K L E I N E
B I B L I O T H E K
D E S
W I S S E N S
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KU LT U R K U N D L I C H E
ALBERT
...
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K L E I N E
B I B L I O T H E K
D E S
W I S S E N S
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KU LT U R K U N D L I C H E
ALBERT
H E F T E
HOCHHEIMER
DERJANGTSE DIE
LEBENSADER
VERLAG MURNAU-
CHINAS
SEBASTIAN
MÜNCHEN
LUX
- I N N S B R U C K
-BASEL
»Ich versichere euch, daß der größte Fluß der Welt, dessen Name Kiang ist, weiter strömt, mehr Städte und Länder berührt, eine größere Zahl von Schiffen und mehr Gut und Waren befördert als alle Flüsse und Meere der Christenheit zusammen. Er scheint in der Tat eher ein Meer als ein Fluß zu sein." Als der große Ostasienreisende Marco Polo diesen Bericht über den Jangtse niederschrieb — es war die Zeit, als Dante lebte und Ludwig d. Bayer Kaiser war —, gab es in Europa nur unbedeutende Schiffe, und man kannte kaum Segler mit einem Fassungsvermögen von hundert Tonnen. Zur gleichen Zeit fuhren auf dem Jangtse schon jährlich zwanzigtausend Schiffe, jedes zweihundert bis sechshundert Tonnen groß. Übrigens ist der Name, den Marco Polo für den Fluß gebraucht — Kiang, d. h. Strom — der gebräuchlichste; so wird der Fluß schon in den ältesten Urkunden genannt, und so nennen ihn heute noch die Chinesen. Sie sprechen aber auch vom „Ta-Kiang", dem Großen Strom, oder vom „Tschang-Kiang", dem Langen Strom. Nur im Mündungsgebiet ist der bei uns allgemein übliche Name Jangtsekiang im Gebrauch. Kein Strom der Welt kommt aus größeren Höhen herab als der Jangtse — nicht einmal der Amazonas. Die Quellflüsse des großen Stromes entspringen nördlich von Lhasa* in den breiten, flachen Talwannen Hochtibets, das noch kaum erforscht ist. Hier finden wir alles noch mit eiszeitlichem Schutt und Verwitterungsmaterial ausgefüllt und die Erde bis in ihre Tiefen gefroren. Die Wintertemperatur ist wegen der Höhe von mehr als 4600 Metern außerordentlich niedrig, wird aber durch die kräftige Sonnenbestrahlung gemildert, so daß der abgehärtete Tibetaner auch im Winter eine Schulter entblößen kann. Eisige Weststürme zwingen die Gebirgler, gegen Osten offene Dungmauern zum Schutz ihrer Zelte zu errichten. Im Sommer aber weht bei starken Temperaturschwankungen der regenspendende Monsun bis ins Grasland hinauf, das trotz seiner Verlassenheit eher einer riesigen Alpenmatte gleicht als einer Steppe. Die Stromschlucht dagegen, in die der Jangtse sich zwischen den Bergriesen hindurch ergießt, ist infolge der Föhnwirkung des Monsuns dürr, steppenartig und fast pflan* Vgl. hierzu Lux-Lesebogen 114, „Wir ritten nach Lhasa". 2
zenlos, ein düsterer Felsenabgrund, an dessen jähen Wänden mächtige Wolfsmilchgewächse und Feigenkakteen wuchern. Weiter südlich wird das Gebirge von zahllosen tiefen Rinnen zernagt. Die Gipfel ragen nun nicht mehr in die Regionen des ewigen Schnees hinauf, und das zu Tal strömende Wasser hat hier weite F.inschnitte geschaffen mit Wäldern und vielartigem Getier. Fleißige, Ackerbau und Gewerbe treibende Tibetaner bewohnen die Stromufer. Hoch an den Hängen auf kleinen natürlichen Terrassen und auf den Resten des Talbodens liegen zerstreut die dürftigen Maisund Bohnenäcker der Lissu, eines jener halbtiberanischen Völker, die diese Grenzländer bis vor kurzem unter ihren eigenen Fürsten ziemlich unabhängig besiedelten. Der tibetanische Name des Stromes ist „Dretschu", und von Aschi an, wo sich breit und ruhig ein schönes Tal öffnet, nennen ihn die Chinesen wegen seiner Farbe „GoldsandHuß". In dieser Gegend überspannt die erste Brücke, eine alte chinesische Kettenbrücke höchst fragwürdiger Konstruktion, das Strombett zwischen fast senkrechten Steilwänden: Sechzehn parallele Eisenketten, die einige morsche, lose Bretter mit Schrittweiten Lücken tragen, und zwei Ketten als Geländer — das ist die ganze Herrlichkeit. Bedenklicher noch sind die tibetanischen Seilbrücken, die in den unbekannten Schluchten die Ufer miteinander verbinden. Sie bestehen aus einem einzigen Bambusseil, das an einem Ufer höher befestigt ist als am anderen; auf dieses Seil legt der Passant ein hohlziegelartiges Stück Bambus, wirft die Schlinge eines Lederriemens darüber, in die er sich setzt, und gleitet in sausender Fahrt über das in der Tiefe brausende Wildwasser hinweg, bis er drüben mehr oder weniger sanft an dem Ankerplatz des Brückenseils aufprallt. Für die Gegenfahrt dient ein zweites Seil, das am anderen Ufer höher aufgehängt ist. Wo der Jangtse am weitesten nach Süden gelangt, wird die Stromlandschaft wie eine tropische Insel am Rande der Schneeberge. Reisterrassen bedecken die Hügel, die Dörfer stehen im Schatten laubreicher Bäume, und in den Wäldern schreien bunte Papageien. Doch nicht lange währt dieser Vorgeschmack der fruchtbaren Ebenen. Noch einmal muß der Strom eine Bergkette Osttibets durchbrechen. Es ist ein wildes Gebirgsland. Rauhe Abstürze führen unergründlich zum 3
Flußlauf hinab. Schmale Grate und klotzige Klippen springen zwischen ihnen vor und schießen senkrecht oder als jähe, kahle Schutthalden in den Abgrund. Nur oben klebt zuweilen ein Stückchen Wald, unten ist alles dürr und pflanzenlos. Diese letzte Gebirgskette ist fast vierhundert Kilometer lang, reich an Klippen und Wasserfällen, aber nur selten ist ein Europäer bis zu ihnen vorgedrungen. Zur Rechten erhebt sich hier das tief zerfurchte Plateau von Yünnan mit viertausend Meter hohen Gipfeln, zur Linken liegt das Land der fast unabhängigen Lolo mit den schneebedeckten Bergriesen des Lolo-Gebirges (s. Karte), die selbst den Chinesen unter dem Namen „Sonnenbrücke" eine sagenhaft-ferne Welt sind. Und dann, nach einem letzten Wasserfall, tritt der „Goldsandfluß" in das Rote Becken ein, und der Jangtse wird nun endgültig zum Chinesen. Hier in der Ebene ist der Winter mild und wolkenreich, der Sommer drückend feuchtheiß und das menschenwimmelnde Land ein.großer Garten, in dem alles gedeiht, was subtropische Zonen an Kulturpflanzen hervorbringen. Der Jangtse durchquert den südlichen Teil dieses Gebietes in einer sanften Flußlandschaft, unter Obstbäumen versteckt liegen die Fachwerkbauten der Bauernhöfe, inmitten von Reis- und Zuckerrohrfeldern stehen Bambusbüsche wie grüne Fontänen, und aus den Toren malerisch ummauerter Städtchen strömt das Volk zur Schiffslände. Auf dieser Strecke verkehren schon kleine Dampfer und zahllose Dschunken (s. Bild Seite 25). Wir fahren an der ersten chinesischen Großstadt vorüber, Suifo, wo vom Norden her der Minho mündet; er führt fast die gleiche Wassermenge heran wie der Jangtse — von den Chinesen wird er wegen seiner Schiffbarkeit als der Hauptstrom angesehen. Hier hat der Mensch schon vor zweitausend Jahren den Strom durch künstliche Bauten in Hunderte von Kanälen zerteilt, die das ganze Gebiet fächerartig durchziehen und sich immerfort verzweigend bis zu den kleinsten Gräben der Reisfelder vordringen. Das Bauernland ist außerordentlich dicht bevölkert und ernährt auf einem Quadratkilometer 840 Menschen, mehr als das Doppelte der engbesiedelten Niederlande. Seit Menschengedenken sind Mißernte und Überschwemmung hier unbekannt. An einem Felsen entdecken wir eine eingemeißelte Inschrift, die der Schöpfer der großartigen Bewässerungsanlage seinem Volk hinterlassen hat: „Grabt die Gräben tief 4
Der Jangtsekiang, benannt nach einer um 1350 zerstörten Handelsstation „Jangtse", oder Tschang-Kiang (Langer Strom) oder Ta-Kiang (Großer Strom) ist der bedeutendste Fluß Chinas, ja Asiens überhaupt. Er entspringt in Osttibet, nahe dem Tangla-Gebirge, und seine Länge wird auf rund 5600 Kilometer geschätzt. Mit seinem Einzugsgebiet ist er zugleich der wassereichste Strom der Alten Welt.
und haltet die Deiche niedrig!" — ein Arbeitssystem, das sich im Wandel der Zeit aufs beste bewährt hat. Bei der Millionenstadt Tschungking, die von 1939 bis 1945 Sitz der Nationalregierung war, mündet der schluchtenreiche, stattliche Kialing. Tschungking liegt in der Provinz Setschuan, die wegen der Flüsse Jangtse, Minho, To und Kialing „Vierstromland" genannt wird. Für die sechsundsiebzig Millionen Bewohner Setsdiuans ist der Jangtse die Lebensader. Er ist nun ein mächtiger, achthundert Meter breiter Strom geworden, der im Sommer um dreißig Meter steigt.
