Cover
DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Martin, Hansjörg Der Kammgarn-Killer
Ein Kriminalroma...
28 downloads
487 Views
803KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Cover
DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Martin, Hansjörg Der Kammgarn-Killer
Ein Kriminalroman und drei Kriminalerzählungen
Ein Raubmörder, der keiner ist, ein Bankbeschützer wider Willen, ein Herr auf Abwegen, der seine Meisterin findet, und das unappetitliche Ende eines ehemaligen Nazischergen erwarten den Leser dieser Kriminallektüre. – Lektüre für diejenigen, die Geschmack finden am „leisen Krimi“, denen die Suche nach dem Warum eines Verbrechens mehr bedeutet als das Wie der Aufklärung, die Geschichten nach klassischem Muster, heiter und ernst erzählt, mögen. Hansjörg Martin, der bei Hamburg lebende Autor, wird mit dieser Auswahl erstmals in der DDR vorgestellt.
Hansjörg Martin
Der Kammgarn-Killer Pistolen bringen manchmal Glück Der Witwenmacher Ich habe Witte wiedergefunden
Verlag Das Neue Berlin
Der Kammgarn-Killer
1 Ernst Voigt fuhr seinen Wagen kurz nach neun auf das Parkdach über dem Einkaufszentrum. Der Wagen war erst zwei Tage oder 117 Kilometer alt. Voigt hatte vorher einen anderen Typ gehabt, einen, der mit nur sechs Knöpfen am Armaturenbrett ausgestattet gewesen war. Dieser hier besaß vierzehn, und Voigt kannte sie noch nicht alle. So geschah es, daß er den falschen drückte, als es während der Auffahrt plötzlich zu regnen begann. Statt des Scheibenwischers setzte er das Frischluftgebläse in Gang und erschrak bei dem jähen Rauschen so heftig, daß er – blind vom Regen – mit dem rechten Kotflügel den Sockel streifte, der die gewendelte Auffahrt abgrenzte. Es klingt scheußlich, wenn Stahlblech an Beton entlangschrammt. Voigt trat auf die Bremse, ohne auszukuppeln. Der Wagen stand. Der Motor soff ab. Voigt fand den Scheibenwischerknopf, aber der Scheibenwischer lief nicht bei abgestelltem Motor. Hinter Voigt hupte jemand. Voigt drehte die Scheibe herunter und steckte den Kopf hinaus. Sein Haar war vom platternden Regen sofort klatschnaß. Der Mann im Auto hinter ihm blinkte und hupte. In der Schräge stand inzwischen ein weiterer Wagen. Voigt nahm den Kopf zurück. Das Regenwasser lief ihm in die Augen und hinten in den Kragen. Er zwang 6
sich zur Ruhe, zog die Handbremse, startete unter dem ständigen, nervtötenden Hupen der zwei – jetzt drei – Autos hinter ihm in der engen, steilen, gewundenen Auffahrt, kriegte endlich den Motor wieder in Gang, hatte nun, durch den laufenden Scheibenwischer, Sicht nach vorn und fuhr, naß von Regen und Schweiß, im ersten Gang die restlichen zwanzig Meter hinauf auf das Parkdach. Als er oben war, hörte der Regenschauer so plötzlich auf, wie das Geschrei einer Schulklasse beim Eintreten eines strengen Lehrers. Das Parkdeck war noch fast leer. Voigt fuhr so nahe wie möglich an die Aufzüge heran, hielt an und stieg aus. Der Wagen, der hinter ihm gehupt hatte – ein Mercedes Diesel – hielt links neben ihm. Ein vierschrötiger Mann kletterte heraus. Er hatte ein rotes Gesicht und einen rotblonden Schnurrbart, der seltsam stachelig aussah. „Lassen Sie sich Ihr Geld wiedergeben, Mann!“ rief er Voigt zu. Voigt verstand nicht. „Was für Geld?“ fragte er. „Von der Fahrschule!“ blökte der Stachelbärtige und wandte sich lachend ab. Voigt kniff die Lippen zusammen, ging um sein Auto herum und besah sich den Schaden. Es war nicht so schlimm, wie es sich angehört hatte. Nur zerschrammter Lack. Die kleine Delle hinter dem Scheinwerferring würde auszubeulen sein. Aber die Werkstattpiraten … Einen guten Hunderter mußte er mindestens rechnen. Und den mußte er selber bezahlen, schon damit Priesecke nichts von der Panne erfuhr. Und Trudchen um Himmels willen auch nicht. Er würde die Reparaturkosten von den Spesen abknapsen müssen … Priesecke hatte ihm die Papiere und die Schlüssel für den neuen Wagen vorgestern gegeben und dazu grin7
send gesagt: „… der ist ’n paar PS stärker als Ihr voriger, Herr Voigt. Schaffen Sie das denn noch, fünfzehn Pferde mehr, wie?“ „Aber sicher“, hatte Voigt erwidert, lächelnd erwidert, mit dem Lächeln, das er fast automatisch aufsetzte, wenn er merkte, daß ihn jemand vorsätzlich kränkte oder provozierte, von dem er in irgendeiner Weise abhängig war. Es war sein Untertanen-Lächeln, wie er es selbst einmal genannt hatte, als er noch mutig und kräftig genug gewesen war, seinen Beruf, sein Leben zu analysieren und mit Ironie zu betrachten. Voigt schloß jetzt die Hecktür des Kombiwagens auf, holte mehrere Metallstangen und zwei Rahmen mit kleinen Rädern heraus, steckte geschickt und schnell alles ineinander und zusammen und hakte dann die im Fond des Wagens aufgehängten Längsstangen in das Gerüst, die mit drei oder vier Dutzend Kleiderbügeln bestückt waren, auf denen in Plastikhüllen Anzüge oder einzelne Hosen und Sakkos hingen – die Musterkollektion für den nächsten Sommer. Ernst Voigt schob die beiden fahrbaren Gestelle neben den Wagen und holte aus dem Gepäckraum noch zwei ziemlich schwere Ledertaschen, die er unten quer auf die Stangen stellte. Dann schloß er das Auto ab und bugsierte die Gestelle zu den Aufzügen. Der Wind erschwerte die ohnehin schwierige Arbeit, fuhr zwischen die Sakkobeutel und Hosen, zerblies ihm die Frisur oder das, was er mit seinen restlichen dünnen Haaren zur Frisur gemacht hatte, und klatschte ihm die Krawatte vor die Augen. Voigt fluchte leise. Scheißtagesanfang! Ein junger Mann half ihm, die sperrigen Gestelle durch die schwere Flügeltür zu schieben und in einem der drei Fahrstühle unterzubringen. „Danke“, sagte Voigt außer Atem und kämmte sich die strubbeligen Haare. 8
„Auch kein ganz einfacher Job, was?“ fragte der junge Mann. „Ach, na ja“, sagte Voigt. „Was ist schon einfach heutzutage. Oder verdienen Sie Ihr Geld mit Nichtstun?“ „Ja, genau damit“, sagte der junge Mann fröhlich. „Seit vier Monaten. Ich bin arbeitslos.“ „Und Sie kommen zurecht?“ fragte Voigt. „Sicher. Wenn ich das schwarze Geld dazu rechne, hab ich mehr als früher, wo ich acht Stunden am Tag malochen mußte …“ Sie waren im Erdgeschoß angelangt. Der fröhliche Arbeitslose half noch, die Kollektion aus der Kabine herauszurangieren, und lief dann davon. Voigt zog seine Gestelle den breiten Gang entlang, der – von leiser Musik berieselt – noch morgendlich frisch und fast leer war. In und vor den verschiedenen Geschäften wurden die verschiedenen Käuferfallen aufgestellt: Sonderangebote, Preisknüller, Niedrigpreise, Spartips … Männer und Mädchen in bunten oder weißen Kitteln rückten Krabbelkörbe, Blickfänge, Warenständer zurecht, und die ersten Kunden schnupperten schon am Speck. Ernst Voigt erreichte mit dem leise ratternden Gestänge nach etwa hundert Metern das Textil-Geschäft Ina Horwitz, das unter dem Namen „Inas Mode-Ecke“ firmierte und auch wirklich ein ziemlich großer Eckladen zwischen einem Schallplattenshop links und einer Parfümerie rechts war. Von links wurde das Textilgeschäft mit Ohrwürmern, von rechts mit Nasenreizen versorgt. „Aber immer noch besser als zwischen einem Fischgeschäft und einer Hähnchenbraterei“, pflegte Ina Horwitz zu sagen, womit sie sicher recht hatte. Die breite, doppelflügelige Glastür zum Geschäft stand offen. Innen hantierte ein dünnes Mädchen am Regal mit Pullovern. Ein zweites putzte den großen Spiegel vor den Umkleidekabinen. Ein drittes ordnete einen Stapel Oberhemden. 9
Alle drei sahen auf, als Ernst Voigt von der Tür aus „Guten Morgen, meine Damen!“ rief. Eines der Mädchen murmelte gleichgültig etwas Unverständliches. Das zweite sagte gar nichts. Das dritte setzte ein mattes Lächeln auf und ging zu dem silbergrauen Leinenvorhang, der hinten rechts neben den Ständern mit Damenmänteln den Verkaufsraum abschloß. Das Mädchen lüpfte den Vorhang und rief: „Der Herr Voigt ist da, Chefin!“ „Vielen Dank!“ sagte Voigt. Er hätte gern noch irgendwas Persönliches hinzugefügt, vielleicht: „Liebes Fräulein Elvira!“ oder so … Aber er wußte den Namen des Mädchens nicht. Er hatte sowieso ein miserables Personen- und Namengedächtnis. Das wurde seit drei, vier Jahren auch immer miserabler – und die Verkäuferinnen ähnelten sich außerdem, fand Voigt, auch immer mehr. Oder richtiger: Sie sahen alle aus, wie der jeweilige umschwärmte Platten- oder Kinostar, hatten alle die gleiche Frisur und das gleiche Makeup und trugen die gleichen Kleider und zogen in gleicher Weise die Nasen kraus oder die Münder schief … Da sollte sich ein Mensch merken, ob das Mädchen nun Elvira hieß oder Manuela oder sonstwie. Aber „Danke, liebes Fräulein!“ konnte man auch nicht sagen, weil manche schon mit neunzehn Jahren Wert darauf legten, als Frau angesprochen zu werden – auch wenn sie noch nicht verheiratet waren. Und „Danke, liebes Kind!“ wollte Voigt nicht sagen. Es machte ihn noch zehn Jahre älter, als er ohnehin war. Mit Mitte Fünfzig hat man da so seine Probleme. Durch den silbergrauen Vorhang trat Ina Horwitz. Sie trug ein großgeblümtes Kleid, das eine Nuance zu großgeblümt für ihre vierundvierziger Figur war, von ihren 45 Jahren ganz zu schweigen. Aber sie trug es mit der Sicherheit der erfolgreichen Unternehmerin und mit dem Charme einer Frau, die ihre Rolle kennt und beherrscht. 10
Sie lächelte. „Ach, sieh da, der liebe Herr Voigt!“ Sie sagte „Voocht“ und streckte ihm eine mollige, gepflegte Patschhand entgegen. „Hosen und Jacken en gros et en detail “, fuhr sie fort. „Ankroo“, sagte sie und „Andeetalch“. Sie ließ den Goldzahn vorn links blitzen und schüttelte Ernst Voigts Hand, daß ihre Brüste unter dem Großgeblümten wackelten, als würden die roten und gelben Phantasieblüten von einem geräuschlosen Erdbeben erschüttert. „Guten Tag!“ sagte sie, und es klang wie „Daaach!“. Sie stammte aus der Drehe von Schkeuditz, einem Vorort der Messestadt Leipzig, und es war ihr in über zwanzig Jahren Aufenthalt in Norddeutschland nicht gelungen, das Haferbrei-Idiom ihrer Heimat ganz loszuwerden, obschon sie sich wirklich alle Mühe gegeben hatte und immer noch gab. „Wo ist Ihre Ware?“ fragte sie. „Vor der Tür“, sagte Voigt und wies mit dem Daumen über die Schulter nach hinten. „Und was soll sie da? Wollen Sie mir den Eingang versperren, mein Lieber? Herein mit dem Kram. Vielleicht kaufe ich Ihnen sogar eine Hose ab, hahaha! Los, Kinder, kommt! Schiebt mal schnell die Gestelle ins Kabuff!“ Die Mädchen flitzten. Voigt wollte ebenfalls hinaus, weil es ihm peinlich war, andere seine Arbeit machen zu lassen. Er lief zu schnell, stolperte über eine Falte im Teppich, stürzte aber zum Glück nicht, sondern konnte sich torkelnd mit ausgebreiteten Armen gerade noch so halten. Ina Horwitz lachte. „Sie sollen mir Konfektion verkaufen, Herr Voigt, und keine Kunststückchen vormachen! Ich glaub Ihnen auch so, daß Sie fit sind – obwohl Sie mir ja den letzten Beweis noch schulden, haha!“ Ach du liebe Güte, dachte Voigt mit rotem Kopf; auch das noch! Bleibt mir denn heute gar nichts erspart? Und er lächelte dabei die Dicke an, so gut er konnte. Dann 11
schob er mit den drei Verkäuferinnen die Kollektion durch den Vorhang in das Zimmer dahinter. „Ist Ihr Herr Schrader heute nicht da?“ fragte er. „Nein, der ist krank“, sagte Ina Horwitz. „Aber den brauchen wir auch nicht, denke ich. So viel wie Schrader verstehe ich von Männerhosen allemal, haha!“ Sie setzte sich in einen der etwas schäbigen Stahlrohrsessel, von denen drei um den großen, leeren Tisch standen. Das Kabuff war hell beleuchtet, denkbar ungemütlich und hatte was vom provisorischen Charakter eines Zirkus-Wohnwagens, in dem gastierende Artisten für einen Monat untergebracht werden, oder von einer Theatergarderobe, in der nie jemand etwas anderes tut, als sich umzuziehen, zu schminken, auf seinen Auftritt zu warten oder sich abzuschminken. Das einzige, das dem Raum einen Hauch Menschlichkeit verlieh, war die Kaffeemaschine auf dem kleinen Tisch neben einem schäbigen Spind, die blubberte und den Duft guten Kaffees verbreitete. Aber das billige, bunt zusammengewürfelte Geschirr davor dämpfte Voigts Appetit auf Kaffee, weil es nicht allzu sauber aussah. Trotzdem sagte er natürlich: „Ja gern, Frau Horwitz!“, als ihn die großgeblümte Chefin fragte, ob er eine Tasse trinken wolle. Er würde auch „Ja, gern“ gesagt haben, wenn sie ihm kalten Kamillentee angeboten hätte oder Eierlikör – beides Getränke, die er verabscheute wie Marschlieder und Ölgemälde von oberbayerischen Gebirgsseen. Ina Horwitz erhob sich, schenkte Kaffee ein und reichte ihm eine Tasse. Sie fragte nicht, ob er Zucker oder Sahne dazu haben wollte. Er hätte gern ein Stück Zucker gehabt, doch er traute sich nicht, darum zu bitten, um sie nicht in Verlegenheit zu bringen, falls kein Zucker da war. Er trank den schwarzen, bitteren Kaffee im Stehen. Sie setzte sich wieder, und ihr Kleid rutschte dabei über die Knie. Das waren runde, formlose Wülste, 12
die durch die teuren Strümpfe auch nicht viel schöner wurden. „Also dann“, sagte Ina Horwitz, „dann wollen wir mal, lieber Herr Voigt! Was haben Sie denn Schönes? Daß Sie mir aber nicht wieder solche Dehnbundhosen andrehen wie Ihre Marke Teneriffa voriges Mal, hören Sie! ‚Das wird ein Schlager!‘ haben Sie erzählt. Und die liegen bei mir wie Blei! Elf Stück habe ich geordert und gekriegt – und eine verkauft in dem halben Jahr! Kein Mensch hat sie auch nur anprobiert. Aber das ist kein Wunder bei dem Dessin und solchen beknackten Farben! Und Flügeltaschen! Die kann ich nur noch im Sommerschlußverkauf loswerden … Also mit so was verschonen Sie mich diesmal, ja!“ Voigt widersprach ihr nicht. Er entschuldigte sich und bedauerte, daß die Hose Teneriffa bei ihr nicht gegangen war – er hätte sonst nirgendwo etwas Nachteiliges darüber gehört, sagte er. Doch das war schon zuviel. Ina Horwitz verkniff die wasserblauen Augen. „Was heißt das?“ fragte sie, und ihre Stimme war plötzlich scharf. „Wollen Sie damit sagen, daß anderswo besser verkauft wird? Daß es vielleicht an mir liegt, wenn ich auf einem Artikel sitzenbleibe?“ Und ehe Voigt, der beschwörend die Hände erhoben hatte, noch irgend etwas erwidern konnte, fuhr sie fort: „Ich habe im letzten halben Jahr meinen Umsatz um rund vierzehn Prozent gesteigert, mein Bester! Vierzehn! Und das trotz der Warenhauseröffnung vorn an der Straße und trotz des verregneten Sommers, in dem so gut wie keine Freizeitkleidung … Vierzehn Prozent! Und da kommen Sie und sagen, das liegt an mir, wenn ich Ihre Ware nicht loswerde, wie? Das ist ja doch … Aber wir wollen uns nicht streiten. Zeigen Sie mal, was Sie da mithaben!“ Voigt hatte die Hände sinken lassen. Was ist nur heu13
te los? dachte er. Voriges Mal hab ich ihr über zweihundert Anzüge und hundertfuffzig Sakkos und dreihundert Hosen verkauft, reibungslos, innerhalb von drei Stunden. Und heute motzt sie mich an, ehe ich noch das erste Stück vom Ständer habe, verdammt noch mal! „Womit wollen wir anfangen, Frau Horwitz?“ fragte er und sah sie mit dem Ausdruck an, den er seinen „tiefen Blick“ nannte: halbgeschlossene Lider, leicht gesenkte Mundwinkel, etwas geöffnete Lippen die linke Augenbraue ein paar Millimeter gehoben. Er hatte das vor dem Spiegel geübt – damals schon, als er seine Laufbahn als Textilvertreter begann –, und er hatte damit bei Direktricen oder Geschäftsinhaberinnen über Vierzig immer Erfolg gehabt. Nur einmal, vor zehn oder elf Jahren, bei einer schwarzhaarigen Witwe in einem kleinen, aber gutgeführten Laden oben im Oldenburgischen, da war er damit nicht gelandet. Die Frau war so ’ne Intelligenzbestie gewesen, die ganz genau gewußt hatte, was sie wollte, und die er – als sie seine neue Kollektion mit ironischen Bemerkungen kritisierte – mittels seines „tiefen Blicks“ zu beeinflussen versucht hatte. Aber da hatte die resolute Dame erstaunt den – an sich hübschen oder, richtiger, aparten – Kopf in den Nacken gelegt und hatte gefragt: „Ist Ihnen nicht gut, Herr Voigt? Soll ich Ihnen eine Aspirin geben? Oder lieber einen Kognak? Sie wirken plötzlich so, als hätten Sie irgendwas … Magenschmerzen? Oder sind Sie müde?“ Und dann hatte sie, als er zwinkernd seinen normalen Verkaufsausdruck wieder annahm, spöttisch gelächelt und hatte gesagt, er habe sie für einen Moment an ein schläfriges Pferd erinnert. Hier und heute aber, in „Inas Mode-Ecke“, bestand nach Ernst Voigts Meinung diese Gefahr nicht. Denn Ina Horwitz war gewiß keine Intelligenzbestie und würde auf seinen „tiefen Blick“ sicher so reagieren, wie viele Dutzend anderer Frauen bis jetzt reagiert hatten. 14
Es funktionierte. Ina Horwitz erwiderte blinzelnd Voigts Blick, machte leise „Oh …“, ließ für vier, fünf Sekunden danach den Mund offen, schluckte, fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen und sagte mit heiserer Stimme: „Beginnen wir mit … äh … mit den Hosen, den … äh … den Herrenhosen, wie?“ „Ja, wie Sie wünschen, Frau Horwitz!“ Voigt hob geschickt und mit dem Schwung, den ihm das kleine Erfolgserlebnis soeben verliehen hatte, eine Reihe Hosenbügel von seinem Gestell und legte sie auf den Tisch, von dem Frau Horwitz die leeren Kaffeetassen auf ein Nebentischchen geräumt hatte, ohne aufzustehen. „Da haben wir also ein neues Muster“, begann Voigt forsch und hob die erste Hose präsentierend hoch. „Das ist das Modell Cadillac – eine modisch-sportliche Gürtelhose, ohne Bundweitenprobleme mit zwei Gesäßtaschen. Wir haben da die gleiche Paßform genommen, wie bei dem Typ Hansa im vorigen Jahr, den Sie gewiß gut verkauft haben …“ „Ja, das war ein recht ordentlicher Artikel“, sagte Ina Horwitz, jetzt wieder sachlich und mit normaler Stimme. „… nur, daß Cadillac mehr rustikal verarbeitet ist“, fuhr Voigt fort. „Also im Styling eher der Serie Hubertus angepaßt, die ja ein echter Erfolg war – und noch ist, wenn ich das so sagen darf. Es gibt die Hose in Schilf, das ist ja der neue Trend – überhaupt alle Grüntöne von Lind über Oliv bis Moos sind im Kommen –, und natürlich in den drei Grautönen, die ja immer gehen. Sie können sie in allen Größen haben, auch halbe Größen sind lieferbar. Material 55 Prozent Polyester/Diolen, 45 Prozent Schurwolle, 540 Gramm. Kurzum: Eine Hose, von der wir uns viel versprechen!“ „Tja“, sagte Frau Horwitz mit prüfend schiefgelegtem Kopf. „Tja … Sieht gut aus! Also schreiben Sie mal! 48 15
bis 58 je zwei – nein, stopp! 46 bis 50 je zwei, 52, 54 je dreimal, und von den großen Größen keine. Bei mir kaufen verhältnismäßig wenig Dicke! Aber von 23 bis 29 je eine … Haben Sie? Und 49 bis 51 je zwei … Klar? Die nächste!“ Voigt füllte flink den Bestellbogen aus und nahm die nächste Hose hoch. „Das ist ein neues Modell der Serie Lucky Star, also eine junge Hose, sozusagen, haha! Sie heißt Joujou und ist ein betont jugendlich schlankes Stück, aktuell als Bundfaltenhose mit dem DreiZentimeter-Umschlag, der sich ja doch immer mehr durchsetzt, wie Sie wissen! Wir haben sie mit einer geknöpften Bundverlängerung versehen und mit einer doppelpaspelierten, durchgeknöpften Gesäßtasche, die …“ Voigt redete, zeigte, redete und verlor von Hose zu Hose, von Sakko zu Sakko, von Anzug zu Anzug mehr von seiner anfänglichen Unsicherheit und schlechten Laune – weil die mollige Blondine ihm zuhörte, ihm offenbar vertraute und sehr gut bestellte. Nach fast drei Stunden hatte er seine Kollektion vorgeführt und für mehr als 19 000 Mark Bestellungen aufgeschrieben. Das entsprach einem Verdienst von über 650 Mark für ihn – das war sehr gut für die erste Hälfte des Tages. Er war richtig zufrieden. Wenn die Woche so weiterging, konnte ihm der Kratzer am Auto schnuppe sein. Priesecke würde sich seine dreckigen Bemerkungen wie „Schaffen Sie das noch …?“ verkneifen müssen. Und Trudchen müßte ihre dauernde Nörgelei, daß er zuwenig verdiene, ebenfalls sein lassen. Aber sie würde dann schon irgendwas anderes finden … Ja, sicher; er hatte ein schlechtes Jahr hinter sich – aber das war nicht allein seine Schuld. Da waren viele Dinge zusammengekommen: Ärger, Krankheit, Flaute in der gesamten Textilwirtschaft, die Dollarkrise, die viele vorsichtig gemacht hatte, der ständige Zank zu Hause … 16
Und er hatte gemerkt, daß es einem mit 55 Jahren schwerer fällt, Fehlschläge zu schlucken und zu überwinden, als mit 35 Jahren. Aber nun ging es wieder bergauf, klar! So ein Vormittag, da kam wieder Wind in die Segel, jawollja! Und er würde es ihnen schon zeigen, daß er immer noch zur Spitzencrew gehörte und allemal noch mit fünfzehn Pferden mehr unter der Motorhaube glatt zurechtkam, zum Teufel noch mal! „Na fein, lieber Voigt“, sagte Ina Horwitz, „das hätten wir also! Packen Sie mal schön ein, bringen Sie Ihren Kram ins Auto, und dann lade ich Sie zum Essen ein, einverstanden?“ „Aber mitnichten einverstanden, liebe Frau Horwitz!“ rief Ernst Voigt. „Ich lade Sie zum Essen ein, wenn Sie erlauben!“ „Wir werden es im Restaurant ausknobeln“, entgegnete sie. „Können Sie knobeln?“ „Ja, sicher“, sagte er. „Aber …“ „Kein Aber!“ unterbrach sie ihn. „Wenn Sie nicht mit mir knobeln wollen, müssen Sie allein essen! Und ich wünsche fast, ich verliere und muß bezahlen – denn dann könnte ich auf die Sprichwort-Wahrheit hoffen: Pech im Spiel, Glück in der Liebe … Haha!“ Sie lachte laut – ein bißchen zu laut, aber Voigt lachte laut – ein bißchen zu laut – mit. „Die Mädchen helfen Ihnen“, sagte sie, stand auf, steckte den blondkunstgelockten Kopf durch den Vorhang und rief: „Betty! Angelika! Kommt, helft dem Herrn Voigt. Lilo bleibt im Laden!“ Eine Viertelstunde später war Voigts Kollektion wieder in Reih und Glied auf den Gestellen, und er brachte sie mit Hilfe der zwei kichernden Mädchen oben aufs Parkdach und verstaute alles im Wagen. Eine weitere Viertelstunde später saß er Frau Horwitz gegenüber an einem 17
Fenstertisch des Restaurants Zum Heidekrug, 200 Meter vom Einkaufszentrum – viele Kilometer von der nächsten Heide – entfernt. „Also los, knobeln!“ befahl die resolute Geschäftsfrau und ballte auch schon die rechte Hand zur Faust. „Ach, machen Sie mir doch die Freude, und seien Sie mein Gast!“ versuchte es Voigt noch mal. „Nein!“ sagte Ina Horwitz beharrlich. „Ausgemacht ist ausgemacht. Los, spielen Sie mit!“ Es blieb ihm nichts übrig, als auch die Hand zur Faust zu ballen und auf ihr Kommando mitzuknobeln. „Eins, zwei, drei!“ sagte sie und spreizte Mittel- und Zeigefinger, während Voigt die Faust geballt ließ. „Stein schleift Schere!“ sagte sie. „Eins zu null für Sie, Herr Voigt! Weiter! Eins, zwei, drei!“ Voigt streckte seine Hand flach aus, Ina Horwitz ließ ihre geballt. „Papier wickelt Stein ein!“ verkündete sie fröhlich. „Sie haben gewonnen! Ich muß bezahlen! Schön!“ Sie tätschelte über dem Tisch seine Hand und lachte. Der Kellner kam. Sie bestellten. Voigt würde sich, wenn er allein gegessen oder die Knobelei gewonnen hätte, anläßlich des guten Geschäfts gern ein Filetsteak mit frischen Champignons und Kräuterbutter bestellt haben, aber das kostete über zwanzig Mark, und so bestellte er sich gefüllte Paprikaschoten für sieben fünfzig, und das Wasser lief ihm im Munde zusammen, als er Frau Horwitz beim Essen zusehen mußte, die das Filetsteak gewählt hatte. Sie trieben während der Mahlzeit jene Sorte Konversation, bei der man den Satz, den man sagt, schon vergessen hat, ehe er zu Ende gesprochen ist: das Wetter in diesem Sommer, die Preise in diesem Jahr, die Schwierigkeiten in dieser Branche, die Aussichten in dieser Zeit … und so weiter und so weiter. Zwischen Hauptgericht und Nachtisch fragte Ina Horwitz überraschend: „Sind Sie 18
verheiratet, Herr Voigt?“ (Vooocht!) Und als er verdutzt nickte: „Und wie lange schon?“ „Seit bald zwanzig Jahren.“ „Kinder?“ „Nein – meine Frau ist kränklich, sie … Nun ja, sie ist nicht stabil genug für Kinder, weil … äh … Es sind die Nerven“, stammelte er. Ina Horwitz schwieg eine Weile. Der Kellner brachte das Kompott. Voigt wußte auch nicht, was er jetzt sagen sollte, und je krampfhafter er nach einem Thema suchte, desto leerer erschien ihm sein Kopf. Das Kompott schmeckte ihm nicht, aber er schluckte es hinunter, weil seine Kundin ihres mit sichtlichem Appetit aß. „Darf ich Ihnen denn wenigstens noch einen Kaffee bestellen – und vielleicht einen Kognak?“ fragte er. Sie antwortete mit der Gegenfrage: „Wohin wollen Sie jetzt?“ „Wollen? Ich muß nach Neustadt“, sagte er. „Werden Sie dort erwartet?“ fragte sie. „Ja, da ist ein Kunde, bei dem ich mich für den späten Nachmittag angesagt habe“, erklärte er. „Später Nachmittag ist fünf, halb sechs, nicht wahr?“ Sie wartete seine Bestätigung nicht ab, sondern sprach gleich weiter: „Jetzt ist es eins … kurz nach eins … Sie brauchen etwa zwei Stunden bis Neustadt, höchstens zwei Stunden, denke ich. Dann trinken wir bei mir noch gemütlich einen Kaffee miteinander!“ „Ja, gern, danke!“ sagte er und erschrak, als sie sagte: „Ich wohne nur fünf Minuten von hier!“ Denn er hatte gedacht, sie meine mit „bei mir“ ihr Geschäft. Aber es war nun unmöglich, die Einladung abzulehnen. Sie winkte dem Kellner, zahlte und stand auf. Er half ihr in den Mantel und ging an ihrer Seite aus dem Lokal, 19
die Straße entlang, eine schmale Straße rechts ab und in ein schön renoviertes Haus aus der Gründerzeit. Dort stand er neben ihr in dem alten, ratternden, holzgetäfelten Fahrstuhl, sah sein verlegenes Gesicht in dem narbigen Spiegel an der Fahrstuhlwand, bemühte sich um einen fröhlich-freundlich-unverbindlichen Gesichtsausdruck. Er wußte nicht, wohin mit seinen Händen, als Frau Ina Horwitz sich jetzt an ihn lehnte, und sagte irgendwas ganz Albernes: daß diese alten Häuser doch einen eigenen, unverwechselbaren Reiz hätten und wie interessant das sein müßte, zu wissen, welche Schicksale sich in dem Jahrhundert ihres Bestehens in diesen Wänden erfüllt hätten, während Ina Horwitz ihn nur ansah und den vollen Mund zwischen ihren runden Wangen ein Stückchen öffnete und schwer atmete. Die Wohnung im dritten Stock des alten Hauses war erstaunlich schön. In dem großen, hohen Wohnraum, in den Ina Horwitz ihn führte, nachdem er ihr auf dem langen Flur aus dem Mantel geholfen und diesen an einen rotlackierten Garderobenständer in Wiener Kaffeehausstil gehängt hatte, der an der Wand neben einer Reihe hübscher Hamburgensien stand – in dem großen, hohen Wohnraum also waren nur wenige Möbel. Die sahen so schlicht aus, daß sie sicher sehr teuer gewesen waren. Ein aprikosenfarbener Teppich, knöcheltief und doppelt so groß wie der Spielplatz eines städtischen Kindergartens, reichte von der Tür bis zum dreifenstrigen Erker, in dem eine echte, fremde Pflanze blühte, die das Zimmer mit einem seltsam süßen Geruch füllte. Vor den Fenstern waren feingliedrige Jalousien herabgelassen, so daß eine Halbdämmerung herrschte, die den Raum noch exotischer machte. „Nehmen Sie bitte Platz, lieber Herr Voigt!“ sagte die Geschäftsfrau im Großgeblümten und wies auf ein geschwungenes, schönes Sofa rechts neben der Tür, 20
das eigentlich kein Sofa war, sondern irgendwas Französisches – nur wußte Ernst Voigt nicht, ob das Stück Bergère oder Récamier hieß … Aber so ähnlich hieß es. „Ich mach uns einen Kaffee! Fünf Minuten! Wenn Sie rauchen wollen – dort auf dem Tisch … Bedienen Sie sich.“ „Danke“, sagte Voigt. „Aber machen Sie bitte keine Umstände meinetwegen, Frau Horwitz!“ Sie lachte, streckte plötzlich ihre mollige Hand nach ihm aus, strich ihm mit den Fingerspitzen über Mund und Kinn, drehte sich – immer noch lachend – um und lief flink hinaus. Sie ließ die Tür angelehnt; er hörte sie im Flur entlangtrippeln und faßte sich verwirrt an Mund und Kinn, über die eben ihre Finger gestreichelt hatten. „Heiliger Nepomuk!“ flüsterte er und wunderte sich, wieso er gerade auf Nepomuk kam, von dem er gar nicht wußte, ob der Heilige für solche Situationen zuständig war. Er setzte sich nicht auf das Sofadings, das kein richtiges Sofa war, sondern ging auf dem tiefen Teppich hin und her, betrachtete die Bilder an der linken und die Bücher im Regal an der rechten Wand des dämmerigen, duftenden Zimmers, fand die Bilder befremdlich, weil es zum einen Teil unverständliche Kreise, Kringel und Schnörkel waren und zum anderen Teil eigenartige Collagen aus Fotos und Tapeten- oder Dekorationsstoff-Resten, staunte über die Bücher, von denen viele Titel trugen, unter denen sich Voigt nur unklar etwas vorstellen konnte. Kamasutra oder Das Nirwana als Anfang und Ziel und Die Regeln des goldenen Lotos oder Sanskrit als Sprache und Durchdringung … Solche Titel waren es, und alles Worte und Begriffe, die Voigt fremd und rätselhaft waren und über die er sich um so mehr wunderte, als er sie der Geschäftsfrau Ina Horwitz nicht zugetraut hatte. 21
Voigt kam nicht dazu, über die oft unvermutete Vielschichtigkeit menschlichen Charakters oder über den häufigen Unterschied zwischen äußerer Erscheinung und inneren Ambitionen nachzudenken, denn die indisch orientierte Geschäftsfrau betrat mit einem Tablett das Zimmer. Sie hatte in den paar Minuten ihrer Abwesenheit nicht nur Kaffee gefiltert, sondern auch das Großgeblümte gegen ein wallendes Baumwollgewand getauscht, das zwar ebenfalls heftig bunt, aber statt mit Blumen mit handgroßen roten und gelben Menschen gemustert war, die nackt waren und deutlich jener Beschäftigung nachgingen, die gemeinhin als Fortpflanzung bekannt ist, von Bürokraten, Polizisten und Juristen als Geschlechtsverkehr – oder kurz: GV – bezeichnet wird und unter der sich junge Leute fälschlich das vorstellen, was Literaten und illustrierte Zeitungen mit dem Wort „Liebe“ umreißen. Voigt hatte ein solches Gewand, das heißt ein so gemustertes Gewand noch nicht gesehen und starrte irritiert auf die kopulierenden Figuren, die sich auf Ina Horwitz’ Schultern und Busen tummelten. „Gefällt Ihnen mein Sarong, Herr Voigt?“ fragte die Mollige, während sie das Kaffeegeschirr auf den Tisch vor das Sofa stellte, das kein Sofa war. „Ja … Sehr, äh … originell!“ sagte er und spürte, daß sein Lächeln so schief ausfiel wie das Lächeln eines soignierten Adeligen, zu dem ein fröhlicher Beschwipster witzelnd und laut in großer Gesellschaft sagt: „Na, Herr Graf, wie geht’s denn den lieben Leibeigenen daheim?“ Ina Horwitz weidete sich offensichtlich an seiner Verlegenheit, forderte ihn noch mal auf, Platz auf dem Sitzmöbelsofadings zu nehmen, und setzte sich, als er saß, neben ihn, wobei ihm ein Schwall ihres Parfüms in die Nase wehte. Sie goß Kaffee ein, beugte sich dabei so weit vor, daß er bemerken mußte, sie trug nichts unter 22
dem buntbedruckten Baumwollgewand, und fragte diesmal tatsächlich, ob er Sahne oder Zucker zum Kaffee haben wollte. „Etwas Zucker, bitte“, sagte er heiser, obschon es ihm jetzt völlig gleichgültig war, wie der Kaffee schmeckte. Sein Kragen schien ihm zu eng zu werden. Er fühlte, daß er feuchte Hände bekam, und er hatte Mühe, das Zittern seiner Finger zu verbergen, als er die Tasse zum Mund führte. Das Schlimmste jedoch war, daß er nicht wußte, was er sagen sollte. Vom Wetter konnte er in dieser Situation ebensowenig reden wie vom Geschäft. Es wäre albern gewesen, die modische Entwicklung der Herrenkonfektion gesprächsweise zu behandeln oder Ina Horwitz nach ihrer kaufmännischen Meinung über die wirtschaftspolitischen Aussichten der Europäischen Gemeinschaft zu fragen. In einer so privaten Sphäre blieb nichts übrig, als private Dinge zu besprechen – aber gerade das war ja so verdammt riskant … Voigt nahm seinen Mut zusammen. „Ich weiß gar nichts von Ihnen, Frau Horwitz“, begann er zögernd. „Also, ich meine, ich weiß, daß Sie eine tüchtige und erfolgreiche Frau sind, wenn Sie mir das zu sagen gestatten – aber ich habe keine Ahnung von Ihrem Leben sonst … Pardon, es geht mich ja nichts an, verzeihen Sie bitte, wenn ich indiskret … äh … Aber da Sie mich schon in Ihre bildschöne Wohnung …“ Er brach ab. Sie hatte ihre Kaffeetasse auf den Tisch gestellt. Es war ein Biedermeiertisch … Ja, Biedermeier … Sie legte nun die rundliche Hand auf seinen Oberschenkel. „Mein Mann ist vor sechs Jahren gestorben. Ganz plötzlich – innerhalb von zwei Tagen war er tot, wissen Sie. Kopfschmerzen, ein Schlaganfall … Gott sei Dank, daß er sich nicht hat quälen müssen. Wir waren sechzehn Jahre verheiratet. Er war zwar zwanzig Jahre älter 23
als ich – aber wir haben eine gute Ehe geführt – alles, was recht ist!“ Sie spielte ein Schluchzen. Voigt murmelte etwas von Schicksalsschlag, Prüfung, Tapferkeit und brachte auch diesen Satz nicht zu Ende. Ina Horwitz streichelte seinen Oberschenkel und rückte auf der … auf dem Sofa näher. „Sie sehen KarlHermann, meinem Mann, so ähnlich!“ sagte sie. „Gleich, als Sie das erste Mal ins Geschäft kamen, vor zwei Jahren, hab ich gedacht: Wie mein Guter! Nur daß Sie etwas jünger sind. Aber die Figur … die Hände …“ Sie nahm Voigts linke Hand und legte sie sich auf die Brust. „Ach ja!“ seufzte sie. Meine Güte! stöhnte Voigt in Gedanken. Seine Hand lag auf dem leichten, bunten Baumwollstoff, und er spürte den großen, festen Busen der guten Kundin darunter und wußte nicht, wie er ihre Hand bremsen sollte, die seinen Oberschenkel so streichelte, als wolle sie gleich den Sitz der Hose im Schritt fachmännisch prüfen. Für über 19 000 Mark hat sie gekauft … dachte er; das sind 650 Mark bei dreieinhalb Prozent. Und eigentlich ist sie ja auch soweit ganz appetitlich … Und er beugte sich zu ihr und küßte ihren offenen, vollen Mund und ließ seine Hand unter die bunten, mit Fortpflanzung beschäftigten Paare gleiten. „Komm“, stöhnte sie. „Komm, wir gehen nach nebenan. Da ist es gemütlicher …“ – „Gemiedlicher“, sagte sie. Denn immer, wenn sie erregt war, brach ihre Muttersprache mit Urgewalt durch.
