an meinen Fingern haften.« Luxon lachte wohlgelaunt und winkte dem Mädchen, das den halbvollen Krug herbeibrachte. Mythor sah, daß Luxon nicht ein einziges Mal einen Schluck zuviel oder gar einen Becher über den Durst trank; er war sehr vorsichtig und schien die verderblichen Folgen der Trunkenheit genau zu kennen. »Und auf einer der letzten Gänge durch die Nacht kam ich zum Tempel der Großen. Ich war nicht das erstemal hier. 187
Schon früher konnte ich die Stummen Weisen bei ihrem merkwürdigen Gestikulieren mit dem Erhabenen beobachten. Zuerst ahnte ich nicht, daß es tatsächlich eine Sprache war, die sie da benutzten. Aber schließlich, mit Hilfe anderer Kameraden, gelang es mir, die Schattenspiele etwas zu deuten. Ich verstehe nicht sehr viel, aber der Sinn wird mir einigermaßen geläufig. In dieser Nacht waren sie erregt. Sie besprachen lautlos, aber in hektischen Bewegungen immer wieder ein Ereignis von großer Bedeutung.« »Doch nicht etwa«, unterbrach Mythor und betrachtete es als Scherz, »das Erscheinen des Sohnes des Kometen?« Luxon zog die Brauen hoch und sagte ernst: »Genau das. Sie sprachen miteinander über den Auftritt des Kometensohnes. Sie nannten, um es vorwegzunehmen, weder deinen noch meinen Namen, Mythor.« Mythor nickte schweigend. »Ich entnahm den Schattenfiguren ihrer Finger und Hände, daß der Sohn des Kometen mit allen verfügbaren Machtmitteln ausgerüstet werden sollte. Auch würde er das Rüstzeug des Verstandes und die Möglichkeiten der Menschenbeeinflussung erhalten, mit denen er eine Welt aus den knirschenden Angeln würde heben können. Die Weisen erörterten also ein tatsächlich weltbewegendes Ereignis. Ich konnte nicht anders, als an diesem Abend meine größte Herausforderung klar zu erkennen. Das war das Abenteuer, das ich immer unbewußt gesucht hatte! Ich verhielt mich still und merkte mir die verschiedenen Türen und Treppen und Säulen, denn dies sollte nicht mein letzter Besuch im Tempel des Erhabenen sein.« Er verschwieg seinen Gästen, daß ihn weder der Kampf gegen das Böse noch die Erhaltung der Lichtwelt sonderlich beschäftigten. Sie waren ungünstigstenfalls Stationen auf dem Weg durch dieses Abenteuer. Auch die Machtbestrebungen 188
der Caer – diese Namen tauchten seiner Meinung nach ebenfalls in der »Unterhaltung« der Stummen auf – beunruhigten weder ihn noch die anderen Sarphander. Die Länder nördlich der salamitischen Wüste gehörten zu einer anderen, fremden Welt. Sarphand trieb Handel mit den Nordern und den Nordländern. Der eigentliche Kampf gegen die Dunklen Mächte fand seit fast einem Vierteltausend Sommern in Logghard statt. »Die Großen führen in Sarphand, denke ich, ein Schattendasein?« meldete sich Mythor zu Wort. »So ist es. Yahid der Siebzehnte ist ein Vasall des Shallad Hadamur. Ihm sind die Großen ein Dorn im Auge!« antwortete Luxon. »Ich besuchte jedenfalls diesen überaus interessanten Tempel, verkleidet natürlich, mehrere Male. Ich durchsuchte ihn unbemerkt. Es dauerte nicht übermäßig lange, und dann fand ich zwei wichtige Unterlagen. Es war ein schweres Pergament, auf dem eine Karte gezeichnet war. Auf ihr befanden sich die Punkte, an denen sich der Lichtbote manifestiert hatte. Ich lernte, wohl aus Furcht, man könne mich überraschen, die Fixpunkte, ihre Namen und ihre Lage auf der für mich fremden Karte auswendig. Und auch das Amulett, das inzwischen in der Schatzkammer ruht, fand ich nahe der Karte. Plötzlich kam Lärm auf. Man hatte mich entdeckt ~ oder die Anwesenheit eines Einbrechers. Es gelang mir, den Häschern zu entkommen, und kurz vor der morschen Tür, durch die ich floh, kam mir die rettende Idee. Ich ließ die Karte absichtlich zurück, damit erstens die Großen Stummen Weisen mich nicht mehr weiter verfolgten und zu der Meinung kamen, ich habe die Karte verloren, und die folgenden Viertelmonde gaben mir recht. Sie ließen ab, mich zu verfolgen, und waren besänftigt. Ich zeichnete auf, was ich mir gemerkt hatte, und prägte mir die Zeichnungen genau ein. Dann vernichtete ich sie. Denn 189
nur das, was hier«, er deutete auf seine Stirn, »aufgezeichnet ist, kann nicht ausgelöscht werden.« »Wie wahr!« sagte Mythor zähneknirschend. »Aus diesem Tempel stammen also die Kenntnisse, die du gegen mich angewandt hast.« »Als ich aufbrach, da ahnte ich noch nicht einmal, daß es einen Mann namens Mythor überhaupt gibt!« sagte Luxon. »Ich war entschlossen, nur mit dem Amulett um den Hals wie jetzt mit dem Schlüssel, die Zauberwaffen aus den Fixpunkten des Lichtboten zu holen und dann die Welt zu erobern. Ich beschloß auch, meinen Namen zu ändern. Als Arruf kannte man mich in Sarphand, und ich mußte fürchten, daß dieser Name auch darüber hinaus bekannt war. Also suchte ich einige Tage, bis mir Luxon einfiel. Es ist, denke ich, ein Name, der zum Sohn des Kometen besser paßt als Mythor. Oder nicht?« »Erwartest du von mir darauf eine Antwort?« fragte Mythor verärgert. »Nicht im Ernst. Da die Großen aufmerksam geworden waren, blieb keine Zeit, eine richtiggehende Expedition auszurüsten. Ich versammelte einige Leute, die ich kannte und die mir vertrauensvoll erschienen. Wo steckt eigentlich der Junge?« »Samed ist im Hafen«, sagte ein Wächter. »Zwei von uns sind zu seinem Schutz mitgegangen.« »Wir zogen zum verwunschenen Tal. Dort mußte ich feststellen, daß vor mir bereits jemand an Ort und Stelle gewesen war. Außerdem fand ich Spuren schwerer Kämpfe, eine Menge von Caer-Leichen und schließlich dich, geliebte Kalathee.« Mythor stand auf und stützte sich schwer auf die Lehne des Sessels. Er fragte hart: »Und was, bei deinen unbestreitbaren Erfolgen, brachte dich auf den Einfall, ausgerechnet der 190
Meisterdieb von Sarphand könnte der echte Sohn des Kometen sein?« Luxon breitete die Arme aus. »Es ist erwiesen, daß Arruf nicht mein richtiger Name ist.« »So haben wir es verstanden.« »Man nannte mich nur so, weil es der Shallad auf mich abgesehen hatte. Schließlich hetzte er die Meuchelmörder auf mich.« »Richtig.« »Warum wohl? Weil sich der Shallad Hadamur als Reinkarnation des Lichtboten sieht. Er kann alles brauchen, nur nicht einen Sohn des Kometen, ob er nun Luxon, Arruf oder anders heißt. Er gab also den Befehl, mich in der Steppe von Salamos auszusetzen. Dort sollte ich von den heranrückenden Marn der Nomadenstadt, genauer von den Klauen der Yarls, niedergetreten und zermalmt werden.« »Du, Arruf?« flüsterte Mythor entgeistert. »Wer sonst? Der Henker, wer immer es gewesen sein mochte, brachte wohl einen so simplen Kindsmord nicht übers Herz und setzte ein anderes Kind aus. Irgendeines. Vielleicht hieß der Unbekannte Je-Linc, Mythor, Shostar oder ganz anders. Vielleicht war er namenlos, auf alle Fälle war es ein Niemand, dessen Verschwinden und Tod niemandem aufgefallen wären. Das warst natürlich du, Mythor. Du wurdest gefunden und vor den Yarls gerettet.« »Und bei meinem Fund lag ein seltsames Licht über mir, während der Bitterwolf schrie«, flüsterte Mythor. Aber Luxon ließ nicht die geringste Unterbrechung zu und keine Besinnung aufkommen. Er fuhr fort: »Ich habe also jeden guten Grund, den Titel zu beanspruchen. Du hast deinen Namen von den Marn bekommen… du warst ein namenloser Niemand, ähnlich wie ich. Trotzdem will ich meinen Vorteil nicht wahrnehmen und die Großen entscheiden lassen. Du 191
hast dich dieser Entscheidung unterworfen, nicht wahr?« »Ja. Ich habe mich unterworfen!« sagte Mythor und meinte es ehrlich. Schweigend gingen die Gäste dieses Mahles auseinander. Es mochte an diesem Tag keine rechte Laune mehr aufkommen. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach und versuchte, aus all den Berichten klug zu werden. Mythor fand vorübergehend Vergessen in Sadyns Armen, aber nachdem sie sich geliebt hatten, folterten ihn wieder die Selbstzweifel und die aufkeimende Einsicht, daß alle seine Wunden, Enttäuschungen und Abenteuer völlig sinnlos gewesen sein könnten. Aber er wußte, daß er es ein zweites Mal ebenso machen würde. Nur dieser Gedanke tröstete ihn ein wenig. Seine Finger spielten unschlüssig mit dem Schlüssel der Schatzkammer, der am Lederband um seinen Hals hing.
Der Abend brachte von See her eine mächtige Wolkenbank. Sie verschluckte die dunkelrote Sonnenscheibe, und über die Strudelsee fuhren die ersten Böen hin. Weit in der Ferne wetterleuchtete es. Leise trat Mythor in der Kleidung eines abgerissenen Strauchdiebs auf Luxon zu. »Wann brechen wir auf?« fragte er. »Wenn es ganz dunkel ist. Vielleicht wird es regnen, aber das soll uns nicht abschrecken. Außerdem muß ich dir noch etwas gestehen, Mythor.« Sadagar, Luxon und Mythor hatten sich noch nicht mit der Tausend-Monde-Salbe behandelt und trugen zwar veränderte Haartracht, aber noch nicht die Runzeln des Alters in den Gesichtern. »Noch eine deiner schlimmen Wahrheiten?« »Etwas Ähnliches. Ich habe, seit ich wieder hier bin, einige 192
Ermittlungen angestellt.« »Und das Ergebnis?« »Sowohl mein Wahlvater Shakar, in dessen Palast ich aufwuchs, als auch der verrückte Magier Echtamor leben noch. Wir werden sie aufsuchen und befragen. Eine zusätzliche Sicherheit für uns beide.« »Und wer garantiert, daß wenigstens sie die Wahrheit sagen?« fragte Mythor voll neu erwachtem Mißtrauen. Luxon machte eine unbestimmte Armbewegung. Er deutete auf das ferne Blitzen und auf die mächtigen Strahlenbündel, die von der untergehenden Sonne hinter der Wolkenbank ins Firmament geschickt wurden. »Keiner von beiden wird die Unwahrheit sagen. Es kann allerdings sein, daß beide untrügliche Beweise dafür haben, daß nicht ich es war, der ausgesetzt wurde, und daß ich letzten Endes trotzdem der richtige Sohn des Kometen bin. Ich weiß es wirklich nicht. Glaubst du mir ausnahmsweise?« »Vielleicht!« brummte Mythor. Luxon hielt ihn am Arm fest und stieß hervor: »Noch hat der Warner seine Schreie nicht ausgestoßen, es ist noch Zeit. Komm! Ich zeige dir einen geheimen Gang. Vielleicht werde ich heute nacht gefangen oder getötet. Dann wird man möglicherweise den Palast hier belagern – früher oder später. Darum bitte ich dich, meine Getreuen in Sicherheit zu bringen. Ich sage dir, wie man den Palast verlassen kann, ohne daß es jemand merkt.« »Einverstanden!« Sie eilten von der Terrasse zurück ins Haus. Alle diese Dinge mußten getan werden, ehe zur großen Expedition gerüstet werden konnte. Luxon führte Mythor in die Nähe der Treppe zur Schatzkammer und zeigte ihm die einzelnen Griffe und Geheimtüren, die bewegt und geöffnet werden mußten. Aufregung hatte sich der Männer bemächtigt, obwohl ein 193
Gang durch die Stadt alles andere als eine große Gefahr darstellen würde. Von einer Terrasse aus sah Mythor, an welcher Stelle der Geheimgang schließlich ins Freie mündete. Er nickte Luxon zu. »Man kann dir nicht vorwerfen, du wärest kein vorsichtiger Mann. Das einzige, was mich tatsächlich an dir beeindruckt«, sagte Mythor nachdenklich, »ist der Umstand, daß du für deine Diener und Freunde sorgst. In diesem Punkt hast du mein ungebrochenes Vertrauen.« »Ich bemühe mich, inmitten der Rätsel, Intrigen und Gefahren den besten Weg zu gehen. Meinen Weg.« Luxon gab Mythor ein Döschen der Tausend-Monde-Salbe und sagte ernst: »Sehr vorsichtig damit umgehen. Du brauchst nicht viel davon. Gib auch Sadagar etwas. In etwa einer Stunde brechen wir auf.« »Danke.« Mythor setzte sich vor die spiegelnde Metallfläche und entzündete zwei weitere Öllampen. Nachdenklich zog er das Gewand von seinen Schultern und entblößte seine Brust. Im Spiegel erschien das Bild Fronjas, von der Vangard gesagt hatte, sie sei die Tochter des Kometen. Schweigend blickte Mythor das Bild an, das unter dem Licht der flackernden Flammen zu leben schien. Immer nieder ging von diesem Bild eine Art Ruf aus, der nur ihn erreichte und der ihn schließlich auch aus der relativen Ruhe Sarphands hinaustreiben würde. »O Fronja«, flüsterte er und knöpfte das Wams über der Brust wieder zu, »wann werden wir uns treffen? Und wo wird das sein?« Dann bestrich er sein Gesicht mit der duftenden Salbe. Auch einige Stellen des Halses betupfte er. Sadagar trat herein, auch er verkleidet. Trotzdem trug er unter dem losen Überwurf der Kleidung seinen Gurt mit den Wurfmessern. 194
»Hier«, sagte Mythor und machte Platz. »Gleich wirst du aussehen wie dein eigener Großvater.« »Den ich ebensowenig kenne wie du den deinen«, gab Sadagar zurück und fuhr brummig fort: »Wir suchen heute den Magier Echtamor auf, sagte Luxon. Und zudem sagte er noch, daß es möglich sei, sich von den Wilden Fängern loszukaufen.« »Die Stadt hat sich seit Luxon-Arrufs Jugend sicherlich verändert. Obwohl ununterbrochen Yahid der Siebzehnte regiert. Das mindert die Gefahren.« »Und unsere Wachsamkeit, beim Kleinen Nadomir.« Sie steckten etwas Geld ein, versahen sich mit Waffen und gingen hinaus auf die Terrasse, auf der Luxon wartete. Die Hälfte des Himmels hatte sich mit einer schwarzen Wolkenbank überzogen, auf der anderen Hälfte blinkten die Sterne. Aus der Richtung des Palasts des Sarpha kam eine dünne, schrille Stimme. Sie schrie einen Singsang hinaus, dessen einzelne Worte völlig unverständlich waren. Dieser Schrei trug ungemein weit, und helle Echos brachen sich überall auf den Terrassen und Ebenen der Stadt. »Der Ruf des Warners«, sagte Luxon bedächtig. »Wer jetzt noch auf den Straßen und in den Gassen ist, wird meist zur Beute der Wilden Fänger. Unsere Stunde, Freunde! Haltet euch an mich, ich kenne in Sarphand jeden Stein.« »Wir kommen.« In der schwarzen Wolke, schon viel näher und unmittelbar über der Strudelsee, zuckten Blitze. War es ein gutes oder schlechtes Zeichen? Seit den Lichterscheinungen über dem Hochmoor von Dhuannin konnte Mythor nicht mehr an gute Omen glauben. Der Palast schien verlassen zu sein; niemand begegnete ihnen auf den Treppen und hinter den Vorhängen. Nur neben dem Eingangstor stand, schweigsam wie stets, ein Wächter. Er 195
grüßte und öffnete die schwere Pforte. »Kehre bald und gesund zurück, Herr!« sagte er. »Nichts anderes habe ich vor«, entgegnete Luxon. »Es wird ein Spaziergang werden. Du brauchst nicht zu warten. Beim Morgengrauen sind wir wieder in unseren Betten.« Sie glitten durch den schmalen Spalt hinaus in die Dunkelheit. Vor dem Palast erstreckte sich zwischen den dunklen Hausfronten ein kleiner Platz, auf dem ein Brunnen unter einem Baum plätscherte. Luxon wandte sich nach links und glitt entlang der Mauer in die Richtung der Unterstadt. Die Fenster der Häuser waren mit schweren Läden verschlossen, und nur aus wenigen Ritzen schimmerte Licht. Die Sohlen der Stiefel verursachten auf dem Steinpflaster leise, knirschende Geräusche. Eine Ratte huschte pfeifend in ihr Loch zurück. Wieder zeigte das flüchtige Licht eines Blitzes den drei dunkel gekleideten Männern den Weg. Vor ihnen lag eine breite, leere Treppe. Sie huschten dicht am breiten Geländer abwärts und tauchten in die aufregende, übelriechende Welt des nächsttieferen Teiles der Stadt ein. Irgendwo in Sarphand warteten die Wilden Fänger. Keinen von ihnen hatte Luxon zu fürchten. Aber er wußte nicht, daß es in den Reihen dieser Männer drei Neulinge gab. Sie nannten sich Schnellfuß, Steinfaust und Eisblick, und jeder von ihnen war so gefährlich wie fünf andere Fänger. Darüber hinaus waren sie unbestechlich, erbarmungslos und blitzschnell.
