Vampirova – eBooks Spannungsliteratur aus drei Jahrhunderten
Vampirova-Produkt # 12 7. 6. 2002
Ewen Keelie – der Verräter von Scotland Yard #1 „Der Künstler“ von Martin Clauß
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stehen, und während der Inhalt des Eimers träge in Richtung der Beamten schwappte, fragte sie: „Hat er etwas ausgefressen, der Alte?“ „Ganz im Gegenteil, Misses, ganz im Gegenteil“, erwiderte der kleinste der drei, der die Zigarrenschachtel hielt. „Ach ja, der Blumenstrauß“, lachte die Frau. „Was bin ich dumm.“ Sie schlug sich mit der flachen Hand gegen die niedrige Stirn und trollte sich den Hausflur entlang. Ihren Eimer schleifte sie dabei mehr über den schmutzigen Boden, als daß sie ihn trug. Sie ging breitbeinig wie jemand, der eine schwere Last zu tragen hatte. Der Eimer allein konnte sie kaum zu diesem schwerfälligen Gang zwingen. Der kugelförmige dicke Bauch – vielleicht war sie schwanger... Als sie bereits ganz am Ende des Korridors angekommen war, wo eine ausgetretene Treppe in die anderen Stockwerke führte, wandte sie sich noch
1 Ein großer, breitschultriger Mann mit einem Blumenstrauß. Ein großer, hagerer Mann mit einem Korb voll Äpfel und Birnen. Ein mittelgroßer, zur Korpulenz neigender, schnurrbärtiger Mann mit einer Schachtel brasilianischer Zigarren. Drei Männer, alle in den Uniformen der Metropolitan Police. Alle zwischen fünfundvierzig und fünfzig Jahre alt. Alle mit gefrorenem Lächeln auf den Lippen, das unechter und puppenhafter wurde, je länger sie vor der Wohnungstür in diesem heruntergekommenen Mietshaus warteten. Eine kleine, dickbäuchige Frau mit einem Blecheimer voll stinkender Flüssigkeit, die Putzwasser oder Erbrochenes sein konnte, blieb vor ihnen
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einmal um und rief mit unnötig lauter, schriller Stimme: „Er war mal einer von Ihnen, nicht wahr?“ In diesem Moment öffnete sich die Tür. „Horace!“ rief der Greis, der gebeugt im Türrahmen erschien. „Ich habe Sie sofort erkannt. Sofort.“ Der Alte wirkte verbogen wie ein Brett, das zu lange im Wasser gelegen hatte. Er trug eine braungrüne, zerschlissene Strickjacke und eine dünne, graue Hose. Seine Augen waren unter den faltigen Lidern kaum zu sehen, sein Mund hatte keine Lippen mehr, und das Gesicht wurde dominiert von einer beinahe überdimensionalen Nase, deren Poren wie Narben von uralten Stichwunden anmuteten. Keinerlei Wärme drang aus dem Inneren der Wohnung, obwohl der Winter nur sehr zögerlich abklang. Die drei Beamten von der Metropolitan Police froren selbst unter ihren dicken
Uniformen und fragten sich unwillkürlich, wie jemand in einem solchen Eiskeller von Wohnung überleben konnte. „Mr. Shattlebird, Sir“, sagte der mit „Horace“ angesprochene Mann mit den breiten Schultern so warmherzig wie möglich. „Ist es möglich, daß es schon über zehn Jahre zurückliegt, daß wir beide uns ein Büro teilten? Es scheint mir wie gestern.“ Die Worte kamen ohne echtes Gefühl über seine Lippen, obwohl das nicht seine Absicht gewesen war. Er hatte sie auswendig gelernt und mit Pathos vortragen wollen, doch die Schauspielerei war nie seine Stärke gewesen. Irgend etwas im Gesicht des Alten verzog sich, und die drei Männer brauchten eine Weile, um festzustellen, daß es sich ganz offensichtlich nicht um einen plötzlichen Ischiasschmerz, sondern um ein stolzes Grinsen handelte. „Und genau sechzig Jahre ist es her, seit
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ich bei der Police anfing“, fügte der Greis hinzu. Muskeln zerrten an seinen Lidern, aber sie schafften es nicht, sie anzuheben. „Auf den Tag genau, sechzig Jahre.“ „Aus diesem Grund, Sir, sind wir hier“, meldete sich der hagere Mann mit dem Früchtekorb zu Wort. „Eine kleine Aufmerksamkeit vom Yard, mit den besten Glückwünschen des Präsidiums.“ Er räusperte sich, als ihm auffiel, daß er ohne es zu wollen mitten in der Festrede gelandet war. „Im Namen von ganz Scotland Yard wünschen wir Ihnen, Mr. Shattlebird, alles erdenklich Gute, Gesundheit und ein langes Leben. Mögen Sie diesen persönlichen Ehrentag in Würde begehen, und...“ „Das ist nett von euch Jungs“, unterbrach ihn der Alte beinahe respektlos. Er grinste wieder sein kolikartiges Grinsen und schüttelte sich dabei. „Kommt doch einen Moment
herein. Bitte, tut einem alten Mann den Gefallen! Es ist niemand bei mir. An meinem Ehrentag – keine Seele.“ Die drei Beamten sahen sich an. Sie hatten sich abgesprochen, für den Fall, daß der Jubilar sie hereinbitten würde. Sie würden ihm die Bitte nicht abschlagen, aber nicht länger als ein Viertelstündchen bleiben, so lautete die Abmachung, bevor sie wieder an ihre Schreibtische zurückkehrten. Eine Menge Arbeit wartete auf sie, und stündlich stapelten eifrige Sekretärinnen neues Papier in ihre Ablagen. Der Breitschultrige ging zuerst. Sein Blumenstrauß war ein dünnes Bündel aus Wiesenblumen – das billigste, das der Florist anzubieten hatte. Der Hagere folgte, und in seinem Körbchen, das nach außen hin einen voluminösen Eindruck machte, aber ausgesprochen dicke Wände aufwies, befanden sich genau drei Äpfel und drei Birnen.
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Als letztes betrat der dickliche Mann die kalte Wohnung. Seine Zigarrenschachtel war die kleinste erhältliche Box gewesen, mit fünf Zigarren dritter Wahl darin. Dieser Mann sah sich mit großen Augen in der armseligen Behausung des ExChief Inspectors um, während die anderen darauf zu achten schienen, wohl aus Pietätsgründen, die Blicke nicht schweifen zu lassen. Sein Name war Ewen Keelie. Er war einfacher Inspector und 48 Jahre alt. Er würde schon bald der Verräter von Scotland Yard werden. Aber das wußte er noch nicht. Er begann es gerade eben erst ein wenig zu ahnen...