Nord und Süd — zwei Welten Durchwandern wir die Dörfer und Städte an beiden Ufern, so erkennen wir schon bald, daß die Vorstellung von einem einheitlichen Chinesen nicht zutrifft. Wir begegnen Menschen, die in Wuchs, Temperament und geistiger Anlage stark voneinander abweichen. Da ist der Nordchinese, ein klar denkender, abgehärteter Mensch, groß kräftig, gesund, munter und gutgelaunt, ein Zwiebelesser und Spaßmacher, in jeder Hinsicht mongolischer und urwüchsiger als das Völkergemisch aus der Gegend des Jangtse-Deltas. Von seiner Art sind die Boxer aus Honan, die Räuber aus Schantung und die königlichen Abenteurer, die China Kaisergeschlechter schenkten. Am Südufer — in Südchina — lebt ein anderer Menschenschlag: Üurch und durch verbürgerlicht und geistig überzüchtet, körperlich aber zurückgeblieben, Liebhaber der Poesie und jeglicher Lebensannehmlichkeit, unansehnliche, kleingewachsene Männer und schmächtige Frauen, mit Vogelnestersuppe und Lotussamen aufgepäppelt, pfiffige Geschäftsleute, begabte Literaten, immer bereit, klein beizugeben, ehe die erhobene Faust auf sie niedersaust. Es sind die Abkömmlinge der kultivierten Familien, die mit ihren Büchern und Bildern über den Jangtse zurückwichen, als China von barbarischen Eroberern überflutet wurde. Noch weiter im Süden, in Kwantung, leben wieder andere Menschentypen, unternehmend, sorglos, verschwenderisch, zu Streit und Abenteuern aufgelegt, regsam und quecksilbrig, in Mittelchina aber leben die Hupeh-Leute, die man im übrigen Reich mit „neunköpfigen Vögeln des Himmels" vergleicht, weil sie nicht unterzukriegen sind. Der Pfeffer ist ihnen pur noch zu wenig scharf, sie essen ihn 6
erst, wenn er in öl geröstet ist. Ihre Nachbarn aus Hunan sind als gute Soldaten und sture Dickschädel bekannt. Die Handelsbeziehungen zwischen Nord und Süd und die Gepflogenheit der Kaiser, Gebildete auf Beamtenposten außerhalb ihrer Heimatprovinz zu berufen, haben eine gewisse Vermischung bewirkt und die landschaftlichen Unterschiede ausgeglichen. Aber die Tatsache bleibt bestehen, daß der Mann aus dem Norden seinem Wesen nach ein Eroberer, der Mann aus dem Süden dagegen ein Händler ist. Es entstand geradezu eine Überlieferung: Kein Reisesser aus dem Süden könne je den Drachenthron besteigen, nur ein Nudelesser aus dem Norden sei dazu fähig. Auch in Sprache, Musik und Dichtung ist der Unterschied groß. Die Lieder aus dem Norden werden zu dem metallischen Rhythmus harter Holzscheiben gesungen und ähnlich den Jodlern der Älpler in hohe Stimmlagen hinaufgeschraubt. Sie erinnern förmlich an Windesheulen auf Berggipfeln, auf endlosen Weiden und verlassenen Sanddünen. Die Musik des Tieflandes ähnelt dagegen — kehlig und näselnd — einem nachlässigen Gezirp, das im Gegensatz zu dem wohltönenden kräftigen Nordchinesisch ein sanftes, zärtliches Geplapper ist, voll rundlippiger Vokale und übertriebener Akzente. Besonders deutlich aber tritt die Verschiedenheit in der Poesie zutage. Gäbe es nur den nüchternen Geist des fleißigen, phantasielosen Nordchinesentums, das seinen hervorragenden Ausdruck in der Person und Lehre des Konfuzius fand, so wäre die chinesische Literatur eine blutleere, harte und gefühlsarme Schöpfung geblieben. Die Dichtung aus Nordchina besteht aus kargen, klaren Zeilen; die Form ist sozusagen unmittelbar und ihr Inhalt ohne Beschönigung aus der schwermütigen nördlichen Landschaft empfunden: Drüben am Fluß Che-leh, Unter den Bergen von Yin, Wölbt sich wie eine Schale Der Himmel über der Öde. Riesengroß ist die Erde, Schwarzblau das Firmament, Der Wind beugt nieder das Gras, Drin Schafe und Rinder weiden. 7
Aus dem Jangtsetal und aus den südlichen Bezirken aber kommt die Auflehnung gegen die starrere Form des Nordens, gegen den kriegerischen Geist und die Überschätzung des Staates; am Jangtse entstanden die farbensatten Märchen und die launigen Angriffe auf die steife konfuzianische Lebensauffassung und ihr Weltverbesserertum. Die Landschaftsmalerei, die schönste Blüte der chinesischen Kunst, ist ganz und gar südchinesisch, und die unsterblichen Dichter, fröhlichen Zecher und heiteren Volkssänger stammen alle aus den Tälern des großen Stroms, dem sie tief verbunden blieben. Der Bedeutendste unter ihnen besang die Reize des Jangtse schöner, als der Pinsel eines Malers sie wiederzugeben vermag. Silbergrauer Märzrauch webt Schleier um die Blumensterne, Einsam gleitend in die Ferne Meines Freundes Dschunke schwebt, Bis ihr Schatten ganz zerfließt In dem blauen Himmelsbogen Und der Strom die leeren Wogen In die leere Luft ergießt.
Hundertmal Geduld! Geduld aber ist eine der Erscheinungen aller Chinesen. Übervölkerung und wirtschaftlicher Druck, die dem einzelnen wenig Ellenbogenfreiheit ließen, mögen die tieferen Ursachen sein. Kaum ein Volk hat so viel Tyrannei, Anarchie und Mißwirtschaft hingenommen wie das chinesische: In manchen Bezirken von Setschuan besteuerte man die Bauern dreißig Jahre im voraus, und ihre einzige Reaktion bestand in halblauten Verwünschungen innerhalb ihrer vier Wände. In einigen Gegenden gab es Schweinebraten-Speisekartensteuer, sogar Rechtschaffenheits- und Wohlgesinntheitssteuer; die Hausnummer, die Faulheit und die Vaterlandsliebe waren mit Abgaben belegt, und die Bauern verkauften oftmals ihre Frauen und Kinder, um die Steuern bezahlen zu können. Die eigentliche Erziehungsstätte zur Geduld aber ist die Familie, wo Schwiegertöchter, Schwäger, Väter und Söhne in einem Haushalt tagtäglich beieinander Langmut praktisch erlernen. Es gilt als 8
Ist der Fluß seicht, bedient man sich langer Bambusstangen und stakt, die Stangen gegen die Schultern gestemmt, bordentlang . . . ungehörig, seine Türe abzuschließen, und da dem einzelnen nur ein geringes Maß an Lebensraum bleibt, ist von Jugend an die gegenseitige Duldung und Anpassung selbstverständlich. Einen von aller Welt beneideten Minister, der neun Generationen unter seinem Dach beherbergte, fragte der Kaiser einst, wie er mit seinen komplizierten häuslichen Verhältnissen fertig werde; der patriarchalische Hausvorstand ließ Pinsel und Papier herbeiholen und schrieb hundertmal das Schriftzeichen „Geduld" nieder. Die Worte dieses Ministers „Hundertmal Geduld" sind zu einem jener Sprichwörter geworden, die man auf rotes Papier schreibt und zu Neujahr an alle Haustüren klebt: „Geduld ist das beste Erbteil". Ein Volk lernt man am ehesten kennen, wenn man seinen kleinen Lebensfreuden nachgeht. Es ist kaum abzusehen, was dem geduldigen Chinesen alles einfällt, wenn man ihm nur die nötige Zeit läßt: Er singt Arien, läßt Drachen steigen und spielt Federball; er macht hübschgefügte Schachteln aus Papier, löst komplizierte 9
Geduldspiele und vergnügt sich mit Mahjong und Grashalmeziehen; er geht zum Hahnenkampf, tollt mit seinen Kindern herum, gießt seine Blumen und spielt Schach; er plaudert gern und lange, kauft sich Singvögel, macht Rechenspiele mit den Fingern, schlägt Trommel und Gong und spielt auf der Flöte; er formt hübsche Papierlaternen für die Feste der Lebenden und Toten; er pilgert zu den Heiligtümern im Lande, besucht die Tempel und schaut gern bei Bootsrennen zu; er stellt sich an eine Straßenecke und betrachtet das Leben und Treiben, er liest Klassiker, übt sich in Atemgymnastik und läßt sich wahrsagen; er macht Jagd auf Grillen, kaut Melonenkerne und verbrennt kostbaren Weihrauch; er löst mit Vorliebe literarische Rätsel, züchtet Topfblumen, schickt seinem Nachbarn selbstgefertigte Geburtstagsgeschenke, macht Kotau vor ihm und nimmt seinen Kotau entgegen, er liebt es, viele Söhne zu haben, die den Ahnen opfern — kurz, er ist in seiner Art ein Mensch wie du und ich, trotz allem, was ihm der Wechsel der Regierungssysteme auch immer auferlegen mag!