2 Otto Zylian betrachtete den jungen Mann, der ihm gegenübersaß, mit einem Gemisch aus Abscheu und Angst. 24
Wie einer bloß so rumlaufen mochte! Mit so langen, zotteligen Haaren und so einem Schnauz- und Vollbart! Scheußlich – nur die Nase und die Augen waren von dem Gesicht zu sehen. Das mußte ja auch schrecklich unpraktisch sein. Beim Essen zum Beispiel. Wie war das denn? Hob man den Schnauzbart hoch, um den Suppenlöffel in den Mund zu kriegen? Oder schlürfte man die Suppe mit unter dem Bart vorgespitzten Lippen? Und das erforderte doch auch ständige Pflege. Haare stinken, wenn man sie nicht regelmäßig ordentlich wäscht … Otto Zylian hatte nicht die Absicht, am bärtigen Gesicht seines Gegenübers zu schnuppern. Doch es hätte ihn schon interessiert, ob der Haarige roch. Es hätte ihn auch interessiert, ob Frauen das mochten, mit so einem Handfegergesicht im Bett … Ob es vielleicht gerade einen besonderen Reiz hatte? Aber das würde er nie erfahren, denn wen hätte er danach fragen können? Seine Frau nicht – natürlich nicht. Seine beiden Töchter schon gar nicht. Er stellte sich vor, was die wohl für Augen machen würden, wenn er sie fragte, macht so’n Vollbärtiger mehr Spaß im Bett? Mal abgesehen davon, daß er glaubte – nein, mehr hoffte als glaubte –, seine Töchter hätten da noch keine Erfahrung. Obschon Christa immerhin einundzwanzig war und im vierten Semester Jura studierte und Annelies mit neunzehn gerade das Abitur bestanden hatte … Aber zu einem zugewachsenen Schwiegersohn – nein, da würde Otto Zylian kaum einverstanden sein. Er würde keine Einwände erheben, weil er – mühsam und nach einem langwierigen Lernprozeß – immerhin verstanden hatte, daß Einwände sinnlos waren in dieser schlimmen Zeit und daß die jungen Leute doch machten, was sie wollten … Aber einverstanden würde er nicht sein, wenn Christa oder Annelies mit so einem Bräutigam heimkämen. Gott, was heißt schon „Bräutigam“? Das war auch so eine Vokabel, so ein Begriff von früher! 25
Otto Zylian haßte die neue Zeit. Er haßte die Freiheit der jungen Leute, ihre Freiheit in der Liebe vor allem. Aber er war nicht so dumm, daß er nicht genau gewußt hätte, daß sein Haß aus dem Neid kam … „Wie bitte?“ fragte er jetzt sein behaartes Gegenüber. „Ich habe nicht verstanden …“ Er hatte nicht aufgepaßt, aber das konnte er schwerlich zugeben. Er, Stadtrat Zylian, Fraktionsvorsitzender der Partei, auf deren Fahne – frei nach dem Dichter Liliencron, Freiherr von Liliencron, bitte – in silberner Schrift das einzige Wort stand: Selbstzucht. Vielleicht war er, Zylian, sogar in diese Partei eingetreten, weil er eine Schwäche für Sprüche hatte. Er liebte Zitate und hatte für jede Gelegenheit mehrere auf Lager. „Ich hatte Sie gefragt“, sagte der vollbärtige junge Mann, „ob Sie sich für unsere Zeitung zu den Vorwürfen äußern wollen, die gegen Sie, beziehungsweise gegen Ihre Fraktion im Rathaus erhoben worden sind.“ Wahrscheinlich lächelt er ironisch, dachte Zylian erbittert; möglicherweise verzieht er sogar die Mundwinkel Und grient – aber das kann man ja bei so einem nicht sehen … Und nun wurden aus seiner Abneigung, aus seiner Abscheu Unsicherheit und Angst. Wie kann man sich mit jemand auseinandersetzen, dessen Mienenspiel verborgen bleibt? Wie soll man sich verhalten, wenn der Gesprächspartner oder -gegner … hier wohl eher -gegner, denn solche jungen Zeitungsleute stehen ja meistens links – wenn also der Gegner sich nicht zu erkennen gibt hinter seiner Haarmaske? „Tja …“, sagte Otto Zylian also zögernd. „Wir sehen in den Vorwürfen gegen unsere Kulturpolitik die übliche Dreckschleuder der Opposition. Das ist doch nicht neu, Herr, äh … Herr …“ Verdammt, jetzt hatte er auch noch den Namen des Reporters vergessen! „Beissel“, half der Bärtige. „Ulf Beissel.“ „Herr Beissel, Verzeihung!“ Zylian ärgerte sich. „Aber 26
das ist doch nicht neu, daß man auf der anderen Seite allzugern die Pflege des Heimatgedankens als Faschismus oder Nazismus, wie Sie wollen, bezeichnet!“ „Aber Sie können ja nicht bestreiten, Herr Zylian“, sagte der Zeitungsmann, „daß der Schriftsteller oder meinetwegen Dichter, nach dem Sie die neue Schule nennen wollen, eine Art von Lyrik und Prosa verzapft, Verzeihung, verfaßt hat, die im Dritten Reich hoch im Kurs stand. Es gibt da ein Gedicht …“ „Ja, ja“, unterbrach Zylian schnell. „Das mag alles seine Richtigkeit haben. Aber für Jugendsünden sollte man niemand bestrafen. Schließlich ist ja auch in den Reihen der anderen Seite dieser oder jener …“ Er brach ab, weil es geklopft hatte. „Ja, bitte!“ rief er. Ein glattrasierter, korrekt gescheitelter junger Mann kam herein. „Entschuldigen Sie, Herr Zylian … Draußen im Geschäft ist das Ehepaar Böttcher. Herr Böttcher will einen Anzug kaufen, aber er besteht darauf, von Ihnen bedient zu werden, Herr Zylian. Was soll ich Herrn Böttcher sagen?“ „Bitten Sie ihn um zwei Minuten Geduld, Ströhlein. Ich bin gleich fertig. Sagen Sie ihm, daß ich gerade die Presse zu einem Interview hier habe.“ Der junge Mann namens Ströhlein verschwand dienernd. „Wir sind ja wohl auch sonst soweit klar?“ fragte Zylian den Reporter. „Ja, ich denke schon.“ „Nichts als Drecksleute – äh … Dreckschleuder. Das wird uns nicht beirren, die Schule nach Adolf Bartels zu benennen!“ sagte Zylian mit betont kräftiger Stimme, um seine Unsicherheit, seine Angst im Hintergrund zu überspielen. „Schönen Dank, Herr Zylian!“ Der Reporter erhob sich, steckte sein Notizbuch ein und wartete, ob Zylian ihm die Hand reichen würde. 27
Zylian zögerte. Dann stand er auch auf und überwand sich. „Keine Ursache“, sagte er und schüttelte, über seinen Schreibtisch hinweg, Beissels Hand. „Auf Wiedersehen!“ Der Reporter verließ das Arbeitszimmer des Textilkaufmanns und Lokalpolitikers und grinste schon im Hinausgehen, weil ihm eine schöne Überschrift für seinen Bericht eingefallen war. Er lief die Ladenstraße entlang, die seit einem Jahr Fußgängerzone war, aß im Stehen in der Imbißhalle neben der Zoohandlung eine Currywurst mit Pommes frites, überlegte, daß die Nachbarschaft den beiden Geschäften wahrscheinlich nicht angenehm war – wenn sie nicht ihre Reste zur beiderseitigen Verwertung austauschten –, und stieg zehn Minuten später mit vollem Magen, aber nicht satt, in seinen 150 000-Kilometer-VW, um in die Redaktion zu fahren und dort – wenn nichts dazwischenkam – über den Kleinkrieg der Kleinbürger in dieser Kleinstadt zu schreiben. Wahrscheinlich kam nichts dazwischen, weil nichts los war in diesem Kaff, zum Teufel! Zur gleichen Zeit stieg 150 Kilometer südlich Ernst Voigt auf dem Parkdeck des Einkaufszentrums in seinen Kombiwagen. Er war so kleingedreht, daß ihn ein Mückenstich zum Heulen gebracht hätte. Die Parkplätze rundherum waren besetzt. Autos stoppten und starteten. Leute mit leeren Einkaufstaschen und -körben kamen und gingen in die Aufzüge, andere mit vollen Tüten und Taschen entstiegen den Aufzügen, schleppten ihren Einkauf zu den Wagen, verstauten die Sachen in Kofferräume, auf Rücksitze und setzten sich erschöpft hinter die Lenkräder. Voigt sah den Trubel, ohne ihn zu registrieren. Er hockte in seinem Wagen und ließ die vergangene Dreiviertelstunde an sich vorüberziehen. 28
Ina Horwitz hatte ihn an der Hand in ihr Schlafzimmer geführt. Das war fast noch größer als das große Wohnzimmer. Ein sehr niedriges, sehr breites Bett stand darin. Es war sehr schön, mit einer kuschelig aussehenden Felldecke, groß genug, um daraus Wintermäntel für wenigstens sechs Catcher zu schneidern, und über dem Kopfende war ein schräg hängender Spiegel angebracht, in dessen Glas sinnigerweise Vögel eingeschliffen waren. Voigt war das Wort Lotterbett eingefallen – ein Wort, unter dem er sich bisher nichts Genaues hatte vorstellen können. Er hätte beinahe gelacht, doch Ina Horwitz begann bereits seine Krawatte aufzubinden, und da durfte er nicht lachen, denn sie tat das mit einem sehr ernsthaften Gesicht. Er zog sein Jackett aus und öffnete, während sie wortlos und flink sein Hemd aufknöpfte, den Hosenbund. Er mußte sich bücken, um seine Schnürsenkel zu lösen. Sie nutzte die Gelegenheit, seinen Kopf einen Moment an ihren Schoß zu ziehen. Er roch ihren Körper – aber es wurde ihm immer klarer, daß das alles nichts half. Trotzdem schlüpfte er aus den Schuhen und aus der Hose und stand da in der Unterhose, Gott sei Dank war es eine seiner besseren, die einigermaßen saßen und nicht allzu schlotterig waren. Er zog die Socken aus. Ina Horwitz hatte die riesige Felldecke und die Daunendecke vom Bett zurückgeschlagen, ihren Sarong auf den Teppichboden und sich aufs Laken fallen lassen und gurrte: „Komm! Komm, schnell!“ Doch er wandte sich ab, sagte: „Gleich. Ich muß nur eben …“ „Die Tür gegenüber“, sagte sie. Und er lief hinaus und spürte ihren Blick auf seinem Rücken, dem weißen Rücken mit den Leberflecken und den Stakeligen Schulterblättern. Vielleicht, wenn ich neben ihr liege … dachte er verzweifelt im grüngekachelten Badezimmer, nachdem sei29
ne Belebungsversuche mit warmem Wasser nichts gefruchtet hatten. Und er war mit dieser Hoffnung zurück in Ina Horwitz’ Schlafzimmer gelaufen und zu ihr unter die Decke gekrochen. Aber … Voigt saß in seinem Auto auf dem Parkdeck, schloß die Augen und verzog das Gesicht bei der Erinnerung an die Schlappe. Und er stöhnte, als er daran dachte, wie er nach einer Weile unverrichteterdinge hatte aufstehen müssen, sich hastig angezogen und „Also dann … auf Wiedersehen!“ gestammelt hatte, während die gute Kundin ihm aus dem Bett schweigend zugesehen und nicht einmal seinen Gruß erwidert hatte. „Werfen Sie die Wohnungstür einfach zu“, hatte sie gesagt. Sonst nichts. Er hatte sich im Türrahmen noch einmal umgedreht und irgendwas zu seiner Entschuldigung sagen wollen – aber sie hatte sich bereits auf die Seite gedreht und ihm ihren runden rosa Rücken zugewandt. Ernst Voigt saß also in seinem Wagen, und er tat jetzt etwas, das für ihn außerordentlich ungewöhnlich war: Er dachte über sein Leben nach und über den Sinn seines Lebens und darüber, ob es wohl irgendeine Macht gab – Schicksal oder Gott oder was auch immer–, die sein Leben plante und lenkte. Soweit er sich erinnern konnte, war Voigt in seinem bisherigen Dasein noch nie in die Verlegenheit gekommen, über derlei nachzudenken. Es hatte sich nicht ergeben. Er war auch nie an solchen Fragen interessiert gewesen, weil alles immer gelaufen war – nicht immer ganz glatt, aber doch ohne allzu große Komplikationen. Er hatte nach seinem sechzehnten Jahr gelernt, Hosen, Jacken und Anzüge zu verkaufen, und er hatte von seinem neunzehnten Jahr an Hosen, Jacken und Anzüge verkauft, von einer kleinen kurzen, kriegsbedingten Unterbrechung abgesehen. 30
Das hatte ihn so ausgefüllt und beschäftigt, daß er, wenn überhaupt, über sonstwas nachgedacht hatte, aber nicht über Schicksal oder Gott oder was auch immer. Und schon gar nicht über sein Leben oder den Sinn seines Lebens. Das heißt nicht, daß er die ganze Zeit glücklich gewesen wäre. Aber es heißt auch nicht, daß es Situationen gegeben hätte, die ihn so tief erschreckt oder erschüttert hatten wie das, was ihm soeben widerfahren war. Nun ja – seine Ehe hätte ein bißchen besser sein können. Trudchen gehörte zu den Frauen, die sich nicht viel aus der Liebe machen. Bei zehn seiner Versuche, sie zu umarmen, wies sie ihn wenigstens fünfmal ab, flüchtete sich in Unpäßlichkeiten oder brach einen Streit vom Zaun, der ihm die Lust nehmen sollte und auch nahm. Er hatte sich jedoch daran gewöhnt, ihre rare und karge Zärtlichkeit als Belohnung für Wohlverhalten zu betrachten und hatte sich hie und da unterwegs an anderen Tischen satt gegessen, wenn er von zu Hause hungrig hatte weggehen müssen. Seltsamerweise begehrte er Trudchen trotzdem, und es war bisher nie passiert und würde mit ziemlicher Sicherheit auch nie passieren, daß er nicht imstande gewesen wäre – oder sein würde –, sie in die Arme zu nehmen, wenn sie sich dazu herbeiließ. Dabei war sie spillrig und keineswegs das, was man gemeinhin als sexy bezeichnet, und sie gab sich auch keinerlei Mühe, es zu sein und ihn zu reizen. Eigenartig, dachte Voigt; er zündete sich eine Zigarette an und drehte die linke Scheibe zwei Finger breit auf, damit der Rauch abziehen konnte und sich nicht in die Stoffe der Musterkollektion setzte, die hinten im Wagen hing. Eigenartig … Warum klappte es dort, wo die Voraussetzungen so ungünstig sind – eine desinteressierte Frau, kühl, relativ reizlos, die Liebe als Lohn für Leistung … Warum klappt es hier nicht, wo das Angebot so günstig ist? 31
Voigt dachte an Ina Horwitz’ Brüste und an ihr einladendes Bett, an den Geruch ihres Körpers und an die Wärme unter ihrer Daunendecke. Und nun, plötzlich, viel zu spät, kam die Erektion, die er vorhin vergebens herbeigefleht hatte. Voigt fluchte, zerquetschte seine Zigarette im Ascher, startete wütend den Wagen und setzte ihn so jäh zurück, daß er beinahe einen schwerbepackten Mann gestreift hätte, der seinen Einkauf zum Auto schleppte. Der Mann schimpfte erschrocken. Voigt fuhr ohne eine Geste der Entschuldigung an ihm vorbei und preschte die gewendelte Auffahrt hinab auf die Straße. Zehn Minuten Großstadtverkehr, dann die Autobahn nach Norden. Er fuhr die 168 Kilometer in knapp fünf viertel Stunden und kam verkrampft von der Jagerei und immer noch wütend eine Stunde zu früh in Neustadt an. Zu dem Kunden konnte er nicht vor 17 Uhr gehen, also beschloß Voigt, in das Hotel zu fahren, in dem er sowieso zu übernachten vorhatte, und sich dort eine halbe Stunde aufs Bett zu legen und noch einen Kaffee zu trinken. Das Hotel trug den überaus originellen Namen Zur Eiche. Es gab zwar weit und breit keine Eiche mehr im Umkreis des Hauses, und die verschiedenen Versuche der verschiedenen Wirte, so einen Baum auf dem 16-Quadratmeter-Grünstreifen neben dem dreistöckigen grauroten Klinkerbau zu pflanzen, waren sämtlich fehlgeschlagen. Aber da Tradition in diesem Landstrich eine heilige Kuh ist, würde die Vertreter-Herberge auch in hundert Jahren noch Zur Eiche heißen. Auch im Innern des Hauses wurde das Althergebrachte gepflegt. Die Fußböden in den dunklen Fluren und Räumen knarrten. Es gab erst seit kurzem Duschen in fünf von acht Zimmern. Die Bilder, die zwischen verstaubt wirkenden Jagdtrophäen hingen – Geweihen, ausgestopften Raubvögeln und einem Wild32
schweinkopf über der Biertheke –, die Bilder also stellten, soweit sie noch zu erkennen waren, ruhmreiche Szenen aus Deutschlands großer Geschichte dar. Das ging von Hermann des Cheruskers Sieg über Quintilius Varus im Jahre 9 nach Christus im Teutoburger Wald bis hin zum kaiserlichen Matrosen, der, die Reichskriegsflagge schwenkend, unter feindlichem Beschuß heroisch im Meer versinkt. Ein paar Porträts bärtiger Prominenter ergänzten die Galerie. Der zwiefach bärtige Admiral Tirpitz blickte einem streng und der eiserne Kanzler markig ins Bierglas, wenn man in der Gaststube saß. Auch die Speisekarte sprach für das Traditionsbewußtsein der Eichenwirte. Seit Voigt dort abstieg, und das war seit etwa zwanzig Jahren, gab es immer die gleichen fünf Gerichte: Rinderrouladen mit Rotkohl, Wiener Schnitzel mit Leipziger Allerlei, Schweinskopfsülze mit Remoulade und Röstkartoffeln, Grüne Bohnen mit Hammel und Bockwurst mit Kartoffelsalat, wahlweise Brot. Aber das Bier war gut, der Korn kalt, und die Preise waren erschwinglich. Außerdem traf man in der Eiche immer Kollegen, so daß die Abende nicht ganz so trist verliefen wie anderswo, wo Voigt oft vor Verzweiflung ins Kino lief, ohne sich vorher zu informieren, was es für einen Film gab, oder wo er um neun ins Bett ging und dann früh halb fünf hellwach war, nicht weiterschlafen konnte, die Tapetenblumen zählte, bis er aufstehen mußte, um zerschlagen zu frühstücken und mißmutig auf Tour zu gehen. In der Gaststube, durch die man mußte, um die Hotelzimmer zu erreichen, saß nur der alte Kellner am Fenster und las Zeitung. Er stand auf, als Ernst Voigt eintrat. Über sein müdes, graues Gesicht lief ein Erkennungslächeln. „Ach, der Herr Voigt!“ sagte er und wollte schon nach Voigts Reisetasche greifen. Aber Voigt winkte ab. 33
„Tag, Herr Schleinitz“, sagte er. „Lassen Sie nur, meine Goldbarren trage ich lieber selbst! Hahaha!“ „Hahaha“, echote der alte Kellner pflichtschuldig und fragte: „Haben Sie ein Zimmer bestellt, Herr Voigt?“ „Ja, vorige Woche“, sagte Voigt. „Für zwei Nächte. Ich muß heute und morgen hier und in der Umgebung dafür sorgen, daß die Landbevölkerung im nächsten Frühjahr die gleichen Sakkos kaufen und tragen kann wie die Playboys in Sankt Tropez.“ „Ich seh mal nach“, sagte der Kellner. Er latschte – mit sichtlich schmerzenden Füßen, wie immer, wenn er eine Weile gesessen hatte – hinter die Theke, die auch als Rezeptionstisch diente. Dort kramte er ein Wachstuchheft unter dem Gläserbord hervor, leckte seinen Finger an und blätterte. „Ja“, sagte er. „Hier … Alles klar! Zimmer sieben, Herr Voigt.“ „Sieben? Das neben dem Klo?“ wollte Voigt wissen. „Nein, das ist neun“, sagte der Kellner. „Sieben ist das letzte im Gang hinten links. Eins mit Dusche!“ „Hochachtung! Mit Dusche. Das riecht mir nach gutem Ruf und Sonderbehandlung“, ulkte Voigt. „Aber so ein alter Stammgast kriegt immer das beste Zimmer, das frei ist“, sagte der Kellner ernsthaft. „Schönen Dank für die Blumen!“ sagte Voigt. „Ich gehe rauf und horche eine Viertelstunde an der Matratze. Dann muß ich noch mal los. Krieg ich vorher einen Kaffee bei Ihnen?“ „Aber selbstverständlich!“ sagte der Kellner. „Der Chef und die Chefin schlafen. Ich mach Ihnen selber einen Kaffee. Soll ich Sie wecken?“ „Nicht nötig, danke. Ich habe meinen Reisewecker immer dabei, mit Leuchtziffern – schon um den Damen, die nachts nach der Zeit fragen, sagen zu können, wo der Zeiger steht … Hahaha!“ „Na, Sie! Immer noch der alte Schwerenöter!“ Der 34
Kellner drohte Voigt mit dem runzligen, krummen Zeigefinger. Voigt nahm den Schlüssel mit dem halbpfündigen Anhänger, der wie eine Handgranate aussah und verhindern sollte, daß jemand den Schlüssel einsteckte. Er ging an dem ausgestopften Wildschweinkopf vorbei und unter einem Zwölfendergeweih hindurch aus der Gaststube. In dem Gang zum Hotel roch es nach Kernseife und schalem Bier, weil neben der verschlossenen Küchentür ein paar Kästen mit leeren Flaschen gestapelt standen. Der Kellner Alfred Schleinitz schlurfte wieder an den Fenstertisch zu seiner Zeitung und vertiefte sich in einen Bericht über die bösen Machenschaften irgendeines östlichen Geheimdienstes, glaubte auch alles, was er da las, und gähnte zwischendurch, ohne die Hand vor den Mund zu halten. Denn er war ja allein in der stillen Gaststube, in der die Zeit so langsam verging wie in einer bestimmten Sorte Geschichtsbücher in unseren Schulen … Zehn Minuten nach fünf stand Ernst Voigt mit seinem Auto am Seiteneingang des Textilhauses Braasch in der Neustädter Adenauerstraße, die bis 1945 Adolf-Hitler-Straße geheißen hatte und danach für einige Jahre – unter dem glücklicherweise kurzen, für Neustadt ganz und gar unpassenden Schreckensregime einer linken Mehrheit im Stadtparlament – nach dem Sattlermeister und sozialdemokratischen Reichskanzler Friedrich-Ebert-Straße genannt worden war. Bevor Voigt seine Kollektion aus dem Auto holte, ging er in das Geschäft, um sich zu vergewissern, daß sein Besuch auch genehm sei. Das Textilhaus Braasch – „führendes Haus am Platze“ – gehörte der Familie Braasch, richtiger: den drei Familien Braasch, Paul Braasch sen. mit Frau, seinem Sohn Paul 35
Braasch jun. mit Frau und zwei Kindern und seiner Tochter Leonora Halstenbach geb. Braasch mit Ehemann und drei Kindern. Diese drei Familien lebten von dem Geschäft und gönnten sich gegenseitig nicht das Schwarze unter dem Nagel. Das hatte zur Folge, daß jeder jeden beargwöhnte. Braasch senior fühlte sich von seinem Sohn und seinem Schwiegersohn dauernd übervorteilt. Er mißbilligte ihre Geschäftsführung, erklärte bei jeder Gelegenheit, daß er es zutiefst bereue, den „jungen Leuten“ das Unternehmen in die Hand gegeben zu haben, denn sie verstünden ganz offenbar nichts davon, investierten falsch, machten die dümmste Werbung und würden den guten Namen des renommierten Hauses in Kürze ruiniert haben, wenn er ihnen nicht ständig auf die Finger schaute … Darin war er sich mit seiner Frau einig, obschon sie sich sonst in keinem Punkt einig waren. Paul Braasch junior, der für Verkauf und Werbung zuständige Geschäftsführer, lag seinerseits im Dauerstreit mit Karl-Heinz Halstenbach, dem „reingeheirateten Erbschleicher“, der für Personalfragen und Einkauf zuständig war. Und die Tochter Leonora zankte sich mit dem Bruder und die Schwiegermutter mit dem „Flittchen, das Paul geheiratet hat“ … und … und … und … Es war ein reines Wunder, daß trotz des nun schon siebenjährigen Krieges das Textilhaus noch nicht Pleite gemacht hatte. Voigt kannte die Situation. Er zählte die Braaschs zu seinen schwierigsten Kunden, war aber stolz darauf, daß er immer gut mit ihnen zurechtgekommen war. „Schönen guten Tag“, sagte er also mit der strahlenden Miene des erfolgreichen und erfolgbringenden Vertreters, die er bei Kunden wie diesen stets aufsetzte. „Guten Tag, verehrter Herr Halstenbach! Sie sehen ja blendend aus! Direkt aus dem Urlaub, wie? Darf ich mal raten? Teneriffa? Oder Nordafrika? Djerba? Denn so viel 36
Sonne, wie Sie im Gesicht haben, hat’s doch diesen Sommer in ganz Mitteleuropa nicht gegeben, nicht wahr, hahaha!“ Der hagere Halstenbach mit dem ewig griesgrämigen Gesicht stieg nicht ein. „Hören Sie auf, Herr Voigt!“ nörgelte er. „Ich und Urlaub? Wann denn wohl in diesem Saftladen hier? Meine Frau war mit den Kindern ein paar Tage bei meinen Eltern im Sauerland, und ich hab sie dann abgeholt … Aber Urlaub – nee, nee, das war nicht drin dieses Jahr. – Was wollen Sie denn heute?“ Er blätterte im Tischkalender auf dem übervollen, unordentlichen Schreibtisch in seinem Büro hinter dem Laden. „Wir hatten Anfang des Monats ausgemacht …“, sagte Voigt; es klang schon weniger forsch. „Ach ja, heute ist ja schon Mittwoch – klar!“ fiel Halstenbach ihm ins Wort. „Na ja – denn mal her mit der Kollektion, obwohl es mir eigentlich nicht paßt, aber wir sind ja unter Umständen fix durch. Viel wird’s diesmal sowieso nicht, das sag ich Ihnen gleich; wir haben noch eine Masse vom Frühjahr.“ Voigt ging hinaus, um die Gestelle zusammenzustecken, mit den Mustern zu behängen und hereinzuholen. Die negative Eröffnung erschütterte ihn nicht. Viele seiner Kunden begannen das Gespräch mit solchem Gerede: daß sie eigentlich gar nichts kaufen wollten, daß sie noch das ganze Lager vollhängen hätten, daß sie in dieser schlechten Zeit nichts riskieren könnten … Und dann orderten sie doch. Das war so eine Masche, die den Vertreter zu Sonderpreisen, zu besonders günstigen Konditionen zwingen sollte. Man mußte sie nicht zu ernst nehmen. Als Voigt seine Kollektion in Halstenbachs Büro schob, kam Paul Braasch junior den Gang hinter den Verkaufsräumen entlang. „Hallo, Herr Voigt“, sagte er und streckte Voigt la37
chend die Hand entgegen. „Wußte gar nicht, daß Sie heute hier sind.“ „Ihr Herr Schwager hat mich bestellt“, sagte Voigt. „Hätte er mir ja eigentlich sagen müssen“, sagte Braasch junior. „Denn ich muß den Kram ja verkaufen, den er einkauft, wie? Würde ich also ganz gern ein Wörtchen mitreden dürfen. Oder finden Sie das unzumutbar, wie?“ „Nein“, sagte Voigt unsicher. „Gewiß nicht, Herr Braasch!“ „Also dann“, sagte Braasch junior, immer noch lachend. „Dann fahren Sie mal hin zum Schwagerherzen. Komme gleich nach. Sage nur im Laden Bescheid, damit sie wissen, wo ich bin.“ Er hatte den Schnarrton in der Stimme, jenen naßforschen Ton, der auch heute noch – oder richtiger: heute schon wieder – in manchen Kreisen gepflegt wird. Voigt mochte den Ton nicht, ohne darüber nachzudenken, warum er ihn nicht mochte. Er mochte auch den lachenden Braasch junior nicht; dieses wölfische Zähnefletschen konnte er nicht ausstehen. Das war überhaupt kein Lachen, sondern nur eine Frohsinnsmaske vor einem kalten Kalkül. Darüber hinaus paßte die schneidige Optimistentour, die Braasch junior ritt, nicht zu dem 165-Zentimeter-Mann mit den feisten Hüften und dem rotblond behaarten Hefekloßkopf. Das würde eine anstrengende Sache werden mit den zwei Geschäftsführern des Textilhauses in der Adenauerstraße in Neustadt. Voigt schob seine Gestelle in das unordentliche Büro Halstenbachs. Der Sauertöpfische telefonierte. Er wedelte Voigt mit dem Handrücken hinaus. Voigt verließ den Raum und wartete auf dem Gang. Braasch junior kam. Er hatte den weißen Kittel gegen einen Harristweed-Sakko vertauscht, der sehr hübsch im Dessin war: grob gewebtes Material, auf dessen milchschokoladebraunem Grund unregelmäßig verteilte beigefarbene und silbergraue Noppen saßen. „Was ist los?“ fragte Braasch junior. 38
„Ihr Herr Schwager telefoniert“, erklärte Voigt. „Na und? Er hat ja wohl keine Geheimnisse?“ schnarrte der rotblonde Braasch und ging in das Büro, ließ die Tür hinter sich offen und rief über die Schulter: „Kommen Sie rein, Herr Voigt!“ Voigt folgte ihm zögernd bis zur Schwelle. Zum Glück legte Halstenbach jetzt gerade den Hörer auf. „Möchte gern dabeisein, wenn du einkaufst“, sagte Braasch zu seinem Schwager. „Ist wohl nichts dagegen einzuwenden, wie? Herr Voigt ist auch der Meinung, besser wir ordern gemeinsam … Muß die Klamotten ja schließlich verkaufen, nicht wahr?“ „Haben Sie meinen … äh, haben Sie Herrn Braasch aufgefordert dabeizusein?“ fragte Halstenbach Voigt mit gerunzelter Stirn und erhob sich. „Ich … aufgefordert? Aber ich bitte Sie, das steht mir nicht zu … Ich … äh … ich …“, erwiderte Voigt, der sich plötzlich zwischen zwei Stühlen sitzen sah, stotternd. „Das will ich meinen!“ knurrte Halstenbach. Er sah seinen Schwager an, der mit einer Handbewegung einen Stapel Papiere beiseite geschoben und sich auf die Schreibtischplatte gesetzt hatte. „Ich rede dir in deine Ressorts zwar auch nicht hinein und äußere mich weder über deine Werbemaßnahmen noch über deine Verkaufsmethoden, wenn da von Methoden überhaupt die Rede sein kann, aber …“ „Richtig!“ fuhr ihm Braasch junior lachend dazwischen. „Absolut richtig! Auch sehr vernünftig von dir, Schwagerherz. Denn du verstehst davon soviel wie die Kuh vom Waldhornblasen … hahaha!“ Voigt sah dem hageren Schwager an, daß er kurz davor war zu explodieren. Sein Gesicht war blaß, und die Kiefermuskeln mahlten unter der straffen Gesichtshaut. „Ja … ja, also … ja, dann wollen wir mal …!“ sagte Halstenbach mühsam zwischen zusammengebissenen Zähnen. „Darf ich Sie bitten, Herr Voigt!“ 39
„Was möchten Sie zuerst sehen, meine Herren?“ fragte Voigt und tat so, als ob er nichts von der im Raum knisternden Hochspannung spürte. „Haben Sie nicht einen schönen neuen Witz auf Lager, Herr Voigt?“ fragte Braasch junior. „So zur Einstimmung? Bißchen was Gepfeffertes? Kommen doch viel rum, wie?“ „Gern“, sagte Voigt. „Wenn die Herren es wünschen … Da gibt’s zum Beispiel die Geschichte von dem Witwer, der seine Unterwäsche …“ „Ich habe keinen Appetit auf schlüpfrige Witze, Herr Voigt!“ zischte Halstenbach. „Und auch keine Zeit!“ „Und auch keine Verwendung, Schwager, wie?“ sagte Braasch junior lachend. „In deinem Kirchenvorstand ist so was nicht gefragt, haha! Aber ich wüßte gern, was der Witwer mit seiner Unterwäsche erlebt, Herr Voigt – muß aber ja nicht gleich sein. Also bis später, komme darauf zurück, wie?“ „Fangen wir mit den Anzügen an!“ befahl Halstenbach. „Jawohl, Herr Halstenbach!“ sagte Voigt, hob die ersten zwölf Anzüge vom Gestell und entfernte flink die Plastiküberzüge. „Da haben wir zunächst also einen Einknöpfer in Diolen 700 mit tiefgelegter Taille in der trendgerechten wolligen Qualität. Leicht verbreiterte Schulter. Zwei aufgesetzte Taschen. Umschlaghose mit Bundfalten in der neuen Breite 56. Sie können diesen Anzug in allen Größen und fast allen Zwischengrößen haben. Und er ist auch – neben diesem unifarbenen Modell – in Fischgrätdessins lieferbar. Die Stoffe zeige ich Ihnen sofort …“ So fing Voigt an. Es dauerte bis neun Uhr am Abend. Halstenbach bestellte. Braasch widersprach. Keiner gab gleich nach. Die Bestellung wurde schließlich geändert, erweitert oder reduziert oder ganz gestrichen. Voigt 40
war mit seiner Nervenkraft am Rande eines Zusammenbruchs – aber er lächelte, gab keinem der feindlichen Schwäger recht, widersprach keinem, sagte, wenn er von einem aufgefordert wurde, sein Urteil zu fällen: „Die Entscheidung liegt bei Ihnen, meine Herren!“ oder, wenn ihn der andere zwingen wollte, Stellung zu nehmen: „Ich habe hier nur ein Amt und keine Meinung!“ Aber es strengte ihn derart an, daß er ein paarmal drauf und dran war zu sagen: „Wissen Sie was, meine Herren? Lecken Sie mich kreuzweise am Arsch!“, seine Siebensachen zusammenzupacken und den engen, unordentlichen, nach Schweiß, Zigarrenrauch und Haß stinkenden Büroraum zu verlassen. Das war natürlich ausgeschlossen. Die Burschen würden sich plötzlich einig sein und in edler Eintracht bei der Firma Beschwerde über ihn führen. Und das wäre wiederum ein gefundenes Fressen für Priesecke: „Sie haben einen Kunden – einen relativ guten Kunden –, wie ich höre, schwer beleidigt, Herr Voigt? Wie, denken Sie, ist das wiedergutzumachen? Worauf führen Sie Ihr geschäftsschädigendes Verhalten zurück? Fühlen Sie sich der Aufgabe nicht mehr gewachsen? Möchten Sie Ihren Bezirk vielleicht an einen jüngeren Herrn abgeben …?“ So würde das klingen und laufen – genau so. Nur, weil er – nach einem solchen sowieso beschissenen Tag – abends um halb neun zwei Vollidioten wie Vollidioten behandelt hatte … Nein, das war undenkbar. Das wäre der Anfang vom Ende! Also: „… der Sakko hat eine hervorragende Paßform, meine Herren, das versichere ich Ihnen! Wieviel darf ich notieren? Zweimal 40, Herr Halstenbach – nein, dreimal, Herr Braasch? – Also dreimal … oder? Nein, nur einmal, ja gewiß … Wie Sie möchten! Und von 50 bis 56 je einen? Nein? Je zwei? Von der 50 und 52 je zwei? Und 56 gar nicht? Oder …“ 41
Fünf Minuten vor neun hatten sie alles durch. Das Ergebnis war weiß Gott nicht überwältigend. Nach seiner Schätzung hatte er höchstens für 4 500 Mark Aufträge im Buch. Das waren etwa 150 Mark für ihn. Die Firma würde wissen wollen, wieso das in diesem Jahr fast die Hälfte weniger war als im Jahr vorher. Wie sollte er erklären, daß die beiden Herren Geschäftsführer sich auf seinem Rücken einen vierstündigen Zweikampf geliefert hatten und daß dies der Grund für die magere Bestellung war? Er packte ein, bedankte sich, erntete von Braasch einen feuchtschlaffen, von Halstenbach einen knochigtrockenen Händedruck und schob seine Kollektion durch den Gang nach draußen zum Auto. Als er die Gestelle verstaut hatte und sich hinter das Lenkrad setzen wollte, sah er, daß der linke Vorderreifen Plattfuß hatte. Es fing im gleichen Moment, als er das sah, an zu regnen.
3 Halb zehn an diesem Abend kam Ernst Voigt hungrig und müde, naß und schmutzig in die Gaststube des Hotels Zur Eiche. „’n Abend, Herr Voigt, ’n Abend“, sagte der Wirt hinter dem Bierhahn. „Was ist denn mit Ihnen los? Reisen Sie neuerdings in Seife und Reinigungsmitteln?“ „Wieso?“ fragte Voigt verdutzt. „Ich hab mal auf dem Markt einen fliegenden Händler gesehen“, erklärte der Wirt. „Der schmierte sich die Pfoten voll Teer und Tinte und sonst noch was und wusch sie sich dann mit irgend so ’nem Blitzblank oder wie das Gelumpe hieß. Und ich dachte eben, Sie kom42
men vielleicht von so ’ner Verkaufsvorführung und haben extra nicht alles weggemacht, um mir hier auch noch ’ne Tube ‚Waschfix‘ oder ‚Blank im Nu‘ zu verscheuern …“ „Sie sind ein Scherzbold, Herr Hansen“, knurrte Voigt. „Krieg ich denn noch was zu essen, wenn ich über Ihren Witz lache?“ „Aber sicher“, griente der Wirt. „Bei uns in Neustadt gibt’s bis jetzt keine Frauenbewegung. Meine Minna ist also noch in der Küche. Was soll es denn sein?“ „Portion Sülze, bitte – aber ohne Bratkartoffeln. Lieber ein Butterbrot dazu. Und ein schönes großes, handgezapftes Pilsner!“ „Geht sofort in Arbeit.“ Voigt sah sich um. Es saßen nur zwei Männer in der Gaststube. Er kannte beide nicht. Der eine war in eine Illustrierte vertieft, der andere schrieb irgendwas in einen Schnellhefter. „Ich wasche mich schnell“, sagte Voigt zum Wirt. „Bin in fünf Minuten wieder unten.“ „Alles klar“, erwiderte der Wirt. „Ist denn keiner der Kollegen da?“ fragte Voigt halblaut. „Mannshardt? Oder Harry Schmeißer? Schulenburg oder der dicke Karstein? Irgend jemanden treff ich doch sonst eigentlich immer bei Ihnen …“ „Der Herr Schmeißer wohnt seit gestern hier, ja – und auch der Herr Karstein“, sagte der Wirt. „Aber die wollten ins Kino, wenn ich das vorhin recht verstanden habe. Sie haben zusammen gegessen … Franz Sobelke hat mit ihnen am Tisch gesessen.“ „Sobelke? Ach, den hab ich auch ewig nicht … Ins Kino? Na, vielleicht kommen sie hinterher gleich wieder. Dann seh ich sie ja noch. – Also, in fünf Minuten, Herr Hansen!“ Voigt ging in sein Zimmer, schwankte, ob er duschen sollte, hatte dann aber doch keine Lust, wusch sich nur 43
die Hände, fuhr sich mit dem nassen Waschlappen übers Gesicht und den Hals und zog sein „Feierabendkostüm“ an, ein bequemes Baumwollhemd, das er ohne Krawatte trug, eine Strickjacke, die er sehr liebte, und die Lederpantoffeln, bei denen er immer, wenn er hineinschlüpfte, das Gefühl hatte, seine Füße atmeten erleichtert auf. Sechs Minuten später saß er vor einem Teller Sülze mit Gewürzgurke und Remouladensoße und biß in das Butterbrot, das die Wirtin dazugelegt hatte. Der Wirt brachte das Bier. „Keinen Kurzen vorweg?“ „Nein, danke – lieber zwei hinterher!“ sagte Voigt kauend. Er aß den Teller leer, titschte sogar mit einem Stück Brot die gutgewürzte Soße auf, trank genußvoll das kühle Bier und rauchte zum ersten Korn, den der Wirt brachte, behaglich eine Zigarette, während er – ohne recht aufzufassen, was er las – im Lokalblatt blätterte. Die alte Uhr mit dem gelbgeräucherten Zifferblatt über der Tür zum Klubzimmer zeigte zehn. Voigt verglich. Es waren noch drei Minuten vor zehn auf seiner Armbanduhr. Er wollte – nein, er mußte – gleich nach zehn Uhr Trudchen anrufen. Das war eine alte Gepflogenheit, daß er abends kurz von unterwegs aus anrief, stets so zwischen zehn und elf, wenn es billiger war und wenn sein Arbeitstag in jedem Falle beendet war. Spätestens um elf ging sie schlafen. Es gab mehrere Gründe für diese abendlichen Anrufe. Er machte sich vor, daß er nach eventuell wichtiger Post fragen und seiner Frau sagen müsse, wo er für geschäftliche Anrufe zu erreichen sei … Obschon in den ganzen Jahren erst zwei- oder dreimal ein geschäftlicher Anruf gekommen war, während er sich auf Reisen befand. Trudchen Voigt geborene Klinke hatte ganz am Anfang ihrer Ehe einmal erklärt, daß sie nicht einschlafen 44
könne, wenn er ihr nicht wenigstens telefonisch gute Nacht gesagt hätte. Das hatte ihn damals so überrascht und gerührt, daß er ihr fest versprochen hatte, von unterwegs jeden Abend anzurufen. Es war nicht immer leicht gewesen, dieses Ritual einzuhalten. Wenn er – was vorkam schon um halb zehn blau war, mußte er sich sehr zusammennehmen, damit sie es nicht merkte. Wenn er – was auch vorkam – im Kino, in einer Kneipe oder sonstwo eine Frau aufgetan hatte und es so vielversprechend aussah, als würde aus dem Flirt eine Nacht, dann hatte er immer mühsam Ausreden finden müssen, warum er noch so spät telefonieren mußte … Und er war ein paarmal arg in die Klemme geraten, wenn Trudchen im Hotel, in dem er sich angeblich aufhielt, zurückgerufen hatte, weil ihr noch irgendwas eingefallen war. Und er war dann nicht zu erreichen gewesen. Allerdings spielten die Kellner und Wirte, ja selbst die Wirtinnen mit, wann immer es um das Erfinden von Ausreden für ihre männlichen Gäste ging. Das Telefon stand auf der Theke neben der Tür zur Küche. Voigt bat den Wirt, ihm den Einheitszähler einzustellen, wandte sich mit dem Rücken zum Lokal, wählte seine Rufnummer zu Hause und stand wartend da, das Gesicht zur Wand, an der ein Kalender hing. Es war ein Werbekalender für eine Benzinmarke. Ein wunderschönes Farbfoto zeigte niedliche Negerkinder, die ein hochglanzpoliertes Auto bewunderten … Das Freizeichen piepte in Voigts linkes Ohr. Endlich kam Trudchens Stimme. „Hier Frau Voigt.“ „Hallo, Trudchen!“ sagte Voigt. „Ich bin’s.“ „Ich bin’s“ – das konnte mit ziemlicher Sicherheit nur er sein. Daß es für Gertrud Voigt noch einen anderen „Ich bin’s“ gab, war höchst unwahrscheinlich. Es erschien zumindest Ernst Voigt höchst unwahrscheinlich. 45
Er hatte sich noch nie ausgemalt, daß Trudchen ihn mit einem anderen Mann hintergehen könnte. Dabei hätte sie hunderte Male die beste Gelegenheit gehabt, wenn er unterwegs war; aber er würde um sonst was gewettet haben, daß sie gar nicht auf den Gedanken kam. Und vielleicht wäre er nicht einmal eifersüchtig geworden … Oder? „Wo bist du?“ fragte sie. „In Neustadt. Im Hotel Zur Eiche – wie immer, wenn ich zu tun habe. Was gibt’s Neues?“ „Hansi frißt nicht“, sagte sie mit einer Stimme, die klang, als berichte sie vom Tod ihrer sieben Kinder in den Flammen des Hauses. „Ach … So was!“ sagte Voigt, den das nicht aufregte. Im Gegenteil, er würde sich gewundert haben, wenn sie nicht irgendeine Katastrophenmeldung parat gehabt hätte. „Seit wann frißt er denn nicht?“ „Seit gestern abend. Er sitzt ganz aufgeplustert in seiner Ecke, und gezwitschert hat er auch nicht … den ganzen Tag noch nicht! Ich habe ihm schon ein paarmal mit seinem Glöckchen was vorgeklingelt. Da ist er ja sonst immer ganz aufgeregt und flattert und kreischt und klettert an den Stäben rum … Aber heute – nichts!“ Voigt ging auf die Krankheit des Wellensittichs ein, als ob es sich um die Krankheit eines Kindes – des einzigen Kindes – handle. „Hat er denn getrunken?“ fragte er. „Ich habe nichts beobachtet. Aber ich hab auch nicht immerzu hingeguckt, Ernst! Was glaubst du – ich habe ja schließlich auch noch was anderes zu tun, als den ganzen Tag vor dem Vogelkäfig zu sitzen und Hansi zu beobachten.“ Sie redete sich in einen Ärger hinein, den es schnell zu stoppen galt, wenn das Telefonat nicht – wie schon öfter – mit Tränen enden sollte. „Natürlich“, sagte Voigt. „Entschuldige, Trudchen! So 46
hab ich’s ja nicht gemeint. Ich weiß ja, daß du wirklich allerhand um die Ohren hast. Das war nur so eine Frage … Vielleicht ist Hansi erkältet? Was meinst du?“ „Wo sollte er sich denn erkältet haben? Ich paß ja immer auf wie ein Heftelmacher, daß er keine Zugluft kriegt. Aber was soll ich denn nun machen?“ „Stell doch heute abend mal eine Viertelstunde die Rotlichtlampe vor den Käfig“, sagte Voigt. „Das schadet in keinem Fall. Und wenn er morgen früh immer noch nicht frißt, rufst du Doktor Keßler an und schilderst ihm Hansis Zustand. Versuch es außerdem mal mit ’nem Scheibchen Apfel oder mit ’nem Salatblatt – das mag er ja sonst sehr gern.“ „Hab ich alles schon probiert“, sagte Trudchen. „Ohne Erfolg. Aber das mit dem Rotlicht, das ist eine gute Idee!“ „Ja – und sonst? Post?“ fragte Voigt, der keine große Lust hatte, noch weitere zwanzig Einheiten wegen der Unpäßlichkeit des Wellensittichs zu vertelefonieren. „Nein, nichts Wichtiges!“ sagte Trudchen. „Hast du gut verkauft?“ „Am Vormittag sehr gut. Am Nachmittag war’s mäßig und mühsam“, berichtete Voigt. „Das waren außerordentlich schwierige Kunden.“ „Da mußt du dich eben drauf einstellen!“ sagte sie im Tonfall einer Kindergärtnerin, die den Kleinen zeigt, wie man mit Buntpapier und Schere umgeht. „Ja, ja – ich lerne das schon noch“, gab Voigt zurück. „Schließlich übe ich ja schon vierzig Jahre.“ „Bist du jetzt böse?“ fragte sie. „Nein, nur müde“, erwiderte er. „Gute Nacht, Trudchen; schlaf schön!“ „Gute Nacht, Ernst … Und paß auf dich auf!“ „Mach ich. Tschüß!“ rief er und legte schnell auf, damit nicht noch irgendwas kam: Der Henkel des Milchkrugs ist abgebrochen … Im Badezimmer leckt der Kalt47
wasserhahn … Der Schlüssel vom Besenschrank ist verschwunden … Auf dem Balkon hat der Regen … Als er mit der festen Absicht, in einer Viertelstunde schlafen zu gehen, zu seinem Bier und seinem zweiten Korn zurückkehrte, kamen zwei Männer in die Gaststube. Der eine war sehr groß, stämmig, blond und rotbäckig. Er hatte so hellblaue, strahlende Augen, daß es aussah, als wären dahinter kleine Glühbirnen angeknipst. Seine Kleidung bestand überwiegend aus Loden. Die Füße steckten in derben Halbstiefeln, Größe 52, die Hände machten in Form und Format den Eindruck, als könne er in einer davon mühelos ein Dreipfundbrot verstecken. Der zweite Mann war mittelgroß und schlank – fast hager. Er hatte eine lange Nase, schmale dunkle Augen und einen breiten dünnlippigen Mund in seinem von tiefen Senkrechtfalten gekerbten, dunkelhäutigen Gesicht. Sein Haar war graumeliert und in der Art jener Jenaer Studenten frisiert, die vor hundert-soundsoviel Jahren gegen Napoleon ausgezogen sind. Der Strahläugige entdeckte Voigt als erster. „Hallo – Voigt!“ schrie er quer durchs Lokal, stieß seinen Begleiter in die Seite und wies mit seinem riesigen Zeigefinger auf den Textilreisenden. „Was treiben Sie denn in Neustadt?“ Voigt lachte, aber sein Lachen war nicht ganz echt; er wußte, was jetzt losgehen und daß an Schlafengehen nicht so bald zu denken sein würde. Andererseits freute er sich aber auch, die beiden Kollegen zu sehen, mit denen der schon viele Abende erfolgreich gegen Trübsinn und Langeweile angetrunken hatte. „Hallo, Herr Schmeißer!“ rief er also lachend zurück, „’n Abend, Herr Sobelke!“ begrüßte er den Hageren, stand auf und gab beiden die Hand. „Setzen Sie sich doch … Herr Hansen!“ rief er dann dem Wirt zu. „Drei 48
doppelte Kurze mit Eilboten … Oder trinken die Herren lieber Milch?“ wandte er sich an die beiden. „Stutenmilch!“ sagte Sobelke. „Lachen Sie nicht, Herr Voigt! Das soll das Allerbeste gegen nachlassendes Stehvermögen sein.“ Voigt zuckte leicht zusammen, weil er an sein Nachmittagsdebakel dachte, aber die Herren merkten es nicht; sie waren damit beschäftigt, ihre Mäntel aufzuhängen. Sobelkes Trenchcoat sah aus, als müsse er neu imprägniert werden. Brust und Schulter waren dunkel vor Nässe. Auf Schmeißers Lodenjoppe glitzerten die Regentropfen. Schmeißer brüllte vor Lachen. „Nachlassendes Stehvermögen!“ gurgelte er. „Sie haben aber auch immer Ausdrücke, Sobelke … Aber das mit der Stutenmilch – sagen Sie mal, stimmt das?“ Sobelke nickte. „Es soll Wunder wirken! Das hat mir der alte Apotheker in Breitendorf neulich gesagt. Ich hab’s selber noch nicht ausprobiert – war bis jetzt noch nicht nötig. Aber der Alte ist sechsundsiebzig, und er behauptet, er kann noch jede Woche zwei- bis dreimal.“ „In der Woche deren zwier, macht im Jahre hundertvier, schadet weder dir noch ihr, sagt Luther“, zitierte Voigt. Die Schnäpse kamen. Der Wirt hatte dänisch-randvoll eingeschenkt, oben einen kleinen Haufen drauf. Die Männer nahmen die Gläser zwischen Daumen und Zeigefinger, zwinkerten sich zu und grinsten. „Wir sind hier zusammengekommen“, sagte Voigt in pastoralem Tonfall, „und das ist auch gut so! Darauf, Brüder, laßt uns die Gläser heben und ihren Inhalt vernichten. Denn Alkohol gehört zum schädlichsten, was der Satan erfunden hat. Amen!“ Sie kippten die Klaren in ihre Kehlen. Sobelke schüttelte sich wohlig. „Jetzt bin ich dran!“ 49
verkündete er und rief: „Herr Hansen! Wir haben Luft im Glas!“ „Wäre es nicht besser, er stellt uns gleich die Flasche auf den Tisch?“ meinte Schmeißer. Der Wirt stellte die Flasche auf den Tisch, und es begann ein wortreicher Wettstreit, wer sie bezahlen dürfe. „Ich hab’s als erster gesagt“, sagte Schmeißer. „Also ist das meine Flasche!“ „Ich habe heute noch nichts getrunken“, log Voigt. „Deshalb gehört sie auf meine Rechnung!“ „Ich habe bestimmt am besten von uns dreien verdient heute!“ trumpfte Sobelke auf. „Laßt sie also mich bezahlen!“ Schmeißer widersprach: „Am besten verdient habe bestimmt ich, Herrschaften. Ich habe zwei Traktoren, einen davon mit Zusatzgeräten, für zwanzig Mille verkauft!“ „Gewonnen!“ sagte Sobelke. „Dann zahle ich aber die zweite!“ „Darüber reden wir später“, sagte Voigt. Schmeißer goß die Gläser voll. Sie tranken. „Wie war das mit der Stutenmilch?“ fragte der große Hellblonde. „Meinst du …“ Er wechselte vom Sie zum Du, wie immer, wenn sie den zweiten Doppelten gekippt hatten: „Meinst du, Sobelke, ich kann das meinen Bauern mit gutem Gewissen empfehlen?“ „Warum nicht? Schaden wird’s bestimmt nicht!“ „Da sind nämlich so ein paar dabei“, erklärte Schmeißer, „die mich immer nach solchem Kram fragen – ob ich nicht was wüßte, versteht ihr?“ „Daß die norddeutsche Landbevölkerung solche Sorgen hat …“ Sobelke schüttelte den Kopf. „Das hätte ich nicht gedacht. Ich habe immer geglaubt, das sei eine Zivilisationskrankheit, daß die Männer mit Mitte Vierzig nichts mehr zustande bringen. Das wäre ja auch ganz logisch, bei dem Streß in den Städten. Aber die Bauern …?“ 50
„Ich versteh das schon.“ Schmeißer grinste. „Wenn einer den ganzen Tag gepflügt hat, kann er abends keine Furche mehr sehen, haha!“ Sie lachten. Voigt lachte am lautesten. Schmeißer goß die Gläser voll. Sie tranken. „Dann kapier ich auch, warum die Stripkneipen auf dem Lande so gute Geschäfte machen“, sagte Sobelke. „Klar“, sagte Schmeißer. „Weil die Bauern auf scharfe Sachen scharf sind.“ „Aber die Mädchen dort sind ja nun wirklich alles andere als scharf“, berichtete Voigt. „Ich war mal in so einem Dings – vor zwei oder drei Jahren, als das gerade so richtig losging damit. Aber da waren nur abgetakelte Tanten vom Hamburger Kiez. Dritte Wahl. Zum Abgewöhnen.“ „Mensch, Voigt“, sagte Schmeißer, „da bist du hinterm Mond, Junge! Das ist heute Spitze, was die da bieten – was, Sobelke? Hab ich recht?“ „Ja – zum Teil, ja“, bestätigte Sobelke. Er stand auf, ging zur Theke, ließ sich vom Wirt einen Teller geben, belud ihn mit sechs Frikadellen, die er unter dem Glassturz hervorangelte, und kam damit zurück zum Tisch. „Das Krokodil solltest du dir mal ansehen, Voigt“, sagte er. „Draußen in Holtkamp … Mein Lieber – da geht dir das Taschenmesser in der engsten Hose auf!“ „Laßt uns doch hinfahren“, schlug Schmeißer mit vollem Mund vor. „Ich lade euch ein!“ „Ich kann nicht mehr fahren“, sagte Voigt. „Ich auch nicht“, sagte Sobelke. „Denkt ihr denn, ich noch? Wir nehmen ein Taxi!“ erklärte Schmeißer und biß in die zweite Frikadelle. „Verrückt!“ sagte Sobelke. „Andermal“, sagte Voigt. „Es geht auf elf, Leute!“ „Gerade die richtige Zeit“, sagte Schmeißer beharrlich. „Ehe wir dort sind, ist es halb zwölf – gerade die richtige Zeit! 51
Also – was ist? Sportlich! Oder wollt ihr ins Heiabettchen, Kameraden? Was wollt ihr denn da? Da kennt euch doch jeder … Haha!“ Und er rief, als er keinen Widerspruch hörte: „Herr Hansen! Bestell uns mal ein Taxi nach Holtkamp, hörst du?“ „Ja“, sagte der Wirt enttäuscht, denn er hatte sich eine größere Zeche versprochen. „Also ich weiß nicht …“, sagte Voigt zögernd. „Eigentlich hab ich überhaupt keine Lust!“ „Sei kein Spielverderber, Voigt!“ dröhnte Schmeißer. „Komm, trink dir Lust an!“ Und er goß zum viertenmal die Gläser voll. „Taxi kommt sofort“, rief der Wirt von der Theke her. „Noch ’n schönen Witz für die Wartezeit?“ sagte Schmeißer. „Ja, schieß los!“ „Kommt der Vater aus der Klinik nach Hause“, erzählte Schmeißer, „und sagt zu seinem Jungen: ‚Du, Fritzchen, der Klapperstorch hat dir ein Schwesterchen gebracht!‘ Guckt der Kleine ihm kopfschüttelnd nach: ‚Na so was; überall laufen die dollsten Weiber rum – und mein Alter bumst ’n Storch!‘ …“ Der Taxifahrer stand in der Gaststubentür und nahm die Schirmmütze ab.