„trostlos“ war gewiß der bessere. Diesen weitgehend kahlen, mit ein paar Zeitungsausschnitten beklebten Wänden, diesen wackeligen Stühlen, dieser aus neun zerbröckelnden, zerlesenen Büchern bestehenden Bibliothek fehlte es nicht nur an Geld. Hier fehlte nicht nur eine angemessene Pension, um einem Menschen, der die weitaus längste Zeit seines Lebens den Bürgern Londons gedient hatte, einen würdigen Lebensabend zu ermöglichen. Hier fehlte jegliche Hoffnung, jegliches Licht und jeglicher Lebenswille. Hier hauste ein Mensch, der nichts tat als zu zerfallen, jeden Tag ein bißchen schneller. Ein einsamer, weggeworfener Mann. Ein Mann ohne jede Aussicht außer auf den Tod. „Was haben wir schon bewegt?“ nuschelte der Alte. „Was haben wir schon verändert? Jeden Tag stehen neue Banditen und Betrüger auf und lachen
2 „Ärmlich“ mochte vielleicht ein guter Ausdruck sein, um die Wohnung des ehemaligen Chief Inspector Vincent B. Shattlebird zu beschreiben, aber
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uns aus.“ Ewen Keelie hörte Shattlebirds Worte und hatte das Gefühl, etwas Wichtiges verpaßt zu haben. Einen Einschnitt, der irgendwann in den letzten Minuten stattgefunden haben mußte. Zwischen dem Greis, der ihnen geöffnet und stolz die an ihn gerichteten Grußworte entgegengenommen hatte, und jenem, mit dem sie nun an einem schäbigen Tisch saßen und der ihnen nicht einmal einen Tee anbot, weil er offenbar nicht mehr als eine Tasse besaß – zwischen diesen beiden Menschen klaffte eine Schlucht, und Keelie mußte den Moment verschlafen haben, in dem er diese Schlucht übersprang. Verschlafen, als er seine Blicke respektlos wieder und wieder über das erbärmliche Nichts dieser Wohnung gleiten ließ. Ja, vielleicht waren diese entwürdigenden Blicke sogar der Auslöser gewesen. Hatten den Alten so weit entehrt, daß er in die Gedanken
zurückfiel, die ihn zweifellos tagein tagaus begleiteten. Sein blitzlichtartiger Stolz war verpufft, als er die despektierlichen Blicke des Inspectors bemerkte. Keelie hatte das Gefühl, einen Fehler begangen zu haben, und das, ohne ein einziges Wort über die Lippen zu bringen. Zumindest aber war er hier wohl fehl am Platze. Er schämte sich und wünschte sich, der Besuch würde bald ein Ende finden. „Keine zwanzig Prozent der Verbrechen in London kann das Yard aufklären“, ereiferte sich Shattlebird. „Und die Tendenz ist fallend. Wir leben in einem Pfuhl von Unrecht und Betrug, habe ich nicht recht? Müssen wir uns da nicht früher oder später fragen, ob wir nicht Dummköpfe sind, uns hinter das Gesetz zu stellen, wenn wir mit ein paar glücklichen Betrügereien ein sorgenfreies Leben haben könnten?“
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Ein menschenwürdiges Leben, ergänzte Keelie spontan im Kopf. „Was gibt uns London dafür, daß wir ein paar seiner Ratten in Käfige sperren, wo wir die meisten doch ohnehin nie fangen werden?“ setzte der Alte seine Ansprache fort und verstummte dann. Seine Wangen war rot geworden, und das ließ das enorme Riechorgan, das sein Gesicht fast völlig vereinnahmte, noch weißer und lebloser erscheinen, als sei es längst abgestorben. Für ein paar Augenblicke senkte sich eine betretene Stille über die vier Männer. Sie hätten jetzt gewiß alle einen Schluck Tee genommen, um das Schweigen zu überbrücken – wenn sie welchen gehabt hätten. Der große, breitschultrige Mann starrte lange seine ausgefransten Fingernägel an, voller Interesse, wie es schien, und meinte schließlich, sehr leise: „Unsere Aufklärungsrate beträgt vierzig Prozent,
nicht zwanzig, Mr. Shattlebird. In diesem Fall bin ich ausnahmsweise froh, Ihnen widersprechen zu müssen.“ Die sehnige Faust des Alten fiel kraftlos auf den Tisch herab. Kein Geschirr stand darauf, das klirren oder umfallen konnte. „Sie täuschen sich, Horace. Ich spreche nicht von den offiziellen Zahlen. Die lagen sogar schon einmal bei neunzig Prozent, in meiner Jugend, als ich beim Yard anfing. Damals hatten wir nämlich ein Präsidium, das noch mehr Wert auf Optimismus legte – heute hält man Realismus für die bessere Methode und veröffentlicht Zahlen, die der Wahrheit näher kommen. Vielleicht, weil man das Volk nicht mehr länger für dumm verkaufen kann. Aber dabei vergißt man immer noch, all die Verbrechen einzubeziehen, die dem Yard niemals gemeldet werden.“ „Dieser Anteil dürfte ausgesprochen gering sein“, warf der Hagere ein, der
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insgeheim nach dem Inhalt des Früchtekorbes schielte, den er selbst mitgebracht hatte. Vermutlich hatte die unangenehme Situation seinen Appetit geweckt. Seine Nerven hungerten nach Nahrung. Shattlebird schüttelte den Kopf, und ein Staubball erhob sich davon und schwebte in majestätischer Langsamkeit durch das Zimmer. „Auch Sie irren sich, mein Freund! Ich behaupte, daß mindestens ebenso viele Verbrechen niemals bekannt werden, wie Scotland Yard gemeldet werden. Vor ein paar Monaten... warten Sie... es war im Herbst... wurde ein Stockwerk über mir eine Frau vergewaltigt. Ich habe sie schreien hören. Drei Nächte lang fand ich keinen Schlaf mehr. Ich sage euch Jungs, es erschien niemals ein Polizeibeamter im Haus.“ „Wenn uns niemand den Fall meldete, warum taten Sie es dann nicht, Mr.
Shattlebird?“ Es war das erste Mal, daß Inspector Ewen Keelie den Mund aufmachte. Es kam ohne Nachdenken aus ihm hervor, wie ein Reflex. „Ich? Und wenn ich es getan hätte – was hätte sie davon gehabt? Hätten Sie es ungeschehen machen können? Hätten Sie dafür gesorgt, daß das Kind, das dieser Gauner zeugte, wohlgenährt und wohlerzogen aufwächst? Nein, die Polizei hätte es nur schlimmer für sie gemacht, und vielleicht hätte man sie schon längst erhängt unten in der Waschküche gefunden, weil sie die vielen Fragen nicht ertrug. Vielleicht hätte sie sich ja verplappert und den Beamten verraten, daß sie vor Jahren mal einem betrunkenen Grafen in der Schenke einen Ring vom Finger zog und einige Jahre davon lebte. Vielleicht säße sie jetzt im Gefängnis dafür.“ Der Greis sah die drei Männer scharf an, einen nach dem anderen. Ihr werdet
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es für euch behalten, sagten seine Augen mit beinahe hypnotischer Kraft. Keelie spürte, daß er diese Wohnung verlassen mußte. Er fühlte sich nicht wohl. Es war kalt, er zitterte am ganzen Leib und fühlte sich von etwas Unsichtbarem bedroht. Er wollte zurück ins Yard, so schnell wie möglich. Der Alte erschien ihm jetzt nicht mehr schwach und harmlos. Seine Bitterkeit, sein Schicksal, hatte ihm Macht verliehen – die nutzlose, sinnlose Macht, die ihn dazu befähigte, drei Polizeibeamten eine Gänsehaut über den Rücken zu jagen, nicht mehr und nicht weniger. Jahre der Einsamkeit für diesen einen lächerlichen Schlag. Ewen Keelie war verletzt. Er erhob sich wortlos, wandte sich ab und ging mit langsamen Schritten zur Tür. Er achtete darauf, nicht zu schwanken, mit festen Schritten einen Fuß vor den anderen zu setzen. Die Geräusche hinter ihm
verrieten, daß die anderen ebenso aufstanden. Einige Verabschiedungen ohne Belang wurden gewechselt. Der Alte hatte sich wieder zurückverwandelt in den harmlosen Greis. „Danke. Es war mir eine Ehre, wirklich“, murmelte Shattlebird, und es klang nicht einmal mehr ironisch oder scharf. Seine Stimme war wieder die, die sie zuvor an der Tür gewesen war. Dieser eine, einzige Schlag hatte ihn erschöpft, hatte gereicht, um die Verbitterung der letzten Jahre zu verbrauchen. Was für ein armer, kranker, schwacher alter Mann Vincent B. Shattlebird geworden war... Ewen Keelie, der die Wohnung als letzter betreten hatte, verließ sie als erster. Er hastete den Flur entlang, der ihm jetzt dunkler erschien als zuvor. Die Treppen hinunter. Ganz unten begegnete ihm die Frau von vorher. Sie saß auf einer der untersten Stufen und wischte die Treppe. Keelie war auch jetzt nicht
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ganz sicher, ob sie tatsächlich schwanger war, denn ihr weites, schmutziges Kleid verbarg die genauen Formen ihres Körpers. Aber würde sie sich auf die Stufe setzen, wenn sie es nicht wäre? Im Herbst, hatte Shattlebird gesagt. Vor etwa sechs Monaten war es geschehen. Ihre Worte von eben kamen ihm in den Sinn. Er war mal einer von Ihnen, nicht wahr? Und davor: Hat er etwas ausgefressen, der Alte? Unterlassene Hilfeleistung, dachte Keelie bei sich. Unterlassene Hilfeleistung und das Versäumnis, ein Verbrechen zu melden. Aber lassen wir das. Er ist ein schwacher alter Mann. „Es war schön, daß Sie gekommen sind“, sagte die Frau. „Kommen Sie einmal wieder.“ Lächelnd sah sie den drei Männern nach, die in großer Eile und ohne ein Wort aus dem Haus gingen.
