Peter Norden
Der Kanzler
Inhaltsangabe Ein Mann, einer aus unser aller Mitte, hat eine fixe Idee. Er, der sozusagen g...
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Peter Norden
Der Kanzler
Inhaltsangabe Ein Mann, einer aus unser aller Mitte, hat eine fixe Idee. Er, der sozusagen gelernter Gewerk schaftsfunktionär ist, träumt von einem System der ›totalen Sicherheit‹. Er heißt Heinrich Müller. Sein Ehrgeiz läßt die von ihm mitbegründete ›Neue Partei‹ in wenigen Jahren als Sammelbecken aller irgendwie Unzufriedenen zur machtvollen ›Volkspartei der Mitte‹ werden. Und eines Tages bringt die Gunst der Stunde ihn legal auf den Kanzlersessel der Bundesrepublik Deutschland. Eine Kette von Atomkraftwerken, der Bau einer deutschen Superbombe, eine Bundes sicherheitspolizei und eine ganz auf diese Zwecke abgestimmte Industrie sollen die Arbeitslosigkeit beseitigen und Heinrich Müller, den perfekten Techniker der Macht, an die Spitze einer europäischen Staatenunion bringen. Sein System, eine geheime Diktatur, die jede Kritik an der Basis ausschaltet, scheint perfekt. Aber es kommt ganz anders …
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ie hatten den Teufel an die Wand gemalt. Schön rot, wie eben der Hölle entstiegen. Und natürlich Beelzebub, schwarz wie die Nacht und indifferent. Davor hatten sie eine starke Mauer gebaut mit Wolfgang Roettger in der Mitte einer Gruppe von Männern und Frauen, die Vertrauen ausstrahlten. Auch Heinrich Müller – der Generalsekretär der Partei – war dabei. Nicht gerade im Vordergrund, aber auch nicht zu übersehen. Dieses Wahlplakat war seine Idee, immerhin war es sein Wahlkampf. Er hatte ihn alleine konzipiert, mit Hilfe seiner vielfältigen Beziehungen die Millionen herangeschafft, eine amerikanische Werbeagentur mit der Durchführung beauftragt und im Alleingang eine Konzeption für die Kandidaten entwickelt, die – jetzt oder nie – den Erfolg für die neue Partei bringen mußte. Es war der September 1988 und Heinrich Müller war klar, daß die Chancen fünfzig zu fünfzig standen. Seine Vorarbeit war exzellent und klug durchdacht. Als sie vor zwei Jahren die neue Partei gegründet hatten, war dies nach einer genauen Analyse der politischen Landschaft geschehen. Die Linke und die Rechte waren so zerstritten, daß ein Zusammengehen unmöglich war. Was fehlte, war ein Sammelbecken der Mitte mit einem vernünftigen Programm. Heinrich Müller hatte dieses Programm mit dem Schwerpunkt auf der Innenpolitik entworfen, aus der nüchternen Überlegung heraus, daß dem Bürger die Haut näher als das Hemd war. Die ersten Erfolge bei Landtagswahlen in Niedersachsen und Schleswig-Holstein, in Nordrhein-Westfalen und im Saarland hatten seinen Überlegungen recht gegeben. Die neue Partei hatte Zulauf bekommen von frustrierten Politikern der Union und der Sozialdemokraten, die sich eine Chance in dieser offensichtlich starken Sammlung der Mitte versprachen. Und 1
Heinrich Müller war klug genug gewesen, keine starke Gruppierung zu verärgern. Er konnte es mit den Gewerkschaften ebenso wie mit den Arbeitgebern, er hatte die Sympathie der Bundeswehr und der Polizei, die Kirchen betrachteten sein Tun mit Wohlwollen, und die Bürger sahen in der ›Neuen Partei‹ einen Garanten für Recht und Ordnung. Mit Wolfgang Roettger hatten sie zudem einen Spitzenkandidaten, der all diesen Ansprüchen gerecht wurde. Ein gemäßigter Mann, Anfang der Sechzig, ordentliche Familienverhältnisse, seit über dreißig Jahren aktiv in der Politik und immer auf der Seite des Rechts. Das war es, was Roettger beim Bürger beliebt machte, und weder die Schwarzen noch die Roten konnten ihm etwas am Zeug flicken. Darauf baute Heinrich Müller und darauf baute die neue Partei. Darauf bauten auch die Medien. Fernsehen, Rundfunk und Presse taten mehr als das Übliche, um Roettger auch dem letzten Bürger bekannt zu machen. Mit all diesen Argumenten hatte Heinrich Müller seinen politischen Ziehvater Roettger in der Partei als Spitzenkandidaten durchgeboxt, und die ersten – zaghaft anlaufenden – Wahlversammlungen zeigten, daß er den Nerv der Masse getroffen hatte. Roettger ›kam an‹. Und dies in allen Teilen der Bundesrepublik. Man jubelte ihm zu. Wochen vor den Wahlen galt er schon jetzt als Überraschungskandidat. Heinrich Müller konnte zufrieden sein. Die Kolonne traf am 12. September 1988 in Nürnberg ein. Es war so gegen Mittag und die Nürnberger Parteimitglieder hatten im Restaurant der Meistersingerhalle ein kleines Essen arrangiert. Die Kundgebung war für drei Uhr nachmittags vorgesehen und sollte zwei Stunden dauern. Dann mußte Roettger weiter nach Wiesbaden, wo in der Rhein-Main-Halle eine große Abendkundgebung vorgesehen war. Heinrich Müller hatte die Kolonnen klug zusammengestellt. Das Vorausfahrzeug war ein Porsche, Roettger selbst fuhr in einem Mercedes, die ihn begleitenden Hostessen in zwei VW-Bussen, die Mitglieder seines Stabes in je einem Ford und Opel, die Sicherheitsbeamten in starken BMWs und das Begleitsekretariat in zwei Audis. Diese Zusammenstellung der Kolonne hatte ihm nicht nur den Beifall der Au2
toindustrie eingetragen, sondern auch manchen finanziellen Vorteil. Die Autowerke überschlugen sich in ihrem Service für die Fahrzeuge und geizten nicht mit Ersatzwagen, wenn irgendwo einmal eine Panne auftreten sollte. Alle Wagen waren durch Funk und Telefon miteinander verbunden, so daß auch die Kommunikation untereinander einwandfrei war. Und da kleine Geschenke die Freundschaft fördern und erhalten, schleppte die Kolonne eine Menge von Kleinigkeiten mit, wie sie bei jedem Wahlkampf und jedem Kandidaten üblich waren. Aber auch hier hatte Heinrich Müller gesiebt und klare Vorschriften erlassen. Schnell Vergängliches wurde ausgemerzt, nur kleine Artikel, die bis zum Wahltag ständig an die neue Partei erinnerten, waren in das Sortiment aufgenommen worden. Kugelschreiber zum Beispiel mit der Aufschrift ›gut angeschrieben bei der Neuen Partei‹, oder Staubtücher für den Wagen mit dem Spruch ›immer sauber mit der Neuen Partei‹. Es gab Kofferanhänger und Kleiderbürsten, Pillendosen für die älteren Wähler, billige Tausendzünder für Männer und Frauen, Schlüsselanhänger mit der Aufschrift ›Sicher gehen mit der Neuen Partei‹, und der Clou war ein Sparbuch mit fünf Mark Einlage für junge und werdende Mütter mit dem Allerweltsslogan ›Wohlstand in Frieden mit der Neuen Partei‹. Nicht, daß sich diese Geschenke wesentlich von denen der anderen Parteien abhoben, aber wie Heinrich Müller sie zum Einsatz brachte, das war ausgeklügelt und gekonnt und niemals dem Zufall überlassen. Die Überwachung dieser Einsätze und Aktionen hatte er einer Public-Relations-Agentur übertragen, deren Boß Dieter Knorr war, der gleichzeitig auch die Pressearbeit für die Parteizentrale leitete. Heinrich Müller zog sich mit seinem Stab in den kleinen Saal der Meistersingerhalle zurück, gab letzte Anweisungen für die in einer Stunde beginnende Kundgebung, nahm dann Dieter Knorr zur Seite und ging mit ihm hinaus auf die Wiese des Stadtparkes. »Wie sieht es im großen Saal aus?« fragte er. »Überfüllt, Hunderte bekommen keinen Platz«, sagte Knorr und 3
zeigte nach hinten, wo sich Wagenkolonnen stauten und sich durch Hupen einen Weg zu bahnen suchten. »Die Polizei …?« »Hat die Dinge fest im Griff, Roettger hat sich noch einen Moment hingelegt, um seine Rede zu überdenken …« Heinrich Müller warf ihm einen kurzen Blick von der Seite zu: »Was will er überdenken, wir haben ihm doch seine Rede bis aufs letzte Komma festgeschrieben?« »Ja, Henry, er will hier in Nürnberg individuell auf den Wähler eingehen!« Müller und Knorr waren per Du und Heinrich Müllers Freunde nannten ihn ›Henry‹. »Red ihm das aus, Dieter. Roettger soll seine Rede so halten, wie sie programmiert ist. Sie ist exakt für Nürnberg entworfen worden und wir wollen kein Risiko eingehen.« »Okay, ich rede mit ihm«, Knorr wollte gehen, hielt aber noch einen Augenblick an und fragte: »Wirst du auch sprechen?« »Nein« sagte Heinrich Müller, »hier nicht. Ich bin nicht angekündigt und wir wollen nichts tun, was den Ablauf verzögern könnte. Was ist mit der Musik?« »Sie spielt seit einer Stunde!« »Und die Presse?« »Ist überzählig anwesend. Ich habe jeden hereingelassen, der einen Presse-Ausweis hat. Es sind so an die hundertvierzig Mann …« Müller pfiff leise durch die Zähne. Das war eine ganze Menge Öffentlichkeit für Nürnberg. Überhaupt zeigte die Presse – wo sie auch hinkamen – ein immer mehr steigendes Interesse. Jetzt lohnte sich auch die strategische Vorarbeit, die Heinrich Müller fast ein Jahr lang geleistet hatte. Jede Rede war individuell auf den jeweiligen Ort bearbeitet worden. Heinrich Müller schlenderte langsam bis zu dem abgesperrten Parkplatz, wo die Kolonne aufgestellt war. Er freute sich über das saubere Bild, das die Fahrzeuge gaben. Sie waren alle weiß und mit großen roten Buchstaben stand auf allen Wagen ›Die NEUE PARTEI kommt‹. Und so war es, er fühlte es mit Befriedigung. Kulle, der Fahrer des 4
Roettger-Wagens, hielt ihn an: »Wir sollten vielleicht die beiden Busse zur Übertragung nach außen einsetzen«, gab er zu bedenken. Heinrich Müller warf einen Blick in die Runde. Tatsächlich hatten sich viele Menschen, die keinen Einlaß mehr bekamen, vor der Meistersingerhalle versammelt. »Veranlassen Sie das, Kulle«, sagte Heinrich Müller. Er spürte, wie seine Stimmung stieg. Überall hatten sie brechend volle Säle. Und das war sein ganz persönlicher Erfolg. Er kam zu den Wagen mit den Sicherheitsbeamten. »Wie sieht es aus?« fragte er. »Bis jetzt ist alles ruhig«, sagte der Hauptkommissar, der die Hundertschaft befehligte. »Ein paar Kommunisten sind im Saal und ein paar Leute des KBW und der Maoisten-Leninisten, meistens Studenten. Wir kennen die meisten und haben sie im Griff …« »Danke«, sagte Heinrich Müller und ging in Roettgers Garderobe. Roettger lag auf einer improvisierten Ruhebank, hatte die Augen geschlossen. »Wolfgang«, sagte Müller halblaut. Roettger schreckte hoch, erkannte Heinrich Müller. »Ja?« sagte er mit belegter Stimme. »Ist dir nicht gut?« Müller sah ihn besorgt an. »Doch. Ich war nur etwas müde. Was ist denn?« »Dieter Knorr hat mir gesagt, du willst die Rede ändern«, Heinrich Müller nötigte sich ein Lächeln ab. »Wir hatten doch ausgemacht, daß du …« »Ändern wäre zuviel gesagt. Ich glaube nur, daß ich einmal den Wähler etwas persönlicher ansprechen sollte. Weißt du, Heinrich, die ›Neue Partei‹ ist doch so was wie eine große Familie. Die Familie, die das deutsche Volk im Grunde sein will. Darauf beruht doch unser sensationeller Erfolg. Und darauf will ich einmal eingehen«, er richtete sich auf. Heinrich Müller bemerkte, daß dem Älteren das einigermaßen schwerzufallen schien. »Na schön. Wenn du meinst«, sagte er unbestimmt. Dann hob er die Schultern, ließ sie wieder fallen. »Ich frage mich nur, ob das aus5
gerechnet in Nürnberg besonders gut ist«, wieder brach Müller mitten im Satz ab. »Gerade in Nürnberg. Hier hat Hitler seine programmatischen Reden gehalten, die so kalt und unbarmherzig waren, daß die Welt erzitterte. Ich glaube, daß gerade wir deshalb hier eine besondere Abgrenzung zu dem Stil des tausendjährigen Reiches machen sollten.« Heinrich Müller dachte einen Moment nach. »Gar nicht übel«, meinte er dann und nickte dem ›Großen Alten Mann‹ der Partei anerkennend zu. »Ich sehe immer wieder, was ich von dir noch lernen kann«, fügte er ehrlich hinzu. Dann schaute er auf die Armbanduhr. Es war kurz vor drei. »Wir wollen unsere Freunde nicht warten lassen«, sagte er. Wolfgang Roettger stand auf. »Du hast recht«, sagte er. Zusammen gingen sie über die kleine Wendeltreppe auf die Bühne, die im hellen Scheinwerferlicht lag. Ein Tisch war aufgebaut, sieben Stühle für die Vorstandsmitglieder, ein Rednerpult mit den Insignien der ›Neuen Partei‹, die obligatorischen Blumen, Wasserflaschen, Säfte.
Winkelmann, der Bayrische Vorsitzende der Neuen Partei, trat an das Pult und gab der Musik ein Zeichen, zu schweigen. Dann machte er es kurz: »Meine Freunde«, sagte er, »die Neue Partei hat Ihr Interesse gefunden, wie Ihre Anwesenheit in so großer Zahl heute hier, in unserer Nürnberger Meistersingerhalle, beweist. Es ist nicht unsere Art, Sie mit langen Vorreden zu langweilen. Es spricht zu Ihnen der Kanzlerkandidat der Neuen Partei, unser Bundesvorsitzender Wolfgang Roettger!« Das kam an, erster Beifall brauste auf, als Roettger zum Rednerpult ging. Er trug einen anthrazitgrauen Zweireiher, der ihn schlanker machte, als er war, im Knopfloch eine weiße Nelke, das Symbol der Neuen Partei. Beschwörend hob er beide Hände, um den Beifall zu bremsen, schaute auf das bereitliegende Manuskript und begann: »Nürnberger, meine Freunde, wir sind angetreten in einer Stunde der Not unseres Va6
terlandes, um das Erreichte zu erhalten, zu sichern und zu pflegen …« Seine Rede dauerte eine gute Stunde, er sprach vom Zank zwischen Linken und Rechten, vom zunehmenden Terror, dem die Regierung nicht Herr wurde, von steigenden Inflationsziffern und sinkenden Exportchancen, vom Wohlstand, der in Gefahr war, verspielt zu werden, von der Ostlastigkeit der Sozialdemokraten und der Uneinigkeit der Unions-Parteien, von der mangelnden Sorge für die Familie und dem Chaos in der Bildungspolitik. Roettger trug das alles ohne Aggression vor, ohne persönliche Beleidigungen oder Angriffe auf einzelne Politiker. Es war eine Abrechnung. Aber es blieb nicht dabei. Er sagte, was die Neue Partei ändern wollte, er bot logisch klingende Alternativen, klare Pläne und durchdachte Tatsachen. Das waren neue Töne in einem Wahlkampf, nie gehört, keine Schmähungen des politischen Gegners und dadurch um so wirksamer und vernichtender. Häufig wurde er von Beifall unterbrochen, und Heinrich Müller machte sich Notizen im Redeprotokoll. Roettger kam an. Das lag an der Art, wie er vortrug, und vielleicht an seiner Vaterfigur, die unbedingtes Vertrauen ausstrahlte. Heinrich Müller ertappte sich dabei, daß er selbst überrascht war, wie die Reden ankamen und ganz besonders diese hier in Nürnberg. Heinrich Müller hatte bewußt den historischen Teil der Rede an das Ende gesetzt, und als Roettger die glorreiche deutsche Vergangenheit beschwor, wobei er lässig über die Zeit Hitlers als nationale Verirrung hinwegging, von der nun fast vierzig Jahre währenden Demokratie deutscher Prägung sprach, von der politischen und wirtschaftlichen Kraft der Republik, die ein Beispiel für die Welt abgebe, da brandete der Beifall auf zum Orkan und nahm kein Ende. Hunderte von Händen griffen zur Bühne hinauf.
Wolfgang Roettger wartete, bis sich der Beifall etwas gelegt hatte. Dann legte er das Manuskript beiseite, richtete sich hoch auf. Er kor7
rigierte die Mikrophone, so daß seine Stimme jetzt noch tiefer, noch eindringlicher klang, als er in seiner Rede fortfuhr. »Liebe Freunde, in dieser Stunde, an diesem historischen Ort, möchte ich aber noch etwas hinzufügen, was mir einfach ein inneres Bedürfnis ist«, er winkte zu Heinrich Müller hinüber, der unwillkürlich einen Schritt aus der Kulisse herausgetreten war, als er den nicht enden wollenden Beifall vernommen hatte. Eigentlich war damit die Rede Roettgers beendet, und alles, was noch zu tun blieb, war das Abspielen des Deutschlandliedes. »In den alten Parteien ist es üblich, die Wahl des Nachfolgers einem anonymen Gremium zu überlassen. Wir wollen das in der großen Familie machen, die unsere ›Neue Partei‹ in so kurzer Zeit geworden ist – der Familie des ganzen deutschen Volkes. Und deshalb frage ich euch, meine Freunde: seid ihr mit mir einig, den Mann zu meinem Stellvertreter, Nachfolger und Willensvollstrecker zu küren, der mein bester Freund und mein unbedingter Vertrauter ist?« Er machte eine rhetorische Pause. Wolfgang Roettger hatte die Versammlung so in der Hand, daß er zu diesem Zeitpunkt praktisch alles von ihr verlangen konnte. Deshalb gab es nur einen in der weiten Halle, den das vieltausendstimmige »Ja!« überraschte: Heinrich Müller. Aber nur einen Augenblick. Dann hatte er sich wieder in der Gewalt. Langsam, mit dem strahlend gläubigen Blick, der ihn mit der Wählermasse da unten vollkommen identifizierte, trat er nach vorne. »Dann erkläre ich Heinrich Müller, den Generalsekretär der ›Neuen Partei‹ und ihren unbeirrbaren Vorkämpfer für eine neue, bessere Politik und eine friedliche, glorreiche Zukunft unserer Nation, zu meinem Stellvertreter und Nachfolger, falls mir etwas zustoßen sollte!« Er kam vom Rednerpodium herunter, reichte Heinrich Müller die Hände und umarmte ihn, während die Tausende unten, überrascht durch die Worte und gleichzeitig gerührt durch die zu Herzen gehende Sprache Roettgers, wie ein Mann aufstanden und spontan das Deutschlandlied anstimmten. Am meisten gerührt war Heinrich Müller. Er hatte keine Ahnung, was Wolfgang Roettger vorgehabt hatte, und er hätte es sicherlich verhindert, wenn er davon Kenntnis gehabt 8
hätte. Aber in diesem Moment war es, und darin fühlte er sich einig mit der tausendköpfigen Masse der Wähler, ein historisches Ereignis, es war so, als könnte es gar nicht anders sein. Als der Gesang verklungen war – natürlich hatte die Menge die erste Strophe des Deutschlandliedes gesungen –, standen Heinrich Müller die Tränen in den Augen. Als er an das Rednerpult trat, mehr geschoben von Roettger als aus eigenem Willen, mußte er ein paarmal ansetzen, bevor er die ersten Worte herausbrachte. »Freunde«, begann er, wandte sich dann zu Wolfgang Roettger, der jetzt eine Stufe tiefer stand, mit dem strahlend-väterlichen Gesicht zu ihm emporblickte, das ihn zum Favoriten im Wahlkampf gemacht hatte, und streckte beide Hände nach dem Älteren aus. »Lieber Wolfgang Roettger, mein Freund, wie ich glaube sagen zu dürfen: Ich hoffe, daß du noch viele, viele Jahre den ersten Platz in unserer Neuen Partei einnimmst. Aber ich danke dir, daß du mir, dem soviel Jüngeren, das unbedingte Vertrauen schenkst, das in unserer Neuen Partei Ausdruck unserer neuen Politik ist.« Er machte eine Kunstpause, wischte sich ein paar Tränen aus den Augenwinkeln, was die Masse ihm fast automatisch nachmachte. Dann, gerade als sich die allgemeine gerührte Hochstimmung zu entladen drohte, sprach er weiter. Jetzt wandte er sich wieder dem Publikum zu. »Ich danke Euch, meine Freunde, daß Ihr mich gewählt habt, und ich verspreche Euch in dieser Stunde, daß ich mich jederzeit bemühen werde, dieses Vertrauens würdig zu sein. In diesem Sinne, Freunde, rufe ich unserem heißgeliebten Vorsitzenden Wolfgang Roettger zu: ›Treue bis ans Ende der Welt!‹« Er hatte diese Worte kaum ausgesprochen, als ein ungeheurer Jubelsturm losbrach, der die Halle in ihren Grundfesten erzittern ließ. Der Jubel wurde noch stärker, als Heinrich Müller hinuntertrat, Wolfgang Roettger mit starken Händen wieder auf seinen angestammten Platz hinaufschob und bescheiden, mit leuchtenden Augen und gläubigem, hingegebenen Antlitz zu dem anerkannten Führer der Neuen Partei emporblickte: der zweite Mann, der plötzlich aus dem Glied hervorgetreten ist, und bereit ist, die Stelle des ersten einzunehmen, sollte der … 9
Heinrich Müller wagte nicht weiterzudenken. Er war selbst erstaunt, wie sehr seine Worte die Stimmung der Masse getroffen hatten, wie sehr er sich mit den Tausenden unten im Saal einig fühlte. Und wie sehr er die unwillkürliche, unfaßbare, ein wenig unheimliche Zuneigung der Masse genoß, die ihm da entgegengeströmt war. Während Wolfgang Roettger ihn noch einmal hochzog, Arm in Arm, jeweils den freien Arm in gemeinsamem, unverbrüchlichem Jubel hoch ausgestreckt, der Menge dankte, fiel die Kapelle, die den veränderten, spontanen Ablauf der Versammlung zunächst nicht mitbekommen hatte, mit der neuerlichen Intonierung des Deutschlandliedes ein. Und diesmal geschah das Wunder: wohl zum erstenmal seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland sang eine Massenversammlung freiwillig und aus heißem Herzen die offizielle, sonst nur bei staatlichen Anlässen gesungene dritte Strophe des Deutschlandliedes mit: »Einigkeit und Recht und Freiheit …« Dann war der große Moment vorüber, die Hundertschaft der Bereitschaftspolizei hatte alle Mühe, die immer wieder umjubelten Dioskuren heil von der Bühne weg und durch ein dichtes Spalier von Begeisterten zu der mit laufenden Motoren wartenden Autokolonne zu geleiten. Immer wieder gab es skandierende Hochrufe, und immer wieder mischten sich »Müller, Müller!«-Rufe in das langgewohnte »Roettger, Roettger!« Übrigens klang es so ähnlich, mußte Heinrich Müller denken, als er sich ein paar Augenblicke aus dem Meer von Jubel und Verehrung erhob und versuchte, seinen gewohnt klaren, immer kühlen Kopf wiederzubekommen. So also schmeckte Popularität. So also war es, wenn das Volk einem zujubelte. So also war es, wenn die Herzen der Masse in einem gewaltigen Schlag schlugen, einem Schlag, der einem Menschen allein galt. Halt! rief sich Heinrich Müller zu. Vorläufig galten die Jubelrufe noch dem alten Mann neben ihm. Vorläufig war der Jubel ein Mantel, den ihm der Große Alte Mann der Neuen Partei für einen Moment mit um die Schultern gelegt hatte … dann zuckte Heinrich Müller zusam10
men, als ihm zum Bewußtsein kam, daß er tatsächlich, wenn auch nur zu sich selbst, ›vorläufig‹ gesagt hatte. Aber da waren sie schon bei den Autos … Heinrich Müller saß mit Roettger zusammen im Wagen und erst, als die Kolonne Fahrt aufgenommen hatte und in Richtung Würzburg unterwegs war, lehnten sich beide in die bequemen Rücksitze des Mercedes zurück. Dieter Knorr saß vorn neben Kulle, dem Fahrer, und drehte sich halb um. »Wollt ihr einen Schluck Kaffee?« Er hatte eine Thermosflasche griffbereit. Roettger nickte. »Ja, bitte«, sagte er. »Gratulation – für beide!«, sagte Knorr, während er die Flasche aufschraubte. »Wenn das so weitergeht, kommen wir ganz weit nach vorn. Das war ein genialer Einfall, Herr Roettger!« »Nicht übermütig werden, wir haben noch schwere Wochen vor uns«, sagte Müller. »Du bist zu kritisch, Heinrich«, meinte Roettger, »ich werde versuchen, noch eine Stunde zu schlafen.« Er nahm sich ein Kissen von der Heckablage und kuschelte sich bequem zurecht. Knorr wollte noch etwas sagen, aber Heinrich Müller legte den Zeigefinger an die Lippen. Er wußte, wie anstrengend die nächsten Wochen für Roettger noch werden würden. Er warf einen kurzen Blick nach vorn, wo der Porsche und ein Polizeifahrzeug die Kolonne anführten, dann drehte er sich nach hinten um und sah die anderen Fahrzeuge kommen, alle mit abgeblendetem Licht, obwohl es noch hell war. Heinrich Müller tippte Dieter Knorr auf die Schulter und flüsterte ihm zu: »Der Porsche soll an den Schluß der Kolonne, für den Fall, daß ein Wagen liegen bleibt kann er Hilfe holen und uns verständigen …!« »Okay«, Knorr nahm den Telefonhörer und rief leise: »Nelke eins, bitte kommen …« »Hier Nelke eins. Was gibt's?« knarrte es aus der Hörmuschel. »Henry möchte, daß du dich an den Schluß der Kolonne setzt. Wenn 11
ein Wagen ausfallen sollte, wollen wir sofort Bescheid haben, alles klar?« »Alles klar. Ende!« Wenig später überholten sie den weißen Porsche, wie alle anderen Wagen auch. Vor ihnen war jetzt nur noch der Polizei-BMW. Heinrich Müller warf einen kurzen Blick auf Roettger, aber der schien fest zu schlafen. Gut so, dachte Müller und lehnte sich ebenfalls zurück, schloß die Augen und dachte an Wiesbaden. Wenig später verfiel er in einen angenehmen Halbschlaf. Dieter Knorr behielt die Augen offen und träumte von der Zukunft. In vier Wochen würde klar sein, ob die Neue Partei ihr Ziel erreicht haben würde. Das würde auch für ihn Konsequenzen mit sich bringen. Er träumte davon, Pressereferent in einem Ministerium zu werden. Vielleicht war sogar ein Posten im Bundespresse-Amt für ihn drin. Das kam auf das Wahlergebnis an. Die Neue Partei stellte sich erstmals bundesweit zur Wahl. Die Reaktion der Bevölkerung und der Medien war mehr als befriedigend. Niemand zweifelte mehr daran, daß die Neue Partei in den Bundestag einziehen würde. Heinrich Müller hatte jede Koalitionsaussage aus dem Wahlkampf verbannt. ›Die Neue Partei ist für jede vernünftige Lösung offen‹ hatte er als Motto ausgegeben. Und daß die Sozialdemokraten keine Koalition mit der Union eingehen würden, war auch klar. Der Graben, der die beiden großen Parteien trennte, war einfach zu tief. Natürlich würde das auch rein persönliche Entscheidungen von ihm verlangen, träumte Dieter Knorr weiter. Seine kleine PR-Agentur würde wohl das Zeitliche segnen müssen, denn Gisela, seine Frau, konnte den Laden alleine in Frankfurt nicht führen. Die Ausfahrt Randersacker flog vorbei. Knorr glaubte ein Geräusch gehört zu haben und drehte sich zu Müller und Roettger um. Aber beide saßen friedlich in ihren Ecken und schienen zu schlafen. Dann, als die Kolonne die Steigung zur Raststätte Würzburg anging, hörte er wieder ein unterdrücktes Stöhnen. Roettger saß in seiner Ecke und hielt sich mit der rechten Hand das Herz. 12
»Herr Roettger …« rief Knorr, »fehlt Ihnen was?« Kulle drehte sich um. »Soll ich rechts halten?«, fragte er. »Fahr weiter …«, sagte Knorr, kniete sich dann auf den Sitz und rüttelte Heinrich Müller am Knie. »Henry«, rief er, »was ist mit Roettger?« Heinrich Müller war im Bruchteil einer Sekunde hellwach und er sah sofort, was los war. »Wolfgang, was ist mit dir?« fragte er und versuchte Roettger die Hand von der Brust zu ziehen. »Mach das Fenster auf«, befahl er Knorr. Der ließ die Scheibe herunter. Frischer Fahrtwind blies Roettger ins Gesicht. Für einen Augenblick öffnete er die Augen. »Das Herz …«, flüsterte er. Sie waren vielleicht noch zweihundert Meter von der Raststätte Würzburg entfernt. »Fahren Sie da rein, Kulle«, kommandierte Heinrich Müller, »sag den anderen Bescheid«, rief er Knorr zu. Dann öffnete er Roettger den Kragen, zog die Krawatte herunter und knöpfte die Weste auf. Das hatte gerade noch gefehlt. Der schwere Mercedes verlangsamte die Fahrt und bog in die Ausfahrt ein. »Fahren Sie bitte zur Raststätte, wir müssen ihn hinlegen«, sagte Müller, und zu Knorr, »wir brauchen einen Arzt, Dieter. Ruf sofort einen Arzt an!« Es dauerte keine Minute, bis sie an der Raststätte hielten. Der vor ihnen fahrende Polizei-BMW hatte das Abbiegen zu spät bemerkt und war weitergefahren. Aber der Rest der Kolonne holte schnell auf und stellte sich in die oft geprobte Formation auf den Parkplatz. Die Mitarbeiter kamen langsam heran, sie dachten wohl an eine Ruhepause. Erst als sie hörten, was mit Roettger geschehen war, kam Tempo und Bewegung in sie. Keine fünf Minuten später war auch ein Arzt da, der Roettger untersuchte. Sie hatten ihn auf ein schmales Bett in der Raststätte gelegt. Als sich der Mann aufrichtete, wußte Heinrich Müller schon, was los war: »Herr Roettger hat einen Herzinfarkt. Er muß sofort ins Krankenhaus. Ich werde seine Einweisung veranlassen!« 13
Heinrich Müller nickte stumm und ging hinaus, wo die Wahlkampftruppe wartete. Nur für einen Augenblick schien die Welt zusammenzubrechen. Alles hatte er geplant, organisiert und jede Möglichkeit in Betracht gezogen. Nur nicht, daß Roettger ausfallen könnte. Und er wußte, daß er jetzt handeln mußte. Er ganz alleine. Er war ja seit zwei Stunden der designierte Nachfolger. So trat er vor den Parteivorstand: »Ich bin der Generalsekretär der Partei und verlange von jedem einzelnen jetzt Haltung und Solidarität. Ich werde das Schiff der Partei durch alle Fährnisse steuern, bis Wolfgang Roettger wieder das Ruder übernehmen kann!« Er warf einen kurzen Blick in die Runde und entdeckte auf fast allen Gesichtern Erleichterung darüber, daß ihnen die Verantwortung abgenommen worden war. Nur Dr. Ladiges – der Wirtschaftsexperte – machte ein skeptisches Gesicht. Er war immer gegen Müller gewesen und hatte sogar seine Wahl zum Generalsekretär verhindern wollen. Die Nominierung als Stellvertreter Roettgers hatte ihn tief getroffen. Er kannte Müller aus früheren Zeiten, als dieser noch leitender Gewerkschafter bei Handel, Banken und Versicherungen war. Und er allein wußte, wie Müller mitunter seine einsamen Beschlüsse verwirklichte. Ihm war klar, daß Heinrich Müller jetzt an die Spitze der Macht strebte. Und Heinrich Müller war klar, daß Dr. Ladiges der einzige war, der ihm bei seinen bis jetzt nur nebelhaften Plänen im Wege stehen konnte. Darum sprach er ihn auch direkt an. »Herr Doktor Ladiges, darf ich Sie bitten, hier bei unserem Freunde Wolfgang Roettger zu bleiben. Wir werden Ihnen den Porsche und einen Audi dalassen, damit Sie uns gegebenenfalls umgehend folgen können, wenn es Roettger besser geht.« Die beiden Männer tauschten einen Blick, und Ladiges wußte, daß er die Bitte nicht abschlagen konnte. Jeder wußte, daß er zu Roettger einen besonders engen Kontakt hatte und diesen vor manchem Schritt bewahrt hatte, den Heinrich Müller vorgeschlagen hatte. Insgeheim bewunderte Ladiges Müller, wie dieser ohne Umwege di14
rekt auf sein Ziel losging. Und doch wußte er genau, daß er Heinrich Müller jetzt nicht aus dem Auge lassen durfte, wenn er sich nicht selbst um all seine Chancen in der Partei bringen wollte. Er saß in der Zwickmühle und sah keinen Ausweg. Kulle kam herein und sagte: »Der Notarztwagen ist da.« Das war das Ende der improvisierten Vorstandssitzung und auch das Ende für irgendwelche Argumentationen des Dr. Ladiges. Heinrich Müller drückte ihm fest die Hand. »Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis und Ihre Hilfsbereitschaft!« Das war reine Ironie, und Ladiges wußte es. »Er kommt in die Universitätsklinik«, sagte Kulle, und Heinrich Müller sagte: »Ich werde Sie von Wiesbaden aus sofort anrufen, Herr Doktor Ladiges.« Kein Wort des Mitgefühls, kein Wort des Abschieds, kein Wort für eine gute Besserung. Aber niemand bemerkte dies im Trubel des Aufbruchs. Sie standen alle noch einmal kurz um den Krankenwagen herum, als Wolfgang Roettger auf der Bahre herausgebracht wurde. Ein paar der Mädchen hatten Tränen in den Augen und wollten Roettger etwas sagen. Aber die Krankenwärter wiesen sie zurück. »In die Fahrzeuge bitte, meine Freunde«, rief Heinrich Müller und nahm im Mercedes den Platz von Roettger ein. »Komm zu mir nach hinten, Dieter«, sagte er zu Knorr, dann gab er das Signal zum Aufbruch. Sie hatten eine halbe Stunde Zeit verloren und das ärgerte Heinrich Müller. Denn er war ein Pünktlichkeits-Fanatiker. Die Kolonne hielt kurz vor acht Uhr abends am Bühneneingang der hellbeleuchteten Rhein-Main-Halle. Heinrich Müller hatte während der Fahrt pausenlos telefoniert, die Partei in Wiesbaden verständigt, angekündigt, daß sie später kommen würden, angeordnet, daß noch nichts über die Situation Roettgers verlautbart werden dürfte. Ein Gespräch zwischendurch mit der Universitätsklinik und mit Dr. Ladiges hatte ergeben, daß es um Roettger ernster stand, als es zuerst den Anschein hatte. Die Ärzte befürchteten das Schlimmste. Und Hein15
rich Müller war entschlossen, sich nicht mehr von Unvorhergesehenem überraschen zu lassen. »Wenn wir ankommen, Dieter, setze dich sofort mit dem Orchester in Verbindung. Sollte das Schlimmste eintreten, müssen sie die Noten für den guten Kameraden zur Verfügung haben, klar …?« Knorr erschrak für einen Augenblick. »Du glaubst, Henry …?« »Ich glaube gar nichts, ich ärgere mich nur, daß wir auf Ereignisse dieser Art nicht vorbereitet waren. Das ist eine Panne, die ein zweites Mal nicht passieren darf. Klar?« »Klar!« sagte Knorr und bewunderte den Generalsekretär heimlich wegen seiner Umsicht. In der Garderobe hatte Heinrich Müller einige Minuten Zeit, sich auf seinen Auftritt zu konzentrieren. Es ist wie beim Zirkus: »The Show Must Go On«, dachte er bei sich. Dann kam Heske herein, der Landesvorsitzende der Neuen Partei von Hessen. Er war bleich und hatte Tränen in den Augen. Heinrich Müller wußte sofort, was geschehen war. »Ist er tot?« fragte er. Heske konnte nur nicken. Er sank auf einen Stuhl nieder. Müller reichte ihm ein Glas Wasser. »Was jetzt?« fragte Heske. »Die Veranstaltung findet statt«, sagte Heinrich Müller grober, als er wollte. »Reißen Sie sich zusammen. Wie vorgesehen, werde ich anstelle von Roettger sprechen. Wir werden seiner würdig gedenken. Lassen Sie das das Problem von Knorr sein. Es ist alles vorbereitet!« Als sie zusammen zur Bühne gingen, lief in einem offenstehenden Büro gerade die Tagesschau über den Bildschirm. Roettger war da zu sehen, wie er strahlend und voller Zuversicht in Nürnberg sprach. Dann kam die Kürung Heinrich Müllers zum Stellvertreter und Nachfolger Roettgers. Heinrich Müller blieb so lange stehen, bis die Meldung vorbei war. Kein Wort von Roettgers Tod. Das ist gut, dachte er. Ich werde die Nachricht als erster bringen. Am Bühneneingang erwartete sie Dieter Knorr. Woher auch im16
mer er es hatte, blieb wohl sein Geheimnis, aber er streifte jedem Vorstandsmitglied einen schwarzen Trauerflor über den linken Arm. Er war eben ein cleverer PR-Mann. »Ich habe für zehn Uhr eine Pressekonferenz angesetzt«, flüsterte er Heinrich Müller zu, bevor dieser die Bühne betrat. Genau das war es, was Müller jetzt brauchte, und er freute sich, daß er mit Dieter Knorr den richtigen Griff getan hatte. Ein paar Leute klatschten, als sie am Tisch Platz nahmen, aber es war kein überschäumender Beifall wie heute Mittag in Nürnberg. Alle warteten auf Roettger. Heinrich Müller hatte mit Heske abgesprochen, wie er ihn ankündigen sollte. Es war ganz kurz. »Ich begrüße sie im Namen der Neuen Partei. Der Generalsekretär Heinrich Müller hat Ihnen eine wichtige Mitteilung zu machen!« Damit trat er auch schon wieder ab. Heinrich Müller ging mit schnellen, sicheren Schritten zum Rednerpult. Er sah in den überfüllten Saal, in dem es plötzlich mucksmäuschenstill geworden war. Er sah hinunter zum Orchester und sah Dieter Knorr neben dem Dirigenten stehen. »Meine Freunde«, sagte er, »ich muß Ihnen die traurige Nachricht übermitteln, daß unser Bundesvorsitzender und Freund Wolfgang Roettger vor wenigen Minuten in der Würzburger Universitätsklinik einem Herzinfarkt erlegen ist. Ich darf sie bitten, sich zu seinem Gedenken von den Plätzen zu erheben!« Er senkte den Kopf, und Dieter Knorr wußte, was das bedeutete. Das Orchester intonierte ›Ich hatt' einen Kameraden, einen besseren findst Du nicht …‹ Heinrich Müller stand stumm hinter dem Rednerpult und hörte, wie der Saal erst zaghaft, dann immer lauter mitsang. Als die Musik endete, nahm er theatralisch die weiße Nelke aus dem Knopfloch und legte sie vor sich auf das Rednerpult. Dann sagte er: »Wolfgang Roettger hat sich um die deutsche Demokratie verdient gemacht. Wir werden ihn niemals vergessen. Ich danke Ihnen!« Er wartete einen kurzen Moment, bis das Rascheln und Stühlerücken der sich setzenden 17
Versammlungsteilnehmer abklang, dann begann er mit seiner Rede, kämpferisch, mutig, klar und überzeugend. Heinrich Müller wußte das Publikum zu fesseln und er wußte gerade hier und heute, daß er für sich und die Neue Partei sprach. In dieser Stunde wurde beider Schicksal entschieden und es lag alleine an ihm, das Steuer trotz des Todesfalles herumzureißen und das Unglück in Glück umzumünzen. Und er kostete die Stunde aus. Er versprach, daß sich trotz des Todes von Roettger nichts ändern würde, »denn wir haben die junge Elite unverbrauchter, fähiger Politiker, die unser Land jetzt nötig hat!« Er redete anders als Roettger es getan hatte, obwohl es nahezu die gleiche Ansprache war. Aber hinter seinen Worten steckte mehr Dynamik, mehr Überzeugungskraft und mehr Schwung. Er reagierte auf jede Regung im Saal, er spürte körperlich jede Reaktion und hatte die Fähigkeit, sofort darauf einzugehen. Und während er sprach, hatte er die Fähigkeit, sich selbst zuzuhören, sich selbst ständig zu kontrollieren und zu verbessern. Er hatte genügend Zeit, Dieter Knorr zu beobachten, wie dieser mit vor Staunen offenem Mund ihm zuhörte, er spürte in seinem Rücken das wachsende Vertrauen seiner Vorstandsmitglieder und als er endete, wußte er, daß er es geschafft hatte. Hatte Roettger in Nürnberg eine Wolke des brausenden Wohlwollens umfangen, so kam aus der Tiefe der Rhein-Main-Halle frenetische Zustimmung. Und Heinrich Müller hatte gesiegt. Er konnte auf Mätzchen verzichten. Als das Orchester die Nationalhymne intonierte, sang er lautstark »Einigkeit und Recht und Freiheit«. Er verzichtete darauf, den Vorstand um sich zu gruppieren, er kostete seinen Sieg ganz alleine aus und ließ das Blitzlichtgewitter der Fotografen fünf Minuten über sich ergehen. Dann zog ihn Knorr am Ärmel: »Die Pressekonferenz«, flüsterte er. Und von einem Augenblick zum anderen war Heinrich Müller wieder Pragmatiker, der Technokrat der Macht. »Ich komme«, sagte er.
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Die Presse-Konferenz war überfüllt. Inzwischen hatten die Ticker, die Rundfunk- und Fernsehsender die Nachricht in alle Ecken der Republik gebracht, nervöse Chefredakteure hatten ihre Korrespondenten aus den Kneipen und Betten geholt, Sonderteams des Fernsehens waren angerückt, wohl dreißig Mikrofone reckten ihre neugierigen Hälse auf das improvisierte Rednerpult. Polizei mußte Heinrich Müller vor den Journalisten abschirmen und ihm einen Weg zum Rednerpult bahnen. Dort angekommen, hob er beruhigend die rechte Hand, während Knorr versuchte, sich Gehör zu verschaffen. »Meine Damen und Herren, verehrte Kollegen, Ruhe, ich bitte Sie um Ruhe. Der Generalsekretär der Neuen Partei, Heinrich Müller, wird Ihnen jede Ihrer Fragen beantworten …« Trotzdem dauerte es noch einige Zeit, bis sich der enge Raum beruhigte. Die Scheinwerfer des Fernsehens verströmten Hitze, und viele hatten die Jacken ausgezogen. Noch immer trug Heinrich Müller den Trauerflor am Ärmel, als er vor die Kameras und Mikrofone trat. »Wird sich die Neue Partei aus dem Wahlkampf zurückziehen, nachdem ihr Kanzlerkandidat diesem tragischen Unglück zum Opfer fiel?« fragte die ›Welt‹. »Natürlich nicht. Die Neue Partei hat einen schweren Verlust erlitten, Wolfgang Roettger war der Mann unseres Vertrauens und deshalb unser Kanzlerkandidat. Aber – und ich habe das schon in meiner Rede gesagt – die Neue Partei verfügt über ein nahezu unerschöpfliches Reservoir an großen politischen Köpfen. Wir werden einen neuen Kandidaten aufstellen, und ich darf schon hier die Hoffnung aussprechen, daß Sie diesem das gleiche Interesse und Vertrauen entgegenbringen, das Sie der Neuen Partei bisher bewiesen haben.« »Wann wird der neue Kandidat bestimmt?« wollte die ›Süddeutsche Zeitung‹ wissen. »Oder ist das schon in Nürnberg geschehen?« Selbstverständlich kannte jeder im Saal Müllers Kürung zum Stellvertreter. »Die Führungsgremien der Partei werden morgen früh um zehn Uhr in der Bonner Parteizentrale zusammentreten. Ich bin sicher, daß die Partei schon morgen entscheidende Beschlüsse fassen wird!« 19
»Werden Sie dieser neue Kandidat sein?« fragte der Redakteur der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹. Heinrich Müller musterte den Mann einen Augenblick, dann sagte er: »Kein Kommentar.« »Die Neue Partei wendet erhebliche Mittel für den Wahlkampf auf. Ist es richtig, daß diese Mittel sowohl aus Gewerkschaftskassen als auch von den Arbeitgebern kommen?« fragte die ›Neue Ruhr-Zeitung‹. Heinrich Müller zeigte ein entwaffnendes, offenes Lachen: »Wenn es so wäre, wie Sie vermuten, wäre dies nicht weniger als ein Beweis dafür, daß unser politisches Programm grundsolide und richtig ist. Wie überhaupt der Zulauf zu unseren Veranstaltungen allein schon ein Beweis dafür ist, daß wir mit unserer Zielsetzung richtig liegen und unserem Volk eine neue Möglichkeit gegeben haben, sich zu orientieren und die richtige Wahl zu treffen …« Beifall kam auf. Heinrich Müller hatte die Journalisten auf seiner Seite. Auch die, die grundsätzlich gegen ihn waren. Er schien eine offene Pressepolitik zu treiben, und das gefiel ihnen. Er schlug nur wenige Haken, da, wo es an die Intimsphäre der Partei ging, aber er wich keiner Frage aus. Ja, man konnte das Gefühl haben, daß er es genoß, die mitunter auch prekären Fragen zu beantworten. Möglicherweise kam die Partei mit ihm noch schneller nach oben als mit Roettger. Dann – nach genau einer Stunde – bat er um Verständnis: »Ich muß nach Würzburg und morgen in aller Frühe wieder nach Bonn. Wir müssen jetzt Schluß machen.« Dieter Knorr fragte ihn beim Gehen: »Soll ich eine Runde schmeißen?« »Zehn Runden. Mach sie satt«, sagte Heinrich Müller und freute sich insgeheim über Knorr. Der Junge paßte in sein Team, der dachte mit, reagierte schnell und selbständig und war auf seinem Sektor ein As.
Heinrich Müller war mit einem Hubschrauber von Würzburg nach Bonn gekommen. Gegen zehn Uhr traf er am 13. September 1988 am 20
Distelweg ein. Dort war die Parteizentrale der Neuen Partei, ein kleines, bescheidenes Mietshaus zwischen Bonn und Bad Godesberg. In Sichtweite des Konrad-Adenauer-Hauses, der Unions-Zentrale, und der ›Baracke‹, wie der neue Feudalbau der Sozialdemokraten im Volksmund immer noch hieß. Der Vorstand war schon vollzählig versammelt. Sie alle trugen Schwarz, obwohl keine rechte Trauerstimmung aufkommen wollte. Die Berichterstattung in allen Medien über die Vorgänge um den Tod Roettgers war allgemein hervorragend ausgefallen und Dieter Knorr hatte im Parterre alle Mühe, Hunderte von Journalisten abzuwimmeln und sie auf den Nachmittag zu vertrösten. Aber jeder, der wollte, bekam einen Drink oder eine schnell herbeigeschaffte Stulle. Knorr überzog sein Budget bei weitem, aber er wußte, daß er bei Müller Rückendeckung bekommen würde. Der große Konferenzsaal war im ersten Stock und bot gerade für den Vorstand und den Beirat sowie zwei Protokollführer Platz. Als Heinrich Müller eintrat, wurde verhalten Beifall geklatscht. Manche schlugen ihm kameradschaftlich auf die Schulter, aber er strebte seinem Platz zu, der oben am Ende des Tisches war. Neben ihm der leere Stuhl Wolfgang Roettgers. Die Schreibunterlage mit Blumen bekränzt. Knorr hatte an alles gedacht.
Müller kam ohne Umschweife zur Sache. Nach einer kurzen Begrüßung sagte er: »Meine Freunde, die Öffentlichkeit erwartet von uns eine schnelle Reaktion. Wolfgang Roettger ist nicht zu ersetzen. Es ist unsere Aufgabe, heute einen Nachfolger für ihn zu wählen. Dies bedeutet, daß wir den ganzen Wahlkampf umgestalten müssen, was – wie Sie wissen – eine irrsinnige Arbeit mit sich bringt. Alle Plakate, alle Inserate, unsere Werbespots – einfach alles muß neu gestaltet werden. Und nur, wenn wir heute mit einem neuen Spitzenkandidaten an die Öffentlichkeit treten, werden wir unserem Image gerecht, daß wir schnell und problemlos reagieren können. Wir versprechen den Menschen in unserem Lande eine neue Führungsmannschaft; zeigen wir 21
ihnen, daß wir wirklich unverbraucht und reaktionsfähig sind. Unsere Wähler haben einen legalen Anspruch auf unser Vertrauen und unsere Führungskraft. Dies hier ist zwar kein Konklave und keine Papstwahl, aber ich bitte Sie – meine Freunde – um Ihre Zustimmung, daß niemand dieses Haus verläßt, bevor wir nicht einen neuen Kanzlerkandidaten gewählt haben. Schauen Sie zum Fenster hinaus und sehen Sie sich die Fahrzeuge an. Das sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen, alles Autos von Journalisten und Fernsehmenschen. Lassen Sie uns bei allem Unglück die Gunst der Stunde nützen und diese einmalige Publicity-Chance nicht vertun.« Heinrich Müller hatte während seiner ganzen Rede aus dem Winkel seiner Augen immer Dr. Ladiges beobachtet. Er wußte, daß die Versammlung gefühlsmäßig auf seiner Seite war. Aber er wußte auch, daß das Wort von Ladiges Gewicht in dieser Runde hatte. Und Ladiges war kein Freund von übereilten Beschlüssen. Aber seltsamerweise blieb er ruhig und nickte manchmal sogar zustimmend mit dem Kopf, wenn der ›Stellvertreter‹ sprach. Es war gegen elf, als sich die verschiedenen Gremien in kleine Gruppen aufteilten und in den Büros des ersten Stocks Beratungen abhielten.
Heinrich Müller ging zu seinem Arbeitszimmer hinüber. Er mußte jetzt einen Kaffee haben. Über vierundzwanzig Stunden hatte er nicht geschlafen, und so bald würde er auch kein Bett sehen. ›Krümel‹ – seine Sekretärin – mußte wohl Ähnliches geahnt haben. »Kaffee, Chef?« fragte sie. »Du bist ein Goldschatz«, sagte er und ging zu seinem Schreibtisch. Müde fiel er in seinen Sessel, trank gierig den heißen, schwarzen Kaffee, schloß die Augen und lehnte sich genüßlich zurück. Aber da klopfte es schon wieder. »Ja«, rief er. 22
Es war Knorr, der behutsam die Türe hinter sich schloß. »Was gibt's?« »Du wirst es nicht glauben, aber Doktor Ladiges möchte dich sprechen. Allein!« sagte er. »Ladiges …?!« fragte Müller ungläubig. Er warf einen Blick auf den Kalender. Es war der dreizehnte. Aber er war nicht abergläubisch. »Laß ihn rein«, sagte er dann. Er richtete sich auf, brachte Anzug und Krawatte in Ordnung, als Ladiges auch schon kam. »Nehmen Sie sich einen Stuhl …! Wollen Sie auch einen Kaffee, ich glaube, wir werden heute noch viel davon gebrauchen …« Der Dr. Ladiges lächelte fein. »Da sage ich nicht nein!« Über die Gegensprechanlage bestellte Müller noch einen Kaffee für sie beide, dann, als die Tassen dampfend vor ihnen standen und sie sich einen Augenblick abschätzend gemustert hatten, fragte Ladiges: »Können wir hier ungestört sprechen?« »Wenn der Verfassungsschutz keine Wanzen in unsere Apparate eingebaut hat – ja!« Ladiges kam ohne Umschweife zur Sache: »Sie wollen die Nachfolge von Roettger antreten?!« Heinrich Müller sah ihn scheinbar überrascht an. »Wenn man mich wählt? Das ist Sache der Partei und ihrer Gremien …« »Hören Sie auf mit dem Gefasel …« unterbrach ihn Ladiges. »Sie wissen genau, welche Macht Sie hier ausüben, und daß ich der einzige bin, der Ihnen möglicherweise noch die Suppe versalzen kann. Aber vielleicht will ich das gar nicht. Manches an Ihrem Führungsstil gefällt mir nicht, das gebe ich offen zu. Aber wie Sie gestern die Lage gemeistert haben, das zeugt von einem gesunden politischen Instinkt. Warum also sollten Sie die Nachfolge Roettgers nicht antreten – noch dazu, nachdem er es selbst so wollte?« »Was erwarten Sie als Gegenleistung?« »Wenn es klappt, werde ich Ihr Finanzminister …« Jetzt war es an Heinrich Müller, überrascht zu sein. »Das würde bedeuten, daß wir die Mehrheit bekommen und den Kanzler stellen?« 23
»Richtig, mein Freund«, Ladiges hob belehrend den Finger und zeigte dann direkt auf ihn »… und nur Sie können das schaffen!« Sie schwiegen beide einige Minuten. Durch Heinrich Müllers Kopf jagten die Gedanken. Natürlich hatte er in seinen geheimsten Träumen schon mit solchen Ideen gespielt, aber realistisch nie mit ihrer Verwirklichung gerechnet. Mit Ladiges zusammen war es theoretisch zu schaffen. Der Doktor hatte gute Verbindungen zur Industrie und zu den Banken, das würde fürs erste einmal unbeschränkte Geldmittel für den Wahlkampf bedeuten. Kurz schätzte er die Belastung eines Kabinetts mit Ladiges als Finanzminister ab. Ladiges bedeutete ständige Kontrolle und fast keinen Einfluß auf das wichtigste Ressort. Aber sein Ehrgeiz war stärker. »Einverstanden …« sagte er und stand auf. »Ein Mann …« warf Ladiges ein. »Ein Wort!« unterbrach ihn Heinrich Müller. Er ging zu einem Wandschrank und holte eine Flasche Rémy Martin heraus. »Auch einen?« fragte er. Dr. Ladiges nickte nur kurz. Wie nebenbei sagte er dann: »Und dann will ich noch den Parteivorsitz, und Sie werden mich dafür vorschlagen!« Damit hatte Müller nicht gerechnet. Wie bei allen bürgerlichen Parteien war der Posten des Kanzlers immer mit dem des Parteivorsitzenden gekoppelt gewesen. Nur die Sozialdemokraten hatten sich da mit Brandt und Schmidt eine neue Variante einfallen lassen. »Was soll das?« fragte Heinrich Müller. »Es soll uns sozialdemokratische Wähler bringen«, sagte Ladiges nüchtern. Sie stießen an. Müller konnte blitzschnell Situationen einschätzen, und er mußte insgeheim zugeben, daß Ladiges recht hatte. So streckte er ihm noch einmal die Hand hin: »Einverstanden!« »Dann können wir ja die Gremien von ihren Wurststullen wegrufen und wieder zusammenführen. Je früher wir die Ergebnisse unserer Beratungen bekanntgeben, um so mehr Vertrauen wird man unserer neuen Führungsmannschaft entgegenbringen.« 24
»Ja«, sagte Heinrich Müller, »da haben Sie wohl recht.« »Und Knorr wird das bestens besorgen!« »Auch da haben Sie recht!« »Würden Sie ihn mit in die Regierung nehmen?« »Ich denke schon«, sagte Heinrich Müller. Trotz aller Müdigkeit stieg Jubel in ihm auf. Woran gestern noch nicht im entferntesten zu denken war, das war plötzlich Wirklichkeit geworden. Und das mit Hilfe seines intimsten Widersachers. Wußte der Teufel, welches private Süppchen der Doktor Ladiges da kochte – er, Heinrich Müller, war seinen Träumen mit Siebenmeilenstiefeln näher gekommen.
Die Abwicklung im Vorstand war mehr eine Anstandsfrage. Es lief alles wie geplant. Heinrich Müller wurde zum neuen Kanzlerkandidaten gekürt, Dr. Ladiges bekam den Parteivorsitz. Die Begründung für die Gewaltenteilung war einleuchtend. Heinrich Müller würde seine ganze Kraft für den Wahlkampf brauchen, Ladiges würde sich in dieser Zeit um die Partei und die Finanzen kümmern. Knorr hatte alles vorausgeplant. Nur mit einem so frühen Termin hatte auch er nicht gerechnet. »Einmal möchte ich in Ruhe etwas vorbereiten«, stöhnte er. »Denk dir nichts«, tröstete ihn Heinrich Müller, »wir haben heute nacht das Vergnügen, die Wahlkampagne neu zu gestalten. Verständige die Agentur und die Mitglieder unserer Wahlkampfplattform. Ich will sie alle um acht Uhr sehen!« Die Pressekonferenz wurde zur Sensation. Übermüdet, wie er war, war Heinrich Müller trotzdem brillant in seinen Ausführungen und Antworten. Er bat um Verständnis dafür, daß jetzt die Beerdigung des allseits geschätzten Wolfgang Roettger Vorrang vor allen politischen Überlegungen haben müsse. Er präsentierte sich bescheiden als neuer Kanzlerkandidat, und überrascht nahm die Presse zur Kenntnis, daß Dr. Ladiges neuer Parteivorsitzender geworden war. Das reimte sich für manche nicht ganz zusammen, aber ein ostentativer Händedruck 25
der beiden Politiker vor den Foto- und Fernsehkameras überzeugte zumindest nach außen. Außerdem war es schon bald vier Uhr, und der Redaktionsschluß der Provinzblätter drängte; so wurde die Konferenz beendet, und Heinrich Müller ließ sich in seine Wohnung fahren. Elfriede, seine Frau, wartete auf ihn. »Was wird nun?« fragte sie Heinrich Müller. »Sie haben mich zum Kandidaten gemacht«, sagte er. »Und du hast mich noch nicht einmal angerufen?!« klagte sie. Wann wird diese Frau endlich meine Berufung verstehen, fragte sich Heinrich Müller. Dann legte er sich auf die Couch im Wohnzimmer, ließ die Rolläden herunter und zog die Vorhänge zu. »Bitte, wecke mich um sieben Uhr«, sagte er und dann war er auch schon fest eingeschlafen.
Die Neue Partei würde den umgestalteten Wahlkampf noch offensiver gestalten. Wolfgang Roettger kam auf den Plakaten in den Hintergrund, in einer riesigen, mattgrauen Silhouette sah er ein bißchen aus wie der liebe Gott. Davor prangte, suggestiv, Müller. ›Heinrich Müller und seine Mannschaft‹ hieß das neue Motiv, und ›Wir retten Deutschland!‹ Natürlich gab es Proteste, aber das hatte Heinrich Müller einkalkuliert. Er ließ einige Reden umschreiben, auch die für die Kandidaten draußen in den Wahlkreisen. Er trieb die Agentur und die Druckereien zu Höchstleistungen, und schon am Wochenende strahlte das neue Bild der Partei von allen Plakatsäulen, lachte aus den Anzeigenspalten der Tageszeitungen; Heinrich Müller zierte jetzt die Werbespots der Fernsehanstalten und Heinrich Müller sprach im Rundfunk. Dieter Knorr hatte eine neue Publicitykampagne organisiert und es geschafft, daß innerhalb von drei Tagen jedermann über diesen Mann Heinrich Müller informiert war. Jetzt machte sich die offene Medien-Politik der Neuen Partei bezahlt. Und Heinrich Müller? War das nicht der gute Nachbar von neben26
an? War das nicht einer, wie du und ich? Kein Adeliger, kein reicher Mann, ein Schwerarbeiter, der sich hochgedient hatte, ein Beispiel für unsere Kinder und für uns alle? Ja, genau das war Heinrich Müller. Außerdem war er jünger als Roettger – und sah noch jugendlicher aus. Dieter Knorr schwelgte geradezu in Simplifizierungen. Und tatsächlich war die Karriere des Heinrich Müller etwas, was man getrost vorzeigen konnte. 1936 in Dortmund geboren, inmitten von Bergleuten und Ruhrkumpeln aufgewachsen. Der Vater einfacher Post-Obersekretär, gläubiger Katholik, was ihm die Machthaber des Dritten Reiches verübelten, bis der Krieg kam und man den unbequemen Mann an die Front abschieben konnte, wo er 1942 in Rußland fiel. Heinrich Müller war damals gerade sechs Jahre alt. Als der Krieg zu Ende war, hatte Heinrich die Volksschule gerade hinter sich. Heinrich Müller entwickelte in der Schule Fleiß und Interesse, ohne ein Streber zu sein. Er kam gut über die Runden bis zur mittleren Reife. Dann mußte er die Schule verlassen, da seine Mutter nicht mehr länger in der Lage war, die Ausbildungskosten zu tragen. Heinrich Müller begann eine kaufmännische Lehre, wechselte später zu Krupp in Essen, trat der Gewerkschaft bei und interessierte sich erst für die wenigen Arbeitskämpfe und später auch für Politik. Mit 18 trat er in die Gewerkschaft ein und machte schnell Karriere. Er wechselte schon von der beruflichen Neigung her in die Abteilung ›Gewerkschaftseigene Betriebe‹ und bekam einen tiefen Einblick in die Vermögensverwaltung und -anlage der Gewerkschaft, ein Einblick, der ihn faszinierte. Er sah, wie mit den Millionen der Gewerkschaftsbeiträge riesige Unternehmungen und Banken entstanden und spürte den Hauch der Macht, die das Geld umgab. Er sah auch, wie das Geld die Menschen korrumpierte. Aber er schwieg zu alledem, machte sich zuerst Notizen, legte später ganze Dossiers an und kam so zu einer Sammlung von Fakten und Informationen über Gewerkschafter und Industrielle, über Banker und Funktionäre, über Beamte und Unternehmer, die er sorgsam in einem Banksafe verschloß. Er wechselte später in das Management der ›Neuen Heimat‹ über, 27
der gewerkschaftseigenen Bauunternehmung. Er sah, wie dieses Unternehmen sich zum Baugiganten entwickelte, und verfolgte interessiert die Finanzierung der oft unmäßigen Bauvorhaben, die neue Städte auf grüne Wiesen setzten, Mondlandschaften von bizarrer Häßlichkeit, die in den Prospekten als ›urbanes Wohnen‹ angepriesen wurden. Der Umgang mit dem abstrakten Wert des Geldes faszinierte ihn. So war es nur logisch, daß er 1966 als Dreißigjähriger zur ›Bank für Gemeinwirtschaft‹ wechselte, die sich inzwischen zu einer der größten deutschen Banken gemausert hatte. Er arbeitete in der Kreditabteilung, und seine Sekretärin war eine gewisse Elfriede Hummel. Sie war ein hübsches, adrettes Mädchen aus Frankfurt am Main. Sie trafen sich ein paar Mal auch außerhalb des Büros und fanden Gefallen aneinander. Ein Jahr später heirateten sie. Heinrich Müller war inzwischen in den Bundesvorstand der Jungsozialisten gewählt worden und versah dort das Amt des Schatzmeisters. Und wenn ihm auch vieles dabei nicht gefiel, so blieb er doch stets im Hintergrund und verrichtete seine Arbeit zuverlässig und ordentlich. Das brachte ihm die Achtung der Genossen in Partei und Gewerkschaft ein. Langsam traute er sich selbst in den Vordergrund, hielt Reden, erst vor kleineren Kreisen, dann vor immer größeren Auditorien, bis er so sicher war, daß auch provokante Zwischenrufe von Gegnern ihn nicht mehr aus der Ruhe bringen konnten. Er entwickelte ein Gespür für die Masse der Zuhörer und konnte – wie ein begabter Schauspieler – auf gegebene Situationen reagieren. Dazu hatte er sich angewöhnt, das, was er zu sagen hatte, in knappen, möglichst kurzen und überzeugenden Sätzen zu sagen. Und auch das brachte ihm Sympathien. Auf der anderen Seite sammelte er Menschenkenntnisse in der Kreditabteilung der Bank. Es bereitete ihm Vergnügen, über Millionen zu verhandeln und mit darüber zu entscheiden, ob sie vergeben wurden oder nicht. All das wuchs ihm nicht über den Kopf. Er blieb in seiner persönli28
chen Lebensführung bescheiden, und da auch seine Frau arbeitete, kamen sie rasch zu einem kleinen Wohlstand. Das erlaubte ihnen eines Tages, den Bau eines Hauses in Angriff zu nehmen. Das stand draußen in Neu-Isenburg, vor den Toren Frankfurts, und war für eine vierköpfige Familie ausgelegt. Aber trotz aller Bemühungen wollte sich kein Nachwuchs einstellen, und eine endlich eingeleitete Untersuchung ergab, daß Elfriede niemals Kinder würde haben können. Das veränderte Heinrich Müllers Beziehung zu seiner Frau langsam und ohne daß sie es so richtig mitbekam. Als die Partei dann an ihn herantrat und ihn aufforderte, für den Bundestag zu kandidieren, nahm er diese Chance mit offenen Armen wahr und zog 1972 in den Bundestag ein. Als Hinterbänkler hatte er reichlich Zeit, sich um die Anliegen seiner Wähler zu kümmern. Und da er sich als geschickter Organisator erwiesen hatte, wurde er bald in verschiedene Organisationsgremien der Partei berufen. Jetzt hatte er fast einen Zwanzig-Stunden-Tag und genoß es, zu sehen, wie die Genossen zu ihm kamen, ihn um Rat fragten, seine Hilfe und sein Wissen brauchten. Er zählte zum rechten Flügel seiner Partei, da er die Polarisierung gegenüber der Union ablehnte. Dadurch schuf er sich eine ganze Menge Gegner in den eigenen Reihen, an denen er sich wetzte und zuerst überrascht und später erfreut sah, wie sie vor seinen logischen und rhetorischen Argumenten kapitulieren mußten. 1976 und 1980 wurde er wiedergewählt, obwohl er sich jetzt schon immer mehr vom Programm seiner Partei entfernt hatte. Gleichzeitig beobachtete er aufmerksam, wie die Liberalen mit ihren wenigen Mitgliedern und dem jeweiligen knappen Überleben bei den verschiedenen Wahlen den Sozialdemokraten ihre Vorstellungen von der Ausübung der Macht aufzwangen. Im Sommer 1983 wurde er erstmals zu einem privaten Treffen in das Schloßhotel Kronberg eingeladen, an dem er teilnahm, weil ihn der Kreis der Versammelten interessierte. Wolfgang Roettger hatte dazu eingeladen, und sein Name hatte weit über die Grenzen der Republik hinaus einen guten und soliden Klang. 29
In vorsichtigen Worten wurde von den rund vierzig Geladenen die politische Situation erörtert: Der zunehmende Terrorismus, die Führungsschwäche der sozialliberalen Koalition, die Chancen für eine vierte Partei, die Entwicklung des deutschen Exports, die Verbindung zu Frankreich, zu den USA und die Bindungen an die Europäische Gemeinschaft. Alles Themen voller Sprengkraft. Noch brisanter mochte die Zusammensetzung des Kreises sein. Da waren namhafte Vertreter der Union ebenso anwesend wie Leute aus der Sozialdemokratie, führende Köpfe der Wirtschaft und gemäßigte Liberale. Irgend jemand brachte dann das Wort einer starken Volkspartei in die Diskussion, einer Partei der Mitte, die den Wählern eine echte Alternative zu den Sozialdemokraten und der Union bieten konnte. Noch hatte man Strauß nicht verziehen, daß er sich nach Bayern zurückgezogen hatte, noch hatte man Schmidts oft allzu autoritären Führungsstil täglich vor Augen, nirgendwo war eine Änderung der festgefahrenen Hierarchien in den politischen Parteien zu erkennen, die Polarisierung schien festgeschrieben. Und da war es Wolfgang Roettger, der das erlösende Wort sprach: »Wenn wir in diesem Lande etwas ändern wollen, dann brauchen wir eine starke Volkspartei der Mitte. Ich bin bereit, mich für diese Aufgabe zur Verfügung zu stellen!« Das war ein eindeutiges, mutiges Bekenntnis zu einer Sache, von der wohl alle Anwesenden überzeugt waren. Und als Heinrich Müller in die Runde blickte, sah er in den Gesichtern uneingeschränkte Zustimmung. Und diese Gesichter gehörten Menschen, die in dieser Republik über Einfluß und Macht verfügten. Er genoß es einen Augenblick lang, daß auch er zu diesen Mächtigen gezählt wurde, und erkannte zugleich, daß hier eine Entscheidung auf ihn zukam. Und obwohl er zuvor mit keinem der Anwesenden das Thema besprochen hatte, stand er wie unter einem Zwang auf: »Ich bin bereit mitzumachen«, sagte er. Das gab Beifall, der ihn leicht verlegen machte. Roettger sagte, daß er von allen Anwesenden das Wort hatte, daß diese Zusammenkunft streng vertraulich behandelt werden würde. 30
Daraufhin kamen noch einige Bereitschaftsmeldungen und auch finanzielle Zusagen, um einen ersten organisatorischen Start zu ermöglichen. Es wurde ein Ausschuß gebildet, drei Männer wurden gewählt, die den besten Starttermin für die neue Partei erkunden sollten. Roettger gehörte ihm an, Heinrich Müller und Dr. Werner Ladiges. Die Zusammenarbeit in den nächsten Monaten gestaltete sich unkompliziert; sie alle wohnten in Frankfurt und konnten sich so unauffällig treffen. Sie achteten darauf, daß sie möglichst nicht zusammen gesehen wurden, und mieteten Anfang 1984 ein kleines Büro im Westend, das als Handelsbüro getarnt war. Alle drei Monate unterrichteten sie die Freunde, wie sie die Entwicklung sahen. Es wurde beschlossen, die anstehenden Bundestagswahlen abzuwarten und nach deren Analyse gegebenenfalls an die Öffentlichkeit zu treten. Es war Dr. Ladiges, der vor zu schnellen Schritten warnte, während Roettger voll Idealismus und Heinrich Müller voll Tatendrang an die Öffentlichkeit stürmen wollten. Der Herbst 1984 brachte eine Vorentscheidung. Die Wahlen hatten keiner Partei und keiner Gruppierung die absolute Mehrheit gebracht, weder konnten die Sozialdemokraten mit den Liberalen weiter regieren, noch hatten es die Unions-Parteien geschafft. Es war das absolute Patt, und die Regierungsbildung gestaltete sich so schwierig, daß die Liberalen in eine Zerreißprobe gelangten, an der sie zerbrechen mußten. Heinrich Müller hielt nun den Zeitpunkt für gekommen, die ›Neue Partei‹ vorzustellen. Es war Dr. Ladiges, der widersprach. Sein Wort hatte Gewicht, mehr Gewicht, als das von Heinrich Müller. Dieser wollte erst verärgert seine Konsequenzen ziehen. Andererseits liebte er das Spiel mit der Macht und war bereit, dafür alles zu riskieren. Darum schwieg er. Als dann eine Kompromißregierung zwischen Union und Liberalen in letzter Sekunde zustande gekommen war, tat er den ersten spektakulären Schritt seines Lebens. Er trat aus der SPD aus und blieb als Unabhängiger Mitglied des Parlaments. Natürlich umwarb ihn die Union, in ihre Reihen einzutreten, eben31
so wie die Liberalen. Die Gewerkschaft versuchte Druck auf ihn auszuüben, dem er aufgrund seines großen Ansehens mit Anstand begegnen konnte. Aber auch von verschiedenen Bankseiten legte man ihm eine klare Stellungnahme nahe, wozu er nur hintergründig lächelte. Seine Frau Elfriede verstand die Welt nicht mehr. Da sie inzwischen ihren Beruf aufgegeben hatte, weinte sie insgeheim den nun entfallenden Sitzungsgeldern in den Ausschüssen nach. Völlig konsterniert aber war sie, als Heinrich Müller auch noch seinen sicheren Bankjob aufgab und sie jetzt ausschließlich auf die Einkünfte eines gewöhnlichen Bundestagsabgeordneten angewiesen waren. Es kam zu manchen lautstarken Streitigkeiten, und Heinrich Müller dachte insgeheim darüber nach, ob eine Trennung von ihr nicht die ehrlichere Lösung sei. Dann aber dachte er an die Zukunft, die er in der neuen Partei sah, und schwieg. Er war dabei unentwegt tätig, entwarf mit Roettger zusammen das Parteiprogramm, konzipierte den Aufbau der Partei und der Landesverbände, plante eine erste große überraschende Werbekampagne, verfaßte Reden für den zu wählenden Vorstand, die er jeden Monat auf den neuesten Stand brachte, und verschaffte sich damit auch bei Dr. Ladiges Achtung, wenn auch keine Freundschaft. Ein Jahr später – im November 1985 – wurde der Startschuß für die neue Partei gegeben, sie sollte im Frühjahr 1986 zum ersten Mal öffentlich auftreten. Finanziell war ein guter Start gegeben. Gespräche hatten stattgefunden mit Sponsoren, mit Banken und Versicherungen, deren Management man kannte, mit der Industrie und den Verbänden. Die Basis schien gesund und der Start im Frühling symbolisch geplant. Der – vorläufige – Parteislogan hieß: ›Neue Kraft aus deutscher Erde‹. Es war Heinrich Müller, der das Haus im Bonner Distelweg fand, auf halbem Wege zwischen Bonn und Bad Godesberg und in direkter Nachbarschaft der kommenden politischen Gegner. Er hatte auch für Elfriede und sich ein kleines Einfamilienhaus in Bad Godesberg gefunden, das ihren Ansprüchen genügte und trotzdem groß genug war, um auch einmal einen kleinen Empfang geben zu können. Er fand verschwiegene Mitarbeiter, die die Organisation des Startes vorbereiteten, 32
er engagierte eine Werbeagentur, und er hatte die kleine PR-Agentur von Dieter Knorr mit der publizistischen Vorbereitung beauftragt. Der 2. Mai 1986 war so vorbereitet, wie nur umsichtige Unternehmer ein großes Wagnis vorbereiten können. Und dieser 2. Mai 1986 wurde der erste große Triumph für Heinrich Müller, denn alles klappte wie am Schnürchen. Die Republik – kaum hatte sie sich vom ›Tag der Arbeit‹ erholt – wurde mit einer neuen Hoffnung für die politische Landschaft beglückt, mit der neuen Partei. Da stand es in allen Zeitungen, klebte an allen Plakatsäulen, war in Rundfunk- und Fernsehstationen zu hören und zu sehen, kam per Brief in jeden Haushalt: Gestandene und bekannte Frauen und Männer des öffentlichen Lebens sagten sich los von der Parteien Gezänk und Hader, bildeten die große Partei der Mitte, das Sammelbecken für jeden, der am Schicksal dieses Volkes interessiert war. Und das in fast nüchternen, überzeugenden Worten, für jeden verständlich, ohne Polemik gegenüber dem politischen Gegner, ein Produkt der politischen Vernunft – die neue Partei. Um den Namen der Partei hatte es kaum Auseinandersetzungen in der Führungsmannschaft gegeben. Es war Heinrich Müller, der sagte: »Wir reden seit Monaten von der neuen Partei, lassen wir es doch bei diesem Namen die ›NEUE PARTEI‹.« Das fand Zustimmung. Das war auch eine klare Absage an Sozialdemokraten, Liberale und die Union. Die Neue Partei wollte neue Wege beschreiten, neue politische Dimensionen aufzeigen und neue Ziele anstreben. Sie wollte eine Partei des Pragmatismus sein, ohne ideologischen Ballast, der für den Wohlstandsbürger dieser Republik sowieso unverständlich war und zumeist nicht einmal von den eigenen Mitgliedern zur Kenntnis genommen wurde. Die überraschende Gründung der Neuen Partei schlug wie eine Bombe ein. Insbesondere die von Dieter Knorr entwickelten Briefe an die ›Verehrten Bürger‹, die per Postwurfsendung jeden deutschen Haushalt erreichten, hatten einen überraschenden Erfolg. Jedem Brief lag eine als Postkarte gestaltete Beitrittserklärung bei und von jedem Bürger, der sich innerhalb der nächsten vier Wochen entschloß Mit33
glied zu werden, wurde für die ersten vierundzwanzig Monate ein Beitrag von nur zwei Mark monatlich verlangt. Der Slogan für diese Aktion hieß: »Mit zwei Mark sind Sie dabei, wenn es um Deutschland geht!« Innerhalb der folgenden zwei Wochen gingen im Bonner Distelweg über zwei Millionen Postkarten ein. Die Neue Partei war damit auf Anhieb mitgliederstärkste Partei geworden. Heinrich Müller gab täglich ein Statement für die Fernsehsender ab und wartete immer mit den neuesten Zahlen auf. Er gab Einblick in das Organisationsschema, wo jedes Mitglied gewissenhaft registriert wurde und spätestens drei Tage nach Eingang der Anmeldung einen Mitgliedsausweis erhielt. Er mußte, um die Arbeit zu schaffen, ein Datenverarbeitungsunternehmen beschäftigen. Aber die Mühe lohnte sich. Und der Erfolg blieb der Neuen Partei treu. Es schien, als hätte die Republik nur auf diesen Augenblick gewartet. Von der Linken und von der Rechten stellten sich namhafte Vertreter des öffentlichen Lebens in den Dienst der Sache, so daß schon bald starke Landesverbände gebildet werden konnten, an deren Spitze bekannte Köpfe zu finden waren. Und Heinrich Müller war entschlossen, die Gunst der Stunde zu nutzen. Er schlug dem Vorstand vor, sich an den Wahlen in Hessen und Bayern zu beteiligen. Wieder war es Werner Ladiges, der vor allzu schnellen Schritten warnte, und Heinrich Müller mußte eine Abstimmungsniederlage hinnehmen. Den nächsten Schachzug bereitete er besser vor. Bei seinen Reisen zu den Landesverbänden motivierte er die Freunde in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. Als es dann wieder zur Abstimmung kam, war das Votum auf seiner Seite. Die Neue Partei nahm den Kampf auf. Und wovor Ladiges Angst hatte, trat nicht ein. Die Partei gewann im ersten Anlauf in beiden Ländern mehr als dreißig Prozent der Stimmen und stellte in den mit der Union gebildeten Kabinetten den Ministerpräsidenten und besetzte die wichtigsten Schlüssel-Ministerien Kultur, Wirtschaft und Finanzen. Jetzt kam Heinrich Müller in Schwung. Da die Finanzlage der Par34
teikasse mehr als gesund war, setzte er zu einem permanenten Wahlkampf an, wie ihn die Bürger der Republik noch nicht erlebt hatten. Er gründete in allen größeren Städten Beratungsstellen und Beschwerdeausschüsse, an die sich jedermann wenden konnte. Alle großen und kleinen Wehwehchen wurden gewissenhaft registriert, bearbeitet und möglichst einer positiven Lösung zugeführt. Dann wurden die Anliegen in einem angemieteten Computersystem gespeichert und ergaben schon bald ein jederzeit abrufbereites Informationssystem, das es Heinrich Müller gestattete, immer einen Überblick darüber zu haben, wo den Bürger der Schuh drückte, wo Reformen unumgänglich waren. Und dies wiederum war die Basis für seine Propaganda-Feldzüge und die Reden, die er von einem Team exzellenter Politologen entwerfen und von einigen bekannten Journalisten gegen ein erstaunlich großzügiges Honorar in verständliches Deutsch übersetzen ließ. Das brachte ihm – nebenbei – eine gute Presse. Er selbst war inzwischen mehr mit der Partei als mit Elfriede verheiratet, was seine Frau stumm und duldend zur Kenntnis nahm. Sie suchte sich ein Kaffeekränzchen, aus dem ihr jederzeit Bewunderung für ihren Mann entgegenschlug, und gab sich damit zufrieden.
So blieb Heinrich Müller der Spielraum, die Zeit und auch die Kraft, alles für die Bundestagswahlen 1988 vorzubereiten. Die Hemdsärmeligkeit und die zugleich demonstrierte Noblesse waren aber auch ein neuer politischer Stil, der in diesem Lande bis dahin unbekannt gewesen war. Wo immer Sozialdemokraten und Unions-Politiker massive Angriffe gegen die Neue Partei oder einzelne Politiker vortrugen, begegnete ihnen Heinrich Müller gelassen und ohne Polemik. Das imponierte, machte glaubhaft und vermittelte Vertrauen. Die Dinge standen gut. Heinrich Müller hatte sich ein riesiges Programm auferlegt. Er mußte in knappen vier Wochen eine Popularität erreichen, die die Erinnerung an Roettger auslöschte. Die Partei mußte unbedingt die Ergeb35
nisse der Landtagswahlen erreichen. Und er war nüchtern genug zu erkennen, daß ihm nur wenige Mitarbeiter zur Verfügung standen, auf die er sich voll verlassen konnte. Einer von ihnen war Dieter Knorr. Knorr hatte in nicht einmal achtundvierzig Stunden die neue Kampagne organisiert und dabei Umsicht und Einfühlungsvermögen bewiesen. Er hatte kleinere Termine abgesagt, die für Roettger vorgesehen waren, und schleppte Heinrich Müller überall dahin, wo er der Massen und der Publicity sicher war. Es verging kein Tag, an dem Heinrich Müller nicht zu irgendeinem politischen Problem in den Nachrichten oder den politischen Magazinen Stellung nahm. Knorr hatte einen Stab von vier Fotografen zusammengestellt, die ihm täglich neue Bilder lieferten. Müller in Hamburg, in Dortmund, in Frankfurt, Stuttgart oder München. Müller im Kreise von Rentnern, von jungen Müttern oder von Strafgefangenen, bei Arbeitern oder Beamten, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder als Sprecher vor Interessenverbänden, Müller als Kinder- und Sportsfreund – täglich überflutete er die Redaktionen mit neuen interessanten Bildern und zündenden Texten, die nicht aus der Routinekiste kamen, sondern von gewieften Bildredakteuren entworfen waren.
Und die Medien spielten mit. Das war ein neuer Wind, der ihnen da entgegenwehte, das war unbelastet, frei und voller Optimismus. Und vielleicht hofften auch sie auf eine neue Ära in der Politik, und diese Ära konnte absolut Heinrich Müller heißen. Von den anderen Parteien kamen nur vorwurfsvolle und manchmal sogar beleidigende Statements nach dem immer gleichen Schema verfaßt: »Flick dem Gegner nur am Zeug, irgend etwas davon wird schon hängenbleiben!« An Heinrich Müller blieb nichts hängen, es glitt an ihm ab wie Wassertropfen von einer Regenhaut. Und obwohl die Kampagne, die Reden und die tausenden Hände, die er schütteln mußte, rein physisch eine Tortur waren, schien ihm das alles nichts auszumachen. Er wirkte immer frisch und ausgeruht, 36
er hatte immer ein offenes Lachen für jedermann, das Vertrauen in die Menschen und in die Zukunft zu beweisen schien, er sprach in verständlichen Worten, die zu Herzen gingen und mitten ins deutsche Gemüt trafen. Und er gab sich keine Blößen. Wenn Zwischenrufer ihn aufs Glatteis führen wollten, hatte er schlagfertige Antworten parat und war sorgsam darauf bedacht, sich nicht zu wiederholen. Und wenn er sagte »Macht es wie die Preise, rennt der SPD davon!«, dann war das keine Spitze, sondern ein Witz, über den man herzlich lachen konnte und den man abends am Stammtisch weitererzählte. Und als der Sonntag der Wahl kam, überreichten Zehntausende von freiwilligen Helfern jedem Wähler eine unschuldige weiße Nelke, das inzwischen bundesweit bestbekannte Symbol der Neuen Partei. Heinrich Müller aber lag im Bett und schlief zum ersten Male seit vier Wochen wieder richtig aus. Um zehn Uhr ging er in Bad Godesberg in die Kirche, eine Geste, die von Dutzenden Reportern aufmerksam notiert wurde, dann gab er seine Stimme in der nahe gelegenen Schule ab. Der Wahlvorstand drückte ihm herzlich die Hand und mußte dies für die Kameras noch einige Male wiederholen, dann sagte er voller Hochachtung: »Ich wünsche Ihnen einen vollen Erfolg, Herr Müller!« Dies wurde von den Umstehenden mit Beifall quittiert. Heinrich Müller wehrte bescheiden ab, sagte: »Dies liegt nun in der Entscheidung des Wählers …«, hakte sich bei Elfriede ein und ging zu Fuß zu seiner Wohnung zurück. Knorr wartete schon auf ihn und man sah ihm die Spannung an, unter der er stand. »Der alte Casdorf vom WDR will dich um sieben Uhr haben, lieber noch um halb sieben, das ZDF schickt Rudolph, und das Unabhängige Fernsehen hat Mühlfenzl junior beauftragt. Wo werden wir heute abend sein?« Das war die einzige Sache, die Heinrich Müller nicht entschieden hatte. »Setz dich erst einmal«, nötigte er Dieter Knorr in einen Sessel. Dieser Junge war ihm während der Kampagne noch mehr ans Herz ge37
wachsen, und er fühlte sich ihm inzwischen freundschaftlich verbunden. »Wir werden jetzt in aller Ruhe ein Gläschen Champagner trinken, und die nächste Stunde will ich kein Wort von der Wahl, von Politik oder von der Partei hören. Du bist mein Freund, Dieter, bringst du das fertig?« Jetzt fiel auch die Spannung von Dieter Knorr ab. »Du hast recht, was wir tun konnten, haben wir getan, jetzt können wir doch nichts mehr ändern!« Elfriede brachte drei Kristallschalen, und Heinrich Müller öffnete die Flasche. Als sie sich gerade zutrinken wollten, klingelte es an der Wohnungstüre. Elfriede wollte aufspringen, um nachzusehen, aber Heinrich Müller bat sie ungewohnt sanft: »Bleib sitzen, wir sind einfach nicht zu Hause. Wir sind jetzt eine Stunde lang ganz gewöhnliche Bürger, die ihre Pflicht getan haben. Und dann gehen wir zu Ria Maternus und gönnen uns ein rechtes Feiertagsessen. Denn ein Festtag ist das heute ja, oder nicht?« Knorr griff zum Telefon. »Da wird es gut sein, wenn ich einen Tisch bestelle«, sagte er. »Ich würde sagen, wir könnten ja einmal meine Popularität auf die Probe stellen«, lachte Heinrich Müller, »aber du hast recht, man soll nichts dem Zufall überlassen – sicher ist sicher.« Und dann, als Knorr telefoniert hatte, sagte er: »Ruf Kulle an, er soll uns um ein Uhr abholen!« Elfriede Müller aber sah lange ihren Mann an, mit dem sie in einer Wohnung zusammenlebte, mit dem sie verheiratet war und der ihr doch so fremd war, wie ein entfernter Bekannter. Sie bewunderte ihn, sicher, und sie hatte Achtung vor ihm, sie schätzte an ihm, daß seit Frankfurt kein böses Wort mehr ihr gegenüber über seine Lippen gekommen war und daß er immer ein Ohr für ihre kleinen Sorgen hatte, sie sonnte sich in seiner Gegenwart und war dann doch immer wieder froh, wenn sie ihr kleines Reich für sich alleine hatte, die Ordnung, die sauberen Gardinen, den gepflegten Rasen und die Blumen. Jetzt plötzlich schien er wieder ein ganz anderer Mensch zu sein, gelassen, ruhig und souverän, ein Mensch, den sie nicht kannte. Ein Mensch, der ihr Mann war und an den sie nichts band. Sie erschrak vor ihren eigenen 38
Gedanken und lächelte gequält. Wie würde es jetzt weitergehen? Nicht im Traum dachte sie daran, daß dieser Mann wirklich einmal Kanzler der Nation werden könnte. Für sie war dieser ganze Wahlkampf das, was jeder andere Wahlkampf für sie auch gewesen war. Ein Kampf unter Männern um Macht und Einfluß und vor allen Dingen um Posten. Hoffentlich bekommt Heinrich einen guten Posten, dachte sie noch, als Kulle sie abholte. Vor dem Haus hatten sich Gruppen von Menschen versammelt, die offen Beifall klatschten, als sie aus der Türe traten. Zwei brave Polizisten salutierten, als Kulle den Wagen öffnete und Heinrich Müller seiner Frau galant beim Einsteigen half. »Ich habe ein kleines Begleitkommando bekommen«, sagte Kulle und zeigte auf zwei Polizisten, die mit ihren schweren Motorrädern vor dem Wagen standen. »Wo fahren wir hin?« »Zu Ria Maternus«, sagte Knorr, stieg aus und sagte den Beamten Bescheid. Sie stellten die Blaulichter ihrer weißen Maschinen an und bahnten dem Wagen einen Weg durch die Menschen. Es war ein gutes Gefühl, so zum Essen begleitet zu werden. Heinrich Müller genoß es. Überhaupt würde sich jetzt wahrscheinlich vieles ändern, und er hoffte nur, daß Elfriede es mit Anstand über sich ergehen ließ. Er wartete geradezu auf die Frage von ihr: »Heinrich, was soll denn das? Ist irgend etwas passiert?« Und um es erst gar nicht so weit kommen zu lassen, sagte er: »Das ist der übliche Schutz für die Spitzenkandidaten erfolgreicher Parteien, Liebling. Wegen des Verkehrs!« Elfriede seufzte leise: »Ja, es sind schon viele Menschen unterwegs …« Das traf zwar nicht ganz zu, im Gegenteil, die Straßen von Bad Godesberg lagen geradezu ausgestorben da; immerhin war es Sonntag und Mittagszeit, aber Heinrich Müller verkniff sich eine Antwort. Dafür war es bei Ria Maternus um so voller. Spitzenpolitiker aller Parteien schienen sich für diesen Sonntag angesagt zu haben, Polizei- und Sicherheitsfahrzeuge bildeten eine Sperrkette, überall standen Beamte herum, mit blitzsauberem weißem Koppelzeug und weißen Helmen, 39
Zivilisten mit ausgebeulten Anzügen kontrollierten jeden, der das Lokal betrat, in dem hektische Ausgelassenheit zu herrschen schien. Aber der Schein trog.
