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Der Jude Paulus und wir Heiden ANFRAGEN AN DAS ABENDLÄNDISCHE CHRIST...
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~~ Kaiser Traktate
- - - KRISTER STENDAHL - - -
Der Jude Paulus und wir Heiden ANFRAGEN AN DAS ABENDLÄNDISCHE CHRISTENTUM
- - - - CHR. KAISER - - - -
Titel der Originalausgabe: Paul among lews and Gentiles and other Essays. © 1976 by Fortress Press, Philadelphia, Pennsylvania. Aus dem Amerikanischen von utrike Berger.
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Stendahl, Krister: [Sammlung
} Der lude Paulus und wir Heiden: Anfragen an das abendl. Christentum. - 1. Aufl. München: Kaiser, 1978. (Kaiser Traktate; 36) Einheitssacht.: Paul among lews and Gentiles and other Essays ISBN 3-459-01177-7
© 1978 Chr. Kaiser Verlag München. Printed in Germany Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages. Fotokopieren nicht gestattet. Umschlag: Christa Manner. Gesamtherstellung: Georg Wagner, Nördlingen.
INHALT
Vorwort der Übersetzerin . . .
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Paulus unter Juden und Heiden 1. Paulus unter Juden und Heiden 2. Eher Berufung als Bekehrung . . 3. Eher Rechtfertigung als Vergebung 4. Eher Schwäche als Sünde . . 5. Eher Liebe als Integrität . . 6. Eher einzigartig als universal
Gericht und Gnade Glossolalie - der neutestamentliche Befund Quellen und Kritiken
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VORWORT DER ÜBERSETZERIN
Der vorliegende Band vereinigt eine Reihe von Aufsätzen, die Krister Stendahl in den Jahren 1963-1975 zunächst als Vorträge vor den verschiedensten Hörerkreisen gehalten hat, vor Theologen und Laien, auf kirchlichen und auf politischen Versammlungen. Die schriftliche Fassung bemüht sich, den Erfordernissen wissenschaftlicher Genauigkeit Rechnung zu tragen, ohne der Gefahr zu erliegen, die offene, allgemeinverständliche und auch ungeschützte Form mündlicher Rede über einem zu großen wissenschaftlichen Apparat zu verlieren. Es geht diesem Buch um die Vermittlung von exegetischen Methoden und Ergebnissen in einer Form, die jeder Interessierte nachvollziehen kann. So entwirft der erste Aufsatz ein Bild des jüdischen Menschen Paulus in seiner Größe und mit all seinen Schwächen. Zentral ist dabei der Versuch, die einzigartige Weise nachzuzeichnen, in der Paulus darüber nachdachte, wie Juden und Heiden gemeinsam in Gottes Plan mit seiner Welt stehen - ein Thema, das in der Geschichte des westlichen Christentums so rasch verdrängt wurde. Auch die folgenden Aufsätze kreisen um dieselben Fragen: Wie kommt es, daß das westliche Christentum - bis vor kurzem noch unbestritten in seinem Führungsanspruch - heute von Christen anderer Kulturen und auch von Teilen seiner eigenen Mitglieder so heftig kritisiert wird? Was sind die Leistungen, und was sind die Grenzen dieses abendländischen Christentums? Besteht die Möglichkeit einer Ver7
ständigung sowohl mit der »älteren Schwester«, der jüdischen Religion bzw. dem Volk Israel, als auch mit den »jüngeren Brüdern«, den Befreiungsbewegungen in aller Welt? Stendahl geht diesen Fragen nach und versucht, sie exemplarisch zu beantworten. Die englische Fassung verdankt ihre Fertigstellung Stendahls Mitarbeiterin, Emilie T. Sander, die kurz vor der Drucklegung verstarb. Ihr ist das Buch gewidmet. Die deutsche Ausgabe wurde darüberhinaus an einigen Stellen' vom' Verfasser überarbeitet. Ein für den Leser theologischer Literatur vielleicht überraschendes Moment liegt in Stendahls Gebrauch humoristischer oder ironischer Elemente zur Verdeutlichung seiner Gedanken. Er selbst schreibt dazu im Vorwort zur englischen Ausgabe: »Ich glaube, daß Theologie eine zu ernste Sache ist, als daß es uns Menschen erlaubt wäre, theologisch zu denken ohne eine gewisse Leichtigkeit und Ironie. Es wäre arrogant, so ernsthaft sein zu wollen wie die Sache, um die es geht, und es könnte den HörerfLeser dazu verleiten zu glauben, alles sei genau so, wie ich es beschreibe. In letzter Zeit wurde mir die theologische Notwendigkeit der Ironie und ihres vornehmeren Vetters, des Humors, immer deutlicher - als Schutz vor Blasphemie. Ich glaube, auch aus diesem Grunde sprach Jesus in Gleichnissen, von denen viele einen humorvollen Einschlag zeigen. Und die jüdische Tradition, von der rabbinischen über die chassidische bis zur gegenwärtigen, weiß um den grundlegenden Unterschied zwischen Gott und unserem Nachdenken über ihn, und sie weiß, daß diese Differenz durch Humor und Ironie angemessen bewahrt ist, was von >ernsthaften< Theologen oft übersehen wird. Auf diesem Gebiet habe ich viel von meiner Frau Brita gelernt, aus ihrer Arbeit über Kierkegaard, dessen berühmte Melancholie über seinen Humor und seine Ironie nicht hinwegtäuschen sollte. Theologie der Art, wie ich sie hier betreibe, hat 8
spielerischen, versuchsweisen Charakter. Wie Paulus sagte: Wissen - auch Prophetie - ist unvollkommen. Wenn man dies vergiBt, >bläht man sich auf< (1. Kor. 8,1). Und ich möchte wie ein Kind denken, wie ein Kind argumentieren, denn als Christ bin ich noch nicht erwachsen, auch habe ich meine kindliche Art noch nicht abgetan. Dies wäre verfehlt vor jenem Tag, an dem wir durch Gottes Gnade völlig erkennen werden, wie wir völlig erkannt sein werden (1. Kor. 13,8-13). In der Zwischenzeit lade ich andere Kinder ein, mit mir zu spielen.« Für Stendahls exegetische Herkunft sei auf die beiden skandinavischen Theologen Anton Fridrichsen und Johannes Munck verwiesen, deren Arbeiten der Paulusforschung in den vierziger und fünfziger Jahren wichtige Anstöße gaben. Auch wenn Stendahl nicht in allem mit ihnen übereinstimmt (vor allem nicht in der Frage nach unserem Verhältnis zu den Juden), so ist seine eigene Arbeit ohne diese beiden jedoch nicht denkbar. Berlin, Juli 1978
Ulrike Berger
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PAULUS UNTER JUDEN UND HEIDEN
1. -------------------Paulus unter Juden und Heiden Paulus verbrachte sein Leben unter Juden und Heiden. Diese Feststellung ist weder überraschend noch besonders kontrovers. Als Jude war er gewohnt, die Menschheit in diese zwei Gruppen zu teilen. In einigen seiner Briefe erklärt sich die Struktur seiner Argumentation nur durch diese Zweiteilung. Öfter jedoch bezieht er sich mit seinem »alle« auf »beide, Juden und Griechen«. Nach seinen eigenen Worten ist er Apostel der Heiden; im Römerbrief spricht er von seiner Verpflichtung gegenüber beiden, Griechen und Barbaren, doch indem er dieser Verpflich\jtung nachkommt, ist er sich der Juden und ihrer Rolle in Gottes Plan sehr bewußt (Röm. 1,14-16). Die Apostelgeschichte zeichnet ein programmatisches Bild von Paulus dem Juden, dem Ex-Pharisäer, der das Evangelium in die heidnische Welt bringt, und sie endet erst, als Paulus Rom erreicht hat, das Machtzentrum der heidnischen Welt. Bei näherem Hinsehen ist der Titel dieses Aufsatzes, Paulus unter Juden und Heiden, jedoch nicht ganz so harmlos, wie er scheinen mag. Ich will hier zeigen, daß die Hauptlinien der Paulus-Auslegung - und deshalb das bewußte wie das unbewußte Lesen und Zitieren des Paulus durch Wissenschaftler und Laien gleichermaßen - seit vie-
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len Jahrhunderten die Beziehung zu einer der Grundfragen des Paulus verloren haben, die sein Denken vor allem anderen bestimmte: der Beziehung zwischen Juden und Heiden. ' In der protestantischen Tradition und besonders bei Lutheranern nimmt der Römerbrief des Paulus einen Ehrenplatz ein; er liefert Denkstrukturen, denen die Rolle von beherrschenden Ordnungsprinzipien für das paulinische Material zugesprochen wird. Eine solche Rolle spielt des Paulus Darstellung der Rechtfertigung aus Glauben; für manche dient sie nicht nur als Schlüssel zum paulinischen Denken, sondern als Kriterium für das wahre Evangelium, wie es im ganzen Neuen Testament, in der ganzen Bibel und in der langen, wechselvollen Geschichte der christlichen Theologie zu finden ist. Di~~.!~.!g~!1~~!! . ßapj
chien tadelt, dann nicht, weil Petrus ein koscheres Haus führt, sondern weil er seine Haltung unter Druck aus Jerusalem ändert (Gal. 2,22 ff); wie Paulus im Römerbrief \ sagt: »Jeder soll in seinem eigenen Sinn völlig überzeugt Isein« (14,5), und »alles aber, was nicht aus Überzeugung \',geschieht, ist Sünde« (14,23). Was die Verteidigung der Rechte und Freiheiten von heidnischen Konvertiten betrifft, so bringt Paulus eine ausführliche Begründung dafür im Galaterbrief, auf den wir noch zurückkommen werden. All dies klingt nicht viel anders, als wir es zu hören 'gewohnt sind. Wie oder warum kann ich dann behaupten, daß' wir in unserem traditionellen Verständnis das Bild vom , Paulus unter Juden und Heiden aus den Augen verloren haben? Aus einem einfachen Grund: WähreJ}d~~L~~ulus um die Bezi~unß...von Ju~en U!!fiJ:!~ici~ll geht, lesen wir ihn ßP, als ob die Fragegelautet hätt~:c auf we1c4erGrundlage,. unter welchen Bedingungen können wir gerettet, gerechtfertigt werden? Wir glauben, daß Paulus über die Rechtfertigung aus Glauben sprach und die jüdisch-heidnische Situation als zufälliges Beispiel gebrauchte. Doch Paulus ging es vor allem um die Beziehung zwischen Juden und Heiden, und in der Entwicklung dieses Gedankens nahm er als eines seiner Argumente die Vorstellung von der Rechtfertigung aus Glauben. Eine solche Verschiebung des Mittelpunktes und der Perspektive versperrt uns den Zugang sowohl zum ursprünglichen Denken des Paulus als auch zu seinen eigentlichen Absichten. Sie führt zu Verzerrungen in unserer historischen Beschreibung vom Amt des Paulus und zu Mißverständnissen über den Menschen Paulus. So wird die Frage falsch gestellt, die Paulus durch seine Beobachtungen über Glaube, Gesetz und Erlösung beantworten wollte. Wenn wir jedoch die Antwort des Paulus auf die Frage, wie die Heiden Erben der Gottesverheißungen an Israel werden, einfach so lesen, als ob er auf Luthers Gewissensnöte
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antwortete, dann lösen wir die paulinische Antwort aus ihrem Zusammenhang. Das verlorene Zentrum von Juden und Heiden wird am deutlichsten bei einer Betrachtung des Römerbriefes spürbar. Worum geht es im Römerbrief? Warum schrieb Paulus diesen Brief an jenem Wendepunkt seiner Laufbahn, als er im Osten fertig war, als er die Kollekte für die J erusalemer Kirche gesammelt hatte (vgl. Gal. 2,10) und sie ablieferte, bevor er sich über Rom nach Westen wandte? Meine Vermutung geht dahin, daß er nicht die Absicht hatte, eine theologische Abhandlung über die Rechtfertigung aus Glauben zu schreiben. Nein! Wir sehen hier vielmehr den Apostel Paulus unter Juden und Heiden, der seine Mission der bedeutenden, ihm aber unbekannten Kirche in Rom vorstellt. Er will zeigen; wie diese sej!!~~Mi~sion ill Gottes Gesamtplan hineingehÖrt. Es ist von entscheidender Bedeutung, daß wir verstehen, wie sich dieser Brief von dem an die Galater unterscheidet. Dort geht die Diskussion um ludaisierer, d. h. um Heiden, die jüdischen Wegen anhingen. Im Römerbrief spricht Paulus jedoch von den luden. Hier ist nicht der Ort für eine ausführliche Analyse des Römerbriefes, doch es mag hilfreich sein, sich ins Gedächtnis zurückzurufen, daß die apologia des Paulus, die Darstellung seiner Mission, zu einer Gesamtdarstellung dessen wird, wie seine Heidenmission in den großen Plan Gottes paßt, und daß diese Sicht ihn !schließlich zu der Erkenntnis führt, daß das Christentum auf dem Weg ist, eine Heidenkirche zu werden. Gleichzeitig erkennt er, daß Gott geheimnisvolle, spezifische Pläne für die Erlösung Israels hat. Dieses, das Geheimnis von Israels getrennter Existenz, verkündet Paulus den Heiden, »damit ihr euch nicht selbst klug dünkt« (Röm. 11,25) in einem unangebrachten Überlegenheitsgefühl. F"ÜLmJsl!ß~Ad ~!~~aI?!tel 9-11 das Zentrum des .RQHW!briefe~, a~Q" ,<;lie ,Ref!eAiS)u,-über..daS-.-Yer bä1tnis zwischen., Kir~lle .llnq Synagoge. Es geht um die Beziehung zwischen ! I,
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Kirche und jüdischem Volk - nicht um die zwischen »Christentum« und »Judentum« oder um die Haltung des Evangeliums im Verhältnis zu der des Gesetzes. Es geht um das Verhältnis von zwei Gemeinschaften und um ihre Koexistenz im geheimnisvollen Plan Gottes. Es muß betont werden, daß Paulus nicht sagt: Wenn die Zeit des Reiches Gottes, der Vollendung, kommt, dann wird Israel Jesus als den Messias annehmen. Er sagt lediglich: Die Zeit wird kommen, da »ganz Israel gerettet werden wird« (11,26). Es ist erstaunlich, daß Paulus diesen ganzen Teil des Römerbriefes schreibt, ohne den Namen ! Jesu Christi zu erwähnen (10,17-11,26). Dies schließt die Schlußdoxologie mit ein (11,33-36), die einzige Doxologie in seinen Briefen ohne jedes christologische Element. i Solche eher zufälligen Beobachtungen am Römerbrief verdeutlichen, daß es Paulus hier wirklich um die Beziehung zwischen Juden und Heiden geht, nicht um Vorstellungen über Rechtfertigung oder Prädestination und ganz sicher nicht um irgendein anderes wichtiges, doch abstraktes theologisches Thema. Es liegt auf der Hand, daß sich das Denken des Paulus hier in mancher Hinsicht einer Vorstellung nähert, die im späteren jüdischen Denken von Maimonides bis Franz Rosenzweig gut belegt ist. Das Christentum - im Fall des Maimonides auch der Islam - wird als Weg der Thora gesehen, der den Heiden den Monotheismus und die mora- . lische Ordnung verkündigt. Die Unterschiede liegen auf der Hand, doch die Ähnlichkeiten sollten nicht übersehen werden: Paulus' Hinweis auf Gottes geheimnisvollen Plan ist ein Bekenntnis zur gottgewollten Koexistenz von Judentum und Christentum, durch das jeder missionarische Drang zur Bekehrung Israels kontrolliert wird. Es braucht kaum gesagt zu werden, daß das Zentrum bei Paulus, die Beziehung zwischen Juden und Heiden, in der Auslegungsgeschichte vergessen wurde, und als die Kirche es wieder entdeckte, griff sie sich die negative Seite des I
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»Mysteriums«, Israels »Nein« zu Jesus Christus, heraus und übersah die Warnung vor Dünkel und Überlegenheitsgefühlen völlig. Nachdem dies Geheimnis erst einmal im wesentlichen Denken der Kirche unwirksam geworden war, al~die Juden als Gottesmörder und S!~1.~9~YE~~r falsche-,EiJls.t~U~z1! ,volt ,~Rgx,~cbri~Q~!lF~J:~n.t.da war der Weg frei für wunderbare Spiritualisierungen der paulinisehen Theologie. Der Römerbrief wurde zu einem theologischen Traktat über das Wesen des Glaubens. Rechtfertigung »rechtfertigte« nicht länger den Status der Heiden als Juden ehrenhalber, sondern sie wurde die zeitlose Antwort auf die Nöte und Qualen des ichbezogenen westlichen Gewissens Und Paulus wurde nichtlänger-"~;-ünter-iude~n und Heiden« gesehen, sondern als Führer derjenigen, die angesichts der schwierigen menschlichen Situation verwirrt und beunruhigt waren. Seine Lehre wurde von dem gelöst, ~as er als seine Aufgabe, syine Mission ~una· Ziel gesehen hatte: -Apo'steraer HeidenzuseIn.--~~ ~.y> Alk--die"allgemememenschliCIievenegeiilieit - zeitlos, erfahren in einem corpus christianum - erst einmal der Rahmen für die kirchliche Auslegung des paulinischen Denkens geworden war, da ging auch verloren, daß es ja große Unterschiede im Kontext, Denken und Argumentieren zwischen den verschiedenen Paulusbriefen gibt. Nachdem seine Rechtfertigungslehre aus ihrem Rahmen in der Beziehung zwischen Juden und Heiden gelöst und Teil seiner Erlösungslehre geworden war, da war auch der Unterschied zwischen den Juden im Römerbrief und den J udaisierern im Galaterbrief nicht mehr interessant. Ja, es wurde sehr schwer und war auch irrelevant, überhaupt noch zu erkennen, daß die Briefe an die Korinther oder an die Thessalonicher eine wieder andere Sprache, Problematik und Absicht haben. Man konnte die paulinische Theologie vereinheitlichen, weil der gemeinsame Nenner vorschnell in verallgemeinernden theologischen Themen gefunden war, und die jeweiligen Bespnderheiten der paulini-
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sehen Argumentation wurden unkenntlich. Aber wir haben im ersten Korintherbrief ein faszinierendes Bild von »Paulus unter den Heiden«! In den folgenden Kapiteln werden wir genauer sehen, wie reich und differenziert das Denken des Paulus ist, und wie wichtig eine solche Erkenntnis für unsere Frage nach Juden und Heiden ist. Müssen wir zunächst nicht die Frage stellen: Wie können Briefe, die Paulus an einzelne Kirchen in spezifischen Situationen richtete, das Wort Gottes für die Kirche' als ganze und in allen Zeiten sein? Es ist verlockend, daran zu erinnern, daß eine der ältesten noch erhaltenen Diskussionen, die des Canon Muratori, einer lateinischen Liste der neutestamentlichen Bücher, die Kanon sein sollten (gewöhnlich ins 2. Jahrhundert datiert, neuerdings von Albert Sundberg ins vierte), das Problem erkannt hat, das dann entsteht, wenn an Einzelgemeinden gerichtete Briefe als Wort Gottes für alle gesehen werden. Im Canon Muratori wird bemerkt, daß Paulus an sieben Kirchen geschrieben hat und daß in der Offenbarung des J ohannes sieben Kirchen so angesprochen werden (Kap. 1-3), als ob die ganze Kirche angeredet ist. Daraus könnte man folgern, daß wir die Paulusbriefe aufgrund ihrer Analogie zu den sieben Kirchen der Offenbarung als Schrift akzeptieren können. Dies ist eindeutig eine spätere Rationalisierung, aber sie zeigt, wie man in der römischen Kirche erklären wollte, was bereits Tatsache war: daß nämlich die Sammlung der Paulusbriefe im Kanon enthalten war. Irgendwie wurde die Zahl Sieben als bewußte Übereinstimmung mit dem Vorbild aus Gottes eigener Offenbarung in der Johannes-Apokalypse gesehen, also sind die Briefe des Paulus an die ganze Kirche gerichtet, also haben sie eine katholische (allgemeine) Bedeutung. Sobald die Einzelbriefe aber als Schrift anerkannt waren, wurden sie rasch einer Homogenisierung unterworfen. Im letzten Teil dieses Aufsatzes werden wir noch genauer über die Gründe nachdenken müssen, warum diese Briefe
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für sich genommen werden sollten; der einfachste Grund ist der: Wir müssen sicherstellen, welche Fragen der Apostel beantworten wollte. Selbst die göttlich richtige Antwort kann nicht recht gehört werden, wenn sie auf die falsche Frage gegeben wird. Im folgenden bin ich das Risiko eingegangen, einige schlagwortartige Titel zu wählen, durch die ich zu enthüllen hoffe, was Paulus ursprünglich beabsichtigte. Wenn ich in dieser antithetischen Form spreche - »Eher Rechtfertigung als Vergebung«, »Eher Schwäche als Sünde«, »Eher Berufung als Bekehrung« etc. - dann behaupte ich nicht, daß Paulus explizit oder implizit gegen, sagen wir, Vergebung gewesen sei. Ich benutze die Methode der Wortuntersuchung nur in einer ganz elementaren Weise, die jedem Bibelleser zugänglich ist. Und ich will damit zeigen, daß einige der Dinge, die wir oft bei Paulus zu hören oder zu erkennen glauben, gar nicht da stehen, oder wenn doch, dann aus ganz anderen Gründen und zu ganz anderen Zwecken, als wir vermuten. Das ist alles. So wende ich eine Methode an, die alles andere als esoterisch ist. Meine Hoffnung geht dahin, daß Bibelleser der Argumentation nicht nur folgen können, sondern sie in Zukunft selbständig anwenden. Denn unsere Sicht ist oft mehr durch das verdunkelt, was wir zu wissen meinen, als durch unseren Mangel an Wissen. Aus dieser Überzeugung heraus wird das Buch wenig Gelehrsamkeit enthalten und hartnäckig auf einem einfachen Verständnis des Textes beharren.
--------------,. 2. Eher Berufung als Bekehrung
Die Erfahrung des Paulus auf der Straße nach Damaskus wird gewöhnlich als seine Bekehrung bezeichnet. In der Apostelgeschichte gibt es drei Berichte darüber (9,1-19;
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22,4-16; 26,9-19), sodann gibt es Material im Galaterbrief (1,11-17). Wenn man diese Berichte liest, dann scheint es angemessen, von diesem Ereignis als »Bekehrung« zu sprechen, da dies unser gebräuchlicher Terminus für eine solche Begebenheit ist: Ein Jude, der so sehr an seinem jüdischen Glauben hing, daß er die Christen verfolgte, wird durch eine plötzliche und überwältigende Erfahrung zum Christen. Doch wenn man die Berichte genauer liest, sowohl die in der Apostelgeschichte als die bei Paulus selbst, dann entdeckt man eine gr~~~ I~g_nti~t1ität ~isc;hel1 dem »Vorher.<~.u_nd_.?)Na~bh~~~"-J·ljerJst~ichts Y9Pj e_nem Religionswechsel zu_merken, den wir gemeinhin mit dem Wort Beke.~!!':'!K_!lssf!~~i€?!en. I~1?_~~!l~!. !!!! .ein. und .denselben G2!1.~~iä.l1gt_J~~~I~~ ein~p_ ne1,l~~l-_bes_Qnderen Ruf für diesen Dienst. Gottes Messias beauftragt ihn, den Juden, den-HeIden- dIe Botschaft Gottes zu bringen. Alle Berichte betonen diese Beauftragung, nicht die Bekehrung. Paulus wurde nicht so sehr »bekehrt«, als vielmehr zu einer bestimmten Aufgabe berufen, die ihm durch seine Erfahrung des auferstandenen Herrn vermittelt wurde: das Apostolat für die Heiden; er wurde von J esus Christus ausgewählt um des einen Gottes der Juden und Heiden willen. In der Annahme, daß das, was jemand über sich selbst enthüllt, in der Regel zutreffender ist als das, was andere, berichten, wollen wir zunächst Paulus' eigenen Bericht über seine Berufung zu dieser besonderen Mission betrachten. Nachdem Paulus gesagt hat, daß er das Evangelium durch eine Offenbarung J esu Christi empfangen hat (Gal. 1,12), fährt er fort: »Ihr habt ja von meinem ehemaligen Wandel im Judentum gehört, daß ich die Gemeinde Gottes über die Maßen verfolgte und sie zu zerstören suchte und im Judentum weiter ging als viele Altersgenossen in meinem Volk, indem ich in besonders hohem Maße ein Eiferer für die Überlieferungen meiner Väter war. Als es aber dem, der mich von meiner Mutter Leib an ausgesondert und durch seine Gnade berufen hat, gefiel, seinen Sohn an
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mir zu offenbaren, damit ich ihn unter den Heiden verkündigen sollte ... « (Gal. 1,13-16). Dies ist der ausführlichste Hinweis des Paulus auf das, was wir gewöhnlich seine Bekehrung nennen. In der Standardausgabe des griechischen Textes (Nestle-Aland) erkennt man an bestimmten Hinweisen, daß Paulus in seinem Bericht auf alttestamentliehe Abschnitte anspielt, dies wird auch in deutschen Übersetzungen mit Anmerkungen vermerkt. Paulus sagt, Gott habe ihn von Mutterleib an ausgesondert, durch Gnade berufen und ihm eine Mission an den Heiden gegeben. Der Prophet Jesaja schreibt: »Von Geburt an hat mich der Herr berufen, meinen Namen genannt vom Mutterschoß an« (Jes. 49,1), und »so will ich dich zum Licht der Völker machen, daß mein Heil reiche bis an die Enden der Erde« (Jes. 49,6). Die Berufung des Propheten Jeremia ist ähnlich: »Noch ehe ich dich bildete im Mutterleibe, habe ich dich erwählt; ehe du geboren warst, habe ich dich geweiht: zum Propheten für die Völker habe ich dich bestimmt«, d. h. für die Heiden, die gojim (Jer. 1,5). Paulus beschreibt im Galaterbrief also seine Erfahrung in Begriffen einer prophetischen Berufung, ähnlich der des Jesaja und J eremia. Wie die prophetischen Vorbilder fühlt er sich von Gott selbst erwählt, die Botschaft von Gott und Christus zu den Heiden zu bringen. Im Philipperbrief betont er, daß er »ein Hebräer von Hebräern, ein Pharisäer nach dem Gesetz, ein Verfolger der Gemeinde nach dem Eifer, untadelig nach der im Gesetz verlangten Gerechtigkeit« ist (Phil. 3,5-6). Und doch, ohne den Wert seiner Vergangenheit in Frage zu stellen, sondern um zu zeigen, daß seine früheren Werte, so bedeutend sie waren, im Lichte seiner Kenntnis und Erkenntnis Christi wie nichts sind, sagt er weiter: »Ich halte in der Tat dafür, daß alles Schaden ist um des überragenden Wertes der Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn, willen. Um seinetwegen habe ich alles eingebüßt und halte es für Unrat, damit ich Christus gewinne und in ihm erfunden werde - wobei ich nicht meine eigene 19
Gerechtigkeit habe, die aus dem Gesetz, sondern die durch Glauben an Christus, die Gerechtigkeit aus Gott aufgrund des Glaubens ... « (Phil. 3,7-9). Von ,hier aus wird klar, daß das übliche Bekehrungsmodell von dem Juden Paulus, der seinen früheren Glauben aufgibt, um Christ zu werden, nicht ein Denkmodell des Paulus ist, sondern unseres. Seine Berufung führt ihn vielmehr zu einem neuen Verständnis seiner Mission, zu einem neuen Gesetzesverständnis, da sein altes ein Hindernis für die Heiden wäre. 'Sein Amt gründet in der spezifischen Überzeugung, daß die Heiden Teil des Gottesvolkes werden, ohne durch das Gesetz hindurchgehen zu müssen. Dies ist des Paulus geheime Offenbarung und sein Wissen. Natürlich hat Paulus' Bericht über seine Berufung zum Apostolat seine eigene, besondere, notwendig apologetische Richtung. Es gab möglicherweise in der J erusalemer Kirche Christen, die seine direkte apostolische Autorität ablehnten und forderten, daß ein solches Apostolat durch höhere menschliche Autoritäten bestätigt werden müsse. Paulus verneint dies heftig und besteht auf seiner direkten Berufung: »Ich tue euch nämlich kund, daß das von mir verkündigte Evangelium nicht von menschlicher Art ist, denn ich habe es auch nicht von einem Menschen empfangen noch gelernt, sondern durch eine Offenbarung J esu Christi« (Gal. 1,11-12). In der Apostelgeschichte dominiert ebenfalls die Vorstellung einer »Berufung«, auch wenn mehr Einzelheiten über die Erfahrung des Paulus berichtet werden. Seine Berufung wird ihm, nach Kap. 9, durch Ananias vermittelt, dem vom Herrn gesagt wird, daß Paulus ein »auserwähltes Werkzeug« ist (Apg. 9,15). Auch hier, in der lukanischen Erzählung, erinnert das Bild des auserwählten Vertreters des Herrn an Jer. 1,5 (vgl. 1,10) und an Jes. 49,1. Das Geschehen wird jedenfalls nicht als Bekehrung von einer »Religion« zur anderen gesehen, sondern als Berufung zu jener besonderen Mission, von der dem Ananias gesagt 20
wird: »Aber der Herr sprach zu ihm: Geh hin, denn dieser ist mir ein auserwähltes Werkzeug, um meinen Namen vor Heiden und Könige und vor die Söhne Israels zu tragen ... « (Apg. 9,15). In Apg. 22 ist es wieder Ananias, der dem Paulus sagt: »Der Gott unserer Väter hat dich dazu bestimmt, seinen Willen zu erkennen und den Gerechten zu sehen und ein Wort aus seinem Munde zu hören. Denn du sollst für ihn allen Menschen gegenüber ein Zeuge sein von dem, was du gesehen und gehört hast« (Apg. 22,14-15). Dann hört Paulus den Herrn in einer Audition: »Geh, denn ich will dich unter die Heiden hinaus in die Ferne senden ... « (Apg. 22,21). Der Bericht in Apg. 26 unterscheidet sich von denen in Apg. 9 und Apg. 22 darin, daß Paulus ein Licht vom Himmel sieht und die Stimme des Herrn hört: »... steh auf und stelle dich auf deine Füße! Denn dazu bin ich dir erschienen, dich zu bestimmen zum Diener und Zeugen ... Und ich werde dich retten vor dem Volk und vor den Heiden, unter die ich dich sende, um ihnen die Augen zu öffnen, damit sie sich von der Finsternis zum Licht und von der Gewalt des Satans zu Gott bekehren, auf daß sie durch den Glauben an mich Vergebung der Sünden und ein Erbteil unter den Geheiligten empfangen« (Apg. 26,16-18). In diesem Abschnitt klingt die Berufungsvision des Propheten Ezechiel an, er bezieht sich direkt auf Ez. 1,28, wo von visionärer Erfahrung und einem Fußfall berichtet wird, und wo anschließend die Stimme des Herrn sagt: »... stelle dich auf deine Füße ... ich will dich zu den Kindern Israels senden, den abtrünnigen ... « (Ez. 2,1.3.). Der Auftrag des Paulus, zu den Heiden zu gehen, erinnert auch an J eremia: »... zu allen, zu denen ich dich sende, wirst du gehen, und alles, was ich dir gebiete, wirst du reden« (Jer. 1,7). Mehr noch, was Paulus für die Heiden tun soll (Apg. 26,18), verweist auf die Verheißungen der Propheten, daß die Augen der Blinden geöffnet werden (Jes. 35,5; 42,7.16) und die Erlösung kommen wird (Jes. 61,1).
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Während die Berichte der Apostelgeschichte, vor allem in den Kapiteln 9 und 22, die Meinung anklingen lassen, daß dem Paulus seine Erfahrung erst erklärt werden mußte, geben Galaterbrief und Apostelgeschichte doch eine ähnliche Tradition wider, nämlich die der prophetisehen Berufung. Wenn wir also den Begriff »Bekehrung« für Paulus' Erfahrung verwenden, dann müßten wir ihn auch bei Propheten wie Jeremia und Jesaja gebrauchen. Und doch sprechen wir nicht von deren Bekehrung, 'Sondern von ihrer Berufung. Ebenso ist auch die Erfahrung des Paulus eine Berufung - zu der besonderen Aufgabe, Gottes erwählter Apostel der Heiden zu sein. Um diese Mission geht es. Es ist Berufung zum Dienst, nicht Bekehrung. Und diese Berufung ist um so bedeutsamer, als der Verfolger zum Apostel wird. Wir hören oft, daß die Veränderung im Leben des Paulus, die durch seine »Bekehrung« bewirkt wurde, so groß war, daß er einen neuen Namen bekam: Saulus wurde zu Paulus. Die Apostelgeschichte sieht es jedoch anders. In der Tat ist der Namenswechsel in der Apostelgeschichte sehr aufschlußreich für die Frage nach Berufung oder Bekehrung. Erstens gibt es drei und nicht nur zwei Namen im griechischen Text: Saulos bis Apg. 13,9 und Paulosvon 13,9 an, dazu die Transskribierung des hebräischen Namen Schaul in den eigentlichen Berufungsberichten; der vom Herrn und von Ananias gebraucht wird (Apg. 9,4.17; 22,7.13; 26,14). Also ist es eindeutig nicht die Berufung/ Bekehrung, die den Namenswechsel auslöst. Die entscheidende redaktionelle Verbindung sieht so aus (Apg. 13,9): Saulos ist auf Zypern im Streit mit einem Zauberer, dem jüdischen Propheten Bar J esus/Elymas, vor dem römischen Prokonsul namens Sergius Paulus. Und es heißt dann in V. 9: »Saulos aber, der auch Paulus heißt ... erfüllt mit dem heiligen Geist ... sprach«. Und von hier an nennt die Apostelgeschichte ihn Paulus. Warum? Dies ist Paulus' erste Begegnung mit römischen Beamten, und wenn es die
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Absicht der Apostelgeschichte ist, den Weg des Evangeliums von Jerusalem nach Rom zu zeigen (vgl. Apg. 1,8), dann ist klar, daß der Namenswechsel diese Verlagerung des Brennpunktes symbolisiert. Von jetzt an ist Rom der »Magnet«. Es geht um die Mission - deshalb Berufung, nicht Bekehrung. Was also ist der Unterschied zwischen einer Berufung und einer Bekehrung? Vielleicht ist er gar nicht groß, doch wir wollen uns ohne Haarspalterei um die richtige Unterscheidung der Worte bemühen. Die meisten von uns in der westlichen Tradition denken, daß die Entwicklung des Paulus gleichbedeutend ist mit dem, was wir gewöhnlich als Bekehrungserfahrung beschn~iben. Doch dies führt in unserem Paulusverständnis zu zwei Schwierigkeiten. Erstens verleitet uns der Begriff »Bekehrung« zu der Vorstellung, Paulus hätte seine Religion gewechselt: der Jude wurde Christ. Doch es gibt viele Gründe, dieses Denkmodell in Frage zu stellen. Zum einen dachten die Menschen jener Zeit nicht an »Religionen«. Zum anderen ist es deutlich, daß Paulus Jude bleibt, wenn er seine Aufgabe als Heidenapostel erfüllt. Wenn wir von der Bekehrung des Paulus reden, dann laufen wir zweitens Gefahr, eine falsche Trennung zwischen der Person Paulus und dem Apostel Paulus zu machen. Denn wir benutzen dann ein modernes Erweckungsmodell: Weil die Erfahrung des Paulus so tief und von einer solchen Qualität war, daß sie ihn sogar zum Missionar und Apostel machte, trennen wir sein Christsein von seinem Apostelsein. Doch die Texte (die Apostelgeschichte und die Paulusbriefe) stimmen in einer ganz anderen Vorstellung überein: Der Verfolger wurde berufen und erwählt, der Apostel mit einer besonderen Mission zu sein, nämlich den Heiden das Evangelium zu bringen. Wieder und wieder stellen wir fest, daß es bei Paulus kaum einen Gedanken gibt, der nicht um seine Mission, seine Arbeit kreist. Das »ich« in seinen Schriften ist nicht »der Christ«, son-
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dern »der Heidenapostel«. Darum spreche ich lieber von der Berufung als von einer Bekehrung des Paulus. Hier wird es nun wichtig, die .Jnterschiede zwischen Paulus und Luther herauszuarbeiten. Die Erfahrung des Paulus ist nicht die innere Bekehrungserfahrung, wie die westliche Theologie immer angenommen hat. Hinter dieser Unterscheidung liegt etwas sehr Wichtiges. Es geht darum, daß wir alle im Westen, vor allem in der reformatorischen Tradition, Paulus gar nicht anders lesen können als durch die Brille der Erfahrungen von Menschen wie Luther oder Calvin. Dies ist der Hauptgrund für unsere Unfähigkeit, Paulus zu verstehen. In Luther etwa sehen wir einen Menschen, der unter den drohenden Forderungen des Gesetzes leidet - ein Verzweifelter, für den die theologische und existenzielle Frage lautet: »Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?« Er erkannte, daß, je mehr er versuchte, desto mehr versagte er; er war ein Mensch, der gerade in seiner Frömmigkeit die Tiefen des Abgrundes von Vergeblichkeit und Versagen vor Gott erfuhr; jemand, der wirklich bis zu den Pforten der Hölle ging, der Schuld in ihrer innersten Intensität erfuhr. Und dieser junge Mann Luther fand bei Paulus, in dessen Worten, daß »der Gerechte aus Glauben leben wird« und in ähnlichen Aussagen, die Botschaft Gottes, die ihn aus der Verzweiflung führte und in jene feste Burg der Gnade versetzte, von der er sein bewegendes Lied schrieb. Im Gegensatz dazu Paulus: ein sehr glücklicher und erfolgreicher Jude, jemand, der noch aus seiner christlichen Perspektive heraus sagen kann (wie im Philipperbrief): »(ich war) untadelig nach der im Gesetz verlangten Gerechtigkeit« (Phil. 3,6). Dies sagt er! Er kennt keine Beunruhigungen, keine Probleme, keine Gewissensqualen, keine Gefühle des Versagens. Er ist der Musterschüler, der in Gamaliels Seminar alle Preise erhält, sowohl die für gute Führung als auch die für wissenschaftliche Leistungen, kurz: ein glücklicher Jude. Es gibt in den Schriften des 24
Paulus nicht den geringsten Hinweis darauf, daß er irgendwelche Schwierigkeiten hatte zu erfüllen, was für ihn als Juden die Forderungen des Gesetzes waren. Wie oft zitieren wir das Pauluswort und halten wunderbare Predigten darüber: »ich vergesse, was hinter mir ist, strecke mich aber nach dem aus, was vor mir ist ... « (Phi!. 3,13 ff) . Und wie wenige sind es, die ihre Bibel so unvoreingenommen lesen können, daß sie verstehen, was Paulus vergiBt: seine Leistungen, nicht sein Versagen. Es sind diese Leistungen, I die er jetzt als Unrat bezeichnet (Phi!. 3,8). Es gibt kein Anzeichen dafür, daß Paulus wegen seiner vergangenen Leistungen ein schlechtes Gewissen hatte oder daß er größere Schwierigkeiten damit bekommen sollte. Als Jude " war er niemals im Tal der Verzweiflung gewesen. Er ging von Herrlichkeit zu Herrlichkeit. Daß sein vergangener Ruhm ihn zum Verfolger der Kirche gemacht hatte, verursachte ihm erst nach seiner Berufung Gewissensbisse (1. Kor. 15,9), doch solche Reue und Zweifel sind vor der Berufung zu seiner Mission nicht erkennbar. In den drei Berichten der Apostelgeschichte müssen wir zu unserem Erstaunen feststellen, daß jede Anklage oder Selbstanklage fehlt, wenn Paulus als Verfolger erwähnt wird. Daß der Verfolger zum Apostel wurde, gereicht nur Gott zur größeren Ehre. Diese Berichte scheinen mir etwas ganz anderes zu sein als die »Turmerfahrung« Luthers oder die ganze reformatorische Tradition. Vor allem ist dies der Fall für die neuen" existenziell-psychologisierenden Stadien jener Tradition, die dadurch gekennzeichnet sind, daß wir christlichen Prediger die Psychologen, um nicht zu sagen die Psychiater, in unserer morbiden und masochistischen Fähigkeit überbieten wollen, die Vergeblichkeit und das Versagen aller menschlichen Bemühungen und Hoffnungen zu zeigen. Doch spricht Paulus von sich selbst nie als Sünder? Natürlich. Doch die einzige konkrete Sünde qua Sünde in seinem Leben, die Sünde, von der er spricht, ist, daß er die I
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Kirche verfolgt hat (1. Kor. 15,9). Um eine solche Sünde zu erkennen, bedarf es keiner intensiven Selbstbespiegelung. Und er sagt auch ganz offen, daß er diese Sünde aufgewogen hat und daß er darüberhinaus stolz ist auf seine Leistung: »ich habe mehr gearbeitet als sie alle (die anderen Apostel)« (1. Kor. 15,10), die diese schreckliche Sünde nicht begangen hatten. Natürlich ist es nicht Paulus, der dies erreicht hat: »doch nicht ich, sondern die Gnade Gottes mit mir« (1. Kor. 15,10). Paulus ist sicher, daß die einzige Sünde, von der er konkret spricht, aufgehoben ist. Wir sehen hier einen Menschen mit starkem Gewissen vor uns, nicht einen, der von Selbstquälerei verfolgt wird. Hier liegt der Unterschied zwischen Paulus und Luther und vielleicht dem modernen westlichen Menschen. Es klingt sicherlich befremdlich für uns, wenn Paulus in 2. Kor. 5,10-11 seine letztgültige Güte und Unschuld betont: »Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, damit jeder empfange, je nachdem er ... gehandelt hat.« Und danach sagt er den Korinthern, daß er : selbst im Angesicht jenes Gerichts und mit der Furcht \ Gottes vor Augen für schuldlos erklärt wurde (2. Kor. 5,11). Dann fügt er hinzu, daß sie hoffentlich eine ebenso gute Meinung von ihm haben. Dies klingt wahrlich nicht sehr bescheiden. Dies klingt nicht nach einem Menschen, der sich bewußt ist, gleichzeitig Gerechter und Sünder zu sein, simul iustus et peccator. Deshalb scheint etwas falsch zu sein, wenn wir uns Paulus als einen Menschen vorstellen, der vom Bewußtsein seiner Sündhaftigkeit gequält wird. Es ist wichtig, diese Erkenntnis zu verschärfen, wenn wir uns den Paulusbriefen zuwenden. Wir haben bereits auf die zwei Faktoren hingewiesen, die unser Gefühl der Befremdung in dieser Begegnung erklären könnten. Vor allem ist es unser westliches, ichbezogenes Denken, das uns in die falsche Richtung führt. Doch nun fragen wir: spricht Paulus von/seinem »reinen Gewissen« als Missionar oder als Privatmann (1. Kor. 4)? Oder spricht hier nicht vielmehr
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Paulus der Christ, der von sich selbst ebenso überzeugt ist wie Paulus der Jude - oder umgekehrt? Ich glaube, daß sein Gewissen stark war. Dies spiegelt sicher 1. Kor. 4,1-5 wider: So soll man uns ansehen: als Diener Christi und Haushalter über die Geheimnisse Gottes, Nun verlangt man im übrigen von den Haushaltern, daß einer treu erfunden werde. Mir aber ist es etwas ganz Geringes, daß ich von euch gerichtet werde oder von einem menschlichen Gericht; doch auch ich selbst richte mich nicht, , " vielmehr ist es der Herr, der mich richtet. Darum richtet nichts vor der Zeit, bis der Herr kommt, der auch das Verborgene der Finsternis ans Licht bringen und die Ratschläge der Herzen offenbar machen wird; und dann wird das Urteil einem jeden zuteil werden von Gott.