4 „Das gibt Ärger, Beissel!“ sagte der Chefredakteur des Neustadter Tagesboten, reichte dem jungen Reporter die Druckfahnen über den Tisch und machte ein Gesicht, als ob er zu enge Schuhe anhabe. „Wollen Sie mir verbieten, die Wahrheit zu schreiben?“ fragte Beissel aggressiv, kratzte sich das Kinn unter dem Bart und sah den Chefredakteur herausfordernd an. 52
„Was heißt Wahrheit?“ gab der zurück. „Die Wahrheit ist, daß wir auf Ihren Artikel den Zylian als Anzeigenkunden los sind. Jedes Wochenende eine halbe Seite weniger – das ist mehr als Ihr Gehalt, Beissel! Von den wochentags gestreuten Inseraten, den Sonderangeboten, den Schlußverkaufsanzeigen ganz zu schweigen … Der Mann ist außerdem ein einflußreicher Kommunalpolitiker, und Sie schreiben über ihn, als sei er die letzte Charaktersau!“ „Ist er doch auch. Ein kleinkarierter, arroganter und dummer – ja, vor allem dummer – Spießbürger. Er hat nichts gelernt und nichts durchblickt und hält sich für den Einstein von Neustadt … Na, nicht gerade Einstein … So einer muß mal eins vor die Hörner kriegen, Boß! Macht sich stark für den ‚Heimatdichter‘ Adolf Bartels! Schlägt vor, die neue Schule nach dem Blut- und Bodenpoeten zu nennen … Das darf doch überhaupt nicht wahr sein! Was, glauben Sie, geht in der Presse los, wenn das bekannt wird? Ich sehe schon die Häme im Spiegel und den Spott im Stern und den liberaldemokratischen Zeigefinger in der Zeit … Und dann haben wir nichts dazu gesagt, nichts dagegen geschrieben, nichts bemerkt … Journalistische Vogel-Strauß-Politik in der Provinz! Den Kopf in den Inseraten-Kunden-Sandhaufen stecken! Sehen Sie es doch mal andersrum, Boß …“ Ulf Beissel redete sich in Rage. Er war aufgestanden und ging die fünf Schritte, die das Zimmer ihm Spielraum gab, auf und ab. „Sehen Sie’s doch mal so: Er kann gar nicht darauf verzichten, bei uns zu inserieren! Wir sind die auflagenstärkste Zeitung im Ort und im Hinterland. Im Hinterland streckenweise sogar die einzige. Woher sollen die Bauern denn wissen, daß er neue Hosen verkauft oder ältere zu Billigpreisen anbietet, wenn sie’s nicht durch uns erfahren? Soll er doch zwei, drei Wochen nicht inserieren! Er wird schon merken, daß die Leute seinen 53
Scheißkram hängenlassen. Und wir kriegen, wenn wir Krach kriegen mit ihm und seiner Clique, wir kriegen eine Auflagensteigerung, die den Verlust ausgleicht, weil alle geil darauf sind, zu lesen, wie einem Großkopferten mal die Leviten gelesen werden …“ „Sagen Sie besser, an den Wagen gepinkelt wird“, warf der Chef ein. „Meinetwegen! Das ist nur ein gradueller Unterschied …“ „Menschenskind!“ stöhnte der Chefredakteur. Er hatte den Kopf in die Hand gestützt und dachte nach. „Sehen Sie mal, Boß … Wenn Sie die Geschichte rausschmeißen oder Sie auf honigsüß umschreiben – deswegen häng ich mich nicht auf. Deswegen gehe ich nicht zur Fremdenlegion – bestimmt nicht! Mir persönlich ist es scheißegal, ob die Rechten in Neustadt ihre Schule nach einem Mann namens Adolf Bartels nennen oder die Linken ‚Karl-Liebknecht-Gymnasium‘ über das Schultor schreiben. Aber wenn so ein Kaffer wie der Zylian schöne Scheiße redet, dann muß die schöne Scheiße in die Schlagzeile! Was glauben Sie wohl, wie die Leute morgen unser Blättchen kaufen? Sie sollten gleich zweitausend mehr drucken!“ „Jetzt werden Sie größenwahnsinnig, Beissel“, sagte der Chefredakteur. Beissel lachte. „Ich brauche doch Ihnen nicht zu erzählen, was Journalismus ist!“ sagte er leise und eindringlich. „Einem alten Hasen wie Ihnen … Aufsehen erregen, die Leser zum Luftanhalten zwingen … Na, das wissen Sie doch besser als ich!“ Damit hatte er gewonnen. Der Chefredakteur setzte, wenn auch mit leisem Kopfschütteln, sein Zeichen unter die Druckfahne. „Okay; lassen wir’s so laufen“, sagte er. „Aber unser Verleger reißt uns morgen die Rübe ab, sag ich Ihnen …“ Er ging zur Tür, wandte sich noch einmal um und knurrte: „Geben Sie’s in die Maschine! – Gute Nacht.“ 54
Dann ging er hinaus, verließ die Redaktion, fuhr nach Hause und trank zwei Flaschen Starkbier, weil er Angst hatte, sonst nicht schlafen zu können. Beissel war in Siegerstimmung. Er überlegte, wohin er noch fahren könnte; er hatte noch keine Lust, ins Bett zu gehen. Es war halb zwölf. Wohin, zum Kuckuck, kann man denn in diesem Kuhkaff abends gehen, dachte Beissel. Die vier Kneipen, die länger als 22 Uhr offen hatten, waren eine öder und langweiliger als die andere. In der Diskothek mit dem beknackten Namen Klimbim war es genauso öde und langweilig – nur sehr viel lauter als in den Kneipen. Das Kino gab nur freitags und sonnabends eine Nachtvorstellung – und dann zeigten sie meist die überaus dämlichen Pornos aus der Kiste für Minderbemittelte, Halbstarke und Sabbergreise: Kellnerinnen-Report, 7. Teil oder Liebesschwüre auf der Alm oder ähnlich Unsägliches … Beissels Blick fiel auf den Andruck der Inseratenseite seines Brotgeber-Blattes: Die Sensation des Jahres! Sondergastspiel. LULU, die Striptease-Königin aus Marseille, las er. Nur noch wenige Tage im KROKODIL in Holtkamp. Täglich ab 22 Uhr. Kein Eintritt. Zivile Preise. „Lulu aus Marseille im Krokodil in Holtkamp“, sagte Beissel halblaut zu sich selber. Das kann vielleicht ganz komisch sein … Er bedauerte, keinen Freund zu haben, den er anrufen und überreden könnte mitzufahren, um Lulu aus Marseille zu besichtigen. Allein machen solche Expeditionen nur halb soviel Spaß. Doch es war in diesem Rund-um-die-Uhr-Job und in einem solchen Städtchen mit 28 735 schwerblütigen, -fälligen, -züngigen Einwohnern nahezu ausgeschlossen, jemand zu finden, der beweglich genug war, nachts um zwölf, aus dem Schlaf geklingelt, zu sagen: Ins Krokodil ? Dufte – ich komm mit! 55
Ulf Beissel ging durch die Setzerei, las noch den Bürstenabzug seines Artikels über oder, genauer, gegen Zylian und freute sich, als der alte Metteur Rust ihm zuzwinkerte und mit anerkennendem Grienen sagte: „Volles Pfund, Herr Beissel!“ Dann verließ er das Gebäude, bestieg seinen KlapperVolkswagen und fuhr die gewundene, dunkle Landstraße nach Holtkamp in den Nightclub Krokodil, um sich mit der Besichtigung jener angeblich aus Marseille stammenden Dame Lulu die Zeit zu vertreiben, jener Dame, die den Titel „Striptease-Königin“ trug und die man hierzulande eine Sensation nannte. Die Sensation erwies sich als eine lange, gutgebaute Mulattin. Sie begann ihren ersten Strip in dieser Nacht gerade, als Beissel die zum Nachtlokal umgebaute Scheune betrat und am Filzvorhang stehenblieb, um der Königin des Striptease zuzusehen. Was ihn faszinierte, war aber nicht ihr Busen oder ihr Bauch oder ihre Bewegungen mit Busen und Bauch, obschon das zweifellos sehr gekonnt war, was sie da vollführte. Nein, was ihn faszinierte, war das Gesicht der Stripperin. Beissel hatte schon oft Striptease gesehen. Mal war es mehr, mal weniger an- oder aufregend gewesen. Er erinnerte sich an diese und jene Vorstellung, doch er erinnerte sich nicht, jemals die Gesichter der Entkleidungskünstlerinnen wahrgenommen zu haben. Ihre Schenkel, Schöße und Popos hatten ihn stärker beeindruckt als ihre Mimik. Aber hier war das anders. Was die schokoladenbraune Schöne mit ihren dunklen Pupillen, den gelblichen Augäpfeln, dem großen Mund, den wulstigen Lippen, den blendendweißen Zähnen, der rosa Zunge und – ja, sogar mit ihren Nüstern 56
veranstaltete, das war wirklich sensationell, obschon wahrscheinlich die Mehrheit der Männer im rauchigen Lokal es gar nicht bemerkte. Beissel bedauerte, daß die plärrige Tonbandmusik abbrach und die Mulattin mit dem Blackout der Scheinwerfer verschwand, nachdem sie das vorletzte Perlendreieck abgelegt hatte. Und daß ihr Auftritt nur so kurz gewesen war. Er applaudierte heftig, doch Lulu kam nicht auf die winzige Bühne zurück. Der Kellner, der Beissel einen Platz anwies, sagte, sie hätte noch zwei Auftritte diese Nacht – aber erst kämen andere Darbietungen, die auch nicht von Pappe seien, jawohl … Und was der Herr denn trinken wolle? Es herrsche zwar eigentlich Weinzwang, aber sie würden auch ein Herrengedeck – also eine Flasche Bier und einen Korn – servieren … Preis? – 12 Mark 50, inklusive Mehrwertsteuer. Jawohl! „Zivile Preise!“ sagte Beissel ironisch und bestellte ein Herrengedeck mit der festen Absicht, sich den Rest des Abends daran festzuhalten. Er sah sich um. Das Krokodil war nicht allzu gut besucht. Es waren vielleicht 20, 25 Leute da, alles Männer, bis auf eine Frau, die sich ganz offenbar nicht sehr wohl fühlte; sie starrte mit verkniffenem Gesicht vor sich auf das Tischtuch, während ihr Begleiter auf sie einredete. Der Tisch neben Beissel war leer. Am übernächsten Tisch saßen drei Männer: ein großer Blonder mit erstaunlich strahlenden blauen Augen, ein mittelgroßer Brünetter, der nach einem Intellektuellen aussah oder nach einem Künstler, und ein ebenfalls mittelgroßer. Mittfünfziger, der die laute Fröhlichkeit der beiden anderen zwar mitmachte, aber sichtlich nicht teilte. Er lachte, wenn sie lachten, aber seine Augen blieben unbeteiligt, und sein Gesicht erlosch, wenn seine Kumpane zur Bühne guckten und er sich nicht angesehen fühlte. Beissel, der sich immer für Menschen interessierte 57
und sich einen Spaß, ein Spiel daraus machte, sich auszumalen, welchen Beruf, welches Hobby, welche Vorzüge, Leidenschaften, Laster, Partner ihm zufällig Begegnende wohl haben mochten – Beissel würde gern, gar zu gern gewußt haben, wen er da vor beziehungsweise neben sich hatte. Bauern waren es gewiß nicht; dazu waren zwei von ihnen zu blaß, und sie hatten zu gepflegte Hände … Und der dritte, der große Blonde, sah trotz seiner Rotbäckigkeit und Derbheit und trotz seines Lodenanzugs und seiner überdimensionalen Flossen auch eher wie ein Gutsverwalter oder Landwirtschaftsberater oder so was aus … Beamte? Nein; dazu schmissen sie zu sehr mit Geld rum. Auf ihrem Tisch stand schon ein Dutzend Bierflaschen, und in einem Weinkühler neben dem Stuhl des Blonden kühlten zwei Sektflaschen. Sie hatten bestimmt bereits eine Drei- bis Vierhundert-Mark-Zeche. Das kam auch für höhere Beamte kaum in Betracht. Und wenn sie noch so bestechlich waren – sie würden ihr Schmiergeld sicher nicht in aller Öffentlichkeit auf den Kopf hauen … Unternehmer? Schon eher. Der Große vielleicht ein Bauunternehmer; der mit dem intellektuellen Habitus vielleicht Apotheker, oder – ja, Arzt? Gynäkologe …? So zynisch, wie er manchmal guckte … Und der in der Mitte? Schwer zu sagen, Kaufmann? Und welche Branche? Er war ganz gut angezogen … Textilien vielleicht. Oder war er Rechtsanwalt? Nein; dann wäre er großmäuliger, lauter, eitler … Wahrscheinlich doch Kaufmann … oder? Reisender? Ja – Vertreter! Na klar, das war ein Vertreter. Das sah man schon an seiner Art, sich anzupassen, devot zu lächeln, obwohl die beiden anderen offensichtlich gar nicht seine Kunden waren. Solange auf der Bühne nichts los war, steckten die drei die Köpfe zusammen. Einer, meist der große Blon58
de, erzählte was – höchstwahrscheinlich zotige Witze –, und dann fuhren sie mit brüllendem Gelächter auseinander, tranken, steckten wieder die Köpfe zusammen und bogen sich abermals vor Vergnügen … Nur daß eben der eine, der Kaufmann oder Vertreter ganz deutlich nicht bei der Sache war und das Vergnügtsein nur spielte. Vielleicht ist er krank, überlegte Beissel; hat er Schmerzen? Oder er hat Ärger in seinem Laden? Mit seiner Frau? Seinen Kindern? Möglicherweise ist sein Junge ein Radikaler und darf nun nicht Lehrer werden, und der brave, halbrechte Vater hat das ganze Studium vergebens bezahlt …? Oder die Tochter geht auf den Strich …? Ach, Geschichten, Geschichten! – Wenn eine Fee käme und mich fragte, was für drei Wünsche ich hätte, dann würde ich mir als erstes wünschen, in aller Leute Köpfe gucken zu können. Da hätte ich Stoff für tausend Erfolgsromane. Als zweites würde ich mir eine Brieftasche wünschen, die nie leer wird, in der immer so viel darin ist, wie ich gerade brauche … Eigentlich Quatsch! Dann wäre es gar nicht nötig, in aller Leute Kopf gucken zu können – denn dann brauchte ich gar keine Stoffe, um Erfolgsromane zu schreiben – wozu denn? Und als drittes … Er kam nicht dazu, sich den dritten Wunsch auszudenken, denn die Lichter im Lokal wurden gedämpft. Aus dem Lautsprecher neben der Minibühne kam indische Musik. Ein Mann in schlecht sitzendem Smoking trat ins Scheinwerferlicht und kündigte in mühsamem Hochdeutsch, durch das ein schlecht vertuschter rheinischer Dialekt schimmerte, den Fakir Rabindranath an, der sogleich die weibliche Schlange Rakipunda oder so ähnlich mit seiner Flöte beschwören werde … Aber in den Kopf des Vertreters möchte ich schon gucken können, dachte Beissel, als er wieder das erlöschende Gesicht Voigts am übernächsten Tisch sah. 59
Er konnte nicht ahnen, daß der Mann, der ihn so interessierte, ihn bald sehr beschäftigen würde. Um das ahnen zu können, hätte er sich als dritten Wunsch von seiner imaginären Fee den Blick in die Zukunft erfüllen lassen müssen … Aber wer, der einen Rest Verstand hat, wünscht sich das schon? Es war halb vier Uhr früh, als die drei Herren ins Hotel Zur Eiche zurückkamen. Sobelke war so klug gewesen und hatte sich beim Weggehen am Abend vom Wirt noch den Hausschlüssel geben lassen. Es machte ihm nur jetzt große Mühe, ihn ins Schlüsselloch zu kriegen und die Hoteltür aufzuschließen. Schmeißer hatte rund 800 Mark bezahlt. Die fünf Pullen Sekt hatten allein fast 400 gekostet. Korn und Bier und Sekt und viel zuviel Zigaretten hatten aus den dreien richtige Operettenbühnen- oder SlapstickfilmBesoffene gemacht. Sie hatten im Taxi so laut gesungen, daß der Chauffeur gedroht hatte, sie mitten auf der einsamen Landstraße rauszusetzen, wenn sie nicht ein bißchen leiser fröhlich sein könnten. Schmeißer hatte sich mit ihm anlegen und aussteigen wollen. „Dann lau… lau… laufen wir eben, Sie!“ hatte er gemotzt. Aber Sobelke und Voigt hatten den Streit geschlichtet, weil sie keine Lust verspürten, im Dunkeln und im Regen eine Stunde durch schlafende Dörfer zu tippeln. Voigt hatte das Taxi bezahlt, weil Schmeißer die 30 Mark „Halsabschneiderischen Wucher!“ nannte und sich am liebsten mit dem Fahrer geprügelt hätte. Und nun standen sie, torkelnd und mit zwinkernden Augen und ungehorsamen Zungen, im Hoteleingang und forderten dauernd mit erheblicher Lautstärke: „Leise!“ „Seid doch leise!“ Voigt fand zum Glück sein Zimmer gleich, während Schmeißer und Sobelke noch eine Weile herumirrten, 60
suchten, polterten und schimpften – bis der Wirt im Bademantel, barfuß in Pantoffeln, aus seiner Wohnung kam und sie mufflig und knurrend in ihre Betten bugsierte. Voigt stand in seinem Zimmer in Unterhose vor dem Waschbecken, ließ das kalte Wasser über seine Handgelenke laufen und fühlte sich sterbenselend. Er klatschte sich den nassen, kalten Waschlappen ins Gesicht, in den Nacken, spürte fröstelnd, wie ihm die Tropfen den Rücken entlangliefen, prustete, versuchte seine durcheinanderlaufenden Gedanken in den Griff zu kriegen. Er beugte sich so weit vor, daß ihm das kalte Wasser über den Kopf lief, stieß sich schmerzhaft den Hinterkopf am Wasserhahn, als er sich wieder aufrichtete, und klatschte sich noch mal den nassen Lappen vor die Augen. Das alles half nicht viel. Als er in den beleuchteten Spiegel über dem Waschbecken sah, merkte er, daß seine Augen viel langsamer als seine Kopfbewegungen waren, daß sein Blick hinkte und daß es ihm unendlich schwer wurde, die Augenlider offenzuhalten und einen bestimmten Punkt länger als zwei Atemzüge lang zu fixieren. Das Gesicht, das er da sah, war auch nicht gerade geeignet, seinen Zustand zu verbessern: ein uraltes, zerklüftetes Gesicht, hellgrün, mit tiefen lilafarbenen Schatten, einem offenen Mund, über dessen schlaffer Unterlippe ein Speichelfaden hing. Wirres, schütteres Haar klebte an der Stirn und an den Schläfen … Auf der großporigen Haut sprossen schwarze und silberne Bartstoppeln. Voigt wandte sich angewidert ab, suchte in seiner Reisetasche das Necessaire, erinnerte sich, daß er es ja schon ausgepackt hatte, verlor beinah die Balance, als er sich zu schnell umdrehte, um nachzusehen, ob es auf dem Bett lag, fand es endlich, kramte dann ziellos darin herum, verlor es aus den Händen, so daß Seife, Rasier61
zeug, Kamm, Nagelschere und noch alles mögliche andere auf den schäbigen Bettvorleger fiel. Voigt bückte sich, um den Kram aufzuheben – aber da schwappte sein Magen über, und er konnte gerade noch das Waschbecken erreichen und sich dahinein erbrechen. „Scheiße“, murmelte er gurgelnd – aber es war ihm fürs erste besser, und er fühlte sich leichter und nüchterner. Er ließ erst das kalte und dann das heiße Wasser laufen, doch das Erbrochene verstopfte den Waschbeckenabfluß. Voigt mußte die halbverdauten Stücke herausfischen und auf ein Papiertaschentuch sammeln, das er glücklicherweise auf der Ablage vor dem Spiegel liegen hatte. Davon wurde ihm erneut schlecht. Er würgte, aber es kam nichts mehr. Tränen liefen ihm übers Gesicht. Hinter seinem Zäpfchen saßen ein paar Speisereste, die brannten. Er versuchte sie auszuspucken oder hinunterzuschlucken. Dann trank er zwei Zahnputzgläser voll Wasser. Das Wasser schmeckte ekelhaft nach Chlor. Kopfschmerz begann hinter seinen Augen und Schläfen zu klopfen. Jetzt war das Waschbecken wieder frei. Voigt bückte sich langsam, ließ sich vorsichtig auf alle viere nieder und fand schließlich auf dem Bettvorleger das Päckchen Alka-Seltzer, das er gesucht hatte. Er erhob sich. Ein kreisender Schwindel zwang ihn, sich am Handtuch festzuhalten. Das Handtuch riß vom Haken – aber Voigt stand. Er pulte mühsam zwei Tabletten aus der Stanniolverpackung, warf sie in das halbvolle Wasserglas, wartete leise schwankend und blinzelnd darauf, daß sie sich auflösten, und trank dann das trübe salzige Zeug in vier großen Schlucken. Er legte seine Hose sorgfältig zusammen und hängte sie auf einen Bügel, ebenso das zerknautschte Hemd und die Jacke. Das alles dauerte länger als sonst, denn seine 62
Handgriffe und Bewegungen waren ungenau und langsam. Dann legte er sich in das leise knarrende Bett. Er wagte zuerst nicht, sich auf die Seite zu drehen, sondern blieb auf dem Rücken liegen, die Arme hinter dem Kopf, und schloß die Augen. Als er warm geworden war und keine neuen Brechreizanfälle mehr fürchtete, drehte er sich nach links, zog die Knie an und schlief ziemlich schnell ein. Er schlief unruhig und schlecht. Kurz vor sieben wurde er wach und mußte austreten. Sein Kopf kam ihm groß und schwer wie ein Medizinball vor und seine Zunge, als sei sie mit Velour überzogen. Sein Magen schmerzte, die Augen bekam er nur mühsam auf, und als er sie endlich offen hatte, tat ihm das Licht weh … Es war zum Heulen! Er wackelte wieder ins Bett. Ein Segen, daß er erst um halb zwei heute mittag bei Zylian sein mußte. Eigentlich hatte er vorher noch zwei kleine Kunden in den Nachbardörfern besuchen wollen, aber das konnte er auf den späten Nachmittag verschieben. Wenn er bei Zylian früh genug fertig war … Er kroch also wieder unter die klumpige Federdecke, schaltete seine Gedanken ab, verdrängte den Ärger darüber, daß er sich von Schmeißer und Sobelke zu dieser idiotischen Sauftour hatte verleiten lassen, dachte an nichts mehr außer an Schlaf und nickte auch wieder ein. Otto Zylian saß blaß am Frühstückstisch. Vor ihm auf dem Teller lag ein angebissenes Brötchen. Seine Kaffeetasse war noch halb voll, aber der Kaffee war nur mehr lauwarm. Zylian hatte den Neustadter Tagesboten in der Hand. Seine Finger zitterten. Er kaute auf der Unterlippe und atmete schwer. „Nun nimm doch das Zeitungsgeschreibsel nicht so tragisch, Otto!“ sagte Gunda, seine Frau. Sie hatte ihre Kaffeetasse in der Hand und rührte nervös darin herum. „Wer liest denn das Käseblatt schon?“ 63
„Jeder!“ sagte Zylian heiser. Seine barsche Wortkargheit erschreckte sie mehr, als wenn er angefangen hätte zu toben. Der Zeitungsartikel mußte ihn schwer getroffen haben. Sie schwieg ängstlich und überlegte, was sie tun könnte, um ihn auf andere Gedanken zu bringen. Annelies, die neunzehnjährige Zylian-Tochter, kam ins Zimmer. Sie war wie üblich spät dran. In zwanzig Minuten fing die Schule an, und sie hatte gute zehn Minuten mit dem Rad zu fahren. Sie setzte sich deshalb nach einem knappen „Guten Morgen!“, das von ihren Eltern ebenso knapp erwidert wurde, nur flüchtig auf die Stuhlkante am Frühstückstisch, griff sich ein Brötchen, schnitt es auf, bestrich es mit Butter, biß hinein, goß sich einen Schluck Kaffee ein, mischte ihn mit kalter Milch, stand schon wieder auf, während sie noch trank und kaute und bemerkte erst jetzt das Gesicht des Vaters. „Was ist denn mit dir los, Papa? Bist du krank?“ „Papa hat Ärger“, sagte Frau Zylian. „Ärger?“ fragte die Tochter. Herr Zylian reichte ihr stumm die Zeitung. „Muß denn das Kind …?“ Frau Zylian war dagegen. „Besser, sie erfährt es hier“, unterbrach Herr Zylian seine Frau, „als in der Schule, womöglich mit den entsprechenden Kommentaren.“ Das Mädchen blätterte, suchte verwirrt, fand nichts. „Seite drei“, sagte Zylian. Das Mädchen las den Obertitel halblaut: „Stadtrat Zylian über die Opposition …“ Und dann schluckte es erschrocken und flüsterte die in fetten Vier-Cicero-Buchstaben gesetzte Schlagzeile DRECKSLEUTE. Sie ließ das Blatt sinken und sagte: „Auweia, Papa! Hast du das gesagt?“ „Natürlich nicht!“ schrie Zylian und hieb mit der Faust auf den Tisch, daß Tassen und Teller klirrten. „Ich bin doch wohl nicht so dämlich!“ 64
„Aber wie können die das dann schreiben?“ fragte das Mädchen. „Weil es Schweine sind!“ schrie Zylian. „Verbrecher! Gewissenlose Verleumder … Aber warte nur! Ich werde es dem Burschen schon eintränken! Ein falscher Zeuge bleibt nicht ungestraft – und wer frech Lügen redet, wird umkommen, heißt es schon in der Bibel!“ Er klopfte – zur Erleichterung seiner Frau – schon wieder Sprüche. „Hast du denn überhaupt was Ähnliches gesagt, Papa?“ fragte die Tochter. „Ich habe mich gestern gegenüber diesem bärtigen Flegel von der Zeitung zu der Frage des Namens für die neue Schule geäußert“, sagte Zylian mit gerunzelter Stirn. Er trank nun doch seine Kaffeetasse leer und verzog das Gesicht, weil der Kaffee kalt war. „Und da habe ich gesagt, daß die Angriffe der Linken die übliche Dreckschleuder sind, die wir schon kennen … Dreckschleuder! Verstehst du? – Ich habe mich, das fällt mir jetzt ein, ich habe mich versprochen, habe ‚Drecksleute‘ gesagt – habe das aber sofort korrigiert, so daß es eindeutig als Versprecher zu erkennen war. Und da macht dieser Rotzlöffel eine Schlagzeile daraus! Das nenne ich ehrabschneiderischen Asphaltjournalismus! Solche Herrschaften gehören hinter Schloß und Riegel! Jawoll …“ Er holte tief Luft und trocknete sich die Stirn, denn die Wut hatte ihn in Schweiß gebracht. „Du mußt in die Schule“, mahnte Frau Zylian ihre Tochter. Annelies reagierte nicht. Sie fand das, was hier lief, viel interessanter. Sie setzte sich an den Tisch und fragte: „Und nun? Was willst du jetzt machen, Papa?“ Zylian fühlte sich durch das Interesse seiner Tochter, mit der er sonst wenig Kontakt hatte, geschmeichelt. „Das will ich dir sagen …“ „Sie muß aber in die Schule“, unterbrach ihn seine Frau. 65
„Ja, Himmeldonnerwetter, Gunda!“ schrie Zylian. „Ist denn die Schule heute so wichtig? Es geht hier um die Wahrheit, um den Mißbrauch der Pressefreiheit, um … Ja, schließlich um unsere Ehre und um unsere Existenz!“ Annelies genoß die Auseinandersetzung ihrer Eltern und überhaupt die ganze dramatische Situation … Das war doch mal was! „Und was willst du machen, Papa?“ wiederholte sie ihre Frage, ohne ihre Mutter zu beachten. „Das sollst du hören!“ dröhnte Zylian. „Gib mal das Telefon herüber … Und das Telefonbuch!“ „Wen rufst du an, Papa?“ fragte das Mädchen. „Die Polizei?“ „Unsinn“, sagte Zylian. „Den Verleger der Zeitung.“ „Kennst du den? Ist das ein Parteigenosse von dir?“ Zylian wählte. „Bei uns heißt das nicht Genosse – das solltest du aber allmählich wissen, Mädchen! Nein, er ist kein Parteifreund – er ist überhaupt in keiner Partei, soviel ich weiß. Ich kenne ihn vom Bürgerverein. Da ist er mit mir im Vorstand … Hallo! Ist dort die Druckerei Baldauf? Wie?“ rief er. „Ja? … Dann verbinden Sie mich bitte mit Ihrem Chef … Ja! Mit Herrn Baldauf, bitte … Zylian ist hier, Stadtrat Zylian … Danke!“ Er nickte, während er wartete, seiner Tochter zu, die ihr Brötchen kaute. Frau Zylian zerknautschte ihr Taschentuch im Schoß. Sie fror vor Angst, daß nun alles vielleicht schlimm ausgehen würde. Wenn doch ihr Mann nicht immer so mit dem Mundwerk … „Guten Morgen, Herr Baldauf“, sagte Zylian. „Hier Zylian … Entschuldigen Sie die frühe Störung, aber der Anlaß wird Ihnen meinen Anruf zu dieser Zeit verständlich machen. Ich nehme an, Sie haben Ihre heutige Zeitung schon gelesen? – Wie? – Ja? – Ach ja … Und was, verehrter Herr Baldauf, gedenken Sie gegen den jungen Mann zu unternehmen? … Wie, bitte? …“ 66
Er verzog das Gesicht. Seine Frau riß noch ängstlicher als vorher die kleinen Augen in dem runden roten Gesicht auf. Seine Tochter beugte sich neugierig vor. „Aber ich versichere Ihnen, daß dieses Wort in dem Interview nur ein Versprecher … Wie? – Ja, ich habe mich sofort verbessert! Da konnte nur jemand Böswilliges eine Schlagzeile daraus machen … Was sagen Sie? – Pressefreiheit? – Sie decken also diesen Herrn, äh – Beissel? Interessant … Das ist ja sehr interessant und aufschlußreich, werter Herr Baldauf! Ich hätte Sie für einen loyalen Bürger gehalten … Was? – Ich sollte mir meine Worte besser vorher überlegen … Gut … Also gut! Wenn Sie in Ihrem Blatt dieser Art Journalismus Raum geben – dann muß ich die Konsequenzen ziehen … Pressefreiheit! Dann werde ich mir die Freiheit nehmen, nicht mehr in Ihrer Presse zu inserieren! Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis … Jawohl! Mit sofortiger Wirkung! Sie kriegen es noch schriftlich … Jawoll! Und ich werde im Kreise meiner Freunde die entsprechenden Empfehlungen … Was sagen Sie da? Ich drohe Ihnen? Da kann ich ja nur lachen, Sie …!“ Er lachte böse und warf den Hörer auf die Gabel. „Ach du meine Güte noch mal!“ wimmerte Frau Zylian. „Dem hast du’s aber gegeben!“ sagte Annelies mit Nachdruck. „Aber wo willst du dann in Zukunft deine Anzeigen aufgeben?“ fragte Frau Zylian leise. „Ach ja“, sagte die Tochter, und es war ihr anzusehen, daß sie nachdachte. „Es gibt ja sonst keine Zeitung. Jedenfalls keine Lokal …“ „Das laßt mal meine Sorge sein!“ tönte Zylian. „Da laß ich mir schon was einfallen. Und wenn ich selber über die Dörfer fahre und mit der Klingel unsere Ware anpreise! Die kriegen nicht für ’ne Mark mehr Inserate von mir. Das wollen wir doch mal sehen!“ Er faßte sich an 67
den Kragen, der ihm zu eng geworden zu sein schien. Seine Blässe war einer fleckigen Röte gewichen. „Glaubst du, daß das sehr gescheit war, Papa?“ fragte die Tochter jetzt und sah ihn zweifelnd an. „Was? Was denn?“ raunzte Zylian. „Na, das Interview. Und jetzt die Kündigung der Inserate …“ Zylian zwinkerte überrascht. Eben hatte sie ihn noch bewundert – und jetzt … „Mußt du nicht längst in der Schule sein?“ fragte er, und es klang fast bedrohlich. Das Telefon klingelte. Zylian hob ab. „Ja?“ sagte er nur. „Aber selbstverständlich, zum Donnerwetter, Ströhlein!“ bölkte er in die Sprechmuschel. „Zehn nach acht! Selbstverständlich schließen Sie auf! Muß ich denn alles selber …?“ Ulf Beissel wurde von seinem Telefon aus dem tiefsten Schlaf geklingelt. „Beissel“, sagte er – und das klang, als habe jemand in eine Blechgießkanne gehustet. Der Chefredakteur war am anderen Ende der Leitung. „Viertel nach acht Uhr“, sagte er. „Schönen guten Morgen, Herr Beissel! Haben Sie schon gefrühstückt?“ „Nein“, sagte Beissel. „Ich bin erst halb sechs ins Bett. Aber ich habe dienstlich gesumpft, Boß. Ich hab ein Interview mit der Striptease-Königin aus Marseille gemacht, der Sensation des Jahres! Unheimlich dufte Geschichte! Mein Titelvorschlag: Heißer Süden im kalten Norden. Nur Fotos müssen wir noch haben, denn das, was Lulu hat, können wir nicht drucken. Dann streichen sie uns sofort die kirchlichen Nachrichten. Aber meine Geschichte ist moralisch einwandfrei: armes Mischlingsmädchen, das sich …“ „Stoppen Sie mal ’n Moment, Herr Beissel!“ unterbrach ihn der Chefredakteur. „Ich hab Sie nicht angeklingelt, weil ich von Ihnen einen Bericht über Ihr 68
dienstliches oder auch außerdienstliches Nachtleben hören wollte. Ich habe Ihnen nur sagen wollen, daß es genauso läuft, wie ich’s befürchtet habe. Der Verleger hat mir eben gesagt, Zylian hat die Inserate gekündigt. Und Sie sollen heute nachmittag halb vier zu ihm kommen.“ „Zu Zylian?“ fragte Beissel. „Quatsch. Zum Chef!“ „Will er mich feuern?“ fragte Beissel und wunderte sich über sich selber, wie kühl er das fragte. „Nein, das glaub ich nicht, obschon es mich wundert“, meinte der Chefredakteur. „Ich hab sowieso gestaunt, daß er mich nicht zur Schnecke gemacht hat. Ich denke, er will von Ihnen wissen, wie das Gespräch mit Zylian genau abgelaufen ist. Haben Sie es eigentlich auf Kassette?“ „Nein“, sagte Beissel, „Aber ich nehme es auf meinen Eid. Das ist auch was wert!“ Paul Braasch junior faltete strahlend die Zeitung zusammen, stand auf und ging damit in das Büro seines ungeliebten Schwagers. „Morgen, Schwagerherz“, sagte er und gab dem mürrisch Aufblickenden die dickte, feuchte Hand. „Zeitung schon gelesen, heute früh?“ „Nein“, sagte Halstenbach. „Ich hatte noch keine Gelegenheit.“ „Morgengebet wieder zu lange ausgedehnt, wie?“ spottete Braasch junior. „Lektüre lohnt sich aber heute besonders, mein Lieber! Guck mal!“ Er schlug das Blatt auf und hielt es Halstenbach vor die Nase. „Der Herr Stadtrat Zylian hat den Scharfmacher gemacht. Wird ihm allerlei Ärger einbringen, nehme ich an … Du kennst doch den Anzeigenfritzen vom Neustadter Tagesboten, wie? Bietmeyer oder so ähnlich. Singt doch mit 69
dir im Chor – oder? Ruf den doch mal an, ob Zylian nicht gleich vor Wut die Inserate im Tagesboten stoppt … So wie ich den kenne, macht der das. Und dann gehen wir doppelt rein – was? Schönes Inserat: Sonderangebot für Maurer, Zimmermänner, Schlosser, sonstige Handwerker und Decksleute – Decks-, nicht Drecks-! Preiswerte und praktische Arbeitskleidung … Overalls et cetera. Bei Braasch … Na, was meinst du?“ Halstenbach wiegte den Kopf. „Nicht ganz seriös, find ich. Aber wenn du meinst … Du bist für die Werbung verantwortlich!“ „Scheiß auf seriös!“ Braasch junior lachte. „Los, ruf mal deinen frommen Sangesbruder an!“ Voigt schlief noch bis kurz vor zehn, aber er träumte wirres und quälendes Zeug, weil sein Magen leer war. Deshalb fühlte er sich, als er abermals aufwachte, so zerschlagen und müde, als hätte er gar nicht geschlafen. Er stand auf, ging unter die Dusche, die jedoch nicht richtig heiß lief, zog sich fröstelnd an, rasierte sich, schnitt sich dabei ins Kinn, beschmierte sich das Hemd mit Blut und mußte ein frisches anziehen, dessen Kragenknopf absprang, als er ihn zuknöpfen wollte. Es ging auf elf, als er endlich in die Gaststube kam, die leer und kühl und trist war wie eine backsteingotische Friedhofskapelle im Februar. Der alte Kellner Schleinitz war hinter der Theke dabei, Gläser zu polieren. Eine Frau in blaugrauer Kittelschürze stand auf einer Trittleiter und putzte Fenster. Wenn sie den Arm reckte, hob sich ihr Kittel, und man konnte dicke Krampfaderknoten über ihrer linken Kniekehle sehen. „Guten Morgen!“ sagte Voigt mit belegter Stimme, räusperte sich und wiederholte, diesmal klarer: „Guten Morgen!“ „Oh, Herr Voigt!“ rief der Kellner überrascht. „Guten 70
Morgen! Sie sind ja noch da? Ich hab mich schon gewundert, daß Sie ohne Frühstück los wären … Der Chef hat mir einen Zettel hingelegt, daß er nicht geweckt werden will vor zwölf. Ist es denn gestern abend so spät gewesen?“ „Ja“, sagte Voigt. „Aber …“ Er brach ab, weil er nicht die mindeste Lust hatte, dem Kellner den Ablauf der Nacht zu erzählen. „Sind die anderen, also Herr Schmeißer und Herr Sobelke … Sind die schon weg?“ „Ich glaube, ja“, sagte der Kellner. „Ich bin erst kurz nach neun gekommen! Das Frühstück hat die Chefin gemacht. Es war jedenfalls nur ein Frühstücksgedeck unbenutzt. Und die Chefin hat gesagt, Zimmer zwei und vier können saubergemacht werden. Also sind die Herren wohl schon unterwegs. Die Chefin ist zum Markt gefahren, einkaufen … Was machen wir nun mit Ihrem Frühstück, Herr Voigt? Soll ich Ihnen fix einen Kaffee kochen?“ Voigt hatte keine Lust, in der zugigen, ungemütlichen Gaststube zu frühstücken. „Nein, danke. Ich trinke unterwegs eine Tasse Kaffee … Bis heute abend!“ „Ist gut“, sagte der Kellner. „Heute abend bin ich auch wieder da. Ich hatte bloß gestern abend frei. Mittwochs immer. Das ist mein Vereinsabend, mittwochs, wissen Sie! Kaninchenzüchterverein. Ich züchte Angoras. Irgendwas muß der Mensch haben …“ „Ja“, sagte Voigt. „Irgendwas muß der Mensch haben. Also, Wiedersehen.“ „Wiedersehen. Und gute Geschäfte heute“, sagte der Kellner. Voigt ging auf sein Zimmer und holte sich Hut und Mantel. Als er fünf Minuten darauf auf dem Hof ins dort abgestellte Auto stieg, merkte er, daß er den Zimmerschlüssel mit dem Handgranatenanhänger noch in der Hand hatte. Aber er war zu bequem, zurück in die Gaststube zu laufen, legte ihn auf den Beifahrersitz, startete und rangierte den Kombiwagen auf die Straße. 71
Er beschloß, da es erst Viertel nach elf war, doch noch zu einem der kleineren Kunden zu fahren. Das Dorf Hardenbusch war nur zehn, zwölf Kilometer entfernt. An der Straße dorthin, so erinnerte sich Voigt, war ein ganz einladend aussehender Gasthof – so mit Strohdach und Fachwerk. Dort konnte er schnell eine Tasse Kaffee trinken und trotzdem noch vor der Mittagspause den Besuch machen, von dem er sich zwar nicht allzuviel versprach, der aber zu den gern geübten Pflichtübungen gehörte, die unter dem Motto „Kleinvieh gibt auch Mist“ erledigt werden mußten.
5 Der einladende Gasthof hieß Alter Krug und er war geschlossen. Ruhetag stand auf dem Schild an der Tür. Voigt stoppte den Wagen im nächsten Ort vor einer Dorfkneipe, die Deutsches Haus hieß, und ging in die Gaststube. Ein halbes Dutzend Bauern saß da. Sie unterbrachen ihren lauten Disput, als Voigt eintrat, und starrten ihn an. Er konnte durch den Tabakrauch nicht erkennen, ob ihre Blicke neugierig oder feindselig waren. Es war ihm auch gleichgültig. Ein untersetztes Mädchen trat an den Tisch, an den er sich gesetzt hatte – weit genug von den Bauern entfernt, die langsam wieder zu reden anfingen, allerdings leiser als bei seinem Eintreten. Sie hätten ruhig laut weiterreden können, denn sie sprachen plattdeutsch, und er verstand kein Wort. Das Mädchen trug ein kobaltblaues Leinenkleid, das zwei Nummern zu eng war und ihre Fülle zu Wülsten quetschte. Hellblaue Augen, rote Backen und gelbes – jawohl gelbes, nicht blondes – Haar machten eine Farborgie aus ihm. Sonst jedoch sah das Lokal nicht so 72
aus, daß einem das Wort „Orgie“ in den Sinn kommen konnte. „Einen Kaffee, bitte“, sagte Voigt. „Ja“, sagte das Mädchen und lief an der Theke vorbei in die Küche. Voigt widerstand der Versuchung, sich eine Zigarette anzuzünden. Auf der linken Seite der Theke war eine Chrom-GlasVitrine, in der Tüten und Beutel mit Lakritzbonbons, Erdnüssen, Kartoffelchips und ein paar Tafeln Schokolade lagen. Als das bunte Mädchen nach erstaunlich kurzer Zeit den Kaffee brachte, zeigte Voigt auf die Vitrine und bat um eine Tafel Schokolade. „Was für welche?“ fragte das Mädchen. Voigt stand auf und ging zur Theke, während das Mädchen um den Tresen herumlief und die Vitrine öffnete. Voigt wählte Nuß-Sahne-Schokolade, bezahlte sie gleich, auch den Kaffee, und ging zurück zu seinem Tisch. Der Kaffee war heiß, aber er schmeckte schwach nach Spülmittel. Voigt warf, gegen seine Gewohnheit, vier Stück Zucker hinein und rührte ihn um. Er riß das Papier von der Schokoladentafel. Die Schokolade war grau. Sie hatte ganz offenbar ihre erste und zweite Jugend schon lange hinter sich. Er brach sich trotzdem einen Riegel ab und steckte ihn in den Mund. Es schmeckte nach Moder und Leim. Die Nußstückchen waren ranzig. Voigt spuckte die Schokolade in den Aschenbecher. Er wollte sich beschweren, aber das Mädchen war nicht mehr in der Gaststube. Es kam auch nicht, während er den süßen Kaffee trank. Voigt sah auf die Uhr. Fünf nach halb zwölf. Seine Beschwerde würde möglicherweise ein endloses Palaver hervorrufen. Er hatte keine Zeit. Er hatte auch keine Lust. Also ließ er die Tafel alte Schokolade liegen, trank auch den Rest Kaffee nicht aus, stand auf und ging ohne Gruß hinaus. 73
Zehn Minuten später parkte er seinen Wagen vor einem Klinkerhaus neben der Kirche in Hardenbusch, in dem Heinrich Barthelsen und Frau seit 47 Jahren Textilien und Betten feilhielten. Als Voigt zum erstenmal nach Hardenbusch gekommen war, hatte das ganze Textil- und Bettengeschäft Barthelsen nicht mehr als ein Zimmer in Anspruch genommen, das von der linken Parterre-Wohnung des Klinkerhauses dafür eingerichtet worden war. Alle vier, fünf Jahre war ein Zimmer dazugekommen, und heute dehnte sich Heinrich Barthelsens Unternehmen über das ganze Erdgeschoß aus. Voigt hatte nie kapiert, aber auch nicht fragen mögen, wieso und an wen der dünne, überhaupt nicht älter zu werden scheinende Mann Strümpfe, Wäsche, Hemden, Hosen, Anzüge, Federbetten, Steppdecken, Kopfkissen und Plaids verkaufte. Denn in all den Jahren waren nie mehr als zwei, höchstens drei Kundinnen oder Kunden im Laden gewesen, wenn Voigt kam. Das Dorf hatte auch nur achthundert Einwohner. Und fast jeder der Groß- und Kleinbauern besaß ein Auto, mit dem er in zwanzig Minuten in Neustadt sein konnte, wo es außer Braasch und Zylian, den beiden Großen, noch ein paar kleinere Textilgeschäfte gab, von denen jedes mit Barthelsens Auswahl und Preisen konkurrieren konnte. Aber Barthelsens Geschäft ging gut. Das heißt, es ging so gut, daß Barthelsen zu den wenigen gehörte, die stets innerhalb von acht Tagen nach Eingang der Ware die Rechnung bezahlten. Also mußte es doch in und um Hardenbusch Leute geben, die regelmäßig die 40 Hosen, 30 Sakkos und 20 Anzüge kauften, die Barthelsen bei Voigt Jahr für Jahr bestellte. Das war wirklich rätselhaft. Und Voigt hatte sich fest vorgenommen, den Alten bei passender Gelegenheit doch mal um eine Erklärung zu bitten. Voigt betrat den Laden. Er amüsierte sich wie immer 74
über die scheppernde Glocke oben an der Tür, von der Barthelsen sich trotz aller Erweiterung und Umbauten nicht getrennt hatte. Sie erinnerte Voigt an die Ziegenglocken im Harz, nur daß sie im Laufe der Jahre ein bißchen heiser geworden war. Es befand sich keine Kundschaft im Laden. Voigt ging zu dem alten Kassentresen, neben dem vor hohen dunklen Regalen der Packtisch stand. Den Gang entlang, der zum Büro Barthelsens führte, kam Frau Barthelsen. Voigt erschrak. Sie war ganz in Schwarz und wirkte noch zierlicher und vertrockneter als sonst. Ihr silberweißes Toupet saß schief, und sie sah aus, als habe sie Mehlsuppe statt Blut in den Adern. „Ach, Herr Voigt …“ Und da liefen ihr auch schon dicke Tränen über das Gesicht. „Um Himmels willen, Frau Barthelsen!“ rief Voigt, ging auf sie zu faßte ihre Hand. „Was ist denn? Ist was mit Ihrem Mann?“ Sie nickte weinend und lehnte sich an den Packtisch. „Er ist … Er ist … Vorgestern!“ schluchzte sie. „Aber das hab ich ja nicht gewußt!“ sagte Voigt. „Wie ist das denn so schnell gekommen? Er war doch immer gesund … Mein aufrichtiges Beileid, Frau Barthelsen! Es tut mir ja so leid für Sie … Aber ich fasse es noch nicht … Wie konnte das denn so schnell … Ein Unfall?“ Voigt redete so viel, weil er tatsächlich ernsthaft erschrocken war und weil er vor Schreck und Verlegenheit nicht wußte, was er tun und sagen sollte. „Nein, kein Unfall“, sagte Frau Barthelsen. „Er hat sich schon ein paar Tage nicht wohl gefühlt. Keinen Appetit. Er war ja nie ein starker Esser – aber er mochte gar nichts mehr, nicht mal sein Leibgericht, Kartoffelpuffer, Reibekuchen mit Apfelmus – nichts! Ich habe ihm zugeredet, zu Doktor Schmidt-Nordmann zu gehen, der mich vor vier Jahren gesund gemacht hat, als ich’s mal ganz schlimm mit der Galle …“ 75
„Ja, ich weiß noch“, sagte Voigt. Er wußte es wirklich noch. Barthelsen hatte ihm die Krankheitsgeschichte seiner Frau im Detail zwischen Hosen- und Sakkobestellung erzählt. „… aber er wollte partout nicht“, fuhr Frau Barthelsen fort. „Sein ganzes Leben hätte er keinen Doktor gebraucht, hat er gesagt, und das stimmt ja auch. Mein Mann ist nie krank gewesen. Er hat auch nie irgendeine Tablette oder so was genommen. Nur mit den Zähnen hat er mal zu tun gehabt, vor zwanzig Jahren, kurz nach seinem siebenundfünfzigsten …“ „Was denn?“ fiel Voigt ein. „Heißt das, Ihr Mann ist … war … Verzeihung, über Siebzig?“ „Er wird im nächsten Monat siebenundsiebzig!“ sagte sie – und dann besann sie sich und brach erneut in ein so heftiges Weinen aus, daß Voigt ihr hilflos die Hand auf die zuckende Schulter legte und nach Trostworten suchte, die ihm aber nicht einfielen. Von hinten kam mit klickenden Absätzen ein junger Mann. Er war groß, fast einen Kopf größer als Voigt, und hatte eines der Gesichter, denen man immerzu auf Zigaretteninseraten und -plakaten begegnet. Und manchmal in letzter Zeit auf Wahlplakaten, wo die junge, die dynamische Generation aufgefordert wird, den richtigen Kurs zu steuern … oder so. Er trug einen tadellos geschnittenen schwarzen Anzug und Lackschuhe. An seiner linken Hand, die er jetzt Frau Barthelsen auf die andere Schulter legte, blitzte ein großer Ring. Aquamarin in Gold. „Ach, Tante Elfriede“, sagte er und sah Voigt aus schmalen, hellen Augen abschätzend und beinahe böse an, als sei Voigt an den Tränen der alten Frau schuld, „nun beruhige dich! Onkel Heinrich würde sicher sauer sein, wenn er sehen könnte, daß du dich so wenig in der Gewalt hast!“ „Ja …“ Frau Barthelsen schluckte und zwang sich zur 76
Fassung. „Ja, ja – da hast du recht, mein Junge!“ Sie sah ihn gläubig an, dann wandte sie sich an Voigt: „Darf ich bekannt machen: Das ist unsere Neffe Kai. Kai Barthelsen. Und das ist Herr Voigt, der die Firma Intertex und noch zwei andere vertritt und uns seit Jahren besucht und beraten hat.“ Der junge Mann reichte Voigt die Hand, ohne die andere von der Schulter der Tante zu lassen. Voigt hatte die seine schon beim Auftreten des Neffen sinken lassen und ergriff nun die angebotene Hand des jungen Mannes. „Sehr angenehm“, sagte er. Der Neffe sagte nichts. Er zog nur den rechten Mundwinkel etwas nach oben. „Auch Ihnen möchte ich mein aufrichtiges Beileid aussprechen!“ sagte Voigt. Er war in Versuchung, seine Hand in die Hosentasche zu stecken und trocken zu wischen, denn die Neffenhand war kalt und feucht gewesen. Aber er tat es nicht. Er wußte im Augenblick überhaupt nicht, was er tun sollte, und wartete, daß von der Witwe Barthelsen oder von dem dynamischen jungen Mann irgendeine Initiative ausginge. Sie standen etwa eine Minute so herum. Die Minute war für Voigt sehr lang. Da nichts geschah, sagte er: „Ich möchte mich dann verabschieden, Frau Barthelsen, Bitte entschuldigen Sie – aber ich konnte ja nicht wissen … Und wir können jetzt unmöglich über Geschäftliches reden, denke ich. Ich komme also in der übernächsten Woche wieder. Ich rufe Sie vorher an, wenn Sie erlauben. Wann wird Ihr Mann – ich meine, wann findet denn die Beisetzung statt?“ „Am Montag“, sagte Frau Barthelsen und schluchzte schon wieder. „Auf Wiedersehen, Herr Voigt!“ Sie gab Voigt die Hand und ging, von der beringten Hand des Neffen behutsam, aber bestimmt auf den Weg geschoben, nach hinten. 77
„Ich begleite Sie“, sagte der Neffe und ging voraus zur Ladentür. Er wartete dort, bis die Tante im Büro verschwunden war, öffnete die Tür mit der heiser scheppernden Ziegenglocke und sagte dann: „Sie brauchen nicht wiederzukommen, Herr, äh … Herr Voigt. Übernächste Woche nicht und überhaupt nicht. Ich übernehme das Geschäft meines Onkels, und ich habe da bereits gestern andere Dispositionen getroffen, was den Einkauf angeht. Vielen Dank für Ihre bisherigen Bemühungen, aber ich muß hier einiges anders … Also, da muß neuer Wind rein. So leid es mir für Sie tut! Leben Sie wohl.“ Er deutete eine Verbeugung an, die aber eher wie ein Kopfnicken aussah – so: Zieh Leine, Alter! Du bist abgemeldet. Und dann schloß er hinter Voigt, der ohne ein Wort hinaus- und die drei Stufen hinabging, die Tür. Otto Zylian war noch nie ein besonders beliebter Arbeitgeber gewesen. Zu den vielen Sprüchen, mit denen er seine Angestellten und vor allem seine Lehrlinge traktierte, gehörte die Hindenburgsche Weisheit: „Nur wer gehorchen gelernt hat, kann später auch befehlen!“ In Zylians Geschäft gab es fünf gehorsame Angestellte: Ein ältliches Mädchen mit dem Charme und der Stimme eines Huhns hatte die Wäsche- und Hemden-Abteilung unter sich und gab dort die Schikanen und Demütigungen, die Zylian ihm zuteil werden ließ, an ein sechzehnjähriges Lehrmädchen weiter, das Isolde hieß, jedoch kaum je einen Mann in den Liebestod treiben würde. Eher in die Flucht. In der Abteilung Damenkonfektion wirkte seit sechzehn Jahren eine Verkäuferin, die sich einer gewissen, wenn auch kurzlebigen und seit langem erloschenen Intimität mit Zylian rühmen durfte und daraus erpresserisch eine Vorrangstellung gemacht hatte, die es ihr erlaubte, auch gegenüber den männlichen Mitarbeitern 78
des Hauses die Vertraute des Chefs herauszukehren und große Töne zu spucken, wenn er nicht da war. Auch die hatte bis vor kurzem ein Lehrmädchen unter sich gehabt und gepiesackt. Aber die strubbelköpfige Kleine war nach sechs Wochen davongelaufen und lernte jetzt, zu Zylians Ärger, in einem der kleineren Geschäfte Neustadts, dessen Besitzer ausgerechnet auch noch ein lokalpolitischer Gegner des Stadtrats war. Als dritter Angestellter verwaltete ein etwas schwerhöriger Sechzigjähriger das Lager. Er wurde von allen nur Schreiter genannt und war auch noch nie auf die Idee gekommen, daß jemand Herr Schreiter zu ihm sagen könnte. Dann gab’s da noch einen häufig kranken, blassen Jungen im zweiten Lehrjahr, aus dem nach Zylians oft und laut geäußerter Meinung „… nie was werden …“ würde, und eine Frau Sibbersen, die für Kasse und Buchhaltung zuständig war und eher ihre eigenen Kinder geschlachtet als fünf Pfennige falsch verbucht oder gar unterschlagen hätte. Und es gab Fred Ströhlein, den sogenannten ersten Verkäufer, der auch die vier Schaufenster dekorierte und im Bedarfsfalle die Innendekoration gestaltete, ein geschickter, flinker und äußerst anpassungsbereiter und -fähiger junger Mann. Er war schon drei Jahre da und hatte sich Zylians Zuneigung erdienert – soweit Zylian Zuneigung zu empfinden und zu vergeben in der Lage war. Bis vor kurzem hatte Ströhlein mit dem Gedanken gespielt, sich Zylians zweite Tochter Annelies zu angeln, und er hatte davon geträumt, daß eines Tages unter der Firma Otto Zylian in kleinerer Schrift „Inhaber Fred Ströhlein“ über der Tür des Textilhauses stehen könne. Aber dann hatte ihn die Gymnasiastin böse abblitzen lassen, als er sie an einem Samstagabend in der Diskothek Klimbim zum Tanz aufforderte. 79
„Nein, danke!“ hatte sie schnippisch gesagt, als er vor ihr stand, und er hatte, schon im Abgehen, noch gehört, wie sie die Frage eines der Lackaffen an ihrem Tisch, wer das denn sei, mit der Bemerkung beantwortet hatte: „Das ist der Ladenschwengel aus unserem Geschäft.“ Seitdem gingen Ströhleins Pläne andere Wege. Er malte sich, wenn er abends in seiner AnderthalbZimmer-Wohnung hockte, aus, daß er nach Zylians hoffentlich bald eintretendem Schlaganfall als Geschäftsführer den Laden leiten, später pachten und schließlich ganz übernehmen würde … Er sah die Szene schon vor sich: Das Fräulein Annelies Zylian, gänzlich verarmt, kommt nach Feierabend in sein Büro und bietet sich ihm händeringend an … Dann sollte die junge Dame mal merken, was ein Ladenschwengel ist! Aber bis dahin würde noch etwas Zeit vergehen, Geduld nötig sein und wohl auch einiges geschluckt werden müssen. Heute jedenfalls, an diesem Donnerstagvormittag, war es wieder einmal reichlich schwierig mit Otto Zylian – verdammt noch mal! Das war natürlich kein Wunder bei dem Zeitungsartikel, mit dem sie dem Herrn Stadtrat eins übergebraten hatten. O Mann, da konnte auch ein sanfter Charakter zur Wildsau werden – und Zylian war kein sanfter Charakter, weiß Gott nicht! Was Zylian an diesem Vormittag am meisten zusetzte, waren die ausbleibenden Anrufe. Er hatte als Selbstverständlichkeit erwartet, daß ihn im Laufe der ersten Stunden nach Erscheinen des infamen Artikels im Neustadter Tagesboten, der ja nicht nur ihn, sondern indirekt auch die Fraktion, ja die gesamte Partei schmähte – daß also das Telefon nicht aufhören würde zu läuten. Er hatte selbstverständlich gedacht, daß ihm die Fraktionskollegen im Stadtparlament, die Parteifreunde und eventuell auch dieser und jener Sympathisant – 80
halt, nein, das Wort war anderweitig reserviert … Also, daß ihm dieser und jener – äh … nun ja, meinetwegen „Fan“ – telefonisch sein Vertrauen aussprechen, ihn ermuntern würde, gegen diesen Schreiberling vorzugehen … Kurzum, er hatte eine Solidarisierungswelle erwartet, eine spontane Kundgebung – aber es geschah gar nichts. Zylian entfernte sich den ganzen Vormittag nicht weiter als dreißig Schritte von der Tür seines Büros, in dem das Telefon stand. Er ließ diese Tür extra offen, und er hatte dem Personal strikte Anweisung gegeben, kein einziges Mal den Hörer abzunehmen, wenn es läutete, sondern dies heute allein ihm zu überlassen. Denn er rechnete auch mit anonymen Anrufern. Aber es geschah nichts – absolut gar nichts. Der Kreis der Kollegen, Freunde und Sympa… äh, Verehrer oder Bewunderer blieb still wie ein Teich voll Frösche, in deren Quakkonzert jemand einen Stein geworfen hat. Als gegen halb elf außer einem Anruf der Firma, die in seinem Geschäft die Fenster putzte, und einem zweiten von der Bundesbahn, daß eine Sendung für ihn vom Güterbahnhof abgeholt werden könne, und einem dritten vom Kinobesitzer, der fragte, ob das Werbe-Dia nicht mal erneuert werden könne, da es durch den monatelangen Gebrauch zerkratzt sei … Als also halb elf außer diesen drei Anrufen kein einziger kam und die erwartete, erhoffte, ersehnte Reaktion zu Zylians maßloser Enttäuschung, ja, zu seinem Entsetzen völlig ausblieb, erwog er, von sich aus ein paar der Herren anzurufen, mit deren Zuspruch oder wenigstens Meinungsäußerung er gerechnet hatte. Er ging ins Büro, schloß hinter sich die Tür und wählte die Nummer des Parteivorsitzenden. „Harms, Heizöl und Brennstoffe“, sagte eine glatte Bürodamenstimme. 81
„Hier Zylian“, sagte der Textilkaufmann. „Ich möchte Herrn Harms sprechen, bitte!“ „Augenblick“, sagte die Dame, „Ich seh mal nach, ob er da ist!“ Quatsch! dachte Zylian, was soll das heißen? Sie guckt durch die gläserne Trennwand direkt auf seinen Schreibtisch … Da kam die Stimme wieder: „Tut mir leid – ich kann Herrn Harms im Moment nicht erreichen. Kann ich irgendwas ausrichten?“ „Danke!“ sagte Zylian und legte auf. Er saß mit finsterem Gesicht vor dem Telefon und zündete sich die vierte oder fünfte Zigarre an diesem Vormittag an, obschon er sonst die erste nach dem Mittagessen zu rauchen pflegte. Läßt der sich verleugnen, dachte er und merkte richtig, wie Wut und Mißtrauen in ihm hochstiegen. Wollen die mich über die Klinge springen lassen? Ist das vielleicht eine seit langem erwartete Gelegenheit? Da sind ja ein paar scharf auf meinen Stuhl im Rathaus … Das wär ja ein Ding! Unter Umständen ist das sogar abgekartet mit der Zeitung! Daß die Herrschaften mit dem Verleger unter einer Decke … Zylian dachte sich immer mehr in Zorn. „Das will ich aber jetzt wissen!“ sagte er halblaut zu sich selbst, griff erneut zum Hörer, wählte die Nummer des Rathauses und ließ sich mit dem Bürgermeister verbinden, mit dem er ein gutes Verhältnis zu haben glaubte. „Guten Tag, Herr Zylian“, sagte der Bürgermeister. „Hier Christians. Was kann ich für Sie tun?“ „Guten Tag, Herr Christians“, sagte Zylian. „Ich hätte Sie vielleicht besser im Rathaus aufgesucht – aber ich kann schlecht weg aus dem Geschäft. Haben Sie die heutige Zeitung schon gelesen?“ „Ja – natürlich“, sagte der Bürgermeister. „Und ich wollte Sie deswegen schon angerufen haben, Herr Zyli82
an; ich bin nur noch nicht dazu gekommen. Die Kreistagskommission ist heute nachmittag bei uns, wegen der Frage der Zusammenlegung der Krankenhäuser, na ja … Sie wissen ja Bescheid. Ihr Parteifreund Doktor Wendt wird ja in der Sitzung dabeisein … Wir sind übrigens da auf neue Zahlen gestoßen, die einer geplanten Rationalisierung …“ Er redet, dachte Zylian und hatte große Mühe, an sich zu halten; er redet und redet und redet, er weicht aus und tut so, als ob das Krankenhausproblem mich interessierte – bloß, um nichts zu dieser Scheiße sagen zu müssen, in die ich da getreten … Was heißt getreten – reingeschubst worden bin! Der Bürgermeister redete immer noch. „… ist deshalb die Konzentration der hautärztlichen Versorgung der Bevölkerung wahrscheinlich das Thema Nummer eins!“ Jetzt schwieg er und wartete, daß Zylian etwas dazu sagen würde. „Sind Sie noch da?“ fragte er, als Zylian nicht gleich antwortete. „Ja, noch bin ich da, Herr Christians“, sagte Zylian und freute sich, daß ihm dieser zweideutige Ausspruch gelungen war. „Aber ich wollte eigentlich weniger von der Kreiskommission hören als von Ihrer ganz persönlichen Meinung zu diesem verleumderischen Zeitungsartikel heute morgen.“ „Tja …“ Der Bürgermeister zögerte. Zylian meinte geradezu, ihn die Augen ratlos zur Zimmerdecke verdrehen zu sehen. „Tja, lieber Herr Zylian … Also das ist … Also da bin ich mir noch nicht im klaren, ob das sehr geschickt war von Ihnen, Ihrem Temperament so die Zügel schießen zu lassen. Die Empfindlichkeit der Herren von der Opposition …“ „Aber ich habe das nicht gesagt!“ rief Zylian dazwischen. „Es ist eine böswillige Verdrehung und Verleumdung!“ „Ach?“ sagte der Bürgermeister. „Ja … Aber ganz aus 83
der Luft gegriffen kann die Zeitung das ja nicht haben – wie? Wir kennen ja alle Ihr politisches Engagement und Ihre – na ja, ich möchte sagen – bemerkenswerte Anschaulichkeit bei der Wahl Ihrer Ausdrücke … Nur fürchte ich, daß Sie sich hier haben hinreißen lassen.“ „Herr Bürgermeister Christians!“ Zylian atmete schwer, und wenn Ströhlein das hochrote Gesicht seines Chefs gesehen hätte, dann hätte er seine helle Freude gehabt. „Ich erkläre Ihnen hiermit, daß ich dieses Schlagzeilenwort lediglich als Versprecher gesagt und sofort korrigiert habe! Man kann mir doch aus einem Lapsus lin… lin… aus einem falschen Wort keinen Strick drehen! Und ich appelliere an unsere gute, langjährige Zusammenarbeit und an Ihre Loyalität, diesem – äh – Gossenjournalismus auch als Stadtvater entgegenzutreten! Ich appelliere an Sie nicht nur persönlich, sondern auch im Namen meiner Partei, Herr Bürgermeister!“ „Haben Sie diesen Appell an mich mit Ihrem Parteivorstand und Ihren Fraktionskollegen besprochen und abgestimmt?“ fragte der Bürgermeister nach einer kleinen Pause, und seine Stimme klang so, als ob er höhnisch lächle. „Nein, noch nicht“, erwiderte Zylian leise. „Aber … Aber das werde ich jetzt sofort nachholen. Und da dürfte es wohl keine andere Meinung geben … Ich melde mich wieder, Herr Christians! Wiederhören!“ „Alles Gute“, sagte der Bürgermeister. Und darüber erschrak Zylian am heftigsten, weil es nach Mitleid klang, das einem Schwerkranken gespendet wird. Sie legten gleichzeitig auf. Zylian erhob sich, holte die Kognakflasche aus dem altdeutschen Bücherschrank, goß sich ein Glas voll und trank es im Stehen aus. Es war ihm jetzt klar, daß da etwas gegen ihn im Gange war – eine Verschwörung, ein Vernichtungsfeldzug! Er wußte nur nicht, von wem er ausging … Aber der 84
Bürgermeister wußte mehr. Sonst hätte er bestimmt nicht „Alles Gute!“ gewünscht. Zylian goß sich noch einen zweiten Kognak ein und ging mit dem Glas in der Hand in seinem Büro auf und ab. „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“, murmelte er, denn auch für seinen Eigenbedarf hatte er jederzeit eine Sprichwortweisheit zur Hand. Aber so sonderlich tröstlich war das Nietzsche-Zitat diesmal nicht für ihn – im Gegenteil, es kam ihm irgendwie unheimlich vor. Es klopfte. „Ja?“ sagte Zylian. Ströhlein kam herein. „Verzeihung, Herr Zylian“, sagte er beflissen, „ich wollte nur daran erinnern, daß Sie heute um halb zwei den Herrn Voigt von Intertex mit der neuen Kollektion bestellt haben …“ „Das weiß ich!“ knurrte Zylian, obwohl er durchaus nicht daran gedacht hatte. „Glauben Sie, ich mache Termine und halte sie nicht ein, Ströhlein, wie?“ „Nein, nein!“ Ströhlein bemerkte, daß er sich wieder mal zum falschen Zeitpunkt wichtig gemacht hatte. „Ich dachte ja bloß …“ „Das Denken überlassen Sie besser mir!“ bölkte Zylian. „Denken ist was für Leute, die so was können!“ „Jawoll, Herr Zylian!“ sagte Ströhlein – und das hätte er nicht sagen dürfen, jedenfalls nicht so sagen dürfen, denn der Textilkaufmann Zylian fühlte sich durch die devote Haltung, Miene und Redeweise seines ersten Verkäufers diesmal provoziert … Der Kerl weiß, daß ich Schwierigkeiten habe, dachte Zylian; er hat ja sicher Zeitung gelesen und kann zwei und zwei zusammenzählen. Und jetzt wittert die Kreatur Morgenluft und probiert, ob sie mich auf die Schippe nehmen kann … „Leute wie Sie, Ströhlein“, sagte Zylian also mit vor Wut heiserer Stimme, „Leute wie Sie sind immer nur als 85
Unteroffiziere brauchbar und nützlich. Das schreiben Sie sich mal hinter die Ohren, falls Sie je auf den Gedanken kommen sollten, selber ein Geschäft zu übernehmen. Da muß man aus anderem Holz geschnitzt sein, Ströhlein – und nun hauen Sie ab, Mensch! Sie fallen mir auf den Wecker!“ Das war selbst für Ströhlein ein dicker Brocken. Er schluckte und ging. Zylian trank den Rest des zweiten Kognaks, überlegte, ob er sich noch einen dritten genehmigen sollte, entschied sich aber dagegen. Er streckte die Hand zum Telefon aus, ließ sie jedoch wieder sinken und sah auf die Uhr. Kurz nach zwölf. In zwanzig Minuten war Mittagspause. Er wollte versuchen, nach dem Essen noch eine halbe Stunde zu schlafen, bis dieser Dings, dieser Voigt, kam. Wahrscheinlich würde nach einem Mittagsschläfchen manches anders aussehen. „Schlummer und Schlaf, zwei Brüder, zum Dienst der Götter berufen …“, rezitierte Zylian halblaut und verließ das Büro, um in seine Wohnung hinaufzugehen.
