Terra Astra 499
Der Kaiser von Louden ARNDT ELLMER 2. Teil Die Hauptpersonen des Romans: Lavynna von Dorhagen - Regier...
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Terra Astra 499
Der Kaiser von Louden ARNDT ELLMER 2. Teil Die Hauptpersonen des Romans: Lavynna von Dorhagen - Regierungschefin von Veran. Helder von Anceynt - Sonderbeauftragter des veranischen Ministeriums für Sicherheit Der Kaiser von Louden Ein Mann wird als Verbrecher entlarvt Mira Alcanter Eine Kommandantin in unerbittlichem Einsatz Professor Dan R Ross Ein Wissenschaftler hat den ersehnten Erfolg.
Am 4. Arvil des Jahres 1861 wurde das Ausbildungsschiff TITIUS der veranischen Raumflotte von einem unbekannten Gegner vernichtet. Es stellte sich heraus, daß das Schiff mit der geheimgehaltenen, nie gebauten Gammawaffe beschossen worden war. Alle Insassen waren eines grauenhaften Todes gestorben. Die Imperiumsregierung auf Veran wurde informiert. Lavynna von Dorhagen, die Regierungschefin, und Helder von 2
Anceynt, Sonderbeauftragter des Ministeriums für Sicherheit, erfuhren davon, als sie von einem gemeinsamen Urlaub zurückkehrten. Sie kümmerten sich um den Vorfall. Helder suchte die Unglücksstelle auf. Als einzige Spur hatte er den Ort, an dem der Überfall geschehen war. Er lag in der Nähe des Pentasystems. Während auf dem Planeten Kayshyrstan die Bevölkerung Rat bei ihren Weisen suchte, landete Helder auf Gernot, der dritten Welt der Sonne Penta. Er traf auf einen Tramp, der sich Baron Müllner nannte und Helder einen Hinweis verkaufte. Von Anceynt fand jedoch in Tarags Valley dann nichts außer einem Ring und einem merkwürdigen Geruch, der in der Höhle hinter dem Wasserfall hing. In die Hauptstadt Planck zurückgekehrt, erfuhr er von der Ermordung Müllners. Da er keine Spur fand, die ihm weiterhelfen konnte, verließ Helder schließlich das Pentasystem und kehrte nach Veran zurück. Inzwischen beriet sich auf Kayshyrstan Fürst Yshgonyr mit seinen Landgrafen. Die Weisen machten sich Gedanken über die Zukunft des Planeten und ihres Volkes, das die Grenzen der engen Heimat zu sprengen drohte. Die beiden Welten der Sonne Kay waren so mit sich selbst beschäftigt, daß sie wohl nicht erfuhren, daß ein Handelsschiff die Zustände auf dem Planeten Damrijan entdeckt hatte. Die NASSAU stellte fest, daß dessen Bewohner sich in einem tranceähnlichen Zustand befanden. Die NASSAU gab Sijdon-Alarm. Veran reagierte diesmal schnell. Helder von Anceynt kam nach Damrijan und fand die Bevölkerung im Drogenrausch. Die Menschen nahmen keine Nahrung mehr zu sich. Die ersten waren bereits verhungert. Eine großangelegte Rettungsaktion lief an. Die Wissenschaftler machten sich auf die Suche nach dem Gegenmittel. Helder von Anceynt nahm mit Erfolg die Spurensuche auf. Die Substanz der Droge, in Pulverform vorliegend, erinnerte 3
ihn an den Geruch in der Höhle von Tarags Valley. Kurz darauf entdeckte sein Schiff, die VOLANDRA, einen verdächtigen Schiffspulk in der Nähe der Doppelsonne Tergantil-Pfalz. Helder flog hin. Das Schiff geriet in eine Falle und wurde mit der Gammawaffe beschossen. Die Besatzung starb. Helder von Anceynt, dessen Schädel merkwürdigerweise nicht von der Strahlung betroffen war, hätte vielleicht gerettet werden können. Als aber seine Organe versagten, blieb nur noch ein einziger Ausweg. Der Kaiser von Louden, von dessen Existenz bisher niemand wußte, traf hinter den Kulissen bereits die Vorbereitungen für weitere Aktionen. Unsichtbar zog der Mann mit der Maske seine Fäden. Er wußte, daß er nichts zu fürchten hatte. Er hatte den ersten Kampf gewonnen. 1. Die Bänke der Abgeordneten waren voll besetzt. Das war eine Seltenheit auch in diesem Parlament, das über ein ganzes Imperium zu wachen hatte. Das Hauptthema auf der Tagesordnung brachte die Notwendigkeit einer vollzähligen Anwesenheit allerdings mit sich. Es ging um Damrijan und die vernichtete VOLANDRA. Oben, in den Reihen der Regierungsmitglieder, saß Lavynna von Dorhagen. Ihre Augen auf die vor sich liegenden Unterlagen gerichtet, erweckte sie den Eindruck geistiger Abwesenheit. Sie war nicht bei der Sache. Erst als Wreden Abonmey, der Führer der Volkspartei Verans, das Rednerpult betrat und in gewohnter Weise auf die Mikrofonmembran klopfte, sah sie auf. Abonmey, ein kleiner Mann mit rundlichem Bauch und dazu passendem Glatzkopf, hustete herausfordernd. Er hob eine Hand. 4
„Meine Damen und Herren" begann er lautstark, „Veran hat zwei Parlamente. Eines verwaltet den Planeten, das andere ist für das Imperium zuständig. Selten gibt es Gelegenheit, daß Mitglieder des regionalen Parlaments hier sprechen dürfen. Es ist mir eine Ehre. Gleichzeitig ist diese Tatsache ein Zeichen dafür, daß etwas faul ist im veranischen Imperium, und die Schuld daran trägt diese Regierung!" Er deutete auf Lavynna von Dorhagen. Sie beobachtete seine Mimik und stellte fest, daß er gerade umschaltete. Die theatralischen Einleitungsworte waren vorüber. „Das Imperium ist in Gefahr und mit ihm unser Planet", fuhr Abonmey fort. „Erinnern wir uns, daß am 4. Arvil das Schulschiff TITIUS von einem unbekannten Gegner mit der Gammawaffe vernichtet wurde. Dazu hätte es nie kommen dürfen. Nur einem engsten Kreis von Mitarbeitern und Politikern war bisher bekannt, daß diese Waffe vor Jahren bereits auf dem Papier entwickelt wurde. Damals sorgte die Regierung dafür, daß man sie nie bauen würde. Der führende Konstrukteur, ein Mann namens Xumataka Ern, zog sich zurück und starb." Mehrere Abgeordnete ließen ihrer Überraschung freien Lauf. Sie riefen dazwischen. Der Parlamentspräsident brachte sie mit seiner Glocke zum Schweigen. „Sie haben ganz recht!" rief Abonmey. „Die beteiligten Wissenschaftler mußten damals eine Erklärung unterschreiben, daß sie von ihrem Wissen keinen Gebrauch machen würden. Mehr nicht. Und heute sind wir mit dem Gammastrahler konfrontiert und wissen nicht, wer ihn gebaut hat." Die Regierung hatte in den letzten Wochen seit der Vernichtung des Schulschiffs und dem Fall Damrijan versäumt, die Öffentlichkeit über diese Waffe aufzuklären. Die Presse hatte besser gearbeitet und alte, zum Teil unveröffentlichte Dokumente ausgegraben, die sich mit der Entwicklung des Gammastrahlers befaßten. Die Bevölkerung war beunruhigt. 5