Hier plädiert er für Zeit - auch in einer Situation, als er selbst der Schwächere ist. Wir berühren hier eines der kompliziertesten Probleme der Bibelauslegung, des Schriftstudiums wie des christlichen Lebens: Es ist vielleicht nicht wahr, wie wir manchmal sagen, daß der Mensch durch die Zeiten derselbe bleibt. Normalerweise halten wir alle möglichen Aussagen für jede Situation zu jeder Zeit für zutreffend. Es ist natürlich die Frage, was es heißt, der Mensch sei »derselbe«. Gewöhnlich sagen wir: »grundsätzlich derselbe« oder »wesentlich derselbe«. Dies ist nichts als eine Sicherung, welche die Wahrheit verdrängt oder verdünnt oder verändert, ja nachdem, wie sich die Situation geändert hat. Es ist ziemlich einleuchtend, daß im grundsätzlichen Verständnis der menschlichen Situation nicht nur zwischen Paulus und uns, sondern zwischen dem N euen Testament und uns ein Graben klafft. Wir müssen in diesem Kapitel verstehen, daß die Botschaft des Paulus sich nicht auf irgendeine Bekehrung von der hoffnungslosen Werkgerechtigkeit des Judentums zum glücklichen, gerechtfertigten Zustand eines Christen bezog. Das Schwergewicht in Paulus' theologischer Arbeit liegt auf der Tatsache, daß er sich zum Heidenapostel berufen wußte, zum Apostel des einen Gottes' Schöpfer von Juden und Heiden (vgl. Röm. 3,30). 27
Dies alles folgt aus der etwas spitzfindigen Unterscheidung zwischen »Berufung« und »Bekehrung«, einer Unterscheidung, die mit einer der klassischen Fragen in der Paulusforschung zusammenhängt. Westliche Wissenschaftler sind erstaunt,. wenn sie herausfinden, daß für mindestens 300 Jahre nach ihrer Niederschrift und Verbreitung die wesentliche Erkenntnis der paulinischen Theologie - Rechtfertigung (allein) aus Glauben, ohne des Gesetzes Werke - mehr oder weniger in Lehre und Denken der Kirche vergessen gewesen zu sein scheint. Paulus wurde natürlich zitiert.:... immerhin war er ein Apostel und von der Kirche in den Kanon der Heiligen Schrift aufgenommen worden. Er wurde auch mit Verehrung zitiert, doch als eine Art Sammlung von »goldenen Sprüchen«, die man in jeder anständigen religiösen Literatur findet. Selten, wenn überhaupt, finden wir aber jemanden, der Paulus' Rechtfertigungslehre verstanden hätte. Erst in Augustin, mehr als 300 Jahre nach Paulus, fand sich derjenige, der zu sehen schien, was Paulus bewegte, und der den Mittelpunkt der paulinischen Theologie entdeckte: Rechtfertigung. Der Grund für diese seltsame Tatsache scheint darin zu liegen, daß die frühe Kirche noch wußte, daß Paulus wirklich meinte, was er sagte, nämlich die Beziehung zwischen Juden und Heiden - und diese war in jenen Jahrhunderten kein Problem. Es gab kein Gespräch, keine weiterführende, ernsthafte und offene Diskussion, in der die Frage von Juden und Heiden berührt wurde, und von daher waren die Aussagen des Paulus gewiss~rmaßen irrelevant. Dies war vielmehr die Zeit, in der die paulinische Sicht gänzlich von einem selbstgerechten christlichen Antijudaismus, um nicht zu sagen: Antisemitismus, verdrängt war - d. h. in der gen au jene Haltung gesiegt hatte, die Paulus im 11. Kapitel des Römerbriefs ansatzweise spürte und gegen die er kämpfte. Augustin, den man vielleicht mit Recht als ersten wirklich westlichen Menschen bezeichnet hat, war der erste in
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der Antike und im Christentum, der etwas so egozentrisches wie seine eigene geistliche Autobiographie schrieb, die confessiones. Er wandte als erster die paulinische Rechtfertigungslehre auf das Problem des ichbezogenen Gewissens an, auf die Frage: Wie erlangt der Mensch Erlösung? Und mit Augustin begann das westliche Christentum mit seiner Betonung der inneren Werte. Es entwickelte sich im Mittelalter weiter, in der Bußpraxis und ihrer Anleitung zur Selbstbespiegelung, die mehr und mehr das kirchliche wie das weltliche Leben charakterisierten, und der Mensch wurde immer raffinierter, wenn es darum ging, sein Ich zu analysieren. Der Mensch wandte sich dem eigenen Selbst zu, betört und beherrscht von der Frage, nicht, wann Gott die Befreiung in der Heilsgeschichte bringen wird, sondern wie Gott in der innersten Seele wirkt. Die Pest, der Schwarze Tod, verstärkte diesen Hang. Es gab in der Frömmigkeit des späten Mittelalters viele ehrliche Seelen, und wir sollten uns diese Frömmigkeit nicht als ein unablässiges, immer oberflächlicher werdendes Kaufen von Ablässen vorstellen. Es gab genügend Menschen, die das Wort ernstnahmen, und sie litten. Einer von denen, die am meisten litten, war Martin Luther, der nicht zufällig Augustiner war. In seinem Ringen, in seiner Selbstbespiegelung und seinen Gewissensnöten nahm er Paulus auf und fand bei ihm die Antwort auf seine Frage, auf die Frage des Westens und der spätmittelalterlichen Frömririgkeit des Westens. Es ist bezeichnend, daß das homiletische und erbauliche Material der griechisch-orthodoxen, der russisch-orthodoxen, der syrischen, koptischen oder der Mar-Thoma-Kirche - alles Kirchen, die ihre Bibel genau lasen, einige in Sprachen, die der Muttersprache Jesu und der Sprache der frühesten christlichen Texte sehr nahe waren - daß dieses Material nur wenig Interesse für diese Frage zeigt. Das ichbezogene Gewissen ist eine Erfindung und ein Problem des Westens. Nachdem es einmal in den Blutkreislauf der westlichen Kultur eingedrungen war,
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beherrschte es die Szene weit über seine ursprüngliche Funktion hinaus. Dieser Drang zur Selbstbespiegelung er'reicht seinen theologischen Höhepunkt und Ausbruch in "der Reformation, seinen säkularen bei Sigmund Freud. Nur Paulus selbst war nie an dieser Auseinandersetzung beteiligt. Ein klassisches Beispiel für den Gebrauch oder besser Mißbrauch des Paulus kann im Vergleich zweier Übersetzungen von Gal. 3,24 gesehen werden - beide vom Griechischen aus zulässig, doch eine eindeutig theologisch beeinflußt und deshalb lange unbestritten, weil sie so gut bei der Frage des ichbezogenen Gewissens angewendet werden konnte. Eine Übersetzung von Gal. 3,24 lautet: »... das Gesetz war unser Erzieher auf Christus hin.« Diese Übersetzung gibt das griechische paidagogos mit »Erzieher« wider und nimmt eis (Christon) als räumliche Bestimmung. Theologisch ist dies sehr nützlich, wenn man zeigen will, wie das Gesetz, das durch seine strengen Gebote Furcht einflößt, uns die Gnade und Vergebung des neuen Lebens bei Christus suchen läßt. Doch derselbe griechische Satz kann anders und dem Gebrauch von paidagogos zur Zeit des Paulus angemessener übersetzt werden. Dann heißt es: \\ »... das Gesetz war unser Zuchtmeister, ehe Christus \j kam.« Das Wort paidagogos bedeutet nicht Erzieher, Tutor oder Lehrer, sondern es bezeichnet einen Sklaven, einen »Zuchtmeister«, der ein Kind auf dem Weg zur Schule beschützte und aufpaßte, daß ihm nichts passierte und es nicht belästigt wurde. Und eis Christon sollte zeitlich übersetzt werden, also: ehe Christus kam. Die Übersetzungen, obwohl beide vom Griechischen her zulässig, spiegeln also ganz verschiedene theologische Standpunkte wider. Außerdem ist zu bemerken, daß in der ersten Übersetzung das »unser« Paulus und die Galater zu meinen scheint, während es sich in der zweiten eindeutig auf Paulus und seine Mit juden bezieht. Wir haben also zwei radikal entgegengesetzte Auffassungen von demselben griechischen Satz 30
vor uns, wobei die zweite Version zweifellos richtig ist und der alten Bedeutung des Griechischen und dem Kontext des Satzes eher entspricht (vgl. vor allem V. 23 für das »ehe«). Wir wollen nun diesen Abschnitt in seinem Zusammenhang betrachten, denn er hat etwas für unsere Fragestellung zu sagen. Der Kontext ist die Situation in Galatien, wo es um die Frage ging, ob Heiden der Kirche beitreten konnten, ohne zuvor beschnitten zu werden. Beschneidung steht im Mittelpunkt der Diskussion (Gal. 2,3; 5,2.11; 6,2). Paulus argumentiert, daß man nicht erst Jude sein muß, bevor man Christ wird, sondern daß es einen geraden, direkten Weg zu Christus für die Heiden gibt, unabhängig vom Gesetz. Soweit, denke ich, ist Paulus' Argumentation bekannt. Vielleicht ging es auch um Speisegesetze, doch der Streit entbrannte über die Beschneidung. Und dies ist sehr wichtig. Wir müssen immer erst sehen, was Paulus wirklich diskutiert; denn sobald wir von Juden oder Judentum, Gesetz oder Beschneidung, Speisegeboten, Festtagen oder Festkalendern hören, dann sagen wir: Ach ja, es geht um das Problem der Gesetzlichkeit. Aber Paulus entscheidet in der Frage der Beschneidung viel radikaler als in seiner Behandlung der Speisegesetze. Die Beschneidung· von Heiden kann unter keinen Umständen akzeptiert wer- . den. Dagegen gilt für die Speisegesetze, daß, wenn die schwächeren Brüder einige Restriktionen brauchen, um nicht Anstoß zu nehmen, die Frage nicht zu weit getrieben werden sollte. Und wenn wir mit unserem protestantischen Denken einfach alle diese Probleme für Beispiele von Gesetzlichkeit im allgemeinen halten, dann verstehen wir schlicht nicht, worum es geht. Dies könnte in der Tat der Grund dafür sein, warum wir in der Christenheit so große Differenzen haben, wenn wir mit der Frage der Gesetzlichkeit konfrontiert sind. Um seine Argumentation klar zu machen, muß Paulus etwas zum Gesetz sagen. Er tut dies aus der Perspektive
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des traditionellen jüdischen Denkens, wie er es kannte. In dieser Tradition jüdischer Lehre war das Gesetz nach beiden Richtungen hin ewig: es existierte vor der Schöpfung und es würde in alle Ewigkeit dauern. In diesem Abschnitt des Galaterbriefes bemüht sich Paulus darum, aus dem Gezetz (er zitiert nur den Pentateuch) zu beweisen, daß diese Sicht falsch ist. Thora bedeutet für Paulus sowohl Pentateuch, die fünf Bücher Mosis, als auch Gesetz im allgemeinen. Es ist wichtig zu wissen, daß er in Gal. 3 und 4 fast alle Schriftbelege, auf die er seine Argumentation über die Gültigkeit der Thora gründet, aus dem Pentateuch selbst nimmt. Paulus beweist mit dem Gesetz Aussagen über das Gesetz. E!beweist mit der Thora, Aussagen über die Th()ra. lJnd was sagt er? Daß das G:~~~!~_~~rs~430 J ahre na~h d~;'Abiaham~vei-heißung gegeben wurde, also ist die Thora nicht ewig. Erst kam die Verhelßtiiig an Abraham und seinen Samen; und für Paulus bezieht sich dieses »Samen« auf Christus, der kommen wird. Paulus zielt mit seiner Argumentation darauf ab zu belegen, daß das Gesetz 430 Jahre später als die Verheißung kam und daß die Verheißung gegeben wurde, als das Testament oder der Bund mit Abraham unwiderruflich geschlossen war. Also steht die Verheißung fest, und das Gesetz wurde später zugefügt. Paulus zählt danach in Gal. 3,19 alles auf, was das Gesetz gering erscheinen läßt. Erstens, es wurde um der Übertretungen willen gegeben. Obwohl dies umstritten ist, bin ich doch überzeugt, daß er sich hier auf eine im Judentum wie im Christentum verbreitete Lehre bezieht: daß das Gesetz vom Sinai tatsächlich eine zweite, revidierte Fassung war, die erst aufgrund dessen erstellt wurde, was geschah, als Moses die ersten Tafeln herabbrachte: er zerstörte sie im Zorn über das Goldene Kalb. Also stieg Moses wieder p.inauf auf den Gipfel, um eine zweite Ausgabe des Gesetzes zu empfangen, die, so sagen die Exegeten, die Übertretungen des untreuen und ungehorsamen 32
Volkes bereits in' Betracht zog. Und also handelte es sich nicht um das wahre, reine, letztgültige Gesetz, sondern um eines, das wie alle unsere Gesetze von der bösen Wirklichkeit verdunkelt war, der es entgegenwirken sollte. Dies meint Paulus wohl, wenn er sagt, daß das Gesetz um der Übertretungen willen zugefügt wurde. Zweitens, das Gesetz wurde für eine begrenzte Zeit gegeben - bis zum Kommen des Samens (»bis der Nachkomme käme, dem die Verheißung gegeben ist«). Also ist es auch in Zukunft nicht ewig. Drittens, »es wurde angeordnet durch Engel mit Hilfe eines Mittlers«. Angeordnet durch Engel - also gab es Mittelsmänner. Dies war gewöhnlich ein Punkt, der in der jüdischen Tradition das Gesetz verherrlichte, doch Paulus stellt ihn auf den Kopf. Er verstärkt seine Aussage noch, wenn er sagt, daß es nicht nur einen einzigen Vermittler gab; da war noch ein anderer, Moses. Also war das Gesetz nicht direkt gegeben, sondern durch Vermittler, und: »ein Vermittler bedeutet mehr als einer, Gott aber ist einer« (Gal. 3,20). In einer solchen Argumentation ist es nicht verwunderlich, wenn das Gesetz nicht als die endgültige, absolute und unmittelbare Manifestation der Erlösung durch Gott angesehen wird. Weiter, das Gesetz wurde nicht gegeben, um lebendig zu machen, denn »dann käme die Gerechtigkeit wirklich aus dem Gesetz« (3,21). Wenn ein Gesetz gegeben wäre, das Leben geben könnte, dann würden wir natürlich durch das Gesetz gerechtfertigt. Doch hierfür ist das Gesetz nicht gekommen, nach Paulus. Wozu kam es dann? Paulus sagt: »die Schrift hat alles unter die Sünde zusammengeschlossen, damit die Verheißung aus Glauben an J esus Christus denen gegeben würde, die glauben« (3,22). Nach Paulus war das Gesetz also eine Art strenger Babysitter, der aufpassen sollte, daß die Kinder Israels den Kühlschrank nicht vor dem großen Fest plünderten, an dem auch die Heiden teilnehmen sollten. Oder biblisch ausgedrückt: 33
»Ehe aber der Glaube kam, wurden wir (die Juden) unter dem Gesetz bewahrt, eingeschlossen, bis der Glaube offenbart werden sollte« (3,23). Mit anderen Worten: Die Schrift verschloß alles - unter die Sünde - damit die Verheißung vom Glauben an J esus, den Messias, abhängen sollte und denen gegeben würde, die an J esus Christus glauben. Die Ausdrücke »bis der Glaube offenbart werden sollte« und »nachdem der Glaube aber gekommen ist«, (Gal. 3,23.25) zeigen einen interessanten Gebrauch des Wortes »Glaube«. Wir könnten ebensogut »Christus« sagen, also »bis Christus offenbart werden sollte« bzw. »nachdem Christus gekommen ist«. Wir müssen also sagen, daß »Glaube« im Neuen Testament nicht nur eine theologische Einstellung ist; Glaube bedeutet nicht nur, daß wir unsere Herzen Gott zugewendet haben und seine Verheißung annehmen. Glaube ist völlig von seinem Inhalt her definiert, und wenn wir lesen »bis der Glaube offenbart werden sollte«, dann heißt das, bis zum Kommen jenes Messias, an den man glauben konnte. Doch man konnte nicht an ihn glauben, bevor er gekommen war, denn für Paulus bedeutet »glauben«: den messianischen Anspruch Jesu annehmen. Bevor dies also möglich wurde, was für Paulus in der Begegnung mit dem auferweckten Herrn geschah, waren die Juden unter dem Gesetz bewahrt, »eingeschlossen,bis der Glaube (Christus) offenbart werden sollte«. Deshalb war das Gesetz »unser«, d. h. des Paulus und seiner Mitjuden paidagogos, bis Christus kam. Wir sagten bereits, daß für uns ein »Pädagoge« ein besonders guter Lehrer ist, doch im alten Griechisch und für Paulus war es jemand, der weniger als ein Lehrer war. In Griechenland oder Rom war der »Pädagoge« eine Art Aufseher, ein Sklave, der die Kinder zur Schule brachte, sie Manieren lehrte, aufpaßte, daß sie nicht in Sünde oder Schwierigkeiten kamen (wie z. B. homosexuelle Beziehungen) und auch sonst auf sie achtgab, bis er sie vor der Tür 34
verließ, hinter der die eigentliche Erziehung stattfand. In griechischen Komödien und auf römischen Reliefs ist der paidagogos als strenger, ungebildeter Sklave dargestellt, der z. B. einen kleinen Jungen an seinen Ohren zieht. Von daher ist »Zuchtmeister« eine genauere und angemessenere Übersetzung als »Erzieher«. In dieser Argumentation dient das Gesetz als ein solcher Zuchtmeister bis zum Kommen Christi. Und warum? Weil - oder besser, da Paulus die Dinge immer von dem Standpunkt aus sah, von dem aus Gott seine Geschichte vorwärts treibt, hina, damit »das Gesetz unser Zuchtmeister war, bis Christus kam, damit wir aus Glauben gerechtgesprochen würden« (3,24). Rechtfertigung aus Glauben ist nur in Christus möglich. »Nachdem aber der Glaube (Christus) gekommen ist, sind wir nicht mehr unter einem Zuchtmeister; denn ihr alle seid Söhne Gottes in Christus J esus, durch Glauben. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen« (3,25-27). Man beachte den Wechsel von »wir« (Paulus und seine Mit juden) zum »ihr« (die Galater)! In diesen Überlegungen kommt Paulus zu der Folgerung, daß alle in Christus eins sind, daß es keine Trennung in Jude oder Grieche, Sklave oder Freier, Mann oder Frau mehr geben kann - alle sind Erben der Abrahamsverheißung (3,28 f). Dies ist eine deutliche Sprache, und sie drückt genau das aus, was ich mit meinem etwas leichtfertigen Bild über den Kühlschrank meinte. Es ist jedoch seltsam, daß in der ganzen Geschichte der westlichen Tradition, vor allem seit Augustin, dieser Abschnitt so gelesen wurde, als meinte er das gen aue Gegenteil von dem, was Paulus sagt. Was meinen wir in unseren dogmatischen Traditionen, wenn wir sagen, das Gesetz war »unser Erzieher auf Christus hin«? Wir meinen, daß jeder Christ, um Christ zu werden, durch das Gesetz erzogen werden muß, um sein Versagen zu erkennen, seine Schuld, so daß er dann wirklich einsieht, daß er einen Christus, einen Heiland, einen Messias braucht. Doch dies bedeutet, daß wir
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das Ganze auf den Kopf gestellt haben. Wenn Paulus sagt, daß das Gesetz zu einem Abschluß gekommen ist, dann plädiert er für die Möglichkeit, direkt zu Christus zu kommen, nicht erst durch den Trichter des Gesetzes. Wie sind wir zu unserer raffinierten, ichbezogenen westlichen Interpretation gekommen? Weil wir dachten, wenn \ wir das Wort Gottes lesen, dann sollten wir die Botschaft so hören, als sei sie direkt an uns gerichtet. Daß wir also, wenn 'die Bibel »wir« oder »unser« sagt, dies persönlich auffas.sen sollten. Sie sagt: das Gesetz war »unser Erzieher« oder »unser Zuchtmeister«. Wer bin ich nun, daß ich sagen könnte: Die Bibel sagt »unser«, aber in diesem Fall bezieht sie sich auf eine zurückliegende Zeit und nicht auf mich? Und doch, das »unser« in unserem Text bedeutet »ich, Paulus, und meine jüdischen Mitbürger«, nichts sonst. Es ist also ganz falsch, wenn wir das »unser« auf uns Heiden beziehen. Natürlich, wenn wir in der Apostelgeschichte lesen: >>Und dann segelten wir nach Kreta«, dann würden nur sehr wenige Prediger behaupten, das »wir« sei auf heutige Menschen zu beziehen; aber sobald ein solches Pronomen in einem theologischen Zusammenhang auftaucht, verfallen wir dem Zwang, es auf uns selbst anzuwenden. Oft, wenn Paulus »wir« oder »unser« sagt, dann ist dies ein stilistischer Plural, der nur ihn selbst meint; aber in vielen Fällen, die viel wichtiger und schwerer zu erkennen sind, steht der Gebrauch von »wir« - »wir Juden« - in direktem Gegensatz zu »ihr Heiden«. Röm. 3,9 ist ein solches Beispiel, hier sollte das griechische »wir« mit »wir Juden« übersetzt werden. Es ist außerordentlich wichtig, ein Gespür für diese Unterscheidungen zu entwickeln. Wenn man Paulus als den berufenen - nicht den bekehrten - Apostel unter Juden und Heiden liest und sich nicht einfach darauf beschränkt, in ihm den größten Theologen des Neuen Testaments und den protestantischen Helden tiefer theologischer Gedanken zu sehen, dann ist man vielleicht in der Lage, die Bibel wirklich zu lesen und zu
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einem besseren Verständnis dessen zu gelangen, was er in seiner Zeit und für seine jeweilige Situation schrieb. Dies ist die Grundvoraussetzung für jede spätere Anwendung auf unsere eigene Zeit und Situation.
-------------------- 3. -------------------Eher Rechtfertigung als Vergebung Ein Blick in eine griechische Konkordanz zum Neuen Testament zeigt, daß in den Paulusbriefen »Rechtfertigung« (dikaiosyne) - und die damit zusammenhängenden Worte wie »für gerecht erklärt oder gehalten werden«, »freigesprochen werden« (dikaiousthai) und »gerecht« (di-) kaios) - auffallend oft in bestimmten Denkzusammenhängen des Paulus vorkommen. Dagegen fehlt das Wort» Vergebung« (aphesis) oder das Verb »vergeben« (aphienai) erstaunlicherweise in den echten Paulusbriefen, die wirk-I lieh von ihm geschrieben wurden. Eine Form von »verge.; ben« erscheint nur ein einziges Mal in den Hauptbriefen des Paulus (Röm. 4,7), und hier mußte Paulus die Verbform »wurde vergeben« gebrauchen, weil er Ps. 32,1 zitiert, wo sie vorkommt.' Doch er geht hier rasch weiter und vermeidet jeden Rückbezug auf Vergebung, er gebraucht statt dessen seinen Lieblingsbegriff »Gerechtigkeit« (Röm. 4,9). Der Begriff »Vergebung« erscheint je einmal im Kolosser- und Epheserbrief, Briefe, die sicher aus der paulinischen Tradition stammen, aber höchst wahrscheinlich keine echten Paulusbriefe 'sind. Jedenfalls steht in beiden Fällen, sowohl in KoI. 1,14 als in Eph. 1,7, das Wort »Vergebung« als Apposition, als Erweiterung und Erklärung des Wortes »Erlösung«. Trotzdem wird der Begriff Vergebung mit am meisten verwendet, auf der Kanzel wie ganz allgemein im heutigen westlichen Christentum; er beschreibt Summe, Frucht und Wirkung der Taten Jesu Christi. Wenn wir predigen oder 37
wenn Gemeinden miteinander sprechen, dann bezeugen wir die Vergebung durch Christus. Nur wenige würden heute die Frage stellen: Hast du die Versöhnung Christi erfahren? Rechtfertigung, Erlösung, Errettung, Versöhnung - alle diese sind theologisch zu beladen, selbst wenn manche Christen auf ihrem Gebrauch als Zeichen der Rechtgläubigkeit bestehen. Wenn wir ehrlich sind, dann bedeuten alle diese Begriffe für uns Vergebung. So empfinden wir, und warum sollten wir uns unserer Gefühle schämen? Manchmal fragt man sich jedoch, warum Vergebung so sehr betont wird, und ich vermute, einer der Gründe hierfür liegt darin, daß wir in Kopf und Herz mit einer starken psychologischen Tendenz ausgestattet sind. Wir haben , diese Neigung zur Psychologie, und es ist unzweifelhaft, daß der Begriff »Vergebung« in einem psychologischen Rahmen am besten auf die Frage nach Befreiung von Sünde und Schuld paßt. Was diese Frage so zentral macht - und wieder vermute ich nur - ist, daß sie damit zusammenhängt, daß wir schlicht an uns selbst mehr interessiert sind als an Gott oder am Schicksal seiner Schöpfung. Dies i ist eine allgemeine Beschreibung nicht unbedingt eine Verurteilung - dessen, worum es dem Christentum heute geht. Wir sind so sicher und halten es für so einleuchtend, daß Gott sich um seine Angelegenheiten selbst kümmern kann, daß wir unsere Aufmerksamkeit schnell der Anthropologie zuwenden. Diese Frage scheint uns leichter, natürlicher, und in Übereinstimmung mit einem breiten Strang christlicher Erfahrung zu sein. Rudolf Bultmanns ganzes theologisches Unternehmen hat einen einzigen großen Fehler, aus dem alle anderen entspringen: Er ist überzeugt, daß der wesentliche Schwerpunkt, das Zentrum, von dem alle Interpretation herkommt, die Anthropologie ist, die Lehre vom Menschen. Dies mag in der Tat richtig sein; aber wenn es so ist, dann verwüstet und zerstört es jedenfalls die Perspektive des paulinischen Denkens.
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Wenn wir uns unsere zentrale anthropozentrische und psychologische Neigung erst einmal eingestehen, dann haben wir einen Schlüssel dafür, warum Vergebung so wenig und Rechtfertigung so stark im paulinischen Denken betont werden. Man mag mit diesem Befund unzufrieden sein, weil der Begriff »Vergebung« sonst in der Bibel so häufig zu finden ist. Paulus muß hier also einen blinden Fleck haben - wenn es ein solcher sein sollte. »Vergebung« und »vergeben« kommen in den Evangelien und in der Apostelgeschichte vor, im Hebräer-, Jakobus-, 1. Johannesbrief und in der Offenbarung. Vergebung ist ein biblischer Begriff, der aus dem Alten Testament übernommen ist und in der Jesustradition häufig auftaucht. Er erscheint aber oft in Abschnitten, die keineswegs psychologisch oder anthropologisch gefärbt sind. Diese psychologische, anthropologische Tendenz muß ich jedesmal bekämpfen, wenn ich versuche, Paulus zu verstehen. Noch schwieriger ist es, dem Paulus gerecht zu werden, denn dabei muß ich alles vergessen, was ich aus der langen christlichen Geschichte und Erfahrung weiß, um wirklich das Denken des Paulus in den Farben des ersten Jahrhunderts nachzuzeichnen. Warum also redet Paulus von Rechtfertigung, und was will er mit diesem Begriff sagen? Wenden wir uns erneut der Konkordanz zu. Wir sehen dann sofort, daß »Rechtfertigung« und die aus derselben Wurzel abgeleiteten Worte vor allem in einem der Paulusbriefe vorkommen, nämlich ca. 50mal im Römerbrief. Es gibt wenige, aber höchst bedeutsame Belege im Galaterbrief (acht), und ein paarmal tauchen die Worte im 1. und 2. Korinther- und im Philipperbrief auf (ca. 15mal). Der spezifisch paulinische Zusammenhang des Begriffs, »Rechtfertigung aus Glauben, nicht aus Werken« beschränkt sich auf den Galater- und den Römerbrief, vor allem auf den Römerbrief. Man kann dies so erklären, daß man sagt, erst als Paulus den Römerbrief schrieb, seinen vielleicht letzten Brief, erst da wurde diese spezifische
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Bedeutung von ihm erkannt. Doch ich glaube nicht, daß diese Erklärung zutrifft, aus verschiedenen Gründen. Es gibt Hinweise auf die Bedeutung des Begriffs in seinen früheren Schriften, und sie sind keine vorläufigen Einsichten, die sich erst später materialisieren, sondern vielmehr Indikationen, die bereits die ganze Reife seines Denkens zeigen, auch wenn sie nicht ausgeführt werden. Meine einfache Antwort auf dieses Problem ist die folgende: Paulus' Lehre von der Rechtfertigung aus Glauben hat ihren theologischen Kontext in seinen Gedanken über die Beziehung zwischen Juden und Heiden; sie steht nicht in Zusammenhang mit der Frage, wie der Mensch erlöst werden kann, oder wie die Werke des Menschen zu bewerten sind, oder ob der freie Wille des Individuums bestätigt oder bestritten wird. Gewöhnlich werden für die Rechtfertigung aus Glauben vor allem zwei Abschnitte zitiert: Röm. 3,28 und Röm. 1,17. Die Zürcher Übersetzung von Röm. 3,28 lautet: »... der Mensch (wird) durch Glauben gerechtgesprochen ohne Werke des Gesetzes«. (Luthers Übersetzung fügt hinzu: »daß der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben«. Er wollte es wirklich lutherisch machen! Aber vielleicht hat er in gewisser Hinsicht Recht. Wenigstens übersetzt er nicht wilder als z. B. die New English Bible, wo wir lesen: »a man is justified by faith quite apart from success in keeping the law« - »der Mensch wird durch Glauben gerechtfertigt, ganz unabhängig davon, ob er das Gesetz h~lten kann oder nicht«). Im Lauf seiner Argumentation in Röm. 1,17 zitiert Paulus Hab. 2,4; und die Zürcher Bibel gibt das Zitat so wieder: »... wie geschrieben steht: der aus Glauben Gerechte aber wird leben«. Ich würde die futurische Bedeutung des Verbs »leben« stärker berücksichtigen. Von daher möchte ich das Griechische so paraphrasieren: Es wird eine Zeit kommen, wenn der Gerechte aus Glauben leben wird. Diese zwei Aussagen im Römerbrief sind die klassischen 40
Belegstellen, doch es gibt noch viele andere. Man sollte beachten, daß, wann immer solche Aussagen über die Rechtfertigung aus Glauben in den Paulusbriefen vorkommen, sie mit größter Wahrscheinlichkeit dort zu finden sind, wo er sich ausdrücklich auf Juden und Heiden bezieht, entweder in demselben, zumindest aber im Nachbarvers. Röm. 3,28 f lautet: »So halten wir nun dafür, daß der Mensch durch den Glauben gerechtgesprochen werde ohne Werke des Gesetzes. Oder ist Gott nur der Juden Gott? Nicht auch der Heiden? Ja, auch der Heiden.« Ähnlich heißt es in Röm. 1,16 f: »Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes zum Heil einem jedem, der glaubt, dem Juden zuerst und auch dem Griechen. Denn die Gerechtigkeit Gottes wird darin geoffenbart aus Glauben zu Glauben, wie geschrieben steht: Der aus Glauben Gerechte wird leben.« Solche Beispiele allein beweisen unsere Thesen natürlich noch nicht. Vielleicht ist es hilfreich, wenn wir uns ansehen, wie Paulus die Adam/ Christus- oder die erster Adam/letzter Adam-Typologie (-Parallele) erörtert, einmal im Römerbrief (5,14) und einmal im 1. Korintherbrief (15,45 ff, vgl. 15,22). In Röm. 5 ist die Lehre über Adam und Christus in eine interessante Ausführung über die Rechtfertigung gestellt. In 1. Kor. 15 gibt es keinen Hinweis auf die Rechtfertigung in Verbindung mit der Lehre über Adam. Dies zeigt mir, daß die Rechtfertigungslehre nicht das vorherrschende, strukturierende Lehrprinzip oder die überragende Erkenntnis des Paulus ist, sondern daß sie vielmehr eine ganz spezifische Funktion in seinem Denken erfüllt. Ich würde meinen, daß die Rechtfertigungslehre in Paulus' theologischem Denken aus seinem Bemühen darum stammt, wie der Ort der Heiden im Reich Gottes zu begründen ist - jener Aufgabe, mit der er in seiner Berufung betraut wurde. Es ist von Bedeutung, daß wir gerade im Römerbrief so viel Material über die Rechtfertigung aus Glauben finden.