3 Drei Monate später. Ewen Keelie versuchte seit Stunden, die Leinwand für ein Ölgemälde aufzuziehen, und war mit dem Ergebnis noch immer nicht zufrieden. Er wußte nicht, wieviele der berühmten Maler ihren Canvas selbst aufgezogen hatten, aber diejenigen, die es getan hatten, begann er dafür zu bewundern, daß sie nicht bereits an diesem Punkt ihrer mühsamen Arbeit die Geduld verloren hatten. Keelie hatte vor zwei Wochen, für alle sehr überraschend, seinen Dienst bei Scotland Yard quittiert. Um Kunstmaler zu werden, wie er behauptete. Eine mutige Entscheidung, sagten seine Kollegen und klopften ihm anerkennend auf die Schulter. Eine dumme Entscheidung, dachten sie in Wirklichkeit in ihren Köpfen, und ihre Augen, die als kerzengerade Tunnel
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unmittelbar in ihre Seelen führten, machten keinen Hehl daraus. Natürlich wäre sein Entschluß ein idiotischer gewesen, wenn er auch nur eine Sekunde lang daran gedacht hätte, tatsächlich sein Glück als Kunstmaler zu versuchen. Außer ein paar Bleistiftskizzen aus Langeweile hatte er nie etwas in der Richtung gemacht, und zu sagen, daß er ein angeborenes Talent dazu hatte, wäre eine Lüge gewesen. Und doch fiel ihm nichts besseres ein, um seine wahre Absicht glaubhaft zu vertuschen. Hätte er behauptet, eine andere Anstellung anzunehmen, wäre bald aufgeflogen, daß er dies nicht tat. Hätte er vorgegeben, den Wohnort zu wechseln, wäre seinen Kollegen und Bekannten bald aufgefallen, daß er noch immer im selben Haus wohnte. Er brauchte einen Vorwand, der es ihm erlaubte, tagtäglich lange Zeit zuhause zu verbringen, sich jegliche Störung zu
verbieten, sich abzukapseln, ein gemiedener Sonderling zu werden und – eines Tages urplötzlich zu einem großen Vermögen zu kommen, ohne daß jemand stutzig wurde. Kunstmaler oder Schriftsteller – das waren seine ersten Gedanken gewesen. Der Schriftsteller schied aus dem naheliegenden Grund aus, daß ein solcher nur zu Geld kommen konnte, indem er einen Bestseller veröffentlichte. Einem Bestseller, der nirgendwo erhältlich war, konnte er seinen jähen Reichtum kaum zuschreiben. Als Maler hingegen konnte er sich brüsten, ein paar Gemälde an einen geradezu obszön reichen Mäzen oder Sammler auf dem Kontinent verkauft zu haben – vielleicht in ein italienisches Adelshaus – und niemand würde die Strapazen auf sich nehmen, die Geschichte nachzuprüfen. Ewen Keelie hatte keineswegs vor, seinen Lebensunterhalt mit dem Malen
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von Bildern zu verdienen. Er dachte überhaupt nicht an ehrliche Arbeit. Das hatte er lange genug getan; mehr als dreißig Jahre seines Lebens hatte er sich bei der Metropolitan Police abgeplagt und verausgabt, hatte ein Büro voll Akten abgelegt und einen ganzen Schweinestall voll kleiner Gauner hinter Gitter gebracht. Zwei besonders ruchlose Gesellen waren wegen ihm den Pfad zum Galgen gegangen, und der Anblick ihrer am Strick baumelnden Körper hatte ihm nicht einen Hauch von Befriedigung gegeben. Er hatte seine Arbeit ohne jede Leidenschaft verrichtet und sich manches Mal gefragt, warum eigentlich. Er war nicht auf den Kopf gefallen. Seine Ermittlungen hatten Hand und Fuß, und er beging weniger Fehler als die meisten Kollegen, denen er je begegnet war. Dennoch war er nicht weiter aufgestiegen als bis zum Inspector, und selbst der nächsthöhere Rang des Chief
Inspector schien ihm so weit entfernt wie der Mond am Himmel. Er setzte sich nicht genügend für Scotland Yard ein. Er ragte nicht hervor. Er erledigte seine Arbeit ausgesprochen gut, aber er war ein Einzelgänger, kam schlecht mit Kollegen aus, versank in der Gruppe zur Bedeutungslosigkeit. War kein guter Vorgesetzter, kein guter Organisator, nur ein guter Ermittler. Er war launenhaft und unfair, wenn er mit anderen zusammenarbeiten mußte. Er wußte das und wußte, daß er deshalb nie Karriere machen würde. Menschen wollten ihm Befehle erteilen und dann seine makellose Arbeit beobachten. Niemand wollte von ihm einen Befehl entgegennehmen. Nicht einmal er selbst hätte das gewollt. Ewen Keelie hatte nie geheiratet und nie geliebt. Wenn er eine attraktive Frau traf, so wirkten ihre körperlichen Reize so nachhaltig auf ihn, vereinnahmten ihn so
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vollständig, daß für andere Emotionen kein Platz mehr war. Die Erotik eines schönen weiblichen Körpers dominierten jede Begegnung so sehr, daß Gefühle wie Verständnis, Vertrauen oder geistige Zuneigung davon erdrückt wurden. Er verstand nicht, wie man Frauen lieben konnte. Die schönen waren wie ein Orkan der Sinne, der einen hinwegzuspülen drohte, die weniger schönen hingegen erschienen einem wie blasse graue Schatten der Schönen. Keelie verbrachte ein Leben, wie es für einen Junggesellen typisch war. Er flüchtete sich in zahllose kleine, sinnlose Absonderlichkeiten, rauchte Zigarren in der Badewanne, aß jeden Mittag gebratenen Hering im Public House „Boots and Spectacles“ gleich schräg gegenüber vom Yard, ließ seine Haare lang in die Stirn hängen wie ein Poet und schlief in der Unterwäsche anstatt in einem Nachthemd. Es waren die vielen
bescheidenen Rituale, mit denen er sich seine Freiheit bewies, seine Unabhängigkeit, und die ihn vergessen ließen, daß er ein Teil einer gigantischen Organisation war. Er hatte sich mit diesem Leben arrangiert – der Beruf bedeutete ihm weniger als seine lächerlichen Angewohnheiten, was für ihn keinen Grund darstellte, ihn weniger gewissenhaft auszuüben. Egal, ob er es zum Chief Inspector brachte, bevor er starb oder in Pension ging, er hätte dieses Leben durchhalten können, bis zum Tod. Es war nicht interessant, aber es war weitaus weniger grausam und erbärmlich als das der meisten anderen Menschen im London des Jahres 1903. Doch dann kam ihm Vincent B. Shattlebird dazwischen. Mit Ausnahme des überdimensionalen Riechorgans das genaue Bild des Mannes, der er einst sein würde: Der verarmte Greis in einer
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Wohnung aus Leere und Nichts. Keine Familie. Ersparnisse, die rasch aufgebraucht waren, und eine kümmerliche Pension, mit denen er vielleicht einige andere Menschen mit durchfütterte, die ihm in seiner Armut Gesellschaft leisteten. Die in der Nacht in dem Raum über ihm vergewaltigt wurden. Ein Chief Inspector – das höchste, was er je erreichen konnte. Das niedrigste, was er je sah. Ein Wiesenblumenstrauß, drei Äpfel, drei Birnen, fünf Zigarren. Von allem das billigste. Zu seinem Ehrentag. Dank, herzlichen Dank, ein stolzes Grinsen, und dann urplötzlich die angestaute Bitterkeit und ein eiskalter und glasklarer Blick in die Wirklichkeit, wie sie war. Die Verbrecher und Betrüger lebten besser als jene, die sie jagten. Und die Aufklärung von Verbrechen konnte diese nicht ungeschehen machen. Von Moral hatte der Alte nicht
gesprochen. Keelie rechnete ihm dies hoch an. Er hatte nur Fakten genannt, Fakten, die stets verschwiegen wurden, wenn Männer über Moral redeten. Was konnte eine Moral wert sein, die die Fakten nicht zu erwähnen wagte? Ewen Keelie interessierte sich für Fakten. Fakten waren das einzige, was seine Arbeit beim Yard ein wenig kurzweilig machte. Er war ein guter Denker, kein guter Fühler. Emotionen machten ihn nervös. Seine Gefühle waren jäh und wechselhaft, sie hatten keinen Bestand. Und deshalb keinen Wert. Eine Woche nach dem Besuch bei Shattlebird hatte er den Entschluß gefaßt, das Yard zu verlassen und Verbrecher zu werden. Kein Taschendieb oder Wettbetrüger. Es mußte etwas Großes sein, ein Coup, der ihn reich machte und ihn für den Rest seines Lebens in die Lage versetzte, zurückgezogen seinen dummen Angewohnheiten zu frönen und