6 Voigt fuhr nach dem Fehlschlag von Hardenbusch zurück nach Neustadt. Er hatte heftigen Hunger, aber keine Lust, im Hotel Zur Eiche Schnitzel oder Roulade – möglicherweise unter dem vorwurfsvollen Blick des Wirts, der letzten Nacht wegen – zu essen oder sich vom alten Schleinitz Einzelheiten aus dem Erfahrungsschatz eines Angorakaninchen-Züchters anzuhören. Also parkte er den Wagen vor dem Steakhaus am Marktplatz, kriegte, weil es noch früh war, dort einen guten Platz am Fenster, von dem aus er hinausgucken konnte, bestellte sich ein Filetsteak mit Kräuterbutter, 86
Pommes frites, Salat und einen Johannisberger Erntebringer (1976). Ehe sein Essen kam, blätterte er im Neustadter Tagesboten, den ein Gast auf dem Fensterbrett liegengelassen hatte. Er überschlug den Artikel auf Seite drei, weil ihm die Lokalnachrichten gleichgültig waren. Er las den Sportteil diagonal, konnte über die Witze auf Seite 19 nicht lachen und fand die Titel der Filme in den Kinos des Ausbreitungsgebietes der Zeitung viel komischer: Das Wiegenlied vom Totschlag oder Geh, zieh dein Dirndl aus. Er war sicher, daß er sich heute abend bestimmt keines dieser Kunstwerke zu Gemüte führen würde. Aber ins Krokodil brächten ihn auch keine zehn Pferde so bald wieder, obschon diese dunkelhäutige Lulu ja wirklich einen bemerkenswerten Striptease abgezogen hatte. Vielleicht fanden sich am Abend in der Eiche zwei Leute zu einem ruhigen Skat. Er konnte aber auch zeitig ins Bett gehen und den versäumten Schlaf der letzten Nacht nachholen. Morgen mußte er ohnehin früh los, denn der Kunde in Prieshausen erwartete ihn schon um neun – und es waren fast 60 Kilometer schlechte Straße bis dorthin. Das bestellte Steak kam und war in Ordnung. Der Salat ging auch. Die Pommes frites hätten ein bißchen trockener sein können, waren aber zu essen. Der Wein schmeckte richtig gut. Voigt aß und trank mit Behagen, zündete sich, als er fertig war, die erste Zigarette des Tages an, war stolz auf diesen Beweis von Selbstdisziplin und bat die Kellnerin, ihm noch eine Tasse Kaffee und einen Calvados zu bringen, denn bei Zylian, das wußte er, würde ihm nicht mal ein Glas Wasser angeboten werden – stur, von oben herab und geizig wie der war. Fünf vor halb zwei – genau 13 Uhr 24 – hielt Voigts Kombiwagen vor dem hinteren Eingang des Textilhauses Zylian in Neustadt. 87
Nur für Personal und Lieferanten stand da an der Tür. Voigt war ärgerlich. Er fühlte sich vom Steakhaus am Markt übers Ohr gehauen. Zuerst hatte er gedacht, die Kellnerin habe sich verrechnet, als sie von ihm für das Essen, Wein und Kaffee 38,85 DM verlangte, aber da hatte sie erstaunt gefragt, ob er sich denn nicht vor der Bestellung über die Preise informiere. Es täte ihr ja leid – aber das Steak mit Salat koste nun mal … und der Wein … der Kaffee, der Calvados … Bedienung … Mehrwertsteuer … Genau 38,85 DM – er könne es ja nachrechnen. Voigt war nicht kleinlich und beileibe nicht knickerig oder gar ein Pfennigfuchser – doch diese Rechnung stank ihm. 39 DM war das Essen nun auch wieder nicht wert gewesen, verflixt noch mal! Wenn der gestrige und heutige Tag anders gelaufen wäre, hätte sich Voigt wahrscheinlich überhaupt nicht geärgert, sondern darüber amüsiert, wie elegant die Provinzkneipe ihn, den Großstädter, geneppt hatte. Aber nach den Begebenheiten der letzten vierundzwanzig Stunden reagierte er kratzig und ausgesprochen sauer. Er hatte natürlich bezahlt – es blieb ihm ja gar nichts weiter übrig. Aber er hatte den Geschäftsführer kommen lassen und sich über die Höhe der Rechnung beschwert. Der Geschäftsführer war ein ganz ähnlicher Typ wie Kai Barthelsen in Hardenbusch. Auch so ein dynamischer Erfolgsmensch. Er hatte sich Voigts Beschwerde angehört, ohne eine Miene zu verziehen. Dann hatte er gesagt – kühl, mit der unangreifbar glatten Freundlichkeit, die auch gewissen Volksvertretern eigen ist –, daß sie eine Speisekarte und eine Weinkarte hätten, auf der alle Preise verzeichnet seien, und daß man erwarten könne, der Gast bestelle nur das, was er auch zu zahlen bereit und vor allem in der Lage sei. „Wir sind ein solides, gutbürgerliches Speiselokal, mein Herr“, hatte er gesagt, „und keine Imbißstube mit Niedrigpreisen für Massenbeköstigung. Das wird Ihnen 88
aber doch schon klar gewesen sein, als Sie hier Platz nahmen – oder?“ Voigt hatte tief Luft geholt und nichts erwidert. Er war aufgestanden und hatte das gutbürgerliche Speiselokal zwar satt, aber mit einem Ärgerklumpen im Bauch verlassen. Voigt stieg aus und drückte die Klinke des Lieferanteneingangs. Die Tür war zu. Er wartete, auf und ab gehend und rauchend, bis es von irgendeinem Kirchturm in der Nähe halb zwei schlug, drückte noch einmal die Klinke, fand die Tür immer noch verschlossen und klopfte. Innen war eine näher kommende Stimme zu hören. Zylian raunzte: „Ja … Ich komm ja schon!“ Er schloß auf. „Pünktlich!“ sagte er. „Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige! Kommen Sie rein, Herr Voigt. Guten Tag!“ „Guten Tag, Herr Zylian“, sagte Ernst Voigt. „Soll ich gleich die ganze Kollektion mit reinbringen? Oder wollen wir es wie sonst machen? Erst mal die Listen nachsehen … Und dann vielleicht zuerst die Hosen? Oder lieber die Anzüge?“ Zylian sah Voigt mit gerunzelten Brauen unkonzentriert an. Er hatte einen Kopfkissenabdruck auf der linken Wange. Ein widerspenstiges Haarbüschel stand borstig an seinem Hinterkopf hoch. Seine Augen wirkten verschwollen, als sei er krank oder verkatert. Er machte im Ganzen einen sonderbar unordentlichen und verwirrten Eindruck, der Voigt verblüffte, weil er den Kaufmann Zylian, Stadtrat und Fraktionsvorsitzender der regierenden Partei Neustadts, nur äußerst korrekt kannte. „Na, kommen Sie erst mal rein“, sagte Zylian. Voigt folgte ihm durch den fensterlosen Raum, in dem Verpackungsmaterial gelagert war, alle möglichen 89
Dekorationsstücke und Verkaufskörbe für Sonderangebote. Sie kamen ins Lager, in dem in hohen Regalen verpackte Wäsche gestapelt war und auf langen Gestellen Kleider, Anzüge, Mäntel und sonstige Konfektionswaren unter durchsichtigen Plastikhüllen hingen. „Am besten, wir machen es hier“, sagte Zylian, „Ich hole meine Bestandslisten. Warten Sie!“ Der Befehlston Zylians war unverändert. Nur sein Aussehen irritierte Voigt. Er sah sich um, entdeckte, daß auf dem Ständer mit den Übergangsmänteln eine ganze Menge Konkurrenzware hing und daß auch bei den Sakkos einiges war, das Zylian nicht bei ihm gekauft hatte. Da kam der Textilkaufmann schon zurück. Er hatte seinen widerborstigen Wirbel glattgekämmt, und der Kissenabdruck auf der linken Wange war so gut wie verschwunden. „Wie geht das Geschäft?“ fragte Voigt. „Könnte besser sein“, sagte Zylian. „Noch kann ich nicht klagen – aber die Steigerungsraten von 74/75 habe ich lange nicht mehr. Es ist schon zu merken, daß die Leute ihr Geld zusammenhalten müssen. Die Arbeitslosigkeit … Na ja.“ „Ja“, pflichtete ihm Voigt bei. Dieses Lied hörte er überall. „Und neuerdings die Konkurrenz aus dem Osten!“ fuhr Zylian fort. „Hemden aus China, das Stück sechs Mark! Reine Baumwolle – nicht mal schlecht verarbeitet. Bieten zwei Supermärkte in Neustadt an. Dagegen kann man nicht an … Überhaupt, Sie, diese – wie heißt das – Non-food-Verkäufe in den Supermärkten! Neuerdings auch Sakkos und Hosen! Und dazu diese Werbemethoden – bis hin zur mehr oder weniger versteckten Diffamierung unserer soliden, seriösen, alteingesessenen Branche!“ „Ja, schlimm! Ich weiß“, sagte Voigt. „Die reinsten Drecks… äh … Dreckschleuder-Methoden!“ 90
Zylian erstarrte. Er ließ die Mappe mit den losen Listen sinken. Die Papierbogen flatterten zur Erde, ohne daß er sich nach ihnen bückte. „Wie bitte?“ fragte er mit erstickter Stimme, lief rot an, schnaufte und brüllte, ehe der verdutzte Voigt irgendwas sagen konnte: „Fangen Sie auch schon an? Wollen Sie mich foppen? Sie? Ausgerechnet Sie, Herr Voigt?“ Er rang nach Luft. „Aber … Aber Herr Zylian … Ich … Ich weiß gar nicht … Was ist denn?“ stammelte Voigt erschrocken. Zylian sprach jetzt leise. Er zischte seine Worte; Speichelschaum stand auf seinen Lippen: „Machen Sie, daß Sie rauskommen! Sofort und auf der Stelle verlassen Sie mein Geschäft! Ich lasse mich von Leuten wie Ihnen nicht anpöbeln, Sie! Raus!“ „Moment!“ sagte jetzt auch Voigt lauter, als er sonst seine Art war. „Moment mal, Herr Zylian … So können Sie aber mit mir nicht umspringen! Sie sind mir eine Erklärung schuldig. Was veranlaßt sie zu diesem … diesem Ausbruch, der mir völlig unbegreiflich …“ „Treiben Sie es nicht noch weiter, Voigt!“ röhrte Zylian, stieß mit dem Fuß die herunterflatternden Papiere beiseite und kam auf Voigt zu. „Ich … Ich poliere Ihnen Ihre lächelnde Vertreterfresse, wenn Sie noch ein Wort sagen!“ Aber er wartete das Wort nicht ab. Er verpaßte Voigt – Vorhand, Rückhand – zwei saftige Ohrfeigen. Da schlug Voigt zurück. Er schlug mit der geballten rechten Faust in das rote Gesicht des Kunden Zylian, er schlug so heftig und mit solcher blinden, jähen Wut zu, daß irgendein Knochen knirschte und der Stadtrat taumelte, stürzte, mit der Schläfe auf die Stahlkante eines der Kleiderständer aufschlug, längelang auf den Boden sank und dort regungslos liegenblieb. Voigt stand vor dem Liegenden und rieb sich die Fingerknöchel. „Ach, du verfluchte Scheiße!“ stöhnte er und 91
blickte mit fassungslosem Entsetzen auf den reglos liegenden Mann. Dann sah er sich um, lauschte … er hörte nichts. Er bückte sich, hielt die Hand vor Zylians Mund, spürte nichts, legte sein Ohr auf die Brust Zylians, hörte nichts, stand schnell auf, blieb zehn Sekunden lang unschlüssig stehen, drehte sich um, rannte hinaus, machte so geräuschlos wie möglich die Türen hinter sich zu – erst die Lagertür, dann die Lieferantentür –, schaute auf der Straße nach links und rechts, sah niemanden, setzte sich ins Auto, das er nicht abgeschlossen hatte, startete und fuhr die mittäglich stille, schmale Straße davon. Er sah auf die Uhr am Armaturenbrett: zwanzig vor zwei. Die ganze unwirkliche, irre Szene hatte knapp zehn Minuten gedauert. Voigt fuhr auf den Hof hinter dem Hotel Zur Eiche. Aus dem offenen Küchenfenster drangen Topf- und Geschirrgeklapper, Frauenstimmen und Essengeruch. Er stellte den Wagen direkt an die Hintertür, schloß ihn nicht ab und lief ins Haus. Wie gut, daß er den Zimmerschlüssel nicht erst zu holen brauchte. Er warf hastig seine Sachen in die Reisetasche, legte in einem Anflug von Ordnungsliebe einen 50-Mark-Schein auf den Nachttisch, stellte sogar die Nachttischlampe darauf, damit der Geldschein nicht heruntergeweht würde, schlich mit seiner Tasche den Gang entlang und wieder hinaus, hob die Tasche ins Auto, startete und verließ den Hof, ohne daß ihn irgend jemand bemerkt hatte. Er lenkte den Wagen auf die Ausfahrtstraße nach Norden, gab Gas, als er die letzten Häuser Neustadts hinter sich hatte, und erst jetzt, die breite, glatte, gut ausgebaute Bundesstraße unter den Rädern, bei Tempo 120 – erst jetzt fing er an nachzudenken. Alles, was er seit dem Schlag in Zylians Gesicht getan hatte, war wie im Traum geschehen – zwanghaft, ins92
tinktiv. Zu seinem Erstaunen fühlte er neben dem Entsetzen über das Geschehene und neben einer aufsteigenden dumpfen, noch unklaren Angst so etwas wie Befreiung. Und er fuhr und fuhr, so schnell, wie es der Verkehr zuließ, um zwischen sich und dem im Lagerraum seines Geschäfts reglos am Boden liegenden Zylian einen großen, den größtmöglichen Abstand zu schaffen.
7 Alfred Ströhlein, der das ‚Al‘ gestrichen hatte und sich des schickeren Klanges wegen Fred nannte, obwohl das bei dem Familiennamen nicht viel brachte – Fred Ströhlein also kam schon kurz vor zwei durch die Fußgängerzone von vorn ins Textilhaus Zylian zurück. Er verfügte über den Schlüssel zum Haupteingang. Er schloß auf und hinter sich sorgfältig wieder ab, denn die Mittagsstunde dauerte noch bis halb drei. Er hatte sich beim Essen im Gasthof Rosemann, wo er im Abonnement gutbürgerlich und preiswert aß, heute zum Beispiel Nudeln mit Rindfleisch und als Nachtisch Karamellpudding mit Vanillesoße – er hatte sich also beim Essen beruhigt und war zu dem Schluß gekommen, daß Zylian heute nicht zurechnungsfähig und deshalb auch nicht ernst zu nehmen sei. Er – Fred Ströhlein – als der Jüngere, als der mit den besseren Nerven, müsse nur Geduld und noch mal Geduld haben und sich systematisch so unentbehrlich machen, daß entweder Zylian selbst oder seine Erben eines Tages gar nicht anders könnten, als ihn mit der Führung des Geschäfts zu beauftragen. Das würde nicht ganz leicht zu erreichen sein, aber aller Anfang ist schwer. Ströhlein mußte lächeln. Jetzt fing er auch schon an, Sprüche zu klopfen wie dieser alte, tyrannische Idiot. 93
Er entschloß sich, die üble Szene von vorhin zu vergessen und weiter auf seine Chance zu warten. Jetzt gleich würde er ins Geschäft gehen. Es konnte keinesfalls schaden, wenn Zylian sah, daß sein erster Verkäufer eifrig und voll Interesse war. Ströhlein staunte über die Stille im Geschäft. Zumindest die Stimmen Zylians und des Vertreters Voigt hätten zu hören sein müssen. Er schaute in die Abteilung Damenkonfektion: Da war niemand. Bei der Herrenkonfektion – keiner. In der Wäscheabteilung konnten sie nicht sein, denn Voigt vertrat keine Wäschefirma … Seltsam! Ströhlein schaute ins Lager und wollte die Tür schon wieder schließen, da entdeckte er Zylian und erschrak. „Ach du heiliger Strohsack!“ murmelte er, beugte sich über den Regungslosen und fühlte ihm den Puls, wie er es beim Rotkreuzkursus gelernt hatte. Da rührte sich nichts … Oder doch? Ja. Ein schwaches, unregelmäßiges Flattern … Zylian lebte … Und jetzt röchelte er auch, gurgelnd und glucksend kam das Geräusch aus der Kehle des Besinnungslosen. Ströhlein richtete sich auf und betrachtete seinen Chef. War das der Schlaganfall, von dem er, Ströhlein, schon lange träumte? Nein – das sah anders aus. Ströhleins Vater war vor kurzem mit einem Schlaganfall zusammengebrochen; Ströhlein hatte es miterlebt. Der hatte ein rotes, schmerzverzerrtes Gesicht gehabt und am Herzen verkrampfte Hände. Er war auch nicht besinnungslos gewesen, sondern nur unfähig zu sprechen. Aber was war es sonst? Ein einfacher Sturz, ein Unfall also? Hatte jemand Zylian niedergeschlagen? Die Nase war schief und geschwollen – doch das konnte auch vom Aufprall auf den Fußboden kommen … Und wenn ihn jemand niedergeschlagen hatte – wer sollte das getan haben? Ströhlein wußte, daß er jetzt eigentlich handeln muß94
te: den Liegenden auf die Seite drehen, Kragen öffnen, Arzt anrufen … Er tat es nicht. Statt dessen bückte er sich, griff – immer das Gesicht Zylians im Blick – in die Rocktasche des Besinnungslosen, holte das Schlüsselbund heraus, warf einen Blick auf die Uhr – zehn nach zwei –, lief schnell ins Büro, schloß den Wandschrank auf, in dem die Kassette mit dem Geld stand, holte die Kassette heraus, öffnete sie mit dem kleinen Sicherheitsschlüssel und stopfte die gestapelten Geldscheine – zwei oder drei Fünfhunderter, Hunderter, Fünfziger, Zwanziger und Zehner – in die Taschen seines Sakkos und in die Hosentaschen, ließ das Silbergeld liegen, ließ die Kassette und den Schrank offen, lief zur Kasse, schloß auch die auf, nahm dort die Geldscheine der bisherigen Tageseinnahme heraus, ließ auch die Kasse offen, wischte hier und im Büro des Chefs alles, was er angefaßt hatte, mit dem Taschentuch ab, lief an dem röchelnden Zylian vorbei – ohne ihm mehr als einen flüchtigen Blick zu schenken, griff sich im Lager eine Plastik-Tragetasche, stopfte, als er in dem fensterlosen Raum mit den Dekorationsstücken war, alles erraffte Geld hinein, wollte die Lieferantentür aufschließen, merkte erstaunt, daß sie offen war, stutzte und überlegte. Also war doch jemand hier, dachte er verwirrt. Aber wer? Der Voigt? Kann es der Voigt gewesen sein? Der ewig lächelnde Vertreter? Unsinn … Aber wo ist der Voigt? Ströhlein öffnete die Hintertür einen Spalt breit und sah auf die kleine Straße. Sie war leer. Er trat hinaus und ging nach rechts zur großen Querstraße, die die Fußgängerzone im Süden begrenzte. Er ging, die Tragetasche harmlos schlenkernd, bis zum Platz an der Kirche, wo er seinen kleinen Wagen geparkt hatte. Dort verstaute er die Tragetasche unter dem Beifahrersitz, schloß das Au95
to wieder ab und lief gemächlich durch die Fußgängerzone wieder zurück zum Geschäft. Wie vorhin stand er vor der Ladentür. Es war fünf vor halb drei; gleich mußten die anderen Angestellten kommen. Er tat so, als ob das Türschloß hake, und fummelte halblaut schimpfend mit dem Schlüssel daran herum. Da kam auch schon die Kollegin von der Wäscheabteilung und fast im gleichen Moment die Kassiererin. „Klemmt!“ sagte Ströhlein. „Ich probier’s schon seit fünf Minuten …“ „Da tropfen Sie am besten nachher mal ’n bißchen Maschinenöl rein“, riet die Wäsche Verkäuferin. „Im Lager ist so’n Kännchen mit so ’ner spitzen Tülle.“ „So?“ sagte Ströhlein. „Wo denn? Das habe ich ja noch nie gesehen? – Ah … jetzt! Endlich!“ Er spielte das Aufschließen überzeugend. „Das mach ich aber gleich, sonst beißt mir der Chef den Kopf ab, wenn er mal selber aufschließen muß und das klappt nicht sofort. Würden Sie mir bitte das Ölkännchen eben holen, Frau Schneidewind? Dann brauche ich nicht erst zu suchen …“ „Mach ich“, sagte die Wäscheverkäuferin und lief durch den leeren Laden zum Lager, während die Kassiererin auf ihre Kasse zuging. Die Schreie der beiden Frauen erklangen fast gleichzeitig. Ulf Beissel saß in seinem engen, unaufgeräumten Zimmer in der Redaktion des Neustadter Tagesboten und hackte – erstaunlich schnell für seine Zweifingertechnik – einen Kurzbericht in die Schreibmaschine, in dem die Rede von den neueingeführten Abendkursen der Volkshochschule war. Ihm kamen Themen wie Die religiöse Kunst von Byzanz bis heute ziemlich überflüssig vor; er hatte auch 96
keineswegs die Absicht, in dem neuen Madrigalkreis gregorianische Choräle zu singen, aber wenn jemand es ein unüberwindliches Bedürfnis war, etwas über „Traumdeutung als Seelenanalyse“ in dem Lehrgang Psychologie für jedermann (neun Abende) zu erfahren, dann sollte er in Gottes Namen teilnehmen – es war ihm piepegal. Aber er schrieb von dem interessanten und breitgefächerten Angebot an alle Wissensdurstigen, von der bemerkenswert großen Zahl junger wie älterer Menschen aus allen Bevölkerungsschichten, die … usw. usw. Er schrieb quasi ohne hinzugucken und hätte viel lieber über Lulu geschrieben, die Königin des Striptease aus Marseille, mit der er in der vergangenen Nacht von drei bis fünf in der muffigen Künstlergarderobe des Krokodil gesessen hatte und beinahe auch gelegen hätte, wenn nicht der idiotische Geschäftsführer des Sex-Schuppens alle naselang reingeguckt und sich wichtig gemacht hätte … Na ja. Als er gerade den markanten Schlußsatz tippte, kam der Chefredakteur herein und griente hinter dem Rauch der Zigarette, die in seinem Mundwinkel hing. „Da ist was Hübsches für Sie, Herr Beissel“, sagte er. „Das wollte ich Ihnen nicht vorenthalten!“ Er reichte dem Reporter-Redakteur einen Briefbogen. Unter dem in markigen Buchstaben gedruckten Briefkopf Paul Braasch las Beissel: SONDERANGEBOT für Maurer, Zimmerleute, Tischler, Schlosser, alle sonstigen Handwerker sowie Fischer, Schiffer und ihre Decksleute … Beissel ließ das Blatt sinken. „Decksleute. Ich werd verrückt! Das ist ja fast witzig … Und was ist das für’n Text?“ „Braasch junior hat das hergeschickt“, berichtete der Chefredakteur. „Er hat irgendwie Wind davon gekriegt, daß Zylian seine Inserate bei uns gekündigt hat. Wahrscheinlich kennt er jemand bei uns im Betrieb – das ist 97
ja auch schnuppe. Und nun steigt er groß in die Lücke. Für zwei Monate jeden Samstag eine halbe Seite Sonderangebotsanzeigen. Wie finden Sie das? Und ‚Decksleute‘? Der nächste Hafen ist zwanzig Kilometer weit weg – aber er bietet Klamotten an für Fischer, Schiffer und – haha – Decksleute!“ „Das sind doch alles Aasgeier“, sagte Beissel. „Kaum liegt einer im Sterben, flattern sie schon um den noch warmen Kadaver!“ „Na, nun übertreiben Sie mal die Macht der Presse nicht. Sie glauben doch wohl nicht im Ernst, daß so einer wie Zylian gleich hops geht, wenn er mal …“ Er wurde vom Telefonklingeln unterbrochen. Beissel hob ab und meldete sich. Der Chefredakteur wollte schon gehen – aber dann blieb er, weil Beissel blaß, soweit man das unter dem Bart sehen konnte, und mit aufgerissenen Augen in den Apparat stammelte: „Aber … Nein, das darf doch nicht … Was? – Ja, ich komme sofort!“ „Was ist denn?“ fragte der Chefredakteur. Beissel hatte aufgelegt. „Die Polizei“, sagte er schwer atmend. „Zylian ist tot! Erschlagen wahrscheinlich …“ Er stand auf, schüttelte den Kopf und stöhnte. „Ich werde verrückt!“ flüsterte der Chefredakteur. Die Asche seiner Zigarette fiel aufs Revers seiner Kordsamtjacke. Voigt näherte sich der Grenzstation, verlangsamte die Geschwindigkeit, brauchte aber auf der deutschen Seite nicht anzuhalten, weil ihn der Beamte, der vor dem Gebäude stand, weiterwinkte. Voigt hatte keine Ahnung, wie die Zollformalitäten aussahen, wenn man mit einem Auto voll Ware innerhalb der EG von einem Land ins andere fuhr. Er war bisher schon mehrmals mit Trudchen zum Urlaub nach Italien und auch schon zweimal nach Dänemark gefah98
ren, aber da waren sie immer so deutlich erkennbar Touristen gewesen, daß es keinerlei Schwierigkeiten gegeben hatte. Angst, daß man schon nach ihm fahnden könnte, hatte er nicht. Es war unwahrscheinlich, daß Zylian vor dem Ende der Tischzeit gefunden würde; er wußte zwar nicht genau, wann das war, aber andererseits war er ja erst eine Dreiviertelstunde unterwegs … Nein, so schnell konnten die Grenzstationen nicht alarmiert sein. Er hielt vor dem dänischen Grenzposten und drehte das Fenster auf. „Ihre Paß, bitte!“ sagte der Uniformierte. Voigt wußte nicht, ob das ein Soldat oder ein Zollbeamter war. Er nahm seinen Personalausweis aus der Brieftasche. „Es genügt ja wohl auch der Personalausweis, nicht wahr?“ fragte er. „Natürlich“, sagte der Mann in Uniform. Er winkte ab, als ihm Voigt die grüne Versicherungskarte zeigen wollte. „Brauchen wir nicht … Was sind dies für Sache?“ fragte er und wies auf die Anzüge und Hosen. „Muster“, erwiderte Voigt. „Unverkäufliche Muster. Eine Musterkollektion. Ich habe hier die Liste … Wollen Sie sie sehen?“ „Nein, danke“, sagte der Beamte, nickte einem zweiten Beamten, der halb hinter ihm stand, zu und gab Voigt mit der Hand ein Zeichen, daß er weiterfahren könne. Voigt war im Ausland. Er sah rechts, gleich fünfzig Meter hinter der Grenzstation, ein flaches Gebäude; ein Schild teilte in mehreren Sprachen mit, daß man hier Geld wechseln könne. Die Tür stand offen. Das verblüffte Voigt, denn Bankgebäude mit offenstehenden Türen hatte er bisher ebensowenig gesehen wie evangelische Kirchen mit offenstehenden Türen. Die einen hielten aus Gründen der Si99
cherheit ihre Türen geschlossen, die andern aus Gründen der Unsicherheit … Voigt fand sich geistreich und freute sich über sich. Er hatte früher immer gedacht, daß einer, der jemand umgebracht hatte, von Stund an mit finsterem Gesicht, mit Augen voller Angst und mit Gedanken umherlaufen müsse, die geduckten Rebhühnern in Ackerfurchen glichen, wenn der Bussard kreist. Aber bis jetzt war er frei von Furcht und spürte kein Fünkchen Reue … Das erstaunte ihn. Er verwarf den Gedanken, gleich hier Geld umzutauschen, denn wenn sie wirklich die Grenze schon dicht machten, wollte er nicht gerade das Auto in sichtbarer Nähe stehen haben. Das Gefühl, gejagd zu werden, hatte er nicht. Wahrscheinlich noch nicht … Darüber war er sich durchaus im klaren, daß das noch kommen könnte, nein, wahrscheinlich kommen würde. Aber er war sich jetzt noch eines zeitlichen und räumlichen Vorsprungs gewiß, und den wollte er nutzen. Er wollte das „Wild“ Ernst Voigt unsichtbar machen, und er hatte auch schon eine ungefähre Vorstellung, wie das zu bewerkstelligen sei. Er mußte eine Großstadt erreichen. In Dörfern oder Kleinstädten war es unmöglich, den Vertreter Ernst Voigt in den Touristen zu verwandeln. Voigt fuhr nach Kopenhagen. Ströhlein klebte ein schnellgemaltes Schild an die Eingangstür des Textilhauses Zylian: ZWECKS TODESFALL GESCHLOSSEN! Er hatte es selbst geschrieben. In Plakatschriftschreiben war er besser als in der Handhabung der deutschen Sprache. Er drückte gerade den letzten Klebstreifen an die Glasscheibe, als Beissel sich durch die Menschengruppe drängte, die neugierig ins Innere des Ladens guckte, um 100
zu sehen, was da los war. Irgendwas mußte da los sein, denn es standen zwei Polizeiautos mitten in der Fußgängerzone vor dem Eingang. Und nun auch noch dieses Plakat! Beissel zeigte dem ersten Verkäufer Ströhlein seinen Presseausweis durch die Scheibe. Ströhlein zuckte die Achseln und gab dem Reporter durch Zeichen zu verstehen, daß er sich erkundigen müsse, ob er ihn einlassen dürfe. Er drehte sich um und ging ins Lager, wo zehn Menschen um den toten Zylian versammelt waren und entweder schluchzten – wie Frau Zylian, ihre Tochter Annelies und die Verkäuferin, die vor langer Zeit mal ein Verhältnis mit dem Toten gehabt haben sollte – oder gedämpft redeten, wie der Polizeioffizier mit zweien seiner uniformierten Polizisten und der Kriminalbeamte in Zivil mit dem Arzt und dem Fotografen, der Zylians Leiche von allen Seiten geknipst hatte. Als zehnter stand stumm der schwerhörige Lagerarbeiter Schreiter an der Seite und sah mit fragenden Blicken von einem zum andern, weil er nicht recht kapierte, was vorging. Ströhlein ging zu dem Polizeioffizier und fragte, ob die Presse reinkommen dürfe. Der beleibte Mann, der auch im Raum seine Dienstmütze auf dem Kopf behielt, wies Ströhlein unwirsch an den Kriminalbeamten, der offensichtlich mehr zu sagen hatte. Ströhlein trat auf den Kriminalbeamten zu und hörte gerade noch, wie der Arzt sagte: „… erstickt. Bei Gehirnerschütterungen passiert das öfters. An Erbrochenem erstickt … Wenn er rechtzeitig gefunden und auf die Seite gedreht worden wäre, würde er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch leben.“ „Ja, wenn …“, sagte der Kriminalbeamte nachdenklich. Ich hab ihn also umgebracht, wenn man’s genau nimmt, dachte Ströhlein und erschrak. „Was gibt’s?“ fragte ihn der Kriminalbeamte. 101
„Die … die Presse … Ich meine, da ist einer von der Zeitung“, sagte Ströhlein stammelnd. Der Kriminalbeamte dachte sich offensichtlich nichts dabei. Vermutlich neigen viele Leute in solchen Situationen zum Stammeln. „Lassen Sie den Mann herein!“ ordnete er an. „Es gibt nichts Schlimmeres, als Zeitungsleute abzuweisen“, sagte er zu dem Arzt. „Die können einem in so einem Falle zusetzen wie …“ Er kam nicht mehr dazu, zu sagen, wie Presseleute einem Kriminalbeamten in so einem Falle zusetzen können, denn Beissel stand schon im Lager. „Guten Tag“, sagte er halblaut, ging auf die drei weinenden Frauen zu und drückte ihnen der Reihe nach die Hand. „Mein aufrichtiges Beileid“, murmelte er jedesmal. Er wußte nicht, ob die Dame mit dem melierten Haar oder die Aschblonde mit der toupierten Frisur die Witwe Zylians war. Er konnte sich den toten Textilkaufmann eben noch ansehen, ehe einer der Polizisten auf einen Wink des Polizeioffiziers eine Decke über die Leiche breitete, was bei den Frauen einen erneuten, hörbar-heftigen Schmerzensausbruch hervorrief. Dann blickte er sich um und entdeckte den Kriminalbeamten, den er von anderen nicht so dramatischen Fällen her kannte. Auf den ging er zu und begann seine Fragen zu stellen. „Tag, Herr Meiselbach“, sagte er, denn er wußte, daß der Beamte die Anrede „Kommissar“ nicht mochte. „Können Sie mir schon irgendwas für unsere Leser sagen?“ „Tag, Herr Beissel …“ Der Kriminalbeamte hob die Schultern und schob die Unterlippe vor, was seinem faltigen Gesicht mit der knubbligen Nase und den schmalen Augen etwas Komisches gab. „Ich kann Ihnen einstweilen nur sagen, daß der Stadtrat Zylian tot ist. Jäh und unerwartet, wie man so sagt. Ein Mann in den soge102
nannten besten Jahren, verdient als Kaufmann, Kommunalpolitiker und Vorstandsmitglied diverser Vereine und Organisationen, Vater zweier Töchter …“ Meiselbach brach ab, holte ein sehr großes Taschentuch aus seiner Hosentasche und putzte sich umständlich die Nase, wobei er Beissel über den bunten Rand des Tuchs ansah. Beissel hatte den Eindruck, daß der Kommissar hinter dem Taschentuch grinste, und fühlte sich veralbert. Er war schon drauf und dran, irgendeine Frechheit loszulassen („Sie wären ein guter Nachruf-Schreiber, Herr Meiselbach!“), aber dann dachte er an die Wichtigkeit des Kriminalbeamten als Nachrichtenquelle für die Zeitung und verkniff sich eine flapsige Bemerkung. „Gibt es irgendwelche Anhaltspunkte für einen gewaltsamen – äh – für einen Tod durch gewaltsamen …“ Er hatte sich verheddert und suchte nach einer Formulierung. Der Arzt schaltete sich ein: „Dazu kann im Augenblick nichts gesagt werden. Herr Zylian kann nach dem Ergebnis meiner ersten Untersuchung einen Schwächeanfall erlitten haben und dabei unglücklich gestürzt sein. Er hat sich wahrscheinlich bei dem Sturz Bewußtlosigkeit und eine Gehirnerschütterung zugezogen, in deren Folge Erbrechen eintrat, was zum Ersticken führte.“ Der Mann spricht ja druckreif, dachte Beissel. „Sie schließen also Mord oder Totschlag aus?“ „Aber nein!“ Kommissar Meiselbach schaltete sich ein. „Es ist ganz offensichtlich jemand hier gewesen. Die Kasse ist beraubt worden, und aus der Geldkassette fehlen alle Scheine. Nur können wir vor einem Obduktionsbefund nicht sagen, ob der Unbekannte Zylian niedergeschlagen hat, um ihn zu berauben, oder ob er ihn besinnungslos gefunden und dann die Gelegenheit genutzt hat, mit dem Schlüssel Zylians an die Kasse zu gehen und die Kassette zu plündern. Wenn aber eine dieser 103
Theorien richtig ist, dann muß es jemand gewesen sein, der sich hier gut auskennt.“ „Vielleicht hat Herr Zylian den Einbrecher auch überrascht?“ fragte Beissel. „Ausgeschlossen“, sagte Meiselbach. „Kasse und Kassette sind ja nicht mit Gewalt geknackt, sondern regulär aufgeschlossen worden. Und für die Kassette hat außer Zylian keiner den Schlüssel. Und Zylians Schlüssel steckte noch in der Tageskasse.“ „An einen politischen Racheakt wäre unter Umständen wohl auch zu denken?“ fragte Beissel. „Warum?“ fragte der Kommissar zurück und fuhr gleich fort: „Wegen Ihres heutigen Artikels? Ach nein, lieber Herr Beissel; das halte ich für absurd. Daß jemand aus dem Oppositionslager unserer Stadt sich von Herrn Zylians Äußerung so beleidigt gefühlt hat, daß er hergeht und den Racheengel spielt … Ich bitte Sie! Das glauben Sie wohl selber nicht. Obschon ich Ihnen zugebe, daß es eine wunderschöne Geschichte für Ihr Blatt wäre …“ Wieder dieser spöttische Ton! Warte, Bursche, dachte Beissel, du kommst auch noch mal in unser Dorf nach Buttermilch. Der Polizeioffizier und Kommissar Meiselbach nahmen sich nun der Frau Zylian und ihrer Tochter an und komplimentierten sie aus dem Lagerraum. Auch die Verkäuferin mußte hinaus, dann holte der eine Polizist durch den Lieferanteneingang zwei Männer in stahlblauen Kitteln, die eine Trage mitbrachten, auseinanderklappten und den Toten abtransportierten, nachdem der Kommissar noch mit Kreide seine Lage auf dem Holzfußboden markiert hatte. Beissel kannte den Fotografen. Er bat ihn, für die Zeitung ein paar Aufnahmen vom Abtransport und eine von der Kreidezeichnung des Kommissars zu machen. Das sah so schön schaurig aus: Zylians Umrisse auf dem Fußboden. 104
Unterdessen hatte Kommissar Meiselbach den ersten Verkäufer zu vernehmen begonnen. Er war mit Ströhlein in den Personalaufenthaltsraum gegangen. Der Personalaufenthaltsraum ist gesetzlich vorgeschrieben. Sie traten in ein enges Kabuff mit Oberlicht hinter der Damenkonfektion. Da standen ein wackliger Tisch, ein halbes Dutzend billige Stühle und ein Regal, in dem ein paar Gläser, Kaffeetassen, eine leere Zuckerdose, eine Kaffeekanne und ein elektrischer Kocher still vor sich hin verstaubten, denn benutzt wurde weder Kocher noch Geschirr, weil Zylian es nicht gern sah, daß sich seine Angestellten Kaffee kochten. Auf dem Tisch vergilbten ein paar Illustrierte älteren Datums. An der einen Wand hing schief ein Reklamekalender, an der anderen ein Poster, auch irgendein Werbegeschenk: Es bot die Gesichter großer Filmstars als Collage in Form eines Blumenstraußes dar. Jedes Gesicht war in eine Blüte montiert. Maria Schells Kopf zum Beispiel war von Rosenblütenblättern umrahmt. Auf ihrer Nase und linken Wange hatte eine Fliege ihren Darm geleert. Meiselbach und Ströhlein saßen sich an dem wackeligen Tisch gegenüber. Ströhlein hatte feuchte Hände. Meiselbach fragte: „Wissen Sie, Herr Ströhlein, ob Herr Zylian mit irgend jemand heute in der Mittagsstunde verabredet war?“ Ströhlein tat, als ob er überlegte. „Nein – auf Anhieb nicht“, sagte er und mußte sich räuspern. „Aber das müßte ja auf seinem Terminkalender eingetragen sein, wenn er jemand erwartete.“ „Da steht auch was.“ Meiselbach blätterte in dem Kalender des Toten. „Dreizehn Uhr dreißig: Intertex.“ „Ach ja!“ rief Ströhlein. „Das ist richtig, Intertex … Das ist eine Firma, von der wir viel Ware beziehen, Herrenkonfektion. Da wird wohl der Vertreter hier gewesen sein. Herr Zylian gibt Herrn Voigt – Verzeihung, gab Herrn Voigt gern Aufträge, weil die Ware …“ 105
„Kennen Sie diesen Herrn Voigt?“ warf Meiselbach ein. „Ja, sicher“, sagte Ströhlein. „Der kommt hier schon seit vielen Jahren. Ein sehr netter, bescheidener Herr.“ „So“, sagte Meiselbach. „Wissen Sie, ob dieser Herr Voigt in Neustadt auch andere Firmen besucht?“ „Braasch bestimmt“, sagte Ströhlein. „Das ärgert Herrn Zylian ja auch, daß er von Intertex nicht exklusiv beliefert wird – aber die haben es abgelehnt, weil unser Umsatz nicht …“ „Also Braasch. Und?“ wollte Meiselbach wissen. „Sicher sonst niemand“, sagte Ströhlein, dessen Hände trockener wurden, weil das Gespräch – oder die Vernehmung – zu seiner Erleichterung in der Richtung lief, wie er es sich gedacht hatte. „Nein, sonst sicherlich niemand, denn das könnte sich Intertex nicht leisten, auch die kleinen Geschäfte zu beliefern.“ „Dann will ich mal bei Braasch anrufen“, sagte Meiselbach. „Sie warten bitte hier, Herr … äh … Herr Ströhlein. Ich komme gleich zurück. Gibt’s außer in Herrn Zylians Arbeitszimmer noch ein Telefon?“ „Nur oben in der Privatwohnung.“ Meiselbach ging hinaus. Von Zylians Büro aus, in dem die Kassiererin verstört versuchte, Kasse zu machen, und in dem die Kollegen von der Spurensicherung bisher vergeblich nach Fingerabdrücken suchten, von Zylians Büro aus also rief der Kommissar die Firma Braasch an. Halstenbach war am Apparat. Meiselbach erfuhr, daß Voigt schon gestern dagewesen sei. Auf seine Frage, ob er wisse, wo der Vertreter wohne, wenn er in Neustadt sei, konnte Halstenbach keine Antwort geben. Aber sein Schwager wisse es bestimmt, sagt er; was denn los sei? Ob Voigt irgendwelche, äh, Dummheiten …? „Darüber kann ich Ihnen keine Auskunft geben“, sagte Meiselbach. „Aber bitte, fragen Sie Ihren Schwager, ob er weiß, wo Herr Voigt absteigt, ja? Ich warte.“ 106
Braasch kam nach knapp zwei Minuten selbst an den Apparat. Meiselbach hörte es seiner Stimme an, daß er vor Neugier fast platzte. „Hier Braasch junior“, sagte er. „Sie haben nach Herrn Voigt gefragt, Herr Kommissar?“ Meiselbach zwinkerte unmutig bei der Anrede. „Ja.“ „Er wohnt immer im Hotel Zur Eiche, wenn ich richtig informiert bin. Das ist das Vertreter-Hotel am Stadtwall. Aber das wissen Sie ja selbst, Herr Kommissar. Ist was los mit Voigt?“ „Schönen Dank für die Information“, wich Meiselbach aus. „Auf Wiedersehen, Herr Braasch!“ Er legte auf und sah richtig Braaschs enttäuschtes, dickes Gesicht vor sich. Er suchte die Rufnummer des Hotels und wählte. Besetzt. Die Kassiererin sah ehrfürchtig, fast ängstlich zu ihm herüber, wie er da auf der Vorderkante von Zylians imposantem, ledernem Schreibtischstuhl saß, nach seiner Gewohnheit die Unterlippe vorschob und die Stirn runzelte, so daß zu den tiefen Senkrechtfalten in seinem Gesicht nun noch eine Reihe Querfalten kam. Meiselbach versuchte es ein zweites Mal. Immer noch besetzt. „Gibt’s was?“ fragte er die beiden Beamten, die mit Graphitpuder und Lupen den Schrank, die Kassette und alle möglichen anderen Möbel und Gegenstände absuchten. „Fingerabdrücke wie Pilze nach dem Regen“, sagte der eine. „Aber immer wieder dieselben – wahrscheinlich die des Toten.“ „Hier hatte ja auch kaum mal jemand anderes was zu suchen!“ warf die Kassiererin spitz ein. Meiselbach wählte zum drittenmal die Hotelrufnummer. Jetzt war die Leitung frei. Eine Altmännerstimme meldete sich. „Hotel Zur Eiche, Neustadt, Schleinitz, Guten Tag!“ 107
„Guten Tag“, sagte Meiselbach. „Mit wem spreche ich?“ „Schleinitz“, sagte die Stimme. „Ich bin der Oberkellner hier. Was kann ich für Sie tun, bitte?“ „Mein Name ist Meiselbach …“ Der Kommissar vermied es absichtlich, seine Funktion zu nennen. „Ich wüßte gern, ob ein Herr Voigt bei Ihnen wohnt. Voigt– von der Firma Intertex.“ „Ja“, sagte der alte Kellner. „Herr Voigt wohnt hier.“ „Ist er im Hause?“ fragte Meiselbach. „Ich sehe mal nach, Augenblick …“ Der Hörer wurde klappernd abgelegt. Dann: „Sein Zimmerschlüssel ist nicht am Schlüsselbrett. Demnach müßte er eigentlich zu Hause sein. Zum Mittagessen war er aber nicht hier, sonst hätte ich ihn gesehen. Aber er kann ja woanders gegessen haben und …“ „Gut, ich danke Ihnen!“ unterbrach Meiselbach, legte auf und lief durch den Laden, das Lager und den Dekorationsabstellraum aus dem Geschäft, stieg in seinen Wagen und fuhr – ohne zu merken, daß Beissel ihm in seinem klapprigen VW folgte – zum Stadtwall, während Ströhlein, den er vergessen hatte, in dem gesetzlich vorgeschriebenen Personalaufenthaltsraum hockte, nervös wartete und schon wieder nasse Hände hatte. „Ja, sicher, Herr Kommissar!“ sagte der alte Schleinitz sieben Minuten später erschrocken zu Meiselbach. „Sicher ist er in seinem Zimmer. Aber … aber … Ich meine, was ist denn mit ihm? Hat er was verbrochen?“ „In welchem Zimmer wohnt er?“ fragte Meiselbach barsch, ohne auf die Frage des Kellners einzugehen. „Ich … Ich möchte … Ich möchte aber erst den Chef wecken … Der muß doch …“, stotterte Schleinitz verstört. „Nichts da!“ fuhr Meiselbach ihn an. „Sie wecken niemand! Sie sagen mir jetzt die Zimmernummer – oder wollen Sie sich mitschuldig machen, indem Sie einen 108
Mann decken, der verdächtig ist, ein Verbrechen begangen zu haben?“ „Ach du meine Güte!“ rief Schleinitz. „Ein Verbrechen? Der Herr Voigt? Also das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen! Was denn für ein Verbrechen? Der krümmt doch keinem …“ „Die Zimmernummer, verdammt! Aber bißchen fix!“ schnauzte Meiselbach. „Sieben“, sagte der alte Kellner verschreckt. „Das letzte im Gang hinten links.“ Der Kommissar lief auf die Gaststubentür zu. „Warten Sie! Ich komme mit!“ rief Schleinitz. „Sie bleiben hier!“ befahl Meiselbach über die Schulter, ging hinaus und schloß die Tür hinter sich. Er lief den Hotelgang entlang; er ging fast geräuschlos und griff, als er die Tür zu Zimmer 7 erreicht hatte, zu seiner Dienstwaffe im Schulterhalfter unter dem Jackett. Das kam ihm zwar selbst ein bißchen komisch vor – aber man kann ja nie wissen! Wenn einer in die Enge getrieben ist … Wer kann vorher sagen, wie der reagiert? Und Vorsicht ist noch immer die Mutter der Porzellankiste! Der Schlüssel steckte an der Zimmertür. Meiselbach klopfte und stellte sich seitlich an die Wand. Es blieb still. Er klopfte nochmals, jetzt lauter … Nichts. Eigentlich ziemlich unwahrscheinlich, dachte der Kommissar, daß jemand nach einem Raubüberfall in sein Hotel fährt, sich zum Mittagsschlaf hinlegt und bei außensteckendem Schlüssel so tief schläft. Er drückte die Klinke und stieß die Tür auf, wobei er gleichzeitig zur Seite in Deckung sprang. Das Zimmer war leer. Vom Ende des Ganges kam ein Lachen. Meiselbach fuhr herum. An der Tür zum Hof stand Beissel. „Vögelchen ausgeflogen?“ fragte er grinsend. „Sollte das der Mörder sein, Herr Meiselbach?“ 109
Meiselbach schnaufte ärgerlich, sagte aber kein Wort; er drehte sich um und ging zurück in die Gaststube. Der Kellner stand hinter der Theke und hielt in leise zitternden Fingern ein halbvolles Kognakglas. „Der Mann ist weg!“ sagte Meiselbach. „Weg?“ echote Schleinitz. „Aber … Aber davon weiß ich nichts … Sind Sie sicher?“ „Das Zimmer ist leer“, knurrte der Kommissar. „Na, so was“, sagte Schleinitz. „Leer? Aber dann muß ich ja jetzt doch den Chef wecken …“ „Okay, wecken Sie Ihn. Ich warte. Er soll sich ein wenig beeilen.“ Schleinitz ging hinaus. Auf dem Gang hielt Beissel ihn an. „Wer ist das, den der Kommissar sucht, Herr Ober?“ fragte er. „Wer sind Sie denn?“ fragte Schleinitz, dem das alles unheimlich zu werden begann, ängstlich zurück. Beissel stellte sich vor und zückte sogar unaufgefordert seinen Presseausweis. „Das ist ein Vertreter“, sagte Schleinitz leise nach einem vorsichtigen Blick zur Gaststubentür. „Voigt heißt er. An sich ein netter und ruhiger Gast. Kommt schon seit Jahren zu uns … Was soll er denn auf dem Kerbholz haben? Wissen Sie da was Näheres?“ „Einen Raubmord“, sagte Beissel ebenso leise. „Nein!“ Schleinitz fuhr zusammen. „Das kann nicht … Der nicht … Also, alles andere – aber … Raubmord? Ausgeschlossen! Meine Güte …“ Er stöhnte. „Ich muß fix den Chef wecken … Himmel noch mal! Raubmord? Der Voigt!“ Er lief kopfschüttelnd die Treppe hinauf zur Wohnung des Wirtes. Beissel ging in das Zimmer 7 und sah sich dort um. Aber er fand nichts. Kein blutiges Beil und keine Geldscheinbündel unter dem Kopfkissen; nur einen 50110
Mark-Schein unter dem Fuß der Nachttischlampe. Er ließ ihn liegen. Er hörte den Kellner und den Wirt aufgeregt redend die Treppe herabkommen und in die Gaststube gehen. Da er keine Lust hatte, durchs Schlüsselloch zu gucken oder das Ohr an die Gaststubentür zu legen, folgte er den beiden. Eine Gaststube ist immerhin eine öffentliche Lokalität, und es war gar nicht einzusehen, warum man nicht zuhören sollte, wenn der Kommissar den Wirt und den Kellner ausfragte. Vielleicht konnte er ja sogar nützlich sein. Die Polizei, dein Freund und Helfer, die Presse, dein Informant und Neugierstiller. Was allerdings Neugier seitens der Presse und Information für die Presse voraussetzt. Der Wirt, der Kellner und Kommissar Meiselbach saßen an einem Tisch. Meiselbach hatte sein Notizbuch aufgeschlagen vor sich und einen Kugelschreiber in der Hand. „Haben Sie was dagegen, wenn ich zuhöre?“ fragte Beissel von der Tür aus. Meiselbach betrachtete ihn, wie man einen Brummer betrachtet, der einen im Mittagsschlaf stört. Er hätte am liebsten gesagt: Ja, ich habe was dagegen. Aber er wußte genau, daß es wichtig war, sich mit Zeitungsleuten nicht zu überwerfen. Schlagzeilen wie DIE POLIZEI HAT IMMER NOCH KEINE SPUR oder KRIPO TAPPT IM DUNKELN oder JAGD NACH DEM MÖRDER ERFOLGLOS trugen wahrlich nicht dazu bei, bei den Leuten Vertrauen oder gar Sympathie für die kriminalpolizeiliche Arbeit zu schaffen. Und die maliziösen Anrufe höherer Vorgesetzter, die nach so einer Schlagzeile kamen: Sie haben, scheint mir, kein sehr gutes Verhältnis zur Presse, Herr Kollege Meiselbach, wie? Das kann ich gar nicht verstehen, wo Sie doch sonst … Blablabla! 111
„Ich lasse mir von den Herren ein paar Angaben zur Person des Herrn Voigt geben“, sagte Meiselbach nach kurzem Schlucken zu Beissel. „Herr Voigt ist laut Terminkalender heute mittag mit Herrn Zylian verabredet gewesen. Es stört mich nicht, wenn Sie zuhören – vielleicht können Sie uns ja sogar mit Ihrer Zeitung bei der Fahndung nach dem Mann unterstützen!“ „Zeitung?“ der Wirt horchte auf. „Sind Sie von der Zeitung?“ fragte er Beissel. „Ja“, sagte der Reporter. „Vom Neustadter Tagesboten.“ „Also das schmeckt mir überhaupt nicht!“ polterte der Wirt los, der sowieso sauer war, wenn man ihn aus dem Mittagsschlaf holte. „Das hab ich gar nicht gern, wissen Sie! Dann finde ich morgen ein Foto in Ihrem Blatt: Hotel Zur Eiche – und darunter steht: Das Haus, in dem der Mörder wohnte – oder irgend so’n Quatsch … Nee, danke! Da bleiben mir die Gäste weg. Das will ich nicht!“ Er hatte sich richtig aufgeregt, erhob sich und ging hinter die Theke, um sich zur Beruhigung einen Schnaps einzuschenken. „Im Gegenteil“, sagte Beissel, „da kommen die Gäste! Haben Sie das nicht gelesen? Die Stammkneipe des Massenmörders in Altona vor zwei Jahren – die haben jeden Abend ein Schild an die Tür hängen müssen: Wegen Überfüllung geschlossen! Weil die Leute alle mal auf dem Mörderstuhl sitzen wollten oder sogar aus dem Mörder-Bierglas trinken … Das war das Geschäft des Lebens für den Wirt!“ „Ich scheiß auf so’n Geschäft!“ schimpfte der Wirt. „Mit Stuhl und Bierglas, das mag ja wohl noch stimmen, wenn ich auch die Bekloppten nicht verstehe – aber ob einer im Bett des Mörders schlafen will, das bezweifle ich! Und die Hälfte meines Geschäfts sind die Übernachtungen! Also ohne mich, werter Herr! Auf Wiedersehen!“ Beissel war so schnell nicht abzuwimmeln. Er gehörte 112
zu den Leuten, die notfalls durch den Schornstein wieder ins Haus kommen, wenn sie aus allen Türen rausgeschmissen worden sind. „Okay!“ sagte er. „Ich gebe Ihnen mein Wort, Herr Wirt, daß ich Ihr Hotel nicht erwähne – klar?“ „Haben Sie’s gehört?“ fragte der Wirt den Kommissar. „Sie sind mein Zeuge, wenn der junge Mann mich anschmiert!“ Der Kommissar nickte und sah Beissel skeptisch an. „Wollen Sie auch einen Schnaps?“ fragte der Wirt. Meiselbach nickte abermals, und Beissel sagte laut: „Ja, gern“, obwohl er gar nicht gefragt worden war. Der Wirt goß vier Gläser voll, stellte sie auf ein kleines Tablett und brachte sie zum Tisch, an dem der Reporter inzwischen unaufgefordert Platz genommen hatte. Der schöne alte Regulator neben dem ausgestopften Wildschweinkopf an der Wand schlug halb vier.
