BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga Band 44
DER JAHRTAUSEND-PLAN
von Manfred Weinland Fernab der Milchstraße, in...
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BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga Band 44
DER JAHRTAUSEND-PLAN
von Manfred Weinland Fernab der Milchstraße, in der Großen Magellanschen Wolke, stößt die RUBIKON mit John Cloud und anderen Menschen auf die Vermächtnisse der grausamen Virgh, die das einstige Reich der Foronen zerstört und deren Welten zu »Brutplaneten« umfunktioniert haben. Mit Hilfe von Nathan Cloud, Johns dem Irrsinn verfallenem Vater, gelangt die RUBIKON schließlich zu einem insektenstockartigen Gebilde im All, von dem ein paramentaler Lockruf ausgeht. Dann greifen die Virgh an, und die RUBIKON wird von der eigenen Kontinuumwaffe in ein anderes Universum versetzt, aus dem nur mühsam wieder ein Entkommen gelingt. Die RUBIKON steuert die Virgh-Bastion an, zu der die PERSPEKTIVE, das Schiff der befreundeten Satoga, gelockt wurde. Cloud schleust Jarvis in den Virgh-Stock ein. Er soll versuchen, die gefangenen Satoga zu befreien. Aber kann der ehemalige GenTec Jarvis gegen die erdrückende Übermacht im Stock bestehen? Zumal sein Vorstoß in die Höhle des Löwen offenbar nicht unbemerkt geblieben ist...?
Prolog
Scobee starrte immer noch auf das Segment in der Holosäule, das ein Fenster hinüber zur gigantischen, im All stehenden Bastion der Virgh öffnete... und in das eingeblendet die Daten zu lesen waren, die von Jarvis’ Tod kündeten. Seinem Tod! Scobee fröstelte, betrachtete kurz ihr eigenes Bild in dem Bereich des Hologramms, das nicht von eingespeisten Informationen belebt wurde und die Eigenschaft hatte, seine Umgebung widerzuspiegeln. Die violettschwarzen Haare der schlanken, durchtrainierten Frau, die Scobee sah und die sie war, harmonierten mit der hautengen, ihre weiblichen Rundungen betonenden Bordkleidung. Das Erscheinungsbild entsprach einer attraktiven Mittzwanzigerin. Optisch reizvoll gestaltete Brauen-Tattoos brachten die ohnehin ausdrucksstarken Augen, die gerade von Schockgrün zu Tiefschwarz wechselten, noch mehr zur Geltung. »Sie haben ihn entdeckt«, sagte Aylea. Die Zehnjährige spielte mit einer der kunstvoll geformten Spangen, die ihr widerspenstiges Haar im Zaum hielten. Ihre Kleinmädchenstimme war kaum mehr als ein Hauch, und der Sitz, auf dem sie Platz genommen hatte, ließ sie noch kleiner wirken, als sie tatsächlich war, denn es war der Platz eines hünenhaften Foronen, einer von Sieben, denen die RUBIKON II einmal gehört hatte. Die Sieben Hirten, rann die Erinnerung frostig durch Scobees Gedanken. Die heimlichen Herren des Aqua-Kubus, seine Initiatoren und Erbauer... »Entdeckt und vernichtet«, schaltete sich auch der wortkarge Jelto nach langem Schweigen ein. Die Haut des ewig melancholisch dreinblickenden Klons schien von einem Feuer, das in seinem Blut schwelte, von
innen heraus beleuchtet zu werden – so intensiv, dass ihn eine geisterhafte Aura umgab, die seine Konturen verschwimmen ließ. Die Kirlianaura. Scobee bemerkte, dass Jelto geistesabwesend mit dem Anhänger seiner Kette spielte. Ein Schmuckstück, in welches das Erste Korn eingebettet war. Jenes Samenkorn, an dem der Florenhüter einst zum ersten Mal seine besondere Affinität zu jedweder Pflanze erprobt hatte. »Ihr unterschätzt Jarvis.« Das war Johns Stimme. Scobees Weggefährte seit über zweihundert Jahren – wenn man den Zeitsprung mitrechnete, der sie dem Jahr 2041 entrissen und ins Jahr 2252 geführt hatte. Nach subjektivem Empfinden kannten sie sich erst wenige Monate, und selbst davon hatte John Cloud eine lange Spanne im Staseschlaf zugebracht. Während Jarvis und ich die Stellung hielten. Auf der RUBIKON I. Die von den Erdinvasoren auf dem Mars vernichtet wurde. So hat alles begonnen... Und nun – endete es? Lichtjahrhunderttausende von der Erde entfernt, abseits der heimatlichen Milchstraße, tief im Dschungel der vorgelagerten Großen Magellanschen Wolke? »Niemand hier unterschätzt Jarvis«, ergriff nun auch Scobee das Wort. »Aber zumindest für mich selbst kann ich sagen, dass sich meine Bereitschaft, an Wunder zu glauben, rapide ihrem Ende neigt.« »Wir alle haben erlebt, was der Amorphe zu leisten vermag.« In Clouds blaugrauen Augen blitzte es. Ihn hielt es nicht länger in seinem Kommandositz, und so verließ er den Kreis, in dem die Plätze der ehemaligen Foronen-Oberhäupter im Mittelpunkt der RUBIKON-Zentrale angeordnet waren. Er strich sich eine der dunkelblonden Strähnen aus dem markanten Gesicht mit den ausgeprägten Wangenknochen. Wer seinen Vater kannte, konnte die Ähnlichkeit zwischen beiden nicht übersehen – zumal sie sich
aufgrund hoch komplexer Ereignisse und außerirdischer Manipulation auch in ihrem biologischen Alter nur unwesentlich unterschieden. Vater und Sohn hätte ihnen niemand abgekauft, dem die Hintergründe unbekannt waren – schon eher Brüder. Clouds Schritte, mit denen er über das Metall des Bodens stapfte, verursachte keinerlei Hall. Gespenstische Stille lag über dem domartigen, hohen Raum, in dem sich die Hightech einer außerirdischen Hochintelligenz bündelte. Die RUBIKON II war von Wesen erbaut worden, denen vor rund 30.000 Erdjahren nichts anderes übrig geblieben war, als aus ihrer angestammten Heimat, der größeren der beiden Magellanschen Wolken, zur Milchstraße zu fliehen. Mit dem letzten Kontingent an Geschöpfen und Material, das sie vor dem Zugriff ihrer Jäger, den Virgh, hatten retten können. Die Virgh hatten – so viel stand inzwischen fest – damals ganze Arbeit geleistet und sämtliche ehemaligen Foronenwelten in »Glas« verwandelt – unbewohnbar gemacht. Dafür schlummerte seit jenen Tagen etwas unter dem Mantel aus glasartiger Psi-Materie, wuchs dort heran, was die RUBIKONBesatzung im Zentalo-System erstmals zu Gesicht bekommen hatte: eine Brut, die fähig schien, nicht nur die Große Magellansche Wolke zu beherrschen, sondern auch benachbarte Galaxien mit Terror und Vernichtung zu überziehen. Virgh... Ein Name, der zum Synonym für Barbarei und blinde Zerstörungswut geworden war. »Jarvis beherrscht seinen ›Körper‹ längst nicht in Perfektion«, hielt Scobee gegen Clouds Argument – nicht, weil sie jegliche Hoffnung in sich im Keim ersticken wollte, sondern weil sie es einfach satt hatte, sich trügerischer Hoffnung hinzugeben. »Die angemessene Energieentfaltung dort, wo das Virgh-Schiff in den Stock eingeflogen und
offenbar gelandet ist, lässt kaum Spielraum für ein Überleben übrig.« Cloud blieb stur. »Ich bin anderer Ansicht und«, eine offenbar von ihm via Gedankenbefehl in die holographische Säule projizierte Zahlenkolonne gab die aktuelle Bordzeit an: 09 Uhr 43, »in zwei Minuten werden wir wissen, ob er dem Energieausbruch zum Opfer gefallen ist oder nicht.« Scobee ballte die Fäuste, nickte nicht einmal. Ihr Blick streifte Aylea, deren Gesicht schon lange nicht mehr wie das eines Kindes wirkte – eigentlich schon nicht mehr, seit sie ins Getto auf der Erde verbannt worden war. Das Mädchen blickte immer noch starr auf das Bild, das den Stock zeigte. Den Ort, an dem Jarvis wahrscheinlich vor wenigen Minuten gestorben war. Es sei denn... Zwei... drei Minuten verstrichen ereignislos. Das mit Jarvis vereinbarte verdeckte Signal, mit dem er den planmäßigen Fortgang seiner Mission bestätigen sollte, blieb aus. Und mit jeder weiteren verstreichenden Minute dämmerte es auch dem größten Optimisten, dass das Holofenster ihnen mehr als eine monumentale Virgh-Bastion in der Sternenwildnis einer fremden Galaxis zeigte. Ein Grab... Auch Scobee stemmte sich jetzt aus ihrem Sitz, verließ das Rund des Kommandobereichs, kehrte den anderen den Rücken zu. Ein sengendes Gefühl bahnte sich den Weg vom Magen aufwärts, am Solar Plexus vorbei bis in den Rachenraum. Nach Jarvis gab es nur noch sie. Auch wenn sie als Vorlage für andere GenTecs »entwickelt« worden war, fühlte sie sich immer noch als Bestandteil jenes Klonprogramms, dem Jarvis, Resnick und zahlreiche Kopien vor mehr als zwei Jahrhunderten entsprungen waren.
Resnick war bereits während der Flucht aus dem irdischen Sonnensystem gestorben, unmittelbar vor dem Transfer der RUBIKON zur Großen Magellanschen Wolke. Nun war ihm Jarvis gefolgt. Und plötzlich kam das eigene Leben Scobee vor wie ein Geschenk, das sie nicht länger haben wollte... *** Die Situation ließ kaum noch Spielraum für Hoffnung. Dort draußen lauerte ein übermächtiger Feind, der eine ganze Galaxis bis in den hintersten Winkel zu kontrollieren schien. Der mühelos ganze Welten und darauf befindliche Zivilisationen zerstörte, um sie für sich selbst zu vereinnahmen und mit seiner Nachkommenschaft regelrecht zu impfen. Die RUBIKON kreuzte in »Sichtweite« ihrer Ortungsinstrumente nahe der entdeckten Virgh-Basis. Sie war gigantisch in ihren Ausmaßen und schien eine zentrale Rolle in den kaum durchschaubaren Plänen dieser fremden Rasse einzunehmen. Ein Gebilde, das eine unbekannte – aber zweifellos hohe – Zahl von Kriegsschiffen beherbergte, von denen ein Teil den Stock – der Name, der sich für die entdeckte Station an Bord der RUBIKON eingebürgert hatte – wie ein gereizter Hornissenschwarm umschwirrte. Die Virgh patrouillierten großräumig um ihre Basis, seit es zum Zusammenstoß mit dem Rochenschiff der Menschen gekommen war. Und seit sie die PERSPEKTIVE an der Außenhülle des Stockes verankert vorgefunden hatten, galt Clouds ganzes Bestreben der Befreiung und Rettung der Satoga, zu denen sie vor einiger Zeit freundschaftliche Bande geknüpft hatten. Ihr Kommandant, Artas, hatte maßgeblichen Anteil an der Vernichtung eines Virgh-Brutplaneten im Zentalo-System gehabt, und zwischenzeitlich war Scobee in die Gewalt der
Satoga geraten – aber diese Folgen eines Misstrauens, das man den Satoga kaum verdenken konnte, waren längst ausgeräumt. Als die PERSPEKTIVE ihre Suche nach LuminiumVorkommen in der Großen Magellanschen Wolke – die Satoga stammten aus der benachbarten Kleinen – wieder aufnahm, hatten sich ihre Wege vorübergehend getrennt. Um hier, in feindlichem Gebiet, unerwartet wieder zusammenzulaufen... Von Artas und seinen Leuten gab es keinerlei Lebenszeichen. Ihr Schicksal lag völlig im Ungewissen. Einzige Grundlage für Spekulationen war die entdeckte und inzwischen regelrecht zerlegte PERSPEKTIVE, die ungefähr in Stockmitte an der dortigen Außenwandung »klebte« – und von einem Heer rühriger Roboter umgeben war. Nur noch der Grundkörper war unangetastet und die PERSPEKTIVE damit ein manövrierunfähiges Wrack geworden, jedenfalls so weit es Clouds Einschätzung betraf. Die entblößte zentrale Kugelzelle des Satoga-Schiffes durchmaß 212 Meter und war einmal von 16 kleineren Objekten in elliptischen Bahnen umlaufen worden. Das Ganze hatte an ein ins Riesenhafte vergrößertes Atommodell erinnert. Jetzt nicht mehr. Jetzt hingen die kleineren Einzelkugeln in Abständen ebenfalls an der Stockhülle. Die Roboter hatten sich gewaltsam Zutritt verschafft, Durchlässe in die NeodymPanzerung geschnitten und demontierten nun offenbar die Innereien. Ein endloser Strom wechselte zwischen dem Stock und den Komponenten der PERSPEKTIVE hin und her. Die friedlichen Satoga waren Opfer jener Rasse geworden, die sich wie eine biblische Plage über die größere der beiden Magellanschen Wolken ausgebreitet hatte. Dabei fiel es Cloud immer schwerer, für sich selbst eine Erklärung zu finden, warum sich die Virgh seit Jahrzehntausenden mit einer Wolke begnügten, wo doch die andere – Artas nannte sie Mara Forna – in unmittelbarer
kosmischer Nachbarschaft angrenzte. Aber die Satoga hatten in ihrer Heimatgalaxie nach eigenem Bekunden niemals Kontakt mit den Virgh gehabt, sodass angenommen werden musste, dass sie ihre Aktivität auf Mara Styga – der Satoga-Name für die GMW-beschränkten. Aber die großen Zusammenhänge, das musste sich Cloud eingestehen... die großen Zusammenhänge zwischen GMW, KMW und Milchstraße und allen involvierten Spezies – zu denen auch die anorganischen Jay’nac zu zählen waren – hatten bislang nicht erkannt und entwirrt werden können. Wir sind heute nicht viel klüger als zum Zeitpunkt unseres Aufbruches aus dem Aqua-Kubus, als Sobek das Archenschiff kopierte und für den Preis vieler Sterne eine kleine Flotte erschuf – 88 Rochenschiffe, die allesamt wie die RUBIKON II aussehen... SESHA, die Künstliche Intelligenz des Schiffes, meldete sich über Audiophase: »Uns hat gerade eine geraffte und chiffrierte Nachricht erreicht. Absender ist der Signatur zufolge Jarvis.« Wenige Worte schafften es, die bedrückende Stimmung hinwegzufegen, die sich in der Zentrale breit gemacht hatte. Durch Clouds Körper ging ein Ruck. Er nickte erst Scobee, dann den anderen zu und begab sich mit raumgreifenden Schritten zurück zu seinem Kommandositz. »Ich dekodiere...«, erklärte die KI. Kurz darauf lauschten die Versammelten dem Bericht aus der bizarren Welt des Virghstocks. 1. Rückblende
Virghstock, kurze Zeit zuvor
Die Momente, in denen Jarvis seinen künstlichen Körper als unerträglich empfand, kamen in immer geringeren Abständen, Schüben gleich. Und dass ihn ein solcher Schub ausgerechnet in dem Moment überrollte, da er innerhalb des Virghstocks eine verdächtige Bewegung ganz nah bei sich registrierte, kam ihm alles andere als gelegen. Er wirbelte herum – eine mehr als menschliche Reaktion, die ihm sein Unterbewusstsein diktierte. Nötig war sie nicht, denn er sah nicht mehr mit zwei organischen Augen, wie noch Wochen zuvor – Augen, die seinem originalen Körper gehört hatten –, sondern über die komplette Oberfläche seiner neuen Hülle. Jeder Nanopartikel war in der Lage, neben anderen Eindrücken auch optische zu empfangen und an sein Bewusstsein weiterzuleiten. Auf diese Weise konnte er beliebige Sektionen seiner Umgebung auf- und abrufen, beurteilen und seine Handlungen darauf abstimmen. Der Tod hatte ihm im buchstäblichen Sinne die Augen geöffnet – und neue Horizonte erschlossen. Die alten waren ihm lieber... Jarvis blendete jeden Gedanken an das grausame Schicksal aus, das seinen Körper hatte sterben lassen, seine Seele aber in eine robotartige Struktur »gerettet« hatte. Sekunden zuvor war ihm die Flucht aus dem Hangar gelungen, in dem das Dreizackschiff, das ihm das Eindringen in den Virghstock ermöglicht hatte, gelandet und restlos vernichtet worden war. Eine Notteleportation – kräftezehrend und seine Desorientierung erhöhend – hatte ihn auf ein unbekanntes Deck der riesigen Weltraumstation, die an ein Insektennest erinnerte, geführt. Tiefer ins Unbekannte dieser Virgh-Bastion hinein. Und nun bildete sich vor seinen Millionen Augen ein Körperumriss aus dem Nichts heraus. Ein Angreifer!
Jarvis’ Bewusstsein formte einen Befehl, der einen geringen Teil seiner Nanomaterie dazu animieren sollte, ein tödliches Projektil auf die Silhouette abzufeuern, noch bevor sich diese endgültig verfestigt hatte. Er konnte den eigenen Befehl gerade noch blockieren, widerrufen. Im allerletzten Moment hatte er die Gestalt erkannt, die sich neben ihm aus der Unsichtbarkeit herausschälte, als könne sie sich der Realität nach Belieben entziehen oder ihr für jeden offensichtlicher Bestandteil werden. Boreguir? Das martialische Erscheinungsbild des Saskanen war unverkennbar. »Ihr kommt spät«, wurde er von dem Krieger mit den einzigartigen Chamäleonfähigkeiten – die Jarvis’ eigene noch um ein Vielfaches übertrafen – begrüßt. »Hoffentlich nicht zu spät. Wo sind die anderen?« *** Jarvis starrte den Barbaren an, der sich vor ihm entschleiert hatte. Niemand – vielleicht nicht einmal Boreguir selbst – wusste, wie die Gabe des Saskanen im Einzelnen funktionierte. Er konnte sich »vergessen« machen. Für lebende Wesen ebenso wie für hoch entwickelte technische Einrichtungen. Dieser Tarnmantel funktionierte auch jetzt noch, nachdem er sich Jarvis zu erkennen gegeben hatte. Boreguir differenzierte – für den Stock und alles, was sich an feindseligem Intellekt darin bewegte, war er weiterhin nicht existent. »Dann stimmt es also«, entrang es sich Jarvis. »Bislang war es nur ein Verdacht mit hoher Wahrscheinlichkeit. Du bist während unseres Aufenthalts im Zentalo-System verschwunden. Wir haben angenommen, dass du zur
PERSPEKTIVE übergewechselt sein könntest – was offenbar der Fall war. Aber warum? Und wie kam es dazu, dass das Experimentalschiff der Satoga hier strandete?« »Hältst du es für eine gute Idee, wenn wir uns darüber hier in aller Öffentlichkeit unterhalten? Ich habe dich aufgespürt – also werden sie es vielleicht auch schaffen. Wahrscheinlich ist ein Säuberungstrupp bereits unterwegs, um dich zu eliminieren.« »Säuberungstrupp...« Jarvis sparte sich den Hinweis darauf, dass er überzeugt war, weit weniger »Dreck am Stecken« als die Virgh zu haben. Stattdessen sagte er nur: »Du unterliegst einem Irrtum.« Die Physiognomie des Feliden war und blieb schwer ergründbar. »Ich bin mir sicher, dass sie jede Sekunde hier auftauchen...« »Das meine ich nicht.« »Was dann?« »Du hast vorhin gefragt, wo die anderen seien. Nun, so desillusionierend es klingen mag: Es gibt keine anderen. Ich bin allein in dieses Ding hier eingedrungen. Ein Himmelfahrtskommando nennt man das bei uns...« Er verstummte, und Boreguirs Augen traten kurz aus den Höhlen hervor – offenbar machte ihm zu schaffen, was Jarvis ihm gerade eröffnet hatte. Dieser fragte: »War es nicht so, dass du deine Aura des Vergessens auch auf andere ausdehnen kannst? Also, wenn ich das nicht völlig missverstanden habe, wüsste ich jemanden, der sich darüber freuen würde, wenn ihn mit unter dein Deckmäntelchen nehmen würdest...« »Prinzipiell hast du Recht...« Der Saskane stockte, als zögerte er, eine Schwäche einzuräumen. »Allerdings weiß ich nicht, ob mir dies in dieser Umgebung gelingt. Alles ist anders – gefühlsmäßig anders –, und ich kann nur hoffen, dass meine Gabe so stark ist, auch dich zu schützen. Ich selbst halte mich
viel an einem Ort auf, von dem ich annehme, dass er ebenfalls einen gewissen Schutz vor Entdeckung bietet... Bevor du fragst: Auch das ist nur ein Gefühl.« »Ich wusste gar nicht, dass du so ein gefühlvolles Kerlchen bist...« Statt auf die Spöttelei einzugehen, trat Boreguir unvermittelt einen Schritt vor, packte Jarvis’ aus Myriaden Nanopartikeln zusammengefügten Kunstkörper am Arm und zog ihn mit sich auf einen Seitengang zu, in dem das Licht ausgefallen zu sein schien. Finsterste Dunkelheit lauerte dort. Sie war nicht einmal mit den hoch auflösenden optischen Systemen des ehemaligen GenTec zu durchdringen. »Verschwinden wir erst einmal von hier«, drang Boreguirs Stimme wie ein katzenhaftes Maunzen an Jarvis kybernetisches Gehör. »Wir haben uns einiges zu erzählen – ich dir und du mir...« *** Die Begegnung mit Boreguir konnte nicht darüber hinwegtäuschen, wie verfahren ihre Lage bei realistischer Betrachtung war – zwei einsame Streiter gegen eine vor Feinden wimmelnde Riesenstation – über deren inneren Aufbau wenig bis nichts bekannt war. Zumindest so weit es Jarvis’ Kenntnisstand anging! Und Boreguir? Wie lange befand sich die PERSPEKTIVE schon in der Gewalt der Virgh? Wie lange hielt sich der Saskane auf der Station auf? Und die vielleicht dringlichste Frage: Was war aus Artas und den anderen Crewmitgliedern des Satoga-Magnetschiffes geworden? Bislang hatte Boreguir kein Wort darüber verloren. Im schlimmsten Fall waren die Satoga längst tot, im günstigsten...