„Wir fordern eine Antwort!" verlangte Abonmey. „Bevor es zu spät ist. Die Regierung hat ihre Unfähigkeit schon genug unter Beweis gestellt." Abonmey verließ das Pult. Der Sprecher der Abgeordneten des Louden-Sektors meldete sich zu Wort. „Wir möchten wissen, was die Regierung bis zur jetzigen Stunde getan hat, um eine weitere Eskalation zu verhindern!" sagte er laut. „Wie es scheint, ist der Louden-Sektor als einziger betroffen. Dort wurde die TITIUS überfallen und auch die VOLANDRA vernichtet Die Vorgänge auf Damrijan erfüllen uns mit Furcht!" Lavynna schickte Hoimand, ihren Regierungssprecher, an die Mikrofone. Sie fühlte sich nicht imstande, eine überzeugende Antwort zu geben. Die Regierungschefin Verans trug schweren persönlichen Kummer mit sich herum. Das Schicksal ihres Freundes belastete sie. Der Regierungssprecher umriß die Maßnahmen, die getroffen worden waren. Er strich heraus, daß sich mehr nicht tun ließ, da der Gegner nicht bekannt und somit unverwundbar war. Er konnte zu jeder Gelegenheit an einem anderen Ort zuschlagen. „Wir können nicht den Louden-Sektor gegen das übrige Imperium abriegeln", sagte Hoimand. „Das hieße, den Sektor in jeder Hinsicht zu isolieren. Jedes einfliegende Schiff müßte von oben bis unten kontrolliert werden. Und selbst dann wäre die Gefahr nicht gebannt. Bisher liegen keine Anzeichen darüber vor, ob der Gegner von innerhalb oder außerhalb Loudens kommt." „Soll das heißen, Sie ziehen die erste Möglichkeit in Betracht?" fragte der Sprecher der loudenischen Abgeordneten von seinem Platz aus. „Louden ist ein friedlicher Sektor. Mit Ausnahme des Spielerplaneten Garnes gibt es so gut wie keine Kriminalität." Und nach einer Pause fügte er hinzu: „Im Unterschied zu Veran." Nach dem Zwischenfall mit der VOLANDRA hatte die 6
Regierung eine umfangreiche Suche nach dem Schiffsverband begonnen, der in der Nähe der Doppelsonne Tergantil-Pfalz beobachtet worden war und dem Patrouillenschiff den Untergang gebracht hatte. Sie war ergebnislos verlaufen. Wie bei der TITIUS war der Gegner spurlos verschwunden. „Das mag der Fall sein", entgegnete Hoimand. „Seit acht Wochen ist es ruhig im Louden-Sektor. Die verstärkten Patrouillenflüge erbrachten keine neuen Aktivitäten des Gegners. Hoffen wir, daß es so bleibt." Das größte Problem waren die Zustände auf Damrijan. Die eingesetzten Helfer, sie hatten die Besatzungen der Handelsschiffe inzwischen abgelöst, konnten nicht für immer dort bleiben und die Bevölkerung ernähren wie kleine Kinder. Eine Aussicht, das Gegenmittel zu finden, bestand ebenfalls kaum. Die Wissenschaftler waren nicht weitergekommen. Der Regierung fehlte ein Trumpf, ein Mittel, das Aufsehen erregte und die Gemüter der Menschen beruhigte. Hoimand sah zur" Regierungsbank hinüber. Der Platz der Regierungschefin war leer. Lavynna von Dorhagen hatte die Sitzung verlassen. Irgendwo in den Weiten des Gebäudetrakts war das Weinen einer Frau. Aber er hörte es nicht. Sein Bewußtsein war weit weg von dem Ort, wo die Männer und Frauen in ihren weißen Kitteln und dem Mundschutz aufgeregt umherrannten, sich auf dem Flur Anordnungen und Ergebnisse zuriefen, dann wieder in Zimmern verschwanden. Aus einem Gebäudeflügel, an dessen Eingang ein großes Schild „Zutritt verboten" hing, ertönte das Ticken und Klicken vieler Uhren. Einen Raum von der Größe eines Büros nahmen allein die Zusatzgeräte in Anspruch. Drei Ärzte und zwei Helferinnen waren allein mit dem Ablesen der Werte der Anzeigen dieser Geräte beschäftigt. Über Funk wurden sie weitergegeben in die Etage darüber, wo ein Team aus dreißig Spezialisten mit der schwierigsten Operation zu tun hatte, die 7
in der Geschichte der Klinik je durchgeführt worden war. Zwei Operationen derselben Art hatte es schon in anderen Krankenhäusern gegeben. Sie waren schiefgegangen. Die Ärzte wußten, daß sie sehr viel Glück und Geschick benötigten, sollte ihnen Erfolg beschieden sein. Kein Fehler durfte ihnen unterlaufen. Selbst die geringste Unaufmerksamkeit konnte den Tod herbeiführen. Seit sechs Wochen waren sie mit dieser Operation beschäftigt. Fast mechanisch liefen ihre Teile nacheinander ab. Die dauernde Konzentration, nur von Schlafpausen unterbrochen, zerrte an den Nerven der Ärzte und Helfer. Die Nervosität übertrug sich auf die ganze Klinik. Außerhalb des abgeschirmten Traktes murrte das Kantinenpersonal, das Überstunden für das Operationsteam machen mußte, da dieses seine Mahlzeiten nur unregelmäßig einnehmen konnte. Die Wachmänner mußten den Rhythmus ihrer nächtlichen Kontrollgänge umstellen, da sie den abgeschirmten Trakt nicht betreten durften. Dann aber schien alles vorüber. Die Hektik und die Aufregung schwanden. Eine kurze Zeit der Ruhe trat ein, in der der Patient hauptsächlich der Überwachung durch die Geräte anvertraut war. Nichts deutete darauf hin, daß die Ärzte einen wochenlangen Kampf gegen den Tod geführt hatten. Wie es aussah, hatten sie ihn gewonnen. Helder von Anceynt war noch immer bewußtlos. Das Zimmer, in dem er lag, war abgedunkelt. Alle zehn Minuten kamen zwei Männer, kontrollierten die Meßgeräte, die rings um sein Bett standen, notierten sich die Werte, trugen sie hinaus in ein anderes Zimmer, verglichen sie mit den über zwanzig Diagrammen, die dort an der Wand hingen, und warfen sich ihre Bemerkungen dazu zu. Und dann nickten sie, legten ihre Notiztafeln weg und gingen zum Schreibtisch, wo das Telefon stand. Sie informierten die neun Professoren, die die Operation geleitet hatten, die zwölf Doktoren und 8
