Gunnar Staalesen
Der Hexenring
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Gunnar Staalesen
Der Hexenring
scanned 05_2007/V1.0
Sieben Fälle mit dem Helden Varg Veum, einem reichlich desillusionierten, allerdings nicht zynischen Detektiv, der immer ein wenig besser ist als die Welt, in der er arbeitet. ISBN: 3-502-51823-8 Original: Hekseringen (1985) Aus dem Norwegischen von Kerstin Hartmann-Butt Verlag: Scherz Erscheinungsjahr: 1. Auflage 2002 Umschlaggestaltung: ja DESIGN, Bern: Julie Ting & Andreas Rufer
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Autor Gunnar Staalesen, geboren 1947, bezeichnet Bergen, die Stadt seines Helden Varg Veum, auch als seine Stadt. Dort hat er Englisch, Französisch und Literaturwissenschaften studiert, dort arbeitet er als Dramaturg am Bergenser Theater. Gunnar Staalesen ist heute einer der führenden norwegischen Krimiautoren. Seine Romane wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Inhalt Autor........................................................................................................2 Inhalt........................................................................................................3 Personalakte 43/78 Streng vertraulich ....................................................4 »Wolf! Wolf!« ..........................................................................................6 Der schwarze Prinz................................................................................56 »Gunnar Reiss-Andersen«, sagte er ......................................................94 Der Hexenring .....................................................................................123 Das Wintermassaker............................................................................198 Die Beisetzung fand in aller Stille statt................................................231
Personalakte 43/78 Streng vertraulich Bearbeitende Dienststelle: Militärischer Kontrollnr.: V-02/StbSjt AT Abschlussdatum der Überprüfung: 19.04.78
Abschirmdienst
Nachname der Zielperson: Veum Sämtliche Vornamen: Varg Geburtsdatum: 15.10.42 in Bergen Büroadresse: Strandkaien 2 Familiärer Hintergrund: Vater: Anders Veum, geb. 1906, gest. 1956. Straßenbahnschaffner Mutter: Ingrid Veum, geb. 1908, gest. 1975. Hausfrau 1969 Eheschließung mit Beate Larsen, geb. 1942. Trennung 1973, Scheidung 1974. Kinder: Thomas, geb. 1971. Militärische Laufbahn: Mil.Reg.Nr.: 36188/61. Standort: Jørstadmoen/Sessvollmoen 1961-62. Als Geheimnisträger: unbedenklich Beruflicher Werdegang: Abitur, Bergens Kathedralskole, 1961. Handelsmarine, M/S Bolero 1962-64. Trampfahrt, hauptsächlich USA-Europa, keine Ostblockländer. Vorbereitungssemester, Prüfung, Universität Bergen 1964. Jura 1964-65, Universität Oslo. Sprachstudium 1965-66, Universität Bergen. Kein Abschluss. Staatliche Fachschule für Sozialwesen, Stavanger 1966-69. Sozialarbeiter. Angestellt bei der Kommune Bergen, Abteilung Jugendamt, Einzelfallbetreuung 1970-75. Angezeigt wegen Körperverletzung Mai 1975, Fall zu den Akten gelegt im Juni desselben Jahres (Polizeibehörde Bergen, Kriminalabteilung A). Gründet ein privates Ermittlungsbüro im August 1974. 4
Politische Aktivitäten: Kein Mitgl. einer norwegischen Partei. War während des Studiums in Kontakt mit Kreisen innerhalb der Sozialistischen Volkspartei. Vermutliche Position: sozialdemokratisch/liberal Individuelle Vermerke: (Verschiedene Hinweisgeber). V. hat nach seiner Scheidung soweit bekannt keine lang andauernde Beziehungen zu anderen Frauen/Männern gehabt. Tendenz zum Alkoholmissbrauch, kontrolliert. Etwas empfindliches Verhältnis zum Polizeipräsidium in Bergen – widersprüchl. Berichte. Bei der Durchsuchung von Büro und Wohnung (vergl. Aktenzeichen V-3337-1-78) wurde kein schriftliches Material gefunden, abgesehen von einem unvollendeten Romanmanuskript mit dem Titel »Casablanca, meine Geliebte«, sowie ein Auftragsarchiv (überprüft) Bearbeitungsvermerk: Es gibt keine Anzeichen dafür, dass V. zu irgendeinem Zeitpunkt mit Repräsentanten fremder Mächte in Verbindung stand oder im Besitz von Kopien geheimer Dokumente war oder ist, die nach Aussage von Kap. Ljosne, Richard, nach einem Besuch von Veum im März dieses Jahres aus Ljosnes Büro verschwunden sein sollen. Es wird angeregt, die Überprüfung einzustellen. Bergen, 19. 4. 78
A. T. (Unterschrift)
Geheimhaltungsstufe: streng vertraulich
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»Wolf! Wolf!«
1 Blondinen kommen, Blondinen gehen. Diese war offensichtlich auf dem Weg nach drinnen. Es war ein sonniger, heißer Sommertag Anfang September, und ich war sowieso schon kurzatmig genug. Die Tür zum Wartezimmer stand offen, um die Luftzirkulation anzuregen. Sie kam in mein Büro geschlendert, mit leicht geröteten Wangen, in einer einfachen blau-weiß-karierten Bluse, dunkelblauen Cordhosen, leichten Schuhen, mit einem kleinen Einkaufsnetz in der Hand und in eine Aura von Sonne und Sommer und süßen Versprechungen gehüllt. Aber ich bin ein nüchterner Mensch. Ich weiß aus Erfahrung, dass die meisten zu viel versprechen. Nichts desto weniger nahm ich die Füße brav vom Schreibtisch, stand auf, streckte mich ein wenig, setzte mein allerliebenswürdigstes Kundenlächeln auf und sagte: »Die Freude ist ganz meinerseits.« Sie sah nicht ganz so aus, als würde sie mir glauben. Sie ging vorsichtig, mit einer Hand auf der Rückenlehne, um den Kundensessel herum, als sei sie sich nicht ganz sicher, ob sie es wagen sollte, sich zu setzen. Ich kam um den Schreibtisch herum und streckte ihr die Hand entgegen. »Varg Veum. Beiße nicht.« Sie gab mir eine schmale Hand mit einer dünnen Schweißschicht an der Innenfläche. »B-Bente Laubfall.« »Schöner Name im September«, sagte ich. Sie antwortete nicht, senkte aber den Blick. 6
»Ein schöner Name zu jeder Jahreszeit«, fuhr ich fort und zog mich wieder hinter den Schreibtisch zurück. Sie beschloss, den Sprung zu wagen, und wir setzten uns ungefähr gleichzeitig hin. Sie biss sich auf die Lippen. Ich legte die Hände auf den Schreibtisch, um zu signalisieren, dass ich nichts zu verbergen hatte, und sah sie abwartend an. Ihr helles Haar war noch immer voller Sonnenschein. Es hing in langen, anscheinend natürlichen Locken um ihr längliches, regelmäßig geschnittenes Gesicht. Ihre Augenbrauen waren diskret und blond gebogen, ihre Augen blau mit einem Unterton von Lila, ihre Nase war lang und schmal und weitete sich in hellwachen, witternden Nasenlöchern, und ihr Mund strahlte eine starke und überraschende Sinnlichkeit aus. Ihre Lippen hatten einen natürlichen dunklen Ton, und ihre Zähne waren groß und weiß. Ihr Kopf balancierte auf einem langen, schmalen Hals, und ich hatte noch immer Schwierigkeiten, ruhig zu atmen. »Was kann ich für Sie tun?«, fragte ich vorsichtig. Sie sah mich mit ihren großen blaulila Augen direkt an: ein forschender, offener Blick, wie der eines Kindes. »Kann ich Ihnen vertrauen?« Ich sagte mit weicher Stimme: »Wenn ich es mir leisten könnte, mir Visitenkarten drucken zu lassen, dann würde draufstehen: ›Auf ewig dein‹ oder eventuell ›Der Ihre. Diskretion ist Ehrensache. Verschwiegenheit ist unsere Profession‹, oder etwas entsprechend Geistreiches. Das Wichtige dabei ist, dass man manchen vertrauen kann, und anderen nicht. Da Sie sich immerhin entschlossen haben herzukommen, gehe ich davon aus, dass Sie das Wagnis schon eingegangen sind.« »Ich wollte gern erst ganz sicher sein. Könnten Sie – mir etwas über sich erzählen? Ich meine – über Ihren Hintergrund und so?«
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»Hintergrund und so?« Ich warf einen diskreten Blick auf ihre rechte Hand. Kein Ehering. Mein Blick streifte ihr Gesicht auf dem Weg nach oben und blieb direkt über ihrem Kopf hängen, wohin ich immer gern sehe, wenn jemand mir schwierige Fragen stellt. »Ich bin ungefähr vierzig Jahre alt. Ich war einmal verheiratet, aber das ist mittlerweile ein paar Jahre her, und ich habe einen kleinen Sohn, der gar nicht mehr so ganz klein ist. Von Beruf bin ich Sozialarbeiter, und ich war ein paar Jahre beim Jugendamt, bevor ich mich in diesem Büro niederließ. Das ist jetzt etliche Jahre her. Seither habe ich mich, ob Sie es glauben oder nicht, als privater Ermittler über Wasser gehalten. Wie Sie beim Reinkommen gesehen haben, lag auf dem Boden meines Wartezimmers kein besonderer Teppich, aber wenn Sie mal irgendwann abends in meinen Kühlschrank schauen – und dazu sind Sie herzlich eingeladen – finden Sie dort sowohl Schafswurst als auch ein nicht ganz kleines Stück geräucherten Schinken.« Ich rang nach Luft. Sie sagte: »Reden Sie immer so schnell?« »Nur zu schönen Frauen.« Sie sah mich ernst an. Wenn das für sie ein Kompliment war, bedankte sie sich dennoch nicht dafür. Wenn sie es als Witz auffasste, so unterließ sie es zu lächeln. »Ich bin nicht zum Flirten hergekommen.« »Ach«, sagte ich geistvoll, und um meine große Schlagfertigkeit zu demonstrieren, fügte ich hinzu: »Ach, natürlich.« Es entstand eine kleine Pause. Dann sagte ich: »Und jetzt frage ich Sie: Weshalb sind Sie denn gekommen?« »Ich weiß noch nicht recht …« Sie wusste noch immer nicht, ob sie mir vertrauen konnte. Aber ich bin ein geduldiger Mensch, und gegenüber einer so schönen Frau ist meine Geduld grenzenlos. Ich sagte: »Sie kommen nicht aus Bergen, wie ich an Ihrer Aussprache höre?« »Nein.« 8
»Wo genau aus Hardanger kommen Sie denn her?« »Rosendal.« Von der Sonnenseite des Fjords. Ihr Tonfall hatte sie verraten, und ihr Aussehen passte dazu. In einer Tracht hätte sie auf jedem Prospekt für jeden Ort im Hardanger werben können. »Vegard Vadheim kommt aus Rosendal«, sagte ich. »Vegard Vadheim?« »Aber Sie sind vielleicht zu jung, um sich an ihn zu erinnern?« »Mag sein.« »Er war Anfang der Fünfzigerjahre Langstreckenläufer. Jetzt ist er bei der Kripo in Bergen. Sie wissen sicher, es kann gut sein, dass die Polizei …« »Wenn ich zur Polizei hätte gehen können, dann hätte ich das getan!« »Genau …«, sagte ich und gab ihr die Möglichkeit fortzufahren. Aber sie sah mich weiterhin forschend an, stumm wie ein Gletscher über dem Fjord, woher sie kam. Ich fragte: »Wie alt sind Sie eigentlich?« Die blaulila Augen weiteten sich, und es flackerte plötzlich darin auf. Dann antwortete sie trocken: »Ich bin 1956 geboren.« Ich nickte kurz und eine leichte Röte kroch wieder ihre Wangen hinauf. »Ich – arbeite in einer Bank.« »Dafür braucht man sich doch nicht zu schämen, oder …?« Es zuckte um ihre Mundwinkel, und sie hielt den Blick noch immer gesenkt. Ich fuhr mit einem Finger an der Schreibtischkante entlang. »Erzählen Sie mir etwas mehr von sich. Wie lange wohnen Sie schon in Bergen?« »Seit … seit fünf Jahren.« »Und Sie haben die ganze Zeit bei dieser Bank gearbeitet?« 9
»Ja.« »Und was haben Sie vorher gemacht?« Sie sah auf. »Ich war Aushilfslehrerin an einer Grundschule, zu Hause. Dann habe ich im Hotel gearbeitet. Und dann kam ich – hierher.« Ich sah sie an. Mein Mund war trocken, aber das konnte auch von der verspäteten Sommerwärme kommen. Ich konnte meinen Blick nicht von ihren Lippen abwenden, musste daran denken, wie es wohl war, sie zu küssen, dachte daran, wie lange es her war, dass ich zuletzt jemanden geküsst hatte. So ist das mit uns geduldigen Menschen. Wir sitzen in unseren Büros und warten, und nur allzu selten stolpern wir über ein Dornröschen, nur allzu selten kommen hinreißende Sonnenscheinmädchen aus dem Hardanger zur Tür herein und unterhalten uns mit ihrem Zögern. Wir könnten unser Spiel noch stundenlang fortsetzen. Ich würde ihr keinen Stein in den Weg legen, solange sie nur dort sitzen und schön aussehen würde. »Bente Laubfall aus Rosendal …«, sagte ich langsam. »Das klingt wie ein kleines Gedicht. Wie ist das, als kleines Gedicht durch die Welt zu laufen?« Sie sah mich direkt an und sagte: »Ich werde erpresst.« »Ach ja?« »Bis jetzt habe ich zahlen können. Ich – mein Vater arbeitet zu Hause bei einer Bank, und er hat mir etwas geliehen, aber jetzt fängt er an, sich zu weigern, und mein eigenes Erspartes habe ich auch schon aufgebraucht. Wenn es so weitergeht, dann muss ich …« Sie sprach den Satz nicht zuende. Nun war die Katze aus dem Sack. Ich pfiff leise und lange. »Aber – warum?« Sie setzte sich gerade hin. »Das ist ja wohl meine Sache, oder?«
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Ich zuckte mit den Schultern und hob die Arme. »Wenn es Ihnen lieber ist. Aber wobei soll ich Ihnen denn helfen?« Plötzlich waren ihre Augen glasig. Ihre Lippen zitterten. »Ich möchte – ich möchte, dass Sie – dass Sie machen, dass es aufhört!« Sie öffnete ihr Einkaufsnetz und holte ein Taschentuch heraus, verbarg ihren Mund hinter dem Tuch und schluchzte gepresst. Ich ließ sie weinen. Auf meinem Rücken sammelte sich der Schweiß. Frauen, die weinen, verunsichern mich. Sie erinnern mich immer an meine Ehe. Sie trocknete sich die Tränen, wischte mit dem Tuch leicht über ihre Wangen, tupfte sich Augenwinkel und Nase ab. Als ihr Blick wieder meinen suchte, war er leicht rot umrandet. Sonst war sie nicht sonderlich verändert. Trotzdem war sie in ein neues Licht gehüllt. Sie war eine Frau mit einem Geheimnis, vielleicht einer heimlichen Schuld, die für irgendjemanden Geld wert war. Und noch eines war wichtig: Sie war Bankangestellte. Man konnte sie vielleicht dazu zwingen, etwas preiszugeben, das im Laufe der Zeit wertvoller sein könnte, als die kläglichen Kronen, die sie bis jetzt zusammengekratzt hatte. Sie war möglicherweise im Besitz nützlicher Informationen über dieses oder jenes. Vorsichtig fragte ich: »Was dachten Sie, was ich für Sie tun könnte?« Sie schluckte. »Ich – ich soll heute Abend – Geld abliefern. An einem vereinbarten Ort. Ich – wenn Sie mir folgen könnten, irgendwie, und versuchen herauszufinden, wer es ist. Sie aufhalten.« Ich nickte. »Das wird möglicherweise nicht so leicht sein.« Sie holte eine Brieftasche aus ihrem Netz und zog fünf Hunderter heraus. »Ich weiß nicht, wie viel Sie nehmen, aber … Ich werde bezahlen, was Sie wollen, wenn Sie der Sache nur ein
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Ende machen. Es wird mich trotz allem nicht mehr kosten als …« Sie legte die fünf Scheine auf den Schreibtisch. Nüchtern betrachtet konnte sie damit nicht viel von meiner Zeit erkaufen. Aber andererseits … Für sie hätte ich es auch umsonst getan. »Wo und wie soll das Geld übergeben werden?« »Oben auf dem Weg nach Munkebotn. Heute Abend zwischen neun und zehn.« »Und wie soll die Übergabe aussehen?« »Jemand kommt mir entgegen, auf dem Fahrrad. In einem Trainingsanzug und mit einem Halstuch vor dem Gesicht. Ich gebe ihm den Umschlag und er fährt weiter. Ohne ein einziges Wort.« »Und Sie haben keine Ahnung wer es ist?« Sie antwortete nicht sofort. Schließlich sagte sie: »Finden Sie es heraus.« »Hören Sie … Ist es immer da draußen?« Sie nickte. »Aber müsste es für die Polizei nicht ein …« »Ich kann nicht zur Polizei gehen.« »Und das wissen diese Leute?« »Ja.« »Und Sie wollen mir immer noch nicht sagen …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht. Glauben Sie mir einfach eines: Ich habe nichts Schlimmes getan – nichts Illegales, meine ich.« »Dann geht es hier tatsächlich um gegenseitiges Vertrauen.« »Man kann auch auf andere Weise schuldig werden, oder nicht … Veum? Fragen Sie mich nicht weiter, ich kann wirklich nichts sagen. Nur, bitte helfen Sie mir.« 12
Ich glaubte ihr alles, wenn sie mich mit diesen Augen ansah. Ich würde ihr helfen, wie ihr noch nie jemand geholfen hatte. Ich sagte: »Ich werde Ihnen helfen, Bente. Wenn ich kann.« Das Lächeln, das sie mir schenkte, hing noch lange nachdem sie gegangen war in der Luft über meinem Kundensessel.
2 Wir hatten es bis ins Detail geplant. Ich parkte meinen Wagen bei der alten Straßenbahnschleife im Helleveien und wartete dort, bis sie auftauchte. Sie kam mit dem Bus aus der Stadt, stieg an der Haltestelle auf der anderen Straßenseite aus, sah sich wie zufällig um und begann, den Munkedalsveien hinaufzuwandern, als wollte sie nur einen kleinen Spaziergang machen. Die einzige, die mit ihr zusammen ausstieg, war eine ältere, schwarz gekleidete Frau, die in die entgegengesetzte Richtung in den Amalie Skrams Vei hinein ging. Nachdem ich ihr einen angemessenen Vorsprung gegeben hatte, stieg ich aus, schloss den Wagen ab und ging ruhig hinter ihr her. Es war ein schöner Abend für einen Spaziergang. Der September hat Tage, die nach Sommer schmecken, aber die Sonne sinkt schnell gegen Abend. Schon vor acht Uhr versank sie wie eine Zeitbombe hinter dem flachen Rücken des Askøyfjells, und jetzt, anderthalb Stunden später, war die Sprengladung längst detoniert. Der Sommertag war in einen Herbstabend übergegangen. Der Sternenhimmel zeichnete sein Termitenmuster über uns, und über dem Fløyenfjell stieg ein frisch gewaschener Mond gerade hinter dem dunklen Nadelwald auf. Für die kräftigsten Herbstfarben war es noch zu früh, nur ein mattes Grün mit einem dünnen, braunen Schleier kündete von Tod und Verwesung. 13
Bente Laubfall ging mit steifen Bewegungen vor mir her, so wie Menschen oft gehen, wenn sie wissen, dass sie beobachtet werden. Sie hatte einen dunkelblauen Poncho mit lila Borte übergeworfen und trug darunter blaue Kordhosen und flache Schuhe. Über ihrem Handgelenk hing eine unkleidsame Plastiktüte. Ihr blondes Haar hatte die Sonnenwärme verloren. Jetzt schimmerte es kühl im Mondschein. Ich versuchte, den Abstand zwischen uns so groß wie möglich zu halten, ohne sie aus den Augen zu verlieren. Die Fenster der Häuser am Munkedalsveien waren erleuchtet, aber es waren wenig Menschen unterwegs. Zwei Jogger mit dem Abzeichen der Handelshochschule auf dem Pullover liefen an uns vorbei bergauf. Der eine sah sich um, als er an Bente Laubfall vorbei war, blieb aber nicht stehen. Seine Laufzeit war ihm wohl wichtiger. Von Munkebotn kam ein einsamer Hundebesitzer mit einem englischen Setter herauf. Der Setter schnüffelte an ihr. Der Besitzer schaute in eine andere Richtung, als er an ihr vorbeikam. Dann hatten wir das bewohnte Gebiet hinter uns gelassen, und die Dunkelheit wurde dichter. Eine sanfte Brise spielte mit den herbsttrockenen Blättern. Oben am Hang schrie eine Eule leise und klagend. Weit über uns kam ein Flugzeug von Norden herein, als hätte sich ein Stern vom Firmament losgerissen. Bente Laubfall bog um eine Kurve und war plötzlich nicht mehr zu sehen. Ich beschleunigte meine Schritte, aber als ich um die Kurve kam, war sie noch immer allein. Sie ging mitten auf dem Weg, als fürchtete sie sich vor den Schatten hinter den Bäumen. Ich konnte sie verstehen. Auch unter normalen Bedingungen konnte ein Spaziergang durch Munkebotn abends im Dunkeln beängstigend sein, jedenfalls, wenn man allein war. Aber wir waren nicht allein. Wir waren Zwillinge in der Dunkelheit.
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Jetzt führte der Weg in Serpentinen nach oben. Ich schnitt in den Kurven den Weg ab, hielt mich zwischen den Bäumen und wartete, bis sie wieder weit genug vor mir ging, bevor ich die nächste Abkürzung nahm. Auf diese Weise war ich ihr immer so nah, wie ich es verantworten konnte, und hatte die besten Chancen, im Zweifelsfall so schnell wie möglich auf der Bildfläche zu erscheinen. Ich konnte ihr ansehen, dass sie immer unruhiger wurde, je weiter wir kamen, ohne dass etwas passierte. Ihr Kopf drehte sich ständig in alle Richtungen, und immer wenn ich ihr nah genug kam, konnte ich die Unsicherheit in ihren Augen lesen. Dort, wo der Weg nach Sandsvikbatteriet abbiegt, war ich besonders aufmerksam. Aber es wartete niemand dort oben, um zu prüfen, ob sie allein kam. Niemand folgte ihr den Berg hinauf, außer mir. In der letzten Kurve vor dem Staudamm am Munkebottsvann setzte sie sich auf eine Bank mit Aussicht über ganz Munkebotn. Ich wanderte weiter und tat, als wollte ich vorbeigehen, aber sie räusperte sich und nickte mir zu, dass ich herüberkommen sollte. »Ich glaube nicht, dass noch jemand kommt«, sagte sie leise. »Hm«, antwortete ich geistreich und setzte mich neben sie. Wir saßen stumm und sahen in die Landschaft. Der Byfjord lag wie ein schwarzer Spiegel vor uns. Die Lichter auf Askøy funkelten. Draußen in Karven blinkte ein Leuchtturm. Ganz oben auf dem Lyderhorn brannte ein rotes Auge in der Dunkelheit: die Spitze des höchsten Fernsehmastes. Mein Arm lag direkt hinter ihrer Schulter, so nah, dass ich ihre Körperwärme spüren konnte. Ich schielte zu ihr hinüber. Ihr reines, klassisches Profil zeichnete sich hell gegen den Abendhimmel ab. Ihr Haar bewegte sich leicht in der Abendbrise. Ihre Lippen waren rund und sinnlich gebogen. Ihr Kinn war kräftig und darunter war nicht einmal die Andeutung einer Falte zu erkennen. Ihr Puls pochte deutlich sichtbar in ihrer Schlüssel15
beingrube. Unter dem Poncho trug sie ein weiches Flanellhemd mit roten und blauen Karos. Sie hatte etwas unschuldig Reines und Kindliches an sich, das nicht zum Grund unserer Aktion passte. Ich sagte leise: »Was ist Ihrer Meinung nach passiert?« Sie antwortete erst nach einer Weile: »Sie haben Sie gesehen.« Wieder die kleine Pause. »Vielleicht.« »Haben sie … haben sie Ihnen etwas angedroht, falls das hier passieren sollte?« »Was meinen Sie mit angedroht?« Ich sagte vorsichtig: »Ich muss davon ausgehen, dass sie Sie mit irgendetwas unter Druck setzen. Ihnen mit etwas drohen … Solange Sie mir nicht erzählen …« »Sie haben nur gesagt, ich soll nicht zur Polizei gehen«, unterbrach sie mich. »Und Sie sind ja nicht von der Polizei, oder?« Sie wandte mir ihr Gesicht zu und schaute mich mit großen, fragenden Augen an. Auch die hellsten Augen werden am Abend dunkel. Ihre Pupillen hoben sich scharf gegen das Weiße in ihren Augen und die helle Haut darum herum ab. »Es könnte schon sein, dass sie mich auf jeden Fall als nahen Verwandten bezeichnen – auch wenn die Polizei sich bedanken würde«, fügte ich leise hinzu. Sie schaute mich immer noch an. Ich erwiderte ihren Blick, versuchte, in ihrem Gesicht und in ihren Augen zu lesen. Dann wendete sie sich langsam ab, ohne das Geringste verraten zu haben. Nach einer kleinen Weile stand sie auf und ging wieder bergab. Ich folgte ihr, etwas seitlich und mit einem halben Meter Abstand. Keiner von uns sagte noch etwas. Bevor wir uns bei den ersten Häusern trennten, sagte sie nur: »Ich rufe Sie an,
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wenn sie sich wieder melden. Dann machen wir telefonisch etwas aus. Ist das in Ordnung?« Ich nickte und sie schenkte mir ein flüchtiges Lächeln, bevor sie in Richtung Helleveien hinunter zur Bushaltestelle vor dem Krankenhaus Sandviken ging. Ich blieb stehen und folgte ihr mit dem Blick, aber nach wie vor näherte sich ihr niemand. Und dann kam der Bus.
3 Acht Tage vergingen, bevor ich wieder von ihr hörte. Ein leicht schmutziger Nachmittagshimmel hing tief über der Stadt, während rußiger Regen vom Meer hereinzog und sich über Dächer und Straßen legte. Aber es war immer noch warm und eine giftige Schwüle kündigte ein Gewitter an. Im Laub waren die braunen Töne hervorgetreten, konnten sich aber nicht im Sonnenschein entfalten. Sie rief gegen drei Uhr an. »Hier ist Bente«, sagte sie. »Laubfall.« »Hallo!«, erwiderte ich. »Haben Sie etwas von ihnen gehört?« »Ja. Sie haben sich heute gemeldet. Heute Abend soll ich wieder dort sein. Allein.« »Haben Sie etwas zum letzten Mal gesagt?« »Nein, sie haben nur betont, dass ich allein kommen soll.« »Wie haben sie sich gemeldet?« »Über Telefon. Sie haben hier angerufen, bei der Bank.« »Und wer ist es?« »Wer? Ich kenne sie doch nicht.« »Nein, ich meine – Mann oder Frau?« »Mann.« »Und Sie erkennen die Stimme nicht wieder?« 17
»Nein.« »Auch nicht von früheren Anrufen?« »Doch …« »Ja oder nein?« »Ja.« »Irgendwelche besonderen Kennzeichen der Stimme? Dialekt?« »Er ist … Ich glaube, er ist Bergenser.« »Aha. Gut … Gleicher Treffpunkt?« »Ja.« »Was soll ich tun?« Sie zögerte. »Ich weiß nicht, aber …« »Ja? Aber …« »Ich fahr nicht allein da raus!« Ich starrte aus dem Fenster. Acht Tage. Die Sonne würde gegen halb acht untergehen. Eine Stunde später als normal, weil immer noch Sommerzeit war. Ich sagte: »Wann sollen Sie sie treffen? Genauso spät wie letztes Mal?« »Eine halbe Stunde früher.« »Also gegen neun?« »Ja.« »Waren Sie bei den früheren Übergaben weit oben in Munkebotn?« »Ganz unterschiedlich. Ich glaube – ich hatte das Gefühl, dass sie ziemlich weit oben standen, mit dem Fernglas, und mich in der Kurve vor dem Krankenhaus Sandviken gesehen haben. Wenn ich da vorbei war, kam er auf dem Fahrrad ziemlich schnell, und es dauert ja nicht lange, das Tal runter zu fahren.« »Aha. Gut. Wenn wir irgendwas erreichen wollen, dann müssen Sie mich, glaube ich, einfach vergessen.« 18
»Vergessen? Wie meinen Sie das?« »Sagen wir mal so: Sie können ganz beruhigt sein. Ich bin da – irgendwo. Aber Sie wissen nicht, wo. Ich bin einfach da. Und ich werde aufpassen. Wenn sie auftauchen, dann bin ich in Ihrer Nähe.« »Aber …« »Ich glaube, das ist der richtige Weg, äh, Bente. Vertrauen Sie mir einfach. Haben Sie keine Angst!« »Na gut. Ich habe wohl keine Wahl. Aber werden Sie eine Chance haben, sie zu erwischen?« »Das ist durchaus möglich. Vielleicht kriegt es irgendein unschuldiger Fahrradfahrer ab, aber wir werden sehen. Bis nachher?« »Bis nachher.«
4 Vom Fjellveien zu Sandviksbatteriet hinauf verläuft ein steiler Pfad. Ich joggte in einem dunklen Trainingsanzug den Fjellveien entlang, trug eine braune Strickmütze. Noch immer trieb von Westen etwas Regen herein. Auf dem Weg den steilen Hang hinauf strichen dunkle Fichtenzweige wie zaghafte Wolfskrallen über meine Haut, aber sie ließen mich passieren. Ich kam bei der Sandviksbatteriet an. Die alten Kanonenscharten wirkten wie riesige Betonfußspuren im Gelände, als hätte ein schwerer Gigant einmal gerade hier die Landschaft durchquert. Der ganze Byfjord lag offen und verletzlich vor mir. Eine schwerfällige Fähre war unterwegs nach Askøy, während von Norden her ein Schnellboot hereinkam. Ich sah auf die Uhr. Acht. Hätte man die Sonne sehen können, dann wäre sie jetzt hinter Sotra untergegangen. Aber ich sah nur einen schwachen roten Schimmer in der grauen Wolkendecke. 19
Ich folgte dem steilen Weg, der in engen Kurven in Richtung Munkebotn führte. Jetzt joggte ich nicht mehr, sondern ging, so leise ich konnte, auf den großen Kantsteinen am Wegrand. Ich achtete sehr auf meine Schritte, um keinen unnötigen Lärm zu machen. Dann kam ich unten an der steilen Lichtung direkt oberhalb des Munkebottsveien an. Ich blieb stehen und sah auf die Uhr. Viertel nach acht. Wenn jemand Bente Laubfall den ganzen Weg durch das Tal beobachtete und wenn er ein Fahrrad benutzte, dann musste er auf dem Weg bergab an mir vorbeikommen. Und mit dem Fahrrad musste er alle Kurven fahren, während ich die steilen Abkürzungen nehmen konnte. Ich sollte gute Chancen haben, den Mann auf dem Fahrrad zu stellen. Was dann geschehen würde, konnte ich jetzt noch nicht voraussehen. Jede Sorge zu ihrer Zeit, und ich spielte oft am besten nach Gehör. Dann begann ich wachsam wie ein Eichhörnchen und unbeweglich wie eine Eule zu warten. Ich stand zwischen den hohen, glitschigen Baumstämmen auf der Schattenseite des Tals, und in dem dunklen Jogginganzug würde es nicht leicht sein, mich zu erkennen. Von meinem Platz aus konnte ich die kurze gerade Strecke direkt oberhalb des alten Forellenteichs beobachten. Auch ich würde Bente Laubfall sehen, wenn sie kam. Ich schaute auf die Uhr. Es war jetzt zehn nach halb neun. Dort unten … Da war sie. Sie trug eine blaue Regenjacke, hatte die Kapuze aber abgenommen und ihr Haar verriet sie bis hier oben. Also gut. Jetzt galt es, wachsam zu sein. Ich bewegte mich vorsichtig ein Stück die Böschung hinunter, um eine bessere Ausgangsposition zu haben. Da! Hatte ich da nicht etwas gehört? Doch …
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Es war ein Hase. Einen Sommer schwer hüpfte er plattfüßig über den Weg, mit plumpen Bewegungen und ohne sich darum zu kümmern, dass er etwas Lärm machte. Dann war er verschwunden. Es raschelte zwischen den Bäumen … Ein anderes Tier, vielleicht ein Vogel … Unten auf dem Weg bewegte sich dagegen gar nichts. Langsam machte ich mir Sorgen. Ich konnte sie nicht mehr sehen, und es war durchaus möglich, dass der Erpresser eine oder zwei Kurven weiter unten gewartet hatte. Ich bewegte mich noch ein Stück weiter nach unten, so gut wie möglich hinter den Baumstämmen versteckt. Jetzt war ich fast auf dem Weg. Ich konnte direkt zu der Bank hinauf sehen, auf der wir an dem Abend vor acht Tagen gesessen hatten. Kein Mensch zu sehen. Ich entschied mich schnell dafür, den Weg zu überqueren, und kletterte ein paar Meter der ersten Abkürzung hinunter. Es war jetzt dunkler geworden und schwieriger, etwas zu erkennen. Waren sie auch an diesem Abend nicht gekommen? Es war schon nach neun Uhr. Oder … waren sie schon da gewesen? Ich wurde immer besorgter und stieg weiter den Hang hinunter. Nein – da war sie! Sie kam langsam bergauf, die Hände in den Taschen der Regenjacke, mit gesenktem Kopf und langsamen Schritten, als trüge sie an einer großen Trauer – oder an einer unglücklichen Liebe. Ich zog mich zwischen die Bäume zurück und blieb stehen. Sie hatte mich nicht gesehen, als sie unterhalb von mir vorbeiging, und sie musste nun um eine weitere Kurve gehen, um wieder auf die obere Seite zu kommen, wo ich stand. Ich sah erneut den Hang hinauf. Nichts. Es war so still, dass es fast verdächtig wirkte. Nicht einmal ein einsamer Jogger? Gab es heute Abend etwa Fußball im Fernsehen? 21
Jetzt war sie auf dem Weg oberhalb von mir. Ich ging die letzten Schritte zum Weg unter mir, dann machte ich ein paar Dehnübungen und lief langsam bergauf hinter ihr her. Ich kam an die Stelle, wo ich eine Viertelstunde zuvor den Weg überquert hatte. Jetzt konnte ich wieder die Kurve über mir einsehen. Sie hatte die Bank erreicht, ging aber weiter bergauf. Ich lief ihr nach. Sie hörte mich und schaute sich abrupt um. Ihr blondes Haar flog. Sie sah verängstigt aus, bis ich einen Moment die Kapuze herunterzog und sie mich erkannte. Sie drehte mir den Rücken zu und ging weiter. Ich lief an ihr vorbei, ohne ein Wort. Vor mir lag jetzt der Staudamm, und ich lief die kleine Böschung rechts davon hinauf. Dann blieb ich stehen und fing an, verschiedene Dehnübungen zu machen, während ich mich umsah. Immer noch alles wie ausgestorben. Ich sah nach oben. Mondloser Himmel und nicht ein Stern zu sehen. Bente Laubfall folgte dem Weg bis zum Schlagbaum am Nordende des Staudamms und kam mir entgegen. Als sie mich erreicht hatte, nickte sie steif – als sei sie sich nicht ganz sicher, ob sie mich kannte – und sagte: »Er kommt offensichtlich auch heute Abend nicht.« Ich sagte: »Woran kann das liegen? Sie können mich heute unmöglich gesehen haben. Kann es sein, dass Ihr Telefon abgehört wird?« »In der Bank?« Sie schüttelte den Kopf. Ich betrachtete sie prüfend. An diesem Abend trug sie Jeans und kurze blaue Gummistiefel mit weißen Rändern. Der leichte Regen hatte sich wie eine Perlenschicht aus winzigen Tautropfen auf ihr Haar gelegt, dass sich im Nacken und vor den Ohren kräuselte. Jemand hatte vorsichtig rußige Halbmonde unter ihre Augen gemalt. Ihr Mund hatte einen betrübten Ausdruck, den man als Schmollen auffassen konnte: Dasselbe sinnliche
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Schmollen, das früher Brigitte Bardots Markenzeichen gewesen war. Ich sagte: »Und Sie sind sicher, dass es da jemanden gibt?« Sie riss die Augen auf. »Was meinen Sie damit?« »Sie wollen nicht vielleicht etwas anderes?« »Etwas anderes?« »Sie rufen nicht ›Wolf! Wolf‹, weil Sie …« Ich hob in einer fragenden Geste die Hände. Wir starrten einander an. Dann schüttelte sie den Kopf und sagte leise: »Nein.« Sie stand steif und unbeweglich, als hätte sie plötzlich etwas entdeckt. Ich drehte schnell den Kopf. Hinter mir war niemand. Ich sah wieder sie an. War ich es etwa, vor dem sie Angst hatte? Ich trat einen kleinen Schritt nach vorn, fasste sie am Oberarm und beugte mich in einer impulsiven Bewegung zu ihr hinunter, so wie man ein kleines Kind tröstet, indem man es in den Arm nimmt. Ihr Schlag traf mich quer über den Mund und ihr Schrei zerriss die Stille um uns herum. »Fassen Sie mich nicht an! Bleiben Sie mir vom Leib!« Sie ging rückwärts. Vor meinen Augen tanzten rote Flecken, und ich ging ihr automatisch hinterher. »Bente, ich …« »Nein! Kommen Sie nicht näher! Bleiben Sie stehen!« Ihre Stimme war schrill, ihre Halsmuskeln waren gespannt, und sogar im Dunkeln konnte ich die roten Flecken in ihrem Gesicht erkennen. Dann drehte sie sich abrupt um und lief davon, zuerst zum Schlagbaum und dann den Weg zurück bergab. Einen Augenblick stand ich wie gelähmt. Dann lief ich hinter ihr her. Aber ich versuchte nicht, sie aufzuhalten oder einzuholen. Sie sah sich immer wieder verschreckt über die Schulter nach mir um, und ich wollte den Abstand halten, um ihr zu
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zeigen, dass ich ihr nichts tun wollte, dass ich immer noch ganz einfach auf sie aufpasste. Ich folgte ihr den ganzen Munkebottsveien hinunter. Unten im Helleveien versuchte ich, mich ihr zu nähern. Es waren Menschen um uns herum, und sie hatte keinen Grund mehr, Angst zu haben. Aber ich erreichte sie nicht rechtzeitig. Sie hielt ein leeres Taxi an, sagte dem Fahrer ein paar Worte, um dann im Abendverkehr in Richtung Zentrum zu verschwinden. Ich sah sie erst eine Woche später wieder, auf einem Zeitungsfoto mit der Überschrift: JUNGE FRAU VERMISST.
5 Der Artikel gab nicht viel her. Sie wurde seit Montagnachmittag vermisst. Ihre Eltern in Rosendal hatten seit über einer Woche nichts mehr von ihr gehört, und sie war am Dienstagmorgen nicht zur Arbeit erschienen. Ihre Hauswirtin hatte angeblich seit Sonntagabend nichts mehr von ihr bemerkt. Bente Laubfall war bei ihren Arbeitskollegen beliebt, und niemand hatte bemerkt, dass sie in der letzten Zeit besonders deprimiert oder unruhig gewesen war. Es gab nicht den geringsten Verdacht, dass sie irgendeine Gesetzwidrigkeit begangen haben könnte. Wer irgendwelche Informationen über Bente Laubfalls Verbleib hatte, wurde gebeten, sich an das Bergenser Polizeipräsidium oder die nächste Polizeidienststelle zu wenden. Ich folgte der Aufforderung und rief im Polizeipräsidium an. Ich fragte nach Vadheim, der sich prompt mit leiser Stimme meldete: »Veum?« »Ja. Es geht um diese Frau, die heute als vermisst in der Zeitung steht. Bente Laubfall.« Er klang sofort viel interessierter. »Ja? Weißt du etwas darüber?« 24
»Vielleicht.« Ich erzählte ihm kurz von meinen beiden Exkursionen mit Bente Laubfall nach Munkebotn. Am anderen Ende der Leitung stieß Vadheim einen langen und anerkennenden Pfiff aus. »Erpressung? Das ist ja interessant, Veum. Sehr interessant. Und seitdem hast du nichts mehr von ihr gehört?« »Nein. Aber ich würde euch schon raten, Munkebotn ganz besonders gründlich abzusuchen.« »Natürlich. – Hast du noch was zu erzählen? Wie hat sie auf dich gewirkt?« Ich dachte nach. »Vielleicht ein bisschen nervös, was kein Wunder war. Aber sonst nichts Besonderes – überhaupt nichts. Sie kam ja aus dem gleichen Ort wie du. Aber sie hatte noch nie von dir gehört.« Ich hörte ihn milde schmunzeln. »Tja, dann … Danke für deinen Anruf. Sollte dir noch etwas einfallen, oder solltest du von ihr hören, dann vergiss unsere Telefonnummer nicht.« »Wie könnte ich die vergessen?« Wir lachten beide leise in den Hörer. Dann legten wir auf und ich blieb mit der aufgeschlagenen Zeitung auf dem Schoß sitzen. Bente Laubfall starrte mich von dem eierschalfarbenen Papier an. Fast vorwurfsvoll. Weil ich nicht da gewesen war, als sie mich wirklich brauchte. »Aber du hast mich nicht gefragt, Bente«, sagte ich leise zu dem stummen Foto. »Du hast mir nicht Bescheid gesagt.« Ich blieb sitzen und sah eine Weile aus dem Fenster. Der September ist einer der wichtigsten Wendepunkte im Jahr. Im September stirbt der Sommer endgültig und wird zum Herbst. Alles ist unwiederbringlich vorbei und der Winter steht vor der Tür. Vielleicht galt das auch für Bente Laubfall? Tod und Unwiederbringlichkeit.
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Der September war mit Sommerwärme angetreten, hatte dann eine Periode mit Regen durchlaufen, und jetzt war der Himmel wieder klar. Aber das klare Wetter trug keine sterbende Sommerseele mehr in sich. Es hatte ein dünnes, kaltes Herz aus Kristall. Der Himmel war von einem klareren Blau. Das Laub an den Fjellhängen hatte offene Wunden. Bald würde der Oktober an die Türen klopfen und seinen Tribut einfordern. So geht das Leben an uns vorbei. Zwei Dinge kann man niemals aufhalten: die Jahreszeiten und den Lauf des Lebens. Ich fragte mich, wo Bente Laubfall sein mochte. Lag sie tot irgendwo unter dem Herbstlaub? Als letzte Rose des Sommers? Hatte jemand beobachtet, dass ich sie an den beiden Abenden begleitet hatte und beschlossen, einen abrupten und endgültigen Schlussstrich zu ziehen? Oder war sie irgendwo in Deckung gegangen, vor uns allen? Lag sie irgendwo im Dunkeln, mit klopfendem Herzen und stockendem Atem, zurückgezogen und verschlossen, voller Angst vor der geringsten Berührung … Ich dachte an Rosendal, den kleinen Ort am Hardangerfjord, im Schatten des mächtigen Melderskin. Es war ein enges Tal. Na und? Man hatte schon Schlimmeres überlebt als eine Kindheit und Jugend in Rosendal. Vegard Vadheim war mit den gleichen Voraussetzungen gut zurecht gekommen. Vielleicht gab es auch keine einfach Erklärung dafür, dass sie die wurde, die sie wurde. Es gab nur eine junge Frau, die vermisst wurde, 27 Jahre alt, blond und schön, aber satt von Küssen. Verschwunden.
6 Die Frau, die mich zwei Tage später anrief, hatte eine tiefe, etwas raue Stimme, als hätte sie eine leichte Stimmbandinfektion. »Spreche ich mit Varg Veum?« 26
»Sie sprechen, er hört zu.« »Es geht um Bente.« Ich verstummte. »Bente Laubfall«, wiederholte sie nachdrücklich. »Aha«, sagte ich. »Und um was genau geht es?« »Ich muss mit Ihnen reden. Ich habe etwas für Sie.« »Ach ja?« Ich zögerte. »Hören Sie, das hier ist ein Fall für die Polizei, und wenn Sie irgendetwas über ihr Verschwinden wissen, dann sollten Sie sich an …« »Ich geh nicht zu den Bullen!«, zischte sie durch die Leitung. »Außerdem ist das hier eine – äh – Privatangelegenheit.« »Na gut. Wann können wir uns treffen – und wo?« »Ich komme jedenfalls nicht in Ihr Büro und Sie können nicht hierher kommen.« Sie klang ausgesprochen kontaktfreudig. Ich sagte kühl: »Es gibt eine respektable Cafeteria im ersten Stock dieses Gebäudes, also wenn es Ihnen genehm wäre …« »Es gibt keinen Grund unhöflich zu werden. Woran erkenne ich Sie?« »An meinem dämlichen Gesichtsausdruck.« »Im Ernst!« »Wann können Sie dort sein?« »Gegen drei Uhr.« »Okay. Ich komme genau um fünf Minuten nach drei zur Tür herein. Geben Sie mir einen diskreten Wink. Ich werde versuchen, nicht über Sie herzufallen. Jedenfalls nicht dort.« »Wenn Sie glauben, ich tu das hier zu meinem Vergnügen, dann …« »Vergnügen ist genau das richtige Stichwort. Wir denken offensichtlich in dieselbe Richtung.«
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»Mit sowas macht man keine Witze. Kommen Sie einfach. Und zwar pünktlich!« Sie knallte den Hörer auf. Hinterher tat es mir Leid. Sie hatte Recht. Über sowas macht man keine Witze. Aber es gibt Stimmen, die den Teufel in mir heraufbeschwören. Und Bogart und Belmondo waren immer sehr erfolgreich, wenn sie die Frauen so behandelten. Aber Frauen waren verschieden. Und wenn ich es mir recht überlegte, dann gab es wohl auch einen klitzekleinen Unterschied zwischen mir und Bogart und Belmondo.
7 Als sie mir genau um fünf nach drei einen diskreten Wink ab, war ich froh, dass ich sie nicht gebeten hatte, mich irgendwo in der Öffentlichkeit zu einer Tasse Kaffee zu treffen. Wenn jemand gesehen hätte, wie sie mein Büro verließ, hätte er geglaubt, ich hätte die Branche gewechselt. Sie gehört zu dem Typ Frau, der chronisch herausfordernd wirkt. Ihr Aussehen passte zu ihrer Stimme. Ich setzte mich vorsichtig auf einen Stuhl ihr gegenüber, klammerte mich an eine weiße Tasse mit schwarzem Kaffee und versuchte, nicht allzu verängstigt auszusehen. Ihre Augen waren rotbraun. Ihr Haar hatte dieselbe Farbe, allerdings unecht, und ihre Lippen waren dunkelrot. Sie hatte schmale, feste Lippen von der besonderen Art. Sie war so ungefähr das absolute Gegenteil von Bente Laubfall. Stark geschminkt, aber nicht ohne Talent. Die Augen schwarz umrahmt, die Konturen des Mundes erweitert, die blassfahle Haut blassbraun getönt. Sie trug eine zottelige graubraune Kaninchenfelljacke, die ihr nur bis zur Taille reichte. Darunter trug sie einen weißen Pullover, der genau eine Nummer zu klein war, und was die Tischkante verbarg, war ich froh, 28
nicht sehen zu können. Viel weniger hätte gereicht, damit einem die Karten aus der Hand fielen. Vor ihr stand eine Tasse Kaffee. Auf dem Stuhl neben ihr lag eine dunkelrote Handtasche, und daraus hervor ragte ein großer, hellbrauner Umschlag. Sie zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch sehr rücksichtsvoll in mein Gesicht. Dann ließ sie ihre Zunge behäbig an der Innenseite ihrer Lippen entlang wandern, als würde sie sich den Mund reinigen, bevor sie meinen ekligen Namen aussprach: »Veum?« Ich hob zum Gruß meine Kaffeetasse. »Und mit wem habe ich das Vergnügen?« Sie sog den Rauch so tief es nur ging in ihre Lungen. »Nennen Sie mich Lise. Das reicht.« »Aso, was wollen Sie von mir … Lise?« Sie starrte mich forschend an, als wollte sie herausfinden, wie verlässlich ich war. Ich konnte sie noch immer nicht mit Bente Laubfall in Zusammenhang bringen. Sie arbeitete sicherlich nicht bei der Bank – mit der Kriegsbemalung. »Ich kannte Bente. Vor ein paar Wochen gab sie mir einen Umschlag mit … Ich musste ihr versprechen, wenn ihr etwas passieren sollte, Ihnen den Umschlag zu geben, mit der dringenden Bitte, ihn an niemanden anders weiterzugeben. Und auf keinen Fall an die Polizei.« Ich betrachtete ihre Nägel. Sie waren sehr lang und ebenso rot wie ihr Mund. Ich sagte: »Hat sie es genau so ausgedrückt? Wenn ihr etwas passieren sollte, und auf keinen Fall an die Polizei?« Sie nickte. »Genau so hat sie es gesagt, Buster.« »Buster?« »Buster.«
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Ich beugte mich über den Tisch und schaltete wieder den Bogart-Belmondo-Ton ein. »Hören Sie mal, Sie Dame, wenn Sie hergekommen sind, um …« »He, Tarzan, bevor du dich aufregst. Bist du wirklich so ein – Privatdetektiv?« Ich beschloss, mit einer Frage zu antworten, auf die ich die Antwort schon wusste. »Wo haben Sie den Umschlag?« Sie antwortete nicht sofort, sondern warf erst einen Blick auf die Tasche. »Hier.« »Ich gebe Ihnen einen Rat. Gehen Sie zur Polizei damit.« »Zu den Bullen? Nie im Leben! Ich hab Ihnen erzählt, was sie gesagt hat: Gib ihn Veum, unter der Bedingung, dass er den Inhalt nicht der Polizei zeigt, oder verbrenn ihn!« »Oder verbrenn ihn?« »Genau, Sie Schlauberger. Also entweder nehmen Sie ihn – und versprechen, dass Sie damit nicht zur Polizei gehen –, oder ich nehm ihn wieder mit nach Hause und werfe ihn in den Kamin. Und dann werden Sie niemals sehen, was drin ist. Sie haben die Wahl.« Ich brauchte nicht lange, um mich zu entscheiden. »Geben Sie her.« Sie sah mich abwartend an. »Versprechen Sie’s?« Ich seufzte. »Ich verspreche es. Was wollen Sie noch? Meine Ehre, Pfadfinderblut?« »Ach, halten Sie doch die Schnauze!« Sie zog den Umschlag aus der Tasche und warf ihn auf den Tisch. Ich legte die Hand darauf und zog ihn zu mir herüber. Dann steckte ich einen Finger in die Öffnung, aber sie ließ mich mit einer abrupten Bewegung innehalten. »Nicht hier!« Sie sah sich um, als hätte sie mir streng geheime Dokumente übergeben. »Okay.« Ich betrachtete den Umschlag und fragte mich, was er wohl enthielt, das man in einer Cafeteria nicht zeigen durfte. Ich 30
fuhr fort: »Wo kann ich Sie finden, für den Fall, dass ich noch Informationen brauche?« Sie sah mich kalt an. »Sie brauchen keine weiteren Informationen, und Sie können mich nicht finden, nirgends.« »Aber … Hören Sie, wissen Sie vielleicht mehr – von Bente?« »Gar nichts. Sie hat mich nur gebeten, ihr einen Gefallen zu tun, sozusagen.« »Aber woher kennen Sie sie denn?« »Ich glaube, das kann Ihnen scheißegal sein, Vetter Anton!« »Ich glaube, Sie haben meinen Namen nicht ganz verstanden …« »Ich hab ihn verdammt gut verstanden.« Sie stand auf. »Wenn Sie sonst noch was wollen, dann springen Sie doch ins Klo.« »Finde ich Sie da?«, fragte ich. Sie sah mich eine Sekunde lang wütend an, dann drehte sie sich um und ging zielstrebig in Richtung Tür. Was sie unter dem Kaninchenpelz trug war ein terracottafarbener Rock, und außerdem lange, schöne Beine in schwarzbraunen Strümpfen. Da saß ich nun, mit meiner Kaffeetasse und dem großen Umschlag. Nachdem die Tasse leer war, nahm ich den Umschlag mit in den dritten Stock, schloss die Tür zu meinem Büro auf und setzte mich hinter dem Schreibtisch zurecht.
8 Die Bilder waren in gewisser Weise chronologisch geordnet. Die obersten waren die hübschesten, aber auch die hätte man wohl kaum im Stavanger Folkeblad veröffentlichen können. Ich hatte Bente Laubfall als schöne, junge Frau in Erinnerung, blond und natürlich, mit einer leichten, hellen, unschuldigen Ausstrahlung, die es leicht machte, sich in sie zu verlieben. 31
Sie war immer noch jung, schön und blond, und zwar überall. Aber was die Unschuld betraf, so war ich mir nicht mehr so sicher. Auf den ersten Bildern war sie allein, nicht einmal in Gesellschaft eines einzigen Kleidungsstücks. Sie saß hintenüber gelehnt, mit gespreizten Beinen und stellte all ihre Sehenswürdigkeiten zur Schau. Ihre Brüste waren klein und, wenn sie auf dem Rücken lag, fast ganz flach. Nur die Brustwarzen ragten hervor – hellbraun und jungmädchenhaft. Ihr nacktes Geschlecht war von einem schmalen Kranz heller Haare umgeben, und in der Mitte leuchtete es rot und einladend. In dem Tunnel war es leicht, sich zu verirren. Sie lag auf einem zerknüllten Laken und hielt sich mit kräftigen Fingern an den Bettpfosten fest. Die Augen, die mir entgegenstarrten, waren blauschwarz vor Lust – oder von Drogen. Die Zunge in ihrem Mundwinkel sah sowohl verspielt als auch lüstern aus. Und das waren nur die ersten Bilder. Ich blätterte den Stapel durch. Auf den letzten Bildern war sie nicht mehr allein. Auf einigen war es regelrecht voll. Auf einem der Bilder, mitten in einem Wirrwarr aus Armen, Beinen und Geschlechtsteilen, konnte ich die Gesichtszüge des netten Fräulein Lise erkennen. Sie sah hier genauso herausfordernd aus – mit einem prallen Glied zwischen den Lippen. Auf einem der Bilder war Bente Laubfall allein mit einem Mann. Er hatte einen kurzgeschorenen Nacken, haarige, kräftige Schenkel und ein unanständiges kleines Haardreieck mitten auf dem Rücken. Er lag in einem gespannten Bogen über ihr und sah aus, als sei er zwischen ihren weißen, gespreizten Schenkeln ganz auf den Grund vorgestoßen. Ihr Gesicht war völlig offen und nackt – sie zeigte ihre Backenzähne, die Zunge lag gespannt am Gaumen, ihre Nasenlöcher waren geweitet, alles war offen … 32
Ich legte die Bilder auf den Tisch und merkte, wie meine Finger zitterten. Dann öffnete ich die untere Schreibtischschublade. Ich hatte die Büroflasche lange nicht gebraucht, und sie war noch fast voll. Der brennende Aquavit ging mir runter wie Wasser. Hinterher sah ich die Bilder noch einmal durch. Ich versuchte, Bente nicht so genau zu betrachten, konzentrierte mich auf Details am Rande des Geschehens, eventuelle Möglichkeiten, die Mitwirkenden zu identifizieren oder am liebsten sogar den Fotografen. Natürlich stand nichts auf der Rückseite der Fotos. Die einzigen, die zu erkennen waren, waren die Frau, die sich nur Lise genannt hatte, Bente Laubfall selbst und der Mann mit dem behaarten Rücken. Aber ich hatte nicht viele Möglichkeiten, das Kreuz anderer Männer zu studieren. Also … Die Fotos mussten in Bergen aufgenommen worden sein, und es war nicht mehr schwer zu verstehen, warum Bente Laubfall erpresst worden war. Diese Bilder waren eine wichtige Spur – oder wichtige Indizien. Sie gehörten eindeutig in die Hände der Polizei. Aber ich hatte versprochen … Konnte ich mit Vadheim eine Vereinbarung treffen? Wohl kaum. Sollte ich mir selbst eine Frist setzen und erst dann, wenn ich nichts herausfand, mit den Fotos zur Polizei gehen? Ich gab mir eine Frist von vierundzwanzig Stunden und sah auf die Uhr. Es war 16 Uhr 15, Donnerstagnachmittag. Mir blieb ein ganzer Tag. Aber irgendwo musste ich anfangen. Die Frage war nur: Wo?
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9 Ich griff nach dem Telefonhörer. Wenn ich Glück hatte, dann erreichte ich Paul Finckel immer noch bei der Zeitung. Ich hatte Glück. Seine rostige Stimme deutete darauf hin, dass er seinen Arbeitstag relativ spät begonnen hatte. Die Begeisterung in seinem Tonfall, als er meine Stimme hörte, hielt sich ziemlich in Grenzen. »Du bist doch ein anerkannter Pornograph, Paul«, sagte ich ohne Umschweife. »Was meinst du damit?«, fragte er und versuchte, beleidigt zu klingen. »Ich meine … du weißt doch ungefähr, was so abgeht, oder?« »Es geht ziemlich viel ab, wenn man es richtig anpackt.« »Genau.« Nach einer kleinen Pause fuhr ich fort: »Ich habe hier eine kleine Fotosammlung.« »Ach ja?« Seine Stimme verriet aufkeimendes Interesse. »Sind sie gut?« »Das kommt auf den Blickwinkel an.« »Sind Sie dreidimensional?« »Nicht ganz. Wer macht solche Bilder – hier in der Stadt?« Jetzt war sein Interesse unüberhörbar. »Sind das Bilder aus Bergen?! Ist jemand Bekanntes drauf?« »Du bist nicht ganz im Fokus, aber …« »Hahaha. Ich meine es ernst, Varg!« »Ehrlich gesagt, Paul: Gesichter sind nicht so viele zu sehen.« »Kann ich sie mir ansehen?« Ich antwortete nicht sofort. »Darüber ließe sich wohl reden. Aber – wer könnte der Fotograf sein?« 34
»Vielleicht – wenn ich die Bilder sehen würde …« »Hör zu – ich hab es im Moment zu eilig. Es ist ein ziemlich ernster Fall. Kannst du mir nicht einen Tipp geben, wer hier in der Stadt sowas macht?« »Luske-Lars«, antwortete er leise. »Luske-Lars?« »Er hat jedenfalls schon mal deswegen gesessen. Und ist längst wieder draußen.« »Aha. Ist er nach wie vor im Geschäft?« »Den Gerüchten nach, ja.« »Wie heißt er weiter?« Er nannte mir einen Nachnamen. »Hat er eine Art – Atelier?« »Nein. Er arbeitet sozusagen auf Freelance-Basis. Tut mir Leid, das sagen zu müssen, aber er hat seinerzeit bei der Presse angefangen. Ich würde es mit seiner Privatadresse versuchen, wenn ich du wäre.« »Wo ist das?« »Das weiß ich nicht. Aber ein Telefonbuch wirst du doch wohl haben, oder?« »Klar. Dann vielen Dank für …« »Diese Fotos, Varg …« »Herzlichen Dank!«, sagte ich und legte auf. Er war ein hilfreicher Kontakt. Vielleicht würde ich ihm irgendwann tatsächlich eine Auswahl der Fotos zeigen, des guten Kontakts zuliebe. Jetzt griff ich nach dem Telefonbuch. Luske-Lars hatte einen sehr seltenen Nachnamen, und ich fand tatsächlich seinen Eintrag. Als Beruf hatte er Designer angegeben, und das konnte vieles bedeuten. Seine Privatadresse war jedenfalls nicht 35
sonderlich mondän: Ein Haus in der Verftsgaten, auf der Puddefjordseite von Nordnes. »Hallo«, sagte eine brüske Männerstimme. »Ist da die Handarbeitsabteilung?«, fragte ich. »Zur Hölle!« »Oh, dann habe ich mich wohl verwählt«, sagte ich entschuldigend und legte auf.