83,8% Stickstoff, 12,9% Sauerstoff, 3,3% Kohlenstoffdioxid, meldeten Jarvis’ Sensoren. Keine Werte, die ihn selbst beunruhigen mussten. Zudem entsprachen sie der Luftzusammensetzung an Bord des Virgh-Dreizacks, in dem er sich in den Stock eingeschmuggelt hatte. Aber wie kam Boreguir damit zurecht? Jarvis führte – unbemerkt, wie er glaubte – einen Totalscan des Saskanen durch. Das Ergebnis bestätigte seinen Verdacht: Die äußerlich so primitiv anmutende, an imprägniertes Leder erinnernde Kleidung des Außerirdischen verbarg manche technische Raffinesse – unter anderem auch Atemgerät, das es ihm offenbar ermöglichte, die Atmosphäre im Stock ebenso zu ertragen wie zuvor die Verhältnisse an Bord der PERSPEKTIVE. Oder auf der RUBIKON, ergänzte Jarvis im Stillen. Oder seinerzeit auf der Foronenstation unter dem Sand des Mars. Boreguir entsprang einer ihm so gut wie unbekannten Spezies. Seine Mentalität hatte sich Jarvis bislang nur in winzigen Facetten erschlossen. Dementsprechend hartnäckig stellte sich durchaus die Frage nach der Loyalität des Saskanen – erst recht nach seinem heimlichen Abschied, mit dem er sich von der Crew getrennt hatte. Wem, außer seinen eigenen Artgenossen, fühlte er sich verbunden, wem verpflichtet? Es war nicht einmal sicher, dass ein Saskane Verbundenheit und Freundschaft zu einem anderen Lebewesen, nicht einmal, wenn es seinem eigenen Volk angehörte, entwickeln konnte... Jarvis lagerte die müßigen Gedanken aus, konzentrierte sich wieder uneingeschränkt auf die augenblickliche Situation. Dabei wurde ihm bewusst, dass er sich noch nicht – wie vereinbart – mit der RUBIKON in Verbindung gesetzt hatte. Dort wartete man auf eine »Lebenszeichen«. Jarvis tauchte mit Boreguir in die abnorme Finsternis des Seitenganges ein. Dabei »fühlte« er den Kontakt zu Boreguirs
pfotenartiger Hand, die immer noch auf seinem linken Oberarm lag. Offenbar hatte der Saskane im Gegensatz zu ihm keine Orientierungsprobleme. »Boreguir...« »Gleich! Gleich sind wir da.« Wo immer »da« auch sein mochte – und was es denn sein würde. Jarvis übte sich in Geduld, fragte aber: »Woher rührt diese... Dunkelheit? Meine Sensoren...« »Ich weiß es nicht. Mir fiel auf, dass dieser Gang nicht von den Virgh benutzt wird. Ich wagte mich hinein – die Orientierung fiel und fällt auch mir schwer – aber ich finde mich zurecht. Anfänglich wusste ich auch nichts mit diesem blinden Verbindungsstück anzufangen, das einfach aus dem Verkehrsnetz des Stocks herausgefallen zu sein scheint. Dann entdeckte ich den Raum, in den man durch den Blindgang gelangt...« Augenblicke später erreichten sie den Bereich, von dem der Saskanen offenkundig sprach – und zu dem es ihn zog. Es war ein Ort, der selbst den weder über Restlicht- noch UVAuswertung einsehbaren Gang an Absonderlichkeit mühelos in den Schatten stellte. Es wurde Licht! Plötzlich. Und dramatischer, als Jarvis es jemals zuvor erlebt hatte – zumal in ihm eine noch viel tiefere, viel einsamere und schrecklichere Dunkelheit nistete als in dem mit Boreguir durchschrittenen blinden Gang. Irgendwo hatten Boreguir und er den Korridor verlassen, hatte der Saskane ihn hinausgelotst. Und hinter dem Durchgang wartete eine überwältigende Fülle bunter Lichter, schwebender geometrischer Formen und dezenter Klänge.
Alles war ineinander verwoben, und doch alles voneinander abgegrenzt. Ein jedes für sich erlebbar und zu unterscheiden. Die Luft war voller Spannung. Jarvis stand da und hatte das Gefühl, den Arm nach einer schillernden, seifenblasenartig über ihm vorbeiziehenden Kugel, einem Rombus, einem Oktagon – oder was auch immer dergleichen mehr durch den Raum pulsierte, blinkte und flackerte – auszustrecken... Etwas wie Ehrfurcht hielt ihn davon ab. Respektvolle Vorsicht. »Was... ist das? Wo sind wir hier gelandet?« Boreguir stand neben ihm in dem Raum ohne Boden, ohne Decke, ohne Wände. Nicht einmal die Stelle, durch die sie gerade geschlüpft sein mussten, um hierher zu gelangen, war noch zu erkennen. Sie schwebten in der bunten, blendenden, wispernden, melodischen Weite eines Raumes, der seine Endlichkeit verleugnete. Der Eindruck war so gewaltig und nachhaltig, dass Jarvis bezweifelte, sich überhaupt noch im Virghstock zu befinden. »Ich wünschte, ich wüsste, was es ist«, sagte Boreguir. Seine Stimme hatte einen Hall, der vorher nicht da gewesen war, und Jarvis nahm an, dass Boreguir auch ihn auf diese veränderte Weise hörte. »Aber du hast mich hergeführt. Warum?« »Weil ich denke, dass du hier am sichersten bist. Ich war mehrere Male hier, ohne dass ich auch nur einen einzigen Virgh gesehen habe. Sie scheinen diesen Ort zu meiden.« »Was nicht zwangsläufig heißt, dass sie ihn nicht ebenso einsehen können, ebenso überwachen, wie jeden anderen Sektor ihres hiesigen Herrschaftsbereichs.« »Ich reduziere nur das Risiko – völlig auszuschalten vermag ich es für dich nicht. Andererseits...« »Ja?«
»... habe ich seit meinem Aufenthalt nicht den Eindruck gewonnen, dass die Virgh es für nötig erachten, ihr Heiligstes komplett zu überwachen. Sie vermitteln nicht das Gefühl, dass sie damit rechnen würden, ein Feind könne bis hierher vorstoßen.« »Dann wären sie Narren.« Boreguir, umtanzt von filigran anmutenden, durchscheinenden Formen, wirkte fremdartiger auf Jarvis als jemals zuvor. Ihm wurde endgültig bewusst, wie gering seine Kenntnis über den Saskanen war. Er sah nicht nur wie ein völlig Fremder aus – er war etwas völlig Fremdes. Und das, obwohl sie sich seit ihrem gemeinsamen Marsaufenthalt kannten. »Wer sagt, dass sie das nicht sind – oder sein können?« »Reden wir besser über die Dinge, die wir definitiv wissen«, lenkte Jarvis das Gespräch auf das Relevante zurück. »Ich sage dir, warum ich hier bin – mit welcher Maßgabe ich kam. Und du erzählst mir vielleicht mal grob, warum du dich aus dem Staub gemacht und zu den Satoga übergewechselt bist – ohne deren Wissen, wie ich annehme. Und«, er stellte sich vor, tief Luft zu holen, weil er mitunter dem Phantom nachhing, noch einen Körper aus Fleisch und Blut zu besitzen – und diesen Tick mit Leidenschaft frönte, »bei der Gelegenheit kannst du mir auch gleich sagen, was du über diese Basis der Virgh herausgefunden hast. Wie ich dich kenne, warst du bereits überall. Ich will dir ja nicht zu nahe treten, alter Junge, aber in meinen Augen bist du der geborene Voyeur.« Nach einer kurzen Pause fuhr Jarvis fort: »Wie du dir denken kannst, liegt die RUBIKON in der Nähe in Lauerstellung. Unter Volltarnung. Es war ihr unmöglich, an die Station anzudocken – eine solche Annäherung hätte sie nicht verbergen können, und sie wäre unweigerlich vernichtet worden. Zumindest gekapert. Deshalb habe ich eines der Virgh-Schiffe als Taxi benutzt, um hierher zu gelangen. Ich
kam, um die Lage zu sondieren – um Rettungsmöglichkeiten für die Satoga zu ergründen. Dabei kann jedes Detail wichtig sein, und deshalb meine erste und vordringlichste Frage: Bist du überhaupt bereit, mit mir zusammenzuarbeiten? Oder hast du eigene Pläne, die sich nicht mit meiner Mission vereinbaren lassen?« Boreguir machte eine Geste, die bei seinem Volk eine Verneinung bedeuten mochte. »Wir müssen sogar zusammenarbeiten – es ist sowohl in deinem, wie auch in meinem Sinne. Ich könnte mich noch eine längere Zeit unbemerkt im Innern dieser Station bewegen und wäre auch in der Lage, mich mit Nahrung zu versorgen, indem ich mich der Dinge bediene, die aus der PERSPEKTIVE geholt wurden – die Satoga haben einen durchaus ähnlichen Organismus wie wir Saskanen –, aber was hätte ich davon? Dieser Ort gibt mir nichts, im Gegenteil, hier würde ich meinen Wunsch, eines Tages doch noch heimzufinden, wohl endgültig begraben müssen. Selbst wenn ich auf ein Virgh-Schiff wechselte und mich mit ihm durch die Weiten dieser Galaxie bewegte, um andere Völker zu bekämpfen oder andere Stationen anzusteuern – ich wäre immer nur ein Geist, der keinen Einfluss auf Kurs oder Ziel hätte. Und damit würde ich nur meine Gefängnisse wechseln.« »Warum bist du dann überhaupt aus der RUBIKON verschwunden und zu den Satoga gewechselt? Dort war für dich die Aussicht doch um keinen Deut besser.« »Das habe ich anders gesehen. Die RUBIKON ist nicht mehr in der Lage, in die Milchstraße zurückzukehren. Die Schäden, die sie im Sonnenhof erlitt, haben ihre Reichweite zu stark minimiert. Die Satoga hingegen erschienen mir mit ihren Ambitionen in der Lage, zumindest längerfristig auch fernere Galaxien zu erreichen. Ihr Sprung von der Kleinen zur Großen Magellanschen Wolke wird nicht das Ende ihrer Bemühungen sein, andere Sterneninseln zu erreichen. Die Milchstraße wäre
für ein ganzes Volk ein weitaus erreichbareres Ziel als für ein paar Verlorene, die in einem Raumschiff unterwegs sind, das sie nie restlos zu verstehen gelernt haben...« Jarvis musste insgeheim schmunzeln – was sich aber nicht auf seiner ölig glänzenden Physiognomie niederschlug. »Du bist ganz offenkundig nicht auf dem aktuellen Stand.« Boreguir sah ihn an. »Und das heißt?« »Das heißt, dass die RUBIKON wieder in der Lage ist, in die Milchstraße zurückzukehren...« Er informierte den Saskanen in wenigen Sätzen über die Geschehnisse im »falschen Universum«, an deren Ende sie festgestellt hatten, dass die »drüben« ansässigen Foronen das Rochenschiff offenbar generalinspiziert und bei dieser Gelegenheit auch komplett überholt hatten. Zum ersten Mal zeigte Boreguir echte Verblüffung. Jarvis legte ihm vorsichtig die Hand auf die Schulter. »Du bist jederzeit wieder willkommen. Aber vorher sollten wir die Möglichkeit schaffen, zur RUBIKON zurückzukehren – was ich ungern mit leeren Händen täte.« »Die Satoga?« »Die Satoga«, bestätigte Jarvis. »Erzähl mir alles, was du über ihr Schicksal weißt. Selbst Dinge, die du für völlig unwichtig halten magst.« »Wo soll ich da anfangen?« »Entscheide selbst.« Während Jarvis kaum der Versuchung widerstehen konnte, den Arm auszustrecken und eine der faszinierenden schwebenden Formen zu berühren, begann Boreguir zu erzählen... *** Der Saskane war und blieb ein Phänomen – das immer neue Seiten, immer neue Facetten seines Wesens enthüllte.
In diesem Fall war es seine Art zu berichten. In einer Eindringlichkeit zu sprechen, die sogar Jarvis durch die Filter seiner Sensoren erreichte. Der ehemalige GenTec hatte das Gefühl, in die Schilderung des Kriegers hineingezogen zu werden, und als er seinen instinktiven inneren Widerstand dagegen aufgab, war ihm tatsächlich, als hätte er Boreguir auf seinem heimlichen Wechsel zum Magnetschiff der Satoga begleitet, als hätte er all das, was er hörte, selbst erlebt... Jarvis sah förmlich, wie sich der Vergessene nach Belieben auf der PERSPEKTIVE bewegte. Wie er die Satoga untereinander belauschte, ihr Verhalten bestaunte, hinterfragte, wertete... Auf diese Weise lief eine Art Zeitrafferfilm vor Jarvis’ geistigen Auge ab. Für ein paar Minuten war er Boreguir. Sah und hörte er, was auf dem Satoga-Schiff vorgegangen war, seinerzeit im ZentaloSystem, nach dem Abschied von der RUBIKON, als Artas und die Seinen ihre Suche nach dem Luminium fortgesetzt hatten... Das jedenfalls war ihre Begründung für die Trennung von den Menschen gewesen. Ihre wahren Beweggründe erfuhr Jarvis nun aus Boreguirs Mund. Boreguir, der perfekte Spion. Und als dieser endete, konnte Jarvis nur seinem Unglauben Ausdruck verleihen. »Aber – aber das hieße ja...«, ächzte er. »Das hieße ja...« »Dass die Satoga nicht mit offenen Karten spielten – richtig – ob nun gezwungenermaßen oder nicht, überlasse ich deiner Beurteilung«, sagte Boreguir. »Luminium war jedenfalls definitiv nicht der Grund für ihren überstürzten Aufbruch aus dem Zentalo-System. Sie trennten sich von der RUBIKON, weil sie einen Ruf empfingen... einen Lockruf, der ihnen befahl, zu diesen Koordinaten zu kommen.«
»Das hast du aus ihren Gesprächen und ihrem Verhalten herausgelesen?« »Das – und den Eifer, mit dem sie dem für mich unhörbaren Ruf folgten«, sagte der Saskane. »Schon da bereute ich, mich für sie entschieden zu haben. Sie wirkten – kaum dass der Kontakt zur RUBIKON unterbrochen war – völlig verändert. Wie umgedreht.« »Wie hast du überhaupt von dem Ruf erfahren, wenn du selbst ihn nicht spüren konntest?« »Sie unterhielten sich darüber, die ganze Zeit bis zum Erreichen dieser Station.« Jarvis stutzte. »Aber wenn sie sich darüber unterhielten, können sie ihm nicht verfallen gewesen sein, jedenfalls nicht so sehr, dass sie nicht dagegen ankämpften und...« »Es gab keine Gegenwehr, falls du das meinst«, warf der Saskane ein. »Keine Gegenwehr«, echote Jarvis. »Du willst sagen, sie haben nicht einmal auf die Virgh gefeuert, als diese ihr Schiff angriffen?« »Es gab keinen Angriff. Artas gab Befehl, an der Außenhülle dieses Gebildes anzudocken. Zwischen ihm und der restlichen Besatzung wechselten seltsame Dialoge, deren Sinn sich mir damals nicht und auch nicht mit etwas Abstand erschlossen hat. Kurz bevor das Schiff von den Bewohnern der Station geentert wurde, versanken die Satoga in einen apathischen Zustand – als wäre ihr freier Wille komplett abgeschaltet worden. Sie ließen sich ohne Widerstand von den Eindringlingen in Gewahrsam nehmen und von ihrem eigenen Schiff evakuieren. Ich folgte unbemerkt. Ich wollte wissen, was ihnen weiter blüht und rechnete durchaus auch mit ihrer Exekution, aber sie wurden nur in einen Raum geführt, in dem sie seither gefangen gehalten und untersucht werden.« »Untersucht?«
»Du wirst sehen, was ich meine, wenn wir dort sind. Ich führe dich.« »Sie sind noch immer nicht ansprechbar?« »Nein. Ich hatte zuerst die Absicht, mich Artas zu erkennen zu geben – aber er hätte mich in diesem Zustand nicht einmal bemerkt, geschweige denn begriffen, was ich ihm sagen wollte.« »Aber wenn sie geistig unterjocht sind, macht ein Befreiungsversuch keinen Sinn. Ich bin nicht in der Lage...« »Du solltest dir selbst ein Bild machen – und wenn du danach immer noch der Meinung bist, ihnen sei nicht zu helfen, könntest du wenigstens uns beide hier wegbringen.« »Wir werden sehen«, sagte Jarvis. »Führ mich zu ihnen – ich will mir selbst ein Bild verschaffen.« »Genau das hatte ich angeboten.« »Bevor wir aufbrechen, werde ich die RUBIKON über alles, was ich bis jetzt weiß, in Kenntnis setzen. Mein Rapport ist ohnehin längst überfällig.« Er fasste das Erfahrene zusammen und strahlte es über den körpereigenen Sender ab... Wollte es abstrahlen! Das hoch komprimierte Signal wurde jedoch zurückgeworfen und schaffte es nicht, den Stock zu verlassen. »Es ist dieser Ort«, mutmaßte Boreguir, nachdem Jarvis ihn über den gescheiterten Versuch informiert hatte. Dass er damit nicht den Stock als Ganzes meinte, sondern nur den Raum, in dem sie vorübergehend ihre Zuflucht gefunden hatten, wurde deutlich, als er hinzufügte: »Komm, ich führe dich jetzt zu den Satoga, Sobald wir wieder auf normalem Stationsboden sind, versuchst du noch einmal, die RUBIKON zu erreichen.« Er wollte Jarvis zu einer Stelle dirigieren, die dieser niemals als Ausgang erkannt hätte.
Aber dort existierte tatsächlich der Spalt, die sonderbare Lücke, durch die man herein- und hinauszuschlüpfen vermochte aus diesem grotesken Bereich der insektenstockartigen Station. Jarvis gab sich einen inneren Ruck, folgte Boreguir, konnte es aber im letzten Moment nicht lassen und berührte eine der geometrischen Figuren, die halb transparent und leuchtend über seinem Kopf hinwegschweben wollte. Er hörte noch Boreguirs Schrei, seinen warnenden Ruf – dann versank er auch schon in einem Bilderrausch, der sein Bewusstsein mit visionärer Macht überschwemmte... *** Als die Ohnmacht wich, waren wenige Minuten vergangen, wie eine Abfrage seiner Systeme ergab. Jarvis erschuf sich neu aus der Nanopfütze, die sich zu Boreguirs Füßen gebildet hatte. »Dem Sturmhimmel von Saskana sei Dank!«, begrüßte ihn die raue Stimme des Kriegers, der sowohl felide als auch igelähnliche Attribute besaß. Jarvis musste Boreguirs metallharte Stacheln nicht fürchten – Wesen aus Fleisch und Blut aber sehr wohl. »Was... ist passiert?« »Ich hatte gehofft, du könntest mir das sagen.« »Ich habe eines dieser Dinger berührt.« Jarvis hob halb den Arm, ließ ihn aber sofort wieder sinken, weil er fürchtete, erneut von einer Daten-Lawine überrollt zu werden. »Und dann schaltete mein Bewusstsein regelrecht ab – als wollte es sich dadurch schützen.« »Wovor?«, fragte der Saskane. »Du weißt es wirklich nicht?«
»Ich meide diese Gebilde wie die Pest... Wahrscheinlich ist es meine Schuld, dich nicht ausreichend davor gewarnt zu haben. Aber es war auch keine konkrete Befürchtung, mehr...« »Lass mich raten: ein Gefühl?« Boreguir schnitt eine Grimasse. »Offenbar hast du keinen bleibenden Schaden davongetragen. Das freut mich. Ich habe mich inzwischen daran gewöhnt, nicht mehr auf mich allein gestellt zu sein. Ein Verbündeter kann in dieser feindseligen Umgebung wahrlich nicht schaden... Du hast immer noch nicht gesagt, was dir das Bewusstsein raubte. War es Energie? Dann hätte ich die Berührung vermutlich nicht überlebt.« »Es war keine Energie – zumindest nicht ausschließlich. Es war, als würde ich aus einem trüben Tümpel auftauchen, die Oberfläche durchstoßen – und mit Trilliarden Eindrücken gleichzeitig konfrontiert werden. Dinge sehen, Düfte riechen, Töne hören, wie ich sie nie zuvor wahrnahm... Davor kapitulierte mein Verstand. Die Ohnmacht rettete mich mehr oder weniger, sonst wäre ich jetzt entweder ein lallender Irrer oder bliebe für immer eine unbeseelte Lache aus Nanopartikeln, mit der du nichts mehr anfangen könntest... Nichts, wovon ich wissen möchte, jedenfalls.« Er hatte während des kurzen Dialogs seine gewohnte Gestalt wieder vollständig zurückerlangt. »Kannst du dich an gar nichts von dem erinnern, was dich überkam?« Jarvis verneinte. Als er in sich hineinlauschte, hatte er das Gefühl, den Nachhall der Informationslawine immer noch feststellen zu können. Etwas Düsteres schien sich in die Nanoteilchen, aus denen sich sein Körper zusammensetzte, eingebrannt zu haben. Dem Saskanen gegenüber erwähnte er davon nichts. »Hast du eine Idee, was dieser Ort sein könnte?«, fragte er ihn.