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Hans Kneifel
Die drei Dämonischen Der Blitz zuckte schräg abwärts und spaltete einen verkrüppelten Baum. Zugleich mit dem peitschenden Knall flammte das Feuer auf. Der Donnerschlag schien ganz Sarphand zu erschüttern und jeden Stein zu bewegen, Aber noch immer regnete es nicht. Nur wenige einzelne Tropfen schlugen klatschend auf das Pflaster, das die Wärme des langen Tages gespeichert hatte. Mythor lehnte sich gegen eine Mauer und flüsterte: »Wo lebt der Magier Echtamor jetzt, Luxon?« Sie hatten, vom Palast des Croesus kommend, eine schmale Gasse hinter sich gelassen. Dann waren sie die breite Treppe zu der nächsttieferen Ebene der Stadt hinuntergelaufen. Als der Blitz unweit von ihnen den Baum in Flammen setzte, befanden sich Steinmann Sadagar, Luxon und Mythor in ihrer Verkleidung als heruntergekommene Greise gerade an der kleinen Kreuzung zwischen Treppenende und den nächsten Dächern und Mauern. »Unser Ziel ist ein uralter Wachturm. Ein Späher wartet dort auf uns. Folgt mir, Freunde.« Es war eine stockfinstere Nacht. Und trotz der Rufe des Warners gab es noch genügend Einwohner, die sich in den Gassen und Winkeln Sarphands aufhielten. Es waren nicht nur Bettler, Asyllose oder Verbrecher, sondern auch junge Männer, die es als Mutprobe betrachteten, die Fänger zu reizen und ihnen zu entkommen – oder auch nicht. »Welche Richtung?« »Dorthin, in das Gewirr der Gassen.« 197
Die Bewegungen der drei Männer waren nicht die von alten Männern. Sie sprangen, rannten und huschten durch die Finsternis. Plötzlich hielt Luxon mitten im Lauf an, breitete beide Arme aus und fing die Männer auf, die hinter ihm plötzlich stolperten. »Halt!« Er deutete nach rechts. Die Gegend war schmutzig und verwahrlost. Die Abstände zwischen den Hausmauern waren eng und wurden von Schritt zu Schritt kleiner. Erker und winzige Balkone neigten sich zur Straße. Unter einem Vorsprung bewegten sich zwei Silhouetten. Zwei Männer kämpften gegeneinander. Ab und zu durchschnitt ein scharfes Keuchen oder ein erstickter Ausruf die Stille. Schwach blitzten Dolchklingen auf. »Es gilt nicht uns!« wisperte Luxon. »Weiter!« Mythor warf einen scharfen Blick auf das Handgemenge und rannte weiter. Ein abschüssiges Stück lag vor ihnen. Ein erster Schauer von Regentropfen prasselte nieder, während die Blitze den Männern den Weg zeigten. Hinter den Männern verklangen die stöhnenden Ausrufe und das Klirren der Waffen. Die Hausmauern öffneten sich wieder zu einem kleinen, rechteckigen Platz, wie er für viele Teile Sarphands typisch war. An drei Seiten war er von Torbögen aus wuchtigen Quadern abgegrenzt. Im Zentrum erhob sich ein riesenhafter Baum. Auf einer Terrasse loderte im Gewitterwind eine vergessene Fackel und schleuderte Funken und Rauchschleier in wirren Wirbeln hinunter auf den Platz. Quer über den freien Raum schritt feierlich eine große, schwarz gekleidete Gestalt. An der Stelle des Kopfes trug diese Erscheinung einen Totenschädel, weiß und leuchtend wie Phosphor. Der Schädel schien die doppelte Größe eines menschlichen Kopfes zu haben. Dort, wo es in den Knochen 198
Löcher gab, leuchteten nicht etwa Zähne oder Augen. Dort war nichts als abgrundtiefes Schwarz. Die Gestalt nahm weder Notiz von den Blitzen noch von dem Licht der Fackel oder den drei dunkel Gekleideten, die unmittelbar unter einem Torbogen stehengeblieben waren und diesen Fremden halb fassungslos, halb erschrocken anstarrten. »Was soll das, Luxon?« fragte Mythor leise. Nur sein Gesicht war verändert. Die letzten Tage und die Ruhe im Palast des Croesus hatten ihm die Kraft und die Ausdauer wiedergegeben. Sein Körper gehorchte ihm wie immer; er wünschte sich nur, sein Schwert am Gürtel zu haben. Vergebens. »Ich weiß es nicht. Einen solchen Schädel habe ich in Sarphand noch niemals gesehen.« Sadagar knurrte wütend: »Ich könnte ihm ein Wurfmesser in eine Augenhöhle…« »Nein!« sagte Luxon leise und scharf. »Beobachtet alles, aber rührt euch nicht. Wir dürfen niemanden auf uns aufmerksam machen.« Die seltsame Gestalt wanderte schnellen Schrittes diagonal über den Platz. Der schwach leuchtende Totenschädel drehte sich weder nach links noch nach rechts. Dann verschwand die erstaunliche Erscheinung unter einem Bogen und hinter einer Mauerecke. Ein Blitz zuckte auf, erhellte die Umgebung und zeigte nichts anderes als eine leere Fläche. »Das ist Sarphand. Nur ein Teil davon«, sagte Luxon, und wieder mußte ihm Mythor seine Worte glauben, »und in der Nacht verändert diese Stadt ihr Gesicht vollständig. Was am hellen Tag nicht möglich erscheint – in den Nächten wird’s zur schaurigen Wahrheit.« »Du weißt es besser als ich«, entgegnete Mythor. Verglichen mit seinen bisherigen Erfahrungen war das Gefüge dieser Stadt weitaus vielschichtiger und raffinierter als alles, was er sich vorstellen konnte. Aber gleichzeitig spürte er, wie ihn 199
jeder weitere Schritt tiefer in die Geheimnisse hineinführte, und dies ausgerechnet an der Seite seines schärfsten Rivalen um den Titel des Sohnes des Kometen. »So ist es. Weiter! Hinter mir her!« ordnete Luxon an. Sie waren aufgebrochen, um die Vergangenheit beim Schopf zu packen. Es gab noch einige Menschen, die vermutlich die Wahrheit sagen würden. Die Wahrheit? Wer von ihnen nun wirklich der erhoffte Sohn des Kometen war, auf welche Weise ihre Lebensfäden und Schicksale miteinander verknüpft waren. Der erste auf diesem denkwürdigen Weg war der irre Magier Echtamor, der irgendwo in der Unterstadt hauste. Luxon wandte sich um, als sie im Zickzack zwischen den verschlossenen Haustüren und Mauern, zwischen Pfeilern und Stufen durch die Nacht glitten. Er rief unterdrückt: »Ich weiß, wie wir den Wilden Fängern entkommen können. Ihr braucht keine Furcht zu haben.« Mythor legte die Hand an den Griff seines langen Dolches und gab zurück: »Und wenn sie uns trotzdem fassen?« »Dann kann ich uns loskaufen. Es gibt so etwas wie festgesetzte Summen von Lösegeld«, antwortete Luxon. »Ich habe genug bei mir.« Natürlich machte sich keiner der Fänger die Mühe, einen halbblinden, verkrüppelten Bettler zu fesseln und davonzuzerren. Für die Lichtfähren, die nach Logghard gingen, brauchte man junge Kämpfer. Falls sie sich loskaufen wollten, mußten sie tief in die Tasche greifen. Den wenigsten gelang es. »Drei solch starke und kampferprobte Männer wie wir – du wirst eine Menge zu zahlen haben«, gab Sadagar gallig zurück. »Ich habe genug bei mir«, versicherte Luxon mit einem grimmigen Lachen. Einige Schritte weiter lag ein schlafender Bettler in einem 200
Hauseingang. Er schlief wie bewußtlos, denn die Blätter und die Sandwirbel, die gegen seinen Kopf peitschten, vermochten ihn nicht aufzuwecken. Über die flachen Stufen einer halb zertrümmerten Treppe sprangen große Ratten mit weißen Schwänzen hin und her und pfiffen durchdringend. Sie rannten auseinander, als die Stiefel der drei Männer zwischen ihnen auf dem Stein auftrafen. Hinter der nächsten Ecke lag ein toter Hund auf dem Pflaster. Luxon sprang mit einem Satz darüber hinweg. Ein Windstoß packte seine Begleiter und wirbelte sie vorwärts. Ihre zerrissenen Mäntel schlugen ihnen knatternd um die Ohren. Wieder tappten sie eine Treppe abwärts und liefen durch einen Wirrwarr aus Gassen und winzigen Höfen. Die ersten Regentropfen schlugen fast waagrecht gegen die Mauern. Dann rauschte der Regen gleichmäßig herunter und verwandelte einen Teil der abschüssigen Gassen in ein Bachbett. »Wir sind bald am Ziel«, sagte Luxon hundert Schritte weiter. Binnen weniger Augenblicke waren sie von Kopf bis zu den Stiefeln durchnäßt. Ein Blitz leuchtete den Platz aus, der vor ihnen lag. Im letzten Moment hielt Mythor Luxon und Sadagar an den Schultern zurück. Sie duckten sich hinter eine zerfallende Mauer. »Das ist, wenn ich nicht halb blind bin«, flüsterte Sadagar, »ein Wilder Fänger.« Im flackernden Licht des Blitzes hatten sie ihn gesehen. Eine große, breitschultrige Gestalt, den Kopf in einer ledernen Kapuze versteckt, in der es nur Löcher für die Augen und die Mundöffnung gab. Der Fänger lehnte in einem tiefen Spalt einer Hausmauer und wartete. Er war in Leder gekleidet und hatte ein dünnfädiges Netz, Seile und einen Spieß mit einer halbmondförmigen Spitze, die im rechten Winkel zum 201
Schaft angebracht war. In seiner dunklen Regungslosigkeit hatte er etwas Bedrohliches, strahlte Gefühllosigkeit und Stärke aus. »Wartet er auf uns?« brummte Luxon. »Dann müßte ihm jemand gesagt haben, daß wir heute nacht Spazierengehen«, gab Mythor zurück. »Was ziemlich unwahrscheinlich ist. Oder hast du etwa dafür gesorgt, daß wir eine zusätzliche Unterhaltung haben, König der Stadtstreicher?« »Ich werde mich hüten, Freund des Kometensohnes«, knurrte Luxon. »Wir warten, bis er sich bewegt.« »Eine sichere Sache«, schloß Sadagar, aber seine Finger zogen zwei Wurfmesser aus den Scheiden des Gurtes. Sie warteten, bis auf die Haut durchnäßt. Plötzlich rannte eine Gestalt, immer wieder auf dem Pflaster ausrutschend, quer über den Platz. Der Fänger drehte nur den Kopf und blickte den Ankömmling schweigend an. Mitten auf dem Platz hielt der junge Mann an und drehte sich im Kreis. Er sah den Fänger, stieß ein schauerliches Gelächter aus und rannte weiter, genau in die Richtung der Mauer, hinter der Luxon und seine Begleiter warteten. Kaum war er an der Kante angelangt, ohne die Wartenden hinter den peitschenden Regenschauern zu erkennen, rührte sich der Fänger. Er sprang aus dem Spalt, senkte seinen Spieß und rannte los. Er verfolgte den jungen Mann, der ihn bewußt gereizt hatte. Mit wenigen Sprüngen waren Verfolger und Opfer in dem aufwärts führenden Teil der Gassen verschwunden. Luxon stand auf, schüttelte den Kopf und sagte: »Ein Wahnsinniger! Nicht einmal ich würde mutwillig einen Wilden Fänger reizen!« »Zumal niemand zusehen kann, wie der mutige Junge dem Fänger entkommt«, meinte Mythor. »Was soll’s?« Es konnte aber auch ein Bürger Sarphands gewesen sein, der 202
sich aus unglücklicher Liebe oder aus reiner Not fangen ließ. Auch dies kam vor; immerhin war es keineswegs sicher, daß jeder Eingefangene in Logghard auch sein Leben einbüßen würde. Luxon winkte und sprang über die Mauer. Durch den Regen rannten sie weiter und erreichten schließlich eine mehr als düstere Gegend. Auf ihrem Weg hatten sie zusammenbrechende uralte Mauern neben prachtvollen kleinen Palästen gesehen, winzige Häuser lehnten sich wie schutzsuchend aneinander. Sie sahen Treppen und Plätze, die deutlich den Reichtum der Bewohner und der Umgebung erkennen ließen. Jetzt aber hatten die Männer einen wuchtigen, uralten Turm vor sich, der einst Bestandteil der Stadtbefestigungen gewesen war. Immer näher kamen Luxon und seine beiden Begleiter dem Turm. »Dort soll Echtamor wohnen«, sagte Luxon und sah sich wachsam um. Von den Dächern floß Regenwasser. Die Windstöße trieben breite Schauer von Tropfen über die freien Flächen. Nur hinter wenigen Fenstern schimmerte Licht. Weit und breit war nichts Lebendiges zu sehen. »Hier?« »Wir sind richtig. Das ist der Turm, von dem Kharay sprach«, sagte Luxon und verschwand in dem Hohlraum eines Kellerausgangs. Einige Augenblicke später hörten Sadagar und Mythor, als der Sturm kurz nachließ, ein deutliches Stöhnen. Augenblicklich liefen sie hinter Luxon her und duckten sich unter die triefenden Holzbalken. Sie erkannten Luxon, der sich über einen Mann beugte. »Kharay!« stieß Luxon hervor. »Wer hat dich verwundet?« Einige Stufen führten zu einem würfelförmigen Raum hinunter, der dicht neben der Ostmauer des Turmes 203
entstanden war. Über seiner Decke erhob sich ein langgestreckter Bau mit flachem Dach. Wieder stöhnte Kharay. Seine Augen blickten ziellos umher. Luxon hob Schultern und Kopf des Verletzten hoch und flüsterte eindringlich: »Hast du Echtamor gefunden?« Mit letzter Willenskraft stieß der Verwundete hervor: »Er wohnt… im Turm… Hütet euch…« Die Nässe hatte seine Kleidung ebenso durchdrungen wie diejenige der Wanderer. Zudem sahen Sadagar und Mythor, daß der Stoff zerfetzt und der Körper des Mannes übel zugerichtet war. Unter ihm breitete sich auf dem Stein eine Lache aus Blut und Regenwasser aus und wurde immer größer. »Wovor willst du uns warnen?« fragte Luxon drängend. »Vor den… Kreaturen des… Magiers. Er ist… wahnsinnig.« Der Späher in Luxons Armen stieß ein gurgelndes Stöhnen aus und bäumte sich auf. Dann zuckte er mehrmals und starb. Luxon ließ den erschlaffenden Körper zurücksinken und lehnte den Kopf Kharays an die Wand. »Tot!« sagte er. »Das habe ich nicht erwartet. Echtamors Turm voller Bestien?« Er richtete sich auf, griff in die Stiefelschäfte und zog zwei Dolche hervor. Sie waren flammenförmig, die Schneiden auf beiden Seiten haarfein geschliffen. Die Waffen waren so lang wie Luxons Unterarme und hatten nadelfeine Spitzen. »Wir haben eine Verabredung mit Echtamor«, sagte Luxon hart. »Wir werden sie einhalten. Bitte, helft mir!« »Eine Sache der Ehre«, sagte Sadagar. »Wo ist der Eingang?« Der Turm war von Bauwerken umgeben. Die drei suchten nach einem Eingang und bewegten sich fast einmal um die gesamte Grundfläche des Turmes und der anschließenden Häuser herum. Dann standen sie vor einem hohen, schmalen Portal, das aus dicken Balken bestand, die durch breite 204
Eisenbänder zusammengehalten waren. Das Eisen bildete eine Art Flechtwerk und war bis zur Unkenntlichkeit verrostet, ebenso waren die Balken morsch und uralt. Der Regen hatte das Blut aus Kharays Wunden fast unkenntlich gemacht, aber auf einigen hellen Trittsteinen sahen die Männer runde, dunkle Flecken. An dieser Stelle war der Fuß des kantigen Turmes mehr als fünf, sechs Mannslängen breit. Riesige Felsbrocken und eine Vielzahl kleinerer Steine und Ziegel bildeten das Fundament. In den Fugen wuchs Moos. Die Höhe des Turmes mochte mehr als fünfzehn Mannslängen betragen. Es gab kein Fenster auf dieser Seite, es gab auch nur wenige dünne Lichtstrahlen aus den angrenzenden Häusern. Nichts regte sich, nur der Wind heulte kreischend, vermischt mit dem Krachen des Donners, durch die schmalen Gassen. Mit drei Sprüngen waren die nächtlichen Wanderer an der Pforte. »Es wird schwierig sein, hineinzukommen«, stieß Sadagar hervor. Er begann an den Riegeln, Stiften und Krampen zu hantieren und bemühte sich, kein Geräusch zu machen. Mythor trat einen Schritt zurück und versuchte den Mechanismus zu erkennen. Dann griff er nach einem Hebel und bewegte ihn nach rechts. Eine schwere Klinke, an der noch Spuren von Fett zu erkennen waren, hob sich um eine Handbreit. Ohne daß sie jemand berührt hätte, schwang die schwere Tür mit einem häßlichen Knarren nach außen auf. Grünes, gelbes und rotes Licht, in einer Art Halle mit hoher Decke an zahlreichen Punkten verteilt, schlug zugleich mit einem stinkenden Brodem den Eindringlingen entgegen. »God und Erain!« entfuhr es Mythor. »Es wimmelt von Kreaturen!« »Jetzt wissen wir, was Kharay umgebracht hat«, knurrte Luxon und schwang seine Dolche, als er in den Raum 205
hineinstürzte. Mythor bewunderte kurz den Mut und den Angriffsgeist seines Konkurrenten und sprang hinterher. In dem mehrfarbigen Licht, das aus großen, schwebenden Kugeln kam, entdeckten sie eine riesige Ansammlung von schlangenartigen, drachenähnlichen und bepelzten Tieren, die sich sofort geifernd auf sie stürzten. Über eine Treppe, die zum oberen Geschoß führte, ringelte sich eine große Echse mit Schlangenschwanz, Drachenkopf und Krokodilsklauen. Sadagar bückte sich blitzschnell und schnitt mit einem seiner Wurfmesser einer Schlange den Kopf ab. Dann sprang er zurück und überlegte schnell. Mit den Wurfmessern konnte er gegen diese Masse durcheinanderkriechender, übereinanderkletternder und zischender Wesen nichts anfangen. Er zog weitere drei Messer aus dem Gurt und klemmte sie zwischen die Finger. Dann stürzte er sich hinter Luxon und Mythor in den ausbrechenden Kampf. »Versucht durchzubrechen!« schrie Mythor. »Genau das versuchen wir!« dröhnte Luxon. Die Dolche der Männer wirbelten durch die Luft und trafen bei jedem Stoß und jedem Schlag. Die Tiere waren voll rasender Angriffslust, aber sie bewegten sich nicht sonderlich schnell. Ihre Gefahr lag in der großen Anzahl und in den Krallen, mit denen sie nach den Eindringlingen schlugen. Sadagars Arme schwangen wie Sensen hin und her. Die Schneiden seiner Messer zerschlitzten die Hälse der Schlangen, die sich von Deckenbalken herunterringelten. Mythor wünschte sich, während er sich mit wilden Stößen seines Dolches durch die schuppigen Leiber einen Weg zur Treppe zu bahnen versuchte, sein Gläsernes Schwert zurück. Die riesige Echse auf der Treppe kämpfte nicht, aber sie drehte den Kopf wild hin und her und beobachtete jede Bewegung im Raum. »Das Tier auf der Treppe!« keuchte Mythor und kappte mit 206
einem wilden Hieb einen krallenbewehrten Arm, der zu einem grünäugigen Ungeheuer gehörte. Pfeifend und wimmernd zog sich die Echsenschlange zurück. »Ja?« Luxon kämpfte Rücken an Rücken mit Mythor. Seine furchtbaren Dolche fuhren hin und her und schufen vor ihm einen freien Raum, in den sich die Verteidiger nur zögernd hineinwagten. Hinter ihnen wütete Sadagar und versuchte, die kleinen Schlangen davon abzuhalten, sich um die Beine der beiden Männer zu winden. Mythor befand sich jetzt am Fuß der Leiter und schrie keuchend: »Diese Bestie hier… kämpft nicht. Sie führt den Kampf gegen uns!« »Du meinst«, fauchte Luxon und schmetterte den Kopf eines Drachen zur Seite, der nach seinen Augen hackte, »daß wir das Tier töten müssen?« »Das glaube ich.« Mythor sprang auf die unterste Stufe der Treppe, hob seinen Dolch und griff nach einer Klaue des Tieres. Mit einem harten Ruck versuchte er, das Tier zur Seite zu reißen. Sein Dolch bohrte sich tief in die grünlich geschuppte Haut. Das Tier öffnete den Rachen, blies ihm eine übelriechende Wolke aus feuchtem Atem entgegen und stöhnte auf. »Nein!« glaubte Mythor zu verstehen. Er blickte sich um und sah, daß die Männer noch immer wütend kämpften, aber nicht gefährdet waren. Mythor kletterte höher hinauf. Sein linker Arm packte den langen Hals des Echsenwesens und zog ihn an sich heran. Während er mit dem Fuß die Klauen abwehrte, die nach ihm schlugen, setzte er die Spitze des Dolches auf die Stirn des Tieres. Er war sicher, daß das Echsenwesen mit menschlicher Stimme gesprochen hatte. Er schrie wütend: »Mit einem Stoß kann ich dich töten!« 207
»Nein! Töte mich nicht«, stöhnte das Tier. Mythor verstärkte den Druck der Dolchspitze und wußte jetzt, daß seine Ahnung richtig gewesen war. Als er sich wieder umsah, merkte er, daß die anderen Tiere ihre wütenden Angriffe fast eingestellt hatten. Eine geheime Furcht schien sich ihrer bemächtigt zu haben. Er stieß hervor: »Du bringst uns sofort zu deinem Meister, sonst durchbohrt der Dolch deinen Schädel.« »Ja. Aber töte mich nicht!« »Befiehl den anderen Bestien aufzuhören!« Mythor stieg ächzend Stufe um Stufe hinauf, schleppte den Hals und den Kopf des Echsenwesens mit sich und bog den Hals in groteskem Winkel nach hinten. Aus der Kehle der Bestie kamen zischende und würgende Laute. »Sie… kämpfen… nicht mehr.« Mythor schrie: »He! Ihr beiden! Der Kampf ist aus. Hinter mir her. Die Echse bringt uns zu Echtamor.« Luxon und Sadagar schienen mit einem Blick zu erkennen, was vorgefallen war. Sie duckten sich unter den Leibern der kleineren Bestien, die unschlüssig hin und her schaukelten, ihre Wunden leckten, sich am Boden krümmten oder von den Deckenbalken pendelten. Sie zischten und fauchten, und ihre Augen folgten den Männern, die zwischen ihnen hindurchliefen und die Stufen erreichten. »Was ist los?« fragte Sadagar und schüttelte das Blut von den Messerklingen. »Diese Echse wird uns zu ihrem Meister bringen. Sie spricht mit menschlicher Stimme.« »Ich bringe euch zu Echtamor. Stecke deinen Dolch zurück, Krieger!« stöhnte das Echsenwesen. »Aus mir spricht die Stimme des Magiers.« Luxon behielt seine Waffe in den Fäusten und sagte wütend: »Dieser Magier hat durch euch meinen Freund umgebracht. 208
Los, bringe uns schnell zu ihm!« »Dann befiehl deinem Freund, daß er mich losläßt.« Mythor löste vorsichtig seinen Griff. Das Echsentier holte röchelnd Luft und schüttelte sich. Dann drehte und wand sich die Bestie und kletterte, ihre Bewegungen mit dem langen Schwanz unterstützend, die Treppe aufwärts. Mythor folgte ihr schnell und hielt den Dolch stoßbereit. »Hat es der alte Echtamor durch seine Magie erreicht«, fragte Luxon und schien sich abermals an seine Sklavenzeit bei Echtamor zu erinnern, »daß sein Geist in ein Tier zu schlüpfen vermag?« »Bei Erain! So sieht es aus!« sagte Mythor grimmig. »Es wird sich feststellen lassen«, meinte Sadagar. Die Echse tappte schwerfällig über die Planken des nächsten Raumes. Bis auf einige wuchtige Möbelstücke war der Raum leer. Nur ein unerklärlicher Geruch schlug den Männern entgegen. Mit schnellen Schritten durchquerten sie den Raum und stiegen neben dem Echsenwesen die nächste Treppe hinauf. Mythor schob seinen Kopf durch die große Bodenluke und sah, daß sie jenen Abschnitt des Turmes erreicht hatten, in dem Echtamor hauste. Auf einem dürftigen Lager, direkt an der Wand und unter einem offenen Fensterloch, lag eine regungslose Gestalt. Sadagar und Luxon schwangen sich in den Raum hinein. Luxon machte zwei schnelle Schritte, die Dolche stoßbereit erhoben. Er näherte sich dem Kopfende des Lagers, warf einen langen Blick auf das eingefallene, wächserne Gesicht des Mannes und sagte: »Es ist tatsächlich Echtamor!« Im selben Moment sank die Echse, die aus mehreren kleinen Wunden blutete, auf den Boden, streckte alle Gliedmaßen aus und stöhnte erbarmungswürdig auf. »Hier ist Echtamor!« kam es schwer verständlich aus dem Rachen des Tieres. Es schloß die Augen, ein Zittern durchlief den doppelt 209
mannsgroßen Körper, und dann bewegte Echtamor seine Finger. »Er vermag wirklich seinen Geist auszusenden!« staunte Sadagar. Luxon nickte nur. »Er kommt zu sich!« warnte Mythor und lehnte sich wachsam gegen die Mauer. Auch dieser Raum wurde durch eine Vielzahl von schwebenden Kugeln erhellt, die in verschiedenen Farben glühten und entlang der Decke verteilt waren. Der Körper des Magiers – der Körper eines knochendürren Greises in zerfetzten, löchrigen Kleidern –, der eben noch wie tot auf dem Lager geruht hatte, zitterte ebenso wie der Leib der Schlangenechse. Echtamor stieß einen langen Seufzer aus, dann hob und senkte sich seine magere Brust, und er öffnete die Augen. Sofort war Luxon bei ihm, kauerte sich neben das Lager und hob langsam einen Dolch. Trotz der Waffe sprang Echtamor fast senkrecht von seinem Lager auf. In seinem Gesicht herrschte der Ausdruck des Wahnsinns. Seine Augen traten weit hervor und rollten, seine Bewegungen waren fahrig. Echtamor zitterte am ganzen Körper, und als seine Füße den Boden berührten, wankte er hin und her wie ein hoffnungslos Betrunkener. Luxon flüsterte gebannt: »Er sieht uns nicht einmal! Er ist tatsächlich wahnsinnig – ich habe es euch erzählt! Es ist die Wahrheit!« Echtamor führte in der Mitte des Raumes eine Art hilflosen Tanz auf. Dann wandte er sich, die Augen auf den grünlichen Körper der zusammengeringelten Echse gerichtet, der Treppe zu. Augenblicklich sprangen Luxon und Mythor auf ihn zu, während Steinmann Sadagar die Hand mit einem Wurfmesser hochriß. »Er versucht zu fliehen.« »Er ist verrückt. Aufs Lager mit ihm«, knurrte Mythor. 210
Sie schleppten ihn zurück, warfen ihn unsanft auf seine staubigen Decken und Kissen, und dann packte Luxon seinen ehemaligen Peiniger am Hals. »Du magst verrückt sein, alter Mann«, sagte er hart, »aber du wirst dich erinnern müssen. Ich bin Arruf. Ich war einst dein Lehrling und deinen miserablen Künsten ausgeliefert. Erkennst du mich wieder?« Die Echse lag regungslos da. Der Magier zitterte und wand sich unter Luxons Griff, aber sein Blick heftete sich jetzt unverwandt auf das Gesicht des Mannes vor ihm. Trotz der vielen Falten und des veränderten Aussehens schien Echtamor den ehemaligen Arruf zu erkennen. Er röchelte und atmete schwer, dann flüsterte er: »Arruf. Ich… erinnere mich… Ja, du bist der Arruf von damals.« »Von damals, richtig!« bekräftigte Luxon grimmig. »Damals hast du mir gesagt, ich hätte bei dir Schutz vor meinen Verfolgern. Ich sei das Opfer eines Komplotts. Was weißt du darüber?« Echtamor schüttelte sich und sagte langsam, als suche er mühsam jedes Wort zusammen: »Arruf. Waren schöne Zeiten. Gestern erst schüttelten wir uns die Hände.« »Wie?« fragte Luxon unbehaglich. »Er ist verrückt und redet unzusammenhängend«, antwortete Mythor. »Du wirst nichts aus ihm herausbekommen.« Luxon lachte kurz und entgegnete: »Möglicherweise hast du recht, Mythor. Aber ich denke, daß ich ein Mittel habe, um ihn zum Reden zu bringen.« Er griff in den nassen Gürtel und zog einen kleinen Lederbeutel hervor. Als er ihn öffnete, breitete sich trotz des Gestanks im Raum ein wunderlicher Geruch aus. Von einer bräunlichen Masse brach Luxon einige Brocken ab und stopfte sie zwischen die faltigen Lippen des Alten. Der Magier fing sofort zu kauen an. 211
»Tabak von der Mondblume?« wollte Mythor wissen. »Ja. Es hilft nicht immer, aber vielleicht kann der Tabak die Erinnerung des Alten etwas auffrischen oder deutlicher machen.« »Wir werden warten müssen.« »Zugegeben«, meinte Luxon. »Aber ich sehe keine andere Möglichkeit.« Der Magier kaute auf dem Tabak herum. Aus seinen Mundwinkeln sickerte bräunlicher Saft. Die hektischen Bewegungen seiner Gliedmaßen hörten auf, und in seine Augen trat ein träumerischer Ausdruck. Mythor fragte kurz: »Wie lange wird es dauern, bis die Mondblume wirkt?« »Eine halbe Stunde, denke ich. Man kann den Tabak auch rauchen, wie es die Großen tun, aber hier…« »Warten wir also«, meinte Sadagar. Ihm war die Situation alles andere als angenehm, aber er klammerte sich an die einzige Hoffnung, die er noch hatte: Er würde versuchen müssen, den Kleinen Nadomir anzurufen, wenn es zu arg wurde. Der alte Magier stieß ein langgezogenes Stöhnen aus und murmelte: »Herrliche Zeiten waren es! Erinnerungen! Die magischen Grenzen sprengten wir, du und ich, Arruf und Echtamor. Wir boten den Dämonen kühn die Stirn.« Luxon warf Mythor einen siegessicheren Blick zu und meinte: »Die gute alte Mondblume. Sie wirkt schon. Ihr werdet sehen… Echtamor wird auch die geringsten Erinnerungen hervorsprudeln wie ein Quell.« »Hoffentlich behältst du recht«, sagte Mythor und fühlte sich nicht nur wegen der triefend nassen Kleidung von Augenblick zu Augenblick unbehaglicher. Er war sicher, daß auch die Erzählung des Magiers, falls er wirklich zusammenhängend sprach, sich gegen ihn kehren werde. 212
Auch an diesem bedeutenden Tag lüftete nicht einer der Wilden Fänger seine Maske. Etwa fünfzig Gestalten füllten den kleinen Saal in der Schule der Wilden Fänger. Keiner kannte die wirklichen Namen der anderen. Nur die Erfolge zählten, und die Fänger trugen die Namen, die ihnen von ihren unbekannten Kameraden und den strengen Prüfern verliehen wurden. Die Fängernamen kennzeichneten meist treffend die besonderen Eigenschaften des einen oder anderen. Der oberste Prüfer stieß zwei Fänger zur Seite und sprang auf ein kleines Podium. Mit dröhnender Stimme rief er: »Ruhe!« Das Stimmengemurmel hörte nur langsam auf. Alle Köpfe drehten sich, die Männer blickten in die Richtung des Podiums. Keine einzige lederne Kapuze wurde hochgezogen, die Augen hinter den Schlitzen blitzten und funkelten. Der Prüfer sagte langsam und scharf betont: »Drei von euch haben heute alle ihre Prüfungen abgelegt. Jede Prüfung wurde bestanden; ihr wißt alle, daß nur die Fähigkeit zählt, Kämpfer für Logghard zu fangen. Kämpfer in genügend großer Zahl, mutige, starke Männer und unverletzt. Drei von euch haben mit dem Ende der letzten Nacht die Prüfungen mit Auszeichnung bestanden.« In einer Nische des Saales stand ein Becken, das mit weißglühenden Kohlen gefüllt war. Drei Brandeisen mit kurzem Stiel ragten aus der ätzend riechenden Glut hervor. Inmitten der Fänger befand sich eine kleine Gruppe. Es waren drei dämonisch wirkende Männer, die aus der Menge deutlich hervorstachen. Sie strahlten eine besondere Art von Kälte, Schnelligkeit und Entschlossenheit aus. Um sie bildete sich eine Art achtungsvolle Abstandszone. Auch bisher hatten sich diese drei Wilden Fänger von den anderen nächtlichen Jägern abgesondert. Niemand hatte je ihre Gesichter gesehen. 213
Sie sprachen wenig und in kurzen, schroffen Sätzen. Der Prüfer fuhr nach einer winzigen Pause fort: »Wir haben diesen drei Neuen in unseren Reihen ihre Namen zu verleihen. Tritt vor, Schnellfuß!« Jeder der anwesenden Fänger wußte, daß allein diese drei Männer in der letzten Nacht dreiunddreißig Insassen für die nächste Lichtfähre eingefangen hatten. Der hünenhafte Mann in Leder löste sich von der Dreiergruppe, ging langsam und mit federnden Schritten bis zum Podium. Der Prüfer hob den Arm und gebot abermals Aufmerksamkeit. »Zum Zeichen, daß du, Schnellfuß, nun zu uns gehörst, unseren Schutz und die Freundschaft der Unbekannten genießt, werde ich dir das Zeichen einbrennen. Tritt näher.« Regungslos blieb der Ledergekleidete – auch seine Hände steckten in dünnen Lederhandschuhen – vor dem Podium stehen. Der Prüfer drehte sich um, zog das erste Brandeisen aus der Glut und schwenkte es mehrmals durch die Luft. Die Zeichen und Buchstaben, die von einer Klammer zusammengehalten wurden, glühten dunkelrot. Der Prüfer legte eine Hand auf die rechte Schulter des Fängers, näherte das Brandeisen dessen linker Brustseite und drückte es hart gegen das runzlige, dunkle Leder. Zischend wallte beißender, hellgrauer Rauch auf. Der Fänger wich nicht um eine Handbreit zurück. »Das ist dein Name, Schnellfuß!« sagte er und zog das Eisen zurück. Eine Reihe von Zeichen und Buchstaben in dem Dialekt Sarphands war schwarz und aschgrau in das dicke Lederwams eingebrannt. Bis auf zwei Wilde Fänger, nämlich die anderen Neuen, trug jeder aus dieser gespenstischen Gemeinschaft einen eingebrannten Namen. Es war richtig, was der Prüfer gesagt hatte. 214
Diese drei Männer, schnelle, breitschultrige Gestalten, waren nicht nach ihren Eigenschaften geprüft worden. Weder Ehrlichkeit noch Verschwiegenheit waren Grundlagen der Prüfung gewesen. Nur die Menge der Söldner, die für den Kampf gefangen wurden, entschied über Bestehen oder Nichtbestehen der Prüfung. »Der nächste Fänger, der seinen Namen eingebrannt bekommt, ist Steinfaust. Komm näher, mein Freund.« Der zweite Mann ging zum Podium, während Schnellfuß an ihm vorbeistapfte. Die anderen Fänger sahen zu und warteten schweigend. Wieder stieg eine Rauchwolke hoch, als die Zeichen für Steinfaust eingebrannt wurden. Als letzter der drei wurde Eisblick gebrandmarkt; der Prüfer sagte streng: »Darüber hinaus hast du die Berechtigung, dich Ermächtigter zu nennen. Denke daran, dieses Amt nicht gegen die Gemeinschaft auszuspielen.« Dumpf und seltsam verändert kam die Antwort hinter den schmalen Schlitzen der Lederkapuze hervor: »Ich denke daran, Prüfer!« Während er zu seinen beiden Kameraden zurückging, klopfte er die Asche und die Reste des verbrannten Leders vom Wams. Schon nach der ersten Nacht – vorher waren sie nur mitgerannt, um die Stadt kennenzulernen -hatten diese drei Männer bewiesen, daß es nicht schlecht um die Zunft der Wilden Fänger bestellt war. »Noch etwas«, rief der Prüfer in den Saal hinein. »Ihr anderen, nehmt euch ein loderndes Beispiel an diesen neuen Kameraden. Sie zeigen keinerlei Skrupel und handeln schnell. Wenn sie Gefühle haben, dann verbergen sie diese sehr sorgfältig. Sie haben nicht einen einzigen Söldner entkommen lassen. Wenn sie noch einige Zeit mit uns arbeiten, werden sich die bauchigen Galeeren schneller füllen als je zuvor. Und nun, Freunde – gute Jagd! 215
Denkt daran, daß wir nicht wegen des Goldes oder als Verbrecher handeln. Auch wir kämpfen für Logghard, heute, im Jahr zweihundertneunundvierzig Logg, denn so lange rennen die Dunklen Mächte schon gegen die Stadt an. Ich denke, daß tatsächlich in diesem Jahr eine Entscheidung fällt; wie immer sie ausfällt, wir haben uns ihr zu beugen. Erholt euch jetzt, und nach dem Schrei des Warners beginnt eine neue Jagd.« Die Wilden Fänger zerstreuten sich. Nur Eisblick, Steinfaust und Schnellfuß blieben noch in der Halle zurück. Die Beute, die sie suchten, war anders: Sie würde nicht an Bord der Lichtfähren getrieben werden. Aber dies wußte nicht einmal der strenge Prüfer.