In den Stromschnellen Auf unserer Fahrt stromab geraten wir unterhalb von Tschungking in das Gebiet der Stromschnellen und Schluchten, mit denen der Jangtse das östliche Randgebirge des Roten Beckens — den sagenumkränzten Zauberberg — durchbricht. Diese Stromstrecke ist wegen ihrer düster-großartigen Romantik weltberühmt geworden; daß die Dampfer und die schwerfälligen Dschunken solche Hindernisse passieren können, ohne aufzulaufen, gegen die Felsen geworfen zu werden, in den Strudeln zu scheitern, grenzt geradezu ans Wunderbare. Die Täler sind ungeheuerlich und anmutig zugleich. Im Wechsel der Zeit sind durch Regen, Stürme und Hochwasser burgenartige Gebilde, Türme und Säulen aus den Graten der Berge gewaschen. Altäre mit farbigen Götterbildern stehen versteckt in den höchsten Felswänden, in Nischen, die von Opferfeuern geschwärzt sind. Auf schmalen Streifen in den Bergwänden liegen Dörfer und Städtchen, und die Gipfel grüner Pflaumenbäume bauchen sich wie Kugeln über kleine weiße Heiligtümer — Zeugen eines verfeinerten Landschaftsgefühls. Ziegen klettern in Scharen zwischen den Sträuchern 10
Manni Hesse
Digital unterschrieben von Manni Hesse DN: cn=Manni Hesse, c=DE Datum: 2007.01.01 13:53:58 +01'00'
herum, laufen über die Kanten der Abgründe, große Weihe schweben aus den Steilwänden nieder und streifen schreiend über den Strom. Alles ist hier Größe und Wildnis, von Anmut gemildert. Die Untiefen im Flußbett entstanden meist durch Bergstürze oder durch Geröllmassen, die, von den Bächen in den Strom geschwemmt, die Fluten aufstauen und einengen. Jede Stromschnelle besteht aus dem „Kopf", dem angestauten Wasser, der „Zunge", dem glatt einschießenden Wasserhang, der von unberechenbaren Wirbeln eingefaßt ist, und der „Anfahrt" — dem schwierigsten Teil — mit schäumenden Strudeln, die sich weit talwärts ausdehnen und mit ihren verborgenen Klippen dem treibenden Schiff verhängnisvoll werden können. Der Lotse, der hier an Bord kommt, muß sein Fahrzeug im Stromstrich halten, damit er nicht abgedrängt wird. Glückt die Einfahrt in die „Zunge" nicht beim ersten Mal, so muß sie wiederholt werden. Bei den Dampfern hängt das Gelingen von der Stärke der Maschine ab; besonders gefahrvoll ist die Talfahrt, weil das Boot, um steuerfähig zu bleiben, mit Volldampf die Schnellen durchqueren muß. Die Schwankungen des Wasserspiegels betragen auf dieser 640 Kilometer langen Strecke bis zu fünfzig Meter; wo bei Niedrigwasser unterirdische Klippen drohen, ist bei Hochwasser nichts zu fürchten, doch entstehen hier und da neue Strudel — kurz, bei jedem Schwanken der Wasserhöhe ändert sich die Fahrrinne, und der Lotse hat alles zu bedenken, muß jedes Hindernis kennen und gefährliche Situationen überschauen. Gestrandete Fahrzeuge hängen im Winter zwanzig bis dreißig Meter hoch in den Felsen (s. Bild Seite 17). In das grobe, senkrechte Gestein eingehauen, steigen Treidelwege in Windungen auf und ab. Droben gehen die Zieher der Dschunken. Sie schweben am Seil über der Tiefe, hängen an den Ketten, die an einigen Stellen in die Wände eingelassen sind, und der Fels ist von den Leibern, die sich in Angst vor dem Abgrund angedrückt haben, glatt geschliffen. Ein Reisender, der in einem Hausboot nach Tschungking hinauffuhr, beschreibt die Fahrt durch die gewaltige Fong-Siang-Schlucht: „Der Weg ist in die senkrechten Gebirgswände hineingehauen und führt fast zweihundert Meter hoch über dem Wasser. Die Zieher aber gehen nicht bis zu ihm hinauf. Wir sahen sie manchmal bei 11
gefährlichen Kletterpartien. Hinter uns kam eine große Dschunke, die uns offenbar überholen wollte, ihre Arbeiter und Kulis brüllten, daß das Tal widerhallte; es mochten an die hundert Treidler sein, und das dicke Zugseil ging schon über unseren Mast hinweg. Da sahen wir, wie auf einer schroffen Felsbank die Scharen ihrer Schlepper sich mit unseren Kulis einen Augenblick mischten und das Seil der Dschunke sich irgendwo verfing. Einer der Leute sprang herzu und kappte es, und mit einem drohenden, grollenden Ton sprang es in die Luft, jagte wie eine Riesenpeitsche von Stein zu Stein auf die Felsplatte zu, auf der die Zieher in den Schlaufen hingen. Es schlug in die Gruppe hinein. Die Männer schwankten, stürzten, und zwei überschlugen sich, suchten nach Halt — aber sie fielen hintenüber, stürzten, ohne Schrei, ohne einen Laut von sich zu geben, in den Abgrund, und die Flut zermalmte sie in ihren Strudeln und begrub sie. Die anderen zogen weiter, als wäre nichts geschehen, als wäre niemand herabgestürzt. Die Treiber brüllten, die Kulis sangen und zogen, und die Schar der Hundert trennte sich allmählich von dem Haufen unserer Zieher und strebte rasch voran. Die schwere Dschunke glitt nahe an uns vorbei und überholte uns. Ich fragte den Boy, ob die Ertrunkenen zu uns gehörten. Er zuckte die Achseln. Menschenleben sind hier wie vorüberhastende Sekunden. Sie stürzen in Scharen durch die Tage, ertrinken und verschwinden spurlos, und es warten Millionen, sie zu ersetzen. Allenthalben sind Steinhaufen an den Ufern errichtet — symbolische Zeichen und Gräber für die abgestürzten Treidler." Die durch die Schluchten stromauf fahrenden Dschunken sind gewöhnlich sechsunddreißig Meter lang mit einem Fassungsvermögen von nahezu hundert Tonnen. Die Bergfahrt dauert fünfundzwanzig bis sechzig Tage. In einer Kajüte an Deck wohnt der Schiffer mit seiner Familie, während die hundertköpfige Besatzung der Zieher und Bootsleute unter freiem Himmel kampiert. Jedes fünfte Boot wird auf der Reise leicht, jedes zehnte schwer beschädigt und jedes zwanzigste gerät völlig in Verlust. Alle Dschunken sind als Segler ohne Kiel gebaut und führen, um übermäßige Abdrift zu vermeiden, auslegbare Schwerter, tief ins Wasser greifende Holzplatten, mit sich. Im Tiefland und in den 12
stromschnellenfreien Schluchten geht die Fahrt flott voran, zumal im Sommer, begünstigt durch den beständig stromauf wehenden Monsun. Läßt aber der Wind nach, arbeiten je zehn Mann, singend und im Takt fest aufstampfend, an den schweren Rudern, die wie ein Fischschwanz durch Kippen um die Längsachse hin und her gezogen werden. Ist der Fluß seicht, bedient man sich langer Bambusstangen und stakt, die Stangen gegen die Schultern gestemmt, bordentlang. Bewundernswert ist die Kunst der Lotsen, die durch Kreuzen die Rückströmung an den Ufern ausnutzen. Versagen aber diese Mittel, so wird die Zugmannschaft mit dem aus geschlitztem Bambus hohl geflochtenen Seil an Land gebracht. Solche Seile sind fünfhundert Meter lang und äußerst widerstandsfähig. Sie werden an den Mastspitzen befestigt, um das Überholen der am Ufer vertäuten Schiffe zu ermöglichen.