Boreguir beteuerte, dass er mindestens so ahnungslos wie Jarvis selbst war. Daraufhin besannen sie sich, wovon der Zwischenfall sie abgehalten hatte. An Boreguirs Seite und von ihm geführt, verließ Jarvis die sonderbare Enklave innerhalb des Virghstocks, und wenig später traten sie aus dem blinden Gang auf ein beleuchtetes Deck. Hier versuchte Jarvis noch einmal, einen Rapport als komprimierten Funkspruch an die RUBIKON abzustrahlen. Soweit er es beurteilen konnte, gelang es diesmal ohne Probleme. Offenbar hatten zuvor nur die speziellen Eigenschaften ihrer Zuflucht die Übermittlung verhindert. »Ich hoffe, du vergisst nicht, mich zu vergessen«, wandte er sich an den Saskanen, als dieser ihm eröffnete, ihm jetzt den Kerker der Satoga zeigen zu wollen. Erstaunlicherweise monierte Boreguir das Wortspiel ins keinster Weise. Ob die Ausdehnung seiner Aura die Nanohülle von Jarvis aber tatsächlich umschloss und vor den StockSensoren verbarg, musste sich erst noch zeigen. Jarvis schätzte die Chancen nach Boreguirs zuvor geäußerten Bedenken nicht höher als fifty-fifty – aber das war immerhin mehr, als er sich auf sich allein gestellt eingeräumt hätte. Hinter der nächsten Gangbiegung kam ihnen ein schwer bewaffneter Virgh-Trupp entgegen! *** Sie sahen aus wie ein Fleisch gewordener Albtraum. Jarvis konnte nicht aus seiner Haut. Er war immer noch Mensch unter der Schale aus außerirdischem Konstrukt, in das ihn ein furchtbares Schicksal verpflanzt hatte – und die Virgh entsprachen dem Archetyp des Monsters noch viel mehr, als er es bei jeder anderen außerirdischen Spezies je erlebt hatte.
Ihre Grundstruktur erinnerte an gigantische Spinnen. Weil sie auf den ersten Blick fast nur aus Beinen zu bestehen schienen. Doch genaueres Hinsehen enthüllte die Unterschiede... und die fast nähere Verwandtschaft zu irdischen Schalentieren. Virgh waren krebsartig. Ihre Extremitäten – zumindest die äußeren, größten, die dem Betrachter zuerst ins Auge fielen, schienen dieser Gattung entliehen... dabei aber ins Extrem vergrößert worden zu sein. Zusammengehalten wurden die insgesamt sechs Gliedmaßen, die den Virgh zur Fortbewegung dienten, von einer Art Nabe, deren Unterseite je nach Gangart sichtbar wurde oder sich der Betrachtung völlig entzog. Auf der RUBIKON vermutete man, dass diese Nabe – zumindest ihre Unterseite – die Schwachstelle der Virgh war. Dort, wo sie am Verletzlichsten waren. Wo aller Wahrscheinlichkeit nach auch ihr Denkzentrum saß... und die Extremitäten, mit denen sie schöpferisch werden konnten. Kreativ. Und sei es nur, um Dinge – Waffen – zu erfinden und zu bauen, mit denen man immer effektiver töten konnte. Die Unterseite der Nabe barg einen zweiten inneren Kranz von Gliedmaßen, der im Vergleich zu ihrem Fortbewegungsapparat filigran genannt werden konnte. Die dort verwurzelten Arme waren nicht segmentiert, aber mit fingerartigen Gelenken ausgestattet, die fast zerbrechlich wirkten. Waren die mächtigen Gehwerkzeuge des Außenkranzes grün in ihrer Färbung, so war das Fleisch der Unterseite in unmittelbarer Nähe der zweiten, wie nachträglich aufgesetzt wirkenden Extremitäten blassrot. Im Zentrum der Nabenunterseite, die dunkel, fast schwarz war, befand sich eine runde, glatte, manchmal vibrierende Fläche, die an dünne Haut und damit an die Membran erinnerte, die Foronen zur Lautbildung besaßen. Einen erkennbaren Mund oder Augen gab es nicht. Über die
Sinneswahrnehmung oder Methode zur Nahrungsaufnahme der Virgh war nichts bekannt. Ihr äußeres Erscheinungsbild jedenfalls war Horror pur und appellierte an Urängste, von denen Jarvis vor der ersten Begegnung mit diesen Wesen nicht einmal geahnt hatte, dass sie auch in ihm – dem Klon – verankert waren. Ihn schauderte. Erst recht, als er die stabähnlichen Gegenstände bemerkte, die von den »Händen« am Ende der gelenklosen Arme festgehalten wurden. Die Rohre waren so lang und so dick wie ein menschlicher Unterarm, und an ihren Enden waberte elektrische Energie. Jarvis zweifelte keine Sekunde, dass es sich um Waffen handelte. Er konnte gerade noch zur Seite treten und den Gang freigeben. Ein Gang von knapp fünf Meter Breite und vier Meter Höhe. Wände und Boden schimmerten wie Perlmutt, die Decke war ein einziges leuchtendes Band, aus dem schattenloses Licht strömte. Und die Virgh – acht an der Zahl – huschten behände auf ihren krabbenartigen Beinen an Jarvis und Boreguir vorbei. »Unglaublich«, flüsterte Jarvis dem Saskanen zu. »Hast du das gesehen? Meine Sensoren sind unbestechlich: Jeder Virgh bewegt sich im exakt gleichen Abstand zum nächsten – und darüber hinaus auch ganz genau in der Gangmitte. Es gibt nicht einmal Abweichungen von ein paar Millimetern. Die Distanz zwischen ihnen beträgt 1,748 Meter, die zu den Gangwänden beiderseits 1,535 Meter... Ist das nicht irre? Wie Maschinen! Roboter!« »Aber sie sind organisch... oder zweifelst du daran?«, fragte Boreguir. Er wirkte verhalten. Der letzte der acht Virgh zog gerade an ihnen vorüber. Selbst für den Saskanen schien es eine beklemmende Situation zu sein, sich über einen Feind zu
unterhalten, der kaum mehr als eine Armlänge an ihnen vorüberstrich. Jarvis wollte etwas erwidern, als es geschah. Hatte es bislang den Anschein gehabt, als funktioniere Boreguirs Aura des Vergessens lückenlos und nahezu perfekt, so änderte sich dies abrupt und warnungslos. Das Schlusslicht des Virgh-Trupps hielt plötzlich inne und stoppte. Und als seien die Außerirdischen mit einer unsichtbaren Kette verbunden, ging auch sofort ein Ruck durch die anderen. Ihre Bewegungen froren komplett ein. »Oh-oh«, machte Jarvis. Es war, als wären die Virgh auf die Unterhaltung der beiden Eindringlinge aufmerksam geworden... und über diesen Umweg auch auf die Eindringlinge selbst. Was bei einem tatsächlichen Funktionieren der Saskanen-Aura unmöglich gewesen wäre. Sie verhinderte nicht nur eine visuelle Entdeckung, sondern überlagerte auch die komplette Akustik. Boreguir und Jarvis hätten schreiend miteinander kommunizieren können, ohne von der Außenwelt gehört zu werden. Dass zumindest Jarvis sich eines Flüstertons befleißigte, war reine Gewohnheit, ein tief verwurzeltes Verhaltensmuster. »Ich hatte es befürchtet und dich gewarnt«, rann es aus Boreguirs Mund, dem das Verhalten der Virgh auch nicht zu gefallen schien. »In diesem Gebilde ist nicht hundertprozentig Verlass auf meine Fähigkeiten. Ich fühle mich geschwächt – vom ersten Moment an, da ich meinen Fuß aus der PERSPEKTIVE setzte...« »Warten wir ab...« Jarvis hatte längst seine Waffensysteme aktiviert. »Es kann auch purer Zufall sein, dass sie gerade hier und jetzt innehalten. Sie erwecken beinahe den Anschein, als seien sie...« ... abgeschaltet worden, wollte er seinen Satz vollenden.
Doch da kam wieder Bewegung in die Virgh. In alle zugleich. Von einem Moment zum anderen gaben sie ihren strengen Verbund auf, stürmten Boreguir und Jarvis entgegen und eröffneten das Feuer aus ihren Waffen. Verheerende Energiestöße leckten den beiden ungleichen Eindringlingen entgegen. *** Er fühlte sich wie in einem von Drogen hervorgerufenen Delirium. Mara Forna, wisperte es in ihm. Die heilige Heimat. Der Hexenkessel der Fortpflanzung. Schmelztiegel allen Lebens. Mara Forna... Der letzte Schub hatte die dortigen Verhältnisse rapide verschlechtert, und der einzige noch gangbare Ausweg bestand in der unbedingten... Expansion! Er spürte, wie das Wort in ihm vibrierte. Wie es Nervenstränge wie mit Säure benetzte und ein Brennen verursachte, das an die Zeit seiner Prüfungen erinnerte – damals, als er in die Schluchten von Par’kan’ray hatte hinabsteigen müssen – wie jeder Satoga, der die Geschlechtsreife erreichte und sich eine Partnerin für das Gelege verdienen wollte... Er hatte seine Kinder nie zu Gesicht bekommen. So wollte es der Brauch, die Tradition, verlangten es die ehernen Gesetze. Wir sind Getriebene, dachte er. Die wahren Verdammten. Die Satoga standen sich selbst im Weg. Das Rassentabu verhinderte, dass eine andere Lösung gefunden wurde als unablässige... Expansion!
Es gab keinen Begriff, den Artas mehr verabscheute. Er fühlte sich als Spielball dessen, was dahinter stand. Sein ganzes Volk wurde von diesem einen Wort versklavt und gegeißelt. Und nun war der Punkt erreicht, da es eine noch größere Dimension erlangte als alle Generationen davor. Nun waren sie nach Mara Styga gekommen und hatten die Spur derer gefunden, die man für eine lange Zeit – eine schiere Ewigkeit aus dem Blickwinkel wahren Lebens – verschollen geglaubt hatte. Wahres Leben. Auch dieser Begriff löste eine wahre Kettenreaktion von Empfindungen in Artas aus. WIR SIND DAS WAHRE LEBEN! Es war erst 733 Eizyklen her, dass wir auf Rimbor, einem Nistplaneten in Zentrumsnähe auf einen riesigen Obelisken stießen, in den jemand diesen Satz eingraviert hatte. Das erste Wort in der Glyphenschrift der Satoga war hervorgehoben gewesen, das »Wir« in einer Weise betont, dass es einer Anklage gleichkam. Und bei der Untersuchung des Obelisken war man auf etwas gestoßen, was diese These noch untermauert hatte. Die Tragik war von jedem Atom des Mahnmals verströmt, ausgeatmet worden. Bei dem Obelisken handelte es sich um die Hinterlassenschaft einer Art, gegen die die Satoga vor rund 55.000 Eizyklen im Krieg gelegen hatten. Vor 55.000 Eizyklen... Die Spanne überstieg Artas’ Vorstellungskraft. Er selbst war vor 67 Zyklen der Schale entschlüpft, was alt klang, aber aufgrund der Entwicklung das genaue Gegenteil ausdrückte: Er war jung, der jüngste Expanser, der je ein Schiff befehligt – und der erste, der die Leere überwunden hatte.
Die Entstehung des Obelisken auf Rimbor – einem der letzten umgeformten Planeten Mara Fornas – fiel, wie Untersuchungen ergeben hatten, in die Zeit des damaligen Krieges. Des gewaltigsten Blutvergießens, das die Satoga je zu verkraften hatte... und das die Population um etliche Zyklen zurückgeworfen hatte... so weit, dass vorübergehend sogar die Sorge, auszusterben, aufgekommen war. Artas fühlte einen leichten Schwindel, als er sich das Gelesene ins Gedächtnis rief. Er kannte jene Zeit nur aus Niederschriften. Aus Quellen, deren Begründer längst zu Staub zerfallen waren. Mit 67 Zyklen war er jung – aber es hatte Zeiten gegeben, da ein Satoga nicht einmal zwei Zyklen erlebte – und doch genau so alt geworden war, wie ein heute lebender Satoga, der auf ein langes, ereignisreiches und erfülltes Leben zurückblickte. Ein Paradoxon? Nicht wirklich, sondern schlicht die Tragik seines Volkes. Die Wurzel aller Macht – und Ohnmacht. Artas spürte, wie die Gegenwart ihn mehr und mehr in sich aufsog, wie allmählich jeder Gedanke an das, was einmal war, erstickt wurde vom Jetzt. Er nahm telepathischen Kontakt zu den Magnetmeistern auf, die ebenso geduldig ausgeharrt hatten wie er, und öffnete die Augen... *** Die Waffen der Virgh schleuderten Netze. Netze aus purer, bläulich pulsierender Energie, die sich erst bei der Berührung ihres Ziels entfalteten – vorher waren es Kugeln, die wie Klumpen aus Quecksilber wirkten.
Als die erste Kugel Jarvis traf, glaubte er zunächst, das Geschoss würde in unzählige winzige Teilchen zerplatzen, die wirkungslos an seiner Hülle abperlten... Da aber wucherten zwischen den auseinander stiebenden Partikeln Fäden, die sich miteinander verbanden und so ein immaterielles Netz schufen, das sich eng an das Nanofleisch schmiegten, das aus der ehemaligen Rüstung des Foronen Mont entstanden war. Im gleichen Moment raste der Schock durch Jarvis’ Körper. Eine Art EMP, der die Systeme jedes einzelnen Splitters lahm zu legen drohte, aus dem sich der Kunstkörper zusammensetzte. Doch Jarvis hatte seit Verlassen der Milchstraße viel dazugelernt. Wusste das »Gnadengeschenk Sobeks« inzwischen wesentlich besser, in mancherlei Hinsicht sogar virtuos, zu handhaben, als er es sich anfangs erträumt hätte. Und so griff er tief in die eigene Trickkiste, aktivierte stabilisierende Programme und Reserven, entfesselte eine genau dosierte Gegenkraft und schob damit jedes einzelne Fragment des Projektils, das ihn getroffen hatte, wieder in seine Ausgangsform zurück. Bis am Ende wieder die pulsierende Kugel entstanden war, die ein Gravitationsstoß dorthin zurückbeförderte, von wo sie gekommen war. Und – bar jeder Eigenintelligenz, wie diese Waffe nun einmal war – dort entfaltete sie neuerlich ihr destruktives Potenzial. Sie traf damit nicht nur denjenigen der Virgh, dessen Treffer Jarvis’ geprüft hatte, sondern fächerte auseinander und streifte dabei noch fünf andere. Die alle wie vom Schlag getroffen innehielten, aufleuchteten – und zusammenbrachen. Die beiden Verbliebenen lösten daraufhin ihre Waffen unverdrossen ebenfalls aus.
Zumindest versuchten sie es. Die Abstrahlpole der Rohre glommen bereits auf, als sich die Energie darin sammelte, aber dann war Jarvis erneut den Tick gewiefter und schneller und schleuderte ihnen einen Hagelschauer winziger Nanoteilchen entgegen, die er vorher präpariert hatte. Als die Wolke ihre Opfer erreichte, wurden sie von den Kräften, die sich im Moment des Kontakts entluden, förmlich auseinander gerissen. Hätte Jarvis noch seinen originalen Körper besessen, hätte er die Fetzen aus Gewebe und säureartig dampfendem Blut gefühlt, das bis zu ihm spritzte. So aber beachtete er die Körpersäfte und Leichteile gar nicht, die gegen ihn schlugen. Statt dessen hielt er Ausschau nach Boreguir, den er vorübergehend aus den Augen verloren hatte – so unwahrscheinlich das bei Jarvis’ Augen auch klang. Aber er hatte seine volle Aufmerksamkeit der Gefahr gewidmet, und nun war Boreguir verschwunden. Daran, dass sein Begleiter den angreifenden Virgh zum Opfer gefallen sein könnte, glaubte der ehemalige GenTec keine Sekunde. Er wartete eine halbe Minute – länger, als er eigentlich vor sich selbst vertreten konnte –, dass Boreguir sich endlich wieder zeigte. Als diese Frist ereignislos verstrichen war, zerquetschte Jarvis eine derbe Verwünschung zwischen seinen imaginären Zähnen und stelzte über die toten Virgh hinweg den Gang hinunter in die Richtung, die er schon mit Boreguir zusammen gewählt hatte. Sein Wohlwollen, was den Saskanen betraf, schrumpfte dabei auf eine Größe, die noch unter der seiner Nanomoleküle lag. »Warte, wenn du mir zwischen die Finger kommst, Bürschchen!«
Da erschütterte etwas den Boden unter seinen Füßen, und seine Sensoren maßen eine Explosion in unmittelbarer Nähe an – ungefähr dort, wohin Boreguir ihn hatte lotsen wollen. Dort, wo laut Boreguir die Satoga gefangen gehalten wurden! *** Schneller als er es in seinem alten Leben je vermocht hätte – und da war er bereits übermenschlich schnell gewesen –, rannte Jarvis über das Deck auf den Ursprungsort der Detonation zu. Der Ort des Zusammenstoßes mit den Virgh lag etwa hundert Meter und mehrere Gangbiegungen hinter ihm – weitere Patrouillen waren ihm nicht begegnet. Erst wenige Sekunden waren seit dem Beben vergangen, das sich durch die Station gepflanzt hatte. Wieder eine Kehre im Korridor... Und dahinter erwarteten Jarvis gleich zwei Überraschungen. Mit der einen hatte er gerechnet – mehr oder weniger. Boreguir stand dort breitbeinig und von Jarvis, der jäh gestoppt hatte, etwa gleich weit von dem ehemaligen GenTec wie von der zweiten, weit größeren Überraschung hinter ihm entfernt. Jarvis war so perplex, dass er nur rufen konnte: »Wie ist dir denn das gelungen?« 2. Sie standen noch immer unter dem Eindruck des gerade Erfahrenen. Die dechiffrierte elektronische Stimme hatte ihnen von Jarvis’ Begegnung mit Boreguir und den Verhältnissen in
jenem Stockbereich berichtet, den der frühere GenTec bislang hatte in Augenschein nehmen können. Insbesondere der Raum mit den schwebenden Figuren, deren Sinn und Zweck sich auch Jarvis nicht erschlossen hatte, weckte das Interesse der Crew. Aber auch Boreguirs Erklärung, wie es zum Desaster der Satoga gekommen war, bot ausreichend Stoff für Diskussionen – und wildeste Spekulation. Über allem aber schwebte die Erleichterung, dass Jarvis noch existierte und nicht, wie befürchtet, im Zuge der georteten gewaltigen Energieemission im Stock umgekommen war. Cloud brauchte Scobee nur anzusehen, um zu wissen, was in ihr vorging. Ihre Miene hatte sich komplett aufgehellt, nachdem sie vor Eintreffen des gerafften Spruches zeitweise leer und ausdruckslos wie die Züge einer unter Schock Stehenden gewirkt hatte. »Was könnte es mit dem entdeckten Raum auf sich haben?« Clouds Blick löste sich von Scobee und wechselte zu Jelto, dessen Hand wieder einmal das Erste Korn umschloss und dessen Lider halb nach unten gesunken waren, als würde er meditieren, während er sprach. »Sinnlos, darüber zu rätseln«, erwiderte er. »Vielleicht werden wir es nie erfahren – aber damit könnte ich leben, wenn uns im Gegenzug die Befreiung unserer Freunde gelänge...« Jeder seiner Zuhörer wusste, dass er mit Freunden nicht nur Jarvis und Boreguir meinte. Der Verdacht, dass Boreguir heimlich zur PERSPEKTIVE umgestiegen war, hatte seine Bestätigung gefunden. Seine Motive hatte Jarvis in seinem knappen Bericht gleich mitgeliefert: Der Saskane sehnte sich ebenso wie die RUBIKON-Mannschaft nach seinen heimischen Gefilden – und war zu dem Schluss gekommen, sie mit Unterstützung der Satoga eher erreichen zu können, als wenn er sich auf die Menschen verließ. Cloud konnte es ihm nicht verdenken, auch wenn die RUBIKON inzwischen wieder fernflugtauglich war und sich
Boreguirs diesbezügliche Zweifel damit eigentlich erledigt hatten. Der Saskane hatte schließlich nicht ahnen können, dass es das Rochenschiff vorübergehend in ein Paralleluniversum verschlagen würde, in dem die Foronen Samragh nie hatten verlassen müssen, immer noch die beherrschende Spezies waren – und denen es nur ein Fingerschnippen abverlangt hatte, die im Sonnenhof erlittenen Schäden zu beheben. Ein Fingerschnippen. Das war maßlos übertrieben, natürlich. Andererseits... die Verhältnisse in dem parallelen Universum hatten einen tiefen und bleibenden Eindruck in Cloud hinterlassen – und das dort Erlebte reizte förmlich zum Spekulieren, wie wohl die Menschheit in jenem Universum ausgesehen haben mochte. Winzige Abweichungen in der Chronologie der Erdgeschichte konnten dazu geführt haben, dass ganz andere Lebewesen die Oberhand gewonnen hatten. Und wenn in dem anderen Universum beispielsweise vor 65 Millionen Jahren kein Riesenmeteorit die Erde getroffen hatte, um das Ende der Dinosaurier einzuläuten... wären dann Säugetiere wie der Mensch überhaupt in Erscheinung getreten? Oder wäre der blaue Planet bis heute in der Hand sauroider Geschöpfe, die irgendwann im Laufe ihrer Evolution vielleicht selbst ein Maß an Intelligenz erreicht hatten, das es ihnen ermöglichte, zu den Sternen aufzubrechen? Faszinierende Gedanken – die aber auch so manchen Schauder weckten. »Sie haben also denselben Lockruf empfangen, der auch auf Sobek und Siroona wirkte – und auf dich und deinen Vater«, sagte Scobee. »Boreguirs Worten zufolge ergaben sie sich kampf- und widerstandslos in ihr Schicksal. Sie müssen sehr viel empfänglicher für den mentalen Sirenengesang sein als Menschen. Für sie war es ein Zwang, gegen den sie überhaupt nichts tun konnten. Was ich dennoch nicht verstehe...« »Ja?«, wandte sich Cloud an sie.