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Worum geht es im Römerbrief? Es geht um Gottes Plan für die Welt und darum, wie Paulus' Heidenmission in diesen Plan hineingehört. Die zentralen Kapitel sind weder das dritte noch das siebente, auch wenn wir Christen das siebente Kapitel ganz anthropozentrisch lesen und so die Psychologen noch übertreffen. »Denn was ich vollbringe, erkenne ich nicht. Denn nicht, was ich will, führe ich aus, sondern was ich hasse ... Denn ich weiß, daß in mir, das ist in meinem Fleische, nichts Gutes wohnt. Denn das Wollen ist zwar bei mir vorhanden, das Vollbringen des Guten aber nicht. Denn nicht das Gute, das ich will, tue ich, sondern das Böse, das ich nicht will, führe ich aus ... Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem Leibe des Todes?« So zitieren wir Röm. 7,15.18 f.24. Doch dies ist nicht das, was Paulus sagt. Er sagt: »Denn was ich vollbringe, erkenne ich nicht. Denn nicht, was ich will, das führe ich aus, sondern was ich hasse, das tue ich. Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, so stimme ich dem Gesetz bei, daß es gut ist. Nun aber vollbringe nicht mehr ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt ... Ich finde also für mich, der ich das Gute tun will, das Gesetz gültig, daß das Böse in mir' vorhanden ist. Denn im Innersten habe ich Lust am Gesetz Gottes . .. « (Röm. 7,15.21 f). Paulus fühlt sich also nicht für Sünde verantwortlich, er weiß sich auf der Seite Gottes! Er bekommt bei diesem Text kein protestantisches/puritanisches Hochgefühl. Ebensowenig gibt er dem Text eine autobiographische oder existenzielle Bedeutung. Er gebraucht schlicht ein Argument, daß man aus der Stoa und anderen antiken Philosophien kannte, um zu zeigen, daß das Ich auf Gottes Seite ist und daß es das Gesetz als gut erkennt. Unglücklicherweise - oder glücklicherweise? - formulierte Paulus dieses Argument so gut, daß für spätere Ausleger diese Argumentation, die für ihn und seine Zeitgenossen selbstverständliches Allgemeinwissen war, als eine tiefe Einsicht in das Wesen des Menschen und der 42
Sünde erschien. Dies konnte um so eher geschehen, als die Frage nach Wesen und Absicht von Gottes Gesetz nicht mehr in dem Sinne relevant war wie für Paulus. Die Frage nach dem Gesetz wurde zum zufälligen Rahmen um die g~ldenen Wahrheiten der paulinischen Anthropologie. Dies kommt dabei heraus, wenn man Paulus mit der westlichen Fragestellung des ichbezogenen Gewissens angeht. Natürlich ist sich Paulus der prekären Lage des Menschen in dieser Welt bewußt, in der selbst das heilige Gesetz Gottes nicht hilft, sondern zum Tode führt. Aber es gibt keinen Hinweis darauf, daß dieses sein Wissen mit einer persönlichen Gewissenqual verbunden ist. Wenn dem so wäre, dann hätte er doch wohl vom »Leib der Sünde« gesprochen, doch er sagt: »Leib des Todes« (V. 25; vgl. 1. Kor. 15,56). Es geht in diesem Kapitel um den theologischen Nachweis, daß es hier und jetzt durch den Heiligen Geist eine positive Lösung gibt, wovon er im 8. Kapitel spricht. Wir sollten unser ichbezogenes Gewissen nicht in einen Text hineinlesen, dem es darum geht zu zeigen, daß nicht nur das Gesetz, s~I! auch..deLWiUSh.Q~~J~~ _~~s Menschen fü!..gu(~ddij.rt,_wersl~~~c.!~~.. ~!~~ ~uf der Seite Gottes sind. - ,- . . 0
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"ESäiirfte deutlich sein, daß diese Argumentation über die Güte des Gesetzes nicht der Schwerpunkt des Römerbriefes ist. Sein Zentrum liegt vielmehr in den Kapiteln 9-11, in denen es um das Verhältnis zwischen Juden und Heiden geht, um das Geheimnis, das dem Paulus offenbart worden ist (Röm. 11,25 und Gal. 1,12; vgl. Röm. 16,25). Schließlich gibt es nur eines, das dem Paulus offenbart wurde, eine besondere Offenbarung, die er weder von Menschen noch aus menschlicher Lehre empfangen hat, sondern direkt von Jesus Christus (Gal. 1,12): Christus mit apostolischer Autorität den Heiden zu verkündigen (Gal. 1,16). Im Epheserbrief wird deutlich dargelegt, daß es wirklich dieses Geheimnis ist, das dem Paulus durch Offenbarung bekannt gemacht wurde, wenn der Deutero-Pauli43
ne bekennt: »die Heiden sollen Miterben (mit den Juden), Miteinverleibte und Mitgenossen der Verheißung sein in Christus Jesus durch das Evangelium« (Eph. 3,6). In Röm. 9-11 zitiert Paulus viele Abschnitte aus dem Alten Testament, die der Hoffnung Ausdruck geben, daß, wenn ganz Israel an den verheißenden Messias glaubt und ihn aufnimmt, jeder - die Heiden eingeschlossen - gerettet wird. Doch dem Apostel Paulus, dem jüdischen Heidenapostel, ist als großes Geheimnis mitgeteilt worden, daß Gott in seiner Gnade seinen Plan geändert hat. Das »Nein« der Juden, ihre Nicht-Annahme des Messias, eröffnet jetzt die Möglichkeit für ein »Ja« der Heiden. Vor allem in Röm. 11 betont Paulus, daß letztlich, wenn die ganze Anzahl der Heiden Gottes Volk geworden ist, daß dann die Juden aufgrund von Eifersucht (Röm. 11,11) auch gerettet werden (Röm. 11,15.25-27). Das zentrale Thema, das die ganze Aufmerksamkeit des Paulus beansprucht, ist also die Frage nach der Aufnahme von beiden, von Heiden und Juden, in Gottes Plan. In diesem Zusammenhang ist es hilfreich, über den Bericht in der Apostelgeschichte nachzudenken, wie Paulus sein missionarisches Amt ausführt. Wenn er in eine neue Stadt kommt, dann geht er - nach der Schilderung der Apostelgeschichte - zunächst in die Synagoge, wo er predigt, wenn auch mit geringem Erfolg. Nur einige wenige Frauen folgen seiner Botschaft (Apg. 16,1.14; 18,2) - und für einen Juden des ersten Jahrhunderts war dies wahrlich kein großer Erfolg. Im allgemeinen wurde die Botschaft des Paulus von den Juden zurückgewiesen (Apg. 13,43-45; 14,1 f; 17,1-7), und folglich ging er aus der Synagoge hinaus auf die Marktplätze, um dort den Heiden zu predigen. Dies scheint ein festes Muster zu sein. Nun könnte ein Missionswissenschaftler uns sagen, dies zeige nur, daß Paulus ein großer Stratege war: Er benutzte die Synagoge, zu der er Zugang hatte, als Ausgangspunkt, von wo aus er dann seine Aktivitäten ausdehnen konnte. Doch ich glaube 44
eher, daß die Apostelgeschichte mit diesem Bericht eine theologische Absicht verfolgt: Paulus mußte das »Nein« der Juden erfahren, bevor er das Evangelium zu den Heiden bringen durfte. Jedenfalls wird dies in Röm. 9-11 theologisch ausgeführt. Der zentralen Offenbarung dieser Kapitel ist dann sozusagen ein Vorwort zugefügt, Röm. 1-8, wo Paulus darlegt, daß die Rechtfertigung aus Glauben kommt und es so gleichermaßen für Juden und Heiden möglich ist, zu Christus zu kommen. In diesem Vorwort geht es ihm nicht darum, wie der Mensch gerettet werden kann- sei es durch Werke des Gesetzes oder anderes. In einer sehr überzeugenden und machtvollen theologischen Argumentation zeigt Paulus auf, daß die Basis für eine Kirche aus Juden und Heiden bereits in der Schrift gelegt ist, wofür Abraham das wichtigste Beispiel ist: »Abraham aber glaubte Gott, und es wurde ihm zur Gerechtigkeit zuerkannt« (Gen. 15,6, wie es in Röm. 4,3 zitiert ist). In Röm. 1-8 werden beide, Heiden und Juden, gleichermaßen schuldig erfunden (Röm. 3,9 ff), aber auch gleichermaßen fähig, durch Rechtfertigung gerettet zu werden (Röm. 3,21-30). Der Duktus dieser Argumentation mag deutlich werden, wenn wir die messianischen Erwartungen zur Zeit des Paulus untersuchen. In der jüdischen Diskussion gab es zwei Möglichkeiten für die Zeit der Ankunft des Messias: entweder würde er in einer Zeit der vollkommenen Gerechtigkeit kommen, wenn jeder im Gottesvolk dem Gesetz gehorchen würde, oder der Messias würde zur Zeit völliger Schlechtigkeit kommen. In der eschatologischen und apokalyptischen Literatur gibt es kein Grau - es gibt nur Weiß oder Schwarz, Rettung oder Verdammnis, Himmel oder Hölle. Und so auch in der Erwartung der Juden: der Messias würde zu einer Zeit kommen, in der die Menschen entweder völlig gottesfürchtig oder total verdorben sind. Nachdem Paulus erkannt hatte, daß der Messias gekommen war, brauchte er weder die Erkenntnisse der Soziolo45
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gie noch die der Psychologie, um zu wissen, daß die Zeit vollkommen gut war - also mußte sie durch und durch schlecht sein. Dies sagt er in Röm. 1. Der Messias )war gekommen, und die Zeit war nicht eine der Güte, I sondern eine der Sündhaftigkeit. Nicht nur die GerechtigI keit Gottes war offenbart worden (Röm. 3,21), sondern der Zorn Gottes war ebenfalls gekommen (Röm. 1,18).' Dieser Zorn Gottes ist die Kehrseite der Gerechtigkeit, der Rechtfertigung. Paulus beschreibt die Verworfenheit der Heidenwelt in recht düsteren Farben, wobei die Beschreibung nicht auf soziologischen Forschungen gründet, sondern in der sehr offensichtlichen theologischen Vorausset zung, daß die Dinge von Grund auf schlecht zu sein hatten. Und dann zeigt er, daß die Juden mit dem Gesetz keinerlei Vorteil haben, noch irgendeinen Grund zum Stolz (Röm. 2), weil die ganze Welt unter der Macht der Sünde ist (Röm. 3,1-20). Wenn dies so ist, so folgert Paulus, dann wird es nachgerade Zeit, daß die Gerechtigkeit Gottes offenbart wird. »Jetzt aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit Gottes geoffenbart... die Gerechtigkeit Gottes, die durch den Glauben an J esus Christus kommt für alle, die glauben. Denn es ist kein Unterschied; alle haben gesündigt und ermangeln der Ehre vor Gott und werden gerechtgesprochen ohne Verdienst durch seine Gnade ... « (Röm. 3,21-24). Warum gebraucht Paulus den Begriff Gerechtigkeit/ Rechtfertigung? Dahinter steht dasselbe griechische Wort (dikaiosyne) - doch der Begriff ist seltsam, unnatürlich, schwer verständlich. Wir kennen den Ausdruck» Rechtfertigung/Gerechtigkeit aus Glauben« nur zu gut, und doch klingt er fremd, wenn wir den Hintergrund von Gerechtigkeit/Rechtfertigung nicht verstehen. Dieser Hintergrund '~ist hebräisch. Das hebräische Wort finden wir in dem Teil der Bibel, den die Alttestamentler für den ältesten halten , nicht Gen. 1, sondern Richter 5, das Deborahlied. Die wörtliche Übersetzung von Ri. 5 lautet: »Dort (bei den
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Wassertiefen) werden sie erzählen die gerechten Taten (zid'koth) Jahwes ... « zid'koth ist der Plural von zedaka, Gerechtigkeit. Neuere Übersetzungen sind: »Heilstaten«, »Triumphe«, »Siege«, »Segnungen«, »gerechte Taten« des Herrn. Alle sind natürlich mehr oder weniger richtig, doch einigen ist mehr an einer wörtlichen Übersetzung des Begriffs gelegen, anderen vielleicht an einer richtigeren und verständlicheren Interpretation. Wie kann man sagen, daß das Volk die gerechten Taten des Herrn erzählen wird? Was sind die gerechten Taten des Herrn? Es ist die Tatsache, daß Gott sein Volk gegen seine Feinde verteidigte. Und warum wird dies eine Gerechtigkeit genannt? Kann ein schmutziger, blutiger Krieg eine Gerechtigkeit sein? Offenbar wird genau dies hier gefeiert. In der Tat verweist Ri. 5 auf eine Situation, eine Zeit oder eine Haltung, in der eine Gruppe, ein Volk oder ein Stamm völlig von der eigenen Identität als Gottesvolk überzeugt ist. Jede Manifestation der Gerechtigkeit Gottes muß deshalb bedeuten, daß dieses Volk siegreich und erhaben ist, daß seine Feinde besiegt sind. Wenn dieses Volk Gottes Volk ist, dann kann das Erscheinen der Gerechtigkeit nur bedeuten: Rettung, Triumph, Sieg, Segen und die Zerstörung des Feindes. Dies ist eindeutig und für .' jeden verständlich, denn Gottes Gerechtigkeit heißt: Gott bringt die Dinge zurecht - das ist zedaka, Gerechtigkeit I Gottes. Wenn wir diesen Begriff im Alten Testament verfolgen, dann sehen wir, wie er in einigen der Prophetenbücher eine andere Bedeutung annimmt. Beispielsweise wenn Amos nicht so sicher ist, daß das sogenannte Volk des Herrn in Wahrheit Israel ist, das seine Bundesverpflichtungen wirklich erfüllt, dann bedeutet Gerechtigkeit nicht Sieg, sondern vielmehr Verdammnis. Daher die Grenzziehung zwischen wahr und falsch, zwischen Frommen und Sündern, sie macht den Tag des Herrn nicht unbedingt zu einem ruhmvollen, triumphierenden Tag des Lichts für Gottes 47
Volk, an dem Gottes Gerechtigkeit sich manifestiert. Der Tag des Herrn ist Dunkelheit, nicht Licht (Am. 5,18), und' er verkündet Gericht, Strafe für ein ungerechtes Volk, das Gottes Bund gebrochen hat. Dieser »Tag des Herrn«, der Tag des eschatologischen Gerichts, durchläuft in der Geschichte der christlichen Kirche eine interessante Entwicklung - deutlich vor allem in jenen begnadeten Kirchen, die wunderbar spielerisch im Wechsel der Farben von Altar, Kanzel, Lektionar und Kleidung die wechselnden Zeiten des liturgischen Jahres ausdrücken. Weihnachten und Ostern z. B. sind Zeiten der Freude und des Triumphes, ihre Farbe ist weiß. Advent und Fastenzeit, Zeiten der Vorbereitung und Buße, wählen lila. Feste, die an den Heiligen Geist erinnern, wie Pfingsten und die Märtyrertage, haben rot als Farbe. Grün, die Farbe der Natur und des Wachstums, wird für die Alltagszeiten genommen, etwa für die lange Reihe der Sonntage nach Trinitatis, die den Christen auf seine ethischen Verpflichtungen hinweisen sollen. Schwarz kann für tiefe Trauer verwendet werden, wie bei einer Beerdigung oder an Karfreitag. Nun beginnt das Kirchenjahr mit dem 1. Advent, dem der letzte Sonntag nach Trinitatis vorausgeht (er heißt mancherorts auch Toten- oder Ewigkeitssonntag). Dieser letzte Sonntag des Kirchenjahres dient der Besinnung auf den Tag des Gerichts, den »Tag des Herrn«. In der Kirchengeschichte hat dieser Tag nun alle Farben des liturgischen Spektrums getragen - weiß, als der freudige Siegestag des Triumphes; schwarz, als der Trauertag von Furcht und Verdammnis; lila, als Tag der Umkehr und Buße; und grün, das den Alltag bezeichnet, an dem man ein cl1ristliches Leben weiterführt und an dem der Gedanke an ein letztes Gericht ziemlich fern liegt. Es hängt jeweils davon ab, wie die Kirche sich sieht. Ist sie wirklich das erwählte Gottesvolk? Wenn ja, dann ist natürlich das Gericht wie für die frühe Kirche ein erfreuliches Geschehen, auf das man hofft, ein Tag des Sieges, nach dem man 48
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sich sehnt, ein weißer Tag voller Triumph und Licht. Dies kennzeichnet jedoch nicht nur die frühe Kirche, sondern auch alle jene Kirchen, die sich heute für die kleine, treue Minderheit von Gottes Auserwählten halten. Wenn man vom Gericht spricht, dann denkt man hier an einen Tag des Ruhms. Im Gegensatz dazu wurden die Ansprüche der Kirche auf den Himmel in ihrer heiligen Arroganz um so unsicherer, je mehr die Kirche sicb. etablierte. Jetzt wird der Tag des Gerichts dunkel und bedrohlich - vielleicht schwarz, aber zumindest lila! Ein prophetisches Korrektiv gegen zu viel Selbstsicherheit, ein Zeichen für die Notwendigkeit der Umkehr überwiegt jene freudige Gewißheit darüber, daß Gottes Kommen im letzten Gericht ein Sieg (der Kirche) sein wird. Ein solches prophetisches Korrektiv durchzieht die Bibel, und es erscheint uns heute, in unserer Zeit der Ungerechtigkeit und in unserer Situation, um so angemessener, als wir oft erst durch eine prophetische Stimme aus unserer Selbstzufriedenheit aufgerüttelt werden. Oft ist die prophetische Botschaft ärgerlich, sie spricht mit dem gerechten Zorn eines Propheten des Herrn gegen diejenigen, die den Bund gebrochen haben. In der rabbinischen Tradition geht der Gedanke von Gottes richtender und rettender Gerechtigkeit noch tiefer. Die Gerechtigkeit Gottes wird nicht so beschrieben, als ob . sie einige erlöst und andere verdammt, sondern vielmehr :. als eine Grenze, die durch das Herz jedes einzelnen geht .. Zwei Triebe kämpfen im Menschen: der gute, jezer tov, und der böse, jezer ha-ra. Eine solche Vorstellung von zwei sich bekämpfenden Trieben oder Neigungen im Innern des Menschen zeigt eine radikale Vertiefung der Fragestellung. Es ist eine tiefe, weise Einsicht, daß der Glaube irgend wie oberflächlich ist, alle würden gerettet oder einige und andere nicht. Die Grenze muß also durch das Herz jedes Menschen verlaufen. Dies ist die Erkenntnis einer ausgebildeten, gereiften theologischen Arbeit. Doch die Begrün49
der des christlichen Glaubens hatten an einer solchen »höheren Bildung« in Theologie keinen Anteil. Im frühen Christentum wie in der essenischen Sekte von Qumran finden wir ein klares Wissen darum, daß diejenigen, die der Gemeinde und ihrer Führung gegenüber gehorsam sind, identisch sind mit denen, die gerettet werden. In Qumran waren Loyalität gegenüber der Sekte des neuen Bundes , und gegenüber ihrem »Lehrer der Gerechtigkeit« die entscheidenden Kriterien. Auf eine ähnliche sektiererische Weise setzte die frühe Kirche die Loyalität gegenüber J esus Christus und seiner messianischen Gemeinde als Schlüssel zur Erlösung. Es mag die Gefahr der Apostasie geben - doch die kleine Unbotmäßigkeit eines einzelnen Christen bedroht die Hoffnung auf Erlösung nicht wirklich. Aus der Kirche ausgestoßen, wirklich exkommuniziert zu werden, geschah nur selten, und die Verfehlung mußte sehr schwerwiegend sein. In den paulinischen Briefen wird nur über einen Fall von Kirchenausschluß berichtet, und selbst in diesem Fall handelt es sich nicht um eine endgültige, unwiderrufliche Exkommunizierung. In 1. Kor. 5 liegt ein Fall von Inzest vor, und Paulus sagt: »Laßt den, der diese Tat begangen hat, aus eurer Mitte hinweggeschafft werden« (1. Kor. 5,2), und dennoch hält er daran fest, wenn der Übeltäter dem Satan zur Vernichtung seines Fleisches übergeben wird, damit sein Geist gerettet würde, daß dann sein Geist am Tag des Herrn erlöst werden wird (5,5). Im Neuen Testament ist jedenfalls dieser Inzest der einzige Fall wirklicher Exkommunikation. Die frühe Gemeinde war also recht flexibel: die Glieder würden Glieder bleiben und konnten die Erlösung erwarten. Wenn man von der Manifestation der Gerechtigkeit Gottes sprach, von Gottes zedaka, dann war dies ein Heilswort. Wie im Deborahlied aus frühester Zeit bedeutete sie Erlösung, Rettung, Sieg und Triumph. Hier haben wir den wichtigsten Grund dafür, daß Paulus die Begriffe Rechtfer50
tigung/Gerechtigkeit so stark betont. Diese Gewichtung hat einen Glauben zur Voraussetzung, in dem die Kirche sich als zu Gott gehörig weiß, in dem sie sicher ist, daß ihre Feinde Gottes Feinde sind. Dieser Glaube beinhaltet eine Art Arroganz, doch sie gehört zum Zentrum eines jeden Bundesglaubens. Und in dieser Umgebung nahm der Begriff Gerechtigkeit/Rechtfertigung (zedakaldikaiosyne) noch einmal seine ganze herrliche, glorreiche Bedeutung an. Eines der ältesten liturgischen Gebete, die aus der frühen Kirche überliefert sind, finden wir in einer kleinen Schrift aus dem frühen zweiten Jahrhundert, der Didache. Dort lesen wir im Dankgebet nach der Eucharistie: »Es. komme die Gnade und es vergehe diese Welt ... Maranatha. Amen.« Frei übersetzt heißt dies: Laß diese böse Welt in Stücke gehen und dein Reich kommen ... Herr, komm! Der Vollendung mit ihrem Gericht sah man in Freude entgegen. Die Gerechtigkeit Gottes war nicht so sehr eine richtende, sondern vielmehr eine bestätigende, d. h. man selbst war gerechtfertigt, die Kirche wurde gehalten und würde gerettet werden. Wir haben am Beispiel des paulinischen Gebrauchs von Berufung statt Bekehrung, Rechtfertigung statt Vergebung gesehen, daß die Sprache des Paulus von unserer heutigen recht verschieden ist. Doch genau seine Sprache und ihre ursprüngliche Bedeutung wollen wir in diesen Kapiteln wieder entdecken und neu beleben. Die Frage, um die es mir geht - und vielleicht habe ich nicht immer Recht, doch ich denke, daß ich an einigen wesentlichen Punkten richtig sehe - ist: was meinte Paulus wirklich? Was dachte Paulus? Es geht nicht so sehr um die Bedeutung der Worte an sich, sondern um die wichtige Unterscheidung (die man so leicht verwischt, wenn man sie nicht expressis verbis vollzieht) zwischen der Bedeutung der Worte in ihrem ursprünglichen Zusammenhang und ihrer heute möglichen Verwendung. Deshalb müssen wir in die Zeit zurückgehen, in der das paulinische Material verfaßt wurde; deshalb müssen
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wir den Hintergrund der Begriffe in ihrem paulinischen Kontext untersuchen. Dies ist für jeden wichtig, der die Bibel auslegt. Wenn wir es nicht tun, dann können wir oft die Unterschiede nicht sehen, die zwischen dem liegen, was Paulus sagen wollte, und dem, was seine Worte in unserem Sprachgebrauch bedeuten. Viele von uns lesen die Bibel eindimensional. Dies könnte daher rühren, daß wir Angst haben, das Wort Gottes könnte für uns seine Bedeutung verlieren, wenn wir es nicht so lesen. Wir haben nicht genügend Vertrauen in das Wort Gottes, um es wirklich für sich selbst sprechen zu lassen - also klammern wir uns an unsere kleine Relevanz und hängen an ihr wie der Schmuck am Tannenbaum. In Wirklichkeit gibt es aber keine größere Bedrohung für ein ernstes Bibelstudium als die zwanghafte Forderung nach »Relevanz«. Wir müssen soviel Geduld und Vertrauen aufbringen, daß wir die ursprüngliche Bedeutung herausfinden und auf sie hören. Wenn wir dies nicht schaffen, dann leidet das Studium der Bibel darunter, und wir könnten zu falschen Schlüssen und Deutungen geführt werden. In meiner schwedischen Tradition hat es durch die Zeit hindurch viele wunderbar »relevante« Predigten gegeben. Ich denke da an eine aus dem 18. Jahrhundert, als die Pastoren von der Regierung aufgefordert waren, den schwedischen Bauern die Einführung der Kartoffel nahezulegen, und folglich wurden viele Predigten über den Text gehalten: »der Mensch lebt nicht vom Brot allein«. In einem anderen Fall ging es um die Wichtigkeit der Hygiene, und so wurde einst eine Predigt über die Perikope vom Jüngling zu Nain (Lk. 7,11-17) gehalten, die betitelt war: »Über die Vorteile, die Friedhöfe außerhalb der Stadt anzulegen«. Dies waren relevante Predigten, und ihre Themen waren für die Gemeinschaft der Gläubigen wichtig, denn Gott sorgt sich ja in der Tat um Nahrung und Gesundheit. Natürlich erscheinen sie uns heute lächerlich - doch es ist viel lächerlicher, daß kaum jemand lacht,
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wenn »geistigere« Deutungen als diese an die Interpretation eines Textes angehängt werden. Sobald etwas fromm klingt, kann es in jeden Text hineingelesen werden! Das Verhältnis von der Schrift in ihrer ursprünglichen Bedeutung zu ihrer Bedeutung für uns hier und jetzt ist tatsächlich das Problem, auf das sich heute zahllose ernsthafte Exegeten und Systematiker konzentrieren. Es gibt hier so eine Art Slogan oder Schlagwort, womit man beweist, daß man wirklich dazu gehört, daß man also über die Sache Bescheid weiß: früher war es Eschatologie, dann für eine Weile Kerygma, heute ist es Hermeneutik, d. h. die Methode der Interpretation. Dies ist für unser Thema wichtig, denn wir sind hinter die hermeneutische auf die exegetische Ebene zurückgegangen - hinter die Gegenwart, hinter Luther und Calvin, hinter Augustin zurück. Wir haben uns bemüht, die ursprüngliche Bedeutung zu entdecken - wenn auch eine ursprüngliche Bedeutung, die durch Interpretation und Re-Interpretation sich in bestimmten geschichtlichen Situationen als relevant erwiesen hat. Doch wann ist es legitim, Paulus' Aussagen über Rechtfertigung oder Gewissen in einem wahrhaft paulinischen Geist zu lesen, in einer . Absicht also, die entdecken will, was der Verfasser sagen,' wollte und nicht das, was wir heute damit anfangen können? Als Exeget, als Bibelwissenschaftler muß ich mich vor allem mit ersterem befassen. Als Theologe und Pastor möchte ich aber daran festhalten, daß wir nicht ständig »Bibelland« spielen können und uns selbst in eine Art »semitische Geisteshaltung« zurückträumen sollen. Gott verlangt anderes von uns. Dennoch müssen wir zuerst die Bibel auf ihre ursprüngliche Bedeutung hin lesen, und wir müssen von dieser Bedeutung unsere Neigung korrigieren lassen, nur unsere eigene Sicht in die Texte hineinzulesen, anstatt sie für sich selbst stehen und sprechen zu lassen. Suchet als erstes nach der ursprünglichen Bedeutung, und alles andere wird euch zufallen ...
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Es ist z. B. ungemein wichtig, daß Paulus über reale Juden spricht, wenn er über Juden spricht - und nicht über irgendwelche Phantasiejuden, die als Symbol und Standardbeispiel für zeitlosen Legalismus stehen. Bereits in den Evangelien können wir eine Tendenz entdecken, die Juden zu Stereotypen zu symbolisieren, besonders im Johannesevangelium, aber auch in dem matthäisehen Gebrauch von den »Schriftgelehrten und Pharisäern« oder in dem lukanisehen Bild von den Pharisäern als Beispiel für falsche Frömmigkeit. Doch in den Paulusbriefen ist das wirkliche jüdische Volk, Paulus' eigenes Volk, im Blick, wenn er seine Argumentation über Rechtfertigung aus Glauben formuliert. Wenn ich in einer Gemeinde in Neu-England predige, wo es eine große jüdische Gemeinde gibt, und ich sage meinen Gastgebern, daß Paulus sie bestenfalls als »Juden ehrenhalber« bezeichnen würde - nach Paulus ist ein Heidenchrist genau dies (Röm. 11,17 ff) - dann treffe ich, gelinde gesagt, nicht unbedingt auf allgemeine Zustimmung. Wenn ich den Heidenchristen sage, daß sie, die sie in einer vornehmen, wohlhabenden Vorstadt leben, nur durch Adoption zu Juden ehrenhalber geworden sind, dann sind sie völlig überrascht. Und wenn ich dann noch behaupte, daß es in Röm. 9-11 um unsere Beziehungen und Einstellungen zu jenem jüdischen Geschäftsmann geht, der gerade ins Nachbarhaus eingezogen ist, dann halten sie mich für seltsam und ungeistlieh. Diese Christen sind durch die richtige kirchliche Erziehung gegangen, und sie haben alles gelernt, was Paulus über die Juden sagt. Doch was sie gelernt haben, das hat mit wirklichen Juden nichts zu tun. Tatsächlich identifizieren sie die Juden immer noch mit dem Stereotyp. Aber vielleicht ist dies nun ein Fall, wo es zutreffen könnte, daß das, was Paulus in seinen Briefen (und vor allem im Römerbrief) sagt, wirklich auf die Beziehung zwischen Juden und Christen hier und heute anzuwenden ist. Die Vereinigten Staaten von heute sind der 54
erste Ort in der modernen Welt, seit dem Alexandrien Philos, wo Juden und Christen als Völker, als religiöse und soziale Gemeinschaften in genügender Zahl so zusammenleben, daß ein offener Dialog stattfinden kann. Es ist das erste Mal in der neueren Geschichte, daß eine offene Beziehung zwischen Christen und Juden möglich ist. Das Gespräch, das Paulus in Röm. 9-11 angefangen hat und das vor allem wegen des christlichen Expansionsdranges und wegen kirchlicher Überlegenheitsgefühle abgebrochen wurde, könnte wieder beginnen. Die geschichtliche Schuld der Christen und die Schande des Holocaust belasten einen echten Dialog, doch die Möglichkeit besteht, und sie wird noch größer werden, hoffe ich. Wenn wir die paulinischen Schriften genau lesen, dann können wir vielleicht erkennen, daß die Bibel von realen Juden spricht, nicht nur von einem schwächlichen Prototyp des Legalismus. Es gibt noch einen anderen Aspekt des Themas. Wenn das, was Paulus über Juden und Heiden sagt, in eine typologische Beschreibung von der Erlösung individueller Seelen verwandelt wird, dann sieht die Sache etwa so aus: (1) Gehorsam gegenüber dem Gesetz, (2) die Manifestation Christi und dann (3) die Entwicklung zu etwas Höherem, als das Gesetz bietet. Es ist, als ob jeder eine Zeitlang ein Jude, ein Legalist, ist, und dann, nach dem Kommen Christi, wird man erlöst. Wenn man es so sieht, dann ist aber etwas von dem Wissen um das Ein-füralle-Mal der Heilsgeschichte verloren gegangen. Ich hörte einmal eine Predigt über das berühmte Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt. 21,1-16) in meiner lutherischen Heimatgemeinde. Alle Arbeiter, auch die, die erst in der 11. Stunde begonnen hatten, erhalten ,dieselbe Bezahlung für ihre Arbeit. Das erscheint hart und ungerecht. Darum verkündigte der Prediger zunächst die übliche Pfadfinderbotschaft: Der Pfadfinder tut seine Pflicht, ohne an Lohn zu denken, und diese Aussage wird normalerweise noch durch die korrekte protestantische Linie verstärkt, 55
also daß J esus mit diesem Gleichnis andeuten wollte, daß man sich nicht mit unterschiedlichen Lohnraten befassen soll, weil der eine und einzig warn .! Lohn J esus Christus, die· Erlösung selbst ist. Doch mein Pastor ist ein guter Prediger, der seine Bibel wirklich liest, und ich paraphrasiere, was er am Schluß sagte: »Doch darum geht es diesem Text natürlich nicht. Wißt Ihr, wer die Leute der 11. Stunde sind? Das sind wir, die Heiden. Es ist Israel, das während der langen Hitze der heiligen Geschichte gearbeitet hat, und wir faulen Heiden kommen in der letzten Minute dazu und erhalten denselben Lohn.« Dies ist nicht viel anders als die Sicht, die Paulus in Röm. 9-11 entwickelt hat. Schließlich, um auf einer traditionellen theologischen Ebene zu sprechen, wie steht es mit der Notwendigkeit, daß man zuerst das Versagen unter Gesetz und Sünde erleben muß als Weg - als einzigem Weg, wie es manchmal heißt - um die Wirklichkeit der Erlösung in Christus zu erfahren? Was machen wir mit der Behauptung, daß es die wesentliche Aufgabe des Gesetzes ist, uns anzuklagen - lex semper accusat, wie die Väter des 16. Jahrhunderts sagten? Dachte Paulus wirklich, daß der einzige Weg, auf dem man ein guter Christ wird, über Frustration und Schuld verläuft? Es scheint mir, daß Paulus ein recht guter Christ war. Er war vielleicht nicht sehr anziehend, nicht übermäßig sympathisch, er war sicherlich arrogant. Doch er war groß! Und Paulus ging nicht durch die Tiefe von Sünde und Schuld, er ging von Herrlichkeit zu Herrlichkeit! Es könnte also sein, daß die Achse von Sünde und Schuld nicht die einzige ist, um die sich das Christentum dreht (vgl. unten das Kapitel über Schwäche und Sünde). Wenn ich das Neue Testament lese, dann habe ich das Gefühl, daß es uns heute in der Kirche zu oft um die kleinen Privatangelegenheiten individueller Ethik geht, die wirklich nebensächlich sind, verglichen mit den großen Themen, mit denen sich Menschen tatsächlich beschäftigen. Ich habe nichts für die Sünde des Ehebruchs übrig. Sie ist nicht gut, aber sie ist bestimmt 56
auch nicht das Hauptproblem der Welt. Doch viele Menschen denken, daß für die kirche Ehebruch das Problem überhaupt ist. Viele Horrorfilme, wie »Der Pate«, »Der Exorzist«, »Flammendes Inferno«, werden heute sehr gut besucht, und ich habe mich gefragt, warum. Es gibt hierfür freudianische und andere psychoanalytische Erklärungen. Doch ich denke, der wichtigste Grund für den Erfolg solcher Filme ist der, daß wir alle angesichts unserer verwirrenden Welt geängstigt sind - wir fühlen eine tiefe Unruhe in den Völkern, die Angst vor einer möglichen nationalen Katastrophe, die Bedrohung durch den nuklearen, ökologischen oder wirtschaftlichen Untergang. Und es dient der eigenen Sicherheit, dem Terror wenigstens auf der Leinwand für einige Stunden zu widerstehen - es ist ein sehr angenehmes Gefühl. Nun ist es so, daß auch das Neue Testament das Drehbuch für einen Horrorfilm enthält, die Offenbarung. Diese Tatsache ist an sich schon ein Schlüssel dazu, daß unsere Zeit und die Zeit des ersten Jahrhunderts mehr gemeinsam haben, als wir vermuten. Wir teilen nicht nur das Verlangen nach individuellem Frieden, innerer Harmonie und Erlösung, sondern auch eine weit verbreitete, übermächtige allgemeine Angst. Beide Zeiten können als Zeiten kosmischer Angst charakterisiert werden, gefangen unter Mächten und Gewalten, wo winzige Menschen nur wissen, daß sie nicht viel tun können, daß sie nicht die Kontrolle haben, daß sie einfach machtlos sind. Dies ist einer der Aspekte des Christentums, den wir mit Hilfe des Paulus erkennen können - wenn wir Paulus zu seiner Fülle zurückverhelfen und ihn nicht zum biblischen Belegtext für die reformatorischen Lehren verengen. Von daher muß auch die Rechtfertigung aus Glauben in ihren größeren Rahmen der Heidenmission des Paulus eingebettet werden, in Gottes Gesamtplan für seine Schöpfung. Oder vielleicht sollten wir es so sagen: Paulus' Gedanken über die Rechtfertigung behandeln das Thema von Trennungen
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und Identitäten in einer pluralistischen, zerrissenen Welt, sie behandeln nicht so sehr die inneren Spannungen individueller Seelen oder Gewissen. Sein suchendes Auge wendet sich der Einheit und der gottgewollten Vielfalt der Menschheit zu, ja, der ganzen Schöpfung.
4. -------------------Eher Schwäche als Sünde
Es gibt gute Gründe, in Paulus vor allem den Apostel zu sehen, nicht einfach einen Über-Christen, und den Mann mit stabilem Gewissen, der nicht von Selbstkritik gequält ist. Ein solches Paulusbild könnte aber leicht den Eindruck eines harten, tüchtigen Vertreters vermitteln, bei dem persönliche Erfahrungen wenig oder nichts zu seiner Auffassung von Glauben, dem Herrn, der Kirche oder von sich selbst beigetragen haben. Es könnte auch zum Bild eines triumphierenden Paulus beitragen, eines Menschen, dessen früher bereits große Erfolge von den neuen Möglichkeiten und Herrlichkeiten gekrönt werden, die Christus bringt. Doch diese beiden Vorstellungen wären von der Wahrheit weit entfernt. Die eigenen Erfahrungen gehen immer in Paulus' Verständnis von Mission und Glauben ein. Triumphalismus speziell ist ein Kennzeichen seiner Gegner, nicht seines. Der Punkt, an dem die Erfahrungen des Paulus sich mit seiner apostolischen Mission und seinem Glaubensverständnis kreuzen, ist jedoch nicht »Sünde«, deren Korrelation» Vergebung« wäre. Wir fühlen tiefen persönlichen Schmerz bei ihm vielmehr immer dann, wenn er von seiner Schwachheit (astheneia) spricht. Wieder haben wir hier einen überraschenden Unterschied zu der christlichen Sprache, die wir für allgemeingültig halten: Es scheint so, daß Paulus angesichts seiner Schwäche niemals Schuld empfunden hat - Schmerz ja, aber keine Schuld.
