PETER O’CONNOR
Der hellste Tag
Wie Wünsche wahr werden Mit zehn farbigen Illustrationen von Yo Rühmer
Aus dem Engli...
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PETER O’CONNOR
Der hellste Tag
Wie Wünsche wahr werden Mit zehn farbigen Illustrationen von Yo Rühmer
Aus dem Englischen
von Angelika Eisold-Viebig
Piper
München Zürich
Australischer Originaltitel: »When tomorrow comes…«
Der Abdruck des Zitats aus Henry David Thoreaus
»Waiden oder Leben in den Wäldern«,
aus dem Amerikanischen von Emma Emmerich und
Tatjana Fischer, erfolgt mit freundlicher Genehmigung
des Diogenes Verlags.
© der deutschen Übersetzung
1979 Diogenes Verlag AG, Zürich.
ISBN 3-492-0455
© Peter O’Connor 2003
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Piper Verlag GmbH, München 2004
Umschlagkonzeption: R. M. E
Roland Eschlbeck und Rosemarie Kreuzer
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Umschlagabbildung: oben: Mauritius, Mittenwald
unten: Corbis (Muschel)
Gesamtherstellung: Kösel, Kempten
Printed in Germany
www.piper.de
Eine Reise mit ihrem schwer krebskranken Großvater durch Australien verändert Sarahs Einstellung zum Leben. Der schwer krebskranke Joseph bittet seine Enkelin Sarah, mit ihm durch Australien zu reisen, um eine Sonnenfinsternis erleben zu können. Diese Reise und das Tagebuch ihres Großvaters verändern Sarahs Leben. Eine ruhige, besinnliche Geschichte mit der Botschaft, dass jeder sein Leben nach seinen eigenen Vorstellungen leben und auch vor Veränderungen nicht zurückschrecken sollte, ungeachtet den Erwartungen anderer oder der Gesellschaft. Der Autor Peter O’Connor, geboren 1973 in Queensland/Australien, ist gelernter Goldschmied und Kunstschreiner. Seit seiner Jugend sucht der leidenschaftliche Flieger und Tiefseetaucher Grenzerfahrungen in der Natur. Peter O’Connor lebt mit seiner Frau in Perth an der australischen Südwestküste. Sein erstes Buch »Der freie Flug des Adlers« erschien 2003 im Kabel-Verlag. Die Illustratorin Yo Rühmer, geboren 1970, arbeitet nach ihrem Studium der visuellen Kommunikation seit 1999 als Illustratorin. Sie lebt mit einem Mann und zwei Katzen in Frankfurt am Main. Zuletzt illustrierte sie »Der freie Flug des Adlers«.
Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näherzutreten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hätte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müßte, daß ich nicht gelebt hatte. Henry D. Thoreau
Der alte Mann lag erschöpft in seinem Bett. Er verzog das Gesicht und schirmte die Augen ab, als das Neonlicht über ihm flackerte und surrte und stechende Schmerzen durch seinen Kopf jagte. Die Nebenwirkungen der Medikamente, die seine Krankheit bekämpfen sollten, waren weitaus schmerzhafter als die Symptome der Krankheit selbst und hatten ihn an die Grenzen dessen gebracht, was er aushalten konnte. Er biß die Zähne zusammen, als die Übelkeit in ihm aufstieg. Als sie schließlich nachließ, holte er zitternd Luft. Er beschloß, die Medikamente nicht länger einzunehmen, auch wenn sie den Fortgang seiner Krankheit verlangsamten. Inzwischen war ihm Lebensqualität viel wichtiger geworden als Lebenszeit. Der Krebs, der seinen Körper zerstörte, hatte ihn innerhalb von nur fünf Monaten von einem vitalen, tatkräftigen Mann zu einem Schatten seiner selbst werden lassen. Er wußte, daß er bald sterben würde, aber er verspürte keine Bitterkeit. Fotografien aus seinem Leben umgaben ihn, schlossen ihn in einen Kokon warmer Erinnerungen ein, wo die Melancholie und Verzweiflung angesichts seiner Erkrankung ihn nicht erreichen konnten.