Doktorinnen und das Pflegepersonal. Der Mann, der den adligen Namen Helder von Anceynt trug, der ihn als hohen Beamten eines Ministeriums auswies, erwachte. Der erste Gedanke war Unverständnis. Nichtbegreifen einer Wahrnehmung gegenüber, die es nicht geben durfte. Da war weit in der Ferne ein kleiner, heller Fleck, der langsam größer wurde und sich teilte. Ein Reizimpuls irgendwo in einem Körper, den es nicht mehr geben konnte. Es war eine Vision. Ein gleichmäßiges Summen erfüllte die neue Welt. Es schwoll an, je größer die beiden weißen Flecke wurden, die immer näher kamen, immer schärfer wurden und einen zuckenden Rand bildeten. Das Summen verwandelte sich in gleichmäßiges Brummen. Dann tauchten in den weißen Flecken die ersten Schatten auf, farblose Schemen, die nicht zu dem gehörten, was er empfand. Er kam zu sich und formulierte einen Gedanken. Es war der Gedanke an eine Frau, und es war ein Name: Lavynna. Jetzt eilten die weißen Flecke mit rasender Geschwindigkeit auf ihn zu, füllten seinen Gesichtskreis aus. Verschwommen sah er helle und glitzernde Gegenstände, die sich bewegten. „Ich bin Helder von Anceynt", sagte das Bewußtsein in seinem Innern. Helder begann zu sehen. Er schlug nicht die Augen auf. Sein Sehvermögen kehrte langsam, aber stetig zurück. Immer deutlicher wurde die Umgebung vor seinen Augen, bis die Bilder in seinem Gehirn in einer Schärfe und einem Kontrast entstanden, daß er geblendet die Augen schließen wollte. Es ging nicht, lediglich die Lichtfülle nahm ab. Aus dem Nebenraum las jemand Meßwerte vor. „Adaptionsschwierigkeiten mit der Sehschärfe", sagte einer der Ärzte. „Der Computer zeigt an, daß er Tönungsblenden eingeschoben hat. Erste Bewährungsprobe." Helder begann vorsichtig, die Bilder zu verarbeiten, die er sah. Er sah unbekannte Gesichter, die ihn aufmerksam 9
anstarrten. Sie schienen erwartungsvoll und doch zugleich zweifelnd. Was sollte er von ihnen halten? Dazwischen das Gesicht einer Frau, die er kannte. Dr. Ja Sankaroy. „Ich lebe", dachte Helder und erkannte, daß er voll bei Bewußtsein war. Er erinnerte sich an die letzten Eindrücke vor seinem Tod. Da war die glimmende Konsole gewesen, die Metallstütze eines Sessels. Und der Schmerz einer elektrischen Entladung, die seinen Körper gestreift hatte. Eine warme Woge durchflutete ihn. Er war gerettet worden. Von Ja Sankaroy, die ihn jetzt vorsichtig anlächelte. Ihre Gesichtsfalten traten streng hervor. Früher hatte er das gar nicht wahrgenommen. Er bewegte leicht den Kopf. Es fiel ihm nicht schwer. Mühelos drehte er ihn von einer Seite auf die andere. Die Augen der Menschen folgten ihm. Er wollte die Hände haben. Er spürte den Widerstand. Sie waren festgebunden. Die VOLANDRA! Die Gammastrahlung! Was war geschehen? Eine Gestalt beugte sich vorsichtig über ihn. Es war Ja Sankaroy. „Können Sie mich hören, Helder?" fragte sie leise. Von Anceynt nickte. „Sie sind gerettet, Helder", sagte sie weiter. Langsam begann sie zu berichten. Schonend erzählte sie von seiner Rettung, von den Problemen und dem einzigen Ausweg, der geblieben war. „Sie hat gekämpft wie eine Löwin für ihr Junges", flüsterte die Ärztin und meinte Lavynna. In wenigen Worten bereitete sie Helder darauf vor, daß er vor einer Entdeckung stand, die ihn schwer belasten würde. Und je schwerer sie es ihm darstellte, wußte sie, desto leichter würde es ihm fallen, die Realität zu akzeptieren. „Sie haben mich gerettet, auf welche Weise auch immer", dachte Helder und gab keine Antwort. Langsam richtete er seinen Oberkörper auf. Das Kinn sank auf die Brust. Leblos starrten die Augen auf den stählernen 10
Rumpf, aus dem das leise Summen kam. Das war also er, der gerettete Helder, der neue von Anceynt. Ein Metallkörper. Wie von fern hörte er die Stimme der Ärztin, die schonungslos weitersprach. Sie erzählte von der wunderbaren Rettungsaktion, von der Operation und allem, was sie für ihn getan hatten. „Und sie haben mein Gehirn in eine Nährlösung gelegt, Millionen künstlicher Nervenfasern mit meinem Gehirn und einem Computer verbunden, der mich steuert", wiederholte er in Gedanken ihre Worte. „Und sie haben mich wiedererweckt. Jetzt bin ich in der Lage, zehnmal schneller zu reagieren als ein Mensch." Halb aufgerichtet begann er zu reden. Er erschrak vor der Stimme, die nicht die seine war, aber der Computer in seinem Innern gab den Impuls nicht an den Körper weiter. Es bestand keine entsprechende Verbindung. Helder konnte nicht zusammenfahren wie ein Mensch, den man erschreckte. „Ich lebe, das allein ist wichtig", sagte er. Man hatte versucht, die mechanische Stimme der seinen anzugleichen, aber sie klang trotzdem künstlich und metallen. Ja Sankaroy redete weiter auf ihn ein. Er legte sich zurück. Sie stellte Fragen. Seine Antworten wurden mit der Zeit übersichtlicher, zusammenhängender. Helder von Anceynt begann, gezielt zu fragen. Zwei Stunden sprach er mit Ja Sankaroy, und nach und nach mischten sich auch die anderen Ärzte in das Gespräch ein. Schließlich entfernten die Pfleger die Stahlklammern, die den blinkenden Körper an das schwere Metallbett fesselten. Sie taten es staunend. Zum erstenmal war es gelungen, ein menschliches Gehirn in einen Körper aus Metall und Plastik zu verpflanzen. Der erste vollprothetische Mensch lebte. Langsam erhob sich Helder von Anceynt. Jede Bewegung, die der Körper auf seinen Gedankenbefehl hin ausführte, berührte ihn seltsam. Es war, als führte ihn eine unsichtbare 11