10 Das Treppenhaus war dunkel. Der Lampe an der Decke fehlten Birne und Schirm. Nur die Fassung gähnte mich an, wie der zahnlose Mund eines Totenschädels. Luske-Lars’ Wohnung lag im ersten Stock. Jedenfalls stand sein Name an einer braunen Tür, die unten sehr brüchig aussah. Sie war mit einem doppelten Schloss gesichert und hatte kein Fenster. Ich klingelte. Es vergingen ein paar Sekunden, dann hörte ich Schritte. Die Tür wurde einen Spalt geöffnet und ein misstrauisches Gesicht sah mir entgegen. »Was wollen Sie?« Es war ein knorriges Gesicht mit etwas zu großen Augen, schlaffen, weichen Lippen und über den Ohren kurz geschnittenem Haar. Der Teint war schmutzigbleich, und der Rest war auch nicht sonderlich farbenfroh gekleidet. »Ich kaufe«, sagte ich kryptisch. »Und was?« Ich versuchte, viel sagend dreinzuschauen. Natürlich hätte ich meinen Mantel öffnen und mich outen können, aber ich blieb wie ich war. Statt dessen sagte ich: »Sie wissen schon.«
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»Ich glaube, Sie sind im falschen Stockwerk gelandet, oder im falschen Haus, oder in der falschen Strasse.« »Wenn Sie so weitermachen, dann landen Sie bald im falschen Universum.« Er wollte die Tür schließen, aber ich hatte schon einen Fuß in den Spalt geschoben. Er sah wütend zu mir auf. »Nehmen Sie den Fuß zurück!« Ich hatte die Lage genau abgeschätzt. Er war ungefähr 1,75 in groß, schmal und nicht besonders muskulös. Ich brauchte nicht viel mehr als mein normales Körpergewicht anzuwenden, um seine Tür aufzudrücken und in seinen Flur zu gelangen. Schon war ich drinnen und beobachtete seine Reaktion. Kleine Männer sind dafür bekannt, dass sie gern Messer benutzen. Aber vielleicht war er auf so etwas nicht vorbereitet gewesen. Seine Augen waren gelbbraun, und er bellte: »Was zum Teufel soll das? Na los, was kaufen Sie? Ich hab da so meine Verbindungen …« »Zur Polizei?« Sein Gesicht verhärtete sich. »Die Polizei wird Ihnen nicht eines dunklen Abends die Arme brechen.« »Sicher nicht?«, sagte ich leichthin, packte seinen grauschwarzen Pullover, legte meinen Unterarm unter sein Kinn und presste ihn an die schimmelige Tapete. »Ich hab dir ein paar Fragen zu stellen, Lars. Und es ist besser für dich, wenn du sie beantwortest. Wenn nicht, dann fahren wir beide direkt zur …« »Wir fahren zur Hölle, stimmts?«, fragte er. »Zur Handarbeitsabteilung«, sagte ich, stieß ihn herum und schubste ihn auf eine halb offene Tür zu. Er stolperte vor mir her, aber ohne lautstarke Proteste. Ich blieb dicht hinter ihm, immer auf Überraschungen gefasst. Wir kamen in einen Raum mit weißen, aber nicht ganz sauberen Wänden. In einer Ecke standen ein paar Scheinwerferstative. 37
Auf einem Tisch lagen etliche Objektive und ein Belichtungsmesser, in einem Regal eine Auswahl von Fotozeitschriften und drei Kameras. Es roch nach selbst gedrehten Zigaretten und Chemikalien. Eine weitere Tür führt in ein Nebenzimmer, in dem es sehr dunkel war, aber ich erkannte eine Wanne mit Entwickler und eine blau bemalte Glühbirne an der Wand darüber. An dem kleinen Tisch standen zwei schäbige Sessel und ich schubste Luske-Lars auf den einen, während ich selbst vor ihm stehen blieb. Dann holte ich den Umschlag mit den Fotos von Bente Laubfall hervor. Er starrte darauf und leckte sich die trockenen Lippen. Er hatte einen Stoppelbart und einen schmalen, braunen, undefinierbaren Rand im einen Mundwinkel. Ich zeigte ihm die Bilder nur ungern – da er sie ja möglicherweise noch nie gesehen hatte. »Ziemlich still hier heute, was Lars?« Er antwortete nicht. »Schon lange keine Fotoserien mehr arrangiert?« »Ich fotografiere nur auf Bestellung«, antwortete er unwillig. »Und was? – Brautpaare oder Babys? Oder vielleicht eher das genau dazwischen?« Er schielte zu mir hoch. »Sie sind kein Bulle, also was zum Teufel wollen Sie?« Ich warf ihm ein paar von den Bildern hin, und er griff neugierig danach. Dann erlosch sein Interesse. Er kannte sie schon. »Interessiere mich nicht für sowas.« »Dass ich nicht lache! Du hast sie doch selbst gemacht, oder?« »Tja. Kannst du das beweisen?« Er sah mich trotzig an. »Beweisen? Weißt du was? Ich nehm dich mit in deine Dunkelkammer, tauche deinen Kopf in den Entwickler, und zwar so lange, bis du nicht mehr zappelst! Es sei denn, du machst jetzt den Mund auf!« 38
Er sah mich mit müden Augen an. »Was regst du dich eigentlich so auf? Ist das da etwa deine Tochter?« Er hätte wenigstens so freundlich sein und Verlobte sagen können. Ich beschloss, jetzt endgültig auch nicht mehr freundlich zu sein und trat ihm hart gegen das Schienbein. Er zog sein Bein zurück und bekam rote Flecken im Gesicht. »Scheiße, Mann!« »Hör zu, Lars. Letzte Chance. Ich schlag hier alles kurz und klein – deine teuren Kameras da drüben eingeschlossen. Und dann geh ich in deine Dunkelkammer und …« »Das sagtest du schon! Immer mit der Ruhe. Ist mir doch scheißegal. Also gut, dann hab ich eben die Fotos gemacht. Das ist nicht verboten. Das Mädchen war willig wie ’ne läufige Hündin.« »Und wer – oder was – hatte sie so willig gemacht? Sie werden diese Bilder mit Handkuss nehmen, drüben im Präsidium, Lars.« »Ist mir doch … Sie hatten sie an einem Abend mit. Solche Serien bringen Geld. Im Ausland. Sie schicken sie immer ins Ausland – aus Rücksicht auf die Mädels.« »Wie rücksichtsvoll«, sagte ich. »Und warum hab ich sie dann gekriegt?« Er zuckte mit den Schultern. »Ist mir doch …« »Danke, ich habe schon bemerkt, dass du nur über einen begrenzten Wortschatz verfügst, Lars. Wer sind die, von denen du eben sprachst?« »Die – irgendwer?« »Sehr informativ. Nun komm schon.« Er war blasser geworden. Ein dünner Schweißfilm lag auf seiner Oberlippe. Er bewegte sich unruhig.
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Ich trat ihm hart gegen das andere Schienbein. »Komm schon!« »Du – du – sagst nicht, dass ich es war, der …« Ich zeichnete ein symbolisches Kreuz über meinen Mund. »Nein.« Dann trat ich ihm gegen ein Knie. »Scheiße, hör auf mich zu treten. Ich sag doch, dass ich …« »Spuck es endlich aus, Lars. Je eher du redest, desto eher gehe ich wieder.« »Koko-Peder!« Ich trat ihm gegen das andere Knie. »Wie bitte?« »Koko-Peder, zum Henker nochmal, du verdammtes Arschloch!« Er war jetzt halb aus dem Sessel hochgekommen, aber ich stieß ihn heftig wieder runter. »Er …« »Ich weiß selbst, wer Koko-Peder ist«, unterbrach ich ihn. »Und ich weiß, wo ich ihn finden kann. Witzige Namen habt ihr. Luske-Lars und Koko-Peder. Erzähl mir von ihr.« Ich nickte zu den Fotos hin und sammelte sie dann wieder von dem Tisch auf, wohin er sie geworfen hatte. »Sie – ich kenne sie nicht. Sie war nur einmal mit. Sie war total benebelt, das stimmt. Aber kein Ärger, folgsam wie ein Lamm. Wir haben es ihr sowohl …« Er musste etwas in meinem Blick gesehen haben, denn er biss sich auf die Lippen. »Und was ist mit – Lise?« Er entblößte die Zähne zu einem lockeren Lächeln. »Lise – gehört zu den Veteraninnen. Es gibt nichts …« »Danke«, sagte ich. »Schon gut.« Ich legte die Fotos wieder in den Umschlag. »Das war alles. Für heute. Und komm nicht auf die Idee, Koko-Peder zu erzählen, dass ich hier war. Er wird kaum besonders begeistert sein zu erfahren, dass du gesungen hast.« 40
Auf dem Weg nach draußen trat ich gegen ein paar Stative. Sie klirrten eine Weile gegeneinander. Luske-Lars saß bewegunglos so lange ich meinen Blick auf ihn gerichtet hatte. Ich schlug die Tür hart hinter mir zu, damit er wusste, dass ich gegangen war. Es war 17 Uhr 25. Ich hatte viel geschafft in einer Stunde. Jetzt war mir vieles klarer.
11 Koko-Peder war unter diesem Namen schon seit dem Anfang seiner Karriere bekannt, als er sich hauptsächlich mit Spirituosen-Schwarzhandel beschäftigt hatte. Später war er dazu übergegangen, lebende Ware zu verkaufen: Weißes Fleisch in delikater Verpackung. Er dirigierte seinen Handel von einem festen Ecktisch in einem der Restaurants eines der besten Hotels der Stadt aus und hatte sich vom Zuhälter in den Hauseingängen am Strandkai zu einem etablierten und gut organisierten Geschäftsmann hochgearbeitet, dessen einziges Problem war, seine Bankkonten auseinander zu halten. Ich bestellte mir an der Bar ein Bier und setzte mich zu ihm an den Tisch. Seine Augen glitzerten vor Menschenverachtung, die er zu seiner Lebensgrundlage gemacht hatte. Er schien sich nicht besonders zu freuen, mich zu sehen. Er kannte mich noch aus der Zeit, als ich beim Jugendamt gearbeitet hatte. Schon damals waren wir uns darüber in die Haare geraten, was man mit jungen Mädchen tun konnte, und was nicht – und dabei ging es wohlgemerkt um meine Klientinnen. »Wer hat dich gebeten, dich hier hinzusetzen, Veum?«, fauchte er. »Ich könnte dich in dem Bierglas ersäufen, wenn ich wollte.« »Du könntest dir dabei den Arm brechen«, antwortete ich. Er entblößte seine Zähne. »Und wo hast du deine coolen Sprüche gelernt?« 41
»Meine Mutter hat mir, als ich klein war, immer aus Grimms Märchen vorgelesen.« Koko-Peder hatte ein fleischiges, unappetitliches Gesicht. Seit ich ihn zuletzt gesehen hatte, war er noch fülliger geworden, aber das meiste war geballte Kraft. Eine Aura von Brutalität und Gewalt umgab ihn, die sogar den Teufel eingeschüchtert hätte, und den kleinen Veum erst recht. Seine großen, schweren Pranken lagen auf dem Tisch, seine breiten Schultern kamen mir drohend entgegen, als sei er drauf und dran aufzustehen, und seine dunklen Augen versprachen nichts Gutes. Aber die Jahre des Erfolgs hatten ihm zu einer reifen Selbstsicherheit verholfen, die nicht nur in seiner betont lässigen Eleganz zum Ausdruck kam – leichter Anzug, modebewusstes Hemd und Schlips –, sondern auch in einer gewissen Zähmung seines früher ungestümen Temperaments. Als er dieses das letzte Mal aus dem Sack gelassen hatte, war er für achtzehn Monate im Bau gelandet. Das hatte ihn gelehrt, ruhiger zu werden. Deshalb nippte er ein wenig an seinem Bier, schleckte sich bedächtig die Lippen, strich mit einer klobigen Hand durch sein gut geschnittenes, braungelbes Haar und fragte höhnisch: »Was kann ich dir anbieten, Veum? Du stehst wahrscheinlich eher auf Blondinen, oder?« »Dieses Jahr nicht«, sagte ich. »Und wenn, dann jedenfalls nur auf eine.« »Aha? Sollte ich die etwa kennen?« Ich ließ meinen Blick auf ihm ruhen. Seine Gesichtshaut war um Mund und Kinn herum rötlich, als würde sie sein Rasierwasser nicht vertragen. Kein Wunder, es stank nach Lavendel. »Bente Laubfall«, sagte ich ganz locker und achtete dabei genau auf jede seiner Regungen. Es zuckte kurz und kaum sichtbar in seinem Gesicht, aber dann erstarrte es wieder, wie eine Wachsmaske, die unter Hitzeeinwirkung nur zum Teil geschmolzen ist. »Kenn ich 42
nicht«, sagte er, schob die Unterlippe vor und betrachtete mich mit leeren Augen. Ein wenig zu leer. Er war kein guter Schauspieler. »Ach, nein?«, fragte ich säuerlich. »Warum lief sie dann mit Fotos von dir in der Gegend herum?« Er setzte sich abrupt auf, die Handflächen auf dem Tisch. Wieder schien es so, als wolle er sich erheben. »Was für Fotos?« »Fotos …«, sagte ich bewusst zögernd. »Es gibt verdammt nochmal keine Fotos von mir und …« Ich hatte es richtig angefangen. Er war sofort aufs Glatteis gelaufen. »Nein? Du benutzt sie nur?« »Wieso benutzen?« »Eines Tages kriegst du die Rechnung, Peder. Eines Tages sitzt du selbst im Scheinwerferlicht ohne Schlips …« Er schwitzte. »Hör mal, Veum. Mich kannst du nicht verarschen …« »Verarschen? Das ist die Wahrheit, Peder – die Wahrheit und das Ende. Es sei denn, du willigst in einen Handel ein.« »Ich bring diesen verdammten Fotografen um!« »Tu das lieber nicht. Es wüsste sofort jeder, wer es getan hat. Wenn sie die Bilder zu sehen bekämen.« »Veum – ich bring dich um!« »Das haben schon andere vor dir versucht. Und ich lauf immer noch herum.« Er starrte mich wütend an. »Na los, Veum.« Er klopfte sich auf die ausgebeulte Jackentasche, wie um sich zu versichern, dass sein Scheckheft nicht davongelaufen war. »Worum geht es bei dem Handel?« »Wie ich schon sagte … um Bente Laubfall.« »Sie ist nicht verkäuflich. Oder besser gesagt: sie gehört nicht zum Stall.« 43
»Nein, aber wo …« »Woher zum Teufel soll ich denn das wissen?« »Du hast sie erpresst.« »Erpresst?« Er sah aufrichtig erstaunt aus. Dann hob er seine kräftigen Arme. »Seh ich aus wie jemand, der es nötig hat, irgendwen zu erpressen? Ich krieg das Geld, das ich brauche, auf viel friedlichere Weise.« »Du siehst aus wie ein fettes Schwein, das sich in dem Dreck suhlt, in dem es lebt. Und dir ist alles zuzutrauen. Ich kenne dich.« Er grinste fett. »Nun sei nicht so ein verdammter Moralist, Veum. Du hast dir ja die Freuden des Lebens nie gegönnt. Jugendamt und Teenagergelaber. Komm zum lieben Onkel!« Er beugte sich über den Tisch zu mir. »Ich werd dir mal was sagen – aus alter Bekanntschaft … ähäm – werde ich dir eine der Besten anbieten, die ich habe.« Er sah auf die Uhr. »In ungefähr einer halben Stunde. Ganz umsonst. Die kann dir noch was beibringen, Veum. Das Leben leichter zu nehmen, vielleicht. Auf Wolken zu gehen. In wunderbare Höhlen abzutauchen.« »Und deinen Mädchen geht es genauso?« »Sie verdienen gutes Geld.« »Und was sagt die Polizei?« »Die sagt gar nichts. Ich tue nichts Verbotenes. Organisierter Hostessen- und Modellservice. Was die Mädels in ihrer Freizeit machen, ist ihre Sache.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich kann mich noch an damals erinnern, als du auf dem Marktplatz Branntwein verkauft hast, Peder.« »Damals wärst du gern mein Kunde gewesen, meinst du?« »Wohl kaum. -Aber das mit diesen Fotos, das ist auf jeden Fall gegen das Gesetz.«
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»Sie im Ausland zu verkaufen? Japanische Zeitschriften sind ganz wild auf große Blondinen, Veum. Ansonsten sind sie ausschließlich für den Privatgebrauch bestimmt. Und auch das ist nicht verboten.« »Privatgebrauch? Wenn du sie als Erpressungsmittel verwendest?« Diesmal kam er tatsächlich von seinem Stuhl hoch und ruderte wie wild mit den Armen über mir herum. »Zum letzten Mal, Veum. Ich erpresse überhaupt niemanden. Und ich kenne diese Bente Laubfall nicht!« Er setzte sich schwer wieder hin. »Hör zu, Veum … Möglicherweise bist du irgendwie an Fotos gekommen, keine Ahnung wie. Ich habe mitgeholfen, einige solcher Fotoserien zu arrangieren, das geb ich zu. Die Mädchen haben nicht immer einen Namen. Es sind irgendwelche jungen Dinger, die wir in einer Diskothek oder in einem Restaurant aufsammeln: Mädchen, die was erleben wollen, die Spaß haben wollen.« »Spaß …«, wiederholte ich sarkastisch. »Dann füllen wir sie ein bisschen ab …« »Und womit? Stärkeren Sachen als Schnaps, dem Glanz in den Augen nach zu urteilen, jedenfalls.« »… und dann kommen sie am Ende oft mit zu einem Happening.« Ich schnaubte. »Und danach, was passiert dann?« »Willst du alle Details wissen, Veum?« Er grinste glatt. Ich sagte kühl: »Ich meinte die Tage danach, wenn die Fotos entwickelt sind.« »Ich sehe sie selten wieder.« »Die Fotos? Oder die Mädchen?« Ich ließ meinen Blick durch das Lokal wandern. Hinten an einem kleinen Tisch, nicht weit von der Bar, hatten sich zwei junge Frauen hingesetzt. Beide trugen sehr enge Blusen und sehr kurze Röcke. Die eine hatte 45
rotbraunes Haar und harte, zynische Züge, die sie hinter einer aufsteigenden Wolke blauen Zigarettenrauchs verbarg. Es war Lise. Sie sah nicht in unsere Richtung, aber ich ging davon aus, dass sie mich gesehen hatte. »Du hast sicher von Bente in der Zeitung gelesen. Sie ist verschwunden.« Er sah mich verbiestert an. »Ich kenne keine Bente, die verschwunden ist, Veum. Tut mir Leid. Weiter kommst du nicht. Und wenn du hier noch viel länger sitzen bleibst, dann werd ich irgendwas mit dir unternehmen. Ich kann dir ganz und gar nicht empfehlen, deine Nase in meine Angelegenheiten zu stecken, nicht eine Sekunde. Wie du dir sicher denken kannst, habe ich gewisse Verbindungen. Ich geb dir noch eine Chance. Mehr nicht. Wenn ich noch einmal zu hören kriege, dass du in meinem Dunstkreis herumschnüffelst, dann würd ich mich an deiner Stelle jedes Mal sehr vorsehen, wenn ich durch eine dunkle Straße gehe. Und ich würde mich auch nicht besonders sicher fühlen, wenn ich mich abends ins Bett lege. Ist das klar, Veum?« Ich stand auf. »Klar wie Kloßbrühe«, sagte ich, sah ihn kalt an, drehte mich und ging. Lise hatte Gesellschaft bekommen. Ein kleiner, dicklicher Kerl saß bei ihr und hatte eine freundliche Hand auf ihr knochiges Knie gelegt. Ich ging an ihrem Tisch vorbei, aber sie sah direkt durch mich hindurch, als sei ich Luft.
12 Am nächsten Vormittag parkte ich bei den obersten Häusern im Munkebottsveien und ging langsam durch Munkebotn hinauf. Das war natürlich sinnlos. Ich hatte keine Hoffnung, dort draußen Spuren zu finden, die die Polizei eventuell übersehen hatte. Trotzdem zog es mich dorthin, als ob die bewaldeten 46
Fjellhänge mir etwas über Bente Laubfall erzählen könnten: Eine heimliche Nachricht, etwas, das ich übersehen hatte. Ich wusste jetzt mehr über sie, als damals, als wir zusammen hier gewesen waren. Ich wusste, dass ihr jemand einmal zu viel zu trinken gegeben hatte, vielleicht noch ein paar Pillen dazu, und dass sie an einer Orgie beteiligt gewesen war – bei der jemand diese Fotos gemacht hatte. Ich wusste, dass derselbe Jemand – um ihn beim Namen zu nennen: Koko-Peder – diese Bilder benutzt hatte, um sie zu erpressen. Aber nicht wegen Geld, wie sie mir erzählt hatte, sondern wahrscheinlich, damit sie ihm diverse »Dienste« leistete. Das war ihr zu peinlich gewesen, um es mir direkt zu erzählen, aber ich ging davon aus, dass sie gehofft hatte, mit meiner Hilfe an diese Fotos zu kommen. Und dann war sie verschwunden. Warum? War es ihr sicherer erschienen unterzutauchen? War sie irgendwohin gefahren? – Mit der Polizeifahndung im Nacken würde sie nicht weit kommen, bevor jemand sie wiedererkannte. Oder hatte jemand anderes die Initiative ergriffen? Jemand, der sich plötzlich unter Druck fühlte. Wurde sie irgendwo versteckt gehalten? Oder war sie – tot? In dem Fall wäre sie kaum hier. Es gab viele Orte in Munkebotn, um eine Leiche zu verstecken, aber die Polizei würde sie wohl kennen. Was konnte ich noch tun? Es hatte keinen Sinn, zu der Bank zu gehen, bei der sie gearbeitet hatte. Sie hatten der Polizei schon alles Wichtige gesagt, und mit mir würden sie wahrscheinlich nicht einmal reden wollen. Es gab nur zwei Personen, die mich weiter auf ihre Spur bringen konnten. Die eine war Luske-Lars. Die andere war Lise. Ich beschloss, mit dem Fotografen anzufangen. Vielleicht hatte ich ihn beim letzten Mal nicht hart genug angefasst. 47
Schon an der Tür witterte ich Unheil. Eine unverschlossene Tür ist immer ein schlechtes Zeichen, und diese stand sogar einen Spalt weit offen. Als hätte es jemand eilig gehabt davonzukommen. Oder als bedeute es nichts mehr, ob die Tür offen oder verschlossen war. Das Fotoatelier war leer. Die Luft war stickig, als hätte lange niemand mehr die Fenster geöffnet. Ich sagte vorsichtig: »Hallo?« Aber ich erwartete keine Antwort. Und ich bekam auch keine. Die Tür zu dem kleinen Nebenraum war fest geschlossen. Ich klopfte an. Niemand bat mich herein, aber ich ließ mich auch gar nicht erst bitten. Es war im wahrsten Sinne des Wortes eine Dunkelkammer. Ich versuchte es mit einem Schalter, aber die bemalte Birne an der Decke funktionierte nicht. Trotzdem sah ich mehr als deutlich, was sich in dem Raum befand. Die Wanne mit dem Entwickler stand ungefähr mitten auf dem Tisch. In einer Schublade lagen Kartons mit Fotopapier. Über der Wanne hing eine Schnur mit Wäscheklammern. Aber dort hing nichts. An allen Wänden waren mit Heftzwecken Fotos befestigt. Es war nicht schwer zu erkennen, wer Luske-Lars’ Lieblingsmodell war. Auf ein paar Bildern hatte er nicht einmal Kleider an – und es waren keine Baby-Bilder. Aber er würde keine Selbstporträts mehr machen. Er hing kopfüber in der Wanne. Jemand hatte genau das mit ihm gemacht, was ich ihm angedroht hatte: seinen Kopf untergetaucht, bis er aufgehört hatte zu zappeln.
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13 Als ich das Restaurant betrat, sah ich, dass Koko-Peder seinen Stammplatz eingenommen hatte, aber von ihm wollte ich nichts. Jedenfalls noch nicht. Lise saß am selben Tisch, an dem ich sie zuletzt gesehen hatte. Sie war allein. Ich ging zu ihr, zog mir einen freien Stuhl heran, setzte mich mit dem Rücken zu Koko-Peder, sah ihr fest in die Augen und sagte: »Und jetzt hätte ich gern die ganze Wahrheit. Und zwar sofort.« Das einzige, was passierte, war, dass der Kellner kam. Ich bestellte ein Glas Orangensaft, und der Kellner schnaubte verächtlich. Er war zwar klein, aber schnauben konnte er gut. Lise trug Grün an diesem Tag. Ein sehr kurzes Kleid, das zwar ganz oben am Hals zusammengezurrt war, unterhalb des Halses – aber gerade noch oberhalb des Nabels – aber eine herausfordernde, birnenförmige Öffnung hatte. Zwischen ihren glänzend roten Lippen ragte auch diesmal eine lange, weiße Zigarette hervor, und sie blies den Rauch verächtlich in meine Richtung. »Was für eine Wahrheit, Kleiner?«, gurrte sie, liebenswürdig wie eine Fleischeraxt. »Die Wahrheit über Bente.« Ich hielt die Luft an und fügte hinzu: »Es gibt einen Toten, die Polizei ist schon am Tatort.« Eine Sekunde lang sah ich, wie ihre Pupillen sich weiteten. »Wo?«, fragte sie. »Bei Luske-Lars«, sagte ich. »Ist Luske-Lars …?« »Tot. Ermordet.« Sie war schon zu blass, um noch erblassen zu können. Aber ihre Gesichtshaut hatte plötzlich einen bläulichen Ton von zu frühem Tod. Diese Farbe hatte ich schon früher gesehen. Etwas hatte sie erschreckt. Etwas oder jemand. 49
»Es stehen bestimmt noch mehrere auf dieser Liste«, fügte ich hinzu, liebenswürdig, wie es nun mal meine Art war. »Li-Liste?« »Es ist offensichtlich, dass jemand versucht, seine Spuren zu verwischen. Jemand, der etwas mit Bente und ihrem Verschwinden zu tun hatte. Und du weißt auch etwas.« Sie schüttelte den Kopf, zögernd, als würde sie sich selbst nicht richtig glauben. »Wie haben sie dich rekrutiert? Auf dieselbe Weise?« »Auf dieselbe Weise wie Bente? Nein. Ich hatte es im Blut. Oder in meiner Umgebung, wenn du so willst. Ich kannte KokoPeder schon seit ich klein war. Er und meine Mutter …« »Und Bente …« »Das war keine ungewöhnliche Vorgehensweise. Sie haben die Mädchen irgendwo aufgegabelt. Studentinnen oder Schulmädchen oder – andere. Haben sie mit Stoff voll gepumpt und mit zu Luske-Lars genommen. Fotoserien mit ihnen gemacht, die sie dann zu verkaufen drohten. An Zeitschriften. Auch an norwegische. Du kannst es dir ja denken. Er konnte sie ganz schön unter Druck setzen. Und irgendwann gehörten sie dann zu seinem Stall.« Sie ließ ihren Blick durch den Raum gleiten, als befänden wir uns in selbigem Stall. »Und da blieben sie, solange er sie brauchen konnte.« »Und Bente …« Sie drückte ihre Zigarette aus, zündete sich sofort mit langsamen, einstudierten Bewegungen eine neue an und starrte mir dabei die ganze Zeit in die Augen. »Sie …« Ich sah, dass etwas mit ihr geschah. Ihr Blick war von mir zu Koko-Peders Tisch gewandert. Wieder bekam ihre Gesichtshaut diese aschgraue Todesfarbe. Sogar ihre roten Lippen schienen graublau zu werden. Als sie ihren Blick wieder auf mich richtete, bestanden ihre Augen nur aus Pupillen. Sie stammelte: 50
»E-er-er ist gegangen!« Ich drehte mich langsam herum. Sie hatte Recht. Koko-Peder saß nicht mehr dort. Ich wandte mich wieder ihr zu. »Stimmt. Na und?« »Er verlässt seinen Tisch nie um diese Zeit. Das hat er noch nie gemacht. Verstehst du nicht – von hier aus kontrolliert er doch den Umsatz.« »Aber …« »Er hat doch gesehen, dass wir miteinander geredet haben, und er hat den Schlüssel zu meiner Wohnung. Es ist doch seine Wohnung.« Jetzt sprudelte alles aus ihr heraus. »Sie hat diese Erpressungsgeschichte erfunden, als sie zu dir ging, um dich vielleicht dazu zu kriegen, die Bilder von Koko-Peder zurück zu erpressen. Sie war verzweifelt, aber gleichzeitig zu schüchtern, um alles offen zu erzählen. Um ihr eigenes Verschwinden dramatisch genug zu inszenieren, ging sie in Deckung – bei dem einzigen Menschen, bei dem sie sich sicher fühlte. Bei mir.« Ich war schon aufgesprungen. »Bei dir? Und du meinst, dass Koko-Peder kapiert hat, dass …« »Welche Verbindung sollte es sonst zwischen dir und mir geben? Hier …« Sie warf die Schlüssel auf den Tisch. »Es ist gleich oben in der Rosenbergsgate.« Sie nannte mir die Hausnummer. »Beeil dich! Aber – sei vorsichtig!« »Rufst du die Polizei an?« Sie nickte. Wir verließen das Lokal gemeinsam. Die Bedienung kannte sie und fragte sich sicher, warum wir es so eilig hatten. Wahrscheinlich gaben sie sich mit der Erklärung zufrieden, dass es für mich lange her sein musste. Und damit hatten sie sogar Recht.
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Ich brauchte weniger als zwei Minuten bis in die Rosenbergsgate zu dem Haus mit der richtigen Hausnummer. Ich stürzte die Treppe hinauf. Vor Lises Tür blieb ich stehen und lauschte einen Augenblick. Ich hörte nicht einen Laut. Vielleicht hatte sie sich doch geirrt. Vielleicht war er nur auf die Toilette gegangen. Ich steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn herum. Drinnen erwartete mich ein langer, dunkler Flur. Eine offene Tür führte in ein Wohnzimmer. Ich ging hinein. Der Raum war mit vernickelten, stromlinienförmigen Möbeln eingerichtet. An der gegenüberliegenden Wand war eine Tür und wie ein Spiegelbild erschien Koko-Peder zur gleichen Zeit in der Öffnung, als ich vom Flur herein kam. Wir blieben stehen und sahen einander abschätzend an, wie zwei Ringer einander vor einem entscheidenden Kampf messen. Sein Gesichtsausdruck, der Blutrausch in seinen Augen gefiel mir nicht. Seine brutalen, schweren Gesichtszüge hatten etwas Hartes und Unversöhnliches. Seine großen Pranken ballten sich langsam zu Fäusten. Er lehnte sich ein wenig nach vorn, und es schien, als würde er gleich umfallen. Ich fühlte mich schon ganz platt. Seine Stimme kam tief aus seiner Brust. »Wieder auf Raubzug, Veum? Der Hunger war wohl zu groß?« »Ich …« »Aber das hier ist meine Domäne, Veum! Hier herrsche ich!« »Nur solange, bis die Polizei kommt.« »Die Poli …« Das Wort sickerte langsam hinter seiner breiten Stirn ein. Und dann fiel er tatsächlich nach vorn. Mit einer heftigen Bewegung kam er auf mich zu, überraschend leichtfüßig für einen Mann seines Gewichts. Ich sprang zur Seite und zog mich hinter einen Stuhl zurück. Er beugte sich schnell hinunter, packte den Stuhl an den Beinen und kippte ihn über mich. Mit dem Stuhl auf der einen Schulter, 52
versuchte ich weiter, um ihn herum zu kommen, aber er presste den Stuhl gegen mich und versuchte, mich zwischen der Armlehne und der Wand einzuklemmen. Ich ging in die Hocke und suchte das Weite. Für einen Moment verlor er das Gleichgewicht, und ich nutzte die Gelegenheit, um zu der Tür zu springen, durch die er gekommen war. Den Blick auf ihn gerichtet, hob ich vorsichtig die Stimme: »Bente?« Keine Antwort. Koko-Peder hatte sich jetzt ganz herumgedreht und wir standen in der gleichen Position wie eben, nur mit vertauschten Rollen. Der Ringkampf ging weiter. Der Gong ertönte zur zweiten Runde. »Wenn du abhaust, hast du keine Chance davonzukommen«, sagte ich. »Lise hat die Polizei gerufen, sie werden gleich hier sein.« Er antwortete nicht, sondern griff nach einer Stehlampe. Es war eine solide, vernickelte Lampe von fast zwei Metern Höhe mit zwei Metallschirmen. Er hob sie hoch, als sei sie ein Birkenzweig. Dann kam er auf mich zu und schwang die Lampe wie ein Lasso über seinem Kopf. »Bente?«, rief ich jetzt lauter. Aber ich konnte mich nicht umdrehen, um in den Raum hinter mir zu sehen, wagte nicht, ihn auch nur einen Augenblick aus den Augen zu lassen. Gleich links von mir stand ein kleiner Schemel vor einem Sessel. Ich beugte mich hinunter, griff danach und warf ihn in seine Richtung. Ich zielte auf sein Gesicht, aber er bückte sich und der Schemel traf ihn an der Stirn. Ich ging auf Tuchfühlung, verpasste ihm einen schnellen Schlag in den Bauch, griff mit beiden Fäusten nach der vernickelten Stehlampe und schob sie gegen seinen Hals, genau zwischen Kinn und Kehlkopf. Er hatte schon Schwierigkeiten zu atmen, und das wurde nicht eben besser, als ich mich um ihn herumwand, den Griff an dem 53
Lampenfuß veränderte, ihm ein Knie ins Kreuz stemmte und die Lampe an mich zog. Er stöhnte vor Schmerz. Ich lockerte den Druck. »Gibst du auf?«, zischte ich. Er stöhnte zur Antwort. »Wie bitte?« Ein neuer Druck gegen seinen Hals. »Jaah!«, ertönte es gurgelnd. Ich lockerte meinen Griff, stieß ihn mit dem Knie heftig von mir weg, behielt aber die Lampe in den Händen, für den Fall, dass er es noch einmal versuchen sollte. Koko-Peder taumelte, fand das Gleichgewicht wieder, drehte sich um, schätzte die Situation ab – und gab auf. Dann sagte er schnarrend: »Viel Glück, Veum … wenn du sie so magst. Die Geschmäcker sind ja verschieden.« Mit einem hässlichen Grinsen kehrte er mir den Rücken zu und verließ den Raum. Unten auf der Straße hörte ich die Polizeisirenen abrupt verstummen. Ohne abzuwarten betrat ich den hinteren Raum. Es war ein Schlafzimmer. Bente Laubfall lag auf dem Bett, voll bekleidet. Nur der umgeworfene Nachttisch, ihre verrutschten Kleider, der eine Schuh, den sie verloren hatte, zeugten von dem Kampf, der dort stattgefunden haben musste. Es sah fast aus, als ob sie schliefe. Aber sie schlief nicht. Ein Blick genügte. Aus dem offenen Krater in ihrer Brust sprudelte kein Blut mehr: Es floss langsam, wie Luft, die aus einem geplatzten Ballon entweicht. Ich griff nach ihrem linken Arm und tastete nach dem Puls. Ich fand ihn nicht. Sie hatte zu hoch gepokert und verloren. Auf dem Boden vor dem Bett lag die Waffe, die er benutzt hatte, das Lieblingswerkzeug der Zuhälter: ein Klappmesser. Ich betrachtete ihr Gesicht. Der weiche, sinnliche Mund war immer noch halb offen und feucht, wie nach einem zärtlichen 54
Kuss. Ihre blauen Augen hatten immer noch den Glanz eines ersterbenden Fiebers in sich. Ihr blondes Haar lag zerzaust auf dem Kissen und ihre Finger klammerten sich an die Bettkante, als hätte sie während des Aktes Probleme gehabt, sich festzuhalten. Bente Laubfall aus Rosendal. Im Zimmer hinter mir hörte ich schwere Schritte. In der Türöffnung blieben sie stehen und bewegten sich im Begräbnistempo weiter. Ich drehte mich nicht um, sondern warf einen letzten Blick auf Bente Laubfall. »Edle Ritter sind out«, sagte ich leise zu ihr. »Es ist das Jahrhundert der Drachen.« Aber sie hörte meine Worte nicht mehr. Und es spielte auch keine Rolle. Sie brauchte keine guten Ratschläge mehr.
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Der schwarze Prinz
1 Die Sonne stand noch tief, aber der Himmel war klar und es war still, als ich das Theater durch den Personaleingang betrat. Für die meisten von uns ist das Theater ein mysteriöses Haus, voller geheimnisvoller Räume, dunkler Beleuchtung und roter Samtvorhänge, die in der Zugluft unsichtbarer Fenster wehen. Als ich elf oder zwölf Jahre alt war, hatte ich einmal einen Klassenkameraden begleitet, der seinem Onkel ein Paket bringen sollte, und dieser Onkel arbeitete an diesem Abend als Aushilfe auf der Bühne. Ich weiß noch, dass wir durch eine grüne Seitentür in der Nähe des Björnstjerne-BjörnsonDenkmals eine kleine Treppe hinaufstiegen und mit einer großen, weißhaarigen Frau sprachen, die in einem kleinen, rundherum verglasten Kabuff saß. Von dort aus wurden wir durch eine graue Stahltür geschickt, die in einen großen Raum führte, dessen Decke Schwindel erregend hoch war. Eine junge Frau kam an uns vorbei, der ein leichter Morgenmantel um die Beine flatterte. Ihre Augen waren mit Gold und Grün umrahmt, wie bei einer Figur aus einem ägyptischen Märchenbuch, und sie trug ein breites, hautfarbenes Stirnband, das den größten Teil ihres Haares verdeckte. Hinten in einem einsamen Winkel stand ein Mann im Frack und summte monoton vor sich hin, und durch eine hohe, schmale Tür hörten wir Musik. Dann kam der Onkel und holte sein Paket ab. Er führte uns die Stockwerke hinauf und durch mehrere Türen, bis wir plötzlich hoch oben über der Bühne auf einer Galerie standen. Von dort aus konnten wir auf das Bühnenbild sehen. Außer einem Mann war kein 56
Mensch zu sehen. Der rote Vorhang war heruntergelassen, und jetzt hörten wir die Musik deutlicher. »Es sind nur noch zehn Minuten, bis die Vorstellung anfängt«, hatte der Onkel gesagt. Es herrschte eine merkwürdige Stimmung dort oben auf dem Altan im Halbdunkel, genau zwischen den Scheinwerfern und den Kulissen, eine düstere Stimmung, staubig und abenteuerlich. Ich spürte sie noch immer, als wir nicht viel später in der Herbstdunkelheit vor dem großen Gebäude standen, und die Luft schien besonders kalt und klar zu sein. Ich spürte sie wieder in mir, als ich mehr als ein Vierteljahrhundert später zum zweiten Mal in meinem Leben durch den Personaleingang des Bergenser Nationaltheaters trat. Der Eingangsbereich hatte sich verändert. Statt eine Treppe hinauf zu gehen, musste ich in den Keller hinunter und kam zu einer modernen Rezeption mit einer liebenswürdigen Dame hinter der Glasscheibe. Sie bediente die Telefonzentrale und über einen Monitor überblickte sie die Ostseite des Gebäudes und den Schlagbaum vor der Einfahrt. Als ich ihr meinen Namen sagte, fragte sie, was ich wollte. »Ich habe eine Verabredung mit Vibeke Bruun«, sagte ich, und die liebenswürdige Dame lächelte freundlich, als fände sie das völlig selbstverständlich. Sie wählte eine Nummer und die charakteristischen Geräusche einer belebten Kantine erfüllten die Rezeption. »Ist Vibeke Bruun da?«, fragte sie. »Nein!«, ertönte es unisono. »Sie ist in der Garderobe!« Eine Stimme hob sich schneidend heraus. Die Dame wählte eine neue Nummer. »Vibeke Bruun?« Niemand antwortete. »Vibeke Bruun?« Dann hörten wir eine Tür zuschlagen und rasche Schritte näherten sich. »Hallo? Hier ist Vibeke Bruun«, ertönte es wohlklingend melodiös. 57
»Hier ist ein Herr, der mit dir verabredet ist. Ein Herr Veum.« »Ja, das stimmt. Er soll einfach raufkommen. Ich warte vor der Kantine auf ihn.« Die liebenswürdige Dame erklärte mir den Weg. Ich folgte einem langen, warmen Kellerkorridor, der an einen Krankenhausflur erinnerte. Dann ging ich eine Wendeltreppe hinauf eine Etage höher, durch eine Tür, an der »Zutritt verboten« stand, und genau am Eingang der Kantine stand Vibeke Bruun und wartete auf mich. »Veum?«, fragte sie, und wir gaben uns die Hand. »Wir gehen in die Garderobe«, sagte sie dann schnell und behielt ihre Hand an meinem Ellenbogen, während sie mir den Weg durch eine Drehtür und an ein paar weiteren Türen vorbei durch einen Korridor wies, der direkt hinter der Bühne liegen musste. Ich sah mich um, aber ich erkannte nichts wieder. Vibeke Bruun teilte ihre Garderobe mit einer anderen Schauspielerin, aber jetzt waren wir allein. »Setzen Sie sich«, bat sie und zeigte auf den einzigen komfortablen Sessel im Raum. Vor den beiden Spiegeln stand jeweils ein Sprossenstuhl, und sie setzte sich auf den einen davon. Hinter mir standen ein Kostümständer und ein Kleiderschrank. An allen Wänden hingen signierte und andere Porträtfotos und Karikaturzeichnungen. Auf dem Tisch vor ihr standen Dosen mit Schminke und Reinigungscremes, und auf einer Büste hing eine üppige, goldblonde Perücke. Vibeke Bruun bewegte sich leicht wie ein junges Mädchen, und sie war schlank und geschmeidig wie eine Sylphide. Ihr Gesicht hatte eine nervöse Eleganz und ihre Augen waren groß, schön und ausdrucksstark. Ihr Haar war schwarz wie Ebenholz und ohne eine Andeutung von Grau. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich sie auf Ende vierzig geschätzt. Aber ich war in der Bibliothek gewesen und hatte meine Hausaufgaben gemacht und wusste deshalb, dass sie schon 1939 im Alter von 58
zwanzig Jahren beim Nationaltheater debütiert hatte. Und somit war sie jetzt ziemlich genau dreiundsechzig Jahre alt. Sie öffnete eine Schublade ihres Schminktisches und nahm ein Foto heraus. »Das hier habe ich gefunden«, sagte sie, »weil Sie sich doch für Simon Brendel interessieren. Das ist von der Hamlet-Inszenierung 1951 und zeigt ihn als Hamlet und mich als Ophelia.« Sie warf einen wehmütigen Blick auf die bräunliche Fotografie, bevor sie sie mir reichte. Ich betrachtete das Bild. Es war ein typisches, altmodisches Theaterfoto, gestellt und ziemlich leblos. Hamlet trug Schwarz und hatte eine Hand am Degen, während Ophelia sich zu ihm beugte und ihm mit einem bittenden Ausdruck in die Augen sah. Sie war wie ein romantisches Bauernmädchen in einer Oper des 19. Jahrhunderts gekleidet. Vibeke Bruun sah nicht viel anders aus als heute. Ihr Gesicht war glatter, wie ein unfertiger Entwurf ihres heutigen Gesichts, und ihr Hals war vielleicht eine Idee schmaler. Aber die großen Augen waren dieselben, und ihr Haar war heute noch genauso schwarz und glänzend wie damals. Ich konnte mich nicht erinnern, Simon Brendel jemals vorher gesehen zu haben. Sein Gesicht war jung, aber dennoch eigenartig alt, von einer markanten, mageren Reife, die einen echten Eindruck plötzlicher, heftiger Trauer vermittelte. Seine hellen Locken waren aus der hohen Stirn gekämmt und er starrte blass und verbittert aus dem Bild. Es bestand ein klarer und starker Kontrast zwischen seinem eisigen Hamlet und Vibeke Bruuns warmer, fraulicher Ophelia. Trotz allem musste es ein gutes Foto sein, denn man bekam Lust, sich die Vorstellung anzusehen. »Das war eine ganz besondere Aufführung, Veum«, sagte Vibeke Bruun, »das schwöre ich Ihnen. Simon hat tatsächlich in der Rolle debütiert, mit nur einundzwanzig Jahren, und ich selbst meine sagen zu können, dass die Ophelia eine meiner 59
besten Rollen war, jedenfalls als junges Mädchen. Aber dann wurde Simon plötzlich krank, und das Stück musste aus dem Programm genommen werden, nach nur acht Vorstellungen.« »Ach ja?« »Ja, ich war mit dem Intendanten, Goggen Løkkeberg, einer Meinung. Es gab niemand anderen im Haus zu dem Zeitpunkt, der den Hamlet so spielen konnte wie Simon. Er war ein Naturtalent, es war nur so schade, dass … Naja, ein paar Spielzeiten später haben wir den Hamlet wieder aufgeführt, aber da spielte Goggen ihn selbst, als Gast. Und eine andere war Ophelia«, fügte sie mit einem winzigen Seufzer hinzu. »Aber was passierte damals, 1951, mit Simon Brendel?« Sie beugte sich vor und sah mich ernst an. Sie trug ein sehr einfaches, graues Kleid, dass ihre nervöse Schönheit noch unterstrich. »Es war sein Kopf«, sagte sie leise und legte eine Hand auf ihre Stirn, wie um mir zu zeigen, wo der Kopf war. »Er wurde …« »Es war wohl so eine Art Nervenzusammenbruch. Er kam ja so plötzlich zu dieser Rolle. Fing im Herbst als Schüler an und stand schon im Januar in einer der größten und schwierigsten Rollen der Theaterliteratur auf der Bühne. Die seine einzige sein sollte.« »Er kam nie zurück?« Sie schüttelte den Kopf. »Nach diesem Abend, an dem wir die Vorstellung absagen mussten, hat er seinen Fuß nicht mehr in dieses Haus gesetzt.« »Was war passiert?« »Er …« Ihre Stimme brach sehr effektvoll. »Er konnte einfach nicht mehr auf die Bühne gehen. Er stand hinter der Bühne und war völlig katatonisch. Unbeweglich wie eine erstarrte Wachsfigur stand er da und starrte die Wand an, den Schädel in der Hand. Er antwortete nicht, als wir ihn ansprachen, der alte 60
Rosendal war völlig fertig. Schließlich haben sie einen Arzt gerufen, der ihm eine Spritze gab, und dann haben sie ihn rausgetragen. So verließ er das Theater, wie es sich für einen Hamlet geziemt: Auf einer Bahre. Und später, wie gesagt, nie wieder.« »Aber was geschah mit ihm, danach?« Sie wurde plötzlich viel nüchterner. »Wir hatten damals eine Souffleuse, eine Mona Pedersen. Sie war einige Jahre älter als Simon, aber sie hat sich seiner angenommen, wie wir gehört haben. Sie hat nämlich hier aufgehört, ungefähr zur selben Zeit.« »Und keiner von Ihnen – hier am Theater – hat den Kontakt zu ihm gehalten?« »Wir kannten ihn ja gar nicht! Wie gesagt, er war ein paar hektische Herbstmonate lang hier, war bei einer Operette Statist gewesen, und dann stand er plötzlich als Hamlet auf der Bühne. Und eins ist sicher, Veum – er war kein schlechter Prinz von Dänemark. Es gab eigentümliche Tiefen in Simon Brendel, die niemand von uns … jemals hat ergründen können. Er blieb meist für sich allein und las, saß in der Garderobe und redete mit dem Regisseur, Gabriel Aaase – der längst tot ist, aber auch er war einmal ein begabter junger Mann. Pelle Schwab machte das Bühnenbild – äh, es war ein phantasieanregender Hamlet, Veum! Sie haben ihn nicht gesehen?« »Nein, ich war damals erst neun Jahre alt«, sagte ich zaghaft. Sie war zweiunddreißig gewesen, zehn Jahre älter als Hamlet. Aber ich war klug genug, nicht weiter darauf einzugehen. »Mit wem hat er sich die Garderobe geteilt?« »Simon? Mit einem etwas älteren Schauspieler, der niemals nüchtern war. Aus ihm hätten Sie sowieso nichts mehr herausbekommen, aber er ist auch schon längst tot.«
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Ich konnte sehen, wie die Erkenntnis, dass die meisten, über die sie gerade sprach, längst verstorben waren, sich in ihrem Gesicht festsetzte, und sie wurde merkbar kühler mir gegenüber. »Gut. Ich werde gleich wieder zur Probe gerufen. Wollten Sie sonst noch etwas wissen, Veum?« »Tja, ich – Sie haben also keine Ahnung, ob es Simon Brendel noch gibt? Ob er noch lebt?« Sie sah mich nachdenklich an. »Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, eine Todesanzeige gesehen zu haben. Sie sollten im Telefonbuch nachsehen oder beim Einwohnermeldeamt nachfragen. Unter Andersen.« »Andersen?« »Ja, Brendel war nur ein Künstlername. Oder eigentlich hieß er wohl nach seinem Vater, Simon Brendel Andersen. Die Mutter hieß Brendel.« Sie stand auf und wandte sich zum Spiegel, glättete automatisch Kleid und Haar. »Aber Veum …«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. »Wenn Sie ihn finden, dann …« Sie drehte sich zu mir herum und sah mich direkt an. »Dann grüßen Sie ihn sehr von mir, ja?« Sie war eine sehr gute Schauspielerin, und man konnte natürlich nie sicher sein, aber da war etwas in ihrem einen Augenwinkel, das an eine Träne erinnerte.
2 Als ich auf die Straße trat, fiel ungehemmt der Sonnenschein auf die märzbleiche Stadt. Ich ging auf einem Umweg vom Theater zu meinem Büro. In der Fußgängerzone spielte ein Straßenmusikant »Mr Tambourine Man« mit einer Inbrunst, als sei es seine eigene Komposition. Die Leute standen in einem Halbkreis um ihn herum. Als das Lied zuende war, warfen einige blanke 62
Münzen in den Gitarrenkoffer, der offen vor ihm auf dem Asphalt stand. Viele blieben stehen und warteten auf das nächste Lied. Ich versuchte zu raten, welches es sein würde und irrte mich nicht. Es war »A hard rain’s gonna fall«. Den Pass seiner Zeitgenossen trägt man immer in der linken Brusttasche, direkt neben dem Herzen. Im Büro angekommen, öffnete ich den Wandsafe und fischte den seltenen Geldschein heraus, den jemand mir liebenswürdigerweise mit der Post geschickt hatte. Was ihn so selten machte, war sowohl seine Größe, als auch die Tatsache, dass er aus einem fremden Land kam. Es waren zweihundert Dollar. Ich setzte mich hinter den Schreibtisch und hielt den Schein gegen das Tageslicht. Ein gut gebrauchter Geldschein, vollkommen perfekt, mit Wasserzeichen und allem Drum und Dran. Ich öffnete meine oberste Schreibtischschublade und holte den beigefarbenen Umschlag mit der amerikanischen Briefmarke heraus. Der Adressat war Mr. Varg Veum, Strandkaien 2, N5000 Bergen, Norway. Der kurze Brief war auf Englisch geschrieben, mit ein paar norwegischen Wendungen, die darauf schließen ließen, dass der Schreiber entsprechende Vorfahren auf der anderen Seite des Atlantiks hatte. Unterschrieben war er von Bjorn Anderson, und die Adresse war ein Postfach in Indianapolis. Der Inhalt war sehr einfach. Mr Bjorn Anderson bat mich sehr nachdrücklich, einen Verwandten von ihm in Bergen aufzuspüren, offensichtlich ein Schauspieler mit Namen Simon Brendel, geboren 1929. Es ging um eine Erbangelegenheit, und der Schreiber wünschte nur die Anschrift von Mr Brendel, falls er noch am Leben war. Sein Anwaltsbüro würde dann den Rest erledigen. Beigelegt war ein Vorschuss. Zwei weitere Scheine derselben Größenordnung sollten folgen, sobald der Auftrag erledigt wäre, »falls dies Ihre Auslagen und Ihr gesamtes Honorar deckt.« 63
Als ich den Brief jetzt noch einmal las, erkannte ich die Verwandtschaftsbeziehung sofort anhand des Namens. Mr Anderson hatte mitgeteilt, dass Simon Brendels vollständiger Name auch ein Anderson enthielt. Ich schlug das Telefonbuch auf. Es gab viele Andersons in Bergen, aber keinen Simon. Dann suchte ich nach Mona. Mit dem gleichen niederschmetternden Resultat. Es gab nur noch einen Ausweg: Meine alte Freundin beim Einwohnermeldeamt. Wie ich von der Frau in der Zentrale erfuhr, hatte sie einen neuen Nachnamen. »Von wem denn?«, fragte ich. Aber ihre Stimme war dieselbe wie früher. »Ja?« »Hei, hier ist Varg. Gratuliere – ich wusste ja gar nicht …« »Wozu?«, fragte sie irritiert. »Zum neuen Nachnamen. Hast du aufgegeben, auf mich zu warten?« »Ach so. Das ist schon viele Monate her.« »Besser spät als nie?« »So alt bin ich nun auch wieder nicht!« »Nein, nein, natürlich nicht«, beeilte ich mich zu sagen. »Rufst du an, um mir zu gratulieren?«, fuhr sie säuerlich fort. »Na ja, nicht direkt. Ich bin auf der Suche nach jemandem, der Anderson heißt.« Sie stöhnte laut. »Konntest du dir nichts Einfacheres aussuchen? Ich weiß wirklich nicht, ob ich Zeit dafür habe, eigentlich ist das hier ja höchst un …« »… passend? Jetzt, wo du verheiratet bist? Ein paar kleine Geheimnisse wirst du doch behalten dürfen, oder?« »Ich wollte unerlaubt sagen. Du hast zwar mir – und meiner Schwester – einmal einen großen Gefallen getan, aber irgendwann …« 64
»Mona. Und Simon. Brendel ist der andere Name. Ein faszinierender Kerl. War früher mal Schauspieler. 1929 geboren. Brendel. Das sollte wohl helfen, oder? Du findest sicher nicht viele, die Brendel Anderson heißen.« »Du hast nicht irgendeine frühere Adresse?« »Nein, ich …« »Und wohl auch keine Personennummer?« »Tut mir wirklich Leid, aber …« »Okay. Varg, ich ruf dich morgen an. Wenn ich Zeit habe. Und beweg dich nicht vom Telefon weg. Ich bin nicht sicher, ob ich es zweimal versuche.« »Danke dir. Und grüß den Glücklichen.« »Hast du nicht gerade gesagt, das hier sollte ein Geheimnis bleiben?«, schnaubte sie und legte auf. Ich tat dasselbe. Dann faltete ich den großen Geldschein fein säuberlich zusammen und schloss ihn wieder in den Wandsafe ein. Irgendwie war es das für den Tag. Ich sah durch das Fenster in den nackten, dünnen Frühlingshimmel, der sich wie eine Glasglocke über der Stadt wölbte, durch die die Sonne mit gelbem Blick hereinstarrte. Unten auf dem Marktplatz waren schon die ersten japanischen Touristen aufgetaucht. Oben im Fjellveien machten die Staffelläufer ihr Intervalltraining für die ersten Wettkämpfe dieses Jahres. Bald war Ostern, und es gab keinen Grund, sich zu überanstrengen. Ich schloss das Büro ab und machte früh Feierabend.
3 Wir hielten beide unser Wort. Ich hielt beim Telefon Wache und sie rief an. Kurz darauf war ich wieder unterwegs. 65
Es war einer dieser schönen, ersten Frühlingstage, an denen vom Winter nur noch eine dünne Frosthaut übrig ist, in die die Sonne ihre Löcher stach, sobald sie hoch genug am Himmel stand. Die Luft war sauber und klar und prickelte wie Champagner auf der Haut. Die Adresse, die sie mir genannt hatte, gehörte zu einer mittelgroßen Villa in der etwas altmodisch-mondänen Gegend zum Sandviksfjell hinauf. Die Villa sah relativ gut gepflegt aus und war von verwachsenen Rhododendron- und Fliederbüschen umgeben. Oberhalb des Hauses erhoben sich die steilen Felsen zum Sandvikspilen, der den Wind gnadenlos entweder aus Norden oder Südwesten wehen ließ. Ich trat durch die schmiedeeiserne Pforte und ging den Schotterweg entlang zu der aufwändig gearbeiteten Eingangstür aus schwarz gestrichenem, verziertem Holz. Ich klingelte. Nach einiger Zeit wurde die Tür vorsichtig einen Spalt weit geöffnet. Hinter einer soliden Sicherheitskette erschien ein mageres Frauengesicht, umrahmt von einer glatten, blonden Pagenfrisur. Um die Stirn trug sie einen geflochtenen Kranz aus trockenen Blumen und dazu ein altmodisches, knielanges Kleid aus hellblauer Seide. Sie sah aus wie Ende fünfzig, aber ihre Haut wirkte blass und trocken, als hätte sie viel Zeit ihres Lebens in geschlossenen Räumen verbracht. Sie starrte mich wortlos aus großen, glasblauen Augen an. »Entschuldigen Sie die Störung«, sagte ich. »Mein Name ist Veum, und ich würde gern mit Mona oder Simon Brendel Andersen sprechen.« Sie sah mich nach wie vor stumm an. In gewisser Weise schien sie vor einem viel größeren Publikum zu posieren, den vertrockneten Kopf auf einem faltigen schmalen Hals leicht schief haltend. »Es geht um einen Brief«, fuhr ich fort. »Aus Amerika.« Ein leichtes Zittern ging durch ihren Körper, als sei sie für die 66
scharfe Frühlingsluft zu dünn gekleidet. »Aus Amerika – für Simon?«, fragte sie leise, mit einer dünnen, schüchternen Stimme. »Genau«, nickte ich eifrig. »Das heißt, in gewisser Weise«, fügte ich hinzu. »Ich würde sehr gern mit Ihrem Mann sprechen.« »Simon – er …«, begann sie. Dann wurde ihr Blick wacher, und es schien, als würde sie mich erst jetzt richtig wahrnehmen. Sie starrte mich fast eine Minute lang intensiv an. Dann schloss sie die Tür, hakte die Sicherheitskette aus, öffnete die Tür wieder und winkte mich herein, während sie den Zeigefinger vor ihre Lippen hielt. »Leise …« Wir kamen in einen dunklen Flur mit Teppichboden. Eine Treppe mit weißem Geländer führte in den ersten Stock, eine andere in den Keller. Sie zog mich durch eine Tür und wir kamen in eine ziemlich kleine, winkelförmige Küche. Nichts in dem Raum verriet irgendetwas über ihre oder seine Persönlichkeit. Vielleicht hatte sie mich gerade deswegen dorthin geführt. »Mein Mann«, sagte sie hastig, »Simon ist nicht gesund. Er ist schon viele Jahre nicht mehr gesund. Ich weiß nicht, wie viel Sie wissen …« »Ich habe mit einer früheren Kollegin von ihm gesprochen …« »Mit wem?«, fragte sie misstrauisch. »Vibeke Bruun.« »Vibeke Bruun!«, schnaubte sie verächtlich. »Sie war zehn Jahre älter als er und viel zu alt, um die Ophelia zu spielen. Und trotzdem hatte sie es auf ihn abgesehen, das Luder.« »Sie hatte es auf Ihren Mann abgesehen?« »Ja! Obwohl, damals war er noch nicht mein Mann, aber wir waren jedenfalls gleichaltrig. Wissen Sie, wir waren wohl die einzigen wirklich jungen Leute bei der Aufführung.« »Waren Sie auch dabei?« 67
»Naja, als Souffleuse eben. Sie hätten es sehen sollen – den alten, steifbeinigen Trottel, der den Polonius spielte, er war nicht mal bei der Premiere richtig nüchtern. Und der Totengräber – ein Wunder, dass er überhaupt noch aus dem Grab kam! Ich kann Ihnen sagen, Agnes Mowinkel saß im Publikum an dem Abend, und ich konnte ihr verächtliches Schnauben bis runter in die Souffleusenbox hören. Nur wenn Simon auf der Bühne war, war sie still. Der ganze Saal hielt den Atem an. Er strahlte solch ein Licht aus!« Sie hielt einen Augenblick inne. Dann fuhr sie fort: »Aber Vibeke Bruun hat sich sicher vor allem darüber ausgelassen, wie phantastisch sie als Ophelia war. Sie hätten sie sehen sollen, wie sie sich in den Pausen an ihn herangemacht hat, sich an ihn gedrängt hat mit ihren großen Brüsten. Aber er ließ sich nicht beirren! Er hatte nur eines im Kopf: Auf die Bühne zu gehen – und – nicht Hamlet zu spielen, sondern Hamlet zu sein! Er war wie verwandelt, als er hinaustrat. Er wurde Hamlet … und genau das war wohl sein Verhängnis. Er hätte ein großer, phantastischer Schauspieler werden können. Ich würde ihn gern heute sehen – als Lear, als Rubeck oder Borkman. Ich hätte ihn gern als Hjalmar gesehen, als Peer Gynt, König Ödipus … Aber ich sollte – wir sollten, die Welt sollte ihn nur in einer Rolle sehen, als Hamlet, Prinz von Dänemark.« »Er hat in einer Operette mitgespielt, sagte Frau Bruun.« »Jaja, als Kellner in ›Die lustige Witwe‹, aber das ist es nicht, wofür man ihn heute noch kennt.« Plötzlich setzte sie sich auf einen Küchenstuhl und fragte: »Wollen Sie sich nicht setzen?« Ich setzte mich. »Sagen Sie, Frau Anderson, was ist damals eigentlich mit ihm passiert?« Ihr Gesicht verlor etwas von der Lebendigkeit, die es bei ihrem Bericht über Simon Brendel und die Hamlet-Aufführung 1951 bekommen hatte. Sie suchte nach den richtigen Worten. 68
»Er blieb da unten, auf der Kronborg, umgeben von Fäulnis und Dunkelheit, und er kam nie wieder richtig ans Tageslicht. Der Zusammenbruch kam plötzlich. Eines Abends konnte er einfach nicht auf die Bühne gehen. Er stand hinter den Kulissen und starrte die Wand an. Sein Gesicht sah aus, als würde er weinen, aber es kam keine Träne aus seinen Augen. Er sah aus, als – sah aus wie Gösta Ekman auf einem alten Bild. Ich fuhr mit, als sie ihn ins Krankenhaus brachten, und später blieb ich einfach dabei – wie ein Anhängsel, die ganzen Jahre. Verstehen Sie«, sagte sie in einem alltäglichen Tonfall, »ich habe Simon Brendel geliebt.« »Ich verstehe. Wann haben Sie geheiratet?« »Ein paar Jahre später. Ich bin mit ihm nach Valen gegangen für die Monate, die er dort war, und später zurück hierher, zum Neevengård. Dann wurde er endlich entlassen, und danach haben wir hier gewohnt, zusammen.« »Aber dieses Haus – wovon haben Sie gelebt?« »Das Haus gehört Simon. Er hat es geerbt. Er hat hier schon damals gewohnt. Seine Eltern sind 1946 und 1950 gestorben, und er – sie haben ihm ziemlich viel hinterlassen. Wir haben seit damals, wenn auch sehr einfach, von den Zinsen gelebt.« »Was – wer waren seine Eltern?« »Konsul Anderson, sein Vater, gehörte zu denen, die sich in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg hochgearbeitet haben. Seine Mutter war eine ungewöhnlich schöne und sensible Frau, kunstbegeistert, liebte Literatur und Theater. Sein Talent hatte er wohl von ihr. Aber der Vater brachte das dicke Geld nach Hause. Er hat ein Vermögen angespart. Auch während des Krieges.« »Und als die Eltern starben, hat er das Ganze geerbt?« Sie nickte. »Hatte er keine Geschwister?«
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»Es gab einen Bruder, Henrik. Er trat in die Fußstapfen des Vaters. Ein bisschen zu pedantisch vielleicht, aber mit Geschäftssinn. Er hatte gute Anlagen. Aber als der Vater starb, hat er sich irgendwie mit dem Rest der Familie überworfen. Seine Mutter hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie den sensiblen Simon vorzog, und Henrik – tja …« »Ja? Was passierte mit ihm?« »Er ging weg.« »Und wohin? Etwa nach …« Sie sah mich lange nachdenklich an. »Doch. Nach Amerika. Und wir haben nie wieder ein Wort von ihm gehört.« »Kein einziges Lebenszeichen?« »Nein.« »Sie haben also keine Ahnung, was da drüben mit ihm passiert ist, ob er eine Familie gegründet hat, irgendetwas?« »Wir haben nie versucht, es herauszufinden. Und da wir auch nichts von ihm hörten …« »Henrik – war er älter oder jünger als Simon?« »Drei, vier Jahre älter. Dreieinhalb.« »Sie scheinen die Familie sehr gut zu kennen?« »Ich kenne sie schon, seit ich ein kleines Mädchen war.« Plötzlich wurden wir von einer lauten Tenorstimme unterbrochen, die vom Flur her ertönte. »Ho-ho! Mona! Wo bist du?« Sie sah mich bestürzt an. Dann stand sie schnell auf und ging hinaus. Ich gab ihr nicht die Gelegenheit, die Tür hinter sich zu schließen, sondern folgte ihr auf dem Fuße. Gemeinsam blieben wir am Fuße der Treppe stehen und sahen zu, wie Simon Brendel langsam zu uns herunter geschritten kam.