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täglich ein paar neue dazuzuerfinden. Sich keiner Gruppe mehr unterwerfen, mit niemandem mehr Kompromisse schließen zu müssen, und ab und an sich vielleicht sogar von dem sinnlichen Orkan einer schönen Frau wegspülen zu lassen, die nicht von ihm erwartete, daß er sie für die Begierde, die sie in ihm entfachte, liebte. Er wartete eine Weile, bevor er den Schritt tat, nicht weil er darüber nachdenken wollte, sondern um zu verhindern, daß jemand den peinlichen Besuch bei Shattlebird mit seiner Entscheidung, das Yard zu verlassen, in Zusammenhang brachte. Nein, Ewen Keelie mußte in den Augen aller der verrückte Sonderling sein, in dem jener Künstlerwahn durchgebrochen war, der manche Zeitgenossen manchmal in die abwegigsten Abenteuer und schließlich in den Untergang trieb – niemals durfte man von ihm als dem Mann reden, dem
der Nihilismus eines senilen Greises die Sinnlosigkeit der Gerechtigkeit vor Augen geführt hatte. Einen Verbrecherkandidaten würde man strengstens beobachten, einen irren Maler bald aus dem Blickfeld verlieren. Keelies Ersparnisse würden es ihm erlauben, etwa ein Jahr ohne Einkommen durchzuhalten, wenn er nicht über die Stränge schlug. Bis dahin mußte er einen Plan ausgeklügelt haben, der ihm einen sorglosen Lebensabend bescherte. Er zweifelte nicht daran, daß ihm dies gelingen würde. Dreißig Jahre im Dienste der Metropolitan Police hatten ihn zu einem Spezialisten für Verbrechensmethoden gemacht. Er hatte miterlebt, welche Aktionen mißlangen und welche Erfolg zeitigten. Er hatte erfahren, wo die Ermittlungen ansetzten, wie Spuren gesichert und Fallen gestellt wurden. Einen besseren Meisterdieb als einen ehemaligen Kriminalpolizisten
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konnte es nicht geben. Ein zweiter Grund, weshalb Keelie seinen Dienst nicht auf der Stelle quittierte, war die Notwendigkeit, innerhalb seiner Abteilung noch einige Informationen zu sammeln, an die er später nicht mehr kommen würde, wenn er erst ein „Ehemaliger“ war. Er ging dabei höchst systematisch vor, arbeitete effektiv und für sich alleine, wie er es immer gerne getan hatte. Der nächste Schritt war, einen raschen und glaubwürdigen Anfang als Maler zu machen. Entsetzt über die hohen Preise von Ölfarben und Canvas, verwarf er den Gedanken, seine Leinwände bereits fertig bespannt zu erwerben. Er mußte sparsam sein, Zeit gewinnen, um in Ruhe einen Plan auszuarbeiten. Als Maler, das war ihm von Anfang an klar, würde er keinen Shilling verdienen können. „Schwierig?“ Ewen Keelie zuckte zusammen. Vor
dem geöffneten Fenster prangte ein ihm nicht unbekanntes Gesicht. Es gehörte Charlton Finks, einem Chief Inspector seiner Abteilung. Offenbar hatte der ehemalige Vorgesetzte ihm geraume Zeit bei seinen fruchtlosen Bemühungen zugesehen, die Leinwand ohne Falten aufzuziehen. Ewen schluckte den Schrecken hinunter und erwiderte nichts. „Sie dürfen nicht so akkurat sein wie beim Yard“, meinte Finks und setzte ein breites Grinsen auf, das jeden Zahn seines Pferdegebisses entblößte. „Kunst ist doch etwas Lockeres, Spontanes...“ „Nicht gute Kunst“, versetzte Keelie altklug, und das Grinsen des Chief Inspectors verschwand. „Haben Sie schon die Neuigkeiten gehört, Keelie? Die Geschichte mit dem Goldraub in der Whining Street?“ „Goldraub?“ Ewen Keelie, der auf dem Fußboden gekniet hatte, ließ die
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Leinwand sinken und richtete sich auf. Mit verzerrtem Gesicht massierte er seine eingeschlafenen Beine und trat von einem Fuß auf den anderen. „Ich habe nichts in der Zeitung gelesen. Das letzte, was ich über ein Verbrechen las, war diese Ankündigung eines Verrückten, die Kronjuwelen zu stehlen.“ Er schüttelte ausgiebig den Kopf, als sei ihm dieser ebenfalls eingeschlafen. Finks nickte, und in dieser harmlosen Geste lag etwas Bedeutungsschweres. „Richtig. Ein anonymer Briefeschreiber sagte in einem Schreiben an das Yard für heute morgen um vier Uhr dreißig den Diebstahl der Kronjuwelen im Tower of London voraus. Der Polizeischutz des Towers wurde auf diese Warnung hin verfünffacht.“ „Verfünffacht...“ Keelie schien sich dieses Wort auf der Zunge zergehen zu lassen. „Mit Verlaub, Sir, bereits eine Verdoppelung des Aufwands an Polizisten
scheint mir eine Verschwendung zu sein. Die Juwelen sind weißgott ausreichend geschützt – die Bürger Londons zahlen ein Vermögen dafür. Nur ein größenwahnsinniger Irrer kann planen, den Tower auszurauben, nachdem er vorab eigens noch die Polizei über sein Vorhaben informiert hat.“ Finks zuckte die Schultern. „So hätten wir es auch gesehen, Keelie. Wären nicht in diesem Brief einige Informationen enthalten gewesen, die uns bewiesen, daß der größenwahnsinnige Irre, wie Sie ihn nennen, wesentlich gefährlicher ist, als Sie ihn einschätzen.“ „Was meinen Sie damit? Welche Informationen?“ „Informationen bezüglich der Details der Bewachung. Aus dem Schreiben ging hervor, daß der Verfasser außergewöhnlich genau Bescheid darüber weiß, wie der Schutz der Kronjuwelen organisiert ist. Zeitpunkte von
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Wachablösungen, Namen von Wachleuten und einige Dinge mehr, die in der Öffentlichkeit niemandem bekannt sind, nicht einmal den einzelnen Wachleuten selbst. All das war in dem Schreiben aufgeführt.“ Keelie sagte nichts. Konnte nichts sagen. Auf einmal wurde ihm warm. „Wir müssen davon ausgehen, daß der Verfasser des Briefes ein Mitglied Scotland Yards ist“, fuhr Finks fort. Dann machte er eine Pause. „Oder... bis vor kurzem ein Mitglied davon war...“ „Unglaublich“, flüsterte Keelie. „Unglaublich.“ Dann riß er die Augen auf und tat, als würde ihn ein plötzlicher Gedanke zutode erschrecken. Hoffentlich war dem Beamten nicht aufgefallen, daß er schon einige Zeit vorher erschrocken war. „Das würde... das könnte... denken Sie etwa an... mich, Chief Inspector?“ Finks sah ihn mit einem ganz und gar undurchdringlichen Blick an, der alles auf
der Skala der möglichen Antworten bedeuten konnte. Bevor der Chief Inspector etwas antworten konnte, hakte Keelie nach: „Aber wurde denn etwas gestohlen? Von den Kronjuwelen? Sie sprachen von einem Goldraub, Sir, in der... Whining Street...“ Charlton Finks hob die Hände. „Wollen Sie mich endlich hereinbitten, oder soll ich Ihnen die ganze Geschichte durchs Fenster erzählen?“ Keelie fand, daß Finks sich gab, als befände er sich bereits mitten in einem Verhör. Schließlich war dies seine Wohnung, und er hatte nicht die geringste Verpflichtung, den Mann zu sich einzuladen. Natürlich tat er es trotzdem. „Während das fünffache Kontingent an Beamten den Tower bewachte, wurde in einem Juweliergeschäft in der Whining Street eingebrochen. Der oder die Täter
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erbeuteten Gold im Wert von einigen Tausend Pfund. Da es in dieser Straße mehrere Juweliere gibt, wie Ihnen sicher bekannt ist, Keelie, wird die Gegend sehr aufmerksam von einer Streife bewacht. Jede Nacht, bis auf die letzte. Denn die Streife wurde abgezogen und zur Bewachung des Tower eingesetzt. Nach einem festen Geheimplan, der genauestens regelt, welche Streifen zu Sondereinsätzen abgezogen werden und welche nicht.“ „Ich kenne den Plan, Sir“, sagte Keelie. „Ich war im Herbst letzten Jahres anwesend, als wir ihn erstellten.“ Charlton Finks nickte anerkennend, als bewundere er sein Gegenüber für seine Aufrichtigkeit. „Das wußte ich.“ Keelie drehte seinen Sessel ein wenig, damit er seinem ehemaligen Vorgesetzten genau gegenüber saß. „Ich... konnte damals nicht viel zu der Organisation beitragen, aber die
Aufteilung ist mir teilweise noch gegenwärtig. Manches davon habe ich vergessen. Es waren zehn Seiten, glaube ich.“ „M-hm“, meinte Finks nur und schwieg. Es war schwer zu sagen, ob er schwieg, um Keelie zu verunsichern, oder ob er tatsächlich nicht mehr weiterwußte. „Scotland Yard wurde also getäuscht“, faßte Keelie etwas zusammen, bei dem es nicht viel zusammenzufassen gab. Er redete, weil er die Stille nicht mochte. Nicht in dieser Situation. „Jemand hat dafür gesorgt, daß die Luft für seinen Einbruch rein ist. Und dies kann nur jemand gewesen sein, der den genauen Einsatzplan kannte. Den Plan, bei dessen Erstellung ich damals anwesend war... Sir, Sie glauben, daß... ich es getan habe?“ Finks zog die Mundwinkel nach unten. „Wo waren Sie heute morgen um vier Uhr dreißig?“ fragte er dann ruhig.
