Hohenheim Verlag 1982
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Hohenheim Verlag 1982
Die in vorliegendem Band enthaltenen neuen Geschichten von L. Sprague de Camp erzählen von den absonderlichen Erlebnissen des Bankiers W. Wilson Newbury, der von einem okkulten Abenteuer ins andere gerät. Der gute Bursche zieht die magischen Ereignisse geradezu unfreiwillig auf sich. Dementsprechend sind dann auch die Ergebnisse, denn nie geht die Sache so aus, wie sich der jeweilige Magier dies vorgestellt hatte. Alle Geschichten in diesem neuen Band von L. Sprague de Camp sind ausgesprochen humorvoll geschrieben, mit einer Menge lustiger Seitenhiebe und Anspielungen. Freunde der Science Fiction werden mit großer Freude diesen Band lesen, auf den sie schon lange gewartet haben.
Lyon Sprague de Camp wurde 1907 in New York geboren; er war ein schlechter Schüler und hatte Schwierigkeiten, sich in die Gemeinschaft einzufügen. Nach qualvollen Schuljahren studierte er Aerodynamik und erhielt 1933 einen Doktortitel in Technik und Wirtschaftswissenschaften. 1937 wurde er Direktor des New Yorker Patentamtes. Sein erstes Buch schrieb er im gleichen Jahr mit K. Beriet „Investions And Their Management“. Science Fiction hatte er seit seiner Kindheit gelesen, und so versuchte er sich auch auf diesem Gebiet. „The Isolinguals“ wurde 1937 in der Zeitschrift „Astounding“ veröffentlicht. Durch einen der wenigen Schulfreunde, John D. Clark, bekam de Camp Kontakt zu anderen New Yorker SF-Autoren, unter denen sich auch John W. Campbell und Henry Kuttner befanden. 1939 erschien de Camps parodistischer Artikel „Language For Time Travellers“, der auf ein weiteres Interessengebiet hinwies: Sprachen. 1939 erschien sein berühmtester Roman „Lest Darkness Fall“, eine Geschichte, in der ein Zeitreisender des 20. Jahrhunderts zu beweisen versucht, daß ein moderner, gebildeter Mensch, versetzt man ihn in eine Welt der Vergangenheit, in der Lage ist, die Geschichte zu verändern. Seit Anfang der fünfziger Jahre kümmert sich de Camp fast ausschließlich um die Fantasy, schrieb eine Biographie des Horror-Erzählers H. P. Lovecraft und redigierte den Nachlaß des verstorbenen Groschenheftautors Robert E. Howard. Außerdem trat er als Verfasser einer Reihe historischer Romane hervor.
ISBN 3-8147-0020-1 Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1979 by L. Sprague de Camp Titel der amerikanischen Originalausgabe. ..The Purple Pterodactyls“ Deutsche Lizenzausgabe: Copyright © 1982 by «Hohenheim» Verlag GmbH, Köln-Lövenich Scan by Brrazo 12/2004 Weitere Copyright-Angaben auf Seite 280 Übersetzung: Thomas Schlück. Garbsen Lektorat: Klaus-Dietrich Petersen. Hamburg Titelgrafik: Oliviero Berni, Mailand Umschlaggestaltung: SCOPE Werbeagentur GmbH, Leverkusen Satzherstellung: Deutscher Ärzte-Verlag GmbH. Köln-Lövenich Druck und Bindearbeit May & Co., Darmstadt
Inhaltsverzeichnis Vorwort ………………………………
8
Balsamos Spiegel……………………
10
Die Lampe……………………………
33
Algy …………………………………
60
Der Menhir…………………………
79
Darius………………………………
101
KOB & Co……………………………
117
Tiki ……………………………………
139
Das ferne Babylon……………………
152
Der gelbe Mann……………………
160
Schlangengaben………………………
188
Die Hunnen ………………………….
215
Die Purpurnen Pterodaktylen………
242
Die Schatztruhe………………………
272
Die Figur ……………………………
289
Priapus………………………………
316
Vorwort W. Wilson Newbury ist jünger als ich und spielt viel besser Tennis. Und während ich mich als Waldarbeiter, Marineoffizier, Lehrer, Vortragsredner und Schriftsteller über Wasser gehalten habe, wählte er seinen Beruf schon kurz nach dem College abgang und ist ihm treu geblieben. Willy ist Bankier – allerdings kein gesichtsloser Bursche, wie sie am Ein- und Auszahlungsschalter sitzen, sondern ein zurückhaltend gekleideter, adretter Mann mit kurzem Haar, der hinter einer Reihe Marmorsäulen in einer der größten Banken unserer Stadt einen Schreibtisch befehligt. Außerdem ist Willy – wie ihn seine Freunde nennen, damit ihm der Erfolg nicht zu Kopf steigt – clever. Obwohl wir uns also in mancher Hinsicht unterscheiden, Willy und ich, haben wir doch eine Gemeinsamkeit: ein lebhaftes Interesse an den okkulten Wissenschaften. Das Okkulte seinerseits scheint große Zuneigung zu Willy zu empfinden. Warum sich das übersinnliche Reich allerdings auf einen konventionellen, aufrechten Familienvater wie W. Wilson Newbury stürzt, vermag ich mir nicht vorzustellen; doch irgendwie kommt es immer wieder dazu, daß Bewohner metaphysischer Überwelten und Unterwelten die Fäden seines Lebens durcheinanderbringen. Mag sein, daß das zweite Gesicht oder die Intuition, mit der er einen vertrauenswürdigen Kreditsuchenden von einem schlechten Risiko trennt, innere Türen weiter öffnet und ihn in psychischer Hinsicht aufge schlossener macht als uns übrige; doch ist diese Gabe – die man auch als Fluch bezeichnen könnte – für einen Bankier nicht gerade ein Gesprächsthema gegenüber jedermann.
Bei Bankiers geht man davon aus, daß sie sachlich und vernünftig sind – ein Rückgrat der Gesellschaft. Ein Finanz berater, der über seine Verwicklung in übernatürliche Ereignisse spricht, könnte einen Run auf seine Bank oder eine Rezession auslösen oder zumindest seinen Posten verlieren. Da ich den ganzen Tag über meiner Schreibmaschine hocke und nicht zum Klatschen neige, bin ich einer der wenigen Menschen, denen Willy sich anvertrauen konnte. Willy war ein begeisterter Leser von „Weird Tales“, jenem längst untergegangenen Journal des Phantastischen; und einige der überweltlichen Ereignisse, die darin aufgezeichnet wurden, und die Autoren, die sie niederschrieben, mußten großen Einfluß auf Willy gehabt haben. Der namenlose Freund in „Balsamos Spiegel“ ist Howard Phillips Lovecraft, jener bekannte Phantast aus Providence, Rhode Island. In einem Brief an seine Tante Lillian Clark berichtete Lovecraft, er habe eine kleine altgriechische Tonlampe gekauft. Er schrieb: „Sie steht in diesem Augenblick vor mir, bezaubernd in ihrer Pracht, und hat mir bereits die Idee für mindestens eine unheimliche Erzählung gebracht: eine Handlung, in der sie nicht als hellenisches, sondern als atlantisches Fundstück vorkommt.“ Obwohl Lovecraft dieses Projekt dann doch nicht verwirklichte, erlebte Willy auf unerklärliche Weise diese Geschichte. In der Erzählung „Das ferne Babylon“ werden Anhänger der Fantasy in dem Mann mit dem Cowboyhut Robert E. Howard erkennen, den vielseitigen Dichter und Autor aus Cross Plains, Texas. In einem Brief an Lovecraft sprach Howard von einer „Schlangengabe“ als Keimzelle für eine Kurzge schichte. Und auch hier setzte sich das Okkulte durch. Diese Idee, verbunden mit gewissen Erlebnissen meines herumziehenden Bankierfreundes, wurde zu dem Abenteuer, das in diesem Band als Schlangengaben wiedergegeben ist. In dieser Erzählung
beziehen sich Willys Bemerkungen über „Zikkarf“ auf den erdachten Planeten Xiccarph, auf dem Clark Ashton Smith mehrere seiner Geschichten ansiedelte. Ich bin Willy Newbury jedenfalls dankbar, daß er uns Abenteuer geschenkt hat, die gelegentlich erschreckend, immer amüsant und manchmal sogar unvergeßlich sind. Ich hoffe, Sie haben ebenfalls Ihre Freude daran. Villanova, Pennsylvania L. Sprague de Camp
Balsamos Spiegel Mein Freund aus Providence liebte es, lange Spaziergänge zu machen, besonders nachts. Dabei suchte er sich vorzugsweise einen Friedhof als Ziel, oder eine verlassene Kirche oder einen ähnlichen Ort. Er verfaßte Kurzgeschichten für „Creepy Stories“, die ihm ein kärgliches Einkommen verschafften, und behauptete daher, die Spaziergänge brächten ihm neue Ideen. Ein solcher Spaziergang, den er in meiner Gesellschaft unternahm, inspirierte ihn auf eine Weise, wie er nicht erwartet hatte. Ich studierte am M.I.T., und meine Familie wohnte zu weit entfernt, im nördlichen Staat New York, als daß ich oft nach Hause fahren konnte. Wenn ich mit meiner Arbeit auf dem laufenden war, ratterte ich am Wochenende in meinem Model A aus Cambridge los und besuchte meinen Freund. Wir hatten uns durch die Leserbriefspalte von „Creepy Stories“ kennengelernt. Ich hatte mich eines Tages selbst eingeladen, und wir waren trotz unserer Meinungs-, Alters- und Temperamentsunterschiede recht gut miteinander ausgekommen. Damals diskutierte ich gern. Was mir an meinem Freund unter anderem gefiel, war der Umstand, daß er sich vernünftig und immer gemäßigt über mehr Themen zu unterhalten vermochte als jeder andere Mensch meines Bekanntenkreises. Dabei hatte er zuweilen brillante Ideen; andere Einfälle hielt ich für eher ver rückt, ehe ich mich dann doch dafür erwärmte, und wieder andere kommen mir auch heute noch verrückt vor. Es gab viel Stoff zum Diskutieren. Die Politik war eine sehr aktuelle Sache, denn ein Jahr, nachdem Roosevelt die Banken schloß, machte sich die Depression noch immer sehr bemerkbar. Ich war nach wie vor sehr konservativ eingestellt, während mein Freund sich von einem verknöcherten Konservativen zu einem heißblütigen 10
Anhänger des New Deal hatte bekehren lassen. Ein dritter Student, der zuweilen mitmischte, sympathisierte mit den Kommunisten. So wurde oft hitzig und engagiert diskutiert. Wir setzten uns auch über die Religion auseinander. Mein Freund war wissenschaftlicher Materialist und Atheist, ich dage gen noch gläubiger Christ. Wir diskutierten über Ästhetik. Er ver teidigte die Kunst um der Kunst willen; ich fand, diese Philoso phie leiste der Trägheit Vorschub, dabei hatte ich nichts übrig für Nichtstuer, ob sie nun reich, künstlerisch veranlagt oder einfach nur faul waren. Wir stritten um internationale Fragen. Er wollte, daß sich die USA dem Britischen Weltreich anschlössen; ich war für die Fortsetzung der Isolierung. Wir hechelten die Geschichte durch. Das achtzehnte Jahrhundert begeisterte ihn; ich fand, daß Männer, die über gutem Haar Perücken trugen, lächerlich aussahen. „Willy“, sagte er, „du kratzt mit solchen Bemerkungen doch nur die Oberfläche an. Perücken sind nicht wichtig. Wichtiger ist, daß es sich um die letzte Periode vor der Industriellen Revolution handelt, mit all ihrem Qualm und den klappernden Maschinen und krankhaft gewachsenen Städten und anderen Schrecknissen. Auf eine Weise ist dies die anmutigste, eleganteste, zivilisierteste Zeit, die wir je erlebt haben oder erleben werden.“ „Was“, antwortete ich, „wolltest du mit den überflüssigen neun Zehntel der Menschheit anfangen, die du loswerden müßtest, wenn wir zur Technologie des achtzehnten Jahrhunderts zurückkehrten? Sollen sie verhungern? Soll man sie erschießen? Oder auffressen?“ „Ich habe nicht gesagt, daß wir zur vorindustriellen Technologie zurückkehren könnten oder sollten. Die seither eingetretenen Veränderungen waren unvermeidlich und sind nicht wieder rückgängig zu machen. Ich meinte nur …“ 11
Wir stritten noch immer, als wir einen unserer nächtlichen Rundgänge begannen. Mein Freund fand immer etwas, das er seinem Besucher zeigen konnte. Dieses Haus, so erklärte er, gehörte früher einem berühmten Piraten aus der Kolonialzeit, dort habe einmal eine Taverne gestanden, in der er gefangen genommen wurde, ehe er am Galgen endete; und so weiter. An diesem warmen Maiabend, erleuchtet von einem schwa chen Halbmond, ging es meinem Freund um ein Bauwerk aus der Kolonialzeit auf dem Federal Hill. Wir marschierten die steile Angell Street hinab in das Zentrum von Providence. Von dort nahmen wir in westlicher Richtung den sanfteren Anstieg der Westminster Avenue in Angriff, wo die Restaurants Trattorias genannt wurden. Nahe der Dexter Street bogen wir rechts ab und trotteten durch kleine Seitenstraßen, bis wir das alte Haus fanden. Der Eingang stand noch, der Rest des Erdgeschosses war aber zerstört worden, um für eine kleine Werkstatt Platz zu schaffen. Mein Freund schnalzte mit der Zunge: „Verdammte Südländer!“ knurrte er. „Die Pest soll sie holen!“ Seine ethnischen Vorurteile ließen zwar allmählich nach, waren aber noch immer ziemlich ausgeprägt. Wir untersuchten den Hauseingang mit meiner Taschenlampe; mein Freund war zu gedankenlos, um seine eigene mitzubringen. Schließlich traten wir den Rückweg an. Wir hatten bereits zwei Meilen zurückgelegt und die anstrengende Steigung der Angell Street noch vor uns. Da es Nacht war, konnten wir uns nicht mit den Fahrstühlen des County-Gerichts einen Teil des Aufstiegs ersparen. Im Gewirr der Gassen bog mein Freund falsch ab. Er erkannte seinen Irrtum sofort: „Nein, Willy, hier geht es entlang. Die 12
Straße müßte zurück zur Westminster Street führen. Die andere Straße kenne ich nicht.“ Als wir uns der breiten Straße näherten, kamen wir an einer Reihe kleiner Läden vorbei, zu denen auch eine chinesische Wäscherei gehörte. Fast alle Läden waren geschlossen, doch weiter vorn an der Westminster Street konnten wir die Lichter von Restaurants, Bars und einem Kino ausmachen. Mein Freund hob die Hand und hieß mich vor einem erleuchteten Laden in der Reihe der abgedunkelten Geschäfte anhalten. „Was ist denn das?“ fragte er. „Mich deucht, hier erschauen wir eine unsägliche Lasterhöhle!“ Er redete immer so, wenn ihm nach dem achtzehnten Jahrhundert zumute war. Auf dem schwach erleuchteten Schild im Fenster stand: „Ma dame Fatima Nosi. Weissagungen. Sprechen Sie mit ihren Toten. Okkulte Kenntnisse werden vermittelt.“ Eine primitive Zeich nung unter den Lettern zeigte eine zigeunerhafte Frau, die sich über eine Kristallkugel beugte. „Ich sehe es förmlich vor mir“, sagte mein Freund. „Hier haben wir die Zentrale eines finsteren Geheimkults. Dahinter steht eine Bande illegaler Einwanderer aus Kafiristan, wo sich der alte heidnische Glaube bewahrt hat. Man verehrt eine chthonische Gottheit, in Wahrheit ein Gelatinewesen, das sich durch festes Gestein pressen kann…“ „Warum treten wir nicht ein und schauen nach?“ fragte ich. „Madame Nosi scheint geöffnet zu haben.“ „Ach, wie praktisch von dir, Willy!“ rief mein Freund. „Ich zöge es vor, diesen rätselhaften Ort aus der Ferne zu betrachten und meine Phantasie auf den Weg zu schicken. Drinnen ist es wahrscheinlich schmutzig, zerschlissen und durch und durch prosaisch. Außerdem wird unsere Wahrsagerin ein Honorar erwarten, dabei bin ich im Augenblick ziemlich klamm.“ 13
„Ich habe genug für uns beide“, erwiderte ich. „Komm!“ Ich mußte ihn drängen, denn mein Freund war ein zurückhaltender Mann und empfindlich wegen seiner ständigen Geldknappheit. Angesichts seiner Gaben und Fähigkeiten war diese Anmut verwunderlich. Wenige Minuten später standen wir jedoch in Madame Nosis Sprechzimmer. Der Raum war so ungepflegt, wie mein Freund vorhergesagt hatte. Fatima Nosi erwies sich als groß und kräftig gebaut, eine knochige Frau mittleren Alters mit vorspringender Hakennase und ergrauendem schwarzem Haar, das unter einem Kopftuch herabhing. „Also“, sagte sie, „was kann ich für die Herrn tun?“ Sie sprach mit einem Akzent, der sich nicht nach Italienisch anhörte. Sie fixierte mich mit ihrem Blick. „Sie sind Student, nein?“ „Ja.“ „Am … äh … Massachusetts Institut für Technologie, ja?“ „Ja.“ „Und Sie haben Abgang in … hmm … zwei Jahr, nein?“ „Richtig“, antwortete ich, überrascht von ihrer Vorhersage. „Name, bitte?“ „Wilson Newbury.“ Sie schrieb etwas in ein kleines Notizbuch. „Und Sie!“ Sie wandte sich an meinen Freund. Als sie auch seinen Namen festgehalten hatte, frage sie: „Sie Schriftsteller, nein?“ „Ich“, antwortete mein Freund, „bin ein Gentleman, der manchmal zu seinem Vergnügen und dem seiner Freunde zur Feder greift.“ Sein Gesicht verkrampfte sich vor Anstrengung, ohne Stottern in eine fremde Sprache zu wechseln. „P-parlate italia-no?“ Er brachte die Frage langsam über die Lippen, mit einem betonten Oststaaten-Akzent. 14
Sie blickte ihn verwirrt an, dann hellte sich ihr Gesicht auf: „Cosi, cosi. Aber ich bin nicht Italiener, obwohl in Italien ge boren.“ „Was sind Sie dann, wenn ich so frei sein darf?“ fragte mein Freund. „Ich bin toskisch.“ „Oh, Albanierin!“ rief er und sagte zu mir: „Paßt genau. Sie paßt genau zum dinarischen Rassentyp, und der Name hörte sich auch nicht richtig italienisch an.“ Er ließ seinen Blick zu ihr zurückkehren. „Es ist mir eine große Ehre; sono – sono onorato.“ „Vielen Dank. Viele Albanier in Italien“, antwortete Madame Nosi. „Sind dorthin vor zwei-, dreihundert Jahren, um vor den Türken zu fliehen. Und jetzt, was ich kann tun für Sie? Horoskop? Seance? Kristallkugel? Ich glaube, Sie kluger Herr kein Interesse an einfach okkulte Manifestationen. Sagen Sie, was Sie am lieb sten… Sie bitte.“ Sie deutete auf meinen Freund. Er überlegte lange und antwortete dann: „Madame, was mir wahrhaft am Herzen liegt, wäre ein Blick auf die Welt, wie sie sich im Höhepunkt der westlichen Zivilisation dargeboten hat – ich meine, im achtzehnten Jahrhundert. Nein, gestatten Sie, daß ich das präzisiere. Mein Wunsch geht dahin, den zivilisiertesten Teil der Welt jener Zeit zu sehen – England.“ „Hmm.“ Madame Nosi blickte ihn zweifelnd an. „Ist schwierig. Aber vielleicht ich habe Chance, den Spiegel des Balsamo zu benutzen. Sie müssen kommen nach oben ins Sanktum.“ Über eine quietschende Treppe führte sie uns in ein schäbiges kleines Wohnzimmer. Sie trat an eine Wand und zog ein Tuch von einem Spiegel, der an der Wand hing. Dieser Spiegel wirkte ganz normal bis auf den kunstvoll geschnitzten Rahmen, dessen Ver goldung schon sehr abgeblättert war. 15
Mein Freund neigte sich in meine Richtung und murmelte: „Könnte interessant werden. Guiseppe Balsamo, alias Graf Alessandro di Cagliostro, war der vortrefflichste Fälscher und Scharlatan des achtzehnten Jahrhunderts. Was sie wohl jetzt anstellt?“ „Dies“, verkündete Madame Nosi, „kostet Sie zehn Dollars. Ist sehr mächtiger Zauber, Belastet mein schwaches Herz. Wenn Ihr Freund mit will, kostet ihn auch zehn Scheine.“ Mein Freund machte ein bestürztes Gesicht – kein Wunder. Für zehn Dollar hätte man damals in einem guten Restaurant eine Woche lang essen können. Zwanzig kamen mir auch ziemlich teuer vor; doch ich hatte vor kurzem einen Scheck von zu Hause erhalten und wollte jetzt keinen Rückzieher machen. Wäre ich älter und mutiger gewesen, hätte ich vielleicht gefeilscht – etwas, von dem ich wußte, daß sich mein Freund niemals dazu überwinden würde. Ich zog also die Brieftasche. „Vielen Dank“, sagte Madame Nosi. „Sie sitzen jetzt hier, mit Gesicht zu Spiegel. Sie auch. Ich zünde Kerzen auf dem Ting hinter Ihnen. Schauen Sie auf Spiegelung Kerzen im Glas.“ Sie steckte an der gegenüberliegenden Wand einen Leuchter an. Im Dämmerschein waren unsere beiden Spiegelbilder kaum mehr als Umrisse. Ich wendete den Blick von dem Bild meines hageren, langgesichtigen Freundes und richtete ihn auf die Gruppe schwankender Flammen. Madame Nosi hantierte hinter uns herum. Ein süßlicher Geruch verriet mir, daß sie Weihrauch angesteckt hatte. Sie begann ein Lied zu krächzen in einer Sprache, die ich nicht erkannte. Ich weiß nicht genau, wann ihr Zauber, oder was immer es war, zu wirken begann, ebensowenig wie sich bestimmen läßt, wann man einschläft und zu träumen anfängt. Nach einiger Zeit stellte 16
ich jedenfalls fest, daß ich auf einem Feldweg dahinschritt, mit fußhohem Gras zwischen zwei ausgefahrenen schmalen Wagen spuren. Ich fand schnell heraus, daß hier kein einfacher Fall von Zeitreise vorlag, wie er in den Romanen steht. Dort trifft der Zeitreisende in propria persona in der anderen Zeit ein, das heißt, er kann sich wie in seiner eigenen Zeit bewegen und handeln. Ich dagegen fand mich in den Körper eines anderen Mannes versetzt; ich sah und hörte mit seinen Sinnen und war in der Lage, seinen Gedanken zu folgen, vermochte aber nicht auf die Handlungen meines Trägers einzuwirken. Ich konnte ihn nicht einmal den Kopf oder die Augen verdrehen lassen, um etwas zu sehen, das er nicht anschauen wollte. Im Moment war sein Blick starr auf den Boden vor ihm gerichtet, denn er wollte keinen Fehltritt tun. Diese Situation umging das gewohnte Zeitreise-Paradoxon. Ich konnte zwar an allen Erfahrungen meines Trägers geistig wie körperlich teilhaben, doch vermochte ich nichts zu unternehmen, was auch nur eines der Ereignisse verändert hätte, die bereits stattgefunden hatten. Ob man dieses Abenteuer als Rückkehr in eine frühere Zeit bezeichnen sollte, oder als Vision vergangener Ereignisse in meinem heutigen Verstand oder als bloße Illusion, vermag ich nicht zu beurteilen. Von den Gedanken meines Trägers bekam ich nur mit, was ihm durch das Bewußtsein ging; seine Erinnerungen konnte ich nicht anzapfen. Aus diesem Grund gab es für mich keine Möglichkeit festzustellen, wo oder wann ich war, es sei denn, mein Träger dachte zufällig an diese Dinge, oder eine dritte Person oder andere Äußerlichkeit gab mir einen Hinweis. „Jetzt denk drran, Burrsche“, sagte eine knarrende Stimme dicht an meinem Ohr, „kein Hinterhergestiere nach den Mädchen, bei deiner unsterrblichen Seele. Und wenn wir den Gutsherrn und 17
seinen Makkarroni-Sohn treffen, hüt’ dein Temperament, egal, was sie sagen!“ Zumindest glaubte ich diese Worte zu verstehen. Er sprach in einem Dialekt, der mir derart fremd war, daß ich zunächst nur die Hälfte seiner Worte mitbekam. Mein Träger tat mir den Gefallen, den Kopf zu drehen und seinen Begleiter anzusehen. „Ach, halt doch den Schnabel, Vater! Meiner Treu, ich bin erwachs’n, kann auf mich selbst aufpass’n.“ „Kindheit und Jugend sind Eitelkeit. Prediger Salomonis elf“, sagte der andere. „Dein locker’ Mundwerk brringt uns noch an den Galgen.“ „Wenn dein’ Wilderei das nicht vorher besorgt“, antwortete mein Träger. „Ich übe nur die Herrschaft überr die Vögel des Himmels und die Tierre des Feldes aus, die Gott mir gegeben hat. Schau nur im Errsten Buch Mose eins. Es ist nicht recht, wenn Sir Roger uns arrmen Leut’n das vorenthalt’n will.“ Der andere, offenbar Vater meines Trägers, brummte noch ein Weilchen vor sich hin. Er war in reifem Alter und hatte die knochigen braunen Hände und den faltigen braunen Hals eines Mannes, der sein Leben lang im Freien gearbeitet hat. Er trug die Kniehosen und den weiten Mantel des achtzehnten Jahrhunderts, allerdings aus grobem, selbstgefärbtem, selbstgewebtem Tuch, schmutzig und oft ausgebessert. Seine Waden steckten in ausgebeutelten fleckigen Baumwollstrümpfen, und seine großen, formlosen Schuhe zeigten zwischen links und rechts keinen Unterschied. Auf seinem Kopf ruhte eine große, abgerundete mausgraue Perücke, die ihm bis auf die Schulter herabhing, der aber bereits die Hälfte des Haars fehlte. Oben auf der Perücke saß ein schmuddeliger, zerdrückter, breitkrempiger Filzhut, hinten 18
hochgestellt, doch ansonsten schlaff herabhängend. Neben der Perücke stellte er einen wirren grauen Vollbart zur Schau. Ich hatte angenommen, die Männer dieser Ära wären kahlrasiert gegangen. Ich fragte mich, ob möglicherweise mein Freund im Körper des Vaters gefangen saß, so wie ich in dem des Sohnes steckte. Wenn das zutraf, war ihm mit dem Bart ein hübscher Streich gespielt worden. Als Anhänger des achtzehnten Jahrhunderts verabscheute mein Freund Gesichtshaar in jeder Form. Seit langem lag er mir wegen meines harmlosen kleinen Schnurrbarts in den Ohren. Doch selbst wenn sich mein Freund wirklich dort drüben befand, konnte ich mich auf keinen Fall mit ihm in Verbindung setzen. Dann kam mir ein Gedanke: Trug ich ebenfalls eine Perücke? Ich vermochte es nicht zu sagen. Es wäre ein nicht minder lachhafter Scherz auf meine Kosten gewesen, denn ich lehnte künstliches Kopfhaar ab. Die beiden schwiegen; nur gelegentlich tauschten sie eine knurrige Bemerkung aus. Große Redner waren sie nicht. Ich konnte den Gedanken des Sohnes folgen, die mir jedoch bei meiner Orientierung kaum halfen. Das Gewirr der Namen, Gesichter und Szenen zuckte zu schnell an mir vorbei, als daß ich es analysieren konnte. Ich erfuhr allerdings, daß mein Träger William hieß, daß sein Vater Freibauer war und daß sie die einzigen Überlebenden der Familie waren. Ich bekam auch heraus, daß der Vater in Fehde mit dem hiesigen Gutsherrn lebte und daß sie auf dem Weg zu einem Jahrmarkt waren. Aus einem Hinweis auf Bristol schloß ich, daß wir uns irgendwo im Südwesten Englands befanden. So wie die Vegetation aussah, mußte es Frühling sein.
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Das freie Feld und die vereinzelten Baumgruppen gingen in ein Gewirr kleiner Häuser über, die sich zu einem Dorf verdichteten. Die Stellung der schwach sichtbaren rötlichen Scheibe, die in England als Sonne gilt, verriet mir, daß wir etwa die Mittagsstunde erreicht hatten. Am Dorfrand brauste der Jahrmarkt. Scharen von Landleuten waren unterwegs, mehr oder weniger wie mein Vater gekleidet (als das sah ich ihn im Geiste). Es waren auch einige Ladies und Gentlemen zu sehen in der etwas ansehnlicheren Kleidung der damaligen Zeit, mit hohen Hacken und gepuderten Perücken. Mir fiel auf, daß etliche jüngere Männer keine Perücken trugen, sondern das eigene Haar zu kleinen Pferdeschwänzen gebündelt hatten. Der Bart meines Vaters war jedoch der einzige weit und breit. Als wir die Menschenmenge erreichten, war der Gestank der ungewaschenen Körper überwältigend. Ich war auf Williams Riechnerven angewiesen und fand den Gestank schrecklich, er aber schien gar nichts zu merken. Vermutlich war er selbst ziemlich verdreckt. Die juckenden Stellen an verschiedenen Stellen seines Körpers ließen mich ohnehin vermuten, daß er eine ganze Parasitenfauna mit sich herumtrug. Zwei Mannschaften spielten Krickett. Dahinter veranstalteten junge Männer Lauf- und Sprungwettbewerbe. Es gab ein primi tives Karussell, das von einem alten Pferd gezogen wurde. Ein kleiner Junge folgte dem Tier im Kreis und schlug es, damit es nicht stehenblieb. Eßwaren und Getränke standen zum Verkauf; einige Jahrmarktsbesucher waren längst betrunken. Es gab Glücks- und Geschicklichkeitsspiele: man konnte Bälle und Ringe auf Ziele werfen, raten, welche Walnußschale die Erbse verdeckte, man konnte Karten und Würfel spielen und ein Glücksrad drehen. Eine Reihe von Zelten beherbergte menschli che Ungeheuer und ein großes Zelt sogar ein Kamel. Am anderen 20
Ende des Feldes wurden ein Hahnenkampf und eine Puppen vorstellung angepriesen; die beiden Ausrufer versuchten sich gegenseitig zu überschreien. Mein Vater ließ es bei den meisten dieser Attraktionen nicht zu, daß ich meine wenigen Pennies verschleuderte, doch er zahlte zwei Pence zur Besichtigung des Kamels. Das räudig aussehende Ungeheuer kaute hochnäsig wieder, während ein Mann in einem „arabischen Kostüm“ aus Bettlaken die Eigenschaften des Tieres beschrieb. Das meiste stimmte überhaupt nicht. „Holla!“ rief da eine Stimme. Ich – vielmehr der William, dessen Körper ich besetzt hielt – drehte sich um. Einer der Gentlemen kam auf uns zu, ein untersetzter, gutgekleideter Mann in mittleren Jahren, eine Lady am Arm. „Da soll mich doch!“ rief der Mann. „Wenn das nicht der alte Phil ist!“ Mein Vater und ich nahmen die Hüte ab und verbeugten uns. Mein Vater sagte: „Gott schenke Ihnen einen guten Tag, Master Bradford! Guten Tag, Eurre Ladyschaft! Ein unerwartetes Vergnüg’n.“ Bradford trat vor und gab meinem Vater die Hand. „Gut für die Augen, Sie mal wieder zu sehen, Philip. Dich auch, Will. Meine Güte, wie groß du geworden bist!“ „Aye, er ist ein guter Jung’„, sagte Philip. „Bis auf ihn sind alle meine Hoffnungen untergegangen.“ „Der Herr gibt, und der Herr nimmt auch wieder. Sagen Sie mir eins, Phil, wie steht es zwischen Ihnen und Sir Roger?“ „Ziemlich schlecht“, antwortete mein Vater. „Seit der Umzäunung ist er scharrf auf mein’ kleinen Fleck’n, den er seinem großen Land zuschlagen will.“
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„Warum verkaufen Sie denn nicht?“ fragte Bradfort. „Wie man hört, hat er einen guten Preis geboten?“ „Nay, Sir, bei allem Respekt, das tue ich nicht. Die Shirlaws sind hier, soweit die Errinnerung z’rückreicht, und ich will nicht der sein, der hier aufgibt. Und wenn ich’s täte, dann nicht zugunsten eines hochherrschaftlichen Schurken, der seine verdammte Fuchsjagd auf meinen Feldern abhält. Die Gerrste vom letzten Jahr hat er mir glatt kaputtgemacht, o ja!“ „Der alte sture Phil! Roger Stanwyck is’ gar nicht so übel, wenn man ihn nur richtig nimmt. Trotz seines düsteren Tem peraments tut er doch manch’ gutes Werk.“ Bradford senkte die Stimme. „Hören Sie, Phil, wir sind alte Freunde, da kann man die Unterschiede der Stellung außer acht lassen. Verkaufen Sie an Sir Roger für den besten Preis, den Sie kriegen können, aber geben Sie den Widerstand auf. Sonst könnte ich nicht mehr für Ihr Wohlergehen garantieren. Verbum sat sapienti.“ „Wie bitte, Sir?“ „Im Suff, was oft genug vorkommt, prahlt er schon mal, er würde Ihr Land kriegen und Sie am Hanf tanzen sehen, ehe das Jahr vorbei ist!“ „Aye, Sir?“ fragte Philip. „Aye, wahrhaftig, keine Frage. Ich war dabei, auf einer Party bei Colonel Armitage. Roger ist Magistrat hier und bringt das fertig.“ „Zuerst muß er mich mal anklagen und verurteilen lassen.“ „Was soll das, Mann, reden Sie keinen Unsinn! Bei den vielen Todesstrafen, die im Buch stehen, kann man Sie für eine Klei nigkeit aufhängen – etwa wenn Sie auf den Boden gespuckt haben.“
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„Joi! In solchen Sach’n fällen Geschworene keinen Schuld spruch.“ „Wenn sie einen Mann mögen. Ihnen brauche ich aber nicht zu sagen, daß Sie hier nicht gerade der beliebteste sind.“ „Aye, Master Bradford, aber weshalb? Ich führe ein gutes chrristliches Leben.“ „Imprimus – Sie haben sich gegen die Umzäunung gewehrt.“ „Und ob! Die ist doch der Tod des unabhängigen Bauern!“ „Mein guter Philip, die Tage des alten englischen Freibauern sind vorbei. Das Land braucht Korn, und die einzige Möglichkeit besteht darin, all die ungenutzten freien Grasflächen umzupflgen und Getreide anzubauen. Secundus sind Sie ein Methodist, und für diese Leute ist das schlimmer als Papist oder Jude zu sein. Für sie wär’s eine Sensation, einen bösen Ketzer hängen zu sehen, zumal wir seit gut einem Jahr keine Hinrichtung mehr gehabt haben.“ „Ich glaube, was der Allmächtige und das Heilige Buch mir eingeben.“ „Tertius tragen Sie den verdammten Bart.“ „Ich gehorche nur göttlichen Befehlen, Sir. Lesen Sie das Dritte Buch Mose neunzehn.“ „Und quartus sind sie gebildeter, als Ihnen nach ihrer Stellung zusteht. Mir macht es nichts aus. Es gefällt mir, wenn sich die Unterschicht zu bessern versucht, in Grenzen, versteht sich. Aber die Dörfler meinen. Sie bilden sich etwas darauf ein, und hassen Sie deswegen.“ „Ich will nur Gott mit meinem bißchen Wissen besser dienen können. Sprüche Salomonis eins, fünfter Vers. Und was den Verkauf an Sir Roger betrifft, da gehe ich eher ins Armenhaus.“ 23
Bradford seufzte und hob die Hände. „Nun ja, sagen Sie später nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt. Aber hören Sie, wenn Sie ver kaufen, sollen Sie bei mir ein gutes Plätzchen haben, wenn Sie wollen. Und keine Plackerei, sondern einen ansehnlichen Posten mit guter Bezahlung. Fragen Sie meine Dienstboten, ob ich nicht ein guter Herr bin.“ „Also, vielen Dank, Sir, aber …“ „Denken Sie drüber nach.“ Bradford schlug Philip auf die Schulter und schritt mit seiner Frau davon. Wir schlenderten herum, erstanden einen Bissen Brot mit Käse und schauten den Wettkämpfen zu. William hätte für die Kuriosi tätenkabinette und beim Glücksspiel gern etwas Geld ausgegeben, aber Philip äußerte ein strenges Verbot. Dann ließ uns ein Ruf herumfahren. „He, Shirlaw! Philip Shirlaw!“ Die Worte kamen von einem untersetzten rotgesichtigen Mann mit einer Goldschnur an seinem Dreispitz. Mit schnellen Schrit ten kam er auf uns zu, wobei er sich mit einem vier Fuß langen, goldbeknauften Spazierstock Schwung gab. In seiner Begleitung war ein prachtvoll gekleideter junger Mann, großgewachsen und schlank. Der junge Mann trug den Hut unter dem Arm, denn er hätte niemals über seine Perücke gepaßt. Diese Perücke hatte nicht nur Locken an den Seiten und hinten einen Zopf, sondern ragte vorn in einem hohen Pompadour empor. Der Jüngling war so bleich, wie der ältere Mann rotgesichtig wirkte, und trug schwarze Schönheitsflecken an Wange und Kinn. Beim Sprechen bewegte er elegisch eine bleiche, schmale Hand. „Auf ein Wort, Sirr“, sagte der Rotgesichtige. „Aye, Euer Ehren?“ erwiderte Philip. „Nicht hier, nicht hier. Kommen Sie später in mein Haus – nach dem Abendessen wäre gut.“ 24
„Vater!“ sagte der Jüngling. „Du vergißt, daß Mr. Harcourt und seine Frau bei uns speisen.“ Mir fiel auf, daß der junge Mann wie ein moderner Engländer seine Schluß-R verschluckte, während das bei den anderen, mit denen wir bisher gesprochen hatten, nicht der Fall war. „In der Tat, in der Tat“, brummte Sir Roger Stanwyck. „Dann in spätestens einer Stunde, Shirlaw. Wir wollen den Jahrmarkt jetzt verlassen, also trödeln Sie nicht!“ Es war ein langer Marsch vom Jahrmarkt zu Sir Rogers Landhaus, doch der Gutsherr wäre gar nicht auf den Gedanken gekommen, uns eine Mitfahrt in seiner Kutsche anzubieten. In Stanwyck House wimmelte es von Dienstboten, und ich wunderte mich, daß sie sich nicht gegenseitig umrannten. Einer aus dieser Garde führte uns in Sir Rogers Arbeitszimmer. Ich hatte kaum Gelegenheit, mir die Umgebung anzusehen, denn Williams Blick richtete sich nur auf wenige Dinge; er war schon einmal hier gewesen. So hing zum Beispiel ein Schwerterpaar überkreuz hinter einem Schild an der Wand – doch alles war aus Glas gefertigt, nicht aus Stahl. Sir Roger, das Weinglas in der Hand, starrte uns aus einem großen Ohrensessel mürrisch entgegen, dann setzte er ein gezwungenes Lächeln auf. Sein Sohn, der an einem Cembalo saß und ein Stück von Händel spielte, stellte sein Geklimper ein und drehte sich um. „Also, Shirlaw!“ bellte Sir Roger. „Ich habe mit Ihnen gestritten und Sie angefleht, aber ohne Ergebnis. Sie sind ein sturer alter Knochen, das muß ich Ihnen lassen. Um Ihnen zu zeigen, daß ich das Herz am rechten Fleck habe, erhöhe ich mein letztes Angebot auf glatte hundert Guineen. ‘S ist das Dreifache von dem wahren Wert Ihres elenden Winkels, und Sie haben für 25
den Rest Ihres Lebens ausgesorgt. Aber das ist alles. Kein Heller mehr. Was sagen Sie dazu? Was sagen Sie?“ „Tut mir leid, Sir“, antwortete Philip. „Ich habe Ihnen meine Entscheidung schon mitgeteilt, und dabei bleibt’s. Mein Land ist und bleibt mein.“ Die beiden redeten noch eine Weile hin und her, während der Sohn wiederholt diskret ein Gähnen unterdrückte. Sir Roger wurde immer röter im Gesicht. Schließlich sprang er mit einem Aufschrei aus seinem Sessel. „Also schön, raus mit dir, du Hannoverscher Schweinehund! Ich werd’ dir Methodistisch kommen! Wenn die eine Methode nicht zieht, habe ich noch andere! Raus!“ „Euer Ehren kann mich am Arrsch küssen“, sagte Philip und wandte sich ab. Sir Roger schleuderte sein Weinglas hinter uns her, traf aber nicht. Das Glas zerschellte, und Sir Roger brüllte: „John! Abra ham! Werft diese Schurken raus! Jemand soll mir mein Schwert holen! Ich sorge dafür, daß Sie nächstes Jahr bei der Wallach schau mitmachen können! Charles, du Milchbubi, warum ver drischt du diese Taugenichtse nicht?“ „Ich bitt’ dich, Vater, du weißt doch, daß ich …“, stotterte der junge Mann. Der Rest ging in der zunehmenden Entfernung unter, denn Philip und William verließen hastigen Schrittes das An wesen, ehe die Dienstboten eine Posse zusammenstellen konnten. Die Uhr hinter uns schlug vier. Auch ich war voller Zorn, sowohl angesteckt von dem Gefühl, das Williams Kopf erfüllte, als auch aus eigenem Antrieb. Hätte ich über Williams Körper gebieten können, wäre mir wohl eine Torheit unterlaufen. Nur gut, daß ich hier nicht mitmischen konn te. Damals gab ein Bauer seinem Ritter oder Baronet (was immer 26
Sir Roger sein mochte) keinen auf die Nase, egal wie sehr er provoziert worden war. Wir verließen das Gelände auf einem anderen Weg, der über einen weiten Rasen führte. Am Rand dieser Rasenfläche fiel der Boden steil ab. Es gab eine Einfaßmauer, die sechs bis acht Fuß tief beinahe senkrecht in einen flachen Graben abfiel. Auf der anderen Seite stieg die Erde in sanfter Schräge fast wieder zur Höhe des inneren Rasens an. Diese Anlage, einer winzigen Befestigung ähnlich, wurde Ha-ha genannt. Sie sollte den Bewohnern des Hauses ein unbehindertes Panorama der Graslandschaft bieten und gleichzeitig das Rehwild und andere Tiere von den inneren Rasenflächen und Blumenbeeten fern halten. Wir schritten eine Treppe hinab, die durch das Ha-ha führte, und folgten einem gewundenen Weg. Dieser Weg führte über einen Bach und durch einen Wald. Am Rand des Bachs waren Arbeiter damit beschäftigt, ein Teehaus im chinesischen Stil zu errichten, rot und schwarz bemalt und vergoldet. Wir folgten dem Pfad weiter durch den Wald und scheuchten dabei ein Kaninchen auf. „Hm“, sagte Philip Shirlaw. „Dieser hochmütige Schurrke … Und wir hab’n nur Brot und Rüben im Haus! Hör zu, Will, Sir Roger ißt doch um fünf, ja?“ „Aye“, antwortet William. „Ursprünglich um vier, aber sein kulliger Sohn hat die neuen Sitt’n aus London bei ihm eingeführt.“ „Nun ja“, sagte Philip. „Sieht so aus, als wollte uns der liebe Gott ein bißchen Fleisch in den Topf trreiben. Wenn in Stanwyck House Gäste bewirtet werden, rührt er sich von fünf bis Mitternacht nicht vom Fleck. Die gottlosen Vielfrraße geben sich fünf oder sechs Stunden mit ihrem Fleisch ab, und die Horde 27
Diener wird in der Nähe bleiben, um Sir Rogers Gastfreundschaft zu pflegen. Wenn sie fertig sind, ist Sir Roger viel zu betrunken, um zu wissen, was passiert.“ „Willst du ein Kaninchen Seiner Ehren abschießen?“ „Aye, nur gehörrt es nicht Sir Roger, sondern Gott.“ „Ach, Vater, sieh dich nur vor! Denk an Master Bradfords Warnung …“ „Der Allmächtige wird uns behüten.“ Nach einer weiteren Stunde erreichten wir Haus und Hof. Das Gebäude war kaum mehr als ein Schuppen, etwa in der Art, wie die Behausungen von Aussteigem in Comic Strips dargestellt werden. Das Mobiliar war denkbar bescheiden, außer daß auf einem Wandregal überraschend viele Bücher standen. Das mußte Bradford gemeint haben, als er davon sprach, Philip Shirlaw sei über seinen Stand hinaus gebildet. Da Williams Blick nur jeweils sekundenlang auf das Regal gerichtet war, konnte ich mir zu Philips Bibliothek kein Urteil bilden. Ich vermochte mehrere Bände mit Predigten von John Wesley und George Whitefield zu erkennen. Außerdem gab es wohl eine Bibel, eine Shakespeare- und eine Plutarch-Ausgabe. Philip Shirlaw stieg in den Dachboden hinauf und kehrte mit zwei kleinen Armbrüsten zurück. Dies überraschte mich, hatte ich doch angenommen, daß diese mittelalterlichen Waffen seit langem ungebräuchlich waren. Später erfuhr ich, daß sie noch in der Zeit unseres Abenteuers zum Wildern verwendet wurden, vorzugsweise, weil sie so leise waren. Niedergeschlagen versuchte William seinen Erzeuger noch einmal umzustimmen: „Durch dein’ Groll auf Sir Roger darfst du uns nicht in Gefahr bringen. Colonel Armitages Diener, Jemmy Thorne, hat mir gesagt, es gäbe den Galgen, wenn man fremden 28
Grund betritt mit der Absicht, Kaninchen zu töten. So steht es im Statut.“ Ich folgte der Auseinandersetzung mit wachsender Unruhe. Was wurde aus mir, wenn Sir William ums Leben kam, während ich noch in seinem Körper steckte? Aber Philip Shirlaw ließ sich nicht von seinem Vorhaben abbringen. „Pu! Vertrau auf die Vorsehung, mein Sohn, und fürrchte dich nicht. Als guter Christ habe ich auch keinen Groll auf Sir Roger. Ich nehme mir nur meinen fairen Anteil an den Frrüchten der Erde, die Gott für alle Menschen zur Verfügung stellt. Nachzulesen im neunten Kapitel des Ersten Buches Mose.“ Die stählernen Armbrustpfeile hatten etwa die Größe eines modernen Bleistifts. Mit einer Tasche voller Pfeile und einer Armbrust unter dem Arm marschierte William schließlich hinter seinem Vater her. Die beiden erkundeten den Wald zwischen dem Anwesen der Stanwycks und der Shirlaw-Farm und sahen und hörten nieman den. Die Sonne verlor an Höhe und verschwand hinter den Wol ken, die sich zusammenzogen und Regen verhießen. Philip hatte richtig vermutet – die Dienstboten von Stanwyck House waren im Gebäude versammelt, um den Herrn und seine Gäste zu bedienen. Endlich – es mußte beinahe sechs gewesen sein – stöberten wir ein Kaninchen auf, das zwischen den großen alten Eichen hindurchhüpfte. William machte eine schnelle Bewegung, doch Philip hielt ihn mit der Hand zurück. Vorsichtig spannten die beiden ihre Waffen, legten Pfeile in die Kerben und schlichen weiter. Sie fanden das Kaninchen wieder, trieben es jedoch in die Flucht, ehe sie in Schußweite waren. Als erfahrene Jäger trennten sie sich und setzten das Anschleichen fort. Der Wald wurde dünner, und sie erreichten den Rand der äußeren Weiden, unweit 29
des Ha-ha. In der Senke unterhalb des Ha-ha saß das Kaninchen und nibbelte am Gras. Philips Armbrust sirrte. Der Pfeil jaulte davon. Das Kaninchen machte einen Purzelbaum. „Getroffen!“ rief William. Die Shirlaws liefen aus dem Wald, um ihre Beute zu holen, doch plötzlich ließ ein Ruf sie erstarren. Auf dem Ha-ha standen Sir Roger Stanwyck und sein Sohn Charles. Sir Roger hatte eine Muskete auf die beiden Männer gerichtet, Charles eine Pistole. „Ha!“ brüllte Sir Roger. „Hab’ ich nicht gesagt, ich würd’ euch erwischen? Der Teufel soll mich holen, wenn ich euch beide nicht bald am Hanfstrick baumeln sehe!“ „Ach du je, die meinen es ernst!“ brummte William. „Mach dich zur Flucht bereit.“ „Laßt die Armbrüste fallen!“ tönte Charles Stanwycks hohe Stimme. Williams Bogen war noch gespannt und geladen. Ohne nachzudenken riß der junge Mann die Waffe hoch und schoß auf Sir Roger. Er verfehlte sein Ziel, und das Sirren des Pfeils ging im Aufdröhnen der Muskete unter. Ich hörte, wie die Kugel Philip traf, der mit schrillem Schrei auf den Rücken fiel. William ließ seine Armbrust fallen und lief auf den Wald zu. Ein zweiter Blitz zuckte durch die abendliche Landschaft. Die Detonation erreichte Williams Ohren in dem gleichen Augen blick, als ihn ein fürchterlicher Schlag in den Rücken traf … Und schon war ich wieder in Madame Nosis Zimmer, stehend, doch von der Wand zurücktaumelnd. Auf dem Boden lagen die Splitter von Balsamos Spiegel. Links war mein Freund ausge streckt. Madame Nosi war nicht zu sehen, doch ich erinnerte mich vage an schrille Schreie und lautes Gepolter kurz vor mei nem „Erwachen“. 30
Ich eilte zur Treppe. Am Fußende lag Madame Nosi in unschöner Verrenkung. Nach kurzem Zögern kehrte ich in das Zimmer zurück. Mein Freund hatte sich aufgerichtet und sagte undeutlich: „Wa-was ist passiert? Ich dachte, man hätte auf mich geschossen …“ „Komm, hilf mir!“ befahl ich. Wir stiegen zu Madame Nosi hinab. „Richte sie auf“, sagte mein Freund. „Es gehört sich nicht, daß sie so kopfüber daliegt.“ „Nicht anfassen!“ ermahnte ich ihn. „Einen Verletzten darf man nicht bewegen, bis der Arzt da ist.“ Ich suchte ihren Puls, fand aber keinen. Gefolgt von etlichen Nachbarn, traf ein Polizist ein. „Was geht hier vor?“ fragte er. „Was ist das für ein Schreien und Poltern – oh.“ Er hatte Fatima Nosi entdeckt. Schließlich kam der Krankenwagen und brachte Madame Nosi fort. In den nächsten Tagen mußten mein Freund und ich viele Stunden lang die Fragen des Leichenbeschauers und anderer Amtspersonen über uns ergehen lassen. Soweit wir die Ereignisse rekonstruieren konnten, waren mein Freund und ich in dem Augenblick aus den Stühlen gesprungen, als wir in unserem Leben des achtzehnten Jahrhunderts von den Stanwycks erschossen wurden. Ich war gegen die Wand gerannt und hatte den Spiegel zerbrochen. Madame Nosi war aus dem Zimmer gelaufen – niemand wußte, ob in plötzlicher Panik vor dem Erfolg ihres Zaubers oder aus einem anderen Grund. Sie war im Gegensatz zu unserer ersten Annahme nicht an den Folgen des Sturzes gestorben, sondern an einem Herzschlag davor. Ihr Arzt sagte aus, daß sie an Herzschwäche gelitten habe. Die Beamten waren zwar ratlos und mißtrauisch, ließen uns aber gehen. Sie fegten die Scherben von Balsamos Spiegel als „Beweis stücke“ zusammen, doch ich bekam später nicht heraus, was aus 31
den Resten geworden war. Ich spielte vage mit dem Gedanken, die Splitter zusammenzusetzen, ließ von dem Vorhaben aber ab, da ich für meine Frühjahrsprüfungen noch viel zu büffeln hatte. Vermutlich sind die Scherben im Müll gelandet. Als alles vorbei war, seufzte mein Freund und sagte: „Ich fürchte, das achtzehnte Jahrhundert, das ich all die Jahre idealisiert habe, hat es in Wirklichkeit nie gegeben. Die Realität war weitaus schmutziger, engstirniger, brutaler, orthodoxer und abergläubischer, als ich es mir jemals hätte vorstellen können, ohne es selbst zu sehen. Himmel, im Körper eines langmähnigen Amateurtheologen festzusitzen und kein Wort sagen zu können, um ihn von seinen Irrtümern abzubringen! Welche Qual … Das achtzehnte Jahrhundert, das ich mir vorstellte, war nichts weiter als ein Artefakt – ein Produkt meiner Phantasie, zusammengesetzt aus Buchillustrationen, die ich als Kind sah, Dingen, die ich gelesen hatte, und vereinzelten Bauten aus der Kolonialzeit, die ich mir ansehen konnte.“ „Dann wirst du dich also beruhigen“, sagte ich, „und dich mit deinem zwanzigsten Jahrhundert versöhnen?“ „Grundgütiger Himmel, nein! Unser Erlebnis – einmal angenommen, es war echt und keine Halluzination – stärkt lediglich meine Überzeugung, daß die reale Welt, wo auch immer, in welchem Zeitalter auch immer, nicht der richtige Ort für einen empfindsamen Gentleman ist. Ich werde also künftig mehr Zeit in der Welt der Träume verbringen. Wenn du willst, können wir uns dort wiedersehen. Ich würde dir zu gern einen Palast aus Lapislazuli zeigen, auf einem Berg aus Glas …“
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Die Lampe Ich hielt vor Bill Bugbys Garage in Gahato und ließ mich von dem jungen Bugby zur Landzunge oberhalb des Damms fahren. Dort wartete Mike Devlin bereits in einem Ruderboot aus Aluminium mit Außenbordmotor. „Hallo, Mike!“ rief ich. „Ich bin Wilson Newbury. Erinnern Sie sich an mich?“ Ich ließ meine Sachen in das Boot fallen. Den Koffer setzte ich allerdings vorsichtig ab, um das Kistchen darin nicht zu beschädigen. „Hallo, Mr. Newbury!“ antwortete Mike. „Und ob ich mich an Sie erinnere!“ Er schien sich seit früher kaum verändert zu haben, bis auf die Falten in seinem braunen Gesicht, die ein wenig tiefer wirkten, und das lockige Haar, das grauer aussah. Im altmodi schen Holzfällerstil trug er ein dickes Flanellhemd, Pullover und eine alte Jacke mit Hut, obwohl der Tag warm war. „Haben Sie das Ding mit?“ Ich schickte den Wagen zu Bugby zurück, wo er untergestellt werden sollte, bis ich ihn wieder brauchte, und stieg in das Boot. „Das Ding, das ich für Mr. Ten Eyck mitbringen sollte?“ fragte ich. „Genau das meine ich, Sir.“ Mike ließ den Motor an, so daß wir laut brüllen mußten. „Es ist im großen Koffer“, sagte ich. „Fahren Sie uns lieber nicht gegen einen Baumstamm. Nachdem ich das gute Stück ganz aus Europa herübergeschleppt und deswegen Alpträume ausgestanden habe, soll es jetzt nicht auf dem Grund des Unteren Sees enden!“ 33
„Ich sehe mich vor, Mr. Newbury“, erwiderte Mike und steuerte das Boot den gewundenen Kanal hinauf. „Worum handelt es sich eigentlich?“ „Um eine antike Lampe. Mr. Ten Eyck bat mich, sie in Paris von einem Mann abzuholen, mit dem er korrespondiert hatte.“ „Ach ja, Mr. Ten Eyck kauft ständig ulkige Sachen. Nach all dem Ärger ist das so etwa das einzige, wofür er sich noch interes siert.“ „Was ist das für eine Geschichte, daß Al verheiratet sein soll?“ fragte ich. „Aber wußten Sie das denn nicht?“ Obwohl Mike in Kanada geboren und aufgewachsen war, klang sein Dialekt irischer als der der meisten irischen Einwanderer. Seine kleine Heimatstadt in Nova Scotia war vermutlich durch und durch irisch-kanadisch gewesen. „Er hat das Camaret-Mädchen geheiratet – die Tochter des klotzigen Holzfällers.“ Mike lachte leise vor sich hin, während seine blaßblauen Augen den vorausliegenden Kanal nach Hindernissen absuchten. „Sie wissen doch, als sie noch klein war, fragte der Lehrer in Gahato die Kinder, was sie einmal werden wollten, und sie sagte: ,Hure’. Das gab vielleicht ein Gelächter!“ „Nun ja, was ist passiert? Wie ist Al nur darauf gekommen …“ „Ich nehme an, er wollte eine kräftige, arbeitsame Köchin und Haushälterin ins Haus holen, und bildete sich ein, sie würde sich über die Heirat mit einem Gentleman dermaßen freuen, daß sie ihm aufs Wort gehorchte. Leider ist Melusine Camaret ziemlich heißblütig – das war sie schon immer. Als sie feststellte, daß Mr. Ten Eyck es ihr nicht morgens und abends besorgen konnte, ist sie mit dem jungen Larochelle durchgebrannt. Sie wissen schon, der Sohn von Pringles Vorarbeiter.“ 34
Ein großer blauer Fischreiher, vom Knattern des Außenbord motors aufgescheucht, flatterte vor uns durch den Kanal. „Wie war’s in der Armee, Mr. Newbury?“ fragte Mike. Ich zuckte die Achseln. „Hab’ ewig hinter dem Schreibtisch gesessen. Niemand hat sich die Mühe gemacht, auf mich zu schießen. Ich finde manchmal, ich hatte Glück, daß der Krieg so schnell zu Ende war, ehe man merkte, was für einen Nichtskön ner man in das Offiziersgewand gesteckt hatte.“ „Ah, Sie waren schon immer sehr bescheiden.“ Der Kanal erweiterte sich zum Unteren See. Rings um das Wasser zogen sich die Graniterhebungen der Adirondacks, bedeckt von Laub- und Nadelwald, vorwiegend Ahorn und Kiefer. Hier und dort zeigte sich ein kahler Hügelkamm oder eine graue Narbe im Wald. Das meiste verwertbare Holz war bereits zu Beginn des Jahrhunderts gefällt und durch Neuwuchs ersetzt worden. Die Nachkriegsknappheit hatte dann jedoch auch Waldgebiete interessant gemacht, die bisher für das Abholzen zu entlegen gewesen waren. Zwar waren große Flächen im Adirondack-Staatspark aufgegangen und durften nicht mehr geschlagen werden, doch blieb noch genügend in privater Hand, um die Holz-Lkws in Fahrt und Dan Pringles Sägemühle in Gahato in Betrieb zu halten. Wir fuhren über den Unteren See zur Ten-Eyck-Insel, die den Unteren vom Oberen See trennte. Auf der Landkarte stellten sich die beiden Seen in der Form eines Stundenglases dar, wobei die Insel sich an der engsten Stelle befand. Alfred Ten Eyck kam in Khaki-Hemd und Hosen zum Anleger. „Willy!“ Er gab mir hastig und nervös die Hand, wobei er kräftiger zugriff, als ich erwartet hatte. 35
Wir wechselten die üblichen Sprüche, daß der andere sich gar nicht verändert habe, obwohl das bei Alfred nicht mehr ganz stimmte. Er war zwar noch immer schlank und aufrecht, hatte sich aber große Tränensäcke zugelegt. Sein sandbraunes Haar wurde grau, obwohl er wie ich erst Anfang Dreißig war. „Hast du sie?“ fragte er. „Ja, ja. Dort im …“ Schon hatte er meinen großen Koffer ergriffen und eilte auf das alte Haus zu. Er nahm den Hang dermaßen schnell in Angriff, daß ich beinahe rennen mußte, um mit ihm Schritt zu halten. Als er mein Hinterherhinken bemerkte, blieb er stehen und wartete. Keuchend holte ich ihn ein; ich war nicht in Form. „Hier ist ja alles wie früher“, sagte ich. „Ein bißchen heruntergekommen“, antwortete er. „Nicht mehr wie damals, als meine Familie hier den Sommer über haufenweise Freunde und Verwandte zu Besuch hatte. Zu der Zeit bekam man noch genug Personal – nicht daß Mike nicht für zwei arbeitet.“ Der Pfad war ein wenig zugewachsen, und ich stolperte über verfilzte Ranken. Alfred lächelte mich schief an. „Ich habe mich mit der Natur arrangiert“, sagte er. „Ich lasse sie zufrieden, dafür läßt sie mich in Ruhe. Aber im Ernst, wenn du Lust hast, uns beim Säubern der Wege zu helfen, gebe ich dir gern eine Hacke und zeige dir, wie es geht. Man muß schon etwas tun, um den Naturkräften von Wachstum und Zerfall zu begegnen.“ Camp Ten Eyck war ein großes einstöckiges Haus aus riesigen handgeschlagenen Balken mit fünfzehn oder sechzehn Zimmern. Neben der Haustür stand ein Werkzeugkasten, und etliche Uten silien waren am Boden verstreut. Offenbar waren Mike und Alfred dabei gewesen, Verandabohlen auszutauschen, die zu faulen begonnen hatten. 36
Die meisten Häuser in den Adirondacks sind aus Holz, ein Material, das in dieser Gegend sehr billig zu haben ist. Das Adirondack-Klima sorgt allerdings dafür, daß ein Holzhaus auseinanderzufallen beginnt, kaum daß es vollendet ist. Einige mächtige Balken in den Außenwänden von Camp Ten Eyck sind stellenweise so weich, daß man den Daumen hineinstecken könnte. Während ich langsam wieder zu Atem kam, sagte Alfred: „Hör mal, ich führe dich auf dein Zimmer; aber bitte zeig sie mir zuerst. Ich möchte sie sehen.“ „Na schön“, erwiderte ich. Ich stellte den Koffer auf einen der altmodischen Wandbänke, die die Ecken des Wohnzimmers füllten, und schlug den Deckel auf. Dann reichte ich Alfred den Kasten. „Wie du siehst, ist sie gut verpackt“, sagte ich. „Meine Schwester hat uns einmal eine hübsche antike Lüstervase aus England geschickt – in einem zerbrechlichen Karton. Das Ding kam in Scherben an.“ Mit zitternden Händen durchschnitt Alfred die Schnüre. Er mußte nach draußen gehen und aus dem Werkzeugkasten einen Meißel holen, mit dem er den Holzdeckel öffnen konnte. Dann griff er in die Holzwolle. Während er damit beschäftigt war, blickte ich mich um. Auf den Sofas und den Wandbänken lagen die alten Tierfelle, an die ich mich erinnerte, die vertrauten Tierköpfe starrten glasigen Blickes von den Wänden, der ausgestopfte Fuchs und die Eule, die alten Geländer mit der Birkenrinde waren noch da und die Flechten, auf deren weißen Grund Amateurkünstler magische Szenen gekratzt hatten. Zu meiner Überraschung zeigte die Glastür des Waffen schranks gähnende Leere. Soweit ich mich aus den dreißiger Jahren erinnerte, hatte der Schrank eine eindrucksvolle Sammlung von Gewehren, Schrotflinten und Pistolen enthalten, 37
vorwiegend Erbstücke, die Alfred von seinem Vater und Großvater hatte. „Was ist aus deinen Waffen geworden?“ fragte ich. „Hast du sie verkauft?“ „Den Teufel habe ich getan!“ antwortete er, während er mit fliegenden Händen weiterarbeitete. „Kennst du meinen nichts nutzigen Cousin George Vreeland? Dem habe ich einmal dieses Haus vermietet und mußte bei meiner Rückkehr feststellen, daß er den größten Teil der Waffen schlankweg an die Hiesigen verkauft hatte.“ (Alfreds Ton verschärfte sich stets bei dem Wort „Hiesige“, mit denen er die ständigen Bewohner dieses Landes meinte.) „Was hast du dagegen unternommen?“ „Konnte nichts machen. George war verschwunden, als ich zurückkam, und soweit ich zuletzt gehört habe, ist er in Kalifornien. Als ich dann letzten Winter unterwegs war, hat sich einer unserer hiesigen Nachtarbeiter mit dem Rest davongemacht, einschließlich meiner Segeltrophäe. Ich weiß sogar, wer’s war.“ „Nun?“ „Nun was? So handfest meine Beweise auch waren, glaubst du etwa, ich könnte die gottverdammten Hiesigen dazu bringen, ihn vor Gericht zu stellen? Nach allem, was ich mit Camaret durch gemacht habe?“ „Was ist mit Camaret? Ich weiß nichts darüber.“ „Na, du weißt, daß ich verheiratet gewesen bin?“ „Ja. Mike hat davon gesprochen.“ Alfred Ten Eyck erzählte mir in knappen Worten von seiner kurzlebigen Verbindung zu Melusine Camaret. Von seinen sexuellen Mängeln sagte er nichts, was ich ihm aber nicht vorwerfen kann.
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„Am Tag nach ihrem Auf und Davon“, sagte er, „ging ich durch die Straße von Gahato und tat niemandem etwas zuleide, als plötzlich der Große Jean auf mich zumarschiert kommt und sagt: ,He! Was has’ du mit meinem klein’ Me’chn gemacht, nein?’ Und ehe ich Pieps machen kann, schlägt er mich k.o. – mitten auf der Straße.“ (Die Leute in Gahato sahen den Vorfall in der Erinnerung anders. Sie behaupten, Alfred habe geantwortet: „Nun hören Sie mal, Sie blöder Kanucke, ich weiß nicht, was Ihr Hurchen Ihnen aufgetischt hat, aber …“, und dann erst sei Camaret die Faust ausgerutscht.) „Nun ja“, fuhr Alfred fort, „als ich wieder zu mir kam, habe ich eine eidesstattliche Aussage gemacht und Jean von der Polizei festnehmen lassen. Die Geschworenen aber sprachen ihn frei, obwohl das halbe Dorf gesehen hat, wie er mich schlug. Wie man hört, hielten sie es für eine Familiensache, wenn der Große Jean seinen Schwiegersohn verprügeln wollte – es ginge sie nichts an.“ (Die Version der Leute aus dem Dorf lief darauf hinaus, daß Jean Camaret immerhin wie ein Kleiderschrank gebaut und no torisch jähzornig war und daß jeder, der so blöd war, sich mit ihm zu streiten, die wohlverdienten Folgen selbst zu tragen hatte.) Alfred machte eine Armbewegung, die die umliegenden Berge einschloß, und blickte mich düster an. „Die Leute können nicht vergessen, daß alles, was man von hier aus sehen kann, vor fünfzig Jahren den Ten Eycks gehört hat, daß sie die Ten Eycks um Erlaubnis fragen mußten, wenn sie nur ausspucken wollten. Jetzt ist das große Vermögen auf diese dämliche kleine Insel und einige Häuser in Gahato geschrumpft, aber sie hassen mich immer noch.“
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(Genau genommen besaßen Mitglieder der Ten-Eyck-Familie noch etliche Grundstücke im Herkimer County, aber das ist unerheblich. Mit den meisten Verwandten kam Alfred nicht gut aus.) „Ich finde, du übertreibst“, gab ich zurück. „Und warum bleibst du überhaupt hier, wenn du dich nicht wohlfühlst?“ „Wohin sollte ich wohl gehen und wie mein Brot verdienen? Himmel Herrgott! Hier habe ich wenigstens ein Dach über dem Kopf. Ich komme einigermaßen über die Runden mit den Mieten für meine restlichen Schuppen an der Hemlock Street in Gahato – wenn die Mieter mich mit ihrem Gejammer über die schweren Zeiten nicht weich kriegen – und verkaufe außerdem ab und zu ein Grundstück. Da ich damit trotzdem die Kosten nicht einholen und ein wenig Vermögen ansammeln kann, zehre ich vom Kapital, aber ich sehe keinen anderen Weg. Ah, da ist sie ja!“ Alfred hatte die Seite von „Le Figaro“ geglättet, in der die Lampe ruhte. Er hielt seinen Schatz in die Höhe. Es war eines jener hohlen, herzförmigen Gebilde, etwa handtellergroß, die in Griechenland und im alten Rom als Lampen dienten. Am runden Ende befand sich ein knopfförmiger Griff, oben in der Mitte war ein Loch zum Nachfüllen bestimmt, und am spitzen oder Schnabelende gab es eine kleine Öffnung für den Docht, in Europa und im Nahen Osten sind diese Dinge leicht zu haben, weil immer neue gefunden werden. Die meisten Lampen dieser Art bestehen aus billigem Ton. Auch dieses Exemplar schien zunächst keine Ausnahme zu sein. In Wahrheit bestand es aus einer Art Metall, war jedoch von einer Schicht getrockneten Lehms umgeben. Diese Schicht war an einigen Stellen abgeplatzt und ließ ein matt-metallisches Schimmern erkennen.
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„Woraus besteht die Lampe?“ fragte ich. „Ionides schien es nicht zu wissen, als er mir das Ding in Paris gab.“ „Keine Ahnung. Eine Art Silberbronze oder Gußmetall, würde ich sagen. Um das festzustellen, müssen wir die Lampe reinigen. Aber das muß vorsichtig geschehen. Man kann eine solche Anti quität nicht einfach mit Stahlwolle abkratzen.“ „Ich weiß. Wenn sich eine Oxydschicht gebildet hat, darf man sie nicht entfernen. Vielmehr steckt man das Ding in ein elektrolytisches Bad, woraufhin sich das Oxyd in das ursprüngliche Metall zurückverwandelt, soweit ich weiß.“ „Etwas in der Art“, sagte Alfred. „Aber was ist an diesem kleinen Ding so Besonderes? Du bist kein Archäologe …“ „Nein, nein, das ist es nicht. Ich habe mir die Lampe aus einem ganz bestimmten Grund besorgt. Hast du unterwegs vielleicht komische Träume gehabt?“ „Und ob! Aber woher weißt du das?“ „Ionides hat mir geschrieben, daß dies wohl geschehen würde.“ „Aber wo liegt der Gag? Was soll das alles?“ Wieder starrte mich Alfred aus hellblauen Augen düster an. „Sagen wir, ich habe die Nase voll, immer nur Verlierer zu sein, das ist alles.“ Ich wußte, was er meinte. Wenn sich das Wort „Verlierer“ überhaupt auf einen Menschen anwenden ließ, dann auf Alfred Ten Eyck. Sie kennen die Midas-Sage. Bei Alfred war es umgekehrt, er konnte Gold in Spreu verwandeln, wenn er es nur anfaßte. Alfreds Vater starb, während Alfred in Princeton studierte, und hinterließ ihm mehrere tausend Morgen Adirondack-Land, doch kaum verfügbares Geld, von dem er 41
leben konnte. Alfred hatte das College also verlassen und war ins Herkimer County zurückgekehrt, um den Landherrn zu spielen. Entweder fehlte ihm die rechte Einstellung dazu, oder er hatte das übelste Pech, das man sich nur vorstellen kann. Den größten Teil des Landes verkaufte er, doch in der Regel zu ungünstigen Bedingungen an schlauere Spekulanten, die sein Geld gleich darauf verdoppelten oder verdreifachten. Gleichzeitig ließ sich Alfred in Gahato auf verschiedene Geschäftsinteressen ein. Zum Beispiel gründete er eine Firma mit einem Burschen, der einen Stall Reitpferde für das Touristen geschäft einbrachte. Es stellte sich heraus, daß der Mann nur sehr wenig von Pferden verstand und eine Herde ungezähmter Mähren besaß. Eine der ersten Kundinnen wurde abgeworfen und brach sich das Bein. Als nächstes errichtete Alfred eine Bowlingbahn, mit teuren Maschinen, die nach jedem Wurf die Kegel wieder aufstellten. Das ließ sich ganz gut an, bis er zu gutem Gewinn das Geschäft an Morrie Kaplan verkaufte. Morrie aber sollte in Raten zahlen. Er hatte das Lokal noch keinen Monat, als es bis auf die Grundmauern abbrannte. Morrie, der als Geschäftsmann nicht talentierter war als Alfred, hatte die Versicherung auslaufen lassen. Folglich ging Morrie bankrott, und Alfred konnte seine Forderungen in den Schornstein schreiben. Dann kam der Krieg. In patriotischer Begeisterung meldete sich Alfred sofort als Freiwilliger. Im Ausbildungslager bekam er prompt Tuberkulose. Da man bereits Antibiotika hatte, konnte man ihn heilen, doch mit seiner militärischen Laufbahn war es vorbei. Vielleicht war das gut so, denn Alfred gehörte zu den Menschen, die imstande waren, sich beim Übungsschießen den Fuß abzuknallen.