»Der Shallad Hadamur«, lallte der Magier und kicherte kurz. Seine Augen waren geschlossen, aber sein uraltes Gesicht schien plötzlich von neuem Leben erfüllt zu sein. »Er war es.« Voller Spannung lauschten die drei Männer. Obwohl Echtamor noch nichts wirklich Interessantes gesagt hatte, spürten sie, daß sie einem weiteren Geheimnis auf der Spur waren. Luxon fragte mit mühsam gezügelter Geduld: »Was tat Shallad Hadamur?« »Er gab den Auftrag. Arruf sollte beseitigt werden.« »Warum?« »Denkt an die Hetzjagd, die damals auf Arruf unternommen wurde.« »Warum?« »Aber Shakar, der Kluge, brachte den armen kleinen Arruf in Sicherheit. Er ließ ihn in seinem Palast erziehen.« »Das weiß ich. Wie geht es weiter?« drängte Luxon. Der Magier sang die Anfangstakte eines munteren Liedchens und fuhr mit zitternder Greisenstimme fort: »Als der Shallad 216
hörte, daß Arruf noch lebte, befahl er dem Sarpha Yahid, sich der Sache anzunehmen. Yahid war der Herrscher der Stadt, und es sollte ihm ein leichtes sein, Arruf zu töten.« Erschöpft hob der Greis, der auf seinem Lager saß und sich gegen die staubige Wand lehnte, die Schultern. Dann kam aus seinem Mund ein Strom leiser, unverständlicher Worte, mitten darin sagte er überraschend klar: »Der Herrscher konnte den Befehl nicht abschlagen. Die Hetzjagd begann auf Arruf. Aber daß der Herrscher seine Hand im Spiel hatte, weiß nur ich.« Wieder entstand eine Pause. Die leuchtenden Kugeln flackerten. Ihr Licht wurde zusehends schwächer. »Weiter! Was hast du selbst mit Arruf zu tun gehabt?« rief Luxon. Auch ihm war dieser Umstand völlig neu. »Ich war es, der statt Arruf einen anderen Jungen in der Wüste aussetzte.« Mythor fühlte, wie ihm der kalte Schweiß ausbrach. »Einen anderen Jungen? Ausgesetzt? Das muß ich…« »Still! Hör zu!« zischte ihm Luxon zu. Aber auch die Stimme des Greises wurde schwächer wie das Leuchten der seltsamen Schwebekugel. »Ich setzte den Jungen im Auftrag Shakars aus. Sicher, ich hätte einen der zahllosen Bettlerjungen fassen und aussetzen können. Aber damals gehorchten mir die Dämonen in jeder Ebene ihrer Erscheinungsformen willig und aufs Wort. Die Dunklen Mächte befahlen es mir: Ich suchte lange, bis ich einen Jungen hatte, der die Zustimmung der Dunklen Mächte fand. Ich nahm ihn, brachte ihn in die Wüste, und dann ließ ich ihn allein. Aber…« Ein gewaltiger Schrecken riß Echtamor vom Lager. Er öffnete die Augen und sah mit irrem Blick die drei Männer an. Dann lispelte er: »Die Dunklen Mächte drohten mir. Darüber durfte ich kein Wort sagen… nicht ein winziges Wörtchen. Es wäre 217
mein Tod, prophezeiten sie. Ich habe Angst. Ich sage nichts mehr.« »Zu spät!« sagte Luxon gnadenlos. Auch seine Erinnerung war klar und deutlich gewesen. »Ich habe Angst…« Schweigend sahen die Eindringlinge, daß die Dunklen Mächte noch immer wirksam waren und ihre Drohungen wahr machten. Der Körper des Greises sank wieder kraftlos zurück auf das Lager. Dann veränderte sich die Haut des Gesichts und der Hände. Aus dem pergamentenen Gewebe wurde eine dünne Ascheschicht, die zwischen den Knochen einsank. Es war ein schauerlicher Anblick, und die Männer fuhren zurück. »Das ist das Ende des Magiers«, sagte Luxon. »Schade. Er hätte uns wohl noch etwas sagen können. Besonders darüber, wie er ausgerechnet dich fand, Mythor, und warum er dich aussetzte.« Der Zerfall ging schnell vor sich. Der Körper des Magiers löste sich in Asche und Staub auf, die von der Kleidung zusammengedrückt wurde. Die große Echse bewegte sich plötzlich, schlug wirbelnd mit ihrem langen Schwanz und fegte einen mehrarmigen, wachsüberkrusteten Leuchter vom Tisch. »Hinaus! Beim Kleinen Nadomir!« schrie Sadagar und riß zwei Wurfmesser aus seinem Gurt heraus. »Du hast recht. Schnell hinaus aus diesem verdammten Turm!« rief Luxon, packte seine Dolche und lief auf die Treppe zu. Die Echse erwachte aus ihrer Starre und versuchte, die Männer zu verfolgen, aber sie war nicht schnell genug. Hintereinander turnten die Eindringlinge die Stufen abwärts. Schon jetzt sahen sie, daß die Kreaturen im untersten Raum wieder aus ihrer Erstarrung erwacht waren und zwischen der Treppe und dem weit offenen Portal eine züngelnde und 218
geifernde Barriere bildeten. »Hindurch, mit aller Kraft!« schrie Luxon und stürzte sich mutig in das wimmelnde Durcheinander. Mythor und Sadagar folgten und schlugen sich eine Gasse. Ihre Arme wirbelten rasend schnell umher, ihre Stiefel traten die Mäuler und Rachen zur Seite, die Schneiden und Spitzen der Waffen rissen blutende Wunden. Luxon packte den Schweif einer Bestie, die halb so lang war wie er selbst, und benutzte den Körper als wirbelnden Knüppel. Schritt um Schritt näherten sie sich der Pforte. Sie rutschten in Blut und Schleim aus, und das Klirren, mit dem die Waffen gegen Klauen oder Zähne schlugen, dröhnte in ihren Ohren. Dann schleuderte Luxon das Tier in den Haufen der anderen Angreifer zurück, warf sich nach rechts und links und lenkte eine Echse von Mythor ab. Nacheinander sprangen sie durch die Toröffnung und hinaus in den sanft rieselnden Regen. »Wieder einen winzigen Schritt der Wahrheit näher«, sagte Luxon, schüttelte sich und schob die Dolche zurück. »Aber nur deine Lebensgeschichte ist deutlicher geworden. Nicht meine«, murmelte Mythor und sprang über die Pfützen, die sich zwischen den Steinen der Gasse gebildet hatten. Die Wolken waren aufgerissen. »Vielleicht erfahren wir etwas auf dem nächsten Fest des Sarpha!« murmelte Luxon in falscher Fröhlichkeit. »Ich verstehe nicht!« brummte der Steinmann, während sie nebeneinander durch dieselben Gassen wieder zurückhasteten, durch die sie gekommen waren. »Ihr erinnert euch, daß ich auf dem Sklavenmarkt gegen den Obersten Eunuchen des Sarpha Kalathee und Samed ersteigert habe?« »Natürlich.« »Dann wird Croesus also dem Sarpha seine Aufwartung 219
machen und ihm Kalathee als Geschenk anbieten.« »Das wird sie dir niemals verzeihen«, schaltete sich Mythor ein. »Du bist wirklich ein Mann ohne Moral.« »Und du bist ein Mann ohne jede Phantasie!« hielt ihm Luxon entgegen. »Es gibt keinen anderen Weg als diesen in den Palast. Nur mit einem solchen Geschenk werden wir eingelassen.« »Aber…« »Schließlich opfere ich nicht alles und jeden, nur um an mein Ziel zu kommen«, sagte Luxon. Sie eilten auf dem kürzesten Weg, aber noch immer mit angespannten Sinnen und nach allen Seiten sichernd, zum Palast des Croesus zurück. »Ich verkleide mich als Croesus. Wenn wir entdeckt werden, sage ich, ich sei nicht Croesus. Und unser Freund Sadagar, der in Größe und Gestalt der liebreizenden Kalathee nicht unähnlich ist, wird ihre Rolle übernehmen müssen, denke ich.« Sadagar blieb stehen, als sei er gegen einen Felsen geprallt. »Ich? Du bist wahnsinnig, Luxon!« rief er erschüttert. »Du und dein Freund Mythor«, beklagte sich der König der Diebe, »ihr habt wirklich nur wenig Vorstellungskraft! Wartet ab, bis ihr den Plan bis zum letzten Wort gehört habt. Die schöne Kalathee wird von vielen Schleiern umgeben sein, die den Sarpha eine Weile lang beschäftigen. Und um aus dem Palast risikolos flüchten zu können, habe ich auch einige sehr erfolgversprechende Methoden ersonnen. Jedenfalls werden wir dort erfahren können, aus welchem Grund Yahid unschuldige Knaben verfolgen, aussetzen oder töten läßt.« »Und wenn ich neunundneunzig Schleier trage«, rief Sadagar aus, »so wird man mich doch schon am Geruch als alten, häßlichen Mann durchschauen und erkennen.« Luxon stieß ein gutgelauntes Gelächter aus und sagte: »Vertraue mir, Sadagar! Ich bin ein Meister der Masken, Verkleidungen und vieler kleiner Überraschungen. Jetzt ist 220
Eile geboten, denn die Tausend-Monde-Salbe verliert mehr und mehr ihre tarnende Wirkung.« Durch die dunkle Nacht eilten sie weiter. Sie erreichten die Pforte des Palasts, ohne angegriffen worden zu sein. Luxon stieß einen kurzen, schrillen Pfiff aus. Das Tor öffnete sich, und sie befanden sich wieder in der wohltuenden Sicherheit des Palasts. Auf Mythor wartete ein heißes Bad. Er gab seine Kleidungsfetzen einem jungen Diener und entspannte sich im duftenden Wasser. Als er sich schläfrig auf dem weichen Lager ausstreckte und auf das beruhigende Geräusch des Regens lauschte, glitt der Vorhang zur Seite, und Sadyn huschte herein.
Über dem sternbedeckten Himmel Sarphands zeichnete sich die haarfeine Sichel des Mondes ab. Die Brandung der Neumondphase schlug von fern zischend und rollend gegen die ausgehöhlten Felsen. Die große Terrasse des Palasts war von zahllosen Lampen und Fackeln erhellt. Aus einigen Nischen, hinter schleierartigen Vorhängen hervor, ertönte die Musik der Harfner und Flötenspieler. Ungehindert ging der Blick hinaus auf die Strudelsee. Die winzigen Kämme der Wellen leuchteten im Widerschein der Sterne. Ein Schiff, dessen Laternen glühten, entfernte sich mit einer breiten, schäumenden Kielspur aus dem Hafen. Ein ablandiger Wind füllte prall die hellen Segel. Duftende Blüten an langen Ranken fielen von der Terrassenbrüstung über die abschüssigen Felsen. Drohend ragten die schweren Schleudergeschütze wie knöcherne Finger in die Luft. Der Sarpha Yahid der Siebzehnte hatte zum Neumondfest geladen. Reiche Kaufleute mit ihren Mätressen standen in kleinen Gruppen beieinander und unterhielten sich leise über ihre 221
letzten Abschlüsse. Zwischen den Gästen glitten aufreizend gekleidete Sklavinnen hin und her und füllten die Becher. Der Hofstaat verteilte sich ebenfalls in Gruppen über die marmornen Fliesen der Terrasse, in deren Mitte, an der Stelle, an der sie zusammenstießen, kleine Goldrosetten funkelten. Männer und Frauen, Sklaven und Sklavinnen, die Tochter und Söhne des Sarpha, bewaffnete, aber prunkvoll gekleidete Wachen – insgesamt wohl zweimal zwei Dutzend Sarphander – befanden sich auf der Terrasse und bewunderten die Freigebigkeit des Gastgebers, die Bögen, den Blumenschmuck, die auserlesenen Speisen und Getränke und die Rundungen der jungen Sklavinnen. Ein Gerücht machte die Runde. Niemand wußte es genau, aber jeder erzählte es jedem: Heute nacht würde der geheimnisumwitterte Croesus seinen Palast verlassen und sich in der Mitte der Gäste zeigen. Jedermann kannte von außen den kleinen, aber prachtstrotzenden Palast des Croesus. Viele hatten seine Sänfte und die Trägersklaven gesehen. Aber in ganz Sarphand gab es niemanden, der sich brüsten konnte, er habe Croesus ins Gesicht blicken können. »Hast du es gehört? Heute abend soll es geschehen!« »Was soll geschehen? Du meinst, daß sich Croesus zeigt?« »Woher weißt du es?« »Alle sagen es!« »Und jeder ist gespannt, wie er nun wirklich aussieht.« So oder ähnlich raunte man sich zu. Daneben wurden neue Geschäfte abgeschlossen. Sklavinnen und Sklaven wechselten die Besitzer, während die Goldmünzen in fremde Hände oder perlenverzierte Geldkatzen klirrten. Ein junger Sklave streute zermahlene Kräuter aus den fernen Handelsstationen auf die Glut der Kohlebecken. Der Wind, der aufs Meer hinauswehte, wirbelte das exotische Aroma über die Terrasse. 222
Der Sarpha war ein wenig ärgerlich. Er war es nicht gewohnt, warten zu müssen. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und ließ den Blick seiner dunklen Augen über die farbenfrohe Festgesellschaft schweifen. Der Blick kam unter schweren Lidern hervor, war kalt, kalkulierend und stechend. Die Bewegung der listigen Augen war in diesen Augenblicken das einzige Zeichen von Leben in dem massigen Körper des Mannes. Die kostbaren Gewänder und die breiten Goldfadenstickereien verbargen nur schlecht den Umstand, daß Yahid ein von Leidenschaften, Trunksucht und zu gutem Leben gezeichneter Mann war. Aufregungen verursachten ihm Übelkeit. Widerspruch machte ihn rasend. Die Furcht, von seinem Thron gestoßen zu werden, ließ ihn nächtelang nicht schlafen. Träge wie ein altes Reptil wandte der Sarpha den Kopf und fragte: »Wo bleibt er?« »Herr«, sagte sein Leibdiener, der unmittelbar neben Yahids Schulter auf Befehle wartete, »wir sahen zwei Wächter, eine verschleierte Frau und einen Mann, der Croesus sein könnte, in den Serpentinengassen unterhalb deines zauberhaften Palasts. Sie müssen ans Tor klopfen, noch ehe dein Becher leer ist.« Yahid blickte in den Becher; er war knapp halb voll. Er trank einen Schluck. Seit ihm der würdevolle Bote des Croesus als Gastgeschenk die »unwiderstehliche Spenderin der Leidenschaft, die zauberhafte Kalathee« versprochen hatte, beherrschten Neugierde, Erwartung und Ungeduld sein Inneres. Croesus interessierte ihn nur am Rande. »Sie kommen also?« »Geduld, Herr. Sie kommen. Richte vielmehr dein Augenmerk auf deine Herren Söhne. Sie sprechen zu lange und viel zu leise mit den mächtigsten Kaufherren der Stadt. Es muß nicht, aber es kann Unheil bedeuten!« 223
Yahid hob den Kopf, blickte in die treuen Augen des schmächtigen Mannes. Sie hatten vieles geteilt, und Tarfay besaß Yahids uneingeschränktes Vertrauen. »Ist es Pon Farr, dieser Sohn einer von Räude gezeichneten Hündin?« grollte Yahid. Tarfay schluckte, überlegte kurz und entgegnete: »Ich kenne die Haut seiner Mutter nur aus gebührender Entfernung, Herr, aber es ist in der Tat Pon Farr.« »Eines Tages werde ich meine Söhne erwürgen lassen, und dann kann ich nachts wohl besser schlafen.« »Wohingegen ich nicht davon überzeugt bin, daß ein Mörder besser schläft als der Sarpha!« lautete die diplomatische Antwort. Ganz schwach kam das Pochen am Palasttor bis an die Ohren der beiden Männer. »Was hältst du von Croesus’ großherzigem Geschenk, Tarfay?« fragte der Sarpha. »Es kann echt gemeint sein. Andererseits will sich Croesus, der seine Schwierigkeiten haben mag, deines Wohlwollens versichern. Auch eine teuer ersteigerte Sklavin, selbst gegen die Goldstücke des Beschnittenen ersteigert, ist und bleibt eine Sklavin. Er wird ihrer überdrüssig sein, denke ich.« »Ist sie wirklich so… begehrenswert?« »Ein Fall für Feinschmecker«, sagte Tarfay. »Als Geschenk mag Kalathee durchaus ihren Wert haben. Man sagt, daß Croesus mehr als nur wählerisch in bezug auf seine Bettgenossinnen ist.« »Wer sagt dies?« »Viele, Herr. Hier kommen sie…tatsächlich.« Tarfay war, bei aller Kumpanei und aller Treue, die er dem Sarpha tatsächlich hielt, ein Mann von übergroßer Vorsicht. Achtzig Mannslängen hoch schwebte die Kante der großen Terrasse über den Felsen und der Brandung der Strudelsee. In der Geschichte dieses Palasts waren schon viele gute Männer 224
über die Kante hinuntergestürzt worden. Sie wurden, nachdem ihre Körper an den Felsen zerschmetterten und ins Wasser glitten, eine willkommene Beute der ewig hungrigen Raubfische. »Du hast recht, Tarfay. Und noch etwas: Achte auf diesen Bastard, der meine Macht will; ehe ich sie ihm freiwillig in seine gierigen Hände lege.« Tarfay entgegnete mit kaltem Grinsen: »Ich werde ihn der Aufmerksamkeit der Wilden Fänger empfehlen, Herr.« Yahid trank den Becher leer und warf ihn einem Sklaven zu, der ihn geschickt auffing. Dann stand er auf. Seine Hand faßte in den eckigen Kinnbart, den die Sklavinnen erst heute mittag wieder gefärbt hatten, um die verräterischen Spuren von Grau und Silber zu entfernen. Als sein goldverzierter Schuh den Boden berührte, bildete sich zwischen ihm und den Neuankömmlingen achtungsvoll eine breite Gasse. Dort, am oberen Ende der Prunktreppe, standen vier Gestalten. Zwei große, breitschultrige Leibwächter mit Masken aus weißem Leder, die nur einen schmalen Streifen der Stirn und das Gesicht unterhalb der Oberlippe frei ließen, traten zur Seite. Hinter ihnen stand ein ebenfalls maskierter Mann in einem Gewand, das sehr lang war – ebenso wie die Umhänge der Wächter. Aber zahllose Ketten, Armbänder, Schärpen und Gürtel zeigten an, daß dieser Gast alten Reichtum sein eigen nannte und leichter Hand mit ihm umzugehen wußte. »Du bist Croesus?« fragte Yahid. »Ich bin derjenige, den sie in Sarphand Croesus nennen«, sagte der Maskierte. »Und ich danke überaus herzlich für die Ehre, endlich eines der berühmten Feste im Palast des Sarpha miterleben zu dürfen.« »Der Palast ist für jeden offen!« sagte Yahid der Siebzehnte mit seiner charakteristisch heiseren Stimme. »Befremdlich 225
wirkt nur, daß sich Croesus eine solche Maskierung gestattet.« »Croesus«, sagte der Angesprochene laut und herausfordernd, »wird sich zu gegebener Stunde dem Sarpha offenbaren. Aber es ist besser, wenn sonst niemand meine Maske lüftet. Mein Gesicht ist von Krankheit, Wunden und unglaublichen Abenteuern schwer gezeichnet.« Der Sarpha nahm sich vor, zu vorgerückter Stunde diesen Mann öffentlich zur Demaskierung aufzufordern. Dieser »Bitte« konnte sich kein Bürger widersetzen, der vorhatte, den Palast unverletzt zu verlassen. »Und hier«, verkündete Croesus, »ist mein Gastgeschenk, mein Mitbringsel für den Herrn der Stadt und der Küste: die unendlich begehrenswerte Kalathee.« Er hob die Hand der verschleierten Frau und trat vor. Seine Wächter traten zwei Schritte zur Seite. Dann führte Croesus sein Geschenk bis dicht vor Yahid. Die Näherkommenden sahen, daß das Mädchen unter seinen Schleiern vor Furcht und Aufregung zitterte. Trotzdem bewegten sich ihre Hüften auf herausfordernde Art und Weise. »Ich danke dir«, sagte der Sarpha feierlich und packte das Handgelenk Kalathees. »Du, Croesus, und deine Wachen… seht euch um, trinkt und eßt und vergnügt euch.« Ringsherum erhob sich ein Murmeln der Enttäuschung. Wieder einmal hatte es der Geheimnisvolle geschafft, sich den fordernden Blicken zu entziehen. In einigen Männern wuchs der Entschluß, sich zusammen mit den eigenen Wachen auf ihn zu stürzen und ihm die kostbare Maske vom Antlitz zu reißen. Aber die Gegenwart des Sarpha machte dieses Vorhaben zunichte; er würde jeden bestrafen lassen, der sich nicht gemäß den ungeschriebenen Regeln der Gastfreundschaft verhielt. So bildete sich fast überall, wo Croesus mit seinen schweigenden Wächtern auftauchte, ein 226
von Neugierde und Verwirrung gleichermaßen diktierter Abstand. Auf einen Wink des Sarpha drückte ein Diener der lieblichen Kalathee einen Becher in die Hand. In dem Wein befanden sich einige Tropfen einer Substanz, die gleichermaßen berauschte und willenlos machte. »Trinke, meine verschleierte Schöne«, flüsterte Yahid schwer atmend. »Dieser Wein, aus goldenen Trauben gekeltert, wird uns die Nacht der Nächte erleben lassen.« Mit vor Aufregung rauher Stimme sagte Kalathee unter den dämpfenden Schleiern hervor: »Ich ziehe es vor, nüchtern deine Zärtlichkeiten auszukosten, Sarpha Yahid.« Der Sarpha grinste, dann warf er einen mißtrauischen Blick nach seinem ältesten Sohn, der neidisch zu ihm und der verschleierten Frau herüberstarrte.