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Die Ebene tiefster persönlicher und theologischer Erfahrung finden wir nicht in Paulus' Rettung von der Sünde, sondern in dem Drama der Überwindung seiner »Schwäche«. Noch wichtiger ist, daß Paulus gar nicht an Sünde denkt, wenn er von seiner Schwäche redet (mit vielleicht einer Ausnahme, vgl. unten S. 67). Ich möchte dies gleich betonen, damit wir Schwäche und Sünde auseinanderhalten. Sonst könnte der Eindruck entstehen, daß ich von Sünde spreche, wenn ich mich in Wirklichkeit auf Schwäche beziehe - zwei ganz verschiedene Dinge. Heute neigen wir dazu, beide gleichzusetzen. Wenn Paulus davon spricht, daß er stark ist, wo er schwach ist (2. Kor. 12,10), und wenn er über die Möglichkeiten redet, wie er seine Schwäche erkennt, dann sind wir versucht, diese Rede von »Schwäche« als Zeichen seiner tiefen Einsicht in die Sündhaftigkeit der Menschheit zu lesen. Dies wäre jedoch ein modernes Mißverständnis. Der klassische Beleg für Paulus' Schwachheit ist in 2. Kor. 12 zu sehen, wo Paulus seine herrlichen geistigen Erfahrungen seiner Schwäche gegenüberstellt, die er so beschreibt: »Ein Dorn für das Fleisch wurde mir gegeben, ein Engel Satans, daß er mich ins Gesicht schlage, damit ich mich nicht überhebe« (2. Kor. 12,7) über den Überfluß an Offenbarung, die er erhalten hat. Weil Paulus ein eigenständiger und nicht nur ein apologetischer Theologe ist, spricht er mit einiger Unsicherheit über den Himmel, den er gesehen hat, und er redet auch mit dem angemessenen theologischen Zögern darüber, ob seine Erfahrung im Körper oder außerhalb des Körpers stattgefunden hat (2. Kor. 12,1-6). Diese Bescheidenheit - oder auch bewußt ironische Redeweise - die eine wunderhafte Erfahrung in die richtige Perspektive rücken soll, wird in theologischen Kreisen manchmal vergessen, die sich selbst stolz für biblisch halten. In solchen Kreisen scheint es so, als ob das Eingeständnis von Unsicherheit die Autorität des Glaubens gefährdet. Dies ist ein anderer
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Aspekt der »Schwäche«, die Paulus' Gegner fürchteten - während Paulus zu der Erkenntnis kam, daß diese Unsicherheit die einzig angemessene Sichtweise ist, damit die Macht Gottes nicht mit der sicheren Rede des Sprechers verwechselt und so verdunkelt wird. Nachdem Paulus über seine Erfahrung gesprochen hat, die zweifellos herrlich und ganz wirklich war, sagt er, daß ein Dorn in seinem Fleisch blieb, ein Engel Satans, der mit ihm kämpfen sollte, der ihn lehrte, daß Gottes Gnade für ihn genug war und daß irgendwie Gottes Kraft in seiner Schwäche deutlicher wurde als in seiner Stärke. Dreimal hat Paulus den Herrn beschworen, von seinem Dorn befreit zu werden (2. Kor. 12,8-10). Ich finde das sehr interessant. Warum nur dreimal? Das scheint nicht viel, wenn dieses Problem dem Paulus ernsthafte Sorgen bereitete. Drei ist eine Art halb heiliger Zahl, die in der Bibel oft gebraucht wird, und dies mag ein ausreichender Grund sein, warum Paulus sie wählte. Ich vermute, daß es so sein könnte. Diese Zahl steht dann für die wenigen Male, als Paulus sich in die Wüste zurückgezogen hatte, zu einem prometheischen Gebetskampf mit dem Allmächtigen, zu Fasten und Gebet über diesen seinen Dorn im Fleisch. Ich glaube, daß es am sinnvollsten ist, diesen Dorn im Fleisch als eine echte Krankheit anzusehen. Meine Argumentation hängt davon nicht ab, doch ich halte dies für die überzeugendste Deutung. Persönlich habe ich nichts gegen die Vermutung - die nicht sehr gut belegt ist - daß es sich um einen Fall von Epilepsie gehandelt hat. Es kann natürlich auch etwas anderes gewesen sein, doch auf jeden Fall muß Paulus' Krankheit ein ernsthaftes Hindernis in seinem Dienst gewesen sein. Ein Hindernis aus mancherlei Gründen. Es ist nie leicht, krank zu sein, vor allem nicht auf Reisen. Doch für einen großen Mann, der eine so übergroße Aufgabe hatte, wie Paulus die seine sah, muß es besonders schwer gewesen sein zu akzeptieren, daß Gott ein solches Handicap zulassen konnte, wenn er wußte, daß
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Paulus so wichtig war. Es wäre eigentlich Gottes Aufgabe gewesen, seinen Apostel zumindest gesund zu erhalten, so daß er mit seinen großen Fähigkeiten so viel wie möglich im Dienst für den Herrn tun konnte. Doch es kommt noch etwas anderes dazu: In der frühen Kirche galt Krankheit für ein Zeichen, daß es an jener erneuernden Lebenskraft mangelte, die das Wesen christlicher Existenz ist. Ein kranker Apostel ist somit so etwas wie ein Fußballspieler mit nur einem Bein, ein Widerspruch in sich, denn Krankheit war ein Zeichen der Mächte des alten Äons, die das Werk Gottes durchkreuzen wollten. Wir wissen, daß Paulus Krankheit und ihre Folge, den Tod, sehr ernst nahm, wenn er den Korinthern sagt: Weil sie beim Abendmahl Trennung praktiziert haben, »sind unter euch viele Kranke und Schwache, und ein gut Teil sind entschlafen« (1. Kor. 11,30). Und wir wissen, daß die Thessalonicher in ihrem Glauben ziemlich erschüttert wurden, als die ersten Christen starben. So, wie Paulus das Evangelium verkündigt hatte, mußten sie den Eindruck haben, daß jeder bis zum Tag der Parusie, dem Kommen des Herrn in Herrlichkeit, gesund bleiben würde. Und die Briefe an die Thessalonicher wurden genau gegen eine solche Überinterpretation der Lebensrnächte, die im Evangelium zugänglich werden, geschrieben (1. Thess. 4,13 ff). Es ist gar keine Frage, Paulus selbst erwartete, die Parusie zu erleben; wenn auch zweifellos krank, doch erleben würde er sie. 1. Kor. 15,52 sagt deutlich, daß die Gestorbenen auferstehen werden und daß wir verwandelt werden - dies setzt voraus, daß Paulus auf der Wir-Seite ist, die den Tod nicht schmeckt, bis die Parusie kommt. Der deutlichste Hinweis auf die Krankheit als Hindernis für Paulus' Amt ist jedoch Gal. 4,13 ff, wo er die Galater lobt, weil sie keinen Anstoß daran nahmen, daß er wegen seines körperlichen Leidens in Galatien gestrandet war. Und trotz seiner Krankheit, trotz seiner schlechten körperlichen Verfassung nahmen sie seine Botschaft als Wort
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Gottes an. Aus diesem Abschnitt wird deutlich, daß Krankheit für einen Apostel ein Schlag ins Gesicht ist, der ihn hindert, der mächtige, gesunde, wahre Träger der Lebensmacht des Evangeliums zu sein. Dies mag in 1. Kor. 2,3' mitklingen, wo er davon spricht, wie er das Evangelium in Schwäche brachte; es mag auch hinter 1. Thess. 2,18 stehen, denke ich, wo er sagt: »wir wollten zu euch kommen, ich, Paulus, nicht nur einmal, sondern zweimal; und der Satan hinderte uns«. Ich glaube, er war ganz einfach krank und konnte nicht reisen. Es war jener Engel des Satans, der ihn schlug, auf den er in 2. Kor. 12 hinweist. Die Schwäche, von der Paulus spricht, ist eine, die zu ihm - in ihn - von außen kommt. Es ist ein Angriff Satans, des schmutzigen Gegenspielers, der Gottes Werk hindern will. Wir könnten es eine martyrologische Krankheit nennen, d. h. die Krankheit eines Zeugen, die nicht aus seinem (oder ihrem) Versagen herrührt, sondern aus äußerer Opposition gegen das Zeugnis des Zeugen. Dies alles muß für Paulus sehr schwer gewesen sein. Die Schwäche war wirklich ein Dorn im Fleisch, aber er sieht sie nicht in Verbindung zu seiner persönlichen Erlösung, sondern gerade in Beziehung zu seinem Amt, zu der Art und Wirkung seines Amtes. An keinem Punkt in seinen Hauptschriften finden wir einen Hinweis darauf, daß Paulus wegen dieser seiner Schwäche ein schlechtes Gewissen hatte. Er sagte nie: »Ich bin schwach, ich bin elend; die Menschheit ist schwach; schwach und sündig ist mein Leben ..~ An keiner Stelle : identifiziert Paulus seine Schwäche oder Krankheit mit Sünde, und er denkt nicht daran, sein innerstes Gewissen nach einer verborgenen Sünde zu durchforschen, die der Grund für seine Schwäche oder Krankheit sein könnte. Im Gegenteil, für ihn ist seine Schwachheit eines der Dinge, die ihn mit dem Herrn eins machen, der in Schwäche l gekreuzigt wurde. Gerade in seiner Schwäche ist er eins mit I dem Herrn, der in Schwäche starb, der »aus Schwachheit \1
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gekreuzigt wurde« (2. Kor. 13,4). In dieser Schwäche erstreckt sich die Macht der Auferweckung Christi durch die missionarische Botschaft in die Kirche und wird so manifest. Paulus' Krankheit ist ein kleines - und vielleicht gar nicht so kleines - Golgatha, seine eigene Schädelstätte. Dieser Gedankengang wird in einer der Schriften verstärkt, die dem paulinischen Denken nahe sind und ihm entstammen, dem Kolosserbrief. Dort wird er in Begriffen ausgedrückt, die für Theologen schwierig, ja sogar erschreckend sind: »Jetzt freue ich mich in meinem Leiden für euch und fülle an seiner Statt an meinem Fleische aus, was den Trübsalen Christi noch fehlte, zugunsten seines Leibes, der die Kirche ist« (KoI. 1,24). Dies ist für jeden anständigen Theologen eine befremdliche Sprache. Selbstverständlich konnte weder Paulus noch irgend jemand sonst etwas zu jenem Werk hinzufügen, das ein für allemal auf Golgatha erfüllt worden war. Und doch wird in KoI. 1,24 das Amt des Paulus in seiner Schwäche, in seinem martyrologischen Leiden, in derselben Weise gesehen wie die Leiden Christi, Leiden, die in der Kirche »andauern« und so vollendet werden (vgI. auch 2. Kor. 13,3-4). In 2. Kor. 4 stoßen wir wieder auf ein Problem beim Lesen der Paulusbriefe, das schon oben auf S. 36 erwähnt wurde, nämlich das ,Problem, wie man erkennt, was das »wir« in den verschiedenen Abschnitten jeweils bedeutet. Dieser Frage müssen wir uns stellen, wenn wir Paulus so lesen wollen, wie er beabsichtigte. Wenn wir 2. Kor. 4 sorgfältig untersuchen~> dann haben wir hier ein klassisches Beispiel dafür, wie diese Rede von »wir« verstanden werden soll. Es gibt da einen Abschnitt, wo Paulus die erste Person Plural ganz klar in der Bedeutung von »ich selbst, Paulus«, also einfach als erste Person Singular benutzt. »Denn wir predigen nicht uns selbst, sondern Christus J esus als den Herrn, uns selbst aber als eure Diener um Jesu willen« (2. Kor. 4,5). In diesem Vers ist ganz klar, daß das »wir« für Paulus und »eure Diener« im Blick auf die 63
angeredete Gemeinde stehen. Und es ist wirklich Paulus, der über seine eigene Offenbarung in Jesus Christus spricht, wenn er fortfährt: »Denn Gott, der gesagt hat: aus der Finsternis soll Licht aufstrahlen !, er ist es, der es in unsern Herzen hat aufstrahlen lassen, so daß wir erleuchtet wurden durch die Erkenntnis von der Herrlichkeit Gottes auf dem Angesicht Christi« (2. Kor. 4,6). Es ist wichtig zu klären, auf wen sich das »wir« bezieht, i denn wir müssen sehr aufpassen, daß wir die Offenbarung' an große Apostel nicht als beispielhaft für gewöhnliche Christen ansehen. Im Neuen Testament gibt es in der Kirche einen Unterschied zwischen dem Apostel und dem gewöhnlichen Fußvolk. Diese Unterscheidung ist in jenen Traditionen von besonderer Wichtigkeit, die das Erbe des Pietismus und der Erweckungs1?ewegungen bewahrt haben. Z. B. hat der Ausdruck »Jesus begegnen« nur dann einen Sinn, wenn tatsächliche Erfahrungen einer solchen Begegnung dahinterstehen. Aber als poetische Umschreibung für den sonntäglichen Kirchgang ist dies eine gefährliche Sprache. Es ist viel zu stark und vielleicht auch unehrlich, unsere Gottesdiensterfahrungen mit solchen inflationären Begriffen zu beschreiben. Vieles in unserer religiösen Sprache läßt mich denken, daß wir oft jener Versuchung erliegen, der David als junger Hirt widerstand, als er das Angebot zurückwies, Sauls große Rüstung anzuziehen, bevor er im Kampf auf Goliath traf. Man hört ein lautes Klirren von zu großen und beschwerlichen Saul-Rüstungen in unseren kleinen, David ähnlichen Seelen und Köpfen. Und es ginge uns viel besser, wenn wir in unserem Predigen, Reden und Beten jene Einfachheit hätten wie David, als er den Philister mit einem einzigen Stein aus seiner Schleuder schlug. Deshalb sollten wir mit diesem »wir« und »ich« vorsichtig sein. Wir sollten diese Sprache nicht auf die Beschreibung alltäglicher religiöser Erfahrungen ausweiten und diese dadurch beschönigen. Paulus dachte an 64
etwas ganz Besonderes und Einmaliges: an seine eigene einzigartige Berufung und Mission. Paulus fährt fort (2. Kor. 4,7-9): »Wir (d. h. ich, Paulus) haben aber diesen Schatz in irdenen Gefäßen ... in allem werden wir bedrängt. .. verfolgt... zu Boden geworfen ... « Und alle diese »wir« beziehen sich zunächst einmal auf Paulus selbst. Wir müssen sehr aufpassen, wenn wir sie demokratisieren und auf unsere durchschnittliche Situation anwenden. 2. Kor. 4,10 sagt Paulus, daß wir (also Paulus) immer »das Sterben Jesu am Leibe herumtragen«. Es sind nicht ISO sehr spezielle Zeichen des Todes, die Paulus trägt, als vielmehr ein Prozeß des Sterbens, und dies macht ihn eins mit dem leidenden Christus. Nun behaupte ich nicht, daß dies nicht auf uns angewendet werden könnte - in bescheidener Analogie - doch wenn wir die Besonderheit und die Realität dieser Redeweise wirklich nachvollziehen wollen, dann sollten wir sie zunächst auf Paulus beschränken. Hier steht der kranke und schwache Paulus den gesunden, braun gebrannten Aposteln gegenüber, die er in Korinth bekämpft. Paulus sagt für sich, nicht für jeden Christen, sondern für sich: »wir tragen das Sterben Jesu an unserem Leibe herum, damit auch das Leben Jesu an unserem Leibe offenbar werde« (2. Kor. 4,10). Er fähre] fort: »Denn immerfort werden wir bei Leibes Leben dem Tode überliefert um Jesu willen, damit auch das Leben Jesu offenbar werde an unserem sterblichen Fleisch. Somit ist der Tod an uns wirksam, das Leben aber an euch« (2. Kor. 4,11-12). Paulus ist also auf der schwachen, sterbenden Seite, während die Gemeinde das Leben erhalten und erneuert werden wird. Während Paulus sozusagen das »Kreuz« ist, ist die Gemeinde die »Auferweckung«. In diesen Aussagen liegt viel mehr Macht und Besonderheit, wenn man sie auf Paulus und seine Schwäche bezieht. Fast ausschließlich in der korinthischen Situation befaßt sich Paulus mit diesem Gedanken der Schwäche, so, wie er beinahe nur im Römerbrief - ein wenig auch im Galater-
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brief - von Rechtfertigung spricht. Wieder einmal sehen wir also, daß dieser große Theologe eine Weite an Gedanken hat, die er je nach Bedarf anwendet. Paulus hat nicht nur einen vorherrschenden Gedanken, kein monotones Muster, dem er ohne Rücksicht auf die angesprochene Situation folgte. Er stellt seine Sicht der Schwäche, in der sich Gottes Macht bekundet, den »Super-Aposteln« gegenüber, den hyperlian apostoloi (2. Kor. 11,5), mit denen er eine so ernste Kontroverse ausficht. Wir finden sie vor allem im letzten Teil des 2. Korintherbriefs (so wie unsere Bibel aufgebaut ist), in den Kapiteln 10-13. Die Polemik in 2. Kor. 10-13 gegen Aufwiegler in der korinthischen Gemeinde - sein sogenannter »Tränenbrief « (vgl. 2. Kor. 2,4; 7,8) - soll sowohl die Kirche zur Einheit zurückführen als gleichzeitig des Paulus eigene Autorität verteidigen. Wahrscheinlich von Mazedonien aus schreibt Paulus diese äußerst scharfe Polemik, in der er seine apostolische Autorität unterstreicht und stützt. Er war in der Ferne und konnte mit Vollmacht schreiben, so unterstrich er seine Kompetenz und Fähigkeit. Doch als dieser ziemlich kleine, häßliche, kranke Mann persönlich in Korinth auftrat, da schien er nicht sehr viel Gewicht zu haben. Die Super-Apostel sollen gesagt haben: »Denn die Briefe sind gewichtig und gewaltig, die leibliche Gegenwart aber ist ) schwach und die Rede ist für nichts zu achten« (2. Kor. 10,10). Paulus, der von sich sagt, daß er müde, leidend, ängstlich und deprimiert war (2. Kor. 7,5-6), mußte vor einer Gemeinde argumentieren, die in die Hände von aalglatten Machern gefallen war, jenen scheinbar erfolgreichen Missionaren, die nach Korinth gekommen waren und sowohl Paulus' Autorität als auch seine Lehre bekämpften. In diesem Zusammenhang redet er von seiner Schwäche. Im 1. Korintherbrief wird die Schwäche dem Wissen gegenübergestellt (1. Kor. 1,5), der Weisheit (1. Kor. 1,17.19 u. ö.). Interessanterweise gebraucht Paulus nur in 1. Kor. 1 (vgl. besonders die Verse 17-18) jene berühmten 66
Worte, daß Christus ihn gesandt hat, das Evangelium zu verkündigen »nicht in Weisheit der Rede, damit das Kreuz Christi nicht entwertet werde« (1. Kor. 1,17), und »wir predigen Christus, den Gekreuzigten ... « (1. Kor. 1,23). Paulus will nichts als den gekreuzigten Christus - keine Ausschmückungen, keine Extras, keine Verzierungen - den gekreuzigten Christus, das »Evangelium der Schwäche«. Luther stellte die theologia crucis (Theologie des Kreuzes) über die theologia gloriae (Theologie der Herrlichkeit). Lutheraner haben seine Abneigung gegen Triumphalismus zu wahren gewußt - sei es in Korinth, in Rom oder in Washington. Die Theologie des Kreuzes, die Theologie der Schwäche ist ein integraler Teil von Paulus' tiefster religiöser Erfahrung in seinem Dienst, der mit seiner eigenen Schwäche verbunden ist. Es gibt jedoch einen Abschnitt, und m. W. wirklich nur diesen einen, in dem die Schwäche der Sünde zur Seite gestellt ist, nämlich Röm. 5,6 ff. Hier taucht eine Dreiheit auf: »Denn Christus ist, als wir noch schwach waren (astheneis), zur bestimmten Zeit für Gottlose gestorben ... Gott aber beweist seine Liebe gegen uns dadurch, daß Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren. Um so viel mehr nun werden wir, da wir jetzt durch sein Blut gerechtgesprochen worden sind, durch ihn vor dem Zorn gerettet werden. Denn wenn wir mit Gott, als wir seine Feinde waren, versöhnt worden sind durch den Tod seines Sohnes, so werden wir um so viel mehr, da wir nun versöhnt sind, gerettet werden durch sein Leben« (Röm. 5,6-10). Wir können dies zusammenfassend paraphrasieren: Als wir noch schwach waren, ergriff Christus die Initiative und starb für uns; als wir noch Sünder waren, ging Christus den ersten Schritt; als wir noch Feinde waren, wurde Christus initiativ, damit wir durch seinen Tod versöhnt würden. Paulus sagt dann weiter, daß, wenn wir jetzt gerechtfertigt sind, Gott von da aus den Rest schaffen wird. Der große Schritt war, diesen schwachen, sündigen Feind in den status 67
iustificationis, den Stand der Rechtfertigung, zu versetzen, wo die Erlösung ist. Christus tat dies, indem er Paulus in den neuen Äon hob. Wenn Paulus hier von Schwäche redet, dann spricht er von etwas Vergangenern. Es könnte nun möglich sein, daß Paulus in diesem Abschnitt des Römerbriefs das Wort Schwäche ganz bewußt in einem anderen Sinn gebraucht, als wenn er im Korintherbrief von seiner Schwäche redet. Wir müssen uns stets bewußt sein, daß die verschiedenen Paulusbriefe unterschiedliche Situationen ansprechen und daß deshalb seine Sprache und Botschaft in verschiedene Begriffe gefaßt sind, oder vielleicht in dieselben Begriffe mit jeweils unterschiedlicher Bedeutung. Dies liegt nicht daran, .daß seine Briefe einige wenige Jahre von einander geschieden sind, sondern weil sie wirkliche pastorale Briefe sind, die sich an ganz bestimmte Situationen wenden. Wenn Paulus also in seinen Korintherbriefen von seiner Schwäche spricht, dann steht dies in Zusammenhang mit einem spezifischen Argument über seine eigene Autorität, das gegen seine Gegner gerichtet ist und die Theologie des Kreuzes unterstreichen soll. Er sieht seine Schwäche, seine Krankheit und die Probleme und das Versagen in seinem Dienst in Verbindung mit seiner Schwachheit; als das, was ihn über die Art des Dienstes Christi in dieser Welt und über die Macht Christi in diesem Leben belehrt. Wenn er an die Römer schreibt, an eine Gemeinde, die er noch nicht kennt und die er nicht gegründet hat, denn gebraucht Paulus Schwäche in einem allgemeineren Sinn und als Teil seiner Aussagen über Rechtfertigung. Wir sollten auch beachten, daß es im Neuen Testament etwas gibt, das wir als »Schwäche-Motiv« bezeichnen könnten, ein Motiv des Unheroischen im Christentum. Man erinnert sich jetzt schnell an ein heroisches Ghristenturn in Verbindung mit Versuchungen und Prüfungen, wenn es z. B. heißt: »Achtet es für lauter Freude, meine Brüder, wenn ihr in mancherlei Versuchungen geratet, lJnd
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erkennt, daß die Erprobung eures Glaubens Geduld wirkt!« (Jak. 1,2-3). Ein solcher Abschnitt kann als Beweis dafür genommen werden, daß die Versuchung zur Trainingsausrüstung im Leben gehört, um die Muskeln des Glaubens zu stärken. Doch ein solches heroisches Christentum ist vom Zentrum des Geistes Christi weit entfernt und ihm in der Tat fremd. Jesus lehrte uns nicht zu beten: »Stärke uns in der Stunde der Versuchung«, sondern »Laß uns nicht in Versuchung kommen«. Im Vaterunser lesen wir: »Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen« (Mt. 6,13; vgl. Lk.11,4b). Wenn wir annehmen, daß hinter dem griechischen Gebet, wie es im Neuen Testament überliefert ist, ein aramäisches Original steht, dann könnte das Verb »führen« möglicherweise im Hebräischen oder Aramäischen eine Form gehabt haben, die so wiedergegeben werden könnte: »Laß uns nicht in Versuchung geführt werden«. Neuere Übersetzungen des Vaterunsers haben Recht, wenn sie statt» Versuchung« lieber »Prüfung« sagen - das griechische peirasmon bedeutet beides. Eine Umschreibung wäre dann: »Laß keine Situation eintreten, in der wir uns zur letzten Prüfung aufgerufen sehen.« Dies wäre in Übereinstimmung mit den Evangelien, denn dort wird der Christ als jemand gezeigt, der weiß, wenn Satan - der Böse - alle Register seines Könnens zieht, daß dann für den Menschen keine Chance zum Widerstand mehr besteht (Mk. 13,20; Mt. 24,22). In den Evangelien ist der Kampf gegen Satan nicht heroisch, wenn die Nachfolger J esu betroffen sind. Die Evangelien sehen die Macht des Satans viel zu realistisch. Die einzige Hilfe ist ein göttliches Eingreifen, daß also um der Erwählten willen die Zeit der letzten Prüfung verkürzt wird, da anders kein menschliches Wesen gerettet werden könnte (Mk. 13,20 und par.). Dies ist die Sicht der Eva~elien, wo man gegenüber Verfolgungen, Versuchungen und den Angriffen des Feindes keine heroische Haltung einnimmt. In diesem Zusammenhang ist 69
Mt. 10 wichtig, ein Kapitel, das die Missionsaufgabe der Jünger und Belehrungen über ihre Mission zusammenfaßt. Die Aufgabe ist ganz unheroisch: »Und wenn man euch nicht aufnimmt noch eure Worte anhört, so gehet fort aus jenem Hause oder aus jener Stadt und schüttelt den Staub von euren Füßen«, »wenn sie euch aber verfolgen in einer Stadt, so fliehet in eine andere« (Mt. 10,14.23a). Den Jüngern wird nicht gesagt, daß sie kämpfen sollen. Dies ist eindeutig nicht heldenhaft. Natürlich, wenn die Lage verzweifelt ernst ist und der Jünger vor die feindlichen Autoritäten gebracht wird, dann hat er keine Wahl - aber selbst dann ist es nicht seine Tapferkeit, sondern der Geist des Vaters durch ihn, der Zeugnis ablegen wird (Mt. 10,19-20). Ähnliches schreibt Paulus den Korinthern: »Gott aber ist getreu, der euch nicht über euer Vermögen wird versucht werden lassen, sondern mit der Versuchung auch den Ausweg schaffen wird, sodaß ihr sie ertragen könnt« (1. Kor. 10,13). Und wenn Paulus seine eigenen Nöte aufzählt - Schläge, Steinigung, Schiffbruch, alle Arten von Gefahren, Unbequemlichkeiten und Ängsten - sogar wenn er sich rühmt, dann bezieht er sich auf seine eigene Schwäche (1. Kor. 11,23-29). Und wenn er zum Ende kommt und seine Schlüsse zieht, dann hat er ein Goldstück aus seiner Erfahrung bereit, das er abschließend seiner Gemeinde zeigt: »Wenn ich denn gerühmt sein muß, so will ich mich der Erweisungen meiner Schwachheit rühmen ... In Damaskus ließ der Statthalter des Königs Aretas die Stadt der Damaszener bewachen, um sich meiner zu bemächtigen, und ich wurde durch ein Fenster in einem Korb durch die Stadtmauer herabgelassen und entrann seinen Händen« (1. Kor. 11,30-33). Ich halte es nicht für Überinterpretation, wenn ich sage, daß Paulus diese Erfahrung bewußt aufgespart hat, um zu zeigen, wie die Kirche ihn sehen soll: der gar nicht beeindruckenqe, häßliche Paulus auf der Flucht, der sich herausstiehlt, zusammengerollt in
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einem Korb. Das ist das irdene Gefäß, das Gottes Herrlichkeit nicht durch Klugheit, Erfolge, Gesundheit oder irgendeinen Drang zum Märtyrertum verdunkelt: »Wir haben aber diesen Schatz in irdenen Gefäßen, damit die überragende Größe der Kraft Gottes angehöre und nicht von uns stamme« (2. Kor. 4,7). Von daher sieht Paulus seine Schwäche nicht als etwas, das aus ihm selbst kommt - als Mangel an Gehorsam, an Heiligkeit oder an moralischer Kraft und Erfolgen. Seine Schwäche kommt vielmehr von außen, sie ist von Satan verhängt, eine Verwundung durch den Feind. Wieder einmal sehen wir, wie stark das Gewissen des Paulus war. Doch es kommt noch mehr dazu: Seine Schwäche ist Erkenntnis- und Lebensprinzip, das höchst machtvoll die Matrix seiner Christologie selbst und deren Anwendung auf seinen Dienst wird. Man könnte darüber spekulieren, wohin wir mit dem allem gekommen sind. Einiges ist deutlich, und vielleicht sind die negativen Erkenntnisse die interessantesten. Paulus hat eine ganz andere Art zu argumentieren, eine ganz andere Einschätzung der Schwäche als jene ichbezogene, egozentrische, anthropologische Sichtweise, an die wir gewöhnt sind. Es ist auch deutlich, daß er in seinem Denken einen tiefen Argwohn gegenüber allem hegt, das aufsehenerregend und erfolgreich ist, kurz, gegenüber allem, das im Dienst Prestige einbringt. Wir selbst leben zweitausend Jahre später, und wenn wir dies sagen, dann müssen wir aufpassen, daß wir nicht in eine falsche Richtung denken. Wir erinnern uns an jene Geschichte, die Jesus vom Pharisäer und Zöllner erzählte, und der Zöllner wurde wegen seiner Bescheidenheit gerechtfertigt (Lk. 18,9-14). Wenn wir betonen, daß Jesus sagte: »Wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden, doch wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden« - dann dürfen wir uns nicht wundern, warum Menschen in der Kirche nicht vorne sitzen wollen, natürlich wollen sie
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demütig sein. Wir wurden gelehrt, daß wir wie der Zöllner und nicht wie der Pharisäer sein sollen - doch je mehr wir es versuchen, um so ähnlicher werden wir dem Pharisäer. So ergibt sich ein Teufelskreis, der schwer aufzubrechen ist. Ein ähnliches Problem ergibt sich bei der Schwäche, besonders dann, wenn wir denken, wir hätten eine Gelegenheit, uns unserer Schwäche zu rühmen. Einige von uns neigen dazu zu sagen, wenn wir unsere Arbeit nicht tun und wenn die Dinge schlecht laufen: »Dies liegt daran, daß ich nicht so oberflächlich bin wie der Nachbarpfarrer, der so beliebt ist und eine so große Gemeinde anzieht. Die Leute wollen nicht hören, weil ich das wahre Evangelium predige und ein echter Pastor bin. Hat Paulus nicht in Korinth Ähnliches erfahren?« Es bedarf großer Weisheit und Klarsicht, um nicht in den Abgrund zu fallen, der sich auftut, wenn man die Einsicht eines großen Apostels über seine Schwäche hört und dann diese Einsicht durch billige Imitation auf den Kopf stellt. Dies dürfen wir nicht, seien wir Pastoren, Lehrer oder sonst jemand, der seine Berufung erfüllen will. Martin Luther hatte Recht, als er diese Frage der Schwäche und des Kreuzes bedachte: »Ja, ein Christ trägt sein Kreuz, aber er hebt es nicht selbst auf. Er kann nicht selbst entscheiden, welche Art Kreuz er zu tragen hat.« Jeder, der sein/ihr Leben im Dienst lebt, wird gute Gründe haben, Schwäche zu kennen, seinen/ihren Dorn im Fleisch; aber oft ist dies ein anderer als man denkt. Sein Kreuz tragen bedeutet, es ohne Frustration in Demut annehmen. Luther beschrieb dies so - und vielleicht hat er ein wenig übertrieben: Es ist leichter für einen Mönch, seinen asketischen, weltverneinenden Gehorsam zu festen Zeiten in geordneter Weise zu erfüllen, als es für einen Pastor ist, der gerade dann von seiner Frau oder seinen Kindern gestört wird, wenn er meint, er müsse anderes tun. Auch wenn dies nur ein kleines Beispiel ist, so hat es doch seine Bedeutung. 72
Lassen Sie mich zum größeren Thema zurückkehren. Ich habe versucht zu zeigen, was Paulus gemeint haben könnte, als er über Schwäche und nicht über Sünde sprach. Wir haben hier den Faktor der paulinischen Theologie vor uns, der am stärksten durch Erfahrung geprägt ist. Wenn ich dieses Thema nicht behandelt hätte, dann könnte es scheinen, als ob ich gegen Erfahrung qua Erfahrung bin - was nicht der Fall ist. Sicherlich, Paulus ist der wahrhaft intellektuelle Denker unter den Aposteln und Verfassern des Neuen Testaments. Er war ein leidenschaftlicher Anhänger eines klaren theoretischen Denkens, wenn es um Rechtfertigung oder andere theologische Probleme ging. Und doch ist er zugleich auch ein sehr persönlicher, menschlicher Paulus - der Paulus, den wir in diesem Kapitel betrachtet haben. Und dieser Paulus redet zu uns von Schwäche, nicht von Sünde.