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„Okay“, sagte Alfred. „Ich zeige dir jetzt dein Zimmer. Mike und ich sind in dem Riesenhaus ziemlich allein!“ Als ich versorgt war, fragte er: „Und was möchtest du jetzt am liebsten tun, Willy? Trinken? Schwimmen? Wandern? Fischen? Oder nur in der Sonne sitzen und reden?“ „Am liebsten würde ich eine Fahrt in einem der wunder schönen alten Kanuboote machen. Weißt du noch, wie wir damit in den Sümpfen herumgestakt sind und den Schlamm gegriffen haben, um uns die kleinen Krabbeltiere unter dem Mikroskop anzusehen?“ Alfred seufzte. „Die Boote habe ich nicht mehr.“ „Was ist denn daraus geworden? Hast du sie verkauft?“ „Nein. Weißt du noch, als ich in der Armee war? Damals vermietete ich die Insel an eine Familie namens Strong. Den Leuten ist es gelungen, alle Boote kaputtzumachen. Entweder sind die Frauen mit hohen Hacken hineingestiegen und haben Löcher in die Wandungen getreten oder die unmöglichen Kinder haben sie an Untiefen leckgefahren.“ „Und Boote dieser Art gibt es nicht mehr, oder?“ „Oh, ein oder zwei alte Knaben bauen so etwas noch, besonders im Winter. Aber ich kann es mir nicht mehr leisten. Außer dem Motorboot habe ich nur noch einen alten Nachen. Den können wir nehmen.“ An jenem Nachmittag verbrachten wir angenehme Stunden im Nachen. Es war ein Tag, wie es ihn selten gibt, der Himmel schimmerte bis auf einige wenige hingehauchte Kumuluswolken kristallklar. Das alte Ruderboot neigte dazu, im Kreis zu fahren, anstatt in die Richtung, in die man wollte. Ich hatte seit Jahren nicht mehr gerudert und holte mir schnell Blasen an den Händen, dann wechselte ich den Platz mit Alfred, dessen Hände von harter Arbeit schwielig waren. 43
Wir berichteten, was seit unserem letzten Zusammentreffen geschehen war. „Sag mal, weißt du noch, wie ich dich vom Bootssteg schubste?“, und er antwortete: „Was ist aus deinem Onkel geworden – dem, der die Hütte am Raquette-See hatte?“ Und ich fragte: „Wie kommt’s, daß du meine Kusine Agnes nicht geheiratet hast? Ihr beide wart doch ziemlich vertraulich miteinander …“ Ich erzählte Alfred von meiner wenig ruhmreichen Soldatenkarriere, von meiner französischen Verlobten und meinem neuen Posten bei der Trust-Bank. Er musterte mich mit scharfem Blick und forderte: „Willy, etwas mußt du mir erklären.“ „Was?“ „Als wir damals in der Schule die Prüfungen ablegten, war mein Intelligenzquotient so hoch wie deiner.“ „Ja, du hattest immer bessere Einfälle als ich. Worauf willst du hinaus?“ „Und doch landest du jetzt wieder auf allen vieren. Bei mir sieht es dagegen so aus, als könnte ich überhaupt nichts richtig machen. Ich finde einfach nicht den richtigen Dreh.“ „Dreh wozu?“ „Das Leben zu meistern.“ „Vielleicht hättest du einen Weg einschlagen sollen, der nicht so viel Sinn fürs Praktische voraussetzt – so viel Realismus und Anpassungsfähigkeit. Etwas Intellektuelleres wie Unterrichten oder Schreiben.“ Er schüttelte den grauwerdenden Kopf. „Dem Professoren stand kann ich mich nicht anschließen, da ich das College nicht zu Ende gebracht habe. Das Geschichtenschreiben habe ich versucht, aber niemand will etwas von mir kaufen. Ich habe sogar 44
Gedichte verfaßt, aber man redet mir ein, es wären billige Nachahmungen von Tennyson und Kipling, und danach steht heute niemandem der Sinn.“ „Hast du’s mal mit einem Seelendoktor versucht?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich bin in Utica zu einem gegangen, der mir aber nicht gefallen hat. Außerdem hätte das mehr Zeit und Aufwand gekostet, als ich mir leisten konnte.“ Eine schwache Brise machte sich bemerkbar und kräuselte die spiegelglatte Fläche des Sees. „Ach ja“, sagte er. „Zeit, daß wir zurückfahren.“ Auf der Insel war es ruhig bis auf das Wummern des kleinen Dieselmotors im Bootshaus, der uns das Wasser pumpte und die Batterien auflud, die Licht und Energie spendeten. Vor dem Essen genehmigten wir uns einen Drink. „Hör mal, Al“, sagte ich, „du hast mich wegen der verdammten Lampe lange genug auf die Folter gespannt. Worum handelt es sich? Warum hast du erwartet, daß ich während der Reise von Europa Alpträume damit erlebe?“ Alfred starrte in seinen Scotch. Ich erfuhr später, daß er meistens billigen Rye-Whisky trank, für seinen alten Freund aber guten Scotch besorgt hatte. Schließlich fragte er: „Kannst du dich an die Alpträume erinnern?“ „Und ob! Immerhin haben sie mir einen gehörigen Schrecken eingejagt. Jedesmal stand ich vor einer Art Stuhl, vielleicht war’s auch ein Thron. Irgend etwas saß auf dem Thron, allerdings konnte ich keine Einzelheiten erkennen. Aber als das Geschöpf nach mir griff, waren die Arme – nun ja, irgendwie knochenlos, wie Tentakel. Und ich konnte nicht schreien oder fliehen. Jedesmal wachte ich auf, sobald das Ding mich mit seinen Schlangenfingern berührte. Immer wieder.“ 45
„Ja, ja, das paßt dazu“, sagte er. „Das muß der alte Yuskejek sein.“ „Was muß das sein?“ „Yuskejek. Willy, kennst du dich mit der Mythologie des untergegangenen Kontinents Atlantis aus?“ „Himmel, nein! Dazu habe ich zuviel zu tun gehabt. Soweit ich weiß, behaupten die Okkultisten, es gebe draußen im Atlantik wirklich einen versunkenen Kontinent, während die Wissen schaftler das für Unsinn halten; ihrer Meinung nach gehen Platos Ideen auf Kreta oder Ägypten oder einen anderen solchen Ort zurück.“ „Einige sind für Tartessos nahe dem heutigen Cadiz“, sagte Alfred. (Es war vor der Zeit, da die griechischen Professoren ihre Theorie über den Ausbruch der Vulkaninsel Thera nördlich von Kreta aufbrachten.) „Ich nehme nicht an, daß ein nüchterner Bursche wie du an übernatürliche Erscheinungen glaubt, oder irre ich mich?“ „Ich? Nun, es kommt darauf an. Ich glaube, was ich sehe – jedenfalls in den meisten Fällen, soweit ich nicht Grund zu der Annahme habe, daß man mich mit Taschenspielertricks täuschen will. Gerade wenn man sich einbildet, man wüßte alles und könnte jeden Trick durchschauen, gerade dann wird man erst richtig irregeführt. Schließlich war ich in Gahato dabei, als das Amateur-Medium – wie hieß sie doch gleich? Miss Scott, Barbara Scott – ihre Probleme mit einer Bande bösartiger kleiner Indianergeister hatte, die die Leute mit Steinen bewarfen.“ Alfred lachte: „Du meine Güte, das hatte ich glatt vergessen! Dafür haben wir nie eine Erklärung bekommen.“ „Und was ist nun mit deiner unheimlichen Lampe?“ „Also, Ionides hat gute Verbindungen zu esoterischen Kreisen, und er versichert mir, die Lampe sei ein echtes Atlantis-Relikt.“ 46
„Du verzeihst, wenn ich mir mein Urteil erst später bilde. Was ist dieser Yuskejek aber? Der Dämonengott von Atlantis?“ „So etwa.“ „Was für ein Name ist das überhaupt – ,Yuskejek’? Aus der Eskimo-Sprache?“ „Aus dem Baskischen, nehme ich an.“ „Ach ja, ich habe mal irgendwo gelesen, der Teufel habe sieben Jahre lang das Baskische studiert und dabei nur zwei Worte gelernt. Ich sehe es förmlich vor mir – der finstere atlantische Hohepriester macht Anstalten, die wunderschöne jungfräuliche Prinzessin von Ongabongazu opfern, damit der Teufelsgott sich an ihrem Seelenstoff berauschen kann …“ „Vielleicht war es so, vielleicht auch nicht. Du hast zu viele Groschenhefte gelesen. Jedenfalls sollten wir jetzt essen, ehe ich zu betrunken bin, um mich an den Herd zu stellen.“ „Kocht Mike nicht für dich?“ „Gern sogar, wenn ich ihn darum bitte, aber dann muß ich auch die Resultate essen. Fazit: meistens koche ich lieber selbst. Komm rüber, Mike!“ brüllte er. „Abendessen in zwanzig Minu ten!“ In stillschweigender Übereinkunft ließen wir das Thema Atlantis und Lampe während des Abendessens ruhen. Statt dessen brachten wir Mike dazu, von der alten Holzfällerzeit zu erzählen und von einigen Käuzen, die ihm über den Weg gelaufen waren. Da gab es einen, der Stein und Bein schwor, er werde Tag. und Nacht von einem gespenstischen Puma verfolgt, obgleich es in den Adirondacks seit dem letzten Jahrhundert diese Tiere nicht mehr gegeben hatte …
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Mike wusch ab, während Alfred und ich uns mit der Lampe ins Wohnzimmer setzten. „Ich glaube, als erstes müssen wir den Dreck entfernen“, sagte Alfred. „Wie wär’s, wenn wir es mit einem einfachen Wasch lappen und Wasser versuchten?“ „Das Ding gehört dir“, antwortete ich, „aber dein Vorschlag klingt ganz vernünftig.“ „Wir müssen uns sehr vorsehen“, fuhr er fort, feuchtete das Tuch an und begann sanft zu reiben. „Ich wünschte, wir hätten einen richtigen Archäologen hier.“ „Der würde dich vermutlich anzeigen, weil du gestohlene Antiquitäten gekauft hast. Es geht das Gerücht, daß sich die Regierungen solcher Dinge annehmen wollen.“ „Mag sein, aber soweit ist es noch nicht. Wie man hört, haben unsere mutigen Kämpfer während der Besetzung die Hälfte der deutschen Museen leergeräumt. Ah, schau mal!“ Ein Großteil des Lehms hatte sich gelöst und gab den Blick frei auf einen zahnförmigen weißen Vorsprung. Alfred reichte mir die Lampe. „Was hältst du davon?“ „Ich brauche mehr Licht. Vielen Dank. Weißt du, wie das aussieht, Al? Wie eine Entenmuschel!“ „Laß mal sehen! Meine Güte, du hast recht! Das heißt, die Lampe muß unter Wasser gelegen haben …“ „Das beweist noch gar nichts über ihre – ihren Ursprung. Es kann genausogut eine Lampe aus griechischer oder römischer Zeit sein, die irgendwo im Mittelmeer über Bord geworfen wur de.“ „Oh“, sagte Alfred niedergeschlagen. „Nun ja, heute abend möchte ich nicht weiter daran herumputzen. Dazu braucht man volles Tageslicht.“ Er stellte das Ding fort. 48
In dieser Nacht kehrte der Alptraum zurück. Da war der Thron, und auf ihm saß der vage erkennbare Bursche – Yuskejek, oder wie er heißen mochte. Und dann streckte er die gummiweichen Arme aus … Ein Klopfen weckte mich. Es war Alfred: „Sag mal, Willy, hast du nichts gehört?“ „Nein“, antwortete ich. „Ich habe geschlafen. Was ist?“ „Keine Ahnung. Hört sich so an, als stapft da jemand – oder etwas – auf der Veranda herum.“ „Mike?“ „Der hat auch geschlafen. Zieh lieber deinen Morgenmantel an; es ist kalt draußen.“ Ich wußte, wie kalt Adirondack-Nächte selbst im Juli werden konnten. Warm eingekleidet folgte ich Alfred nach unten. Dort stießen wir auf Mike, der ein langes viktorianisches Nachthemd trug, bewaffnet mit einer Laterne, einer Taschenlampe von der Größe eines kleinen Baseballschlägers und einer Axt. Alfred verschwand, wühlte in einer der Truhen unter den Wandbänken und kehrte mit einem 22er-Gewehr zurück. „Einzige Waffe im Haus“, sagte er. „Ich verstecke sie, damit die verdammten Hiesigen mich nicht wieder beklauen.“ Wir warteten leise atmend und lauschten. Dann ertönte das Geräusch: Klopf – Klopf – Klopf. Pause, dann wieder Klopf – Klopf – Klopf – Klopf. Es hörte sich an, als schritte jemand in alten Stiefeln auf der Veranda herum, Schuhwerk, wie es im Wald von allen getragen wurde, ehe die Sommertouristen mit ihren Shorts und Turnschuhen kamen. (Solche Stiefel gefallen mir auch heute noch; wenigstens kommen Blindbremsen nicht dagegen an.) 49
Das Geräusch hätte auch von einem Pferd oder Elch stammen können, obwohl wir seit fast einem Jahrhundert keinen Elch mehr in der Gegend gehabt haben. Jedenfalls konnte ich mir nicht vorstellen, wie so ein Tier zur Ten-Eyck-Insel hätte schwimmen sollen. Das Geräusch klang eigentlich nicht gerade bedrohlich; doch in jener schwarzen Nacht und an jenem einsamen Ort sträubten sich mir doch die Nackenhaare. Im Lampenschein schienen Alfreds und Mikes Augen die doppelte Größe zu haben. Alfred reichte mir die Taschenlampe. „Du stößt mit der freien Hand die Tür auf, Willy“, sagte er, „und versuchst das unbekannte Ding mit dem Lichtstrahl zu erfassen. Dann stürzen sich Mike und ich darauf.“ Wir warteten endlos, doch das Geräusch wiederholte sich nicht. Zuletzt verließen wir das Haus und suchten die Insel mit der Lampe ab. Der Mond schien nicht, doch die Sterne hatten jenen hellen Glanz, wie man ihn nur bei klarem Wetter in großer Höhe erlebt. Wir fanden nichts außer einem Waschbären, der einen Baum hinaufhastete und uns dann durch seine schwarze Räuber maske mit funkelnden Augen anstarrte. „Das ist Robin Hood“, sagte Alfred, „unser persönlicher Müllverwerter hier. Der hat den Lärm bestimmt nicht gemacht. Nun ja, wir haben jetzt jeden Quadratmeter der Insel abgesucht, ohne etwas zu finden, also dürfte …“ In dieser Nacht traten keine weiteren Phänomene auf. Am nächsten Tag reinigten wir die geheimnisvolle Lampe noch etwas mehr. Sie erwies sich als ein hübsches kleines Ding, von der Kor rosion kaum mitgenommen. Das Metall war hell, mit einem leicht rötlichen und gelblichen Schimmer, wie man ihn bei manchen Arten Weißgold findet.
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Ich ging außerdem schwimmen, weniger zum Vergnügen, als um zu zeigen, daß ich noch nicht zu sehr dem mittleren Alter verfallen war. In Eiswasser zu schwimmen hat mir noch nie Spaß gemacht. Aber so ist es nun mal in den Adirondack-Seen, sogar beim heißesten Wetter, wenn man tiefer kommt als dreißig Zentimeter oder so. In dieser Nacht erlebte ich einen neuen Traum. Das Ding auf dem Thron spielte mit. Diesmal befand ich mich nicht davor, sondern offenbar seitlich, während Alfred davor stand. Die beiden unter hielten sich miteinander, aber so gedämpft, daß ich die Worte nicht verstehen konnte. Beim Frühstück machte ich mich über einen riesigen Stapel Pfannkuchen her, die Mike mir servierte, und fragte Alfred da nach. „Du hast recht“, antwortete er. „Ich habe wirklich geträumt, vor Seiner Tentakularen Majestät zu stehen.“ „Und was ist geschehen?“ „Oh, wir hatten recht, es handelt sich wirklich um Yuskejek – es sei denn, wir haben beide den Verstand verloren. Vielleicht stimmt das auch, aber ich nehme eher das Gegenteil an. Yuskejek sagt, er würde mich von meiner Verliererrolle erlösen und zum Sieger machen, nur müßte ich ihm ein Opfer darbringen.“ „Schau mich nicht so komisch an!“ sagte ich. „Ich muß Montag wieder in der Bank sein …“ „Red keinen Unsinn, Willy! Ich will dir nicht die Kehle durchschneiden – und Mike auch nicht. Ich habe ohnehin nur wenige Freunde. Ich habe dem Gespenst erklärt, daß in diesem Land Menschenopfer streng verboten sind.“ „Wie hat er darauf reagiert?“ 51
„Er grollte ein wenig, gestand uns aber zu, daß wir das Recht auf eigene Gesetze und Bräuche hätten. Er wird sich mit einem Tier zufriedengeben. Allerdings muß es sich um ein ziemlich großes Tier handeln – nicht etwa um eine Maus oder ein Eichhörnchen.“ „Was hast du auf der Insel? Gestreifte Eichhörnchen waren so etwa das größte, was ich gesehen habe – abgesehen von dem Waschbären.“ „Meine Güte, ich würde doch Robin Hood nicht umbringen! Der zählt zu meinen Freunden! Nein, ich fahre mit dem Motorboot nach Gahato und kaufe ein Schwein oder so. Du solltest lieber mitkommen und mir mit dem Tier helfen.“ „Jetzt weiß ich, daß wir verrückt sind“, sagte ich. „Hast du her ausgefunden, wo das echte Atlantis wirklich gelegen hat?“ „Nein; hab’ vergessen zu fragen. Vielleicht können wir uns später noch erkundigen. Wir wollen gleich nach dem Mittagessen losfahren.“ „Warum nicht jetzt?“ „Ich habe Mike versprochen, ihm heute früh zu helfen.“ Die Arbeit bestand im Zerschneiden eines abgestorbenen Pappel stamms in Feuerholzlänge. Mit einer Motorsäge wäre die Sache in wenigen Minuten erledigt gewesen; Mike aber begegnete modernen Maschinen mit Mißtrauen. So schoben die beiden ächzend eine alte Zwei-Mann-Säge hin und her, einer an jedem Ende. Ich löste Alfred ab, bis die Blasen, die ich mir beim Rudern geholt hatte, zu schmerzen begannen. Das Wetter entwickelte eigene Vorstellungen über unsere Nachmittagsfahrt nach Gahato. Es ist eine Faustregel, daß es auf jeden Fall auch in den Adirondacks regnet, wenn irgendwo im Staate New York Niederschlag fällt. Ich habe schon einmal erlebt, daß es acht Wochen hintereinander regnete. Wir hatten zwei 52
schöne Tage hinter uns, und auch der heutige Vormittag hatte klar und warm begonnen. Gegen zehn jedoch ballten sich die Wolken zusammen. Um elf Uhr grollte Donner. Zur Mittags stunde regnete es Schusterjungen, so daß wir unsere Arbeit an der Pappel unterbrechen mußten. Aus den Fenstern schauend, vermochten wir kaum bis zum Wasser zu blicken, außer wenn ein besonders greller Blitz die Landschaft erhellte. Der Wind brauste durch die alten Kiefern und drückte sie nieder, bis man das Gefühl hatte, sie müßten jeden Augenblick weggerissen werden. Der Donner übertönte die Hälfte aller Worte. Der Regen prasselte beinahe waagerecht gegen die Fenster, wie der Strahl aus einem Feuerwehrschlauch. „Ich schätze, Yuskejek muß warten“, sagte ich schließlich. Alfred blickte mich beunruhigt an. „Er hat mich ziemlich bedrängt. Er sagte mir, es könne Probleme geben, und murmelte dazu: ,Denk dran, was beim letztenmal passiert ist!’ oder etwas Ähnliches.“ Es regnete den ganzen Nachmittag. Gewitter und Sturm beruhigten sich mit der Zeit, so daß schließlich noch ein rauschender Adirondack-Regen übrigblieb. „Weißt du was, Willy“, sagte Alfred. „Ich glaube, wir sollten doch noch mit dem Boot nach Gahato fahren …“ „Du bist wirklich verrückt“, erwiderte ich. „Der Sturm würde dir das Boot vollschlagen, ehe du ans Ziel kämst.“ „Nein; es ist unsinkbar und hat Sicherheitstanks. Außerdem kannst du schöpfen, während ich lenke.“ „Um Himmels willen! Wenn dir diese blöde Sache so am Herzen liegt, warum nimmst du dann nicht Mike mit?“ „Der kann nicht schwimmen. Nicht daß wir darauf angewiesen sein werden, aber das Risiko ist mir zu groß.“ Wir stritten uns noch eine Weile herum, aber zunehmend ohne Engagement. Ich brauche nicht erst zu betonen, daß eigentlich 53
keiner von uns in die Nässe hinauswollte. Alfred jedoch stand im Bann seiner atlantischen Lampe und des darin wohnenden Gei stes. Vielleicht war das Gespenst durch das Reiben der Lampe heraufbeschworen worden, wie der Dschinn aus Tausendund einer Nacht. Schließlich packte mich Alfred am Arm und deutete hinaus. „Schau dir das an!“ Ich fuhr zusammen wie von einem Blitz getroffen; die unheimliche Atmosphäre dieses Ortes ging mir allmählich an die Nieren. Erleichtert stellte ich fest, daß Alfred nicht auf die materialisierte Gestalt Yuskejeks deutete, sondern auf eine riesige Schildkröte, die über die Lichtung vor dem Haus marschierte. „Da haben wir unser Opfertier!“ rief Alfred. „Auf sie! Mike!“ Wir stürmten aus der Vordertür und nahmen die Verfolgung der Schildkröte auf, wobei wir auf der Uferschräge zum Unteren See mehr rutschten als liefen, so feucht-weich war der Boden. Wir umringten das Tier, ehe es das Wasser erreichte. Es sah beinahe aus wie ein kleiner Dinosaurier und wandte sich hierhin und dorthin und bewies dabei eine erstaunliche Wendigkeit. Wenn wir in seine Nähe kamen, ließ es den Kopf vorzucken und klackte mit den Kiefern. Das matte Geräusch erhob sich über das Lärmen des Regens. Die Schildkröte schnappte gerade nach Mike, als Alfred den Schwanz zu packen bekam und in die Höhe zerrte. Das erforderte einen großen Kraftaufwand, da das Tier mindestens zwanzig Pfund wog. Alfred mußte die Schildkröte beinahe auf Armes länge von sich abhalten, um nicht gebissen zu werden. Das Tier ließ den gekrümmten Schnabel in alle Richtungen zucken, schnapp, schnapp! und strampelte mit den Beinen in der Luft.
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„Paß auf!“ brüllte ich. „Wenn du dich nicht in acht nimmst, kann dich das Ding kastrieren!“ „Mike!“ rief Alfred. „Hol Axt und Harpune!“ Wir waren bis auf die Haut durchnäßt. „Beeil dich!“ brüllte Alfred. Ich kann das Biest nicht länger halten!“ Als die Hilfsmittel zur Stelle waren, sagte Alfred: „Mike, sorg dafür, daß der Bursche das Ende der Harpune greift und sich in den Widerhaken verfängt. Willy, du hältst dich mit der Axt bereit. Wenn Mike den Kopf möglichst weit aus dem Panzer zieht, schlägst du ihn ab.“ Ich verspürte nicht den Wunsch, die Schildkröte zu köpfen, die mir nichts getan hatte. Aber ich war Gast in diesem Haus, und es war durchaus möglich, daß die Lampe und ihre Alpträume koscher waren. „Mußt du dich nicht an ein Ritual halten?“ fragte ich. „Nein; das kommt später. Yuskejek hat mir alles erklärt. Ah, da hätten wir sie!“ Die Schildkröte hatte nach der Harpune geschnappt. Den Dreizack drehend, zog Mike den Kopf aus dem Panzer. Dann … „Heilige Mutter Gottes!“ rief Mike. „Sie beißt den Speer durch!“ Er hatte recht. Die Schildkröte hatte einen der Zacken, der womöglich durch Rost geschwächt war, abgezwackt und sich befreit. Im nächsten Augenblick stieß Alfred einen schrillen Schrei aus. Die Schildkröte hatte ihren Schnabel dicht über dem Knie in sein Bein gekrallt. In der Aufregung hatte er es versäumt, die Schild kröte auf Abstand zu halten. Als die Schildkröte sich durch die Hose biß, begann Alfred herumzuhüpfen und zerrte dabei am knöchrigen Schwanz des 55
Wesens. Dann ließen er und die Schildkröte gleichzeitig los. Alfred klappte zusammen, sein verwundetes Bein umklammernd, während die Schildkröte den Hang hinabhastete und im regengepeitschten Wasser des Unteren Sees verschwand. Mike und ich brachten Alfred ins Camp Ten Eyck. Ein großer roter Fleck breitete sich vorn auf seinem feuchten Hosenbein aus. Als wir die Hose jedoch herunter hatten, sah es nicht so aus, als müßten wir ihn zum Arzt nach Gahato bringen. Die Kiefer der Schildkröte hatten an vier Stellen die Haut geritzt, doch die Schnitte waren dermaßen geringfügig, daß wir sie mit Desinfektionsmittel und Pflastern ohne Hilfe versorgen konnten. In der Aufregung waren Yuskejek und sein Opfer so gut wie vergessen. Da Alfred humpelte, ließ er Mike das Abendessen machen. Hinterher hörten wir Radio, lasen ein wenig, redeten noch ein Weilchen und gingen zu Bett. Der Regen trommelte noch auf das Dach, als ich einige Stunden später von Alfred geweckt wurde. „Das Stampfen hat wieder angefangen!“ sagte er. Wir lauschten angespannt, und prompt war das Klopf – Klopf – Klopf zu hören, aber lauter als vorher. Wieder rissen wir die Tür auf und ließen die Lichtkegel der Taschenlampe und der La terne herumwandern. Doch außer dem Regenvorhang war nichts zu sehen. Als wir die Tür schlössen, wiederholte sich das Geräusch, diesmal noch lauter. Noch einmal sahen wir uns vergeblich um. Als wir die Tür zumachten, verstärkte sich das Dröhnen weiter: Rumms – Rumms – Rumms! Die ganze Insel schien zu beben. „He!“ rief Alfred. „Was geht da vor? Fühlt sich an wie ein Erdbe ben!“
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„Habe noch nie gehört, daß es in dieser Gegend ein Erdbeben gegeben hätte“, sagte ich. „Aber …“ Ein allesdurchdringendes Dröhnen hallte auf, wie ein Blitzstrahl, der ganz in der Nähe eingeschlagen war, uns nur knapp verfehlend. Das Haus zitterte, und ich hörte Gegenstände von den Regalen rutschen. Mike riskierte einen kurzen Blick und brüllte: „Mr. Ten Eyck! Der See steigt!“ Das Beben war so heftig geworden, daß wir uns kaum noch auf den Beinen halten konnten. Wir klammerten uns an den Wänden und an den anderen fest, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Es war, als stünden wir in einem Zug, der sich mit großer Geschwindigkeit über unebene Schienen bewegte. Alfred starrte hinaus. „Ja, das Wasser kommt!“ schrie er. „Raus hier, zum Teufel!“ Wir stürmten in den gnadenlosen Regen hinaus; im gleichen Augenblick schäumte das Wasser des Unteren Sees über die Veranda von Camp Ten Eyck. Aber es war nicht der See, der hier anstieg, vielmehr war die Insel im Begriff zu sinken. Ich torkelte über die Verandatreppe und stand knietief im Wasser. Eine Welle riß mich von den Füßen, doch ich schaffte es, meinen Bademantel abzuwerfen. Zum Glück bin ich ein ziemlich guter Schwimmer. Als ich erst einmal den Boden unter den Füßen verloren hatte, machte es mir keine Mühe, an der Oberfläche zu bleiben. Es gab keine kurzen, kleinen Wellen, die mir ins Gesicht klatschten, sondern große, weite, langsame Dünungswogen, die mich auf und nieder bewegten. Allerdings gab es ziemlich viel Treibgut, das sich beim Untergang der Insel selbständig gemacht hatte. Immer wieder stieß ich gegen Kisten, Dachziegel, Kaminholzbrocken, Äste und 57
andere Gegenstände. Ich hörte Mike Devlin rufen. „Wo sind Sie, Mike?“ rief ich. Indem wir immer wieder riefen, fanden wir uns, und ich schwamm zu ihm. Ich dachte daran, daß Mike nicht schwimmen konnte, und wünschte mir, ich hätte mehr Erfahrung als Lebensretter. Zum Glück klammerte sich Mike an einen Baumstamm – einen Teil der Pappel, die er mit Alfred zersägt hatte. Ich leistete ein wenig Schubarbeit, und so erreichten wir eine halbe Stunde später das Ufer. Mike schluchzte. „Armer Mr. Ten Eyck!“ sagte er. „Ein netter, freundlicher Gentleman! Er muß unter einem Fluch gelebt haben.“ Ob Alfred Ten Eyck mit einem Fluch leben mußte oder nicht – jedenfalls wurde am nächsten Tag seine Leiche gefunden. Wie er selbst gesagt hatte, war er ein Verlierer. Die Wogen hatten im Kanal wie an den Anlegern, Booten und Bootshäusern am Oberen und Unteren See Schäden von vielen tausend Dollar angerichtet. Wegen des starken Regens waren die anderen Anlieger jedoch in den Häusern geblieben und ohne Verletzung davongekommen. Der zuständige Amtsgeologe meinte, das Erdbeben sei eine geologische Unmöglichkeit. „Eher wohl ,Anomalie’“, berichtigte er sich. „Möglich war es offenbar, weil es ja eingetreten ist. Wir werden unsere Theorien abändern müssen, um dafür Raum zu schaffen.“ Ich hielt es nicht für opportun, ihm von Yuskejek zu erzählen. Außerdem mochten Anlieger auf den Gedanken kommen, mich auf Schadenersatz zu verklagen, sobald sich die Geschichte herumsprach. Es würde ihnen zwar schwerfallen, mir etwas nachzuweisen, aber wer will sich schon mit Prozessen belasten, so sinnlos sie auch sein mögen? Die Lampe aus Atlantis liegt wohl auf dem Grunde des Sees, und ich kann nur hoffen, daß niemand sie herausfischt. Wenn 58
Yuskejek eine Insel zu versenken droht, falls seine Opfer erwartungen nicht erfüllt werden, so drischt er kein leeres Stroh. Vielleicht kann er keinen so großen Brocken mehr versenken wie Atlantis. Ein kleines Eiland wie das von Ten Eyck entspricht aber auf jeden Fall seinen heutigen Möglichkeiten. Mir liegt allerdings nicht daran, die übellaunige alte Gottheit zu ärgern, um herauszufinden, wozu sie in der Lage ist. Eine Demonstration reicht mir völlig. Immerhin soll Atlantis ein Kontinent gewesen sein. Wenn der Bursche sich genügend aufregte …
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Algy Als ich hinter dem Haus meiner Tante am Algonquin-See parkte, erblickte ich als erstes Mike Devlins runzliges braunes Gesicht. „Hallo, Mr. Newbury!“ rief er. „Freut mich, Sie mal wieder zu sehen. Hab’n Sie schon davon gehört?“ „Wovon?“ „Von dem Monster – dem Monster des Algonquin-Sees!“ „Grundgütiger Himmel, nein! Ich bin in Frankreich gewesen und habe geheiratet. Liebling, dies ist mein alter Freund Mike Devlin. Mike, meine Frau Denise.“ „Entzückt bin ich, Monsieur“, erwiderte Denise, deren Englisch noch ein wenig ungeübt war. „Sie haben sich da einen guten Mann geangelt, Mrs. Newbury“, sagte Mike. „Ich kenne ihn, seit er kaum größer war als ein Äffchen. Geben Sie mir die Koffer.“ „Den hier nehme ich“, antwortete ich. „Und was ist das für eine Monstergeschichte?“ Mike kratzte sich die stoppeligen grauen Locken. „Es heißt, in dunklen Nächten steigt etwas aus dem See, steckt den Kopf in die Höhe und sieht sich um. Bis jetzt hat’s noch niemand richtig gesehen. Wir haben Zeitungsleute im Ort, und eine ganze Horde Schotten lauert darauf – draußen auf dem Indian Point.“ „Soll das heißen, wir haben hier eine eigene Version des Loch-Ness-Ungeheuers?“ „Ja.“ „Wie kommt’s, daß die Schotten hier sind? Ich dachte, die hätten ihr eigenes See-Monster! Ein bißchen Spionage bei der Konkurrenz, wie?“ 60
„Durchaus möglich, Mr. Newbury. Sie gehören zu einem Klub, der Berichten über Seeschlangen und solchen Sachen nachgeht.“ „Wo ist meine Tante?“ „Mrs. Colton und Miss Colton sind mit dem Ruderboot unter wegs und halten nach dem Ungeheuer Ausschau. Wenn sie es finden, werden sie wohl meinen, sie hätten sich lieber nicht auf die Suche gemacht.“ Mike brachte uns in das Haus – ein gemütliches, zweistöckiges Gebäude aus Fichtenbalken, im Schatten riesiger alter Kiefern stehend – und zeigte uns das Zimmer. Er deutete auf das Nord fenster: „Wenn Sie genau hinschauen, sehen Sie die Schotten draußen auf der Landspitze.“ Ich nahm das Fernglas zur Hand, das ich zum Beobachten von Wild mitgebracht hatte. An der Spitze des Indian Point waren etliche Gestalten um Instrumente versammelt. Ich reichte Denise das Fernglas. Im letzten Jahr war Mike arbeitslos geworden, als mein alter Schulfreund Alfred Ten Eyck bei einem Erdbeben umkam, das die Ten-Eyck-Insel untergehen ließ. Ich empfahl Mike an meine Tante weiter, deren Anwesen am Algonquin-See zwanzig Meilen von Gahato entfernt war. Als Witwe, deren Kinder erwachsen und in alle Welt verstreut waren, konnte meine Tante das Grundstück nicht ohne Hilfe in Ordnung halten. Mike, ein ehemaliger Holzfäller, der trotz seines irischen Dialekts in Kanada geboren war, war wie geschaffen für die Aufgabe. Meine Tante hatte Denise und mich eingeladen, unsere Flitterwochen in ihrem Haus am See zu verbringen. Ihre Tochter Linda war gleichzeitig auf Urlaub hier. Nachdem wir ausgepackt hatten, gingen wir zum Anleger hinab, um nach meiner Tante und Kusine Ausschau zu halten. Etliche Boote waren auf dem See unterwegs, aber zu weit 61
entfernt, als daß wir Einzelheiten ausmachen konnten. Wir winkten, doch nichts tat sich. „Komm, wir besuchen die Schotten“, schlug ich vor. „Fühlst du dich einem Spaziergang von einer Dreiviertelmeile gewachsen?“ „Das ist etwa ein Kilometer, ja? Allons!“ Vom Grundstück meiner Tante windet sich der Weg am Ufer entlang zum Indian Point. In der Zeit, da ich als Junge meine Sommerferien hier verbrachte, hackte ich den Weg öfter von Bewuchs frei. Man hatte sich in letzter Zeit nicht mehr darum gekümmert, und so mußten wir uns stellenweise unseren Weg bahnen oder über umgestürzte Stämme steigen. Dabei kamen wir an einem kleinen Schuppen vorbei, der sich, von Fichten halb verdeckt, zwischen uns und dem Wasser erhob. „Was ist denn das, Willy?“ fragte Denise. „Dort stand früher ein kleiner Heißluftmotor, der im Haus das Wasser in den Dachtank pumpte. Als Kind sammelte ich oft Holz und zündete die Maschine an. Ein wunderbarer kleiner Apparat – nicht sonderlich tüchtig, aber einfach, er funktionierte immer. Jetzt gibt’s am Haus eine elektrische Pumpe.“ Zur Spitze der Landzunge Indian Point hin wird der Wald dünner. Vor uns erblickten wir die Schotten, die sich um ihre Instrumente scharten. Im Näherkommen zählte ich vier Männer in Tweedanzügen und eine Batterie von Kameras und Teleskopen. Als sie uns hörten, blickten sie sich um. „Hallo!“ rief ich. Im ersten Moment reagierten sie zurückhaltend. Als ich mich jedoch als Mrs. Coltons Neffe und Hausgast vorstellte, tauten sie schnell auf. „Kintyre heiße ich“, sagte einer der Männer und streckte mir die Hand entgegen – ein großer, kräftig aussehender, vom Wetter gegerbter Mann mit grauem Haar, buschigem Schnurrbart, einem 62
ins Auge gedrehten Monokel und dem ausgetragensten Tweed anzug von allen. Der einzige andere echte Monokelträger, den ich bisher kennengelernt hatte, war ein deutscher Oberst, den wir im letzten Monat des Krieges gefangengenommen hatten. „Und ich bin Ian Selkirk“, sagte ein anderer. Er hatte einen wunderschönen roten Bart. (Dies geschah vor der Zeit, da nur noch Künstler solche Barte zur Schau stellten.) Er fuhr fort: „Lord Kintyre zahlt die Spesen für diese Safari, er ist also der Herr. Wir müssen jeden Morgen vor ihm niederknien, unsere Hände in die seinen legen und ihm Treue schwören.“ Lord Kintyre lachte bellend und stellte die beiden anderen Männer vor: Wallace Farg und James MacLachlan. Kintyre sprach britisches Public-School-Englisch, Farg dagegen ein dermaßen ausgeprägtes Schottisch, daß ich ihn kaum verstehen konnte. Die beiden anderen lagen mit ihrem Dialekt irgendwo in der Mitte. Die vier forderten uns auf, durch die Teleskope zu schauen. „Was ist das für eine Monstergeschichte?“ fragte ich. „Ich war eine Weile außer Landes.“ Die vier redeten durcheinander, bis Lord Kintyre die anderen überbrüllte. Dann erzählte er mir im wesentlichen das, was ich schon von Mike Devlin wußte. Er fügte hinzu: „Das verdammte Ding kommt nur nachts. Kann nicht behaupten, daß ich ihm das verdenke, bei den verwünschten Motorbooten, die da herumsau sen. Das ginge jedem normalen Ungeheuer über die Hutschnur. Ich habe Ihre Stadtväter überreden wollen, den Bootsverkehr zu verbieten, aber ohne Erfolg. Die jüngere Generation ist begeistert davon. Mag also sein, daß wir Algy nie richtig zu Gesicht bekommen.“ 63
„Algae?“ fragte ich in der Annahme, daß er Tang gemeint habe. „Aber ja. Ihr Amerikaner nennt unser Ungeheuer ,Nessie’, warum sollten wir das Monstrum des Algonquin-Sees nicht ,Algy’ taufen? Aber ich fürchte, ein verdammtes Stinkboot wird mit dem armen Geschöpf zusammenstoßen und es verwunden. Sagen Sie, kommen Sie und Ihre hübsche Braut morgen zum Ball in der Lodge?“ „Also, meine Lordschaft, ich meine, Euer Lord …“ „Nennen Sie mich Alec!“ dröhnte seine Lordschaft. „Alle tun das. Kurz für Alexander Mull, den zweiten Baron Kintyre. Nachdem Sie Ihre verrückten Prohibitionsgesetze los waren, hat mein alter Mann im Ausland soviel schottischen Whiskey abge setzt, daß Baldwin der Meinung war, er müsse etwas für ihn tun. Also, Junge, was ist mit dem Tanz? Ich zahle die Zeche.“ „Aber ja“, sagte ich, „wenn Denise es mit meinen beiden linken Füßen riskieren will.“ Zum Haus zurückkehrend, trafen wir meine Tante und ihre Tochter, die die Ruderfahrt beendet hatten. Der Himmel bewölkte sich. Linda Colton war eine große gertenschlanke Blondine und durchaus begehrenswert, wenn man ihre blasse Erscheinung übersah. Ein hübsches Mädchen, aber nicht gerade überschäumend vor Intelligenz. Nachdem wir uns vorgestellt hatten, sagte Tante Frances: „George Vreeland kommt heute abend zum Essen. Briggs hat ihm freigegeben. Kennst du ihn?“ „Ich bin ihm begegnet“, antwortete ich. „Er war ein Cousin meines verstorbenen Freundes Alfred Ten Eyck. Ich dachte, Vreeland wäre in Kalifornien?“ „Er ist wieder da und arbeitet bei Briggs im Büro“, sagte Tante Francis. 64
Joe Briggs war Besitzer der Algonquin Lodge, eines Hotels, das einige Meilen vom Colton-Haus entfernt am Seeufer stand, auf der anderen Seite des Indian Point. „George sagt, er würde sich einen Froschmann-Anzug besor gen, um nach dem Ungeheuer zu tauchen“, äußerte Linda. „Ich glaube nicht, daß er damit weit kommt“, erwiderte ich. „Das Wasser ist dermaßen voller Pflanzenreste, daß man schon in ei nem Meter Tiefe kaum noch die Hand vor Augen sieht. Beim Errichten des Damms, der den Wasserstand im See anheben sollte, machte man sich nicht die Mühe, die zu überflutenden Flä chen vorher abzuholzen.“ Ich hätte hinzufügen können, daß meine bisherigen Informationen über George Vreeland nicht besonders positiv waren. Alfred Ten Eyck hatte behauptet, George habe einmal das Haus auf der Ten-Eyck-Insel von ihm gemietet. In der Zeit habe er den größten Teil von Alfreds großer Waffensammlung an verschiedene Einheimische verkauft. Er hatte das Geld einge steckt und sich vor Alfreds Rückkehr abgesetzt. Ich hätte Vreeland nicht als schlecht oder bösartig bezeichnen wollen – man mußte ihn unzuverlässig nennen, unfähig, der geringsten Versuchung zu widerstehen. Statt dessen schilderte ich unsere Begegnung mit den Schotten. „Meinst du nicht auch, daß Ian Selkirk der hübscheste Bursche weit und breit ist?“ fragte Linda sofort. „Von männlicher Schönheit verstehe ich nichts“, antwortete ich. „Er scheint mir als Mann alles zu haben, was man braucht. Ich wüßte nicht, ob ich mir einen Bart wachsen lassen würde, aber das ist seine Sache.“ „Er hat ihn sich im Krieg zugelegt, an Bord eines U-Boots“, sagte Linda. 65
„Wenn Sie verzeihen“, warf Denise ein, „ich habe mir Mr. Selkirk auch angesehen. Ja, er sieht gut aus. Und er weiß es – vielleicht ein wenig zu sehr?“ Meine Kusine Linda wechselte das Thema. Zur Zeit des Abendessens brauste George Vreeland in einem Boot mit Außenbordmotor von der Lodge herüber. Er erinnerte sich zuerst nicht an mich, da ich den kleinen Mann bisher nur im Vorbeigehen kennengelernt hatte, außerdem in den dreißiger Jahren, als wir noch sehr jung waren. Sehr bald wurde klar, daß Vreeland ein Auge auf Linda Colton geworfen hatte, obwohl sie einen Zoll größer war als er. Mit großartigen Worten redete er über seine Pläne, nach Algy zu tauchen. „Es will mir scheinen“, sagte ich, „wenn es kein Ungeheuer gibt, verschwenden Sie Ihre Zeit. Wenn das Ungeheuer aber existiert und Sie es stören, enden Sie vermutlich in seinem Magen.“ „Ach Willy!“ rief Linda. „So war er immer, George, schon als kleiner Junge. Wir brauchten nur einen schönen, romantischen, abenteuerlichen Einfall zu haben, und schon war er mit einer nüchternen Bemerkung zur Stelle, wie ein zynischer alter Greis, und ließ unseren schönen Plan in Flammen aufgehen.“ „Oh, ich nehme etwas mit, um mich zu schützen“, sagte Vreeland. „Eine Harpunenpistole oder etwas Ähnliches – das heißt, wenn die verdammten Schotten das Ding nicht vor mir abschießen.“ „Sie haben gesagt, sie wollten dem Tier nichts tun“, stellte ich fest.
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„Den heimtückischen Kelten kann man doch nicht trauen. Unsere Motorboote verbieten, ha! Die würden uns die ganze Touristensaison verderben, nur um das Ungeheuer richtig zu filmen!“ Kurz nach dem Abendessen lenkte Tante Frances unsere Auf merksamkeit auf ein fernes Wetterleuchten. Das Licht zuckte fliederfarben zwischen den Wolken, die schwer auf den bewaldeten Adirondack-Hügeln lagen. „George“, sagte sie, „du bist über das Wasser gekommen. Fahr lieber gleich zurück, es sei denn, Linda soll dich mit dem Auto zur Lodge bringen. Dann müßtest du morgen aber dein Boot hier abholen.“ „Nein, ich fahre gleich“, erwiderte Vreeland. „Ich habe sowieso Nachtdienst.“ Als er fort war, unterhielten wir uns noch etwa eine Stunde über Familienangelegenheiten. Dann wurden wir von lautem Geschrei auf die Veranda gelockt. Der Lärm kam vom Indian Point herüber. Ich bemerkte Licht am schottischen Beobachtungsstand. Offensichtlich glaubten die Schotten etwas gesehen zu haben. Zwischen den Blitzen war der See zu dunkel, um überhaupt irgend etwas zu erkennen. „Warte, ich hole mein Fernglas“, sagte ich. Das Fernglas half mir auch nicht weiter, solange der See sich in Dunkelheit hüllte. Bei einem hellen Aufblitzen aber sah ich plötzlich etwas, eine dunkle Masse draußen auf dem Wasser. Sie mochte hundert Meter entfernt sein, obwohl solche Entfernungen nicht leicht zu schätzen sind. Ich starrte angestrengt in die Richtung, während mich die drei Frauen mit nervösen Fragen bedrängten. Beim neuerlichen Auf blitzen bekam ich die Erscheinung noch mehrmals zu sehen. Sie 67
schien sich durch mein Blickfeld zu bewegen. Zugleich hatte ich den Eindruck, daß sie auf und nieder schwankte. Zumindest sah das Gebilde von Mal zu Mal irgendwie anders aus. Ich gab das Fernglas meiner Tante, damit sich auch die Frauen einen Ein druck verschaffen konnten. Im nächsten Augenblick brüllte der Donner los, und es begann zu regnen. Nach kurzer Zeit konnten wir überhaupt nichts mehr erkennen. Selbst die sturmerprobten Schotten gaben auf und kehrten in die Lodge zurück. Als wir am nächsten Morgen erwachten, regnete es noch immer. Wir kamen ziemlich spät zum Frühstück herunter. Als ich mich entschuldigen wollte, unterbrach mich Linda. „Schon gut, Willy“, sagte sie. „Man weiß ja, daß Flitterwöchner jeden Vorwand nutzen, um im Bett zu bleiben.“ Ich lächelte sie töricht an, während Denise, die aus einer etwas konservativen französisch-protestantischen Familie stammt, starr auf ihren Orangensaft blickte. An diesem Vormittag beschäftigte ich mich mit Wirtschaftsliteratur zur Vorbereitung auf meinen Posten bei der Trust-Bank. Gegen Mittag hatte der Regen aufgehört, und die Wolken verzogen sich. Als der Nachmittag warm wurde, schlug ich ein Schwimmbad vor. „Aber Willy, mon cher“, sagte Denise, „dort draußen treibt sich ein Ungeheuer herum. Was ist, wenn es uns aufißt?“ „Hör zu, mein Schatz, meine Freunde, Verwandten und ich haben den großen Teil meiner zweiunddreißig Jahre in diesen Seen geschwommen, ohne daß Algy einen von uns gebissen hat. Wenn es hier ein Monstrum gibt, so hat es Gelegenheit genug gehabt, sich bemerkbar zu machen. Außerdem habe ich mich mal mit meinem Geologieprofessor im M.I.T über solche Ungeheuer unterhalten. Er meinte, daß eine Kreatur dieser Art einen 68
Lebensbereich braucht, der groß genug ist, um die benötigte Nahrung hervorzubringen – beispielsweise Fisch. Im Algonquin-See könnte kein Tier leben, das größer wäre als eine bissige Schildkröte. Il n’y a rien à craindre.“ „Aber wie steht es mit Alligatoren und Krokodilen, die ihr in dem Florida habt? Die brauchen auch kein ganzes Meer.“ „Die leben in miteinander verbundenen Wasserläufen“, erklärte ich. „Sie können also von einem See in den anderen wechseln. Man braucht nicht nur die Fläche für ein Tier, sondern fünfzig- oder hundertmal soviel für eine Bevölkerung, die die Fortpflanzung garantiert. Sonst stirbt die Rasse nämlich aus. Folglich brauchst du in diesen Seen nicht nach einem Plesiosaurus oder Mosasaurus zu suchen. Außerdem könnte kein Alligator – oder sonstiges Reptil dieser Größe – die hiesigen Winter überleben, in denen die Seen zufrieren.“ Denise blickte mich zweifelnd an, ging aber mit zum Schwimmen. Ich muß allerdings sagen, daß ich nicht Masochist genug bin, um an dem eisigen Adirondackwasser wirklich Gefallen zu finden. Als wir uns abgetrocknet und angezogen hatten, marschierten wir zum Indian Point – teils um uns aufzuwärmen und teils, um zu sehen, wie die Schotten vorankamen. Wir stießen auf Farg, MacLachlan und einen dritten Mann, der uns als Professor Ballardie vorgestellt wurde. Er schien die geistige Leuchte der Expedition zu sein. Die Männer bauten in der Batterie ihrer Gerätschaften einen Suchscheinwerfer auf. „Mag sich ja alles als Hirngespinst erweisen“, sagte Ballardie, ein aufgekratzter, kleiner grauhaariger Mann. „Aber nur so finden wir es heraus.“ „Aye“, meinte Farg. „Wenn wir’s nicht versuch’n, wiss’n wir’s nicht.“ 69
Ich trug die Argumente meines M.I.T.-Geologieprofessors vor. Wie erwartet gab es für jedes meiner Argumente ein Gegenargu ment. Ich hielt es für das beste, den Mund zu halten und zuzuhö ren; schließlich mußte ich keine Aktien an diesem Unternehmen verkaufen. „Wo ist Mr. Selkirk?“ fragte ich. „Der hat heute nachmittag frei“, antwortete MacLachlan. Farg setzte hinzu: „Mag sein, er macht sich schmu’ für den Ba’.“ Meine Tante wollte schließlich doch nicht zum „Ba“‘ gehen. George Vreeland kam mit seinem Motorboot über den See und brachte Denise, Linda und mich zur Lodge. Da sich dies alles vor der Ära jugendlicher Nachlässigkeit in den sechziger Jahren ereignete, hatten George und ich Krawatten angelegt. Auf dem Weg vom Lodge-Anleger hörte ich bereits Lord Kintyres dröh nendes Lachen. Drinnen begegnete uns Joe Briggs, ein dicker, rotgesichtiger Mann, der den liebenswürdigen Gastgeber spielte. Ich erkannte auch, was Wallace Farg gemeint hatte, als er sagte, Selkirk mache sich „schmu’ für den Ba’.“ Selkirk trug einen Kilt mit Leder tasehe, Dolch im Strumpf und eine kurze Jacke mit eckigen Silberknöpfen – die volle Pracht. Lord Kintyre war ähnlich herausstaffiert, während die übrigen Schotten sich mit ihren abgetragenen Tweedanzügen behalfen. Wir lernten Lady Kintyre kennen, eine mausgraue kleine Frau, und etliche andere Schotten, denen ich noch nicht begegnet war. Ich mühte mich gerade mit Denise durch eine Rumba, als Vreeland und Linda an uns vorbeirauschten. Selkirk trat herbei und tippte Vreeland auf den Arm. „Dürfte ich mal abklatschen?“ fragte er freundlich. 70
Ich glaube nicht, daß Vreeland die Sitte des Abklatschens kannte. Während er noch Mund und Augen aufsperrte, zog Selkirk das Mädchen elegant aus seinen Armen und tanzte mit ihr davon. Als wir wieder an den beiden vorbeikamen, ließ er bereits seinen Charme wirken. Er flüsterte Linda etwas ins Ohr und brachte sie zum Lachen. Nach weiteren Tänzen und Getränken rief Lord Kintyre: „Jetzt wollen wir ein paar schottische Tänze vorführen, Ian, bring die junge Dame herüber!“ Selkirk führte Linda Colton in die Mitte. Da ich schon genug Mühe hatte mit Tänzen, die mir bekannt waren, führte ich Denise lieber an die Bar. Da Lord Kintyre die Zeche übernahm und da Tante Frances nichts Stärkeres als Sherry anbot, nutzte ich die Gelegenheit, mir ein paar härtere Sachen zu Gemüte zu führen. In der Nähe sprach George Vreeland dem Alkohol zu. Sein Gesicht war gerötet, und er lallte und begann sich aufdringlich zu verhalten. Wir gingen ihm aus dem Weg. Wir schauten uns die schottischen Tänze aus dem Hintergrund an. Als es Zeit wurde, nach Hause zu fahren, war Vreeland nir gends zu finden. So brachte uns schließlich Selkirk in einem Wagen der Expedition zum Haus meiner Tante. Lindas Augen strahlten, als sie uns eine gute Nacht wünschte. Gegen drei Uhr früh gab es neues Geschrei auf dem Indian Point. Von unseren Fenstern sah ich allerdings nur den zuckenden Strahl des Suchscheinwerfers. See-Ungeheuer faszinierten mich nicht so sehr, daß ich aufstand und ins Freie ging, aber das Lärmen hielt gut eine Stunde an. Wir kamen nicht wieder zum Schlafen, wenngleich ich nicht sagen will, daß die Zeit bis zum Morgen verschwendet war. Die Schotten erzählten uns später, sie hätten Algy wieder gese hen. Er habe sich so lange auf dem See herumgetrieben, daß sie 71
ein Boot losschickten, um ihn sich näher anzuschauen. Daraufhin sei er wieder getaucht. Der Sonntag war ein Tag, wie es ihn selten gibt. Denise und ich machten am Vormittag einen Spaziergang und fuhren am Nach mittag auf den See hinaus. Wir waren etwa eine halbe Stunde gerudert, als Denise sagte: „Da ist ein Kanu, Willy. Es kommt vom Anleger deiner Tante. Ich glaube, ich erkenne den roten Bart des Mr. Selkirk.“ Und tatsächlich, wir näherten uns Selkirk und Linda Colton in einem von Joe Briggs Miet-Kanus. Ich winkte den beiden zu, aber sie waren viel zu sehr aufeinander konzentriert und sahen uns nicht. Als wir näherkamen, erkannte ich, daß die beiden Badekleidung trugen. Das ist kein schlechter Einfall, wenn man wenig Kanuerfahrung hat. Linda saß im Heck, paddelte und gab dem vorn sitzenden Selkirk Anweisungen. Ich stützte mich auf die Ruder und sah den beiden zu. Nach einer Weile hörten sie zu paddeln auf. Dann bemerkte ich, daß ihre Position irgendwie seltsam war. Sie mußten von den Sitzbrettern geglitten sein und hockten nun unten im Boot, so daß nur noch Köpfe und Schultern zu sehen waren. Dabei rückten sie immer dichter zusammen, während sie unentwegt redeten und viel lachten. „Ich glaube, sie wollen un peu de l’amour versuchen“, sagte Denise. „Nicht übel“, antwortete ich, „wenn man daran denkt, den Schwerpunkt unten im Boot zu halten.“ Ich überlegte, ob ich den Versuch machen sollte, die Tugend meiner Kusine zu retten. Immerhin war die sexuelle Revolution noch fern, und viele Familien nahmen es ernst mit der Tugend ihrer Töchter. Aber 72
schließlich wußte ich gar nicht, ob Linda überhaupt noch eine Tugend zu verteidigen hatte. Denise deutete meinen Gesichtsausdruck falsch. „Daß du mir nicht auf Gedanken kommst, mein Alter! Ich hätte in einem Boot keinen Spaß daran, vor lauter Angst, daß wir kentern könnten.“ Die beiden waren inzwischen so dicht aneinander gerückt, daß Selkirk Linda umarmen konnte. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn Algy sich nicht eingemischt hätte. Auf der seewärtigen Seite des Kanus, kaum drei Meter entfernt, fuhr plötzlich ein reptilischer Kopf von der Größe eines Pferde schädels an einem langen Hals aus dem Wasser. Stier blickende weiße Augäpfel und lange weiße Hauer waren der erste Eindruck. Das Ding stieg sechs Fuß hoch empor und starrte finster auf die Insassen des Kanus. Es dauerte mehrere Sekunden, bis die beiden merkten, daß sie beobachtet wurden. Dann schrie Linda los. Ian Selkirk sah sich um, sprang auf, hüpfte über Bord und kraulte mit olympischem Tempo auf das Ufer zu. Das schwankende Kanu und Linda ließ er zurück. „Dieser Schurke!“ rief ich. „Ich rudere näher heran.“ „Willy!“ schrie Denise. „Das Ungeheuer wird uns verschlin gen!“ „Ach was! Schau es dir doch genauer an. Es ist eine Art Dra chen, wie man ihn auf dem Jahrmarkt findet.“ Denises Proteste überhörend, ruderte ich auf die Erscheinung zu. Algy erwies sich als bunt bemaltes Kunstwerk aus Schaumgummi. Ich stocherte mit einem Ruder danach, um ganz sicher zu sein, und fuhr dann zum Kanu weiter. Linda war außer sich vor Angst, beruhigte sich aber bei meinem Anblick. Kurze Zeit später paddelte sie das Kanu zu unserem Anleger. Wir folgten im Ruderboot. 73
Am Ufer stießen wir auf Mike Devlin. „Mr. Newbury“, sagte er. „Was ist das für ein Gerede über das Ungeheuer? Der junge Schotte erkundigte sich …“ Im nächsten Augenblick erschienen die beiden Gestalten auf dem Pfad zum Indian Point. Zuerst tauchte George Vreeland mit blutiggeschlagener Nase auf. Er wurde verfolgt von Ian Selkirk in Badehose und Turnschuhen, zornig in einer Sprache brüllend, die ich nicht zu erkennen vermochte. Es mochte sich um ein sehr ausgeprägtes Schottisch handeln, oder gar um die gälische Sprache. Die beiden verschwanden auf dem Weg zur Lodge. „Der Pumpenschuppen ist’s“, sagte Mike. „Der Schotte hat mich gefragt, ob es hier so etwas gebe. Ich sagte ihm ja, durchaus, und schon ging er los wie der Blitz.“ „Das wollen wir uns mal ansehen“, sagte ich. Wir mußten uns durch dichtes Unterholz drängen, um zum Pumpenschuppen zu gelangen, denn seit Jahren war hier niemand mehr gegangen. Unterhalb des Schuppens war ein Kanu am Ufer festgemacht. Im Schuppen gab es dicken Staub und eine Schicht Kiefernnadeln. Der alte Heißluftmotor und die Pumpe waren rostzerfressen. Aber jemand hatte etwas Neues installiert. „Himmel, schauen Sie sich das an!“ sagte Mike. „So hat uns der junge Bursche also genarrt!“ An der Innenwand des Schuppens waren zwei Winden befestigt. Jede bestand aus einer Trommel, um die eine Wäscheleine gewickelt war, komplett mit Griff zum Drehen. Die Leinen führten durch Wandlöcher ins Freie. Sie streckten sich zum Wasser hinab und verschwanden auseinanderlaufend unter der Oberfläche. Es lag auf der Hand, was Vreeland hier gebaut hatte. Er hatte zwei Verankerungen auf dem Seeboden angebracht – Betonblöcke oder etwas Ähnliches – und daran Flanschen oder Ringe befestigt. Die Seile, die bei Algy endeten, 74
führten durch diese Anker und zum Schuppen. Durch Drehen der Winden konnte man Algy, der schwimmfähig war, aufsteigen oder sinken oder in Grenzen horizontal über das Wasser fahren lassen. Mike gab uns weitere Erklärungen: „Ich hörte den Lärm und sah das Ungeheuer draußen auf dem Wasser und den jungen Schotten, der aufs Ufer zuschwamm, als wäre der Teufel hinter ihm her. Als er an Land stieg und wieder zu Atem kam, sagte er: ,Das Ding ist hinter mir her!’ ,Hören Sie, Mann’, antwortete ich. ,Man sieht doch gleich, daß das gar kein richtiges Ungeheuer ist – die Boote paddeln drum herum, und es steht still im Wasser.’ Und er schaut hinüber. ,Bei Gott, Sie haben recht!’, sagte er. Immerhin ist er ein kluger junger Schotte und brauchte keine zehn Sekunden, um rauszukriegen, was da passiert ist. .Schnell’, sagte er, ,gibt’s hier in der Nähe eine Hütte am Ufer?’ Ich erzähle ihm von dem alten Pumpenhaus. ,Ich zeig’ es Ihnen’, sage ich. ,Nein, danke’, ruft er. ,Sagen Sie mir nur, wo. Ich möchte keine Zeugen.’ Und schon ist er weg. Er muß Mr. Vreeland beim Rauskommen erwischt haben.“ Denise bekam einen Kicheranfall, von dem ich sie schließlich mit einigen Schlägen auf den Rücken erlösen mußte. „Comme c’est rigolo, donc!“ Nach kurzer Zeit war jedes Boot auf dem See zu dem Ungeheuer unterwegs. Selkirk gelang es nicht, George Vreeland zu vernich ten. Letzterer tauchte im Wald unter und schüttelte seinen Ver folger nach kurzer Zeit ab, da er das Terrain besser kannte. Stunden später tauchte Selkirk zerkratzt und von Moskitos gestochen in der Lodge auf. Vermutlich war ihm die Sache zu peinlich, denn wir bekamen ihn nicht mehr zu Gesicht. Meine Kusine Linda ließ sich mit keinem dieser zweifelhaften Anbeter 75
ein. Ein Jahr später heiratete sie einen Mann, der gute geschäft liche Zukunftschancen hatte. Am nächsten Morgen wurde ich ans Telefon geholt. „Mr. Wilson Newbury bitte … Ach, sind Sie das, Willy? Hier Alex Kintyre. Ich wollte Sie bitten, mir einen Gefallen zu tun. Meine Jungs haben alles zusammengepackt, doch ich möchte mir den Ort des Geschehens noch einmal ansehen mit jemandem, der sich auskennt. Könnten Sie …“ Eine halbe Stunde später zeigte ich Lord Kintyre den Schuppen, in dem Vreeland seinen Kontrollmechanismus angebracht hatte. „Wissen Sie, hinter der ganzen Sache hat eigentlich Briggs gesteckt“, sagte Lord Kintyre. „Wie denn das?“ „Als Vreeland heute früh zum Dienst erschien, geriet er mit Briggs aneinander und konnte dabei den Mund nicht halten. Anscheinend hat Briggs ihn im letzten Frühjahr beauftragt, den kleinen Scherz zu installieren – um mehr Touristen anzulocken. Und das gelang ja auch. Die beiden wären vielleicht damit durchgekommen, da Vreeland das verdammte Monstrum nur bei Nacht an die Oberfläche holen sollte. Dazu paddelte er in seinem Kanu hinüber, damit ihn der Lärm seines Motorboots nicht verriet. Alle wußten, daß er Motorbootfan war, und so vermutete niemand einen Paddler in ihm. Ian Selkirk machte den schönen Plan zunichte. Vreeland war dermaßen scharf darauf, Ian eins auszuwischen, daß er Algy bei hellem Tage hochkommen ließ. Und bei Tag genügte ein kurzer Blick, um zu wissen, daß das Ding nur ein Scherzartikel war. Die Jungs auf der Landzunge erkannten das sofort, als sie die Teleskope darauf richteten. Schade ist die Sache mit Ian. Er ist eigentlich kein Feigling – er war während des Krieges mit mir im U-Boot-Einsatz –, aber diesmal ist er in Panik geraten. Er wollte nicht mal mehr zum 76
Einpacken bleiben, sondern ist gestern abend abgereist. Der Kummer bei ihm ist, daß er fast nur Mädchen im Kopf hat. Ob wir uns Algy noch mal aus der Nähe ansehen können?“ Ich fuhr Lord Kintyre im Ruderboot der Coltons auf den See. Wir umkreisten Algy, der reglos aus dem Wasser ragte. Algy bestand aus einem Kopf, einem sechs Fuß langen Hals und einem eierförmigen Körper ohne Gliedmaßen mit Ausnahme einer Art Ruder achtern. Diese Flosse ließ das Ungeheuer nach vorn blicken, wenn es durch das Wasser gezogen wurde. Auf diese Weise konnte Vreeland das Ding hin und her paradieren lassen, soweit die Seilzüge reichten. Die letzten Schotten hatten Indian Point mit ihren Geräten verlassen. Wir fuhren ganz dicht an Algy heran, und Lord Kintyre zog ein Taschenmesser. „Wenn Sie nichts dagegen haben, schneide ich mir ein kleines Stück als Souvenir ab.“ Er holte sich seine Schaumgummi-Trophäe, und wir machten uns auf den Rückweg. Plötzlich rief ich: „He, Alec! Schauen Sie sich mal um!“ Mit Algy passierte etwas. Er bewegte sich ruckhaft hin und her und ließ dabei das Wasser aufschäumen. Seine Bewegungen wurden ausholender und heftiger. Haben Sie schon einmal gesehen, wie ein Hund ein Eichhörnchen oder ein ähnlich kleines Tier zu Tode schüttelt? Algy zuckte hin und her, als würde er von unten festgehalten und auf gleiche Weise hin und her geschüttelt. Unser Boot ruckelte in den Wellen. Lord Kintyres Monokel fiel herab und baumelte an der Schnur. Algy wurde in die Tiefe gezerrt, bis er beinahe nicht mehr zu sehen war. Dann beruhigte sich das Wasser wieder. Algy hüpfte empor – zerfetzt in viele Teile. Wir saßen starr in unserem Boot und wagten es nicht (wenigstens traf das auf mich zu), eine 77
Bewegung zu machen oder zu sprechen, damit das Unbekannte, das Algy vernichtet hatte, nicht auch uns angriff. Als nichts weiter geschah, brachte ich uns mit einigen vorsichtigen Ruderschlägen zur Szene des Aufruhrs, behutsam vorwärtsfahrend, damit ich sofort in Richtung Ufer abhauen konnte. Ich fischte ein Stück blaugrünes Schaumgummi aus dem Wasser, etwa fußgroß. Es stammte wohl von Algys Hals. Lord Kintyre setzte sein Monokel wieder ein und seufzte. „Mein übliches Pech!“, sagte er. „In einem solchen Augen blick bin ich ohne Kamera oder andere Geräte!“ „Wollen Sie Ihre Jungs zurückrufen, um die Beobachtung wieder aufzunehmen?“ „Nein. Einige sind bereits aufgebrochen, und die anderen haben alles zusammengepackt. Wir haben genug Geld ausge geben und genügend Material für unseren Bericht an den Klub. Den echten Algy muß jemand anders jagen.“ In den Jahren, die seither vergangen sind, habe ich keine weiteren Berichte über geheimnisvolle Phänomene im Algonquin-See gehört. Trotzdem habe ich, obwohl ich seither mehrere Male dort war, immer einen Vorwand gefunden, nicht schwimmen zu gehen.
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Der Menhir Als wir nach dem Frühstück die Treppe herabkamen, begegnete mir die hübsche Gräfin. „Bonjour, Monsieur Newbury“, sagte sie. „Haben Sie gut geschlafen?“ „Parfaitement, merci“, antwortete ich. „Haben Sie in der Nacht irgendwelche Geräusche gehört?“ „Nein, Madame. Hätte ich welche hören sollen?“ Sie zuckte die Achseln. „Mir kam nur der Gedanke. In diesem alten Schloß gibt es immer wieder seltsame Klopf- und Quietschtöne. Einige Gäste fühlen sich davon gestört, obwohl ich davon überzeugt bin, daß hier natürliche Ursachen vorliegen.“ „Ich werde auf solche Erscheinungen achten, Madame. Ich lasse mich davon nicht einschüchtern, dessen dürfen Sie gewiß sein, denn ich bin in solchen Dingen nicht ohne Erfahrung.“ „Gut. Wo waren Sie mit der kleinen Denise gestern? Sie kamen erst spät nach Hause.“ „Wir sind über die Stadtmauer von Vannes gegangen und dann mit dem Boot durch den Golfe du Morbihan gefahren.“ „Das ist zuviel für einen Tag.“ „Sie haben recht, Madame, aber unsere Zeit ist beschränkt. Zweifellos ist das der Grund, warum wir so tief geschlafen haben.“ „Wohin wollen Sie heute?“ erkundigte sie sich. Die Comtesse de la Carriere war eine sehr gut aussehende Frau Anfang dreißig. Sie verzichtete auf jedes Make-up, das sie auch gar nicht brauchte.