Steinmann Sadagar, von Schweiß übergossen und halb erstickt, war schon jetzt nahe daran, den Dolch zu ziehen und ihn in den faltigen Hals des widerlichen Mannes neben sich zu stoßen. Er hörte sich eine Antwort geben und nahm sich zusammen, nicht einen rauhen Fluch auszustoßen. Statt dessen flüsterte er stockend Worte der Verliebtheit und des Gehorsams. Verdammter Luxon! dachte er. Mache dieser Komödie schnell ein Ende, sonst vergesse ich mich! Nur wegen seiner Freundschaft zu Mythor und wegen einiger spärlicher Reste von Loyalität zu Kalathee, die immerhin lange Viertelmonde die Gefährtin mancher Abenteuer gewesen war, hatte er in diesen abstrusen Plan eingewilligt. Langsam führte der Sarpha ihn an den Rand der Terrasse, unter einen siebenfachen Bogen aus durchbrochener 227
Steinmetzarbeit, von Blumen und Blüten umrankt, die widerlich süß rochen. Er drehte sich um und versuchte, im Gewühl Mythor und Luxon und den Wächter zu sehen. Dort drüben standen sie! Immerhin: Sie befanden sich in der Nähe der Terrassenbrüstung und hielten mächtige Pokale in den Händen. Luxon flüsterte etwas in das Ohr seines falschen Leibwächters. »Hier, an dieser Stelle, stürzt der Sarpha gern die unliebsamen Bürger in die Tiefe. Ein gleiches Schicksal droht uns!« »Wenn sich Sadagar der Demaskierung widersetzt… sicher!« »Ich stelle meine Fragen«, sagte Luxon, »wenn Yahid gebührend mit Kalathee beschäftigt ist.« »Du weißt, daß der Steinmann einen Dolch bei sich hat?« »Ich hoffe, er muß ihn nicht gebrauchen.« »Und du weißt auch, daß innerhalb dieser Festgesellschaft harte Gegensätze herrschen. Wenn ich nur den Blick, den dieser Mann dem Sarpha zuwarf, richtig deute…« »Dies ist Pon Farr, vermutlich der älteste Sohn des Sarpha«, sagte Luxon. »Und auch mich, Croesus, wird man um Demaskierung bitten.« »Zweifellos mit starkem Nachdruck!« Auf ein Zeichen des Sarpha schwoll die Musik aus den Nischen an. Kleine Trommeln pochten und tickten, dumpf klangen die Schläge der großen Trommel, und schrill setzten die langen Flöten ein. Die Harfen und die anderen, langhalsigen Saiteninstrumenten schickten laute Akkorde über die Terrasse. Die zahlreichen Gäste, die erkannten, daß das Fest des Sarpha hiermit seinen Anfang nahm, wichen an die Seiten der Terrasse aus. Croesus und seine beiden Leibwächter schoben sich schnell und unauffällig fünf Schritte in die Richtung auf den Pavillon, unter dem die liebreizende Kalathee und der Sarpha saßen. 228
Luxon nahm einen Becher und bedeutete dem Diener, auch seinen Wachen das Tablett hinzureichen. Auf der Terrasse hatte sich ein kreisförmiger freier Raum gebildet. Diener stellten in einem komplizierten Muster brennende Öllampen auf. Die Flammen waren weitaus höher und kräftiger als die der gewohnten Lampen. Leise sagte Luxon-Croesus: »Noch beachtet uns niemand. Denkt an unseren Plan!« »Ich denke immer daran«, antwortete sein Vertrauter. Er blickte die verkleidete Gestalt neben dem Sarpha an. Kalathee zitterte, und ihre Angst verstärkte sich, als der Sarpha den ersten Schleier von ihrem Kopf wand. »Ich auch«, brummte Mythor. Zuerst hatten die aufregenden Wirbel der Musik für Aufmerksamkeit gesorgt. Jetzt entwickelte sich aus den lauten Klängen und Akkorden eine tänzerische Melodie. Eine Schar junger Frauen, abenteuerlich in Raubtierfelle gekleidet, in Leder und mit breiten, blitzenden Reifen an allen denkbaren Stellen des Körpers verziert, tänzelte durch einen Torbogen herein und verteilte sich zwischen dem Kreis der Gäste und den Flammen. Dann rissen die Frauen die Arme hoch und fingen mit ihrem Tanz an. Selbst für die verwöhnte Gesellschaft von Sarphand war der Tanz gewagt und von einer kunstvollen Schnelligkeit und Gleichmäßigkeit der Bewegungen. Rasch zählte Mythor und sah, daß es fünfzehn Frauen waren. Ihre Gesichter waren ausdruckslos, aber schweißüberströmt, die Augen weit aufgerissen. Mythor mußte unwillkürlich an die Wilden Fänger denken, die auch wenig Menschenähnliches an sich hatten. Im Takt sprangen die Frauen über die Flammen und bewegten sich in wilden Drehungen zwischen ihnen hindurch. Die Schleier wirbelten hin und her und wischten in 229
gefährlicher Nähe über den Flammen hin. Aber ohne in ihren schnellen Figuren innezuhalten, entledigten sich die Mädchen der wenig verhüllenden Schleier. In diesem Moment zog der Sarpha den zweiten Schleier vom Körper der angeblichen Kalathee. Luxon stieß Mythor an. Unbemerkt schoben sie sich entlang der Kante der Terrasse weiter auf den Sarpha zu. Als sich Pon Farr umdrehte und in ihre Richtung blickte, erstarrten sie und setzten sich auf das Geländer. Fünfzehn Körper, auf deren Haut sich das Licht in den Schweißtropfen brach, bewegten sich wie willenlose Puppen. Die Schnelligkeit der Tanzfiguren hatte nicht nachgelassen. Jetzt dröhnte wieder die große Trommel auf und schlug einen veränderten, aber auch sehr schnellen Takt. Ein Diener erschien und warf einen flachen Korb in die Menge der Tänzerinnen. Eine Frau fing ihn auf und kauerte sich im Zentrum der Bewegung zu Boden. Die Frauen lösten die goldenen Klammern, von denen die Raubtierfelle gehalten wurden. Die Streifen und Dreiecke flogen von allen Seiten, mit genau abgezirkelten Bewegungen geschleudert, in den Korb. Johlend und klatschend nahmen die Gäste diesen Teil des Tanzes zur Kenntnis. Wieder änderte sich der Charakter der Musik. Bis auf winzige Stoffetzen waren die Frauen nackt, und aus dem Tanz sprachen jetzt Begierde und Verführungsabsichten, stets nur angedeutet. Während die einzelne Frau, den Korb auf dem Kopf balancierend, zwischen den Tänzerinnen hindurchwirbelte, entledigten sich die Tanzenden ihrer breiten Schmuckbänder. Das Klirren, mit dem die Schmuckstücke in den Korb fielen, deckte sich mit dem Takt der Musik. Nur noch fünf große Schritte trennten die drei Maskierten von der ersten Blumengirlande des Pavillons. Alle Augen, besonders die der Männer, hefteten sich auf die 230
biegsamen Körper der Tänzerinnen. Der Korb wurde weggetragen, dann fing die einzelne Tänzerin an, in einem engen Kreis um die innersten Flammen herumzuspringen, sich zu winden und zu drehen. Auch sie entfernte in einer Reihe lasziver Bewegungen die Schleier, die Fellstücke und die Schmuckbänder von ihren Gliedern. Die Flammen begannen ebenfalls im Takt zu zucken. Sie wurden größer und kleiner. Die Darbietung und die sinnverwirrende Musik schlug jeden auf der Terrasse in ihren Bann, selbst die Wachen des Sarpha. »Der Tanz wird bald enden!« flüsterte Mythor. »Rasch!« Luxon grinste ihn an, schob den Ärmel zurück und zeigte ihm die Spitze eines seiner flammenförmigen Dolche. »Ich gehe dort entlang.« Mit dem Kopf deutete er die Richtung an. Die Männer warfen noch einen sichernden Blick in die Runde, teilten sich dann und kamen von drei Seiten auf den Pavillon zu. Gerade zog Yahid der Siebzehnte, ununterbrochen auf Kalathee einredend, einen weiteren Schleier von den zitternden Gliedmaßen seines Opfers. Mythor hörte nur, wie der Sarpha sagte:»… schließlich habe ich den Tanz einstudiert. Gleich kommt der unerwartete Höhepunkt. Alles Licht erlischt. Dann werden meine brennenden Lippen die deinen…« Hinter ihm sagte Luxon, ebenso leise und nur für Kalathee verständlich – und natürlich für den Sarpha: »Leider endet an dieser Stelle dein Vergnügen, Herr von Sarphand. Spürst du etwas Hartes, Spitzes neben deiner Wirbelsäule? Es ist mein Dolch.« Wie Dämonen tauchten zwei andere Männer neben dem Sarpha auf, schoben Kalathee in den Hintergrund und die weiten Ärmel ihrer Umhänge zurück. Die zuckenden Flammen zeigten die Spitzen haarscharf geschliffener Dolche. 231
Yahid ließ das dünne Gespinst zu Boden fallen und fragte stockend: »Was… was wollt ihr?«
Schon oft in seinem langen Leben hatte sich Sarpha Yahid der Siebzehnte in tödlicher Gefahr befunden. Er sah und fühlte die klare, eindeutige Drohung der drei Dolche in den Händen entschlossener Männer und wußte, daß er vorübergehend das Opfer eines gut organisierten Planes war. Die Flammen der Öllampen wurden immer kleiner, und der Reigen der Tanzsklavinnen strebte dem Höhepunkt zu. Aber noch immer waren weder Tarfay noch die Wachen auf die Lage Yahids aufmerksam geworden. In rasender Schnelligkeit zogen die gefährlichen Momente seines Lebens an seinem inneren Auge vorbei. Für welche Tat wollten sich diese drei Männer rächen? »Vor siebzehn Sommern«, sagte eine harte Stimme dicht neben seinem Ohr, »gabst du den Befehl, einen Jungen ermorden zu lassen. Du hattest den Auftrag vom Shallad erhalten. Ich bin der elternlose Junge von damals, und ich will wissen, was du getan hast und warum ein anderer an meiner Stelle sterben mußte.« Jetzt wußte Yahid, aus welchem Grund sich drei Dolchspitzen in seine Haut bohrten. Ihm brach der kalte Schweiß aus. Trotzdem sagte er: »Diese Terrasse werdet ihr lebend nicht verlassen, Croesus!« »Unsere Sorge«, sagte der Maskierte. »Ich schätze, du willst noch länger leben und die Leidenschaft der unübertrefflichen Kalathee genießen? Rede! Und rede schnell!« Die dunkle Stimme des anderen Mannes forderte den Sarpha auf: »Und sprich die Wahrheit!« Im gleichen Augenblick erloschen die Flammen der heißen Öllampen. Die Tänzerinnen stießen einen vielstimmigen Schrei aus und sprangen auseinander. Gierige Hände griffen 232
nach ihnen. Einige konnten durch den Bogen zurücklaufen, weil die Finger an dem Schweiß ihrer Körper abrutschten, andere wurden unter Gelächter eingefangen. Dann traten die Diener und die Wachen mit frisch entzündeten Fackeln auf und rammten die Schäfte in die Erde der Blumenkästen, steckten sie in die eisernen Tüllen an Balken und Säulen. Zufällig warf Tarfay einen Blick nach seinem Herrn und – erstarrte. Dann, sofort, erscholl seine befehlsgewohnte Stimme: »Wachen! Hierher! Der Sarpha ist in Gefahr!« Die Gäste sprangen zur Seite. Einige Schreie ertönten. Von allen Seiten schoben sich die Palastwächter auf den Pavillon zu und drückten die Gäste zur Seite. Schwerter fuhren aus den Scheiden. Aus dem Pavillon drang eine laute Stimme. »Keinen Schritt weiter! Der Sarpha ist unsere Geisel. Wollt ihr seinen Tod?« Tarfay schrie, zitternd vor Wut: »Ihr werdet den Palast auch mit Yahid nicht lebend verlassen! Weg mit euren Waffen!« Hinter dem Sarpha murmelte dieselbe Stimme, die ihn zuerst angesprochen hatte: »Sprich, Sarpha! Dein Leben dauert nur noch einige Herzschläge!« Gleichzeitig zerrten ihn die drei Männer, denen Kalathee folgte und sich schützend zwischen die gesenkten Speere der Wachen und den Sarpha schob, in die Richtung auf das vordere Ende der Terrasse. Hin und wieder wischte funkelnd ein Dolch durch die Luft, und ein Besucher sprang aufschreiend zur Seite. »Der Sarpha stirbt durch unsere Dolche! Oder durch den Sturz in die Strudelsee!« schrie ein Maskierter. Sofort bildete sich zwischen den Wachen und den Gästen auf der einen Seite und der kleinen Gruppe andererseits ein freier Raum. Einige Öllampen wurden umgestoßen und verschütteten kochend heißes Öl auf die Fliesen. Luxon flüsterte: »Nur eine Atempause. Nur ein kurzer 233
Aufschub – auch für dich, Yahid. Sprich!« »Wenn ich sterbe, erfahrt ihr nichts!« war die Antwort. Wieder bohrte sich der Dolch in die Haut des Mannes. »Du willst aber nicht sterben«, versicherte der falsche Croesus. »Deine Wachen, nebenbei bemerkt, scheinen deinen Tod herauszufordern.« Schritt um Schritt zogen sie sich bis an die äußerste Kante der Terrasse zurück. Hinter ihrem Rücken gab es nur noch das Geländer, einige Ziergefäße, in denen Blumen rankten, und die bröckeligen Felsen. Jetzt schoben sich die Wachen mit Bogen und Speeren in den Händen durch das Spalier der entsetzten Gäste. Zwischen zwei Kaufleuten, deren Knechte eine Tänzerin festhielten, drängte sich Pon Farr rücksichtslos nach vorn. »Worauf wartet ihr?« schrie er die Wachen an. »Tatsächlich«, sagte Croesus voller Spott. »Unter der Führung des eigenen Sohnes bringen die Palastwachen den Sarpha in Lebensgefahr. Deine Beliebtheit schwindet, Yahid Nummer siebzehn!« »Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll, Croesus!« murmelte der Sarpha ohne große Überzeugungskraft. »Einfach die Wahrheit. Die Zeit drängt. Gleich fliegen die ersten Pfeile«, gab Croesus zurück. Sein Leibwächter warf ein: »Und du wirst uns Schutz geben mit deinem breiten Körper!« Croesus schrie den Wachen entgegen: »Ihr müßt wissen, wem ihr zu gehorchen habt. Dem Herrscher der Stadt oder seinem eifersüchtigen Sohn?« Und leiser, zum Sarpha gewandt: »Wir können dich retten, Yahid. Aber nur zu unserem Preis.« »Es war der Shallad, der dich beseitigen lassen wollte. Durch deine Existenz wurdest du ihm gefährlich, durch deine bloße Existenz.« »Ist das die Wahrheit?« fragte Mythor knurrend. 234
»Was sonst?« Einige Wachen legten Pfeile auf die Sehnen ihrer Bogen. Andere hoben die kurzen Wurfspeere. Pon Farr riß sein Zierschwert heraus und hob es wie ein Zeichen zum Angriff. Wieder brüllte Croesus: »Ihr alle, Gäste des Sarpha, könnt mit ansehen, wie der Sohn seinen Vater töten läßt, um an die Macht zu kommen. Bedenkt es gut! So wird er auch mit euch verfahren. Gleich wird er befehlen, rücksichtslos gegen uns vorzugehen. Ihr werdet Zeugen eines Herrschermords. Unsere Rechnung mit Yahid ist privater Natur; es geht nur um einige Wahrheiten aus längst vergangenen Zeiten. Ihr aber bekommt einen Mörder als neuen Herrn!« Wütend und mit schriller Stimme rief der Sohn des Sarpha den Wachen zu, während er nach vorn stürmte: »Auf sie! Schont den Sarpha! Aber tötet die Eindringlinge!« Zwei Speere wurden geschleudert. Sie fauchten dicht über den Köpfen der Gruppe hinweg. Die Männer hatten sich blitzschnell geduckt. Jetzt griffen sie wie auf ein unhörbares Kommando nach dem Gürtel Yahids und sprangen geschickt über die Brüstung auf den knirschenden Fels. Ein Entsetzensschrei stieg auf. Die Gäste und die Wachen waren sicher, einer Verzweiflungstat beizuwohnen. Sie sahen nicht, wie die Maskierten ihre Dolche in die Scheiden stießen und sich gegenseitig an den Handgelenken packten. »Wieder ein Beweis!« rief Luxon unterdrückt. »Ein Beweis, daß ich tatsächlich der Sohn des Kometen bin!« Die Palastwachen stürmten auf die Gruppe zu. Als Pon Farr seinen Vater fast erreicht hatte, sprangen die vier gleichzeitig vom Felsen in den schwarzen Abgrund. Sie rissen den Sarpha mit sich, dessen Entsetzensschrei gurgelnd den Wachen entgegenschlug. Binnen eines langen Augenblicks waren die Männer und die Frau den Blicken der Entsetzten entzogen. 235
Aber in dem winzigen Moment, ehe die Selbstmörder aus den Augen der Wachen fielen, sahen die Männer, wie sich die Gewänder der vier Fremden aufbauschten wie riesige Weidenkörbe, wie Halbkugeln fast. Dann aber schleuderten die Wachen ihre Dolche, Speere und Streitäxte hinter den flüchtenden Gästen her. Heulend schnitten Pfeile ungezielt durch das Dunkel. Die Todesspringer fielen schneller, als das Echo des letzten Schreies brauchte, um von den Felsen über der ausgewaschenen Kante zwischen Land und Meer zurückzuschallen.
Luxon, Sadagar, Mythor und der Wächter des falschen Croesus hielten sich mit einer Hand am Gürtel des Sarpha fest. Die andere Hand faßte den Gürtel oder das Handgelenk des Nachbarn. Die Schwersteine hatten die Säume der riesigen Umhänge auseinandergerissen und aus den Kleidungsstücken große, glockenähnliche Gebilde entstehen lassen, die wie Blütenblätter durch die Luft schwebten. Wind und Luft fingen sich unter den Gewändern und milderten die Geschwindigkeit des Falles. Der Unterschied war nicht sehr groß, aber er genügte, um vier Mann und einen fünften als Ballast sicher entlang der Felswand auf das Wasser zufallen zu lassen. Luxon hatte viel für seinen kleinen Vorrat an diesen Kunstwerken bezahlt; er hatte sie einem Mann abgekauft, der sich als Erfinder bezeichnet und den ersten Fallversuch überlebt hatte. Die Luft kühlte ihre erhitzten Gesichter, und Sadagar stieß hervor: »Das war knapp, Freunde. Beinahe hätte mich dieser parfümierte Schuft geküßt.« Trotz des Schreckens, der von der Einsicht, noch am Leben 236
zu sein, nur langsam abgelöst wurde, begriff der Sarpha: Diese Kalathee war keine Frau. In der Verkleidung steckte ein Mann, der aber nicht einmal jetzt seine Maske lüftete. »Vorsicht! Die Schwersteine!« sagte der Wächter. Die Tropfen der hochgeschleuderten Brandung schlugen in die Gewänder. Dann tauchten die Männer ein und befanden sich im kühlen Wasser und nahe der kantigen Felsen am äußeren Hafendamm. Noch einmal gerieten sie in Gefahr, denn als sie dem Ufer entgegenschwammen, kam von oben ein Hagel aus großen und kleinen Felsbrocken. Eine Lanzenspitze schrammte mißtönend über den Stein. Luxon ließ den Sarpha los, schwang sich auf einen Steinbrocken und ergriff einen algenüberwachsenen Ring. Er streckte den Arm aus und sagte: »Wir haben dein Leben gerettet, Sarpha. Wir können es dir hier auch nehmen, ohne daß jemand uns verdächtigen wird. Wie war das mit des Shallads Befehl?« Prustend und triefend ließ sich Sarpha heraufziehen und tastete sich auf den nassen Steinpfad, der auf der Dammkrone entlanglief. Schwach kamen Lichter von einigen Schiffen, die hier vor Anker lagen. »Ich habe dir die Wahrheit gesagt, Croesus. Mir befahl der Shallad, diesen Jungen umzubringen, weil er eine Gefahr für ihn darstelle. Mehr weiß ich nicht – außer, daß ich zu gehorchen hatte.« »Deine Wahrheitsliebe rettete dich«, versicherte Luxon und zog die Maske von seinem Gesicht. Das Leder war vom Seewasser schwarz geworden. Die anderen Männer kamen aus dem Wasser, schnitten sich gegenseitig die Schwersteine aus den Säumen und stießen den Sarpha vorwärts. Der falsche Croesus zeigte plötzlich sein Gesicht. »Du bist der narbenbedeckte… Croesus?« entfuhr es Yahid. Selbst Mythor zuckte zusammen, als er unter der Maske 237
weder Luxons gewohntes Gesicht sah noch die Maske, die durch die Tausend-Monde-Salbe hervorgerufen wurde. Statt dessen sah er im zunehmenden Licht eine gräßliche Fratze. Ein Auge war durch ein herunterhängendes Lid fast geschlossen. Kreuz und quer zogen sich durch das Gesicht tiefe, wulstige Narben und kleine Löcher, die aussahen, als wären es Brandwunden gewesen. Am Hals war ein quer verlaufendes, feuerrotes Mal zu sehen. »Ich bin alles andere als Croesus!« sagte Luxon und schleuderte seine Maske ins Dunkel. »Ich bin ebensowenig Croesus, wie dieser Mann Kalathee ist. Ich mißbrauchte den Namen. Schon jetzt sind die Truppen deines Sohnes unterwegs, um Croesus zu fassen. Er wird, denke ich, in seinem Palast und sehr überrascht sein.« Sie waren so schnell und so leise wie möglich über diesen kurzen Abschnitt des Dammes gelaufen. Jetzt kamen sie in den Bereich der ersten Schenken und der Laternen, die sich über den Heckaufbauten der Schiffe erhoben. Mythor trat von hinten in die Kniekehlen des Sarpha. Sadagar warf ihm ein nasses Stück Tuch vor das Gesicht und verknotete den Knebel im Nacken des Mannes. Dann fesselten sie ihn schnell, hoben ihn auf ihre Schultern und ließen ihn auf einen Tisch fallen, der vor einer winzigen Hafenschenke stand. Ein halber Ziegel, den der Wächter auf dem Pflaster fand, wirbelte durch die Luft und zerbrach im Inneren der Schenke Gläser und Becher, dann erschollen Flüche in mehreren Dialekten. Die vier Männer verschwanden in einem schmalen Gang. Ihre Schritte verloren sich auf einer aufwärts führenden Treppe, die durch völlige Dunkelheit führte. Dann schlug leise eine Tür zu. Und schließlich bewegten sich die Rollen und die Seile eines Lastenaufzugs, der von unsichtbaren Händen bedient wurde. 238
Als der knarrende Korb rund fünfzig Mannslängen hoch durch die Dunkelheit des Schachtes zurückgelegt hatte, ertönte von unten ein kurzes Gelächter, das von guter Laune und leichter Trunkenheit zeugte. Im Licht einer winzigen Lampe zog Luxon den Korb an die Wand heran. Die Männer kletterten hinaus und verschwanden hintereinander, Luxon und dem flackernden Licht folgend, in einem der tausend Stollen und Gänge, die den Stadtfelsen von Sarphand durchzogen wie die unsichtbaren Gänge von Termiten. »Eine Nacht voller Abenteuer, aber geringer Erkenntnisse!« murrte Mythor. »Was uns der Sarpha sagte, wußten wir schon.« »Aber er bestätigte es ausdrücklich!« gab Luxon zurück. »Wann komme ich endlich aus diesen nassen, klebrigen, stinkenden und viel zu langen Weiberkleidern heraus?« wollte Sadagar aufgebracht wissen. »Wenn wir uns im Palast des Croesus versteckt haben«, antwortete Luxon. Sie konnten geradezu sehen, wie er in der Dunkelheit grinste. Auf welche Weise er sich dieses abenteuerliche Aussehen verschafft hatte, darüber konnte selbst Mythor nur Vermutungen anstellen.