Hand aus dem Jenseits. „So kommt man sich vor, wenn man von den Toten aufersteht", murmelte er. Unsicher versuchte er die ersten Schritte. Dann ging er im Zimmer auf und ab. Langsam gewöhnte sich sein Verstand an die Schärfe der Bilder, die seine Augen übermittelten, an die schmerzenden Grenzen zwischen Licht und Schatten. Er ließ sich von Ja Sankaroy in einen Testraum führen. Die Ärzte wollten mit der Überprüfung seiner Funktionen und Reaktionen beginnen. Was sie ihm nicht sagten: Es handelte sich nicht nur um medizinisch-technische Routineuntersuchungen, sondern um eine bis ins kleinste Detail ausgeklügelte Psychotherapie, die ihn langsam an den neuen Zustand gewöhnen sollte. Helder machte mit. Noch hatte der zwangsläufige Konflikt zwischen Rettung und Dasein in einer Maschine von ihm keinen Besitz ergriffen. „Doktor Ja Sankaroy, Doktor Ja Sankaroy, bitte sofort in die Sperrzone!" dröhnten die Lautsprecher von den Wänden der Klinik. Nach zehn Sekunden und einer weiteren halben Minute wurde die Durchsage wiederholt. Zu diesem Zeitpunkt hatte Ja Sankaroy aber bereits Funkkontakt zu den hermetisch abgeriegelten Zimmern, in denen Helder von Anceynt untergebracht war. „Was gibt es?" fragte sie ahnungsvoll. „Es ist eingetreten, was Sie vorausgesagt haben", teilte ihr Winsow Vosolow, der Kopf Chirurg, mit. „Ich komme!" antwortete sie und eilte davon. Es war passiert. Ziemlich früh zu Beginn der Therapie war der Punkt eingetreten, den sie so weit wie möglich vor sich her zu schieben versuchte. Die Therapie war nicht so vorangeschritten, den Patienten von seiner unüberlegten Tat abzuhalten. Von Anceynt hatte die Einrichtung des Zimmers demoliert. Ja Sankaroy stürmte in die bewachten Zimmer hinein. Auf 12
dem Bett, auf dem er erwacht war, saß Helder von Anceynt, ein Häufchen Elend. Den Kopf in die Hände gestützt, seufzte die Maschine leise vor sich hin. Keine Tränen rannen aus ihren Augen. Doktor Ja Sankaroy setzte sich daneben. Sie legte den Arm um das kalte Metall. „Helder", sagte sie laut. „Helder, kommen Sie zu sich. Sie dürfen uns jetzt nicht im Stich lassen!" Langsam ruckte der Kopf des Roboters zur Seite. „Lavynna", sagte er. „Ich muß an Lavynna denken. Und je mehr ihr Bild vor meinen Augen steht, desto mehr wird mir bewußt, daß ich kein Mensch mehr bin." Wie beschwörend hob er die metallenen Arme. „Können Sie fühlen, was es bedeutet, kein Mensch mehr zu sein? Keiner mehr sein zu können?" Die Stimme klang hart und kreischend. „Versuchen Sie, an etwas anderes zu denken, Helder", vermittelte Ja Sankaroy. „Überlagern Sie das Bild Lavynnas!" „Es geht nicht!" schrie die Vollprothese. „Ich kann diese Frau nicht vergessen!" Langsam sanken seine Arme herab. „Mein Gott", vibrierte er, „ist es so schwer zu verstehen, daß ich sie nicht aus meiner Erinnerung löschen kann? Sie ist schon ein Stück von mir." „Trotzdem sollten Sie versuchen, vernünftig zu bleiben, Helder", sagte die ehemalige Bordärztin der VOLANDRA eindringlich. „Sie können es nicht ändern." „Es ist der Preis für mein Leben, ich weiß," antwortete er. „Er ist hoch, sehr hoch. Ich weiß nicht, ob ich mich damit abfinden kann." Sie betrachtete die Gestalt, die hoch aufgerichtet neben ihr saß. „Versuchen Sie es, Helder. Ich helfe Ihnen dabei!" Lag es daran, daß die beiden Frauen unter sich waren? 13
Lavynna von Dorhagen weinte hemmungslos. Ja Sankaroy umarmte sie, versuchte, sie zu trösten. Auf dem schnellsten Weg war sie in einen benachbarten Gebäudeflügel geeilt, wo sie die Regierungschefin wußte. Über zwölf Stunden wartete Lavynna schon. „Es geht ihm gut", beruhigte sie das schluchzende Nervenbündel. „Er spricht und geht umher." „Er wird nie wieder ein richtiger Mensch sein", weinte Lavynna. „Wir haben alles getan, sein Leben zu erhalten. Darum sind wir von mehreren Seiten gebeten worden. Auch von Ihnen." „Ich weiß. Ich bin Ihnen dankbar! dafür. Aber ich brauche Zeit, mich darauf einzustellen." „Auch Helder benötigt diese Zeit. Es ist vielleicht günstig, wenn ich Ihnen erkläre, was wir mit ihm gemacht haben. Die Einzelheiten lassen Sie besser verstehen, was mit Helder von Anceynt jetzt los ist und was aus ihm werden kann." Ja Sankaroy machte den Vorschlag spontan. Sie hielt es für richtig, die Regierungschefin zunächst einmal von ihren Problemen abzulenken und von ihren Gedanken, wie sie es auch bei Helder gemacht hatte. Mehrmals hatte er bis ins kleinste Detail erfahren, wie er zu seiner Vollprothese gekommen war. Die Nüchternheit der Darstellung hatte bei Helder geholfen, auch bei Lavynna würde sie nicht verfehlt sein. Ja Sankaroy eilte hinaus und besorgte Bilder und Diagramme, um ihre Worte zu veranschaulichen. „Das schwierigste war die Isolierung des Gehirns von allen Nervenleitern und dem Rückenmark", erklärte sie Lavynna dann. „Dazu mußte der Schädel gevierteilt werden. Vierunddreißig Stunden wurden dazu benötigt. In dieser Zeit mußte das Gehirn wie bisher durchblutet und mit Sauerstoff versorgt werden. Der Robotkörper mit seinen zwei Millionen künstlicher Nervenfasern stand schon bereit. Das Gehirn wurde verpflanzt. Es wurde in die offene 14
Schädelhöhle der Prothese gelegt. Die künstlichen Fasern drangen sofort in das Gehirn ein und verschmolzen mit den Nervenknoten. Das geschah willkürlich. Vierundfünfzig Tage, in denen das Gehirn mit Medikamenten in Tiefschlaf gehalten wurde, mußte mit dem Computer experimentiert werden, bis feststand, welche Fasern welche Impulse übertrugen. Die Gefahr, daß wichtige Nervenstränge etwa des Sehvermögens nicht von den Fasern erschlossen wurden, war sehr klein. Aber eine Fehlübertragung auf den Computer hätte dazu führen können, daß sich beim Gedankenimpuls des Sprechens ein Arm hob oder ein Fuß bewegte. Das mußte ausgeschaltet werden." Lavynna von Dorhagen nickte. „Das ist alles recht und gut", sagte sie. „Aber wie sieht es mit den anderen Dingen aus, die einen Menschen ausmachen? Was macht sein Gefühlsleben? Kann er wie ein Mann empfinden?" „Der Geschlechtstrieb des Bewußtseins ist natürlich blockiert", gab die Ärztin zu verstehen. „Vom Gehirn geht zwar ein Reizimpuls aus, aber der Computer filtert ihn aus. Haß, Reue, Gefühle allgemein werden aber weitergeleitet. Sie drücken sich in Verhalten und Bewegung aus, wie beim menschlichen Körper auch." „Aber er ist eben doch - verglichen mit einem normalen Menschen - ein Krüppel. Wie wird er seelisch damit fertig?" „Bisher gab es nur einen Rückschlag. Als er Ihren Namen ausrief, verlor er die Beherrschung. Sein psychischer Momentzustand ist die einzige Unbekannte. Wir arbeiten darauf hin, eine anhaltende Stabilität auch in dieser Beziehung zu erreichen." Dr. Ja Sankaroy schob Lavynna von Dorhagen weitere Schaubilder hinüber. „Der neue Zustand hat auch Vorzüge gegenüber einem normalen Menschen. Bei der Verbindung des Gehirns mit dem künstlichen Rückenmark ist der Hypothalamus nicht in 15