Er verzog die schmalen, ausgetrockneten Lippen zu einem Lächeln, als er sich an seine vielen Abenteuer erinnerte und an die guten Freunde, die er auf seinen Reisen nah und fern gewonnen hatte. Er dachte an seine Frau, die vor einigen Jahren gestorben war, und ein Ausdruck von Zärtlichkeit glättete seine runzeligen Gesichtszüge. Er hatte ein langes Leben gehabt, und insgeheim hatte er seiner Frau versprochen, daß sie bald wieder vereint wären – für immer. Da ihm körperliche Aktivitäten versagt waren, beschränkte sich der alte Mann darauf, einen Großteil des Tages ein abgenutztes ledergebundenes Tagebuch an seine Brust zu drücken. Gefüllt mit den Einsichten und Erfahrungen, die er während eines ganzen Lebens gesammelt hatte, war es ein untrennbarer Teil von ihm, fast wie seine Arme oder Beine. Mit jedem Wort innig vertraut, gebrauchte er es als Richtschnur durchs Leben, maß sich selbst stets an den Idealen und Werten, die es von ihm verlangte. An der Wand zu seiner Linken hingen Fotos von ihm selbst als junger Mann, darauf grinste er draufgängerisch und voller Stolz in seiner flotten neuen Armeeuniform mit dem dazugehörigen breitkrempigen Hut. Er war kaum dem Knabenalter entwachsen gewesen, hatte jedoch bereits als Mann genug gegolten, um im Zweiten Weltkrieg zu kämpfen. Doch erst im scheinbar undurchdringlichen tropischen Regenwald von Neuguinea, im Hexenkessel von Furcht und Tod, war er tatsächlich zum Mann geworden. In den acht entsetzlichen Monaten, die er dort verbracht hatte, hatte er den echten Wert des Lebens kennengelernt, das er bislang immer als selbstverständlich angesehen hatte, und ihm war klargeworden, welch ein Verlust es war, das Leben an irgend etwas zu verschwenden, was uns davon abhielt, wirklich zu leben.
Er öffnete nun das Tagebuch und blickte auf das fleckige und verknitterte Stück Papier, das er in seiner Jugend auf die erste Seite geklebt hatte. Die Schrift war inzwischen fast zur Unleserlichkeit verblaßt, aber er brauchte diese Zeilen nicht zu lesen, um zu wissen, was dort stand. Behutsam und mit leicht zitternden Fingern strich er über das Erinnerungsstück, schloß die Augen und flüsterte die Worte vor sich hin. Er hatte sie in seinem Leben schon viele Male wiederholt; sie waren das letzte Vermächtnis eines Mannes, der sein Freund gewesen und seit langem tot war. Die Augen des alten Mannes wurden feucht, und mit einem Seufzer schloß er das Buch wieder. Trotz seiner Anstrengungen, in der Gegenwart zu verweilen, passierte es jetzt immer häufiger, daß die Vergangenheit ihn überwältigte, und er spürte, wie er auf einem Meer von Erinnerungen davontrieb, zurück in eine längst vergangene Welt. Er wußte, daß die Zeit kommen würde, in der er aus der süßen Lethargie, die ihn mit der Stimme seiner geliebten Frau lockte, nicht mehr erwachte. Er hatte keine Angst vor dem Sterben. Die hatte er vor vielen Jahren verloren, doch jetzt, wo seine Zeit nahe war, betete er um die Kraft für ein allerletztes Vorhaben. Während die Bilder und Eindrücke der Vergangenheit stärker wurden, hielt sich ein einziger besorgter Gedanke zwischen all den Traumbildern. Warum war seine Enkelin noch nicht gekommen? Ihrer beider Zukunft hing davon ab. Es war der Geruch, der sie jedesmal nervös machte. Er verkörperte alles, was für Sarah Endlichkeit bedeutete. Dies war der Ort, der uns alle vielleicht irgendwann erwartete und dem dann nur mehr schwer zu entkommen war. Nach der freundlich wirkenden, belebten Eingangshalle spiegelten nun glattpolierte Böden und schmucklose Wände das Kunstlicht der Neonlampen über ihr wider. Gedämpfte Echos hallten
durch leere Krankenhausflure, und starke chemische Reinigungsmittel überdeckten beinahe den Geruch nach Krankheit. Sarah hatte Krankenhäuser immer gehaßt und hielt beim Laufen den Blick direkt vor sich gerichtet, wagte es nicht, in die Zimmer zu schauen, aus denen das weiche Rascheln von Decken oder ein halb ersticktes Stöhnen drang. Fast beim Zimmer ihres Großvaters angelangt, mußte sie sich zwingen, das letzte Stück nicht zu rennen und dann schnell die Tür hinter sich zuzuschlagen. Sobald Sarah sich in dieser kleinen Zuflucht vor dem Rest des Krankenhauses befand, lehnte sie sich gegen die geschlossene Tür und sammelte sich einen Moment, bevor sie sich leise neben das Bett ihres Großvaters setzte, der sich unruhig im Schlaf bewegte. Sie berührte sanft seine Schulter und flüsterte: »Großvater?« Als er nicht reagierte, lehnte sie sich zurück, um zu warten; sie fragte sich, welche Bilder ihn wohl gerade verfolgten.