»Warum hat sich Artas völlig unverändert benommen, als er von uns Abschied nahm, uns die Black Box schenkte und behauptete, weiter nach dem Rohstoff suchen zu wollen, von dem in seiner Heimat der gesamte Raumschiffsverkehr abhängt. Dieses Luminium...« Cloud nickte. »Du hast Recht. Irgendetwas stimmt nicht, beziehungsweise irgendwo ist noch ein Informationsdefizit. Wenn Boreguirs Beobachtungen stimmten, hätten die Satoga schon vor ihrem Weiterflug aus dem Zentalo-System den Lockruf empfangen, ihn uns aber verschwiegen. Das passt nicht in das Bild, das ich von Artas habe. Welchen Grund sollte es geben, uns den Drang zu verschweigen, irgendwo hinreisen zu müssen?«. »Vielleicht war er dazu schon nicht mehr in der Lage«, warf Jelto ein. »Wir wissen nicht, wie sich die Veränderung der galaktischen Hintergrundstrahlung auf die Satoga auswirkte – welche Prozesse sie in ihrem Denken auslöste. Möglicherweise standen sie schon zu sehr im Bann des Rufes, um...« »Aber er benahm sich völlig normal, als wir uns verabschiedeten.« Scobee machte keinen Hehl daraus, dass diese neuen Informationen ihr zusetzten – rückten sie doch die Satoga, und speziell Artas, in ein Licht, das nicht mit dem Bild harmonierte, das sie bislang von ihnen gehabt hatten. »Falls Artas und die Seinen den Ruf schon im ZentaloSystem empfingen und sich deshalb von uns trennten«, unternahm Cloud den Versuch einer Erklärung, »könnte er es uns verschwiegen haben, um uns nicht zu gefährden. Die Satoga sind ein stolzes und durchaus wehrhaftes Volk, wie sie bewiesen haben. Möglicherweise trauten sie sich zu, allein mit der Situation fertig zu werden.« »Was aber definitiv nicht der Fall war...« Ayleas Worten, die unruhig auf ihrem Sitz hin und her rutschte, war wenig hinzuzufügen.
Sie selbst war es, die das Wort nach einer kurzen Pause neu ergriff. Zuvor nestelte sie an dem Gürtel, der ihre Bordkombination in Taillenhöhe zusammenschnürte – und an dem ein Beutel befestigt war, aus dem sie umständlich etwas hervorkramte. Eine Art Würfel. Schwarz. Und schwer – wenn man ihren leicht verkrampften Gesichtsausdruck zum Maßstab nahm. »Wenn es diesen Lockruf gegeben hat und sie ihm folgten – oder sogar schon verfallen waren –, dann verstehe ich aber nicht, warum sie uns das hier noch gaben, ehe sie gingen.« Sie streckte Cloud den Quader entgegen. »Oder war das auch nur eine Finte? Haben sie uns damit nur in Sicherheit wiegen wollen? Das Ding ist zu nichts nütze, ich habe es wieder und wieder probiert...« Artas hatte ihnen die Black Box – wie sie es nannten – als Abschiedgeschenk überlassen. Als Möglichkeit, selbst über gigantische Entfernungen, mit der PERSPEKTIVE in Verbindung zu treten. Aber als sie es versucht hatten – im System der Cirr und auch später –, waren sämtliche Bemühungen gescheitert. Der Würfel schien nicht mehr als ein toter Klotz Metall zu sein, der mit unbekannten Glyphen verziert war. Cloud wollte etwas auf Ayleas Worte entgegnen. Er hatte den Mund schon geöffnet. Doch bevor er etwas sagen konnte, geschah das, wovon auch das Mädchen, das den Würfel hielt, vollkommen überrascht wurde. Er fing an zu wachsen. So schnell und umfassend, dass er binnen eines einzigen Atemzugs größer wurde als die gesamte Kommandosektion der RUBIKON. Gleichzeitig meldete SESHA davon scheinbar völlig unberührt: »Die Zentraleinheit der PERSPEKTIVE strahlt gerade einen ungeheuer starken Impuls zum Rand der Großen
Magellanschen Wolke ab. Meine Programme sind nicht imstande, den Spruch zu entschlüsseln...« *** Für einen Augenblick war Cloud der festen Überzeugung, zerquetscht zu werden. Aber der Würfel blähte sich durch ihn hindurch auf, weder Cloud noch ein anderer wurde davon zu den Wänden der Bordzentrale geschoben und dort zermalmt. Sie wurden einfach von ihm aufgenommen. Er verlor seine materiellen Eigenschaften und verwandelte sich in eine Art Blase, eine Sphäre, die sich einfach über den kompletten Raum stülpte und ihn mit bläulichem Licht durchwirkte. Und mit Klängen, die kurz an exotische Musik erinnerten, ehe sie sich zu einer einzigen Stimme verdichteten, die nicht mehr mit SESHA konkurrieren musste, weil die KI seit ihrer Meldung schwieg. »John?« Es war, als stünde der Sprecher neben ihm, und unwillkürlich blickte Cloud zu Scobee, um sich zu vergewissern, dass er nicht der Einzige war, der es hörte. Ihre Körpersprache, ihre Mimik sprachen für sich. Alle, die sich innerhalb der Sphäre aufhielten, empfingen Artas Worte. »Artas!« »Keine Zeit für Erklärungen! Wollt ihr uns helfen?« »Hätte ich sonst Jarvis zu euch geschickt?« »Jarvis?« »Ihr hattet noch keinen Kontakt?« Artas verneinte. »Wo genau seid ihr?«, wandte sich Cloud an ihn. Er spürte den Stress, unter dem der Satoga stand. »Wieso bist du in der Lage, dich zu melden? Wir dachten, ihr wärt hilflo...«
Artas schnitt ihm das Wort ab. »Wollt ihr uns helfen?«, drängte er erneut auf die Beantwortung der Frage, die ihn offenbar am meisten interessierte. »Natürlich – wie stellst du dir Hilfe vor?« »Wir brauchen hier jede Unterstützung, die wir nur kriegen können. Die Virgh müssen abgelenkt, extern in ihrer Aufmerksamkeit gebunden werden, während wir hier... Ah, da ist Jarvis! Ich sehe ihn.« Eine Weile war es still. Dann: »Ich habe bereits weitere Maßnahmen initiiert, die euch nicht irritieren sollen. Sie werden euch nicht gefährlich, das kann ich versprechen. Also? Seid ihr bereit, ebenfalls zur Ablenkung der Virgh beizutragen, bis Verstärkung eintrifft?« »Verstärkung?« »Seid ihr bereit?« Cloud tauschte abermals Blicke mit den anderen. »Ja... natürlich, aber...« »Dann fliegt Scheinangriffe. Helft, die Virgh unter Druck zu setzen. Sie sollen alle Kraft auf die Verteidigung ihrer Bastion verwenden. Dann stehen unsere Chancen gut, hier herauszukommen...« Noch bevor Cloud seine Entscheidung treffen und artikulieren konnte, erlosch die blau leuchtende Sphäre so plötzlich, wie sie entstanden war. Über Ayleas Schoß schwebte der Würfel in seiner alten Größe. Sie hatte ihn zuvor mit einem Aufschrei losgelassen. Als er fiel, konnte das Mädchen gerade noch reflexartig zugreifen und ihn auffangen. Scobee stöhnte. Kopfschüttelnd fragte sie Cloud: »Hast du auch nur den leisesten Schimmer, was da vorgeht?« Er ahnte, wie blass er war, als er erwiderte: »Nicht den geringsten. Aber eines ist sicher.« Sie sah ihn fragend an. »Wie ein hilfloser Gefangener hat sich Artas nicht angehört.«
»Ich wünschte, ich könnte sagen, dass er sich wenigstens wie der Kommandant eines nach Rohstoffen suchenden Experimentalraumschiffs aus der Nachbargalaxis angehört hätte...«, kommentierte sie ihrerseits. »John, was in Dreiteufelsnamen geht hier vor?« *** Cloud hatte das verschwommene Gefühl, dass ihm die Zügel, die er seit der Vollakzeptanz durch SESHA in den Händen hielt, zusehends wieder entglitten – dass er, anders als noch vor Artas’ Worten geglaubt, nicht einmal mehr andeutungsweise die Kontrolle über die Situation hatte. »Lagebericht!«, wandte er sich an die KI. »Bis auf neue Aktivitäten im Zentralkorpus der PERSPEKTIVE – unverändert«, reagierte SESHA augenblicklich. »Du meinst die Funkaktivität, die du angemessen hast, kurz bevor sich Artas meldete?« Die KI verneinte. »Ich meine das nicht zuordenbare Wachstum von Energie. Unbekannte Energie. Sie erinnert vage an die Triebwerksemissionen des Satoga-Schiffes, sobald es eine Fernflugetappe einleitet – dieses Untertunneln des Normalkontinuums...« »Du sprichst in Rätseln.« »Es ist ein Rätsel. Ich vermag die Ursache der empfangenen Energieauswüchse nicht zu ermitteln.« »Könnte es sein...« Cloud stockte kurz. »Könnte es sein, dass Artas die Zentralkugel seines auseinander genommenen Schiffes scharf gemacht hat?« »Scharf?« Die KI hatte deutliche Verständnisprobleme. »Dass er eine Art Selbstvernichtungssequenz initiiert hat.« »Die Wahrscheinlichkeit liegt bei 43,7 Prozent.«
»Was für eine Antwort«, ächzte Scobee. An Cloud gewandt sagte sie: »Das wäre doch Irrsinn. Warum sollte er sein wertvolles Schiff opfern?« »Du hast ihn gehört«, antwortete er. »Er redete von Ablenkungsmanövern, bei denen wir ihn unterstützen sollen. Eine Zerstörung der PERSPEKTIVE würde auch gewaltigen Schaden am Stock anrichten. Ich schließe nicht aus, dass er es darauf anlegt – selbst um diesen Preis. Immerhin weiß er, dass wir in der Nähe sind und die Satoga aufnehmen können...« »Zumindest, wenn wir lange genug leben.« Ihr Fatalismus war neu. Sonst übte sie sich eher in Zuversicht – selbst in prekären Situationen. Sonst... Cloud ertappte sich erneut dabei, dass Artas’ wenige Worte ihn stärker verunsichert hatten, als jedes bisherige Gespräch mit Sobek. Dabei hatte er den Foronen bislang für einen Meister des Psychoduells gehalten. Was denke ich da? Psychoduell? Artas ist ein Freund! Niemand wusste besser als er selbst, wie stark er seit drei Minuten genau daran zweifelte. Aber außer den Satoga befanden sich auch noch Jarvis und Boreguir im Stock der Virgh. »SESHA?« »Ja?« »Kannst du eine Verbindung zu Jarvis herstellen?« »Wir hatten aus sicherheitsrelevanten Gründen vereinbart...« »Ich weiß! Aber das ist jetzt hinfällig. Kannst du?« »Ich versuche es.« Rund eine halbe Minute verstrich. »Negativ.« Cloud fluchte, wurde aber neuerlich durch SESHA abgelenkt, die ihn regelrecht zwang, sein Augenmerk auf die Holosäule zu richten, wo sich das bislang fast statische Bild Virghstock-PERSPEKTIVE jäh veränderte.
»Achtung: Sichtbare Aktion!« Er hörte kaum, was die KI moderierte. »Es sind Schiffe.« Je länger Cloud die Holoszene auf sich wirken ließ, desto schwerer fiel es ihm, die Bezeichnung Freund in Bezug auf die Satoga aufrechtzuerhalten... *** Die Zentralkugel aus Neodym-Stahl gebar immer mehr Objekte, die ihr entschlüpften wie dem Schoß einer Mutter, die ihren Nachwuchs in die Welt entließ. Ein regelrechter Schwarm ordnete sich zu einer keilförmigen Formation, deren Spitze auf den Stock zeigte, die Gigabastion der Virgh. Das Absurdeste von allem Absurden, was sich der Besatzung der RUBIKON darbot, aber war, dass jedes einzelne Objekt nur unwesentlich kleiner war als das Magnetschiff der Satoga, dem sie entwichen! »Was sagen die Instrumente?«, hörte er Scobee rufen. »Das kann nicht real sein. Artas spult ein Programm ab, um die Virgh in Konfusion zu stürzen. Er...« »Schiffe real«, widersprach SESHA. »Es sind insgesamt dreiundzwanzig.« »Das wird immer verrückter...« Die Worte aus Jeltos Mund klangen gequält. In seinen großen dunklen Augen war das blanke Entsetzen zu lesen. Cloud schwankte immer noch in seiner Entscheidung, ob er Artas’ Hilfeersuchen entsprechen oder einen eigenen Plan – eventuell sogar den Rückzug – in Angriff nehmen sollte. Die um den Stock patrouillierenden Virgh-Einheiten, überwiegend Superdreizacke, hatten offenbar den strikten Befehl erhalten, sich um ihre Basis zu kümmern – und sie, koste es, was es wolle, gegen jede Gefahr zu schützen.
Und die sichtbarste Bedrohung ging momentan von dem Satoga-Schwarm aus. 23 Schiffe – ein jedes optisch identisch mit der PERSPEKTIVE, wie sie einmal, vor der Zerlegung, ausgesehen hatte! Vollständige Einheiten also. War das die Verstärkung, von der Artas orakelt hatte? Hatte sich damit der Einsatz der RUBIKON bereits erledigt? Cloud haderte immer noch mit sich. Das Vertrauen in die Satoga war erschüttert, wodurch eine Entscheidungsfindung enorm erschwert wurde. Ich habe bereits weitere Maßnahmen initiiert, die euch nicht irritieren sollen. Die Erinnerung an Artas’ Worte brachte ihn schließlich zu der Überzeugung, dass es sich bei dem Pulk von geisterhaft entstandenen Satoga-Schiffen wohl noch nicht um die erhoffte Verstärkung, sondern sehr viel wahrscheinlicher um eine der Maßnahmen handelte, von denen Artas gesprochen hatte. Und von denen wir uns nicht irritieren lassen sollen. Der hat gut reden... Clouds Finger huschten über die Sensoren seiner Armlehne. Scobee, die ihn offenbar nicht aus den Augen ließ, rief: »Was hast du...« Das »vor« hörte er schon nicht mehr hinter der massiven Schale des Sarkophags, der sich geschlossen hatte und ihn vollständig in der RUBIKON aufgehen ließ. Cloud verschmolz mit dem Schiff. Seinem Schiff. Und es war seine Entscheidung, als der riesige Rochen seine Schwingen bewegte und wie auf unsichtbaren Wogen zu den Koordinaten glitt, an denen sich – daran zweifelte er in diesen Sekunden nicht einmal mehr vage – sehr viel mehr entschied, als er bislang geglaubt hatte.
Verdammt, Artas!, dachte er – bevor er sich nur noch um die feindlichen Raumer kümmerte. Ich wünschte, wir hätten Zeit für einen kleinen, klärenden Plausch... Wer bist du? 3. Für einen Moment glaubte Jarvis wirklich, Boreguir stecke hinter der Befreiung der Gefangenen. Aber da fingen seine Nanoaugen den Türbereich ein, der zerstört worden war – und zwar von einem Druck, der von innen nach außen gewirkt hatte –, und sein Verstand zog den einzig möglichen Schluss. Im selben Moment sah er Artas aus der entstandenen Öffnung treten. Jarvis erkannte ihn an der Kleidung – an den Emblemen, die irdischen Rangabzeichen entsprachen. Artas schien völlig in seiner Konzentration aufzugehen, bemerkte Jarvis zunächst nicht. Sein linker Arm war angewinkelt. Über einem Hightech-Armband wölbte sich ein knapp zwanzig Zentimeter hohes holographisches Feld, das die Bordzentrale der RUBIKON wiedergab. Jarvis zoomte das Bild heran und erkannte, dass sich Artas mit Cloud unterhielt, dessen Gestalt wie auch seine Umgebung in sonderbares blaues Licht gebadet war. Gleichzeitig justierte er seine Sensoren auf die Mundöffnung des Satoga und schaltete einen Empfangsverstärker dazwischen. Doch just in diesem Moment entdeckte Artas Jarvis und winkte ihm kurz zu. Jarvis fühlte sich in seinem Lauschangriff ertappt und blockierte die entsprechenden Systeme. Gleichzeitig bewegte er sich auf Boreguir zu, wodurch er sich auch den sich auf dem Gang drängenden Satoga näherte, die eine Gasse für ihren Kommandanten gebildet hatten.
Artas unterhielt sich noch kurz mit Cloud, dann kappte er die Verbindung und wandte sich Jarvis zu. Boreguir schien für ihn nicht zu existieren; offenbar wollte der Saskane nicht riskieren, unliebsame Fragen beantworten zu müssen. Jarvis hielt das für keinen sehr glücklichen Schachzug, überließ die Entscheidung aber dem Krieger. »Jarvis!« Artas feixte, was – wie Jarvis inzwischen wusste – nicht unbedingt das ausdrückte, was es auf einem menschlichen Gesicht bedeutet hätte. »Ich wurde gerade informiert. Wir können jede Unterstützung gebrauchen – ich hoffe, es war nicht unhöflich, dass wir selbst schon mal die Initiative ergriffen?« »Prinzipiell nein – allerdings tun sich dadurch Fragen auf, die wir bei anderer Gelegenheit erörtern sollten. Hier ist weder ein guter Ort noch die beste Zeit dafür...« »Ich mag deinen Pragmatismus, Jarvis von der Erde.« »Erlaube«, erwiderte Jarvis trocken, »dass ich mir später Gedanken mache, was ich an dir mag, Artas aus Mara Forna. Meine Sensoren messen Bewegung im Gang aus zwei Richtungen – von dort, woher ich komme und aus der Fortsetzung des Korridors, der an eurem Gefängnis vorbeiführt.« »Natürlich«, sagte Artas, »das war zu erwarten. Sie wollen uns nicht einfach aufgeben. Sie glaubten uns ja schon sicher zu haben.« Während er sprach, gestikulierte er zu den Umstehenden, die sich zu formieren begannen. Zum ersten Mal sah Jarvis die speziellen Satoga, von denen Scobee nach ihrem kurzzeitigen Aufenthalt auf der PERSPEKTIVE berichtet hatte: die Magnetmeister. Ihre Körper wirkten unterentwickelt – bis auf die Köpfe, die Übergröße hatten und vom eigenen Hals nicht mehr getragen werden konnten. Antigrav-Korsetts, in die Kragen ihrer Monturen eingelassen, stützten deshalb ihre Häupter und
ermöglichten es den Logenmitgliedern überhaupt erst, sich auf den Beinen zu halten. Ansonsten wären sie von ihrem eigenen Gewicht niedergedrückt worden. Jarvis fragte sich, warum die Virgh ihnen diese technischen Hilfsmittel gelassen hatten. Es widersprach der sonstigen Vorgehensweise der neuen Herren von Samragh. »Zeig dich«, flüsterte Jarvis Boreguir zu. »Gib dich zu erkennen. Die Selbstbefreiung der Satoga kommt uns entgegen. Gemeinsam kommen wir hier wieder raus...« Boreguir verschwand kurz – um genau neben Artas wieder aufzutauchen. Er deutete auf Artas’ Arm, über dem sich noch immer ein holographisches Feld wölbte. Es zeigte jedoch nicht mehr die Zentrale der RUBIKON, sondern den Stock und seine unmittelbare Umgebung – zu der auch die ihrer Trabanten beraubten PERSPEKTIVE gehörte. »Gut ausgerüstet für ein kleines, aufstrebendes Völkchen, das sich eben erst anschickt, seine nahe Nachbargalaxis zu erkunden... und das ansonsten harmlos und bieder und absolut friedliebend ist, wie...?« Die Stimme des Saskanen troff förmlich vor Sarkasmus. Aber letztlich brachte er genau das auf den Punkt, was auch Jarvis am Auftreten der Satoga störte. Die seltsamen Schrittgeräusche der Virgh klangen auf, wurden lauter. Kurz darauf tauchen die Spinnenartigen auf – aus beiden Gangrichtungen. Die Satoga zeigten keinerlei Anzeichen von Furcht oder auch nur Einschüchterung. Im Gegenteil, sie demonstrierten neben Selbstbewusstsein auch eine Stärke, die es Jarvis endgültig unmöglich machte zu verstehen, wie sie überhaupt in die Gewalt der Virgh hatten gelangen können.
Zu beiden Seiten löste sich je eine Loge aus acht Magnetmeistern aus der Versammlung der »normalen« Satoga, trat den anstürmenden Virgh entgegen... ... und schleuderte ihnen ihre gebündelten Kräfte entgegen. *** Der Gravohammer traf, wie von Artas nicht anders erwartet, seine Opfer. Über die Gedankenmodule stand er in permanenter Verbindung mit den Logen – und mit dem Bordhirn der PERSPEKTIVE. Er analysierte und autorisierte jede Aktion. Er war jederzeit mit den speziell konditionierten Magnetmeistern vernetzt – selbst während der Gefangenschaft hatte diese Verbindung nie aufgehört zu existieren –, denen weit mehr oblag als die Steuerung eines Schiffes der TarragKlasse. Wie jeder privilegierte Satoga war Artas in der Lage, nicht nur mehrgleisig zu denken, sondern auch zu agieren: Es bereitete seinem Hirnkomplex keine Schwierigkeiten, die einzelnen Handlungsbereiche hoch konzentriert abzuwickeln. Und so bereitete es ihm auch kein Problem, mit dem sonderbaren Geschöpf zu kommunizieren, das den Weg in den Stock gefunden hatte, während unweit ein Gegner nach dem anderen von den Gravohämmern zerrieben wurde. Dabei floss erstaunlich wenig Blut, was die bisher gesammelten Fakten nur noch untermauerte. »Schließt ihr euch uns an?«, fragte Artas. Das Zögern des menschlichen Bewusstseins in der Hülle des Konstrukts einer Rasse, die sich Foronen nannte, verriet seine Verblüffung. »Ihr?« »Du und dein Begleiter...« Über eines seiner Module löste Artas einen realitätsverzerrenden Schauer aus, der die Gestalt,
die unmittelbar bei ihm stand, den hier gültigen Realitätsparametern anglich. Das seiner Tarnung beraubte Wesen ging instinktiv in Abwehrhaltung. »Vergeude deine Talente nicht gegen Gegner, denen du nicht gewachsen bist«, riet Artas dem Geschöpf, dessen Fähigkeiten ihn durchaus faszinierten, auch wenn sie ihn nicht wirklich forderten. Hätte er keine Sympathien für den Feliden gehegt, hätte er dessen Eindringen in die PERSPEKTIVE nie geduldet. »Was ist nun?«, fragte der Satoga. »Wollt ihr hier Wurzeln schlagen?« »Bestimmt nicht!«, erwiderte Jarvis. Der Felide kämpfte noch mit seiner Verblüffung. »Dann kommt! Wir müssen die PERSPEKTIVE erreichen«, sagte Artas. »Ich fürchte, die PERSPEKTIVE hat keinen Nutzen mehr für uns«, sagte Jarvis. »Sie wurde...« Artas lachte auf, wie nur ein Satoga es konnte. »Du hast wirklich keine Ahnung!« Mit diesen Worten übernahm er die Spitze seiner Streitmacht... *** Cloud feuerte ausschließlich mit den konventionellen Geschützen der RUBIKON. Torrel und die Kontinuumswaffe hätten unverantwortbare Aus- und Nebenwirkungen nach sich gezogen, und solange sich nicht nur Virgh im Stock befanden, machte es Sinn, Artas’ Vorgabe zu erfüllen. Zugleich musste er stets den Überblick wahren, um rechtzeitig zu entscheiden, ob ein sofortiger Rückzug aus dem Brennpunkt der entbrannten Schlacht geboten war, um nicht die Vernichtung der RUBIKON zu riskieren.