Als Heinrich Müller das Lokal betrat, wurde es plötzlich ruhig, und neugierige Augenpaare folgten jedem seiner Schritte. Gleich rechts saßen einige Unions-Politiker, einer grüßte freundlich, zuckte aber gleich darauf zusammen. Wahrscheinlich war er unter dem Tisch getreten worden. Bahr, weißhaarig und unbedeutend, saß mit ein paar jüngeren Sozialdemokraten in einem kleinen Nebenzimmer, aber auch sie schauten neugierig heraus. Ria Maternus hatte für Heinrich Müller einen separierten Tisch reserviert. Am Kleid hatte sie eine weiße Nelke befestigt. »Es ist mir eine hohe Ehre«, sagte sie. »Ria, noch wissen wir nichts!« sagte Dieter Knorr, der öfter hierher kam. Die Wirtin lächelte fein, so als habe sie das Wahlergebnis schon in der Tasche. Dann brachte sie die Menükarten. Heinrich Müller nahm sich ausgiebig Zeit zum Bestellen und drängte auch seine Frau, sich das Beste vom Besten auszusuchen. Sie tranken einen leichten Rheinwein und genossen die hervorragende Küche. Nach Kaffee und Cognac war es schon fast drei Uhr, als sie das Lokal verließen. Heinrich Müller setzte seine Frau zu Hause ab und fuhr dann mit Knorr zur Parteizentrale. Dort herrschte erwartungsvolle Stimmung; Knorrs Hilfsmannschaft hatte alles vorbereitet, um immer auf dem letzten Informationsstand zu sein. Heinrich Müller ging mit Knorr in sein Arbeitszimmer, und nachdem Krümel Kaffee gebracht hatte, ging er mit ihm noch einmal die vier Statements durch, die sie für alle Fälle vorbereitet hatten: Sieg – gutes Ergebnis – weniger gutes Abschneiden – Niederlage. Das war Müllers Stärke. Er hatte die ganze Wahl schon analysiert, bevor ein Ergebnis bekannt war. 40
»Sag den Fernseh-Ottos, daß ich um zehn nach sechs Uhr im Bundeshaus sein werde. Ich schätze, daß die ersten Hochrechnungen spätestens gegen sieben Uhr vorliegen werden. Ich möchte um acht Uhr wieder hier sein. Hast du alles vorbereitet?« Knorr sah ihn vorwurfsvoll an. »Na klar …!«, dann berichtete er, in welchen Städten er eine erste Nachfrage organisiert hatte. Wenn alles funktionierte, mußten ab siebzehn Uhr die ersten Ergebnisse auf seinem Schreibtisch liegen. Das war in einer Stunde. Heinrich würde sich darauf einstellen können. »Wenn ich dich nicht hätte«, lachte Müller und kippte einen Cognac. Das war sonst nicht seine Art, aber erstmals spürte er, daß ihn eine unerklärliche Nervosität überfiel, und Knorr kannte ihn gut genug, um die Stimmung seismographisch aufzufangen. »Immer mit der Ruhe, Henry, in vier Stunden wissen wir alles!« »Bitte nenn mich nicht Henry«, explodierte Heinrich. Dann lachte er unsicher: »Und wenn wir durchfallen?« »Dann sind alle modernen Erkenntnisse der Massenpsychologie, der Werbung, des Marketings und der Public Relations Unsinn. Ich werde dann in ein Kloster eintreten und barfüßig meinen Schöpfer um Verzeihung bitten, daß ich so vermessen war, das Volk falsch einzuschätzen!« Der Galgenhumor Knorrs tat Heinrich Müller gut. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, es war halb fünf. »Du meinst nicht, daß schon irgendwelche Informationen vorliegen?« »Wenn es dich beruhigt, frage ich mal nach«, sagte Knorr. »Wenn du so freundlich sein könntest«, sagte Heinrich etwas zu scharf. Knorr sah ihn an. »Du machst dir unnötige Sorgen, Hen- äh, Heinrich«, sagte er. »Schlimmstenfalls erzielen wir ein mittleres Ergebnis. Aber auch dann sind wir das Zünglein an der Waage. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die FDP noch einmal durchkommt, und die anderen beiden Parteien sind für eine Große Koalition viel zu zerstritten. Abgesehen davon, daß Strauß lieber Bayern aus dem Bund austreten läßt, als noch einmal zurückzustecken.« 41
Wieder mußte Müller unwillkürlich grinsen. Das waren zwar Binsenweisheiten, die Knorr da aussprach, aber tatsächlich hatten die Leute der großen Parteien viel zu lange an ihren alternden Stars von einst festgehalten. Und sie von der Neuen Partei waren so vorsichtig, derlei Dinge nur unter sich auszusprechen. »Also gut. Und was wünschst du dir, wenn wir … na, wenn alles gut geht?« »Daß du darauf bestehst, Bundeskanzler zu werden!« sagte Knorr erregt. »Psst!«, Heinrich Müller sah sich vorsichtig um. »So was solltest du noch nicht mal im Schlaf sagen!« »Wirklich nicht?« Knorr ließ nicht locker. »Man muß abwarten können, wenn man gewinnen will. Wenigstens in der Politik«, sagte Heinrich Müller langsam, und es klang wie ein Glaubensbekenntnis. Dann gab er Knorr einen Wink. »So, und nun frag mal nach, ob wir nicht sang- und klanglos durchgefallen sind«, bat er mit einem Lächeln. »Nicht verschreien, Hen- Heinrich. Ich geh ja schon«, sagte Knorr schnell und verschwand. Draußen sagte er zu Krümel: »Laß niemand zum Chef rein, klar?«
In der Presse-Abteilung herrschte Hochbetrieb. Knorrs Mitarbeiter saßen an den Fernschreibern, übertrugen Zahlen in Tabellen, hantierten mit Tischcomputern, ordneten, prüften, tranken Bier und Kaffee, murmelten miteinander, um die Kollegen nicht zu stören. Rauchschwaden von unzähligen Zigaretten hingen unter der Decke, aber allseits schien gute Laune vorzuherrschen. Gisela Knorr hatte alle Fäden in der Hand. Sie saß hinter dem Schreibtisch ihres Mannes und war in diesem Augenblick – gegen siebzehn Uhr – wohl die einzige, die einen völligen Überblick über die Ergebnisse der Sofortnachfrage hatte. Die Sofortnachfrage war ein System, das die Demoskopen in den späten siebziger Jahren erfunden hatten, um die Trends schon vor den 42
offiziellen Ergebnissen zu erfahren. Das Verfahren war einfach. In genau ausgesuchten Wahllokalen wurden Durchschnittswähler nach Abgabe ihrer Stimme gefragt, wen sie gewählt hatten. Die Fernsehanstalten hatten diese Methode erfunden, und bei einer Genauigkeit von plus-minus drei Prozent hatten sie so schon lange vor Schließung der Wahllokale eine Übersicht, welcher Kandidat oder welche Partei wie gut oder wie schlecht im Rennen lag. Dieter Knorr hatte diese Methode einfach übernommen. »Wie sieht es aus, Gisela?« fragte er seine Frau. Sie sah langsam zu ihm auf und auf ihrem Gesicht lag ein ungläubiges Staunen. »Entweder du hast die falschen Plätze ausgesucht oder ihr werdet so an die 40 Prozent bekommen. Das kann ich gar nicht glauben …?!« »Du traust uns wohl gar nichts zu?« lachte Dieter Knorr. »Dir? Alles!« Sie stand auf und küßte ihn. »Mensch, Dieter, wenn das wahr wäre …« Dieter Knorr war zu lange in dem Geschäft, um noch allzu überrascht zu sein. »Laß sehen!« sagte er und beugte sich über die Tabellen. Das sah wirklich gut aus. Schleswig-Holstein meldete über fünfzig Prozent, Hamburg und Bremen um die vierzig, Hessen und Baden-Württemberg um die dreißig, Bayern knapp fünfundzwanzig, alles andere lag noch nicht vor. Er machte sich ein paar Notizen und rannte dann zu Heinrich Müller zurück. Ohne anzuklopfen stürzte er ins Zimmer. »Du hast es geschafft. Heinrich! Wenn nicht allzuviel dazwischenkommt, sind wir die stärkste Partei!« Er streckte Müller den Zettel hin. Der las die wenigen Zahlen aufmerksam durch, und ihn überfiel jetzt zum ersten Male so etwas wie Furcht. »Ist Kulle bereit?« fragte er dann. »Du kannst jederzeit losfahren …« »Wir fahren Punkt sechs Uhr hier weg. Wo ist Ladiges?« »Er will um sieben Uhr im Bundeshaus sein.« »Das ist zu spät. Versuche ihn zu erreichen und sag ihm, daß wir um achtzehnuhrdreißig unser erstes Statement abgeben werden. Wenn 43
deine Zahlen zutreffen, wird er vermutlich Minister. Ich möchte, daß er das in unserer Gegenwart erlebt.« »Okay …« Knorr hing schon am Telefon.
Als Heinrich Müller mit seiner Begleitung im Bundeshaus eintraf, war es exakt achtzehn Uhr fünfzehn, und in der Lobby wimmelte es von Journalisten, Abgeordneten, Politikern, Interessenvertretern, prominenten Industriellen und Wirtschaftsführern. Man bahnte Heinrich Müller den Weg zu einem kleinen Büro, da die Neue Partei noch über kein Fraktions-Geschäftszimmer verfügte. Es war spärlich ausgestattet, zwei Schreibtische, ein paar Sessel, ein paar Stühle, ein Fernsehgerät, ein Telefon – das war alles. Aber ihm war das gerade recht. Hier würde er seine Interviews geben, ohne Pomp und Tralala, einfach, bescheiden – so wie er sich im Wahlkampf dargestellt hatte. Die Fernsehstudios und die dort arbeitenden Redakteure gebärdeten sich bereits wie Börsenmakler während einer Hausse. Man versuchte Heinrich Müller zu bekommen, aber Dieter Knorr blockte jede zu frühe Kontaktaufnahme ab. Auch über den Ablauf der Interviews hatte er einen genauen Zeitplan angelegt; die Journalisten und die Stationen waren verständigt. Alle Eifersüchteleien und Kompetenzschwierigkeiten hatte er dabei berücksichtigt, es konnte nichts passieren, und Müller konnte in keine Fettnäpfchen treten. Er holte aus seiner Jacke den Text ›Sieg‹ und steckte ihn Heinrich Müller zu. Die ersten offiziellen Trendmeldungen rechtfertigten das. Infas, Wickert und Allensbach waren ausnahmsweise einmal einig und fütterten ihre Kunden mit Zwischenergebnissen, die Computer arbeiteten auf Hochtouren; um halb sieben stand weitgehend fest, die Neue Partei lag knapp, aber sicher vorne. Das alles flüsterte Dieter Knorr Heinrich Müller zu, als sie durch die drängende und schubsende Menge zu dem Gemeinschaftsstudio hinuntergingen, auf das sich nach Drängen Knorrs alle TV-Sender geei44
nigt hatten. Beifall kam auf, als Heinrich Müller die Treppe herunter kam, setzte sich fort und wurde immer stärker, Hände streckten sich Müller entgegen, Glückwünsche wurden laut, Korken knallten, es herrschte eine ausgelassene Stimmung, nur von den politischen Gegnern war keiner zu sehen. Kurz vor dem Studio stieß Dr. Ladiges zu ihnen, dann stand Heinrich Müller vor den rund ein Dutzend Kameras der Fernsehgesellschaften aus aller Welt. In seinem tadellos sitzenden Zweireiher mit der weißen Nelke im Knopfloch machte er eine gute Figur. Sein braunes, an den Schläfen leicht ergrautes Haar war sorgfältig gescheitelt und kontrastierte angenehm zu dem mittelblauen Anzug. Einer der Moderatoren gratulierte ihm zu dem Wahlergebnis, sprach ihn mit ›Herr Bundeskanzler‹ an, was Heinrich Müller sanft aber bestimmt ablehnte, dann gab er sein ›Sieg‹-Statement ab, bedankte sich bei allen Wählern, auch bei denen, die ihn diesmal noch nicht gewählt hatten, bei der Presse für ihre großartige Unterstützung und bei den vieltausend Helfern der Partei, die ihm in den schwersten Stunden geholfen hatten. Er versprach, nach allen Seiten zu einer Koalition offen zu sein, was ein Witz war, und den Posten des Bundeskanzlers persönlich – vorerst – nicht anzustreben, was eine echte Überraschung auslöste. Dann, nach wenigen Minuten, verabschiedete er sich. Er gab auf dem Weg zurück in das kleine Büro viele kurze Interviews, schüttelte Hände, sprach in Mikrofone, begrüßte gute und flüchtige Bekannte, trank ein Glas Sekt und noch eins, dann – wie geplant – fuhr er um halb acht zurück in die Parteizentrale. Heinrich Müller war, das meldeten alle Kommentare, zum Staatsmann gereift.
Inge Sanders war eine der vielen Helferinnen, die der Neuen Partei aus Freude an der Sache, aus Überzeugung und rein idealistisch geholfen hatten. Da sie in Godesberg wohnte, hatte man sie in der Parteizentrale eingesetzt, und die Arbeit hatte ihr Freude gemacht. Sie war zweiunddreißig Jahre alt, gut gewachsen und von einem natürlichen Blond, 45
das zu ihrer Hautfarbe paßte – sie sah immer aus, als käme sie gerade aus der Sommerfrische. Wie alle anderen Mitarbeiter hatte Dieter Knorr sie auch zur Siegesfeier in den Distelweg gebeten, und sie war mit ihrem Freund, einem Beamten aus dem Justizministerium, gekommen, immer in der Hoffnung, daß Heinrich Müller es schaffen würde. Als die Nachrichten und Hochrechnungen diese Hoffnung bestätigten, wurde sie von einer kindischen Ausgelassenheit ergriffen, sie tanzte durch die zur Kneipe umfunktionierten Räume, steckte sich eine weiße Nelke ins Haar, wirbelte um die eigene Achse und wäre fast gefallen, wenn nicht gerade in diesem Augenblick Heinrich Müller – stürmisch bejubelt – den Saal betreten hätte und sie ihm nicht direkt in die Arme gefallen wäre. Behutsam ließ er sie wieder los und registrierte ihr angenehmes Äußeres, ihr dezentes Parfum und den eigenartigen Charme ihrer Augen. Dann aber wurde er weitergezerrt, zu seinem Platz am Kopf der langen Tafel, wo er die Jacke auszog, sie über die Stuhllehne hängte und sich zwanglos hinsetzte. Beifall dankte ihm die Geste. Inge Sanders aber saß weit von ihm weg, irgendwo hörte sie Menschen um sich herum reden, beantwortete geistesabwesend ein paar Fragen ihres Freundes und sah doch nur den Mann Heinrich Müller, der nun einer der Mächtigsten der Nation war. Nie hatte sie direkt mit ihm zu tun gehabt, aber jetzt wünschte sie sich, diesen Mann näher kennenzulernen. Natürlich wußte sie, daß er verheiratet war, woher er kam und kannte seine Karriere, so wie Dieter Knorr sie immer und immer wieder verbreitet hatte. Und er kam aus anderen Kreisen als sie. Die Sanders gehörten zur rheinischen Industrie-Elite, wie die Krupps, die Thyssens oder die Haniels. Und sie war stolz auf ihre Abstammung, auf den Reichtum ihrer Familie, der ihr Unabhängigkeit erlaubte, und die Tatsache, daß sie ihr Studium der Rechte mit summa cum laude abgeschlossen hatte. Sie liebte elegante Kleider und schnelle Sportwagen, sie lebte in einer geschmackvoll eingerichteten Vierzimmerwohnung in Bad Godesberg und sie hatte sich von der Familie ›abgenabelt‹, wie sie es nannte. 46
Sie war wählerisch in bezug auf Männer, aber nicht prüde. Sie glaubte modern und aufgeschlossen zu sein, hatte viel von der Welt gesehen, überall einflußreiche Freunde. Trotzdem war sie nicht emanzipiert, sondern ließ sich gerne von Freunden oder Liebhabern leiten. Was sie mit ihrem Leben vorhatte, darüber hatte sie trotz ihres Alters und ihrer gegebenen Möglichkeiten keine Vorstellung. Bis zu diesem Moment im Distelweg. Plötzlich war ihr klargeworden, was sie wollte – und sie erschrak dabei. Sie wollte Heinrich Müller. Der Mann imponierte ihr, wie er sich gab, wie er sich bewegte, wie er sich anzog, wie er sprach. Durch sein Aussehen und durch die kühle Distanz, die trotz allem von ihm ausstrahlte. Vielleicht war es auch die Macht, die er heute errungen hatte, die Inge Sanders anzog. »Macht ist ein starker, sinnlicher Begriff«, dachte sie. Aber sie hatte keine Angst davor, höchstens Respekt, daß es Heinrich Müller gelungen war, in einem einmaligen Wahlkampf auf Anhieb in den Besitz dieser Macht zu kommen. Sie träumte für Minuten davon, was man mit dieser Macht anfangen konnte, und erwischte sich selbst bei hochfliegenden Plänen, Kleopatra wollte sie sein oder Madame de Staël, Frau von Stein oder Lola Montez oder die Beauharnais. Am besten alles auf einmal, Geliebte, Ratgeberin, Freundin, Hure und die Frau, die Kaiserin wurde. Und da ihr klar war, daß all diese Pläne sich nicht mit der Öffentlichkeit vereinbaren ließen, verzichtete sie auf die Gunst der Stunde und verließ die Siegesfeier, ohne sich zu verabschieden. Niemand in der Parteizentrale nahm davon Kenntnis.
Der Erfolg der Neuen Partei war überwältigend. Fast 37 Prozent der Wähler hatten sich für Heinrich Müller entschieden, die CDU/CSU war auf 32 Prozent der Stimmen zurückgefallen, die Sozialdemokraten gar auf 24 Prozent, die Liberalen hatten mit 3,1 Prozent die Hürde zum Parlament nicht mehr überspringen können. Dies bedeutete nichts anderes, als daß die Neue Partei die stärkste Fraktion im neuen Bundes47
tag stellte. Und das übertraf auch die kühnsten und optimistischsten Träume aller am Wahlkampf Beteiligten. Das bedeutete nach den parlamentarischen Spielregeln natürlich auch, daß Heinrich Müller bei der Nominierung zum Bundeskanzlerkandidaten nicht umgangen werden konnte. Er hatte während des Wahlkampfes verbreiten lassen, daß die Neue Partei nach allen Seiten offen sei, und allgemein erwartete man, daß er zumindest das Amt des Vizekanzlers und Außenministers anstreben würde. Zur allgemeinen Überraschung einigten sich jedoch die bisher – und wie man annehmen mußte, auch in Zukunft – hoffnungslos zerstrittenen Großen Parteien angesichts der, wie einer der SPD-Spitzenfunktionäre sagte, ›Furchtbaren Gefahr der Neuen Partei‹ in wenigen Tagen auf einen Bundeskanzler Dr. Aigner, so daß dieser eigentlich schon vor Jahren abgewirtschaftete Politiker doch noch zu einer späten Genugtuung zu kommen schien. Den Vizekanzler sollte die SPD stellen, Helmut Schmidt war als kommender Bundespräsident aufs Altenteil abgeschoben worden, und nur Strauß entschied sich nach einigem Zögern wieder einmal weder den Posten des Außenministers noch den des Wirtschafts- und Finanzministers in einer Person anzunehmen. Er blieb in Bayern. Die Wahl des neuen Bundeskanzlers war für den 4. Dezember 1988 angesetzt, und sie schien angesichts der kompakten, wenn auch nicht überwältigenden Mehrheit der neuen Großen Koalition nur eine Formsache. Bundestagspräsident Dr. Ladiges – Heinrich Müller hatte noblerweise auf dieses Amt verzichtet und sich mit dem Posten des Fraktionsvorsitzenden der Neuen Partei begnügt – rief die Abgeordneten des 11. Deutschen Bundestages namentlich auf. Als Dr. Aigner seine Stimme abgab, lächelte er in seiner ihm eigenen Art und nahm die Glückwünsche der vorher so befehdeten SPD-Leute entgegen. Dann lächelte er etwas angestrengt in die Objektive der Fernsehkameras, bevor er sich auf seinen Sitz in der ersten Reihe zurückbegab, um dort den Händedruck seiner Vertrauten entgegenzunehmen. Nach etwas mehr als zwei Stunden verkündete Dr. Ladiges das Ergeb48
nis der Wahl. Es hatte einige Verzögerungen gegeben und offensichtlich waren die Stimmen mehrfach gezählt worden, aber jetzt schien alles in Ordnung. Dr. Aigner stand auf, als Dr. Ladiges anfing. »Meine Damen und Herren. Die Wahl des vorgeschlagenen Bundeskanzlers Dr. Hans Aigner erbrachte folgendes Ergebnis: Abgegebene Stimmen 489. Auf Dr. Aigner entfielen zweihundertdreiundvierzig Stimmen. Gegen ihn wurden zweihundertvierundvierzig Stimmen abgegeben. Stimmenthaltungen – eine. Damit ist Dr. Aigner nicht gewählt.« Einen Moment blieb es ruhig. Dann brach der Sturm los. Als Hans Aigner auf den Bundestagspräsidenten zugehen wollte, um die ihm offensichtlich unverständliche Niederlage aufzuhalten, zogen ihn wohlmeinende Parteifreunde auf seinen Sitz zurück. Die Kameras der zwei öffentlich-rechtlichen und der sieben privaten Fernsehanstalten konzentrierten sich auf sein fassungsloses, immer noch dümmlich grinsendes Gesicht. Nur eine Fernsehkamera, die der bayerisch-liechtensteinischen Fernsehgesellschaft des neuen TV-Fürsten Joseph von Ferenczy gehörte, hatte das Objektiv fest auf die zweite Reihe der Bundestagsabgeordneten der CSU gerichtet. An der kaum verhüllten Schadenfreude, die sich auf einzelnen Gesichtern angesichts der endgültigen Niederlage des ›Parteifreundes Aigner‹ abzeichnete, konnte man ahnen, woher das Abstimmungsergebnis kam. Wieder einmal hatte der Ferenczy-Konzern eine ›Exklusiv-Story‹.
Vierzehn Tage später wurde, nach mehrmaligen vergeblichen Versuchen des Bundespräsidenten, eine tragfähige Mehrheit für einen anderen Kandidaten für das Amt des Bundeskanzlers zu finden, der 11. Bundestag aufgelöst. In schneller Erkenntnis der Chance, die ihm und der Neuen Partei die hoffnungslose und nunmehr auch dem letzten Wähler sichtbar gewordene Zerrüttung der alten Parteien bot, hatte sich Heinrich Mül49
ler jeder Koalition mit einer dieser Parteien versagt. Eine als ›letztes Mittel‹ von Dr. Ladiges vorgeschlagene Wahl von Franz Josef Strauß zum Bundeskanzler – mit ihm oder Heinrich Müller als Außenminister und Vizekanzler – wurde von diesem als ›ganz offensichtlich schwachsinnig‹ verworfen. Immerhin ließ dieser Versuch interessante Querverbindungen ahnen. Heinrich Müller ließ Knorr kommen und diktierte ihm ein ausführliches Memorandum zu dieser Intrige des Dr. Ladiges, mit der er sich in den Vordergrund zu spielen versuchte. Der Wahlkampf setzte kurz nach Neujahr ein und wurde von Heinrich Müller und seiner Crew mit allen Mitteln geführt. Am Abend des Wahltages konnte die Neue Partei einen überwältigenden Sieg feiern. Die taktische Haltung Heinrich Müllers während der Koalitionsverhandlungen im Dezember hatten sich ausgezahlt, und die Wählermassen waren in hellen Scharen zur einzigen Partei übergewechselt, die eine Alternative zu bieten schien. Die Neue Partei hatte mehr als 53% aller abgegebenen Stimmen errungen. SPD 18%, CDU 13% (in Worten: dreizehn Prozent! ), FDP 1,2%, alle übrigen unter 0,2%. Nur die CSU hatte sich in Bayern ziemlich gut gehalten, dort fast 50% erzielt und hatte, mit über 14% aller abgegebenen gültigen Stimmen, die einstmals so große Schwesterpartei bundesweit überflügelt. Eine Woche darauf wurde Heinrich Müller mit einer überwältigenden Mehrheit zum 6. deutschen Bundeskanzler gewählt …
Vom ersten Tag an stürzte sich Bundeskanzler Heinrich Müller in die Arbeit. Zunächst war die Post zu beantworten. Glückwünsche trafen ein aus aller Welt. Staatsoberhäupter, Monarchen und der Papst gratulierten ebenso wie Industriekapitäne, die vielen Verbände und wer sonst noch bei solchen Anlässen den eigenen Antrieb oder die Pflicht hat, zu gratulieren. Schließlich bedeutete Müller eine neue Ära in der deutschen Politik. 50
Dieter Knorr registrierte den Beginn fein säuberlich in einem Dokumentenband. Das neue Kabinett wies die führenden Köpfe der Neuen Partei auf, im großen und ganzen durchwegs mehr als loyale Gefolgsleute Müllers. Trotz seiner Entgleisung im Dezember 1988 wurde Dr. Ladiges Finanzminister. Dieter Knorr widerstand der Versuchung, Kanzleramtsminister zu werden, was Heinrich Müller ihm angeboten hatte, und war als Staatssekretär Chef des Bundespresse-Amtes geworden. Dies änderte nichts an der engen Freundschaft zwischen den beiden Männern, und letztlich war Müller froh, daß Knorr sich so entschieden hatte, denn für seine Vorhaben war eine gute Presse ebenso wichtig, wie ein Vertrauter in der nächsten Umgebung. Dieser Vertraute wurde Rolf Heske, der hessische Partei-Vorsitzende. Und auf Empfehlung von Dr. Ladiges wurde Inge Sanders eine der fünf persönlichen Referenten des Kanzlers Heinrich Müller. Sie hatte alle persönlichen Beziehungen spielen lassen, bis sie diesen Job ergattert hatte. Aber was sie sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, pflegte sie auch durchzusetzen. So war es dann ein reines Glück, daß ihr Vater mit Dr. Ladiges seit vielen Jahren befreundet war. Heinrich Müller stand ihr die ersten Wochen äußerst mißtrauisch gegenüber, schon weil sie durch Ladiges gekommen war. Nachdem ihm zuverlässige Beamte des Verfassungsschutzes aber ein ausführliches Dossier über Inge Sanders zusammengestellt hatten und diesem einwandfrei zu entnehmen war, daß zwischen ihr und Ladiges nur eine Verbindung über ihren Vater bestand, begann er sie zu akzeptieren und sich mitunter auch an ihrem sicheren und immer zurückhaltenden Auftreten zu erfreuen. Mitunter ertappte er sich bei dem Gedanken, daß diese Inge Sanders eine interessante Frau war. Und wenn die Gedanken eines Mannes – gleichgültig ob Kanzler oder nicht – erst einmal soweit gediehen sind, dann ist es bis zur Versuchung nicht mehr weit. Und von dort ist es nicht weit zum Versuch. Heinrich Müller machte diesen Versuch an einem klirrend kalten Februarmorgen des Jahres 1989, und er war keinesfalls überrascht, als Inge Sanders sagte: »Auf diesen Moment habe ich lange gewartet.« Es überraschte ihn aber doch, wie nüchtern Inge Sanders eine Ver51
bindung zwischen ihnen beiden sah, mit welch kühler Überlegung sie an das Verhältnis heranging und offensichtlich lange jede Möglichkeit durchdacht hatte. Natürlich durfte niemand etwas davon erfahren, weswegen die enge Zusammenarbeit im Kanzleramt nur günstig war. Man würde im Amt beim förmlichen ›Sie‹ bleiben und auch sonst in der Öffentlichkeit nicht gemeinsam auffallen. Auf Reisen würde sie ihn begleiten können, dies war schließlich ein Teil ihrer offiziellen Obliegenheiten. Und sonst würde sie ihre Wohnung so einzurichten wissen, daß Heinrich Müller sich dort in seinen wenigen Stunden der Ruhe wohl fühlen konnte. Ein Test in dieser Richtung schien Heinrich Müller angebracht, und Dieter Knorr, der einzige Eingeweihte, wußte es einzurichten, daß die Sicherheitsbeamten für Stunden abgelenkt wurden und nicht einmal bemerkten, wie ihr Chef im Wagen Knorrs das Palais Schaumburg verließ, um gewissermaßen inkognito nach Bad Godesberg zu fahren. Der Test verlief mehr als zur Zufriedenheit Heinrich Müllers, und insgeheim spielte er mit dem Gedanken, sich von Elfriede scheiden zu lassen, die in stiller Selbstzufriedenheit jetzt die Blumenrabatten des Schaumburg-Parks pflegte, in dem sie als Frau des Kanzlers mit ihm leben mußte. Müller, von Haus aus nicht mit allzuviel Freuden des wirklichen Lebens verwöhnt, vergaß über dem neuen Glück nicht die Macht. Am Morgen nach dem ersten intimen Zusammensein mit Inge Sanders bat er den Chef des Verfassungsschutzes zu sich: »Ich möchte, daß alle Mitarbeiter des Kanzleramtes noch einmal auf Herz und Nieren überprüft werden. Insbesondere Verbindungen, die möglicherweise zu fremden Geheimdiensten bestehen, sind mir umgehend zu melden. Wie lange werden sie dafür brauchen?« »Mindestens vier Wochen …« meinte der Ministerialdirigent. »Und wenn wir erst nur die weiblichen Mitarbeiterinnen überprüfen – wie lange dauert das?« »Das könnten wir in zwei Wochen schaffen, so viele sind es ja nicht.« »Gut! Dann überprüfen sie erst einmal diese Personengruppe.« Hein52
rich Müller verzichtete für vierzehn Tage darauf, mit Inge Sanders ein privates Wort zu wechseln. Dies fiel ihm um so leichter, als er sowieso zu den routinemäßigen deutsch-französischen Konsultationen nach Paris mußte. Und so gern er die Sanders dahin mitgenommen hätte, verkniff er sich diesen Wunsch. Noch spielten ein paar Wochen in seinem Leben keine Rolle. Das erste Zusammentreffen zwischen Giscard d'Estaing und Heinrich Müller war nicht ohne Pikanterie. Schon beim ersten Händedruck waren sich beide Männer darüber im klaren, daß sie beide das gleiche Ziel hatten: Erster Präsident der Vereinigten Staaten von Europa zu werden. Zugleich wußte Giscard, daß er in Müller einen Partner gefunden hatte, mit dem er die ewigen Querelen und Bremsen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, der Briten und der Italiener überwinden konnte. Insoweit würden sie beide aufeinander angewiesen sein. Darum auch verlief ihre Zusammenkunft mehr als freundlich, wobei sich beide Männer insgeheim abtasteten, nach Schwächen des Partners fahndeten, Fehler zu entdecken suchten. Heinrich Müller hatte den Vorzug, gewissermaßen neu in der Europa-Politik zu sein. Natürlich hatte er in seiner Zeit als SPD-Abgeordneter verschiedentlich in Ausschüssen mitgewirkt, die sich mit der politischen Neuorientierung Europas beschäftigten, und immer hatte er in diesen Gremien auf Fortschritte gedrängt. Und nur allzugenau wußte er, wo die Schwierigkeiten lagen: Die unterschiedlichen Währungssysteme, die Probleme der Landwirtschaft und die allzu verschiedene Parteilandschaft. In Frankreich und Italien hatten die Kommunisten recht solide Mehrheiten, und davor hatte Giscard d'Estaing Respekt. Und genau dies würde Heinrich Müller dem Franzosen vorwerfen, wenn es zu einer Entscheidung kommen sollte. Und er war entschlossen, diese Entscheidung zu erzwingen. Warum sollte man das, was ihm in der Bundesrepublik gelungen war, nicht auf Europa übertragen können? Er machte sich eine Notiz und beschloß Dieter Knorr mit einer Untersuchung zu beauftragen. Natürlich ahnte Giscard, was in Heinrich 53
Müller vor sich ging, und als erfahrener Politiker und Diplomat versuchte er seinen Partner in wohlgesetzten Worten auf dieses Problem hinzuweisen. »Aber gerade die romanischen Kommunisten sind doch die besten und ehrlichsten Katholiken«, antwortete Müller, »wir sollten die Kirche vor unseren Wagen spannen.« Er drehte sich zu Dieter Knorr um und fragte ihn leise: »Wie hoch ist der Anteil der Arbeiter bei diesen kommunistischen Parteien?« Knorr ging hinaus und ließ sich per dringendem Führungsgespräch mit seinem Bonner-Amt verbinden. Das Gespräch lief über ›Zerhacker‹ so daß niemand mithören konnte. Fünf Minuten später hatte er die Zahlen in der Hand und ging zurück in den Konferenzraum. »Italien siebzig, Frankreich vierzig und Spanien dreißig Prozent«, signalisierte er Heinrich Müller. Der Kanzler dachte blitzschnell nach, danach mußte eine knappe Mehrheit von 51 Prozent für eine neue Partei in diesen Ländern zu aktivieren sein. Und selbst wenn es anfangs nur 35 oder 40 Prozent sein sollten, würde dies im Verbund mit den andern bürgerlichen Parteien immer noch eine solide Mehrheit für die Konservativen abgeben, und darauf kam es ihm an. Die Frage war nur, wer der erste Mann der Staaten-Union sein würde: Giscard oder er? Er sah zu dem Franzosen hinüber. Der sah nicht gerade amtsmüde aus, auch nicht erschöpft oder voller Resignation. Im Gegenteil, er präsentierte sich als Mann, der gewillt war, der erste Mann in Europa zu sein. Während weiter freundliche Worte gewechselt wurden, überlegte Müller, ob es vielleicht nicht sogar ein geschickter diplomatischer Schachzug sein würde, wenn er quasi Giscard als Erstem den Vortritt lassen würde. Er war gewillt, auch diese Frage zu prüfen, und machte sich auch darüber eine Notiz. Er mußte diese Dinge mit Knorr und Heske besprechen. So drängte er dann bald zum Aufbruch. Die Probleme des spanischen Weines, der italienischen Fleischwirtschaft und der französischen Weizenproduktion konnte man getrost den EG-Ausschüssen überlassen, vorläufig wenigstens noch. 54
Mit Knorr und Heske fuhr er zurück ins Palais Beauharnais, dem Sitz der deutschen Botschaft. Die Besprechung fand ohne den Botschafter statt, der als Mann der CDU galt. Müller kam gleich zur Sache. »Natürlich will Giscard an die europäische Macht und natürlich wird der erste Präsident der Vereinigten Staaten von Europa die meisten Schwierigkeiten zu überwinden haben …« »Kommt darauf an, wie man die Sache angeht«, unterbrach Knorr. Müller nickte zustimmend: »Richtig, das ist genau meine Meinung. Wir sollten schnellstens über einen dritten Weg eine Untersuchung veranlassen, die uns zuverlässige Zahlen darüber gibt, wie viele Konservative man aus den Kommunisten in den romanischen Ländern herausbrechen kann. Und wir sollten untersuchen lassen, ob wir mit der neuen Partei auch auf Europaebene Chancen haben könnten.« »Die Menschen in diesen Ländern sind weit mehr an Politik interessiert, als bei uns zu Hause«, sagte Heske. »Das ist klar. Ich meine, daß wir uns keinen Illusionen hingeben sollten. Der Erfolg unserer Neuen Partei war nur deshalb in dieser Höhe möglich, weil die Deutschen ein in der Masse völlig unpolitisches Volk sind. Solange ihre private Kasse stimmt, solange ihnen niemand Müll in den Vorgarten ihres Heimgärtchens wirft, solange sie eine warme Stube und einen satten Bauch haben, werden sie immer den wählen, der ihnen verspricht, daß all dies die nächsten hundert Jahre nicht verändert wird. Unser Erfolg bestand einfach darin, daß sowohl Sozialdemokraten wie Christdemokraten keine verständliche Aussage darüber machen konnten, was sie eigentlich wollten. Das Parteichinesisch war unseren Landsleuten zu hoch und zu kompliziert. Dieter Knorr hat das besser gemacht. Was unsere Kandidaten ausgesagt haben, konnte jedermann verstehen. So einfach war das. Der Deutsche ist nun einmal nicht sehr kritisch, weil er Politik immer noch für ein garstiges Geschäft hält und froh ist, wenn sich Frauen und Männer finden, die diese – ihrer Meinung nach schmutzige – Arbeit tun. Das war schon das Geheimnis Hitlers, der mit Parolen die Leute fing. Und mit Versprechungen, die scheinbar sogar eingehalten wurden. Erinnern wir uns doch: Keiner soll hungern und keiner soll 55
frieren! Das waren Schlagworte, die sogar in die Tat umgesetzt wurden. Niemand aber interessierte sich für den Preis, den Hitler bezahlen mußte: Den Krieg. Auch wir haben immer noch eine Million Arbeitslose, die wieder eine Beschäftigung brauchen. Und das wird unser erster Programmpunkt sein, den wir schnellstens lösen müssen. Wir brauchen wieder eine Vollbeschäftigung, wenn wir die Erfolge der Partei weiter ausbauen wollen. Und ich denke, ich habe dafür auch schon eine mögliche Lösung …« Heske und Knorr sahen ihn erstaunt an. Müller amüsierte sich insgeheim über die Neugierde, die ihnen auf die Gesichter geschrieben war, aber er ließ sie noch eine Weile zappeln. »Ein Glas Champagner?« fragte er. Der französische Präsident hatte ihm eine Kiste der von ihm bevorzugten Marke Krug schicken lassen. Genüßlich schenkte Heinrich Müller ein. Er wußte, daß die Art und Weise, wie er das Problem der Arbeitslosigkeit angehen wollte, außergewöhnlich und gefährlich war. Und dazu konnte er nur seinen Sicherheitsminister Heske und seinen PR-Manager Knorr gebrauchen. Er prostete den Männern zu. »Wir werden eine Sicherheitstruppe aufbauen. Die aktiven Kader werden die jungen Leute von der Straße holen, die Verwaltung wird die Frauen und die älteren, zuverlässigen Menschen aufnehmen. Wir werden neue Sicherheitssysteme und Terrorbekämpfungswaffen entwickeln und damit eine neue Industrie aufbauen, die weitere Arbeitsplätze bieten wird. Wir werden weiterhin diese Systeme und Waffen weltweit vertreiben, was ebenfalls neue Arbeitsplätze bedeutet. Insbesondere werden wir aber den Objekt- und Personenschutz ausbauen, und zwar in einem solchen Maße, daß wirklich nur noch Berufsfaulenzer ohne Arbeit sein werden. Wir müssen den Pegel zwischen offenen Stellen und Arbeitslosen wieder da einpegeln, wo er sich die Waage hält. Und das dürfen höchstens zweihundertfünfzigtausend sein!« Er sah das wachsende Staunen in den Gesichtern seiner Gesprächspartner. Dann fragte Heske: »Und wie wollen wir das alles finanzieren?« 56
»Durch die Produktion«, sagte Müller knapp. »Dies ist eine streng vertrauliche Unterhaltung! Wenn wir mit unseren Systemen und Abwehrwaffen die ersten auf dem Markt sind, werden wir in zwei Jahren einen solchen Anteil haben, daß Nachzieher wahrscheinlich schon von Anfang an den Mut verlieren …« Dieter Knorr nickte zustimmend. Heske hatte noch Zweifel. »Das kostet Milliarden. Ladiges wird genau wissen wollen, wofür wir diese Milliarden brauchen. Wir werden ihn einweihen müssen.« »Auf keinen Fall. Ich werde die Vorlage für den Haushalt machen«, sagte Heinrich Müller, »… und ich werde dafür sorgen, daß die ersten beiden Jahre keine Rechenschaft im Detail über die Verwendung der Mittel abgelegt werden muß. Zufrieden?« »Wenn du das schaffst …?« sagte Knorr zweifelnd. »Dazu brauche ich euch beide. So lange wird die Terrorszene doch noch anhalten? Ansonsten mußt du die Vorfälle einfach hochspielen. Das Volk muß Angst haben, soviel Angst, daß es bereit ist, meinen Steuererhöhungen bedingungslos zuzustimmen. Dies um so mehr, als ich das ganze Steuersystem wesentlich vereinfachen will. Ich will die Leute wieder zum Sparen anhalten, und das schaffen wir am besten durch eine drastische Verminderung der direkten Steuern einerseits und durch Erhöhung der Verbrauchssteuern auf tägliche Konsumartikel, Benzin, Alkohol, Tabak. Ich werde mit Ladiges sprechen. Steuerpflichtige mit einem Jahreseinkommen unter vierundzwanzigtausend Mark sollen grundsätzlich von der Lohn- oder Einkommensteuer befreit werden. Diese Leute haben dann scheinbar keinerlei Papierkram und keine Steuer mehr zu bezahlen. Und wenn sie Auto fahren, sich einen Rausch antrinken oder sich mit Tabakerzeugnissen vergiften wollen, dann haben sie eben den Preis dafür zu bezahlen. Sie müssen ja nicht! Da sehe ich den Effekt. Im Geldbeutel selbst aber sehen sie mehr Geld, Geld, das ihnen gehört und über das sie nach eigenem Gutdünken verfügen können. Und nichts ist so überzeugend wie Bargeld.« »Und die Sozialversicherungs-Abgaben?« fragte Heske. 57
»Auch dafür werden wir eine Lösung finden. Ich bin mir selbst noch nicht ganz im klaren, wie wir das Paket angehen sollen. Aber ich könnte mir denken, wenn wir die Arbeitslosenunterstützung wesentlich mindern und die Renten erheblich anheben, daß dann die Bereitschaft, einen Arbeitsplatz zu akzeptieren, stark steigen wird.« Dieter Knorr wandte ein: »Das funktioniert doch nur bei Vollbeschäftigung!« »Genau das, und genau das müssen wir erreichen, wenn wir in anderen europäischen Ländern Erfolg haben wollen. Einem guten Beispiel wird leichter nachgeeifert.« Sie tranken und dachten über das Gesagte nach. Dann fragte Rolf Heske: »Ich komme in eine schwierige Situation. Mein Ministerium beschäftigt sich ja gerade mit der Sicherheit der Bevölkerung und jetzt soll ich sie praktisch verunsichern …?« »Du hast mich nicht verstanden«, widersprach Heinrich Müller, »im Augenblick lassen wir die Roten Brigaden, die Rote-Armee-Fraktion, oder wie die andern Vereine alle heißen mögen, nur an der längeren Leine laufen. Dafür aber verstärken wir den Personen- und Objektschutz in einem solchen Umfang, daß das Gleichgewicht wieder hergestellt ist. Wieviel Beamte haben wir derzeit im Objekt- und Personenschutz eingesetzt?« »Rund siebzigtausend«, sagte Heske. »Nun gut, ich gebe dir die Möglichkeit diese Truppen bis auf dreihunderttausend Mann auszubauen!« »Dreihunderttausend …?« Heske überschlug im Geist den Etat, der da auf sein Ministerium zukam und über den er alleine würde zu verfügen haben. Das war schon ein lockendes Angebot. Dieter Knorr war realistischer: »Das stinkt alles ein bißchen nach SS, wir werden die Presse auf den Hals bekommen!« »Wenn aber entsprechende Terrorakte die Titelseiten beschäftigen?« sagte Heinrich Müller kalt. »Außerdem haben wir Gott sei Dank 10 Fernsehanstalten.« »Du meinst …?« wollte Knorr fragen, aber Müller unterbrach ihn brüsk: »Ich meine gar nichts, ich rechne mit Entwicklungen und mit 58
der Richtigkeit von Informationen, die ich in den letzten Tagen bekommen habe.« Knorr verstand. Trotzdem fragte er, um ganz sicher zu sein: »Das heißt mit anderen Worten, daß …« Müller schnitt ihm zum zweiten Mal das Wort ab. »Was immer jetzt in euren Köpfen vorgeht, vergeßt nicht, daß wir es für die Vollbeschäftigung unserer Bürger tun!«
Auf dem Flughafen von Köln-Wahn stand der Wagen von Heinrich Müller zur Abfahrt bereit. Ein Beamter des Verfassungsschutzes bahnte sich den Weg zu ihm. »Wir haben die Untersuchung der weiblichen Mitarbeiter abgeschlossen, Herr Bundeskanzler …«, sagte er. »Steigen sie ein«, sagte Müller und bat Knorr, in einem anderen Wagen mitzufahren. Dann, als der Beamte neben ihm saß, fragte er: »Wie heißen Sie?« »Regierungsdirektor Doktor Pöhlmann«, sagte der Beamte devot. »Lassen sie sehen, Pöhlmann«, sagte der Kanzler und betrachtete schweigend die sorgsam erarbeiteten Dossiers seiner Mitarbeiterinnen. Als drittes oder viertes Papier fiel ihm die Beurteilung von Inge Sanders in die Hände. Er las sie mit dem scheinbar gleichen oberflächlichen Interesse, mit dem er die anderen Dossiers durchgesehen hatte. Trotzdem freute er sich, daß aber auch nicht die geringste negative Beurteilung in dem Schriftstück enthalten war, wenn man davon absah, daß die vier oder fünf Verhältnisse, die sie mit Männern gehabt hatte, mit Akribie aufgezeichnet waren. Heinrich Müller überlegte einen Moment, dann gab er dem Fahrer Kulle die Anweisung: »Wir fahren erst zum Finanzministerium. Ich muß dringend mit Dr. Ladiges sprechen …« Kulle gab die Nachricht über Funk an die Sicherheitsgruppe und die anderen Fahrzeuge weiter, dann beschleunigte er das Tempo und die Kolonne nahm Fahrt auf. 59
Natürlich würde Elfriede Müller in der Abendschau sehen, daß er aus Paris zurück war. Aber es war auch nicht ungewöhnlich, daß er nicht nach Hause in den Kanzlerbungalow kam, sondern oft noch bis spät in die Nacht im Palais Schaumburg arbeitete. Das war also kein Problem. Schwieriger war es, die eigenen Sicherheitsbeamten für ein paar Stunden abzuschütteln und ungesehen zu Inge Sanders' Wohnung zu gelangen. Dabei würde ihm Knorr helfen. Er war schon vorausgefahren und bereitete jetzt alles vor. Zur Tarnung gehörte auch der überraschende Besuch bei Dr. Ladiges. Der Finanzminister tat geschmeichelt, als Heinrich Müller bei ihm auftauchte. Er setzte ihn oberflächlich von seinen Pariser Verhandlungen in Kenntnis und brach dann, nach kaum einer halben Stunde, wieder auf. Ladiges begleitete ihn bis in die Tiefgarage, wo die Kolonne des Bundeskanzlers wartete. Von dort aus ging es ins Presseamt. Knorr hatte einen minuziösen Plan ausgearbeitet, wie Müller praktisch ungesehen und wie ein ganz gewöhnlicher Bürger zur Wohnung von Inge Sanders gelangen konnte, ohne daß außer ihm irgend jemand eine Ahnung davon hatte. Knorr kannte Inge Sanders und Elfriede Müller, und er verstand den Kanzler. So brachte er ihn in die Tiefgarage des Presseamtes, wo ein unauffälliger VW-Kastenwagen geparkt war. An den Seiten trug er die Firmenaufschrift eines Reinigungsunternehmens, das auch im Presseamt tätig war. Der Fahrer hatte keine Ahnung, wen er befördern sollte, war aber trotzdem vergattert worden, über diese Fahrten nichts weiter zu erzählen. Ein mittleres Trinkgeld hatte seine Verschwiegenheit gefördert. Er war wohl der Meinung, daß hier Staatsgelder auch noch privat genutzt wurden, und dafür hatte er volles Verständnis. Ein Sonderausweis an der Frontscheibe gestattete dem Wäschereiwagen jederzeit die Einfahrt ins Presseamt. In der Tiefgarage des Hauses von Inge Sanders stieg Heinrich Müller aus und nahm den Aufzug, der direkt zu ihrer Wohnung führte. 60
Inge Sanders war von Knorr verständigt worden und war umgehend nach Hause gefahren. Sie hatte nicht viel vorzubereiten, sie war immer auf den Besuch von Heinrich eingerichtet. Sie warf sich einen leichten, seidenen Morgenmantel über und zündete ein paar Kerzen an, löschte das helle Deckenlicht, als es auch schon klingelte. Als Müller abgelegt hatte, warf sie sich ihm an den Hals. Er küßte sie leidenschaftlich wie nie zuvor. »Du hast ein schlechtes Gewissen«, lächelte sie dann, als sie bei einer Flasche Dom Perignon zusammensaßen. »Warum?« »Weil du mich hast überprüfen lassen und dein ganzes Mißtrauen umsonst war«, sagte Inge. Jetzt war es an Heinrich Müller, überrascht zu sein. »Woher weißt du das?« »Sei so gut und behandle mich nicht wie ein Kind oder eine gefährliche Spionin. Beides ist gleich langweilig und wir beide haben das nicht nötig. Ich habe mich mit meiner Rolle abgefunden und bin glücklich. Aber die Trottel vom Verfassungsschutz sind nun mal keine allzugroßen Theaterhelden. Sie arbeiten bei ihren Ermittlungen streng nach Dienstvorschriften und glauben, sie hätten eine Tarnkappe auf und niemand würde sie erkennen. Dabei gehen sie so primitiv vor, daß selbst ein Laie sie auf tausend Meter Entfernung ohne weiteres identifizieren kann. Genügt das?« »Wie interessant«, sagte der Kanzler. Später, als sie in dem breiten Bett lagen, gab sich Heinrich Müller eher passiv. Aber Inge Sanders war eine perfekte Geliebte. Wenn Heinrich Müller nach solchen Abenden von ihr ging, hatte er immer das Gefühl, zu wissen, warum er auf der Welt war. Der Fahrer brachte ihn zum Presseamt, wo Dieter Knorr noch an seinem Schreibtisch saß. »Warum bist du nicht schlafen gegangen?« fragte Müller. »Soll ich Heskes ganzes Sicherheitssystem in Bewegung setzen?« lachte Knorr. 61
Er hatte recht. Heinrich Müller wußte, daß er für sich und Inge Sanders eine andere Lösung finden mußte.
Doktor Ladiges hatte einige vertraute Freunde in seine Villa nach Düsseldorf eingeladen. Sie alle standen der Neuen Partei nahe und hatten in den ersten Jahren mit erheblichen finanziellen Mitteln deren Aufbau gefördert. Die Damen hatten sich zu einer Partie Bridge in den kleinen Salon zurückgezogen. Ladiges schenkte selbst die schweren, kristallenen Gläser ein. Sein privates Arbeitszimmer war mehr eine Bibliothek. Rund um die Wände standen bis zur Decke reichende Bücherregale aus Mahagoni. Die Buchrücken zeugten von starkem Interesse an Geschichte, Politik und Wirtschaft, und das waren auch die Gebiete, auf denen Ladiges zu Hause war. Der Grund, warum er die Freunde zu sich gebeten hatte, war seine steigende Sorge um den Kanzler, und das sagte er auch. »Müller wird immer verschlossener, er plant und bespricht alles nur mit Heske und mit Knorr, seinen beiden Engvertrauten. Er stellt das Kabinett und die Partei immer wieder vor die Ergebnisse seiner einsamen Entschlüsse und verlangt, daß sie unverzüglich in die Tat umgesetzt werden. Ich sehe da ganz erhebliche Schwierigkeiten auf uns zukommen …« »Siehst du da nicht etwas zu schwarz?« fragte Rüdiger von Meiners, einer der großen Privatbankiers in Düsseldorf. »Schließlich hat er in einer unerhörten Kraftanstrengung die Partei an die Macht gebracht, er hat eine gute Presse, seine Popularität ist eher steigend … ich weiß nicht, was du willst, besser kann es doch eigentlich nicht laufen?« »Ich kenne ihn länger und besser als ihr«, sagte Ladiges, »gewissermaßen von der ersten Stunde an, als Roettger uns rief. Ich gebe zu, daß er immense Arbeit als Generalsekretär der Partei geleistet hat. Aber ich weiß auch, wie er sich quasi selbst zum Kandidaten und letztendlich zum Kanzler gemacht hat. Das einzige, was ich ihm damals noch 62
abringen konnte, war die Führung der Partei in meine Hände zu legen und mir die Aufsicht über die Finanzen zu geben. Sein Führungsstil ist uns allen bekannt. Er kommt aus der Gewerkschaft und geht mit uns um, als wären wir Arbeiter, die letztlich immer für ihn streikbereit sein müßten. Das ist nicht mein Stil …« Kamphausen unterbrach ihn: »Bist du nicht etwas ungerecht?« Ladiges merkte, daß die Stimmung selbst in diesem Kreise ganz auf Seiten Müllers war. Aber keiner kannte Henry ja so gut wie er, keiner von den Freunden wußte, mit welch billigen Tricks er oft seine Ansichten durchsetzte. Und keiner sah wie er die Gefahr, die daraus für die Nation entstehen konnte. Er – Werner Ladiges – ahnte, zu was Heinrich Müller fähig war. Aber wie sollte er sich verständlich machen? Konnte er seine Gedanken hier offen aussprechen, so, wie die Dinge jetzt lagen? Ladiges war zu lange im politischen und wirtschaftlichen Geschäft, um nicht zu wissen, daß bei der herrschenden Großwetterlage für Müller jedes Wort gegen ihn falsch ausgelegt werden und ihm selbst womöglich Nachteile bringen konnte. So ließ er es bei einem lapidaren Rückzieher: »Wir wollen wachsam sein, mehr wollte ich ja nicht …« Aber der Abend entwickelte sich nicht mehr, trotz des Château Lafitte, der in den Gläsern schimmerte. Die Freunde brachen bald auf, es war kurz nach zehn Uhr. Als Werner Ladiges den Fernsehapparat einschaltete und die Tagesthemen über den Bildschirm flimmerten, sah er seinen Intim-Gegner Müller im Interview mit dem TV-Polit-Star Rohloff. »Wir werden als nächstes das Problem der Vollbeschäftigung angehen«, sagte der Kanzler, »und der Regierung liegen konkrete Pläne vor, wie wir dieses Problem in den nächsten zwölf Monaten bewältigen werden.« »Kann man erfahren, welche Pläne das sind?« fragte Rohloff. Heinrich Müller lächelte leicht, wurde dann aber sofort wieder ernst: »Herr Rohloff, sie haben bestimmt Verständnis dafür, daß ich Ihnen heute noch nichts Konkretes sagen kann, aber ich werde in den nächsten acht Tagen eine Regierungserklärung abgeben, in der 63
ich detailliert auf diese brennende Frage unserer Mitbürger eingehen werde.« Müller und Rohloff wurden ausgeblendet, die nächste Meldung kam aus Italien. Auf Ministerpräsident Malfatti war ein Attentat verübt worden, zu der sich die ›Brigade rosse‹ bekannte. Die Berichterstattung war sehr ausführlich, wie auch der anschließende Bericht über neue Unruhen im Baskenland und der Bericht über die Entführung eines holländischen Industriellen, für den zwanzig Millionen Gulden Lösegeld gefordert wurden. Irene Ladiges war zu ihrem Mann getreten und setzte sich auf die Lehne des schweren Ledersessels. »Ärger, Werner?« fragte sie. Ladiges stellte den Apparat ab. »Terror, Unruhe, Aufstände, Verbrechen … als wenn es nichts anderes mehr zu berichten gäbe«, sagte er und ging mit großen Schritten durch den Raum. »Warum bauschen sie das alles so auf? Wer heute in einer verantwortlichen Position steht, muß mit Gefahr rechnen. Das war schon bei den alten Römern so, als Brutus zusammen mit Cassius Cäsar ermordete. Und das ist bis heute so geblieben. Natürlich haben wir alle Angst um unser Leben, aber wir können uns doch nicht von einer Horde Fanatiker und Krimineller die Führung aus der Hand nehmen lassen. Und notfalls müssen wir eben dafür bezahlen. Wenn es sein muß, mit unserem Leben.« Frau Ladiges kannte ihren Mann gut genug, um zu wissen, daß er damit nur etwas anderes überspielen wollte. »Wieder Ärger mit Henry Müller?« fragte sie darum noch einmal, diesmal direkter. Sie kannte die Aversion ihres Mannes gegen den Kanzler. »Ja, und ich weiß nicht warum. Ich fühle es nur, ich spüre es, daß dieser Bursche uns noch eine Menge Kummer machen wird. Und ich möchte uns alle davor bewahren. Aber er ist nicht zu fassen. Er ist schlau wie ein Fuchs, geschmeidig wie ein Aal und hinterhältig wie eine Schlange. Er hält sich für einen Adenauer mit seinen ewigen Simplifizierungen und für John Kennedy mit seinem Charme. Aber der 64
Beamtenapparat steht hinter ihm, weil er ihnen eine Menge Arbeit abnimmt. Und natürlich die Gewerkschaft, die hat er jetzt auch. Hast du das gesehen …?« Ladiges zeigte auf den stummen Fernsehapparat, »… heute hat er eine neue Vollbeschäftigung versprochen. Wo er dazu die Mittel hernehmen will, weiß er nur allein. Oder« … fügte er nachdenklich hinzu … »vielleicht in einer Vorlage, die er möglicherweise gerade jetzt an mich diktiert!« Irene Ladiges war nicht gerade eine Freundin von Heinrich Müller, aber sie stand ihm auch ohne die Vorurteile ihres Mannes gegenüber. So beschloß sie, zu schweigen. Insgeheim aber wunderte sie sich. Wie konnte Werner gegen Vollbeschäftigung sein? Das war es doch, was die Menschen wünschten. Und noch immer gab es eine Million Arbeitslose. Sie nahm sich vor, sich mit dem Problem zu beschäftigen. Dann aber vergaß sie es wieder.
Der Kanzler saß mit Dieter Knorr zusammen. »Ich wette, Ladiges hat die Sendung gesehen, er läßt niemals die Nachrichten aus. Also weiß er, was auf ihn zukommt. Das schlimmste für ihn wird sein, wenn er morgen meine Vorlage auf dem Tisch hat. Das haut ihn glatt um.« Er drückte auf den Knopf, und als sich Hanne Naumann meldete, fragte er: »Krümel, können wir noch ein paar Schinkenbrote haben?« »Sofort, Herr Bundeskanzler«, sagte Hanne, genannt Krümel. Müller und Knorr hatten die Jacken ausgezogen, die Krawatten gelöst und die Ärmel hochgekrempelt. Sie tranken Bier aus hohen schlanken Gläsern und hatten es sich in der großen Sitzecke von Müllers Arbeitszimmer gemütlich gemacht. Sie hatten beide einen Riesenspaß an ihrer Arbeit, und es wurde ihnen auch nie zu spät. Einmal hatte Gisela Knorr gesagt: »Ich weiß nicht, mit wem du enger verheiratet bist, mit mir oder mit deinem Amt?« Daraufhin hatte er sie als Leiterin der Presseabteilung in das Sicherheitsministerium von Rolf Heske gesteckt. Seitdem sah er sie kaum 65
noch und konnte zurückflachsen: »Mit wem bist du nun eigentlich verheiratet, mit Heske oder mit mir?« Denn Heske schuftete genauso wie Müller und er. Es machte ihnen auch Spaß, zu sehen, wie die Dinge, die sie vereinfachten, griffen und Erfolg hatten. Alles schien ganz einfach, man mußte es den Menschen nur erklären. Und das war schließlich Knorrs Job. Darauf verstand er sich und das konnte er. Die Medien halfen ihm dabei. Sie hatten zuerst verwundert, dann skeptisch, schließlich überzeugt die Reformen verfolgt. Das waren greifbare Dinge des praktischen Alltags, anders, als in der Brandt-Ära, wo zu hochgesteckte Ziele das Verständnis der Massen nicht erreichten und darum kläglich scheitern mußten. Müller hatte keine hundert Tage Schonzeit, um Erfolge seiner Regierung vorweisen zu können. Hanne Naumann kam mit den Schinkenbroten. »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Herr Bundeskanzler?« »Wir brauchen noch Bier, Krümel«, sagte Müller und zwinkerte ihr zu. »Kommt sofort«, sagte Hanne Naumann und öffnete ein Fenster. Das Zimmer hing voller Zigarettenqualm. »Hier ist ja schließlich keine Kneipe!« Die Männer sahen ihr nach, als sie mit wiegenden Schritten hinausging. »Apropos Damen«, sagte Müller nachdenklich, »das müssen wir auch noch besprechen …« Knorr wußte, was er meinte. Sie saßen eine Weile still, jeder hing seinen Gedanken nach. Müller dachte an Inge Sanders, Knorr an Ladiges. Schließlich fragte er: »Meinst du, daß Ladiges die Vorlage stillschweigend schlucken wird?« »Bestimmt nicht. Aber Heske hat eine blendende Konzeption ausgearbeitet, die logisch und überzeugend ist. Und du hast ja wohl dafür gesorgt, daß die Berichterstattung über Mord und Totschlag schön ausgewälzt wird. Das überzeugt mehr als Worte, die wir finden könnten. Dann habe ich noch zwei vertrauliche Gespräche mit zwei seiner engsten Freunde geführt, mit dem Bankier Meiners und dem Fabrikanten Kamphausen. Ich könnte mir denken, daß diese beiden jetzt 66
voll auf unserer Seite stehen. Sie werden soviel Geld verdienen, wie ihre Familien in Jahrhunderten nicht zusammenscharren konnten. Und du kennst meine Ansicht: Geld korrumpiert. Zumindest Typen wie Meiners und Kamphausen. Notfalls müssen wir sie ins Spiel bringen, wenn Ladiges sich querlegen will …« Knorr blieb nichts anderes übrig, als Heinrich Müller wieder einmal zu bewundern. »Wir sollten ihm das vielleicht schonend beibringen«, sagte er endlich. »Um Gottes willen, ich denke nicht daran, das werden die Herren schon selbst besorgen. Wie heißt es bei den Heinzelmännchen? ›Anruf genügt, wir kommen ins Haus!‹ Nur so können wir das machen, verstehst du?« Dieter Knorr war ehrlich: »Nicht ganz …?« Müller lachte. »Rüdiger von Meiners und Gotthelf Kamphausen sind morgen früh im Finanzministerium mit Ladiges verabredet. Sie waren heute zu einer privaten Party in seiner Düsseldorfer Villa und haben das Gelände für morgen früh vorbereitet. Ich denke, es wird alles nach Wunsch laufen …« Dieter Knorr kam gar nicht auf die Idee, daran zu zweifeln. Hätte er gewußt, wie notwendig Müller das Gespräch mit ihm brauchte, um sich immer selbst von der Richtigkeit seiner Gedanken zu überzeugen, hätte er möglicherweise mehr für sich selbst herausschlagen können. Aber Knorr war kein Geschäftsmann, sondern ein Freund. Und ein loyaler Public-Relations-Manager. So kamen ihm solche Ideen erst gar nicht. Krümel kam mit dem Bier und schenkte ein. »Prost, Dieter«, sagte der Kanzler und hob sein Glas. Die Dinge liefen so, wie er sich das vorstellte. Trotzdem mußte er noch eine andere Sache zur Sprache bringen. Die Dinge mit Elfriede – seiner Frau – entwickelten sich unerfreulich. Sie scheute die Öffentlichkeit, der ganze Rummel mit Sicherheitsbeamten, Empfängen, an denen sie teilnehmen mußte, offizielle Reisen und andere Pflichten, die ihr einfach deswegen zugefallen waren, weil Hein67
rich Müller Bundeskanzler geworden war, fielen ihr auf die Nerven, waren ihr lästig und machten sie mürrisch. Am liebsten wäre sie in das kleine Haus nach Godesberg zurückgegangen, wo sie mit den Nachbarn tratschen konnte, ihr Kränzchen hatte und ihren kleinen, eigenen überschaubaren Bereich. Aber das ging wohl nicht, ohne ihn zu blamieren. Heinrich Müller hatte sehr lange über dieses Problem nachgedacht und nach einer Lösung gesucht. Er glaubte, sie gefunden zu haben. Auch das mußte er mit Dieter Knorr besprechen. »Apropos Elfriede. Ihre Gesundheit ist nicht die beste. Ich könnte mir vorstellen, daß sie sich auf Teneriffa gut erholen könnte«, tastete er sich langsam vor. »Die Frau des deutschen Bundeskanzlers als Langzeiturlauberin auf Teneriffa?« fragte Knorr ungläubig. »Heske sagt, es sei nur ein Sicherheitsproblem. Und das kann er lösen. Schließlich ist es dort nicht so leicht, irgend jemand zu entführen, wie hier …« »Und wenn ihr doch etwas passiert?« Heinrich Müller schwieg. Schließlich sagte er: »Wer hätte schon was davon?« Ja, wer? Sie spielten alle Möglichkeiten durch, bis sie zu dem Entschluß kamen, einen Beamten des Presseamtes nach Sta. Cruz de Tenerife zu senden, der die Lage observieren und vorsichtig Kontakt zu den zuständigen Behörden auf der Insel und in Madrid aufnehmen sollte. Dieter Knorr wurde auch ermächtigt, diesem Beamten kleine Geschenke ins Portefeuille zu packen. Vielleicht Entwicklungshilfe bei der Bewässerung der wenigen, noch nicht verbauten Bananenplantagen zum Beispiel, oder Unterstützung bei einigen Gremien der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Vielleicht auch Bargeld. Der Mann würde Verhandlungsspielraum haben. Und selbstverständlich würde für die Sicherheit der kranken Frau des Bundeskanzlers die Republik aufkommen. So zeichnete sich für ein Dutzend Polizisten schon ein recht angenehmer Job ab.
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Ladiges schäumte vor Wut. Natürlich hatte er die Vorlage des Ministers für Innere Sicherheit, wie Heskes Amt offiziell hieß, wie erwartet vorgefunden. Und er hatte darin eine Möglichkeit gesehen, endlich einmal im Kabinett gegen Müller und Heske aufzustehen und zu opponieren. Und dann waren Meiners und Kamphausen gekommen. Nicht nur, daß sie ihm heftige Vorwürfe wegen seiner Ressentiments gegenüber dem Kanzler gemacht hatten, nein, sie hatten auch gemeinsam und eindeutig von ihm gefordert, das neue Sicherheitsprogramm von Müller und Heske zu unterstützen. Und Meiners und Kamphausen waren zwei Persönlichkeiten, die solchen Forderungen auch den notwendigen Druck zu geben verstanden. Beide waren zwar nicht Mitglieder der Neuen Partei, aber sie hatten großen Einfluß auf Präsidium und Vorstand. Ein Wort von ihnen würde genügen, und das Amt von Ladiges als Parteivorsitzender, wäre in Gefahr geraten. Meiners und Kamphausen wußten genau, daß dies die verwundbare Stelle von Dr. Werner Ladiges war. Nur über die Partei, so dachte er, konnte er Heinrich Müller noch in etwa unter Kontrolle halten. Er wäre bereit gewesen, die Ämter als Vizekanzler und als Finanzminister zur Verfügung zu stellen – aber die Partei? Niemals! Und niemals zuvor hatte Ladiges im Amt auch nur einen Tropfen Alkohol zu sich genommen, aber jetzt mußte er einen Schnaps haben. Seine Sekretärin glaubte ihren Ohren nicht zu trauen, als er schrie: »Ich brauche einen Obstler! Aber schnell!« Es herrschte dicke Luft, zum Schneiden. Staatssekretär Hoffmann kam mit einem Aktendeckel unter dem Arm. Er hatte eine Kopie der Vorlage von Heske. »Das müssen Sie ablehnen, Herr Minister«, sagte er nüchtern. Er war beamteter und nicht politischer Staatssekretär. Dr. Ladiges sah ihn einen Augenblick geistesabwesend an. Dann fing er sich langsam. »Das müßte ich«, sagte er vieldeutig. »Und was werden Sie tun?« fragte Hoffmann. Der Finanzminister stützte den Kopf in beide Hände und kraulte mit 69
den Fingern seine Stirn. »Mein Gott, ich bekomme immer tiefere Falten«, dachte er, »was tue ich hier eigentlich und für wen? Dieser Müller ist stärker als ich, er ist primitiver und wahrscheinlich gesunder, damit schafft er's. Er wird mich umbringen, wenn ich im Amt bleibe.« Doch dann erwachte plötzlich sein Widerstandsgeist. Er war nicht bereit, sich von diesem Proleten, wie er ihn insgeheim nannte, aus Amt und Würden drängen zu lassen. Von Müller nicht! So stand er auf und sagte: »Ich werde die Vorlage unterstützen!« Der Staatssekretär Hoffmann glaubte nicht richtig gehört zu haben: »Sie werden …?« »… die Vorlage unterstützen! Bitte lassen Sie mich jetzt allein. Ich habe zu arbeiten!« Die Sekretärin brachte den Schnaps. Sie hatte keinen Obstler bekommen. Jedermann kannte Ladiges als enthaltsamen Menschen. Aber in der Kantine hatten sie Steinhäger. »Das ist fast das gleiche!« hatte der Pächter gesagt. Ladiges stürzte drei große Gläser kurz hintereinander hinunter. Dann ließ er den Wagen vorfahren. Heinrich Müller hatte das Kabinett für elf Uhr zu sich gebeten und Kabinett war Pflicht.
»Wir kommen zur Vorlage des Bundesministeriums für Innere Sicherheit, Drucksache 412-1989«, sagte der geschäftsführende und vortragende Kanzleramtsminister. Papiere raschelten, die Vorlage wurde gesucht, Heinrich Müller warf einen Blick über die Runde und beobachtete Ladiges. Heske setzte sich in Positur. »Die Vorlage 412-1989 stammt aus meinem Ministerium und ist in sorgfältiger Prüfung in Zusammenarbeit mit dem Herrn Bundesminister für Wirtschaft und dem Herrn Bundesminister für Forschung entwickelt worden …« Als er das sagte, mußte er innerlich schmunzeln. Sie hatten zu viert einen zünftigen Skat gedroschen und dabei auch über das neue Arbeitsbeschaffungsprogramm via verstärkter in70
nerer Sicherheit gelacht. Er sprach noch eine ganze Weile und sagte endlich: »Ich bitte die Bundesregierung, der Vorlage zuzustimmen!« Heinrich Müller blickte in die Runde. Widerstand war nicht zu erwarten. Die Frage war nur, ob Ladiges mitziehen würde. Wenn nicht, war es auch nicht so schlimm. Heinrich Müller wußte, daß dann Ladiges Tage gezählt waren. So entschloß er sich zu dem Verfahren, das er sich in der letzten Zeit für prekäre Abstimmungen zugelegt hatte: »Sie alle haben die Drucksache 412-1989 vorliegen und die dazu notwendigen Erläuterungen von dem Herrn Bundesminister für die Innere Sicherheit bekommen. Ich schreite hiermit zur Abstimmung. Wer gegen die Vorlage ist, möge die rechte Hand erheben …« Er warf einen Blick über die Runde und, kaum ohne abzusetzen, sprach er weiter: »… ich sehe, das ist nicht der Fall. Damit ist die Vorlage 412-1989 einstimmig vom Kabinett angenommen. Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren. Die Sitzung ist beendet. Ich darf Ihnen einen guten Appetit wünschen!« Er stand auf, schob seinen Sessel zurück und ging schnell hinaus, ohne irgendeines der Kabinettmitglieder noch eines Wortes zu würdigen.
Der Regierungsdirektor Alberts hatte es nicht eilig. Er nahm erst eine Lufthansa-Maschine nach Madrid, sah sich dort im Prado um, denn er war geradezu versessen auf Tizian und auf Murillo und El Greco. Neuerdings gab es auch einige Picassos und Dalis dort. Nach zwei Tagen besuchte er die deutsche Botschaft und meldete seine Anwesenheit. Der Botschafter selbst empfing ihn und bat ihn zum Essen. Die spanische Küche war gut und leicht, der Rioja exzellent, und Jochen Alberts spürte instinktiv, daß der Diplomat etwas von ihm wollte. Er täuschte sich nicht. »In Bonn hat sich vieles verändert …?« fing der Botschafter vorsichtig an zu fragen. »Das kann man sagen. Der Kanzler hält uns ganz schön auf Trab, 71
Knorr bringt uns zum Schwitzen und das Presseamt gleicht einem ewig summenden Bienenkorb.« »Müller hat eine gute Presse in Deutschland«, sagte der Botschafter. »Ist sie in Spanien schlecht?« fragte Alberts. »Nein – nein, nein, das wollte ich damit nicht sagen. Aber die Spanier haben ihre eigenen Sorgen und Deutschland ist für sie weit.« »Darum bin ich hier«, log Alberts. Er kannte die Fernschreiben, die Knorr ihm vorausgesandt hatte. Und sein Auftrag war, wenn auch nicht gerade heikel, so doch nicht ohne Diskretion durchzuführen. Der Botschafter war vorerst nicht eingeweiht worden. Man hatte ihn lediglich gebeten, dem Regierungsdirektor Alberts jede erforderliche Hilfe angedeihen zu lassen. »Will Bonn das Verhältnis zu Madrid weiter vertiefen?« fragte der Diplomat. Alberts zögerte einen Augenblick mit der Antwort, dann sagte er nachdenklich: »Sagen wir mal – enger gestalten.« Damit konnte der Botschafter überhaupt nichts anfangen. »Ich weiß, Ihre Mission ist vertraulicher Natur. Aber wenn Sie mir eine Andeutung machen könnten, wäre ich natürlich besser in der Lage, Ihnen die geeigneten Türen zu öffnen. Schließlich bin ich jetzt fast sechs Jahre in Madrid und weiß, wo man die Hebel ansetzen muß«, sagte er nicht ohne Stolz. Er war etwas gekränkt, daß man ihn so ohne jede Information gelassen hatte. Alberts nickte. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir eine Verbindung zu Señor Alvarez vom Innenministerium herstellen könnten«, sagte er. Alvarez war im spanischen Innenministerium zuständig für Sicherheitsfragen. Der Botschafter schaute erstaunt hoch. Alvarez – das bedeutete Innere Sicherheit, das bedeutete Terrorismusabwehr und Sicherung ausländischer Staatsgäste. Sollte etwa der Kanzler nach Spanien kommen? Aber warum dann ein Beamter des Presseamtes in Madrid? Das reimte sich irgendwie nicht zusammen. Aber mehr brachte er nicht heraus. Für Alberts lagen die Dinge am nächsten Tage einfacher. Ohne Umschweife informierte er Juan Caballo Alvarez darüber, daß die Frau 72
des Kanzlers Müller krank sei, daß die Ärzte empfohlen hätten, sie in eine gemäßigte Klimazone zu schicken und dies nicht nur für ein paar Monate, nein ihr Aufenthalt würde wahrscheinlich länger dauern. Der Herr Bundeskanzler wäre daraufhin dem Rate der Mediziner gefolgt und man hätte gemeinsam Teneriffa – »immerhin eine starke deutsche Kolonie«, Alberts sagte es nicht ohne zu schmunzeln – als künftigen Wohnsitz gewählt. »Ich wäre Ihnen und der spanischen Regierung dankbar, wenn dieses Problem diskret und ohne großes Aufsehen gelöst werden könnte. Natürlich wird der Herr Bundeskanzler für den Aufenthalt aufkommen und jederzeit im entsprechenden Rahmen zu Gegenleistungen bereit sein.« Man sprach über zwei Häuser, die anzukaufen wären. Eines für Elfriede Müller, eines für die zwölf Sicherheitsbeamten. Etwas außerhalb sollten sie liegen, vielleicht oben in den Humboldt-Gärten oder im Orotava-Tal. Man würde sehen. Alvarez sagte seine Unterstützung in vollem Umfange zu, und da ihm eine überraschende Inspektion der Kanarischen Inseln nicht ungelegen kam – er liebte die Paella von Doña Maria und die einmaligen Kaninchen von Doña Ornelia –, beschlossen sie, gleich am nächsten Tag gemeinsam zu reisen. Die spanische Luftwaffe stellte eine Kuriermaschine zur Verfügung, der Gouverneur in Santa Cruz war benachrichtigt, die Unterbringung war entsprechend komfortabel, und der Regierungsdirektor Alberts konnte sich nicht verhehlen, daß der spanische Lebensstil auch nach Franco seine schönen Seiten hatte. Sie blieben drei Tage, dann waren entsprechende Objekte gefunden, angekauft und für die erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen ausgerüstet. Auf dem Rückflug trug Alvarez seine Oberstenuniform. Mit einem Nebensatz erwähnte er, daß er der Annahme eines deutschen Verdienstordens nicht ablehnend gegenüberstehen würde.