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„Wir haben uns vorgenommen, nach Hennebont zu fahren. Angeblich gibt es dort wunderbare Befestigungsanlagen und ein Tor aus dem Mittelalter.“ Die Comtesse zog ein Gesicht. „Gewiß! Aber unsere Erinne rungen daran sind nicht die angenehmsten.“ „Ainsi donc?“ „Meine Schwester und ich waren zur Zeit des Massakers dort.“ „Oh? Ich habe im Touristenführer darüber gelesen.“ „Die Schilderung ist nicht übertrieben. Ehe sich die Deutschen am 7. August 1944 zurückzogen, kamen sie an die Häuser, klopften und erschossen alle, die herauskamen. Viele Einhei mische hatten vor den amerikanischen Bomben im Keller Schutz gesucht, aber die Deutschen fanden auch sie und erschossen sie. Angele – sie war damals noch ein kleines Mädchen – wäre auch umgekommen, wenn der junge deutsche Leutnant, der das Erschießungskommando leitete, ihr nicht zugeflüstert hätte, sie solle fliehen. So hat sie überlebt. Haben Sie sich schon die Megalithen angesehen?“ „Wir haben vorgestern die alignements von Carnac besichtigt. Und wenn wir rechtzeitig zurückkehren, fahren wir vielleicht noch nach Locmariaquer weiter, um uns den großen Menhir und die Hünengräber anzusehen.“ „Nun, wenn sie nicht die Zeit haben, so weit zu fahren, können Sie unseren ureigenen Menhir besuchen, auf einem unserer Grundstücke an der Straße nach Quiberon, einen Kilometer von hier. Dieser Menhir von Locmelon ist zerbrochen wie der von Locmariaquer. Bis zum Krieg war er allerdings intakt, aber dann wurde er von einer Explosion umgeworfen und zerbrach. Wir meinen, die Deutschen hätten das Ding gesprengt, um ihre arische Überlegenheit zu beweisen; die aber behaupten, es wäre eine Bombe aus einem amerikanischen Flugzeug gewesen, das 80
eigentlich Lorient oder St. Nazaire anfliegen wollte. Letztes Jahr tauchten hier Mitglieder eines englischen Kultes auf und marschierten in langen Roben um die Überreste, mit Kerzen in den Händen. Sie bezeichneten sich als Druiden.“ „Nach meinen archäologischen Kenntnissen standen diese riesigen Steinsäulen lange vor der Ankunft der Kelten und ihrer druidischen Priester.“ „Sie haben Verstand, Monsieur; Sie wissen aber auch, wie gern die Menschen an Märchen glauben. Jedenfalls bonne Chance.“ Ich bin weit genug gereist, um mich von Titeln nicht beeindrucken zu lassen – und schon gar nicht von französischen Titeln, da sich in diesem Land die Bürger nennen können, wie sie wollen. Wenn Jacques Leblanc als Großer Khan von Tartary auftreten möchte, steht dem nichts im Wege. Trotzdem war es ganz angenehm, mit unseren hochherr schaftlichen Wirtsleuten im Château Kerzeriolet etwas näher bekannt zu werden. Während der ersten Tage unseres Aufenthalts hatten Denise und ich die beiden nur aus der Ferne zu sehen bekommen. Vermutlich hatte die Peinlichkeit, die uns am ersten Tag unterlief, damit zu tun. Wir waren aus Richtung Normandie mit einem Koffer voller schmutziger Wäsche eingetroffen. Unseren ersten Tag verbrach ten wir mit Waschen und hingen die Kleidungsstücke an einer elastischen Leine ins offene Fenster. Dabei dachten wir nicht daran, daß diese Girlande vom Hof zu sehen war, bis Jean-Pierre Tanguy, der erfahrene hôtelier, der sich um die zahlenden Gäste kümmerte, in großer Verlegenheit anrief und bat, wir möchten die Wäsche doch abnehmen. Wir waren noch unangenehmer berührt als der Geschäftsführer. 81
Am vierten Tag jedoch begegneten wir dem Comte und der Comtesse de la Carriere und tauschten zunächst einige Höflich keiten aus. Als sie feststellten, daß Denise Französin war und ich die Sprache verstand, tauten sie sichtlich auf. Denise hatte mich seither vor anderen Fehltritten bewahrt. Zum Beispiel war ich am ersten Morgen drauf und dran, zum Frühstück hinunterzugehen, doch sie bestand darauf, daß wir im Zimmer blieben und auf unseren Kaffee und die Brötchen warteten. So frühstückte man eben hier, und wir hätten nur alles durcheinandergebracht, hätten wir diese Routine verändern wollen. Mir kam ein französisches Frühstück ohne Ei sowieso nicht sehr erstrebenswert vor; doch bei all dem Gerede über Cholesterin haben die Franzosen vielleicht von Anfang an richtig gelegen. Die Zinnenmauer von Hennebont ist in wenigen Minuten zu besichtigen. Das große mittelalterliche Tor, die Porte Broerec’h, durften wir uns nur von außen ansehen, weil Arbeiter noch mit der Beseitigung von Kriegsschäden beschäftigt waren. So kehr ten wir früh zurück und fuhren nach Locmariaquer weiter. Dort betrachteten wir den Märchenstein, den größten Menhir von allen. Im Urzustand muß er achtzehn Meter hoch gewesen sein und gut dreihundertundfünfzig Tonnen gewogen haben. Archäologen gehen davon aus, daß er vor langer Zeit umgestürzt ist, vielleicht schon beim Errichten. Die Technologie jener Tage war noch nicht auf den Umgang mit so großen Brocken eingerichtet. Trotzdem haben mich die Leistungen jener neolithischen Bauern stets beeindruckt – das Zurechthauen, der Transport und das Aufstellen monumentaler Steinsäulen wie in Stonehenge und Carnac. Meine Ehrfurcht reichte allerdings nicht so weit, daß ich mir einbildete, man habe kleine grüne Männer von der Venus als Helfer gehabt. 82
Jedenfalls hat der Stein am Boden gelegen, soweit die Geschichtsschreibung zurückreicht. Er war in fünf Stücke zersprungen, von denen vier noch dort liegen, wohin sie ursprünglich gefallen waren. Wir untersuchten außerdem das nahegelegene Hünengrab, das auch Kaufmannstisch genannt wird. Es handelte sich ursprünglich um einen Grabhügel mit Steinplatten an den Seiten und oben auf; doch Schatzsucher und das Wetter hatten die Erde entfernt und nur noch die Steine stehen lassen. Unter dem Hünengrab beginnt ein Tunnel, der zum Märchenstein führt. Eigentlich hatten wir Aufnahmen machen wollen, wie wir auf den Resten des Märchensteins sitzen, aber der Himmel war bedeckt und dunstig, und von Zeit zu Zeit nieselte es sogar. Ich machte ein paar Schnappschüsse, ohne große Hoffnung, daß gute Bilder dabei herauskommen würden. Auf dem Heimweg nach Kerzeriolet klarte es auf – in der Nähe des Feldes, auf dem nach Angaben der Comtesse der ihr gehörende Menhir von Locmelon gestanden hatte. Ihren Richtungsangaben folgend, stellten wir den Wagen ab und wanderten durch die grasbestandene, hügelige Landschaft, bis wir den Menhir fanden. Er war von anderem Kaliber als der Märchenstein, nur etwa sechs oder sieben Meter hoch. Auch dieser Stein war zerborsten, in drei große und mehrere kleine Stücke. „Kein Problem, das Ding wieder zusammenzukleistern“, sagte ich. „Mon petit constructeur!“ rief Denise. „Willy, du hättest bei deinen technischen Interessen bleiben und nicht Bankier werden sollen. Aber du mußt wissen, Liebling, daß in all den Jahrhun derten so viele geschichtsträchtige Dinge zusammengekommen sind, daß die Regierungen sie kaum so schnell zusammenflicken 83
können, wie sie wieder auseinanderfallen. Außerdem müßte man sich mit Vorschriften irgendwelcher archäologischer Behörden herumschlagen. Du müßtest in vierfacher Ausfertigung Formu lare ausfüllen und Anträge stellen.“ „Gott schütze mich vor dem europäischen Amtsschim mel!“ rief ich. „Unsere Behörden zu Hause reichen mir völlig. Überhaupt wollte ich die Arbeit nicht selber tun.“ Ich richtete meine Kamera auf eines der Bruchstücke. „Sieht aus, als wäre ein Gesicht in diesen Teil gemeißelt. Ein unheim licher alter Knabe, wie?“ „Nimm dich in acht, mein Alter. Der Geist des alten Knaben könnte sich gekränkt fühlen.“ „Nach den Dingen, die ich schon erlebt habe, macht der mir keine Angst.“ „Sieh dich trotzdem vor. Denk an unsere armen Kinder, die uns zu Hause erwarten!“ Ins Schloß zurückgekehrt, begegnete uns im unteren Flur die Comtesse. Ich erzählte ihr, daß wir den Menhir von Locmelon gesehen hätten. „Er möchte ihn wieder zusammensetzen, Madame“, sagte Denise. „Er gehört zu den Männern, die alles reparieren wollen, das sie zerbrochen vorfinden.“ „Es muß sehr schön sein, einen solchen Mann im Haus zu haben“, meinte die Comtesse. „Ich wünschte, mein Henri wäre in dieser Beziehung geschickter! Er kann keinen Nagel gerade einschla- ah, da bist du ja, Henri. Du kennst Monsieur und Madame Newbury, nicht wahr?“ Der Comte war ein schlanker Mann mit lichter werdendem Haar und etwa in meinem Alter – ein wenig über die vierzig. 84
Wäre Hollywood auf der Suche nach Schauspielern gewesen, die ein vornehmes Paar der alteuropäischen Aristokratie darstellen sollte, hätte es kaum zwei bessere finden können als diese beiden. Der Comte machte eine leichte Verbeugung und gab mir die Hand. „Enchante de toute maniere, mes amis! Machen Sie mir die Freude, vor dem Abendessen einen aperitif mit uns zu trin ken?“ Wir begaben uns in das Privatwohnzimmer der Carrieres und tranken Wermut. Die jüngere Schwester der Comtesse, Angele de Kervadec, und ein anderer Mann stießen zu uns. Angele sah ihrer Schwester ähnlich, war aber noch schöner. Wenn sie älter wurde und ein wenig Gewicht zulegte, würde sie das Double ihrer Schwester Therese sein, der Comtesse de la Carriere. Ihr Begleiter war ein stämmiger Bursche meiner Generation, mit einem kurzgeschnittenen schwarzen Bart, in dem sich das erste Grau zeigte. Er wurde als Max Burgdorf aus Zürich vorgestellt. Obwohl er Deutsch-Schweizer war, sprach er das Französische mit einem kaum wahrnehmbaren deutschen Akzent. Er sagte wenig, doch wenn er das Wort ergriff, dann förmlich und abrupt. Als er sich auf die Armstütze von Angelds Stuhl setzte, lehnte sie sich an ihn. Offensichtlich herrschte ein Einverständnis zwischen ihnen. Die Comtesse brachte die Sprache auf die Wiedererrichtung des Menhirs von Locmelon. Der Comte bemerkte: „Ah, Monsieur, das würde Geld kosten. Und Geld ist ein Problem, wo der Franc augenblicklich in beklagenswertem Zustand ist. Man muß sich wirklich etwas einfallen lassen, um dieses Haus zu halten. Die Steuern und die Inflation sind schlimm, und da muß man sparen, wo man kann. Vielleicht ändert sich das, wenn De Gaulle an die Macht kommt … Aber zunächst müssen wir
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realistisch sein. Sie sind ein Mann der Finanzen, vielleicht können Sie uns einen Rat geben.“ „Es bekümmert mich, daß ich über die französischen Gesetze und Finanzeinrichtungen nicht genug weiß“, antwortete ich. „Sonst würde ich das gern tun.“ Das Gesicht des Comte verlor ein wenig seinen verbindlichen Ausdruck, wenn er auch zu wohlerzogen war, um eine Bemer kung zu machen. Da ich so etwas nicht zum erstenmal durch machte, wußte ich wohl, daß man sich nicht wegen unseres Charmes um uns kümmerte, sondern in der Hoffnung auf einige sichere finanzielle Tips. „Aber ich glaube nicht, daß die Errichtung des Menhirs sehr teuer sein müßte“, fuhr ich fort. „Monsieur Lebraz’ Garage in Vannes hat einen schönen neuen Abschleppwagen mit einem Kran hinten drauf.“ „So wie die Idioten fahren“, sagte der Comte, „hat Lebraz viel zu tun.“ Er wandte sich an seine Frau. „Vielleicht sollten wir auch eine Reparaturwerkstatt aufmachen, hein? Anstatt diese alte Ruine in Schuß zu halten.“ Als die Glocke zum Abendessen ertönte, standen Denise und ich auf. Die Comtesse sagte: „An einem der kommenden Abende werden wir eine von Angeles Seancen veranstalten. Da müssen Sie kommen.“ Als wir eben eingeschlafen waren, weckten mich Schritte auf dem Flur. Nicht, daß daran etwas ungewöhnliches war; es befand sich ein Dutzend zahlende Gäste im château. Die Schritte jedoch lärmten von einem Ende des Flurs zum anderen und wieder zurück. Das Geräusch weckte auch Denise. „Was ist das?“ fragte ich. „Versucht Monsieur Burgdorf seinen Mut zusammen zunehmen, um die hübsche Angele zu besuchen?“ 86
„Tais toi!“ sagte sie und gab mir einen Rippenstoß. „Nichts Vulgäres. Die Leute hier achten zu sehr auf ihr blaues Blut. Du bist nur ein nicht mehr so junger Mann mit einer schmutzigen Phantasie.“ Die Schritte verstummten, und es klopfte dreimal an unsere Tür. Ich saß auf der Bettkante. Als Bürger der von Verbrechen heimgesuchten Vereinigten Staaten eilte ich nicht sofort zur Tür. Statt dessen rief ich: „Wer ist da?“ Zur Antwort wurde wieder dreimal geklopft. „Ich glaube, du kannst aufmachen“, sagte Denise. „In Frankreich ist man auf dem Lande sehr gesetzestreu.“ „Einen Augenblick!“ unterbrach ich. Ich nahm den Familien totschläger aus dem Gepäck, ging zur Tür, zog den Riegel auf und riß die Tür auf. Niemand war zu sehen. Danach brauchten wir gut eine Stunde, um einschlafen zu können. Dabei hörten wir keine seltsamen Geräusche mehr. Am nächsten Tag fuhren wir früh mit dem Peugeot nach Vannes und von dort an der Küste des Golfe du Morbihan entlang. So kamen wir auf die Rhuys-Halbinsel. Nahe Sarzeau verhieß uns der Touristenführer die Ruine eines mittelalterlichen Schlosses mit Ausblick auf den Golf. Wir fanden das Chäteau Morzon, ein heruntergekommen wirkendes Bauwerk inmitten der Weinberge, und trieben schließlich auch den Wächter auf, Monsieur Le Goff, einen untersetzten, wettergegerbten alten Mann mit einem riesigen grauen Schnurrbart. Als wir unsere zwanzig Francs bezahlt hatten, führte er uns herum. „… in dem Turm dort, Monsieur und Madame, soll die Frau des Duc Jean gefangengehalten worden sein. Und auf der Mauer östlich des Turms, die wir nun ersteigen werden, soll in 87
mondhellen Nächten ein Gespenst in Rüstung umherschreiten. Ich bin selbst nicht abergläubig, aber solche Legenden sind gut für den Tourismus, eh? Manche meinen, es sei der Geist des Duc Alain Barbe-Torte; andere halten ihn für den Geist unseres großen bretonischen Helden Bertrand du Guesclin – prenez garde!“ Wir befanden uns auf der Treppe, die zur erhaltenen Außenmauer emporführte. Ich ging auf der Außenseite, in gleicher Höhe mit dem Wächter, während Denise uns folgte. Auf einer Stufe gab der äußerste Stein unter meinem Gewicht nach. Er fiel hinab, so daß ich nur noch auf einen Fuß auf der Treppe, den anderen aber in der leeren Luft hatte. Monsieur Le Goff packte mich am Mantelärmel. Denise kreischte: „Willy!“ und packte den Teil meiner Kleidung, der für sie am leichtesten erreichbar war – meinen Hosenboden. So wurde ich einerseits gezogen und verschaffte mir andererseits mit heftigen Kreiselbewegungen meiner Arme das nötige Gleichgewicht und entging einem Sturz auf den rund zehn Meter unter uns liegenden grasbewachsenen Hof. Der lose Stein landete mit einem Krachen. „Ah, quel malheur!“ rief der Wächter. „Aber durch die Gnade des großen Gottes sind Sie noch bei uns, Monsieur. Ich muß den Stein wieder anzementieren lassen. Sie wissen ja, wie das ist. Eine solche Ruine zerfällt schneller, als man sie reparieren kann. Ist alles wieder in Ordnung?“ Wir setzten den Rundgang fort. Am Ende drängte ich Monsieur Le Goff eine Handvoll des schlechten Papiers auf, das die Franzosen damals als Geld ansahen. Ich fand, es war das mindeste, was ich tun konnte. „Ich habe dich ja gewarnt, über den finsteren alten Knaben herzuziehen“, sagte Denise auf dem Heimweg. „Ich hatte da nicht ganz im Scherz gesprochen.“ 88
In das Schloß zurückgekehrt, machte Denise ein Nickerchen, während ich mit meiner Kamera durchs Gelände streifte und mir dabei eine der wenigen Perioden strahlenden Sonnenscheins zu nutze machte. Dabei stieß ich auf den Comte, der in alten Hosen und mit hochgerollten Hemdsärmeln im Blumengarten arbeitete, Hacke, Gießkanne und Insektenschutzmittel in Reichweite. Wir begrüßten uns, und ich erzählte ihm von meinem Besuch im Château Morzon. „Haben Sie ein Familiengespenst?“ fragte ich. „Der Wächter von Morzon sagte, so etwas gebe es hier oft, wenn man den Ge schichten Glauben schenken darf.“ „Nein; jedenfalls kein Familiengespenst. Warum fragen Sie?“ Ich erzählte ihm von dem Geklopfe während der Nacht. Der Comte zeigte ein schwaches Lächeln. „Wir haben keine alte Überlieferung von einem Gespenst“, sagte er. „Schließlich ist dieses Haus noch gar nicht so alt. Es stammt nicht aus dem Mittelalter, nicht einmal aus der Renaissance. Es ist napoleonisch, wie Sie zweifellos schon vermutet hatten. Es wurde gegen 1805 erbaut, als Ersatz für die Originalburg, die bei der Revolution von 1789 zerstört wurde. Andererseits muß ich zugeben, daß es seit dem letzten Krieg gewisse … äh … psychische Manifestationen gegeben hat. Meine Frau sagt, Sie verständen etwas von diesen Dingen.“ „Ich habe einige seltsame Erlebnisse hinter mir, ja.“ „Haben Sie und die charmante Madame Newbury heute abend etwas vor?“ „Nein, Monsieur le Comte.“
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„Bien, würden Sie uns dann die Ehre tun, an unserer kleinen Seance teilzunehmen? Vielleicht können Sie uns dabei gewisse Dinge erklären. Wir fangen um einundzwanzig Uhr an.“ „Vielen Dank; es wird uns eine Freude sein. Aber wie gehen Sie vor? Mit planchette, oder als Tischrücken oder mit einem Trance-Medium?“ „Angele ist unsere psychische Mittlerin. Sie schreibt ohne eigenen Willen.“ „Oh? Das wird ja interessant. Sagen Sie mir, ist sie irgendwie mit diesem Mann zusammen – Monsieur … äh … Burgdorf?“ „Ja, das könnte man sagen. Die Verlobung wird offiziell bekanntgegeben, sobald Max die französische Staatsbürgerschaft hat.“ „Er will Franzose werden?“ „Wenn er in meine Familie einheiraten will, gibt es keinen anderen Weg. Wissen Sie, Monsieur – wie soll ich das erklären? Madame Newbury und Sie – haben Sie Kinder?“ „Drei. Sie sind bei meinen Eltern in Amerika.“ „Ah, welches Glück Sie haben! Therese und ich sind zwar schon seit zwölf Jahren verheiratet, aber wir haben keine. Es liegt nicht daran, daß wir keine wollen, aber die Ärzte sagen, wir können keine bekommen. Ich habe keine nahen Verwandten – oder besser gesagt, die, die ich hatte, sind im Krieg umgekommen. Wenn ich also sterbe, wird der Titel erlöschen, es sei denn, ich sorge dafür, daß ich ihn weitergeben kann.“ „Ist denn das legal möglich?“ „Ja, wenn man bereit ist, den endlosen Behördenweg zu gehen. Natürlich“, fügte ich lächelnd hinzu, „ist mir klar, daß die Amerikaner gestandene Republikaner sind, die Titel jeder Art für mittelalterlichen Blödsinn halten. Trotzdem – einen Titel zu 90
haben, ist ganz angenehm. Abgesehen von dem sentimentalen Wert gibt er der Familie eine gewisse Solidarität. Auch für das Geschäft kann er gut sein. Ich habe mich also entschlossen, den Titel an Angeles Mann weiterzugeben, sobald sie einen hat, der ihn dann seinerseits weitervererben kann. Dazu muß der Mann aber Franzose sein. Folglich muß Max, wenn er Angele heiraten will, Franzose werden.“ Die Teilnehmer der Seance versammelten sich um neun Uhr. Wir – der Comte und die Comtesse, Angele, Max Burgdorf, Denise, ich und ein jüngerer Mann, den wir noch nicht kannten – setzten uns an einen großen runden Tisch. Das Licht wurde abgeschaltet. Angele hielt einen Bleistift über einen Schreibblock auf einem Klemmbrett. Der junge Mann wurde uns als Frederic Dion vorgestellt, ein Freund der Familie aus Vannes. Er war ein blonder Jüngling, etwa so alt wie Angele, und beobachtete das Mädchen mit einer Intensität, die mir unangebracht erschien. Nach einer gewissen Zeit beugte sich Angele vor und begann zu schreiben. Sie starrte geradeaus und nicht auf das Papier. Als sie innehielt, stand der Comte auf und schaute ihr über die Schulter. „Wieder der alte Franzose?“ fragte leise die Comtesse. „Nein; diesmal ist es Bretonisch. Können Sie das lesen, Frederic?“ Dion schüttelte den Kopf. „Als ich in die Schule ging, gab es noch keinen Bretonisch-Unterricht.“ Die Comtesse sagte: „Jean-Pierre kann das bestimmt. Ich gehe ihn holen.“ Während sie draußen war, flüsterte der Comte zu mir: „Monsieur Tanguy ist ein überzeugter bretonischer Nationalist. Er ist mit uns nicht ganz einverstanden, weil unsere Familie in 91
dieser Gegend nur bis zum fünfzehnten Jahrhundert zurückgeht. In seinen Augen sind wir Ausländer.“ Die Comtesse kehrte mit dem Geschäftsführer zurück. Tanguy sah sich Angeles Gekritzel an, schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn. „Dies ist ein älterer Dialekt, als ich ihn gewöhnt bin. Aber mal sehen – ich glaube, hier steht: ,Baut mein Haus wieder auf, wenn ihr wißt, was gut für euch ist. Baut mein Haus wieder auf. Baut mein Haus wieder auf.’ Dann verläuft es sich zu einem unleserlichen Gekrakel.“ „Meiner Treu!“ sagte der Comte. „Erwartet er, daß ich diese baraque einreiße und das alte Schloß nachbaue?“ „Selbst wenn wir es uns leisten könnten“, fügte die Comtesse hinzu, „haben wir doch den genauen Plan nicht mehr. Es gibt kei ne Unterlagen, die uns Aufschluß geben, wie das Schloß ausge sehen hat – bis auf den Stich von Fragonard.“ „Hat diese … äh Persönlichkeit einen Namen?“ fragte ich. „Manchmal nennt er sich Ogmas, manchmal auch Blaise“, ant wortete der Comte. „Könnte es sich um zwei verschiedene Wesenheiten handeln?“ Er zuckte die Achseln. „Wer kann das wissen? Aber er meint, daß beide Namen demselben gehören.“ „Vielleicht ist der eine ein Vor- und der andere ein Nachname“, meinte Dion. „Aber welcher Spezies gehört diese Wesenheit an?“ fragte ich. „Ist sie der Geist eines Sterblichen oder eine heidnische Gottheit, die aus der Bronzezeit übriggeblieben ist?“ „Wir haben ihn danach gefragt“, erwiderte die Comtesse, „aber er antwortet nur vieldeutig oder unsinnig. Solche Fragen scheinen ihn zu erzürnen.“
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Der Comte fügte hinzu: „Der curé ist überzeugt, daß es sich um einen Dämon aus der Hölle handelt und wir in Gefahr sind, auf ewig verdammt zu werden, weil wir uns mit ihm einlassen.“ Er lächelte gönnerhaft. „Der gute Pater Pare ist wohl leider ein wenig hinter der Zeit zurück. Er hat sich noch nicht auf die Veränderungen eingestellt, die in der Kirche vor sich gehen.“ Wir warteten eine Zeitlang, doch Angele brachte keine neuen Mitteilungen des Geistes zu Papier. In dieser Nacht jedoch hallten neue gespenstische Schritte durch die Flure, und es wurde an Türen geklopft. Am nächsten Morgen reisten vier zahlende Gäste des Comte vorzeitig ab. Sie hätten die ganze Nacht wachgelegen, sagten sie, und in ihrem Alter brauchten sie den Schlaf. Sie gestanden zwar nicht ein, daß sie Angst hatten, doch war dies zweifellos die Ursache für die Abreise. Die Carrieres schienen beunruhigt zu sein. Der Comte sagte zu mir: „Wir bewegen uns finanziell gesehen auf dünnem Eis, wie Sie sagen würden. Eine schlechte Saison könnte unser Ruin sein.“ Den größten Teil des nächsten Tages verbrachten wir in Auray und machten Aufnahmen von alten Häusern und Straßen. Wir sahen uns das Denkmal des Comte de Chambord an, des royalistischen Prätendenten aus den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, und das Haus, in dem Benjamin Franklin 1778 gewohnt hatte. Am Abend hielten wir eine weitere Seance ab. Dieselbe Gruppe versammelte sich am Tisch. Als Angele zu schreiben begann, lieferte sie als erstes ein mittel alterlich-bretonisches Gekritzel, das nicht einmal Jean-Pierre Tanguy lesen konnte. Dann äußerte sich die Schreibende in kla
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rem Französisch. „Vengeance!“ hieß es. „Vengeance! Vengean ce!“ „Rache an wem?“ fragte der Comte in die Luft. „An dem, der mein Haus zerstörte“, antwortete Angele schriftlich. „Mein lieber Geist“, sagte der Comte. „Das Schloß wurde 1795 zerstört, zur Zeit der Katastrophe von Quiberon. Die Leute, die an dem Vandalismus teilhatten, sind seit langem tot. Wie könnte man sich an ihnen rächen?“ „Nicht dieses Haus. Mein Haus. Mein Haus aus Stein. Mein großer Stein.“ „Stein?“ fragte die Comtesse. „Meinen Sie zufällig den Menhir von Locmelon?“ „Ja. Ja. Baut mein Haus wieder auf. Rächt mich an jenen, die es umstürzten. Vengeance! Rache! Rache!“ Der Comte sah sich verwirrt in der Runde um, und sein Blick verweilte eine Sekunde lang auf mir und auf Max Burgdorf. „Wer hat denn Ihren Stein zerstört?“ „Barbaren. Barbaren haben es getan.“ „Barbaren? Mein liebes Phantom, die letzten Barbaren, die wir hier erdulden mußten, waren die Wikinger, die im Jahr 939 von Alain Barbe-Torte verjagt wurden.“ „Stimmt nicht. Barbaren jetzt hier.“ „Hm“, machte der Comte. „Er muß die Zerstörung des Menhirs im letzten Krieg meinen. Wir Franzosen behaupten, die Deutschen hätten es getan, während die Deutschen die Amerikaner beschuldigen. Wir haben hier keine Deutschen. Monsieur Newbury, waren Sie zufällig in der Amerikanischen Air Force?“
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„Nein, Monsieur. Ich war in der Armee, doch ich hatte einen Schreibtischposten und bin nicht in die Nähe der Bretagne ge kommen.“ „Sie sehen, Monsieur revenant“, sagte der Comte ins Leere, „hier kann niemand etwas mit dem bedauerlichen Umsturz Ihres Megalithen zu tun haben.“ „Nicht richtig. Zwei Barbaren hier. Einer in Armee, die es getan. Rache an ihm. Rache kommt. Sie werden sehen …“ Angele begann krampfartig zu kritzeln. Die Spannung in dem abgedunkelten Zimmer steigerte sich zu einem lautlosen Schrei. „Aber mein lieber Geist!“ sagte der Comte. „Ich habe Ihnen doch erklärt …“ „Nein“, schrieb Angele. „Eine Barbarenarmee verfehlte mein Haus, eine traf es. Ich weiß, wer was ist.“ „Entschuldigen Sie mich einen Augenblick“, sagte Max Burgdorf. Er stand auf und verließ leise das Zimmer. „Nun also“, forderte der Comte, „wer ist nun was?“ Der schreibende Geist gab etliche Zeilen unleserliches Bretonisch aus der Frühzeit von sich. Dann war das oberste Blatt von Angeles Block aufgebraucht. Der Comte griff ihr über die Schulter und riß den Bogen ab. Angele begann wieder zu schreiben. „Sie irren“, schrieb Angele. „Mann mit Bart war in barbarischer Armee. Er wird sterben. Anderer Barbar gewarnt. Gestern gewarnt. In Morzon. Er soll helfen bei (unleserlich).“ „Aber das …“, begann der Comte. Er unterbrach sich, wandte den Kopf und lauschte. Im Flur waren Schritte zu hören. „Ent schuldigen Sie mich bitte einen Moment“, sagte der Comte, stand auf, ging zur Tür und öffnete sie. Wir übrigen standen auf und folgten ihm; nur Angele blieb sitzen. Max Burgdorf, der einen Koffer in der Hand hielt, öffnete die riesige geschnitzte Tür des Schlosses. 95
„Max!“ rief der Comte. „Was machen Sie? Wohin wollen Sie so plötzlich?“ „Das ist meine Angelegenheit“, erwiderte Burgdorf. „O nein, das stimmt nicht. Wollen Sie uns verlassen?“ „Ja.“ „Aber warum? Wohin wollen Sie? Was ist mit Angele?“ Als Burgdorf über die Schwelle trat, faßte der Comte ihn am Arm und drehte ihn herum. Burgdorf schüttelte die Hand ab. „Ich warne Sie – versuchen Sie mich nicht aufzuhalten!“ sagte er. Der Comte gab nicht nach. „Max! Als Ehrenmann verlange ich eine Erklärung …“ „Sie werden es zu gegebener Zeit schon erfahren“, fauchte Burgdorf über die Schulter und schritt zu seinem Auto. Im gleichen Augenblick fuhr ein zweiter Wagen in den Hof, und vier Männer stiegen aus. Drei trugen die Khaki-Uniform der Orts polizei und waren bewaffnet. Der vierte, ein Zivilist, rief: „Halte-lá, Monsieur von Zeitz!“ Burgdorf fuhr herum und zog einen Revolver. Doch ehe er schießen konnte, knallte ein Gewehr. Der Revolver wirbelte zu Boden, und Burgdorf ließ den Koffer fallen und umfaßte mit einem Schmerzensschrei seinen Arm. „Helmuth von Zeitz, alias Max Burgdorf“, sagte der Mann in Zivil. „Ich verhafte Sie im Namen der Republik.“ Burgdorf – oder von Zeitz – leistete keinen Widerstand mehr. „Monsieur le Comissaire“, sagte der Comte, „haben Sie die Güte, mir das zu erklären!“ „Monsieur le Comte“, antwortete der Beamte, „dieser Mann wird wegen Kriegsverbrechen gesucht. Er war der befehls habende Offizier der SS-Abteilung, die das Massaker von 96
Hennebont veranstaltet hat. Ich weiß nicht, warum der Dummkopf an den Schauplatz seines Verbrechens zurückgekehrt ist, aber so ist es nun einmal. Er verriet sich durch seinen Antrag auf Einbürgerung, als das zuständige Amt seine Herkunft untersuchte.“ Angele, die leise in der Tür erschienen war, schrie auf: „Er ist es! Jetzt erkenne ich ihn trotz des Bartes! Er ist der Mann, der mir das Leben gerettet hat!“ „Während er Hunderte von Landsleuten in den Tod schickte“, sagte der Comte. Im Licht der Lampen, die den Eingang säumten, sah der Comte plötzlich viel älter und sehr ernst aus. Burgdorf-von-Zeitz rief: „Ich wollte es an dir gutmachen, Angele! Ich wollte es nicht tun! Ich war damals ein junger Offizier, der seine Befehle hatte! Als du fortliefst, ein kleines zwölfjähriges Mädchen, da sagte ich mir, ich müßte eines Tages zurückkehren, und …“ Die Tränen auf seinen Wangen funkelten im Lampenschein. „Kommen Sie, Monsieur“, forderte der Commissionaire. „Wir müssen Sie ins Krankenhaus bringen, um den Arm zu versorgen. Es wäre nicht gut, wenn Sie in den Korb niesen und dabei einen Arm in der Schlinge tragen.“ Der Verdächtige wurde in den Wagen geschoben, der davon brauste. Angele brach in Tränen aus. Frederic Dion legte ihr den Arm um die Schultern. Als der Polizeiwagen verschwunden war, kehrten wir ins Schloß zurück. Angele zog sich mit ihrer Schwester zurück. „Was werden sie mit ihm anstellen?“ fragte ich den Comte. Der Comte betrachtete mich mit einem schwachen Lächeln und führte dann eine Handkante mit energischer Bewegung gegen seinen Hals. Die Franzosen sind kein sentimentales Volk. In der nächsten halben Stunde hatten der Comte und Tanguy damit zu 97
tun, die anderen Gäste zu beruhigen, die nach dem Schuß aus ihren Zimmern geeilt waren. Endlich kamen wir wieder im Wohnzimmer zusammen – der Comte, Tanguy, Dion, Denise und ich. Der Comte schenkte eine Runde Weinbrand ein. „Danken wir le bon Dieu“, sagte er, „daß es nicht schlimmer gekommen ist und daß nun alles vorbei ist.“ „Oh“, bemerkte Denise, „sind Sie sicher, daß es vorbei ist. Monsieur le Comte? Ihr Blaise de Ogmas, oder wie er sich nennt, fordert nach wie vor die Wiederherstellung seines Menhirs. Wenn das nicht geschieht …“ „Ich verstehe“, meinte der Comte. „Darüber muß man nachdenken.“ „Henri“, sagte Frederic Dion, „Sie wissen, daß Angele und ich alte Freunde sind und daß sie mir gewogen war, ehe dieser selbst ernannte Schweizer auftauchte. Habe ich Ihre Erlaubnis, ihr wieder den Hof zu machen?“ „Certainement – aber warten Sie einen Augenblick. Das Ge spenst möchte seinen Menhir instandgesetzt haben, sonst ruiniert es uns, indem es uns mit Klopfen und Rattern die Gäste vertreibt. Wenn Sie also die Kosten der Errichtung des Megalithen mit mir teilen, haben Sie meinen Segen für Ihr Interesse an Angele. Was Monsieur Newbury angeht, so bin ich überzeugt, daß Sie, Monsieur, im Interesse der alten Freundschaft zwischen unseren Ländern das Projekt mit Ihrem technischen Können unterstützen werden. Sind wir uns einig? Bien.“ Der Comte mochte ein charmanter Bursche sein, aber das hinderte ihn nicht daran, ein scharfes französisches Auge auf seine Interessen zu haben. Ich weiß nicht, wie es Frederic mit seiner Werbung ergangen ist. Er schien mir ein netter junger Mann zu sein, und so hoffe ich, 98
daß er Angele geheiratet hat und mit ihr sehr glücklich geworden ist. Aber so geschah es, daß wir eine Woche später in Arbeits kleidung auf dem Feld des Menhir von Locmelon standen und zusahen, wie der Kran auf Monsieur Lebraz’ Abschleppwagen langsam das letzte Stück des Steins in die Luft hob. Ich hatte das Kabel um den Steinbrocken gelegt, in der Hoffnung, daß meine Unerfahrenheit als Baumeister unentdeckt bleiben würde. Als das Stück über dem Monument schwebte, stieg ich die Leiter empor. Denise reichte mir eine Mörtelkelle und einen Eimer, und ich klatschte feuchten Zement auf die Bruchfläche des Steins. Dann ließ Lebraz das oberste Stück zentimeterweise herab, bis ich es an Ort und Stelle plazieren konnte. Schließlich zogen wir das Kabel zwischen den Steinen hervor. Den überflüssigen Mörtel, der stellenweise aus den Fugen gedrückt wurde, kratzte ich mit der Kelle ab. So schaute schließlich das finstere Gesicht von der Spitze des Monolithen auf uns herab, wie es das vor dem Umsturz vierzig Jahrhunderte lang getan hatte. Am nächsten Tag packten wir unsere Sachen und fuhren in Richtung Cahors weiter. Da wegen der Arbeit am Menhir unser Zeitplan etwas durch einandergeraten war, brachen wir früh auf. Als wir uns von den Carrieres im Hof verabschiedeten, fuhr ein Wagen herbei, und ein dicker kleiner Mann stieg aus. „Monsieur le Comte de la Carriere?“ fragte er. „C’est moi“, antwortete der Comte. „Ich bin Gaston Lobideau, vom Amt für Historische Denkmäler. Ich habe aus zuverlässiger Quelle erfahren, daß Sie, Monsieur, ohne Erlaubnis und ohne besonderes archäologisches Wissen den zerstörten Menhir von Locmelon instandgesetzt haben. Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, Monsieur, daß dies ein ernsthafter Verstoß gegen das Denkmalschutzgesetz der 99
Republik ist. Sie hätten auf den vorgeschriebenen Wegen eine Erlaubnis beantragen sollen. In einigen Monaten wäre dann ein Experte gekommen, um Ihre Eignung für ein solches Unter nehmen zu prüfen und den Einsatz zu überwachen …“ Denise und ich stiegen in unseren Peugeot, winkten und fuhren los. Unser letzter Blick durchs Rückfenster zeigte den Comte und Monsieur Lobideau brüllend und armeschwenkend im Hof. Ich habe nie erfahren, wie die Sache ausgegangen ist – aber das ist vielleicht ganz gut so. Womöglich hätte man uns gleich mit vor Gericht gestellt.
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Darius Abgesehen von seiner Größe sah das schwarze Pferd ganz normal aus. Denise sagte: „Dieses mächtige rosse scheint mir zu groß zu sein, Willy. Du mußt mich von hinten hinaufschieben.“ Das Tier blickte gleichgültig in unsere Richtung und senkte dann den Kopf, um sich mit dem Huf hinter dem Ohr zu kratzen. „Machen Sie sich keine Sorgen, Mr. Newbury“, sagte Seymour Green, der Pferdepfleger. „Darius ist der ruhigste Bursche, den wir haben. Er ist sogar so faul, daß man ihn oft kaum in Bewegung halten kann.“ „In Ordnung, Liebling“, sagte ich zu Denise. „Steig auf; ich schiebe.“ Mit energischem Stoß beförderte ich Denise in den Sattel. Das Pferd wirkte in der Tat übergroß für eine kleine Frau. Denise schaute besorgt in die Tiefe. „Ein tiefer Sturz. Kümmere dich um unsere armen Kinder, sollte mir etwas zustoßen.“ Das Pferd begann laut zu wiehern; es hörte sich wie ein Pferdelachen an. Jim, einer von Greens Helfern, sattelte andere Tiere. „Habe ich Sie nicht schon mal gesehen, Mr. Newbury?“ fragte Green. „Ja“, antwortete ich. „Ich bin seit meiner Kindheit immer mal im Sommer hier gewesen.“ „Ich dachte …“, begann Green, brüllte dann aber los: „Ach tung!“ Ich drehte mich um und sah, daß Denises Pferd mich von hinten anschlich. Als ich mich umwendete, ließ das Tier mit gebleckten Zähnen den Riesenkopf vorschnellen. Ich sprang wie ein erschrockener Ochsenfrosch zurück. Denise schrie auf und zerrte an den Zügeln. Green fluchte, ergriff eine Leine und versetzte dem Pferd einen Schlag auf die Schnauze. 101
Das Tier wich zurück, stieß ein lautes Wiehern aus und beruhigte sich. „So etwas habe ich ihn noch nicht machen sehen“, sagte Green. „Vielleicht hätte ich ihn nicht für Sie einteilen sollen.“ „Ach, ich glaube, wir kommen schon hin, sobald wir alle aufgestiegen sind“, erwiderte ich und schwang mich in den Sattel, der zum Glück ein Westernsattel war. Die englischen Sättel sind ja sehr hübsch, aber ein Western schenkt mehr Sicherheit. Wenn man älter wird, sind die Knochen nicht mehr so beweglich. Der Ritt ging glatt. Jim führte Denise, zwei andere Sommertouristen und mich eine Stunde lang über die verschlungenen Wege der Gegend, durch fortgeschrittene Aufforstung von Ahorn, Buchen und Birken. Die Eichhörnchen schnatterten und die Blind bremsen summten. Die Kinder hatten wir bei meiner Tante Frances in ihrem Haus am Algonquin-See gelassen. Dort verbrachten wir unsere Ferien. Seit ihre Tochter Linda geheiratet hatte, lag Frances Colton sehr daran, daß wir sie besuchten und ihr Gesellschaft leisteten. Da ich wenigstens einen guten Ritt absolvieren wollte, hatte ich Denise nach Gahato gefahren, wo Green im Sommer seinen Stall unterhielt; im Winter schaffte er seine Tiere nach Syracuse. Denises Besorgnis schlug in Ungeduld um, als Darius bei jeder Gelegenheit innehielt, um ein Farnblatt zu kauen oder sich auch nur auszuruhen. So befand sie sich immer am Ende der Kavalkade. Wenn die übrigen trabten, trottete Darius gelassen dahin. Auf seinem Rücken hüpfend, blieb Denise noch weiter zurück. Wenn sie ihm die Hacken zu spüren gab, stieß er sein durchdringendes Wiehern aus und ging trotzdem nicht schneller. Als der Ritt vorbei war, sprang ich ab und näherte mich Darius, um Denise aus dem Sattel zu helfen. „Er ist zu groß für mich“,
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sagte sie. „Sacra nom! Ich komme mir vor wie eine Ameise, die einen Elefanten lenken will!“ Als sie aus dem Sattel glitt, bewegte sich Darius plötzlich und stellte einen großen Huf auf meine Stiefelspitze. „Au!“ brüllte ich und zog den Fuß ruckhaft fort. Denise in den Armen haltend, geriet ich ins Taumeln und hätte mich beinahe in Schmutz und Pferdekot gesetzt. Green brüllte etwas und versetzte dem Tier wieder einen Schlag mit dem Zügel. Das Pferd wieherte. „Scheint etwas gegen Sie zu haben“, sagte er. „Was macht der Fuß?“ „Gebrochen ist nichts, das spüre ich“, antwortete ich. „Der Boden ist weich, er hat mir nur die Zehen hineingedrückt.“ „Wann kommen Sie wieder?“ „Wenn das Wetter in Ordnung ist, morgen. Wir werden uns morgen sehr steif fühlen, und so etwas wird man am besten los, wenn man gleich wieder losreitet.“ „Ah, ja. Dann schreibe ich das hier in mein Buch.“ Da wir seit einigen Jahren nicht mehr geritten waren, hatten wir am nächsten Morgen, wie ich vorausgesagt hatte, einen ziemli chen Muskelkater. Das Wetter gestattete den vorgesehenen Ritt allerdings nicht. Es trat ein zwei Tage langer Dauerregen ein, wie er für die Adirondacks typisch war. So konnten wir nur im Haus der Coltons herumhumpeln, lesen und mit den Kindern Spiele veranstalten. Ich kam dazu, Denise und meiner Tante eines mei ner Jugenderlebnisse in dieser Gegend zu erzählen. „Als die Ten Eycks das große Haus auf der Insel zwischen dem Oberen und dem Unteren See hatten – die Insel, die bei dem Erdbeben unterging –, nahmen sie jeden Sommer zahlreiche Gäste 103
kostenlos auf. Freunde und Verwandte kamen schubweise und lösten sich ab. Meine unmittelbaren Verwandten, wie auch meine Schwester und ich, kamen dort regelmäßig unter. Alfred Ten Eyck und ich fuhren oft in einem Ruderboot los, um in den kleinen Buchten und Wasserläufen herumzufischen, besonders in der Stachelschwein-Bucht. Ich hatte ein Mikroskop mit, und wir rafften eine Handvoll Schlamm aus dem Sumpf und betrachteten die kleinen zappelnden Lebewesen in der Vergrößerung. Einmal geriet Alfred dabei in den Treibsand am hintersten Ende der Bucht, und ich mußte ihn am Haar ins Boot zerren. Ein andermal erwischen wir einen Hiesigen beim Wildern. Er hatte ein Reh geschossen und weidete es eben am Ufer der Bucht aus, als wir um die Landzunge kamen und ihn sahen. Es war eine ziemlich entlegene Bucht, und er hatte nicht mit unserem Besuch gerechnet. Ich erkannte den Mann sofort: Henri Michod, ein Holzfäller, der in Pringles Sägewerk arbeitete. Larochelle, Pringles Vorarbeiter, sagte immer, Michod sei kräftig genug, um für zwei zu arbeiten, andererseits aber so faul, daß er nur die Arbeit eines halben Mannes schaffte. Er hatte überhaupt seltsame Ange wohnheiten: ständig kratzte er sich hinter dem Ohr und lachte so laut, daß man ihn auf eine halbe Meile Entfernung hörte. Es wurde sogar behauptet, er bessere sein Einkommen auf, indem er während des Winters in Hütten einbreche. Nun ja, ich bin immer ein begeisterter Wild- und Naturschüt zer gewesen. Damals war ich etwa dreizehn Jahre alt und voll des selbstgerechten Zorns. Jedenfalls meldete ich dem Waldhüter, dem alten Roy Newcomb, die Wilderei, und er verhaftete Henri Michod. Henri mußte eine Strafe bezahlen und verlor das Reh. Etwa eine Woche später kam er auf der Straße in Gahato an mir vorbei und sagte: ,Wie ich höre, hast du mich beim Hüter verpfiffen, hein? Verdammich, nimm dich in acht, du kleiner 104
Schweinehund! Ich zahl’s dir heim, darauf kannst du dich verlassen!’ Ich war eine Zeitlang besorgt, denn Michod war ein großer, kräftiger Kerl, der angeblich sehr unangenehm werden konnte. Mir kam er so groß vor wie ein Goliath. Aber nichts geschah, und in den nächsten Sommern reisten wir ohnehin an andere Orte. Als wir später in die Adirondacks zurückkehrten, bekam ich Henri Michod nicht mehr zu Gesicht. Ich hatte ihn sogar völlig vergessen, bis das verdammte Pferd mich gestern lebhaft an ihn erinnerte.“ Am zweiten Regentag quartierten sich der Finanzdirektor unserer Bank, Malcolm McGill, und seine Frau in Joe Briggs AlgonquinLodge ein. (Damals war er noch Stellvertretender Finanzdirektor.) Ich hatte ihm das Hotel empfohlen, als er einmal erwähnte, er würde gern die Großen Wälder im Norden kennenlernen. Während Denise, meine Tante Frances und ich mit den McGills in der Lodge aßen, brachte Denise die Sprache auf unseren kürzlichen Ritt. „Oh, kann man hier reiten?“ fragte McGill voller Begeisterung. „Das würde ich gern mal probieren!“ „Dann kommen Sie doch morgen mit nach Gahato, wenn der Regen nachläßt“, antwortete ich. Der Regen hörte tatsächlich auf, und so fanden wir uns am nächsten Vormittag bei Seymour Greens Stall ein. McGill und seine Frau kamen in Jeans und Turnschuhen, die für das Reiten nicht gerade geeignet sind, weil sie keine Absätze haben. Ich trug Stiefel und Reithosen, in denen ich seit zwanzig Jahren ritt; allerdings hatte Denise die Hose weiter machen müssen. Ich bin kein Cowboy oder Kosake. Andererseits bin ich schon ziemlich viel geritten, angefangen mit der vornehmen Internatsschule, in die ich geschickt wurde, ehe der Große Zusammenbruch unsere 105
finanziellen Möglichkeiten stutzte. In jenem Institut stand Pferdekunde auf dem Lehrplan. Ich habe sogar schon einige Sprünge absolviert, ohne aus dem Sattel zu fallen. „He!“ sagte McGill. „Ich möchte das da!“ Er deutete auf den großen Schwarzen, der mir auf den Fuß getreten hatte. „In Ordnung“, erwiderte Green. „Der macht Ihnen keinen Ärger, dazu ist er zu faul. Sattle ihn, Jim.“ Dann machte McGill Anstalten, Darius von der falschen Seite zu besteigen. Das Pferd wich zurück, und Jim setzte McGill ins Bild. „Ich kann mir nie merken, welche Seite die richtige ist“, sagte er. „Stellen Sie sich vor, Sie tragen links ein Schwert“, erklärte ich ihm. „Wenn Sie dann von rechts aufsteigen wollten, würde die Scheide dem Pferd in die Seite stechen und es scheu machen.“ „Aber ich bin linkshändig, da würde ich das Schwert doch rechts tragen!“ Darauf versuchte ich keine Antwort zu finden. Green reichte McGill eine Gerte in Form eines kleines Asts; damit sollte er das Pferd wecken, wenn es die Hacken seines Reiters ignorierte. Wir ritten los. Zuerst machte Darius keinen Ärger; trotzdem brachten mich die McGills ins Schwitzen. Im Gespräch hatten sie den Eindruck erweckt, als wären sie erfahrene Reiter. Die Art und Weise, wie sie im Sattel saßen, und McGills Aufsteigemethoden bestätigten diesen Eindruck allerdings nicht. Außerdem fühlten sie sich von den Blindbremsen belästigt und schlugen immer wieder danach. Sie waren ohne Kopfbedeckung gekommen und schienen nicht zu wissen, daß Blindbremsen sich vorzugsweise Ziele aussuchen, die nach Haar aussehen. Dann kann es passieren, daß man plötzlich das Gefühl hat, man habe 106
eine heiße Nadel in Kopf und Nacken gestochen bekommen. McGill streckte die Knie zur Seite, so daß zwischen den Beinen und dem Pferd das Grün hindurchschimmerte. „Malcolm“, sagte ich, „wie oft sind Sie eigentlich schon geritten?“ „Na, vielleicht zweimal.“ Ich schluckte trocken. „Also, wenn Sie im Sattel bleiben wollen, sollten Sie die Knie fest gegen die Flanke des Tiers pressen.“ „Oh“, sagte er. Er versuchte meiner Anweisung nachzu kommen, aber der Kniegriff ist sehr ermüdend, wenn man nicht daran gewöhnt ist. Nach kurzer Zeit ragten die Knie wieder in die Gegend. Er hielt sich aber recht gut, bis wir nahe dem Gahato-Flugfeld den Wald verließen. Jim begann zu traben. McGill überlebte Darius’ erste weite Hüpfer. Dann begann sein Sattel seitlich zu schwanken und rutschte mit jeder Bewegung weiter herum, während er mit dem Körper einen Ausgleich zu schaffen versuchte. Ohne Kniegriff vermochte er den Sattel nicht festzuhalten. Ich rief: „He, Malcolm! Passen Sie auf!“ Und schon stürzte er. Der Sattel glitt dem Pferd unter den Bauch, und McGill landete zwischen Himbeerbüschen auf dem Rücken. Darius blieb stehen und begann zu grasen. Die übrigen hielten an. Jim reichte mir die Zügel, sprang ab und half McGill hoch. McGill humpelte. Hände und Gesicht waren von Dornen zerkratzt. „O Mann!“ fluchte er. „Ich glaube, ich habe mir den großen Zeh im Steigbügel verstaucht.“ Damit hatte er sogar noch Glück. Ein Sturz vom Pferd mag zwar komisch aussehen, ist aber kein Witz. Wäre er mit dem Kopf auf etwas Hartes gefallen oder mit dem Fuß im Steigbügel hängengeblieben, hätte er ums Leben kommen können. Bei einem meiner wenigen Stürze verletzte ich mich dermaßen an der 107
Schulter, daß ich erst nach einem Jahr wieder völlig in Ordnung war. Jim untersuchte Darius und sagte: „Wieder dieser ver dammte Trick. Die schlaueren Tiere atmen gern tief ein, sobald man den Gurt festzieht. Wenn sie dann ausatmen, sitzt der Sattel locker. Verdammtes Biest, halt still!“ Diese Worte galten dem Pferd, dem Jim energisch den Sattelgurt festzog. „Jetzt geht er nicht mehr los. Das Biest ist faul, aber das schlaueste Pferd, das mir je untergekommen ist. Will mir manchmal scheinen, als hätte er einen Menschenverstand. Können Sie wieder aufsteigen, Mr. McGill?“ Als McGill wieder im Sattel saß, brachten wir den Rest unseres Ausfluges in gedämpfter Stimmung und mit Vorsicht hinter uns. Klugerweise zogen es die McGills vor, an ihrem zweiten Tag eine Bootsfahrt zu machen, und so kamen Denise und ich erst wieder zum Reiten, als sie abgefahren waren. Diesmal suchte ich mir Darius aus. „Wollen Sie ihn wirklich nehmen?“ fragte Seymour Green. „Er mag Sie nicht.“ „Das werden wir sehen“, antwortete ich. „Ich glaube, ich werde mit ihm fertig.“ „Oh, Willy!“ rief Denise. „Du bist wieder einmal so têtu – so absolut stur!“ „Ja“, erwiderte ich. „Satteln Sie ihn.“ Als der Schwarze fertig war, trat ich auf ihn zu. Darius bleckte die Zähne. „Nichts da!“ sagte ich und fügte leiser hinzu, so daß niemand mithören konnte: „Sag mal, bist du wirklich Henri
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Michod?“ Darius warf den Kopf hoch und ließ ein dröhnendes Wiehern ertönen. „Und du hast es seit fünfundzwanzig Jahren auf mich abgese hen, wie?“ Wieder wieherte er. „Wie hast du mich erkannt? Dadurch, daß Green mich beim Namen genannt hat?“ Das Pferd nickte. „Nun ja, du mußt dich auf jeden Fall ordentlich aufführen.“ Ich ging zur linken Seite des Tiers und stellte den Fuß in den Steigbügel. Darius drehte und senkte den Kopf und versuchte mir in den Fuß zu beißen, aber ich kam ohne Probleme in den Sattel. Ich beobachtete das Pferd, damit es sich nicht zu Boden warf und sich auf den Rücken rollte oder mich abzuwerfen versuchte. Zum Glück war er zum Hinlegen zu faul, denn das hätte bedeutet, daß er wieder aufstehen mußte. Bei seinem Gewicht war das keine Kleinigkeit. Was das Aufbäumen anging, so wußte er vielleicht gar nicht, wie er das anstellen sollte. „Sieh dich vor, Liebling!“ rief Denise. Sie saß auf einer friedlichen kleinen Stute. Wir ritten mit vier anderen Touristen aus. Jim war unser Führer. Es war ein wunderschöner Sommertag, wie man ihn dann und wann in den Adirondacks erleben kann, wenn man die Geduld hat, eine oder zwei Wochen kalten, nebligen oder regnerischen Wetters durchzustehen. Und plötzlich legte die Feuersirene von Gahato los, zwar außer Sichtweite, aber deutlich zu hören. Die Pferde tänzelten und warfen die Köpfe hoch. Ich beugte mich vor, um Darius beruhigend den Hals zu tätscheln. Ich wußte nicht recht, ob ich das Wesen als Mensch oder Tier behandeln sollte. Darius suchte sich diesen Augenblick aus, um den Kopf hochzuwerfen – sein mächtiger Schädel traf mich mitten ins Gesicht. Ich hörte meine Sonnenbrille zerbrechen. Leicht 109
benommen verlor ich einen Steigbügel, angelte ihn mir aber zurück, ehe Darius den Vorteil ausnutzen konnte. „Bist du verletzt, Willy?“ fragte Denise. „Ich glaube nicht“, antwortete ich, „außer daß er mir die Brille ins Gesicht gestoßen hat. Morgen habe ich wahrscheinlich ein blaues Auge.“ Ich setzte die Brille ab und untersuchte sie. Der Rahmen war angebrochen; die Gläser mußten also umgebettet werden. Ich steckte die Überreste in die Tasche und nahm mir dabei vor, im Sattel nie wieder eine Brille zu tragen. Eine Zeitlang war alles friedlich. Wir gingen im Schritt und Trab und leichtem Galopp. Keiner der anderen Reiter war so unerfahren, wie McGill es gewesen war. „Also gut, Henri Michod“, sagte ich zu meinem Pferd. „Wie du siehst, ist es gar nicht so übel, wenn du tust, was man dir …“ Wir trabten gerade über einen entlegenen Waldweg und erreichten eine Gabelung. In der einen Richtung kam man nach Gahato; der andere Weg führte zum Unteren und Oberen See. Als Jim sein Pferd zur Seite drehte, um seine Schutzbefohlenen auf schließen zu lassen, erschien auf dem Weg plötzlich das gesamte Leichtathletik-Team der Oberschule von Gahato und trabte mit lautem Hallo an uns vorbei. „Yipee!“ rief einer der Jungen. „Reitet, ihr Cowboys!“ Das hatte uns noch gefehlt. Die Pferde drehten durch. Denises Stute fuhr herum und machte sich im Galopp auf den Rückweg zu Greens Stall; die anderen folgten. Darius nahm sich die andere Abzweigung vor, den Weg, der zu den Seen führte. Ich lehnte mich zurück und faßte die Zügel kurz, aber das verwünschte Tier hatte die Trense zwischen die großen gelben Zähne geklemmt. Es gab kein Halten mehr. 110
Im Galopp ging es los. Ich hörte Geschrei hinter mir, hatte aber zuviel damit zu tun, im Sattel zu bleiben und die Steigbügel straff zu halten, um darauf zu achten. Der Weg ging in eine alte Holztransportspur über, teils zuge wachsen mit jungen Baumschößlingen. Darius brach zwischen den jungen Trieben durch, die mir gegen die Beine peitschten. Ich packte das Hörn des Westernsattels und klammerte mich fest, froh, daß mich bei diesem Reiter-Faux-Pas niemand beobachtete. „Gottverdammt, Michod, hab doch Vernunft!“ brüllte ich. Darius wieherte aber nur und donnerte weiter. Nun endete auch der alte Weg. Die überwachsene Fahrspur bog ab. Darius schlug irgendeine Richtung ein, hangaufwärts und wieder hinab, und ging dann ganz in die Wildnis. Wir erreichten eine Gegend, in der seit vielen Jahrhunderten keine Bäume mehr gefällt worden waren. Der Wald kam mir beinahe jungfräulich vor. Darius peilte eine große Buche an, die einen waagerechten Ast hatte – genau in der richtigen Höhe, um mich aus dem Sattel zu befördern. Ich machte mich auf dem Pferderücken klein. Der Ast fuhr mir am Kopf entlang und riß mir die Mütze ab, schadete mir anson sten aber nicht. Noch zweimal versuchte es Darius mit demselben Trick. Und jedesmal entging ich um Haaresbreite der Katastrophe. Dann lief er einen Hang hinab, an dessen Ende zwischen Bäumen Wasser funkelte. Wir brachen aus dem Wald hervor und befanden uns am sumpfigen Ufer eines Sees. Als sich Darius ins Wasser stürzte, erkannte ich die Stachelschwein-Bucht am Oberen See. „Du Idiot, wir gehen im Schlamm unter!“ brüllte ich. Darius galoppierte weiter, er befand sich bereits bis zu den Knien im Wasser. Meine Stiefelspitzen erzeugten kleine Bugwellen. 111
Darius erreichte eine etwas flachere Stelle. Ich sah gelben Sandboden zwei Zoll unter der Wasseroberfläche – und plötzlich sanken seine Beine weiter ein. Er war in den Treibsand geraten. Im nächsten Augenblick war Darius bis zum Bauch eingesunken. Meine Füße wurden durch weichen Sand gezogen. Darius schnaubte und bäumte sich auf, doch seine Anstrengungen ließen ihn nur noch tiefer sinken. Der Treibsand stieg zur Hälfte seines Brustkorbs empor, beinahe bis zur Oberkante meiner Stiefel. „Geschieht dir recht, du Hundesohn!“ sagte ich. Mir fiel ein, daß man in Treibsand zwar nicht gehen, aber darin schwimmen kann. Dabei kommt es darauf an, ein möglichst breites Profil zu bieten. Ich zog die Beine hoch, bis ich den rechten Fuß auf dem Sattel stehen hatte. Dann stemmte ich mich hoch, auf dem Sattel stehend, und warf mich rückwärts vom Pferd weg. Mit lauten Klatschen landete ich rücklings auf dem dünnen Wasserfilm über dem Sand. Ich versuchte nicht aufzustehen, sondern bewegte mich nach Art eines Rückenschwimmers, die Ellenbogen in den nachgiebigen Treibsand pressend. Nach einigen Schwimmzügen befand ich mich auf festerem Grund. Ich langte hoch, umfaßte den Ast einer über das Wasser ragenden Schierlingstanne und zerrte mich aus dem Schlamm. Darius kämpfte noch und sank immer tiefer. Er schnaubte und rollte mit den Augen. „Da!“ brüllte ich. „Siehst du nun, was du dir aufgeladen hast, Henry?“ Er stieß einen seltsamen Laut aus – eigentlich kein Wiehern, eher einen Klagelaut, wenn es überhaupt denkbar erscheint, daß ein Pferd einen solchen Ton von sich gibt. „Oh, du möchtest, daß ich dich herausziehe, wie?“ Er wieherte. „Geschähe dir recht, wenn ich dich versinken ließe!“ Wieder der mitleidsvolle Jammerton. 112
Ich hörte ein leises Hallo im Wald und rief. Nach kurzer Zeit erschienen Seymour Green, Jim, Denise und einer der Touristen; sie ritten vorsichtig durch das Unterholz. „Mein Gott, Liebling!“ rief Denise. „Hast du im Sumpf geschwommen? Du bist ja überall schlammbedeckt, von Kopf bis Fuß!“ „Genau“, antwortete ich und erzählte meine Geschichte. „Wie bekommen wir wohl das Pferd heraus, Mr. Newbury?“ fragte Green. Ich würde es ungern verlieren.“ „Jemand soll ins Dorf reiten und aus Tates Eisenwarenladen dreißig Meter Halbzoll-Leine holen“, sagte ich. „Wenn er sich beeilt, ist er vielleicht wieder hier, ehe Darius untergeht.“ Jim galoppierte los. Die anderen stiegen ab, banden ihre Tiere an und setzten sich am Ufer nieder. Denise versuchte mir den Schlamm abzuwischen, ein hoffnungsloses Unterfangen. Draußen im Treibsand bäumte sich Darius nur noch von Zeit zu Zeit auf. Entweder war er von seinen Anstrengungen erschöpft, oder er hatte sich in sein Schicksal ergeben. Kopf, Hals und Sattel ragten noch aus dem Schlamm. „Seymour“, wandte ich mich an Green, „wie alt ist das Pferd?“ Green überlegte. „Achteinhalb oder neun Jahre, würde ich sagen. Warum?“ „Haben Sie mal einen frankokanadischen Holzfäller namens Henri Michod gekannt?“ „Nein – doch, da war mal ein Bursche, der so hieß. Er arbeitete ein paar Jahre irgendwo und kämm nach dem Krieg zurück. Verdiente sich in der Saison als Jagdführer sein Geld.“ „Was ist aus ihm geworden?“ 113
„Er ist tot. Einer der ahnungslosen Jäger hielt ihn trotz des roten Hemds für ein Reh und erschoß ihn.“ „Wann war das?“ Green kratzte sich am Kopf. „Mal sehen – sechsundvierzig, siebenundvierzig? Jedenfalls vor etwa neuen Jahren. Warum wollen Sie das wissen, Mr. Newbury?“ „Ach, es ist nur so eine verrückte Idee. Da kommt Jim mit dem Seil. Ich steige jetzt in den Sumpf hinaus. Ihr haltet mich am Hemdzipfel fest, damit ich nicht einsinken kann.“ Ich band das Ende des Seils zu einer Schleife und tastete mich durch das flache Wasser in Richtung Pferd. In meinen Stiefeln gluckerte es. Als ich spürte, daß der Boden unter mir nachgab, blieb ich stehen. Ich bin zwar kein Lassokünstler, schaffte es aber beim dritten Wurf, die Schlinge um das Sattelhorn zu werfen. „Sollen wir ihn an Land ziehen?“ fragte Jim. „Noch nicht.“ Ich brachte das Seil zum Ufer, legte es um den Stamm der Schierlingstanne und kehrte ins Wasser zurück. Dann warf ich eine zweite Schlinge um das Sattelhorn. Auf diese Weise wollte ich einen physikalischen Vorteil nutzen, wie man ihn beim Fla schenzug hat. Schließlich zerrten fünf Mann am freien Ende des Seils und hievten Darius zentimeterweise ans Ufer. Zehn Minuten später stand er zitternd im flachen Wasser und ließ den Kopf hängen, während Schlamm und Wasser von ihm tropften. „Also, Henri“, sagte ich zu ihm, „wirst du dich jetzt anständig benehmen?“ Green und Jim starrten mich an. Sie rissen die Augen noch mehr auf, als Darius unsicher in meine Richtung tapste, eine 114
Zunge herausstreckte, die so groß war wie einer meiner Stiefel, und mir damit durch das Gesicht fuhr. „Bei Gott, so etwas habe ich noch nicht gesehen!“ rief Green. Ich verschluckte mich und wischte mir das Gesicht mit einem Papiertaschentuch ab, das Denise mir reichte. Dieser Vorfall war für mich Beweis genug, daß in Darius entweder der Geist Henri Michods weiterlebte oder er überhaupt eine Reinkarnation des Mannes war. Kein einfaches Pferd war intelligent genug, um zu erkennen, daß ihm jemand das Leben gerettet hatte, und um hinterher seine Dankbarkeit unter Beweis zu stellen. Auf dem Rückweg war Darius der vollkommene Gentleman, soweit man das von einem Pferd sagen kann. Als wir jedoch in den Wagen stiegen, riß er sich von Greens Männern los und trabte wiehernd auf uns zu. „He!“ sagte ich. „Er will bei uns bleiben! Wenn … blub …“ Darius hatte die Schnauze durch das Wagenfenster geschoben und mir wieder das Gesicht abgeleckt. Ich schob seine Nase hinaus und drehte die Scheibe hoch. Greens Männer eilten herbei, um das Pferd am Halfter festzuhalten. Ich ließ den Wagen an, setzte zurück, wendete und steuerte auf die Straße zum Algonquin-See. „Er kommt uns nach!“ rief Denise. „Ob wir ihn wohl kaufen können?“ Ein Blick in den Rückspiegel zeigte uns Darius. der noch immer gesattelt hinter uns her galoppierte. Die leeren Steigbügel hüpften. Ich trat aufs Gas und hängte ihn ab. „Nein“, sagte ich, „wir haben keinen Platz zum Unterstellen, und es wäre zu teuer, ihn in einem Stall zu halten. Vergiß nicht, daß wir zwei Kinder haben, die wir eines Tages durch die Universität bringen wollen. 115
Außerdem weißt du ja, wie die Leute sind. Heute können sie überfließen vor Dankbarkeit. Doch morgen sagen sie schon: ,Aber was hast du letzthin für mich getan?’ und stellen sich gegen einen. Ich bin sicher, bei Darius würde es ebenso kommen.“ „Aber Darius ist doch nur ein Pferd!“ rief sie. „Ach ja? Mag sein, trotzdem will ich es nicht darauf ankommen lassen!“
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KOB & Co. Nichts kommt einer Begegnung mit dem Unerklärlichen gleich, wenn es darum geht, von überheblichen Anwandlungen geheilt zu werden. Ich war kürzlich zum Vizepräsidenten der Harrison Trust-Bank ernannt worden und war ziemlich im Lot mit mir selbst. Im Rückblick muß ich sagen, daß die Beförderung wohl weniger auf mein Können zurückging als auf die Tatsache, daß ich schon Ende dreißig vorzeitig graue Haare bekommen hatte. Dies gab mir das nüchterne, verläßliche Aussehen, das die Leute von ihren Bankiers erwarten. Als der bisherige Vizepräsident in den Ruhestand trat, setzte mich Esau Drexel auf seinen Posten. Zuerst regte sich Denise wegen meines Haars auf; sie meinte, es solle noch nicht so aussehen, als sei sie mit einem alten Mann verheiratet. Ich probierte es mit Färbemitteln, aber das machte mehr Mühe, als ich investieren wollte; man mußte die Prozedur etwa jede Woche wiederholen. So setzte ich mein stures Gesicht auf und weigerte mich, mein Haar zu färben. Denise hatte jahre lang über mein Haar geklagt. Aber als ich dann befördert wurde, tröstete sie sich mit der Gehaltserhöhung. In Geldsachen hat sie die realistische französische Einstellung. Ich war noch nicht lange im neuen Amt, als Drexel mich eines Tages in das Büro des Bankpräsidenten rief. „Willy“, sagte er, „hier haben wir ein kleines Rätsel. Ein Bursche in Atlanta möchte fünfhunderttausend Dollar aufnehmen. Er behauptet, er habe genügend Anträge zur Untermauerung des Kredits, aber ich finde ihn weder bei Dun & Bradstreet noch in einem anderen Verzeichnis. Warum kommt er außerdem zu uns? In Georgia gibt es doch genügend Banken.“ „Vielleicht haben die seine Kreditwünsche abgelehnt?“ 117
Drexel schob mir einen Brief zu. Oben auf dem Briefbogen stand KOB & Co., die Anschrift darunter war ein Postfach in Atlanta. Am Brief war ein Stapel Photokopien von Bestellungen bei der Firma befestigt. In dem Schreiben wurde erklärt, daß die Firma schmiede eiserne Waren herstelle. Man werde von Aufträgen förmlich überschwemmt und brauche daher den Kredit zur Geschäfts erweiterung. In dem Brief hieß es weiter: Ihnen ist zweifellos die derzeitige Vorliebe für nostalgische Restaurationsarbeiten bekannt. Überall im Süden werden verfallene Landhäuser als Touristenattraktionen wieder instandgesetzt. In vielen Häusern sind die ursprünglichen Eisenarbeiten völlig verrostet und müssen erneuert werden. Da wir die Dienste von Fachkräften anbieten können, die einerseits sehr erfahren sind und andererseits keiner Gewerkschaft angehören, hoffen wir einen wesentlichen Teil des Marktes für unsere Produkte erobern zu können. „Natürlich wollen wir uns nicht auf einen Kampf mit den gottverdammten Gewerkschaften einlassen“, sagte Drexel. „Wenn der Mann im Weißen Haus … aber was soll’s, was geschehen ist, ist geschehen. Was meinen Sie, Willy?“ Ich blickte stirnrunzelnd auf den Brief. „Etwas ist komisch hier. Was bedeutet ,KOB & Co.’? Das ,Kob’?“ „Kobalt? KO-Betriebe?“ „Komische Bezeichnungen wären das.“ „Oder Kobold – wobei ich gleich an Zwerge oder Elfen denken muß.“
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„Und schauen Sie sich die Unterschrift an. Der Mann unter schreibt mit ,Colin Owens, Magiarch’.“ „Muß wohl eine Art Kultführer sein.“ Drexel ließ seine Sekretärin kommen. „Miss Carnero, bitte holen Sie doch unser Wörterbuch.“ Das Wörterbuch verzeichnete keinen „Magiarchen“, doch die Bedeutung war klar. „Wenn er zu jenen Betrügern gehört, die ihren Anhängern einreden, sie wären der wiedergeborene George Washington oder könnten jeden mit einer Lektion zum Supermann machen, ist es kein Wunder, daß ihn die Banken in Georgia abgewiesen haben. Ich glaube, wir sollten auch ablehnen.“ „Ach, ich weiß nicht“, erwiderte ich. „Ein Mann mag zwar in einer Beziehung ein Verrückter sein, kann sich aber in anderer Hinsicht als kluger Geschäftsmann erweisen. Wir sollten den Vorschlag zumindest prüfen. Außerdem laufen die Geschäfte bei uns nicht gerade lebhaft, wir haben zu hohe Einlagen. Wir könn ten ihm Haussatz plus einhalb in Rechnung stellen.“ „Haussatz plus zwei, würde ich eher sagen. Aber bei solchem Risiko müßten wir jemanden nach Atlanta schicken, der ihn im Auge behält.“ „Na, sagen wir Haussatz plus eins oder anderthalb.“ „Die Frage des Zinssatzes ist unerheblich, solange wir nicht mehr über den Burschen wissen. Ich sage Ihnen eins, Willy: Sie fliegen nach Atlanta und sehen sich seine Fabrik an. Wie schnell können Sie los?“ „Anfang nächster Woche, würde ich sagen.“ „In Ordnung. Ich schreibe diesem Colin Owens und sage ihm, Sie kommen. Glauben Sie, Sie werden damit fertig?“
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„Aber ja. Machen Sie sich meinetwegen keine Gedanken, Boß.“ Berühmte letzte Worte. Zwei Männer holten mich vom Hartsfield-Flughafen ab. Colin Owens stellte sich als kleingewachsen, schmächtig und ziemlich alt heraus, mit silbergrauem Haar und englischem Akzent. Seine blauen Augen strahlen wohlwollend durch eine stahlgefaßte Brille, während er seinen Assistenten Forrest Bellamy vorstellte – einen großen, hageren, dunkelhaarigen Mann Mitte dreißig, der mit dem Singsang-Dialekt der südlichen Berge sprach. Bellamy verhielt sich zwar durchaus höflich, doch schien er in einer unangenehmen nervlichen Anspannung durchs Leben zu gehen. „Entzückt, daß Sie gekommen sind, Mr. Newbury“, sagte Owens. „Waren Sie schon einmal in Atlanta?“ „Nein, dies ist mein erster Besuch.“ „Dann wird es uns ein Vergnügen sein, Ihnen die Besonderheiten unserer Königin des Südens zu zeigen.“ „Wo bringen Sie mich unter?“ „Wir haben die Reservierung in einem guten Motel in Decatur vorgenommen. Das liegt auf unserer Seite der Stadt, nahe unserer Fabrik.“ „In Ordnung. Wann kann ich Ihre Werkstätten sehen?“ „Das hat keine Eile. Zunächst werden wir mal eine große Orientierungstour machen. Nehmen Sie Mr. Newburys Koffer, Forrest.“ Ich war nicht so naiv, ein Atlanta voller SüdstaatenSchönheiten in Krinolinenkleidern und mit Sonnenschirmen zu erwarten. Andererseits überraschte mich die moderne Geschäf tigkeit dieser Stadt, mit Wolkenkratzern und Schnellstraßen hier und dort. Während ich im Eiltempo mit dem Memorial Arts 120
Center, dem Cyclorama und anderen Sehenswürdigkeiten bekanntgemacht wurde, versuchte ich von meinen Gastgebern immer wieder Einzelheiten ihrer Unternehmungen zu erfahren. „Warum“, so fragte ich, „sind Sie zu uns gekommen, anstatt zu einer Bank am Ort zu gehen?“ Owens und ich saßen hinten im Wagen, Bellamy am Steuer. „Ich dachte mir schon, daß Sie diese Frage stellen würden“, antwortete Owens und fuhr nach kurzem Zögern fort: „Ich sollte dann lieber gleich eingestehen, daß wir uns an die hiesigen Insti tute gewandt haben, daß unser Kreditwunsch aber abgelehnt wurde – allerdings nicht aus Gründen, die mit unseren Finanzen zu tun hätten.“ „Wie meinen Sie das?“ „Nun ja … äh …“ „Er meint“, sagte Bellamy, „wir können uns das nur so erklären, daß hier ein gewisses Vorurteil gegen uns herrscht, egal wie glatt die Geschäfte laufen.“ „Wie kommt das?“ „Nun, zum einen ist Mr. Owens kein Mann aus Georgia. Er ist nicht einmal in den Staaten geboren, sondern eingebürgerter Engländer.“ „Entschuldigen Sie, Forrest“, sagte Owens, „ich bin Brite, aber kein Engländer. Ich bin Waliser.“ Er wandte sich an mich. „Amerikaner lernen es einfach nicht, darin einen Unterschied zu sehen. Sprechen Sie weiter, Forrest.“ Zum anderen ist KOB & Co. gewissermaßen nur eine Nebenfirma für uns. Manche Leute kennen unser Hauptgeschäft nicht und machen sich daher komische Vorstellungen.“ „Und worin besteht Ihr Hauptgeschäft, wenn ich fragen darf?“ 121
In Owens blaßblaue Augen trat ein abwesender Ausdruck. „Lediglich in dem Bemühen, unsere Mitmenschen davon abzu halten, anderen unnötige ,Wunden und schlimme Niederlagen’ beizubringen – und zwar durch Anwendung der alten Weis heiten.“ „Mit anderen Worten, Sie leiten eine religiöse Sekte, einen Kult?“ „Wozu die Namen? Die Antropophili sind eine wohltätige Vereinigung, die für Wahrheit, Frieden und Schönheit eintritt …“ Owens packte mich am Unterarm, während seine ehrlichen blauen Augen in die meinen starrten und er eine Predigt vom Stapel ließ – hochgestochen, ernsthaft und sehr allgemein formuliert. Seine Worte unterschieden sich nicht sehr von dem, was man jede Woche in Kirchen und Tempeln hören kann – oder, wenn man’s genau nimmt, auch bei einer Wedanta-Zusammen kunft. Er würzte seinen Vortrag mit Zitaten von Aeschylus, Shakespeare und Milton. Ich reagierte mit gemischten Gefühlen auf Owens Äußerungen. Einerseits empfand ich Zuneigung zu diesem gebildeten alten Okkultisten. Andererseits bekam ich eine Gänsehaut bei dem Gedanken, ihm das Geld unserer Einleger anzuvertrauen. Trotzdem versuchte ich sein Projekt objektiv zu beurteilen. Als wir uns etwa fünfzehn Meilen östlich von Atlanta befanden, drehte Bellamy den Kopf und sagte: „Hier ist Stone Mountain.“ Auf der Ebene vor uns ragte eine gewaltige Granitkuppel fast dreihundert Meter hoch empor, wie der halb vergrabene Schädel eines legendären Ungeheuers. „Haben wir vor dem Essen noch Zeit, ihn hinaufzuführen, Herr?“ Owens blickte auf die Uhr. „Ich fürchte nicht, Forrest. Der Drachenflügel der Nacht breitet sich über das Land. Fahre weiter 122
zum Oecus; Maggie stellt sich manchmal an, wenn wir zum Essen zu spät kommen.“ Bellamy bog mehrmals ab und hielt schließlich auf einer kleinen, kiesbedeckten Parkfläche vor einem großen Haus, das im Schatten etlicher Kiefern stand. Das Oecus war ein weitläufiges Bauwerk, das von einem Komitee errichtet zu sein schien, dessen Mitglieder allerdings Teile nach ihrem persönlichen Geschmack gestaltet hatten, ohne sich um die Vorhaben der anderen zu kümmern. Die Zimmer schienen jeweils in unterschiedlicher Höhe angelegt zu sein. In den seltsamsten Winkeln gab es Wendeltreppen, dekorative Buntglasmosaike in Zement und amateurhafte Wandgemälde mit Flügelwesen, die an einem Wolkenhimmel herumflatterten. Von einer Seite des Hauses ertönte Hämmern, und ich erhaschte einen Blick auf eine kleine Gruppe junger Männer und Frauen in Arbeitskleidung, die Hölzer festnagelten und Wände verputzten. „Wie ist dieses Haus entstanden?“ fragte ich. „Es wurde von einem exzentrischen Architekten vor dem Ersten Weltkrieg errichtet. Das Gebäude stand dann eine Zeitlang leer und war ziemlich heruntergekommen, bis die Anthropophili den Erwerb tätigten und das Bauwerk wieder instandsetzten. Wie Sie selbst sehen, sind die Reparaturen noch nicht abgeschlossen. Möchten Sie vor dem Abendessen etwas trinken?“ „Ja, gern“, antwortete ich. Owen verschwand und kehrte mit drei kleinen Gläsern und einer Flasche Sherry zurück. „Normalerweise neigen wir bei den Anthropophili nicht zu alkoholischen Getränken, doch bei bedeutenden Gästen machen wir schon eine Ausnah me. ,Mäßigung ist das edelste Himmelsgeschenk’.“ Er goß mir, Bellamy und sich eine Winzigkeit ein. Es war sogar ein ganz ordentlicher Tropfen. Während wir daran nippten, 123
begann Owens mit einem Monolog über die Ideale seiner Organisation. Als der Gong zum Essen ertönte, hätte ich gut und gern einen zweiten Drink vertragen können, doch Owens stellte seine Flasche fort. Etwa dreißig Mitglieder des Kults saßen an dem langen Tisch. Diese Leute – einschließlich derjenigen, die am Haus gearbeitet hatten – waren meistens jung und ziemlich lässig gekleidet. Mehrere waren farbig. Da wir uns in der Frühzeit der Bürger rechtsbewegung des Südens befanden, fragte ich mich, ob nicht die rassische Integration in Owens Organisation ihm die Tore der hiesigen Banken verschlossen hatte. Aber auf dieses Thema kam das Gespräch natürlich nicht. Das Essen war schlicht, aber ausgezeichnet. Den Gesprächen, die sich um Lokalpolitik und hiesige Persönlichkeiten drehten, vermochte ich kaum zu folgen. Nach dem Essen sagte Owens: „Mr. Newbury, jetzt möchte ich Ihnen unsere verschiedenen Produkte zeigen.“ Er führte mich an ein Ende des Hauses, eine Treppe hinab und in einen Lagerraum. Darin befanden sich Stapel von schmiedeeisernen Gittern und Geländern und Toren und Wandhaken, Gartenwerkzeugen, Verandamöbeln und anderen Beispielen moderner Schmiede kunst. Ich bin in diesen Dingen zwar kein Fachmann, doch schienen mir die Artikel solide gefertigt zu sein. „Es ist eine Sache des Preises“, sagte Owens. „Bei der ungewöhnlichen Zusammensetzung meines Personals kann ich jeden anderen Hersteller solcher Produkte unterbieten. Wenn ich expandieren kann, gibt es wegen der Rückzahlung des Kredits keine Schwierigkeiten – mit einem hübschen Gewinn für unsere Organisation. Dieser Gewinn wird für die Ziele unserer Bewe gung eingesetzt.“
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„Ziehen Sie die Mitglieder Ihrer Vereinigung als Arbeiter heran?“ „Du meine Güte, nein! Sie suchen die Wahrheit, sie haben voll mit unserem Kreuzzug zu tun, der das Ziel hat, der Welt Frieden und Wohlstand zu schenken. Meine Arbeiter sind Personen von ganz anderer Art.“ Er drängte mich sanft zur Tür. Kurz darauf brachte er mich mit Bellamy in mein Hotel. „Wir besuchen Sie gleich morgen früh“, sagte Bellamy. „Um welche Zeit möchten Sie aufstehen?“ Am Morgen wurde ich zum Stone Mountain gefahren. Wir parkten und fuhren mit der neuen Seilbahn auf den Gipfel. Die Kabine schwebte über die gewaltigen Reiterdenkmäler von Davis, Lee und Jackson, die am Westhang herausgearbeitet worden waren. Soweit ich weiß, hatten die Künstler hinter den dreien ursprünglich eine meilenlange Parade von Konförderierten Soldaten schaffen wollen. Doch sie hatten dann nicht mehr genug Geld. Bellamy hielt sich in der gefüllten Kabine an einer Strebe fest und sagte: „Jedes Jahr kommt ein neuer Dummkopf, der vor seinem Mädchen angeben will, indem er einen der Hänge hinabsteigt. Dabei kommt er früher oder später an eine zu steile Stelle, und dann ist es um ihn geschehen.“ Auf dem Gipfel angekommen, schlenderten wir hin und her und bewunderten den Ausblick. Bellamy offenbarte mir die weiteren Pläne für meine Zerstreuung – eine Flußbootfahrt und ein Besuch der restaurierten Vorkriegsplantage –, bis ich sagte: „Ich weiß Ihre Gastfreundschaft zu schätzen, meine Herren. Doch ehe wir ins Geschäft kommen, muß ich Ihre Werkstätten und Ihre ungewöhnlichen Arbeiter sehen.“ „Nun ja … äh …“, begann Owens, „Sie haben ja gestern abend gesehen, von welcher Qualität unsere Eisenarbeiten sind. Ich 125
kann Ihnen die Listen der üblichen Preise für diese Produkte zeigen und unsere Preisangebote. Ich kann Ihnen unser Werbeund Vertriebssystem erläutern …“ „Ich bitte Sie! Ich bin lediglich der Verwalter für das Geld unserer Einleger. Ich muß wissen, wie ich es nutze. Ich muß also Ihre Anlagen mit eigenen Augen sehen.“ Owens hüstelte. „Nun, da gibt es … äh … einige praktische Probleme. Wissen Sie, Sir, es hat Auseinandersetzungen gegeben wegen der Lokalität unserer Werkstätten. Wenn ihre genaue Lage bekannt würde, könnte das große Unannehmlichkeiten für uns haben. Wir müßten vielleicht umziehen. Außerdem hat unser Personal etwas dagegen, von Außenseitern bei der Arbeit beob achtet zu werden.“ Ich schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, Leute. Keine Werkstättenbesichtigung – kein Geld.“ Owens und Bellamy sahen sich an. Bellamy hatte die Stirn gerunzelt und machte finster blickend einen Schritt in meine Richtung, als würde er die Beherrschung verlieren. Eine leichte Bewegung Owens’ veranlaßte ihn allerdings zurückzutreten und ein ausdrucksloses Gesicht zu machen. „Legen Sie mal das Ohr an den Granit, Mr. Newbury“, forderte mich Owens auf. „Sagen Sie mir, was Sie hören.“ Seine Bitte mochte meine Hose in Gefahr bringen, doch ich sagte mir, daß ich der Bank gewiß ein neues Paar in Rechnung stellen konnte. So stieg ich ein Stück hinab und hinauf und legte ein Ohr an das elefantengraue Gestein. Einige anderen Touristen starrten erstaunt herüber. „Ich höre ein leises Grollen“, sagte ich, „eine Vibration, die beinahe nicht zu hören ist. Vermutlich die Maschinen, die die Seilbahn antreiben.“ 126
Owens schüttelte den Kopf. „Von diesen Motoren sind wir zu weit entfernt, wie Sie feststellen können, wenn Sie den Versuch an anderen Stellen des Bergs wiederholen.“ „Was ist es dann?“ fragte ich, richtete mich auf und stäubte meine Kleidung ab. „Kennen Sie Spensers Verse: „… solch gespenstisch eisern’ Kettenklirren Und Dröhnen von Kesseln sollt Ihr grollend hören, Von tausend Geistern in langanhaltender Pein Unruhig’ bewegt, daß es den Verstand Euch soll verwirren…?“ „Leider nicht“, erwiderte ich. „Die Märchenkönigin gehört zu den Texten, die ich schon immer lesen wollte, ohne daß ich es bisher geschafft habe. Worauf wollen Sie hinaus?“ „Nach Spenser hat Merlin einmal eine ganze Heerschar von Geistern herbeigerufen und durch Zauberbann dazu verurteilt, eine metallene Mauer für seine Heimatstadt Carmarthen herzustellen. Dann zog er los und ließ sich durch Vivien, oder wie sie hieß, ins Grab bringen. Niemand aber forderte die armen Teufel auf, Schluß zu machen – folglich sind sie immer noch am Werk. Zumindest waren sie das, bis ich mich mit ihnen in Verbindung setzte.“ „Ja?“ fragte ich. „Wollen Sie damit behaupten, daß Sie Spensers Gespenster in einer Höhle unter dem Stone Mountain gefangen halten und daß diese Wesen Schmiedearbeiten für Sie durchführen?“ „Genau. Der Begriff .Gespenster’ für meine Arbeiter müßte vielleicht noch einmal überprüft werden, denn es handelt sich um sehr reale, greifbare Geschöpfe.“ „Sie meinen Zwerge oder Gnome?“ 127
„Sie haben verschiedene Namen. Ich werde gar nicht erst den Versuch machen, Ihnen zu erklären, wie ich mir die Dienste dieser Wesen gesichert habe, denn das würde uns in die Verwick lungen der magischen Theorien führen.“ „Aber wie haben Sie sie in dieses Land geholt? Wurden sie an Bord eines Schiffes herübergeschmuggelt, oder haben sie sich unter dem Atlantik einen Tunnel gegraben?“ Owens lächelte. „Solche Wesen haben ihre Möglichkeiten, ihre ganz eigenen … äh … rätselhaften Methoden.“ „Wenn die Dämonen von Carmarthen Messingschmiede waren, mußten sie sich dann nicht erst darauf einstellen, mit Eisen zu arbeiten?“ „Bitte seien Sie versichert, die Leute können mit jedem Metall umgehen. Da Sie aber darauf bestehen, werden wir jetzt den Berg hinabsteigen und unsere Manufaktur besuchen – jedenfalls soweit das für Sie gefahrlos möglich ist.“ Wir fuhren zum Oecus zurück. Owens und Bellamy führten mich auf die Hinterseite des Hauses. Hier entdeckte ich ein seltsames Bauwerk: eine größere tieferliegende Fläche, von Steinmauern gesäumt, die sich hüfthoch über den oberen Rand erhoben, innen aber vier bis sechs Meter tief abfielen. Es sah aus, als habe hier jemand mit dem Bau eines großen Hauses begonnen, ohne über die Kellermauern hinauszukommen. Die federartigen Blätter zweier Lederhülsenbäume warfen einen Schatten auf die Anlage. Eine Rampe zwischen zwei gekrümmten Steinmauern stellte den Zugang zur unteren Ebene dar. Es gab noch zwei andere abwärts führende Wege, die aber jeweils Sackgassen zu sein schienen. Das Ganze machte den Eindruck, als wäre es von einem absonderlichen Verstand entworfen worden. 128
In der Mitte der unteren Ebene befand sich ein weiterer schmaler Einschnitt, etwa zwei Meter tief, drei Meter breit und fünf Meter lang, mit Backsteinen gepflastert. Owens und Bellamy führten mich eine Treppe hinab in diesen Unterkeller. An einem Ende erblickte ich eine solide Eisentür, die Owens nun öffnete, wobei die Eisenscharniere unangenehm quietschten. „Vorsichtig mit dem Kopf“, sagte er. Ich duckte mich unter dem Türsturz hindurch und folgte dem kleinen Magus, während Bellamy die Nachhut bildete. Der ab wärts führende Tunnel war mit Brettern ausgekleidet und von vereinzelten elektrischen Glühbirnen schwach erleuchtet. Minu tenlang schritten wir schweigend dahin. Die Bretter wurden von festem Gestein abgelöst, und der Gang verlief geradeaus. Owens blieb stehen und deutete auf eine Reihe von Nebenräumen. „Lager für unsere Produkte“, sagte er. Ein Blick zeigte mir Stapel von schmiedeeisernen Gegenständen, wie ich sie schon im Oecus gesehen hatte. Wir marschierten weiter. Schon bei unserem Eintritt in den Tunnel waren mir Geräusche wie das Grollen zu Bewußtsein gekommen, das ich auf dem Gipfel des Stone Mountain gehört hatte. Dieses Brausen verstärkte sich nun immer mehr. Wir erreichten ein schwach erleuchtetes Vestibül, angefüllt mit Stapeln schmiedeeiserner Objekte und mehreren Stühlen. Das Grollen war so laut geworden, daß wir mit erhobener Stimme sprechen mußten. Ich spürte die Vibration durch die Schuh sohlen. Ein lautes metallisches Klirren und Knallen war zu hören, vermengt mit gutturalen Rufen. Die Worte verschmolzen zu sehr mit dem Lärmen, als daß ich etwas verstehen konnte. Die Sprache war nicht einmal zu erahnen. 129
„Bis hierher gehen wir“, sagte Owens. „Wie ich Ihnen schon erklärt habe, sind unsere Arbeiter sehr scheu. Sie gestatten außer Forrest und mir niemandem Zutritt zu ihrer Werkstatt. Jedenfalls können Sie jetzt berichten, daß wir Personal haben, nicht wahr?“ „Das ist wohl richtig“, antwortete ich. „Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich lieber schnellstens hier raus.“ Der Lärm und die Enge machten mir zu schaffen. „Aber gern“, sagte Owens. Stumm gingen wir durch den langen, ansteigenden Tunnel. Als wir zu meiner Erleichterung die Oberfläche erreichten, war es Mittag. Ich nahm eine der einfachen, doch reichlichen Mahl zeiten des Oecus zu mir und verbrachte den Nachmittag mit Owens, der mir seine Bücher zeigte und mich in die Herstellung schmiedeeiserner Produkte einführte. Man lud mich zum Essen ein, doch ich lehnte ab. Ich mußte ins Hotel, um meine Gedanken zu ordnen, meine Notizen zu vervollständigen und Drexel anzurufen. Als ich Esau Drexel am Abend erreichte, erzählte ich ihm meine Geschichte und schloß: „Ich weiß immer noch nicht, was er da in der Höhle hat, aber irgend etwas muß es schon sein. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die vielen Metallwaren und die Korre spondenz, die ich gesehen habe, zu einem raffinierten Trick gehören. Seine Geschäfte scheinen zu florieren.“ „Warum ist er dann so scharf aufs Expandieren? Warum ist er mit den derzeitigen Gewinnen nicht zufrieden?“ „Er ist Idealist, der die Welt davor bewahren möchte, sich selbst in die Luft zu sprengen. Vielleicht ist das sogar ein gutes Anliegen. Er meint, er wird mit der Expansion genug verdienen, solange die Konjunktur anhält, um die Anthropophili in der 130
öffentlichen Meinung zu einem wichtigen Faktor heranwachsen zu lassen.“ „Als ob sich ein Diktator jemals um die Weltmeinung geschert hätte! Sie haben die Zwerge, oder was das für Wesen sein sollen, nicht direkt gesehen?“ „Nein, aber ich habe sie gehört. Hätte dabei beinahe die Trommelfelle eingebüßt. Ich würde sagen, geben wir ihm den Kredit.“ „Willy!“ grollte mein Chef. „Sie müssen noch einiges lernen über die Anstrengungen, die Leute machen, um fremdes Geld in die Hände zu bekommen. Woher wollen Sie wissen, daß der Lärm nicht eine Aufzeichnung war, die Ihnen über Lautsprecher vorgespielt wurde?“ „Hmm“, sagte ich. „Darauf bin ich noch gar nicht gekommen. Vielleicht sind Sie ein bißchen zu mißtrauisch.“ „Wenn jemand zu mir kommt und eine halbe Million Dollar ausleihen will mit dem Hinweis, er habe Geister oder Feen für sich arbeiten, bin ich natürlich mißtrauisch – und wie! Wie heißt Owens Kult doch gleich?“ „Die Anthropophili.“ „Heißt das nicht ,Menschenfresser’ oder ,Kannibalen’?“ „Nein. Sie meinen ,Anthropophagi’. Ich glaube, dieser Name bedeutet ,Menschenfreunde’.“ „Vielleicht lieben diese Leute den Menschen, so wie ich ein gutes Steak zu schätzen weiß. Sie suchen Owens auf und sagen ihm folgendes: Wenn Sie die angeblichen Zwerge nicht zu Gesicht bekommen, fällt die Sache durch.“ „Die beiden meinen aber, die Arbeiter – was immer das für Wesen sind – wären ein bißchen empfindlich, sich vor Fremden zu zeigen.“ 131
„Das ist Ihr Problem. Sie tun, was ich Ihnen sage.“ Als Owens und Bellamy am nächsten Morgen zu mir ins Motel kamen, stellte ich ihnen Drexels Ultimatum. Wieder schien in Bellamy der Zorn emporzubrodeln, doch Owens beruhigte ihn. „Schon gut, Forrest“, sagte er. „,Selbst die Götter kommen nicht gegen den Zwang der Notwendigkeit an’.“ Er wandte sich an mich: „Ihnen ist klar, Mr. Newbury, daß es gewisse … äh … Probleme im Umgang mit diesen Wesen gibt. Vielleicht besteht sogar ein Risiko.“ „Das macht mir keine Sorgen“, erwiderte ich. Über Nacht hatte ich mich halb dazu durchgerungen, Drexels Unterstellung zu glauben, daß ich einer Tonbandaufzeichnung zum Opfer gefallen war. Auf jeden Fall war ich zu achtund neunzig Prozent davon überzeugt, daß die Arbeiter, wenn es sie gab, sich als ganz normale Sterbliche erweisen würden. In den Oecus zurückgekehrt, öffnete Owens erneut die Eisentür in der Grube. Und wieder marschierten wir in die Tiefe. Sehr bald fiel mir ein Unterschied auf. Das metallische Klirren steigerte sich nicht allmählich zu ohrenbetäubendem Lärmen, sondern fehlte überhaupt. Ein leises Säuseln war zu hören, das zum Gewirr zahlreicher Baß-Stimmen anwuchs, die heftig durcheinander redeten. Diesmal fehlte der Chor der Ambosse. Meinen Begleitern fiel die Ruhe ebenfalls auf. Owens und Bellamy blieben stehen und unterhielten sich leise. „Machen Ihre Leute Frühstückspause?“ fragte ich. „Keine Ahnung“, meinte Bellamy. „Jedenfalls tun sie nicht das, was sie eigentlich tun sollten.“ „Es muß ein Problem aufgetreten sein“, erklärte Owens. „Vielleicht hat es einen Unfall gegeben. Wir werden es gleich erfahren.“ 132
Wir erreichten den Vorraum. Es war ziemlich laut, doch bei weitem nicht so ohrenbetäubend lärmend wie gestern. „Wir beide warten hier, Mr. Newbury“, sagte Owens. „Forrest geht voraus und arrangiert das Zusammentreffen.“ „Soll das heißen, Sie müssen die Erlaubnis der Trolle einholen, wenn Sie mich mitbringen wollen?“ „Richtig. Bitte setzen Sie sich und bleiben Sie ganz ruhig; es kann etwas dauern.“ Owens und ich nahmen Platz. Bellamy verschwand in einem Gang am entfernten Ende des Raumes. Dieser Korridor verlief im Winkel, so daß man aus dem Vestibül nicht in den dahinter liegenden Bereich schauen konnte. Das Stimmengemurmel verstummte fast völlig. Ich hörte Forrest Bellamys Stimme, aber zu gedämpft, um zu verstehen, was er sagte. Dann wurden die Bässe wieder lauter. Wie zuvor vermochte ich die Sprache nicht auszumachen. Owens und ich saßen da und warteten. Owens sprach von sei nen Idealen und seinen großartigen Plänen mit den Anthropophili. Schließlich zog er seine Uhr. „Es müssen größere Probleme aufgetreten sein, als ich vorausgesehen hatte“, sagte er. „Ich gebe Forrest noch eine Viertelstunde Zeit.“ Wir saßen weitere fünfzehn Minuten auf unseren Stühlen. Dann schaute Owens noch einmal zur Uhr und erhob sich. „Ich muß selbst nachsehen“, sagte er. „Bitte bleiben Sie hier, Mr. Newbury. Sie dürfen nicht versuchen, mir zu folgen. Verstehen Sie?“ „Ja“, antwortete ich.