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„Hier, in meinem Bett. Ich habe bis... kurz vor neun geschlafen. Ich bin kein Frühaufsteher, das wissen Sie, Chief Inspector. Ich bin schon beim Yard ab und zu zu spät zum Dienst erschienen, und jetzt, da ich keine Verpflichtungen mehr habe...“ „...jetzt, da Sie Künstler geworden sind...“ sagte Finks, und er ließ es klingen wie ein Selbstgespräch, „... ein Künstler, der nicht einmal eine Leinwand aufziehen kann...“ „Versuchen Sie es selbst, Sir!“ schrie Keelie und erschrak über seine eigene laute Stimme. „Es ist nicht so einfach, wie es aussieht.“ „Da haben Sie recht, mein Lieber“, meinte Finks süffisant. „Es ist nicht so einfach, wie es aussieht. Scotland Yard verlassen und keine zwei Wochen später das Schachspiel auf einmal mit den schwarzen Figuren versuchen, obwohl man sich – wie lange noch gleich? –
dreißig Jahre an die weißen gewöhnt hat...“ „Sir!“ Keelie war aufgesprungen. Als Finks keine Reaktion zeigte und ihn weiterhin überheblich ansah, setzte er sich wieder. Er wußte nicht, wohin mit seinen Händen. Wenn er sie auf die Sessellehnen legte, wo sie hingehörten, sah man ihr Zittern überdeutlich. Er mußte sich zur Ruhe zwingen, durfte nicht zulassen, daß sein labiles emotionales Gleichgewicht völlig zerbrach. Was war eigentlich geschehen? Er hatte nichts getan – fieberhaft erinnerte er sich selbst daran, daß er nichts getan hatte. Nichts, wofür er sich zu verantworten hatte. Er hatte nur ein paar Dinge gedacht, in Erwägung gezogen, noch nicht einmal einen konkreten Plan aufgestellt. Und nun geschah ein Verbrechen, das seiner Situation geradezu auf den Leib geschnitten war. Das er vielleicht selbst
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eines Tages in einer ähnlichen Form hätte durchführen mögen. Aber nicht so früh, nicht kurz nachdem er gekündigt hatte. Wenn überhaupt, dann erst in einigen Monaten, wenn keiner mehr an ihn dachte. Ein Zufall! Es war ein schrecklicher, idiotischer Zufall, dieses Verbrechen! Ein Zufall, der seine gesamten Pläne zunichte machte. Der es ihm bis in alle Ewigkeit unmöglich machen würde, einen Diebstahl zu begegehen, bei dem Kenntnisse eine Rolle spielten, die er bei seiner Arbeit erworben hatte. Selbst wenn er beweisen konnte, daß er diesen dummen Goldraub nicht begangen hatte, würde er in Zukunft immer der erste sein, den Scotland Yard bei einem gerissenen Diebstahl verdächtigte. Ein nahezu perfekter Plan – und ein absurdes Schicksal hatte ihn jäh zerschmettert. Was nutzte es ihm jetzt, daß er den Raub nicht verübt hatte? Er würde nie einen
verüben können, nie! Er würde stattdessen als erfolgloser Kunstmaler im Armenhaus landen oder eine Stellung als Pferdeknecht oder Leichengräber annehmen müssen. Er fixierte die Augen des Chief Inspectors wieder, nachdem seine Blicke eine Weile im Zimmer umhergeirrt waren. Diese Augen waren sehr ruhig, und interessanterweise strahlte ein wenig ihrer Ruhe auf ihn ab. Er hatte nichts getan. Noch war er nicht im Armenhaus. Er würde schon etwas finden, um sich über Wasser zu halten. Schließlich war kein Dummkopf – nur ein vermaledeiter Unglücksrabe... Dann schoß ihm ein vollkommen anderer Gedanke durch den Kopf. Konnte es einen solchen Zufall in der Wirklichkeit überhaupt geben? Bot sich nicht eine bessere Erklärung für das an, was ihm gerade widerfuhr? Ewen Keelie holte tief Luft. Zweimal.
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Dann sagte er: „Sie erlauben sich einen Scherz mit mir, Sir...“ Finks ging nicht darauf ein. „Können Sie bezeugen, daß Sie heute morgen um vier Uhr dreißig in ihrem Bett geschlafen haben?“ „Ein Scherz“, wiederholte Keelie. „Ich fragte Sie, Mr. Keelie, können Sie bezeugen, heute morgen...“ „Nein!“ brüllte der ehemalige Inspector. „Ich schlafe alleine – keine Frau wärmt meinen Leib wie den Ihren, keine hundert Polizisten bewachen mich wie die Kronjuwelen...“ Finks lachte über Keelies verzweifelten Anflug von Humor. „Sie haben kein Alibi, Keelie.“ „Und kein Motiv.“ Finks nickte. „Richtig. Ich vergaß ja, Sie wollen unbedingt Maler werden – und dazu brauchen Sie ja gar kein Gold, nur ein paar Pinsel und etwas Leinwand.“ „Es stand nichts davon in der Zeitung
heute morgen. Es ist ein Scherz“, beharrte Keelie. „Es geschah viel zu spät für die Morgenausgabe. Haben Sie die Abendzeitung schon gelesen? Sie ist eben erschienen.“ Finks kramte von unter seiner Jacke eine kaum zerknitterte Ausgabe hervor und reichte sie dem Gegenüber. Er mußte nicht lange suchen – die Meldung hatte es bis zur Schlagzeile geschafft. POLIZEI ÜBEL GETÄUSCHT – SELBSTERNANNTER KRONJUWELEN-DIEB SCHLÄGT ANDERNORTS ZU Keelie überflog den Artikel. Wenigstens stand darin nichts davon, daß man den Täter in den Kreisen Scotland Yards suchte. „Ich war es nicht, Chief Inspector. Ich habe das nicht getan.“ Er wollte hinzufügen: Ich könnte so etwas nicht tun. Aber er fürchtete sich davor, der Beamte könnte die Lüge in seinen Worten
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erahnen. Finks nickte wieder, aber er hatte nun schon so oft genickt, daß diese Geste jede Bedeutung verloren hatte. „Ich habe eine andere Frage an Sie, Keelie. Können Sie sich noch erinnern, wer außer Ihnen damals an der Planungssitzung teilgenommen hatte?“ „Als es um die Organisation der Streifenbeamten in Sonderfällen ging?“ „Genau jenen Plan meine ich.“ Keelie dachte nach und nannte stockend einige Namen. Nach einer Weile gab er es auf und fragte: „Habe ich jemanden vergessen?“ „Ja, zwei: Roader und Fitzgerald.“ „Roader und Fitzgerald...“ Keelie schloß die Augen. Richtig. Fitzgerald war kurz nach der Sitzung an Tuberkulose erkrankt und Anfang des Jahres verstorben. Roader war der große, hagere Beamte, der ebenfalls an dem Gratulationsbesuch bei Vincent B. Shattlebird teilgenommen
hatte. Er hatte den Früchtekorb getragen. Etwas in Keelie verkrampfte sich. Roader war bei Shattlebird gewesen! Ein neuer Zufall! „Was ist mit Roader?“ fragte Keelie. „Ist etwas mit Roader? Spielt er irgend eine Rolle?“ „Wußten Sie es nicht?“ meinte Finks. Schwer zu sagen, ob seine Verwunderung gespielt war. „Roader quittierte ebenfalls den Dienst beim Yard...“ „Das ist...“ Keelies Gedanken rasten. Roader war vor kurzem in eine andere Abteilung versetzt worden. Keelie, der den frömmelnden Schwächling noch nie gemocht hatte und ohnehin kein geselliger Mensch war, hatte keinerlei Kontakt zu ihm gehabt, und seit er die Abteilung gewechselt hatte, war er ihm nur selten im Gebäude begegnet. Aber: Roader hatte dasselbe erlebt wie er. Hatte Vincent B. Shattlebird gesehen, seine Wohnung, die schwangere Frau auf
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der Treppe, und er hatte die Worte des alten Mannes gehört - - und womöglich dieselben Schlüsse daraus gezogen, dieselbe Entscheidung getroffen? „Roader hat gekündigt?“ fragte er mit tonloser Stimme. „Ja, zwei Wochen vor Ihnen, also vor etwa einem Monat. Er sagte, er wolle Schriftsteller werden...“ Vor Keelies Augen wurde es schwarz, und er mußte alle Konzentration aufbieten, um nicht das Bewußtsein zu verlieren.