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Schon zwei Wochen später wurde der Umzug von Elfriede Müller bewerkstelligt. Sie nahm alle ihr vertrauten Möbel mit, die Bilder und die Bücher, die Vorhänge und die Teppiche. Und welches Glück, sie fühlte sich erleichtert und froh, der Druck der permanenten Repräsentanz war von ihr genommen. Auch fand sie bald einen kleinen Kreis deutscher Frührentner, die sie zu Bridge und Kaffee in ihr Haus zog. Das ewig warme Klima des Golfstromes, die Leichtigkeit des Lebens, die Freundlichkeit der Guanchen und die scheinbar nie versiegende Blütenpracht der schönsten Blumen ließ sie Heinrich Müller fast vergessen. Und sie erinnerte sich eigentlich oft nur deswegen an den Kanzler, weil sie ihrem Gemahl Treue bis in den Tod versprochen hatte. Der deutsche Botschafter in Madrid aber überreichte dem Staatssekretär für die Innere Sicherheit, General Juan Caballo Alvarez, schon wenige Tage danach das große Verdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland. Dem spanischen Fremdenverkehrsministerium aber wurden außerplanmäßige Mittel zum Ausbau zweier Flughäfen an der Costa Brava und an der Costa del Sol zur Verfügung gestellt, was einmal die TUI – die Touristik Union International – und zum anderen die Bedarfsfluggesellschaft Condor mit Befriedigung zur Kenntnis nahmen. Dem Regierungsdirektor Alberts aber drückte Dieter Knorr als sein Dienstvorgesetzter die Hand und bedankte sich sehr herzlich für die diskrete Durchführung des Auftrags. Da dies dem Alberts ein sehr geringer Dank für seine aufopferungsvolle Hingabe an den heiklen Auftrag schien, tat er das, was einst auch Heinrich Müller bei seiner Karriere geholfen hatte: Er legte ein Dossier an, in das er fein säuberlich all das hineinschrieb, was ihm bekannt war. Und dieses Dossier bewahrte er in einem kleinen Banksafe auf, dessen Schlüssel er seinem Schwiegervater anvertraute. Die Deutsche Presse-Agentur brachte eine kurze Meldung, in der es lapidar hieß: ›Die Frau des Bundeskanzlers, Elfriede Müller, hat sich wegen eines chronischen Leidens für kurze Zeit zur Kur auf eine spanische Insel begeben.‹ Und niemand vermißte sie. 74
Die Umbauten im und am Kanzlerbungalow wurden in aller Stille vorgenommen. Heinrich Müller folgte damit nur einem von all seinen Vorgängern geübten Brauch. Nicht einmal der Finanzminister Dr. Ladiges machte Schwierigkeiten, als ihm der Kostenvoranschlag für den Haushalt auf den Tisch kam. Gemessen an den Kosten, die Müllers Vorgänger für ihr privates Heim ausgegeben hatten, waren die eineinhalb Millionen Deutsche Mark Umbaukosten geradezu sparsam zu nennen und jederzeit vor dem Haushaltsausschuß zu vertreten. Auch dem Bundesrechnungshof konnte man mit diesen Zahlen jederzeit guten Gewissens gegenübertreten. Aber auch Inge Sanders war in diesen Wochen nicht untätig gewesen und – nachdem sich die Arbeit im Kanzleramt soweit eingespielt hatte – vollendete sie ihre Doktorarbeit und promovierte im Mai 1989 zum Doktor der Jurisprudenz. Damit war eine letzte Schranke gefallen und Heinrich Müller beförderte sie zur Staatssekretärin im Kanzleramt. Dies wiederum gab ihr genügend Zeit, den Um- und Ausbau des Kanzlerbungalows nach ihren Vorstellungen und ihrem Geschmack vorzunehmen. Sie tat es mit Umsicht und dem Wissen, daß sie hier eine psychologisch einmalige Chance hatte, aus dem kleinbürgerlichen Gewerkschafter Müller durch eine entsprechende Umgebung den Staatsmann Müller zu formen. Der Stil des Hauses wurde denn auch weltoffen, freizügig und elegant, ohne der typisch deutschen Gemütlichkeit zu entbehren. Kenner der Bonner Szene, die schon einige Kanzler hinter sich gebracht hatten, waren daher auch überrascht, als Heinrich Müller den engsten Kreis seiner Freunde, seiner Mitarbeiter und die Spitzen der Industrie und der Wirtschaft zu einem kleinen Eröffnungs-Umtrunk in sein neues Heim lud. Soviel Geschmack hatte ihm kein Mensch zugetraut. Und einige begannen, noch vorhandene Vorurteile langsam, aber sicher abzubauen. Die Party war nur kurz gewesen und hatte keine zwei Stunden gedauert. Man hatte die Räume im Erdgeschoß bewundert, den großen Salon, die Bibliothek mit ausgewählten Werken der Geschichte, Mül75
lers Arbeitszimmer, den kleinen Salon für intime Essen, das rustikale große Speisezimmer für Staatsgäste, das Musikzimmer und das Entrée, das durch seine großzügige Gestaltung für den Hausherrn einnahm. Niemand aber hatte die Schlaf- und Gästezimmer im ersten Stock gesehen, die Inge Sanders nur für sich und den Kanzler ausgebaut hatte. Und es war ihr fester Wille, daß außer dem verschwiegenen und sorgfältig ausgesuchten Hauspersonal niemand diese Räume betreten sollte. Wenn Werner Ladiges jemals auf den Gedanken gekommen wäre, die Umbaukosten genau zu überprüfen, so wäre ihm aufgefallen, daß ein erheblicher Teil davon im ersten Stock des Kanzlerbungalows investiert worden war. So aber lief die Rechnungsprüfung über einen untergeordneten Beamten seines Ministeriums, der nur sorgsam darüber wachte, daß der Ansatz nicht überschritten wurde. Dies war nicht der Fall. Kanzler und Finanzminister, Staatssekretärin Sanders und Rechnungsprüfer gingen wieder zur Tagesordnung über. Und die Tagesordnung für Heinrich Müller und Inge Sanders hieß fortan, daß sie nun während ihrer freien Zeit ungeniert ihren Gefühlen leben konnten. Denn Inge Sanders war – ganz offiziell – als Chef der Verwaltung des Kanzleramtes in den Kanzlerbungalow eingezogen, wo ihr offiziell eine Dreizimmerwohnung zur Verfügung stand. Unangenehm wurde die Sache nur einmal, als ein neugieriger Journalist von ›Paris Match‹ deswegen Böses witterte, aber Knorr wäre nicht Knorr gewesen, wenn er diesem Eindruck nicht mit einer eindrucksvollen Demonstration begegnet wäre. Er schickte Inge Sanders mehrmals mit dem unverheirateten Rolf Heske zur Maternus, zu Frühlingsfesten und gesellschaftlichen Veranstaltungen des diplomatischen Korps oder der ›Bayerischen Botschaft‹, wie die Vertretung Bayerns beim Bund seit dem Regierungsantritt von ›Franz Josef dem Zweiten‹ heißt. Unter der Hand verbreitete er, daß sich hier offenbar etwas anbahne, und einige Magazine nahmen die Nachricht bereitwillig auf, walzten sie aus, dichteten hinzu. Jedenfalls stand nach drei weiteren Wochen fest – wenn man der Presse glauben konnte – daß mit einer baldigen engeren Verbindung zwischen dem Sicherheitsmi76
nister und der Staatssekretärin im Bundeskanzleramt gerechnet werden durfte. Heske und Inge Sanders ein Paar, das war ein Thema von bundesweitem Interesse. Und je mehr die beiden dementierten, um so mehr wurde es Gewißheit: Zwei der begehrtesten Junggesellen der Hauptstadt hatten zueinander gefunden. Und wenn diese Verbindung nicht amtlich besiegelt wurde, so vermutlich nur deshalb, weil Kanzler Müller beide so im Streß hielt, daß sie nicht zum Heiraten kamen. Tatsächlich aber lagen die Dinge anders, und Heske wie Inge Sanders amüsierten sich köstlich über die Geschichten, die ihnen jetzt fast täglich angedient wurden. Nur Gisela Knorr war verschnupft, und sie nahm Rolf Heske mehr als einmal ernst zur Seite: »Hast du wirklich nichts mit ihr?« Heske konnte sie beruhigen: »Ich verspreche es dir, Liebling. Es ist alles die Idee deines Mannes – zwischen uns ist gar nichts!« Gisela Knorr nahm ihn zärtlich in die Arme und sagte scherzhaft: »Das möchte ich dir auch geraten haben. Ich liebe dich, Rolf, und ich bringe dich um, wenn ich herausfinde, daß du etwas mit der Sanders hast …!« Er küßte sie zart und rücksichtsvoll. »Sei froh, daß es so ist und Dieter keine Zeit hat, sich über uns Gedanken zu machen. Er ist Tag und Nacht damit beschäftigt, Inge Sanders und mir Geschichten anzuhängen …« Das Telefon läutete. »Der Herr Staatssekretär Knorr möchte Sie sprechen«, sagte die Sekretärin. »Wo ist er?« fragte Heske. »Bei mir hier im Vorzimmer …« »Er soll hereinkommen!« Heske wischte sich über den Mund, dann wandte er sich an Gisela: »Dein Mann kommt!« Sie waren beide Überraschungen gewohnt, und so etwas konnte sie nicht aus dem Gleichgewicht werfen. Dieter Knorr stürzte geradezu herein. »Kinder«, schrie er, »ich habe die geniale Idee, um allem Gerede für immer ein Ende zu machen!« Sie sahen ihn erstaunt an. 77
»Du und die Sanders werden wirklich heiraten«, lachte er und ließ sich in einen Sessel fallen. »Hast du einen Cognac?« »Was sagst du da?« fragte Rolf Heske, der glaubte, sich verhört zu haben. Er holte aus dem Schreibtisch eine Flasche Rémy Martin und schenkte ein. Dann wiederholte er: »Was sagst du da, was soll ich?« »Du wirst Inge Sanders heiraten. Ich gehe jetzt gleich zu Henry und werde ihm die ganze Sache vortragen. Ich bin sicher, er ist begeistert. Deswegen ändert sich doch nichts. Inge Sanders kann im Kanzlerbungalow bleiben, du bleibst in deiner Wohnung, ihr trefft euch einmal die Woche, laßt euch in der Öffentlichkeit sehen, die Presse hat ihre Ruhe und geht zur Tagesordnung über. Und allen ist geholfen …« »Das macht Henry niemals mit, Dieter. Du bist verrückt …!« Knorr wurde ernst. »Und wenn es die Staatsraison erfordert? Auf keinen Fall darf der Kanzler ins Gerede kommen!« »Staatsraison, Staatsraison«, meditierte Heske, »wir leben doch nicht mehr im Mittelalter …« »Hast du schon mit Frau Sanders gesprochen?« fragte Gisela Knorr. Ihr Mann zog einen Flunsch. Das lag ihm im Magen. Er war sicher, daß er Müller und Heske für seinen Plan gewinnen konnte, bei Inge Sanders war er sich nicht so sicher. Er wußte ja, daß sie Heinrich Müller liebte, und eine Frau war in diesem Stadium zu allem fähig. »Wir werden sie gemeinsam überzeugen müssen …«, meinte er schließlich zaghaft. »Wenn ich die Geliebte Heinrich Müllers wäre und so wie sie eine Chance hätte, eines Tages seine Frau zu sein, weißt du, was ich dann mit dir machen würde?« fragte Gisela Knorr. Heske und Knorr sahen sie überrascht an. »Ich würde dir einen Tritt in den Hintern geben«, sagte Gisela Knorr und hatte Tränen in den Augen. »Eine solche Infamie hätte ich dir nie zugetraut, Dieter!« Sie stürzte hinaus. Dieter Knorr sah ihr entgeistert nach. »Was hat sie denn? Kannst du das verstehen, Rolf?« 78
»Ich glaube, du bist ein wenig zu weit gegangen. Was soll sie jetzt von dir denken?« »Aber das war doch nur so eine Idee …« »Es war eine schlechte Idee, Dieter!« Knorr ging. Vielleicht hatten sie recht, und seine Phantasie war mit ihm durchgegangen. Er würde sich etwas Neues einfallen lassen, da hatte er keine Bedenken. Es war schließlich sein Beruf, Einfälle zu haben. Heske aber bat Gisela Knorr zu sich, und als sie alleine waren, nahm er sie fest in seine Arme. »Du verlierst nicht viel, wenn du dich scheiden läßt, Gisela!« Sie küßte ihn. »Ich liebe dich, und er wird immer schrecklicher!« Dann, als sie sich etwas beruhigt hatte, sagte sie: »Trotzdem müssen wir noch warten, Rolf. Zwischen uns soll alles klar sein, bevor wir uns entscheiden, ja?« »Okay, mein Liebes!«
Heinrich Müller betrat den kleinen Konferenzsaal im Kanzleramt gegen zehn Uhr morgens. Der Bankier Meiners war schon da und auch Gotthelf Kamphausen, Heske und Knorr. Ausnahmsweise kümmerte sich Inge Sanders diesmal um Kaffee und Mineralwasser. »Nehmen Sie doch Platz«, sagte Müller und zeigte auf die Stühle am Tisch. »Wie sieht es aus, Herr Kamphausen?« »Wir haben ein Areal im Ruhrgebiet gefunden, eine frühere Zeche in idealer Lage. Gute Verbindungen in alle Richtungen, Autobahnnähe, Gleisanschluß, Dortmund und Düsseldorf nicht weit und vor allem günstig gelegen für die Anfahrt der Arbeiter. Dazu der Flughafen in Lohhausen, besser können die Voraussetzungen nicht sein …« »Und die Kosten …?« »Rund einhundertundsechzig Millionen, so wie es liegt und steht. Dazu kommen die Investitionen.« »Wie hoch rechnen Sie die?« fragte Müller. 79
Kamphausen kramte in seinem eleganten Aktenkoffer und zog dann einen schmalen Hefter hervor, in dem er blätterte: »Hundert Millionen rund für die Anlaufphase, zweihundertfünfzig für Forschung und Entwicklung, dann eine halbe Milliarde bis zur Produktionsaufnahme und Serienreife und dann eben die laufenden Kosten, schätzungsweise runde hundert Millionen am Anfang mit steigender Tendenz. Insgesamt für vierundzwanzig Monate rund drei bis vier Milliarden.« »Und die Finanzierung?« Müller schaute Rüdiger von Meiners an. Man sah dem Bankier regelrecht an, wie er sich innerlich aufrichtete: »Eine Milliarde kann ich notfalls auf die Beine bringen, ohne die Börse unnötig aufmerksam zu machen. Allerdings nur unter bestimmten Bedingungen …« »Und die wären?« fragte der Kanzler. »Steuerpräferenzen. Abschreibungsmöglichkeiten als Kitzel, Verlustzuweisungen in einer interessanten Höhe …« »In welcher Höhe?« unterbrach ihn Müller. »Ich denke an zweihundertfünfzig Prozent, ähnlich wie das AirbusGeschäft oder die Öltanker, dahinter könnte man die Anlaufphase verstecken, wenn das Bundesfinanzministerium mitzieht …?!« »Das wird meine Sorge sein, meine Herren. Wir alle kennen Doktor Ladiges und wissen, daß wir ihm das Projekt so nicht vorschlagen können. Ich frage Sie, Herr von Meiners, warum versuchen Sie die Projektierung nicht über die Oberfinanzdirektion in Düsseldorf zu plazieren. Dann sind Sie mit den ersten Investitionen fertig, bevor das Projekt überhaupt nach Bonn kommt …« Meiners schüttelte den Kopf. »Sie vergessen den ständigen Ausschuß der Länder und der Finanz-Staatssekretäre, Herr Bundeskanzler.« Er machte eine Kunstpause, die er sich genau überlegt hatte, dann fuhr er langsam fort: »Es gäbe da noch eine Möglichkeit …« Dann schüttelte er den Kopf, als habe er es sich noch einmal überlegt. »Nein, nein …« »Würden Sie uns diese Möglichkeit netterweise verraten, Herr von Meiners?« »Das ist zu teuer«, sagte Meiners. Er merkte, daß der Kanzler ange80
bissen hatte, am Haken hing, wie der Angler sagt. Und der Herr von Meiners war Angler. »Wieviel?« fragte Müller. »Fünfundzwanzig Prozent Kapitalbeschaffungskosten und eine staatlich verbürgte Verlustzuweisung von 200 Prozent, die erst in einem Jahr greifen müßte, das wäre eine Möglichkeit …!« Er ließ offen, was für eine Möglichkeit das wäre. Aber Heinrich Müller war zu lange im Bankgeschäft gewesen, um nicht in Sekundenschnelle abschätzen zu können, daß Meiners bereit war, schaumgebremst ins Risiko einzusteigen, dafür aber einen saftigen Happen zu kassieren. Er warf einen Blick zu Kamphausen hinüber, der sich lässig zurückgelehnt hatte und seinem Zigarrenrauch nachsah. Offensichtlich war er informiert. Heske und Knorr hingen an Müllers Lippen, von derartigen Transaktionen und Geschäften hatten sie keine Ahnung, und der Kanzler war froh darüber. Wenn Ladiges diesem Komplott zu früh auf die Spur kam, konnte das größte Schwierigkeiten bedeuten. Heinrich Müller überlegte kurz, daß die letzte, von Meiners angedeutete Möglichkeit das Vorhaben am längsten geheimhalten würde. Und er lag nicht falsch mit seinen Gedanken, wenn er überlegte, daß Kamphausen und Meiners genau diese Lösung wollten. Blieb das Problem der staatlich garantierten Verlustzuweisung. »Das ist Sache der Oberfinanzdirektionen, also Ländersache«, sagte er endlich. »Das ist richtig«, nickte der Bankier von Meiners zustimmend, »der Präsident der Oberfinanzdirektion Düsseldorf ist Mitglied der Neuen Partei. Ein Wink von Ihnen, Herr Bundeskanzler, würde genügen, und wir könnten morgen anfangen!« »Und Ladiges …?« versicherte sich Heinrich Müller. »Wird frühestens in einem Jahr davon erfahren!« Der Kanzler sah sich einem gut vorbereiteten Komplott gegenüber. Aber die Herren waren nach seinem Geschmack. Sie kamen nicht mit Vorschlägen, mit ›wenns‹ und ›abers‹, sie hatten einen konstruktiven, durchführbaren Plan. Alles, was er dabei zu tun hatte, war, den Prä81
sidenten der Oberfinanzdirektion in Düsseldorf anzurufen, der sicherlich schon auf diesen Anruf wartete. »Nichts korrumpiert doch so sehr wie großes Geld«, mußte Müller denken, dann wandte er sich an Knorr: »Würden Sie mir das Telefon geben und eine Verbindung nach Düsseldorf herstellen?« Dieter Knorr sprang auf, Rüdiger von Meiners blätterte in einem Notizbuch und sagte: »Null zwo eins eins und dann drei-vier-fünf-sechssechs-sechs, das ist die Durchwahl.« Knorr wählte. »Der Herr Bundeskanzler würde Sie gerne sprechen.« Er reichte Müller den Hörer. »Müller hier! Herr Präsident, Sie wissen, um was es geht? Ich gebe meine Zustimmung zu der Transaktion. Frau Staatssekretärin Doktor Sanders wird Ihnen noch heute ein Schreiben meines Amtes zuleiten, dem Sie alle näheren Einzelheiten entnehmen können. Sie sind sicher, daß wir hier in Bonn nicht vor zwölf Monaten damit befaßt werden?« Die Bestätigung kam umgehend durch die Leitung. »Okay, dann machen wir es!« Müller legte auf. »Ich muß Ihnen meine Anerkennung aussprechen, meine Herren«, wandte er sich an Kamphausen und Meiners, denen man jetzt doch die Befriedigung über das gelaufene Geschäft ansah. »Ich mag Leute wie Sie. Und wenn irgendein Sterbenswort zu früh über ihre Lippen kommt, werde ich Mittel und Wege finden, um mich dafür schadlos zu halten. Aber bei ihrem zu erwartenden Gewinn steht das ja wohl nicht zu befürchten.« Er stand auf, die Sitzung war beendet. Kamphausen und von Meiners verließen den Raum. »Frau Doktor Sanders, dies ist eine Geschichte von höchster Vertraulichkeitsstufe. Sorgen Sie dafür, daß das Schreiben an den Präsidenten der Oberfinanzdirektion Düsseldorf per Kurier und nur gegen persönliche Quittung übermittelt wird.« Dann drehte er sich zu Heske um: »Sie wissen, Herr Minister, was das bedeutet?« »Offen gestanden, nein …«, sagte Heske ehrlich. Ihm war etwas unheimlich geworden, als die beiden Geschäftsleute aus dem Rheinland hier mit Milliarden herumzuwerfen begannen. »Das bedeutet nichts anderes, als daß morgen damit begonnen wird, 82
eine Produktionsstätte für die neuen Anti-Terror-Waffen zu errichten, zum Teil mit ganz neuen, geheimen Waffen und Geräten. Nach den Plänen von Kamphausen werden in dem neuen Werk allein rund fünfzigtausend Arbeiter Beschäftigung und Verdienst finden. Und die Fernwirkung dieses Projekts wird die Arbeitslosenziffer um weitere dreihunderttausend Personen sinken lassen. Sie können anfangen, die Pläne der Einberufung der Sicherheitskräfte für den Objekt- und Personenschutz auszuarbeiten und die Erfassung aller männlichen Arbeitslosen zwischen achtzehn und fünfundvierzig Jahren in die Wege zu leiten. Die Frauen melden sich dann von selbst, dafür sorgen schon die Emmas. Unsere Regierung wird ihre Wahlkampfversprechungen erfüllen, das garantiere ich!« Heske und Knorr gingen. »Ist der Preis nicht etwas hoch, Herr Bundeskanzler?« fragte Inge Sanders. »Für zwei Geier ist der Preis weiß Gott sehr hoch, Frau Staatssekretärin«, nickte Heinrich Müller lächelnd, »aber ich werde dafür Sorge tragen, daß noch ein paar hunderttausend Spatzen an dem Reibach beteiligt werden.«
Heinrich Müller hatte Hanne Naumann gleich bei seinem Umzug mit ins Bundeskanzleramt genommen. Sie war in viele Vorgänge eingeweiht, kannte Müller vielleicht besser als jeder andere in seiner Umgebung, hatte ihm schon in seiner Zeit als Abgeordneter gedient, war dann mit zur Neuen Partei gegangen um jetzt folgerichtig wiederum seine engste Mitarbeiterin im Kanzleramt zu sein. So waren die Jahre an ihr vorbeigezogen, Hanne Naumann war jetzt sechsunddreißig Jahre alt und immer noch unverheiratet. Wann sollte sie auch einen Mann kennenlernen? Sie war selbständig, hatte ein gutes Einkommen und wo immer sie auch in die Ehen von Kollegen oder Mitarbeitern sah, blickte sie in Unzufriedenheit, Ärger, 83
zwangsläufige Einschränkungen und manchmal auch Scheidungen. Dies alles schien ihr kein erstrebenswertes Ziel zu sein. So hatte sie nur hin und wieder einen Freund, der zumeist aber nur der körperlichen Befriedigung diente. Vor zehn Jahren noch, als Heinrich Müller nur ein kleiner Abgeordneter war, hatte sie in ihren Träumen schon daran gedacht, vielleicht einmal mit ihm zu schlafen. Dann aber hatte sie weise daran gedacht, daß dies das burschikose kameradschaftliche Vertrauensverhältnis zwischen ihnen zerstören würde, und hatte davon abgesehen, schwache Augenblicke, die jeder Mensch und natürlich auch Heinrich Müller einmal hatte, auszunutzen. So stiegen ihre Ansprüche, und je höher sie mit dem Kanzler stieg, um so höher konnte sie auch ihre Ansprüche schrauben. Jetzt waren es schon Legationsräte und manchmal Botschafter kleinerer Länder, die sie in die Nobel-Restaurants von Köln und Düsseldorf führten. Bonn mied sie gewissenhaft, schon um keinen Anlaß zum Gerede zu geben. Am Rheinufer hatte sie sich in einem eleganten Neubau eine geräumige Zwei-Zimmer-Wohnung mit einer großen Terrasse gekauft, von wo aus sie einen schönen Blick auf den Fluß mit seinen vorbeiziehenden Schiffen und auch auf die Hügel des Siebengebirges hatte. Hanne Naumann legte Wert auf eine gepflegte Erscheinung, sie gab viel Geld für Garderobe aus. Heinrich Müller hatte es möglich gemacht, daß sie für diesen Zweck einen bescheidenen Etat aus seinem Reptilienfonds bekam, über den er keine Rechenschaft ablegen mußte. Das machte es leichter. Und da Hanne Naumann von Hause aus nicht gerade mit hinreißender Schönheit ausgestattet war, sah man sie auch häufig in den wenigen Damensaunen und Kosmetiksalons, bei Massage und Gymnastik, was immerhin ihrer Figur zustatten kam. Kurzum – ›Krümel‹ war ein interessantes, sportlich-elegantes spätes Mädchen, das brav seine Pflicht tat. Der einzige wirkliche Luxus, den sie sich leistete, war ein Golf GTI-Cabrio in silbermetallic, mit dem sie alljährlich in Urlaub fuhr, den sie an der italienischen Adriaküste zu verbringen pflegte. Und auch hier zeigte sich ihr starker Hang zu Konservativem. Im84
mer ging sie nach Jesolo, gleich gegenüber Venedig, immer in das gleiche Hotel ›Anthony‹. Dort sprach fast keiner deutsch, man kam sich nicht so verlassen vor wie in der Masse deutscher ›Grillteutonen‹, die wie die barbarischen Heerscharen alljährlich die Alpen überquerten, um ihre bleichen Körper an den sonnensicheren Stränden des Mittelmeeres zu bräunen. Und gerade dort hatte Hanne Naumann die für sie schicksalhafte Begegnung mit dem Bergbau-Ingenieur Karl Lamprecht aus Dortmund, der ihr in diesem Frühsommer 1989 heftig den Hof machte. Und es war das erste Mal seit langer Zeit, daß Hanne Naumann doch noch einmal an eine Verheiratung dachte. Lamprecht war zehn Jahre älter als sie, hatte eine gradlinige Karriere hinter sich – wenn man seinen Erzählungen glauben durfte – und eine gesicherte Stellung. Sein Einkommen, und auch das erfuhr ›Krümel‹ bald, war gut. Aus verschiedenen Erfindungen und Verbesserungen bezog er zudem Tantiemen und Betriebs-Deputate. Der einzige Fehler, den Hanne Naumann so auf den ersten Blick entdecken konnte, war, daß er geschieden war und eine Frau zu versorgen hatte. Aber auch dies erwies sich – nach seinen Auskünften – als erträglich und wirkte sich nicht sehr auf seinen persönlichen Lebensstandard aus. So gesehen fand ›Krümel‹ nichts dabei, allabendlich mit Karl Lamprecht in eine der vielen Diskotheken zum Tanzen zu gehen, bei offenem Fenster in seinen Armen liegend auf das Rauschen des Meeres zu hören und im Speisesaal mit ihm an einem Tisch zu sitzen und in seinem Bett zu erwachen. Jedermann sah, daß die beiden verliebt waren, eine Tatsache allerdings, die hier kaum ins Gewicht fiel und von untergeordneter Bedeutung war. So vergingen drei Wochen wie im Fluge, und als Karl Lamprecht sich zum Aufbruch rüstete – er wollte noch zwei Tage in München bleiben und das Deutsche Museum besuchen –, da brach Hanne Naumann ihren Urlaub kurzerhand ab, und sie fuhren in ihrem Wagen zu zweit in Bayerns Hauptstadt, denn Karl Lamprecht war mit dem Flugzeug gekommen. Angenehm war ›Krümel‹ berührt von der Tatsache, daß Lamprecht 85
sie nie nach ihrer Tätigkeit gefragt hatte und sich mit der Auskunft, sie sei Sekretärin in Bonn, zufriedengegeben hatte. Und sehr angenehm war ihr auch, daß Lamprecht sie niemals ›Krümel‹ nannte, obwohl sie ihm nicht verschwiegen hatte, daß man sie allgemein – inklusive ihres Chefs – so rief. In München wohnten sie in einem kleinen Hotel am Englischen Garten, waren ausgelassen und verliebt wie in den letzten drei Wochen, streiften einen ganzen langen Tag durch das Deutsche Museum, fielen dann todmüde ins Bett, um am nächsten Tag zum letzten Mal zusammen auszuschlafen. Am gleichen Tag noch sollte es weitergehen. Hanne Naumann spürte erst, wie sehr sie sich zu diesem Mann hingezogen fühlte, als er sich für zwei Stunden verabschiedete, um – wie er sagte – einen Besuch bei einer Maschinenfabrik zu machen. »Suchst du einen neuen Job?« fragte sie. Er lachte herzlich: »Nein, ich besuche einen alten Kollegen, der vor vier Jahren nach München gegangen ist …!« ›Krümel‹ wollte nicht weiter in ihn dringen, schon um nicht allzu neugierig zu erscheinen. Aber als sie dann Stunden später auf der Autobahn nach Frankfurt waren, konnte sie sich nicht verkneifen zu fragen: »Hast du deinen Freund getroffen?« Er schien sie zuerst nicht zu verstehen, dann aber lachte er: »Es ist kein Freund, es ist ein früherer Kollege. Er ist bei MBB, und sie entwickeln dort eine interessante Neuigkeit. Die Bayern waren schon immer sehr aktiv, aber jetzt haben sie eine Sache an Land gezogen, die mehr als interessant ist.« »Ist es ein Geheimnis oder darf man fragen, um was es sich handelt?« »Ach Quatsch, ich glaube nicht, daß ich ein Staatsgeheimnis verrate, ich weiß nur nicht, ob es dich interessiert. Es handelt sich um geschäumtes Metall, irgend so eine amerikanische Erfindung. Es sieht aus wie Schaumgummi, nur ist es sehr viel wirkungsvoller. Sie wollen es auf Brand- und Schußfestigkeit testen. Verstehst du?« »Kein Wort!« sagte Hanne Naumann ehrlich. »Das habe ich mir gleich gedacht …«, lachte Lamprecht und wollte nicht weitersprechen. 86
Aber Hanne Naumann dachte an Heske und an Kamphausen, die ja dabei waren, eine neue Industrie auf die Beine zu stellen. Und schließlich hatte sie alle die Protokolle gelesen und geschrieben, die mit dem Kanzleramt gewechselt worden waren. Das sagte sie nicht, aber ihre Neugierde war geweckt. »Und weiter …?!« fragte sie daher den Freund. »Was weiter?« Lamprecht schien mit seinen Gedanken schon woanders zu sein. »Naja, dieses geschäumte Metall … was bewirkt es?« »Ach das meinst du! Es ist ganz einfach. Wenn du beispielsweise eine Panzerplatte hast und mit einem Spezialgeschoß darauf schießt, dann wird das Geschoß möglicherweise die Panzerplatte durchbohren und den Panzer außer Gefecht setzen. Wenn du aber den Panzer innen mit geschäumtem Aluminium auskleidest, dann wird möglicherweise das Geschoß noch immer die Panzerplatte durchbohren. Dann aber wird es sich in dem geschäumten Aluminium verfangen und die Durchschlaghitze wird nun durch die Schäumung auf eine große Fläche ausgedehnt und damit das Geschoß wirkungslos. Verstehst du?« Hanne nickte. »Das leuchtet mir ein!« »Ja und man kann die Wirkung noch erheblich verstärken, wenn man in das geschäumte Aluminium beispielsweise viele tausend kleine Keramikkügelchen einschäumt, dann wird die Ableitung der Hitze noch größer. Im Prinzip ist es ganz einfach, man muß nur darauf kommen …« »Das könnte man ja auch für schußfeste Autos benutzen«, meinte Hanne Naumann. »Natürlich«, Karl Lamprecht winkte die Frage großzügig beiseite, »wenn es funktioniert, kann man vieles damit anstellen. Man kann Benzintanks schußfest machen, Lastwagen, Munitionsdepots, was weiß ich, es ist nicht mein Problem. Aber es hat mich technisch interessiert.« Hanne war jetzt Feuer und Flamme und wollte noch tausend Dinge wissen, aber Lamprecht wollte lieber über näher liegende Dinge sprechen, die sie beide betrafen. 87
Dann, später, fuhren sie über die Lahntalbrücke. Lamprecht seufzte: »In zwei Stunden sind wir in Bonn, ich werde dann mit dem Zug weiterfahren. Bist du so nett und setzt mich am Bahnhof ab?« »Aber Karl, ich bringe dich nach Dortmund …« »Das ist doch Unsinn nach der langen Fahrt. Wenn du etwas für mich tun willst, dann bring mich nach Köln, von dort habe ich alle halbe Stunde einen Zug nach Dortmund.« Sie palaverten noch eine Weile über das Thema, schließlich einigten sie sich darauf, daß Hanne den Freund in Köln absetzen würde. Irgendwo war sie ihm für sein Verständnis dankbar, die Fahrt war doch recht lang gewesen. Als sie den Rhein überquerten und die Türme des Doms auf sie zukamen, wurde Hanne schlagartig bewußt, daß jetzt wieder der Alltag begann. »Wann sehen wir uns wieder. Karl?« fragte sie, und ihre Stimme klang klein und zaghaft. Darüber hatten sie bisher noch gar nicht gesprochen. »Ich weiß es nicht. Jetzt müssen wir ja beide erst wieder einmal arbeiten. Ruf mich übermorgen an, vielleicht kann ich auf einen Sprung nach Bonn kommen, oder wir sehen uns auf halbem Wege.« Hanne hielt vor dem Bahnhof. Karl Lamprecht sprang elastisch aus dem Wagen, öffnete den Kofferraum und holte sein Gepäck heraus. Sie war ausgestiegen, sah ihm traurig zu. Er nahm sie in die Arme und küßte sie ungeniert. »Ich liebe dich«, sagte Hanne Naumann und das meinte sie ernst. »Ja, Hanne und jetzt ab mit dir, ich hasse Abschiedsszenen«, sagte Lamprecht, drückte sie noch einmal an sich, hob dann sein Gepäck auf und verschwand in der Bahnhofshalle, ohne sich noch einmal umzudrehen. Das gab Hanne Naumann einen kleinen Stich in der Herzgegend, aber tapfer klemmte sie sich hinter das Steuer und gab Gas. Als sie auf der Autobahn nach Bonn war, mußte sie auf dem ersten Parkplatz haltmachen. Dann weinte sie hemmungslos. Das also war Glück!? Karl Lamprecht aber hatte etwas Seltsames gemacht. Sobald er in der 88
Bahnhofshalle war, versteckte er sich hinter einem Pfeiler und beobachtete Hanne so lange, bis sie seinen Blicken entschwunden war.
Es war schon dunkel, als Karl Lamprecht seine Wohnung in Dortmund erreichte. Als er die Wohnungstüre aufschloß, hörte er das Telefon klingeln. Es war Hanne Naumann. »Wo warst du denn so lange?« fragte sie, und man hörte ihr die Angst an, die sie um ihn gehabt hatte. Karl Lamprecht lachte: »Aber Schatz, ich war noch auf ein Bier in meiner Eckkneipe, schließlich hatte ich ja viel zu erzählen, und ich habe schrecklich neugierige Freunde …« »Hast du auch von uns …?« fragte sie. »Natürlich, alles, bis ins Kleinste«, sagte er. Hanne Naumann wußte nicht, ob sie sich darüber freuen oder ärgern sollte, hielt es letztendlich dann doch für ein Kompliment und für einen Beweis seiner ehrlichen Absichten. »Am liebsten käme ich morgen nach Dortmund …«, sagte sie. »Und ich nach Bonn!« »Soll ich kommen?« »Bitte nicht morgen«, bat Karl, »laß uns etwas Zeit, wieder in den Alltag zu finden, ja?« »Okay, Liebling. Ach …«, sie stöhnte, »… du fehlst mir so sehr. Aber wir müssen jeden Tag zusammen telefonieren, versprichst du mir das?« »Du willst mich wohl ruinieren?« »Ich rufe dich vom Büro aus an, dann kostet es uns nichts«, scherzte sie. »Du scheinst ja bei einer schönen Firma zu sein und deinen Chef ruinieren zu wollen, Hanne?« »Ich bin doch bei einer Behörde«, sagte sie jetzt zum ersten Mal, »da zahlt es der Vater Staat.« Was würde er erst sagen, wenn er wüßte, daß sie die engste Mitarbeiterin von Heinrich Müller war, dem deutschen Bundeskanzler, dachte sie für einen Moment. Irgendwann mußte sie es 89
ihm ja doch sagen. Aber dann hielt sie ein unbestimmtes Gefühl zurück. Nein, das hatte noch Zeit. Jetzt sollten solche Dinge nicht ihre Beziehungen trüben. »Um Gottes willen – eine Beamtin, und das mir …«, Lamprecht war überrascht. »Nein, keine Beamtin, nur eine kleine Angestellte!« Sie verabredeten eine Zeit, zu der sie am nächsten Tage miteinander telefonieren wollten. Dann die obligaten fernmündlichen Küsse, das allerletzte »Auf Wiedersehen« und dann das Knacken in der Leitung.
Heinrich Müller kam von Schloß Gymnich, wo er mit dem englischen Premierminister, Lord Cunningham, zu Mittag gespeist hatte. Seine Lordschaft hatte sich nach dem Essen zur Ruhe begeben, der Magen war nicht ganz in Ordnung. Die anderen Gespräche führten der Außen- und der Landwirtschaftsminister, was dem Kanzler nur recht war. »Krümel«, sagte er im Vorbeigehen, »mach mir eine Verbindung mit Kamphausen und Heske.« »Ja, Herr Bundeskanzler.« Kamphausen war am Apparat. »Herr Bundeskanzler …?« »Gibt es bei Ihnen schon was zu sehen?« fragte Müller. Er war ein dynamischer, manchmal ungeduldiger Mensch, und wenn es not tat, würde er diesem Kamphausen schon Beine machen. »Wenn Sie ein paar notdürftig eingerichtete Büros, einen Zeichensaal und ein paar tüchtige Konstrukteure im Gespräch interessant finden, dann ja«, meinte Kamphausen. »Wäre es Ihnen recht in einer Stunde? Ich komme mit dem Wagen …« »Selbstverständlich, Herr Bundeskanzler!« Kamphausen wunderte sich zwar über den unvorhergesehenen Besuch, aber Heinrich Müller war für Überraschungen immer gut. 90
»Okay«, Müller sah auf die Uhr. Es war kurz nach zwei. »Erwarten Sie mich gegen drei Uhr.« Er hängte ein. Heske wurde verständigt, schließlich war es sein Ressort. Müller überlegte kurz, ob er Knorr mitnehmen sollte, verwarf den Gedanken aber wieder und rief dafür Hanne Naumann an: »Krümel, Sie müssen mit nach Düsseldorf. Nehmen Sie etwas zum Schreiben mit, vielleicht müssen wir ein paar Notizen machen. Und Kulle soll vorfahren!« Es klappte alles so, wie er sich das vorstellte. Keine unnötigen Fragen, die Abläufe nur verzögerten. Heske war in fünf Minuten da, Kulle stand bereit, ebenso die Eskorte, die die Straßen frei machen würde. Kulle wußte, daß der Kanzler gerne schnell fuhr, und drückte auf den Gashebel. Das Begleitkommando auf den schweren BMWs hatte Spaß an solchen ungeplanten Ausflügen des Kanzlers. Das war immer eine Gelegenheit zu beweisen, was die starken Maschinen aus München hergaben. Nach einer knappen Stunde passierten sie ein Werkstor, an dem nur ein kleines Schild auf die Firma hinwies: ›IndustrieAnlagen AG‹. Das sagte gar nichts. Heinrich Müller registrierte es mit Befriedigung. Kamphausen schien seine Warnungen richtig verstanden zu haben. Sie fuhren an ein paar Werkshallen vorbei, in denen offensichtlich hastig gearbeitet wurde, Schweißlichter blitzten auf, und das Dröhnen von Preßlufthämmern drang nach draußen. Das Verwaltungsgebäude war ein für die Gegend typischer Ziegelbau aus der Jahrhundertwende, der vermutlich keine Bombe des zweiten Weltkriegs wert gewesen war. Der rheinische Geldadel liebte solche Bauten geradezu, Müller kannte das noch aus seiner Zeit bei der ›Neuen Heimat‹ und der ›Bank für Gemeinwirtschaft‹. Kamphausen hatte offensichtlich untertrieben, die Vorzimmer arbeiteten auf Hochdruck, Telefone klingelten, Fernschreiber ratterten, Sekretärinnen huschten eilfertig durch die Räume, kurzum – es herrschte emsiger Betrieb, es wurde etwas getan. Das große Büro Kamphausens war im Gegensatz dazu eine richtige Oase der Ruhe. »Darf ich Ihnen etwas anbieten?« fragte Kamphausen eilfertig, noch bevor seine Gäste Platz genommen hatten. 91
»Für mich einen Cognac und einen Kaffee«, sagte Müller, »und dann einen knappen Bericht über den Stand der Dinge, ich habe nur eine Stunde Zeit!« Kamphausen liebte kurze Vorträge, sie waren seine Spezialität. So berichtete er, daß die früheren Lagerhallen der ehemaligen Kohlenzeche jetzt renoviert und zu Produktionshallen umgebaut würden, daß das Konstruktionsbüro an ersten brauchbaren Entwicklungen arbeite und je nach Geheimhaltungsgrad auch Produktionsstätten unter Tage eingerichtet würden. Er – Kamphausen – denke, daß man damit in runden vier Wochen fertig sein würde, und daß vor allem die unterirdischen Stollen sich hervorragend für Schußversuche eignen würden, die ja zwingend zur Erprobung und Überprüfung der neuen Sicherheitswaffen notwendig waren. Bei dem Wort ›Schußversuche‹ mußte Hanne Naumann an ihren Freund Karl Lamprecht denken und Müller mußte ihr das wohl angesehen haben. »Was ist denn mit Ihnen, Krümel? Sie strahlen ja plötzlich über das ganze Gesicht?« »Darf ich Ihnen das auf dem Rückweg erklären, Herr Bundeskanzler?« fragte Hanne und beugte sich tief über ihren Schreibblock. Sie fühlte sich ertappt, dachte dann aber doch wieder an Lamprecht und die Geschichte mit dem geschäumten Aluminium. Vielleicht war an der Sache was dran? Auf jeden Fall wollte sie Müller und Heske informieren. Heinrich Müller aber war mehr als zufrieden. Dieser Kamphausen war der richtige Mann für die Sache. Insgeheim freute er sich darüber, daß er ihm sofort sein Vertrauen geschenkt hatte, und das eigentlich gefühlsmäßig, wie so oft früher, wenn es um größere Kredite ging. »Wie steht es mit den Finanzen?« fragte er. »Herr von Meiners hat uns einen Zwischenkredit von 250 Millionen eingeräumt, mit dem wir vorerst zeitlich durchkommen, bis die ersten Anlagegelder fließen. Das kostet natürlich Zinsen …«, Kamphausen rieb sich verlegen die Hände, als bäte er für die Zinsen um Entschuldigung. Aber Müller durchschaute ihn. Natürlich würden sich die beiden Herren einen saftigen Teil aus den Zinsen herausschneiden und schon 92
deswegen die ganze Sache als ›eine günstige Anlage‹ nur an Freunde weitergeben. Das förderte die Diskretion. »Haben Sie noch eine Frage, Herr Minister?« fragte Müller dann Heske. Der schüttelte den Kopf, so daß sich der Kanzler erhob und verabschiedete. Beim Hinausgehen stießen sie unter der Türe mit dem Bankier von Meiners zusammen. Offensichtlich war er von Kamphausen alarmiert worden. »Tut mir leid, Herr von Meiners«, sagte Müller, »wir müssen schon wieder. Aber wir werden uns ja nun zwangsläufig öfter sehen …« Meiners wollte eine Frage stellen, aber Müller winkte ab: »Rufen Sie mich im Bundeskanzleramt an. Und möglichst erst übermorgen, ich habe den britischen Premier zu Gast, Sie verstehen?« Meiners knickte in der Hüfte ein. »Ich verstehe!« »Nach Hause«, befahl der Kanzler, als sie wieder bei der Kolonne angelangt waren. Im Wagen sagte Müller dann nachdenklich: »Der Meiners ist ein Untertanentyp. Für Geld würde der jedem in den Arsch kriechen.« Er sah Krümel an. »Du wolltest mir doch etwas sagen? Schieß los.« »Ja, ich möchte Ihnen gerne etwas berichten, Herr Bundeskanzler«, fing Hanne Naumann an. »Was ist denn, Krümel, hast du dich verliebt?« »Das auch, Herr Bundeskanzler. Aber da ist etwas in München …« und sie fing an zu erzählen, von geschäumtem Aluminium, von Schußversuchen, von Hitzeentwicklung und -verteilung, von Keramikkugeln und all den Sachen, die ihr Karl Lamprecht erzählt hatte. Müller und Heske hörten ihr aufmerksam zu. Die Sache schien interessant zu sein. Schließlich fragte der Kanzler: »Und wie heißt dein Freund?« »Karl Lamprecht«, sagte Hanne Naumann verschämt, »er wohnt in Dortmund.« Als die Kolonne das Palais Schaumburg erreicht hatte, fragte Hanne Naumann: »Ob ich heute wohl einmal pünktlich gehen dürfte, Herr Bundeskanzler?« 93
Heinrich Müller lächelte, er verstand ›Krümel‹ gut, sie war verliebt, ein herrliches Gefühl. Und war er nicht auch verliebt? War das Liebe, was Inge Sanders und ihn verband? Er mußte plötzlich angestrengt darüber nachdenken und vergaß zu antworten. »Herr Bundeskanzler …?« Hanne Naumann holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Er schrak zusammen. »Ja, ja, Krümel, okay, geh du nur nach Hause!« Ihr »Danke, Herr Bundeskanzler« hörte er schon kaum mehr. Da war also einer, der ihm ›Krümel‹ ausspannen wollte. Dagegen war nichts zu sagen. Sie hatte ein Recht auf ihr eigenes Leben. Aber einen Tag ohne ›Krümel‹ konnte er sich schon gar nicht mehr vorstellen. Sie hatte seine Karriere hautnah miterlebt, sie hatte jeden Vorgang im Kopf, sie kannte die meisten Zusammenhänge, so daß man ihr nichts erklären mußte, im Gegenteil, oft mußte er sie fragen, wenn er etwas vergessen hatte, und sie wußte immer im voraus, was zu tun war. Sie war auch nie unzufrieden, meckerte nicht, wenn es Überstunden oft bis spät in die Nacht hinein gab, hatte Spaß an ihrer Arbeit und an seinen Erfolgen, was sie ehrlich und offenen Herzens zeigen konnte. Und das gab ihm Auftrieb. Und nun kam da irgendein Herr Lamprecht aus Dortmund, der ihm diese Ordnung stören wollte. Heinrich Müller redete sich ein, daß das, was er nun in Bewegung setzte, nur zum Besten von Hanne Naumann sei. Dabei war es mehr als nur ein Quentchen Eifersucht, es war Neid. In seinem Büro rief er nach Inge Sanders. »Frau Staatssekretärin, ich darf Sie bitten, mir diesen Beamten vom Verfassungsschutz zu rufen, wie hieß er noch gleich …?« »Herr Regierungsdirektor Doktor Pöhlmann, meinen Sie den, Herr Bundeskanzler?« »Richtig, den meine ich …« »Haben wir Ärger, Herr Bundeskanzler?« Müller sah sie erstaunt an: »Ärger? Nein. Eher ein Fall von Glück. Aber wenn es geht, wollen wir Ärger machen!« Die Sanders verstand ihn nicht, aber sie kannte Heinrich Müller inzwischen zu gut, um nicht zu wissen, daß seine sybillinischen Wor94
te nur sagen wollten: »Laß mich in Ruhe, ich will dich mit der Sache nicht belasten.« »Wann wollen Sie Herrn Doktor Pöhlmann sprechen, Herr Bundeskanzler?« »Sofort!«
Pöhlmann kam nach einer halben Stunde. Er hatte zwar schon Dienstschluß, aber schließlich wurde man nicht jeden Tag zu seinem Kanzler gerufen, und irgendwo erfüllte es ihn mit Stolz, daß Müller sich überhaupt noch an seinen Namen erinnerte. Devot blieb er an der Türe stehen. Müller rief nach Frau Sanders, dann, als sie eingetreten war, machte er eine einladende Geste zu der großen, bequemen Sitzecke seines Amtszimmers. »Frau Staatssekretärin, ich darf Ihnen Herrn Doktor Pöhlmann vom Verfassungsschutz vorstellen …« »Wir kennen uns schon, Herr Bundeskanzler«, Inge Sanders lächelte fein und erinnerte sich daran, wie plump gerade dieser Doktor Pöhlmann ihre Überwachung durchgeführt hatte. Sie hielt nicht viel von dem jungen Karrierebeamten, aber wie es so war, nickte sie ihm freundlich zu. »Herr Pöhlmann«, sagte Müller und ließ bewußt den akademischen Titel weg. Da war immer etwas wie Neid in ihm, wenn irgend so ein Akademiker ihm gegenüber saß, der nur deswegen einen Doktortitel hatte, weil seine Eltern genug Geld gehabt hatten, ihn studieren zu lassen. In solchen Momenten mußte er oft daran denken, was aus ihm geworden wäre, wenn er Jurist oder Mediziner geworden wäre. Und befriedigt stellte er dann stets wieder fest: Bestimmt nicht Bundeskanzler. »Ja, Herr Pöhlmann«, fing er noch einmal an, »ich möchte Sie um eine vorsorgliche Recherche bitten. Wie soll ich es Ihnen sagen? Meine erste Sekretärin, die ›Krümel‹, das Fräulein Naumann, hat sich ver95
liebt. Das ist eigentlich alles und das ist natürlich nicht verboten. Aber sie ist jetzt fast zwanzig Jahre bei mir und natürlich kennt sie viele Vorgänge und Zusammenhänge. Ich möchte nicht, daß sie in schlechte Gesellschaft gerät. Sie verstehen?« Pöhlmann saß aufrecht auf der Sesselkante und hatte aufmerksam gelauscht. In seinem Kopf kreisten die tollsten Gedanken. Diese Naumann in den Armen eines Ostspions und er, der Regierungsdirektor Dr. Pöhlmann, deckte die Sache auf. Das mußte seiner Karriere einen mächtigen Schubs nach oben geben. Er fragte diensteifrig: »Wer ist der zu Observierende, Herr Bundeskanzler?« »Ein gewisser Karl Lamprecht in Dortmund, ein Ingenieur oder so etwas.« »Karl Lamprecht.« Pöhlmann machte sich Notizen. »Die Sache ist sehr eilig!« mahnte Müller. »Bericht so schnell wie möglich.« »Jawohl, Herr Bundeskanzler!« Der Regierungsdirektor Dr. Pöhlmann raffte seine Papiere zusammen, sprang auf und verabschiedete sich mit einer knappen Verbeugung: »Guten Abend!« Inge Sanders brachte ihn bis zur Tür, dann rief Müller sie zurück: »Frau Staatssekretärin …!« »Herr Bundeskanzler …?« Inge Sanders schloß hinter dem Beamten die Tür. »Gib uns zwei Cognacs«, bat Müller und war plötzlich wie umgewandelt, charmant und gelockert. »Meinst du, ich habe mit ›Krümel‹ einen Fehler gemacht? Ich weiß, was du denkst, Inge. Aber die ›Krümel‹, die war für mich all die vielen Jahre so selbstverständlich wie Essen und Trinken. Und jetzt fängt sie auf ihre alten Tage plötzlich an auszunippen. Da hat so ein Mädchen es plötzlich eilig und kriegt Torschlußpanik. Sie will bestimmt heiraten, ich kenne sie!« Müller hatte sich in Rage geredet und sprang auf, lief mit großen Schritten über den großen, kostbaren Teppich. »Vielleicht habe ich sie in den letzten Monaten auch einfach zu wenig beachtet. Aber ich gebe ihr doch einen Zuschuß zu ihren Klamotten und zum Friseur. Und besser als bei mir kann sie es doch gar nicht haben! 96
Sie sitzt im Kanzleramt – wie viele Mädchen würden sich nach diesem Job die Finger lecken? Zehntausend!« Er schrie es fast. Inge Sanders kannte den Kanzler und kannte Hanne Naumann. Sie wußte, daß er nur Angst hatte, eine zuverlässige Mitarbeiterin zu verlieren, und daß er alles daran setzen würde, das Verhältnis zwischen ›Krümel‹ und Lamprecht zu zerstören. Sie war nicht gerade eine Freundin von Hanne Naumann, aber unbestreitbar war, daß ein Heinrich Müller ohne ›Krümel‹ nur die halbe Miete wert war. Dafür war das Mädchen wirklich zu tüchtig. Darum machte sie einen typisch weiblichen Vorschlag, der sein Selbstbewußtsein wieder aufrichtete und ihm zugleich Hanne Naumann erhielt. »Warum machst du sie nicht zu deiner persönlichen Referentin und gibst ihr einen Fünfjahresvertrag – dann kann sie mit diesem Herrn Lamprecht machen, was sie will!« Müller schaute sie verblüfft an. »Hm –«, sagte er gedehnt, »und was ist dann, wenn ich sie zur persönlichen Referentin mache?« »Es ändert sich gar nichts. Sie bleibt weiter in deinem Vorzimmer, bekommt eine ordentliche Gehaltszulage, wird noch mehr arbeiten als bisher und entweder diesen ominösen Herrn Lamprecht heiraten oder auch nicht, dich braucht es nicht zu kratzen!« Heinrich Müller erinnerte sich an die kurze Zeit als Personalchef bei der ›Neuen Heimat‹. Seine stereotype Frage bei Neueinstellungen von weiblichen Angestellten war immer gewesen: »Sind Sie schwanger? Sie wissen, daß Sie mir dies jetzt mitteilen müssen!« Die Frage hatte rein arbeitsrechtliche Gründe, aber sie kam ihm eben jetzt in den Kopf. »Und wenn sie ein Kind bekommt?« Inge Sanders lachte. »Sie ist sechsunddreißig und wird sich das sehr gründlich überlegen, wenn du ihr eine entsprechende Karriere in Aussicht stellst!« Müller beugte sich über Inge Sanders und küßte sie auf die Stirn. »Wenn ich dich nicht hätte …« Es blieb offen, was er damit sagen wollte. Aber Inge Sanders faßte es als Kompliment auf.
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Innerhalb von einer Stunde hatte Dr. Pöhlmann Karl Lamprechts Kennblatt aus der Zentralen Datenkartei erhalten. Dann fuhr er persönlich nach Dortmund, um sich der Sache Lamprecht anzunehmen. Dieses Bonbon überließ er keinem kleinen Beamten. Es war für ihn keine Schwierigkeit herauszufinden, daß Lamprecht in der Bochumer Straße 32 wohnte, eine Zweizimmerwohnung hatte, Bergbau-Ingenieur und geschieden war. Die Ortspolizeibehörde war dem Kollegen aus Bonn behilflich. Auch die Adresse von Berta Lamprecht in Düsseldorf wurde ihm als Zusatz-Information noch zugesteckt. Wo Lamprecht herkam? Ah ja, auch das war registriert. 1946 in Dresden geboren, Schule in Berlin-Ost, Studium einschließlich Examen in Clausthal-Zellerfeld, kurz vor dem Berliner Mauerbau nach dem Westen geflüchtet. Heirat 1969 in Dortmund und dort auch seit zwanzig Jahren bei ein und derselben Firma durchgehend beschäftigt. Pöhlmann hatte schon Morgenluft gewittert, als er hörte, daß Lamprecht aus der DDR kam, eine Hoffnung, die allerdings bald zusammenbrach, als er überlegte, daß dies zum übrigen Lebenslauf nicht passen wollte. Er hatte vor Jahren einmal einen Lehrgang über die Methoden des Staats-Sicherheits-Dienstes der DDR mitgemacht und erinnerte sich dunkel daran, daß der Stasi oft Agenten in die Bundesrepublik einschleuste, die erst nach Jahren oder gar Jahrzehnten zum Einsatz kamen. Pöhlmann tat also ein übriges und erkundigte sich nach möglichen Ostkontakten des Lamprecht. Aber da konnte man ihm in Dortmund nicht dienen und er machte sich eine Notiz, um rein vorsorglich die anderen Informationsquellen abzufragen. Vorstrafen lagen auch keine an. Lamprecht hatte einige Erfindungen gemacht, seine Steuern relativ pünktlich bezahlt, einmal sogar einen Prozeß wegen eines Plagiats vor dem Landgericht geführt und gewonnen, aber das war schließlich nichts Belastendes. Aufmerksam wurde Pöhlmann, als er hörte, daß Lamprecht eines der ersten Mitglieder der Neuen Partei in Dortmund war und dort auch dem Ortsvorstand angehörte. Das sprach für ihn, denn das war immerhin die Partei des Kanzlers. Der Regierungsdirektor Dr. Pöhl98
mann beschloß nach Kenntnis all dieser Dinge, den Stier bei den Hörnern zu packen. Er ging zu der Firma Lamprechts, einem mittelständischen Unternehmen, ließ sich dem Chef vorstellen und wies sich als Mitarbeiter des Verfassungsschutzes aus. Ob Lamprecht irgendwie im Betrieb aufgefallen sei, wollte er wissen, bei Arbeitskämpfen, als Provokateur oder sonstwie? Das wurde verneint. Die übrigen Auskünfte waren hervorragend. Pöhlmann ging unbefriedigter als vorher. Aber der Chef ließ sofort, nachdem Pöhlmann gegangen war, Lamprecht zu sich bitten. »Karl«, fragte er, »da war so ein Kerl da vom Verfassungsschutz, der wollte alles mögliche über dich wissen. Kannst du dir einen Reim darauf machen?« »Ja, das kann ich«, meinte Lamprecht und erzählte die Geschichte mit dem Mädchen Hanne Naumann, die aus dem letzten Urlaub stammte. »Sie ist bei einer Behörde in Bonn beschäftigt und wahrscheinlich werden ihre Verhältnisse überprüft …« »Und was ist an der Geschichte dran?« »Wenn sie will, werde ich sie heiraten, Chef«, lachte Lamprecht. »Daß du mir deswegen bloß nicht untreu wirst, Karl!« mahnte der Chef, aber er war beruhigt, als Lamprecht nur amüsiert lachte. Pöhlmann hatte inzwischen einen gewissen Rechtsanwalt Brauer aufgesucht, den Ortsvorsitzenden der Neuen Partei. Auch ihm stellte er einige – seiner Meinung nach – unverfängliche Fragen. Aber Brauer lachte ihn aus. »Sie sind vom Verfassungsschutz – oder?« fragte er, und Dr. Pöhlmann zog beschämt ab. Also gab es über Lamprecht eigentlich nichts Negatives zu berichten. Sicherheitshalber fragte der Regierungsdirektor noch die einschlägigen Computer des Bundeskriminalamtes, des Militärischen Abschirmdienstes, der Polizei und der Sicherungsgruppe Bonn ab, ließ alle erreichbaren Daten auch von Heskes Sicherheitsministerium noch einmal überprüfen, dann aber setzte er sich hin und schrieb seinen Bericht. Zugleich begrub er insgeheim die Hoffnung, hier endlich den Fall seines Lebens in der Hand gehabt zu haben. Zu all dem hatte er knapp zwei Tage benötigt. Die vertrauliche Vorlage leitete er persön99
lich der Staatssekretärin Dr. Inge Sanders zu, die sie aufmerksam studierte und sie für so wichtig hielt, daß sie den Kanzler um ein baldiges Gespräch bat. Und da dies nur sehr selten und nur in ganz wichtigen Fällen geschah, bat Heinrich Müller sie sofort zu sich. Kaum waren die schalldichten Doppeltüren hinter Inge Sanders geschlossen, fragte sie direkt: »Haben Sie schon mit Fräulein Naumann gesprochen, Herr Bundeskanzler?« Müller sah interessiert auf. »Nein, was gibt es denn?« Inge Sanders reichte ihm den Bericht von Pöhlmann. »Ich fürchte, wir müssen schnell handeln. So wie diese Akten aussehen, ist dieser Herr Lamprecht ein nach Maß geschneiderter Heiratskandidat für Hanne Naumann.« Hätte Pöhlmann gesehen, wie der Kanzler jetzt nicht nur wohlwollend, sondern auch anerkennend seine Observierungs-Ergebnisse studierte, wäre auch ihm warm ums Herz geworden. »Gute Arbeit, Frau Staatssekretärin, was sagen Sie?« Inge Sanders konnte das nur bestätigen. »Wir wollen uns diesen, äh – wie heißt er doch …«, er sah auf den Aktendeckel, »… Doktor Pöhlmann merken. Er ist schnell und gewissenhaft und hat – soweit ich das beurteilen kann – nichts vergessen.« Er reichte Inge den Akt zurück. »Haben Sie die Freundlichkeit und legen Sie den Vorgang in Ihren Panzerschrank. Ich möchte, daß er streng geheim behandelt wird. ›Krümel‹ darf nie etwas davon erfahren. Ich möchte jetzt den Personalchef sprechen!« »Sehr wohl, Herr Bundeskanzler«, Inge ging und schickte den Ministerialdirigenten Zins zum Kanzler, der für die Personal-Angelegenheiten im Kanzleramt verantwortlich war. Das Gespräch mit Zins dauerte nur wenige Minuten. Heinrich Müller informierte ihn kurz über seine lange Zusammenarbeit mit Hanne Naumann, erläuterte seinen Plan, sie zu seiner persönlichen Referentin zu machen und ihr einen Fünf-Jahres-Vertrag zu geben. Zins überlegte kurz. »Warum übernehmen wir Fräulein Naumann nicht ins Beamtenverhältnis, das ist doch eine viel stärkere Bindung?!« Natürlich wußte er, daß ›Krümel‹ die rechte Hand von Müller war, wenn man so 100
sagen durfte. Und der Kanzler würde seine Gründe haben, sie noch enger an sich zu binden. Außerdem war Zins auch Mitglied der Neuen Partei, wenn er dort auch nie aktiv geworden war. Als Beamter mußte man sich zurückhalten. »Was kann sie werden?« fragte Müller, »sie hat kein Abitur!« »Ich könnte mir vorstellen, daß bei der besonderen Stellung von Fräulein Naumann und der von ihr zu tragenden Verantwortung eine Anfangseinstufung – ausnahmsweise natürlich – als Regierungsrätin möglich wäre …« Zins beobachtete seinen Kanzler genau, die Antwort schien diesem zu gefallen. »Wie lange dauert das?« fragte Heinrich Müller. Zins dachte nach. Da waren schon einige Voraussetzungen erforderlich, und bis der ganze Papierkram erledigt war, das dauerte auch. Außerdem kam die besondere Situation der Naumann dazu, kein Abitur und dann gleich die gehobene Laufbahn? Fast tat es ihm schon leid, daß er den Vorschlag gemacht hatte. So versuchte er Zeit zu gewinnen: »Fünf bis sechs Monate, Herr Bundeskanzler!« »Soviel Zeit haben wir nicht, Herr Zins«, sagte Müller. »Sie könnten eine außerplanmäßige Ernennung anordnen, Herr Bundeskanzler. Wir würden Fräulein Naumann als Regierungsrätin führen, als außerordentliche gewissermaßen, bis wir die Formalien durchgeführt haben …« Heinrich Müller nickte zustimmend. »So wollen wir es machen. Ich werde jetzt mit Fräulein Naumann reden, und wenn sie einverstanden ist, rufe ich Sie an. Ich will im positiven Falle, daß die Sache von Ihnen schnellstens über die Bühne gebracht wird.«
Zins war entlassen, Hanne Naumann wurde gerufen. Sie kam mit Stenoblock und Bleistift und mit strahlenden Augen. Eben erst hatte sie mit Karl Lamprecht gesprochen, und es war ein gutes Gespräch gewesen. Heute abend würden sie sich sehen. »Setz dich, Krümel«, sagte Müller und drängte sie fast in die Be101
sprechungsecke. Dann ging er selbst zu dem schweren Mahagonischrank, holte die Flasche Rémy Martin und zwei Gläser, schenkte ein, befahl fast barsch: »Leg den Schreibkram zur Seite, ich muß mit dir reden!« Das waren Worte wie in alten Zeiten, als sie noch Seite an Seite gekämpft und oft um den Erfolg gebangt, manche Wurststulle aus Heißhunger miteinander geteilt und mitunter bis vier Uhr morgens gearbeitet hatten, um pünktlich um acht wieder am Schreibtisch zu sitzen, so, als wenn nichts gewesen wäre. Die Worte paßten zu Hanne Naumanns Stimmung. »Prost«, sagte der Kanzler und hob das Glas. »Wie lange sind wir jetzt zusammen, Krümel?« »Das müssen bald zwanzig Jahre sein, Herr Bundeskanzler!« »Laß jetzt mal den Bundeskanzler weg und sieh in mir den Heinrich Müller, mit dem du jetzt seit zwanzig Jahren arbeitest. Ich glaube, wir beide müssen uns gegenseitig nichts vormachen. Ich meine, ich weiß alles von dir und du weißt bestimmt alles von mir …« ›Krümel‹ nickte bestätigend. So unrecht hatte er da nicht. Sie ahnte, daß er etwas mit der Sanders hatte. Aber das interessierte sie kaum. Dafür wußte sie um alle Strömungen in der Partei, im Kabinett und im Parlament, und da hatte sie Müller schon manchen guten Tip geben können. Ähnliches dachte wohl auch Heinrich Müller, und dann sagte er ihr, daß er ihre langjährigen treuen Dienste belohnen wolle und deshalb darüber nachgedacht habe, wie er das wohl am besten tun könnte. Und da sei ihm halt eingefallen, sie zur Beamtin zu machen und zu seiner persönlichen Referentin. Das würde ihr Sicherheit bis ans Lebensende geben. »Man weiß ja nie, was noch alles kommen kann.« Und so hätte er sich das gedacht. Fast barsch sagte er: »Ab morgen bist du Regierungsrätin, Krümel!« ›Krümel‹ lachte unwillkürlich. Sie war nicht dumm und sie wußte, daß sie bei ihrer Vorbildung normalerweise nie in die gehobene Beamtenlaufbahn gekommen wäre. Und da sie eins und eins zusammenzählen konnte, kombinierte sie richtig, daß die Vorgespräche mit der 102
Sanders und dem Zins damit zu tun gehabt haben mußten. Die Inge Sanders hatte sie immer ein bißchen beneidet und sie als Rivalin empfunden. Aber wenn die sich für sie eingesetzt hatte, sollte sie es nicht bereuen. Ganz kurz dachte sie auch an Karl Lamprecht. Was der dann sagen würde, wenn sie plötzlich frischgebackene Regierungsrätin war? Sie hoffte, ihm damit zu imponieren. Und eigentlich gab das den Ausschlag. Und die nüchterne Überlegung, daß sie ein solches Angebot wahrscheinlich nur einmal bekommen würde. »Bis du einverstanden, Krümel?« bohrte Müller. »Aber klar, Herr Bundeskanzler!« Hanne Naumann lachte offen und ehrlich. Sie freute sich aus ganzem Herzen. Ihre Sterne mußten gut stehen, so wie sich die Dinge in den letzten Wochen entwickelten. Draußen im Vorzimmer, das sie mit Klara Werner teilte, gab sie eine Flasche Sekt aus, die Kulle aus dem Casino holte. »Gibt es was zu feiern?« fragten Kulle und die Werner. »Ja«, sagte sie und schenkte ein. »Na, und was?« »Das sage ich nicht, ätsch«, lachte ›Krümel‹ und streckte, gar nicht würdevoll, die Zunge heraus. Solche Dinge mußte man für sich behalten, bis sie hochoffiziell bekanntgemacht wurden.
Im Parlament hatte es eine heftige Debatte über die Vorlage 412-1989 gegeben. Der Kanzler hatte zuvor eine Regierungserklärung abgegeben, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ und klar machte, daß die Fraktion der Neuen Partei einstimmig für das neue Sicherheitsprogramm der Regierung stimmen würde. Wie erwartet, hatten Dr. Aigner von der CDU/CSU und Altbundeskanzler Schmidt, aber auch die wirtschaftspolitischen Sprecher dieser Parteien heftige Argumente gegen die Vorlage in die Debatte geworfen. Werner Ladiges wurde als der zuständige Finanzminister gefragt, ob er dieses Programm dem Haushalt gegenüber verantworten könne. Und als er kurz ans Rednerpult trat und jedermann ihm ansah, wie 103
schwer es ihm fiel, zu dieser Frage Stellung zu nehmen und er sich mit der Auskunft: »Das Kabinett hat die Vorlage einstimmig gebilligt«, aus der Schlinge zog, da war dem hohen Hause klar, daß Heinrich Müller eine weitere Schlacht gewonnen hatte. Natürlich debattierten die Finanzexperten noch lange darüber, wie das Programm finanziert werden sollte. Und die Regierung wich einer klaren Antwort aus. Da aber alle Parteien Präsenzpflicht angeordnet hatten und das Haus vollzählig versammelt war, gab es am Abstimmungsergebnis keinen Zweifel. Mit sechzig Stimmen Mehrheit wurde die Vorlage der Regierung angenommen. Heske hatte freie Hand, die notwendigen Maßnahmen einzuleiten. Dieter Knorr legte Heinrich Müller einen Zettel auf die Regierungsbank. ›Helmut Rohloff will ein Exklusivinterview, wir haben ihm das versprochen.‹ Der Kanzler nickte. Er warf noch einen Blick über den bis zum letzten Platz gefüllten Plenarsaal und kostete seinen Triumph aus. Auf den Rängen sah er die Spitzen des Diplomatischen Corps, und auch das gehörte zu seinem Plan, daß möglichst noch heute die Nachricht über die Verabschiedung dieser Vorlage durch die ganze Welt ging. Er sah die Spitzen der Bundeswehr und der Ministerien, die Vertreter der Parteien, soweit sie nicht Abgeordnete waren, und die Vertreter der Kirchen. Die Gewerkschaften waren mit ihren Spitzenmanagern da und auch die Industriebosse. Heinrich Müller war zufrieden. So hatte er sich die Debatte und die Abstimmung vorgestellt. Auf dem Wege zur Bundes-Pressekonferenz hatte er Gelegenheit, mit Dieter Knorr zu sprechen. Der hatte seine Scouts überall gehabt. »Wie ist die Stimmung?« fragte er. »Bei der Presse etwas skeptisch. Sie glauben nicht an das Funktionieren des Planes und zweifeln an der Möglichkeit, daß wir die Finanzierung glatt über die Bühne kriegen. Auch die Arbeitgeber jubeln nicht gerade. Vollbeschäftigung bedeutet für sie stärkere Forderungen der Gewerkschaften. Du weißt das ja. Aber ich will nicht sagen, daß die allgemeine Stimmung schlecht ist, nur skeptisch …« 104
Sie waren im Tulpenfeld angekommen, wo die Bundes-Pressekonferenz ihren Sitz hatte. »Wann sehe ich Rohloff?« fragte Müller noch leise. »Anschließend zum Essen im Kanzleramt.« »War das nötig?« »Wir werden ihn nötig haben, Henry!« »Okay, das kannst du besser beurteilen als ich.«
Die Journalisten wollten den Kanzler ›in die Mangel‹ nehmen, wie sie es nannten. Aber Heinrich Müller war auf diesem Sektor ein viel zu alter Fuchs, als daß er sich hätte in die Enge treiben lassen. »Wie Sie wissen, meine Herren, fliege ich noch heute in die Vereinigten Staaten und werde dort Präsident Richard Taylor treffen. Ich denke, daß ich Ihnen nach meiner Rückkehr ausführlichere Auskünfte geben kann als heute.« Einige lachten laut, ein paar oppositionelle Blätter meldeten sich mit einem vernehmlichen »Hört, hört!«, aber für Heinrich Müller war die Sache gelaufen und so wie die Dinge lagen, war sie gut gelaufen. Kulle stand mit dem Mercedes bereit, um ihn ins Kanzleramt zu fahren. Inge Sanders hatte ein ganz intimes Essen zu viert vorbereitet, für Helmut Rohloff, den Kanzler, Knorr und sich selbst. Rohloff war schon einige Minuten vor dem Kanzler eingetroffen und labte sich an einem trockenen Martini-Cocktail. Rohloff galt als einer der intimsten Kenner der Bonner Szene. Er war erst in den letzten drei Jahren zum Fernseh-Polit-Star aufgestiegen. Dafür strahlte sein Stern um so heller. Die Leute draußen – die Zuschauer auf dem flachen Land – mochten ihn wegen seiner Respektlosigkeit, mit der er auch höchstgestellte Persönlichkeiten zu interviewen pflegte. Das hatte er als langjähriger ARD-Korrespondent in Washington gelernt, ohne sich dort je in den Vordergrund gedrängt zu haben. Aber dafür hatte er um so intensiver Fragemethoden und Verhaltensweisen seiner amerikanischen Kollegen studiert. Er war vom Start 105
weg ein Renner, und die Anstalten überboten sich gegenseitig, ihn von Köln und Bonn wegzuengagieren. Aber sie hatten alle auf Granit gebissen. Rohloff wußte genau, daß sein Metier die Politik war und nicht nur die deutsche Politik. So saß er im Studio Bonn genau richtig, gefürchtet und geachtet, des Beifalls der Massen gewiß. Und wer sich seinen Fragen zu stellen hatte, mußte immer mit Überraschungen rechnen. Heinrich Müller war bisher noch nicht von Rohloff interviewt worden. Aber jetzt schien es auch für ihn ernst zu werden. Man setzte sich zwanglos, und Müller ließ erst gar keine gezwungene Stimmung aufkommen. »Ich freue mich, Sie als Gast zu haben, Herr Rohloff«, er löffelte die hervorragende Krebsschwanzsuppe, »ich hoffe, wir haben Ihren Geschmack getroffen?« »Bei einer so reizenden Gastgeberin wie Frau Staatssekretärin Doktor Sanders ist das keine Frage, Herr Bundeskanzler«, replizierte Rohloff. Aber er war auch kein Mann, der lange Umwege machte. »Sie fliegen heute nach Washington. Ich werde das Vergnügen haben, Sie zu begleiten, Herr Bundeskanzler. Ich nehme an, Sie suchen für Ihr – immerhin etwas ausgefallenes Sicherheitsprogramm – die Zustimmung der Vereinigten Staaten. Darf ich fragen, was Sie mit diesem etwas ausgefallenen Plan, den Sie heute im Parlament durchgesetzt haben, erreichen wollen?« Die geräucherten Forellenfilets wurden aufgetragen. Heinrich Müller wußte, daß er Rohloff nichts vormachen konnte. Der Mann war ihm nicht gerade sympathisch, aber er war ein kluger Kopf und hatte durch seine Sendungen einen nicht zu unterschätzenden Einfluß. »Für die Bundesrepublik will ich damit Vollbeschäftigung erreichen und für die Welt und unsere Verbündeten erhöhte Sicherheit für Leib, Leben und Eigentum.« Rohloff lächelte fein, während er die Gabel zum Mund führte. Während er kaute, legte er sich die nächste Frage zurecht. Er mochte diesen Müller. Und er schätzte ihn als Mann ein, der auch einen kräftigen Schlag vertragen konnte. 106
»Wie ich die Dinge sehe, ziehen Sie so eine neue Form von Arbeitsdienst auf. Das hatten wir ja schon einmal, und den damaligen Machthabern ist es ja – wenn auch nur vorübergehend – gelungen, die Arbeitslosen von der Straße und aus den Kneipen zu holen. Aber Deutschland hat das teuer bezahlen müssen. Ich verstehe Aigner und Schmidt von der Opposition, wenn sie fragen, wie der Plan finanziert werden soll. Und Ihr Finanzminister Doktor Ladiges – den ich im übrigen sehr schätze – machte ja nun auch nicht gerade das glücklichste Gesicht, als er zugeben mußte, daß auch er der Vorlage zugestimmt hat. Was also steckt dahinter, wie haben Sie Ladiges herumgekriegt?« Knorr machte ein erschrockenes Gesicht, Inge Sanders schenkte Wein nach, bis Müller ihr elegant die Flasche aus der Hand nahm. Das hier war ein Duell und er war bereit, es auszufechten. Er hatte keine Angst vor Rohloff, nur wußte er noch nicht, wie er ihn packen sollte. Aber wie so oft in solchen Situationen wurde er eiskalt und sein Verstand arbeitete auf Hochtouren. Dieser Rohloff war ein Mann, an dem man sich messen konnte. Und Heinrich Müller wagte sich weit vor, als er sich entschloß, mit der ganzen Wahrheit herauszurücken. Er war sicher, daß er nur damit Rohloff gewinnen konnte. Denn was wollte der Moderator denn? Er wollte doch das gleiche wie Heinrich Müller auch: Macht! Und Macht, wie sie beide sich das vorstellten, bestand aus verschiedenen Komponenten – Einfluß, Geld, Informationen und Intrigen. »Ich habe Doktor Ladiges – meinen Parteifreund – nicht herumgekriegt, wie Sie es auszudrücken beliebten. Es waren Freunde von ihm, enge Freunde!« »Sie meinen Rüdiger von Meiners, Herr Bundeskanzler?« »Das haben Sie gesagt, Herr Rohloff!« »Eine interessante Perspektive, Meiners tut alles für Geld. Aber das gibt mir noch keinen Reim!« »Muß es das, Herr Rohloff?« »Besser jetzt, als wenn ich Ihnen diese Frage vor der Kamera stelle, Herr Bundeskanzler!« Der erste Zug war an Rohloff gegangen, darüber bestand kein Zweifel. 107
»Wann wollen Sie die Sendung machen?« »Sobald Sie von Ihrer Reise zurück sind, Herr Bundeskanzler. Vielleicht aber auch schon in Washington. Wir können das absprechen, Herr Bundeskanzler!« Das war ein erstes Friedensangebot, Rohloff tastete sich an sein Opfer heran. Müller beobachtete ihn, wie er aß, wie er seine Fragen so fast nebenbei stellte, wie er auf die Antwort lauerte und wie er jedes Wort unvergessen speicherte. Er wußte, daß er Farbe bekennen mußte, wenn er sich Rohloff nicht zum Feind machen wollte. »Darf ich das als ein vertrauliches Gespräch betrachten, Herr Rohloff?« zog er eine vorläufige Grenze. Dann schwiegen sie, während Inge Sanders die Steaks servierte. Rohloff nahm die schwere Hornbrille ab und kaute an einem Bügel. Er wußte, daß Müller ihn erst einmal in die neutrale Ecke abschieben wollte. Aber wenn er exklusive Informationen aus erster Hand haben wollte, mußte er auf die Bedingung wohl eingehen. »Einverstanden, Herr Bundeskanzler!« Er legte die Brille beiseite und schnitt eine Scheibe des saftigen, immer noch blutigen Steaks ab. Die zweite Runde gehörte dem Kanzler. »Dieter Knorr wird Ihnen Einsicht in einige Unterlagen geben, die streng vertraulich und geheim sind. Sie sehen, ich bin offen zu Ihnen. Sie werden dort Dinge erfahren, die es Ihnen leichter machen, die Zusammenhänge zu verstehen. Wenn Sie diese Vorgänge kennen, werden wir es auch leichter haben, uns vor der Kamera zu unterhalten. Und ich lege Wert auf dieses öffentliche Gespräch, Herr Rohloff.« Rohloff schob seinen Teller zurück. »Wir werden die Sendung ›Unter vier Augen‹ auf jeden Fall zusammen machen«, sagte er, »und ich bedanke mich für das Vertrauen, das Sie mir entgegenbringen, Herr Bundeskanzler.« Er setzte die Brille wieder auf die Nase, bevor er fortfuhr: »Wann werden Sie sich scheiden lassen, Herr Bundeskanzler?« Das war ein Tiefschlag. Für einen Augenblick wurde es sehr still. Dann räusperte sich der Kanzler. »Meinen Sie nicht, Herr Rohloff, daß Sie etwas zu sehr in meine Intimsphäre gehen?« 108
Rohloff senkte bestätigend den Kopf. »Doch, das denke ich schon. Aber ich will meinen Zuschauern ja den Menschen Heinrich Müller vorstellen und nicht den computergesteuerten Funktionär. Auch ein Bundeskanzler hat ein Recht auf ein glückliches Leben. Das war in keiner Weise aggressiv gemeint.« »Und wie kommen Sie auf Ihre – hm – seltsame Frage?« »Ich hatte einen Rechercheur in Puerto de la Cruz, und er hat mit Ihrer Frau Gemahlin einige Male Bridge gespielt. Danach hatte er nicht das Gefühl, daß Sie sonderlich vermißt werden. Eher könnte man sagen, daß Ihre Frau für eine Scheidung vielleicht dankbar wäre.« »Wie nett von Ihnen, Herr Rohloff.« Rohloff zuckte die Achseln. »Es steht mir nicht zu, Ihnen Ratschläge zu geben, Herr Müller. Aber ich kann Ihnen aus erster Hand berichten, was Ihre Frau vielleicht noch nicht einmal Ihnen sagen würde. Ihr gehen die Sicherheitsbeamten auf die Nerven, die pausenlose Begleitung, die ewige Überwachung bei jedem Schritt, den sie tut.« »Ach –«, sagte der Kanzler und bemühte sich, Inge nicht anzuschauen. »Ja. Sie hat da unten in der Sonne einen kleinen Kreis guter Freunde gefunden, Menschen in ihrem Alter und mit ähnlichen Problemen, wie sie sie selbst hat. Dazu hat sie ihren Garten, ist in den Wechseljahren – mit Verlaub gesagt – und vermißt ihren Mann eigentlich nur deswegen, weil sie mit ihm verheiratet ist.« Rohloff sah den Kanzler fast beschwörend an. »Elfriede Müller, Herr Bundeskanzler, können nur Sie glücklich machen. Und den größten Gefallen tun Sie ihr, wenn Sie sie wieder Mensch sein lassen. Ein einfacher Mensch unter anderen Menschen und nicht die Frau des deutschen Bundeskanzlers. Kurz gesagt, sie ist nicht mit Ihnen gewachsen. Ihr Amt ist ihr fremd, die Belastungen, die damit verbunden sind, sind ihr lästig. Ich meine, daß Sie daraus die Konsequenzen ziehen sollten.« »Das sind eine Menge interessanter Informationen, Herr Rohloff …«, sagte Heinrich Müller. »Tut mir leid – aber in gewisser Weise fühle ich mich verpflichtet, sie Ihnen mitzuteilen.« Rohloff beugte sich vor. »Und es sind Informatio109
nen, die Sie nicht haben können, denn Ihre Gattin würde sich nicht einmal im Schlaf trauen, zu Ihnen so zu sprechen. Sie sollten mir eigentlich dankbar dafür sein.« Der Kanzler lächelte angestrengt: »In gewissem Sinne bin ich das auch. Ich gestehe, daß ich keine Ahnung hatte. Ich telefoniere fast täglich mit meiner Frau und habe sie auch schon einmal besucht. Aber Sie kennen mein Amt, Sie kennen die Zwänge und die ständige Terminnot. Und Teneriffa liegt ja nun nicht gerade um die Ecke …« »Jedermann in unserer Republik würde Sie verstehen, Herr Bundeskanzler«, sagte Rohloff, »ganz besonders, wenn ich den Boden für ein solches Verständnis vorbereiten würde. Und Sie wissen, ich habe eine treue und gläubige Zuschauergemeinde.« »Und wie stellen Sie sich das vor?« »Ich werde jetzt aus Washington berichten, werde den Streß zeigen, unter dem Sie stehen, die Anspannung, die Zeitnot – die Ihnen keine Gelegenheit zur Muße gibt. Ich werde Ihren Terminfahrplan vorstellen, die protokollarischen Pflichten, die Konferenzen, Ihre Sicherheitsbeamten bei der Arbeit, den ständigen Klimawechsel im Wetter und in der Politik, einfach alles, was Sie auszuhalten haben. Und ich werde natürlich fragen, ob irgendein anderer Herr Müller oder Schulze oder Huber bereit wäre, die gleiche Arbeit und das gleiche Risiko für sein Leben für das vergleichsweise geringe Salär auf sich zu nehmen bereit wäre. Das ist natürlich mehr eine hypothetische Frage, denn ich kann ja keine offizielle Meinungsumfrage starten.« »Wirklich nicht?« Einen Moment lang war Rohloff unsicher. Dann grinste er: »Nein. Aber wenn Herr Staatssekretär Knorr mit seinem gut eingespielten Apparat einige Hintergrundinformationen in dieser Sache zum gleichen Zeitpunkt herausgibt, bin ich sicher, daß die Illustrierten und die Boulevardblätter mit tränenreicher Anteilnahme auf Ihre Linie einschwenken werden. Damit wäre der Boden bereitet und wir könnten die Sendung ›Unter vier Augen‹ terminieren.« »Aber wir haben – wenn ich Sie richtig verstanden habe – dann doch schon alles gesagt. Oder was wollen Sie sonst, Herr Rohloff?« 110
»Das ist es ja, Herr Bundeskanzler«, Rohloff tippte sich mit dem Zeigefinger auf die eigene Brust, »ich will als erster und exklusiv Ihre Scheidung publizieren. Das ist es, was meine Zuschauer von mir erwarten. Etwas Menschliches! Ich werde es verständlich darstellen und lasse Sie eine gute Figur dabei machen, das verspreche ich Ihnen! Aber das sind nun mal die Inhalte meiner Gespräche ›Unter vier Augen‹, die nüchterne Politik lasse ich dem alten Nowottny oder Lueg, das können die besser.« Heinrich Müller überlegte. Dann lehnte er sich zurück. »Sind Sie eigentlich mein Freund – oder mein Feind?« fragte er. Rohloff seufzte. »Herr Bundeskanzler, Sie müssen mir einfach glauben, daß ich auf Ihrer Seite bin. Mir macht das persönlich Spaß, wie Sie die Dinge angehen, wie Sie den Beamtenapparat hinter sich gebracht haben, die Bundeswehr, die Kirchen, die Industrie und die Banken, die Länder und nicht zuletzt die Gewerkschaften, das muß Ihnen erst einmal einer nachmachen. Und zu diesem Erfolg gehört ein geregeltes, ordentliches Eheleben, die Deutschen erwarten so etwas von ihrem Kanzler, ob zu Recht oder nicht, steht hier nicht zur Debatte.« »Aber Sie raten mir eben doch erst zur Scheidung …?!« fragte Heinrich Müller, obwohl er von Rohloff jetzt schon alles erwartete. Der Fernsehmann lachte laut. »Sie glauben doch nicht, Herr Bundeskanzler, daß ich auf die Ablenkungsmanöver des Kollegen Knorr hereingefallen bin?« »Wie meinen Sie das?« »Sie werden Inge Sanders heiraten und wenn Sie es erlauben, werde ich der Trauzeuge sein!« Das war der zweite Tiefschlag, aber den hatte Heinrich Müller nach dem Vorgespräch schon fast erwartet. Rohloff beschleunigte die Dinge etwas, über die er in den wenigen einsamen Stunden auch schon nachgedacht hatte. Oder hatte er vielleicht auf einen solchen Anstoß von außen gewartet? Nur kurz dachte Müller darüber nach, wer Rohloff diese internen Informationen zugespielt haben könnte. Aber da sie die Tatsachen trafen, war es ihm schon fast angenehm, sich darüber nicht 111
den Kopf zerbrechen zu müssen. Inge Sanders mischte sich zum ersten Mal in das Gespräch ein. Sie war nicht der Typ, der – in einer so heiklen Situation persönlich angesprochen – den Kopf in den Sand steckte. »Ich finde es ausgesprochen amüsant, wie Sie über meine Person verfügen, Herr Rohloff!« Heinrich Müller dachte sehr schnell. Rohloff hatte recht: er mußte sein Haus ordnen. Als Kanzler würde man ihm eine Geliebte nicht verzeihen. Egal wie, der Wähler würde es übelnehmen und die moralischen Bedenken gleich auf die ganze Partei übertragen. So tat er etwas, was selbst Rohloff überraschte. Er nahm Inge Sanders' Hand und fragte sie: »Sollen wir ihn als Trauzeugen nehmen?« Knorr hätte vor Schreck fast seinen Kaffee verschüttet. Aber Inge Sanders begriff in Sekundenschnelle, was auf dem Spiel stand und welchen Fehler sie gemacht hatte. So sagte sie jetzt nur: »Wenn wir ihn beim Wort nehmen dürfen?« »So lange ich das Exklusivrecht habe, haben Sie einen Freund und einen Trauzeugen in mir, gnädige Frau«, sagte Rohloff galant und nahm einen Schluck Rémy Martin, »dann ist das hier ja gewissermaßen so eine Art von Verlobung. Ich gratuliere!« »Greifen Sie den Dingen nicht vor, Herr Rohloff. Wir könnten noch alles abstreiten, Sie haben keine Zeugen …« sagte Müller. »Aber Zuschauer, die mir aufs Wort glauben, zumal dann, wenn sich die Dinge später dann doch so entwickeln, wie ich sie prophezeit habe. Und das wäre für Sie ganz schlecht!« Heinrich Müller wußte das und prostete dem Fernsehmenschen zu. »Ich denke, wir werden unterwegs noch viel Gelegenheit haben, zusammen zu reden. Uns müssen Sie jetzt entschuldigen, wir haben noch einige Vorbereitungen zu treffen.« Man ging auseinander. Als Knorr Müllers Arbeitszimmer verlassen wollte, hielt dieser ihn kurz zurück: »Dieter, veranlasse doch bitte, daß wir auf dem Rückweg von Washington über Teneriffa fliegen. Heske soll die dortigen Sicherheitsbehörden verständigen!« »Wird gemacht, Herr Bundeskanzler!« 112
Müller tat etwas, was er nie zuvor getan hatte. Er ging in das Arbeitszimmer der Staatssekretärin Dr. Sanders, schloß sorgfältig die Tür hinter sich und nahm die Geliebte in den Arm. »Ich muß jetzt mit dir zusammen sein!« sagte er und zog sie ohne Umschweife und ohne Aufenthalt durch mehrere Räume hinüber in ihr Schlafzimmer und warf sie auf das breite französische Bett. »Der Rohloff ist ein Erpresser, Henry«, wehrte sich Inge. »Ach Quatsch, er zwingt uns nur zu etwas, was wir doch beide schon lange wollen!« Dagegen gab es kein Argument, Inge Sanders hatte es nur nicht gerne, wenn man ihr das Handeln aus den Händen nahm. Trotzdem konnte sie sich der sanften Zärtlichkeit der Stunde nicht entziehen. Und während draußen in Wahn pflichtbewußte Sicherheitsbeamte die Kanzlermaschine wieder und wieder gründlich untersuchten, die Düsen mit schrillem Geschrei probeliefen, Knorr Fernschreiben auf Fernschreiben an die Weltpresse durchtickerte, in den Ministerien große Politik gemacht wurde, der Kanzleramtsminister dem amerikanischen Präsidenten versicherte, daß Heinrich Müller pünktlich wie vorgesehen Bonn verlassen würde, Kamphausen von der Industrie Anlagen AG seinen Fahrer noch schnell zur Meiners-Bank jagte, um ein paar tausend Dollar in bar zu holen, während 47 Frachtkähne in einer Stunde den Rhein passierten, während sich Hanne Naumann auf das Treffen mit Karl Lamprecht freute, während die Welt in Bewegung war, voller Hektik, Tempo und Leistungsbewußtsein, während dieser ganzen Zeit lag Inge Sanders in den Armen von Heinrich Müller und war nichts als eine glückliche, zufriedene Frau.
Die Maschine hob ab, zog steil nach oben. Durch die Fenster sah man die geleitenden neuen Düsenjäger vom Typ 118, die dreifache Schallgeschwindigkeit fliegen konnten. Die Anschnallzeichen erloschen, Kaffee wurde angeboten. Rohloff hatte erst einmal die mitfliegenden Kollegen der Presse be113
grüßt und war dann auf Kamphausen gestoßen. Er hatten den Industriellen eine Weile nicht gesehen, aber er wußte, daß er mit Rüdiger von Meiners viele erfolgreiche Transaktionen durchgeführt hatte. Wenn Kamphausen mit nach Washington kam, hatte er mit Sicherheit seine Finger in den Plänen des Kanzlers. Der Zufall gab es, daß er neben Kamphausen in den bequemen Erster-Klasse-Sitzen einen Platz fand. Die Männer begrüßten sich, und nach den üblichen Konversations-Floskeln fragte Rohloff direkt: »Was treiben Sie jetzt eigentlich, Herr Kamphausen?« Natürlich wußte Kamphausen, daß Rohloff ein gut informierter Mann war und daß er ihm nichts vormachen konnte. Er hatte eigentlich auch nicht die Absicht. »Sie wissen ja, was ich mache. Mein Geschäft sind Eisen und Stahl. Die Kamphausen AG liegt gut im Rennen; wir sind dabei, die Norddeutsche Werft von Mahlke zu übernehmen …« Er hüstelte. »Sie wollen mit Ihrem Kunsthusten doch wohl nicht sagen, daß mein Interview ›Unter vier Augen‹ Mahlke fertig gemacht hat?« fragte Rohloff etwas pikiert. »Sie sind ein einflußreicher Mann, Herr Rohloff. Viele Leute zittern vor Ihnen. Anderseits muß ich sagen, daß ich Ihre Sendungen immer mit dem größten Vergnügen sehe, wenn nicht gerade ich das Opferlamm bin!« Kamphausen lachte. »Wenn Sie wollen, können wir das sofort ändern«, revanchierte sich Rohloff. »Außerdem geraten ja nicht gerade alle meine Gesprächspartner an den Bettelstab, wenn sie vor meiner Kamera waren. Ich kenne Fälle, wo Sendungen von mir den Partnern auch erhebliche Vorteile gebracht haben. Sei es in der Wirtschaft oder in der Politik. Aber Sie, Herr Kamphausen, was machen Sie bei dieser Reise?« »Der Kanzler hat mich gebeten, ihn in verschiedenen Punkten zu beraten.« »Hat das was mit der alten Zeche zu tun, die Sie vor einigen Monaten übernommen haben? Soviel mir bekannt ist, wird dort schon seit Jahrzehnten keine Kohle mehr gefördert.« Kamphausen überlegte kurz, was Rohloff wissen konnte. Und er 114
überlegte auch, daß einen Mann wie Rohloff an der Seite zu haben, keine schlechte Idee sein könnte. Irgendwann ließen sich die anlaufenden Produktionen ja nicht mehr geheimhalten. Und warum sollte nicht ein so prominenter Mann wie Rohloff vorher schon einige ›vertrauliche‹ Informationen bekommen und möglicherweise sogar rundum informiert werden. Um so mehr würde man ihn an den Plan binden. Immerhin würden allein in der ersten Ausbaustufe rund fünfzigtausend Arbeiter beschäftigt werden, wenn jetzt in Washington grundsätzlich der Segen zu Müllers Plänen erteilt wurde. So sagte er: »Nein, nein, das Gelände wurde von der Industrie-Anlagen AG erworben, deren Vorsitzender des Vorstandes ich bin.« »Industrie-Anlagen? Das hört sich nach Export an?« war Rohloff interessiert. »In der ersten Phase nicht, da betreiben wir mehr Forschung und Entwicklung. Aber später darf sogar mit einem sehr hohen Exportanteil gerechnet werden …« »Und darf man fragen, was Sie entwickeln wollen?« Kamphausen war ehrlich: »Nein, das darf man nicht. Ein ganz kleines Werksgeheimnis werden Sie uns doch sicher lassen?« »Ungern«, lachte Rohloff. Kamphausen war ein Mann nach seinem Geschmack. Er schien ehrlich zu sein. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag, wenn wir zurück sind, telefonieren wir uns einmal zusammen, Herr Rohloff. Sie kennen mich lange genug, um zu wissen, daß ich offen und pressefreundlich bin. Lassen Sie uns miteinander essen und ich werde Ihnen dann mitteilen, was ich Ihnen sagen kann. Ich bin an diesem Gespräch absolut interessiert!« Irgendwo hatte Rohloff das unbestimmte Gefühl, als wäre die Industrie-Anlagen AG eine Sache, um die er sich sehr bald kümmern sollte. »Wollen wir gleich am nächsten Montag zusammen telefonieren, Herr Kamphausen? Ich komme gerne nach Düsseldorf …« So verabredeten sie sich. Beide machten einen entsprechenden Eintrag in ihre Terminkalender. 115
Der Ministerialdirigent Zins hatte den Kanzler noch kurz vor dessen Abfahrt erwischt und sich eine Unterschrift geben lassen. Und da er wußte, wie wichtig es war, die Gunst der Damen im Vorzimmer des Kanzlers zu haben, schritt er forsch die Treppe hinauf, betrat das Büro von Hanne Naumann, baute sich fast gewichtig vor ihr auf und achtete darauf, daß sein Auftritt auch allseits bemerkt wurde. Dann sagte er jovial: »Frau Regierungsrätin Naumann, darf ich Ihnen als erster ganz herzlich zur Beförderung gratulieren!« Jetzt war es heraus. Was machte es da, daß Zins diese Ansprache normalerweise an Beamte richtete, die auf der Karriereleiter eine Sprosse weitergekommen waren und daß ›Krümel‹ bisher ja nur eine gewöhnliche Bundes-Angestellte gewesen war? Das machte gar nichts! Auf jeden Fall schlugen seine Worte ein wie eine mittlere Bombe. Die Kolleginnen sprangen auf, schrien »Krümel, das darf ja nicht wahr sein«, und »Mensch, Krümel, herzlichen Glückwunsch!« oder »Jetzt mußt du aber einen ausgeben, Krümel« und »Müssen wir jetzt ›Sie‹ zu dir sagen, Fräulein Regierungsrat?« Eben die Sprüche, die bei solchen Gelegenheiten losgelassen werden. Kulle, der vom Flugplatz zurückkam, war wieder der Leidtragende. Er mußte Sekt besorgen und Kuchen. Es wurde fast ein Fest, wenn Hanne Naumann es nicht ausgerechnet heute eilig gehabt hätte. Sie war ja für den Abend mit Karl Lamprecht verabredet. So entschuldigte sie sich rundum, bat Kulle: »Tank doch bitte meinen Wagen auf, ich muß nach Dortmund. Ich habe eine Verabredung!« Und da jeder wußte, daß sie bestimmt nicht mit einer Freundin in Dortmund zusammentreffen würde, war der Flachs nicht weit. Klara Werner aber fragte: »Ist er nett?« Sie sagte es leise und gönnte der Kollegin das Glück. ›Krümel‹ errötete. »Ein Traum, Klara!« Sie sah auf die Uhr. »Meinst du, der Chef ruft heute noch einmal an?« »Die hängen doch jetzt in der Luft, und so wie wir ihn kennen, wird er erst einmal eine kleine Kabinettssitzung anberaumen, damit die Freunde sich besser die Zeit vertreiben können. Wir mußten die Vorbesprechung hier ja absagen, das wird er jetzt nachholen. Und im 116
Zweifelsfalle bleibe ich ja hier. Er wird ohne dich auskommen müssen. Hau ab!« Hanne Naumann zog die Kollegin an sich und drückte ihr einen Kuß auf die Wange: »Du bist ein Pfundskerl, Klara, ich hoffe nur, du mußt die nächste Zeit nicht allzuviel leiden!« Auch Klara Werner war unverheiratet und auch sie war gut in den Dreißigern. So kamen ihr ein paar Tränen und bevor es zu schlimm wurde, schimpfte sie fast: »Nun hau schon ab!« Eine Stunde später – so gegen sechs Uhr – war Frau Regierungsrat Hanne Naumann in Dortmund in der Bochumer Straße 32 und drückte auf den Klingelknopf Lamprecht. Er mußte sie erwartet haben, fast sofort ertönte der Summer. Hanne Naumann fuhr in den neunten Stock, und als sie aus dem Aufzug trat, stand Karl da mit weit ausgebreiteten Armen, in die man nur hineinzufliegen brauchte. »Daß du da bist«, sagte Karl Lamprecht und hob sie auf seine starken Arme, trug sie durch seine Wohnungstür, die er mit dem Fuß zuschlug und setzte sie auf einer bequemen Couch ab. Dann küßte er sie lange, meinte »ich habe dich sehr vermißt!«, schnupperte dann und schrie in gespieltem Entsetzen »Um Gottes willen, meine Rouladen«, raste in die Küche, wo er mit Töpfen und Löffeln hantierte, bis sie hinter ihn trat und fragte: »Du kannst kochen?« »Ha, ha, das ist mein Hobby, seitdem ich geschieden bin. Es schmeckt besser und ist billiger als in der Kantine oder jeden Tag im Restaurant!« Das gefiel Hanne und vor allem seine Offenheit und Ehrlichkeit. Wie lange hatte sie schon nicht mehr zu Hause gegessen. Alleine machte es ihr einfach keinen Spaß und es schmeckte auch nicht. Und sie hatte geglaubt – nachdem er so ausführlich von seiner Stammkneipe gesprochen hatte –, daß auch er nie zu Hause essen würde und sich das Alleinsein mit Freunden vertriebe. Fast hatte sie jetzt ein schlechtes Gewissen, daß er nach ihrer Meinung so gar nichts von ihr wußte. Lamprecht drängte sie in das kleine, aber geschmackvoll eingerichtete Wohnzimmer zurück, öffnete einen kleinen Barschrank, holte den Campari heraus, den sie in Jesolo immer zusammen als Aperitif genommen hatten, und schenkte ein. 117
»Auf dich«, sagte er fast feierlich, »auf Jesolo, auf uns und daß alles immer so glücklich bleiben möge!« Dann aber mußte er wieder in die Küche. Hanne Naumann wollte den Tisch decken, aber es war alles schon gerichtet. Jetzt ärgerte sie sich, daß sie nicht wenigstens ein paar Blumen mitgebracht hatte. Aber sie hatte nur diesen Mann Karl Lamprecht im Kopf gehabt und vor lauter Sehnsucht alles andere vergessen. Dann saßen sie beim Essen. Lamprecht schenkte den ›Frascati‹ ein – »erinnerst du dich noch?« –, sie hatten immer Frascati zum Essen getrunken, legte ihr gekonnt und mit Freude vor, servierte Tomatensuppe, Rouladen und Spaghetti, Eiskrem und Kaffee mit der Eleganz eines gelernten Kellners. Dann – beim Grappa – hob er ihr das Glas entgegen und sagte schlicht: »Ich liebe dich!« Sie schwebte im siebenten Himmel und gab sich ganz ihrer Stimmung hin. Der Kanzler war weit, ein paar ruhige Tage im Büro lagen vor ihr, man würde sich sehen können. Aber jetzt mußte sie ihm alles sagen, bevor es ihm irgendwann einmal ein anderer hintertrug. So fing sie an zu beichten, ganz verschämt und ganz kleines Mädchen, das seine Sünden gesteht. Daß sie im Kanzleramt arbeite, seit zwanzig Jahren immer an der Seite von Heinrich Müller wäre, alles wüßte und alles für ihn vorbereitete, ja, und daß sie seit heute sogar Beamtin – was heißt Beamtin? – Regierungsrätin wäre. Es sprudelte aus ihr heraus und erst, als sie sah, wie das Gesicht von Karl Lamprecht immer länger und trauriger wurde, fragte sie: »Ist das schlimm, Liebster?« Karl Lamprecht zuckte die Achseln und sagte mit schwacher Stimme: »Mein Gott, und ich habe geglaubt, du wärest eine Frau, die zu mir paßt, die mit mir lebt – ja, ich wollte dich sogar fragen, ob wir nicht heiraten wollen. Und jetzt bist du ein hohes Tier in Bonn, unerreichbar fern …« Er sank in seinen Sessel. Hanne Naumann stand behutsam auf und setzte sich auf seinen Schoß. Sie zog ihm die Hände vom Gesicht, küßte ihn zart und innig und schlang dann die Arme um seinen Hals. Sie flüsterte ihm ins Ohr: »Wenn du willst, Liebster, schmeiße ich den ganzen Krempel hin und komme so bald wie möglich zu dir!« 118
»Das würdest du tun?« »Ja«, nickte Hanne Naumann. Karl Lamprecht war ihr in diesem Augenblick wichtiger als alle Beförderungen und sonstigen Vorteile, die sie im Kanzleramt hatte. So wurde es doch noch ein schöner Abend, eine phantastische Nacht und ein liebevoller Abschied am nächsten Morgen. Ganz früh schon, gleich nach sechs Uhr, mußte Lamprecht aus dem Haus. Sein Betrieb begann um sieben zu arbeiten »und in Sachen Pünktlichkeit verstehe ich keinen Spaß«, sagte er. Hanne Naumann aber trödelte über die Autobahn nach Bonn. Sie hatte es nicht eilig. Es würde noch Zeit genug sein, sich zu Hause umzuziehen, unter der Dusche an die glücklichen Stunden der letzten Nacht zu denken und all dieses Unbegreifliche der letzten Tage noch einmal vor dem geistigen Auge Revue passieren zu lassen. Erst die Beförderung, dann das Glück mit Karl Lamprecht. Was hatte er gesagt? »Ich möchte dich heiraten!« Das war mehr als das große Los, was da auf Hanne Naumann zukam, das war das Glück, das sie plötzlich in seine Arme genommen hatte und aus dem schmutzigen Rhein einen silberklaren Fluß machte, die Sonne heiter strahlen ließ, die Menschen versöhnte und das Leben lebenswert machte. Sie glaubte, ihr Herz würde zerspringen und so ähnlich mußte sie wohl aussehen, als sie das Büro betrat. Klara Werner war die erste, die es ihr ansah. »Ach Krümel«, sagte sie, nachdem sie sich einen ersten Bericht angehört hatte, »ich freue mich mit dir!« »Er hat etwas gegen Beamte«, zweifelte Krümel. »Das gibt sich mit der Zeit«, Klara Werner war Realistin. »Du mußt ihm nur klar machen, welche Vorteile das hat. Ein staatlich gesicherter Arbeitsplatz auf Lebenszeit und eine gute Altersversorgung, auch für ihn. So dumm wird er doch nicht sein, daß er das nicht begreift!« »Nein«, sagte Hanne Naumann, »dumm ist er nicht. Du weißt ja, er ist der Mann, mit dem ich in Jesolo und München war. Ich habe dir von ihm erzählt, der Mann mit dem geschäumten Metall!« »Das ist doch eine Idee! So wie du mit dem Chef stehst, kannst du 119
doch dafür sorgen, daß er bei der Industrie-Anlagen AG von Kamphausen einen Job bekommt. Dann arbeitet er in Düsseldorf und du in Bonn, und eure Wohnung richtet ihr euch in Köln ein. Wäre das nicht eine Lösung?« Es gab noch viel zu besprechen zwischen den beiden Frauen, Dinge, die immer dann zu besprechen sind, wenn Männer im Spiel sind und so altmodische Dinge, wie Ehen, zur Sprache kommen. Die laufende Arbeit litt etwas darunter, aber der Kanzler war ja weit, drüben in Washington im Watergate-Hotel.