8 Als sich Ulf Beissel eine Dreiviertelstunde später in seinem engen, unordentlichen Büro an die Schreibmaschine setzte und die Titelzeile tippte, die über seinem Bericht stehen sollte: OTTO ZYLIAN ERMORDET (in Tertia), und als Untertitel: Wohin floh der KammgarnKiller? (in Cicero), und als er die Zeigefinger sinken ließ und über den ersten Satz nachdachte, weil der erste Satz nach der Schlagzeile das Wichtigste ist – zu diesem Zeitpunkt hielt Ernst Voigt vor einer Bank in Odense, um Geld zu wechseln, denn er mußte tanken. Das Mädchen am Wechselschalter war eine richtige Bilderbuchskandinavierin: Haut wie Milch und Blut, weißblond und ganz helläugig. Bei dem Licht der Leuchtröhren über dem Schaltertisch war nicht zu er113
kennen, ob es hellblaue oder hellgraue Augen waren. Das Mädchen schien sich zu freuen, seine Deutschkenntnisse ausprobieren und vorführen zu können – allzu viele Touristen kamen wohl nicht in diese Bank, und jetzt, nach den Sommerferien, waren es wahrscheinlich noch weniger. „Wünschen Sie große Kronenscheine, oder möcht Sie auch klein?“ fragte das Mädchen. „Das ist mir egal“, sagte Voigt. „Geben Sie mir ein paar große und ein paar kleine.“ „Ja, sehr gern“, sagte das Mädchen, „wie Sie es möchtest, bitte …“, und zählte Voigt die rund 2 000 dänischen Kronen in den unterschiedlichen Scheinen vor, die er für seine 800 DM zu bekommen hatte. „Danke“, sagte Voigt und steckte das Geld ein. „Schön, daß Sie so gut Deutsch sprechen, Fräulein“, fuhr er fort. „Da können Sie mir sicher sagen, wann die Schiffe von Nyborg nach Korsör fahren, ja?“ „Oh, sehr viel danke!“ sagte das Mädchen. „Meine Deutsch ist schlecht genug … Ich werde fragen. Eine Minut, bitte!“ Sie ging zu einem Mann, der im Hintergrund des Schalterraums telefonierte, und machte ihm durch Zeichen klar, daß sie eine Frage habe. Der Mann nickte. Das Mädchen wartete neben seinem Schreibtisch, wandte sich kurz zu Voigt um und winkte ihm mit einer Geste zu, die „Bitte, haben Sie einen Augenblick Geduld!“ besagte, und wartete weiter. Der große goldene Uhrzeiger an der Stirnwand des Schalterraums rückte auf halb fünf. Ob sie mich schon suchen? dachte Voigt. Ob sie überhaupt auf mich gekommen sind? Wieso denn eigentlich? Gesehen hat mich niemand … Hab ich zu irgendwem gesagt, daß ich Zylian besuchen will? – Nein. Vielleicht reiße ich vor einer Einbildung aus? Aber wahrscheinlich hat Zylian zu jemand davon gesprochen, daß wir um 114
halb zwei verabredet waren. Bestimmt zu seiner Frau – ja, sicher zu seiner Frau … Ich muß runter ins Geschäft, wird er beim Mittagessen gesagt haben oder nach seinem Mittagsschläfchen – er hatte ja noch das Kissenmuster im Gesicht, als er die Tür aufschloß … Ich muß runter, um halb zwei kommt der Voigt von Intertex mit der neuen Kollektion … Also wird zumindest die Frau der Polizei meinen Namen genannt haben. Ich weiß gar nicht, wie die Frau von Zylian aussieht. Da bin ich nun seit …zig Jahren jedes Jahr zwei-, dreimal bei ihm gewesen, aber ich habe keine Ahnung, wie die Frau … Das Mustermädchen kam zurück. „Die Schiffsfähre schwimmt jetzt bis abends jede voll Stunde nach Korsör, mein Herr“, sagte es. „Wenn Sie sehr schnell eilig mit Auto sind, dann Sie kriegen vielleicht die Fähre um fünf Uhr. Nein … Wahrscheinlich nein, nicht – sind zwar nur dreißig Kilometer, aber aus Odense-Stadt hinaus zu diese Tageszeit ist viele Autos.“ „Danke“, sagte Voigt, „Ich kann auch die nächste nehmen. Nach Kopenhagen sind’s dann ja nur noch anderthalb Stunden.“ „Ja“, sagte das Mädchen. „Sie wollen nach Kopenhagen? Aber wenn Sie haben Zeit noch, dann Sie sehen an Geburtshaus von Hans Christian Andersen hier bei uns in Odense. Kennen Sie Hans Christian Andersen?“ „Aber natürlich“, erwiderte Voigt. „Das ist eine gute Idee! Danke für den Tip. Wiedersehen!“ „Auf Wiedersehen“, sagte das Mädchen und nickte lächelnd. Voigt hatte bei der Ankunft in Odense und bei der Suche nach einer Bank an sonstwas gedacht, nur nicht an Hans Christian Andersen, Er würde ganz bestimmt auch jetzt das Geburtshaus des Märchendichters nicht besuchen, obschon er sich gut an die Märchen erinnerte: Die Prinzessin auf der Erbse und Des Kaisers neue Kleider … Reizende Märchen. Voigt hatte als Junge ein großes, bunt 115
illustriertes Buch mit Andersen-Märchen gehabt und sehr geliebt … Wo war das eigentlich geblieben? Voigt tankte und fuhr nach Nyborg. Er kam schneller voran, als das Bankmädchen vermutet hatte, und erreichte das Fährschiff, das nicht voll besetzt war, vier Minuten vor der 17-Uhr-Abfahrt. Beim Hineinfahren in den Schiffsbauch hatte er einen Augenblick lang das Gefühl, in eine Falle zu fahren. Wenn sie nach ihm fahndeten und seine Wagennummer über Funk auch nach Dänemark verbreiteten, dann gab es auf dem Schiff kein Entkommen. Aber das schien’ ihm sehr unwahrscheinlich. Er redete sich selbst beruhigend zu, schloß das Auto ab und ging hinauf an Deck. Es war neblig und trübe. Die Fähre legte mit fünf Minuten Verspätung ab. Voigt stand an der Reling und sah den kreisenden Möwen zu. Als er so ganz allein im Nebel auf dem leicht vibrierenden Deck stand, hatte er das Gefühl, der einzig lebendige Mensch auf der Welt zu sein. Rundum war konturlose Weite; die Bugwelle rauschte, weicher Wind pfiff in den Stahltrossen über ihm. Voigt war eigenartigerweise gar nicht unglücklich oder deprimiert bei diesem Gefühl der Einsamkeit. Es war ihm nur neu, und er fand es beinahe großartig, so frei zu sein, daß er sich mit sich selbst beschäftigen konnte. Aber dann hatte er plötzlich einen heftigen Appetit auf einen Kognak oder wenigstens auf ein Bier – auf ein gutes dänisches Bier … Doch er durfte nichts trinken – nein, nicht einmal ein Bier! Denn wenn er heute noch erreichen wollte, was zu erreichen er sich vorgenommen hatte, mußte er nüchtern sein wie ein Kaplan vor der Frühmesse. Beissel hatte seinen Artikel fertig, kurz bevor Voigt in Korsör das Schiff verließ. Er zündete sich eine Zigarette an, sah, als er das Streichholz in den Aschenbecher warf, 116
daß er heute schon viel zuviel geraucht hatte – die Stummel füllten das Gefäß bis zum Rand – und nahm sich fest vor, ab morgen weniger zu rauchen. Dann lehnte er sich zurück und las sein Erzeugnis: OTTO ZYLIAN ERMORDET Wohin floh der „Kammgarn-Killer“? Ein schreckliches Verbrechen ist gestern in Neustadt verübt worden und hat allgemeines Entsetzen ausgelöst. Der bekannte Textilkaufmann und aktive Kommunalpolitiker Otto Zylian ist in der Mittagsstunde im Lagerraum seines Geschäfts von einem Unbekannten heimtückisch ermordet worden. Otto Zylian, Stadtrat und Fraktionsvorsitzender der regierenden Partei unserer Stadt, hinterläßt eine Frau und zwei Töchter. Er hinterläßt darüber hinaus sowohl im Geschäftsleben wie auch im kommunalpolitischen Bereich eine große Zahl von Freunden und Bewunderern. Die Lücke, die sein tragischer Tod reißt, wird kaum zu schließen sein. Über den Hergang der Bluttat gibt es bisher nur Vermutungen. Frau Anna B., 37, Verkäuferin im Textilhaus Zylian, entdeckte ihren toten Chef, als sie aus der Mittagsstunde ins Geschäft kam. Otto Zylian lag im Lagerraum. Sein Tod konnte noch nicht lange eingetreten sein, denn Frau B. sagte: „Er war noch ganz warm, als ich seine Hand anfaßte!“ Die Angestellten alarmierten sofort die Polizei. Zehn Minuten später stellte der herbeigerufene Arzt fest, daß Otto Zylian nicht mehr am Leben war. Die Tat ist wahrscheinlich mit einem stumpfen, runden Gegenstand ausgeführt worden, doch können die Kopfverletzungen auch vom Sturz gegen einen Kleiderständer herrühren. Näheres kann erst die Obduktion ergeben. Als Tatverdächtiger Nr. 1 wird von Kriminalkom117
missar Meiselbach, der die Ermittlungen leitet, der Textilreisende Ernst V., 56, aus H. bezeichnet, mit dem Otto Zylian verabredet war. Als Motiv für die Tat ist bisher nur anzunehmen, daß sich der Verdächtige in finanziellen Schwierigkeiten befand. Denn der Mörder Zylians hat mit dem Schlüssel des Toten die Geldkassette im Büro und die Tageskasse geöffnet und beraubt. Das verstärkt den Verdacht gegen V., da den Geldraub nur jemand so ausführen konnte, der über Ortskenntnisse verfügt, was für V. zutrifft. V. ist seit der Tatzeit verschwunden. Er hat das Hotel, in dem er in Neustadt wohnte, fluchtartig verlassen und ist mit seinem hellgrauen Kombiwagen, Marke Ford-Turnier, polizeiliches Kennzeichen HH–XD 3152, mit unbekanntem Ziel davongefahren. Wer über V. oder seinen Verbleib sachdienliche Angaben machen kann, wird um sofortige Nachricht bei jeder Polizeidienststelle dringend gebeten. Auf Wunsch werden die Mitteilungen vertraulich behandelt. Soweit der Text des Artikels, der auf die Titelseite der morgigen Ausgabe kommen sollte. Für die Seite drei hatte der Chefredakteur noch einen Kasten vorgesehen, in dem mit einem Foto Zylians der Lebenslauf des Stadtrats und ein würdigender Nachruf stehen sollte. Den Nachruf wollte der Chefredakteur selber schreiben, hatte er erklärt. „Ich habe Zylian ja persönlich recht gut gekannt …“ Na bitte – sollte er! Beissel riß sich nicht um Grabreden für unsympathische Zeitgenossen – aber de mortuis nihil nisi bene –, Unsinn; richtig unsympathisch war ihm der Mann eigentlich gar nicht gewesen. Gleichgültig, ja – aber von hundert Leuten, mit denen man irgendwann zusammentrifft, sind einem ja immer fünfundneunzig gleichgültig. Als Ulf Beissel seinen Artikel in die Setzerei des 118
Neustadter Tagesboten gab und sich der großen nächsten Aufgabe zuwandte – einer Vorschau auf den Jubiläums-Liederabend des Männergesangvereins „Euterpe e. V.“ –, lenkte Voigt sein Auto in Korsör aus dem Schiffsbauch der Fähre an Land, und Braasch junior rief die Zeitung an, um aus dem Inserat das Wort „Decksleute“ streichen zu lassen, denn er hatte soeben vom Tod des Konkurrenten Zylian gehört und wollte nicht in den Ruf kommen, Tote verspottet zu haben. Und Kommissar Meiselbach vernahm endlich Fred Ströhlein, der nasse Hände hatte vor Angst und Aufregung, und Frau Zylian führte mit ihrer Tochter Annelies das erste Gespräch darüber, wie es denn nun mit dem Geschäft weitergehen sollte (wobei sich das Mädchen massiv gegen die Einsetzung des ersten Verkäufers als Geschäftsführer wehrte). Zwei Kriminalbeamte durchsuchten das Zimmer sieben im Hotel Zur Eiche nach Spuren, und Trudchen Voigt fütterte ihren Hansi mit Sittichgold, seinem Lieblingsfutter, und freute sich, daß das Tierchen endlich wieder fraß. Sie war so vertieft in die Vogelfütterung, daß sie richtig zusammenfuhr, als die Wohnungstürklingel schepperte. Das war aber auch ein besonders schrilles und langes Geschepper – so als ob einer den Daumen mit Nachdruck und betont brutal auf den Klingelknopf preßte. Trudchen legte die Tüte Sittichgold auf den Nähtisch neben dem Vogelbauer und ging zur Tür. Im Vorübergehen warf sie einen prüfenden Blick in den Flurspiegel, ob ihre Frisur auch in Ordnung sei. Sie war in Ordnung. Der Blick war unnötig. Trudchen Voigts Frisur war immer in Ordnung. Es hatte, solange sie zurückdenken konnte, außer Seewind auch noch nichts gegeben, was ihre Frisur durcheinandergebracht hatte – Ernst Voigt hatte es ganz am Anfang ihrer Ehe einmal versucht. Das war in der gleichen Nacht gewesen, als er – etwas angetrunken nach dem Betriebsausflug, 119
an dem sie hatte teilnehmen müssen – so abstoßende Ideen hatte praktizieren wollen … Sie mochte gar nicht daran denken! Aber schon als er ihr mit gespreizten Fingern durchs Haar gefahren war, hatte sie ihn in seine Schranken gewiesen, und er hatte das und auch diese unangenehme Art von Küsserei nie wieder probiert. Sie öffnete. Vor der Wohnungstür stand ein sehr großer, schlanker Mann. „Frau Voigt?“ fragte er. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, weil das Treppenhaus hinter ihm hell war. „Ja, das bin ich“, sagte sie. „Was wünschen Sie?“ „Ich bin beauftragt, Ihnen ein paar Fragen zu stellen.“ Der Mann hatte eine dunkle, sachlich klingende Stimme und sprach sehr freundlich und höflich. „Fragen? Beauftragt?“ Trudchen Voigt schüttelte skeptisch den Kopf. „Von wem sind Sie beauftragt? Was für Fragen wollen Sie mir … Kommen Sie von irgendso einem Befragungsinstitut?“ Der Mann zögerte sichtlich, dann griff er in seine Regenmanteltasche und zog ein Etui hervor, eine Lederhülle, die er aufklappte und ihr entgegenhielt. „Kriminalpolizei!“ sagte er leise. „Es ist sicher besser, wenn ich … wenn Sie mir gestatten hineinzukommen, Frau Voigt!“ „Ja“, sagte Trudchen Voigt verwirrt. „Ja … Aber … Worum handelt es sich? Kriminalpolizei …? Ich habe nichts … Ich weiß nicht …“ „Es geht um Ihren Mann“, sagte der Lange. „Ernst? Um Gottes willen! Ist ihm irgendwas zugestoßen?“ Sie flüsterte vor Angst. „Nein – zugestoßen wohl nicht … Aber es ist wirklich sicher besser, wenn wir das nicht hier im Treppenhaus …“ „Treten Sie näher“, sagte Trudchen und trat einen Schritt beiseite. Der lange Mann kam in die Wohnung. „Was ist mit meinem Mann?“ fragte Trudchen, ehe sie noch die Tür hinter ihm geschlossen hatte. 120
„Wissen Sie, wo er sich jetzt aufhält?“ fragte der Kriminalbeamte zurück. „Wo er …? Ich verstehe nicht.“ Sie war verstört und lief ins Wohnzimmer. Der Kriminalbeamte folgte ihr. „Mein Mann ist … Also gestern abend hat er mich aus Neustadt angerufen“, sagte sie. „Aus dem Hotel, in dem er immer absteigt, wenn er dort … Aber was ist denn? Warum … Ich meine, wenn Sie nicht wissen, wo er ist … Es geht um meinen Mann, haben Sie gesagt … Nun sagen Sie doch endlich, was los ist!“ Sie war den Tränen nahe vor Angst und Hilflosigkeit. Dem Kriminalbeamten fiel ein, daß er vergessen hatte, sich vorzustellen. Er machte eine linkische Verbeugung. „Grützmacher, mein Name!“ „Angenehm!“ erwiderte Trudchen Voigt automatisch, obschon ihr der Besuch des Fremden überhaupt nicht angenehm war. „Nun … bitte: Was ist los …? Nehmen Sie doch Platz!“ Der lange Mann setzte sich auf die Kante eines Stuhls vor dem ovalen Tisch. Trudchen Voigt blieb stehen und sah ihn an. Nun konnte sie auch sein Gesicht erkennen. Es war ein Gesicht, das einem jungen Bauern gehört haben könnte: rund, rosig, mit einem Schmollmund und einer etwas zu kurzen Nase zwischen hellbraunen Augen, die jetzt verlegen zwinkerten, weil Kriminalobermeister Grützmacher nicht wußte, wie er der Frau beibringen sollte, daß ihr Mann unter dem Verdacht gesucht wurde, ein Raubmörder zu sein. „Wir suchen Ihren Mann, Frau Voigt“, fing er schließlich zögernd an, „weil wir seine Aussage brauchen. In Neustadt ist heute mittag ein Kaufmann … äh … tot aufgefunden worden in seinem Geschäft …“ „Tot?“ flüsterte Trudchen Voigt und ließ die Lippen offen nach ihrer Frage. „Ja. Der Mann ist wahrscheinlich, äh … ermordet 121
worden, denn da wurde auch die Ladenkasse beraubt und ein … ein Geldschrank, wenn ich richtig informiert bin.“ „Und? Was hat mein Mann damit zu tun?“ „Ich weiß auch keine Einzelheiten. Ich habe nur den Auftrag, Sie nach dem Aufenthalt Ihres Mannes zu fragen – oder ob er sich heute schon gemeldet hat, ob er hier war oder angerufen hat von irgendwoher.“ „Nein. Ist Ernst … äh, ist mein Mann, denn nicht mehr in Neustadt? Er wollte doch zwei oder drei Nächte …“ „Er hat das Hotel heute mittag verlassen, ohne sich zu verabschieden oder ohne zu sagen, wohin er …“ „Nein! Aber das kann doch nicht sein!“ Jetzt wurde Trudchen Voigts Stimme so schrill, daß der Kriminalobermeister Grützmacher das Gesicht verzog, weil ihm der Ton auf die Nerven ging wie das quietschende Kratzen eines Messers auf einem Teller. „Mein Mann reist doch nicht ab, ohne …“ Sie erfaßte jetzt plötzlich, was die Mitteilung des Kriminalbeamten bedeutete, wurde blaß und mußte sich setzen, weil ihr die Knie zu versagen drohten. „Was denn …?“ sagte sie, nun wieder ganz leise. „Sie verdächtigen meinen Mann doch wohl nicht etwa? Daß er … O nein!“ Sie schlug schluchzend die Hände vors Gesicht. „O Gott“, stöhnte sie. „Es ist ja noch nichts klar“, sagte Kriminalobermeister Grützmacher beruhigend. „Das kann ja auch eine Kette von Mißverständnissen sein, Frau Voigt.“ Er war in Versuchung, sich vorzubeugen und ihr die Hand auf die zuckende Schulter zu legen, aber er traute sich nicht, weil er nicht wußte, wie sie reagieren würde. Womöglich fiel sie ihm um den Hals, oder sie schrie um Hilfe und behauptete, daß er sie unsittlich berührt hätte … Das war alles schon vorgekommen; man konnte nicht vorsichtig genug sein in diesem Beruf. „Nun fassen Sie sich doch!“ sagte er also nur. „Sie sind gut!“ zischte Trudchen Voigt, die ihre Hände 122
hatte sinken lassen und den Beamten böse ansah. „Fassen soll ich mich, wenn mein Mann gesucht wird, weil er im Verdacht steht, einen … O du meine Güte! Ernst als Raubmörder! Ich werde gleich wahnsinnig, und Sie sagen, ich soll mich fassen! Na, wissen Sie!“ „Ich habe doch nur den Auftrag … Ich wollte doch nicht … Entschuldigen Sie, aber …“ Kriminalobermeister Grützmacher erhob sich. „Das klärt sich bestimmt alles auf, Frau Voigt!“ sagte er noch einmal. Sie war auch aufgestanden und begleitete ihn stumm zur Tür. „Wiedersehen!“ sagte er. Sie antwortete nicht, sondern nickte nur und schloß hinter ihm ab. Sie hatte den Schlüssel gerade umgedreht und sich abgewandt, da klingelte es schon wieder an der Tür. Sie öffnete. Kriminalobermeister Grützmacher stand da im Gegenlicht. „Bitte, entschuldigen Sie vielmals“, sagte er mit seiner dunklen Stimme. „Ich habe noch was vergessen.“ Sie machte schweigend die Tür auf. Er trat wieder ein. „Wir brauchen ein Foto von Ihrem Mann“, sagte er. „Könnten Sie mir wohl eines geben?“ Sie sah ihn starr, wie geistesabwesend, an. Dann öffnete sie, im Zeitlupentempo, den Mund, riß die Augen weit auf und begann plötzlich zu schreien, als ginge es ihr ans Leben. „Ein Foto!“ schrie sie gellend, mit überschlagender, kreischender Stimme. „Raus! Scheren Sie sich hinaus! Machen Sie, daß Sie rauskommen!“ Sie stand mit gespreizten Fingern vor dem Kriminalobermeister Grützmacher. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Speichel tropfte ihr aus dem Mund. Rote Flecken erschienen auf ihrer Stirn und ihren Wangen. „Raus! Raus! Raus!“ schrie sie wie wahnsinnig den erschrockenen langen Beamten an, der mit steifen Beinen rückwärts ging und immerzu nur „Aber … Aber Frau 123
Voigt … Aber …“ sagte und durch die offengebliebene Flurtür floh, so schnell er konnte. Trudchen Voigts Schreien gellte ihm nach, während er die Treppe hinabrannte, und noch auf der Straße vor dem Haus meinte er sie zu hören. Aber das kam ihm nur so vor. In Wirklichkeit schrie Trudchen Voigt nicht mehr. Sie kauerte auf dem Flur ihrer Wohnung neben dem Garderobentischchen und wimmerte vor sich hin: „Ein Foto … Damit sie es drucken und überall ankleben und aushängen können … 3 000 Mark Belohnung … O du lieber Gott, was hab ich bloß verbrochen, daß mir so was passiert? Nein, nein – ich kann das nicht glauben … Wenn ich bloß wüßte, wo Ernst ist … Wenn ich bloß mit ihm sprechen könnte – daß er mir selber sagte, was geschehen ist …“ Sie stand mühsam auf und ging schwankend den Flur entlang. Vor dem Spiegel stutzte sie. Ihre Frisur war völlig aus der Fasson. Die Haarsträhnen zipfelten über Stirn und Ohren und hingen ihr ins Gesicht. Immer noch bebend vor Erschütterung, griff sie zum Kamm.
9 Ernst Voigt war erst einmal in Kopenhagen gewesen. Vor anderthalb Dutzend Jahren hatte er mit Trudchen von der Insel Mön aus, wo sie ihre Sommerferien verbrachten, einen Tagesausflug in die dänische Hauptstadt gemacht. Es war, soweit sich Voigt erinnerte, ein heiterer, windig-sonniger Frühsommertag gewesen, und sie hatten sich die kleine Seejungfrau am Hafen angeschaut, hatten in einem hübschen Restaurant dort in der Nähe wundervollen Fisch gegessen, waren durch die winkligen Straßen der malerischen Innenstadt gelaufen 124
und hatten drei Nachmittagsstunden im Tivoli verbracht. Sie hatten ein überraschendes und eindrucksvollsympathisches kleines Erlebnis in dem großen, bunten Vergnügungspark gehabt: Als sie nämlich auf der Terrasse eines Cafés saßen und Eis aßen, waren auf einmal alle Leute an den Tischen rundum aufgestanden. Die flanierenden Menschen auf den Kieswegen waren stehengeblieben. Die Männer hatten die Hüte oder Mützen abgenommen, und alle hatten geklatscht. Trudchen und Ernst Voigt hatten sich gewundert und nicht gewußt, was los war, bis sie einen mittelgroßen, älteren Herrn in einem grauen Anzug gesehen hatten, der lächelnd ganz allein durch die applaudierende Menge ging und nach allen Seiten grüßte. „Wer ist das, bitte?“ hatte Ernst Voigt einen Mann am Nebentisch gefragt, und der hatte in dem eigenartig klingenden Deutsch, das die Dänen sprechen – so mit schleifenden S-Lauten und nasalen Vokalen –, gesagt: „Das ist unsere König!“ Mehr nicht. Das hatte Ernst Ungeheuer imponiert. Ein König! Ein richtiger König – und der spazierte am hellichten Tag ohne jede Bewachung, ohne die finster blickenden Leibwächter, die sonst um Herrscher und Politiker herumstehen und herumlaufen, quer durch einen Vergnügungspark voller Leute, die ihn kannten und die ihm Beifall spendeten. Das war Voigts Erinnerung an Kopenhagen; eine heitere Erinnerung, die sich wie ein ferner Traum ausnahm, als er jetzt an diesem verregneten Abend in die Stadt fuhr. Er wußte nicht, wie er sein Vorhaben realisieren sollte. Er wußte vor allem nicht, wo er wen ansprechen sollte, um zu erfahren, an welche Adresse er sich wenden 125
könne. Aber er dachte richtig, daß hier wie in allen Großstädten der Welt der Bahnhof, der Hauptbahnhof, am ehesten die Möglichkeit bieten würde, die gewünschten Kontakte zu finden. Also parkte er seinen Wagen nach einigem Suchen in der Nähe des Hauptbahnhofs an einer Parkuhr, die eine Stunde Zeit zum Parken erlaubte, und ging, nachdem er das Auto rundum sorgsam abgeschlossen hatte, in das hallende Gebäude aus Backstein und Stahl, das um diese Tageszeit – 19 Uhr – von Ladenmädchen und Verkäufern, Büroangestellten und anderen Leuten bevölkert war, die mit den Vorortzügen nach Hause fahren wollten. Voigt ging langsam zweimal rund um die Eingänge zu den Bahnsteigen, die tiefer liegen, herum und verwarf mehrmals seine Absicht, einen aus der Menge anzusprechen. Das war ein riskantes Unternehmen. Von diesem ersten Schritt hingen alle weiteren ab. Voigt setzte sich, weil er drauf und dran war, den Mut zu verlieren, ins Bahnhofsrestaurant und bestellte sich einen Kaffee. Der Kellner, der ihn bediente, sah aus wie einer, der gerade die dritte Entziehungskur hinter sich hat: grau, mit tiefen Schatten unter und jener Müdigkeit in den Augen, die an die Asche auf erloschenen Feuerstellen oder an Blindheit erinnert. Er sprach ganz gut Deutsch, beantwortete jedenfalls Voigts vorfühlende Frage nach einer billigen Unterkunft sofort: „Am besten, Sie finden kleine Pension zu schlafen hier direkt hinter Bahnhof in Vesterbro.“ Voigt gab ihm, als er seinen – übrigens guten – Kaffee bezahlte, ein sehr großes Trinkgeld und fragte leise: „Wissen Sie, wo ich etwas verkaufen kann, das ich aus Deutschland mitgebracht habe?“ Der Kellner wischte mit großer Umständlichkeit die Kunststofftischplatte sauber, die gar nicht dreckig war, und fragte aus dem Mundwinkel: „Schnaps?“ 126
Voigt hätte beinahe gelacht. „Nein“, sagte er. „Auch kein Haschisch, kein Heroin, kein Opium – nicht so was.“ „Was denn sonst?“ fragte der Kellner. Ehe Voigt antworten konnte, rief die Frau, die hinter dem Büfett stand, irgendwas auf dänisch. Der Kellner rief zurück. „Bitte, Sie warten, ich komme schnell zurück“, sagte er und lief ans Büfett, wo ein Tablett mit Tassen und Kannen bereitstand, das er an andere Tische bringen mußte. „Haben Sie Schmuck?“ fragte er fünf Minuten später flüsternd, als er wieder an Voigts Tisch stand. „Diamant … oder …?“ „Nein“, sagte Voigt. „Ich will ein Auto verkaufen.“ „Ein – oh. Ein Auto.“ Der Kellner war enttäuscht. Autos fielen offenbar nicht in sein Ressort. „Na ja – dann Sie gehen in Vesterbro. Dort ist Istedgade. Straße mit vielen Lokalen. Da Sie suchen Bar mit Namen Hønsestigen – haben Sie?“ „Hønsestigen“, wiederholte Voigt brav. „Das heißen ‚Hühnen – äh – Hühner-Leiter‘, verstehen Sie?“ „Hühner-Leiter – Hønsestigen“, sagte Voigt und nickte. „Dort Sie fragen nach Axel.“ „Axel?“ fragte Voigt. „Ja – Kollege von mich. Heißen Axel. Sie sagen, Sie kommen von Niels Nielsen – das bin ich. Axel wissen, wo Sie können vielleicht Auto verkaufen …“ „Danke“, sagte Voigt und legte noch drei 10-KronenScheine auf den Tisch. „Tak !“ sagte der Kellner, ließ das Geld mit Taschenspielergeschwindigkeit verschwinden und ging mit unbewegtem Gesicht davon. Die Bar Hønsestigen im Kopenhagener Stadtteil Vesterbro war in einem so schmalen alten Haus unter127
gebracht, daß die Treppen zum ersten und zweiten Stock, in denen der Besitzer oder Pächter wohnte, nur neunzig Zentimeter breit und so steil waren, daß es unbegreiflich schien, wie da jemals ein Bett oder eine Couch oder ein Schrank hinauf- oder heruntertransportiert werden konnte. Von einem Sarg ganz zu schweigen. Das Lokal hatte gerade erst geöffnet, als Voigt kurz nach acht hereinkam. Zwei Mädchen saßen in einer Ecke. Sie tranken giftgrünen Likör und rauchten. Sie kicherten wie Schulmädchen, obschon es in der Schule, in die sie gingen, nicht viel zu kichern gibt. Bei Voigts Eintreten unterbrachen die zwei ihr Reden und Flüstern und taxierten den Gast. Dann flüsterten und kicherten sie weiter. Es war ziemlich dunkel in der Hühner-Leiter. Auf dem Tresen standen zwei rotbeschirmte Leuchten, die an Nachttischlampen erinnerten. Über der Tür hing eine trübe Birne in einer leeren spanischen Korbflasche. Auf den fünf oder sechs Tischen standen Leuchter mit Kerzen, von denen jedoch nur zwei angezündet waren. Hinter der Theke hantierte ein rotbärtiger Hüne, der in das kleine Lokal paßte wie eine Faust in eine Rokokoschnupftabakdose. Voigt setzte sich an den Tisch, der von den beiden Mädchen am weitesten entfernt stand, und zündete sich eine Zigarette an. Der Rotbart ließ sich Zeit. Er spülte Gläser, bastelte am Kassettenrecorder herum, entkorkte vier oder fünf Weinflaschen, versah ein Dutzend Leuchter mit neuen Kerzen, die er aber nicht anzündete, sondern auf dem Bartresen aufreihte, akkurat in Reih und Glied wie die Spielzeugsoldaten vor dem Kopenhagener Schloß. Dann kam er endlich an Voigts Tisch und brummte etwas, das eine Frage, aber für Voigt unverständlich war. „Gibt’s einen offenen Rotwein bei Ihnen?“ fragte Voigt. 128
„Ah, Sie sind Landsmann?“ fragte Rotbart in akzentfreiem Deutsch. „Guten Abend! Herzlich willkommen!“ Er streckte Voigt eine verblüffend schmale, langfingrige Hand entgegen. Voigt schüttelte sie überrascht. „Guten Abend!“ sagte er. „Wir haben einen ganz ordentlichen offenen Burgunder“, sagte Rotbart. „Fein“, erwiderte Voigt. „Bitte, bringen Sie mir davon eine Karaffe. Und – Kann ich einen Bissen zu essen haben? Irgendwas, ein Stück Käsebrot oder …?“ „Ochsenschwanzsuppe, Hühnersuppe, Consommé; auch ein Brot mit Leberpastete oder Käse – wie Sie wollen!“ offerierte Rotbart. Er hatte eine rauhe Stimme, die nach Seemann klang. Nur die Hände paßten nicht zu seiner Statur und seiner Stimme. Sie waren dafür einfach zu zart, zu elegant. „Sind Sie Axel?“ fragte Voigt. Der rotbärtige Hüne legte den Kopf schief und sah Voigt mit einer Mischung aus Mißtrauen und Überraschung an. „Ja“, sagte er. „Woher wissen Sie das?“ „Ich soll Sie von Niels Nielsen grüßen“, erklärte Voigt. „Er hat mir das Lokal und Ihren Namen genannt. Sie könnten mir vielleicht weiterhelfen, meint er.“ „Niels Nielsen – ach ja! Wir werden gleich sehen. Erst bring ich Ihnen was zu essen und zu trinken. Hønsestigen lebt nicht von den Gesprächen mit seinen Gästen, sondern von deren Verzehr, haha!“ Er lachte knurrend. „Also, was soll es sein?“ „Ein Käsebrot“, sagte Voigt. „Aber, wenn Sie haben, lieber doch ein Tuborg statt des Rotweins. Den Wein kann ich ja später …“ „Okay.“ Rotbart stampfte hinter seine Theke. Voigt hatte das Gefühl, mit der Kneipe und dem rotbärtigen Landsmann einen guten Griff getan zu haben. Er war dabei, in eine euphorische Stimmung zu kommen – 129
aber das gelang ihm immer nur bis zu einem bestimmten Punkt. Dann sah er das Gesicht des auf dem Fußboden liegenden Zylian, und es ging ihm wie einem, der mit angehaltenem Atem einen scheuen Vogel beobachtet, der auf sein Fensterbrett geflogen ist … dann muß er niesen, und witsch – fliegt der Vogel weg. Die Mädchen hatten ihren giftgrünen Likör ausgetrunken und standen jetzt auf. Sie klopften mit Münzen auf das Stahlblech der Theke. Der rotblonde Axel kam aus dem Raum hinter dem Tresen, kassierte, sagte irgendwas, das die zwei zum Lachen brachte und hob winkend die Hand, als sie Hønsestigen verließen. Sie würdigten Voigt keines Blickes. Beissel hatte seinen Lob-Vorschuß an den Gesangverein schon lange fertig. Er hatte außerdem zwanzig Zeilen über die Jahreshauptversammlung der Schwarzbunte-Züchter, siebzehn Zeilen über die Ausstellung von Schülerarbeiten im Goethe-Gymnasium, vierzig Zeilen über das Winterprogramm der Landesbühne, die auch in Neustadt jeden Monat ein oder zweimal gastierte, geschrieben und schließlich die wöchentliche Spalte „Wie man hört“ fertiggemacht, in der ein bißchen Klatsch und Tratsch über bekannte Figuren der Stadt und der Umgebung abgezogen wurde. (Da war diesmal zu lesen, daß die Damen des Bürgervereins im letzten Jahr 35 Kilo Wolle verstrickt hatten, um Pullover und Strümpfe für ein Flüchtlingslager anzufertigen, damit die Kinder aus Polen oder Vietnam nicht zu frieren brauchten.) Beissel hatte darüber hinaus ein Streitgespräch mit dem Kollegen Wilke vom Sport geführt, ob Muhammad Ali noch einmal Weltmeister werden würde oder nicht. Er hatte der Volontärin Bettina gezeigt, wie man einen Umbruch macht, und dabei überlegt, ob es sich lohne, ihr auch andere, nicht journalistische Sachen beizubringen, war aber davon abgekommen, weil er sich an den 130
Ärger erinnerte, den er wegen einer Poussage in seinem vorigen Job gehabt hatte. Und nun saß er am Schreibtisch, wollte eigentlich ein bißchen Ordnung machen, stellte aber fest, daß er keine Lust dazu hatte. Er erwog, nach Holtkamp zu fahren und an die Stripkönigin Lulu aus Marseille noch ein paar Fragen zu stellen – vielleicht würde sie ja doch … Da klingelte sein Telefon. Der Chefredakteur. „Da ist die Interpress am Apparat, Herr Beissel. Die wollen Informationen wegen der Zylian-Sache. Ich denke, das ist Ihr Bier. Wollen Sie das mal annehmen, bitte?“ „Mach ich.“ Beissel drückte das weiße Knöpfchen. Der Kollege von der großen Presseagentur war sehr freundlich und ließ sich von Ulf Beissel ein paar Hintergrund-Informationen geben. „Haben Sie Ihre Story schon fertig?“ fragte er. „Ja, schon abgesetzt und umbrochen“, sagte Beissel. „Könnten Sie uns das nicht über den Ticker schicken? Dann geben wir es als Korrespondentenbericht ’raus. Das bringt ja auch ein paar Mark für Sie!“ „Ja, warum nicht?“ Beissel fühlte sich geschmeichelt. „Aber ich muß hier erst mal fragen, ob mein Boß auch damit einverstanden ist.“ „Fragen Sie doch bitte gleich“, bat der Agenturkollege. „Ich bleibe dran.“ Beissel drückte wieder das weiße Knöpfchen und fragte den Chefredakteur um Erlaubnis, seine Zylian-Geschichte weiterzugeben. „Das kostet natürlich eine Runde!“ sagte der Chefredakteur. Beissel murmelte etwas von Erpressung; dann sagte er dem Agenturkollegen zu. „Geben Sie mir doch schon mal bitte Ihre Headline“, bat der. „Damit es hier gleich richtig läuft, wenn es ankommt.“ 131
„Otto Zylian ermordet“, sagte Beissel. „Das bringt uns nichts“, erklärte der Kollege. „Außer in Ihrem Kaff weiß keine Sau, wer Otto Zylian ist … oder war. Da müssen wir uns was anderes einfallen lassen.“ „Ich hab noch’n Untertitel: ‚Wohin floh der Kammgarn-Killer?‘ “ „Kammgarn-Killer? Ja … Das klingt gut … Und warum ,Kammgarn-Killer‘?“ Beissel erklärte, daß der Tatverdächtige Reisender in Herrenkonfektion sei. „Oh, prima!“ Der Kollege schien jetzt richtig begeistert zu sein. „Da seh ich schon die Schlagzeilen! Gratuliere, Kollege!“ Kommissar Meiselbach hatte Magenschmerzen, und er überlegte, woher die wohl kommen könnten. Da fiel ihm ein, daß er seit dem Frühstück nichts gegessen hatte. Jetzt war es gleich neun Uhr abends. Er schob seinen Schreibtischstuhl zurück, stand auf, legte das metallene Lineal quer über die Notizzettel, die er auf seinem Schreibtisch ausgebreitet hatte, und ging über die Straße in die Pizzeria, in der er und seine Kollegen öfter aßen. Er bestellte sich im Vorbeigehen an der Theke bei dem beflissen dienernden Italiener eine Salami-Pizza und ein Selterswasser. Dann nahm er in einer der Nischen Platz, die durch bastbespannte Wände voneinander getrennt waren. Es war nicht viel los im Lokal. Fünf oder sechs Leute saßen da, redeten oder aßen. Meiselbach kannte drei vom Sehen und den vierten, einen jungen Lehrer mit langen Haaren, persönlich. Es roch gut nach gebratenem Speck und Knoblauch und Rotwein. Auf dem Tisch, vor dem Meiselbach saß, lag eine knallrote Leinendecke. Sie warf jetzt, als der Kellner das Selterswasser brachte und die Kerze anzün132
dete, einen roten Reflex auf Meiselbachs Gesicht. Er sah mit einemmal jünger und frischer aus, als er in Wirklichkeit war. Es gab noch keine Spur von Voigt. Unbegreiflich, daß ein Mann mit so einem relativ auffälligen Auto voll Kleidung so spurlos verschwinden konnte. Die Fahndung lief. Auch die Grenzstationen nach Dänemark und Holland waren benachrichtigt. Alle Verkehrspolizisten und Streifen im weiten Umkreis hatten zweieinhalb, spätestens drei Stunden, nachdem Zylian gefunden worden war und Voigt sich durch seine überstürzte Abreise zum Hauptverdächtigen gemacht hatte, die Personenbeschreibung des Textilvertreters und das Kennzeichen seines Wagens gehabt. Aber bisher war nur eine einzige Meldung aus dem Harz eingegangen – und das war eine Fehlmeldung gewesen. Der Besitzer des dort aufgefallenen FordKombis voll Textilien hieß Wolf und schien auch entsprechend geknurrt und um sich gebissen zu haben, als die übereifrigen Polizeibeamten ihn festnehmen wollten. Natürlich hatte der Staatsanwalt, der zu allem Übel auch noch ein Parteifreund und Kegelbruder des toten Zylian war, bereits zweimal angerufen und Meiselbach nach dem Stand der Dinge gefragt. Meiselbach meditierte. Wie sagt man da? Er war ein Freund des Toten? Oder ist das falsch? Er war ja nicht der Freund eines Toten … Also muß es wohl richtiger heißen: Er war mit ihm zu seinen Lebzeiten befreundet … Zu wessen Lebzeiten? Er war mit dem Toten zu seinen Lebzeiten … Nein. Aber wie? Der langhaarige Lehrer drei Tische weiter wußte das sicher, denn er unterrichtete Deutsch, wenn Meiselbach sich recht erinnerte – aber den konnte er ja nicht gut fragen. Niemand gibt gern zu, daß er in seiner Muttersprache unsicher ist. 133
Außerdem kam jetzt die Salami-Pizza mit einem Teller Salat. Sie duftete. Meiselbach mußte heftig schlucken, ehe er den ersten Bissen auf der Gabel hatte.