Mitleidenschaft gezogen worden. Das Gehirn hat sich seine Instinktfähigkeit bewahrt. Es verarbeitet mit Hilfe des Computers seine Wahrnehmungen viel schneller und kann dementsprechend schneller reagieren." Lavynna wischte sich Tränen aus dem Gesicht. „Bezüglich meiner Bitte", sagte sie langsam. „Konnten Sie etwas unternehmen?" „Ja. Es ist uns gelungen, aus dem Körper Helders einwandfreies Material zur Züchtung einer Samenzelle zu gewinnen. Wir werden Sie rechtzeitig informieren. Im Augenblick fehlt uns die Zeit." Lavynna von Dorhagen faßte sich. Sie schöpfte neuen Mut, wenn sie sich auch bewußt war, daß Helder nie mehr der sein würde, der er vorher war. Ein Mensch mit allen Vorzügen und Nachteilen. Aber eben ein Mensch. 2. „Sie sind unruhig. Ich kann sie nicht mehr lange hinhalten!" Rendendag, der Blaulandgraf, deutete auf das Meer von Menschen vor der Stadt. Wild wogten die bunten Kleider über die Straßen und überfluteten die Felder und Wiesen, teilten sich in zwei Ströme, zogen dem Meer und den Bergen zu. „Was nun?" fragte der Graf. Lotho Ulmas beobachtete den rituellen Marsch der Bewohner Ramallahs mit besorgtem Gesicht. „Ich habe zu ihnen gesprochen", antwortete er. „Sie haben auf mich gehört. Aber es liegt Wochen zurück. Heute ist der siebzehnte Aschraf." „Ist es ein besonderer Tag?" „Erinnere dich an die Überlieferung, mein Graf. An diesem Tag kam unser Volk nach Kayshyrstan." „Es muß lange her sein, ich kenne die Überlieferung genau." 16
„Verzeih, es steht in den Büchern der Weisen, die du nicht kennst." Rendendag deutete auf die Menschenmassen, die über die Ebene quollen und in der Ferne verschwanden. „Wo werden sie hingehen?" „Sie erinnern sich des bedeutsamen Tages und werden einen Weg suchen, dorthin zu pilgern, wo sie einst hergekommen sind." „Niemand weiß, woher wir stammen, wo unsere Urheimat ist", betonte der Landgraf. „Woher will es das Volk wissen?" „Es läßt sich vom Instinkt leiten. Vielleicht findet es seinen Weg." Lotho Ulmas beobachtete das Verhalten der hunderttausend Bürger Ramallahs, die ihre Stadt verließen. „Mit Sicherheit besitzen sie so etwas wie einen Herdeninstinkt", fuhr der Weise fort. „Sie benutzen ihn, um ein größtmögliches Maß an Gemeinsamkeit und Wunschdenken zu produzieren." . „Sie sehnen sich nach der Befreiung, sagen sie. Was verstehen sie unter Befreiung? Ich sehe sehr wohl, daß die Entwicklung unseres Planeten an einer Grenze angekommen ist, die durch die Elemente Luft und Wasser bestimmt wird. Wohin soll es gehen?" „Irgendwohin. Sieh sie dir an. Sie haben kein festes Ziel. Sie wollen nur fort. Es ist ein seelisches Bedürfnis dem sie nachkommen. Niemand! kann sie aufhalten." „Sie werden in den übrigen Ländern Kayshyrstans einfallen und Verwirrung stiften", stellte Rendendag betroffen fest. „Die Grafen werden mich beschimpfen, wenn ich es nicht zu verhindern weiß." „Sie werden nichts Böses tun. Die Bewohner anderer Städte Blaulands und anderer Länder werden sich ihnen anschließen, bis sich alle auf dem großen Marsch rund um den Planeten befinden." 17
„Niemand kann sie aufhalten. Wir haben versagt!" Rendendag sah zu Boden. „Es gibt noch eine Möglichkeit!" rief Lotho Ulmas. Mit beiden Händen zwirbelte er seinen Schnauzbart zu kräftigen Spiralen. „Wir müssen uns nur beeilen." Und unter den zweifelnden Blicken des Blaulandgrafen sagte er: „Sie ziehen um den Planeten und werden dabei durch die Hauptstadt kommen. Wenn die Weisen und Landgrafen zusammen dort einen Kreuzzug ausrufen, werden sie das Volk wieder hinter sich haben und die Entwicklung lenken können!" Rendendag machte ein skeptisches Gesicht. „Es ist die letzte Möglichkeit", beschwor ihn der Blaulandweise. „Komm, wir müssen die Grafen und Weisen benachrichtigen!" Fast alle waren sie zu Hause. Gander, der Rothofweise, der in einer Laube aus Rosenbüschen lebte, lächelte sie überlegen an. „Ich habe bei der Abstimmung einen schwarzen Zettel geworfen", sagte er. „Geht zu Helm Shepar, dem Rothofgrafen. Er wird euch weiterhelfen." Aber der Rothofgraf war verreist. In Grünsenke wimmelte es von Lurchen und Reptilien. Sie verwehrten den eilig Reisenden den Durchgang. Lotho Ulmas mußte sich an das Ufer des Anemonensees stellen und laut nach Ten Leuhe rufen. Das Warten dauerte eine Ewigkeit. Endlich erschien ein kleines Boot, in dem der Weise der Grünsenke saß. Sein schwankendes Gefährt wurde von einem Kranz junger Krokodile eskortiert. „Sie gehorchen mir. Ich habe sie aufgezogen und dressiert", begrüßte er die leichtfüßigen Boten. „Was führt euch her?" Sie erklärten es ihm. „Dann ist Eile geboten. Ich werde die Drachen satteln. Wir finden Balsterdal in seinen Pflanzungen." „Gut, daß wir dich getroffen haben", meinte Rendendag. „Da hätten wir den Grafen der Grünsenke lange in seiner Hauptstadt suchen können." 18