5. Eher Liebe als Integrität Der Titel, »Eher Liebe als Integrität«, ist vielleicht schwieriger als die der vorangehenden Kapitel, weil in ihm das Wort Liebe vorkommt. »Liebe« ist ein gewaltiger Begriff in der Hinsicht, daß er oft gebraucht wird, um das Evangelium zusammenzufassen, die volle Bedeutung des Lebens, Leidens und Sterbens Christi, den ganzen Inhalt der christlichen Botschaft. Meist wird selbstverständlich vorausgesetzt, daß Liebe in vielen Bereichen alles Wichtige ausdrücken kann. Nur wenige Worte werden so inflationär benutzt, nicht nur in unserer Sprache, auch in unseren Gedanken und Gefühlen. Charlie Chaplin hat die christliehe Botschaft in seinem Film »Rampenlicht« wunderbar karikiert, in dem die Lyrik eines Liedes aus der ständigen Wiederholung des Wortes »Liebe« besteht, diesem schwer 73
belasteten Wort, »love, love, love ... « Oder, was uns vielleicht näher liegt, nehmen wir das Lied »For they know we are Christian by our love ... « (Denn sie wissen, daß wir Christen sind, wegen unserer Liebe), das so bezaubernd schön ist - eine Zeitlang. Es ist interessant, einmal darüber nachzudenken, warum man ein solches Lied so schnell leid ist; dies könnte mit dem inflationären Gebrauch des Wortes »Liebe« zusammenhängen. Und doch muß ich mich selbst und andere davor warnen, . das, was wir für billig und abgedroschen halten, vorschnell zu vermeiden. Es hat manchmal den Anschein, als ob tiefe, »richtige« Theologie darin besteht, die Goldene Regel als Zentrum des christlichen Glaubens lächerlich zu machen. Diese Haltung reißt einen Graben zwischen den »ernsthaften« Theologen und den Laienvertretern des Christentums auf. Sie verführt dazu, eine Zusammenfassung des christlichen Lebens, wie sie in der Goldenen Regel vorliegt, zu verspotten, und sie betont die Bedeutung von Theologie und Theorie gegenüber Gottes Liebe, wie sie sich in Christi Leben, Leiden und Sterben darstellt, zu sehr. Es könnte sein, daß die »richtigen« Theologen die Goldene Regel (alles nun, was ihr wollt, daß euch die Menschen tun, das sollt ihr ihnen tun, Mt. 7,12; vgl. Lk. 6,31) so sehen, als sei sie nur eine Handlung, keine Liebe, als ob sie nach Gesetzlichkeit riecht oder nur eine Nützlichkeitserwägung ist, die das reine Liebesgebot entwürdigt. Wir berühren also ein heikles Thema. Wie spricht man über Liebe? Wie können wir elitäre Theologie einerseits und aufgeblasenes/vulgäres Reden andererseits vermeiden? Der klassische Text, in dem Paulus von der Liebe spricht, ist 1. Kor. 13, der Hymnus auf die Liebe, voll der Liebe, für die Liebe. Es geht hier offensichtlich nicht um Liebeserweise, um Almosen oder um Wohltätigkeit. Vielmehr scheint Paulus gerade jene herablassende Haltung zu kritisieren, wenn er sagt: »und wenn ich alle meine Habe zur Speisung (der Armen) austeile, und wenn ich meinen
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Leib hingebe, damit ich verbrannt werde, habe aber die Liebe nicht, so nützt es mir nichts« (1. Kor. 13,3). Worüber spricht Paulus? Wenn wir die methodischen Voraussetzungen der vorangehenden Kapitel anwenden, dann sollten wir versuchen herauszufinden, nicht was wir empfinden, sondern was Paulus sagen wollte, wenn er an dieser Stelle seiner Argumentation mit den Korinthern in diese beinahe hymnische Sprache ausbricht. Uns wird gesagt, daß ohne Liebe keine Handlung - nicht einmal die größte, sich selbst als Märtyrer oder Opfer verbrennen zu lassen - irgend etwas zählt, irgendeinen letzten Sinn hätte. Eine Ebene, auf der 1. Kor. 13 gelesen werden kann - und ich denke, wir lesen den Text meist so - ist diese: Hier ist die tiefe Einsicht, daß auch die größten Taten aus niederen Motiven entspringen können,· daß sie Mittel zur Selbstbestätigung sein können bis zu dem Punkt, wo wir ganz schrecklich in falschen Bildern unserer eigenen christlichen Tugenden schwelgen. Dann ist es so, daß nur die innere, tiefere Motivation - die Liebe - wirklich zählt. Moderne Theologen sind glücklich, wenn sie herausstellen können, daß in 1. Kor. 13 im griechischen Text das Wort agape steht, der Begriff für die unbegründete Liebe Gottes, die so ganz anders ist als das, was die Welt normalerweise Liebe nennt, eros, die selbstsüchtige Liebe der Menschen. Mein Landsmann Anders Nygren hat eine sehr kluge U ntersuchung über Agape und Eros geschrieben, die diese wichtige Unterscheidung hervorhebt. Nach seiner ethischen, an der Gesinnung orientierten Auslegung von 1. Kor. 13 sagt Paulus, daß alle Werke oder Taten, alle spektakulären Manifestationen geistiger Macht wie Prophetie oder Zungenreden nutzlos sind, wenn sie nicht aus jener selbstlosen, realen, unbegründeten Quelle der Liebe stammen. Von hier aus kann man dann rasch zu tieferen psychologischen Erkenntnissen gelangen, wie zu der, daß alle wirklieh wichtigen Tugenden, die zählen, Folgen der agape sind, 75
jener Liebe, die nicht auf Befehl entsteht und nicht aus rein verstandesmäßiger Einsicht kommt. Man kann sich nicht entschließen zu lieben. Keiner kann zu sich selbst sagen, »jetzt will ich lieben«, und dann zu wirklicher Liebe gelangen. Liebe ist außerhalb unserer Kontrolle. Die Schwierigkeiten liegen auf der Hand, die einem solchen Mechanismus innewohnen, weil er mit der Demut zusammenhängt, jener seltsamsten aller christlichen Tugenden. Jeder kennt die Geschichte von dem Menschen, . der demütig sein wollte: »Er war sehr glücklich, als es ihm gelang, demütig zu sein. Doch er wurde sehr traurig, weil er so glücklich war, demütig zu sein. Und dann war er wieder sehr glücklich, weil er so traurig war, glücklich zu sein, weil er demütig war ... « Aus diesem Teufelskreis gibt es keinen Ausweg; die einmal vorhandene Demut ist verloren, denn Demut erwächst ja gerade aus dem Wissen um die eigene Armut. Etwas von diesem Teuflischen ist auch mit der Liebe verbunden, etwas davon ist mit allem in dieser Welt verbunden, was in den Beziehungen zwischen Menschen wirklich zählt. Unter bestimmten Umständen ist Liebe einfach da. Ich vermute, einige Philosophen oder Theologen würden sagen, daß Liebe nicht so sehr eine Haltung ist, die man einnehmen kann, sondern eine Beziehung. Liebe ist vielleicht eine Ausstrahlung, eher ein Wellen-Phänomen als eine Sache. Wir sind in diesen Fragen sehr feinfühlig geworden, und jeder, der etwas religiöse Erfahrung hat, weiß, wie nützlich solche einfühlsamen Analysen sind. Es geht darum, daß Liebe, die ohne Liebe gegeben wird, eine Beleidigung ist, eine Herablassung, bloße Mildtätigkeit, die den anderen demütigt. Ich erinnere mich hier an St. Vincent de Paul, den römisch-katholischen Gegenpart zu General William Booth, dem Begründer der Heilsarmee. St. Vincent begann im 17. Jahrhundert in Frankreich eine Art Elendsmission, Hilfe für die Gefangenen, die Kranken, die elenden Armen. Vor einigen Jahren lief in Schweden ein wundervoller 76
Film über ihn, »Die Hölle« (er ist möglicherweise hier unter anderem Titel gelaufen). In der Szene, in der Vincent stirbt, nachdem er verschiedene Hilfsorganisationen in den Slums von Paris gegründet hat, sagt er zu der Schwester, die ihn an seinem Sterbebett betreut: »Schwester, wir müssen diese Menschen sehr lieben, damit sie uns vergeben können, daß wir ihnen geholfen haben.« In diesem Satz ist unendliche Weisheit enthalten. Liebe als Handlung, selbst wenn sie bedeutet, daß ich all meinen Besitz opfere und den Armen gebe - nur ohne Liebe - würde in unserer großen westlichen Tradition für nichts als eine Belastung und Beleidigung gelten. Hinter diesem Bemühen um eine Hilfe, die nicht demütigt, steht eine Erkenntnis, die weit in den politischen Bereich hineinreicht, in den innen- wie in den außenpolitischen. Sie erklärt, warum das» Wohltätigkeits-Modell« der Hilfe für Bedürftige nicht wirkt. Dieses Modell hilft deshalb nicht, weil es keine »Liebe« ist, solange das Ich (das kollektive oder das individuelle) die Macht behalten, die Kontrolle ausüben will. Wahre Liebe verlangt, daß weder der Geber noch der Empfänger sich des Gebens und Nehmens bewußt sind. Man könnte sagen, daß Steuern als Mittel zum Ausgleich zwischen Arm und Reich ein phantasievoller Gehorsam gegenüber Jesu Worten vom Almosengeben sind: »... laß deine Linke nicht wissen, was deine Rechte tut« (Mt. 6,3). Denn indem wir Steuern zahlen, geben wir - doch wir können nicht befriedigt sagen: ich gebe. Dies kommt der Liebe recht nahe. Wir könnten Paulus in dieser Richtung noch weiter auslegen, und wir würden in 1. Kor. 13 vieles finden, das hierhin weist: Wenn ich alle guten Dinge täte, aber nicht aus wirklicher Liebe, dann wäre es nichts. Dann müßten wir uns allerdings fragen, warum in diesem Kapitel soviel vom Verstehen von Geheimnissen, vom Wissen (gnosis), von Prophetie und Zungenreden die Rede ist (1. Kor. 13,2.8). Solche Vorstellungen gehören nicht unbedingt zur
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Botschaft der Liebe dazu, jedenfalls nicht in der Auslegung, die wir bisher verfolgt haben. Doch sie zwingen, den Kontext des Briefes als Ganzes zu sehen, vor allem die vorangehenden und die folgenden Kapitel. Wir hätten natürlich unsere Interpretation damit beginnen sollen, daß wir den ganzen Brief vor Augen nahmen - aber ich wollte zeigen, daß auch ich das westliche Spiel der Innensicht spielen kann, und wollte verdeutlichen, in welche Richtung es führen würde. Der allgemeine Zusammenhang des Briefes ist das Problem, das Paulus in Korinth mit der Aufregung, dem enthusiastischen Extremismus und mit den außerordentlichen Erfahrungen hatte, die einige Korinther offenbar machten. Die Kirche in Korinth war in der Tat eine herrliche Kirche, doch sie war weit entfernt von einer idealen Kirche. Es gab offensichtlich nur wenige Kirchen, mit denen Paulus solche enormen Schwierigkeiten hatte - aber dies ist vielleicht nur ein Zufall der uns überlieferten Korrespondenz. Korinth war eine Hafenstadt, eine Weltstadt, die anderen Städten in der hellenistischen Welt nicht unähnlich war, in die das Christentum gelangte. Das Bild von Korinth als einer besonders sündigen Stadt wird in Predigten und Kommentaren oft verkürzt, wenn man nur auf die Tatsache hinweist, daß das griechische Verb korinthiazesthai, »wie in Korinth leben«, die Bedeutung von »Ehebruch begehen« annahm - Korinth war für seine Prostituierten berühmt. Dies ist richtig, und vielleicht hat Aristophanes diesen Begriff geprägt, Ausdruck der Verachtung der Athener für den Süden während des Peloponnesischen Krieges. Doch es gibt keinen Beleg dafür, daß das Korinth des Paulus besonders verderbt gewesen ist. Diese Stadt war ganz neu, als römische Kolonie im Jahre 44 v. u. Z. gegründet; das alte Korinth war ein Jahrhundert zuvor zerstört worden. In dieser großen, verwirrenden Stadt predigte Paulus sein Evangelium, und in ihr schlug es Wurzeln. Und wenn es 78
auch viele Probleme gab: langweilig war es nie. Die Korinther waren hervorragend, im Zungenreden wie in der Prophetie, im Rufen - und in allen möglichen Sünden genauso. Paulus' erster Korintherbrief handelt von diesen Problemen. Das dem Kapitel über die Liebe vorangehende handelt vom Geist, dem einen Geist mit seinen vielen Gaben (1. Kor. 12). In diesem Kapitel betont Paulus seltsamerweise, daß Zungenreden nicht mehr eine Gabe des Geistes ist als Lehren oder sogar Verwaltung. Es ist eine erstaunliche Behauptung, daß Zungenreden oder Prophetie in keiner Weise geistiger sein sollen als hinter dem Schreibtisch eines· guten, verantwortungsvollen Verwalters zu sitzen. Vielleicht hatte man damals keine Schreibtische, aber man verachtete die Verwaltung sicher genauso wie jeder Prediger oder Lehrer oder Student es heute tut. Offenbar will Paulus irgendwie zeigen, daß dies alles zusammengehört. Wenn er also von agape, von Liebe spricht, dann sagt er, daß jeder geistige Erfolg, jede christliche Handlung oder Tugend ohne agape für das Wohl der Kirche schädlich, gefährlich oder bedrohlich sein kann. Im Kolosserbrief gibt es einen wundervollen Abschnitt, der diesen Gedanken zusammenfaßt: »So ziehet nun also als Gottes heilige und geliebte Auserwählte Barmherzigkeit, Güte, Demut, Sanftmut und Langmut an, ertraget einander und vergebet euch gegenseitig ... « (KoI. 3,12-13). Und nachdem der Verfasser alle diese großen und herrlichen Tugenden aufgezählt hat, kommt er zum Höhepunkt: »Über dies alles aber ziehet die Liebe an, die ein Band der Vollkommenheit ist!« (KoI. 3,14) . Wollte man das Bild weiter ausführen, dann könnte man sagen: Wenn das Band, der Gürtel der Liebe den Christen nicht umgürtet, dann können alle anderen Tugenden ein Anlaß zum Stolpern sein. Und jeder, der weiß, wie schwierig es ist, mit tugendhaften Menschen zusammenzuleben, wird dies verstehen. Liebe ist also keine »Super-Tugend«. Für Paulus ist Liebe die stete Sorge für die Kirche, für die Brüder und 79
Schwestern. Darum geht es: Liebe ist Sorge um die Kirche, Sorge um die Mitchristen. Wissen (gnosis) führt zum Aufblähen und zum Stolz (1. Kor. 8,1), während die Liebe aufbaut (oikodomein, [die Kirche] stärken, aufbauen). Von dieser stärkenden, aufbauenden Liebe handelt 1. Kor. 13. Liebe, nicht im Sinne eines immer tiefer in sich selbst versinkenden Gefühls, sondern Liebe im Sinne der einfachen, vernünftigen Sorge für die Kirche in ihrer Gesamtheit ist das größte aller Dinge. Selbst Zungenreden oder das Geben eines »Scherfleins der Witwe« bedroht die Stärkung und Struktur der Kirche, wenn es nicht in der Ganzheit der oikodome, im Aufbau der christlichen Gemeinde, Gottes Bauwerk, getan wird. Deshalb sagt Paulus am Ende: »Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; am größten aber ist die Liebe von diesen« (1. Kor. 13,13). Man könnte argwöhnen, daß dem Paulus hier da passiert, was jedem Prediger passiert, der seiner Gemeinde jeden Sonntagmorgen sagt, daß das Thema, über das er gerade spricht, das Zentrum der christlichen Botschaft sei - es gibt viele solcher »Zentren«. Doch ich glaube nicht, daß wir es hier mit dieser Art Rhetorik zu tun haben. Paulus meint genau das, was er sagt. Er stellt nicht verschiedene Einstellungen, Tugenden oder Gottesgaben nebeneinander - wir müssen Glauben haben, wir müssen Hoffnung haben, wir müssen Liebe haben. Er zeigt vielmehr, daß es die Liebe ist, die auch Größen wie Glaube und Hoffnung davor bewahrt, zu kleinen Anstecknadeln zu verkommen, mit denen wir ruhmvoll unsere eigene Klugheit, unsere Hingabe, unsere Fähigkeiten zu Glauben und Vertrauen verkünden können. In Wahrheit bedeutet Liebe: sein, was man ist, zusammen mit den Brüdern und Schwestern im Aufbau der Kirche. Ich habe dieses Kapitel mit »Eher Liebe als Integrität« überschrieben - nicht, weil ich etwas gegen Integrität hätte oder weil die Bibel sie für Sünde hielte. Integrität ist wichtig, wenn Menschen verschiedener Ansichten und
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Überzeugungen und mit unterschiedlichen Gaben zusammenleben müssen. Dies kann zum Problem werden, und genau davon redet Paulus, wenn er soviel Wert auf die Liebe legt. Was sind die spezifischen Probleme im 1. Korintherbrief? Es sind viele. Dieser Brief ist auch deshalb so interessant, weil Paulus so viele verschiedene Fragen behandeln muß. Oft beginnt er einen Abschnitt: »Denn es ist mir kundgeworden, daß ... « (1,11); »Überhaupt hört man, daß ... « (5,1); »Was aber das betrifft, wovon ihr mir geschrieben habt ... « (7,1); »Über die Jungfrauen aber habe ich kein Gebot des Herrn, eine Meinung jedoch gebe ich ab ... « (7,25); »Was aber das Götzenopferfleisch betrifft ... « (8,1); »Ich höre, daß ... Spaltungen unter euch sind ... « (11,18); »Was aber die Geistesgaben betrifft, ihr Brüder, so will ich euch nicht in Unkenntnis lassen ... « (12,1); »Was aber die Sammlung betrifft ... « (16,1). Er schreibt also: »Zu der oder der Angelegenheit, von der ihr mir geschrieben habt, ist meine Sicht die folgende ... « Er behandelt Fragen der Ehescheidung, Inzest, Heirat, Ehelosigkeit, Götzenopferfleisch, Trennung beim Abendmahl, Geistesgaben und die Kollekte für die J erusalemer Kirche. Diese Fragen zur Kirchenordnung, wie man leben, was man essen soll, zu verschiedenen Geistesgaben - sind alle durch die Situation in der korinthischen Gemeinde hervorgerufen. Paulus schreibt zu dem, was er gehört hat, und er behandelt Probleme, die ihm zur Klärung vorgelegt wurden. Das Thema, an dem Paulus die Beziehung zwischen Liebe und Integrität am deutlichsten aufzeigt, ist die Frage des Essens. Auch wenn dies für uns heute kein Problem mehr ist, so möchte ich doch betonen, daß wir verstehen müssen, was diese Frage für die Korinther zur Zeit des Paulus bedeutete. Die Lage war so, daß ein Großteil von dem auf den Märkten in Korinth verkauften Fleisch aus den Tempeln kam. Nur sehr wenig vom Fleisch der Opfertiere wurde tatsächlich in den Tempeln verbraucht, sei es 81
im Feuer des Altars oder in sakralen Mahlzeiten. Die große Masse dieses Fleisches wurde auf offenem Markt in Korinth verkauft. Die Frage, die die Kirche bedrängte, war nun, ob ein Christ dieses Fleisch, das ja Götzen geopfert worden war, essen durfte, ohne sich dadurch eines Götzendienstes schuldig zu machen. In 1. Kor. 8-10 geht es Paulus um dieses Thema. Es ist interessant, daß Paulus die Frage nicht einfach abtut, indem er sagt: »Habt ihr nicht verstanden, daß ich gegen Gesetzlichkeit bin? Also ist dies kein Problem, es ist gelöst.« Aus irgendwelchen Gründen äußert Paulus diese »paulinischste« aller Erkenntnisse nicht. Er formuliert vielmehr ein sehr viel pragmatischeres Prinzip (1. Kor. 6,12): mir ist alles erlaubt, aber nicht alles ist hilfreich für die Gemeinde, d. h. für den Aufbau der Kirche. Dieses Prinzip wird in 1. Kor. 10,12 wiederholt, und hier ist noch deutlicher, daß es Paulus wirklich um den Aufbau der Kirche geht: alles ist erlaubt, aber nicht alles baut auf. Beide Male wird das Prinzip auf Streitigkeiten über das Essen angewendet - es geht allerdings nicht um die jüdisch-christliche Kontroverse über koscheres Essen (Apg. 15,20; vgl. Gal. 2), sondern um die Frage, ob man Götzenopferfleisch essen darf. In dieser Frage waren sich die Christen in Korinth nicht einig. Einige, die »Starken«, beanspruchten die Freiheit, solches Fleisch zu essen - und Paulus gibt ihnen theologisch Recht. Andere, die »Schwachen«, hielten jedoch diese Praxis für falsch. In diesen Abschnitten beschwört Paulus die Starken, nicht mit ihrer Freiheit anzugeben, sondern sich von der Sorge um die Schwachen leiten zu lassen. Tatsächlich steht der ganze Teil 1. Kor. 8-10 unter dem Prinzip: ich habe große Rechte, doch ich habe gelernt, sie nicht immer und überall ausnutzen zu müssen. Paulus' Reflexion über die Starken und die Schwachen taucht in stilisierter Form auch in Röm. 14 auf, einem Kapitel, das mit der Aufforderung an die Starken beginnt, die Schwa82
chen zu akzeptieren - aber nicht, um mit ihnen zu diskutieren, sie zu verachten, zu verurteilen oder zu demütigen. Hier betont Paulus noch mehr, wie wichtig es ist, die Überzeugungen der anderen zu achten. In einem Klima voll Liebe und gegenseitiger Annahme wird die Achtung von Verschiedenheiten des anderen bis zu der Schlußaussage gesteigert: alles, was nicht aus Überzeugung geschieht, ist Sünde (Röm. 14,23; vgl. 14,5). Natürlich darf der Christ Götzenopferfleisch essen, denn er weiß ja, daß die Götzen nichts sind. Natürlich durften Paulus und die anderen reisenden Apostel Lohn für ihre Arbeit annehmen, denn das Alte Testament sagt, daß dem Ochsen, der drischt, nicht das Maul verbunden werden soll (Dtn. 25,4); und J esus sagte, als er die Jünger zu ihrer Mission aussandte, daß der Arbeiter seines Lohnes wert ist (Lk. 10,7; 1. Kor. 9,14). Doch Paulus zog es vor, diesen Anspruch nicht durchzusetzen, und behielt seinen Beruf bei, der ihn auf seinen Reisen ernähren konnte. Er glaubte, daß ein Christ viele Privilegien hat, doch daß er nicht gezwungen ist, auf ihnen zu bestehen - vor allem dann nicht, wenn andere, besonders die schwächeren Glieder der Kirche, dadurch beunruhigt werden. Deshalb nutzt Paulus seine Privilegien nicht so weit wie möglich aus, deshalb schränkt er seine Freiheit ein, denn sonst könnte es Parteiungen in der Kirche Christi hervorrufen. Kein Christ darf auf seiner Integrität, auch nicht auf seinem Gewissen beharren, wenn es zum Schaden derer gereicht, für die Christus gestorben ist (1. Kor. 8,9-11). Das Wesentliche in diesem Gedankengang des Paulus ist, daß Integrität als solche keinen Wert darstellt und daß sie nicht zur Schau gestellt werden soll. Der Christ sollte um des Gewissens willen auf Privilegien verzichten - nicht um des Gewissens der Starken willen, sondern um des Gewissens derer willen, die vielleicht schwach sind und für die ein Privileg ein Stein des Anstoßes werden könnte. Sein eigenes Leben nach dem Gewissen des Schwächeren einzu83
richten - das ist das Beispiel für Liebe anstelle von Integrität. Dies alles muß unter dem übergeordneten Gesichtspunkt des Aufbaus der Kirche gesehen werden. Deshalb sagt Paulus etwas, das uns vielleicht nicht gefällt: Den Juden wurde ich ein Jude, um die Juden zu gewinnen ... den Heiden wurde ich einer außerhalb des Gesetzes, um die Heiden zu gewinnen. .. den Schwachen wurde ich schwach, um die Schwachen zu gewinnen. Ich wurde alles für alle ... (1. Kor. 9,19-22). Wollte man dies zum allgemeinen Prinzip machen, so wäre es schrecklich. Es mangelte der Integrität. Selbst wenn es für den Herrn und seine Mission ist, scheint es falsch zu sein; weil die Integrität fehlt, ruft eine solche Aussage Bedenken wach. Die Geschichte des Christentums kennt eine Fülle von Antworten auf diese Fragen, die man auf religiöse, theologische und soziologische Aspekte hin untersuchen kann. Oft, wenn ich einen Vortrag vor Pastoren halte, sagen sie: »Es ist wunderbar, daß wir diese Feinheiten hier diskutieren können - natürlich könnte ich so vor meiner Gemeinde nicht sprechen. Nicht meinetwegen, sondern um ihres Gewissens willen«. Dies ist ein echtes Problem, und wir müssen uns ihm ehrlich stellen. Es gibt Augenblicke, da bin ich mir nicht so sicher" wer nun die Schwachen und wer die Starken sind. Wir können nicht unbedingt diejenigen, die sich zurückhalten, immer als die Schwachen ansehen. Manchmal könnte es umgekehrt sein. Doch wie auch im., mer: ich muß das Prinzip des Paulus noch näher beschreiben, Liebe statt Integrität. Die endgültige Wichtigkeit der Liebe wird auch in den Evangelien deutlich. In Mt. 25,31-46 haben wir das großartige Bild vom Letzten Gericht, von der Trennung der Schafe von den Böcken, wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt - die Schafe zu seiner Rechten, die Böcke zur Linken. J esus wendet hier ein interessantes Kriterium an für die, die zur Rechten sein werden: » Kommet her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbet das 84
Reich ... Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mich getränkt; ich war fremd, und ihr habt mich beherbergt; ich war nackt, und ihr habt mich bekleidet; ich war krank, und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen ... Wahrlich, ich sage euch: Wie ihr es einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, habt ihr es mir getan« (Mt. 25,34-40). Die übliche Art, über diesen Text zu predigen, ist m. E. diese: Hier zeigt Jesus, was im Letzten Gericht geschehen wird, damit die Menschen sich entsprechend verhalten können. Auf dieser Ebene entsteht jedoch ein schwieriges theologisches Problem in der Frage, wie ein solches Kriterium sich denn zu der Lehre von der Erlösung aus Gnade verhält, denn hier scheint die Erlösung doch von Werken abzuhängen. Vielleicht können wir - wie manche - sagen, daß sich dies nur auf das Gericht innerhalb der Kirche bezieht, nicht auf das aller Menschen? Und wenn wir bis zum Ende von Kap. 25 lesen, dann könnten wir eine psychologische Pointe daraus machen, daß diejenigen, die richtig handelten, dies taten, ohne es zu wissen, und auch die, die falsch handelten, wußten es nicht; die Gleichgültigen sahen Christus nicht, die Engagierten sahen ihn auch nicht. Dies kann sehr klug ausgeschlachtet werden - in dem Stil: »So ist das nun einmal mit wirklich guten Taten. Sie werden unwissentlich getan, aus der quellenden Liebe allein, aus jener unbegründeten Liebe, der agape.« Ich habe aber Zweifel, ob eine solche Auslegung von Mt. 25,31-46 richtig ist: Ich glaube vielmehr, daß diese Worte über das Letzte Gericht von Matthäus als eine Abschiedsrede Jesu gedacht sind. Unser Herr sagt nicht: »Ihr, meine Nachfolger, interessiert euch für das Letzte Gericht und seid besorgt, also gebe ich euch Instruktionen, wie ihr gerettet werden könnt.« Er sagt vielmehr: »Freunde, ich gehe fort; und jetzt will ich euch zeigen, daß die Kleinen, eure Brüder und Schwestern in der Kirche, meine Stellvertreter sind, die für mich stehen. Es könnte sein, daß ihr mir
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aus Dankbarkeit dienen wollt, aber ich sage euch: richtet den Dienst an die Gemeinde und vor allem an die, die in ihr die Geringsten sind.« Daher der Dialog: »Wann sahen wir dich hungrig und durstig und im Gefängnis und kamen zu dir oder kamen nicht? - Wahrlich, ich sage euch, wie ihr getan habt/nicht getan habt einem dieser meiner Brüder, so habt ihr mir getan.« Eine solche Auslegung paßt zu dem Prinzip der Liebe, in dem die ganze religiöse Anstrengung auf die Gemeinde gerichtet ist. Wenn ich die Liebe gegenüber der Integrität hervorhebe, dann fordere ich gleichzeitig ein weites Gewissen, damit wir alle unsere Brüder und Schwestern sehen können, ja, die ganze Menschheit als Ziel unserer liebenden Sorge im Blick haben. Dies wird uns aus unserer Selbstzufriedenheit herausführen, aus dem Stolz, der in Korinth grassierte. Das bedeutet nicht, daß wir uns mit unserem ichbezogenen, narzistischen Selbst befassen sollen, sondern daß wir uns umsehen sollen und darauf blicken, was dem Wohl der Gemeinde dient. Das Ich und sein Gewissen beanspruchen zuviel von unserer Aufmerksamkeit; »Gerichtetsein auf den anderen«, selbstverleugnende Liebe ist als Hauptelement in einem christlichen Leben hilfreicher. Einige Beispiele aus den Evangelien können dies verdeutlichen, wie z. B. die Erzählung vom höchsten Gebot (Mk. 12,28-34; Mt. 22,34-40; Lk. 10,25-28). Ein Gesetzeskundiger (bei Markus: ein Schriftgelehrter) versucht J esus, indem er ihn fragt, welches das größte der Gebote sei und was man tun müsse, um ewiges Leben zu erlangen. In den markinischen und matthäischen Berichten gibt J esus eine Antwort; doch in der lukanischen Parallele gibt J esus die Frage zurück an den Fragesteller, der dann mit dem Doppelgebot antwortet: den Herrn zu lieben mit Herzen, Seele und Vermögen und den Nächsten wie sich selbst. Dieser Bericht erinnert wiederum an die Erzählung vom reichen Jüngling (Mk. 10,17-31; Mt. 19,16-30; Lk. 18,18-30, wo der Mann ein Vorsteher ist). Er fragt Jesus,
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was er tun soll, um das ewige Leben zu erlangen, und J esus antwortet mit dem Hinweis auf die Zehn Gebote. Der junge Mann gibt zurück, daß er die Gebote von Jugend an befolgt hat. Man könnte nun erwarten, daß Jesus zeigt, daß der junge Mann eine oberflächliche Sicht von seinem Gehorsam hat und daß er die Gebote irgendwo verletzt hat. Doch dies tut J esus nicht. Er fordert vielmehr ein weiteres von dem jungen Mann, das dieser - wenn auch voller Trauer - nicht geben kann. Seine vielen Besitztümer halten ihn davon ab, J esus zu folgen. Und im lukanischen Bericht sagt Jesus, nachdem der Vorsteher geantwortet hat: »Du hast recht geantwortet, tue das, so wirst du leben « (Lk. 10,28). In beiden Erzählungen wird eindeutig das Tun, die gerechten Werke, hervorgehoben. Und doch geht es in beiden Berichten in Wirklichkeit um die Einstellung zum Nächsten, zum Armen, zum Außenseiter. Dies wird klar, wenn wir sehen, daß auf Lk. 10,28 direkt das Gleichnis vom barmherzigen Samariter folgt (Lk. 10,29-37). Hier liegt der Kern darin, daß der Samariter, der Außenseiter, in Wirklichkeit der Nachbar ist. Der Samariter ist derjenige, der nicht sorgsam darauf bedacht ist, daß er nicht mit dem in Berührung kommt, den er verachten soll; er ist nicht um seine Integrität besorgt. Der Samariter handelt aus Liebe, die keine Sonderinteressen hat und deshalb frei ist, jedem in Not ein Nachbar zu sein. Dies ist das Ziel, der Sinn des Gleichnisses; dies ist Liebe und nicht Integrität. Ich liebe die Geschichte vom Pfadfinder sehr, der wußte, daß es gut ist, alten Damen über die Straße zu helfen. Er hatte allerdings auch angefangen, den Ernst des Christentums zu verstehen, und so hatte er verstanden, daß er diese gute Tat - alten Damen über die Straße zu helfen - nur tat, um damit anzugeben. Eines Tages war da eine alte Dame, die Hilfe brauchte, um die Straße zu überqueren. Doch der Pfadfinder widerstand der schrecklichen Versuchung, ihr zu helfen, denn er wußte, er würde es nur aus Angabe tun. 87
So behielt er seine Integrität, und die alte Dame wurde überfahren. Er hatte wirklich seine Integrität bewahrt, doch er hatte die Perspektive de' Liebe verloren. Aber vielleicht ist es viel wichtiger zu helfen, als die eigene Integrität rein zu bewahren? Die berühmten Worte, die in einem Abschnitt über die Feier des Abendmahles stehen (1. Kor. 11,29): »Denn wer ißt und trinkt, ißt und trinkt sich selbst ein Gericht, wenn er den Leib nicht unterscheidet«, sollten auch im Blick auf die Liebe, die Sorge für andere gelesen werden. Dieser Text wurde in der Geschichte der Eucharistie, des Abendmahles, ungeheuer wichtig. Die heutigen Exegeten sind sich mehr oder weniger einig, daß der Satz aus dem Kontext des ganzen Abschnittes heraus verstanden· werden muß. Das Problem betrifft dann die Feier eines Abendmahles in Korinth, einer Gemeinde, die durch eine große soziologische Spannbreite gekennzeichnet war. Die Höhergestellten kamen zum Abendmahl mit auserlesenen Delikatessen - mindestens mit echt skandinavischen »Smörbröd« - während die Sklaven erst spät kommen konnten und überhaupt kein Essen mitbrachten, es sei denn, sie hätten es gestohlen. Und in dieser Situation sagt Paulus den Reichen: »Habt ihr denn nicht etwa Häuser, um zu essen und zu trinken? Oder verachtet ihr die Gemeinde Gottes und bringt Beschämung über die, welche nichts haben?« (1. Kor. 11,22). Und zu diesem sehr weltlichen Problem fährt er fort: »Denn ich habe vom Herrn her empfangen, was ich euch überliefert habe, daß der Herr Jesus in der Nacht, als er verraten wurde, das Brot genommen hat und als er das Dankgebet darüber gesprochen, hat er es gebrochen und gesagt: Das ist mein Leib für euch ... « (1. Kor. 11,23-26). Brot und Wein werden beschrieben, wie sie den Jüngern gegeben werden, und die Einsetzungsworte folgen denen, mit denen Paulus diejenigen zurückweist, die die Armen nicht beachten. Dann kommt Paulus zum Thema zurück, und der Ernst des Gerichtes steht über denen. die
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den Leib nicht unterscheiden, etwas Schreckliches. Der Christ, der durch so ein Verhalten die Gemeinschaft der Kirche negiert, ist für die Verdammung verantwortlich, und dies ist eine so ernste Angelegenheit, daß einige schwach sind, einige krank und einige gar gestorben (1. Kor. 11,30). Dies ist ein Ausbruch der Liebe, der agape. Diese Aussagen über ein unwürdiges Essen des Brotes oder Trinken des Kelches des Herrn, so daß Leib und Blut des Herrn profaniert werden (1. Kor. 11,27), über die Nicht-Unterscheidung des Leibes und folglich das Heraufführen des Gerichts (1. Kor. 11,29) haben in der Geschichte der Eucharistie eine tragische, spaltende Rolle gespielt. In Wahrheit weisen sie aber in genau die entgegengesetzte Richtung von Spaltungen. Wir könnten so umschreiben: »Wie könnt ihr Trennungen beim Abendmahl praktizieren? Erkennt ihr nicht, daß ihr den Leib Christi in Stücke schneidet, wenn ihr irgendeine Art der Spaltung aus irgendwelchen Gründen beim Abendmahl praktiziert?« Ethische Probleme in der Kirche sind immer Gruppen- oder Gemeinschaftsprobleme, weil das Christentum kein Prinzip ist, das mit äußerster Klarheit oder Bestimmtheit befolgt werden soll. Christentum ist der Versuch eines Zusammenlebens - und zwar mit der Flexibilität, Unterschiede auszuhalten, ohne sich spalten zu lassen. Möglicherweise war es Paulus' pharisäischer Hintergrund, der ihn in dieser Frage so empfindsam machte. Vielleicht hatte er einfach genug von glänzender Integrität, und vielleicht war dies ausreichend, um ihm die Vision eines neuen Lebensstils zu geben. In einem solchen Leben wird das einzige ethische Problem und die ganze existenzielle Frage des Menschen die des Zusammenlebens mit anderen unter dem. einen Geist, der durch die Liebe die mannigfachen Gaben zusammenhält - so daß sogar die größten Gaben nicht als Ärgernis, sondern als Segen empfunden werden. »Über dies alles aber ziehet die Liebe an, die ein Band der Vollkommenheit ist!« (Kot 3,14). 89
Nachdem wir nun die verschiedenen Dimensionen des paulinischen Prinzips, eher Liebe als Integrität, berührt haben, können wir vielleicht paraphrasieren, das Prinzip zusammenfassen: Liebe duldet kein Insistieren auf der eigenen Integrität auf Kosten der Einheit der Gemeinde. Liebe, so wie Paulus sie versteht, führt zur vollen Anerkennung derjenigen, die anders denken und fühlen. Im Römerbrief macht Paulus dies deutlich, wenn er sagt: »Den im Glauben Schwachen aber nehmet an, damit es nicht Zu Zweifeln kommt. .. Jeder soll in seinem eigenen Sinn völlig überzeugt sein« (Röm. 14, 1.5). Die Liebe gibt Raum für die Achtung vor der Integrität des anderen, und sie überwindet die Spaltungstendenz in meinem Eifer, meine eigene Überzeugung im Namen meiner Integrität unbedingt durchsetzen zu müssen.
-------------------- 6. Eher einzigartig als universal Der überzeugendste Beweis für unterschiedliche Meinungen in der frühen Christenheit ist das Apostelkonzil, von dem in Apg. 15 berichtet wird. Um dieses grundlegende Ereignis jedoch zu verstehen, muß man auch den paulinischen Bericht über das Ergebnis des Konzils in Gal. 2 zur Kenntnis nehmen. Wenn das Geschehen in Jerusalem auch nur ungefähr so war, wie in Apg. 15 berichtet, dann ist Paulus' Auffassung mit der Betonung der Kollekte sicher eine höchst voreingenommene Deutung jener Übereinkunft, die in der Apostelgeschichte festgehalten ist (15,20). Natürlich ist die Frage nach der Beziehung zwischen Gal. 2 und Apg. 15 in der älteren wie in der neueren Literatur heiß umstritten. Ich halte es für vernünftig anzunehmen, daß das »Ereignis« dasselbe ist, von dem beide berichten, und wir müssen uns von dem Glauben befreien, 90
daß die Apostelgeschichte eine »tatsächliche« Beschreibung enthält und daß Paulus den Bericht in eine Richtung ändert, die ihm selbst und seiner Mission besser paßt. Beide, die Apostelgeschichte wie Paulus, halten das Ereignis für äußerst wichtig. Beide stimmen darin überein, daß die Angelegenheit zur beiderseitigen Zufriedenheit des Konzils wie des Paulus gelöst wurde. Die Apostelgeschichte sieht die Regelung aus der Perspektive derer, die eine Kontinuität mit der Thora forderten; Paulus - und gerade im Galaterbrief, der einen wachsenden Druck seitens der ludaisierer widerspiegelt! - unterstreicht, daß das Beschneidungsgebot nicht zum Kriterium erhoben wurde (2,3) und daß der Schwerpunkt auf die Beweise der Einheit gelegt wurde, wie sie in der Kollekte für die lerusalemer Kirche symbolisiert sind, eine Frage, die er in seinen Briefen häufig anspricht (Röm. 15,25; 1. Kor. 16,1 2. Kor. 8-9). Dies alles soll die Einzigartigkeit des Paulus und seiner Mission zeigen, auch, wie heftig er die besondere Aufgabe und Perspektive verteidigt, die ihm gegeben wurden. Im Galaterbrief begründet er diese einzigartige Mission mit dem Hinweis auf seine Berufung zum Apostel der Heiden; eine Berufung, eine Aufgabe, ein Evangelium, das er nicht einfach aufgeben konnte und das auch von anderen anerkannt werden mußte, selbst wenn sie anderer Meinung waren als er (2,6 ff). Sie hatten ihm und seiner Mission »den Handschlag der Gemeinschaft« gegeben (2,9). Ein Beispiel aus dem 1. Korintherbrief gibt uns einen Einblick, wie Paulus es möglich machte, auf seine besondere Weise zu arbeiten und sich doch zugleich anderer Missionen und Theologien bewußt zu sein. In 1. Kor. 3-4 erinnert er die Gemeinde - und sich selbst - daran, daß bestehende Parteien nicht zu Spaltungen führen müssen (vgl. 1. Kor. 11,18), wenn man daran festhält, daß die Verschiedenheit in der Kirche nicht mit einem Streit zwischen philosophischen Schulen verglichen werden darf (vgl.
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Röm. 14,1); dies wäre eine fleischliche, nur menschliche, säkularisierte Sicht des Christentums (1. Kor. 3,1-3). Die Kirche ist vielmehr eine geistige Wirklichkeit, ein Geheimnis, sie wird von Gott erhalten, der zu seiner Zeit das dauernd Gültige aussondern wird. Es ist nicht nötig, die theologischen Konflikte vor dieser Zeit zu lösen (4,5). Auch wenn die Resultate einer falschen Theologie zunichte werden und ihre Vertreter an jenem letzten Tag an Ansehen verlieren - sie werden doch gerettet werden wie die, die eine richtige Theologie lehren (3,12-15), was Paulus von sich selbst denkt: »denn ich bin mir nichts (Schlechtes) bewußt« (4,4). Dies alles zeigt, daß sich Paulus seiner Einmaligkeit bewußt ist, doch daß er auch darüber nachdenkt, wie diese Einzigartigkeit in das Ganze der Kirche hineingehört. Auch wenn er davon überzeugt ist, daß er Recht hat, so weiß er doch, daß Gott allein darüber zu entscheiden hat, wie er am Tag des Gerichts und der Vollendung tun wird. Die traditionelle Sicht des Paulus ist stark durch die Tatsache beeinflußt, daß er - nach seinem Tod - so großen Erfolg hatte, als seine Briefe in unsere Bibel aufgenommen wurden. Fast ein Drittel des Neuen Testaments wurde ihm schließlich zugeschrieben, und vieles bleibt, auch wenn er weniger als die Hälfte davon wirklich selbst geschrieben oder diktiert hat. Dies stärkt die Ansicht, daß wir in ihm den Heidenapostel sehen. Nichts hätte ihn mehr gefreut, und doch hätte ihn diese Tatsache zutiefst überrascht, denn zu seinen Lebzeiten gab es kein Anzeichen für einen so durchdringenden Einfluß. So wie die Apostelgeschichte strukturiert ist, trägt sie zu diesem Monumentalbild des Paulus bei. Und doch wird in ihr deutlich, daß Paulus alles andere als der einzige Träger des Evangeliums zu den Heiden ist, und auch, daß die eigentlichen Akzente seiner Botschaft etwas verloren gingen, als sie in das Muster der Apostelgeschichte eingefügt wurde.