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Owens verschwand in dem Gang, der Bellamy verschluckt hatte. Das Stimmengewirr wurde vorübergehend leiser und kehrte dann zur alten Lautstärke zurück. Ich wartete eine weitere Viertelstunde. Die Versuchung, einen Blick in die Höhle zu werfen, war groß, doch ich widerstand ihr. Ich bin neugierig wie jeder andere und vielleicht sogar ein wenig mehr, aber mit Frau und drei Kindern zu Hause wollte ich mich nicht der Gefahr aussetzen, an meiner Neugier umzukommen wie die sprichwörtliche Katze. Plötzlich steigerte sich der Lärm abrupt. Ich glaubte das Grollen eines zornigen Mobs auszumachen. Colin Owens stürmte aus dem Gang. Das Haar stand ihm wirr am Kopf, und er hatte seine Brille verloren und blutete aus einem Kratzer im Gesicht. An seiner Jacke fehlte ein Ärmel. „Laufen Sie um Ihr Leben!“ rief er im Vorbeihasten. Ich sprang aus dem Stuhl und holte ihn in wenigen Schritten ein. Da ich größer war als er und darüber hinaus zwanzig Jahre jünger und in guter Kondition für einen Mann meiner mittleren Jahre, hätte ich ihn weit hinter mir lassen können. Statt dessen packte ich ihn am Arm und zerrte ihn mit. Trotzdem mußte er ab und zu innehalten, um zu Atem zu kommen. Das Stimmengewirr hinter uns vermengte ich mit dem Klatschen und Stampfen vieler Füße, die durch den Tunnel eilten. „Weiter!“ keuchte Owens. „Sie werden uns zerschmettern – Vorschlaghämmer …“ Ich verdoppelte meine Anstrengungen, den kleinen Mann mitzuzerren. Als er das nächstemal Atem schöpfte, sagte er schweratmend: „Dieser Idiot – ich hätte gleich hinter ihm her – geschieht ihm recht …“ In diesem Augenblick gingen die Lichter aus. Owens stieß einen schrillen Schrei aus: „Mein Gott!“ 134
„Strecken Sie die Hand aus, tasten Sie sich an der Wand entlang. Und Füße hoch!“ Das Getrappel der Schritte und die grollenden Schreie tönten noch lauter. Ich vermochte nichts zu sehen. Als wir die Stelle erreichten, wo der Gang anzusteigen begann, stolperte ich und wäre beinahe gestürzt. Jetzt ist es aus! dachte ich. Mit verzwei felter Anstrengung stemmte ich die Füße unter mich, kam hoch und lief weiter. Uns an der Wand entlangtastend, trabten wir die Schräge hinauf, während die Verfolger immer lauter lärmten. Plötzlich wirbelte hinter uns etwas durch die Luft, prallte gegen die Steinwand und hüpfte klappernd auf den Boden. Ich vermochte das Geschoß nicht zu sehen – doch ein geschleuderter Vorschlaghammer hätte sich ähnlich angehört. „Ich – ich kann nicht mehr“, keuchte Owens. „Laufen Sie weiter, Mr. Newbury! Retten Sie sich!“ „Unsinn!“ rief ich, schnappte mir Owen und trug ihn wie ein Kind auf den Armen. Zum Glück wog er kaum über hundert Pfund. Meine Einbildung gaukelte mir vor, daß ich den Atem unserer Verfolger spürte. Jeden Augenblick rechnete ich damit, von einem Hammer am Kopf getroffen zu werden. Während sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, erschien vor uns ein kleiner grauer Punkt. Ich erkannte darin eine Biegung im Tunnel dicht vor dem Ausgang. Das kurze Stück zwischen der Tür und dieser Kurve lag im Sonnenschein. Der graue Punkt wurde größer und nahm eine rechteckige Form an. Dann hatten wir die Kurve hinter uns und schössen blinzelnd in den Sonnenschein hinaus. Ich setzte Owens ab und sank schweratmend auf das Pflaster. Owens schloß die Tür, verriegelte sie und stand dann neben mir.
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„Alles in Ordnung“, sagte er. „Sie sind allergisch gegen Sonnenlicht und setzen sich ihm ungern aus. Sie haben mir das Leben gerettet.“ Als ich wieder zu Atem gekommen war und mein pochendes Herz sich beruhigt hatte, fragte ich: „Was ist eigentlich gesche hen?“ „Forrest geriet mitten in eine Versammlung, bei der es um die Gewerkschaftsbildung ging. Er ließ sich auf eine Auseinander setzung mit dem vorgesehenen Anführer ein, und er ist – war – ziemlich aufbrausend. Er hatte die Kühnheit, den – den Organi sator zu schlagen. Meine Arbeiter sind ebenfalls ziemlich erregbar, und ehe ich mich versah, hatten sie sich mit Hämmern und anderen Werkzeugen auf ihn gestürzt. Als ich sah, daß sie ihm den Kopf zerschmettert hatten, nahm ich die Beine in die Hand.“ „Was jetzt? Wen wollen Sie verständigen?“ „Ich werde mich darum kümmern, seien Sie unbesorgt. Sie haben mit der Sache nichts mehr zu tun, Mr. Newbury. Offensichtlich muß mein großer Traum auf günstigere Umstände warten. Ich fahre Sie zum Motel zurück.“ Owens, der sonst zur Gesprächigkeit neigte, war auf der Rückfahrt sehr schweigsam. Ich zeigte mich interessiert an seinen Plänen, doch er antwortete mir nur ausweichend, bis ich ebenfalls den Mund hielt. An diesem Abend machte ich Drexel Meldung. Am nächsten Tag hörte ich nichts vom Oecus. Niemand kam ans Telefon. Schließ lich buchte ich meinen Rückflug und ließ ein Taxi kommen. Einer Eingebung folgend, wies ich den Fahrer an, auf dem Weg zum Flughafen am Oecus vorbeizufahren. 136
Das Haus war über Nacht zur verlassenen Ruine geworden. Von Colin Owens und seinen Anhängern entdeckte ich keine Spur. Das Anwesen sah aus, als wäre es von einer Vandalenhorde mit Brechstangen und Hämmern zerstört worden. Jede einzelne Fensterscheibe war zerbrochen. Möbelstücke waren ins Freie geworfen und zertreten worden. Elektrische Leitungen und Bodendielen hatte man herausgerissen. Teilweise war der Putz von den Wänden geschlagen. Teppiche waren zerrissen oder besudelt. Das Haus war in dermaßen schlechtem Zustand, daß man sich nicht mehr darin bewegen konnte, ohne Gefahr zu laufen, einzubrechen oder etwas auf den Kopf zu bekommen. Ich ging nach hinten durch und schaute in die Grube. Die Eisentür war aufgebrochen und aus den Scharnieren gerissen worden. Sie lag auf dem Pflaster und war zerknüllt wie ein Stück Stanniolpapier. Ich erinnerte mich an Owens Bemerkung, daß seine Arbeiter das Sonnenlicht mieden, aber das hatte sie nicht davon abhalten können, in der Nacht auszubrechen und den Oecus zu überfallen. Ob sie dabei Mitglieder der Anthropophili erwischt hatten, vermochte ich nicht zu sagen. Bei all dem Durcheinander waren keine Blutflecken zu bemerken, doch es gab auch niemanden, der mir Fragen beantworten konnte. Hatten die Kultmitglieder die Schäden vielleicht selbst angerichtet, ehe sie ihr Hauptquartier aufgaben? Ich überlegte sogar, ob das Ganze nicht vielleicht nur eine Halluzination oder ein Traum gewesen war. Aber Owens’ Kredit antrag mit den dazugehörigen Unterlagen hatte ich mir keinesfalls nur eingebildet, ebensowenig meinen Besuch in Atlanta. Der einzige Weg, Klarheit in die Dinge zu bringen, hätte in einem erneuten Vorstoß in den Tunnel bestanden, doch ich war weder mutig noch entschlossen genug, mich in ein solches Abenteuer zu stürzen. Außerdem mußte ich mein Flugzeug 137
erwischen. Vermutlich hätte ich der Staatspolizei Meldung machen müssen. Doch ich konnte mir nicht vorstellen, einem Beamten zu erklären, wie ich von einer erzürnten ZwergenHorde durch einen Tunnel unter dem Stone Mountain gejagt worden war. Außerdem durfte ich den Ruf der Bank nicht vergessen. Niemand vertraut sein Geld einem Institut an, das von hallucines geleitet wird. Obwohl meine Untätigkeit mir seither auf dem Gewissen gelegen hat, muß ich damit zu leben lernen, wie auch mit den Erinnerungen an andere Torheiten und Irrtümer eines aktiven normalen Lebens. Als ich mich wieder bei Esau Drexel zurückgemeldet hatte, sagte er: „Wissen Sie, Willy, ich bin weiß Gott kein gottver dammter Liberaler. Aber ich muß zugeben, daß gegen die Gewerkschaften wohl kein Kraut mehr gewachsen ist. Sogar Elfen, Zwerge und andere Trolle haben sie schon!“
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Tiki Die großen Meerspinnen des Nordpazifik, die größten noch lebenden Krustentiere der Welt, gelten als behäbige, harmlose Lebewesen. Ich erfuhr zum erstenmal bei einer Party im Naturkundemu seum von Esau Drexels Riesenkrebsen. Als getreues Mitglied hatte ich Denise zu der Zusammenkunft mitgebracht. So stehen wir zwischen Elefanten, Dinosauriern und Eskimofunden und lassen uns vollaufen. Wenn der Lärm so laut wird, daß man sich gegenseitig anschreien muß, wird das Licht ein- und ausgeschaltet, um die Mitglieder zum Abendessen zu rufen. Anschließend hören wir einen Vortrag, beispielsweise des inzwischen verstorbenen Louis Leakey oder des ebenfalls ver storbenen Sir Julian Huxley oder sehen einen Film über das Leben der bachtiarischen Stämme oder der gemeinen Stuben fliege. Da ich schon als Junge Naturforscher werden wollte, machen mir diese Abende großen Spaß. Vor dem Film kündigte Dr. Esther Farsace, Kuratorin für wirbellose Tiere, eine Spende an, mit der im neuen Flügel ein Ausstellungssaal finanziert werden sollte. Es sollte der Drexel-Saal für Krustentiere werden. Alles klatschte. Esau Drexel, der in seinem dunklen dreiteiligen Anzug und mit dem weißen Schnurrbart von Kopf bis Fuß wie ein vermögender konservativer Bankier alter Schule aussah, stand auf und verneigte sich. Alle halten Bankiers für reich. Ich bin es nicht, auf Esau Drexel aber traf die Vermutung zu. Wenn er nicht die Harrison Trust-Bank verwaltete mitsamt ihrem Juniorbankier W. Wilson Newbury, war er mit seiner Jacht unterwegs und machte Tonbandaufnahmen von den Liedern der Finnwale oder zählte die Jungen der Riesenseelöwen in der Antarktis. Er hatte sein 139
Schiff zu einem Meereslaboratorium ausgebaut. Einmal war sogar der japanische Kaiser, der sein Interesse an Meeresbiologie teilt, bei ihm an Bord. Nach dem Vortrag gratulierten wir Drexel zu seiner Spende. „Wie sind Sie nur auf den Gedanken gekommen, Esau?“ fragte Denise. „Letztes Jahr im Beringmeer“, antwortete er, „holten wir mit dem Schleppnetz eine riesige Meerspinne herauf. Dabei fiel mir ein, daß dieses arme alte Museum keine geeigneten Räumlich keiten hatte, ein solches Tier zur Schau zu stellen. Wir besitzen einige hübsche Arthropoden-Sammlungen, doch insgesamt zu viele Stücke, um sie in einem Saal darzubieten. Da ich nun zum Direktorium dieses Museums gehöre, ihm aber bisher nichts Ordentliches habe zukommen lassen, dachte ich mir, es wäre wohl an der Zeit – zumal ich dann noch erleben könnte, wie das Geld ausgegeben wurde. Hören Sie“, fuhr er fort, „wenn der neue Flügel im Bau weiter fortgeschritten ist, führe ich Sie und die Kinder einmal herum.“ Denise rümpfte die Nase. „Willy kommt mit den Kindern. Ich, ich ziehe Tiere mit Pelz und Federn diesen großen Insekten vor.“ „Ein Säugetier-Vorurteil, weiter nichts“, sagte Drexel. „Wo findet man denn ein herrlicheres Geschöpf als den Odontodactylus scyllarus?“ „Ach was!“ rief sie. „Die Krebse mag ich in der Dose am liebsten, servierfertig geliefert.“ Drexel wandte sich an mich: „Willy, spielen Sie Sonnabend eine Runde Golf mit? Sie haben doch nichts dagegen, wenn noch ein wenig Schnee auf dem Grün liegt, oder?“ Obgleich er zwanzig Jahre älter war als ich, hatte er die Konstitution eines Eisbären. 140
Während des nächsten Sommers war Drexel mit seinem Schiff unterwegs und sammelte seltene Isopoden und andere Meeres geschöpfe mit vielgliedrigen Beinen. Nach seiner Rückkehr sah ich ihn zum erstenmal privat bei der ersten herbstlichen Mitglie derzusammenkunft. Wir genossen unsere Cocktails im Saal für Ozeanische Anthropologie, und Denise studierte gerade das Schild an einer großen Statue aus dunklem, mahagoniähnlichem Holz. „Tiki von Atea“, las sie vor. „Hiva Oa, Marquesas-Inseln. Que veut dire ,Tiki von Atea’, Liebling?“ „Ein Tiki ist eine polynesische Statue oder Gottheit“, erklärte ich. „Indubitablement ist Atea der Gott, den die Statue darstellt.“ Da Denise Französin ist, führen wir ein zweisprachiges Haus. Die Statue war eines der ältesten Ausstellungsstücke im Museum. Sie stand hier seit dem neunzehnten Jahrhundert. Während christliche Südseemissionare ihre Konvertiten dazu drängten, alle Überreste der ,Abgötterei’ zu verbrennen, hatte ein weitschauender Wissenschaftler diese Gottesstatue gerettet. Was keine leichte Aufgabe gewesen sein konnte, denn die Statue ist über zwei Meter hoch und massiv. Sie ist nicht minder häßlich als die Steingesichter auf den Osterinseln, an die sie mich erinnerte, wenn sie auch besser proportioniert aussieht. Einer zur Stilisierung neigenden Volkskunst entsprungen, ist die Darstellung gedrungen und breit, mit einem abweisenden dicklippigen Mund und vorspringend-runden Augen. Ich stellte mir vor, daß das Gebilde wohl zu seiner Zeit so manches Menschenopfer miterlebt hatte. Esau Drexel drängte herbei, einen Martini in der Hand, seine Frau im Gefolge. „Willy!“ brüllte er. „Wissen Sie noch, daß ich Ihnen versprochen habe, mit Ihnen einen Rundgang durch 141
meinen neuen Saal zu machen? Na, wie wär’s am nächsten Wochenende?“ „Ich sehe ihn tagsüber gar nicht mehr“, antwortete Mrs. Drexel. „Er verbringt hier seine ganzen Wochenenden und beaufsichtigt die Arbeiten. Ich wundere mich, daß die Museumsleute nicht längst in den Streik getreten sind, um ihn loszuwerden.“ Ich sagte, es würde mich freuen, meine Kinder mitzubringen, soweit ich sie dafür begeistern konnte. Mir selbst sind Krusten tiere ziemlich schnuppe, aber eine Einladung des höchsten Chefs ist immerhin verpflichtend. Unsere Mädchen waren nicht dafür zu begeistern. Stephen sagte, er würde mitkommen, wenn er seinen Freund Hank einladen könne. Ich zögerte. Stephen war ein netter, friedlicher Zwölfjähriger, den wir niemals ermahnen mußten. Er war auch ein geborener Gefolgsmann, und der Anführer war sein Freund Henry Schnell. Hank war ein junger Wirbelwind; doch ein Vater mußte es sich überlegen, ob er einen Jungen von seinem besten Freund trennen wollte. Ich antwortete also, daß Hank ruhig mitkommen könne. Da mir Hanks Neigung bekannt war, geradewegs auf etwas zuzustürzen, das sein Interesse weckte, forderte ich die Jungen auf, dicht bei mir zu bleiben. Wir stießen am Informationstisch auf Esau Drexel und machten uns auf den Weg zum neuen Anbau. Unterwegs trafen wir David Goldman und unterhielten uns mit ihm. Professor Goldman lebte in dem Zwiespalt, ob Flugreptilien zu Vögeln wurden, indem sie Federn zum Fliegen entwickelten, oder zuerst die Federn bekamen, um es warm zu haben, und sie dann zum Fliegen benutzten. Goldman glaubte in dieser Sache neue Beweise gefunden zu haben, die ihn in höchste Erregung versetzten. 142
Während wir ihm zuhörten, verschwanden die Jungen. Ich vermutete, daß Hank wie gewohnt einfach vorausgelaufen war, durch den Meeressaal zum neuen Anbau, und daß Stephen ihm folgte. Um die beiden machte ich mir dabei keine Sorgen. Vielmehr ahnte ich Schlimmes für das Museum voraus, kannte ich doch Henry Schnell. Als wir den Saal der Meeres-Anthropologie erreichten, fiel mein Blick sofort auf Tiki von Atea. Mit einem dicken Filzstift, wie sie von der Jugend verwendet werden, um in der U-Bahn Graffiti an die Wände zu schmieren, hatte jemand der Statue einen großen, primitiven Schnurrbart angemalt. Während ich mich stotternd für die jungen Wilden entschuldigte, sagte Drexel: „Keine Sorge, Willy, das Zeug geht sicher ab, auch wenn es angeblich unlöschbar ist. Die Statue ist bemalt. Irgendein Idiot hat das Ding um die Zeit des Ersten Weltkriegs mit Firnis überzogen, die wir nie entfernt haben. Nun ist die Gelegenheit dazu.“ Dann hörte ich einen zweiten Satz. Jemand sagte deutlich: „Deine Frechheit wirst du büßen, Sterblicher!“ Ich fuhr zusammen und starrte Drexel an. Mein Chef betrachtete die Statue; er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und den Mund fest geschlossen. Ich konnte mir ohnehin kaum vorstellen, daß Esau jemandem sagte, er werde seine Frechheit büßen, Sterblicher! Das war nicht sein Stil. In hochtrabender Stimmung hätte er vielleicht gesagt: „Mein Guter, das soll Ihnen noch leid tun!“ Während ich noch ins Leere starrte, fügte dieselbe Stimme hin zu: „Du und deine Nachfahren, beide!“ Drexel hatte den Mund nicht aufgemacht und ließ auch nicht erkennen, ob er die Stimme gehört hatte. Sonst befand sich nie mand in der Nähe. Anscheinend bekam ich akustische 143
Halluzinationen! Natürlich wollte ich Drexel nichts davon sagen, damit er nicht genau das zu vermuten begann. Ich fragte mich, ob ich zu einem Neurologen oder Psychiater gehen sollte. Ich kenne da ein paar nette, freundliche Fachleute … „Nun ja“, knurrte Drexel, „jetzt wollen wir aber Ihre kleinen Lauselümmel einfangen, ehe sie noch etwas anrichten.“ Und wir wanderten weiter. Am Ende des Ozeanischen Saals befindet sich ein kleines, quadratisches Gebäude, das in dieser Etage eine Ausstellung von Mineralien beherbergte. Thematisch gehörten diese Dinge nicht hierher; aber schließlich ist selten ein Museum wirklich logisch aufgebaut. Kaum kann der eine Direktor die ihm logisch erscheinende Ordnung zu schaffen beginnen, da wird er von einem anderen abgelöst, der alles in neuer Reihenfolge placiert. Diese Vorgänge ähneln dem Puzzlespiel, bei dem man kleine Holzblöcke in einem Kasten hin und her bewegen muß, um eine gewünschte Abfolge zu erreichen. In einem Museum lebt niemand lange genug, um ein Problem wirklich von grundauf zu lösen. Die Mineralien waren Überbleibsel eines früheren Arrangements. Der Mineraliensaal ging in den neuen Flügel über. Es handelt sich eigentlich nicht um einen Anbau, sondern um die vierte Seite eines Innenhofs. Gegenüber dem neuen Flügel, auf der anderen Seite des Hofes, befand sich ein Teil der Arbeits- und Maga zinräume des Museums. Besuchern wird selten bewußt, daß für diese Zwecke meistens mehr Platz zur Verfügung steht als für die eigentlichen Ausstellungen. Jedes gut bestückte Museum hat weitaus mehr Exponate, als es überhaupt zeigen kann. Außer der vierten Seite des Quadrats enthielt ein weitläufiges Kellergewirr weitere Lager- und Präparationsräume. Im Mineraliensaal holten 144
wir die beiden Jungen ein. Sie versuchten unschuldig zu tun, mußten aber doch grinsen und kichern. Sie bestritten energisch, Atea den Schnurrbart angemalt zu haben. Ich durchsuchte sie, fand aber keinen Filzstift und auch kein ähnliches Gerät. Ich nahm an, sie hatten das Ding fortgeworfen. Ich war zwar innerlich davon überzeugt, daß die Tat auf ihr Konto ging, konnte aber nichts beweisen. Um das glubschäugige Gesicht der Statue zu erreichen, mußte einer der Jungen auf den Rücken oder die Schultern des anderen geklettert sein. „Kommen Sie weiter“, sagte Drexel und öffnete die verschlossene Tür mit einem Schlüssel. Dahinter lag das Obergeschoß des neuen Flügels, der noch nicht vollendete Krustentier-Saal. Vor uns reihten sich die üblichen Wand- und Mittelvitrinen, die meisten mit fehlenden Glasverschlüssen. Die freistehenden Vitrinen bildeten in der Mitte des Saals eine Reihe. Krustentiere aller Größen und Formen waren bereits präpariert, die Vitrinen aber zeigten sich erst zur Hälfte gefüllt. Wir sahen einen Hummer, der ein Lebendgewicht von dreißig Pfund gehabt haben mußte. Wir entdeckten einen pazifischen Kokosnuß-Krebs, der beinahe so groß war wie der Hummer. Es gab bunte Stomatopoden und andere Krabbeltiere zu sehen. Man sah, daß hier gearbeitet wurde: im Gang stand eine Leiter, wir sahen Eimer, einen Feuerlöscher, Stapel von Glasscheiben, Werkzeuge, eine Schachtel mit Verschlußklemmen für die Glasabdeckungen der Vitrinen. Drexel murmelte etwas von „Nachlässigkeit“ vor sich hin und begann die Dinge in die Ecke zu räumen, damit der Saal ordentlicher aussah. Ich half ihm. Schließlich deutete Drexel auf eine freie Wand. „Dort würde sich eine große Meerspinne gut machen, meine ich.“ Die beiden Jungen wurden unruhig. Es gibt kaum Kinder, die sich längere Zeit für statische Ausstellungsstücke interessieren. Drexel machte seiner Begeisterung Luft. 145
„Könnten wir den Saal mal sehen, in dem diese Dinge präpariert werden, Esau?“ fragte ich vorsichtig. „Das würde den beiden sicher gefallen.“ „Aber ja!“ antwortete Drexel. Am hinteren Ende des Krustentier-Saals öffnete er eine Tür und führte uns in einen Präparationssaal. Hier roch es nach Formaldehyd. Es gab Werkbänke, auf denen die Präparatoren sorgfältig das Fleisch von den Krebsen, Krabben und anderen Meeresbewohnern gelöst hatten, ehe sie sie für ihre Zwecke mit Drähten verstärkten. An den Wänden erhoben sich Regale mit getrockneten Mustern, mit Krügen und Tanks voller Schutzflüssigkeit, in denen andere Exemplare schwammen. An diesem Tag war kein Wissenschaftler oder Techniker an der Arbeit. Das größte Objekt war ein riesiger Metalltank, mit Flüssigkeit beinahe zum oberen Rand gefüllt. Darin lagen Gebilde, die mich zuerst an das Gliedmaßengewirr einer fiktiven Superspinne denken ließen – zum Beispiel Tolkiens Shelob. „Die haben wir gerade hereinbekommen“, sagte Drexel. „Ich habe sie nicht gefangen. Die Lemuria hat sie vor den Aleuten in die Netze bekommen.“ „Was sind das für Tiere?“ fragte Stephen. „Sie sehen ja scheußlich aus!“ „Das“, erklärte Drexel, „ist die sogenannte japanische Meerspinne, Macrocheira kampferi. Ich weiß nicht, warum die Japaner zu dem Namen beitragen; immerhin sind diese Tiere nördlich des vierzigsten Längengrads überall im Pazifik zu finden. Und scheußlich sind sie auch nicht. Sie sind wunderschön – zumindest in den Augen einer anderen Meerspinne.“ „Wie viele sind es denn? Sie sind so ineinander verschoben, daß man nichts erkennen kann.“ 146
„Vier“, antwortete Drexel. „Wir spielen mit dem Gedanken, die größte zu präservieren und die anderen ins Magazin zu nehmen.“ „Sind das Menschenfresser?“ fragte Henry. „Sie sind harmlos, wenn ich auch annehme, daß sie sich verteidigen würden, käme man ihnen als Taucher ins Gehege. – Ja, Angela?“ Eine junge Frau war durch die Tür am anderen Ende des Saals eingetreten. „Mr. Drexel, Ihre Frau ist am Telefon. Sie können den Apparat in meinem Büro benutzen.“ „Entschuldigen Sie, Willy“, sagte Drexel. „Ich bin gleich zurück. Sie bleiben mit den Kindern hier und sehen sich die Sachen an. Die beiden sollen aber nichts anfassen.“ Angelas Absätze klickten, als die beiden zum Ende des Saals marschierten. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloß. Ich beugte mich über den Tank mit den Meerspinnen. Es handelte sich um riesige Kreaturen, die größte hatte anderthalb bis zwei Meter lange Beine und Scheren von zweieinhalb bis drei Metern Länge. Die Scheren, so nahm ich an, mochten in der Lage sein, einem Menschen Hand oder Fuß abzuzwacken. „Was ist das für Zeug? Wasser?“ fragte Stephen. „Vermutlich Formaldehyd“, antwortete ich. „Steck aber nicht den Finger hinein und dann in den Mund.“ „Brrr!“ machte Hank. „Das Zeug kosten, in dem die Scheusale tot herumgelegen haben?“ „Na, aber Krabben aus der Dose ißt du?“ fragte Stephen. „Die sind doch auch tot, oder?“ „Ich nicht“, erwiderte Hank. „Ich esse keine toten Ungeheuer. Moment mal!“ „Ja?“ fragte ich.
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„Hat Mister – Sie wissen schon – der alte Knabe – Ihr Freund …“ „Mr. Drexel“, sagte Stephen. „Mr. Drexel – hat er gesagt, die Dinger wären tot?“ „Natürlich“, antwortete ich. Er hatte es nicht direkt gesagt, aber darauf wollte ich nicht herumreiten. „Nun ja, tot sind sie jedenfalls nicht. Sie bewegen sich.“ „Du spinnst doch, Hank!“ sagte Stephen. „Schau doch!“ rief Hank. „Die Beine zucken, als wacht er gerade auf.“ „Das bildest du dir nur … He, Paps, schau doch mal!“ Ich schaute hin. Im gleichen Augenblick gerieten alle vier Krebse in Bewegung, rafften ihre chaotisch verwirrten Glieder unter sich zusammen und standen auf. Sie stiegen aus der Flüssigkeit empor wie Venus aus dem Schaum der Brandung, nur bedurfte es eines größeren Fans für Fischgerichte und Krustentiere als ich es war, um hier eine Ähnlichkeit mit der Venus auszumachen. Die Wesen waren von einem bleichen, knochenähnlichen Grau, verunziert von Flecken olivgrünen Schwamms und anderer Meeresgewächse. Die Jungen und ich wichen von dem Tank zurück. Die Kinder schrien auf. Vorsichtig stelzend verließen die vier Krebse tropfend den Tank. Von dem größten Exemplar geführt, kamen sie auf uns zu, die Scheren ausgestreckt und geöffnet. „Lauft!“ rief ich. „Hier entlang! Sie dürfen euch nicht erwischen! Die Burschen können euch den Kopf abzwacken!“ Ich lief in Richtung Krustentier-Saal los. Die Jungen hasteten an mir vorbei. Im Gänsemarsch folgten uns die vier Meerspinnen, 148
deren Klauenfüße auf den Kacheln klickende Geräusche mach ten. Die Krebse bewegten sich in gutem Schrittempo. Ich war zwar verblüfft und entsetzt, doch nahm ich an, daß ich ihnen entkom men konnte, befand ich mich doch für einen Mann über vierzig in guter Kondition. Als die Jungen das Ende des Krustentier-Saals erreichten, versuchten sie die Tür zu öffnen. Doch sie rührte sich nicht. Ich erreichte mein Ziel und drehte energisch am Türknopf. Die Tür war mit einem Schnappschloß versehen, das Unbefugte fern halten sollte. Es war nur mit einem Schlüssel zu öffnen, und die ser Schlüssel befand sich in Esau Drexels Tasche. Die vier Krebse klapperten den Krustentier-Saal herab, auf einer Seite der Reihe von Mittelvitrinen. Ich brüllte und hämmerte gegen die Tür, doch nichts rührte sich. „Ihr beiden!“ sagte ich hastig. „Sie befinden sich auf einer Seite der Vitrinen. Wir laufen auf der anderen Seite zurück und versuchen drüben die Tür zu öffnen.“ Die Krebse waren nur noch drei Meter von uns entfernt. Wir hasteten auf der anderen Seite der Vitrinen den Saal entlang. Die Krebse setzten ihren Weg fort. Sie erreichten das Ende der Mittelreihe, umrundeten es wie römische Rennwagen, die das Ende der spina umfuhren, und setzten ihre Verfolgung fort. Wir jagten eilig durch den Krustentier-Saal, durch den Mineralien raum und den Präparationssaal. Auf unseren Fersen die Riesenkrebse. Die Tür am anderen Ende des Präparationssaals war ebenfalls verschlossen. Ich hämmerte brüllend dagegen – sinnlos. Während die Krebse auf einer Seite an dem großen Tank entlang klickten, hasteten die Jungen und ich auf der anderen wieder in die entgegengesetzte Richtung. Wir schafften es in den 149
Krustentier-Saal. Als ich von dort zurückblickte, sank mir der Mut. Die Krebse oder der Geist von Atea, oder was immer in den Ungeheuern steckte, hatte sehr logisch reagiert: die Krebse hatten sich in zwei Gruppen aufgeteilt. Auf jeder Seite der Vitrinenreihe näherten sich zwei Geschöpfe. Jetzt gab es kein Vorbeikommen mehr; unser Karussell-Spiel war vorbei. Sie hatten uns. Ich trampelte gegen die Tür und kreischte mir beinahe die Lunge aus dem Hals. Verzweifelt sah ich mich nach etwas um, das ich als Knüppel benutzen konnte. Da die Krebse sich langsam und ungeschickt bewegten, konnte ich vielleicht einen oder zwei Panzer einschlagen, ehe sie mich erwischten. Zumindest mochte ich die Jungen retten. Als die Krebse den Saal gut zur Hälfte durchquert hatten, ent deckte ich etwas in einer Ecke. Es war der Feuerlöscher, den Drexel aus dem Weg geräumt hatte. Es handelte sich dabei offensichtlich um ein großes zylindrisches Modell, das man auf den Kopf stellen mußte. Ich packte den Feuerlöscher, drehte ihn um und richtete die Düse am Ende des Schlauches auf den vordersten Krebs. Mir blieb keine Zeit, die Gebrauchsanweisung zu lesen, und ich konnte nur hoffen, daß ich es richtig machte. Der Feuerlöscher begann laut zu zischen. Flüssigkeit strömte aus der Düse und sprühte den Krebs ein. Das Geschöpf verharrte und schwenkte die Scheren ziellos hin und her. Ich sprühte die zweite Kreatur ein, dann die dritte und vierte und wandte mich schließlich wieder dem vordersten Krebs zu. Ich weiß nicht, was für Chemikalien sich in dem Löschgerät befanden, doch die Krebse begannen auf ihren dürren Beinen zu schwanken. Sie ließen ihre Scheren wild herumzucken, prallten gegen die Vitrinen und stürzten schließlich zu Boden. Ein 150
Monstrum landete mit zuckenden Beinen auf dem Rücken. Ein zweites stürzte gegen eine Vitrine … Als Esau Drexel wenige Minuten später zurückkehrte, fand er vier reglose Krebse und einen reglosen Bankier vor. Letzt genannter lehnte atemlos an einer Vitrine und hielt einen leeren Feuerlöscher in den erstarrten Fingern. „Aber – aber das ist doch unmöglich!“ rief Drexel, als er die Geschichte gehört hatte. Ich zuckte die Achseln. Mir sind in meinem Leben zu viele seltsame Dinge passiert, als das ich mit dem Wort „unmöglich“ freizügig umgehe. Als die Tür zum Krustentier-Saal geöffnet wurde, stießen andere zu uns. Drexel forderte einen Wächter auf, nur Museumspersonal hereinzulassen. Die Jungen und ich erzählten zum zweitenmal, was geschehen war. Dr. Einarson, Stellvertretender Kurator für pazifische Anthro pologie, meldete sich mit einem seltsamen Lächeln zu Wort, als welle er unterstellen, daß wir seine Worte tatsächlich nicht ernst nehmen sollten. „Die Kinder haben Atea mit einem Schnurrbart bemalt?“ fragte er. „Kein Wunder. Sie ist eine Göttin, müssen sie wissen. Mit Schnurrbärten hat sie nichts im Sinn.“ Am folgenden Montag – an diesem Tag ist das gesamte Museum geschlossen – hätten Sie einen gewissen Juniorbankier samt Frau mit Trittleiter, Eimer, Schwamm, Bürste und Seife in Aktion erleben können. Die beiden waren damit beschäftigt, den Schnurrbart von Ateas Tiki restlos zu entfernen. Die Aktion scheint ihren Zweck erfüllt zu haben, denn in den Jahren seither ist mir Ähnliches im Museum nicht mehr widerfahren. 151
Das ferne Babylon Im durchscheinenden Mondlicht hockte ein Mann mit schwarzem Cowboy-Hut am Fluß und baute eine Sandburg. Ich hatte den Versuch aufgegeben zu schlafen. Wie ich mich auch drehte und wendete, stets störten mich Äste oder Steinkanten, die sich durch den Schlafsack bemerkbar machten. Schließlich kroch ich aus der Hülle, zog Hose und Schuhe an und machte einen Spaziergang. Irgendwo heulte ein Kojote. Ich staunte, wie tief und ruhig Denise und die Kinder schlafen konnten. Ich sagte mir: Wilson Newbury, wie dumm von dir, dich auf die Campingpläne deiner Lieben einzulassen. Du bist aus dem Alter heraus, da eine Übernachtung im Freien Freude macht; du solltest solche Tarzan-Aktionen Pfadfinderführern und Sommerlager-Veran staltern überlassen. Aber das ist der Preis, wenn man ein guter Vater sein will. Der Wasserlauf, an dem ich den Caravan geparkt hatte, war ein unbekannter Nebenfluß des Pecan. Ein Problem des Camping in Damenbegleitung besteht darin, daß man in flachem Terrain nur schwer eine Stelle findet, an der man mit einer gewissen Abge schiedenheit seinem natürlichen Drang nachgehen kann. Wir hatten schließlich diesen Ort gefunden, an dem kleine trockene Senken und Gebüschstreifen am Flußufer einigen Schutz boten. Das Wetter war ganz ordentlich, obwohl sich während des Nachmittags einige Kumuluswolken zu einer Regenfront aufgebaut hatten. Das Wetter dort unten kann aber täuschen: wegen der Klarheit des Himmels und der Weitläufigkeit und Flachheit des Landes sieht man oft begrenzte Unwetter, die zwanzig oder dreißig Meilen entfernt sind, und nimmt an, daß es bald regnet. In Wirklichkeit ist die Chance gering, daß man etwas von dem Regen abbekommt. 152
Im hellen Mondlicht schlenderte ich die Uferschräge hinab, schob mich durch das Unterholz und blieb beim Anblick des Mannes mit dem breitkrempigen Hut stehen. Ich machte einige Schritte in seine Richtung, um zu sehen, was er da tat. Er hob den Kopf nicht, schien meine Annäherung überhaupt nicht zu bemerken. Der Mann hatte sich die Eigenschaften des feuchten Sandes zunutze gemacht und mit den Händen eine quadratische Mauer geformt, etwa einen Zoll hoch und mit einer Kantenlänge von einem Meter. Mit den Fingern hatte er dann einen Graben diagonal durch das Quadrat gezogen, zu beiden Seiten durch die Mauer führend und gewunden wie ein Flußbett. An jedem Ufer dieses Einschnitts führte die Fortsetzung der Mauer entlang, von einem Flußdurchbruch zum anderen. In dem Quadrat hatte er mit dem Finger etliche Linien in den Sand gezeichnet, Linien, die das Gebiet in Vielecke unterteilten. In einer dieser Figuren gestaltete er gerade einige Bauwerke. Eine, die bereits abgeschlossen war, zeigte einen L-förmigen Häuserblock, mehrere Zoll lang. In der Nähe errichtete der Mann ein pyramidenartiges Gebilde, das mehrere Zoll hoch werden sollte. „Howdi, Mister“, sagte ich und versuchte mich damit dem Jargon der Gegend anzupassen. In diesem Teil des Landes bin ich immer sehr vorsichtig. Vor vielen Jahren hatte mich mein Vater zur Umsicht angehalten. Als er noch jung war, zu Beginn des Jahrhunderts, war er mit einem Freund durch die Gegend gekommen. Sie machten in einem Ort Rast, in dem eine Tanzveranstaltung stattfand. Der Freund forderte ein Mädchen auf; sie akzeptierte. Kurz darauf erschien ihr Freund und erschoß den Freund meines Vaters. Der Tote
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wurde hinausgetragen und der Tanz ging weiter. Dieses Vorkommnis hat meinen alten Knaben sehr beeindruckt. „Guten Abend, Sir“, sagte der Mann mit tiefer, sanfter Stimme, die sich wie fernes Donnergrollen anhörte. Er wandte sich in meine Richtung, doch das Mondlicht, das auf den Sombrero fiel, ließ sein Gesicht im Schatten liegen. Seine Züge nahm ich nur schemenhaft wahr. Ich hatte mir einen ähnlichen Hut zugelegt, um mehr wie ein Hiesiger auszusehen, hatte ihn aber bei diesem Spaziergang durch die milde Nacht nicht aufgesetzt. „Schönes Wetter“, bemerkte ich. „In der Tat, Sir, wenn die Dürre die Ernte nicht zunichte macht.“ Er erhöhte die Pyramide um ein weiteres Stockwerk. „Es geht mich nichts an“, sagte ich, „aber hätten Sie etwas dagegen, mir zu sagen, was Sie da machen?“ Das Schattengesicht wandte sich wieder in meine Richtung. „Dies ist eine Nachbildung Babylons.“ „Sie meinen Babylon im Irak, nicht Babylon, New York?“ „Jawohl, Sir. Ich wußte nicht einmal, daß es im Staate New York ein Babylon gibt. Was ich da gerade baue, ist die große Zikkurat von Marduk. Die Bibel nannte es den Turm von Babel.“ Sein Akzent wies ihn als Einheimischen aus, doch seine Ausdrucksweise und das Vokabular zeigten mir, daß er ein gebildeter Mann war. Dies verblüffte mich nicht, denn ich bin an manchem erstaunlichen Ort auf tiefgreifende Kenntnisse gestoßen – so auf einen irakischen Scheich, der den größten Teil der gut sechshundert Melodien Mozarts auswendig kannte. „Ist es nicht ein wenig … äh … ungewöhnlich, daß sich aus dieser Gegend jemand für das alte Babylon interessiert?“ fragte ich. Er zuckte die Achseln.
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„Die Schweinehunde hier haben mich immer für verrückt gehalten. Aber Babylon ist eine Stadt, die ich schon immer mal gern sehen wollte. Ich träumte oft davon und schrieb darüber. Ich kann es mir heute noch genau vorstellen.“ Leise trug die grollende Stimme vor. „In Babylon, dem fernen, der braune Euphrat sich ergießt,
Wo einst blaue, rote, goldene Häuser schimmerten.
Und hinter schroff-hohen Mauern Silbertürme flimmerten.
In Babylon, dem alten, breit und gemächlich lief der Fluß
Durch’s Herz der Stadt; mit seinem langsamen Strom
Trug viele Flöße, Barken, Fähren, Boote er davon.
In Babylon, dem großen, gab’s Menschen jeder Haut,
Skythen, Meder, Ägypter, Araber und Juden,
Arbeiter, Soldaten, Huren, Sklaven, Herren und Buben.
In Babylon, dem toten, liegt unter vagem Dunst
Endlos flach die Ebene aus grauem Ton,
Und Staub sind alle Bewohner und das heil’ge Babylon.“
„Wer hat das gedichtet?“ fragte ich. „Ich. Früher habe ich oft solche Verse geschmiedet. Geld war damit allerdings nicht zu verdienen, und da habe ich es aufgege ben. Ich wünsche mir aber immer noch, ich hätte Babylon damals sehen können.“ „Ich habe es vor ein paar Jahren besucht.“ „Ach? Erzählen Sie mir davon, Sir.“
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„Eine große weite Fläche am Euphrat“, antwortete ich, „darauf hier und dort Grasbüschel. Die Fläche sieht aus wie die Ebene aus Ihrem Gedicht, außer dort, wo man die Reste der alten Gebäude ausgegraben hat, die anscheinend aus einfachen braunen Lehm ziegeln bestanden haben. Muß ziemlich eintönig ausgesehen haben, als die Stadt noch existierte.“ Trotz der Schatten des Sombreros sah ich die Zähne blitzen, als der Mann grinste. „Da ist mir mein Traum-Babylon lieber als das wirkliche. Aber so ist das Leben nun einmal. Trotzdem hätte ich es gern gesehen. Ich dachte, ich würde endlich dazu in der Lage sein, als die Veränderung kam. Es schien mir nicht zuviel verlangt zu sein.“ „Ich verstehe nicht, was Sie meinen. Was ist geschehen?“ „Es stellte sich heraus, daß ich da irgendeine törichte Vor schrift übertreten hatte. Und jetzt läßt man mich nicht aus dem Land. Also muß ich mir selbst ein Babylon machen. Jeden Vollmond komme ich her, um mir ein kleines Babylon zu bauen.“ Der Kopf unter dem Hut wandte sich zur Seite und blickte zum Mond empor. „Also, Sir, ich muß jetzt gehen. Hoffentlich verleben Sie einen schönen Urlaub. Und machen Sie sich wegen der Leute hier keine Gedanken. Manche Fremden aus dem Norden haben ganz komische Vorstellungen von uns.“ „Merkt man das gleich? Ich dachte, ich spräche einen ganz guten Süd-Dialekt.“ „Das stimmt schon, aber ich habe Ihr Nummernschild gesehen. Die Leute glauben doch, man bekäme hier Cowboys zu sehen, die sich auf den Straßen gegenseitig erschießen. Heute geschehen die schlimmen Verbrechen aber in den großen Städten; die kleinen Städte und das Land sind so friedlich, daß es schon wieder langweilig ist. Was führt Sie hierher, wenn ich fragen darf?“ 156
„Ich bin Bankier, und wir spielen mit dem Gedanken, in Fort Worth eine Filiale zu eröffnen. Da ich dazu ein paar Monate hier verbringen muß, habe ich meine Familie mitgebracht und gleich einen Urlaub drangehängt. Wegen der Schule müssen wir aber bald wieder zurück.“ „Nun ja, viel Spaß. Gute Nacht, Sir; das Gespräch mit Ihnen war mir ein Vergnügen.“ „Gute Nacht“, sagte ich. Der Mann stand auf, eine große, massige Gestalt, und ging flußaufwärts. Der tiefe Wasserstand, der auf die Trockenheit zurückging, hatte zu beiden Seiten des Flusses zwischen den Ufergebüschen und dem Wasserlauf breite Sandflächen entstehen lassen. Er ging über diesen Streifen und war schnell verschwunden. Die Sonne kam eben über den Horizont, als Stephen und Heloise mich wachrüttelten. „He, Paps!“ rief mein Sohn. „Wann machst du Frühstück? Ich könnte einen ganzen Stier fressen.“ „Ich möchte gern sehen, wie Paps ohne Toaster Toast macht“, fügte die kleine Priscille hinzu. Als ich mich aus meinem Schlafsack befreite, erinnerte ich mich an das Gespräch mit dem Mann mit dem großen Cowboy-Hut. Dabei fiel mir noch etwas ein – ein Umstand, der mir während der nächtlichen Unterhaltung völlig entgangen war. In einer kleinen Stadt, durch die wir gestern gekommen waren, hatte ich mit dem Mechaniker einer Tankstelle gesprochen, einem redseligen alten Knaben, der mir das Öl wechselte. Er berichtigte meine Aussprache des Namens Pecan. „Mister, wir sagen hier, die Pi-Kaan ist eine Nuß, eine Pii-Kanne aber ist etwas, das man sich unter’s Bett stellt.“ 157
Er krümmte sich vor Lachen; anscheinend war es sein Lieblingswitz. Als er sich wieder beruhigt hatte, erzählte er mir von einigen Einheimischen, die er gekannt hatte. Einer davon, so berichtete er, hatte Autor sein wollen. Es hieß, er habe viel an die Magazine verkauft, mein Informant hatte aber nichts davon gesehen. „Er sah nicht so aus, wie ich mir einen Autor vorstelle“, fuhr der Mechaniker fort. „Schriftsteller sind doch dürre kleine Kerle, die sich nicht mal befreien könnten, wenn sie nur mit Zwirnsfaden gefesselt wären. Dieser Bursche aber war groß und hatte mächtige Fäuste. Ich glaube, er war ein bißchen wirr im Kopf, denn er redete andauernd über alte Ruinen und beschäftigte sich mit seinen Kurzgeschichten, anstatt eine richtige Arbeit anzunehmen.“ „Was ist denn aus ihm geworden?“ fragte ich. „Er ist tot. Hat sich selbst erschossen.“ An dieses Gespräch denkend, sagte ich zu meiner Familie: „Entschuldigt mich einen Augenblick.“ Ich hastete zum Fluß hinab, wo das nächtliche Gespräch stattgefunden hatte. Ich fand jedoch keine Spur des Modells von Babylon oder seiner Zikkurat, ebensowenig die Fußabdrücke des Fremden. Meine Fußspuren von einem früheren Marsch in dieser Gegend waren dagegen noch deutlich auszumachen. Außerdem dachte ich an etwas, das ich vor langer Zeit einmal gehört hatte. Als Student des M.I.T. hatte ich vor vielen Jahren einen Freund in Providence besucht, der für die GroschenMagazine schrieb. Dieser Freund erzählte mir von einem Brieffreund, einem Kollegen-Autor, der im Südwesten lebte und blutige Geschichten schrieb über Helden mit Muskeln aus Stahl und Köpfen aus Eichenholz. Der Name dieses Brieffreundes fiel mir nicht ein, aber die Beschreibung paßte auf den Mann von gestern nacht. 158
Als ich zurückkehrte und die Frühstücksutensilien zusammenzusuchen begann, fragte Denise: „Was ist denn los, Liebling? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.“ „Vielleicht habe ich das sogar“, antwortete ich und fächelte mit meinem Cowboy-Hut das Feuer an.
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Der gelbe Mann Der gelbe Mann fragte: „Was machen Sie da, Monsieur? Wollen Sie in mein Haus einziehen?“ Ich hatte den Caravan in Fort-de-France gemietet und zu dem Haus gefahren, in dem wir unseren Urlaub verbringen wollten. Ich, meine Frau und drei Kinder schleppten uns mit Koffern, Kleidungsbehältern, Kameras und anderen Gegenständen ab, als plötzlich dieser Mann in der Auffahrt erschien. Irgend etwas verriet mir sofort, daß er uns nur Ärger bringen würde. Er war etwa so groß wie ich, aber schlank, mit gelblicher Hautfarbe und glattem Haar. Ehe man diesem Begriff gegenüber sehr empfindlich wurde, nannten wir diese Leute Mulatten. „Ihr Haus?“ fragte ich und stellte die beiden Koffer ab. „Entschuldigen Sie, Monsieur, aber ist dies nicht das Haus Marcel Argentons?“ „Genaugenommen ja“, antwortete er. Meine Angehörigen hatten ebenfalls ihre Lasten abgestellt und hörten zu. „Aber Monsieur Argenton hat es mir für den Sommer vermietet.“ „Da muß ein Irrtum vorliegen“, sagte ich. „Monsieur Argenton hat mir das Haus für die nächsten drei Wochen vermietet. Ich kann Ihnen die Bestätigung zeigen.“ „Das könnte ich auch, wenn ich sie bei mir hätte. Ich habe das Haus erst letzte Woche gemietet, durch den Makler Privas aus Fort-de-France.“ „Ah“, sagte ich. „Das erklärt das Problem. Ich traf Monsieur Argenton vor drei Monaten in den Vereinigten Staaten. Ich mietete das Haus von ihm direkt. Vermutlich hat er vergessen, seine Eintragung beim hiesigen Makler zu löschen. Es tut mir leid, Ihnen Probleme zu bereiten.“ 160
„Sie werden nicht mir Ärger bereiten, Monsieur. Im Gegenteil, ich muß Sie um Entschuldigung bitten, daß ich Sie auf die Straße setze.“ Die Sache wurde haarig. Zum Glück war ich zwanzig Pfund schwerer als der andere und in guter Kondition für einen Schreibtischarbeiter. Ich setzte mein Kampfgesicht auf. „Sie werden mich hier nicht vertreiben, Monsieur“, sagte ich. „Ich bin hier, meine Mietvereinbarung liegt datumsmäßig vor der Ihren. Ich bleibe also.“ Der Fremde wollte etwas sagen, ließ dann aber den Kopf herumrucken, als ein anderer Mann auftauchte. Es handelte sich um einen stämmigen, muskulösen schwarzen Martiniquer mit abgetragenem Hemd, Hosen, Sandalen und einem großen Stroh hut mit breiter, uneingefaßter Krempe. Er stellte sein Fahrrad ab und blickte zwischen uns hin und her. „Wer von den Herren ist der Monsieur Nevuree?“ fragte er. „Ich glaube, Sie meinen mich, Wilson Newbury“, antwortete ich. „Sind Sie Jacques Lecouvreur aus Schoelcher?“ „Ja, Monsieur. Monsieur Argenton hat mich verständigt, daß ich für Sie arbeiten soll.“ „Das ist gut, Jacques. Bitte helfen Sie meinen Angehörigen, das Gepäck ins Haus zu tragen.“ „Lecouvreur!“ sagte der gelbhäutige Mann energisch. „Weißt du, wer ich bin?“ Er duzte den Mann. Jacques Lecouvreur blickte den anderen verwirrt an. „Sind Sie – sind Sie der Herr aus Haiti, Monsieur Duchamps?“ „C’est moi, donc. Jetzt sage Monsieur Newbury, daß er besser auf meine Wünsche eingeht, wenn ich verlange, daß er sich 161
zurückzieht und mir das Haus überläßt, der ich immerhin einen gültigen Mietsvertrag besitze.“ Jacques riß die Augen auf. „Oh, Monsieur Newbury, das ist eine schlimme Sache! Er kann Ihnen viel Kummer machen.“ „Ich kenne solchen Kummer“, sagte ich. „Bringen Sie das Gepäck ins Haus, Jacques. Mach weiter, Denise. Los, Kinder, bringt die Sachen rein.“ Duchamps preßte die Lippen zusammen, dann machte er mit bösem Blick einen Schritt in meine Richtung. Ich wich nicht zurück. Nach der eine Minute währenden stummen Konfron tation sagte Duchamps: „Das werden Sie bereuen, Monsieur.“ Er machte kehrt und marschierte die Auffahrt hinab. Kaum hatten wir uns eingerichtet, unterhielt ich mich unter vier Augen mit Jacques Lecouvreur. Ich hatte Marcel Argenton, einen weißen Martiniquer, auf einem Bankierskongreß in New York kennengelernt. Sobald ich erfuhr, daß er aus Martinique kam, äußerte ich meinen Wunsch, dort einmal einen Urlaub zu verbrin gen. Er erklärte mir, er beabsichtige im Juni nach Frankreich zu reisen – er hatte mit Zuckerexport zu tun – und ich könne in dieser Zeit sein zwischen Fort-de-France und Schoelcher an der Küste gelegenes Haus mieten. Argenton hatte auch dafür gesorgt, daß Jacques Lecouvreur für mich arbeitete. Jacques war ein Fischer aus Schoelcher, doch er wollte sich das Geld für einen Außenbordmotor verdienen. „Was hat es mit diesem Duchamps auf sich?“ fragte ich Jacques. „Wer oder was ist er?“ Jaques erschauderte. „Ich weiß es nicht, Monsieur. Ich weiß nichts.“
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„O doch, Sie wissen Bescheid! Allons, reden Sie!“ Ich mußte ihn noch etwas unter Druck setzen, bis ich schließlich erfuhr: „Er heißt Oreste Duchamps, ein quimboiseur aus Haiti.“ „Ein was?“ Das Wort war mir fremd. „Sie wissen schon, Monsieur, ein houngan, ein bocor. Was Sie einen sorcier nennen würden.“ „Oh, einen Zauberer! Ein Voodoo-Priester, hein!“ „Ah, nein, Monsieur. Die respektablen vodun-Anhänger wollen mit ihm nichts zu tun haben. Ich, ich bin guter Katholik, doch nicht alle vondun-Teilnehmer sind so böse, wie die Priester uns einreden wollen. Monsieur Duchamps aber hat seine eigene Gefolgschaft. Er versucht alle bourhousses der Insel unter Kontrolle zu bringen. Kein Typ, mit dem man sich anlegen sollte.“ Ich seufzte. Obwohl ich nicht psychischer veranlagt bin als jedes normale Schwein im Stall, scheine ich diese Leute anzuziehen wie ein Müllhaufen die Fliegen. Den Rest des Tages verbrachten wir mit Einräumen und anderen Vorbereitungen. In dieser Zeit fuhren wir Jacques in das Dorf Schoelcher, das nach einem Mann benannt wurde, der bei der Sklavenbefreiung von 1848 entscheidend mitgewirkt hatte. Denise legte erste Nahrungsmittelvorräte an. Während sie einkaufte, zeigte mir Jacques sein Boot, die St. Timothee, die mit Dutzenden von anderen Booten auf den Strand gezogen worden war. Es handelte sich um schmale, spitz zulau fende Boote mit jenem seltsam vorspringenden Kiel, wie er bei Fischerbooten in der Karibik typisch ist. Dieser Kiel ragt vor den Bug wie die Ramme eines Schlachtschiffes aus dem Jahre 1900. Nahezu alle Boote hatten gute katholische Namen – St. Pierre, St. Jean, Sainte Familie – ein Fischer jedoch, offenbar ein Moslem, nannte sein Boot trotzig Inshallah. 163
Jacques erklärte mir, wie er den Motor anzubringen gedachte. Er sprach lebhaft, doch überwiegend in dermaßen breitem Kreo lisch, daß ich die Bedeutung nicht mehr mitbekam. Denise behauptet, sie verstehe den Dialekt, aber sie ist ja auch geborene Französin und kennt zumindest einige französische Regional sprachen. Jedenfalls hatte sich Jacques große Gedanken um den Motor gemacht und zahlreiche Modelle miteinander verglichen und auch Maß genommen. Da er uns eine Köchin versprochen hatte, verschwand er eine Zeitlang und kehrte schließlich mit einer formlosen, mürrisch blickenden Masse schwarzen Fetts zurück, die ihre Besitztümer in einen Mehlsack gewickelt hatte. Sie trug einen Turban aus Zeitungspapierhütchen, um den ein Tuch gebunden war, wobei die Spitzen in die Höhe ragten. Jacques stellte sie als Mme. Claudine Boussac vor. Wir brachten sie mit Mühe im Caravan unter und fuhren zu Argentons Haus zurück. Claudines Aussehen begeisterte mich nicht gerade. Trotzdem kam es mir nach unserem dienstbotenlosen Leben im Land der Freiheit wie ein beinahe unanständiger Luxus vor, für einen bescheidenen Lohn Leute zur Bedienung zu beschäftigen. Mir war nicht ganz wohl bei diesem ökonomischen Imperialismus, der auf den Umstand zurückging, daß die meisten Bewohner dieser Inseln trotz einiger Fortschritte sehr arm waren. Aber wenn ich Jacques nicht beschäftigte und mich im Haus selbst versorgte, konnte sich der arme Jacques den Außenbordmotor nicht leisten, an dem sein Herz hing. Gegen Abend begann Claudine in der Küche herumzuklappern. Denise und ich genossen Daiquiris auf der Veranda; außer Rum ist kein Alkohol auf Martinique zu bezahlen. Wir bewunderten das Feuer der Hibiskusblüten und Bougainvilleen und genossen das Aroma von vielen Millionen Blüten, während Eidechsen herumhuschten. Plötzlich begann das Trommeln. Es war ein 164
trockenes, metallisches Tap-tap-tappeti-tap, als spiele jemand mit einer leeren Benzintonne. Das Geräusch schien aus keiner bestimmten Richtung zu kommen. Ich fragte mich, ob einige Einheimische nach dem Vorbild von Trinidad eine Steel-Band zusammengestellt hatten und nun auf ihren eingestimmten Ölfässern übten. Jacques kam auf die Veranda, um uns zu sagen, daß das Essen fertig war. Im nächsten Moment erstarrte er mit aufgerissenen Augen und erschlafftem Mund. Er wäre erbleicht, wenn das mög lich gewesen wäre. „Was ist, Jacques?“ rief ich. „Die Trommeln“, flüsterte er. „Das ist das Werk Monsieur Duchamps’.“ „Eh bien? An solcher Trommelei ist noch niemand gestorben.“ „Wenn das alles wäre …“, sagte er und fügte einen kreolischen Satz hinzu, den ich nicht mitbekam. Wir hatten schon einen Eindruck von Fort-de-France gewonnen; außerdem liegt diese Stadt inmitten eines Kessels von Hügeln und wird im Sommer unangenehm heiß. Am nächsten Tag fuhren wir also in die andere Richtung, nach St. Pierre und dem Mt. Pelee. Man kann sich wirklich nicht vorstellen, wie riesig dieser eine Meile hohe „Kahle Berg“ ist, wenn man ihn nicht vor sich hat aufragen sehen, den Gipfel von Dunstwolken verhüllt. Wir hielten in St. Pierre, einer schmalen, halbkreisförmigen Stadt an einem Hang, der aus dem Meer aufstieg. Hellgelb schimmernde Bananenbäume wuchsen weiter oben. St. Pierre war einmal die führende Stadt der Insel, ist heute aber kaum mehr als ein Dorf. Noch immer sind pompeijihafte Ruinen zu sehen, Überreste des großen Ausbruchs von 1902. Wir wanderten ein wenig dazwischen herum und besuchten das Museum, das Glas- und 165
Metallgegenstände zeigte, die von der Hitze der Todeswolke zu Klumpen verschmolzen waren. „Aber“, wandte Tochter Heloise ein, „wenn der Vulkan schon in der Woche vor dem Ausbruch aktiv war, warum haben sich dann die Leute nicht in Sicherheit gebracht?“ „Es lag am Gouverneur Louis Mouttet“, antwortete ich. „Er war zwar von Paris eingesetzt, doch es gab eine eigene Legislatur, und die Wahl stand bevor. Die Liberalen vertraten die weiße Plantagenbesitzerklasse, die das Geld auf sich vereinigte. Die Radikalen waren vorwiegend Neger, die die Massen auf ihrer Seite wußten. Der Gouverneur, der die Liberalen unterstützte, befürchtete, daß ein öffentlicher Aufruhr dieser Art ihn die Wahl kosten konnte.“ „Du redest wie ein Kommunist“, sagte die kleine Priscille. „Bankiers sollten das nicht tun.“ „Ist doch egal, wie Bankiers reden sollten. Das ist jedenfalls geschehen. Außerdem sind diese Kastenunterschiede heute so ziemlich verschwunden. Mouttet widersetzte sich also jedem Evakuierungsplan. Er stellte sogar Soldaten an die Straße nach Fort-de-France, die alle Flüchtlinge zurückschicken sollten. Am 8. Mai 1902 ging es dann los, gegen acht Uhr früh. Gut dreißigtausend Menschen wurden in wenigen Minuten vernichtet. Der einzige Überlebende im Zentrum der Stadt war ein verurteilter Mörder in einer unterirdischen Zelle. Dieser Rekord wurde vom Menschen erst mit der Atombombe übertroffen.“ „Was passierte mit dem Gouverneur?“ wollte Stephen wissen. „Das weiß niemand. Er war damals in St. Pierre, seine Leiche aber wurde nie gefunden.“ Wir kehrten am späten Nachmittag zurück. Die Straßen waren ziemlich gut in Schuß, gab es hier doch keinen großen Lkw-Verkehr und keine frostreichen Winter. Trotzdem sind es 166
die schlimmsten Straßen, die ich je befahren habe. Auf dem Rückweg von St. Pierre führt die Straße einen Hang hinab, der einen niedrigen Gang erfordert, wenn man die Bremsen nicht in Brand setzen will. Ziemlich weit unten kommt eine scharfe Linkskurve. Verpaßt man die, rast man geradewegs ins blaue Karibische Meer, das sich gut hundert Meter tiefer befindet. Eine stählerne Leitplanke in der Kurve war zur Seite gedrückt und flachgefahren worden; irgend jemand hatte es nicht geschafft. Jetzt wußte ich auch, warum es in Fort-de-France keine Achter bahn gab. Wer sollte für dieses Vergnügen zahlen, wo man doch entsprechende Straßen hatte? Zur Cocktailzeit begann das Trommeln erneut. Jacques stürzte aus dem Haus; er war noch aufgeregter als gestern abend. „Monsieur Newbury!“ rief er. „Schauen Sie, was ich unter dem Haus gefunden habe!“ Er hielt mir die voneinander getrennten Körperteile eines kleinen Vogels hin: Kopf, Flügel und Beine. „Ein hübsches Schaustück vor einer Mahlzeit!“ sagte ich. „Was ist denn das, im Namen Gottes?“ „Ein wanga, Monsieur.“ „Eine Art Talisman, der Pech verheißt? Und was ist damit?“ „Es ist unter dem Haus aufgetaucht. Ich weiß nicht, wie es dorthin gekommen ist; ich habe den ganzen Tag hier gearbeitet. Aber plötzlich war es da.“ „Eh bien, tun Sie es in den Müll.“ Jacques seufzte: „Ich wünsche Ihnen alles Gute, Monsieur, aber ich weiß nicht, ob …“ Der Rest war Kreolisch. In der folgenden Nacht hatte ich einen Traum. Ich ging durch eine Straße von St. Pierre, wie es vor dem Vulkanausbruch 167
gewesen war. Die Sonne war schon vor einiger Zeit aufgegangen, doch die Stadt lag dermaßen unter schwarzem Rauch, daß es beinahe nachtschwarz war. Nur wenige Leute waren unterwegs. Ihre Schritte blieben lautlos in der zentimeterdicken Schicht aus pulveriger dunkelgrauer Vulkanasche, die alles bedeckte. Ich hätte sie auch ohne Staub nicht hören können, so laut brauste der Vulkan. Der Gipfel war acht Kilometer entfernt, ragte aber – soweit er im Dunst zu erkennen war – trotz dieser Entfernung riesig empor. Das Brausen wurde durch Explosionen unterbrochen, Lavabomben von der Größe massiver Felsbrocken krachten auf die Häuser heftig nieder. Und dann schrien die Leute auf der Straße durcheinander und deuteten auf den Pelee. Eine mächtige Wolke, die sich von dem allgemeinen Rauchdunst unterschied, war an der Flanke des Berges aufgetaucht. Sie war flammend rot und am Rand schwarz. Mit anderen Worten, das Innere war glühend heiß und die Oberfläche schwarz. Durch die schwarze Außenhaut war die fleckige, sich verschiebende Röte genau auszumachen. Diese amöbische, lodernde Blase bewegte sich rasend den Hang herab und auf die Stadt zu, störende Senken überfließend und dabei immer größer werdend. Ich wußte, worum es sich handelte, ein Gemisch aus brennendem Gas und vulkanischem Staub. Die hohe Temperatur ließ den Brand weiterlodern, so daß der Staub sich nicht setzen konnte. Gleichzeitig verlieh der Staub der Masse eine spezifische Schwere, die höher war als die der Luft, so daß die Wolke mit Autobahngeschwindigkeit den Hang herabglitt. Innerhalb weniger Minuten erreichte die rote Wolke die oberen Teile der Stadt. Die Hitze wurde unerträglich. Gebäude, die der Wolke in den Weg gerieten, entflammten im 168
Handumdrehen, als bestünden sie aus benzingetränktem Papier, das plötzlich angezündet wurde. Als die Wolke die Unterstadt erreichte, verlangsamte sie ihre Bewegung, denn dort war der Hang nicht mehr so steil. Urplötzlich wimmelte es auf den Straßen vor flüchtenden und kreischenden Menschen, deren Kleidung in Brand stand. Einige stürzten nieder und wanden sich am Boden. Andere, die nach Verbrennung ihrer Kleidung nackt dalagen, platzten plötzlich auf. Können Sie sich die Szene vorstellen: Hunderte von Menschen, die durch die Straßen hasteten und doch gleichzeitig bei lebendigem Leibe verbrannten? Die Schreie verschmolzen zu einem schrillen Sirenenheulen, das sogar das Toben des Berges übertönte. Meine Kleidung glimmte und begann zu brennen … „Wach auf, Willy!“ rief Denise und schüttelte mich. „Was ist denn los?“ Benommen rieb ich mir den Schlaf aus den Augen und erzählte ihr von meinem Traum. „Kein Wunder, daß du geschrien hast“, sagte sie. „Jetzt schlaf weiter. Du bist hier nicht in Gefahr.“ Die entsetzlichen Ereignisse, denen ich beigewohnt hatte, hielten mich eine Stunde lang wach. Als ich dann doch einschlafen konnte, war ich sofort wieder in St. Pierre, wenige Minuten vor dem Ausbruch. Von neuem quoll die riesige rote Todeswolke aus dem Berg. Während ein Element in mir erkannte, daß es sich um einen Traum handelte, machte doch der Rest von mir die Gefühle eines Opfers durch, bis meine Schreie Denise erneut dazu bewegten, mich zu wecken. In dieser Nacht kam ich nicht mehr zur Ruhe. Den nächsten Tag verbrachten wir an Argentons kleinem Strand aus schwarzem vulkanischem Sand. Ich nahm einen Zeitmesser 169
mit, damit niemand zu lange in der grellen karibischen Sonne lag, ohne sich umzudrehen. Aber nach kurzer Zeit wurde ich müde und entschlummerte auf dem Bauch liegend, ohne die Uhr einzustellen, und erwachte eine Stunde später mit verbranntem Rücken. Am Abend waren wieder die Trommeln am Werk. „Ein neues wanga gefunden, Jacques?“ fragte ich. „Nein, Monsieur. Aber geht es Ihnen gut? Ich habe Sie in der Nacht schreien hören.“ „Ein übler Traum. Ich habe zuviel über Mt. Pelee gelesen.“ Jacques blickte mich bekümmert an. „Ich sage Ihnen, Monsieur, sich mit Duchamps anzulegen, ist übel.“ „Das ist sein Problem.“ „Wenn Sie meinen, Monsieur.“ In der Nacht träumte ich erneut von St. Pierre an jenem schlim men Vormittag des Jahres 1902. „Willy“, sagte Denise. „Wir müssen etwas dagegen unter nehmen. Ein Mann mittleren Alters kann nicht nächtelang ohne Schlaf bleiben.“ „In Ordnung; ich gehe zu einem Arzt. Wir wollten ja sowieso nach Fort-de-France.“ Zunächst hatten wir noch eine kleine Auseinandersetzung mit unserer älteren Tochter. Sie wollte die damals moderne neue „Uniform“ der sich auflehnenden Jugend anziehen: ausgefranste Bluejeans und ein Männerhemd, vorn zusammengebunden, so daß die Mitte frei blieb. (Die Jugendrevolte war in den Vereinigten Staaten gerade im Ausbruch begriffen.) Denise und ich ließen uns nicht erweichen, mit dem Hinweis, daß eine solche nachlässige Kleidung in einer französischen Stadt für Fremde nicht schicklich war.