Schießpulverhaltiger Rauch von Artilleriegeschossen hing als grauer Schleier über dem Schlachtfeld, brannte in ihren Augen, bis sie tränten, und löste würgenden Hustenreiz aus, während die Männer inmitten des Gefechtslärms daran arbeiteten, ihre Schützengräben zu verbessern. Um sie herum wühlten explodierende Granaten große Erdmengen auf, die wie Springbrunnen auf sie herabregneten, bisweilen gemischt mit den grausigen Überresten jener Unglücklichen, die von einer Granate erwischt worden waren. Mit einemmal verstummte das Sperrfeuer. Nach dem unablässigen, ohrenbetäubenden Geschützlärm der letzten drei Stunden schien die Stille so tief, daß der junge Mann einen Moment lang glaubte, er wäre schließlich taub geworden. Erst als sein Feldwebel, der gebückt entlang dem hastig ausgehobenen Schützengraben lief, nicht weit von ihm
anhielt, um einen Kameraden mit ein paar Worten aufzumuntern, wußte er, daß er unversehrt überlebt hatte. Er ließ sich gegen die Rückwand des Grabens fallen, rieb sich die Schlammspritzer vom Gesicht und starrte auf die ruhige Oberfläche einer kleinen Regenpfütze zu seinen Füßen. Der Tag fiel ihm ein, an dem er mit seinen Freunden die Heimat verlassen hatte, um sich diesem großen Abenteuer anzuschließen, und er fragte sich, ob jener naive junge Mann sich wohl im Spiegelbild erkennen würde, das ihm jetzt entgegenstarrte. Die ganze Stadt hatte sich damals versammelt, um ihnen Lebewohl zu sagen. Bei der bewegenden Rede des Bürgermeisters hatten sie sich gefühlt wie die unbesiegbaren griechischen Helden der Antike. In einen Bus gedrängt, beugten sie sich aus den Fenstern, um den Beifall und die Bewunderung der hübschen Mädchen zu genießen, die in ihren farbenfrohen Kleidern neben dem Bus herrannten. Es war einer der größten Momente in ihrem jungen Leben, und sie sonnten sich in Lob und Gunst von Freunden und Fremden gleichermaßen. All das hatte in dem Augenblick geendet, als sie an diesem furchtbaren Ort ankamen. Hier gab es nur noch zwei Farben: die Farbe des Schlammes, in dem sie lebten und der einfach überall war, und die Farbe des Blutes. Wenn der Feldwebel nicht gewesen wäre – der junge Mann bezweifelte, daß er selbst überhaupt so lange überlebt hätte. Seine Freunde gab es nicht mehr. Von den vieren, die zusammen an diesen Stützpunkt gekommen waren, war nur noch er übrig. Der Feldwebel hatte ihn unter seine Fittiche genommen, ihn so gut wie möglich beschützt und obendrein aufgemuntert, wenn er deprimiert war. Gerade eben gab der Feldwebel dem Kameraden einen freundschaftlichen Schlag auf die Schulter und kam zu ihm
herüber. Er ging neben ihm in die Hocke und fragte: »Alles in Ordnung, Joseph?« »Großvater, alles in Ordnung?«
Ein paar Sekunden lang war der Blick in sein Zimmer von dem Blick aus dem Schützengraben verdeckt. Als Joseph die Schatten der Vergangenheit fortblinzelte, verwandelte sich die Gestalt seines früheren Feldwebels in die seiner Enkelin, die neben ihm saß. »Großvater?« Um ihre offensichtliche Besorgnis zu zerstreuen, lächelte er sie an und tätschelte ihre Hand. »Alles in Ordnung, mein Kind. Es war nur der Traum eines alten Mannes.« Fünf Monate lang hatte er das wahre Ausmaß der Krankheit vor seiner Familie verheimlicht. Nicht, weil er sie täuschen wollte. Er wußte nur einfach, daß er keine verstohlenmitleidigen Blicke oder leeren Platitüden aus den Mündern seiner Liebsten ertragen würde. Er hatte jene Unglücklichen gesehen, deren Körper sich weigerten zu sterben oder die durch Maschinen am Leben erhalten wurden, weil trauernde Familienangehörige nicht loslassen konnten. Er hatte gesehen, wie sie ausdruckslos auf Dinge starrten, die nur sie sehen konnten, die Münder offen, kaum mehr am Leben. Unfähig zu lachen oder zu lieben, zu denken oder wenigstens sich zu erinnern. Seit der Zeit, als er angefangen hatte, sein Leben selbst zu bestimmen, hatte er es geliebt, zu leben. Die Vorstellung, es auf eine solche Weise zu beenden, erfüllte ihn mit Furcht und Entsetzen. Der bloße Gedanke an das, was ihn möglicherweise erwartete, wenn er hierblieb, bestärkte seinen Vorsatz, so bald wie möglich von hier wegzugehen.