Sadagar, Mythor und Luxon schmetterten hinter sich die verrostete Eisentür zu. Knirschend bewegte sich eine Wand aus massivem Stein in uralten Lagern. Sie verschloß den Geheimgang, der nach einem Irrweg durch den Felsen erreicht worden war, gegen die Außenwelt von Sarphand. Sadagar, der sich die durchnäßten Fetzen seiner Verkleidung vom Leib riß, keuchte verwirrt: »Wo sind wir? Im Palast?« »In dem wunderschönen Palast des Croesus«, lachte Luxon. »Und wenn wir gut zuhören können, bemerken wir auch bald, 239
wie die Schergen unseres Freundes Yahid Nummer siebzehn einzudringen versuchen.« Die Öllampe, die sie am oberen Ende des Lastenschachts vorgefunden hatten – einige Goldstücke hatte Luxon diese Bestechung gekostet –, brannte noch immer. Langsam zogen sich auch Luxon Und Mythor um. Sie befanden sich irgendwo tief unter den Gewölben des kleinen Palasts. »Versuchen!?« meinte Mythor. »Nichts anderes.« Wieder stieß Luxon sein gefürchtetes Lachen aus. »Abwarten, Freunde. Die Mäntel… haben sie nicht wunderbar ihren Zweck erfüllt?« »Hin und wieder«, antwortete Mythor grämlich, »kann man dir tatsächlich unbesehen glauben, Luxon!« »In der Tat.« Sie tasteten sich, noch immer durchnäßt, über eine schmale, glitschige Folge von Stufen aufwärts. Unterwegs hatten sie sich über die nächsten Schritte unterhalten; sowohl über ihre eigenen als auch über die zu erwartenden des Sarpha und seines machtgierigen Sohnes Pon Farr. Obwohl auch dieses Abenteuer in der Stadt Sarphand glimpflich und fast planmäßig abgelaufen war, obwohl er sich bei dieser Art von Unternehmung tatsächlich in der Nähe des Konkurrenten Luxon sicher fühlte – trotz allem begann er, unruhig zu werden. Wenn er an die unmittelbare Zukunft dachte, bildete sich in seinem Magen ein Klumpen. Unruhe und dieses Gefühl kommenden Unheils verstärkten sich und vermischten sich und nisteten sich in ihm ein. »Luxon?« fragte er in die halbe Dunkelheit hinein. »Ja?« »Du überläßt bei deinen Unternehmungen kaum etwas dem Zufall. Habe ich recht?« »Natürlich… soweit es möglich ist. Ich hänge an meinem Leben. Ich will mich nicht freiwillig in Gefahren stürzen, die 240
mich umbringen. Was hätte ich davon, außer Verletzungen oder Tod?« »Abermals wahr gesprochen!« knurrte Steinmann Sadagar, der sich jetzt vor einer Steinplatte auf die Stufen hockte und wartete. Die Platte verschloß das obere Ende der Treppe, die im Zickzack steil aufwärts geführt hatte. Luxons Narbengesicht glühte im schwachen Licht. »Auch für den Fall, daß die Wachen des Sarpha den Palast von Croesus stürmen… auch dafür hast du vorgesorgt?« fragte Mythor. Er ahnte abermals, daß ihm Luxon zumindest in Sarphand turmhoch überlegen war, daß er nicht die geringste Chance gegen ihn und seine Einfälle hatte. »Ich habe in der Tat vorgesorgt. Ich besitze die Fähigkeit, mich in die Gedanken eines anderen hineinzudenken. In diesem speziellen Fall denke ich, wie der Sarpha oder sein Sohn denken würde. Übrigens: Auch Pon Farr hat gegen seinen Vater, solange dieser lebt, nicht die geringste Chance! Aber jetzt horcht genau hin!« Sie setzten sich auf die oberste Stufe und versuchten zu erkennen, was über ihnen vor sich ging. Der Leibgardist zog den Dolch aus der Scheide, drehte ihn herum und hielt ihn verkehrt herum in der Hand. Mit dem Knauf hämmerte er siebenmal gegen die Metallplatten der schweren Pforte zum Palast des Croesus. Sieben hallende Schläge dröhnten durch den Palast. Hinter ihm standen, voll bewaffnet und bereit, ihren Auftrag durchzuführen, neun Männer aus dem Palast des Sarpha. »Öffnet! Im Namen Yahids des Siebzehnten und seines Sohnes Pon Farr!« dröhnte die Stimme des Hauptmanns. Hinter der Pforte knurrte eine Stimme, der anzuhören war, daß sie einem aus dem Schlaf geweckten Mann gehörte: »Wer begehrt Einlaß – und warum?« Der Hauptmann schrie erbost: »Wir kommen aus dem Palast 241
des Sarpha. Der Mann, der sich Croesus nennt, hat einen Anschlag auf das Leben des Sarpha unternommen. Wir sind hier, um ihn zu verhören!« Hinter der Tür erscholl ein heiseres Lachen. Dann rief der Wächter des Tores: »Kommt herein! Croesus hat diesen Abend den Palast nicht verlassen. Er vergnügt sich mit seiner Lieblingssklavin Kalathee. Kommt herein und seht selbst nach!« Die Pforte schwang auf. Die zehn Männer drängten herein und hielten nur kurz an, als eine Handbewegung des Wächters sie aufhielt. »Nur einer von euch!« rief die Wache. »Croesus wird ungehalten, wenn zehn Männer durch das Zimmer mit seinem Liebeslager stürmen.« »Auf Befehl des Sarpha…«, fing der Anführer an und stürmte durch den Korridor. Der Posten lächelte hinterhältig und zog, nachdem der Hauptmann zwanzig Schritte weit von ihm entfernt war, an einem unterarmlangen Hebel. Knirschend senkten sich vor den Bewaffneten und dicht hinter dem Eingang zwei schwere, eiserne Gitter rasselnd und klirrend aus der Decke und verschwanden zu einem Fünftel im Boden. Ein ungeheurer Lärm erhob sich. Die neun Männer waren in einem Abschnitt des Korridors, der keine zwei Mannslängen maß, gefangen. Der Posten sprang zurück und hob beide Arme. »Ihr werdet befreit werden, wenn der Hauptmann zurück ist. Keine Sorge. Aber diese Sicherheit muß sein!« »Der Sarpha wird euch alle ins Meer stürzen lassen!« schrien die Männer. Der Hauptmann hielt an und sah sich verwirrt um. Der Palastwächter kam mit beruhigend erhobenen Armen auf ihn zu und sagte: »Keinen Streit, Mann! Sprich mit Croesus! Er selbst hat diesen Schutz angeordnet. Sonst könnte 242
jeder Eindringling durch unseren Palast rennen.« Schweigend starrte ihn der Hauptmann an. Dann zuckte er die Schultern und stieß sein Schwert wütend in die Scheide zurück. Er murmelte: »Du bist sicher, daß Croesus seinen Palast nicht verlassen hat?« Verständnislos blickte der Wächter dem anderen ins gerötete Gesicht. Die Männer waren offensichtlich hierhergerannt. Am Ende des breiten Korridors huschte eine leichtbekleidete Sklavin vorbei und erschrak, als sie die Männer erblickte. »Ganz sicher. Ich habe ihn bedient, und auch in der Küche arbeiteten wir für ihn. Aber frage ihn selbst. Zwar wird er über die Störung nicht gerade begeistert sein, aber… wenn der Sarpha ruft!« »Gehen wir!« Die Soldaten hinter den massigen Eisengittern schlugen mit den Schwertern wütend an die Stäbe. Die Wache faßte den Hauptmann am Arm und zog ihn mit sich. Voller Verwunderung erkannte der Offizier des Sarpha, daß dieser kleine Palast fast ebenso kostbar eingerichtet war wie das Große Haus des Yahid. Sie kamen über Treppen, durch Bögen, über kleine Terrassen und blieben schließlich vor einer hölzernen Tür stehen, die mit wertvollen Schnitzereien und eingelegtem Metall verziert war. Der Wächter klopfte, und eine unwillige Stimme rief: »Wer stört mich?« »Herr, es ist Darham, dein Torwächter. Soldaten des Sarpha sind hier. Sie glauben nicht, daß du den Palast heute nicht verlassen hast.« »Wie? Ich? Ich hatte Besseres vor!« Der Hauptmann rief mit rauher Stimme: »Es war ein großes Fest beim Sarpha. Zeige dich, Croesus, denn ein anderer hat deinen Namen mißbraucht, um ein Verbrechen zu begehen!« Nach einigen Augenblicken antwortete Croesus aus dem Inneren des Raumes: »Bringe den Krieger herein, Darham!« 243
Der Palastwächter öffnete die Tür. Mit einiger Verwirrung und seiner Sache alles andere als sicher, blickte der Hauptmann in einen mittelgroßen Raum, den ein prunkvolles Lager zur Hälfte ausfüllte. Eine schlanke Schönheit mit auffallend hellem Haar saß links zwischen den schwellenden Polstern und hatte sich unvollständig mit einem dünnen Tuch verhüllt. Ein hochgewachsener Mann mit zerzaustem Haar und unwilligem Gesichtsausdruck kam, seinen prächtigen Mantel zuknotend, auf die Tür zu und heftete seine Augen zornig auf die Männer. »Ich bin Croesus«, sagte er. »Ich habe dir befohlen, Mann der Pforte, mich heute nicht zu stören! Wozu sonst hätte ich gutes Gold für Kalathee ausgegeben, die unvergleichliche Perle der Leidenschaft?« Die junge Frau auf dem Lager blickte ebenso verwirrt von einem Mann zum anderen. »Herr, wenn der Sarpha zehn Bewaffnete schickt, dachte ich…« »Schon gut. Berichte, Hauptmann. Was ist auf dem Fest geschehen?« Der Hauptmann berichtete, und er wußte nicht, ob sich bei seiner Erzählung Croesus ärgerte, ob er über die Verwechslung wütend war oder ob er sich fürchtete. Der Hauptmann, der den Befehl hatte, jeden Bewohner des Palasts in Ketten zu legen und vor den Sarpha zu bringen, wenn sich Croesus nicht im Palast befände, war jetzt überzeugt. Dieser Mann hier war Croesus, und es war undenkbar, daß er den weitaus längeren Weg vom Hafen bis hierher schneller zurückgelegt hatte als die Soldaten. Sie waren schon losgerannt, als die Männer mit dem Sarpha noch im Hafenwasser geschwommen waren. Trotzdem hob er den Arm und brachte hervor: »Eine Frage, eine Bitte, Herr Croesus!« »Meinetwegen.« 244
»Darf ich dein Haar berühren?« »Warum?« Aber Croesus wich nicht zurück. Es war ein Zeichen, daß er ein gutes Gewissen haben mußte. Der Hauptmann fuhr zweimal durch das Haar des Croesus und stellte fest, daß es, von etwas Schweißfeuchtigkeit an den Schläfen und im Nacken abgesehen, völlig trocken war. Dieser Mann war nicht im Seewasser geschwommen. »Ich danke, Herr Croesus«, sagte der Hauptmann schwer atmend. »Ich werde Pon Farr und dem Sarpha berichten, was ich gesehen habe. Entschuldige, Croesus!« »Schon gut. Grüße den Sarpha und meinetwegen auch seinen Sohn. Es tut mir leid, nicht zum Fest gekommen zu sein. Dann hätte es dort wohl Croesus zweimal gegeben.« Darham schloß ehrerbietig die Tür und brachte den Hauptmann zurück zu den Gittern. Als er seine Soldaten sah, rief der Bewaffnete: »Bleibt ruhig. Es war eine verbrecherische Verwechslung. Croesus ist hier, und er hat sein Lustlager nicht verlassen. Es muß ein anderer gewesen sein.« Knirschend und kettenklirrend hoben sich die beiden Gitter. Die Soldaten umringten ihren Anführer, während sich der Wächter an ihnen vorbeidrängte und das Tor öffnete. Abwartend blieb er neben den schweren Torangeln stehen und hörte zu, wie der Hauptmann seine Leute beruhigte. Die Männer nickten sich zu, als die Bewaffneten abzogen. Vorsichtig schloß Darham das Tor, und erst als er den letzten Riegel vorgeschoben hatte, überzog ein breites Grinsen sein Gesicht. »Offensichtlich«, sagte er zu sich, als er das verborgene Signal auslöste, »kann jeder Diener, wenn er nur ins Bett schlüpft, als Croesus gelten.« Von der winzigen Terrasse über dem Haupttor aus. blickte Darham den Mannen aus Yahids Palast nach. Wieder einmal 245
hatte Luxon eines seiner gefährlichen Spiele gewonnen, ohne einen Kratzer davonzutragen.
Luxon tastete entlang den Fugen der trennenden Steinmauer, fand den Hebel und schob einen Quader tief in die Mauer hinein. Leise drehte sich die Mauer, als sich die Männer dagegen stemmten. Licht schlug ihnen entgegen. Mythor hatte zum erstenmal Gelegenheit, das verwüstete Narbengesicht Luxons genau zu sehen. Als Luxon den Blick bemerkte, grinste er – es war eine schauerliche Grimasse – und blieb stehen. Er griff an seinen Hals und sagte: »Die Luft scheint rein zu sein. Sonst hätte sich die Mauer nicht geöffnet. Und ich werde mich hüten, dem Sarpha mein eigenes Gesicht zu zeigen.« Er hielt eine hauchdünne Lederschicht in den Fingern. Mit einem einzigen Ruck zerrte Luxon die Maske über das Kinn, über die Wangen und löste dünne Sehnenschnüre hinter den Ohren. »Solche Überraschungen habe ich stets bereit.« »Du denkst wirklich an alles!« mußte Sadagar zugeben. »Und jetzt denke zumindest ich an einen gigantischen Humpen Bier.« »Sicher bist du damit nicht allein«, rief Luxon und eilte die Treppe hinauf. Er wollte die Szene richtig genießen, die sich ihm bot, wenn er in sein eigenes Schlafzimmer kam und dort seinen Vertreter an der Seite der kichernden Kalathee entdeckte. »Ganz sicher nicht!« pflichtete Mythor bei. Der Palast, der bisher wieder wie ausgestorben gewesen war, füllte sich schlagartig mit Leben. Diener und Dienerinnen rannten aufgeregt hin und her und kümmerten sich um die drei Männer. Die Kleidung wurde weggebracht, und alle verräterischen Spuren wurden beseitigt. Mythor und Sadagar, 246
in trockenes Zeug gekleidet, saßen in dem Raum, in dem Mythor seine Nächte verbrachte. »Nun?« brummte Sadagar. »Zufrieden?« »Alles andere als das«, gab Mythor zurück. »Zu viele geheimnisvolle Dinge gehen vor. Es ist nicht meine Stadt, dieses Sarphand mit seinen Gassen, den Wilden Fängern und all den wirren Ideen meines Freundes Luxon-Arruf.« »Ich höre Bitterkeit in deiner Stimme?« murmelte Sadagar und nahm einen tiefen Schluck. »Es ist Bitterkeit darin«, antwortete Mythor. »Viel Bitterkeit. Auch die Ruhe im Palast ändert nichts daran. Wir bewegen uns im Kreis. Wenigstens ich möchte reinen Tisch machen. Schon längst hätten wir aufbrechen sollen.« »Du mißtraust also Luxon?« »Heute mehr als gestern«, bestätigte Mythor. »Er kann nicht verlieren. Er ist ein Sieger um jeden Preis.« Mythor meinte, was er sagte. Er war Sadagar gegenüber ehrlich. Er war fast zu jedem Menschen viel zu ehrlich. Ganz anders als Luxon, dessen Welt aus List, Betrug und Finten bestand. Als sich Mythor diesen Gedanken hingab, erinnerte er sich plötzlich an die Waffen, die er auf so mühevolle Weise in seinen Besitz gebracht hatte. Er sprang auf und verschüttete etwas Bier. »Alton! Der Helm! Der Sonnenschild!« stieß er hervor. Im gleichen Augenblick schob Luxon den Vorhang zur Seite und trat, einen Becher Wein in der Hand, in den Raum. »Ein Abend und eine Nacht, die ganz nach meinem Geschmack verlaufen sind«, sagte er in lächelnder Selbstzufriedenheit. »Ein Erfolg.« Mythor sagte hart: »Für dich, Luxon. Aber nicht für mich. Wann suchen wir endlich den Tempel der Großen auf? Ich will Gewißheit. Oder hast du soviel Zeit zu verschenken, mehr als ich?« 247
Luxon spürte genau, welche Stimmung die beiden Männer beherrschte. »Ich habe ebensowenig Zeit wie du. Aber die Großen richten sich nicht nach meinen Wünschen.« »Wann dürfen wir also den Tempel betreten?« wollte Mythor wissen. Wieder fühlte er, nicht so stark ausgeprägt, dasselbe Gefühl wie damals auf den Dünen, als Luxon sich auf den Rücken Pandors geschwungen hatte und davongeritten war. »Ich habe viele Männer und Spione, die für mich arbeiten. Sie werden gut bezahlt. Aber auch sie müssen warten, bis die Großen sich bereit erklären, uns beide zu empfangen. Wir haben zu warten. Nichts anderes. So ist es, Mythor.« »Und deine Schatzkammer?« murmelte Sadagar. Immer deutlicher wurde, daß er Luxon gegenüber kaum noch einen Rest Vertrauen oder gar Freundschaft aufbrachte. Trotz der Tatsache, daß sie seine Gäste waren und es ihnen an nichts fehlte. »Wie meinst du das?« fragte Luxon, der genau verstand, wie es Sadagar meinte. »Ich meine«, sagte Sadagar, ohne seine beginnende Feindschaft deutlich zeigen zu wollen, »daß Mythors Waffen und natürlich auch das Orakelleder in deiner Schatzkammer versteckt wurden. Sind sie noch dort?« Luxon trank den Becher leer, stand wortlos auf und winkte Mythor. »Dein Freund mißtraut mir. Oder er mißtraut uns, denn wir beide haben die Schlüssel. Kommt mit.« Schweigend folgten Sadagar und Mythor. Zu Mythors großer Überraschung wählte Luxon einen ganz anderen, bisher unbekannten Weg in den unterirdischen Fluchttunnel oder zum Vorraum, hinter dem die verschiedenen Geheimpforten sich öffneten. Wieder ging es durch kleine, nie gesehene Räume, durch kurze Korridore und über ein verwirrendes System von Stufen und Treppen. Schließlich standen sie in der kleinen Kammer, die voller 248
rätselhafter Statuen war. Mit einigen Griffen legte Luxon die beiden Löcher frei und streckte die Hand aus. »Den Schlüssel!« sagte er knapp. Mythor nestelte, während er zusah, wie Luxon das lederne Band mit seinem Schlüssel vom Hals nahm, seinen eigenen Schatzkammerschlüssel los und steckte ihn in die Vertiefung. Sie nickten einander zu, und Sadagar hob die Fackel. Dann drehten sie gleichzeitig die Schlüssel herum. Fast lautlos öffnete sich die Schatzkammer. Sadagar leuchtete, die Männer bückten sich und krochen in den kleinen, von Reichtümern überquellenden Raum. Luxon deutete auf den Sonnenschild, der die Flammen der Fackel funkensprühend zurückwarf und den Raum erhellte. »Bist du überzeugt?« Jeder Gegenstand von Mythors Ausrüstung war vorhanden und befand sich an derselben Stelle, an der er hingelegt oder abgestellt worden war. »Ja«, sagte Mythor und senkte den Kopf. »Ich bin überzeugt. Vielleicht kannst du mich verstehen, Luxon.« Der harte Klumpen in seinem Magen löste sich auf. Erleichtert wandte sich Mythor um und verließ die Schatzkammer. »Ich verstehe dein Mißtrauen nicht«, meinte Luxon, als sie wieder im Vorraum standen und die Schlüssel in die entgegengesetzte Richtung drehten. »Versetze dich in meine Lage!« empfahl ihm Mythor trocken. »Was würdest du denken, wenn du einen Konkurrenten hättest, der ähnlich klug und gerissen ist, wie du es bist?« Luxon zog die Schultern hoch, und ein nachdenklicher Ausdruck trat in sein Gesicht. »Vermutlich würde ich so denken müssen wie du. Trotzdem: Deine Ausrüstung wurde nicht angetastet.« 249
Er gab Mythor den Schlüssel zurück. Luxon nahm aus Sadagars Hand die Fackel und führte sie wieder zurück in den Mittelteil des Palasts. Diesmal merkte sich Mythor - oder versuchte es jedenfalls - jeden Schritt des Weges in die Vorkammer. Einige Augenblicke später war er allein in seiner Schlafkammer. Er gähnte und fühlte nach der Anspannung zum erstenmal an diesem Tag wirkliche Müdigkeit. Langsam zog er sich aus. Als er sich auf die Kante des Lagers setzte, schob sich zufällig das Bild seiner nackten Brust vor die polierte Platte des Metallspiegels. Mythor erstarrte, dann sprang er auf und ging langsam auf den Spiegel zu. Fronjas Bild lächelte ihm leuchtend entgegen. Die unsichtbare Tätowierung wurde wieder im Spiegel sichtbar. Er versank in diesen Anblick. Und seine Gedanken entfernten sich wie auf den Flügeln des Windes von diesem Palast und glitten in den rätselhaften Süden, wo die Tochter des Kometen wartete. »Auf mich?« flüsterte er. Fronjas Gesicht lächelte ihn herausfordernd an. Aber sie gab keine Antwort. »Oder wartest du auf Luxon?« Schweigend und starr, die Arme auf den niedrigen Tisch gestützt, sah Mythor das Bild an, bis seine Augen zu tränen anfingen. Dann blies er die letzte Öllampe aus und glitt unter die Decken des Lagers. Als er beim ersten Morgengrauen durch ein Geräusch aufwachte, sah er, wie Sadyn an seine Seite glitt und ihn zögernd anlächelte. Er streckte den Arm aus, legte ihn um die Schultern der jungen Frau und zog sie an sich. Aber auch Sadyns erregende Gegenwart konnte seine unsicheren und aufgeregten Gedanken nicht beruhigen.