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4 Simon Brendel trug ein eng sitzendes, schwarzes Trikot, darunter ein weißes Hemd mit einem breiten, offenen Kragen und breiten, hochgekrempelten Manschetten. Um die Taille hatte er einen breiten Gürtel mit einer großen Silberschnalle gebunden, an den Füßen trug er weiche, schwarze Stiefel, und in einer Hand hielt er ein kleines in Leder gebundenes Buch. Simon Brendel sah nicht viel anders aus als auf dem Foto, das ich von ihm gesehen hatte, vielleicht weil er noch immer dasselbe Kostüm trug. Sein Gesicht war magerer, noch eine Spur knochiger, aber sein silbergraues, leicht gelocktes Haar war auf dieselbe Weise aus der Stirn gekämmt. Seine Stimme behielt den tiefen Tonfall, als er seinen hellblauen Blick auf mich richtete, schnell zur Seite sah, mich wieder ansah und sagte: »Die Zeit ist aus den Fugen: Schmach und Gram, dass ich zur Welt, sie einzurichten kam! – Wer ist dieser Fremde, Mona?« Er blieb direkt vor mir stehen, merkwürdig wie ein Hahn trippelnd, und marschierte sozusagen vor mir auf der Stelle. Seine Nasenflügel vibrierten, und er erinnerte ein wenig an einen rastlosen Rassehengst an der Startlinie vor einem entscheidenden Rennen. »Ein Mann, der einen Brief bringt«, sagte seine Frau mit dünner Stimme. »Aus Amerika.« »Aus Amerika?«, fragte Simon Brendel und wurde noch bleicher. »Wer anderen Briefe überbringt, der setzt sich selbst größten Gefahren aus, Fremder, ich überbrachte selbst einmal … Lasst sehen – den Brief!« Er streckte die Hand aus, gebieterisch und majestätisch, wie es sich für einen Prinzen geziemt. »Ich habe ihn nicht dabei. Ihre Frau hat mich missverstanden. Der Brief war an mich, aber er betraf – in gewisser Weise – Sie.« 71
»So?« Simon Brendel blickte über meine linke Schulter. »Begleitet mich in den Thronsaal, Fremder, und lasset uns die Sache dort besprechen.« Wir gingen durch eine Tür links von der Küchentür und kamen in den Raum, der in gewöhnlichen Häusern das Wohnzimmer gewesen wäre. Dies war wirklich ein Thronsaal. An den Wänden hingen Teppiche in Purpur und Gold, und an einer Wand stand ein Stuhl mit einer hohen Lehne aus dunklem, mit Schnitzereien verziertem Holz und einem scharlachfarbenen Kissen mit Brokattroddeln an den Ecken. Neben diesem befand sich ein weiterer, mit niedrigerer Lehne und vor den beiden Stühlen stand ein grob gehobelter langer Tisch. Auf dem Tisch lag ein schmaler Läufer mit einem Karomuster in Purpur und Gold und vor den beiden Stühlen war ein kleiner, runder Teller mit zwei hochherrschaftlichen, goldfarbenen Messingbechern abgestellt. An der Wand hinter den beiden Thronsesseln hing ein großer, neutraler Schild aus Teak, auf dem zwei gekreuzte Schwerter befestigt waren. Die Fenster wiesen zum Byfjord hinaus, und man konnte das Wasser dort unten glänzen sehen, ebenso frühlingshell und durchsichtig wie der Himmel darüber. Das einzige, was Himmel und Meer trennte, war der Landgürtel, den Askø, Sotra und Karven bildeten. Man hatte das Gefühl, als befände man sich im Mittelalter und würde durch die Fenster in unsere Gegenwart starren. Auf der anderen Seite des langen Tisches standen Stühle für die Gäste, und Simon Brendel wies mich mit einer gebieterischen Geste zu einem davon. »Nehmt Platz, Fremder, und erleichtert Euer Herz um all die schwarzen Sünden.« Ich setzte mich, und Simon Brendel nahm in einer jugendlichen Pose nicht auf dem Thron sondern auf der Tischkante Platz. Seine Frau setzte sich auf einen anderen Gästestuhl, und ihr Gesicht zeigte jetzt einen ängstlichen Ausdruck. 72
»Es sind gar nicht so große Sünden«, sagte ich vorsichtig. »Aber ich meinte, eine bestimmte Reaktion bei Ihnen wahrzunehmen, äh … Brendel. Als ich das Wort Amerika erwähnte.« Seine Frau streckte vorsichtig ihre Hand aus, aber Simon Brendel betrachtete mich mit einem melancholischen Gesichtsausdruck. »Amerika, mein Guter … Dorthin kommen wir nie. Es ist zu weit entfernt, und viele Schiffe sind vergebens ausgelaufen. Aber es ist ein schöner Name – Amerika.« »Sie haben einen Bruder dort drüben?«, fragte ich schnell. »Einen Bruder?« Er stutzte. »Aber ich bin doch Alleinerbe! Wohl hat der Brudermörder meinen Thron geraubt, aber dennoch – ich bin der rechte Herrscher. Das kann keine Blutschande verhindern, kein beschmutztes Nachtlager, kein giftig einschmeichelndes Lächeln …« »Sagt Ihnen der Name Bjørn etwas? Vielleicht auch Bjorn Anderson …« »Seht zum Himmel, Horatio! Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt. Am Himmel spielt der große und der kleine Bär, und dort der Schütze seine Waffe zückt. Bald wird der große Pfeil wohl treffen, ins Herz des Brudermörders …« Ich schaute zu Mona Anderson hinüber. Sie erwiderte meinen Blick mit einer dunklen Bitte. Ich sagte leise zu ihr: »Hören Sie, ich habe von einem Mann namens Bjorn Anderson einen Brief bekommen. Es ginge um eine Erbangelegenheit, schreibt er und bittet mich, die Adresse Ihres Mannes herauszufinden. Eine Erbangelegenheit. Henrik ist wahrscheinlich gestorben, und Bjorn Anderson ist – würde ich tippen – sein Sohn. Das ist die einzig logische Erklärung.« Simon Brendel saß zwischen uns, völlig in Gedanken versunken. Er sah verträumt vor sich hin, die eine Hand auf dem Knie, in der anderen hielt er das kleine Buch. 73
Mona Anderson sagte leise: »Könnten Sie nicht zuerst ein paar Erkundigungen einholen? Versuchen, diesen Anderson ausfindig zu machen? Jedenfalls per Telefon. Ich werde all Ihre Auslagen erstatten, das können wir uns leisten …« Ich nickte. Simon Brendel mischte sich plötzlich wieder in das Gespräch ein. Mit einer lustigen Drehung des Kopfs sah er zu seiner Frau hinunter und sagte weich: »Schwachheit, dein Name ist Weib …« Ich stand auf. »Dann will ich nicht weiter stören. Ich …« »Ihr stört nicht, Fremder!«, rief Simon Brendel. Dann hüpfte er geschmeidig auf den Boden, machte irgendeine Bewegung mit den Armen, verbeugte sich tief und sah spöttisch zu mir auf. »Lieber Rosenkrantz, verehrter Gyldenstern, grüßt den König und sagt, ich sei – bereit …« Dann lachte er, ein jugendliches, hitziges Lachen, das in dem alternden Gesicht merkwürdig fehl am Platze schien. Sie begleitete mich hinaus. Im Flur sagte sie: »Danke, dass Sie so verständnisvoll waren. Andere hätten mit Abscheu oder Schrecken reagiert. Er ist vollkommen harmlos, einfach ein Kind. Ein einspuriges Kind, von einem einzigen Spiel besessen. Und das spielt er jetzt seit einunddreißig Jahren.« Ich nickte. »Ich werde tun, worum Sie gebeten haben. Haben Sie die Möglichkeit, mich in ein oder zwei Tagen anzurufen?« Ich schrieb meine Adresse und Telefonnummer auf eine Seite meines Notizbuches, riss sie heraus und gab sie ihr. Sie nahm sie entgegen, ohne draufzuschauen. Wir verabschiedeten uns schnell. Draußen im Garten hörte ich das schrille Pfeifen eines Westamarans beim Anlegen. Unten bei der Festung setzte ein militärfarbener Hubschrauber gerade zur Landung an. Seine Rotoren schnitten große Würfel aus der Luft und warfen sie durcheinander, wie bei einem gigantischen 74
Kniffel-Spiel. Draußen auf dem Lyderhorn blinkte es rot von der Spitze des höchsten Fernsehmastes. Es war durchaus möglich, dass die Zeit aus den Fugen geraten war, aber was mich betraf, so war ich jedenfalls definitiv wieder in meinem eigenen Jahrhundert.
5 Über die Auskunft bekam ich die Telefonnummer des entsprechenden Servicedienstes in Indianapolis, Indiana. Nicht ohne ein gewisses Gefühl von Feierlichkeit wählte ich die Fernwahlnummer der Telefonauskunft in Indianapolis, lauschte dem Klingelton und hörte eine metallische Frauenstimme »Hello?« sagen. »Äh, hello, Miss. Könnten Sie – meine Name ist Veum und ich bin privater Ermittler und ich rufe aus Bergen an, Norway.« Skeptische Stille am anderen Ende. Ich fuhr fort: »Könnten Sie mir die Namen einiger Privatdetektive in Ihrer Stadt geben, die Sie mir empfehlen könnten?« Die Stimme sagte geschäftsmäßig: »Ich bin nicht gehalten, irgendeine Empfehlung auszusprechen, aber ich kann Ihnen die ersten Namen auf der Liste geben, wenn das okay ist.« »Das ist okay«, stammelte ich in meinem unsicheren Schulenglisch. Schnell nannte sie mir fünf Namen und fünf Telefonnummern, versicherte sich, dass ich sie auch richtig aufgeschrieben hatte, und legte auf. Sie fragte nicht, wie das Wetter in Bergen, Norway war. Andererseits hatte ich mich auch nicht erkundigt, wie es in Indianapolis aussah.
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Ich blieb sitzen und betrachtete die fünf Namen vor mir auf dem Zettel. Acme Investigations, Ltd. – Barney & Johnson, Investigations – Hugo Burns, Private Investigator – H.R. Charles, Public Relations Agency – Davidson, Henry & Jones, Detective Bureau. Ich wunderte mich ein wenig darüber, was »Public Relations« auf der Liste zu suchen hatten, entschied aber, dass es wohl ein Spezialausdruck sein musste. Mein Blick blieb schnell bei dem dritten Namen auf der Liste hängen, da es der einzige zu sein schien, der allein arbeitete. Hugo Burns, Private Investigator. Das klang gut. Ich streckte die Hand nach dem wartenden Telefon aus und räusperte mich. Es war irgendwie unwirklich, in den USA anzurufen und nach einem Kollegen namens Hugo Burns zu fragen. Ich sah einen typisch amerikanischen Privatdetektiv vor mir, wie man ihn aus Büchern und Filmen kennt, den Hut tief in die Stirn geschoben, den Kragen des Trenchcoats im Nacken hochgeschlagen, eine kleine Flasche Whisky in braunem Packpapier in der Manteltasche und in Erwartung einer üppigen Blondine, die auch prompt gerade sein Büro betrat. »Hello, Buddy, this is Varg calling, from Norway, you know. Son of the Polar Bear. Our man in the Arctic. You wanna taste my aqua vit?« Mit zitternden Fingern wählte ich die lange, umständliche Nummer. Mit klopfendem Herzen lauschte ich dem Signal am anderen Ende des großen, tiefen Atlantiks, als sei es mein eigener Puls. Und ich sah das Telefon vor mir, das da in einem fremden Büro klingelte, das Fenster geöffnet zur einer Seitenstraße, draußen dröhnender Verkehr, Essensgeruch, der von einer Pommesbude in der Nähe hereinzog, während eine mannshohe Neonreklame auf der anderen Straßenseite die Aussicht versperrte. Ich sah Hugo Burns, P.I., vor mir, wie er 76
sich die Haare raufte, sich mit einer großen Pranke über die zwei Tage alten Bartstoppeln fuhr, innerlich über das verdammte Telefon fluchend, das nicht aufhören wollte zu klingeln, obwohl es so früh am Tag war … »Hier ist das Büro von Hugo Burns, Mrs Walter, guten Morgen!«, zwitscherte es plötzlich über den Ozean. Ich antwortete geistesgegenwärtig mit »ääh« und »ööh«, bevor ich mich soweit zusammenreißen konnte, dass ich in de. Lage war, mich vorzustellen und nach Hugo Burns zu fragen. Vor meinem inneren Auge zogen Bilder vorbei. Mrs Walker? Er musste eine Sekretärin haben. Also betrieb er kein zweitrangiges Geschäft, wie einige andere, mit denen ich ihn ganz unbedarft verglichen hatte. Aber Mrs Walker? Sie musste auf jeden Fall eine Blondine sein … Nein, Mr Burns war leider nicht da, Mr Veum (ausgesprochen Mr Veium), aber Mrs Walker konnte mir die notwendige Sprechzeit auf einem Diktaphon zur Verfügung stellen, um ihm zu sagen, worum es ging und wie der Auftrag lautete, und dann konnte ich in ein paar Stunden oder am nächsten Tag wieder anrufen und sie würden mir Bescheid geben, ob sie den Auftrag annähmen. Ich bedankte mich, nahm mich zusammen und sprach die Botschaft auf das Band, mit dem gleichen Gefühl von Unbeholfenheit, das viele Menschen überfällt, wenn sie mit Anrufbeantwortern sprechen. Am nächsten Tag rief ich zurück. Ich hatte wieder Mrs Walker am Apparat. Sie teilte mir mit, dass der Auftrag angenommen war. Sie würden ein Telex mit den Angaben über Bjorn Anderson schicken, sobald sie das Material beisammen hätten. Aber zuerst sollte ich so freundlich sein und telegrafisch einen Vorschuss schicken. Sie nannte eine Summe, die meinem Bankkonto Atembeschwerden bereitet hätte. Ich sagte, dass ich 77
mich erst mit meinem Klienten besprechen müsste, und Mrs Walker sagte, sobald sie den Betrag bekommen hätten, würden sie den Auftrag erledigen. »Äh, Mrs Walker«, sagte ich. »Wenn mein Klient nach Referenzen fragen sollte … Wer ist Hugo Burns? Wie viele Angestellte hat er?« »Mr Hugo Burns ist ein pensionierter Polizist«, sagte Mrs Walker, »mit einem sehr guten Ruf als Kripoermittler. Er hat vier Angestellte, zusätzlich zu mir – alle aktive Ermittler. Sie können Ihrem Klienten versichern, dass ihr Anliegen bei Mr Burns in den besten Händen ist.« Ich bedankte mich und fügte hinzu: »Äh, Mrs Walker – sind Sie blond?« Kleine Pause. Dann sagte sie: »Warum fragen Sie, Mr Veium?« »Reine Neugier.« »Warum schauen Sie nicht vorbei und sehen nach?« »Ich fürchte, ich habe kein Geld für – den Bus.« Erneute Pause. Dann kam sarkastisch: »Nein, ich war einmal schwarzhaarig, jetzt bin ich künstlich grau. Ich bin dreiundvierzig Jahre alt, trage Kontaktlinsen, fahre ein eigenes Auto und wohne allein in einer Mansardenwohnung am Stadtrand. Ich bin geschieden. Möchten Sie sonst noch etwas wissen, Mr Veium? Meine Größe vielleicht?« »Vielleicht die Nummer Ihrer Buslinie. Falls es mir gelingen sollte, das Geld für das Ticket zusammenzukratzen … Danke für Ihre Liebenswürdigkeit.« »Zögern Sie nicht«, sagte Mrs Walker. »Hereinzuschauen, meine ich. Bye-bye!« »Bye-bye!«, antwortete ich, und dann wurde der Pulsschlag über den Atlantik unterbrochen.
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Ich blieb mit dem Telefonhörer in der Hand sitzen. Ich bin ein eifriger Telefonflirter. Auge in Auge wird das Ganze gleich viel schwieriger. Es könnte schließlich jemand auf die Idee kommen, mich beim Wort zu nehmen. Zwei Tage später war Mona Anderson am Telefon. Sie zögerte überraschend wenig, als sie hörte, welches Honorar man in den USA von ihr verlangte, und schon am nächsten Tag konnte ich den Vorschuss telegrafisch über den Ozean schicken. Eine knappe Woche später bekam ich eine umfangreiche Telex-Meldung, die das Resultat von Mr Burns Arbeit enthielt. Mrs Walker hatte nicht übertrieben. Soweit ich es beurteilen konnte, hatte Mr Burns oder einer seiner Mitarbeiter erstklassige Arbeit geleistet, was die Überprüfung der persönlichen Daten des bis jetzt anonymen Mr Bjorn Anderson anging. Ich verwendete ein Wörterbuch, wo es nötig war, und schrieb die Daten für meine Auftraggeber auf: Bjorn Anderson, geb. in Chicago, Michigan, am 12. Nov. 1947 Vater: Henry B. Anderson, Norweger, geb. 1929, gest. 1982. Todesursache: Herzschlag Mutter: Alice W. Miller, geb. 18 Dez. 1929 in Chicago, gest. 1958, Todesursache: Krebs Geschwister: keine Henry B. Anderson arbeitete als Verkäufer, dann als Inhaber eines Lunch-Restaurants. Alice Miller war Kellnerin gewesen, bevor sie Henry B. Anderson im Mai 1947 heiratete. Von 1951 bis 1957 arbeitete sie in einem Kino als KartenVerkäuferin. Nach dem Tod seiner Frau 1958 zog Henry B. Anderson mit seinem Sohn von Chicago nach Indianapolis. Bjorn Anderson hatte an der Universität von Chicago Wirtschaftswissenschaften studiert, und machte sich schon 1969 mit einer Reinigungsfirma selbständig. Diese wurde zu zwei Schwestergesellschaften erweitert (gegründet 1972 und 1977), deren Direktor Mr. Anderson war. 1970 heiratete er Ann Barker, geb. 1948. 79
Kinder: Peter, geb. 1971, Louisa, geb. 1973, Burton, geb. 1976. Die Ehe wurde 1982 geschieden, und die Kinder lebten bei der Mutter, die wieder geheiratet hatte. Es war bekannt, dass Bjorn Andersen große finanzielle Probleme hatte. Als sein Vater 1982 starb, hatte er nur einen geringen Erlös durch den Verkauf des Lunch-Restaurants. Mr Bjorn Anderson wohnte in einer Wohnung im Zentrum von Indianapolis, und soweit das Büro es in der kurzen Zeit in Erfahrung bringen konnte, wohnte er allein. Sollte der Wunsch bestehen, so würde das Büro im Laufe kurzer Zeit ein Foto von Mr Anderson einholen und es per Fax an die gewünschte Adresse schicken. Außerdem informierte das Telex darüber, dass eine detaillierte Rechnung im Laufe von ein oder zwei Tagen telegrafiert werden würde, aber das zu übersetzen machte ich mir nicht die Mühe. Mona und Simon Brendel hatten so schon genug zu verdauen. Als Mona Anderson mich am Tag darauf anrief, fragte ich, ob ich mit den Informationen zu ihnen hinaus kommen sollte. Sie sagte schnell: »Nein, ich komme lieber zu Ihnen in die Stadt, Veum«, und wir verabredeten einen Termin am folgenden Tag. Die Sache lief schon eine Woche, und wenn ich den vollen Tagessatz berechnen sollte, dann würde es für das Ehepaar Brendel ein teures Vergnügen werden. Aber die Telefongespräche waren nicht lang gewesen, und die Rechnungen von Hugo Burns standen sowieso noch aus, also begnügte ich mich fürs Erste damit, Stunden aufzuschreiben. In der Zwischenzeit hüpfte der Frühling leichtfüßig vor meinen Fenstern vorbei. Das Leben pochte in meinen Adern, und ich war dem Grab schon wieder eine Woche näher. Der Frühling hat mich in der Hinsicht schon immer besonders berührt. Das gehört zu meinen Besonderheiten: Im Herbst verliebe ich mich, aber im Frühling werde ich melancholisch. 80
6 Als Mona Anderson mein Büro betrat, strahlte sie noch von der starken Frühlingssonne. Ihr Gesicht sah aus, als könne es jeden Augenblick Feuer fangen. Die Sonne hatte schon große braune Flecken auf ihre Haut gebrannt. Sie trug einen braunen Popelinmantel und einen etwas altmodischen Hut in derselben Farbe. Ich gab ihr wieder, was ich an Informationen über Bjorn Anderson erhalten hatte. Beim Zuhören schaukelte ihr vogelartiger Kopf auf ihrem dünnen Hals hin und her. Als ich fertig war, nickte sie langsam, als hätte sie das alles schon gewusst und könnte bestätigen, dass es den Tatsachen entsprach. »Also hat er dort drüben tatsächlich einen Sohn bekommen«, sagte sie leise. »Aber kein Wort, kein Gruß, bis heute.« Ich spielte an meinem Kugelschreiber herum. »Ich wüsste gern …« Sie sah mich fragend an. »Ja?« »1946, als Henrik nach Amerika ging, wie alt war er da?« »Einundzwanzig.« »Und Simon war …« »Siebzehn.« »Und Sie?« »Ich?« »Ja, Sie.« »Ich war gerade zwanzig geworden.« »Sie waren mit anderen Worten mehr als alt genug, um die beiden Brüder einschätzen zu können, menschlich meine ich.« »Woran denken Sie dabei?« »Es kommt mir einfach so merkwürdig vor. Sie beschreiben Simon als künstlerisch und sensibel, Henrik als trocken und pedantisch. Trotzdem ist es Henrik, der – ich hätte beinahe 81
gesagt, den künstlerischen Aufruhr wagt. Er bricht mit allem, geht über den Ozean nach Amerika, wie ein, ja wie ein Hamlet. Und lässt nie mehr etwas von sich hören. Das klingt nicht, als – es ist eine Art Bruch in der Persönlichkeit. Eine solche Flucht hätte eigentlich zu Simon gepasst.« »Simon ist ja auch geflüchtet, fünf Jahre später, auf seine Weise.« »Ja.« Ich betrachtete sie. Zwanzig Jahre alt, blond, mit dem gleichen zarten Vogelkopf, derselben eingeschüchterten Haltung, denselben klaren, blauen Augen? Wenn das Alter uns die Henkerskapuze über den Kopf zieht, können wir niemals mehr unsere früheren Gesichter sehen. Die Zeit zählt ihre Jahre und besiegt alles. »Also waren sie vielleicht doch nicht so verschieden, die beiden Brüder?« »Doch, das waren sie!«, stieß sie hervor. »Glauben Sie mir – Henrik war wirklich ein Pedant, trocken und umständlich und förmlich. Und Simon war wirklich ein Bohemien, sensibel und farbenfroh, voller zitternder Nervosität …« »Aber dann muss Henrik ja ziemlich starke Gründe gehabt haben, so endgültig mit der Familie zu brechen.« »Ich habe Ihnen ja erzählt – die Mutter hat Simon ihm vorgezogen, ganz offensichtlich. Als der Vater starb, fühlte er sich übergangen, ausgeschlossen, buchstäblich wie eine Krähe im Taubenschlag.« »Aber reicht das aus? Werden solche Gefühle nicht mit den Jahren weniger? So dass er jedenfalls wieder Kontakt mit der Familie hätte aufnehmen können?« Sie zuckte mit den Schultern. »Für Henrik war es genug. – Aber, Veum, was passiert jetzt?« »Ich schreibe an Bjorn Anderson. Was meinen Sie, was soll ich schreiben? Dass ich in Bergen keinen Simon Brendel gefunden habe, dass Simon Brendel tot ist – und sind wir, oder Sie in dem Fall sicher, dass er meine Antwort akzeptiert und 82
sich nicht an jemand anderen wendet? Oder soll ich ihm einfach Ihre Adresse angeben, und dann warten Sie, ob Sie eine Nachricht aus den USA bekommen? Es ging ja um eine Erbangelegenheit, oder?« »Bjorn Anderson hatte finanzielle Probleme, stand das nicht da?« Ich nickte. »Kann es … Kann es in Henriks Testament eine Klausel geben, die besagt, dass Bjorn ihn beerbt, wenn sein Bruder in Norwegen tot ist?« »Henrik hat sich 36 Jahre lang nicht bei Ihnen gemeldet, seit er 1949 wegging bis zu seinem Tod in diesem Jahr. Ist es wahrscheinlich, dass er Ihnen etwas hinterlassen hat?« »Nein.« Sie wirkte besorgt. »Aber was kann er dann wollen?« Ich hatte keine Ahnung. »Veum – ich habe Angst. Ich habe Angst vor diesem – Bjorn Anderson.« »Warum denn das?« »Die Amerikaner – sie sind so … das Milieu da drüben -er – wenn er hier auftauchen sollte, dann würde ich mich viel, viel sicherer fühlen, wenn Sie dabei sein könnten!« Ich sah sie an. »Das kann ich natürlich tun, gegen das normale Honorar. Aber sind Sie sicher, dass er seine Ankunft vorher ankündigen wird?« »Ja, wenn Sie ihm schreiben – wenn Sie ihm nicht unsere Adresse geben, sondern sagen, dass jeder weitere Kontakt über Sie laufen soll …« »Na ja, vielleicht – wenn er selbst nicht zu involviert ist. Und wenn er überhaupt den weiten Weg herkommt. Wahrscheinlich gibt er sich mit einem Brief zufrieden.« Sie wühlte in ihrer großen Einkaufstasche. Dann zog sie einen Schlüssel heraus. »Hier, Veum. Der ist für die Kellertür. Ums 83
Haus herum, und dann links hinein. Wenn Sie dann rechts die Treppe hinaufgehen, kommen Sie durch ein Hinterzimmer direkt ins Wohnzimmer, hinter einen der Vorhänge. Wir benutzen das Zimmer nie. Von dort aus können sie jedes Wort hören und auf uns aufpassen – ohne dass Sie jemand sieht. Aber das muss unter uns bleiben, sagen Sie Simon nichts davon.« Ich nahm den Schlüssel und betrachtete ihn skeptisch. »Sind Sie sicher, dass Sie das wollen?« »Ja.« Ihre Hand unternahm einen weiteren Ausflug in die Tasche. Diesmal kam sie mit einem kleinen Stapel von Scheinen wieder hervor. »Hier ist Ihr Honorar fürs erste. Zählen Sie nach und sagen Sie Bescheid, ob etwas fehlt. Und seien Sie so gut und tun Sie uns diesen Gefallen …« Ich betrachtete sie. Irgendetwas an dieser Geschichte verwirrte mich. Etwas Unausgesprochenes. Etwas, das so stark gewesen war, dass es den einen der Brüder Brendel Andersen zu einem lebenslangen Exil in Übersee und den anderen in ein lebenslanges geistiges Exil getrieben hatte. Und sie wirkte sehr sicher, dass Bjorn Anderson, trotz seiner finanziellen Probleme, sich die weite Reise übers Meer dennoch leisten würde … Ich zählte das Geld, nickte und schrieb ihr eine Quittung. Als sie gegangen war, schrieb ich einen Brief an Mr Bjorn Anderson, Indianapolis, Indiana.
7 Ich kam durch den Keller ins Haus, wie wir es besprochen hatten, und wartete unten an der Treppe, bis ich hörte, dass es oben an der Tür klingelte. Dann bewegte ich mich leise die Treppenstufen hinauf, öffnete die Tür zu dem Hinterzimmer und konnte feststellen, dass die Scharniere frisch geölt waren. Ein enger Durchgang zwischen einer großen Kommode und einer 84
alten Anrichte führte hinter den schweren, purpurnen Vorhang. Dort blieb ich stehen. Die Stimmen waren noch weit weg, aber ich hatte trotzdem keine Probleme, Bjorn Andersons leicht nasales, breites Amerikanisch wieder zu erkennen. Fünf Wochen waren vergangen. Ostern war leise verblichen: Ein langes Wochenende mit menschenleeren Strassen, verlassenen Parkplätzen und hellem Regen auf frühlingsblassen Gesichtern. Mona Anderson hatte mich zweimal angerufen, um zu erfahren, ob ich etwas von Bjorn Anderson gehört hätte. In der Zwischenzeit hatte ich zwei kleinere Fälle für eine Versicherungsgesellschaft und einen größeren für einen Klienten bearbeitet, der die Konsequenzen aus seiner finanziellen Lage zog, als ich ihm die Rechnung präsentiert hatte. Er hängte sich auf. Dann war Bjorn Anderson plötzlich am Telefon, ein wenig brüsk zunächst, zunehmend aber freundlicher. Als ich fragte, worum es ginge, schwieg er wie ein Außenminister in einem Ostblockland. »It’s not your business!«, brummelte er. Schließlich einigten wir uns darauf, uns in seinem Hotel in einer Stunde zum Lunch zu treffen. In der Zwischenzeit hatte ich ein Eil-Telegramm an Mona Andersen aufgegeben und angekündigt, dass wir im Laufe des Tages bei ihnen auftauchen würden. Bjorn Anderson sah typisch amerikanisch aus. Er war kräftig gebaut, hatte einen Bauch wie eine Michelin-Figur und trug eine Anzugjacke wie ein Nachtclubkomiker. Die Gläser seiner eingefassten Brille waren grau getönt, passend zur Farbe seines kurz geschorenen Haars und der kräftigen, buschigen Augenbrauen. Wenn er lächelte, blitzte es golden. Wenn er wirklich in finanziellen Problemen steckte, hätte er ein paar seiner Plomben
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eintauschen und davon viele Jahre in Saus und Braus leben können. Ich hatte ihm ein paar Hintergrundinformationen über Simon Brendel und seine äußerst kurze Karriere gegeben. Das zu hören, erstaunte ihn. Sein Vater hatte nie Details über seine Familie in Norwegen erzählt und nur einmal angedeutet, dass er einen Bruder hatte, der Schauspieler geworden war. Und als sein Vater im Januar dieses Jahres starb, hatten sie in seinem Nachlass einen Zeitungsausschnitt von 1951 gefunden, den ihm irgendjemand geschickt haben musste. Der Ausschnitt enthielt eine kurze Notiz über einen Schauspieler namens Simon Brendel und einige Auszüge aus ein paar sehr lobenden Kritiken. Das war der Anlass, warum er sich an mich gewandt hatte. Viel mehr hatte unser Gespräch nicht ergeben. Nachdem er die Adresse von Mona und Simon Brendel Andersen bekommen und mir versichert hatte, dass er sie allein treffen wollte, verabschiedeten wir uns höflich voneinander. Er ging auf sein Zimmer, um sich eine Jacke zu holen, ich verließ das Hotel und nahm das nächste Taxi, um ihm zuvor zu kommen. Jetzt wurden die Stimmen lauter. Sie kamen vom Flur herein. Ich hörte, wie Bjorn Andersen seine ungeteilte Begeisterung angesichts des Stils und – wie er sich ausdrückte »der Eigenart« dieses Raumes zum Ausdruck brachte., Mona Anderson antwortete in stotterndem Schulmädchenenglisch. Sie klang nervös. »Dein Onkel kommt gleich«, sagte sie. »Er weiß, dass du da bist.« »Well – es eilt nicht. Nach so vielen Jahren. Lange Zeit wusste ich ja nicht einmal, dass ich einen Onkel und eine Tante in Norwegen habe. Erst als es mit ihm zuende ging, hat Dad mir davon erzählt. Und auch da nicht viel.« »Er hat also nicht von Norwegen gesprochen?« »Genau genommen überhaupt nicht, äh, Tante Mona. Es war ein Teil seines Lebens, unter den er einen langen, dicken Strich 86
gezogen hatte, wie er selbst es ausdrückte. Ich bin Amerikaner, sagte er. Von Kopf bis Fuß.« »Also hat er … es ist ihm gut gegangen dort drüben?« »Oh yeah. Er hat wirklich Karriere gemacht. Fing damit an, Papierservietten zu verkaufen und endete mit seinem eigenen Lunchrestaurant mit fünfzehn Angestellten. Hat es bis kurz vor seinem Tod geführt, jetzt im Januar. Es war ein Herzschlag.« »Also er … er hatte Erfolg. Ja, er war ein praktischer Mann, der Henrik.« »Kanntest du ihn auch – damals?« »Wir sind zusammen aufgewachsen. Er und ich und – Simon.« Plötzlich wurde es still im Raum. In meiner Nase juckte es. Die Luft hinter dem Vorhang war stickig und auf der Kommode und der Anrichte lag eine dicke Staubschicht. Dann hörte ich wieder Mona Andersens Stimme. »Und jetzt bist du nach Hause gekommen – um abzurechnen?« »Ja. Jetzt müssen die Schulden bezahlt werden.« »Und du bist sicher, dass du dir das leisten kannst?« Es entstand eine kurze Pause. Ich beugte mich vor. Bjorn Andersen stieß hervor: »Ob ich es mir leisten kann? Ob ich es mir leisten kann?« »Ja?«, sagte Mona Andersen spitz. Plötzlich ertönte ein lautes Geräusch aus dem Wohnzimmer, und erst als ich seine Stimme hörte, erkannte ich, dass es Simon Brendel war, der die Tür aufgestoßen hatte und seinen Auftritt wirkungsvoll inszenierte. »Vergebt mir meine Tugend, Fremder«, deklamierte Simon Brendel, aber die Art und Weise, wie er das Wort »Fremder« aussprach, hatte etwas Sarkastisches. »In diesen rohen und haltlosen Zeiten muss die Tugend – das Laster um Vergebung
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bittend, kriechend – die Gunst sie zu verbessern sich erstreiten …« »Onk-Onkel Simon?«, stammelte Bjorn Anderson. »Sprecht nicht zu mir mit babylon’scher Zunge, Fremder. The Queen’s English, wenn ich bitten darf!« »Was sagt er?«, fragte Bjorn Anderson verwirrt. »Setz dich hin, Simon!«, sagte Mona Andersen scharf. »Geh ins Kloster, Ophelia!« »Warum nennt er dich Ophelia?«, fragte Bjorn Anderson. »Ha, Schwachheit, dein Name ist Weib«, fuhr Simon Brendel fort. »Ich bin nicht die schwächere von uns beiden«, sagte Mona Andersen, und ihre Stimme hatte jetzt eine fast majestätische Ruhe. »Und das weißt du genau, Simon. Setz dich hin – und sei still. Das hier ist Henriks Sohn, Bjørn, und er ist den ganzen langen Weg von Amerika gekommen, um für sich – und seinen Vater – abzurechnen.« Ich hörte, wie Simon Brendel murmelnd zur Ruhe kam und danach das Geräusch von Stuhlbeinen, die über den Boden geschoben wurden. Bjorn Anderson fragte: »Was hast du zu ihm gesagt?« »Ich habe gesagt, dass du gekommen bist, um abzurechnen für dich und deinen Vater. Wir haben lange auf diese Abrechnung gewartet.« »Abrechnung – welche Abrechnung? Mein Vater hat mir erzählt, dass seine Mutter und ihr beide ihn um sein rechtmäßiges Erbe von meinem Großvater betrogen habt, und so wie ich es verstanden habe, war das nicht gerade wenig. In meiner momentanen Situation … äh, und als Erbe meines Vaters – bin ich hergekommen, um endlich abzurechnen. Ich komme als Freund, als Neffe, und ich denke, es wird das beste sein, es unter
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uns auszuhandeln, hier und jetzt. Wenn nicht, werde ich gezwungen sein, einen Anwalt hinzuzuziehen.« »Was genau hat dein Vater dir erzählt, Bjørn Andersen?« Sie sprach seinen Namen norwegisch aus. »Was ich eben erzählt habe. Dass …« »Und was war mit ihm selbst? Hat er darüber nichts gesagt? Hat er nicht gesagt, was er mitgenommen hat? Ist er etwa mit leeren Händen übers Meer gefahren?« »Darüber – hat er nichts gesagt.« »Und da drüben hat er einfach nur Stapel von Papierservietten verkauft und sich dann schnurstracks ein Lunchrestaurant mit fünfzehn Angestellten angeschafft? Einfach so, aus dem Nichts, oder wie?« »Er hat gespart, natürlich – er war ein Self-made-Man!« »Self-made-Man!« Andersen schnaubte verächtlich. »Den Schmuck seiner Mutter hat er wohl nicht erwähnt? Ihren gesamten Schmuck, den er mitgenommen hat, davon hat er kein Wort gesagt? Die Hälfte dieses Erbes, das ist es, was wir uns von der Abrechnung erwarten, Bjørn Andersen aus Amerika!« Es folgte eine angespannte Pause. »Sch-Schmuck, nein davo …«, sagte Bjorn Anderson. »Das Glück ist eine Hure«, sagte Simon Brendel. Mona Andersen atmete heftig. Meine Nase juckte jetzt immer mehr. Ich drückte einen Zeigefinger fest auf den Nasenflügel, in dem es am meisten juckte, und das Kribbeln ließ nach. »Wieviel – wieviel – was war dieser Schmuck wert?« »Den größten Teil von Konsul Andersens Vermögen, abgesehen von dem Haus hier, wenn man ihn verkauft hätte – unser Anteil ist dagegen verschwindend klein, Bjørn. Aber wie viel genau, das werden wir wohl nie erfahren. Denn dein Vater hat 89
den Schmuck offensichtlich mit ins Grab genommen – oder die Wahrheit darüber. Wenn ich es richtig verstehe, dann wird er ja immer noch in Form von Hamburgern und Hot Dogs umgesetzt!« »Das Lunchrestaurant ist verkauft. Es ist nicht mehr in meinen Händen.« Ich konnte mir denken, dass er auf seine leeren Hände herunter sah. Er war weit gereist, um nichts nach Hause zu bringen. Da nieste ich. Abrupt und ohne, dass ich irgendetwas dagegen tun konnte, stieg das Kribbeln wie eine Welle in meine Nase. Ich presste die Hand vor den Mund und erreichte damit nur, dass das Geräusch noch verstärkt wurde. Auf der anderen Seite des Vorhangs begann ein geschäftiges Treiben. Stühle wurden umgeworfen, Metall klirrte, Rufe ertönten. Und durch die Unruhe ertönte schneidend Simon Brendels Stimme: »Eine Ratte! Eine Ratte!« Dann teilte die Spitze des Degens den roten Samtvorhang und streifte mich oben an der Schulter. Ich wand mich zur Seite und warf mich gegen den dicken Samtstoff. Irgendetwas oben an der Aufhängung gab nach, und wie ein purpurrotes Gespenst, wie eine überdimensionale Version von Hamlets Vater, fiel ich in den chaotischen Thronsaal. Ich griff nach der Hand, die den Degen geführt hatte und hängte mich mit meinem ganzen Gewicht auf den Arm, bis der Griff um das Schwer nachließ. Simon Brendel machte ein paar Versuche, mit den Füßen zu treten, aber seine Bewegungen waren kraftlos. Dann stand ich auf, das Schwert in der Hand, und zog den Vorhang von ihm weg. »Der Tod entlässt nicht mehr, wen er zu richten trachtet«, stöhnte Simon Brendel, zur Niederlage verurteilt, mit Tränen in den Augen. Seine Frau stand über ihn gebeugt. Ihr Gesicht war leichenblass und auch ihr liefen Tränen über die Wangen. 90
An Simon Brendels anderer Seite, einen umgefallenen Stuhl in der Hand, stand Bjorn Anderson. Seine Brille war ihm auf die Nase gerutscht und er atmete schwer. Er schien nicht im Geringsten überrascht, mich hinter dem Purpurvorhang hervorkommen zu sehen. Simon Brendel hatte ihn schon gegen Überraschungen immun gemacht. »Er – er war nicht immer so«, sagte Mona Andersen. Sie sah auf, an uns vorbei, in dem purpurroten Universum gefangen, das sie und Simon Brendel teilten. »Und ich war es, die gewählt hat. Es war nicht so, wie Henrik sagte, an dem alles entscheidenden Abend, als er ging. Dass Simon mich ihm hinterhältig gestohlen, seinen eigenen Bruder betrogen hatte. Henrik war Sicherheit, Nüchternheit, Langeweile. Simon war Bewegung, Flucht, Leben! Eine Wildente, die sich auf dem Grund festgebissen hatte. Ein angeschossener Vogel. Aber immer mit der Erinnerung an einen Höhenflug im Leib. Ich habe gewählt! Das Leben vor der Langeweile. Und Henrik ging, verbittert, mit dem größten Teil des Vermögens. Wir haben die Mutter überreden können, ihn nicht anzuzeigen. Wir hielten es für richtig so. Ich hielt es …« »Also war ein Liebesverrat die eigentliche Ursache für den Bruch«, sagte ich. »Und nicht Geld.« Mona Andersen hatte sich neben ihrem Mann hingekniet. Sie hielt seinen Kopf in ihrem Schoß, und ich erwartete im Stillen eine andere, berühmte Hamlet-Replik, aber sie blieb aus. Simons Gesicht war eingefallen und blass, und Mona hatte aufgeregte rote Flecken am Hals. Sie sah zu uns auf und sagte: »Ich war genau zwischen den beiden Brüdern, vom Alter her. Als ich jünger war, stand Henrik mir am nächsten, was die Reife anging. In den Kriegsjahren, während einer verdunkelten Jugend, haben wir drei zusammengehalten. Henrik und ich waren wohl in einer Weise ein Paar. Simon war nur immer dabei. Ein Junge. Bis er eines Tages plötzlich zu einem jungen 91
Kerl herangewachsen war, der Shakespeare zitierte und Sonette schrieb und mich mit einer Intensität umwarb, von der ich bei Henrik nicht einmal eine Andeutung erlebt hatte. Da merkte ich, dass er es war, den ich liebte – obwohl er nicht älter war als fünfzehn, sechzehn Jahre, und ich war drei Jahre älter. Henriks Ausfälle, als er erkannte, wie es um mich und Simon stand, müssen tiefe Spuren in seiner jungen Seele hinterlassen haben.« Sie sah auf seinen Kopf hinunter, strich sanft über sein Haar, als sei seine junge Seele noch immer da, dort drinnen, hinter der faltigen Oberfläche. »Ich war immer der Meinung, dass das den Ausschlag gegeben hat, fünf Jahre später, als der Zusammenbruch kam.« Plötzlich war ihre Stimme wieder temperamentvoll. »Aber ich habe es nie bereut!« An Bjorn Anderson gewandt sagte sie: »Nimm diese Gewissheit mit zurück nach Amerika. Ich habe es nie bereut, dass ich deinen wunderbaren Onkel und nicht deinen vernünftigen, knochentrockenen Vater gewählt habe.« »Vielleicht ist er später auch anders geworden«, sagte ich leise und gab Bjorn Anderson eine kurze Zusammenfassung auf Englisch. Er nickte und bestätigte, dass er verstanden habe. »Man gewinnt und man verliert im Leben«, sagte Mona Anderson leise. »Wir haben das Vermögen verloren, das Henrik mit nach Amerika genommen hat. Er verlor mich. Simon und ich haben – einander gewonnen.« »Warum wollten Sie mich hinter dem Vorhang dort haben?«, fragte ich. Sie ließ ihren Blick zu Bjorn Anderson wandern. »Ich wusste ja nicht, was er wollte. Vielleicht wollte er uns nur kennen lernen. Aber vielleicht ging es auch um das Erbe. Jedenfalls war es beruhigend, Sie dort zu wissen.« »Es hätte schlimm ausgehen können«, sagte ich.
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Sie lächelte leicht. »Polonius stirbt ja niemals wirklich. Auf der Bühne meine ich. Wenn Hamlet ihn durch den Vorhang erdolcht.« »Nein.« Ich sah Bjorn Anderson an. »Gibt es noch etwas, worüber Sie mit ihnen reden möchten?« Er schüttelte schwer den Kopf. An Mona Andersen gewandt sagte ich: »Brauchen Sie Hilfe – mit ihm?« »Nein, ich – wenn er nur ein wenig zur Ruhe kommt, dann … Lassen Sie uns einfach allein. So geht es uns am besten. Danke …« Dann begleitete ich Bjorn Anderson aus dem Haus. Wir gingen gemeinsam in Richtung Stadt. Aber keiner von uns hatte dem anderen noch etwas zu sagen. Der Rest war – Schweigen.
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»Gunnar Reiss-Andersen«, sagte er
1 Es war einer dieser grauen Tage, an denen der Regen wie ein Schleier zwischen der Stadt und den Menschen hing, und die Zeitungen nichts anderes zu kommentieren hatten als den Verkehr auf den Einfahrtsstraßen und im Radio stundenlang nur Volksmusik gespielt wurde. Ich saß mit einem abgekauten gelben Bleistift zwischen den Zähnen in meinem Büro und stellte mir vor, es wäre eine Zigarre. Es war lange her, dass ich es mir zuletzt hatte leisten können, Zigarren zu rauchen. Es war überhaupt lange her, dass ich es mir hatte leisten können zu rauchen. Ich öffnete eine Schublade und fischte meine Büroflasche heraus. Es war – früher einmal – eine halbe Flasche Aquavit. Jetzt war ganz unten links, wenn ich die Flasche ruhig gegen das Licht hielt, noch so etwas wie ein winziger Schluck übrig. Da klingelte das Telefon. Ich hob den Hörer ab und sagte: »Veum. Immer auf Abruf.« Die Stimme war weit, weit weg – so weit, dass der Anrufer wahrscheinlich in der Telefonzelle direkt unten am Strandkai stand. Es war eine raue, etwas schnarrende Stimme, und er klang atemlos. »Veum? Da ist jemand … ver-verfolgt mich. Er – kann ich raufkommen?« Ich sagte: »Wer sind Sie? Und wo sind Sie?« Ich hatte Recht. Er war tatsächlich in der Telefonzelle unten am Strandkai. Aber er sagte nicht, wie er hieß. »Wer verfolgt Sie?« 94
»Der Mann, der … ich weiß es nicht. Er hat rotes Haar und eine Brille, er erinnert mich an …« Er wurde von dem Piepton unterbrochen, der anzeigt, dass seine Sprechzeit beendet war. Als das Piepen verstummte, war die Leitung tot. Ich sagte: »Hallo? Hallo?« Keine Antwort. Ich ging zum Fenster und öffnete es. Wenn ich mich hinauslehnte, konnte ich die Telefonzelle ein Stück den Strandkai hinauf sehen. Sie schien leer zu sein, und der Kai war voller Menschen. Es war unmöglich ausfindig zu machen, wer da unten eine raue und schnarrende Stimme hatte und atemlos klang. Und ich konnte auch niemanden mit roten Haaren und Brille erkennen. Ich konnte nur eins tun: Abwarten und Tee trinken. Ich war unruhig und konnte nicht sitzen bleiben. Mehrmals sah ich im Wartezimmer nach. Aber es war wie immer: leer und verstaubt. Mehrere Jahre alte Zeitschriften lagen unter einem Tisch gestapelt. Seit Monaten hatte niemand mehr darin gelesen. Leute, die einen Privatdetektiv aufsuchen, haben selten Zeit, alte Zeitschriften zu lesen. Ich ging zurück zum Schreibtisch und öffnete die Schublade wieder, nahm die Flasche heraus und legte sie wieder hinein. Sie war definitiv leer. Dann hörte ich ein dumpfes Geräusch, als hätte jemand, der zu schüchtern war hereinzukommen, an die Wartezimmertür geklopft. Ich ging hinaus und öffnete selbst. Der Mann, der an die Tür gelehnt gestanden hatte, fiel in den Raum hinein, steif wie ein Stück Holz, und hatte beide Hände vor dem Bauch geballt, als müsse er ihn an seinem Platz halten. Zwischen seinen Fäusten sah ich den Schaft eines hübsch verzierten Messers, und wo er endete, breitete sich eine große, rote Rosette auf dem aus, was vor langer Zeit einmal ein relativ eleganter Mantel gewesen war. 95
Der Mann fiel mir direkt in die Arme und starrte mich mit großen, angstvollen Augen an, als sei ich Petrus, und ihm sei gerade eine seiner unverzeihlichen Jugendsünden eingefallen. »Gunnar Reiss-Andersen«, sagte er – und starb. Das war das erste Mal seit über einer Woche, dass jemand in meinen Armen starb, und ich war etwas verwirrt. Ich legte den Mann auf den Boden und schloss die Tür hinter ihm. Dann fiel mir ein, dass ich vielleicht nachsehen sollte, ob da draußen noch andere waren. Vielleicht standen die Leichen ja Schlange. Ich öffnete die Tür und sah hinaus. Der Korridor war leer. Der Zahnarztbohrer am unteren Ende dröhnte wie immer als grausige Warnung für alle, die vorbeikamen. Der Fahrstuhl stand still, aber das tat er schon seit vierzehn Tagen. Ich ging zur Treppe, blieb stehen und lauschte. Niemand kam oder ging. Es war still wie an einem Montagmorgen in der Kirche. Ich ging zurück und betrachtete die Leiche. Es war ein recht gut aussehender Mann. Ungefähr um die vierzig, mit dunklem, leicht zerzaustem Haar, im Nacken halblang. Sein voller Bart zeigte kleidsame Andeutungen von Grau. Sein Mund war voll und breit, und seine Zähne sahen relativ gut gepflegt aus. Er hatte nichts Außergewöhnliches an sich. Abgesehen davon, dass er tot war, natürlich … und dass ein Messer aus seinem Bauch ragte. Der Griff des Messers hatte die Form eines Zweiges mit Blättern daran. Es war golden, aber sicherlich nicht aus Gold. Das Muster zeigte graugrüne Spuren von Grünspan. Ich ging davon aus, dass der Mann einen Namen hatte. Ich setzte mich vorsichtig hin und schob eine Hand in die Innentasche seines Mantels. In der linken Innentasche steckte eine Brieftasche aus Kalbsleder. Ich zog sie vorsichtig heraus und öffnete sie. Er hatte tatsächlich einen Namen. Magne Aare stand auf einer Kreditkarte für einen Großhandel. 96
Also hatte Magne Aare mich angerufen, und jetzt war er tot. Er war verfolgt worden, und dann … Von jemandem mit roten Haaren und Brille, hatte er gesagt. Tja, darum würde die Polizei sich kümmern müssen. Ich durchforstete die Brieftasche weiter. Geld: einige hundert Kronen. Ganz hinten ein abgerissenes Stück von einer Zeitung, auf das jemand mit rotem Kugelschreiber eine Telefonnummer geschrieben hatte. Das verblasste, altmodische Foto einer dunkelhaarigen jungen Frau: Ein Bild, das er lange mit sich herumgetragen hatte. Eine alte Quittung von einem Reisebüro: Für die Buchung einer Gruppenreise. Für zwei. Das war alles. Ich notierte mir die Telefonnummer und betrachtete die dunkelhaarige junge Frau eingehend. Das Foto selbst war oval, und es musste alt sein. Die Frau auf dem Foto konnte also nicht mehr sehr jung sein. Dann legte ich alles fein säuberlich wieder an seinen Platz und steckte die Brieftasche wieder in die Manteltasche. Ich stand auf und betrachtete den Toten. Gunnar ReissAndersen, hatte er gesagt. Als wollte er sich vorstellen. Aber er hatte sich nicht vorgestellt, und er lag in den letzten Zügen. Also musste es mehr bedeuten – oder jedenfalls etwas anderes. Aber was? Ich zuckte mit den Schultern, ging zum Telefon und wählte eine Nummer. Sie waren beinahe schon da, bevor ich aufgelegt hatte. Es waren die beiden Clowns Ellingsen und Bøe. Während die Techniker und der Medizinmann sich einen ersten Überblick verschafften, setzten sie sich demonstrativ links und rechts vor meinem Schreibtisch hin und sahen mich an. »Erzähl uns die ganze Geschichte, Veum«, sagte Bøe.
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»Und vergiss das Vorwort nicht«, ergänzte Ellingsen. Er war der Witzigere von beiden und musste immer bei den Weihnachtsfeiern im Polizeiclub auftreten. Ich erzählte kurz, was geschehen war. Bøe betrachtete mich skeptisch. »Was hat er gesagt?« »Gunnar Reiss-Andersen«, wiederholte ich. »Das muss sein Name sein«, sagte Ellingsen. Ich zuckte mit den Schultern. Sie hatten seine Brieftasche noch nicht gefunden, aber es würde sicher nicht mehr lange dauern. Bøe sagte: »Irgendwie kommt mir der Name bekannt vor.« »Vielleicht steht er auf der Liste der zehn meistgesuchten Verbrecher des Landes«, schlug ich vor. »Nein, da stehst nur du drauf«, meinte Ellingsen, wieder sehr witzig. »Hat von euch keiner die Schule besucht, oder was?«, fragte ich. Sie sahen mich mit großen Augen an. »Es war einmal ein norwegischer Lyriker, der …«, begann ich, wurde aber unterbrochen. Ein Mann in einem blauen Arbeitskittel kam herein und warf die Brieftasche der Leiche auf meinen Schreibtisch. »Na, da schau her!«, lächelte Bøe. »Dann woll’n wir doch mal seh’n.« Er sah – und Ellingsen sah – und ich sah. »Magne Aare«, las Bøe auf der Kreditkarte. Er schaute mich an. »Hast du ein Telefonbuch?« Ich zog eine Schublade auf und gab es ihm. Er blätterte zu AA. »Aare, Magne und Sølvi«, las er. »Starefossveien. Tja …« Er durchsuchte weiter die Brieftasche, und ich sah, wie er das Stück Papier mit der Telefonnummer fand. Ich ließ den Blick durch den Raum wandern, vollkommen desinteressiert. Ich sah, 98
wie er die Telefonnummer auf dem Zettel mit der im Telefonbuch verglich und enttäuscht wurde. »Tja, also«, sagte er schließlich. »Und dieser Kerl hat dich angerufen und gesagt, er fühlte sich verfolgt – von einem rothaarigen Kerl mit Brille?« »Klingt wie eine schlechte Verkleidung«, sagte Ellingsen. »Oder wie eine schlechte Entschuldigung«, sagte ich. »Eine schlechte Entschuldigung wofür? Um dich zu besuchen – und dir zu zeigen, wie gut er sterben konnte?« Der Mann in dem Arbeitskittel erschien wieder in der Tür. »Hier ist nichts mehr zu holen. Sollen wir ihn mitnehmen?« Bøe nickte. »Auf den Tisch mit ihm.« Zu mir sagte er: »Du kommst mit auf die Wache, Veum.« »Warum das?« »Du bist der Hauptzeuge, oder nicht?« »Ich habe nicht mehr zu sagen, als ich schon gesagt habe.« »Kann sein. Aber du kannst hübsch da sitzen und uns zusehen und nicht in den Spuren herum trampeln.« »In welchen Spuren?« »In irgendwelchen, irgendwo.« »Darf ich zuerst meinen Anwalt anrufen?« Ellingsen sagte: »Du hast zu viele amerikanische Kriminalfilme gesehen.« Ich sah Bøe an. »Ein Anruf nur – allein. In was für Spuren kann ich dabei herumtrampeln?« Er sah sehr, sehr skeptisch drein. Dann nickte er. »Zwei Minuten, Veum, zwei sehr kurze Minuten.« Sie knallten die Tür hinter sich zu. Ich wartete fünf Sekunden. Dann wählte ich die Nummer, die auf dem abgerissenen Stück Zeitung stand. 99
Es klingelte. Dann ertönte eine Frauenstimme: »Ja – ha-hallo?« Ich sagte: »Guten Tag, mein Name ist Veum, und Sie kennen mich nicht. Aber Sie werden bald von mir hören. Kennen Sie einen Mann namens – Magne Aare?« »Ma-Ma …« Sie verstummte. »Ja?« Ich hörte deutlich wie sie atmete. »Wir haben nicht viel Zeit«, sagte ich. »Aber Sie können mit der Antwort natürlich warten, bis die Polizei kommt.« »Die Polizei? Aber ich – wer sind Sie? Was ist mit Magne?« »Mein Name ist wie gesagt Veum. Ich bin Privatdetektiv. Und was mit Magne ist … er liegt tot in meinem Büro und hatte Ihre Telefonnummer bei sich. Sind Sie verheiratet?« »Ja – ich … aber –« »Hat er rote Haare und trägt eine Brille?« »Wer? Olaf? Nein, warum – aber was …« »Ist er jetzt zu Hause?« »Nein, er – aber ich …« Die Tür ging auf und Ellingsen schaute misstrauisch herein, als hätte er erwartet, dass ich aus dem Fenster geklettert sei. »Komm zum Ende«, sagte er. »Okay, mein Schatz«, sprach ich in den Telefonhörer. »Dann hältst du mein Essen warm. Mach’s gut. Ich dich auch.« »Was um Himmels …«, begann sie, aber ich legte auf. »Wie süß«, sagte Ellingsen. »Mit wem hast du gesprochen? Mit deiner Tagesmutter?« »Herrgott, Junge, du weißt doch, wie es mit mir und Vibeke bestellt ist.« Er wurde rot. »Fängst du schon wieder damit …!« 100
Bøe sagte: »Los, kommt schon!« Wir kamen schon. Die Leiche war bereits abtransportiert. Alles, was sie hinterlassen hatte, war ein frischer, roter Fleck auf dem alten Linoleum – und den Namen Gunnar Reiss-Andersen. Das war nicht viel. Aber Leichen sind selten großzügig.