Als er seine Enkelin anschaute, sah er in ihr seine Hoffnung für sie beide. Er küßte sie geräuschvoll auf die Wange, wie er es immer getan hatte, als sie klein war, um ihr ein Lächeln zu entlocken, und bedeutete ihr, den Stuhl näher zu rücken, damit er nicht die Stimme heben mußte. Sie sprachen über Nebensächlichkeiten und umgingen geschickt das Thema seines Gesundheitszustandes. Doch als er sah, wie ihr Tränen in die Augen stiegen, nahm er ihre Hand. »Wir alle sterben irgendwann, mein Kind «, sagte er leise, » aber es kommt darauf an, wie gut wir leben, nicht wie lange. Und ich hatte das große Glück, sowohl lange als auch gut zu leben. Ich bedauere nichts.« Es folgte ein längeres Schweigen, während sie auf die vertrauten Fotos an den Wänden blickte. Ihr Großvater schien sämtliche Kontinente bereist und erforscht zu haben. Als sie all diese Fotos nebeneinander sah, wurde ihr zum erstenmal klar, welch ein bemerkenswerter Mann er war und wie außergewöhnlich sein Leben gewesen sein mußte. Sie hatte ihn immer mit den Augen eines Kindes betrachtet und ihn einfach als einen alten Mann wahrgenommen, ohne zu erkennen, welch reicher Schatz an Erfahrungen sich hinter den Falten verbarg, die sein Gesicht überzogen. Beim Betrachten des letzten Fotos nickte sie schließlich mit dem Gefühl, den alten Mann vor sich etwas besser zu verstehen. » Gibt es eigentlich irgend etwas, was du nicht getan hast, Großvater?« fragte sie lächelnd. »Aber natürlich gibt es das. Wer könnte jemals wirklich alles tun, was er gern möchte?« erwiderte er betont heiter. Sarah blickte wieder auf die Fotos und dachte über diese Antwort nach. Sie selbst hatte nichts von all dem versucht, was ihr Großvater geschafft hatte. Ihr war noch nicht einmal der Gedanke gekommen, es zu probieren. Allein der tägliche
Existenzkampf und das Schritthalten mit ihrem hektischen Leben schienen all ihre Energie zu beanspruchen. Sie wußte, daß sie für derlei Dinge keine Zeit hätte, zumindest noch eine ganze Weile nicht – nicht, wenn sie Erfolg haben wollte. Als ihr Großvater wieder sprach, war sein Ton ernst geworden. »Aber es gibt noch etwas, was ich tun möchte, bevor mein Leben zu Ende ist, und ich möchte, daß du mir dabei hilfst.« Er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern deutete auf eine Zeitung, die auf seinem Nachtkästchen lag. » Gib mir doch bitte diese Zeitung.« Neugierig geworden, reichte Sarah sie ihm. Er blätterte sie schnell durch, bis er fand, was er suchte, und nahm eine Seite heraus. Nachdem er sie sorgfältig gefaltet hatte, reichte er sie seiner Enkelin und sah ihr erwartungsvoll beim Lesen zu.