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„Auch wenn diese Leute eine schwarze Haut haben“, sagte ich, „sind sie doch so französisch wie die weißen Franzosen Frank reichs. Sie haben dieselben Tugenden, dieselben Fehler. Und eins mögen sie nicht – daß Fremde herbeikommen und sich mausig machen.“ Heloise gab nach und zog ein Kleid an; allerdings schmollte sie einige Stunden lang. Fort-de-France ist ein geschäftiger, nüchterner Ort, der die Geruhsamkeit der Tropen weitgehend vermissen läßt. Wir machten Photos, wie wir vor dem Denkmal der Herrscherin Josephine standen; da sie hier geboren war, genoß sie in Martinique höchste Verehrung. Wir besuchten das Museum von Fort St. Louis, aßen in einem riesigen, aber vorzüglichen französischen Restaurant zu Mittag und gingen einkaufen. Zumindest galt das für die Frauen. Stephen und ich standen oder saßen erschöpft dabei, außer einmal, als Stephen sich einen der seltsamen, wagenradgroßen Strohhüte kaufte, wie sie auf Guadelupe getragen werden. Nachdem Denise mit einigen wohlgesetzten französischen Worten einer schnippischen schwarzen Verkäuferin in M. Alfred Reynards Parfum-Laden den Kopf zurechtgesetzt hatte, suchten wir einen Arzt auf, der in meinem internationalen Ärzteverzeichnis enthalten war. Er gab mir ein Röhrchen mit Schlaftabletten. „Wenn es nicht funktioniert“, sagte er, „kommen Sie noch einmal zu mir. Dann versuchen wir etwas anderes.“ Zu Abend speisten wir im vorzüglichen Hippopotamus. „Wenn wir hier noch öfter essen“, sagte ich, „sehe ich bald selbst wie ein Nilpferd aus.“
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Zum Haus zurückgekehrt, stellten wir fest, daß Jacques gegangen war; er fuhr mit dem Fahrrad nach Schoelcher zu seiner Familie. Am nächsten Tag, Sonntag, hatte er frei. Jacques Lecouvreur schien mir ein ordentlicher Mann und nicht unintelligent zu sein; Claudina dagegen ließ viel zu wünschen übrig. Sie war eine mürrische Schlampe, die viel trank und schlecht kochte. Wenn Denise, die auf typisch französische Art dem Kochen mit Ehrfurcht begegnete, einige Anweisungen gab, hörte sie reglos zu und machte dann doch, was sie wollte. Heloise propagierte freimütig ihre Vorstellungen, die sie für fort schrittlich hielt. In ihren Augen war Claudines Verhalten ein typischer Fall von kolonialer Neurose, ausgelöst durch kapitalistische Ausbeutung. Ich vermute dagegen, daß Claudine überall in gleicherweise aufgetreten wäre. Wir bekamen am Abend wieder die Trommeln zu hören, doch dank der Tabletten des Monsieur le medicin blieben die Träume aus. Sonntag nacht hatte ich ebenfalls Ruhe. Montag früh beluden wir gerade den Wagen für eine Expedition zur Kirche Sacre Coeur de Montmartre de Balata und nach Morne Rouge, als Oreste Duchamps wieder in unserer Auffahrt erschien. Er setzte ein gepreßtes Lächeln auf und grüßte höflich. „Geht es Ihnen gut, Monsieur?“ fragte er. „Sehr gut, vielen Dank.“ „Haben Sie beschlossen abzufahren?“ „Am Ende meiner drei Wochen, Monsieur, früher nicht.“ „Sie sind nicht durch irgendwelche … äh … psychischen Manifestationen belästigt worden?“ „Nein, Monsieur. Was meinen Sie? Wissen Sie etwas Besonderes?“ 172
Er zuckte die Achseln. „Es gibt Gerüchte, neuerdings über das Phantom des Louis Mouttet. Aber wir zivilisierte Menschen tun so etwas natürlich als Aberglauben ab. Trotzdem wollte ich es gern wissen.“ „Nun, Sie dürfen gern aufhören, sich Sorgen zu machen, Monsieur. Es geht mir bestens.“ Er knurrte etwas über „bâtards blancs“ und marschierte davon. Am gleichen Abend kam Claudine mit einem neuen wanga auf die Veranda, das diesmal aus den Körperteilen einer Ratte bestand. „Schlimmer Ort“, sagte sie. „Ich glaube, Sie sollten abreisen.“ Jedenfalls glaube ich, daß sie das sagte. Jacques war des français ordinaire mächtig, wenn er sich Mühe gab, Claudine aber beherrschte nur das Kreolische. Später gingen Denise und ich ins Schlafzimmer, als sie sagte: „Was ist denn das dort auf dem Boden? Ein altes Seil …“ Ich unterbrach sie, indem ich sie packte und hinter mich riß. Im Dämmerschein von Argentons unzureichender elektrischer Be leuchtung sah ich, wie sich das Seil bewegte. Es schnellte sich zu einer Spirale zusammen und zog den Kopf zum Zuschlagen zurück. „Eine Schlange!“ sagte ich. „Besorg mir einen Besen, schnell!“ Und dann mußte ich mich darauf konzentrieren, das Reptil mit dem Besenstiel zu schlagen, bis es tot war, trotz seiner Versuche, an mich heranzukommen. Die Schlange war eine braune Lanzenschlange mit diamantförmigen Markierungen wie die einer Klapperschlange. Sie hatte den breiten herzförmigen Kopf der Klapperschlangen und aller anderen Grubenottern. 173
„Monsieur Duchamps gibt nicht so schnell auf“, sagte ich. „Ich versuch’s mal mit der Polizei.“ Am nächsten Vormittag fuhr ich nach Fort-de-France und parkte vor dem erstbesten Polizeirevier. Den zerschmetterten Körper der Lanzenschlange hatte ich in einer Papiertüte bei mir. Der Mann am Tresen verwies mich an einen Verantwortlichen – Polizeisergeant Hippolyte Frot. Sergeant Frot war ein schwarzer Mann, so groß wie ich, jünger und schwergewichtiger mit ersten Ansätzen zu einem Bauch. Ich schilderte ihm mein Anliegen, und er untersuchte die Schlange in seiner lässigen, entgegenkommenden Art. „Seit der Einführung der Mungos sind sie selten geworden“, sagte er. „Wir bekommen sie nur noch zu sehen, wenn ein Bauer eine aus den Bergen mitbringt, um einen Kampf gegen einen Mungo zu arrangieren. Manchen gefällt so etwas mehr als ein Hahnenkampf.“ Das entsprach nicht dem, was ich von meinen biologisch geschulten Freunden im Naturkundlichen Museum gehört habe. Die behaupten, der Mungo meide generell die Grubenotter, die viel schneller zustoßen kann als eine Kobra. Statt dessen haben die Mungos in Westindien derartig unter Vögeln, Echsen und anderen Kleintieren gewütet, gar nicht zu reden von den Hühnern der Bauern, daß auf einigen Inseln der Bann von den Schlangen genommen und statt dessen auf die Mungos gelegt wurde. Aber darüber wollte ich mit Frot nicht streiten. „Was diesen Duchamps angeht“, fuhr er fort, „so verstehen Sie, Monsieur Newbury, daß wir hier Religionsfreiheit haben. Wenn Duchamps seinen primitiven Polytheismus verbreiten will, ist das seine Angelegenheit, solange er sich anständig aufführt. Solcher Aberglaube ist auf dieser Insel ohnehin so gut wie ausgestorben.“
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In Westindien wird gern bestritten, daß es überhaupt noch Voodoo-Elemente gibt, zumindest auf der Insel, zu der der Betreffende gehört. Auf anderen Inseln mag es so etwas noch geben, heißt es, aber nicht auf dieser, die viel zu fortschrittlich und kultiviert ist. „Andererseits“, fuhr Frot fort, „dürfen wir die „mission civilisatrice“ Frankreichs nicht vergessen. Sie setzt voraus, daß alles ordentlich und zivilisiert abläuft. Wenn Duchamps’ Kult Unruhe stiftet oder Schlangen in Häuser setzt, müssen wir streng durchgreifen. Aber bedenken Sie bitte, daß wir nach Ihrer Schilderung keinen Beweis dafür haben, daß die Schlange nicht aus eigenem Antrieb in Ihr Haus gekrochen ist. Mit einer solchen Anschuldigung könnten wir Duchamps nicht verhaften. Ich möchte Ihnen vorschlagen, daß Sie mir die Schlange hierlassen. Ich werde Männer beauftragen, das Haus von Monsieur Argenton im Auge zu behalten. Wenn es weitere Manifestationen gibt, verständigen Sie mich bitte auf jeden Fall. Wie lautet Ihre Telefonnummer?“ „Wir haben kein Telefon. Ich bin hierher gereist, um von solchen Symbolen der Zivilisation einmal fortzukommen.“ Frot lachte leise. „Aber jetzt scheint dieser Gedanke nicht mehr ganz so angenehm zu sein, hein? Das erlebe ich nicht zum erstenmal. Wir stellen fest, daß wir von den Rudern der Zivilisation Blasen an den Fingern haben und Rückenschmerzen. Wir werfen sie also fort. Dann stellen wir fest, daß die Strömung unser kleines Boot auf den Wasserfall zuträgt. Daraufhin versuchen wir wieder nach den Rudern zu greifen, wenn sie nicht bereits außer Reichweite getrieben worden sind. Sie haben aber immerhin ein Auto, also halten Sie mich auf dem laufenden.“
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Mehrere Tage lang gab es keine Manifestationen mehr, bis auf die nächtlichen Serenaden der Trommler. Die Kinder wurden aufmerksam, wie es für Kinder typisch ist, obwohl sich Denise und ich Mühe gaben, das Problem nicht in ihrer Gegenwart zu besprechen. Stephen, der sich für eine Arbeit über Martinique Notizen machte, sagte: „Wenn uns dieser Duchamps noch mehr Ärger macht, Paps, warum schießt du ihn nicht einfach nieder und behauptest, es wäre Notwehr gewesen?“ „Erstens habe ich keine Waffe“, antwortete ich. „Zweitens würde kein Gesetz einen Angriff mit Zauberkraft als legitimen Vorwand dafür ansehen, jemanden zu töten.“ „Sie würden ihn als Mörder verurteilen, Dummkopf“, sagte Heloise, „und ihn mit der Guillotine einen Kopf kürzer machen.“ „Mann!“ rief Priscille. „Wäre das nicht ein tolles Schauspiel? Natürlich würdest du uns fehlen, Paps.“ „Vielen Dank“, sagte ich. „Aber die Guillotine ist hier nicht in Gebrauch. Übeltäter werden aufgehängt.“ „Warum?“ wollte Stephen wissen. „Während der französischen Revolution hat man es mal mit einer Guillotine versucht, die aber nicht funktionierte. Von der Feuchtigkeit verzogen sich die hölzernen Streben, und das Messer blieb im Fall stecken. Manchmal wurde einem armen Kerl der Kopf nur zur Hälfte abgeschnitten.“ „Heute könnte man einen Aluminiumrahmen nehmen…“, begann Stephen. „Was für ein schönes Frühstücksgespräch!“ sagte Denise. „Ach“, meinte Priscille, „ein bißchen Blut und Schmadder bei den Mahlzeiten ist doch ganz schön.“ 176
Zur Cocktailzeit sagte Denise: „Willy, wir müssen uns von Claudine trennen. Sie macht nichts richtig, und ich kann ihr nichts beibringen. Da koche ich lieber selbst, als stundenlang auf sie einzureden.“ Jacques Lecouvreur hatte die Bemerkung gehört. „Verzeihen Sie, Monsieur und Madame“, sagte er. „Bitte tun Sie das nicht.“ „Und warum nicht, wenn wir es wollen?“ fragte Denise herablassend. „Sie würde einen Fluch auf das Haus legen. Sie steckt mit den bourhousses unter einer Decke.“ „Ach?“ fragte ich. „Warum haben Sie sie dann für uns eingestellt, Jacques?“ „Bitte, Monsieur, damals wußte ich das nicht. Es tut mir sehr leid. Ich stellte später fest, daß sie die Macht besitzt. Würde sie das Haus verwünschen, könnte nicht einmal ein guter katholischer Exorzismus etwas ausrichten. Sie müßten dann schon eine Gruppe chango-Tänzer mieten, um die bösen Geister zu vertreiben, doch alle Truppen in dieser Gegend stehen unter dem Einfluß von Monsieur Duchamps.“ „Sie ist nicht gerade die Sorte Mensch, die ich gern als Köchin bei uns sehe“, sagte ich. „Sie könnte uns vergiften. Manchmal glaube ich sogar, daß sie das schon versucht hat.“ „Ich weiß, Monsieur, ich weiß. Aber wenn Sie sie entlassen, muß ich auch gehen.“ „Warum? Sie möchte ich nicht verlieren, Jacques.“ „Sie verstehen mich nicht richtig, Monsieur. Wenn sie dieses Haus verwünscht, würde das Pech der Menschen, die hier wohnen, auch auf mich übergreifen. Ich muß an meine Familie denken.“ „Wir überlegen es uns“, sagte ich. 177
Wie es so oft geschieht, überlegten wir es uns so lange, daß wir schließlich stillschweigend übereinkamen, es habe keinen Sinn, sich Probleme an den Hals zu holen, wo wir ohnehin nur noch gut eine Woche hatten. Außerdem hatten wir es uns angewöhnt, nach Fort-de-France zu fahren und im Hippopotamus, im Chez Etienne und anderen Lokalen zu Abend zu essen. Das Trommeln nahm seinen Fortgang, wurde sogar lauter und beharrlicher. Eines Morgens sagte Jacques: „Monsieur, ich habe eine Botschaft von Monsieur Duchamps für Sie. Sie wurde mir durch Claudine übermittelt.“ „Ja?“ „Er sagt, dies sei Ihre letzte Chance. Wenn Sie nicht heute abend abgereist sind, übernimmt er keine Verantwortung mehr für Ihre Sicherheit.“ „Das ist nett von ihm“, bemerkte ich. „Sagen Sie ihm, ich bedaure zwar den Umstand, daß er mir seinen Schutz entzieht, ich müsse dann aber selbst sehen, wie ich durchkomme.“ „Er äußerte auch ein kreolisches Sprichwort: ,Fer couper fer.’ Verstehen Sie, was er damit meint, Monsieur?“ „Ich glaube, er meint: ,Eisen, das Eisen schneidet’, oder ,Extreme Probleme erfordern extreme Mittel.’ Habe ich recht?“ „Oui. Und oh, noch etwas.“ Jacques trat von einem Fuß auf den anderen und hob dann die Hand, die er bisher auf dem Rücken gehalten hatte. Darin lag ein menschlicher Schädel, ohne Unterkiefer und mit nur noch wenigen Zähnen. „Dies fand ich heute früh auf der Schwelle.“ Ich untersuchte den Schädel. „Ein neues wanga?“
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Jacques runzelte nachdenklich die Stirn. „Eigentlich nicht, Monsieur. Ein echtes wanga besteht aus den Körperteilen eines Vogels oder Tiers. Es wird auf bestimmte Weise besungen und betanzt, um die Geister in den jeweiligen Dienst zu zwingen. Dies ist mehr eine einfache Warnung. Ich glaube, ich weiß, woher der Schädel kommt.“ „Woher?“ „Auf Guadeloupe gibt es einen Strand, wo angeblich vor langer Zeit die englischen und französischen Soldaten begraben wurden, die in der Karibik kämpften. Das Meer spült diesen Strand jetzt ab, und man findet so viele Knochen und Schädel, wie man nur will.“ „Stellen Sie das Ding auf den Kamin“, sagte ich. „Vielleicht nehme ich es mit nach Hause.“ Jacques entfernte sich; er schüttelte den Kopf über die Schrullen dieser verrückten Amerikaner. Ich fuhr nach Fort-de-France, um meinen philosophischen Sergeanten zu besuchen. Frot sagte: „Wir haben immer noch keinen Ansatzpunkt. Dieser obeah-Mann hat bisher darauf verzichtet, legal anfechtbare Drohungen auszustoßen…“ „Obeah-Mann?“ fragte ich. „Ich dachte, obeah sei die jamaikanische Abart des vodun?“ Frot lächelte. „Sie wissen nicht, daß es unter den afrokaribi schen Supernaturalisten eine Art ökumenische Bewegung gegeben hat. Die Obeah-Männer, die houngans und die quimboiseurs kommen in Ratsversammlungen zusammen, um zu besprechen, ob man Obboney oder Damballah als ersten Gott ansehen soll oder ob es sich da nur um unterschiedliche Namen für dasselbe Wesen handelt. Sie haben dieselben Schwierigkeiten, eine gemeinsame Basis zu finden, die die Christen 179
unterähnlichen Umständen erlebt haben. Trotz heftiger theologischer Auseinandersetzungen scheint man aber auf eine Art Einigkeit hinzuarbeiten. Die alten Unterschiede gelten also nicht mehr. Wir wollen allerdings versuchen, unseren Bereich besser im Auge zu behalten. Bitte melden Sie mir auf jeden Fall alles, was sich für formelle Gegenmaßnahmen eignet.“ „Vielen Dank, Sergeant“, sagte ich. „Nett von Ihnen.“ „Keine Ursache. Ich bin nur entzückt, einen Amerikaner kennenzulernen, der so gut Französisch spricht. Wissen Sie, Ihre Landsleute kommen immer her und gehen davon aus, daß jeder ihre Sprache spricht, und wenn es einer nicht kann, brüllen sie den Betreffenden recht unzivilisiert an. Bonne Chance, Monsieur.“ Wir verbrachten einen anstrengenden Tag am Strand mit Schwimmen und Spielen. Später verzehrten wir eines von Claudines gleichgültigen Abendessen. Die Kinder waren müde genug, um früh zu Bett zu gehen, doch ich fühlte mich voller Leben. Das Trommeln war verstummt, das einzige Geräusch war das Sirren von einer Million Grashüpfern. „Gehen wir ein Stück am Strand spazieren“, sagte ich zu Denise. „Wir haben Vollmond.“ So gingen wir los. Der Spaziergang endete mit einem spontanen Bad in den Wellen, dann liebten wir uns im Sand. Wir zogen uns an und machten uns Hand in Hand auf den Rückweg zum Haus. Wir hatten den steilen Weg etwa zur Hälfte erklommen, als ein Mann aus dem Schatten eines Bananenbaums trat. Der Mond hüllte ihn in silbrige Flecken, so daß ich ihn nicht deutlich erkennen konnte. Ich hatte den Eindruck, daß er stämmig gewachsen war, mit weißer Haut, Kräuselhaar und einem kleinen Bart. 180
Wortlos kam der Mann über den steilen Weg auf uns zu. „Wer sind Sie?“ fragte ich. Der Mann ging stumm weiter. Der Mond funkelte auf der Klinge einer Machete. „Lauf, Denise!“ sagte ich auf Englisch. „Ich halte den Kerl auf. Hol die Polizei!“ Als ich mich umblickte, war Denise verschwunden. Ich hörte schwache, leiser werdende Schritte. Obgleich sie wie ich nicht mehr ganz jung war, konnte sie noch wie ein Reh laufen. Der Mann mit dem Messer rückte näher. Ich nahm mir vor, mich irgendwie an ihm vorbeizudrücken, um im Haus ans Telefon zu kommen. Erst dann fiel mir ein, daß wir ja gar keinen Anschluß hatten. Vielleicht konnte ich mich zum Caravan durchschlagen und darin einschließen. Der Wagen mochte auch eine Waffe sein, wenn ich ihn vor den Kühler bekam. Aber das ließ das Problem unserer schlafenden Kinder offen… Während mir diese Gedanken durch den Kopf gingen, blieb der Mann nicht stehen. Noch ein Schritt, und er war in Hiebweite. Wenn ich zum Strand zurücklief, mußte ich ihn auf Denises Spuren locken. Statt dessen entfernte ich mich im rechten Winkel vom Weg, in den Wildwuchs stürmend. Ich brach dabei durch Büsche und drängte mich an Bäumen vorbei und machte Lärm wie eine Horde flüchtender Elefanten. Ich kam mir wie eine der typischen Romanfiguren Fenimore Coopers vor, die stets auf einen Zweig treten, wenn die Notwendigkeit zur Stille am größten ist. Ein Blick über die Schulter zeigte mir, daß der Mann die Verfolgung aufgenommen hatte. In dichtem Gebüsch hieb er die störenden Äste mit seiner Machete ab. Der Mann war kein durchscheinendes Gespenst, keine Illusion. Ich bewegte mich im 181
Freien zwar schneller als er, doch kam er im Dickicht mindestens so schnell voran wie ich. Ich versuchte einen Bogen zu schlagen, um zum Haus zu gelangen, doch er kürzte den Winkel so geschickt, daß er stets zwischen mir und dem Gebäude blieb. Ich begann mir Sorgen zu machen, daß ich mich verirren könnte. Das wäre bei Tag kein Problem gewesen, wo man sich immer nach der Sonne und dem Meer orientieren konnte. Die Nacht aber stand auf einem anderen Blatt. Der Mann kam näher und drängte mich immer mehr von Argenton-Haus ab. In der Annahme, daß ein stämmiger Bursche wie er sich schneller verausgaben würde als ich, führte ich ihn geradewegs den Hang empor. Er wühlte sich hinter mir her, mal einen Meter verlierend, dann aber wieder aufholend. Die Straße nach Fort-de-France schien mir viel weiter entfernt zu sein, als ich in Erinnerung hatte. Aber schließlich hatte ich den Aufstieg bisher nicht zu Fuß gemacht und bei Nacht und durch tropische Vegetation, verfolgt von einem Mann mit Machete. Als ich die Straße endlich erreichte, war ich außer Atem. Mein pochendes Herz und die pfeifenden Lungen erinnerten mich dar an, daß ich mich den Fünfzig näherte. Mein Verfolger erschien ebenfalls auf der Straße. Er schien nicht im geringsten außer Atem zu sein. Als der Mann ins Mondlicht trat, sah ich, daß sein Gesicht aus druckslos war, daß die Augen geradezu stierten. Gedanken an Zombies zuckten mir durch den Kopf. Ohne zu rufen oder sonst etwas zu sagen, trottete er auf mich zu und schwang dabei die Machete. Ich rechnete mir aus, daß ich trotz meiner längeren Beine nicht auf der Straße entkommen konnte, da er nicht wie ein normaler Sterblicher zu ermüden schien. Auf der anderen Straßenseite 182
erstreckte sich ein Gebiet mit Bananenbäumen, die früher einmal gepflegt worden waren, jetzt aber im Wildwuchs standen. Die riesigen ungleichmäßigen Blätter boten gute Deckung; vielleicht konnte ich ihn dort loswerden. Ich stürzte mich zwischen die Bananenstauden. Zuerst vermeinte ich meinen Vorsprung zu vergrößern. Ich versuchte ihn abzuschütteln, indem ich die Richtung wechselte, doch meine Pfadfinderfähigkeiten reichten nicht aus, um völlig lautlos voranzukommen. Bei jedem Blick sah ich ihn hinter mir, unermüdlich ausschreitend. Wenn ich nur einen Knüppel in die Hand bekam, konnte ich seinen Hieb parieren und ihm eins über den Kopf oder in den Bauch geben … Ich fand aber keinen Knüppel. Ich kam an einem Bambusbüschel vorbei. Eine Bambusstange hätte mir weiter helfen können, doch ich brauchte Zeit und eine Machete, um eine abzuschneiden und in Form zu bringen. So stürmte ich weiter. Schließlich konnte ich nicht mehr. Ich wußte nicht, wo ich mich befand, und der Mann rückte immer weiter vor. Ich spielte mit dem Gedanken, ihn anzuspringen wie beim Football. Wenn ich mich unter der herumschwingenden Klinge hindurchwinden konnte … Keuchend duckte ich mich und breitete die Arme aus. Er stapfte herbei, die Machete vor sich erhoben. Die Klinge fuhr in die Höhe. Jemand rief: „Halte-là!“ Als mein Verfolger sich nicht darum scherte, wurde ich von einem Blitz und einer Explosion geblendet und betäubt. Der Mann wirbelte herum. Er stürzte, und ich sah, daß er am Bein getroffen war. Die Hose war zerfetzt und lief dunkel an, das Bein war an einer Stelle angewinkelt, wo es kein Gelenk gab. 183
Aber der Bursche rappelte sich auf und begann mit grotesken Sprüngen auf mich zuzuhüpfen, das verwundete Bein hinter sich her ziehend. Ein zweiter Schuß riß ihn erneut zu Boden. Trotz dem kroch er weiter, beide zerschmetterten Beine am Boden schleifend. Die Machete hatte er nicht losgelassen. Ein dritter Schuß ließ Gehirnmasse herumfliegen. Der Mann rührte sich nicht mehr. Ein Uniformierter erschien im Mondlicht und tauschte die verschossenen Patronen seines Revolvers aus. Obwohl sein Käppi das schimmernd schwarze Gesicht in Schatten legte, erkannte ich Hippolyte Frot sofort. „Nun, Monsieur!“ sagte er. „Wenn Sie nicht so schnell ausge rückt wären und dieses Geschöpf hinter sich hergelockt hätten, wäre die Sache längst beendet. Du meine Güte, ich habe noch keinen Grauhaarigen so durch den Wald hetzen sehen! Sind Sie pensionierter Olympiasieger?“ Als ich wieder sprechen konnte, antwortete ich: „Es ist wie bei der Geschichte von dem Kaninchen, das dem Fuchs entkommen konnte: das Kaninchen lief schneller um sein Leben als der Fuchs um sein Abendessen. Woher sind Sie plötzlich so à propos gekommen?“ „Ich habe Ihnen doch gesagt, daß wir die Gegend im Auge behalten würden.“ Frot steckte seine Waffe ein. Ich erkannte eine 44er Magnum, die beinahe die Durchschlagskraft einer Elefantenbüchse hatte, aber auch einen entsprechenden Rückschlag. Ich selbst war früher ein guter Pistolenschütze gewesen, doch müßte ich eine solche Waffe abfeuern, würde ich sie mit beiden Händen umklammern, damit sie mir nicht aus der Hand spränge. Sergeant Frot richtete den Strahl einer Taschenlampe auf die Leiche. „O mon Dieu!“ sagte er. 184
„Was ist?“ Er zeigte mir ein Gesicht, auf dem ich trotz der Schatten Verwunderung ausmachte. In einem so gut integrierten und beherrschten Mann wie Hippolyte Frot war das beunruhigend. „Wissen Sie, wer das ist?“ fragte er. „Nein. Wer denn?“ „Louis Mouttet, der schurkische Gouverneur, der bei dem großen Vulkanausbruch ums Leben kam – oder jemand anders, der so maskiert wurde, daß er ihm ähnlich sieht. Ich habe Photos des echten Mouttet gesehen, ein Irrtum ist unmöglich. Formidable!“ „Das war doch gut sechzig Jahre her!“ „Genau. Aber wissen Sie, Mouttets Leiche ist nie gefunden worden, obwohl sich die Regierung große Mühe gab, die Opfer zu identifizieren.“ „Soll das heißen, irgendeine Bande bourhousses habe Mouttet die ganze Zeit als Zombie gehalten? Und Duchamps habe sich die Leiche ausgeborgt, um sie auf mich zu hetzen?“ „Monsieur“, sagte Frot betont, „Sie können sich solchen Mutmaßungen hingeben, soviel Sie wollen. Wir haben hier Meinungsfreiheit. Aber wir haben auch die mission civilisatrice Frankreichs. Aus diesem Grund kann ich es nicht zulassen, daß diese Erklärung in die amtlichen Unterlagen Eingang findet. Zweifellos handelt es sich um einen Mann, dem von den Predigten Duchamps’ und seinesgleichen der Kopf verdreht worden ist und der dazu bestimmt war, eine natürliche Ähnlichkeit mit dem echten Mouttet zu verstärken. Treten Sie bitte zurück!“ Frot zog den großen Revolver und gab noch einen Schuß auf den Kopf des Toten ab – in einem Winkel, der das Geschoß durch das Gesicht austreten ließ. Dieses Gesicht stellte 185
sich augenblicklich als blutiges Chaos dar, das niemand mehr hätte identifizieren können. „Jetzt“, sagte er, „besteht kein Grund mehr, Gerüchte weiter zuverbreiten, die primitivem Aberglauben Vorschub leisten. Wie Sie wissen, Monsieur Newbury, ist die Zivilisation nichts weiter als eine dünne Kruste über unserem ungezähmten Inneren, sei unsere Haut nun weiß oder schwarz. Wir müssen versuchen, diese Eierschale intakt zu halten.“ Ich hörte ein Krachen zwischen den Bananenstauden und laute Hallo-Rufe. „Oui, nous y sommes“, rief Frot. „Tout va bien.“ Es war Denise mit zwei Beamten aus Frots Revier, angelockt durch die Schüsse. Sie hatten sich vorsichtig dem Haus genähert. Denise war im Bogen zum Haus zurückgekehrt. Nachdem der Zombie und ich im Bananenhain verschwunden waren, stieg sie in den Wagen und fuhr wie eine Verrückte nach Fort-de-France. Dort sagte man ihr, daß Frot persönlich in unserer Gegend unterwegs sei, doch weil die Lage so ernst war, hatten zwei flies sie begleitet. Jacques Lecouvreuer bekam seinen Motor. Da ich mir in meiner Jugend einige technische Grundkenntnisse erworben hatte, half ich ihm beim Einbau. Stephen und ich halfen den Dorfbewohnern von Schoelcher darüber hinaus beim Einholen des Netzes. Dabei erfuhren wir, daß Barrakuda gut eßbar sind, wenn auch manche ein Vorurteil dagegen haben. Als ich Frot das nächste Mal begegnete, erkundigte ich mich nach Oreste Duchamps. „In seine Heimat Haiti deportiert“, antwortete der Sergeant. „Wir dürfen den Weg der Zivilisation nicht durch primitiven Zauber verstellen lassen. Und was ist mit Ihnen, Monsieur?“ 186
„Alles ruhig, vielen Dank, nur ist unsere Köchin verschwunden. Ich glaube, sie war mit Duchamps im Bunde. Sie war sowieso eine schreckliche Köchin, aber in wenigen Tagen fahren wir ja ab.“ „In dem Fall, Monsieur, brauchen Sie wohl keine weiteren Störungen zu fürchten. Vielleicht hätten Sie Lust, Ihren Aufent halt zu verlängern? Sie sollten Martinique die Chance geben zu zeigen, wie liebenswert es sein kann, solange nicht barbarische Intriganten ihr Zauberspiel treiben.“ „Ich würde gern länger bleiben, aber meine Arbeit ruft mich zurück.“ „Dann bis zum nächsten Mal.“ „A coup sûr, Monsieur Frot. Aber Sie können sicher sein, sollte ich jemals wieder im Ausland ein Haus mieten, werde ich mich vergewissern, daß ich der einzige Mieter bin!“
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Schlangengaben Ich dachte nicht an Schlangen. Vielmehr dachte ich gerade an den Kredit, den wir – das heißt, die Harrison Trust-Bank – der wackeligen Gliozzi-Baugesellschaft eingeräumt hatten, als unser Finanzdirektor Malcolm McGill eintrat. „Willy“, sagte er, „Sie kennen doch die alte Mrs. Dalton?“ „Aber ja. Was ist mit ihr?“ „Sie möchte ihr Konto schließen und alles verschenken.“ „Das steht ihr sicher frei. Aber warum?“ „Sie sollten lieber mal mit ihr sprechen.“ „Heiliger Himmel! Sie wird mich in Grund und Boden reden“, sagte ich. „Aber Sie haben wahrscheinlich recht.“ McGill führte Mrs. Dalton in mein Büro. Sie gehörte zum Kreis der alten Jungfern, für die wir in unseren Büchern Vermögensverwaltungs-Konten führen. Wir achten bei diesen Depots auf einwandfreie Werte mit hoher Verzinsung oder steuerfreie Staatsanleihen, schnitten die Coupons, sahen uns mehrmals im Jahr die Konten an, um zu prüfen ob eine Umschichtung des Depots angezeigt war. und schickten den Inhabern monatlich einen Scheck. Ich rückte ihr den Stuhl zurecht. „Also, Mrs. Dalton“, sagte ich, „wie ich höre, wollen Sie uns verlassen.“ Sie lächelte mich freundlich an. „Oh, verlassen eigentlich nicht. Mr. Newbury. Nicht im Geist, meine ich. Aber ich habe eine bessere Verwendung für den materiellen Stoff gefunden, den Sie Geld nennen, als ihn einfach in der Bank sitzen zu lassen.“ „Ja?“ fragte ich neugierig und hob eine Augenbraue. „Erzählen Sie mir bitte davon. Wir versuchen Ihre Interessen zu schützen.“ 188
„Das Geld wird dem Meister übertragen, damit er seine große Arbeit vorantreiben kann.“ „Dem Meister?“ „Sie wissen schon. Sie haben doch bestimmt schon von der vorzüglichen Arbeit gehört, die Mr. Bergius leistet?“ „Oh. Ja, ich habe davon gehört, aber erzählen Sie mir mehr.“ Die Organisation des Meisters nennt sich Hagnophilia, das heißt ,Liebe zur Reinheit’. Wissen Sie, er ist der irdische Vertreter des Interstellaren Herrscher-Rates. Gewählt wurde er wegen seiner Reinheit und Visionsfähigkeit. Sie brachten ihn in einer fliegenden Untertasse auf den Planeten Zikkard, wo sich der Rat versammelt. Nachdem er auf die Probe gestellt worden war, befand man, er sei es wert, Stellvertretendes Ratsmitglied zu werden. Indem wir seine große Arbeit unterstützen, können wir für seine Erhebung zum Vollmitglied beitragen. Das heißt, daß die Erde dann in interstellaren Dingen Sitz und Stimme hätte.“ „Ach ja. Und was haben Sie davon, Mrs. Dalton?“ „Oh, seine Lehren werden es uns ermöglichen, bei voller Gesundheit zu bleiben, bis der Augenblick des Weiterwanderns gekommen ist. Wenn es soweit ist, werden wir auf direktem Wege in die nächsten Körper umsteigen, ohne diese unange nehme Sterberei. Außerdem sagt er, wir würden die Erinnerung an unser früheres Leben behalten und auf diese Weise die einmal gemachten Erfahrungen ausnützen. So wie die Dinge heute stehen, vergißt man seine früheren Existenzen, so daß man immer wieder von vorn anfangen muß.“ „Sehr interessant. Wie haben Mr. Bergius’ Pläne funktio niert?“ „Mr. Bergius ist noch nicht lange genug am Wirken, um wirklich etwas auszusagen. Aber als der alte Mr. White dahinschied, hatte er ein so friedliches Lächeln auf dem Gesicht! 189
Das zeigte mir, daß er direkt in seine nächste Inkarnation weitergewandert ist, wie es der Meister versprochen hatte.“ „Nun ja, Mrs. Dalton, Ihr Meister hat da ein paar ziemlich große Versprechungen gemacht. Wollen Sie nicht lieber ein Weilchen abwarten, wie es sich damit verhält? Er wäre nicht der erste, der große Erwartungen weckt und sie dann nicht erfüllt.“ Ihr Mund verkrampfte sich. „Nein, Mr. Newbury. Ich habe meinen Entschluß gefaßt und werde mich daran halten. Bitte lassen Sie die Unterlagen ausstellen.“ Später verließ Mrs. Dalton die Bank mit einem großen Umschlag, in dem sich ihre sämtlichen Wertpapiere befanden, außerdem hatte sie einen Scheck über den Restsaldo bekommen. Ihr Chauffeur half ihr in den Wagen, dann fuhren sie ab. McGill, der das Schauspiel mürrisch verfolgt hatte, wandte sich an mich. „Was soll das alles, Willy?“ Ich sagte es ihm. „Hagnophilia“, meinte er, „das hört sich ja wie eine Blutkrankheit an. Was heißt es: ,Liebe zu Hageren?’“ „Nein; ,Liebe zur Reinheit’. Griechisch.“ Im folgenden Monat wurden zwei weitere Vermögensverwal tungs-Konten auf gleiche Weise geschlossen. Mein Chef Esau Drexel rief mich in sein Präsidentenbüro, um sich darüber zu informieren. „Wir müßten schon mehr als ein paar solche Konten verlieren, um in Gefahr zu geraten, obwohl wir nur eine kleine Bank sind“, sagte er, „aber hier werden unschöne Präzedenzfälle geschaffen. Wenn diese Leute pleite sind, wird man es uns anlasten, daß wir sie ihr Geld an diesen Scharlatan haben vergeuden lassen.“
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„Richtig“, sagte ich, „aber die Welt ist voller Leichtgläubiger. Das war schon immer so. Ich wüßte nicht, was wir dagegen tun könnten, außer vielleicht einen Konkurrenzkult aufzumachen.“ „Vielleicht sollten wir einen auf Plutus abstellen, den Gott des Reichtums“, meinte Drexel. „Verdammt, die einzige Möglichkeit, etwas in Gang zu bringen, besteht in der Gründung irgendeiner gottverdammten Religion! Habe ich Ihnen schon erzählt, daß mein Enkel die Universität verlassen hat, um sich einer solchen Gruppe anzuschließen?“ „Nein. Das ist das erste, was ich höre. Tut mir wirklich leid.“ „Ein Bursche, der sich Reverend Sung nennt – irgendein Chinese oder so – betreibt eine sogenannte Wissenschaftliche Zauberei und hat dem armen George glatt den Kopf verdreht. Er hat den Jungen überzeugt, daß seine Familienangehörigen von bösen Geistern heimgesucht sind, woraufhin George nichts mehr mit uns zu tun haben will. Wenn auch nur die Hälfte von dem stimmt, was George uns erzählt, können diese Leute Haarsträu bendes vollbringen.“ „Läßt sich dieser Reverend Sung nicht gerichtlich belangen?“ „Nein. Wir haben es versucht, aber er steht unter dem Schutz der Ersten Verfassungsergänzung. Mein Anwalt sagt, wenn wir George mit Gewalt zur Räson brächten, könnten wir wegen Ent führung ins Gefängnis kommen.“ Kurze Zeit später beschloß der alte John Sturdevant sein Konto zu löschen und das Geld dem Meister zu überlassen. Sein Ver mögen jedoch hatte die Form einer unwiderruflichen Treuhand schaft, die wir nicht hätten freigeben können, selbst wenn wir gewollt hätten.
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Sturdevant war ein unangenehmer alter Knabe. Nur von wenigen kann man wahrheitsgemäß behaupten, sie fauchten ihre Worte, aber bei Sturdevant traf das zu. „Junger Mann“, sagte er (ich hatte eben die Fünfzig hinter mir), „ich habe lange genug gelebt, um zu erkennen, wenn mir etwas Gutes über den Weg läuft. Verdammt, Sie stellen sich Fortschritt und Aufklärung in den Weg! Sie verurteilen mich zu einem schmerzhaften und langgezogenen Tod von irgendeiner Krank heit. Im Augenblick habe ich sechzehn Zipperleins, und mit Hilfe des Meisters könnte ich mir neue Zähne wachsen lassen, meine Prostata auf normale Größe bringen und so weiter. Und anschließend könnte ich mühelos in meinen nächsten Körper überwechseln, schwupp. Mit diesem Geld wäre der Meister darüber hinaus in der Lage, das Kriegspielen zu beenden, die Bevölkerungsexplosion zu steuern und den Reichtum der Welt gerecht zu verteilen. Sie sind Schlächter, Sadist – ein Hitler! Guten Tag, Sir!“ Er stampfte hinaus und stieß bei jedem Schritt mit seinem langen Spazierstock heftig auf den Boden. Der nächste Zusammenstoß ergab sich, als Bascom Goetz das Geld aus dem Treuhandfonds für seinen zwölfjährigen Neffen und Zögling entnehmen wollte, um den Jungen in einem der Erziehungsinstitute Bergius’ einzuschreiben. Diese ungewöhn lichen Schulen versprachen die Schüler zu Superwesen zu machen, denen so gut wie nichts unmöglich war, gerade daß sie nicht auf Wasser zu wandeln vermochten. Die Treuhandbestim mungen ließen es zu, daß für notwendige Anschaffungen und die Erziehung des Jungen das Kapital angegriffen wurde, doch sahen wir die Schulen des Meisters nicht in diesen Kategorien. Da Goetz für seine Abhebungen unsere Zustimmung brauchte, kam es zu einer lebhaften Auseinandersetzung. Er stürmte hinaus, um sich mit seinem Rechtsanwalt zu besprechen. 192
Mein nächster Kontakt mit den Hagnophilia ergab sich, als unser im Erstsemester studierender Sohn Stephen übers Wochenende einen Freund mitbrachte. Dieser Freund, Chet Carpenter, trug Bluejeans und hatte schulterlanges Haar – eine männliche Frisur, die mir immer wieder Unbehagen bereitet hat. Während des Essens sagte Carpenter, er wolle das College ver lassen und sein Leben den Hagnophilia widmen. Ich mußte ihn ein wenig aus der Reserve locken, aber dann hielt er mir einen kleinen Vortrag über die Sekte. „Wissen Sie, Mr. Newbury, es kommt allein darauf an, Ihre purusha zur vollen Akromatie zu bringen. Ihre purusha ist der immaterielle Nexus der Energieverfließung zwischen den sieben Existenzebenen. Sie manifestiert sich Milliarden Jahre lang, bis ihre psychionische Ladung erschöpft ist. Der Interstellare Rat arbeitet an einem Projekt, mit dem erschöpfte purushas wieder aufgeladen werden sollen, damit es nicht nach einer bloßen Trillion Jahren mit uns zu Ende geht. Nun ja, sobald eine Hülle sich auflöst, schwebt die purusha im Interraum, bis eine andere sich ihr anbietet. Diese Schwebezeit geschieht allerdings im siebendimensionalen Zeitstrom, folglich wird die Erinnerung früherer Formgebungen aufgehoben. Wissen Sie, da die menschliche Bevölkerung gestiegen ist, muß es mehr Hüllen als purushas dafür geben. Folglich haben die purushas niederer Organismen – Affen, Tiger, sogar Tausend füßler – die leeren Stellen eingenommen. Aus diesem Grund verhalten sich viele Menschen so tierhaft. Ihre purushas sind nicht entsprechend dem akaschischen Plan gereift, sondern haben die dazwischenliegenden Sprossen übersprungen. Folglich sind sie für den menschlichen Somatismus noch nicht qualifiziert.
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Die Hindus und die Druiden hatten hiervon schon eine Vorstellung, der Interstellare Rat ist aber zu dem Schluß gekommen, daß es an der Zeit ist, die Religion auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Also hat man den Meister nach Zamarath zurückgeschickt – das ist die Welt, die alle anderen die Erde nennen –, und zwar mit der wahren Lehre. Wissen Sie, bis jetzt war das menschliche Soma mit all seinen Mängeln die ätherischste Hülle, die eine purusha beseelen konnte. Aber mit unserer Wissenschaft sind wir nun zur nächsten Stufe bereit, auf der wir unsere Hüllen so mühelos formen können, wie Sie mit Ton umgehen. Verstehen Sie, was ich meine?“ „Ich fürchte nein“, antwortete ich. „Um ganz offen zu sein, das alles hört sich in meinen Ohren unsinnig an.“ „Das hat einen einfachen Grund: ich habe Ihnen Details der fortschrittlichen Lehre mitgeteilt, ohne daß Sie auch nur grundsätzlich darin eingeführt sind. Schließlich würde sich ein Lehrbuch über Atomphysik ebenfalls unsinnig lesen, wenn man keine Ahnung von Physik hat. Ich könnte es einrichten, daß Sie für unseren Grundkursus eingeschrieben …“ „Leider bin ich mehr als beschäftigt. Ich soll vor der Bankiersvereinigung einen Vortrag über das Versagen der Keynes’schen Theorien halten und muß dafür noch einiges lesen. Aber sagen Sie mir eins: wie erreicht Ihr Kult …“ „Ich bitte Sie, Mr. Newbury! Das Wort ,Kult’ mögen wir nicht. Es handelt sich um eine religiös-wissenschaftliche Vereinigung, die steuerlich als Kirche zugelassen ist. Was wollten Sie sagen?“ „Ich wollte nur wissen, wie Ihre … äh … religiös-wissen schaftliche Vereinigung mit den anderen – mit den Kulten auskommt, etwa dem des Reverend Sung.“ Carpenter rutschte aufgeregt auf seinem Sitz hin und her. „Der Mann ist schrecklich! Die meisten Kulte, wie Sie sie nennen, 194
gehen Irrwege, doch sie sind harmlos. Einige haben sogar einen Zipfel der Wahrheit im Griff. Die Sungiten aber sind eine böse und gefährliche Bande, die sich gegen die menschliche Welt verschworen hat. Wissen Sie, es schweben zahlreiche abnorme purushas herum, dermaßen verzerrt von den Inanspruchnahmen der letzten zehn Milliarden Jahre, daß sie in keine Hülle mehr passen. Folglich lauern sie auf die Gelegenheit, ein menschliches Soma zu beseelen, sobald das eigene purusha nicht aufpaßt, und es zu entführen.“ „Als klaute man jemandem sein Auto?“ Insgeheim fand ich, daß jemand, auf den die Hagnosophisten einen solchen Haß hatten, so übel gar nicht sein konnte. „Genau. Wissen Sie, diese heimatlosen purushas sind mit jenen Erscheinungen gleichzusetzen, die man ,Dämonen’ oder ,Teufel’ nannte. Sung behauptet sie steuern zu können, doch in Wahrheit wird er mit seinen ahnungslosen Anhängern von ihnen gelenkt. Auf diese Weise hoffen sie, früher oder später Zamarath beherrschen zu können. Der Meister wird diese Verschwörung aufdecken, wenn er das nächstemal nach Zikkarf versetzt wird. Bis dahin müssen wir die Sungiten im Auge behalten und den Versuch machen, ihre üblen Machenschaften zu unterbinden.“ „Zikkarf“, wiederholte ich. „Wie schreibt man das?“ Carpenter buchstabierte mir das Wort. Ich fuhr fort: „Ich hatte gleich das Gefühl, diesen Namen schon gehört zu haben. Jetzt weiß ich es genau. In den Dreißiger Jahren gab es einen Gro schenautor, der über das Leben auf einem erdachten Planeten dieses Namens berichtete. Er schrieb den Namen allerdings anders.“ 195
„Er muß Einblick in die Wahrheit gehabt haben“, stellte Carpenter fest. „Was gedenkt Ihr Meister denn mit all den armen verlorenen Seelen zu tun?“ Carpenter schilderte mir das Programm des Kultes, das darauf abzielte, die herumirrenden Geister einzufangen und sie durch eine gespenstische Psychoanalyse wieder in eine normale Form zu bringen. Zumindest begriff ich seine Äußerungen so, die mit einem dermaßen kultischen Vokabular angereichert waren, daß ich meiner Sache nicht ganz sicher sein konnte. „Halten Sie auch Gottesdienste ab – ich meine, Versammlungen, die der Öffentlichkeit zugänglich sind?“ fragte ich. „O gewiß. Wir sind keineswegs eine Geheimorgani sation.“ Carpenters Augen leuchteten vor Begeisterung. „Wir haben sogar in wenigen Wochen eine Zusammenkunft ganz in der Nähe. Der Meister wird persönlich daran teilnehmen. Möchten Sie auch kommen?“ „Ja, gern“, antwortete ich. Wenn ich überhaupt etwas gegen dieses Gaunerstück unternehmen wollte, das die Mittel meiner leichtgläubigen alten Einleger verschlang, mußte ich zumindest wissen, wie der Feind aussah. Die Versammlung, die in einem großen Saal stattfand, wenige Meilen von meinem Zuhause entfernt, lief nach einer genau festgelegten Dramaturgie ab. Es gab Kerzen und Weihrauch. Der Anblick der Helfer des Meisters erfüllte mich mit Unbehagen – stämmige Burschen in weißen Uniformen, die Hosen in schim mernden schwarzen Stiefeln steckend. Einige halfen dabei, den Besuchern Plätze zuzuweisen, doch andere standen mit grimmi gen Mach-nur-ja-keinen-Ärger-Gesichtern starr herum. An den Eingängen sammelten sie „freiwillige Gaben“ in Körben ein. Es 196
gab Gesänge und Verkündigungen, dann wurde eine Art Glaubensbekenntnis oder Manifest verlesen. Endlich erschien unter Trompetenschall der Meister in weißer Robe, im Licht von Scheinwerfern badend. Ludwig Bergius war ein großer, hagerer blonder Mann mit blauen Augen, der das Haar schulterlang trug. Es war dermaßen Kupferrot, daß ich es für gefärbt hielt oder überhaupt eine Perücke vermutete. Er hatte eine erstaunliche Ähnlichkeit mit jenen Selbstbildnissen, die Albrecht Dürer als Darstellungen Jesu Christi malte und die seither der Religionskunst des Westens als Vorbild gedient haben. Bergius hatte eine tiefe, resonante Stimme, die auch ohne das Lautsprechersystem im ganzen Saal hätte verstanden werden können. Er redete eine Stunde lang, wobei er große, wenn auch vage Versprechungen machte und gegen zahlreiche Feinde Tiraden losließ. Vor allem schimpfte er auf Reverend Sungs Kult als eine Art Mafia der Dämonen in menschlicher Gestalt. Seine Stimme hatte etwas Hypnotisches und lullte einen schnell in eine Art passive Betäubung. Man gewann den Eindruck, eine wunderbare Offenbarung erfahren zu haben, ohne sich im Detail an die Worte des Meisters zu erinnern. Einige seiner Äußerungen schienen dem zu widersprechen, was mir andere über seine Lehren mitgeteilt hatten; doch soweit ich wußte, brachte er ohnehin jeden Monat eine neue Doktrin heraus und verwirrte damit seine Anhänger so sehr, daß sie nicht mehr selbst denken konnten. Als Bergius fertig war, stürmten seine weißgekleideten Sturm soldaten durch die Gänge und reichten Kollektenbeutel an langen Griffen herum. Dann wurde wieder gesungen, es gab neue Ver kündigungen und andere Routine-Elemente religiöser Andachten, und schließlich war die Schau vorbei. An den Ausgängen waren die Sturmsoldaten erneut tätig und sammelten weitere Spenden. Dabei gingen sie auf höfliche Weise aggressiv vor. Ich ent 197
richtete meinen Obulus, hatte ich doch keine Lust, mich mit einer ganzen Horde stämmiger Burschen anzulegen, die nur halb so alt waren wie ich. Zu unseren Einlegern gehörte auch der Tempel Bel-Eth. Bei sei nem nächsten Besuch sprach ich Rabbi Harris auf die Hagnophilisten an. „Ja“, sagte er seufzend, „wir haben mehrere Gemeindemit glieder an diese Ganeffe verloren. Natürlich treten wir stärker als jeder andere für die Religionsfreiheit ein, aber … Mr. Newbury, Sie haben doch letztes Jahr einen Vortrag über finanzielle Schwindelpraktiken gehalten, nicht wahr?“ „Ja, vor dem YMCA!“ „Nun ja, warum sprechen Sie dieses Jahr nicht einmal vor dem YMHA, wobei der Schwerpunkt auf diesen Kulten liegen könnte? Wäre ja nur angebracht.“ „Okay“, sagte ich. So kam es, daß ich im YMHA meinen gefeierten Vortrag ablieferte. Ich zeigte negative Beispiele alter Kultanhänger auf, die ihr gesamtes Geld den Hagnophilia übertragen hatten, durch deren „Behandlung“ aber an den Rand des nervlichen Zusammenbruchs getrieben und dann in die Dunkelheit ver stoßen worden waren. Ich schloß mit den Worten: „… natürlich steht es jedem von Ihnen frei, sich mit jeder dieser Formen höheren Blödsinns einzulassen – Homosophie, Hagnophilia, Kosmonetik und wie sie alle heißen. Wir leben nach wie vor in einem freien Land. Ich selbst aber würde lieber mit nackter Hand eine Klapperschlange packen und mich drauf verlassen, daß sie mich nicht beißt. Vielen Dank.“
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Aus geschäftlichen Gründen mußte ich einige Tage verreisen. Als ich zurückkehrte, fand ich im Wohnzimmer ein neues Möbel stück vor – ein kleines Terrarium mit Kieseln, Moos und einem kleinen Teich. In einer Ecke hatte sich eine Strumpfbandnatter zusammengerollt. „Denise!“ rief ich. „Was ist denn das?“ „Die Schlange wurde von einem Jungen gebracht“, erklärte sie. „Er sagte, du hättest nach Schlangen annonciert, zu einem Dollar das Tier. Warum hast du das getan, mon cher?“ „Wie bitte? Ich habe nicht annonciert. Da muß sich jemand geirrt haben. Und was geschah dann?“ Ich griff in das Terrarium und fuhr mit dem Finger über die Schuppen der Schlange, die sich erschrocken davonwand. Sie hatte sich an die Gefangenschaft noch nicht gewöhnt. „Allerdings mag ich Schlangen.“ „Priscille wollte ja immer ein Haustier haben, seit unser alter Hund starb. Sie hat sich von einer ihrer Freundinnen den Glasbehälter besorgt und eingerichtet.“ „Was gibst du ihr zu fressen?“ „Priscille kauft kleine Goldfische und tut sie in den Teich. Wenn Damballah dann Hunger hat, packt er sie und verschlingt sie.“ „Hm. Wieviel kosten die Fische?“ „Vierzig Cents das Stück – im Tiergeschäft.“ „Das haut nicht hin, besonders wenn wir einen ordentlichen Garten voller Regenwürmer haben.“ Am gleichen Abend gingen unsere jüngere Tochter und ich auf Regenwurmjagd – mit der Taschenlampe. Es kam darauf an, so schärfte ich ihr ein, die Tiere zu packen, wenn sie die Vorderhälf te aus den Löchern geschoben hatten, um sich an der Oberfläche 199
umzutun. Aber dann durfte man nicht ziehen, weil sie sich zweiteilen würden. Statt dessen mußte man darauf warten, daß sie sich entspannten und nicht länger den Versuch machten, in ihrem Loch zu verschwinden – dann ließen sie sich mühelos herausholen. Priscille war nicht gerade begeistert von dem Gedanken, mit bloßen Händen einen schleimigen Wurm anzufassen. So verwendete sie Papiertaschentücher. Wir hatten schon mehrere Exemplare erwischt, als in unserer Auffahrt ein Jüngling erschien. Er trug einen Karton in den Armen. „Mr. Newbury?“ fragte er. „Ich habe hier eine Schlange – wie aus Ihrem Anschlag.“ „Wer sagt, daß ich Schlangen haben will?“ fragte ich. „Na, das Schild. Das Schild am Bahnhof.“ Ich erfuhr, daß am Anschlagbrett des Vorortbahnhofs ein Zettel aufgetaucht war: Schlangen für wissenschaftliche Zwecke gesucht. Zahle einen Dollar pro Exemplar, jede Rasse; gefolgt von meinem Namen und meiner Anschrift. „Das muß ein Scherz sein“, sagte ich zu dem Jüngling. „Ich habe den Zettel dort nicht angebracht, und die eine Schlange, die wir haben, genügt uns.“ In der nächsten Woche wurden uns sechs Strumpfbandnattern, zwei Ringelnattern und eine schwarze Schlange angeboten. Alle lehnten wir ab. Ich mußte erfahren, daß der unbekannte Übeltäter zwanzig oder dreißig gleichlautende Poster in Ladenfenstern der Gegend aufgestellt hatte. Ich suchte einige Ladenbesitzer auf, die die Schilder daraufhin entfernten. Ich ließ mir eine Beschreibung des Scherzbolds geben, bekam aber widerstreitende Angaben. Dies brachte mich auf die Vermutung, daß hier mehrere Personen am Werk waren. Ich bat den Vorsitzenden der örtlichen Industrie 200
und Handelskammer, die Umstände dieses üblen Scherzes bekanntzumachen und nach weiteren Versuchen dieser Art Ausschau zu halten. Als nächstes begannen Briefe einzutreffen, die etwa folgendermaßen lauteten: „Lieber Mr. Newbury, ich habe Ihre Anzeige in der Juli-Ausgabe des Naturhistorischen Magazins gelesen, wonach Sie für Schlangen Geld bieten. Wollen Sie sie lebendig oder tot, und wieviel bieten Sie? Hochachtungs voll …“ Ich rief das Magazin an. Ja, jemand habe die Anzeige einrücken lassen. Sie wüßten nicht, wer der Betreffende war, doch der Scheck sei auf meinen Namen ausgestellt gewesen und nicht zurückgekommen. In der nächsten Zeit hatte ich also damit zu tun, ablehnende Postkarten zu schreiben. Bis jetzt hatte sich die Belästigung in Grenzen gehalten. Wir selbst fühlten uns nicht so sehr betroffen, eher taten uns die Leute leid, die auf den Schwindel hereingefallen waren. „Ich glaube, die Hagnophilisten stecken dahinter“, sagte ich zu Denise. „Sicher hat ihnen jemand meine Äußerung im YMHA weiter gesagt, daß ich lieber mit bloßen Händen eine Klapperschlange greifen würde. Daraus zog man den Schluß, ich hätte eine Phobie vor Schlangen und versuchte, mich jetzt um den Verstand zu bringen.“ „Armer Willy! Wenn die Leute nur wüßten, daß du im Grunde deines Herzens Schlangen liebst!“ Aber schon bald wendete sich der Feldzug gegen mich zum Schlimmeren. Ein Nachbar erzählte mir, daß er vor etwa einem Monat einen anonymen Brief erhalten hatte, der üble Äußerun gen gegen mich enthielt. Er hatte das Schreiben der Polizei aus gehändigt. Andere Nachbarn hatten ähnliche Schreiben erhalten. „Um Himmels willen!“ rief ich. „Warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt?“ 201
Der Mann trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. „Ich war dazu viel zu verlegen. Wir wissen ja, daß Sie und Denise in Ordnung sind – überhaupt die besten Nachbarn, die wir uns wünschen können – und wollten Sie nicht aufregen. Wir konnten uns ohnehin nicht vorstellen, daß der Unbekannte eine nüchterne, konventionelle Person wie Sie meinen könnte.“ Ich machte einige andere Leute ausfindig, die ebenfalls Briefe bekommen hatten, doch niemand konnte mir einen Text zeigen. Einige hatten sich an die Polizei gewandt, während andere das Blatt in den Papierkorb geworfen hatten. Ich suchte das Polizei revier auf, wo Sergeant Day die Briefe aus der Akte holte. Sie hatten alle den gleichen Text: Lieber Nachbar, kürzlich war mein junger Sohn im Freien und wässerte den Rasen, als ein Mann aus seinem Wagen sprang und den Jungen angriff. Er packte den Gartenschlauch, begann ihn mit einer Hacke zu zerstückeln und schrie dabei: „Schlange! Schlange! Verdammte Schlange! Ich werde euch zeigen, mir Schlangen zu schicken, um mich zu quälen!“ Er beschimpfte meinen Sohn, der verstört nach Hause kam. Aus offensichtlichen Gründen möchte ich in dieser Angelegenheit anonym bleiben. Kein Vater möchte seine Kinder der Belästigung durch Wahnsinnige dieser Art aussetzen, durch einen Mann, der sich vermutlich noch in der Nähe aufhält. Ich lasse diesen Brief herumgehen in der Hoffnung, daß jemand einen Mann kennt, der ein Schlangenproblem hat, und den zuständigen Behörden Meldung macht, damit das Opfer dieser Selbsttäuschung behandelt werden kann, ehe er noch Schaden anrichtet. Er wurde mir als Mann 202
Ende Vierzig beschrieben, groß und kräftig, mit kurzem grauem Haar und einem kurzen Schnurrbart. Er fährt einen grünen ausländischen Sportwagen. Wenn Sie eine solche Person kennen, versuchen Sie sie zu überreden, sich den Behörden zu stellen, damit sie von ihrem Wahn geheilt werden kann. Sergeant Day sagte: „Wir haben unsere Beamten wochenlang nach dem Kerl Ausschau halten lassen, doch ohne Ergebnis. Vermutlich haben sie sich bei Ihrem Anblick nur gesagt: ,Ach, das ist ja Mr. Newbury, der Bankier. Der ist das bestimmt nicht.’ Dahinter steckt natürlich ein Spinner.“ „Wie dem auch sei“, antwortete ich, „der Spinner hat mich recht schmeichelhaft beschrieben. Können Sie den Verfasser des Briefes ausfindig machen?“ Day schüttelte den Kopf. „Die Umschläge waren im Postamt im Zentrum abgestempelt. Wenn Sie selbst schon verrückte Briefe erhalten haben, könnten Sie das Schriftbild mit dem dieses Textes vergleichen. Das Ding ist auf einer mechanischen Schreibmaschine mit Standard-Elite-Schrift geschrieben. Beachten Sie, daß das große N defekt ist, das kleine a den Abschwung nicht mehr hat und das p oberhalb der Zeile auftrifft. Aber wir können natürlich nicht jede Schreibmaschine im Lande untersuchen.“ Day machte mir eine Fotokopie des Briefes. Zu Hause ging ich meine Korrespondenz durch, doch von den Briefen, die ich im letzten Jahr erhalten hatte, war keiner auf der Maschine des Unruhestifters geschrieben worden. Die ganze Sache war mir nicht recht geheuer; Denise aber geriet ganz aus dem Häuschen. „Nach unserer Heirat hättest du nach Frankreich kommen sollen“, sagte sie, „anstatt mit mir in 203
Amerika zu leben. Wir Franzosen sind logischer als ihr; wir begehen solche betises nicht.“ In der folgenden Woche lieferte der Paketdienst eine Kiste ab, fest verschlossen mit dicken Klammern und Klebeband, doch versehen mit mehreren kleinen Löchern. Denise, der das Öffnen zu mühsam war, ließ das Paket stehen, bis ich nach Hause kam. Ich holte Schraubenzieher, Messer und eine Zange aus dem Werkzeugkasten, stellte die Kiste auf die Trittleiter in der Küche und machte mich ans Werk. Wenige Minuten später öffnete ich den Deckel. Ein mausgrauer Schlangenkopf fuhr hoch, und eine gespaltene Zunge zuckte in meine Richtung. Während ich noch reglos auf die Erscheinung stierte, breiteten sich Stege an den Seiten des Halses aus und offenbarten die Haube einer Kobra. Ich sprang zurück. „Denise!“ brüllte ich. „Raus aus dem Haus!“ „Warum denn, Willy?“ klang Denises Stimme aus dem Nebenzimmer. „Ist etwas?“ Die Kobra ergoß sich aus der Kiste auf den Boden; sie schien kein Ende zu nehmen. Ich schätzte ihre Länge auf mindestens drei Meter. (Sie war dreieinhalb Meter lang.) Es war nicht einmal eine gewöhnliche indische Kobra, sondern eine Königskobra, die größte und heimtückischste ihrer Art. „Egal!“ kreischte ich. „Nimm die Beine in die Hand! Eine Kobra!“ Die Kobra richtete sich auf, bis der erste Meter ihres Körpers senkrecht stand, und stieß zu. Zum Glück ist der Stoß einer Kobra langsamer als etwa der einer amerikanischen Grubenviper, beispielsweise einer Klapperschlange. Ich sprang zurück, und der Angriff ging ins Leere. Nun versuchte die Schlange in meine Richtung zu kriechen, doch auf dem glatten Linoleumboden fand sie keinen Halt. Sie 204
zuckte hin und her wie eine Flagge im Wind, kam aber kaum voran. Im Zurückweichen kam ich an der Besenkammer vorbei. Ich öffnete die Tür in der Hoffnung, eine Waffe zu finden. Ich entdeckte einen Besen und einen Schrubber, deren Stiele für den beengten Raum jedoch zu lang waren. Dann aber fiel mein Blick auf eine Klempner-Glocke mit einem kräftigen, siebzig Zentimeter langen Griff. Die Kobra rutschte weiter auf mich zu. Ich wandte mich zu ihr um, das Ende mit dem Gummiteil haltend. Als die Schlange sich wieder aufrichtete, trat ich vor und führte mit beiden Händen wie beim Golf einen Hieb gegen ihren Hals. Der Stiel traf krachend und schleuderte die Kobra zur Seite. Das Wesen zuckte heftig und trommelte herum und verknotete sich und löste sich wieder. Immer wieder hieb ich auf seinen Kopf ein, aber das war nicht mehr erforderlich. Mein erster Hieb hatte der Schlange den Hals gebrochen. Ihre Haut schmückt heute mein Arbeitszimmer. „Willy“, sagte Esau Drexel, „wir müssen etwas unternehmen. Eines Tages muß ich in den Ruhestand treten, dann braucht die Harrison Trust-Bank mindestens einen Mann, dem der Kopf richtig auf den Schultern sitzt.“ „Das stimmt, Esau, aber was sollen wir tun?“ fragte ich. „Der Absender auf dem Paket war falsch. Die Kobra war aus dem Zoo gestohlen worden – von einem ziemlich mutigen Dieb, würde ich sagen. Die Polizei steckt in einer Sackgasse. Der Privatdetektiv hat nichts weiter gebracht als eine gesalzene Rechnung.“ „Vielleicht kämen die Hagnophilisten aus den Löchern, wenn Sie die Geschichte an die Zeitungen gäben.“ „Ich bekäme doch nur eine Verleumdungsklage an den Hals. Ich kann diese Leute nur indirekt mit den Schlangengaben in Zusammenhang bringen. Mein Anwalt hat mich gewarnt, solche 205
Sektierer sind verrückt und gefährlich. Wenn jemand etwas schreibt, das ihnen nicht gefällt, verklagen sie ihn auf zehn Millionen Dollar. Diese Verfahren kommen nie vor Gericht, aber die Drohungen und der Ärger verschließen den meisten Kritikern bereits den Mund.“ „Also“, meinte Drexel, „wenn alle natürlichen Mittel erschöpft sind, müssen wir zu übernatürlichen Methoden greifen. Ich habe Ihnen doch von meinem Enkel George und den Wissenschaftli chen Zauberern erzählt, oder?“ „Ja. Einen Dieb auf einen Dieb ansetzen – sozusagen?“ „Was haben wir zu verlieren?“ „Wird es neue Kosten bringen?“ „Die trägt die Bank. Wir zahlen das aus dem Konto ,Sicherheitsmaßnahmen’. Wäre ja nicht mal gelogen.“ „,Public Relations’ ist vielleicht besser. Auf jeden Fall sollten die Aktionäre und die Aufsichtsbehörde keine Einzelheiten erfahren.“ „Keine Sorge. Ich setze mich jedenfalls mit Reverend Sungs Kult in Verbindung.“ Reverend Sung Li-pei, auf Taiwan geboten, war ein kleiner, rundgesichtiger Mann mit einer Aura intensiver Ehrlichkeit. Ich nahm nicht an, daß dieser äußere Eindruck dem wahren inneren Sung gerecht wurde. Ich habe schon mit vielen Betrügern zu tun gehabt, die ausnahmslos bis auf die Knochen respektabel wirkten! Wie hätten sie sich sonst als Trickbetrüger durchs Leben schla gen können? „Mr. Newbury“, begann Sung, „Sie möchten die Verfolgung durch Mr. Bergius’ Helfer unterbinden lassen, habe ich lecht?“ „Ganz lecht – ich meine, recht.“ 206
„Das habe ich ja gesagt, lecht. Der Zauber des Roten Drachen ist aber sehl teuer, da die Elgebnisse oft tödlich sind …“ „Ich möchte den Mann nicht umbringen“, gab ich zurück, „sondern nur unschädlich machen, damit er mich in Ruhe läßt. Oder noch besser, damit er aufhört, meine Einleger dazu zu bringen, ihm alle ihre weltlichen Güter zu überlassen.“ Sung legte die Fingerspitzen zusammen und überlegte. Dann sagte er. „In dem Fall wäre der Zauber des Glünen … äh … Grünen Dlachen wohl passender. Einige Wesen, die ich kontlolliere, können unseren Mr. Bergius so harmlos erscheinen lassen wie ein eben ausgeschlüpftes Küken, ha-ha.“ Er setzte ein gezwungenes Lächeln auf. „Sie werden ihm nichts tun?“ „Nein, nichts dergleichen. Sie müssen am Sabbat teilnehmen. Der findet heute abend in meinem Haus statt, um elf Uhl. Dürfte ich jetzt Ihren Scheck über tausend Dollar in Empfang nehmen?“ „Ich zahle lieber bar“, sagte ich und reichte ihm einen Umschlag mit zehn Hundertern. Er zählte nach, wobei er die Scheine ins Licht hielt. Schließlich brummte er zufrieden: „Dann guten Tag, Mr. Newbury. Bis heute abend, ja?“ Sung hielt seine Zusammenkünfte nicht in einem baufälligen alten Haus ab, sondern in einem sauberen, schlichten modernen Vororthaus wenige Meilen von meinem Anwesen entfernt. Die Lichter auf der vorderen Terrasse brannten, um die Hausnummer zu zeigen. Drinnen bewegten sich weißgekleidete Männer in Turbanen, offenbar Sungs Diener. „Ah, Sie sind pünktlich, Mr. Newbury“, sagte Reverend Sung und gab mir die Hand. „Hiel entlang, bitte … Ihnen ist klar, daß 207
Sie den anderen Mitgliedern der Gluppe nicht vorgestellt werden. Es könnte unselige Vorurteile geben, würde ihre wissenschaft liche Tätigkeit bekannt. Hier ist das Umkleidezimmer. Bitte tun Sie Ihre Wertsachen in diesen Kasten, verschließen ihn und hängen sich den Schlüssel um den Hals.“ „Warum das?“ „Weil Sie anschließend Ihre Kleidung ablegen und hier lassen. Der Kasten soll sicherstellen, daß hinterher nichts fehlt, ha-ha.“ „Soll das heißen, ich muß mich splitternackt ausziehen?“ „Ja, Das ist für den Zauber unerläßlich.“ Ich seufzte. „Nun ja, meine Frau und ich haben in Frankreich schon einmal nackt gebadet, aber in diesem Land ist es für mich das erstemal.“ Ich begann aufzuknöpfen und Reißverschlüsse zu öffnen und wünschte mir dabei, ich wäre ohne jene leichte mittelalterliche Rundung unterhalb des Äquators. Meine Wölbung ist noch nicht mit Drexels dickem Bauch zu vergleichen; doch trotz meiner Freiübungen und Kalorienbewußtheit bin ich vorn nicht mehr so flach wie in meiner Jugend. Sung legte eine schwarze Robe an. Ich kam mir sehr nackt vor und fröstelte trotz der Sommerwärme, als er mich die Keller treppe hinabführte. Schwarze Kerzen brannten unten und verbreiteten ein grünliches Licht. Auf den Betonboden war ein Pentagramm oder magisches Diagramm gezeichnet worden. Zwölf nackte Männer und Frauen bildeten einen Kreis darum. „Sie setzten sich auf den freien Platz, Mr. Newbuly“, sagte Sung. Ich schob mich zwischen zwei Frauen. Der Beton fühlte sich kalt an unter meiner Kehrseite. Ich betrachtete meine Nachbarinnen. Die Frau zur Linken war ziemlich alt und nicht 208
besonders gut erhalten; ihr Körper wölbte sich und erschlaffte durchweg am falschen Ort. Die Frau zur Rechten dagegen war jung und gut gebaut. Sie hatte kein hübsches Gesicht, zumindest nicht in dem Dämmerlicht, doch an anderen Stellen entschädigte sie das Auge dafür um so mehr. „Hallo … äh?“ flüsterte sie. „Nennen Sie mich Bill“, flüsterte ich zurück. Niemand nennt mich „Bill“, sondern nur „Willy“ als Abkürzung für „Wilson“. Aber dieser Name schien mir der Situation angemessen zu sein. „Guten Abend – äh?“ „Marcella.“ „Guten Abend, Marcella.“ Jemand machte „Psst!“, und Reverend Sung trat in das Muster. Er hob die Arme und sagte etwas auf Chinesisch, dann wandte er sich an den Kreis. „Heute abend, meine Fleunde, werden wir den Zauber des Grünen Drachens für unseren Gast aussprechen, um ihn vor der ungelechten Verfolgung zu schützen, die er durch jene Bande pseudo-wissenschaftlicher, pseudi-magischer Täuscher erleidet, deren scheußliche Taten wir alle kennen. Wir beginnen mit dem Gesang des Li Piao Erh. Seid ihr bereit?“ Die Gruppe stimmte einen chinesischen Gesang an. Man hat mir versichert, daß man chinesische Musik wie das Spiel des Dudelsacks mit soviel Freude genießen kann wie Beethoven und Tschaikowski, wenn man dazu erzogen worden ist. Ich hatte leider keine Gelegenheit dazu gehabt, so daß sich chinesische Musik in meinen Ohren wie ein Kampf unter Katzen anhört. Als das Lied zu Ende war, verließ Sung den Kreis und sagte: „Jetzt bitte Hände zusammen. Sie auch, Mr. Newbuly.“ Ich reichte den beiden Frauen die Hände. Es kamen endlose Gesänge, Anrufungen und Antworten, einige durch Sung, einige auch durch die Gemeinde. Es nahm keine Ende. Da sich das meiste auf Chinesisch abspielte, sagte 209
mir das Ganze nicht viel. Allmählich ermüdete mich der Strom bedeutungslosen Geplappers. Meine Gedanken wandten sich meiner Gefährtin zur Rechten zu. Ich bin wahrlich kein Swinger, aber der Anblick gutgeformten weiblichen Fleisches vermag eine normale männliche Reaktion in mir auszulösen. Dabei fiel die Reaktion sogar allzu sichtbar aus. Mein Gott, dachte ich, was soll ich tun? So etwas steht bestimmt nicht auf dem Programm. Was werden die Leute mit mir anstellen, wenn sie mich hier mit einem Totempfahl im Schoß erwischen? Indem ich die Beine übereinanderschlug, verbarg ich das störende Organ. Im Geiste begann ich mir Multiplikationstabellen auf zusagen. Aber der Teufel legte sich nicht zur Ruhe. Dann wurden mir die lustvollen Gedanken ausgetrieben. In der Mitte erschien eine vage durchscheinende Gestalt. Sie sah aus wie eine schimmernde Nebelschwade, schwach grünlich pulsierend. Die Erscheinung wurde heller und kompakter, nahm aber keine konkrete Form an. Sung sang mit schriller Stimme chinesische Worte. Die Gemeinde wiederholte seine Äußerungen im Chor. Sungs Stimme steigerte sich zu einem Kreischen. Das grüne Licht verblaßte. Sung taumelte und brach zusammen. Einige der Sitzenden fingen ihn auf und ließen ihn langsam zu Boden sinken. Im Hintergrund bediente jemand einen Licht schalter. Das Licht offenbarte dreizehn nackte Menschen ein schließlich meiner Wenigkeit, einige sitzend, einige stehend, einige ungeschickt aufspringend. Sie waren unterschiedlichen Alters und stellten unterschiedliche Büschel Schamhaare zur Schau. Während ich noch überlegte, ob ich einen Krankenwagen rufen sollte, tönte Sungs schwache Stimme aus der ihn umgebenden Gruppe. „Alles in Ordnung, bitte. Moment Zeit 210
nur.“ Nach einiger Zeit richtete er sich auf. Er schien keinen Schaden davongetragen zu haben. „Dieser Vorfall zeigt“, sagte er, „daß die bösen Kultisten eine starke magische Abwehr haben. Wollen wir hoffen, daß die Einflüsse, die wir gegen ihre bösen Pläne geschickt haben, nicht auf uns oder Mr. Newbuly zulückschlagen. Mehr können wir im Augenblick nicht tun, also wollen wir jetzt oben weitermachen.“ Ich stieg mit den übrigen die Treppe hinauf und machte mich im Umkleideraum ans Werk. In drangvoller Enge versuchte ich meine Sachen anzulegen, ohne jemandem einen Ellenbogen ins Auge zu stoßen. Ich holte meine Brieftasche aus dem Schließfach und folgte den übrigen ins Wohnzimmer. Sungs Diener hatten Eis, Kuchen und Kaffee vorbereitet. Die Gemeinde sah nun aus wie jede andere Versammlung amerikanischer Vorort-Bourgeoisie. Die Anwesenden unterhielten sich leise. Dabei ging es vorwiegend um Leute, die ich nicht kannte. Es gab mehrere dieser Gruppen, und in allen wurde offenbar um die Macht intrigiert, so wie es in jedem Betrieb oder Ministerium geschieht. Marcella erschien neben mir, in einer Hand eine Tasse Kaffee, in der anderen ein Stück Kuchen. „Bill“, sagte sie, „war das nicht toll? Mein erster Grüner Drache! Wir sollten mal wieder zusam menkommen, da Sie so ein anständiger, aufrechter Mann sind.“ Sie kicherte. Ich gebe zu, daß ich als sonst glücklicher Ehemann in diesem Fall in Versuchung geriet – doch nur eine Sekunde lang. Außer den Gefühlen für meine Familie muß ich an mein Image als Bankier denken – nüchtern und standhaft bis zur Langweiligkeit. Im Grunde bin ich gar nicht so verknöchert (ich habe sogar schon für die Demokraten gestimmt), aber es ist gut für’s Geschäft.