Der neue Generalsekretär der Neuen Partei, Peter Dahl, nutzte die Abwesenheit des ersten Vorsitzenden Werner Ladiges, um einige schon lange geplante Besuche bei Firmen und Banken im Rheinland zu machen. So hatte er auch einen Termin mit Rüdiger von Meiners, der ihn großzügig in seinem streng englisch eingerichteten Büro an der Königsallee empfing. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen«, sagte Meiners und musterte den relativ jung wirkenden Dahl. »Sie wissen, warum ich komme?« fragte Dahl. Meiners lachte: »Wenn Sie kommen, kostet es immer Geld …?« Dahl war dem Bankier dankbar, daß er die Sache so direkt ansprach. Das ersparte ihm – manchmal peinliche – Höflichkeitsfloskeln. Meiners behandelte ihn nicht als lästigen Partei-Schnorrer, sondern schien Verständnis für seinen Auftrag zu haben. »Der Ausbau der Beratungsstellen in der ganzen Republik verschlingt Unsummen. Aber sie werden von der Bevölkerung angenommen, geben unseren Abgeordneten in den Parlamenten einen erheblichen Informationsvorsprung, und wir hoffen gerade bei den demnächst anstehenden Landtagswahlen, den Sozis und der Union noch einige Bastionen entreißen zu können.« »Das heißt also, Sie brauchen viel Geld?« fragte Meiners. Dahl nickte. 120
Normal zeichnete Rüdiger von Meiners bei diesen sich jährlich wiederholenden Aktionen immer so runde zwanzigtausend Mark. Mit einigen Tricks seiner Steuerberater konnte er einen solchen Betrag gerade noch absetzen. Aber damit schien es heute nicht getan zu sein. Dahl sprach schon weiter: »Wir wollen insbesondere in Hamburg, Bremen und Berlin unsere Aktivitäten erheblich ausbauen. Dort haben die Sozialdemokraten – wie Sie wissen – erhebliche Reserven an Traditionswählern. In diese Phalanx wollen wir einbrechen. Mit Aufklärung, Propaganda und gezielter Einzelwerbung, mit gut gemachten Broschüren und mit einem pausenlosen Plakateinsatz. Je früher wir anfangen können, um so größer wird der Erfolg sein. Stellen Sie sich einmal vor, Hamburg fiele in unsere Hand. Ein Ziel, von dem die Union jahrzehntelang nur träumen konnte. Unsere Startposition ist gut, unsere Leute sind unverbraucht, voller Idealismus und aktiv.« Meiners nickte anerkennend mit dem Kopf. »Und wer soll das Zugpferd der Kampagne sein? Müller oder Ladiges?« »Natürlich erst einmal die Neue Partei mit dem Programm von 1988; es hat sich bewährt, wie die Bundestagswahlen letztes Jahr gezeigt haben«, sagte Dahl und überlegte blitzschnell, auf wessen Seite Meiners wohl stehen konnte. Er wußte, daß er bei Ladiges privat verkehrte, aber er wußte auch, daß diese Verbindung in der letzten Zeit etwas abgekühlt war. Setzte Meiners jetzt auf Heinrich Müller? Die größere Macht lag augenblicklich beim Kanzler, das Fundament dafür aber war die Neue Partei. Und deren Vorsitzender hieß immer noch Dr. Werner Ladiges. Meiners hatte ihn aufmerksam beobachtet und seine Frage auch nicht ohne Absicht gestellt. Er konnte sich ungefähr ausrechnen, was Dahl dachte, und drängte nicht auf eine Antwort. Er schenkte etwas Port nach und meinte dann: »Die rheinischen Industriellen beobachten mit größtem Interesse die Politik der jetzigen Regierung. Es sind auch schon Stimmen laut geworden, daß die Gewaltenteilung – hier Regierungsverantwortung, da Partei – möglicherweise eines Tages zu Komplikationen führen könnte. Immerhin könnte die Partei in einem Sinne auf die Regierung Einfluß nehmen, die den Arbeitgebern nicht 121
so sehr gefallen könnte. Müller ist der Mann des Ausgleichs, er kann es mit Arbeitgebern wie Arbeitnehmern gleichermaßen gut, er kommt aus der Gewerkschaft und hat eine stramme Industrie- und Bankerfahrung hinter sich. Ich könnte mir denken, daß ich allein aus meinem Kreis rund eine Million zusammentrommeln könnte, wenn die Führung der Neuen Partei von Müller übernommen würde. Doktor Ladiges ist ein Freund von mir und ich darf Sie insoweit um Vertraulichkeit bitten. Aber er bliebe ja immerhin Vizekanzler und Finanzminister …« Dahl schluckte. So also wehte der Wind. Er hatte bei der ›Million‹ ganz große Ohren bekommen. Das wäre ein Signal, auch für andere Spender. Wenn Meiners mit einer Million in die Kampagne ging, dann spiegelte das eine Meinung und einen Trend wider, dem er in den letzten Wochen schon mehrfach begegnet war. Ladiges war den Mächtigen an Rhein und Ruhr zu fein. Ihm fehlte der hemdsärmelige Kampfgeist eines Heinrich Müller. Und der Kanzler als Vorsitzender der Neuen Partei wäre auch Dahl wesentlich sympathischer. Er würde mehr Freiheiten und mehr Entscheidungsgewalt haben. Aber in was ließ er sich da ein? In eine gezielte Intrige gegen Ladiges? Intrigen gehörten zum politischen Spiel. Er rechnete kurz nach, was ihm schon passieren konnte. Eigentlich nichts! Ladiges konnte ihn feuern, aber das ging nur über einen Beschluß des Präsidiums und des erweiterten Vorstandes. Und die Landesfürsten hatte Dahl hinter sich. Es würde Aufregung in der Neuen Partei geben, Unruhe, die sie jetzt in der Phase der Konsolidierung ihrer Macht nicht gebrauchen konnte. So fragte er nur: »Wann könnte ich mit der Million rechnen?« Rüdiger von Meiners ging zu seinem Schreibtisch hinüber, öffnete die Mittelschublade, nahm aus einem ledernen Taschenbuch einen Scheck heraus, kritzelte etwas darauf und reichte ihn Dahl: »Hier ist sie! Also Müller …?« Es war alles bestens vorbereitet. Dahl nickte: »Also Müller!« 122
Die beiden Männer gaben sich die Hand. Dieser Dahl war nicht der Typ, den Meiners sonderlich mochte. Aber er war ein Mann, der die Grabenarbeit machen würde, und das zuverlässig.
Das erste Treffen zwischen dem Präsidenten der Vereinigten Staaten Richard Taylor und dem deutschen Bundeskanzler Heinrich Müller fand um zehn Uhr Eastern Standard Time im Weißen Haus statt. Müller kam mit kleiner Begleitung, Heske, Knorr und Inge Sanders. Die übrigen Fachminister hatten Verabredungen mit ihren Kollegen. Nach dem notwendigen Posieren für die Presse, dem dreimal wiederholten Händedruck zwischen den beiden Staatsmännern für die Fernseh- und Fotokameras, dem üblichen »no comment« vor der Sitzung zogen sie sich in den Oval Room zurück, wo Taylor ein kleines Frühstück hatte anrichten lassen. Da Heinrich Müller ausgezeichnet Englisch sprach, noch dazu mit amerikanischem Akzent, konnten sie auf Dolmetscher verzichten. In Zweifelsfällen sprang Inge Sanders ein. Das NATO-Bündnis wurde behandelt, die einzige Geschichte ohne allzugroße Problematik. Die anhaltende Schwäche des Dollars und seine immensen Schwankungen war schon ein ernsteres Thema, wofür man fast eine Stunde verschwendete. Müller gab dem Präsidenten dazu einige brauchbare Tips und Ratschläge, was das zwischenmenschliche Verstehen so förderte, daß Taylor ihm nach amerikanischer Good-Fellow-Art die Anrede mit dem Vornamen anbot. So tagten dann Richard Taylor, den alle Welt ›Dick‹ nannte, und Heinrich Müller, den nur intimste Freunde ›Henry‹ nennen durften, in vollem Verstehen weiter. Gegen ein Uhr gab es eine Pause und man trat in den Garten des Weißen Hauses hinaus, wo natürlich die Meute mit den Kameras und der Wald der Mikrofone auf sie warteten. Taylor gab ein kurzes, verabredetes Statement ab: »Mein Freund Henry und ich haben die anstehenden Probleme in voller Offenheit 123
und Übereinstimmung diskutiert und wir suchen gemeinsam nach Lösungen, die nicht nur unseren beiden Ländern, sondern der gesamten freien Welt Entspannung und Frieden sichern sollen.« Das hieß gar nichts und war doch Futter für die Presse. Die Reporter beeilten sich, die Neuigkeit von ›Meinem Freund Henry‹ in die Welt zu setzen. Dann ließ Taylor seinen Gästen ein typisch texanisches Brunch servieren, Sirloinsteak mit knackfrischem Salat, dazu gab es durchaus trinkbaren kalifornischen Wein und hinterher Eiskrem mit Erdbeeren. Nach kaum zwei Stunden Pause gingen sie dann in die zweite Runde. Heinrich Müller setzte sich zurecht. Was jetzt kam, war entscheidend für den Erfolg seiner Amerika-Reise, für ihn, für die Neue Partei und vor allem für den Großen Plan zur Bekämpfung des Terrorismus und der Arbeitslosigkeit. Er warf nur einen kurzen Blick auf die erste Seite des Memorandums, das Heske nach seinen Anweisungen ausgearbeitet hatte. Er kannte den Sinn dieses Großen Plans viel besser als jeder andere, und er kannte auch Dinge, die er Heske nicht erzählt hatte. »Herr Präsident, lieber Dick«, begann er, »wir sind uns, wie sich gezeigt hat, beide darüber einig, daß das wesentliche Problem der Industriestaaten des Westens nicht mehr der äußere Feind ist, sondern die Unzufriedenheit der Menschen mit den Errungenschaften der Zivilisation. Mit einem Wort – es geht ihnen zu gut, und sie haben zuviel freie Zeit.« Der Präsident nickte. Heinrich Müller lehnte sich zurück. Er sah auf Inge, die ihm einen ermunternden Blick zuwarf. Dann sprach er weiter. »Daraus ist auch ein weiteres Problem unserer Zeit entstanden, gegen das die Industriestaaten scheinbar machtlos sind: die Dauerarbeitslosigkeit und die Beziehungslosigkeit der Jugend – was sich wiederum in einem latenten Terrorismus äußert.« Wieder machte der Kanzler eine Pause, wieder sah er den Präsidenten der USA aufmerksam an. Und wieder nickte Richard Taylor. Was mehr war, er nahm verlegen die Hand von einer unauffälligen Leiste, die er wie zufällig berührt 124
hatte. Heinrich Müller verbarg ein Lächeln. Also immer noch ›Watergate‹, nur in einer vom Willen des Präsidenten abhängenden Form. Noch konzentrierter sprach er weiter. Wenn der Präsident seine Ausführungen auf Band speicherte, hieß es, doppelt vorsichtig zu sein. Anderseits war ihm gerade das recht: man will im allgemeinen nur das verewigen, was einen interessiert. »Herr Präsident«, sagte er mit einem mehr offiziellen Anstrich, »im Einvernehmen mit meinem – hm – Minister für Sicherheit und Zukunftsfragen«, er schaute Heske an, ob der die überraschende Ernennung, die ihm im Moment eingefallen war, so einfach schluckte. Aber Heske war gut dressiert. Er nahm die Erweiterung seines Aufgabenbereichs zur Kenntnis, ohne mit der Wimper zu zucken. Erleichtert fuhr Heinrich Müller fort: »mit meinem lieben Mitarbeiter Rolf Heske habe ich einen Großen Plan ausgearbeitet, den Ihnen Minister Heske im Folgenden vortragen wird.« Er machte eine kleine Pause, setzte dann hinzu: »Einen Teil dieses Plans, soweit er die Abwehr gegen Terrorismus und die Einführung eines umfassenderen Sicherheitssystems betrifft, habe ich mit dem französischen Präsidenten bereits durchgesprochen. Ich freue mich sagen zu können, daß Giscard dieser Idee seine volle Zustimmung zuteil werden ließ.« Heinrich Müller lächelte ganz fein. Natürlich hatte Giscard seine Ausführungen sofort dem Präsidenten der USA zur Kenntnis gebracht, und ebenso selbstverständlich hatte ihm sein Geheimdienst dies fast unmittelbar darauf gemeldet. Es gab eben keine Geheimnisse der Regierungschefs untereinander mehr – es gab nur Geheimnisse aller dieser Staatschefs gegenüber den Völkern. Der Präsident der USA lächelte zurück. »Oh, ich habe bereits von Ihnen gehört, Mister Heske«, sagte er, und Müller sah überrascht, daß Heske noch rot werden konnte. Dann fing der neue ›Minister für Sicherheit und Zukunftsfragen‹ an zu reden. Heinrich Müller schaltete ab. Während Heske in merkwürdig monotonem Englisch die Einzelheiten des Großen Plans vortrug, beschäftigte sich der Kanzler mit seinen eigenen Gedanken. Natürlich müßte er die Erweiterung von Heskes Titel noch dem Kabinett und der 125
Öffentlichkeit verkaufen, zumal die Ernennung nominell rückwirkend geschehen müßte. Aber das war nur eine Formalität. Viel wichtiger war, daß Richard Taylor nicht merkte, was eigentlich hinter der ganzen Entwicklung steckte. Einen Augenblick durchfuhr es Heinrich Müller siedendheiß – möglicherweise hatten die Amerikaner hier auch schon Apparate installiert, die die geheimsten Gedanken der Anwesenden registrieren und entziffern konnten. Aber dann beruhigte er sich wieder. Nein – soweit waren sie noch nicht. Vielleicht in fünfzig Jahren. Immerhin war es vielleicht besser, nicht daran zu denken. Der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland warf der Frau einen Blick zu, die als einzige auf der Welt von seinen geheimsten Gedanken wußte. Inge Sanders sah ihn an. Sie kannte jedes Wort, das in Heskes Memorandum stand, und sie kannte darüber hinaus ein paar Dinge, die nicht darin standen. Plötzlich lächelte sie, als hätte sie die Gedanken Heinrich Müllers erraten. Der Kanzler atmete tief durch. Es war schön, jemanden in der Nähe zu haben, mit dem er auf der gleichen Welle war. Und es war besonders schön, daß dieser Jemand eine so großartige Frau war wie Inge. Ein paar Sekunden lang konnte er nicht verhindern, sich Inge und ihn vorzustellen, und was passieren würde, wenn sie jetzt hier in dem geheiligten Oval Room des Weißen Hauses in Washington, in dem nur die wichtigsten Staatsgeschäfte behandelt wurden, allein wären: wie sie dann einfach übereinander herfallen würden und in diesem Raum Dinge geschehen würden, die es nicht einmal zur Zeit Nixons und seiner Garde von halbseidenen Gangstern gab. Dann verbiß sich Heinrich Müller ein Lächeln. Falls es diesen Gehirnleseapparat schon gab, konnten sich die Dechiffrierer anschließend eine heitere Stunde machen – so wie es aussah, hatte Inge ähnliche Gedanken. Dann zwang sich der Kanzler, den so interessanten und langweilig vorgetragenen Ausführungen Heskes zuzuhören, ohne viel zu denken und ohne einzuschlafen. Eigentlich müßten Staatsmänner dafür eine Sonderzulage erhalten, dachte sich Heinrich Müller noch, als Heske zum Ende kam. 126
»Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, Mister President«, sagte Heske und schaute Müller an wie ein gelehriger Hund seinen Herrn. Richard Taylor lächelte. Dann nickte er Heske zu. »Ich danke Ihnen, Mister Heske«, sagte er höflich. Dann wandte er sich dem Kanzler zu. »Wirklich sehr interessant«, sagte er dann. »Ich beneide Sie, Henry.« Heinrich Müller lächelte fein. »Tatsächlich, Dick?« »O ja. Sehen Sie, was Sie da vorhaben, davon kann ein amerikanischer Präsident nur träumen. Ihre Ideen sind exzellent. Ihre Perspektiven sind faszinierend. Die neuen Sicherheitssysteme sind großartig, und wenn meine Sicherheitsbeauftragten derselben Meinung sind wie ich, werde ich mich glücklich schätzen, diese Systeme bei uns einzuführen.« Er machte eine Pause und seufzte tief auf. »Leider werde ich jedoch die Sicherheitstruppe, von der mir Ihr Freund Ralph da erzählt hatte, nicht übernehmen können. Der Senat und das Volk der USA würden mich aus dem Amt jagen.« »Sie könnte dem FBI unterstellt werden«, sagte Heske. »Das FBI hat noch nie über uniformierte Kräfte verfügt …«, wandte Taylor ein. »Außerdem ist der Respekt vor Uniformen in den USA nicht so ausgeprägt wie in Ihrem Land.« »Dann stecken Sie die Leute doch in Zivil und geben Sie ihnen entsprechende Vollmachten.« Die Konferenz endete mit einem Kompromiß und mit einem für beide Teile günstigen Handel. Die USA würden die neuen Sicherheitssysteme und -waffen prüfen. Entsprachen sie in ungefähr den Vorstellungen einer zu bildenden Kommission (die sich in Düsseldorf informieren würde), dann würden die Staaten einen Auftrag in Höhe von zwei Milliarden Dollar erteilen. Im Gegenzug dafür – und das war seit den frühen achtziger Jahren eine immer wiederkehrende Variante der internationalen Politik – würde die Bundesrepublik im gleichen Wert elektronische Ausrüstungen und Uran beziehen. Man konnte vor die Weltpresse treten. »Der deutsche Bundeskanzler und ich haben in der Frage der internationalen Politik völlige Übereinstimmung der Meinungen erzielt. 127
Hinsichtlich der Gesundung des amerikanischen Dollars ist die Bundesrepublik bereit, den Vereinigten Staaten mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. In der Bekämpfung des internationalen Terrorismus haben sich neue Aspekte ergeben, die auf eine Initiative der Bundesrepublik Deutschland zurückzuführen sind. Wir werden diese Aspekte prüfen und sind bereit, darüber einen Vertrag abzuschließen. Auch auf wirtschaftlichem Gebiet konnte völlige Übereinstimmung erzielt werden. Die entsprechenden Verträge werden noch vor der Jahreswende ausgearbeitet und unterzeichnet werden. Der deutsche Bundeskanzler, Henry Müller, hat mich nach Bonn eingeladen, und ich habe diese Einladung angenommen.« Die Presse wollte mehr wissen, insbesondere über die neuen Sicherheitsmaßnahmen. Aber über das Statement hinaus gaben weder Taylor noch Müller Erklärungen ab. Dies führte zu heftigen Spekulationen in Fernsehen und Zeitungen. Hatte Deutschland wieder einmal eine bahnbrechende Erfindung gemacht? Wie etwa die Raketen des Wernher von Braun, oder die Atomspaltung des Professors Hahn? Den Vermutungen waren Tür und Tor geöffnet.
Heinrich Müller empfing Kamphausen und schob ihm die ersten Meldungen, von Knorr zusammengestellt, über den Tisch: »Da sehen Sie, mein Freund, was auf Sie zukommt! Passen Sie nur auf, daß Ihr Laden schalldicht bleibt!« Auch die sowjetische Nachrichten-Agentur TASS und die ADN, der ›Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst‹ aus der DDR, kabelten ihre Berichte nach Europa und lösten dort ungeahnte Hektik aus. Moskau telefonierte mit Ost-Berlin und wurde erst wieder ruhig, als von dort die Meldung kam: »Wir sind der Sache auf der Spur!« ›Dick‹ Taylor hatte es sich nicht nehmen lassen, seinem Gast und dessen Begleitung persönlich das Capitol zu zeigen, dann hatten ortskundige Führer die üblichen Sehenswürdigkeiten erläutert: Die Thomas Jefferson Gedächtnisstätte, das Lincoln-Monument und natürlich 128
das Grab John F. Kennedys im Arlington-Friedhof. Den Abschluß bildete ein Besuch in der Smithonian-Institution, einem groß angelegten Museum, wo sich Heinrich Müller besonders für die Abteilung Luftund Raumfahrt interessierte. Zum Essen trafen die beiden Staatsmänner mit ihrer Begleitung noch einmal im berühmten Hogat's Restaurant am Potomac-River zusammen und delektierten sich an frisch gefangenem Hummer. Am nächsten Morgen fanden alle Begleiter Heinrich Müllers eine Nachricht Dieter Knorrs bei der Morgenpost: »Der Herr Bundeskanzler hat den Wunsch geäußert, während des Rückfluges nach Bonn einen halben Tag in Teneriffa zu unterbrechen, um einen privaten Besuch zu machen. Diejenigen Damen und Herren, die früher nach Deutschland zurück müssen, werden gebeten, dies bis zehn Uhr Ortszeit dem provisorischen Büro des Bundespresse-Amtes zu melden. Sie werden Gelegenheit haben, mit der planmäßigen Maschine der Lufthansa Flug Nr. LH 102, ab Washington um 12.30 Uhr Ortszeit, nach Hause zu kommen. Die Bundesregierung hat genügend Plätze reservieren lassen. Selbstverständlich sind Sie auch auf dem Rückflug Gäste der Bundesregierung. Die Kanzler-Maschine der Luftwaffe wird um 14.00 Uhr Ortszeit Washington verlassen. Wir bitten Sie, für diesen Flug das Gepäck bis 12.00 Uhr auf Ihrem Zimmer bereitzuhalten. gez. Dieter Knorr, Staatssekretär und Leiter des Bundespresseamtes.« Helmut Rohloff nahm die Meldung mit äußerster Zufriedenheit zur Kenntnis. Die Dinge entwickelten sich so, wie er sich das vorgestellt hatte. Und auch sein Abgesandter Morlock hatte in Puerto de la Cruz inzwischen ganze Arbeit geleistet. Als er Rohloff in der Nacht auf dem Flughafen von Teneriffa abholte, konnte er ihm stolz berichten: »Die Alte küßt uns die Füße, wenn sie den Kerl endlich los ist!« So mochte Rohloff bei aller journalistischer Chuzpe doch nicht vom deutschen Kanzler gesprochen wissen und er wies Morlock zurecht: »Morlock, Sie reden von unserem Kanzler!« 129
Der junge Journalist zeigte, daß er flexibel war. Er machte sofort einen Rückzieher. »Die Frau Bundeskanzler ist traurig, doch gefaßt, Herr Rohloff«, sagte er verlegen. Rohloff klopfte ihm auf die Schulter. Er war in Geberlaune. »Sie haben hervorragende Arbeit geleistet, Morlock. Wenn es Ihnen Spaß machen würde, könnte ich Ihnen einen Job in meiner Abteilung anbieten.« Morlock überlegte nicht lange. Dieser Rohloff war ein Senkrechtstarter am deutschen Fernsehschirm und so, wie die Dinge lagen, war von ihm noch einiges zu erwarten. »Es würde mir Spaß machen«, sagte er. Inge Sanders war mit der planmäßigen Lufthansa-Maschine nach Bonn zurückgeflogen, dazu noch ein paar Leute aus Müllers Begleitung. Beamte, die glaubten, dringend in Bonn gebraucht zu werden oder Angst hatten, daß irgend jemand an ihren Stühlen sägte, wenn sie nicht da waren. Die Journalisten allerdings witterten eine Überraschung und auch die meisten Minister und Staatssekretäre waren mit Heinrich Müller nach Santa Cruz gekommen. Was sie nicht wissen konnten, war, daß Juan Caballo Alvarez die Ankunft des deutschen Bundeskanzlers mit größter Diskretion vorbereitet hatte. Gleich nach der Landung der Kanzler-Maschine wurde Heinrich Müller von einem Sicherheitskonvoi direkt am Flughafen abgeholt und verschwand im Dunkel der kanarischen Nacht, ohne daß irgend jemand – Dieter Knorr und Rohloff ausgenommen – wußte, wohin. Natürlich war für Müllers Begleitung bestens gesorgt. Komfortable Quartiere standen zur Verfügung, ein gemeinsames Dinner war vorbereitet und natürlich die beste Flamenco-Show, die Alvarez auftreiben konnte. Der deutsche Orden wirkte nachträglich Wunder. Aber noch ein Geheimnisträger aus Müllers Begleitung ahnte natürlich, wo er sein mußte. Der Regierungsdirektor Jochen Alberts. Es wurmte ihn noch immer, daß man ihn seinerzeit mit einem feuchten Händedruck abserviert hatte. So suchte er die Nähe des politischen Korrespondenten eines Hamburger Nachrichtenmagazins (wie es im 130
Amtsdeutsch immer bezeichnet wurde) und fragte durch die Blume, was es dem SPIEGEL denn wert wäre, zu erfahren, warum man ausgerechnet in Teneriffa gelandet war. Der Spiegel-Mann war ein alter Hase und hatte natürlich längst mit seiner Redaktion telefoniert, als er erfuhr, daß man Teneriffa einen Besuch abstatten würde. Und er hatte das erfahren, was jedermann seit Monaten wußte, bloß nicht mehr darüber nachdachte. Die Tatsache, daß Elfriede Müller aus Krankheitsgründen auf der Insel weilte. Das sagte er dem Alberts auf den Kopf zu und fragte: »Haben Sie mehr zu bieten?« Der Regierungsdirektor zog sich daraufhin schmollend zurück und sann darüber nach, ob es nicht besser war, sich in ein ruhigeres Ministerium versetzen zu lassen, ›Familie‹ zum Beispiel oder ›Gesundheit‹. Heinrich Müller aber war ohne Umwege direkt in den HumboldtPark gefahren, hoch oben über Puerto de la Cruz, und hatte seine Frau besucht, die ihn schon erwartete. Die Unterhaltung war kurz und Heinrich Müller war überrascht, wie reibungslos die Dinge über die Bühne gingen. »Natürlich soll es dir an nichts fehlen, Elfriede«, sagte er. »Ich will nicht mehr, als ich hier habe«, sagte sie gewollt heiter. »Ich habe dir ein paar Dinge aus dem Haus in Bonn mitgebracht, Elfriede. Ich weiß, daß du sehr an ihnen hängst. Die alte Standuhr, der Sekretär aus der Diele, das Bild aus dem Wohnzimmer.« Er vermied es geflissentlich, zu sagen ›unser Haus‹ oder ›unser Wohnzimmer‹. »Und noch ein paar Kleinigkeiten. Sicher sind da noch viele Sachen, die du gerne hier haben möchtest. Nimm dir, was immer du willst.« »Ich danke dir, Heinrich. Das ist sehr großzügig von dir. Wirst du manchmal Zeit haben, mich anzurufen?« »Ich möchte, daß wir Freunde bleiben«, sagte der Kanzler, und das meinte er ehrlich. Elfriede hatte immerhin ein halbes Leben an seiner Seite verbracht und sie war immer loyal und bescheiden gewesen. Er fühlte sich ihr wirklich freundschaftlich verbunden. »Aber das ist doch klar, du bist ja nicht aus der Welt. Du hast nur so schrecklich viel Verantwortung und Arbeit übernommen, wobei ich 131
dir nicht helfen kann. Das hat uns auseinander gebracht. Und dann immer die Angst, daß dir etwas passieren könnte. Wenn wir geschieden sind, wird das alles leichter für mich. Vor allem schaffe mir dann schnellstens diese vielen Sicherheitsbeamten vom Leibe. Sie sind sehr nett, aber sie langweilen sich hier zu Tode und stören meine Freunde. Ich brauche kein Statussymbol in Form einer Leibwache. Und wenn ich nicht mehr deine Frau sein werde, wird sich ja wohl auch niemand mehr an einer alten Frau vergreifen …« »Du bist doch nicht alt, Elfriede …« »Für dich bin ich zu alt, Heinrich. Und vielleicht habe ich auch zu wenig Verständnis für diese neue Welt und die Neue Partei und all das, was du damit zu tun hast. Schau nur hinaus …«, sie zeigte aus dem Fenster, wo die Kolonne des Kanzlers mit eingeschalteten Signallichtern wartete, »… das ist kein Leben für mich. Ich habe hier meine Bücher und meine Blumen, ein paar Häuser weiter wohnt dieses deutsche Schauspielerehepaar, mit ihnen spiele ich gerne Bridge – außerdem sind viele Deutsche hier, die dankbar sind, daß es dich gibt und was du für sie tust. Das einzige was sie ärgert ist, daß sie dich nicht wählen können, weil sie ihren Wohnsitz hier haben. Aber du darfst mir glauben, daß sie dich alle wählen würden …« Elfriede Müller kam ins Plaudern. Der Kanzler unterbrach sie: »Ich werde wahrscheinlich wieder heiraten, Elfriede!« Seine Frau sah ihn keineswegs erstaunt an. »Kenne ich sie? Und wird sie dich und deine Launen aushalten?« »Du kennst sie nicht, Elfriede!« »Dann grüße sie trotzdem von mir und sage ihr, daß ich sie bewundere und daß ich ihr danke, daß sie dich nicht alleine läßt in der schweren Zeit, die du vor dir hast.« »Du bist sehr großzügig, Elfriede«, sagte der Kanzler. Ja, das war seine alte Elfriede, die Frau, die niemals Schwierigkeiten machte, die immer in seinem Schatten gestanden war und alles für ihn getan hatte. Für einen kurzen Moment dachte er, ob seine Entscheidung auch richtig war. Dann aber drängte es ihn vorwärts. Er nahm 132
Elfriede behutsam in die Arme und küßte sie auf die Stirne: »Ich danke dir, ich danke dir sehr. Wir wollen unsere Trennung so vollziehen, wie unsere Ehe gewesen ist: Fair und still!« Sie hielt ihn einen Augenblick fest, dann küßte sie ihn ein letztes Mal auf den Mund: »Alles Gute, Heinrich, alles Gute für dich!« Sie hatte Tränen in den Augen, so wie damals, als ihnen der Arzt eröffnet hatte, daß sie nie Kinder bekommen würden. Heinrich Müller wandte sich ab und ging zur Tür: »Die Anwälte werden alles diskret erledigen, verlaß dich darauf, Elfriede. Und wenn du irgend etwas brauchst, ruf mich an, klar?« Er versuchte zu lächeln, so wie früher, wenn er morgens gegangen war und sie ihn bis zur Tür begleitet hatte. Elfriede sagte tapfer: »Klar!«
Es war das letzte Mal, daß sie Heinrich Müller sah. Der Kanzler fuhr zurück nach Santa Cruz de Tenerife und kam zum Dinner seiner Begleitung in dem Augenblick, als die Gesellschaft sich aufzulösen begann. Als erster lief ihm Rohloff über den Weg. »Alles geklärt, Herr Bundeskanzler?« fragte der Fernsehmann. »Ja, und überraschend gut.« Alvarez kam in voller Uniform heran, den deutschen Orden in Paradeausführung auf der Brust. »Ich habe mich bei Ihnen zu bedanken, Señor Alvarez«, sagte der Kanzler, »es hat alles vorzüglich geklappt. Ich werde das nicht vergessen!« Später gab er Dieter Knorr den Auftrag zu prüfen, welchen Orden man dem Spanier noch verleihen konnte. Und genau das war es, was nicht ohne Folgen bleiben sollte. Am nächsten Morgen startete die Luftwaffen-Maschine zurück in den Bonner Alltag. Noch während die Maschine in der Luft war, hatte Dr. Ladiges per 133
Fernschreiben den Kanzler um eine Unterredung gebeten. Müller gab ihm sofort einen Termin. Ladiges legte Berichte vor. Aus dem Rheinland, wo Peter Dahl herumzog und Geld für die Neue Partei einsammelte. »Meiners hat eine Million für die neue Kampagne gespendet«, begann er das Gespräch. »Das ist gut«, sagte Müller, »wollen Sie das Geld in Hamburg, Bremen und Berlin anlegen?« »Dahl hat noch mehr gesammelt …«, sagte Ladiges und beobachtete sein Gegenüber genau. Aber Müller schien diesmal wirklich ahnungslos zu sein. Die Aktion schien nicht von ihm auszugehen. Der Kanzler sagte nur: »Wir scheinen einen guten Partei-Schatzmeister gefunden zu haben.« Er sah an Ladiges vorbei. Große Aufgaben kamen auf sie zu – auf ihn und die Partei. Die Zukunft hatte schon begonnen. Wenn Hamburg, Bremen und Berlin zu erobern waren, würde auch die Mehrheit der Union im Bundesrat zu Fall gebracht und seine Macht wäre praktisch grenzenlos, solange er keinen Fehler machte. »Wir müssen uns auf die drei Stadtstaaten konzentrieren und wo ich helfen kann, will ich das gerne tun.« Ladiges ahnte, daß diesmal die treibende Kraft von den Unternehmern kam, daß sie Müller die ganze Macht zuspielen wollten. Und er ahnte auch, daß Müller – aus welchen Gründen auch immer – noch ohne Information war. Er war nicht bereit, im Augenblick auch nur einen Zentimeter Boden abzugeben. So startete er einen Gegenangriff. »Wir hätten Sie gerne als Galionsfigur in Norddeutschland und in Berlin. Sie haben augenblicklich den höchsten demoskopischen Popularitätsgrad und mit Ihnen an der Spitze und als Unterstützung für unsere Kandidaten haben wir die Wahlen weitgehend im Griff. Wie stellen Sie sich dazu?« »Das ist keine Frage, Herr Doktor Ladiges. Natürlich bin ich dabei. Wieviel Einsätze haben Sie für mich geplant? Was immer mit meinem Terminkalender in Übereinstimmung zu bringen ist, werde ich wahrnehmen. Wer leitet die Kampagne?« Es waren die gleichen Mitarbeiter wie im Bundestagswahlkampf, 134
nach dem alten System ›Never Change a Winning Team‹, nur stand diesmal Dahl als Organisator an der Spitze. »Das ist gut«, sagte Heinrich Müller. Er überlegte, warum Ladiges es so eilig gehabt hatte, mit ihm zu sprechen. Und da er im Polit-Geschäft zu Hause war, rief er Knorr an und berichtete diesem von der Unterhaltung. »Da stinkt etwas, Henry«, meinte Knorr. »Nenn mich nicht …« Müller zuckte die Achseln. »Meinst du?« sagte er dann. »Ich bin ganz sicher. Ich werde sofort meine Drähte spielen lassen und ich verspreche dir, daß ich noch heute abend Bescheid weiß!« »Verständige mich gleich, ich werde im Bungalow sein. Übrigens hat die Geschichte mit Elfriede besser geklappt, als ich erwartet habe. Von dort werden wir keine Schwierigkeiten bekommen.« »Fein«, sagte Knorr aufatmend.
Hanne Naumann schwebte im siebten Himmel der Liebenden. Täglich hatte sie Karl Lamprecht gesehen, hatte ihn geliebt und ganz vorsichtig mit ihren Plänen bekannt gemacht. Hatte ihn an den Gedanken gewöhnt, daß sie nunmehr pensionsberechtigte höhere Beamtin war, was auch für ihn nicht ohne Interesse sein dürfte. Und daß sie immerhin so viel Einfluß hatte, ihm notfalls einen Job bei der Industrie-Anlagen AG besorgen zu können. Und Karl hatte sich erst zwar gesträubt, war dann aber langsam weich geworden, hatte ›wenn's‹ und ›aber's‹ angebracht, schließlich aber doch gemeint: »Also wenn du das fertig bringst, daß ich in Düsseldorf einen Job bekommen würde und wir in Köln wohnen könnten, dann meinetwegen …« »Was deinetwegen?« hatte Hanne Naumann gefragt. »Dann könnten wir ja heiraten«, sagte Lamprecht und sah dabei gar nicht glücklich aus. Aber ›Krümel‹ jubelte: »Ich schaffe das, verlaß dich darauf!« Und sie erzählte, daß sie dem Kanzler von diesem geschäumten Aluminium 135
erzählt hatte und daß eine vertrauliche Mitteilung an Kamphausen hinausgegangen war, mit der Bitte, sich um die Sache zu kümmern. »Er ist jetzt nur mit in Amerika, aber er wird sich bestimmt bei dir melden, Karl.« »Warum bei mir? Er kann sich doch direkt an die MBB wenden?« »So dumm bin ich nun auch nicht«, lachte Hanne Naumann, »ich will, daß du das machst, und darum habe ich von der MBB nichts erzählt. Kamphausen muß sich an dich wenden!« »Ich bin jetzt aber zwanzig Jahre bei meiner Firma …«, versuchte Lamprecht ihren Enthusiasmus zu bremsen. »Liebst du mich, Karl?« fragte ›Krümel‹. »Was hat das mit dem Geschäft zu tun?« »Würdest du meinetwegen deine Firma aufgeben?« Karl Lamprecht stützte den Kopf in die Hände. »Ja«, sagte er dann, »ich fürchte, ich würde das tun. Aber ich will nicht von meiner Frau protegiert werden. Entweder nimmt mich dieser Herr … wie heißt er noch …?« »Kamphausen!« »Also, entweder nimmt mich dieser Kamphausen deswegen, weil ich ein guter Ingenieur bin, oder er kann mir den Buckel ›runterrutschen‹!« Hanne Naumann schwieg. Aber sie wußte, wie sie dafür sorgen konnte, daß Kamphausen den Karl Lamprecht für den besten Ingenieur auf der Welt halten würde. Und was sie sich in den Kopf gesetzt hatte, übertrug sie auch sofort nach der Rückkehr des Kanzlers in reale Gespräche. Sie rief kurzerhand Kamphausen an. Der Industrielle wußte, welche Stellung sie bei Heinrich Müller hatte. Und man konnte nie wissen, zu was man solch ein Mädchen gebrauchen konnte. Inge Sanders hatte ihm zudem gesteckt, mit welchen Mitteln man sie an den Kanzler gebunden hatte. So ging er nicht unvorbereitet zu der von ihm ausgesprochenen Dinnereinladung ins Kölner Domhotel. Er hörte ihr geduldig zu, was sie von diesem Supermann Karl Lam136
precht zu berichten hatte, und da er ja schon einen halboffiziösen Brief von Müller hatte, sich mit dem Ingenieur in Verbindung zu setzen, konnte er Hanne Naumann leicht zusagen, daß er schon am nächsten Tag mit Lamprecht Verbindung aufnehmen wollte. »Das werde ich Ihnen nicht vergessen, Herr Kamphausen«, sagte die Naumann. Der liebe Gott meinte es schon gut mit ihr, alles lief wie am Schnürchen. Die Unterredung zwischen Kamphausen und Lamprecht fand bereits am nächsten Abend in Düsseldorf statt. Und es wäre gelogen, zu behaupten, daß sich die beiden Männer nicht vom ersten Augenblick an sympathisch gewesen wären. Kamphausen hatte einen Riecher für gute Leute, und dieser Freund von ›Krümel‹ Naumann war schon aus dem Holz geschnitzt, das er für die Industrie-Anlagen AG brauchte.
»Ich weiß, daß unsere Unterredung auf Betreiben von Fräulein Naumann zustande gekommen ist«, meinte Lamprecht. »Wenn Sie glauben, mir deswegen ein Angebot machen zu müssen, vergessen Sie es, Herr Kamphausen. Ich nehme Ihr Angebot an und sehe mir morgen Ihren Laden an. Und wenn nur fünfzig Prozent von dem zutrifft, was Sie mir eben erzählt haben, dann kommen wir möglicherweise zusammen. Aber nur, wenn Sie glauben, daß ich der richtige Mann für Sie bin und wenn ich glaube, daß ich der richtige Mann für Sie bin. Ich brauche keine Protektion von Fräulein Naumann, ich weiß, was ich kann und was ich will. Ich bin zwanzig Jahre in einer Firma und praktisch die rechte Hand des Chefs. Das gibt man nicht so leicht auf …« »Ich brauche auch eine rechte Hand, Herr Lamprecht«, unterbrach ihn Kamphausen. »Das ist möglich, aber das heißt noch lange nicht, daß ich es sein werde«, sagte Lamprecht. »Wir sehen uns morgen!« Er bestand darauf, sein Essen selbst zu bezahlen: »Ich lasse mir nichts schenken!« Kamphausen imponierte das. 137
Am nächsten Morgen rief er das Bundeskanzleramt an und ließ sich ›in dringender Angelegenheit‹ mit Heinrich Müller verbinden. ›Krümel‹ brachte es fertig, den Kanzler aus einer Kabinetts-Sitzung zu holen, die eben begonnen hatte und in der Müller über die Amerika-Reise und seine Gespräche mit Präsident Taylor berichtete. »Ich bin im Kabinett, Kamphausen, was gibt es?« Müller war über die Störung nicht allzu erfreut. »Ich bekomme in wenigen Minuten Besuch von diesem Ingenieur Lamprecht. Sie haben mir deswegen eine Notiz zugeleitet. Gestern abend hatte ich ein erstes Gespräch mit ihm, er macht einen hervorragenden Eindruck. Natürlich müßte ich ihm ein paar Dinge zeigen, die nur dem engsten Kreis meiner Mitarbeiter – die alle vom Verfassungsschutz überprüft sind – bekannt sind. Deswegen rufe ich Sie an. Wie weit kann ich mit Lamprecht gehen?« »Der Mann ist in Ordnung und überprüft. Vergattern Sie ihn und zeigen Sie ihm, was Sie für notwendig halten. Die Akte vom Verfassungsschutz leite ich Ihnen noch heute zu. Von mir aus also keine Bedenken. Sonst noch etwas?« »Nein, danke, Herr Bundeskanzler!« Kamphausen legte auf. Dieser Heinrich Müller schien die Dinge immer voraus zu ahnen. Oder sollte etwa Hanne Naumann …? Das war jetzt gleichgültig. Karl Lamprecht wurde gemeldet, und er war ein absolut aufmerksamer und interessierter Zuhörer. Kamphausen führte ihn herum, sie fuhren mit dem Lift unter Tage bis zur Sohle vier, wo die ersten Versuche unternommen wurden, schußfeste Stähle zu entwickeln. Sie besuchten die Konstruktionsbüros, besichtigten die Hallen für die geplante Fertigung. Dort wurden gerade die Bänder für die Massenfertigung montiert. Lamprecht bekam Einblick in die weitergehenden Pläne und sah sich die detaillierten Konstruktionszeichnungen an. Er schien beeindruckt. »Das kostet alles eine Menge Geld«, meinte er dann, als sie nach drei Stunden wieder in Kamphausens Büro saßen. Kamphausen gab ihm einen kurzen, groben Überblick, informier138
te ihn oberflächlich über Meiners, den vorgesehenen Vertrag mit den USA, die Steuer-Präferenzen für Anleger und Aktionäre – soviel eben, wie er glaubte, daß Lamprecht wissen mußte, um eine Entscheidung treffen zu können. Lamprecht revanchierte sich, indem er Kamphausen einen exakten Bericht über die gerade angelaufenen Versuche der MBB mit der Verwendung von geschäumtem Aluminium und Keramikkugeln gab, ließ nicht unerwähnt, daß er hier eine große Chance für eine Zusammenarbeit zwischen der ›IAAG‹ und der MBB sehen würde, was auch dem politischen Klima zwischen Bayern und dem Bund zustatten kommen könnte und erwähnte in einem Nebensatz, daß er Ortsfunktionär der Neuen Partei in Dortmund war. Kamphausen hörte aufmerksam zu. Dieser Mann – das sah er klar – war ein Geschenk. Er hatte von den Problemen einer ehemaligen Grube jede Menge Ahnung, er war Techniker, er war politisch engagiert in des Kanzlers Partei und er war nüchtern genug, all diese Dinge getrennt und doch in ihrem Zusammenwirken zu sehen. Insoweit unterschied er sich von seinen Fachkollegen, die jeder auf ihrem Spezialgebiet ein As waren, aber keiner fähig, all das in einem großen Zusammenhang zu sehen. Natürlich hatte diese Fachidioten-Einstellung für Kamphausen auch ihr Gutes, aber dieser Lamprecht schien ihm so recht aus dem Holz geschnitzt, aus dem man Vorstandsmitglieder machte. Und da Kamphausen ein Mann der Tat war, fragte er auch rundheraus: »Würden Sie einen Posten als Vorstandsmitglied für die Produktion akzeptieren?« Lamprecht sah ihn aufmerksam an. Das war mehr, als er erwartet hatte. Er überlegte nur ein paar Sekunden. Dann streckte er Kamphausen die Hand hin: »Ich akzeptiere! Wann soll ich anfangen?« »Vorgestern!« lachte Kamphausen und schlug ein. Genau dieser Posten war immer vakant geblieben, und Lamprecht würde ihm erhebliche Entlastung verschaffen, die es ihm erlaubte, auch seinen anderen Geschäften wieder einmal die nötige Aufmerksamkeit zu schenken. Erst als Lamprecht gegangen war, fiel Kamphausen auf, daß sie über 139
alles gesprochen hatten, nur nicht über die finanzielle Entschädigung, die Lamprecht für seine Arbeit bekommen sollte. »Doch wieder so ein idealistischer Idiot« dachte er bei sich. Aber dann lachte er. Das eben waren die Menschen, die die deutsche Industrie groß gemacht hatten …
Gleich nach seiner Rückkehr hatte Knorr Peter Dahl angerufen, und sie hatten sich zu einem Essen in einem kleinen Lokal in Königswinter getroffen. Dahl berichtete von Meiners und seinen übrigen Besuchen im Kohlenpott, sprach von den sieben Millionen, die er in vier Tagen für die Kampagne in Hamburg, Bremen und Berlin gesammelt hatte und, da er wußte, daß Dieter Knorr ein Intimus des Kanzlers war, scheute er sich auch nicht, mit der Wahrheit herauszurücken: »Die Industrie würde es gerne sehen, wenn Müller neben seiner Tätigkeit als Regierungschef auch erster Vorsitzender der Neuen Partei würde.« Knorr pfiff durch die Zähne. So also lagen die Dinge. Er sah Dahl prüfend an. »Ladiges wird dem doch niemals zustimmen«, sagte er dann. Dahl lächelte. »Es müßte natürlich alles sehr vorsichtig in die Wege geleitet werden. Müller müßte sich bereit erklären, gewissermaßen als Lokomotive in den Wahlkampf der drei Stadtstaaten zu ziehen. Das würde seine Popularität – auch bei der Basis der Partei – immens heben. Mit Ladiges habe ich darüber schon gesprochen und er selbst hat Müller diesen Vorschlag unterbreitet. Natürlich denkt Ladiges hauptsächlich daran, seine eigene Position innerhalb der Partei-Spitze dadurch zu festigen. Wenn aber die Landesfürsten Müller beim nächsten Parteitag – und der ist ja erst nach den Wahlen – ganz offiziell zur Wahl als ersten Vorsitzenden benennen, habe ich keinen Zweifel, daß er durchkommt. Ich habe in dieser Richtung schon einige vorsichtige Gespräche geführt, und wenn Müller mitmacht, gibt es nicht einmal den Zweifel eines Verdachtes, daß die Kampagne von ihm ausginge …« 140
»Nun, sie geht ja auch nicht von ihm aus. Wer steckt dahinter?« fragte Knorr. »In erster Linie der Bankier Meiners in Düsseldorf und seine Freunde«, erläuterte Dahl. Sie besprachen noch Details, wie Dahl bei den Wahlen vorgehen sollte, und Knorr sagte zu, daß er von Seiten des Bundes-Presseamtes eine Reihe von Public-Relations-Anzeigen über die Tätigkeit des Kanzlers und der jetzigen Regierung rechtzeitig vor den Wahlen entwerfen und plazieren würde. »Das entlastet Ihren Etat, Peter Dahl«, sagte er lächelnd und bedankte sich insgeheim bei der früheren sozialliberalen Koalition, die diese Methode zur Praxis entwickelt hatte. Dann ließ er sich zum Kanzler fahren. »Sie wollen dich zum ersten Vorsitzenden der Neuen Partei machen, Heinrich«, berichtete er. Natürlich war Müller daran interessiert, auch den Partei-Vorsitz an sich zu ziehen. »Wenn wir nur einen der drei Stadt-Staaten für uns gewinnen können, haben wir die absolute Mehrheit auch im Bundesrat. Und wenn ich dann noch Partei-Vorsitzender würde, Dieter, hätten wir jede nur erwünschte Handlungsfreiheit, ohne daß wir uns in stundenlangen Konferenzen und Diskussionen immer wieder die Zustimmung der Gremien holen müßten. Das wäre die ganz große Voraussetzung für unseren Anspruch auf die Führung Europas. Giscard müßte klein beigeben, die USA, Italien und England würden auf unsere Front schwenken. Europa würde Wirklichkeit, Dieter. Und wir führen es. Wir müssen es schaffen!« »Mit Ladiges können wir fertig werden«, sagte Knorr, »aber was ist mit Strauß? Der alte Mann in Bayern ist die einzige politische Potenz, die sich gegen diese Pläne mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zur Wehr setzen wird.« Müller dachte nach. Natürlich wurde Strauß auf dem flachen Land mit Adenauer verglichen, der mit 73 Jahren 1949 zum Bundeskanzler gewählt worden war. Aber die Vorstellung lag nah, daß Strauß jetzt resigniert hatte. Müller besprach all dies sehr ausführlich mit seinem Freund Die141
ter Knorr. »Wenn es uns gelingt, in der Berlinfrage weiter zu kommen, gehört uns der Sieg, Dieter. Ich muß mit Taylor telefonieren, ich muß mit den Hochkommissaren sprechen und ich muß mich mit Graubner treffen!« Harald Graubner war der Vorsitzende des Ministerrates der DDR. »Wir müssen uns ein Angebot an die DDR einfallen lassen, das wir als Grund vorschieben können!« »Und an was denkst du?« fragte Knorr. »Ich denke an die Bekämpfung des internationalen Terrorismus«, sagte Müller und wälzte in seinem Kopf schon einen neuen, interessanten Plan. Die Männer trennten sich, sie waren beide etwas erschöpft. Knorr fuhr direkt in seine Wohnung. Er fand eine Nachricht seiner Frau Gisela vor. »Ich bin im Ministerium, Heske will unbedingt heute noch die Amerikareise aufarbeiten, es kann spät werden. Bier und Schnaps sind im Eisschrank!« So setzte sich Dieter Knorr mit dem Leiter seiner persönlichen Sicherheitsabteilung, dem Polizei-Hauptkommissar Deininger, in die Küche und ließ sich vollaufen. Er war ohne Arg.
Inge Sanders hatte Heinrich Müller erwartet. Sie hatte den Fernseher aus dem Privatzimmer des Kanzlers entfernen lassen, hatte den kleinen Tisch mit kostbarem Geschirr einladend gedeckt, hatte sich selbst eine Schürze umgebunden und gekocht. Als Heinrich Müller kam, roch es angenehm, nach Schweinebraten – seinem Lieblingsgericht. Knödel gab es dazu und Rotkohl, den er so gerne mochte. Und da dies kein offizielles Essen war, servierte sie ihm das kühle Bier in einem Original-Keferloher, so, wie er es am liebsten trank. Irgendwoher kam Musik aus der Stereo-Anlage, nicht Beethoven, Bach oder Brahms, wie ihm sein Pressebüro angedichtet hatte, sondern leichte Unterhaltungsmusik. Als Heinrich Müller sich zufrieden und gesättigt den Mund abwischte und von Ladiges anfangen wollte, legte Inge Sanders den Finger auf 142
den Mund und bat zärtlich: »Kein Wort von Politik heute, bitte, Heinrich?« So nahm er sie in die Arme und trug sie hinüber in sein Schlafzimmer. Er spürte sein Verlangen nach dieser Frau, die so ganz anders war als Elfriede, und nahm sie mit der Gier und der Unbefangenheit eines Mannes ›in den besten Jahren‹. Und er spürte, wie sie ihm entgegenkam, wie sie ganz in ihm aufging, wie sie sich hingab und seine Lust noch vergrößerte. Er notierte mit Erstaunen seine sexuellen Fähigkeiten in einem Maße, wie schon lange nicht mehr. Und er suchte vor sich selbst eine Entschuldigung, als er sagte: »Auch ein Kanzler hat ein Recht auf …« Weiter kam er nicht. Sie schloß ihm den Mund mit einem langen Kuß, und als er nach Luft schnappte, sagte sie: »Du bist jetzt nicht der Kanzler, du bist jetzt mein Geliebter, komm …!« Es wurde eine lange und amüsante Nacht der Hingabe und des vollen Verstehens von zwei Menschen, die das Schicksal im Kanzlerbungalow zusammengeführt hatte. Kein Mikrofon und keine Kamera, kein Beamter und niemand vom Hauspersonal störte die Idylle. Inge Sanders hatte kraft ihrer Liebe, aber auch kraft ihres Amtes dafür gesorgt. Es war das erste Mal, daß sie die ganze Nacht bei dem geliebten Mann blieb. Heinrich Müller war jetzt 53 Jahre alt, aber er hatte die Energie und die Konstitution, um es jederzeit mit einem Dreißigjährigen aufnehmen zu können. Ein Umstand, den Inge Sanders mit größter Zufriedenheit zur Kenntnis nahm. Und sie war entschlossen, die wenigen Beanstandungen, die sie insgeheim noch hatte, ihm spätestens nach der Eheschließung abzugewöhnen. Sie war immer anspruchsvoll gewesen und sie war entschlossen, diese Ansprüche an der Seite des mächtigsten Mannes in Deutschland durchzusetzen. Beim gemeinsamen Frühstück sagte er: »Ich werde heute die notwendigen Schritte wegen der Scheidung in die Wege leiten. Die Anwälte glauben, daß es in meinem Fall in zwei Monaten erledigt sein müßte, wenn nicht vorzeitig Informationen an die Öffentlichkeit dringen. Vielleicht solltest du dich kurz mit Rohloff treffen.« 143
»Ich kümmere mich um ihn«, meinte Inge Sanders. Dann gingen sie gemeinsam hinüber ins Palais Schaumburg. Und auch das war neu.
Gisela Knorr hatte die Nacht mit Rolf Heske verbracht. Das fiel nicht weiter auf, denn es war eine Angewohnheit Heskes, wichtige Dinge in seiner Wohnung zu erledigen, weil er dort ungestörter nachdenken und arbeiten konnte, wie er sagte. »Was ist mit Dieter?« fragte er die Freundin. »Das weißt du doch besser als ich. Er ist mit dem Kanzler verheiratet, dann mit seiner Leibgarde und hin und wieder auch mit mir. So sieht's aus!« »Und so kann es nicht weitergehen. Was dem Kanzler recht ist, sollte uns billig sein. Warum sprechen wir nicht mit deinem Mann? Dieter ist ja nicht unvernünftig. Aber er hätte sich schon mal ein bißchen um dich kümmern müssen. Wir dürfen auf keinen Fall ins Gerede kommen, bevor die Dinge nicht geklärt sind. Je früher wir das tun, um so besser.« »Aber sicher, Rolf. Aber wann soll ich es ihm sagen? Wir haben zwar eine gemeinsame Wohnung, aber wir sehen uns fast nie mehr. Er ist immer mit dem Kanzler unterwegs, und wenn er schon einmal nach Hause kommt, ist er müde, trinkt ein Bier, schmeißt sich ins Bett und ist in Minuten eingeschlafen. Wann also soll ich es ihm sagen?« »Aber Gisela, für eine so wichtige Sache wird er ja schon mal einen Nachmittag blaumachen können.« »Du kennst doch Heinrich Müller, Rolf!« Das klang vorwurfsvoll. Aber Heske wußte, daß sie recht hatte. Dieter Knorr war fast ständig in der nächsten Umgebung von Heinrich Müller zu finden, stand ihm Tag und Nacht zur Verfügung, arbeitete ansonsten oft bis zum Umfallen im Bundes-Presseamt, trieb seine Beamten zu Höchstleistungen an, und da er kameradschaftlich und immer freundlich war, hatte er die fast grenzenlose Unterstützung seiner Mitarbeiter. Zudem verstand er es geschickt, die führenden Beamten gegenein144
ander so auszuspielen, daß sie sich gegenseitig Konkurrenz machten. Ein für eine Behörde geradezu unglaublicher Zustand. Und der Kanzler wußte das zu schätzen. In dieser Hinsicht war Knorr allen Ministern überlegen, die sich oft gegen Widerstände aus dem Beamtenapparat durchsetzen mußten. Auch Rolf Heske. »Soll ich mit ihm sprechen, Gisela?«, machte er endlich einen Kompromißvorschlag. »Wir sollten es zusammen tun, Rolf«, sagte Gisela Knorr. »Ich werde versuchen, daß wir noch heute mit ihm zusammenkommen. Vielleicht können wir abends zusammen essen? Bei Ria oder bei Steigenberger? Ich werde ihn fragen.«
Tatsächlich saßen sie dann am Abend oben im Dachrestaurant des Steigenberger-Bonn-Hotels. Es wollte keine rechte Stimmung aufkommen, obwohl das Menu ordentlich war. Heske bestellte mehrfach Wein nach, aber der Ansatzpunkt für das, was er und Gisela sagen wollten, wollte nicht kommen. Da ergriff Gisela Knorr einfach die Initiative und sagte zwischen zwei Gängen: »Dieter, ich möchte mich von dir scheiden lassen!« Sie hatte erwartet, daß er aufbrausen würde, daß er irgendeine spektakuläre Aktion in Szene setzen würde. Aber entweder war Dieter Knorr zu müde oder er hatte irgendwann damit gerechnet. So sah er nur aufmerksam zu ihr hinüber und fragte: »Muß das gerade jetzt sein? Wir haben bis Dezember alle Hände voll zu tun, Taylor kommt nach Deutschland, da gibt es viel vorzubereiten. Der Kanzler muß vorher noch vier Auslandsreisen unternehmen, das bleibt doch letzten Endes alles an mir hängen. Können wir das nicht bis zum Januar verschieben?« »Nein«, sagte Gisela Knorr tief verletzt, die wenigstens irgendeine menschliche Regung von ihrem Mann erwartet hatte. Wie hätte er sich früher aufgeführt, als er noch die kleine PR-Agentur betrieb? Er wäre vor echter oder gespielter Eifersucht aus allen Nähten geplatzt. Und jetzt war sie nur noch ein lästiger Fleck in seinem Terminkalen145
der. »Nein«, wiederholte sie, »wir können das nicht ins nächste Jahr verschieben. Denn dann kommen wieder die Wahlen in Norddeutschland und Berlin und du wirst wieder keine Zeit haben. Und nach den Wahlen kommt der Parteitag und nach dem Parteitag wieder irgendein Bolschewik, Negerfürst oder Parteiführer. So können wir das nicht angehen, Dieter. Ich sage es dir, wie es ist. Weil du keine Zeit mehr für mich hast, habe ich ein Verhältnis mit Rolf Heske angefangen, darum ist er heute dabei. Wir wollen das legalisieren. Und wenn du schon nicht mehr an mich denkst, dann denk an deinen Job und was es für eine schlechte Publicity abgäbe, wenn ausgerechnet die Frau des Leiters des Bundespresseamtes mit einem Bundesminister eine Affäre hätte. Und ich verspreche dir, daß ich der Öffentlichkeit mitteilen werde, warum es soweit gekommen ist: Weil du eine Null geworden bist als Mann, ein Mensch ohne jede Regung, ein gefühllos funktionierender Roboter, der für Nation und Partei den Menschen verschleißt und darüber vergißt, daß dieser Staat von Menschen für Menschen gemacht ist. Das vergeßt ihr in eurem parvenühaften Polit-Dünkel überhaupt alle!« Sie trank ihr Glas in einem Zuge aus. »Ihr habt euch einen Gott geschaffen, er heißt Heinrich Müller! Gut! Warum soll der liebe Gott nicht Müller heißen? Der Name ist nicht schlechter als jeder andere auch. Aber nur, weil er seine Frau in die Wüste geschickt hat und sich 'ne Freundin hält, muß das ja nicht sklavisch nachgeahmt werden.« »Nu mach mal halblang, Gisela!« fuhr Knorr auf, aber sie redete schon weiter: »Ich bin dir eine gute Frau gewesen, Dieter, du weißt es. Und ich will eine gute Frau bleiben. Ich will Rolf heiraten, weil ich meine – wie du sagen würdest – kleinbürgerliche Ordnung brauche. Halte mich für was du willst, aber bringe bitte den Mut auf, den Dingen so ins Auge zu sehen, wie sie sind!« Sie schlug die Hände vors Gesicht und begann leise zu weinen. Dieter Knorr sah sich vorsichtig um. Glücklicherweise waren wenige Menschen im Lokal, sie saßen ziemlich separiert. Journalisten konnte er keine entdecken. So fragte er Heske: »Was meinst du, Rolf? Was sollen wir tun?« »Gib Gisela frei, Dieter. Sie leidet schon lange darunter, daß du dich 146
nicht mehr um sie kümmerst. Und sie kann und konnte das nicht ertragen. Verstehst du denn nicht?« Knorr hob die Schultern. »Es wäre nett gewesen, wenn sie mich früher darauf angesprochen hätte. Jetzt habe ich Hörner auf.« »Nein. Ich«, sagte Gisela. »Ich habe dich ja nicht betrogen!« »Doch, das hast du, du hast mich mit dem Kanzler betrogen!« schluchzte Gisela Knorr. »Das ist ja zum schwul werden«, beklagte sich Dieter Knorr. Dann resignierte er. »Na schön! Ich will euch keine Schwierigkeiten machen. Es geht nur im Moment nicht. Ich muß erst eine andere Scheidung unterbuttern, von der möglichst niemand etwas erfahren darf. Ich kann mich nicht zur gleichen Zeit scheiden lassen, das gäbe einen Skandal von nicht überschaubaren Ausmaßen.« Heske und Gisela sahen ihn überrascht an: »Müller?« fragten sie fast gleichzeitig. »Das sind reine Mutmaßungen und ich kann darüber auch nichts sagen, auf jeden Fall müßt ihr eure Pläne insoweit mindestens sechs Wochen zurückstellen.« »Aber du wärst einverstanden?« fragte Gisela. »Was bleibt mir anderes übrig?« sagte Knorr und konnte schon wieder lächeln. »Wir wollen trotzdem Freunde bleiben, Dieter«, sagte Rolf Heske. »Das hoffe ich, und ich möchte manchmal zu Giselas Sauerbraten eingeladen werden. Hat sie dir schon einmal rheinischen Sauerbraten gemacht, Rolf? Das alleine ist ein Grund, sie zu heiraten!« Er faßte seiner Noch-Ehefrau unters Kinn und zog ihr die Hände vom Gesicht. »Es ist ja alles gut, Kleines«, sagte er. Sie tranken gemeinsam noch eine Flasche Wein und trennten sich dann. Gisela ging mit Rolf Heske. Dieter Knorr ließ sich nach Köln fahren und entwischte mit Deininger durch die Hintertür eines kleinen Restaurants. Draußen nickte er seinem Bodyguard zu: »Ich gehe jetzt ficken! Scheißweiber!« 147
In einem verschwiegenen Bordell der Innenstadt, wo man auf Diskretion Wert legte und dessen Adresse Alberts ihm für alle Fälle gegeben hatte, bewies er sich selbst, daß er noch keine Potenzstörungen hatte. Der Regierungsdirektor Jochen Alberts aber bekam am nächsten Morgen einen diskreten Hinweis auf den nächtlichen Besucher in Köln und machte sich eine Aktennotiz für sein Dossier ›Knorr‹, das wie alle anderen auch im Safe der Sparkasse lagerte.
Mitten in der Nacht riß ein Anruf Rolf Heske aus dem Schlaf. »Was ist denn?« stöhnte er. Nach der ›eleganten Lösung‹, die das Ergebnis seiner Unterredung mit Dieter Knorr sein konnte, hatte ihn Gisela zu ungeahnten Höchstleistungen getrieben. Erst kurz nach drei war er zu einem unruhigen Schlaf gekommen, in dem er von einem Harem von mindestens dreißig Weibern träumte, die ihn dauernd vergewaltigen wollten. »Ja?« krächzte er ins Telefon. Es war der Chef der Leibgarde von Elfriede Müller. »Frau Müller ist tot«, sagte der Hauptwachmeister. »Was?« Noch war Heske nicht wach. »Frau Bundeskanzler Müller ist heute nacht verstorben«, wiederholte der Hauptwachtmeister der Sicherheitspolizei seine Meldung. »Bist du verrückt? Wer ist eigentlich am Telefon?« sagte Heske empört. Er sah immer noch die Bajaderen um ihn herum. »Hauptwachtmeister Schneider vom Begleitkommando der Gattin des Deutschen Bundeskanzlers. Ich muß leider melden, daß die Frau des Bundeskanzlers heute nacht an den Folgen einer Austernvergiftung verstorben ist.« Heske wurde schnell wach. »Moment mal. Wer ist am Apparat?« »Hauptwachtmeister Schneider. Ich spreche über die Geheimleitung.« Jetzt konnte kein vernünftiger Zweifel mehr existieren. »Verstehe«, sagte Heske geschäftsmäßig und wehrte Gisela ab, die ihn schlaftrunken küssen wollte. »Laß das jetzt, zum Teufel«, sagte er leise. 148
»Wie bitte?« kam es über den Zerhacker. »Spreche ich mit Herrn Minister Heske?« »Ja«, sagte Heske. »Wie konnte denn das passieren?« fragte er so dienstlich wie möglich. »Ich meine, das mit der Frau des Bundeskanzlers?« »Na, sie hat eben Austern gegessen. Eine davon muß schlecht gewesen sein«, kam es aus dem Hörer. »Was haben Sie veranlaßt, Hauptwachtmeister?« »Ich habe sofort den General Alvarez verständigt. Er wird in einigen Stunden hier sein.« Da wurde Heske dienstlich. »Bitte sagen Sie dem General, er soll mit allen Maßnahmen warten, bis ich unten bin. Ich werde«, er sah auf die Uhr: »in etwa drei Stunden in Teneriffa landen. Sie holen mich ab.« »Selbstverständlich, Herr Minister«, kam es über den Draht. »Und bis dahin – Schotten dicht für alle, verstanden?« »Verstanden, Herr Minister!« sagte der Hauptwachtmeister. Dann war die Verbindung unterbrochen …
Die Beisetzung der Gattin des Bundeskanzlers Heinrich Müller, Frau Elfriede Müller, geborene Hummel, fand in Santa Cruz de Tenerife in aller Stille statt. Knorr hatte dafür gesorgt, daß Fernsehen und Presse von gedämpfter, beinahe übertriebener Zurückhaltung waren, und das Presseamt des Bundeskanzlers hatte es fertiggebracht, den ›tragischen Schicksalsschlag‹ – wie es überall hieß –, der den Kanzler Heinrich Müller getroffen hatte, noch zu seinem Vorteil auszuwerten. Ein paar unqualifizierbare Meldungen der Skandalpresse, die von einem vorhergehenden Zerwürfnis der Ehegatten Müller sprechen wollten, konnte Knorr mit Hilfe des unersetzlichen Alvarez leicht entkräften: Beamte der spanischen Geheimpolizei hatten glücklicherweise mit Teleobjektiven die Abschiedsszene zwischen dem Bundeskanzler und seiner Frau aufgenommen und der Film darüber, der durch ein Versa149
gen der Richtmikrofone ohne Ton war, ließ auf nichts anderes als ein besonders zärtliches und besonders ausgeglichenes Eheleben schließen und stopfte selbst dem Böswilligsten den Mund. Als Heinrich Müller mit dem Regierungsjet von Teneriffa zurückkam, erwarteten ihn nur seine engsten Mitarbeiter und ein Fernsehteam Rohloffs am Flugplatz. Die Weltgeschichte war über den Tod der Kanzlergattin Elfriede fast kommentarlos hinweggeschritten …
Der November 1989 brachte eine Sensation: die Regierung kündigte an, daß sich der Bundeskanzler Heinrich Müller in absehbarer Zeit mit dem Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Harald Graubner, treffen werde. Diese Meldung machte weitaus mehr Schlagzeilen als die Nachricht vom Tode der Frau des Kanzlers, und Dieter Knorr hatte alle Hände voll zu tun, um allzu neugierige Journalisten abzuwehren. Angeblicher Grund für die Konsultation der beiden offiziell verfeindeten Regierungschefs war die gegenseitige Amtshilfe auf dem Sektor Terroristenfahndung. Außerdem sollte das Treffen Anlaß für eine weitere Erleichterung des gesamtdeutschen Reiseverkehrs sein. Angesichts der notorischen Angriffe gegen die Neue Partei und vor allem gegen ihren Kanzler Heinrich Müller galt diese Ankündigung jedoch als Augenauswischerei und wurde, vor allem von der Oppositionspresse, als Anlaß zu bissigen Kommentaren genommen. Etwas später rückte Dieter Knorr die ersten Meldungen über den bevorstehenden Staatsbesuch des amerikanischen Präsidenten in Bonn in die Presse. Heskes Ministerium hatte zur gleichen Zeit begonnen, mit ganzseitigen Anzeigen Anwärter für seine neue Sicherheitsbereitschaft zu suchen. Texte wie ›Lassen Sie sich von richtigen Männern zu einem richtigen Mann ausbilden‹ verfehlten nicht ihre Wirkung, zumal die neue Truppe als Ausbilder die inzwischen schon legendären ›Helden von Mogadischu‹ aufzuweisen hatte, die GSG 9 – die GrenzSchutz-Gruppe 9, die Heske in Übereinstimmung mit dem Bundes150
minister des Inneren und dem Kanzleramt seinem Ministerium einverleibt hatte. Natürlich löste die Aufstellung dieser Truppe eine breite öffentliche Kritik aus, die aber dank der guten Vorbereitung Knorrs weitgehend freundlich blieb. Kassandra-Rufe von Franz Joseph Strauß aus Bayern ›Müller baut sich eine eigene SS auf‹ blieben zwar nicht unbeachtet, wurden aber in den meisten Fällen als Frustration des Unions-Politikers abqualifiziert. Die Sendung Helmut Rohloffs mit dem Kanzler ›Unter vier Augen‹, in der er Heinrich Müller fast zahm anging, zeigte weitere Wirkung. Wenn Rohloff den Kanzler wegen der neuen Sicherheitstruppe nicht auseinander nahm, sondern die von Heinrich Müller getroffenen Maßnahmen ›im Interesse unseres gesamten Volkes, für seine Sicherheit und für die Ordnung in der Bundesrepublik vernünftig‹ befand, dann konnte nichts Böses an der Sache sein. Nur das bekannte Hamburger Nachrichtenmagazin erlaubte sich die Feststellung vom Staat im Staate, mußte diese Behauptung aber aufgrund des Paragraphen 11 des Hamburger Pressegesetzes in einer Gegendarstellung richtigstellen. Und da dieses Magazin schon seit Jahren in fast jeder Nummer Gegendarstellungen bringen mußte, war seine einstmals gefürchtete Glaubhaftigkeit inzwischen schwer angekratzt. Knorr nützte diese Chance weidlich aus, um das Blatt noch weiter zu diskreditieren. So blieb nahezu unbeachtet, daß eine Boulevardzeitung das Testament der Elfriede Müller brachte – eigentlich nur ein rührender Brief, der als Erklärung ihrer ›einvernehmlichen‹ Scheidung hatte dienen sollen. Im Gegenteil: wer diesen rührenden Brief las, wer die zu Herzen gehenden Worte Elfriede Müllers zur Kenntnis nahm, der hatte plötzlich Verständnis und Mitleid für den Kanzler Heinrich Müller, den Mann, der seine Familie und sich für sein Volk und seinen Staat aufopferte. Ganz unbeachtet aber blieb seltsamerweise eine Emission der ›Industrie-Anlagen‹ – der IAAG – über eine Milliarde D-Mark, der der Zentralbankrat und die Bundesbank zugestimmt hatten. Sie wurde auch nur ein einziges Mal in den Pflichtblättern veröffentlicht und war innerhalb weniger Stunden (!) voll gezeichnet. Nur Steuer- und Wirt151
schaftsberater rieben sich dieserhalb insgeheim die Hände, versprach doch die von der Oberfinanzdirektion Düsseldorf zugesicherte Verlustzuweisung erhebliche Gewinne. Größere Beachtung fand da schon die Scheidung Dieter Knorrs Anfang November 1989. Schließlich war das ein Kollege, mit dem man anders umspringen konnte als mit dem deutschen Bundeskanzler, wo schon das Amt einen gewissen diskreten Respekt verlangte. Dieter Knorr aber überstand die nur kurze Kampagne gegen sich unbeschädigt. Müller und das Kabinett waren vorher informiert worden. Trotzdem überlegte der Kanzler, ob er seinen ›getreuen Ekkehard‹ nicht in ein anderes Ressort versetzen sollte. Angesichts seiner Reise in die DDR, angesichts des zu erwartenden Präsidenten-Besuches und der hartnäckigen Widerstände von Franz Joseph Strauß aus Bayern aber unterließ er vorerst ein Revirement, machte sich aber eine Notiz in dem Akt ›Regierungsumbildung‹, den er gut verschlossen in seinem eigenen Tresor aufbewahrte.
Am ersten November hatte auch Karl Lamprecht seine Arbeit als Vorstandsmitglied für die Produktion bei Kamphausen in der IAAG aufgenommen und damit Einblick in sämtliche Vorbereitungen für die neuen Sicherheitssysteme. Die Kollegen in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung holten sich oft seinen fachmännischen Rat, wenn die Frage auftauchte, ob die Entwürfe und Konstruktionen auch praktisch verwirklicht werden konnten. Ob es sich dabei nun um den sogenannten ›Sicherheitsfinger‹ – eine attentatssichere Einstiegsmöglichkeit in Transportmittel, oder um den PPKW – den ›Panzer-Personenwagen‹ – um die Schußversuche auf geschäumtes Aluminium (das Lamprecht von der MBB geholt hatte) oder das Geschoß ›SZS-1‹ (Selbst-Ziel-Suchpatrone 1) handelte, Karl Lamprecht war über alles bis ins kleinste Konstruktionsdetail informiert und hatte die entsprechenden Unterlagen in seinem Panzerschrank. Außerdem war Karl Lamprecht vornehmlich damit beschäftigt, sich 152
ein kleines Häuschen in Köln einzurichten. Das Häuschen aber war für Hanne Naumann und ihn bestimmt, und ein Heiratstermin war auch schon angesetzt. Der 15. Dezember würde es sein und Heinrich Müller und Gotthelf Kamphausen waren die Trauzeugen. Was Wunder, daß auch ›Krümel‹ in Seligkeit schwamm, was sie nicht daran hinderte, dem Kanzler nach wie vor treu ergeben zu dienen. Das aber bedeutete oft Arbeit bis spät in die Nacht.
Als Heinrich Müller endlich Ende November 1989 – nach einem langen Gespräch via Satellit mit Präsident Taylor – zu seiner spektakulären Reise nach Dresden aufbrach, um dort Harald Graubner zu treffen, waren die Kameras der Weltgeschichte auf seinen Sonderzug gerichtet, mit dem er von Bonn aus die Reise antrat. Graubner hatte alles getan, um Kanzler Müller einen protokollarisch gerechten Empfang zu sichern. Es wurde ein Triumphzug. Die Bürger der DDR standen an der Eisenbahnlinie fast Mann an Mann, um dem bundesdeutschen Kanzler zuzuwinken. Da hielt sich dann auch die Volkspolizei und die vorsichtshalber alarmierte Volksarmee zurück und ließ auf höchste Weisung den Dingen ihren Lauf. Das Treffen selbst dauerte nur zwei Stunden – unter vier Augen. Graubner gab dem Kanzler noch ein gemeinsames Abendessen mit den Spitzen der SED, dem Diplomatischen Corps und einigen sorgfältig ausgesuchten Künstlern und Schriftstellern. Dann aber – nach einem echt sächsischen Blümchenkaffee, den der Kanzler sich gewünscht hatte – drängte man zum Aufbruch, und Heinrich Müller fuhr noch in der gleichen Nacht nach Bonn zurück. Die Morgenzeitungen brachten in großen Schlagzeilen die Ergebnisse der Reise. ›Die Mauer wird durchlässiger‹, schrieb die ›Welt‹, die ›Frankfurter Allgemeine‹ notierte ›Kanzler Müller erzielte Erfolge in Dresden‹, ›Bild‹ schrieb begeistert ›Jetzt geht es den Politverbrechern auch im Osten an den Kragen‹ und die ›Süddeutsche‹ notierte kühl ›Müller er153
zielte weitere kleine Erfolge im Zusammenleben zwischen den beiden Staaten‹. Die Deutsche Welle brachte ein Interview mit Müller, das in die ganze Welt ausgestrahlt wurde, direkt aus dem Kanzler-Sonderzug und überraschte die Hörer mit der Nachricht ›Bundeskanzler Heinrich Müller hat den Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Harald Graubner, zu einem Besuch nach Bonn eingeladen‹. Das war noch einmal gut für ein paar Schlagzeilen und wurde von Dieter Knorr in seiner Anzeigenserie über ›Die Leistungen der Bundesregierung‹ kräftig ausgeschlachtet. Insbesondere die Berliner Blätter kamen so in den Genuß geschickt gestreuter Anzeigen, aber auch Hamburg und Bremen wurden nicht vergessen. Peter Dahl von der Neuen Partei nutzte diese Welle, um die von ihm gerade in diesen Städten kräftig aktivierten Beratungsstellen für die Bevölkerung mit gut verständlichem Material zu versorgen und begann – ein halbes Jahr vor den Wahlen – mit einer großangelegten Plakataktion und mit einer pausenlosen Überflutung mit Hausbesuchen, bei denen sich die Kandidaten der Neuen Partei der Bevölkerung vorstellten und ihre Wünsche erfragten. Der bevorstehende Staatsbesuch des DDR-Ministerpräsidenten in Bonn blieb natürlich nicht ohne Kritik. So stellte u.a. die ›Stuttgarter Zeitung‹ die besorgte Frage, ob dadurch nicht die eben verbesserten Beziehungen zu den Vereinigten Staaten getrübt würden, und die ›Rhein-Ruhr-Zeitung‹ sprach von ›einem gefährlichen Spiel‹. Dem konnte Knorr entgegensetzen, daß Präsident Taylor im Dezember 1989 – also noch vor dem Besuch des Staatsratsvorsitzenden – zu einem offiziellen Staatsbesuch nach Bonn kommen würde. Anläßlich dieses Besuches sei die Unterzeichnung eines Gegenseitigkeitsvertrages von ›größter Bedeutung‹ zu erwarten. Außerdem sei ein Besuch Präsident Taylors in Berlin vorgesehen, und der Präsident der USA würde dort eine großangelegte Rede halten, die die Sicherheit Berlins für lange Zeit untermauern würde. Seltsamerweise waren die von allen erwarteten Angriffe der DDR und der sowjetischen Nachrichtenagenturen merkwürdig blaß, und nach ein paar Tagen ging alles zur Tagesordnung über. 154
Diese Ruhe wurde durch eine Ankündigung gestört, die Rohloff in seinem wöchentlichen Magazin machte. »Wie wir aus gutunterrichteter Quelle erfahren, hat das sogenannte ›Testament der Elfriede Müller‹ noch einen Zusatz gehabt, den uns leider die betreffende Boulevardzeitung verschwiegen hat. Darin beschwört nämlich die verstorbene Frau des Kanzlers diesen, sich ehestens wieder zu verheiraten, da er nicht der Mensch sei, die Last der Arbeit für die Nation allein zu tragen.« Nach einigen Mutmaßungen über die möglichen Kandidatinnen für eine zweite Ehe des Kanzlers Müller ließ dann der Fernsehmann die Katze aus dem Sack. »Nach unseren Informationen ist damit zu rechnen, daß der Kanzler schon in nächster Zeit wieder heiraten wird, und zwar die Staatssekretärin im Bundeskanzleramt, Frau Dr. Inge Sanders.« So war es also heraus. Die Boulevardpresse und die Illustrierten stürzten sich auf die Braut. Erst nach ein paar Wochen kam dann die zweite Sensation, die womöglich noch nachrichtenträchtiger war: »Der Präsident der USA, Richard Taylor, hat zugesagt, anläßlich seines Besuchs in der Bundesrepublik bei der Heirat seines Freundes, des deutschen Bundeskanzlers Müllers mit der Staatssekretärin Sanders, diesem als Trauzeuge zu dienen.« Jetzt wurde es eine Lawine. Tonnenweise wurde Zeitungspapier mit allen Einzelheiten über die Braut bedruckt, die Nachrichtenmedien überschlugen sich über diese ›Staats-Heirat‹, wie es ein Journalist bezeichnet hatte, und alle Einzelheiten über die Braut, wie ihre Jugend, ihre Herkunft und ihr bisheriger Werdegang wurden ausführlich behandelt, als handle es sich um eine Fürstenhochzeit. Diesem hektischen Treiben konnte sich auch die sogenannte ›seriöse Presse‹ nicht entziehen. In den Korrespondentenbüros und Bonner Redaktionen herrschte für Wochen hektisches Treiben, und alle hatten Angst, daß ihnen wichtige Details etwa entgehen könnten. Dieter Knorr sah es mit Befriedigung und konnte seinem Freund und Kanzler stolz berichten: »Alles läuft bestens und wird auch seine Wirkung in Berlin und Norddeutschland nicht verfehlen.« 155
Mit dieser Annahme lag er richtig. Als einige konservative Blätter die Tatsache der so kurz aufeinanderfolgenden Todesnachricht und der Meldung von der Wiederverheiratung bissig kommentierten, waren es ausgerechnet die kühlen Hamburger und Bremer, die heftig und leidenschaftlich für das Brautpaar des Jahrzehnts Partei ergriffen. Und der rührige Parteischatzmeister Peter Dahl schob wohldosiert Information auf Information nach Norden, so daß die Parteiredner der Neuen Partei mit immer neuesten Nachrichten versorgt waren. Das gab Klatsch, man redete über die Neue Partei. Vieles kam zusammen. Die Hochzeit Heinrich Müllers, der Besuch des amerikanischen Präsidenten, die Öffnung gegenüber der DDR, das waren schon Dinge, über die man mitreden konnte. Und genau das war das Ziel Peter Dahls. Wenn man über etwas redete, konnte man es auch wählen. Endlich hatte Dahl auch noch die ganz große Idee und ließ sich damit beim Kanzler melden. Die Regierungsrätin Hanne Lamprecht, geborene Naumann, übernahm es gerne, ihn anzumelden. Knorr – der die Hochzeitsfeierlichkeiten vorbereitete – wurde gerufen, Inge Sanders und Heske. Als die Runde endlich im kleinen Konferenzzimmer beisammen war – wo sonst täglich die sogenannte ›Lage‹ beraten wurde – kam Dahl mit seinem Plan wie ein Meisterboxer aus der Ecke: »Mein Vorschlag ist, die Hochzeit des Kanzlers in Hamburg durchzuführen, die Elbe einzubeziehen, mit einer Fregatte der Bundesmarine nach Bremen zu fahren und dort im Überseehafen eine Party für die Bevölkerung zu geben. Dies wäre insbesondere im Hinblick auf die kommenden Senatswahlen eine Demonstration der Verbundenheit des Kanzlers und der Regierung mit den beiden Hansestädten, es wäre auch ein Bekenntnis zu der Bedeutung dieser beiden Städte. Die Tatsache, daß Präsident Taylor anwesend wäre, könnte genutzt werden, Taylor müßte dem Kanzler scheinbar spontan seine Freundschaft erklären. Abends dann müßte der engere Kreis nach Berlin fliegen, um die ganz engen Bindungen der Bundesrepublik an Berlin zu beweisen, und Taylor müßte am nächsten Tag vor dem Schöneberger Rathaus spre156
chen, ähnlich wie Kennedy damals, und ein Bekenntnis Amerikas ablegen, wie: ›Berlin ist frei und wird immer frei bleiben!‹« Das war ein massiver Vorschlag, und der Generalsekretär der Neuen Partei erntete dafür allseits Beifall. Nur Inge Sanders hatte sich ihre Hochzeit etwas anders vorgestellt, etwas intimer und familiärer. Schließlich aber unterwarf sie sich den propagandistischen und parteipolitischen Zwängen und stimmte dem Plan zu. Dieter Knorr und Peter Dahl übernahmen die Vorbereitungen, so daß ein Teil der Kosten von der Partei und nur ein kleiner Teil von der Bundeskasse übernommen wurde. Es war, alles in allem, eine runde Sache. Niemals zuvor hatte ein Kanzler der Bundesrepublik – von Adenauer einmal abgesehen – internationale und private, politische und parteiliche Interessen so geschickt gemixt, daß selbst der Bundesrechnungshof nicht die Spur einer Fehlinvestition darin finden konnte. Der Hochzeitstermin selbst wurde nach Abstimmung mit Richard Taylor und seiner Frau Marylin auf den 20. Dezember 1989 festgelegt.