Treidler, Fischer und Kormorane Die Arbeit der hundert Treidler ist schwer: Unablässig ziehend, müssen sie über Fels und Ufergeröll klettern, vom Schiff her ermuntert durch Trommelwirbel und von Antreibern, die mit Stöcken die Spannung des Seiles prüfen. Die Schlußleute der Mannschaft haben das Seil von Felsen und Hindernissen freizuhalten, und an den Stromschnellen krallt sich die ganze Mannschaft mit Händen und Füßen an der geringsten Bodenerhebung fest und hängt waagerecht in den Gurten. Geradezu lebensgefährlich aber wird die Arbeit in den turmhohen Felsgalerien, die ohne Schutzmauer aus dem Gestein gechlagen sind, oder wenn es um eine Ecke geht und Mann um Mann aus den Gurten schlüpfen muß, um sie auf der anderen Seite wieder aufzufangen. Häufig brauchen selbst die Dampfer einen Vorspann von vierhundert Mann an acht Seilen. Ein Segen i ü r die geplagten Schlepper, die jeden Augenblick ihr Leben aufs Spiel setzen, sind die leuchtend rot gestrichenen Boote der Rettungsstationen, doch die Unfälle sind zahlreich, die Steilwände hoch und der Fluß reißend . . . „Wir wollten den Jehten nehmen", erzählt ein Reisender, „eine der heftigsten Schnellen. Die Treidler hingen weit vor uns im Sand an ihren Tauen, ihre Zahl war verdreifacht worden. Als das Boot 13
mitten in den Wirbeln war, konnte der Bug nicht mehr senkrecht zur Strömung gehalten werden. Das Schiff scherte aus dem Kurs, schoß plötzlich mit der Breitseite in den Strudel hinein und trieb ab. Die Leute in den Verkaufsbuden an den Ufern und die Besatzung der wartenden Schiffe verfolgten gespannt unsere gefährliche Situation. Da löste sich auch noch das Zugseil, und wir wurden in die Schnellen zurückgeschwemmt, vermieden knapp einen Zusammenprall mit den anderen Dschunken und jagten steuerlos in der Mitte des Stromes in rasender Fahrt zu Tal. Eines der roten Rettungsboote war uns gefolgt, aber die Flut trug uns sachte dem Ufer zu. Als wir zwei Stunden später — so weit waren wir den Fluß hinabgeworfen worden — von neuem in die Schnellen gingen, riß' das Zugseil; es fiel mit einemmal lautlos in zwei Teile auseinander. Aber der Schiffer hatte das Boot dieses Mal rechtzeitig durch ein Reservetau am Ufer gesichert, und es gelang den Treidlern, das Seil zu ersetzen und uns unter Stöhnen und Ächzen aus den rasenden Wirbeln zu ziehen . . ." Wo es möglich ist, sind alle Flanken und Flecken der Felsen mit Obstgärten, kleinen Äckern und Wiesen ausgenutzt. Das sieht sehr lebendig aus. Die Landschaft ist abwechslungsreich. Kleine schroffe Hügel springen im silbernen Dunst aus den Uferfelsen. Hinter ihnen wogt das Land hügelig weiter bis zu den kühn gewölbten Gebirgen, die der Nebel gefangenhält. Bauernhöfe liegen im Bambus verborgen, nur ihr Rauch verrät sie, und rund um sie ist der Boden bis ins allerletzte bebaut. Die Felder mit Hirse, Getreide und Kohl sehen aus wie Musterkulturen. All die Millionen kleiner Pflanzen stehen in geraden Strichen auf fettbraunem Boden. Zuweilen führt der Weg hoch oben am Berg durch bestelltes Land, an Tempelanlagen vorüber und an verfallenen Städten: zwei Tore, eine abbröckelnde lange Mauer, armselige Häuser. Einsam erhebt sich der Wegältar eines Gottes, oder aus einer Nische schaut die heilige Frau Kuan Jün. Am Rande ihres Heiligtums stehen ein paar rote, blumenbestickte Schuhe. Sie sind winzig klein wie Streichholzschachteln. Frauen, denen der Wunsch nach Kindern von den Göttern erfüllt wurde, haben sie hingestellt, und Frauen, die mit diesem Wunsch sich der Göttin nähern, sollen sie mitnehmen und, wenn ihr Wunsch in Erfüllung geht, wieder hinstellen. 14
Immer in Rudeln treiben die Boote zu Tal. Es kommen wuchtige Fahrzeuge mit hundert Menschen an ihren Rudern, und alle arbeiten gleichförmig wie Dampfmaschinenkolben. Einer steht zwischen jedem Ruderpaar in der Mitte. Er steht da wie ein Taktschläger in- den alten Kriegsgaleeren und singt den Takt für die mit kurzen Schlägen arbeitenden Ruderer: „Si-e, si-e". Dieses Si-e, si-e zieht durch die arbeitende Masse auf dem Schiff. Und der Chor stimmt ein, feierlich fast: „Ho-eho." Die Decks sind mit Gütern bepackt. Die Waren überschwemmen geradezu die Dächer und sind an den Seitenwänden angebunden. Die Fahrzeuge liegen tief im Wasser und eilen mit dem Fluß schwerbepackt der Welt zu, die auf sie wartet. Hier und da entdecken wir an den Ufern der Schnellen das Wrack einer Dschunke; es ist an Land gezogen, ragt mit seinem zerrissenen Bauch aus dem Wasser. Nackte Männer arbeiten darauf herum, und die Ladung liegt am Ufer zum Trocknen ausgebreitet. Manchmal sind es mehrere, denen es nicht gelungen ist, die Schnellen zu nehmen, und aus dem Sand am Gestade schauen allenthalben die verwitterten Gerippe von verlassenen Schiffen heraus, selbst Postboote sind darunter. Man sagt, daß ein Schiff, das bei der Bergreise verunglückt, meist nur Teilschaden nimmt, daß aber das Schiff, dem die Talfahrt mißlingt, mit Mann und Ladung rettungslos verloren ist. Der Fischreichtum des Jangtse ist außerordentlich; eine nach Millionen zählende Bevölkerung von Fischern — Seßhafte und Wassernomaden — beutet diesen Segen für den fleischarmen Reisnapf des kleinen Mannes und die Tafel des Feinschmeckers aus. Wenn im Dezember die Dörfer mit den genossenschaftlichen Fischzügen beginnen, wird eine drei bis vier Kilometer lange Strecke stromauf und stromab durch Netze abgeriegelt. Alt und jung vertreibt mit Käscher, Fünfzack und vielem Lärm die Fische von den Ufern, indessen eine Linie von vierzig bis fünfzig Booten sie stromab gegen die Netze treibt, wo die Invaliden und Greise in primitiven Kähnen und Zubern Wache halten. Ist die Beute in Massen versammelt, schleudern die „Werfer" im Bug der Boote die mit Blei beschwerten Wurfnetze wie ein Lasso in die Höhe. Die zehn Meter breiten Netze entfalten sich tellerförmig und sinken in Glockenform über den Fischen zu Boden, werden durch eine Laufschnur zusammengezogen und gefüllt an Bord gehievt. Was von dem Schwärm 15
stromauf entweicht und gegen das obere Netz rennt, spießen die alten Männer mit Fünf- und Siebenzack auf, der Rest gerät in das Netz der „Werfer" in den Booten, die wie eine Flotte manövrieren. Schließlich löst sich der unbeschreibliche Tumult in ein Volksfest auf, das nach altem Brauch mit Theater, Feuerwerk und neuen Kleidern gefeiert wird. Die Beute wird geteilt, und Fänge von 35 000 Kilogramm sind keine Seltenheit. Von den zahlreichen Fangmethoden macht die Fischerei mit dem Kormoran den größten Eindruck. Zwanzig dieser schwarzen Wasscrvögel hocken in Reih und Glied auf dem Bootsrand und stürzen sich auf Zuruf kopfüber ins Wasser; mit ihrer Beute im Schnabel tauchen und klettern sie dann wieder an Bord. Aber ihre verzweifelten Schluckversuche sind vergebens, ihren Hals schnürt eine Krawatte zusammen, die sie am Verschlingen des Fisches hindert. Winters, bei Niedrigwasser, können wir am Jangtse weitläufige Salzsiedereien in Betrieb beobachten. In einem tiefen, ausgemauerten Erdloch fließt eine salzhaltige Quelle, zu der eine Treppe hinabführt. Hunderte von Arbeitern schöpfen ununterbrochen Salzwasser und schleppen es zu den Siedekesseln hinauf, die über großen, in den Boden eingelassenen Öfen aufgehängt sind; hier verdunstet das Wasser in festen schneeweißen Wölkchen, und das Salz bleibt zurück. Heizmaterial liefern die nahen Kohlengruben, an denen China sehr reich ist. Im Sommer, wenn der Fluß steigt und Quelle und Ofenanlage überschwemmt, ruht die Geschäftigkeit.