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„Ja“, sagte ich, „das sollten wir wohl. Aber jetzt muß ich los. Gute Nacht, Marcella.“ Am nächsten Tag versuchte ich mich auf die Arbeit zu konzen trieren, doch meine Gedanken kehrten immer wieder zur wenig beruhigenden Bemerkung des Reverend Sung zurück, daß der Zauber Rückwirkungen auf mich haben könnte. Natürlich glaubte ich eigentlich nicht daran, aber … Am Tag darauf verließ ich zur Mittagsstunde die Harrison Trust-Bank, um zum Essen nach Hause zu fahren. Da sah ich auf der Straße eine Menschenmenge und ging darauf zu. Wahr scheinlich gab es einen Unfall. Es war der Meister in seiner weißen Robe. Er schlenderte über den Bürgersteig und redete, während er von einer gewaltigen Rolle in seiner Hand immer neue Geldscheine abpellte und den Leuten ringsum reichte. „… wer an mich glaubt, soll nicht sterben, sondern das ewige Leben haben“, sagte er mit tiefer, salbungsvoller Stimme. „Denn ich bin nicht mehr Ludwig Bergius, sondern der wahre Sohn Gottes, dessen Geist den Körper des fehlgeleiteten Sterblichen Bergius übernommen hat. Ich, der ich jetzt zu euch spreche, bin er. Müht euch nicht um vergängliche Nahrung, sondern um die Nahrung, die ewiges Leben spendet; er, der mir folgt, wird nicht in Dunkelheit wandeln …“ Die Polizei rang mit der Menschenmenge, doch der Anblick eines Mannes, der Geld verschenkt, ließ die Leute aus dem Häuschen geraten. Sie drängten und schoben. Sie begannen zu brüllen und sich gegenseitig zurückzuzerren, um an den Meister heranzukommen. Eine Sirene begann leise und zögernd zu jaulen, und ein Krankenwagen schob sich in die Menge. Drei Männer in weißen 212
Mänteln sprangen heraus und arbeiteten sich mit Hilfe der Polizeibeamten zu Bergius vor. Sie packten ihn an den Armen, redeten beruhigend auf ihn ein und führten ihn widerstandslos zur Ambulanz. Das Fahrzeug löste sich rückwärtsfahrend aus dem Gedränge, wendete und schnurrte davon. Jemand zog mich am Ärmel. Es war unser Finanzdirektor McGiil. „Willy! Ich habe Sie schon gesucht. Wissen Sie, was passiert ist? Mrs. Dalton und die anderen sind zurückgekehrt, um ihre Konten wiederzueröffnen. Sie sagen, der Meister habe ihnen ihr Geld zurückgegeben. Was sagen Sie dazu?“ „Ich müßte darüber nachdenken“, sagte ich. „Meine Gedanken beschäftigen sich im Augenblick aber mit dem Mittagessen.“ Später sagte Esau Drexel: „Also, Willy, ich glaube, Ihr taiwanesischer Schamane hat sich seinen Tausender verdient. Keine neuen Schlangengaben?“ „Nein.“ „Zum Glück haben wir hier eine gute psychiatrische Klinik. Vielleicht kann dieser sogenannte Meister sogar geheilt werden.“ „Wünschen Sie sich das?“ fragte ich. „Oh, ich weiß, was Sie meinen. Sie glauben, er könnte sich einem neuen Kult verschreiben.“ Er seufzte. „Ich weiß nicht. Wir können davon ausgehen, daß Sung ein Täuscher ist wie alle anderen. In dem Fall haben Bergius die Anstrengungen seines Messiasdaseins den Verstand gekostet, und er wäre auch ohne Sungs Zauber dem Göttlichkeitswahn verfallen. Oder wir nehmen an, daß Sungs Behandlung die Veränderung des Mannes ausgelöst hat. Aber war dann Bergius wirklich Ver treter eines Interstellaren Rates, ehe der Zauber ihn in den Wahnsinn trieb? Oder war er vorher ein Täuscher und … und …“
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„Und hinterher eine echte Inkarnation Jesus’ – wollen Sie das fragen?“ „Meine Güte! Soweit hatte ich das noch gar nicht durchdacht. Nun ja, man hat ja schon prophezeit, wenn Jesus wirklich zu rückkehrte, würde er im Irrenhaus landen.“ Drexel erschauderte. „Ich möchte nicht weiter darüber nachdenken. Beschäftigen wir uns mit etwas Leichtem, etwa der Beziehung zwischen der Rediskontrate und der Inflationsrate.“
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Die Hunnen Während einer unserer Ferienaufenthalte am Algonquin-See sagte meine Tante Frances: „Willy, Phyllis bittet dich, nach Panther Falls zu kommen, um ihr beim Verkauf von Wilderfarm zu helfen.“ „Ach?“ fragte ich. „Ich wußte gar nicht, daß Tante Phillis verkaufen will.“ „Also, das will sie. Fährst du hin?“ „Hör mal, Tante Frances, ich bin Bankier, kein Makler, und ich arbeite sowieso nicht im Staate New York …“ „Trotzdem weißt du mehr über Hypotheken und so als die arme Phillis.“ „Warum will sie denn verkaufen?“ „Sie meint, die Farm wäre zu groß, um sie allein zu halten, nachdem die Kinder fortgezogen sind. Sie wäre zu alt, um damit fertigzuwerden. In Wirklichkeit ist sie nur zu dick. Wenn sie ihren Appetit etwas zügeln würde … Außerdem sagte sie etwas von seltsamen Dingen, die sich da in letzter Zeit ereigneten.“ „Ach? Wenn Sie Probleme mit Gespenstern hat, sollte sie sich einen Exorzisten nehmen, ich habe wirklich genug von diesen Dingen erlebt, da will ich nicht noch einmal …“ „Ich habe nichts von Geistern gesagt, Willy.“ „Was dann?“ „Eine Art Terrorbande, wenn ich das richtig verstehe.“ „Dafür ist die Staatspolizei zuständig.“ Frances Colton seufzte. „Willy, du stellst dich absichtlich störrisch an. Ich verlange ja nicht, daß du einen Teufel oder eine Bande jugendlicher Verbrecher vertreiben sollst. Ich bitte dich 215
nur, die arme Phyllis wegen des Verkaufs zu beraten. Ein Bauunternehmer will das Anwesen übernehmen. Fährst du hin?“ Nun seufzte ich ebenfalls. „Ich wollte morgen mit Stevie angeln.“ „Wenn das Wetter gut ist, könnt ihr das ja machen; aber am ersten Regentag fährst du nach Falls. Es ist ja nur eine Stunde von hier.“ Zwei Tage später überließ ich Denise die Aufsicht über unsere drei ruhelosen Nachkommen und fuhr nach Gahato. Dort hielt ich bei Bugbys Garage, um nachzutanken und das Öl wechseln zu lassen. Während dies im Gange war, stand ich in meiner Regen haut im Nieselregen und sah die Einheimischen vorbeiwandern. Einige, die ich kannte, begrüßte ich kurz. Dann fiel mein Blick auf Virgil Hathaway, der das Haar zu zwei langen schwarzen Zöpfen geflochten trug. Virgil war mir gewogen, seit ich in den fünfziger Jahren einmal einen Kredit für ihn arrangierte, als er knapp bei Kasse war. Bei der heutigen Publicity für die armen Indianer hatte Virgil keine Probleme mehr; aber er vergißt keinen, der ihm einmal einen Gefallen getan hat. „Hallo, Virgil“. sagte ich. „Wie geht es Häuptling Fliegende Schildkröte denn so?“ Hathaways kupferfarbenes Gesicht legte sich grinsend in Falten. „Kann nicht klagen, schon gar nicht, soweit es die alte Dame und mich betrifft.“ „Aber was ist dann?“ Er zuckte die Achseln. „Ach, weiß nicht. Die Kinder sind groß, und sie haben mit dem Indianersein nichts mehr im Sinn.“ „Soll das heißen, sie passen sich an?“ „Aye. Das Mädchen arbeitet für die Telefongesellschaft, und Calvin hat sich einen Job als Techniker besorgt. Verdient in der 216
Woche mehr als ich je in einem Monat mit dem Verkauf von Spielzeugkanus und Mokkassins. Und das Schlimmste ist, er will ein weißes Mädchen heiraten.“ „Ts, ts, Virgil; nun sagen Sie bloß nicht, Sie hätten Rassenvorurteile!“ „Ja, sieht wohl so aus. Wenn es so weitergeht, wird’s bald überhaupt keine Indianer mehr geben. Alle in der Masse aufgegangen.“ „Nun ja, im Lauf der Jahrhunderte habt ihr Penobscots schon eine ganze Menge weißes Blut aufgenommen.“ Hathaway grinste. „Aber ja. Wenn wir in der alten Zeit einen weißen Besucher bewirteten, dann ging die Bewirtung auch bis zum Letzten. Fielen bei seinem Besuch ein paar Mischlinge ab, waren das neue Krieger für den Stamm. Aber das ist vergangen und vorbei. Wie geht es Ihnen?“ Ich brachte Hathaway in Sachen Newbury-Familie auf den neuesten Stand und fügte hinzu: „Ich bin auf dem Weg nach Panther Falls, um meiner Tante in einer Grundstückssache zu helfen. Sieht so aus, als hätte sie Ärger mit einer Bande dort drüben.“ „Ah? Was für Ärger?“ „Keine Ahnung. Die machen jedenfalls irgendwie Terror, wie man hört.“ „Meine Güte! Dann brauchen Sie einen guten alten indianischen Medizinmann, Willy, der die Leute verhext. Wie der Bursche aus der Tonawanda-Reservation, der hier vor neunzehn Jahren durchkam. Der würde Ihre Terroristen am Boden zerstören.“ „Vielen Dank“, sagte ich. „Ich werd’s im Auge behalten.“
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Wilderfarm, die Phyllis Wilder verkaufen wollte, lag neben einem Grundstück, daß früher ebenfalls meinem Urgroßvater gehört hatte. Auf diesem anderen Grundstück stand Floreando, ein ländlich-viktorianisches Landhaus, das sich Abraham Newbury in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts errichten ließ. Auf dem Weg zur Farm kam man an diesem Haus vorbei. Nachdem meine Großtante und Großonkel gestorben waren, zeigte keiner der Erben Interesse an dem Anwesen, das nur mit einer Horde von Dienstboten instandzuhalten war. Außer Öl-Milliardären gab es heute kaum noch jemanden, der sich mit Horden von Dienstboten umgab. Zuerst wurden die beweglichen Güter aufgeteilt. Ein ganzer Schwärm von Nachkommen Abraham Newburys schleppte Möbelstücke, Bilder und Porzellan davon, in Pkws, Lastwagen und Caravans. Kurz vor dem Krieg wurde das Grundstück schließlich verkauft. Es ging seither durch mehrere Hände, doch war ich nicht auf dem laufenden über die Entwicklung. Einem Gefühl der Nostalgie nachgebend, steuerte ich zwischen den beiden Steinsäulen hindurch, die die Kiesauffahrt säumten. Ich wollte einen letzten Blick auf das Haus werfen, wollte meine Kindheitserinnerungen an schöne Feste erneuern; mit Schwärmen von Cousins, reitend, schwimmend, Picknicks veranstaltend, herumtollend. Mein Cousin Hereward – der später Bühnenautor wurde – ließ uns grausam gekürzte Shakes peare-Versionen aufführen. Dabei mußte ich einmal den Geist von Hamlets Vater spielen. Das große zweistöckige Haus war noch immer vorhanden, ebenso das eiserne Reh auf dem Rasen. Eine Veranda führte um drei Viertel des Hauses, an einer Seite an einer mit Schindeln gedeckten Wageneinfahrt endend. Im Obergeschoß ragte ein Balkon vor, gekrönt von einem konischen Dach wie ein 218
Burgturm. Wenn Floreando kein Gespenst in sich barg – vom Äußeren her wäre es dazu prädestiniert gewesen. Ich bog nicht auf den Weg ein, der um das Haus und unter die Wageneinfahrt führte, sondern auf den Zweig der Auffahrt, der zur Straße zurückkehrte. Dann stoppte ich den Wagen und über ließ mich meinen Erinnerungen. Der Brunnen auf dem weiten Rasen rührte sich nicht mehr. Das Gras stand so hoch, daß man ihm mit einem Mäher nicht mehr beikommen konnte; hier mußte schon eine Sense her. Und noch etwas hatte sich verändert. Auf dem Rasenstück zwischen der Wageneinfahrt und den Bäumen stand ein halbes Dutzend schimmernder Motorräder. Dabei handelte es sich nicht um kleine Benzinsparer, sondern um schwere zwei- und vierzylindrige Straßen-Motorräder. „Suchen Sie wen, Mister?“ fragte eine Stimme. Ein stämmiger Bursche um die Zwanzig schlurfte auf meinen Wagen zu. Er stützte eine Hand auf das Dach und beugte sich vor, wodurch er sein Gesicht bis auf wenige Zentimeter an mich heranschob. Er hatte eine blonde Mähne, die weit über Schulter, Brust und Rücken herabhing, und einen blonden Vollbart. Er trug einen blauen Leinenanzug, dessen Beine in schweren Stiefeln endeten. Diese Stiefel waren an der Seite mit einem halben Dutzend Gurte und Schnallen gesichert, hatten Metallkappen und gekrümmte metallene Schienbeinschützer, die mich vage an eine alte Ritterrüstung erinnerten. „Nein“, sagte ich. „Wollte mich nur mal umsehen. Als Kind habe ich immer hier gespielt.“ „Oh“, sagte er. Als der junge Mann weiter neben dem Wagen stehen blieb, mir den Blick nach rechts verdeckend, schaute ich in die andere Richtung. Das Land jenseits des Schwarzen Flusses stieg wie 219
früher in grünen Terrassen dem Tug Hill entgegen; allerdings litt der Ausblick heute unter dem nieseligen Wetter. „Haben Sie gesehen, was Sie sehen wollten, Mister?“ fragte der junge Mann schließlich. „Ich glaube ja.“ Da ich nicht die Absicht hatte, mich auf einen Kampf einzulassen, verbiß ich mir eine Bemerkung über seine Undurchsichtigkeit. Der Bursche war etwa halb so alt und mindestens so groß wie ich – dabei bin ich überdurchschnittlich groß. Er schien durchaus fähig zu sein, einen Bankier mittleren Alters in seine Einzelteile zu zerlegen. „Wem gehört das Grundstück heute?“ fragte ich. „Dem … dem Motorrad-Club Lewis County.“ „Oh.“ Als der junge Mann sich noch immer nicht rührte, sondern mich aus blauen Knopfaugen unter zotteligen blonden Haaren hervor weiter intensiv anstarrte, ließ ich den Motor an und fuhr zur Straße zurück. Auf der Veranda des alten weißen Holzhauses der Farm begrüßte mich meine Tante mit gewohntem Schwung. Sie drückte mich an ihren stattlichen Busen, wie man das wohl auszudrücken pflegte. „Tante Phyllis“, sagte ich, „du hattest doch früher keine Blitzab leiter auf dem Dach, oder?“ „Nein, aber in letzter Zeit hat der Blitz so oft eingeschlagen, daß ich es für ratsam hielt, mir welche anzuschaffen.“ „Das ist aber komisch, ich habe nichts davon gehört, daß sich das Klima hier verändert hätte.“ „Ich auch nicht“, antwortete sie keuchend. „Ich kann dir keine Zahlen nennen, doch es hat hier am Ort sehr viele Blitzschäden 220
gegeben. Zum Beispiel Reverend Giers Haus hat Feuer gefangen. Einige abergläubische Leute meinen sogar, es hat so sein sollen.“ „Wie meinst du das? Abgesehen von Klimalenkungsversuchen war mir nicht bewußt, daß jemand den Treffpunkt von Blitzstrahlen zu bestimmen vermag.“ Sie zuckte die Achseln, was ihr Fett in zuckende Bewegung versetzte. „Ich sollte ja über niemanden reden …“ Sie unterbrach sich lauschend. Ein schnarrendes, sägendes Geräusch tönte aus dem Westen herüber. Wir blickten in diese Richtung, wo die Sonne durch die Regenwolken zu brechen begann. Auf der Straße raste eine Schar Motorräder vorbei. Ein Strahl der Nachmittagssonne ließ ihre Lenker blitzen. Tante Phillys deutete mit dem Daumen auf die Kavalkade. „Vor allem nicht über sie.“ „Den Motorrad-Club Lewis County?“ „Oder die Hunnen, wie sie sich nennen.“ „Was soll das alles? Üben die hier eine Art Terrorherrschaft aus?“ Tante Phyllis bewegte unsicher flatternd die Hände. „Ich sollte nicht über sie reden – aber es sind so viele absonderliche Dinge passiert … weißt du, es heißt, die Mitglieder dieser Bande müssen Dinge tun, die einem normalen Menschen das Essen hochkommen lassen, um ihre Männlichkeit zu beweisen. Und wenn jemand mit ihnen in Streit gerät, wird sein Haus von einem Blitz getroffen oder so. Ich habe die Polizei angerufen, um mich wegen einer ihrer verrückten Parties zu beschweren – sie bringen Mädchen mit, und man hört alles bis dorthinaus –, und prompt bekam ich etwas ab. Der Blitz hat nur ein paar Schindeln gelöst, Gott sei Dank, aber anschließend ließ ich den Blitzableiter anbringen. Jetzt kommen sie auf ihren Motorrädern nur zur Einfahrt herein, fahren im Kreis, werfen Bierdosen und brüllen unsägliche Sachen.“ 221
„Warum macht nicht jemand dem Treiben ein Ende?“ „Es läßt sich schwer etwas beweisen, die Burschen sehen mit ihren Helmen doch alle gleich aus. Außerdem ist der junge Nick ihr Anführer, der Sohn von Jack Nicholson, dem reichsten Mann im Bezirk. Jack ist bereits ein wenig senil, doch in der Ortspolitik muß man noch mit ihm rechnen, also wagt sich niemand an seinen Sohn heran. Mit Jacks Geld wurde Floreando gekauft.“ „Das Problem ist, daß ihr hier nur ein Ein-Parteien-System habt“, sagte ich. „Übrigens war ich vorhin in Floreando, um es mir anzuschauen.“ „Heruntergekommen, nicht wahr? Aber damit mußte man ja rechnen. Unsere Familie ist seit Abrahams Zeiten sehr abgesun ken. Nur du, Willy, warst so vernünftig, dort zu arbeiten, wo das richtige Geld steckt, gelobt sei der Herr.“ „Das ist aber eher Zufall als Absicht. Ich hoffe, ich bin als Bankier so geschickt, wie ich es als Ingenieur hätte sein können.“ Ich erzählte ihr von dem wagnerischen Typ im blauen Jeansanzug. „Das ist sicher Truman Vogel, Nicholsons Stellvertreter. Auf ihn mußt du achtgeben. Er hat Bob Hawly mit seinen Eisen stiefeln getreten und ins Krankenhaus gebracht. Die Burschen haben ein Kreuz in Dr. Rosens Rasen gebrannt. Sie sprechen davon, die USA müßten ein Land von Weißen sein!“ Ich seufzte. „Je verrückter das Programm, desto mehr Verrückte findet man, die sich darauf einschwören lassen. Was ist nun mit dem Verkauf?“ Ich weihte Phyllis Wilder in die komplizierten Umstände von Hypotheken, Abzahlungen, Grundbucheintragungen, Maklern und Notaren ein. Am Ende versprach ich, in drei oder vier Tagen wiederzukommen, sobald der Bauunternehmer ein festes 222
Angebot ausgesprochen hätte. Anschließend machte ich mich auf den Rückweg zum Algonquin-See in der Hoffnung, das Haus der Coltons rechtzeitig zum Abendessen zu erreichen. Durch Panther Falls fahrend, fiel mein Blick auf ein Schild in einem Vorgarten: „Dr. med. Isaiah Rosen“. Ich warf einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett und bremste. Ich hatte Rosen vor dem Krieg kurz kennengelernt; damals war ich junger Student und er der junge Arzt, der die Praxis des alten Dr. Prescott übernommen hatte. Ich wußte noch, wie ich Rosen bei einem Zusammensein mit meinen Cousins erwähnt hatte. Mein Cousin Winthrop Colton – der dann im Krieg umkam – rümpfte die Nase und sagte mit einer gewissen Verachtung: „Ach, du meinst den Juden.“ Solche Äußerungen waren im oberen Staat damals üblich. Zum Glück sind die Dinge heute anders, wenn man auch bei den alten Leuten noch hier und dort auf solche Ansichten stoßen kann. Ein kahl werdender Rosen begrüßte mich, „ich erinnere mich an Sie, Mr. Newbury. Was kann ich für Sie tun?“ „Ich habe kein medizinisches Problem“, sagte ich. „Ich komme eben von meiner Tante, Mrs. Wilder.“ Rosen schüttelte den Kopf. „Ich liege ihr in den Ohren, sie soll weniger Kohlehydrate essen.“ Ich erzählte Rosen von den Hunnen. „Wie man hört, sind Sie auch mit diesen Leuten aneinandergeraten.“ Rosen starrte mich erstaunt an. „So könnte man sagen. Die ganze Sache klingt irgendwie unangenehm vertraut. Nicht, daß ich während der Verfolgung in Europa war – ich lebte hier am Ort und baute meine Praxis auf –, aber natürlich interessiere ich mich 223
für solche Dinge. Die neue Kampagne macht sich bei meinen Patientenzahlen schon bemerkbar.“ „Womit haben Sie denn die Burschen gegen sich aufge bracht?“ Er zuckte die Achseln. „Es liegt an meiner Herkunft, zu tun brauchte ich gar nichts. Als ich erfuhr, daß Marshall Nicholson aus dem Motorrad-Club eine Art neoheidnischen Kult machte, Blutopfer eingeschlossen, sagte ich zu Jack Nicholson, sein Sohn brauche psychiatrische Hilfe. Der alte Jack lachte mich aus und sagte, Nick habe wie jeder andere das Recht, sich seine Religion auszusuchen. Vermutlich hat später auch der Sohn von dem Gespräch erfahren, und das war dann der auslösende Faktor.“ „Die Erste Verfassungsergänzung läßt es nicht zu, daß Ungläubige irgendwelchen Mumbo-Jumbo geopfert werden dürfen – jedenfalls nicht, solange das Höchste Gericht nicht noch mehr durchdreht. Was hat es mit den angeblichen übernatür lichen Ereignissen auf sich? Die Sache mit den Blitzen?“ Rosen schnaubte verächtlich durch die Nase. „Der übliche Unsinn. Wenn der Blitz im Umkreis von einer halben Meile zweimal einschlägt, vermuten manche Leute gleich, Gott oder eine Hexe habe es auf jemanden hier abgesehen. Als wissenschaftlich Gebildeter habe ich für solches Gerede nichts übrig.“ „Ich hoffe, Sie haben recht“, sagte ich. „Aber auch ich besitze wissenschaftliche Kenntnisse und habe genug Absonderlichkei ten erlebt, um sogar gegenüber meiner eigenen Skepsis skeptisch zu sein.“ Als ich Tante Phyllis das nächstemal besuchte, fuhr ich über Gahato. Ich hielt vor Virgil Hathaways Andenkenladen, vor dem ein großes Schild hing: 224
Häuptling Fliegende Schildkröte
Indianische Perlenarbeiten – Topfwaren
Hathaway verkaufte einem Kunden eine Navajo-Decke, die in Connecticut gemacht worden war. Als er fertig war, sagte ich: „Virgil, Ihre Brille paßt irgendwie nicht zum Amerind-Dekor.“ „Ich muß doch meine eigenen Preisschilder lesen können“, meinte er. „Es macht sowieso nicht mehr viel aus. Als ich hier anfing, habe ich den Kindern immer was vorgespielt, hab’ gebrochen Englisch geredet und Uh und Hau gesagt. Die heutige Jugend läßt sich nicht mehr so leicht beeindrucken.“ „Ihre Zöpfe haben sie aber noch.“ „Aye, aber das ist auch praktisch. Erspart mir im Monat drei oder vier Dollar für den Friseur. Was kann ich für Sie tun?“ „Sie haben mir doch neulich von einem Medizinmann aus Tonawanda erzählt. Wie komme ich mit dem zusammen?“ „Sie meinen Charlie Catfish. Habe Charlie zwei bis drei Jahre nicht mehr gesehen, aber wir schicken uns Weihnachtskarten.“ Hathaway blätterte in einem Adressbuch und nannte eine Telefonnummer. Auf der Farm stürzte sich Phyllis Wilder in meine Arme und brachte mich damit beinahe aus dem Gleichgewicht. „O Willy! Weißt du, was die elenden Kerle gemacht haben?“ „Was ist denn jetzt wieder, Tante Phyllis?“ fragte ich und versuchte auf den Beinen zu bleiben. „Sie haben die Vereinbarung mit Mr. Fife verdorben, jedenfalls zunächst.“ Fife war der Bauunternehmer. „Er kam mit dem Landvermesser zu uns, um sich das Grundstück anzusehen. Während er hier war, fuhren die Hunnen mit ihren Motorrädern 225
in der Auffahrt herum und kreischend um das Haus, wie ein Indianerstamm, der um ein Wasserloch reitet. Mr. Fife bekam solche Angst, daß er sich gleich verabschiedete. Er könne das Grundstück nicht kaufen, wenn in der Gegend solche Unruhe herrsche.“ „Hast du die Polizei angerufen?“ „Ja, aber als die endlich kam, waren die Hunnen längst fort. Trooper Talbot sagte mir hinterher, er sei nach Floreando gefahren und habe mit den Hunnen gesprochen, die hätten aber alles abgestritten. Ich muß eine formelle Anzeige erstatten, und vor den Folgen habe ich Angst. Die kämen sofort auf Kaution frei, würden die Verhandlung monate- oder jahrelang hinziehen … Du bleibst doch über Nacht, Willy, ja? Ich habe solche Angst!“ „Natürlich bleibe ich. Da wir von Indianern sprechen. Ich möchte mal einen anrufen. Er kann uns vielleicht helfen.“ „Einen Indianer? Wie meinst du das? Soll er auf den Kriegspfad gehen, wie sie es vor zweihundert Jahren gemacht haben – aber nein, Willy, du würdest doch etwas so Dummes nicht im Schilde führen. Du warst Gott sei Dank immer der Vernünftige in der Familie. Was soll der Mann aber?“ „Du wirst es sehen, wenn er hier ist – wenn er überhaupt kommt. Ich werde – nein, warte! Ich treffe mich mit ihm im Dorf. Wenn er mir gefällt, könntest du ihn dann hier mit unterbringen?“ „Warum nicht? In meinem Alter wird mich niemand verdächtigen, einen rothäutigen Liebhaber zu haben.“ Sie kicherte mädchenhaft. Ich wählte die Nummer, die Hathaway mir gegeben hatte, und fragte nach Charles H. Catfish. Als sich ein Mann meldete, nannte ich Hathaways Namen und umriß die Probleme meiner Tante. Zum Schluß sagte ich: „Hathaway meint, Sie können mir 226
vielleicht helfen, mit Hilfe Ihrer … äh … besonderer Fähig keiten.“ „Möglich“, erwiderte Catfish. „Wenn es sich lohnt. Mit anderen Worten, ich muß hier von meiner Arbeit los.“ „Was tun Sie denn beruflich, Mr. Catfish?“ „Ich verkaufe Chevrolets in Kenmore. An was für ein Honorar hatten Sie denn gedacht?“ Nach Rücksprache mit Phyllis Wilder kehrte ich ans Telefon zurück und vereinbarte mit Catfish ein Tageshonorar. Er versprach am nächsten Tag in Panther Falls zu sein. „Um welche Zeit?“ fragte ich. „Mittagszeit?“ „Dazu müßten Sie aber ziemlich früh aufstehen. Es sind vier oder fünf Stunden Fahrt, trotz der Autobahn.“ „Ich weiß“, antwortete der Mann und lachte leise. „Früh auf stehen macht mir nichts. Ist eine alte indianische Angewohnheit.“ In dieser Nacht ließ sich in der Nähe von Wilderfarm niemand blicken. Es tönten jedoch ominöse Geräusche aus Richtung Floreando herüber: Getrommel und Gesang. Vermutlich war es feige von mir, mich nicht anzuziehen und hinüberzuschleichen, um zu sehen, was die Hunnen im Schilde führten. Charles H. Catfish ließ mich gut eine Stunde in Panther Falls warten. Ich möchte nicht verallgemeinern, doch fürchte ich, daß Pünkt lichkeit nicht gerade eine Tugend der amerikanischen Indianer ist. Schließlich hielt ein neuer, schimmernder Chevrolet vor mir. Mein Medizinmann war ein rundlicher Bursche, etwa so alt wie ich, und trug ein hübsches Sportsakko, eine Krawatte mit Amerind-Motiven und eine große Hornbrille mit getönten Gläsern. Das schwarze Haar war zu einer Bürste geschnitten. 227
Man mußte seine kupferfarbene Haut und mongoloiden Gesichtszüge genau anschauen, um zu erkennen, daß er Indianer war und kein sonnengebräunter dicker Weißer mittleren Alters. „Hallo, Mr. Newbury“, sagte er. „Was haben Sie für ein Problem? Wenn die Bleichgesichter nicht mehr weiterwissen, wenden Sie sich an Gauner wie mich und bitten um Hilfe.“ Beim Mittagessen in einem Schnellimbiß in Panther Falls schilderte ich ihm die Sorgen meiner Tante. „Da muß ich nachdenken“, äußerte er. „Vielleicht kann uns die alte Eitsinoha aus der Patsche helfen. Sie ist nicht mehr ganz die Alte, da sich nur noch wenige Anhänger um sie scharen; aber ein großer Geist ist und bleibt ein großer Geist.“ Catfish erwies sich als redseliger Witze- und Geschichtenerzähler, obwohl manche seiner Pointen nicht den Gefallen meiner Tanten gefunden hätten. „Vor wenigen Jahren passierte mir was ganz Komisches. In Ithaca fand eine Versammlung von Professoren aus der ganzen Welt statt – irgendeine hochgebildete Vereinigung. Nun ja, die Leute von der Cornell Universität wollten den Finanzmännern und Klotzköpfen und Südländern ordentliche indianische Riten zeigen. Ich habe ein paar Freunde, die bei den alten Tänzen und Zeremonien auf dem laufenden bleiben, und manchmal gehen wir für Geld auf die Bühne. Ich sagte mir also, was soll’s? Ich redete also mit Brant Johnson und Joe Ganogeh und Joes beiden Jungen, und wir fuhren mit den Federn und dem anderen Zeugs nach Ithaca. Natürlich weiß ich, daß kein echter Irokese jemals eine Kriegshaube getragen hat, die es nur auf den Ebenen gab. Joes älterer Sohn hatte als einziger eine richtige Seneca-Haar krone und Leggins. Aber die Ausländer wußten es ja nicht besser. Wir führten also den Korntanz und den Kriegstanz auf und alles andere – am Cayuga-See, wo all die klugen Köpfe ein Picknick veranstalteten. Sie applaudierten auch tüchtig – alle bis auf einen Franzmann, ein katholischer Priester mit langem 228
Gewand und rundem Hut. Er stand mit dem Rücken zu uns. Als ihn jemand fragte, warum er nicht zusehe, sagte er: ,Je de-montre contre les injustices infliges sur les peaux-rouges!’ Können Sie Französisch? Der Bursche wußte nicht, daß ich ihn verstand, denn ich habe früher in Quebec gearbeitet. Dann fauchte ihn einer der Russkies an: ,Oui, et maintenant par les francais dans l’Algerie!’ Damals machten die Algerier den Franzosen so sehr zu schaffen, daß sich die Franzmänner wenig später zurück zogen. Es war ja nett, daß jemand an die Ungerechtigkeiten dachte, die die Rothäute hatten einstecken müssen; aber mir wäre lieber gewesen, er hätte zugesehen, wie wir da tanzten und uns einen ehrlichen Dollar verdienten.“ Wir verließen den Schnellimbiß und standen auf dem Bürger steig, wobei Catfish eine seiner Geschichten zu Ende erzählte. Während er noch redete, sah ich zwei Männer im Gleichschritt auf uns zukommen. Der eine war ein großer, stämmiger Jüngling mit langem blondem Haar; ich hatte bei meinem Besuch auf Floreando mit ihm gesprochen. Der andere, ebenfalls jung, war kleiner und schmächtiger – von durchschnittlicher Statur und glattrasiert. Anstatt eines blauen Leinenanzugs trug er Cord-Reithosen und echte Reitstiefel. Ich kleide mich ähnlich, wenn ich ein Pferd besteigen will; aber schließlich gehöre ich einer älteren Generation an. Unter den jungen Reitern unserer Tage findet man eine solche Aufmachung nur selten, es sei denn bei offiziellen Anlässen, wie bei einer Pferde-Schau. Ansonsten sind überall Bluejeans zu finden, oft mit hochhackigen Cowboystiefeln. Plötzlich sah ich, daß die beiden stehenblieben. Während sie noch zögerten, sagte der Siegfried-Typ in dem blauen Jeansanzug etwas zu seinem Begleiter. Daraufhin kamen sie direkt auf uns zu. 229
Der kleinere mit den Reithosen starrte mir ins Gesicht und sagte: „Entschuldigen Sie, sind Sie nicht Mrs. Wilders Neffe, Wilson Newbury?“ „Ja.“ „Ja, ich bin Marshal Nicholson. Es freut mich, Angehörige der alten Familie kennenzulernen.“ Er streckte mir die Hand hin, die ich ohne Begeisterung schüttelte. „… und … äh …“ Fragend blickte er Catfish an. „Charlie Catfish.“ „Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Catfish. Dies ist Truman Vogel.“ Nicholson blickte Catfish von der Seite an. „Indianer?“ „Jawohl, Sir, Seneca.“ „Mr. Newbury“, sagte Nicholson. „Truman erzählte mir, daß Sie uns letzte Woche besucht haben. Tut mir leid, daß ich Sie nicht begrüßen konnte. Wie man hört, haben Sie auch so einiges über unseren kleinen Club gehört.“ „Ja?“ „Wissen Sie, die Leute neigen dazu, uns mißzuverstehen. Sie erzählen alle möglichen dummen Geschichten, nur weil wir gerne auf unseren Maschinen herumfahren. Vielleicht haben Sie ja mal Lust, nach Floreando zu kommen und die Sache durchzu sprechen. Da haben Sie doch früher gewohnt, oder? Sie auch, Mr. Catfish, wenn Sie mitkommen wollen.“ Der junge Mann hatte viel Charme, obwohl mich die Erfahrung gelehrt hat, daß man sich vor solchen Blendern in acht nehmen muß. Catfish und ich sahen uns an. „Bitte!“ sagte Nicholson. „Wir sind wirklich harmlos.“ „Okay“, entgegnete ich. „Wann?“ 230
„Sofort, wenn Sie nichts anderes vorhaben.“ So bildeten Catfish und ich hinter den beiden Motorrädern eine Wagen kolonne. Wir fuhren zwischen den Säulen hindurch zur Wagen einfahrt am Haus. Diesmal waren am Gebäude keine Motorräder geparkt. Das riesige Wohnzimmer hatte sich seit meiner Jugend verän dert. Der Boden war kahl und zerkratzt. Verschwunden waren die alten Bilder von Männern mit Kranzbärten und hohen Kragen und Frauen mit steifen Häubchen. Die Bücherregale waren leer, bis auf einige Predigtsammlungen, die keiner von Abrahams Nachfahren hatte haben wollen. Der einzige andere Lesestoff bestand in Stapeln von Motorrad-Magazinen und Comic-Heften. Ein Fenster war eingeschlagen und notdürftig mit einer Plastik plane abgedeckt worden. Die wenigen Möbelstücke sahen ziem lich mitgenommen aus; das mochte daran liegen, daß die besse ren Stücke von den Erben fortgeschleppt worden waren. Etwas war neu. Das Wohnzimmer verfügte über einen riesigen Kamin, über dem ein langer Steinsims verlief. Auf diesem Sims standen beinahe zwei Dutzend Helme, wie man sie in Aufführungen des Rings der Nibelungen zu sehen bekommt. Der Helm in der Mitte wies ein Paar Metallschwingen auf, während die anderen mit Hörnern geschmückt waren. Ich vermutete, sie bestanden aus Papiermache und waren mit Metallfolie bedeckt, doch ich bekam keine Gelegenheit, sie aus der Nähe zu betrachten. „Setzen Sie sich, meine Herren“, sagte Nicholson. „Können wir Ihnen ein Bier anbieten?“ „Danke“, antwortete ich. Als Vogel das Zimmer verlassen hatte, erklärte Nicholson: „Wissen Sie, Willy – Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich Sie Willy nenne? –, wir sind keine wilde Bande von Tunichtguten. Früher war das anders, ehe ich den Club übernahm, aber jetzt 231
habe ich den Burschen ein Ziel gegeben, habe ihnen einen Lebensweg aufgezeigt.“ „Und welche Richtung nimmt dieser Weg?“ „Unser Ziel ist nichts weniger als die nationale Erneuerung – die Restauration des amerikanischen Geistes, die aus diesem Land wieder ein Umfeld für Helden macht. Aber aus fauligem Holz kann man kein ordentliches Haus bauen, klar? Folglich müssen wir das verdorbene Material ausscheiden.“ Vogel kehrte mit drei Dosen Bier zurück. Er reichte Catfish und mir je eine Dose und öffnete die dritte selbst. Ich fragte Nicholson: „Wollen Sie nicht auch eine?“ „Nein, ich trinke nicht.“ Der junge Mann stimmte ein nervöses Lachen an. „Man könnte mich einen Gesundheitsfanatiker nen nen. Aber zurück zum Thema: man braucht vernünftiges Material, um ein ordentliches Haus zu bauen, das wissen Sie. Das gilt für menschliche Institutionen ebenso wie für Häuser und Brücken. Das Ungesunde muß raus.“ „Wer sind die Gesunden und die nicht Gesunden?“ „Ich bitte Sie, Willy! Als Mitglied einer alten angelsächsischen Familie sollten Sie das wissen! Zum Gesunden zählen die ursprünglichen nordischen arischen Rassen, die von den britischen Inseln und anderen nordeuropäischen Ländern herüberkamen und das Land zu dem machten, was es ist – oder zumindest, was es war, ehe wir Horden von biologisch minderwertigen Niggern und Ithakern reinließen.“ Als ich nichts sagte, fuhr er fort: „Die wissenschaftliche Unter mauerung ist eisenhart, nur haben die Marxisten alles verschleiert und untergraben und mit Lügengespinsten abgebogen. Aber ich kann jetzt nicht in die letzten Details gehen. Die meisten Leute sind von der liberalen Propaganda dermaßen in die Gehirn wäsche genommen worden, daß sie einen für verrückt halten, 232
wenn man ein paar simple, klare Tatsachen auf den Tisch legt. Sollten wir dieses Gespräch später einmal fortführen, werde ich meine Argumente beweisen.“ Er wandte sich an Catfish. „Charlie, wie man hört, haben Sie besondere Fähigkeiten, wie sie manchen Indianern zugeschrieben werden. Stimmt das?“ Offenbar hatte schon jemand die Nachricht in die Welt gesetzt, daß ich unter den Ureinwohnern einen Schamanen anwerben wollte. Wie sich diese Neuigkeit verbreiten konnte, weiß ich nicht. Vielleicht hatte meine gesprächige alte Tante einer ihrer Freundinnen am Telefon eine Andeutung gemacht, während ich noch unterwegs war. Da ich kleine Orte kannte, hätte mich das nicht überraschen sollen. Catfishs rundes rotes Gesicht blieb ausdruckslos. „Stimmt, ich habe in meiner Jugend ein paar alte Gebete und Zeremonien gelernt“, sagte er. „Einen Mann wie Sie können wir in unserer Bewegung brauchen. Ihr Leute habt vorzügliche Eigenschaften.“ „Ich bin nicht gerade ein nordischer Arier, Mr. Nicholson“, stellte Charlie fest. „Darüber machen Sie sich man keine Sorgen. Wenn wir ans Ruder kommen, ernennen wir die Indianer zu EhrenAriern.“ Nun meldete ich mich zu Wort: „Nick, wie wollen Sie Freunde gewinnen und die Menschen beeinflussen, wenn Sie es zulassen, daß Ihre Bande meine alte Tante terrorisiert?“ „Aber, aber – wir terrorisieren doch niemanden! Uns liegt daran, alte Damen höflich zu behandeln, besonders alte Damen von solider angelsächsischer Herkunft. Aber …“ Er zögerte. „… Sie wissen ja, wie das ist. Als ich den Club übernahm, unterschied er sich nicht groß von vielen anderen Motorradbanden. Man muß mit dem Material arbeiten, das einem zur Verfügung steht. Man kann nicht erwarten, daß jeder ein – ein 233
fleckenloser, perfekter Gentleman ist, so wie man einen Baum nicht mit einer Rasierklinge fällen könnte. Ich habe die Burschen schon sehr umgekrempelt, doch manchmal sind sie noch ein wenig wild. Das geht vorbei. Wenn die Jungs wüßten, daß Sie zu unseren Förderern gehören, hätte Mrs. Wilder bestimmt keine Probleme mehr. Also, ich kann doch wohl auf Ihre Hilfe rechnen, von Ihnen beiden?“ „Das muß ich mir überlegen“, antwortete ich, und Catfish mur melte etwas Ähnliches. Ohne weitere Argumente abzuwarten, stand ich auf und sagte: „Ich fand unser Gespräch sehr interessant, Nick. Vielleicht kön nen wir Sie wieder mal besuchen.“ Als Nicholsen den Mund öffnete, wie um Einspruch zu erheben, deutete ich auf den Kaminsims und fragte: „Die Wikingerhelme machen mich etwas unsicher. Wenn Sie so scharf sind auf die nordische Richtung, warum nennen Sie sich die Hunnen? Nach der Geschichts schreibung waren die Hunnen Mongolen – kleine, gedrungene, schlitzäugige Männer in Pelzkleidung, die auf zottigen Ponies aus der Wüste Gobi herbeigaloppierten. Keine nordischen Einflüsse.“ „Ach das“, gab Nicholson zurück. „Der Club hieß so, ehe ich Anführer wurde. ,Die Goten’ wäre ein besserer Name gewesen, doch noch habe ich sie nicht rumkriegen können. Es wird mir schon gelingen. Ich bringe sie auch dazu, daß sie von japanischen Motorrädern auf Harley-Davidsons und Husqvarnas umsteigen. Wenn sie schon Importe kaufen wollen, dann wenigstens aus einem nordischen Land wie Schweden.“ „Vielen Dank für das Bier“, sagte ich und ging. Wir ließen Nicholson und Vogel auf der Veranda stehen; sie starrten uns nach. Ich leitete Catfish zur Landstraße zurück und 234
fuhr von dort zur Farm. Als wir die Wagen abgestellt hatten und ausgestiegen waren, sagte Catfish: „Mann o Mann! Mir ist, als hätte ich die Hand in eine Höhle gesteckt, die voller Klapper schlangen ist. Die lassen sich nicht täuschen mit Ihrem Spruch vom Drüber-Nachdenken, sondern wissen genau, daß Sie den Tomahawk ausgraben wollen. Und glauben Sie nur nicht, daß das Gerede über den edlen roten Mann ehrlich gemeint war. Wenn ich als Medizinmann überhaupt etwas tauge, werden sie den ersten Schlag selbst landen wollen.“ „Da haben Sie wohl recht“, sagte ich. „Hier ist meine Tante. Tante Phyllis, dies ist Charles H. Catfish; Charlie – Mrs. Wilder.“ Catfish, der selbst für einen Indianer sehr ernst ausgesehen hatte, grinste: „Entzückt, Madam. Ich habe eben Ihrem Neffen gesagt, daß meiner Meinung nach eine Frau so gebaut sein sollte wie Sie. Wenn ich nicht Frau und fünf Kinder hätte, würde ich Sie gleich in mein Herz schließen.“ Kichernd führte uns Phyllis Wilder ins Haus. Hier herrschte eine ziemliche Unordnung. In den Zimmern lagen stapelweise alte Kleidung und alte Spielsachen herum. „Packst du bereits deine Sachen, Tante Phyllis, bevor du das Haus verkaufst?“ „Nein, Willy. Aber ich fange an, den Unrat auszusortieren, der sich in vier Generationen angesammelt hat. Hier zum Beispiel.“ Von einem Stapel nahm sie eine braune LeinenJagdjacke mit großen Taschen. „Die hat mal Peter gehört.“ (Peter Wilder war ihr verstorbener Mann.) „Hättest du Gefallen daran?“ Ich zog das Jackett aus und probierte die Jacke an. „Passen tut sie gut“, sagte ich. „Vielen Dank; die ist bestimmt sehr nützlich.“ Ich erzählte ihr von unserem Besuch in Florando. „Ach du je!“ sagte sie. „Die planen bestimmt eine neue Teufelei. Ob Sie uns helfen können, Mr. Catfish?“ 235
„Ich kann es zumindest versuchen“, antwortete Catfish. „Haben Sie ein Zimmer, in dem ich für den Rest des Nachmittags ungestört bin?“ „Aber ja. Gleich oben an der Treppe.“ Ich half Catfish dabei, drei große Koffer ins Haus zu tragen. Er schloß sich ein. Nach kurzer Zeit war das Tappen einer kleinen Trommel zu hören, gefolgt von Stimmlauten. Tante Phyllis und ich saßen unten, tauschten Familienklatsch aus und redeten über den in Aussicht genommenen Verkauf der Farm. Die Sonne stand bereits tief, als Charles Catfish oben an der Treppe erschien. Langsam kam er die Treppe herab, und sei ne Stimme klang schwach und heiser. Die Aura des fröhlichen Witzeerzählers war verflogen. „Ich bin in der Geisterwelt gewesen“, sagte er. „Eitsinoha wird tun, was sie kann. Sie sagt aber, die Hunnen hätten sich einen Geist von jenseits des Ozean zu Hilfe geholt. Der Name klingt wie Dana oder so. Sagt Ihnen das etwas?“ Ich überlegte. „Natürlich! Sie muß Donner oder Donar meinen, den alten germanischen Donnergott. Die Skandinavier nannten ihn Thor, doch Wagner gebrauchte in Das Rheingold die deut sche Form. Was kann Ihre … äh … wie hieß sie doch gleich? … für uns tun?“ „Erwarten Sie nicht zuviel. Die Macht der Geister ist beschränkt, auch wenn es sich um große Geister handelt wie diese. Sie können einem in Traum oder Trance Dinge mitteilen; sie können das Wetter und Karten und Würfel beeinflussen. Doch es hätte keinen Sinn, Eitsinoha zu bitten, den jungen Nicholson zu greifen und ihn in den Black River zu werfen. Ach, ehe ich es vergesse!“ Catfish zog eine flache Whiskeyflasche aus der Tasche und stellte sie auf den Tisch. „Die habe ich in einem der Stapel gefunden, Mr. Wilder. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, 236
daß ich sie benutzt habe. Willy, was sich in der Flasche befindet, sieht aus und schmeckt wie ganz normales Wasser; aber wenn Sie Nick dazu bringen könnten es zu trinken, würde es seine Einstellung wahrlich verändern.“ Ich steckte die Flasche in eine Tasche meiner Jagdjacke. „Wie soll ich das erreichen?“ „Keine Ahnung. Sie müssen sich etwas überlegen. Rieche ich da etwas zu essen, Madam?“ „Ja“, antwortete Phyllis Wilder. „Das Abendessen ist in zwanzig Minuten fertig. Willy, du spielst den Barmann. Das Zeug steht im Schrank links vom Herd. Also, Mr. Catfish – was sollen wir tun, wenn sie wieder über uns herfallen?“ „Hast du eine Waffe, Tante Phyllis?“ fragte ich. „Eine kleine Zweiundzwanziger, gegen die Murmeltiere im Garten.“ „Sie sollten sich gut überlegen, ehe Sie eine Waffe benutzen“, sagte Catfish. „So wie das Gesetz im Staate New York heute aussieht, dürfen Sie auf keinen Einbrecher schießen, den Sie in Ihrem Haus stellen. Wenn Sie es doch tun, würde man Sie ins Gefängnis stecken wegen ,übermäßiger Gewaltreaktion’ oder so. Wenn er stirbt, kämen Sie noch wegen Totschlag dran. Überlebt er die Sache, verklagt er Sie auf eine Million Dollar und bekommt wahrscheinlich noch recht. Wir Indianer sind da praktischer. Wenn wir jemanden beim Stehlen erwischten, brachten wir ihn um, und das war’s.“ Gegen elf Uhr war ich auf mein Zimmer gegangen und wollte mich gerade ausziehen, als die Hölle losbrach. In das Dröhnen von Motorrädern rings um das Haus mischten sich Schreie, Juchzer und das Krachen brechenden Glases. Ich knöpfte meine Sachen wieder zu und eilte nach unten. Phyllis und Charlie Catfish waren fast so schnell zur Stelle wie ich. „Tante Phyllis, 237
ruf die Polizei an!“ sagte ich. Obwohl sie in panischem Entsetzen keuchte, griff sie nach dem Hörer. Wenige Sekunden später sagte sie: „Ach du je, die Leitung ist tot! Sie müssen die Drähte durchgeschnitten haben.“ „Laß mich mal“, sagte ich. Sie hatte recht. Catfish sagte: „Sagen Sie mir, wo das nächste Revier ist. Ich fahre hinüber und alarmiere die Beamten, während Sie sich um Mrs. Wilder kümmern.“ Phyllis Wilder beschrieb den Weg, während der Lärm draußen nicht nachließ. Eine Flasche wirbelte durch ein Fenster und landete krachend vor meinen Füßen. Catfish rannte geduckt zur Garage, war nach wenigen Minuten aber wieder da. „Springt nicht an. Die Kerle haben die Drähte herausgerissen oder den Verteilerkopf geklaut. Versuchen Sie’s mal mit Ihrem Wagen, Willy.“ Ich kam der Aufforderung nach, mit demselben Ergebnis. Während ich noch meinen Fehlschlag erläuterte, wirbelte ein Stein durch ein Fenster und traf mich an der Stirn. Ich torkelte und wäre beinahe zu Boden gegangen. Normalerweise bin ich ein ziemlich ausgeglichener und beherrschter Mann, wenn ich das einmal so sagen darf. In meinem Beruf ist Zurückhaltung unerläßlich. Doch ungefähr einmal im Jahr wird der Druck zuviel, und ich drehe durch. In einer Ecke des Wohnzimmers befand sich ein Stapel mit altem Spielzeug, dazu gehörte ein Baseballschläger in Kindergröße. Als ich mein Gleichgewicht wiederfand, fiel mein Blick auf diesen Knüppel. Mit zwei Schritten war ich in der Zimmerecke und griff danach. Und schon stürmte ich durch die Haustür ins Freie. „Willy!“ schrie Tante Phyllis. „Komm zurück! Du überlebst das nicht!“ 238
In diesem Augenblick wäre es mir egal gewesen, wenn man mir eingeredet hätte, daß ich wegen übermäßiger Gewaltreaktion vor ein Erschießungskommando gemußt hätte. Natürlich handelte ich wie ein Idiot, aber so geschah es nun einmal. Als der erste Motorradfahrer aus der Dunkelheit herbeiraste, versetzte ich ihm mit dem Knüppel einen Hieb vor den Helm. Ich hörte das Knirschen des Plastiks, dann wurde der Mann rücklings aus dem Sattel geschleudert. Das Motorrad verschwand führerlos in der Dunkelheit. Im nächsten Augenblick hatten sie mich umringt, und die Strahlen der Scheinwerfer stachen wie Lanzen nach mir. Die Hunnen kamen nicht gleichzeitig zum Ziel, denn sie behinderten sich gegenseitig mit ihren schweren Maschinen. Ich hüpfte herum wie ein Matador, der gegen mehrere Stiere kämpft, und hieb dabei tüchtig um mich. Einige Schreie ließen erkennen, daß ich auch Erfolg hatte. Dann traf mich etwas über dem Ohr … Ich erwachte auf dem Boden des Wohnzimmers von Floreando. In den ersten Sekunden wußte ich nicht, wo ich mich befand. Mir kam der fürchterliche Verdacht, daß ich in der Hölle gelandet war; dann erkannte ich, daß es sich bei den Teufeln lediglich um die Hunnen mit den gehörnten Helmen handelte. Mein Kopf dröhnte wie ein Schmiedehammer. „Ah“, sagte Nicholsons Stimme. „Er kommt zu sich.“ Ich drehte schmerzerfüllt den Kopf und sah, daß Nicholson den geflügelten Helm aufgesetzt hatte. „Genau das Richtige für Donar“, fuhr Nick fort. „Los, packt ihn!“ Ich hatte mich aufgerichtet. Vier Burschen stürzten sich auf mich, schleppten mich zu einem Stuhl und setzten mich darauf. Sie banden mir hinter dem Rücken die Handgelenke am Stuhl fest und die Füße an den Vorderbeinen. 239
Ich konnte wieder klar sehen, und als meine Erinnerungen sich einigermaßen entwirrt hatten, erkannte ich, daß ich unter den Hunnen tatsächlich einigen Schaden angerichtet hatte. Einer trug den Arm in der Schlinge, ein zweiter hatte sich unter dem Helm eine Bandage um den Kopf gewickelt. Ein dritter versuchte, sein Nasenbluten unter Kontrolle zu bekommen. Viele trugen an Schultern, Brust und Knien Schutzteile aus Plastik, wie man sie beim Football findet. Zusammen mit den opernhaften Helmen und den mächtigen Stiefeln ergab das einen überraschend mittelalterlichen Effekt. „Bereite das Opfer vor, Truman“, sagte Nicholson. „Wir nehmen den alten Klotz im Holzschuppen. Chuck, du heizt den Kessel an. Denk daran, wir müssen jeden Rest von Knochen oder Zähnen verbrennen. Bringt ihn raus. Jungs.“ Der Stuhl wurde angehoben und durch den langen Flur in die Küche und zur Hintertür hinausgetragen. Floreando besaß noch einen riesigen Holzschuppen aus der Zeit, da Feuerholz die einzige Heizquelle war. Um die 1900 hatte irgendein Vorfahr ein Dampfheizsystem installiert, doch der Holzschuppen blieb für die Versorgung der Kamine bestehen. Selbst im Hochsommer können die Nächte in dieser Gegend sehr kühl werden. Eine einsame Glühbirne erleuchtete den Raum. Der ,Klotz’, von dem Nicholson gesprochen hatte, war ein zylindrisches Stück Baumstamm, etwa fünfundsiebzig Zentimeter hoch und ebenso breit. Einer der Hunnen schärfte eine Holzfälleraxt. „Also“, sagte Nicholson. „Ihr kennt die Anrufung an Donar, Gary, du hältst Newbury fest. Vielleicht will er sich trotz der Fesseln davonrobben, während wir ihn nicht beachten. Habt ihr alle Antworten parat? Großer Donar, Gott des Blitzes …“ Am Himmel zuckte ein Blitz auf, ferner Donner grollte.
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„He, Führer!“ sagte ein Hunne. „Er hat da etwas in der Tasche.“ „Durchsucht ihn“, forderte Nicholson. Aus Onkel Peters Jagdjacke zog der Sprecher die Flasche. Er lachte leise. „Schaut euch den alten Säufer an!“ „Wirf das Zeug weg“, befahl Nicholson. „Nein, Nick, Moment mal!“ rief Truman Vogel. „Guten Schnaps soll man nicht vergeuden.“ Er drehte die Flasche auf und roch am Hals. Dann steckte er einen Finger hinein und kostete. „Ach, Scheiß! Schmeckt wie einfaches Wasser. Warum trägt er wohl eine Flasche Wasser mit sich herum? Jagen oder Fischen wollte er wohl kaum.“ Die Aussicht, den Kopf abgeschlagen zu bekommen, noch dazu von einem Amateurhenker, der die Sache vermutlich verpfuschen würde, regt das Denkvermögen ungeheim an. „He!“ brüllte ich, obwohl ich vermute, daß es sich eher wie ein Krächzen anhörte. „Gebt mir das!“ Die Anstrengung verstärkte meine Kopfschmerzen noch mehr. „Nützt Ihnen nichts mehr“, sagte Vogel. „Was ist das überhaupt für ein Zeug?“ „Kann ich nicht sagen. Catfish hat mich zur Verschwiegenheit verdonnert.“ „Ach? Das werden wir sehen! Gary, zieh die Fesseln mal ein bißchen fester.“ Gary gehorchte. Ich spielte – und es war nicht nur gespielt – den Mann, der mutig der Folterung widersteht und dann doch dem Schmerz erliegt. „Okay, ich sage es euch!“ keuchte ich. „Es handelt sich um das Zauberwasser der Irokesen. Die Medizinmänner stellen das Zeug her, damit die Krieger die Kraft haben, alle Gegner zu 241
überwältigen. Wenn sie genug davon zusammenbekommen, hoffen sie, alle Weißen wieder in den Ozean zu treiben.“ „Oh“, sagte Nicholson. „Na ja, vielleicht kann uns das Zeug helfen. Wir haben auch Feinde zu überwältigen. Mal sehen.“ Er nahm Vogel die Flasche ab, roch daran und kostete. „Völlig harmlos.“ „Nein!“ rief ich. „Sie wissen ja nicht, was Ihnen das Zeug antut!“ „Du kannst mich mal, du Knilch!“ sagte Nicholson. „Sie brauchen sich darum keine Sorgen mehr zu machen.“ Mit einem Gurgeln setzte er die Flasche an die Lippen. „Schmeckt wie gutes, sauberes Wasser“, sagte er. „Also weiter mit der Zeremonie.“ „Ab mit seinem Kopf“, sagte Vogel. Ein Kichern lief durch die Gruppe der Hunnen. „Stan und Mike, ihr zerrt Newbury zum Klotz.“ „Sollen wir ihm dazu die Fesseln abnehmen?“ fragte ein Hunne. „Himmel nein! Der ist kein zartes Pflänzchen, selbst wenn er wie ein grauhaariger alter Knacker aussieht. Nehmt den Stuhl und kippt ihn, so daß er mit dem Gesicht nach unten auf dem Klotz liegt … äh … ihr wißt schon, was ich meine.“ Im gefesselten Zustand wurde ich zum Klotz gezerrt und darauf gelegt. Indem ich den Kopf zur Seite drehte, bekam ich die wei teren Ereignisse mit. Der Hunne mit der Axt stand auf und spuckte in die Hände. „Jetzt sprecht mir nach“, sagte Nicholson. „Großer Donar, Herr des Blitzes …“ „Großer Donar, Herr des Blitzes …“, sagten die anderen Hunnen.