10 Fred Ströhlein saß mit rotem Kopf auf dem grünen Sofa im Wohnzimmer seiner Anderthalb-Zimmer-Wohnung und war blau. Er hatte die Tür zum Hausflur abgeschlossen, was er sonst oft vergaß, er hatte sogar noch eine Stuhllehne unter die Klinke geklemmt, damit ja niemand herein konnte. Vor ihm auf dem Tisch lagen die Geldscheine aus Zylians Kassette und Tageskasse. Als Ströhlein noch nüchtern gewesen war, hatte er das Geld gezählt. Es waren genau 37 585 DM. (Es waren eigentlich sogar 37 595 DM; ein 10-Mark-Schein war heruntergeflattert, als Ströhlein das Geld aus der Plastiktüte auf die Tischplatte gekippt hatte; den hatte er noch nicht entdeckt. Der Schein lag unter dem Schaukelstuhl, in dem Ströhlein sonst immer saß und das Fernseh-Programm genoß.) Heute hatte er nicht einmal die Sportschau angeschaltet. Er hatte gezählt. Seine Fingerkuppen waren schmutzig vom 10-, 20-, 50-, 100- und 500-MarkSchein-Zählen. Drei 5-Mark-Scheine waren auch dabei gewesen. Als er zu Ende gezählt hatte, war Ströhlein an den Wandschrank gegangen, um auf die 37 585 DM einen Schluck zu nehmen. Er bevorzugte bittersüße Liköre und hatte angesichts des ausgebreiteten Reichtums bereits eine halbe Flasche Curaçao geleert und sich, mit immer holprigeren Gedankensprüngen, ausgemalt, was er nun mit dem Vermögen anfangen wollte. Das waren fast drei 134
Jahresgehälter – eine Masse Geld. Blöd nur, daß keiner was davon merken durfte, daß er es nur peu à peu ausgeben durfte, damit ja kein Verdacht aufkam. Also konnte er sich den Porsche nicht kaufen, an den er zuerst gedacht hatte. Einen weißen Porsche! Auch die Reise ging nicht. Eine zweimonatige Weltreise – oder gar dreimonatige – mit Flugzeug und Schiff … um die ganze Welt … Natürlich um die Welt; das ist ja bei Weltreisen immer so. Erster Klasse … Einen weißen Smoking würde er sich noch kaufen müssen … Aber stopp, das ging ja alles nicht. Verdammte Scheiße – was sollte er mit dem Geld anfangen? Auf die Bank und zu höchstem Zinssatz … oder Ko… Kolu… Komunalogl… oblit… Schweres Wort! – Nicht in Neustadt natürlich. Wenn dann im Käseblatt stand, daß Zylian um 37 000 Mark beraubt worden war und er, Fred Ströhlein, zahlte am gleichen Tag bei der Stadtsparkasse 37 000 Mark ein … Er, der erste Verkäufer von Zylian … haha! Aber die mußten ja das Bankgeheimnis … Oder? Oder war das nur beim Beichtgeheimnis so? Schön … der Küsa-Süra – Kürasao … Vorsicht, nicht kleckern! Keine kre… ble… blek… klebrigen Tropfen auf das Geld! Also was, zum Teufel, und vor allem wohin mit den Kohlen? Er konnte es ja doch wohl nicht drei Jahre in die Matratze stopfen … Auf eine Schweizer Bank? Schweiz … Und dann in drei Jahren den Porsche oder die Weltschiffs… Schiffswelt… die Reise … Drei Jahre! Müssen denn die Schei… Schweiß… Scheißschweizer Banken auch das Beichtgeheimnis … Oder? Bei Mord auch? Er war doch eigentlich der Mörder von Otto Zylian, nicht wahr? Er, Fred Ströhlein … Jawohl! Er hatte den alten Idioten umgebracht … Und die Kohlen eingesackt, haha! 37 000. So ’ne Masse! Aber er war ein Mörder … Ein Mörder. Ströhlein fing an zu weinen. Das halbvolle Glas in 135
seiner Hand kippte, und der Curaçao lief ihm auf die Hose. Er lehnte sich weinend zurück und schlief ein … „Ja, ich glaube schon, daß wir da jemand finden“, sagte Axel, der rotbärtige Wirt der Hühner-Leiter, zu Ernst Voigt. „Es wird nicht ganz einfach sein, denn Autos sind schwerer zu verscheuern als Schnaps oder Zigaretten – von Hasch und härteren Sachen wollen wir gar nicht reden, aber die fasse ich sowieso nicht an. Du mußt deine Erwartungen aber nicht zu hoch schrauben, verstehst du?“ Er duzte Voigt, seit er wußte, daß der mit seiner Hilfe ein illegales Geschäft machen wollte. Voigt hatte eine Weile gebraucht, bis er sich daran gewöhnt hatte, von einem Fremden einfach so geduzt zu werden. Es fiel ihm auch jetzt, nach zweistündiger Bekanntschaft, noch schwer, den Mann mit du anzureden. Er redete immer drum herum, sagte „wir könnten“ oder „man müßte“ oder so. Das Lokal war inzwischen mal gut besetzt gewesen, eine Gruppe britische Touristen hatte – auf der Suche nach Unterwelt-Abenteuer (was immer sie darunter verstehen mochten) – Bier und Aquavit getrunken und die enge Gaststube mit dem süßlichen Qualm ihrer Players und Craven A vollgeraucht. Wie auf ein geheimes Signal waren dann fünf Mädchen gekommen – Mädchen aus der gleichen Branche wie die zwei kichernden vorhin – und hatten die Briten zu einer Runde Schnaps und Likör animiert und dann irgendwohin abgeschleppt, wo man tanzen konnte. Darauf war es dreißig Minuten lang leer und still gewesen, und Axel hatte sich zu Voigt gesetzt, so ganz en passant eine Flasche Rotwein mit ihm ausgetrunken und gleich du zu ihm gesagt, als er gehört hatte, was Voigt wollte. Danach war wieder eine Weile allerhand losgewesen. Ein Pärchen hatte in der Ecke gesessen und erst geschmust und sich dann lautstark gezankt, bis Axel, der 136
Rotbart, dazwischengegangen war. Drei Männer mit verschlossenen, dunklen Gesichtern und schwarzen Locken hatten, an der Theke stehend, Bier getrunken und sich halblaut in einer Sprache unterhalten, die überwiegend aus Zischlauten zu bestehen schien. Ein älterer, sehr gut gekleideter Herr hatte mit zwei auffallend und teuer angezogenen Damen eine knappe Stunde lang am Nebentisch Platz genommen und seine Brillantringe glitzern lassen. Und ein paar Einzelgänger, Männer und Frauen unterschiedlicher Herkunft und Farbigkeit, waren gekommen und gegangen, so daß es in der Hühner-Leiter wie im Taubenschlag zuging. Aber jetzt war es, wie gesagt, ganz ruhig. Voigt saß mit dem Rotbart allein am Tisch. Die zweite Flasche Rotwein war schon zur Hälfte leer. Nur im äußersten Winkel der Wirtsstube hockte noch ein Mann über einem Glas Wein, hatte den Kopf in die Hände gestützt und dachte wahrscheinlich über die Gesetze des Weltalls, den Sinn des Lebens oder die Aussichten seines Fußballvereins nach. „Ich werde gleich mal ’n bißchen rumtelefonieren“, sagte Axel. „Sag mal, wie heißt du eigentlich?“ „Voigt“, sagte Voigt. „Ernst mit Vornamen!“ Es war nicht zu vermeiden, daß er dem Rotbart seinen richtigen Namen nannte, denn er würde ihn ohnehin erfahren, wenn er mit ihm über seinen Paß sprach, der auch geändert werden mußte. Es war unterdessen elf Uhr. Eine Stunde vor Mitternacht. Voigt war müde. Kurz nach zehn hatte er daran gedacht, daß er eigentlich Trudchen zu Hause anrufen müsse, aber er hatte sich dann überlegt, daß möglicher-, ja wahrscheinlicherweise – vorausgesetzt, sie fahndeten überhaupt nach ihm, aber das war wohl anzunehmen –, daß also sein Telefon überwacht wurde. Er wußte nicht, wie so etwas funktioniert: ob die Überwacher feststellen konnten, woher der Anruf kam, 137
wie schnell sie das gegebenenfalls feststellen konnten – alles das wußte Voigt nicht. Der Hønsestigen-Wirt wußte es auch nicht – wer weiß das schon. Deshalb unterließ Voigt den Anruf. Trudchen würde ziemlich verzweifelt sein, aber das war nicht zu ändern, wenn er sich nicht gefährden wollte. Hoffentlich fraß ihr Vogel wieder und war nicht eingegangen – sonst war Trudchen vermutlich völlig am Ende ihrer Kräfte: der Mann verschwunden und unter Raubmord-Verdacht – entsetzlich. Aber dazu noch ein toter Wellensittich … Nicht auszudenken! Axel Rotbart brachte dem einsamen Mann ein neues Glas Wein und ging danach in den Raum hinter der Theke, um zu telefonieren. Er kam schon nach fünf Minuten zurück in die Gaststube. „Da ist einer, der interessiert sich für deine Sache“, sagte er. „Komm und red mal selber mit ihm. Mußt aber langsam sprechen. Er kann nicht sehr gut Deutsch. Wenn ihr nicht klarkommt miteinander, ruf mich, dann mach ich den Dolmetscher.“ Voigt ging in das Hinterzimmer, das sich als eine kleine, gemütliche Wohnküche entpuppte. Da stand ein altes Ledersofa, ein derber Tisch und ein Ohrensessel mit geblümtem Bezug. Auf dem Elektroherd summte ein Wasserkessel. Über dem Tisch hing eine Zuglampe mit Stoffschirm, der das gleiche Blumenmuster hatte wie der Ohrensessel. Voigt setzte sich auf die Sesselkante und nahm den Hörer. „Hallo!“ sagte er. „Hier Voigt, Guten Abend!“ Der Mann, dessen leise, verblüffend weiche Stimme ihm ins Ohr drang, sagte auch „Guten Abend!“ und nannte seinen Namen. Aber Voigt konnte nicht verstehen, ob er Janssen oder Hansen oder Johansen gesagt hatte. Er mochte auch nicht nachfragen, denn der Mann hatte ohnedies deutlich hörbare Schwierigkeiten, ihn zu verstehen. Das Telefongespräch hinkte und stolperte 138
minutenlang dahin, bis Voigt verstand, der Hansen oder Janssen wolle den Wagen am liebsten noch in dieser Nacht sehen. Jetzt fing es an, schwierig zu werden, weil HansenJanssen den Treffpunkt beschrieb und Voigt kein Wort mehr mitkriegte, da er die Orts- und Straßennamen nicht verstehen konnte. „Augenblick mal!“ rief er in den Apparat. „Moment, Herr Hansen! Wait a moment, please !“ Er legte den Hörer auf die Tischplatte und ging in die Gaststube, um Rotbart zu Hilfe zu holen. Der schenkte gerade zwei Frauen Weißwein ein. Die beiden trugen weiche schwarze Nappa-Lederjacken. Die eine hatte einen lachsroten, die andere eine chromoxydgrünen Seidenschal um den Hals. Beide waren in den Vierzigern. Beide hatten kurzgeschnittenes Haar, das bei der Rotbeschalten lackschwarz, bei der Grünbeschalten stahlgrau war. Sie trugen die gleichen großen, kreisrunden Hornbrillen, so daß ihre Gesichter etwas Eulenhaftes hatten, was bei der Rotbeschalten durch eine große scharfe Hakennase noch verstärkt wurde. Die mit den stahlgrauen Haaren hatte ihren Arm um die Schulter der Hakennasigen gelegt und redete mit einer merkwürdig dunklen Stimme auf sie ein. Voigt sah, ohne es recht zu registrieren, daß die Frau das Handgelenk eines Handwerkers hatte. „Können Sie … äh, kannst du mal kommen?“ sagte Voigt zum Wirt. „Wir … Das heißt, ich … Also da gibt’s Schwierigkeiten. Ich verstehe den Herrn Hansen nicht. Er will, daß ich irgendwo hinkomme mit dem Wagen … Sag mal, könntest du da nicht vielleicht überhaupt mitkommen? Wann machst du denn hier deinen Laden zu? Ich bezahle dir das auch. So allein bin ich wahrscheinlich ziemlich aufgeschmissen in der fremden Stadt und mit der fremden Sprache.“ „Mal sehn“, sagte Rotbart und ging, von Voigt gefolgt, ans Telefon. 139
11 Mitternacht. Trudchen Voigt hatte zwei Schlaftabletten genommen und schlief, die vom Weinen geröteten Augen fest geschlossen, den Vogelbauer mit Hansi auf einem Stuhl neben ihrem Bett; das Telefon in Reichweite. Ulf Beissel lag auf seiner Schlafcouch und las. Er war nicht mehr nach Holtkamp zur Königin des Striptease gefahren, weil er Bedenken bekommen hatte, ob er dem erhofften Abenteuer dann auch wirklich gewachsen sein würde. In letzter Zeit … Na ja. Er las einen Krimi und schlief darüber ein, ohne die Nachttischlampe auszuschalten. Kriminalkommissar Meiselbach tat etwas, das kein Mensch und erst recht kein Krimileser von einem Kommissar erwarten würde: Er machte seiner kranken Frau Wadenwickel. Sie hatte, als er gegen elf Uhr nach Hause gekommen war, mit fiebrigen Augen und rotem Gesicht vor dem Fernseher gesessen, auf ihn gewartet und über Kopf-, Hals- und Gliederschmerzen geklagt. Meiselbach hatte ihr das Fieberthermometer unter die Zunge gesteckt und erschrocken drei Minuten später 39,5 abgelesen. Daraufhin war er ans Telefon gestürzt, um den Arzt anzurufen, und dieser hatte ihm, nachdem er sich die Symptome hatte schildern lassen, Fliedertee, Aspirin und Wadenwickel empfohlen und gesagt, daß er kommen würde, wenn das Fieber nicht innerhalb von drei Stunden runterginge. Nun stand der Kommissar also vor dem Bett seiner Gemahlin, tränkte Tücher in kühlem Wasser, wickelte sie ihr um die Beine, legte Handtücher außen herum und steckte sie mit großen Sicherheitsnadeln fest. 140
„Ich bring dir gleich noch einen schönen Tee, Vera“, sagte er. „Und dann versuchst du ein bißchen zu schlafen, nicht wahr?“ „Ja“, sagte sie matt. „Das ist lieb von dir. Aber mach ihn bitte nicht zu süß, ja!“ Fred Ströhlein fuhr aus dem Likör-Tiefschlaf und hatte das Gefühl, Sand in den Augen, Schmirgelpapier auf der Zunge und einen viel zu großen Kopf zu haben. Er sah das Geld vor sich auf dem Tisch, brauchte fünf Sekunden, um sich klarzuwerden, woher es kam, begann zu frieren, stopfte die Scheine in den Plastikbeutel, in dem er es auch hierher transportiert hatte, und schob ihn unter ein Sofakissen. Seine Finger waren dreckig und klebrig. Er ging mit weichen Knien in das Badezimmer, wusch sich und legte sich ins Bett, nachdem er die likörverschmierte Hose über den Badewannenrand gehängt hatte. Heute abend – nein, heute nacht – wollte er den Curaçao-Fleck nicht mehr zu entfernen versuchen. Er konnte nicht einschlafen, weil ihm der röchelnde Zylian nicht aus dem Sinn ging. Er machte das Licht wieder an, stand auf, um Wasser zu trinken, legte sich wieder hin, wälzte sich und hörte die Kirchturmuhr alle Viertelstunde schlagen – noch lange, lange nach ein Uhr früh. Auch Frau Zylian lag noch lange wach. Das Schlafzimmer der Zylians befand sich direkt über dem Eingang zum Geschäft. Rotes Neonlicht vom Schriftzug Textilhaus Zylian schien herein. Es war so hell, daß sie hätte lesen können, aber sie mochte die Rollos nicht herunterlassen, weil die Dunkelheit sie noch ratloser und ängstlicher machte. Neben ihr im Bett ihres Mannes schlief Annelies, tief und gleichmäßig atmend. Das Mädchen war auf den Ge141
danken gekommen, diese Nacht bei der Mutter zu bleiben, und Frau Zylian hatte das dankbar angenommen. Die Vorstellung, daß ihr Mann jetzt kalt und leblos auf einer Bahre oder einem Obduktionstisch lag, machte ihr sehr zu schaffen, obschon sie gleichzeitig ein seltsames, nicht zu unterdrückendes Gefühl von Befreiung hatte, dessen sie sich jedoch schämte. Otto Zylian hatte 24 Jahre lang neben ihr geschlafen. Im nächsten März wäre silberne Hochzeit gewesen … Sie würde eine Weile brauchen, um, sich allein zurecht zu finden, denn sie hatte ja keine Übung darin, Entscheidungen zu fällen, außer solchen, ob es zum Schweinebraten Kartoffelpüree oder Salzkartoffeln geben sollte. Sie fürchtete sich nicht und wunderte sich, wie wenig Trauer sie empfand. Wahrscheinlich war es das, was sie wach hielt: das Staunen darüber, daß alles weiterging, daß die Uhren weitertickten, daß draußen in der Fußgängerstraße Leute liefen, daß irgendwo ein Motor brummte, daß die Kirchturmuhr schlug. Ernst Voigt saß immer noch an seinem Tisch in der Bar Hønsestigen und wartete darauf, daß der rotbärtige Wirt Feierabend machen würde, um mit ihm, wie er es zugesagt hatte, zu Hansen-Janssen (oder so ähnlich) zu fahren. Voigt trank Kaffee, und das brachte ihn über die bleierne Müdigkeit hinweg, die wie ein schwerer Mantel auf seinen Schultern gelegen hatte. Die Bar hatte eine Reihe wechselnder Gäste gehabt, skurrile und abenteuerliche Gestalten darunter: ein Inder, der einen weißen Turban trug und alle Finger voll Ringe hatte, eine Gruppe – zwei Männer und eine Frau –, die sehr aufgekratzt und laut war; Theaterleute, schätzte Voigt. Eine halbe Stunde hatte an seinem Tisch ein sehr korrekt aussehender und gutgekleideter Herr Platz genommen, der ein riesengroßes Glas Selterswasser trank und dazu zwei Scheiben trockenes Brot aß. Er hatte ihm 142
in stolperigem Deutsch erzählt, daß er nur eine Leidenschaft habe, und das sei das Radfahren. Bei der Schilderung seiner drei Rennräder war der merkwürdige Mensch ins Schwärmen gekommen, als spräche er von geliebten Frauen, und bei seinem Bericht über die Strecken und Entfernungen, die er an jedem Wochenende, bei jedem Wetter strampelnd zurücklegte, hatte sein glattes Durchschnittsgesicht aufgeleuchtet wie das Gesicht eines betenden Mönchs oder das eines Halbstarken vor bunten Porno-Fotos. Nach halb eins, als Voigt schon zu hoffen begonnen hatte, daß nun das Lokal leer bleiben würde, war noch mal ein Andrang von Leuten losgegangen. Das waren die Kino-Spätvorstellungsbesucher, die sich – je nach dem Film, den sie gesehen hatten – entweder als Wildwesthelden und Saloon-Miezen oder als Herzensbrecher und Vamps gebärdeten, bis der erste Schluck Bier, Wein oder Cola sie wieder auf den Boden ihrer Wirklichkeit zurückbrachte. Voigt bewunderte den Wirt. Der rothaarige Hüne schmiß den ganzen Laden allein. Er schenkte Bier, Wein, Cola aus, brachte Kaffee, bestrich Brote, servierte Suppen – alles ohne Aufregung, alles mit der Ruhe und mit einem Lächeln, bei dem seine weißen Zähne in dem fuchsroten Bart blitzten. Um halb zwei schließlich komplimentierte er den letzten Gast – den tiefsinnigen, schweigsamen Mann, der vier Stunden und acht Schoppen Wein lang in der Ecke gesessen hatte – höflich, aber bestimmt hinaus, schloß hinter ihm die Tür ab, rollte die aufgekrempelten weißen Hemdsärmel herunter, band die blaue Schürze ab, die er die ganze Zeit getragen hatte, zog eine nicht mehr allzu neue und nicht mehr ganz saubere Kordsamtjacke an und sagte: „So, Voigt, komm! Sauber mach ich morgen!“ Er schaltete noch den Herd, den Kassettenrecorder und alle Lichter aus, löschte die Kerzen und verließ mit 143
Voigt die Bar. Sie liefen zum Parkplatz, ohne unterwegs zu reden. Es regnete wieder. Der Wind hatte aufgefrischt und blies ihnen direkt von vorn scharf in die Gesichter. Die Straßen waren still. Ein leerer Bus ratterte an ihnen vorüber. Irgendwo weit weg tutete etwas, das wie ein Nebelhorn klang. „Schönes Auto!“ sagte Rotbart anerkennend, als sie vor Voigts Wagen standen. „Und noch keine tausend Kilometer gefahren.“ Voigt schloß auf, stieg ein, öffnete für Axel die Beifahrertür, nahm die paar Sachen vom Nebensitz – Handschuhe, eine Straßenkarte, Zigaretten – und verstaute sie im Handschuhfach. „Steig ein“, sagte er und ließ den Motor an. Der Wirt saß, drehte sich um und musterte die Anzüge und Jacketts, die hinter ihm auf der Stange hingen. Es war nicht viel zu sehen, aber er sagte: „Ganz ordentliche Klamotten, wie? Vielleicht ist da für mich ’ne Jacke dabei, was?“ „Aber sicher, das müssen wir nachher mal probieren.“ Voigt setzte das Auto zurück. „Du mußt mich lotsen.“ „Klar … Erste links!“ Der Wirt dirigierte Voigt nach Westen. Sie kamen an dem großen Gebäudekomplex der Carlsberg-Brauerei vorüber, bogen gleich dahinter nach Süden ab, fuhren an einem großen Friedhof entlang und hatten kurze Zeit später, nach knapp fünfzehn Minuten Fahrt durch die regennassen, menschenleeren Straßen eine Sackgasse im Stadtteil Vigerslev erreicht, in der sich eine Anzahl kleiner und mittlerer Industriebetriebe befand: eine Druckerei, eine pharmazeutische Fabrik, eins, zwei, drei Autoschlossereien, irgendwelche Lagerhäuser, eine Kaffeerösterei und andere. Die Straße war nicht sehr breit. Überall war es dunkel; nur zwei Fenster waren erleuchtet, und in einem der Höfe brannte eine Bogenlampe. 144
„Hier!“ sagte Rotbart. „Rechts ’ran … Da, das graue Schiebetor! Warte, ich steige aus und klingle!“ Voigt hielt an und schaltete das Standlicht ein. Rotbart drückte eine Klingel neben dem Tor. Hinter der Mauer wurde es hell. Das Tor öffnete sich. Rotbart winkte Voigt hineinzufahren. Voigt schob den plötzlichen Gedanken an Gefahr beiseite und fuhr durch das Tor. Im kalten Licht einer bläulichen Bogenlampe stand ein kleiner, gedrungener Mann. Der hatte eine Glatze, die in diesem Licht unnatürlich weiß wirkte. Er zeigte auf die offene Einfahrt zu einer Werkstatt. Voigt sah im Rückspiegel, ehe er den Wagen dort hineinsteuerte, daß sich hinter ihm das Schiebetor wieder schloß. Die Werkstatt war ziemlich groß. Sauerstoffflaschen standen da, Schweißgeräte, eine Drehbank, zwei Flaschenzüge – und an der dunklen, hinteren Wand konnte Voigt die Reste eines Autos erkennen, das ganz auseinandergenommen worden war. Voigt stieg aus. Im gleichen Augenblick wurde helles Licht eingeschaltet. Der kleine Mann kam mit dem Wirt auf ihn zu. „Guten Morgen!“ sagte er. Seine Glatze war auch bei dem hellen Licht deutlich weißer als sein Gesicht. Wahrscheinlich trug er sonst immer eine Mütze. „Guten Morgen“, sagte Voigt und wollte anfangen, das Auto anzupreisen. Aber Axel Rotbart winkte ihm, still zu sein. Der Kleine lief einmal langsam um den Wagen herum. Er sagte nichts. Sein Gesicht zeigte keine Regung, Er setzte sich jetzt hinter das Lenkrad, ließ den Motor an, entriegelte die Motorhaube, stieg aus, klappte die Haube auf und beugte sich über den laufenden Motor. Er legte lauschend den Kopf schief, blieb minutenlang so stehen, gebückt lauschend, fast andächtig, mit geschlossenen Augen. Dann richtete er sich auf, ließ die Motorhaube zufallen, stellte die Maschine ab, ging noch ein145
mal herum und sagte dann mit einer plötzlichen Wendung zu Voigt: „Dokumente?“ Voigt nahm den Kfz-Schein aus der Brieftasche und gab ihn dem Mann. Er nickte, sah Rotbart an, zeigte auf die Schramme am rechten vorderen Kotflügel, zuckte die Achseln und spitzte die Lippen, als ob er pfeifen wolle. Dann sagte er etwas zu dem Wirt. „Er bietet dir 18 000 Kronen“, sagte der Wirt. „Wieviel ist das etwa?“ fragte Voigt. „Knapp 7 500 Mark“, sagte der Wirt. „Da muß ich aber lachen!“ sagte Voigt, obschon ihm gar nicht zum Lachen war. „Das Auto ist so gut wie neu. Die Schramme am Kotflügel ist eine Kleinigkeit. Der Wagen kostet in Deutschland über 14 000 Mark und hier bei euch bestimmt fast 30 000 Kronen. Sag ihm, daß ich über 20 000 Kronen haben muß!“ „Da wird er aber lachen“, sagte der Wirt. Und der untersetzte Glatzköpfige lachte auch schon, denn er hatte Voigt gut verstanden. „Ich müß machen lassen neue Dokumente, auch neue Fahrgestellnummer und Motornummer. Ich müß verkaufen und ich müß haben die ganze Risiko – nein, nicht mehr als 20 000 Kronen!“ „Fünfundzwanzig“, sagte Voigt. Der Kleine redete nun schnell auf den Wirt ein. Der erwiderte etwas auf dänisch. Voigt ließ den Blick von einem zum andern wandern. Wenn er es genau nahm und richtig überlegte, hatte er keine große Chance. Sie konnten ihm eins über den Kopf hauen und ihn bewußtlos irgendwo auf die Straße oder in einen Park schmeißen. Er konnte sie nicht anzeigen und auch sonst nicht zur Rechenschaft ziehen … Aber er konnte auch pokern und erklären, daß er das Auto dann lieber behalten würde. Es wunderte ihn, daß weder der kleine Glatzkopf noch der große Rotbart mit einem Wort nach dem Grund sei146
nes dunklen Geschäfts gefragt hatten. Das schien keinen der beiden zu interessieren … Sie redeten immer noch. Dann sagte der Wirt: „Er will dir 22 000 Kronen geben. Das sind mehr als 9 000 Mark … Finde ich nicht schlecht, überleg mal.“ „Dann muß ich noch 5 000 Kronen für die Anzüge, Sakkos und Hosen haben“, sagte Voigt. „Das sind ungefähr achtzig Stück. Fast geschenkt für das Geld. Beste Ware. Modernster Schnitt. Aktuelle Designs. Die Kollektion für das nächste Frühjahr.“ Voigt kam unversehens in sein Verkaufsgespräch für schwierige Kunden. Er redete sich zur Verblüffung der beiden Männer in eine fast hysterische Begeisterung. Er klappte die Rückwand des Kombiwagens auf und nahm einen Sakko vom Ständer, zog die Plastikhülle ab und rief: „Das hier, zum Beispiel! Ein Sakko der Spitzenklasse aus unserer neuen Produktion. Senator heißt das Modell. Da sehen Sie das elegante, einreihige Styling, das die Savile Road kreiert hat, mit den verdeckten Taschen und der smarten Taillierung, die zur neuen Linie gehört. Das Material ist reine Schurwolle … das Futter …“ „Nun stopp dich mal, Voigt!“ sagte der Wirt. Voigt fuhr zusammen. „Pardon“, murmelte er und hängte das Kleidungsstück verwirrt zurück ins Auto. „Aber es sind achtzig fabrikneue Stücke“, sagte er leise. „Hosen, Sakkos, Anzüge … Wirklich erstklassige Ware! Wenn ich dafür nur 5 000 Kronen kriege, kostet das Stück … ich bitte euch, das ist doch wirklich geschenkt! Ist das kein Geschäft? Ich müßte mir allerdings zwei Hosen, ein Sakko und zwei Anzüge für mich selber noch raussuchen – die brauche ich.“ Der Wirt grinste und redete wieder mit dem Untersetzten, der zuerst mit gerunzelter Stirn den Kopf schüttelte, dann nachdenklich nickte und schließlich sagte: „Okay – mit die ganze Kleidern!“ 147
Die Zahl, die er nannte, konnte Voigt allerdings wieder nicht verstehen. „Wieviel?“ fragte er. „24 500 Kronen“, sagte der Wirt. „Und eine Jacke für mich, wenn wir eine finden, die mir paßt, und ein paar Plünnen, die du dir raussuchen willst. Klar?“ „Gut!“ sagte Voigt nach kurzem Überlegen. „Einverstanden.“ Er reichte dem gedrungenen Dänen die Hand. Der sah ihn an. Zum erstenmal seit Voigts Kommen glitt so was wie ein Lächeln über sein mürrisches Gesicht. Das war wie ein Leuchtturmwischer über kabbeliger nächtlicher See und verschwand so schnell, wie es aufgeleuchtet hatte, stimmte Voigt aber eigenartig fröhlich und zuversichtlich. Er war jetzt so wach, als habe er gerade eine lange, ruhige Nacht hindurch fest geschlafen. Es ging auf drei Uhr. Der kleine Glatzkopf sagte: „Du mußt warten swei Minute. Ich hole die Geld!“ – und lief auf den Hof. Voigt fröstelte. Er hätte gerne eine Zigarette geraucht, wagte es aber nicht, weil an der Stirnwand der Werkstatt ein großes Plakat mit einer durchkreuzten Flamme hing. Rotbart lehnte sich an die Drehbank. Er sah müde aus. „Wollen wir mal nachschauen, ob wir einen Sakko für dich finden?“ fragte Voigt. „Okay“, sagte der Wirt. Voigt klappte sein Gestell auf und steckte die Stangen in den Rahmen mit den kleinen Rädern. Dann holte er die Sakkos aus dem Auto und hängte sie daran auf. „In Kord hab ich leider nur zwei dabei“, sagte er. „Den moosgrünen hier – aber der ist zu klein für dich. Und der Sandfarbene … Das ist eine Sechsundfünfzig, den kannst du mal probieren, aber ich fürchte …“ Rotbart war näher getreten, hatte seine Jacke ausgezogen und über die offene Autotür gelegt. Er zog die Kordjacke an. Sie war im Rücken zu eng. 148
„Schade“, sagte er. „Die ist schön!“ „Probier mal diese hier …“ Voigt nahm einen stahlblauen Tweedsakko vom Bügel. „Das ist eine Übergröße. Harris-Tweed. Reine Wolle! Trägt sich wunderbar!“ Der Sakko paßte gut. Voigt ging um Rotbart herum, zupfte hier, strich dort eine Falte glatt, nickte. „Sitzt wie nach Maß“, sagte er. „Und steht dir hervorragend. Auch die Farbe!“ „Hmhm“, machte Rotbart und sah an sich herab. „Einen Spiegel müßte man haben. Aber die Jacke gefällt mir … Okay, Voigt. Danke!“ „Keine Ursache“, sagte Voigt. „Ich habe dir zu danken!“ Rotbart grinste und schüttelte den Kopf. „Mir hat auch mal einer aus der Scheiße geholfen“, sagte er. „Und wahrscheinlich war meine Scheiße viel dicker als deine.“ Er zog den Sakko vorsichtig wieder aus, hängte ihn sorgfältig über den Bügel und zog seine zerknautschte Jacke an. Voigt suchte sich aus der Kollektion einen dunkelblauen Blazer aus, eine hellgraue Flanellhose und eine Strapazierhose aus Gabardine, einen Glencheckanzug und einen braunen Kammgarnanzug mit Weste im Nadelstreifen-Dessin. Ist ja ziemlich seltsam! dachte er; da mache ich einen 10 000-Mark-Handel mit einem, dessen Namen ich nicht mal erfahre … Aber es scheint ja gut zu gehen, und er streifte eine Hülle über Rotbarts Tweedjackett und packte auch die für sich ausgesuchten Stücke ein. Wenn er nur eine Zigarette rauchen könnte, verflixt noch mal … Wo blieb der Kerl eigentlich so lange? Da kam er schon. Unter dem Arm trug er einen Schuhkarton. Sein Gesicht war wieder so verschlossen und muffelig wie vorhin, bevor er gelächelt hatte. Wortlos gab er Voigt den Karton. Voigt hob den Deckel ab. Da lagen, mit Gummiringen gebündelt, gestapelt die Kronen-Scheine. 149
„Okay, danke …“ Voigt wußte nicht, ob er jetzt anfangen sollte, das Geld zu zählen, oder ob er es einfach so, ungezählt, in blindem Vertrauen auf die ehrliche Abwicklung des unehrlichen Geschäfts akzeptieren sollte. Der Glatzkopf nickte und hob die Hand zu einer Geste, die „Alles in Ordnung!“ sagte. Rotbart fragte ihn etwas auf dänisch. Er nickte noch einmal. „Wie kommen wir nun hier weg?“ fragte Voigt. „Das haben wir eben besprochen“, sagte Rotbart. „Er bringt uns, weil es nicht klug wäre, ein Taxi zu rufen … Wohin willst du?“ „In ein gutes Hotel“, sagte Voigt. „Ich müßte allerdings noch vorher irgendwoher einen Koffer haben.“ „Einen Koffer?“ fragte Rotbart verdutzt. „Ja, für die Sachen“, erklärte Voigt. „Ich kann ja nicht gut mit Hosen unterm Arm und einem Pappkarton voll Geldscheinen in eine Rezeption kommen.“ „Klar“, sagte Rotbart. „Ich pump dir einen von mir. Ich hab sogar einen ganz eleganten. Richtiges Schweinsleder, mit Beschlägen – aus der Zeit, als ich auf so was noch Wert legte. Dann soll uns der – äh“, er vermied es sichtlich, den Namen des Auto- und Kleiderkäufers zu nennen, „soll er uns zur Bar fahren. Und ich borg dir den Koffer und bring dich dann ins Angleterre oder Sheraton oder noch was Feineres, wenn wir noch was Feineres finden …“ Der Nachtportier des Hotels Royal in Kopenhagen war eigentlich nicht mehr darauf eingestellt, jetzt, halb vier Uhr früh, noch einen Gast aufzunehmen. Das war sonst die Zeit, in der er hinter dem Rezeptionstresen saß und mit offenen Augen schlief. Er war aber der Situation gewachsen. Ein Mann von schätzungsweise achtundfünfzig, der über vierzig Jahre seines Lebens im Hotelgewerbe gearbeitet hat, ist so leicht nicht zu erschüttern. 150
Er erhob sich also mit dem gelernten Lächeln der Branche, dem gleichen Lächeln, das Voigt auf sich bezogen sein „Untertanen-Lächeln“ nannte – der Portier konnte es nur eine Spur distanzierter –, und sagte zu dem späten Gast, den er sofort als Deutschen erkannt und, eingeordnet hatte, auf deutsch: „Womit kann ich dienen, der Herr?“ „Ein schönes, ruhiges Zimmer mit Bad und allem Komfort für zwei oder drei Nächte hätte ich gern“, sagte Voigt. Er stellte den schweren Schweinslederkoffer und seine Reisetasche ab und angelte aus seiner Jackentasche einen der 100-Kronen-Scheine. Er schob ihn dem Nachtportier auf den Tresen, ohne zunächst die Finger davon zu lassen. „Haben Sie noch was frei?“ „Ja, ich denke schon.“ Der Portier legte auf den Geldschein den Anmeldezettel. „Ruhig soll es sein. Vor allem ruhig“, sagte Voigt. „Haben Sie einen Wagen draußen?“ fragte der Nachtportier. „Nein“, sagte Voigt. „Ich bin mit … äh … mit dem Taxi gekommen!“ „Wenn Sie sich bitte eintragen wollen“, sagte der Portier. „Ich bedaure – wir haben keinen Pagen nachts zwischen zwölf und sechs Uhr morgens. Es wird auch immer schwieriger mit dem Personal. Ich muß Sie leider bitten, einen Augenblick zu warten, bis ich dem Hausdiener geklingelt habe, damit Ihr Gepäck …“ „Das trag ich schon selber“, sagte Voigt, füllte den Anmeldezettel aus: Emil Vobach schrieb er und gab als Beruf Ingenieur und des weiteren eine falsche Adresse in Hannover an. „Ich kann hier nicht weg“, sagte der Nachtportier. „Aber wenn Sie sich einen Moment – wirklich nur einen Moment – gedulden wollen, dann wird Ihr Gepäck …“ „Nein, nicht nötig!“ sagte Voigt, nahm den Zimmerschlüssel und ließ sich erklären, daß es im dritten Stock 151
sei und wie man dahin gelangt. Er ging, vom Portier begleitet, der ihm bis dahin doch noch den Koffer abnahm, zum Fahrstuhl. „Danke“, sagte er in der offenen Fahrstuhltür. „Ach, wie ist das, Herr Portier – noch etwas zu trinken gibt’s nicht, wie?“ „Die Bar hat leider seit drei Uhr geschlossen. Aber auf Ihrem Zimmer ist ein Kühlschrank, Herr Vobach“, sagte der Portier, und Voigt hatte einen Moment Schwierigkeiten, zu verstehen, daß er gemeint war. „Darin finden Sie eine Reihe verschiedener Getränke. Falls Sie aber sonst irgendwie … Bitte, rufen Sie mich an – die Eins wählen, bitte. Dann schicke ich Ihnen selbstverständlich alles, was ich besorgen kann …“ „Danke“, sagte Voigt noch einmal, ließ die Fahrstuhltür zugleiten und fuhr in die dritte Etage der feudalen Herberge, deren Teppiche im Foyer allein erheblich mehr kosteten, als er im Jahr verdiente. Er war immer noch hellwach – aber durch seine Wachheit blinzelte wachsende Müdigkeit wie Sterne durch aufreißende nächtliche Bewölkung. Das Zimmer war wirklich sehr schön. Es war eine Art Appartement mit einem Flur, dessen rechte Wand aus einem Mahagoni-Einbauschrank bestand und an dessen seidig glänzender tannengrüner Tapete drei alte Stiche mit Ansichten von Kopenhagen hingen. Links führte eine Tür zum Badezimmer, das, tannengrün gekachelt und mit so viel blitzenden Armaturen – Hähnen, Hebeln, Griffen und Schläuchen über Wanne und Dusche versehen war, daß Voigt fünf Minuten brauchte, um die Funktion der luxuriösen Technik zu ergründen. Auf einem gläsernen Bord über dem mächtigen (tannengrünen) Waschbecken stand eine Batterie edler Badesalze, Schaumbäder, Duftwasser, und an der Wand vor der Wanne hing ein zentimeterdickes Frotteelaken – 152
selbstverständlich ebenfalls tannengrün. Es war eine so verlockende Badezimmereinrichtung, daß Voigt den Wasserhebel über der Wanne in Bewegung setzte, der nicht einfach ein Hebel war, sondern ein silbriges Steuerrad, das sich mit sanftem Klickern bewegen ließ und in mildem, wohligem Rauschen Wasser in genau der Temperatur spendete, die man auf der silberroten Skala gewählt und eingestellt hatte. Voigt warf eine Handvoll lila Badesalz ins Wasser, und der aufsteigende Dampf duftete dezent nach Weihrauch und Weißnichtwas. Während das Wasser einlief, sah sich Voigt weiter um. Er wollte aus dem mahagoniverblendeten Kühlschrank im weiträumigen Wohn-Schlafraum eine Flasche Bier holen, hatte die Qual der Wahl zwischen tschechischem, deutschem, dänischem Bier und entschied sich für das dänische. Er trank, in einer Art Trotzreaktion gegen den Luxus und die Eleganz rundum, den wohltemperierten Gerstensaft direkt aus der Pulle, wobei er sich auszog und seine Sachen verstreut herumliegen ließ. Mit einem Seufzer kletterte er dann in die tannengrüne Wanne und streckte sich im wohlriechenden Wasser aus. Mit zunehmender Müdigkeit wuchs in ihm eine Welle von Wurstigkeit und Fatalismus. Zugleich durchzogen neue, fremde, reizvoll farbige Gefühle und Gedanken sein Hirn, vage noch, schwer deutbar. Er genoß sie neugierig, wie jemand die Wirkung einer neuen Droge beobachtet, die er zum erstenmal ausprobiert. Ein völlig neues Ernst-Voigt-Gefühl … Ich bin wer. Man nimmt Ernst ernst, haha … Einen abgetakelten Vertreter, den kann man rumschubsen; den Emil Vobach schubst keiner rum … Er war gespannt, ob die Euphorie den nächsten Tag überdauern würde. Als er aus dem Bad gestiegen war und in das riesige, herrlich flauschige Frotteelaken gehüllt, barfuß über die 153
tiefen Teppiche wanderte, begann es vor den Hotelfenstern hell zu werden. „Guten Morgen, Emil Vobach!“ sagte Voigt leise zu sich selbst. „Du bist ausgebrochen, mein Alter; ich bin gespannt, wie das weitergeht mit dir.“ Er mußte lächeln, ohne einen Grund dafür zu haben. Sein Lächeln erlosch aber gleich wieder. Er mußte plötzlich an Trudchen denken. Dann stand das Bild des stummen Zylian vor seinen Augen … Leb wohl, Euphorie. Und er flüchtete sich in das weite, einladende Bett, zog die leichte Daunendecke über den Kopf und schloß die Augen. Aber dann stand er noch einmal auf, lief nackt zu Rotbarts Koffer, hängte die Anzüge und Hosen säuberlich auf Bügeln in den Mahagonischrank und ordnete seine verstreuten Sachen. Er schob den Geldkarton unters Bett; dann rief er den Nachtportier an und sagte, daß er nur dann geweckt oder sonstwie gestört werden dürfe, wenn das Hotel in Flammen stünde … Danke. Gute Nacht! Danach rollte er sich in die Decke und stürzte in den Schlaf wie ein Anker in die See.