Die „Neun Schluchten" Wir steuern Tsongtsau an, eine Stadt der Tempel — eine Stadt, die stirbt und in der die Reste alter Kultur verfallen; nur eine einzige Tempelanlage macht eine Ausnahme, aber sie ist auch eine der schönsten Chinas. Die Gebäude wachsen eng nebeneinander empor: Heiligtümer, Theater, Höfe und Pavillons; mächtige Holzsäulen tragen die Dächer, die wie farbiges Email glänzen, und allenthalben ist viel Gold eingelassen, mancherlei Farbe und sorgsamste Schnitzarbeit. Die Stadt erhebt sich, in weites Mauerwerk gegürtet, auf Felsen vor uns. Sie hat noch einen Hauch ihrer Blütezeit in ihren Mauern bewahrt: schöne, sonderbare und reiche Hausfassaden, feine Brük16
Nach den Überschwemmungen sieht man oft verirrte Dampfer hoch am Ufer auf dem Trockenen. 17
kenbauten, mächtige Verwaltungsgebäude und Tempel. Am Strom bewundern wir die von emsigem Leben erfüllte große Winterstadt, viele Schiffe reihen sich an ihr auf. Ganze Haufen von Orangen und Nüssen, Wildtauben, Fasanen und Hasen werden feilgeboten, es herrscht eine echt chinesische geduldige Betriebsamkeit: Scharlatane und Walmager, Barbiere und Ärzte schieben ihre Tische mitten in den Verkehr; alte Herren flanieren unbekümmert durch die Menge und rauchen ihre selbstgedrehten Zigarren aus anderthalbmeter langen Bambuspfeifen. Die großen Teehallen beben vom Geschrei ihrer Besucher. Im Nebel zeigt sich uns das Fremdartige noch fremder, unverständlicher, jenseits aller Vorstellung — wie das Geschehen auf einem anderen Planeten. Da zieht ein Leichenzug durch die Straßen: Schalmeien tönen hart und dumpf, der Gong brummt wie eine dumpfe Glocke, und langsam tauchen die Prozession, die weißen Fahnen, ein roter Baldachin, ein roter Tragstuhl und weißgekleidete Menschengruppen im Nebel unter. Und ringsum stehen die Häuser mit hellen Giebeln, die kleinen Türme mit den Dächern, die wie Tannenäste von der Achse des Gebäudes abschweifen, die kargen, hohen Pagoden, die Eingänge der Tempel, die wie mit bunten Scherben beworfen in den einfachen weißen Mauern stehen. Ganz in die Ferne gerückt, verschwinden im Dunst die von langen Baumreihen bestandenen Hügelkämme. Auf dem Strom gleiten die hohen Segel der Dschunken gleich Flügeln hastig und mächtig an uns vorbei zu Tal. Wasserstaub sprüht in der Luft, und aus den zerrissenen Felsenufern erheben sich von Zeit zu Zeit große Reiher, segeln einsam vorüber, bis ihre breiten Schwingen im Nebel ganz verschwimmen. Überall an den Ufern der Kataraktstrecke lagern ganze Völkerschaften von Treidlern, und an den stärkeren Schnellen werden sie von den Bewohnern der nahen Berge ergänzt. Die Schluchten sind mannigfach wie ihre Namen: „Die neue Drachenschlucht" entstand erst 1896 durch einen Bergsturz nach vierzigtägigem Regen. Der Strom wird hier auf hundertachtzig Meter eingeengt, und bei Niedrigwasser ereignen sich in dieser Gegend fast täglich Unfälle mit tödlichem Ausgang. In der „Blasebalgschlucht" — die der Zauberer Wutse mit den Na18
senlöchern durch das Gebirge geschneuzt hat — ist ein zuckerhutförmiger Berg glatt wie mit einem Messer mitten auseinandergespalten und mitten hindurch strömt der Jangtse. Aus 1400 Meter Höhe fallen die beiden schroffen Felswände zum Fluß hinab, den sie auf eine Breite von hundert Metern zusammendrücken, und hoch über dem quirlenden Wasser läuft, als Galerie in den Felsen gehauen, der schmale Treidelpfad. „Die Zauberschlucht", die längste und großartigste zugleich, ist vierzig Kilometer lang, und alle Arten von Strudeln, Wirbeln und Gegenströmungen narren die Schiffer bei der Durchfahrt, zu der eine Dschunke gewöhnlich eine ganze Woche braucht. Durch die „Büffelmaulschnellen" geht es in die kurze, nur bei Hochwasser gefährliche „Büffelmaulschlucht", dann durch die „Wildschlucht" und um die „Walzenecke". Damit sich die Schleppseile nicht an deren vorspringender Felsenecke durchscheuern, ist die Kante mit großen Holzwalzen — runden Baumstämmen, die sich in Lagern drehen — gepolstert. Aber auch an dieser Stelle wie anderwärts haben die Seile halbmetertiefe Rillen in den Fels gesägt. Die wenige Kilometer lange „Pingsu-Schlucht" hat überhaupt keinen Treidelweg. Sie muß mit Hilfe von Bambusstangen passiert werden, wenn der Talwind — trotz des ausdauernden Pfeifens der ganzen Besatzung — auf sich warten läßt. Am übelsten sind die vor dreihundert Jahren durch einen Bergsturz entstandenen „Neuen Schnellen". Oft warten über hundert Dschunken in den Wirbeln unterhalb, bis die Reihe an sie kommt und die Schlepper sie Zoll um Zoll zu Berg treideln. Meist muß ein Teil der Fracht entladen werden, und wie an allen gefährlichen Stellen liegen auch hier unterhalb des Strudels die roten Rettungsboote bereit, die vom Staat unterhalten werden und die mit tüchtigen Burschen bemannt sind. Tag für Tag haben sie Gelegenheit, dem Strom ein paar Opfer zu entreißen. „Die Rindleber- und Pferdelungenschiucht" hat ihren sonderbaren Namen von den Farbabstufungen des rötlichen Urgesteins; in ihrer berüchtigten Schnelle ging 1900 der erste Dampfer, der den Jangtse zwischen Itschang und Tschungking befuhr, drei Stunden nach seinem Start zur Jungfernreise verloren, und nach ihm scheiterten hier noch zwanzig andere. 19
Dann folgt die „Hexenschlucht". An ihrem linken Ufer ragen zwölf Felsspitzen gen Himmel; „Wolke der Dämmerung", „Treffpunkt der Kraniche", „Reiner Altar", „Kletternder Drache", „Quell der Weisen" — so und ähnlich sind ihre poesievollen Namen. In dem Dörfchen an der Berglehne wurde im ersten Jahrhundert n. Chr. Chao-Chung geboren, eine Frau, deren Schönheit die klassischen Dichter begeistert hat. In Märchen, Legenden und Sagen wird die dramatische Geschichte ihres Lebens hundertfach erzählt: Sie wuchs in völliger Abgeschlossenheit nach den strengen Lehren des Konfuzius auf; von allem ferngehalten, was ihre Seele hätte beunruhigen können, behütet wie ein seltenes Juwel und zu strahlend und zu kostbar für das alltägliche Leben . .. „Ihr Herz und ihr Geist waren geläutert, wie Herz und Geist einer Unsterblichen." An ihrem siebzehnten Geburtstag schickte sie ihr Vater in die Hauptstadt als Geschenk für den Kaiser, denn wer anders als der „Sohn des Himmels" hätte ihre Schönheit schätzen können, wer anders als der Kaiser war ihrer würdig? Doch im Palast wurde Chao-Chung kurzerhand in den Bilderkatalog der zahllosen Frauen eingetragen, die darauf warteten, vom Kaiser empfangen zu werden, und den. Hofmaler bestachen, damit er ein möglichst vorteilhaftes Bild von ihnen anfertige. Hätte ChaoChung dem Maler ein Geschenk gemacht, ihr Leben wäre wahrscheinlich in anderen Bahnen verlaufen; so aber geriet es durch das abscheulich entstellende Porträt des enttäuschten Malers auf den letzten Platz der Rangliste, und Chao-Chung verbrachte sechs trübsinnige und einsame Jahre. Eines Tages erschienen die Gesandten eines barbarischen Stammes aus dem Inneren Asiens bei Hofe, um eine Frau für ihren Häuptling zu suchen. Man blätterte im Katalog und wählte Chao-Chung — sie schien als die reizloseste von allen gerade gut genug für die rauhen Bewohner der unwirtlichen Steppen. Und dann geschah es, als sie der Sitte gemäß vor den Thron des Kaisers trat, um ihm zu danken, daß jedermann gerührt und begeistert von ihrer Schönheit war und der „Sohn des Himmels" und sie selbst in heftiger Liebe für einander entbrannten. Aber die bittere Willkür des Schicksals trennte die Liebenden in der Stunde ihrer ersten Begegnung. Selbst Kamellasten von Gold konnten den Handel nicht mehr rückgängig
gefahrliche Hindernisse für Dschunken und Dampfer. 21
machen, denn die Leute des Nordens bestanden auf ihrem Schein, und Chao-Chung, die schönste Frau des Reiches, zog, den Tod im Herzen, mit der Karawane über den Jade-Paß in die Steppen des Gelben Sandes und wurde dort die Frau eines rohen, ungebildeten Nomaden. Ihre Briefe aus jener Zeit sind erschütternde, unvergängliche Zeugen einer liebenden Seele, eines starken Charakters und der ergebenen Treue zu den „Fünf Großen" ihrer Welt: dem Himmel, der Erde, dem Kaiser, ihrem Lehrer und ihren Eltern. Sie starb kurz nach dem Tode ihres Mannes, und die Legende berichtet, daß ihr Grab in der öden Wüste immerfort grüne.