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„Gott der unsterblichen, unbesiegbaren nordischen arischen Rasse …“ „Und Gott der unsterblichen, unbesiegbaren nordischen ari schen Rasse …“ „Wir opfern Dir einen Mann …“ „Wir opfern Dir einen Mann …“ In den grauen Wolken zuckte ein violetter Blitz auf. Donner grollte. „Als Gegenleistung bitten wir Dich, du mögest unsere Feinde mit deinen Blitzen niederstrecken …“ Nicholsons Kenntnisse archaischer Dialekte waren minimal. Die Hunnen antworteten Wort für Wort. „Angefangen mit Phyllis Wilder, Isaiah Rosen und Paul Grier … und Du mögest uns ein Zeichen geben …“ Wieder ein Aufblitzen und Donnern, aber schwächer werdend. „Lauter, so flehen wir, großer Donar!“ Diesmal war der Donner kaum noch zu hören. „Er ist heute nicht bei guter Laune“, sagte Nicholson. „Dann sollten wir Newbury schleunigst den Garaus machen“, meinte Vogel. „Wir haben Donnerstag, und wir können keine ganze Woche warten.“ „Hast du die Axt bereit, Frank?“ fragte Vogel. „Warte auf mein Signal. Aber… das ist aber komisch. Was wollte ich … was wollte ich nur eben sagen? Ich … äh … ach …“ Er blickte sich verwirrt um. „Was für ein Unsinn“, fuhr er auf Deutsch fort. Keuchend griff er sich an die Kehle. „Bist du vergiftet, Nick?“ fragte Vogel. Die anderen Hunnen murmelten aufgeregt durcheinander. Nicholson riß sich zusammen und begann heftig zu gestikulieren. Dabei brüllte er auf Deutsch: „Wir wollen die 243
Einheit wiederherstellen, die Einheit des Geistes und des Willens der deutschen Nation! Die Rasse liegt nicht in der Sprache, sondern im Blute!“ Die Hunnen sahen sich verwundert an. Einer fragte: „He, Truman, hat er den Verstand verloren?“ „Gott, keine Ahnung“, sagte Vogel. „Zu dem jüdischen Doktor können wir ihn nicht bringen …“ Ein Hunne eilte um die Ecke des Schuppens ins Licht. „Die Bullen!“ brüllte er. „Verschwindet!“ Leise Verwünschungen ausstoßend, eilten die Hunnen von dannen. Nie zuvor habe ich es erlebt, daß sich eine Gruppe so schnell auflöste. Motorradscheinwerfer blendeten auf, Motoren begannen zu brüllen. Und schon brausten die Hunnen davon, über Rasenflächen und durch den Wald, während gleichzeitig zwei Streifenwagen der Staatspolizei in die Auffahrt einbogen. Als mit gezogenen Pistolen vier Beamte in den Holzschuppen eilten, fanden sie nur mich vor, an den Stuhl gefesselt, und Marshall Nicholson. Der Anführer der Bande streckte den rechten Arm steif vor, während der Unterarm mit ruckhaften Bewegungen auf und nieder schnellte, als hiebe er auf einen unsichtbaren Tisch. Dabei brüllte er auf Deutsch: ,,… Wer ein Volk retten will, kann nur heroisch denken! Der heroische Gedanke aber muß stets bereit sein, auf die Zustimmung der Gegenwart Verzicht zu leisten, wenn die Wahrhaftigkeit und die Wahrheit es erfordern!“ „Als sie Sie fortgeschleppt hatten, verließen wir das Haus“, sagte Charlie Catfish, „und gingen die Straße entlang, bis wir irgendwo telefonieren konnten.“ „Meine armen Füße!“ klagte Phyllis Wilder. Wir standen in Dr. Rosens überfülltem Wartezimmer. Marshall Nicholson, der Handschellen trug, wurde von zwei Staatspolizisten flankiert. 244
Jack Nicholson hatte das Gesicht in die Hände gestützt. Der junge Nick brabbelte noch immer deutsche Sätze vor sich hin. Englische Fragen brachten keine Antwort. Rosen schloß seine Untersuchung ab, soweit er sie an dem widerstrebenden Patienten durchführen konnte. „Mr. Newbury, sprechen Sie Deutsch?“ fragte er. „Ein wenig. Nach dem Krieg konnte ich die Sprache ziemlich gut, aber das meiste habe ich wieder vergessen.“ „Ich lese die Sprache, aber sprechen kann ich sie nicht. Fragen Sie ihn, wann er geboren worden ist.“ „Wann sind Sie geboren?“ fragte ich Nick. Er unterbrach seine Rede. „Warum?“ „Tut nichts! Sagen Sie mir!“ „Am zwanzigsten April achtzehnhundertneunundachtzig.“ „Zwanzigster April 1889“, übersetzte ich. Einer der Staatspolizisten murmelte: „Da wäre er ja älter als sein Vater.“ „Mr. Nicholson?“ sagte Rosen. „Wann ist Ihr Sohn geboren worden?“ Der alte Nicholson hob den Kopf. „Am dreißigsten April neunzehnhundertfünfundvierzig.“ „Hat er je Deutschunterricht gehabt?“ „Nicht, daß ich wüßte. Er hat die Realschule ja nicht mal zu Ende gemacht.“ Rosen überlegte noch einige Sekunden lang. „Sie müssen ihn einweisen lassen, Mr. Nicholson“, sagte er schließlich. „Es geht nicht anders. Ich besorge die Papiere. Es gibt da eine gute Klinik in Utica …“ 245
Dies alles ereignete sich vor jenem denkwürdigen Gerichts entscheid, wonach man einen Verrückten frei herumlaufen lassen muß, bis er beweist, daß er gefährlich ist, indem er jemanden umbringt. Als die Beamten und die Nicholsons gegangen waren, wandte ich mich an Rosen. „Doktor, was sollte das mit den Geburtsdaten?“ „Mr. Newbury, ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich an übernatürliche Dinge nicht glaube. Aber es ist ein seltsamer Zufall, daß Adolf Hitler am 20. April 1889 geboren wurde und daß er an dem Tag Selbstmord beging, da Marshall Nicholson zur Welt kam. Außerdem habe ich Hitlers Reden in der Originalsprache gelesen.“ „Ach? Das erscheint mir seltsam.“ „Ganz und gar nicht. Wenn man weiß, daß es jemand auf einen abgesehen hat, ist es ratsam, sich so weit wie möglich über den Betreffenden zu informieren, um Vorsorge treffen zu können. Die deutschen Brocken, die Nick da von sich gab, sind offenbar ausschließlich Ausschnitte aus Hitlers Reden. Ich muß noch im einzelnen nachschauen – ich erinnere mich nicht Wort für Wort daran, aber es kam mir bekannt vor. Mr. Catfish, was war in dem Wasser, das Nick auf Mr. Newburys Veranlassung getrunken hat?“ „Einfaches Leitungswasser war es“, sagte Catfish. „Aber ich hatte Eitsinoha im Gebet aufgefordert, ihm die Macht zu geben, einem Menschen das Gedächtnis zu nehmen.“ Er wandte sich an mich: „Donar hat es ihr ziemlich schwer gemacht, aber jeder Geist ist auf seinem Spezialgebiet eben am stärksten.“ „Soll das heißen, daß Nick eine Reinkarnation Adolf Hitlers ist?“ fragte ich. „Wie das möglich wäre, kann ich mir vorstellen. Wenn man die Erinnerung an dieses Leben auslöscht, bleibt noch die Erinnerung an ein voriges Leben. Nick würde sich für Hitler 246
halten und doch sehr verwirrt sein. Eben noch ist er im Befehlsbunker und macht Anstalten, sich zu erschießen, in der nächsten Sekunde ist er in einem Holzschuppen im Staate New York …“ „Bitte, bitte!“ sagte Rosen. „Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich an solchen Unsinn nicht glaube. Mein Geschäft besteht darin, die Leute von ihren Leiden zu heilen, und dazu brauche ich eine streng wissenschaftliche Einstellung. Aber ich dachte, es könnte Sie interessieren. Soll Sie jemand nach Hause bringen, wo doch Ihre Autos außer Gefecht gesetzt sind?“ „Nein, vielen Dank“, antwortete ich. „Staatspolizist Talbot hat angeboten, uns zur Farm zurückzufahren. Er müßte draußen warten.“ „Nun, dann guten Abend. Und, Mrs. Wilder, Sie müssen es einfach lernen, den Süßigkeiten und Mehlschwitzen zu widerstehen!“
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Die Purpurnen Pterodaktylen Ich bin so normal und durchschnittlich, wie man es sich nur vor stellen kann – mittelgroß, Mittelschicht, mittleren Alters, als Techniker ausgebildet, durch die Umstände zum Bankier geworden, mit einer netten Frau, netten Kindern, nettem Haus und nettem Wagen. Trotzdem passieren mir die erstaunlichsten Dinge. Als die Kinder so groß waren, daß sie sich im Sommer allein vergnügen konnten, verbrachten Denise und ich einen Urlaub an der Küste. Meine Kusine Linda, die dort ein Haus besitzt, hatte von Ocean Bay geschwärmt. So mieteten wir in einem großen Holzhaus eine Wohnung, eine Querstraße vom Strand entfernt. Damals erhoben sich am Wasser noch keine riesigen Wohnanla gen wie eine Plage von Betonpilzen. Man konnte durch den Sand schlendern, ohne gleich auf jemanden zu treten oder einen Frisbee ins Auge zu bekommen. Wir schwammen, wir sonnten uns und gingen auf den Plankenwegen spazieren. Am zweiten Nachmittag fragte Denise: „Willy, mein Alter, warum gehen wir nicht mal in den Vergnügungspark?“ Sie sagte das auf Französisch, das wir en famille viel benutzen. Es ist ihre Heimatsprache, und ich versuche meine Kenntnisse durch viel Praxis auf dem laufenden zu halten. Wir haben auch versucht, die Kinder zweisprachig zu erziehen, was uns aber nur bei einem gelungen ist. Wir wanderten also eine Meile weit zu den Piers und Buden. Es gab die üblichen Sachen – Scherzartikel, Achterbahn, Schießbuden. Ein Wahrsager namens Swami Krishna pries seine Dienste an. Es gab Buden, an denen man Pfeile auf 248
Gummiballons oder Baseballs gegen Laubsägekatzen oder Basketbälle in Körbe werfen mußte. Diese Körbe waren so gestellt, daß der Ball, sollte er einmal treffen, sofort wieder heraussprang und dann natürlich nicht gewertet werden konnte. Gelang einem ein solcher Versuch, gab es Teddybären, Gummischlangen und ähnlichen Unsinn zu gewinnen. Den Verlockungen solcher Angebote kann ich normalerweise widerstehen. In einer Bude war das Spiel allerdings origineller gestaltet. Für einen halben Dollar kaufte man drei Gummiringe, die zwölf bis fünfzehn Zentimeter Durchmesser hatten. Diese Ringe mußten über drei kleine Pfosten geworfen werden, etwa einen halben Meter hoch und einen knappen Meter von dem Werfenden entfernt. Es gab drei Gruppen zu je drei Pfosten, auf drei Seiten eines Quadrats. Der obere Teil jedes Pfostens war konisch, und es machte keine Mühe, den Ring über die Spitze zu bekommen. Um zu gewinnen, mußte der Ring jedoch am Pfosten ganz hinabfallen, der im Querschnitt eckig und gerade groß genug war, daß der Ring darüber paßte. Beinahe jedesmal blieb der Ring hängen, wo die konische Spitze des Pfostens in die Ecken überging. Um einen Preis zu gewinnen, mußte man alle drei Pfosten hintereinander auf diese Weise mit Ringen verzieren. Die Preise waren womöglich noch origineller: eine Horde Pterodaktylen aus Plüsch und Draht. Es gab sie in mehreren Modellen und Größen – einige mit langen Schwänzen, einige mit kurzen, etliche mit Zähnen, andere mit langen, zahnlosen Schnäbeln. Die größten hatten eine Flügelspannweite von über einem Meter. Sie waren so gestaltet, daß man sie sich als Mobiles an die Decke hängen konnte. Wenn der Wind kräftig genug blies, konnte man die Flügel feststellen und das Ding wie einen 249
Drachen steigen lassen. Sämtliche Tiere waren in unterschiedlichen Purpurtönungen gefärbt. „Purpurne Pterodaktylen!“ sagte ich. „Liebling, einen von denen muß ich haben!“ „Oh, mon Dieu!“ sagte Denise. „Was willst du denn damit machen?“ „In mein Arbeitszimmer hängen.“ „Du solltest das Ding so unterbringen, daß die Leute es nicht sehen können. Was gefällt dir an diesen Ungeheuern so?“ „Vermutlich die Alliteration des Namens. Nur ist es keine echte Alliteration, da im Englischen das ,P’ in ,Pterodaktylus’ nicht ausgesprochen wird. Das macht es zu einem Augen-Reim – ich meine, zu einer Augen-Alliteration.“ „Auf Englisch mag das stimmen. Aber im Französischen sprechen wir das ,P’ mit. Das ist eben das Problem mit der englischen Sprache; man weiß nie, wann ein Buchstabe am Wortanfang stumm ist.“ „Wie bei ,knife’, ja? Nun ja, in Frankreich weiß man nie, wann ein Buchstabe am Ende eines Wortes nicht mitgesprochen wird. Ich will das Spiel mal versuchen.“ Der Budenbesitzer war ein kleiner, rundlicher, kahlköpfiger Mann etwa in meinem Alter; er hatte einen großen schwarzen Schnurrbart, dessen Enden er gewachst und hochgekrümmt hatte, in der Art, wie Kaiser Wilhelm II. seinen Bart getragen hatte. Der Mann verkaufte mir drei Ringe, und ich warf … Zehn Dollar und sechzig Ringe später war ich meinem purpurnen Pterodaktylus nicht nähergekommen. „Verkaufen Sie mir ein Tier?“ fragte ich den Besitzer. „Wieviel?“
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Der Mann deutete eine kleine Verbeugung an. „Es tut mir wirklich leid, Sir“, sagte er mit leichtem Akzent. „Aber die Tiere stehen nicht zum Verkauf. Entweder Sie gewinnen einen mit den Ringen, oder Sie bekommen keinen.“ Denises Blick verriet mir, daß ich im Augenblick lieber darauf verzichten sollte, weitere Teile des Newburyschen Vermögens, soweit man es so nennen konnte, auf mesozoische Reptilien zu verschwenden. Als wir weitergingen, knurrte ich vor mich hin; „Ich kriege eins von den Dingern, und wenn es das letzte wäre …“ „Du sagst, wir können uns keinen Mercedes leisten“, sagte sie, „aber du vergeudest Geld auf diese scheußlichen …“ „Wie dem auch sei“, erwiderte ich, um das Thema zu wechseln, „wenn wir gleich zum Haus zurückgehen, können wir vor dem Abendessen noch eine Runde schwimmen.“ „Willy!“ sagte sie. „Du bist heute schon einmal geschwommen. Die Wellen sind hoch, und du holst dir einen Sonnenbrand. Bring dich nicht um bei dem Versuch, deine Männlichkeit unter Beweis zu stellen! Du vergißt, daß wir nicht mehr jung sind.“ „Das mag wohl zutreffen“, antwortete ich und verzog lüstern das Gesicht, „aber von den Dingen, die junge Männer tun, bringe ich noch einige zuwege!“ „Ich weiß. Das hast du mir erst heute früh bewiesen. Eines Tages wirst du deine Männlichkeit einmal zuviel auf die Probe stellen und mittendrin einen Herzschlag haben.“ „Einen schöneren Abgang könnte ich mir nicht vorstellen.“ „Aber denk an deine arme Frau! Abgesehen von der Tatsache, daß ich nicht Witwe sein möchte, stell dir doch vor, wie unange nehm es wäre, die Sache den Polizisten zu erklären!“
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Am nächsten Morgen gingen wir zum Sonnenbaden und Schwimmen. Am Strand entdeckten wir unseren Besitzer der purpurnen Pterodaktylen, der ebenfalls dem Ultravioletten zusprach. In Badehosen, mit dem vorstehenden Bauch und dem dichten, ergrauten Brusthaar war er ein lebendiges Argument gegen die Freikörperkultur. Er hatte geschwommen, und das Wasser hatte die Pomade aus seinem Schnurrbart gewaschen, dessen Enden im Stile Fu-Manchus herabhingen. Er hielt eine Kinderschaufel in der Hand und bedeckte seinen Körper mit Sand. „Hallo“, sagte ich, da einen zuweilen die unmöglichsten Leute als Bankier in Anspruch nehmen. „Wie stehen die PterodaktylusGeschäfte?“ „Gut“, antwortete er. „Gestern wurden drei meiner Ptero sauriere gewonnen. Sie sehen also, manchmal gibt es bei mir Gewinner. Es tut mir leid, daß es Ihnen nicht gelungen ist. Sie müssen es eben noch einmal versuchen.“ „Ich komme“, sagte ich. „Sind Sie jeden Tag vor dem Aufmachen hier?“ „Ja. Anders habe ich nicht Zeit, denn ich muß von Mittag bis Mitternacht offenhalten. Kein leichtes Brot.“ Auf Befragen weihte er mich in die Grundzüge des Jahrmarktgeschäfts ein. „Entschuldigen Sie bitte“, sagte er schließlich. „Ich muß mich Ihnen vorstellen. Mein Name ist Ion Maniu, zu Ihren Diensten. Tut mir leid, daß ich Ihnen keine Visitenkarte geben kann.“ „Ich heiße Wilson Newbury“, sagte ich. Er wiederholte den Namen langsam, als hätte er tatsächlich eine Art Bedeutung für ihn. „Gibt es einen Mittelnamen?“ „Woodrow Wilson Newbury, wenn Sie es genau wissen wollen“, gab ich Auskunft. „Aber das ,Woodrow’ habe ich seit 252
Jahren nicht mehr benutzt. Wenn ich Sie heute nachmittag besuchen komme, können wir ja unsere Karten austauschen.“ Mr. Manius Förmlichkeit kam mir irgendwie putzig vor, doch ich gedachte mich nicht von ihm in den Schatten stellen zu lassen. Am Nachmittag wollte meine Kusine Linda mit Denise zu einem jener endlosen weiblichen Einkaufsbummel aufbrechen, in deren Verlauf in Dutzenden von Läden Hunderte von Artikeln bewun dert werden, wobei nur selten etwas gekauft wird. Auf diesen Safaris werden mir nach der ersten Stunde die Knie schwach, und ich sinke wie ein alter Preisboxer um, dessen Kräfte plötzlich nicht mehr reichen. Ich entschuldigte mich also und schlich statt dessen zu Manius Bude. Aber dort verlor ich nur weitere fünf Dollar, ohne meinem Ziele näher zukommen. Mit den Mädchen hatte ich mich in einem Souvenirladen an der Atlantic Avenue verabredet, in dem zugleich ein Postschalter untergebracht war. Während des Wartens sah ich mir eine Schale voller Modeschmuck an, meistens Ringe, die für fünfundzwanzig Cents zu haben waren. Es handelte sich um kleine Messing gebilde, in die bunte Glasstücke eingesetzt waren, zur Freude von Touristenkindern. Einige waren ziemlich kunstvoll gearbeitet, in der Form verwickelter Schlangen oder Schädel und gekreuzter Knochen. Ich wühlte herum, ohne etwas kaufen zu wollen – unsere Kinder waren dazu viel zu groß. Ich mußte vielmehr die Zeit herumbringen und dachte dabei über Kosten, Handelsspannen und Gewinne aus solchen Geschäften nach. Dann fiel mir ein Ring in die Hand, der irgendwie nicht zu den anderen paßte. Ich probierte ihn auf, und er saß gut. 253
Obwohl er matt und schmutzig war wie die anderen, fühlte er sich massiver an. Er war schwerer, als man es von einem einfa chen Messingring dieser Größe erwartete. Das bewies jedoch noch gar nichts; es konnte sich um plattiertes oder bemaltes Blei handeln. Der Ring schien früher einmal ein kompliziertes Muster gehabt zu haben, die Rippen und Einkerbungen waren aber dermaßen abgegriffen, daß davon nur noch vage Spuren blieben. Der Stein war ein glasig-grüner Brocken, poliert, aber nicht geschliffen, die ursprünglichen Erhebungen und Vertiefungen waren gut erhalten wie bei einem von Wasser glattpolierten Kieselstein. Ich gab der Kassiererin einen Vierteldollar, steckte den Ring an und traf mich mit den Mädchen. Linda wollte mir von der Zusammenkunft des Frauenvereins erzählen, bei der ich einen kleinen Vortrag halten sollte – wozu sie ein wenig kusinenhaften Zwang hatte anwenden müssen. Dann entdeckte Denise den Ring. „Willy!“ rief sie. „Was hast du jetzt wieder angestellt?“ „Ist doch nur ein Modeschmuck-Ring aus dem Trog hier – aber irgendwie hat er mir gefallen. Was kann ich bei fünfundzwanzig Cents schon verlieren?“ „Laß mal sehen“, sagte Denise. „Hein! Das Ding scheint mir aber kein Modeschmuck zu sein. Hör mal, wir waren eben bei Juwelier Hagopian. Gehen wir hinüber und fragen ihn, was das ist.“ „Ach, Mädchen, seid nicht dumm!“ sagte ich. „In so einem Kasten findet man doch keinen Hope-Diamanten!“ „Wie du eben gesagt hast“, gab sie zurück. „Was haben wir schon zu verlieren? Komm schon. Es ist nur eine Querstraße weit.“ Hagopian schraubte sich die Lupe ins Auge und untersuchte den Ring. „Garantieren kann ich nichts“, sagte er, „aber es sieht 254
nach echtem Gold aus und der Stein nach einem ungeschliffenen Smaragd. In dem Fall könnte das Stück viele tausend Dollar wert sein. Natürlich müßte man ihn genau untersuchen … Woher ha ben Sie den Ring?“ „Aus einem ungewöhnlichen Laden“, sagte ich. „Das Stück ist auch ziemlich ungewöhnlich. Seit vier- oder fünfhundert Jahren werden praktisch alle zu Schmuck verarbei teten Edelsteine dem Facettenschliff unterworfen. Davor glättete man die Steine nur und versuchte auf der Hand liegende Defekte herauszuschneiden, während man gleichzeitig möglichst viel von der Steinsubstanz intakt ließ. Diese Art von Fassung geht allerdings noch viel weiter zurück – es sei denn, wir hätten es hier mit der geschickten Nachbildung eines echten alten Ringes zu tun. Wenn Sie mir das Stück ein paar Tage lang zur Überprüfung hierließen …“ „Ich überlege es mir“, sagte ich und nahm ihm den Ring aus der Hand. Hagopian mochte durch und durch ehrlich sein (was wohl auch so war), doch ehe ich ihm etwas in die Hand gab, wollte ich ihn zunächst überprüfen. Am nächsten Morgen versteckte sich die Sonne hinter Wolken. Als wir schwimmen gingen, lag Maniu am Strand, halb vergra ben im Sand; es ragten nur Oberkörper, Arme und Kopf heraus. Er schaufelte neuen Sand über seinen Torso. „Mr. Maniu“, sagte ich, „wenn Sie sich in die Sonne legen, warum dann der Sand? Die Sonnenstrahlen dringen nicht bis zu Ihnen.“ „Ich habe dazu eine Theorie, Mr. Newbury“, antwortete er. „Die vitalen Vibrationen wirken verjüngend. Sehe ich Sie heute im Vergnügungspark?“ Er setzte ein seltsames Grinsen auf, das mich auf den Gedanken brachte, er schliefe womöglich in einem Sarg voller Erde aus Transsylvanien. „Vielleicht, wenn es nicht 255
regnet“, antwortete ich. Es regnete aber, so daß wir nicht spazie rengingen. Denise schrieb im Wohnzimmer Briefe, während ich die Schuhe auszog und mich auf eines der Betten legte. Nach kurzer Zeit weckte mich ein rhythmisches Quietschen. Als ich dreimal hochgeschreckt war, ging ich der Ursache des Geräuschs nach. Es wurde von einem Aluminium-Schaukelstuhl mit Plastiksitzen erzeugt, der auf der kleinen Terrasse unserer Wohnung stand. Stuhl und Terrasse waren feucht von Nieselregen. Obwohl niemand in dem Stuhl saß, schaukelte er hin und her. In der Annahme, daß der Wind das leichte Möbelstück bewege, rückte ich den Stuhl in eine geschütztere Ecke der Terrasse und kehrte auf mein Bett zurück. Wieder weckte mich das Quietschen. Ich stampfte auf die Terrasse. Erneut bewegte sich der Stuhl hin und her, obwohl es keinen nennenswerten Wind gab. Der Zwilling des Stuhls, der eigentlich noch ungeschützter stand, bewegte sich nicht. Ich schickte einige Flüche zum bedeckten Himmel empor, drehte beide Stühle um und legte mich wieder hin. Als ich dann das nächste Mal zu erwachen glaubte, sah ich einen fremden Mann auf der anderen Seite des Doppelbettes sitzen und mich anstarren. Er war durchschnittlich groß, sehr dunkelhäutig und hatte einen kurzen schwarzen Schnurrbart. Seine Kleidung war einigermaßen modern, doch im Grunde „billig und aufgeputzt“: gestreifte Hosen, grelle Krawatte mit Nadel und etliche Ringe. (Andererseits versuchte Denise auf mich einzuwirken, buntere Kleidung zu tragen. Sie meint, ein Bankier brauche nicht wie ein Beerdigungsunternehmer auszusehen.) Mir fiel auch auf, daß der Mann einen weichen großen Panamahut trug, den er auf dem Kopf behielt.
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Was mich so sicher macht, daß es sich um einen Traum handelt, ist der Umstand, daß ich nicht etwa aufsprang und fragte: „Wer zum Teufel sind Sie und was machen Sie hier?“ Vielmehr blieb ich schwach lächelnd liegen und sagte: „Hallo.“ „Ah, Mr. Newbury“, sagte der Mann. Auch er sprach mit Akzent, der sich allerdings von Manius Tonfall unterschied. „Friede sei mit Ihnen. Ich stehe zu Ihren Diensten.“ „A-aber wer – wer sind Sie?“ stotterte ich. „Habib al-Lajashi, zu Ihren Diensten, Sir.“ „Wie bitte? Aber wer – wie – was soll das?“ „Der Ring, Sir. Der Smaragdring aus der Zweiten Kish-Dynastie. Ich bin Sklave dieses Rings. Wenn Sie ihn sich dreimal um den Finger drehen, muß ich erscheinen und tun, was Sie sagen.“ Ich blinzelte. „Soll das heißen, Sie – Sie sind eine Art Geist aus Tausendundeiner Nacht?“ „Ein Dschinn, Sir. Dschinn. Oh, ich verstehe! Sie haben damit gerechnet, daß ich in mittelalterlicher Kleidung erscheinen würde, mit Turban und Robe. Ich kann Ihnen versichern, Sir, wir Dschinns halten uns auf dem laufenden wie jeder Sterbliche.“ Man hätte wohl erwarten können, daß ein mißtrauischer, nüchterner Bursche wie ich über den Mann gelacht und ihn fortgeschickt hätte. Mir sind in meinem Leben jedoch so viele absonderliche Dinge begegnet, daß ich Mr. al-Lajashi nicht sofort die Tür wies. „Wie sieht dieser Dienst aus?“ fragte ich. „Ich kann Ihnen kleine Vergünstigungen zukommen lassen. Beispielsweise dafür sorgen, daß Sie in einem Restaurant die besten Steakstücke bekommen oder daß Sie alle Asse und Bilder ziehen.“ 257
„Nichts von ewiger Jugend für meine Frau und mich?“ „Leider nicht, Sir. Ich bin eben nur ein sehr unbedeutender Dschinn und kann nur kleine Taten vollbringen. Die mächtigeren Kollegen sind alle mit den Ölscheichs und den großen Weltfirmen im Bunde.“ „Hmm“, sagte ich. „Wenn ich wüßte, welcher Super-Dschinn welcher Firma hilft, müßte das auf die Kreditwürdigkeit dieser Firma einwirken …“ „O nein, Sir, tut mir leid; diese Informationen sind geheim.“ „Wie lange währt dieser Dienst? Geht es dabei um drei Wünsche und dann Schluß?“ „Nein, Sir, Sie bleiben mein Gebieter, solange Sie den Ring behalten. Wenn er an einen anderen Menschen übergeht, wandere ich mit.“ „Wie gefällt Ihnen Ihr Job, Habib?“ Al-Lajashi verzog das Gesicht. „Wie bei jeder Art von Sklaverei hängt das vom Herrn ab. Es gibt eine DschinnBefreiungsbewegung – aber das steht hier nicht zur Debatte, Sir.“ „Gibt es denn eine Methode, diesen Dienstbotenstatus zu been den?“ „Ja, Sir. Wenn einer meiner Herren wegen meiner Dienste so dankbar wäre, daß er mir freiwillig den Ring gibt, wäre ich frei. Aber das ist in dreitausend Jahren nicht einmal vorgekommen. Ihr Sterblichen wißt schon, wenn ihr etwas Gutes in der Hand haltet. Ihr stützt euch auf den Dienst, selbst wenn ihr uns Freiheit versprecht.“ „Kommen wir zum Konkreten“, sagte ich. „Es gibt da eine Spielbude …“ Und ich erzählte Habib von den purpurnen Ptero daktylen. „Wenn ich mich das nächste Mal an Manius Ringen versuche, möchte ich eines dieser Tiere gewinnen.“ Al-Lajashi 258
nahm seinen Panamahut ab und kratzte sich den Kopf, wobei zwei kleine Hörner zum Vorschein kamen. „Das schaffe ich, glaube ich. Überlassen Sie es mir.“ „Machen Sie es nicht so auffällig, sonst wird er mißtrauisch.“ „Verstanden. Jetzt legen Sie sich bitte wieder hin und setzen Ihren Schlaf fort. Ich werde Sie heute nicht mehr stören.“ Ich kam seiner Aufforderung nach und wachte ganz normal auf. In Denises Bett, auf dem der soi-disant-Dschinn gesessen hatte, zeigte sich keine Vertiefung. Ich hielt es nicht für ratsam, Denise mein Erlebnis zu schildern. Statt dessen arbeitete ich an meiner Rede für Lindas Frauenclub. Am nächsten Tag war es schön und windig. Maniu lag am Strand, bis auf Arme und Kopf im Sand vergraben. „Guten Morgen, Mr. Maniu“, sagte ich. „Wenn Sie mir die Bemerkung verzeihen – Sie sehen leicht makaber aus.“ „Inwiefern, Mr. Newbury?“ „Sie sehen so aus, als habe jemand Ihren abgetrennten Schädel auf den Sandhaufen gelegt.“ Maniu grinste. „Kommen Sie heute nachmittag zur Bude, dann sehen Sie, daß mein Kopf fest mit dem Rest meines Körpers verbunden ist.“ Und das tat ich. Meine ersten drei Ringe blieben an den Ecken der Stäbe hängen. Von den zweiten drei Würfen fiel einer ganz hinab. Beim drittenmal kam ich zweimal ins Ziel. Und der vierte Versuch brachte mir drei Treffer: alle Ringe fielen ganz an den Pfählen herab. Maniu riß die Augen auf. „Mein Gott, Mr. Newbury, Sie machen aber Fortschritte! Welchen Pterosaurus möchten Sie haben?“ 259
„Bitte den da“, sagte ich und deutete auf einen langschnäbeligen Pteranodon. Maniu holte das Geschöpf herunter, faltete die Flügel zusammen und zeigte mir, wie man sie wieder ausbreiten konnte. „Kommen Sie doch morgen wieder“, sagte er. „Sie können das nie wiederholen, ha-ha.“ „Das werden wir sehen“, sagte ich. Ich trug meinen Preis nach Hause, was Denise im Grunde gar nicht recht war. Es gefiel ihr nicht, mit welchen Blicken die Passanten das Ding unter meinem Arm musterten. Am nächsten Tag versuchte ich es trotz Denises Protesten wieder. „Willy, du großer pataud, wo willst du ein zweites solches Monstrum unterbringen?“ „Ich finde schon einen Platz“, sagte ich. „Dieser Kerl hat mich herausgefordert. Jetzt will ich ihm zeigen, was eine Harke ist.“ Und das tat ich. Diesmal gewann ich einen zahnbewehrten Dimetrodon. Am nächsten Tag war Maniu nicht wie üblich am Strand. Nach dem Mittagessen legte ich mich wieder schlafen und wurde durch al-Lajashi geweckt, der sich zu mir gesetzt hatte. „Mr. Newbury“, sagte er, „wollen Sie sich noch einmal um Mr. Manius Preise bemühen?“ „Mit dem Gedanken habe ich gespielt, warum?“ „Da mag es jetzt ein Problem geben. Mr. Maniu ist wütend, weil Sie zwei seiner Echsenflügler gewonnen haben. Er gibt sie nur selten fort.“ „Knausriger Bursche! Vor ein paar Tagen hat er mir noch gesagt, daß drei Leute einen Preis gewonnen hätten.“
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„Das ist gelogen. Ich glaube nicht, daß er dieses Jahr schon einen guten Gewinn herausrücken mußte.“ „Und?“ „Er hat die Dienste eines meiner Mit-Dschinn in Anspruch genommen, zu seinem Schutz.“ „Heißt das, Sie bekommen die Ringe nicht mehr über die Pfosten?“ „Oh, ich glaube schon, daß ich das noch schaffe, aber es wird nicht mehr so leicht sein. Der andere Bursche könnte Ihnen allerdings Ärger machen.“ „Was für Ärger?“ „Keine Ahnung. Zumindest könnte ibn-Musa Sie irgendwie plagen.“ „Warum können Sie mich nicht beschützen, so wie der andere Dschinn Maniu schützt?“ „Ich kann ebensowenig überall gleichzeitig sein wie Sie. Wenn er Phänomene von einer materiellen Ebene einsetzt, über die ich keinen Einfluß habe, kann ich ihn nicht aufhalten.“ „Woher hat Maniu seinen Geist? Aus einem anderen Ring?“ „Nein, Sir. Er hat ihn sich von dem Astrologen im Vergnügungspark gemietet, einem gewissen Swami Krishna. In Wirklichkeit heißt der Mann Carlos Jimenez, aber das ist jetzt nicht wichtig. Er setzt seinen Dschinn ein, um einige seiner kleinen astrologischen Vorhersagen eintreten zu lassen. Sind Sie immer noch entschlossen, Ihr sogenanntes Glück noch einmal auf die Probe zu stellen?“ „Ja“, sagte ich. Als ich von Maniu Ringe bekam und zu werfen begann, flogen sie nicht so sicher wie vorher. Sie wackelten in der Luft herum und legten sich nur zögernd um die Pfosten. Ich mußte mehrere 261
Dollar aufwenden, ehe ich alle drei Ringe ins Ziel bekam. Sobald ein Ring zu fallen begann, stoppte er mitten im Flug, stieg dann wieder ein Stück empor und hüpfte mehrmals auf und nieder, ehe er seinen Weg vollendete. Maniu verfolgte das Schauspiel und kaute dabei auf seiner Unterlippe herum. Ich sah förmlich vor mir, wie zwei unsichtbare Wesen um den Ring kämpften – der eine versuchte ihn niederzudrücken, das andere ihn von dem Pfahl zu entfernen. Ich gewann einen hübschen Rhamphorynchus, ein Wesen mit einem kleinen Ruder am Schwanzende. Die gewachsten Spitzen von Manius Schnurrbart zitterten wie die Fühler einer Katze. Ich wollte segeln fahren. Am Tag nachdem ich meinen dritten Preis gewonnen hatte, fand ich das richtige Boot, eine fünf Meter lange flache Schaluppe namens Psyche, die man beim Ramoth-Bay-Segelclub mieten konnte. Ocean Bay steht auf einer langen Landzunge, die den Atlantik auf der einen und die flache Ramoth Bay auf der anderen Seite hat. An diesem Tag jedoch herrschte kein ruhiges Wetter. Da das Boot keinen Motor hatte, war die Ausfahrt sinnlos. Statt dessen ging ich wieder in den Vergnügungspark und gewann einen wei teren Pterodaktylus. Maniu hüpfte aufgeregt hin und her. „Das hat es noch nicht gegeben!“ sagte er. „Sie müssen Hilfe aus dem Übernatürlichen haben!“ „Wollen Sie, daß ich nicht weiterspiele?“ fragte ich unschuldig. Er wußte ganz genau, daß mir von meinem Dschinn geholfen wurde – ibn Musa mußte es ihm gesagt haben –, und ich wußte, daß er es wußte. Um die Wahrheit zu sagen, verlor ich langsam das Interesse an diesen massigen Objekten. Vermutlich war es eine Art kindischer 262
Siegeswille, der mich dazu trieb, dem kleinen Betrüger immer aufs Neue eins auswischen zu wollen. Allerdings nahm ich an, daß Maniu zwar seine Pterodaktylen ungern verlor, daß er andererseits aber nicht auf das Geld verzichten wollte, das meine Besuche ihm brachten, ganz zu schweigen von der Publicity. Die Preise kosteten ihn vermutlich nicht mehr, als ich ihm mit meinen Wurfgebühren einbrachte. Mit rotem Gesicht brachte Maniu seine widerstreitenden Gefühle in den Griff. „Nein, nein, nichts dergleichen“, sagte er. „Kommen Sie, so oft Sie wollen. Ich bin ein fairer Mensch.“ Am gleichen Abend sollte die Versammlung des Frauenclubs stattfinden. Wir zogen uns um und aßen mit Linda und ihrem Mann zu Abend. Dabei hörten wir den neuesten Klatsch vom Ort, daß einer der Ratsherrn sich aus der Stadtkasse bedient habe und daß einer Motorradbande allerlei Verwüstungen zu Last gelegt wurden. Schließlich betraten wir den kleinen Versammlungssaal. Ich bin kein guter Redner. Bei vorgeschriebenem Text komme ich einigermaßen hin, denn ich denke daran, ab und zu den Blick zu heben und nicht monoton oder undeutlich zu sprechen. Aber ohne Konzept, frei sprechend, bekomme ich keinen vernünftigen Satz heraus. Diesmal hatte ich meinen Vortrag in Langschrift bei mir – das Manuskript steckte in der Innentasche meines Jacketts. Als die Damen sich gesetzt hatten, gab es die üblichen langweiligen Präambeln – das Protokoll der letzten Sitzung wurde verlesen, der Bericht der Schatzmeisterin wurde vorgelegt, säumige Mitglieder wurden wegen ihrer Beiträge auf die Straße gesetzt, Komitees erstatteten Bericht, und so weiter. Endlich stand die Vorsitzende auf, rief mich ans Podest und ließ mir eine blumige Vorstellung angedeihen: „… und so wird Mr. Wilson 263
Newbury, erster Vizepräsident der Harison Trust-Bank, über die Bedeutung von Vermögenfonds für Frauen zu Ihnen sprechen.“ Ich trat hinter das Rednerpult, setzte meine Brille auf und breitete die Blätter meines Manuskripts auf der Schräge aus. Das Papier war leer. Ich starrte sicher nur eine Sekunde darauf; es kam mir aber wie eine Stunde vor. Sofort ging mir der Gedanke durch den Kopf: Das ist ibn-Musas Trick. Diese Erkenntnis brachte mich aber nicht von der Plattform herunter. Es blieb mir nichts anderes übrig, als die Rede frei zu halten. Ich stürzte mich hinein. Es war eine ziemlich schlechte Rede, wenn ich die Materie auch beherrschte. Sogar Denise, die mich immer weitgehend aufmuntert, machte später eine entsprechende Bemerkung. Die wesentlichen Dinge brachte ich aber über die Rampe: „… Jetzt … äh … will ich Ihnen … kündbare Vermögensfonds vorstellen. Hmm. Ah. Sie verbinden einige der … äh … Besonderheiten der widerruflichen mit denen der … äh … unwiderruflichen Regelungen. Es handelt sich … hm … är … um einen zeitlich beschränkten Treuhandauftrag, oft auch … äh … ‘Clifford-Trust’ genannt, nach einem Steuerzahler, der … hm … äh … 1934 die Finanzbehörden bis aufs Messer bekämpfte, und zwar erfolgreich. Ein solcher … äh … Fonds …“ Endlich kam ich zum Ende, ließ die geheuchelten Glückwünsche der Damen über mich ergehen und kehrte mit Denise in unsere Wohnung zurück. Als ich mir dort mein Manuskript anschaute, war die Schrift wieder an Ort und Stelle. Am nächsten Tag vollzog ich meine Rache an Maniu. Es gelang mir, zwei purpurne Pterodaktylen zu gewinnen, die Maniu mit kaum verhohlener Wut herausrückte. 264
Da mir das Wetter am darauffolgenden Tag ganz ordentlich vorkam, rief ich im Ramoth-Bay-Segelklub an, um unsere Reservierung der Psyche zu bestätigen. Auf dem Weg dorthin spöttelte Denise einmal mehr über die Besonderheiten der englischen Sprache, die dazu führten, daß der Name Säikie ausgesprochen wurde, anstatt wie im Französischen Psichee. „Ich bin sicher, in beiden Fällen hätte Sokrates nicht gewußt, wen du meinst“, sagte ich „Willy, Liebling“, sagte Denise, die plötzlich ernst geworden war. „Willst du wirklich Boot fahren? Der Wind weht ziemlich heftig.“ „Zehn bis fünfzehn Knoten, mehr nicht, und einigermaßen gleichmäßig“, sagte ich. „Du bist doch schon mit mir gesegelt oder?“ „Ja, aber – irgendwie habe ich das Gefühl, daß diese Fahrt nicht gut ausgeht.“ Ich überging die Bemerkung als typisch weibliche Intuition, die sich in den meisten Fällen als falsch erweist. Man erinnert sich eben nur an die Fälle, da die Intuition recht behält, und vergißt die anderen Male. Wir trieben die beiden jungen Männer auf, die sich um die Boote kümmerten; sie brachten die Segel und Ruder an, die Schwimmwesten, Feuerlöscher und die anderen Dinge, die zur Seetüchtigkeit gehören. Eine halbe Stunde später ließen wir uns von einem weichen und gleichmäßigen achteren Wind über die Ramoth Bay treiben – der Traum jedes Seglers. „Die Sonne steht über der Mastspitze“, sagte ich. „Machen wir uns ans Essen.“ Wir genossen belegte Brote, Obst und genug Whisky, um die Welt in einen rosigen Schimmer zu tauchen, aber nicht so viel, daß wir mit dem Boot nicht mehr fertig wurden. Denise packte 265
aus, sortierte und schenkte ein. Ich hob den Papierbecher und sagte: „Ein Trunk auf meine einzig wahre Liebe…“ Aus einer gemächlichen, zwölf Knoten schnellen Brise kam im nächsten Augenblick der Schlag. Ein Tornado oder Hurrikan mußte sich ähnlich auswirken. Die Bö kam ohne Vorwarnung; sie peitschte peng! über die Wellenköpfe und stürzte sich seitlich in unsere Segel. Ich kam zu spät, um das Hauptsegel zu reffen. Denise schrie auf, und schon kenterten wir. Fort schwappten das Mittagessen, der Whisky und alles andere, gefolgt von Mr. und Mrs. Newbury, die sich nicht mehr halten konnten. Zum Glück landeten wir nicht unter, sondern auf dem Hauptsegel. Kaum hatte ich mich von Leinen und Segelstoff befreit und das eingeatmete Wasser wieder ausgespuckt, packte ich Ruder und Schwimmweste, die in Richtung Lee verschwinden wollten. Der Wind war so schnell wieder abgeflaut, wie er aufgekommen war. Wir plantschten im Wasser herum und sammelten die Dinge ein, die sich noch an der Oberfläche befanden, und hielten uns am Schiffskörper fest, der friedlich auf der Seite lag. Mir kam der Gedanke, daß sich meine Segelerfahrungen auf Boote mit Kiel beschränkten. Solche Boote können nicht kentern, denn das Gewicht des Kiels bringt den Schiffskörper wieder in die Senkrechte. Ein Katamarantyp kann jedoch von einer plötzlichen Bö umgeworfen werden, wenn man nicht sehr schnell mit dem Herunterlassen des Hauptsegels bei der Hand ist. Und man bekommt das Ding als Schwimmer nicht wieder hoch. In der Ramoth Bay gab es ausschließlich Katamarane, weil die Bucht für Kielboote zu flach ist. An der Stelle unseres Unfalls war es jedoch zu tief zum Stehen. Wir konnten also nichts anderes tun, als uns festzuhalten, zu winken und zu schreien und auf Rettung hoffen. 266
Nach kurzer Zeit erschienen die beiden jungen Männer vom Klub in einem Motorboot und zerrten uns an Bord. Sie legten eine Leine um den Mast der Psyche und hatten sie im Nu wieder aufgerichtet. Einer der beiden ging an Bord, strich die Segel und schöpfte den größten Teil des Wasser aus. Dies alles dauerte fast eine Stunde. In dieser Zeit hockten Denise und ich zitternd im Motorboot. Ich glaube nicht, daß die jungen Männer großes Mitleid mit uns hatten. Endlich schleppten wir die Psyche zum Pier zurück. Als wir uns abgetrocknet, umgezogen und danach gegessen hatten, war es noch früher Nachmittag. Ich legte mich zum Schlafen nieder und wurde dabei – wie schon fast erwartet – von Habib ai-Lajashi besucht. Der Dschinn machte einen besorgten Eindruck. „Mr. Newbury“, sagte er, „ich weiß von Ihrem Ärger mit dem Boot.“ „Ibn-Musa steckt dahinter?“ „Natürlich. Jetzt muß ich Ihnen aber sagen, daß Mr. Maniu ibn-Musa den Befehl gegeben hat, Sie um jeden Preis zu vernichten.“ „Sie meinen, er soll mich töten? Mich umbringen?“ „Das meine ich mit ,zerstören’.“ „Weshalb? Wenn er will, daß ich mit dem verdammten Spiel aufhöre, warum sagt er es dann nicht? Ich habe mehr als genug purpurne Pterodaktylen.“ „Sie verstehen Mr. Manius Psyche nicht. Er hat viele Gedan ken, die Ihnen seltsam vorkommen würden. Ich verstehe Sie besser, weil in meinem Teil der Welt viele Sterbliche solchen Gedanken nachhängen. Für ihn ist es eine Sache der Ehre, wie er 267
es nennt, daß niemand ihn übertrumpft. Sie haben sein – wie heißt das? – Ihre Frau weiß sicher den französischen Ausdruck …“ „Amour-propre?“ „Genau. Wenn ihm jemand so etwas antut, kann er nicht verzeihen. Da nützt es auch nichts, wenn man ihm die Preise zurückgäbe oder sie wieder an ihn verlöre oder einen Monat lang seine Ringe würfe, ohne etwas zu gewinnen. Er hat eine – wie war noch das italienische Wort?“ „Eine Vendetta?’ „Vielen Dank, Sir; eine Vendetta gegen Sie.“ „Ich glaube, ibn-Musa wollte uns heute früh wirklich an den Kragen. Zum Glück können wir beide gut schwimmen. Also Habib, was können Sie für uns tun?“ „Leider nicht viel. Ibn-Musa braucht nur die materiellen Faktoren auf dieser Ebene leicht zu verändern, um allerlei Unheil über Sie zu bringen. Sie brauchten nur einmal auf die Straße zu treten, ohne den schnell fahrenden Wagen zu sehen; oder sie übersehen einen kleinen Schnitt und erleiden eine Blutver giftung.“ „Es liegt an Ihnen, mich aus der Klemme zu holen, alter Knabe“, sagte ich. „Schließlich haben Sie mich sozusagen da hineingebracht.“ Al-Lajashi zuckte die Achseln. „Ich will tun, was ich kann, da Sie mein Gebieter sind. Aber ich kann nichts garantieren.“ „Hören Sie“, sagte ich. „Einmal angenommen, ich verspreche Ihnen den Ring, sobald ich aus der Sache heraus bin. Würde das ein Unterschied machen?“ Al-Lajashi überlegte, wobei er seinen Hut anhob, um sich zwischen den Hörnern zu kratzen. „Wenn Sie mir das feierlich 268
versprechen, dann wüßte ich eine Methode, die vielleicht funktioniert. Sie ist riskant – nicht nur für Sie, sondern auch für mich. Aber wenn es Ihnen ernst ist, bin ich dazu bereit.“ „Ich sähe keine andere Möglichkeit“, sagte ich. „Machen Sie zu. Ich muß Ihnen vertrauen, aber Sie scheinen mir doch ein ziemlich ehrlicher Dschinn zu sein.“ Al-Lajashi lächelte. „Sie sind ein guter Menschenkenner, Mr. Newbury; in Ihrem Beruf müssen Sie das auch sein. Also gut, ich bringe das Projekt sofort in Gang. Die Methode kann ich Ihnen nicht erklären, aber Sie dürfen nicht überrascht sein.“ „Bestimmt nicht“, antwortete ich. Trotzdem war ich nicht auf den schrecklichen Schrei vorbereitet, der um drei oder vier Uhr früh vom Strand herübergellte. Der Laut weckte auch Denise. Wir schauten hinaus, konnten aber nichts erkennen. Endlich schliefen wir wieder ein. An meine Träume erinnere ich mich nicht, außer daß sie viel weniger angenehm waren als meine Plaudereien mit Habib al-Lajashi. Am nächsten Morgen waren die Ereignisse der Nacht zu einem vage erinnerten schlechten Traum geschrumpft. Nach dem Früh stück legten wir Badekleidung an und machten unseren mor gendlichen Besuch am Strand. Dort lag Maniu unter seinem Sandhaufen; Kopf und Arme schauten heraus. Er schien zu schlafen. Er hatte sich unterhalb der Hochwassergrenze eingegraben, und das steigende Wasser würde ihn bald umspülen. „Jemand sollte ihn wecken“, sagte ich, „ehe er sich eine Lunge voll Atlantikwasser holt.“
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„Wie bleich er aussieht!“ sagte Denise. „Bei der vielen Sonne, die er sich geholt hat, sollte man annehmen …“ Sie stieß einen durchdringenden Schrei aus. Ich hatte zu einigen Kindern geblickt, die Drachen steigen ließen. Als ich wieder hinschaute, rollte Manius Kopf sanft die Schräge des Sandhügels hinab. Der Kopf war wie ein makabrer Grabstein auf den Hügel gesetzt worden, der den enthaupteten Rest seines Körpers bedeckte. Eine Woge der aufladenden Flut hatte eben daran emporgezüngelt und den Kopf heruntergestoßen. Wie die Tat begangen wurde, konnte nie geklärt werden. Die Polizei verhaftete Mitglieder der Motorradbande. Spuren der Maschinen waren am Strand gefunden worden, es gab außerdem noch andere Indizienbeweise, doch nicht genug für eine Verurteilung. Ich bekam al-Lajashi mehrere Tage lang nicht zu Gesicht. Als er mich schließlich aufsuchte, wartete ich erst gar nicht darauf, daß er mich um den Ring bat. Ich riß ihn mir vom Finger und warf ihn ihm zu, ehe er etwas sagen konnte. „Nehmen Sie ihn!“ sagte ich. „Und entfernen Sie sich gleich mit.“ „Oh, vielen Dank, Sir! Kattar khayrak! Sie sind mein Befreier! Im Namen des Propheten, der Friede bringen möge, liebe ich Sie! Ich…“ „Ich bin geschmeichelt, und so weiter. Aber wenn Sie mir Ihre Dankbarkeit wirklich zeigen wollen, Habib, machen Sie jetzt eine Fliege. Ich möchte mit den Dschinns nichts mehr zu tun haben.“ Erst dann erwachte ich richtig. Da war kein Dschinn zu sehen – nur mein Liebling im anderen Bett. Der Ring allerdings war verschwunden. Ich atmete tief ein. Denise drehte sich auf die andere Seite. Nun ja, dachte ich, dieser Augenblick eignet sich wie jeder andere dazu, mal wieder meine Männlichkeit unter Beweis zu 270
stellen. In meinem Alter sollte man keine Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen.
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Die Schatztruhe Nachdem ich Habib den Dschinn losgeworden war, traf unser Sohn Stephen, der einen Sommerjob angenommen hatte, in Ocean Bay ein, um ein Wochenende bei seinen alten Herrschaf ten zu verbringen. Stevie war begeistert von einem Plan, den er zusammen mit seinem Freund Hank schmiedete – die beiden wollten mit einem Minendetektor aus dem Zweiten Weltkrieg auf einer Insel vor der Jersey-Küste auf Schatzsuche gehen. Einer lokalen Überlieferung zufolge war Charles Vane dort einige Male gelandet, um sein Vermögen zu vergraben. Stephen erzählte mir davon, während wir uns durch eine Runde Mini-Golf quälten, zu der er mich verleitet hatte. Mein Lieblingsspiel ist Tennis, wenn ich auch als Bankier im Interesse des Geschäfts oft zum Golf antreten muß. Stephen ist aber zu langsam und zu verträumt, um im Tennis seinen Mann zu stehen. Der Mini-Golf-Platz war raffiniert dekoriert. Es gab Modelle von Raumschiffen, groteske Tiere wie Dinosaurier und Sagen ungeheuer, etwa die lebensgroße Statue eines Fischmenschen von der Art, wie sie mein geschichtenschreibender Freund aus Providence in seine Handlungen einbauen würde. Das Wesen hatte Rückenflossen und Schwimmhände und -füße wie eine Ente. Das Wesen stand auf einem Drehpodest. Ich erkundigte mich an der Kasse danach. „Keine Ahnung“, sagte der Mann. „Das gehört zu den Dingen, die der verrückte Designer dieses Feldes angeschleppt hat. Er sagte, er habe so ein Ding mal lebendig gesehen, aber da war er sicher im Suff. Er ist inzwischen gestorben.“ Wir beendeten unsere Runde, und gleichzeitig war Stephen mit seiner Darlegung des Schatzsuche-Plans zu Ende. Er sah mich nervös von der Seite an. 272
„Wahrscheinlich wirst du mir jetzt sagen, daß das unmöglich ist“, sagte er, „aus irgendeinem Grund, der uns noch nicht eingefallen ist.“ „Ich will dir deinen Spaß nicht verderben“, antwortete ich. „Wenn du willst, sage ich kein Wort.“ „Nein, mach schon, Paps. Ich möchte die Einwände lieber gleich hören als später, wenn wir unsere Zeit schon in das Projekt gesteckt haben.“ „Okay“, sagte ich. „Soweit ich weiß, lief die Routine an Bord eines Piratenschiffes darauf hinaus, daß nach einem erfolg reichen Überfall die Beute so schnell wie möglich verteilt wurde. Das oblag nicht dem Kapitän, sondern dem Quartiermeister, normalerweise einem Piraten, der für den Umgang mit Pike und Schwert schon zu alt war, dem die Besatzung aber vertraute. Die Verteilung erfolgte zu gleichen Teilen, nur mochte der Kapitän den doppelten Anteil bekommen und die anderen Schiffsoffiziere – Arzt, Kanonier und so weiter – anderthalb, je nach den Ver einbarungen, die an Bord galten. Jeder, der Wertsachen von der Verteilung ausnahm, lief Gefahr, gehängt oder zumindest gekielholt zu werden. Du siehst also, der Kapitän konnte gar nicht übermäßig reich werden. Wenn das Schiff in den Heimathafen zurückkehrte, warfen die Piraten mit ihrem Geld nur so um sich. Selten sparte ein Mann genug, daß sich ein Vergraben gelohnt hätte. Außer dem war ich der Meinung, Pirat Vane hätte sich weitgehend auf die Karibik beschränkt.“ Der arme Stevie verzog die Mundwinkel, wie er es immer tat, wenn ich einen seiner verrückten Pläne zu Fall brachte. Im Jahr davor hatten er und Hank auf die Galapagos-Inseln fahren und Kopra anbauen wollen. Irgendwie hatte sich das in ihren Ohren großartig angehört. Ich mußte ihnen erklären, daß diese Inseln 273
gar keine Kopra hervorbrachten und daß Kopra zweitens nichts anderes war als getrocknetes Kokosnußfleisch, das beim Trock nen unangenehm stank und letztlich zu Shampoo-Ölen verarbei tet oder an Schweine in Iowa verfüttert wurde. Wie sich die Dinge entwickelten, bekam Stephen Gelegenheit, sowohl die Galapagos-Inseln zu besuchen, als auch nach einem Schatz zu suchen – viel eher, als wir beide vermutet hätten. Im folgenden Sommer startete mein Chef Esau Drexel mit seiner Jacht zu einer seiner meeresbiologischen Expeditionen. Vor der Abfahrt sagte er zu mir: „Willy, ich kann Sie nicht auf die ganze Fahrt mitnehmen, weil jemand die Trust-Bank leiten muß. Aber wir besuchen die Galapagos-Inseln. Warum fliegen Sie nicht mit Denise und den Kindern nach Guayaquil und Baltra und stoßen dort zu uns. Wir können eine Tour durch die Inseln machen. Das wäre ein großartiges Erlebnis, und Sie könnten nach zehn oder zwölf Tagen zurück sein. McGill kann in Ihrer Abwesenheit die Geschäfte führen.“ Dazu bedurfte es keiner Überredung. Von meiner Familie streikte nur unsere Tochter Heloise, die in den ersten Semestern studierte. Sie sagte, ihre Ferienarbeit sei ihr zu wichtig, sie habe der Firma versprochen, da zu sein, und so weiter. Ich nahm eher an, daß sie nicht von der Seite des jungen Mannes weichen wollte, in den sie damals verliebt war. Stephen, der soeben die Oberschule verlassen hatte, zeigte sich begeistert. Ein Flugzeug setzte Mr. und Mrs. Wilson Newbury mit Sohn Stephen und Tochter Priscille auf der Insel Baltra ab, an deren Pier Drexels Amphitrite vertäut lag. Die beiden kleinen Schiffe, die Touristenrundfahrten veranstalteten, waren gerade unterwegs, so daß die Amphitrite viel Platz hatte. Drexel, der in Shorts und Tropenjacke, mit weißem Schnurrbart und sonnenverbrannter Nase ganz den weißen 274
Sahib-Typ verkörperte, begrüßte uns mit dem gewohnten Gebrüll. In seiner Begleitung war seine Frau, eine kleine grauhaarige Gestalt, die selten Gelegenheit bekam, etwas zu sagen. Und ein anderer Mann, klein, sonnengebräunt und weißhaarig, den ich nicht kannte. „Dies ist Ronald Tudor“, sagte Drexel. „Ronnie, ich möchte Ihnen Denise und Willy Newbury vorstellen. Willy ist der Mann, der die Harrison Trust-Bank vor dem Bankrott bewahrt, während ich das Ruder aus der Hand gegeben habe. Willy, Ronnie ist der Mann, der vor Melbourne die Beute der Santa Catalina gehoben hat.“ „Melbourne in Australien?“ fragte ich. „Nein, Sie Dummkopf – Melbourne in Florida. Das Schiff gehörte zu der Schatzflotte, die dort 1715 unterging.“ „Oh“, sagte ich. „Ist das Ihr regulärer Beruf, Mr. Tudor?“ „Solche Sachen würde ich nicht regulär nennen“, erwiderte der alte Knabe mit schiefem Lächeln. Er hatte eine schnelle, explosive Sprechweise. „Ich beschäftige mich ab und zu damit. Im Augenblick – aber damit warten wir besser, bis wir abgelegt haben.“ „Soll das heißen“, schaltete sich Priscille ein, „daß Sie auf diesen Inseln einen Schatz finden wollen, Mr. Tudor?“ „Das werden Sie sehen, junge Dame. Da wir erst morgen früh ablegen – wie wär’s bis dahin mit einem kleinen Bad?“ Wir schwammen vom nahegelegenen Strand aus, wo zahlreiche Landungsboote aus dem Zweiten Weltkrieg kieloben vor sich hin rosteten. Die Kinder hatten ihren Spaß daran, Krebse zu jagen. Die Tiere, abgeschnitten von ihren kleinen Höhlen, huschten ins Wasser und gruben sich ein, bis sie nicht mehr zu sehen waren. An Bord der Amphitrite zurückgekehrt, lernten wir den ekuadorianischen Steuermann kennen, Flavio Ortega, der eben an Bord kam. Flavio war ein kleiner, breit gewachsener 275
Mann mit kupferfarbener Haut und mongoloiden Gesichtszügen. Er mußte zu mindestens drei Vierteln Indianer sein, trat aber mit spanischer Liebenswürdigkeit auf. Als ich an ihm mein unsicheres kastilisches Spanisch ausprobierte, rief er: „Oh, aber Ihr Akzent ist besser als meiner! Usted habla como un caballero espanol!“ Natürlich war er ein Schmeichler, aber zu den ersten Lektionen des Lebens gehört nun mal, daß man mit Schmeichelei fast alles erreicht. Während wir am Heck saßen und vor dem Essen unsere Cocktails genossen, erklärte Esau Drexel: „Das Meer um diese Insel enthält mehr Felsen als die Köpfe der Demokraten in Washington. Wir brauchen also einen Einheimischen als Lotsen.“ „Wie steht es aber mit Ronnies großem Geheimnis?“ fragte ich. Als Tudor mich zweifelnd anblickte, sagte Drexel: „Sie können ihm uneingeschränkt vertrauen, Ronnie. Er arbeitet seit gut zwanzig Jahren für mich.“ „In Ordnung“, erwiderte Tudor. „Einen Augenblick.“ Er stand auf und kehrte nach kurzer Zeit mit einem Ordner zurück, in dem sich einige Blatt Papier befanden. Mit gesenkter Stimme sagte er: „Seien Sie vorsichtig – lassen Sie kein Wasser von Ihrem Glas darauf tropfen. Es sind zwar nur Photokopien, aber wir brauchen sie noch.“ Ich untersuchte die Blätter. Es waren Ablichtungen dreier Seiten aus einem alten Manuskript, geschrieben in großer, klarer Schrift. Das Englisch wies etliche ungebräuchliche Wendungen auf, die das Dokument auf zwei oder drei Jahrhunderte zurück datierten:
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und fuhren zum Iland. Des Juni 6 ankerte Capt. Eaton in einr Bucht auf dr NW Seite dr Iland, die Mr. Cowley Duke of York Iland getauft hat. Diese Bucht, von Mr. Cowley Albany Bay genannt, wird geschützt vn einem kleinen felsigen Iland. Dieses kleine Iland besitzet eine Felsspitze, einem deutenden Finger gleich. Mr. Dampier versicherte uns, auf den größeren Inseln, wie auf dyser, sei selbst in der langen Trockenheit des Sommers Wasser zu finden. Während die Männer an Land gingen, um Quellen oder Bäche zu suchen, nahm mich Capt. Eaton auf die Seyt’ und sagte: Mr. Henderson, es ist Zeit, den Inhalt dr Truhe zu vergraben. Da ich Euch als ordentlichen Mann kenne, werdt Ihr, Ihr und ich allein, die schwier’ge Aufgabe meistern, niemand drf davn erfahr’n. Aber Captain, sagte ich, seid Ihr Eures Wegs fest entschlossen? Denn bei Gott, Sir, es will mir scheinen, dr Inhalt der Truh’ könnte uns, mt Vernunft und Vorsicht einges., in England fr den Rest uns’r sterblich Tge handlich’ Einkomm’ sichern. Wenn wir je nach Hause kommen, antwortet Captain Eaton; mit dem verfluchten Ding an Bord bezweifle ich eine gesegnet’ Heimkehr. Ein Fluch liegt drauf; siehe unser Unver mögen, das spanisch’ Schiff aufzubringen, während es 800,000 Goldstücke an Bord hatte; für unser’ Mühen gab es nur eine Ladung Blumen, ein Muli für den Präsidenten von Panama, ein Holzbildnis der Jungfrau und 8 Tonnen Quince-Marmelade. Nun, so sagte er, unsere Männer habn ein groß’ Quantum Mehl, um damit Brot zu machen, und Autstrich dafr, abr das Geld hätten wir doch erobern solln. Die Männer haben 277
bestimmt Angst vor dem, was es uns bringen mag, und werden froh sein, es nicht mehr an Bord zu haben. Wir fuhren also im Beiboot mit der Truhe an Land. Capt. Eaton und ich trugen die Truhe inland von dr Küste und von dort dn Hang hinauf nach SW zur Spitze der Klippe, die auf Bucht hinabschaut. An der Spitze der Landzunge, die unser’ Bucht nach Westen begrenzet, vergruben wir die Truhe, nicht ohne Plage, war sie doch mühselig zu tragen und der felsige Boden schwer aufzuhacken. Als wir zum Schiff zurückkehrten „Woher kommt das?“ fragte ich. „Die Originale habe ich bei einer Auktion in London erstanden“, sagte Tudor. „Natürlich liegen sie jetzt zu Hause in einem Safe.“ „Na, und was bedeutet das alles?“ „Himmel, Mann, sehen Sie das nicht?“ rief Tudor aufgebracht. „Das sticht doch so hervor wie die Nase auf Ihrem Gesicht! Die ser Henderson muß Offizier auf Captain Eatons Nicholas gewe sen sein – vielleicht Bootsmaat oder Kanonier – , die hier im Juni 1684 ankerte.“ „Woher wissen Sie das Jahr?“ „Weil er Dampier und Cowley erwähnt, die damals mit der Batchelor’s Delight auch hier waren. Der Pirat Ambrose Cowley gab diesen Inseln ihre ersten Einzelnamen. Allerdings tauften die Spanier später alles um, und die Ekuadorianer verteilten eine dritte Runde Namen. Das ist einigermaßen verwirrend. Cowley nannte seine Insel die Herzog-von-York-lnsel. Dann starb Charles II., und der Herzog von York wurde James II., also wurde die Insel die James-Insel. Die Spanier nannten sie 278
Santiago, dann entschieden sich die Ekuadorianer für San Salvador.“ „.Santiago’ müßte doch allen recht sein, weil das ,St. James’ bedeutet“, sagte ich, „wenn ich auch nicht annehme, daß James II. zum Heiligen getaugt hat.“ „Im englischen Sprachkreis heißt die Insel noch immer ,James’“, sagte Tudor. „Und mehr ist von dem Manuskript nicht erhalten?“ „Nein. Ich habe mich natürlich ein wenig umgesehen – im Britischen Museum und so –, um vielleicht noch den Rest zu finden, konnte aber nichts aufspüren. Vermutlich hat damit jemand ein Feuer angezündet. Habe auch keine anderen Hinweise auf Henderson vorzuweisen. Aber dieser Teil ist ohnehin der wichtigste, also was soll’s?“ „Das ist alles schön und gut, aber einmal angenommen, das Dokument bezieht sich auf die heutige James- oder SantiagoInsel, meinen Sie, Sie finden die Truhe nach der ungenauen Beschreibung? Ich hielt James für eine große Insel.“ „Das stimmt schon, aber die Positionsangaben sind so klar wie in einem Michelin-Straßenführer. Die Bucht ist mit der identisch, die wir Piratenbucht nennen. Wir brauchen dort nur zu ankern und Hendersons Anweisungen zu folgen. Mit einem Metall detektor müßte der Rest eine Kleinigkeit sein.“ Ich überlegte. „Noch etwas, Ronnie. Das Manuskript sagt nichts darüber aus, was sich in der Truhe befand. Woher wollen Sie wissen, daß sich eine Nachforschung lohnt?“ „Es kann sich nicht um Geld gehandelt haben, das wäre bei der Verteilung der Beute an die Männer gegangen. Es war etwas Wertvolles, das geht aus Hendersons Bemerkungen hervor. Offenbar ein Gegenstand, der sich nicht teilen ließ. Vielleicht ein Gegenstand von religiöser oder übernatürlicher Bedeutung, sonst 279
hätte die Besatzung keine Angst davor gehabt. Ich würde auf irgendein tolles religiöses Prunkstück tippen – eine juwelen besetzte Krone für eine Statue der Jungfrau, vielleicht auch ein goldener Altarschmuck, den die Piraten aus einer katholischen Kirche an der Küste stahlen. Aber was soll das Mutmaßen – wir werden es sehen, wenn wir die Truhe ausgegraben haben. Es lohnt den Einsatz.“ Esau Drexel warf einen Blick über die Schulter und sagte mit leiser Stimme: „Wir brauchen Ihre Hilfe, Willy. Die Besatzung soll nichts erfahren, aus offensichtlichen Gründen, aber wir brauchen kräftige Helfer. Sie erinnern sich – auch Henderson fand die Truhe ziemlich schwer. Ich bin nun zu alt und dick, um ein paar hundert Pfund durch unwegsames Gelände zu schleppen, und Ronnie ist zu alt und zu klein. Außerdem muß gegraben werden. Sie sind aber ein athletischer Typ, und Ihr Sohn hat ziemlich gut entwickelte Muskeln. Ronnie und ich sind übereingekommen, den Fund zu halbieren. Wenn Sie mitmachen, gebe ich Ihnen die Hälfte meiner Hälfte, das ist ein Viertel des Ganzen.“ „Ein faires Angebot“, sagte ich. Drexel hatte seine Fehler, doch Geiz gehörte nicht dazu – trotz seines beträchtlichen Reichtums. Damals war der Galapagos Parque Nacional erst wenige Jahre alt und noch nicht so strikt organisiert, wie es wenige Jahre später der Fall war. Heute wären wohl die Inselhüter sofort zur Stelle, wenn man auch nur den Versuch machen würde, nach einem Schatz zu suchen. Die nächste Woche verbrachten wir auf einer Kreuzfahrt zwi schen den südlichen Inseln. Wir sahen Fregattenvögel und schwarzfüßige Tölpel auf North Seymour. Am Strand von 280
Loberia wurden wir von einem mächtigen Seelöwen verfolgt, der der Ansicht war, wir hätten es auf seinen Harem abgesehen. Auf Hood beobachteten wir zwei Albatrosse bei ihrem Hochzeitstanz; sie wackelten im Kreis umeinander und stießen klappernd die Schnäbel zusammen. Wir bewunderten Horden von Meerechsen, die an den schwarzen Felsen klebten und uns anniesten, wenn wir in ihre Nähe kamen. Wir bestaunten in der schlammigen Lagune von Floreana die Flamingos. Auf Plaza hatte Priscille, die sich in der Familie am meisten für Tiere interessierte, das große Vergnügen, einem großen Land-Leguan ein wenig Grün zu füttern. So etwas wäre heute verboten. Auf Santa Cruz (oder Indefatigable) besuchten wir die Forschungsstation Charles Darwin. Man berichtete uns, daß man Schildkröten zu züchten beginne, die dann auf Inseln ausgesetzt werden sollten, wo sie ausgelöscht worden waren. Wir ankerten in der Piratenbucht der James-Insel, hinter der kleinen Insel mit der Felsspitze, von der Henderson geschrieben hatte. Die vier Schatzsucher gingen im Beiboot an Land und lie ßen die junge Priscille entrüstet zurück, weil sie nicht mitdurfte. Denise sah die Sache eher philosophisch. „Viel Spaß, mein Alter“, sagte sie. „Mir genügt es, wenn ich mich auf so einer Fahrt einmal in einen Kaktus setze.“ Wir gaben das Boot in die Obhut von Flavio Ortega, dem wir sagten, wir suchten nach einer Messing-Markierung, die Admiral de Torres 1793 hier zurück gelassen habe. „Sehen Sie sich vor, Gentlemen“, sagte er. „Es gibt hier angeb lich eine … wie sagt man – una maldiciôn …?“ „Einen Fluch?“ „Ja, richtig – ein Fluch. Es wird berichtet, auf diesem Ort liege ein Fluch von all den Besuchen der bösen Piraten, die uns arme spanische Völker ausraubten. Natürlich ist das nur ein Aberglau 281
be; trotzdem gehen Sie lieber vorsichtig. Der Boden ist sehr uneben.“ Wir marschierten binnenwärts. Stephen schleppte sich mit den Schaufeln ab, ich mit der Spitzhacke und der gewellten Brech stange. Tudor hatte den Metalldetektor übernommen, Drexel das Mittagessen. Als wir die Felswand in Angriff nahmen, die den Strand begrenzte, nahm das Gewicht meiner Last erheblich zu. Oberhalb der ersten Anhöhe war der Boden nicht mehr ganz so steil, bestand zum Teil aber aus lockerem, dunkelgrauem Sand, der Lavareste enthielt. Unsere Füße sanken tief hinein und drohten mit dem Sand unter uns fortzugleiten. Hier und dort waren niedrige Büsche zu sehen. Weiter oben waren die Hänge mit freistehenden palo-santo-Bäumen bewachsen, die zu dieser Zeit des Jahres keine Blätter hatten. Auf diesen Vulkaninseln wirkten selbst die bewachsenen Gegenden irgendwie unirdisch, wie Mondlandschaften. Ein schmaler Einschnitt verlief in Richtung Bucht quer durch die Landschaft. Wir stiegen auf der Ostseite dieser Schlucht empor, doch unser Ziel lag drüben auf der Westseite. Die Schlucht war zum Überspringen zu breit und zu steil, als daß man hinein- und wieder herausklettern konnte. Wir mußten also etwa eine halbe Meile weiter binnenwärts wandern, bis wir eine Stelle fanden, die so schmal war, daß wir springen konnten. Drexel und Tudor waren bereits sehr kurzatmig und ziemlich rot im Gesicht. Der Tag war ungewöhnlich heiß und hell. Obwohl die Galapagos-Inseln (oder Islas Encantadas oder Achipielago do Colôn) unmittelbar am Äquator liegen, ist es dort normalerweise recht kühl – wegen des kalten Humboldt-Stroms und der ständigen Bewölkung, die sich vom Windstillen-Gürtel herleitet. Ich schmierte mir etwas Sonnenöl auf die Nase. 282
Meine Gedanken beschäftigten sich außerdem immer wieder mit Ortegas Fluch. Die meisten meiner Freunde halten mich für ein Leitbild nüchternen Denkens und gesunden Urteils vermögens, für einen Mann, der sich durch Mummenschanz und Aberglauben nicht wankend machen läßt. In meiner Branche ist das ein nützlicher Ruf. Trotzdem sind mir schon ganz seltsame Dinge zugestoßen … Auf der Westseite der Schlucht arbeiteten wir uns wieder ein Stück den Hang hinab und dann quer weiter auf die Spitze der westlichen Landzunge zu, dabei blieben wir mehr oder weniger auf einer Höhe. Als wir uns der Spitze näherten, blieben wir ste hen, damit Tudor den Metalldetektor vorbereiten konnte. Als er den Hebel umlegte, stieß das Instrument ein schwaches Summen aus. Tudor begann die Gegend abzusuchen. Dabei bewegte er sich langsam und schrittweise voran, die Spitze des Detektors hin und her schwenkend, als bediene er einen Staubsauger. Drexel, Stephen und ich saßen am Hang und verzehrten unser Mittagessen. Ein Zettel, den man uns in Baltra mitgegeben hatte, ermahnte uns, keinen Abfall zurückzulassen. Heute wird diese Vorschrift noch viel strenger gehandhabt. Der Detektor summte endlos weiter, leiser und lauter klingend, je nachdem, in welcher Entfernung sich Tudor umtat. Es machte mich nervös, ihn so dicht an der Spitze der Landzunge herumgehen zu sehen. Die Fläche, die er bearbeitete, war ziemlich steil, so daß er jeden Schritt gut ausbalancieren mußte. Wenn er stürzte oder rollte oder abruschte, mochte er sich nicht mehr bremsen können. Unser Hang neigte sich bis zur Felsspitze, die zwölf Meter steil zum grünen Pazifik abfiel. Als Tudor noch sechs oder sieben Meter vom Abgrund entfernt war, wurde aus dem Summen ein Jaulton. Tudor verhielt lange Zeit und schwang den Detektor hin und her. „Das wär’s“, sagte er schließlich. „Jetzt esse ich meine Ration, während ihr 283
anderen die Schaufeln schwingt.“ Da Stephen und ich für die Schwerarbeiten mitgenommen worden waren, machten wir uns jetzt ans Werk. Außer dem leichten Seufzen des Windes, dem Kratzen der Schaufeln und dem Gebell eines fernen Seelöwen war nichts zu hören. Einmal hielt Stephen inne, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, und rief: „He, Paps, schau doch mal!“ Er deutete auf die Dreiecksflosse eines Hais, der unterhalb der Klippe gemächlich durchs Wasser zog. Als Tudor mit seiner Mahlzeit fertig war, trat er vor, um seinen Detektor über die Grube zu halten, die wir gegraben hatten. Das Jaulen ertönte laut und deutlich. Wir kamen in festeres Erdreich und mußten Steine von zunehmender Größe mit der Spitzhacke lockern. Plötzlich traf die Metallspitze auf etwas, das sich nicht mehr wie Gestein anhörte. „He!“ rief Drexel. Nach kurzer Zeit hatten wir den Deckel einer Truhe von der Größe eines altmodischen Schrankkoffers freigelegt, vom Alter sehr mitgenommen. Drexel, Tudor und Stephen redeten aufge regt durcheinander. Ich hielt den Mund, denn eine düstere Vorahnung machte mir zu schaffen. Irgendwie festigte sich in mir die Überzeugung, daß einer von uns sterben mußte, wenn die Truhe geöffnet wurde. Tudor bedeutete mir nichts; ich mißtraue solchen Abenteuer typen. Es würde mir leid tun, Drexel zu verlieren, der nicht nur mein Chef, sondern auch mein Freund war. Dabei ging mir aber der Gedanke durch den Kopf, daß ich sein Nachfolger als Präsi dent der Trust-Bank werden könnte. Ich schämte mich dieser Gedanken, kam aber nicht daran vorbei. Was mich betraf, so war ich bereit, das Risiko einzugehen, dagegen war die Vorstellung, daß Stephen etwas geschehen könnte, unerträglich. Ich wollte 284
losbrüllen: Halt, laßt das Ding in Ruhe! Oder laß mich wenigstens Stevie zum Schiff zurückschicken, ehe ihr es öffnet. Doch mit welchem Argument sollte ich so etwas verlangen? Es war doch nur ein irrationales Gefühl – eine „Vorahnung“, wie sie einen von Zeit zu Zeit beschleicht, die aber nur in den seltenen Fällen erinnerlich bleibt, wenn die Wahrheit den Gedanken bestätigt. Ich hatte keine Beweise. „Müde, Willy?“ fragte Drexel. „Hier, geben Sie uns die Schaufel.“ Er griff nach dem Werkzeug und begann nun seinerseits zu graben, wobei er wie ein Walroß ächzte und prustete. Nach kurzer Zeit hatten er und Stephen die Truhe bis unter den Unterrand des Deckels freigelegt. Die Truhe war mit einem Eisenbügel verschlossen, der aber nur noch aus Rost bestand. Das Holz der Truhe war dermaßen verfault, daß das Schloß beim ersten Ansetzen des Brecheisens aus dem Holz fiel. Stephen begann zu singen: „Fünfzehn Mann auf der Truhe eines Toten, Jo-ho-ho, und eine Flasche Rum! Trinkt, und der Teufel schickt seinen Boten, Jo-ho-ho, und eine …“ Er unterbrach seinen Gesang, als Drexel und Tudor den Deckel anhoben, wobei die uralten Scharniere protestierend kreischten. „Grundgütiger Himmel!“ rief Ronald Tudor. „Was ist denn das?“ In der Truhe lag mit dem Gesicht nach oben ein Fischmensch, wie ich ihn schon einmal als Statue gesehen hatte – auf dem Mini-Golf-Platz von Ocean Bay. Das Wesen war mit Ledergurten in hockender Körperhaltung gefesselt worden, die Knie vor die Brust gehoben. Auf den Augen lagen zwei große Goldmünzen. 285
„Irgendein Meeresungeheuer“, sagte Drexel schweratmend. „O Mann, wenn ich das nur als Ausstellungsstück für das Mu seum …“ Tudor streckte mit funkelnden Augen die dürren Hände aus und nahm die beiden Münzen an sich. Mit erstauntem Aufschrei zuckte er zurück. „Das verdammte Ding lebt ja!“ Die vorspringenden Augen des Fischmenschen öffneten sich. Einen Atemhauch lang lag es in seinem Sarg und betrachtete uns mit stierem Blick. Dann traten die Gliedmaßen ruckartig in Bewe gung. Die Ledergurte, vor Alter brüchig, rissen wie Grashalme. Die dreifingrigen Schwimmhände des Wesens legten sich um den Rand der Truhe. Es zerrte sich in eine sitzende Stellung hoch und stand auf. Ich machte Anstalten, aus der Grube zu steigen. „Jesus!“ rief Tudor. Der Fischmensch kletterte auf der Seite hinaus, die dem Meer zugewendet war – zufällig auch die Seite, auf der sich Tudor be fand. Tudor glaubte wohl angegriffen zu werden, denn er schob sich die Münzen in die Hosentasche, ergriff eine Schaufel und hieb damit nach dem Fischmenschen. Die Schaufel prallte gegen die schuppige Schulter des Wesens. Der Unhold öffnete den Mund und legte dabei eine Reihe langer, scharfer Fischzähne frei. Er zischte einmal – ein Laut, wie ihn eine Galapagos-Schildkröte macht, wenn sie sich in ihren Panzer zurückzieht. „Nein … ich meine …“, rief Drexel. Als Tudor zu einem zweiten Schlag mit der Schaufel ausholte, bewegte sich der Fischmensch mit steifen Bewegungen auf ihn zu, Zähne gebleckt, Arme und Schwimmhände ausgebreitet. Tudor stolperte rückwärts, auf der weichen Schräge ausrutschend, das Gleichgewicht verlierend. Die beiden näherten sich dem 286
Klippenrand, wobei Tudor nach links und rechts fintete und den Fischmenschen mit der Schaufel bedrohte. „Passen Sie auf!“ brüllten Drexel und ich gemeinsam. Tudor trat von der Klippe ins Leere und verschwand. Das Ungeheuer tauchte ihm nach. In schneller Folge hörten wir es zweimal klatschen. Als wir den Klippenrand erreichten, lag Tudors Körper am Felsstrand unter uns. Wir sahen auch den Fischmenschen, der dicht unter der Meeresoberfläche dahinschoß wie ein Seelöwe und offensichtlich größere Tiefen anstrebte. Nach wenigen Sekunden war das Geschöpf verschwunden. „Wir müssen sehen, ob Ronnie noch lebt“, sagte Drexel. „Stevie“, sagte ich, „lauf doch zu der kleinen Klippe auf dieser Seite der Schlucht. Ruf zu Flavio hinunter, daß er das Boot her überbringen soll. Sag ihm nichts von dem Ungeheuer…“ „Ach Paps, das kleine Stück kann ich doch hinabsteigen“, sagte Stephen und war verschwunden, ehe ich etwas einwenden konnte. Er glitt wie eine Meerechse die Klippe hinab und sprang die letzten drei Meter zum kleinen Kiesstrand hinunter. Eine Minute später saß er in unserem Boot, das sich nach kurzer Zeit brummend der Stelle näherte, an der Tudor abgestürzt war. Stephen und Ortega holten Tudor ins Boot, doch er lebte bereits nicht mehr. Bei seinem Sturz war er auf eine Felsspitze gefallen. „Vielleicht gibt es wirklich einen bösen Zauber an diesem Ort“, meinte Ortega. „Also“, sagte Drexel später, „wenigstens wissen wir jetzt, was Kapitän Eaton meinte, als er von dem .verfluchten Ding’ sprach.“ Wir segelten nach Baltra zurück und ließen Ronald Tudor dort begraben. 287
„Er war eine Art Trickbetrüger“, sagte Drexel, „aber ein interessanter Typ. Von dem Ungeheuer wollen wir gegenüber den Behörden nichts erwähnen. Wir können kein Muster der Gattung vorzeigen, und die Ekuadorianer könnten annehmen, wir hätten den armen Ronnie ermordet und versuchten das jetzt mit einer verrückten Geschichte zu vertuschen.“ So gaben wir lediglich zu Protokoll, daß der Mann durch einen Unfall ums Leben gekommen war. Ich hatte ihn zwar nicht besonders gemocht, doch dämpfte sein Tod unsere Urlaubsfreude. Anstatt noch die Tower-, Isabela- und Femandina-Inseln zu besuchen, brachen wir die Tour ab. Drexel nahm Kurs auf den Panamakanal, während die Newburys nach Hause flogen. Nach unserer Rückkehr hatten wir das Gefühl, als habe es Ronald Tudor und den Fischmenschen nie gegeben. Doch obwohl wir seither mehrmals wieder in Ocean Bay gewesen sind, hat mich bisher niemand zum Mini-Golf überreden können. Von der sich drehenden Statue des Fischmenschen angestarrt zu werden, während ich mich auf den Ball konzentrierte, wäre mir doch etwas zuviel gewesen.