Die Virgh griffen mit aller Entschlossenheit an. Bislang unbekannte Hangars des Stocks entließen einen Dreizack nach dem anderen. Auch die inzwischen bekannten Einheiten vom Typ »Federschiff« waren darunter. Zudem schienen sämtliche Einheiten, die in lichtjahrweitem Radius um den Stock patrouilliert hatten, einen »Rückruf« erhalten zu haben. Die Ortungssysteme maßen immer mehr Objekte an, die ins Kampfgeschehen eingriffen. Auf sich allein gestellt, wäre die RUBIKON binnen Minuten eingekesselt und vom Punktbeschuss des Gegners vernichtet worden. Doch es gab die Satoga-Einheiten. Die Ghosts, wie Cloud sie insgeheim nannte, erinnerten in ihrer Taktik frappierend an die japanischen Kamikaze-Piloten des 2. Weltkriegs. Zugleich stellten die Gebilde, die der PERSPEKTIVE entschlüpft waren, ihn vor immer neue Rätsel. Sie waren real – irgendwie jedenfalls. Die Ortungsfühler der RUBIKON fanden sie mühelos und schrieben ihnen Masse zu. Ebenso musste es den VirghAngreifern ergehen, die – als die Keilformation auseinander sprengte und sich über einen Raum von Millionen Kubikkilometern verstreute – einem jeden der Objekte folgte. Es jagte und einzeln zu zerstören trachtete. Aber von den Satoga-Ghosts ging kein einziger Schuss aus. Sie manövrierten aberwitzig und führten dadurch sogar hier und da zu Kollisionen unter den Verfolgern – aber sie schienen keinerlei Feuerkraft zu besitzen. Das ließ erneut die Frage aufkommen, was genau sie eigentlich waren. Doch nur ein Spuk, den Artas entfesselt hatte? Als in unmittelbarer Nähe der RUBIKON ein Federschiff unter der geballten Laserstärke gleich mehrerer ihrer Geschütze
verglühte, wurde Cloud ein weiteres Mal Zeuge, worin die Taktik der Geisterschiffe bestand. Sobald sich Verfolger zu einem Verband aus mehreren dicht beieinander fliegenden Schiffen zusammengefügt hatten, nahmen sie mit aberwitziger Geschwindigkeit Fahrt auf das zentralste Objekt auf und führten einen Zusammenstoß herbei, der den Ghost ebenso zerriss wie den Virgh-Raumer – und die Explosivkraft der durchgehenden Energiemeiler wiederum rissen weitere Virgh-Einheiten mit in den Untergang. Jedes Mal, wenn eine solche Aktion gelang, erhellte ein Feuerwerk von grausiger Schönheit das All in Stocknähe. Auch die RUBIKON flog Einsatz um Einsatz – aber es kristallisierte sich heraus, dass die Virgh sich auf die Strategie ihrer Gegner einstellten. Den Ghosts gelangen immer weniger Kettenreaktionsverluste unter den Herren der GMW. Diese zogen ihre Kräfte auseinander und boten so allenfalls Einzelziele. Nach und nach vergingen die Satoga-Ghosts, bis nur noch die RUBIKON übrig war. Rückzug!, dachte und befahl Cloud, der in ein Gefecht mit mehreren Dreizack-Schiffen verstrickt war. Er konnte nur hoffen, dass das Ablenkungsmanöver gefruchtet und den Gefangenen im Stock den erhofften Vorteil gebracht hatte. Da vereitelte ein superstarker Zugstrahl, der seinen Ausgangspunkt bei der Virgh-Station hatte, die beabsichtigte Flucht. Die RUBIKON hing wie festgefroren im All. Sekunden später hatten Dutzende von feindlichen Raumern Position nahe der weiterhin Gegenwehr leistenden RUBIKON bezogen. Und auf den Abstrahlantennen der Virgh-Kanonen sammelte sich jene Energie, mit denen die GMW-Herren ganze Welten zerschmolzen und zu Glas erstarren ließen.
Sonnenheißes, hoch komprimiertes Plasma... 4. Als Artas sich entfernte und die Führung seiner Leute übernahm, trat Boreguir neben Jarvis und fragte gepresst: »Wie hat er das gemacht?« »Dich entdeckt? Ich weiß es nicht«, erwiderte Jarvis. »Aber ich wünschte, das wäre das Einzige, was mir momentan Kopfzerbrechen bereitet.« »Wir müssen bei ihnen bleiben. Sie sind erschütternd stark.« Erschütternd... Boreguir hatte das richtige Wort gewählt. »Ja«, pflichtete Jarvis ihm bei. Er verzichtete darauf, den Saskanen nach dem Grund zu fragen, warum dieser ohne ihn weitergelaufen war. Er revanchierte sich, indem er seinerseits nun Boreguir wortlos den Rücken kehrte und mit Höchsttempo zu Artas aufschloss. Die Satoga wichen geschickt vor Jarvis zurück, selbst die Magnetmeister mit ihren zerbrechlichen Körpern und überdimensionierten Köpfen bewegten sich mit einer Körperbeherrschung, die Jarvis ihnen nicht zugetraut hätte. Gleichzeitig waren sie es, vor denen er einen gehörigen Respekt entwickelt hatte, seit er sie gegen die Virgh vorgehen sah. Was für eine Truppe! Ihm wurde klar, dass er die Satoga niemals zu seinen Feinden haben wollte. Und hoffte, dass er nie in eine Situation geriet, in der dies auch ganz ohne sein Wollen einfach geschah... *** Sekunden verstrichen. Minuten...
Nichts geschah.
Warum schütteten die Virgh nicht einfach Tod und Verderben über das eingekesselte Rochenschiff aus, dessen Kommandant nun doch überlegte, die Kontinuumwaffe einzusetzen – die schweifartige Verlängerung der RUBIKON zu aktivieren, an deren Ende sich ein Projektor befand, mit dem die dünnen Häute zu Paralleluniversen verletzt und eine Verbindung geöffnet werden konnte. Eine Wunde mit fatalen Folgen, denn dieses andere Universum hatte niemals eine völlig gleiche Physik aufzubieten, keine völlig übereinstimmenden Naturgesetze. Aus diesem Unterschied heraus entstand ein Sog, dem kaum etwas in diesem Kosmos widerstehen konnte – abgesehen von der RUBIKON selbst, die auf dieses spezielle Waffensystem abgestimmt war. Ihre Schwerkraftanker verhinderten ein Abgleiten in den Sog, der jedes andere Objekt in unmittelbarer Nähe erfasste... Aber die Kontinuumwaffe hätte auch den gesamten Virghstock wenn nicht verschlungen, so doch wohl in ihren entfesselten Gezeitenkräften zerrissen. Was blieb? Nichts, dachte Cloud, der sich immer noch vom Stock festgehalten fühlte – sich, das Schiff, das er in diesem Augenblick war. Warum machen sie kein Ende? Warum zögern sie? Da machte er den möglichen Grund des Zögerns aus: Eine neue Welle entschlüpfte der PERSPEKTIVE. Sie gebar Magnetschiff um Magnetschiff – in einem schier nicht enden wollenden Strom. Wie Perlen reihten sie sich an einer unsichtbaren Schnur auf, stoben dann jäh auseinander, als würden sie »Witterung« aufnehmen und warfen sich gegen die Virgh-Einheiten, die den Kessel um die RUBIKON bildeten. Eine Serie schnell aufeinander folgender Explosionen verschlang Superdreizacke und Federschiffe. Die RUBIKON
geriet unversehens wieder aus dem Fadenkreuz etlicher VirghRaumer. Aber nicht aller... Vereinzelt lösten sich Plasmageschosse und rasten der RUBIKON – John! – entgegen. Aus, dachte er. *** Die Schale bildete sich zurück. Es war, als wollte ihn der Sarkophag ausspeien wie etwas Unverdauliches. Clouds Benommenheit, die sonst jeden Übergang, jede Rückkehr aus der hermetischen Isolation des geschlossenen Kommandositzes begleitete, verschwand schneller als je zuvor. Er sah in die Gesichter der anderen und war hellwach. »John... Unternimm etwas, John!« Es war Jelto, dessen Zuruf wie ein Flehen klang. Der Klon hing wie jeder andere Mensch am Leben. Und die Holosäule zeigte ihm, welche Gewalten ihn und alle anderen auf der RUBIKON ins Jenseits reißen wollten. Die Tatsache, dass Jelto genügend Zeit blieb, sein Ansinnen zu artikulieren – und die, dass Cloud noch immer in der Lage war, sich umzusehen und zu atmen – bewies bereits, dass die Dinge nicht so brutal einfach gelagert waren, wie er Sekunden zuvor noch geglaubt hatte. Die Feuerbälle – das pulsierende, sonnenheiße Plasma – hätten die RUBIKON längst erreicht haben müssen. Längst verbrannt und... verglast. Das war jedoch nicht geschehen. Und der Blick in die Holosäule verriet Cloud jetzt auch den Grund. Das All brannte. Aber abseits der RUBIKON. In erträglicher Entfernung waberten Fahnen von sich verflüchtigenden, ultraheißen Gasen,
die eben noch geballt, hochkomprimiert gewesen waren und Kugelform besessen hatten. Bevor sie mit einer Gegenkraft zusammengestoßen waren. »SESHA? Analyse! Was ist geschehen?« Die KI griff seine Forderung sofort auf. »Die Geisterschiffe der Satoga haben sich zwischen uns und den heranrasenden Plasmageschossen positioniert. Bei jedem Kontakt kam es zu einer Entladung. Was wie ein flächendeckendes Feuer um uns herum aussieht und gegenwärtig die optische Erfassung des Virghstocks verhindert, ist relativ gefahrlos. Die Gasreste kühlen rasch ab. Theoretisch wäre ein Durchfliegen der Zone möglich...« »Theoretisch?« »Die Fesselung, die vom Stock ausgeht, hält immer noch an.« Kurzes Schweigen, dann ergänzte die KI: »Ich korrigiere: Der Gravostrahl hat noch an Stärke gewonnen. Wir werden auf den Stock zugezogen.« »Scannen!« Cloud reagierte augenblicklich. »Ich will einen Echtzeit-Scan der gesamten Station! SESHA, lokalisiere die Quelle des Zugstrahls!« Die Antwort der KI kam prompt – gleichzeitig erschien ein rechnergeneriertes Modell des Stockes in der Holosäule. Ein Lichtstrahl fuhr summend darüber hinweg. Cloud bildete sich ein, Ozon zu riechen. »Lokalisierung gescheitert«, meldete SESHA. Die letzten Brände rings um die RUBIKON verloschen, aber das All wirkte noch immer nicht wieder, wie es sollte: statt in erhabener Schwärze gab das Hologramm es in aschfarbenem Grau wieder. Für einen Moment hatte Cloud das Gefühl, als sei mehr, viel mehr, als nur ein paar Tonnen Plasma verdampft. Scobees Stimme holte ihn in die Wirklichkeit zurück. »John, wir müssen etwas tun!« »Was schlägst du vor? Blinden Beschuss des Stocks?«
»Nein. Aber vielleicht könnten wir gemeinsam mit Artas eine wirksame Gegenmaßnahme finden.« »Was eine Verständigung mit ihm voraussetzte.« Sie nickte grimmig. »Wir haben immer noch den Würfel.« »Der aber leider nur zu funktionieren scheint, wenn Artas es will.« »Lass es mich versuchen!« »Meinen Segen hast du.« Clouds Blick hing immer noch an der Rechnersimulation des Virghstocks. In dem Modell vereinigten sich alle georteten Daten. »Was ist das?« Unterstützend zu seiner Frage aktivierte Cloud einen Lichtpfeil, der sich zwischen die Holopixel bohrte und einen zentralen Bereich des Stationsmodells markierte. Dieser Bereich war bereits von SESHA rot markiert gewesen. »Das energetische Herz der Station. Ihre Energieversorgung.« »Und dieser rote Strich, der zur PERSPEKTIVE verläuft?« Cloud fuhr die Linie, die ihm aufgefallen war, mit Licht nach. Sie verband den Stationskern mit der Neodym-Kugel, dem Hauptkörper der zerlegten PERSPEKTIVE. »Er markiert den gegenwärtig stattfindenden Energietransfer.« »Ich fürchte, ich verstehe nicht. Zieht die Station Energie aus dem Magnetschiff?« »Nein«, erwiderte die KI. »Es verhält sich umgekehrt: Das Magnetschiff zieht Energie aus dem Stationsmeiler. Gewaltige Mengen Energie.« Für einen langen Moment war Cloud sprachlos. Schließlich fragte er: »Und mit welcher Absicht?« »Es begann kurz vor der zweiten Welle von Ghosts«, sagte SESHA. »Zu diesem Zeitpunkt war das Satoga-Schiff am Stock energetisch fast tot – als hätte die Produktion der Ghosts es völlig ausgeblutet.«
»Es wäre also aller Wahrscheinlichkeit nach gar nicht in der Lage gewesen, eine zweite Serie zu produzieren?« »Und«, warf Scobee von gegenüber ein, »wir wären jetzt tot, wenn die zweite Welle nicht gekommen wäre.« »Es ist eine Hypothese«, erklärte SESHA. »Dahinter steckt Artas«, behauptete Cloud. »Ich bin fast sicher, dass sein Kontakt zur PERSPEKTIVE, falls er überhaupt jemals unterbrochen war, nur ruhte, weil Artas es wollte.« »Worauf willst du hinaus, John?«, fragte Jelto. »Später. Wir hängen immer noch am Haken – und die Schnur wird unablässig eingezogen. Scob?« »Ja?« Sie hob die Tattoos, die ihre Brauen ersetzten. »Wolltest du nicht versuchen, Artas zu kontaktieren?« Sie nickte nur, stand auf und ging zu Aylea, die ihr bereitwillig den Würfel überließ. In dieser Sekunde meldete sich Jarvis über SESHAs Systeme. Seine Botschaft war unmissverständlich. »Wir sind unterwegs!«, rief er. »In Kürze erreichen wir die PERSPEKTIVE. Artas scheint der Überzeugung zu sein, dass sie immer noch manövrierfähig ist. Falls das stimmt, werden wir versuchen abzudocken. Boreguir ist bei mir. Und sämtliche Satoga. Was am wenigsten mir gutzuschreiben ist. Spart euch also eure Orden. Ich kam, um etwas für ihre Befreiung zu tun. Aber offen gestanden lief da einiges schief. Momentan sieht es mehr danach aus, als könnte ich mich bei ihnen bedanken, wenn ich hier je wieder mit heiler Haut rauskomme...« *** Ihr Vormarsch endete jäh. Der Gang, den sie gerade durchliefen, wurde blind. Warnungslos schalteten die Virgh ihn auf ein Level, wie Jarvis es schon einmal angetroffen hatte – als Boreguir ihn zu
dem sonderbaren, lichtdurchfluteten Raum mit den schwebenden Figuren geführt hatte. Die Bewegung der Satoga geriet ins Stocken, kam zum völligen Stillstand. Selbst Artas schien ratlos. »Was geschieht hier? Ich habe die Verbindung zur PERSPEKTIVE verloren – und empfange keinerlei Input mehr über meine Module!« Er schwieg kurz, und Jarvis hatte das Gefühl, dass er mit den anderen Satoga, die erstaunlich ruhig blieben, keinerlei Anzeichen von Panik zeigten, auf einer Ebene kommunizierte, die ihm verborgen blieb. Boreguir tauchte neben Jarvis auf. »Ich kann sie führen.« »Ich weiß. Sag es ihm.« Es war klar, dass er Artas meinte. Artas war Dreh- und Angelpunkt der Satoga-Crew. Boreguir schien kurz zu zögern, dann glaubte Jarvis zu spüren, wie er sich entfernte und auf Artas zubewegte. Doch er erreichte ihn nicht. Offenbar hatte nun auch die Station Mittel und Wege gefunden, ihn durch seine schwächelnde Aura des Vergessens hindurch aufzuspüren. Von irgendwoher raste ein Licht heran. Boreguir wurde davon getroffen, wurde kurz in der Schwärze des Ganges sichtbar – und brach zusammen. Jarvis registrierte einen Zuwachs an für Menschen tödlicher Gammastrahlung. Aber er war kein Mensch mehr im eigentlichen Sinne. Und die Satoga...? »Jarvis?« Es war Artas, der nach ihm rief. Der GenTec reagierte zunächst nicht, sondern überwand die Distanz zu der Stelle, wo er Boreguir hatte fallen sehen. Vorsichtig, um den Saskanen nicht unter sich zu zerquetschen, tastete er sich das letzte Stück voran und kniete dann neben Boreguir nieder.
»Was ist mit deinem Freund?« Artas’ Stimme wurde drängender in dem Dunkel, das offenkundig selbst die Sensoren der Satoga lähmte. Jarvis’ Nanofinger strichen über den Körper des Saskanen. Nach einer Weile erwiderte der ehemalige GenTec: »Mein Freund«, falls er das jemals war, »ist tot.« Dann versagte ihm die Stimme. Wie Streiflichter huschten Gesichter an ihm vorbei. Seymor, Resnick... Er hatte im Leben nie Tränen vergossen – und jetzt konnte er es nicht mehr. Wie so vieles andere, das unwiederbringlich verloren war. *** Die Logen übernahmen die Führung. Auch wenn die implantierten Hilfsmodule, mit denen sein Körper bestückt war, in dieser Umgebung – dem blinden Gang – versagten, so war auf die Magnetmeister weiterhin Verlass. Sie passten ihre Gaben den Erfordernissen an, schickten Gravostöße in alle Richtungen und orientierten sich an den zurückgeworfenen Echos. Jede Loge bildete einen engen Verbund. Zwischen ihren Hirnen knisterten Blitze hin und her, die, anders als unter normalen Bedingungen, unsichtbar blieben. Nicht einmal sie vermochten die Umgebung aufzuhellen. Artas bedauerte den Tod des mehr als erstaunlichen Feliden, ließ sich davon aber in keiner Weise beirren. Stattdessen disponierte er um. Hatte er die Ankunft derer, die im Halo gewartet hatten, zunächst an Bord des Rumpfkörpers der PERSPEKTIVE erwarten und den Stock der Virgh schnellstmöglich verlassen wollen, so verdeutlichte ihm die Art und Weise, wie die Virgh gegen sie vorgingen, dass er das Potenzial dieser Station nicht
unterschätzen durfte. Es war nicht damit getan, die mobilen Einheiten draußen zu binden und später restlos zu zerstören – auch der Stock selbst konnte den Ankommenden gefährlich werden. Und dies war nur eine von vielen Bastionen, die sich über Mara Styga verteilten... Immer wieder kam es auf ihrem Vormarsch zu Strahlattacken. Doch die Satoga waren dagegen gewappnet, ihre Mikromodule schützten sie. Ebenso unbehelligt blieb der androidenhafte Jarvis. Der Einzige ihrer Gruppe, der anfällig gewesen war, war bereits beim ersten Aufblitzen gefallen. Als die Schwärze kein Ende nahm, die in der Station befindlichen Virgh offenbar immer weitere Sektionen ihres Baus blind schalteten, entschloss sich Artas zu drastischeren Maßnahmen. Sämtliche Magnetmeister erhielten den Befehl, sich zu einer Superloge zusammenzuschließen. Und mit ihrer vereinten Kraft schufen sie ein Loch in der Gangwand. Dahinter war es hell. Und bunt. Die Satoga strömten durch die Öffnung. Nur Jarvis zögerte, als wüsste – und fürchtete – er, was sie erwartete. Artas hingegen durchschaute sofort den Sinn und Zweck – und die Möglichkeiten dieses Ortes... 5. In einem der Holofenster nahm der Virghstock jetzt die gesamte Fläche ein. Cloud glaubte eine Erschütterung zu spüren, als die RUBIKON die Außenwandung der gigantischen Station
berührte. Er spielte kurz mit dem Gedanken, das komplette Rochenschiff aus seinen höherdimensionalen Schranken fallen zu lassen. Danach wäre der Stock in etwa umgekehrtem Verhältnis winzig gewesen, wie die RUBIKON jetzt in seinem Schatten anmutete. Die ehemalige Arche der Foronen war eine geniale Konstruktion: Sie erschien außen um ein Beträchtliches kleiner als innen – was auf den spielerischen Umgang ihrer Erbauer mit den Gesetzmäßigkeiten übergeordneter Kontinua zurückzuführen war. Das genaue Prinzip kannte Cloud bis heute nicht – SESHA hätte ihm auf Aufforderung endlose Formeln und Theoreme heruntergebetet, aber beim Begreifen dieser Mathematik hatte ihm die KI auch nicht helfen können. Es gab Dinge, für die der Mensch noch nicht bereit war – was ihn im Zweifelsfall aber nicht daran hinderte, sie zu benutzen. »Was sollen wir tun?«, fragte Scobee. Sie trat durch die Holosäule auf Cloud zu und blieb neben ihm stehen, legte ihm die Hand auf die Schulter. Ihr Versuch, den Würfel dazu zu bringen, eine Verbindung zu Artas herzustellen, war gescheitert. Die Wärme ihrer Haut war durch den Stoff hindurch zu spüren, der intelligent genug war, zwischen angenehmen Temperaturen und bedrohlichen zu unterscheiden. Ebenso hätte die Bordkombination Cloud bei einem plötzlichen Leck und Vakuumeinbruch gegen die Weltraumkälte geschützt – zumindest so lange, dass er eine Chance gehabt hätte, sichere Bereiche des Schiffes zu erreichen. In den Kragen der overallartigen Kleidung waren Projektoren eingearbeitet, die nötigenfalls auch ein helmförmiges Prallfeld erzeugten, aus dem die Luft nicht entweichen konnte. All das war zurzeit – noch! – nicht nötig.