erinnerte sich an Bruchstücke seiner Adresse und hatte ihn nach einigem Herumfragen in der Nachbarschaft rasch aufgespürt. Immer wieder sah sich Keelie um, doch niemand schien ihn zu beschatten. Er legte den Weg zu Fuß zurück, um sich das Geld für die Kutsche zu sparen, und brauchte fast zwei Stunden dafür. Als er bei Roader eintraf, war es längst dunkel. Der ehemalige Kollege hatte ihn hereingebeten und ihm einen Platz am winzigen Kamin angeboten. „Kann ich Ihnen vertrauen, Keelie?“ fragte der ehemalige Yard-Mann unvermittelt. „Sind Sie gläubig?“ Ewen Keelie verzog den Mund. „Wenn ich Ihre zweite Frage mit Nein beantworte, macht Ihre erste dann noch einen Sinn?“ Roader schien zu überlegen. Er hatte helle Augen, die selbst aus dem sorgenvollen Gesicht, das er jetzt
4 „Schriftsteller“, sagte Ewen Keelie, als greife er die Worte des Chief Inspector auf. Doch nun saß er nicht mehr Finks gegenüber, sondern Roader. Nachdem der ungebetene Besucher ihn verlassen hatte, hatte er eine Stunde gewartet und sich schließlich auf den Weg gemacht, um den ehemaligen Kollegen aufzusuchen. Er
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machte, noch wie zwei Sterne hervorstrahlten. „Das heißt, Sie glauben nicht an Gott, aber an die Ehre?“ „Weder noch“, erwiderte Keelie kurzangebunden. „Aber wenn Sie mir etwas anvertrauen möchten, verspreche ich trotzdem, es für mich zu behalten.“ Roader versank in langem Grübeln. Er trank hastig Wasser aus einem großen Glas, während Keelie das seine noch nicht angerührt hatte. „Gott hat mich bestraft, Mr. Keelie“, begann der Hagere dann, und sein Gesprächspartner ahnte, daß eine längere Beichte daraus werden würde. Allerdings wurde es eine, deren Inhalt ihn verblüffte. Roader wollte ihm keineswegs ein Verbrechen gestehen, wie er angenommen hatte. Fasziniert lauschte er den Ausführungen. „Der Besuch bei Shattlebird warf mich völlig aus der Bahn. Vielleicht haben Sie es auch gespürt: Diese Armut, diese Enttäuschung. Ich wollte dem alten Mann
Gottes Trost spenden, hatte mir schon eine kleine Rede zurechtgelegt, in der ich ihm ein Gleichnis aus der Heiligen Schrift erzählen wollte, aber dann... dann standen Sie so plötzlich auf, wir mußten alle gehen, und – ich fand später nicht den Mut, ihn alleine ein zweites Mal aufzusuchen.“ „Das kann ich nachempfinden“, meinte Keelie. „Mir erging es ähnlich.“ Er mußte an die offenbar Schwangere im Treppenhaus denken. „Ich wollte einfach nicht so enden wie er.“ „Verständlich. Und Sie beschlossen dann, auf die andere Seite des Gesetzes zu wechseln?“ Einen Augenblick später bereute er seine Worte schon, denn Roader richtete sich kerzengerade im Sessel auf, und seine hellen Augen explodierten förmlich vor Licht. „Das würden Sie mir zutrauen, Keelie? Nein, nein, ich glaubte, in der
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Schriftstellerei einen Weg finden zu können.“ Keelie räusperte sich und zupfte sich verlegen am Schnurrbart. „Verzeihen Sie meine Taktlosigkeit, Roader. Ich hatte vergessen, daß Sie ein Christ sind. Und daß ein gewisser Arthur Conan Doyle mit seinen Detektivgeschichten um Sherlock Holmes im Strand Magazine gutes Geld verdient. Sie hofften also, es ihm mit Ihren Erfahrungen gleichtun und sich als Schreiber von diesen Kriminalromanen, die neuerdings so in Mode gekommen sind, einen angenehmeren Lebensabend verdienen zu können als die kärgliche Pension von Scotland Yard es Ihnen ermöglichen würde.“ „Sir!“ rief Roader erregt und ballte die Fäuste. „Ich verstehe allmählich, woher Sie den Ruf eines gefühllosen Egomanen haben! Sie schaffen es, auch den geduldigsten Menschen gegen sich aufzubringen!“
Keelie verstummte. Er atmete tief durch und versuchte seiner Stimme einen weichen, verständnisvollen Klang zu geben. „Bitte, Mr. Roader, erzählen Sie weiter.“ „Nur, wenn Sie mir versprechen, mich nicht wieder mit Ihren geschmacklosen, entwürdigenden Spekulationen zu unterbrechen. Ich habe den Eindruck, Sie reden die ganze Zeit in Wirklichkeit über sich selbst!“ In Keelie schrillte eine Alarmglocke. Das Gespräch schlitterte mit atemberaubender Geschwindigkeit in eine riskante Richtung. Er hatte wahrhaftig in den letzten Minuten nichts anderes getan, als seine höchstpersönlichen Gedankengänge auf sein Gegenüber zu projizieren und ohne jede Vorsicht auszusprechen. Wenn er so weitermachte, konnte er ebenso gut gleich zu Chief Inspector Finks gehen und ihm sein eigenes zwielichtiges Vorhaben
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beichten. „Ich schwöre, ich werde nichts dergleichen mehr von mir geben“, sagte er leise. Roaders kämpfte sichtlich gegen seine eigenen Zweifel an und fuhr schließlich fort: „Nicht das Geld war es, das mich dazu trieb, die Metropolitan Police zu verlassen. Es war der Versuch, meiner erschütterten Seele einen neuen Lebenssinn zu geben. Wenn Shattlebird damit recht hatte, daß die Aufklärung von Verbrechen der Gesellschaft keinen Dienst erweist, wie konnte man sonst gegen das Böse in unserer Welt vorgehen? Mein Gedanke war, daß ein Schriftsteller, der über Verbrechen schrieb, davon, aus welchen niederen Trieben heraus sie entstehen, von ihrer Entdeckung und Aufklärung und von der unvermeidlichen Bestrafung der Gesetzesbrecher – daß ein solcher Schriftsteller, wenn seine Werke bekannt
würden, mehr zu der Dezimierung des Verbrechens in unserer Gesellschaft beitragen könnte als ein Polizeibeamter.“ „Ein Gedanke, der es gewiß wert ist, überlegt zu werden“, versuchte Keelie es mit Schmeichelei, einem ihm wenig vertrauten Terrain. Er hielt Roaders Gedankengang keineswegs für nachdenkenswert, eher für in höchstem Maße weltfremd. „Nun, Mr. Keelie“, sagte Roaders, und seine Stimme klang hart wie Granit, „Gott der Herr zeigte mir, daß ich mich irrte. Kaum hatte ich einige Seiten meines Erstlingswerkes verfaßt, da ließ er etwas geschehen, das meine dumme Planung zunichte machte.“ Dieses Gefühl kenne ich, dachte Keelie. Dumme Planung zunichte gemacht. Ei, woher kenne ich das nur? „Haben Sie über den Juwelenraub geschrieben, der sich heute morgen ereignete?“ erkundigte er sich sachlich.