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Wieder herrschte die Nacht über Sarphand. Es gab kein Mondlicht mehr, und die Schreie des Warners waren längst verklungen. In den letzten Tagen war in dem Palast ein stetes Kommen gewesen. Auf Mythor hatten die flüsternden Stimmen und der Lärm, mit dem Möbelstücke gerückt wurden, etwas von vorweggenommener Aufbruchstimmung. Er ruhte sich weiterhin aus, besuchte, durch die TausendMonde-Salbe und entsprechende Kleidung getarnt, einige Male die Gassen der Stadt und den Hafen – aber nur im grellen Licht der Sonne. Dann, am späten Nachmittag, hatte sich ihm Luxon genähert und mit zufriedener Miene gesagt: »Heute nacht wird die Seitenpforte des Tempels unbewacht bleiben. Heute werden wir dem Tempel unseren Besuch abstatten.« »Warum nicht jetzt?« Mythor blickte Luxon fragend an. Der hochgewachsene Mann warf sein sonnengebleichtes Haar übermütig in den Nacken und entgegnete: »Weil die Großen selbst im Schatten leben und die Nacht bevorzugen. Deswegen, Mythor. Heute nacht. Nur wir beide!« »Mit künstlich gealterten Gesichtern?« »Wir sollten es riskieren, unsere gegenwärtigen Gesichter den Großen offen zu zeigen. Wie sollen sie uns die Wahrheit sagen, wenn sie weder dich noch mich erkennen… falls es bei dir etwas zu erkennen gibt?« »Wiederum hast du recht«, knirschte Mythor. »Wann?« Luxon sah nach dem Stand der Sonne und nannte eine Anzahl von Stunden. Es war noch mehr als genügend Zeit. Sie warteten den Ruf des Warners ab, dann schlüpften sie aus einer der schmalen Pforten an der unteren Mauer und verschwanden in der Finsternis zwischen den Häusern. Wieder folgte ein Gang durch die Stadt, der Mythor unsicher werden ließ. Er kannte wenig Angst, aber dieses Springen und 251
Verstecken, Rennen und Stolpern, Ausweichen und Klettern in fast völliger Finsternis war nicht seine Art, sich zu bewegen. Er folgte schweigend seinem Führer Luxon und faßte immer wieder an die Griffe der Dolche in seinem Gürtel. Aber in dieser Nacht hatten sie eine weniger lange und weniger gewundene Strecke zurückzulegen als damals im Regen. Der Tempel der Großen, ein Gebäude, das wenigstens äußerlich diesen Namen nicht verdiente, befand sich zwei Stufen und mehrere Serpentinen unterhalb der tiefsten Stelle des Croesus-Palasts. Die Gassen waren heiß und trocken. Nach wenigen Schritten waren Luxon und Mythor schweißgebadet. Hinter den Mauern ertönten seltsame Laute, die nicht in diese Stadt zu passen schienen: Wispern, Flüstern und knurrende Geräusche, ein Klirren wie von Waffen und immer wieder unterdrückte Schreie. »Erwarten uns die Großen?« fragte Mythor und lehnte sich neben einem Brunnen an den Stamm eines Baumes. »Das nicht gerade. Aber sie sind in ihrem Tempel versammelt«, antwortete Luxon. Er setzte sich auf den Brunnenrand und spielte mit seinem Dolch. »Also dringen wir auf irgendeinem geheimen Weg ein, den nur du kennst?« fragte Mythor spöttisch. »Du hast es erraten. Die geheime Art ist meist besser als der direkte Versuch. Ich weiß, daß du damit nicht ganz einverstanden bist, aber…« »Wie Luxon schon sagt«, gab Mythor zurück, »nur der Erfolg zählt.« Luxon begann laut zu lachen und wischte sich die Tränen aus den Augen. Er sprang vom Brunnenrand, schaute sich wachsam um und keuchte: »Köstlich, Mythor. Gehen wir weiter!« Auch Mythor mußte grinsen. Trotzdem sah er auch diesem 252
Abenteuer mit gemischten Gefühlen entgegen. Aber es drängte ihn, endlich die volle Wahrheit zu erfahren. Doch würden sie in diesem Tempel tatsächlich die Wahrheit erfahren? Heute, nach so vielen halb sinnlosen Versuchen? »Es ist nicht mehr weit. Hast du einen Wilden Fänger gesehen?« »Nicht einmal seinen Schatten!« Durch die Dunkelheit, entlang den Mauern, die feuchte Tageshitze ausstrahlten, tasteten sie sich weiter, bis vor ihnen, am anderen Ende eines kleinen Platzes, ein großes Gebäude zu sehen war. Sie hatten weder einen Wilden Fänger noch andere Gestalten gesehen, die in diesem Teil Sarphands unterwegs waren, aber auch nicht die schmale, schnelle Gestalt, die sich auf ihre Spuren geheftet hatte und sich von Deckung zu Deckung bewegte. Lumpen hüllten den sehnigen Körper ein, die Augen blitzten in dem spitzen Gesicht. Geräuschlos folgte der Mann den zwei Schatten, die durch die Straßen huschten. Als sich Mythor und Luxon unterhielten, wehten einige Fetzen ihres Gesprächs hinüber zu ihrem Verfolger. Der Verfolger hielt seinen Dolch griffbereit. Er war auf alles vorbereitet, jedenfalls auf Kampf und Überfall. Kein menschliches Wesen war ihm begegnet, trotzdem war der Mann überzeugt, sich durch ein von Dämonen beherrschtes Chaos zu bewegen. Durch ein Chaos, das freilich hinter den Mauern und Türen und Fenstern stattfand und deswegen um so gräßlicher war. Aber er unterdrückte alle seine Furcht und schlich hinter Mythor und Luxon her. Als sie den Tempel erreichten, drückte sich die kleine Gestalt in einen breiten Mauerspalt. Der Verfolger wartete und hoffte, daß er nicht die ganze Nacht in diesem Spalt würde verbringen müssen.
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Das wenige Licht, das aus einigen Spalten der umliegenden Häuser drang, dazu das stechende Leuchten der unendlichen Menge der Sterne ließen die Front des Tempels schwach aus der Dunkelheit hervortreten. Eine Mauer aus unterschiedlich großen und unregelmäßigen Quadern. Die Fugen glänzten hell, und Halbsäulen aus einem andersfarbigen Stein zogen sich von einem Gesims bis zum Boden hin. Die Front des Tempels war etwa fünfzehn Mannsgrößen breit, und die Höhe betrug rund zwanzig Mannsgrößen. Verwitterte und ausgetretene Stufen führten zu einem Portal, das aus dunklem Holz gezimmert war. Die Pforten waren geschlossen, aber aus senkrechten, kaum handbreiten Schlitzen neben den Säulen kam ein zuckendes gelbes Licht. Luxon stieß Mythor an und raunte: »Das ist der Tempel der Großen. Aber wir wählen einen anderen Eingang. Es gibt ihn tatsächlich noch… Ich habe dir erzählt, wie ich das Orakelleder erbeutet habe!« Mythor erinnerte sich sehr gut an den Bericht. Die dreieckige Haut des angeblich glückbringenden Siebenläufers ruhte neben dem Griff des Gläsernen Schwertes. »Du weißt es genau?« »Natürlich. Noch immer gilt mein Ruf als König der Diebe Sarphands… wenn sich auch Croesus auf Arruf stützen muß!« antwortete Luxon leise, aber voller Selbstbewußtsein. »Gehen wir. Es ist nach Mitternacht!« brummte Mythor. Sie wichen nach rechts aus und schoben sich entlang der Wand des Tempels. Hier führte die Gasse, die in breiten und abgesplitterten Stufen aus wuchtigem Stein endete, schräg abwärts. Eine Hausmauer war mit einem Gerüst von Balken gegen die Seitenwand des wuchtigen Tempels abgestützt. Sie duckten sich unter dem schimmligen Holz und sprangen 254
von Stufe zu Stufe abwärts. Stille umgab die Männer, nur ihre Sohlen machten leise Geräusche. »Sie leben sehr zurückgezogen«, sagte Luxon und schlich um eine Ecke. »Und um den Nachstellungen des Shallad entgehen zu können, haben sie im Lauf der Zeit viele Gänge gegraben.« »Und durch einen solchen Gang bist du damals eingedrungen?« Sie kamen durch einen Hof voller Abfälle, schoben sich durch einen weiteren, in dem feuchte Pflanzen wucherten, stiegen Treppen aufwärts und abwärts. Mythor mußte Luxon bewundern, denn er führte sie so sicher, als ob er hier Jahre seines Lebens verbracht hätte. Arruf, der König der Diebe! Dies war seine Stadt. Er kannte wirklich jeden Stein. »Natürlich!« entgegnete Luxon. »Und ebenso natürlich besuchen wir heute nacht die Großen durch diesen Eingang?« wollte Mythor wissen, obwohl er keine Antwort mehr brauchte. »Was dachtest du?« fragte Luxon sarkastisch zurück. Noch einmal ging es im Zickzack durch Höfe, Gärten und durch schmale Lücken zwischen den Häusern. In Sarphand schien sich jede Spur von Leben nach Einbruch der Nacht ins Innere der Häuser zu verkriechen. Vielleicht versuchten die Menschen, der Hitze auf den Dächern zu entgehen, aber sie wagten nicht einmal, ein Fenster zu öffnen. »Nichts anderes dachte ich.« Sie standen mitten in einem Streifen Ödland. Es gab einige schüttere Bäume und dürre Büsche, die sich zwischen dem stinkenden Gras eines kleinen Abhangs hochschoben. Über den Bäumen erhob sich die rückwärtige Mauer eines großen Bauwerks. Es war entweder der Tempel der Großen oder ein Teil der alten Stadtbefestigung. Luxon ging einmal zwischen den beiden größten Bäumen hin und her und zählte die 255
Schritte, dann kehrte er um und halbierte die Zahl. »Hier muß es sein!« sagte er drängend. »Komm hinter mir her.« Er zog seinen Dolch und schnitt, nachdem sie etwa ein Dutzend kleine Schritte hangaufwärts gemacht hatten, einige verfilzte, miteinander verflochtene Grasbüschel ab. Dann lagen moosüberwachsene Steinblöcke vor ihnen. Luxon tastete sich weiter und fluchte, als er auf trockenes Holz trat. Das Knacken erzeugte in der Stille ein auffallend lautes, scharfes Geräusch. »Niemand ist hinter uns!« flüsterte Mythor, der bei dem Knacken herumgewirbelt war und seine Waffe gezogen hatte. Er versuchte, in den Schatten unter den Bäumen und vor den nahen Häusern eine Bewegung zu erkennen. Aber dort war nichts. Luxon kroch vorwärts und stieß ein Zischen aus. Mythor duckte sich und folgte seinem Führer über die Trümmer eines Torbogens oder einer alten Mauer bis in einen engen, zugewachsenen Schacht. Luxon schob Zweige und wuchernde Hängepflanzen zur Seite. Modriger Geruch schlug ihnen entgegen und ein fernes, summendes Geräusch, das einmal lauter und dann wieder leiser wurde. »Die Großen singen ihre Abendlieder«, meinte Luxon, als sie sich mit ausgestreckten Händen durch die absolute Finsternis vorantasteten. Tiere raschelten vor ihren Füßen. Spinnweben hefteten sich an die Hände und zerrissen im Haar. Einige Schritte weit führte der Gang durch knöcheltiefes Wasser. Dann knirschte Sand oder feines Geröll unter ihren nassen Sohlen. Der Geheimgang machte scharfe Windungen. Sie stießen auf die Reste von Gittern, die uralt und vom Rost fast völlig zerfressen waren. Endlich, nach einer qualvoll langen Wanderung durch diesen uralten Stollen, lehnten sie sich erschöpft gegen eine feuchte Wand. 256
»Dort vorn ist Licht«, bemerkte Luxon. »Wir haben es hinter uns. Seit meinem letzten Besuch ist der Geheimgang noch mehr verfallen. Ich fürchtete schon, daß an einigen Stellen das Gewölbe eingefallen sei.« »Einfacher wäre es gewesen, wenn wir am Haupttor geklopft hätten.« »Ich glaube nicht, daß die Großen mich freundlich empfangen werden«, gab Luxon zu. »Bringen wir es hinter uns, mein Freund.« Auch er, Luxon, mußte sich Mythor sagen, war von der Wahrheit abhängig. Wenn aber auch die Großen ihnen nichts sagen konnten – wer dann? Sie gingen etwas langsamer weiter und folgten dem schwachen Schimmer des Lichtes. Es zeigte sich ihnen als kleines Viereck am Ende eines schräg aufwärts führenden, engen Schachtes. Der Boden war einst eine grob aus dem Felsen gehauene Treppe gewesen. Jetzt war er mit Steintrümmern, Abfall, Pflanzenresten und Tierskeletten übersät. Immer wieder stolperten Luxor und Mythor, aber nach hundert oder mehr Stufen standen sie vor einem Gitter. Dicke Krusten von Rost wucherten aus den kantigen Stäben. Das Summen aus der Tiefe des Tempels hatte aufgehört. Ratlos glitten Luxons Finger über die wuchtigen Metallstücke, die zwischen den Felsquadern verschwanden. Das Gitter war nicht zu bewegen, es schien unverrückbar und fest. »Zur Seite!« sagte Mythor. Gegen das Licht einer bauchigen Öllampe, die keine zwanzig Schritt von ihnen entfernt in einer Nische des Korridors stand, hatte er etwas entdeckt. Er tastete eine Stelle des Gitters, dessen Stäbe etwa zwei Handbreit voneinander entfernt waren, ab. Hier war der Rost abgefallen, und es zeigte sich, daß das Eisen an dieser Stelle besonders dünn war. Mythor packte zu und stemmte sich mit dem Fuß gegen einen anderen Teil des Metalls. Knirschend bog sich der Eisenstab. 257
Dann gab es ein knisterndes Geräusch. An der schwächsten Stelle brach der senkrechte Stab aus der Querverbindung. Eine Rostwolke rieselte vor den Eindringlingen zu Boden. Sie sprangen zurück in den Schutz der Dunkelheit, aber ein Stück des Gitters hatte sich um weniger als eine Elle bewegt. »Weiter. Es hat uns niemand gehört«, sagte Mythor, packte wieder das Ende des Stabes und bog ihn nach oben und zur Seite. Mit einem harten Knacken brach er ab und schlug gegen die Verstrebung. Es gab ein glockenartig hallendes Geräusch, nicht sehr laut, aber durchdringend. »Hinein!« ordnete Luxon an. »Im Tempel gibt es unzählige Räume und Gänge. Wir können uns leicht verstecken.« Mythor rannte, nachdem sie sich schnell durch die Öffnung gezwängt hatten, hinter ihm her. Zuerst liefen sie über den sauberen Steinboden des Korridors, in dem die Öllampe brannte. Ihre Stiefel hinterließen Spuren, die aus Feuchtigkeit, Sand und Rost bestanden. Aber nach fünfzig Schritten waren die Sohlen trocken. »Wohin?« »Nach rechts. Und dann aufwärts.« Mythor begann sich zu fragen, auf welche Art Luxon nachdem sie eingedrungen waren und sich zu verstecken trachteten – etwas von den Großen erfahren wollte. Wollte er sie belauschen? Durchaus möglich, aber es schien vermessen, daran zu denken, daß ihre abendlichen »Gespräche« sich nur um den Sohn des Kometen und seine wahre Persönlichkeit drehen würden. Trotzdem folgte er Luxon und hoffte, daß er endlich aus Sarphand hinauskommen würde. Er begann, die Stadt und alles, was sie verkörperte, zu hassen. Je weiter sie eindrangen, je höher sie sich in den verwinkelten Gewölben unterhalb des Tempels hinaufwagten, desto häufiger wurden die Zeichen des seltsamen Lebens, das die Großen führten. 258
Auf steinernen Sockeln an den wuchtigen Mauern prangten die gemeißelten Gesichter von Großen. Eine lange Reihe von scharfen, edel, fast schon knochig wirkenden Masken mit starren, in die Ferne gerichteten Augen und zugenähten Mündern. Die Einstiche und die Schnüre waren besonders deutlich und in ritueller Übertreibung dargestellt, ebenso die Wahrzeichen des Trancezustands. In vielen Ornamenten, die in breiten Bändern die Tordurchgänge verzierten, kamen die Blüten der Mondblume vor. Ebenso die merkwürdigen Gerätschaften, mit deren Hilfe sie den Rauch durch die Nase einsogen, dazu Abbildungen, die Mythor nicht genau erkannte. »Bist du sicher, daß du den Weg noch immer kennst?« fragte Mythor, als sie in einen Bereich vorgestoßen waren, in dem weitaus mehr Helligkeit herrschte. Die Zeichen, daß hier die Zimmer und Säle der Weisen waren, nahmen zu. »Sie werden sicher nicht ihren Großen Saal verlegt haben«, gab Luxon zurück. Sie bogen um eine Ecke, und plötzlich wimmelte es um sie von goldfarbenen Umhängen und Fäusten, in denen Dolche funkelten. Ruckartig blieben sie stehen. Die Tücher vor den Gesichtern bewegten sich, als etwa zwanzig Große ein durchdringendes Pfeifen ausstießen. Mythor hob abwehrend die Hände und lachte auf. Luxon fuhr herum und zischte wütend: »Warum lachst du?« »Weil wir uns den Umweg hätten ersparen können, König der Nacht«, sagte Mythor. Er wartete, bis die Stummen Großen ihren Kreis geschlossen hatten. Es war etwas Unheimliches an diesem schrillen Pfeifen, der Sprachlosigkeit und den ausdrucksvollen Gebärden, mit denen sich Hände und Dolche bewegten. Jetzt sahen sie auch, daß sie genau im Zentrum einer Art Vorhalle standen. Ein Dutzend schmale Durchgänge waren 259
über die vier Wände verteilt. Zwischen den Säulen steckten in eisernen Ringen halb heruntergebrannte Fackeln, deren Ruß die Wände und die Decke in breiten Streifen geschwärzt hatte. »Du hast recht«, murmelte Luxon. Sein Gesicht war sehr nachdenklich, als er sich an den ihm zunächst Stehenden wandte. »Hör zu, Freund«, sagte er. »Dies ist Mythor, und ich bin Luxon. Ich habe mich geirrt. Wir hätten friedlich am Tor des Tempels Einlaß begehren sollen. Bringt mich… bringt uns zum Erhabenen.« Die Gesten blieben reichlich unbestimmt, aber im Kreis öffnete sich eine Gasse. Eine Dolchspitze deutete vorwärts. Die Gruppe setzte sich in Bewegung, und das Pfeifen riß ab. Die Großen, von denen Luxon und Mythor umringt wurden, waren ebenso groß wie ihre Brüder, die Mythor schon kannte. Besser gesagt, ebensowenig groß. Sie reichten ihm ungefähr bis zur Schulter. Geheimnisvoll und unheimlich war der Glanz, der von ihren Burnussen ausging; das Licht der Fackeln brach sich an den Kanten der Falten und rief merkwürdige Reflexe hervor. Fast lautlos eilten die Großen durch den Korridor, dessen Steinboden vor Sauberkeit geradezu funkelte. Niemand sprach, keiner von ihnen summte. Aber das grelle Pfeifen war ein Signal gewesen, dessen Laut wohl alle Insassen des Tempels alarmiert hatte. Schließlich hielt die Gruppe vor einer Tür an. Sie war voll verschlungener Schnitzornamente, und der Griff ähnelte einer abwehrend geöffneten Hand. Der Dolch verschwand unter dem Burnus, dann schossen zwei Hände aus den Ärmeln hervor. Eine kompliziert aussehende Geste entwickelte sich. Mythor starrte schweigend auf die Finger und dann auf die Wand neben der Tür, auf der sich das Schattenspiel abzeichnete. Dreimal vollführte der Große dieselben Bewegungen, dann hatte Mythor begriffen 260
und sagte: »Du bist Schnell-Dreifuß. Ich bin Mythor.« Schnell-Dreifuß, falls dieser Name richtig war, verbeugte sich vor Mythor und öffnete die Tür. Mythor ging hindurch, Luxon folgte ihm schweigend. Offensichtlich hatte er etwas von seiner Dreistigkeit eingebüßt. »Der Saal! Wir sind tatsächlich im wichtigsten Raum dieses Gemäuers«, knurrte Luxon. Die Hälfte der Großen drängte sich hinter ihnen in den hohen, unheimlich abgedunkelten Raum hinein, dann wurde die Tür mit einem endgültigen Geräusch geschlossen. Klirrend schoben sich schwere Riegel in die Vertiefungen im Fels. Der Saal war rechteckig und stützte sich mit schlanken Säulen gegen die Decke. Sie lag im Dunkel, und es war nicht zu erkennen, woraus sie bestand. Die Säulen bildeten einen vollkommenen Kreis, in dessen Mitte sich eine Vertiefung befand. Von sieben Seiten führten stufenlose Rampen hinunter zum Boden des Kreises. Genau hinter jeder Säule, vom Kreismittelpunkt aus betrachtet, flackerte die große, rußende Flamme einer Lampe. In der Mitte des Kreises befand sich ebenfalls eine Öllampe mit mehreren schwimmenden Dochten. Zwischen den oberen Enden der Säulen war im Dach eine kreisrunde Öffnung ausgespart, durch die Mythor einige Sterne sehen konnte. Ein stummer Großer packte ihn sanft am Arm und schob ihn langsam, aber bestimmt auf eine Rampe zu. »Ich habe verstanden.« Etwa zwei Dutzend hölzerne, mit Stoff und Fell bespannte Sessel standen im Kreis entlang der Vertiefung. Die Hälfte von ihnen war leer. Als Mythor und Luxon im Inneren des Kreises standen, setzten sich die Großen, von denen sie hierher eskortiert worden waren. Eine bizarre Art von Unterhaltung fing an. Einer der Großen stand auf, stieß eine Folge von verschieden 261
hohen und unterschiedlich langen Pfiffen aus. Er deutete auf Mythor und fing zu gestikulieren an. Zwischen zwei Säulen, auf einem Stück der hellen Tempelwand, erschienen die Schattenspiele seiner Hände. Mythor begriff nur mühsam. Doch als er die Augen über dem Gesichtstuch sah, wußte er, daß ihm Vierfaust gegenüberstand. »Vierfaust!« sagte er verblüfft. »Ich erkenne dich an der Deutlichkeit deiner Schattenspiele!« Vierfaust nickte und stieß einen anerkennenden Pfiff aus. Dann schilderte er seinen Brüdern, daß sie sich Mythor gegenübersahen. An der Tatsache, daß er nicht einfach seine Finger gegen die geöffneten Hände eines anderen legte, erkannte Mythor, daß diese Versammlung sich nicht unter der Einwirkung einer Droge befand, die ihr Bewußtsein öffnete. Auch Luxon verstand die nächste Folge der Schattenspiele, drehte sich halb herum und deutete auf einen Großen. »Du bist also der Erhabene Große. Verzeih mir, daß ich auf dem Weg der Diebe in den Tempel eingedrungen bin. Ich heiße heute Luxon, aber vor vielen Monden drang ich in den Tempel ein – und damals nannte ich mich Arruf. Ich bin der König der Diebe des nächtlichen Sarphand. Ich stahl das Amulett und das Pergament, auf dem die Lage der LichtbotenFixpunkte gezeichnet war. Das Pergament habe ich zurückgelassen, weil ich kein Dieb um des Goldes willen bin. Ich habe eine Vergangenheit, die mich zu der festen Überzeugung zwingt: Ich bin der Sohn des Kometen.« Der Erhabene Große unterschied sich äußerlich nicht von seinen Brüdern oder den Angehörigen dieses bruderschaftsähnlichen Geheimbundes. Ebenso wie Vierfaust und damals auch Dreifinger-Auge strahlten seine Augen über dem Gesichtsschleier kühlen Abstand und zielstrebige Gedanken aus. »Und ihr wollt wissen«, deutete Luxon die nächsten 262
Schattenspiele und unterstützenden Pfiffe richtig, »wo das Amulett ist? Ich habe es nicht bei mir. Aber selbstverständlich gebe ich es euch zurück, wenn ihr es wollt.« Obwohl Mythor wußte, daß die Großen auf der Seite des Lichtes standen und er die Erfahrung gemacht hatte, daß sie ihn selbst auf ihre geheimnisvolle, undurchschaubare Art schätzten, bemächtigte sich seiner ein deutliches Gefühl der Befremdung. Sie gehörten nicht zu den Personen, mit denen er gern zusammen war. Er hoffte, auch diesen ungemütlichen und kalten Tempel bald verlassen zu können. Die Runde der Großen unterhielt sich jetzt durch Handzeichen und gelegentliche Pfiffe. Die Bewegungen waren so schnell, daß weder Luxon noch Mythor verstanden, worum es ging. Vierfaust wandte sich schließlich an Luxon und fragte: Und woher weißt du, daß du der Sohn des Kometen bist? Sofort antwortete Luxon, auf Mythor zeigend: »Dies ist Mythor. Einst verwechselte man ihn mit mir, man tauschte ihn gegen mich um, weil er ein Niemand war und ist.« Trotz der Waffen, die er aus den Manifestationspunkten des Lichtboten holte, unter Entbehrungen und Opfern? »Trotzdem und gerade deswegen. Hört meine Geschichte«, sagte Luxon, ging rückwärts bis zur Rampe und setzte sich auf den kalten Stein. Das heiße Öl in den Lampen sandte einen Geruch aus, der den Tempel erfüllte und unangenehm in seiner Nase stach. Er bemühte sich, seine Lebensgeschichte in kurzen Sätzen erschöpfend zu erzählen. Sie deckte sich mit dem, was Mythor von ihm erfahren hatte. Mythor blieb stehen und bemühte sich herauszufinden, was die Großen und ihr Erhabener dachten. Sie blieben regungslos sitzen und hörten zu. Die einzigen Bewegungen kamen von Luxon und den zitternden Flammen. Warum dachte Mythor plötzlich, völlig übergangslos, an eine 263
Warnung? Hüte dich vor dem Stein? Es gab sicher einen Grund für diesen Gedanken, aber noch ehe er seine Ahnung vertiefen und der Überlegung nachgehen konnte, zerschnitt wieder ein kurzer, halblauter Pfiff die atemlose Stille in dieser Höhle der Finsternis und der Schattenspiele. Du hast deine richtigen Schlüsse aus deiner Lebensgeschichte gezogen, Luxon oder Arruf! Vierfaust bemühte sich, besonders deutlich zu »reden«. Aber es waren deine eigenen Schlüsse. Wir glauben dir die Geschichte. Deine Gedanken und Wünsche haben dir einen grausigen Streich gespielt! »Wie… was sagst du da?« Luxon stand auf und kam mit bleichem Gesicht näher. Er fragte verwirrt: »Ich habe dich, glaube ich, falsch verstanden. Meine Wünsche sollen mir einen Streich gespielt haben?« Wieder, und diesmal noch langsamer und deutlicher, gestikulierte Vierfaust. Seine ins Riesige vergrößerten Finger wiederholten die Antwort: Mythor ist der rechtmäßige Sohn des Kometen. Du hast dich geirrt. Mag auch dein Weg von einer gewissen Bedeutung sein, du bist nicht zum Sohn des Kometen bestimmt! Jetzt war es an Mythor, verwirrt zu sein. Mit vor Aufregung rauher Stimme stotterte er: »Also doch… ich bin der Sohn des Kometen!« Die gesamte Runde der Großen brach in zustimmendes Pfeifen aus. Dann wandte sich Vierfaust wieder an Mythor und versicherte: Wir, die Gemeinschaft der Großen, haben Mythor ausgewählt und ihn durch das runde Mal hinter seinem Ohr für alle Zeiten und unaustauschbar gezeichnet. Kalte Strenge sprach aus diesen Gesten und Schatten. Luxon taumelte fast; er war tatsächlich erschüttert und sprachlos. Mythor fühlte eine kurze Schwäche, dann stieg in ihm das 264