»Sie hätten auch die Möglichkeit gehabt, uns zu vernichten«, entgegnete er. Cloud blickte zu Scobee auf und war erleichtert, als er die kalte Ruhe in ihrem Gesichtsausdruck fand, die er zu sehen gehofft hatte. Es gab wenige Situationen, in denen die genetischen Vorzüge dieser Frau versagten – die auf dem Reißbrett entstanden ist. Genau wie Resnick. Genau wie Jarvis. Sein Blick wechselte kurz zu Jelto, der sich leise mit Aylea unterhielt, auf sie einredete. Oder er. Sie alle waren Klone. In-vitro-Geborene. Es schmerzte Cloud noch heute, welche Vorbehalte er einmal gegen diese Art Mensch gehegt hatte. Das war überwunden. Wenigstens das. Sein Blick fand zu Scobee zurück. »Aber sie haben sich dafür entschieden, uns lebend zu holen.« »Welch verlockende Aussicht.« Ihre Augen wechselten kurz die Farbe. Von Schockgrün zu Schwarz und wieder zurück. »Welche Absicht sie damit wohl verknüpfen? Was könnte uns so wertvoll für sie machen, dass sie uns unbedingt lebend in die Fänge bekommen wollen?« Sie biss die Zähne so fest zusammen, dass ihre ausgeprägten Wangenknochen noch stärker hervortraten. Es bereitete Cloud keine Mühe, ihrem Gedankengang zu folgen. »Sie wollen uns ausquetschen. Alles aus uns herauspressen, was mit unserer Herkunft und unseren Motiven zusammen hängt. So, wie sie es wahrscheinlich auch mit den Satoga getan haben.« »Wohl eher tun wollten. Ich sage es nicht gerne, aber ich bin lernfähig, und auch in mir wächst das Gefühl, die Satoga nie gekannt zu haben. Nicht diese Satoga, die wir gerade erleben.« »Schade, dass uns diese Erkenntnis etwas spät kommt. Ich glaube nicht, dass wir Jarvis in dieses Hornissennest hätten schicken müssen, wenn...«
»Eindringlingsalarm!«, wurde er von SESHA unterbrochen. »Soeben wurde sich unbefugt und gewaltsam Zutritt zum Schiff verschafft. Achtung, ich schalte in den betreffenden Bereich...« Seit Jarvis’ Nachricht war fast eine Stunde vergangen, in der die RUBIKON langsam, aber unaufhaltsam auf den Stock zugezogen worden war. Um die Station herum praktizierten immer noch Ghosts ihre Kamikaze-Taktik – allerdings mit immer weniger Erfolg. Es hatte sich gezeigt, dass sie für Plasmatreffer angreifbar waren, und so wurden inzwischen mehr Satoga-Geisterschiffe eliminiert, als die PERSPEKTIVE ausspeien konnte – wobei sich die Frage stellte, warum die Virgh nicht einfach das Magnetschiff zerstörten. Damit hätten sie den Ghost-Nachschub vollständig unterbunden. Aber offenbar war ihnen das Schiff sehr wichtig. Was den Schluss nahe legte, dass sie es noch längst nicht erforscht hatten. In einem der Holofenster wechselte die Szenerie. Es zeigte nicht länger den Bereich jenseits der RUBIKON, sondern die Schiffskoordinaten, die SESHA gerade beschrieben hatte. Innenbereich. Eindringlinge. Die Virgh! Die KI zoomte ein einzelnes Exemplar heran. Seine Großaufnahme brachte beinahe das Blut in Clouds Adern zum Erstarren. Flüchtig dachte er an die, die in diesem Moment nicht bei ihnen in der Schiffszentrale waren – Sobek, Siroona, sein Vater –, dann streifte er den Anflug von Beklemmung ab und wandte sich an seine Gefährten, von denen einer gerade mal zehn Jahre alt war.
»Wie wollen wir sie begrüßen? Ohne jede Gegenwehr – oder bis zum letzten kämpfend? Machen wir uns nichts vor: Wenn sie uns erst einmal haben, werden sie alles aus uns herauspressen. Und ich halte es für eher wahrscheinlich als ausgeschlossen, dass ihnen das, was wir an Informationen zu bieten haben, Appetit auf die Milchstraße machen könnte. Nicht nur auf die Erde – auf alles, was dort auf dem gedeckten Tisch auf sie wartet...« »Wir werden natürlich kämpfen!« Es war Aylea, die dies krähte. Und irgendwie wirkte es befreiend. Cloud schüttelte die leichte Lähmung ab, die ihn beim Anblick der einfallenden Virgh übermannt hatte. In Scobees und Jeltos Gesichtern las er fast Empörung, weil er überhaupt gefragt hatte. »Okay, SESHA«, sagte er ruhig. »Öffne die Arsenale!« *** Eine der kathedralenartig hohen Wände der Bordzentrale öffnete sich wie mit einem Zaubertrick. Aber die einzige Magie, die hier wirkte, wusste Cloud, basierte auf der Nanotechnologie der Foronen. Sie verblüffte ihn nach wie vor, aber sie erschütterte ihn nicht mehr. Er hatte das Unmögliche geschafft und die eigentlichen Besitzer des Schiffes, Sobek und Siroona, entthront. SESHA akzeptierte sie nicht länger, dafür ihn... Ihm fiel wenig ein, das in der Lage gewesen wäre, sein Selbstbewusstsein vergleichbar zu stärken. »Von diesem Arsenal wusste ich nicht einmal«, seufzte Scobee, die ihn vom Podest mit den sieben Kommandositzen zur offenen Wand begleitete, unmittelbar gefolgt von Aylea und Jelto, dessen Aura kaum noch erkennbar war. Momentan
wirkte er eher unscheinbar und fast schüchterner als das Mädchen. »Es gab noch keine Gelegenheit, es zu nutzen, seit ich es kenne«, erwiderte er. Die freigelegte Nische war in mehrere Reihen unterteilt, allesamt bequem von einem erwachsenen Menschen erreichbar, und lief über eine Länge von gut fünf Metern. Doch die Handwaffen, die auf nicht erkennbare Weise befestigt waren, weckten keinerlei übertriebenen Optimismus. Nur die grimmige Entschlossenheit, die Haut so teuer wie möglich zu verkaufen – und sich den Virgh nicht in die Hände fallen zu lassen. In letzter Konsequenz hieß das, und dieses Wissen flackerte selbst in Ayleas Augen, dass sie eine dieser Waffen auch gegen sich selbst richten würden, wenn die Situation keinen anderen Ausweg mehr ließ. Suizid, um dem Feind brisante Informationen vorzuenthalten... Aber konnte das angesichts der Möglichkeiten der Virgh überhaupt funktionieren? Würden sie nicht sogar aus toten Gehirnzellen noch herausfiltern, worauf es ihnen ankam? Entschlossen griff Cloud nach einer revolverartigen Handwaffe, die garantiert kein Blei verschoss. Er schob sie hinter seinen Gürtel und wählte gleich noch zwei weitere. Scobee entschied sich für ein größeres Kaliber. Jelto und Aylea erkundigten sich nach der Bedeutung von handlichen ovalen Kapseln, die Cloud ihnen als Thermobomben erklärte, welche auf engstem Umkreis zeitweilig Temperaturen von mehreren tausend Grad erzeugten. Nicht einmal die Virgh hatten ein so dickes Fell, um dem zu widerstehen. »Achtung: Annäherung«, verkündete SESHA. »Sie lassen sich nicht einmal durch versuchte Gangspiegelungen irritieren, sondern stürmen unbeirrt ihrem Ziel entgegen. Der Zentrale.«
Cloud stellte keine Fragen. Er verteilte sich mit den anderen über den Raum, und zum ersten Mal wurde ihm im Kern bewusst, dass sie alle sterben würden. Beziehungsweise, dass Sterben noch das Gnädigste war, worauf sie hoffen durften... *** Der Raum ähnelte dem Versteck, in das Boreguir Jarvis gelotst hatte – unmittelbar nach ihrem Zusammentreffen. Unwillkürlich rief der ehemalige GenTec den Satoga eine Warnung zu, als sie sich seiner Ansicht nach allzu sorglos zwischen den schwebenden geometrischen Strukturen bewegten. Artas kam zu ihm und fragte: »Du wurdest schon einmal damit konfrontiert?« »Nicht mit demselben Ort... glaube ich...« Mit knappen Sätzen informierte er Artas über sein Erlebnis, das sich nachhaltig in sein Gedächtnis geprägt hatte. Der Satoga hörte geduldig zu, während Jarvis beobachtete, wie die Magnetmeister begannen, die Bewegung der dahindriftenden Figuren zu beeinflussen. »Sie sollten damit aufhören«, schloss Jarvis seinen kurzen Bericht. »Ich bin sicher, ich habe nur überlebt, weil ich kein Lebewesen im eigentlichen Sinn mehr bin – und damit entsprechend robuster.« Seine körperliche Veränderung, seit Boreguir gestorben war, musste Artas auffallen, aber er sprach Jarvis mit keinem Wort darauf an. Stattdessen grub sich ein breites Grinsen in sein entfernt menschliches Gesicht. »Du kannst unbesorgt sein«, versicherte Artas. »Wir wissen, was es damit auf sich hat. Uns droht keine Gefahr, wir sind dagegen gewappnet.«
Obwohl er sich die letzten Minuten ausschließlich Jarvis zugewandt hatte, schien eine unsichtbare Verbindung zu den anderen Satoga zu bestehen. Es war nahezu gespenstisch, wie sie hier agierten. Die Vorstellung, dass sie bis vor kurzem noch Gefangene der Virgh gewesen sein sollten, fiel Jarvis zunehmend schwerer. »Wer seid ihr?«, fragte er gerade heraus. »Später«, sagte Artas. »Wie war es für dich?« »Was?« »Als du eine der Formen berührt hast.« »Überwältigend fremd. Erstickend. Ich hatte das Gefühl, unter einer Lawine begraben zu werden. Ich glaube, ich verlor sofort das Bewusstsein.« »Du hast keinerlei Erinnerung mehr an das, was über dich kam?« Jarvis lauschte in sich hinein. Da war etwas – etwas, das ihn fürchten ließ, vielleicht doch nicht so glimpflich und unbeschadet davongekommen zu sein, wie er gehofft hatte. Aber die Schemen, die in ihm herumgeisterten, entzogen sich jedem Verstehen. »Nein. Nichts, was ich greifen könnte.« »Soll ich dir dabei helfen?« »Was meinst du damit?« »Du hast keine Ahnung, nicht einmal einen Verdacht, worum es sich hier«, er machte eine Geste, die den Raum umfasste, in dem sie standen, »und dort, wo du vorher warst, handelt?« »Auch Boreguir wusste es nicht.« Die Magnetmeister hatten inzwischen vielfältigste Schwebefiguren zu einer Formation zusammengefasst, die keinerlei Lücke mehr aufwies. Es war ein atemberaubender Anblick: wie ein absonderliches, stetig wachsendes Puzzle, in dem ein perfekt passendes Teil ans andere gefügt wurde, schwebte ein immer
größer werdender Komplex über ihren Köpfen. Die einzelnen Segmente unterschieden sich nur noch durch ihre Farbgebung. »Es ist die Art der Virgh – beziehungsweise ihrer Herren –, Daten zu speichern.« Artas’ Worte sickerten wie eisige Tropfen in Jarvis Bewusstsein. »Willst du damit sagen, wir befinden uns in einem ihrer Computer?« »Es ist ein Pool. Eine Art Datenbank. Von der aus wir das, was du als Computer bezeichnest, erreichen können«, sagte Artas. »Erreichen und... beeinflussen.« Er schwieg kurz. Dann sagte er: »Allmählich dürfte den Virgh klar geworden sein, was für ein Fehler es war, uns hierher zu locken und vermeintlich in ihre Gewalt zu bringen.« »Vermeintlich«, wiederholte Jarvis. Artas’ Feixen wurde geradezu penetrant. »Nach all dem, was du gesehen hast, glaubst du doch nicht wirklich, dass wir ihnen auf den Leim gegangen sind! Sie haben genau das getan, was wir erwarteten... und damit den Grundstein ihrer Vernichtung gelegt.« »Ihr wollt sie besiegen? Töten?« Artas machte eine Geste der Verneinung. »Töten? Sie haben nie gelebt. Nicht in einer Form, die wir als Leben akzeptieren könnten.« Mit diesen Worten ließ er Jarvis stehen, begab sich zu den Magnetmeistern, die einen weiten Ring um ihn bildeten und streckte die Arme nach oben, dem Konstrukt aus Formen entgegen, das nun aussah wie ein gigantisches Ei. Im nächsten Moment schnellten Fäden aus seiner Kleidung – oder war es seine Haut? – und züngelten wie Schlangen nach oben, bohrten sich in das bunte Gebilde, dessen Farben sich über die entstandene Verbindung sofort auf Artas übertrugen. Der Satoga begann zu zittern, wie unter einem elektrischen Schauer. Keines der Logenmitglieder griff ein.
Das Gebilde über Artas schrumpfte und wurde von Sekunde zu Sekunde kleiner, als würde der Satoga es in sich aufsaugen. Schließlich war es verschwunden. Artas senkte die Arme. »Es war leicht. Ihre Technologie ist völlig veraltet. Sie haben sich seit damals kaum weiterentwickelt.« Seit damals. Jarvis begriff endgültig, dass die Satoga den Virgh nicht erst bei ihrem aktuellen Besuch der Großen Magellanschen Wolke begegnet waren. Sie kannten einander seit langem! »Was habt ihr uns alles verschwiegen?«, wandte er sich an den Humanoiden. »Ist euer Mara Forna doch von ihnen heimgesucht worden?« »Es ist sehr viel komplizierter«, erwiderte Artas über die Köpfe der Magnetmeister hinweg. »Gedulde dich noch etwas. Ich habe nicht vor, dich im Ungewissen zu lassen.« Er winkte Jarvis zu sich. »Und jetzt komm her. Ich will dir einen kurzen Ausblick auf das geben, was euch erwartet. Du wirst es vielleicht nicht fehlerfrei einordnen können – aber es ist Teil dessen, was die Virgh, wie ihr sie nennt, seit Äonen hüten.« Jarvis folgte dem Wink. Als er vor Artas stand, schnellten abermals Fäden aus seiner Montur... und bohrten sich in das Nanogewebe von Jarvis’ Hülle. »Wehre dich nicht. Ich helfe dir lediglich.« »Wobei hilfst du mir? Interessiert dich eigentlich, ob ich das alles will?« »Ich weiß, dass du nach Erkenntnis dürstest. Warte... ich filtere und kanalisiere, was du verdrängt hast, weil es dich sonst umgebracht hätte.« »Wovon zur Hölle redest du?« Jarvis machte einen Schritt zurück. Aber die Fäden dehnten sich einfach und folgten ihm. Artas verzichtete auf eine Erklärung. Sie war nicht mehr nötig.
Das, was Jarvis in der gemeinsamen Zuflucht von Boreguir und ihm berührt, was ihn überschwemmt hatte, als er eine der Figuren streifte, stieg aus den Tiefen seiner Nanospeicher wieder empor. Es war eine Flut von Informationen und Bildern, die ihn, wäre er ihnen ohne Führung ausgeliefert gewesen, erneut in die Ohnmacht entführt hätte. So aber war er in der Lage, alles zu verstehen. Es war mehr, als er erwartet hatte. Es war das Geheimnis, dem die Virgh ihr Dasein verdankten. *** Schon bevor sie die Zentrale stürmten, schaltete SESHA auf Clouds Geheiß Körperschilde, die sich von der Decke herab zylinderartig über die einzelnen Crewmitglieder stülpten. Ähnlichen Schutz verordnete Cloud den beiden arrestierten Foronen in ihren Zellen. Sie hatten zahllose Leben auf dem Gewissen, dennoch wollte er sich nicht zum Richter über sie erheben und ihrer möglichen Ermordung durch die Virgh durch Versäumnisse Vorschub leisten. Dann waren sie da – die Monstrositäten, die ganz Samragh überschwemmt hatten; die unbarmherzigen Herrscher, die junge, aufstrebende Zivilisationen ins finsterste Mittelalter zurückbombten – oder vollständig ausradierten... Todesverachtend quoll ein Strom von Virgh ins domartige Kommandozentrum der RUBIKON. Cloud begegnete ihnen nicht zum ersten Mal – aber zum ersten Mal leibhaftig. Eine Zeitlang hatte er an der Foronendarstellung der Virgh gezweifelt, hatte er es zumindest für möglich gehalten, dass Sobek ein viel negativeres Bild dieser Spezies zeichnete, als es der Realität entsprach.
Inzwischen war er eher der Überzeugung, dass der Forone untertrieben hatte. Die Virgh waren nicht nur ausgesucht grausam, was ihr Handeln anging – sie schienen auch von einer völlig anderen Intelligenz beseelt als der Mensch: von einem gefühllosen, kalten Intellekt, der vielleicht mehr Ähnlichkeit mit dem Staatengebilde irdischer Insekten hatte. Ameisen etwa, die eine Art von Gemeinschaftsintellekt pflegten, bei dem jedem Individuum eine klare Aufgabe zugewiesen war – und dessen Horizont auch nicht weiter reichte, als zur Erfüllung dieser Aufgabe nötig. Cloud hatte begonnen, die Virgh als eine Art Kollektiv zu betrachten, in dem der Einzelne wenig zählte. Und ihr jetziger Angriff, ihr Vorstoß, schien dies zu bestätigen. Wie sie angriffen, zeigte, dass Opfer einkalkuliert waren – und keinerlei Bedeutung besaßen. Sie fluteten regelrecht in den Raum und ließen sich nicht einen Moment vom vehementen Feuer schrecken, das die Verteidiger – John, Scobee, Jelto und Aylea – ihnen entgegen warfen. Die Virgh besaßen nicht einmal Schilde, obwohl es für die Entwicklungsstufe, auf der sie standen, kein Problem gewesen wäre. Das Leben Einzelner spielt für sie wirklich keine Rolle, dachte Cloud, während er den nächsten Virgh niederstreckte. Sein Blasterschuss erreichte den Feind mühelos und ungebremst, weil die Schutzschilde von seiner Seite aus durchlässig waren. Foronische Wertarbeit, durchdacht bis ins Letzte. Als hätten Sobek und Konsorten jemals auch nur in Erwägung gezogen, dass jemand ihr Schiff kapern könnte... Arrogante Narren!
Cloud verschwendete keinen weiteren Gedanken an sie. Zu dominant waren die hereindrängenden Virgh. Während er ihnen einen fast ununterbrochenen Strom tödlicher Energien entgegenschickte, blitzte es auch an den anderen Verteidigungsposten auf. Selbst die kleine Aylea überwand im Angesicht der Virgh, die auf sie noch mehr wie Ungeheuer wirken mussten als auf jeden anderen, ihre Scheu vorm Töten. In Cloud krampfte sich etwas zusammen, als ihm bewusst wurde, wozu diese ausweglose Lage die Beteiligten trieb. Er sah, wie aus Ayleas Richtung eine Granate zu der Türöffnung segelte, durch die die Kaperer drängten. Als sie hochging, schaltete SESHA Lichtfilter in die Zylinderschilde, sodass keiner der Verteidiger geblendet wurde. Dafür verbrannten ein halbes Dutzend Virgh zu Schlacke – ohne dass die Legierung, aus der Boden und Wände der RUBIKON bestanden, auch nur warm wurde. Ein Fabelschiff – Cloud empfand dies nicht zum ersten Mal. Ihn verband eine Affinität mit der RUBIKON, die sogar eine ihm vorher unbekannte Intimität einschloss. In den Stahl der Foronen zu schlüpfen und eins zu werden mit ihm... Sein Schild flackerte. In der Zentrale stapelten sich tote Virghkörper, aber der Strom der Nachrückenden blieb schier endlos, und sie kamen nicht mit leeren Händen, sondern waren bewaffnet mit rohrartigen Gegenständen, aus denen sich immer mehr Schüsse lösten, die... etwas gegen die Zylinder schleuderten. Etwas, das sich netzartig darüber breitete und dessen Fäden wie mit Saugnäpfen behaftet schienen. Es war pure, gebändigte, durch ein inneres Programm in Form gebrachte Energie, die sich wie ein Sprungmuster über die äußere Schildwand legte, daran anschmiegte – und den Schutz destabilisierte.