Sie folgten Ten Leuhe in die Schlammgruben, wo seine Drachen weideten. Er sattelte drei, dann brachen sie auf. Für den Blaulandgrafen und seinen Weisen war es das erste Mal, daß sie auf einem der sagenhaften Tiere ritten. „Beeilen wir uns!" rief Ten Leuhe, der mit dem Leittier voranritt. „Bald kommt die Flut. Dann ist dieser Weg unpassierbar." Sie erreichten die Pflanzungen und unterrichteten Balsterdal. Dieser schwang sich auf seinen Tamper und folgte den drei Männern zurück durch die Sümpfe, bis sie die Reittiere des Blaulands vor sich sahen. „Wir bleiben zusammen", schlug Lotho Ulmas vor. „Wir rollen alle Länder bis Gondyr von hinten her auf. So verlieren wir keine Zeit." Sie jagten davon. Ginsterlandgraf Gassner trafen sie unterwegs an der Hauptstraße. Er schloß sich ihnen kommentarlos an. Seinen Weisen mußten sie allerdings suchen. Syrwinkel lag auf zwei Arnikabrettern in der Sonne und meditierte vor sich hin. „In Gondyr sind drohende Wolken!" rief Lotho Ulmas ihm zu. Augenblicklich erhob sich der Ginsterlandweise und eilte nach Hause, wo er sein Reittier hatte. „Wo Wolken sind, müssen sie vertrieben werden", rief er über die Schulter zurück. Wie der Wind ritten sie nach Rebland hinein. Noch immer war es Tag. Rendendag überschlug die Stunden. Wenn sie die übrigen Weisen und Grafen sofort erreichten, konnten sie vor Mitternacht fertig sein. Fraawe Uß erwartete sie bereits. Zu ihm war die Kunde von den Vorgängen in Blauland bereits vorgedrungen. Er führte sie zu Fragoler. Der rundliche Reblandgraf lag zu Bett. „Ich leide unter der Hitze", flüsterte er schwach. „Reitet ohne mich." „Es geht ihm nicht gut", flüsterte Fraawe Uß hinter 19
vorgehaltener Hand. „Sein Leibarzt Mullo befürchtet, daß er bald das Zeitliche segnet." Die Weisen verneigten sich und verharrten zwei Minuten schweigend. „Möge er gesund werden", sagte Ulmas dann. Ihr Weg führte an Felsland vorbei nach Hügelhain. Von weitem sahen sie die Herden, die in den Hügeln weideten. Sie erreichten die Holzhöhle, in der Wolketon seine wissenschaftlichen Versuche unternahm. In einer Glocke aus Dunst, Staub und Pulverdampf sahen sie den Weisen knien. „Bald habe ich es", dozierte er und schüttete eine sandfarbene Flüssigkeit zu Boden. „Demenga Fraisin wird sich freuen." Graf Fraisin hatte ihn beauftragt, für das nächste Reiterfest neue Überraschungen zu erfinden. Die Flüssigkeit war eine davon. Sie hatte sich inzwischen am Boden verteilt. Langsam nahm sie eine helle Farbe an, begann zu leuchten. Nach mehreren Minuten entzündete sie sich und brannte, bis ihre Substanz aufgebraucht war. Lotho Ulmas, der heilige Scheu vor dem Umgang mit solchen Dingen besaß, benutzte die Gelegenheit. Er trat ein und sprach mit Wolketon. Sie benachrichtigten Demenga Fraisin, den sie nicht antrafen, und ritten jetzt hinauf nach Felsland. Dort teilten sie sich. Lotho Ulmas trommelte Bardybar und Ericman aus dem Schlaf des Vorabends, während Rendendag und die anderen Felsland überquerten und zur Rückseite des Planeten nach Wolwerhöhe ritten. In Toromyn wurden sie jedoch abgewiesen. Foxyarden scheute die weite Reise bei Nacht, Wardhes Eduer sah keinen Sinn in dem Vorhaben des Blaulandweisen und verschwand grußlos in seiner Unterkunft. In Pilzwälder trafen die beiden Gruppen zusammen und legten die letzte Wegstunde bis nach Gondyr zurück. Sie hatten die Menschenmassen Ramallahs und drei weiterer 5 Städte überholt. 20
„Sie kommen!" Laut hallte die Stimme über den Schloßhof Gondyrs. Yshgonyr trat aus dem Wohnflügel des Palasts heraus. Er trug den silbernen Mantel der Entscheidung. Langsam schritt er die Reihen seiner Grafen und Weisen ab. Die von Sonnenebene, Rothof, Wolwerhöhe und Erntereich fehlten. Wasserland und Pfahlstädte waren rechtzeitig eingetroffen. Sie hatten das Schiff benutzt. Von Süden her wälzte sich eine ungeheure Woge pilgernder Menschen der Hauptstadt entgegen. Sie bildete einen vielfarbigen Teppich, der das Grün der Landschaft überlagerte und keine Begrenzung hatte. Der Herrscher Kayshyrstans trat an die Balustrade. „Sie werden zum Teil durch Gondyr ziehen", sagte er zu Ulmas. „Oder sie schicken eine Abordnung zum Palast." „Wenn Ihr erlaubt, mein Fürst, werde ich mit ihnen reden", bot Ulmas an. Yshgonyr nickte. „Meine Entscheidung ist gefallen", sagte er. „Bald wird es soweit sein, daß ich meinen Mund auf tun kann. Solange müßt Ihr, Weiser Ulmas, das Volk ablenken. Nichts könnte mehr schaden als ein seelisches Chaos. Wenn ich die Menschen Kayshyrstans und Hojans rufe, müssen sie gesund sein." Die Spitze der Menschen woge hatte die Stadt erreicht. Sie kam zur Ruhe. Ihr Stimmengewirr lag wie die Brandung des Ozeans über den Zinnen des Schlosses. „Etwa zweitausend Menschen betreten die Stadt und kommen zum Schloß", rief jemand vom Südturm herunter. In Gondyr selbst war es seltsam ruhig. Der Fürst hatte den Einwohnern befohlen, in ihren Häusern zu bleiben. Schweigend wartete er, bis die Menschen die Straße vor dem Schloß erreicht hatten. Dann gab er dem Blaulandweisen einen Wink. Lotho Ulmas redete. Er sprach von der Vergangenheit, von den Anfängen, sagte Dinge, die in den Büchern der Weisen standen und den meisten Menschen nicht geläufig waren. Er erzählte ihnen vom Werden und Vergehen des Universums und 21
des Menschen. Er berichtete ihnen von den Zuständen draußen in der Milchstraße, auf anderen Planeten, und führte ihnen vor Augen, welch ein Paradies Kayshyrstan dagegen war. „Und dieses Paradies wollt ihr verlassen?" fragte er. Die Menschen antworteten. Zuerst vereinzelt, dann gemeinsam. In einem einzigen tönenden Sprechchor gaben sie ihre Antwort. Sie mußten hinaus. Sprachen doch die Anzeichen der Seele dafür. Daß es ihnen den Brustkorb einschnürte, wenn sie sich gedanklich damit befaßten. Daß es vielen unerträglich geworden war, in den Wänden einer Wohnung in einem Haus einer engen Stadt zu leben. Daß sie mehr Freiraum benötigten, wenn sie nicht verkümmern wollten. Lotho Ulmas warf einen scheuen Blick zu Yshgonyr hinüber. Es ging nicht anders. Er mußte die Initiative ergreifen. „Ihr habt recht!" rief er laut. „Und weil es so ist, rufe ich hier und in dieser Minute den heiligen Kreuzzug aus. Laßt uns aufbrechen, unseren Planeten umwandern und dann hinaus in die Ferne gehen, zu neuen Zielen, wie es uns zusteht!" Seine weiteren Worte gingen im tosenden Jubel der Menschen unter. Lotho Ulmas, der Weise unter den Weisen, zog sich zurück. Er wußte, daß es nicht anders ging. Aber er zweifelte innerlich, ob der Weg in die Zukunft der richtige war, den sie begehen wollten. Was plante der Fürst? Unbarmherzig sandte die weiße Sonne Warschauz ihre Strahlen auf die Oberfläche des siebten Planeten, der sich innerhalb des engen Bereichs der Ökosphäre des Systems befand. Sie beleuchtete eine trostlose, menschenleer gewordene Welt. Professor Dan Ross stand händeringend auf dem reflektierenden Belag des Raumhafens, auf dem die Zeltlaboratorien errichtet worden waren. Er sprach mit Mira Alcanter, die noch immer auf Damrijan weilte und die Einsatzkoordination leitete. „Es ist wie verhext", sagte der Professor. „Seit Tagen treten 22