TOTALE SONNENFINSTERNIS IN SÜDAUSTRALIEN In drei Wochen, am 4. Dezember 200z, werden in dem ruhigen Küstenort Ceduna geschätzte 20000 Besucher erwartet. Von überall im Land und aus der ganzen Welt werden Menschen anreisen, um Zeugen der ersten totalen Sonnenfinsternis seit 26 Jahren zu sein, die in Australien zu sehen ist. Die Sonnenfinsternis wird insgesamt ca. zwei Stunden andauern, wobei die Dauer der totalen Sonnenfinsternis jedoch nur 33 Sekunden betragen wird. Sobald die Sonne völlig bedeckt ist, werden die Betrachter in der Lage sein, ihre Korona zu sehen – die strahlenförmige äußerste Schicht der Sonnenatmosphäre, die die Sonne kranzartig umgibt. Des weiteren kann man sogenannte Protuberanzen erkennen, große Gaswolken, die am
Sonnenrand als helle Erscheinung oder auf der Sonnenscheibe als dunkle Fäden sichtbar sind…
»Wie soll ich dir denn dabei helfen?« »Viermal in meinem Leben bin ich an Orte gereist, an denen man eine totale Sonnenfinsternis sehen konnte. Und jedesmal haben dichte Wolken die Sicht behindert.« Er deutete auf den Artikel und sagte: »Das ist meine letzte Chance, etwas zu sehen, was ich mir mein ganzes Leben gewünscht habe, und diesmal will ich es mir nicht entgehen lassen.« »Aber du bist krank, Großvater. Du kannst nicht von hier weg! Du mußt hierbleiben, bis es dir bessergeht«, stieß sie, ohne weiter nachzudenken, hervor. »Es wird mir nicht mehr bessergehen, Sarah. Das wissen wir beide«, entgegnete er ruhig. Als sie in sein eingefallenes Gesicht schaute, lief ihr eine Träne über die Wange, doch mit einem Nicken mußte Sarah ihm recht geben. Mühsam schob er sich im Bett ein Stück hoch und sagte: »Ich möchte, daß du mit mir kommst, Sarah. Ich wünsche mir ein letztes großes Erlebnis, bevor ich sterbe, und ich möchte es mit dir teilen.« Er streckte eine Hand nach ihr aus. »Komm doch mit!« »Was ist mit deiner Krankheit?« wandte sie ein. »Wenn ich mit dir diese Reise mache, geht es dir vielleicht noch schlechter.« Er wußte, wie sie sich in Krankenhäusern fühlte, und so machte er eine vielsagende Handbewegung. »Noch schlechter? Wie könnte es mir noch schlechter gehen als hier, wo ich nur dahinsieche? Das ist kein Ort, um zu leben. Hier warte ich nur noch darauf, zu sterben! Ich will nachts unter offenem Himmel schlafen und zusehen, wie die Sterne dort oben auftauchen. Ich
will stundenlang in der freien Natur laufen und nichts anderes hören als den Wind in den Bäumen. Diese klugen Ärzte und ihre Medikamente mögen mich hier drin vielleicht länger am Leben erhalten, aber das ist nicht das, was ich will. Ich will leben, bis ich sterben muß.« Er klopfte mit der flachen Hand auf das Telefon neben sich. »Ich habe ein Auto für uns gemietet und schon alles in die Wege geleitet. Wir müssen nur noch los.« Er sah, wie sie unsicher wurde, und wiederholte: »Es ist nicht wichtig, wie lange wir leben, Sarah, sondern wie gut wir leben.« Hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, ihrem Großvater zu helfen, und dem, doch der Verantwortung und den Verpflichtungen nachzukommen, wie es von ihr erwartet wurde, sprang sie auf und rief: »Ich kann das nicht sofort entscheiden. Ich muß es erst mit Dad besprechen.