Das Flackern wurde immer heftiger, die Filterfunktion versagte. Cloud stand vor der Wahl, die Augen zu schließen, oder sich den immer hektischer werdenden Rhythmen der pulsierenden Netze zu stellen. Und dann – während sich das sengende Licht Schicht um Schicht in seine Netzhaut brannte – kollabierte sein Schild mit einem dumpfen Knall. Er sah noch, wie mehrere Virgh gleichzeitig auf ihn zurannten, als wollten sie ihn einfach zertrampeln – hörte noch Ayleas gellenden Schrei, der ahnen ließ, dass auch ihr Schild versagte... Im nächsten Augenblick war eine der monströsen Gestalten, hinter der sich die Herren Samraghs verbargen, bei ihm, bäumte sich auf. Sie spreizte zwei seiner Gliedmaßen, die wie gigantische Dornen aussahen, in Clouds Richtung – und ließ sich nach vorne fallen, um ihn zu durchbohren! *** Etwas traf den Angreifer wie ein Hammer. Schleuderte ihn von Cloud weg durch die gesamte Zentrale – und zerschmetterte ihn an der gegenüberliegenden Wand zu einer Masse, die nicht mehr als Virgh zu erkennen war. SESHA? Aber wenn die KI solche Kräfte hätte projizieren können, warum hatte sie dann nicht schon viel früher eingegriffen? Bezeichnenderweise glitt Clouds Blick zuerst zu der Stelle, wo Aylea ihre Position eingenommen hatte – das Mädchen interessierte ihn im Moment fast mehr als das eigene Schicksal, das ihm gerade einen elenden Tod erspart hatte. Aylea kniete am Boden, sie lebte und starrte in die Richtung, aus der die Virgh kamen. Aber in ihrer Miene lag nicht mehr vordergründiges Grauen, sondern etwas, das Cloud so sehr verblüffte, dass er ihrem
Blick folgte – und jetzt erst sah, dass keine neuen Virgh mehr in die Zentrale drängten. Da waren andere Bewegungen, andere Silhouetten... »Ich hoffe, wir kommen nicht ungelegen?«, rief Artas Er war umgeben von Satoga, die ihm nur entfernt ähnelten. Zwischen ihren übergroßen Schädeln wechselten elektrische Entladungen hin und her. Sie wirkten hoch konzentriert, und wohin sie auch blickten – intensiv starrten –, wurden die noch anwesenden Virgh von unsichtbaren Gewalten zerquetscht. Cloud begriff, dass es sich bei den großschädeligen Satoga um die Magnetmeister handeln musste, von denen ihm Scobee berichtet hatte. Viel mehr dämmerte ihm aber nicht. Als sich nach Minuten Stille über die Zentrale senkte, war er wie betäubt. Ein Ruck ging erst wieder durch ihn hindurch, als Jarvis auftauchte und sich einen Weg zu ihm bahnte. Die vage humanoide Gestalt, aus Myriaden Partikeln foronischer Nanotechnologie zusammengefügt und offenbar imstande, beliebige Form anzunehmen, wirkte auf den ersten Blick verändert gegenüber sonst. Größer. Als hätte eine Situation, über die Cloud nur spekulieren konnte, es erfordert, sich aufzuplustern. »John... Der Stock kann uns nicht mehr gefährlich werden. Die Satoga haben ihn... Sie haben ihn übernommen.« Cloud zuckte leicht zusammen, als Jarvis sein künstliches Organ erklingen ließ. Es wirkte, als hätte es sich seinem neu gewonnenen Volumen angeglichen, dunkler, rauer als Cloud es kannte. »Übernommen?« Mehr als dieses Echo brachte er zunächst nicht zustande. »Es war unglaublich. Du hättest sie erleben sollen! Ich war... eigentlich nur noch Statist...« Ich habe sie erlebt, dachte Cloud und schüttelte seine Befangenheit ab, trat Jarvis entgegen, drehte dann aber den
Kopf und vergewisserte sich zuerst, wie es Scobee, Jelto und Aylea ging. Sie standen ebenso baff da, wie er noch Sekunden zuvor. Die Münder halb offen. Verwirrt bis an die Grenze zur Hysterie. Selbst Scobee... Cloud wandte sich wieder Jarvis zu. »Was heißt hier: übernommen? Die Satoga können doch nicht...« Er verstummte. Jarvis baute sich vor ihm auf wie ein Fels in der Brandung. Er überragte ihn um gut zwei Köpfe und verdeckte mit seinem aufgeblähten Körper einen Teil dessen, was an Chaos über die RUBIKON-Zentrale hereingebrochen war. Seine breiter gewordenen Züge erinnerten schwach an den Jarvis, den Cloud einmal gekannt hatte, von einem Ebenbild des wahren Jarvis waren sie weit entfernt – und doch war Cloud einfach nur froh, wenigstens einen Abglanz davon zu sehen. In diesem Moment hätte er sogar geschworen, Emotionen in dem künstlichen Gesicht zu lesen. »O doch, glaub mir, sie können«, versicherte Jarvis. »Sie können so verdammt viel, dass mir vor Artas’ Erklärung graut.« »Seiner Erklärung?« »Auf dem Weg hierher hat er angekündigt, mit uns sprechen zu wollen. Er will uns alles erklären, Hintergründe aufdecken, die wir nicht kennen – aber erst, wenn die Zeit dafür reif ist. Er scheint noch auf etwas zu warten. Etwas...« Zum ersten Mal, seit die Kämpfe erloschen waren, meldete sich SESHA wieder zu Wort: »Da draußen tut sich etwas. Die Umgebung des Virghstocks wird förmlich... überschwemmt.« Was die KI damit meinte, wurde offenbar, als sie die Holosäule neu ausjustierte. Noch während dies geschah, trat Artas neben Cloud und sagte: »Endlich! Sie haben länger gebraucht, als ich hoffte. Aber nun sind sie da. Und wenn du willst«, er blickte Cloud tief in die Augen, »wirst du bald die Wahrheit über uns
erfahren – all das, was ich euch bei unserer ersten Begegnung vorenthalten musste... Bald. Aber zunächst muss ich mich um sie kümmern.« Er wies zu dem Gewimmel in der Holosäule, das ihm keinerlei Rätsel aufzugeben schien. Und im Gegensatz zu Cloud entlockte es Artas auch nicht den Hauch von Ehrfurcht vor so viel geballter militärischer Macht. Bald... Er war nicht in der Lage, Artas aufzuhalten, als sich dieser mit dem Tross seiner Artgenossen wieder aus der RUBIKONZentrale entfernte, schnurstracks hinausstiefelte, als wäre dieses gewaltige Schiff kein Labyrinth, in dem sich jeder Gast verlaufen musste. Aber er war auch kein Gast. Er erweckte in keiner Sekunde den Eindruck, dass er nicht genau Bescheid wüsste. Über alles – und damit noch über weit mehr als nur den inneren Aufbau der einstigen Foronenarche. 6. Kaum waren die Satoga verschwunden, umringten die Gefährten Cloud und Jarvis. Es war, als hätte die Scheu sie zuvor zurückgehalten – selbst Scobee, die zu Artas in den wenigen Tagen ihres ersten Kennenlernens ein inniges Verhältnis aufgebaut hatte. Davon war nichts mehr spürbar gewesen. Cloud konnte sich täuschen, aber er glaubte, ihren Gesinnungswandel zu spüren. Aus denselben Gründen, die auch ihn veranlassten, die Satoga mit anderen Augen zu sehen, betrachtete ganz offenbar auch sie ihre Beziehung zu einem einzelnen Satoga völlig verändert. Es war nicht der Zeitpunkt, sie darauf anzusprechen – falls sie überhaupt darüber sprechen wollte.
»Wo ist Boreguir?«, fragte sie an Jarvis gewandt. Und Cloud dachte: Verdammt, sie hat Recht. Ich hatte ihn völlig vergessen. Jarvis antwortete prompt – und anders, als jeder es erwartet hätte. »Er ist tot.« Der Schock malte die unterschiedlichsten Bilder in ihre Gesichter. »Tot?«, fragte Scobee, die sich als Erste wieder fasste, zumindest äußerlich. »Aber wie...?« »Wir werden darüber reden – und vieles mehr. Ich habe wichtige Informationen für euch.« Er winkelte einen seiner Arme an und strich sich über die sichtbare Wölbung seines Leibes. Zum ersten Mal fiel Cloud auf, dass Jarvis nicht nur massiger geworden war, sondern dass er einen regelrechten Bauch entwickelt hatte. »Aber zuvor habe ich eine Bitte.« »Worum geht es? Welche Bitte?« Ein absurder Gedanke blitzte durch Clouds Hirn. Aber er schob ihn sofort wieder weit von sich und beschloss, Jarvis einfach ausreden zu lassen. »Es geht um Boreguir. Ich konnte ihn nicht einfach dort zurück lassen. Der Stock ist unter der Kontrolle der Satoga – fragt mich nicht, wie sie das gemacht haben, aber es ist einfach so. Das ändert aber nichts daran, dass er ein... ein unwürdiger Ort ist, um einen Gefährten zurückzulassen.« »Das verstehen wir«, sagte Cloud. »Natürlich. Ich hätte nicht anders gehandelt. Wo ist er?« »Hier.« Und mit diesem Wort spaltete Jarvis seinen Leib. Der tote Saskane rutschte sofort daraus hervor. »SESHA soll sich um ihn kümmern. Er ist tot, daran gibt es keinen Zweifel, aber wenn wir ihn sofort konservieren... Wer weiß, vielleicht ist SESHA mit ihren überlegenen Möglichkeiten in der Lage...« Cloud schüttelte den Bann ab. »SESHA«, sagte er laut. »Du hast es gehört. Ergreife sofort Maßnahmen zum Erhalt
Boreguirs. Ein Stasefeld oder dergleichen. Außerdem musst du ihn untersuchen. Sobald du seinen Metabolismus ausgewertet hast, musst du mir mitteilen, ob es eine Chance zur Reanimation mit Bordmitteln gibt.« »Ich hatte ein Feld um ihn herum erzeugt, das ihn ebenfalls konservierte, nachdem er starb«, erklärte Jarvis. »Aber es kostet mich gewaltige Kräfte – und ich brauche gleich alle Energie.« »Wofür?«, fragte Aylea. Sie trat von einem Fuß auf den anderen. Der tote Saskane vor ihr am Boden war gewiss nicht schlimmer als vieles, was sie heute gesehen hatte – aber irgendwann reichte ein Tropfen, um ein Fass zum Überlaufen zu bringen. Sie war sichtlich am Ende ihrer Beherrschung angelangt. »Um euch die Wahrheit über die Virgh zu sagen. Sie ist mir quasi in den Schoss gefallen, und jetzt muss ich damit fertig werden. Vielleicht gelingt es mir, wenn ich sie mit euch teilen kann. Ich habe das Gefühl, sonst daran zu ersticken...« *** Cloud war begierig auf Jarvis’ Bericht. Aber da draußen, jenseits der Wände der RUBIKON, tat sich zeitgleich so vieles, dass er Mühe hatte, für sich selbst und im Interesse der anderen eine Prioritätenliste zu erstellen. Die bereits bekannten spinnenartigen Roboter, mit denen die RUBIKON durchdrungen war, huschten unter SESHAs Anleitung herein und transportierten Boreguirs Leichnam keine dreißig Sekunden, nachdem Cloud die Anweisung erteilt hatte, aus der Zentrale hinaus. Er wusste, dass er sich auf die KI verlassen konnte. Sie würde das Mögliche tun, um den Saskanen im Ist-Zustand zu konservieren – und eine Reanimation in die Wege leiten, sobald eine reelle Chance bestand, damit erfolgreich zu sein.
»Bevor du loslegst«, wandte er sich an Jarvis, der seit Boreguirs Ausstoß wieder aussah wie gewohnt, seine Hülle war lückenlos geschlossen, »sollten wir uns mit der Situation draußen vertraut machen.« Er berührte Jarvis vorsichtig am Arm. Die Masse, aus der er bestand, war bei aller Geschmeidigkeit hart wie Stahl, aber nicht kalt, sondern temperaturmäßig so, dass Cloud keinen Unterschied zu seiner eigenen Körperwärme feststellte. »Ja«, sagte Jarvis. »In dem, was da draußen geschieht, dürfte der Schlüssel dessen liegen, was Artas uns noch zu erklären hat. Gibt es noch irgendjemanden hier, der ihm das Märchen von den harmlosen, Luminium suchenden Satoga abnimmt?« »Nicht wirklich«, antwortete Scobee, und sie war kaum zu verstehen, so leise sprach sie. Die anderen sagten gar nichts. Cloud dirigierte sie zum Kommandobereich. Ein jeder nahm seinen Platz vor der Holosäule ein, in die das Geschehen draußen von SESHA eingebettet worden war. Scobee sagte: »Wenn das alles Satoga-Einheiten sind, brauchen Artas’ Leute damit keinen Kampf zu scheuen. Auch wenn ich wenig bis nichts über die Gesamtstärke der hiesigen Virgh-Streitmacht weiß, wage ich die kühne Behauptung, dass sie sich an diesem Brocken, so er auf Konfrontation aus ist, verschlucken werden.« »Was anderes als Konfrontation sollten sie beabsichtigen?« Cloud verschaffte sich einen Überblick über die eingeblendeten Daten zu den generierten Aktivitäten im Umfeld des Stockes. SESHA zählte insgesamt 103.629 Objekte, die sie den Satoga zuordnete – die Punkte, die Virgh-Einheiten markierten, erloschen nach und nach, es waren alles in allem höchstens ein paar hundert. Wobei Cloud sich nicht täuschen ließ. Bei den hier aktiven Dreizacken und Federschiffen handelte es sich mit absoluter
Gewissheit nicht um das komplette Virgh-Kontingent, sondern lediglich um die Einheiten, die zum Stock selbst gehörten. Bislang wusste niemand, welche Bedeutung diese Station überhaupt hatte – möglicherweise war sie nur eine von Dutzenden, Hunderten oder Tausenden. Und dann hätte man auch die Zahl der noch kampffähigen Virgh-Schlachtschiffe entsprechend multiplizieren müssen. Nein, ein Selbstläufer war das hier auch jetzt noch nicht. Die erdrückend wirkende Satoga-Übermacht konnte täuschen. Letztlich war nichts entschieden. Letztlich kam es auf Jarvis’ – und auch auf Artas’ – Geschichte an... SESHA selektierte nach und nach die verschiedenen Schiffstypen der Satoga-Flotte heraus und zoomte sie heran. Dazu blendete sie jedes Mal eine Agenda ein. Es gab insgesamt vier unterschiedliche Typen, von denen sich drei nur in ihren Dimensionen, nicht aber in ihrer Form unterschieden. Die PERSPEKTIVE fiel in diese Kategorie, und sie gehörte mit dem Durchmesser von 212 Metern ihrer Grundzelle eindeutig zum kleinsten Schiffstyp. Der mittlere Typ durchmaß im Hauptkorpus 424 Meter, der größte 848 Meter. Völlig aus dem bekannten Muster heraus fielen die größten Flotten-Einheiten, von denen die KI insgesamt nur 53 gezählt hatte. Sie waren in jeder Hinsicht... monumental. Ihre Form war die einer dicken Ellipse. »Bist du sicher, dass sich SESHA da nicht vertan hat?«, fragte Scobee. Auch Cloud musste erst einmal schlucken, als er die Größenangabe der Ellipsenschiffe las. Ihre Länge betrug knapp unter siebzig Kilometer, ihre maximale Breite rund dreißig, und die Dicke immer noch knapp zehn. Damit konnten sie locker mit der RUBIKON ohne deren Dimensionswälle konkurrieren, waren regelrechte Raumstädte.
Oder Trägereinheiten, dachte Cloud. Das, was früher die Weltmeere der Erde durchpflügte – übertragen auf die Erfordernisse des Alls. »Ja«, sagte er. »Ich bin sicher – nur nicht, was das Fürchten oder Hoffen angeht. Sag du’s mir: Sollen wir die hier demonstrierte Macht eher fürchten oder hoffen, dass sie uns noch lange, lange umgibt, damit uns die Virgh nichts anhaben können?« »Das kommt darauf an, ob wir mit den Virgh bereits dem Schlimmsten begegnet sind, was uns hier erwarten kann.« »Du misstraust unseren Rettern also auch?« »So lange ich im Dunkeln über ihre Absichten tappe, natürlich.« Scobee wirkte blasser als jemals zuvor. Sie wandte sich an Jarvis. »Ich glaube, das wäre jetzt der Moment...« In der Holosäule war zu sehen, wie sich die PERSPEKTIVE von der Stockhülle löste, behutsam beschleunigte und auf einen der Ellipsen-Riesen zusteuerte. Wenig später verschmolz sie mit dem anderen Körper, was wohl bedeutete, dass sie in einen Hangar eingeflogen war. Details unterschlug die Ortung. »Ich hätte nicht erwartet, dass die PERSPEKTIVE in diesem Zustand noch manövrierfähig ist.« Niemand ging auf Jeltos Kommentar ein. »Also?«, drängte Scobee die roboterhafte Gestalt, die zu ihrer Rechten saß. »Ich übertrage bereits Daten an SESHA«, gab Jarvis bekannt. »Mein neuer Körper ist nicht nur ungemein attraktiv, er hat auch eine Schnittstelle zur KI, die einen mühelosen Austausch von Informationen ermöglicht.« Das Grinsen, das Jarvis auf seinen Zügen zu formen versuchte, wurde zur Grimasse. »Aber bevor ich anfange, habe ich noch eine Bitte. Wir sind noch nicht vollzählig.«
»Nicht vollzählig?« Clouds Blick huschte über die Versammelten. »Nachdem Boreguir nicht mehr unter uns weilt...« »Es fehlen zwei, die dabei sein sollten. Weil es sie ebenfalls angeht. Natürlich müssen wir Vorsichtsmaßnahmen treffen...« SESHAs Stimme unterbrach ihn. »Gerade trifft eine Nachricht ein. Sie stammt von Artas. Darin kündigt er unter anderem ein neues Zusammentreffen an – in drei Stunden und achtzehn Minuten. Als Ort der Zusammenkunft schlägt er die EXPANSION EINS vor...« *** Es hörte einfach auf. Von einem Moment zum anderen. Sobek hatte das Gefühl zu erwachen. Aus einem absurden Traum, in dem er die absurdeste aller Rollen eingenommen hatte: die eines Opfers. Dabei war er immer Täter gewesen. Er hatte sich nie das Heft des Handelns, das Recht der Entscheidung – oder ganz generell gesprochen: die Macht – streitig machen lassen. Von niemandem! Nicht einmal von Mont... Als der Traum – oder der Zustand, in dem er gefangen gewesen war – von ihm abglitt, hing er geistig für eine unbestimmbare Zeitspanne wie in einer Schleife fest, in der er sich an den Trugschluss klammern konnte, mit dem Erwachen sei wieder alles gut. Alles normal. Doch da überrollte ihn die Erinnerung, sie begrub ihn unter sich und zerstörte jede Illusion. Die Gefangenschaft, die Entmachtung, hatte nicht nur in seinem absurden Traum sein Dasein bestimmt – sie tat es immer noch, nachhaltig, und der einzige Unterschied zum
Vorher war, dass er sich jetzt wieder aller Konsequenz seiner Lage bewusst war. Das lag daran, dass die Stimmen verstummt waren. Das Flüstern, Wispern, die Melodien und Gesänge, die ihm diktiert hatten, was sein Wille, sein Streben, sein bedingungsloses Ziel war... Ihm wurde klar, dass er zwei Erniedrigungen durchlebt hatte: Seine Entmachtung und Arrestierung ging auf die Menschen zurück, die er törichterweise selbst an Bord seines unersetzlichen Schiffes geholt hatte. Aber die Beugung seines Willens hatte andere Ursachen: Strömungen, die von außerhalb gekommen waren und gewirkt hatten. Etwas Hypnotisches, das aus den Tiefen der alten Heimat nach ihm gegriffen und ihn mental völlig durch den Wolf gedreht hatte! Vorbei! Es hatte aufgehört? Noch während er sich die Frage nach dem Warum stellte und mit seiner inneren Orientierungslosigkeit zurechtzukommen versuchte, öffnete sich die Tür seiner Zelle. Er bemerkte es erst, als John Cloud zu ihm sagte: »Fühlst du dich in der Lage, elementare Wahrheiten zu verkraften? Dinge zu hören, die dir höchstwahrscheinlich nicht gefallen werden?« Sobek war versucht, sich auf den Menschen zu stürzen, der es gewagt hatte und immer noch wagte, ihn zu erniedrigen. Er beherrschte sich nur, weil er zu klug war, um zu glauben, John Cloud sei ohne Vorbereitung zu ihm gekommen. Ohne die Sicherheit, dass Sobek ihm nicht gefährlich werden konnte. »Du willst mit mir über Wahrheiten sprechen?« Jedes Wort, das seine Membran verließ, war Laut gewordene Verachtung. Der Mensch überraschte ihn. »Ich rede nicht von mir.« »Von wem dann?« »Von Jarvis. Offenbar ist er der Überzeugung, dass das, worüber er berichten will, dich und Siroona ebenso angeht wie uns andere. Also?«
Sobek zögerte. Schließlich sagte er: »Es hat aufgehört.« Cloud schien genau zu wissen, worauf er anspielte. »Ich weiß. Artas wies uns darauf hin, als ich vorhin kurz Verbindung zu ihm hatte.« »Was hat dieser Satoga damit zu tun?« »Er sagt, er hat es abgeschaltet.« 7. »Die Große Magellansche Wolke dient unter der Ägide der Virgh nur einem einzigen Zweck – dem sie alles andere unterordnen, der ihr ganzes Handeln und Denken bestimmt«, begann Jarvis, nachdem die Runde vollzählig war. Sobek und Siroona hatten sich auf Plätzen niedergelassen, von denen aus sie zu anderen Zeiten nicht nur die Letzten ihres Volkes, sondern auch dieses Schiff regiert hatten. Zwei von Sieben. Sieben Hirten, wie die Vaaren des Aqua-Kubus ihre »Götter« genannt hatten. Aus Clouds Sicht implizierte der Begriff etwas, was dem Wesen der Foronen zutiefst widersprach. Was sich damit biss. Weder Sobek noch Siroona oder irgendein anderer der Hohen Sieben hatte die Sanftmut eines Hirten vorzuweisen. Sie mochten um ihr eigenes Volk besorgt und bemüht sein, aber die Art und Weise, wie sie foronische Interessen über das Wohl anderer denkender Völker stellten und dabei im wahrsten Sinne des Wortes »über Leichen« gingen, entlarvte diese technisch so hoch stehende Spezies als selbstsüchtig und unmoralisch. Die Virgh hatten sie vor rund 30.000 Erdenjahren aus der Großen Magellanschen Wolke vertrieben, hatten das foronische Reich in Schutt und Asche gelegt, und nun waren Sobek und Siroona an den Schauplatz der größten Niederlage ihres Volkes zurückgekehrt. Cloud wusste inzwischen, welche