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„Ja. Und zwar exakt so, wie er über die Bühne ging.“ „Interessant. Aber wenn ich Sie recht verstehe, haben Sie das Verbrechen nicht begangen, nicht wahr?“ Roaders Augen verengten sich und verschossen ihre weißen Blitze in gebündelter Form. „Natürlich nicht. Natürlich nicht.“ „Sie haben die Wachorganisation so beschrieben, wie sie von Scotland Yard gehandhabt wird? Sie haben den dafür zuständigen Plan eins zu eins in ihrem Roman verwendet?“ „Das klingt dramatischer als es war. Ich habe nur einen einzigen Bruchteil davon benutzt – nur einige Informationen über den Schutz des Towers, ein paar Termine und Namen und natürlich den Abzug der Streife in der Whining Street.“ „Haben Sie nicht eine Sekunde daran gedacht, daß diese vertraulichen Informationen, wenn sie einen breiten
Leserkreis erreichen, eben diesen Überfall erst ermöglichen könnten?“ „Natürlich habe ich das bedacht! Halten Sie mich nicht für einen Trottel, Mr. Keelie! Aber in meinen letzten Arbeitstagen beim Yard habe ich mitbekommen, daß dieser Plan gerade komplett umgearbeitet wird. Bereits nächsten Monat soll ein neues Konzept in Kraft treten, das die gesamte Organisation der Polizeistreifen und der Bewachung des Towers flexibler und weniger durchschaubar macht. Falls der Roman je veröffentlicht worden wäre, dann wohl kaum in den nächsten Wochen. Schließlich habe ich ja eben erst zu schreiben begonnen. Zum Erscheinungstermin wäre das jetzige System längst Schnee von gestern gewesen und hätte keinerlei Schaden angerichtet.“ Keelie legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die Decke. Sprach
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Roader die Wahrheit, oder log er? Er beschloß, vorerst beide Möglichkeiten im Kopf zu behalten. „Darf ich das Romanfragment sehen?“ fragte er. Roader zuckte die Schultern. „Ich habe es verbrannt.“ „Natürlich.“ Keelie nickte verstehend. „Scotland Yard hätte Sie für den Schuldigen gehalten, wenn man es bei Ihnen gefunden hätte.“ „Mr. Keelie! Sie haben geschworen, sich Ihre unangebrachten Interpretationen zu verkneifen! Stehen Sie zu Ihrem Ehrenwort! Freilich habe ich das Manuskript nicht vernichtet, um Beweismaterial zu beseitigen.“ „Ach nein? Wozu dann?“ „Um Gott zu zeigen, daß ich sein Zeichen verstanden habe und mich seinem Willen füge. Daß ich das dumme Vorhaben, Kriminalromane zu schreiben, aufgebe. Daß ich nicht mehr glaube, der Gesellschaft dadurch einen Dienst
erweisen zu können.“ „Ich verstehe. Das ist schade. Ich meine, vielleicht hätte das Manuskript uns oder das Yard auf eine Idee gebracht, wo der Täter zu suchen ist. Immerhin sind Sie es offenbar nicht, und ich bin es ja auch nicht.“ „Tatsächlich?“ vergewisserte sich Roader. „Finks hat Sie doch gewiß auch besucht, oder?“ Keelie lachte. „Ich bitte Sie – dieser Zufall wäre dann wohl doch zu unglaublich! Sie beschreiben ein Verbrechen, ich begehe es fast zeitgleich in identischer Weise – lächerlich.“ „Es gibt keine Zufälle“, gab der gläubige Mann zu bedenken. „Verzeihen Sie, das hätte ich beinahe vergessen.“ Und plötzlich wurde Keelie wieder ernst. Ja, das hatte er beinahe vergessen. Keine Zufälle. Da war Roaders Manuskript, dann das identische Verbrechen. Also gab es nur eine
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denkbare Lösung, wenn man Gott aus dem Spiel ließ und Roaders Unschuldsbeteuerungen glaubte: Eine weitere Person hatte das Romanfragment gelesen... „Nun“, begann Roader leise. „Es existiert noch eine... Abschrift des Textes. Ich wollte morgen dafür sorgen, daß sie ebenfalls vernichtet wird. Heute war es mir nicht möglich. Ich war zu erschrocken, als ich von dem Juwelendiebstahl hörte, um gleich daran zu denken.“ „Eine Abschrift! Wo?“ Roader wand sich. Ihm schien die Angelegenheit peinlich zu sein. „Eine... Freundin von mir, die über jeden Zweifel erhaben ist, hat den Text für mich auf der Maschine abgetippt. Ich selbst besitze keine dieser Schreibmaschinen und schreibe deswegen mit der Hand. Aber in der Firma meiner Bekannten steht eine Maschine. Sie arbeitet dort als
Sekretärin. Sie bot mir an, das Manuskript nach Dienstschluß dort ins Reine zu schreiben. Es läßt sich dann leichter bearbeiten, wissen Sie. Wir haben letzte Woche einen Versuch gemacht – sie hatte begonnen, die ersten Seiten abzuschreiben.“ „Und die maschinengeschriebe Kopie liegt noch in irgend einer Ablage auf ihrem Schreibtisch, nehme ich an?“ „Möglich. Wenn sie es nicht zu sich nach Hause genommen hat.“ „Wie heißt die Firma?“ Roader nannte einen Namen, ohne zu zögern. Keelies Gesichtsausdruck verhärtete sich. Zum ersten Mal griff er nach dem Wasserglas und nahm einen tiefen Schluck. „Chad Strealey“, murmelte er im Selbstgespräch. Dann hob er den Blick und meinte: „Ich denke, der Täter steht fest. Am besten wird es sein, wir beide
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gehen jetzt sofort zu Scotland Yard.“ Ewen Keelie zog seine Taschenuhr hervor und warf einen Blick darauf. „Neun Uhr. Der Mann, den ich für den Täter halte, hat vor einer halben Stunde seine Arbeit angetreten. Er ist Nachtwächter in der Firma, bei der Ihre Bekannte arbeitet, und kein ganz unbeschriebenes Blatt. Sein Name ist Chad Strealey.“ Roader starrte sein Gegenüber entgeistert an. „Der Name ist mir in irgend einer Akte schon einmal begegnet. Sie glauben, der Nachtwächter hat das Manuskript gelesen und den Raub genauso durchgeführt?“ „Gewiß. Das hat er. Ihre Idee war gut, doch fehlte Ihnen die verbrecherische Motivation, sie in die Tat umzusetzen. Ihm dagegen mangelt es eher an Ideen denn an dieser Motivation. Diese hat er schon mehrmals unter Beweis gestellt.“ Roader zeigte sich erschüttert. Die Vorstellung, ungewollt einem Verbrecher
die Hintergrundinformationen für seine Tat geliefert zu haben, schien ihm nicht zu behagen. „Kommen Sie, Roader. Und machen Sie kein solches Gesicht! Es ist niemand zu Schaden gekommen, falls der Dieb gefaßt wird, Sie tragen so oder so keine Schuld, und wenn Sie genügend Reue zeigen, wird man Sie sogar wieder in die Reihen des Yard aufnehmen, da bin ich ganz sicher. Es war klug von Ihnen, sich mir anzuvertrauen, auch wenn ich Ihr Vertrauen mit respektlosen Bemerkungen arg überstrapaziert habe. Falls der Verbrecher keine Spuren hinterlassen hat, hätte man ihn diesmal vielleicht nie erwischt. Ach ja... und wenn ich Ihnen noch einen persönlichen Rat geben darf, Mr. Roader...“ Die hellen Augen sahen Keelie skeptisch an. Dieser lächelte geheimnisvoll. „Behalten Sie Ihre frommen Gedanken
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für sich, wenn wir beim Yard vorsprechen. Man wird vor dem Hintergrund dieses Falles vielleicht nicht allzu erfreut sein, so etwas zu hören.“ „Wie soll ich das bitte verstehen?“ Verwirrung und Entrüstung hielten sich auf Roaders Gesicht die Waage. „Dieser Chad Strealey, der aller Voraussicht nach den Juwelenraub beging, kam oft mit dem Gesetz in Konflikt, und daß man ihm heute wieder eine verantwortungsvolle Arbeit anvertraut hat, rührt alleine daher, daß er sich angeblich zu Gott bekehrt hat und seine früheren Sünden bereut. Das tat er allerdings nicht zum ersten Mal. Manche Firmenchefs haben ein weiches Herz für Menschen wie ihn. Vielleicht ist ein solch frommer Vorgesetzter ja auch der Grund dafür, daß Ihre... Bekannte, die gewiß Ihren hoffnungsvollen Glauben teilt, dort als Sekretärin arbeitet. Schade, daß solche leichtgläubigen Menschen immer