« Er schüttelte den Kopf, und in seinem Lächeln lag nun Bitterkeit. »Weißt du, das Problem mit deinem Vater ist, daß er nicht versteht, was im Leben wirklich wichtig ist. Ich habe es nie geschafft, ihn davon zu überzeugen, daß es das Leben an sich ist, worauf es ankommt, auch wenn Geld durchaus notwendig ist. Ich habe ihn als Kind überall auf der Welt mit hingenommen, aber er konnte nur sehen, daß andere Kinder schönere Spielsachen hatten und ihre Eltern in größeren Häusern wohnten als wir. Ich weiß, daß er auf seine Art dafür sorgen will, daß du das bekommst, was er als Kind nicht hatte. Aber wenn du ihn weiter die Entscheidungen für dich treffen läßt, dann wirst du keine Gelegenheit haben, dein eigenes Leben zu leben, bis es zu spät dafür ist. Du hast gerade die Universität abgeschlossen, Sarah. Du solltest das tun, was du selbst willst.« Als er merkte, daß sie langsam in Abwehrhaltung ging, sagte er nur noch:
»Ich habe gesehen, was mit deinen Brüdern passierte. Ich möchte nicht zusehen, wie es dir genauso geht.« Sarah schüttelte ärgerlich den Kopf. »Nein! Ich treffe meine eigenen Entscheidungen! Ich bin genau dort, wo ich hinwollte. Mein neuer Job ist einfach eine tolle Chance für mich.« »Das ist ganz mein Sohn, den ich da reden höre«, sagte der alte Mann und nahm ihre Hand. »Was ist denn nur aus dem Mädchen geworden, das als Fotografin für ›National Geographic‹ die ganze Welt bereisen wollte? Warum hast du mit dem Fotografieren aufgehört, Sarah? Das hast du doch immer so gerne getan.« Sie zog ihre Hand weg und stand auf. »Hör mal, Großvater, es tut mir leid. Selbst wenn ich wollte, könnte ich nicht. Ich muß zur Zeit sogar Überstunden machen. Einer aus dem Team ist krank geworden, und ich muß alles bis nächste Woche fertig haben. Es tut mir leid, aber ich kann mir nicht einfach von der Arbeit freinehmen, um mit dir zu gehen. Ich habe Verpflichtungen.« Sie sprang auf, bevor er noch etwas sagen konnte, gab ihm ein Küßchen auf die Wange und eilte zur Tür. Joseph schob sich mühselig zum Sitzen hoch und rief ihr rauh nach: » Sarah!« Einen Moment blieb sie stehen, ohne sich umzusehen. Dann schüttelte sie den Kopf und floh zur Tür hinaus. Er legte sich wieder zurück, und mit Tränen der Enttäuschung in den Augen murrte er für sich: »Verdammt!«
Drei Tage später brachte Sarah schließlich den Mut auf, mit ihrem Vater über die Pläne ihres Großvaters zu reden. Sie zuckte zusammen, als er am anderen Ende der Telefonleitung schrie: »Ich verbiete es unter allen Umständen! Ich habe dich für diesen Job empfohlen. Was glaubst du, wie ich dastehe,
wenn du einfach wegen irgendeiner idiotischen Reise weggehst?« Ihr Vater schimpfte noch die nächste Viertelstunde über ihren Großvater, bis Sarah ihn schließlich mit dem Hinweis unterbrach, sie hätte sich Arbeit mit nach Hause genommen, die sie noch erledigen müßte. Leicht besänftigt bei diesem Anzeichen von Pflichtgefühl, beruhigte er sich wieder und verabschiedete sich schließlich von ihr, jedoch nicht ohne die nachdrückliche Mahnung, weiter hart zu arbeiten. Sie legte den Hörer auf, ließ sich auf ihr Sofa fallen und ging die Post durch. Unter den Rechnungen befand sich eine Nachricht von ihrer Nachbarin, daß sie ein Päckchen für sie entgegengenommen hätte. Sarah holte das Päckchen ab, und ihre Neugierde war geweckt, als sie keinen Absender darauf entdecken konnte. Nachdem sie vorsichtig das braune Packpapier gelöst hatte, fand sie eine einfache Pappschachtel, die sie öffnete. Zu ihrer Überraschung befand sich darin, eingewickelt in weiches Tuch, das Tagebuch ihres Großvaters – zusammen