Meister Kung und Meister Lao-tse Die alte Geschichte Chinas liegt noch weithin im Dunkel; was die Forschung an Greifbarem und Glaubhaftem vor allem vor sich sieht, das binnenländisch seßhafte, gewerbefleißige Bauerntum der Ebenen an den Flüssen Mittelchinas, ist in der Art der Menschen, in ihrer Lebensweise und ihren Sitten und Gebräuchen so klar geformt, daß Jahrtausende daran gearbeitet haben müssen. Die belegte Geschichte aber läßt sich ohne Schwierigkeiten in Zeitabschnitte von je achthundert Jahren einteilen. Jeder Abschnitt beginnt mit einem militärisch starken Herrschergeschlecht, das China nach jahrhundertelangem Bürgerkrieg zur Einigung zurückführt. Hierauf folgen vier bis fünfhundert Jahre des Friedens, gewöhnlich mit einem einmaligen Wechsel des Herrscherhauses, der das Zeichen zu langen Kriegswirren gibt und zur Verlegung der Residenz vom Norden nach dem Süden führt. Später kommt es zur Trennung der beiden Reichshälften, ihre Rivalität steigert sich, bis die Epoche mit der Unterwerfung unter eine Fremdherrschaft endet. Von nun an wiederholt sich die Geschichte, und mit einer neuen Einigung des Landes unter angestammter Herrschaft beginnt eine neue Kulturblüte. In jedem Zeitabschnitt äußert sich die Gleichartigkeit der Ereignisse mit einer unbegreiflichen Genauigkeit von Zeit und Ablauf. Ein Beispiel sind die großen bautechnischen Unternehmungen zu Beginn eines neuen Kulturaufstiegs. In der ersten Epoche entstanden die Große Mauer, die zunächst als Wall der Chin-Dynastie angelegt wurde, und die Kolossalbauten, 22
die schon bald einer drei Monate dauernden Feuersbrunst zum Opfer fielen. Aus dem zweiten Zeitabschnitt stammen der Große Kanal des Kaisers Sui und prachtvolle, durch ihren Glanz und Luxus berühmte Paläste. Im dritten Zeitabschnitt schließlich wurde die Große Mauer in Stein ausgebaut, in der Form, in der sie auf unsere Tage gekommen ist, neue Kanäle und Dämme entstanden, und der Kaiser Yunglo aus der Ming-Dynastie baute die Stadt Peking. Das chinesische Lebensideal hat seine natürliche Grundlage im Konfuzianismus, der heute vor allem wegen seines Familienbewußtseins hart bekämpft wird. Konfuzius — Kung-tse, „Meister Kung" —• Abkömmling einer Lehensfürstenfamilie, geboren um 551 v. Chr. trat früh in den Staatsdienst seines heimatlichen Landesherrn, stieg rasch zum Gouverneur und Justizminister auf, errang sich höchstes Vertrauen, wurde gestürzt und widmete sich in einer langen Periode der Verbannung, der Verfolgung und Enttäuschung dem Studium der heiligen Bücher Chinas. Er war ein echter Nordchinese: gemessen, förmlich, nüchtern, ein vornehmer Staatsmann, kein religiöser Grübler, und seine Lehre gleicht seinem Leben. Sie ist kein theoretisches System, sondern der Ausdruck einer Überzeugung und eines Willens; der vorbildliche Mensch soll geschaffen werden; Voraussetzung dazu ist Geradheit und mannhafte Art; an Hand von Beispielen zeigt sie, wie sich der Edle benehmen soll oder wie der Niedrige gegen das ethische Gesetz verstößt; Wissen, Humanität und Tapferkeit bauen sich auf ihr auf. Zu einem festen, anständigen Charakter gehört auch die Kunst, sich zu schämen. Rechtlichkeit und Schicklichkeit vollenden schließlich den vollkommenen Menschen. So fügt sich Äußeres und Inneres, Ethisches und Zeremonielles, Takt und Rechtsgefühl, Lerneifer und Pflichttreue in einem hohen Grad von Vollkommenheit zusammen: Oberste Ziele sind die Erfüllung der Ehrfurcht gegenüber den Eltern, des Gehorsams gegen die Oberen, der Treue gegenüber Frau und Freunden, die Harmonie des Einzelmenschen und der Aufschwung des Staates, in dem der Kaiser, der göttlich Berufene, waltet. Kung-tse ist ein praktischer Ethiker, kein Reformer religiöser Vorstellungen, die er mit zurückhaltender Achtung übernimmt; er ent23
wickelte altchinesisches sittliches Gedankengut weiter und vertiefte es zu der Vorschrift: „Was du dir selbst nicht wünschst, füge anderen nicht zu." Zu seinen Lebzeiten wirkte er nur im kleinen Kreise — mächtig mehr durch seine Persönlichkeit als durch seine Lehre, ein ungekrönter König, würdig, schweigsam, schwunglos, streng, aber voll trockenen Humors, unproblematisch, die echte, durch nichts gebrochene Verkörperung seines eigenen Willens. Wie anders dagegen war Lao-tse, der Bauernsohn aus Südchina, der Büchermensch, der in die Einsamkeit flieht, ohne Freunde und Schüler, und als Tempelarchivar nur mit sich und seiner Gedankenfülle ringend, sein wundersames Buch schreibt — vom Tao und Te. Tao heißt eigentlich die Bahn, Te, die ordnende Kraft, später einfacher und ungenauer Tugend genannt. Lao-tse war ein Asket, ein Mystiker, ein tiefbewegter und ergriffener Mensch, ein Erleuchteter und Begnadeter, er wollte das All schauen und den Ursinn des Seins ergründen. Das Tao war ihm das jenseits aller geschäftigen Betätigung wahrhaft Schaffende und Ordnende. Er sagte: Das Tao war in der Urzeit das Herrschende; Milde, Barmherzigkeit und die Freiheit von Begierde gehörten zu seinem Wesen. Davon haben sich nun die Menschen entfernt und ihre armseligen Tugenden an seine Stelle gesetzt: Wissen, Klugheit, die äußerliche Anständigkeit; alles Unheil — Verbrechen, Lüge, Heuchelei, Krieg und Ausbeutung — ist daraus erwachsen. Darum predigt Lao-tse Abkehr von der Welt der Genüsse, des Begehrens, des Hastens nach Gewinn und Ehre, Rückkehr zum Licht, zur Ewigkeit, zum Heiligtum. „Vergilt Feindschaft mit Wohltun", ist ihm höchste Weisheit. Die zwei Pole des Chinesentums erhielten durch Kung-tse und Lao-tse Wirkung, Name und Geltung; sie wirkten beide, ihrem Wesen entsprechend, zunächst in einer geistigen und gesellschaftlichen Oberschicht und erst durch diese allmählich in die Breite. Immer aber blieb, unerschütterlich und gar nicht angegriffen von den Weisen im Volk, die Naturreligion des Himmels und der irdischen Dämonen lebendig. Sie wurde gehandhabt von Zauberern und Wundermännern mit allen groben Mitteln eines primitiven Zauberwesens. Manche volkstümlichen Seher kannten wohl auch das Tiefere, gaben aber als erfahrene Seelenkundige jeder Schicht das ihr Ge24
Jangtse-Dschunken, plumpe Segelschiffe mit rechteckigen waagerecht geschienten Mattensegeln. 25
mäße und Begreifbare. Die heutige Volksreligion hat Bestandteile der altchinesischen Ahnen- und Naturverehrung, die Buddhismus und Taoismus miteinander verquickt. Ausdauer und Scharfsinn, Geschmack und Fleiß, die Arbeit vieler Generationen schufen eine Kultur, die im Brückenbau, im Wasserstraßenwesen, in der Papier- und Seidenindustrie, in der Malerei auf Seide, in Bildwerken aus Bronze, Porzellan, Holz und Elfenbein, in der Gartenkunst eine heitere Fülle, viel Glanz und zauberischen Reiz erhielt. Ruhe und Harmonie zeichnen die chinesische Kunst aus. Der chinesische Künstler ist ein Mensch, der mit der Natur in Frieden lebt, den weder gesellschaftliche Verpflichtungen noch Geld zu fesseln vermögen und dessen Geist mit Bergen, Flüssen und anderen Ausdrucksquellen der Natur in tiefem Einklang lebt. Keine böse Leidenschaft darf in seiner Brust schlummern, denn nach chinesischer Auffassung muß ein guter Künstler auch ein guter Mensch sein. Er muß „sein Herz unschuldig machen" und „seinen Geist erweitern", am besten durch Reisen und Beschaulichkeit, das gilt als strenge Berufspflicht. Einer der bedeutendsten Maler sagte einmal zu einem andern: „Wie kann man gut malen, wenn man nicht zehntausend Bücher gelesen hat und zehntausend Li gereist ist?" Der im Kunstwerk versinnbildlichte Geist der Ruhe und Harmonie, der Muße und Einsamkeit, ist das Kennzeichen der chinesischen Kunst in allen ihren Formen — nicht Herrschaft über die Natur, sondern tiefe Eintracht mit ihr ist der Wahlspruch ihrer Jünger. Hier müssen wir auch von dem chinesischen Begriff „das Gesicht wahren" sprechen; er läßt sich weder übersetzen noch ganz erklären; er hat manche Ähnlichkeit mit dem Begriff der Ehre, der Würde, aber er ist doch etwas ganz anderes. Das „Gesicht" läßt sich nicht erkaufen, trotzdem gibt es seinem Besitzer Ansehen, es ist im Grunde leer und inhaltslos, und doch ist jedermann bereit, alles dafür zu opfern; man kann es zwar nicht sichtbar machen, aber es wird geradezu dadurch deutlich, daß es gezeigt werden muß. Um „das Gesicht zu wahren", werden Rechtshändel in die Länge gezogen, Mord und Selbstmord begangen, kein irdischer Besitz wird höher geschätzt, es gilt mehr als die Staatsverfassung. 26