12 Frau Zylian saß auf dem Schreibtischstuhl ihres verstorbenen Gatten und besprach mit ihren beiden Töchtern – Christa, die ältere, war mit dem Nachtzug aus Marburg gekommen – den Text für die Todesanzeige und die Karten, die verschickt werden sollten. Christa saß auf einem zweiten Stuhl vor dem Wandschrank, in dem die Geldkassette gestanden hatte; Annelies hockte auf dem Fensterbrett. Ihr schwarzer Rock 154
war hochgerutscht und ließ eine große Strecke Schenkel frei. Das wirkte durch die Trauerschwärze des Stoffs noch frivoler, als es bei einem bunten Rock gewirkt hätte. „… auf der Höhe seines Schaffens – das kannst du nicht schreiben, Mama!“ sagte Christa Zylian. „Papa ist ja schließlich kein Musiker oder Maler oder Bildhauer oder so was gewesen!“ „Aber ich weiß keine andere Formulierung“, klagte Frau Zylian. „Und irgendwie muß doch auch rein, daß er sozusagen mitten aus dem Leben oder so …“ „Dann schreib doch ‚mitten aus einem erfolgreichen Leben‘ “, schlug Annelies vom Fensterbrett her vor. „Das klingt ganz gut, ja, und einen schönen Spruch müßte man haben“, überlegte Christa Zylian laut. „Papa hat ja immer ’ne Menge Sprüche drauf gehabt – aber da bin ich überfordert.“ „Haben wir nicht ein Buch mit so was?“ fragte Annelies. „Oder woher hat er die immer gewußt?“ „Euer Vater war eben ein belesener Mann mit einer humanistischen Bildung“, sagte Frau Zylian leise strafend, denn der Ton der Tochter ärgerte sie. „Aber er hat ja das Geschäft übernehmen müssen. Sonst wäre er sicher ein guter Rechtsanwalt oder Richter geworden, wie er es eigentlich ja auch wollte. Vielleicht“, sie schluchzte auf, „vielleicht würde er dann jetzt noch leben!“ „So sicher leben Richter heutzutage auch nicht, Mama“, sagte Christa. Es wurde an die Bürotür geklopft. „Ja, bitte!“ rief Frau Zylian. Die Wäscheverkäuferin kam herein. „Da draußen ist ein Herr Barthelsen …“ Sie gab Frau Zylian eine Visitenkarte. „Der will Sie unbedingt sprechen.“ „Haben Sie die Tür zur Straße nicht zugeschlossen?“ fragte Frau Zylian. „Doch. Aber der hat geklopft. Mit dem Ring gegen die 155
Glasscheibe hat er geklopft. Fred … äh, Herr Ströhlein wollte ihn ja nicht reinlassen. Aber das ist ein ganz Hartnäckiger. Ich sollte Ihnen seine Karte bringen, hat er gesagt und hat Herrn Ströhlein angefaucht, er ließe sich nicht wie ein Reisender abwimmeln.“ „Barthelsen?“ Frau Zylian las die Karte. „Kai Barthelsen, Hamburg … Ist das ein Vertreter?“ „Nein“, sagte die Verkäuferin. „Er kommt aus Hardenbusch.“ „Ach so – von den Barthelsens aus Hardenbusch!“ Frau Zylian war erleichtert. „Ja, dann, lassen Sie ihn mal ’rein.“ Die Verkäuferin ging; Frau Zylian wandte sich an ihre Töchter: „Der alte Barthelsen ist vorige Woche gestorben. Ende Siebzig. Ganz plötzlich, obwohl er immer kerngesund war. Papa hat noch was gesagt – rasch tritt der Tod den Menschen an oder so was …“ „Wär das nicht ’n Spruch für unsere Anzeige?“ warf Christa ein. „Nee, find ich doof!“ sagte Annelies. Kai Barthelsen trat in die Tür, klopfte mit seinem großen Aquamarinring leise an den Türrahmen und sagte: „Guten Tag!“ „Treten Sie näher, Herr Barthelsen“, forderte Frau Zylian ihn auf. Annelies hüpfte vom Fensterbrett. Barthelsen kam ins Büro, beugte sich zu einem angedeuteten Handkuß über Frau Zylians Hand, reichte Christa die Rechte und dann, über den Schreibtisch, auch Annelies. Dabei sprach er den drei schwarzgekleideten Frauen mit erwählten Worten sein Beileid aus. „Heute morgen habe ich es erfahren, gnädige Frau! Und da wir ja selbst vor vier Tagen … Sie wissen … Ihr Gatte hatte meiner Tante ein paar trostreiche Worte geschickt – Sie sind gestern angekommen. Und wenige Stunden später ist er selbst … Es ist wirklich unfaßbar!“ 156
Frau Zylian schluckte, Christa wandte sich ab, weil der junge Mann mit seinem Gerede in ihr eine unerklärliche Lachlust hervorrief, aber Annelies sah ihn mit großen Augen und offenen Lippen an. Er sah allerdings auch sehr gut aus: Der schwarze Anzug ließ ihn noch größer und schlanker erscheinen, das halblange Haar glänzte, und der ernste Zug in seinem markant geschnittenen Gesicht machte ihn männlich und verlieh ihm so was wie einen Beschützernimbus. „Das ist sehr freundlich von Ihnen“, sagte Frau Zylian. „Bitte, nehmen Sie doch Platz.“ Sie wies auf einen dritten Stuhl hin, der leer neben dem Aktenregal stand. „Ich würde Sie ja gern auffordern, mit uns oben in der Wohnung … Aber da wird gerade geputzt. Deshalb …“ „Ich will nicht stören, gnädige Frau“, sagte Kai Barthelsen, ließ sich mit Dank auf dem angebotenen Stuhl nieder – aber so, daß man merkte, es war nur ein vorübergehendes Hinsetzen. „Ich wollte Ihnen nur meine Hilfe anbieten. Da ich ohnehin hierbleibe, um das Geschäft meiner Tante zu führen, könnte ich Ihnen zur Seite stehen, bis Sie eine andere Lösung gefunden haben. Es ist keine große Mühe, denn ob man ein oder zwei gewissermaßen benachbarte Geschäfte leitet, ist nur eine Frage der rationellen Arbeitsweise. Den Geschäften kommt es bestimmt eher zugute, wenn sie in einer Hand sind, da man Einkauf, Werbung und Personalfragen sowie alle Abrechnungen ja vereinfachen … Aber was rede ich da, gnädige Frau! Dies ist nur ein Vorschlag. Meine Tante hat mir zugeredet; sie sagte, sie selbst wäre den Anforderungen allein auch nicht gewachsen …“ Barthelsen hatte zwar Frau Zylian angesprochen, aber seine Rede war an die Tochter Annelies gerichtet gewesen. Ein süßer Käfer, dachte er, während er redete; niedlich, hübsch gewachsen … Das wäre natürlich die ideale Kiste! Hier reinheiraten und Hardenbusch als Filiale auf dem Land mitlaufen lassen … 157
„Das finde ich wirklich außerordentlich liebenswürdig von Ihnen, Herr Barthelsen“, sagte Frau Zylian. „Wir haben uns tatsächlich schon Gedanken gemacht, wie es weitergehen soll, meine Töchter und ich. Daß ich allein das Geschäft nicht führen kann, ist klar. Lassen Sie uns darüber nachdenken; dann können wir vielleicht schon morgen oder übermorgen …“ „Ich will Sie nicht drängen“, sagte Barthelsen. „Ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung. Wann immer Sie wollen. Und ich versichere Ihnen, daß Sie es nicht bereuen würden, wenn wir uns einig werden. Aber der Gedanke, daß ein so renommiertes Unternehmen wie das Ihre womöglich in die Hände eines unsoliden Mannes oder eines Nichtskönners fallen könnte – oder von einem Konzern geschluckt werden könnte … Also, allein der Gedanke ist mir zuwider, gnädige Frau!“ „Mir auch, das können Sie mir glauben“, sagte Frau Zylian. Barthelsen erhob sich. Da die Bürotür bei seinem Kommen offengeblieben war, sah Ströhlein, der irgend etwas hatte fragen wollen, wie der schwarzgekleidete Schönling Frau Zylian die Hand küßte und sich mit Händedruck und Verneigung von den Töchtern verabschiedete. Er sah auch, wie Annelies Zylian den Fremden anhimmelte. Ströhlein kniff die Lippen zusammen und wollte sich bereits verziehen, da entdeckte ihn Frau Zylian. „Ach, Herr Ströhlein – gut, daß Sie gerade kommen … Darf ich bekannt machen? Dies ist Herr Ströhlein, unser Verkäufer; dies ist Herr Barthelsen aus Hardenbusch. Wenn Herr Barthelsen mal wieder vor der verschlossenen Tür stehen sollte …“ Sie lächelte dem großen Schlanken zu; der lächelte beflissen zurück. „… dann lassen Sie ihn jederzeit sofort herein, Herr Ströhlein. Herr Barthelsen ist nämlich wirklich kein Rei158
sender – aber das hätten Sie eigentlich selbst erkennen müssen, wie?“ Bei Ströhlein riß der Film. Es mochte der Likörkater sein, die miserabel verbrachte Nacht, das schlechte Gewissen, das Gefühl, wie eine Fußmatte behandelt zu werden, die Blicke des Mädchens Annelies, das herablassende Gehabe des attraktiven Fremden, daß Ströhlein sagte: „Woran hätte ich das denn erkennen sollen, Frau Zylian? An der Visage? Schnürsenkel-Hausierer sehen auch so aus!“ Fünf Sekunden herrschte totale Stille im Büro des toten Otto Zylian. „Aber … aber …“, stotterte Christa erschrocken. Annelies zwinkerte und schüttelte sprachlos den Kopf. Barthelsen war rot geworden und biß sich auf die Lippen. „Das ist ein ziemlich starkes Stück!“ sagte er leise, und man merkte, daß er sich mühsam beherrschte. Ströhlein sah plötzlich sehr blaß aus, grinste aber frech. Frau Zylian stand auf. Sie klopfte schnell und leise mit ihrem Ehering an die Schreibtischkante, sah Ströhlein mit großen Augen an, kniff dann die Lider zusammen und sagte: „Packen Sie Ihre Siebensachen, Herr Ströhlein! Sie sind entlassen!“ Voigt war wach. Er hatte eine Minute oder noch länger gebraucht, um sich zurechtzufinden. Seine Uhr war stehengeblieben. Er griff zum Telefon und hob ab. „Rezeption“, schnarrte eine Leutnantsstimme in sein Ohr. „Hier Voi… äh, Vobach“, sagte Voigt und war erschrocken über seinen Beinah-Versprecher. „Wie spät ist es, bitte?“ „Neun Uhr fünfundvierzig“, sagte die Leutnantsstimme. „Danke“, sagte Voigt. „Krieg ich wohl ein Frühstück aufs Zimmer?“ „Ja, bitte. Was wünschen Sie?“ 159
„Zwei Eier im Glas, Schwarzbrot, Tee mit Zitrone, Wurst, Käse, Orangenkonfitüre, Butter – viel Butter … In einer Viertelstunde – geht das?“ „Sehr wohl, mein Herr!“ sagte die Stimme. „Wird serviert!“ „Danke.“ Voigt legte auf. Er hatte das Gefühl, sich erfolgreich als Herrenmensch betätigt zu haben, und das befriedigte ihn. Er beugte sich aus dem Bett und zog den Schuhkarton hervor. Ein leichter Schwindel kreiselte in seinem Kopf. Er richtete sich schnell auf und kniff die Augen zu. Das kam sicher vom leeren Magen. Er stand auf, nahm seine Sachen mit in das tannengrüne Badezimmer, duschte schnell heiß-kalt-heiß-kalt, rasierte sich und war gerade dabei, sein Hemd zuzuknöpfen, als an die Tür geklopft wurde und eine Frauenstimme draußen rief: „Your breakfast … Euer Frühstück, Herr!“ „Herein!“ rief er zurück. Aber dann mußte er erst die Tür von innen entriegeln, ehe das Zimmermädchen eintreten konnte. Es war ein molliges, dunkelhaariges Mädchen, das geschickt das große Tablett hereinbalancierte und auf die Couchtischkante schob. Dabei war der Schuhkarton im Wege. Voigt sprang mit zwei großen Schritten erschrocken zum Tisch und nahm den Karton an sich. Wenn der jetzt runtergefallen und aufgeklappt wäre … Das Mädchen guckte ihn erstaunt an, weil er den Karton so besorgt mit beiden Händen an die Brust drückte und ein so erschrockenes Gesicht machte. Voigt setzte ein gequältes Lächeln auf und lief mit seinem Schuhkarton ins Badezimmer, während das Mädchen den Tisch deckte. Er nahm einen 50-Kronen-Schein aus dem Karton, ging zurück und gab ihn dem molligen Mädchen, als es „Gute Appetit, Herr!“ sagte. „Oh!“ sagte das Mädchen, machte einen Knicks und verschwand. 160
Voigt frühstückte. Das Frühstück war gut und schmeckte ihm, und plötzlich, als er in das Blätterteiggebäck Butter und Orangenkonfitüre schmierte, fiel ihm Ida Grobleben ein. Daß er daran nicht früher gedacht hatte! Er trank seinen Tee aus, zog den neuen Blazer an, beschloß, sich zwei, drei hübsche Krawatten zu kaufen – vielleicht sogar eine Fliege? – und steckte 3 000 Kronen in die Brieftasche. Dann verstaute er den Schuhkarton mit dem restlichen Geld in Rotbarts Koffer, schloß den Koffer ab und verließ das Zimmer. Er trat auf die belebte Straße vor dem Hotel Royal und merkte erst jetzt, daß die Sonne von einem wolkenlosen Spätsommerhimmel strahlte. Jetzt gleich würde er Ida Grobleben anrufen … Nein: Erst wollte er sich eine Zeitung kaufen. Er lief die paar hundert Schritte zum Bahnhof, kaufte sich die vier deutschen Tageszeitungen, die es am Kiosk in der Halle gab, und setzte sich in das Restaurant, in dem ihn gestern abend der kaputt aussehende Kellner bedient und mit der Adresse des Wirtes Axel versorgt hatte. Der Kellner von gestern war nicht zu sehen. Ein anderer kam an Voigts Tisch. Er war auch nicht mehr ganz taufrisch. Voigt bestellte Tee, ohne die Absicht, ihn auch zu trinken. Dann faltete er die Zeitung auseinander. In der großen – vom Format und von der Auflagenhöhe großen – Boulevardzeitung stand es auf der ersten Seite: WOHIN FLOH DER KAMMGARN-KILLER? Und Voigt wußte, noch bevor er die zehn Zeilen Text gelesen hatte, daß dies sein „Fall“ war. Er las: Die Verkäuferin Anna B. (37) in N. fand gestern mittag ihren Chef Otto Z. (57) tot im Lager des Textilgeschäfts. Z. ist wahrscheinlich erschlagen worden. 161
Die Kriminalpolizei sucht einen der Tat verdächtigen Konfektionsreisenden. Der Gesuchte ist offenbar flüchtig. (Bericht Seite 5.) Kein Name, kein Foto, dachte Voigt, der das Zittern seiner Hände kaum unterdrücken konnte. Der Kellner brachte den Tee. Er kassierte gleich. Voigt gab ihm einen 50-Kronen-Schein und achtete nicht auf das Wechselgeld. Der Kellner hatte ihm 5 Kronen zuwenig wiedergegeben und ging zufrieden davon. Er mochte die Deutschen nicht. Sie hatten ihn im Krieg als jungen Mann in eine Rüstungsfabrik gesteckt, wo er monatelang täglich zwölf Stunden lang Munition hatte sortieren müssen. Voigt blätterte zur Seite 5. Da stand der Bericht, den Beissel geschrieben hatte, fast wörtlich; nur die lokalen Details hatten sie rausgelassen. Auch hier war kein Name erwähnt, nur das Auto war beschrieben, und – Voigt erstarrte beim Lesen – da stand etwas von Geldraub. Voigt blätterte betroffen die anderen Zeitungen durch, aber da fand er nur in einer Kurznotiz: RAUBMORD IN NEUSTADT – ohne Einzelheiten. „Raubmord!“ flüsterte er ganz leise. Ein paar Minuten saß er wie betäubt, trank geistesabwesend nun doch seinen Tee und versuchte, seine jagenden Gedanken zu bremsen und zu ordnen. Er erwog, sofort zur nächsten Polizeistation zu gehen und sich zu stellen, zu sagen: Ich bin der Gesuchte – aber ich habe keinen Raubmord begangen. Ich habe kein Geld geraubt. Ich habe mich überhaupt nur verteidigt – es war Notwehr! Ich bin kein Raubmörder … Und dann? Dann würden sie ihn festnehmen und durch ihre Verhörmangel drehen und im Hotelzimmer des Hotels Royal den Schuhkarton mit den 24 000 Kronen finden und ihm natürlich nicht glauben, daß es das Geld vom Autoverkauf war – und er konnte ja nicht gut den hilfsbereiten 162
Wirt und den muffligen, aber fairen Glatzkopf reinreißen, die ihm geholfen hatten … Verdammte Scheiße! Er warf die Zeitung in einen Papierkorb und lief zur Istedgade. Die Tür zur Bar Hønsestigen stand weit offen. Drinnen sang jemand laut: „… im Sommer, da blüht der Klee, im Winter, da schneit’s den Schnee …“ Rotbart machte seinen Laden sauber. Er blickte auf, als Voigt hereinkam, und brach sein Lied ab. Sehr ernst sah er Voigt an. „Tag, Axel“, sagte Voigt. „Tag“, sagte Rotbart. „Ich will nicht, daß du noch hierherkommst, Voigt! Ich habe gedacht, du hast ’ne Firma beschissen oder bist stiftengegangen, weil du deine Alte loswerden willst oder weil du eine angebumst hast, die dich nun unter Druck setzt … Aber so? Nee! Du, das ist mir zu heiß – Raubmord … Geh los! Zieh Leine!“ Er wies mit der Hand zur Theke, wo zwischen Scheuersand und Sidol das Boulevardblatt lag. Es war so gefaltet, daß die Titelzeile mit dem Wort KAMMGARNKILLER ins Auge sprang. „Es war ja ganz anders!“ sagte Voigt. „Komm!“ sagte Rotbart. „Mach mir nichts vor! Du hast das Auto … Mein lieber Mann – hoffentlich erfährt der … äh, der Kumpel nichts von der Fahndung, bevor er die Karre umgespritzt und verscheuert hat, sonst rückt er mir auf die Pelle … Also los – geh flitzen, Alter! Den Koffer schenk ich dir.“ „Hast du nicht zehn Minuten Zeit, daß ich es dir erzähle?“ fragte Voigt leise und fügte noch leiser hinzu: „Bitte, Axel!“ Der rothaarige Hüne stellte den Besen, den er in der Hand hatte, an die Wand, zog die Tür zur Straße zu, nahm einen Stuhl von einem der Tische und stellte ihn vor Voigt. Er nahm einen zweiten, stellte ihn daneben, ging hinter die Theke, holte zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank, öffnete sie, gab Voigt eine, setzte sich und 163
hob die andere zum Mund. Voigt sah, wie sein Kehlkopf unter dem Bartgestrüpp stieg und sank, als er trank. Das alles geschah wortlos. „Los, rede!“ sagte Rotbart und rülpste. „Ich bin ein Rindvieh, aber … Los, rede, Voigt!“ Voigt saßen die Tränen im Hals, so angerührt war er von dem Kerl. Er räusperte sich und erzählte. Er erzählte von seinem Job, wie er da immer und seit undenklichen Zeiten gekuscht hatte, um Hosen und Jacken und Anzüge aus Wolle, Trevira, Baumwolle, Tweed, Köper, Leinen, Kord und Kammgarn zu verkaufen; wie er bei den paar Linken oder Liberalen linke oder liberale Sprüche geklopft, bei den anderen rechte und stramme Töne getönt, wie er den Frommen recht gegeben hatte, wenn sie auf die Unmoral der Zeit schimpften, und den Ferkeln säuische Witze erzählt hatte … Und das alles bloß wegen der paar tausend Mark und wegen der Frau, die ihn schief ansah, wenn es mal weniger war, und die er liebte. Und er erzählte, wie dieser Tag verlaufen war und der Tag vorher; daß er im Bett der Dicken versagt und später keinen Schnaps mehr vertragen hatte und daß dieser gottverdammte, arme Zylian eigentlich nur der Tropfen gewesen war, der das Faß zum Überlaufen gebracht hatte, indem er ihn anmotzte. Und wie er, Voigt, plötzlich lauter kleine rote Punkte gesehen und zugeschlagen habe – ja, habe zuschlagen müssen – und daß er dann die Nerven verloren habe und stiftengegangen sei. „Auf Ehre und Gewissen, Axel!“ sagte er. „Ich hab dem seine Kröten nicht aus der Kasse geholt! Ich hab an so was überhaupt nicht gedacht … Ich schwör’s dir!“ Rotbart hatte die ganze Zeit keinen Ton gesagt. Er hatte Voigt angeschaut und hatte ihm zugehört. Jetzt stand er schweigend auf und holte zwei neue Bierflaschen aus dem Kühlschrank. „Jaaa …“, sagte er nach einer Pause, die nur vom Ge164
räusch des Flaschenöffnens, vom Gluckern der Schlucke, von einem grollenden Rülpser Axels unterbrochen worden war. „Du bist ein dummes, armes Luder, Voigt. Ich weiß nicht, wie wir dich da rauszerren können, Mann!“ Der Nordexpreß D 232 Kopenhagen – Paris verläßt die dänische Hauptstadt pünktlich 16 Uhr 55. Im ersten Erster-Klasse-Abteil hinter dem Speisewagen hatte es sich ein Herr von etwa sechzig Jahren bequem gemacht. Da außer ihm nur ein jüngerer Mann einen Platz belegt hatte, sich aber gleich beim Anrollen des Zuges in den Speisewagen begeben hatte, war viel Platz im Abteil. Der Herr konnte also den Stapel englische Zeitungen getrost auf den Nebensitz legen. Er sah nach langer Sommerfrische aus. Die Bergsonnen- oder Seesonnenbräune seines Gesichts bildete einen reizvollen Kontrast zu seinem weißen Haar, das er nach Art der alten römischen Cäsaren in kurzen Simpelfransen in die Stirn gekämmt trug. Das Sonnenbraun stach auch ab von dem gutgestutzten Schnurrbart, der, wahrscheinlich vom Nikotin, etwas gelblicher als das Haupthaar war, und von den buschigen weißen Augenbrauen, die wie kleine Vogelkrallen über den Rand der Brille zipfelten. Die Farbe seiner Augen war schwer zu erkennen, da die Gläser der teuren Schildpattbrille getönt waren. Der Herr war gut angezogen, mit einem Hauch Boheme – homespun und taylormade. Zum weichen Leinenhemd trug er eine grobe Honanseidenkrawatte, die in der Farbe haargenau zu den englischen Socken paßte – kurzum, ein Herr gehobener Herkunft oder großkarätiger Karriere. Seltsam war nur, daß er bei diesem unverkennbaren Background so nervös rauchte und unkonzentriert las. Zur gleichen Zeit – also gegen 17 Uhr – klingelte Ida Grobleben an Voigts Wohnungstür und fragte, als Trud165
chen Voigt öffnete, aufgeregt flüsternd: „Bist du allein, Trudchen?“ „Ja …“ Trudchen fing schon wieder an zu weinen. „Pst! Nun wein doch nicht!“ Ida Grobleben schob die Freundin in die Wohnung und schloß die Tür hinter sich. „Ach, du weißt ja nicht, was passiert ist!“ schluchzte Trudchen Voigt. Sie sah aus wie kalt gewordene Grießsuppe. Sogar ihre Frisur war ganz durcheinander. „Doch, ich weiß alles!“ flüsterte Ida Grobleben, obschon es gar keinen Grund zum Flüstern mehr gab. „Ernst hat mich vorhin angerufen!“ „Ernst hat dich …?“ Trudchen Voigt sah die Freundin verblüfft an. „Und … Wieso dich? Warum ruft er mich nicht an? Ich warte seit gestern – seit der Polizist hier war … O Gott! Wann hat er dich … Nun sag doch schon!“ „Du mußt mich ausreden lassen!“ Ida Grobleben nahm die verstörte Freundin am Arm und ging mit ihr ins Wohnzimmer. „Ernst hat irgendwo aus dem Ausland angerufen. Ich weiß nicht, woher; er hat’s nicht gesagt … Du sollst dir keine Sorgen machen. Er ist da in eine dumme Geschichte reingedreht worden – aber von dem, was die Zeitungen schreiben, stimmt kein Wort, sagte er. Er will nicht hier anrufen, damit sie nicht feststellen können, wo er ist. Euer Anschluß wird sicher überwacht, sagt er. Du sollst heute abend zu mir kommen, so gegen elf; dann will er bei mir anklingeln und dir alles erzählen. Aber erst mal sollst du dir keine Sorgen machen und die Ohren steifhalten … Klar?“ „Ja … Klar. Aber …“ Trudchen Voigt schluchzte. Der Nordexpreß D 232 von Kopenhagen nach Paris war bereits fünf Stunden unterwegs und näherte sich Hamburg. Es war kurz vor 22 Uhr. Im ersten Erster-KlasseAbteil hinter dem Speisewagen saß allein der weißhaarige, sonnengebräunte Herr und schaute zum Fenster 166
hinaus, obschon es nichts zu sehen gab als gelegentlich vorüberhuschende Lichter. Er war seit dem Passieren der Grenze sehr viel ruhiger geworden, hatte seinen Paß nach der Kontrolle sorgfältig eingesteckt und betrachtete jetzt im spiegelnden Abteilfenster sein Gesicht. Er staunte immer wieder und immer wieder, je öfter er hinschaute. Die Frau, zu der Rotbart ihn gebracht hatte, hatte geradezu phantastisch gearbeitet. Das war überhaupt alles wie Hexerei gewesen: halb zwölf Koffer und Tasche aus dem Hotel Royal geholt. Mit dem Taxi zum Atelier der Malerin Gretha Asmussen, bis vor wenigen Jahren als Maskenbildnerin am Theater, eine Freundin eines Freundes von Axel. Halb eins mit dem neuen Gesicht zum Schnellfotografen; mit Axel Fotos, Paß, Personalausweis und Führerschein zu einem Mann gebracht, der sich gegen ein Riesenhonorar bereit erklärte, die Papiere „in Ordnung zu bringen“. In der Zwischenzeit Wäsche, Hemden, Socken, einen neuen Koffer gekauft. Kurz vor vier Uhr die „korrigierten“ Papiere abgeholt, zum Bahnhof gerast, Fahrkarte gekauft. Zehn Minuten vor Abfahrt des Zuges im Abteil gesessen – mit neuem Gesicht, neuem Namen, neuen – nein, nur auf das neue Gesicht maßgearbeiteten Papieren und mit Rotbarts „Toitoitoi!“ im Ohr. Sie würden ihn nicht kriegen. Jetzt nicht mehr! Er mußte nur überlegen, wie er wieder zu Geld kam. Von den 24 000 Kronen waren ihm, als er im Zug saß, nur noch 10 000 Kronen geblieben, die er am Wechselschalter des Fährschiffs in D-Mark, ein paar Dollar und Schweizer Franken umgetauscht hatte. Ein neues Leben zu kaufen war ein teurer Spaß, doch es wäre wahrscheinlich noch teurer geworden, wenn Rotbart ihn nicht unter seine Fittiche genommen hätte. Aber kriegen würden sie ihn nicht – ihn, Erwin Vobach, Ingenieur, mit immerhin noch einigen tausend Piepen in der Tasche … Seine Fahrkarte galt bis Bremen; 167
er wollte aber schon in Hamburg aussteigen und auch dort übernachten. Trudchen mußte er von dort aus anrufen … Ja. Das war noch so ein Problem: Trudchen … Kommissar Meiselbach saß am Bett seiner kranken Frau und las ihr aus der Zeitung vor. Sie hatte an diesem Abend nur noch 38,3 Fieber gehabt, aber zum Selberlesen taten ihr die Augen noch zu weh. Meiselbach las ihr die heutige Fortsetzung des Romans Der Traum vom ewigen Frühling vor, denn sie liebte Fortsetzungsromane über alles, was er nicht verstehen konnte. Es war 22 Uhr. Im Augenblick, als der skandal- und geheimnisumwitterte Chefarzt Dr. Andreas von Solten zu der zierlichen Frau des berühmten Pianisten sagte: „Ihr Name, Victoria, ist für mich kein Symbol für Sieg und Triumph … Für mich ist er ein Zeichen der Niederlage, denn meine Vernunft ist meiner Leidenschaft unterlegen …“ – in diesem Augenblick und in diese ergreifenden Worte hinein klingelte das Telefon. „Ja“, sagte er, denn es gab eine Dienstanweisung für Kriminalbeamte und ihre Familien, sich am Privatanschluß nicht mehr mit Namen zu melden, um den Terroristen die Arbeit zu erschweren. „Klawitter“, meldete sich Meiselbachs Kollege. „Tut mir leid, daß ich stören muß, Herr Meiselbach – aber Sie müssen herkommen. Ich bin in der Danziger Straße einundvierzig, erster Stock links, Appartement zwei … Das hier hängt mit Ihrem Fall Zylian zusammen. Kommen Sie?“ „Ja“, sagte Meiselbach, ohne weiter nachzufragen. „In zehn Minuten bin ich da!“ Er entschuldigte sich bei seiner Frau, die in diesen Dingen Kummer gewohnt war, zog Schuhe und Jacke an, lief zum Auto und fuhr fünf Minuten später im gleichen Augenblick unter der Bahnlinie hindurch, als der Nordexpreß aus Kopenhagen oben darüberdonnerte. Danziger Straße 41. Erster Stock links. Appartement 2. An der Tür der Name Ströhlein. 168
Sie hatten den Verkäufer bereits abgeschnitten, ihm die Zunge zurückgedrückt und das Kinn hochgebunden. Der Tote lag auf dem Boden, unter sich und neben sich Geldscheine; 10-, 20-, 50-, 100-Mark-Scheine – wohin man sah: Geld. Klawitter reichte Meiselbach eine durchsichtige Plastikhülle, in der ein Zettel steckte. Ich habe Zylian auf dem Gewissen, Ich kann nicht mehr. Fred Ströhlein, las Meiselbach. „Der Hauswirt hat ihn gefunden“, erklärte Klawitter. „Er wollte Bescheid sagen, daß nächste Woche irgendwas repariert wird. Ströhlein hat nicht aufgemacht, aber der Schlüssel steckte innen … Na ja, nach einigem Klopfen und Rufen hat der Hauswirt dann aufgemacht. Der Ströhlein muß durchgedreht haben.“ „Ja, das dürfte das Geld aus Zylians Kasse sein“, meinte Meiselbach. Die Männer mit der Trage kamen, um den Toten abzuholen. Es war für alle ein komisches Gefühl, auf so viel Geld herumzulaufen. Meiselbach schob mit dem Schuh die Scheine zusammen, die vor seinen Füßen lagen. „Dann werden wir wohl aufsammeln und zählen müssen“, sagte Klawitter. „Ja, das werden wir wohl müssen …“ Meiselbach stockte. „Vor allem müssen wir die Fahndung nach diesem Voigt abblasen, damit da nicht noch irgendwas passiert!“ „Aber der ist doch flüchtig, oder?“ fragte Klawitter. „Nicht für uns“, sagte Meiselbach. „Es liegt keine Anzeige vor – weder von seiner Firma noch von sonstwem. Vielleicht macht er bloß eine Sause mit einer Mieze. Aber mit dem Raubmord an Zylian hat er nichts zu tun, das dürfte feststehen …“ Er fing an, die Geldscheine aufzuheben. Klawitter kniete sich hin und scharrte das Geld mit 169
beiden Händen zusammen. Der Hauswirt, der an der Wohnungstür erschien, nachdem er die Träger mit der verdeckten Trage vorbeigelassen hatte, sah den beiden Beamten zu. „Schöne Beschäftigung, im Geld wühlen, was?“ sagte er.
13 Voigt stieg aus dem Zug. Die Normaluhr auf dem Bahnsteig des Hamburger Hauptbahnhofs zeigte 22 Uhr 58. Der Nordexpreß hatte sechs Minuten Verspätung. Aus den Lautsprechern dröhnte eine Männerstimme: „Auf Gleis elf in den D-Zug zwozwounddreißig nach Paris bitte einsteigen und Türen schließen! Vorsicht am Zug!“ Voigt setzte sein Gepäck ab und schaute sich nach einem Träger um, aber da war keiner. Er nahm Koffer und Tasche wieder auf und ging auf die breite Treppe zum Querbahnsteig zu. Neben ihm setzte sich der Expreß langsam in Bewegung. Voigt hob den Blick und sah die Polizisten. Links und rechts der Treppe standen je zwei Mann mit Maschinenpistolen. Zwei andere – einer davon in Zivil – hielten alle Leute an und kontrollierten die Ausweise. Voigt blieb stehen und wandte sich um. Am anderen Ende des Bahnsteigs, wo die Rolltreppe neben der Steintreppe nach oben läuft, war genauso eine Sperre. Über die Gleise, dachte er und wußte im gleichen Augenblick, daß es aussichtslos war. Er setzte sich wieder in Bewegung und ging gemächlich auf die Absperrung zu. Als er vor dem rechten Polizisten stand, machte er einen Schritt nach rechts, um an ihm vorbeizugehen. 170
„Wo wollen Sie hin?“ fragte der Polizist verdutzt, denn der weißhaarige Herr war nun gewiß keiner der gesuchten Terroristen. „Bitte Ihren Personalausweis“, sagte der Zivilbeamte, der aufmerksam geworden war, und kam auf Voigt zu. Voigt holte aus und schleuderte dem Uniformierten seine Tasche an die Brust, ließ den Koffer fallen, duckte sich an dem verdutzten roten Jungengesicht vorbei und rannte seitlich der Treppe ins Dunkle. Die Schüsse trafen ihn schon, als er erst dreizehn Schritte gerannt war. Er brach zusammen und war bereits tot, ehe sein Körper über die Bahnsteigkante auf das Gleis kippte.
171
172
Pistolen bringen manchmal Glück
Am Abend meines 31. Geburtstags, als ich feststellte, daß ich vierzehn Jahre, fast die Hälfte meines Lebens, gearbeitet hatte, ohne recht voranzukommen, entschloß ich mich, auf andere Weise reich und glücklich zu werden. Ich hatte es satt, jeden Wochentagmorgen um halb sieben Uhr aufzustehen, sommers und winters in der vollen Straßenbahn stadtwärts zu fahren, müde zwischen ebenso müden, mißmutig zwischen ebenso mißmutigen Mitmenschen. Ich mochte nicht mehr von acht bis fünf in dem entsetzlichen Großraumbüro sitzen, das nach den neuesten Erkenntnissen der Arbeitsplatzpsychologen gebaut worden ist – und vielleicht darum besonders schwer zu ertragen. Ich wollte nicht mehr täglich achteinhalb Stunden – mit einer Mittagspause von dreißig Minuten und lieblos gekochtem Fraß in der (ebenfalls psychologisch durchdachten) Kantine – Zahlenkolonnen kontrollieren, die vor mir bereits eine Rechenmaschine und zwei andere Buchhalter kontrolliert hatten. Es hing mir ellenlang zum Hals heraus, die Wochenenden in meiner teilmöblierten Anderthalbzimmerwohnung zu verschlafen, aus Langeweile in dämliche Filme zu laufen, stundenlang fernzusehen, aus Einsamkeit mit fremden Frauen schlafen zu gehen, die ich in dem Vorstadttanzetablissement kennenlernte und die ebenso sauer auf ihr Leben waren wie ich. Ich hatte es satt, auf irgendein Wunder zu warten, das 173
doch nicht kommen würde, und jeden 10-Mark-Schein dreimal umzudrehen, ehe ich ihn auszugeben wagte. Ich hatte mein kleines, enges Büroangestelltendasein satt, mein ganzes kleines, enges Leben – satt, satt, satt! Und ich pfiff auf die idiotische Hoffnung, durch Fleiß aus der Misere zu kommen, im Lotto zu gewinnen, oder was es in dieser Scheißgesellschaft so an Trostpflästerchen für Leute wie mich gibt. Eine Weile hatte ich mal mit dem Gedanken gespielt, in die Politik zu gehen, weil ich bemerkt hatte, daß man da mit dem Mundwerk was werden kann, daß da schon viel Dümmere als ich was geworden waren; aber dann konnte ich mich für keine der bestehenden Parteien richtig erwärmen. Die einen waren mir zu heuchlerisch, zu verlogen; die anderen waren mir zu kleinkariert, um echte Aussicht für den Sieg ihrer an sich guten Idee zu gewährleisten – sie würden die Weltveränderung, die sie propagierten, schon über einer neuen Leseordnung in städtischen Büchereien aus den Augen verlieren. Und die dritte Partei … Also, ich weiß nicht mehr, was ich gegen die dritte Partei hatte, aber da war auch irgendwas. Am Abend meines 31. Geburtstags gab ich alle diese absurden Gedanken auf, verwarf den Glauben an das Glück von oben oder durch Schweiß auf der Stirn und entschloß mich, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Ich beschloß, eine Bank zu berauben. Und zwar möglichst bald. Aber natürlich nicht übereilt und kopflos, denn ich hatte erkannt, daß zu einem solchen Unternehmen neben einigem Mut vor allem Intelligenz gehört und daß Geduld eine der weiteren Voraussetzungen für das Gelingen ist. Zunächst war ich darauf aus, mir einschlägige Lektüre zu beschaffen und diese zu studieren … Es gibt erstaunlich viel Literatur über das Thema. Meist sind es zwar Schilderungen mißglückter Raube, 174
Überfälle und Einbrüche, doch auch diese interessierten mich, weil man aus den Fehlern anderer am ehesten und leichtesten lernen kann. Das gilt für alle Bereiche. Ich habe mal ein paar Wochen was mit einer verheirateten Frau gehabt, die mir gleich am Anfang erzählt hatte, wie schrecklich ihr Mann als Liebhaber sei. Und ich hatte aus ihren Schilderungen entsetzt erkannt, daß ich die gleichen gedankenlosen Fehler bisher gemacht hatte. Von da an bin ich in dieser Hinsicht immer überaus erfolgreich gewesen … Doch zur Sache. Die Lektüre war überaus zeitraubend und durchaus nicht immer interessant, zumal die meisten Beschreibungen sich mit den großen Banküberfällen befaßten, bei deren bloßer Erwähnung noch ganze Generationen von Ganoven vor Bewunderung feuchte Augen kriegen. Das waren alles Überfälle oder Einbrüche gewesen, die von mehr oder weniger gut organisierten, mehr oder weniger erfolgreichen Banden ausgeführt worden waren. Das heißt, bei genauem Hinsehen waren diese Banden eigentlich nicht so besonders erfolgreich gewesen. In 99 von 100 Fällen waren sie geschnappt worden – entweder weil einer gequatscht hatte oder weil ein anderer mit dem jähen Reichtum plötzlich durchdrehte und die Puppen hatte tanzen lassen. So eine Banden-Sache war aber ohnehin nichts für mich; das kam nicht in Frage. Denn abgesehen davon, daß ich nicht gewußt hätte, wo ich Komplicen hätte suchen und finden können – bin ich von Natur aus ein Einzelgänger, und mein Instinkt sagte mir, daß ich bei einem solchen Vorhaben auch nur als Einzelgänger Erfolg haben könnte. Auch die von wenig schreib- und wortgewandten Kriminalisten verfaßten Berichte über Tresorknackermethoden und -taten, über durchgebrochene Betondecken, gegrabene unterirdische Gänge und Schächte – auch die interessierten mich nicht sonderlich. Denn ich hatte 175
weder die Absicht noch Lust, mich monatelang unter der Erde ans Ziel meiner Wünsche zu buddeln wie ein Maulwurf, und auch die Aussicht auf Schwerarbeit mit Preßluftbohrer oder Stemmeisen erschien mir nicht reizvoll – mal ganz davon abgesehen, daß derartige Tätigkeiten erhebliche Investitionen auf „Trimm dich“Pfaden in Deutschlands Wäldern zur Voraussetzung gehabt hätten. Während meines intensiven Studiums wanderte ich an den freien Mittwochnachmittagen durch die Stadt, besichtigte alle jene Filialen von Sparkassen und Banken, die in ruhigen Gegenden liegen, betrat auch – unter dem Vorwand, mich über Kommunalobligationen informieren zu wollen – jede, um die Innenräume kennenzulernen, sah mir die Angestellten an, versuchte festzustellen, ob sie wagemutig aussahen, und legte mir so nach und nach eine Liste an, auf der ich die Vorteile der einzelnen Kreditinstitute – nicht ihre Kredit- und Zinsvorteile, sondern ihre Eignung für einen möglichen Überfall – gewissenhaft notierte. Ich prüfte, so gut ich es unauffällig konnte, wie modern und also umgehbar oder unüberwindlich die Sicherungsvorkehrungen waren, merkte mir die Ein- und Ausgänge, machte mir nach jedem Besuch eine kleine Lageskizze, auf der ich dann auch gleich notierte, ob die Männer, Frauen und Mädchen hinter den Schaltern jünger, älter, langsamer, flinker wirkten und was ich sonst noch für wichtig und bemerkenswert hielt. Auf diese langwierige, gründlich-sorgfältige Weise kreiste ich allmählich vier Filialen ein, die alle Voraussetzungen für einen erfolgreichen Überfall zu bieten schienen. Diese vier beobachtete ich nun unauffällig während weiterer Wochen so genau, wie es meine freie Zeit erlaubte. Diese aufwendigen Vorbereitungen mögen dem Außenstehenden vielleicht übertrieben pingelig erscheinen. Aber ich betrieb sie mit Fleiß und sogar mit einem 176
gewissen Vergnügen, da ich meinte – und noch heute meine –, daß Unternehmen dieser Art an der kleinsten Informationslücke scheitern können … Daß dann alles ganz anders kam, war ja nicht vorherzusehen. Ich fand schließlich heraus, daß die aussichtsreichste und ganz offenbar auch einträglichste Bankfiliale die in der Obernheimer Gasse sein würde. Sie wurde von einem blassen, kränklich wirkenden Mann in den späten Fünfzigern geleitet, dem eine ältere Frau mit scheuen Augen, ein schmächtiger, pickeliger Jüngling und zwei staksige Teenager zur Seite standen. Diese Bankfiliale hatte auch noch aus anderen Gründen allerlei für sich: die nächste Polizeiwache lag zwei Kilometer entfernt; gleich um die Ecke war eine UBahn-Station mit drei Eingängen, und – das war das letztlich Ausschlaggebende für meine Wahl – rund um die Obernheimer Gasse befand sich eine größere Anzahl von kleinen und mittleren Gewerbebetrieben, von denen die meisten (wie ich während zweier Urlaubsfreitage feststellen konnte) am Freitag gegen Mittag durch Boten Beutel oder Aktentaschen mit Lohngeldern abholen ließen. Demnach mußte an Freitagen – und zwar so gegen zehn Uhr morgens – ein beträchtlicher Geldbetrag in dieser Filiale zur Auszahlung zur Verfügung sein. Das war wichtig. Denn ich hatte ja vor, bei meinem Coup mindestens 300 000 bis 400 000 Mark zu erbeuten, mit denen ich, bei geschickter Anlage, mindestens zehn, zwölf Jahre so würde leben können, wie ich wollte. Soweit war ich schon, als die Probleme der Technik des Überfalls mich zu beschäftigen begannen. Zunächst dachte ich an einen maskierten Coup, aber davon kam ich bei gründlicherem Nachdenken bald ab. Es schien mir einfach zu umständlich, eine Maske aufzusetzen, einen Strumpf über das Gesicht zu ziehen, einen Bart unter die Nase oder ans Kinn zu kleben oder dergleichen. Zudem las ich in meiner (inzwischen zu 177
einer kleinen Spezialbibliothek angewachsenen) Fachliteratur von allen möglichen Pannen, die gerade durch die Maskierung bei Banküberfällen passiert waren: der eine hatte sich eine besonders originelle Gesichtsmaske gekauft und diese bei seinem Holdup aufgesetzt, der Trottel. Die Maske war das einzige Stück dieser Art, das in den letzten fünf Jahren in dieser Stadt verkauft worden war – und auf die Beschreibung der blöden Tarnung hin hatten sie zwei Tage darauf die Beschreibung des Käufers und weitere 24 Stunden später den Mann selbst. Er besaß die Maske sogar noch. Er hatte sie in dem Koffer, in dem er auch seine gesamte Beute aufbewahrte … Na! Ein anderer hatte sich eine einfache schwarze Halbmaske vor die Augen gebunden, und die war ihm, als er schon hinauslief, zwei Campingbeutel voll Scheine in den Händen, vor die Augen gerutscht – wahrscheinlich hatte er geschwitzt, und da muß das Ding ins Rutschen gekommen sein … Kurzum, noch zwei Schritte oder drei trennten ihn von der Ausgangstür der Bank, da war er plötzlich blind, rannte mit aller Wucht gegen die dicke Glasscheibe der Tür und brach sich dabei das Nasenbein. Das soll scheußlich weh tun. Der Pechvogel jedenfalls hat die Pistole, die er zusammen mit den Geldbeuteln in der Hand hielt, stöhnend fallen lassen – und da war einer der jungen Bankkassierer schon über ihm … Resultat: acht Jahre Knast. Allen solchen Unwägbarkeiten wollte ich mich nicht aussetzen. Deshalb entschloß ich mich, nur eine Sonnenbrille zu benutzen. Sonnenbrillen machen schon weitgehend unkenntlich. Dazu bot ein einfacher grauer Regenmantel die beste Tarnung. Ich erstand in einem großen Warenhaus einen Trenchcoat, der beidseitig getragen werden konnte – innen beige, außen graubraun. Ich würde ihn nach der Tat einfach umdrehen. 178
Schwieriger war schon die Frage zu lösen, worin ich das erbeutete Geld transportieren könnte. Am besten gefiel mir die Idee, unter dem Mantel einen Rucksack zu verstecken, den Kassierer mit vorgehaltener Pistole zu zwingen, die Scheine in zwei Leinenbeutel zu packen und diese beiden Beutel sofort nach Verlassen der Bankfiliale im Rucksack zu verstauen. Das würde leicht in einer dunklen Tordurchfahrt möglich sein, vierzig Schritt von der Filiale entfernt. Von dort aus konnte ich innerhalb einer Minute nach dem Raub – nun in hellem Regenmantel, mit Rucksack und ohne Sonnenbrille – die U-Bahn-Station erreichen und in Sicherheit sein. Doch die allergrößte Schwierigkeit stand mir noch bevor: Woher sollte ich die Waffe nehmen, mit der ich den Filialleiter, das Personal und die eventuell anwesende Kundschaft in Schach halten mußte? Ich brauchte wohl besser zwei Pistolen, für jede Hand eine – am besten sehr gefährlich aussehende Pistolen, und dabei hatte ich überhaupt nicht die Absicht zu schießen … ja, ich hatte nicht mal die Absicht, mit geladenen Waffen zu operieren. Denn ich kann ja gar nicht schießen. Im Gegenteil, ich fürchte mich, wenn ich ehrlich sein will, vor Waffen jeder Art. Ich erschrecke sogar, wenn auf dem Bildschirm ein Gangster oder Cowboy herumballert. Viele Stunden verbrachte ich mit der Suche nach Waffen – richtiger: mit der Suche nach einer unauffälligen Erwerbsmöglichkeit für Waffen. Gewiß, es gab sowohl Gebrauchtwarenhändler wie auch andere Quellen genug in unserer Stadt, wo ich ohne Waffenerwerbsschein und ohne nach dem Warum und Wieso, Weshalb und Woher gefragt zu werden für viel Geld hätte Pistolen kaufen können. Aber auch das war mir aus meiner Lektüre klargeworden: Gerade dort lauerte am ehesten Verrat. Wenn für die Ergreifung des Täters oder sachdienliche Hinweise, die zur Ergreifung 179
führen, erst mal eine hohe Belohnung ausgesetzt wurde, dann war es durchaus nicht sicher, daß sich nicht der krumme Waffenverkäufer gern an mich erinnerte und zur Polizei lief … Spielende Kinder brachten mich endlich auf die Idee. Ich kaufte zwei Spielzeugpistolen aus Plastik, die täuschend echt aussahen. Und als ich mich am Abend im Spiegel meines Schlafzimmerschranks betrachtete, fand ich, daß ich mit Trenchcoat, Sonnenbrille, Schirmmütze (die ich nach der Tat in eine Mülltonne in der Tordurchfahrt werfen würde) und den beiden Pistolen sehr gefährlich wirkte. Es konnte losgehen. Ich gebe zu, daß ich die Nächte vor dem vorgesehenen Freitag nicht sehr gut schlief. Aber das war ja auch kein Wunder – man raubt schließlich nicht alle paar Tage eine Bank im Alleingang aus, nicht wahr? Mein vom mangelnden Schlaf schlechtes Aussehen machte meine Krankmeldung in der Firma glaubhaft. Auch das hatte also sein Gutes. Ich ließ mich bereits am Mittwoch wegen einer schmerzhaften Unterkieferentzündung, deren Bösartigkeit ich mittels Watte in der Backe überzeugend demonstrierte, beurlauben. Und an dem großen Tag stand ich dann kurz vor zehn Uhr, die zwei Spielzeugpistolen in den Manteltaschen, den Rucksack unter dem Trenchcoat, die Leinenbeutel für das Geld zusammengerollt unterm Arm, auf der anderen Straßenseite, meinem „Objekt“ direkt gegenüber. Es regnete. Das war zwar nicht eingeplant, aber es war auch nicht schlimm – eher im Gegenteil: Es war gut, falls sie Hunde einsetzten. Ich atmete tief und ging langsam über die Straße auf den Eingang der Filiale zu. Vor mir stiegen zwei Herren die drei Stufen hinauf, die in das Geldinstitut führten. Das war nichts Ungewöhnliches. Dennoch wartete ich vor einem Schaufens180
ter voller Miederwaren, zählte langsam bis 130 – zehnmal dreizehn, dreizehn ist meine Glückszahl –, gab mir dann einen Ruck und ging auf den Filialeneingang zu. In diesem Augenblick – ich war etwa noch zehn, zwölf Schritte entfernt – wurde die Tür der Bank aufgerissen. Die zwei Herren stürzten heraus. Sie hatten Nylonstrümpfe über ihre Gesichter gezogen und Säcke in der Hand. „Hiiilfe!“ kreischte drinnen eine grelle Frauenstimme. Ich hatte, ehe ich denken konnte, meine beiden Plastikwaffen gezogen und schrie: „Hände hoch!“ Die beiden Männer blieben mitten im Lauf wie vom Blitz getroffen stehen und rissen die Arme hoch. Zwei Revolver klirrten aufs Pflaster, die Säcke fielen zu Boden. Der eine öffnete sich, und Geldscheine wirbelten über die nassen Steine. Den Bruchteil einer Sekunde lang dachte ich daran, die Säcke einfach aufzuheben und davonzusausen. Aber da kamen schon der Filialleiter und der pickelige Jüngling heraus, drei Männer von der Straße rannten herbei, alle griffen nach den vom Schreck wie gelähmten Maskierten und hielten sie fest und drehten ihnen die Arme auf den Rücken und schrien um die Wette. Und da heulte auch schon die Sirene des ersten Funkstreifenwagens … Ich wurde sehr gefeiert. In allen Zeitungen stand was über meinen außerordentlichen Mut und meine bewundernswerte Geistesgegenwart. Die Bankzentrale überreichte mir in einem feierlichen Akt eine Belohnung von 10 000 Mark, und von irgendeiner anderen Stelle bekam ich auch noch mal 5 000 Mark – von der Versicherung, glaube ich, und dann noch mal 5 000, die nach einem früheren Überfall auf die Ergreifung der beiden Räuber ausgesetzt worden waren. 181
Und alle Welt wollte sich totlachen, daß zwei ungeheuer gefährliche Burschen sich von Spielzeugpistolen hatten ins Bockshorn jagen lassen, die ein harmloser – jawohl, harmloser schrieb das eine Blatt –, aber eben wachsamer und einsatzbereiter Mann gezückt hatte, ein Mann, der die Gefahr für sein eigenes Leben gering achtete und es für Ruhe und Sicherheit in die Schanze zu schlagen bereit war – und so weiter und so weiter. Mein Bild stand in 27 Zeitungen, und dafür bekam ich auch noch mal Honorar. Ein Interview im Fernsehen brachte ebenfalls Geld – das wären zwar alles kleinere Beträge, aber es läpperte sich ganz schön zusammen. Und für die Geschichte meines Lebens und den EXKLUSIVBERICHT über meine HEROISCHE TAT kriegte ich von einer großen Illustrierten ein paar weitere Tausender … Da erzählte ich übrigens, daß ich die Spielzeugpistolen meinen beiden kleinen Neffen – Zwillingen – zum Geburtstag gekauft hätte. Dabei habe ich gar keine Neffen. Aber das merkte keiner. Im Betrieb war ich tagelang Mittelpunkt und mußte immer und immer wieder erzählen, wie ich auf dem Heimweg vom Zahnarzt, der meine Unterkieferentzündung behandelte, völlig ahnungslos „in den Strudel der Ereignisse“ geraten war. Sogar der oberste Chef nahm Anteil an meiner großen Tat; er erschien am nächsten Tag im Großraumbüro und überreichte mir einen Korb mit Delikatessen, den ein Bote hinter ihm hertrug, einen Anerkennungsscheck über 500 Mark und sprach dazu sonor ein paar markige Worte. Das Wort Pflichtbewußtsein kam mehrfach vor. Ich kündigte trotzdem in der Woche darauf, denn ich hatte – und das ist eigentlich das Schönste – ich hatte ein verlockendes Angebot der Bank angenommen. Nun bin ich schon seit vier Monaten als Geldbote tätig, habe einen Wagen, fahre damit jeden Tag zu den 182
verschiedenen Zweigstellen und bringe Moneten hin. Manchmal viel Geld. Mein Gehalt ist fast doppelt so hoch wie früher. Es geht mir gut. Ich brauche nicht mehr jeden 10-Mark-Schein umzudrehen, bevor ich ihn ausgebe. Das kommt davon, wenn man eine Vertrauensstellung hat. Das einzige, was mich etwas stört, ist der Gedanke, daß irgendso ein Ganove auf den Gedanken kommen könnte, mich zu überfallen.