Bewußtsein dessen hoch, was er eben gehört hatte. Also doch! Er war viele Male schwankend in seiner Überzeugung geworden, aber jetzt hatte er die letzte Sicherheit. Unwillkürlich tasteten seine Finger unter das Haar und fühlten die kleine Narbe. Alle Versuche, dich umzubringen, versuchte Vierfaust nun Luxon zu erklären, alle Attentate und die Hetzjagd auf dich haben ganz andere Gründe. Wir verstehen, daß sie dich in deinem Irrglauben bestärkt haben. Aber, seine Hand deutete auf Mythor, dieser ist der wahre Sohn des Kometen! Alle Großen standen auf, zeigten auf Mythor, stießen gellende Pfiffe aus und setzten sich dann wieder. Daß Mythor an deiner Statt ausgesetzt wurde, war ein Versuch der Dunkelmächte, Mythor zu vernichten! Trotz dieser Bestätigungen wuchs in Mythor ein bestimmter Abscheu gegen die Großen. Noch immer konnte er sich nicht mit Wesen abfinden, die sich freiwillig die Lippen zunähten. Trotzdem folgte er konzentriert den Finger- und Schattenspielen. Schweigend und in sich gekehrt stand Luxon neben ihm und versuchte, mit seiner Erschütterung fertig zu werden. Mythor war fast versucht, ihm tröstend den Arm um die Schultern zu legen. Die Dämonen schenkten dir das Leben, Arruf, um als ihr Werkzeug Mythor zu schaden oder ihn zu töten. »Ihr müßt euch irren!« schrie Luxon plötzlich. Mythor zuckte zusammen und blickte in das Gesicht Luxons. Es war verzerrt; für ihn war ein Berg zusammengebrochen, den er selbst aufgetürmt hatte. Sein sorgloses Lächeln – fortgewischt. Sein tadelfreies Benehmen und seine spöttische Selbstsicherheit – vorbei. Seine Stimme überschlug sich, als er schrie: »Ihr irrt euch! Ich bin der Sohn des Kometen! Ihr seid wahnsinnig, ihr pfeifenden Narren!« Mit kalter Würde stand der Erhabene auf, deutete auf die 265
Tür und winkte einigen seiner Brüder. Hinaus! Verlasse den Tempel! Luxon zeigte mit zitterndem Finger auf Mythor und rief: »Ihr irrt euch. Werft ihn aus dem Tempel! Ich bin der Sohn…« Vier Große glitten auf ihn zu. Ihre Augen funkelten kalt. Sie handelten mit zielstrebiger Schnelligkeit und packten ihn an den Armen. Er schlug um sich, aber sie waren stärker. Binnen weniger Augenblicke entfernten sie ihn aus dem Mittelpunkt des Kreises, schleiften ihn über den Boden, zwischen zwei Säulen hindurch, während er schrie, bettelte, sich zu wehren versuchte und immer wieder rief: »Ich bin der Sohn des Kometen! Nicht Mythor! Ich habe mein Leben lang Verfolgungen ausgestanden und beanspruche den Lohn… Ich bin der Sohn des Kometen!« Wieder eine Folge von Pfiffen. Fast geräuschlos öffnete sich die Tür. Mythor sah, wie sie Luxon hinausstießen und er vor der Pforte von einer Schar Großer in goldfarbenen Burnussen empfangen wurde. Diesmal waren sie sogar mit Schwertern bewaffnet. Noch lange hallten die protestierenden Schreie Luxons in den Tempelsaal hinein, dann erfolgte ein harter Schlag, und das Geschrei riß ab. Mythor blickte in die großen, brauenlosen Augen seines »Freundes« Vierfaust. »Er ist doch ein schlechter Verlierer«, murmelte er. Vierfaust breitete, als wolle er Mythor umarmen, seine Arme aus. Dann beeilte er sich zu erklären: Wir bedauern sein Verhalten und das Tun, zu dem er uns zwang. Der Erhabene befiehlt mir, es dir noch einmal zu versichern: Du bist wahrhaftig der Sohn des Kometen und hast dich unserer Wahl als würdig erwiesen! »Er meint aber«, sagte Mythor in tiefer Nachdenklichkeit, »er fände Mittel und Wege, euch zu beweisen, daß er der Auserwählte ist.« 266
Es wird ihm nichts nützen. Die Wahrheit läßt sich nicht für immer verheimlichen. In den tiefliegenden Augen von Vierfaust glühte ein merkwürdiges Feuer. Der Erhabene stand wieder auf, gestikulierte und stieß einige trillernde Pfeifsignale aus. Daraufhin erhoben sich alle übrigen Großen und gingen in Zweierreihen wie in einer schweigenden Prozession aus dem Kreis hinaus und verschwanden nacheinander durch die Tür, die sich wieder geheimnisvoll öffnete. Mythor, Vierfaust und der Erhabene waren allein. Warte ein wenig. Einige auserwählte Große werden gerufen. Wir werden ein Feuer entzünden und den Rauch der Mondblume atmen. Auch du sollst das tun. Dann werden wir dich mit dem Hohen Ruf nach Logghard senden. Dies sagt der Erhabene. Mythor schüttelte den Kopf. Hoher Ruf? Dann folgte die Erklärung. Der Hohe Ruf? Du kennst ihn nicht? Mich selbst hat der Erhabene mitten aus der Wüste zu sich geholt. Auch große Entfernungen können wir damit überwinden, wenn sich unser Geist im süßen Rauch der Mondblume geweitet hat. Logghard, der siebente Fixpunkt des Lichtboten, ist wichtiger für dich als alles andere. Mythor sagte: »Das kann ich nicht. Meine Waffen sind in Luxons Schatzkammer, und noch bin ich nicht bereit, nach Logghard zu gehen. Laßt uns warten, bis ich alles wohl geordnet habe. Wartet, bitte!« Wie lange? »Einige Tage. Oder nur einen Tag«, sagte Mythor, dessen Verwirrung einen zweiten Höhepunkt erreichte. Mit dem Hohen Ruf versetzten die Großen eine Person aus der Wüste von Salamos hierher? Oder von hier nach Logghard? Er zweifelte nicht daran, daß sie es vermochten, aber alles in ihm stemmte sich gegen eine solche Reise. Ausgeschlossen. Wir werden mit dem Ritual beginnen. Schon wird 267
das Feuer gebracht und auch der Tabak der Mondblume. »Muß ich diesen… Duft auch einatmen?« fragte der Sohn des Kometen. Auch du, als letzter von uns. Mythor zog ratlos die Schultern hoch und ging zu einem leeren Sessel. Vierfaust schien diese Bewegung und das Schweigen für Zustimmung zu halten. Er blieb wartend stehen, blickte den Gestalten entgegen, die jetzt wieder den Tempel betraten. Sieben Große trugen an sieben langen Henkeln ein Kohlenbecken. Im durchlöcherten Becken, das den roten Glanz und die Hitze alter Glut ausströmte, lagen frische Stücke schwarzer Holzkohle. Sieben kleine, frisch gefüllte Öllampen wurden an den Dochten des riesigen Leuchtkörpers entzündet. Man holte sieben Sessel, stellte sie im Mittelpunkt des Kreises auf und räumte die große Lampe weg. Dort wurde das Kohlenbecken abgestellt. Die kleinen Lampen befanden sich jetzt vor den Fußenden der Sessel. Du sollst Platz nehmen! signalisierte Vierfaust. Mythor blieb hinter seinem Sessel stehen und hielt sich an der Lehne fest. Unschlüssig, aber wachsam verfolgte er die weiteren Vorbereitungen. Die Männer in ihren funkelnden Umhängen glitten lautlos hin und her und verrichteten ihre Arbeit mit einer Schnelligkeit, die darauf schließen ließ, daß diese Zeremonie oft durchgeführt wurde. Nach und nach kamen andere, unbekannte Große herein und setzten sich in die leeren Sessel. Schließlich befanden sich sechs Große und Mythor im inneren Kreis. Die Sessel standen so dicht um das Kohlenbecken, daß es den Großen – und Mythor – ein leichtes sein würde, ihre Hände gegeneinanderzulegen und ganz ohne Pfeifen und Schattenspiele miteinander zu reden, indem sie die Gedanken 268
austauschten oder andere, noch geheimnisvollere Methoden anwandten. Irgendwie empfand Mythor Mitleid für Luxon. Oder war es Verständnis für dessen Enttäuschung? Und was würde Luxon, der schlechte Verlierer, nach dem unfreiwilligen Verlassen des Tempels anfangen? Abenteuerliche Vorstellungen schossen Mythor durch den Kopf. »Ich muß hier schnell hinaus!« sagte er zu sich. »So schnell wie möglich.« Sie würden ihn nicht freiwillig gehen lassen. Wenn er wartete, bis die sechs Großen im Rauschzustand der Mondblume waren, konnte es wohl möglich sein, daß er unbemerkt den Tempel verlassen konnte. Er mußte sich nur hüten, etwas von diesem Rauch einzuatmen. Sicher bist du froh, so schnell und ohne jeden Umweg direkt nach Logghard zu gelangen, Sohn des Kometen? erkundigte sich Vierfaust auf seine Weise. Mythor machte eine unbestimmte Bewegung und sah, daß die bedienenden Großen die Rauchpfeifen heranbrachten. Er sagte halblaut: »Ich reise mit mehr als zwiespältigen Gefühlen. Ich denke, es ist wirklich besser, daß ich meine Waffen anlege und dann erst, nachdem ich von euch erfragt habe, wie es dort ist, durch den Hohen Ruf hingeschickt werde!« Sarphand ist für dich gefährlich. Luxon wird sich an dir schadlos halten wollen. Eile tut not, Mythor! »Du hast recht, Vierfaust.« Die Rauchpfeifen, die für das Gemeinschaftserlebnis benutzt werden sollten, waren etwa armlang. Sie gabelten sich an einem Ende und liefen in einen kleinen, biegsamen Ledersack aus, der sich eng an die Nase legen konnte. Am anderen Ende waren sie wie eine durchlöcherte große Schöpfkelle geformt. Jetzt legten die Gestalten die Kellen auf die Holzkohlen, die 269
schwach rot glühten. Jede Bewegung ließ die Flämmchen tanzen, und ohne daß Mythor dessen gewahr worden wäre, hatte man die Flammen hinter den Säulen gelöscht. Es bildete sich in dem drohend riesigen Tempelmittelpunkt eine winzige Insel der Helligkeit, um die sich die Säulen wie ein Wall erhoben. Ein Gefühl der Enge und des Eingekerkertseins beschlich Mythor zusätzlich zu allen anderen Teilen seiner inneren Verwirrung. Lautlos gingen die anderen Stummen Weisen Großen hinaus. Der letzte von ihnen öffnete ein kostbar aussehendes Gefäß und streute mit einem ebensolchen Löffel kleine Bröckchen Mondblumen-Tabak in die geöffneten Schöpfkellen. Dann benutzte er den Löffel dazu, um das Oberteil der Kellen zuzuklappen. Ohne zu pfeifen, folgte er seinen Mitbrüdern. Noch einmal stand Vierfaust auf und verdeutlichte Mythor: Zuerst werden wir Großen rauchen. Dann führen wir das Gespräch, das für dich stumm sein wird, wie ich weiß. Und dann erst sollst du rauchen und mit uns für kurze Zeit verschmelzen. Danach werden wir zurückbleiben. Du aber wirst in Logghard sein, Mythor, als rechtmäßiger Sohn des Kometen. »So soll es sein«, meinte Mythor schwach, lehnte sich zurück und hielt mit zwei Fingern die zeremoniellen Öffnungen der riesigen Pfeife zu. Er wartete und blickte unverwandt in die Augen Vierfausts. Aus den Kellen stieg dünner Rauch auf, der sich in der Hitze über dem Kohlenbecken zu drehen und zu seltsamen Schleiern und Formen zu verdichten begann. Die Großen nahmen die Gesichtstücher ab und schoben sie an die Hälse hinunter. Wieder schaute Mythor in ihre scharfen, mitleidlosen und eisenhart wirkenden Gesichter mit den vorspringenden Backenknochen und den vernähten Lippen. Er schüttelte sich. 270
Sie hielten die Lederenden der Pfeifen an die Nasenlöcher und lehnten sich genußvoll zurück. Der Ausdruck eines geheimnisvollen Rausches oder eines Wohlgefühls, das Mythor fremd war, erschien nach einer Weile auf den Gesichtern. Der Sohn des Kometen wartete und bewegte sich zur Probe in seinem Sessel. Noch erkannte Vierfaust, daß sich Mythor rührte. Er schüttelte den Kopf und bedeutete ihm, noch mit dem Einatmen des Rauches zu warten. Aber mehr und mehr verschleierten sich die sechs Augenpaare, und die Körper der Großen wurden schlaff und schwer. In dem Augenblick, als sie die Hände ausstreckten und ihre Finger nach denen des Nachbarn tasteten, stand Mythor auf. Ein kühner Einfall war durch seine aufgeregten Fluchtgedanken gehuscht. Er packte die rechte Hand seines linken und die linke seines rechten Nachbarn, stand auf und führte sie zusammen. Dann duckte er sich hinter seinen Sessel, sprang in die Dunkelheit hinter den Säulen und glitt, ein Schatten in der Finsternis, zur Tür. Er suchte und fand den Riegel. Sie waren von links gekommen, also lief er nach rechts, nachdem er die Tür geöffnet hatte. Zwanzig Schritte später hielt ihn ein Großer auf. Mythor sah in seine Augen und bat: »Der Erhabene befahl mir, die Waffen zu holen und schnell wieder zurück zu sein, denn ich soll mit dem Hohen Ruf nach Logghard geschickt werden. Bringe mich zum Haupteingang des Tempels.« An der Wand erschienen die gestaltbildenden Fingerspiele. Folge mir, Sohn des Kometen! Mythor unterdrückte den Wunsch, loszurennen und den Großen mit sich zu reißen. Zwischen seinen Schulterblättern sammelte sich kalter Schweiß. Jeder Schritt dauerte eine kleine Ewigkeit. Noch ein Korridor, eine Treppe aufwärts, ein anderer Raum, dann wieder eine Rampe. Öllampen, 271
flackernde Fackeln und die versteinerten Gesichter der Großen an den Wänden. »Endlich!« ächzte er, halb von Panik überwältigt. Der Große bedeutete ihm, einen Moment zu warten, dann entfernte er schwere Riegel und eiserne Zuhaltungen, die in den Achsen knirschten und ächzten. Dann schwang ein Torflügel nach außen, und die stinkende Luft des nächtlichen Sarphand kam Mythor wie eine Köstlichkeit vor. Er drehte sich trotzdem um und sagte: »Ich danke dir, Großer!« Die Gestalt verbeugte sich kurz und pfiff leise einen Abschiedsgruß. Das Tor schloß sich. Mythor blieb stehen, damit sich seine Augen an das Dunkel gewöhnen konnten. Aber noch bevor er wußte, wo er sich befand, hörte er schnelle Schritte und sah verschwommen eine Gestalt. An ihr war das Deutlichste das Sternenlicht auf der Doppelschneide eines geschwungenen Dolches. Mythor duckte sich und sprang nach rechts die hohen Stufen hinunter. Er strauchelte, und als er seinen Körper zusammenkrampfte, um sich abzustützen, rief eine Stimme voller Wut: »Mythor! Ich habe auf dich gewartet!« Mythor richtete sich wieder auf, zog blitzschnell seinen Dolch und wartete auf den nächsten Angriff. Steinmann Sadagar stand keuchend da. Seine Brust hob und senkte sich. Er war behend und schnell, aber kein junger Mann mehr. Die ununterbrochene Hetzjagd durch die Gassen der Stadt, die er nicht kannte, hatte ihn ausgelaugt. Und trotzdem hatte er wieder die Stelle gefunden, an der er warten mußte. Er senkte den Dolch und sagte: »Mythor! Erkennst du mich nicht! Ich bin’s, Sadagar!« Mythor senkte ebenfalls seinen Dolch und schüttelte den Kopf. »Ich konnte nicht erkennen, wer auf mich zusprang. Sadagar! Was tust du hier? Ich war sicher, daß du tief und fest 272
im Palast schläfst.« »Beim Kleinen Nadomir«, stieß Sadagar keuchend hervor. »Du und dieser Lumpenhund Luxon zusammen… das konnte nicht gutgehen. Ich bin euch beiden zuerst zum Tempel gefolgt, dann zum Geheimgang. Und dann habe ich hier gewartet, weil ich mir sagte, daß man euch an dieser Stelle rauswerfen wird.« Mythor knurrte: »Aber man warf nur Luxon hinaus, nicht wahr?« »Rätsel über Rätsel. Er schrie und tobte, aber dann besann er sich und rannte weg. Ich hinter ihm her. Nadomir, welch ein Rennen. Er raste wie ein Wahnsinniger, den die Dämonen hetzen.« Mythor hatte noch Luxons Schreie in seiner Erinnerung und entgegnete, indem er Sadagar am Arm nahm und unter den Baum zum Brunnen führte: »So fühlte er sich wohl auch. Sie verstießen ihn aus dem Tempel, nachdem er sie beleidigt hatte.« »Warum?« Mythor mußte lachen. »Weil ihn seine Enttäuschung übermannte. Nicht er, sondern ich bin der Sohn des Kometen. Unabänderlich! Die Großen bestätigten es hundertmal. Sag mir… wohin lief Luxon?« »In ein kleines Haus an einem alten Mauerstück. Aber es ist sauber und gepflegt. Nicht wie der Turm des Echtamor.« »Bringe mich dorthin. Unterwegs erzähle ich dir, was geschehen ist. Hast du einen Wilden Fänger gesehen?« »Einige habe ich wohl gehört, auch die Schreie ihrer Opfer, aber sie waren nicht hinter mir her und auch nicht in meiner Nähe. Endlich die unumstößliche Wahrheit? Du bist der Sohn des Kometen?« »Ja.« »Immerhin gab es Stunden, in denen auch ich daran 273
gezweifelt habe«, bekannte Steinmann Sadagar. »Aber dann dachte ich an die lange Reihe von schlimmen Tagen und bösen Nächten, die wir Seite an Seite durchgestanden haben, und die Gewißheit stellte sich alsbald wieder ein.« »Nicht bei mir. Ich brauchte erst die Bestätigung dieser unheimlichen Gesellen. Gewiß, sie sind Freunde des Lichtboten, aber ich möchte nicht ihr Freund sein. Ist es weit?« »Nur um ein paar Ecken, Mythor. Dann nichts wie in den Palast und zu den Waffen! Zu deinen Waffen!« »Und nach Logghard, Freund Sadagar!« bekräftigte Mythor. Mit aller Vorsicht schlichen sie durch die schmalen Gassen. Dieses Viertel war viel sauberer, die Mauern leuchteten hell; sie waren an vielen Stellen frisch mit Kalk gestrichen. Aber immer wieder erschollen aus verschiedenen Richtungen, aus großer Entfernung und auch aus der Nähe, die Geräusche der nächtlichen Menschenjagd. Noch lange war die Nacht nicht zu Ende. Im Tempel erwachte der Erhabene aus dem Zustand, der ihn gleichermaßen weit über andere Sterbliche erhob, aber auch schwächte und entkräftete. Der Blick seiner müden Augen ging über die Gestalten der anderen und blieb auf dem leeren Sessel haften. Ein gellender Pfiff ertönte. Dann preßte der Erhabene seine Hand gegen die von Vierfaust. Mythor ist verschwunden. Er hat nicht geraucht, und wir haben ihn auch nicht nach Logghard gebracht. Das ist der zweite große Fehlschlag unserer Bemühungen. Zuerst der Zufall im Koloß von Tillorn und jetzt… Mythor muß in der Stadt unterwegs sein. Wecke alle Großen auf! Bewaffnet euch, und dann durchkämmen wir die Stadt nach Mythor. Wenn er in die Hände der Wilden Fänger gerät, sind die Folgen nicht auszudenken! Arruf sollte schon am Koloß abgefangen werden. Aber nur 274
ein unbedeutender Barbar, Nottr, war dort eingetroffen. Denn Arruf hatte nicht den nächstgelegenen Fixpunkt gesucht, sondern hatte im hohen Norden das verwunschene Tal entdeckt. Vierfaust rannte, eine Kette greller Pfiffe ausstoßend, aus dem Tempelsaal. Binnen weniger Augenblicke verwandelte sich das Innere des dunklen Gebäudes in einen Hexenkessel an Betriebsamkeit. Aus den Stallungen brachte man einige Pferde und sattelte sie. Fackeln und Waffen wurden ausgeteilt. Und dann öffnete sich das große Portal und entließ eine Masse von Großen, die in ihren goldfarbenen Umhängen nach allen Seiten auseinanderrannten und Mythor suchten. Vierfaust, der eine Fackel schwang und in Richtung auf die Oberstadt davonlief, schwor sich, diesmal keinen Fehler zu begehen. Vor einer gekalkten Hauswand hielt Sadagar an. »Hinter dieser Tür dort oben verschwand er, Mythor«, sagte er keuchend und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die hellen Mauern bildeten einen deutlichen Gegensatz zu der Dunkelheit rundum. Mythor hob den Kopf und sah sowohl unter der Tür als auch hinter den Brettern eines Fensterladens schwachen Lichtschein hervorschimmern. »Bist du ganz sicher? Wenn wir in ein fremdes Haus eindringen…« »Ich bin ganz sicher. Dort drinnen befindet sich dein Gegner Luxon. Denn spätestens ab heute nacht ist er dein Gegner.« »Richtig. Vergeuden wir also keine Zeit.« Sie schlichen die Treppe hinauf. Prüfend bewegte Mythor den hölzernen Türriegel. Das Haus machte einen ärmlichen, aber sauberen Eindruck. Zu seiner Überraschung ließ sich der Riegel leicht bewegen. Die Tür ging nach innen auf, ohne zu knarren. Kaum, daß sie einen Spalt offenstand, hörten Sadagar und Mythor unverkennbar 275
Luxons aufgeregte Stimme. Er fragte gerade: »Was sagst du da über Shallad Hadamur?« Eine zittrige Greisenstimme antwortete: »Er ist nicht der rechtmäßige Shallad.« Sadagar und Mythor schlichen näher. Vorsichtig schloß Mythor hinter sich die Tür des Hauses. Sie standen in einem dunklen Korridor, und die Stimmen kamen aus dem Zimmer hinter der nächsten Tür, auf deren Holz ein altersschwacher Teppich genagelt war. »Wie kann das sein, Shakar?« hörten sie Luxon fragen. Seine Stimme ließ deutlich erkennen, daß er sich in einem heillosen inneren Aufruhr befand. Also hatte er nicht gelogen, als er erzählte, sowohl Shakar als auch Echtamor lebten noch und würden sich befragen lassen. In diesem kleinen Haus wohnte sein Wahlvater, dessen Sohn anstelle Luxon-Arrufs von den gedungenen Mördern des Sarpha getötet worden war. Mythor bedeutete Sadagar, schweigend zu lauschen. »Der Bruder des Hadamur starb durch einen Jagdunfall. Es war scheinbar kein Mord… kein Verbrechen«, führte die zitternde Stimme aus. Immer wieder machte Shakar zwischen einzelnen Worten lange Pausen. Er schien entweder sehr alt oder sehr müde zu sein. Aber unbarmherzig prasselten die Fragen Luxons auf ihn ein. »Der Bruder?« »Ja. Hadamur hatte einen Bruder mit Namen Rhiad. Es sollte nicht wie ein Mord aussehen, und es sah auch nicht so aus. Trotzdem weiß ich genau, daß Hadamur diesen Unfall geschickt in Szene gesetzt hatte.« »Kannst du das beweisen?« »Wie soll ich das können nach so langer Zeit? Ich kann dir nur erzählen, was ich weiß. Wie hast du mich überhaupt gefunden, Arruf? Oder Luxon, wie du dich jetzt nennst?« »Das sage ich dir später. Weiter, Wahlvater Shakar. Was geschah weiter?« 276
Der Greis machte eine längere Pause und fuhr dann fort: »Rhiad hatte auch einen Sohn. Auch dieser Sohn sollte beseitigt werden, so hatte es jedenfalls Hadamur geplant. Man brachte den Sohn nach Sarphand. Es waren die getreuen Freunde, die Rhiad hatte. Ich sprach mich mit ihnen ab, und dann entschloß ich mich, diesen Jungen zu verstecken. Jede Spur von ihm sollte getilgt werden, damit er mit dem Leben davonkäme. Dieser Junge warst du, Arruf. Du bist Rhiads Sohn.« Luxon flüsterte fassungslos: »Nein! Eine Nacht furchtbarer Überraschungen!« Shakar ließ sich nicht unterbrechen und fuhr mit seiner Geschichte, die voller Überraschungen auch für Mythor war, fort: »Ich war meinem Herrn Rhiad treu. Und als einer der Freunde, noch vor der Reise mit dem Jungen nach Sarphand, von Hadamur gefoltert wurde und unseren Plan verriet, ohne meinen Namen zu nennen - wie ich meinte –, beschloß ich, einen anderen Jungen zu opfern. Echtamor setzte einen anderen Jungen aus. Ich weiß nicht, wer ihn dazu brachte, diesen oder jenen Jungen zu finden, ich weiß nur, daß Hadamur schließlich erfuhr, daß der Sohn seines Bruders lebte… woraufhin er sofort die Tötung befahl. Statt dieses Jungen aber ermordeten sie den kleinen, unschuldigen Chamor.« Shakar schwieg. Mythor hörte ihn schluchzen. Er öffnete die Tür, trat in den Raum und sagte deutlich: »Und der Junge, der von Echtamor ausgesetzt wurde, bin ich. Dämonen trieben ihn dazu. Und du, Luxon, bist heute tief gefallen und wieder sehr weit hinaufgestiegen. Verwandt mit dem Shallad Hadamur! Seines Bruders Sohn!« Shakar war ein sehr alter, weißhaariger Mann. Er sah nicht so aus, als würde er unter ärmlichen Umständen leben, aber lange würde sein Leben nicht mehr dauern. Während er seine 277
Tränen zu trocknen versuchte, schien er einzuschlafen. Seine Hände zitterten. Der Raum war wie das Haus einfach und sauber. Wie ein zusammengesunkenes Häufchen Mensch hockte Luxons Wahlvater auf der Kante des Lagers, und Luxon stand vor ihm. Er hatte die Zähne in seine Unterlippe gegraben und schien in tiefes Nachdenken versunken. Er nahm Mythor und Sadagar wahr. Aber es interessierte ihn nicht, warum sie hier waren oder wie sie das Haus und ihn gefunden hatten. »Sohn des Kometen!« knurrte er schließlich. »Ich höre, Luxon?« gab Mythor ebenso leise zurück. »Lange Worte erübrigen sich wohl zwischen uns.« Luxon griff in sein zerrissenes Wams und zog den Schlüssel, seinen Schlüssel, zu der Schatzkammer heraus. »Sie würden nichts Neues mehr sagen«, meinte Mythor. »Alles ist bekannt. Auch das letzte Geheimnis offenbar.« Luxon zog die Lederschnur über den Kopf und gab sie mit dem anhängenden Schlüssel an Mythor weiter. »Du bist der Sohn des Kometen. Noch vor einer Stunde glaubte ich es nicht. Aber so ist es. Dafür bin ich der nächste Anwärter auf den Thron des Shallad… und ich sage dir, daß meine Wartezeit nicht lange dauern wird. Hier ist der Schlüssel. Schließe die Kammer auf und nimm die Waffen! Und dann gehe deiner Wege!« Mythor legte sich unbewegten Gesichts die Schnur um den Hals und versenkte den Schlüssel in den Hemdausschnitt. Sadagar lehnte an der Tür und starrte abwechselnd auf Luxon, Shakar und Mythor. Sein Gesicht drückte Zufriedenheit und stille Freude aus. »Danke«, sagte Mythor. Luxon schob Sadagar, dem er in zerstreuter Freundlichkeit zunickte, zur Seite. Dann berührte er kurz die magere Schulter seines Wahlvaters und verließ den Raum. Er schloß leise die 278
Haustür, und dann hörten Mythor und Sadagar nur wenige Augenblicke lang das Geräusch seiner Sohlen. Er rannte davon. »Und auch wir werden gehen«, sagte Mythor. »Zum Palast… und im Morgengrauen nach Logghard.« »Zwischen dem Palast des Croesus und uns gibt es die Stadt voller Wilder Fänger. Und vielleicht suchen auch die Großen nach dir, Mythor.« Sie verließen den alten Mann, der sie gar nicht wahrzunehmen schien. Als sie sich in der dunklen Gasse befanden, hörten sie wieder einen jener Schreie, die nach ihrer Meinung anzeigten, daß ein Fänger sein Opfer gefunden hatte.