2 Es war Abend, als sie mich wieder laufen ließen. Die einzige klimatische Veränderung bestand darin, dass es am Tag grau von Regen gewesen war und jetzt war es schwarz. Ich ging nach Hause, öffnete eine Dose mit Bohnen in Tomatensoße, schlug vier Eier dazu und leerte einen Literkarton Milch, bevor ich noch einmal die Telefonnummer wählte, die ich in der Brieftasche der Leiche gefunden hatte. Diesmal war ein Mann am Apparat. »Hallo!«, ertönte es aggressiv. Ich sagte: »Ist Ihre Frau zu sprechen?« »Wer sind Sie? Sie ist nicht zu sprechen. Sie schläft schon. Ist das wieder die Polizei?« »Die Polizei?«, sagte ich. »Es ging um diese Police, die sie …« »Welche Police?«, bellte er. »Sie braucht keine Police. Andere brauchen sie schon eher! Es ist verdammt noch mal nicht leicht, mit ihr verheiratet zu sein. Man sollte eine Versicherung gegen leichtsinnige Frauen abschließen. Wer zum Teufel sind Sie eigentlich?« »Veum ist mein Name. Könnte ich nicht vielleicht doch ein paar Worte mit ihr wechseln?« »Nein, aber ich kann sie bitten, Sie morgen anzurufen. Haben Sie eine Telefonnummer?« 101
»Ja. Aber ich rufe selbst wieder an. Irgendwann. Es eilt nicht.« Ich legte auf. Er war ein entnervter Telefonwächter, das hörte ich an seiner Stimme. An ihm kam man nicht leicht vorbei. Dann klingelte das Telefon. Aus irgendeinem Grund erwartete ich, dieselbe Stimme wieder zu hören, aber ich irrte mich. Es war eine Frauenstimme, eine sehr schöne und melodische Frauenstimme, mit einem Klangboden aus Samt und auf gedämpft gestimmt. Eine Stimme, die gut in ein Beerdigungsinstitut gepasst hätte. »Veum? Hier ist Sølvi Aare. Magne Aares Ehefrau. Witwe, sollte ich jetzt wohl sagen. Die Polizei hat mir erzählt, dass Sie es waren, der … Ich würde so gern von Ihnen persönlich hören – wie Magne – wie er … Würde es Ihnen etwas ausmachen?« »Tja, ich – er hat mich gegen zwölf Uhr mittags angerufen, und …« »Entschuldigung, Veum. Ich weiß, es ist spät. Aber es kommt mir so unpersönlich vor, so am Telefon. Würden Sie sich eventuell die Zeit nehmen und zu mir nach Hause kommen?« »Sie wohnen im Starefossveien, oder? Das ist nicht so weit zu Fuß. Ich kann in zwanzig Minuten bis einer halben Stunde da sein.« »Ja, aber es regnet doch so schrecklich, Veum. Nehmen Sie ein Taxi.« Ich nahm ein Taxi. Sie wohnte in einem dieser Häuser, deren unterer Teil wie ein weiß gekalktes Grab aussieht, der obere Teil wie ein Bauernhaus. Die Türklingel spielte eine Melodie, die mich an Mozart erinnerte. Entweder hatte sie schon länger geplant, Witwe zu werden, oder sie hatte sich der Situation ausgesprochen schnell angepasst. Oder sie trug ganz einfach gern schwarz. 102
Sølvi Aare war von Kopf bis Fuß in Schwarz: Eng anliegender Pullover mit sorgenschwerem V-Ausschnitt, enge Hosen und leichte Schuhe. Sie trauerte nicht so sehr, dass sie vergaß, dabei gut auszusehen, und das tat sie tatsächlich. Sie war frisch, wenn auch diskret geschminkt: Leichtes Rouge auf den Wangen, mehr Rot auf den Lippen – kein Rot um die Augen. Sie hatte ein blasses, wehmütiges Gesicht, wie die Frauen, von denen man träumt, wenn man richtig blau ist und auf eine längst vergangene Jugend zurückblickt. Sie lächelte ein zaghaftes Lächeln und sagte mit einer Stimme, die wie vor die Säue geworfene Perlen klang. »Veum?« Ich nickte. »Das bin ich.« Sie trat zur Seite und ich trat ein. Sie führte mich zweieinhalb Stockwerke hinauf, in ein Wohnzimmer direkt unter dem Dach. Fünf Meter breite Fenster wurden ausgefüllt von einem vollständigen Panoramablick über Bergen, von Fana bis Karven. Davon abgesehen war es ein sehr geschmackvolles Ambiente für eine Witwe. Die Wände waren mit graugebeiztem Holz verkleidet. An einer Wand verband ein Kamin das Wohnzimmer mit dem Weltraum, und die Wand um den Kamin herum war ebenso weiß gekalkt wie die Grundmauern. Die Möbel – bequeme Ledersessel um einen flachen Tisch – waren schwarz, der flauschige Teppich grau mit einem schwarzen Muster. Mitten auf dem Tisch stand eine hohe, schlanke, weiße Vase mit einer einzelnen blutroten Rose. Diese Blumendekoration war fast erschütternd eindrucksvoll – wie ein Blutstropfen auf einer Frauenbrust. Aus Lautsprechern irgendwo an der Decke ertönte das diskrete Flüstern von Violinen. Sølvi Aare gab mir mit einer schlanken, weißen Hand ein Zeichen, dass ich mich in einen der schwarzen Sessel fallen lassen könnte. Ich fiel. 103
Sie setzte sich auf den Sessel neben meinem, legte eine Hand auf meine Armlehne, beugte sich sanft zu mir herüber und sagte: »Erzählen Sie mir alles, Veum.« Mir gefiel die Art, wie sie Veum sagte, als seien wir sehr alte und sehr gute Freunde. Ich erzählte ihr alles. Das heißt: Ich erzählte ihr vieles. Ich erzählte ihr von dem Anruf ihres Mannes und davon, wie er mit einem Messer im Bauch und einem Lyriker auf der Zunge in mein Wartezimmer gestolpert war. Was ich ihr nicht erzählte, war, dass er die Telefonnummer einer anderen Frau bei sich getragen hatte, aber das war auch nicht notwendig. Als ich fertig war, sagte sie: »Hatte es etwas mit – der anderen Frau zu tun?« »Welcher Frau?« Sie bot mir eine Zigarette an. Ich lehnte ab. »Solche Gewohnheiten kann ich mir nicht leisten«, sagte ich. »Magne und ich«, sagte sie, »wir hatten eine lockere Beziehung … gegenseitig. Wir haben uns kleine Seitensprünge gestattet, wenn es nur nicht zu viele wurden – oder zu heftige. In der letzten Zeit, fürchte ich – diese letzte, wie hieß sie doch noch – ich glaube, sie wurde zu viel für ihn. Er war wirklich abwesend, wenn Sie verstehen, was ich meine. Wirklich! Also habe ich …« Sie zuckte sichtbar mit den Schultern. »Er hatte ein merkwürdiges Verhältnis zu Frauen. Er bekam nie genug von ihnen. Von uns. Ich meine nicht, dass er hypersexuell war oder sowas. Lieber Himmel, ganz im Gegenteil!« Sie sah mich vielsagend an, und ich fragte mich langsam, ob das hier eine Art Einladung sein sollte. »Aber er brauchte immer neue, musste immer weiter – neue Frauen, neue Erlebnisse. Ich habe immer gesagt, es war wegen seiner Mutter.« »Seiner Mutter?« »Er hat sie nie – das heißt, er konnte sich nicht an seine Mutter erinnern. Sie hat ihn – und seinen Vater – verlassen, als er erst 104
ein paar Monate alt war. Und ich glaube, es klingt vielleicht wie Freud für Anfänger, aber ich glaube, sie hat in ihm eine so tiefe Sehnsucht hinterlassen, dass er niemals etwas fand, was sie erfüllen konnte. Und das trieb ihn immer weiter, immer auf der Jagd nach der einen Frau, die seine Sehnsucht stillen würde.« Sie hielt inne, blies den Rauch aus und verfolgte mit ihrem Blick, wie er zur Decke hinauf stieg. »Ich konnte es nicht, und auch keine andere, bis – vielleicht …« »Ja?« »Diese Frau! Ich erinnere mich nicht mehr an ihren Namen.« »Hat er Ihnen von ihr erzählt?« Sie sah mich triumphierend an. »Oh nein. Aber ich habe es herausgefunden. Ich habe es immer herausgefunden!« Dann wurde es still. Ganz still. Die Violinen waren verstummt, es war Winter und kein Vogel sang, alle Autos standen still. Ich stand auf. »Tja, dann werde ich wohl …« Sie stand auch auf. »Danke, dass Sie gekommen sind, Veum. Ich wollte so gern hören … Das war nett von Ihnen.« Sie reichte mir ihre Hand, und ich hielt sie ein paar Sekunden in meiner. Sie war eiskalt. Dann sagte ich: »Noch eines, übrigens. Ihr Mann – als er starb –, er hat einen Namen genannt …« Sie riss aufgeregt die Augen auf. »Ja?« Ich wartete einen Moment. »Gunnar Reiss-Andersen«, sagte ich. »Oohhh«, seufzte sie und das Licht in ihren Augen erlosch. »Ja. Was kann das bedeuten?«, fragte ich. »Gunnar Reiss-Andersen war sein Lieblingslyriker. Oder besser gesagt – Magne war kein literarisch gebildeter Mann –, er war der Autor des Gedichts, das er liebte.« »Und welches war das?« 105
»Es heißt ›An die Herzen‹.« »Aha? Haben Sie es hier?« Sie sah sich um. »Nein … das glaube ich nicht. Ich glaube, er hatte es nicht. Er konnte es auswendig. Früher, als wir beide noch jünger waren, hat er es oft für mich aufgesagt. Aber jetzt ist es lange her, dass ich es gehört habe …« Wir gingen die zwei Stockwerke wieder hinunter. An der Haustür fragte ich: »In seiner Brieftasche hatte er ein Foto von einer Frau, das … Es war alt und vergilbt …« Sie nickte. »Das war seine Mutter. Das einzige Bild, das er hatte.« »Verstehe. Tja, ich danke Ihnen.« Sie schenkte mir ein echtes Witwenlächeln: traurig und schön, als würde sie sich vom Leben selbst verabschieden. »Leben Sie wohl, Veum.« Die Art wie sie Veum sagte, gefiel mir noch immer. Ich ging zu Fuß nach Hause, und den ganzen Weg hing die Erinnerung an ihr Lächeln hinter meinen Augen. Als ich die Tür zu meiner Wohnung öffnete, hielt ich inne. Wenn man einige Jahre in einer Wohnung gewohnt hat, dann spürt man schon beim geringsten Anlass, dass etwas nicht stimmt. Eine Temperaturschwingung, die schwache Andeutung eines fremden Geruchs in der Luft, irgendetwas, undefinierbar … Ich öffnete die Tür ganz, drückte sie links an die Wand und trat vorsichtig ein. Dann blieb ich stehen und lauschte, auf alles gefasst. Ich konnte nichts hören – aber etwas stimmte nicht. Ich machte Licht. Nichts. Ich ging vorsichtig in die Küche. Leer. Das Wohnzimmer. Das Schlafzimmer. Leer. Es war kein Mensch in der Wohnung, außer mir selbst.
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Aber jemand war da gewesen, dessen war ich mir sicher. Ich öffnete die wenigen Schubladen, die ich hatte. Es kam selten vor, dass ich sie öffnete, und ich konnte mich nicht genau daran erinnern, wie die Dinge darin gelegen hatten. Aber auch jetzt hatte ich das unsichere Gefühl von etwas Fremdem. Jemand war da gewesen, hatte Dinge verschoben, nach etwas gesucht – diskret, sehr diskret, aber dennoch … Ich ging zurück zur Tür und öffnete sie. Die kleinen Kerben im Holz um das Schloss herum sprachen eine deutliche Sprache. Die Kerben im Schloss selbst ließen mich ganz sicher sein. Ich ging wieder ins Wohnzimmer zurück, holte die Feierabendflasche hervor, nahm einen ordentlichen Schluck und sah mich langsam um. Es war jemand da gewesen. Aber wer? Und warum? Zwei Fragen, auf die ich gern eine Antwort gewusst hätte.
3 Am nächsten Morgen ging ich in die Bibliothek und suchte in der Abteilung für Lyrik nach dem Buchstaben R. In einer Ausgabe mit gesammelten Gedichten fand ich, wonach ich gesucht hatte. Zuerst las ich das Gedicht einmal langsam durch, dann setzte ich mich an einen Tisch im Zeitschriftenlesesaal und schrieb es ab. Danach las ich es noch einmal, langsam, wie jemand, der gerade lesen lernt. Vergiss nie die eine der du nie begegnet – und die dich vielleicht nach dem Tode erst trifft. 107
Vergiss nie die eine die vielleicht gewartet ein ganzes Leben um dir zu begegnen. Vergiss nie die eine das Ziel deiner Sehnsucht vergiss nie die eine wegen einer anderen. Vergiss nie die eine denn sie allein ist was du liebst in der, die du liebst. War es das Gedicht, das Magne Aare sich als Grabinschrift gewählt hatte? Und wenn ja – warum? Ich ging ins Büro und starrte dort eine Weile aus dem Fenster. Magne Aare hatte mich angerufen und gesagt, er werde von einem Mann mit roten Haaren und Brille verfolgt. Irgendwo in meinem Kopf klingelte es. Genau. Ein kleiner Mann mit rotem Haar und Brille – ein ziemlich kleiner Mann. Und am Abend zuvor war jemand in meiner Wohnung gewesen, während ich bei Sølvi Aare war. Ein Zufall? Ich schlug das Osloer Telefonbuch auf und fand den Namen, nach dem ich suchte. Martinsen. Hugo Martinsen. Dann rief ich der Reihe nach die Hotels an. Das fünfte war das Richtige, und ich bekam Martinsen an den Apparat. Seine 108
Stimme war unwirsch, aber als er meinen Namen hörte, war er erst einmal eine Weile stumm. »Veum?«, sagte er schließlich. »Long time no see, wie sie in Frankreich sagen«, sagte ich. »Der Humor ist noch der Alte, wie ich höre«, entgegnete er. »In den Schubladen hat niemand herumgewühlt«, sagte ich. Dann schwiegen wir beide eine Weile. »Gibt es etwas, worüber wir reden sollten?«, fing er wieder an. »Das solltest du am besten wissen.« »Nein.« »Nein?« »Nein.« »Eine Tasse Kaffee mit einem alten Bekannten, vielleicht? Wegen der guten, alten Zeiten?« »Die waren weder besonders gut, noch sind sie besonders alt, und das weißt du sehr gut, Veum.« »Oh, mein Gedächtnis ist so schlecht. Das muss das Alter sein. Ich sag dir nur eins, Martinsen. Ich erwarte dich hier, in meinem Büro, um Punkt zwölf Uhr. Und ich kann dir nur empfehlen zu kommen. Du weißt selbst, warum. Es ist nur für einen von uns Platz in dieser Stadt.« Mit der Schlussreplik knallte ich den Hörer auf, dass der Staub aufflog. Ich war ziemlich zufrieden mit mir. Ziemlich. Das einzige, was ich mich jetzt fragte, war, wie lange es wohl dauern würde, bis Ellingsen und Bøe sich meldeten. Ich musste noch ein paar Anrufe erledigen. Das Telefon ist die Geliebte des faulen Mannes. Es macht sich schnell unentbehrlich. Ich wählte dieselbe Nummer wie am Tag zuvor – die Nummer, die Aare in seiner Brieftasche hatte. Diesmal war sie selbst
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am Telefon. Sie hatte eine erschrockene, kleine Stimme, wie ein Spatz Ende November. »Ha-hallo?« »Ja, hallo. Hier ist noch mal Veum. Wir haben gestern miteinander gesprochen.« »Ja, ich …« »Wie schnell können Sie in die Stadt kommen?« »Ich – in einer halben Stunde vielleicht, aber ich …« »Mein Büro ist am Strandkai. In dem Haus, wo auch das Café ist. Prachtvolle Aussicht auf den Marktplatz und ein Kaffee, der einem die Zähne putzt. Können Sie um elf Uhr dort sein?« »Wenn Sie absolut …« »Ja. Ich bestehe darauf.« »Aber ich weiß ja nicht einmal …« »Ich ja auch nicht. Wie sehen Sie aus?« »Ich? Ganz gewöhnlich. Ich bin hellblond, mittelgroß, ganz gewöhnlich …« Ich dachte nach. »Haben Sie ein grünes Halstuch?« »Grün? Nein, ich – ich habe ein blaues.« »Binden Sie es um. Ich bin der merkwürdige Mann, der hinten an einem Fenstertisch sitzt und Ihnen zuwinkt. Auf Wiedersehen.« »Auf Wieder … sehen.« Das Wort war in der Mitte zerteilt, als meinte sie es nicht wirklich. Und das konnte ich gut verstehen. Nachdem ich aufgelegt hatte, las ich das Gedicht noch einmal durch. Die letzten Worte waren »die du liebst«. Wen hatte Magne Aare geliebt? Die Frau, mit der ich gerade gesprochen hatte? Und war sie es, auf die er in dem Fall die Aufmerksamkeit lenken wollte? Oder … Ich rief beim Einwohnermeldeamt an. Es lohnt sich immer, dort einen Freund – oder eine Freundin – zu haben. Ich bat sie, ein paar Dinge für mich nachzusehen, notierte ihre Angaben und 110
bedankte mich für die Hilfe. Sie bat mich nicht, sie wieder anzurufen, aber sie bat mich auch nicht, es sein zu lassen. Ich nahm es als Ermunterung. Danach ging ich hinunter in das Café im ersten Stock, bestellte mir eine Tasse Kaffee und zwei aufgerollte Pfannkuchen und nahm an einem Fenstertisch Platz. Als ganz gewöhnlich hatte sie sich am Telefon bezeichnet. Die Frau, die ihren Blick zögernd von Fenstertisch zu Fenstertisch wandern ließ, sah alles andere als gewöhnlich aus. Hellblond hatte sie gesagt. Vielleicht lag es nur daran, dass gerade Winter war, dass ihr Haar viel dunkler zu sein schien, als sie sich auf mich zu bewegte. Ich hatte eine Hand in die Luft gestreckt, und da hing sie, als hätte sie sich von mir und der Schwerkraft losgerissen und wolle nie mehr wieder herunterkommen. Dann erhob ich mich. »Veum?« »Das bin ich«, sagte ich, und wir setzten uns. Ihre Augen waren blau – und sehr dunkel. Sie hatten dieselbe Farbe wie das Halstuch. Sie wirkte ziemlich nervös und zündete sich schnell eine Zigarette an. Ich war froh, dass sie mir keine anbot, denn einer Frau wie ihr gegenüber hätte ich schwer Nein sagen können. Sie sah mich nicht an. Ihr Blick wanderte von Tisch zu Tisch, als wollte sie sicher gehen, dass niemand Bekanntes in der Nähe war – oder weil sie sich ganz einfach nicht traute, mir in die Augen zu sehen. Ihre Augen waren ungewöhnlich dunkel, glänzend und schön. Sie hatte nichts puppenhaftes Hübsches an sich, aber sie strahlte diese geheimnisvolle innere Wärme aus, an die man sich so wunderbar anschmiegen kann – auch wenn es
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nur für ein paar Minuten ist, an einem zufälligen Cafétisch an einem Wintervormittag. »Was wollen Sie eigentlich wissen?«, fragte sie. Ihre Stimme war angespannt, aber ich spürte darin dieselbe Wärme wie in ihrem Gesicht und in ihren Augen. Es war eine Stimme, von der ich mir gut vorstellen konnte, wie sie mir nette Dinge ins Ohr flüsterte, bei einer passenderen Gelegenheit. »Wie heißen Sie eigentlich?« Jetzt sah sie mich an. »Spielt das eine Rolle?« Ich zuckte mit den Schultern. »Anna«, sagte sie. »Anna Dale.« »Waren Sie Magne Aares – Geliebte?« Ihr Blick begann wieder zu wandern. »Das kommt darauf an, wie Sie das Wort Geliebte definieren«, antwortete sie. »Und ich weiß wirklich nicht, was Sie das angeht.« »Es geht mich nur insofern etwas an, als Magne Aare gestern in meinen Armen gestorben ist. Ich mag es nicht, wenn Leute in meinen Armen sterben, und am wenigsten in meinem Büro, und ich könnte mir gut vorstellen, ein paar Worte mit demjenigen zu sprechen, der es getan hat.« »Was getan hat?« »Ihn ermordet.« »Ohh …« Ich sah wie ihre Lippen zu zittern begannen. Ihre Augen wurden noch dunkler – ein Blau wie jenes, das Kinder verwenden, wenn sie in der Schule vor Weihnachten den Himmel über Bethlehem malen. »Ich kann es nicht fassen. Dass er tot ist. Magne … Als die Polizei gestern Abend kam und es erzählte … Ich habe mich geweigert, es zu glauben. Und sie saßen stundenlang bei uns und stellten immer dieselben Fragen. Wo ich gewesen war, mit wem ich zusammen gewesen war, was für eine Beziehung Magne und ich gehabt hatten. Und Olaf –« 112
»Wo waren Sie denn?« »Als es passiert ist? Ich war zu Hause. Allein. Und Sie haben mich angerufen. Aber davon habe ich nichts gesagt. Ich gehe davon aus, dass mich das zur Hauptverdächtigen Nummer eins macht. Aber jedenfalls haben sie mich nicht eingesperrt. Noch nicht.« Jetzt war es an mir, mich im Lokal umzusehen. Wenn es stimmte, was sie sagte, dann war die Wahrscheinlicheit sehr groß, dass sie beschattet wurde – und wenn sie beschattet wurde … Hinten am anderen Ende des Raumes sah ich einen Rücken, der mir irgendwie bekannt vorkam. Ein breiter Rücken, und er gehörte einem der Jungs von der Kripo. Er saß da und tat, als würde er Zeitung lesen, den Kopf ein wenig schief haltend, gerade so weit, dass er Frau Dale und mich im Auge behielt. Ich seufzte. Wenn sie die Hauptverdächtige Nummer eins war, dann war ich der Hauptverdächtige Nummer zwei, wenn nicht sogar … Und er war immerhin in meinen Armen gestorben, in meinem Büro. Während sie zu Hause war. Sie sagte: »Magne und ich – wir waren nicht – es war nicht … Ich war nicht seine Geliebte auf die Weise, wie die meisten Menschen das verstehen würden. Wir …« Sie suchte nach Worten. »Wir haben nie – wir haben nie miteinander geschlafen. Er sagte, dass das – dass er mich nicht auf diese Weise liebte, dass es nicht notwendig war, zu …« Sie legte ihre Hände an die Wangen: »Er hat mich geliebt – nicht … Und jetzt ist er tot.« Ich nickte. »Und Sie – Sie haben gestern nicht mit ihm gesprochen?« Sie schüttelte stumm den Kopf. »Seine Frau – sind Sie ihr jemals begegnet?« 113
»Nein.« »Wusste Sie von Ihrer Beziehung?« »Jedenfalls hat sie nichts gesagt zu … Wir haben versucht, so diskret wie möglich zu sein.« »Was haben Sie denn eigentlich gemacht?« Sie zuckte mit den Schultern. »Wir sind spazieren gegangen, in Stadtteilen, wo wir kaum jemanden kannten. In Nordnes – in Sandviken. Im Fjell – auf dem Fløien, auf dem Løvstakken. Und wir haben geredet. Wir haben geredet und geredet. Wir haben uns einfach schrecklich gut verstanden! Und manchmal, da sind wir stehen geblieben, und dann, dann haben wir uns geküsst. Das war alles. Alles!« Das letzte Wort war voller unterdrückter Verzweiflung, als ginge ihr erst jetzt auf, wie endgültig es war, dass das, was sie und Magne bis jetzt gehabt hatten, wirklich alles wax, dass sie niemals mehr miteinander erleben würden. Sie hatte ihre Zigarette aufgeraucht. Meine Kaffeetasse war leer. Sie fragte: »Sonst noch etwas?« Ich sah von meiner Kaffeetasse zu ihr auf. Sie drückte ihre Zigarette in dem roten Metallaschenbecher aus, der auf der grauen Plastikplatte zwischen uns stand. Ich sagte: »Nein, ich glaube nicht. Es – tut mir wirklich sehr Leid.« Sie stand auf, schenkte mir den Scharten eines Lächelns, ging in Richtung Ausgang und verschwand. Ich tat so, als würde ich nicht bemerken, dass der Typ von der Kripo ebenfalls aufstand und ging, sondern blieb sitzen und folgte ihr in Gedanken. Ich dachte an meine eigene Frau, an damals, als ich noch eine hatte, und an den Sohn, den sie mir geschenkt hatte – und wieder genommen. Und ich dachte daran, wie unglaublich viele Frauen es auf der Welt gab, und fragte mich, warum wir sie verdammt noch mal nur immer so unglaublich lieben müssen.
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Dann stand ich auf und ging nach oben, um Hugo Martinsen zu treffen. Er saß schon in meinem Wartezimmer und wartete auf mich, mit dem Rücken zur Wand und einer Hand in der Jackentasche. Er sah ungefähr so aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte: Klein, etwas dicklich – und mit rotem Haar und Brille. Als ich hereinkam, stand er auf und zog die Hand aus der Tasche – allerdings nicht, um meine zu schütteln.
4 Ich sah auf den Revolver hinunter. »Trägst du deinen Phalluskomplex jetzt immer so mit dir herum?«, fragte ich. »Halt die Schnauze, Veum. Ich trau dir keine Sekunde. Ich traue niemandem.« »Dir selbst nicht … und so weiter«, sagte ich. Er war sehr blass, und er schwitzte. Die Augen hinter den Brillengläsern waren graugrün, und aus seinen Nasenlöchern stachen hellrote Schweinsborsten hervor. Aber sein Revolver sah ziemlich cool aus, hart und schwarz und nicht zu unterschätzen. Er wedelte mit ihm zur Tür meines Büros. »Da rein, Veum, und mach keine Dummheiten.« »Der gute, alte Martin«, sagte ich. »Immer einen originellen Spruch auf den Lippen.« Aber ich ging ihm voraus ins Büro und machte keine Dummheiten. Wir setzten uns und er hatte den Revolver ununterbrochen auf mich gerichtet, auf eine Stelle irgendwo zwischen meiner Brust und meinem Kopf, wo es sicher wehtun würde. Wenn ich denn überhaupt etwas spürte. 115
Ich sagte: »Was willst du eigentlich erreichen?« »Du warst es, der mich gebeten hat herzukommen, Veum. Und ich habe meine Lebensversicherung immer dabei.« »Aber musst du sie die ganze Zeit in der Hand halten?« »Wenn ich mit dir verhandle, ja.« »Wann haben wir angefangen zu verhandeln?« »Jetzt.« »Na gut. Und was hast du anzubieten?« Er schnappte nach Luft. »Wie in drei Teufels Namen hast du mich gefunden, Veum?« Ich lächelte herablassend. »Von den wenigen Schnüfflern, die wir in diesem Lande haben, bist du garantiert der elendigste. Dein Büro liegt in einem Hinterhof im miesesten Teil von Oslo, und da hättest du bleiben sollen. Du hättest nie mit dem Zug über die Berge kommen sollen.« »Ich bin geflogen.« »Egal. Du hast Magne Aare beschattet, und du hast es so schlecht gemacht, dass er dich entdeckt hat. Kein Wunder. Er hat dich am Telefon beschrieben. Ein Kerl mit roten Haaren und Brille, hat er gesagt.« »Und daraus hast du geschlossen …« »Nein. So viel hatte ich noch nicht mit dir zu tun. Aber dann – gestern Abend – bekam ich eine Einladung von Aares Witwe. Ich habe angenommen. Frau Aare war sehr gut informiert über die Aktionen ihres Mannes – außerehelich, sozusagen – so gut, dass sie Hilfe gehabt haben muss, von einem Fachmann. Hörst du? Ich nenne dich einen Fachmann, Martin, obwohl ich weiß, dass es eine Übertreibung ist. Und hier in der Stadt gibt es nicht viele Privatdetektive. Also war es nicht so unwahrscheinlich, dass sie sich einen von jenseits der Berge geholt hat. So weit, so gut. Erst als ich nach Hause kam und merkte, dass jemand in meinen Schubladen gewühlt hatte, war mir klar, dass Frau Aare 116
mit jemandem zusammen arbeiten musste – oder dass jemand für sie arbeitete. Das Naheliegendste war ein Schnüffler, und da kamst du mir in den Sinn gesegelt, mit gesprenkeltem Fallschirm und Schlips auf halb zwölf. Danach war es ganz einfach. Ein paar Telefonate mit ein paar Hotels.« Ich zuckte mit den Schultern. »Wonach hast du gesucht – in meiner Wohnung?« Er starrte mich stumm an, ebenso stumm wie der Revolver. »Du weißt, dass ich dich für dieses Versehen hinter Gitter bringen kann, Martin. Ich rate dir wirklich: Mach die Klappe auf!« Er murmelte: »Sie wollte wissen – ich hatte den Namen von dieser Frau noch nicht rausgefunden. Frau Aare wollte wissen, ob du ihn vielleicht hattest.« »Warum sollte ich?« Er zuckte mit den Schultern. »Nach sowas frag ich nicht. Ich tu, was man mir sagt.« »Und lässt dich gut dafür bezahlen.« »Aber ich habe Magne Aare nicht umgebracht, wenn es das ist, worauf du …« »Halt die Schnauze, Martin. Ich weiß, dass du Magne Aare nicht umgebracht hast, und ich will deinen Schwachsinn nicht hören. Du hast gar nicht das Format für sowas. Du kannst nur mit dem Ding da wedeln und eine große Klappe riskieren. Aber damit kommst du nicht weit, weder in dieser Stadt noch sonst wo. Am wenigsten in diesem Büro. Typen wie dich hab ich echt gefressen, leider schmeckt ihr nur so verdammt schlecht. Verpiss dich, Martin, und lass dich hier erst mal nicht wieder blicken. Wenn doch, dann wirst du es bedauern, in meine Schubladen geguckt zu haben!« Er war angeschlagen wie ein Langstreckenläufer mit Grippe, stopfte den Revolver in die Jackentasche und schlurfte mit
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eingezogenem Schwanz und einem Nacken so rot wie sein Haar hinaus. Ich atmete langsam durch die Zähne aus und spürte, wie sich meine Bauchmuskeln nach und nach entspannten. Mit einem frechen Mundwerk kann man die meisten Revolverhelden entwaffnen. Die meisten. Nicht alle. Ich holte die leere Flasche hervor und roch daran. Mich überkam eine Welle von Schüttelfrost, die sich erst nach ein paar Minuten legte. Ich durfte nicht vergessen, eine neue Flasche zu kaufen, sobald ich es mir leisten konnte. Fünf Minuten später schloss ich das Büro ab und begab mich zu der Adresse, die mir meine Freundin beim Einwohnermeldeamt genannt hatte.
5 Durch die hohen Fenster konnte ich auf den Nygårdspark sehen. Die Bäume standen steif und braun um den Teich, auf dem einmal Schwäne herumgeschwommen waren, vor langer, langer Zeit, in meiner Kindheit. Ich hatte selbst dort gestanden, als kleiner Junge, und die Schwäne gefüttert, war weggelaufen, wenn sie zu nahe kamen. Aber jetzt waren keine Schwäne mehr da, und ich war kein kleiner Junge mehr. Ich war ein erwachsener Mann mit einer erwachsenen Aufgabe. Die Frau in dem altmodischen Ohrensessel war fast nicht wieder zu erkennen, wenn man nur das Foto kannte. Ihr Haar war weiß, ihre Züge waren fast unkenntlich. Es war wie ein Porträt, das zu lange auf dem Dachboden gestanden hatte, verstaubt war und anfing, sich aufzulösen. Sie trug ein schwarzes Kleid, das eng an ihrem hohlbrüstigen, mageren Körper anlag. Um ihren Schoß und ihre Beine hatte sie
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eine braune Decke gelegt, und auf der Decke lagen ihre Hände, knochig und von Gicht gezeichnet. Ich hatte nicht erwartet, dass sie so reduziert sein würde. Aber ihre Stimme klang anders. Sie hatte noch immer einen Ton von Stärke und Härte, was mich verstehen ließ – oder zumindest ahnen – wie sie vierzig Jahre zuvor ihren Ehemann und ihren neu geborenen Sohn hatte verlassen können, um nie wieder zu ihnen zurückzukehren. Sie sagte: »Ja, ich hieß einmal Aare mit Nachnamen – und ich war einmal Magne Aares Mutter. Aber ich habe aufgehört, es zu sein vor – wie lange ist es jetzt – einpaarundvierzig Jahren. Ich bin Theodor begegnet, und meine ganze Welt stand auf dem Kopf. Ich konnte einfach nicht weiter mit William und ihm, dem Kleinen, zusammen leben. Ich zog zu Theodor, hierher, und seitdem wohne ich hier. Der Krieg, die Universität, die Festspiele – ich habe alles gesehen, von hier oben, junger Mann, ich habe das ganze Leben vorbeiziehen sehen. Und ich habe mein Leben gelebt, meins! Und Theodors. Und wir haben nur dieses eine Leben, mehr kriegen wir nicht. Es hat keinen Sinn, hierher zu kommen, vierzig Jahre später, es hat keinen Sinn, hier anzukommen und mich anzuflehen, wieder Mutter zu sein!« Ich sagte so sanft ich konnte: »Hat er das getan – Magne Aare?« Ihre schmalen Lippen verzogen sich, wie unter Schmerzen. »Ja! Er wollte mich wieder ans Licht zerren. Er wollte, dass wir – dass wir wieder Verbindung aufnehmen sollten, wie er es nannte. Wissen Sie, was er getan hat? Er hat geweint. Er saß da, genau in dem Sessel, in dem Sie jetzt sitzen, und hat geweint. Ein erwachsener Mann. Mutter, Mutter, Mutter, hat er gesagt, warum hast du das getan? Warum bist du nicht bei uns geblieben? Ich habe dich immer vermisst, mich immer nach dir gesehnt …«
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Mir klangen die Verse von Gunnar Reiss-Andersens Gedicht in den Ohren, die Verse, die mich auf die richtige Spur geführt hatten: »Vergiss nie die eine / die du nie kanntest.« Die Mutter, die ihn verlassen hatte, bevor er noch wahrnehmen konnte, dass sie da war – die aber nicht weiter weggegangen war, als dass nicht ein Anruf beim Einwohnermeldeamt genügt hätte, um sie zu finden. Ich sagte: »Aber warum kam er erst jetzt, nach all den Jahren? Sie waren ja hier – die ganze Zeit.« Sie knirschte mit den Zähnen, wenn sie noch welche hatte. »Er wollte mir die Frau vorstellen, die er liebte, hat er gesagt. Die einzige Frau, die er je geliebt hätte. Und die er erst jetzt gefunden hätte.« Ich nickte. Ich wusste, wen er gemeint hatte. Sie fuhr fort: »Ich weiß noch … Ich saß hier und sah ihn an. Meinen eigenen Sohn. Magne. Ein Mann mittleren Alters mit einem Gesicht, in dem das Leben seine Spuren hinterlassen hatte, mit grauen Haaren, Falten um den Mund. Es war, als ob das ganze Leben mich durch seine vorwurfsvollen, flehenden Augen anstarrte. Erst da begriff ich, wie alt ich wirklich bin … und was ich mit meinem Leben gemacht habe. Ich musste ihn wegwischen, sein Bild wegwischen!« Ihre Stimme war voller Leidenschaft und brodelnder Gefühle, und ihre Augen funkelten mich an. Es waren starke Augen, schwarz und brennend. Dann erlosch die Flamme plötzlich. »Nehmen Sie eine Apfelsine, junger Mann«, sagte sie und nickte zu einem Obstteller hin. Ich wollte ablehnen, aber mein Blick blieb an dem Teller und den drei Obstmessern hängen, die dort lagen. Dann nahm ich doch eine Apfelsine – und ein Messer. Ich schälte die Apfelsine langsam. Das Messer lag sehr gut in der Hand, und ich hatte schon einmal ein solches gesehen. Der Griff
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hatte die Form eines belaubten Zweiges, und das Muster zeigte Spuren von Grünspan. Ihre Stimme war matt. »Sehen Sie mich an, Herr Veum. Ich bin eine alte Frau. Ich bin von der Hüfte abwärts gelähmt und dazu die Gicht. Ich werde nicht mehr lange leben, aber ich werde allein leben – ganz allein! Ich bin mit allem fertig. Mit dem Leben. Mit William, der schon seit vielen Jahren in seinem Grab verfault. Mit Magne, der jetzt auch tot ist. Und mit Theodor, sogar mit Theodor …« Ihr Blick ging in die Ferne. »Versprechen Sie mir eines. Bitten Sie sie, dass sie ihm einen Platz in einem ordentlichen Altersheim beschaffen, irgendwo, wo man in Frieden sterben kann …« Aber ich konnte sie nicht in Frieden sterben lassen, noch nicht. Ich sagte: »Sie haben also Magne nicht selbst umgebracht. Dazu waren Sie nicht in der Lage.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Dazu war ich nicht in der Lage. Deshalb …« »Deshalb …?« »Ich habe Theodor geschickt. Mit einem von diesen Messern. Damit sollten sie Beweise genug haben.« »Und wo – wo ist Theodor jetzt?« Sie nickte zum anderen Ende der Wohnung hin. »Da draußen, in der Küche. Bitten Sie sie – bitten Sie sie, nett zu ihm zu sein. Er hat mich lange begleitet – viel zu lange …« Dann sagte sie nichts mehr. Diese Frau war stärker, als ich gedacht hatte. Zum zweiten Mal in ihrem Leben brach sie alle Brücken hinter sich ab, zum zweiten Mal verließ sie alles, was sie hatte. Aber dieses Mal ging sie nicht mit jemandem oder zu jemandem. Diesmal blieb nur sie selbst und ihr eigener gnadenloser Tod. Ich ging hinaus in die Küche. Ich hatte Theodor schon begrüßt. Er hatte mich hereingelassen. Ein kräftig gebauter Mann Ende 121
sechzig. Er saß am Küchentisch und las eine Tageszeitung. Sein Hemd war grauweiß, und er trug Hosenträger. Neben der Zeitung stand eine Kaffeetasse mit einem braunen Rand. Als ich hereinkam, sah er mit einem Blick zu mir auf, den ich nur einmal in meinem Leben zuvor gesehen hatte: Als Junge auf dem Lande, bei einem Schaf, das geschlachtet werden sollte und es wusste. Spät am Nachmittag saß ich wieder im Büro. Es ist schon merkwürdig. Wie ich mich auch drehe und wende, wohin ich auch gehe – ich kehre immer wieder an den Ausgangspunkt zurück: Zu einem leeren Büro und einer leeren Flasche. Das Telefon war stumm, und draußen vor den Fenstern kroch ein schmutzigroter Sonnenuntergang über die Stadt. Ein einsamer Fischkutter tuckerte auf den Fjord hinaus, und draußen auf Bryggen stand die Autoschlange in Richtung Åsane schon still. Nichts veränderte sich. Menschen werden geboren und Menschen sterben. Die einen kommen, die anderen gehen. Kein Tag ist wie der andere, und doch gleichen sie sich alle. Und im Radio spielen sie Volksmusik.
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Der Hexenring Da es auf einer Insel vor der norwegischen Westküste einen sehr berühmten Hexenring derselben Sorte gibt, wie er in dieser Geschichte beschrieben ist, soll an dieser Stelle unterstrichen werden, dass jede Ähnlichkeit mit realen Orten, Personen und Geschehnissen vollkommen zufällig und allein den launischen Hexereien des Schicksals zuzuschreiben ist …
1 Im Mai und Juni ist Hochsaison für Jugendliche, die von zu Hause weglaufen. Prüfungsdruck und zu frühe Sommerferien, laue Nächte und trockenes Wetter an der Westküste reichen als Grund oft aus. Nicht wenige von ihnen sind Mädchen. Eines dieser Mädchen war Sara. Sie kam von einer Insel weit draußen vor der Küste, hauptsächlich bevölkert von Schafen und Laienpredigern, und mit einer Volksbücherei. Und dann haben sie da draußen etwas, das vor ein paar Jahren zu einer großen Touristenattraktion wurde, weil ein paar Zeitungen es in der schlimmsten Saure-Gurken-Zeit als Sensation beschrieben: den berühmten Hexenring auf Utvær … Es war ein trockener, warmer Sonnentag im Juni. Die Sonne hing wie ein frisch gebackenes Brötchen über der Stadt, und die Luft war still und schwer vor Hitze. Ihr Vater rief mich an. Er stellte sich vor als Bertram Vik, Schulleiter. Ziemlich schnell stellte er klar, warum er diesen Schritt unternahm, sich an etwas (zwischen den Zeilen zu lesen) »so wenig Vertrauenerweckendes« wie einen Privatdetektiv zu wenden, statt an die Polizei. Weder seinen eigenen noch den Namen seiner Tochter wollte er wegen einer solchen Kleinigkeit 123
im Polizeiarchiv haben. Als Schulleiter kannte er die Jugend und ihre Pubertätskonflikte gut genug, um den Hintergrund für das Verschwinden seiner Tochter zu verstehen. Sie hatte sogar einen Brief hinterlassen. Aber da es gerade mitten in der hektischsten Prüfungszeit war, konnte er unmöglich selbst in die Stadt fahren und sie nach Hause holen, also, wenn ich … Wir einigten uns darauf, dass er mir ein Foto seiner Tochter Sara schicken sollte, aber er glaubte, dass ich es nicht brauchen würde. Er hatte einen starken Verdacht, wo sie sich aufhielt. »Und wo?«, fragte ich. »Sie hat eine Freundin in der Stadt. Bente. Ihre Familie hat hier draußen oft in den Sommerferien ein Häuschen gemietet, aber jetzt sind die Eltern geschieden und Bente wohnt bei der Mutter. Sie heißt Bye.« »Kennen Sie auch ihren Vornamen?« »Äh, Benedicte, soviel ich weiß.« »Aber warum haben Sie nicht einfach versucht, sie anzurufen?« »Sie haben kein Telefon, und ein Telegramm würde viel zu dramatisch aussehen.« »Und Sie kennen niemand anderen hier in der Stadt, der das für Sie tun könnte? Nicht dass ich etwas gegen einen Auftrag hätte, aber ich persönlich finde einen Privatdetektiv weitaus dramatischer als ein Telegramm.« Er seufzte herablassend. »Aber ich möchte doch, dass Sie sie nach Hause begleiten, verstehen Sie? Ganz nach Hause. Wenn Sie sie auf die Fähre setzen, kann sie am nächsten Anleger aussteigen, und dann sind wir auch nicht weiter. Ich will sie nach Hause haben, damit wir miteinander reden können, alle drei, und dann – dann wird alles wieder gut.« Meine Erfahrung bei ähnlichen Fällen sagte mir, dass er, was Letzteres anging, vielleicht ein wenig zu optimistisch war, aber 124
ich sagte nichts dazu. Stattdessen fragte ich: »Alle drei? Heißt das, sie ist ein Einzelkind?« »Ja, wir sind zu dritt, sie, meine Frau und ich. Und glauben Sie ja nicht, dass wir zu den Pietisten gehören, nur weil wir hier draußen wohnen. Ich selbst bin wie gesagt Schulleiter«, er betonte dieses Wort ständig auf merkwürdige Weise, »und meine Frau ist verantwortlich für unsere Volksbücherei hier draußen. Wir sind also beide aufgeklärte und liberale Menschen. Nur damit Sie es nicht missverstehen.« »Nein, schon klar. Aber haben Sie vielleicht die Adresse dieser Freundin?« »Ja, ich habe sie herausgefunden.« »Und die wäre?« Er gab sie mir. Es war eine Straße im Fyllingdal. Ich bedankte mich und buchte das Telefonat ab. Die Hochsaison im Mai und Juni führt auch zu steigenden Kursen auf dem Markt für Privatdetektive. Falls jemand Interesse haben sollte zu investieren.
2 Benedicte Bye wohnte in einer Terassenblockwohnung, und es stellte sich heraus, dass sie eine der leicht bekleidetsten Frauen des Monats war, jedenfalls von denen, die mir unter die Augen gekommen waren. Sie trug ein sehr kurzes, gelbes Strickkleid mit Knopfleiste. Nur zwei davon waren zugeknöpft. Durch das Kleid konnte ich eine orange kurze Hose und ein schwarzes Bikinioberteil schimmern sehen. Ihr Gesicht war braun gebrannt und hager. Ihre Haut hatte etwas Lederartiges. Ihre Augen waren braun, ihr Haar dunkel und kurz geschnitten, und sie hatte schmale, kompromisslose Lippen. Sie war ungefähr vierzig, 125
wohlproportioniert und kräftig, und sie sah nicht aus, als würde sie über Bagatellen diskutieren. Sie öffnete die Tür ungeniert und gastfreundlich, trotz ihrer luftigen Bekleidung, und die Art und Weise, wie sie ihren Blick schnell und abschätzend an mir herabgleiten ließ, gab mir das Gefühl, als sei ich eine unerwünschte Postsendung mit vollem Rücksenderecht. »Ja?«, sagte sie. Ich zog meine Hose in der Taille etwas hoch und sagte: »Mein Name ist Veum. Haben Sie zur Zeit Besuch von einem Mädchen aus Utvær, das Sara heißt?« Sie stemmte die Hände in die Hüften und sah mich herausfordernd an. »Und wenn?« Ich hob beschwichtigend die Hände. »Keine Sorge. Es ist nur so, dass ihre Eltern sich Sorgen um sie machen. Sie hat nicht gesagt, wohin sie gefahren ist, und sie haben mich gebeten, sie nach Hause zu begleiten.« »Ach ja?« Sie sah immer noch skeptisch drein. »Sind Sie von der Polizei – oder vom Jugendamt?« »Ich bin selbständig. Aber ich war früher beim Jugendamt«, fügte ich schnell hinzu. »Vor fast zehn Jahren. Bevor sie mich gefeuert haben.« »Selbstständig? Haben Sie einen Ausweis?« Ich gab ihr meinen Führerschein und sie betrachtete ihn. »Varg Veum«, las sie. »Aha. Sie fahren also Auto. Na und? Das tun viele. Sind Sie als Chauffeur engagiert worden, oder was? Es gibt nicht viel befahrbare Straßen nach Utvær.« »Ich würde sagen, als – Sozialbeauftragter. Wie sieht es aus – ist Sara da?« Sie sah mich noch einen Augenblick lang eingehend an. Dann zuckte sie mit den Schultern und trat zur Seite. »Nein. Kommen Sie rein und warten Sie hier. Sie ist mit meiner Tochter Bente
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unterwegs. Ich habe keine Ahnung, wann sie nach Hause kommen.« Sie warf einen Blick auf eine schmale Armbanduhr. Ich ging zaghaft in die Wohnung hinein, als befände ich mich auf unsicherem Boden. Wir kamen direkt in das Esszimmer, und sie zeigte an einem Raumteiler aus geflochtenem Schilf vorbei. Dort war ein Wohnraum mit tiefen, in moosgrünem Samt bezogenen Möbeln, einem braunen Teppich, hellbeigefarbener Stofftapete und abstrakten Bildern in starken Farben an den Wänden. An einer der kurzen Wände stand eine umfangreiche Musikanlage, und auch die Plattensammlung war nicht unbedeutend. Die Tür zur Terrasse stand offen. Benedicte Bye zeigte dort hinaus. »Möchten Sie Kaffee? Was dazu?« »Gerne Kaffee. Aber sonst nichts, danke, ich muss noch fahren.« »Setzen Sie sich einfach irgendwo.« Ich setzte mich in einen Korbstuhl. Die Terrasse war groß und breit. Sie ging in Richtung Løvstakken hinaus, hatte aber immer noch Sonne von Süden. Auf dem Boden, neben einem Liegestuhl, lag ein offenes Buch, eine Sonnenbrille und eine Tube Sonnencreme. Ich sah auf den Buchdeckel. Es war ein englisches Buch: »How to Save Your Own Life« von Erica Jong. Benedicte Bye kam mit einer Thermoskanne und zwei Tassen auf einem Tablett zurück. Sie stellte es auf den Terrassenboden und schenkte ein. Dann reichte sie mir eine Tasse, stellte die andere neben den Liegestuhl, zog das gelbe Strickkleid aus und legte sich in die Sonne. Ihr Körper war wie braun gebeizt. Sie hatte lange, sehnige und muskulöse Beine, ihr Bauch war straff wie ein Trampolin – und ich hätte nichts dagegen gehabt, einen Salto mortale auf ihr zu versuchen. Es schien kein einziges überflüssiges Gramm Fett an ihr zu sein, eher im Gegenteil. Ihre Brüste waren wie kleine Apfelhälften unter dem strammen Bikinioberteil und ihre Hüften waren schmal und jungenhaft. 127
»Machen Sie Bodybuilding?«, fragte ich etwas abrupter, als ich es eigentlich wollte. Sie sah zu mir. »Warum fragen Sie?« »Nur so. Sie sehen so aus.« »Ich halte meinen Körper in Form. In meinem Alter muss man das.« »Na ja, ich …« Sie unterbrach mich. »Und wenn, könnten Sie sich vorstellen, ein bisschen mitzumachen?« »Äh, wie? Beim Bodybuilden?« Ich konnte sie überhaupt nicht einschätzen. Plötzlich lachte sie, griff nach der Kaffeetasse und trank einen Schluck. Ich tat automatisch dasselbe. Wir tranken gleichzeitig und unsere Blicke begegneten sich. Ich bewegte unruhig ein Bein. Es war Juni, und die Sonne hing schwer über unseren Körpern: ihrer war fast nackt, während meiner hinter einer hellgrauen Hose und einem kurzärmeligen Sommerhemd versteckt war; meine leichte Jacke hatte ich über die Rückenlehne meines Stuhls geworfen. Ich sagte: »Sara … Hat sie nicht gesagt, dass sie weggelaufen ist?« Sie sah mich perplex an. »Nein, hat sie nicht. Sie hat gesagt, sie hätte ein paar Tage schulfrei und sie hätten ihr erlaubt, in die Stadt zu fahren. Sie und Bente sind unzertrennlich, wenn wir da draußen sind, aber letztes Jahr haben sie sich nur geschrieben. Wir fahren nicht mehr raus, seit …« Sie vollendete den Satz nicht. »Wie ist – haben Sie einen Eindruck, wie Saras Beziehung zu ihren Eltern ist?« »Nein. Normal, soweit ich es mitbekommen habe. Wir waren ja nicht gerade eng befreundet, aber ein oder zweimal im Laufe der Sommerferien haben wir uns gegenseitig zum Kaffee 128
besucht. Der Vater ist da draußen Schulleiter, eigentlich ein ziemlich eigenartiger Kerl. Und die Mutter ist eine von diesen überschwänglichen, üppigen Frauen, die in einem so kleinen Ort immer viel zu wenig um die Ohren haben. Sie leitet die Bücherei, die Theatergruppe im Jugendheim, arrangiert Bootsfahrten für alte Leute und – wie gesagt.« »Das klingt doch sehr positiv.« »Doch, wenn sie stark genug sind, das auszuhalten. Aber es gibt nichts Anstrengenderes, als mit solchen geschäftigen Energiebündeln zusammenzuleben. Ich könnte es nie.« »Was meinten Sie damit, ihr Vater sei eigenartig?« »Eigenartig … tja. Er sieht aus wie ein verschrumpeltes Stück Trockenobst. Und man erwartet eigentlich, dass er ein konservativer, nichtrauchender Antialkoholiker ist und für die Verbreitung der Dialekte kämpft. Aber – das ist er nicht.« »Nein? Wie ist er denn?« Sie schielte zu mir hoch. »Ziemlich überraschend, kann ich Ihnen sagen, wenn man mit ihm allein ist.« »Soll das heißen …« Ich ließ die Frage in der Luft hängen. »Dass wir – dass er …?« Wieder sah es so aus, als würde sie sich amüsieren, aber diesmal lachte sie innerlich. »Nein, wir sind nie richtig allein gewesen, um es mal so auszudrücken. Aber wir sind ein paar Mal zum Fischen rausgerudert, früh morgens. Jens, mein Mann, war ein Faulpelz, was das anging, aber Bertram Vik und ich, wir hatten ein paar stille, ungewöhnliche Gespräche da draußen auf dem Meer, während die Sonne aufging und die See so ruhig war wie – wie …« Plötzlich wurde sie nachdenklich, und wir saßen in der Sonne und tranken stumm unseren Kaffee. Von einem Spielplatz in der Nähe hörten wir Kinder schreien. Ich sah auf die Uhr. Es war schon Nachmittag.
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»Wenn Sie wirklich da rausfahren wollen«, sagte sie plötzlich, »dann sollte ich Sie vielleicht warnen. Man wird Ihnen da die merkwürdigsten Dinge erzählen. Es sind sehr eigenwillige Menschen, kann ich Ihnen sagen. Manchmal haben sie fast etwas – Heidnisches an sich. Eine Lebenslust, die man sonst nicht mit solchen Gegenden verbindet.« Ich antwortete nicht. Eine eigentümliche Ruhe hatte mich erfasst. Die lauwarme Kaffeetasse zwischen meinen Händen, der warme Sonnenschein, der Geruch nach Sonnencreme von der braungebeizten Frau neben mir – alles verband sich zu einem alltäglichen Bild von etwas, das ich sonst den größten Teil meines Lebens vermisst hatte. Als Benedicte Bye sich mit einer Hand durch ihr dunkles Haar fuhr, sah ich, dass nicht einmal die Unterseite ihrer Arme weiß war. »Ich denke, die Mädchen werden bald kommen«, sagte sie. »Sie wollten nur eine Runde durch das Tal laufen. Aber vielleicht haben sie ja Freier gefunden …« Sie lächelte ein straffes, schiefes Lächeln. »Fünfzehn – das ist ein wunderbares Alter. Noch frei und ohne Verantwortung wie ein kleines Kind. Ohne eine Ahnung von all dem, was noch auf sie zu kommt.« Ich nickte wortlos. Meine Kaffeetasse war leer, und die Sonne war eine blasse Luftblase, die sich auf den Horizont zu bewegte. Bald würde sie platzen. Es würde kühler werden auf der Terrasse, und Benedicte Bye würde sich wieder mehr anziehen.
3 Es war fast zehn Uhr, als die beiden Mädchen kamen. Benedicte Bye hatte längst eine Hose und eine Strickjacke übergezogen, und wir saßen im Wohnzimmer und tranken noch einen frisch gekochten Kaffee. Draußen vor der offenen Terrassentür war es dunkler geworden. 130
An dem schnellen Blick, den das kurzhaarige der beiden Mädchen von der Mutter zu mir und wieder zurück warf, erkannte ich, dass es Bente war. Ihr Haar war heller als das ihrer Mutter, aber sie hatte dieselbe modische Hautfarbe, wunderbar braun im Kontrast zu ihrer leichten, hellen Sommerkleidung. Das andere Mädchen stand etwas versteckt hinter seiner Freundin, wie ein bescheidener Schatten. Sein Haar war halb lang und dunkel, und sein Gesicht hatte unfertige, breite Züge, als hätte das Leben sich noch nicht richtig entschieden, wie das fertige Kunstwerk aussehen sollte. Würde man mit einem Finger an ihrer Wange entlang fahren, könnte man sicher merken, dass der Ton noch weich war. Sara war nicht ganz so modern gekleidet wie Bente, aber es trennte sie nur eine Modesaison. Im Laufe der nächsten paar Monate würde sie den Vorsprung eingeholt haben. Sie trug Jeans und einen locker fallenden, rosa Pullover, der weich ihre mädchenhaften Formen umspielte. Dazu rot-blaue Joggingschuhe. Benedicte Bye beobachtete die beiden Mädchen mit ironisch hochgezogenen Brauen und sagte: »Seid ihr nicht ein bisschen zu früh dran? Habt ihr die Freier schon alle verscheucht?« Sara lachte nervös und errötete. Bente grinste ihre Mutter frech an und sagte: »Die armen Kleinen mussten nach Haus und ins Bett.« Und im selben Atemzug: »Es ist Fußball im Fernsehen. Europacup.« »Ach so, na dann verstehe ich …« Benedicte Bye zeigte mit ihrer Kaffeetasse auf mich. »Das ist Veum. Varg Veum. Er ist im Auftrag deiner Eltern hier, Sara.« Sara trat unwillkürlich einen Schritt zurück, als wollte sie abhauen. Ihre Augen weiteten sich und wurden schwarz. »Ich fahre nicht wieder nach Hause!«, stieß sie hervor. »Hör zu, Sara …«, sagte Benedicte Bye.
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Bente nahm ihre Freundin in Schutz. »Niemand kann sie zwingen!« Ich sagte: »Nein, nein, es geht hier nicht darum, jemanden zu zwingen. Lass uns über die Sache reden. Hallo, Sara!« Ich stand auf und streckte ihr die Hand entgegen. Sie sah mich ängstlich an und zuerst sah es aus, als wolle sie nicht einschlagen. Aber dann siegte ihre gute Erziehung und sie trat vor, gab mir schnell die Hand, während sie einen kleinen Knicks machte, und sagte leise: »Hallo.« Ich fuhr fort: »Ich bin eine Art unabhängiger Berater in der Sache. Ich vertrete niemanden als mich selbst. Aber ich bin ausgebildeter Sozialarbeiter und habe fünf Jahre beim Jugendamt gearbeitet und deshalb schon viele solcher Situationen erlebt. Mein Name ist komisch, stimmt’s? Varg – Veum.« Keine von beiden lachte. Bente grinste verächtlich. »Dein Vater hat mich heute Vormittag angerufen, und sowohl er als auch deine Mutter machen sich große Sorgen und fragen sich, wo du bist.« »Pah! Ich hab ihnen doch einen Brief geschrieben. Den haben sie ja wohl gefunden, oder?« »Doch, dein Vater hat ihn erwähnt. Aber soweit ich verstanden habe, hast du nichts darüber geschrieben, wohin du wolltest.« »Damit sie sofort herkommen und mich holen, oder was? Ich habe ihnen ganz deutlich zu verstehen gegeben, dass ich weg bin, dass ich alles satt habe, was sie tun und dass sie nicht damit rechnen sollen, mich wieder zu sehen.« »Nie mehr?« »Nie mehr!« Das Blut klopfte in ihrer Halsschlagader und ließ ihre Wangen erröten. Ich betrachtete ihr Gesicht genauer. Sie war genau so unreif wie alle anderen Mädchen in dem Alter auch, aber auch genauso stur. 132
»Sollen wir nicht noch mal über die Sache reden?«, fragte ich. »Da gibt es nichts zu reden.« »Wir können alle gemeinsam darüber reden, Sara«, sagte Benedicte Bye von ihrem Sessel aus. »Warum musst du dich denn da jetzt einmischen, Mama?«, fragte Bente. »Weil ich mir auch große Sorgen machen würde, wenn du mir mit fünfzehn Jahren einen Brief hinterlassen würdest, in dem stünde, dass ich dich nie mehr wiedersehe … Verstehst du?« »Aber Mama, du –« »Sag nichts!«, rief Sara. »Nein – ich schwö …« Sie hob zwei Finger zum Schwur und verstummte. Sara sah mich an. »Ich kann nicht wieder nach Hause fahren!«, sagte sie leise und verzweifelt, und ich sah, dass sie Tränen in den Augen hatte. Ich warf einen Blick auf Benedicte Bye. »Aber du hast gehört, was Bentes Mutter gesagt hat. Alle Eltern würden sich furchtbare Sorgen machen, wenn sie einen solchen Brief bekämen. Ich habe selbst einen kleinen Sohn, und ich weiß, was für ein Gefühl das wäre.« »Ja, aber ihr Erwachsenen seid alle auf einer Seite. Ihr haltet immer zusammen!« »Nicht immer, aber das Leben hat uns alle – dasselbe gelehrt. Wir waren auch mal fünfzehn und haben gegen unsere Eltern rebelliert.« »Und das habt ihr vergessen!« Ich sagte milde: »Du wirst es auch vergessen haben, wenn du in unser Alter kommst.«
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Sie sah mich mit einem Gesichtsausdruck an, der deutlich besagt, dass sie mir nicht glaubte, und dass ich bloß nicht meinen sollte, sie überzeugen zu können. Ich fuhr fort: »In vielen solcher Situationen hat es geholfen, dass ich mitgekommen bin und mit den Eltern geredet habe. Eltern sind alles andere als unfehlbar, aber das ist oft schwer zu begreifen – der Balken im eigenen Auge, du weißt …« »Und worüber würden Sie mit ihnen sprechen?« »Du hattest wohl deine Gründe wegzulaufen. Lass uns darüber reden …« »Das kann ich nicht!«, rief sie. »Sara!«, sagte Benedicte Bye eindringlich. »Wir wollen dir nur helfen …« Sie schaute mich resigniert an. »Du kannst nicht einfach – solange deine Eltern Nein sagen, kannst du nicht hier bei mir wohnen bleiben. Das darfst du nicht. Du darfst nicht vergessen, dass du noch lange nicht volljährig bist, du kannst nicht einfach tun, was du willst.« »Rede doch nicht so bescheuert daher, Mama«, sagte Bente. »Du hörst dich an wie unsere Lehrerin.« »Dann – aber dann …«, begann Sara, und dann kamen die Tränen und wurden zu einem Kloß in ihrem Hals. Ich ließ sie eine Weile weinen. Dann sagte ich leise: »Du bist fünfzehn Jahre alt, ohne Ausbildung. Du hast kein Geld, keine Wohnung … Eigentlich hast du gar keine Wahl, Sara. Lass uns versuchen, das Beste daraus zu machen.« »Na gut! Wenn ihr mich dazu zwingt …« »Wir können auf der Fähre morgen weiterreden, ja?« »Ich will mit niemandem reden! Mit niemandem, verstanden?« Ihr Gesicht war rot gefleckt, ihre Lippen zitterten, und aus ihren Augen strömten jetzt die Tränen.
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Benedicte Bye stand energisch auf. »Okay. Dann ist es abgemacht. Mädchen – in die Küche mit euch und macht euch was zu essen, na los … Sie – Veum …« Als die Mädchen draußen waren, sagte ich leise: »Ich fürchte, ich muss darum bitten, heute Nacht hier bleiben zu dürfen. Ich kann nicht riskieren, sie unbeaufsichtigt zu lassen. Wenn sie von hier wegläuft, dann kann es sehr viel schwieriger sein, sie wieder zu finden.« Sie nickte langsam. Mit einem ironischen Unterton sagte sie: »Ich fürchte, ich kann Ihnen kein Bett anbieten, aber wenn Sie sich mit dem Sofa zufrieden geben, dann …« Ich senkte den Blick, eher, als ich wollte. »Ja, das passt gut. Kein Problem.« Während die Mädchen aßen, holte Benedictine Bye ein Kopfkissen und eine Decke, und richtete mir das Sofa her. Als die beiden Mädchen ins Bett gegangen waren, blieb sie noch eine Weile sitzen. Ich stellte sicher, dass ich die Wohnungstür genau im Auge hatte, die außerdem mit einer Sicherheitskette versehen war. Das Schlafzimmer der Mädchen lag auf der linken Seite des Flurs, Benedicte Byes rechts. Benedicte Bye stand auf und streckte ihren gutgebauten Körper, sagte artig gute Nacht, machte sich im Bad fertig und ging in ihr Zimmer. Ich lag in Hemd und Hose auf dem Sofa, die Arme unter dem Kopf verschränkt, während das Haus langsam zur Ruhe kam. In einem solchen Haus gibt es viele Geräusche. Aus dem Zimmer der Mädchen hörte ich leise Stimmen, unterbrochen von vereinzeltem Kichern und einem Lachanfall. Die Sorge über die plötzliche Heimreise war offensichtlich doch nicht so groß. In einem anderen Raum knarrte ein Bett. Etwas später hörte ich nackte Füße durch den Flur gehen. Ich schaute auf, wachte über die Wohnungstür. Aber eine andere 135
Tür wurde geöffnet. Kurz darauf wurde gezogen, die Schritte ertönten wieder, eine andere Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen. Es rauschte in den Rohren. Dann erstarb auch das Rauschen. Kurz bevor ich einschlief, dachte ich bei mir, dass die meisten Liebesnächte tatsächlich überhaupt nicht stattfinden.