183
Der Witwenmacher
Winfried Wandschneider plante den Mord so genau und minuziös, so bis ins kleinste Detail, daß sich ein Erdbeben hätte ereignen müssen, um die Tat zu verzögern, zu verhindern oder zu – nein, hier soll das Wort „verraten“ nicht gebraucht werden; schon, um nichts vorweg zu verraten. Die Tat wurde dann also auch, da kein Erdbeben stattfand – präzise, minuziös, bis ins kleinste Detail durchdacht –, mit Erfolg ausgeführt, und es sah so aus, als sei Winfried Wandschneider einer jener wenigen Leute, denen das gelungen ist, was schon so viele versucht haben: ein perfekter Mord. Ein Mord, bei dem auch nicht der Schatten eines Verdachts auf den Täter fällt. Die Vorgeschichte ist schnell erzählt: Winfried Wandschneider, mit Geld und Gut reich gesegnet, Besitzer einer florierenden Konservenfabrik, einer Villa in bester Lage, eines Landhauses, dreier Autos, zweier gutgepolsterter Bankkonten sowie mehrerer Aktienpakete – Winfried Wandschneider also war im wahrsten Sinne des Wortes zu kurz gekommen – und zwar, was männliche Schönheit anbetraf. Er war nur eins sechzig groß, rothaarig, sommersprossig, dicklich, mit schütterem Scheitel auf dem etwas zu großen Kopf, mit zu großen, abstehenden Ohren – kurzum, er brachte rein äußerlich nicht die Voraussetzungen zum erfolgreichen Playboy mit. 184
Er war Anfang Vierzig und Junggeselle nach einer total mißglückten Viermonatsehe. Sein Liebesleben spielte sich auf jener Ebene ab, auf der es eine Frage des Geldbeutels ist, wie heftig und glaubwürdig immer andere Partnerinnen Leidenschaft an den Tag legen. Man kann zwar für Geld auch das Gefühl kaufen, geliebt zu werden; es hält nur meist nicht lange an – vor allem nicht bei intelligenten Männern. Und Wandschneider war zweifellos intelligent … Hätte er auch noch Phantasie gehabt, wäre er sogar klug gewesen. Nun ja; man kann nicht alles haben. Vor einem knappen Jahr war nun wider Erwarten in das luxuriöse, aber unglückliche Leben Winfried Wandschneiders eine Frau getreten, die ihn völlig aus der Fassung brachte. Sie war Ende Zwanzig, klein und zierlich; sie hatte einen weißblonden Wuschelkopf, große, ausdrucksvolle Augen, die in den verschiedensten Farben zu schimmern vermochten, volle Lippen und einen ebensolchen Busen. Sie hieß Charlotte. Charlotte kam auf ein Inserat, das Winfried Wandschneider aufgegeben hatte. Es war das sechste Inserat innerhalb eines Jahres: Haushälterin gesucht … und so weiter. Denn neben allen anderen Sorgen hatte Wandschneider auch noch eine Pechsträhne, was Haushälterinnen anbetraf. Entweder bestahlen sie ihn vorn und hinten, oder sie wurden zur Unzeit liebevoll, um fix aus dem Stand der Haushälterin in den der Hausherrin aufzurücken, oder sie waren faul und schmuddelig, oder sie konnten nicht kochen, oder sie schleppten nach kurzer Zeit ihre gesamte Verwandtschaft an und fütterten sie auf Wandschneiders Kosten durch … in zwei Fällen waren auch mehrere Faktoren zusammengetroffen. Die vierte Bewerberin auf das sechste Inserat war also Frau Charlotte Kohlhammer geborene Meibach. Sie stand vor Wandschneiders Tür, sah ihn mit ihren gro185
ßen, schimmernden Augen an und war schon fast engagiert, ehe sie noch „Guten Tag“ gesagt hatte. Charlotte war ein Haupttreffer für Winfried Wandschneiders Haushalt und Seelenleben. Sie war mit einem Monteur verheiratet, der dauernd irgendwo in Europa Kesselanlagen einbaute, reparierte, umbaute, ausbaute und nur alle vier Wochen mal nach Hause kam und sich dann, laut Charlottes andeutenden, von leisen Seufzern begleiteten Berichten, ihr gegenüber schlecht benahm, besoffen in der Wohnküche hockte, schlief oder mit Nachbarn Karten spielte. Charlotte selber jedoch war eine Augenweide, eine wunderbare Köchin, eine großartige Wirtschafterin, ehrlich, fleißig, sauber, immer vergnügt – außer wenn ihr Mann von Montage kam. Alles in allem: eine echte Perle. Und sie war – das gehörte zu ihren aufregendsten Eigenschaften – offensichtlich völlig unnahbar. Winfried Wandschneiders vorsichtige Versuche, ihr seine wachsende Zuneigung auch durch äußere Zeichen deutlich zu machen, stießen bei Charlotte auf heftige Mißbilligung. „Aber ich bitte doch sehr, Herr Wandschneider“, pflegte sie mit reizend gerunzelter Stirn zu sagen, und ihre großen, schimmernden Augen verengten sich zu blitzenden Spalten, wenn Wandschneider ihre hübsche, kleine Hand zu lange festhielt, ein behutsames Streicheln riskierte oder auch nur „Ach, Charlotte“ seufzte. „Ich bitte sehr“, sagte sie in solchen Situationen, „daran zu denken und darauf Rücksicht zu nehmen, daß ich eine anständige, verheiratete Frau bin, Herr Wandschneider! Zwar nicht übermäßig glücklich verheiratet, weiß Gott nicht – aber zu gut für irgendwelche flüchtigen Abenteuer!“ Und Winfried Wandschneider zog schnell seine vorwitzigen Finger zurück. Aber das alles tat seiner Nei186
gung, die sich allmählich in eine veritable Verliebtheit steigerte, keinen Abbruch – im Gegenteil. Es war schon soweit mit ihm, daß er Herzklopfen bekam, wenn er nur morgens ihren Schritt auf dem Sandsteinplattenweg vor der Villa hörte. Das ging so ein halbes Jahr. Wandschneider entsagte allen außerhäuslichen Vergnügungen, vermied es, fremde, mehr oder weniger eindeutige Damen mit in sein Schlafzimmer zu nehmen, wie er es früher getan hatte – kurzum, er führte in Anbetung der verheirateten Haushälterin Charlotte Kohlhammer ein richtig solides Leben, wenn man von einzelnen einsamen abendlichen Verzweiflungsbesäufnissen absieht. Im September hatte Wandschneider Geburtstag. Er war ein Jungfrautyp. Das Horoskop für diesen Tag stand sehr günstig. Glück bei gewagten Unternehmungen! hieß es darin unter anderem. Deshalb wagte er es, seine Haushälterin Charlotte nach dem Essen, einem vorzüglich gelungenen Essen – Ente mit Orangen gefüllt – direkt zu fragen: „Darf ich mir zum Geburtstag eine etwas ungewöhnliche Frage erlauben, liebe Frau Charlotte?“ „Aber natürlich, Herr Wandschneider“, erwiderte sie, stellte das Tablett mit Geschirr, das sie gerade hatte abräumen wollen, zurück auf den Tisch und lächelte ihren Dienstherrn an. „Nehmen wir einmal an“, begann Wandschneider unter Aufbietung seines gesamten Mutes, „nehmen wir einmal an, Charlotte, Sie wären nicht verheiratet. Würden Sie mir einen Korb geben, wenn ich Sie bäte, meine Frau zu werden?“ Er merkte, daß er vor Aufregung nasse Hände bekam. Charlotte schwieg, senkte die langen Wimpern über ihre schimmernden Augen und stöhnte so tief, daß Wandschneider erbleichend dachte, gleich werde sie ohnmächtig umfallen. Aber sie fiel nicht um. Sie bedeck187
te ihr Gesicht mit den Händen und flüsterte durch die Finger: „Wissen Sie denn nicht, daß Sie mir weh tun mit solchen Fragen?“ Der Hausherr war verwirrt, ratlos, fassungslos, sprachlos. „Soll … soll das etwa heißen“, stammelte er, „daß … daß Sie … O Charlotte … daß Sie mich vielleicht …?“ Charlotte ließ die Hände sinken und sagte leise und ohne ihn anzusehen: „Ja. Ich liebe Sie. Aber ich werde niemals etwas Unrechtes tun … und wenn ich daran zerbrechen sollte!“ Eine Zehntelsekunde lang kam es Winfried Wandschneider so vor, als habe er diesen Satz gerade neulich irgendwo gelesen – beim Friseur in einer Wochenzeitschrift oder so … Aber der ketzerische Gedanke verging wie Butter auf einer heißen Ofenplatte in dem überwältigenden Ansturm der Gefühle. Er schritt mit seinen etwas zu kurz geratenen Beinen auf die Angebetete zu und schloß sie in die Arme. Sie wehrte sich nicht. Aber sie erlaubte ihm auch nicht, sie zu küssen. Sie machte sich los und sagte: „Ich kündige, Herr Wandschneider!“ Darüber mußte Herr Wandschneider in seinem Glücksüberschwang lachen, und schließlich lachte Charlotte mit. Am Ende saßen sie nebeneinander auf der Couch, eng umschlungen; Wandschneider schweratmend vor Glück und Seligkeit. Aber mehr als dies gestattete Charlotte nicht. Das Geschirr mit den abgenagten Entenknochen stand immer noch auf dem Eßzimmertisch. Wandschneider lief tagelang wie benommen umher. Er grübelte viel und schwankte zwischen Lachen und Weinen; himmelhoch jauchzend, wenn er ihre Lippen flüchtig auf den seinen spürte, zu Tode betrübt, wenn sie schluchzend von dem Elend berichtete, das sie an der Seite ihres Mannes, dieses dummen und primitiven und egoistischen Monteurs Karl Kohlhammer, ständig er188
dulden mußte, und wenn sie von der Ausweglosigkeit sprach, die ihr Leben und ihre Zukunft überschattete. Wandschneider war nicht wiederzuerkennen. Er kümmerte sich nur noch sporadisch um sein Geschäft, war blaß und schlief schlecht, nahm ab und fing wieder an zu rauchen, obschon der Arzt es ihm ausdrücklich verboten hatte. Als Charlotte nach einem Wochenendbesuch ihres Mannes – mit dem sie zu allem Überfluß auch noch nach katholischem Ritus, also unlösbar, verheiratet war – als sie also an einem Montagmorgen mit einer zwar ungefährlichen, aber auffälligen Schürfwunde an der hübschen Stirn zu Wandschneider kam und auf seine Frage zögernd zugab, daß ihr Mann sie geschlagen hatte, da sagte Winfried Wandschneider zum erstenmal: „Ich bring den Kerl um!“ „Sag so was nicht, Winfried!“ wisperte Charlotte. „Du darfst es nicht mal denken, hörst du? Ich würde sterben vor Angst.“ „Um deinen Mann?“ fragte Wandschneider. „Nein, um dich!“ erwiderte sie leise, und ihre Augen schimmerten dunkel. Mit diesem kurzen Dialog war das Schicksal des Monteurs Karl Kohlhammer besiegelt. Wandschneider, wie gesagt intelligent, wenn schon nicht klug, ging mit Bedacht vor. Er plante kühl und nüchtern – so, wie einer den Bau eines Hauses plant, das ein Leben lang stehen soll. Er kalkulierte jedes Risiko, durchdachte alle möglichen Varianten, bezog Hindernisse und Pannen in die Rechnung ein und wog das Für und Wider in jedem einzelnen Punkt sorgfältig ab. Abends, nachdem Charlotte sein Haus verlassen hatte, saß er allein, mehr und heftiger als früher rauchend, in seinem Arbeitszimmer, oft im Dunkeln – und ging im Geiste die Wege, tat die Griffe, sagte die Sätze, die er gehen, tun und sagen würde, wenn es soweit war. Er nahm sich Zeit. Er verwarf manchen Plan, der ihm 189
zu gefährlich oder zu unsicher schien, und zermarterte sich das Gehirn, um ein Verfahren auszuknobeln, bei dem er garantiert ungeschoren bleiben mußte – er plante den perfekten Mord. Im Januar war es soweit. Wandschneider erfuhr, wann der Monteur Kohlhammer zu Hause sein würde. Er fragte Charlotte, ob sie nicht in ihrer Bekanntschaft oder Nachbarschaft irgendeinen Mann wisse, der gern mal einen hinter die Binde gösse und sich leicht und risikolos einen Fünfzigmarkschein verdienen wolle. So einen Mann brauchte er. Es sei jedoch wichtig, einen etwas – na, einfältigen Mann zu finden; einen, der nicht viel frage … Na, sie wisse schon. Charlotte sah ihn mit schimmernden Augen an, überlegte kurz, nannte ihm einen Namen und eine Adresse und nahm seine Anweisungen für den Abend des 12. Januar stumm entgegen. Sie versprach, an diesem Abend gegen acht Uhr unter einem Vorwand das Haus für eine Stunde zu verlassen, äußerte noch, daß sie schon ahne, er, Winfried, plane Fürchterliches, ließ sich aber, zur Beruhigung, ein bißchen streicheln – Wandschneider durfte ihr sogar die Hand kurz auf die Brust legen –, und dann redete sie nicht mehr davon. Erst am Spätnachmittag, als sie sich von Wandschneider verabschiedete, sagte sie: „Winfried … Ich habe solche Angst … Ich weiß, daß es schlecht ist, was du vorhast; aber … aber ich freue mich auf unsere gemeinsame Zukunft, Liebster!“ Zwei Stunden später fuhr Winfried Wandschneider mit seinem unauffälligsten Auto, einem dunklen Mercedes, in die Stadtrandsiedlung, in der die Kohlhammers wohnten. Es schneite; nasser Schnee blieb auf den Gehwegen liegen und wurde auf der Fahrbahn zu Matsch. Wandschneider fuhr langsam – wie schon mehrmals in 190
den vergangenen Tagen – die Straße entlang, betrachtete die kleinen Einfamilienhäuser und stellte fest, daß es schon sehr ruhig war, daß fast alle Leute bereits vor ihren Fernsehgeräten saßen. Er parkte den Wagen schließlich in einer stillen Seitenstraße in der Nähe des Vorortbahnhofs. Er blieb eine Weile im Auto sitzen, und als er schließlich ausstieg, war er nicht wiederzuerkennen. Er trug eine gut sitzende dunkle Perücke, ein schmales schwarzes Oberlippenbärtchen und eine dicke, getönte Hornbrille. In dieser Aufmachung lief er durch mehrere Straßen bis zur Gaststätte „Zum Korken“, in der ihn, wie er telefonisch verabredet hatte, jener Mann erwarten sollte, dessen Name und Anschrift ihm Charlotte genannt hatte. Er betrat die Kneipe und hob – das war das ausgemachte Zeichen – eine neue Tageszeitung in Stirnhöhe. Ein junger, gut aussehender, großer Mann kam auf ihn zu. „Sind Sie Herr Schroth?“ Wandschneider bejahte. Er war ein wenig überrascht, statt des vertrottelten Saufbolds, den er erwartet hatte, einen so jungen, gut und sportlich aussehenden Mann zu treffen – aber das konnte natürlich täuschen. Sie setzten sich in eine Ecke des Lokals. Wandschneider bestellte gleich vier Doppelkorn, goß seinen zweiten heimlich unter den Tisch, nötigte den anderen zum Trinken, bestellte neu, wiederholte das Spiel und setzte dem Mann – der doch ein wenig einfältig zu sein schien und sehr bald einen benebelten Eindruck machte – auseinander, was er von ihm wollte. Der Mann hörte schweigend zu, trank dabei den fünften und sechsten Korn und nickte nur schwerfällig. „Sie gehen von hier bis zur Roonstraße elf … hören Sie: elf!“ „Elf“, wiederholte der andre brav. „Das ist das dritte Haus auf der linken Seite. Sie gehen durch die Gartenpforte bis zur Haustür. Dort blei191
ben Sie stehen – solange, wie man braucht, um bis sechzig zu zählen – klar? Und dann rennen Sie weg … Rennen, ja? Nicht gehen, Sie rennen, so schnell Sie können! Rennen Sie ein bißchen kreuz und quer durch ein paar Straßen zum Bahnhof, und von da aus kommen Sie hierher zurück! Das ist alles. Ich gebe Ihnen vierzig Mark Anzahlung und die restlichen zehn Mark, sobald Sie wieder hier sind – und eine Runde spendier ich dann auch noch … Wiederholen Sie mal!“ Der junge Mann wiederholte alles erstaunlich präzise und erhob sich. „Haben Sie auch Ihre ältesten Schuhe angezogen, wie wir es ausgemacht hatten?“ fragte Wandschneider. „Aber sicher!“ Der Mann gab Wandschneider die Hand und ging. Wandschneider wunderte sich doch ein bißchen, daß der andere keine Fragen gestellt hatte; aber er war wohl schon zu beduselt … Ja, und ein bißchen beschränkt war er eben offenbar auch. Wandschneider bezahlte und verließ drei Minuten später ebenfalls den „Korken“. Er ging den beschriebenen Weg, ohne den Mann zu sehen, entdeckte aber an der Gartenpforte des Hauses Roonstraße und im Vorgarten die Fußspuren eines Mannes im Schnee. Er lief zurück, holte seinen Wagen, fuhr leise vor dem Haus vor, schaltete Licht und Motor aus, öffnete die Haustür sachte mit dem Hausschlüssel, den er sich heimlich nach einem Abdruck von Charlottes Schlüsselbund hatte anfertigen lassen, und schlich ins Haus. In der Wohnküche, deren Tür zum Flur ein paar Handbreit offenstand, sah er den Monteur in Kordhose und Pullover in einem Sessel vor dem Fernsehgerät sitzen. Er hatte eine Bierflasche auf dem Schoß und guckte gebannt auf die flimmernde Mattscheibe. Wandschneider zog die Pistole aus der Tasche, zielte sorgfältig und schoß. 192
Er schoß nur einmal. Es knallte gar nicht laut, wie er befürchtet hatte. Der Mann im Sessel schien erschrocken den Kopf zu heben, dann kippte er lautlos nach vorn auf den Fußboden. Die Bierflasche polterte neben ihm zur Erde. Das Bier lief glucksend aus. Im Fernsehgerät wurde gerade auch geschossen, aber das war im Wilden Westen und viel dramatischer. Winfried Wandschneider nahm Bart und Perücke ab, öffnete die Ofentür, warf beides in die Koksglut, in der die Haare verzischten, und schmiß noch eine Schaufel Koks obenauf. Die Hornbrille steckte er in die Tasche, die Pistole wischte er sorgfältig ab, wickelte sie in ein Papiertaschentuch und verließ das Haus. Er lief zur nächsten Telefonzelle, lief einen kleinen Umweg, warf unterwegs die Waffe in einen toten Gulli, den er auch vorher ausgesucht hatte – und alarmierte die Polizei. Den nachgemachten Hausschlüssel hatte er auch weggeworfen, als der erste Funkstreifenwagen mit heulender Sirene eintraf. Wandschneider berichtete aufgeregt, daß er seiner Haushälterin, die leider kein Telefon habe, noch einiges hätte sagen wollen, da er verreisen müsse – hier der für heute abend gebuchte Schlafwagenplatz nach München, wo morgen die Nahrungsmittelmesse beginne –, ja, und da sei er, als er mit dem Wagen in die Straße hier eingebogen sei, schon stutzig geworden, denn aus dem Vorgarten des Hauses Kohlhammer habe sich ein älterer, einfach gekleideter Mann mit einer Schiffermütze über den Zaun geschwungen und sei davongerannt. Ja, er habe sich dann der Haustür genähert und diese offen gefunden. Zuerst habe er gedacht, Frau Kohlhammer sei im Haus – oder nur eben irgendwo in der Nachbarschaft. Er habe vergeblich geklingelt und sei schließlich, als niemand sich rührte, eingetreten, ja – und da 193
habe er den toten Mann gleich liegen sehen … Nein, er habe nichts angerührt – vielleicht die Türklinke, das könne er nicht mehr sagen – aber sonst sicher nichts … und so weiter. Die Beamten – auch die Spezialisten der unterdessen eingetroffenen Mordkommission – stellten fest, daß der kleine, seriöse Fabrikant, der den Mord entdeckt und die Polizei gerufen hatte, recht haben müsse, denn sie fanden eindeutige Spuren eines offenbar fliehenden Mannes mit großen, geflickten Schuhen; und als schließlich noch die Ehefrau kam, an der Leiche ihres Mannes zusammenbrach und erzählte, daß der Tote noch beim Abendessen davon gesprochen habe, ein Kerl, der beim Spiel ziemlich viel Geld an ihn losgeworden sei, habe geschworen, ihm „eins auszuwischen …“, da schien alles klar. Nur der Mörder mußte noch gefunden werden. Sie entließen Winfried Wandschneider. Er fuhr nach Hause, nachdem er seiner Haushälterin alle Hilfe angeboten und ihr für die nächsten Tage selbstverständlich Urlaub gegeben hatte. Seine geplante Reise zur Nahrungsmittelmesse trat er nicht an; das Geschehene hatte ihn doch zu sehr erschüttert und mitgenommen. Sein Prokurist fuhr statt dessen. Wandschneider blieb zu Hause. Am Morgen des übernächsten Tages klingelte es kurz nach acht an seiner Tür. Er öffnete, noch im Morgenrock. Draußen stand der junge Mann, der ihm im „Korken“ gegenübergesessen hatte. „Ich wollte mein restliches Honorar abholen, Herr Wandschneider“, sagte der junge Mann und grinste. Wandschneider hatte sich in der Gewalt. „Ich weiß nicht, wer Sie sind und was Sie wollen!“ knurrte er und war im Begriff, die Tür wieder zu schließen. Aber der junge Mann hatte flink seinen Fuß dazwischen. „Mein Name ist Karl Fröhlich“, grinste er, „und ich wollte fürs erste – na, sagen wir, zehntausend von 194
Ihnen. Damit ich vergesse, was ich da vorgestern abend in der Roonstraße gesehen und gehört habe.“ Wandschneider schwieg schweratmend. Er kam sich vor wie eine Ratte in der Falle. „Aber damit das ganz klar ist“, fuhr der junge Mann fort, „diese Zehntausend sind nur eine Abschlagszahlung … Man vergißt manche Dinge nur langsam, wissen Sie. Und wir werden noch allerhand brauchen. Wir wollen nämlich bald heiraten, Charlotte und ich.“
195
Ich habe Witte wiedergefunden
Vor zwei Wochen habe ich Witte wiedergefunden. Heute abend gehe ich zu ihm, um ihn zu töten. Es ist purer Zufall, daß ich ihn wiedergefunden habe. Ich hatte längst die Hoffnung aufgegeben, ihm heimzahlen zu können, was er mir angetan hat, der Lump damals, vor mehr als vierzig Jahren. Anfangs, als es geschehen war, habe ich ja gar nicht gewußt, daß er zu den Mördern gehörte, daß er sogar der Anführer der Rotte war: Rottenführer Witte, kurz vor dem schrecklichen Vorfall noch mein Stubenältester, Präfekt, wie wir sagten, im Internat. Ein guter Schüler; mittelgroß, kräftig, mit zackigem Gehabe, kurzgeschnittenem rotblondem Haar, blasser Hautfarbe, sehr hellen, graublauen Augen, schmalen Lippen, ohne Anzeichen von Bartwuchs und einer leisen, aber schneidenden Stimme, die einem nachhaltiger im Gedächtnis blieb als alle die Brüllstimmen, die in jenen Jahren sonst immerzu zu hören waren. Witte machte dreiunddreißig zu Ostern sein Abitur, ein überdurchschnittlich gutes Abitur; er war überaus beliebt bei den meisten Lehrern des Gymnasiums, weil er für kleinstädtische Studienräte, die aus der deutschen Vergangenheit nichts gelernt hatten, dem Idealbild nordischer Jungmännlichkeit sehr nahe kam, diesem verquasten Idealbild, gemixt aus Langemarck, Niebelungenlied und Blauer Blume … Na ja. Zur feierlichen Verabschiedung der Abiturienten, vierzehn Tage vor den Osterferien, erschien Witte in 196
SA-Uniform. Die anderen hatten dunkle Anzüge an. Bei einigen waren die Ärmel zu kurz und die Hosen zu eng; mit der Krawatte hatten fast alle sichtbare Schwierigkeiten gehabt. Aber Witte kam in die düster-kühle Aula mit den bunten Glasfenstern und den in Eiche geschnitzten Heldengedenktafeln vom ersten Weltkrieg: Dulce et decorum est pro patria mori – Witte also kam ganz in Braun. Seine blanken Schaftstiefel knallten auf dem Parkett. Als er von Dr. Stübing, unserem alten Direx mit der weißen Gerhart-Hauptmann-Mähne, sein Zeugnis ausgehändigt bekam, übersah er die Hand des alten Mannes, schlug die Hacken zusammen und riß den rechten Arm zum „deutschen Gruß“ so schnell hoch, daß Dr. Stübing erschrocken zwinkernd zurückzuckte und ratlos nach seinem Kneifer griff. Wir Kleinen – ich saß in Quarta – fanden Wittes markigen Auftritt großartig. Wir fanden sowieso alles großartig, was in jenen Tagen, Wochen und Monaten geschah: daß es mittwochs keine Schularbeiten mehr gab und samstags keinen Unterricht, weil der Dienst im Deutschen Jungvolk oder in der Hitlerjugend wichtiger war als schulisches Wissen; daß die Unterprima geschlossen und laut murrend das Klassenzimmer verlassen hatte, weil Studienrat Rühlke, der als Gegner des Regimes galt und kurz darauf auch ohne Abschied und auf Nimmerwiedersehen verschwand – weil Rühlke den jüdischen Reichsaußenminister Walter Rathenau im Geschichtsunterricht als großen Deutschen bezeichnet hatte; daß wir jeden Montagmorgen außer dem üblichen Gottesdienst zum Wochenbeginn auch noch zehn Minuten „Flaggenhissung“ hatten, was die erste Stunde sehr verkürzte; daß es auf einmal nicht mehr von so schicksalhafter Bedeutung war, wie die Zensur in Latein oder Mathe aussah, wenn man nur gut in Sport war (fürs Abitur: Prüfung 197
in Geräteturnen, Leichtathletik, Fußball/Handball, Boxen, Schwimmen: volles Ausgleichsfach) und für den Führer stramm seine Pflicht tat … Das alles fanden wir, wie gesagt, ungeheuer aufregend und aufregend großartig. Wir sangen begeistert nach dem Deutschlandlied „Die Fahne hoch“, wetteiferten um die Anerkennung unserer Jugendschafts- und Fähnleinführer, rissen uns darum, bei Aufmärschen eine Fahne tragen, eine Trommel schlagen zu dürfen, und glaubten vorbehaltlos alles, was man uns von der „neuen Zeit“, vom „Umbruch“ und von „Großdeutschland“ erzählte. Ja, und auch Wittes Aula-Auftritt als SA-Mann – oder war er da schon Rottenführer? – fand unseren ungeteilten Beifall, weil das Hackenknallen und Armhochreißen uns als so etwas wie Rebellion erschien – Rebellion gegen den schläfrigmachenden Mief der humanistischen Bildungsanstalt. Für Dreizehnjährige ist Rebellion immer faszinierend. Ganz gleich, wogegen rebelliert wird. Mein Vater war Volksschullehrer in Drebitz, einem Kleinbauern- und Industriearbeiterdorf fünfzehn Kilometer flußabwärts. Er war, glaube ich, ein außerordentlicher Mann. Er brannte vor Eifer, eine bessere Welt bauen zu helfen – eine Welt, in der es weder Arm noch Reich, weder Oben noch Unten, vor allem aber keine Kriege mehr geben sollte. Bei den Schulkindern war er sehr beliebt, weil er immer heiter war, interessant unterrichtete und gerecht beurteilte. Bei den – wenigen – liberalen bis fortschrittlichen Eltern genoß er Vertrauen, bei den anderen Leuten im Dorf aber – beim Pastor, bei den alteingesessenen Landwirten, die sich alle ein bißchen wie Gutsherren vorkamen und auch so betrugen, besonders aber beim Besitzer der Kammgarnspinnerei – galt mein Vater als roter Umstürzler, als Sendbote des Satans, als Gefahr 198
für die Jugend. Denn es gehörte sich in den Augen dieser Leute nicht, daß er in seiner Schule mit den Kindern ganz offen übers Kinderkriegen redete, ja mit den älteren Jungen und Mädchen sogar über die Möglichkeit sprach, Kinder zu verhüten. Und nach Meinung des Pastors war es reine Ketzerei, wenn er den Konfirmandinnen und Konfirmanden unter seinen Schülern die Frage stellte, ob sie denn wüßten, daß Jesus Christus ein Aufrührer gewesen sei, den manche der heutigen – also, der damaligen – Machthaber ohne viel Federlesens aufhängen lassen würden. An einem Mittwoch im Mai des Jahres der nationalsozialistischen „Erhebung“ – ungefähr fünf Wochen nach Wittes SA-Auftritt in der Aula – wurde ich vom Mittagessen im großen Speisesaal weg ins Arbeitszimmer des Internatsleiters gerufen. Mein Weg dorthin durch das leere, mittäglich stille Schulgebäude war mit Ängsten und Fragen gepflastert. Ich dachte, irgendwer habe mich vielleicht denunziert, weil ich mit meinem neuen Taschenmesser in die Tür des Gartengeräteschuppens ein faustgroßes, etwas schief geratenes Herz geschnitzt hatte mit den Buchstaben HS, dem Monogramm eines krullerlockigen Mädchens aus der Quinta, das ich damals gerade glühend liebte, ohne daß sie davon eine Ahnung hatte. Oder, dachte ich voller Angst, es sei am Ende gar aufgekommen, daß ich Zigaretten gegen eine wunderschöne Zwille – ein Katapult mit Ventilgummi als Schleuder – getauscht und damit mehrmals nach der fetten Katze des verhaßten Hausmeisters geschossen hatte, wenn auch ohne zu treffen … Zigaretten waren verboten. Zwillen waren auch verboten. Und die Katze des Hausmeisters war tabu. Vielleicht hatte der Internatsleiter auch erfahren, daß ich neulich für eine ganze Mark „Warschauer Brot“ gekauft hatte, die billigste Leckerei bei dem schulnahen Bäcker, ein schweres, dunkles, klebriges Gemengsel aus 199
Teig, Kunsthonig und Rosinen – und jetzt wollte er womöglich wissen, woher ich das Geld für eine solche Orgie wohl gehabt hatte … Bei einem wöchentlichen Taschengeld von fünfzig Pfennigen – zugeteilt und kontrolliert – mußte solch eine Ausgabe zwangsläufig auffallen und suspekt erscheinen … Ich überlegte krampfhaft, was ich, falls es darum ging, als Erklärung für meinen Reichtum vorbringen sollte, denn die Wahrheit konnte ich unmöglich sagen; er hätte sicher nicht verstanden, daß ich zur Aufbesserung meiner Finanzen manchmal Dinge tat, die sich hart am Rande der Schul- und Schülergesetze bewegten … Wie zum Beispiel den dicken, lieben und dummen Manfred Oberwieser, Sohn eines bayrischen Bierbrauers, für jeweils fünf Pfennige meine Hausaufgaben in Englisch, Erdkunde, Biologie und Geschichte abschreiben zu lassen. Irgend so etwas Schwerwiegendes mußte es doch sein, wenn ich extra aus dem Speisesaal gerufen wurde. Ein reines Gewissen hatte ich damals nie, und ich überlegte mir Ausreden und Erklärungen für alle möglichen Fälle, während ich durch Gänge und Korridore schlurfte. Aber das alles, was ich fürchtete, war es nicht. Der Internatsleiter, ein Mann mit tiefen Magenfalten im Gesicht und ständig einer brennenden Zigarette zwischen den nikotingelben Fingern, erhob sich hinter seinem Schreibtisch, als ich auf sein „Herein!“ das dunkle, mit Büchern vollgestopfte Zimmer betrat, kam auf mich zu, legte mir die Hand auf die Schulter, sah mich ernst an und sagte: „Ich habe eine sehr schwere Nachricht für dich, mein lieber Junge. Deine Mutter ist heute morgen gestorben. Es tut mir so leid …“ Meine Mutter war an dem Schreck gestorben, den ihr die sechs SA-Männer eingejagt hatten, als sie gegen die Wohnungstür traten, „Aufmachen – Polizei!“ brüllten und sie brutal beiseite stießen, als sie verstört öffnete. 200
Dann hatten sie meinen Vater, der im Schlafanzug herbeikam und entsetzt protestierte, mit Fausthieben so zusammengeschlagen, daß er blutend und bewußtlos zu ihren Füßen liegenblieb. Einer, offenbar der Anführer der Gruppe, ein mittelgroßer, kräftiger junger Mann mit kurzgeschnittenem, rotblondem Haar und blasser Gesichtsfarbe, hatte mit der Stiefelspitze den Kopf meines ohnmächtigen Vaters angestoßen und leise, aber schneidend gesagt: „Hol mal einer ’n Eimer Wasser, damit unser linker Pädagoge wieder zu sich kommt – sonst müssen wir den Herrn noch tragen !“ Meine Mutter hatte sich an die Brust gegriffen und war mit einem kleinen, hellen Wehlaut neben meinem Vater auf den Fußboden gefallen. Die SA-Leute hatten daraufhin beide mit kaltem Wasser übergossen. Das hatte zwar meinen Vater wieder zu sich gebracht, aber bei meiner Mutter hatte es nicht mehr genützt. Ich erfuhr das alles am Vormittag vor der Beerdigung meiner Mutter von Marianne, der Tochter unseres Hauswirts, einem Mädchen von fünfzehn, mit dem ich befreundet war. Marianne hatte die Vorgänge zum Teil miterlebt, zum Teil aus den entsetzten oder auch hämischen Kommentaren der Erwachsenen aufgeschnappt. Sie erzählte es mir flüsternd und hinter vorgehaltener Hand, als niemand in der Nähe war. Es war ein furchtbarer Schock für mich, zumal ich mit meiner hemmungslos weinenden, völlig aufgelösten Großmutter allein hinter dem Sarg hergehen mußte und keinen Menschen hatte, bei dem ich Rat und Trost hätte finden können. Die Leute im Ort fürchteten sich, mir, dem Sohn des „Staatsfeindes“, in irgendeiner Weise zu helfen. Und mein Vater saß im Gefängnis, in einem Lager oder einer Polizeikaserne … Ich wußte nicht, wo. Ich habe es auch nie erfahren. Meine Großmutter, Mutters Mutter, konnte zwei Jahre lang keine Verbin201
dung zu ihm herstellen. Und dann erhielt sie die lapidare Nachricht, er sei bei einem Fluchtversuch aus dem Arbeitslager erschossen worden. Einen Monat darauf kam eine Urne mit seiner Asche. Per Einschreiben. Sieben Jahre nach dem Tod meiner Mutter und dem Abtransport meines Vaters, am Ende des ersten glorreichen, großdeutschen Kriegsjahres, wurde mir, zusammen mit siebzehn anderen, auf einem tristen Kasernenhof im Mecklenburgischen ein schwarzes Stück Blech an die Brust geheftet, damit alle gleich sehen konnten, daß ich durch Feindeinwirkung verwundet worden war. Irgend so ein slawischer Untermensch hatte mit Hilfe einer Kanone Granatsplitter produziert, von denen mich einer am linken Oberarm erwischt hatte – vielleicht hat er was dagegen gehabt, daß ich gerade im Begriff war, Polen zu erobern. Er hat leider – polnische Wirtschaft! – so schlampig gearbeitet, daß ich nach ein paar Wochen wieder k. v. war … k. v. heißt kriegsverwendungsfähig und ist nicht nur aus philologischer Sicht ein bemerkenswerter Ausdruck. Das Zeremoniell – damals noch feierlich, später, als die Häufigkeit solcher Veranstaltungen überhandnahm, nur noch zwischen zwei Appellen – das Zeremoniell fand in Anwesenheit höherer Offiziere statt. Der Herr Bataillonskommandeur schritt mit seinem Stabe persönlich die Reihe der Auszuzeichnenden ab, pikste jedem einzelnen das schwarze Ding durch die Falte in der Mitte der linken Feldblusenbrusttasche, ließ sich, ohne recht hinzuhören, leutselig Namen, Heimatort, Einheit und Hergang der Verwundung berichten, drückte nacheinander achtzehn Hände und verzog jedesmal die schmalen Lippen zu einem anerkennenden Lächeln, das nicht bis hinauf in die sehr hellen Augen drang. Ich stand als siebzehnter in der Reihe, da ich nur eins neunundsechzig groß bin, und kam also als Vorletzter 202
dran. Das Gesicht des Herrn Major kam mir zwar bekannt vor, aber ich konnte ihn nicht unterbringen, und da ich seinen Namen nicht kannte – ich war erst ein paar Tage bei dieser Ersatzeinheit –, fiel mir auch nicht ein, woher ich ihn hätte kennen können, mal ganz abgesehen davon, daß eine irgendwie geartete Bekanntschaft zwischen einem schlichten Oberschützen und einer gottähnlichen Gestalt wie einem ausgewachsenen Major kaum wahrscheinlich war … Oberschütze wurde damals, wer zu dämlich oder sonstwie ungeeignet zum Gefreiten war. Aber der Herr Major stutzte, als ich – gelernt ist gelernt – zackig meldete, daß ich, der Oberschütze Coldewey von der dritten Kompanie des zweiten Bataillons des Infanterieregiments hundertdreiundleipzig, bei Tschenstochau verwundet worden sei, als ich mit einem Stoßtrupp … und so weiter. „Coldewey?“ fragte der Herr Major und ließ meine Hand los. „Coldewey … Vorname?“ „Georg“, meldete ich erstaunt, denn er hatte sich bei keinem meiner Nebenmänner nach dem Vornamen erkundigt. „Georg Coldewey …“, murmelte er, kniff die Augen zusammen, musterte mich aufmerksam, runzelte die Stirn und fragte: „Woher stammen Sie, Coldewey?“ Ich meldete, daß ich in L. beheimatet sei. Die anderen Herren waren unterdessen, vom unvorhergesehenen Aufenthalt irritiert, näher getreten und betrachteten mich mit Interesse. Der Herr Major war offenbar noch nicht befriedigt. „Ist Ihr Vater … hm … Lehrer?“ „Er war Lehrer, Herr Major! In Drebitz, einem Dorf bei L.“ „So, er war … Lebt Ihr Vater nicht mehr?“ Ich hatte ein zunehmend unangenehmes Gefühl bei seinen Fragen, ein Gefühl von Bedrohtsein, von Gefahr … „Nein, Herr Major. Meine Mutter auch nicht …“ Das war 203
ganz und gar unvorschriftsmäßig und gegen alle Disziplin. Er hatte mich nicht nach meiner Mutter gefragt. Ich hatte nur auf seine Fragen zu antworten. „Ich weiß“, sagte er mit einer Handbewegung, die mir das Wort abschnitt, sah mich aus schmalgekniffenen Augen an, wiederholte: „Das weiß ich … Und Sie, Coldewey, kämpfen also für Großdeutschland?“ „Jawoll, Herr Major!“ sagte ich verwirrt – so verwirrt, daß ich für ein paar Sekunden vergaß, die Hände vorschriftsmäßig an der Hosennaht zu halten. „Nehmen Sie Haltung an, wenn Ihr Kommandeur mit Ihnen spricht, Mann!“ zischte mich der Kompaniechef an, der neben dem Herrn Major stand. Der Herr Major streifte den Eifrigen mit einem Blick, der kalt war wie ein toter Fisch, und winkte ab. „Georg Coldewey aus Drebitz, verwundet im Kampf für Führer und Vaterland …“, murmelte er, schüttelte leicht den Kopf, machte „tz, tz, tz …“ und wandte sich, ohne mich noch mal anzusehen, dem achtzehnten in der Reihe zu, bei dem er sich jedoch kaum eine Minute aufhielt. Am Abend in der lauten, ungemütlichen Kantine der Infanteriekaserne, zwischen Männergesang, Marschmusik und Radiosondermeldungen über versenkte Schiffe, erfuhr ich, daß unser Regimentskommandeur Witte hieß. Major Witte. Ich grübelte lange darüber nach, warum sich mein Präfekt, auf dessen Stube ich ja immerhin zwei Jahre gewesen war, nicht zu erkennen gegeben hatte. Es wäre ihm doch weiß Gott keine Perle aus der Krone gefallen, wenn er zum Beispiel gesagt hätte: „Ach, Coldewey, Georg – hier, in meinem Bataillon? Erinnern Sie sich gar nicht an Ihren Präfekten – wie? Kommen Sie heute nachmittag mal zu mir, von den alten Zeiten reden …“ Den letzten Satz hätte er ja auch weglassen können. Aber vielleicht gab’s da eine Art Ehrenkodex für Stabsoffiziere, dem zufolge sie sich nicht mit Leuten aus dem 204
Mannschaftsstand gemein machen durften … Na, scheiß drauf! Viel mehr interessierte mich, woher Witte – der Herr Major Witte – vom Tod meiner Mutter und was er von meinem Vater wußte. Das konnte ich mir nicht zusammenreimen. Ich fuhr während meines nächsten Wochenendurlaubs nach Drebitz. Marianne, die Tochter unseres damaligen Hauswirts, meine Spielgefährtin, inzwischen eine mollige Frau eines Feldwebels, der irgendwo am Westwall Furage fuhr, und zweifache Mutter, Marianne freute sich, mich wiederzusehen, und bemühte sich bereitwillig, mir weitere Auskünfte über die Männer zu geben, die damals meinen Vater abgeholt hatten. Aber es kam nicht viel dabei heraus. „Weißt du, das ist schon arg lange her“, sagte sie. „Und es ging auch alles so schnell …“ Ich beschrieb ihr Wittes Aussehen und seine Art, sich zu bewegen, seine Stimme, seinen Gang, und sie nickte schon bei dieser Schilderung. Als ich dann fragte, ob bei der Verhaftung meines Vaters vielleicht der Name Witte gefallen sei, sagte sie: „Witte? Wart mal … Ja, ich glaube, der Anführer hieß Witte oder so ähnlich. Während sie in eurer Wohnung waren, hat das Telefon gebimmelt. Er ging ran – irgendein Gespräch für deinen Vater wahrscheinlich. Die Verbindung war offenbar schlecht, und der Anrufer wollte wissen, wer am Apparat war. Da hat er mehrmals laut seinen Namen gesagt … Der hatte so eine helle, scharfe Stimme; ich hab’s genau verstanden: Rottenführer Witte … Dann hat er noch buchstabiert: Walter, Ida, zwomal Theodor … Ja, so hieß er!“ Ich fuhr am Sonntagabend zurück in die triste Kaserne mit der festen Absicht, meinen Bataillonskommandeur umzubringen. Ich wußte zwar noch nicht, wie – aber das würde sich finden. Doch der Herr Major war an diesem Wochenende versetzt worden. Er war schon abgereist. Nach Polen. 205
„Sondereinsatz“, sagte mir ein Gefreiter von der Bataillonsschreibstube. „Geheime Reichssache – keine Ahnung, was er da soll. So was krieg ich nicht zu lesen.“ Er ließ sich für die Auskunft ein Bier in der Kantine bezahlen. Ich habe Witte dann aus den Augen verloren. Alle meine Bemühungen, den Mörder meiner Mutter und, indirekt, auch meines Vaters wiederzufinden, sind gescheitert. Mit der Zeit habe ich es auch, wie schon gesagt, aufgegeben, ihn zu finden. Selbst der heftigste Haß bleibt nicht über Jahre und Jahrzehnte scharf, wenn einem der Gegenstand dieses Hasses nicht mehr vor Augen, wenn er zum Phantom geworden ist. Phantome haßt man nicht. Es war soweit, daß ich sogar das langsam vergilbende Foto meiner Eltern, das über meinem Schreibtisch hängt, anschauen konnte, ohne an Witte und an Rache zu denken. Und nun bin ich vor zwei Wochen durch Zufall auf seine Spur gestoßen. Wir hatten eine Zeitungsannonce aufgegeben, weil wir unser altes Faltboot verkaufen wollen. Es liegt zusammengelegt auf dem Dachboden und wird mürbe. Die Kinder sind groß und haben kein Interesse daran, und wir, meine Frau und ich, sehen uns auch nicht mehr auf irgendwelchen Flüssen oder Seen paddeln. Als ich in der Wochenendausgabe der Zeitung unter VERMISCHTES unsere Annonce suchte, da fand ich direkt darüber ein anderes Verkaufsangebot: Guterhaltener Herrenwintermantel, stand da, umständehalber preiswert … und so weiter. H. Witte, Kreuzdorfer Str. 13. Witte – mein Witte – hieß mit Vornamen Heinrich. Es gab zwanzigmal den Namen Witte im Telefonbuch. Dabei war kein Heinrich, und keiner wohnte in der Kreuzdorfer Straße. 206
Ich fuhr zur Kreuzdorfer Straße und sah mir das Haus Nummer dreizehn an. Es war ein regennasser, kühler Nachmittag. Das Haus ist ein mittelgroßer grauer Mietblock mit acht Namen an der Klingelleiste. Im Parterre ist links eine Drogerie und rechts ein Handarbeitsgeschäft. Im ersten Stock links stand auf dem Schildchen H. Witte. Ich stieg, ohne im dämmerigen, nach Kohl und Kleinbürgern riechenden Hausflur das Licht anzuknipsen, die Treppe zum ersten Stock hinauf. An der Wohnungstür ein weißes Emailleschild mit verschnörkelten schwarzen Buchstaben: Heinrich Witte Aber ich war natürlich noch nicht sicher. Wieder unten auf der Straße, sah ich auf einem Fensterbrett der Wohnung ein Vogelbauer mit zwei Kanarienvögeln. Auf der anderen Straßenseite befand sich eine kleine Zoohandlung. Dort fragte ich. „Witte …“ Die zierliche alte Frau hinter dem Ladentisch sah mich aus wässerigen Augen an, die hell und pupillenlos wirkten wie Perlmuttknöpfe, legte den runden Kopf schief und wußte nicht recht, ob sie mir Auskunft geben sollte. Erst als ich ihr was vorgeschwindelt hatte von alten Bekannten, die mich gebeten hätten rauszufinden, ob dieser Heinrich Witte auch aus Ostpreußen stamme und so – erst dann redete sie. „Witte – je nun, ja –, wenn Sie die von gegenüber meinen, die kenn ich. Das heißt, ihn kenn ich nur flüchtig, denn der kommt ja kaum noch auf die Straße, geschweige denn, daß er etwa alleine einkaufen geht, klapprig wie der ist – Verzeihung, aber der Mann ist ja nur noch ein Wrack … Aber seine Frau, so ’ne Hagere ist das – ja, die kommt öfter und holt Vogelsand und Kanarienfutter. Sie holt immer Singfutter, obwohl … Also, das 207
hilft nichts, ja? Sie singen nicht, wenn sie zu zweit in einem Käfig sind. Dann zwitschern sie bloß. Aber das will sie mir ja nicht glauben, die Frau Witte … Die gehört zu denen, die immer alles besser wissen. Neulich habe ich ihr gesagt, sie soll den Vögeln mal was Grünes …“ Ich habe also Witte wiedergefunden. Und heute abend werde ich zu ihm gehen und ihn töten. Erst habe ich gedacht, vielleicht ist er gestorben: Wenn sein Wintermantel umständehalber preiswert zum Verkauf angeboten wird … Vielleicht ist er tot? Die Zoohändlerin hätte das aber sicher gewußt … Trotzdem wollte ich mich vergewissern. Ich beobachtete Frau Witte ein paar Tage so unauffällig wie möglich. Sie ist eine große knochige Frau Ende Fünfzig, Anfang Sechzig. Ihr Gesicht ist kantig, hölzern und ziemlich unbewegt. Nur die ziemlich großen, sehr dunklen Augen sind voller Leben, wachsam und flink – wie Kakerlaken, auf die plötzlich ein Lichtstrahl fällt. „Ein Achtel von der einfachen Leberwurst für meinen Mann“, verlangte sie beim Einkaufen im Schlachterladen. Witte lebt also noch. Bis heute abend jedenfalls … Es ist verrückt, aber ich hätte mich geärgert, wenn er kurz vorher, kurz ehe ich ihn aufgespürt hatte, an Kreislaufschwäche oder so etwas friedlich entschlafen wäre. Zuerst habe ich ein Messer nehmen wollen. Doch der Gedanke, ein Messer in Wittes Hals oder Brust stoßen zu müssen und dabei am Ende gar noch seine Haut zu berühren, war mir so widerwärtig, daß ich das lange Brotmesser, das ich schon ausgesucht hatte, wieder in die Küchenschublade gelegt habe. Dann habe ich an einen Lederriemen, einen Strick oder einen Nylonstrumpf gedacht, mit dem ich ihn er208
drosseln wollte. Aber auch da hat mich die mögliche Hautnähe so abgestoßen, daß ich den Gedanken gleich verworfen habe. Einen Revolver oder eine Pistole besitze ich nicht. Es wäre sicher nicht schwer gewesen, eine Schußwaffe zu beschaffen – aber damit wäre die Entdeckungsgefahr sehr groß geworden. Und ich möchte ja schließlich für meine gerechte Tat, meine Tat der Gerechtigkeit, nicht den Rest meines Lebens hinter Gittern sitzen … Gerechte Tat ? habe ich mich dann zwischendurch immer wieder gefragt – wieso ? Wie kommst du eigentlich dazu, einen Menschen umzubringen? Weil er deine Mutter umgebracht hat? Das war ein Unfall, wenn man’s von der anderen Seite betrachtet … Und, indirekt, deinen Vater? Ein Zufall – es hätte genausogut ein anderer an Wittes Stelle … Und es laufen vermutlich noch viel größere Schweine frei rum als dieser Witte. Wer bist du, daß du ihn töten willst – der liebe Gott? Oder der Sheriff aus einem Western? Ich habe dann eine ganze Weile mit dem Gedanken gespielt, Witte anzuzeigen, dafür zu sorgen, daß er als Naziverbrecher vor Gericht kommt. Aber die Praxis solcher Prozesse, bei denen die Zeugen, soweit noch vorhanden, sich nach all den Jahren an nichts mehr erinnern können und die Angeklagten sich auf „Befehlsnotstand“ herausreden, wenn sie überhaupt verhandlungsfähig sind (… der Mann ist ja nur noch ein Wrack …) – die Praxis solcher Prozesse hat mich davon zurückgehalten. Zumal ich darüber hinaus ohnehin – hier vielleicht unlogisch, aber wahr – eine Allergie gegen Denunziation jeder Art habe. Ich bin schließlich auf Gift gekommen. Das ist wohl auch eine der qualvollsten Arten zu sterben. Ich habe mir in einer Drogerie im entlegensten Stadtteil Insektenvertilgungsmittel gekauft, in Pulverform, arsenhaltig, hochwirksam. Es gibt, wenn man es kurz aufkochen läßt, 209
einen farblosen Sirup. Den habe ich noch mal durch ein Tuch gefiltert und einen knappen Eierbecher voll davon in eine Taschenflasche Weinbrand geschüttet. Hallo, Witte, alter Schulkamerad, werde ich heute abend zu ihm sagen, das ist aber ein richtig glücklicher Zufall, daß ich dich wiedergefunden habe – nach so langen, ereignisreichen Jahren … Von unserer Begegnung in Uniform auf dem tristen Kasernenhof im Mecklenburgischen werde ich nichts sagen. – Darauf müssen wir, ehe wir von früher reden, erst mal gleich einen Schluck nehmen – wie? Komm, ich hab immer was bei mir … Allzeit bereit, sozusagen, hahaha – unser alter Wahlspruch aus Pfadfinderzeiten, ehe wir Pimpfe wurden, weißt du noch? Komm, Heinrich, alter Junge, mein Stubenältester – Präfekt von Zimmer sechs im Backsteinkasten von L. –, komm, einen Schluck auf die gute alte Zeit! Und dann werde ich den abgeschraubten silbernen Becher der Taschenflasche füllen und ihm hinhalten. Das kann er nicht ablehnen, wo ich mich doch so sehr freue über das Wiedersehen. Und wenn er getrunken hat, werde ich sagen: So – das war ein Gruß von meinem Vater, Rottenführer! Du hast über ihn und über meine Mutter Wasser schütten lassen, als sie vor dir auf dem Boden lagen. Bei meiner Mutter hat es nichts mehr genützt – aber mein Vater, der linke Pädagoge, ist bei Bewußtsein gewesen, als ihr ihn zum Sterben in eines eurer Lager geschafft habt. Ihr mußtet ihn nicht tragen. Er läßt dich durch mich grüßen, Witte! Ja. Und dann werde ich ihn allein lassen. Er wird vielleicht schon bei meiner schönen Rede anfangen einzugehen – ich weiß nicht, wie schnell das Gift wirkt. Aber ich bleibe nicht, bis es gewirkt hat. Seine Frau geht dienstags abends zum Kirchenchor. 210
Sie singt Alt. Zur Zeit üben sie eine Bach-Passion für Ostern – ich weiß nicht, ob Johannes oder Matthäus. Sie singt sehr eifrig und besucht alle Proben mit zuverlässiger Regelmäßigkeit. Das weiß ich von der Bäckersfrau in der Nebenstraße. Die singt da auch mit. Heute ist Dienstag. Ich klingle zehn Minuten nach sieben Uhr an der Wohnungstür. Um halb acht beginnt die Chorprobe. Bis zum Gemeindehaus sind es gut fünfzehn Minuten. Frau Witte wird im Aufbruch sein. Sie öffnet in Hut und Mantel. „Guten Abend, Frau Witte“, sagte ich mit einem leicht süddeutschen Tonfall, den ich dafür geprobt habe. „Mein Name ist Petermann …“ Das ist der Name eines Klassenkameraden von Witte, der auch mit uns im Internat war und oft mit ihm zusammen. „Ich bin ein Schulfreund Ihres Mannes aus der Internatszeit in L., und ich habe zufällig erfahren, daß Sie hier wohnen … Ich bin auf der Durchreise. Und ich wollte den guten alten Heinrich mal besuchen – wir haben uns ja seit Jahren nicht …“ „Ich weiß nicht recht“, sagte sie mit einer harten Stimme. „Mein Mann … Er ist ziemlich krank … Das ist zwar sehr freundlich von Ihnen, aber können Sie nicht ein andermal …?“ „Das tut mir aber leid – krank?“ sagte ich. „Na so was! Das kann man sich bei ihm gar nicht vorstellen, wo er doch sonst immer vorneweg … Damals … Also so was! Was Ernstes? Hoffentlich nicht … Ja, was machen wir denn da? Wer weiß, wann ich wieder mal hier zu tun habe … Ach, Sie wollen gerade ausgehen? Halte ich Sie auf?“ „Zum Chor“, sagte sie. „Wir singen Ostern die Johannes-Passion. Von Johann Sebastian –“ „Ich weiß“, sagte ich. „Ein wundervolles Werk!“ „Also, wenn Sie …“ Sie ist schon halb umgestimmt. „Warten Sie mal, ich frage ihn eben schnell, ja?“ 211
Ich trete in den schmalen Flur der Wohnung. Es riecht nach Kartoffeln, Seife, Ausguß und nach altem Papier, das irgendwo stockt. Die Deckenlampe ist nicht hell. Das kann mir nur recht sein, obschon kaum Gefahr besteht, daß mich Frau Witte später identifizieren könnte, denn ich trage eine dickgerandete Hornbrille und ein graues Toupet. Ich habe mich vorhin, als ich mich damit kostümierte – in der Toilette am Hauptbahnhof – selbst nicht wiedererkannt. Macht jünger, so ein Toupet, auch ein grauhaariges, und verändert sehr. Frau Wittes Stimme klingt – nein, klirrt … Wie sie damit Bach singt, ist mir schleierhaft … klirrt aus dem offengebliebenen Zimmer rechts vom Flur. „… Petermann! Ein alter Schulfreund aus dem Internat …“, sagt sie in der Lautstärke, in der man mit Schwerhörigen, ungezogenen Kindern oder Ausländern spricht. „Er will dich besuchen, Heinrich! Ja! Setz dich ordentlich hin, so! Und nimm mal dein Taschentuch … Wie? – Ja, P–ter–mann … Was? Nun sei doch froh, daß überhaupt mal jemand … Ich schicke ihn dir ’rein!“ Sie kommt heraus. „Wann haben Sie meinen Mann das letztemal gesehen?“ fragt sie. „Vor … Das muß fünfzehn Jahre her sein!“ lüge ich. „Erschrecken Sie nicht“, sagt sie ungerührt. „Er ist sehr krank. Ohrspeicheldrüsenkrebs. Er weiß es aber nicht. Es riecht. Aber er riecht es auch nicht. Außerdem kann er nur noch mühsam laufen. Es ist nur mehr eine Frage der Zeit, bis …“ Sie bricht ab und hebt die Schultern. „Es ist sehr schwer mit ihm, wissen Sie. Aber die paar Monate muß ich noch durchhalten. Schon wegen der Versorgung. Bitte, verstehen Sie es nicht falsch – aber ich habe ja keine Wahl. Wir sind …“ Sie sagt nicht mehr, was sie sind. Ich will es auch nicht wissen. 212
„Ja“, sage ich verstört unter dem Eindruck ihrer Stimme, ihrer hölzernen Miene und ihrer sehr dunklen, flinken Augen, „ja, natürlich …“ „Ich muß jetzt aber machen, daß ich loskomme“, sagt sie. „Ziehen Sie die Wohnungstür einfach zu, wenn Sie weggehen.“ Es riecht wirklich. Es riecht nach Verwesung und nach Desinfektion. Witte hockt neben dem Fenster, vor dem die Dämmerung steht. Er hockt in einem großgeblümten Ohrensessel, hat ein kariertes Plaid um Füße und Knie und eine graue, verwaschene Strickjacke an, aus der sein dürrer, faltiger Hals wächst, graufleckig von schlechtgeschabtem Bartwuchs. Um den Kopf ist ein Verband gewickelt, der das rechte Ohr dick einhüllt. Unter dem gelblichen Verbandstoff zipfeln einzelne graue Haarsträhnen hervor und hängen bis zu den Augenbrauen. Die Augen sind unverändert: schmal, scharf, wasserhell. Auch seine Stimme ist unverändert: immer noch leise, schneidend. Nur ein wenig kratzig, wie die Stimme eines starken Rauchers. „Petermann“, sagt er und sieht mich an, versucht, sich aufzurichten, reicht mir die Hand, die feucht und weich ist, sinkt wieder in den Sessel zurück. „Petermann! So eine Überraschung … Das hätte ich mir auch nicht träumen lassen. Komm, nimm Platz!“ „Wiedersehen!“ ruft die Frau von der Tür her und geht. „Adieu!“ sage ich, aber das hört sie sicher nicht mehr. Witte sieht mich aufmerksam an. Ich stecke die Hand in die Tasche meines Trenchcoats, den ich anbehalten habe. Sie hat mich nicht aufgefordert abzulegen. Die Flasche fühlt sich glatt und kühl an. Weinbrand. „Ja“, sage ich. „Ja, Witte, Heinrich – altes Haus! Aber 213
was machst du für Sachen?“ Er schweigt, sieht mich noch immer aus seinen hellen, kalten Augen an, schnüffelt, faßt sich mit der Hand, mit zitternden Fingern an den Verband am Ohr und kichert plötzlich: „Hihi … Ich sterbe!“ Sein Gesicht verzieht sich, hat auf einmal einen wehleidigen, weinerlichen Ausdruck, wirkt uralt – wie ein Schildkrötenkopf. „Seit einem halben Jahr“, fährt er leise fort. „Es ist ein Krebs. Meine Frau weiß es nicht. Das ist auch gleichgültig. Ich bin ihr sowieso schon lange gleichgültig … Wenn bloß die Schmerzen nicht wären … und der widerliche Geruch. – Riechst du es nicht? Das ist der Tod. Ein ekliger Tod, mein Lieber!“ „Ich weiß“, sage ich. „Was weißt du?“ fragt er. „Daß du sterben mußt, Witte!“ „Woher …?“ fragt er – und nun sieht er mich plötzlich gespannt an, hebt den Kopf und atmet schneller. „Du … du bist nicht Petermann“, sagt er nach einer Pause von endlosen vier Sekunden, „Ich hab das gleich gesehen. Schon als du reinkamst … Petermann war größer. Du … du bist … Bist du Georg Coldewey?“ „Jawoll, Rottenführer!“ schnarre ich. „Ach so …“, sagt er. „Und du willst mich umbringen, Coldewey? Weil ich deinen Vater …“ Sein Blick hatte jetzt etwas unglaublich Sehnsüchtiges, geradezu Geiles. „Willst du mich umbringen, Coldewey?“ Ich sehe ihn an. Er sieht mich an. „Nein“, sage ich schließlich. „Jetzt nicht mehr.“ Ich gehe langsam rückwärts zur Stubentür. Er ist in sich zusammengesunken und stöhnt. Seine Augen sind geschlossen. Seine Fingerspitzen tasten über den dicken Verband. Ich ziehe die Wohnungstür hinter mir ins Schloß.
214
Inhalt
Der Kammgarn-Killer 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13
6 6 24 42 52 72 86 93 113 124 134 140 154 170
Pistolen bringen manchmal Glück
173
Der Witwenmacher
184
Ich habe Witte wiedergefunden
196
Inhalt
215
Ausgabe für die Deutsche Demokratische Republik mit Genehmigung der Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg. DER KAMMGARN-KILLER
Copyright © 1979 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg. Die Erzählung „Pistolen bringen manchmal Glück“ wurde entnommen aus BLUT AN DER MANSCHETTE Copyright © 1974 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg. Die Erzählung „Der Witwenmacher“ wurde entnommen aus TOD IM DUTZEND Copyright © 1972 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg. Die Erzählung „Ich habe Witte wiedergefunden“ wurde entnommen aus DIE LANGE, GROSSE WUT Copyright © 1976 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg.
Der Vertrieb in der Bundesrepublik Deutschland, in Westberlin, im westlichen Ausland und in Jugoslawien ist nicht gestattet.
1. Auflage Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1981 Lizenz-Nr.: 409-160/117/81 • LSV 7304 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM* 622 508 8 DDR 2,– M