wir auf der Stelle. Es muß einen Weg geben, die Droge in allen ihren Bestandteilen zu analysieren. Warum es nicht gelingt?" Ross zuckte hilflos mit den Schultern. Er zählte die Wochen nicht mehr, die er schon im Zelt zwischen Reagenzgläsern, Kochern, Polymerisaten und Abstrichen lebte. „Nach den neuesten Schätzungen dürfte die Hälfte der Bevölkerung des Planeten ums Leben gekommen sein", antwortete Mira Alcanter. „Wir haben inzwischen Anzeichen dafür, daß sie nicht nur verhungert und verdurstet sind. Auch ein Teil der von uns zwangsverpflegten Menschen neigt mit der Zeit zu Siechtum und Absterben. Es muß eine Langzeitwirkung der Droge sein. Deshalb, Professor, liegt uns soviel daran, daß Sie und Ihre Mitarbeiter bald zu einem Ergebnis kommen. Heute morgen habe ich mit Veran gesprochen. Man sichert uns weitere Unterstützung zu. Es ist an eine Verdoppelung des Forschungspersonals gedacht." „Hat man eine Mitteilung gemacht, wie die Untersuchungsergebnisse auf Veran aussehen?" Nach der Vernichtung der VOLANDRA waren Proben in die Laboratorien nach Veran gebracht worden. Eine kleine Menge des Drogenstoffs wurde auf Gernot untersucht. „Es sind keine Fortschritte erzielt worden", antwortete Mira. „Auch von Gernot treffen täglich negative Ergebnisse ein. Zwar hat man auf beiden Planeten mit anderen Untersuchungsreihen begonnen, ist aber auch zu keinem Ergebnis gekommen. Die Chance, daß das Gegenmittel dort früher gefunden wird als hier, ist eins zu hunderttausend." Dan Ross nickte. „Wenn wir weiter keine Ergebnisse erzielen, ist es unter diesen Gesichtspunkten nur eine Frage von Wochen, bis Damrijan ausgestorben ist. Wenn wir nur ein Lager der Droge finden würden oder den Urheber ihrer Verbreitung auf Damrijan!" Professor Dan Ross zog sich in sein Zelt zurück. Nach einer 23
kurzen Verschnaufpause stürzte er sich wieder in die Arbeit. Mira Alcanter ging hinüber zu den sechs Lazarettschiffen, die in den letzten fünf Wochen nach Damrijan abgestellt worden waren. Die Besatzungen befanden sich ohne Unterbrechung im Samaritereinsatz. Längst war der Sijdon-Alarm abgeblasen. Die Routine war eingekehrt auf Damrijan, und darin lag das Gefährliche. Die Politiker hinkten zwar mehrere Wochen hinterher, was die Aktualität ihrer Debatten zu diesem Thema betraf, aber auch bei ihnen würde es nicht mehr lange dauern, bis der „Fall Damrijan" aus den Tagesordnungen verschwand. „Als ein Problem, das nicht gelöst werden kann", dachte Mira mit Bedauern. Da draußen, jenseits der Stadt, lag die Natur des Planeten, eine üppig vor sich hin wuchernde Pflanzenwelt mit exotischen Tieren. Jetzt gab es keine Menschen mehr, die sich um die Pflege dieser Natur bemühten. Sie würde sich wild entwickeln, die einst lebenden Städte zurückerobern und sie sich zu eigen machen. Der Planet wäre verlassen, ein jungfräuliches Paradies für den, der später einmal hier landen würde. Daß sich vorläufig kein Siedler nach Damrijan und auch in den Louden-Sektor trauen würde, davon war Mira überzeugt. Kein Mensch war so vermessen, sich in die Höhle des Löwen zu begeben. Mira sah erwartungsvoll der landenden Gleitscheibe entgegen. Sie kam zwischen zwei Raumern hervor, orientierte sich kurz, landete dann etwa vierzig Meter von der Koordinatorin entfernt. Zwei Frauen kletterten herunter und kamen herübergerannt. „Kommandantin", keuchte sie, Mira bei ihrem Rang nennend, „in Teflisa ist der Teufel los. Da sind ein paar dieser Typen von Kayshyrstan eingesetzt, die im Rahmen der Hilfstruppen des Louden-Sektors herkamen. Die sind völlig übergeschnappt." „Was ist vorgefallen?" 24
„Sie haben Nahrung für etwa hundert Personen einfach vernichtet. Mit ihren Strahlern verbrannt!" „Sind die verrückt?" rief Mira entsetzt. „Das fehlt noch, daß auch die eingesetzten Helfer durchdrehen. Wozu tragen sie Waffen? Bringt mich hin!" Die Meldung wirkte wie ein eiskalter Wasserguß. Lavynna von Dorhagen stand steif vor dem Videokom und rührte sich immer noch nicht, als der Beamte längst kopfschüttelnd die Verbindung unterbrochen hatte. Die Regierungschefin schien erstarrt. Ihre Gedanken jagten sich. Langsam nur lösten sich ihre Augen von der blinden Fläche des Bildschirms. Sie wandte sich um und eilte in die Küche ihrer Wohnung. Sie benötigte einen kühlen Schluck. Danach rief sie Waltor von Pensa, ihren Stellvertreter, an. „Simfal im Louden-Sektor", erklärte sie ihm. „Dieselben Symptome wie auf Damrijan. Die ganze Bevölkerung in Trance. Können Sie mich vertreten und alles veranlassen? Ich fühle mich außerstande, die Amtsgeschäfte wahrzunehmen." Waltor von Pensa nickte und verabschiedete sich. Lavynna kehrte in die Küche zurück, wo ihr Glas mit eisgekühltem Fruchtsaft stand. Von Pensa konnte nicht viel tun. Er würde einen genauen Bericht von Simfal anfordern, einen erneuten Sijdon-Alarm ablehnen und Schiffe schicken, die nicht mehr als auf Damrijan ausrichten konnten. „Das Schiff, das die Zustände auf Simfal entdeckt hat, hat erst gar keinen Alarm ausgelöst. Als sei es etwas Gewöhnliches, wenn ein Planet in Dämmerschlaf versinkt", murmelte sie. Mehrere Anrufe trafen ein. Sie verwies sie an Waltor von Pensa und sperrte ihren Anschluß. Lavynna war ratlos. Die Kolonialwelten und Sektoren würden auf schnelle Maßnahmen der Regierung drängen. Solange es aber keine Hinweise auf die Verbrecher gab, konnten keine wirksamen Maßnahmen ergriffen werden. Andererseits war Simfal gut dazu geeignet, eigensüchtige Oppositionspolitiker auf den Plan zu rufen. Das 25