Mythor und Sadagar versuchten, unbehelligt den Palast zu erreichen. Der Weg zum Tempel war nicht sonderlich weit gewesen. Die Strecke zwischen dem Tempel und Shakars Haus hatte sie aber in einen anderen Teil der Stadt und ein gutes Stück weiter entfernt vom Palast geführt. Und der Weg zurück ging aufwärts! »Schneller, Sadagar!« keuchte Mythor. Er wußte, daß sie sich auf dem richtigen Weg befanden. »Ich bin außer Atem. Mein Herz schlägt so laut, daß es wie Hufgetrappel klingt.« Mythor warf sich mitten in der schmalen Gasse nach rechts in einen Durchgang und zog Sadagar mit sich. Er sprang bis hinter einen Stapel Holz und sah, wie vor dem Spalt ein Reiter in goldfarbenem Umhang, eine Fackel hoch in der Hand, vorbeisprengte. »Es war Hufgetrappel«, sagte Mythor. Sadagar gab keuchend und schweißüberströmt zurück: »Ein Großer! Sie suchen dich tatsächlich.« 279
»Du hast recht. Ich dachte, sie würden aufgeben, wenn ich den Tempel verlasse. Nichts dergleichen. Sie jagen mich!« »Niemals hätte ich meinen Fuß in dieses abscheuliche Sarphand setzen dürfen«, fluchte Sadagar und kletterte wieder zurück. Das Holz fiel auseinander, die Scheite prasselten zu Boden. Mythor schlug sich das Knie blutig und fluchte ebenfalls. Als sie vorsichtig ihre Köpfe aus dem Durchgang hervorschoben, sahen sie gerade noch den riesengroßen Schatten eines hastenden Mannes an einer hellen Mauer. Dann waren Fackellicht und Schatten verschwunden. »Im Palast sind wir in Sicherheit«, sagte Mythor und lief weiter. Sie bewegten sich in einer Reihe kurzer, abenteuerlicher Abschnitte auf ihr Ziel zu. Sie hetzten durch eine Gasse. Dann versteckten sie sich in einer Ecke eines kleinen Platzes. Einmal liefen sie auf den bröckelnden Steinen einer breiten Mauerkrone weiter. Sie verbargen sich in den Zweigen eines Baumes und erlebten mit, wie zwei riesige Fänger einen jungen Burschen verfolgten, einholten und fesselten, der irgendwo im Freien geschlafen hatte. Dann lag der gefährlichste Abschnitt vor ihnen. Die breite Treppe aus helleren Steinen, auf der deutlich jede Gestalt zu sehen war, die aufwärts oder abwärts lief. Die Fänger brauchten nur versteckt zu warten. Dasselbe taten auch Mythor und Sadagar. Erst als ein Reiter der Stummen Großen sein Pferd rücksichtslos die Stufen aufwärts hetzte und sich sonst niemand sehen ließ, als die Fackel Teile des Platzes über der letzten Stufe erhellte, trauten sie sich aus dem Versteck und jagten in langen Sprüngen die Treppe aufwärts. Noch einige verwinkelte Gassen, einen Platz, mehrere Tonnen voller stinkender Abfälle vor einer Zeile geschlossener und mit eisernen Gittern verbarrikadierter Läden – und dort war das Portal des Palasts. 280
»Zu Boden. Kein Wort!« zischte Sadagar, riß zwei Wurfmesser hervor und zwang Mythors Kopf in den Schatten hinter einer Tonne. Es stank betäubend nach faulendem Fisch. Zwei breitschultrige Fänger, riesige, schnelle Gestalten, rannten direkt auf das Versteck zu. Vor Mythors Kopf fauchte etwas auf, stieß einen gellenden Schrei aus, und eine mit Abfällen behängte Katze sprang auf die Fänger zu und zwischen deren Stiefeln hindurch. Die Männer waren zusammengezuckt. Jetzt lachten sie roh, wechselten ein paar Worte und liefen weiter. »Das war mehr als knapp«, murmelte Sadagar, stand vorsichtig auf und klopfte Pflanzenreste und Fischgräten von seinen Schultern. »Nur noch zwanzig große Schritte.« Sie legten diese zwanzig Schritte schnell und unbehelligt zurück. Mythor warf sich gegen das Tor und wollte gerade mit dem Knauf des Dolches gegen das Holz hämmern und das verabredete Signal geben, als der Torflügel nachgab und nach innen aufging. Zufrieden sagte Mythor beim Anblick des beleuchteten Korridors: »Wir sind erwartet worden, Sadagar. Uns winkt als erstes ein Mädchen mit dem Bierkrug.« Sadagar schloß das Tor und legte sorgfältig die Riegel ein. Mythor schob den Dolch in die Scheide und wußte, daß sie gerettet waren. Die Sicherheit eines Hauses, das sie kannten und schätzengelernt hatten, umgab sie für die Stunden bis zum Tagesanbruch. Sadagar sagte: »Ich kümmere mich um das Bier. Du hast die Schlüssel. Hole die Waffen, schnell!« »Du meinst…?« »Ich meine gar nichts«, drängte der Steinmann. »Ich weiß nur, was besser ist. Hole deine Waffen, und zwar sofort!« »Ich gehorche dir aufs Wort«, rief Mythor grinsend und durchquerte die erste kleine Halle, von der die Treppe 281
abzweigte. Es wunderte ihn, daß auf den Klang ihrer lauten Stimmen noch kein Diener und keine Dienerin erschienen war. Zumindest Sadyn hätte ihm hinter einem Vorhang zuwinken können. Trotzdem brannten an allen Stellen, wo sie sonst auch standen, die Öllampen. Noch war Mythor nicht beunruhigt. Er nahm die Stufen der Treppe abwärts, hielt kurz an, als er an einem Baderaum vorbeikam, und holte sich von dort ein feuchtes Tuch, das einen köstlichen Geruch verbreitete. Im Weitergehen reinigte er sich Gesicht und Hände und wischte den Schweiß ab. Ja, hier mußte er nach rechts gehen, dann kam er an die nächste Treppe. Er fand den Weg zur Schatzkammer und zu der Stelle, an der ihm Luxon den Geheimgang gezeigt hatte. Er nahm eine Öllampe und kletterte die letzte Treppe in den kleinen Raum mit den Statuen und den natürlichen Felswänden hinunter. Nacheinander führte er die einzelnen Griffe aus, die schließlich jene Platte hervorkommen ließen, in deren Löcher die Schlüssel paßten. Mythor stellte die Lampe ab, nahm die Schlüssel vom Hals und steckte sie in die richtigen Löcher. Dann drehte er sie gleichzeitig in die entsprechende Richtung, so, wie er es schon einmal getan hatte. Die Schatzkammer öffnete sich. Das Gefühl, in wenigen Augenblicken wieder Alton in der Hand zu halten, wieder den Druck des Helmes der Gerechten zu spüren, den Köcher, den Bogen… Er hob die Lampe auf, bückte sich und kroch in die Schatzkammer hinein. Ein Windhauch ließ die Flamme zittern, aber ihr Licht spielte auf dem Geschmeide, den metallenen Figuren und Kelchen, den Goldmünzen und brach sich an den Kostbarkeiten. Es sollte sich auch in der gewölbten Rundung des Son282
nenschilds brechen. Es gab keinen Sonnenschild. Nicht einmal die Lampe zitterte in Mythors Hand. Er war regungslos, wie versteinert. Er vermochte nicht zu glauben, was er sah. Links vom schmalen Eingang hatte sich die Felswand geöffnet, und zwar dergestalt, daß auch die Nischen und die breiten, tief eingemeißelten Wandbretter zurückgeklappt waren. Vielleicht hatte Luxon auch einige Beutel mit Goldmünzen mitgenommen. Aber sämtliche Waffen waren verschwunden. Sternenbogen und Mondköcher, das Gläserne Schwert Alton, der Sonnenschild, das Orakelleder, der Helm… alles war weg. »Luxon! Dafür verdienst du den Tod!« flüsterte Mythor. Erst dann begriff er in ganzer Tragweite, daß er wieder einmal von Luxon betrogen worden war und daß er abermals von vorn anfangen mußte. Vor seinen Augen drehten sich schwarze Kreise und flammende Muster. Er stieß ein Stöhnen aus und senkte den Kopf. Da sah er die Schrift. Mit einer schwarzen, schmierigen Masse war in undeutlichen Buchstaben, aber einwandfrei lesbar und in richtigem Gorgan – sicherlich in höchster Eile und unzweifelhaft von Luxons Hand – geschrieben: Für meinen Kampf um des Shallads Thron brauche ich die Waffen. Ich wollte dich nicht betrügen. Aber ich hatte keine andere Wahl. Shallad Luxon, der Sohn des Kometen. »Shallad Luxon, der Sohn des Kometen!« wiederholte Mythor, und die Enttäuschung brachte ihn beinahe um. Die Tür eines weiteren Geheimgangs stand weit offen. Durch diesen Gang war Luxon mit den Waffen verschwunden, und sein Vorsprung konnte nicht groß sein. Noch gab es die Möglichkeit, ihn einzuholen. Shallad! Sohn 283
des Kometen! Er wollte also beides und die ganze Macht. »Bei Erain und God! Was soll ich tun?« fragte sich Mythor laut und gab sich selbst die Antwort: »Nichts Überstürztes.« Er verließ die Schatzkammer, stellte die Lampe wieder ab und hastete zurück in den oberen Teil des Palasts. Jede Tür, die er auf seinem Weg sah, riß er auf. Ausnahmslos war jeder Raum, den er betrat oder in den er hineinblickte, leer. Alle Diener und Dienerinnen waren verschwunden. Auch Sadyn. »Und natürlich auch Kalathee und Samed«, murmelte er. Er riß einen Vorhang zur Seite und spähte in den Speisesaal. Auch hier herrschten Leere und Bewegungslosigkeit. Er fand Sadagar in der Küche, auf dem Tisch sitzend und Bier trinkend. Mit einem breiten Lachen, das in seinem Gesicht erstarrte, als er Mythor anblickte, hielt ihm Sadagar den Bierkrug entgegen. »Die Waffen?« fragte er tonlos, Bierschaum auf der Oberlippe. Mythor nickte und trank, ohne zu wissen, was er tat, aus dem Krug. Sadagar hatte sofort begriffen. Seine schlimmsten Ahnungen waren eingetroffen. Er stellte den Krug ab und sagte: »Was er auch vorhat, Mythor, Luxons Vorsprung kann nicht groß sein. Wir rüsten uns so gut und schnell wie möglich aus und folgen ihm. Ein neuer Geheimgang, nicht wahr?« Mythor nickte nur. »Luxon Shallad, Sohn des Kometen!« fluchte er. Schlagartig veränderten sich seine Gedanken. Die Tage des schönen Lebens im Palast des Croesus waren vorbei. Was aus Croesus wurde, der perfekten Maske Luxons, ging ihn nichts mehr an. Er würde kämpfen müssen, und dies ab dem Augenblick, da sie den Geheimgang verlassen hatten und sich, noch immer in der Nacht, einem unbekannten Teil der Stadt Sarphand gegenübersahen. Mythor trank das Bier aus. Er fand einige Kleidungsstücke, 284
die besser waren als die tarnenden Lumpen. Er zog sich um, fand ein Krummschwert, das nicht viel taugte, aber besser als ein Dolch war. Trotzdem behielt er die Dolche und wunderte sich, während er etwas Essen in die Taschen stopfte, wie schnell die Dienerschaft den Palast verlassen hatte und dabei noch so vieles hatte mitnehmen können. »Nicht meine Sorge!« sagte er sich und rief: »Sadagar! Wo bist du? Wir brechen auf.« Ihn erfüllte eine grimmige Entschlossenheit. Vielleicht würde er Luxon über weite Strecken des unbekannten Landes verfolgen müssen. Aber er würde ihn verfolgen bis zum letzten Blutstropfen, bis zu seinem oder Luxons Tod. Sadagar kam, ähnlich ausgerüstet wie er selbst, ebenfalls ein Zierschwert in der Hand. Er legte es nur für einen Moment auf den Tisch, leerte seinen Humpen und rülpste. »Denke daran, wie arm wir schon waren. Uns kann nichts mehr genommen werden. Verfolgen wir diesen elenden Betrüger Luxon!« Wenig später hielten sie zwei flammende Fackeln in den Händen und stemmten sich gegen die schwere Felsplatte. Sie verschlossen die Geheimtür in die Schatzkammer und drangen in den Geheimgang ein. Einmal drehte sich Mythor um und sagte heiser vor Wut: »Also wird sich Luxon auch noch das holen, was Logghard verbirgt.« »Kein Zweifel. Logghard ist sein Ziel. Direkt oder auf Umwegen. Ich denke, auf Umwegen und getarnt, nicht nur mit Tausend-Monde-Salbe, denn er wird wissen, daß wir ihn verfolgen.« »Und wenn wir nach Logghard schwimmen müßten!« versicherte Mythor. Der Geheimgang folgte uralten Stollen und Kavernen, verschwand in mächtigen Spalten, die durch den Fels 285
Sarphands führten. Vor der letzten Biegung blieb Mythor stehen. »Wohin?« »Wir brechen einfach aus der Öffnung und bahnen uns einen Weg zum Hafen«, murmelte der Sohn des Kometen. »Dort sehen wir weiter.« Noch zwei Biegungen, dann endete der Gang. Sie sprangen aus der schmalen Öffnung und erkannten, daß Luxon einfach ein Stück nur scheinbar massiver Mauer nach außen gedrückt hatte. Als sie im Freien standen und sich umschauten, traf ein schwerer Fängerspieß, aus dem Dunkel geschleudert, Sadagar am Hals und schleuderte ihn auf das Pflaster. Mythor schrie auf, schwenkte seine Fackel und hob das Schwert. Aus dem Dunkel tauchten von drei Seiten Wilde Fänger auf. Der mittlere von ihnen, dem sich Mythor mit wuchtigen Schwerthieben sofort näherte, hielt ihm einen Arm entgegen. »Jetzt, Schnellfuß!« sagte der andere Fänger. Mythor wollte dem Fänger die Fackel in die Augenlöcher der Lederkapuze rammen. Aber er sah in ihrem flackernden, funkensprühenden Licht zwischen den lederumhüllten Fingern des Fängers einen faustgroßen Steinsplitter. Eine eisige Lähmung erfaßte Mythor. Das Schwert klirrte zu Boden. Hüte dich vor dem Stein, das waren seine letzten klaren Gedanken. Dann sah er noch, wie sich die Hand mit dem Steinsplitter unerbittlich seinen Augen näherte. Noch ehe Sadagar fähig war, aufzuspringen und sich zu wehren, warfen sich zwei Hünen auf ihn. Einige Atemzüge später war er gefesselt und geknebelt. Er konnte sehen, wie sich die drei dämonisch wirkenden Fänger leise miteinander berieten und Mythor ebenfalls an Händen und Füßen fesselten. Dann fühlte er, wie er aufgehoben und weggetragen wurde. 286
Einmal, zweimal erhaschte er, hilflos über der Schulter des Fängers hängend, einen Blick auf eisige Augen, einen Gesichtsschleier und einen goldfarbenen Burnus. Also hatten die Großen zugesehen, wie er und Mythor gefangen worden waren. Einige Straßenzüge weiter hielten berittene Große die drei Fänger auf. Sie pfiffen aufgeregt und gestikulierten. Die Fänger blieben stehen und machten keinerlei Anstalten, sich auf die Großen zu stürzen. Nach abermals einer Weile rannte ein Rudel weiterer Wilder Fänger heran, und einer von ihnen sagte: »Wenn ich diese Männer richtig verstanden habe, wollt ihr mit diesem Fang eure eigenen Absichten verfolgen, Schnellfuß?« »Kein Wort davon ist wahr. Wir wurden nur an die Stelle geschickt, an der diese Kämpfer auftauchten.« Aus der Stimme des Mannes, der freilich nicht so groß und stark schien wie Schnellfuß und seine beiden Genossen, sprach Autorität. »Dort hinten, Eisblick«, sagte er, »liegen die anderen Gefangenen dieser Nacht. Bald wird es hell. Wir haben Hunderte, die zu den Lichtfähren gebracht werden müssen.« Einer der Großen ritt schweigend davon. Zwei andere folgten ihm. »Wir werden tun, was getan werden muß.« »Das gilt auch für dich, Steinfaust«, sagte die beherrschte Stimme. »Die Lichtfähren warten.« »Willst du uns unterstellen, wir wollten diesen mageren Zwerg und den anderen als Sklaven verkaufen?« wollte Eisblick wissen. »Ich unterstelle nichts. Ich weiß aber, daß wir nach einem Gesetz handeln. Dieses Gesetz schreibt uns vor, daß auch diese beiden Männer auf die Lichtfähren gebracht werden.« Sadagar bemerkte, daß Mythor wie tot über der Schulter des Fängers hing. Die Lichtfähren waren also ihr Schicksal. Jene 287
dickbauchigen Galeeren, die nach Logghard gerudert wurden. Dorthin würde auch Luxon kommen müssen, sagte sich Sadagar, und jetzt hatte seine Wut ein deutliches Ziel. ENDE
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Der nächste MYTHOR-Band Gemeinsam sind Mythor und Sadagar nun unterwegs zu der Ewigen Stadt Logghard, wo die Kräfte des Lichts am stärksten sind und der Kometensohn Hilfe erwarten kann. Doch sie reisen auf der Lichtfähre nicht als Passagiere, sondern als Sklaven. Die beiden Freunde müssen deshalb alle Kräfte darauf verwenden, von der Galeere und aus dem Bereich des Seemagiers Rachamud zu entkommen. Eine gute Möglichkeit zur Flucht bietet sich, als sie Sarmara erreichen, die Insel der Träumer. Doch anstatt sich etwas ausruhen zu können, findet Mythor lediglich neue Gefahren… Die größte Gefahr aber droht dem Sohn des Kometen von jenem Schatten, der ihn schon einmal in seinen Klauen hielt und dem er nur durch das Opfer einer jungen Frau entkam. Der Schatten ist nicht gewillt, Mythor noch einmal entkommen zu lassen. So hetzt er ihn erbarmungslos immer weiter nach Süden. Und dort greift der Schatten dann nach Mythor… Mehr erfahren Sie im nächsten alptraumhaft-geheimnisvollen Band der MYTHOR-Serie:
TREIBGUT DER STRUDELSEE
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