4 Der blauweiße Katamaran lag breit und schwerfällig an der Kaimauer und erinnerte an ein vergessenes Badetier. Ich folgte Sara die Laufbrücke hinauf, bildete die Nachhut auf dem Weg in den Salon, ließ sie am Ende einer Sitzreihe am Fenster Platz nehmen und setzte mich selbst davor. Sie hatte kein Wort gesagt, seit wir die Wohnung im Fyllingsdal verlassen hatten. Wir nahmen die erste Fähre, und es waren nicht viele Passagiere an Bord. Keiner schien besondere Notiz von uns zu nehmen. Wir sahen wohl aus wie Vater und Tochter. Während wir darauf warteten, dass die Fähre losfuhr, blätterte ich in einer Zeitung, und sie starrte aus dem Fenster, stumm wie eine Sphinx. Dann knurrte es unten im Bauch des Badetieres. Mit einem Brüllen wurde es lebendig. Wie ein großes, mythologisches Wesen erhob es sich plötzlich aus dem Wasser, peitschte das Meerwasser hinter sich mit seinem Schwanz auf, und zog mit einer unsichtbaren Göttin im Gepäck auf den Fjord hinaus. Denn die Göttin hatte sich Jeans angezogen und saß unten im Salon und schmollte, während sie in die Stadt hinaus starrte, die schnell vorbeiglitt und verschwand. Nordnes verschwand hinter uns wie ein sinkendes Atlantis. Draußen zwischen Gravdal und Kvarven zeigte ein großer, granitweißer Krater in der Landschaft, wo das neue Meeresbiologische Institut liegen sollte. Hinter uns breitete sich Bergen aus und wurde langsam zu einem vergilbten Postkartenbild. Dann hatten wir Karven 136
umrundet und befanden uns inmitten der Inseln. Unter Brücken hindurch, durch enge Sunde, an Sommerhütten und alten Fähranlegern, verlassenen Fabrikgebäuden und frisch erbauten Bootshäusern hindurch tuckerten wir durch den Inselgarten vor der norwegischen Westküste auf das offene Meer zu, dorthin zurück, wo Sara herkam. Nur einmal bekam ich eine Antwort von ihr. Und zwar als ich mich, in gewisser Weise nur um meinen Monolog in Gang zu halten, zu ihr hinüberlehnte und sagte: »Findet Bente es nicht traurig, dass ihre Eltern geschieden sind?« Da wandte sie mir temperamentvoll ihr Gesicht zu und sagte: »Sie sind nicht geschieden! Wer hat das gesagt?« »Ich – äh …« Ihre plötzliche Reaktion verschlug mir vollkommen die Sprache. »Ihr Vater ist tot …«, sagte sie und wandte sich wieder der vorbeiziehenden Landschaft zu. »Tot?«, sagte ich. »Ich habe es so verstanden, dass …« Aber ich bekam keine weitere Antwort. Vor den quadratischen Fenstern schwammen Felsen und glattpolierte Inseln im Meer. Das Meer selbst zeigte sich von seiner besten Seite, juniglitzernd und leicht gewellt. Die Sonne tanzte auf den kleinen Wellen, und kleine Meeresvogelfamilien hingen wie chinesische Scherenschnitte im Sonnenschein. Weit, weit draußen lag ein Frachter in der Luft, in dem fast durchsichtigen leeren Raum zwischen Meer und Himmel. Wir gingen beim nächsten Anleger an Land, aber unsere Reise war noch nicht zuende. Um nach Utvær zu kommen, mussten wir auf eine Personenfähre warten, die uns über den letzten Sund brachte. Die Fähre wurde mit Hilfe von Drahtseilen und einer Seilwinde manövriert. Der Fährmann hieß Lars Øra und
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war ein pensionierter Fischer, wie er mir während der Überfahrt erzählte. Sein Gesicht war zerfurcht und wettergegerbt und er blinzelte zwischen zusammengekniffenen Lidern. Sein weißes Haar stand in einem leichten, vom Wind zerzausten Kranz um einen Kopf, und darüber saß eine schwarze Schirmmütze mit glänzender Krempe. Er trug eine grau-weiße Strickjacke, weite, braune Hosen und solide Joggingschuhe mit Resten von Fischblut an den Nähten. »Du hast also die Sara wieder nach Haus gebracht?«, stellte er bedächtig und mit einem Augenzwinkern fest. »Jaa«, sagte ich zögernd und wartete auf einen weiteren Kommentar. »Jajaja«, sagte Lars Øra, mit der Beredsamkeit, die in diesem Teil des Landes verbreitet ist. Ich blickte über den Sund. Utvær war höchstens ein paar hundert Quadratmeter groß. Die meisten Häuser lagen um den Anleger und den Kaufladen herum auf der Ostseite der Insel, vor dem Nordwestwind geschützt. Nach Norden hin erhoben sich steile Felsen ein paar hundert Meter in die Höhe. An der Südspitze duckte sich ein Wäldchen mit windgepeitschten Kiefern und beschützte das, was dort eventuell an Äckern lag. Ungefähr auf halbem Wege zwischen dem Kiefernwald und der Siedlung gab es ein paar verstreute Gebäude, zwei graue Scheunen und ein weiß gestrichenes, doppelstöckiges Wohnhaus. »Wie viele Menschen wohnen da draußen?«, fragte ich den Fährmann. »Och, so um die dreihundert wohl, mit Jung und Alt«, antwortete er. »Die Zahl ist jetzt wohl ziemlich stabil, seit ein paar Jahren.« Wir näherten uns dem Anleger. Es war kein großes Empfangskomitee, das uns am Kai erwartete, nur eine einzelne 138
Frauengestalt. »Da steht deine Mama«, sagte Lars Øra zu Sara, und ich sah, wie die Blicke der beiden Frauen zu einer Brücke wurden zwischen der kleinen auf der Fähre und der großen an Land. »Willst du sofort wieder zurück, Stadtjunge?«, fragte Lars Øra mich. Ich schüttelte den Kopf. »Ich bleibe vielleicht bis morgen«, sagte ich leise. »Ach?« Er warf mir einen verwunderten Blick zu. »Na denn, brauchst bloß die Glocke da drüben zu läuten, wenn du rüber willst. Aber denk dran, dir vorher die Zeiten der Fähre rauszusuchen, damit du da drüben nicht so lange warten musst.« Er zeigte auf eine alte Schiffsglocke, die am Kai an einem Pfahl hing. »Ich wohn da hinten.« Er zeigte auf ein rotes Haus ganz unten am Kai. »Ich hör schon, wenn du bimmelst.« »Warum fährt die Fähre hier nicht her?« »Zu seicht.« »Warum baut ihr dann nicht eine Brücke über den Sund?« »Zu teuer. Hat dir die Bootsfahrt nicht gefallen?« »Doch, aber ich kann mir vorstellen, dass es im Dezember, wenn es stürmt, nicht ganz so nett ist.« »Jou, deshalb haben wir jetzt auch ’ne eigene Grundschule. Danach müssen die Schüler dann da rüber.« Er zeigte auf die Nachbarinsel. »Da geht also auch Sara hin?« »Mmh.« Er nickte. Die Fähre legte an. Sara stand gerade und steif da und sah nicht aus, als wolle sie an Land springen. Über uns auf dem Kai wartete ihre Mutter, eine massive, füllige Frau, wie direkt aus dem Felsen gehauen. Aber als ich an Land ging und sie begrüßte, sah ich, dass ich mich geirrt hatte. Wenn Olga Vik aus etwas gehauen war, dann aus Vulkangestein, und es drohte ganz 139
offensichtlich ein Ausbruch. In ihren dunklen Augen knisterte es, und um ihre zusammengepressten Lippen zuckten die Muskeln direkt unter der Haut. »Sara«, sagte sie schließlich, mit einer dunklen, flehenden Stimme. Da stieg die Tochter aus dem Boot, fromm wie ein Lamm, und stumme Tränen liefen ihr über die Wangen.
5 Wir hatten uns am Küchentisch niedergelassen, der Kaffee in unseren Tassen war nur noch lauwarm, und das Gespräch war versiegt. Olga Vik saß wie auf Kohlen und horchte auf irgendetwas. Ich wusste wohl, worauf. Wir hatten Saras Schritte gehört, als sie die Treppe in den ersten Stock hinauf getrampelt war. Wir hatten gehört, wie sie die Tür hinter sich zutrat, und dann das Knarren des Bettes, als sie sich darauf geworfen hatte. Danach war es still gewesen. »Sie braucht ein bisschen Zeit«, hatte ich gesagt, und ihre Mutter hatte bitter genickt. Die Küche war groß und altmodisch, aber die Einrichtung war modern. Das alte Gebäude war rundherum renoviert worden, und wenn die Aussicht nicht gewesen wäre, hätte man meinen können, man befände sich im Fyllingsdal. Ich starrte an Olga Vik vorbei auf die felsige Landschaft und den grauen Sund zwischen Utvær und dem Rest der Welt. Ein Boot mit einem alten Mann an Bord dümpelte im Sonnenschimmer im Nordwesten. Ich konnte nicht sehen, ob er etwas gefangen hatte, aber er schuf jedenfalls eine Art Gleichgewicht in dem Bild. Unser Gespräch war nicht sonderlich fruchtbar gewesen. Die Frau mir gegenüber hatte etwas Verkrampftes und Verschlossenes an sich. Hinter den Augen funkelte eine ge140
dämpfte Wut, als würde sie nur darauf warten, dass ich das Haus verließ, so dass sie mit ihrer heimgekehrten Tochter endlich machen konnte, was sie wollte. Es war, als hätte jemand einen Faden gespannt zwischen der stummen Frau in der Küche und dem unruhigen Kind eine Etage über uns, als würde die stille Wut an jedem Ende des Fadens zerren, ohne auch nur einen Laut zu erzeugen. Olga Vik hob ihre Kaffeetasse und trank. Wohl vor allem, um die Stille zu brechen, sagte ich: »Ich könnte mir gut vorstellen, mir den berühmten Hexenring anzusehen, wenn ich schon einmal hier bin.« Die Kaffeetasse fiel ihr aus der Hand und flog in hohem Bogen durch die Luft. Sie griff danach, ich griff danach, aber sie traf die Tischkante und knallte dann mit einem Scheppern auf den Boden. Die Scherben verteilten sich in einem sternförmigen Muster auf dem Küchenfußboden. Ich wollte mich erheben, um zu helfen, aber sie bat mich schnell, sitzen zu bleiben, holte Handfeger und Schaufel und warf die Scherben schließlich in einen Abfalleimer unter der Spüle. Dann sagte sie: »Da unten kommt Bertram – mit Cecilie.« Ich folgte ihrem Blick aus dem Fenster. Ein Mann und eine Frau kamen den Weg zum Haus hinauf. Der Mann trug braune Cordhosen und eine geräumige, blaue Windjacke. Das dunkelblonde Haar der Frau flatterte im Wind, und sie hatte eine große Sonnenbrille mit dunkler Fassung aufgesetzt. Olga Vik setzte sich an den Tisch. »Ich würde mit den Leuten hier draußen nicht über den Hexenring reden, wenn ich Sie wäre, Veum. Wir haben mehr als genug Aufmerksamkeit erregt, als die Sache damals so groß durch die Zeitungen ging. Die Leute hier draußen mögen keine Zeitungsleute und keine neugierigen Fragen.«
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Ich lächelte liebenswürdig und sagte: »Das klingt ja fast wie eine Drohung.« »Nehmen Sie es als guten Rat«, sagte sie, und ihre Stimme war deutlich nachdrücklicher als vorher, als wir über andere Dinge geredet hatten. Wir hörten jemanden ins Haus kommen und gleich darauf wurde die Küchentür geöffnet. Bertram Vik kam herein, rieb sich die Hände und sagte: »Jetzt brauchen wir einen Kaffee!« Dann bemerkte er mich, und es blitzte in seinen Augen. »Ja, ich habe gehört, dass Sara mit der Fähre gekommen ist. Dann müssen Sie Veum sein.« »Ja, guten Tag«, erwiderte ich und stand auf. »Freut mich«, sagte er und wir gaben uns die Hand. Die Frau in der Türöffnung stand gewissermaßen am Rande des Bildes und betrachtete uns. Sie musste in den Dreißigern sein. Aus der Nähe betrachtet, gab die große Brille ihr etwas Eulenhaftes. Ihr Haar fiel glatt um ein rundliches Gesicht. Sie war durchaus attraktiv. Ihre Lippen waren voll, aber wenn sie lächelte entstand eine schiefe, sarkastische Falte über ihrem Mund, die mich ein wenig erschreckte. Sie hatte ihren Anorak aufgehängt und der braune, gerippte Pullover ließ ihren Körper noch etwas üppiger wirken, als er schon war. »Ja, das hier ist Cecilie Sand, meine Kollegin«, sagte Bertram Vik. »Als Schulleiter habe ich weniger Stunden zu geben, und die meisten gibt sie.« »Hallo«, sagte ich und gab auch Cecilie Sand die Hand. Ihre war kalt und feucht, aber ihre Augen waren groß und warm, vergrößert durch die starke Brille. »Ja, wie Sie schon gehört haben«, sagte ich zu Vik, »habe ich Sara in der Stadt gefunden. Ich habe sie auf Ihren Vorschlag hin nach Hause begleitet. Aber ich kann nicht behaupten, dass sie sonderlich gesprächig gewesen wäre.« 142
»Nein, sie kommt aus einer schweigsamen Familie, jedenfalls anfänglich.« Seine Frau goss heißen Kaffee in ihre Tassen und füllte auch meine wieder auf. Dann saßen wir zu viert am Tisch und ich hatte zwei Ansprechpartner mehr. Ich sagte: »Ich hatte den Eindruck, als hätte es sie sehr mitgenommen, dass Bentes Vater gestorben ist …« Ich beobachtete sie aufmerksam. Olga Vik starrte unbeweglich in ihre Kaffeetasse, als hätte sie Angst, sie würde hochspringen und noch einmal auf den Boden fallen. Bertram Vik stellte seine Tasse wieder auf die Untertasse, aber ohne zu verhindern, dass es klirrte. Cecilie Sand sagte: »Ohhh!«, und stellte ihre Tasse heftig auf den Tisch. Dann sah sich mich entschuldigend an. »So heiß – der Kaffee«, meinte sie und errötete. »Äh, als er starb – ja …«, sagte Bertram Vik in einem unbestimmbaren Tonfall. Ich ließ die Stimmung sich noch ein wenig verfestigen. Dann sagte ich leichthin: »Vielleicht irre ich mich, aber haben Sie am Telefon nicht erwähnt, Bentes Eltern seien geschieden?« Ich schaute Bertram Vik an. Sein Gesicht hatte etwas Trockenes und Verschrumpeltes, genau wie Benedicte Bye ihn beschrieben hatte. Für einen Mann in den Vierzigern hatte er ungewöhnlich viele Falten im Gesicht. Sein Kopf war überlang mit traurigen Querstreifen und erinnerte an die Steinfiguren auf den Osterinseln. Augenbrauen, Kopfhaar und die langen Borsten, die aus seinen Ohren hervorstachen, waren gelbblond, fast farblos, und seine Augen waren hellblau und milchig. Trotzdem hatte er etwas Angespanntes an sich, wie ein Tier, das auf der Hut war, genauso wie seine Frau. Bei Olga Vik war es etwas Vulkanisches und Üppiges, das sich dem Ausbruch näherte; ihr Mann wirkte eher isländisch und kom-
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pakt. Ich fragte mich, wie es ihnen wohl ging, wenn sie allein waren. »Habe ich – geschieden gesagt? Das müssen Sie missverstanden haben, Veum. Alle wissen ja, dass Jens Bye ertrunken ist.« »Aha«, sagte ich. »Und das ist hier draußen passiert – im Sommer …« »Letztes Jahr.« »Waren Sie damals auch hier draußen?«, fragte ich Cecilie Sand. »Ja. Ich wohne schon seit fast fünf Jahren hier«, antwortete sie. »Können Sie sich daran erinnern?« »Dass Bentes Vater ertrank?« Ich nickte. »Natürlich. Es war doch so tragisch.« »Wie ist es passiert?« Bertram Vik beugte sich vor, ließ seine Zunge an der Innenseite seiner Lippen entlang gleiten und sagte: »Alle haben es gewusst, dass Jens Bye – dass er sich gern einen genehmigt hat, sozusagen. Ich fürchte, es ist im Suff passiert. Nicht weit von ihrer Hütte entfernt.« »Und seine Frau?« »Was meinen Sie?« »Hat sie nicht auf ihn aufgepasst?« »Nein, sie und Bente waren zu Besuch bei Freunden auf Storøya … da drüben.« Er nickte zum Sund hin. »Er war an dem Abend allein in der Hütte, hatte getrunken und muss sich ans Ufer verirrt haben. Sie meinten, er hätte vielleicht vorgehabt, rauszufahren, weil sie ihn nicht weit von seinem Boot gefunden haben.« »Und das hat Sara sehr mitgenommen, wie ich höre?« 144
»Mmh, ja. Sie hat damals nicht viel gesagt, aber … Sie ist ja viel bei ihnen in der Hütte gewesen, wo sie doch ständig mit Bente zusammen war.« »Wo liegt diese Hütte?« »Oh, im Südwesten der Insel. Ziemlich abseits.« »Es gab also keine Zeugen?« »Wofür? Wenn ihn jemand gesehen hätte, dann wäre er ja wohl nicht ertrunken, oder?« »Und wer hat ihn gefunden?« »Jemand von der Insel kam am Vormittag vorbei. Frau Bye und Bente kamen erst mit der Mittagsfähre zurück, und da hatten sie schon nach ihnen geschickt. Die Polizei kam gleichzeitig an.« »Ich kann verstehen, dass das Eindruck auf Sara gemacht hat. Plötzliche Todesfälle haben oft solch eine Wirkung. Haben Sie mit ihr darüber geredet?« Plötzlich ergriff Olga Vik das Wort. »In dem Sommer haben wir ein Wikingerstück eingeübt, und da spielte Sara die Tochter von einem, der von den Leuten des Königs ermordet wurde. Wir haben damals ein bisschen darüber gesprochen – seine Nächsten zu verlieren. Sie hat es mit Überzeugung gespielt, das haben alle gesagt.« »Das sollte ihr darüber hinweg geholfen haben. Kann es einen Grund dafür geben, dass es sie doch tiefer getroffen hat?« Um den Tisch herum wurden die Köpfe geschüttelt. Bertram Vik sah auf die Uhr. »Tja, wir sollten wohl das Finanzielle regeln, Veum. Sie wollen sicher mit dem Boot um vier wieder zurück?« »Wäre es möglich, dass ich hier irgendwo übernachte? Ich würde eigentlich gern bis morgen bleiben.« »Bis morgen? Aber warum denn das?« 145
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich bin hier noch nie gewesen, und ich hätte Lust – mich umzusehen.« »Aber, jetzt, wo Sara wieder da ist, fürchte ich, können wir Ihnen kein Zimmer anbieten.« »Gibt es hier keine Pension?« »Nicht ein einziges Zimmer, das Sie mieten könnten.« Cecilie Sand mischte sich in das Gespräch ein. »Er kann gern mein Dachzimmer haben. Das ist kein Problem.« Bertram Vik blickte sie scharf an, dann sagte er zögernd: »Ich weiß nicht recht – die Leute …« »Ich habe ein kleines Häuschen hier auf dem Grundstück gemietet«, sagte Cecilie Sand zu mir. Und bestimmt fügte sie hinzu: »Es ist mir egal, was die Leute sagen! Wenn Veum Sara wieder zu uns zurück gebracht hat, dann werden wir ja wohl ein bisschen gastfreundlich sein können, oder?« »Äh, na ja – doch, das ist sicher in Ordnung«, sagte Bertram Vik. Dann richtete er sich gerade auf und lächelte stramm. »Aber dann kommen Sie bitte heute Abend zu uns zum Essen, Veum, gegen fünf. Und du natürlich auch, Cecilie.« »Danke schön«, sagte Cecilie Sand. »Dann werde ich es ihm wohl gleich mal zeigen. Haben Sie Gepäck dabei, Veum?« »Nur eine Tasche. Es wird kein langer Aufenthalt.« Sie lächelte stumm ihr schiefes Lächeln. Plötzlich erinnerte sie mich an jemanden. Sie hatte sich damals über den Kantinentisch gebeugt und über Hegel geredet.
6 Cecilie Sands Häuschen lag hinter dem Haupthaus, an einer Steinmauer, die die Grundstücksgrenze markierte. Hinter der Mauer gab es nur graue Felsen, Heidesträucher und wetterharte 146
Wacholderbüsche. Man konnte das Meer nicht sehen, aber man hörte es, wie ein schwaches Dröhnen weit entfernter Erdbeben. Das Haus hatte einen winzig kleinen Wohnraum, ein noch kleineres Schlafzimmer und eine recht geräumige Küche im Erdgeschoss. Vom Flur aus führte eine steile Treppe zum offenen Dachgeschoss. Cecilie Sand nickte dort hinauf. »Da oben steht ein fertig bezogenes Bett. Ich benutze es als Gästezimmer. Da können Sie schlafen.« Ich stellte meine Tasche ab und folgte ihr durch die Küche ins Wohnzimmer. Sie setzte sich in einen Sessel und legte die Arme auf die hohen Lehnen. »Hier wohne ich.« »Und das schon seit fünf Jahren?« »Ja.« »Und es gefällt Ihnen?« »Ja. Es ist in vieler Hinsicht ein gutes Leben, weit weg vom Krach und von der Hektik der Stadt. Davon habe ich in den Siebzigerjahren genug gehabt, als ich in Bergen studiert habe.« Ich nickte. »Aber ist es nicht auch einsam?« Sie lächelte schief. »Einsam? Doch – aber kann es in der Stadt nicht auch einsam sein?« Ich nickte wieder. Sie sah mich an und sagte: »Und Sie?« »Was meinen Sie – ob ich einsam bin?« »Tja … sind Sie zum Beispiel verheiratet?« Ich schüttelte den Kopf. »Nicht mehr.« »Ich war es nie. Jetzt ist es wohl eigentlich zu spät. Wenn ich hier draußen bleibe, ist die Auswahl jedenfalls nicht sehr groß.« »Vielleicht ein guter Grund, wieder in Richtung Stadt zu ziehen?« »Oder ein guter Grund, hier zu bleiben. Je nachdem, wie man es sieht, stimmt’s?« 147
Ich musste zugeben, da hatte sie Recht. Sie stand auf und ging zum Fenster. »Ich habe Schüler, mit denen ich gern arbeite, die nicht versuchen, mich zu ärgern und die meinen Unterricht mögen. Hier gibt es Eltern, die sich für das interessieren, was ich tue, ein aktives soziales Milieu. Das Wikingerstück, von dem Olga erzählt hat – ich habe bei der Eröffnung eine Trollfrau gespielt. Eigentlich vermisse ich hier wenig.« Sie drehte mir den Rücken zu, als sie das sagte und blickte über die karge Landschaft, auf einen kleinen Acker und einen einsamen Hof unten am Meeresufer. »Trollfrau?«, sagte ich. »Wie in ›Machbeth‹?« »Viel prosaischer, fürchte ich. Ich wurde auf dem Scheiterhaufen der Christianisierer von König Olav verbrannt. Dem Heiligen, wie sie ihn nennen, aus unbekannten Gründen.« »Ach übrigens … Ich habe den Eindruck, dass die Leute hier draußen nicht gern über den berühmten Hexenring reden?« Sie drehte sich so abrupt um, dass ihr Haar flog. Sie warf den Kopf in den Nacken und öffnete sinnlich den Mund. Ihre Brillengläser glitzerten, und ich sah, dass sie eine phantastische Trollfrau sein konnte, auch ohne Anleitung. »Ach ja? Wer sagt das?« »Olga.« »Ach, Olga.« Sie lachte ein rostiges Lachen, das nach Erde und spärlichem Gras klang. »Olga fand, dass diese ganzen Artikel über den Hexenring nicht seriös genug waren. Sie ist eigentlich eine phantastische Frau. Vierhundert Jahre zu spät geboren, mit einem Bein im Mittelalter und mit einem in unserem Jahrhundert. Mit Sinn für Traditionen, und eine wunderbare Regisseurin für das Wikingerstück, das können Sie mir glauben. – Haben Sie Lust hinzugehen?« Ich sah sie fragend an. »Zum Hexenring.« 148
»Ja, gern«, sagte ich schnell. »Dann machen wir das nach dem Essen.« Sie setzte sich wieder in den Sessel. »Erzählen Sie, wie Sie Sara gefunden haben.« Das Essen bei Familie Vik wurde wie ein Staffellauf auf starren Stelzen. Das Gespräch wackelte auf krummen Beinen um den Tisch, ging dann plötzlich in die Knie und blieb liegen. Sara war herunter gerufen worden, aber sie starrte nur auf die Tischplatte und stocherte in ihren Frikadellen herum. Bertram Vik schilderte detailliert die schulische Situation auf den Inseln, und seine Frau gab ein paar Anekdoten von ihrer Arbeit mit dem mittlerweile äußerst populären Wikingerstück zum Besten. Ich flocht eine Frage ein: »Wie heißt das Stück?« Olga Vik sah mich an, als hätte ich ihr eine unanständige Frage gestellt. »Die Hexen von Utvær«, sagte sie mürrisch. »Wer hat es geschrieben?« Sie starrte ihren Mann an, der sich bescheiden räusperte und sagte: »Ich fürchte, der Missetäter sitzt hier, allerdings hatte ich viel Unterstützung, von beiden anwesenden Frauen.« Olga und Cecilie erröteten kleidsam. »Und du hast eine Hauptrolle gespielt, Sara?« Sara zuckte mit den Schultern, als ginge sie das Ganze nichts an. »Ich bin hier ganz offensichtlich im kulturellen Kraftzentrum der Insel gelandet«, sagte ich. Sie schmunzelten ein wenig; dann verstummte das Gespräch wieder. Nach dem Essen verschwand Sara sofort auf ihr Zimmer. Wir anderen blieben sitzen und tranken Kaffee, bis Cecilie aufstand und sagte: »Dann bedanke ich mich herzlich für das Essen. Ich habe Veum versprochen, ihm die Insel zu zeigen, also wenn keiner von euch mitkommen will, dann …« 149
Nein, das Ehepaar Vik schien nur erleichtert zu sein, die Verantwortung für den anstrengenden Gast loszuwerden, und wir verabschiedeten uns schnell und wurden mit einem, was mich betraf halbherzigen, »Bis zum nächsten Mal«, entlassen. Wir gingen den Weg zum Meer hinunter, am Fähranleger vorbei und weiter nach Süden. Die Luft war jetzt ein wenig kühler, und dünne, graue Fuchsschwanzwolken hüpften still in Richtung Horizont. Das dunkle Meer kräuselte sich leicht, aber ohne bedrohlich zu wirken. Der Weg endete bei den verstreuten Gebäuden, die ich von See aus gesehen hatte, und wir folgten einem Pfad durch den Kiefernwald auf der Südseite der Insel. Als wir auf einen Kamm kamen, zeigte sich, dass die Insel nach Süden hin noch eine Biegung machte, als strecke sie eine sehnsüchtige Hand nach ihrer Nachbarin aus. Rechts von uns lag eine flache, braune Holzhütte mit verschlossenen Fensterläden. »Das ist die Hütte von Familie Bye«, sagte Cecilie Sand. »Und da unten … liegt der Hexenring.« Ich ließ meinen Blick noch einen Augenblick bei der dunklen Hütte verweilen. Sie hatte etwas Charmantes, wie eine Siedlerhütte, als könnten jederzeit die Fensterläden aufgestoßen und lange Gewehrläufe auf mich gerichtet werden. Dann wandte ich mich dem Hexenring zu. Das einzige, was ich aus der Entfernung erkennen konnte, war eine ebene Fläche mit einem Durchmesser von vielleicht zweihundert Metern. Sie lag in einer natürlichen Vertiefung, direkt vor den großen Felsen, die den Weg zum Meer versperrten. Dahinter ragten schwarze Klippen auf, wo die Gischt bei Sturm sicher meterhoch spritzte. Cecilie Sand stand dicht neben mir und wartete offensichtlich auf irgendeine Reaktion. Als sie nicht kam, meinte sie leichthin: »Na? Was fühlen Sie?«
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»Gar nichts, sozusagen. Aber so geht es einem ja auch, wenn man vor dem Eiffelturm steht. Nichts ist so, wie man es erwartet hatte.« »Nur das Meer.« »Ja?« »Nichts gibt mir ein größeres Gefühl von – ja, Ehrfurcht – als das Meer. Hier oben zu stehen – und ich komme oft allein hierher, abends –, das nimmt mir den Atem, lässt mich nach Luft schnappen. Die Herbstabende, wenn es richtig stürmisch wird … Ich kann mir nichts Größeres und Mächtigeres vorstellen als das Meer, Varg. Ja, ich kann dich doch –« »Du kannst mich so nennen, ja – Cecilie.« Wir lächelten einander kurz zu, dann gingen wir zum Hexenring hinunter. Der legendäre Hexenring auf Utvær besteht aus einer Vertiefung im Gras, die aussieht, als habe dort über längere Zeit etwas Schweres gestanden und wäre dann entfernt worden, oder als hätte das Gras genau in dem Kreis nicht so nahrhaften Boden gehabt wie rundherum. Wenn man genauer hinsieht, erkennt man, dass das Gras innerhalb des Kreises wieder genauso dicht wächst wie außerhalb. Und dann beginnt man, sich zu wundern. Wer zur einen Schule gehört, sieht in den Himmel, wer zur anderen Schule gehört, der fängt an, auf dem Boden herumzusuchen. Letztlich gab es zwei offizielle Erklärungen für den merkwürdigen Hexenring auf Utvær. Die eine Gruppe bestand aus UFOAnhängern, die hartnäckig daran festhielten, dass das einzige, was solch einen tiefen Abdruck hinterlassen haben konnte, ein fliegendes Fahrzeug von einem anderen Ort im Universum gewesen sein müsse. Andere unerklärliche Phänomene im gleichen Landesteil wie kreisrunde Scheiben am Horizont bei Sonnenaufgang, plötzliches Flimmern mitten in der Sommer151
nacht, und eine Reihe andere, mehr oder weniger unerklärliche Erscheinungen wurden als Beweise angeführt. Möglicherweise wurde die Argumentation dadurch etwas geschwächt, dass der Abdruck niemals verschwand, auch nicht nach vielen Wintern und Sommern. Die UFO-Logen beschlossen deshalb, dass Utvær ganz einfach der feste Landeplatz für diese fremden, fliegenden Fahrzeuge sein müsse, wegen seiner Abgelegenheit am nördlichen Rand der Hemisphäre. Trotz vieler Versuche, eventuelle Landungen zu beobachten, während die Hysterie um das Phänomen am größten war, wurde allerdings niemals eine konkrete Landung beobachtet, nicht einmal die einer Mücke oder eines Meeresvogels, und danach glätteten sich die Wogen. Und dann war da die andere Schule, die sich eine weitaus erdverbundenere und wissenschaftlich fundiertere Erklärung gebildet hatte. Der Name Hexenring bezeichnete demnach ganz einfach eine Art von Unkraut oder Pilzvegetation, die das Wachstum von Gras in diesem Bereich erschwerte. Und dieses Unkraut hatte eben die besondere Eigenschaft, dass es in solchen Kreisen wuchs wie draußen auf Utvær. Ähnliche Kreise waren auch an einigen anderen Orten an der Küste zu beobachten. Die meisten Menschen schienen diese Erklärung zu akzeptieren, und relativ wenige bemerkten eine Art Dementi, das ein paar Monate später folgte. Ein eifriger Botaniker hatte eine Reihe von Proben analysiert, die er dem Hexenring auf Utvær entnommen hatte, und war zu dem Schluss gekommen, dass es dort draußen auch nicht die Spur des benannten Unkrauts gab. Da war allerdings die Saure-Gurken-Zeit vorbei, der herbstliche Wahlkampf in vollem Gange und die Zeitungen hatten über anderes zu berichten, als über die vergessenen Hexenringe der Sommersaison. Eine Erklärung eher sarkastischer Art gab es auch noch. Manche behaupteten, Spaßvögel aus der Bevölkerung der Insel hätten ihre Freizeit ein paar Monate darauf verwendet, einen 152
Ring auszutreten, entweder nur zum Spaß oder vielleicht auch, um Touristen auf die Insel zu locken. Da es hier draußen nicht einmal eine Pension gab und die meisten nicht viel von dem ganzen Presseaufstand gehalten hatten, kam mir diese Erklärung auch nicht besonders plausibel vor. Außerdem waren die meisten Einwohner der Insel mit dem großen Wikingerstück beschäftigt gewesen, also … Kurz und gut, der tatsächliche Ursprung des Hexenrings war noch immer ein Mysterium. »Was glaubst du, wie der Hexenring entstanden ist?«, fragte ich Cecilie. Sie lachte wieder ihr heiseres Lachen. »Ich gehöre zu den Traditionalisten. Ich glaube, dass die Hexen Utvær als Ort heimlicher Rituale benutzt haben in alter Zeit. Vielleicht sind sie hier auf dem Weg zu ihrer Versammlung auf dem Lyderhorn gelandet, oder sie haben vor der großen Europakonferenz auf dem Blocksberg in der Johannisnacht hier Halt gemacht. Nach Jahrhunderten mit Hexensabbats ist es wohl kein Wunder, dass sie bleibende Spuren in der Landschaft hinterlassen haben, oder?« In ihren Augen funkelte es, aber ich unterließ es dennoch nicht zu bemerken, dass ich diese Erklärung für ebenso plausibel hielt wie alle anderen. Dann waren wir unten. Die Fläche lag vollkommen geschützt vor dem Wind und dem Meer. Nach Norden hin erhob sich der Haupthöhenzug der Insel. Nach Westen zu lagen die steilen Felsen, nach Osten der Hügelkamm, über den wir gekommen waren, und nach Süden ein Gürtel großer Felsen vor dem offenen Meer zwischen Utvær und der Nachbarinsel. Der große Ring zeichnete sich jetzt ganz deutlich ab, in dem klaren Licht der Abendsonne. Wie eine antike Arena lag er da, in Erwartung der Olympiade der Götter. Das Gras wuchs
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wirklich flacher, oder, wenn man so wollte, langsamer in diesem Ring als außerhalb und in seiner Mitte. »Jetzt wirst du etwas Merkwürdiges erleben«, sagte Cecilie und berührte leicht meinen Oberarm. »Komm!« Dann begann sie zu laufen. Sie sah sich zu mir um, um mich mitzuziehen, dann erhöhte sie langsam ihr Tempo. Ich setzte mich auch in Bewegung. »Folge dem Kreis!«, rief sie. Ich folgte dem Kreis. Eineinhalb Meter hinter ihr und etwas weiter außen folgte ich der natürlichen Loipe um den Platz herum in unbeschwertem Tempo. Wir liefen eine Runde, zwei, drei. Es war ein guter Boden zum Joggen, eben wie ein frisch präparierter Fußballplatz. »Spürst du es nicht?«, fragte Cecilie. »Spürst du nicht, dass dieser Kreis eine perfekte Form hat, dass er – dass er fast wie ein magischer Kreis ist?« Ich schüttelte den Kopf und sagte: »Ich bekomme das gleiche Gefühl, wenn ich in Skansenmyren laufe.« »Oh, hast du denn überhaupt keinen Sinn für Romantik? Hast du keine heimlichen Träume, Varg?« »Doch – ein paar«, antwortete ich. Dann wurde sie sachte langsamer, ohne abrupten Taktwechsel. Ich folgte ihrem Rhythmus, und als sie ganz stehen blieb, drehte sie sich schnell herum und wartete auf mich. Ich lief genau in ihre warmen, braunen Pulloverarme hinein, und wir küssten uns; ein schneller Trollkuss zweier atemloser Münder, zwei Herzen, die noch schnell schlugen vom Laufen, zwei blonde Strubbelköpfe wurden zu einem, in dem schweren Licht einer gelbweißen, untergehenden Junisonne, die bald vom Meer verschlungen sein würde. Als wir auf dem Rückweg an der Holzhütte der Familie Bye vorbeikamen, sagte ich: »Von hier aus haben sie das meiste 154
überblicken können, was da unten vor sich ging. – Jens Bye ist sogar daran gestorben.« »Ja? Vielleicht …«, Cecilie lachte ihr langsames, schnarrendes Lachen. Dann ergriff sie meine Hand und wir gingen in den Kiefernwald.
7 Nur die Dämmerung erleuchtete das Wohnzimmer. Wir saßen am Tisch und zwischen uns stand eine halb volle Flasche Eau de Vie und zwei Gläser. Aber wir hatten den Schnaps noch kaum angerührt. Sie hatte sich aus ihrem Pullover geschält und saß jetzt in einer blau karierten Hemdbluse da, deren oberste Knöpfe lässig aufgeknöpft waren. Ich sah in ihrer Schlüsselbeingrube den Puls klopfen, und ich konnte der runden Linie ihrer vollen Brüste folgen. Sie hatte einen Ellenbogen auf den Tisch gestützt und eine Hand in ihr Haar geschoben. Die andere spielte mit dem Glas, und die rotbraune Flüssigkeit schwappte sanft hin und her. »Es ist herrlich, an einem Ort zu wohnen, wo nicht den ganzen Tag das Telefon klingelt«, sagte sie. »Wo man aus dem Haus gehen kann, ohne zuerst nach links, dann nach rechts und dann wieder nach links sehen zu müssen. Die Abwesenheit moderner Technik ist eigentlich das Schönste an einem Ort wie diesem.« »Die Abwesenheit von elektrischem Herd, Kühlschrank, Gefriertruhe und Fernsehen?«, fragte ich mit einem schnellen Blick auf den Monitor in der Ecke. »Unfallhubschrauber, wenn du plötzlich krank wirst, Katamaran in die Stadt in einer halben Stunde, wenn du etwas brauchst …« »Ja, ja, ich verstehe deine Ironie, Varg, aber trotzdem. Du musst zugeben, dass es hier draußen still ist, oder?«
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Ich lauschte. Ja, es war still. Kein Vogel sang, kein Jet dröhnte. »Ich bin fast vierzig Jahre alt«, fuhr sie fort. »In der Mitte des Lebens, wenn ich Glück habe. Das einzige, was ich vermisse, ist …« Ihr Blick fand meinen über den Rand ihres Glases hinweg. Dann stand sie auf und blieb neben dem Tisch stehen, mit hängenden Armen, so als warte sie darauf, dass etwas mit ihr geschehen würde; egal was, Hauptsache etwas. Ich stand langsam auf und begann, mein Hemd aufzuknöpfen. Sie behielt die Brille auf, während sie sich auszog. So wirkte es, als hätte sie die Situation immer noch unter Kontrolle. Kleidungsstück für Kleidungsstück entblößte sie ihren rundlichen, fraulichen Körper: Die weichen Brüste mit den hellbraunen, ovalen Warzen, den runden Bauch mit einer kleinen, weichen Falte über dem Unterleib, das dunkle, lockige Dreieck darunter und die kräftigen Schenkel, die in schmalen, mädchenhaften Unterschenkeln endeten. Dann nahm sie die Brille ab, und plötzlich brauchte sie Schutz. Sie kam schnell zu mir herüber, legte die Arme um meinen Rücken und verbarg ihr Gesicht an meiner Brust. Sie küsste mich lange, bevor sie langsam vor mir auf die Knie sank. Dann sah sie kurz mit halb blinden Augen zu mir auf. »Bin ich dir zu heftig?« »Nein, nein«, antwortete ich und hob ihr Haar aus dem Nacken nach oben und ließ es gegen meinen Bauch fallen. »Es ist so lange her, dass je-jemand hier war«, murmelte sie. Ein süßer Vanilleduft stieg von ihrem Körper auf. Ihre Haut pochte elektrisiert unter meinen Händen. Das blonde Licht der Sommernacht hüllte uns in einen weichen Nebelglanz. Meine Knie wurden schwach, und ich kam zu ihr herunter, mein Mund fand ihren, dann ihren Hals, die harten Brustwarzen, den Nabel in einer Vertiefung in ihrem Bauch … Wir lagen wie Daunenfedern, weich ineinander verschlungen. Ihre Schamlippen öffneten 156
sich wie eine Seeanemone für meine Lippen und meine Zunge, wogend im Strom zwischen Ebbe und Flut. Mit offenen Mündern stillten wir den ersten, hektischen Hunger. Danach lag ich auf dem Rücken, während sie sich über mich breitete, wie eine Sommerhexe auf meiner Rute ritt, ihre Brüste vor mir auf und ab schaukeln ließ, während ihr Haar wie eine Mähne um ihr Gesicht flatterte. Dann war ich es, der ritt, und sie war mein weißes, galoppierendes Sommernachtspferd, eine tanzende Nymphe mit dem Duft frisch erblühter, stark duftender Mittsommerblumen. Respektlos dachte ich: Der alte Veum reitet wieder … »Oh, du!« Sie rieb harte Zähne an meinen Lippen, streckte eine hitzige Zunge hervor und leckte meine Oberlippe, die Nase, meine Ohren. »Du, du, du!« Und ich flüsterte ihren Namen in ihre wogende Mähne, hielt ihren tanzenden Körper fest, spürte ihre Schenkel wie weiche Brückenpfeiler an den Hüften und traf sie dort, zwischen Himmel und Meer, Nacht und Morgen, Erde und Lust … Und wir lagen ganz still und atmeten. Wir hörten das Blut durch die Sicherheitsluken in unseren Adern strömen, wie nach einem plötzlichen Untergang. Bis das Schiff zur Ruhe fiel und es ganz still wurde auf dem Grunde des Meeres. »Varg?« Ihre Stimme kam von weit, weit her. Aber man hört, ob jemand den eigenen Namen ausspricht, um einen zu wecken – oder um zu hören, ob man eingeschlafen ist. Im Halbschlaf spürte ich, wie ihr warmer Körper aus dem Bett rollte, und ich hörte, wie sie ihre nackten Füße vorsichtig auf den Boden setzte. Dann stand sie langsam auf, damit das Bett nicht quietschte. Ohne die Lider zu heben, konnte ich vor mir sehen, wie sie vornübergebeugt dastand und einen dünnen Slip über ihr 157
kräftiges Hinterteil zog, sich den BH zuhakte und den Pullover über den Kopf zog. Dann griff sie nach ihrer Hose und schlich sich aus dem Zimmer. Ich öffnete die Augen. Draußen herrschte blaue Dunkelheit, so dunkel, wie es im Juni überhaupt werden kann. Es musste zwischen ein und halb zwei Uhr sein. Ich stellte mich ans Fenster und sah hinaus. Sie hatte sich auf der Veranda Hose und Joggingschuhe angezogen und ging jetzt schnell und zielstrebig davon, ohne sich umzusehen. Ich sprang schnell in meine Hose, zog Strümpfe und Schuhe an und knöpfte auf dem Weg nach draußen mein Hemd zu. Ich ließ die Tür einen Spalt offen stehen, wie sie es auch getan hatte. Cecilie ging auf den kleinen Garten hinter dem Haus der Familie Vik. Ich hielt mich hinter den knorrigen Apfelbäumen und den niedrigen Johannisbeersträuchern und folgte ihr vorsichtig. Jetzt sah ich sie. Zwei schwarze Silhouetten gegen den dunkelblauen Nachthimmel. Ich hielt inne, kroch hinter den nächsten Busch und näherte mich noch einen oder zwei Meter. Sie standen dicht beieinander. In der Dunkelheit war es unmöglich, ihre Gesichtszüge deutlich zu erkennen. Ich war zu weit weg, um mehr als nur ein schwaches Murmeln vor dem Rauschen des Meeres hinter ihnen zu hören. Aber ich war nah genug dran, um zu sehen, dass die andere Gestalt Bertram Vik war. Ich warf einen kurzen Blick zum Haupthaus. Oben im ersten Stock nahm ich eine winzige Bewegung hinter einer weißen Gardine wahr. Es konnte natürlich der Wind gewesen sein. Oder jemand sah sich das ganze aus der Vogelperspektive an. Es vergingen zehn Minuten. Der Himmel wurde schon langsam wieder heller. Ich konnte sie jetzt deutlicher sehen. Sie hatten die Köpfe zusammengesteckt, aber alles, was sie taten, war reden. Dann legte sie eine Hand auf seinen Ellenbogen und 158
sah schnell zu ihrem Häuschen hinüber. Ich sah ihr Gesicht jetzt ganz deutlich, weich und offen im Licht des erwachenden Tages. Ich blickte wieder zum Haus hinauf. Die Gardine bewegte sich nicht mehr. Es schien, als wolle das Paar im Apfelgarten aufbrechen, und ich zog mich hastig wieder zum Häuschen zurück. Im Flur blieb ich stehen und hielt durch den Türspalt Ausschau. Wenn sie noch weitere nächtliche Verabredungen hatte, wollte ich gern sehen, wohin sie ging. Sie tauchte schneller wieder auf als ich erwartet hatte, weil sie zurück einen anderen Weg gegangen war. Ich hatte fast das Gefühl, dass wir uns direkt gegenüberstanden, aber sie schien mich nicht gesehen zu haben. Ich zog mich schnell ins Schlafzimmer zurück, sprang aus den Kleidern und kroch unter die Decke, in ungefähr die gleiche Stellung, in der sie mich verlassen hatte. Mit geschlossenen Augen wartete ich auf sie. Sie betrat leise das Zimmer. Das leichte Knistern von Kleidern, die ausgezogen werden, das etwas unregelmäßige Knarren des Bodens, wenn jemand Schwierigkeiten hat, das Gleichgewicht zu halten, wenn er sich den Slip von den Fesseln schüttelt. Dann war ihr Körper plötzlich wieder nah an meinem. Die etwas klamme Kühle ihrer Haut war das einzige, was verriet, dass sie draußen gewesen war, was aber schnell verflog. Wenn ich jetzt aufwachte, konnte sie einfach sagen, sie sei auf dem Klo gewesen. Sie hatte einen runden, weichen und freigiebigen Körper, mit freundlichen Rundungen unter meinen mageren Händen. Ihre Finger trippelten leichtfüßig über meine Brust und meinen Bauch, spielten in meinen Haaren und umfassten hungrig, was sie am meisten vermisst hatte.
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»Va-arg?« Ihre Stimme war jetzt fordender. Sie küsste mich auf den Hals und biss mir sanft ins Ohrläppchen. Ich tat noch immer, als würde ich schlafen, aber eines meiner lustigeren Körperteile hatte schon längst signalisiert, dass ich dabei war aufzuwachen. Als ich schließlich die Augen öffnete, war ihr Gesicht groß und nah, und ihre dunklen, warmen Augen verrieten nichts anderes als sie verraten sollten. Bald flatterte sie wie ein Großsegel über mir, auf dem Weg in freudvolle Fahrwasser, während ich mit dem Kiel nach oben dalag und die Dünung über mich hinwegrollen spürte. Dennoch liebten wir uns dieses Mal anders. Plötzlich kannten wir uns schon zu lange.
8 Als ich aufwachte, war es draußen heller Tag, und ein Zettel lag neben mir auf dem Bett. »Wollte dich nicht wecken, bin in der Schule, komme um 1 Uhr zurück.« Sie hatte die Nachricht mit XXX unterschrieben, dem internationalen Zeichen für Dynamit. Ich blieb liegen und streckte mich. Dann ertönten unmissverständliche Geräusche aus der Küche. Jemand hantierte vorsichtig mit Tassen und Tellern, ein Stuhlbein schabte über den Boden, und der Wasserhahn wurde auf und zu gedreht. Ich stand auf und zog mich an. Draußen hing die Morgensonne schwer und weiß am Osthimmel, schwanger mit einem langen Tag. Ich räusperte mich, um mein Erscheinen anzukündigen. Dann trat ich in die Küche. Sara saß am Küchentisch mit einer Tasse Kaffee vor sich. Eine leere Tasse und ein gedeckter Frühstückstisch erwarteten mich. 160
Als ich die Tür öffnete, sah sie auf und lächelte – ein zartes, kleines Lächeln, das sehr zerbrechlich war. »Was machst du denn hier?«, fragte ich überrascht. Sie errötete leicht. »Ich habe gewartet – bis sie gegangen war. Dann habe ich gedacht, ich könnte Ihnen Frühstück machen.« Sie nickte zu dem freien Stuhl hin, und ich setzte mich, während sie die Kaffeekanne holte und mir einschenkte. Sie lächelte wieder. Sie trug einen eng anliegenden weißen Pullover mit V-Ausschnitt, verwaschene Jeans und Sandalen an den nackten Füßen. Dann setzte sie sich mir wieder gegenüber. Wir saßen am Fenster, mit Aussicht auf den Sund. Ich schmierte mir Butter aufs Brot und legte Tomaten- und Gurkenscheiben darauf. »Hartgekochtes Ei«, sagte sie und schob mir einen kleinen Teller herüber. Ich strich mir über die Bartstoppeln und bediente mich. Das Brot war schmackhaft und grobkörnig, der Kaffee eine Idee zu dünn. »Nehmen Sie mich wieder mit in die Stadt!«, sagte sie plötzlich. Ihr Gesicht war fast genauso rot wie die Tomatenscheiben auf meinem Brot. Ich lächelte sie traurig an. »Das kann ich nicht, Sara.« »Aber Sie müssen!« »Warum?« Sie biss sich auf die Unterlippe. Es war eine volle, runde Unterlippe. In ein paar Jahren würde es ein Abenteuer sein, sie zu küssen – ja, schon heute … »Ich werde Ihnen erzählen, warum!«, stieß sie hervor. »Wegen des Hexenrings!« »Wegen … Hast du Angst vor – dem Hexenring?« Sie nickte. 161
»Aber was – welche Schule – was glaubst du, woher er kommt? Fliegende Untertassen oder …« »Ich meine nicht den Ring, ich meine – was anderes. Die lebenden Hexen – die sich da treffen.« Es war zu früh am Morgen. Ich sagte: »Meinst du, dass sie sich da treffen – immer noch?« Sie nickte eifrig mit zusammengepressten Lippen. »Hexen?« Sie nickte wieder, heftiger, und dann schüttelte sie den Kopf. Ich sah mich um, überblickte den Frühstückstisch, die Kaffeetassen, das junge Mädchen mir gegenüber. Dann hob ich ratlos die Arme. »Ich glaube, du musst mir etwas mehr erzählen. Hast du sie jemals gesehen?« Wieder nickte sie, mit heftigen, ruckartigen Bewegungen. »Erzähl, Sara.« Sie suchte nach Worten, um den richtigen Anfang zu finden. »Es – es war im letzten Jahr, in der Zeit als wir das Wikingerstück eingeübt haben, ›Die Hexen von Utvær‹. Mama hatte so viele Bücher zu Hause über Hexenglauben in alten Zeiten und was sie gemacht haben, Hexensabbate und geheime Versammlungen. Ich durfte sie auch lesen – und oft war es so gruselig, dass ich nicht schlafen konnte. Und eines Nachts …« »Ja?« »Eines Nachts hörte ich, dass unten jemand ins Haus kam, und dass Mama und Papa aus ihrem Schlafzimmer, das direkt neben meinem liegt, nach unten gingen.« »Das mit den weißen Gardinen?« »Ja. Ich ging zum Fenster und sah nach draußen. Da sah ich Mama und Papa und …« Sie sah sich im Raum um. »Und Cecilie – und alle drei gingen die Felsen hinter dem Apfelgarten hinauf. Aber das Merkwürdigste war, dass sie dunkle, lange Mäntel anhatten …« 162
»In welcher Jahreszeit war das?« »Letztes Jahr um diese Zeit.« »Und dann bist du ihnen gefolgt?« Sie nickte. »Sie sind die ganze Insel entlang auf der äußeren Anhöhe gegangen und ich konnte sie ganz deutlich im Mondlicht erkennen. Es war gruselig! Und nach und nach kamen immer mehr dazu. Am Ende kam auch Bentes Mutter – und da waren sie so fünfzehn, zwanzig Leute. Und dann kamen sie zum Hexenring.« Sie sah mich mit großen Augen an. Ich ließ sie weitersprechen, ohne sie noch einmal zu unterbrechen. »Ich … Da unten stellten sie sich auf. Einer stand in der Mitte, die anderen im Kreis um ihn herum, in regelmäßigen Abständen. Der in der Mitte streckte die Arme in die Luft und fing an zu sprechen. Ich konnte die Worte nicht hören, aber es hörte sich jedenfalls nicht norwegisch an. Dann fingen die anderen an, um ihn herumzutanzen, zuerst langsam, dann schneller. Die Mäntel flatterten um sie herum und ich konnte sehen, dass … dass … Sie waren nackt darunter, und es waren nur Frauen, außer dem in der Mitte.« Ich sah es vor mir, ein Bild, das einer größeren Regisseurin als Helga Vik würdig gewesen wäre. Der Vollmond über ihnen, die flache Ebene in einer Vertiefung in der Landschaft, mit Felsen im Süden. Die rauschenden, dunklen Kiefern, die Sara vor ihren Blicken schützten. Und unten im Hexenring: Bertram Vik in der Mitte, mit ausgestreckten Armen, in einem dunklen Mantel. Die Frauen, die um ihn herum tanzten, mit schwingenden Mänteln, hüpfenden Brüsten, schattigen Unterleibern und einer Haut, weißer als der Mondschein selbst. Manche von ihnen waren jung und schlank, andere reif und rund, eine von ihnen Cecilie Sand … »Kanntest du – noch andere von ihnen?«
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»Sie trugen Kapuzen. Nein, aber ich kannte ja – ich konnte mir bei manchen schon denken, wer es war – alle waren ja bei dem Wikingerstück dabei. Keine war so jung wie ich. Alle waren richtig erwachsen. Und am Ende …« Sie wartete und schluckte. »Am Ende senkte der in der Mitte plötzlich seine Arme und streckte sie zur Seite aus, fast wie … fast wie ein Kreuz. Und alle Frauen legten sich im Kreis auf den Boden, mit den Füßen in die Mitte, und dann … Dann zogen sie ihre Mäntel hoch und verbargen ihre Gesichter völlig, und entblößten sich – da unten – und sp-spreizten ihre Beine vor ihm.« Sie starrte auf die Tischplatte mit einem angespannten, verkrampften Gesichtsausdruck. Ich fing an zu begreifen, warum sie von zu Hause weggelaufen war. »Mein Vater … Plötzlich hielt er ein Messer in der Hand, ein krummes, altes, rostfarbenes Messer. Und dann fing er an zu tanzen, an den gespreizten Beinen entlang. Bis er … Und die Frauen summten oder psalmodierten, es klang ganz merkwürdig. Schließlich blieb er vor einer von ihnen stehen. Dann – dann öffnete er seinen Mantel und ging vor ihr auf die Knie, das Messer in der ausgestreckten Hand.« Sie war jetzt ganz blass geworden. »Aber es war nicht das Messer … nicht das Messer …« Sie begann, heftig zu zittern. »Nicht das Messer, was er in sie hineinstach?«, vollendete ich ihren Satz. Sie brach in Tränen aus – laut schluchzend wie ein Kind, und es machte sie zehn Jahre jünger, als sie eigentlich war. Ich ging schnell um den Tisch herum und legte vorsichtig die Arme um sie, um sie zu trösten. »Es war sicher nur eine Art – Gesellschaftsspiel, weißt du? Nichts, das man so ernst nehmen muss. Die wenigsten Eltern sind Engel. Die meisten tun Dinge, von denen ihre Kinder besser nichts wissen sollten. Wenn du ihnen nicht gefolgt wärst, dann hättest du nichts gewusst, und 164
alles wäre wie immer. Du solltest es als einen Versuch sehen, ein wenig Abwechslung in ihr sonst graues Dasein zu bringen, das Positive darin sehen … Dass deine Eltern immer noch – Phantasie haben. Das Wikingerstück wurde doch ein Erfolg, oder?« »Aber es war ja nicht nur das«, fuhr sie fort. »Passierte noch mehr?« Sie nickte. »Ich lag ja im Wald versteckt, nicht weit von der Hütte von Bente und ihren Eltern. Und plötzlich bemerkte ich eine Bewegung auf der Terrasse vor ihrer Hütte, und da saß … Da saß Bentes Vater in einem Liegestuhl, mit einer Flasche in der Hand, und sah denen da unten zu. – Zwei Tage später war er tot.« »Und du glaubst – du glaubst, es gibt da einen Zusammenhang?« »Naja? All das sollte ja – musste ja geheim bleiben. Deshalb habe ich niemandem etwas erzählt, bis jetzt. Außer Bente. Weil sie ihre Eltern am nächsten Abend darüber streiten gehört hat, aber den Zusammenhang nicht verstehen konnte. Deshalb sind sie und ihre Mutter an dem Tag nach Storøya gefahren, und der Vater blieb hier. Das war der Tag, als er ins Wasser ging.« »Ins Wasser ging? Meinst du, er hat Selbstmord begangen?« Sie zuckte heftig mit den Schultern und trocknete ihre Tränen. »Ich glaube jedenfalls, dass es passiert ist, weil er sie gesehen hat. – Hinterher – hinterher hatte ich totale Angst vor meinen eigenen Eltern. Ich bin nach Hause gelaufen und ins Bett gekrabbelt, aber ich konnte in der Nacht keine Sekunde schlafen. Ich hab sie nach Hause kommen hören, und dann haben sie – dann haben sie miteinander … in ihrem Schlafzimmer … Am nächsten Morgen hatte ich totale Angst, dass sie es mir von den Augen ablesen könnten, was ich – dass ich es wusste. Und danach hab ich mich nicht mehr getraut, ihnen in die Augen zu sehen.« 165
»Aber dann … bist du ihnen nicht öfter gefolgt?« »Nein, ich weiß nicht, ob sie aufgehört haben. Nach der Sache mit Bye gab es ja so viel Aufruhr, dass … Ich weiß nur, dass Fähren-Lars eines Abends aufgetaucht ist und sie ziemlich lange miteinander geredet haben. Ich musste ins Bett, und als ich ihn gehen sah, oben von meinem Fenster aus, da konnte ich sehen, dass er oben am Weg stehen blieb und etwas zählte, das aussah wie Geldscheine.« »Fähren-Lars?« Sie nickte. »Und es war ungewöhnlich, dass er zu euch kam?« »Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, dass er schon mal hier gewesen wäre.« Ich blickte in meine leere Kaffeetasse. »Vielleicht sollte ich mich mal mit Fähren-Lars unterhalten.« »Oh, aber … aber sagen Sie nicht, dass ich …!« Ich lächelte ihr beruhigend zu. »Nein, nein, natürlich nicht. Keine Sorge. Du brauchst dich jetzt vor nichts mehr zu fürchten. Vor allem, weil es ja jetzt noch jemand weiß.« »Und Sie sagen auch Mama und Papa nichts! Das müssen Sie mir versprechen.« »Es bleibt alles unter uns, Sara. Aber ich bin froh, dass du es mir erzählt hast. Wir sind jetzt in gewisser Weise Verschworene, stimmt’s?« Sie nickte. »Dann denke ich, du solltest nach Hause gehen.« Ich lächelte leicht. »Bevor sie anfangen, über uns zu reden. Und – danke für das Frühstück.« Sie lächelte, aber dieses Lächeln war noch zerbrechlicher als das, mit dem sie mich begrüßt hatte. Es konnte jeden Moment zerplatzen. 166
9 Als ich zum Fähranleger kam, hatte Fähren-Lars gerade mit drei Passagieren an Bord abgelegt. Die Fähre folgte dem dunklen Drahtseil über den Sund, langsam und vorsichtig wie ein Wertpaket auf einem Fließband. Die Silhouetten der vier Menschen an Bord hoben sich deutlich gegen die silbrig glänzende Wasserfläche ab: Reisende über den Styx. Ich folgte dem Weg weiter, am Kaufladen und dem kleinen, weiß gestrichenen Schulhaus vorbei. Es war gerade Pause, und ich sah Cecilie umgeben von sieben, acht kleinen Kindern. Sie winkte mir zu, über die blonden Köpfe hinweg. Ich winkte zurück und ging weiter. Ich kam zu dem verlassenen kleinen Hof am Ende des Weges. Das Gras stand hoch und an dem alten Wohnhaus blätterte die weiße Farbe ab. Der graue Schuppen war dabei einzubrechen. Hier hatten einmal Menschen gewohnt. Hier waren sie auf einem Trampelpfad von einem Gebäude zum anderen gegangen. Hier hatten sie bei jedem Wetter hart gearbeitet, bei Schnee und Regen, bei Wind und Sturm. Und am Ende waren sie verschwunden. Vielleicht ist die Familie ausgestorben, vielleicht sind die Erben ins Landesinnere gezogen, in grünere Gegenden oder größere Orte. Jetzt stand das Haus, das sie gebaut hatten, verlassen da. Aber wer waren sie gewesen? Hatten sie am Hexentanz etwas weiter südlich auf der Insel teilgenommen, oder hatten sie in sicherem Abstand da gestanden und zugesehen? Ich kam zur Hütte der Familie Bye, betrat die flache, planierte Terrasse und ging in die Hocke. Ich konnte ungefähr die Hälfte der Vertiefung sehen, in der der Hexenring lag, und weil ich die Hüttenwand im Rücken hatte, wäre ich für jemanden da unten so gut wie nicht zu erkennen, auch wenn man direkt in meine Richtung sah. 167
Ich richtete mich wieder auf. Dort unten war jemand. Eine dunkle Gestalt lief über die Ebene, mit dem Rücken zu mir. Genau in der Mitte blieb sie stehen, regungslos, den Blick auf das Meer gerichtet. So stand sie lange. Sonst geschah nichts. Schließlich riss ich mich los und ging zu ihr hinunter. Erst als ich ihr so nah war, dass sie das Knirschen meiner Schuhsohlen auf dem kurzen Gras hören konnte, drehte sie sich halb um. Als sie sah, wer da kam, wandte sie sich wieder dem Meer zu. Langsam näherte ich mich Olga Vik und blieb neben ihr stehen. Sie trug einen schwarzen Pullover, eine dunkelbraune, offene Lederjacke, einen grauen Rock und solide, braune Laufschuhe. Sie hatte die Augen halb geschlossen und atmete tief: Eine Pfarrersfrau, die die heidnische Kraft des Meeres einsog, eine moderne Nachkommin der Trollfrauen alter Zeiten. »Ist die Luft hier draußen nicht phantastisch?«, fragte sie plötzlich. »Das ist sie«, antwortete ich, und sie hatte Recht. Das Meer verbreitete einen Duft nach Tang, Salzwasser und Seevögeln, und die Luft war klar und kühl, als sei sie vollkommen sauber, ohne Zusätze von britischen oder kontinentalen Industrieabgasen und ohne den Rauch aus Tausenden von Schornsteinen. Auch das war natürlich eine Illusion, aber sie stammte von einem erstklassigen Zauberkünstler und es war leicht, sich hinters Licht führen zu lassen. Die Haut an meinem Hals zog sich vor Wonne zusammen, als wäre eine nackte Hand mir das Rückgrat hinunter gefahren. »Es ist eine Form der Meditation, hierher zu kommen, einfach ruhig da zu stehen und zu atmen, einfach zu atmen!«, sagte Olga Vik. Sie hatte die Augen geöffnet. »Spüren Sie den Sog der Erde, Veum?«
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»Den Sog?« Ich sah unwillkürlich zu Boden, hob die Füße, zuerst den einen, dann den anderen, wie um zu prüfen, ob wirklich eine Form von Magnetismus von dem Grasboden unter uns ausging. Wir standen ganz genau im Zentrum des Hexenrings. »Nein, ich …« Sie breitete ihre Arme aus und zeichnete einen großen Kreis in die Luft um uns herum. »Sie spüren also nicht – das Rauschen der Geschichte? Sie hören nicht – Flügelschläge in der Luft, die nahenden Hexen?« Es funkelte humorvoll in ihren Augen. »Sie wissen doch wohl, dass dies hier ein Versammlungsort war – in alten Zeiten – für Hexen auf dem Weg zum Blocksberg?« »Wissen und wissen. Ich habe natürlich von der Theorie gehört.« »Aber ich habe nicht nur davon gehört, Veum. Ich habe gelesen – in Büchern und alten Schriftquellen, die nie herausgegeben wurden, in Kirchenbüchern und alten Tagebüchern und … Im Grunde ist es nur eine Frage des Glaubens.« »An was?« Sie wies mit der Hand über das Wasser. »Das Meer, Veum. Werden Sie nicht – irgendwie – demütig, fühlen sie sich nicht unendlich klein, hier draußen? Sie sollten einmal um Mitternacht herkommen, wenn der Himmel voller Sterne ist …« »Haben Sie das getan?« Plötzlich wurde ihr Blick wachsam. »Was getan?« »Naja, das eben.« Sie schüttelte den Kopf. »Nicht hier. Eigentlich meinte ich eher am Meer zu sein, egal wo, an einem solchen sternenklaren Abend.« »Aber ich habe gehört … Entschuldigung, Frau Vik, aber ich habe gehört, dass Sie hier draußen tatsächlich ein Hexenritual ausprobiert haben, im Hexenring, stimmt das?« 169
Ihr Mund wurde schmal. »Wer hat das behauptet?«, fragte sie scharf. »Es ist in jedem Fall eine Lüge.« Ich erwiderte ihren Blick. »Aber wenn ich nun sage, dass Sie beobachtet wurden? Dass es einen Zeugen gibt …« »Dann sage ich genauso bestimmt, dass es eine Lüge ist! Aber nichts destotrotz wüsste ich doch gern, wer …« Ich wechselte schnell das Thema. »Sara war doch viel mit Bente Bye zusammen. Hatten Sie Kontakt zu den Eltern?« »Nein, wir … nicht viel.« Ihr Blick begann zu flackern. »Sie – Benedicte, die Mutter – war ziemlich freizügig für unsere Verhältnisse hier draußen, sozusagen. Wir haben manchmal einen Kaffee bei ihnen getrunken. Aber es wurde nie ein engeres Verhältnis.« »Aber sie hat beim Sagaspiel mitgemacht, oder?« »Ja, sie … Wir brauchten noch Frauen.« »Was meinten Sie eigentlich damit, dass sie – ziemlich freizügig sei.« »Na ja, sie – hat sich oben ohne gesonnt und so. Harmlose Sachen, vielleicht für einen Städter, aber hier draußen – hier tut man so was einfach nicht.« »Und ihr Mann?« »Jens? Er taugte wohl nicht zu viel. Ich kann nicht viel über ihn sagen, sogar seine Trinkerei war irgendwie moderat. Er hatte sozusagen immer nur gerade ein Glas zu viel getrunken. Aber mehr auch nicht. Am Ende ging er ins Wasser und ist ertrunken. In vieler Hinsicht ein typisches Ende. Viele haben behauptet, er hätte sich das Leben genommen. Ich selbst bin überzeugt, dass er im Rausch gestolpert ist und nicht wieder hochkam. Das passte zu ihm.« »Aber finden Sie es nicht auffällig, dass er gerade zwei Tage nach dem …« Ich hielt absichtlich inne. 170
»Zwei Tage nach – was?« Das letzte Wort flüsterte sie, und ihr Tonfall wechselte auf merkwürdige Weise von temperamentvoll zu resigniert. Ich trat einen Schritt näher an sie heran und sagte leise: »Möchten Sie, dass ich Ihnen Details wiedergebe?« Sie sah mich nur an, als würde sie mich nicht wieder erkennen. Ich fuhr fort: »Die Nachtwanderung hierher, in schwarzen Mänteln? Der Tanz im Kreis. Ihr Mann in der Mitte, mit ausgestreckten Armen. Und dann …« Sie hob eine Hand in die Luft, leichenblass, und stand mit gebeugtem Nacken und starrte auf den Boden vor meinen Füßen. »Nein … Nicht weiter.« Ich wartete eine halbe Minute, dann sagte ich: »Wer war es, mit der er …« Sie sah abrupt auf. Die Röte schoss in Wellen über ihr Gesicht, so dass mir bei ihrem Anblick schwindelig wurde. Hätte sie auch nur einen Bruchteil der Zauberkraft besessen, von der die Leute glaubten, dass ihre entfernten Verwandten sie besaßen, wäre ich vor ihren Augen zu einem Häuflein Asche zerbröselt. Jetzt ging ihr Blick durch mich hindurch und sie sagte: »Sie können ja sie fragen. Die da hinten kommt …« Ich drehte mich abrupt um und sah Cecilie Sand den Hexenring betreten.