Imperium lief nicht zuletzt Gefahr, einer geschlossenen Front von Welten gegenüberzustehen, die unter dem Mantel der Schutzlosigkeit ihr eigenes Süppchen kochten. Viele würden versuchen, aus dem wirtschaftlichen und politischen Herrschaftsbereich auszuscheren, weil sie sich allein stark genug fühlten. Das mußte unter allen Umständen verhindert werden. Lavynna erinnerte sich an die letzte Parlamentsdebatte zu diesem Thema. Sie hatte sie nicht bis zum Ende mitverfolgt, da es in ihren Augen keinen Sinn hatte, zu reden, wenn nichts dabei herauskam. Sie hätte sich gewünscht, Helder könnte helfen. Aber Helder von Anceynt hatte zur Zeit andere Probleme, als sich um Dinge zu kümmern, die in den Bereich der Menschen fielen. Er mußte zuerst zu sich selbst finden. 3. „Ich lebe, das allein ist wichtig!" hatte er zuerst gesagt. Jetzt starrte er in die getönten Fensterscheiben auf sein Spiegelbild und dachte: „Das also bist du!" Seine Augen hatten sich an das neue Sehen gewöhnt. Das war aber auch das einzige. Die veränderte Gewichtslage seines Körpers war ihm ungewohnt, und alles andere war nicht so wie früher. „Körper ist nicht gleich Körper", sprach er zu sich selbst. Er war allein in der Zimmerflucht. Niemand hörte ihm zu. Er war froh darüber. Er wußte, daß die Therapie, die sie mit ihm machten, nichts nützte, wenn er nicht selbst den Willen hatte, in die Zukunft zu sehen. Vorsichtig fuhr er mit den metallenen Fingern über die Oberfläche der Glasscheibe. Er erkannte, daß er die Scheibe durchschlagen konnte, ohne sich zu verletzen. Ja, daß er sogar aus dem zweiten Stockwerk des Gebäudes springen könnte, 26
ohne Schaden davonzutragen. Seine Gedanken waren erst der Anfang. „Was kannst du noch?" fragte er sich. „Mit einem einzigen Schlag deiner Faust den Schädel eines Menschen zertrümmern. Du kannst die gewaltigen Körperkräfte, die dir mitgegeben sind, im guten und im bösen einsetzen. Es liegt nur an dir, welchen Weg du wählst." Er suchte einen Fensterriegel und fand ihn nicht. Das Fenster ließ sich nicht öffnen. Er wandte sich ab und ging durch das Zimmer. Er untersuchte den Schreibtisch, wog den Stuhl in seiner Hand. Sein Gewicht vermittelte ihm einen anderen Eindruck, als er ihn von Stühlen in seiner Erinnerung hatte. Tief in seinem Innern spürte er Angst aufsteigen. „Du bist anders als die Menschen!" In den meisten Dingen unterschied er sich von ihnen. Manches konnte er besser als sie. Die Gemeinsamkeiten konnte er an einer Hand aufzählen. „Die Menschen draußen, wie werden sie sich verhalten, wenn du ihnen gegenübertrittst?" fragte er sich. Und: „Mein Gott, ich beginne schon, mich nicht als Mensch zu betrachten!" Weiter führte ihn sein Weg durch die Zimmerflucht. Eine ganze Etage war ihm zugänglich, stellte er fest. Nur den Ausgang fand er nicht. Eine der Türen, die verschlossen waren. Die Etage war abgeriegelt. Keiner hatte ihm etwas gesagt. Keiner machte ihm Mitteilung. Jetzt wußte er es. Sie hielten ihn gefangen wie ein Versuchstier. „Ich bin ein Stück Experiment. Mehr nicht!" rief er und setzte sich auf einen Stuhl. Helder von Anceynt wollte die Augen schließen. Der Computer gab den Befehl des Gehirns weiter, die Augen verdunkelten sich. Es war die absolute Finsternis. Nicht das leichte Durchscheinen der Helligkeit durch die Augenlider. „Ich wünsche mir das gleichmäßige Pochen eines Herzens, 27
nicht das ununterbrochene Summen der Motoren, die meinen Körper funktionsfähig erhalten", betete er. „Ich möchte nicht das Kraftwerk in meinem Innern, ausgestattet mit Brennstäben, die regelmäßig ausgewechselt werden müssen. Ich will nicht als Außenseiter leben und von den Menschen angestarrt werden." Helder kannte die Vorbehalte, die viele Menschen selbst den einfachen Haushaltsrobotern gegenüber mitbrachten. Wie würden sie erst reagieren, wenn sie es mit ihm zu tun hatten! Er mußte sich auf einiges gefaßt machen. „Eigentlich bin ich dankbar, daß sie mich versteckt halten. Eines Tages muß der Zeitpunkt erreicht sein, an dem ich allen Unbilden der Welt draußen mit einem besseren Schutz gegenübertreten kann." Nach eigener Einschätzung war es noch nicht soweit. Er dachte an etwas anderes, versuchte, sich abzulenken. Er trug all das zusammen, was er bis zu seinem Unglück erlebt hatte, sammelte die Fakten, die den Louden-Sektor betrafen, und stellte fest, daß alle Ereignisse miteinander zusammenhingen, wie er es immer wieder vermutet hatte. Der Überfall auf das Schulschiff und der Untergang der VOLANDRA. Er ertappte sich bei dem Gedanken, daß jetzt fünftausend Menschen wie er herumlaufen könnten, mit vollprothetischen Körpern und einem eingelagerten Gehirn, in einem Einmachglas mit all den schönen und schrecklichen Erinnerungen. Irgendwo draußen war ein Blitz. Helder nahm ihn mit seinen empfindlichen Augen wahr, die Verdunkelung hatte er entfernt. Kurz darauf hörten seine Ohren das Grollen des Donners. Das Gewitter war sehr weit weg. „Im Regen stehen und rosten." Helder lachte in einem Anflug von Selbstverachtung. Dann aber sah er wieder an seinem weißblau schimmernden Körper aus hochverdichtetem Edelstahl hinab, einen Meter neunzig hoch, wie sie ihm gesagt hatten, und von humanoider Gestalt. Ein Körper von Eleganz 28
und Vollendung, samkar oder samskritam, etwas kunstvoll Geschaffenes. Aber doch kein menschlicher Körper. Ein Körper, der dazu verdammt war, immer für sich zu bleiben, sich mit sich selbst zu beschäftigen, wenn er erst aus der Klinik entlassen war. Ein Körper, der keinem anderen Menschen