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Vielleicht formulieren wir die Frage, die sich jetzt stellt, am besten so: »Wenn es Paulus nicht gegeben hätte, hätte dann das Christentum seinen Weg in der heidnischen Welt gemacht?« Ich denke, daß jeder, der christlich erzogen ist, zu der Annahme neigt, daß das Christentum ohne Paulus als unbedeutende jüdische Sekte verkümmert wäre - oder so ähnlich. Paulus selbst tendiert stark dazu, so zu denken, und viele unserer Lehrbücher unterstützen ihn enthusiastisch. Doch wie sehen die Fakten aus? Die Antwort ist:' Das Christentum war sehr wohl auf dem Wege, bevor: Paulus kam, und dann waren seine Aktivitäten eher ein: Hindernis als eine Hilfe für ein pragmatisch erfolgreiches i Missionsprogramm. Sehen wir uns die Belege an. Nach der Apostelgeschichte hielt Stephanus eine Rede, deren Theologie genau mit dem übereinstimmte, was er tat: Er ging geradewegs zu den Heiden und begann eine erfolgreiche Mission (Apg. 6-7). Der Heide Cornelius war längst bekehrt, ohne jede Beziehung zur paulinischen Theologie. Die Gemeinde in Antiochien war voller Heiden, und sie gedieh auch schon, bevor Paulus gerufen wurde. In der Apostelgeschichte und in den Paulusbriefen werden noch andere - z. B. Apollos - erwähnt, die Heiden waren oder erfolgreich unter Heiden arbeiteten. Außerdem kam Paulus nur in einige wenige Zentren der frühchristlichen Bewegung. Es war ja sein Grundsatz, nur dorthin zu gehen, wo noch niemand gewesen war (Röm. 15,20). Rom war eine blühende heidenchristliehe Gemeinde ohne sein Zutun. Er ging nicht an die Orte, die bereits evangelisiert waren, wie z. B. Alexandrien, von dem wir nur wissen, daß es eine blühende Gemeinde hatte, oder die östlichen und Aramäisch sprechenden Teile der Kirche. Und aus seinen eigenen Briefen wissen wir, daß Korinth begeistert auf jene Missionare reagierte, die der paulinischen Lehre keinerlei Beachtung schenkten. Das »Judaisieren«, das Paulus brandmarkt - die Beschneidung und Einhaltung der Speisegesetze von Hei-
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den - war keine Barriere für das Christentum, sondern zog die Heiden gerade an, die alles Orientalische liebten. Die hellenistische Welt übernahm mit Begeisterung alles Wilde und Wunderbare in liturgischen, kultischen oder sakramentalen Riten, die etwa aus Ägypten oder aus Syrien kamen. Auch rituelle Gebote wie die des Alten Testaments waren kein Hindernis, sondern ein Anziehungspunkt - wie jeder Leser des Galaterbriefes sehen kann. In den Paulusbriefen gibt es genügend Hinweise darauf, daß die Gemeinden so viel wie möglich aus Leviticus übernehmen wollten und seine Gebote nicht als Last empfanden. Alle Schriften unseres Neuen Testaments richten sich an Gemeinden, in denen es Heiden gab. Ich würde sogar behaupten, daß keine einzige Schrift des Neuen Testaments sich an eine Gemeinde wendet, die nicht überwiegend heidnisch war - einschließlich des Matthäusevangeliums und des Hebräerbriefes. Praktisch stammt das ganze Neue Testament aus Gemeinden, die ausschließlich oder doch überwiegend heidenchristlieh waren - und die meisten hatten sich aus den jüdischen Wurzeln der J esusbewegung entwickelt, ohne mit Paulus' Mission und seinen Lehren in Berührung gekommen zu sein. Die Botschaft des Evangeliums wurde gerne aufgenommen; warum also mußte Paulus kommen und alles verkomplizieren? Sicherlich war die Stellung des Paulus einmalig. Und doch folgten ihm nur wenige; im großen und ganzen wurde sein Denken nicht als hilfreich angesehen. Es gibt den Ausspruch: Paulus wurde nur von einem Nachfolger wirklich verstanden - und der mißverstand ihn: Marcion. Dies stimmt so nicht, es ist übertrieben. Aber man kann sagen, daß dieser Nachfolger des Paulus, der das Thema »Gesetz und Evangelium« im paulinischen Denken aufnahm und es zum leitenden Prinzip aller paulinischen (und christlichen) Theologie machte, so zu einem Punkt gelangte, an dem die Einzigartigkeit des Paulus imperialistisch und zerstörerisch wird.
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Andere Nachfolger des Paulus glätteten seine Besonderheiten und brachten seine Erkenntnisse in Übereinstimmung mit anderen sich ausbildenden Strängen christlichen Glaubens und kirchlicher Erfahrungen. Innerhalb des Neuen Testaments können wir diese »Katholisierung« des Paulus sowohl in der Apostelgeschichte als auch in den Pastoral briefen erkennen, versteckter geschieht sie im Epheser- und Kolosserbrief und vielleicht in dem Prozeß selbst, der die Sammlung der Paulusbriefe formte, wobei der Epheserbrief wohl als eine Art Einleitung diente. Hier ist er also, dieser Paulus, dessen Gedanken über Juden und Heiden, Gesetz und Verheißung, Rechtfertigung und Zorn für die erfolgreichen Verwalter der frühen Kirche keinen großen Wert hatten. Er bedeutete vielmehr eine Komplikation, wie der 2. Petrusbrief so zart andeutet: unser Bruder Paulus, der ein wenig schwer zu verstehen ist ... (2. Petr. 3,15 f). Er wurde mit allen Ehren beiseite geschoben; er war der Intellektuelle unter den Aposteln; einzigartig und nicht universal. Aber er selbst dachte - wenn auch nicht ohne Arroganz - daß er um des Herrn und der Kirche willen gerade solche Themen behandeln mußte wie die Frage, was mit dem Gesetz, dieser trennenden Mauer, geschehen war, seit der Messias gekommen war. Die Beziehung des frühen Christentums zum Gesetz hätte vielleicht vermieden werden können, übersehen oder auch in enthusiastischer Spiritualität überwunden werden können, doch Paulus mußte sich gerade mit dieser Mauer immer wieder beschäftigen und darüber nachdenken. Armer Paulus - er war ein Theologe, ein Intellektueller, vielleicht der einzige in der Kirche der ersten Generation. Auf jeden Fall war er der einzige unter den Verfassern des Neuen Testaments, der ein theologisches Examen hatte. Vielleicht war auch Matthäus Akademiker, doch Paulus war viel stärker ein Purist in seinem intellektuellen Drang. So steht er ziemlich alleine da. Wir haben gesehen, wie er auch die Grenzen dieses Intellektualismus erkannte, wenn 95
er Liebe über Integrität stellte. Er wußte das - aber in seiner Person blieb er doch der Intellektuelle. Wir haben gezeigt, wie diese theologische Pionierarbeit des Paulus für Augustin, den Westen und die Reformation ganz neu bedeutsam wurde: ein mächtiges Modell, eine großartige Analyse über das Wesen unserer Hoffnung und ihrer Erfüllung wurde aus den Schriften des Paulus erhoben und auf neue Situationen angewendet. Ich habe über diese Transformation und Re-Interpretation sehr kritisch gesprochen. Letztlich möchte ich es aber nicht dabei belassen, denn dieses Interpretieren und Neu-Interpretieren geschieht ja, muß und wird geschehen, solange die Kirche lebt, mit ihrer Bibel lebt. Wenn meine Überzeugung richtig ist, daß ein Text in seiner ursprünglichen Situation und Sprache verstanden werden muß, daß man also biblisch denken soll, dann muß eine immer neue Übersetzungsarbeit geleistet werden. Unsere Untersuchung hat uns zu der Einsicht geführt, daß wir im Verlauf einer solchen Arbeit das Original interpretieren müssen und nicht spätere Interpretationen neu auslegen sollen. Im Christentum ist es aber so gelaufen, daß wir in einer Art Kettenreaktion leben, anstatt freien Zugang zum Original zu haben - Augustin berührt Paulus, Pelagius diskutiert und verändert dies, die Theologen des Mittelalters drängen in die eine oder andere Richtung, und so weiter, immer weiter weg vom Original. Wir müssen heute erneut das Original betrachten und versuchen, unsere eigene Übersetzung zu schaffen - natürlich lernen wir dabei von früheren Auffassungen und Bekenntnissen, aber wir müssen den Text übersetzen, nicht die Vbersetzung. Das Original ist ja vorhanden, und ich habe versucht, es zu zeigen. Das Original ist da, und die Rückkehr zu ihm bedeutet, ein wahrer Sohn oder eine wahre Tochter der Reformation zu sein. Dieses Original ist »einzigartig«, und einer solchen Einzigartigkeit Raum zu geben, verlangt eine Sicht der Schrift, die den starken Kräften der Vereinheitlichung widerstehen 96
kann. Diese Kräfte sind deshalb so stark, weil sie eine " legitime Wurzel in dem Wunsch haben, in der christlichen : Botschaft und Lehre zu einer Einheit zu gelangen, aber diese Einheit kann über unzulässige Abkürzungen oder um einen zu hohen Preis erreicht werden. Wir müssen uns daran erinnern, daß die Kirche genau dieser Versuchung widerstand, als sie das Bemühen um ein einheitliches, harmonisiertes Evangelium, das Diatessaron (von Tatian um 170 verfaßt) glatt abwies und daran festhielt, daß es vier verschiedene Evangelien geben sollte (semitisch ausgedrückt: evangelion da-mephareshe, das ge- ; teilte Evangelium). Denn die Fülle der Offenbarung' konnte nur gewahrt werden, wenn die apologetischen Har- ' monisierungsbestrebungen nicht die Besonderheiten der verschiedenen Botschaften verschlingen durften. Diese Analogie ist hilfreich, sie ermutigt uns, Paulus in seiner vollen Einzigartigkeit zurückzugewinnen. Es wäre lockend, von hier aus jetzt aufzuzeigen, wie Paulus' Erkenntnisse und Einsichten ihn dazu führen, Gefahren in der Frömmigkeit und im Denken anderer aufzuspüren. Dies trifft vor allem auf seine Beziehung zu jener Theologie und Frömmigkeit zu, die hinter dem J ohannesevangelium steht. Es ist leicht erkennbar, daß z. B. Paulus' Auferstehungslehre in 1. Kor. 15 sich nicht gegen die wendet, die den Tatbestand der Auferweckung bestreiten, sondern daß sie die kritisiert, die behaupten, daß die Auferstehung »bereits geschehen« sei (vgl. 2. Tim. 2,18 und den »Dialog mit Trypho« von Justinus Martyr, Kap. 80). Paulus betont, daß noch viele Dinge geschehen müssen vor der großen, herrlichen allgemeinen Auferstehung. Hier folgt sein Denken seiner überzeugenden Darlegung, daß auch die Christen noch gemeinsam mit der Schöpfung seufzen, daß sie sich nach der Befreiung sehnen. Für Paulus ist Glaube immer noch Hoffnung, nicht schon Besitz (Röm. 8,24-25). Diese Weise des Denkens und der Frömmigkeit ist integraler Teil des paulinischen Verständnisses von der 97
Schwäche des Kreuzes. Sie macht ihn gegen jeden Triumphalismus mißtrauisch, auch gegen alle Übertreibungen des Sieges. Für ihn nehmen selbst Hoffnung und Glaube gegenüber der Liebe den zweiten Rang ein, jener Liebe, durch die Christen in Christus leben - mit stückweiser , dunkler Vision, Prophetie und Erkenntnis (1. Kor. 13,11.13). Vielleicht war es Paulus' angeborene Arroganz, seine feste Überzeugung, die ihn die Grenzen und Schwächen auch seiner eigenen Gedanken erkennen ließen. So wurde er der ständige Kritiker jedes Triumphalismus und aller Vergöttlichungen. Vielleicht war es aber auch etwas von seinem jüdischen Erbe, das ihn erkennen ließ, daß es nicht gut für den Menschen ist, wenn er seine Geschöpflichkeit vergißt oder behauptet, das messianische Reich sei bereits gekommen, wenn es offensichtlich noch nicht da ist - außer in Hoffnung und Glauben. Jedenfalls ist Paulus der beständige Kritiker aller Übertreibungen des Glaubens. Deshalb sind ihm Gottes Zeitplan und das daraus folgende »noch nicht« so wichtig. Die johanneische Theologie zeigt wenig oder nichts von solchem Zögern. Hier wird Marthas Erwartung, daß ihr Bruder am letzten Tage auferstehen wird, von Jesus so beantwortet: »Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird in Ewigkeit nicht sterben« (Joh. 11,25 f). Diese theologische Aussage wird in der Auferweckung des Lazarus bekräftigt und symbolisiert (vgl. J oh. 5,14: »Wer mein Wort hört . . . ist aus dem Tod ins Leben hinübergegangen«). Folglich sieht die Passionsgeschichte im J ohannesevangelium die Kreuzigung Jesu in Begriffen eines Sieges: er wird nicht gekreuzigt, sondern erhöht. Er wird verherrlicht; er bittet um Wasser, nicht weil er durstig ist, sondern weil die Schrift erfüllt werden muß, und sein letztes Wort ist nicht wie bei Markus und Matthäus ein Schrei der Verzweiflung: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Mt.
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27,46; Mk. 15,34). Bei Johannes bricht er vielmehr in den Siegesruf aus: »Es ist vollbracht!« (Joh. 19,30). Die Sprache des Johannes, die zurecht als »gnosis« mit kleinem »g« bezeichnet worden ist, ist gen au die Sprache, die Paulus für gefährlich hält. Kurz, wir begegnen hier der Fülle der neutestamentlichen Verschiedenheiten. Natürlich kann man zeigen, daß im Johannesevangelium selbst Sicherungen vor den unerwünschten Folgen einer solchen Sprache eingebaut sind; es gibt gute Gründe für die Annahme, daß spätere redaktionelle Arbeit weitere Schutzvorrichtungen einfügte - eine Parallele dazu, wie Paulus' Besonderheiten z. B. durch die Pastoralbriefe gemildert wurden. Doch hier geht es vor allem darum, daß wir erkennen und uns daran freuen, wie reich diese Vielfalt ist. Wie kann nun die Kirche, der Christ, der Prediger, der einzelne Bibelleser mit dieser Fülle an Verschiedenheiten leben? Als erstes müssen wir unsere ängstliche Abwehr überwinden. Wir brauchen Gott oder die Bibel nicht zu verteidigen. Wenn wir uns über die Entdeckung von Themen, Lehren und Vorstellungen freuen, die scheinbar die Bibel durchziehen, dann sollten wir nicht meinen, daß sie die Bibel zusammenhalten. Die Einheit der Schrift wurzelt in der Erfahrung der Kirche, die herausfand, daß die verschiedenen Sprach- und Denkweisen authentische Zeugnisse des einen Herrn sind. Zweitens müssen wir wirklich anerkennen, daß man auf verschiedene Weise, in unterschiedlichen Sprachen, Formen und Stimmungen reden, denken, predigen und beten kann - seien sie matthäisch oder lukanisch, paulinisch oder johanneisch - und daß alle diese Ausdrucksweisen ihre je eigene Glorie und ihre je eigene Gefahr haben. Drittens müssen wir die einfache Wahrheit immer besser verstehen, daß es nicht eine allgemeine »biblische« oder auch nur »neutestamentliche« Redeweise gibt. Wir werden vielmehr erkennen, daß uns die Klarheit, Authentizität und Macht der Botschaft nur in der Besonderheit jeder dieser 99
verschiedenen Theologien zugänglich ist. Die Absicht des Paulus finden wir oft gerade dort, wo er sich von anderen unterscheidet, wo er fühlt, daß die Vorstellungen anderer zu Verzerrungen des Glaubens führen. Viertens müssen wir uns fragen - ernsthaft fragen, nicht nur rhetorisch - ob die Themen des Paulus überhaupt etwas mit unserer Situation, mit unseren Fragen zu tun haben. Die Antwort wird manchmal negativ sein, denn es ist nur vernünftig zu erwarten, daß unsere Fragen andere . sein könnten. Schließlich spricht Paulus zu verschiedenen Kirchen verschieden. Wir können nicht einfach vorausset zen, daß er uns so antworten würde, wie er den Korinthern und den Galatern und den Thessalonichern antwortet. Es ist sogar möglich, daß wir einmal in eine Situation kommen, in der Paulus' Warnungen vor Triumphalismus - so wichtig sie sind - genau in eine defätistische, morbide Stimmung der Selbstquälerei treffen und daß wir dann gerade die machtvollen, überschwenglichen Fugen der johanneischen Theologie brauchen. Die Einzigartigkeit in der katholischen Gesamtheit der Schrift erfordert also eine sorgfältige Analyse unserer Situation, ob sie der im biblischen Text angesprochenen entspricht oder ähnlich ist. Martin Luther hatte ein Gespür für diese Frage. Wenn andere ihm die Schrift zitierten, dann konnte es vorkommen, daß er sagte: Ja, es ist das Wort Gottes, aber ich denke nicht, daß es Gottes Wort für mich ist. J esus konnte sagen: »Wer nicht gegen uns ist, ist für uns« und »wer nicht für mich ist, ist gegen mich«. Aber diese beiden Sätze können nicht zu derselben Zeit denselben Menschen gesagt worden sein. Sie sind verschiedene Antworten auf unterschiedliche Fragen. Diese Kapitel erwuchsen einer stets wachsenden Faszination und Bewunderung für den Apostel Paulus. Seine Perspektive und seine Erkenntnisse, sein Zugang und seine Sensibilität sind mir sehr lieb geworden. Je mehr ich seine 100
Einzigartigkeit sehe, um so mehr sehe ich auch seine Grenzen. Wenn ich Paulus' Grenzen erkenne - seine Arroganz oder seine Schwierigkeiten, die Folgerungen aus seinen wichtigsten Erkenntnissen zu ziehen( etwa in der Sklavenoder der Frauenfrage) - dann wird seine Größe dadurch nicht verkleinert, sondern nur um so wirklicher. Er bleibt der große Theologe mit seinen ganz besonderen Fehlern. Ich freue mich, daß ich seine Briefe in einem Neuen Testament finde, in dem er in seiner Einzigartigkeit nur einer unter mehreren ist, die das Evangelium und seine Folgen verkündigen wollten. Einige der anderen, die für das Neue Testament schrieben, waren dem Paulus vielleicht intellektuell unterlegen, doch dies wurde durch Geist und gesunden Menschenverstand reichlich aufgewogen - sie tendierten weniger zu elitärem Denken. Wie Origenes dem Snob Celsus zurecht sagte, als dieser das Christentum angriff, weil es den akademischen Ansprüchen nicht genügte: »Wir kochen für die gewöhnlichen Menschen.« Die echten Paulusbriefe sind für die christliche Gemeinde in ihrer Besonderheit unerläßlich, sie zeigen seinen Anspruch, unser Meister zu sein - ein Jude, der in stellver"': tretendem Denken uns Heiden die Rechtfertigung gibt, uns als Gottes Kinder in Jesus Christus zu sehen. Auf eigentümliche, implizite Weise stellen seine Schriften unsere Voreingenommenheit mit unserem Ich und seinen Gefühlen in Frage, denn er schreibt von Rechtfertigung statt von Vergebung. Und seine tiefe Einsicht in die Rolle der Schwäche im Leben religiöser Menschen bleibt für alle Christen unentbehrlich. Daher mag es richtig sein, diese Paulusstudie mit der Beobachtung zu schließen, daß das Denken und die Arbeit des Paulus verloren gegangen wären, wenn nicht seine einzigartige Mission Teil jener größeren und vielfältigeren J esusbewegung gewesen wäre, in die er auf so besondere Weise hineinkam. Er kam durch Gottes Ruf an einen Juden, das Recht von uns Heiden in einem einzigartigen 101
Glaubensargument zu verteidigen. Er wurde durch seine Schwäche schöpferisch angeregt, und als er die Grenzen seiner eigenen Fähigkeit erkannte, andere zu überzeugen, begann er, die Lektion der Liebe zu lernen. Wir mögen zurecht vermuten, daß Paulus bereit war, einer unter anderen zu sein, einzigartig und nicht, fähig, ohne die Hilfe anderer universal zu sein. So steht er inmitten der anderen, die wir in den neutestamentlichen Büchern finden. Und dort sehen wir ihn in seiner unersetzli.: chen Einzigartigkeit.
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GERICHT UND GNADE
Das paulinische Verständnis vom christlichen Leben in dieser Welt, das von Schwäche statt von Sieg, von Überleben statt von Triumph gekennzeichnet ist, hat für uns alle Konsequenzen (oder sollte sie haben). Die Umwälzung der späten sechziger Jahre und das nüchterne Denken der frühen siebziger hat vielen von uns diese Einsicht wieder näher gebracht. Für mich hatte dieses Denken, Fühlen und Handeln einen Höhepunkt in einer Versammlung von Bürgerrechts- und Friedenskräften in Kansas City, Missouri, am Martin-Luther-King-Tag, dem 15. Januar 1973. Dort war ich gebeten worden, über »Gericht und Gnade« zu sprechen. Niemals schien mir die paulinische Kreuzestheologie zutreffender. Der Text jener Rede ist bisher nicht veröffentlicht, und ich freue mich, ihn hiermit einem größeren Leserkreis zugänglich machen zu können.
Man hat mich gebeten, über das Thema »Gericht und Gnade« zu sprechen, und zwar bin ich als Theologe darum gebeten worden. Trotzdem sollten die folgenden Gedanken nicht als ein Gegensatz zum praktischen Handeln verstanden werden; sie haben sich aus der Notwendigkeit entwickelt, daß wir alle in den vergangenen Jahren viele traditionelle Vorstellungen von Grund auf neu überdenken mußten - lieb gewordene Vorstellungen, die uns stärkten, die uns verwirrten, die uns ärgerten. Theologen greifen oft zu dem Mittel, Gegensätze oder Korrelationen wie Gericht und Gnade einander gegenüberzustellen. Wir sind mit einem reichhaltigen theologischen Vokabular ausgerüstet, und wir halten uns für sehr klug, wenn wir solche Wortpaare bilden, die sich gegenseitig aufwiegen oder neutralisieren. Akademiker haben es sich in jüngster Zeit angewöhnt, von »Dialektik« zu reden - eine Methode, die gefährlich 103
werden kann, weil sie eine jener subtilen Möglichkeiten sein könnte, wo Worte sich aufheben, auch wenn die Theologen behaupten, daß sie eine kreative Spannung zwischen den Worten suchen. Die Verbindung von Gericht und Gnade ist eines dieser Paare, bei denen Theologen versucht sind, die Spannung auszugleichen, ein Wort gegen das andere auszuspielen - sei es dialektisch oder mit anderen Methoden. Gericht und Gnade ist ein klassisches, vor-christliches Wortpaar, nicht nur in der jüdischen Tradition des Alten Testaments gut belegt, sondern auch im Denken der Rabbinen und Weisen geläufig, die z. B. von den »zwei Maßen« sprachen, von Gericht und Gnade. Die Rabbinen sahen in diesen zwei Maßen die beiden Hände Gottes: die Hand der Gnade als die Rechte, die Hand des Gerichts als die Linke. Die rabbinische Exegese versuchte sogar, von diesen zwei Eigenschaften des göttlichen Wesens her eine Erklärung für den Wechsel der göttlichen Namen in der Bibel abzuleiten. Jahwe (Herr) und Elohim (Gott). Von daher behauptete man, daß der Gebrauch von Jahwe auf die Eigenschaften von Gnade und Mitleid verweist, während Elohim die göttliche Eigenschaft des ernsten, strengen Gerichts ausdrückt. Philo machte eine ähnliche Unterscheidung, allerdings umgekehrt. Da er die griechische Übersetzung des Alten Testaments benutzte, in der J ahwe mit kyrios wiedergegeben wird, bezeichnete dieser Begriff das souveräne Richten Gottes, während Elohim (theos) mit der gnädigen, barmherzigen Eigenschaft Gottes verbunden wurde. Es war dabei nicht ausschlaggebend, daß diese Unterscheidung nicht immer konsistent durchzuführen war, wichtiger war die Grundvorstellung von den zwei Maßen des göttlichen Wesens an sich. In der christlichen Tradition wurden Gericht und Gnade in unsere spiritualisierte Weisheit eingebettet, als wir unser »Seelenspiel« spielten und faktisch das ganze großartige und wilde Geschichtsdrama, von dem wir in der Bibel 104
lesen, in einen pastoralen Rat und Trost verwandelten, in dem Gottes Gnade die Angst vor dem Gericht überwindet. Diese Methode, mit der solche Konzeptionen unter den Tisch fallen und übermächtige, majestätische Worte auf die Probleme unserer kleinen Seele angwendet werden, gehört zu den Elementen, die Bonhoeffer zurecht als »billige Gnade« bezeichnete und in denen Marx und andere richtig das »Opium des Volkes« erkannten. Dies ist jedoch die falsche Weise, die Beziehung zwischen Gericht und Gnade zu lesen, zu hören und zu verstehen - jedenfalls im Blick auf die Bibel und auf die jüdische wie auf die christliche Erfahrung. Lassen Sie mich Jes. 40 lesen, das so beginnt: Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott. Redet J erusalem zu Herzen und rufet ihr zu, daß ihr Frondienst vollendet, daß ihre Schuld vergeben ist, daß sie von der Hand des Herrn Zwiefältiges empfangen um all ihrer Sünde willen. Horch, eine Stimme: »In der Wüste bahnet den Weg des Herrn, macht in der Steppe eine gerade Straße unserem Gott! Jedes Tal soll sich heben, und jeder Berg und Hügel soll sich senken; und das Höckerige soll zur Ebene werden und die Höhen zum Talgrund. Und die Herrlichkeit des Herrn wird sich offenbaren und alles Fleisch wird sie sehen, denn der Mund des Herrn hat es geredet.« Horch, es spricht: »Rufe!« Und ich sprach: »Was soll ich rufen?« Alles Fleisch ist Gras und all seine Pracht wie die Blume des Feldes. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, wenn der Hauch des Herrn darüber weht; ja, Gras ist das Volk. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, fes. 40,1-8 aber das Wort unsres Gottes bleibt in Ewigkeit.
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Hier ist der Schlüssel zum Verständnis von Gericht und Gnade. Für die Bedrückten, für die Unterdrückten und die Verdrängten gibt es keine tröstlichere Botschaft als zu wissen: »alles Fleisch ist Gras« und alle Macht, die sie beherrscht, vergeht. Der Inhalt dieser Trostbotschaft ist der Untergangang der »Habenden«, der Fall der Mächtigen; hier ist wenig oder gar kein Trost für die Bequemen. Trost: das ist die Ankündigung einer Revolution, eines Machtwechsels, einer Gleichmachung. Die nach Gerechtig~ keit hungern und dürsten, werden endlich gesättigt werden - das ist Trost. Es gibt keine Zufriedenstellung für die Zufriedenen. Wo ist dann aber der Ort für die Zufriedenen in einer solchen Vorstellung? Wo sind wir, die meisten von uns, in diesem Plan? Besagt er nicht, daß das Reich dann näher kommt, daß Gottes Wille sich dann offenbart, wenn wir verlieren, wenn uns etwas genommen wird? Wenn der Trost zu denen kommt, die ihn brauchen, dann wird Gottes Wille manifest; was könnte (sollte) uns besser gefallen? Wenige sind bereit zum Geben; aber die wahren Gläubigen sind die, die sich freuen, wenn Gott ihnen das nimmt, was sie für ihren Besitz halten, und es denen gibt, denen er es geben will. Überlegt, was dies bedeutet. Gericht und Gnade werden nicht in einem Schema gegeneinander aufgewogen, in dem das Letzte Gericht durch Gottes Gnade (oder durch Christus, oder das Blut, oder das Kreuz, oder die Fürsprache der Heiligen) gemildert und ausgeglichen wird. Nein! Gnade, Erlösung und Befreiung sind Teil des Gerichtes Gottes. Gottes Gericht bringt Gnade für die, die Gnade brauchen. Gericht ist Gerechtigkeit für die, die nach ihr hungern und dürsten, denen sie aber vorenthalten wird. Gottes Gericht geschieht in seinem Handeln, wenn er die Dinge zurecht bringt, wenn er Gerechtigkeit aufrichtet. Es ist wichtig, die biblische Bedeutung von Gericht (krisis) wieder zu beleben: Gericht ist Aufrichtung der Gerechtigkeit, die notwendigerweise für diejenigen Gnade bedeutet, 106
denen Unrecht getan wurde, und Verlust für diejenigen, die zuviel haben. Die deutsche Sprache ist »doketisch«, wie wir gebildeten Theologen sagen. D. h. sie hat die ungewöhnliche Fähigkeit, Worte aufzuspalten in das, was geistig ist, und in das, was nicht so geistig ist. Deshalb unterscheidet sie zwischen »Gerechtigkeit« und »Rechtfertigung«. In der Welt spricht man von Gerechtigkeit, in der Kirche von Rechtfertigung. Im Hebräischen, Griechischen und Lateinischen ist eine solche Ausflucht jedoch nicht möglich. Eine solche Unterscheidung gehört zu den Besonderheiten von Sprachen wie Englisch oder Deutsch (im Englischen können wir sogar zwischen dem guten »Jude« und dem bösen »Judas« unterscheiden, obwohl jeder, der die Bibel in den Ursprachen liest, weiß, daß es derselbe Name ist. Im Deutschen unterscheiden wir zwischen »Jakob« im Alten Testament und »Jakobus« im Neuen, so daß dieser Name nun Juden und Christen trennen kann, aber in den Ursprachen - und heute in manchen Übersetzungen - sind diese Namen identisch). Dieses Phänomen verdient unsere Aufmerksamkeit. Auf diese Weise nimmt die Sprache einen großen Einfluß auf unsere Denk-und Sprachgewohnheiten. Wie mit den Namen, so verhält es sich mit Rechtfertigung und Gerechtigkeit: Sie sind ein und dieselbe iustitia. Wenn Gott die Dinge zurecht bringt, dann werden die Ersten oft zu den Letzten, die Lezten zu den Ersten. Dies ist eine großartige Gnade - für die Letzten - und von ihr spricht die Bibel. Jesus nahm sich kaum Zeit, die Pharisäer zu überzeugen, daß sie im Innersten Sünder waren. Er akzeptierte einfach die Zöllner und die offenkundigen Sünder, und so erfolgte ein Mannschaftswechsel in der Führung des Reiches. Es geht mir darum, daß wir Gericht und Gnade nicht für zwei verschiedene, entgegengesetzte Aspekte halten, sondern für das eine, über das der Glaubende in seinem Gebet, in seiner Hoffnung, seiner Reflexion und in seinem Glauben nachdenkt. Dann erhebt sich 107
die Frage: Für wen bedeutet das Gericht Gnade und für wen bedeutet es Verurteilung? In vielen christlichen Traditionen steht der letzte Sonntag des Kirchenjahres unter dem Thema des Letzten Gerichts. In meiner Heimatkirche heißt er sogar »Gerichtssonntag«. In den USA ist er häufig der Sonntag nach Thanksgiving (Erntedankfest, das am letzten Donnerstag im November gefeiert wird). Der letzte Sonntag nach Trinitatis, der Sonntag vor dem 1. Advent, der Sonntag von Christus, dem König, ist der Tag, an dem man über die letzten Dinge unter dem Aspekt des Gerichts nachdenkt. In Zeiten der Not war dies ein Tag der Hoffnung für die kleine Herde, für die Bedrückten und Unterdrückten. Für sie gab es keine andere Hoffnung als die, die in jenem frühchristlichen Gebet ausgedrückt ist, das uns die Didaehe, eine Schrift aus dem zweiten Jahrhundert, überliefert: »Es komme die Gnade und es vergehe diese Welt ... Maranatha (komm, Herr!). Amen.« Ähnliches klingt in der frühesten christlichen Hoffnung und Frömmigkeit an, wie wir sie aus Lk. 21,9-28 kennen - es klingt fast wie Jubel über Anarchie. Nach der Beschreibung der schrecklichen Dinge, die vor dem endgültigen Kommen des Reiches erwartet werden - Kriege, Kriegsgeschrei, Hunger, Pest, gegenseitiger Zerstörungskampf, Verfolgung und überhaupt jedes mögliche Elend - faßt V. 28 zusammen: »Wenn aber dies zu geschehen anfängt, dann richtet euch auf und hebt eure Häupter empor, denn eure Erlösung naht.« Man erwartet den Gerichtstag ungeduldig und voller Hoffnung, es ist der Tag der Befreiung, an dem Gott endlich seine Getreuen rechtfertigt und Gerechtigkeit herrschen läßt. In den großen Nationalkirchen jedoch, die sich immer enger mit den Staaten verbunden hatten und sich immer mehr mit den Mächten des Establishments identifizierten, war es nur natürlich, jenen Tag des Gerichts im Sinne des Amos und anderer Gerichtspropheten zu sehen: Der Tag des Herrn ist Dun-
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1 kelheit, nicht Licht. Deshalb hielten weite Kreise der Christenheit es für notwendig, Gnade zu suchen, um die Furcht vor dem Gericht aufzuwiegen. Gericht bedeutet den Zeitpunkt, an dem Gott den letzten Urteilsspruch sprechen wird. Die Frage lautet also nicht, wie man Gnade und Gericht ausbalancieren kann, sondern: Für wen bedeutet das Gericht Gnade und für wen bringt es die Verurteilung? Für Gottes Volk ist das Gericht Gottes die Erlösung. Aber wer ist das Volk Gottes? Ist es nicht durchweg so, daß in der Bibel die Rede vom »Volk Gottes« nur dann stimmt, daß sie nur dann ohne die vernichtende Kritik der Propheten zulässig ist, wenn sie für die Geringen, für die Bedrückten und für die Unterdrückten steht? Ist es nicht so, daß jede Rede vom erwählten Volk falsch wird, wenn sie außerhalb der Situation der Schwachen angewendet wird? In einem anderen Zusammenhang war genau dies die Lehre des Paulus für die triumphalistischen, selbstbewußten Christen seiner Zeit, für die Super-Apostel, die ihm zu selbstsicher waren. Ihnen sagte Paulus, daß für ihn die Gnade Gottes genug sei: »... denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark« (2. Kor. 12,9-10). Diese Umwälzung jeder Vorstellung von Stärke ist vielleicht die einfachste und weitestgehende Botschaft des Lebens und Sterbens Jesu. In der Sprache eines Volkes geschehen viele interessante Veränderungen (und ich bitte um Verzeihung, daß ich so auf Sprache fixiert bin, doch dies ist meine Aufgabe als Exeget). Ich meine die Sprache einer Kultur, einer Zeit, eines Volkes. Sie mögen wie ich bemerkt haben, daß eine der gegenwärtigen Veränderungen darin besteht, daß diejenigen, die sensibel auf die heutige Situation reagieren, weniger von Freiheit als von Befreiung reden. Was ist der Unterschied? Es geht mir in diesem Vortrag genau darum. Freiheit ist etwas, von dem Menschen denken, daß sie es haben. Freiheit kann sogar eine Größe sein, in deren
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Namen man auszieht, um andere Völker zu unterwerfen - das soll vorgekommen sein. Freiheit ist etwas ganz anderes als Befreiung. Befreiung ist ein Begriff, der nur dann sinnvoll ist, wenn man keine Freiheit hat oder wenn man sie gerade erst errungen hat. Freiheit ist wie das Manna in der Wüste: Sie hält sich nicht lange. Sie verdirbt schnell. Man kann sie nicht auf Eis legen und immer noch Freiheit nennen, denn Freiheit muß immer wieder von neuem gewonnen werden. Und diese Einsicht drückt man besser init dem Wort Befreiung aus. Es ist eindrucksvoll, wie Paulus sagt, daß Christus uns zur Freiheit befreit hat - deshalb seht zu, daß ihr die Befreiung weitertragt, »... haltet stand und laßt euch nicht wieder unter das Joch einer Knechtschaft bringen!« (Ga!. 5,1). Dies bezieht sich nicht nur auf die alte Streitfrage um das Statische und das Dynamische. Das Gericht ist der Zeitpunkt, an dem Gott befreit - aber er kann nur die befreien, die Befreiung brauchen. Gnade und Vergebung sind nicht nur Motive der Milde, keine Gegenrnächte zum Schutz vor den Schlägen in Gottes Gericht, kein Asbest gegen die Hitze des Gerichts. Wenn Gott das Urteil spricht, hier oder dort, dann ist es Gnade für die, denen Unrecht getan wurde, und es ist Verurteilung für die, die Unrecht taten oder es duldeten oder vom Unrecht anderer profitierten. Gericht ist also ein doppelter Begriff, es bedeutet Gnade und Rechtfertigung, Verurteilung und Verdammung in einem. Gericht enthält jedoch etwas mehr Gnade, und die jüdischen Weisen wußten darum, wenn sie sagten, daß Gottes Maß an Gnade größer sei als das seiner Verurteilung. Die große Gnade ist uns insofern gegeben, als uns Zeit und Gelegenheit zur Buße igegeben ist, zur Umkehr, zur metanoia, zur Hinwendung zum Guten und Abkehr vom Bösen. Vielleicht liegt hier die Gnade des Evangeliums: Es ist noch ein wenig Zeit zur Umkehr übrig. Dies scheint nicht
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gerade viel an Gnade zu sein, doch für diejenigen, die die Situation verstehen, ist es mehr als genug. In den Gebeten zum 10m Kippur (Versöhnungstag) und in den Worten Jesu in der Bergpredigt setzt die Umkehr ein veränderndes, gebessertes Handeln voraus. »Wenn du deine Opfergabe zum Altar bringst und erinnerst dich dort, daß dein Bruder etwas gegen dich hat, so laß deine Gabe vor dem Altar und gehe zuerst hin und versöhne dich mit deinem Bruder, und dann komm und bring deine Gabe dar« (Mt. 5,23-24). Wir sollten darauf achten, daß es nicht heißt: du hast etwas gegen deinen Bruder - wir im Westen neigen dazu, den Satz so zu lesen. Der westliche Mensch fühlt sich vielleicht gar nicht sehr schuldig vor Gott (dem er in einer wundervollen Ich-Du-Beziehung begegnet), wenn ein anderer etwas gegen ihn hat. Er sagt vielleicht: Das ist sein Problem. Doch wenn er selbst, Produkt der westlichen Kultur, das er ist, negative Gefühle gegenüber seinem Bruder hat, dann wird er sich verantwortlich fühlen und dafür sorgen, die Angelegenheit zu bereinigen. Aber J esus sieht die Sache anders herum, gut extrovertiert: » ... und du erinnerst dich, daß dein Bruder (oder deine Schwester) etwas gegen dich hat«. Das muß zuerst bereinigt werden. Buße ist also Handeln, Tat als Antwort auf den Schmerz anderer. Diese Möglichkeit zur Umkehr erscheint vielleicht gering - außer für die, die ein wenig von der Größe ihrer Sünde begriffen haben. Diejenigen, die um das Böse wissen, das sie selbst, ihre Kultur, ihr Land oder ihr Reichtum verursacht haben, dessen Folgen unwiderruflich als Gift in der Welt sind - sie kennen die Bedeutung dieser Gnade, dieses Raumes zur Umkehr. Es gibt da die Erzählung von einem Autor, der Pornographie schrieb und während einer Predigt in der Kirche eine echte Bekehrung erfuhr. Er versprach dem Herrn, nie wieder Pornographie zu verfassen, und begann, religiöse Literatur zu schreiben. Aber seine Meditationen verkauften sich nicht gut, während seine Pornographie weiterhin verkauft wurde. Dies zeigt, 111
wie unwichtig es für die Welt ist, wenn ein einzelner Buße tut, denn seine Handlungen gehen weiter. Und wenn dies schon für so triviale Dinge wie Pornographie zutrifft, wie schrecklich gilt es erst für unsere kollektiven Handlungen, für unsere Verantwortung als Nation und als Menschen, die diese Erde moralisch und ökologisch verschmutzen! Wenn die Folgen dauern, ist es dann überhaupt wichtig, ob ein Einzelner oder auch ein Volk Buße tut? Doch, es ist wichtig, für sie selbst, für Gott und vielleicht für die Zu'kunft. Aber die Schuld wiegt schwer. Gnade ist die Möglichkeit zur Umkehr. Protestanten haben eine kritische Einstellung zur katholischen Vorstellung von Buße, von Ablaß gar nicht zu reden. Die protestantische Theologie hält daran fest, daß das, was Christus für uns getan hat, genug ist. Wir Schweden haben ein Sprichwort: Es ist lächerlich, Mücken husten zu hören. Und wenn wir den Ernst der Angelegenheit betrachten, dann sind jene kleinen Bußen wie ein Ave Maria, eine Pilgerfahrt etc. wie ein Husten von Mücken. Aber vielleicht hilft es den Mücken, wenn sie husten? Schon die bloße Erkenntnis, daß Buße nach Taten, nach Aktionen ruft - und ich spreche lieber von Wiedergutmachungen als von Pilgerfahrten - ist eine wichtige und bleibende Einsicht. Es ist Gnade, daß wir zur Umkehr und Buße eingeladen sind, zur phantasievollen und konstruktiven Buße. Gottes Gericht läßt für diese Gnade Raum. Es ist Gnade, daß wir eingeladen sind, etwas aufzugeben, wenn die Gnade der Gerechtigkeit und der Befreiung zu denen kommt, denen beides vorenthalten worden ist. Für die Bequemen ist dies eine harte Botschaft - und auch für uns, die wir irgendwie versuchen, uns von den Bequemen zu trennen, auch wenn wir dies nie können. Ein solches Wissen kann zu unproduktivem Selbsthaß führen, auch zu Selbstmitleid ; manchmal haben wir Verständnis für Kain: »Meine Schuld ist schwerer, als daß ich sie tragen könnte«. Und man versteht auch Paulus, der sagt: Ihr solltet jenem gegenüber nicht so hart
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sein, damit er nicht durch seine Betrübnis verschlungen wird, denn dies wäre zum Vorteil Satans (2. Kor. 2,5-11). Die Gnade, die uns zur Umkehr einlädt, schließt die Buße auch für solche Dinge ein, die wir in bester Absicht taten. Niemand wird das Drama der Geschichte verstehen, der nicht erkennt, daß die größten Übel dieser Welt von Menschen verursacht wurden, die in der besten Absicht handelten. Bösestun ist nicht gerade beliebt. Wenn man Menschen versammelte und sagte: Laßt uns gemeinsam Böses tun, dann würden wohl nicht viele folgen - Gott sei Dank! Das wirklich Böse in dieser Welt geschieht dann, wenn Satan sich als Engel des Lichts verkleidet (2. Kor. 11,14). Das wirklich Böse besteht in dem Bösen, das für das Gute, für die Menschlichkeit, für die Freiheit, für eine Ideologie oder für andere Pseudo-Götter im menschlichen Leben getan wird. Deshalb ist die Schuld so groß, und deshalb muß die Maske aufgedeckt werden. Deshalb kann es auch nicht darum gehen, Gericht und Gnade auszubalancieren. Immer, wenn man die Bibel oder Theologie liest, dann stellt sich die »Who-is-who«-Frage: wer spricht zu wem und für wen? Die mächtige Botschaft Gottes wird oft falsch verstanden, weil man der gerade falschen Botschaft zuhörte. Es gibt viele Beispiele dafür. Jesus sagte in der Tat: »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein« - aber er hat diesen Satz niemals zu einem Hungrigen gesagt. Wenn er mit hungrigen Menschen zu tun hatte, dann gab er ihnen zu essen - 4000 oder auch 5000. Und er produzierte massenweise Wein in Kana, nur damit ein Hochzeitsfest nicht zum Fiasko wurde. Zu Satan sagte er: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein - und er sprach für und zu sich selbst! Die Kirche dagegen zitierte J esus oft in der falschen Richtung - sie sagte diesen Satz zu den Hungrigen, als Verteidigung der Wohlgenährten. Wer spricht zu wem? Für wen bedeutet das Gericht Gnade? Das ist hier die Frage, und wenn man sie nicht versteht, dann wird auch die schönste dialektische Theolo-
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gie nicht nur unfruchtbar, sondern falsch. Sehen wir uns die herrliche Botschaft des Neuen Testaments an, die wir alle im Kopf hatten, als wir uns hier versammelten, die Botschaft von der Versöhnung. Was für ein Wort! Und doch, wir hier in den Vereinigten Staaten mußten auf schmerzhafte Weise lernen, daß Versöhnung von den Zufriedenen und »Habenden« mißbraucht werden kann. Heute ist Martin-Luther-King-Tag, der 15. Januar. Wir alle erinnern uns an jenen Donnerstagabend im April, als die Nachricht von seinem Tod in die Welt hinausging. Ich erinnere mich genau, daß nach wenigen Minuten alle Sender unabhängig von einander das taten, was die amerikanischen Medien immer tun (wahrscheinlich haben sie von Homer gelernt, daß jeder sein charakteristisches Beiwort braucht): Sie nannten Martin Luther King Jr. den »Apostel der Gewaltlosigkeit«. Alle diese Nachrichtensprecher - und alle waren sie Weiße (zumindest die, die ich sah) - sannen über diese herrlichen Worte in der Nacht des 4. April 1968 nach, »Apostel der Gewaltlosigkeit«. Er war es. Natürlich, es handelte sich ja um den Pfarrer Dr. Martin Luther King Jr., also wollte man religiös sprechen, und angesichts seines Todes kam es nur zu gut an. »Apostel der Gewaltlosigkeit«, das klang so schön, das ergab sich von selbst. Aber dies war nicht seine Botschaft an uns, an die Weißen und Zufriedenen, gewesen. Seine Botschaft an uns lautete: Wacht auf, sonst ... ! Er war der Apostel der Gewaltlosigkeit für die Seinen, was ihn einiges kostete und womit er viel riskierte. Das war für uns natürlich viel tröstlicher. »Tröstet, tröstet mein Volk.« Weil wir die Sprache der Versöhnung sprachen, klang unsere Aussage passend. Doch sie diente nur unseren eigenen Zwecken. Dies führt uns zum Ausgangspunkt zurück. Für den Habenden und für den Zufriedenen ist Versöhnung natürlich sehr attraktiv, je eher, um so besser, damit wir so wenig wie möglich aufgeben müs~n. Diese Bedeutung hat Versöhnung heute angenommen, in glattem Gegensatz zu je-
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nem Zeichen der Versöhnung, wie es die christliche Tradition kennt, dem Kreuz, an dem Christus alles gab, damit Versöhnung erlangt werde. Gericht und Gnade. Wir müssen allen Tendenzen zur Vereinheitlichung, zur Neutralisierung, zur Dialektik und Ausgewogenheit in diesen Begriffen widerstehen. Es gibt wenig Gnade, außer der Gelegenheit zur Umkehr für uns, die wir zu Gericht sitzen. Aber wenn über uns das Gericht kommen wird, dann wird es viel Gnade für die Unterdrückten geben. Was kann ich anderes rufen als die Worte Joe1s, des Propheten: »Selbst jetzt noch«, spricht der Herr, »kehret um zu mir von ganzem Herzen, mit Fasten und Weinen und Klagen; zerreißt eure Herzen und nicht eure Kleider.« Kehrt um zum Herrn, eurem Gott, denn er ist gnädig und barmherzig, langmütig und reich an treuer Liebe, und es gereut ihn des Übels ... Stoßt in die Posaune auf Zion, sagt ein heiliges Fasten an, beruft eine Versammlung ein, sammelt das Volk! Heiligt die Gemeinde, versammelt die Alten, sammelt auch die Kinder, sogar die Säuglinge. Der Bräutigam komme aus seiner Kammer und die Braut aus ihrem Zimmer. Zwischen der Halle und dem Altar laßt die Priester, die Diener des Herren, weinen und sagen: »Schone, 0 Herr, dein Volk ... « loeI2,12-13.15-17
So htßt uns weinen! Und laßt sie jubeln, wenn das Gericht, das über uns kommt, ihre Befreiung bringt!