10 Sie blieb direkt vor uns stehen und ihr Blick wanderte fragend von einem zum anderen. »Hei, ich …« Sie hielt inne und wandte sich an Olga Vik. »Ich hatte nicht erwartet, dich hier zu treffen …« 171
»Nein?« Olga Vik war auffallend kühl. »Nein, ich – ich sah, dass Va … Ich habe Veum von der Schule aus gesehen und dachte, ich könnte ihn begleiten.« Olga Vik räusperte sich viel sagend. Langsam gewann sie die Kontrolle zurück. Dann meinte sie sarkastisch: »Tja, dann will ich wirklich nicht stören. Ich überlasse das Feld nur zu gern der Jugend.« Cecilie sagte schnell: »Nein, nein, wir gehen natürlich alle zusammen zurück.« Sie sah mich fragend an. Ich zuckte mit den Schultern. »Natürlich. Ich hatte nur Lust, diesen Platz noch einmal zu sehen, bevor ich …« Olga Vik sah uns säuerlich an. Dann nickte sie, wie zu sich selbst, und verließ demonstrativ den Ring. Cecilie sah mich an. Ich sagte: »Wenn ich daran denke, was hier tatsächlich alles – passiert ist.« Sie zögerte. »Wa-was meinst du? Die alten Geschichten?« »Die alten und die neuen.« »Ich – komm …« Sie setzte sich in Bewegung. Ich folgte ihr. Olga Vik war schon fünfzig Meter vor uns. »Welche – neuen?« Ich nickte zu Olga Viks Rücken hin. »Sie hat gesagt, ich sollte dich fragen.« »Mich? Wonach?« »Mit wem Bertram Vik geschlafen hat – hier draußen – als ihr alle hier in der Nacht einen Sabbat abgehalten habt?« Sie hielt inne und blieb regungslos stehen. Dann sagte sie, zaghaft, als wäre jedes Wort eine Seifenblase, die bei der geringsten Bewegung zerplatzen konnte: »Mit wem Bertram Vik geschlafen hat?« »Ja?« 172
Sie drehte langsam den Kopf. Ihr Blick war dunkel und unruhig. »Nicht mit – mir.« »Nein? Mit wem denn?« »O Varg – du solltest nicht … Das hier hat nichts – wer hat es dir denn erzählt, dass – von …« Verständnislos wanderte ihr Blick zu Olga Viks Rücken. »Nein«, sagte ich. »Nicht sie.« »Lass uns nicht stehen bleiben – lass uns …« Sie ging weiter, als hätte sie Angst, der Abstand zu Olga Vik könnte größer werden, als der Tratsch im Dorf es akzeptieren würde. »Aber was willst du mit …« »Zwei Tage später war Jens Bye tot«, sagte ich. »Ich weiß!«, stieß sie heftig hervor. »Ich weiß, Varg.« »Mit wem hat er geschlafen?«, fuhr ich eindringlich fort. »Mit niemandem! Er hat mit niemandem geschlafen. Es hatte nichts mit – wie wir, heute Nacht – nichts mit Zärtlichkeit zu tun. Er – das Messer – er hätte genauso gut das Messer in sie hineinstechen können. Es war nicht … Es war …« Sie hob resigniert die Arme. »Aber wer war sie?« Sie ging jetzt schneller. Ihre Lippen bewegten sich, ohne dass mich ein Laut erreichte. Ich folgte ihr, standhaft wie eine Ameise bei Gegenwind. »Benedicte Bye«, sagte sie. Benedicte Bye, sagte ich stumm zu mir selbst. Dann sagten wir beide lange Zeit nichts mehr. Schließlich brach sie die Stille. »Ich dachte, du wolltest heute wieder zurückfahren«, sagte sie leise. »Ich habe beschlossen, noch einen Tag zu bleiben.« »Wegen – dem hier? Du hast es nicht – die ganze Zeit …«
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»Nein, ich … Ich würde gern ein paar Worte mit – FährenLars sprechen.« »Mit Fähren-Lars? Warum denn das?« Ich zuckte mit den Schultern. »Fährmänner sind wie Postboten. Sie wissen oft mehr über uns als uns im Grunde lieb ist.« Wir hatten Olga Vik jetzt fast eingeholt. »Olga?«, sagte Cecilie laut. Sie wartete bis wir an ihrer Seite waren. »Ja?« »Ist Fähren-Lars jetzt zu Hause?« Olga Vik sah auf die Uhr. »Nein, warum?« »Ve-Veum wollte gern mit ihm re-reden.« »So? Und worüber?« Ihr Blick wanderte zu mir. Ich sah sie fragend an. »Nein, Entschuldigung, so war es nicht gemeint. Ich habe nur … Um diese Zeit ist Fähren-Lars auf Storøya. Er isst immer bei seiner Schwester, die da drüben verheiratet ist. Aber sie wohnt nicht so weit vom Anleger entfernt. Die Glocke würde er hören, wenn jemand rüber muss.« »Ist er Junggeselle?« »Witwer.« »Wann kommt er normalerweise wieder zurück?« »Gegen vier. Sie werden also wohl auch heute bei uns essen müssen, Veum.« Auch heute klang ihre Einladung nicht sonderlich herzlich. Sie klang eher wie eine Pensionswirtin, die einen ungebetenen Gast bekommen hatte. »Ja, und du natürlich auch, Cecilie«, fügte sie hinzu. »Danke, aber ich kann auch –«, sagte Cecilie. »Dann ist das abgemacht«, sagte Olga Vik bestimmt und erhöhte ihr Tempo wieder.
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Wir gingen alle drei stumm weiter. Als wir am Fähranleger vorbeikamen, sah ich, dass die Fähre von Lars Øra auf der anderen Seite des Sunds vertäut lag.
11 Es wurde eine Mahlzeit mit merkwürdigen Schwingungen. Wir waren dieselben fünf Leute, die auch am Tag zuvor zusammen gegessen hatten, aber es waren neue Spannungen zwischen uns entstanden, und wir wussten deutlich mehr voneinander als am Vorabend. Cecilie und ich hatten die Wartezeit im Wohnzimmer verbracht. Das hatte die gleiche etwas stereotype Atmosphäre wie die Küche: Wie ein Bild aus einem Möbelkatalog. Wir hatten die ganze Zeit die Geräusche von Olga Viks Küchenaktivitäten in den Ohren gehabt, und keiner von uns hatte ernsthafte Dinge zur Sprache gebracht. Ab und zu hatte ich heimlich ihr Gesicht betrachtet. Eine Frau, mit der man geschlafen hat, verändert sofort ihren Charakter. Man hat die Konturen ihrer Lippen gespürt, den Duft ihres Haares, man weiß, ob ihre Zunge rau oder glatt ist, aktiv oder gleichgültig, und man hat ihren Körper an seinem gespürt. Man ist durch ihre Landschaft gewandert, nicht oft genug, um sich darin zu Hause zu fühlen, aber immerhin so, dass man weiß, wie sie aussieht und wo sich die wichtigsten Orte befinden. Als Bertram Vik nach Hause kam, änderte das Gespräch seinen Charakter und wurde unruhiger. Er wirkte rastloser als am Tag zuvor, und schielte in regelmäßigen Abständen zu Cecilie herüber, als würde er sie gern etwas fragen, was er aber nicht konnte, weil ich dabei war. Wie wir so um den Tisch versammelt saßen, fiel mir plötzlich auf, dass wir einen recht repräsentativen Hexenring darstellten, mit Bertram Vik als Hexenmeister und mir selbst als einer Art 175
Observateur aus der Außenwelt. Sara war die junge, aufrührerische Hexe, und in vieler Hinsicht schien sie die Situation besser im Griff zu haben als am Vorabend. Cecilie war die sinnliche Hexe, auf dem Höhepunkt ihrer sexuellen Laufbahn, ein Wein, der lange gereift war. Und Olga Vik war die kluge Hexe, im Besitz der faktischen Kenntnisse über Zauberkraft und schwarze Künste und deshalb vielleicht die gefährlichste von allen. Zwei Hexen fehlten: Bente und Benedicte Bye. Und es war ein sechster Gast am Tisch: der unsichtbare Geist von Jens Bye. Aber über nichts davon konnten wir sprechen. Schließlich vertiefte Bertram Vik noch intensiver die Schulstruktur der Kommune, Olga Vik erzählte noch ein paar Anekdoten von der Arbeit mit den »Hexen von Utvær«, Sara erzählte von einem Mathematiklehrer, den sie mit großer Begeisterung zum Narren hielt, und Cecilie von einem Schüler, der eine Entzündung in der Achselhöhle hatte und deshalb erst zum Herbst seine schriftlichen Prüfungen ablegen konnte. Ich selbst sprach über das Wetter. Das Gespräch war so norwegisch, dass man es als Galavorstellung im Nationaltheater hätte aufführen können. Als wir beim Dessert angelangt waren, meinte Bertram Vik: »Ja, ja. Ich muss noch runter in die Schule und mich auf den Elternabend vorbereiten, fürchte also, ich kann sie auch heute Abend nicht unterhalten, Veum. Aber vielleicht …« Sein Blick wanderte zu seiner Frau, die äußerst wenig begeistert aussah. Ich sagte schnell: »Nein, nein – ich werde Sie nicht länger stören. Ich will nur noch kurz mit Fähren-Lars reden, und dann werde ich wohl zurückfahren.« »Mit Fähren-Lars?«, fragte Bertram Vik. »Ja. Alle scheinen sich darüber zu wundern. Ist er eine Art Outsider hier draußen, oder …?« »Nein, nein«, antwortete er schnell. »Es war sozusagen eine rhetorische Frage.« Er blickte in die Runde. »Tja, wenn alle fertig sind, dann …« 176
Niemand protestierte, und Betram Vik schloss: »Dann, Veum, kann ich nicht anders, als Ihnen im Namen der Familie noch einmal für Ihre Hilfe zu danken und Ihnen eine gute Fahrt zurück in die Stadt zu wünschen.« Sara sah mich erwartungsvoll an, aber ich wich ihrem Blick aus und sagte nichts davon, dass ich sie mitnehmen würde. Möglicherweise kam sie sich vor wie eine Art Jungfrau in Nöten, aber ich war ein heruntergekommener alter Ritter, mit Rostflecken an der Rüstung und zu wenig Mut, um den Kampf mit Schulleitern und Hexen aufzunehmen. Ich stand auf und bedankte mich für das Essen. »Vielleicht sehen wir uns einmal wieder.« Ich sah Sara an. »Sara?« Sie zuckte verächtlich mit den Schultern, kehrte mir den Rücken zu und verließ den Raum. Ich verabschiedete mich höflich von ihren Eltern. »Tja, dann – auf Wiedersehen.« »Ich hoffe nicht, Veum, sozusagen«, sagte Bertram Vik. »Nein«, fügte seine Frau hinzu, knapp aber ausdrucksvoll. Zusammen mit Cecilie ging ich zu ihrem Häuschen hinunter, um meine Sachen zu packen. Auf dem Weg sagte sie: »Ich muss leider auch zu diesem Elternabend, aber wir schaffen noch eine Tasse Kaffee, wenn du Lust hast?« Ich nickte. Unten in der Küche warf sie sofort die Kaffeemaschine an. Ich setzte mich an den Küchentisch, mit dem Rücken zur Wand. »Ich hatte nicht gerade den Eindruck, dass sie mich gern wieder sehen wollten.« Sie lächelte schief. »Du darfst sie nicht zu hart beurteilen, Varg. Sie sind Inselleute, im Guten wie im Schlechten.« »Ich habe nicht die Angewohnheit, Leute zu verurteilen, Cecilie. Aber eines würde ich doch gern wissen …« Ich schaute sie eindringlich an. 177
Sie stand neben der gluckernden Kaffeemaschine, die leicht dampfte. Eine leichte Röte stieg in ihr Gesicht. »Du meinst nicht … du solltest wirklich nicht weiter danach fragen. Wenn ich selbst daran zurückdenke, dann ist es fast, als sei es niemals passiert. Als wenn jemand, den du sehr liebst, plötzlich stirbt. Es ist fast wie ein Traum – oder ein Albtraum.« »Das hatte ich auch nicht gemeint.« »Aber – was denn dann?« »Ich dachte an das – worüber du mit Bertram Vik gesprochen hast, oben im Garten hinter dem Haus. Heute Nacht, als du dachtest, ich würde schlafen.« Die Kaffeemaschine war verstummt. Die letzten Kaffeetropfen tropften in die Kanne. Zwei weiße Steinguttassen standen auf der schmalen Küchenanrichte neben ihr. Sie trug einen grünen Pullover, blaue Jeans und weiße Joggingschuhe. Ihr Gesicht war ebenso weiß und unbeweglich wie ein Gletscher an einem Fjordarm an der Westküste an einem frühen Sommermorgen. Wir hatten uns geliebt wie zwei wilde Kälber im Frühling, hatten gespielt wie tollende Kinder in weichem Sommergras, hatten miteinander getanzt wie liebestolle Pferde mit starken Hälsen, zuckenden Beinen. Aber jetzt sah ich in ihrem Gesicht, dass es niemals wieder passieren würde, dass die fiebrige Verzauberung des vergangenen Tages gebrochen war, dass die Wirklichkeit, mit all ihren Lügen und Geheimnissen uns plötzlich eingeholt hatte. Stumm stellte sie die beiden Kaffeetassen auf den Tisch, und ebenso stumm schenkte sie ein. Dann setzte sie sich mir gegenüber. Jetzt wich ihr Blick mir nicht mehr aus. Gegenüber Fremden braucht man sich nicht zu schämen. »Du hättest mich heute Nacht fragen sollen, Varg. Wenn du mir an der Tür entgegengekommen wärst und mich gefragt hättest, hätte ich dir vielleicht sofort geantwortet. Jetzt sage ich dir: Das geht dich nichts an.« 178
Mir wurde plötzlich leicht schwindelig. »Ich wollte nicht … Zu fragen ist mein Job, Cecilie!« »Dann nimm dir doch mal frei, zum Teufel! Nimm dir frei!« »Ihr habt nicht – ihr habt doch nicht …« Sie trank ihren Kaffee ohne zu antworten. Ich probierte meinen. Er schmeckte genau so bitter, wie es nur wirklich guter Kaffee tut, wenn man gerade dem richtigen Menschen die falsche Frage gestellt hat. »Hör zu, Cecilie, so vertraut miteinander seid ihr doch nicht, oder?« Es blitzte in ihren Augen. »Was weißt denn du schon davon? Warum fragst du mich nicht gerade heraus, wo Fragen stellen doch dein Job ist? – Warum fragst du mich nicht ob ich ein Verhältnis mit Bertram hatte – habe! Hast du gesehen, dass wir uns geküsst haben? Hast du gesehen, ob er mir an die Brust gefasst hat? In die Hose? – Frag nur, du kriegst sowieso keine Antwort!« Dann stand sie auf, mit Tränen in den Augen, und lief hinaus. Ich blieb sitzen, mit der halb vollen Kaffeetasse in der Hand. Ich fühlte mich genauso weiß und glatt und lauwarm wie sie. Ohne Gefühl, aber voll Fragen. Als sie zurückkam, hatte sie sich ihre Windjacke angezogen und war demonstrativ im Aufbruch begriffen. »Tja, dann kann ich dir auch nicht auf Wiedersehen sagen, Varg. Also – gute Fahrt.« »Ja, ich werde nur noch …« »Ja, ich weiß, was du vorhast. Schlag die Tür hinter dir zu, wenn du gehst.« Ihr Blick glitt rasch über mein Gesicht. »Tschüss dann«, sagte sie in unbestimmbarem Tonfall. Dann war sie plötzlich verschwunden, und ich hatte das Haus für mich allein.
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Aber ich hatte dort allein nichts zu suchen, also packte ich schnell meine Sachen zusammen und verließ es – irgendwie – unberührt.
12 Es war noch früh am Abend als ich am Fähranleger ankam, aber dunkle Wolken zogen von Westen herauf und verbreiteten eine künstliche Dämmerung über der Landschaft. Auf dem Weg begegnete mir kaum jemand. Nur ein paar jüngere Ehepaare, wahrscheinlich auf dem Weg zum Elternabend in der Schule. Ein älterer Mann saß auf einem Stein und starrte mich unbeweglich an, als müsse ich erst eine Prüfung bestehen, um an ihm vorbei zu kommen. Aber er reagierte nicht, als ich vorbeiging. Die Fähre lag noch immer auf der anderen Seite des Sunds, Fähren-Lars war nirgends zu sehen. Der Anleger dort lag in einer Bucht, umgeben von dunklen Baumstämmen. Ich gab ihm ein paar Minuten. Vielleicht war er nur kurz aus ganz natürlichen Gründen in den Büschen verschwunden. Aber die Minuten vergingen und nichts geschah. Ich versuchte es mit der Schiffsglocke. Sie klang wie eine Kuhglocke in finsterer Nacht. Aber kein Fährmann tauchte auf. Ich sah mich um. Es war niemand da, den ich um Rat fragen konnte. Ich betrachtete die Winde genau, an der die Seile der Fähre befestigt waren. Das System war einfach. Die Fähre konnte leicht auch von Land aus betrieben werden. Wenn ich sie zu mir herüberholte, konnte ich selbst auf die andere Seite übersetzen. Ich zögerte einen Augenblick. Ein paar Stunden vorher hatte man mir von Fähren-Lars und seiner Abendroutine erzählt. Vielleicht trank er auch Kaffee bei seiner Schwester. 180
Ich sah mich noch einmal um. Dann zuckte ich mit den Schultern und begann zu kurbeln. Es war überraschend einfach. Ein paar Zahnräder reduzierten das Gewicht der Fähre, und das System war frisch geölt und leicht zu bedienen. Die Fähre kam schnell näher. Erst als sie anlegte, sah ich ihn. Da ließ ich die Kurbel los, als hätte ich mich verbrannt, lief an den Rand des Anlegers und sah in die Fähre hinunter. Fähren-Lars lag auf dem Boden. Seine gebrochenen Augen starrten in den Himmel, als würden sie verzweifelt nach den Sternen suchen, die dort noch nicht zu sehen waren. Sein Kopf war stark abgeknickt, in einem ungesunden Winkel, direkt unter dem einen Dollbord. Es konnte durchaus ein Unfall gewesen sein. Er konnte auf den Holzbohlen ausgerutscht sein, den Kopf gegen das Dollbord geschlagen und das Bewusstsein verloren haben. So wie er lag, hätte er sich dann selbst erwürgt. Es sah aus wie ein Unfall, aber ich glaubte keinen Augenblick daran. Der Hexenring hatte ein weiteres Opfer gefordert. Der Kreis hatte sich um einen weiteren Menschen geschlossen. Ich sah unwillkürlich in den Himmel, aber es zogen keine fledermausähnlichen Wesen vorbei, keine dunklen Vögel tanzten vor dem blassen Licht des Juniabends. Nur eine einsame weiße Möwe segelte auf großen, faulen Flügeln vorbei, auf Ausschau nach einem Abendbrot. Ich ging schnell in das nächste Haus und bat dort, die Polizei anzurufen.
13 Und so traf ich sie denn doch alle wieder. Wir verbrachten die Nacht im Polizeibüro, zusammen mit einer Hand voll anderer Bewohner von Utvær. Einer nach dem anderen wurde hereinge181
rufen. Nachdem Sara verhört worden war, kam sie weinend heraus. Ohne einen von uns anzusehen, schluchzte sie: »Ich musste es einfach erzählen, ich musste!« Danach wurden wir anderen der Reihe nach hereingerufen. Draußen verdichtete sich die Dunkelheit der Nacht um uns, um dann – langsam – wieder locker zu lassen. Es war, als wenn man früh morgens durch einen Tunnel fährt. Als wir herauskamen, war das Licht greller und unsere Gesichter nackter. Keiner von uns hatte irgendetwas zu sagen. Wir saßen stumm und warteten, dass wir an der Reihe waren, wie zufällige Patienten in der lokalen Zahnarztpraxis. Das Polizeibüro sah aus, wie solche Orte in Westnorwegen auszusehen pflegen. Es hätte genauso gut das Büro des Gemeindepfarrers oder der örtlichen Buszentrale sein können. Hinter einem nichts sagenden Tresen saß ein schläfriger Beamter mit fahlem Blick und hellen Haarstoppeln, unordentlich über einen länglichen Schädel verteilt. Er saß da und kritzelte mit einem abgebissenen, gelben Bleistift auf dem Rand einer Telefonbuchseite herum. Ab und zu suchte er in dem knisternden Radio nach nächtlichen Tönen, bekam aber nichts anderes herein, als den örtlichen Inselsender, der uns alle von den Versuchungen der Hölle erlösen wollte, Halleluja!, und jedes Mal stellte er es abrupt wieder aus, als hätte er Angst, von der Stimmung mitgerissen zu werden. Der Polizeibeamte führte die Verhöre selbst durch. Als er mich zum zweiten Mal hereinrief, seufzte er schwer und sagte: »Das hier hört sich immer mehr wie die reinste Räuberpistole an, äh, Veum.« Er sah aus wie eine traurige Ausgabe des Polizeichefs von Entenhausen. Sein braunes Haar lag in einem Kranz um den Kopf, und eine blanke Glatze erhob sich aus dem Kranz wie eine Bergkuppe aus einer rußigen Wolkendecke. Seine Wangen lagen in traurigen Falten um den melancholischen Mund, und er seufzte wieder. »Zuerst dachte ich tatsächlich, dass es sich um 182
nichts weiter als einen tragischen Unfall handelte. Wir mussten natürlich die vorladen, die gestern mit ihm gefahren waren, um einen ungefähren Zeitpunkt des Unfalls festzustellen. Und außerdem einige, ehrlich gesagt, die erklären konnten, was Sie auf der Insel zu suchen hatten, Veum.« »Das kann ich gut verstehen.« »Und am Anfang kam auch nichts besonderes heraus. Aber als die junge Dame hereinkam, Sie können mir glauben, da gab es einen Perspektivenwechsel! Hexensabbate im Mondschein, ungeklärte Todesfälle, heimliche Geldübergaben am Abend und Gott weiß, was noch alles. Kurz und gut …« Er beugte sich über den Schreibtisch und sagte leise: »Was halten Sie von Sara, Veum? Ist sie total verrückt, oder …?« »Nein, das ist sie auf keinen Fall. Ich weiß nicht, was die anderen gesagt haben …« »Tja, sie haben immerhin einige der Geschehnisse bestätigt, aber mit weitaus weniger dramatischen Worten. Ich habe vor, sie gleich mit all dem zu konfrontieren, aber ich wollte zunächst Ihre Meinung über Sara hören.« »Für mich wirkt sie absolut glaubwürdig, aber vielleicht ein bisschen – nicht überspannt, aber sagen wir – phantasievoll. Wie Kinder in dem Alter oft sind. – Sagen Sie, dieser Todesfall letztes Jahr, dieser Jens Bye, haben Sie da die Nachforschungen angestellt?« Er nickte und legte seine Hand auf einen hellbraunen Aktenordner. »Eine Zeit lang. Und jetzt bin ich gezwungen, den Fall wieder aufzurollen.« Er schlug den Ordner auf und begann darin zu blättern. »Aber wir haben nicht viele Anhaltspunkte. Wir haben seinen Tod damals als absolut eindeutigen Unfall betrachtet. Die Leiche wurde natürlich obduziert, und die Schlussfolgerung der Sachverständigen war ganz eindeutig. Jens Bye stand unter extremem Alkoholeinfluss, als er starb, und an der Todesursache bestand auch kein Zweifel. Er ist ertrunken.« 183
»Nichts Verdächtiges?« »Nichts, abgesehen davon, dass es keine Zeugen gab, aber das war im Grunde auch natürlich. Das Sommerhaus liegt abseits, und der Unfall geschah spät abends, wahrscheinlich gegen Mitternacht.« »Wurde seine Frau verhört?« Er blätterte wieder in den Papieren. »Ja, aber dabei kam auch nichts Konkretes heraus. Sie war über Nacht bei Freunden hier auf der Insel und schlief, als es passierte.« »Und es war nicht die Rede von Unstimmigkeiten in der Ehe?« »Wie gesagt, Veum – nichts sprach für eine so detaillierte Untersuchung.« »Tja.« Ich hob die Arme. »Das ist Ihr Fall, nicht meiner.« Der Polizeibeamte seufzte schwer. »Ja. Dann werden wir wohl das ganze Hexenvolk hereinbitten, gemeinsam, und sehen, was dabei herauskommt.« Er ging zur Tür und rief sie herein. »Vik – Frau Vik – Sara – Fräulein Sand.« Sie kamen herein und setzten sich. Keiner sah den anderen an, und niemand sagte ein Wort. Der Polizeibeamte setzte sich wieder hinter den Schreibtisch, faltete seine Hände über den Akten, sah sich langsam in der Runde um und räusperte sich. Er erinnerte an einen Laienprediger, der zu einer Andacht in einer kleinen, intimen Gemeinde ansetzt. »Ich werde jetzt den Versuch machen, diesen Fall – und all seine Verzweigungen – Punkt für Punkt durchzugehen. Es geht hier in erster Linie darum, Klarheit darüber zu schaffen, was alles passiert ist – und die größtmögliche Einigkeit über den Hintergrund der Geschehnisse zu erreichen.« Bertram Vik sah ihn müde an. »Darf ich nur darauf aufmerksam machen, dass hier mindestens zwei arbeitende Menschen in
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der Runde sind, und eine Minderjährige. Es ist spät in der Nacht, und …« »Und der Fall ist so ernst, dass wir darauf keine Rücksicht nehmen können, Vik«, sagte der Polizeibeamte bestimmt. »Und wie ist es mit einem Anwalt – sollten wir nicht …«, begann Olga Vik. »Dann dauert es noch länger«, antwortete der Polizeibeamte. »Und keiner von Ihnen ist in irgendeiner Weise angeklagt, bis jetzt. Können wir weitermachen?« Sie nickten resigniert. Der Polizeibeamte sagte: »Chronologisch betrachtet ist es wohl am wichtigsten mit diesem – wie soll ich es nennen – Hexensabatt zu beginnen, der …« Beide Eheleute unterbrachen ihn. »Also ehrlich gesagt, das ist doch lächerlich!«, sagte Bertram Vik. »Da siehst du, was du angerichtet hast, Sara!«, rief seine Frau. Sara presste die Lippen zusammen und starrte vor sich hin. Cecilie schaute mich mit einem Gesichtsausdruck an, als erwarte sie, dass ich eingreifen würde. Ich zuckte mit den Schultern und deutete mit einer Geste an, dass dies nicht mein Fall war. »Das hier hat nichts mit diesen anderen Begebenheiten zu tun«, sagte Bertram Vik. »Es handelt sich um eine Vorstudie zu dem, was später das große Wikingertheater von Utvær wurde, das, wie ich vermute, der Herr Polizeibeamte selbst gesehen hat, kulturbegeistert wie er ist.« Sein Sarkasmus war schlecht kaschiert. »Genau«, fügte seine Frau hinzu. »Und es hatte nichts von diesen – geschmacklosen Untertönen, die Sara sich zusammenphantasiert hat.« Der Polizeibeamte sah Cecilie an. »Ist das korrekt?« 185
»Ich …« »Ja, denn Sie haben ja auch teilgenommen, oder?« »Ja, ich …« »Wie würde Sie beschreiben, was geschah? War es eine Orgie oder eine – wie haben Sie es genannt, Vik – eine Vorstudie?« »Jedenfalls keine Orgie!«, rief Cecilie. »Also eine Vorstudie?« Sie zögerte etwas. »Na ja, ich glaube, so könnte man es tatsächlich nennen.« Schnell fügte sie hinzu: »Alle, die dabei waren, haben ja auch bei dem Wikingerstück mitgespielt.« »Gut. Und dann ist da der Tod von Jens Bye, der am nächsten Tag ertrunken ist. Oder in der Nacht danach, um genau zu sein. Irgendwelche Kommentare dazu?« Niemand sagte etwas. Der Polizeibeamte fuhr fort: »Seine Frau hat auch an – der Vorstudie teilgenommen, stimmt das?« Bertram Vik sagte kurz: »Ja, sie war mit in der Theatergruppe.« »Sie war auch an diesem Abend dabei, oder?« »Doch, ja.« »Und der Aussage eines Zeugen zufolge hat Jens Bye Sie alle von der Terrasse vor seiner Hütte aus beobachtet.« »Was?« Bertram Vik klang entgeistert. »Oh, lieber Gott!«, sagte seine Frau. »Woher wissen Sie das?«, fragte Bertram Vik. Der Polizeibeamte antwortete nicht. »Sara?« Das war die Mutter. Sara hielt noch immer ihre Lippen fest, fest verschlossen. »Das wussten Sie also nicht?« »Nein, nein«, antworteten beide. 186
»Und Sie sehen nach wie vor keine Verbindung zwischen den beiden Geschehnissen?« Bertram Vik sagte vorsichtig: »Es gab ja Gerüchte, soviel ich weiß, über Selbstmord, aber dass – nein, das erschüttert mich jetzt wirklich. Ich kann es einfach nicht glauben!« »Nein? Aber es gab also ausreichend gute Gründe für einen Selbstmord bei dem, was während des Sabbats geschehen ist?« »Das habe ich nicht gesagt!« »Nein, aber was Sie sagten, legt es nahe.« »Das – nein, jetzt …« Bertram Vik sah sich im Kreis um, als suche er nach Hilfe. Niemand meldete sich freiwillig, und er richtete seinen Blick wieder auf den Polizisten, mit verbissen zusammengepressten Lippen, als deutliches Zeichen dafür, dass er nicht die Absicht hatte, noch weiter über diesen Teil der Angelegenheit zu sprechen. »Tja, dann können wir ja zu einer kuriosen kleinen Begebenheit übergehen«, fuhr der Polizeibeamte nach einer gespannten Pause fort, »die ich doch sehr gern noch aufgeklärt hätte. Sie steht nämlich in direkter Verbindung zu dem, was heute Abend passiert ist, und was die eigentliche Ursache ist, warum wir hier alle sitzen.« Er sah wieder das Ehepaar Vik an. »Sie bekamen Besuch von Lars Øra, auch Fähren-Lars genannt, eines Abends, letztes Jahr im Spätsommer. Stimmt das?« Bertram Vik sagte säuerlich: »Das ist völlig korrekt. Ich kann tatsächlich ihre gesamte Aussage bestätigen.« »Und er hat einen größeren Geldbetrag von Ihnen entgegen genommen?« »Ja, er hat Geld von uns bekommen. Ob es viel war, das kommt wohl auf den Betrachter an, denke ich.« Der Polizeibeamte war jetzt unsicherer geworden. »Und dieser Betrag war für …«
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Bertram Vik sah seine Frau an. »Vielleicht möchtest du es erzählen, Olga?« Olga Vik nickte. »Dafür gibt es eine vollkommen natürliche Erklärung. Wir haben von Lars ein paar alte Werkzeuge gekauft, ziemlich wertvoll sogar, in Verbindung mit dem Wikingerstück. Sie wurden bei der Vorstellung verwendet. Und er war so nett, mit der Bezahlung zu warten, bis die Gesamtabrechnung fertig war. So einfach war das.« Wieder warf sie einen gnadenlosen Blick in Richtung ihrer Tochter. Jetzt hatten sie die Situation im Griff. Der Wind hatte plötzlich gedreht. Der Polizeibeamte ging rasch weiter. »Dann bleibt eigentlich nur noch die Sache heute Abend …« »Womit wir nicht das Geringste zu tun haben. Wir sind gebeten worden zu bestätigen, dass Veum hier wirklich etwas auf der Insel zu erledigen hatte, und das hatte er. Mehr haben wir mit diesem tragischen Unfall nicht zu tun.« Der Polizeibeamte tat, als hörte er es nicht. »Aber auffallend viele von Ihnen waren allein, ungefähr zu der Zeit, als der Unfall geschehen sein muss. Wenn dies ein klassisches Kriminalrätsel wäre, könnte ich mich jetzt zurücklehnen und folgendes feststellen: Sie, Vik, sagen, Sie seien allein zur Schule gegangen, um einen Elternabend vorzubereiten. Aber Sie trafen niemandem auf dem Weg, also gibt es keine Zeugen, die Ihre Aussage bestätigen können. Ihre Frau …« Sein Blick wanderte zu Olga Vik. »Sie sagt, sie sei zuhause gewesen, und das gleiche gilt für Sara. Aber sie haben sich in verschiedenen Etagen aufgehalten, und keiner kann die Aussage des anderen …« »Aber natürlich!«, unterbrach ihn Olga Vik. »Ich kann bestätigen, dass Sara zu Hause war. Ich habe sie oben in ihrem Zimmer herumlaufen hören.« »Und du, Sara …?« Der Polizist sah jetzt Sara an. »Kannst du das bestätigen?« 188
»Dass – dass Mutter …« »Ja?« »Ich – ich glaube ja. Ich hab nicht drauf geachtet.« »Du glaubst. Na gut.« Dann war Cecilie an der Reihe. »Und Sie, Fräulein Sand, Sie haben Veum zu Ihrem Häuschen begleitet, ihm eine Tasse Kaffee gemacht und sind dann auch wie Vik zu dem Elternabend gegangen, aber auch Sie gingen den ganzen Weg allein. Ist das richtig?« Cecilie nickte. Schließlich sah der Polizist mich milde an. »Und Veum …« »Ich bin jedenfalls jemandem begegnet!«, sagte ich. »Einem jüngeren Ehepaar, sicher auf dem Weg zur Schule und …« »Ja, das haben Sie schon gesagt, Veum. Sie sind tatsächlich der einzige hier, der eine Art Alibi hat.« »Hören Sie«, fuhr Bertram Vik dazwischen. »Soll das alles bedeuten … Sie meinen doch nicht etwa im Ernst, dass …« Der Polizeibeamte schüttelte langsam den Kopf. »Nein, Vik, das tue ich nicht. Ich bediene mich nur meines Rechts, Sie alle zu verhören – wegen der Sache, die – die heute Abend geschehen ist. Aber jetzt glaube ich, das war tatsächlich alles. Für den Moment. Sie können nach Hause gehen.« Sara sprang auf. »Nein! Nein, das will ich nicht!« Sie sah mich an. »Nehmen Sie mich mit in die Stadt, Veum. Nehmen Sie mich mit zurück zu Bente und – und ihrer Mutter.« Olga Vik wurde hochrot. »Was für ein Unfug, Sara!« Der Polizeibeamte sagte: »Ich fürchte, deine Eltern …« Ich hob die Stimme. »Hören Sie mir bitte alle einen Augenblick zu. Es war eine aufreibende Nacht für uns alle. Es waren aufregende Tage. Glauben Sie nicht, dass es Sara gut tun würde, ein oder zwei Tage wegzukommen?«
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Olga Vik öffnete den Mund, aber bevor sie etwas entgegnen konnte, kam ihr Mann mir überraschend zu Hilfe. »Olga, ich glaube … Es kann sein, dass Veum Recht hat. Was wir heute Nacht erfahren haben … Wir haben ihr vielleicht zu viel zugemutet. – Ich glaube, es könnte Sara gut tun, ein paar Tage bei Bente und – äh, ihrer Mutter zu sein. Um Abstand zu bekommen von dem, was passiert ist. Stimmt’s Sara?« Er mobilisierte ein väterliches Lächeln für seine Tochter. Sie nickte, aber ohne aufzusehen. Olga Vik sah düster ihren Mann an. »Bertram, denk doch …« »Wir werden das jetzt nicht weiter diskutieren«, fiel Bertram Vik ihr ins Wort. »Aber – aber … ihre Kleider?« »Ich werde mir so lange welche von Bente leihen«, sagte Sara. »Ich werde sie den ganzen Weg begleiten«, sagte ich. »Sie können ganz beruhigt sein. Sie wird sicher ankommen.« Der Polizeibeamte hatte dagesessen und den Wortwechsel hellwach verfolgt. Jetzt stand er hinter seinem Schreibtisch auf, wie um zu demonstrieren, dass der offizielle Teil der Veranstaltung endgültig beendet war. Wir gingen hinaus ins Vorzimmer. »Wie kommen wir rüber auf die Insel?«, fragte Bertram Vik. »Haugen wird Sie rüber rudern«, sagte der Polizist. »Wir sind noch nicht fertig mit den Untersuchungen an Bord der Fähre.« »Tja, dann …« Er sah sich nach seiner Tochter um, aber sie war auf die Toilette gegangen und hatte die Tür hinter sich abgeschlossen. »Sagen Sie Sara, dass wir draußen auf sie warten – um uns richtig zu verabschieden. Du kommst doch mit uns, oder Cecilie?« Cecilie nickte, blieb aber stehen. »Ich muss nur …« Sie nickte zur verschlossenen Toilettentür.
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»Tja, Veum …« Er nickte langsam und folgte seiner Frau ins Vorzimmer. »Kommen Sie bitte einen Moment hier herein«, sagte der Polizeibeamte zu dem Kollegen Haugen und beide verließen den Raum. Cecilie und ich teilten einen Augenblick unseres Lebens in dem farblosen, unfreundlichen Raum. Ich begegnete ihrem Blick und konnte es nicht lassen, daran zu denken, wie er gewesen war, gebrochen vor Leidenschaft, flackernd vor Lust. »Also dann – noch einmal tschüss«, sagte ich. Sie nickte. »Es ist furchtbar traurig«, sagte sie, »das mit Fähren-Lars.« »Ja.« »Varg … Was ich …« »Ja?« »Worüber ich mit Bertram gesprochen habe, gestern Nacht … Er hatte mich gebeten, ihn heimlich zu treffen, damit Olga es nicht merkte – und sich Sorgen machte. Er hat gefragt – er wollte nur wissen, wie viel du wusstest – über – über das, was da draußen passiert war. Wegen der Sache mit – Frau Bye. Dass sie es war, die er …« »Und warum war er so besorgt deswegen?« Ihr Blick flackerte. »Oh, du weißt schon, in einem so kleinen Ort wie diesem … Er wollte nicht, dass es herauskäme, wie er, der Schulleiter …« »Und du kamst gehorsam angelaufen?« »Ja, ich – ich habe mich wohl irgendwie – mitschuldig gefühlt. Wenn ich es gewesen wäre, die er … Aber du musst nicht glauben, dass ich deshalb … Wir …« Sie lächelte zaghaft. »Nein?« »Nein.« 191
Sara kam aus der Toilette und ging an uns vorbei. Cecilie wartete, bis sie draußen war, dann kam sie schnell zu mir, legte ihre Finger um meinen Oberarm, hob sich auf die Zehenspitzen und gab mir einen zarten, weichen Kuss auf die Lippen – flüchtig wie ein vorbeifliegender Schmetterling. Dann folgte sie Sara hinaus. In der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Mach’s gut … Varg.« Ich nickte. »Du auch, Cecilie.« Direkt neben der Tür hing ein Kalender mit einem Bild einer rostschutzfarbenen Ölplattform. Ein roter Magnetring umkreiste das gestrige Datum. Ich schob ihn einen Tag weiter. Ich ging nach draußen. Sara stand vor einem Fahrplan, der mit rostbraunen Heftzwecken an die Wand gepinnt war und wartete auf mich. Es hatte angefangen zu regnen, ein weicher und sanfter Sommerregen, und es war noch eine halbe Stunde hin, bis der erste Bus kam.
14 Auf dem Seeweg nach Bergen herein zu kommen, ist wie direkt in eine Breitwandleinwand hinein zu segeln. Die Stadt und das Fjell breiteten sich willig vor uns aus und bildeten ein dunstiges Panorama. Wir gingen in mein Büro und riefen Benedicte Bye an, um sicher zu gehen, dass sie auch zu Hause war. Das Büro war tot und still, als sei nicht ein Tag vergangen, seit ich zuletzt dort gewesen war. Im Briefkasten lag ein Haufen Werbung, Rechnungen und ein anonymer, weißer Umschlag mit dem Poststempel von Utvær.
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Ich öffnete den Umschlag und sah mir den Inhalt an. Es war das Foto von Sara, das ihr Vater versprochen hatte, mir zu schicken. Ich las den kurzen Brief, der dabei lag – mit dem Gefühl, eine alte Zeitung zu lesen – und reichte ihn Sara. »Hier kannst du es sehen. Sie haben wirklich Angst um dich gehabt«, sagte ich. Sara las den Brief durch. Ihr Gesichtsausdruck verriet eine Mischung aus Hilflosigkeit und Angst. Aber sie sagte nichts. Wir nahmen den Bus zum Fyllingsdalen hinaus. Sara war ebenso wenig gesprächig wie auf der Fähre vor ein paar Tagen. Ich hatte irgendwie das Gefühl, als hätten wir uns im Kreis bewegt, als sei eigentlich gar nichts geschehen. Wir stiegen aus dem Bus und gingen zu dem Terrassenblock, in dem Benedicte Bye wohnte. Wir mussten dreimal klingeln, bevor sie uns öffnete. In der Wohnung dröhnte ein lautes Aerobic-Programm mit hämmernden Disco-Rhythmen und einer dynamischen Frauenstimme, die auf unverfälschtem Amerikanisch drauflos kommandierte. Benedicte Bye hatte sich eine kurze Frotteejacke über die Schultern geworfen. Darunter trug sie einen türkisfarbenen Anzug, der wie eine zweite Haut saß. Der Anzug zeigte Schweißflecken und ihre Oberlippe war ebenso nass wie ihre Stirn, um die sie ein Schweißband in derselben Farbe wie der Anzug trug. Über ihre Knöchel hatte sie gestreifte Knöchelwärmer in Grün und Rosa geschoben, und ihre langen, sportlichen Beine steckten in einer orangefarbenen Strumpfhose. Wir hatten die Sonne im Rücken, aber sie wusste, dass wir kamen. Sie wischte sich die Stirn mit dem Handrücken ab und nickte in Richtung Wohnzimmer. »Du bist aber schnell wieder da, Sara«, sagte sie leichthin, sah dabei aber mich an. Ihre braunen Augen musterten mich forschend, als erwarte sie eine diskrete Andeutung zu Saras Gemütszustand, bevor sie fortfuhr:
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»Bente ist noch nicht zuhause. Sie haben heute Schulabschlussfeier.« Wir kamen ins Wohnzimmer und sie schaltete den Videorekorder aus. »Und wie lange bleibst du diesmal?«, fragte sie Sara freundlich. Sara zuckte mit den Schultern und hob die Augenbrauen zu einem traurigen Bogen. »Bestimmt nicht so lange«, sagte ich. Sara sah mich abrupt an, sagte aber nichts. Wir hatten uns um den Tisch gesetzt, und ich sagte: »Es sind dramatische Dinge passiert da draußen …« »So? Was denn?« Ich beugte mich über den Tisch und sah Benedicte Bye an. »Ihr Mann ist dort draußen ertrunken … Haben Sie jemals Besuch von Fähren-Lars bekommen danach?« Benedicte Bye starrte mir in die Augen. »Von Fähren-Lars?«, antwortete sie zögernd, als sei sie nicht ganz sicher, wen ich meinte. »Nein – wieso?« »Und Sie haben auch hier nie etwas von ihm gehört? Einen Brief bekommen oder einen Anruf?« »Von Fähren-Lars? Nein, warum sollte ich?« »Tja.« Ich wandte meine Aufmerksamkeit Sara zu. »Du wirst verstehen Sara, dass sie die erste gewesen wäre, an die er sich gewandt hätte, wenn es wirklich so gewesen wäre, wie du geglaubt hast.« Sara starrte stumm zu Boden. Benedicte sagte scharf: »Was hast du geglaubt? Was hast du geglaubt, Sara? Habt ihr euch jetzt etwa von den idiotischen Gerüchten da draußen beeinflussen lassen? hab ich es nicht gesagt, bevor Sie da rausgefahren sind, Veum? Die Leute auf Utvær sind total verrückt, sie sehen überall fliegende Untertassen und Dämonen!« 194
»Und Hexenringe?«, fragte ich vorsichtig. »Ja, Hexenringe – die Geschichte kennt ja jeder. Das ganze Land.« »Ich dachte an einen anderen Hexenring.« Ihr Blick fiel plötzlich zu Boden. Zwei rote Flecken breiteten sich über ihren Wangenknochen aus. »Sie verstehen, was ich meine.« Es funkelte in ihren Augen. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden!« »Sara hat Sie gesehen. Alle. Alles, was Sie getan haben.« Sie sah schnell zu Sara, und dann wieder zu mir, und die roten Flecken wurden immer intensiver. »Ihr Mann auch. – Aber darüber haben Sie sicher gesprochen, am Tag danach, oder?« »Wir …« »Ich sehe es vor mir wie im Film. Der Hexentanz da unten auf der Ebene. Ihr Mann, der im Liegestuhl vor der Hütte sitzt und alles sieht. Und dann unsere kleine Sara, am Hang über ihm.« »Ich …« Sie sah Sara an. »Du musst nicht denken – weil ich …« Sara war jetzt leichenblass. »Ich hab nicht ge-gesehen – mit wem er …« Benedicte Bye sah mich plötzlich triumphierend an. »Da sehen Sie …« »Ich habe es von anderen erfahren«, sagte ich und wechselte das Thema schneller, als sie mir folgen konnte. »Es ist eine der leichtesten Sachen der Welt, einen betrunkenen Mann zu ertränken. Man braucht ihn nur so weit rauszuschubsen, bis er keine Kraft mehr hat, hoch zu kommen.« Es wurde totenstill um den Tisch. Sara schaute von mir zu Benedicte Bye, die wiederum mich unverwandt ansah. 195
Schließlich sagte sie eiskalt und leise: »Was meinen Sie eigentlich?« »Ich gehe selbstverständlich davon aus, dass Sie nicht so dumm waren, sich von Fähren-Lars übersetzen zu lassen. Ich tippe, Sie sind gerudert. Aber der Sund ist da ziemlich offen, und alte Männer schlafen nicht viel. Vielleicht hat er Sie gesehen, als Sie rübergerudert sind.« »Wa-was meinen Sie?« »Denn das ist der einzige Grund, warum Sie gestern Abend wieder rausgefahren sind. Ich glaube, Sie hatten Angst, dass ich eventuell alte Geschichten wieder aufwühlen könnte, und die einzige Möglichkeit, die Sie sahen, um sich selbst Sicherheit zu verschaffen, war Fähren-Lars endgültig aus dem Weg zu räumen. Ein weiterer Unfall …« Ihre Lippen waren schmal und weiß geworden. »Das ist – das ist vollkommen … Es gibt nicht die Spur von einem Beweis.« »Ich weiß nicht, wie Sie ihn vorher dazu gebracht haben, dichtzuhalten. Vielleicht hatte Sara doch auf eine Weise Recht. Vielleicht haben Sie ihn bezahlt. Oder vielleicht … ein Mann Ende sechzig …« Sie zog ihre Oberlippe höhnisch zurück und lockte mich mit ihrer Zungenspitze. »Und was ist mit einem Mann in den Vierzigern?« »Nicht alle gehen in dieselbe Falle«, sagte ich. »Und wenn der Lockvogel auch noch so verführerisch ist.« Sara sah verständnislos von einem zum anderen. Ich stand auf. »Und Sie sind hundert Prozent sicher, dass Sie nicht einen klitzekleinen Fingerabdruck hinterlassen haben, gestern? Im Boot von Fähren-Lars? Sie mussten sich nicht an irgendetwas festhalten? Wissen Sie, dass niemand Sie gesehen hat, auf der Fahrt hinaus? Wenn Sie nicht tolldreist genug waren, den Katamaran zu nehmen? Niemand am Wegrand, als 196
Sie vorbeifuhren? Niemand, der Sie wieder erkennen würde, wenn Ihr Bild in den Zeitungen erscheint? Hundert Prozent sicher, dass es nicht den geringsten Beweis gibt?« Sie saß mit geradem Rücken und zusammengebissenen Zähnen wie eine Statue aus Elfenbein und Türkis, eine Ausstellungspuppe bei Madame Toussaud, ein Exemplar aus der Aerobic-Welle der 8oer Jahre, festgefroren in einem Augenblick der Ruhe und Meditation. Ich ging zum Telefon. »Wenn das so ist, dann können Sie sich sicher fühlen.« Als ich mich wieder zu ihnen umdrehte, sah ich, wie sich die beiden Frauen anstarrten, als hätten sie sich nie vorher gesehen.
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Das Wintermassaker
1 Auf meinem Fenstersims lagen fünf tote Fliegen. Geschützt und einbalsamiert lagen sie zwischen dem Außenfenster und dem Innenfenster, das der Arzt, der das Büro vor mir gemietet hatte, einbauen ließ, um sich und seine Patienten vor Zugluft zu schützen. Ich hatte gerade den Schraubenzieher hervorgeholt, um die sorgfältige Operation zu beginnen, mit der ich die Fliegen aus diesem Mausoleum befreien wollte, als die Tür zu meinem Wartezimmer geöffnet wurde. Ich trat durch die Zwischentür, mit dem Schraubenzieher in der Hand. Der Mann im Wartezimmer zuckte bei seinem Anblick zusammen, als glaubte er, ich wollte ihn damit angreifen. Mit anderen Worten ein Mann, der das Schlimmste befürchtete. Das gefiel mir. Dann hatte man im Leben nicht so viele Enttäuschungen zu erwarten. Und wer mich aufsuchte, der musste auf Enttäuschungen vorbereitet sein. »Sind Sie Veum?«, fragte er vorsichtig. »Allerdings«, sagte ich und steckte den Schraubenzieher in die Tasche. »Kommen Sie herein.« Ich schätzte ihn auf ungefähr sechzig Jahre. Sein Äußeres wirkte blass, und seine Haltung war geduckt wie die eines Menschen, der ohne Widerrede morgens den Mülleimer rausbrachte und nachmittags die Zeitung reinholte. Sein Gesicht war breit, und um seinen Kopf lag ein Kranz grauer, lockiger Haare. Der nackte Scheitel war oben platt wie ein Fußball, aus dem die Luft entwichen war. Seine Augenbrauen waren üppig 198
und struppig, und sein Mund war sehr schmal. Um seine Mundpartie lag ein trauriger Zug, und er sah ziemlich hilflos aus, wie er da neben meinem Klientenstuhl stand und sich nicht recht entscheiden konnte, ob er sich hinsetzen sollte oder nicht. Er trug einen grauen Anzug, der an den Knien, den Ellenbogen und wahrscheinlich am Hinterteil abgewetzt war, darunter ein weißes Hemd und einen braunen Schlips. In einer Hand hielt er eine zusammengerollte Zeitung, in der anderen eine Plastiktüte mit etwas Großem, Viereckigem darin. »Nehmen Sie Platz«, bat ich ihn. Er setzte sich vorsichtig hin, mit ängstlicher Miene. »Mein Name ist Svendsen«, sagte er. »Hallgeir Svendsen. Es geht um meine – um unsere Tochter. Solfrid.« Ich nickte. »Das ist ein schöner Name. Was ist mit ihr?« »Sie ist alles, was wir haben, und wir waren schon nicht mehr jung, als wir sie bekommen haben. Ich war vierundvierzig, meine Frau vierzig. Und jetzt ist sie weg.« Er sprach in kurzen Sätzen, fast ein wenig atemlos. Ich beugte mich über den Schreibtisch. »Und mit weg meinen Sie …« »Sie ist verschwunden. Sie ist jetzt schon fast einen Monat verschwunden. Ja, es hat in der Zeitung gestanden. Es gab eine Suchaktion. Die Polizei hat nach ihr gesucht, aber sie haben so viel zu tun, und es sind so viele, die verschwinden. Nur für uns eben – für mich und meine Frau – ist Solfrid etwas ganz Besonderes. Für die Polizei ist sie nur ein Name. Einer von vielen.« Er sagte dies ohne Andeutung von Sentimentalität oder Bitterkeit. Es war nur eine nüchterne Feststellung der Tatsachen. So war es. »Jetzt dachten meine Frau und ich, wir wollten mehr tun. Wir waren selbst unterwegs und haben gesucht, aber wir – ich bin zu alt. Meine Beine taugen nicht dafür, und die Menschen, die wir treffen … Deshalb komme ich zu Ihnen.« 199
Ich sagte freundlich: »Ja, ich verstehe. Ich habe oft solche Fälle, und die meisten gehen gut aus. Hat Solfrid – hat sie Kontakt zu einem bestimmten Milieu?« Er sah mir fest in die Augen. »Wenn Sie meinen, ob sie etwas mit dem Drogenmilieu zu tun hat, dann fürchte ich, die Antwort lautet ja. Wir konnten nicht mit ihr umgehen. Wir wurden zu alt. Wir haben nicht verstanden, was passierte.« »Ich bin vierzig Jahre alt, Herr Svendsen. Ich verstehe auch nicht alles, was mir begegnet. Das ist ein Schicksal, das viele Menschen teilen, in Zeiten wie diesen. Was ist passiert?« »In den ersten Jahren, als sie klein war, war es wie im Märchen. Wir – meine Frau und ich – hatten uns immer ein Kind gewünscht, und als wir endlich – es war wie ein Geschenk. Und sie war ein Goldkind. Wir haben versucht, ihr alles zu geben, was sie nur brauchte, an Fürsorge, Liebe, Sicherheit. Wir waren beide keine Karrieremenschen, sondern gewöhnliche Gehaltsempfänger. Wir hatten Zeit für sie. Wir haben versucht, sie so zu erziehen, wie wir es für richtig hielten. Wir haben sie begleitet, als sie in die Schule kam, waren im Elternbeirat, haben versucht, ihr zu helfen, sie zu leiten, aber dann …« Er zuckte mit den Schultern und wiederholte: »Wir waren zu alt. Irgendwann wurde der Abstand zu groß. Als Teenager bekam sie Probleme, es gab Konflikte. Wir waren vielleicht zu streng, haben zu hart reagiert. Sie kam nach Hause und roch nach Bier. Später waren es – andere Sachen. Wir haben ja in den Zeitungen darüber gelesen, hatten Informationen von der Schule bekommen. Wir haben begriffen, was geschah, haben uns an das Jugendamt gewandt. Wurden an einen Familienberater verwiesen, und an Psychologen. Solfrid kam mit, voller Trotz. Sie wollte nicht antworten. Wir waren bescheuert. Oldies. Lahm. – Wir waren zu alt. Und jetzt ist sie verschwunden.« »Seit einem Monat, habe ich das richtig verstanden?«
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»Ja. Sie war noch nie vorher weg gewesen, nicht so lange. Es kam wohl vor, dass sie spät nach Hause kam und bis zum nächsten Mittag im Bett blieb, nicht in die Schule ging. Sagte, sie sei krank, könnte nicht aufstehen. Aber sie kam immerhin nach Hause. Dann, Mitte letzten Monats, kam sie einfach nicht zurück. Wir waren außer uns vor Sorge und haben uns an die Polizei gewandt. Die haben ihre Untersuchungen durchgeführt, aber als sie hörten, dass sie mit Drogen zu tun hatte, haben sie uns keine großen Hoffnungen gemacht, sie bald wieder zu sehen. Sie hätten getan, was sie konnten, hieß es, aber sie hätten nicht die Kapazität, um über eine gewisse Grenze hinaus alle Vermissten zu suchen. Soweit sie wüssten, ist sie ins Ausland verschwunden. Nach Kopenhagen!« Er sah mich verzweifelt an und ich nickte. »Das kommt vor.« »Aber ich habe eine ihrer Freundinnen erreicht, Anne. Und sie sagte, sie glaubte, Solfrid sei in der Stadt. Sie hätte wohl einen Freund. Sein Name sei Lars, und würde selbst – harte Drogen nehmen.« Ich notierte mir den Namen. »Sagen Sie, wie alt ist Solfrid?« »Sie ist im Mai fünfzehn geworden.« »Haben Sie ein Bild von ihr?« Er nickte und reichte mir die Plastiktüte. Ich sah hinein und fand ein großes, gerahmtes Porträt. »Ihr Konfirmationsfoto«, sagte Svendsen. »Wir hatten auch ein neueres, aber das hat die Polizei bekommen.« Er reichte mir die zusammengerollte Zeitung. Auf der aufgeschlagenen Seite war über einer einspaltigen Suchmeldung ein körniges Porträt desselben Mädchens abgebildet. Solfrid Svendsen sah aus, wie die meisten Mädchen, bevor sie einen eigenen Charakter entwickeln. Flache, ausdruckslose Gesichtszüge, moderner Haarschnitt, leicht schmollender Mund und Augen, die ziellos aus dem Foto starrten. Sie war blond, und 201
ich fragte: »Sieht sie noch immer so aus, oder hat sie zum Beispiel ihre Haare verändert?« »Sie ist vielleicht schmaler geworden, im Gesicht. Und dann hat sie solche Strähnen im Haar. Fast weiß.« Er hob die Hand in den Nacken. »Hier, am Haaransatz, hinter dem linken Ohr, hat sie ein ziemlich großes, rotes Muttermal. Man sieht es nicht, wegen der Haare, aber …« »Andere besondere Kennzeichen?« Er schüttelte den Kopf. »Ist sie – wie soll ich sagen – gut entwickelt?« Er errötete leicht. »Ich habe sie ja nie so gesehen, seit sie … schon viele Jahre nicht mehr. Aber soweit ich – ja, ich glaube schon, ziemlich.« »Hatte sie schon vorher feste Freunde?« »Nicht dass wir wüssten. Meine Frau und ich hätten gern unser Haus geöffnet für ihre Freunde, wenn es nicht – wenn sie nicht so schwierig geworden wäre. Alles wurde so schwierig.« »Tja«, sagte ich. »Ich kann wohl nichts anderes sagen, als dass ich versuchen werde, sie zu finden. Diese Freundin, Anne – vielleicht sollte ich mit ihr reden.« Er sah mich erschrocken an. »Nein, nein! Ihre Eltern, sie würden ihr furchtbar – ich musste Anne versprechen, nicht zu sagen, dass – nein.« »Aber wenn – könnten Sie nicht Anne bitten, sich bei mir zu melden? Sie braucht nur anzurufen. Ich verspreche, dass ich nicht …« »Ich werde es versuchen«, sagte er schnell. »Ich werde es versuchen, Veum.« Er griff in seine Jackentasche. »Wie viel werden Sie …« Er holte eine Plastikhülle mit einem Bankbuch hervor, in der ein Stapel zusammengefalteter Hunderter lag. »Sagen wir fünfhundert, erst einmal«, sagte ich. »Und dann sehen wir später weiter.« 202
Er bezahlte ohne Widerrede, und ich sah, dass noch ein beträchtlicher Stapel übrig blieb. Aber er war ja auch ein Mann, der immer mit dem Schlimmsten rechnete. Als Hallgeir Svendsen gegangen war, blieb ich eine Weile am Fenster stehen. Ich sah an den fünf toten Fliegen vorbei auf die Stadt. Es war November, und ein grauer Wind trieb leichte Schneeflocken über Vågen herein, die wie Schuppen vom Himmel fielen. Das machte die ganze Aussicht zu einem grob gerasterten Zeitungsfoto. Das Leben wurde zu einer Reportage, die Menschen dort unten gute und schlechte Nachrichten, und man selbst wurde zu einer Fußnote auf der allerletzten Seite. Auf dem Schreibtisch hinter mir stand das Porträt von Solfrid Svendsen. Eine Tochter, ein Kind. Drei Jahre älter als mein Sohn, Thomas. Mit einem Vater und einer Mutter, die sie vermissten, sich nach ihr sehnten – und nach dem Mädchen, das sie einmal gewesen war. Das kleine Kind, das sich plötzlich losgerissen hatte, die kleine Fremde, die plötzlich in ihr Dasein eingebrochen war, einen wichtigen Teil an sich gerissen hatte und die dann wieder verschwunden war. Ich würde versuchen, sie zu finden. Ob sie das glücklicher machen würde, wusste ich nicht. Im Grunde bezweifelte ich es. Aber ich wurde nicht dafür bezahlt zu zweifeln. Ich war Veum, der Fährtensucher, und mein Orientierungssinn war noch immer in Ordnung. Ich rief im Rauschgiftdezernat an und fragte nach Kommissar Sivert Hauge.