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Die Figur Die nahezu schwarze Statuette aus Guatemala war zwölf Zenti meter groß und an der breitesten Stelle fünf Zentimeter dick. Außerdem schien sie unseren Fernsehempfang zu stören. Die Figur stellte eine gedrungene, geschlechtslose kleine Person dar, mit großem breitem Kopf, an dem kleine Knöpfe die Ohren bildeten. Außerdem besaß das Ding eine Stubsnase, Schlitzaugen und dicke Lippen, die einen Ausdruck kosmischen Widerwillens ergaben. Das Ganze erinnerte mich an die Nippesfiguren, die in der Generation meiner Eltern so manches Heim verschönt hatten, auch wenn der Eindruck weitaus grimmiger war. Die Statuette bestand aus einem Brocken Ziegelton oder Sandstein und war mit einem Taschenmesser und etlichen Feilen geformt, dann schwarz übermalt worden. Nachdem ich mit einem Werkzeug am Fundament herumgekratzt hatte, tippte ich auf Sandstein. Dieser Gegenstand kam in meinen Besitz, als ich zum erstenmal in unserer Ehe von Denise getrennt Urlaub machte. Das Naturkundemuseum, bei dem unsere Familie eine fördernde Mitgliedschaft unterhält, bot im März und April archäologische Safaris nach Mittelamerika an. Die Newburys wollten sich MayaRuinen ansehen, doch mit zwei Kindern im College und einem dritten in der Oberschule hatten wir das Gefühl, nicht beide gleichzeitig das Land verlassen zu können. Unsere Kinder sind zwar recht ordentlich geraten, aber damals tobte gerade die Jugendrevolution der sechziger Jahre. Wir hatten zu viele Horror geschichten von bürgerlichen Eltern gehört, die ihre Häuser der Obhut Heranwachsender überließen und dann bei der Heimkehr ein Chaos vorfanden, das von den rücksichtslosen Freunden ihrer Kinder angerichtet worden war. 289
Ich buchte die erste Expedition, Denise die zweite. Ich will hier keine Reisebeschreibung geben. Lassen Sie mich aber fest halten, daß ich das Erlebnis ohne Durchfallerkrankung überstand, daß ich in Tikal von Moskitos aufgefressen wurde, während ich im Dschungel saß und Tierbeobachtungen zu machen versuchte. Unter den Affen hatte das Gelbfieber grassiert, so daß ich keine zu Gesicht bekam. Ich roch allerdings eine große Katze – Puma oder Jaguar – in einem der sogenannten Tempel, wo sich das Weibchen sein Nest eingerichtet hatte. Doch es war vor unserem Eintreffen ebenfalls verschwunden. Unser Bus hielt in Solola am Atitlan-See, wo gerade Markt abgehalten wurde. Wir betrachteten die bunte Menge der guatemaltekischen Indianer. Sie waren noch in die auffälligen Kostüme ihrer Dörfer gehüllt. Einige der kleinen braunen Männer trugen Hosen, andere Kilts. Und jeder, wie arm er auch sonst aussehen mochte, hatte einen sauberen neuen StrohSombrero auf dem Kopf. Irgend jemand mußte hier einmal eine ganze Ladung Husarenjacken aus dem neunzehnten Jahrhundert verkauft haben. Viele trugen Westen, die offensichtlich diesem Vorbild nachempfunden waren – aus grobem braunem Tuch, mit schwarzen Fröschen bestickt – wie jene, die beim Angriff der Leichten Brigade getragen worden waren. Als wir den Bus verließen, schob sich ein kleiner Junge heran. „Kauft Statuen! Alte heidnische Indianergötter! Guter Preis!“ Der Junge hatte seine kleinen häßlichen Figuren in einer Reihe auf dem Bürgersteig aufgebaut. In Chichicastenango werden diese Dinger haufenweise verkauft. Offenbar hatte dieser Junge erfahren, daß wir zuerst in Solola halten würden, und wollte seiner Konkurrenz zuvorkommen. Ich mußte in seinen Augen wie ein vielversprechender Kunde ausgesehen haben, denn er heftete sich an meine Fersen und ließ seine Verkaufssprüche vom Stapel. So sehr ich seinen 290
Unternehmungsgeist auch bewunderte, mußte ich doch daran denken, daß sich Denise das Haus nicht gern mit seltsam aussehenden Souvenirs vollstopft. So schickte ich den Jungen fort mit einem: „Alo ahora, gracias; mas tarde, acasa“ und anderen doppelsinnigen Äußerungen. Vielleicht war er ja fort, wenn wir zum Bus zurückkehrten. Er und die meisten seiner Götzenbilder waren aber noch da. Als ich immer noch nichts kaufen wollte, protestierte er: „Aber Sie versprochen, Mister! Alle Norteamericanos halten Verspre chen!“ „Na schön“, sagte ich und freute mich insgeheim über den Vorwand, doch ein Souvenir kaufen zu müssen. Ich bezahlte einen Dollar für die Figur. „Wie heißt er?“ „Kein Name. Nur alter Gott.“ „Na, und wie heißt du?“ „Armande“ „Schön, dann soll dieser häßliche kleine Bursche Armando heißen.“ Als ich nach Hause zurückkehrte, stellte ich Armando auf den Schreibtisch in meinem privaten Arbeitszimmer. Kurz darauf begannen sich die Kinder über den Fernsehempfang zu beschweren. Das Bild schneite, begann zu wandern und war überhaupt nicht mehr in Ordnung. Der Fernsehmechaniker konnte den Fehler nicht finden. In der Werkstatt funktionierte der Apparat einwandfrei, doch zu Hause klappte es einfach nicht mehr. Der Techniker vermutete, daß ein Nachbar ein CB-Funkgerät in Betrieb hatte.
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„Es ist das scheußliche kleine Götzenbild, das Paps aus Guatemala mitgebracht hat“, sagte Priscille. „Vielleicht hat es einen radioaktiven Kern“, sagte Stephen. „Nein“, meinte Heloise“, dann stürben wir ja alle an der Strahlenkrankheit.“ „Das meine ich nicht“, sagte Priscille, die einen besonderen Instinkt für diese Dinge zu haben scheint. „Der Gott ist sauer, daß er sein tägliches Opfer nicht bekommt.“ „Na, wem soll ich mit dem Taschenmesser zu Leibe rücken?“ fragte ich. „Na, da wäre zunächst meine Mathematiklehrerin – aber das ist sicher kein guter Vorschlag. Vielleicht solltest du lieber ein Kaninchen oder Huhn oder so kaufen. Wenn du einen schwachen Magen hast, brauchst du es nur vor den Gott zu halten, und ich schneide ihm die Kehle durch.“ „Doch nicht auf meinen schönen Orientteppichen!“ rief Denise. „Du blutrünstiges kleines Monstrum!“ sagte ich. „Vielleicht gibt sich Armando mit einer Blumengabe zufrieden.“ „Blumen gibt es erst ab nächsten Monat, meine lieben Verrückten“, sagte Denise. „Du könntest welche im Laden kaufen“, meinte Heloise. „Und wer gibt das Geld dazu?“ fragte ich. „Hör mal, warum nimmt du nicht eine von den Wachsblumen, die sich deine Mutter letztes Jahr aufschwatzen ließ. Einverstanden, Liebling?“ Denise zuckte die Achseln. „Mir ist das gleich. Amusez-vous, donc.“ Und so wurden Armando einige Wachsblumen zu Füßen gelegt. Sofort verschwand der Schnee aus unserem Fernsehbild. 292
Kurze Zeit später trat Denise ihre Expedition an. Einige Tage später meldete sich Carl an und teilte mit, Ed und Mitch wären in der Stadt, und ob wir nicht mal ein kleines Treffen veranstalten könnten wie in den guten alten Tagen. In den dreißiger Jahren, als wir noch Junggesellen waren, hatten diese drei und ich oft zusammengesteckt. Einmal die Woche trafen wir uns zu einer Runde Poker – einen Penny Einsatz, Maximum ein Vierteldollar, dazu ein Kasten Bier. Dabei fühlten wir uns alle ganz groß. Dann kam der Krieg. Später zogen Ed und Mitch fort. Außerdem hatte ich entdeckt, daß das Spiel an sich mir gar nicht so viel Freude macht. Es war mehr das Gerede und die Gesellig keit, die dazugehörten. Und diese Genüsse konnte man haben, ohne durch Karten abgelenkt zu werden. Carl jedoch war auf eine Wiedererweckung der alten Tage ver sessen. Da er zu Hause die Maler hatte, lud ich die anderen zu mir ein. Am Sonnabend, an dem die Party steigen sollte, zeigte sich unser Fernseher wieder bockig. Da ich damit gerechnet hatte, daß mir die Maschine meine Nachkommen vom Hals halten würde, während ich die alten Kumpel zu Besuch hatte, begann ich mir Sorgen zu machen. „Armando ist wieder aufgebracht“, sagte Priscille, „weil du die alten Wachsblumen eine Woche vor ihm hast liegen lassen, ohne sie auszutauschen.“ „Ein undankbarer kleiner Geist“, sagte ich. „Die Wachsblumen halten sich endlos, was man von echten Blumen nicht sagen kann.“ „Na, da hast du den Beweis. Nimm sie lieber weg und gib ihm andere.“ 293
„Ach, Unsinn!“ sagte ich. „Das Ganze war doch nur Zufall!“ Doch als die Kinder mal nicht im Büro waren, nahm ich die ersten beiden Wachsblumen fort und ersetzte sie durch eine andere. Das Fernsehbild wurde sofort besser. Carl, Ed und Mitch erschienen mit einer fünfundzwanzig jährigen Zuladung von Glatze und Bauch. Da ich meine Figur dank Diät und Leibesübungen am besten gewahrt hatte, erkoren sie mein graues Haar zum Ziel ihres Spotts. „Mein Haar ist seit fünfzehn Jahren grau“, sagte ich. „Damals stellte ich fest, daß ich einen problematischen Kredit genehmigt hatte. Aber wenigstens habe ich es noch. Aufdecken zum Ge ben.“ „König gibt“, sagte Ed. Wir brauchten uns nicht über das Spiel zu unterhalten, denn wir hatten stets einfachen Draw-Poker gespielt – nicht einmal 5-Karten-Stud, geschweige denn In-den-Ozean-Spucken oder andere weibliche Abweichungen. Wir waren Puristen, die nichts Verrückteres zuließen als Jackpots. Der Draw-Poker ist eine der letzten Bastionen heterosexueller, nur aus Männern zusammen gesetzter Gruppen. In der ersten Runde schlugen meine Könige Mitchs Buben. Beim zweitenmal siegten meine Asse und Dreien gegen Eds Kö niginnen und Fünfen. In der dritten Runde nahm Carl zwei Karten und schaffte drei Zehner. Da ich eine ungewöhnliche Glückssträhne zu haben schien, ging ich auf eine kleine Sequenz, was ich normalerweise nie getan hätte; aber ich schaffte es. Beim viertenmal hatte ich Neunen, und Ed Königinnen und Zweien. Er gab das niedrigere Paar mit der überflüssigen Karte ab, was gewöhnlich eine vernünftige Taktik ist. Ich gab nur die nicht passende Karte ab und schaffte ein Füll House. 294
Nach einigen weiteren Runden mußten die anderen neue Chips dazukaufen, obwohl wir nur winzige Einsätze tätigten. Sie sahen sich unbehaglich an. „Wo hast du die letzten siebenundzwanzig Jahre verbracht, Willy“, fragte Ed, „in Las Vegas?“ „Nein“, sagte Carl. „Ein Bankier ist es gewöhnt, mit Zahlen im Kopf zu jonglieren. Er hat sich alle Möglichkeiten eingeprägt.“ „Nein“, meinte Mitch, „der wahre Grund liegt in den Statistik-Kursen des M.I.T. Er war schon immer ein ziemlich scharfer Hecht am Spieltisch und hat seine Fähigkeiten seither nur verfeinert.“ „Warum sitzt du dann hinter einem Schreibtisch in einer Bank, Willy?“ fragte Carl. „Wäre es nicht lustiger und lukrativer, sich das Geld mit Spielen zu verdienen? Du könntest soviel Schnaps und Weiber haben wie du wolltest …“ „Ich?“ fragte ich. „Hört mal, Jungs, wißt ihr nicht, daß ein Bankier anstelle von Blut Eiswasser in den Adern hat? Ich neige nicht besonders zum Schnaps. Was die Frauen angeht, so muß ich sagen, daß ich mit einer gerade genug zu schaffen habe …“ „Er hatte genug Feuer im Blut, um drei Kinder in die Welt zu setzen“, stellte Mitch fest. „Vorausgesetzt, er mußte dazu keine Hilfe von außen in An spruch nehmen“, sagte Ed. Wir spielten weiter – mit dem alten Ergebnis. Wer immer auch gab, mindestens einer meiner Gäste hatte eine gute Hand, die ich aber stets übertraf. Da ich nicht in den Verdacht kommen wollte, das Spiel zu manipulieren, begann ich nach einiger Zeit absichtlich zu verlieren, ich zog keine Karten, wenn ich eine neutrale Hand hatte, oder stieg aus, wenn ich gute Karten hatte, und gab auf, wenn ich normalerweise erhöht hätte oder die Karten hätte sehen wollen. 295
Wir hatten unsere Jacken ausgezogen. Als ich einmal in die Küche ging, um Bier zu holen, krempelte ich meine Hemdsärmel hoch. So konnten die anderen wenigstens sehen, daß ich nichts im Ärmel hatte. Gegen elf Uhr ging das Spiel in stiller Übereinkunft zu Ende. Vermutlich erkannten die anderen – was mir gleich klar gewesen war – , daß es sinnlos war, die vergangene Jugend wieder ein fangen zu wollen. Selbst wenn man alles genauso macht wie damals, ist das begleitende Gefühl doch nie dasselbe. Statt dessen tranken wir mehr Bier und erzählten aus unserem Leben. Mitch war nach Kalifornien gezogen und pries die Vor- und Nachteile seiner neuen Heimat. „Ich muß nächsten Monat dort hinunter“, sagte ich. „Einer unserer Vermögenskunden ist gerade gestorben; er wohnte in San Romano.“ „Ich wohne nur dreißig Meilen von dort entfernt“, sagte Mitch. „Du mußt uns besuchen!“ „Ist das nicht die Gegend, wo die Studenten in letzter Zeit soviel Ärger machen?“ fragte Carl. „Ein Ort von mehreren“, sagte Mitch. „Nicht schlimmer, als ihr es hier im Osten habt. Columbia, zum Beispiel …“ „Man müßte mit dem MG in die Horde reinhalten!“ knurrte Ed. „Diese verdammten langhaarigen, rauschgiftsüchtigen Faulenzer „Ich erzähle dir davon, wenn ich zurück bin“, sagte ich. „Ich wohne bei meinem Schwager, der ist dort Professor.“ „Verdammte feige Professoren!“ sagte Ed. „Haben nicht den Mut, die jungen Gauner einzulochen, wenn sie sich auf die Hinterbeine stellen, gehören wohl viele selbst zu den roten Revolutionären. Als ich auf die Uni ging, wenn man da dem 296
Dekan eine Liste unannehmbarer Forderungen überreicht hätte, wäre man aus dem Fenster geflogen – ohne daß es vorher jemand geöffnet hätte.“ Die Party war kurz nach Mitternacht zu Ende. Männer mittleren Alters haben für die frühen Morgenstunden nicht mehr so viel übrig. Wir wünschten uns eine gute Nacht und witzelten noch ein wenig herum. Als die beiden zu Carls Wagen gingen, machte dieser noch einmal kehrt. „Willy, sag mir eins“, forderte er leise. „Warum bist du ausgestiegen, als du vier Königinnen auf der Hand hattest? Ich habe mir angesehen, was du weggeworfen hast.“ „Reine Dummheit von mir“, sagte ich. „Wahrscheinlich habe ich Königinnen und Buben gesehen.“ „Red’ doch nicht so! Jeder sieht, daß du so clever bist wie eh und je.“ „Ich werd’s dir ein andermal erklären“, sagte ich. „Es hat damit zu tun, wie mein Fernseher sich in letzter Zeit aufführt. Viel zu kompliziert, um es dir jetzt auseinanderzusetzen.“ „Du meinst Strahlungen aus dem Apparat?“ „Etwas in der Art. Gute Nacht, Carl.“ Als Denise von ihrer Safari zurückkehrte und ich mich auf meine Reise nach Kalifornien vorbereitete, packte ich einem Impuls folgend Armando zwischen meine Socken. In den späten dreißiger Jahren hätte ich solchen Aberglauben weit von mir gewiesen. Es gab keinen festgefügteren Materialisten als mich; ich lehnte den Marxismus als zu mystisch und nicht materialistisch genug ab. Aber bei all den komischen Dingen, die mir widerfahren sind …
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Mein Schwager ist Avery Hopkins, Ph. D., Professor für Mittel-Englisch. Er und meine Schwester hatten ein Kind, einen Jungen im Alter meiner Heloise, Student an der dortigen Uni versität. Ich war noch nicht lange im Haus der Hopkins zu Gast, als ich einen Vorgeschmack von den bestehenden Spannungen bekam. „Wir machen uns solche Sorgen“, sagte Stella. Sie war eine gertenschlanke Blondine, einen Zoll größer als Hopkins, der ein untersetzter, kahlköpfiger Mann von sanfter, einfühlsamer Natur war. Er und Stella schienen gut miteinander auszukommen. „Bei all diesen Demonstrationen und so“, fuhr meine Schwester fort, „weiß man nie, ob die Polizei zu den Waffen greift. Robert könnte dabei ums Leben kommen.“ „Es liegt an der Stadtverwaltung“, sagte Hopkins. „Die Polizei dürfte nicht bewaffnet sein. Die Studenten üben lediglich ihr verfassungsmäßiges Versammlungsrecht aus.“ „Na schön“, sagte ich, „aber ich glaube, in der Verfassung steht etwas von friedlicher Versammlung. Wenn jemand einen Stein wirft, wie es gewöhnlich passiert, ist so etwas nicht mehr friedlich zu nennen.“ „Aber begreifst du denn nicht? Gäbe es im System nicht so viele Ungerechtigkeiten und Unterdrückungen, könnten keine Gefühle der Ablehnung existieren, die die Leute dazu treiben, Geschosse zu werfen …“ „Kennst du ein System des menschlichen Zusammenlebens, in dem keine Ungerechtigkeiten und Unterdrückungen vorkommen? Außerdem ist die Welt voller Leute, die sich noch im Himmel über das Klimpern der Harfen und die Feuchtigkeit der Wolken beschweren würden. Und manche werfen eben gern Steine, nur so aus Spaß. Warum nimmst du den jungen Robert nicht mal an 298
die Kandare? Warum sagt du ihm nicht, daß er nicht mehr an den Demonstrationszügen und Ausschreitungen teilnehmen darf?“ „Ach du je!“ gab Hopkins zurück. „Wir würden gar nicht auf den Gedanken kommen, ihm mit solchen autoritären Vorschriften zu kommen. Wir sind von solchen Methoden nicht überzeugt. Außerdem hat er uns gedroht, er würde ausreißen und ein richtiger Herumtreiber werden und sich mit Betteln oder Stehlen über Wasser halten.“ „Weißt du, Willy“, sagte Stella, „wir haben dich immer für eine Art Faschisten gehalten, so diktatorisch, wie du deine Kinder erzogen hast. Heute weiß ich nicht mehr so recht.“ Ich zuckte die Achseln. „Zumindest scheinen sie arbeitsame Spießbürger zu werden – irgend etwas haben wir wohl richtig gemacht. Aber jetzt muß ich zur First National hinüber und mit Evans sprechen.“ Ich setzte mich in den Wagen, den ich am Flughafen gemietet hatte, und fuhr zur Bank, deren Eingang von zwei großen Dattelpalmen flankiert war. Ich war mit Finanzdirektor Evans und dem Anwalt des Instituts verabredet. Wir drei verbrachten den Nachmittag damit, den Safe-Inhalt der seligen Mary Trumbull Hammerstein durchzugehen, ebenso die Konto unterlagen. Ich mußte mich persönlich darum kümmern, weil der Nachlaß angefochten wurde und es um viel Geld ging. Ein hiesiger Richter hatte die Bank angewiesen, Mrs. Hammersteins Unterlagen ausschließlich an einen leitenden Mitarbeiter unserer Bank zu übergeben, die als Testamentsvollstrecker der Verstorbenen eingesetzt war. Als es fünf Uhr war, brauchten wir den Anwalt nicht mehr; Evans und ich mußten aber noch etliches erledigen. Evans schlug vor, daß wir uns um acht Uhr wieder trafen, um die Arbeit abzuschließen. Ich könnte dann am nächsten Tag nach Hause fliegen. 299
Ich kehrte zu den Hopkins zurück und begrüßte dort Robert Hopkins, den ich seit etlichen Jahren nicht mehr gesehen hatte. Er war ein kleiner, bleicher, dürrer, flachbrüstiger Jüngling mit genug Haar, um in einem Zirkus als Hundegesicht aufzutreten. Er trug Kleidung, die so aussah, als hätte er damit mehrere Jahre auf einer unbewohnten Insel verbracht. Er reichte mir eine schlaffe Hand und sagte: „Ach ja, du bist mein Onkel Willy. Stimmt das, daß du … so ‘ne Art Bankier bist?“ Sein Tonfall machte aus mir so etwa wie einen Massen mörder. „Ja“, antwortete ich. „Damit verdiene ich mir meinen Unterhalt.“ Er sah mich an, als wäre ich eben unter einem flachen Stein hervorgekrochen, und wandte sich an seine Eltern. „Sagt mal, wann gibt’s was zu essen? Ich muß wieder auf den Campus. Gibt ’ne große Zusammenkunft heute.“ „Bitte, Bob“, sagte Stella, „dein Vater hat noch nicht einmal Zeit gehabt, die Cocktails zu servieren.“ Robert schnaubte verächtlich durch die Nase. „Na schön, wenn ihr auf solchem Mittelschicht-Scheiß steht. Aber ich hab’ zu tun. Muß spätestens um halb sieben essen.“ „Wir werden uns beeilen, Robert“, sagte Avery Hopkins und schenkte nervös ein. „Hier ist dein Drink, Willy. Auf daß die Kümmernisse verfliegen!“ „Auf die Kümmernisse!“ antwortete ich. Robert verhielt sich schweigsam, während wir die Drinks zu uns nahmen. Als Stella das Essen aufgetragen hatte, fragte ich ihn: „Was ist das heute für eine Versammlung?“ „Na, das Übliche. Wir protestieren gegen, na, diesen obszönen, unmoralischen Krieg und die Beschmutzung der Ökologie …“
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„Entschuldige, Robert“, sagte Avery Hopkins, „aber ich glaube, du meinst die Verschmutzung der Umwelt. ,Ökologie’ ist die Wissenschaft von der Umwelt, nicht die Umwelt selbst.“ „Ach, wen schert das schon, Paps? Jedenfalls protestieren wir gegen die Verschmutzung und den Rassismus und Faschismus und Sexismus und Kapitalismus und Imperialismus und Klassenunterschiede und Intelligenztests und …“ Als Robert Atem holte, warf ich ein: „Das ist ein ziemlich breit angelegtes Spektrum von Anliegen. Meinst du nicht, daß ihr weiterkämt, wenn ihr euch mal auf eine Sache konzentrieren würdet?“ „Ach, du begreifst das ja doch nicht, Onkel Willy. Du stehst auf der anderen Seite der Barrikade.“ „Einige Freunde in Bankkreisen halten mich für einen rosa angehauchten Liberalen“, sagte ich gelassen. „Na, das ist ja schlimmer als ein echter Konservativer! Ihr versucht immer den Klassenkonflikt zu dämpfen, dabei brauchen wir den Kampf zwischen den Klassen, wenn wir das System wirklich niederreißen wollen. Wir brauchen ihn, um das revolutionäre Bewußtsein der Massen zu schärfen. Ich meine, na, du magst ja in deinem Privatleben ein ganz anständiger Kerl sein, trotzdem gehörst du der unterdrückenden Klasse an. Außerdem bist du ein alter Knacker jenseits der Vierzig und könntest uns Fortschrittsdenker sowieso nicht verstehen. Da könnte ich genauso Griechisch quatschen.“ „Na“, sagte ich, „ich habe immerhin Marx’ Das Kapital gelesen. Du auch?“ „Marx? Nicht die Bohne! Der zieht nicht mehr. Die Kommunisten sind doch, na, ein ganz normaler Haufen bürokratischer Klotzköpfe. Denen geht es nur darum, das System zu übernehmen und zum eigenen Wohl weiterzuführen. Aber wir 301
müssen das System stürzen, in Stücke schlagen und von vorn beginnen. Wenn du aber Marcuse gelesen hättest …“ „Ja doch, habe ich, eines seiner Bücher.“ „Was meinste dazu?“ „Ich finde, er schreibt den schlimmsten rhetorischen Unsinn seit Mein Kampf. Immer nur, der Mensch will dies und braucht jenes und müßte etwas ganz anderes tun. Er wirft mit vielen Abstraktionen herum, die mit der wirklichen Welt nichts zu tun haben – mit dem, was ein richtiger Mensch oder eine Gruppe von Leuten will …“ Während ich sprach, zappelte Robert immer aufgeregter herum. Jetzt sprang er auf, stieß den halb leer gegessenen Teller fort und rief: „Euch Schweinehunden zeigen wir es noch! Wir kriegen euch – so wie diesen reaktionären Soziologen! Ihr gehört doch alle zu dem System, das die Leute niederwalzt. Ihr sprecht von unserer Gewalt, doch die ganze Zeit wendet ihr Gewalt gegen uns an, schickt eure faschistischen Bullen los, die uns zusammenschlagen, ihr seid zu feige, eure eigene Schmutzarbeit zu tun, und mietet euch die Bullen dazu! Also, ich scheiße auf das System, und auf euch auch!“ Er stürmte aus dem Zimmer und ließ Avery, Stella und mich verblüfft zurück. Dieser Augenblick gehört zu den weniger angenehmen meines Lebens. „Willy“, brummte Avery Hopkins, „ich kann dir gar nicht sagen, wie leid es mir tut, daß du einer solchen barbarischen Unhöflichkeit ausgesetzt …“ „Ich fürchte, es war mein Fehler“, wandte ich ein. „Ich hätte den Mund halten sollen, anstatt ihn noch mehr anzustacheln.“ Nachdem wir unterwürfige Entschuldigungen ausgetauscht hatten, fragte ich: „Wer war denn der reaktionäre Soziologe?“ 302
„Oh“, antwortete Hopkins, „er meint Vincent Rosso, dem kürzlich das Büro in die Luft gesprengt wurde. Verlor dabei den rechten Fuß und seine gesamten wissenschaftlichen Unterlagen.“ „Ich habe in den Zeitungen im Osten darüber gelesen. Was hatte er denn getan?“ „Er glaubte an Vererbung, was ihn zum Rassisten, Imperialisten und anderen schrecklichen Dingen machte.“ Nachdem ich beim Abwasch geholfen hatte, suchte ich die Dinge zusammen, die ich für meine Abendarbeit in der Bank brauchte. Ich betrachtete Armando, der da zwischen meinen Socken lag, und dachte: Wenn du jemals übernatürliche Hilfe brauchst, guter Wilson Newbury, dann jetzt, wo sich eine Horde junger Idealisten auf dem Kriegspfad herumtreibt. Ich legte die Statuette in meinen Aktenkoffer. Evans erwartete mich vor der First National Bank. Der Wach mann, ein weißhaariger Ex-Polizist namens Joshua, ließ uns in das Gebäude. Etwa eine Stunde später waren wir dabei, den Übergang der Hammerstein-Papiere in meine Obhut abzuschließen. Wir arbei teten in einem inneren Büro, damit man uns durch die schönen großen Fenster nicht sehen konnte. Es ist mir immer töricht vor gekommen, eine Bank mit großen Glaswänden auszustatten; Banken sollten idealerweise Festungen aus dem Mittelalter glei chen. Bei der First National Bank von San Romano hatte sich ein Architekt austoben dürfen: die Außenfront bestand aus großen Glasscheiben, während das Innere von schicken Holzver kleidungen bestimmt war. Joshua klopfte. Als er zum Eintreten aufgefordert wurde, schob er Robert Hopkins vor sich her, der ziemlich außer Atem 303
war. „Mr. Newbury“, fragte der Wächter, „ist das Ihr Neffe? Er sagt, er wäre Professor Hopkins’ Sohn.“ „Ja, Josh, das stimmt. Was ist?“ „Draußen ist eine ganze Horde und schreit herum. Der junge Mann kam an die Tür und bat mich, ihn einzulassen. Er will Sie warnen.“ „Ja, Bob?“ „Onkel Willy, du und Mr. Evans solltet lieber verschwinden. Die Genossen wollen dieses Symbol der Unterdrückung vernichten, und wenn ihr drinnen seid – also, es tut mir leid, daß die Zunge mit mir durchgegangen ist. Ich wollte nun wirklich nicht, daß du bei lebendigem Leib verbrannt wirst.“ „Grundgütiger Himmel!“ rief Evans. „Ich rufe die Polizei an.“ „Das nützt nichts“, gab Robert zurück. „Die Bullen sind längst da, aber sie unternehmen nichts. Ihr solltet lieber schleunigst verschwinden, solange es noch geht.“ „Dieser verdammte Stadtrat!“ sagte Evans. „Er hat die Polizei angewiesen, die Studenten mit größtmöglichster Zurückhaltung zu behandeln, weil er keine Auffrischung der schlechten Publicity will, die die Stadt bei den Zusammenstößen vom letzten Februar bekommen hat. Gehen wir.“ Hastig stopfte ich die restlichen Papiere in meinen Aktenkoffer. Kaum hatten wir das innere Büro verlassen, als von vorn ein lautes Krachen zu hören war. Sofort wurde auch das Gebrüll der Menge lauter, das im Büro bisher kaum zu hören gewesen war. Joshua öffnete die Tür zum Foyer und trat hinaus. Sofort ertönte ein dumpfes Geräusch, und er torkelte zurück. Die Uniform mütze war ihm vom Kopf gefallen, Blut lief über seine Stirn. Er war von einem Stein getroffen. Flaschen, Backsteine, Beton 304
brocken wurden durch die schönen großen Fassadenfenster geschleudert, deren Glas in Form von Scherben auf dem Fliesenboden lag. Eine der Dattelpalmen am Eingang brannte lichterloh. „Zurückbleiben!“ sagte Evans. „Es wäre Selbstmord, dort hinauszugehen.“ „Gibt’s hier eine Hintertür?“ fragte ich. „Ja. Versuchen wir es dort.“ Als wir die Hintertür erreichten, stellten wir allerdings fest, daß sie nur mit zwei Schlüsseln zu öffnen war, von denen Joshua nur einen hatte. Kein anderer Schlüssel an seinem Ring paßte. Nachdem er eine Weile mehr oder weniger mechanisch herum probiert hatte, nahm Evans ihm die Schlüssel ab und versuchte es selbst – aber ohne Erfolg. Die Tür war eine solide Konstruktion, mit Stahlrahmen und kleinen Durchbrüchen mit verstärktem Glas, so daß wir nicht hoffen konnten, uns gewaltsam einen Weg ins Freie zu bahnen. „Wenn wir wieder nach vorn gingen und dabei das Licht löschten, damit sie uns nicht sehen“, schlug ich vor. „Vielleicht kämen wir dann durch.“ Robert Hopkins sah aus, als würde er im nächsten Augenblick das Bewußtsein verlieren; er torkelte hinter uns her. Als wir das Foyer erreichten und das Licht ausmachten, setzte sich der Geschoßhagel fort. Der Boden war bereits knöcheltief mit Steinen und zerbrochenem Gals bedeckt. Ich weiß nicht, woher die Unruhestifter ihren unerschöpflichen Munitionsvorrat hatten. Nachdem das Licht aus war, konnten wir nun die Angreifer deutlich erkennen. Etwa ein Drittel oder ein Viertel waren Mädchen, ausnahmslos in jener zerlumpten Aufmachung, die die Ablehnung bürgerlicher Werte symbolisierte. Die Horde bildete einen ungeordneten Halbkreis vor der Bank. Weiter links sah ich 305
Messingknöpfe schimmern, doch die Polizei sah dem Treiben nur untätig zu. Wollten wir fliehen, mußten wir uns durch diese Horde drängen. Im Werfen brüllten die Erregten einen Slogan, den ich erst nach einigem Hinhören verstand. „Nieder mit dem System! Nieder mit dem System!“ „O Mann!“ fauchte Evans. „Wenn ich nur ein MG und genügend Munition hätte!“ In der wirren Reihe tauchten kleine Flammen auf. Eine der Flammen wölbte sich in einer Parabel empor und prallte vor dem Gebäude auf. Gelbes Feuer loderte empor. „Brandbomben“, sagte ich. Eine zweite benzingefüllte Flasche segelte mit angezündetem Docht funkensprühend durch die Luft. Das Geschoß wirbelte durch eines der zerstörten Fenster herein und verbreitete seine Flammen im Foyer. Papier und Gardinen begannen zu brennen. „Jetzt werden wir bei lebendigem Leibe verbrannt“, sagte Evans. „Ich habe ja gleich gesagt, daß wir in diesem verdammten Gebäude zuviel Holz haben. Was sollen wir tun?“ Ein dritter Molotow-Cocktail zischte herein. Die Hitze wurde unangenehm, der Rauch reizte uns zum Husten. Jenseits der Flammen sah ich einen Feuerwehrwagen eintreffen; die Männer eilten mit einem Schlauch zu einem Hydranten. Kaum hatten sie ihn angeschlossen, fielen mehrere Studenten mit Äxten und Macheten darüber her und hauten ihn in Fetzen. Die Feuerwehr männer brachten sich vor einem Geschoßhagel in Sicherheit. „Verdammte Bullen!“ fauchte Evans. „Sehen Sie doch, die Kerle stehen herum und schauen zu! Sie haben Angst, etwas zu unternehmen, weil dann jeder rote Schreiber im Lande polemi sieren wird, wie die brutalen Faschistenschweine unschuldige Kinder umbrachten, die sich mal einen kleinen Spaß erlaubten.“ 306
„Wir müssen es riskieren und durch das Feuer und die Steine laufen“, sagte Robert Hopkins bebend. „Vielleicht lassen sie uns durch, wenn ich brülle, daß ich ja zu ihnen gehöre!“ Peng! brachen die Steine ins Haus, während die Flammen zuckten und knisterten. „Moment mal“, sagte ich. Ich trat zur Seite, dreht den anderen den Rücken zu und zog Armando aus dem Koffer. „Armando“, murmelte ich, „wenn du uns hier heil herausholst, opfere ich dir ein Kaninchen.“ Kaum hatte ich diese Worte geäußert, als ein greller Blitz auf zuckte, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Donnerschlag. Die Erscheinung schien von einer Stelle direkt über uns auszugehen. In meiner Heimat schaut man sich in einem solchen Augenblick automatisch um, ob nicht ein nahestehender Baum vom Blitz getroffen ist. Es folgte ein gewaltiger Wolkenbruch, begleitet von weiterem Blitz und Donner. Die Idealisten liefen in alle Richtungen auseinander. Die Feuerwehrleute schlossen einen neuen Schlauch an. Einige eilten herbei und bedeckten die Benzinfeuer mit Chemikalien, während andere das Äußere des Gebäudes und das Foyer abspritzten. Als wir ins Freie kamen, wurden wir gleich aufs Korn genommen und brachten uns tropfend, hustend und prustend in Sicherheit. Mir war es egal, obwohl es zur Folge hatte, daß ich erst einen Tag später aus San Romano fortkam. Als Mann aus dem Nordosten war ich Gewitter natürlich ge wöhnt. Mir ging damals nicht auf, daß ein solches Naturereignis in den meisten Teilen Kaliforniens so selten ist, daß die Leute, sollte es einmal eintreffen, sofort bei den Radiosendern anrufen, um sich zu erkundigen, ob es ein Erdbeben gegeben hat. So gesehen war es nicht überraschend, daß der Mob vor dem ungewöhnlichen meteorologischen Angriff ausrückte. 307
Der junge Robert sagte auf dem Heimweg sehr wenig; zum Glück hatte niemand daran gedacht, meinen Wagen in Brand zu stecken. Vielleicht war ihm der Abend eine Lehre. Damit war meine Geschichte über Armando aber noch nicht zu Ende. Als ich nach Hause zurückkehrte, stellte ich die Statue wieder auf meinen Schreibtisch. Sofort machte der Fernseher wieder Ärger. Der Statue Wachsblumen hinzulegen nützte nichts mehr. Als die echten Blumen zu blühen begannen, versuchte ich es mit einem Strauß Forsythien, anschließend Lilien und Azaleen. Das Fernsehbild blieb schlecht, und der Mechaniker wußte sich keinen Rat mehr. „Paps“, sagte Priscilla, „er ist wegen irgend etwas verstimmt. Womit hast du ihn verärgert?“ Ich überlegte. „Wenn ich es genau bedenke – als wir in der brennenden Bank eingeschlossen waren, habe ich versprochen, ihm ein Kaninchen zu opfern, wenn er uns rettet. Er hat uns geholfen, aber ich habe ihm das Opfer nicht dargebracht.“ „Dann müssen wir das Versprechen einlösen oder ohne Fernsehen auskommen. Kauf ein Kaninchen. Ich helfe dir dabei, es umzubringen.“ „Auf keinen Fall! Kein fünfzehn Zentimeter hohes Steinstück schreibt mir vor, was ich tun soll.“ Der Fernsehapparat streikte weiter. Außerdem erlebten wir eine ganze Reihe von Unfällen und kleinen Katastrophen. Bei meinem Sonntagsvormittagsspiel verstauchte ich mir auf dem Tennisplatz den Knöchel und konnte mich zwei Wochen lang nur humpelnd bewegen. Unser steuerbarer Rasenmäher ging kaputt. Ebenso Waschmaschine, elektrischer Herd, Geschirrspül maschine, Staubsauger und Heizanlage. Der Buick hatte plötzlich 308
einen Platten. Es war eine Revolution der Roboter. Ich beschloß, die Statue der archäologischen Abteilung des Naturkunde museums vorzulegen. Einem dort arbeitenden Archäologen, Jack O’Neill, schilderte ich, wie ich in den Besitz der Figur gekommen war. „Ich war davon überzeugt, es handele sich um eine moderne Nachgestaltung“, fügte ich hinzu, „sonst hätte ich das Ding nicht gekauft. Ich wollte natürlich kein Kunstwerk unerlaubt ausführen. Andererseits möchte ich wissen, was ich da besitze.“ „Lassen Sie mir die Statue ein paar Tage hier“, sagte O’Neill. Als ich ihn in der folgenden Woche aufsuchte, sagte er: „Eine komische Sache, Mr. Newbury. Nach Ihrer Zeitrechnung handelt es sich um eine echte Antiquität, nach der meinen aber um eine moderne Fälschung.“ „Was soll das heißen?“ „Alle unsere Versuche – chemisch, fluoreszent und so weiter – deuten darauf hin, daß das Ding in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gefertigt wurde. Durchaus üblich. Ich kann Ihnen in unseren Magazinen Dutzende von Statuen zeigen, die nahezu identisch sind. Die Besonderheit besteht darin, daß die Originale aus prä-kolumbianischer Zeit stammen. Im sechzehnten Jahrhundert zwangen die Spanier die Quiche-Völker dazu, zum Katholizis mus überzutreten, woraufhin die Anfertigung dieser Götzen figuren aufhörte. Erst in diesem Jahrhundert wurde damit wieder begonnen, um den Touristen einen schnellen Quetzal abzunehmen. Einige Bauern graben die echten alten Formen aus, mit denen damals die Figuren gegossen wurden, und machen neue.“ „Damit wäre der neue Guß nur zu fünfzig Prozent eine Fäl schung“, sagte ich. 309
O’Neill lächelte. „Es ist jedenfalls besser, als wenn die Burschen die echten alten Figuren ausgraben und sie verderben. Im neunzehnten Jahrhundert war Guatemala aber seit vier Jahrhunderten christlich, während es andererseits noch nicht genügend Touristen gab, die einen Markt darstellen.“ „Meinen Sie, irgendein Kult aus der Zeit vor der Eroberung habe sich im Gebirge gehalten und diese kleinen Gottheiten weiter angefertigt?“ Er zuckte die Achseln. „Möglich wäre es. Vielleicht steckt auch ein geschäftstüchtiger Quiche-Bauer dahinter, der die Dinger machte, um sie an John Lloyd Stephens oder Zelia Nuttal oder einen ihrer Nachfolger zu verkaufen, als sich im letzten Jahrhundert die ersten Archäologen für die Maya-Ruinen zu interessieren begannen.“ O’Neill blickte mich nachdenklich an. „Würden Sie die Statue verkaufen?“ „Weiß nicht. Wieviel?“ „Tausend Dollar.“ Ohne meine Erfahrungen als Bankier wäre ich vielleicht zusammengezuckt und hätte gerufen: „Was?“ Tausend Dollar sind eine hübsche runde Summe, selbst bei unserer Inflation, zumal mich die Statue nur einen Dollar gekostet hatte. Aber die Erfahrung hatte mich vorsichtig gemacht. „Ach?“ frage ich. „Ist die Statue dem Museum diesen Betrag wert?“ O’Neill schien mit sich zu kämpfen. „Es handelt sich nicht um das Museum“, sagte er schließlich. „Hinter dem Angebot steht eine Privatperson, die vor einigen Tagen zu uns kam und um Hilfe bei der Aufspürung ihrer Statue bat. Der Mann meint, sie sei ihm gestohlen worden. Er verfolgte ihre Spur nach Solola und erfuhr, daß ein Mitglied Ihrer Gruppe sie im letzten März gekauft hat. Er wußte nicht, wer es war, setzte aber seine Belohnung aus 310
und versprach dem Museum eine Spende, wenn es ihm dabei helfen könnte, sein Götzenbild aufzuspüren.“ „Was ist das für ein Mann?“ „Er heißt Augustin Flores Valera und ist Guatemalteke.“ „Wo ist er jetzt?“ „Wieder in Guatemala, aber er hat uns gebeten, ihn telegra phisch zu verständigen.“ „Warum ist er so hinter der Statue her?“ „Er ist Berufsspieler; er sagt, das Ding wäre sein Glücks bringer. Eine dumme Vorstellung, aber ich wüßte nicht, warum wir ihm bei dem Preis nicht helfen sollten.“ „Ich werd’s mir überlegen“, sagte ich und tat die Statuette wie der in meinen Aktenkoffer. Ich brachte Armando nach Hause und dachte nach. Ich hatte nichts gegen Senor Flores, obwohl sein Beruf nicht zu denen gehört, die unsere Bank als gutes Risiko ansah. Zweifellos hatte er einen Weg gefunden, sich Armando gewogen zu machen, damit die Karten richtig kamen, die Würfel günstig fielen und die Roulettekugel das gewünschte Loch fand. Gegenüber den Mitspielern war das nicht gerade fair, doch ich habe nie großes Mitgefühl empfunden für die Opfer von Spielhaien. Wenn sie nicht selbst versuchen würden, für nichts etwas herauszuholen, kämen sie gar nicht erst in die Gefahr des Ausgenommenwerdens. Wenn ich Armando behielt, mußte ich ihm das versprochene Opfer geben, sonst würde er uns weiter mit Pech überhäufen. Gab ich ihm nach, mochte er mir Glück bringen; doch er würde auch weitere Opferrationen fordern. Ich konnte mir vorstellen, welche Auswirkungen es auf die Harrison Trust-Bank haben mußte, wenn bekannt wurde, daß der Vizepräsident bei Neumond heidnische Blutopfer darbrachte. Vor dem Krieg, als junger Ingenieursstudent auf der verzweifelten Suche nach Arbeit, hätte 311
ich Armando nicht aus den Klauen gelassen und ihm jedes Opfer möglich gemacht. Inzwischen aber lagen die Dinge anders. Eine Woche später wälzte ich das Problem noch immer, als es an einem regnerischen Sonntagnachmittag an der Tür klingelte. „Ein Mann für dich, Paps“, rief Stephen. Der Mann, klein und dunkelhaarig, stellte sich als Augustin Flores Valera vor. Ich führte ihn in mein privates Arbeitszimmer und ließ ihn Platz nehmen. „Eine große Freude, eine große Ehre, Sie kennenzulernen, Sir“, sagte er und rutschte lebhaft auf seinem Stuhl hin und her. „Sie haben da ein wunderschönes Haus, eine hübsche Frau und hüb sche Kinder. Ich bin überwältigt! Ich bin bezaubert!“ „Sehr freundlich“, sagte ich. „Ich nehme an, Sie sind wegen der Statue hier.“ „Ah, in der Tat, ich sehe, daß sie dort auf Ihrem Tisch steht. Der gute Dr. O’Neill sagt mir, er habe Ihnen die Umstände erklärt? Ein großartiger Wissenschaftler, großartiger Mensch, Dr. O’Neill.“ „Also, Senor Flores?“ „Sie kennen mein Angebot?“ „Jawohl, Sir.“ „Und sind Sie bereit, es anzunehmen?“ „Noch nicht. Ich brauche mehr Zeit, um darüber nachzudenken.“ „Oh, bitte, Mister, ich brauche meine Statue jetzt. In meinem Geschäft braucht man soviel Glück, wie man bekommen kann. Ich bin auf dem Weg zu den Kasinos von Puerto Rico … Hören Sie, ich sage Ihnen etwas. Ich habe hier eine Statue von der gleichen Art. Echt antik, keine moderne Nachbildung.“ Flores 312
zauberte eine Gottesdarstellung hervor, die der meinen sehr ähnlich war. Als er sie neben Armando stellte, mußte man schon zweimal hinschauen, um die beiden auseinanderzuhalten. „Bitte, Mister“, sagte der Mann. Er stand an meinem Tisch und beugte sich über mich. Er hatte die lateinamerikanische Angewohnheit, sich der Person, mit der er spricht, auf wenige Zentimeter zu nähern, und verströmte einen Atem, der einen Büffel hätte fällen können. „Die Statue, die Sie jetzt haben, werden Sie nicht vermissen“, fuhr er fort. „Außerdem habe ich hier tausend Dollar in bar.“ Aus einer anderen Tasche zog er einen Stapel Hunderter und wedelte mir damit vor dem Gesicht herum. „Kommen Sie! Abgemacht, ja?“ Obwohl er sich eigentlich ganz anständig benahm, mißfiel mir Senor Flores immer mehr. Vor seiner Ankunft war ich beinahe entschlossen gewesen, ihm Armando zu überlassen; doch bei zu energischen Verkaufsvorstößen sträuben sich mir oft die Federn. Mit solchen Dingen habe ich immer wieder zu tun, wenn Promoter und Landentwickler mit dem Geld unserer Einleger ihre Kunststückchen machen wollen. „Nein, Sefior, ich brauche noch Zeit, mir das Ganze zu überlegen.“ „Wie wär’s mir fünfzehnhundert? Soviel könnte ich anlegen.“ „Nein, Senor, ich meine es ernst. Ich bin noch nicht zu einem Verkauf bereit. Mas tarde, puede ser.“ „Oh, Sie sprechen Spanisch! Ausgezeichnet! Man sieht gleich, Sie sind ein Mann von großer Kultur. Aber jetzt im Ernst, Mr. Newbury. Ich muß die Statue gleich haben. Machen Sie es uns nicht schwer. Ich biete Ihnen sogar zweitausend.“
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Ich seufzte. „Senor Flores, ich habe gesagt, was ich zu sagen hatte, und dabei bleibt’s. Wenn ich mir alles gründlich überlegt habe, können Sie mir schreiben, dann gebe ich Ihnen Antwort.“ Mit zusammengepreßten Lippen stand er da, und ich sah, wie eine Ader an seiner Schläfe pulsierte, und dachte schon, er würde einen neuen Wortschwall vom Stapel lassen. Doch er nahm sich zusammen, steckte das Geld und die Ersatzstatue ein und sagte: „Na schön, Mr. Newbury, ich will Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen. Vielleicht sehen wir uns bald wieder. Bitte richten Sie der schönen Mrs. Newbury und den hübschen Newbury-Kindern meine Grüße aus. Ein angenehmer Tag, Mister.“ Er verneigte sich förmlich und ging. Als er in dem wartenden Taxi verschwand, rief Priscille aus dem Haus: „He, Paps, der Fernseher funktioniert wieder!“ Sie hatte recht. Mir kam ein Gedanke, und ich ging ins Büro und nahm Armando in die Hand. Aber es war nicht Armando, sondern das nahezu perfekte Duplikat, das Flores neben meine Statue gestellt hatte. Dieses andere Exemplar, das stellte ich durch Aufkratzen der schwarzen Farbe fest, bestand aus grauem Ton und nicht aus rotem Sandstein. Außerdem war das Ding nicht aus kompaktem Stein geformt, sondern in einer Form gegossen und abgefeilt worden – die Trennlinien waren deutlich zu erkennen. Flores hatte die beiden Figuren auf meinem Tisch vertauscht und kaltblütig meine Figur eingesteckt. Ich hätte mich nicht auf ein so hautnahes Gespräch mit einem Berufsspieler einlassen sollen. Am meisten schmerzten mich die zweitausend Dollar, die ich hätte einstecken können, wenn ich mich nicht durch eine kleinkarierte persönliche Aversion hätte lenken lassen. Ich hörte nie wieder von Flores Valera, ebensowenig erhielt das Museum die versprochene Zuwendung. Ich habe mich oft gefragt: ging es Armando womöglich so sehr um das Blutopfer, daß er seine eigene Entführung einfädelte? Hat sein neuer Besitzer seinen 314
Forderungen nachgegeben? Wenn der Spieler sich störrisch zeigte, war Armando in der Lage, ihn mit wenigen falschen Zügen in den Ruin zu treiben. Irgendwie fehlt mir das häßliche Gesicht meines kleinen Quiche-Gottes, doch vielleicht ist es nur gut so, daß er nicht mehr im Haus ist. Bei finanziellen Transaktionen und in menschlichen Beziehungen ist die Einschätzung der günstigsten Möglichkeiten schon schwierig genug, auch ohne die Launen einer blutrünstigen und temperamentvollen Gottheit mit in Betracht ziehen zu müssen!
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Priapus Ich mag meinen Schwager, doch was mir auf Besuch bei ihm zugestoßen ist, stimmt mich doch im Hinblick auf neue Reisepläne ein wenig vorsichtig. Das erstemal, als ich mich geschäftlich in Kalifornien aufhielt, wäre ich in einem brennenden Bankgebäude beinahe bei lebendigem Leibe gebraten worden. Und beim zweitenmal … In dem Winter des zweiten Studienjahres unseres Sohnes Ste phen bekam ich die Grippe und war danach ziemlich geschwächt. Der Präsident der Harrison Trust-Bank, Esau Drexel, sagte zu mir: „Willy, für den Rest des Monats machen Sie Urlaub und reisen an einen warmen Ort. Bei uns ist es im Augenblick ruhig, und wir kommen schon ohne Sie aus. Nehmen Sie Denise mit.“ „Und die drei Kinder bleiben allein im Haus?“ „Ach, ich habe ja vergessen, daß Sie der gewissenhafteste aller Väter sind! Die Kinder sind aber jetzt alt genug, um allein fertigzuwerden, und außerdem so gut erzogen, wie man das bei Kindern heute überhaupt erwarten kann. Also, als ich im Alter Ihres Sohnes war …“ Nachdem wir uns von Avery und Stella Hopkins hatten einladen lassen, flogen Denise und ich nach San Romano in den kalifornischen Sonnenschein. Allerdings trafen wir mitten in zwei Tage währenden Wolkenbrüchen ein, aber dann klarte das Wetter auf und verschaffte uns Gelegenheit zur Sonnenbräune und zum Tennisspielen. Mein dürrer kleiner Neffe Robert Hopkins war so langmähnig wie je, aber ruhiger als im letzten Jahr. Er studierte als Senior in 316
dem College, an dem Avery Hopkins Professor für MittelEnglisch war. „Weißt du, Onkel Willy“, sagte Robert beim Abendessen, „die Sache mit der Niederbrennerei von Banken und so – damit haben wir das Problem von der falschen Seite angepackt. Das sehe ich inzwischen ein. Also, wenn man das System wirklich verändern will, nützt es nichts, dieselben materiellen Mittel einzusetzen wie die unterdrückende Klasse, weil man auf diesem Wege so mate rialistisch wird wie die Unterdrücker. In diesem Punkt sind die Kommunisten auf dem falschen Weg. Man muß die Sache auf einer anderen Ebene angehen, wie wenn man einen Torsprint beim Football macht.“ „Als ob du den Sprint machtest“, korrigierte ihn Avery Hopkins. „Na schön, na schön, als ob. Nicht, daß ich ein Dummkopf wäre.“ „Das habe ich auch nie angenommen“, erwiderte ich. „Wie kommst du nun auf die andere Ebene?“ „Das setzt ein Spezial-Wissen voraus. Im Augenblick arbeitet eine kleine Studiengruppe eben daran. Wir versuchen einen wissenschaftlichen Weg zu finden, die Liebe als Waffe einzusetzen.“ Ich blickte fragend zu Roberts Eltern hinüber. Meine Schwester Stella sagte: „Es handelt sich um eine okkulte Gruppe, der Robert beigetreten ist. Wir halten nicht besonders viel von den Ideen; aber die Leute haben Bob dazu gebracht, das Marihuana aufzugeben, also muß etwas Positives daran sein.“ Ich dachte an Roberts unberechenbares Verhalten vom letzten Jahr und erwartete einen Anfall oder zumindest ein Aufbrausen. Statt dessen lächelte er wohlwollend. 317
„Ihr werdet es noch erfahren“, sagte er. „Onkel Willy, möchtest du mit Tante Denise vielleicht an einer unserer Zeremonien teilnehmen? Ich habe Mama und Paps dazu überreden wollen, aber die haben nichts dafür übrig. Meister Daubeny hat uns einen Höhepunkt versprochen.“ „Ich würde wohl mitkommen“, antwortete ich. „Aber was Denise angeht, da muß du sie fragen.“ „Ich vielleicht auch“, sagte Denise. „Mein großer störrischer idiotischer Mann braucht mich, damit er keinen Ärger bekommt.“ Am nächsten Tag führte Stella Denise ein wenig in den Läden von San Romano herum. Avery Hopkins fragte, ob ich mir seine Universität anschauen wolle. Ich hatte nichts anderes vor und ließ mich von ihm herumführen. Da ich ausgebildeter Ingenieur bin und nur aufgrund besonderer Umstände als Bankier fungiere, interessierten mich die wissenschaftlichen Labors am meisten. Im Worth-Biologie-Gebäude traf Hopkins einen jungen Assistenten. „Dies ist Jerry Kleinfuss“, stellte Hopkins vor. „Mein Schwager Wilson Newbury. Was gibt es Neues, Jerry? Hat mal wieder jemand Piranhas ins Schwimmbecken gesetzt?“ „Grundgütiger Himmel!“ rief ich. „Ist ein armer Teufel beim Schwimmen aufgefressen worden?“ „Nein“, entgegnete Kleinfuss. „Irgendein Frischling steckte ein paar Fische in den Tank und tischte dann während einer Zusammenkunft die Neuigkeit auf. Sie hätten dabei sein sollen! Die Schwimmer sind wie Seehunde aus dem Wasser gesprungen! Die Piranhas waren aber von einer ganz harmlosen Sorte. Uns beschäftigt inzwischen eine ganz andere Frage: Wer hat einen unserer Urechis-Würmer gestohlen?“ 318
„Ihrer was?“ fragte ich. „Urechis – ein großer Meereswurm. Wir haben für Versuchs zwecke mehrere von der Küste aus der Gegend Santa Barbaras erhalten. Jetzt hat jemand einen geklaut, mitsamt dem Tank.“ „Und aus welchem Grund?“ Kleinfuss zuckte die Achseln. „Keine Ahnung, es sei denn, der Dieb wollte das Tier braten und essen. Ich glaube nicht, daß das Ergebnis irgendwie erwähnenswert wäre.“ „Könnte ich mir so einen Wurm einmal ansehen?“ „Aber ja. Hier entlang.“ Kleinfuss führte Hopkins und mich in einen Raum, der gesäumt war von kleinen Glastanks voller Meeresorganismen verschiedenster Art. Einige hatten vielgegliederte Beine, einige Tentakel, andere wieder sonstige Körperanhängsel. „Hier, das sind sie“, sagte Kleinfuß. In jedem Tank bewegte sich ein großer rosa Wurm langsam im Wasser. Die Würmer hatten die Form eines Zylinders und waren etwa acht oder neun Zoll lang und einen Zoll dick. Sie hatten die Farbe menschlichen Fleisches, mit dem sie eine große Ähnlich keit aufwiesen. Durch die Haut waren sogar kleine blaue Adern zu sehen. Es war ein verblüffender Anblick. Ich begann zu lachen. „Ich sehe die Organe“, sagte ich, „aber wo sind die Organismen?“ Kleinfuss lächelte. „Sie sind nicht der einzige, dem die Ähnlichkeit auffällt. Jedenfalls hat hier an der leeren Stelle der fehlende Wurm gestanden. Wir nannten ihn Priapus. Die anderen sind Casanova, Lothario und Don Juan. Wenn man sie fangen will, steckt man ein Stück Gummirohr in den Sand. Der Wurm schluckt das Rohr und schlängelt sich daran entlang, wobei er auf
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der Außenseite eine Art fleischige Hülle bildet. Dann braucht man das Rohr nur herauszuziehen und den Wurm abzustreifen.“ Am gleichen Abend hatten die Hopkins’ noch ein Ehepaar zum Essen eingeladen. Es handelte sich um den Stellvertretenden Professor Marvin Held vom Sprachinstitut und seine Frau Ethel, eine Stellvertretende Psychologie-Professorin. Held, ein großge wachsener Bursche mit buschigem Bart, der romanische Spra chen lehrte, verteidigte das Latein und beklagte sein Verschwin den von den Lehrplänen der modernen Hochschulen. „Ich weiß nicht“, sagte ich. „Das meiste Latein, das ich in der Hochschule gelernt habe, ist vergessen. Die Zeit hätte ich lieber auf eine verbreitete moderne Sprache verwendet, beispielsweise auf das Spanische.“ „Ach, ihr irrt euch beide“, sagte der junge Robert mit schriller Stimme. „Ich kenne Leute, die die ganze Welt bereist haben, und sie haben immer jemanden gefunden, der Englisch sprechen konnte, wenn sie nur lange und laut genug herumgebrüllt haben.“ Held schnaubte verächtlich durch die Nase. „Kein Wunder, daß wir allmählich zu einer Nation aus Unbelesenen werden! Zuerst verlangt die Jugend ein Mitspracherecht bei der College-Politik, und unsere rückgratlose Verwaltung geht darauf ein. Dann stellen die jungen Herrschaften fest, daß es nichts Langweiligeres gibt als Komiteeversammlungen, bei denen darüber entschieden werden muß, ob eine 1 A in Französisch des Urzeit-Baptisten-College aus Coyote-Creek, Mississippi, anerkannt werden kann und so weiter. Dann verlangen sie Anrechnung für etwas, das sie ,Lebenserfahrung’ nennen. In Wirklichkeit wollen sie ein Diplom dafür, daß sie existieren, ohne überhaupt zu arbeiten.“ 320
„Anstatt neun Zehntel des unsinnigen Zeugs zu studieren, die uns von euch Professoren vorgesetzt werden“, sagte Robert, „wäre es doch angebrachter, die Zeit zu nutzen und zu lernen, wie man die unsichtbaren Kräfte des Universums nützt.“ „Was mich betrifft“, erwiderte ich, „so sind die Sprachen die wesentliche mißachtete Kraft, die es gibt. Du brauchst bloß einmal im Irak festzusitzen, wie es mir einmal passiert ist, ohne im Arabischen mehr als ,Ja’, ,Nein’ und ,Wo ist die Toilette?’ sagen zu können, dann würde sich deine Einstellung wohl ändern.“ Denise fügte hinzu: „Niemand darf sich zivilisiert und gebildet nennen, ohne wenigstens das Französische zu kennen.“ Robert ignorierte sie und sagte: „Das meinte ich doch gar nicht, Onkel Willy. Komm übermorgen zur großen Zusammenkunft der Agape-Vereinigung, dann wirst du es sehen. Wir werden den Geist der Liebe anrufen.“ Marvin Held sagte: „Bob, ich habe schon viel über diese Gruppe gehört. Dürften Ethel und ich auch mitkommen? Vielleicht ist das auch beruflich ganz interessant.“ „Damit Sie uns wie Insekten unter dem Mikroskop betrachten können?“ fragte Robert. „Na schön, kommen Sie. Vielleicht stellen Sie ja fest, daß die Insekten doch recht haben, und schließen sich uns an.“ Als die Helds gegangen waren, sagte Avery Hopkins zu mir: „Willy, ich glaube, ich sollte dich warnen. Es geht das Gerücht, daß diese Leute Orgien veranstalten.“ „Wirklich?“ fragte ich. „Ich wollte schon immer mal an einer Orgie teilnehmen. Ich weiß nicht, wie Denise darauf reagiert; sie stammt aus einer anständigen französisch-protestantischen Fa milie. Um was für eine Art Kult handelt es sich?“
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„Um eine der Sex- und Magie-Bewegungen, wie es sie neuer dings öfter gibt, nachdem die Jugendrevolte an Schwung verloren hat.“ „Nun ja, in diesem Staat haben sich die Verrückten immer wieder austoben dürfen. Ich bin eigentlich ein wenig alt für organisierte Orgien, aber ich will es mir mal anschauen. Ich bin ein erfahrener Wildbeobachter, und solche Exzesse machen den Homo sapiens zu einer faszinierenden Spezies unter dem Mikroskop.“ Zu Beginn dieses Jahrhunderts verdiente sich ein Mann namens Bannister am Öl eine goldene Nase und baute in San Romano ein Landhaus. Die Agape-Vereinigung hatte dieses Bauwerk ge mietet, das sich auf einem riesigen Grundstück erhob, umgeben von Palmen, Akazien und Pfefferbäumen. Das Haus war riesig und weitläufig, im Stil pseudo-spanisch, was das Äußere betraf, und innen mittelalterlich-deutsch. Seit den Tagen der BannisterFamilie war das Anwesen etwas heruntergekommen, wenn auch noch nicht so sehr, um wirklich gespenstisch zu wirken. Marvin und Ethel Held fuhren uns, da wir Mühe gehabt hätten, das Haus in der fremden Stadt zu finden. Robert Hopkins war nicht bei uns. Nachdem er versprochen hatte, uns am Haus der Bannisters in Empfang zu nehmen, war er losgezogen, um sein Mädchen zu holen. Am Eingang gab es eine Verzögerung. Zwei muskulöse Agape-Jünglinge in schwarzen Roben bewachten den Eingang. Sie wollten uns erst einlassen, wenn Robert für uns gebürgt hatte, und Robert kam spät. Als die Formalitäten endlich erledigt waren, wurden wir in das große Wohnzimmer geführt, wo eben das Licht für die große Schau heruntergeschaltet wurde. „Sandy und ich müssen uns anziehen“, flüsterte Robert. „Besucher in die letzte 322
Reihe. Nehmt schon Platz; wir kommen in, na, einer halben Minute.“ Die Sitze waren in konzentrischen Halbkreisen angeordnet. Wir fanden vier leere Stühle am Ende der letzten Reihe. Von dort vermochten wir viele der Anwesenden zu sehen, entweder im Profil oder fast von vorn. Als sich unsere Augen an die matte Beleuchtung gewöhnt hatten, stockte Denise hörbar der Atem. In den vorderen Reihen, die aus aneinandergestellten Sofas, Diwanen und Ottomanen be standen, befanden sich gut dreißig Leute in Paaren. Die meisten waren jung, alle waren nackt. Einige waren im Petting begriffen. Robert Hopkins, der ohne seine Kleidung wie ein gerupftes Huhn aussah, setzte sich, gefolgt von seinem gleichermaßen nackten Mädchen, an das Ende einer der vorderen Reihen. Was Robert unter „anziehen“ verstand, war nicht mit dem identisch, was die meisten unter diesem Begriff vermuten würden. Denise flüsterte: „Willy, ich glaube nicht, daß wir bleiben sollten. C’est une indecence, donc!“ „Ich bitte dich!“ flüsterte ich. „Du hast mich in das FKK-Lager in Frankreich geschleppt.“ „Das war aber etwas anderes – saubere, gesunde Natur. Dies ist verderbt.“ „Bleib hier“, sagte ich. „Niemand verlangt, daß wir uns auch ausziehen.“ Denise gab nach. Vor den Sitzen erhob sich eine Holzplattform. Auf dieser Plattform stand ein kleiner Glastank. In dem Tank befanden sich Wasser und etwas Rosarotes, das sich hin und her wand. Ich erkannte einen urechis-Wurm, zweifellos das Exem plar, das aus dem Biologie-Laboratorium gestohlen worden war. An beiden Ende der Plattform brannten Kerzen in riesigen 323
Messingständern. Auf einer Seite glimmte Weihrauch und ließ duftenden Qualm aufsteigen. Ein Mann in einer roten Robe trat aus den Schatten und stellte sich hinter den Tank mit dem Wurm. Er war schmal und kahlköp fig und etwa in meinem Alter und hatte eine dünne Schicht schwarzen Haars über seinen kahlen Schädel gekämmt. „Guten Abend, ihr Gefährten unserer transzendentalen Abenteuer“, tönte Meister Daubeny. „Unendliche Liebe möge euch leiten. Heute werden wir die größte unserer magischen Aktionen anstreben, um für uns und die gesamte vielschichtige Menschheit den unendlichen Segen der Liebe zu sichern. Wir werden die Liebe in ihrer reinsten, konzentriertesten Form anrufen, in der Form des Gottes Priapus, des Gottes des höchsten Liebesakts, personi fiziert durch dieses Meereswesen vor mir. Durch die Gesetze der sympathetischen Magie wird eine Anrufung dieses Tiers, das in seiner Form das hervorstechendste Charakteristikum des Gottes symbolisiert, diesen Gott zu uns rufen. Wir werden dann das Angemessene tun – na, na!“ Er wandte sich tadelnd an Robert und Sandy, die sich gestreichelt hatten und im Begriff zu sein schienen, dem großen Ereignis zuvorzukommen. „Ihr müßt warten, bis der Gott sich manifestiert hat. Geduld, Geduld! Aber weiter. Wir werden den höchsten Liebesakt vollziehen als ehrfürchtigen Tribut an den Gott. Denn was fehlt der Menschheit heute? Warum gibt es Kriege, Verbrechen, Streik aktionen? Weil es nicht genug Liebe gibt. Mit der Hilfe Priapus’ werden wir durch unsere Beherrschung der okkulten Strömungen zunächst unseren Landsleuten, dann der ganzen Welt mehr Liebe schenken …“ So ging es noch eine halbe Stunde weiter; er sprach über die verschiedenen Existenzebenen, die Materialisierung spiritueller 324
Abstraktionen und die Notwendigkeit transzendentaler Liebes strömungen im ganzen siebendimensionalen Universum. Diese Ströme sollten durch einen Massen-Geschlechtsakt in Gang gesetzt werden. Soweit ich die jungen Männer im Publikum sehen konnte, waren sie bereit, ihren Teil an dem Ritual zu erfüllen. Die Soldaten meiner Einheit im Zweiten Weltkrieg hatten sich nicht aufrechter zum Kampf bereit gezeigt. Alle Paare küßten und streichelten sich. Mir juckte es in den Fingern, mich Denise zuzuwenden und mitzumachen, doch ihr mißbilligender Aus druck machte diesem Gedanken ein Ende. „Willy“, flüsterte sie, „ich bleibe nicht hier, nicht, wo der wun derschöne Akt der Liebe zu einer Zirkusnummer gemacht wird!“ „Nun beruhige dich!“ sagte ich. „Was sie tun, schadet uns nicht. Was könnte mir außerdem zustoßen, wenn du mich hier allein läßt?“ Auf der anderen Seite von Denise hatte sich zwischen den Helds ein ähnliches Gespräch entwickelt. Bei ihnen war es jedoch der Mann, der gehen, und die Frau, die bleiben wollte. Als Psychologin wollte sich Ethel Held nichts entgehen lassen. Endlich war die Predigt vorüber. Daubeny zog einen Zauber stab aus seinem weiten Ärmel und begann mit seinen Sprüchen. Er blickte mal in diese, mal in jene Richtung, bewegte den Stab, als dirigiere er ein unsichtbares Orchester, und sang dabei vor sich hin. Die Stimme des großen Meisters erhob sich zu einem Schrei. Ich bekam ab und zu ein Wort mit, das mir verriet, daß er Lateinisch sprach. Der Spruch gipfelte in einem schrillen: „Veni, magistre venereonum! Veni, veni, veni!“ Ich war auf einen Zaubertrick oder anderen Hokuspokus gefaßt, nicht aber auf das tatsächlich eintretende Ereignis. Die 325
Flammen der beiden großen Kerzen schrumpften zu bloßen Lichtflecken und leuchteten schließlich wie stillstehende Glühwürmchen. Dann folgten ein Blitz aus kaltem weißem Licht und ein Donnerschlag. An einem Ende der Plattform stand eine junge Frau, und starrte Meister Daubeny an. Groß, schlank, dunkelhaarig und mit Adlernase, trug sie ein knielanges klassisches Gewand, daß eine kleine jungfräuliche Brust entblößt ließ. In der linken Hand hielt sie einen gespannten, doppelt gekrümmten Bogen. Ein Köcher mit Pfeilen hing an einem ledernen Gurt auf ihrem Rücken. In dem dunklen Raum stand das Mädchen in einem grellen Lichtschein, für den es keine erkennbare Ursache gab, und starrte zuerst den Meister, dann das Publikum an. Die nackte Gemeinde war hochgefahren und hatte ihr Vorspiel vergessen. Alle starrten die Erscheinung an – „entgeistert“ ist hier wohl das richtige Wort. „So!“ sagte die Fremde mit durchdringendem Alt. „Ihr ruft-a mich zu eurem – wie heißt-a das – eurem comissatione turpi – euren obszön-a Verfehlungen?“ Ich hätte mir nicht träumen lassen, daß Diana – dafür hielt ich unsere transzendentale Besucherin – das Englische mit starkem italienischem Akzent sprechen würde. „Willy!“ sagte Marvin Held mit gepreßter Stimme. „Verschwinden wir von hier, aber pronto! Ich erkläre euch alles draußen.“ Er stand auf, und Denise und Ethel Held folgten seinem Beispiel. Da ich am Ende der Reihe saß, mußte ich mitmachen. „Schnell! Keine Einwände; ich erkläre später alles.“ Willenlos schloß ich mich den dreien an. „So“, fuhr die Erscheinung fort, „ich zeig’s euch-a dissolutos!“ Wir stolperten in die Vorhalle. Als wir den Haupteingang des großen Hauses erreichten, äußerte der spektrale Geist einen 326
langen lateinischen Satz. Ich bekam nur die letzten Worte mit: „… cum impotentia, sterilitate et frigore!“ Wir waren auf dem Weg zum Wagen der Helds, als ein „He!“-Ruf uns innehalten ließ. Es waren Robert und Sandy. Robert trug Hemd und ausgefranste Bluejeans, war aber barfuß geflohen; das Mädchen bot eine ähnlich zerzauste Erscheinung. „Was – was ist denn passiert?“ fragte er keuchend. „Ich weiß nur, Sandy und ich konnten nicht mehr warten. Wir haben uns ins Schlafzimmer abgesetzt und bumsten los, als plötzlich der große Donner begann. Irgendwie, na, wurden wir dadurch abgelenkt. Als ich den Kopf durch die Tür zum Versammlungsraum stecke, steht da diese Dame auf der Plattform und jodelt in irgendeiner Sprache herum, und ihr vier seit am Abmarschieren. Also habe ich mir Sandy gegriffen und bin auch abgezischt. Was war los?“ Held erklärte: „Dein Zauberer hat Priapus angerufen, den phallischen Gott, holte sich aber Diana auf die Bühne. Da die nicht nur die Gottheit der Jagd und des Mondes, sondern auch der Keuschheit ist, war sie natürlich empört über das, was da ablief. Folglich belegte sie jeden Anwesenden mit dem Fluch der Impotenz, Sterilität und Frigidität. Da ich die klassischen Sagen kenne, ahnte ich gleich, was kommen würde.“ (Nach dem, was uns die älteren Hopkins später schrieben, tat der Fluch seine Wirkung. Ich weiß nicht, ob er in seinem Effekt jemals nachließ.) „O Mann!“ jammerte Robert Hopkins. „Meint ihr, der Fluch hat uns noch mit erwischt?“ „Keine Ahnung“, sagte Held. „Das müßt ihr abwarten.“ „Wie hat sich der Meister nur so irren können?“ „Der kannte sich eben im Lateinischen nicht aus. In seiner Anrufung sagte er magistre venereonum. Erstens glaubte er, magistre wäre der Vokativ von magister; in Wahrheit haben nur 327
Nomen auf –us in der zweiten Deklination diese Endung. Zweitens gibt es so ein Wort wie venereonum nicht. Er bildete einen Genitiv plural von einem nicht-existierenden Nomen venereo in der dritten Deklination, die der Ablativ …“ Ethel Held versetzte ihrem Mann einen Rippenstoß. Er fuhr fort: „Jedenfalls wollte er sagen magister venerariorum, ,Meister des Liebes spiels’. Bei seiner schlechten Aussprache klang das, was er wirklich sagte, wie magistra venationum, ,Herrin der Jagden’, und daraufhin ließ sich natürlich Diana blicken.“ „Professor Held“, sagte Robert schüchtern, „glauben Sie, ich könnte nächstes Jahr auf, na, Sprachen als Hauptfach umstei gen?“ „Komm morgen in mein Büro, dann reden wir mal darüber.“ Später am Abend seufzte Denise zufrieden neben mir. „Jedenfalls wissen wir jetzt, mein Alter, daß der Fluch uns nicht mehr erreicht hat. Aber wenn ich dir noch einmal sage, daß es Zeit ist, einen Ort zu verlassen, machst du künftig keine Widerworte mehr, sondern kommst mit – à l’instant!“ „Ja, mein Schatz“, sagte ich.
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Weitere Copyright-Angaben Balsamos Spiegel Nachdruck aus „The Magazine of Fantasy & Science
Fiction“, Juni 1976.
Copyright 1976 by Mercury Press, Inc.
Die Lampe Nachdruck aus „The Magazine of Fantasy & Science
Fiction”, März 1975.
Copyright 1975 by Mercury Press Inc.
Algy Nachdruck aus „Fantastic Stories“, August 1976. Copyright 1976 by Ultimate Publishing Company, Inc. Der Menhir Nachdruck aus „The Magazine of Fantasy & Science
Fiction“, Mai 1977.
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Darius Nachdruck aus „Escape!“
Copyright 1977 by Charles W. Melvin.
KOB & Co. Nachdruck aus „The Magazine of Fantasy & Science
Fiction“, Dezember 1977.
Copyright 1977 by Mercury Press. Inc.
Tiki Nachdruck aus „The Magazine of Fantasy & Science
Fiction“, Februar 1977.
Copyright 1976 by Mercury Press, Inc.
Das ferne Babylon Nachdruck aus „Fantasy Crossroads“, Mai 1976. Copyright 1976 by Jonathan Bacon. 329
Der gelbe Mann Nachdruck aus „The Magazine of Fantasy & Science
Fiction“, Dezember 1978.
Copyright 1978 by Mercury Press, Inc.
Schlangengaben Nachdruck aus „The Magazine of Fantasy & Science
Fiction“, August 1979.
Copyright 1979 by Mercury Press, Inc.
Die Hunnen Nachdruck aus „The Magazine of Fantasy & Science
Fiction“, Mai 1978.
Copyright 1978 by Mercury Press, Inc.
Die Purpurnen Pterodaktylen Nachdruck aus „The Magazine of Fantasy & Science
Fiction”, August 1976.
Copyright 1976 by Mercury Press, Inc.
Die Schatztruhe Nachdruck aus „The Magazine of Fantasy & Science
Fiction“, September 1977.
Copyright 1977 by Mercury Press, Inc.
Die Figur Nachdruck aus „Fantastic Stories“, Februar 1977. Copyright 1977 by Ultimate Publishing Company, Inc. Priapus Nachdruck aus „Fantastic Stories“, Dezember 1977. Copyright 1977 by Ultimate Publishing Company, Inc.
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