mit einer sehr professionell aussehenden Digitalkamera und verschiedenem Zubehör. Ganz zuunterst lag eine Nachricht in seiner schnörkeligen Handschrift. Meine liebe Sarah, wenige Dinge im Leben sind absolut sicher, aber eines habe ich gelernt und weiß, daß es unbestreitbar ist, nämlich daß verschwendete Zeit niemals wiedergewonnen werden kann. Wir alle haben nur ein Leben, und es an etwas zu verschwenden, was uns nicht wirklich wichtig ist, wäre tragisch. Für mich ist die Zeit gekommen, Dir mein Tagebuch zu vererben. Du brauchst es jetzt viel mehr als ich. Sieh die Worte darin nicht lediglich als die müßigen Betrachtungen eines alten Mannes an, denn sie alle wurden zu einem Preis
erkauft, der bei weitem zu groß ist, um geringgeschätzt zu werden. Wie auch immer, letztendlich muß jeder von uns seine eigenen Entscheidungen treffen. In Liebe Großvater Sarah legte den Brief beiseite und holte vorsichtig das wertvolle Tagebuch heraus. Sie wußte, was es ihrem Großvater bedeutete, und hätte nie gedacht, daß er sich davon trennen würde. Niemand aus der ganzen Familie hatte jemals darin lesen dürfen. Er hatte immer gesagt, es ginge viel zu leicht kaputt, als daß Kinder damit spielen dürften, aber Sarah erinnerte sich, daß nicht einmal die Erwachsenen es in die Hand nehmen durften. Behutsam öffnete sie das abgegriffene Buch und erwartete beinahe, daß es in ihren Händen auseinanderfiele. Es war offensichtlich viel herumgekommen, und sein Ledereinband wies unzählige kleine Kerben und Flecken auf. Vereinzelte goldene Staubkörner aus irgendeinem fremden Land steckten immer noch tief im Umschlagfalz des Leders. So wie das Tagebuch in ihren Händen knarrte, schien es Sarah beinahe so alt zu sein wie ihr Großvater selbst. Fast zur Unleserlichkeit verblaßt, war die Schrift auf der ersten Seite teilweise verdeckt durch Flecken, die verdächtig nach getrocknetem Blut aussahen. Sarah kniff die Augen zusammen. Nach längerem Rätseln las sie:
Als ich jung war, hatte ich allerlei Ideen, Ich dachte, ich brauchte Freiheit, doch man sagte mir, ich bräuchte Führung, Ich dachte, ich könnte eigene Entscheidungen treffen, doch man sagte mir, ich hätte Verpflichtungen. Ich dachte, ich sollte meinen Träumen folgen, doch man sagte mir, ich müßte die Regeln befolgen. Als ich jung war, hatte ich allerlei Ideen, doch nun bin ich älter, und all meine Ideen sind zerronnen. Bei genauer Betrachtung bemerkte sie, daß das Ganze auf ein Extrastück Papier geschrieben war, das anders war als der Rest des Tagebuches, und sie fragte sich, was es damit wohl auf sich hatte. Nachdenklich schloß sie das Buch und legte sich aufs Sofa; das Tagebuch an die Brust gedrückt, atmete sie tief seinen altertümlichen Geruch ein. Was sollte sie nur tun? Dunkle, regenschwere Wolken standen drohend am Himmel, als Sarah das nächste Mal kam. Als sie das Krankenhaus betrat, begann ein unheilvolles Donnergrollen. Noch in der Türöffnung zum Zimmer ihres Großvaters blieb Sarah einen kurzen Moment stehen. Irgend etwas war anders. Es dauerte einen Augenblick, bis sie die Veränderung erkannt hatte: Die Fotos waren verschwunden. Auf dem Nachtkästchen lag nun ein großer brauner Umschlag, der fast bis zum Bersten gefüllt war. »Wenn du gekommen bist, um mir das da zurückzugeben, dann vergeudest du bloß deine Zeit«, sagte ihr Großvater unnachgiebig und deutete auf das Tagebuch unter ihrem Arm.