John Burton war der Chef der amerikanischen Kommission, die die Entwicklungen und Versuche, die Konstruktionen und Pläne der Industrie-Anlagen AG (IAAG) im Auftrage der US-Regierung zu prüfen hatte. Er hatte sich auf Anhieb hervorragend mit Kamphausen und Lamprecht verstanden. Das waren zwei Männer, die auch in Amerika Karriere machen konnten. Insbesondere Lamprecht, der sich in den beiden Monaten bestens eingearbeitet hatte, perfekt englisch sprach und über scheinbar unerschöpfliche Fachkenntnisse verfügte, gefiel den Amerikanern. Er hatte auf jede Frage eine gute Antwort, redete nicht weitschweifig um die Dinge herum, sondern erklärte knapp, um was es sich handelte. Er zeigte Verwertungswege auf, begründete Kosten logisch und rationell, hatte eine klare Vorstellung von der Zukunft und sprach von der höch157
sten Verantwortung des Staates, für seine Bürger und deren Eigentum die Sicherheitsverpflichtung zu übernehmen. Dies alles trug er so nüchtern vor, als handle es sich um die Entwicklung einer neuen Küchenmaschine, deren Anwendung er zu erklären habe. Das wiederum aber machte es den Amerikanern leicht, sich einen Überblick zu verschaffen und zu einem positiven Urteil zu kommen. Bedenken hatten Sie nur wegen des in der Entwicklung befindlichen Computersystems, das praktisch jeden Einwohner des Landes schon bei der Geburt erfaßte und bis zum Grabe nicht mehr losließ. Diese Entwicklung, die inzwischen zu einer Coproduktion zwischen einem großen deutschen Elektrokonzern, der CONDATA als System- und Programmentwickler, dem Bundes-Kriminalamt und den verschiedenen Geheimdiensten ausgeufert war, stieß auf herbe Kritik. Burton meinte: »Wenn wir das unseren Bürgern verkaufen wollten, riskierten wir einen Bürgerkrieg.« Aber auch diesem Einwand konnte Lamprecht begegnen. Er sprach von Datenschutzgesetzen, von absoluter Diskretion bei der Anwendung der Programme, er sprach davon, daß die meisten Bürger überhaupt nicht bemerkten, daß ihre Daten gespeichert würden. Und dann sagte er: »Das Entscheidende aber ist, daß wir spätestens in zehn Jahren so weit sein werden, mit einem Knopfdruck jeden Terroristen und jeden Verbrecher in Sekundenschnelle identifizieren zu können. Ihn zu fangen ist dann nur noch eine Frage der Mittel.« »Und warum ein solcher Aufwand?« fragte Burton. »Kriminalität hat es immer gegeben«, konterte Lamprecht, »und auch der Terrorismus ist keine Erfindung unseres Jahrhunderts. Aber er hat sich die Erfindungen unserer technischen Welt zunutze gemacht. Ob Waffen oder Logistik, die Terroristen verfügen über beides. Dazu kommen intelligente, wenn auch irre geleitete Köpfe, die diese Banden anführen. Noch bestimmen sie Ort und Zeit der Anschläge und setzen uns damit erst einmal ins Hintertreffen. Wenn wir sie aber mit diesen von uns erarbeiteten Systemen in Sekunden identifizieren können, dann schrumpft ihr Vorsprung zusammen und ihr Risiko wird 158
größer. Ich gehe soweit, zu behaupten, daß es mit dem von uns entwickelten System und den entsprechenden Programmen schon in wenigen Jahren möglich sein wird, fast gleichzeitig mit den Tätern am Tatort zu sein. Es ist also auf lange Sicht gesehen eine Präventivmaßnahme, die insbesondere die führenden Männer unseres und Ihres Landes von dem lästigen Statussymbol einer Leibwache befreien wird und damit den jetzt noch zögernden, fähigen Köpfen wieder den Mut gibt, ein paar Jahre ihres Lebens der Politik unserer Nationen zu opfern.« Das saß, das kam an und war überzeugend. Selbst Kamphausen hatte Lamprecht fasziniert zugehört. So hätte er Sinn und Zweck der IAAG-Entwicklungen nicht darstellen können. Und er beschloß, dies nicht nur in den Personalakten hervorragend festzuhalten, sondern bei passender Gelegenheit auch dem Kanzler mitzuteilen. Dieser Lamprecht war ja ein As! Wenn er daran dachte, daß er ihm von allen Vorstandsmitgliedern das niedrigste Salär bezahlte, hatte er für Bruchteile einer Sekunde ein schlechtes Gewissen, aber wie gesagt, solche Anfälle dauerten bei Kamphausen nur Bruchteile einer Sekunde. Burton und seine Mitarbeiter verschwanden in Richtung Amerika. Ihr Bericht war so einleuchtend und überzeugend, daß einem Vertragsabschluß, wie vereinbart, nichts mehr im Wege stand. Der Besuch des amerikanischen Präsidenten in der Bundesrepublik Deutschland konnte stattfinden.
Der 20. Dezember 1989 war eisig kalt, aber die Sonne strahlte vom Himmel, als wollte sie die Hansestadt Hamburg in ihrem schönsten Licht zeigen. Die sonst als kühl und steif verschrienen Hamburger säumten die Straßen vom Flughafen Fuhlsbüttel bis zum Rathausmarkt. Die Stadt hatte wegen des Präsidentenbesuches – wie der Senat ausdrücklich betonte – reichlich Flaggenschmuck angelegt, die Schiffe im Hafen hatten über die Toppen geflaggt, acht Einheiten der 4. Flotte der US-Mari159
ne hatte im Hafen festgemacht, dazu Einheiten der Bundesmarine und der Zerstörer ›Bismarck‹, mit dem der US-Präsident und der Kanzler nach Bremen fahren würden. Auf dem Flughafen selbst hatte das Bonner Wachbataillon, je eine Ehrenkompanie des Heeres, der Luftwaffe und der Marine, Aufstellung genommen, der rote Teppich war ausgerollt, die Mörser für den Ehrensalut standen zündbereit, das Spektakel konnte beginnen. Fernsehanstalten aus aller Welt hatten Kamera-Teams entsandt, den Vogel aber hatte Helmut Rohloff abgeschossen. Seine von Morlock organisierten Kameras standen mit über zweihundert Mitarbeitern praktisch an jedem wichtigen Punkt, der angelaufen wurde. Er selbst aber befand sich an Bord der ›United States No. 1‹, der Präsidentenmaschine von Richard Taylor und Lady Marylin. Und als diese Maschine noch eine Stunde von Hamburg entfernt über Cherbourg das europäische Festland anflog, brachte Rohloff eine Live-Sendung, in der er Kurzinterviews mit Präsident Giscard aus Frankreich, mit König Baudouin aus Belgien und mit Königin Beatrix der Niederlande einblendete, die dem US-Präsidenten einen Erfolg seiner Reise und dem deutschen Bundeskanzler Glück für seine Ehe wünschten. Das hatte die Republik noch nie erlebt. Zu Recht sprach BILD mit einem Extrablatt von ›Kanzlerwetter‹ und wünschte mit einer acht Zentimeter hohen Schlagzeile ›Alles Glück für Heinrich und Inge!‹ Die Maschine des Bundeskanzlers landete genau fünf Minuten vor der Präsidentenmaschine, die Soldaten standen stramm, Knorr brachte den Kanzler – noch allein – in Position vor die Gangway, ordnete die Reihen der Bundesminister, die mit Ausnahme von Ladiges (»einer muß schließlich auch noch regieren!«) vollzählig erschienen waren. Der Protokollchef wies den Senatoren Hamburgs und den Staatssekretären, den Vertretern der Gewerkschaften, der Wirtschaft und der Kirche die ihnen dienstgradmäßig zustehenden Plätze an. Generäle inspizierten zum letzten Male ihre Truppen, und Rolf Heske leitete persönlich den Sicherheitseinsatz seiner Truppe per Fernsehen, Funksprechverkehr und Einsatzzentrale. Dann war es soweit. Die Organisation klappte wie am Schnür160
chen. Die Maschine des Präsidenten landete, die ›Stars and Stripes‹ erklangen, dann die deutsche Nationalhymne. Müller schritt mit Taylor die Ehrenkompanien ab, die Böller knallten, eine Gruppe Düsenjäger überflog den Flughafen, zog steil nach oben und malte das rotweiß-blau der Amerikaner und das schwarz-rot-gold der Deutschen in den azurblauen Himmel. Irgendwo begann die Bevölkerung zu jubeln, Taylor schloß Müller wie einen alten Freund in die Arme, und Marylin behandelte Inge Sanders so, als wäre sie schon Frau Müller. Auch die Neue Partei hatte nicht gespart. Von Fuhlsbüttel bis zur Innenstadt hatte sie an den Durchfahrtsstraßen alle fünfhundert Meter Musikkapellen aus ganz Deutschland in folkloristischen Trachten postiert, die die wartenden Menschen bei Laune hielten. Tanzgruppen sorgten für Unterhaltung, als Schauerleute verkleidete Händler verkauften Brezeln und kleine Leckerbissen, stilwidrig hatten sich auch einige Weihnachtsmänner eingeschlichen, die Heskes Truppe unauffällig entfernte. Vor dem Rathaus empfing den Präsidenten der Chor der Hamburger Buttjes, Bürgermeister Klose der SPD-Linksaußen, wartete mit seinen engsten Mitarbeitern auf den hohen Besuch und verbeugte sich tief, als Präsident und Kanzler trotz der Kälte im offenen Wagen vorfuhren und der unübersehbaren Menschenmasse zuwinkten. Jubel kam auf, ganz gegen Hamburger Art, und als der Präsident in die Mikrofone rief »Hummel-Hummel« (natürlich sprach er es Hammel-Hammel, aber die Menschen wußten, was er sagen wollte), kam ein vieltausendstimmiges »Mors-Mors« zurück. Es war ein Volksfest. Taylor und Müller trugen sich in das goldene Buch der Stadt ein, wobei Knorr und Dahl zur gleichen Zeit denselben Gedanken hatten: Schnellstens eine Fotokopie dieser Eintragung im Wahlkampf einzusetzen. Dann gab es einen steifen Grog zum Aufwärmen, ein Hamburger Frühstück (wie das Mittagessen genannt wurde), Ansprachen aller Männer, die da glaubten, etwas sagen zu müssen. Endlich aber war es soweit, die Kameras schwenkten auf Heinrich Müller und Inge Sanders, die eingehakt zum Standesamt im Hamburger Rathaus schritten und hinter ihnen Präsident Taylor und Helmut Rohloff – die Trauzeugen. 161
Tausende wollten der Zeremonie beiwohnen, ein knappes Hundert fand im Saal Platz, aber das war die Creme de la Creme der deutschen Gesellschaft und der Politik. Der Standesbeamte machte es kurz, denn die Scheinwerfer der Fernsehkameras begannen Spuren im Make-up der Damen zu hinterlassen. Als Heinrich Müller sein klares und Inge Sanders ihr gehauchtes »Ja« sprachen und sich anschließend küßten, waren rund eine Milliarde Menschen in aller Welt via Satellit Zeugen dieses Glücks. Taylor schlug Müller kameradschaftlich auf die Schulter, Marylin zog Inge an sich und küßte sie auf beide Wangen, alles strahlte. Dann aber forderte das Protokoll wieder sein Recht. Die Wagenkolonne fuhr vor, Taylor, Müller und der erste Bürgermeister Klose fuhren in dem 800er Leihmercedes aus Untertürkheim, die Damen und der übrige Anhang in mehr als hundert weiteren Fahrzeugen – unter denen selbstredend auch eine Reihe von Heskes Sicherheitsfahrzeugen waren – in Richtung Hafen, wo sie ein ohrenbetäubendes Geheul der Schiffssirenen empfing. Von St. Michael läuteten die Glocken und selbst die Huren von der Reeperbahn drängten sich, um einen Blick auf die prominenten Besucher zu werfen. Von den Landungsbrücken ging es mit Booten der Wasserschutzpolizei und unter den Fontänen der Feuerwehr – die aus allen Schläuchen ›Willkommen‹ und ›Salut‹ spritzte – hinüber zur ›Bismarck‹. Der Oberbootsmaat Henriksen hatte die Ehre, die ›Seite‹ zu pfeifen, an der Gaffel stiegen die amerikanische und die deutsche Nationalflagge hoch, der Admiral der deutschen Nordsee-Streitkräfte und der Admiral der NATO-Streitkräfte begrüßten die Besucher vor der Kulisse ihrer strammstehenden Offiziere mit militärischem Zeremoniell. Sie brachten die Gäste in das Casino, wo ein Umtrunk und einige Erfrischungen vorbereitet waren. Dann wurden die Anker gelichtet, von den Ufern hörte man »Hurra!«-Rufe, die ›Bismarck‹ wurde von acht Lotsen aus dem Hafen geschleppt, vom ›Willkommhöft‹ auf halbem Wege kamen Abschiedsgrüße, dann nahm sie mit eigener Kraft Fahrt auf und steamte hinunter auf Bremen zu. Helmut Rohloff und seine Leute hatten als einziges Kamerateam die 162
Erlaubnis erhalten, die hohen Gäste zu begleiten. Das zwang alle anderen Fernsehgesellschaften, sich mit ihm gut zu stellen, und er hatte diese Monopolsituation auch ausgenutzt. Alleine dieser Tag würde ihm mit den entsprechenden Nebenrechten eine runde halbe Million auf die Habenseite seines Kontos beim Privatbankhaus von Meiners in Düsseldorf einbringen, und von dort hatte er auch schon einen vertraulichen Tip bekommen, wo er diesen Betrag möglichst steuergünstig anlegen konnte: Bei der IAAG – der Industrie-Anlagen AG dortselbst. So würde das Finanzamt nichts zu sehen bekommen und er hatte – wenn man den Börsengerüchten glauben durfte – noch eine sehr aussichtsreiche Kapitalanlage, die in wenigen Jahren ein Mehrfaches wert sein mußte. Vor diesem Hintergrund war es verständlich, daß er guter Laune war und vor Geist sprühte, was wiederum auch auf die First Lady Eindruck machte. Eine Situation, die Rohloff schamlos ausnutzte, indem er Lady Marylin um ein Interview im Weißen Haus bat. Dies wurde ihm in heiterer Sekt- und Festtagslaune zugesagt. Rohloff hatte mit diesem Coup einen Spalt zur großen Weltpolitik geöffnet, und er war entschlossen, aus diesem Spalt eine weit offene Türe zu machen. Gegen achtzehn Uhr lief die ›Bismarck‹ im Überseehafen von Bremen ein, wo der Deutsche Gewerkschaftsbund seinem ›langjährigen verdienten Mitglied Heinrich Müller‹ in Zusammenarbeit mit der Hansestadt Bremen ein Volksfest vorbereitet hatte. Die beiden Staatsmänner mischten sich zwanglos unter Schauer- und Seeleute, unter Kaffeeröster und Reeder, unter Bank- und Versicherungsangestellte, unter repräsentative Gruppen aus allen Bevölkerungsschichten. Und was die ›Bremer Nachrichten‹ und der ›Weserkurier‹ am nächsten Tage besonders hervorhoben, war, daß Inge Müller darauf bestanden hatte, daß rund zweihundert Versehrte, Unfallopfer und Contergankinder (die inzwischen erwachsen waren und selbst Kinder hatten) an der Party teilnahmen. Zehn Kapellen spielten zum Tanz auf, Millionen Glühlampen im Hafen und von den Schiffen erhellten die Szene und als um neun Uhr abends ein Prachtfeuerwerk zum Himmel stieg – von dem selbst der 163
verstorbene Walt Disney hätte etwas lernen können –, kannte die Begeisterung und der Jubel keine Grenzen. Die Taylors und die Müllers aber entfernten sich kurz darauf unauffällig ins Gästehaus der Stadt Bremen. Sie hatten einen schweren Tag hinter sich. Inge trat vor ihren frisch angetrauten Mann und band ihm lächelnd und glücklich die Krawatte los. »Ich liebe dich sehr«, sagte sie und freute sich über seinen Kuß. Helmut Rohloff aber traf sich mit Morlock und einigen Mitarbeitern im Studio Bremen zu einer Lagebesprechung, klopfte diesem und jenem kameradschaftlich auf die Schulter, ließ sich die ersten Einschaltquoten von Infratest geben und führte ein paar Telefongespräche mit Chefredakteuren von Fernsehzeitschriften. Es war, alles in allem, ein rauschender Erfolg und er, Helmut Rohloff, hatte entscheidenden Anteil daran.
Am nächsten Tag kam es zum Höhepunkt des Staatsbesuches, dem Empfang und dem Essen beim Senat der tausendjährigen Hansestadt Bremen. In Abwandlung einer jahrhundertealten Tradition und nach vielen Diskussionen im Senat und bei den Ständen war beschlossen worden, den hohen Gästen ausnahmsweise die weltberühmte ›Schaffer-Mahlzeit‹ zu servieren. Diese Mahlzeit der ›Schaffer‹ wird normaler- und traditionellerweise immer am zweiten Freitag im Februar abgehalten. Teilnehmer sind Reeder, Kapitäne, Kaufleute und Politiker. Bei der ›Schaffer-Mahlzeit‹ wird eine ganz bestimmte Speisenfolge aufgetragen und dreizehn Reden gehalten. Taylor und Müller mußten die Zeremonie über sich ergehen lassen, während geschichtsbewanderte Dolmetscher dem amerikanischen Präsidenten klarmachten, welch hohe Ehre ihm dergestalt zuteil wurde. So ausgezeichnet, versprach Taylor den Versammelten, daß er in Zukunft dafür Sorge tragen werde, einen Vertreter des Staates Texas zu 164
der ›Schaffer-Mahlzeit‹ zu entsenden, denn ›Öl und Vieh‹ wären ja zwei Artikel, die insbesondere im Hafen und der Stadt Bremen lebhaft gehandelt würden. Und Öl und Vieh waren zudem zwei Produkte, in die Richard Taylor als Privatmann hoch investiert hatte. Dann folgte das Übliche: Eintragung ins goldene Buch der Stadt, kurze Rundfahrt, Damenprogramm, Empfang der Honoratioren in beißender Kälte bei ›Roland dem Riesen‹ vor dem Rathaus in Bremen und endlich die – ebenfalls traditionelle – Verabschiedung auf dem Flughafen, von wo aus das Präsidentenehepaar und der Bundeskanzler samt Frau nach Berlin starteten. Diesmal war Heinrich Müller mit seiner jungen Frau Gast in der Präsidentenmaschine, ›United States Nr. 1‹, die ohne Zwischenfall Berlin erreichte, wo amerikanische, britische und französische Ehrenkompanien den beiden Staatsmännern die Ehre gaben. Die Berliner wußten es zu schätzen, daß wieder einmal ein amerikanischer Präsident an der Seite eines deutschen Bundeskanzlers ›ihre‹ Stadt besuchte. Hunderttausende säumten die Straßen, winkten und jubelten und freuten sich über den Besuch, während Rolf Heske Blut und Wasser schwitzte, denn hier war er für die Sicherheit der Staatsgäste nicht zuständig, sondern ausschließlich und alleine der Berliner Senat. Heinrich Müller aber beobachtete auch hier sehr aufmerksam die Menschen an den Straßen, denn sie würden bei den nächsten Wahlen mit darüber zu entscheiden haben, ob auch diese Stadt sich zu seinem Programm und damit zur Neuen Partei bekennen würde. Dies war ihm um so wichtiger, als er für den nächsten Vormittag einen Coup geplant hatte, wie ihn Berlin seit dem Mauerbau vom August 1961 nicht mehr erlebt hatte.
Am Abend kam Knorr ins Charlottenburger Schloß, wo die Gäste untergebracht waren. »Wie sieht es aus?« fragte Müller. »Sie haben das Brandenburger Tor verdunkelt und man hört Preß165
lufthämmer. Ich nehme an, daß Graubner sich an die Abmachungen halten wird.« »Das wäre der Sieg für die Neue Partei«, sagte Müller nachdenklich. Er fühlte sich immer noch als deren Funktionär und wußte, mit welchen Gesten man Wähler gewinnen konnte. »Ladiges wird stocksauer sein«, meinte Dieter Knorr. »Er ist Politiker und wird sich den Tatsachen anpassen müssen, wenn er nicht seine Ämter verlieren will. Diese Aktion ist mit den Vereinigten Staaten, den alliierten Hochkommissaren, dem ersten Vorsitzenden des Ministerrates der DDR und dem Magistrat von Ostberlin wie auch den Westberliner Behörden abgesprochen und allseits gutgeheißen worden. Ich fühle mich als Regierungschef zuerst allen Deutschen verpflichtet und an das Grundgesetz gebunden, auf das ich den Eid abgelegt habe. Aber auch die Neue Partei verspricht in ihrem Programm die Wiedervereinigung Deutschlands. Wenn ich dazu einen ersten sichtbaren Schritt wage, wird sich niemand einem solchen Signal in den Weg stellen, auch Doktor Ladiges nicht.« Heske kam herein. »Ich bin froh, wenn wir morgen nachmittag wieder in Bonn sind«, meinte er. »Ich auch«, sagte Müller. »Hoffentlich geht es gut«, sagte Heske. Müller beschwichtigte ihn und gab sich als Staatsmann: »Der amerikanische Präsident und ich werden im offenen Wagen fahren, dabei bleibt es, Heske. Ich vertraue auf Gott und dem geschichtlichen Augenblick. Die Chance für Terroristen ist zugegebenermaßen groß. Aber auch der amerikanische Geheimdienst hat gegen die Fahrt nichts einzuwenden. Und die sind schließlich für Taylor verantwortlich. Ich habe keine Angst!« Wie schon so oft, konnte Dieter Knorr seine Bewunderung für Heinrich Müller nicht unterdrücken: »Du bist ein Segen für Deutschland!« sagte er. Dann wurde er sachlich: »Die beiden PPKW sind eben aus Bonn eingetroffen. Technisch kann es also kaum eine Panne geben.« 166
»Danke! Ich denke, wir sollten jetzt alle zu Bett gehen. Morgen ist ein bedeutsamer Tag und wir müssen frisch sein!«
Der Musikzug der Berliner Schutzpolizei weckte die Gäste pünktlich um acht Uhr. Von den Masten rund ums Charlottenburger Schloß wehten die Fahnen der USA, der Bundesrepublik und der Stadt Berlin. Der Empfang im Rathaus Schöneberg um zehn Uhr verlief programmgemäß. Über fünfhunderttausend Westberliner hörten Präsident Taylor sagen: »Berlin ist frei und wird immer frei bleiben, dafür verbürge ich mich!« So war es abgesprochen und die Menschen jubelten. Dann fuhr der Konvoi vor und Taylor, Müller und ihre Frauen stiegen in die beiden PPKW. Alle beteiligten Behörden hatten von diesem Augenblick an ›Sicherheitsstufe I‹ angeordnet, was nichts anderes bedeutete, als daß jetzt der heikelste und gefährlichste Teil des Staatsbesuches folgte. Nach einem Pulk von Kamerawagen fuhren 17 weiße Mäuse der Kolonne voraus, Sicherheitsfahrzeuge bildeten einen Kordon um den Präsidentenwagen, in dem Taylor und Müller aufrecht standen und den Spalier bildenden Menschen zuwinkten. Dann aber kam die Sensation. Auf der neuen Stadtautobahn nahm die Kolonne Fahrt zur Abfahrt Tiergarten, bog in die von Menschen übersäte Siegesallee ein, ließ das Reichstagsgebäude und das Ehrenmal der Sowjetischen Soldaten links liegen und fuhr – jetzt langsam – auf das Brandenburger Tor zu, auf dem in diesem Moment die beiden deutschen Fahnen links und rechts neben den ›Stars and Stripes‹ aufgezogen wurden. Ein Bataillon der Volksarmee stand Spalier. Ein Transparent kündete: ›Die Deutsche Demokratische Republik grüßt den Präsidenten der Vereinigten Staaten‹. Langsam fuhren die Staatsgäste durch die über Nacht in Straßenbreite niedergerissene Mauer. Musik spielte die Hymne der USA und das Deutschlandlied, das Bataillon der Volksarmee präsentierte das Gewehr, ein Volksarmee-Oberst kam im preußischen Stechschritt auf den Wagen von Taylor zu und meldete in 167
bestem Sächsisch: »Herr Präsident, Herr Bundeskanzler, ich melde Ihnen das zweite Bataillon der Volksarmee der Deutschen Demokratischen Republik zu Ihrem Empfang angetreten!« Irgendwo hinten schnarrten Kommandostimmen: »Die Augen links!« Dann später, als die Kolonne weiter fuhr: »Augen geradeaus! Das Gewehr über! Gewehr ab!« Auch in Ostberlin standen die Menschen dicht an dicht, winkten mit Fähnchen aus Papier mit den US-Emblemen und den schwarz-rot-goldenen mit und ohne Hammer und Zirkel. Dann wieder Autobahn und endlich Potsdam, wo Harald Graubner an der Spitze der Mitglieder des Ministerrates der DDR und des Zentral-Komitees der SED Präsident Taylor und Heinrich Müller vor dem Schloß der Preußenkönige empfing, Heinrich Müller lachend die Hand drückte, als freue er sich über einen geglückten Streich, und den Damen galant Blumen überreichte.
Beim anschließenden Empfang wurden eine Menge Toasts ausgebracht: »Auf die Freundschaft zwischen unseren Völkern!« und »Auf die Freundschaft zwischen der siegreichen Sowjetunion und den Vereinigten Staaten« und »Auf die Freundschaft zwischen den beiden Deutschen Staaten« und, nach dem vierzehnten Wodka, »Auf die Freundschaft aller friedliebenden Völker untereinander«. Natürlich wurde noch viel mehr getrunken und getoastet, auf den Fortschritt, auf die Technik, auf die Jugend, auf die Damen, auf den Sport. Bis Taylor den endlosen Reden ein Ende machte, indem er selbst ums Wort bat und sagte: »Auf den Frieden!« Dann war der Empfang beendet. Die westlichen Teilnehmer stiegen wieder in ihre Wagen und wurden – diesmal ohne Aufenthalt – direkt zum Flughafen Tegel gebracht, wo die Maschinen schon mit laufenden Düsen warteten, um die hohen Herrschaften nach Bonn zu bringen. Im Luftraum über der DDR wurde von sowjetischen und ostdeut168
schen Düsenjägern vom Typ Mig 25 Parade geflogen. Später übernahmen amerikanische und bundesdeutsche Maschinen das Geleit, flogen weite Kreise, bis Präsident Taylor mit seinem Anhang per Hubschrauber nach Schloß Gymnich und der Bundeskanzler zum Palais Schaumburg gebracht worden waren. Dann kehrte Ruhe ein in die verträumte Residenzstadt am Rhein, während Rohloff und seine Mannschaft die letzten Kopien des ereignisreichen Tages via Satellit in alle Welt ausstrahlten. Und niemand gab es mehr in deutschen Landen, der Heinrich Müller nicht für einen politischen Tausendsassa gehalten hätte, der auch das Unmögliche fertigbringen würde – die Wiedervereinigung Deutschlands, ohne Krieg. So jedenfalls strickten die Beamten und Journalisten an der Legende vom deutschen Kanzler, dem alles zu gelingen schien. Nur Dr. Werner Ladiges, der natürlich das Geschehen am Bildschirm mitverfolgt hatte, sagte an diesem Abend zu seiner Frau, bevor er sich zu Bett begab: »Jetzt wird er endgültig größenwahnsinnig!« Insgeheim nahm er sich vor, schon sehr bald wieder zu einem Gespräch mit Franz Josef Strauß zusammenzutreffen. Eine Gewohnheit, der er seit etwa einem halben Jahr fast monatlich frönte.
Der 24. Dezember 1989 erfreute die Menschen in Bonn mit einer dicken Schneeschicht, deren blütenreines Weiß so ganz zum Abschluß des Präsidentenbesuches in Deutschland passen wollte. Heinrich Müller und Richard Taylor trafen sich zu einem Arbeitsessen im Palais Schaumburg, zusammen mit ihren engsten Mitarbeitern und Beratern. Industrie-Kapitäne waren dabei, wie Gotthelf Kamphausen und Rüdiger von Meiners und auch Karl Lamprecht. Nach dem Essen ging es hinüber in den großen Konferenzsaal, wo vor den Kameras des Fernsehens und der Presse die Verträge unterschrieben wurden, wonach die USA für zwei Milliarden Dollar Sicherheitsprogramme, technische Einrichtungen und Patente für den Lizenzbau bestimmter Terroristen-Abwehr-Waffen erwarben und im Gegenzug die Bundesre169
publik elektronische Ausrüstungen und Uran für den gleichen Betrag kaufte. Dann gab es den üblichen Händedruck, zufriedene Gesichter bei beiden Delegationen, mehr als ein tiefes und zufriedenes Aufatmen bei Kamphausen und Meiners (hatten sie doch das Geschäft ihres Lebens jetzt staatlich sanktioniert unter Dach und Fach), kleine Geschenke von beiden Seiten und was so alles nach vier ereignisreichen Tagen zu einem Staatsbesuch sonst noch gehört. Inge und Heinrich Müller ließen es sich nicht nehmen, den Präsidenten und sein Gefolge persönlich auf dem Flughafen zu verabschieden, dann hob sich die ›United States No. 1‹ in die Lüfte und entschwand im schneeverhangenen Himmel Richtung Amerika.
Inge und Heinrich Müller hatten keine große ›Hochzeitsreise‹ unternommen. Auf der Bühlerhöhe über Baden-Baden hatten sie sich für die wenigen Tage zwischen Weihnachten und Neujahr – abgeschirmt von der Öffentlichkeit – einquartiert. Sie wanderten durch den tiefen Schnee, genossen den Schwarzwald, die Abgeschiedenheit und die Ruhe. Nur einmal kam auf einen Sprung Helmut Rohloff mit einem Kamera-Team vorbei, um die Neujahrs-Ansprache des Kanzlers aufzunehmen. Und genau damit brachte er Heinrich Müller wieder dahin, wo er am liebsten war, nach Bonn ins Palais Schaumburg und an seinen Schreibtisch, von dem aus er die Republik regierte. Während seine Minister und die Abgeordneten sich Ruhe gönnten, neue Kraft schöpften und sich ihren Familien widmeten, schien Heinrich Müller von einem rastlosen Schaffensdrang vorwärtsgetrieben, der es ihm nicht erlaubte, länger als acht Tage zu pausieren. Dabei sprühte er vor Kreativität, riß seine Frau Inge mit, nächtelang schmiedeten sie Pläne, die sie gleich im Neuen Jahr in die Tat umsetzen wollten. Getreuer Vasall dabei war Dieter Knorr, frisch geschieden und etwas heimatlos, schloß er sich immer mehr Heinrich Müller und seiner jungen Frau an. 170
»Du solltest dich auch wieder nach einer Frau umsehen«, hatte Müller einmal gesagt. Aber Knorr wollte vorerst von einer neuen Verbindung nichts wissen. Dafür war er jetzt immer häufiger Gast eines Etablissements in Köln, wo man für große Münze kleine Liebe kaufen konnte. Es war in den ersten Tagen des Januar 1990. Bitterkalt war es geworden und die Menschen schlugen die Mantelkragen hoch, wenn sie über die Straße gingen. Rolf Heske kam braungebrannt aus dem Urlaub zurück. Er war mit Gisela Knorr vierzehn Tage auf den Bahamas gewesen, und sie hatten eine sorglose, unbeschwerte Zeit verbracht. Aber Heske kannte das Bonner Pflaster und er kannte Heinrich Müller, so hatte er die dritte Woche Urlaub gestrichen und und war vorzeitig zurückgekommen. Auch Hanne ›Krümel‹ Lamprecht war am 7. Januar wieder auf ihrem Stuhl und stand dem Kanzler – wie gewohnt – Tag und Nacht zur Verfügung. Sie hatte die Feiertage damit verbracht, dem neuen Heim den letzten Schliff zu geben und ihrem Karl eine gute Frau zu sein. Klar, daß bei dieser Gelegenheit auch viel über Heinrich Müller gesprochen wurde und darunter auch manche Information war, die eigentlich ›streng geheim‹ war, aber schließlich sagte sie das ja keinem Fremden, sondern ihrem Mann. Und auch Karl Lamprecht schien von einer Schaffenswut besessen, die über das Normale hinausging. Mehrmals während der Feiertage fuhr er hinaus ins Werk nach Düsseldorf, sah nach dem Rechten, wie er sagte, und besuchte auch hin und wieder seine geschiedene Frau. Kamphausen und von Meiners waren gemeinsam mit ihren Familien nach St. Moritz gefahren, wo sie sich ganze vier Wochen köstlich amüsierten. »Der Lamprecht kümmert sich um alles, er ist ein wahres Geschenk des Himmels«, meinte Kamphausen, wenn er von seinem Vorstandskollegen sprach, »bald werde ich überhaupt nichts zu tun haben.« Und Meiners meinte: »Mitte Januar werden wir Ladiges genauer über die Industrie-Anlagen AG informieren müssen, damit uns sein Ministerium nicht mit irgendwelchen idiotischen Verordnungen die Kapital-Anleger vergrämt.« 171
Der Dr. Werner Ladiges zimmerte während dieser Zeit mit seinem Staatssekretär Fritz Hoffmann an einem Plan, wie man den unaufhaltsamen Machtanspruch des Kanzlers bremsen konnte. Zu diesem Behuf machten sie auch einen Besuch im bayerischen Wildbad Kreuth, wo sie ›rein zufällig‹ den Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß trafen und sich gerne von diesem zum Essen einladen ließen. Das Essen dauerte dann ganze zwei Tage, und als man sich trennte, war man sich einig: »So muß man es machen!« Da war es dann ein reiner Zufall, daß der Regierungsdirektor Dr. Heinz Pöhlmann vom Bundesamt für Verfassungsschutz und zuständig für die ständige Überwachung und Überprüfung der Mitarbeiter des Bundeskanzler-Amtes, seinen Urlaub in Rottach am Tegernsee verbrachte und fast ohne sein Zutun indirekter Zeuge dieses konspirativen Treffens wurde. Dies vermerkte er säuberlich in seinem privaten Tagebuch. Der Ministerialdirigent Zins war glücklich, Hanne Lamprecht endlich die endgültige Übernahme ihrer Person ins Beamtenverhältnis auf Lebenszeit schriftlich überreichen zu können. Krümel küßte ihn daraufhin impulsiv, was dem trockenen Zins ein etwas tadelndes »Aber, aber« entrang, und rein vorsorglich wischte er mit dem blütenweißen Taschentuch über die attackierte Stelle. Dem Jochen Alberts aus dem Bundespresseamt ging das Herz auf und die Feder flott zu Papier, als er von den neuesten Eskapaden seines Chefs Dieter Knorr in Köln detailliert Bericht bekam. Heinrich Müller aber rief die Treuesten der Treuen um sich, um mit ihnen die ›Lage‹ zu besprechen und Ziele für die Zukunft auszumachen. Seine Frau Inge war dabei, Rolf Heske und Dieter Knorr, als der Kanzler die Situation schilderte. »Unsere Ausgangs-Basis ist hervorragend. Wir dürfen damit rechnen, daß die Neue Partei mindestens einen der drei Stadtstaaten erobern wird. Das bringt uns die absolute Mehrheit im Bundesrat. Wenn Meiners dem Peter Dahl weiterhin die Mittel so reichlich zuteilt wie bisher, dann haben wir ein sattes Polster für den Parteitag. Dort haben wir unsere guten Beziehungen zu Taylor und unseren 172
EG-Partnern einerseits und die neuerliche Öffnung nach Osten andererseits vorzuweisen. Das und die Vorsitzenden der Landesverbände müßten ausreichen, um meine Wahl zum Ersten Vorsitzenden der Neuen Partei zu gewährleisten. Ich habe heute morgen eine vertrauliche Information aus Bayern bekommen, daß Ladiges mit Strauß zusammengetroffen ist. Ich habe davon nichts gewußt und muß also meine Schlüsse ziehen. Ich vermute, daß die beiden einen Plan gegen mich ausgeheckt haben. Wichtig ist, daß die Industrie-Anlagen AG von Kamphausen jetzt in erweitertem Umfang die Produktion aufnimmt und auch für den Export lieferfähig wird. Auf keinen Fall dürfen die Verträge mit den USA in Verzug geraten, und wenn die IAAG Tag und Nacht arbeiten muß. Mit den Gewerkschaften und den Unternehmerverbänden habe ich für dieses Jahr ein Stillhalteabkommen vereinbart. Wenn beide in ihren Ansprüchen maßvoll bleiben, könnten wir zum erstenmal seit Bestehen der Bundesrepublik die Inflationsrate auf ›Null‹ senken. Dies ist keinem anderen Volke der Erde möglich. Sobald die IAAG-Produktion angelaufen ist, werden wir die Polit- und Gewaltkriminalität mit neuartigen, dem Sicherheitsministerium zur Verfügung stehenden Mitteln energisch bekämpfen können. Ich wünsche, daß dabei die Änderung der Strafprozeßordnung vom 24. April 1984 mit aller Konsequenz und Schärfe angewandt wird. Das Justizministerium wird prüfen müssen, inwieweit neue Verordnungen auch für Demonstrationen gegen Atom-Kraftwerke erlassen werden können. Notfalls soll der Bundesminister der Justiz eine entsprechende Gesetzesvorlage einbringen. In unseren Verhandlungen mit Frankreich müssen wir Giscard klar unseren Führungsanspruch in Europa begründen. Unsere Atomkraftwerke bedienen jetzt schon Österreich, die Schweiz und Dänemark, deren Wähler sich gegen die Atomkraft ausgesprochen haben. Die Bundesrepublik ist heute der wichtigste Stromlieferant Europas. Dies bringt uns schon heute nicht nur einen wirtschaftlichen, sondern auch einen entscheidenden politischen Vorteil. Nachdem sich die Neue Partei in diesem Jahr erstmals an den Euro173
pa-Wahlen beteiligt, müssen wir unsere besten Köpfe zu einer Kandidatur bewegen, um den Vereinigten Staaten von Europa endlich Kraft zu bringen. Ich will weiter, daß die Vollbeschäftigung bis Ende dieses Jahres Wirklichkeit wird. Mit der IAAG und der Öffnung nach Osten muß das zu schaffen sein. In der Außenpolitik werden wir unsere Politik des starken, aber bescheidenen Partners fortsetzen. Das gilt insbesondere für die Länder der Dritten Welt. Ich habe die Absicht, den Afrikanern und den Südamerikanern anzubieten, deutsche Universitäten und Schulen auf ihren Territorien zu errichten, mit unseren Lehrern zu besetzen unter der Voraussetzung, daß die erste Fremd- und die Lehrsprache Deutsch ist. Dies wird das Problem unserer arbeitslosen Akademiker lösen und im feedback weltweites Know-how zu uns zurückbringen. Der NATO werden wir die Übernahme verschiedener Entwicklungen der IAAG nahelegen. Insbesondere scheinen mir die Versuche mit der Anwendung des geschäumten Aluminiums inzwischen so weit gediehen zu sein, daß schon bald an eine praktische Verwendung im militärischen und zivilen Bereich gedacht werden kann. Dies könnte zu einem Riesengeschäft ausgeweitet werden. Unser Volk ist durch die Automatisierung in den Betrieben, durch neue Anwendungsgebiete der Elektronik und insbesondere durch die Erfassung fast aller Daten durch die Computer – die neunundneunzig Prozent der Bevölkerung sowieso nicht verstehen – an kaum sichtbare, aber dafür um so tiefgreifendere Veränderungen schon so gewöhnt, daß ich kaum mit Widerstand bei der Durchsetzung dieser Ziele rechne. Wir haben die Macht, wir haben die Regierung zu dem gemacht, was sie heute ist: Stabil, stark und unerschrocken. Solange wir eisern zusammenhalten, kann diesem Staat und diesem Land nichts geschehen.« Müller nahm einen Schluck Wasser. Er hatte diese Ziele alle klar vor Augen und er wußte, daß er in Heske einen blendenden, verschwiegenen Durchführer, in Dieter Knorr einen eifrigen Propagandisten und in Inge Müller einen treuen Lebenskameraden hatte. Es mußte schon mit dem Teufel zugehen, wenn er diese Ziele nicht erreichen sollte. 174
Nachdem die Freunde ihn verlassen hatten, diktierte er Krümel sein Programm für eine Regierungserklärung. Natürlich drückte er sich dabei nicht so offen aus wie eben, aber wer Ohren hatte zu hören, der wußte doch, was er beabsichtigte: Die vollkommene Macht. Und noch war er fast überzeugt, dies alles im Interesse des deutschen Volkes zu tun.
In der frühen Nacht lag er dann in den Armen seiner Frau, die mehr und mehr über das Unbekannte in Heinrich Müller staunte. Mochte ihr Mann manche gesellschaftliche Form vermissen lassen, eines hatte er bestimmt, eine klare Vorstellung von der Macht. Und dies stimulierte Inge nicht nur menschlich, sondern auch erotisch. Sie spürte, wie sie sich mehr und mehr seinen Gedanken unterordnete, sie zu erraten versuchte, in ihn einzudringen wünschte. Aber sie spürte auch, wie er sich oft noch sträubte, selbst ihr seine geheimsten Gedanken anzuvertrauen. Und gerade das wollte sie. Sie wollte eins sein mit diesem Giganten an Phantasie, an Energie und scheinbar nie erlahmender Kraft. Manchmal hatte sie das Gefühl, daß sie hinter seiner Verantwortung für dieses Land zurücktreten müsse. Dann aber konnte Heinrich Müller von solcher Zärtlichkeit und Hingabe sein, daß solche Gedanken schnell verdrängt wurden. Heute war es zum ersten Mal, daß er sie fragte: »Meinst du, daß Heske und Knorr mich verstanden haben?« Inge dachte kurz darüber nach. Es waren hohe Ziele, die Heinrich Müller anvisierte, und sie kannte Heske und Knorr nun auch schon ganz gut. »Vielleicht haben sie nicht alles ganz verstanden, aber sie werden alles tun, um dir zu helfen, Heinrich.« Müller steckte sich eine Zigarette an und blickte dem Rauch nach, der sich um die abgedunkelte Nachttischlampe kringelte. Er liebte es, vor dem Schlafengehen noch im Bett zu rauchen. Er glaubte dann die besten Gedanken zu haben. Für einen Augenblick dachte er daran, was 175
sein würde, wenn ihm jemand aus der Industrie Heske oder Knorr abwerben würde. Und insgeheim stellte er fest, daß dies zwar die Unterbrechung einer liebgewordenen Gewohnheit wäre, aber Nachweinen – nein – das würde er keinem. Und Inge? Er legte die Zigarette in den Aschenbecher, wo sie verglühte. Mit der Hand tastete er über ihr Gesicht und sah in ihre Augen, die plötzlich ganz dunkel und voller Feuer zu sein schienen. Er beugte sich über sie und küßte zärtlich ihr Haar, die Nase und den Mund, der ihn sehnsüchtig erwartete. Sie waren zusammen und sie liebten sich und Heinrich Müller glaubte von Mal zu Mal mehr, daß eine Steigerung nicht möglich sein könne, und jedes Mal ließ er sich von ihrem Temperament, ihrer Hingabe und ihrer Aktivität wieder überraschen. »Du bist die Erfüllung meines Lebens«, sagte er zu ihr. »Kann ein Mann noch mehr erreichen?« »Du kannst noch viel erreichen, mein Lieber. Das hier ist nur ein Anfang!« sagte sie. Konnte sie Gedanken lesen? Der Mann Heinrich Müller hatte ähnliches gedacht. An Europa, an die Vereinigten Staaten von Europa hatte er gedacht und an die Möglichkeit, daß er der erste wirkliche Präsident dieses Staatenbundes sein könnte. Er küßte sie innig: »Ich verspreche es dir.« Heinrich Müller war sehr glücklich in dieser Nacht.
Karl Lamprecht saß mit seiner Frau am Frühstückstisch. Es war erst sieben Uhr morgens, aber seitdem sie sich das kleine Haus in Köln eingerichtet hatten, war es schon liebe Tradition geworden, daß dies die Stunde der gemeinsamen Aussprache war, bevor sich jeder in den Trubel des Arbeitstages stürzte. Hanne hatte ihm die Kopie des Entwurfes der Regierungserklärung des Kanzlers zu lesen gegeben. Voll Stolz, denn die IAAG war als einzige Firma namentlich darin genannt und indirekt auch ihr Mann, Karl Lamprecht. Er war es schließlich gewe176
sen, der die Verbindung zu MBB hergestellt und das geschäumte Aluminium nach Düsseldorf gebracht hatte. Später dann war er verschiedentlich nach Oakland in Kalifornien geflogen, denn dort lagen die Patentrechte bei der Oakland Metal Industries. Lamprecht hatte mit Charly Benson nicht lange gerungen – dem Geschäftsführer der OMI –, sondern ihm ein interessantes und finanziell so lukratives Angebot gemacht, daß Lamprecht nach zwei Tagen beruhigt nach Hause fliegen konnte. Die IAAG würde für die Dauer von zwanzig Jahren das alleinige Recht haben, geschäumtes Aluminium nach dem OMI-Verfahren herzustellen. »Du wirst eine Fabrik bauen müssen, Karl«, hatte Benson gesagt. Und Lamprecht hatte genickt. »Das wird viel Geld kosten!« »Wir haben das Geld.« Der Amerikaner war beeindruckt, und nachdem die erste Lizenzzahlung auf den Tag genau auf seinem Konto eingegangen war, machte er sich auf Einladung Kamphausens mit einigen Technikern auf den Weg nach Düsseldorf, um die ›Krauts‹ bei der Errichtung der Produktion für geschäumtes Aluminium und anderer Metalle zu beraten. Was er dann in Düsseldorf sah – an neuesten Maschinen und Techniken –, nötigte ihm dann aber doch einige Hochachtung ab, insbesondere wenn er an seine eigene Produktion in Oakland dachte. Als er zwei Wochen später in die Staaten zurückflog, war er doch sehr nachdenklich geworden. Mit seinem Taschencomputer rechnete er aus, was er bei dem von Lamprecht angegebenen Produktionsausstoß so etwa verdienen würde – es war das vierzigfache von dem, was er mit eigener Arbeit in Oakland erzielte. Dies nötigte ihm Respekt ab. Kamphausen aber hatte Lamprecht die Hand gedrückt, seine Bezüge zum 1. Januar 1990 angehoben und ihn zu rastlosem Schaffen angetrieben. Kamphausen war zwar kein Techniker, aber eines wußte er genau – diese Geschichte mit dem geschäumten Metall und die Tatsache, daß nur die IAAG die Möglichkeit hatte, es in ganz Europa herzustellen und zu vertreiben, war ein Milliardengeschäft. Und das hatte er auch dem Kanzler berichtet. Insgeheim dachte er, daß Lamprecht 177
nach Parkinson das war, was dieser als ›nützlichen Idioten‹ bezeichnete, denn dieser hatte noch nicht einmal den Versuch unternommen, an dieser Geschichte beteiligt zu werden. Der Versuchung, Lamprecht eine solche Beteiligung anzubieten, war er aber nicht unterlegen.
Lamprecht aber fand auf seinem Schreibtisch eine Mitteilung vor, daß der Bundesminister für die innere Sicherheit, Rolf Heske, noch an diesem Nachmittag nach Düsseldorf kommen und Kamphausen und ihn zu sprechen wünschte. »Ja, dann macht mal das große Konferenzzimmer klar und besorgt genügend Getränke, und für den Fall, daß es später werden sollte, auch einige Schnittchen«, befahl er seinen Vorzimmerdamen. Die waren auf solche schnellen Dispositionen eingerichtet, bei Lamprecht und der IAAG kam so etwas öfter vor. Als Heske mit seinen beiden Staatssekretären und einigen Spezialisten seines Ministeriums eintraf, war alles bestens vorbereitet. Nach den üblichen Händedrücken zogen sie sich sofort zur Konferenz zurück. »Wie weit sind wir mit dieser Metall-Schäumungs-Geschichte, Herr Kamphausen?« fragte Heske. Der gab die Frage an Lamprecht weiter. »Na ja, die Produktion läuft auf Hochtouren. Wir haben auch bereits erfolgreiche Versuche mit Eisen und Stahl, aber auch mit Edelmetallen wie Gold, Silber und Platin hinter uns. Jetzt läuft eine Serie mit Nickel und Blei an, über diese Ergebnisse kann ich noch nichts sagen. Aber im großen ganzen sind wir zufrieden.« »Und wann, Herr Lamprecht, glauben Sie, daß wir mit der praktischen Anwendung beginnen können?« Lamprecht schien nachzudenken und starrte für Sekunden an die Decke, wo eine kleine Wetterfliege sich langsam auf den Lampensockel zubewegte. »Sie wird sterben, wenn sie an den Strom kommt«, dachte er, laut aber referierte er: »Wir haben die Versuchsreihe mit Alumi178
nium abgeschlossen, auch in der Kombination mit anderen Wärmeleitern. Wenn wir für die verschiedenen Anwendungsgebiete uns die Formen hier selbst bauen und wissen, wo wir diesen neu entwickelten Schild einsetzen sollen, können wir praktisch in vier Wochen mit den ersten Lieferungen beginnen.« Heske nickte befriedigt. Dieser Lamprecht gefiel ihm immer besser. Alles, was er sagte, hatte Hand und Fuß. Noch jedesmal hatte Lamprecht die Termine unterschritten, und für Sekunden mußte Heske denken, daß er dafür in der Sowjetunion schon längst den ›Stachanow-Orden‹ bekommen hätte. Heske räusperte sich. »Wir denken zuerst an die Beschäumung aller Regierungsfahrzeuge, dann aller Militärfahrzeuge, insbesondere der Panzerwagen aller Klassen, der Kommandeurswagen und der Benzintanks aller militärischen Nutzfahrzeuge. Wir werden uns auch mit der europäischen Automobilindustrie in Verbindung setzen wegen der Übernahme der Ausschäumung der Benzintanks. Und mit den Amerikanern. Würde das einen Personenwagen erheblich verteuern?« »Teurer wird es schon«, erläuterte Lamprecht, »aber wenn wir auf das DOT in Washington, das Department of Transportation, Einfluß ausüben könnten, ist da weltweit schon einiges drin. Und die Amerikaner haben ja ein ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis. Die internationale Autoindustrie richtet sich nach den Empfehlungen des DOT, anders wäre auch kein ausländischer Wagen in den Staaten abzusetzen. Wenn wir da hineinkommen, bin ich sicher, daß wir schon in kürzester Frist brauchbare Ergebnisse vorweisen könnten. Insbesondere für die Sicherung der Benzintanks, aber auch für den Flankenschutz, die Knautschzonen und andere Automobilteile. Aber, wie gesagt, das ist eine politische Frage …« »Und wie würde sich das geschäumte Material verhalten, wenn wir auf andere Antriebsmittel umschalten müßten, beispielsweise auf Methanol?« Lamprecht meinte: »Ob Benzin oder Methanol, das ist unserem Ma179
terial gleichgültig, es ist resistent gegen beides. Wichtiger scheint mir die Wirksamkeit zu sein, und da sind wir unserem amerikanischen Lizenzgeber bereits wesentlich über den Kopf gewachsen. Ich darf doch davon ausgehen, daß dies eine streng vertrauliche Besprechung ist?« Die Herren brachen dann auf, um einen Rundgang durch das schnell gewachsene Werk zu machen. In der Montagehalle erklärte Kamphausen: »Hier bauen wir in enger Zusammenarbeit mit allen deutschen Automobilfirmen den sogenannten PPKW – den Panzerpersonenwagen. Er ist für alle Zwecke des Dienstgebrauches bei Polizei, Bundeswehr, Sicherheitsdienst und Behörden geeignet. Wir liefern derzeit rund vierzig Einheiten am Tag aus, bemühen uns aber, durch den Ausbau der Bänder schon in vier Wochen soweit zu sein, daß wir auf sechzig Einheiten pro Arbeitstag kommen. Der weiterfolgende Ausbau sieht bis zur Endstufe eine Tagesleistung von hundert Fahrzeugen vor. Damit können sowohl die innerdeutschen Bedürfnisse innerhalb der nächsten zwei Jahre gedeckt werden, und dazu fünfzig Prozent der Produktion in den Export fließen …« »Wie sieht es da mit Aufträgen aus, Herr Kamphausen?« fragte Heske. »Zufriedenstellend. Wir erweitern die Produktion mit dem parallel laufenden Auftragseingang aus dem Ausland. Bisher haben Italien und Frankreich, Spanien und die USA mehrere tausend Karosserien geordert, die wir – wie da drüben …«, er zeigte auf ein Cadillac-Fahrgestell, »auf nationale Chassis montieren.« Er bat dann in die nächste Halle, die eigens neu errichtet worden war. »Hier wird der ›Sicherheitsfinger‹ zusammengebaut«, sagte er. »Sieht reichlich komisch aus!« Heske lachte. Kamphausen lächelte höflich. »Der Sicherheitsfinger arbeitet nach dem Ziehharmonika-Prinzip, so ähnlich wie die Einsteigrampen auf den großen Flughäfen. Je nach Größe und Verwendungszweck kann er unsichtbar um die Türrahmen herum versenkt werden. Die größte Schwierigkeit bei diesem Modell war, trotz allem die völlige Schußfestigkeit des Materials zu gewähr180
leisten. Aber auch hier hat unsere Forschungs- und Entwicklungsabteilung verschiedene Anregungen meines Kollegen Lamprecht verarbeiten können, so daß wir heute bestimmte Garantien geben können. Das Aus- und Einfahren der Sicherheitsfinger geschieht voll mechanisch …« Er demonstrierte es an einem Modell: »Ein Knopfdruck genügt, der SF – wie wir das Ding nennen – fährt aus bis zum geparkten Wagen vom Modell PPKW und erlaubt dem Gefährdeten das Einsteigen ohne jedes Risiko. Danach rollt er automatisch wieder in die Ausgangsstellung zurück oder kann durch Fernsteuerung sofort zurückrollen. Die Fernsteuerung war deshalb notwendig, um den Gefährdeten jederzeit auch wieder das Aussteigen zu ermöglichen. Er geht praktisch wie durch einen gepanzerten Flur vom Haus zum Wagen.« Das sah wirklich gut aus. Heske und seine Begleiter waren begeistert und ließen sich Modelle verschiedener Größen demonstrieren. Kamphausen bat seine Gäste jetzt zum Aufzug, der sie unter Tag brachte. Auf Sohle vier waren die Schußversuchsstände. Hier wurde die SZS-1 – die ›Selbst-Ziel-Suchpatrone 1‹ – erprobt. Und sie war zweifellos die gefährlichste Handfeuerwaffe, die zur Zeit irgendwo hergestellt wurde. Lamprecht erklärte die Funktion: »Die SZS-1 ist ohne Zweifel eine revolutionäre Erfindung. Die dafür eigens entwickelten Handfeuerwaffen und Spezialpatronen gehören zusammen. Die Patronen reagieren nur auf lebende Ziele, suchen sich diese selbst und töten durch Kopfschuß. Ich will Ihnen das gerne einmal demonstrieren …« Er griff zu einem an der Wand hängenden Telefon, sprach hinein: »Versuch SZS-1, sechsmal!« Der etwa dreihundert Meter lange Stollen wurde in gleißendes Licht getaucht. Am Ende des Stollens war Gebüsch aufgebaut, ein paar Bäume, ein kleines Haus. Über eine Lautsprecheranlage kam eine Stimme: »Versuch eins steht!« Lamprecht griff zu einer auf einem Tisch liegenden Pistole, zeigte eine etwa fünf Zentimeter lange Patrone, steckte sie in den Lauf, 181
spannte den Hahn und erklärte: »Normalerweise ist es unmöglich, auf eine Entfernung von dreihundert Metern mit einer Pistole ein Kaninchen zu erlegen. Dort am Ende des Stollens wird gleich ein Karnickel freigelassen und wird das Weite suchen. Ich werde nur in etwa diese Richtung zielen und abdrücken. Das Kaninchen wird durch einen sauberen Kopfschuß getötet werden. Dies geschieht durch die Lenkung, die in der Patrone durch einen Mini-Computer erfolgt und nur auf Gehirnströme reagiert, die das Mini-Radarsystem der Patrone steuern.« Er rief in die Gegensprechanlage: »Versuch eins – los!« Zwei Kaninchen sprangen hinten aus einem Stall, sahen sich sekundenschnell um, wollten dann den Stollen entlanglaufen, als Lamprecht abdrückte. Eines der Kaninchen fiel wie vom Schlag getroffen um, das andere blieb eine Sekunde geschockt sitzen und hoppelte dann ins Gebüsch zurück, während Lamprecht nachlud. Dann feuerte er den zweiten Schuß ab, und obwohl sich das andere Kaninchen inzwischen in einem Gebüsch versteckt hatte, wurde es mit tödlicher Sicherheit getroffen. »Versuch eins beendet!« rief Lamprecht wieder, und aus dem Lautsprecher tönte es zurück: »Versuch eins beendet, ich schalte ab!« Die Scheinwerfer gingen wieder aus, wenige Minuten später kam ein Arbeiter, der die beiden toten Kaninchen an den Ohren herbeitrug und sie auf einen Tisch legte. Interessiert beugten sich Heske und seine Begleiter über die toten Tiere, und man hörte sie sagen »phantastisch!« »Ich werde Ihnen noch ein paar Versuche zeigen«, sagte Lamprecht nach einer Weile. Er schoß auf eine Katze, einen großen Hund, ein Schwein und mit dem SZS-Spezialgewehr auf ein Pferd. Sie alle starben schnell und schmerzlos, wie Kamphausen betonte, »schon um Angriffen seitens der Tierschützer zu begegnen, wenn diese Versuche einmal bekannt werden sollten.« »Wie weit ist die Entwicklung?« fragte Heske. »Wir stecken in den Anfangsschwierigkeiten. Solange ein einzelnes Lebewesen beschossen wird, sind wir unserer Sache sicher. Unse182
re Geschosse sind auch in der Lage, jederzeit einen Menschen zu töten, wie Sie an dem Pferdeversuch gesehen haben. Schwierig wird es, wenn mehrere Lebewesen zusammen sind. Wir haben noch keinen Einfluß darauf, welches Lebewesen sich das Geschoß aussucht, weil dies mit wesentlich eine Frage der Gehirnströme ist, die die Lebewesen aussenden und auf die das Radar reagiert. Im Augenblick haben wir eine Versuchsreihe laufen, in der wir männliche und weibliche Tiere gemeinsam in den Stollen schicken. Die männlichen Tiere sterben bisher bei allen Versuchen an erster Stelle. Ein Großversuch mit zehn männlichen Kaninchen und zehn weiblichen hat das Phänomen bestätigt. Erst starben die zehn männlichen und dann erst die zehn weiblichen Lebewesen. Wir sind dabei, diese Versuchsreihe zu analysieren und in die praktische Anwendung zu übertragen …« »Und wie lange werden Sie dazu benötigen, Herr Kamphausen?« fragte Heske. Der zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht. Wir sind stolz darauf, daß wir überhaupt heute schon so weit sind. Jedenfalls sind wir heute noch nicht soweit, daß wir beispielsweise die SZS-1 schon den AntiTerror-Gruppen der Polizei anbieten könnten. Die Gefahr, daß eigene Leute getroffen würden oder aber Unbeteiligte, ist zu groß.« Heske zeigte sich trotzdem außerordentlich beeindruckt. Als sie im Förderkorb nach oben fuhren, erlaubte er sich einen Spaß: »Sicherlich werden Sie uns jetzt Karnickel vorsetzen wollen?« Kamphausen lachte: »Wir verwenden für die meisten Versuche im Stollen IV Schlachtvieh, das direkt anschließend fachmännisch geschlachtet wird und der Belegschaft zugute kommt. Dadurch ist unser Speiseplan außerordentlich vielseitig. Wir haben Versuche mit Hühnern, Gänsen, Fasanen, mit Rotwild und Haustieren hinter uns, die jeder Speisekarte zur Ehre gereichen. Und die Männer wissen ja nicht, wie das Fleisch in die Töpfe gekommen ist. Manche halten mich sogar für einen passionierten Waidmann, ha, ha!« Man verabschiedete sich an den Fahrzeugen der Gäste aus Bonn. Heske ließ sich direkt zum Kanzleramt fahren, klopfte ›Krümel‹ ver183
traulich auf die Schulter, sagte: »Sie haben schon einen tollen Mann, Frau Lamprecht!« Hanne errötete vor Stolz, ihr tat es gut, soviel Lob über ihren Karl zu hören. Dann meldete sie Heske beim Kanzler an: »Der Herr Bundesminister für die innere Sicherheit, Herr Bundeskanzler!« Müller ließ bitten. »Nun, wie stehen die Dinge in Düsseldorf?« fragte er neugierig. Immerhin war die Industrie-Anlagen AG ein wichtiger Faktor in seinem politischen Kalkül. Heske berichtete begeistert und vergaß nicht die Verdienste von Kamphausen und Lamprecht ins rechte Licht zu rücken. Heinrich Müller hörte interessiert zu, meinte zwischendurch: »Ich möchte darüber einen schriftlichen Bericht haben«, erkundigte sich nach Fertigstellungsterminen, Auftragseingängen, Forschungsergebnissen und Geheimhaltungsfragen, schien dann aber tief befriedigt, denn er bot Heske einen Rémy Martin an, was immer seltener geschah. Dann fragte er unvermittelt: »Willst du eigentlich die Knorr heiraten?« Heske wunderte sich. Er druckste etwas herum, meinte dann: »Ich bin ein so eingefleischter Junggeselle, daß mir eine Entscheidung schwerfällt …« »Also nicht?« fragte Müller. Heske war ehrlich: »Ich weiß es nicht! Sie will lieber heute als morgen.« »Soll ich sie versetzen?« fragte Müller. »Versetzen – wohin?« »Zum Innenministerium, oder ins Verteidigungsministerium zu Herbert Winkelmann, meinetwegen auch zu ihrem Mann ins Presseamt. Sie ist tüchtig, sie beherrscht ihr Metier, und wenn sie aus deinem Dunstkreis kommt, klären sich die Dinge zwischen euch vielleicht schneller …?« Er ließ offen, was er damit meinte. Die Eröffnung kam für Heske überraschend. Einerseits empfand er es als äußerst angenehm, Gisela Knorr um sich zu haben. Sie ahnte im184
mer, was er wollte, sie kam ihm sexuell entgegen, wie keine Frau vor ihr, sie roch, wenn er Appetit auf eine lukullische Spezialität hatte oder wenn er sich betrinken wollte. Sie war gleichmäßig freundlich und immer loyal an seiner Seite. Wenn sie nicht mehr da war, würde er sich an eine neue Mitarbeiterin gewöhnen müssen und er würde Gisela weniger sehen. Diese Aussicht schien ihm nur vorübergehend verlockend, dann entschied er sich für sein persönliches Wohlergehen: »Ich würde sie gerne behalten.« »Okay, wie du willst. Nur laß mir dabei das Sicherheitsministerium nicht zur kleinbürgerlichen Idylle ausarten!« Das waren Inge Müllers Worte, die dabei war, ihren Mann aus Provinzvorstellungen zu staatsmännischem Denken umzugestalten. Dann aber kam er zu einer anderen Sache: »Ich habe Dahl, Ladiges und Knorr herbitten lassen. Wir müssen mit ihnen über die bevorstehenden Landtagswahlkämpfe sprechen. Du hast doch Zeit?« Heske nickte. Dann wurde auch schon Dr. Ladiges gemeldet. Müller ging mit ausgestreckten Armen auf ihn zu, als habe er einen alten Freund zu begrüßen. »Ich freue mich, daß Sie da sind. Wird Peter Dahl auch gleich kommen?« »Ich komme aus meinem Ministerium«, sagte Ladiges abweisend. »Wo der Herr von der Partei ist, weiß ich leider immer seltener.« Aber Inge Müllers Zeitpläne waren wohl organisiert. Dahl und Knorr trafen innerhalb der nächsten Minute gemeinsam ein. »Ich darf bitten …«, sagte Müller und zeigte auf die große Sitzecke. Krümel brachte Getränke und Zigaretten. Dann berichtete Peter Dahl: »Nach den letzten Umfragen – die ich sicherheitshalber von Infas und Allensbach gemeinsam habe machen lassen – liegen wir in Hamburg und Berlin vorn. In Bremen besteht die Möglichkeit, daß SPD und CDU gemeinsam an uns vorbei kommen. Auch die FDP versucht noch einmal einen Anlauf, wird aber vermutlich auf kaum zwei Prozent kommen. Wichtig wäre jetzt der Einsatz unserer Spitzenpolitiker in den letzten beiden Wochen. Insbesondere Ihr Auftreten, Herr Bundeskanzler, würde die Erinnerung an den Präsidentenbesuch noch einmal voll 185
lebendig werden lassen. Sollte die Möglichkeit bestehen, Ihre Gattin ebenfalls einzusetzen, würde dies mit Sicherheit in Hamburg und Bremen positiv für uns ins Gewicht fallen.« »Selbstverständlich wird meine Frau mit nach Norddeutschland kommen«, entschied Heinrich Müller. Sie sprachen über Termine. Ladiges würde zwei Wochen vor der Wahl zwischen Hamburg, Bremen und Berlin pendeln und praktisch täglich mehrfach im Einsatz sein. Heinrich Müller – und seiner Frau – würde die letzte Woche gehören. Dann berichtete Knorr über ganzseitige Inserate, die er für die Tageszeitungen geordert hatte und in denen – quasi als Wahlkampfhilfe – die besonderen Verdienste der Bundesregierung dick herausgestrichen wurden. Er zeigte erste Entwürfe. Ladiges reagierte sauer: »Unsere Gegner werden uns das übelnehmen und den Haushalts-Ausschuß alarmieren. Das könnte negative Folgen haben. Ich warne vor dem Einsatz dieser Inserate, es gibt unnötigen Ärger. Wir haben es nicht nötig, der Opposition eine Angriffsfläche zu bieten. Wir sind in uns stark genug …« »In der Bundesrepublik ja«, sagte Dieter Knorr ruhig. »In den Hansestädten leider nicht. Darum müssen wir dort alle uns zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um die Vorherrschaft der Sozis zu brechen. Schon aus diesem Grunde bestehe ich auf die von mir eingeleiteten Maßnahmen …!« Sie berieten das ›Für‹ und das ›Wider‹, kamen letztendlich zu der Auffassung von Knorr und stimmten Ladiges nieder. Dieser stand auf. »Wenn Sie sowieso machen, was Sie wollen, frage ich mich, was ich hier soll?« Heinrich Müller sah ihn scheinbar erstaunt an: »Sie sind der erste Vorsitzende der Neuen Partei, Herr Doktor Ladiges!« In seiner Stimme war unüberhörbar ein kleiner Vorwurf. »Bin ich das wirklich, Herr Bundeskanzler?« fragte Ladiges, nicht ohne Sarkasmus. Für Sekunden wurde es still, aber Heinrich Müller war bereit, den Stier bei den Hörnern zu packen. »Sie sind es, Herr Doktor Ladiges, und jeder in der Partei verlangt, daß Sie als solcher Ihre Pflicht tun. 186
Geben Sie allen ein Vorbild an Einsatzbereitschaft und Aufopferung, damit Sie es auch bleiben!« Jetzt war es heraus. Ladiges mußte sich jetzt wehren, mußte jetzt beweisen, daß er der Boß der Partei war und nicht Müller. Seine Ausgangsbasis war dabei weit schlechter als die des Kanzlers. Müller sonnte sich in einer charismatischen Publicity, er – Ladiges – galt als nüchterner, skeptischer Politiker ohne Ausstrahlung. Nur seine nächste Umgebung wußte, was er leistete. Insoweit stand er im Schatten des Kanzlers und er war Realist genug zu wissen, wenn Müller einen Anspruch auf den Parteivorsitz erheben würde, wie die Delegierten entscheiden würden. Für Müller – gegen ihn. Müller beherrschte das Denken in der Regierung und in der Partei. Letzter Hoffnungsfunke für Ladiges war Franz Josef Strauß, mit dem er inzwischen engen Kontakt hielt, wenn auch abgeschirmt von der Öffentlichkeit. Und er konnte ja nicht ahnen, daß Heinrich Müller den Regierungsdirektor Dr. Heinz Pöhlmann vom Verfassungsschutz auf ihn angesetzt hatte, der dem Kanzler über jeden seiner Schritte genauestens Bericht erstattete. Und Pöhlmann hatte viele Gründe, seinen direkt vom Kanzler erhaltenen Auftrag zu verstehen. Der Dr. Ladiges und sein Staatssekretär Fritz Hoffmann entwickelten in den letzten Wochen geradezu eine fanatische Vorliebe für die bayerische Landschaft. Und dort war Strauß so etwas Ähnliches wie ein Kaiser. »Ich werde meine Pflicht tun, Herr Bundeskanzler«, sagte Ladiges pikiert. Als er gegangen war, war man unter sich und konnte offen reden. »Hoffentlich bringt der uns nicht in letzter Stunde noch einen Wurm in den Wahlkampf«, orakelte Dieter Knorr. »Ich bin die letzten drei Wochen pausenlos in Hamburg, Bremen und Berlin, und ich werde wachsam sein«, meldete Peter Dahl. Dem Kanzler war das nicht genug. »Heske, ich weiß, daß du praktisch in Bonn unabkömmlich bist, aber du mußt als Feuerwehrmann Tag und Nacht bereitstehen. Wenn irgend etwas passieren sollte, mußt du in Stunden einspringen können. Die Partei und der Sieg in minde187
stens einem Stadtstaat geht jetzt vor allen anderen Interessen und hat absoluten Vorrang. Ist das klar?« fragte Müller. Heske nickte. Er wußte, daß die Amerikaner kamen, um die ersten Kontingente des PPKW zu übernehmen. Er selbst wollte ihnen die Lizenzen für das weiter entwickelte, mit Keramik angereicherte geschäumte Aluminium via Staatsvertrag andienen und die SZS-1 persönlich demonstrieren. Das alles sollte im April 1990 passieren, und ausgerechnet zu dieser Zeit fand auch die Endphase des Wahlkampfes statt. So hoffte er nur, daß Ladiges nicht ausflippte. »Ich stehe zur Verfügung!«
Und so kam der April heran. Und da das Glück immer auf der Seite der Tüchtigen steht, ließ Inge Müller zwei Wochen vor den Wahlen ein Festessen für zwei Personen von der Staatsküche des Steigenberger-Bonn-Hotels im Kanzlerbungalow servieren. Sie selbst deckte den Tisch mit kostbarem Damast und dem Familiensilber der Sanders, achtete auf das Arrangement der schweren Leuchter und der Blumen, drehte die Deckenbeleuchtung niedrig und wartete auf ihren Mann. Der war von Krümel verständigt worden, daß in seinen Privatgemächern ein wichtiger Besuch auf ihn warten würde, und da sie von Inge Müller eingeweiht worden war, sorgte sie auch dafür, daß der Kanzler von anderen Terminen unbehelligt blieb. So kam Heinrich Müller nach Hause und wurde von seiner Frau zärtlich empfangen. Ein Blick auf den Tisch zeigte ihm, daß nur für zwei gedeckt war. »Ich dachte, wir erwarten Besuch?« fragte er etwas überrascht. »Besuch ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck dafür«, lächelte Inge Müller hintergründig. »Wir haben bereits Besuch. Du wirst Vater!« »Ich werde …?« in Heinrich Müller stieg ein ihm bis dahin unbekanntes, fremdes Glücksgefühl auf. Er warf einen verstohlenen Blick auf den Leib seiner Frau, der unverändert schien. 188
»Wir sind erst im vierten Monat«, lachte Inge. Dann plötzlich begriff er. Er, der Bundeskanzler Heinrich Müller, würde Kinder haben. Und diese wundervolle Frau, seine Frau, würde ihm sein Kind schenken. Er nahm sie in seine starken Arme und hob sie hoch, wirbelte sie einmal um die eigene Achse, dachte dann an das werdende Leben, setzte sie behutsam ab, stotterte »entschuldige«, und sie schmiegte sich an ihn, lachte und küßte ihn, »das macht doch nichts, es wird doch unser Kind, das wird schon einen Puff vertragen«, sie lagen sich in den Armen, glücklich, fernab von Politik und Wahlkampf, zwei Menschen, die vor der Erfüllung ihrer Ehe standen und nichts als glücklich waren. Dann aß Heinrich Müller mit einem Appetit wie lange nicht mehr, fragte: »Seit wann weißt du es?« »Geahnt habe ich es schon im Februar, als mir manchmal so sonderbar übel wurde, dann war ich bei Professor Wyhler in Köln, der eine Schwangerschaft für möglich hielt, aber nicht sicher war. Acht Tage später hat er mich dann gründlich untersucht, glaubte aber, daß dem Kind etwas passieren könnte, da ich schwache Bauchmuskeln habe. Darum wollte ich erst ganz sichergehen. Ich habe Gymnastik gemacht, reichlich Vitamine genommen, das Rauchen eingestellt und nur noch selten ein Gläschen getrunken. Seit kurzem steht fest, daß unserem Kind nichts mehr passieren kann. Darum habe ich bis heute gewartet, es dir zu sagen!« »Wer weiß außer Wyhler davon?« »Nur Hanne Lamprecht, sie mußte die Termine freiboxen, damit du heute Zeit für mich hattest.« Müller dachte nach. Und schon waren seine Gedanken wieder mitten im Politgeschäft. Bei Hanne Lamprecht war das Geheimnis gut aufgehoben. Er mußte mit Dieter Knorr darüber sprechen, wie man das Kind noch in den Wahlkampf einbauen konnte. Das kam gerade recht, der Zeitpunkt konnte nicht besser gewählt sein. »Natürlich werden wir deine Termine im Wahlkampf absagen, Liebes«, sagte er. 189
»Natürlich werden wir das nicht tun, Heinrich. Jetzt gerade. Ich habe mit Wyhler gesprochen, es besteht keinerlei Gefahr, wenn ich mich nicht übernehme, und das werde ich nicht tun. Ich weiß doch, was du denkst, Heinrich. Warum bittest du nicht Dieter Knorr auf einen Sprung zu uns. Ich trinke ein Glas Champagner mit euch, und wir werden die ganze Sache besprechen. Er ist der Fachmann und wird schon wissen, wie wir die Sache publizistisch nutzen können. Ich glaube nämlich, daß es in Bremen oder Berlin passiert ist …« »Wir müßten auch Dahl dazu bitten, schließlich stellt sich die Partei zur Wahl und nur indirekt die Regierung.« »Dann ruf sie beide an!« Müller ließ sich verbinden. Eine halbe Stunde später kamen sie an, und der intime Rahmen im Kleinen Salon sagte ihnen, daß es sich um eine Sache von höchster Wichtigkeit handeln mußte. »Wir erwarten ein Kind«, sagte Müller dann ohne jede Einleitung. Peter Dahl sprang auf und gratulierte der werdenden Mutter. Dieter Knorr sank im Sessel zurück und meinte: »Das ist phantastisch – das ist phantastisch. Zu einem besseren Zeitpunkt hättest du mir das gar nicht sagen können …« In seinem Kopf kreisten die abenteuerlichsten Ideen, wie er das den umworbenen Frauen ›verkaufen‹ würde. Und gerade in den Hochburgen der Sozialdemokraten waren es ja immer die Frauen, die die Wahlen entschieden. Dann hatte er plötzlich Bedenken: »Wird Inge jetzt für den Wahlkampf ausfallen?« »Im Gegenteil«, sagte die Frau des Kanzlers, »jetzt erst recht. Ich bin stolz darauf, helfen zu können, und sei es nur mit meiner Schwangerschaft.« Dieter Knorr aber dachte, daß Heinrich Müller ein rechter Glückspilz sei, dem alles im Leben zu gelingen schien. Und wenn ihn manches insgeheim geärgert hatte, wie er durch den Einfluß von Inge sich immer mehr vom ›Kumpel‹ zum ›Staatsmann‹ wandelte, so war er heute bereit, das alles zu vergessen. »Ich werde mit ihm wachsen und mich verändern müssen«, dachte er und wußte nicht, ob er sich darüber freuen oder ärgern sollte. Jetzt aber war er gewiß, daß die Neue Partei die Wahlen gewinnen würde. 190
Mit Dahl zusammen ging er noch ›auf ein Bier‹ in sein Amt und sie sprachen bis in die kleinste Möglichkeit durch, wie sie das Ereignis verwerten wollten. Es blieb ihnen wenig Zeit, Rohloff mußte exklusiv verständigt werden und seine Aufnahmen machen, dann mußte es gleichzeitig über die Ticker gehen. Sie redeten sich in Begeisterung und Dieter Knorr sagte: »Müller tut immer das Richtige im richtigen Moment. Das ist wohl sein Geheimnis.« »Wir müssen sehen, daß wir ihn auf dem Parteitag durchboxen, auch gegen den Anhang von Ladiges. Ich habe mit allen Landesfürsten gesprochen, sie sind dann für ihn, wenn wir jetzt bei den Wahlen Erfolg haben, und daran zweifle ich jetzt keine Sekunde mehr.« Sie schieden zufrieden voneinander.
Werner Ladiges hatte sich bis zum Umfallen im Wahlkampf eingesetzt. In vierzehn Tagen hatte er über dreißig öffentliche Veranstaltungen abgehalten, die durch die Bank gut besucht waren. Rohloff hatte im Gespräch ›Unter vier Augen‹ ein Interview mit Inge Müller gebracht, zur gleichen Stunde lag die Nachricht von ihrer Schwangerschaft bei allen Medien, so daß sich niemand benachteiligt fühlen konnte. Heske hatte die Anzahl der Sicherheitsbeamten für die Frau des Kanzlers von acht auf zwölf erhöht, Heinrich Müller hatte über seine eigenen Termine hinaus Inge auf die drei wichtigsten Veranstaltungen in Hamburg, Bremen und Berlin begleitet, was von den vielen tausend Zuhörern, vor allem Frauen, mit Jubel begrüßt worden war. Die Müllers strahlten Glück und Zuversicht aus, wie Peter Dahl und Dieter Knorr es verordnet hatten. Es fiel ihnen nicht schwer, denn sie hatten beides im Übermaß. Auch Rolf Heske hatte es möglich machen können, einige Termine wahrzunehmen. Er pendelte mit dem Hubschrauber zwischen Bonn, Düsseldorf und den Orten, in denen er auftrat. Den großen Abschluß mit den Amerikanern, die seit Tagen in Düsseldorf waren, legte er auf 191
den Donnerstag vor den Wahlen, so daß noch alle Medien ausführlich darüber berichten konnten. »Dies ist ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Wege zur Vollbeschäftigung, und das danken wir der Neuen Partei«, rief er ekstatisch in die Mikrofone, und die Lautsprecher brüllten es unüberhörbar hinaus. So kam der Sonntag der Wahl. Dahl hatte von Dieter Knorr das System der ›Nachfrage‹ übernommen. Er saß in seinem Wahlkampfbüro im Bonner Distelweg, wo alles zusammenlief. Ladiges war schon am frühen Vormittag eingetroffen und hatte sich in sein Büro eingeschlossen. »Ich will vorerst nicht gestört werden«, hatte er angeordnet. Inge und Heinrich Müller ruhten sich von den Strapazen des Wahlkampfs im Kanzlerbungalow aus. Am Nachmittag machten sie einen kleinen Spaziergang am Rhein entlang, und Inge spürte die Spannung, unter der ihr Mann stand. »Wir schaffen es, Heinrich«, sagte sie, »wir schaffen es ganz bestimmt!« Sie lächelte, als er sie in die Arme nahm. »Und dann – Europa!« sagte sie leise … Im Palais Schaumburg waren dreißig Direktleitungen zum Presseamt und zu Dieter Knorr einerseits und zur Parteizentrale andererseits geschaltet worden. Hanne Lamprecht brachte alle eingehenden Informationen direkt in der von Müller bevorzugten Kurzform zu Papier, so hatte sie jederzeit einen vollständigen Überblick. Das Wetter war ideal. Sonnenschein, der zum Spazierengehen verlockte.
In Hamburg waren schon bis zum Mittag achtundfünfzig Prozent der Wahlberechtigten an den Urnen gewesen, in Berlin über fünfundvierzig Prozent und nur in Bremen lag die Beteiligung noch unter vierzig Prozent. Die Radio- und Fernsehstationen brachten Wiederholungen, die so langweilig waren, daß sie keinen Menschen vom Wahlgang abhielten. Das hatten Dahl und Knorr gemeinsam geschafft. 192
Gegen vier Uhr nachmittags setzte in allen drei Stadtstaaten ein regelrechter Run auf die Wahllokale ein. Fast überall wurde die Neunzig-Prozent-Marke überschritten. Gegen siebzehn Uhr hatte Dahl die ersten Nachfragen auf dem Tisch und ging damit verblüfft zu Werner Ladiges. »Das wäre unglaublich«, sagte er, als er die Zahlen auf den Tisch legte, »Hamburg 64 Prozent, Berlin fast 70 Prozent und Bremen 55 Prozent.« Ladiges sah von seinem Schreibtisch zu ihm auf: »Ist das nun mein Sieg oder der Sieg von Müller?« fragte er. Peter Dahl geriet in Rage. Dieser Dr. Ladiges mit seiner süffisanten Art, einen derartigen Erfolg zu zerreden, ging ihm auf die Nerven. »Es ist der Sieg der Neuen Partei«, sagte er wütend. »Ich nehme an, Sie stehen noch zu dieser Partei?« »Na, ich ahne jedenfalls, wo Sie stehen, Dahl«, konterte Ladiges. »Geben Sie die Zahlen ans Kanzleramt weiter, die werden sich freuen!« So war es auch. Krümel ließ Kulle die ersten Sektflaschen aufmachen. »Der Chef hat es wieder einmal im Alleingang geschafft«, freute sie sich. »Na ja, seine Frau hat auch einen kleinen Anteil daran«, meinte Kulle. »Ohne uns Frauen könntet Ihr sowieso einpacken«, lachte Krümel und dachte an ihren Mann, Karl Lamprecht, der in den letzten Tagen wieder vor den Amerikanern hatte glänzen können. Sie griff zum Telefon und rief ihn an. Aber im Hause meldete sich niemand. »Seltsam«, dachte sie, »er wollte doch zu Hause bleiben.« Dann aber beruhigte sie sich und dachte, daß wohl auch ihn das schöne Wetter aus dem Haus gelockt haben mußte.