Prozesse werden durch unzählige Instanzen geschleppt, weil den Parteien kein würdiger, das „Gesicht wahrender" Abgang einfällt, keine halbwegs brauchbare Erklärung gegenseitigen Bedauerns. Männer und Frauen plagen sich jahrelang, damit sie sich eine Begräbnisfeier leisten können, die des „Gesichts" ihrer Familie würdig ist, und alte Geschlechter, mit denen es bergab geht, machen aus demselben Grunde Bankrott und stürzen sich in lebenslängliche Schulden. Jemanden das „Gesicht" vorzuenthalten, auf das er Anspruch hat, gilt als Gipfel der Ungezogenheit, darum setzen Würdenträger bei drei oder vier Festmählern an einem Abend lieber ihre Gesundheit aufs Spiel, als daß sie ihre Gastgeber durch Ablehnung der gastfreundlich gebotenen Speisen um ihr „Gesicht" bringen. Menschlich, allzu mensdilich, ist dieses chinesische „Gesicht" und ein Stachel des Ehrgeizes; es überwindet selbst die Geldgier. Aber es gibt auch Chinesen mit zuviel Gesicht.
Deiche und Kanäle Nach dieser kurzen Abschweifung in die seelische Welt des Chinesen, setzen wir unsere Wanderung stromabwärts fort. Wir nähern uns dem Unterlauf des Stromes, der bei Itschang beginnt. Itschang ist eine Großstadt wie Tschungking, Foutschou und Wan-hien. Die Städte am oberen und mittleren Lauf sind alle einander sehr ähnlich. Wie dunkle, schwere Blätter liegen die Dächer übereinander. Ein Nebenfluß des Jangtse durchschneidet die bebauten Hügel, und eine Brücke springt als feiner dünner und doch mächtiger Bogen von Ufer zu Ufer; auf dem Scheitel seiner Wölbung steht ein Haus. Über die kahlen Stadtmauern breiten Türme mehrere Geschosse hoch ihre gesdiwungenen Dädier, und hinter der Stadt liegt eine anmutige Landschaft. Man sieht sie tausendfach auf chinesischen Vasen und auf Tuschbildern. Die fast zierlidien Umrisse der Berge und die abwedislungsreiche Wiederholungen der gleichen fremdartigen Formen der Bergwelt sind so chinesisch, wie die dunkle geschlossene Stadt und die schlitzäugigen, struppigen oder gepflegten Menschen, die vom Ufer aus zu uns herüberblicken. Am Gestade dehnen sich die Buden einer weiten Vorstadt, Händler 27
und Garköche gehen hier ihrem Gewerbe nach. Darüber hocken, an die Stadtmauer geklebt, Scharen von Häusern und Hütten, Treppen steigen steil zwischen ihnen, durch finstere Tore, zu gewundenen dunkeln Gassen hinauf. Die Stadt bietet einen malerischen Anblick, ihre Straßen führen dunkel zum Licht und hell ins Düstere, und ihr Leben ist in die braunen Schatten der engen, ineinandergeschachtelten Häuserwirrnis gepreßt. Der Strom ist auf den ersten siebzig Kilometern unterhalb Itschang von niedrigen Hügeln und Terrassen begleitet, muß dann noch einmal eine verkarstete Kalkplatte — die „Tigerzahnschlucht" — durchsägen, doch dann pendelt er in breiten Schleifen, deren Außenseiten dreißig Meter im Jahr zurückweichen, durch die weite mittelchinesische Ebene. Das unfreundliche, schmutzig-rötliche Wasser ist auch hier für die Schiffahrt schwierig, die Fahrrinne wechselt von Ufer zu Ufer und ändert sich hinter jeder Krümmung, so daß unser Lotse unablässig zu tun hat und die Nachtfahrt gefahrvoll wird. Haushohe Sandbänke von gewaltiger Ausdehnung wachsen aus dem Strombettt, aber die Landschaft ist flach, und der Fluß schleicht unendlich breit und still durch sie dahin. Kaum sind die fernen Dämme, die seinen Lauf begleiten, vom Schiff aus zu erkennen, und eine Ahnung von der riesenhaften Ausdehnung der Wasserfläche bei Hochwasser und Überschwemmungen erwacht. Zuweilen tauchen ein paar niedere Hügel auf, Kanäle ziehen sich schnurgerade ins Land hinein, das flach und grün, bis zum letzten Flecken ausgenutzt, daliegt, soweit das Auge reicht; Eichenhaine am Ufer und die hundertfach und hundertfarbig geflickten Segel der träge voranschleichenden Dschunken sind ein Schmuck. Bei der Stadt Schasi beginnen gewaltige Deiche zum Schutz der weiten Gebiete, die unter dem Wasserspiegel liegen und deshalb schlecht entwässert sind. Hier können die Nebenflüsse das hohe Strombett nicht erreichen, und ihre Wasser sammeln sich mit den sommerlichen Regenmengen in Rückstauseen: flachen, von Schilfwildnis umwucherten Gewässern, von denen der Dungtingsee die Ausdehnung eines wahren Binnenmeeres hat und verästelt, wie die Finger einer Hand, in die Täler des Hügellandes hineingreift. Der Han-kiang, der bei Hankou mündet, ist mit dem Jangtse 28
durch zahlreiche Kanäle verbunden; er ist von allen Nebenflüssen der bedeutsamste und bildet, im Herzen des Reiches, ein Bindeglied zwischen der Wiege der chinesischen Kultur am Hoangho, dem Gelben Fluß, und dem Jangtsetal. Auch sein Unterlauf ist von großen Deichen eingefaßt, und im Sommer bei Hochwasser ist die Umgebung der Uferstädte eine riesige Wasserwüste, aus der nur wenige, auf künstliche Anhöhen gebaute Dörfer herausragen. Mit Hankou, das auf niedrigen Ufern liegt, erreichen wir wieder eine der Millionenstädte; auch diese Stadt verdankt ihr Wachstum einem gewaltigen Damm. Seeschiffe bis zu 10 000 Tonnen kommen von Mai bis Oktober bis hierher — 1100 Kilometer von der Mündung entfernt. Die Stadt ist mit Wutschang und Hanjang zu einem einzigen Stadtgebiet zusammengewachsen, das den Namen Wuhan trägt. Hier überspannt seit 1957 eine stählerne Doppelstockbrücke den Strom. Unvergessen ist in diesen Gebieten die ungeheure Hochwasserkatastrophe des Jahres 1931, die schrecklichste seit Menschengedenken überhaupt. Sie zerschlug das ameisenhafte Dasein an den Ufern des Jangtse und brachte Verheerung, Schrecken und Elend von so unvorstellbarem Ausmaß, daß weder nüchterne Zahlen noch irgendein anderes Mittel die Tatsachen veranschaulichen können — es war schlimmer, als hätte die Kriegsfurie jahrzehntelang im Lande gehaust. , Das Hochwasser des Jangtse erreicht nach der Regenzeit des Frühjahrs in den Monaten Juli und August hier seinen Höhepunkt. Diese Hochwasserwellen dauern monatelang und steigen bei Hankou bis zu einer Höhe von zwölf Metern über den niedrigsten Pegelstand. Die Flut des Jahres 1931 war infolge starker und anhaltender Regenfälle so außerordentlich, daß sie plötzlich die Dämme zerriß und überflutete und Hunderttausende das höher gelegene Land nicht mehr erreichen konnten. Dann setzte in den letzten Augustwochen ein Taifun ein, der alles vernichtete, was den ersten Ansturm überdauert hatte. Die Menge der Umgekommenen ist kaum zu schätzen, obdachlos und heimatlos wurden zwanzig Millionen Menschen aus einem Gebiet von der dreifachen Ausdehnung der Schweiz. Zwei Monate lang blieb Hankou überschwemmt, und erst Mitte Oktober waren die Straßen wieder passierbar. Weitab vom Strom lagen große Seedampfer, die die Fahrrinne verfehlt hatten und über die Felder 29
gefahren waren, auf dem Trockenen. Hier lieferten die Elemente einen schrecklichen Beweis ihrer Gewalt und offenbarten die Vergänglichkeit und Ohnmacht von Menschenwerk wie nie zuvor.