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GLOSSOLALIE DER NEUTESTAMENTLICHE BEFUND
Dieser Vortrag wurde auf einer Konferenz über die Entwicklung moderner charismatischer Bewegungen gehalten, die 1975 in Washington stattfand.
Der Begriff Glossolalie wurde aus einigen neutestamentlichen Stellen in unsere Sprache übernommen, in denen der Ausdruck glossais lalein gebraucht wird. Die traditionelle Übersetzung mit »Zungenreden « ist richtig, wenn man im Auge behält, daß das deutsche Wort »Zunge« ebenso wie das griechische glossa sowohl »Zunge« als auch »Sprache« bedeuten kann. Paulus denkt in dem Hymnus 1. Kor. 13 offenbar an diese Doppelbedeutung, wenn er beginnt: »Wenn ich mit Menschen- oder mit Engelszungen rede, habe aber die Liebe nicht ... «1
1. Der Unterschied zwischen der paulinischen Auffassung von Glossolalie und der, die wir in der Pfingstgeschichte finden (Apg. 2,4-11), wird noch genauer erörtert werden. Es handelt sich jedoch nicht um die Differenz zwischen »nur Zungen« (oder »nur Geräusche«) und »Sprachen«, sondern vielmehr um den Unterschied zwischen unverständlicher Rede (Paulus) und einer wunderbaren Kommunikation, die von den Hörern verstanden wird (Apg.). Für eine zuverlässige Einführung in die exegetischen Fragen vgl. J. Behm, Artikel glossa im Theol. Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. I, 719-726. Behms Artikel gibt auch eine Übersicht über das wichtige Material zu ähnlichen Phänomenen aus anderen zeitgenössischen Kulturen. Für,die Diskussion über die »Sprache der Engel« in der jüdischen und frühchristlichen Tradition vgl. R. P. Spittler, The Testament of Job, Theol. Diss. Harvard 1971.
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I.
In seiner Behandlung jener Probleme, denen sich die Kirche in Korinth gegenüber sah, vermittelt uns Paulus klare und wichtige Einsichten in das Phänomen der Glossolalie als Teil christlicher Erfahrung. Aber wir müssen zunächst unseren eigenen Sprachgebrauch unter einem anderen Gesichtspunkt überprüfen. Wissenschaftler und Leser neigen heute dazu, daß Thema Glossolalie mit der Bezeichnung »Problem« zu versehen. Und ganz offensichtlich sieht Paulus Probleme in der korinthischen Kirche; eines davon ist die Spannung in der Gemeinde, die durch Glossolalie hervorgerufen wurde. Aber es ist von Bedeutung, daß er den Begriff »Problem« nicht verwendet, wenn er über Glossolalie spricht. Für ihn gehört Glossolalie vielmehr zu den Gaben, zu den charismata, den gnädig gewährten göttlichen Gaben, und möglicherweise liegt das Geniale seines Denkens bereits in diesem Ansatz. (In meiner Funktion als Verwalter habe ich gelernt, daß ich dann, wenn ich etwas ein Problem nenne, schon die erste Runde verloren habe.) Deshalb müssen wir uns bewußt bleiben, daß wir es hier nicht mit dem »Problem« Glossolalie zu tun haben, sondern daß wir das Thema in der paulinischen Weise angehen wollen: Wie steht es um die Gabe der Glossolalie? Weder bei Paulus noch bei anderen Verfassern des Neuen Testaments erhalten wir eine genaue Beschreibung der Glossolalie. Für Paulus ist sie schlicht ein offensichtlicher Teil der christlichen Erfahrung, mit dem er durch die eigene Praxis vertraut ist. Wir wissen, daß Paulus die ärgerliche Neigung hat zu behaupten, daß er selbst in allem der Größte sei. Er war der größte Sünder, er hat am meisten für das Evangelium gearbeitet, er hat mehr als alle anderen gelitten, etc. etc. So ist es nicht verwunderlich, wenn er zur Glossolalie sagt: »Ich danke Gott, denn mehr als ihr alle rede ich in Zungen« (1. Kor. 14,18). Doch selbst
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I~t'~enn aufgrund seiner arroganten Neigung zu Übertrei.; : bungen einige Abstriche machen, so haben wir dennoch wir
allen Grund zu der Annahme, daß Paulus ein gewaltiger Zungenredner war. Es gibt noch andere Belege dafür, daß Paulus Glossolalie für einen normalen Teil christlicher Erfahrungen gehalten hat. Ich denke an einen Abschnitt seines Römerbriefes, in dem er keine besonderen Gemeindeprobleme behandelt, die ihm zur Klärung vorgelegt wurden. Deshalb ist sein Bezug auf Glossolalie hier auch nicht durch konkrete Anfragen hervorgerufen. Paulus schneidet das Thema von sich aus an, weil er es für wichtig hält, seine Leser an diese wunderbare Geistesgabe zu erinnern. Er sagt: »Ebenso aber kommt auch der Geist unserer Schwachheit zu Hilfe. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie es sich gebühret; aber der Geist selbst tritt für uns ein mit unaussprechlichen Seufzern. Der jedoch, der die Herzen erforscht, weiß, was das Trachten des Geistes ist; denn er tritt für die Heiligen ein, wie es Gott gefällt« (Röm. 8,26-27).
Es ist faszinierend, wie Paulus in seiner Argumentation in Röm. 8 dazu kommt, über die Rolle der Glossolalie nachzudenken. Er hat davon gesprochen, wie in dem kultischen Ruf »Abba! Vater!« der Geist »mit unserem Geist bezeugt, daß wir Gottes Kinder sind« (Röm. 8,16). Dann, und das ist typisch für ihn, dann unterbricht er seine triumphale Rede und unter~mmt größte Anstrengungen zu zeigen, daß all diese Herrlichkeiten noch in der Zukunft liegen. Er spricht davon, wie wir mit der ganzen Schöpfung seufzen, wenn wir auf das Eintreffen der Erlösung warten. Glaube ist nicht so sehr Besitz als Hoffnung, »denn was einer sieht, weshalb hofft er es dann noch?« (Röm. 8,24). Diese seufzende, bedrängte Existenz versetzt uns in eine Situation der Schwachheit. Doch dann erhält das Seufzen noch eine andere Bedeutung. Es gibt einen unaussprechlichen Klang in der Kirche, der nicht aus menschlichem Verlangen oder Schmerz herrührt, sondern aus dem Geist.
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Das unaussprechliche Seufzen der Glossolalie ist das Seufzen des Geistes, der für die Heiligen eintritt. 2 Für Paulus ist Glossolalie also kein Zeichen für ein erreichtes geistliches Ziel, sie ist keine erfolgreiche Aufnahme in die Regionen der wahrhaft Spirituellen. Für ihn ist Glossolalie eine Gabe, die zu seiner Erfahrung der Schwachheit gehört. All dies entspricht durchaus der paulinischen Linie steter Kritik an aller Frömmigkeit oder Theologie, die von Triumphalismus geprägt ist, d. h. von der Überbetonung geistiger Überlegenheit oder von gnostischer Flucht vor den Mächten der Sünde und des Todes. Es ist sehr wichtig, daß wir diese seine Sicht bedenken, wenn wir uns nun der Situation in Korinth zuwenden. 3 Die Kirche in Korinth hatte viele Probleme; sie hatte beinahe alle Probleme, die di~ Kirchen aller Zeiten hatten - außer dem einen, das heute unser Hauptproblem ist: langweilig war sie nie. Es s~heint, als habe das Phänomen der Glossolalie die Phantasie der Christen in Korinth beflügelt. Paulus behandelt diese Frage und die Polarisierung, die durch Glossolalie in der Gemeinde hervorgerufen war, ganz einfach: Seine Argumentation gründet in dem Bild von dem einen Leib, der seine verschiedenen Glieder braucht (1. Kor. 12). Er stellt fest, daß es viele Gaben gibt, 2. Für eine ausführliche Auslegung von Röm. 8,26-27 in dieser Richtung vgl. E. Käsemann, Der gottesdienstliche Schrei nach Freiheit, in: Paulinische Perspektiven, Tübingen 1969, 211-236. In seinem Buch »An die Römer«, Tübingen 1973,229-232 wird diese Auslegung sorgfältig mit anderen verglichen und gegenüber anderen Auffassungen verteidigt. 3. Es muß beachtet werden, daß Paulus zwar darauf verweist, daß er Worte aus dem Paradies gehört habe (»daß er in das Paradies entrückt wurde und unaussprechliche Worte hörte, die ein Mensch nicht sagen darf«, 2. Kor. 12,4), daß dies aber dazu dient, seine Schwachheit zu betonen, seinen »Dorn im Fleisch«, vermutlich jene Krankheit, die ihn lehrte, sich nicht seiner Visionen zu rühmen, sondern die Gnade Gottes (2. Kor. 12,6-10). Vgl. auch 2. Kor. 4,7 gegen die vorangehenden Worte über triumphale Offenbarungen.
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,notwendig sind, und daß man es nur als dumm bezeichnen kann, wenn die eine Gabe gegen die andere ausgespielt wird oder so etwas wie eine Werte-Hierarchie aufgebaut wird. Alle Gaben gehören zur Kirche, und sie sollten nicht wegen besonders spektakulärer Erscheinungsformen gesucht bzw. bewertet werden. An dieser Stelle setzt Paulus dann mit seiner hymnischen Forderung nach Liebe ein (1. Kor. 13). Dieser bekannte Text, der aus irgendwelchen Gründen so oft bei Hochzei- . ten gelesen wird, ist kein allgemeines Preislied auf die Liebe. Er wurde zu dem ganz spezifischen Zweck geschrieben, die Lösung für die Spannungen in der korinthischen Gemeinde aufzuzeigen. Die Bezüge auf Glossolalie (13,1.8), Prophetie (13,2.8), gnosis (also den Anspruch auf eine besonders offenbarte Erkenntnis; 13,2.8), Wundermacht (13,2) und die Fähigkeit zu »guten Werken« (13,3; vgl. 12,28) verweisen auf Gaben, die in der korinthischen Kirche vorhanden sind. Und Paulus' Absicht wird klar, wenn er zeigt, daß alle diese' Gaben trennend wirken können, wenn sie nicht durch das, was er Liebe (agape) nennt, kontrolliert werden. Für ihn ist diese Liebe kein Gefühl des Herzens. Sie ist vielmehr das Kriterium, an dem man messen kann, ob die Gaben auf einen »Ego-Trip« führen oder dem Aufbau der Gemeinde (oikodome) dienen (1. Kor. 14,4 ff). In 1. Kor. 8,1 hat Paulus sein Stichwort für diese Haltung gegeben: »Wissen (gnosis) bläht auf, die Liebe aber baut auf.« Und 1. Kor. 14 fährt er fort, dieses Prinzip genauer auszuführen, daß er in poetischer Form in 1. Kor. 13 entfaltet hat. Es ist ganz klar und einfach: Die Ausübung der Geistesgaben soll sich nach dem richten, was dem Aufbau der Gemeinde am besten dient. Liebe bedeutet Sorge für die Gemeinschaft, sie kontrolliert die Ausübung der Gaben, daß sie nicht um persönlicher Befriedigung willen oder für den Nutzen von nur wenigen statt von allen eingesetzt werden. Aus dieser Sicht ist es logisch, wenn der mächtige Zun-
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genredner Paulus sagt: »Ich danke Gott, denn mehr als ihr alle rede ich in Zungen. Aber in der Kirche würde ich lieber fünf Worte verständig reden, damit andere unterwiesen werden, als zehntausend Worte in Zungen« (1. Kor. 14,18-19). Und wenn schon in Zungen geredet wird, dann muß es auch eine Deutung geben (14,27). Denn »wer in Zungen redet, erbaut sich selbst, doch wer mit Verstand redet, erbaut die Kirche« (14,4). Die Bedeutung dieser Argumentation kann am besten so ausgedrückt werden: Für Paulus ist Glossolalie eine Kommunikation zwischen dem Glaubenden und Gott. Als solche ist sie eine wundervolle und wertvolle Gabe, Teil des ganzen Spektrums christlicher Erfahrung. Doch in der Predigt oder in der Öffentlichkeit ist sie nicht angebracht. Sie kann trennend wirken, wenn sie für irgendeinen anderen Zweck als für die Erbauung desjenigen angewendet wird, der diese Gabe besitzt. Glossolalie gehört in den Privatbereich, und wir können uns über die Gemeinschaft mir-eer Familie derer freuen, die diese Gabe besitzen. Doch mit Humor und Ironie beschreibt Paulus, wie ausgesprochen unproduktiv Glossolalie für diejenigen ist, die als Fremde in die Kirche kommen. Er sagt, daß sie schlicht denken müssen, man sei verrückt (14,23). Nun wissen wir, daß Paulus keine Angst davor hatte, um Christi willen für einen Verrückten gehalten zu werden (1. Kor. 4,10). Doch hier hat er Angst vor falschen Verrücktheiten. Ich vermute, daß er genau wußte, daß sich einige Christen nur zu gerne in ihrem Zeugnis bestätigt fühlen, wenn die Welt sie für verrückt erklärt. Je mehr sie für verrückt gehalten werden, um so sicherer sind sie, daß ihr Zeugnis stark und mutig ist. Aber hat Paulus denn nicht in der Tat gesagt, daß die Griechen nach Erkenntnis suchen und daß die Juden Zeichen fordern, daß wir aber den gekreuzigten Christus predigen, einen Stein des Anstoßes für die Juden und eine Narrheit für die Heiden (1. Kor. 1,22-23)? Ich denke, daß
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'Piullus genau wußte, daß ein furchtloses Zeugnis ihn auf einen »Ego-Trip« schicken konnte, wie wir es nannten. Wenigstens erkannte er diese Gefahr bei anderen, und deshalb führt er sein Prinzip der »Liebe« als Maßstab für den Aufbau der ganzen Gemeinde ein. Jenes Aufbauen geschieht eher in verständlicher Rede als in Glossolalie. Es gibt einen Abschnitt in der Schrift (Jes. 28,10-11)4, in dem für Menschen unverständliche Worte gebraucht werden: saw lasaw, saw lasaw - kaw lakaw, kaw lakaw - zeer sham~ zeer sham5• Paulus zitiert den Kommentar Gottes an Jesaja: »Ich will durch Menschen mit fremder Sprache (heteroglossoi) und durch die Lippen Fremder zu diesem Volk reden, und auch so werden sie nicht auf mich hören « (1. Kor. 14,21)6. Die Exegeten sind über diese unerwartete Wendung an dieser Stelle in der Argumentation des Paulus überrascht. Er hatte doch gerade gesagt, daß Glossolalie für die Eingeweihten ist, während ein Fremder zu einem Dank in Zungen kein Amen sagen kann (1. Kor. 14,16). Und jetzt wird 4. Paulus gebraucht hier den Begriff »Gesetz« für ein Zitat aus Jesaja. Dies bedeutet nicht, daß er aus dem Gedächtnis zitiert und sich falsch erinnert - es entspricht der damaligen jüdischen Praxis, »Gesetz« als Synonym für »Schrift« zu gebrauchen (vgl. Röm. 3,19; Joh. 10,34). 5. Diese Worte haben keinen Sinn. Sie sollen entweder kindliche Rede oder das Lallen Betrunkener oder auch Besonderheiten im Dialekt des Propheten lächerlich machen. Die Septuaginta deutet sie als »Leiden auf Leiden, Hoffnung auf Hoffnung, noch ein wenig, noch ein wenig«; deutsche übersetzungen geben ihnen die Bedeutung »Satz auf Satz, Spruch auf Spruch, da ein wenig, dort ein wenig«. Paulus kannte diese Worte jedoch in ihrer unübersetzbaren hebräischen Fassung. Er dachte an sie, als er über Glossolalie nachdachte. Vielleicht ist sein Hinweis auf Kindlichkeit und Erwachsensein in 1. Kor. 14,20 ein Beleg dafür, daß er nicht nur an Jes. 28,10 f dachte, sondern an den ganzen Abschnitt, da in Jes. 28,9 auf Kinder verwiesen wird. 6. Das Zitat bei Paulus unterscheidet sich sowohl vom hebräischen Text als auch von dem der Septuaginta (Origenes gibt jedoch an, daß dieser Wortlaut dem des Aquila ähnlich ist). Jedenfalls ist der Text dahingehend verändert, daß er die Sicht des Paulus bestärken soll.
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uns mit jenem Jesaja-Zitat gesagt, daß Glossolalie nicht ein Zeichen für die Gläubigen, sondern eines für die Ungläubigen ist, während verständliche Rede nicht für die Ungläubigen, sondernJür die Gläubigen ist (1. Kor. 14,22). Und danach kehrt Paulus zu seiner Forderung zurück, in den Versammlungen lieber verständliche Rede als Glossolalie zu gebrauchen, und dies gerade aus dem Grunde, weil verständliche Rede allein die Macht hat, den Außenstehenden zu überzeugen und zur Bekehrung zu führen. Eine Deutung dieses offenkundigen Widerspruchs ist darum wichtig, damit wir verstehen, daß für Paulus Glossolalie ihre Funktion nicht dort hat, wo man den Außenstehenden beeindrucken will, sondern daß sie in den begrenzten Bereich persönlicher Danksagung gehört, nicht in die Öffentlichkeit. Der Schlüssel liegt in Paulus' Auffassung vom »Zeichen« 7. Ich glaube, daß das Wort »Zeichen« für Paulus einen negativen Klang hatte 8 . Es bezieht sich auf ein »blo7. Das Griechisch in 1. Kor. 14,22 muß sorgfältig übersetzt werden. Ich würde so übersetzen: »Also (gemäß dem Zitat aus Jes. 28,11) wird Glossolalie zum (bloßen) Zeichen nicht für Gläubige, sondern für Ungläubige.« 8~ An verschiedenen Stellen spricht Paulus von »Zeichen«, und zwar dort, wo er von Dingen spricht, die ihm als falsch (1. Kor. 1,22) oder dunkel (Beschneidung, Röm. 4,11) erscheinen. 2. Kor. 12,12 spricht er von den Zeichen, die der wahre Apostel bei den Korinthern tat - aber dies in einem Zusammenhang, in dem er seine Werte mit denen anderer reisender Missionare ironisch vergleicht: »denn ich habe in nichts hinter den >Super-Aposteln< zurückgestanden, wenn ich auch nichts bin« (12,11). Ähnliches klingt in Röm. 15,19 an, wo wir wieder diese Zurückhaltung finden: »Denn ich werde nicht wagen zu reden ... « (15,18). In 2. Thess. 2,9 sind die Zeichen vom Satan, also falsch. In 2. Thess. 3,17 ist die Unterschrift des Paulus ein Zeichen dafür, daß es sich um seinen Brief handelt. Dies sind alle Belege für »Zeichen« in den paulinischen Briefen (zusammen mit 1. Kor. 14,22). Keine Stelle bezieht sich auf »Zeichen« in dem Sinne, daß Paulus sie eindeutig rühmt. Es ist bekannt, daß die synoptischen Evangelien eine ähnlich negative Einstellung zu »Zeichen« haben. Bei Markus hören wir, daß »kein Zeichen gegeben wird« (Mk.
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Ki~:: . <'
~t;ßes Zeichen« als etwas, das nicht zum Glauben, sondern :.1,...
zum Nicht-Hören führt, zur Verhärtung des Unglaubens. Für die Gläubigen ist Glossolalie kein Zeichen, sondern Teil ihrer Erfahrung. Und es geht Paulus darum, daß die Kirche den Fremden und Ungläubigen, die zu ihren Versammlungen kommen, mehr als nur ein negatives Zeichen auf ihr Gericht hin schuldet. Sie schuldet ihnen die Mög": lichkeit zur Umkehr, sie muß ihnen die Chance bieten zu erkennen, daß Gott wirklich in dieser Versammlung anwe- . send ist. Dies kann durch verständliche Rede erreicht werden, durch die offene und deutliche Sprache des Wortes Gottes 9 • In Glossolalie ist dies unmöglich, sie macht dem 8,12); bei Lukas ist das Zeichen die Predigt des Jona (Lk. 11,29); und bei Matthäus sind Tod und Auferstehung das Zeichen des Jona (12,40; aber vielleicht ist dies ein späterer Zusatz, vgl. K. Stendahl, The School of St. Matthew, Philadelphia 21968, 132 f). Die Wunder Jesu werden niemals »Zeichen« genannt, außer im Johannesevangelium, wo sieben solcher Wunder als »die Zeichen« bezeichnet werden. Sonst gehören Zeichen zum himmlischen, apokalyptischen kosmischen Reich. Und Jesu Furcht vor Aufmerksamkeit aufgrund seiner Wunder ist in den Evangelien ein verbreitetes Thema (z. B. Mk. 5,43). 9. In dieser Auslegung ist Prophetie natürlich kein »Zeichen«. D. K. Barrett (The First Epistle to the Corinthians, New York 1968, 313, 323 f) übersetzt: »Prophetie als ein Zeichen nicht für die Ungläubigen ... « Er gesteht, daß »als ein Zeichen« nicht im Griechischen steht, aber er meint, daß die Stelle aufgrund des vorangehenden Satzes so zu verstehen sei. Hier liegt tatsächlich der Schlüssel zum Problem in unserem Text. Ich würde deshalb 1. Kor. 14,21-25 so wiedergeben: »Aus der Schrift lernen wir, daß, wenn Gott durch Glossolalie spricht, dies nicht zum Glauben führen wird (eisakousontai: sie werden nicht hören; ein prophetisches Futur, das Paulus für die Situation gebraucht, die jetzt in der Kirche da ist). Also ist es nach diesem Prophetenwort deutlich, daß Glossolalie nur ein Zeichen ist, unfähig, die Ungläubigen zum Glauben zu führen. Natürlich ist für den Gläubigen Glossolalie kein bloßes Zeichen, denn er hat Gottes Wort gehört und ist zum Glauben gekommen. Prophetie andererseits führt zum Glauben und nicht zur Verhärtung des Unglaubens. Wenn also in der Versammlung alle in Zungen reden und Außenstehende und Ungläubige kommen herein, werden sie nicht einfach sagen, daß ihr verrückt seid? Das Zeichen der Glossolalie wird für sie gen au so sein, wie
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Außenstehenden nur seine Entfremdung deutlich, die ihn dazu führt, über ein bloßes Zeichen zu straucheln, wie Jesaja es in jenem Abschnitt voraussagte.
11. - - - - - - - - Es gibt im Neuen Testament noch einen anderen, völlig andersartigen Bericht über das Phänomen Zungenreden. In Apg. 2 wird vom ersten christlichen Pfingsten erzählt. Es mag Sie überraschen, daß ich nicht mit diesem Bericht begonnen habe, anstatt in Korinth, vor allem, weil wir uns in diesem Jahrhundert angewöhnt haben, den Begriff Pfingstler für Gruppen und Kirchen zu verwenden, die Glossolalie besonders schätzen. Die Gründe für meine Reihenfolge werden jedoch schnell deutlich werden. In Apg. 2 sind Zungen wie von Feuer 10 über den Aposteln verteilt, und sie schweben über ihnen, als sie voll des Geistes in »anderen Zungen« (heterai glossai) zu reden beginnen. Dies ereignet sich in J erusalem, es ist vom Geräusch eines mächtigen Himmelswindes begleitet. Die Situation ist offensichtlich das gen aue Gegenteil zu der in Korinth: Diese Glossolalie braucht keine Übersetzer. Dieses Zungenreden ist vielmehr ein wunderbares Kommunikationsmittel, so daß eine große Anzahl Menschen aus verschiedenen Ländern jeweils in ihrer Muttersprache die Jünger »die mächtigen Taten Gottes« verkündigen hörten Jesaja vorhersagte. Aber wenn alle in verständlicher Prophetie reden, dann wird der Ungläubige und Außenstehende zur Umkehr gebracht werden, überzeugt und gerichtet, da die Geheimnisse seines Herzens offengelegt werden, und er wird niederfallen, Gott anbeten und bekennen, daß Gott bei euch ist.« 10. VgL Mk. 1,8; Mt. 3,11 und Lk. 3,16, wo Johannes der Täufer zwischen seiner Taufe (mit Wasser) und der des Größeren, der nach ihm kommt, unterscheidet, der mit dem Heiligen Geist (Mk.) bzw. mit dem Heiligen Geist und Feuer (Mt. und Lk.) taufen wird.
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(2,11). Es scheint, ~aß der tragische Zusammenbruch der Kommunikation beIm Turmbau zu Babel (Gen. 11,6-9) überwunden ist. Der Gegensatz zu jenem Verständnis von Glossolalie, das in Paulus' Diskussion im 1. Korintherbrief deutlich wird, ist klar, und er kann nicht dadurch überwunden werden, daß man überlegt, ob das Wunder in Apg. 2 eines des Redens (die Apostel sprechen in verschiedenen Sprachen oder Dialekten) oder eines des Hörens (die Hörer erkennen eine »himmlische« Sprache als ihre wahre' Sprache) ist l l . In jedem Fall bleibt die Differenz zwischen verständlicher (Apg.) und unverständlicher (Paulus) Glossolalie 12 • Ich selbst neige zu dem Glauben, daß durch diese Überlegung nicht viel gewonnen ist. Wir müssen vielmehr damit anfangen, das Wesen der Pfingsterzählung und ihre Funktion in jenem Werk zu bestimmen, das die Apostelgeschichte genannt wird. 11. Für eine ausführliche Diskussion dieser und anderer exegetischer Fragen vgl. K. Lake, The Gift of the Spirit and the Day of Pentecost, in: The Beginnings of Christianity, London 1933, Bd. V, 111-121; auch E. Haenchen, Die Apostelgeschichte, Göttingen 71977, 169 ff. 12. Ich sehe den Sinn von C. S. Williams' Behauptung nicht (A Commentary on the Acts of the ApostIes, New York 1957, 63), daß »diejenigen, die der üblichen exegetischen Sicht folgen, leicht übersehen, daß auch für Paulus Glossolalie sehr wohl ein Sprechen in fremden Sprachen beinhalten konnte, ebenso wie unverständliches Reden, nicht nur letzteres«. Er bezieht sich hier auf J. G. Davies, Pentecost and Glossolalia, in: Journal of Theological Studies III (1952), 228-331. Davies sagt, daß der Begriff hermeneia/hermeneuein, den Paulus für die Übertragung von Glossolalie gebraucht (1. Kor. 12,10.30; 14,5.13.26.2 7), in erster Linie die Bedeutung von» Übersetzen« und nicht so sehr die von »Auslegen« hat. Dies ist richtig, und ganz sicher sieht Paulus Glossolalie als Sprache, wenn auch als Sprache der Engel (1. Kor. 13,1). Doch dies bedeutet nicht, daß er Glossolalie für ein Mittel zum Erlernen einer irdischen Fremdsprache gehalten hat. Zungen sind unverständlich, da sie »Geheimnisse des Geistes« (1. Kor. 14,2) ausdrücken. Und Paulus fordert den Zungenredner auf, darum zu beten, »daß er auslegen kann« (1. Kor. 13,13). Nicht durch Kenntnisse in Fremdsprachen, sondern nur durch die besondere Gabe der Interpretation/Übersetzung können diese Geheimnisse anderen verständlich gemacht werden.