Rohloff hatte seine Kameras und Scheinwerfer im Kanzleramt aufgebaut und wartete auf Müller. Dahl rief kurz vor sechs im Kanzler-Bungalow an: »Es gibt keinen 193
Zweifel mehr, wir werden in allen drei Stadtstaaten die Regierung übernehmen.« Heinrich Müller war glücklich. »Wir haben es geschafft, Inge. Und das danke ich nicht zuletzt dir. Wir fühlst du dich?« »Wie deine Königin«, sagte sie. Müller sah auf die Uhr. Es war kurz nach sechs, die Wahllokale waren geschlossen und in wenigen Minuten würde es die ersten halbamtlichen Hochrechnungen geben. Rohloff wartete auf ihn, er mußte gehen. Er küßte Inge zärtlich auf den Mund und verabschiedete sich. Dann ging er zum Palais Schaumburg hinüber. »Es sieht nach einem großartigen Sieg aus«, begrüßte ihn Rohloff. »Es ist der Sieg meiner Parteifreunde in Hamburg, Bremen und Berlin«, sagte Müller. »Das können Sie nachher vor der Kamera erklären, Herr Bundeskanzler, Ihre Parteifreunde werden es Ihnen danken. Aber in Wirklichkeit ist es doch Ihr Sieg, machen wir uns doch nichts vor!« »Wenn Sie meinen, dann tun Sie mir den Gefallen, und nennen Sie es den Sieg meiner Frau. Sie war trotz ihres Zustandes unentwegt im Einsatz, und ich habe ihr dafür zu danken …« Rohloff lächelte. Frau Inge Müller war schon fest in seine Statements eingebettet. Schließlich war er ein Top-Mann – und Top-Leute haben immer einen Riecher für den Erfolg. Dann kamen die ersten Zahlen. Hamburg und Berlin waren voll an die Neue Partei gefallen, sie würde mit absoluten Mehrheiten dort allein regieren können. In Bremen hatte die Neue Partei 52 Prozent erzielt, die SPD 26 Prozent und die CDU 20 Prozent. Die FDP war überall durchgefallen. Müller ließ sich mit Ladiges verbinden. »Ich gratuliere, Doktor, das ist ein höherer Sieg, als ich erwartet habe. Was haben Sie in Bremen vor? Wir brauchen natürlich auch dort niemanden.« »Ich denke, wir sollten mit der CDU ein Bündnis eingehen. Dann haben wir auch dort die Zweidrittelmehrheit!« Heinrich Müller nickte. »Einverstanden. Wollen Sie das heute schon erklären?« 194
»Natürlich nicht, ich werde sagen, daß wir mit den beiden Parteien, die die Fünf-Prozent-Klausel überschritten haben, in Verhandlungen eintreten werden …« »Das ist wahrscheinlich das beste. Ich werde mich allgemein äußern und vorerst auch nicht auf die Frage der Machtverteilung im Bundesrat eingehen. Von dorther kann jetzt ja nichts mehr passieren. Es ist ein runder Erfolg unserer Partei, Doktor, ich würde gerne ein Glas mit Ihnen trinken. Warum kommen Sie nicht herüber ins Kanzleramt, das Fernsehen ist da. Das wäre doch ein Grund. Was halten Sie davon?« Das hatte Werner Ladiges gerade noch gefehlt. Jetzt sollte er Müller auch noch bei seinem Triumph als Staffage dienen. »Wir sollten Regierungs- und Parteipolitik scharf trennen und streng auseinanderhalten. Wenn ich jetzt ins Kanzleramt käme, könnte dies von den Medien falsch ausgelegt werden. Ich hoffe auf Ihr Verständnis, Herr Bundeskanzler …?!« »Wie Sie wollen.« Müller legte auf. Dann trat er vor die Kameras von Rohloff, bedankte sich bei den Wählern und Parteifreunden, für das Vertrauen und die aktive Mithilfe, versprach, daß sich an der Regierungsarbeit nichts ändern würde, und auf den Bundesrat angesprochen verkündete er: »Wir müssen erst die amtlichen Ergebnisse der Wahlen abwarten. Vorher kann ich dazu nicht Stellung nehmen.« Rohloff merkte, daß ihm der Kanzler auswich, wie er überhaupt in den letzten Wochen eine gewisse Abkühlung seiner Beziehungen zu Müller und Knorr hatte feststellen müssen. Er machte sich eine Notiz. Morlock mußte einmal recherchieren, was da im Busch war. Irgend etwas jedenfalls stimmte nicht oder es waren Dinge in Vorbereitung, von denen es gut war, rechtzeitig zu wissen und sich vorzubereiten. Dabei erinnerte er sich daran, daß er schon lange einmal mit Gotthelf Kamphausen essen gehen wollte, und er machte sich eine weitere Notiz. Unbewußt hatte er auch hier wieder die richtige Nase. Kamphausen hatte zusammen mit Rüdiger von Meiners die Wahlnacht in seiner Villa verbracht und mit Befriedigung zur Kenntnis genommen, daß seine Erwartungen nicht nur übertroffen worden waren, sondern 195
daß jetzt praktisch für Heinrich Müller eine fast uneingeschränkte Macht zur Verfügung stand. »Wir müssen das ausnutzen, Meiners.« »Ich habe schon vorgesorgt. Der Generalsekretär der Neuen Partei, ein gewisser Dahl, hat von mir alle Vollmacht und alle Mittel, um Müller auch noch den Parteivorsitz zu sichern. Wenn das der Fall ist, muß Ladiges zurücktreten.« Kamphausen überlegte. »Man munkelt bei der Union, daß Ladiges mit Strauß zusammen eine bundesweite CSU gründen will. Das wäre schlecht für die Neue Partei und schlecht für die Union.« Meiners nickte. »Müller ist auf dem besten Wege, seine Wahlversprechen einzuhalten, das gibt ihm einen gewissen Vorsprung. Aber er hat sich Ladiges mit dem heutigen Erfolg zum Todfeind gemacht. Wir beide kennen den guten Doktor. Vielleicht sollte man ihm einen gut dotierten Posten in der Industrie anbieten und ihn so zum freiwilligen Rücktritt veranlassen. Dann wäre die Bahn für den Kanzler frei.« »Und an was denken Sie?« Meiners zog genießerisch an seiner Zigarre. »Zuerst dachte ich an die Industrie-Anlagen AG …« Er sah, wie Kamphausen zusammenzuckte, und beruhigte diesen sofort: »… keine Sorge, das war nur so ein Gedanke.« »Und was sonst?« fragte Kamphausen. »Wichtig ist, daß er den Stuhl des Finanzministers räumt. Wie es aussieht, brauchen wir eher acht bis zehn Milliarden als drei bis vier. Wenn uns Ladiges bei den Verlustzuweisungen an die Anleger der IAAG Schwierigkeiten macht, könnte das für uns Probleme bedeuten. Ich habe meine Beziehungen etwas spielen lassen. Die Deutsche Bank braucht einen neuen Vorstandsvorsitzenden. Wenn wir ihn dahin wegloben können, ist allen geholfen. Ich werde ihm das Angebot in den nächsten Tagen unterbreiten lassen.« »Und wenn er nicht anbeißt?« »Dann muß Müller ein Machtwort sprechen und die Regierung umbilden. Wenn er ihm das Familienministerium anbietet, geht er von alleine.« »Sind Sie sicher?« 196
»Ganz sicher!« »Und Müller, glauben Sie, daß der mitzieht?« »Wenn wir ihm garantieren, daß wir in einem Jahr praktisch keine Arbeitslosen haben, bin ich sicher, daß er stramm mitmarschiert, Herr Kamphausen. Außerdem ist er ja dann Regierungschef und Parteivorsitzender in Personalunion.« »Wird er uns dann nicht etwas zu mächtig?« »Er kann gar nicht mächtig genug werden, solange wir Einfluß auf ihn haben und uns nicht selbst im Rampenlicht produzieren müssen. Natürlich könnte er auch uns Schwierigkeiten machen, aber er ist viel zu sehr Funktionär und Idealist, als daß er auf eine solche Idee käme.« Kamphausen mußte noch darüber nachdenken, als er am nächsten Tag ins Büro fuhr. Die IAAG war ein Instrument, das vom Kanzler geschaffen worden war und für seine politischen Ambitionen produzierte. Soweit war alles in Ordnung. Das Bankhaus von Meiners hatte die Aktien in weitgehend bekannte und vertrauenswürdige Hände gelegt. Aber die erweiterte Produktion des PPKW und die Forschungsarbeiten an der SZS-1 erforderte weitere erhebliche Mittel. Das hieß, daß das Aktienkapital aufgestockt werden mußte, und das ging nur durch eine Emission an der Börse. Meiners hatte Recht, Ladiges mußte seinen Posten als Finanzminister niederlegen. Fragte sich nur, ob er den Posten bei der Deutschen Bank akzeptieren würde. In tiefen Gedanken betrat er sein Büro. Die Sekretärin sagte: »Herr Lamprecht hat schon mehrfach nach Ihnen gefragt. Es scheint etwas Wichtiges zu sein.« »Bitten Sie Herr Lamprecht zu mir, sobald er Zeit hat.« Karl Lamprecht kam wenige Minuten später in sein Büro. Er war ernst und machte ein sorgenvolles Gesicht. »Na, mein Lieber, was gibt es?« fragte Kamphausen. »Ich habe keine gute Nachricht. Bei der letzten Versuchsserie mit der SZS-1 ist einer der Arbeiter ums Leben gekommen …« »Um Gottes willen, wie konnte das passieren?« »Er hat die Sicherheitsvorschriften nicht beachtet und ist aus der Dec197
kung gelaufen, als gerade Versuche mit Kühen liefen. Eines der Tiere hatte sich mit dem Halfter an einer Türe verhängt, der Mann wollte die Kuh befreien, als der Schuß fiel. Er hat den Mann und nicht das Tier getroffen. So war es.« »Ist der Vorfall schon bekannt?« »Nein. Forschung und Entwicklung haben die Versuchsstation sofort geschlossen und veranlaßt, daß niemand den Stollen IV verläßt, bevor Sie nicht entschieden haben, was passieren soll. Die Verantwortung liegt bei F+E und bei Ihnen.« Kamphausen gefiel gar nicht, daß Lamprecht ihm moralisch die Schuld in die Schuhe schieben wollte. »Na, na, na, na – mal immer langsam. Die Sicherheitsvorschriften sind ausschließlich von Forschung und Entwicklung erlassen worden. Was habe ich damit zu tun?« »Sie sind der Vorsitzende des Vorstandes und damit für alle Ressorts zuständig. Aber wir sollten jetzt keine Zeit mit Zuständigkeiten verlieren, sondern uns um den Stollen IV kümmern. Die Leute dort warten auf eine Entscheidung.« »Würden Sie mit mir kommen, Lamprecht?« »Wenn Sie meinen, daß ich Ihnen helfen kann?« »Kommen Sie!«
Sie gingen gemeinsam hinüber zum Förderschacht und ließen sich auf Sohle IV bringen. Die Stahltüren waren hermetisch verschlossen, und sie passierten die Sicherheitsschranken genau nach Vorschrift. Es dauerte fünf Minuten, bis sie am Tatort waren. Der tote Arbeiter lag auf dem Tisch, auf dem sonst die erschossenen Tiere untersucht und seziert wurden. »Nehmen Sie den Mann da runter«, orderte Kamphausen, und man legte den Mann auf eine eilig herbeigeschaffte Tragbahre. Es war so, wie Lamprecht berichtet hatte. Nur vier Forscher und drei Hilfsarbeiter waren Zeugen des Vorfalls. »Was machen wir?« fragte Kamphausen leise. 198
Lamprecht hatte die Antwort parat. »Vergattern Sie die Leute zu absolutem Stillschweigen unter Hinweis auf den Geheimhaltungsgrad der Versuche. Nach außen sollten wir das Ganze als Betriebsunfall darstellen, Herr Kamphausen.« So geschah es. Vorerst war die Sache bereinigt, wenn auch nicht aus der Welt geschafft. Der Tote hinterließ eine Witwe mit drei halbwüchsigen Kindern. »Was ist, wenn sie die Leiche obduzieren läßt?« fragte Kamphausen. »Das darf nicht passieren. Dann kommt die Geschichte in die Presse und dann kann ich nur sagen, adieu Geheimhaltung und adieu SZS-1Programm …« »Was können wir tun?« »Sprechen Sie mit Heske und notfalls mit dem Kanzler. Dies ist eine Affäre, die die Bundesrepublik angeht. Wir sind nur für Entwicklung und Produktion zuständig.« Kamphausen rief Heske an. Der war noch siegestrunken und schrie fast ins Telefon: »Na, was sagen Sie, Kamphausen, war das ein Sieg?« »Ich gratuliere, Herr Minister. Aber ich habe ein größeres Problem als Ihre Wahlsiege …« Er berichtete kurz und bat um eine Entscheidung. »Der Mann ist aus der Frühschicht, seine Frau erwartet ihn spätestens gegen halb fünf zu Hause. Jetzt ist es elf Uhr morgens. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mit dem Kanzler reden würden.« Müller sagte Heske auf dessen Andeutungen hin einen sofortigen Termin zu, und als er erfuhr, um was es ging, bat er auch noch Dieter Knorr zu sich. Das war allerdings eine unangenehme Nachricht, und der Kanzler wußte genau, welche Folgen das haben konnte. »Gehörte der Tote einer Partei an?« »Das ist es ja – er war SPD-Mitglied«, sagte Heske, der sich hatte informieren lassen. Gegen ein Uhr hatten Müller, Knorr und Heske eine Entscheidung getroffen. Kamphausen selbst würde mit der Witwe sprechen. Für sie würde gesorgt werden und den Kindern jeder Bildungsgang eröffnet werden. ›Ein Mitarbeiter der IAAG ist einem Betriebsunfall zum Opfer ge199
fallen‹ hieß die offizielle Version drei Tage später, als der Mann unter großer Anteilnahme der Belegschaft der Industrie-Anlagen AG zu Grabe getragen wurde. Die Witwe wollte daraufhin nicht mehr länger in Düsseldorf leben. Die hunderttausend Mark, die ihr Kamphausen als ersten Beitrag zur Linderung ihres Leidens übergeben hatte, reichten für einen Umzug nach Hannover und die Anzahlung für ein Häuschen. Die Kinder würden es einmal gut haben. Die Leiche war vor der Beisetzung nicht obduziert worden und von dieser Seite keine Schwierigkeiten zu erwarten. Daß Karl Lamprecht allerdings einige Detailfotos gemacht hatte, wußte nur er selbst.
Bei allem, was er tat, ließ Heinrich Müller niemals das Parlament außer acht. Wann immer es seine Termine erlaubten, war er bei den Plenarsitzungen anwesend, was ihm von den Medien hoch angerechnet wurde. Er brachte es sogar fertig, hohe Staatsgäste warten zu lassen, wenn wichtige Dinge im Bundestag zur Sprache kamen. Oft trat er selbst ans Rednerpult, vor allem dann, wenn die Regierung von der immer machtloseren und deshalb immer bissigeren Opposition hart kritisiert wurde. Er wußte, wie wichtig es war. Rede und Antwort zu stehen und sich nicht von einem Ressortminister vertreten zu lassen. Dies galt insbesondere für solche Fragen, in die die Bevölkerung involviert war. Und so galt dies ganz besonders für Fragen, die unter dem harmlos lautenden Titel ›Umweltschutz‹ behandelt wurden. Deshalb war Heinrich Müller im Parlament auch anwesend, als die Unions-Opposition durch ihren Fraktionsvorsitzenden Aigner die große Anfrage stellte: »Ist es richtig, daß der Herr Bundesminister für Energie außer den bereits bestehenden zwölf sogenannten schnellen Brütern weitere zwölf Kernspaltungs-Reaktoren errichten will?« Der Bundesminister für Energie erhob sich kurz von seinem Sitz, sagte schlichtweg »ja« und setzte sich wieder hin. Dies schien der Oppositi200
on dann doch etwas wenig zu sein und der Fraktionsvorsitzende Aigner stieß nach: »Herr Bundesminister, die bereits bestehenden Atomkraftwerke decken nicht nur den Bedarf der Bundesrepublik Deutschland, sondern darüber hinaus auch den Österreichs, der Niederlande, Dänemarks, Belgiens und der Schweiz. Darf ich Sie, Herr Bundesminister, fragen, welchem Zweck die weiter geplanten schnellen Brüter dienen sollen, die in ihrer Wirkung ja über ein normales Kernkraftwerk weit hinausgehen und damit eine zusätzliche Gefahr für die Bevölkerung bilden?« Jetzt mußte der Minister wohl oder übel doch zum Rednerpult treten. »Meine sehr verehrten Damen und Herren und insbesondere verehrte Kollegen von der Union. Das Bundesforschungsministerium und auch mein Haus haben in grundsätzlichen Gutachten festgestellt, daß die Schnellbrut-Reaktoren eine der wenigen realistischen Zukunftsmöglichkeiten zur Sicherung der längerfristigen Energieversorgung sind. Wir brauchen sie, weil die Weltreserven an Erdöl und Erdgas nur noch wenige Jahre reichen. Wenn wir unsere wirtschaftliche Unabhängigkeit und unseren hohen industriellen Weltmarktanteil halten und auf die Dauer sichern wollen, müssen wir uns auch auf dem Sektor der Energieversorgung weitgehend autark machen. Eine zusätzliche Gefahr für die Bevölkerung entsteht dadurch nicht. Sie wissen – und das gesamte Hohe Haus hat dieser Entscheidung schon vor dieser Regierung zugestimmt –, daß die radioaktiven Abfälle nach strengsten Sicherheitsvorschriften gelagert werden, die jede Beeinträchtigung oder Gefahr hinsichtlich einer Umweltverschmutzung ausschließen. Die Sicherheitsprobleme bei den schnellen Brütern sind zwar andere, aber nicht größere als bei den herkömmlichen Kraftwerken. Dies dürfte Ihre Frage beantworten. Ich danke Ihnen!« Von der Mitte – wo die Abgeordneten der Neuen Partei saßen – kam starker Beifall. Aigner machte noch einen Versuch: »Gestatten Sie eine Zusatzfrage, Herr Bundesminister?« 201
Aber dieser schüttelte nur den Kopf und sagte »Nein!« Damit war die Fragestunde beendet. Müller schickte seinem Energieminister einen Zettel über die Regierungsbank: »Ich muß Sie dringend sprechen. Rufen Sie mich an.« Dann verließ er mit Heske zusammen das Plenum. Im Wagen fragte er: »Was macht die IAAG mit den radioaktiven Abfällen?« »Sie arbeiten damit. Und zum Teil lagern sie sie ein.« »Und wieweit sind die Forschungen gediehen?« Müller war neugierig und hatte bestimmte Hintergedanken. »Das kann uns wahrscheinlich nur Kamphausen oder Lamprecht beantworten.« »Ich will sie beide sofort sprechen!« Heske veranlaßte das Notwendige. Kamphausen und Lamprecht wurden mit dem Hubschrauber direkt zum Palais Schaumburg gebracht und zum Kanzler geführt. »Nun, meine Herren, erklären Sie mir, was ein schneller Brüter ist!« Er wandte sich an Lamprecht. Der hatte immer so treffende, kurze Erklärungen zur Hand. »Das ist im Prinzip ganz einfach, Herr Bundeskanzler. Ein schneller Brüter ist ein Kernspaltungs-Reaktor, der Energie – also Strom – erzeugt, aber gleichzeitig auch Brennstoff. Und zwar mehr, als ursprünglich vorhanden war. Das heißt, er brütet seinen eigenen Brennstoff. Herkömmliche Reaktoren verwenden nur das kostbare Uran 235, das nur zu 0,7 Prozent im Uran 238 enthalten ist. Schnelle Brüter erzielen dagegen durch Umwandlung von Uran 238 in Plutonium eine etwa sechzigfach bessere Brennstoffnutzung – praktisch ein Perpetuum mobile. Die Energie entsteht dabei durch Spaltung von Atomkernen mit Hilfe von Neutronen – also mit Hilfe von Elementarteilen des Atomkerns –, die bei herkömmlichen Reaktoren abgebremst werden, bei schnellen Brütern aber besonders energiereich sind.« »Begriffen«, sagte Müller, der sich sehr wohl in die Materie eindenken konnte. »Und was ist mit dem Plutonium?« Lamprecht zögerte einen Augenblick. Die Versuche bei der IAAG 202
waren noch im Anfangsstadium. Sicher, Müller war der Bundeskanzler und hatte somit ein Recht darauf zu wissen, was im Lande geschah. Aber die Beantwortung dieser Frage war nach seiner, Lamprechts, Meinung mehr eine Sache, die Kamphausen anging. Schließlich war er der Vorstands-Vorsitzende. Er sah zu seinem Chef hinüber. Der verstand. »Plutonium, Herr Bundeskanzler, das im schnellen Brüter entsteht, ist, kurz gesagt, der Stoff, aus dem man wieder Energie gewinnt – aber auch Atombomben machen kann. Und in unseren speziell schnellen Brütern wird mehr Plutonium entstehen als je zuvor. Hier kann natürlich die Produktion der schnellen Brüter zum politischen Zündstoff werden.« »Darauf also zielte die Frage der Opposition ab, Heske?« wandte sich der Kanzler an seinen Sicherheitsminister. »Die Gegner der Kernreaktoren sehen in der Produktion von Plutonium ins Unkontrollierbare wachsende Gefahren, ist es so?« »So ist es, Herr Bundeskanzler«, sagte Heske. Kamphausen und Lamprecht waren entlassen. »Knorr muß her, er muß sich sofort etwas einfallen lassen, wie wir diese zweifellos übertriebene Gefahr in der öffentlichen Meinung abbauen. Ich will weder Demonstrationen noch Versammlungen in dieser Sache. Wir haben die gesetzlichen Mittel, sie zu untersagen. Und ich will jeden Versuch im Keime erstickt wissen, Heske, klar?« »Klar. Was machen wir mit dem Energie- und dem Forschungsminister, ich glaube, sie warten draußen?« »Schick sie nach Hause. Dieser Lamprecht hat die Gabe, mir etwas so einfach zu erklären, daß jedes Fachgeschwätz mich jetzt nur verwirren würde.« »Okay, wird gemacht!« sagte Heske und ging. Müller aber wußte schon, wo er seine Waffen einsetzen würde. Erst aber mußte der Parteitag hinter ihm liegen.
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Meiners hatte Dr. Ladiges in der Parteizentrale besucht, da dieser eine Einladung zum Essen wegen Arbeitsüberlastung abgelehnt hatte. So machte sich der Bankier auf den Weg nach Bad Godesberg, traf auf einen mißtrauischen Parteivorsitzenden, überlegte kurz, ob er seinen Deutsche-Bank-Vorschlag überhaupt machen sollte, entschloß sich dann doch zum Handeln und holte sich prompt eine Abfuhr. »Sie können mir doch meine politische Überzeugung nicht abkaufen, Herr von Meiners!« sagte Ladiges kalt und musterte sein Gegenüber, als würde er ihn zum erstenmal sehen und als wären sie nie befreundet gewesen. Ladiges hatte sich inzwischen in eine politische Trotzreaktion hineinmanövriert, die ihm gar keinen anderen Ausweg ließ. Er war bei Strauß im Wort und konnte doch noch nicht handeln. Strauß wiederum hatte sich mit Aigner angelegt, wie schon zuvor mit Helmut Kohl. Ein Kommentator schrieb dazu: »Für politische Zaungäste war die letzte Bonner Woche voll satter Zufriedenheit. Boten doch die Unionsparteien ein herzerfrischendes Spektakel mit allen von der Komödie bis zum Melodram reichenden Zutaten, für das selbst ein üppiges Eintrittsgeld nicht zu schade gewesen wäre. Doch das Stück wurde ja frei Haus geliefert. Dabei war der Inhalt gar nicht sonderlich neu und auch der Regisseur ist wieder einmal der gleiche: Franz Josef Strauß. Doch seine Inszenierungen sind, ähnlich wie beim Kasperltheater, von solch großartiger Einfachheit, daß der Erfolg und die Lacher stets gesichert sind. Zumindest beim Publikum. Gewisse Mitspieler sollen angeblich über die ›hinterfotzige‹ Spielweise tief verbittert sein.« So war der Dr. Ladiges erst einmal zum Stillhalten verurteilt. Da war es auch kein Trost für ihn, als der Bundeskanzler mit seiner Kolonne vorfuhr und ohne lange Anmeldung direkt zu ihm ins Zimmer kam. Peter Dahl, der sich flink dazugesellt hatte, wurde gebeten, den Raum zu verlassen. Natürlich war Müller von Rüdiger von Meiners direkt informiert worden. Und wenn er die Deutsche-Bank-Lösung auch nicht gerade für richtig hielt – was schließlich sollten die Parteimitglieder denken? –, so wäre sie im Prinzip doch praktikabel gewesen und hätte 204
ihm den letzten Stein auf dem Wege zur totalen Macht – den Dr. Werner Ladiges – auf kaltem Wege aus der Bahn geräumt. Irgendwo verstand der Kanzler seinen einzigen Widersacher in der Partei und bezeugte ihm auch den notwendigen Respekt. »Meiners ist instinktlos, Herr Doktor«, ging er darum auch direkt auf sein Ziel los, »ich bitte Sie, mir zu glauben, daß dieses Angebot nicht von mir kam. Anders liegen die Dinge mit dem Parteivorsitz. Sie wissen, daß es in der Partei Gruppen gibt, die mich für das Amt des Ersten Vorsitzenden vorschlagen wollen. Ich werde mich einem solchen Ruf kaum entziehen können, schon gar nicht nach den Erfolgen in Hamburg, Bremen und Berlin.« Er machte eine Pause. Ladiges schaute ihn aus schmalen Augen an. »Und das heißt im Klartext?« »Meine Regierung genießt im Westen wie im Osten höchstes Ansehen«, der Kanzler betonte jedes Wort, »und insbesondere die ausländischen Beobachter fragen sich, warum wir in Staat und Partei noch Gewaltenteilung haben. Darum bitte ich Sie – im Interesse der Nation und der Neuen Partei: Treten Sie freiwillig von Ihrem Amt zurück. Kandidieren Sie nicht wieder. Dies würde Ihnen in der Partei und uns in der Öffentlichkeit eine Blamage ersparen, die Sie und die Partei nicht verdient haben, Herr Doktor Ladiges.« Ladiges sah ihn nur kurz an, dann sagte er: »Sie sind ein Schwein, Müller, der Teufel soll Sie holen!« Müller lächelte überlegen. »Ich nehme Ihre Demission vom Posten des Finanzministers an und habe von Ihrer Absicht Kenntnis genommen, für den Vorsitz der Neuen Partei nicht wieder zu kandidieren!« sagte er unbeeindruckt. »Das haben Sie sich so gedacht«, antwortete Ladiges bissig. »Als Finanzminister können Sie mich natürlich jederzeit entlassen. Aber um den Parteivorsitz werde ich kämpfen, Sie …« Heinrich Müller wartete weitere Beleidigungen nicht ab. Er drehte sich einfach um und ging weg. Der Krieg zwischen ihm und Ladiges war erklärt … 205
Den ersten schwergepanzerten Spähwagen, der der Kanzlerkolonne vorausfuhr, steuerte Heller, Hauptwachtmeister im ersten Bataillon der GSG 9. Das Armaturenbrett des Spähwagens war ausgebaut wie das Cockpit eines Düsenjägers, auf einen Knopfdruck konnte Heller vier Rundum-Maschinengewehre in Aktion setzen. Neben ihm saß Inspektor Karl. Er war im ständigen Kontakt mit der Einsatzleitung der Sicherungsgruppe, deren diensthabender Offizier in Sekundenschnelle immer neue Berichte der Lage an die Bereitfahrzeuge des Kanzlerkonvois weitergab. Mit dem Rücken zu Heller und Karl saßen die Wachtmeister Fleischmann und Gerber, beide jederzeit bereit, aus dem Spähwagen hinauszuspringen und mit ihren immer durchgeladenen Maschinenpistolen die Nahsicherung des Kanzlerwagens zu übernehmen. Der zweite Spähwagen war ebenso ausgerüstet, dann folgte der gepanzerte Mercedes mit Kulle hinter dem Steuer und Heinrich Müller im Fond, dahinter zwei weitere Panzerspähwagen, alle jederzeit einsatzbereit. Die Kolonne kam vom Distelweg – auf halbem Weg zwischen Bonn und Bad Godesberg – und fuhr Richtung Bundeshaus. Es war der 4. Juni 1990, und Kanzler Müller kam von der harten Auseinandersetzung mit Dr. Ladiges, dem Ersten Vorsitzenden der Neuen Partei, die im Distelweg domizilierte. Er war sich darüber im klaren, daß er Ladiges zu viele Vollmachten überlassen hatte, und war entschlossen, das zu ändern. Er mußte dringend mit Dieter Knorr sprechen. Kurz überlegte er, ob er gleich zum Presseamt in die Welckerstraße fahren sollte, blieb aber dann bei seinem ursprünglichen Plan, zuerst ins Bundeshaus zu fahren. Alle Straßen, die die Kanzler-Kolonne durchfuhr, standen unter ständiger Fernsehkontrolle. Die Fernsehaugen überblickten praktisch das gesamte Terrain Tag und Nacht, keinem Terroristen – so glaubte man – konnte es praktisch gelingen, näher als dreihundert Meter an die Straßen, die Müllers Kolonne durchfuhr, heranzukommen. Ein spezielles, auf die Spähwagen montiertes Raketenabwehrsystem machte es zudem theoretisch unmöglich, daß die Kolonne von irgendeinem entfernten Standpunkt aus beschossen wurde. Zwei Bundes206
wehr-Hubschrauber begleiteten die Kolonne jeweils in der Luft und standen mit dem Jagdgeschwader Zwo in pausenlosem Funkkontakt. Beim geringsten Verdacht würde eine Staffel Abfangjäger in knappen zwei Minuten am Einsatzort sein, um einen etwaigen Angriff abzuwehren. Heinrich Müller hatte dieses Sicherheitssystem selbst mitentworfen und erst kürzlich seinem italienischen Kollegen Malfatti demonstriert. Mit Zufriedenheit hatte er dessen Verblüffung und Anerkennung zur Kenntnis genommen. Die Leitstelle der Sicherheitsgruppe meldete sich: »Adler eins, Adler eins, bitte kommen …« Heller drückte mit dem Daumen auf die Sendetaste seines Kehlkopfmikrofons: »Hier Adler eins, ich höre.« »Sie nähern sich der Sicherheitszone eins, biegen Sie in die FriedrichWilhelm-Straße und fahren Sie über die Drachenfelsstraße zu Punkt acht. Verstanden?« Punkt acht war das Bundeshaus. »Hier Adler eins, ich habe verstanden …« Die Anweisung war nicht außergewöhnlich. Niemals fuhr die Kanzlerkolonne den gleichen Weg, immer erst während der Fahrt wurden die letzten Anweisungen gegeben. Heller fragte die anderen Wagen ab. »Hier Adler eins, haben Sie die Anweisungen gehört?« Nacheinander meldeten sich Adler zwei, drei und vier. Alle mit der gleichen stereotypen Antwort: »Adlerroute ist klar, wir folgen!« Kulle sagte nur: »Okay, verstanden!« Auf den Straßen waren kaum Zivilisten zu sehen, alle zehn Meter stand ein uniformierter Beamter der Bereitschaftspolizei mit umgehängter Maschinenpistole. Sie salutierten, als die Kolonne vorbeifuhr. Als Heller die Fahrt verlangsamen mußte, um in die Drachenfelsstraße einzubiegen, explodierte die Bombe, die seinen Wagen fast zehn Meter in die Höhe schleuderte, bevor er mit einem Riesenknall auf das Pflaster krachte. Der Inspektor Karl war aus dem Spähwagen geschleudert worden, wälzte sich auf den Rücken und begann – trotz irrsinniger Schmerzen im Unterleib – wie wild zu schießen. Fleischmann und Gerber rührten sich nicht. Sie lagen blutend und ohnmächtig am Boden. 207
Adler zwei prallte fast auf den Vorauswagen auf, geistesgegenwärtig konnte der Fahrer das Steuer noch herumreißen, die Alarmsirene in Bewegung setzen und mit Höchstgeschwindigkeit zum Rheinufer rasen. Kulle folgte ihm mit wenigen Metern Abstand, bog dann aber kurzerhand ins Tulpenfeld ein, raste über die Grünflächen zur Görresstraße, schrie ins Mikrofon: »Ein Überfall – ich fahre durch zum Adlernest, alles veranlassen!« Das bedeutete nichts anderes, als daß der Mercedes direkt zum Bundeskanzleramt fahren würde, ohne lange am Bundeshaus zu halten. Als er die Schranke durchfuhr, hätten ein paar nervöse Wachbeamte fast auf Müller geschossen, erkannten aber in letzter Sekunde den Kanzlerwagen und richteten ihr Augenmerk auf die Straße. Vor dem Kanzleramt war der ›Sicherheitsfinger‹ ausgefahren, der hier schon montiert war. Heske hatte ihn einbauen lassen, nachdem er Hinweise bekommen hatte, daß ein Attentat auf den Kanzler geplant wurde. Heinrich Müller hatte sich bei den ersten Schüssen auf den Boden der Limousine fallen lassen, obwohl die Scheiben seiner Staatskarosse, des ersten PPKW, unbedingt kugelfest waren. Dann hatte er sich rasch erholt. Durch den ›Sicherheitsfinger‹ ging er jetzt scheinbar ungerührt zu seinem Amtszimmer und rief nach seiner Frau. Draußen herrschte ein unvorstellbares Tohuwabohu. Sirenen kreischten, Blauund Rotlichter von Einsatzfahrzeugen rotierten wie wild, Düsenjäger heulten über das Kanzleramt, Hubschrauber kreisten über dem Gebäude, sechs Hundertschaften Bereitschaftspolizei umzingelten Kanzleramt und Kanzlerbungalow, Panzerwagen fuhren auf und begaben sich in Stellung – Heinrich Müller aber ging zu einem Wandschrank und schenkte sich einen Rémy Martin ein. Als Inge sein Arbeitszimmer betrat, merkte man ihm zumindest äußerlich keinerlei Unruhe an. Sie war totenblaß und sah ihn mit großen Augen an. »Was ist passiert, Heinrich?« »Eines der Begleitfahrzeuge ist in die Luft gesprengt worden. Ich will sofort Heske sprechen. Dann mache mir bitte eine Verbindung zum Presseamt. Ich brauche Knorr persönlich. Irgend etwas Neues sonst?« »Ich werde alles veranlassen und mich dann wieder melden«, sag208
te Inge Müller. Sie versuchte, sich zusammenzunehmen, aber sie schwankte, als sie hinausging. Das Telefon klingelte. Knorr war am Apparat, der Staatssekretär und Leiter des Presseamtes. »Ist dir etwas passiert?« »Nein«, sagte Müller. »Du mußt sofort zu mir herüberkommen, ich muß mit dir sprechen!« »Ich bin in fünf Minuten da«, sagte Knorr und hängte ein. »Herr Minister Heske ist auf dem Wege ins Kanzleramt«, meldete Krümel über die Gegensprechanlage. »Gut. Ist meine Frau noch da?« »Ja, Herr Bundeskanzler«, sagte Krümel. Es knackte in der Leitung, die Verbindung war zu Ende. Als Inge eintrat, schloß Heinrich Müller sorgsam die schwere, gepolsterte Doppeltür, dann nahm er sie in die Arme und küßte sie. »Hast du Angst gehabt?« flüsterte sie. »Ja«, sagte er. »Ich glaube schon. Aber jetzt ist alles wieder gut. Ich habe eine Menge Ärger mit Ladiges, und diese Geschichte kann mir helfen, mir diesen Ärger auf elegante Art und Weise vom Hals zu schaffen. Man muß die Dinge immer nur von allen Seiten betrachten … wenn Knorr kommt, schicke ihn ohne Umwege zu mir herein. Er muß vor Heske da sein … Alles klar?« »Ja«, sagte Inge und ging hinaus. Dann wurde Knorr gemeldet, man sah ihm die Angst an. »Mensch, Heinrich …« sagte er, mehr brachte er nicht heraus. »Damit mußten wir doch seit Jahren rechnen, Dieter. Und so ungelegen kommt mir die Geschichte gar nicht. Damit schaffe ich Ladiges aus der Regierung und wenn du mir hilfst, auch von der Spitze der Partei. Kann ich auf dich zählen?« Dieter Knorr sah ihn vorwurfsvoll an. »Wie kannst du so etwas fragen?« Die Freunde waren sich wieder einmal einig. Rolf Heske sah aus, als sei das Attentat auf ihn persönlich verübt worden. »Du bist okay, Heinrich?« fragte er. »Wie du siehst! Aber deine Truppen haben versagt. Sie standen ge209
langweilt unter den Alleebäumen, haben lässig gegrüßt und im übrigen sich die Steuergelder in den Bauch gestanden. Das muß anders werden. Aber das später. Was hast du veranlaßt?« »Die GSG 9 ist im Einsatz, dazu das Bundeskriminalamt, das Landeskriminalamt von Nordrhein-Westfalen, die Bonner Polizei und was sonst noch greifbar war …« »Die Terroristen müssen gewußt haben, wie heute die Strecke ist«, warf Müller ein. »Das ist nahezu ausgeschlossen, obwohl wir auch das eben überprüfen. Die Route wird vom Kanzleramt in Übereinstimmung mit meinem Ministerium festgelegt. Das ist – der Sache entsprechend – eine Angelegenheit von wenigen Minuten.« »Und wer macht das hier im Bundeskanzleramt?« »Normalerweise spricht dein Fahrer Kulle das mit Krümel ab, bevor er zum Wagen geht.« »Die scheiden beide aus. Wer weiß davon bei der Einsatzzentrale? Und bei dir im Ministerium?« »Bei mir im Ministerium geht die Meldung praktisch erst dann ein, wenn deine Kolonne schon unterwegs ist und die sogenannte erste Richtung festgelegt wurde. Das war heute Richtung Distelweg. Die Rückfahrt wurde nach Abfrage bei Hanne Lamprecht festgelegt, an die Einsatzzentrale weitergegeben und von dort dann die Kolonne gesteuert. Also da kann ich mir keine undichte Stelle denken. Ich glaube ganz was anderes …« »Und das wäre? Laß dir nicht jede Information aus der Nase ziehen, Rolf Heske. Immerhin hätte es mich heute erwischen können!« »Es gibt nur wenige Zufahrten zum Palais Schaumburg und zum Bundeskanzleramt. Ich nehme an, daß die Attentäter die Bomben schon lange gelegt haben und nur auf den Tag gewartet haben, wo die Kolonne einmal diesen Weg nehmen mußte.« »Das hört sich logisch an«, sagte der Kanzler. »Wie geht's den Leuten vom Panzerspähwagen?« »Einer ist tot, die anderen schwer verletzt.« »Kümmere dich um die Hinterbliebenen.« 210
»Ja.« »Staatsbegräbnis. Das ist wohl selbstverständlich.« »Alles klar«, sagte Heske und ging. Er war wütend. Daß ausgerechnet auf Heinrich Müller ein Anschlag verübt werden konnte, machte ihn fast wahnsinnig. Heinrich Müller aber zeigte echte Nehmerqualitäten. Er legte sich am Abend ins Bett, als sei nichts gewesen, streichelte seiner Frau den schwangeren Bauch, drehte sich auf die andere Seite und schlief tief und fest ein.
Derweil suchten die verschiedensten Behörden nach Schuldigen und Attentätern. Hunderte von Beweisstücken wurden sorgfältig gesammelt und man versuchte aus dem Mosaik ein Bild herzustellen. Aber weder konnte ein Täter gefaßt noch konnten heiße Spuren gesammelt werden – die Explosion hatte jeden brauchbaren Hinweis vernichtet. Die nur zwei Minuten nach dem Attentat veranlaßte Ringfahndung hatte auch nichts erbracht. Im Umkreis von fünfzig Kilometern waren alle Kraftfahrzeuge und Personen gründlich durchsucht worden – das Ergebnis war gleich Null. Heske tobte: »Das ist einfach unmöglich! Habe ich es denn mit lauter Schwachköpfen zu tun?« Aber auch das half nicht viel. Sicher war nur, daß hier mit berechneter Kaltblütigkeit ein Attentat auf den Kanzler vorbereitet worden war. Da Heske unbeschränkte Vollmachten hatte, veranlaßte er im Rahmen eines 50-Kilometer-Ringes eine Durchsuchung aller Häuser, öffentlicher Gebäude, Brücken und Kirchen. Das hieß nichts anderes, als daß sämtliche Bewohner der Stadt Köln zum Beispiel aus ihrem Lebensrhythmus geworfen wurden und für die Investigation und Observierung solange zur Verfügung stehen mußten, bis sie einen Passierschein der Polizei oder des Sicherheitsdienstes erhielten. Die Ford-Werke büßten auf diese Art und Weise runde vierhundert211
tausend Arbeitsstunden ein, in Wahn starteten die Flugzeuge mit bis zu fünf Stunden Verspätung und brachten damit den europäischen Flugplan durcheinander. Auf den Autobahnen gab es Staus bis zu dreißig Kilometern, und selbst die Bundesregierung wäre fast nicht mehr zum Regieren gekommen, da Heske ohne Ansehen der Person jedermann gleich verdächtig behandelte. Über dreißigtausend Mann Sicherheitstruppen waren im Raum Bonn zusammengezogen worden, aber das Ergebnis war gleich Null. Dabei kam es zu abenteuerlichen Ausschreitungen. Ein Beamter glaubte auf einem Friedhof eine Spur entdeckt zu haben, worauf man einen soeben Beerdigten wieder aus seinem feuchten Grab holte, der Witwe Klar in Beuel grub man den gesamten Garten und die frisch gepflanzten Blumen um, weil auch dort jemand ein unterirdisches Versteck entdeckt zu haben glaubte. Bei Königswinter wurden zwei Dampfer der Rhein-Schiffahrtslinie so auseinandergenommen, daß sie drei Tage für die Reparatur benötigten (was später dem Bund eine gesalzene Instandsetzungsrechnung einbrachte), Froschmänner kämmten den Rheinboden ab, um Verdächtiges zu finden – ergebnislos, die Täter schienen sich in Luft aufgelöst zu haben. Und weil nicht sein kann, was nicht sein darf, verschärfte Heske die Anordnungen an seine Beamten. Der SPIEGEL schrieb schon wieder einmal von ›Müllers totalem Polizeistaat‹ und wurde daraufhin von Heske für zwei Wochen verboten, eine Anordnung, die Dieter Knorr allerdings noch am gleichen Tag rückgängig machte. Trotz allem aber blieben die Fahnder ohne Spur, und da jeder um seinen Posten zitterte, ging er mit vermehrtem Fleiß an die Sache heran. Schließlich machte Heske eine Auslobung, die an allen Plakatsäulen angeschlagen und in allen Zeitungen abgedruckt wurde: Eine Million Mark demjenigen, der die Fahnder auf eine heiße Spur setzen konnte. Das war auch 1990 noch eine Menge Geld und brachte alle Gerichtsreporter, Kriminalschriftsteller und Möchtegern-Detektive auf die Beine. Und jetzt, wo Geld im Spiel war, gab es plötzlich erste – wenn auch 212
scheinbar unwichtige Hinweise. Ein Tuch wurde gefunden, das keinen Besitzer hatte, abgeknickte Äste in den Bäumen in der Nähe des Tatorts sichergestellt, unter einem Haufen Explosionsschutt fand sich doch ein Zünder, wie er bei Terroranschlägen der Siebziger Jahre verwendet worden war. Womit für Heske bewiesen war, daß die Täter im Kreise der ›roten Brigaden‹ und deren Sympathisanten zu suchen sein mußten. Er setzte eine die Bundesrepublik umfassende Verhaftungsaktion in Gang und ließ festnehmen, was nur im entferntesten irgendwann einmal mit Baader, Meinhof, Ensslin, Raspe oder Mahler zutun gehabt hatte. Aber die daraus sich ergebenden Vernehmungen ergaben stille ›Fehlanzeigen‹, und der gesamte Beamtenapparat konnte sich keinen Reim darauf machen. Nur BILD und QUICK glaubten schließlich noch daran, daß wirklich ein Attentat auf den Kanzler stattgefunden hatte, und entwickelten unabhängig voneinander die These, daß der Panzerspähwagen ›Adler eins‹ möglicherweise mit einer Haftladung versehen worden war und durch Fernzündung in die Luft geflogen sei. So abenteuerlich sich die Sache anhörte, wurde sie von Heskes Beamten doch ernst genommen, und manche Anzeichen einer neuerlichen Untersuchung des zerstörten Führungsfahrzeuges ergaben tatsächlich Hinweise in dieser Richtung. Zur Fernzündung aber hätte theoretisch jede Fernbedienung eines Fernsehgerätes benutzt werden können. Und alleine im Raum Bonn gab es zu dieser Zeit rund zweihunderttausend fernbediente Fernsehgeräte. Diese brachten täglich das neueste Bulletin über den Stand der Ermittlungen, vor allem in Helmut Rohloffs neuer Sendung ›Aktuell‹, die sich in wenigen Tagen bei den Zuschauern profilieren konnte. Und wenn der Großteil der Arbeit auch von Morlock gemacht wurde, so hieß der unumstrittene Star doch Helmut Rohloff, der so auch noch zu einem Löwenthal der Neuen Partei avancierte, denn dieser gehörte seine volle Anteilnahme. Und natürlich dem Kanzler Heinrich Müller, dem die Vorsehung auf so wunderbare Weise geholfen hatte. Und neben dem Interesse an der Fahndung gehörte die Anteilnah213
me der breiten Öffentlichkeit viel mehr dem Schicksal von Inge Müller und ihrem Embryo, dem Kind des Kanzlers. Und wenn sie stöhnte: »Es waren schreckliche Stunden«, dann stöhnte die Nation mit. Peter Dahl und Dieter Knorr registrierten diese Regungen des Volkes mit Akribie, zogen daraus mit gelehrten Demoskopen und gelernten Parteimanagern ihre Schlüsse, machten geheime Hochrechnungen und kamen im Falle eines Falles zu überwältigenden Mehrheiten für Heinrich Müller. Und als die Fahndung der in einem Krisenstab zusammengefaßten Beamten immer noch keine greifbaren Erfolge bringen wollte und die Zeit inzwischen auch über das Ereignis und dem Interesse daran hinweggeschritten war, machten sich die Delegierten der Neuen Partei auf zum Parteitag, um dort ›ihrem‹ Kanzler und ungekrönten König ihre Referenz zu erweisen. Die Wiesbadener Rhein-Main-Halle war ausersehen – schon aus nostalgischen Gründen – den Parteitag durchzuführen, und wenn rundherum außergewöhnlich viele Einsatzfahrzeuge der verschiedensten Sicherungsorgane standen, so hatte jedermann dafür Verständnis, zumal sie von Rohloffs Kameras aus auf Wunsch von Heinrich Müller sowieso nicht zu sehen waren. Die Karten waren gemischt. Ladiges wie Müller hatten ihre Truppen mobilisiert, wobei einem der ehrenwerte Doktor aus Düsseldorf eigentlich nur leid tun konnte. Wenn eben Heinrich Müller nicht der gerissene Polit-Taktiker gewesen wäre, dem es sehr darauf ankam, dem Parteitag und der Öffentlichkeit zu beweisen, daß die Neue Partei intakt und nicht zerstritten war, hätte er Ladiges schon vorher aus der Regierung geworfen. Aber das war durch das Attentat überholt. Auf dem Hubschrauberflug von Bonn nach Wiesbaden scharte der Kanzler Heske, Dahl und Knorr um sich und beriet sich mit ihnen hinsichtlich der Behandlung des ›Falles Ladiges‹. »Meiners hat sich wie ein Tölpel angestellt. Diese Typen glauben immer, sie könnten mit Geld alles kaufen. Er kannte Ladiges besser als wir und hätte wissen müssen, daß er mit seinem Deutschbank-Angebot nicht landen konnte. Auch die Möglichkeit einer Regierungsumbildung scheidet solange 214
aus, wie wir das Attentat nicht geklärt haben. Was also können wir tun, um heute Ladiges kleinzukriegen, ihm nach außen hin nicht weh zu tun und ihn trotzdem zum Rücktritt vom Parteivorsitz und als Finanzminister zu veranlassen?« Die beiden Getreuen sahen den Kanzler verdattert an. Ja, was konnte man tun? Die Lage schien aussichtslos. Peter Dahl hatte berechnet, daß immerhin wieder ein Drittel der Delegierten für Ladiges stimmen würden, und das gab ein schlechtes Bild. »Du hast einen Plan?« fragte Dieter Knorr. Müller nickte. »Es ist eine letzte Möglichkeit, aber sie ist elegant, erlaubt dem Doktor Ladiges einen ehrenvollen Abgang und bringt uns die Delegierten in der Masse auf unsere Seite.« Heske platzte vor Neugierde: »Nun, schieß los!« »Wir bieten Ladiges den Stuhl des Bundespräsidenten an. Carstens Amtsperiode läuft im Mai ab. Eigentlich wollte ich Helmut Schmidt nominieren, obwohl wir jetzt die stärkste Partei im Lande sind, damit die Arbeiter stillhalten. Aber jetzt ist das vorbei. Ich selbst werde Ladiges vorschlagen, das Amt des Bundespräsidenten zu übernehmen.« Das war die Lösung. Alle atmeten auf. Keiner der drei konnte sich ernsthaft vorstellen, daß Ladiges dieses ehrenvolle Angebot ausschlagen würde. »Dieter, du setzt dich nach der Landung sofort mit Meiners in Verbindung. Wir müssen ihn einweihen, damit er Ladiges bewegt, sich noch heute abend – nach der Eröffnungskundgebung – mit mir zu treffen. Er soll mitbringen, wen er will. Es soll genügend Zeugen geben, die notfalls Einfluß auf ihn nehmen. Sein Staatssekretär Fritz Hoffmann beispielsweise.« »Das ist das Ei des Columbus«, sagte Dieter Knorr anerkennend. »Warum sind wir nicht früher darauf gekommen?« »Erstens war es meine Idee, aber das nur nebenbei«, scherzte er. Dann wurde er ernst. »Ihr konntet nicht darauf kommen, weil ihr alle zu sehr mit Verwaltungsarbeiten überlastet seid. Sobald wir den Parteitag hinter uns haben, werden wir uns Gedanken machen müssen, wie wir mehr Tagesarbeit an den Beamtenapparat delegieren können. Auf 215
uns wartet eine riesige Aufgabe, in die ich euch gleich nach dem Parteitag einführen werde. Und dazu braucht ihr Zeit. Also macht euch schon jetzt Gedanken darüber, wen ihr mit wichtigen Aufgaben betreuen könnt. Nehmt immer zwei Leute für die gleiche Aufgabe. Konkurrenz belebt bekanntlich das Geschäft und sorgt automatisch für Kontrolle.« Der Hubschrauber setzte zur Landung an. Dann stand er auf der Wiese neben der Wiesbadener Rhein-Main-Halle, die von Hunderten von Scheinwerfern angestrahlt wurde und durch Flaggen festlich geschmückt war. Müllers Sicherheitsbeamte standen bereit, ihn gegen jede neue Unbill zu schützen. Eine bildschöne Hosteß kam auf ihn zu und steckte ihm eine weiße Nelke ans Revers. Die Wiesbadener Polizeikapelle intonierte den Marsch ›Alte Kameraden‹. So wurde der Kanzler in den überfüllten Saal geführt. Die Kameras richteten sich auf ihn, Hunderte von Presseleuten versuchten ein Bild oder ein paar Worte von ihm zu erhaschen, der Beifall der Delegierten – über dreitausend Funktionäre aus der ganzen Bundesrepublik – brandete auf und wollte kein Ende nehmen. Und Heinrich Müller genoß das Schauspiel, sog den nicht enden wollenden Applaus in sich auf, schritt durch den Mittelgang, nach vielen Seiten freundlich grüßend, auf das Podium zu (ein Aufmarsch, den er Strauß von der CSU abgeschaut hatte), winkte nach allen Seiten und setzte sich dann auf seinen Stuhl neben Doktor Ladiges, der als Erster Vorsitzender noch einmal den besten Platz innehatte. Sprechchöre klangen auf »Müller, Müller, Müller«, die ihn zwangen, noch einmal aufzustehen und um Ruhe zu bitten. Dann aber trat er bescheiden hinter Ladiges zurück, der ans Rednerpult trat und die Delegierten begrüßte. Ladiges sprach etwas verworren von einer Demonstration der Einigkeit, die dieser Parteitag bringen würde, von einer Stunde der Bewährung und der Konsolidierung, von den Erfolgen bei den letzten Landtagswahlen – dabei begrüßte er die drei ersten Bürgermeister aus Hamburg, Bremen und Berlin, die jetzt alle von der Neuen Partei gestellt wurden – und wünschte zum Schluß dem Partei216
tag ›einen vollen Erfolg in seiner Grundsatzarbeit und möglichst weitgehende Übereinstimmung bei den Wahlen zum Präsidium und zum Beirat der Partei‹. Freundlicher Beifall dankte Ladiges, in keiner Weise vergleichbar mit dem frenetischen Jubel, den Heinrich Müller erhielt, als er aufstand und zu den Mikrophonen schritt. Der Kanzler wußte, wie er das Parteivolk packen mußte: »Meine Frau läßt Ihnen durch mich die besten Grüße übermitteln, ihr Zustand verbietet es ihr, heute hier anwesend zu sein, aber das nächste Mal ist sie wieder dabei!« Ein Zwischenrufer schrie: »Wenn sie dann nicht das nächste Baby kriegt!« Herzhaftes Lachen und lauter Beifall wurden ihm zuteil. Müller aber sprach weiter von der Verantwortung für Deutschland und Europa, die bei den Beratungen der Arbeitskreise in die Hände der Delegierten gelegt würde, mahnte zur sorgfältigen Abwägung der Programmpunkte, empfahl eine nüchterne und sachliche Überlegung ›bei den Wahlen‹ und appellierte an die ›Einheit der Neuen Partei‹, die in den vergangenen Jahren so erfolgreiche Arbeit geleistet hatte. Die verschiedenen Organe der Partei gaben ihre Rechenschaftsberichte, und besonderen Beifall erhielt noch Peter Dahl, als er die Finanzlage der Partei darstellte, die sich rundum als zufriedenstellend präsentierte. Dann klang die Veranstaltung aus in ein gemütliches Beisammensein, wozu Peter Dahl extra die Firma Feinkost-Käfer – den ungekrönten Partykönig Europas – aus München hatte einfliegen lassen. So erlebten Gaumen und Kehle erlesene Genüsse, was die Stimmung hob. Nur der nächsten Umgebung des Kanzlers fiel es auf, daß dieser sich mit Dr. Werner Ladiges und einigen Mitarbeitern in einen kleinen Konferenzsaal zurückzog. Auf dem Wege dahin übergab Dr. Heinz Pöhlmann vom Verfassungsschutz dem Kanzler ein Dossier in zweifacher Ausfertigung, wie er es erbeten hatte.
Nachdem alle Beteiligten Platz genommen hatten, stand Müller auf und ging direkt auf sein Ziel los: »Herr Doktor Ladiges«, sagte er, »Sie 217
haben sich um die Partei und um die Regierung verdient gemacht. Dieser Parteitag ist – wie Sie schon in Ihrer Ansprache sagten – ein Meilenstein in der Geschichte unserer Partei. Die Landesverbände haben den Wunsch an mich herangetragen, als Erster Vorsitzender zu kandidieren, ein Wunsch, dem ich mich nicht entziehen kann. Sie haben die letzten Jahre wesentlich an der Konsolidierung und dem Ausbau der Neuen Partei gearbeitet, und dieses Schaffen wird sicherlich von einem Teil der Delegierten dadurch gewürdigt, daß Ihre Kandidatur auf einen neuerlichen Vorsitz unterstützt wird. Sie und ich wissen aber auch, daß ein solcher Machtkampf in der Öffentlichkeit anders gesehen wird als in einem mehr internen Gremium, wie es ein Parteitag nun einmal ist.« Ladiges hörte zu, ohne eine Miene zu verziehen. Müller fuhr fort: »Unsere Partei und unsere Regierung stehen vor gewaltigen Zukunftsaufgaben, und es wäre schädlich, wenn draußen der Eindruck von Flügelkämpfen entstehen würde. Allein dieses Image hat die deutsche Sozialdemokratie wie auch die Union politische Positionen gekostet und sie in die Opposition verbannt. Wir sollten ein gleiches Schauspiel nicht bieten. Die Wähler und das deutsche Volk vertrauen der Neuen Partei, und in diesem Augenblick sollten wir im Interesse des Ganzen persönliche Differenzen hinten anstellen. Meine Mitarbeiter und ich haben sich Gedanken über eine Lösung dieser Situation gemacht, und ich biete Ihnen – in Anerkennung Ihrer ganz besonderen Verdienste – heute an, daß sowohl die Partei wie auch die Regierung Sie als künftigen Bundespräsidenten nominiert. Ich würde mich persönlich freuen, wenn Sie sich entschließen könnten, das Amt anzunehmen. In Ihrem Interesse, im Interesse der Einheit der Partei und im Interesse einer weiter erfolgreichen Zusammenarbeit für die Bundesrepublik Deutschland.« Müller setzte sich, schob die Kopie des Pöhlmann-Dossiers über den Tisch Ladiges zu, der seine Hand darauf legte und keinen Blick hineinwarf. Schließlich war er direkt angesprochen und mußte antworten. Er hatte mit allem möglichen gerechnet, mit der Drohung, daß Müller die 218
Regierung umbilden würde, daß er ihn wieder zum Rücktritt auffordern würde oder daß er ihm erneut den Deutsche-Bank-Vorschlag von Meiners präsentieren würde. Mit der jetzt vorgetragenen Lösung hatte er nicht im entferntesten gerechnet. So replizierte er: »Herr Bundeskanzler, Ihr Vorschlag ist äußerst ehrenvoll für mich, aber auch von weittragender Bedeutung. Er würde nichts anderes bedeuten, als daß ich von all meinen Ämtern, die ich jetzt innehabe, zurücktreten müßte. Ich möchte mich darüber mit meinen Freunden beraten und bitte daher um fünfzehn Minuten Bedenkzeit.« Heinrich Müller ahnte, daß Ladiges an der Angel hing. Der Köder war gut ausgesucht. Das Pöhlmannsche Dossier unter dem Arm, zog sich Ladiges mit einigen Männern in ein Nebenzimmer zurück. Dort warf er einen Blick in den Akt. Gleich obenauf war ein Foto, das ihn mit Strauß und Hoffmann in Wildbad Kreuth zeigte. So konnte er sich denken, was die Texte enthielten. »Etwas Wichtiges?« fragte Fritz Hoffmann seinen Minister. Der klappte den Deckel zu und sagte: »Ja. Ich habe jetzt einen wichtigen Grund, das Amt des Bundespräsidenten anzunehmen.« Man ging zurück. Ladiges nahm sofort das Wort: »Meine Freunde und ich sind der Überzeugung, daß dies eine Lösung ist, der wir zustimmen können. Ich bin bereit, meine Kandidatur als Erster Vorsitzender zurückzuziehen und auch als Finanzminister zurückzutreten, gleichzeitig erkläre ich mich bereit, das Amt des Bundespräsidenten zu übernehmen.« Heinrich Müller stand auf und ging auf Werner Ladiges zu, drückte ihm die Hand und sagte überzeugt: »Ich bedanke mich bei Ihnen, Sie haben der Partei und der Republik einen Dienst erwiesen!« Dahl und Knorr sorgten dafür, daß sich die Nachricht noch am gleichen Abend wie ein Lauffeuer verbreitete. Es gab ein paar enttäuschte Gesichter, aber die Masse der Delegierten atmete auf. Jetzt lagen die Dinge klar auf dem Tisch, der neue Erste Vorsitzende würde Heinrich Müller heißen. Die Wahl am nächsten 219
Tag ergab sodann auch bei vier Nein-Stimmen und drei Enthaltungen ein einmütiges Votum für den Kanzler. Und damit war die Bahn für seine hochgesteckten Ziele frei. Als er Inge das Ergebnis mitteilte, fing diese vor Freude an zu weinen: »Du hast es geschafft, Heinrich«, schluchzte sie. »Wir stehen erst am Anfang, mein Liebes«, sagte er zärtlich, »und du mußt jetzt ganz, ganz vorsichtig sein und dich nicht aufregen, damit dem Kind nichts passiert.«
Heinrich Müller zögerte nach dem Parteitag keine Minute, sein Amt als Erster Vorsitzender der Neuen Partei anzutreten. Peter Dahl war ein Generalsekretär nach seinem Geschmack und schaffte als erstes all die Dinge beiseite, die Müller an Dr. Ladiges hätten erinnern können. Dann rief der Kanzler die engsten Mitarbeiter zusammen. Müller zog sich mit Dahl zu einem Gespräch zurück. »Ich rechne fest mit Ihnen, Peter Dahl. Sie werden Ihren Job aufgeben müssen.« Dahl sah ihn überrascht an. Diese Arbeit machte ihm Spaß und sie war beinahe sein Leben. So war es kein Wunder, daß er sagte: »Ich möchte diese Arbeit aber gerne behalten …« »Das sollen Sie auch, aber wir müssen sie ausdehnen. Ich will die Neue Partei über ganz Europa ausbreiten, und das soll Ihre Aufgabe in der Zukunft sein. Die anderen Parteien haben einen mächtigen Vorsprung, der uns fehlt. Darum brauchen wir die aktiveren Kräfte, die unsere neuen Ideen und unser Programm vorbereiten, verbreiten und schnellstmöglich die organisatorischen Maßnahmen treffen, um eine Chance bei den in zwei Jahren stattfindenden Wahlen zu haben. Und da wir nicht warten können, bis wir eine neue Parteizentrale gebaut haben, bitte ich Sie, sich nach einem geeigneten Verwaltungsbau umzusehen, den wir anmieten und der die Organisation aufnehmen kann. Ich denke als Standort dabei an Straßburg oder Brüssel.« Dahl schluckte. »Und wer soll das bezahlen?« fragte er. 220
»Setzen Sie sich darüber mit dem Bankier von Meiners zusammen. Ich werde ihn anrufen und ihn auf Ihren Besuch vorbereiten. Er wird die notwendigen Mittel bereitstellen müssen. Auf jeden Fall müssen spätestens bis zum Herbst alle Vorbereitungen getroffen sein, die die Ausdehnung der Neuen Partei auf Europa möglich machen.« »Arbeiten wir allein? Oder kann ich mich auf jemanden stützen?« »Wir haben praktisch in allen in Frage kommenden Ländern Europas Freunde, die jetzt die Chance bekommen, sich zu bewähren. Lassen Sie sich von Dieter Knorr die Listen geben und setzen Sie sich schon jetzt vorsichtig mit diesen Personen in Verbindung. In Spanien ist da ein gewisser Alvarez, der ganz wild darauf ist, mit uns zu arbeiten.« Dahl notierte eifrig. »Wird gemacht«, sagte er dann. Der Kanzler lächelte gnädig. »Ich bin sicher, daß wir mit unserer Konzeption und unserem Programm ähnliche Erfolge wie in der Bundesrepublik erzielen können.« »Ich werde tun, was möglich ist«, sagte Dahl. Müller lächelte. »Auf jeden Fall müssen wir bis 1992 so dastehen, daß wir guten Gewissens in die Europawahlen marschieren können. Und darum möchte ich, daß Sie der erste Generalsekretär der Europäischen Neuen Partei werden. Sie sind begabt, sprachgewandt und ein guter Organisator. Kann ich auf Sie zählen?« Peter Dahl war überwältigt. Dieser Heinrich Müller war ein Mann mit einer klaren Vorstellung davon, was er wollte. »Ich bin Ihr Mann«, sagte er darum nur. »Ich habe nichts anderes erwartet«, sagte Müller zufrieden. Er wußte, daß Dahl Himmel und Hölle in Bewegung setzen würde, um seinen Vorstellungen gerecht zu werden.
Kamphausen hatte sich wieder einmal mit Meiners zu einem Gedankenaustausch getroffen. Die Dinge liefen prächtig. Seitdem Ladiges als Finanzminister zurückgetreten war, hatte Müller vorerst selbst die 221
Verwaltung dieses wichtigsten Ministeriums mit übernommen, suchte aber intensiv nach einem neuen Finanzminister. Selbst Meiners hatte er schon das Angebot gemacht, das Ressort zu übernehmen. Aber sosehr Meiners die Machtfülle gereizt hätte, so wenig paßte es ihm, im Blickpunkt der Öffentlichkeit zu stehen. Seine Geschäfte und Transaktionen waren Dinge, die der stillen Verschwiegenheit der Insider bedurften – ein Ministerposten wäre in diesem Zusammenhang nur störend gewesen. »Der Präsident der Oberfinanzdirektion Düsseldorf ist mit der Entwicklung außerordentlich zufrieden, Müller als letzte Instanz ist ihm lieber als der pingelige Ladiges, der mit Bestimmtheit ein Haar in der Suppe gefunden hätte. Ladiges war der typische Erbsenzähler.« Kamphausen lachte: »Das kann ich ihm nachfühlen.« Meiners deutete auf das Faszikel vor ihm. »Wir müssen an die erste Bilanz gehen. Können wir schon Dividende ausschütten?« »Das würde ich nicht tun«, meinte Kamphausen. »Wir machen in diesem Jahr knapp eine Viertelmilliarde Gewinn, die ich lieber den Rückstellungen zuführen würde. Unsere Investitionen im Hinblick auf den PPKW und die Versuche mit der SZS-1 und dem Plutonium werden eine Menge Geld verschlingen. Da ist es immer vorteilhaft, eigene Mittel zur Verfügung zu haben. Sie sollten sich im Gegenteil lieber um die neue Emission in Höhe von einer halben Milliarde kümmern. Bei der zugesicherten Verlustzuweisung von 230 Prozent dürfte es gerade jetzt kurz vor den Jahressteuerterminen nicht allzu problematisch sein, sie zu plazieren, Herr von Meiners.« »Ich sehe da auch kein Problem, nachdem der Segen der Regierung über der Industrie-Anlagen AG liegt.« »Was, glauben Sie, wird Müller als nächstes anpeilen?« »Er hat jetzt die totale Machtfülle in Deutschland, wie kein Kanzler vor ihm. Also wird er versuchen, die Neue Partei auf Europa auszudehnen, um auch da mitzumischen. Mit anderen Worten, er wird uns wieder um Geld anhauen, denn das kostet eine ganze Stange. In dieser Sache hat er mir schon eine Unterredung mit diesem Herrn Dahl empfohlen, und da weiß ich immer, auf was das hinausläuft.« 222
»Es könnte ein großes Geschäft werden«, grübelte Kamphausen, »ich frage mich nur, ob es für uns nicht zu groß werden könnte?« »Natürlich ist es ein Risiko. Andererseits sind wir mit Müller bisher gut gefahren. Wir haben beide ein Vermögen gemacht. Müller liegt auf der Erfolgslinie, wie die Vergangenheit gezeigt hat, und da war das Risiko für uns praktisch größer, da haben wir spekuliert. Was er jetzt macht, ist relativ leicht hochrechenbar und lediglich eine Frage des Kapitaleinsatzes.« »Sie haben wohl recht …« Meiners wechselte das Thema: »Wie geht es in Düsseldorf?« »Schneller und besser als erwartet. Dieser Lamprecht ist ein unersetzlicher Motor geworden, der die Dinge ungeheuer vorantreibt. Die Plutonium-Versuche sind soweit, daß die Bundesregierung schon bei den nächsten deutsch-französischen Konsultationen um das Versuchsgelände auf den Weihnachtsinseln bitten wird. Das wird Giscard einen schönen Schlag versetzen. Eine deutsche Atombombe muß für die Franzosen ein herber Schlag sein.« »Haben Sie nicht mal Rückschläge gehabt? Ich habe da was läuten hören.« »Diese Geschichte ist inzwischen längst vergessen, die Zeit ist schnellebig. Anders sieht es mit der Zielsicherheit der SZS-1 aus, da kommen die Versuche nicht so recht voran. Die Radarsteuerung will noch nicht so, wie unsere Leute sie gerne sehen würden. Aber dafür geht es auf anderen Gebieten vorwärts. Der ›Sicherheitsfinger‹ und der PPKW sind Schlager – wir mußten die Produktion schon wieder erweitern. Wir müssen demnächst achttausend neue Arbeiter einstellen. Es gehört heute schon fast zum Image, einen ›Sicherheitsfinger‹ und einen PPKW zu haben. Selbst kleine Ministerialbeamte leisten sich heute schon den Luxus eines PPKW, der in der billigsten Version ja doch immerhin knappe hunderttausend Mark kostet.« »Und die Computer-Entwicklung, Kamphausen?« »Ich bin zufrieden. Wir haben eine ganze Reihe vernünftiger Programme entwickelt und führen diese mit allen großen Herstellern 223
durch: Siemens, IBM, Univac, Nixdorf, Wang und noch einigen anderen. In spätestens zwei Jahren werden wir wohl alle Einwohner der Bundesrepublik erfaßt haben, abgesehen davon, daß schon jetzt jedes Neugeborene mit allen Daten erfaßt wird. Das war und bleibt deutsche Präzisionsarbeit. Nicht einmal die Amerikaner können da mit uns konkurrieren. Unsere Montage- und Programmierertrupps, die beim FBI in Washington arbeiten, berichten uns von unglaublichen bürokratischen Schwierigkeiten.« »Die werden demokratische Bedenken haben und an die nächsten Wahlen denken …« Kamphausen lachte. »Das erinnert mich an einen alten Witz. Wissen Sie, was Adenauer gesagt hat, als man ihn einmal gefragt hatte, ›Herr Bundeskanzler, was ist eigentlich Demokratie?‹« »Na?« »›Also Demokratie, dat is‹«, Kamphausen machte den rheinischen Tonfall des ersten Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland täuschend nach. »›Demokratie, dat is, wenn einer sacht, wat zu tun is, und die anderen stimmen dem aus eijenem, freien Entschluß bei!‹« »Nicht schlecht. Immerhin – ganz so schlimm sind die Amis auch wieder nicht. Die Kommission des Innenministeriums, die hier war, machte eigentlich einen ganz vernünftigen Eindruck. Ich glaube eher, daß sie im Papierkrieg der Zuständigkeiten ersticken. Da hat Müller bei uns ja schon eine einmalige Leistung vollbracht mit seiner Verwaltungsvereinfachung. Wenn die Deutschen wollten, könnten sie sich heute schon ihre Steuererklärung vom Computer machen lassen. Wir stehen dieserhalb auch schon mit der Bundespost in Verbindung, die einen entsprechenden Telefonservice ins Auge gefaßt hat.« Sie prosteten sich zu. Das war wirklich eine erfreuliche Bilanz, die sich auch auf den Privatkonten der beiden Herren widerspiegelte. Sie wollten gerade auseinandergehen, als Helmut Rohloff vom Fernsehen gemeldet wurde. »Haben Sie Lust hierzubleiben, Meiners, der Rohloff ist ja ganz amüsant …« Der Bankier blieb. 224
Rohloff war wie immer mit äußerster Eleganz gekleidet und machte devot Shakehands. Dann wurde eine neue Flasche Châteauneuf-duPape serviert, man trank sich zu, und Rohloff fragte in seiner unnachahmlichen direkten Art: »Was wird hier eigentlich gespielt, Herr Kamphausen?« »Musik«, sagte Kamphausen und lachte über seinen eigenen Scherz, dann aber gab er korrekt Auskunft, soweit es opportun war und keine Betriebsgeheimnisse verletzte. »Wir haben neues Gelände dazugekauft, bauen Reihenhäuser und Wohnsilos für die Arbeiter, und das alles innerhalb eines Jahres.« Rohloff grinste: »Was funktioniert bei euch denn eigentlich so gut?« »Sie haben unseren Aktionärsbericht bekommen und haben ja selbst in uns investiert, wie ich von Herrn Meiners hörte, also scheinen Sie auch Vertrauen zu uns zu haben. Und dieses Vertrauen, Herr Rohloff, ist absolut gerechtfertigt. Insbesondere die Produktion der PPKW und der Sicherheitsfinger …« Er erläuterte noch einmal im Detail den Anstieg der Produktion, sprach von neuen Versuchen, über die er noch nichts sagen möchte, aber er gab Rohloff im großen und ganzen einen Überblick, der einem guten Journalisten schon als Information dienen konnte. Aber Rohloff war nicht nur ein guter, er war auch ein überaus neugieriger Journalist. »Das ist ja alles schön und gut«, sagte er, »was aber passiert in den ehemaligen Bergwerksstollen, die Sie hermetisch nach außen abriegeln und in die man schwerer hineinkommt als ins Fort Knox?« »Die Stollen werden zu reinen Versuchszwecken benutzt, und wir haben diese Versuche wegen ihrer Lärmentwicklung unter den Boden verlegt, um die Umwelt nicht zu stören. Das ist das ganze Geheimnis.« »Dann könnte ich da einmal hinunterfahren? Das ist doch eine ganz interessante Reportage für ›Aktuell‹ oder für eine Magazinsendung?« fragte Rohloff. »Das wird nicht gehen«, meint Kamphausen, »wir lassen grundsätzlich nur direkt Beschäftigte in die Versuchsschächte, und die Arbei225
ten sind auch noch nicht reif für eine Publizierung. Die Bilder könnten unseren Konkurrenten wertvolle Hinweise auf die Art unserer Versuche geben, und Sie werden verstehen, daß das nicht gerade im nationalen Interesse liegt.« »Das akzeptiere ich«, räumte Rohloff ein, »wann aber glauben Sie, daß Sie neue Dinge der Öffentlichkeit vorstellen können?« »Wollen wir so verbleiben, daß ich es Ihnen als erstem sage?« fragte Kamphausen. »Einverstanden.« Rohloff wandte sich an den Bankier. »Hoffentlich habe ich mein Geld nicht zum Fenster hinausgeworfen, Herr von Meiners? Das sieht ja alles ganz gut aus.« »Es sieht nicht nur so aus, Herr Rohloff, es ist es auch. Wenn die IAAG dieses Jahr auch noch keine Dividenden ausschüttet, so ist sie doch ein durch und durch gesundes Unternehmen, das auf dem immer stärker werdenden Sicherheitsbedürfnis der Menschen basiert. Das Leben wird bei dem heutigen Angebot, es zu genießen, immer wertvoller, so daß die Sicherheits-Industrie eine immer wichtigere Rolle spielt. Wer setzt sein Leben schon leichtfertig aufs Spiel? Und wer will Bürgerkrieg, Revolution und Mord? Die IAAG bietet Programme, wie zumindest äußere Einflüsse auf ein Mindestmaß reduziert werden können, und darum ist sie ein zukunftsorientiertes Unternehmen.« Man trennte sich, nachdem Rohloffs Wissensdurst gelöscht schien. »Ein zäher Knochen«, meinte Meiners, nachdem der Journalist gegangen war.
Karl Lamprecht hatte seine Frau niemals gebeten, ihm Informationen aus dem Kanzleramt zu besorgen. Hanne brachte sie freiwillig, quasi um ihm zu imponieren. Immer öfter wurde im Kanzleramt über Karl gesprochen, wenn Kamphausen kam, war er voller Hochachtung und Anerkennung, Heske lud sie privat zum Essen ein und war des Lobes voll, selbst Heinrich Müller verlor öfter als normal anerkennende Worte ihr gegenüber. 226
Demgegenüber schien ihr das, was sie selbst leistete, gering, und so hatte sie schon vor Monaten begonnen, von den Plänen des Kanzlers – die oft ja nur sie kannte, weil sie sie niederschrieb – zu Hause zu erzählen oder gar Kopien mit nach Hause zu nehmen. Nach außen und innen führten die Lamprechts eine gute Ehe. Das kleine Reihenhaus in Köln war immer tipp-topp in Ordnung, eine Zugehfrau kam täglich zwei Stunden und sorgte für Ordnung. Auch an der Tradition des gemeinsamen Frühstücks hatte sich nichts geändert, war es doch die schönste Tageszeit für Karl Lamprecht. An den Wochenenden unternahmen sie manchmal kleine Ausflüge in die Umgebung, oder sie fuhren auch einmal nach Holland oder Belgien oder leisteten sich in Frankreich wahre Freßorgien. Am liebsten aber waren sie zu Hause, sahen fern, lasen auch viel, nahmen aber sonst am öffentlichen oder kulturellen Leben der Stadt nicht teil, weil sie keine Zeit oder keine Lust dazu hatten. Manchmal brachte Karl Gäste mit, Mitarbeiter aus dem Werk oder Kunden aus dem Ausland. Das waren dann immer aufregende Stunden für Hanne, bis alles gerichtet war und seine Ordnung hatte. Und wie stolz war sie, wenn Karl sie nach solchen Anlässen in die Arme nahm und ihr dankte. Auch ihr Liebesleben war in Ordnung. Waren die ersten Wochen der Ehe noch recht stürmisch gewesen, so hatte sich auch das eingependelt und war auf das normale Maß reduziert worden. Was nicht heißen soll, daß die Liebe erkaltet war – im Gegenteil. Karl vergaß nie, seiner Frau zu beteuern, wie glücklich er war, und er meinte es auch so. Hanne war anschmiegsam und unendlich stolz, einen Mann wie Karl Lamprecht gewonnen zu haben. Manchmal dachte sie an ein Kind, dachte dann aber auch an ihren Posten bei Heinrich Müller – den sie liebte und ungern aufgegeben hätte – und an die oft tagelange geschäftliche Abwesenheit von Karl. Alles Punkte, die sie die Pille regelmäßig nehmen ließen, um vor Überraschungen gefeit zu sein. Sie, die schon Angst gehabt hatte, als spätes Mädchen einmal unverheiratet zu bleiben, blühte auf, wurde von Tag zu Tag hübscher, was auch den Kollegen im Büro und sogar dem Kanzler auffiel. Waren ihr 227
anfangs die Komplimente in dieser Richtung noch unangenehm gewesen, so fing sie an, sie zu genießen und auf sie zu warten. Unbemerkt vollzog sich dabei innerlich eine Wandlung in Hanne Lamprecht. Sie ertappte sich im Büro dabei, daß sie oft wie geistesabwesend war, wenn sie an ihren Mann dachte und dabei schon manchmal eine berufliche Pflicht hintanstellte. Daß sie sich überlegte, mit was sie ihm eine Freude bereiten konnte, und daß überhaupt ihre Gedanken mehr und mehr um Karl Lamprecht zu kreisen begannen und Dinge, die ihr früher wichtig gewesen waren, langsam im Hintergrund versanken. So die tägliche Arbeit im Kanzleramt, so ihr neuer Rang als Regierungsrat, so das vorher so geliebte Golf-Cabrio und andere Äußerlichkeiten. Zwar legte sie immer noch großen Wert auf ihre Garderobe und ihr Aussehen, aber nicht mehr aus dem Grunde, um im Amt zu repräsentieren, sondern ausschließlich und alleine, um Karl zu gefallen. Mit Inge Müller verband sie jetzt fast so etwas wie eine Freundschaft, die allerdings auf die wenigen Augenblicke im Amt und gelegentlich mal auf eine Tasse Kaffee im Kanzlerbungalow beschränkt blieb. So wurde die Bindung an ihren Mann unterbewußt stärker und stärker, ohne daß sie es selbst merkte. Nur wenn er einmal längere Zeit weg war – in Amerika zum Beispiel – dann war eine Leere um sie herum, mit der sie hart zu kämpfen hatte. Da konnte es passieren, daß sie schon einmal ins Kino ging oder sich mit Karla Werner verplauderte. An solchen Tagen machte es ihr auch nichts aus, wenn der Kanzler bis zwei Uhr nachts arbeitete und sie Diktate aufnehmen oder Fernschreiben wegschicken mußte – da war sie die alte ›Büro-Krümel‹, auf die man sich blind verlassen konnte. Zu den Nachbarn hatte sie kaum Verbindung. Diese wunderten sich nur, daß ein Vorstandsmitglied und eine Regierungsrätin – in ihren Augen also gut verdienende, kinderlose Bürger – in einem bescheidenen Häuschen wohnten, das mehr für Kleinbürger gebaut worden war. Ihre Einkäufe erledigte Hanne Lamprecht meistens in Bonn, wobei sie methodisch und nach einem vorher erstellten Plan vorging. Oft auch nahm ihr Kulle – Müllers Fahrer – diese Arbeit ab. 228
Nur an einem hielt sie fest: Der Urlaub wurde in Jesolo verbracht und traditionsgemäß im Hotel Anthony. Karl war einverstanden, so wie er überhaupt an ihr nichts auszusetzen hatte. Hanne hatte sich überraschend schnell an das Zusammenleben mit einem Mann gewöhnt. Und er war mehr als ein Geliebter, er war ein Freund. Hanne Lamprecht hatte das bestimmte Gefühl, ihr Mann würde, genau wie sie, für den Kanzler Heinrich Müller durchs Feuer gehen …
Rohloff war auf dem Rückweg von Düsseldorf am Sicherheits-Ministerium vorbeigefahren, hatte dort instinktiv angehalten und seinen Wagen geparkt. Ohne direkten Grund fragte er nach Heske, mit dem er gut bekannt war, hörte in dessen Vorzimmer, daß der Minister Kabinettssitzung hatte, und wollte schon wieder gehen, als Gisela Knorr hereinkam und ebenfalls einen Termin haben wollte. Sie kamen ins Plaudern und Rohloff stellte erstmals fest, daß Gisela Knorr nicht nur eine gescheite, sondern auch eine bildhübsche Frau war. Sie tranken in der Kantine eine Tasse Kaffee zusammen, und da Rohloff für den Abend nichts anderes vor hatte, lud er sie zum Essen ein. Zu seiner Überraschung sagte sie zu. So fuhren sie nach Köln, suchten sich ein ruhiges Feinschmeckerlokal aus, speisten hervorragend und tranken einige Flaschen Wein, die die Förmlichkeiten zwischen ihnen beseitigten. Zwei Stunden später tranken sie Brüderschaft und küßten sich selbstverständlich. Als Rohloff das Mädchen dann noch – wieder zurück in Bonn – auf einen Drink in seine Wohnung einlud, wußten beide, was er damit meinte. Aber auch hier zierte sich Gisela Knorr nicht, sagte einfach »Ja, ich komme mit«, und so waren sie später in seiner eleganten Junggesellenwohnung am Venusberg. Da sie beide erwachsen waren, mußten sie auch nicht lange um den heißen Brei herumreden. Gisela ging mit dem 229
Fernsehmoderator ins Bett, genoß seine Art zu lieben und war selbst auch nicht kleinlich, so daß beide einen vollen Genuß heimtrugen. Rohloff mußte dabei so entflammt worden sein, daß er sie schon am nächsten Tag wieder anrief und um ein erneutes Rendezvous bat. Und da Rolf Heske auch an diesem Abend Termine hatte, sagte sie gerne zu und freute sich auf Helmut Rohloff, der die Welt und die Dinge so ganz anders sah, als sie es bisher kennengelernt hatte. Da war wenig von Politik die Rede und viel von dem Recht, das jeder Mensch auf Erfüllung seines Lebens hatte, auf Befriedigung seiner kleinen und großen Wünsche und ähnlicher Dinge mehr. Die sehr moderne Einrichtung der Wohnung Rohloffs zeigte, wonach sein Streben ging. Und als Gisela fragte: »Warst du eigentlich nie verheiratet?« schüttelte er nur den Kopf und antwortete: »Warum? Ich bin vielleicht ein guter, aber kein treuer Liebhaber. Mein Beruf hat so viele Versuchungen für mich, daß ich mir nicht vorstellen könnte, eine feste Bindung einzugehen …« Gisela Knorr bedauerte das insgeheim, konnte ihn aber verstehen, und da er sie sexuell voll befriedigte – was bei Rolf Heske schon lange nicht mehr der Fall war – genoß sie die Stunden, die sie mit Rohloff verbrachte. Und das waren jetzt sehr viele, und es wurden immer mehr. Rolf Heske fiel es noch nicht einmal auf, denn er war jetzt fast allabendlich im Palais Schaumburg, um mit Heinrich Müller und Dieter Knorr die nächsten deutsch-französischen Konsultationen vorzubereiten und Peter Dahl bei seinen intensiven Vorbereitungen für die Ausdehnung der Neuen Partei auf Europa zu unterstützen. Der Kanzler hatte gerade in dieser Sache kurze Termine gesetzt, die vor allem anderen Priorität hatten. So hatte Heske nicht mal ein schlechtes Gewissen, daß er sich Gisela nicht so widmen konnte, wie er es gerne getan hätte. Aber jetzt war er ja nicht nur Doppel-Minister, sondern seit dem letzten Parteitag auch Präsidiumsmitglied der Partei, und das alles forderte seinen ganzen Einsatz. Daraus ergab sich zwangsläufig, daß sie sich fast nur noch im Amt 230
trafen, wo Heske jetzt auch öfters übernachtete, um die Zeit für die Heimfahrt zu sparen. Gisela hatte sich damit abgefunden und kam sich ungeheuer emanzipiert vor, daß Dieter Knorr, ihr geschiedener Mann, Rolf Heske möglicherweise ihr nächster Mann und Helmut Rohloff ihr Liebhaber war. Und da Rohloffs Manneskraft unerschöpflich schien – auch das war eine neue Erfahrung für Gisela Knorr – fand ihr Sexual-Erlebnis jetzt fast täglich statt. Natürlich wurde dabei nicht nur über Liebestechniken gesprochen, sondern Helmut Rohloff verstand es amüsant, über Interna des Fernsehens zu berichten, und so erzählte auch sie manchmal von den Vorgängen aus dem Amt, die sie selbst zwar langweilten – da es immer die gleichen Probleme – für Rohloff wiederum aber interessante Informationen waren. Wenn sie dann nackt und ohne Scham nebeneinander auf seinem übergroßen französischen Bett lagen, konnte es schon passieren, daß sie sagte: »Einen Menschen wie dich habe ich noch nie kennengelernt. Ich kann mit dir alles besprechen, ich kann dir alles sagen, ich kann meine geheimsten Wünsche offenbaren, und dabei habe ich überhaupt kein schlechtes Gefühl. In deiner Gegenwart kenne ich weder Hemmungen, noch habe ich ein schlechtes Gewissen. Ich glaube, ich würde sogar noch mit dir schlafen, wenn ich eines Tages Rolf Heske geheiratet habe. Ist das nun schlecht von mir?« Rohloff schüttelte den Kopf: »Es ist ein Glücksfall. Die meisten Menschen sind voller Hemmungen, sie trauen sich noch nicht einmal in der Ehe, einander die Wahrheit zu sagen und ihre Wünsche zu offenbaren. Davon leben die Millionen Huren in aller Welt, und für die Öffentlichkeit bauen sich Männlein und Weiblein andere Gründe auf, für die sie angeblich leben.« Rohloff wurde theatralisch: »Gott schuf den Mann und das Weib behufs Fortpflanzung, die Chemie schuf die Pille zwecks höherem Lustgewinn, nur die Philosophie hat versagt, sie schuf nicht die Offenheit zwischen den Menschen, und die sanktionierte Lüge überließ sie einschließlich Vergebung den Kirchen und dem lieben Gott!« Gisela lachte. Das hörte sich einfach an, aber es war genau ihre eigene Philosophie. 231
Irgendwann einmal kamen sie auch auf Kamphausen und die Industrie-Anlagen AG zu sprechen und Rohloff fragte: »Was treiben die da in Düsseldorf eigentlich? Hoffentlich verliere ich mein Geld nicht, ich habe fast eine halbe Million investiert.« Und Gisela Knorr sagte: »Na, ich glaube nicht. Die machen doch die Versuche mit dem Plutonium aus den schnellen Brütern, vielleicht basteln sie an einer Atombombe?« Sie hatte das mehr als Scherz gemeint, ohne wirklich eine Ahnung zu haben. Rohloff aber horchte auf. Jetzt fiel ihm wieder ein, daß neben Gorleben die stillgelegte Zeche in Düsseldorf für die Lagerung von Reaktormüll – wie das Plutonium verharmlosend genannt wurde – bestimmt worden war. Er war entschlossen, diesem Tip nachzugehen. Kurz überlegte er, ob es nicht besser war, sich deswegen möglichst elegant von Gisela Knorr zu trennen. Dann aber dachte er an sich selbst, dachte daran, daß Gisela eine der wenigen Frauen war, die keinerlei Forderungen stellte, die immer dankbar war, wenn sie bei ihm sein durfte, die immer willig seinen Wünschen nachgab und die dazu einen Traumkörper hatte, der anschmiegsam und fraulich, entgegenkommend und weich war. So wollte er sich nicht entschließen und ließ die Dinge so, wie sie waren. Trotzdem rief er am nächsten Morgen Morlock zu sich und bat ihn: »Recherchieren Sie doch mal ein bißchen in Düsseldorf bei der IAAG, was die eigentlich mit dem abgelagerten Atommüll treiben. Ich habe was munkeln hören, daß da eine Versuchsreihe laufen soll, und Atomabfälle sind ja nicht gerade der Stoff, aus dem man Träume macht, wenn diese Träume nicht maßlose Machtträume sind.« Und wie er das so dahinplauderte, fielen bei ihm auch die Scheuklappen. Natürlich, das war es. Müller hatte die Macht am Rhein, jetzt wollte er mehr. Mit der Atombombe würde er mit Giscard im Anspruch auf Europa gleichziehen, mit der wirtschaftlichen Kraft der Bundesrepublik hatte er dazu ein Pik-As im Ärmel. Das war mehr, als er dem Kanzler an Phantasie zugetraut hatte. Er war bereit, auf den Busch zu klopfen – so, wie er damals bei der Sache mit Inge Sanders nur nach Gerüchten auf den Busch geklopft hatte und dabei einen Volltreffer er232
lebt hatte. »Ich werde mich selbst in Bonn um diese Dinge kümmern. Sehen Sie zu, Morlock, daß wir schnell aus Düsseldorf brauchbare Ergebnisse bekommen. Nehmen Sie sich zwei, drei Mann Ihres Vertrauens mit, aber versuchen Sie unauffällig zu arbeiten. Alles klar?« »Alles klar, Boß«, sagte Morlock. Das war eine Recherche nach seinem Geschmack und er roch geradezu, daß Rohloff wieder einmal einer Sensation auf der Spur war.
Heinrich Müller hatte seine Frau Inge schon vor Wochen als Staatssekretärin im Bundeskanzleramt beurlaubt, sie war hochschwanger und mußte gegen Ende September niederkommen. Sie hatten vernünftig gelebt in den letzten Monaten, Heinrich Müller hatte im Bungalow das Rauchen ganz eingestellt, der Speiseplan richtete sich genau nach den Vorschriften der Ärzte und privat tranken sie fast keinen Alkohol mehr. Die Schwangerschaftsgymnastik absolvierte Inge im eigenen Heim, um sich nicht unnötigen Gefahren auszusetzen, die Erstausstattung für das Baby hatte ihre Mutter besorgt, die stolz darauf war, die letzten Wochen vor der Niederkunft im Kanzlerbungalow zu wohnen (sie bewohnte die früheren Räume ihrer Tochter), und die auch nicht vergaß, dies dem rheinischen Geldadel alltäglich in endlosen Telefongesprächen mitzuteilen. Inge Müller selbst wollte in einer angesehenen Frauenklinik entbinden, aber dem stand die Tradition der Sanders entgegen. »Wir haben alle unsere Kinder zu Hause bekommen, da wird dein Mann ja auch noch das Geld für deine Entbindung hier aufbringen können!« entschied sie energisch. Aber das war nicht die Frage. Insgeheim hatte sie schon die Geburtsanzeige entworfen: »Der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland Heinrich Müller und seine Frau Inge geben voll Stolz und Glück die Geburt ihres Sohnes Friedrich-Wilhelm bekannt. Gegeben im Palais Schaumburg zu Bonn am soundsovielten September 1990!« Für Frau Sanders stand fest, daß das Kind ein Sohn sein wür233
de. »Ich sehe es dir an der Mundpartie und den Augen an« – und wenn der arme Wurm schon Müller heißen muß, dann sollte er wenigstens im Kanzlerbungalow zur Welt kommen und mit seinen Vornamen an große deutsche Vergangenheit erinnern. Natürlich mußte darüber der geprägte Bundesadler stehen, auch das war ihr klar. Manchmal wunderte sich Mamá Sanders, – mit dem Ton auf dem zweiten ›a‹ – mit welch fröhlicher Gelassenheit ihre Tochter der Entbindung entgegensah und konnte sich nicht verkneifen zu sagen: »Du solltest deinem Mann ruhig etwas Theater vorspielen, sonst meint der noch, Kinderkriegen wäre die einfachste Sache der Welt.« Da aber nahm die Tochter sie in die Arme: »Mamá, wir leben nicht mehr im neunzehnten Jahrhundert und eine Entbindung ist keine Tragödie mehr. Ich werde um die Wehen nicht herumkommen, aber was ich tun kann, um sie zu mindern und dem Kind von Anfang an eine glückliche Mutter zu sein, das habe ich getan. Du regst dich mehr auf, als alle anderen Leute hier. Und ich will schon gar nicht, daß Heinrich sich meinetwegen Sorgen macht. Wenn wir uns so einigen können, dann darfst du bleiben, sorgen und managen, soviel du willst!« Und da es Frau Sanders gerade darauf ankam, hielt sie sich die letzten Tage zurück und war ganz brave werdende Großmama.