Der Mündung entgegen Unterhalb von Hankou durchfahren wir eine der reizvollsten Strecken des ganzen Flußlaufes; in einer anmutigen Hügellandschaft steht zur Linken auf hohem Felsenufer die alte Festung Hukou, zur Rechten erheben sich die senkrechten Abstürze des Luschan-Gebirges, und zwischen ihnen fließt der schmale, von roten Klippen malerisch eingeräumte Abfluß eines Sees, der zur Zeit des Hochwassers die überbordenden Fluten des Jangtse aufnimmt. Ein letztes Mal verengt sich die Talebene bei Nanking, einer fast westlich aussehenden Großstadt, die lange Zeit Hauptstadt Chinas war; hinter Nanking beginnt das Delta. Wie eine Spinne in ihrem Netz liegt der Toihousee in dem Gewebe der Seen und Kanäle, die das Delta durchziehen. Von den großen Kanälen mit ihrem lebhaften Dampfbootverkehr bis zum stillen, schlammigen, bei Ebbe ausgetrockneten Wassergraben, der irgendwo blind an einem Bauerngehöft endet, ist dieses Gebiet ein Labyrinth von Wasserwegen, deren Gesamtlänge auf 58 000 Kilometer geschätzt wird. Den Reiz des Deltas und des inselübersäten Sees steigern die schönen Weiden- und Pappelgruppen, die hochgeschwungenen Brücken, die Obst- und Maulbeerhaine bei den Dörfern und die smaragdgrünen Reisfelder. Das Land, das von Generationen fleißiger Bauern geschaffen, spendet zwei Ernten im Jahr: Nach Weizen, Gerste oder Raps als Winterfrucht reift der Reis als Hauptprodukt. Die Bevölkerungsdichte ist enorm. Wirtschaftliches, und geistiges Zentrum des Deltagebietes war bis vor kurzem Schanghai. Seit der Gründung der britischen Niederlassung im Jahre 1842 ist diese Stadt auf 6,9 Millionen Einwohner angewachsen. Ihre günstige Lage an einem Seitenarm der Jangtsemündung und die Nähe Japans waren der Grund für dieses unerhörte Wachstum. Beherrscht von einer Handvoll Industriekapitäne, denen nichts anderes wichtig war als die Interessen ihres Handels, wurde Schanghai zu einer Stadt, wo höchster Glanz und tiefstes 30
menschliches Elend dicht beieinander hausten, zu einer Zufluchtstätte für all das Kapital, das ungetreue Staatsbeamte und Generäle bis hinab zum kleineren Räuber aus dem Riesenreich herausgepreßt hatten, zu einer Stadt der billigsten Löhne und niedrigen Einkaufspreisen und dank des von Ausländern erzwungenen Zolltarifs zu einem der ertragreichsten Handelsplätze der Welt. Der gewundene Wangpu, der zwanzig Kilometer unterhalb der Stadt bei Wusung in den Jangtse mündet, ist der Hafen Schanghais. Obwohl dieser Hafen einer der größten der Welt ist, fehlten doch lange Zeit mechanische Ladevorrichtungen völlig; das Laden und Löschen besorgten Kulis. Im Wangpu, einer Art Blinddarm der Jangtsemündung, sammelt sich das Wasser der Kanäle des Deltas, denen der natürliche Anfluß zum Meer durch einen steingepanzerten Seedeich versperrt ist. Zweihundert Kilometer lang und sieben Meter hoch und meist doppelt geführt, schließt dieses gewaltige Werk das ganze Delta von Wusung bis Handschou ein. Von seiner Dauerhaftigkeit hängt das Leben vieler Millionen ab, und tausend Mann sind unablässig mit seiner Instandhaltung beschäftigt. Im Hafen und seinen Abzweigungen liegen zu Hunderten und aber Hunderten die Wohnboote. Ihre langen, gestaffelten Reihen, ihre Decks und die ärmlichen Behausungen auf ihnen — aus den unglaublichsten Behelfen zusammengeflickt — sind auch heute noch die Unterkunft der Ärmsten der Armen, denen selbst die winzigste Wohnstätte auf dem Festland unerschwinglich ist. Etwas oberhalb von Schanghai zweigt nach Norden der fünfhundert Kilometer lange Kaiserkanal ab, an dem die reiche Stadt Yangdschou liegt; hier war Marco Polo drei Jahre Gouverneur. Der erste Teil dieser kolossalen Anlage ist kein chinesisches Werk: Im sechsten Jahrhundert v. Chr. wurde sie von dem Volk der Chou errichtet, um die Flußgebiete des Jangtse mit denen des Hoangho zu verbinden. Zwar bestanden zu jener Zeit seit langem kleine Kanäle als Verbindung der Flußläufe untereinander und man konnte bereits zu Schiff in den Süden reisen, doch waren diese Wasseradern nicht tief und breit genug für den Verkehr mit großen Frachtkähnen. Die Chou, deren Reich sich vermutlich aus türkischen und tibetanischen Stämmen zusammensetzte, bauten mit Wasserbüffeln Reis und Tarogemüse auf bewässerten Feldern, legten das Kanalnetz an und 31
befuhren mit Schiffen die Ströme und das Meer. Sie besaßen eine Art Wasser-Landkultur, völlig verschieden von der der chinesischen Lößbauern. Erst durch die Verschmelzung der beiden Kulturen entstand das chinesische Reich. Für die Instandhaltung des Kaiserkanals, der das Flußbett für das Hochwasser der großen Flüsse ist, hafteten früher die Provinzgouverneure mit ihrem Kopf, während der unaufhörlichen Bürgerkriege und Invasionen aber versandete das Bett auf weite Strekken, die Dämme zerbröckelten und stürzten ein, so daß riesige, dichtbesiedelte Gebiete alljährlich von Überschwemmungen bedroht sind. Dem Kanaleingang gegenüber liegt die „Goldinsel" mit schönen Tempeln, Pagoden und uralten Bäumen. 1842 war sie noch eine Insel, jetzt liegt sie landeinwärts am Südufer, nicht weit davon schießt der Strom mächtig an den Felswänden der „Silberinsel" vorüber. Es heißt, die beiden Eilande seien zu klein, um mit all den Gedichten, die um ihrer Schönheit willen im Laufe der Zeit entstanden sind, bedeckt zu werden. Dann beginnt in einer Breite von sechzig Kilometern der eigentliche Mündungstrichter, und keine Erhebung unterbricht mehr den flachen Horizont. Nur noch als schmale, grüne Streifen begleiten die fernen Ufer den Strom, das gelbe Wasser mit der blauen Spiegelung scheint im Osten mit dem Himmel zusammenzufließen; weit hinaus schwimmt es auf dem schweren Salzwasser des Chinesischen Meeres, und ein tiefblauer Himmel wölbt sich darüber in unvergleichlicher Schönheit.
Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky. Bildvorlagen: Ullstein-Bilderdienst u. Verlags-Archiv. L u x - L e s e b o g e n 3 5 8 (Erdkunde) H e f t p r e i s 3 0 P f g . Natur- und kulturkundliche Hefte. — Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1,80) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt. — Alle früher erschienenen Lux-Lesebogen sind in jeder guten Buchhandlung vorrätig. — Druck: Hieronymus Mühlberger, Augsburg. — Verlag: Sebastian Lux, Murnau vor München. — Herausgeber: Antonius Lux.