2 »Hauge.« Die Stimme war tief und dunkel und ganz »Ol’ Man River«. Wenn man ihm begegnete, war man erst einmal merkwürdig überrascht, denn Sivert Hauge war blond und dünn, wie ein Spätsommer an der Westküste. 203
»Veum.« Der Bass sank noch ein paar Töne tiefer. »Na – was willst du?« »Jemand hat mich gebeten, mich mal nach einem Mädchen namens Solfrid Svendsen umzusehen. Fünfzehn Jahre alt. Ich wollte fragen, ob du was über sie weißt.« Er schmunzelte melodiös. »Gibt es Provision, Veum?« »Ich dachte, ihr wärt Beamte.« »Eben deswegen.« Ich hörte wie er in Papieren blätterte. »Sie steht nicht auf der Liste der wichtigsten Fälle. Auch nicht auf der Fahndungsliste. Ihr Name steht hier auf einer Liste über vermisste Personen, aber wir haben sie nicht registriert. Hast du es schon beim Jugendamt versucht?« »Vor vielen Jahren. Nein.« »Tu das.« »Danke dir. Gibt es sonst was Neues?« »Du liest doch Zeitung, oder?« Ich antwortete nicht. »Eben«, sagte Sivert Hauge und legte auf. Ich ließ das Gespräch ein paar Minuten sacken. Dann rief ich beim Jugendamt an. Sie hatten eine neue Telefonnummer bekommen, seit ich sie das letzte Mal angerufen hatte, und die Stimme am anderen Ende kannte ich auch nicht. Sie war hell und fraulich und konnte mir nicht viele Informationen geben. Es gäbe da nämlich so etwas wie Schweigepflicht, erzählte sie mir, freundlich aber bestimmt. Vertrauliche Informationen. Die konnten sie nicht an jeden x-beliebigen Anrufer einfach so weitergeben. Das war ein Standpunkt, dem ich in vieler Hinsicht zustimmen konnte. So trennten wir uns denn auch in aller Freundschaft, nach einem kurzen Telefonverhältnis von anderthalb Minuten. 204
Nächster Anruf. Diesmal Paul Finckel, der Journalist. Ich konnte meine Informationen über die Drogenszene auf den neuesten Stand bringen. Vieles hatte sich nicht verändert. Ich hatte mich mittlerweile daran gewöhnt, dass die Polizei und andere Behörden damit zufrieden waren zu wissen, wo sie ihre Leute finden konnten, wenn sie sie brauchten. Das machte einige Parks und Wohngebiete tagtäglich zum Albtraum für die Menschen, die gezwungen waren, sich dort zu bewegen. Das hatte natürlich auch viele Vorteile. Das Problem war, dass man sich damit begnügte, die Symptome zu isolieren, ohne jemals zur Krankheitsursache vorzudringen. Ich dankte Finckel für die Infos und ließ das Telefon ruhen. Jetzt waren die Beine dran. Ich nahm die Plastiktüte mit dem Foto von Solfrid Svendsen mit, schloss die Bürotür hinter mir ab und ging in die Novemberstadt hinaus.
3 Das Haus lag in einer Seitenstraße von Bergens »schwarzem Quadrat«, dem Viertel zwischen dem Busbahnhof und der Nygårdsgate. Wolfshäuser nannten sie solche Gebäude mancherorts. Schornsteinhäuser hießen sie in Bergen. Beide Namen sprachen für sich. Die Bewohner waren oft mager und ausgehungert wie abgezehrte Wölfe, und die Schicksale, die diese Häuser beherbergten, waren häufig schwarz und ausgebrannt. Es war ein fünfstöckiges, schiefes Haus mit verstaubten Gardinen vor den Fenstern und einer Tür, die nur noch notdürftig in den Scharnieren hing und eine zerbrochene Scheibe hatte. Es war die dritte der Adressen, die Paul Finckel mir genannt hatte. Das einzige, was mir in der Straße auffiel, war eines der Autos: Ein Opel Kadett, der mir irgendwie bekannt vorkam. Der Mann am Steuer hatte eine Zeitung vor seinem Gesicht ausgebreitet. Entweder war er sehr kurzsichtig, oder er hatte Gründe, 205
sich zu verstecken. Die Gründe konnten natürlich auch kosmetischer Art sein, aber dennoch … Ich ging zur Tür, warf einen Blick an der Fassade nach oben, sah nach rechts und nach links, als wollte ich eine gefährliche Straße überqueren, öffnete die Tür mit dem Fuß und trat ein. Drinnen war es still und halbdunkel. Nur das schwache Novemberlicht von draußen erhellte den Eingangsbereich, und als ich versuchte, den Lichtschalter links an der Wand zu betätigen, passierte gar nichts. Ich ging auf die Tür zum Treppenhaus zu und öffnete sie. Dann wurde mir klar, dass es kein Zufall war, warum mir der Wagen vor der Tür bekannt vorkam. Starke Arme zogen mich ins Halbdunkel, drehten mich herum und pressten mich an die Wand. Erfahrene Hände nahmen eine schnelle Leibesvisitation vor, wie eine Art flüchtiger Vergewaltigung. Dann kamen breite Gesichter aus der Dunkelheit und starrten mir tief in die Augen. Zeit für Romantik. Ich lächelte Ellingsen blass an. »Hallöchen. Ich hatte ja keine Ahnung, dass du so drauf bist. Jetzt verstehe ich Vibeke besser.« Ellingsen entblößte seine Zähne und ließ verächtlich meinen Mantelaufschlag los. Neben ihm meldete sich sein Doppelpartner Bøe zu Wort: »Die Clowns haben heute frei, Veum ist da.« Den dritten Polizeibeamten kannte ich nicht. Es war ein ziemlich junger und gutgebauter Kerl, mit hellem Schnauzbart und einem Kinn aus Granit. Ich zog meinen Mantel zurecht und sagte: »Wem hab ich die Ehre dieses Empfangskomitees zu verdanken? Es wäre wirklich nicht nötig gewesen …« »Was hast du hier zu suchen, Veum?«, fragte Bøe vorsichtig. Ellingsen bellte: »Du kennst doch Veum? Er hat sie gerochen.« »Was gerochen?«, fragte ich. 206
»Die Leiche!« Mir wurde eiskalt. Ich dachte an den alten Mann mit der jungen Tochter und an das Bild, das ich in der Plastiktüte hatte. »Wer?« Er zuckte die Schultern. Sein dunkler Pony klebte ihm an der Stirn, und die deutlichen Bartstoppeln gaben ihm ein zigeunerhaftes Aussehen. Bøe war ein wenig größer, dünner und weitaus eleganter, sowohl was seine Kleidung als auch was seine Physiognomie anging. Ich kannte beide schon seit viel zu vielen Jahren. Ich sah im Treppenhaus hinauf. »Es könnte sein, dass ich Informationen für euch habe.« »Sicherlich. Und über was?« Bøe ergriff das Wort. »Schick ihn rauf, Hansen«, sagte er an den Jüngsten in der Runde gewandt. »Bring ihn rauf zu den anderen.« Hansen nickte, und Bøe und Ellingsen blieben unten zurück. Wir gingen zwei Etagen nach oben. Rechts stand eine Wohnungstür offen und wir hörten Stimmen. Wir folgten den Geräuschen, ganz zaghaft. Die Szenerie, die uns drinnen erwartete, hatte ich schon öfter gesehen, aber es war eindeutig kein Weihnachtsmärchen. Ein junger Mann lag in verdrehter Stellung auf dem Fußboden. Die verschlissenen Möbel standen irgendwie in einem Kreis um ihn herum, in respektvollem Abstand. Neben ihm lag eine schmutzige Spritze. Um den linken Oberarm hatte er einen Gummischlauch gebunden, und die Narben an der Innenseite seines Arms sprachen eine deutliche Sprache. Mehrere der Einstichstellen sahen entzündet aus. Sein Gesicht war nicht weniger ausdrucksvoll: eine gruselige Mischung aus Verklärung und ganz plötzlicher Angst. Sein Gesicht war hager, sein Bart spärlich und zottelig, seine Augen 207
waren gebrochen, seine Haut blassgrau, und das Blut, das an seinem Arm ausgetreten war, fast schwarz. Um ihn herum stand eine Versammlung ernster Männer in Mänteln. Ich kannte sie alle, mit Ausnahme von einem: ein großer, hagerer Mann Ende fünfzig, mit nach hinten gekämmtem, graubraunem Haar und einem markanten Gesicht mit einem breiten, verbitterten Mund über dem kräftigen Kinn. In einer Hand hielt er eine Brille. Mit der anderen verbarg er seine Augen, und ich konnte Streifen von Tränen auf seinen zerfurchten Wangen erkennen. Das Haar fiel ihm in die Stirn und entblößte ein offenes Feld mitten auf dem Schädel. Oberkommissar Jakob E. Hamre begegnete meinem Blick und seufzte. Die anderen traten schwerfällig zur Seite. Man bewegt sich niemals leichtfüßig in solchen Räumen. Der Geruch war unbeschreiblich, die Atmosphäre jenseits jeglicher äußeren Wirklichkeit. Es war wie ein Bild aus Stein: Eine Gruppe von Skulpturen über die unfassbare Tragödie einer ganzen Generation gebeugt. Hamre kam zu mir und sagte leise: »Veum?« Ich zog das Foto von Solfrid Svendsen aus der Plastiktüte. »Ich bin hier, um nach ihr zu suchen. War sonst niemand hier?« Er schüttelte den Kopf. »Alle verschwinden, wenn so etwas passiert. Einer von ihnen rief einen Notarzt, aber es war zu spät.« »Eine Überdosis?«, fragte ich. Er antwortete nicht. Es war nicht nötig. Der Mantel mit der Brille in der Hand richtete sich abrupt auf. Sein heller Mantel stand vorne offen. Darunter trug er Anzug und Weste, Hemd und Schlips. Er wischte sich die Tränen von den Wangen und setzte die Brille auf. Die Goldfassung blitzte auf und er sah sich kurzsichtig im Raum um. Seine Stimme war dunkel und voll, als er sagte: »Wenn mir jemand bloß den Grund sagen könnte!« 208
Er strich sich wieder das Haar aus der Stirn und warf mit einer eigenwilligen Bewegung den Kopf in den Nacken. »Er war so begabt, hatte eine richtige Ausbildung angefangen, war mit einem netten Mädchen zusammen, lebte in sicheren Verhältnissen, hatte sein eigenes Auto, eine viel versprechende Zukunft vor sich. – Aber dann, ganz plötzlich – ist er ein anderer. Vollkommen. Fährt das Auto zu Schrott, bricht seine Verlobung, zieht von zu Hause aus und …« Wieder sah er sich um, voller Abscheu und Ekel. »Hierher!«, sagte er mit einer ausladenden Handbewegung. Hamre trat einen Schritt auf ihn zu und hielt seinen Blick fest. »Und dann kriege ich einen Anruf, und hier – hier ist er. Mamas Goldjunge, Papas Pfadfinderjunge, Wanderkumpan, Gardesoldat, Student … Dieser, dies …« Es war, als fände er keine Worte für das, was das Wesen auf dem Boden neben ihm eigentlich war. Mit aschfahlem Gesicht trat er zwei Schritte vor und wäre beinah umgefallen. Zwei andere Polizeibeamte traten rasch zu ihm, aber Hamre hatte ihn schon gepackt und hielt ihn fest. Seine Stimme brach jetzt. »Ich bin nicht gesund. Zucker. Meine Frau hat Herzprobleme bekommen. Angina. Wie soll ich ihr das hier bloß erzählen?« Die Tränen begannen wieder zu fließen. Seine Brillengläser beschlugen. Er schluchzte laut. Ich sah mich um. Verkniffene, weiße Gesichter. Männer, die mit geballten Fäusten in den Manteltaschen dastanden. Leicht breitbeinig, wie in den Boden gepflanzt. Und dann dieser unfassbar trostlose Raum um uns herum, mit fleckiger Tapete, löchrigen Möbeln, ein paar Kartons mit saurer Milch und einem alten Stück Brot in einer Ecke, einem kleinen Propankocher und einer zerlesenen Ausgabe der Obdachlosenzeitung. Draußen war November, aber hier drinnen war der November des Novembers. Hier starb die nächste Generation mit harten Kristallen in den Adern und grellen Träumen hinter den blinden Augen. 209
»Wie ist sein Name?«, fragte ich leise. Der Polizeibeamte neben mir sah auf. Es war Jon Andersen, aber er hatte abgenommen. Jetzt war er auf unter hundert Kilo. »Der des Jungen?« Ich nickte. Er sah auf den Notizblock in seiner Hand. »Sørum. Lars. Sein Vater heißt Helge. Sørum & Sætre, wenn dir das etwas sagt.« »Lars?«, wiederholte ich scharf. Mehrere Blicke richteten sich auf mich. Er nickte. Ich sah den toten jungen Mann an. Solfrid Svendsen hatte einen Freund gehabt, der Lars hieß. Vielleicht war ich dem Ziel näher, als ich erwartet hatte.
4 Ich war wieder in meinem Büro. Korrekt wie Jakob E. Hamre war, hatte er auch mich zum Verhör ins Polizeipräsidium gebracht. Das hatte ein paar Stunden Wartezeit mit sich gebracht. Ich hatte keinen Grund gesehen zu verheimlichen, dass das Mädchen, nach dem ich suchte, einen Freund gehabt hatte, der Lars hieß. Im Gegenzug hatte ich ganz nebenbei ein paar Informationen über den Toten bekommen. Jakob E. Hamre hatte mit einem müden Ausdruck auf seinen regelmäßigen Gesichtszügen dagesessen und in einer Akte geblättert. »Nicht so ganz typisch, Veum«, hatte er gemurmelt. »Viele von ihnen kommen aus kaputten Familien, hatten mit Alkoholismus und Kriminalität Kontakt und niemals wirklich festen Boden unter den Füßen. Aber sieh dir diesen Jungen an. Personalien wie ein Feldprediger. Pfadfinder. Gardesoldat. Medizinstudent. Geordnete Familienverhältnisse und sicherer 210
finanzieller Hintergrund. Zwei Geschwister, die beide was Ordentliches geworden sind. Erst vor anderthalb Jahren taucht er in unserer Kartei auf, als er in Verbindung mit einer Razzia in einem Drogennest festgenommen wird. Ersttäter mit so wenig Hasch in den Taschen, dass sie ihn auf Bewährung wieder laufen lassen. Dann ist er vor acht Monaten wieder drin. Bekommt sechs Monate Bau und sechs Monate auf Bewährung. Jetzt war er wieder draußen, unter Aufsicht eines Bewährungshelfers, ist aber vor acht, neun Tagen verschwunden. Und dann finden wir ihn …« Er hatte seinen maßgeschneiderten Anzug zurechtgezogen, wie um sich für eine würdige Beerdigung herzurichten. »Ein abgeschlossenes Kapitel, Veum. Vierundzwanzig Jahre alt. Plötzliche Talfahrt ins Inferno.« »Ohne Rückfahrkarte«, hatte ich hinzugefügt. Darüber hinaus hatte Hamre nicht viele Informationen gehabt. Der Fall würde wahrscheinlich als einer der mittlerweile recht häufigen Drogentoten eingestuft. Eine Todesanzeige mit einem schwarzen Kreuz, ein Name und ein viel zu kurzes Lebensalter. In ein paar Tagen würde seine Asche begraben werden, und nur seine nächsten Angehörigen würden sich erinnern. Noch ein Kind, das zu schnell erwachsen geworden war, ohne die Kraft, um dem Alltag zu begegnen. Noch ein Grab, das ein allzu frühes Opfer aufgenommen hatte, einen Mieter, der viele Jahre zu früh kam. Das Telefon klingelte. Ich griff nach dem Hörer, und eine Stimme sagte: »Hallo?« »Ja – Veum.« Es war eine junge Stimme, mit sprödem Tonfall und ängstlicher Wortwahl. »De-detek- … Sind Sie der – der … Ich heiße Anne.« »Ach ja!«, sagte ich. »Die Freundin von Solfrid?« 211
»Ja … Sind Sie es, der … nach ihr suchen soll?« »Ich versuche es.« »Ihr Va-vater hat gesagt, dass Sie – dass ich anrufen sollte und Ihnen sagen … was ich weiß.« »Schön, dass du …« »Aber ich muss mich beeilen. Ich kann nicht lange reden. Verstehen Sie …« »Ich verstehe. Hör zu, sie war mit einem Jungen namens Lars zusammen, stimmt das?« »Doch, sie – ja.« »Wie hieß er weiter?« »Er war älter als sie, hatte Medizin studiert, konnte Spritzen setzen, wie – wie – ein Experte … Hat sie gesagt. Aber ich weiß nicht, wie er weiter hieß. Er …« »Ja?« »Nein, Sie dürfen – Sie dürfen nur nicht sagen, dass ich es gesagt habe.« »Du kannst dich auf mich verlassen. Eine wichtige Frage, Anne: Weißt du, wo sie – wo sie sich aufhielten, wo sie gewohnt haben?« »Das war verschieden, unten in einem Haus am Busbahnhof, und dann in einem in Møhlenpris. Ungefähr unter der Brücke.« »Hast du die Adressen?« Sie zögerte ein wenig, wusste wie die Strassen hießen, war sich aber nicht sicher bei den Hausnummern. »Aber das in Møhlenpris hatte eine alte Glasmalerei auf einem Fenster in der Haustür. Ein Vogel auf einem Zweig. Die andere Scheibe ist durch normales Glas ersetzt worden. Gleich bei der Brücke.« »Das klingt gut. Kennst du die Namen von ein paar anderen, mit denen ihr unterwegs wart?«
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»Sie müssen nicht glauben, dass ich da mitgemacht habe! Ich habe nur – wir waren schon seit ganz früher befreundet, und sie hat mich mitgenommen, einmal hab ich sie in der Stadt getroffen, sie war wohl irgendwie stolz, weil sie mit einem zusammen war, der irgendwie schon erwachsen war, und außerdem fand sie es spannend, was sie da tat. Sie machten Einbrüche und nahmen den Leuten ihr Geld ab.« »Nahmen den Leuten ihr Geld ab?« »Ja, sie tat so, als wollte sie – äh, also mit ihnen schlafen, aber sie mussten mit zu ihr nach Hause kommen, und in einer Seitenstraße wartete Lars und schlug sie nieder. Oder bedrohte sie mit einem Messer und nahm ihnen Geld ab. Sie haben versucht, sich solche auszusuchen, die verheiratet waren, weil die nie zur Polizei gingen. Sie hat erzählt, dass sie immer zuerst nachsah, ob sie einen Ring trugen.« »Und wo hat sie sie aufgelesen?« »In Restaurants und so. Aber jetzt kann ich nicht weiterreden.« »Ruf mich an, wenn du …« Aber sie hatte schon aufgelegt. Es war keine Schwierigkeit, das richtige Haus zu finden. Die Glasmalerei auf dem Fenster war auffällig genug. Ein schmutzig gelber Vogel mit schwarzem Schnabel vor einem roten Sonnenuntergang. Der Zweig, auf dem er saß, hatte graugrüne Blätter, und das ganze Bild sah jetzt sicherlich deutlich düsterer aus als damals, als es gemalt worden war. Zu der Zeit, als Møhlenpris noch ein Wohnort für die Wohlhabenden gewesen war, hatten Menschen dieses Haus einfallsreich gestaltet. Das war, bevor man eine Brücke durch den Stadtteil gezwungen hatte, bevor die automobile Welt ihr graues Segeltuch über Bäume und Häuser geworfen hatte, und als der Nygårdspark noch ein Ort war, wo man an hellen Sommerabenden über gewölbte Brücken promenieren konnte. An der Fassade gab es Cupido-Köpfe mit 213
gebrochenen Gipszähnen und Trauerrändern auf den Wangen, einen Lorbeerkranz aus Speckstein um das Hausnummernschild und kleine Rosettenreliefs zwischen den Stockwerken. Im Treppenhaus hatte es in allen Stockwerken Glasmalereien gegeben, aber die meisten waren durch gewöhnliches Fensterglas ersetzt worden. Der treue Vogel sang noch immer sein Lied vor einem blutroten Hintergrund, aber als ich die Tür öffnete, wurde mir klar, warum man ihn nicht hörte. Ein Gestank nach Pilzen und Verwesung schlug mir aus dem Treppenhaus entgegen. Wie gewöhnlich in solchen Häusern standen keine Namen an den Briefkästen hinter der Eingangstür. Und es war auch nicht ungewöhnlich, dass keine der Klingeln zu funktionieren schien. Erst im zweiten Stock links ertönte zwar ein Schellen, als ich auf den Klingelknopf drückte, aber es machte niemand auf. Ich trat zur gegenüberliegenden Tür. Hier war auf jeden Fall jemand zu Hause. Die schneidenden Geräusche einer ohrenbetäubend lauten Stereoanlage drangen bis ins Treppenhaus. Hier konnte ich nicht damit rechnen, dass sie die Türklingel hören würden – und trat deshalb gegen die Tür. Drei harte Tritte, dann eine kurze Pause, und dann noch einmal drei. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis die Tür aufging. Die Offenbarung, die in der Türöffnung erschien, hätte von einem anderen Planeten stammen können. Wäre ich ihr in einer versoffenen Phase meines Lebens begegnet, hätte ich das nächste Taxi zur nächsten Entzugsanstalt genommen und mich lebenslänglich einweisen lassen. Ihr Haar war hellgrün und stand in alle Himmelsrichtungen, ungefähr wie bei einem Igel. Um ihre Augen hatte sie drei Kreise gemalt, einen roten, einen grünen und einen in Lila. Ihr Mund war schwarz nachgezogen, und mitten auf eine Wange hatte sie ein großes rotes Dreieck gemalt, das von einem stumpfen Gegenstand durchstoßen wurde: Ein recht eindeutiges 214
sexuelles Symbol. Im Ohrläppchen auf der anderen Seite hing eine Sicherheitsnadel mit einer grünen Vogelfeder. Sie trug einen militärfarbenen Kapuzenpullover, darüber eine taillierte Lederweste mit silbernen Nieten und einem saloppen Ausschnitt, auf die mit Goldfarbe die Namen diverser obskurer Rockgruppen aufgemalt waren. Darunter trug sie eine weite Hose, die wie eine Zuckerstange rote und weiße Streifen hatte, und an den Füßen gelbe Peter-Pan-Stiefel aus Wildleder. In Sodom und Gomorrha wäre sie kaum aufgefallen, aber in Møhlenpris musste sie nach wie vor Aufsehen erregen. Aus dem Zentrum der farbigen Ringe hatten ihre blauen Augen mich schnell abschätzend betrachtet. Sie warf kurz den Kopf in den Nacken und sagte: »Los, komm.« Dann ging sie vor mir her in die Wohnung und ließ die Tür hinter sich offen stehen. Ich folgte ihr zögernd durch einen langen, dunklen Flur in einen großen, nackten Aufenthaltsraum mit zwei halb verrotteten, stinkenden Matratzen auf dem Boden, ein paar Plastiktüten mit Essen und Getränken in einer Ecke und einer erstklassigen Stereoanlage mit einer reichen Auswahl an Platten und Kassetten an der einen Wand. Gerade beendete ein quietschendes Gitarrensolo sein Rennen. Ein Weltuntergangsbass hielt im Hintergrund den Takt. Das ganze Haus erzitterte in seinem Rhythmus, und durch das Fenster sah ich direkt auf die bewehrten Betonpfeiler der Puddefjordbrücke, die den Tonwellen erstaunlicherweise standhielten. Das Mädchen drehte sich abrupt um. Mit einer schnellen Bewegung hatte sie den Druckknopfverschluss ihrer Hose aufgerissen. »Willst du meine Muschi sehen?«, fragte sie. Bevor ich Zeit hatte, mir das Angebot zu überlegen, hatte sie beide Hände in die Hose gezwängt, etwas Braunes und Haariges gegriffen und es nach mir geworfen. Mein Herz fiel wie ein Stein in meiner Brust. 215
Die große Ratte landete treffsicher genau in meiner Halsgrube, und ich spürte die weichen Pfoten und die scharfen Krallen des kleinen Nagers auf meiner Haut. Mit einem hysterischen Grunzen schleuderte ich das quietschende Tier von mir. Es schlitterte an der Wand entlang und verzog sich dann hinter eine der Matratzen, wo es in einer Ecke liegen blieb und uns mit schwarzen, glänzenden Stecknadelaugen ansah. Mein Herz klopfte wild hinter meinem Brustbein und mir brach am ganzen Körper der Schweiß aus. Das Mädchen stand zusammengekrümmt da und schrie vor Lachen. Ein gellendes, schneidendes Lachen. Aber sie hatte ihre Hose noch immer offen stehen. Ich lehnte mich an die Wand, während sie zuende lachte. Dann stand sie herausfordernd da und schob eine Hüfte vor, legte eine Hand auf die Hüfte und schob eine freche Zunge aus einem Mundwinkel. »Die Mäuse fliegen auf dich, was, GummiTarzan?« Erneutes Gelächter. »Kein Grund zur Panik. Sie ist sanft wie ein Lamm. Bowie heißt sie. Schöner Name, was?« »Ich …« Meine Stimme hing zu hoch oben. Ich räusperte mich und hustete. Sie streckte die Hand aus. »Fünfhundert. Wenn du ihn nach dem Schock noch hochkriegst.« Ich sagte, so ruhig ich konnte: »Ich bin nicht gekommen, um irgendwas zu kaufen – und ganz sicher nicht zu dem Preis.« Nicht einmal, wenn sie mir fünfhundert gezahlt hätte. »Ich suche nach einem Mädchen, das von zu Hause weggelaufen ist. Sie.« Ich hielt ihr das gerahmte Foto von Solfrid Svendsen hin. »Ach nee, wie süß«, sagte das Mädchen höhnisch. »Konfirmationsfoto, was? Steck dir eine Kerze in den Arsch und geh nach Haus und spiel Weihnachtsmann. Ich hab sie nie gesehen.« »Nein? Ich hab gehört, sie soll hier wohnen.«
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»Ich kenne keinen, der hier wohnt. Ich arbeite nur hier. Hier kommt keiner her, der nicht …« Sie drehte sich abrupt zur Seite und begann, mit dem goldbraunen Nager in der Ecke zu sprechen. »Bowie, Bowie, komm her, Bowie!« Ich starrte auf die Ratte, und wer hätte es gedacht, sie gehorchte tatsächlich. Sie kam gehorsam zu ihr und hüpfte auf ihre ausgestreckten Hände. Das Mädchen hielt sie vor ihren Mund und küsste sie. Mir drehte sich der Magen um. Dann steckte sie sie unbeschwert wieder in ihre Hose – und knöpfte sie zu. Ich stand da und starrte wie hypnotisiert die große Beule in ihrem Schritt an. Ab und zu bewegte sie sich: Bowie drehte sich herum. Es musste trotz allem ein lauschiges Plätzchen sein. Ich ging rückwärts auf die Tür zu. »Tja, dann werde ich das Idyll nicht weiter stören. Grüß Bowie, wenn er wieder an die frische Luft kommt.« »Geh nach Hause und schieb ne Nummer mit einem Eierschneider«, schnarrte die grünhaarige Lady, kehrte mir den Rücken zu und ließ einen ordentlichen Tuba-Furz los. So etwas hatte ich bisher nur in äußerst vornehmer Gesellschaft erlebt. Ich fand den Weg hinaus allein. Im dritten Stock standen alle Türen weit offen. Ich hatte freie Wahl und ging zuerst links hinein. Derselbe dunkle Flur und eine offene Tür ganz hinten rechts. Ich ging hinein. Es war die Toilette. Auf der Klobrille saß ein Mensch. Ein Arm lag hinten an der Wand, als hätte der Mensch versucht, die Schnur zu erreichen, in einem letzten Versuch, sich ins Leben zurück zu hieven. Auf dem Boden vor ihm lag eine benutzte Spritze. Es war auch Blut auf dem Boden, und die Augen, die mich anstarrten, waren rotgesprenkelt und gläsern. Ein unangenehmer Gestank von Tod schlug mir entgegen. Es war die zweite Leiche
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in weniger als neun Stunden. Ich hoffte, dass es für eine Weile die letzte sein würde. Mir wurde schwarz vor Augen, als ich in den Flur zurück tapste. Mit tauben Beinen stolperte ich die Treppe hinunter und auf die Straße. Von der nächsten Telefonzelle aus rief ich im Polizeipräsidium an. Auch dort war man nicht gerade erfreut.
5 Es gab einen Großeinsatz mit Polizeiwagen und Krankenwagen. Aber es erging ihnen wie Bergljot: auf dem Rückweg brauchten sie länger. Wir fuhren alle drei mit ins Präsidium: Die Grünhaarige, Bowie und ich. Weitere lebende Wesen fanden sie in dem Haus nicht. Der Tote wurde nicht sofort identifiziert. Die Grünhaarige hatte ihn noch nie gesehen. Bowie wurde nicht gefragt. Sivert Hauge leitete dieses Mal den Einsatz. Er seufzte schwer und sagte zu mir: »Das war nicht das erste Mal, und es wird nicht das letzte Mal sein. Vielleicht ist es sogar eine neue Runde mit verdrecktem Stoff hier in der Stadt. Wenn ja, dann kann es in den nächsten Tagen noch mehrere Tote geben, wenn wir nicht eine ordentliche Warnung rausschicken.« Über Funk hörte ich, dass eine umfangreiche Razzia im Nygårdspark angeordnet wurde, ein Durchkämmen der festen Aufenthaltsorte, volle Überwachung der Verkaufsaktivitäten auf den Straßen und maximale Bereitschaft auf der ganzen Linie. Es würde für die Betroffenen ein hektischer Abend werden. Ich fragte mich, was das für mich bedeuten würde. Auf dem Präsidium wurden wir getrennt. Die Grünhaarige wurde in Begleitung von Bowie ins Untersuchungsgefängnis gebracht und ließ einen Strom phantasievoller Schimpfworte und Flüche los. Ich wurde nach oben geschickt – um Jakob E. Hamre umfassend Bericht zu erstatten. 218
Hamre saß in seinem Büro und erinnerte mehr und mehr an einen Chef der Kreditabteilung in einer dafür geeigneten Bank. So wie die Finanzlage im Moment war, war es kein Wunder, dass er müde aussah. Er starrte mir mit fast erloschenen Augen entgegen. »Was höre ich da, Veum? Noch eine Leiche?« Ich bestätigte dies und lieferte ihm einen genauen Bericht meiner Erlebnisse der letzten Stunden, inklusive einiger der saftigsten Aussprüche der Grünhaarigen. »Sympathische Lady«, kommentierte Hamre. »Passt phantastisch ins Irrenhaus«, sagte ich. »Die ganze Welt ist ja verdammt noch mal zu einem Irrenhaus geworden!«, rief er. Ich widersprach ihm nicht. Dann brauchten sie mich nicht mehr, und ich konnte nach Hause gehen. Ich rief Hallgeir Svendsen an und bereitete ihn auf den Schock vor, der ihn erwartete, wenn er am nächsten Morgen das Radio anschalten oder die Zeitung aufschlagen würde. Die Drogenszene war zur Zeit nicht gerade der Ort, an dem man seine einzige Tochter wissen wollte. Ich tröstete ihn damit, dass Solfrid während der bevorstehenden nächtlichen Razzia möglicherweise ganz schmerzfrei eingefangen werden würde: Es gäbe Schlimmeres und so weiter. Er murmelte eine undeutliche Antwort, bedankte sich für die Informationen und legte auf. Am nächsten Morgen bekam ich selbst einen Schock, als ich die Zeitung aufschlug. Im Laufe der Nacht waren noch zwei Leichen dazugekommen. Ein pfiffiger Mensch in der Chefredaktion hatte die Überschrift so formuliert: »Die Nacht der langen Nadeln.« Und der Untertitel lautete: »4 Tote im Drogenmilieu im Laufe der letzten 24 Stunden.« Ich begann zu lesen. 219
Als natürliche Folge der Arbeitszeitbestimmungen für Journalisten und der Unterbesetzung der Nachtschichten waren die beiden ersten Todesfälle – die mir schon bekannt waren – am ausführlichsten behandelt worden. Keiner der Namen wurde veröffentlicht, aber die Beschreibung der Orte, an denen Lars Sørum und der Unbekannte in Møhlenpris gefunden worden waren, war detailliert genug. Ich las schnell weiter. In einem Treppenhaus in Laksevåg war eine zirka zwanzig Jahre alte Frau tot aufgefunden worden, direkt hinter der Eingangstür. Diagnose: Überdosis. Identität: vorläufig unbekannt. Zeugen: keine. Beim Einstieg zum Luftschutzraum an der alten Nygårdsbrücke hatte man einen zweiundzwanzigjährigen Mann gefunden. Die Todesursache war die gleiche. Er war schon identifiziert. Die Polizei hatte bis jetzt keine Erklärungen zum Stand der Untersuchungen abgegeben, aber die Zeitung konnte berichten, in der Stadt gingen Gerüchte um, dass eine Menge regelrechten Rattengiftes in der Szene kursierte. Danach folgte eine schnelle Abhandlung der Drogentoten in Bergen und der näheren Umgebung im letzten halben Jahr. Die Tendenz war steigend, aber so gehäuft wie diesmal waren sie noch nie aufgetreten. Ich starrte aus dem Bürofenster, an den toten Fliegen zwischen der doppelten Verglasung vorbei auf das blaugraue, stillstehende Novemberbild dahinter. Gefrorener Nebel stand wie Gelatine in der Luft. Die Menschen bewegten sich mit steifen Gliedern. Und im Nebel dort draußen erkannte ich einen Schatten, die Konturen eines Musters, einen gruseligen Sinn hinter dem Ganzen, als wandere gerade ein schwarzer Engel durch die Stadt …
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6 Der Nygårdspark war gereinigt. Der Pelz war frei von Läusen, und wenn ich eine alte Dame gewesen wäre, den Arm in einer Schlinge, den Fuß in Gips, mit einer halben Million deutlich sichtbar in meinem Einkaufskorb, es wäre mir nichts passiert, nicht mal ein liebenswürdiger Heiratsantrag. Es gab nicht einen einzigen Drogensüchtigen im ganzen Park. Allerdings gab es viele bekannte Gesichter, aber die gehörten den fröhlichen Garden der Polizei und betrachteten meine unschuldsreine cleane Gestalt nur mit oberflächlichem Interesse. Der Nygårdspark im November: Zerrissene Nebelschwaden trieben vom Puddefjord herein, kreisten um die etwas heruntergekommenen Schwäne im Vogelteich bei Marineholmen, trieben durch das Tor zur alten Nygårdsbrücke und verschwanden irgendwo über dem Store Lungegårdsvann. Plattfüßige Enten schnatterten ein wenig darüber, wie merkwürdig still es war. Auf dem Kinderspielplatz in Richtung Welhavensgate mischte sich heftiges Weinen mit gellenden, fröhlichen Kinderstimmen. Ich kam hinunter zum Møllaren: Der gute, alte Sportplatz von Mahlenpris, auf dem noch immer so manches Spiel der vierten und fünften Liga ausgetragen wurde. Unten auf der Sitztribüne erkannte ich eine bekannte Gestalt. Ich behielt sie im Auge, während ich den Zaun entlang zum Eingang ging, die Seitenpforte öffnete und einstieg. Sie hatte sich nicht bewegt. Sie saß noch genauso da wie vorher: Ein Museumsgegenstand, ein Zeuge vergangener Zeiten, einer der Frontkämpfer, der davongekommen war, ohne sich völlig den Hals zu brechen. Lasse Lur hatten wir ihn genannt, Lasse Ludvigsen, in den hektischen Sechzigern. Er hatte bei der Marine eine Kochlehre gemacht, bevor er einen totalen Zusammenbruch markierte, zwei Psychiater hinters Licht führte, drei Psychologen und vier 221
Kommandokapitäne, er bekam einen militärischen Arschtritt und wurde frisch und fröhlich zum Hauptausgang hinauskatapultiert. Dort legte er sich unverzüglich langes Haar und einen Hängebart zu, und kaum hatte er die Stadt erreicht, hatte er sich auch schon einen Cowboyhut besorgt, eine Ziegenfelljacke, einen Zigeunerschal um den Hals, das Peace-Zeichen auf die Stirn gemalt und eine Gitarre in der Hand. Eines Tages kam er mit den Taschen voller Haschisch im berühmtesten Szenecafé an. Nicht viel später wohnte er in einem Kollektiv auf Kalfartoppen, zusammen mit einer reichen, alten Witwe, ihrer Kusine aus Lindås, zwei entlaufenen Gymnasiasten und einer verrückten Schriftstellerin aus Ølen. Im Herbst desselben Jahres fuhr er zum Sightseeing nach Kopenhagen und blieb neun Jahre weg. Eine der örtlichen Zeitungen brachte ein Foto von ihm, mit nacktem Hintern, aber einer Schürze vorn, als Küchenchef in einem der Sommercamps in Thy. Obwohl er sich in diesen neun Jahren kein einziges Mal in Bergen zeigte, kochte die Gerüchteküche auf Hochtouren. Er war eine der wirklich sagenumwobenen Gestalten der Szene, aber als er schließlich zurückkam und Paletten geschlossen fand, bekam er einen Schock fürs Leben, über den weder er noch die Szene jemals ganz hinwegkam. Seitdem hatte er sich an den Seen aufgehalten. Noch immer konnte man seine gebeugte Gestalt am Smålongeren entlang schleichen sehen, auf der Jagd nach dem Café seiner Jugend. Manchmal traf man ihn beim Nachtjazz, wo er den seidenglatten Studentengesichtern der 70er und 80er Jahre Vorträge über die Zeiten hielt, als die Revolution buchstäblich geblüht hatte. Über den Rauchwolken im Nygårdspark konnte man flüchtig im Vorbeigehen sein Gesicht entdecken, wie eine Art Sitting Bull mit Podagra, etwas steifbeinig vielleicht, wenn er aufstand, mit immer röterem Gesicht (als hätte er Bluthochdruck) und deutlich schüttererem Haar. Voller grauer Strähnen hingen ihm seine dunklen Locken immer noch bis auf die Schulter, aber der Mond 222
schien hindurch, wie ein Vorzeichen härterer Winter. Seine Finger zitterten, wenn er sich die Zigarette anzündete. Sein Blick flackerte, wenn man ihn zu lange ansah. Er sah auf, als ich über die Tribüne kam. Er war kurzsichtiger geworden, aber er besaß keine Brille. Ich stand direkt vor ihm, als er mich schließlich erkannte. »Hei, Lasse«, sagte ich. »Ach, ist der Wolf wieder auf der Jagd? Ich hatte schon befürchtet, es wären wieder die Bullen. Ich bin in den letzten 24 Stunden fünf Mal einkassiert worden, und langsam kenne ich den Weg. – Was zum Teufel treibst du denn so, in diesem makabren Teil unseres seltsamen Jahrhunderts?« »Ich habe ein Büro mit Aussicht auf das nächste. Da sieht es auch nicht viel besser aus.« »Das muss eine tolle Aussicht sein. Siehst du ein paar leckere Miezen?« »Im Winterfell, mit schwarzen Schwänzen«, sagte ich. »Tu so, als würdest du sie nicht sehen. Die hat nur der Tod berührt«, sagte er hohl. »Ehrlich, Varg, treibst du dich immer noch in diesem Philip-Marlowe-Geschäft rum?« »Denk an mich, wenn du dein Testament machst. Ich könnte ein Vergrößerungsglas gebrauchen.« »Das wird verdammt nicht mehr lange dauern, wenn die Lage hier so bleibt.« »Hast du eine Ahnung, was eigentlich los ist?« »Irgendein Idiot hat wohl zu viel von dem Stoff probiert, den er verkaufen sollte – und dann hat er zu viel von dem anderen drunter gemischt. Du weißt, was sie nehmen? Rattengift. Das gibt ungefähr den gleichen Effekt, sagen sie. Abe es ist eine Gratwanderung. In Kopenhagen haben sie ein paar Jahre Waschpulver genommen. Kristall-Wäsche oder wie zum Teufel sie es genannt haben. Das waren glückliche Jahre, da unten, 223
Varg. Frisch gewaschen. Jetzt geht’s bergab und in den Keller, alles nur Scheiße, das Ganze.« Ich rückte mit meinem eigentlichen Anliegen heraus und zeigte ihm das Foto von Solfrid Svendsen. »Hast du sie hier in der Gegend gesehen, Lasse?«, fragte ich, so ganz nebenbei. Das Foto zitterte zwischen seinen langen, roten, aufgeplatzten Fingern. Ich sah, dass seine Nägel fast bis auf das Fleisch abgekaut waren, und die Haut an den Fingerspitzen war fast abgezogen. Er schnalzte mit der Zunge, zog eine Grimasse und sagte: »Tja, vor einer halben Stunde. Vielleicht vor zwanzig Minuten. Die Zeit vergeht so beschissen schnell – und so verdammt langsam.« Ich zuckte zusammen. »Gerade eben?! Doch nicht hier?« Er nickte zu einer Ecke des Sportplatzes hin, wo auf dem Gehweg vor nicht allzu vielen Jahren ein Kiosk gestanden hatte. »Ich hab sie an der Ecke da hinten getroffen. Warum, glaubst du, sitze ich hier und friere mir den Arsch ab? Sie hatte einen Kunden gekapert, aber sie konnte nicht in ihr Zimmer, also hab ich ihr meins geliehen.« »Was sagst du da? Ist sie jetzt in deiner Wohnung? Mit einem Kunden? Wo wohnst du?« Mein ganzer Körper war kalt. Er gab mir die Adresse. Es war gleich in einer der Seitenstraßen, nicht weit vom alten Straßenbahndepot. »Hast du einen Schlüssel?« »Nee. Den hab ich ihr mitgegeben. Aber das macht nichts. Wenn du gegen das Schloss trittst, geht es von selber auf. An der Tür steht ›Sirius Milchstraße‹, auf einer kleinen Karte.« Ich fragte nicht, warum. »Aber sie sieht nicht mehr so aus«, sagte er. »Nein? Wie denn?«
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Er grinste breit und entblößte die zweifelhaften Reste dessen, was einmal ein junges, viel versprechendes Gebiss gewesen war. »Sie hat ihren Stil geändert und sieht aus wie ein Wesen aus dem All. Grünes Haar, das in alle Richtungen absteht und optische Kreise um die Augen. – Und Veum!«, rief er mir nach. »Sie trägt eine verdammte Ratte in ihrer Hose mit sich rum, die sie Bowie nennt!«
7 Das Treppenhaus hatte einen grauen, marmorierten Boden, und ich rutschte in den Kurven auf jedem Absatz aus. Vor der Tür mit dem obskuren Namensschild »Sirius Milchstraße« blieb ich einen Augenblick stehen und lauschte. Von drinnen war kein Laut zu hören. Also folgte ich Lasse Ludvigsens Rat und trat heftig gegen das Schloss. Die Tür sprang mit einem mäßigen Knall auf, als sei sie diese Behandlung gewohnt. Kein Geräusch. Kein Empfangskomitee. Nicht mal eine verdammte kleine Ratte mit hellrosa Pfoten. Im Flur schlug mir schwerer Kräutergeruch entgegen, wie aus östlichen Gärten. »Hare Krischna!«, murmelte ich vor mich hin. Eine schmutzig graue Lammfelljacke hing mit der wollenen Seite nach außen an einem einsamen Haken unter einer leeren Hutablage. Ein paar schief getretene Cowboystiefel standen verlassen darunter. Stumme Zeugen. Ich ging vorsichtig den Flur entlang, mit gespitzten Ohren. Eine merkwürdige Niedergeschlagenheit hatte mich überkommen. Ich war schon einmal hier gewesen. Solche stummen Wohnungen verheißen nichts Gutes. Entweder sie sind vollkommen leer und die Vögel sind ausgeflogen, oder sie sind nur allzu voll.
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Ich öffnete zaghaft eine angelehnte Tür. Eine dunkle Küche. Der Abwasch von zwei Wochen, leere Flaschen und große Pappkartons voller Abfall. Aber keine Ratten, merkwürdigerweise. Und keine Fliegen. Die Saison war schon vorbei. Die Tür am anderen Ende des Flurs war geschlossen. Ich umfasste die Klinke. Sie war nicht so kalt, wie sie sein sollte, aber vielleicht war das auch nur Einbildung. Ich beugte mich zum Schlüsselloch hinunter und sah hinein. Tageslicht erfüllte das Loch und zeigte mir ein Stück Tapete und den Zipfel einer alten Gardine. Keine Stimmen, keine Geräusche, keine Bewegung. Ich drückte die Klinke nach unten und öffnete die Tür so geräuschlos ich konnte. Dann schob ich sie ganz an die Wand und versicherte mich, dass sie nicht gegen etwas stieß. Dieses Wohnzimmer war völlig überladen: Zwei große Sofas, drei Sessel, ein Couchtisch und ein Esstisch. An zwei Wänden Regale voller Bücher, die bis zur Decke reichten. Auf einem Sekretär stand die unvermeidliche Stereoanlage mit Lautsprechern, die auch problemlos bei der 1.-Mai-Feier auf dem Roten Platz ihren Dienst getan hätten, und die Plattensammlung stapelte sich in zwei anderthalb Meter hohen Säulen in einer Ecke. Auf dem einen Sofa lag das Mädchen mit den grünen Haaren. Sie war von der Taille abwärts nackt, und als obszöne Herausforderung an diese Welt hatte sie auch einen schmalen Streifen ihrer gekräuselten Schamhaare grün gefärbt. Aber die Spritze, die auf dem Boden unter ihrer leeren Hand lag, sprach eine deutliche Sprache, und ihr starrer Blick unterstrich nur noch, dass dies ein vollendetes Stillleben war. Stilles Leben. Sie würde nie mehr ein Problem für diese Welt darstellen. Ich fühlte nur eine matte Verzweiflung, gemischt mit Sorge um ihre Eltern und Ärger über mich selbst, der ich ihr am Tag
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zuvor Auge in Auge gegenübergestanden hatte. Ich hätte ihr Leben retten können, wenn ich sie nur wieder erkannt hätte. Aber das war nicht leicht. Sogar jetzt war es so gut wie unmöglich. Ich trat an sie heran, beugte mich vorsichtig hinunter und hob ihr Haar hinter dem linken Ohr an. Dort war ein großes, rotes Muttermal. Es war tatsächlich Solfrid Svendsen. Während ich noch so vorgebeugt dastand, hörte ich ein leises Geräusch. Ich richtete mich langsam auf und drehte mich herum, in einem Tempo als sei mein ganzer Körper voller Gicht. Hinter dem anderen Sofa war ein Mann aufgestanden. Er trug denselben hellen Mantel, aber einen anderen Anzug, ein anderes Hemd und einen anderen Schlips. Sein Haar war einen Deut unordentlicher, aber mit einem Kopfschütteln bekam er es wieder so ziemlich in seine gewohnte Fasson. Sein Gesicht wirkte noch hagerer, als ich es in Erinnerung hatte, als er sich am Tag zuvor über die Leiche seines Sohnes gebeugt hatte. In seinen Augen hinter den blanken Brillengläsern blitzte es, verwirrt und verbittert. »Ich habe sie schließlich doch erwischt, die ihn verführt haben! Seine Freunde, die Huren, und seinen Schulfreund, der ihn mit sich gelockt hat. Aber die hier, sie war die schlimmste. Sie hat ihn verhext – sonst hätte er unmöglich …« Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Erst jetzt schien er mich wirklich wahrzunehmen, jedenfalls mein Gesicht. Ich sah, dass er stutzte. »Wer … sind Sie?« Ich hielt seinen Blick fest. »Polizei«, sagte ich leise. »Sie haben also beschlossen, den Tod Ihres Sohnes zu rächen – umgehend. Woher wussten Sie, mit wem er zusammen war?« »Meine – Frau. Sie hatte weiterhin Kontakt zu ihm. Ich habe gesagt, ich wollte mich erkundigen, wie er seine letzten Tage verbracht hatte. Sie hat mir die Namen genannt und wo er sich meistens aufhielt, dieses Haus mit der Glasmalerei an der Tür,
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aber da habe ich sie zuerst nicht gefunden. Sie hat nicht aufgemacht – oder sie war nicht da.« »Und als Zuckerkranker hatten Sie reichlich Einwegspritzen, was? Aber was haben Sie ihnen gegeben? Denn Sie haben sie doch mit – Geschenken gelockt, oder?« Ein merkwürdiges Lächeln umspielte seinen breiten, verzerrten Mund. »Himmelsmischung, Herr Kommissar. Rattengift und Unkrautvernichtungsmittel.« »Und Sie haben nicht daran gedacht, dass – sie auch Eltern hatten? Dass auch sie …« Ich sah auf die Leiche von Solfrid Svendsen hinunter. »Sie sehen doch, wie sie da liegt! Sie war eine reinrassige Hure – die billigste von allen. Ich solle sie gratis haben, hat sie gesagt, nur zum Spaß. Und als ich ihr sogar eine Spritze anbieten konnte …« Er trat näher heran. Ich kam ihm entgegen. Plötzlich kamen seine Arme in Bewegung, mir entgegen. Er blieb vornübergebeugt stehen, wie auf dem Sprung, und in einer Hand hielt er ein blitzendes, scharfes Springmesser. »Du bist scheiß nochmal kein Bulle!«, bellte er. »Du bist selber Dealer, verdammt! Aber du glaubst ja wohl nicht, dass ich mich unbewaffnet in die Drogenszene begebe, oder?« »He, he, he«, sagte ich so beruhigend wie ich konnte und machte unwillkürlich ein paar Schritte rückwärts. »Ich …« »Ich werd dich ausnehmen wie einen Fisch und dich mit der Fresse in ihre Goldgrube legen, dann wirst du merken, wie gut sie schmeckt … Süßer!«, schnarrte er. Jetzt blitzte der Wahnsinn in seinen Augen auf, und ich spürte eine tiefe Angst im Bauch. Er war am Rande des Zusammenbruchs, und solche Menschen sind unberechenbarer als der Südwind. »Da! Ihre Ratte!« Ich zeigte abrupt in eine Ecke des Zimmers. 228
Er grinste höhnisch. »Die hab ich schon erledigt. Willst du sie vielleicht essen? Brauchst nur hinter dem Sofa da nachzusehen …« Ich trat noch ein paar Schritte zurück und warf einen schneilen Blick nach unten. Ein blutiger Fleischklumpen mit einem langen, hellrosa Schwanz lag auf dem Boden neben mir. »Ich lass mich nicht verarschen, Freundchen!« Ich spürte, dass es vom Fenster hinter mir zog, aber das war wohl kaum der Grund dafür, dass mir die Haare zu Berge standen. Helge Sørum kam näher. »Ich mach euch alle kalt, einen nach dem anderen, bis ihr alle erledigt seid. Leute wie ihr solltet die Todesstrafe bekommen, kapiert? Tod durch Erhängen!« »Aber ich bin kein Dealer!« »Was zum Teufel bist du denn dann? – Etwa Privatdetektiv?« »Sie haben mich doch gestern getroffen, zusammen mit der Polizei, als wir Ihren Sohn gefunden haben, erinnern Sie sich nicht?« Er leckte sich über die trockenen Lippen. Draußen im Flur grölte Lasse Lur: »Va-arg! Wenn du dir ’ne kostenlose Nummer ergaunerst, dann kannste dich verdammt noch mal an der Miete beteiligen …« Dann erschien er in der Türöffnung und blieb mit offenem Mund stehen. Helge Sørum drehte sich halb um. Ich trat fünf schnelle Schritte vor, griff nach seinem Handgelenk und drehte seinen Arm auf den Rücken. Mit einem schwachen Aufbegehren ließ er das Messer los, das mit einem kleinen Scheppern auf den Boden fiel. Ich stieß es resolut mit dem Fuß dorthin, wo es hingehörte – hinter das Sofa, zu Bowie. Lasse war aschfahl im Gesicht, und Helge Sørum ging es auch nicht sonderlich gut. Ich spürte, wie seine Beine langsam unter ihm nachgaben und sein ganzer Körper sich entspannte. Dann 229
sank er vor mir auf dem Boden zusammen, legte die Hände über den Kopf und brach in einen Weinkrampf aus. »Zur Hölle noch mal!«, sagte Lasse Lur mit Inbrunst. »Das kannst du wohl sagen«, sagte ich. »Könntest du bitte die Polizei rufen?« Er nickte stumm. Bevor er ging, hörte ich, wie er sich draußen in der Küche übergab. Das Geräusch vermischte sich mit dem Schluchzen von Helge Sørum. Ich hatte großes Verständnis für beide. Ein paar Stunden später war ich wieder in meinem Büro, blass und pleite, wie immer. Die Polizei hatte sich ihre Notizen gemacht, aber viel gab es nicht zu sagen. Die Szenerie sprach für sich. Ein Dialog erübrigte sich. Im Büro schraubte ich sorgfältig das innere Fenster los. Vier Schrauben oben, vier unten, zwei auf jeder Seite. Ich stellte das Fenster an die Wand, holte ein weißes Blatt Papier aus einer Schreibtischschublade, hielt es unter das Fensterbrett und schubste die toten Fliegen darauf. Dann warf ich sie in den Papierkorb und schraubte das Fenster ebenso umständlich wieder dran. Das Wintermassaker war vorbei. Dann setzte ich mich hin, um Hallgeir Svendsen anzurufen.
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Die Beisetzung fand in aller Stille statt
1 Es war einer dieser Fälle, von denen man in der Zeitung liest, und die einem, obwohl man schnell weiterblättert, trotzdem tagelang nicht aus dem Kopf gehen. »Vater erschoss sich selbst und seine beiden Kinder«, lautete die Überschrift. Aus dem Text ging hervor, dass ein Physiochemiker an der Universität Bergen am Sonntagnachmittag seine beiden Kinder, ein neunjähriges Mädchen und einen vierjährigen Jungen, mit in sein Büro in der Universität genommen hatte. Hier hatte er zuerst die beiden Kinder und dann sich selbst erschossen. Der Mann war Reservist gewesen, und die Waffe eine AG-3. Die Ursache der Tragödie war noch ungeklärt. Fälle wie dieser werden in den Zeitungen selten weiter verfolgt. Nicht einmal heutzutage werden solche Tragödien rücksichtslos auf den Titelseiten aufgeblasen, mit Fotos aller Beteiligten. Eine einspaltige Notiz auf den hinteren Seiten reicht meistens aus. Eine Woche später stand die Todesanzeige in der Zeitung, mit den abschließenden Worten: »Die Beisetzung fand in aller Stille statt.« Ich hatte keinen Grund anzunehmen, dass ich noch mehr mit dieser Sache zu tun haben würde.