wieder böse getäuscht werden...“ Roader entgegnete nichts darauf. Man sah ihm allerdings an, daß ihm eine Menge Erwiderungen auf der Zunge lagen. Die beiden Männer schlüpften in ihre Mäntel und verließen das Haus, um sich auf den Weg zum Hauptquartier der Metropolitan Police zu machen. Keelie trat als erster hinaus. Rechts neben der Tür lehnte eine dunkle Gestalt an der Wand. Im ersten Moment erschrak der Schnurrbärtige, dann entspannte er sich wieder, als er den Schatten erkannte. „Chief Inspector Finks!“ rief er aus, und Roader kam geduckt hinter ihm aus der Tür, wie ein reumütiger Sünder. „Sie geben sich höchstpersönlich die Ehre...“ Finks regte sich nicht, behielt seine gelassene Pose bei. „Sie werden verstehen, daß mich interessiert, was Sie bei Roader suchen.“
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„Natürlich“, lächelte Keelie. „Eine geheime Zusammenkunft der beiden Hauptverdächtigen gibt Anlaß zu manchen Spekulationen. Man hat mich also doch beschattet. Respekt, Sie waren gut, Sir, ich habe Sie nicht bemerkt. Ich muß Sie allerdings enttäuschen. Wir sind nicht viel weiter gekommen bei unserer Planung des nächsten Goldraubs. Jetzt, wo das Yard einmal darauf reingefallen ist, wird sich der Coup wohl kaum wiederholen lassen...“ Charlton Finks drehte langsam den Kopf und betrachtete Keelie mit sezierendem Blick. Es war ein dunkler Ort. Die nächste Gaslaterne stand zwanzig Meter entfernt. Keelie hatte den Chief Inspector eher an seiner Körperform erkannt als an seinem Gesicht. Es war möglich, nein, wahrscheinlich, daß sich noch mehr Beamte in der Nähe aufhielten und die Szene beobachteten. Finks war kein
großer Kämpfer – er würde nicht so gelassen an der Hauswand lehnen, wäre er sich seiner Sache nicht ziemlich sicher. Keelie versuchte, die Dunkelheit mit seinen Blicken zu durchbohren, konnte aber keinen entdecken. „Sir, wir haben in einem kurzen, intensiven Gespräch den Täter identifiziert“, sagte der ehemalige YardMann. „Mr. Roader ist in die Angelegenheit verwickelt, trägt aber keinerlei Schuld. Er wird Ihnen alles erklären. Für den Augenblick ist es aber wichtig, daß Sie sich um einen Mann kümmern, der jetzt als Nachtwächter arbeitet. Chad Strealey.“ „Strealey!“ rief Finks aus, und seine Gelassenheit verwandelte sich in offenes Interesse. „Er müßte vor einer starken halben Stunde seinen Dienst angetreten haben. Sie wissen, wo, Sir?“ Finks nickte nur.
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Eine Stunde später saßen Finks, Keelie und Roader zusammen in einem Büro des Yard. Es war nach zehn Uhr abends. In den meisten Zimmern des Polizeigebäudes brannte kein Licht mehr. „Strealey ist heute nicht zum Dienst erschienen“, faßte Finks einen Bericht zusammen, den er eben von einem seiner Männer erhalten hatte. „Da er sich auch zuhause nicht aufhält, gehen wir davon aus, daß er flüchtig ist.“ „Das macht Sinn“, meinte Keelie nachdenklich. „Chad Strealey war noch nie besonders helle. Als er den Diebstahl verübte, hielt er sich wahrscheinlich für den klügsten Verbrecher aller Zeiten. Dabei stammten weder die Recherchen noch die Idee von ihm. Kurz nach der Tat, spätestens aber heute abend, fiel ihm auf, daß die Spur über das Manuskript schnellstens zu ihm führen würde. Irgend jemand mußte es ja schließlich verfaßt haben und sich daran
erinnern. Er konnte ja nicht wissen, daß der Autor die Abschrift zu vernichten beabsichtigte und der Polizei nichts davon erzählen würde – ganz ohne verbrecherische Absicht, wie ich betonen möchte, eher aus dem abergläubischen Wunsch heraus, den verfluchten Text aus der Welt zu schaffen.“ Bei dem Wort „abergläubisch“ zuckte Roader sichtlich zusammen, widersprach jedoch nicht. Seine Augen schossen wasserklare Blitze in Keelies Richtung. „Erstaunlich“, flüsterte Chief Inspector Finks, „wirklich erstaunlich.“ Er tat, als würde er laut denken und ließe die beiden Anwesenden nur unabsichtlich an seinen Gedanken teilhaben. „Nun will der Mann ein Künstler werden, und schon betätigt er sich wieder äußerst erfolgreich als Detektiv. Was hat ihn wohl zu Mr. Roader getrieben?“ „Nun, Sie hatten mich im Verdacht, Sir, und ich ihn. Das liegt doch auf der Hand.
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Ich wußte schließlich, daß ich es nicht getan hatte.“ „Und jetzt sind Sie doch beide unschuldig.“ „Ganz richtig, Sir.“ „Sagen Sie, würde es Sie sehr verletzen, Mr. Keelie, wenn ich Ihnen verraten würde, daß ich trotzdem in Zukunft ein Auge auf Sie haben werde?“ Keelie lachte spöttisch durch die Nase. „Nicht wirklich, Sir. Es scheint mir eine nachvollziehbare Entscheidung für einen verantwortungsbewußten Polizeibeamten.“ Der Chief Inspector lächelte milde, wie man gnädig über einen schlechten Witz hinweggeht, und wandte sich an Roader. „Werden Sie wieder in den Polizeidienst treten, Mr. Roader? Die Schriftstellerei hat Ihnen bisher wenig Glück gebracht.“ „Ich denke darüber nach, Sir“, sagte der Angesprochene, und es klang aufrichtig.
Ewen Keelie schnupperte an dem Tee, den Finks eigenhändig für sie aufgebrüht hatte, da seine Sekretärin längst ihren Feierabend genoß. Dann nahm er einen Schluck. Es war ein guter, teurer Tee. Er hatte des Gefühl, in Zukunft einige Zeit lang auf den Geschmack eines so hochwertigen Tees verzichten zu müssen. Charlton Finks würde seine Drohung unbedingt wahrmachen und ein Auge auf ihn haben. Keelie würde für den Chief Inspector das sein, was jemand wie Chad Strealey für ihn war – ein scheinheiliger Heuchler, der nur die Leichtgläubigen täuscht, in Wirklichkeit aber auf eine Chance wartet, ein krummes Ding zu drehen. Finks hatte ihn durchschaut. Und Roader hatte es aller Wahrscheinlichkeit nach auch. Schlechte Karten. Ihm blieb nichts übrig, als alles in seiner Macht Stehende zu tun, um ihnen beiden zu beweisen, daß sie sich in ihm
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geirrt hatten. Das bedeutete, daß er zumindest ein leidlicher Maler werden mußte, zumindest mit großer Hingabe dieser Kunst zu frönen hatte. Vor allem aber mußte er weiterhin das tun, was er heute getan hatte: Er mußte sein detektivisches Können dazu einsetzen, dem Yard bei der Lösung von Kriminalfällen behilflich zu sein, wann immer es ihm möglich war. Mit anderen Worten: Er mußte einen Engel aus sich machen, einen Freund und Helfer der Polizei. Und das Mißtrauen, das ihm entgegenschlug, nach und nach in mühsamer Kleinstarbeit entkräften. Selbst, wenn er dabei keinen Fehler beging, konnte es Monate oder Jahre dauern. Roaders Beispiel hatte ihm gezeigt, daß all die Informationen, die er aus dem Inneren des Polizeiapparats mit nach draußen genommen hatte, bis dahin vermutlich keinen Pfifferling mehr wert
sein würden. Die Methoden des Schutzes und der Ermittlung würden sich verändern, neue Personen würden neue Stellen einnehmen, Strategien würden geändert, Pläne über den Haufen geworfen werden. Es war ein verdammt schlechter Start gewesen, für den künftigen Meisterverbrecher Ewen Keelie. Er mußte mit viel Geduld und Talent versuchen, diesen Rückstand aufzuholen...
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© 6/2002 by Martin Clauß Dieser Text erscheint innerhalb des Vampirova Projekts im Martin Clauß Verlag Esslingen. Die unerlaubte, auch auszugsweise Vervielfältigung dieses Textes und der darin enthaltenen Grafiken ist strengstens untersagt. Bitte besuchen Sie www.vampirova.de Mailen Sie Ihre Meinung an
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