Am 22. September 1990 mußte Heinrich Müller überraschend nach Washington fliegen. So stieg gegen neun Uhr früh die Kanzlermaschine in den Himmel. Übrigens eine nagelneue AB 104 aus der Airbus-Serie, die den Atlantik mit Geschwindigkeit Drei Mach, also in knappen zweieinhalb Stunden von Bonn bis Washington, überquerte. Richard Taylor hatte ihn persönlich um seinen Besuch gebeten. Gegen acht Uhr landete Müller in Washington, wo das übliche Zeremoniell ablief, auf das man sich für Arbeitsbesuche geeinigt hatte. Der Kanzler war in Begleitung Heskes und Dieter Knorrs, wie gesagt, es war ein Arbeitsbesuch. »Henry«, begrüßte Taylor den Kanzler freundlich und drückte ihm die Hand, »ich freue mich, daß du 234
so schnell kommen konntest. Willkommen im Weißen Haus!« Dann setzte man sich sofort zu den Beratungen nieder. Es ging um den von Müller für den Mai 1991 geplanten Atomversuch auf den französischen Weihnachtsinseln. Müller hatte Taylor ständig über die Entwicklung der Versuche informiert, denn er wußte, daß er nur mit der Unterstützung der USA bei Giscard anklopfen konnte. Und insbesondere Adamson, der Europa-Sachverständige, hatte dem Präsidenten unmißverständlich klargemacht, welche Folgen eine westdeutsche Atombombe für die Machtverschiebung in Europa haben konnte. Man hatte nicht damit gerechnet, daß die Versuche so schnell Erfolge zeitigen würden. »Diese gräßlich tüchtigen Deutschen«, hatte Adamson geflucht, als er von der bevorstehenden Fertigstellung der ersten deutschen ›A‹-Bombe erfuhr. Aber nun war nichts mehr zu ändern, die Ergebnisse lagen auf dem Tisch und zwangen die USA und Taylor zu einer Entscheidung. Dabei war die Ausgangsposition Müllers glänzend, die Deutsche Mark stützte inzwischen nicht nur alle Währungen der Europäischen Gemeinschaft, sondern verhinderte auch in den Vereinigten Staaten durch immer umfangreichere Investitionen ein Ansteigen der Inflation und der Arbeitslosigkeit. Taylor wollte für Frankreich noch retten, was zu retten war. Der französische Präsident hatte ihm den Ernst der Situation erst vor drei Tagen offen klargemacht und gewarnt: »Kanzler Müller will Präsident der Vereinigten Staaten von Europa werden!«, aber gerade dieser Gedanke schlug bei Taylor zugunsten Müllers aus. Es wurde die Reaktion der Weltöffentlichkeit nach jeder Seite hin überlegt, insbesondere der zu erwartende Protest der Sowjetunion analysiert, dann aber mußte die Entscheidung fallen und Müller drängte darauf: »Wie ist Ihre Antwort, Herr Präsident?« In diesem Augenblick betrat eine Mitarbeiterin des Präsidenten das Konferenzzimmer und legte eine Nachricht auf Müllers Schreibunterlage. Dieser öffnete das Couvert und nahm ein Blatt Papier heraus. »Hurra, wir haben einen Sohn, ich bin wohlauf und küsse Dich, Inge«, stand darauf. 235
Taylor fragte besorgt: »Etwas Unangenehmes?« »Im Gegenteil, Herr Präsident, Sie alle dürfen mir gratulieren, ich bin vor einer halben Stunde Vater eines gesunden Sohnes geworden!« Dieter Knorr dachte, wie Müller wohl das wieder terminiert haben mochte, drückte ihm aber als erster die Hand. Dann kam schon Taylor um den Tisch herum auf ihn zu, sagte: »Das ist eine gute Nachricht, ich muß gleich Marylin anrufen!« Vorher aber – nachdem die Gratulationen beendet waren und nach kurzer Rücksprache mit Adamson – sagte er: »Wenn die Dinge so liegen, wollen die Vereinigten Staaten auch der Geburt der deutschen Atombombe nicht im Wege stehen. Herr Bundeskanzler, ich darf Sie hiermit im Atom-Club begrüßen und hoffe, daß diese deutsche Verteidigungswaffe den Frieden in Europa für immer sichern wird.« Knorr bedauerte nur, daß jetzt keine Musik zur Stelle war. Die Dinge liefen ihm alle zu nüchtern ab und er malte sich aus, wie er selbst diese historische Stunde gestaltet hätte. Aber hier in Washington war sein Kollege Bill O'Sullivan für so etwas zuständig und der ging, als die Runde sich auflöste, direkt in den Alltag über: »Trinkst du ein Bier in meinem Büro. Dieter?« fragte er. Er war fest davon überzeugt, daß alle besonderen deutschen Ereignisse grundsätzlich mit Bier begossen wurden, und Dieter Knorr hatte es sich längst abgewöhnt, ihn eines Besseren zu belehren. Heinrich Müller aber, den seit wer weiß wann zum ersten Mal wieder die Rührung vor Glück übermannte, ging mit dem Präsidenten in die Privatgemächer des Weißen Hauses, wo Lady Marylin ein fürstliches Buffet aufgebaut hatte, ihn herzlich in die Arme schloß und auf die Wangen küßte: »Alles Gute für dich, Henry, für Inge und das Kind.« Das war ehrlich gemeint und kam von Herzen. Und auch Taylor sagte zum Abschied: »Ich denke, Henry, wir haben heute einen guten Tag gehabt. Ich freue mich, daß wir uns so gut verstehen, und wir sollten uns wirklich öfter sehen. Warum kommst du mit Inge nicht für ein paar Urlaubstage nach Camp David? Dort hätten wir Ruhe und könnten unsere Gedanken austauschen. Was hältst du davon?« 236
»Ich muß jetzt erst einmal an Inge und das Kind denken. Darf ich hier telefonieren?« Die Verbindung war in einer Minute hergestellt. »Wie geht es dir, Liebling?« fragte Heinrich Müller. »O Heinrich, es war wunderbar und ich hatte fast keine Schmerzen. Wir wollen noch ganz viele Kinder haben, ja?« »Ja, Inge – ich liebe dich und ich komme auch ganz schnell nach Hause. Kümmert man sich gut um dich?« »Es ist alles bestens, und dein Sohn ist ein Prachtjunge mit schon ganz dichten schwarzen Haaren!« Als der Kanzler das später Lady Marylin erzählte, lachte diese nur wissend und sagte: »Die gehen wieder aus, das ist nur der erste Flaum.« Schon um drei Uhr Eastern Standard Time startete der Kanzler zurück nach Deutschland. Er war ein rundum glücklicher Mann.
Heske hatte noch von Washington aus Kamphausen unterrichtet und ihn um allergrößte Geheimhaltung gebeten. »Ich werde Lamprecht einweihen müssen«, sagte Kamphausen. »Er wird die notwendigen Vorbereitungen treffen müssen.« »Natürlich, aber er und Sie müssen alle an der Sache Beteiligten schriftlich auf allerhöchste Geheimhaltung vergattern. Es darf kein Sterbenswort nach außen dringen. Ich würde für alle Fälle auch die SZS-1-Versuche aus dem Stollen nehmen und in einen anderen Schacht verlagern. Notfalls müssen Sie noch eine stillgelegte Zeche dazukaufen.« »Stehen dafür Bundesmittel zur Verfügung?« »Wir werden darüber reden, sobald ich zurück bin, Herr Kamphausen. Sie kennen den Kanzler, er wird jetzt auf höchste Eile drängen. Anfang November müssen wir nach Paris, bis dahin muß alles klar sein.« »Dann dürfen wir keine Zeit verlieren …« 237
Kamphausen ließ Lamprecht rufen. »Wir haben es geschafft«, sagte er stolz. »Was haben wir geschafft?« »Wir haben die Genehmigung zum Bau und zur Erprobung einer deutschen Atombombe und die Industrie-Anlagen AG wird den Auftrag bekommen. Mensch, Lamprecht, freuen Sie sich denn gar nicht?« Lamprecht überlegte. In solchen Augenblicken sah er immer aus wie ein verträumter Erfinder oder Konstrukteur. Dann nickte er: »Doch, natürlich, hat Präsident Taylor zugestimmt?« »Offensichtlich …« meinte Kamphausen, dann besprach er mit seinem Vorstandskollegen Lamprecht, wie die nächsten Schritte geheimgehalten werden konnten.
Dieter Knorr war nach seiner Rückkehr vom Flughafen sofort in sein Amt gefahren. Schon aus dem Flugzeug hatte er Anweisung gegeben, daß sofort Nachrichten über die Geburt des Kanzler-Babys und erste Fotos an alle Medien gegeben wurden. Rohloff würde schon am nächsten Morgen ein erstes Live-Interview mit Inge Müller machen, das auch von den Konkurrenzsendern übernommen wurde. Gleichzeitig mit diesem Interview würde Inge Müller die ›Stiftung Sorgenkind‹ ins Leben rufen und damit eine Sendereihe des ZDF unterstützen. Rohloff hatte sich mit dem ZDF dahingehend verständigt, daß er alternierend mit Wim Thölke – der langsam in die Jahre kam – die Sendung moderieren würde. Natürlich hatte das bei der ARD, dem ersten Programm, erst einmal Stunk gegeben. Aber Rohloff war freier Mitarbeiter, und bevor man den Star verlor, willigte man lieber zähneknirschend ein. Knorr kannte die Zusammenhänge, und die Entwicklung kam ihm entgegen. Sollte sich dieser Rohloff vollfressen bis an den Kragen, um so mehr würde er auf ihn angewiesen sein. 238
Die Nachricht über die Kanzler-Blitzreise ließ er als Zehn-ZeilenMeldung laufen und spielte damit die Bedeutung herunter. Natürlich würde es Anfragen geben, aber seine Stellvertreter – die ja nicht eingeweiht waren – würden da schon gängige Erklärungen finden. Selbstverständlich war es den Medien nicht verborgen geblieben, daß auch der Bundesminister Heske mit von der Partie gewesen war, und so entschied Knorr, daß Zweck der Reise die Vorführung des neuen Airbus AB-104 mit dreifacher Schallgeschwindigkeit gewesen sei. Ähnlich hatte er es mit Bill O'Sullivan abgestimmt. Auch die amerikanische Presse würde so berichten. Um drei Uhr früh hatte er sein Amt wieder voll im Griff, aber er war nicht müde. So ließ er sich nach Köln bringen und verbrachte eine Stunde in dem Etablissement, das er jetzt öfter aufzusuchen pflegte. Wenn dort auch alles wie immer war, fand er doch nicht die rechte Befriedigung. Nervös und in schlechter Laune begab er sich auf den Heimweg. Kurz vor dem Autobahnverteiler nach Bonn glaubte er den Wagen von Lamprecht gesehen zu haben, der an ihm vorbeifuhr. Er hatte Lamprecht durch ›Krümel‹ kennengelernt und inzwischen viel von seiner Tüchtigkeit gehört. Aber er konnte sich auch getäuscht haben. Was sollte Lamprecht zu so später Stunde noch unterwegs? Er lachte hämisch. Vielleicht war in der Musterehe des Herrn Lamprecht auch nicht alles in Ordnung! So lag Dieter Knorr eine gute halbe Stunde später in seinem Bett und schlief.
Kamphausen hatte die Nachricht aus Washington sehr ernst genommen. Schon die Aussicht auf erhebliche Bundesmittel – und die würden hier zum Einsatz kommen müssen – beflügelte seinen Tatendrang. Wichtig war jetzt nur, daß absolute Geheimhaltung gewährleistet wurde, und dafür würde er jetzt persönlich sorgen. So hatten sie Stunden beraten. Die Physiker und Techniker kamen 239
zu Wort, die sofortige Verlagerung der SZS-1-Versuche aus Sohle IV mußte vorbereitet werden, lauter organisatorische Dinge, die die Stunden fraßen.
Es war kurz nach vier, als Lamprecht die ›Schwarze Katze‹ in Köln betrat. Es herrschte nicht gerade Überfüllung, ein paar überschminkte Tischdamen sahen ihm neugierig entgegen, auf der kleinen Bühne wälzte sich eine Striptease-Tänzerin mit einer Schlange am Boden. Lamprecht ging zur Bar hinüber, wo der Kurier saß. Er bestellte sich einen doppelten Whisky und vergrämte die Barfrau mit einem schroffen »Nein!«, als diese fragte, ob sie ihm Gesellschaft leisten sollte. Dann warf er einen Schein auf die Bar, nahm einen kurzen Schluck und ging – scheinbar angewidert – aus dem Lokal. Er setzte sich in seinen Wagen, bis er den Mann kommen sah, öffnete leise den Schlag seines Fords und ließ den Mann einsteigen. Ohne ein Wort zu reden, fuhren sie zum Bahnhof, stiegen aus und betraten den Wartesaal erster Klasse, der relativ leer war. Sie fanden einen Ecktisch, der keine direkte Nachbarschaft hatte, und bestellten etwas zu essen. Als der Ober gegangen war, griff Lamprecht noch einmal zur Speisekarte, legte einen Umschlag hinein und schob sie dem Kurier hinüber. Der steckte den Umschlag lässig in die Tasche, nahm einen Geldschein aus dem Portemonnaie, sagte: »Würden Sie die Freundlichkeit haben und meine Zeche begleichen, ich sehe, es ist schon spät und ich verpasse meinen Zug …« »Aber gerne …«, sagte Lamprecht, bezahlte sofort, als der Kellner die Würstchen mit Kartoffelsalat servierte, schlang sie eilig hinunter und ging auch. Hanne lag wach im Bett und las, als er kam. »Das war ein heißer Tag heute«, sagte Karl und küßte seine Frau. »Bei uns war auch der Teufel los. Der Kanzler war in Washington zu einem Blitzbesuch. Es hat mit euch zu tun …« »Ich weiß. Wir wurden von Heske über das Ergebnis der Gesprä240
che direkt unterrichtet und mußten sofort notwendige Maßnahmen ergreifen, darum komme ich so spät.« Karl Lamprecht zog sich aus und hängte seine Kleider ordentlich über einen Stuhl, so wie er es jeden Abend tat. Dann gähnte er ehrlich müde: »Heute schlafe ich erst einmal aus, Kamphausen und ich haben alles veranlaßt, und die Firma wird auch einmal einen Vormittag ohne mich auskommen.« Hanne freute sich: »Du – Karl, das ist schön, ich muß auch erst um zwei Uhr im Amt sein. Dafür kann es morgen abend spät werden. Du kennst Müller ja inzwischen.« Er drehte die Nachttischlampe aus, wollte sich erst umdrehen, hatte dann aber doch Sehnsucht nach seiner Frau und tastete mit der Hand nach ihr. Und Hanne hatte schon gewartet. Eine halbe Stunde später schliefen sie tief und fest.
Als Rolf Heske in dieser Nacht ausnahmsweise wieder einmal in seiner Wohnung übernachten wollte, fiel ihm zum ersten Mal auf, daß ja Gisela Knorr immer noch bei ihm wohnte. So hatte er ein richtig schlechtes Gewissen und schlich sich auf Zehenspitzen ins Schlafzimmer. Aber das Bett an seiner Seite war leer. Er stand noch einmal auf, ging durch die Zimmer, suchte nach ihr und wurde nervös. Dann riß er die Türen der Kleiderschränke auf, aber da hingen alle ihre Sachen, ordentlich wie immer. Gerade als er begann sich Sorgen zu machen und überlegte, was er tun konnte, kam sie nach Hause. Sie schien überrascht, Rolf Heske zu sehen, sagte schnippisch: »Du läßt dich auch wieder einmal hier sehen?« und begann dann, als sei nichts gewesen, sich auszuziehen. »Ich komme gerade aus Washington zurück«, sagte Heske mehr entschuldigend, »und wo warst du?« Gisela hatte plötzlich eine unendliche Wut im Bauch. »Ich war bei meinem Liebhaber. Der ist nicht Minister und hat deswegen richtig Zeit für mich!« sagte sie spöttisch. 241
Aber Rolf Heske war viel zu müde, als daß er den Spott in ihrer Stimme bemerkt hätte. Außerdem hielt er es für völlig ausgeschlossen, daß Gisela einen Liebhaber haben konnte. Schließlich hatte er ihr die Ehe versprochen und er wußte, daß Gisela dieses Versprechen ernst nahm. Also würde sie sich auch entsprechend verhalten. »Ach so«, sagte er darum nur herablassend. Er wußte, daß Gisela öfters mit Journalisten ausgehen mußte oder Empfänge von Botschaften besuchte. Da konnte es schon mal spät werden. »Nichts ›ach so!‹ Es ist die Wahrheit, Rolf, ich war bei meinem Liebhaber!« Sie bestand auf der Wahrheit und ihrem Recht, diese Wahrheit auszuposaunen. Aber Rolf Heske war nicht zum Streiten aufgelegt. Er kannte sie inzwischen und wußte, daß sie ihn reizen wollte. »Laß uns morgen früh darüber reden«, sagte er, war beruhigt, daß sie zu Hause war, drehte sich um und schlief fast sofort ein. Gisela Knorr hätte ihn in diesem Augenblick umbringen können. Dann aber setzte sie sich vor den Toilettentisch, schminkte sich sorgfältig ab, steckte sich noch eine Zigarette an – nur weil sie wußte, daß Heske es haßte, wenn man im Schlafzimmer rauchte – und legte sich auch nieder. Sie konnte lange nicht einschlafen und dachte, wie ganz anders Rohloff doch war. »Entweder heiratet mich Rolf innerhalb der nächsten vier Wochen, oder ich werde ihn verlassen. Ich kann so nicht leben«, dachte sie, aber sie dachte auch daran, ob sie überhaupt noch mit Rolf Heske leben wollte. Darüber schlief sie ein, hatte gräßliche Träume und mußte nicht erst telefonisch vom Begleitschutz Heskes geweckt werden, wie sonst jeden Morgen.
Sie ging in die Küche, bereitete das Frühstück vor, deckte mit Liebe den Tisch, weckte Heske, ließ sich viel zu heißes Wasser unter der Dusche über den Körper laufen, als könne sie so irgendwelche Sünden abwaschen, und zog sich an. Wie immer, wenn er zu Hause war, strich sie ihm ein Brötchen, frag242
te: »Schinken oder Marmelade?«, gab ihm das Gewünschte, zog ihm die Zeitung vom Gesicht, hinter der er sich vergraben hatte, und fragte gerade heraus: »Willst du mich eigentlich noch heiraten, Rolf?« Heske hatte die Frage erwartet. Er hatte sich selbst oft gefragt, ob das noch immer sein Wunsch war. Aber schließlich hatte sich Gisela seinetwegen von Dieter Knorr scheiden lassen, sie lebten zusammen wie Mann und Frau, und wenn er jetzt einen Rückzieher machte, würde ihm das nicht nur Ärger mit Gisela bringen, auch der Kanzler würde ihm das übelnehmen. Er hatte zu wenig Erfahrung mit Frauen, um zu wissen, wie man aus einer solchen Situation als Ehrenmann herauskam. So beeilte er sich zu beteuern: »Aber selbstverständlich doch!« »Dann möchte ich, daß wir in den nächsten vier Wochen heiraten. So geht es nicht weiter, Rolf. Du kompromittierst mich in einem Maße, das jede Vorstellung übersteigt.« Heske hatte ein schlechtes Gewissen: »Wie du willst«, sagte er und dachte mit Schrecken an seine Termine. Da war auch nicht eine Minute Zeit in den nächsten zwei Monaten. »Ich weiß nur noch nicht, wie ich es möglich machen soll«, sagte er matt. Sie lachte. »Ich werde die Sache in die Hand nehmen und werde auch mit deinem Büro einen Termin für das Standesamt aushandeln. Ich weiß, daß du wahnsinnig in Terminnot bist, aber ich werde es schaffen, verlaß dich darauf, mein Lieber!«
Rolf Heske war ihr fast dankbar, daß sie die Dinge in die Hand nahm. Sie fuhren zusammen ins Ministerium, und Gisela Knorr ging ohne Umwege daran, die standesamtliche Trauung zu organisieren. Sie wollte Rohloff davon verständigen, aber der war zu Fernsehaufnahmen im Palais Schaumburg. So verschob sie das auf später. Nach zwei Stunden hatte sie es geschafft. Die Trauung würde Mitte Oktober sein, morgens um acht, damit keiner von Ihnen wertvolle Zeit verlor. Dieter Knorr erklärte sich bereit, als Trauzeuge aufzutre243
ten, und auch Peter Dahl, zu dem sie ein burschikos-kameradschaftliches Verhältnis unterhielt. Dann unterrichtete sie ›Krümel‹ Lamprecht, um so zu verhindern, daß der Kanzler seinen Sicherheitsminister gerade an diesem Tag auf irgendeine Reise oder Konferenz schickte. Und Krümel hatte da vollstes Verständnis, zumal sie diesen Vormittag mit Karl so richtig genossen hatte. »Gewöhnen Sie Ihrem Mann diese hektische Arbeit ab, die machen sich doch alle kaputt«, riet sie. »Das ist der Ehrgeiz, der treibt, sie an«, stellte Gisela lakonisch fest. Sie rief wieder Rohloff an. »Hast du meine Sendung gesehen?« fragte er und war von sich selbst begeistert. »Das kleine Kerlchen sieht aus wie ein Affe, aber alle beteuern, wie hübsch er sei und ganz der Papa!« »Ich habe sie nicht gesehen. Hast du zwei Stunden Zeit für mich, ich muß mit dir reden.« »Bei mir zu Hause?« fragte Rohloff. »Ja, bei dir zu Hause!« Dann lag sie in seinen Armen, liebte ihn leidenschaftlicher als je zuvor und sagte: »Ich werde in vierzehn Tagen Rolf Heske heiraten!« Da sollte sich einer bei den Weibern auskennen! »Ändert das etwas zwischen uns?« fragte Helmut Rohloff. »Nicht viel, Liebster«, lächelte Gisela, »ich werde nur mehr Zeit für dich haben. Ich bin entschlossen, meinen Dienst zu quittieren und nur noch Frau Minister zu sein. Das ist meine Rache an allen fanatischen Politikern. Ich freue mich schon darauf. Nur will ich ihn nicht kompromittieren, wir werden das einzurichten wissen!« So gefiel es Rohloff. »Du bist ein Engel und eine Ausnahme dazu. Ich glaube, ich liebe dich!« »Rede keinen Unsinn, laß es zwischen uns so bleiben, wie es war, Helmut – unbefangen und ehrlich!« Er küßte sie lange und zärtlich, tastete ihren Körper ab, spürte, wie neuerliches Verlangen in ihm wuchs und liebte sie mit einer wahren Verbissenheit, bis sie beide nicht mehr konnten. Als sie gegangen war, setzte er sich in einen bequemen Sessel, holte 244
sich eine gute Flasche Wein und eine Davidoff, entflammte die teure Zigarre genießerisch, prostete sich selbst zu – und doch war ihm zum Heulen zumute. Gisela Knorr war eine Frau, von der er sich hätte vorstellen können, daß sie an seine Seite gepaßt hätte. Er bildete sich ein, daß er sauer auf Heske sei. Aber im Grunde seiner Seele war er ihm dankbar, daß er ihm die lästigen Bürgerpflichten abnahm und Gisela seine Geliebte bleiben würde. Ja, er war schon ein Casanova, der gute alte Rohloff. Er hob das Glas und trank auf sein Wohl. Als das Telefon klingelte, war Morlock am Apparat. »Was gibt es so Eiliges, Morlock?« fragte Rohloff. »Ich muß Sie sofort sprechen, Boß!« »Dann kommen Sie her …!« Hannes Morlock war Porschefahrer und fuhr auch so. Er war in wenigen Minuten auf dem Venusberg. Er hielt sich nie sehr streng an die Straßen-Verkehrs-Vorschriften, und heute abend schon gar nicht. Rohloff schenkte ihm einen großen Whisky ein. »Schießen Sie los«, sagte er dann. Morlock berichtete, wie er sich an die Arbeiter des Stollens herangemacht hatte, Arbeiter, die mit dem Atommüll bei der IAAG zu tun hatten. Und als diese nicht plaudern wollten, hatte er sich an deren Frauen herangemacht. Die wußten zwar nicht viel, aber aus vielen Einzelinformationen hatte Morlock ein Mosaikbild zusammengesetzt, das ergab, daß bei der IAAG nicht nur Atommüll aus den ›schnellen Brütern‹ gelagert wurde, sondern daß offensichtlich auch Experimente und Versuche damit angestellt wurden. Noch mehr: wenn er etwas davon verstand, arbeiteten die dort unten mit der Wiederaufbereitung von Kernbrennstoffen. »Erstklassige Arbeit, Morlock«, sagte Rohloff und klopfte seinem Mitarbeiter anerkennend auf die Schulter, »wirklich erstklassige Arbeit. Normalerweise wäre das ja ein Geschäft, das die Atomkraftwerke oder die Elektrizitätswerke zu besorgen hätten.« »Seit gestern nachmittag ist über den gesamten Stollen die höchste 245
Geheimhaltungsstufe verhängt worden und mehrere Kompanien von Heskes neuen Sicherheitstruppen mit supermodernen Identifikationsgeräten machen jedes Eindringen absolut unmöglich«, fügte Morlock hinzu. Das hatte er gerade noch mitbekommen. »Seit gestern nachmittag?« sinnierte Rohloff. »Das ist ja hochinteressant. Da war der Kanzler doch in Washington? Angeblich, um den Airbus AB-104 vorzustellen. Interessant, interessant!« Er lief mit schnellen Schritten über den chinesischen Teppich und dachte scharf nach. Er mußte so schnell wie möglich Gewißheit haben und die konnte ihm nur der Kanzler geben. Morlock unterbrach seine Gedanken: »Ist heute noch irgend etwas? Ich habe eine Verabredung mit einer Mieze …« »Nein, Sie können gehen. Aber halten Sie sich morgen früh für alle Fälle zu meiner Verfügung. Es kann sein, daß ich einen Zeugen brauche.« Als Morlock gegangen war, rief er das Kanzleramt an, Hanne Lamprecht meldete sich im Vorzimmer. »Frau Regierungsrätin, ich brauche ganz kurzfristig einen Termin mit dem Herrn Bundeskanzler.« Natürlich wußte Hanne Lamprecht, wer Helmut Rohloff war, so fragte sie: »Geht es um seine Gemahlin?« Sie dachte wohl, daß Rohloff noch einmal ein Interview machen wollte. Rohloff zögerte einen Augenblick. Krümel hatte ihm praktisch den schnellsten Weg ins Kanzleramt gezeigt. Aber diese Sache war zu ernst, er durfte sich hier keinen Fehler leisten. So sagte er: »Nein, es ist etwas Politisches.« »Sind der Herr Staatssekretär Knorr und das Presseamt unterrichtet?« wollte Krümel wissen. »Nein, es ist eine sehr vertrauliche Information, die ich bekommen habe, mehr kann ich nicht sagen. Nur, daß es eine Geschichte von höchster Dringlichkeit ist.« Er mußte endlos lange am Apparat warten, während Hanne Lamprecht versuchte, den Bundeskanzler zu erreichen. Heinrich Müller hatte sich gerade mit Heske und Knorr zurückgezogen, um das Taktieren in Paris zu besprechen. »Was kann er wollen, Krümel?« fragte er verärgert über die Störung. 246
»Er hat es spannend gemacht«, sagte sie. »Na, stell mich durch …«, dann war Rohloff in der Leitung, »was gibt es, ich bin in einer Konferenz?« »Die Sache eignet sich nicht für ein Gespräch am Telefon, Herr Bundeskanzler.« »Machen Sie mir eine Andeutung, Rohloff …« Der überlegte einen Moment, sah aber keine Bedenken zu sagen: »Taylor – Heske – Kamphausen und Sie, Herr Bundeskanzler, und das alles gestern, genügt das als Hinweis?« Heinrich Müller schaltete sofort: »Kommen Sie her!« »Ich muß erst nach Köln ins Funkhaus und für alle Fälle den Intendanten informieren«, klopfte Rohloff auf den Busch. »Nein, lassen Sie das, Herr Rohloff, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sofort kommen könnten.« Rohloff sagte zu und hängte ein. Müller ließ den Hörer langsam auf die Gabel sinken. Heske und Knorr sahen ihn fragend an. »Ich weiß nicht, ob das nur ein Bluff ist, oder ob der Kerl tatsächlich etwas weiß. Er hat mir Andeutungen gemacht, als wisse er schon den Inhalt unserer Gespräche in Washington, und da nur wir drei davon wissen und bei der IAAG selbst nur Kamphausen und Lamprecht wissen, worum es wirklich geht, frage ich mich, wo die undichte Stelle sein könnte.« Er rief durch die Gegensprechanlage: »Krümel, ich muß sofort den Doktor Pöhlmann haben, noch bevor Rohloff kommt. Halten Sie den Fernseh-Schönling solange hin!«
Pöhlmann war zehn Minuten später da und wurde sofort zum Kanzler vorgelassen. »Es kann sein, daß wir uns irren, Doktor. Aber ich muß Sie bitten, unsere besten Leute zu nehmen und ab sofort Herrn Helmut Rohloff zu observieren und das rund um die Uhr …« »Meinen Sie den Herrn Rohloff vom Fernsehen, Herr Bundeskanzler?« 247
Pöhlmann dachte bei sich, daß das eine ganze Menge Ärger mit sich bringen konnte. Schließlich war Rohloff nicht irgendwer, sondern ein Liebling der Nation. »Genau den, Herr Doktor Pöhlmann!« Der Verfassungsschützer zog sich zurück. Es war schließlich nicht seine Aufgabe, sich über die Folgen von Aufträgen des Kanzlers Gedanken zu machen. Rohloff wartete schon eine Weile, aber er verlor deswegen nicht seine gute Laune. Er schäkerte mit Hanne Lamprecht und Klara Werner, machte charmante Komplimente, mit denen er sich schon viele Vorzimmerdamen gewonnen hatte, dann wurde er hineingebeten. Heinrich Müller hatte nicht die Absicht, sich in eine lange Diskussion einzulassen. Er bat ihn, Platz zu nehmen, zeigte auf Heske und Knorr, meinte: »Die Herren kennen sich ja«, wandte sich dann direkt Rohloff zu: »Was sollen Ihre mysteriösen Andeutungen, was wollen Sie von mir wissen?« Wie immer, wenn Rohloff seine Gegner verwirren wollte, nahm er die Brille ab, kaute für Sekunden auf dem rechten Bügel herum, musterte sein Gegenüber eindringlich und sagte fast träge: »Sie bauen eine Atombombe, Herr Bundeskanzler!« Heinrich Müller wäre ein schlechter Politiker und ein noch schlechterer Kanzler gewesen, wenn diese Eröffnung Wirkung gezeigt hätte. »Wie kommen Sie auf diese ausgefallene Idee?« »Ich habe meine Informationen, Herr Bundeskanzler …« »Und darf man fragen woher, Herr Rohloff?« »Im Augenblick noch nicht, aber angesichts der Tragweite dieser Tatsache hielt ich es für meine Pflicht, Sie darüber zu informieren, daß ich es weiß. Ich könnte mir denken, daß eine solche Nachricht in der Bevölkerung allergrößte Unruhe auslösen würde.« »Wenn Sie recht hätten, Herr Rohloff, würde ich Ihnen zustimmen. Leider aber sind Sie falschen Informationen aufgesessen, an der Sache ist nichts – ich betone, absolut nichts – dran. Ich dachte, es wäre etwas Wichtiges, was Sie mir zu sagen haben. Sie wissen, daß ich, wenn ich kann, Ihnen jederzeit gerne zur Verfügung stehe. Aber jetzt wollen Sie uns bitte entschuldigen!« 248
Der Kanzler stand auf und so blieb Rohloff nichts anderes übrig, als zu gehen. Er kannte Heinrich Müller gut genug, um zu wissen, daß er ihn tief getroffen hatte. Und er konnte sich auch ausrechnen, daß dies Konsequenzen für ihn haben würde. Er war bereit, auf der Hut zu sein. Die Türe hatte sich kaum hinter ihm geschlossen, als Müller losschrie: »Das ist eine gottverdammte Sauerei! Heske, wir haben kaum deutschen Boden betreten, haben noch keine vierundzwanzig Stunden die Zusage von Taylor, da kommt dieser Schnösel hier herein und sagt uns eine Wahrheit auf den Kopf zu, mit der wir selbst erst fertig werden müssen. Wie ist das möglich?« Rolf Heske stützte den Kopf in die rechte Hand. Natürlich hatte auch ihn die Information umgeworfen. Zuerst dachte er an die IAAG, aber die schied praktisch aus. Der Stollen IV war mit einem Sicherungs- und Geheimhaltungsnetz umgeben, wie kein anderes Objekt in der Bundesrepublik. Außerdem wußte so gut wie niemand richtig Bescheid. Die zwölf neuen ›schnellen Brüter‹ entlang der Grenzen zur DDR, zur Tschechoslowakei und im Dreiländereck waren zwar sämtlich im Bau, aber nicht einmal die Techniker wußten, was dort eines Tages geschehen würde. In seinem eigenen Ministerium wußte außer ihm niemand mehr, als unbedingt nötig war, und das ergab kein Bild. So sagte er: »Ich weiß es nicht, ich habe wirklich keine Ahnung. Meinst du, daß in Washington irgend etwas durchgesickert ist? Oder daß Taylor doch schon Paris verständigt hat?« »Ausgeschlossen!« Heinrich Müller war sich da seiner Sache ganz sicher. »Und wenn er nur auf den Putz haut, wie man so zu sagen pflegt?« fragte Dieter Knorr. »Gibt es eine Möglichkeit, daß wir ihn kaltstellen?« fragte der Kanzler. »Können wir ihn einsperren? Irgendwohin verfrachten, bis ich mit Giscard gesprochen habe. Wir müssen erst Paris hinter uns bringen, bevor auch nur eine Andeutung an die Öffentlichkeit kommt. Dieser Kerl ist immer am Ball …« Müller dachte an das Essen vor seiner 249
Hochzeit zurück. »Er ist ein gemeingefährlicher Staatsfeind! Wir müssen etwas unternehmen! Und das sofort!« Heskes Augen leuchteten auf. »Das ist es. Wir behandeln ihn als Terroristen. Das ist es, Heinrich …« Heske sprang auf, lief zu einem Telefonapparat und ließ sich mit seinem Büro verbinden: »Ich brauche sofort mit Eilkurier das Bundesgesetzblatt Z 1997A Nr. 20 von 1978. Ich will das in fünf Minuten beim Bundeskanzler haben, ist das klar?« Er warf den Hörer auf die Gabel, ohne eine Antwort abzuwarten. Er wußte, daß sein Amt funktionieren würde. Sie verständigten Krümel, daß der Bote sofort durchzulassen war. »Setz dich mit Pöhlmann in Verbindung, wir wollen über jeden Schritt Rohloffs alle fünfzehn Minuten informiert werden. Observierungsstufe 1, Telefonüberwachung, ständiger Funkkontakt – sofort!« ordnete Müller an. »Geht das nicht ein bißchen weit?« wagte Knorr einzuwenden. »Wenn das die Öffentlichkeit erfährt, gibt es einen Skandal, der uns allen viel Ärger bringen kann. Auch der Regierung!« »Die Regierung bin ich«, schrie Müller, »und ein Hanswurst wie dieser Fernsehfatzke stört mir nicht im letzten Augenblick meine Pläne!« Der Bote aus dem Sicherheitsministerium traf ein und brachte das Bundesgesetzblatt. Heske überflog es gierig. »Was ist?« fragte der Kanzler. »Bei einer weitherzigen Auslegung könnten wir Rohloff sofort festsetzen«, meinte Heske. »Was heißt das?« »Wir müßten davon ausgehen, daß er durch sein Wissen der Bundesrepublik Schaden zufügen will. Nachdem er uns hier vor einer knappen halben Stunde Dinge berichtet hat, die der allerhöchsten Geheimhaltungsstufe unterliegen, kann er sich nur gesetzwidrig in den Besitz dieser Informationen gebracht haben und so in höchstem Maße verbrecherisch gehandelt haben. Wir drei haben ihn praktisch auf frischer Tat ertappt, und da könnten wir den § 127 der geänderten Strafprozeßordnung heranziehen, der sagt: 250
›Wird jemand auf frischer Tat getroffen oder verfolgt, so ist, wenn er der Flucht verdächtig ist oder seine Identität nicht sofort festgestellt werden kann, jedermann befugt, ihn auch ohne richterliche Anordnung vorläufig festzunehmen.‹ Das wäre eine Möglichkeit.« »Wie lange können wir ihn dann festhalten?« fragte der Kanzler. »Mindestens erst mal vierundzwanzig Stunden. Bis dahin müßten wir dem zuständigen Amtsrichter eine Anzeige zustellen, die eine Haftfortdauer rechtfertigen würde. Aber nach § 103 in der Fassung von 1978 könnten wir erst einmal seine Wohnung gründlich durchsuchen, denn hier heißt es: ›Zum Zwecke der Ergreifung eines Beschuldigten, der dringend verdächtig ist, eine Straftat begangen zu haben, ist eine Durchsuchung von Wohnungen und anderen Räumen auch zulässig, wenn diese sich in einem Gebäude befinden, von dem aufgrund von Tatsachen anzunehmen ist, daß sich der Beschuldigte in ihm aufhält. Besonders gilt dieser Grundsatz bei Geheimnisverrat und Spionage.‹ Das ist es! Vielleicht kommen wir so an Unterlagen, die uns einen Hinweis darauf geben, woher Rohloff seine Informationen hat.« Dieter Knorr hatte heftige Bedenken: »Rohloff ist zu bekannt und vor allem zu beliebt. Die Bevölkerung wird protestieren und wird uns niemals glauben, daß ausgerechnet er Hochverrat betrieben haben soll. Außerdem widerspricht das den im Grundgesetz verankerten Rechten …« »Du irrst«, unterbrach ihn Heske, »auch dafür haben die Regierungen vor uns bestens gesorgt. Hier heißt es im Artikel 4 über die Einschränkung der Grundrechte: ›Das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung gemäß Artikel 13 des Grundgesetzes wird durch Artikel 1 dieses Gesetzes und das Grundrecht der Freiheit der Person wird durch Artikel 1 Nr. 4 und 10 dieses Gesetzes eingeschränkt.‹ Die haben damals praktisch innerhalb von zehn Tagen nicht nur eine Gesetzesänderung durchgebracht, sondern durch die kalte Küche auch noch die Grundrechte der Bürger durch eine Außerkraftsetzung des Grundgesetzes in bestimmten Punkten eingeschränkt. 251
Von der Seite her sehe ich keine Schwierigkeiten.« »Wir bekommen die größten Schwierigkeiten«, wandte Knorr ein, »die Sender werden die Sache breittreten, die gesamte Presse wird einsteigen, ich sehe schon die Schlagzeilen vor meinen Augen: ›Deutschlands beliebtester Moderator verhaftet! Ist er wirklich ein Hochverräter?‹ Nein – ich halte nicht viel von einer Verhaftung!« Heinrich Müller hatte seine erste Wut niedergekämpft und dachte logisch: »Dieter, du warst selbst Zeuge von meinem Gespräch mit Rohloff. Was hat er gewußt?« »Daß wir von Taylor die Genehmigung zum Bau einer Atombombe bekommen haben …« »Ist das ein Staatsgeheimnis oder nicht?« »Selbstverständlich. Heinrich …« »Und woher hat er seine Information, frage ich dich?« »Ich weiß es nicht!« Knorr hatte ein ungutes Gefühl in der Magengegend. »Ich brauche einen Cognac.« Er schenkte sich ein und trank das Glas in einem Zuge leer. Der Kanzler wandte sich an seinen Sicherheitsminister: »Rolf Heske, wir müssen handeln. Jede Minute, die Rohloff noch frei herumläuft, bedeutet eine Gefahr für die Republik. Bitte veranlasse alles Notwendige. Setze dich dann umgehend mit dem Justizminister in Verbindung, damit eine entsprechende Klage erhoben wird. Rohloff darf die nächsten acht Tage keinen Kontakt zur Außenwelt haben, am besten bringen wir ihn gleich nach Stammheim. Er ist völlig isoliert zu verwahren. Staatsanwaltschaft und Richter sind nur, soweit unbedingt notwendig, einzuweihen. Gegebenenfalls werden auch wir mit unseren Mehrheiten eine Gesetzesänderung innerhalb dieser Frist durchdrücken müssen. Der Justizminister soll sich darüber Gedanken machen. Was die damals konnten, können wir schon längst! Und jetzt wollen wir keine Zeit mehr verlieren.« »Was sagen wir der Presse?« fragte Knorr. »Erst einmal gar nichts. Die Entwicklung der Dinge wird zeigen, wie weit wir Informationen herausgeben müssen. Bis dahin bestätigen wir nur die Tatsache, daß Rohloff festgenommen wurde.« 252
Heske trommelte die GSG 9 aus den Betten und ließ durch deren Kommandeur die Verhaftung Rohloffs gegen zehn Uhr abends durchführen. Der Moderator war völlig überrascht. Er hatte zwar nach Verlassen des Palais Schaumburg bemerkt, daß er beschattet wurde, aber damit hatte er gerechnet. Rein vorsorglich hatte er von einer Telefonzelle aus noch Gisela Knorr angerufen und sie gebeten, vorerst nicht zu ihm zu kommen, weil er beobachtet wurde. Auch am Telefon zu Hause hatte er sich vorsichtig ausgedrückt und nur den Kölner Intendanten für den nächsten Vormittag um eine dringende Unterredung gebeten. Sonst hatte er sich Telefonabstinent verhalten und wollte nur die ganze Geschichte am nächsten Morgen auch noch mit Morlock besprechen. Daß Heinrich Müller so schnell und so brutal handeln würde, damit hatte er nicht gerechnet. Jetzt war es nicht zu ändern. Er leistete auch keinen Widerstand, bat nur um Verständigung seines Anwaltes, was ihm verweigert wurde. Mit einem Hubschrauber wurde er direkt nach Stuttgart-Stammheim gebracht, während Spezialisten des Bundeskriminalamtes seine Wohnung auf den Kopf stellten. Sie fanden einige Dinge aus seinem Intimbereich, die manchen bösen Scherz laut werden ließen, nahmen sicherheitshalber die wenigen privaten Akten Rohloffs mit (er hatte niemals geschäftliche Dinge zu Hause aufbewahrt), asservierten alles ordentlich und genau und beendeten gegen Mitternacht ihr emsiges Tun. Rohloff aber schlief in dieser Nacht fast gar nicht. Die Zelle war kahl, die Pritsche nicht sein gewohntes Daunenbett und die vielfältigen fremden Geräusche neu für ihn. In seinem Herzen schwor er dem Kanzler Rache und hatte auch schon eine klare Vorstellung, wie er sie auch noch lukrativ gestalten könnte. Diesmal würde Heinrich Müller dran sein, das schwor er sich. Er legte sich hin, aber er konnte nicht schlafen. Ganz früh am Morgen rief er den Wärter und verlangte erneut seinen Anwalt zu sprechen. Der Wärter versprach, den Wunsch weiter253
zuleiten. Auf dem Dienstweg natürlich – und der war ziemlich umständlich, vor allem hier. Rohloff mußte nicht solange warten. Gegen zehn Uhr wurde er dem Haftprüfungsrichter vorgeführt. Dieser hatte vor einer halben Stunde die substantiierte und begründete Klage der Bundesregierung gegen Helmut Rohloff erhalten. Sie lautete auf Landesverrat, Bruch der höchsten Geheimhaltungsstufe, Verwahrungsbruch, Verbreitung geheimer Staatsakten etc. etc. Der Richter fragte ihn: »Bekennen Sie sich schuldig, Herr Rohloff?« »Natürlich nicht, ich bin unschuldig!« »Dann ergeht folgender Beschluß: Die Haftfortdauer wird angeordnet wegen Flucht- und Verdunkelungsgefahr. Der Beklagte erhält eine Abschrift der Anklageschrift, das Gericht wird darüber befinden, ob dem Angeklagten der Verkehr mit einem Anwalt zum jetzigen Zeitpunkt gestattet werden kann. Dieserhalb wird sich das Gericht mit dem Bundesministerium für die Justiz und den Sicherheitsbehörden in Verbindung setzen. Der Beklagte wird von dem Erfolg dieser Bemühungen verständigt. Er ist in seine Zelle – getrennt von den anderen Gefangenen – zu verbringen. Die Sprecherlaubnis mit dem Aufsichtspersonal wird entzogen, bis andere Anordnungen ergehen«, leierte der Richter seinen Spruch herunter. »Herr Richter, ich muß hier raus. Ich habe am Samstag meine Sendung ›aktuell‹, und ich verspreche Ihnen, ich werde diese skandalösen Zustände anprangern, daß die Republik zittern wird …« »Ich fürchte, diese Sendung wird ein Kollege von Ihnen moderieren müssen. Ich sehe keine Chance, angesichts dieser Anklage, daß Sie hier sehr schnell herauskommen. Ich empfehle Ihnen rein menschlich, sich lieber mit der Situation abzufinden und sich den Gegebenheiten des Hauses anzupassen, Herr Rohloff. Ihre Sendungen habe ich übrigens immer sehr gerne gesehen. Guten Morgen!« Er nahm sein Barett ab und ging mit der jungen Protokollführerin hinaus. Der Wachtmeister zupfte Rohloff am Ärmel. »Kommen Sie!« Sie gingen nebeneinander die Gänge entlang, die wie ausgestorben da lagen. Irgendwoher kam Gesang. In einem Glaskasten saß ein Wärter hinter einem schweren Maschinengewehr und drückte auf einen Knopf. Eine 254
Stahltür öffnete sich, noch ein paar Schritte, dann war Rohloff wieder in seiner Zelle. Irgendwann bekam er etwas zu essen, was nicht einmal schlecht schmeckte. Alle zwei Stunden rief er nach dem Wärter und wollte den Richter sprechen. Die Auskunft war immer die gleiche: »Wir leiten das weiter.« Höflich, aber ganz und gar unpersönlich. Dann fing er an zu toben. Erst in der übernächsten Nacht war Rohloff soweit, daß er einigermaßen ruhig darüber nachdenken konnte, was Müller sich dabei wohl gedacht hatte. Und da er über einen logischen Verstand verfügte, reimte er sich den Grund des Kanzler-Vorgehens schnell zusammen. Es war ihm klar, daß er für die Regierung so lange eine Gefahr war, wie sie nicht selbst mit der Information über den Bau einer Atombombe herauskam. Solange würde er also unter Verschluß gehalten werden. Da nützte es auch nichts, daß er sich selbst nachträglich einen Trottel nannte, und hoffte nur darauf, daß Müller ihm bald einen Emissär schicken würde, um die Bedingungen seiner Freilassung auszuhandeln. Daß auch dies eine Weile dauern konnte, war ihm klar.
Eine Woche nach Rohloffs Verhaftung, die wie eine Bombe eingeschlagen hatte, traten Rolf Heske und Gisela Knorr vor den Bonner Standesbeamten. Anschließend gingen sie mit den beiden Trauzeugen Dieter Knorr und Peter Dahl zu einem Sektfrühstück in den Kaiserhof, wobei mehr Sicherheitsbeamte als Gäste anwesend waren. Um zehn Uhr war Dieter Knorr wieder im Bundes-Presseamt, Rolf Heske saß hinter seinem Schreibtisch im Ministerium für Sicherheit. Gisela Heske, geborene Schubert und geschiedene Knorr, fuhr in die gemeinsame Wohnung, warf sich aufs Bett und weinte, während Peter Dahl in der Distelstraße die Akten zusammenpackte, um ins Bundeskanzleramt zu fahren und dort Bericht zu erstatten. Und sein Bericht konnte sich sehen lassen: In Straßburg war ein europäisches Hauptquartier für die Neue Par255
tei angemietet und personell mit Mitarbeitern aus allen europäischen Ländern besetzt. Es handelte sich um erste Kräfte, die zumeist auch gleich Mitglieder der ENP – der ›Europäischen Neuen Partei‹ – geworden waren. Zwei Geschäftsführer waren eingestellt worden, Organisationsleiter für den europaweiten Aufbau der Partei. Noch vor Weihnachten würde die Wähler- und Mitglieder-Werbung mit Hilfe einer Werbeagentur anlaufen. Für alle diese Maßnahmen hatte die Gruppe um Meiners einen ersten Betrag von zwanzig Millionen Mark zur Verfügung gestellt. Entsprechende Bemühungen bei Industriellen der europäischen Länder hatten ebenfalls erste Anfangserfolge, wobei der Name Heinrich Müller wesentlich geholfen hatte. In Bonn hatte auf der Adenauer-Allee ein Verwaltungsgebäude aus Bundesbesitz – das frühere Forschungsministerium – angemietet werden können, in das man gerade einzog. Der Mitarbeiterstab der Bundesgeschäftsstelle war inzwischen auf rund eintausend Personen angewachsen, parallel zum Stand von jetzt rund drei Millionen Mitgliedern. Die Beitragszahlungen waren – wie bei allen Parteien – unregelmäßig, wurden aber durch entsprechende Bankkredite nicht zu einer Belastung. Die Landesverbände wurden ebenfalls straffer organisiert und insbesondere der Ausbau der Bürger-Beratungsstellen forciert. Sie erfreuten sich zunehmender Beliebtheit, da die Bürger merkten, daß hier ihre Anliegen wirklich an ihre Abgeordneten herangetragen wurden und diese sich mit den Problemen auseinandersetzten. In den Ländern Frankreich, Spanien, England, Italien, den Niederlanden, Belgien und Portugal waren inzwischen Landesgeschäftsführer und Generalsekretäre bestellt worden, bis die ersten National-Wahlen erste Vorsitzende, Präsidium und Beirat ergaben. Die Organisation war straff rationalisiert, mit den modernsten Nachrichtenmitteln ausgestattet und überall funktionstüchtig. Die ersten Mitgliederwerbungen waren angelaufen, wobei die Kommunisten und Sozialisten insbesondere in Italien, Frankreich und Portugal heftige Angriffe gegen die Neue Partei gestartet hatten, wohingegen Spanien – wo Juan Caballo Alvarez als Generalsekretär fungierte – keine Zwischenfälle meldete. 256
Rein vorsorglich hatte Dahl auch in Österreich und der Schweiz seine Fühler ausgestreckt, da insbesondere in Österreich größtes Interesse für die Neue Partei festgestellt worden war. »Wir sollten vielleicht auch dort baldmöglichst tätig werden, Herr Bundeskanzler«, war die Meinung Dahls. »Ich lasse mir das durch den Kopf gehen.« Der Kanzler blätterte in dem Akt, den Dahl ihm mitgebracht hatte. Das war wirklich saubere und tüchtige Arbeit. Man sah dem Europa-Generalsekretär an, daß er Tag und Nacht selbst in der Sache unterwegs gewesen war. »Übernehmen Sie sich nicht, Dahl. Krank sind Sie nichts wert!« »Ich würde gerne ein paar Tage Urlaub machen«, gestand Dahl. »Dann tun Sie das. Haben Sie einen guten Stellvertreter?« »Es geht. Er ist noch neu und muß sich erst einarbeiten. Aber für ein langes Wochenende von vier, fünf Tagen kann ich ihn schon alleine lassen.« Dahl sah schlecht aus, bleich, übernächtigt und überanstrengt. »Dann gehen Sie gleich, Dahl, irgendwohin in die Berge oder in den Schwarzwald. Ich kann Ihnen Bühlerhöhe empfehlen. Ich war dort mit meiner Frau. Das ist wirkliche Erholung, und notfalls sind Sie schnell zu erreichen.« »Ich danke Ihnen, Herr Bundeskanzler!« »Sie haben prima Arbeit geleistet, Peter Dahl!« Müller drückte seinem wichtigsten Mitarbeiter in der Partei die Hand. »Ich danke Ihnen dafür.« Dahl ging. Er fuhr kurz in seinem Büro vorbei, gab letzte Anweisungen, ließ sich dann in seine Wohnung bringen und packte seinen Koffer. Dabei kam ihm die Idee, Gisela Heske anzurufen. »Ich fahre ein paar Tage in den Schwarzwald. Warum kommst du nicht mit? Dein Alter hat doch sowieso keine Zeit für dich!« Da hatte er recht. Und Rohloff saß irgendwo im Gefängnis. Genaues wußte man noch nicht, und Rolf hielt eisern den Mund. »Okay«, sagte sie, »ich komme mit. Wie lange bleiben wir?« »Vier, fünf Tage.« »Fein, ich packe, holst du mich ab?« 257
»In einer Stunde. Ist dir das recht?« »Alles klar!« Sie rief ihren Mann an: »Ich fahre vier, fünf Tage in Urlaub. Ich muß einfach einmal ausspannen, und du kommst ja doch nicht dazu. Bist du einverstanden?« Immer wenn er mit Gisela sprach, hatte Rolf Heske ein schlechtes Gewissen. Er hatte innerlich noch gar nicht realisiert, daß sie ja jetzt seine Frau war. So sagte er nur: »Okay. Liebling. Mach dir ein paar schöneTage und erhole dich gut. Wir haben so wenig Zeit füreinander.« Da hatte er recht, aber diese Feststellung alleine machte die Ehe deswegen auch nicht zu einer wirklichen Ehe. Peter Dahl war pünktlich. Er fuhr einen schnellen de Tomaso, das war sein Hobby. »Das Ding ist teurer, als ich es mir eigentlich leisten kann. Aber ich komme von dem Wagen nicht los.« »Ich freue mich, Peter, daß du mich mitnimmst. Ich habe Bonn bis oben hin dick und satt, ich kann es dir gar nicht sagen. Laß uns das alles einmal vergessen und wirklich nur Menschen sein.« »Genau das habe ich vor«, sagte Peter Dahl. »Hast du Rolf Bescheid gesagt?« »Natürlich, meinst du, ich will ihm durchbrennen, nachdem ich ihn gerade erst geheiratet habe?« »Nein, so habe ich das nicht gemeint. Nur …«, er zögerte etwas, »… das hier ist ja so etwas wie deine Hochzeitsreise …« Sie sah ihn von der Seite an. Eigentlich sah er recht gut aus. Nicht wie Rohloff, ganz anders, eigenwilliger, verbissener, aber nicht ohne Charakter. »Gut«, lachte sie, »machen wir meine Hochzeitsreise!« Sie dachte an das, was Helmut Rohloff ihr gesagt hatte, und ging direkt auf ihr Ziel los. Noch in dieser Nacht schlief sie mit Peter Dahl und genoß es physisch wie psychisch.
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Die Sender waren ins Schleudern gekommen. Der Ausfall Rohloffs bereitete ihnen Probleme und Sorgen. Schließlich war der Moderator nicht irgendwer, sondern der Bundesdeutschen liebstes Kind. Aus Köln und Mainz wurde Knorr mit Fragen von Intendanten, Programmdirektoren und Regisseuren überfallen, die alle den gleichen Tenor hatten: »Wann wird Rohloff wieder zur Verfügung stehen?« Schließlich war das auch eine Frage der Programm-Planung. Und Dieter Knorr entzog sich einer direkten Antwort immer dadurch, daß er ans Justizministerium verwies. Aber die konnten oder wollten auch nicht mit konkreten Informationen weiterhelfen. So ergab sich die Frage, ob man die Rohloff-Sendungen ausfallen lassen sollte oder von einem anderen moderieren ließ. Man fragte Hannes Morlock vom Bonner Büro. Schließlich kam der junge Journalist aus der Unterhaltung, hatte schon vor der Kamera gestanden und zusammen mit Rohloff einige Sendungen von bester Qualität gestaltet. Und Morlock – der seine Chance blitzschnell erkannte – sagte: »Ich stehe zur Verfügung!« So lief am Samstagabend zur besten Sendezeit um 20.15 Uhr das erste Gespräch Morlocks ›Untervier Augen‹ über den Bildschirm. Als Partner hatte sich Morlock Dieter Knorr ausgesucht und dieser hatte nach Rücksprache mit dem Kanzler zugesagt. Einen besseren Einstieg hätte sich Morlock nicht wünschen können, denn natürlich erwartete jedermann, daß jetzt über Rohloff gesprochen würde. Knorr und Morlock lösten das Problem diplomatisch. Dieter Knorr gab als Sprecher der Bundesregierung ein Statement ab, aus dem hervorging, daß Helmut Rohloff verdächtigt wurde, Staatsgeheimnisse preisgegeben zu haben, und daß die Bundesregierung beim derzeitigen Stand der Ermittlungen nichts sagen könne und auch nicht die Absicht habe, sich in ein schwebendes Verfahren einzuschalten. Dann machte Knorr einen eleganten Schlenker, sagte: »Wir alle haben Helmut Rohloff in seinen Sendungen bewundert und sie mit großem Vergnügen gesehen. Wenn aber die erhobenen Beschuldigungen zutreffen, so ist mit der Verhaftung Rohloffs klar nachgewiesen, daß sich dieses Land auch nicht von sogenannten ›Prominenten‹ 259
in Gefahr bringen läßt. Auch sie müssen sich der Verantwortung für ihre Taten stellen!« Dann sprach er über die kommenden deutsch-französischen Konsultationen, über die neuerliche Anhebung der Renten – die die Bundesregierung gegen die Opposition leicht durchgesetzt hatte –, sprach über den Airbus AB-104, den der Kanzler soeben erst dem amerikanischen Präsidenten vorgestellt habe und der eine neue Ära des Tourismus eröffnen würde, er sprach von der Anhebung des Kindergeldes und dem Bemühen der Regierung, die Vier-TageWoche im Einvernehmen zwischen Gewerkschaften und Unternehmern zu erreichen – Themen also, die alle auf ein breites Interesse stießen. Und Hannes Morlock verstand es blendend, seinen Gesprächspartner zu immer neuen Informationen zu animieren. Er unterbrach nie, stellte die Zwischenfragen präzise und kurz, ließ seinen Partner sich profilieren und traf damit genau das Interesse der Zuschauer. Nach der Sendung liefen im Funkhaus die Telefone heiß, Gratulationen kamen herein, Lob, natürlich auch hier und da leichter Tadel und die unvermeidlichen Meckereien, aber insgesamt ein Echo, mit dem weder Intendant noch Programmdirektor gerechnet hatten. Der Regisseur der Sendung wischte sich beim Nachspann den letzten Angstschweiß von der Stirn, drückte der Bildmischerin dankbar die Hand und sagte: »Ein neuer Star ist geboren, Morlock heißt er!« Auch Heinrich Müller hatte sich die Sendung mit seiner Frau im Kanzlerbungalow angesehen. Er machte sich dabei emsig Notizen und nahm sich vor, Knorr gleich morgen den Auftrag zu geben, diesen jungen Mann mit allen legalen Mitteln zu fördern. Inge, die das Kind persönlich zu Bett gebracht hatte, fragte ihren Mann: »Wie lange willst du Rohloff schmoren lassen?« Heinrich hatte sie weitgehend informiert. »Bis wir aus Paris zurück sind. Und dann werden wir ihn zum Schweigen vergattern müssen, vorher können wir ihn nicht freilassen. Aber wenn dieser junge Mann …«, er deutete auf den jetzt wieder abgeschalteten Fernseher, »… so weitermacht, ist Rohloff in vierzehn Ta260
gen vergessen. Unsere Zeit ist schnellebig, und jeder Tag bringt andere Sensationen, und dieser Morlock scheint mir der Mann zu sein, der den Fernsehkönig Rohloff stürzen kann.« »Rohloff war unser Trauzeuge«, versuchte Inge ein gutes Wort für den Moderator einzulegen. »Ja, aber das gibt ihm nicht das Recht, Interna – gleich, wo er sie her hat – von solchem Geheimhaltungsgrad zu verbreiten.« »Vielleicht wollte er euch nur informieren, daß er es weiß. Und vielleicht ist er bereit zu sagen, woher er es weiß?« »Das ist schon möglich …«, Heinrich Müller nickte zustimmend mit dem Kopf, »… aber vielleicht wollen wir es gar nicht so schnell wissen. Ich habe mit Dieter Knorr gesprochen, und darum war diese Sendung heute so wichtig. Wenn Rohloff nur vier Wochen nicht am Bildschirm erscheint, ist sein Einfluß weitgehend gebrochen. Die Intendanten werden sich gründlich überlegen, ob sie diesen jungen, unbescholtenen Mann wieder aus den Sendungen nehmen und dem etwas anrüchigen Rohloff wieder zur Macht verhelfen sollen. Es bleibt immer etwas hängen, und das ist es, was sich gerade Fernsehanstalten nicht erlauben können. Noch nicht mal die privaten. Zudem trifft es keinen Armen, Rohloff wird für die Sender nicht zum Sozialfall. Er hat sich zuletzt einfach zuviel herausgenommen. Jetzt spürt er einmal am eigenen Leib, wie das ist, wenn man einen Menschen am Boden zerstört, wie er das Dutzende Male getan hat.« »Heinrich!« sagte Inge Müller vorwurfsvoll, »so solltest du nicht reden. Das ist kleinbürgerliche Schadenfreude, davon solltest du dich freimachen!« Er grinste schuldbewußt. »Es tut mir leid, Inge. Ich komme aus dem Kohlenpolt und habe von frühester Jugend an gesehen, wie das ist, wenn einer sich krummlegen muß, um sich und seine Familie zu ernähren. Rohloff hat in seinen Gesprächen ›Unter vier Augen‹ manche Existenz vorsätzlich und fahrlässig vernichtet, weil er keine Ahnung davon hatte, was es heißt, ohne Existenzgrundlage zu sein. Er kommt aus einem reichen Haus, hat niemals echte Sorgen gehabt, dafür aber die Arroganz und das Selbstverständnis, etwas Besseres zu sein. Das 261
habe ich an ihm zu kritisieren, und von dieser Meinung wirst auch du mich nicht abbringen, Inge.« Sie lenkte ein, denn sie merkte, daß sie hier einen empfindlichen Nerv ihres Mannes getroffen hatte. »Verzeih, Heinrich. So habe ich es nicht gemeint. Komm, laß uns zu Bett gehen, du hast morgen einen anstrengenden Tag!« »Wann habe ich den nicht?« sagte Heinrich Müller, und seine Frau sah ihn besorgt an. Zum ersten Mal wirkte er sehr müde.
Der Kanzler hatte Kamphausen und Lamprecht nach Bonn bestellt und auch Heske zu einer geheimen Konferenz gebeten. Es ging um den beschleunigten Ausbau der ›Schnellen Brüter‹ an den Ostgrenzen. Von der Industrieseite waren die RWE und die Bayerische Kraftwerk Union in den Bau und die Finanzierung eingeschaltet. Sie würden später auch die Nutzung der Kraftwerke haben. Das Thema war schnell durchgesprochen, da sowohl die nüchterne Art des Kanzlers wie die präzisen Angaben Lamprechts einander ideal ergänzten. Insgeheim spielte Müller schon mit dem Gedanken, sich diesen Lamprecht eines Tages als Staatssekretär ins Kanzleramt zu holen. Er zögerte nur, weil er nicht gerne Ehepaare in der gleichen Dienststelle beschäftigte, und auf Krümel konnte und wollte er nicht verzichten. Dann kamen sie auf die Versuche mit dem Plutonium zu sprechen. »Wie weit sind wir da, Herr Kamphausen?« »Die Dinge stehen gut. Wir haben die SZS-1 in die Zeche Prinz-Eugen verlagern können, und somit steht jetzt das ganze unterirdische Werk II für die Versuche zur Verfügung. Die Versuche mit dem radioaktiven Transuran sind zufriedenstellend verlaufen, so daß der für die Weihnachtsinseln vorgesehene Sprengstoff praktisch heute schon lieferbar wäre. Die kritische Masse von 5,6 Kilogramm, die wir für die Atomspaltung benötigen, ist von uns bei jedem Versuch exakt erreicht 262
worden. Die kontrollierten Kettenreaktionen verlaufen genau nach Plan, so daß wir auch die Energiemengen für die Großversuche jederzeit unter Kontrolle halten können …« »Was heißt das?« unterbrach ihn der Kanzler. »Das heißt, wenn ein Neutron auf einen Urankern prallt, dann spaltet sich dieser in zwei Teile. Daneben werden zwei oder drei Neutronen mit sehr hoher Energie freigesetzt, die dann in einem ausreichend großen Stück Uran aufs neue eine Spaltung bewirken. Dadurch wurde bisher eine sogenannte ›unkontrollierte Kettenreaktion‹ ausgelöst, die eine ungeheure Energiemenge freisetzte, entweder in winzigen Mengen im Beschleuniger oder in der Wasserstoffbombe.« »Wollen Sie damit sagen, daß es uns gelingen könnte, aus der unkontrollierten Kettenreaktion eine kontrollierte zu machen?« »Ich will eigentlich damit sagen, daß es uns gelungen ist, Herr Bundeskanzler!« sagte Kamphausen stolz. »Das ist eine sehr gute Nachricht, Herr Kamphausen. Kann ich das als eine offizielle Information betrachten, die ich in meinen Gesprächen mit dem französischen Präsidenten verwenden und den Amerikanern zuleiten kann?« Karl Lamprecht öffnete seinen Aktenkoffer und übergab dem Kanzler zwei rote Aktenordner, die rundum verschlossen waren und die Aufschrift ›Streng geheim – nur von Hand zu Hand übergeben‹ trugen. »Hier sind die detaillierten Unterlagen, Herr Bundeskanzler«, sagte er. Müller schob die Akten Heske zu. »Ich will, daß diese Unterlagen von Ihrem Ministerium unter besonderen Sicherheitsmaßnahmen verwahrt werden, Herr Heske!« Heske nickte zustimmend. Er war stolz darauf, dieses größte Geheimnis der Bundesrepublik – und vielleicht der Welt – in seinem Gewahrsam zu wissen. »Was machen die Schußversuche?« fragte der Kanzler weiter. »Sie meinen die SZS-1 …?« wollte Kamphausen wissen. Müller schüttelte den Kopf: »Nein, die Versuche mit diesem geschäumten Aluminium.« 263
»Da weiß mein Kollege Lamprecht besser Bescheid …«, gab Kamphausen das Wort weiter. Lamprecht sah den Kanzler an. »Diese Versuche sind abgeschlossen, und wir haben angefangen, alle militärisch genutzten Fahrzeuge der Bundeswehr schußfest zu machen, ein Prozeß, der etwa zwei Jahre in Anspruch nehmen wird. In alle Neufahrzeuge wird die Schäumung schon während der Produktion eingebaut.« »Wieweit sind Sie mit unseren amerikanischen Freunden?« »Ich werde morgen in die Vereinigten Staaten fliegen und zuerst in San Francisco mit der OMl, der Oakland Metal Industries, und meinem Freund Charly Benson beraten, inwieweit die IAAG sich an der OMl investitionsmäßig beteiligen kann. Sobald dies geklärt ist, treffe ich die zuständigen Militärs in Washington, verständige über das Ergebnis dieser Gespräche vereinbarungsgemäß unseren Botschafter in Washington und unseren Botschafter bei den Vereinten Nationen in New York. Ich nehme an, daß dies alles in den nächsten acht Tagen geklärt und zu unserer Zufriedenheit erledigt ist.« »Die Amerikaner würden dann unser System übernehmen, Herr Lamprecht?« Statt seiner antwortete Kamphausen: »Nicht nur die Amerikaner, wir haben uns mit allen NATO-Ländern auf den Einbau einigen können. Dadurch können wir zu sehr günstigen Preisen produzieren, was wiederum allen zugute kommt!« Das hörte sich alles gut an. Müller dachte daran, daß Kamphausen und der Bankier von Meiners sich dabei eine diamantene Nase verdienen würden. Aber dafür bekam er schnelle und brauchbare Ergebnisse. Ein Zeichen dafür, wie Macht und großes Geld Menschen zu Höchstleistungen motivieren können.
Kamphausen holte Karl und Hanne Lamprecht persönlich mit dem Wagen in Köln ab und brachte sie zum Flughafen in Wahn. 264
»Komm mir gesund zurück, Karl«, sagte Krümel und steckte ihm noch ein Päckchen Traubenzucker in den Mantel, bevor er von einem Fahrzeug des GSG 9 direkt zur wartenden Regierungsmaschine gebracht wurde. Karl Lamprecht winkte noch einmal zurück, dann wurden die Luken geschlossen. Hanne Lamprecht wurde von Kamphausen nach Bonn ins Kanzleramt gefahren. »Sie können stolz sein auf Ihren Mann«, sagte er, »ich hoffe nur, daß er mir nicht eines Tages vom Bundeskanzler abgeworben wird. Ich habe da so etwas läuten hören …«, klopfte er auf den Busch. Hanne Lamprecht lachte. Sie freute sich, daß ihr Mann ein so hohes Ansehen genoß. »Karl im Kanzleramt, das könnte ich mir überhaupt nicht vorstellen.« »Wenn es eine Frage des Geldes sein sollte, Frau Lamprecht, dann soll Ihr Mann ganz offen mit mir darüber reden. Sie wissen, daß ich nicht kleinlich bin.« »Eine Geldfrage ist das bestimmt nicht. Sie kennen Karl doch auch, Herr Kamphausen. Für ihn spielt Geld eine untergeordnete Rolle, erst einmal muß ihm die Arbeit Spaß machen, und das tut sie bei der IAAG. Im Kanzleramt hätte er doch nur trockene Büroarbeit zu erledigen, und das wäre nichts für ihn. Selbst wenn der Bundeskanzler solche Pläne hätte, glaube ich nicht, daß Karl darauf eingehen würde. Im Grunde seiner Seele ist er Arbeiter, und er muß immer sehen, was aus seiner Arbeit praktisch wird. Nur Pläne schmieden und sie politisch einsetzen, wie der Kanzler das muß, das wäre bestimmt nicht Karls Bier.« Sie waren vor dem Palais Schaumburg angekommen, und Kamphausen setzte sie ab. Dann fuhr er nach Düsseldorf und hoffte, daß die Regierungsrätin Hanne Lamprecht ihren Mann richtig einschätzte. Er hätte ihn wirklich ungern verloren.
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Karl Lamprecht wurde am Militärflughafen von Charly Benson mit seiner Cadillac-Version des PPKW abgeholt. Sie begrüßten sich herzlich, die gemeinsame Entwicklungsarbeit hatte sie auch menschlich zusammengeführt, und die Tatsache, daß die Deutschen so groß in die Erfindung Bensons eingestiegen waren, hatte diesem zu Ansehen und schnellem Reichtum verholfen. Als sie über die Oakland Bridge von San Francisco nach Oakland fuhren, sagte Benson: »Du hast einen schwerwiegenden Grund, warum du es so eilig hattest, hierher zu kommen?« »Ja, wir wollen in deinem Büro darüber reden …« Das neue Bürogebäude lag direkt an der San Francisco-Bay, und dadurch wehte immer ein angenehm kühler Wind vom Wasser herüber. Sonst aber war die Umgebung voll mit Industrieanlagen mittlerer Größe und entsprechender Eintönigkeit. Über dem flimmernden Wasser sah man die neu gewachsene Wolkenkratzer-Skyline von San Francisco und zum Meer hin die Golden Gate-Bridge. »Also schieß los«, sagte Benson, nachdem man ihnen Kaffee serviert hatte. »Ich fliege von hier nach Washington und habe dort Verträge zu besprechen, die die erweiterte Anwendung unserer gemeinsamen Patente im Rahmen der amerikanischen Streitkräfte betreffen. Uns werden Aufträge mit einem Gesamtvolumen von über zwölf Milliarden Dollar im Laufe von vier Jahren angeboten. Natürlich werden wir diese Aufträge annehmen. Unsere Produktionskapazität muß dadurch erheblich erweitert werden, und wir werden in der Bundesrepublik Schwierigkeiten haben, die notwendigen Kapitalien aufzutreiben. Dazu kommt, daß wir alle auszurüstenden Fahrzeuge erst nach Europa und dann wieder in die Staaten zurückschaffen müßten. Kamphausen und der Vorstand der IAAG hat mich deswegen beauftragt, mit dir darüber zu verhandeln, ob wir nicht gemeinsam ein Produktionswerk hier in Oakland errichten wollen, das nahezu zehntausend Menschen Arbeit geben würde. Das wäre für die OMI, für die Stadt Oakland und für Kalifornien unserer Meinung nach ein interessantes Projekt.« 266
»Wir wollten ja eigentlich nur auf dem Entwicklungssektor und als Konstruktionsbüro tätig werden«, meinte Benson. »Ich weiß, Charly. Aber als wir unsere Verträge gemacht haben, konnte keiner von uns wissen, welchen Stellenwert deine Erfindung innerhalb der militärischen Rüstung und der zivilen Sicherheit in so kurzer Zeit bekommen würde. Wir werden einfach von der Entwicklung überrannt.« Charly Benson war Erfinder und kein Manager eines Industriebetriebes. »Wer soll denn den Laden schmeißen?« fragte er. »Wenn du und deine Leute es nicht machen wollen, würden wir einige unserer Techniker und Kaufleute herüberschicken, die eure Landsleute anlernen könnten. Kamphausen und mir liegt an einer völlig fairen Partnerschaft. Zwischen Taylor und Kanzler Müller ist abgesprochen, daß wir alles tun, um den Vorsprung des Westens zu halten. Aber wer sagt uns, daß das so bleiben muß?« »Du hast recht«, sagte Benson, stand auf, ging zu einem in der Wand eingelassenen Panzerschrank, öffnete ihn und holte ein Stück geschäumtes Aluminium heraus, zeigte es Karl Lamprecht und fragte: »Weißt du, was das ist?« Lamprecht sah ihn erstaunt an: »Natürlich, geschäumtes Aluminium!« Benson nickte. »Richtig – und weißt du, woher ich das habe?« Er sah das verdutzte Gesicht seines Gesprächspartners und fuhr fort: »Ich will es dir sagen. Ein polnischer Geschäftsfreund hat es mir gestern mitgebracht. Er arbeitet bei den Volkseigenen Stahlwerken in der DDR, und nun frage ich mich, wie kommt die Probe dorthin?« Karl Lamprecht ließ sich seine Verblüffung nicht anmerken. »Es werden Proben aus Düsseldorf oder Oakland sein«, sagte er. »Aus irgendeinem Fahrzeug, das zu Bruch ging.« Benson schüttelte den Kopf: »Nein, weder noch, komm mit …«, sie gingen zusammen in ein angrenzendes Labor. Der Amerikaner steckte die Probe unter ein Mikroskop, stellte scharf ein und sagte: »Schau durch!« 267
Die Probe hatte eine etwas andere Struktur als die in Düsseldorf oder Oakland gefertigten Teile. »Du meinst?« fragte Lamprecht. »Ich meine, daß die Leute drüben irgendwie an die Sache herangekommen sind und jetzt daran arbeiten. Natürlich fehlt ihnen das Know-how, aber das ist jetzt auch wirklich unser einziger Vorsprung, den wir noch haben. Wenn wir also hier in Oakland produzieren sollen, müßten wir die Fabrik geradezu in Windeseile aus dem Boden stampfen, wenn uns der Osten nicht überrollen soll.« »Du wärst also einverstanden?« »Ja, im nationalen Interesse!« »Weiß die amerikanische Regierung von dieser Ost-Probe?« »Bis jetzt nicht. Ich habe sie erst gestern bekommen und dachte, du wärst deswegen auf dem Wege nach hier. Natürlich müssen wir das Pentagon und die CIA verständigen …« »Charly …« Lamprecht nahm das geschäumte Aluminium aus der DDR in die Hand und legte es nachdenklich auf den Tisch, »… ich wäre dir dankbar, wenn wir das Pentagon und die CIA erst verständigen würden, wenn ich die Verträge für unsere Lieferungen in der Hand habe. Das wird übermorgen sein. Nicht, daß ich glaube, daß es die Abmachungen gefährden würde, aber du sagst ja selbst, daß der Bau der neuen Produktion hier in Oakland praktisch sofort aufgenommen werden müßte. Wenn die Regierungsbürokratie erst Wind von dieser Sache bekommt …«, er zeigte auf die Ost-Probe, »dann können Monate mit unnötigem Hin und Her vergehen. Die Geheimdienste werden sich einschalten und anstatt zu produzieren, werden wir in Verhören und Verhandlungen sitzen. Das alles können wir vermeiden, wenn wir die Sache zwei Tage unter uns lassen.« Benson dachte nach. Was Lamprecht da sagte, war im Grunde richtig. Und er war schließlich nicht nur Amerikaner, sondern auch Geschäftsmann. Es wäre zum derzeitigen Zeitpunkt wirklich Unsinn gewesen, ein großes Geschäft durch zu große Vorsicht platzen zu lassen. »Ich mache dir einen Vorschlag: Warum nimmst du die Probe nicht mit nach Washington, und wenn du alles unter Dach und Fach hast, 268
legst du sie ihnen auf den Tisch und empfiehlst ihnen, sich damit zu amüsieren? Selbstverständlich stehe ich zu jeder Auskunft zur Verfügung.«
Sie verabredeten sich für den nächsten Morgen. Lamprecht hatte alle Vertragsentwürfe mitgebracht, und Benson hatte gute Anwälte, die sie noch in der Nacht auf Herz und Nieren prüfen würden. So war es verabredet. Und so wurde es auch durchgeführt. Die OMI unterzeichnete am nächsten Morgen das Kooperationsabkommen, die Verträge über die neue Gesellschaft, an der die Industrie-Anlagen AG mit fünfzig Prozent beteiligt sein würde, die Produktions-Zeitpläne und das Akquisitionsabkommen. Was die OMI nicht wissen konnte und auch nicht wissen mußte, war, daß die deutsche Investition zu neunzig Prozent aus Bundesmitteln und zu zehn Prozent aus den Privatschatullen der Herren von Meiners und Kamphausen kam. Benson brachte ihn zum Flughafen. »Es macht Spaß, mit deinen Leuten und mit dir zu arbeiten«, sagte er zum Abschied. Und auch Karl Lamprecht mußte sich zugeben, daß dieser Benson ein feiner Kerl war. Lamprecht war um neun Uhr gestartet, flog aber gegen die Zeit, so daß es schon dunkel wurde, als die Maschine in Washington landete. Ein Lincoln-PPKW des Pentagon stand bereit und wartete auf ihn. »Mister Lamprecht?« fragte der Fahrer. Dann fuhren sie los, und Lamprecht wurde in den innersten Kern dieses gewaltigsten Verteidigungs-Verwaltungs-Apparates der Welt gebracht. In einem nüchternen Konferenzzimmer, das durch die Fahnen der USA und der NATO-Verbündeten etwas Farbe erhielt und wo von einer Wand ein gedrucktes Porträt von Präsident Taylor herablächelte, empfingen ihn die Chefs der Zeugämter, der logistischen Abteilungen 269
und des NATO-Haushaltes. Die Herren waren fast durchweg in Uniformen gehüllt, mit Orden übersät, und alle, auch die Zivilisten, sahen bedeutend aus. Vier-Sterne-General Winters war der Verhandlungsführer, und Lamprecht hielt seinen im Flugzeug noch einmal sorgfältig überdachten Vortrag. Er bestach durch die Präzision seiner Auskünfte, durch die Möglichkeit, sich auch in der englischen Sprache verständlich auszudrücken, und durch die Logik der vorgelegten Pläne. Im Prinzip war das Pentagon seit Monaten auf dem neuesten Informationsstand und laufend unterrichtet worden. Lamprechts Vortrag war mehr der Schlußpunkt für eine im Prinzip längst beschlossene Sache. Der Präsident selbst hatte sich dafür eingesetzt, so daß General Winters nach einer Stunde mit der nur Militärs eigenen Überheblichkeit sagen konnte: »Wir danken Ihnen für die Informationen, ich denke, daß wir morgen die Verträge mit Ihrer Firma unterschreiben können. Wir werden Sie gegen neun Uhr im Watergate-Hotel abholen lassen. Ist Ihnen das recht?« Lamprecht war einverstanden, ließ sich ins Hotel fahren, rief seine Frau in Köln an, die er mitten aus dem Schlaf holte (dort war es weit nach Mitternacht), entschuldigte sich für die Störung, berichtete, daß alles nach Plan laufen würde, und fragte sie dann: »Weißt du was, Schatz? Ich werde voraussichtlich am Freitagmorgen zurückkommen. Warum machen wir uns nicht ein langes Wochenende, wenn alles gut abgelaufen ist?« »Das wäre ganz wunderbar, Liebling«, sagte Hanne Lamprecht und freute sich über ihren Mann, der sie nie vergaß. Sie liebte ihn wirklich aus ganzem Herzen.
Die Vertragsunterzeichnung am nächsten Morgen verlief fast so problemlos wie bei Charly Benson in Oakland, nur war hier im Pentagon alles viel bedeutender und der Kaffee dafür schlechter. Dann mußten unzählige Hände geschüttelt und fast zwei Stunden über Fertigungs270
termine geredet werden. Endlich kam die Stunde des Abflugs. Das war gegen Mittag, und selbstverständlich stellte man Lamprecht einen Wagen zur Verfügung, der ihn zur Deutschen Botschaft brachte, wo ihn der Botschafter persönlich empfing. »Ich bin angewiesen, Ihnen jede Unterstützung zu geben«, sagte der. »Exzellenz, ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir zwei gleichlautende Fernschreiben an den Herrn Bundeskanzler und an den Herrn Sicherheitsminister absetzen könnten.« Er zog ein vorbereitetes Papier aus der Tasche, das im Coderaum sofort verschlüsselt und dann abgesetzt wurde. In der Zwischenzeit informierte Lamprecht den Deutschen Botschafter über Inhalt und Tragweite der Verträge, versicherte, daß dies alles streng vertraulich zu behandeln wäre und daß hierdurch die an sich schon enge Zusammenarbeit zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten noch weiter ausgebaut würde. Er sei zudem beauftragt, dies auch dem Deutschen Botschafter bei den Vereinten Nationen in New York mitzuteilen, und das noch heute. Für den nächsten Tag war eine Vollversammlung der UNO angesetzt, deswegen mußte Lamprecht gleich weiter. Ein Botschaftswagen – ebenfalls ein PPKW, diesmal natürlich wieder ein Mercedes – brachte ihn zum Militärflughafen. In New York ließ er sich zuerst ins altehrwürdige Waldorf-AstoriaHotel – dem Flaggschiff der Hilton-Gruppe – bringen, packte seinen Koffer aus und ließ sich dann mit dem deutschen UN-Botschafter verbinden. Der schickte ihm auch einen Mercedes-PPKW, ließ sich Bericht erstatten und war stolz auf sich und die Bundesrepublik angesichts der eben erhaltenen Informationen. Mit denen konnte er in den nächsten Tagen anläßlich der Vollversammlung schon etwas anfangen. »Wieweit bin ich berechtigt, von diesen vertraulichen Informationen Gebrauch zu machen?« fragte er sicherheitshalber. »Darüber bin ich nicht befugt zu entscheiden, Exzellenz. Mein Auftrag war nur, Sie zu informieren. Aber da der deutsche Außenminister sicherlich heute hier erwartet wird, nehme ich an, daß er Direktiven vom Bundeskanzler mitbringt.« 271
»Sie werden recht haben«, meinte der Botschafter. Auch ihm lehnte Lamprecht eine Einladung zum Dinner ab und ließ sich zum Waldorf zurückfahren. Dort wartete er genau bis sieben Uhr abends, dann verließ er das Hotel, bestieg ein Taxi, das ihn zum Rockefeller-Center brachte. Dort schlenderte er ein wenig herum, ging dann zum Ausgang zur Fifth Avenue und ließ sich im abendlichen Menschenstrom dahintreiben. An der Ecke zur 59. Straße stieg er wieder in ein Taxi ein, das langsam vom Barbizon Plaza heranrollte. »Ich muß zur Wall Street 16.« »Sehr wohl, Sir. Finden Sie nicht, daß es in New York viel zu heiß ist?« sagte der Fahrer, ein Neger. »Doch. Aber in Cuba ist es noch wärmer«, sagte Lamprecht zusammenhanglos. »Sie heißen Karl?« sagte der Fahrer. Lamprecht nickte. »Und Sie Washington Lewis.« Der Fahrer grunzte etwas und änderte die Richtung. Sie fuhren die 42. Straße entlang, überquerten den East River und fuhren fast eine halbe Stunde durch die gleichförmige Häusermasse von Queens, bis sie, schon in der Nähe des J.F. Kennedy-Airports, in eine wenig erleuchtete Straße einbogen, die von alten Ulmen gesäumt war. »Forrest Hills. Dort drüben sind die Tennisplätze.« »Wie interessant«, sagte Lamprecht. Sie hielten vor einer Garageneinfahrt, die langsam aufging. Im Durchfahren konnte Lamprecht erkennen, daß die Garagentür mindestens einen halben Meter dick war. Dann blieben sie stehen. Der Fahrer stieg aus, machte den Schlag auf. »Folgen Sie mir«, sagte er. Karl Lamprecht ging hinter dem Negerchauffeur her, sie passierten zwei, drei Stahltüren, die wie durch Zauberei aufgingen und sich hinter ihnen wieder schlossen, dann standen sie in einem kleinen, weißgestrichenen Konferenzraum. Der Fahrer verschwand, und einen Augenblick war Lamprecht allein. Dann kam von irgendwoher eine unpersönliche Stimme. »Bitte gehen Sie bis in die Mitte des Raumes und bleiben sie dort stehen«, sagte 272
die Stimme. Sie sprach deutsch mit einem deutlichen sächsischen Akzent. »Schauen Sie jetzt hoch«, sagte die Stimme. Lamprecht gehorchte, schaute zur Decke, die aus Milchglastäfelung bestand. Zwei-, dreimal flammte ein Licht auf, dann sagte die Stimme »Danke!« Karl Lamprecht wartete noch ein paar Minuten, dann ging plötzlich eine Tür auf. Lamprecht kannte zwei der drei Männer, die hereinkamen. Der eine war sein Führungsoffizier, damals Major und jetzt General Klein. Der andere sein Verbindungsmann, den er auch schon mehrere Jahre nicht gesehen hatte, Hauptmann Mader. »Verzeihen Sie das Affentheater, Genosse Lamprecht«, sagte der General, der ebenso wie die beiden anderen Herren in Zivil war. Er deutete kaum wahrnehmbar auf den Dritten. »Kennen die Herren einander?« »Nein.« Lamprecht mußte ein Lachen verbeißen. Es war sicher nur der Tatsache zu verdanken, daß sie hier auf amerikanischem Boden waren, daß der General im Staatssicherheitsdienst der DDR zu einem Untergebenen Herr sagte. Der General zögerte. Der dritte Mann war mittelgroß, weißhaarig und sah unverkennbar jüdisch aus. Er schaute Lamprecht prüfend an, nickte dann kaum merklich. General Klein lächelte förmlich. »Generaloberst Wolf, darf ich Sie mit Oberst Karl Lamprecht bekannt machen – unserem Mann in Bonn.« Lamprecht wollte etwas sagen, aber der General sprach schon weiter. »Sie haben schon recht gehört. Das Zentralkomitee hat Sie wegen Ihrer Verdienste um den Sozialistischen Arbeiterstaat zum Oberst im Staatssicherheitsdienst befördert. Ich freue mich besonders, Ihnen hier meine Glückwünsche überbringen zu können.« Er lachte breit, wurde dann wieder förmlich. »Der Genosse Generaloberst hat wegen der immensen Wichtigkeit des Falles die Führung selbst übernommen.« Der weißhaarige Herr sagte mit überraschend leiser Stimme nur vier Worte: »Berichten Sie, Genosse Oberst!« Lamprecht berichtete über seine Mission bei der OMI und im Pentagon, sprach von der Ost-Probe, die ihm Charly Benson mitgegeben 273
hatte, worauf ihn Klein unterbrach: »Haben Sie die Probe den Amerikanern gegeben?« »Nein, natürlich nicht, aber ich muß spätestens morgen Benson deswegen Bescheid sagen …« »Das ist eine üble Geschichte«, meinte Klein. »Wie kommt Benson an das Material?« »Durch einen Polen«, sagte Lamprecht. Als Karl Lamprecht dann aber sagte: »Der Kanzler Müller will seine Atombomben-Versuche im Frühjahr zusammen mit den Franzosen auf den Weihnachtsinseln starten«, wurde die Unterhaltung brisant. Generaloberst Wolf ließ sich umfassend informieren, das dauerte über zwei Stunden. »Und sie haben die Kettenreaktionen voll unter Kontrolle?« »So ist es!« »Dann brauchen wir die Pläne, alle und restlos. Sie müssen sie beschaffen, Genosse Lamprecht.« »Das ist nicht leicht. Es gibt nur drei Ausfertigungen, eine hat das Kanzleramt und eine das Sicherheitsministerium, da kommen wir nicht dran.« »Und Ihre Frau?« »Hanne? Nein, allein hat sie auch keine Chance …« »Ist das alles?« fragte General Klein. »Nein. Die dritte Ausfertigung liegt im Tresor der IAAG.« »Also brauchen wir die Pläne der IAAG«, entschied der Generaloberst. »Sie wissen, was das bedeutet?« Klein seufzte. Er mußte seinen besten Agenten in Westdeutschland aufgeben. Nach dieser Geschichte war Lamprecht enttarnt. Nur Kamphausen und Lamprecht konnten einzeln an den IAAG-Safe. Ein Zustand, der schon lange geändert werden sollte, was Lamprecht aber immer durch irgendwelche Ausreden hatte verhindern können. »Wann holen Sie die Pläne?« fragte der Generaloberst. Lamprecht hatte sich bereits überlegt, wie er vorgehen wollte. »Am Freitag«, sagte er. »Der Betrieb schließt um ein Uhr, ich werde kurz vor 274
eins in mein Büro gehen, warte dann, bis Kamphausen wegfährt, hole die Pläne aus dem Safe, fahre direkt nach Lohhausen zum Flughafen, wo ich vorsorglich zwei Plätze nach Berlin gebucht habe. Die Maschine fliegt um 13.45 Uhr und landet in Tegel gegen 15.00 Uhr. Dort muß mich ein Fahrer mit Westberliner Kennzeichen abholen, der uns direkt über die Kontrollstelle Heinestraße in die Hauptstadt bringt. Es muß klar sein, daß wir dort direkt weiterfahren können, damit ich meiner Frau später alles erklären kann.« »Sie wollen Ihre Frau mitnehmen?« Wolf sah ihn nachdenklich an. »Jawohl, Herr Generaloberst!« »Aber Sie brauchen sie doch jetzt nicht mehr …?!« »Ich werde sie jetzt mehr brauchen als je zuvor. Ich liebe sie«, sagte Lamprecht.