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2 Zwei, drei Wochen nachdem ich die kleine Notiz in der Zeitung entdeckt hatte, rief mich ein Mann an und stellte sich als Halvor Dale vor, pensionierter Straßenbahnschaffner. »Mein Vater war auch Straßenbahnschaffner«, sagte ich. »Veum. Anders Veum – können Sie sich noch an ihn erinnern?« »Nein. Tut mir Leid.« Seine Stimme klang rostig. »Wir, meine Frau und ich, wir fühlen uns sozusagen nicht besonders fit. Aber es gibt da etwas, worüber wir gerne mit Ihnen diskutieren würden. Ja, wir würden Sie natürlich engagieren, wenn Sie frei sind. Aber wir wollten fragen, ob Sie zu uns kommen könnten. Wir gehen nicht mehr gern aus dem Haus.« »Natürlich. Keine Frage. Wo wohnen Sie?« »Wir haben eine kleine Kellerwohnung hier drüben auf der Løvstakkseite. Im Løbergsveien.« Er nannte mir die Hausnummer. »Nicht so weit von den Gräbern entfernt«, fügte er hinzu, als sei das ein Vorteil. »Wann kann ich kommen?« »Sobald Sie Zeit haben.« »Dann bin ich in einer halben Stunde da.« »Das klingt gut. Ich werde meine bessere Hälfte bitten, schon mal Tee zu kochen. Und Veum, wenn Sie kommen, würden Sie bitte dreimal klingeln? Damit wir wissen, dass Sie es sind?« »Sie machen wohl nicht mehr jedem auf, was?«, fragte ich. »Nein«, sagte er. Der Løbergsveien geht von der Michael Krohnsgate nach Fjøsanger, aber von Minde an ändert er bezeichnenderweise 232
seinen Namen und heißt von dort an weitaus mondäner Løbergsallee. Auf der Løvstakkseite wohnt man in Straßen, in Fjøsanger in Alleen. Das Haus, in dem Halvor Dale und seine Frau lebten, erhob sich mit brauner Fassade und viereckig hinter einer düsteren dunkelgrünen Hecke. Es lag an der höher gelegenen Straßenseite. Auf der anderen Seite, am Hang hinunter zum Fjøsangerveien, leuchteten die weißen und grauen Grabsteine des Friedhofs von Solheim. Am Hang hinter dem Haus war das Blattwerk schon herbstlich gefleckt. Im Moment war das Ehepaar buchstäblich von Herbst umgeben: Vom Herbst des Jahres hinter ihnen, vom Herbst des Lebens am Hang unter ihnen. Und dem kurzen Telefonat mit Halvor Dale nach zu urteilen, herrschte auch bei ihnen zu Hause Herbststimmung. Ich ging den Schotterweg entlang auf das Haus zu und ahnte zwei blasse Gesichter hinter den weißen Gardinen im Souterrain. Ich klingelte dreimal und gleich darauf ging die Tür auf. Der Mann in der Türöffnung trat zur Seite, damit ich hereinkommen konnte. Erst als ich in dem erschreckend engen Flur stand, ergriff er meine Hand und stellte sich leise vor. »Dale.« Ich hängte meinen Mantel an einen Haken und folgte ihm durch eine kleine Küche in das winzige Wohnzimmer. Eine blasse, schattenhafte Frau in einem Schürzenkleid stand mit vor dem flachen Bauch gefalteten roten Händen da und blickte mir aus auffallend großen, dunklen Augen in ihrem eingesunkenen Gesicht entgegen. Sie sah nicht sonderlich gesund aus. »Marie Dale«, sagte sie verlegen, als wir uns die Hand gaben. Ihre Hand war trocken wie Papier. Halvor Dale wirkte weitaus vitaler. Er war kräftig und klein und bewegte sich flink – wie so mancher Straßenbahnschaffner. Er war meinem Vater nicht unähnlich, stellte ich verwundert fest. Er hatte einen weißen, mönchsähnlichen Haarkranz, und er trug eine braune Hose mit grauen Hosenträgern, ein grauweißes 233
Hemd und ein gelbliches, altmodisches Unterhemd, das man im Halsausschnitt erkennen konnte. Beide wirkten verhärmt und niedergedrückt vor Trauer, und keiner zeigte auch nur die Andeutung eines Lächelns, weder um den Mund noch in den Augen. »Setzen Sie sich, Veum«, sagte Dale bedächtig. »Meine Frau kommt mit dem Tee. Möchten Sie etwas dazu?« »Nein, danke.« Seine Frau reagierte auf das Stichwort, tapste in die Küche und schloss die Tür sorgfältig hinter sich. Dale betrachtete düster die geschlossene Tür, als sei sie ein heimliches Signal. Dann sagte er: »Es ist keine schöne Geschichte, Veum.« Ich wartete auf die Fortsetzung. Als sie nicht kam, fragte ich vorsichtig. »Worum geht es denn?« Nach einer kleinen Pause fuhr er fort: »Ich weiß nicht, ob Sie es in der Zeitung gelesen haben, vor bald drei Wochen, von einem Mann, der sich selbst und seine beiden Kinder erschossen hat, oben in der Universität?« Ich nickte. »Doch. Daran erinnere ich mich.« »Es war – der Mann war unser Sohn. Fredrik. Unsere beiden Enkelkinder. Die einzigen, die wir hatten. Wir hatten nur dieses eine Kind. Und jetzt – und jetzt sind wir beide allein. Sie sollten hinter unserem Sarg hergehen. Jetzt mussten wir hinter ihrem hergehen.« Seine Stimme brach. »Es ist – unbegreiflich. Unfassbar.« Ich nickte wieder. Musste ihm Recht geben. Ich sah das kräftige Gesicht vor mir, die etwas zu große, rotgesprenkelte Nase, die grauen Tränensäcke unter den Augen, blaue Augen mit gelben, deutlichen Streifen im Weiß, ein gequälter Zug um den Mund, schwarze Blutreste von der morgendlichen Kinnrasur. Er hatte Tränen in den Augen.
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»Wir hatten gedacht …« Er unterbrach sich selbst, als seine Frau mit einem kleinen Tablett aus der Küche kam. Darauf standen drei Tassen, eine Teekanne, ein Teller mit zwei Zitronenscheiben, eine Schale mit Streuzucker und ein kleiner Teller mit ein paar Kräckern mit braunem und weißem Käse. Ich nickte ihr freundlich zu, als sie mir Tee einschenkte. Er sah dünner aus als mein Scheckheft. Während sie sich selbst und ihren Mann versorgte, sah ich mich im Zimmer um. Der kleine Tisch, die beiden Sessel und ein Sprossenstuhl füllten fast den halben Raum aus. An der hinteren Wand stand ein Tisch mit einem Radio darauf, und unter den Tisch war eine Kommode geschoben. In der Mitte der Wand thronte ein schwarzer Ofen, und daneben stand ein Stuhl mit einem Haufen Kleidern. Es roch nach alten Menschen und Zitrone. Frau Dale setzte sich leise uns gegenüber. Dale saß auf dem Sprossenstuhl, leicht vornüber gebeugt. Schwermütig tunkte er eine Scheibe Zitrone in den Tee, nahm sich Zucker und rührte langsam um. Ich räusperte mich zaghaft. »Was hatten Sie gedacht, dass ich für Sie tun sollte?« Halvor Dale sah mich an, als könne er sich nicht daran erinnern, warum ich gekommen war. Seine Frau starrte leer vor sich hin, ohne uns anzusehen. Dann sagte er: »Es ist so, dass – wir wollten gerne etwas mehr wissen, als … als wir erfahren haben. Man fragt sich doch, warum, oder nicht? Wenn solche Dinge geschehen. Was hat ihm das Leben so schwer gemacht, dass – dass so etwas geschehen musste? Und warum musste er die Kinder mitnehmen?! Die kleine Tordis – und Arne. Wir haben das Gefühl, dass wir nicht genug über die Gründe wissen. Die Polizei sagt immer nur, wir sollten uns an unsere Schwiegertochter, Tove, wenden. Aber sie weigert sich, mit uns zu reden!« »Ja? Warum denn das?« 235
»Das ist es ja gerade. Das sollen Sie bitte auch herausfinden. Wir haben ihr doch nichts getan. Wenn wir anrufen, legt sie einfach auf, und als ich versucht habe, sie zu besuchen, hat sie nicht aufgemacht.« »Die Trauer, die Verzweiflung – kann sich so unterschiedlich äußern«, sagte ich. »Ja, das verstehen wir, das wissen wir selbst!«, antwortete er heftig. »Aber wir haben doch – haben wir nicht ein Anrecht darauf, etwas zu erfahren? Immerhin haben wir ihn in die Welt gesetzt!« Damit hatte er Recht. Vielleicht war das gerade der Grund, warum sie nichts mit ihnen zu tun haben wollte. Ich probierte den Tee. Er war tatsächlich dünner als mein Scheckheft. Er war genauso dünn wie mein Bankkonto, und dünner konnte er überhaupt nicht sein. Ich nahm etwas Zucker. Dann sagte ich: »Sie möchten mit anderen Worten, dass ich Ihre Schwiegertochter aufsuche und versuche, sie dazu zu bewegen, etwas darüber zu sagen, was die Ursache gewesen sein könnte?« »Ja, uns den Grund sagen, denn irgendeinen Grund muss es ja geben. Oder, wenn Sie wollen, reden Sie mit der Polizei, seinen Arbeitskollegen, mit wem Sie wollen. Wenn Sie es nur herausfinden.« »Alle können sich weigern, mit mir zu sprechen. Nicht zuletzt Ihre Schwiegertochter, Herr Dale.« »Natürlich, aber – Sie finden doch sicher einen Ausweg, oder?« Er sah mich fast flehentlich an. »Wir werden bezahlen«, sagte er schnell. »Sofort. Vorschuss.« »Danke, danke«, sagte ich. »Es wäre gut, wenn es möglich ist, um einfach einen Eindruck zu bekommen, wenn Sie mir ein Bild Ihres Sohnes – und der Kinder zeigen könnten?«
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Ich hatte mich umgesehen, aber kein Foto entdecken können. Das war ungewöhnlich für alte Leute. Dann stellte sich heraus, dass alle Fotos in einer der Schubladen der Kommode unter dem Tisch lagen. Er brauchte eine Weile, um sie hervorzuholen, aber schließlich zeigte er mir ein gerahmtes Foto, das offensichtlich noch bis vor kurzem irgendwo gestanden hatte. Es waren noch Staubreste in den Ecken, wo das Staubtuch nicht hingekommen war. Er gab mir das Foto, und seine Frau betrachtete es mit einem so schmerzlichen Blick, als würde er ihr ein Stück Fleisch aus dem Körper reißen. Vier Menschen standen beieinander wie Blumen in einem Blumengesteck. Die kleinsten Pflanzen im Vordergrund, die größten ganz hinten. Dem Alter der Kinder nach zu urteilen, war das Foto vor ungefähr zwei Jahren aufgenommen worden. Der kleine, ungefähr zwei Jahre alte Junge saß da und strahlte den Fotografen mit einem Lächeln an, das wie in Holz geschnitten aussah, freundlich und breit. Sein glattes, dunkles Haar ließ ihn südländisch aussehen, wie ein kleiner Straßenjunge in einem südeuropäischen Hinterhof. Das Mädchen wirkte weitaus nordeuropäischer, mit langen, blonden Locken, die leicht wie Daunen um ihr Gesicht fielen. Sie war ungefähr sieben Jahre alt und hatte einen sehr vernünftigen, etwas altklugen Zug um den spitzen Mund. Ihr Gesicht war eher oval, das ihres Bruders eher viereckig und derb. In den Gesichtern aller Kinder kann man Charakterzüge beider Eltern erkennen, und oft auch die der Großeltern. Manche Züge können so deutlich sein, dass man sofort sieht, woher sie kommen, andere sind eher wie ein Schatten hinter dem Gesicht, der Widerschein der Vorlage, nach der das Gesicht gestaltet wurde, die Kladde der Skizze, nach der der Künstler die endgültige Skulptur schuf.
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Das dunkle Haar des Sohnes kam vom Vater, ebenso das ovale Gesicht der Tochter. Die viereckige Gesichtsform des Sohnes stammte vom Großvater, während die Tochter die leichten, blonden Locken ihrer Mutter geerbt hatte. Fredrik Dale hatte ein sensibles, leicht melancholisches Gesicht. Zusammen mit dem dunklen Haar ließ ihn das wie einen romantischen Poeten aussehen, in sich gekehrt, aber nicht schön. Nur die quer gestreifte Strickweste und das leicht folkloristische weiße Hemd mit den dünnen eingewebten farbigen Fäden platzierte ihn in unsere Zeit. Tove Dale machte einen zerbrechlichen Eindruck. Ihr Rücken war gerade, die Hüften schmal, und sie stand in einer kleingeblümten Bluse, einem einfarbigen Rock und mit gemütlichen Grübchen in beiden Wangen hinter ihren Kindern und neben ihrem Mann. Grundschullehrerin vielleicht, oder heimarbeitende Keramikerin von der eher femininen Sorte. Wir haben alle eine Tendenz, Leute nach ihrem Aussehen in Schubladen zu sortieren. Sehr wahrscheinlich irrte ich mich. Vielleicht war sie Schweißerin bei Volvo oder eine resolute Chefsekretärin in einer aufstrebenden Ölgesellschaft. »Was ist Ihre Schwiegertochter von Beruf?« Dale räusperte sich. »Im Moment ist sie zu Hause«, sagte er. »Sie ist ausgebildete Chemie-Ingenieurin.« Aha. Ich sah wieder auf das Foto hinunter. Hätte ich in der Chefredaktion einer Boulevardzeitung gesessen und würde gerade die Titelseite für den nächsten Tag zusammenstellen, hätte ich vielleicht über drei der Gesichter ein großes schwarzes Kreuz gezeichnet und nur Tove Dales Gesicht dem Leser entgegenleuchten lassen. Aber ich saß nicht in der Chefredaktion einer Boulevardzeitschrift, und ich würde das dunkle Gesicht von Fredrik Dale und die nichts ahnenden Gesichter der beiden Kinder, die nur ein so
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kurzes Leben gehabt hatten, wahrscheinlich niemals vergessen können.
3 Oberkommissar Vegard Vadheim strich mit langen, sensiblen Fingern durch sein dunkles, lockiges Haar, das um die Ohren und im Nacken schon grau war. Er war ein wirklicher Poet, obwohl es mehr als zwanzig Jahre her war, dass er seine letzte Gedichtsammlung herausgegeben hatte. Außerdem war er einer der fähigsten Polizeibeamten, die ich kannte, nicht zuletzt wegen seiner Menschenkenntnis. Jetzt sah er mich aus seinen braunen Hundeaugen betrübt an. »Ein ungewöhnlich tragischer Fall, Veum. Und ich kann gut verstehen, dass die Witwe mit niemandem reden will. Am wenigsten mit ihren Schwiegereltern. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, mit was für Schuldgefühlen sie zu kämpfen hat.« »Schuldgefühle? Denkst du da an etwas Spezielles?« Er sah mich geduldig an. »Wir haben Schweigepflicht, Veum. Solche Informationen sind absolut privat. – Ich habe schon ein paar andere solcher Fälle erlebt, wenn auch nicht so tragische. Und ich kann dir versichern: Selbst wenn sie hundert Prozent unschuldig ist, wäre sie trotzdem voll von Schuldgefühlen. Immer wieder fragt sie sich: Was habe ich falsch gemacht? War das Ganze meine Schuld? – Sie geht immer wieder in das Zimmer, das einmal das Kinderzimmer war und immer noch ist, weil dort niemand aufgeräumt hat. Sie sieht die leeren Betten und wiederholt wieder und wieder: War es meine Schuld? – Ich meine damit nicht diese Frau, sondern Menschen ganz allgemein.« »Aber hör mal, aus alter Freundschaft …«
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Er zog ironisch die Augenbrauen hoch, aber irgendwo in seinen Augen war ein Lächeln. »Die Art der Durchführung … Was in den Zeitungen stand, hörte sich total grotesk an. Hat er sie einfach niedergeschossen, in den Kopf? Waren sie bei Bewusstsein?« Er schüttelte langsam den Kopf. »Nein, nein. Es ging viel … humaner vor sich. Du darfst nicht vergessen, dass er Chemiker war. Er hatte vorher ein Betäubungsmittel angemischt, geruchlos und geschmacklos. Als sie an diesem Nachmittag in sein Büro kamen – alle Kinder finden es spannend, mit Papa zur Arbeit zu gehen – waren sie ganz allein. Er machte ihnen eine Flasche Limonade auf und gab die durchsichtige Flüssigkeit hinein. Genug, damit sie bald dösig wurden und einschliefen. Danach trank er selbst einen Schluck von dem Betäubungsmittel, möglicherweise, um seine eigene Angst zu betäuben. Und dann erschoss er sie. Die Ballistikexperten sagen, dass er zuerst das Mädchen erschoss, danach den Jungen und zum Schluss sich selbst.« Ich merkte, dass ich mich angespannt vorgebeugt hatte. »Stopp mal, Vadheim. Hast du gesagt, er hätte auch selbst einen Schluck von der Flüssigkeit getrunken? Soll das heißen, dass er selbst auch betäubt gewesen sein kann? Dass es ein …« »Mord, meinst du?« Er nickte. »Das war natürlich das erste, was wir auch dachten, als wir den Obduktionsbericht bekamen. Aber gründliche Analysen haben gezeigt, dass er viel zu wenig eingenommen hatte, um davon einzuschlafen. Die Kinder, mit ihrem geringen Körpergewicht, reagierten viel stärker, als ein Erwachsener es getan hätte. Außerdem zeigten die Analysen, dass er es rein eingenommen hat, unverdünnt. Er konnte es mit anderen Worten nicht geschluckt haben, ohne es zu wissen.« »Auch nicht in einem Glas Wasser?« »Nein.« »Hat er selbst nichts getrunken?« 240
»Doch, er hatte eine halbe Tasse Tee getrunken. Aber in dem Tee war kein Betäubungsmittel. Die Reste wurden analysiert. – Außerdem glaube ich, du wirst mir darin zustimmen, dass ganz schön viel Kraft oder Brutalität oder Wahnsinn dazu gehört, einen Mann und seine beiden Kinder umzubringen – gleichzeitig. Keiner der Menschen, mit denen wir bei den Nachforschungen in Kontakt gekommen sind, haben Anzeichen solcher Charakterzüge gezeigt. – Und solche Dinge können wir mittlerweile ziemlich gut einschätzen«, fügte er leise hinzu. Ich nickte. »Ihr habt also mit vielen gesprochen?« »Ja.« »Was ist mit der Waffe, Vadheim, der AG-3? Woher kam sie? Hatte er sie bei sich?« »Nein. Er bewahrte sie im Büro auf, sie war in seinen Garderobenschrank eingeschlossen.« »Ist das legal?« »Nein. Streng genommen ist es das nicht.« »Noch eines, was ich dich gern fragen würde …« »Hör zu, Veum«, unterbrach er mich. »Die Umstände um diesen Fall haben dazu geführt, dass wir gezwungen waren, ihn zu untersuchen, als wäre ein Verbrechen geschehen, nicht nur eine Tragödie. Aber die Ergebnisse waren negativ, in jeder Hinsicht. Fredrik Dale hat sich und seine beiden Kinder umgebracht, egal wie grauenhaft sich das anhört. – Man sollte nicht darin herumwühlen, sondern die Beteiligten in Ruhe lassen.« »Seine Eltern, die meine Klienten sind, sind auch irgendwie beteiligt.« »Vielleicht viel mehr als nur irgendwie. Es ist doch psychologisch möglich und sogar sehr wahrscheinlich, dass einige der Ursachen für Fredrik Dales offensichtlich depressive Persönlichkeit in seinem familiären Hintergrund begründet liegen.«
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»Ich denke wohl, dass sie das wissen, Vadheim. Wahrscheinlich ist es ein unbestimmtes Gefühl von Schuld, das auch sie treibt.« »Vergiss nicht, Veum, wenn du in dieser Sache weiter forschst … du musst furchtbar vorsichtig vorgehen. Du berührst offene Wunden, und das kann schmerzhafter sein, als du ahnst.« Ich stand langsam auf und sagte: »Doch, Vadheim. Ich glaube schon, dass ich es ahne.« Ich bedankte mich für die Hilfe und ging. Vegard Vadheim blieb hinter seinem Schreibtisch zurück und sah mir nach, mit gebeugtem Nacken und melancholisch, der Poet und Langstreckenläufer, Schmerz und Weisheit in einer Person.
4 Es war übertrieben zu behaupten, dass ich an Fredrik Dales früherem Arbeitsplatz besonders freundlich empfangen worden wäre. Eine Büroassistentin mit rotem Haar, einem spitzen Nagergesicht und etwas eingefallenem Kinn war im Grund relativ entgegenkommend, aber der Mann, der hinter ihr stand und in Akten blätterte, sah streng auf, als er meine Frage hörte. »Was wollen Sie in Fredrik Dales Büro?«, bellte er hitzig. »Geht Sie das etwas an?«, fragte ich vorsichtig. »Eide, Institutsleiter«, stellte er sich knapp vor. Er hatte ein langes Gesicht, das zweifellos auf eines der Reagenzgläser gepasst hätte, mit denen er es täglich zu tun hatte, schütteres Haar von einer Farbe, die aussah wie das Resultat eines missglückten chemischen Versuchs, eine Brille wie ein Vergrößerungsglas und einem Zug um den Mund, als leide er an chronischem Sodbrennen. »Veum«, sagte ich. »Privatdetektiv.« Er verstand nicht ganz. »Wie bitte?«, fragte er skeptisch. 242
»Ihrem Job gar nicht so unähnlich«, sagte ich. Er hatte keinen Sinn für Humor, aber er wusste, wo die Tür war und zeigte darauf. »Sie kommen wohl von der Skandalpresse«, sagte er. »Aber hier kommt niemand rein. Da ist der Ausgang. Leben Sie wohl.« »Skandalpresse? Ist die nicht zur Zeit Christian Michelsens ausgestorben?« Er kehrte mir den Rücken zu und blätterte demonstrativ weiter in seinen Akten. Die kleine Büroassistentin sah unangenehm berührt drein. Ich warf ihr einen stummen Blick zu, um ihr zu verstehen zu geben, dass es nicht ihre Schuld war. Dann verließ ich das Gebäude, setzte mich in mein Auto, das grau war wie der abgefahrene Asphalt darunter, und genoss die Aussicht. Wenn man Sinn für Kontraste hatte, war es eine eindrucksvolle Aussicht. Am unteren Teil der Straße lagen die letzten Reste dessen, was einmal zu Recht den stolzen Namen Allee getragen hatte. Die Häuser hatten schlanke Säulen vor den Eingängen, verschnörkelte Reliefs zwischen den Fenstern, aufwändige Verzierungen am First und an den Giebeln. Die Stuckarchitektur der Jahrhundertwende war wie ein lauter Protest gegen das gigantische Gebäude am anderen Ende der Straße. Das Naturwissenschaftsgebäude erscheint wie ein Gegengewicht zum Krankenhaus Haukeland: Zwei verwachsene Gebäudekomplexe auf jeder Seite des Bergen-Tales. Das Gebäude erhebt sich wie eine hässliche Barriere zwischen der alten Architektur der Alleegate und dem üppigen Baumbewuchs im Nygårdspark. In den Fensterscheiben spiegelt sich der graue Himmel über Bergen, und an der Fassade zeigen sich schon die ersten Wasserschäden. Ich behielt den Eingang im Auge, durch den ich selbst herausgekommen war, und nach fast zwei Stunden kam Institutsleiter Eide. In Hut und Mantel und mit einer braunen Tasche in der 243
Hand ging er direkt an mir vorbei. Ich hatte Recht gehabt mit meiner Vermutung. Institutsleiter sind nie lange bei der Arbeit. Es gibt immer eine Sitzung irgendwo. Wenige Minuten später war ich wieder oben in seinem Institut und klopfte froh und vergnügt an die Scheibe des Büros der Büroassistentin. »Halli, hallo«, sagte ich locker. »Hier bin ich wieder.« Die Büroassistentin sah mich bestürzt an, dann schüttelte sie resigniert den Kopf und lächelte. Ein süßes, herzenswarmes Lächeln, das man sich in sein Album kleben konnte, um sich noch lange Jahre daran zu erinnern. Ich sagte ernst: »Ich will mich nicht aufdrängen, aber es ist eine furchtbar schwierige Situation für Fredrik Dales Eltern, und … Ich habe versprochen, ein bisschen nachzuforschen. Gibt es hier Gerüchte darüber, ob – was der Grund gewesen sein könnte?« Sie errötete. »Nein, nein … Aber …« Sie sah zu einem Schlüsselkasten hinauf. »Ich kann Ihnen sein Büro zeigen.« »Das wäre toll«, sagte ich und zeigte ihr mein breitestes Lächeln, bis ich mich an meine Zahnstellung erinnerte und es ein wenig abschwächte. »Eide kommt erst in ein paar Stunden zurück«, sagte sie, »aber Sie müssen versprechen, nichts zu sagen. Es ist einfach furchtbar. Keiner hat es bis jetzt so richtig verarbeitet. Deshalb war Eide so brüsk. Wir können es einfach nicht begreifen. Fredrik war so – lebendig. Und die beiden süßen Kinder!« Tränen traten ihr in die Augen. Sie führte mich den Flur entlang und wir blieben vor einer Tür stehen. Auf einem Namensschild stand Frøydis Bruseth. Daneben hatte ein anderer Name gestanden, und der verblichene Untergrund verriet ihn noch immer: Fredrik Dale. »Sitzen immer zwei in einem Büro?«, fragte ich. 244
»Mmh«, nickte sie und schloss die Tür auf. Wir betraten den Raum. Es war ein Büro mit zwei Fenstern. Zwei Schreibtische standen einander gegenüber, vor jedem Fenster einer. Hier würde es leicht sein, sich im Gesicht des anderen zu verlieren – wenn es ein entsprechendes Gesicht war, und wenn man sich leicht verlor. Außerdem enthielt der Raum zwei abschließbare Garderobenschränke aus Metall vom selben Typ wie sie in der gesamten Universität zu finden sind – und beim Militär –, zwei Archivschränke, zwei Bücherregale, zwei Papierkörbe: Alles entsprechend der altehrwürdigen demokratischen Regeln innerhalb der Bürokratie: Was du hast, will ich auch haben. Ein Fenster für mich, ein Fenster für dich – und drei für den Professor. Die Universität ist in dieser Hinsicht ein Musterbeispiel. Hier wird Status nach Quadratmetern Bürofläche und Anzahl Fenster zur Welt bemessen. Und natürlich danach, mit wie vielen man sein Büro teilen muss. Ansonsten war das Büro merkwürdig unpersönlich. Von dem einen Schreibtisch waren verständlicherweise alle persönlichen Gegenstände entfernt worden. Der andere war systematisch aufgeräumt, mit Eingangs- und Ausgangs-Ablagen, Stapeln mit zusammengehefteten Papieren, Büchern, aus denen viele Zettel hervorragten, einer fein säuberlich sortierten Schale mit Schreibgerät, und einem Tischkalender, der das aktuelle Datum anzeigte. Die Büroassistentin sah sich beklommen um. Sie schielte nervös in Richtung Tür. »Ja, hier ist es also passiert«, sagte sie mit dünner Stimme. Sie wagte es kaum, ihren Blick irgendwo ruhen zu lassen, wollte nicht sehen, was nicht mehr da war, aber wovon ihre Phantasie ihr nur allzu viel erzählte. »Es ist ja an einem Sonntag passiert, deshalb hat niemand von uns – es gesehen. Der Mann vom Sicherheitsdienst hat … Aber …« »Ist es hier sonntags ganz leer? Keiner arbeitet?« 245
»Doch, doch, es kommen oft Leute her und arbeiten. Es ist still und friedlich, wissen Sie. In hektischen Phasen vor allem, aber … Fredrik kam nicht so oft, glaube ich. Und ich war nie hier. Ich habe sonntags immer frei.« »Kannten Sie Fredrik Dale gut?« »Nein. Ich bin zwar schon drei, vier Jahre hier, aber … Wir haben natürlich miteinander geredet, so im Vorbeigehen oder wenn er etwas holen wollte. Aber ich würde nicht sagen, dass ich ihn gut kannte. Nein. Es gab …« Sie biss sich auf die Zunge. Ich vollendete ihren Satz: »… andere, die ihn besser kannten?« »Das habe ich nicht gesagt«, sagte sie schnell. »Nein«, sagte ich. Dann schwiegen wir. Ich sah zum Fenster. Es ging auf den Nygårdspark. Unter verblassten Baumkronen zogen friedliche Drogensüchtige vorbei, mit gebeugtem Nacken. Als mein Blick sich wieder dem Raum zuwandte, waren wir nicht mehr allein. Eine kleine Frau in weißem Arbeitskittel stand in der Tür und sah von der Büroassistentin zu mir. »Worum geht es?«, fragte sie schnell. »Wer sind Sie?«, fragte sie mich. »Frøydis Bruseth?«, fragte ich und trat auf sie zu. »Varg Veum. Es geht um Fredrik Dale. Können wir miteinander reden?« »Über – Fredrik?« Die Büroassistentin zog sich vorsichtig in Richtung Tür zurück, machte eine linkische Armbewegung und murmelte: »Es … ich muss dann wohl … ich glaube, ich höre … das Telefon …« Sie nickte verwirrt zuerst mir, dann Frøydis Bruseth zu, und dann in den Raum hinein, als sei dort noch jemand Drittes. Dann verschwand sie hastig.
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Frøydis Bruseth stand mit den Händen in den Taschen da und sah ihr nach. Dann ging sie langsam zur Tür, schloss sie und drehte sich zu mir um. Sie sah in dem weißen Kittel wie eine Ärztin aus. Und außerdem ziemlich antiseptisch. Ihr Haar war kurz geschnitten und blond. Sie hatte markante Gesichtszüge und deutlich hervortretende Wangenknochen. Mit ihrem kraftvollen Gesicht und ihrem kompakten, kleinen Körper hatte sie fast etwas Finnisches an sich. Ihre Brüste zeichneten sich fest und rund unter dem Kittel ab, ihre Beine waren kräftig und durchtrainiert. Ihre ganze Gestalt strahlte eine kompakte Stärke aus, die sie aber keineswegs unweiblich wirken ließ. Ihre Augen waren blau, ihr Mund breit, und sie war weder geschminkt, noch trug sie Schmuck. »Wer sind Sie?«, fragte sie mich, nicht so brüsk wie der Institutsleiter, aber spürbar misstrauisch. Ich erklärte ihr schnell meine Rolle, was sie nicht weniger misstrauisch machte. »Privatdetektiv?« »Ja, es gibt uns tatsächlich. Ich kenne die Formel nicht, aber …« Ich hob wie entschuldigend die Arme und versuchte ein zaghaftes Lächeln. »Setzen Sie sich«, sagte sie und nickte zu dem freien Schreibtisch hin. Ich zog den Stuhl vorsichtig zurück und nahm Platz. Sie selbst setzte sich auf ihren Platz, und wir starrten einander einen Moment lang an, ungefähr so, wie ich mir vorstellte, dass sie und Fredrik Dale einander gegenübergesessen haben mussten. »Lenkt es nicht ab, wenn man sich so gegenüber sitzt?«, fragte ich. »Wir waren selten gleichzeitig hier«, sagte sie. »Wir hatten Unterricht, Labor-Arbeiten, andere fachliche Verpflichtungen. Und wenn wir hier waren – gemeinsam – dann hatten wir immer viel zu erledigen. Berichte schreiben, Versuche dokumentieren, Abhandlungen fertig stellen. Die Leute meinen immer, wir an 247
der Universität hätten so wenig zu tun. Sie haben keine Ahnung, was da alles zusammenkommt: Sonderstudien, Vorbereitung, Nachbereitung.« »Sicher nicht«, sagte ich zaghaft. Wie um die Bedeutung ihrer Worte zu unterstreichen, begann sie hastig in ein paar Papieren zu blättern und legte sie dann scheinbar ziellos auf einen neuen Haufen. Ich sagte: »Die Büroassistentin da draußen meinte, dass es im Institut andere gäbe, die Fredrik besser kannten als sie.« »So?«, sagte Føydis Bruseth leichthin, konnte aber nicht verhindern, dass sich eine leichte Röte auf ihrem markanten Gesicht ausbreitete, das damit einen weicheren Zug bekam, gezeichnet von einer inneren Glut. »Sie – vielleicht? Die sie mit ihm das Büro geteilt haben?« Sie sah mich streng an. »Hat sie das gesagt? Hat sie meinen Namen erwähnt?« »Nein, nein. Sie hat keine Namen genannt. Aber ich habe daraus den Schluss gezogen, dass – tja.« Sie hatte ihre Fassung zurückgewonnen und sah mich säuerlich an. »Tja?« Sie stand wieder vom Schreibtisch auf und ging durch den Raum. Mit beiden Händen in den Taschen sah sie mich forschend an. Sie erinnerte mich immer mehr an eine Ärztin, und unter ihrem Röntgenblick war es jetzt an mir zu erröten. Es war lange her, dass mich jemand so intensiv angesehen hatte. »Sind ein ganz netter Typ, Veum. Etwas mitgenommen, vielleicht, aber das werden wir ja alle mit den Jahren. Ein paar Falten hier und da, etwas Grau an der Schläfe, vom Rasieren gerötete Haut, ein loser Knopf am Mantel, aber …« Ihre Stimme wurde härter, die Ironie schärfer. »Und Ihnen ist nichts Netteres eingefallen, womit Sie sich die Zeit vertreiben können – als im Privatleben anderer Menschen herumzuwühlen? 248
Ein kleiner Bürojob, würde das nicht besser passen, Veum? Oder vielleicht Postbote, Sie sehen recht beweglich aus. Können Sie zeichnen? Comicautor, das müsste doch etwas sein für einen kecken kleinen Schlauberger wie Sie.« »Hören Sie, ich nehme keine Scheidungsfälle an, und ich wühle nicht …« »Ach was, wirklich nicht? Sie haben Prinzipien, mit anderen Worten?« Sie verlor die Haltung und zischte mich plötzlich an: »Und was zum Teufel machen Sie dann hier?!« Ich sagte zahm: »Ich versuche nur herauszufinden … Was passiert ist. Wie es passiert ist. Vielleicht warum …« »Warum, warum! Alle wollen wissen, warum. Ist das denn so verdammt wichtig? Wir leben, und wir sterben. So ist es nun mal. Das zu wissen reicht doch, oder? Leute, die nach dem Warum fragen, füllen die psychiatrischen Kliniken. Alle anderen …« Sie biss sich auf die Zunge. »Regieren die Welt, ja«, sagte ich. »Vielleicht gab es noch andere als – sie, seine Frau – die Fredrik geliebt haben. Aber für uns andere ist es vielleicht genug – und tragisch genug – zu wissen, dass es passiert ist. Warum auch immer.« Ich sagte, so vorsichtig ich konnte: »Sie haben ihn also geliebt?« »Ja, zum Teufel, das haben Sie ja wohl verstanden!« In ihren Augen glitzerte es jetzt silbern, als wären ihre Pupillen plötzlich geplatzt. Dann blinzelte sie, und das Dunkle in ihren Augen kam wieder zum Vorschein. Sie warf mit einer heftigen Bewegung ihren Kopf herum. Dann sagte sie: »Mir wird schlecht in diesem Raum! Gehen wir eine Runde durch den Park, dann erzähle ich Ihnen – ein Märchen.«
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5 Es lag ein kalter Zug in der Luft, als wir den Nygårdspark betraten. Vielleicht war es auf die Luftverschmutzung im Stadtkern zurückzuführen, dass die Laubbäume hier ihre Blätter früher verloren. Jedenfalls hatte der Park schon etwas Winterliches: halb nackte Bäume und welkendes Gras. Das Wasser im alten Vogelteich oben am Parkveien lag still und dunkel, als läge es unter schwarzem Eis. Früher einmal waren hier weiße Schwäne geschwommen, und unter den Rhododendron-Büschen hatten sich die Enten in kleinen Gruppen versammelt. Die einzigen, die sich jetzt hier versammelten, waren die Drogenabhängigen, die mit blau gefrorenen Fingern und roten Gesichtern dort saßen, die Knie an die Brust gezogen und den Blick in weite Ferne gerichtet. Frøydis Bruseth betrachtete sie und sagte: »Vielleicht gibt es auch unter ihnen ein paar Prinzessinnen.« Sie sprach leise, und ich musste mich vorbeugen, um alle Worte zu verstehen. Sie trug einen knielangen, braunen Lammfellmantel, und die braune Strickmütze, die sie sich über die Haare gezogen hatte, ließ ihr Gesicht noch nackter erscheinen. Ihre Nase bekam in der kalten Luft schnell Farbe, und es waren dünne, rote Zeichnungen in ihrer Haut. Wir gingen an der Skulptur der Nygårdsgutten vorbei. Der kleine Kerl stand mit geradem Rücken da und starrte an uns vorbei, als wäre keiner von uns seiner Aufmerksamkeit würdig. »Ich war selbst einmal eine Prinzessin in einem Märchen, vor scheinbar endlos langer Zeit«, sagte sie. »Und wer war der Prinz?«, fragte ich. Sie warf mir einen schnellen Blick zu. »Vielleicht Sie, Veum?«
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Ich legte meinen Kopf ein wenig schief und fragte: »Und wie soll ich das verstehen?« »Na ja, so ist es doch in den realen Märchen. Der Prinz ist der, dem wir nie begegnen. Oder erst, wenn es zu spät ist. – Ich war eine solche Prinzessin, die ihr Leben lang auf den Richtigen gewartet hat. Ich hatte das Gefühl … Viele Jahre lang war ich irgendwie nur mit einer Sache beschäftigt: Ich suchte überall nach dem einen Mann. Dem Prinzen.« »Mit dunklem Haar, braunen Augen, samtweicher Stimme und einem Mund wie James Dean?« »Klingt nach einem Gigolo. Ihr Männer beurteilt Frauen oft nach eurer eigenen Lebensweise. Denn ihr träumt doch von solchen Frauen, oder? Traumfrauen. – Vielleicht haben wir Frauen ein anderes Ideal? Vielleicht sehen wir mehr auf die inneren Eigenschaften bei den Männern, denen wir begegnen?« »Manche Männer tun das auch«, warf ich schnell ein. »Na gut. Aber vielleicht werden wir deshalb immer enttäuscht. Adonisse gibt es genug. Männer mit einer Seele gibt es nicht so häufig.« »Ein Priester würde Ihnen widersprechen.« »Ich glaube, ich kenne keinen Priester.« »Mit anderen Worten definieren Sie Frauen als Wesen mit einer Seele, und Männer als Wesen ohne Seele. Ich dachte eigentlich, es gäbe andere, sichtbarere Kennzeichen …« Sie trat mit dem Fuß nach einem kleinen Stein. Er schoss gegen den Rinnstein, sprang dann auf den Rasen. »Nein. Ich definiere gar nichts. Ich rede eigentlich eher aus, wie soll ich sagen, persönlicher Erfahrung. Ich weiß, dass es Frauenrechtlerinnen gibt, die – ja, ich meine so was ähnliches, wie Sie gerade gesagt haben. Männer sind rohe Geschlechtswesen, und Frauen sind – na ja, anders. So meine ich es nicht, Veum. Aber was ich persönlich erlebt habe, geht – trotzdem eher in die Richtung. Ich 251
habe nicht sehr viele Männer getroffen, die an meiner Seele interessiert waren, aber dafür ziemlich viele, die sich für etwas ganz anderes interessiert haben.« »Warum sprechen Sie in der Vergangenheit?« »Weil ich jetzt dieses Stadium erreicht habe. Wo alles Vergangenheit ist.« Ich fuhr mir mit der Hand durch das Haar. Ich war auf heimischem Boden. »Daraus schließe ich, dass etwas Besonderes geschehen ist. Dass Sie am Ende Ihrem Prinzen begegnet sind. Als es zu spät war.« Sie nickte, schüttelte dann aber plötzlich den Kopf. »Ja und nein. Ich habe jetzt tatsächlich angefangen zu zweifeln. Auch die stärksten Gefühle können zu – ausgestopften Tieren in einem Museum werden. Etwas, das man durch eine Glasscheibe betrachtet. Man sieht sich selbst – vor ein paar Jahren.« »Und da Sie mir das alles jetzt erzählen, nehme ich an, dass Fredrik Dale ihr Prinz war?« Sie antwortete nicht. Ich fragte: »Sind Sie verheiratet?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe einmal mit jemandem zusammengelebt. Aber es hat nicht funktioniert.« »Und dann trafen Sie Fredrik Dale?« Wir waren jetzt am hinteren Ende des Parks angelangt, wo gebogene, japanisch inspirierte Brücken über Teile eines anderen Vogelteiches führten. Hier hatten sie eine neue Generation von Schwänen ausgesetzt, aber die sahen weder stolz noch sonderlich schneeweiß aus, wie sie dort unter einer Art leichtem Firnis aus Abgasen herumschwammen. Endlich antwortete sie: »Ja. Ich traf Fredrik.« »Und er war verheiratet. Und hatte Kinder.« Sie nickte zweimal. 252
»Wie nah sind Sie einander gekommen?« Ihre Augen waren jetzt schwarz und traurig. »Sehr nah. So nah, dass es keinen Sinn machte, weiterzumachen wie vorher. So dass alles andere auf der Stelle Vergangenheit wurde.« Ich versuchte, den Kern der Geschichte aus ihr herauszubekommen. »Sie haben ein Verhältnis angefangen?« »Ja!«, antwortete sie, mit einer plötzlichen Heftigkeit. »Weil wir uns geliebt haben, und es keinen Sinn machte, es zu lassen. Wir haben nur dies eine Leben, und es kann schwer sein, Nein zu sagen, wenn das Leben plötzlich da ist. Wir waren erwachsene, selbstständige Menschen, und -ja, wir haben eine Wahl getroffen. Ich hatte meine Wohnung, lebte allein, es war nicht besonders kompliziert für uns – jedenfalls einige Stunden miteinander zu verbringen. Liebe auf Kredit. Die Rosinen aus dem Alltag der anderen.« ’ Ich nickte. »Ja, viele erleben es sicher so.« »Es ist leider wahr, ohne dass ich deshalb eine Sekunde davon bereue. Andere kämpfen mit ihren Lebenspartnern, aber ich konnte meine eigene überschüssige Energie mit einem Freund ausleben, dessen Strümpfe ich nicht stopfen musste, dessen Kleider ich nicht waschen und dessen Hosen ich nicht bügeln musste. Man kocht ein schönes Abendessen für ihn, man trinkt eine Flasche Wein zusammen, und dann geht man ins Bett. Und hinterher geht er nach Hause. Ziemlich einfach, eigentlich. Und für viele Männer – denke ich – recht angenehm.« »Für manche Frauen auch.« »Sicher, aber ich glaube trotzdem, dass Männer sich leichter an solche Situationen anpassen können. Wir werden uns nicht einigen, Veum, aber Frauen lieben umfassender, sie kommen nicht mit der Hälfte eines Mannes zurecht. Entweder alles, oder gar nichts. Am Ende muss eine Entscheidung getroffen werden.«
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»Das glauben Sie vielleicht – weil Sie selbst eine Frau sind. Dass Frauen umfassender lieben, meine ich.« »Frauen sind treuer als Männer«, sagte sie unbeugsam und betrat die letzte gebogene Holzbrücke. »Und all die untreuen Männer – mit wem sind sie untreu? Miteinander?« »Na ja …« »Ich spreche aufgrund einer gewissen Erfahrung«, sagte ich heftig. »Ich bin selbst – der andere gewesen – die Frau hätte ich beinahe gesagt. Mit einer verheirateten Frau.« »Und es ging zuende?« »Ja.« »Und wer traf die Entscheidung?« »Sie.« »Da sehen Sie es. Es sind immer die Frauen, die Schluss machen. Besonders wenn nicht nur Sex im Spiel ist. Dann kann der Mann abdanken – und weiterjagen. Aber wo Gefühle sind, da ist auch ein schlechtes Gewissen, und dann sind es die Frauen, die am Ende Nein sagen. Jetzt kann ich nicht mehr. Jetzt musst du dich entscheiden. – Und was wählen die Männer?« »Was hat Fredrik Dale gewählt?« »Sie haben es ja gesehen. – Es ist zwei Jahre her, dass wir zuletzt zusammen waren. Er – ihm waren die Kinder wichtiger, sagte er. Er brachte es nicht über sich, sie zu verlassen, wollte lieber weiter mit seiner Frau leben. Wollte nicht, dass seine Kinder Scheidungskinder werden sollten. Und er hat die beiden wirklich geliebt, Veum. Deshalb ist es so unfassbar, dass er …« Ihre Stimme erstarb plötzlich, sie wandte ihr Gesicht von mir ab, und ich sah, dass sie mehrmals schlucken musste. »Es waren so liebe Kinder«, kam es schließlich schwach.
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»Wo waren Sie an dem Sonntag, als es passiert ist?«, fragte ich. »Ich? Auf einer langen Fjellwanderung. Allein. Bei wunderbar stürmischem Wetter, was einem irgendwie das Innerste nach außen kehrt, auch aus den dunkelsten Ecken …« »In der Nähe des Büros waren Sie nicht?« »Nein! Sie glauben doch nicht etwa …« Sie konnte den Satz nicht zuende bringen. »Nein, nein«, sagte ich schnell. Wir hatten den letzten Teich jetzt umrundet und gingen die Böschung zum Jahnebakken hinauf, um den oberen Weg zurück zu gehen. Eine Weile schwiegen wir beide. Schließlich sagte ich: »Schlussendlich haben Sie also auch keine Ahnung, warum er tat, was er tat?« »Nein.« »Zwei Jahre, im selben Büro, Auge in Auge, nachdem Sie Ihre Beziehung abgebrochen hatten. Das klingt nicht sonderlich angenehm.« Sie wandte mir ihr nacktes Gesicht zu und sagte: »Nein. Das war es auch nicht. Immer auf – sein Gesicht zu sehen, dass du … Seine Hände. Nein.« »Noch eine letzte Frage, ganz ins Unreine gesprochen. Nicht einmal eine Theorie. Aber trotzdem. Wäre es denkbar, könnten Sie sich vorstellen, dass er sich und die Kinder doch nicht selbst umgebracht hat?« Sie starrte mich verwirrt an und blieb stehen. »Was meinen Sie damit?« Wir standen mitten auf dem Weg. Uns gegenüber wuchsen üppige, blütenlose Rhododendron-Büsche, auf der anderen Seite erhob sich das südliche Ende des Gebäudes der naturwissenschaftlichen Fakultät. Wir waren fast wieder in der Zivilisation angekommen. 255
»Ich meine … Könnte jemand – jemand, dem er vertraute, den er gut kannte – könnte diese Person Limonade eingeschenkt haben, oder Wasser – mit Gift – allen dreien – Fredrik Dale und seinen Kindern? Und dann, als sie bewusstlos waren, die Waffe aus seinem Schrank geholt haben und – geschossen. Das Gift war geschmacklos und effektiv, sagt die Polizei. – Und danach das Ganze so arrangiert haben, dass es …« »Das klingt – das klingt vollkommen verrückt! Wer sollte das getan haben?«, fragte sie atemlos. »Tja«, sagte ich und sah in ihr Gesicht. Wie alt war sie? Dreißig? Fünfunddreißig? Vielleicht an die Vierzig? Vielleicht jemand, der sich verschmäht fühlte? Langsam dämmerte ihr etwas. Es zuckte in ihren Mundwinkeln. Aber sie fing nicht an zu weinen. Sie lachte, ein ungläubiges, freudloses Lachen. »Sie glauben doch nicht etwa – Sie – du liebe Güte, Veum!« »Nein, nein, verstehen Sie mich nicht falsch. Ich meine nicht … Wie gesagt, es war nicht einmal eine Theorie. Ich frage nur – wäre es theoretisch möglich?« »Und warum fragen Sie mich? Um mich dazu zu bringen, mich zu verraten?« Ihr Lachen war versiegt. Ihr Blick war kühler geworden. Die Wolkendecke über uns war schwer und satt, fast als läge Schnee in der Luft. »Natürlich ist das – wäre das – theoretisch möglich. Alles ist möglich in einer Welt wie unserer. Kleine Kinder verhungern nur eine Flugreise von hier entfernt. Hier werfen wir Essen in den Abfall und bringen unsere Kinder um. – Nein, oh, Gott, so zynisch war es nicht gemeint, aber … Man hätte natürlich einen Schlüssel haben müssen. Schlüssel für das Gebäude.« »Oder man könnte mit ihm gemeinsam gekommen sein. Denn er hatte natürlich Schlüssel.« 256
»Klar.« Sie sah mich nachdenklich an. »Sie meinen doch nicht etwa – nein. Nein.« »Hatte er vielleicht – Sie haben nicht vielleicht eine Ahnung, ob er – ob er eine neue Beziehung hatte, zu einer anderen Frau?« »Nein, nein. Das hätte ich gemerkt. Er war genauso gequält und verklemmt wie ich. Wir haben uns noch immer genauso geliebt. Ich hatte nur beschlossen, dass – dass wir nicht so weitermachen konnten. Und er – als Mann – wollte nie so ganz verstehen, warum.« »Tja.« »Aber ehrlich gesagt, Veum. Ich hätte es verstehen können, wenn jemand ihn umgebracht hätte, ich meine – den Erwachsenen. Aber niemals die beiden süßen Kinder. Das wäre einfach unmenschlich, ja – geisteskrank.« »Es gibt geisteskranke Menschen. In manchen Ländern werden sie Staatsoberhäupter.« »Ich glaube, wir beide sind vom selben Schlag, Veum. Zwei abgehärtete Zyniker mit blutenden Herzen, stimmt’s? Kommen Sie doch mal vorbei, wenn diese Sache ein bisschen weiter weg ist, und bevor Sie verheiratet sind. Dann können wir weiterdiskutieren – über den Geschlechterkampf, meine ich. Ich muss jetzt zurück, aber – vergessen Sie’s. Es war einfach nicht so. Es war ein tragischer Ausraster, und Fredrik hat es selbst getan. Es muss erschreckend sein für – die Mutter, und für die Großeltern. Ja, für uns alle!« Wieder sah sie zur Seite, in den Park, zu der stummen Schiffswerft und dem grauen Fjellhang auf der anderen Seite der Brücke. Dann riss sie sich abrupt los, rückte mir stumm zu und ging schnell davon. Von hinten sah sie eigentümlich schmal aus, irgendwie zusammengeschrumpft um das, was für sie vom Leben übrig war.
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6 Ein plötzlicher Frost lag wie eine zerbrochene Fensterscheibe über der Landschaft, ein Vorbote des nahenden Winters. Der nackte Herbsthimmel stand hoch und blaugrün über der Stadt, wie ein Spiegel, den jemand an die Berge gestellt hatte. Ich fand Tove Dale auf dem Friedhof, wo sie kniete und die Blumen auf den frischen Gräbern pflegte. Meine Schritte hallten auf dem Schotter wieder, und sie sah erschrocken zu mir auf. Ich sagte schnell: »Haben Sie keine Angst. Ich komme von Ihren Schwiegereltern. Mein Name ist Veum. Varg Veum.« Sie stand auf, und ich gab ihr meinen Ausweis, den sie gründlich studierte. Ihre Nase war kalt und rot, eine lange Haarsträhne klebte an ihrer linken Wange, und ihre dunkelbraune Pudelmütze bedeckte nur ihr eines Ohr. Dadurch sah das andere um so nackter aus. Sie war ungefähr 25 Zentimeter kleiner als ich und trug eine blauschwarze Lotsenjacke, deren Kragen sie im Nacken hochgeschlagen hatte, rostrote Cordhosen und schwarze Stiefeletten. Sie war blond, aber die leichten Locken, an die ich mich von dem Foto erinnerte, das mir Halvor Dale gezeigt hatte, waren verschwunden. Außerdem war ihr Gesicht gealtert: Sie hatte schmalere, markantere Züge bekommen. Die Grübchen waren Narben vergangener Kämpfe, und ihre Augen trugen eine Kälte in sich, die von vielen langen Wintern kündete. Verglichen mit Frøydis Bruseth wirkte sie viel weniger robust und ohne deren Kampflust und Temperament. Aber das war nur der erste Eindruck. Es konnte gut sein, dass ich mich irrte. Sie gab mir meinen Ausweis zurück. »Wie haben Sie mich gefunden – hier.« Ich sagte locker: »Einer Ihrer Nachbarn hat mich gesehen, als ich geklingelt habe.« 258
Sie fragte nicht weiter danach. »Und was wollen Sie?« Ich betrachtete sie. Es war schwierig, darauf eine direkte Antwort zu geben. Stattdessen sah ich an ihr vorbei hinunter auf das frische Grab. Alle drei lagen im selben Grab. Dale, Fredrik, Tordis, Arne. Geburtsjahr und Todesjahr. Mehr nicht. Irgendwann, vielleicht schon bald, vielleicht erst in vielen Jahren, würde sie den freien Platz im Grab einnehmen. Wenn jemand später die Grabinschrift lesen würde, würde er sicher eine Familientragödie dahinter vermuten. Ein Autounfall, würde man sagen. Oder etwas Ähnliches. Die armen Kleinen. Und die arme Mutter, die zurückblieb, würde man sagen, wenn man sich überhaupt noch für solche Dinge interessierte. »Ihre Schwiegereltern«, sagte ich vorsichtig. »Sie quälen Schuldgefühle. Zweifel. Sie fragen sich, was sie falsch gemacht haben. Oder was die eigentliche Ursache war.« »Sie wollen also die eigentliche Ursache wissen«, sagte sie bitter, aber zugleich auch müde. Wieder fiel mir auf, dass sie etwas auffallend Temperamentloses an sich hatte. Aber es konnte der unterdrückte Schmerz sein. Und vielleicht stand sie auch einfach unter Beruhigungsmitteln. Sie fuhr fort: »Sie haben einen Sohn und zwei Enkelkinder verloren. Und das ist nicht genug. Sie müssen auch noch wissen, warum.« »Ist das so verwunderlich?« »Nein, wohl nicht. Aber für mich fühlt es sich an, als würden sie mit einem Messer in der Wunde herumbohren. – Die Kleinen!«, flüsterte sie, kehrte mir den Rücken zu, zog ein Taschentuch aus der Jackentasche und ihre Schultern zuckten heftig. Ich stand hilflos hinter ihr, mit hängenden Armen, und kannte sie nicht gut genug, um die nötigen zwei Schritte auf sie 259
zuzugehen und meine Arme tröstend um sie zu legen. Aber vielleicht hätte ich mich ebenso hilflos gefühlt, auch wenn ich sie schon seit zwanzig Jahren gekannt hätte. Trauer ist schwerer zu zähmen als irgendetwas anderes, der Tod ist am schwersten von allen Dingen im Leben zu begreifen. In solchen Situationen verfällt auch der sprachgewandteste Mensch in Klischees. Ich zog es vor zu schweigen. Auf dem Grab lagen frische Blumen. Dunkelrote Rosen, die im Nachmittagslicht auf der braunen, frisch umgegrabenen Erde an zerlaufene Blutflecken erinnerten. Sie drehte sich wieder zu mir um und steckte das Taschentuch in die Tasche. Ihre Lippen strafften sich um die schwierigen Worte. »Sie wollen also gerne wissen, warum ihr Sohn seine Kinder umgebracht hat – und dann sich selbst?« »Ja«, sagte ich unsicher und hob hilflos die Hände. »Wie war denn Ihre Beziehung? Die zwischen Ihnen und Ihrem Mann, meine ich. Hatten Sie Ärger?« Es war nicht die Spur von Sympathie in ihrem Blick, als sie die Antwort ausspuckte. »Ärger?! Das klingt ja wie in einem Wildwestfilm. Alle haben wohl – immer mal wieder – Probleme …« »Aber so große Probleme, dass …« Ich ließ die Fortsetzung in der Luft hängen. Ihr Blick glitt an mir vorbei, über meine Schulter zum Mindemyr und dem flachen Eisnebel, der dort an kalten Tagen wie diesem immer wie ein Tarnteppich lag. Sie fuhr fort: »Es gab eine Zeit, vor ein paar Jahren, da habe ich mich seiner nicht mehr sicher gefühlt. Da hatte ich das Gefühl, dass er vielleicht – eine andere hatte. Diese schreckliche Unsicherheit, die man empfindet, wenn die Ehe um einen herum zerbröselt, als wenn man – als wenn man auf einem Vulkan stünde, am Rande eines Kraters.«
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Ihr Blick streifte meinen, wie um zu überprüfen, ob ich ihr auch zuhörte, um sich dann wieder auf meiner Schulter niederzulassen. Ich sagte kein Wort. Ich wollte sie nicht stören. Sie fuhr fort: »Aber da waren die Kinder, natürlich. Es gibt so viele zerfallene Ehen, die aufrecht erhalten werden – eben wegen der Kinder. Aber haben Sie schon mal darüber nachgedacht – haben Sie sich mal überlegt, dass kleine Kinder wie kleine Nationen in einem Großmächtekonflikt sind, wenn die Eltern über ihre Köpfe hinweg miteinander streiten. Auch wenn es ein noch so diskreter, verschwiegener, stumm nagender Streit ist. Oder wenn sie direkt darunter zu leiden haben, wie auch kleine Länder darunter leiden, wenn die Großmächte miteinander kämpfen. Keiner ist unschuldiger als die Kinder an den Konflikten der Eltern. Aber bei den meisten Scheidungen sind sie die größten Verlierer. Und das gleiche gilt, wenn eine unglückliche Ehe bestehen bleibt. Also wie man es auch dreht und wendet, die Kinder sind die Opfer. Das ist vielleicht die düsterste Seite an allen ehelichen Konflikten.« Sie sah mir plötzlich direkt in die Augen. »Vielleicht sollten wir deshalb keine Kinder mehr bekommen?« Ich hielt ihren Blick fest. »Da ist sicher etwas dran. Jedenfalls nicht, bevor wir alt genug sind, oder reif genug, um zu wissen, was wir tun.« »Aber wann sind wir das? Das ist ein unlösbarer Konflikt, Veum! Ich weiß das, denn ich habe ihn selbst ausgetragen. Vor etwas über einem halben Jahr habe ich selbst jemand anderen kennen gelernt, wie man so schön sagt. Man nennt diese Person in allen Konflikten namenlos und anonym nur den Anderen. – Und ich habe wohl, leider, eine andere Lösung für diese Beziehung gewählt, als Fredrik es damals für seine getan hat.« »Sie sind also sicher, dass er tatsächlich eine andere Beziehung hatte?«
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»Seine Reaktion, die Art, wie er sich ausdrückte, hat mir das sehr deutlich gezeigt, ja. Er sagte: Aber als ich in derselben und brach den Satz ab. Und der selbstgerechte Ausdruck, den er bekam, als ich ihm erzählte, ihm sagte …« Sie schluckte. Ich wartete. »… dass ich einem anderen begegnet war, dass ich ausziehen wollte – und die Kinder mitnehmen …« Sie sah mich mit blinden Augen an. Ich sagte langsam, Wort für Wort betonend: »Also, mit anderen Worten: Er hatte seine Beziehung gerade aus Rücksicht auf die Kinder aufgegeben, weil er sie nicht verlieren wollte, und erlebte jetzt, dass Sie eine andere Lösung wählten. Und sogar die Kinder mitnehmen wollten …« Sie nickte. Tränen strömten aus ihren Augen, und sie wischte sie ärgerlich weg. »Und wann war das?«, fragte ich vorsichtig weiter. »Wann haben Sie ihm das gesagt?« »Am Fr-Freitag vor die-diesem Sonntag!«, schluchzte sie. Ihr Schluchzen war wie ein hohles Grunzen, unartikuliert und unschön anzuhören. Sie rang nach Luft, sog den Sauerstoff ein, und musste einen Arm ausstrecken, um sich an meiner Schulter festzuhalten. »Aber warum hat er nichts gesagt?«, stieß sie hervor und starrte in mein Gesicht, als wäre ich in der Lage, ihr darauf eine Antwort zu geben. »Warum hat er kein einziges Wort gesagt, nachdem er seinen Satz nach der Hälfte abgebrochen hatte? Warum hat er sie einfach mitgenommen, und – und …« Ich sagte: »Die Unfähigkeit, offen und ehrlich miteinander zu reden, weil die gegenseitige Bitterkeit sich wie eine Wand zwischen uns gestellt hat, ist vielleicht das größte Problem für alle, die mit ihrem Partner zu kämpfen haben – und überhaupt in unserem Teil der Welt, in der Zeit, in der wir leben. Für viele ist es viel leichter, gegen den Atomtod zu demonstrieren, gegen 262
Rassendiskriminierung oder die Ausbeutung der armen Länder der Welt, als dagegen. Es sieht so aus, als wäre es einfacher, Weltkonflikte zu lösen, als persönliche.« »Das Leben in uns versauert!«, stieß sie hervor. »Wir sterben innerlich, viel zu früh. Laufen wie lebende Leichen durch die Welt. Vielleicht hat Fredrik nur die Konsequenzen daraus gezogen. Für sich selbst und die Kinder.« Sie hatte sich wieder beruhigt, ließ meine Schulter los und trat zwei, drei Schritte von mir weg, um der plötzlichen Nähe auszuweichen. Ihr Blick wanderte zum Grabstein hinunter, und sie sagte leise: »Aber eine solche Wahl für sich zu treffen, ist eine Sache. Für andere zu entscheiden, ist etwas ganz anderes.« Sie biss sich auf die Lippen. »Zwei ungelebte Leben. Zwei Menschen, die nicht einmal die Chance hatten, ihre eigenen Erfahrungen zu machen. Aber bei allen, in jedes Menschen Schicksal gibt es wohl einen Funken Hoffnung – oder, Veum?« Ich nickte. Ich hatte einen Kloß im Hals. Als ich versuchte, etwas zu sagen, kam kein Ton heraus. Wir standen lange so da. Schließlich sagte ich: »An dem Sonntag … Wo waren Sie? Was haben Sie gemacht?« Sie sah leer vor sich hin. »Zu Hause. Ich war zu Hause in unserer warmen, gemütlichen Stube. Niemand mag draußen sein bei diesem Wetter! Es hat gestürmt und geregnet – und weiß der Himmel, wozu er sie mit nach draußen genommen hat!« Dann sagte sie nichts mehr und ich stellte keine weiteren Fragen. Sie gab mir ein Zeichen, dass sie noch dort bleiben wollte, also verließ ich den Friedhof allein. Unten in der Fußgängerunterführung am Danmarksplass ging ich in eine Telefonzelle und wählte eine Nummer. Beate, meine frühere Frau, nahm ab. Ich sagte hallo und fragte, ob Thomas da sei. 263
»Nein«, sagte sie locker. »Nein, er ist beim Fußballtraining. Wolltest du etwas Bestimmtes?« »Nein, nein«, sagte ich schnell. »Ich wollte ihm nur etwas sagen. Aber ich sehe ihn ja am Wochenende.« »Ja, genau. Also wenn du so lange warten kannst …« »Ja, klar. Du kannst ihn ja einfach grüßen und sagen, dass ich angerufen habe.« »Das werd ich tun. Mach’s gut, Varg.« »Mach’s gut.« Die unterirdische Halle hatte Ausgänge in alle Himmelsrichtungen. Ich wählte den, der ins Zentrum führte, über die alte Nygårdsbrücke. Der Verkehr in Richtung Stadt war dünn, als würde das Blut an diesem Abend besonders langsam durch die Einfahrtsadern gepumpt. Oben über dem länglichen Profil des Fløienfjells hatten sich die Sterne wieder einmal vom Horizont losgerissen und hingen wie schwerelose Staubkörner in dem endlosen, leeren Raum. So weit weg, so unendlich weit weg.
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