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Der Pfingstbericht ist insofern einmalig, als es nirgendwo sonst im Neuen Testament oder in frühen außerkanonischen Schriften auch nur die Andeutung eines solchen Geschehens gibt. Während praktisch in der ganzen christlichen Literatur die Ereignisse von Ostern gerühmt werden, gibt es· für das Pfingstgeschehen außerhalb der Apostelgeschichte keinen Beleg. Es mag sein, daß der Verfasser seine theologische Deutung des Phänomens Zungenreden in diese Erzählung gekleidet hat. Aber sonst in der frühchristlichen Literatur finden wir nirgendwo diese Auffassung von Glossolalie, daß nämlich Zungenreden ein Reden in Sprachen ist, die es anderswo auf der Welt gibt. In der frühen christlichen Tradition ist es im Gegenteil so, daß Glossolalie einen Übersetzer braucht, weil sie unverständlich ist; d. h. es ist so, wie es im Korintherbrief beschrieben wird. In der Apostelgeschichte scheint es jedoch so zu sein, als ob Glossolalie eine Art göttlicher Abkürzung beim Erlernen vom Fremdsprachen ist. Es ist allerdings fraglich, ob die Hörer wirklich von Orten kamen, an denen verschiedene Sprachen gesprochen wurden (Apg. 2,9-11). Wir müssen beachten, daß die Struktur der Apostelgeschichte so etwas wie eine »geographische Theologie« enthält. Wie im Lukasevangelium J esus von Galiläa nach J erusalem geht - und vieles seiner Erzählungen und Reden ist im sog. lukanischen Reisebericht (Lk. 9,51-18,14) zusammengefaßt - so wird in der Apostelgeschichte das Evangelium von Jerusalem (Kap. 1) nach Rom (Kap. 28) gebracht. Das Muster wird in den Abschiedsworten des auferstandenen Herrn vor seiner Himmelfahrt deutlich, wenn Jesus das Kommen des Geistes als Ausgangspunkt einer solchen Mission von J erusalem aus »bis an die Enden der Erde« ankündigt (Apg. 1,18). Von daher liegt es nahe, der gebräuchlichen Deutung zu folgen, daß Lukas sein Bewußtsein davon, daß der Geist in der Kirche anwesend ist, und seine Bekanntschaft mit dem Phänomen Glossolalie in ein historisches Ereignis übertra-
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,>~{: . pn-hat, für das ~ir .son~t ~einen Beleg ha~en. Die ?1.ob~13e ·~;;~~,~,c;. "
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R-eichweite der MissIOn 1St In der GlossolalIe symbolisIert . Wenn dies richtig ist, dann ist es zumindest sehr bedenklieh, wenn wir unser Verständnis der Glossolalie gerade auf den Bericht der Apostelgeschichte stützen 14 •
- - - - - - - - - - III. - - - - - - - - - Bei unserem Nachdenken über die paulinische Einstellung zur Glossolalie und anderen spektakulären Geistesgaben hatten wir guten Grund hervorzuheben, daß diese Gaben nicht in der Öffentlichkeit praktiziert werden sollten. In der Tat ist die Frage sehr wichtig, wie die frühen Christen ihr Verhältnis zur Öffentlichkeit sahen, genauer, wie und wo 13. Dies wird durch die Beobachtung gestützt, daß, wenn an anderen Stellen in der Apostelgeschichte von Glossolalie die Rede ist (10,44; 19,6; vgl. 4,31), das Phänomen dort dem Bild sehr ähnlich ist, das wir in 1. Kor. 12-14 erhalten. In Apg. 10 etwa gibt es keinen Hinweis auf Sprachschwierigkeiten. Es geht vielmehr darum, daß Gott das Zögern des Petrus vor einer Aufnahme von Heiden in die Kirche dadurch überwindet, daß Cornelius und seine Leute diesen spektakulären Geistesbeweis ablegen, was Petrus zu der Aussage veranlaßt, daß es keinen Grund geben könne, diejenigen nicht zu taufen, die den Heiligen Geist »so wie wir« empfangen haben (Apg. 10,47). Hier überwindet der Geist - manifestiert in Glossolalie - keine geographischen oder sprachlichen Grenzen, sondern die zwischen Juden und Heiden. 14. Unsere traditionellen Bibeln enthalten einen weiteren Abschnitt, in dem die christliche Mission so dargestellt ist, daß sie ein Reden in »neuen Zungen« einschließt (Mk. 16,17). Wie man in neuen Ausgaben aber sehen kann, gehören die Verse 9-20 in Mk. 16 nicht zum ursprünglichen Text, sie fehlen in den zuverlässigsten Handschriften. Trotzdem kann der Text »Mk. 16,17« als Beleg dafür angesehen werden, wie das Verständnis aus Apg. 2 in das Denken der Kirche eingegangen ist, vor allem, wenn es um die Weite der Mission ging, d. h. um gerade das Thema, das in »Mk. 16,9-20« angesprochen ist. Man beachte jedoch, daß manche Handschriften hier nicht von »neuen Zungen«, sondern ganz allgemein von »Zungen« reden, also sich auf das Phänomen der Glossolalie als solches beziehen.
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sie überhaupt Berührungspunkte zwischen der Kirche und der Welt sahen. Warum ich diese Frage aber in einer Untersuchung über Glossolalie stelle, ist vielleicht weniger einsichtig. Und doch gibt es hier eine wichtige Verbindung. Wir sagten bereits, daß die spektakulären Geistesgaben zur Erbauung des einzelnen und nicht für die Öffentlichkeit gedacht waren. Doch eine Geistesgabe ist für die denkbar öffentlichste Situation zugesagt, in der sich ein Christ befinden konnte: »Und wenn sie euch hinführen und vor Ge-' richt stellen, so sorgt euch nicht im voraus darum, was ihr, reden sollt; sondern was euch in jener Stunde gegeben wird, das redet! Denn nicht ihr seid es, die reden, sondern der heilige Geist« (Mk. 13,11; vgl. Mt. 10,19 fund Lk. 12,11 f). Tatsächlich ist der Christ, der vor Gericht steht, ' der einzige, dem in der Schrift die Gabe des Geistes zugesagt wird. Niemandem sonst ist eine besondere Geistesgabe versprochen. Dies ist nicht so befremdlich, wie es zunächst scheinen mag, denn vor den Gerichten hatte die christliche Kirche die Möglichkeit, ihr Zeugnis vor den Mächten der Welt abzulegen. Auf dieser Überzeugung gründet der ausführliche Bericht darüber, wie Paulus bei Caesar Berufung einlegt, ohne die er vermutlich hätte gerettet werden können (Apg. 25,11; 26,32), sowie der Abschnitt im Epheserbrief, der das Auftreten vor Caesar und das vor den himmlischen Mächten und Gewalten in eins setzt und der die Leiden des Paulus als Ruhm der Kirche interpretiert, weil der Gerichtsprozeß die Konfrontationzwischen dem Evangelium und der Welt, zwischen Christus und Caesar ermöglicht (Eph. 3,10-13). Zeuge sein (das griechische Wort dafür ist »Märtyrer«) heißt Zeuge sein vor den herrschenden Mächten. Deshalb sollte es uns nicht überraschen, wenn der Geist gerade für eine solche Situation zugesagt wird. Mir erscheint diese biblische Sicht für unser Thema wichtig. Manchmal hat man die Sorge um die Geistesgaben in der charismatischen Bewegung als Gegensatz zu jener
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Haltung g~sehen, die wir bei den Berrigans und den Kriegsdienstverweigerern in unserem Lande erkennen. Wenn dieses Gefühl, diese Interpretation richtig sein sollte (und sie wird in den Massenmedien oft noch verstärkt), dann haben wir uns vom biblischen Verständnis der Geistesgaben wahrlich weit entfernt. Dann haben wir eine wesentliche christliche Erkenntnis verfälscht. Es gibt Menschen, die eine öffentliche Wirksamkeit des Geistes mit spektakulären religiösen Fernseh-Auftritten und größt-· möglicher Publizität für Evangelisationskampagnen verwechseln, und die zugleich jene verdächtigen, die die Herrschenden vor den Gerichten durch ihr mutiges Zeugnis für Christi Gerechtigkeit herausfordern. Es scheint doch so, daß die biblisches Sicht das genaue Gegenteil besagt: Jene Begegnung, die unter der Verheißung des Geistes steht, findet vor den Gerichten statt.
--------------------IV.-------------------Mir scheinen die Aussagen der neutestamentlichen Texte zu jener Erscheinung, die wir Glossolalie nennen, recht deutlich und auch einfach zu sein - und äußerst aktuell. Die verschiedenen Texte enthalten in sich bereits eine Kritik an unserer gegenwärtigen Situation. Die Geschichte unserer wichtigsten Traditionen ist eine Geschichte der Spaltungen und Verarmungen in der christlichen Gemeinde. Wenn ich Paulus lese, dann wird mir ganz deutlich, daß die Geistesgaben, die Glossolalie eingeschlossen, zum gemeinsamen Erbe unserer christlichen Erfahrung gehören könnten, wenn nicht die Reformierten, die Anglikaner, die Lutheraner und alle jene anderen »ordentlichen« Christen einschließlich der Katholiken solche Phänomene wie Glossolalie bewußt oder unbewußt unterdrückt hätten, während andere Denominationen sie besonders förderten. Das paulinische Rezept hilft auch hier. Die Fülle der 130
Kirche kann nicht besser zum Gespött gemacht.werden als durch die weitverbreitete Unsitte, daß jede Denomination oder Sekte ihre spezielle Geistesgabe nimmt und in einer besonderen kleinen Kapelle einmauert. Die Fülle der Kirche ist im paulinischen Denken der Leib der Kirche mit vielen unterschiedlichen Gliedern, d. h. Gaben. Es gibt heute in der charismatischen Bewegung Anzeichen dafür, daß wir vielleicht die Möglichkeit haben, zu jener Fülle zurückzufinden. Deshalb sehe ich die charismatische Bewegung mit Interesse und mit Hoffnung. Könnte es sein, daß wir an jenem Punkt angelangt sind, an dem die Großkirchen genügend paulinische Liebe haben, so daß sie in sich die Erscheinungen des Geistes - und auch die Glossolalie - ertragen können? Könnte es sein, daß diejenigen, die mit solchen Erfahrungen gesegnet sind, genügend Liebe und Geduld aufbringen, wenn sie im Geist zum Herrn sprechen, daß sie erkennen, daß diese Gabe gegeben wurde, um zur Fülle der Kirche beizutragen, nicht dazu, andere in ihrem Glauben als weniger christlich erscheinen zu lassen? Vielleicht haben wir diesen Punkt heute erreicht - ich hoffe es, zum Nutzen von uns allen. Glossolalie ist ein Ausdruck dessen, was ich als Hochspannungsreligion bezeichnen möchte. Es scheint mir unzweifelhaft, daß für manche Menschen in ihren jeweiligen Situationen die Erfahrung Gottes so überwältigend ist, daß charismatische Phänomene der »natürliche« Ausdruck dieser Erfahrung werden. Wer behauptet denn, daß rationale Worte oder Schweigen das einzig Angemessen sind? Als Prediger und Lehrer meine ich sogar, daß es vielleicht klug wäre, die Glossolalie in der Kirche zu erlauben, damit jene, die sich mit Worten nicht artikulieren können, frei sind, ihr überwältigendes Lob Gottes ganz auszudrücken. Tatsächlich hat Glossolalie in der Kirchengeschichte häufig eine demokratisierende Wirkung gehabt. Sie ist eine jener Ausdrucksformen, in denen »die Letzten die Ersten« geworden sind.
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Eine Öffnung für die ganze Weite religiöser Erfahrung ist für jene Kirchen bitter nötig, die die charismatische Dimension unterdrückt haben. Ein Christentum, das nicht mehr Spannung ausstrahlt als eine Taschenlampenbatterie, ist sicherlich nicht stark genug, um z. B. den Drogenmißbrauch zu bekämpfen. Und keine religiöse Tradition kann sich erneuern, ohne daß ursprüngliche, neue, frische religiöse Erfahrungen hinzukommen. Es könnte sein, daß die charismatische Bewegung den Kirchen zu diesem Zweck gegeben wurde. Wir Nicht-Charismatiker müssen nicht zu Charismatikern werden- Glossolalie ist ein Geschenk, kein Ziel oder Ideal - aber wir brauchen die Charismatiker bei uns in der Kirche, wenn die Kirche die Fülle des christlichen Lebens empfangen und ausdrücken soll. In diesem Sinne brauchen wir sie. Jene Kirchen, die charismatische Erfahrungen unterdrücken, behaupten oft, daß das biblische Phänomen der Glossolalie der frühen Kirche in ihrer Anfangszeit gegeben wurde, daß aber, sobald die Kirche gefestigt war, solche »primitiven« Dinge überflüssig waren. Diese Argumentation klingt sehr defensiv. Sie drückt nichts als Verlegenheit aus, Verlegenheit entweder über das Fehlen eines Teiles der christlichen Erfahrung, wie er in der Bibel beschrieben ist, oder Verlegenheit über Erscheinungen, die den »aufgeklärten« Christen in den Zeugnissen ihrer Tradition geschmacklos bzw. primitiv vorkommen. In diesem Kontext ist die Vorstellung von einer Anfangs- oder Durchbruchszeit nicht hilfreich. Aber in einem anderen Zusammenhang hat sie ihre Bedeutung und entspringt sie den Erfahrungen der Praxis. Es scheint mir, daß nur wenige Menschen über eine längere Zeit hinweg in einer hochgespannten religiösen Erfahrung leben können, ohne Schaden zu nehmen. Während ich die Vorstellung eines anfänglichen Durchbruchs für die Geschichte von Institutionen also ablehne, so halte ich sie in der individuellen Geschichte für sehr hilfreich. Ich frage mich, was mit
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Charismatikern nach fünf oder nach zehn Jahren geschieht. Aus meinen Beobachtungen glaube ich, daß sie uns brauchen; sie müssen wissen, daß die größere Kirche ihre Heimat ist, in der ihre Stellung als Kinder Gottes nicht von der Intensität ihrer Erfahrungen abhängt. Auch im Leben eines Christen gibt es verschiedene Zeiten. Da sind die Zeiten spektakulärer Durchbrüche, und da sind Zeiten langsamen Wachsens. Natürlich möchten diejenigen, die starke, wunderbare Erfahrungen gemacht haben, diese weiterhin erfahren. Wenn jene Erfahrung dann aber einmal nicht mehr so frisch oder so mächtig ist wie früher, dann kommt die Versuchung, ein wenig »dem Geist nachzuhelfen « - d. h. zu betrügen. Dies wiederum ruft Schuldgefühle hervor. Sicher, die etablierten Kirchen brauchen den erfrischenden Einfluß neuer charismatischer Erfahrung, aber aufs Ganze des geistigen Wachstums gesehen braucht der einzelne Charismatiker die Heimat der ganzen Kirche, in der er/sie im Glauben wächst und die wichtigstes Lektion des Glaubens lenrt: Gott zu lieben, der die Gabe gibt, und nicht die Gabe, die Gott gegeben hat. Diese Lektion kann nur in einer Kirche gelernt werden, in der wir uns mit den Charismatikern an ihren Gaben freuen - und sie sind die kostbare Würze in unserem alltäglichen Leben - wo aber zugleich diejenigen, denen eine solche Gabe gegeben ist, in ihrem Glauben wachsen dürfen, ohne sich bedroht zu fühlen, wenn ihre Erfahrungen sich in einem langen, aufrichtigen Leben verändern. All diese Überlegungen entstammen den Einsichten des Paulus in die Fülle der Kirche und in den Aufbau unseres gemeinsamen Lebens. Sie kommen aus der Überzeugung, daß die Frage der Glossolalie in der Kirche eine seelsorgerliehe Frage ist. Es geht nicht darum, ob Glossolalie ein theologisch legitimes Phänomen ist - natürlich ist sie theologisch legitim! Es geht vielmehr darum, wie dieses Phänomen eine Kraft zum Wohl der ganzen Kirche werden kann. In diesem Sinne scheinen mit die Visionen und Erkenntnis-
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se des Paulus in ihrer Weisheit und in ihrer Gültigkeit höchst aktuell zu sein. Es könnte wichtig sein, das Verhältnis von Glossolalie zu jenem Teil aller Religionen zu untersuchen, den wir als Mystik kennen, und auch, wie Glossolalie speziell mit der Praxis und mit den Erfahrungen der christlichen Mystik zusammenhängt. Ich denke, daß eine solche Untersuchung das oben genannte Kriterium bestätigen würde: Es geht nicht um die Gabe, die Gott gegeben hat, sondern um Gott, der sie gibt. Die Charismatiker laufen Gefahr, über der Gabe den Geber zu vergessen. Die Mystiker sind diejenigen, die alle Gaben transzendieren und nicht ruhen, bis Gott alles in allem ist. Dies ist nur noch ein weiterer Grund für meine Forderung, daß wir in jener Liebe zusammenbleiben müssen, die eine größtmögliche Verschiedenheit der Gaben zuläßt, die Gott unterschiedlichen Menschen zu verschiedenen Zeiten gibt.
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QUELLEN UND KRITIKEN
Kein Theologe arbeitet im luftleeren Raum. Meine eigene Arbeit ist durch bestimmte Interessen geformt, und es mag für den Leser nützlich sein, wenn ich etwas davon mitteile. Im Grunde sind es zwei Hauptinteressen. (1) Die Prinzipien der Bibelauslegung, von der gelehrten Welt Hermeneutik genannt (ich würde sie lieber so beschreiben: wie die Kirche mit ihrer Bibel lebt). Je länger ich exegetisch arbeite, um so dringlicher wird mir die Frage nach Gebrauch und Mißbrauch der Schrift. Auslegen ist eine verantwortungsvolle Tätigkeit, und die vorliegenden Aufsätze dienen dem Bemühen, die Gefahr eines Mißbrauches zu verringern, um so die biblischen Texte für einen friedestiftenden, befreienden, erlösenden Gebrauch freizusetzen. Ich glaube, der erste und unerläßliche Schritt dabei :' besteht darin, daß man deutlich unterscheidet zwischen I dem, was der Text seiner ursprünglichen Intention nach sagen wollte, und dem, was er später bedeuten konnte oder I in Zukunft bedeuten mag. Für dieses hermeneutische Pro- I gramm verweise ich auf meinen Artikel Biblical Theology, Conternporary, in: Interpreter's Dictionary 01 the Bible, Bd. I, 418-432 (Nashville 1962). Ein solches Vorhaben führt uns dazu, daß wir niemals fragen: Was bedeutet dies? ohne sogleich hinzuzufügen: ... für wen? Mir wurde dieses Problem vor allem in meinem Aufsatz The Bible and the Role 01 Wornen (Philadelphia 1966) deutlich; noch schärfer stellte es sich, als ich zu dem Ergebnis kam, daß Paulus' Worte im Röm. 12,20 über das i
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Sammeln von feurigen Kohlen auf das Haupt eines Feindes wirklich so schrecklich sind, wie sie klingen (vgl. Hate, Non-Retaliation and Love, in: HaT ;ard Theol. Review 55, 1962, 343-355). Diese befremdliche Haltung hat dann einen religiösen und ethischen Wert, wenn man sie als Ausdruck von Nicht-Vergeltung sieht, daß man also sich selbst nicht rächen darf. Die Frage ist dann wie immer: Wer spricht für wen?, wie ich es im zweiten Aufsatz dieses Buches, Gericht und Gnade, ausgeführt habe. Was bedeutet dieses oder jenes Wort für Paulus, für Luther - und was könnte es mit Hilfe des Geistes vielleicht für uns bedeuten? Ein solches Interesse verlangt, daß wir die Tatsache berücksichtigen, daß die biblischen Schriften in der christlichen Tradition Heilige Schrift sind. Von daher wende ich mich in diesen Aufsätzen mehrfach der Kanonfrage zu. Der Artikel von C. Sundberg Jr., Canon Muratori: A Fourth Century List (in: Harvard Theol. Review 66, 1973, 1-41) war für mich sehr hilfreich. Für das Phänomen einer »Heiligen Schrift« und wie man damit umgeht, ist es nützlich, den Beitrag von W. C. Smith zu lesen: The Study 01 the Bible, in: Journal 01 the American Academy 01 Religion 39, 1971, 131-140. (2) Das zweite Interesse erwuchs aus meinen Paulusstudien. Es faszinierte mich immer mehr und bekam in meinem Leben und Arbeiten einen unerwarteten Vorrang: die Frage nach dem Verhältnis von Judentum und Christentum, oder besser, die nach dem Verhältnis zwischen der Kirche und dem jüdischen Volk. Was als wissenschaftliche, intellektuelle Neugier begann, führte mich zu der Erkenntnis, daß der christliche Umgang mit der Schrift - und nicht zuletzt mit den paulinischen Schriften - zu Entwicklungen mit geradezu satanischen Folgen geführt hat. Der Hauptteil dieses Buches ist ein Versuch, an einige der Wurzeln des christlichen Antisemitismus heranzukommen. Es mag sinnvoll sein, hier einige meiner anderen Arbeiten zu nennen, die sich mit diesen Fragen befassen:
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ludaism and Christianity, in: Harvard Divinity Bulletin, 1963. ludaism and Christianity 11: After a Colloquium and a War, in: Harvard Divinity Bulletin, 1967. Auf dem Wege zu einer die Welt umfassenden Gemeinschaft, in: F. v. Hammerstein (ed.), Von Vorurteilen zum Verständnis, Frankfurt 1976. In No Other Name, in: Christian Witness and the lewish People, hrsg. vom Lutherischen Weltbund, Genf 1976. Wenn der Hauptteil dieses Bandes behauptet, daß die Argumentation des Paulus über die Rechtfertigung aus Glauben weder aus seiner »Unzufriedenheit« mit dem Judentum kommt noch als Frontalangriff gegen »Gesetzlichkeit« gemeint ist, dann glaube ich, daß ich hier an die böseste Wurzel des christlichen Antijudaismus rühre. In meiner Diskussion mit Ernst Käsemann werde ich auf diese Behauptung noch näher eingehen. Diese Aufsätze setzen voraus, daß nur einige Paulusbriefe wirklich von Paulus selbst geschrieben/diktiert/unterschrieben sind (vgl. Gal. 6,11). Es sind dies der 1. Thessalonicher-, der Galater-, der 1. und 2. Korinther-, der Philipper-, der Philemon- und der Römerbrief. Ich stimme in dieser Frage mit Günther Bornkamm überein (vgl. Paulus, 2. Aufl. 1970, 245 ff). Auch in anderer Hinsicht halte ich Bornkamms Buch für die beste allgemeine Einführung in Paulus. Ich meine hier vor allem den ersten Teil, Leben und Wirken, sowie seine Darstellung vom Römerbrief als Testament des Paulus (103 ff), die zeigt, daß man den Römerbrief innerhalb des paulinischen Apostolatsverständnisses interpretieren sollte und nicht aufgrund von Spekulationen über Konflikte unter den Christen in Rom. Hier befindet sich Bornkamm an einem Ende des wissenschaftlichen Spektrums; das andere ist in dem neueren Versuch von P. S. Minear, zu sehen, The Obedience 01 Faith. Studies in Biblical Theology II (London 1971), der ein verwickeltes Bild davon zeichnet, wie Paulus auf die Bedingungen der 137
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Gemeinde in Rom eingeht. Solche Rekonstruktionen beruhen auf der sekundären, nicht überzeugenden Information im Ambrosiaster . So sehr ich Bornkamms Arbeit also schätze, finde ich, daß sein Bild von Paulus und vom Judentum doch den üblichen »westlichen« Fehler macht (s. u.). Der zweite Teil seines Paulus, Botschaft und Theologie, wird von diesem Fehler ganz beherrscht. Wenn ich die Frage beantworten soll, welche neueren Paulusarbeiten am meisten zu dem beigetragen haben, was ich selbst an Einsichten und Perspektiven gewonnen habe, dann würde ich ohne Zögern die Arbeiten von Dieter Georgi nennen. Er zeichnet Paulus im weiten Umfeld der hellenistischen Kultur - jüdischer wie heidnischer - um so die zunehmend fruchtlosere Debatte zu lösen, ob Paulus mehr von seinem »jüdischen Hintergrund« aus oder eher vor dem Kontext heidnischer hellenistischer Kultur, Religion und Philosophie zu sehen sei. Wie falsch diese Dichotomie in der neutestamentlichen Wissenschaft ist, wurde mir klar, als ich eine neue Einleitung für die zweite Auflage meines Buches, The School 01 St. Matthew (Philadelphia 1968, i-xiv) vorbereitete. Es war für einige meiner Kollegen vom »jüdischen Hintergrund« eine Überraschung, wenn nicht ein Schock, daß der Autor jenes Buches, einer am Alten Testament und an Qumran orientierten Studie des Matthäus, jetzt das Matthäus-Evangelium als ein »hellenistisches« Phänomen sah, einer vorwiegend heidenchristlichen Gemeinde zugehörig. In jenem Vorwort habe ich mein Verständnis des Matthäus-Evangeliums genauer erläutert. Die Arbeit von Georgi über die »Kollekte« ist eine genaue Angabe über die Stellung, die Paulus innerhalb des frühen Christentums einnimmt. Seine wichtigsten Arbeiten: Die Gegner des Paulus im 2. Korintherbrief. Studien zur religiösen Propaganda in der Spätantike (Neukirchen 1964) und Die Geschichte der Kollekte des Paulus für Jerusalem (Hamburg 1965). Ein Kommentar zum 2. Ko-
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rintherbrief, der auf Englisch erscheinen wird, ist in Vorbereitung. Wie die fünfziger Jahre in der Wissenschaft unter dem großen Antrieb standen, den die Rollen vom Toten Meer gaben, die manche Hypothese über das palästinische Judentum des ersten Jahrhunderts bewahrheiteten oder auch falsifizierten, so ernten wir heute die Früchte aus der koptischen gnostischen Bibliothek von Nag Hammadi. Dieser Fund ist eine große Bereicherung für die Paulusauslegung. E. H. Pagels hat den Lesern der Paulusbriefe in ihrem Buch The Gnostic Paul (Philadelphia 1975) ein wertvolles Hilfsmittel an die Hand gegeben. Sie bringt Kapitel für Kapitel für jeden Brief des paulinischen Materials verschiedene gnostische Interpretationen. Eine ganze Auslegungswelt, die in den frühesten Anfängen der christlichen Bewegung wurzelt, wird hier lebendig. Pagels zeigt uns, daß - wie auch immer die Absichten des Paulus gewesen sein mögen - seine Schriften in mächtige Systeme gnostischer Spekulation umgeformt werden konnten. Für mich ist dies eine ernste Warnung vor allen »tieferen« Bedeutungen; sie schützt uns vor der Versuchung, in der religiöse Menschen immer stehen, Paulus und Gott dadurch zu ehren, daß wir den Worten und dem Wort »Tiefe« hinzufügen. Paulus schrieb und sprach viel klarer und konkreter, als wir es ihm erlauben. Ernst Käsemann hat in seinen Paulinisehen Perspektiven (Tübingen 1969) eine ausführliche Kritik meines Aufsatzes Paul and the Introspective Conscience 0/ the West (Harvard Theol. Review 1963) geschrieben. Ich möchte auf diese ernstzunehmende Kritik eingehen. Zugleich ist dies eine Gelegenheit, mit Ehrfurcht und Bewunderung Käsemanns neuen Kommentar An die Römer (Tübingen 1974) zu nennen. Dieses Meisterwerk wird für lange Zeit ein Meilenstein in der Erforschung des Römerbriefs bleiben - es ist so überreich an Einsichten, es ist mit einer solchen leidenschaftlichen Überzeugung von der Richtigkeit und aktuel-
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len Notwendigkeit der protestantischen Sicht des Paulus geschrieben, daß es für mich eine große Ehre ist, mit diesem Meister der protestantischen Exegese in die Diskussion zu treten. Käsemann hält mein Denken für eine ernste Bedrohung des Protestantismus - was für ihn gleichbedeutend mit einer Bedrohung des authentischen Verständnisses von Paulus und Jesus ist. Ich teile seine tiefe Sorge um die theologischen Konsequenzen exegetischer Arbeit, aber ich bin nicht sicher, ob man »das Evangelium« so einfach unter das Schema der »Rechtfertigung des Gottlosen« einreihen kann (Röm. 4,5; vgl. 5,6; Paulin. Perspektiven, 131, 134 u. ö.) - oder überhaupt unter ein einziges Schema, es sei paulinisch oder nicht. Gleicherweise bin ich nicht davon überzeugt, daß das Weiterleben der reformatorischen Erkenntnisse von der Fortsetzung einer solchen Paulusinterpretation abhängt, wie Käsemann sie vertritt. Am meisten erstaunt mich jedoch, wie Käsemann das zusammenfaßt, was er die »Stendahl-These« nennt: »Angeblich hat der nach innen gerichtete Blick des Abendlandes den paulinischen Kampf gegen das judaistische Gesetzesverständnis, infolgedessen aber auch die daraus resultierende Rechtfertigungslehre zu Unrecht in die Mitte der Theologie des Apostels gerückt« (Paulin. Perspektiven, 108). Und er deutet an, daß ich die Rechtfertigungslehre für eine »antijudaistische Kampfeslehre« halte, eine Sicht, an der ihm sehr gelegen ist. Sollte mein damaliger Aufsatz so ganz mißverständlich sein, sollte die Frage auch in diesem Buch nicht genügend klar geworden sein, so möge es mir erlaubt sein, meine »These« darzulegen: Paulus' Argumentation über die Rechtfertigung aus Glauben entspringt nicht seinem »Kampf gegen das judaistische Gesetzesverständnis«, sie ist keine »antijudaistische Kampfeslehre«. Ihr Ort und ihre Funktion besonders im Römerbrief sind nicht polemisch, sondern apologetisch; er verteidigt so das Recht der Hei-
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den, Vollmitglieder des Gottesvolkes zu werden. Wenn er im Galaterbrief von der »Rechtfertigung aus Glauben« spricht, dann verteidigt er damit die Rechte seiner heidnischen Konvertiten gegen die Praxis des »Judaisierens«, also dagegen, die Heiden unter Beschneidung und Speisegesetze zu stellen. Es gibt zudem keinen Grund für die Annahme, .daß Paulus persönlich irgendwelche Schwierigkeiten hatte, das Gesetz zu halten. Diese meine »These« ist also zugleich radikaler, als Käsemann erkennt, und auch begrenzter in ihrer exegetischen Funktion, als er zulassen will. Es ist schade, daß er die Diskussion auf den Römerbrief beschränkt, denn ein wichtiger Teil meiner Anfragen an die Tradition gründet auf der Beobachtung, daß die Rechtfertigungslehre im Ganzen der paulinischen Schriften gerade nicht zu den vorherrschenden Themen gehört und daß sie deshalb auch nicht als Schlüssel zu seiner Theologie geeignet ist. In dieser Situation ist es nun schwierig, Käsemann zu antworten. Anstatt zu zeigen, daß meine exegetischen Beobachtungen falsch sind, konstruiert er eine Antithese, in der ich die Heilsgeschichte der Rechtfertigungslehre gegenüberstellen soll (113). Er geht dann auf alle Übel in der Kirche und in der Welt ein, die aus einer »Geschichtstheologie« stammen können, bis hin zu naivem Kulturoptimismus und gar Nazismus (114). Ähnlich könnte ich nun I darauf verweisen, wie die Pogrome und der Holocaust (die Vernichtung der Juden durch die Nazis) ihre Begründungen in einer Sicht finden konnten, für die das Judentum ein ewig verdammter und falscher Weg zu Gott ist, in einer Vorstellung, daß die Juden (einschließlich Qumran) die »Rechtfertigung des Frommen« als Ziel des göttlichen Planes sahen (134), dieselben Juden, die im Jahre 70 »mit den Trümmern ihres Tempels ihre eschatologischen Hoffnungen« begruben (132) - und dies, nach Käsemann, weil sie eine falsche Geschichtstheologie hatten. Doch hier geht es darum, ob Paulus in seiner Rechtferti-
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gungslehre die Frage beantworten wollte: wie verstehe ich, Paulus, meine Heidenmission in Gottes Plan? Wie kann ich das Recht der Heiden auf Teilhabe an den göttlichen Verheißungen verteidigen? Oder ging es ihm um die Antwort auf eine Frage, die ich für eine spätere Frage des Westens halte: wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Das sind exegetische Fragen. Sicherlich kann man sie verschieden beantworten, aber man muß es exegetisch tun. Sind es diese zwei Möglichkeiten, an die Käsemann . denkt, wenn er sagt, daß ich »die Heilsgeschichte gegen die Rechtfertigungslehre ausspiele« (117), dann scheint er seinem Zirkelschluß zu erliegen: Er nimmt den Begriff »Rechtfertigung aus Glauben« im traditionellen protestantischen Sinne, und zwar in einer Diskussion, in der genau diese traditionelle Paulusinterpretation zur Debatte steht. Alles, was ich vorschlage, ist dies: Bei Paulus steht die Argumentation über die Rechtfertigung aus Glauben innerhalb seines Nachdenkens über Gottes Plan für die Welt. Ich mag hier Unrecht haben, aber es geht mir wahrlich nicht darum, abstrakte Positionen über Geschichtstheolo:.. gien zu verteidigen. Käsemann vermutet, daß mein Denken zu Triumphalismus führen muß. Als westlicher lutherischer Theologe des 20. Jahrhunderts teile ich seine Empfindlichkeit gegenüber den Gefahren des Triumphalismus völlig; das vorliegende Buch dürfte dies verdeutlicht haben (z. B. der Teil Gericht , und Gnade). Schon 1963 sagte ich in dem erwähnten Aufsatz - wenn auch nur kurz - daß die paulinische Grundlage für seinen Anti-Triumphalismus nicht in seiner Rechtfertigungslehre zu sehen ist, sondern zum einen in der Betonung seiner »Schwachheit« und zum anderen in der eschatologischen Akzentuierung unseres Seufzens gemeinsam mit der Schöpfung - wie auch immer das Verhältnis zwischen diesen beiden gedeutet werden mag. In keinem von beiden Fällen geht es um die Rechtfertigung' aus Glauben. 142
Ich möchte nun hinzufügen, daß eines der überraschenden Elemente des paulinischen Anti-Triumphalismus gera- : de darin liegt, daß er im Römerbrief nicht gegen das i Judentum kämpft, sondern daß er an einen Punkt gelangt, ) wo er die Heidenchristen davor warnt, Überlegenheitsge- ! fühle (das ist christlicher Triumphalismus!) gegenüber dem, Judentum und den Juden zu entwickeln (Röm. 9-11, vor. allem 11,11-35 mit seinem Höhepunkt in einer nicht-chri-! stologischen Doxologie). Wenn Paulus darauf kommt, daß die Jesusbewegung eine heidnische Bewegung werden wird - Gott wird Israel zu seiner Zeit und auf seine Weise aufrichten - dann haben wir hier keinen Triumphalismus vor uns, sondern ein Denken, das Paulus benutzt, um den religiösen Imperialismus des Christentums aufzubrechen. Ich lese dies auch als eine Warnung vor jener Art des theologischen Imperialismus, der in seiner Lehre von der Rechtfertigung des Gottlosen triumphiert und für den »das Judentum« ein Schlagwort für alle falschen Haltungen gegenüber Gott geworden ist. Aus ähnlichen Gründen kann ich Günther Bornkamms letzten Abschnitten über den Römerbrief in seinem Paulus nicht zustimmen. Bornkamm hat klar erkannt, daß das Thema im Römerbrief und vor allem in Röm. 9-11 nicht die Judaisierer oder »diese oder jene Gruppe in irgend einer Gemeinde, sondern das Judentum« ist (110). Aber er interpretiert dieses Judentum als Gegner des Paulus, von daher ist für ihn der Römerbrief »durch und durch polemisch (gegen) das Judentum und sein Heilsverständnis« (110). Ich würde wieder betonen, daß Paulus keine Polemik gegen die Juden schreibt, sondern eine Apologie seiner Heidenmission, innerhalb derer er über das Geheimnis von Gottes Handeln an Israel nachdenkt. Wichtiger ist mir jedoch zu zeigen, wie Bornkamm diese Polemik durch einen gebräuchlichen Trick noch ausweitet, wenn er sagt: »Der Jude figuriert hier in gewisser Weise als der Mensch in seinen höchsten Möglichkeiten, er repräsenJ
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tiert den >Frommen<, der ... nicht wahrhaben will, daß er an Gottes Anspruch gescheitert und an Sünde und Tod verloren ist« (110). Diese westliche Sicht des Judentums drückt sich ebenfalls in Bultmanns hermeneutischem Prinzip aus, daß der Mensch durch die Zeiten derselbe bleibt. Was bei Bultmann jedoch ein hermeneutisches Prinzip ist, spielt bei anderen Historikern, die sich über ihre eigenen Voraussetzungen keine Rechenschaft ablegen, eine unbewußt verfälschende Rolle. In seiner Studie Die Eschatolo- . gie der jüdischen Gemeinde im neutestamentlichen Zeitalter (1934) benutzt P. Volz das Wissen des Menschen um seine individuelle Erlösung in der Beziehung zum gequälten Gewissen des einzelnen als eine der Verbindungslinien zum jüdischen Hintergrund des Neuen Testaments (111 ff). Wenn er jedoch einen Beleg dafür sucht, daß es dem Judentum jener Zeit wirklich um diese Frage ging, dann findet Volz in der gesamten rabbinischen Literatur nur ein einziges Beispiel, das diese Haltung eines gequälten Gewissens vielleicht belegen könnte (bBer 28b). Dies sind klassische Beispiele für jene Sicht des Paulus und des Judentums, . die ich mehr und mehr in Frage stelle. Es ist ein frei erfundenes Bild vom Judentum, das nicht durch jüdische Texte zu belegen ist. Für diese Frage verweise ich auf eh. Klein, Theologie und Anti-Judaismus (München 1975), die sehr deutlich aufzeigt, wie diese Sicht des Judentums, die in der neutestamentlichen Wissenschaft weithin vorherrscht, die Theologie beeinflußt hat. Man könnte nun einwenden, daß die Darstellung z. B. bei Bornkamm doch der Sicht entspricht, die Paulus vom Judentum hatte. Dies bestreite ich. In der Tat wurde dieses Buch deshalb geschrieben, um diesen Zweifel zu verstärken und einige Alternativen aufzuzeigen. Als wichtigste Frage stellt sich damit weiterhin die, ob ein solcher Gebrauch der Rechtfertigungslehre eine authentische, um nicht zu sagen legitime Anwendung des paulinischen Denkens ist. I