Sie brachten Lamprecht genauso kompliziert fort, wie er hergekommen war. An der 42. Straße, beim UN-Building nahm er ein anderes Taxi und fuhr ins Hotel zurück. Eine Nachricht lag in seinem Fach. Der deutsche Außenminister war eingetroffen und wohnte in den Waldorf-Towers, wo die Bundesrepublik Deutschland ein ständiges Appartement gemietet hatte. Er wollte Lamprecht sprechen. Dieser machte sich direkt auf den Weg. Er mußte zum Hauptausgang hinaus, die Towers hatten eigene Eingänge. Am Eingang zur Suite wurde er auf Waffen untersucht und dann von einem GSG-9-Mann zum deutschen Außenminister gebracht. Als Karl Lamprecht in die Suite ging, mußte er unwillkürlich grinsen. Ein Glück, daß die DDRProbe bei General Klein geblieben war, die Detektoren hätten ihn sonst in einige Verlegenheit gebracht. Der Außenminister erwartete ihn bereits. »Herr Lamprecht?« fragte er. Sie waren einander noch nicht begegnet. Karl Lamprecht gab dem Außenminister der Bundesrepublik Deutschland die Hand, dann mußte er auch hier einen Bericht erstat275
ten. Fünf Personen waren außer dem Minister in dem kleinen Raum, ein Staatssekretär, ein Pressereferent, zwei persönliche Berater und der Botschafter. Der Bericht über die amerikanischen Aktivitäten der IAAG interessierte die Herren immens, und vor allem der Pressereferent machte sich dauernd Notizen. Einen Augenblick lang dachte Karl Lamprecht daran, was jetzt passieren würde, wenn er ihnen von der anderen Besprechung in Queens erzählte, aber dann sprach er so ruhig und klar wie immer weiter. Der Außenminister bedankte sich, als Lamprecht geendet hatte, gab sich dann einen Ruck. »Ich fliege morgen mit einer Concorde über Paris zurück. Hätten Sie Lust, mitzukommen?« Wieder hatte Karl Lamprecht einige Mühe, ernst zu bleiben. Dann schüttelte er sehr höflich den Kopf. »Leider geht es nicht. Ich habe vom Kanzler eine Regierungs-Maschine bekommen, die muß ich morgen in Wahn abliefern«, sagte er und freute sich an den verdutzten Gesichtern. »Wie Sie wollen«, sagte der Außenminister gerade noch höflich. Karl Lamprecht war entlassen.
Heinrich Müller war bester Laune. Jetzt, wo er vor dem Ziel seiner Wünsche stand, wurde er fast übermütig. »Wann kommt dein bestes Stück zurück, Krümel?« fragte er. »Morgen früh, und er hat mir versprochen, daß das Wochenende ganz alleine uns gehört. Sie sind in Paris, und wir werden uns zwei herrliche Tage machen, Herr Bundeskanzler!« »Das ist der Fluch der Politik, daß man sich die Termine nicht aussuchen kann, sondern von den Ereignissen getrieben wird«, meinte Müller und dachte daran, daß er schon lange keine zwei Tage mehr mit seiner Familie zusammen gewesen war. Insgeheim bewunderte er seine Frau Inge, die ganz in ihrem Kind aufging und niemals murrte. »Du hast es gut, Krümel!« »Sie sollten auch einmal wieder Urlaub machen …« 276
»Wann denn? Jetzt haben wir die Gespräche mit Giscard, dann kommen die Wahlreisen für die Neue Partei nach Europa, im Mai die Versuche auf den Weihnachtsinseln, anschließend der Wahlkampf in Bayern, wo ich dem Alpenkaiser Strauß am liebsten eine saftige Niederlage bescheren würde, dann ist die Präsidentenwahl, wo Werner Ladiges endlich auf den ihm gebührenden Stuhl kommt, und schon wird es ganz schnell 1992 sein, und die Bundestags- und Europawahlen werden mich auffressen.« Krümel wußte, daß er recht hatte und daß ihn auch niemand aus diesem Streß abziehen konnte. Man hätte Müller sein Liebstes genommen, das politische Management. Und das war nun einmal sein Leben und sein Hobby zugleich. Bei ihr selbst hatte sich eine fast unbemerkte Wandlung vollzogen. Sie ging noch immer gerne ins Amt und tat ihre Arbeit gewissenhaft. Aber sie war jetzt auch froh, wenn der Tag vorbei war, und sah – was sie früher nie getan hatte – öfter auf die Uhr, das Ende des Dienstes herbeisehnend. So hatte sie mehr und mehr Nachtarbeit auf Klara Werner abgewälzt, an die sich auch der Kanzler langsam gewöhnt hatte. Nachdem der Dr. Pöhlmann vom Verfassungsschutz sie außerdem der höchsten Überprüfung unterzogen hatte und diese positiv ausgefallen war, durfte sie nun auch Geheimsachen verwahren. Das bedeutete für Hanne Lamprecht, daß sie sich mit der Kollegin den Nachtdienst teilen konnte. Jetzt, wo der Kanzler so gut aufgelegt war, wagte sie die Frage: »Könnten wir nicht etwas für Fräulein Werner tun, Herr Bundeskanzler?« Müller sah sie verständnislos an. »Was denn?« »Ich glaube, sie würde auch gerne Beamtin werden«, meinte Krümel. Der Kanzler mußte lachen. »Krümel, Krümel, du bist hoffnungslos gutmütig. Wie lange bist du jetzt bei mir?« »Fast vierundzwanzig Jahre, Herr Bundeskanzler!« »Und Fräulein Werner?« »Seitdem wir hier im Bundeskanzleramt sind!« »Siehst du, das ist der Unterschied, Frau Regierungsrätin.« Krümel wollte gehen, als er ihr nachrief: »Krümel, du kannst ja ein277
mal mit dem Zins sprechen; wenn der eine Möglichkeit sieht, will ich nicht so sein …« Als Hanne das ihrer Kollegin erzählte, meinte diese: »Du bist prima, Hanne.«
Es war alles generalstabsmäßig organisiert. Die Kanzlermaschine startete um zehn Uhr mit den einschlägigen Ministern, mit Dieter Knorr und Rolf Heske, mit den Dolmetschern, und als Gast war Peter Dahl mitgekommen, der dem Kanzler auf dem kurzen Flug einen letzten Überblick über den Aufbau und die Organisation der Neuen Partei in Europa gab. »Können wir beruhigt in die Wahlen gehen?« fragte Müller. »Alvarez hat in Spanien bei Nachwahlen bereits sieben Rathäuser gewissermaßen im Handgalopp erobern können, bei Nachwahlen in Mailand ist uns ein Mandat in der Deputiertenkammer zugefallen. In Frankreich sind zwei Abgeordnete zu uns übergetreten. Schwierigkeiten haben wir in England, wo offene Angriffe in der Presse uns wegen der Verhaftung von Rohloff heftig kritisieren, von Zensur und Notstandsmaßnahmen wurde dabei geredet. Aber die Engländer tun eben seit 400 Jahren so, als hätten sie die Demokratie erfunden. Die Österreicher drängen geradezu, auch dort die Neue Partei zu etablieren, und ich bin sicher, daß wir dort einen überwältigenden Sieg erringen könnten …« »Ich möchte ungern die Neutralität verletzen. Natürlich wählen auch die Österreicher das europäische Parlament mit. Aber wenn wir jetzt dort auftreten, würde uns die Presse bald mit Hitler vergleichen. Das muß auf jeden Fall vermieden werden. So müssen wir Österreich vorerst noch dem Kanzler Goetz überlassen. Aber in dieser Richtung könnte man etwas unternehmen. Vielleicht sollten wir einmal mit dem Bundesobmann der ÖVP sprechen, der ist sicher für jede Wahlhilfe dankbar.« »Bestimmt …« 278
Als sie in Paris landeten, war des Kanzlers Laune womöglich noch besser geworden. Er war rundum informiert. Alle Dinge liefen programmgemäß, er hatte für das Gespräch starke Karten in der Hand und Präsident Taylor als Rückendeckung. Giscard würde sauer reagieren, das war zu erwarten. Aber Heinrich Müller war entschlossen, heute seine Ansprüche klarzumachen: Die Führung in Europa zu übernehmen. Im Elysée-Palast war ein kleiner Empfang vorbereitet. Nahezu alle Minister des französischen Kabinetts hatten sich eingefunden, inzwischen war auch der deutsche Außenminister aus New York eingetroffen, und man setzte sich an den großen ovalen Tisch, die Deutschen auf der einen, die Franzosen auf der anderen Seite. »Herr Präsident«, sagte Müller und dachte, daß Giscard alt, müde und abgespannt aussah, »wir haben heute ein Problem von weltweiter Bedeutung zu besprechen. Nach Rücksprache mit den Vereinigten Staaten haben wir die Kernspaltung so weit vorangetrieben, daß es nunmehr an der Zeit für eine Großversuchsserie ist. Sollte diese erfolgreich ablaufen –, und unsere Techniker garantieren das –, würde die Bundesrepublik Mitglied des A-Clubs und wäre das direkte Bollwerk gegen die Ostblockstaaten. Die Sicherung des Friedens wäre damit um ein weiteres und ein ganz entscheidendes Stück vorangetrieben worden, und zweifellos werden dann die Gespräche mit Moskau, Warschau, Prag und Pankow erheblich freundlicher. Mit den von uns im Bau befindlichen ›schnellen Brütern‹ entlang unserer Ostgrenzen können wir weite Teile der DDR, der Tschechoslowakei, Polens und der UdSSR mit Strom versorgen. Ein heute noch möglicher Krieg wäre dann ausgeschlossen, weil weder die UdSSR noch die USA angesichts der in der Bundesrepublik lagernden Plutoniumbestände von Gorleben oder Düsseldorf einen Krieg auslösen können. Da außenpolitische und militärische Auseinandersetzungen damit in den Bereich der Utopie gehören, werden sich die innenpolitischen und wirtschaftlichen Auseinandersetzungen verstärken. Und hier muß unser aller Ziel sein, den Gegnern immer um eine Nasenlänge voraus zu sein.« 279
Giscard nickte müde. Müller fuhr fort: »Die Bundesrepublik hat mit den von ihr entwickelten Sicherheitssystemen ihren Partnern bereits erhebliche Hilfestellung leisten können. Wir sind ebenso bereit, das Know-how auf anderen Gebieten weiterzugeben und damit zur wirtschaftlichen Einheit Europas beizutragen.« »Dafür sind wir immer dankbar«, sagte der französische Präsident. »Solch eine wirtschaftliche und industrielle Einheit erscheint uns aber nur sinnvoll, wenn sie ihre Absicherung auch im politischen Bereich erfährt.« »Das ist ganz meine Meinung«, replizierte der Kanzler. »Und das heißt nichts anderes, als daß das Europäische Parlament mit Vollmachten ausgestattet werden muß, die über die nationalen Interessen hinausgehen. Dies ist für einige unserer Freunde schwer zu verstehen, aber Deutschland fährt mit seinem föderalen Aufbau seit 1949 bestens und ist so praktisch ein Musterbeispiel für das Europa von morgen. Niemand will die kulturellen und regional bedingten Eigenständigkeiten der einzelnen Europa-Länder antasten, aber schon aus Zweckmäßigkeitsgründen müssen Verteidigung. Wirtschaft und Finanzen, müssen Innen- und Außenpolitik, Landwirtschaft und Arbeit einander angepaßt werden. Viel Zeit wurde durch Halbherzigkeit, Zaudern und Zögern verloren. An Ihnen, Herr Präsident, und an Frankreich wird es liegen, ob Europa jetzt gewonnen werden kann oder für lange verloren sein wird. Meine Partei wird sich dieser Frage und dieser zweifellos harten Auseinandersetzung stellen.« Giscard hatte genau verstanden, was Heinrich Müller wollte, eine starke, zentral verwaltete europäische Regierung mit föderaler Selbständigkeit der einzelnen Regionen und Heinrich Müller als Chef. Hier und heute wollte er genaugenommen nur die Giscardisten und Gaullisten auf seine Seite bringen, in der Hoffnung, damit den Sozialisten und Kommunisten Paroli bieten zu können. Giscard war klar, daß die Neue Partei in Europa nicht den gleichen Erfolg haben konnte wie in der Bundesrepublik. Dazu waren die Parteien in den europäischen Län280
dern und vor allem ihre Wähler politisch zu aufgeschlossen und feinfühlig, als daß sie auf so simple Versprechungen wie in Deutschland hereinfallen würden. Aber am erfolgreichsten ist eben noch immer der Erfolg, und den konnte man Heinrich Müller nicht abstreiten. Die ganzen schönen Worte des deutschen Kanzlers liefen also hier schlichtweg darauf hinaus, wer von ihnen beiden der erste Mann im Staate Europa sein würde. Und dann kam dazu, daß Heinrich Müller den Präsidenten der Vereinigten Staaten hinter sich hatte, der Giscard erst in einem langen Telefongespräch klargemacht hatte, daß er den relativ jungen Müller dem sensiblen und intelligenten Giscard vorziehen würde. Genaugenommen hatte er keine Wahl. Ursprünglich hatte er sich vorgenommen, mit Müller wenigstens ein politisches Geschäft zu machen. Die Neue Partei sollte in Frankreich auf eine Direktkandidatur verzichten. Bis ihm von seinen Behörden mitgeteilt wurde, daß Peter Dahls Arbeit gerade in Frankreich anfing, erhebliche Früchte zu tragen. In wenigen Wochen hatte die NPF – die Neue Partei Frankreichs – mehr Mitglieder gewonnen, als die Giscardisten jemals hatten. Unter diesen Umständen hätte ihm sein Wunsch bei Müller wahrscheinlich nur Hohngelächter eingebracht, und dieser Gefahr setzte er sich erst gar nicht aus. Was blieb ihm sonst? Er konnte den Deutschen die Versuche im Gebiet der Weihnachtsinseln versagen. Aber auch für diesen Fall hatte ihm Taylor schon gesagt, daß dann die Amerikaner einspringen würden. Also auch diese Waffe war stumpf. Blieb nur zu hoffen, daß Heinrich Müller wenigstens so fair sein würde, ihn zum Vizepräsidenten zu ernennen. Aber das war eine Frage, die besser unter vier Augen behandelt wurde. So bat Giscard um Unterbrechung und Konsultationen der einzelnen Fachminister untereinander. Er selbst zog sich mit Heinrich Müller in sein Privat-Kabinett zurück. »Herr Präsident«, sagte der Kanzler, »ich darf Sie meiner höchsten Hochachtung versichern und würde mich freuen, wenn unser langjähriges gutes Verhältnis in Europa auch zu einer intensiven Zusammenarbeit führen würde.« 281
»Das heißt, Sie würden …?« »Ich würde mich freuen, wenn Sie als der erste Präsident des Vereinigten Europas in die Geschichte eingehen würden.« Er machte eine Pause. »Nach drei Jahren ginge dann die Präsidentschaft auf die Bundesrepublik Deutschland über.« Dieser Müller war immer so direkt. Er machte keine diplomatischen Schlenker, sprach nicht von einer Berufung oder ähnlichem, sondern sagte schlichtweg, daß er Arbeit zu vergeben hätte. Vielleicht war das der neue Stil in der Politik, der Stil Giscard d'Estaings war es sicher nicht. Trotzdem mußte er antworten: »Ich bedanke mich für Ihr Vertrauen, Herr Bundeskanzler. Ich werde über Ihr Angebot nachdenken.« Man trennte sich am frühen Abend. Heinrich Müller hatte eine Sitzung der Ländervorsitzenden der Neuen Partei in Europa einberufen, auf der Peter Dahl den gemeinsamen Wahlkampf koordinieren wollte und zugleich die Wahlkampfplattform darstellen wollte. Bei dieser Gelegenheit traf Müller auch erstmals persönlich mit dem spanischen Vorsitzenden. Juan Caballo Alvarez, zusammen, der ihm indirekt schon eine Menge Dienste erwiesen hatte. Alvarez trug stolz die deutschen Orden im Knopfloch, und die beiden Männer verstanden sich auf Anhieb. Dann hielt Peter Dahl eine zündende und mitreißende Ansprache, die die Landesfürsten animierte. Zuletzt gab er den Slogan für die Wahlen in den einzelnen Staaten bekannt, der auch für Europa und die Neue Partei Gültigkeit haben sollte: ›Frieden-Arbeit und Wohlstand für alle!‹ Das klang vertrauenerweckend und erinnerte zwischen den Zeilen an die Bundesrepublik Deutschland und ihren einmaligen Aufstieg aus der Asche des Krieges zum drittmächtigsten Industriestaat der Welt. Entsprechend wurde er bejubelt. Später fragte Müller seinen Generalsekretär: »Das ist ein guter Slogan. Wer hat ihn gemacht?« »Wir haben ihn zwischen der Werbeagentur, den PR-Beratern und der Wahlkampfplattform vorbereitet, die Endfassung allerdings stammt von Helmut Rohloff, aber das müssen wir ja niemandem erzählen.« 282
Auf das Stichwort Rohloff hin ließ Müller Heske zu sich rufen. »Was machen wir mit ihm?« »Das beste wäre, wir würden ihn abschieben.« »Und wenn er sich nicht abschieben läßt? Er wird uns nicht gerade freundlich gesinnt sein.« »Wenn du einverstanden bist, stelle ich ihn vor die Wahl zwischen einem Schauprozeß wegen Hochverrats oder freiwilliger Auswanderung. Im ersten Falle könnte er, wenn er harte Richter findet – und dafür könnten wir sorgen –, mindestens zehn Jahre bekommen. Im zweiten Fall läge noch ein schönes Leben vor ihm. Verarmt ist er ja nicht.« »Nun gut, versuch's, wenn wir zurück sind.« Heske machte sich eine Notiz. Dieses Gespräch würde er selbst führen, und fast freute er sich darauf.
Am darauffolgenden Freitag geschah einiges, was die Republik innerlich erschütterte und kaum zu verdauen schien. Erst einmal aber begann der Tag gut – zumindest für Heinrich Müller in Paris. Der französische Präsident stimmte den Atombombenversuchen im Gebiet der Weihnachtsinseln zu und versprach dabei tatkräftige Unterstützung. Er unterzeichnete weiterhin einen geheimen Vertrag über die Anwendung der deutschen Computerprogramme zur Bekämpfung der Kriminalität und des Terrors. Mit anderen Worten hieß das nichts anderes, als daß in Zukunft auch in Frankreich jedermann per Computer erfaßt und sein Leben lang begleitet werden würde. Giscard traf zudem eine weitere interne Vereinbarung, daß – gleich, wie die Europawahlen ausgehen würden – er als Präsident für drei Jahre und der Kanzler als sein Stellvertreter in die europäische Regierung einziehen würden. Dann ging man zum Essen, und der Elysée-Palast bewies ein weiteres Mal den hohen Stand französischer Eßkultur. 283
Zu dieser Zeit waren Hanne und Karl Lamprecht auf dem Wege von Düsseldorf nach Berlin. Und Krümel hatte ihrem Mann auch nicht eine Sekunde lang mißtraut, als dieser von Verwandtenbesuchen sprach. Im Gegenteil, sie freute sich, diese ihr bisher unbekannte Stadt kennenzulernen. Sie wunderte sich auch nicht, als ein Westberliner Mercedes sie am Flughafen abholte und in die Stadt brachte. Stutzig wurde sie erstmals, als sie den Übergang Heinestraße passierten und ein DDR-Volkspolizei-Major die Hand an die Mütze legte und freundlich sagte: »Willkommen in der DDR, Herr Lamprecht!« »Der kennt dich?« fragte sie. »Es sieht so aus, ich erkläre dir das später.« Dann aber zeigte er ihr den Ostberliner Fernsehturm, den Alexanderplatz, die an ein gigantisches Pissoir erinnernden Hochhäuser der einstigen Karl-Marx-Allee und den neuen, nun schon wieder alten Alexanderplatz. Auch für ihn war vieles neu, und er war ein wenig stolz auf seinen Staat, als er die wachsende Prosperität beobachten konnte. Etwa zur gleichen Zeit flog auch Lamprechts geschiedene Frau mit ihrem Kind von Hannover nach Berlin-Tegel und wurde von dort ebenfalls nach Ostberlin gebracht.
Gegen vier Uhr nachmittags, als man sich in Paris gerade vom Kaffee erhob, kam über den Ticker des Bundeskanzlers eine Hiobsbotschaft. Wie es schien, war der neue Präsident der afrikanischen Republik Uganda, der ›Seine Majestät Franz Joseph den Zweiten von Bayern‹ vulgo Franz Joseph Strauß genannt, in seiner Münchner Residenz besucht hatte, seit den frühen Mittagsstunden spurlos verschwunden, und eben hatte ein Sender der Münchner ›Rote Brigade Eisner‹ über einen Geheimsender die Nachricht verbreitet, daß der Staatsbesucher sich in ihrer Gewalt befinde und daß die ›Rote Brigade Eisner‹ für seine Freilassung die Enthaftung sämtlicher in der Bundesrepublik inhaftierter Terroristen verlange. Anderenfalls würde der Staatsbesucher um Mitternacht hingerichtet. 284
Dazu müssen Leute, denen der Alpenstaat im Süden Deutschlands nur ein Urlaubsparadies ist, in dem Bier und Enzian fließt, wissen, daß Eisner der Ministerpräsident der Bayerischen Räterepublik war, der Anfang 1919 gegenüber dem Hotel Bayerischer Hof von dem jungen Nationalisten Graf Arco erschossen wurde. Nachdem der vom Ministerpräsidenten Franz Joseph Strauß eingesetzte Krisenstab nach den ersten Stunden noch völlig im dunklen tappte, hatte man sich in München entschlossen, Bundeshilfe zu beantragen. Kanzler Müller und sein Sicherheitsminister Heske waren für die Sache zuständig. Heske war zuerst skeptisch. »Das haben sich die da unten ausgedacht, um unsere Verhandlungen hier zu stören«, sagte er kopfschüttelnd. »Mag sein. Aber wir müssen so tun, als ob wir ihnen glaubten«, sagte Müller. Dann wurde es ernst: der Kanzler-Begleit-Reporter von ›BILD‹ brachte den über Video soeben eingelaufenen Andruck einer Sonderausgabe von BILD-München, in dem die Entführung des Afrikapolitikers – der auf dem Bild beinahe so aussah wie der 1980 erschossene Idi Amin – in zehn Zentimeter hohen Schlagzeilen als ›nationale Schande‹ bezeichnet wurde, wobei ungeklärt blieb, ob man damit die Entführer oder die Bundesregierung meinte. Jedenfalls schien das Reizwort ›Terroristen‹ wieder einmal die deutsche Öffentlichkeit zu beherrschen. Was für den Kanzler Müller schlimmer schien, war eine Notiz ganz unten auf der ersten Seite, auf die der Bild-Reporter genüßlich hinwies. Da hieß es, zwar versteckt und geschickt verklausuliert, aber für den Insider in seiner Brisanz sofort kenntlich, daß ›diese Greueltat offenbar in Zusammenhang mit kürzlich bekannt gewordenen Meldungen aus Teneriffa steht, nach denen der so überraschende Tod der Kanzlergattin Nr. 1 Elfriede Müller auch ein Werk der Terroristen gewesen war, daß Müller davon gewußt habe und daß er – aus persönlichen Gründen – damals auf die Untersuchung dieses Mordfalles verzichtet habe.‹ Und weiter hieß es, daß Rohloff nur einsäße, weil er dieses ›Staatsgeheimnis‹ aufdecken wollte. Heinrich Müller war aufgesprungen. »Das ist eine Gemeinheit!« rief er aus. 285
»Aber eine ungemein wirkungsvolle«, gab Dieter Knorr zu bedenken. Der Kanzler überlegte nur eine Sekunde. Dann hatte er begriffen, was auf dem Spiel stand. »Sofort einen Krisenstab zusammenstellen. Giscard muß dafür Verständnis haben, daß wir seine Kommunikationsmittel für einige Stunden in Anspruch nehmen. Schließlich hat er dafür ja auch ein Geschenk erhalten, der Herr Europäische Präsident«, sagte er. Dann, während Heske alles in die Wege leitete, stellte er sich dem Bild-Reporter zu einem Blitz-Interview. Gegen 18 Uhr trat der Kleine Krisenstab Kanzler – auch KKK genannt – im Elysée zusammen. Aus München waren inzwischen neue Nachrichten eingelangt. Danach hatten die hauptsächlich in Schwabing ansässigen Araber und Afrikaner – eine Kolonie von gut 500 meist im Nachtleben und im Drogenhandel tätiger ›Studenten‹ – beim Bekanntwerden der Nachricht eine Protestdemonstration losgelassen, die zunächst von der Bayerischen Staatsregierung offenbar unterstützt wurde, die aber dann rasch ausgeartet war, nachdem sich ihr die rund 100.000 Studenten der Münchner Universität samt Anhang angeschlossen hatten und die Straßen der Innenstadt und Schwabings in einen Hexenkessel verwandelt hatten. Offenbar war der schwarze Politiker in seinem Lande außerordentlich beliebt, und zum erstenmal bekam man in Mitteleuropa eine Ahnung davon, was es im Jahre 1989 hieß, einen Angehörigen der schwarzen oder braunen Rassen zu beleidigen. Hieß es zuerst »Freiheit für N'gabe!«, gingen die Rufe bald in ein »Nieder mit Strauß« über, und als die ersten Autos auf dem ›Boulevard Leopold‹ in Flammen aufgingen, hatten allgegenwärtige Agitatoren die Rufe in ein »Nieder mit Müller« umfunktioniert, das, vor allem nach Bekanntwerden der Teneriffa-Meldung, bald zu einem wahren Schlachtruf wurde und unter dessen Klängen teils Geschäfte geplündert und Autos angezündet wurden. Danach war die Situation offenbar außer Kontrolle geraten, und nachdem gegen 17.30 Uhr das im Herzen von Schwabing gelegene 286
Kaufhaus Hertie in Flammen aufgegangen war, wobei die Feuerwehr von Demonstranten am Löschen gehindert wurde, kam es zu Szenen von Breughelschem Format, die nachher als die ›Münchner Walpurgisnacht‹ in die Geschichte eingehen sollten. Unmittelbar darauf schien – offenbar zentral gesteuert – die Hölle in allen deutschen Universitätsstädten ausgebrochen zu sein. In Stuttgart zogen Zehntausende nach Stammheim. »Was jetzt?« Zum erstenmal war der Kanzler Müller unsicher. »Wir setzen unsere Sicherheitsstreitkräfte ein«, sagte Heske. Knorr brachte eine neue Meldung. »Sie wollen jetzt nicht mehr die Terroristen. Sie wollen nur noch die Freilassung von Rohloff!« sagte er und deutete auf eine Ticker-Meldung. »Wenn wir darauf eingehen …« begann Heske. »Sind wir verloren!« unterbrach ihn der Kanzler. Er deutete mit einem Platin-Füllfederhalter – einem Geschenk Präsident Taylors – auf Heske. »Herr Minister«, sagte er förmlich, und Heske zuckte zusammen, als er es hörte, »Sie fliegen sofort nach Stuttgart und bringen die Situation dort unter Kontrolle. Mit den anderen Sachen werden wir fertig. Aber das mit Rohloff – wenn wir die Medien nicht umgehend unter Kontrolle bringen, kann es schlecht aussehen. Verstanden?« »Ja. Aber, was soll ich …« Heske hatte sich noch immer nicht erholt. »Was kann ich Rohloff anbieten?« »Handeln Sie nach bestem Ermessen. Schließlich sind Sie der Sicherheitsminister. Auf meine Rückendeckung können Sie rechnen«, sagte der Kanzler scharf. In einem Regierungssitz wußte man schließlich nie, ob nicht jedes Wort für die Nachwelt verewigt würde. »Jawohl, Herr Bundeskanzler!« sagte Heske, der endlich begriffen hatte, und meldete sich ab. »Nun zu uns«, sagte Heinrich Müller zu seinem Pressechef. »Was schlägst du vor?« »Abwarten, was Heske in Stuttgart erreicht. Für alle Fälle drei oder vier Statements anfertigen – je nachdem. Und inzwischen abwarten und Tee trinken – und im übrigen so tun, als wäre nichts geschehen.« »Gar keine so schlechte Idee«, sagte der Kanzler und ließ sich mit 287
dem Präsidenten der französischen Republik verbinden. »Wir können weitermachen«, sagte er nur knapp.
Knorr hatte recht. Im Laufe des Abends kam es in einzelnen Städten – darunter merkwürdigerweise gerade in Frankfurt – zu weiteren Ausschreitungen, die aber abflauten, als bekannt wurde, daß der Ugandapräsident völlig überraschend wieder aufgetaucht war. Er war völlig unbeschädigt, nur etwas müde. Offenbar hatte er den Nachmittag in Gesellschaft einiger Damen verbracht – er lallte mit verklärtem Gesicht immer nur »kommt alle heran, alle zehn!«, und ebenso offenbar hatte eine Gruppe von politischen Witzbolden die ganze Sache arrangiert und das temporäre Verschwinden des Staatsgastes zu ihren Zwecken ausgenützt. Als Kanzler Müller aus der Sitzung mit Giscard kam, war alles mehr oder weniger vorbei. Es war weiter nichts als ein Wetterleuchten gewesen. Aber es hatte gezeigt, welche Gefahr in der permanenten Frustration der Jugend lag. In der Nacht flogen sie zurück nach Bonn, wo inzwischen die Ruhe wiederhergestellt war. Zur gleichen Zeit traf Heske in Stammheim ein. Er hatte warten müssen, bis sich die Demonstration verlaufen hatte, was zu Heskes Überraschung ziemlich plötzlich geschah, nachdem die Nachricht vom Wiederauftauchen des afrikanischen Präsidenten bekanntgeworden war. Man brachte Heske ohne Umweg direkt zur Zelle Rohloffs. Der Fernsehmann schlief fest und mußte mühsam geweckt werden. Als die Unruhen ausbrachen, hatte man ihm für alle Fälle ein Beruhigungsmittel gegeben, das noch immer wirkte. Aber er war ganz der alte, als er den Sicherheitsminister erkannte. »Sieh mal an, Herr Heske, wie geht es Ihnen?« sagte er und deutete mit der ausgestreckten Hand auf den schmalen Hocker: »Nehmen Sie doch Platz. Nicht sehr komfortabel hier, aber es ist zum Aushal288
ten. Was führt Sie mitten in der Nacht zu mir? Sie wollen mich doch wohl nicht freilassen? Tun Sie mir das nicht an, ich habe mich gerade so schön eingewöhnt, und das ist ein sehr gesunder Aufenthalt hier! Sie sollten sich auch mal für ein paar Jahre hier einmieten, dann fällt jeder Wohlstandsspeck von Ihnen ab, und Sie fühlen sich frisch und gesund. Was halten Sie davon?« Beißender Spott lag in der Stimme Rohloffs, der aus der Anklage wußte, daß Heske zum Kreis der Anzeiger gehörte. »Nehmen Sie sich zusammen, Rohloff …«, wollte Heske kommandieren. Aber da kam er bei dem Fernsehmann schlecht an: »Nehmen Sie sich zusammen. Herr Heske! Und nennen Sie mich nicht Rohloff, sondern Herr Rohloff! Noch bin ich nicht verurteilt und keine Nummer, wie Müller und Sie das wohl wollen. Meine Vernehmungen durch den Herrn Bundesanwalt sind abgeschlossen, und seitdem stehen mir – von einigen von Ihnen netterweise veranlaßten Einschränkungen abgesehen – die Rechte jedes anderen Häftlings zu. Das heißt, ich habe ein Recht auf meinen Schlaf, und darum möchte ich Sie jetzt bitten zu gehen. Morgen früh um sechs ist für mich die Nacht vorbei, und da muß ich fit sein für meine philosophischen Studien. Gute Nacht!« Rohloff legte sich wieder auf seine Pritsche und streckte Heske den Rücken zu. Dem Sicherheitsminister war die Szene peinlich. Er schickte den Direktor und den Wachbeamten hinaus, Rohloff machte keine Anstalten, mit ihm zu sprechen. Er knurrte nur: »Licht aus!« »Herr Rohloff …«, lenkte Heske ein. Rohloff drehte sich um und lachte ihn an: »Sie können's ja. Sie werden ja freundlicher, kaum zu glauben. Wissen Sie, Heske, wenn ich wollte, könnte ich Sie jetzt in die Fresse hauen oder Ihnen die Gurgel umdrehen. Verdient hätten Sie das, denn diese Nummer hier mit mir ist ein böses Bubenstück. Aber mich kriegt Ihr nicht weich, und eines Tages werde ich meinen Prozeß haben. Und dann wird sich die Öffentlichkeit anhören müssen – ob sie will oder nicht –, was ich zu sagen habe. Und das wird eine ganz hübsche Geschichte über bundesdeut289
sche Demokratie, über Macht und Größenwahn von Kleinbürgern Ihrer Couleur und von faschistischen Anwandlungen hinter den Fassaden und Kulissen einer nur scheinbar funktionierenden Bürokratie. Reicht das fürs erste?« »Ich muß etwas Ernstes mit Ihnen besprechen, Herr Rohloff!« »Ist Ihnen das hier nicht ernst genug?« »Es sind Gerüchte aufgetaucht, nachdem die Frau des Bundeskanzlers eines – sagen wir – nicht natürlichen Todes gestorben sein soll«, begann Heske. Rohloff setzte sich auf. »Ach, sieh mal einer an! Und – wie habt ihr sie umgebracht?« fragte er grinsend. »Also stecken Sie dahinter!« brauste Heske auf. »Wer steckt hinter was?« sagte Rohloff kopfschüttelnd. »Wenn Sie wirklich mit mir reden wollen, müssen Sie schon Klartext sprechen!« Heske sprach Klartext – soweit er es für nötig hielt. Von den Ereignissen, die in den Nachmittags- und Abendstunden die Bundesrepublik erschüttert hatten, sagte er nichts.
Als er geendet hatte, hob Rohloff die Schultern. »Nee. Mit all dem habe ich nichts zu tun. Ich habe bis jetzt geglaubt, der Bau einer Atombombe ist schlimmer als der mysteriöse Tod einer Kanzlergattin. Selbst wenn es nur ein Gerücht ist«, er wehrte den aufkeimenden Einwand Heskes ab. »Aber ich sehe, daß ich mich getäuscht habe. In diesem unserem Staat – so sagt Ihr doch immer – in diesem unserem Staat ist alles verbrecherisch, was eine weiße Weste beschmutzen könnte. Atombomben und solche Kleinigkeiten zählen dagegen weniger!« »Na, machen Sie mal halblang, Rohloff. Wenn wir uns einigen, können Sie hier rauskommen«, sagte Heske. »Wie nett, Heske«, gab der Fernsehmann zurück. »Und wohin? Nach Abu Dabi, in den Südjemen, nach der Teufelsinsel oder sonstwohin, wo sich die Füchse schon vor zweitausend Jahren gute Nacht gesagt haben? Oder einfach so – auf die Straße?« 290
»Darüber müssen wir sprechen, Herr Rohloff.« »Ach nein. Auf einmal. Wenn ich aber keine Lust habe? Wenn ich lieber möchte, daß ich meinen Prozeß bekomme? Wenn ich möchte, daß ihr öffentlich entlarvt werdet? Wenn ich euer dreckiges Spiel um die Macht entlarven will? Wenn ich den Weg eures Volkskanzlers Müller auf dem unaufhaltsamen Weg zur Macht publik mache? Auf dem Weg zur Diktatur – mit eurem Kanzlator Heinrich Müller!« Heske hatte dem Ausbruch Rohloffs unbewegt zugehört. Jetzt sagte er ganz ruhig: »Sie werden keinen Prozeß bekommen, Herr Rohloff. Entweder wir einigen uns, und zwar sofort, oder«, er ließ den Satz in der Luft stehen, in der etwas zu trockenen, vollklimatisierten Gefängnisluft von Stammheim.
Helmut Rohloff wurde zehn Minuten vor sechs Uhr morgens an diesem Samstag freigelassen und mit einem Hubschrauber nach Bonn gebracht, wo er die Schlüssel für seine Wohnung ausgehändigt erhielt. Heinrich Müller kam an diesem Samstagmorgen gegen acht Uhr zum Frühstückstisch, und seine Frau fragte ihn besorgt: »Hast du die Dinge noch fest im Griff?« Er sagte: »Ich glaube schon!« Rolf Heske ließ sich in seine Wohnung fahren, seine Frau Gisela war schon auf. »Es ist Sonnabend …«, sagte er fast vorwurfsvoll. »Ja« sagte sie, »und ich werde dich jetzt verlassen, Rolf.« »Wann kommst du zurück, Gisela?« »Wahrscheinlich nie«, sagte die Frau, die wußte, endlich zu sich selbst gefunden zu haben. Jetzt erst begriff Heske, daß es ihr ernst war. »Du gehst weg – für immer? Ein anderer Mann?« Gisela nickte: »Ja, ich werde mit Helmut Rohloff zusammen leben, werde daraus, was es wolle!« 291
»Das kannst du mir nicht antun …«, schrie Heske. »Es gab so vieles, was du mir nicht antun konntest, Rolf, und du hast es trotzdem getan. Ich habe es satt, mit einem Polit-Giganten verheiratet zu sein. Ich möchte leben. Das heißt nicht, daß ich prassen will, daß ich ausnippen will, daß ich mich sexuell austoben will, nein, Rolf, das ist es nicht. Aber Müller, du und Dieter, ihr habt aus uns Frauen nur noch Vorzeigepuppen gemacht, die zum Image gehören. Teilnehmen an eurem Leben durften wir nur, wenn wir wie Marionetten uns dem System unterordneten. Das ist so schrecklich deutsch und dumm, daß ich es nicht länger mitmachen kann. Ich werde keine Ansprüche an dich stellen, obwohl die deutschen Regierungen mir auch dafür eine Handhabe gegeben hätten, ich werde versuchen, auf eigenen Beinen zu stehen, und wenn es sein muß, als Verkäuferin bei Karstadt oder Schaffnerin bei der Bundesbahn, ich bin sicher, daß ich etwas Passendes finden werde. Leb wohl, Rolf, und vergiß mich, wenn du kannst.« Es klingelte, es war das Taxi, das ihre Koffer abholte. Sie fuhr direkt zu Helmut Rohloff. »Ich war lange weg, hast du mich betrogen?« fragte er. »Ja, mit Peter Dahl und noch ein paar anderen. Aber meistens habe ich an dich gedacht, Helmut!« »Ich könnte mit ihnen herumstreiten«, sagte Rohloff, als Gisela bei ihm war, »aber inzwischen macht Hannes Morlock die Sache so prima, daß mich niemand vermissen wird. Und dich vermissen noch nicht einmal deine dir angetrauten Männer. Warum hauen wir nicht einfach ab? Nach Kalifornien oder Florida, auf jeden Fall irgendwohin, wo es warm ist und wo man trotzdem leben kann.« »Ja, warum nicht?« fragte Gisela. Sie gingen ins Bett und sie waren glücklich, und endlich sagte Helmut Rohloff das, worauf sie gewartet hatte: »Ich habe sehr oft an dich gedacht und ich glaube fast, daß ich dich liebe!«
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Hanne Lamprecht war nicht dumm, und daß irgend etwas nicht ganz stimmte, hatte sie spätestens gemerkt, als sie in Potsdam in die für Privilegierte abgezäunte Zone einfuhren. »Wo sind wir hier?« fragte sie ihren Mann. Und Karl Lamprecht wollte sie nicht belügen: »Ich bin hier zu Hause, Hanne, und ich wollte, daß du einmal siehst, wo ich hingehöre.« Krümel erschrak: »Du bist ein Spion?« Er mußte unwillkürlich lachen. »Ich bin Oberstleutnant – nein, inzwischen sogar Oberst – der Nationalen Volksarmee und war für lange Zeit in die Bundesrepublik kommandiert. Dieses Kommando ist jetzt zu Ende, und ich werde hierbleiben, um eine andere Arbeit zu machen. Mir ist klar, was ich dir damit antue. Ich habe dich in eine schlimme Situation gebracht. Verzeih mir, wenn du kannst. Aber ich liebe dich, Hanne, und ich wollte nicht, daß du in der BRD Schwierigkeiten bekommst. Und die würdest du jetzt bekommen. Wenn du allerdings willst, werde ich dich sofort zur Staatsgrenze begleiten und deine Ausreise ermöglichen.« »Warum hast du mir das nicht gesagt, Karl?« fragte Hanne Lamprecht und kam sich plötzlich sehr verlassen vor. Sie mußte weinen, die Enttäuschung mußte heraus, sie fühlte sich ausgenutzt und schrecklich einsam. »Weil ich dich liebe, Hanne«, sagte Karl. Sie drehte ihm langsam das Gesicht zu, über das die Tränen liefen und trotzdem den Augen ein glückliches Strahlen erlaubten. »Du liebst mich?« »Ja«, sagte er ernst, »hätte ich dich sonst mitgenommen?« Sie flog ihm um den Hals. »Das ist alles so fremd hier, alles so anders als in Bonn oder Köln, Karl. Verstehst du das? Ich werde viel Zeit brauchen, mich hier einzugewöhnen. Was werden wir hier tun?« »Ich werde hier das gleiche tun wie in Düsseldorf, Hanne. Ich habe alle Pläne der IAAG seit langem hierhergeschickt, und wir haben hier – bis auf die Atombombe – alles nachgebaut. Und ich glaube auch, daß das gut so ist. Es wird niemals einen Sinn haben, wenn eine Seite stärker ist als die andere. Und ich bin Deutscher – auch wenn ich 293
hierher gehöre. Tut mir leid, Hanne, das es so ist. Das Schicksal hat es so gewollt, daß ausgerechnet du und ich in diesem mächtigen Spiel der Kräfte eine Rolle gespielt haben, die sicherlich außergewöhnlich ist. Sollen wir uns deswegen beklagen, haben wir das Recht dazu? Wir müssen damit fertig werden, meine ich. Und das ist es, was uns bevorsteht.« »Liebst du mich, Karl, ehrlich?« fragte Krümel. »Ich liebe dich. Ehrlich!« Damit war die Sache für Hanne Lamprecht entschieden. Sie hatte eine ideale, aber auch klare Vorstellung von der Ehe. Und ihr Platz war an der Seite ihres Mannes. Sie würde mit ihm in der DDR bleiben.
An diesem Sonntag wurde Dieter Knorr morgens um fünf Uhr früh aus dem Bett geworfen. Eine ›Urgent-Vorausmeldung‹ der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS hatte seinen Jourdienst aus dem sonst angenehmen Nachtdienst hochgescheucht. Die Meldung war über den Korrespondenten des Zweiten Fernsehens sofort nach Bonn weitergeleitet worden. Und sie lautete kurz: »Bundeskanzler Heinrich Müller (BRD) hat mit dem französischen Staatspräsidenten Giscard d'Estaing die Zündung einer westdeutschen Atombombe für den Mai im Gebiet der Weihnachtsinseln verabredet. Nach vorliegenden Berichten sollen diese Atombomben-Versuche in vollem Einverständnis mit den Vereinigten Staaten durchgeführt und zur Aggression gegen die Union der Vereinigten Sowjet-Republiken und der Comecon-Mächte dienen. Der Vorsitzende des Staatsrates der UdSSR und des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, der Genosse Malenkow, hat daraufhin eine Note an Präsident Taylor (USA) gesandt und eine Sondersitzung des Sicherheitsausschusses der Vereinigten Nationen für den kommenden Dienstag beantragt.« Knorrs Kurzkommentar war: »Scheiße!« Dann aber begab er sich sofort an die Arbeit. Er ließ den Kanzler verständigen, verabredete sich mit ihm für acht Uhr, Heske wurde aus 294
dem Bett geholt und ins Kanzleramt befohlen. Klara Werner konnte man erreichen, von Hanne Lamprecht gab es keine Nachricht. Der Außenminister wurde zitiert, die Botschafter in Washington und New York saßen für Konferenzschaltungen parat und ein Stab von erstklassigen Journalisten wartete im Presseamt auf Aufträge. Es wurde versucht, zur französischen Staatsregierung einen Kontakt herzustellen, aber die kühle Antwort aus Paris lautete, daß man vor zehn Uhr (nach dem Gottesdienst) kaum jemand Kompetenten an die Strippe bekommen würde. Heinrich Müller schäumte. Und leichtfertigerweise suchte er den Verrat dieses Staatsgeheimnisses erst einmal in Paris, dann aber fegte er Heske an: »Kann das Rohloff eingerührt haben?« Heske war in einer dummen Situation. Er wußte genau, daß jetzt seine eigene Frau Gisela in den Armen des Moderators lag, aber es blieb ihm keine Wahl: »Erneut verhaften und zur Verfügung halten!« lautete sein erster Befehl. Dann wurden die Safes überprüft, wie es die Vorschrift befahl. Die Unterlagen im Kanzleramt und im Sicherheitsministerium waren unberührt. »Wir müssen auf jeden Fall Kamphausen oder Lamprecht erreichen, vielleicht ist bei der IAAG eine Schweinerei passiert«, ordnete der Kanzler an. Bei Lamprechts meldete sich niemand, und Kamphausen war auf der Entenjagd im Raume Wolfsburg. Das war ein Hobby von ihm. Gegen zehn Uhr fand man ihn und flog ihn nach Düsseldorf. Von dort kam dann allerdings die Katastrophenmeldung: Die gesamten Unterlagen über die Plutonium-Verwertung, die A-Bomben-Versuche, die ›schnellen Brüter‹ und ihre Anwendung waren verschwunden. »Wer konnte außer Ihnen an die Unterlagen, Kamphausen?« fragte der Kanzler. »Nur Lamprecht und ich …« »Und wo ist Lamprecht?« »Weiß ich nicht. Er hat Urlaub …« »Ich möchte, daß Sie sofort nach Bonn kommen, Herr Kamphau295
sen«, sagte Heinrich Müller. »Ich schicke Ihnen einen Hubschrauber!« Eine Abteilung der GSG 9 machte sich auf den Weg. Kamphausen wurde freundlich wie ein sehr hochgestellter Gefangener behandelt. Das war für ihn nichts Neues. Wie oft schon hatten Ermittler, Staatsanwälte und Richter seinen normalen Tagesablauf gestört? Das gehörte zum Big Business – zum großen Geschäft. Er hatte sich nichts vorzuwerfen. Und er würde auch aus dieser Sache heil herauskommen. Inzwischen lief eine Interna-Fahndung nach Karl Lamprecht an. Schnell war festgestellt, daß er am Freitag nach Berlin-Tegel geflogen war. Dort verlor sich seine Spur. Vorsichtige Anfragen im Kempinski, im Schweizerhof und sonstigen Nobelhotels blieben erfolglos. Auch die Grenzposten konnten keine Auskunft geben. Trotzdem mutmaßte Dieter Knorr: »Wenn Lamprecht ein Ostagent war, was dann?« »Ich werde nicht den Fehler wie Willy Brandt machen«, sagte Müller, »wir müssen dann den Angriff nach vorne wagen, Dieter. Und wir sollten uns darauf einstellen, bereite alles vor!« Knorr ließ sich in sein Amt fahren. Lamprecht war – wenn er in Frage kam – im Besitz aller Unterlagen über die kontrollierte Kettenreaktion, und damit war es auch der gesamte Ostblock. Wie wollte Heinrich Müller sich da als Kanzler halten? Heske rief an. »Kommt dir die Sache mit dem Negerhäuptling nicht etwas bayerisch vor?« »Du meinst Strauß …?« fragte Dieter Knorr erschrocken. »Nein, nein, nicht Strauß. Ich meine Müllers großen Freund Graubner! Der stammt doch aus Bayern. Das könnte doch ein Ablenkungsmanöver gewesen sein, um den Sicherheitsdienst auf eine falsche Fährte zu setzen und damit den Übertritt der Agenten zu sichern.« »Aber wie paßt Krümel in das Bild?« fragte Knorr. »Wie Gisela zu Rohloff …« »Und wie darf ich das verstehen?« »Gisela hat mich gestern verlassen und ist zu Helmut Rohloff gezogen. Wenn ich Pech habe, erwischen meine Beamten jetzt meine Frau mit dem Staatsfeind Nummero eins im Bett!« 296
»Um Gottes willen, Rolf, wenn das Heinrich erfährt, bist du deinen Posten los!« Heske war sich über die Konsequenzen völlig im klaren. Nur kannte er weder Helmut Rohloff noch seine eigene Frau genau. Die beiden hatten sich – um völlig ungestört zu sein – auf eine Insel im Indischen Ozean zurückgezogen. Sie hatten keine Ahnung, was sich in der großen weiten Bundeswelt abspielte, und es war ihnen auch völlig Wurscht. So erfuhr der Kanzler nichts von den problematischen Internas seines Sicherheitsministers, die Verhöre mit Kamphausen brachten auch nicht mehr als die langsam wachsende Gewißheit, daß dieses überaus eifrige und unterbezahlte Vorstandsmitglied der Industrie-Anlagen AG, Karl Lamprecht, mit dem bestgehüteten Geheimnis der Bundesrepublik über die Grenze nach Osten entkommen war. Gewißheit – völlige und traurige Gewißheit – erhielt die Bundesregierung, als das Ostfernsehen an diesem Sonntagabend aus dem ›Palast des Volkes‹ in Ostberlin eine Sitzung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands übertrug, bei welcher Gelegenheit der Erste Vorsitzende der SED und des Ministerrates der DDR, der Erste Sekretär des Zentralkomitees, Harald Graubner, dem Oberst der Nationalen Volksarmee der DDR, Karl Lamprecht, unter Würdigung seiner Verdienste um den Arbeiter- und Bauernstaat den Leninorden im Namen der Genossen aus der UdSSR verlieh und ihn gleichzeitig zum General mit besonderen Aufgaben beförderte. So hatten es Knorr und die Bundesregierung denn in Farbe und in lebenden Bildern mit Originalton (Ost), und Dr. Pöhlmann, der seine Felle davonschwimmen sah, entdeckte sogar noch eine stolz blickende Krümel auf den Fernsehbildern. Heinrich Müller zog sich in sein Arbeitszimmer zurück, steckte den Kopf in beide Hände und wollte es nicht begreifen, daß er mit einem Menschen vierundzwanzig Jahre zusammengearbeitet hatte, ihn inund auswendig zu kennen glaubte und jetzt so enttäuscht wurde. Dies war für ihn alles erschütternder als die späten Anrufe von Präsident Taylor oder die Häme von Giscard d'Estaing. Das gehörte zum Ge297
schäft, Krümel nicht. Und überrascht stellte Müller fest, daß ihn an Krümel ein erotisches Verhältnis gebunden hatte, das nichts mit Sexualität zu tun hatte und trotzdem stärker war als die Bindung an seine eigene Familie. Diese Erkenntnis traf ihn tief, und von diesem Tage an war Heinrich Müller voller Mißtrauen seiner Umgebung, seinen Freunden, seiner Frau und selbst seinem Kind gegenüber. Und er spürte in sich ein messianisches Sendungsbewußtsein aufkommen. Nur er wußte, daß er alles richtig machte, daß die Entwicklung der Dinge in Europa nur von ihm gelenkt werden konnte, daß nur er die richtigen Entscheidungen treffen konnte und nur er in der Lage war, dieses vielsprachige, komplizierte, eigensinnige Ding, das sich Europa nannte, zu einigen. Diese Idee beseelte ihn, kapselte ihn ab von seiner Umgebung, umgab ihn mit Charisma und ließ ihn auf der Erfolgsleiter immer höher steigen. Bei seinen Wahlreisen in Europa mit dem Slogan ›Frieden – Arbeit und Wohlstand für alle‹ wurde er bejubelt, bei der Zündung der ersten bundesdeutschen Atombombe im Gebiet der Weihnachtsinseln war er persönlich anwesend und beobachtete den aufsteigenden Todespilz mit tiefer Befriedigung. Beim Landtagswahlkampf 1991 in Bayern errang die Neue Partei einen beachtlichen Stimmenanteil von 44,7 Prozent. Die gingen aber auf Kosten der SPD und der aus dem Landtag ausscheidenden FDP, aber es war das Ende der Ära Strauß. Trotzdem überließ Müller dem Alt-Ministerpräsidenten noch einmal die Regierung und Strauß brachte es fertig, dem Rivalen aus Bonn freundlich die Hand zu geben und in die Kamera zu sprechen: »Zwischen Bonn und München gibt es keinen Dissens, wenn ich einmal davon absehen will, daß dort die falsche Partei an der Regierung ist!« Das kränkte Heinrich Müller und freute die Bayern, bei denen bekanntlich die Uhren sowieso anders gehen. Sonst aber hatte die Neue Partei keine Probleme. Bundespräsident Werner Ladiges – um den es in der letzten Zeit still geworden war – konnte seiner Frau und sich damit einen langgehegten Wunschtraum erfüllen: Reisen, und das als Staatsgast und auf Staatskosten. Daß er damit auf das politische Altenteil geschoben worden war, wurde ihm spätestens dann klar, als er die 298
vierzigste Vorlage eines Gesetzes der Bundesregierung unterschreiben mußte, ob er wollte oder nicht. Das war mehr eine Pflichtübung als eine Aufgabe. Und so verlegte sich Ladiges mehr und mehr darauf, die Republik zu repräsentieren, wobei er Wert auf die Auswahl der fernen Länder legte, die ihm und seiner Frau noch unbekannt waren. Und natürlich war es wesentlich angenehmer, auf Staatskosten zu reisen, als aus der eigenen Tasche. Schon des Services wegen.
Kamphausen und der Bankier von Meiners aber waren etwas aneinandergeraten und hatten sich entfremdet, weil der rigorose Übertritt des Karl Lamprecht ins feindliche Lager nicht ohne geschäftliche Auswirkung auf die Industrie-Anlagen AG geblieben war. Aber die Wendigkeit der IAAG-Verkaufsmanager, das Festhalten an geschlossenen Verträgen und nicht zuletzt die Qualität der Produkte ließ auch hier bald Gras über die Geschichte wachsen. Keine Ruhe geben wollte allerdings die Presse. Die Frankfurter Allgemeine, die Welt und die Süddeutsche Zeitung bohrten unentwegt in allen Gesetzesvorlagen der Regierung Müller herum und hatten dabei die vertrauliche Unterstützung des Bundespräsidenten Dr. Werner Ladiges. Als Rohloff von seinem Drei-Monats-Urlaub aus dem Paradies zurückkam, wurde er am Flughafen verhaftet. Das gab natürlich wieder einen Skandal, aber er wurde rasch unterdrückt. Trotzdem gab es Ärger. Morlock ließ überraschenderweise seinen früheren Chef nicht fallen. Er hatte die Sendung ›aktuell‹ zu einem hervorragenden, überall angesehenen politischen Magazin ausgebaut, wo er Unterhaltung und Information geschickt mischen und manipulieren konnte, ohne daß man ihm an den Karren fahren konnte. Und auch seine Rechercheure waren mehr als einmal fündig. So kam es zu Sendungen, die im Kanzleramt aneckten. Natürlich schlief auch die ausländische Presse nicht, insbesonde299
re die Briten und Amerikaner schienen geradezu eine Hetzjagd auf Heinrich Müller vorzuhaben. Allen voran die Washington Post, die ja schon einen amerikanischen Präsidenten gestürzt hatte. Dies ging so weit, daß Müller Knorr rufen ließ, der von Klara Werner auch vorgelassen wurde. »Wir müssen etwas unternehmen, Dieter«, meinte Müller. »Peter Dahl hat mich davon unterrichtet, daß die Kampagne im Ausland bereits Spuren zeitigt. Einige Mitglieder der Neuen Partei in Frankreich und Italien sind wieder ausgetreten und haben böses Blut gemacht. Alle Informationen kommen direkt aus der Bundesrepublik und machen mir den Vorwurf, eine europäische Diktatur anzustreben. Dabei will ich doch für die Menschen nur das Beste. Wer einmal die Not in Süditalien oder in Spanien, in den Industriestädten Englands oder auf dem Lande in Portugal gesehen hat, der wird begreifen, daß nur eine starke Hand mit dirigistischen Maßnahmen diese Übel beseitigen kann. Ich habe diese starke Hand, und das wird von allen einsichtigen Politikern auch zugegeben. Warum also diese ungerechtfertigten Vorwürfe?« »Weil du Deutscher bist, Heinrich. Die Leute haben Angst vor einem zweiten Hitler. Dazu kommt der Fall Rohloff, von dem man sagt, daß er den Rand der Legalität überschritten hat. Wir haben gegen Emotionen zu kämpfen, nicht gegen Vernunft. Und Giscard, Cunningham, Malfatti, Strauß oder wie deine Gegner alle heißen mögen, schüren diese Unzufriedenheit. Sie verlangen mehr Demokratie doch nur, um selbst mächtig zu sein. Wir werden die Wahlen gewinnen, in Deutschland und in Europa, aber am gleichen Tage werden wir eine neu erwachte Opposition zu spüren bekommen, die von der Überzeugung ausgeht, daß nur der immerwährende Wechsel der Macht Grundlage einer gesunden Demokratie sein kann.« »Das ist der Vorteil der Sowjets.« Müller seufzte. »Der Westen ist immer gezwungen, auf allen Gebieten der Wirtschaft, der Industrie, der Technik und der Rüstung besser zu sein, um dieses Manko auszugleichen. Dadurch müssen wir sehr viel höhere Aufwendungen finanziel300
ler und materieller Art machen als der Osten. Wenn die Sowjets jetzt noch ihr starres Festhalten an der Planwirtschaft aufgeben, wie das in einigen Ostblockländern schon zu beobachten ist, dann wird es nicht mehr lange dauern, daß sie uns auch auf unseren westeigenen Domänen schlagen, und du weißt, was das bedeutet: den Sieg des Kommunismus über die Welt! Dagegen sträube ich mich, dagegen wehre ich mich, und deshalb muß ich mit dirigistischen Maßnahmen manche Dinge durchsetzen, weil es einfach lebensnotwendig ist. Ich hoffe nur, daß uns die Zeit nicht überrollt, darum dränge ich so und will die Dinge beschleunigen.« »Was sollen wir tun?« fragte Knorr. »Das Justizministerium soll die Notstandsgesetze von 1968 genau überprüfen. Vielleicht geben sie uns eine Handhabe für eine etwas strengere Presse-Politik. Schließlich befindet sich nicht nur die Bundesrepublik Deutschland, sondern ganz Europa in einer nicht zu übersehenden Gefahr, zu deren Abwehr außergewöhnliche Maßnahmen ja schon von den früheren Regierungen beschlossen und vom Parlament ratifiziert wurden. Irgend etwas wird sich sicherlich finden, was wir anwenden können. Oft ist es ja auch nur eine Frage der Auslegung …« »Ich kümmere mich darum«, sagte Knorr. Heske wurde gemeldet. »Haben wir noch etwas Internes zu besprechen?« fragte der Kanzler. Knorr verneinte, so wurde Heske gebeten. »An den Universitäten beginnt es wieder zu brodeln«, meldete er. »natürlich an der Spitze wieder Berlin, wo wir schlecht eingreifen können. Dann in Frankfurt. München und Hamburg.« »Und der Grund?« fragte Müller. »Immer noch Rohloff. Wir haben ihn zwar wieder auf freien Fuß gesetzt, aber nur unter der Bedingung, daß er keinem Außenstehenden Informationen oder ein Interview gibt. Außerdem hat er Flausarrest. Und dann macht natürlich unser Atombomben-Versuch böses Blut. Man beschuldigt dich als Aggressor in Kumpanei mit den Amerikanern, für die du die Schmutzarbeit besorgen würdest.« 301
»Und wer steckt dahinter?« »Nach meinen Agentenberichten wird das alles irgendwo vom Osten her gesteuert, und wir sollten uns überlegen, was wir dagegen tun können. Unternehmen müssen wir etwas!« »Und zwar was?« wollte Dieter Knorr wissen. »Ich werde die Regierung umbilden, und ihr beide müßt bis nach den Bundestagswahlen zurück in die Partei. Nachdem wir jetzt europaweit operieren, dürfen die Zügel aus den Händen gleiten.« »Und wer soll unsere Ämter übernehmen?« »Ich werde mit Kamphausen sprechen und ihn bitten, das Sicherheitsministerium zu übernehmen. Er hat seit dem Fall Lamprecht ein schlechtes Gewissen und wird sich sicher zur Verfügung stellen. Für das Presseamt habe ich auch einen begabten Mann …« Müller lächelte süffisant. »Und ihr beide«, fuhr er fort, »seid mir ausschließlich für die Bundestagswahlen verantwortlich. Von der Parteizentrale aus könnt ihr wesentlich effektiver operieren, und wo es notwendig ist, werden euch die einschlägigen Bundesministerien unauffällige Schützenhilfe geben.« »Was machen wir mit Rohloff?« fragte Heske, der nicht gut auf seinen Nebenbuhler zu sprechen war. »Am besten wäre es, wir würden ihn abschieben. Notfalls müssen wir ihm etwas bezahlen. Es wird wahrscheinlich nicht so billig abgehen wie seinerzeit bei Schmidt im Fall Traube, aber Rohloff ist empfänglich. Sichert ihm seine Rente und empfehlt ihm einen sonnigen Platz außerhalb Europas, dann bin ich sicher, daß er auf eine Bedingung völliger Verschwiegenheit eingehen wird. Und es ist wohl besser, wenn Dieter Knorr diesen Part übernimmt, du bist noch zu sehr Partei, Rolf Heske.« So wurde es beschlossen. Kamphausen wurde noch am gleichen Nachmittag bei Heinrich Müller vorstellig. Er wehrte sich nur kurz, den Posten des Sicherheitsministers zu übernehmen. Als der Kanzler ihm zusagte, daß dies eine Interimslösung sein würde und er danach wieder in all seine Industrie-Posten zurückkehren könnte, war er einverstanden. Knorr unterbreitete Rohloff das Angebot, Europa zu verlassen. 302
Rohloff meinte: »So etwas habe ich fast erwartet. Wieviel bin ich Heinrich Müller denn wert?« Knorr versuchte Geschäftsmann zu sein: »Was verlangen Sie?« Das war eine heikle Frage. Was war es wert, seinen Mund zu halten über etwas, was schon jedermann wußte? Aber Rohloff war nicht zimperlich: »Passen Sie auf, mein lieber Knorr, ich mache Ihnen ein gutes Angebot. Die Bundesregierung, der Kanzler oder das Presse- und Informationsamt zahlt mir einen Betrag von drei Millionen D-Mark auf ein Auslands-Konto, das ich nennen werde, steuerfrei selbstverständlich. Dafür bin ich bereit, mit Morlock ein Gespräch ›Unter vier Augen‹ zu führen und alle Schuld, an was auch immer, auf mich zu nehmen.« Wie nebenbei fügte er hinzu: »Sie haben sicherlich von den Unruhen an den Universitäten gehört, nicht? Je schneller Sie also handeln, um so schneller werden Sie in der Sache Rohloff wieder Ruhe haben. Die andern Dinge bleiben euer Problem. Aber da gibt es ja inzwischen Gesetze zum Schutz von Atomkraftwerken, die bieten sicher eine Möglichkeit zum Eingreifen …«
Dieter Knorr hatte keine Vollmacht, irgend etwas zuzusagen. Er war nur Unterhändler in dieser Sache. So fuhr er direkt zum Kanzleramt zurück und wurde sofort von Heinrich Müller empfangen. »Wie ist es ausgegangen?« Knorr berichtete und Müller nickte ein paarmal mit dem Kopf. »Er ist nicht dumm und auch nicht billig, aber wir werden es machen müssen …«, sinnierte er. »Und unter welchem Titel wollen wir das verbuchen?« fragte Knorr fast entgeistert, als er merkte, daß Heinrich Müller ohne Diskussion auf Rohloffs Forderungen eingehen wollte. »Ich werde mir überlegen, ob ich es aus dem Reptilienfonds des Kanzleramtes oder als amtierender Finanzminister aus dem Titel 604 nehme.« Der Haushalts-Titel 604 umfaßte die unvorhergesehenen Ausgaben und war mehr zum Haushalts-Ausgleich bestimmt. »Nein – ich werde das über die IAAG erledigen«, entschied er dann. 303
»Und was wird mit dem Presseamt?« wollte Knorr wissen. »Ich werde meine Frau bitten, das Amt so lange zu leiten, bis wir nach den Wahlen das Kabinett neu bilden. Sie will sowieso in die Politik zurück und da kann sie in deinem Amt schon etwas üben.« Er meinte das ernst. Heske und Knorr sahen einander an, sagten aber nichts … Sie wollten die Besprechung gerade beenden, als vom Sicherheitsministerium ein dringender Anruf kam. »Was gibt es?« fragte Heske. »In Frankfurt haben demonstrierende Studenten durch Besetzung der Hauptwache praktisch die Hauptverkehrsader der Stadt lahmgelegt. Polizei und Sicherheitstruppen haben mit siebenhundert Mann sofort eingegriffen, dabei hat es vier Tote und viele Verletzte gegeben, sechzig Studenten wurden vorläufig festgenommen. Sie fordern Freiheit für Helmut Rohloff und beschmieren die Schaufenster und Fassaden der umliegenden Kaufhäuser mit ihren Parolen. Es sieht ernst aus, die Studenten marschieren jetzt zum Römer!« Heinrich Müller nahm Heske den Hörer aus der Hand. »Sind die Demonstranten unter Kontrolle?« »Bis jetzt nicht und wie ich höre, werden es stündlich mehr. Meine Leute schätzen die Ansammlung auf ungefähr zwanzigtausend Personen – bisher.« »Ich rufe sofort zurück«, sagte Müller und legte auf. Er ließ sich von Klara Werner mit Hannes Morlock verbinden und hatte Glück. Der Moderator war in seinem Büro. »Wann haben Sie Ihre nächste Sendung?« »Übermorgen, am Samstag, Herr Bundeskanzler.« Morlock war von dem Anruf nicht wenig überrascht. Seit der Affäre Rohloff hatte kein Beamter oder Politiker der Regierung mehr die Erlaubnis erhalten, in seiner Sendung aufzutreten. »Können Sie auf einen Sprung zu mir kommen, Herr Morlock?« Der Mann sagte zu. Müller wandte sich an Knorr. »Paß auf, Dieter: Ich möchte, daß du noch heute alle Formalitäten mit Rohloff absprichst und festmachst. Es ist jetzt drei Uhr mittags, ich will, daß diese Sache bis fünf Uhr erledigt ist. Um sechs Uhr und in allen folgen304
den Nachrichten muß über Funk und Fernsehen bekanntgegeben werden, daß Helmut Rohloff sich entschlossen hat, Deutschland zu verlassen. Es muß weiterhin gesagt werden, daß er zum Abschied am Samstag in der Sendung ›Unter vier Augen‹ zusammen mit Morlock auftreten und seine Entscheidung begründen wird. Morgen bilden wir die Regierung um und jagen diese Nachricht ebenfalls gegen siebzehn Uhr über die Fernschreiber und Sender. Am Samstag ist dann die Sendung, und am Sonntag will ich wieder Ruhe in diesem Land haben. Wer auch immer hinter der Sache steckt, wir brauchen jetzt Ruhe. Das heißt, wenn wir die Demonstrationen für Rohloff von der Straße bekommen, lassen wir auch die Luft aus den Anti-Kernkraft-Protesten …« Morlock wurde gemeldet. Dieter Knorr verabschiedete sich und fuhr zu Rohloff. »Vielleicht sehen wir uns nachher?« sagte er vieldeutig zu Morlock. Der hatte nicht die Nase Rohloffs und war erst einmal perplex. Heinrich Müller klärte ihn auf, soweit es notwendig war. Dann fragte er: »Wen hatten Sie für Samstag vorgesehen?« »Eigentlich wollte ich Christian Semler präsentieren, schon wegen der Vorfälle in Frankfurt«, meinte Morlock. »Wenn ich Ihnen sage, daß es im Interesse des Staates ist, Rohloff vorzuziehen, können wir dann auf einen Konsens kommen?« Morlock war einverstanden. Er würde mit Rohloff das Gespräch ›Unter vier Augen‹ führen, eine entsprechende Meldung wurde sofort von der Pressestelle veranlaßt. Intendant und Programmdirektor gingen davon aus, daß der Nachfolger Rohloffs, Hannes Morlock, doch ein verdammt cleverer Bursche sei, und freuten sich über die erneut guten Beziehungen zum Kanzleramt. Dr. Pöhlmann war als Verbindungsmann zu Heske abkommandiert worden und verständigte das Sicherheitsministerium. Heske versprach sich von den Sofortmaßnahmen einige Entlastung für die Polizei und seine Sicherheitstruppen, die bei der Bevölkerung nicht sehr beliebt waren. 305
Auch von Dieter Knorr kam positive Nachricht. »Am besten wäre es, wenn Morlock gleich zu Rohloff kommen könnte«, meinte er zum Schluß, »schließlich müssen sie sich abstimmen.« So geschah es. »Wer interviewt nun wen, Morlock?« lachte Rohloff, als er sich mit dem jungen Kollegen absprach.
Am Freitag nachmittag gab Bundeskanzler Heinrich Müller vor dem fast leeren Plenum des Bundestages – die Abgeordneten waren alle schon auf dem Wege nach Hause oder in ihre Wahlkreise – die Umbildung der Regierung bekannt. Viele atmeten auf, als sie hörten, daß der aggressive Rolf Heske dem mehr konservativen Gotthelf Kamphausen weichen mußte. Daß auch Dieter Knorr die Regierung verließ, überraschte die Medien, denn er war ein immer hilfsbereiter Kollege gewesen und galt als Intimus des Kanzlers. Beide Nachrichten – Rohloffs Auswanderung und die Regierungsumbildung – verfehlten allerdings in Frankfurt am Main den erwünschten Effekt. Aus allen Teilen Deutschlands eilten inzwischen busweise neue Demonstranten nach Frankfurt. Vor der Paulskirche hatte die Demonstrationsleitung eine Tribüne aufgebaut, von der herunter sie die Massen aufhetzte. Lautsprecher waren herbeigeschafft worden, die Tag und Nacht mit Parolen und Musik Stimmung machten, das »Freiheit für Rohloff« tönte lautstark durch die engen Gassen des Römerviertels, Alkohol floß in Strömen, Rauschgifte wurden gehandelt, heftige – gegen den Kanzler – gerichtete Reden und Diskussionen entfacht. Dazu war das Wetter auf Seiten der Demonstranten, eine ruhige laue Herbstnacht, die auch viele Neugierige anzog. Als bekannt wurde, daß Rohloff im Gespräch ›Unter vier Augen‹ auftreten würde, stellte das Bundespresseamt – inzwischen unter Leitung Inge Müllers – Leinwand und Bildwerfer zu Verfügung, um jedem die Möglichkeit zu bieten, die Sendung zu sehen. 306
Unter Johlen und Gebrüll wurden die Geräte aufgestellt. Dann – nach der Tagesschau – war es soweit: Morlock und Rohloff saßen im Studio und lächelten freundlich in die Kameras. Und da sie beide Profis waren, begann das Gespräch zwar einigen Unterhaltungswert, aber keinen Inhalt zu bekommen. Es war Gewäsch und die Demonstranten buhten und pfiffen die Sendung aus. Kamphausens Krisenstab, den er vorsichtshalber im Polizeipräsidium eingerichtet hatte, berichtete laufend ans Kanzleramt. »Was soll ich tun, Herr Bundeskanzler? Soll ich mit berittener Polizei und Wasserwerfern vorgehen? Soll ich schießen lassen? Ich bin nicht sehr glücklich über mein neues Amt …« »Sie müssen die Nerven behalten, Kamphausen. Die Leute in Frankfurt sind Verführte, in der Masse junge Menschen. Denen können Sie mit Polizei und Pferden jetzt nicht mehr imponieren. Die halten jetzt schon fast drei Tage aus. Ihre Forderung nach der Freilassung Rohloffs ist Blödsinn gewesen, aber Sie sehen ja, daß diese Sache nur ein Vorwand war. An die Rädelsführer werden wir nur schwer herankommen. Versuchen Sie, ihnen den Verpflegungsnachschub zu unterbinden, und hoffen Sie auf schlechtes Wetter. Wie sieht denn das aus?« »Das freundliche Herbstwetter soll anhalten, wie mir die Wetterwarte in Offenbach sagt …« »Morgen ist Sonntag, Herr Kamphausen. Vielleicht hat das Wirkung auf die Demonstranten. Vielleicht müssen sie am Montag wieder arbeiten, dann müßte spätestens morgen mittag der Abmarsch einzelner Gruppen erfolgen. Halten Sie mich über die Situation auf dem laufenden …« »Jawohl, Herr Bundeskanzler!«
Der Kanzler ging in seine Wohnung hinüber. Inge erwartete ihn schon. »Das war ein heißer Tag heute«, lächelte sie, »du wirst müde sein?!« »Nein, ich habe Sorgen wegen dieser Geschichte in Frankfurt. Die 307
Leute sind aufgehetzt, und Kamphausen wird nicht mit ihnen fertig. Vielleicht habe ich Heske ein paar Tage zu früh abgelöst? Aber ich war ehrlich der Meinung, daß die Auswanderung Rohloffs und die Ablösung Heskes die Leute beruhigen würde.« »Das ist meine Schuld, ich hätte es anders formulieren sollen«, sagte Inge traurig. »Nein, nein«, Müller zog seine Frau an sich und küßte sie zärtlich, »das ist nicht deine Schuld. Das da in Frankfurt ist der Mob, das ist die Kriegserklärung in einer Auseinandersetzung mit der Zukunft und der Bedeutung Europas. Ich bin jetzt sicher, daß die Geschichte irgendwie vom Osten aus gesteuert wird. Die Russen kennen unser technisches Know-how und unseren Vorsprung auf dem wirtschaftlichen Sektor. Also werden sie alles daransetzen, daß Westeuropa keine politische Einheit wird, die sie zwingen würde, auch im Osten größere Freizügigkeit zu gewähren. Sie wollen die Grenzen so, wie sie jetzt sind, am liebsten festschreiben, und darum werden wir in den jetzt kommenden Bundestagswahlen und bei den Europawahlen härtere Auseinandersetzungen bekommen als 1988, das ist das Problem. Aber wir sind stark, politisch wie finanziell, und darum werden wir auch diesen Kampf bestehen.« »Ich habe Angst, Heinrich …« Müller lachte. »Du mußt keine Angst haben, das ist eine Arena der Auseinandersetzung, die ich kenne – und liebe.« Tatsächlich freute er sich, wieder in die Niederungen des Wahlkampfes steigen zu können. Der direkte Kontakt zum Wähler und auch zum Gegner an der Basis hatte ihm oft gefehlt, seitdem er ins Palais Schaumburg eingezogen war. Auf den Zehenspitzen schlichen sie ins Kinderzimmer, wo der kleine Friedrich-Wilhelm friedlich schlafend in seinem Bettchen lag. Er war jetzt etwas über ein Jahr alt, und sein brauner Wuschelkopf schaute aus dem bunten Schlafsack. Den Teddybär hatte er fest an sich gedrückt. Inge legte den Zeigefinger an die Lippen, dann löschten sie das Licht und gingen hinaus. 308
»Ich bin sehr stolz auf euch beide«, sagte Müller, als sie gemeinsam ins Schlafzimmer gingen, »und ihr seid so ziemlich das letzte, auf was ich mich noch verlassen kann, seitdem Krümel …« Er sprach nicht aus, was er über Hanne Lamprecht dachte. Aber sie fehlte ihm sehr. »Was wirst du jetzt tun?« fragte Inge. »Wenn sich die Lage morgen nicht entscheidend entkrampft, werde ich mit den Menschen sprechen.« »Das wirst du nicht tun!« Inge erschrak. »Doch, das werde ich tun, meine Liebe. Das ist die einzige Lösung. Gewehre können da nur Unheil anrichten. Hier muß ich als Kanzler zu dem stehen, was ich veranlaßt habe. Es war ein Irrtum von mir zu glauben, ich könnte mich hinter Heske verstecken. Er hat nur das getan, was ich ihm aufgetragen habe.« Inge Müller schmiegte sich an ihn. Sie hatten lange nicht so zusammen gesprochen, meistens schlief sie schon, wenn er nach Hause kam, und dann machte auch das Kind viel Arbeit. Sie war eigentlich richtig glücklich, daß sie jetzt wieder eine Aufgabe hatte, die sie aus dem Haus führte. Und sie war bereit, das neue Amt mit all ihrer Energie auszufüllen.
Der Kanzler ging an diesem Sonntagmorgen mit seiner Frau zur Kirche, wie immer, wenn ihm die Amtsgeschäfte Zeit dazu ließen. Dann machte er einen Sprung in sein Büro. Klara Werner legte ihm ein paar unwichtige Dinge auf den Tisch, die er gedankenlos durchblätterte. Ein Dossier war darunter von einem Regierungsdirektor Jochen Alberts, das eine minuziöse Aufstellung darüber enthielt, mit welchen Huren Dieter Knorr in den letzten Jahren geschlafen hatte. Gleichzeitig empfahl sich Alberts mit diesem Machwerk als Konfident im Presseamt. Müller mußte laut lachen und dachte an das Gesicht Dieter Knorrs, wenn er ihm das Dossier zeigen würde. Dann aber ordnete er die sofortige Versetzung Alberts' in eine außengelegene Bundes-Dienststelle an. Er hatte keine Lust, seine 309
Frau solchen Beamten auszusetzen. Später rief er dann Kamphausen in Frankfurt an. »Wie sieht es aus?« »Wir hatten eine sehr unruhige Nacht. Ich schätze die Zahl der Demonstranten jetzt auf über hunderttausend, und es werden immer mehr. Kann sein, daß das Wetter daran schuld ist.« Der Kanzler sah auf seine Uhr, es war jetzt halb elf. »Hören Sie, Herr Kamphausen, ich komme jetzt hinüber nach Frankfurt. Ich werde so gegen halb zwölf da sein und möchte dann zu den Menschen sprechen. Sichern Sie meine Landung und geben Sie mir Personenschutz bis zur Paulskirche. Sind genügend Lautsprecher da?« »Wir können eigene Lautsprecherwagen auffahren lassen, Herr Bundeskanzler, aber …« »Tun Sie das, Herr Minister. Und keine Gewaltanwendung. Machen Sie bekannt, daß ich selbst kommen werde und zu den Vorwürfen Stellung nehme. Ziehen Sie die Sicherheitstruppen zurück und lassen Sie nur die Polizei-Einsatzbereitschaft am Ort. Wir müssen die Leute heute auseinanderbekommen, sonst wird ein Politikum daraus.« »Aber die Gefahr, Herr Bundeskanzler?« »Hunde, die bellen, beißen nicht, Herr Minister!« »Diese Hunde beißen, wir haben vier Tote, und die Menschen schreien: ›Heinrich Müller – Deutschen-Killer!‹ Ohne die Sicherheitstruppen und die GSG 9 kann ich keine Garantie für Sie übernehmen!« »Sind von den Demonstranten schon Waffen verwandt worden?« »Schlagstöcke, Baueisen, Flaschen – was verstehen Sie unter Waffen? Wir haben hier fast sechzig mehr oder weniger schwer verletzte Polizei- und Sicherheitsbeamte.« »Ich meine Schußwaffen!« sagte der Kanzler. »Nein, soweit mir bekannt ist, bis jetzt noch nicht …« »Also gut, ich komme um halb zwölf«, beendete Müller das Gespräch.
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Die Hubschrauber standen bereit, ebenso Müllers Leibwache, zwölf bestausgebildete Beamte, die bereit waren, notfalls ihr Leben für den Kanzler zu opfern. Inge kam mit dem Kind über die Wiese des Palais Schaumburg. »Du wirst es also tun?« Heinrich Müller nickte. »Ich muß.« Er strich dem Jungen über den Wuschelkopf, küßte seine Frau und stieg dann ein. Als die Rotoren die Maschine steil nach oben zogen, winkte er hinunter. Dann ging es an der Godesburg vorbei, über das Siebengebirge und den Westerwald nach Süden. Es war ein schöner Tag. Die Wälder lagen im bunten Schmuck des Herbstlaubes, auf den Autobahnen drängelten sich die Sonntagsfahrer, Weinseligkeit lag in der Luft. Heinrich Müller genoß den Flug, wechselte ein paar Worte mit seinen Sicherheitsbeamten, aber viel war da nicht zu sagen. Sie wußten alle, was sie zu tun hatten. Außerdem waren Müllers Bodyguards seit einigen Tagen von Kamphausen mit den weiterentwickelten SZS-1-Revolvern und entsprechender Munition ausgerüstet worden. Letzte Versuche hatten zwar noch keine hundertprozentige Zielgarantie ergeben, aber die auf einen Quadratmillimeter verkleinerten Zielcomputer und Steuerungssysteme ließen einen Einsatz im Notfall gerechtfertigt erscheinen. Kamphausen hatte den Landeplatz mit gepanzerten Fahrzeugen und Wasserwerfern abschirmen und einen der PKW für den Kanzler bereitstellen lassen. Die Polizei hatte über Nacht eine Kette von Fernsehkameras montiert, so daß man in der Einsatzzentrale über jeden Schritt des Kanzlers jederzeit informiert war. »Viel kann nicht passieren«, meinte Kamphausen, »aber es bleibt ein Risiko.« Er war über Nacht zum Feldherrn gewachsen und betrachtete die Demonstranten mehr wie streikende Arbeiter. Über die Lautsprecher verkündete ein Polizeisprecher: »Bitte machen Sie Platz für den Bundeskanzler. Er wird in wenigen Minuten zu Ihnen sprechen. Bitte machen Sie Platz!« Und bereitwillig wichen die Menschen zurück. Woran keiner ge311
glaubt und was jeder für einen Trick gehalten hatte, sollte jetzt wahr werden? Ein Raunen ging durch die Menge. »Er ist es wirklich!« hieß es, und an manchen Stellen klang Beifall auf. Aber sie wurden von den Sprechchören niedergeschrien: »Heinrich Müller – Deutschen-Killer, Heinrich Müller – Deutschen-Killer!« Der Kanzlerwagen kam nur langsam voran. Er hielt an der Tribüne, die von den Demonstranten vor der Paulskirche aufgebaut worden war. Er wußte, daß jetzt der gefährlichste Teil seiner Mission begann. Aber er stieg freundlich winkend aus dem Wagen, ging die paar Stufen zum Podium hinauf, stellte sich hinter die Batterie der Mikrofone, sah Fernsehkameras auf sich gerichtet und viele gezückte Fotoapparate. Er hob beide Hände nach oben und bat mit Gesten um Ruhe. »Ich habe Ihnen etwas zu sagen, meine Mitbürger und Mitbürgerinnen!« rief er. Aber auf dem Platz wollte keine Ruhe einkehren. »Wenn Sie selbst Lärm machen, können Sie auch nicht hören, was ich Ihnen zu sagen habe«, rief er wieder. »Heinrich Müller – Deutschen-Killer! Heinrich Müller – DeutschenKiller!« schrien aufgeregte Gruppen direkt unter ihm und fingen an, an dem schwach gebauten Podium zu zerren. Ein paar Polizeibeamte versuchten sie wegzudrängen, was auch gelang. Dann aber fingen sie auf der anderen Seite an. Das Podium begann gefährlich zu schwanken. »Heinrich Müller – Deutschen-Killer!« Von hinten kam ein Schub nach vorn, die Masse durchbrach die Polizeikette. »Meine Damen und Herren, meine Freunde …«, rief der Kanzler immer wieder in die Mikrofone, und dann fing er einfach an zu sprechen: »Sie sind hier versammelt, um gegen mich und meine Regierung zu demonstrieren. Das ist Ihr gutes Recht …« »Heinrich Müller – Deutschen-Killer!« Heinrich Müller spürte, daß sich die Menge langsam in zwei Lager zu spalten begann. Er sah in die Gesichter, die direkt zu seinen Füßen hin und her wogten. Er sah, wie einige Besonnene die aufgehetzte Menge zu beruhigen suchten. Und er 312
hoffte, daß er hier und heute siegen würde. Allein sein Mut, persönlich aufzutreten, zwang auch den Gegnern Respekt ab. Durch die Menge kämpfte sich eine junge Frau nach vorn. Sie hatte einen zerrupften Strauß weißer Nelken in der Hand, den sie hoch über ihrem Kopf schwenkte, wohl in der Absicht, ihn dem Kanzler zu überreichen. Heinrich Müller verstand sich aus Hunderten Wahlveranstaltungen auf symbolische Gesten. Er wußte, wie beruhigend sie wirken konnten, wie sie Respekt und Anteilnahme forderten. So beging er seinen großen Irrtum. Er beugte sich herunter und streckte der jungen Frau die Hände entgegen, als wollte er ihr auf das Podium helfen, doch er wollte nur die Blumen übernehmen. Die Frau sprang mehrmals in die Höhe, die Blumen in der ausgestreckten Hand und traf, wild fuchtelnd, mit den weißen Nelken den Kanzler ins Gesicht. Für einen der Sicherheitsbeamten war dies ein Angriff auf den Kanzler und er erinnerte sich an die Anweisung des Sicherheitsministers Kamphausen, im Zweifelsfalle von der Waffe rücksichtslos Gebrauch machen. Er riß die SZS-1 aus dem Halfter und drückte ab. Es gab einen kleinen Knall, der im Geschrei der Menge fast unterging. Aber Kamphausens Patrone suchte sich mit tödlicher Sicherheit ihr Ziel und traf – statt der Frau – den Kanzler, direkt in die Stirn. Heinrich Müller riß den Mund auf, als wollte er noch sagen: »Laßt sie doch, laßt das sein!« Dann brach er zusammen. Der Kanzler war tot. Plötzlich verstummten die hunderttausend. Man hörte kaum einen menschlichen Laut. Alle standen wie versteinert. Blut sickerte aus der Wunde Heinrich Müllers, als die Sicherheitsbeamten ihn aufhoben. Das Podium war in Sekundenschnelle von Sicherheitstruppen umstellt, die Kamphausen für alle Fälle hatte in Bereitschaft stellen lassen. Von der Kirche läuteten die Glocken den Sonntagmittag ein. Sirenen heulten auf, Kommandos kamen über Lautsprecher. Die Menge wich zurück, löste sich erst langsam, dann immer schneller auf. Der Kanzler wurde zu einem Notarztwagen gebracht, wo zwei Ärzte nur seinen Tod feststellen konnten. 313