Hoffnungen sie mit der Reise nach Samragh verknüpft hatten – keine davon war erfüllt worden. Im Gegenteil: Nicht nur, dass sie sämtliche ehemaligen Foronenwelten verglast vorgefunden hatten, aus den ehemals Mächtigen waren Gefangene geworden, der »Willkür« jener ausgeliefert, auf die sie stets nur verachtungsvoll hinabgeblickt hatten... Von all dem war in diesem Moment nichts zu spüren. Dem reinen Augenschein nach saßen die Foronen wie gleichberechtigt in der Runde. Die Maßnahmen, die gegen eventuelle Angriffsversuche ergriffen worden waren, blieben unsichtbar. SESHA, den Foronen einst treu ergeben, sah sich seit den Sonnenhof-Geschehnissen nur noch einem loyal verpflichtet: John Cloud. »Welchem?«, fragte Sobek, dem Jarvis’ Sprechpause zu lange dauerte. SESHA übersetzte seine Worte mit kaum merklicher Verzögerung. Es wirkte fast, als lese sie die Gedanken des Foronen und spreche sie aus, während ein akustisches Dämmfeld Sobeks originale Stimme zurücksetzte, damit er verständlicher war. Cloud hätte dieser Hilfe nicht bedurft. Er beherrschte die Sprache der Foronen als einziger Mensch in Perfektion, dank der ihn immer noch durchkreisenden Protopartikel, die ihm die Luuren in Tovah’Zara eingepflanzt hatten. Jarvis schien Sobeks Einwurf zu akzeptieren – immerhin hatte er auch auf die Anwesenheit der Foronen bestanden. »Sie wurde über Jahrzehntausende hinweg zur Bastion ausgebaut. Sie war nie als Lebensraum für die Virgh gedacht. Es sollte immer nur ihre Basis sein, in der sie rücksichtslos und nur ihrer Aufgabe verpflichtet operierten.« »Genauer!«, drängte nun auch Siroona. Jarvis sprach von ihrer Heimat, der Galaxis, in der sie vor selbst für Foronen unglaublich langer Zeit geboren worden war. »Aber bevor du präziser wirst, Ding, erkläre, wie du das angebliche Wissen erworben hast, das du hier zum Besten gibst!«
Die Membran der Frau, die für menschliche Begriffe keine wirklich weiblichen Attribute besaß, flatterte regelrecht. Cloud wusste nicht, ob es ein Zeichen von Nervosität oder von Ungeduld war. Oder nichts von beidem. »Ich war in der Virghstation, die ihr vor euch seht.« SESHA bestätigte, wie eng die gegenwärtige Verbindung zu Jarvis war, indem sie im Hintergrund Regie führte und den gigantischen Stock, von dem sich inzwischen auch die RUBIKON gelöst hatte, ins Zentrum der Holosäule rückte. »Dort geriet ich in Kontakt mit etwas, das offenbar deren Methode ist, wie sie Informationen speichern. Die Zuflucht, in die mich Boreguir führte, als wir uns im Stock begegneten, war demnach nichts anderes als ein gewaltiger Speicher, ein Datenpool, der den Virgh als ›Ewiges Gedächtnis‹ dient.« »Ewiges Gedächtnis?«, echote Sobek. »Die Quelle, aus der sie beständig ihr Wissen um ihren Auftrag ziehen. Generationsübergreifend. Denn auch Virgh altern und sterben. Neue Populationen bauen sich auf... all dies geschieht innerhalb solcher Gebilde, wie wir eines vor uns sehen.« »Und das alles willst du im Innern der Station erfahren haben? Einfach so...?« Die Skepsis, die aus Siroonas Frage klang, war durchaus berechtigt. Auch Cloud hatte mit Akzeptanzproblemen zu kämpfen. Wobei er Jarvis nicht unterstellte, sie zu belügen. Aber die Umstände, unter denen er an sein Wissen gelangt war, muteten mehr als bizarr an. »›Einfach so‹ ist übertrieben. In dem erwähnten Raum, in dem es zum Kontakt kam, wurde ich einfach nur von einer Datenlawine überschwemmt. Ich selbst wäre nie in der Lage gewesen, den Wust an eingebetteten Informationen zu entwirren und nutzbar zu machen. Aber meine körpereigenen Speicher haben vieles von dem bewahrt, was sie fast zum
Kollaps brachte – allein das Verdauen war das Problem. Dabei half mir Artas.« »Kannst du uns sagen, wie?«, fragte Cloud. Er hatte das Gefühl, Sobek oder Siroona zuvorkommen zu müssen – ihnen nicht den Eindruck zu vermitteln, dies hier sei ein Verhör und Jarvis der Angeklagte. »Das klingt jetzt verrückt«, sagte Jarvis, »aber er legte einfach nur die Hand auf mich. Davon ausgehend durchströmte mich ein ordnender Impuls, der all das Fremdwissen bändigte und in Bahnen lenkte, die ich verstehen konnte.« »Es klingt verrückt«, bestätigte Scobee. »Wie lautet der Auftrag der Virgh?«, versuchte Cloud zu moderieren. »Und wenn du von Auftrag sprichst, setzt das einen Auftraggeber voraus. Verstehe ich das richtig? Die Virgh handeln nicht selbstbestimmt?« »Das ist die eigentliche Sensation dessen, was sich mir erschlossen hat«, bestätigte Jarvis. »Sie scheinen nur eine Art Soldaten zu sein.« »Bastion... Soldaten... Sie sind monströse Entgleisungen der Natur«, brach es aus Sobek hervor – ausgerechnet aus ihm. »Sie kamen damals aus dem Nichts. Sie überfielen erst ein paar vereinzelte Welten, und niemand konnte ahnen, dass dies nur der Auftakt für einen flächendeckenden Krieg gegen uns war. Ihre Technik war der unseren ebenbürtig.« Sobek würde niemals zugeben, dass die Virgh seinem Volk überlegen waren. »Aber was sie so unbesiegbar machte, war ihre schiere Zahl. Sie überschwemmten Samragh regelrecht.« »Sie kamen nicht aus dem Nichts«, widersprach Jarvis. »Du weißt, wo ihr Ursprung lag?« »Nein. Dazu war in dem, was in mir haften blieb, nichts zu erfahren. Aber es ist einfach logisch, dass sie einen Ursprung haben. Niemand kommt von nirgendwo. Auch die Virgh nicht, von denen ich immerhin weiß, dass sie Vasallen, Diener noch Mächtigerer sind.«
»Und wer sollte das sein? In wessen Auftrag sollten sie damals unsere Zivilisation niedergewalzt und uns nach Bolcrain vertrieben haben?« »Auch das entzieht sich meinem Wissen. Aber ich bin mir sicher, dass Artas mehr darüber weiß – vermutlich alles. Und dass er inzwischen bereit ist, es uns zu verraten.« »Ausgerechnet Artas? Was bringt dich zu dieser Überzeugung...« Scobee verzog das Gesicht. »Abgesehen davon, dass er sich wirklich leicht seltsam verhält – und offenbar Bestandteil einer Streitmacht ist, die sich selbst jede kleinere Galaxie unterwerfen könnte...« »Zu dieser Überzeugung bringt mich, dass ich zumindest so viel aus dem Pool erfahren habe, dass ich mit einem riesigen Irrtum aufräumen kann.« »Der da wäre?«, fragte Cloud, überzeugt, dass Jarvis nun endlich zum Kern seiner Ausführungen kommen würde. »Ihr«, der ehemalige GenTec hob den Arm und spreizte einen der künstlichen Finger ab, mit dem er auf Sobek deutete, der ihm genau gegenüber saß, »dachtet all die Zeit, es ginge um euch. Auch als wir euch hierher zurückbegleiteten an den Schauplatz eures Traumas, glaubtet ihr, die Virgh erwarteten nur euch und hätten mannigfache Vorkehrungen getroffen, um gegen eure immer mögliche Rückkehr und den Versuch der Rachenahme gewappnet zu sein.« »Die Schwarzen Sonnen«, murmelte Aylea. »Der Sonnenhof. Das war eine Falle für die Foronen. War es das nicht? Der Lockruf in ihrer Sprache...« Jarvis Ton wurde behutsamer, als er Aylea antwortete. »Ja, das war eine Vorkehrung gegen Foronen. Die Installation der Sonnen erfolgte an der der Milchstraße zugewandten äußersten Peripherie Samraghs. Diese Maßnahme erfolgte aber lediglich parallel zu weit größeren Anstrengungen, die aus der GMW das bereits eingangs erwähnte gigantische Bollwerk machten.« »Gegen mein Volk«, beharrte Sobek.
»Falsch«, korrigierte Jarvis ihn kühl. »Ihr wart damals die zweifelsfrei dominierende Rasse in Samragh – deshalb gingen die Virgh so rigoros gegen euch vor. Es war nichts... Persönliches. Es gab keinen anderen Grund, euch zu vernichten, so tragisch das auch sein mag, als eure Machtstellung. Ihr konntet bei dem, was hier installiert werden sollte, nicht geduldet werden – so wenig wie noch heute neu aufstrebende Kulturen geduldet werden, die den Weg ins Weltall finden.« »Die Cirr?«, fragte Cloud. »Die Cirr sind nur eines von unzähligen Beispielen in den letzten Jahrzehntausenden, wenn ich die Informationen richtig lese«, antwortete Jarvis. »Wann und wo immer Zivilisationen sich innerhalb Samraghs anschicken, zu einem nennenswerten Machtfaktor – die Virgh nennen es Bedrohungsfaktor – zu werden, tritt eine ihrer permanent die GMW durchstreifenden Patrouillen auf den Plan und wirft sie durch gezieltes Bombardement um Jahrhunderte zurück. Mitunter löscht sie die Zivilisationen auch vollständig aus. Offenbar liegt es am Maß der Gegenwehr, wie strikt man gegen sie vorgeht.« Die Erinnerungen an die Cirr drohten Cloud zu übermannen. Er drängte sie mühsam zurück. »Die Virgh dulden also keinen neben sich – keine wirkliche Sensation. Damit konnten wir rechnen. Hast du noch etwas anderes in petto?« »Den Grund«, sagte Jarvis schlicht. »Den Grund?« »Ja, für all ihre Aktivitäten. All ihr Streben, Samragh zu einem Bollwerk zu machen. Es geht um einen Feind, den die Virgh – respektive ihre Auftraggeber – offenbar mehr fürchteten als alles andere. Einen Feind, der sie zu Anstrengungen nötigte, die aus menschlicher Sicht schier unglaublich anmuten. Allein der Sonnenhof, der nur einen
Nebenkriegsschauplatz abdeckte: die mögliche, aber nicht zwingend erfolgende Rückkehr der vertriebenen Foronen...« »Du spielst unsere Bedeutung in einer Weise herunter, die dich zu anderen Zeiten den Kopf gekostet hatte!«, fauchte Sobek. Etwas wie Lachen drang aus Jarvis’ Körper. »Als könnte mich das noch schrecken.« Er zeigte in die Holosäule. »SESHA überträgt jetzt Bilder, die jeden Zweifel darüber beseitigen werden, dass die Foronen schon vor 30.000 Jahren aus dem Mittelpunkt des Virgh-Interesses verschwanden. Dass all ihre folgenden Anstrengungen einem völlig anderen Ziel galten... SESHA?« »Von welchen Bildern redest du?«, fragte Scobee. »Die Daten, die sich in mir festsetzten, waren nicht einmal nur Schrift und Zahlen. Der Stock ist durchdrungen vom Wissen um den Feind, auf den die Virgh regelrecht abgerichtet wurden und werden.« In der Bildsäule erschienen Gestalten. Niemand – wohl nicht einmal Sobek oder Siroona – hatte nach Jarvis’ bisherigen Ausführungen noch damit gerechnet, dass Foronen dargestellt würden. Dennoch – und selbst in Anbetracht der jüngsten Erlebnisse – hatte Cloud das Gefühl, kurzzeitig den Halt unter sich zu verlieren, als er die Identität derer durchschaute, gegen die Samragh in eine Bastion verwandelt worden war. »Bist du dir völlig sicher?«, fragte er tonlos. »Die Daten, die mir Artas zugänglich gemacht hat, lassen keinen Zweifel. Ich wüsste auch keinen Grund, warum er daran manipuliert haben sollte. Es ist Teil der Wahrheit, die er uns ankündigte – und die gewiss noch weit mehr an Rätseln löst, als mein bescheidener Beitrag...« Jarvis schwieg kurz, dann fügte er hinzu: »Die Virgh warten seit dreißigtausend Jahren auf das Erscheinen derer, die nun tatsächlich gekommen sind.
Nicht die Foronen, vor denen sie wenig bis keinen Respekt hatten und haben, sondern...« »Die Satoga!«, vollendete Scobee für ihn den Satz. In diesem Moment waren ihre Augen so schwarz wie das finsterste All. »Die Satoga«, wiederholte sie dumpf, während in der Holosäule die Szene wechselte und wieder die Umgebung des Stocks zeigte – mit Abertausenden von Schiffen... 8. Cloud hielt den Würfel in den Händen, als SESHA die Verbindung zu Artas öffnete – den Würfel, den der Satoga ihnen im Zentalo-System zum Abschied überlassen und mit dessen Hilfe er kürzlich aus dem Stock zu ihnen kommuniziert hatte. »Wir haben deine Einladung erhalten, Artas«, sagte Cloud. Die Verbindung zu den Satoga war konventionell via Funk. Der schwarze Quader in seinen Händen war inaktiv. Er diente nur der Untermalung von Clouds Fragen. »Bevor wir sie annehmen können, würde ich gerne ein paar Dinge ausräumen, die seit den jüngsten Geschehnissen zwischen uns stehen. Bist du bereit, mir auf meine Fragen zu antworten?« Artas vermittelte, obwohl er wesentlich mehr Autorität und Entschlusskraft ausströmte als bei ihrer ersten Begegnung, den Eindruck, sich über das Wiedersehen zu freuen, auch wenn es momentan nur über eine Audio-Video-Verbindung stattfand. Ein Teil des Hintergrundes, vor dem er stand, war zu erkennen: eine Oase von Grün. Nirgends war der geringste technische Schnickschnack zu erkennen. Unwillkürlich fragte sich Cloud, ob so das Innere des Ellipsengiganten beschaffen war. Dann wäre es – zumindest Bereiche davon – ein Paradies für Jelto gewesen.
»Die großen Hintergründe und Zusammenhänge würde ich gerne hier mit euch besprechen. Ihr seid meine Gäste. Während unsere Schiffe die letzten Stockverbände stellen und aufreiben, bleibt uns Gelegenheit, die elementarsten Fragen zu klären.« »Offenbar unterschätzt du den Eindruck, den du und deine Artgenossen bei uns hinterlassen haben – erst recht nach dem, was du in Jarvis an Informationen lesbar gemacht hast.« »Es ändert nichts zwischen uns. Es betrifft uns nicht. Nicht unser Verhältnis.« »Ich schätze dich zu klug ein, als dass du das wirklich meinen könntest.« »Wo liegt das Problem?« »Mangelnde Aufrichtigkeit?« »Das war notwendig – ich sagte es schon. Wie hätten wir euch unsere Rolle offenbaren können, so lange noch die Gefahr bestand, dass ihr den Virgh in die Hände fallt? Solange unsere Streitmacht noch nicht das Signal zum Eingreifen hatte?« »Das klingt so weit einleuchtend. Aber mich würde interessieren, wo bei all dem, was wir untereinander austauschten, die Lüge beginnt. Seid ihr wirklich aus der Kleinen Magellanschen Wolke – aus Mara Forna, wie ihr sie nennt?« »Wir sind aus Mara Forna... Aber es liegt nicht in der benachbarten Kleingalaxis. Wir stammen von weiter her. Von dort, wo einst auch sie lebten.« »Sie?« Artas schien die Frage nicht zu hören. Cloud beschloss, geduldig zu sein. »Seit deiner jüngsten Kontaktaufnahme mit diesem Gegenstand hier«, er hielt Artas den Würfel entgegen, »drängt sich mir ein Verdacht auf, dass er nicht nur der Kommunikation mit euch diente... Könnte ich damit recht haben?« »Er war Teil unserer Strategie.« »Die da hieß?«
»Die da hieß, jederzeit auch über eure Lage informiert zu sein – während wir dem Lockruf folgten, den die Virgh speziell auf Satoga ausjustiert hatten. Der Würfel erlaubte uns, bei euch an Bord zu sein, ohne dass wir einen Fuß auf euer Schiff setzen mussten. Er ist... Nun ja, er ist mehr Spion als Kommunikator...« Cloud versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie hart ihn die Bestätigung seines Verdachts traf. »Ihr seid ihm also tatsächlich verfallen, diesem Lockruf?« »Beim ersten Aufkommen, ja. Im Zentalo-System, als unser Schiff aus den Fugen geriet, als selbst die Logen von dem plötzlich in Kraft tretenden machtvollen Rufen überrumpelt und überwältigt wurden.« »Er hat euch zum Stock gelockt. Dort haben euch die Virgh überwältigt. So viel ist mir bekannt.« »Es ist nur die halbe Wahrheit. Schon im Zentalo-System ergriff unser Schiff Maßnahmen gegen die mentale Beeinflussung. Wir waren als Kundschafter in die Galaxie eingedrungen, und wir wussten, mit welchem Feind wir zu rechnen hatten – auch wenn wir dann nur auf seine Diener trafen. Unser Schiff ist ein kleines Wunderwerk der Technik. Es vermochte, die paramentale Beeinflussung umgehend zu erkennen und zu neutralisieren. Es implantierte uns zu den ohnehin vorhandenen Modulen auch solche, die uns künftig gegen den Lockruf immunisierten. Was wir den Virgh aber nicht zu erkennen gaben. Für sie sah es aus, als wären wir in ihre Falle getappt. Es war für uns die eleganteste Gelegenheit, eines ihrer hiesigen Machtzentren zu betreten. Als sie uns inhaftierten und untersuchten, scannten wir im Gegenzug unbemerkt sie. Nicht nur sie, auch ihre Basis. Danach war es einfach, sie zu übertölpeln. Alles, was wir an Technologie fanden, ist aus unserer Sicht hoffnungslos veraltet und überholt. Die Virgh machen ihren Herren keine Ehre – sie haben es nicht verstanden, sich in den vergangenen
Jahrzehntausenden weiterzuentwickeln. Technologisch – geistig und physisch ohnehin nicht. Es sind ja nur Werkzeuge. Primitive Züchtungen.« Cloud hatte keine Vorstellung, von welchen Modulen Artas sprach. Primär interessierte ihn aber etwas anderes. Die Frage aller Fragen. »Du erwähnst die Herren der Virgh«, sagte er. »Sie sind euch also bekannt?« »Natürlich. Die Flotte, die du siehst, wurde nur ihretwegen mobilisiert.« »Haben sie auch einen Namen?« »Wir nennen sie die Dex«, antwortete Artas, »was in eurer Sprache ›die Besiegten‹ bedeutet. Aber in euren Datenbanken – der Würfel in deiner Hand ermöglichte uns auch den Zugang dorthin – fanden wir einen Namen, unter dem sie euch ein Begriff sind.« »Wir kennen sie?« »Ihr habt zumindest von ihnen gehört. Ein Wesen namens Darnok sprach von ihnen, wenn ich mich recht entsinne.« »Wer? Von wem redest du?« »Von den Jay’nac!« *** Es sah aus, als wäre Artas bereit, noch ausführlicher auf dieses Thema einzugehen. Dann aber geschah etwas, was selbst ihn aus dem Konzept zu bringen schien. Er verfiel in Schweigen, das sich erst nach gut zwei Minuten wieder löste. Cloud hatte ihn mehrfach angesprochen, ohne dass der Satoga reagierte. »Es ist etwas geschehen, dessen Tragweite sich noch nicht absehen lässt«, erklärte Artas schließlich. »Wo?«, fragte Cloud. »Und was?«
»In der Galaxis, aus der ihr stammt. Und wo die Dex sich verstecken.« Cloud war sofort alarmiert. »SESHA«, wandte er sich an die KI. »Was sagt deine Ortung?« »Euer Schiff dürfte kaum in der Lage sein, es auf diese Entfernung zu erkennen«, sagte Artas. Es war eine reine Feststellung, keinerlei Arroganz schwang darin mit. »Unsere Instrumente sind leistungsfähiger. Sie messen enorme Energieentfaltungen in dem Spiralarm, aus dem ihr gekommen seid. Wo auch euer Schiff sich so lange Zeit verbarg – und wo euer Heimatgestirn liegt.« »Energieentfaltungen?« Cloud spürte die Blicke der anderen, die seiner Kontaktaufnahme mit Artas beiwohnten. »Stark wie viele Supernovae«, erwiderte Artas. »Als würden überall Sonnen explodieren. Dutzende, Hunderte... Ich fürchte, die Dex könnten dahinterstecken. Ihnen ist jede Teufelei zuzutrauen.« »Aber das hieße ja...« »Das heißt, dass ihnen unsere Ankunft in ihrem Bollwerk nicht verborgen geblieben ist. Und dass sie darauf offenbar in für sie typischer Manier reagiert haben – sie verwischen ihre Spuren, hinterlassen nur noch verbrannte Erde...« Cloud hatte das Gefühl, in seinem Sitz zu versinken. Explodierende Sonnen... Das Schlimme war, dass er Artas kaum noch zutraute, sich in irgendetwas irren zu können. Verglühte die Milchstraße wirklich in diesem Moment in einem Fegefeuer aus Sternenbrand? ENDE
BAD EARTH
Das Rätsel um die Virgh ist gelöst. Und nun, da klar ist wer
hinter ihrem erbarmungslosen Wüten in der Großen
Magellanschen Wolke steckt, überschlagen sich die
Ereignisse.
Die Geschehnisse erzwingen die sofortige Rückkehr der
RUBIKON in die Milchstraße. Dort aber erwartet sie
Die träumende Galaxis
Dies ist zugleich der Titel des großen Serien-Finales. Lassen Sie sich den furiosen Schlussakkord aus der Feder von Manfred Weinland nicht entgehen.