Sarah setzte sich neben ihn und schüttelte den Kopf. »Nein, ich behalte es natürlich, danke. Aber ich habe bemerkt, daß die erste Seite anders ist als der Rest, und wollte dich fragen, was es damit auf sich hat.« Er schloß die Augen und weckte die schmerzhaften Erinnerungen an die Vergangenheit. Der Klang von schwerem Regen, der gegen die Fensterscheiben trommelte, verwandelte sich in Gewehrschüsse, und die Donnerschläge wurden zu Artilleriefeuer. Zusammen mit seinem Feldwebel kämpfte er sich mit brennenden, nach Sauerstoff lechzenden Lungen durch das dichte Unterholz des Waldes, um wieder in die eigenen Linien zu gelangen. Feindliche Soldaten waren ihnen dicht auf den Fersen, wütend, daß zwei Kundschafter ihre Stellungen ausgemacht hatten. »Wir sind fast da«, rief der Feldwebel über den furchtbaren Gefechtslärm hinweg. Ihre eigenen Soldaten im vor ihnen liegenden Schützengraben entdeckten sie nun auch und riefen ihnen ermutigende Worte zu, drängten sie, sich zu beeilen. Gerade hatte der junge Mann noch gedacht, sie würden es schaffen, als der Feldwebel unter der Wucht eines Geschosses herumgeschleudert wurde. Er war im Rücken getroffen. Ein wütender Aufschrei stieg aus ihren eigenen Reihen auf, und der junge Mann ließ sich neben dem Feldwebel zu Boden fallen, als ihre Leute nun das Gewehrfeuer erwiderten. Während die Kugeln gefährlich knapp über seinem Kopf hinwegzischten, drehte Joseph seinen Freund um, voller Angst, daß er tot sei. Für einen kurzen Moment war er erleichtert, als der Feldwebel ihn ansah… bis er den sich schnell ausbreitenden Fleck auf der Brust seines Freundes wahrnahm. »Nimm das«, flüsterte der Feldwebel unter Schmerzen, griff in eine Brusttasche und zog ein Notizbuch heraus, das sämtliche Informationen ihrer Aufklärungsmission enthielt.
»Und jetzt geh!« befahl er schwach, bevor er vor Schmerzen und Blutverlust das Bewußtsein verlor. Der junge Mann schloß ganz fest die Augen. Stille Tränen rannen seine Wangen hinab und fielen auf die reglosen Gesichtszüge des Verletzten. Joseph kroch durch den Schlamm und zog seinen Freund die letzten wenigen Meter in Sicherheit, bis er sich mit ihm über den Rand des Grabens fallen lassen konnte, den sie vorher zusammen ausgehoben hatten. Ein Sanitäter eilte zu ihnen, doch er merkte bald, daß er nichts mehr tun konnte. Er drückte mitfühlend den Arm des jungen Mannes, dann ließ er sie einige Momente allein. Josephs Schultern wurden von lautlosen Schluchzern geschüttelt. Als der Schmerz etwas nachließ, blätterte er im Notizbuch. Auf der letzten Seite fand er einen Eintrag, der völlig im Gegensatz zu dem Mann stand, den zu kennen er geglaubt hatte. Als sein Leutnant auf ihn zukam, riß er diese Seite rasch heraus und steckte sie in seine eigene blutbefleckte Brusttasche. Dann übergab er ihm das Notizbuch und lieferte seinen Bericht ab. Später in dieser Nacht klebte er das kostbare Stück Papier in ein ledergebundenes Tagebuch, als stilles Vermächtnis und mit dem Gelöbnis, seinen Freund nicht zu vergessen. Zwei Monate später war der Krieg zu Ende.
»Ich bekam es von einem guten Freund«, erklärte ihr Großvater, als er wieder in die Gegenwart zurückfand, und seine Augen glänzten unter dem Eindruck dieser bewegenden Erinnerungen. »Aber den Mann, der diese Worte geschrieben hat, den habe ich nie kennengelernt. Er starb, bevor ich dazu richtig Gelegenheit hatte. Was ich über ihn weiß ist, daß er sein ganzes Leben lang niemals seinen eigenen Weg ging. Er tat immer das, was man ihm sagte. Er diente treu seinem Land
und erfüllte all seine Verpflichtungen. Er tat alles, was von ihm erwartet wurde, aber er traf nie eigene Entscheidungen. Nie versuchte er, seine Träume wahr werden zu lassen.« Der Blick ihres Großvaters war in die Ferne gerichtet, als er flüsterte: »Er folgte nie seinem Herzen. Deshalb starb er als ein Mann, der von Fremden für seine Tapferkeit und sein Pflichtgefühl bewundert, von seinen Freunden jedoch betrauert wurde, weil er ein unerfülltes Leben hatte.« Sarah erkannte mehr als nur eine flüchtige Parallele zu ihrem eigenen Leben und seufzte. Wohl zum hundertstenmal fragte sie sich, was sie tun sollte. Ihr Pflichtgefühl ihrem Vater gegenüber war immer sehr stark gewesen, aber sie merkte auch, wie sie sich damit jeden Tag mehr und mehr von ihrem wahren Ich entfernte. Ihre Träume und Wünsche waren seit der Kindheit stets die gleichen gewesen. Doch jetzt, an einem Punkt, wo sie sich diese Hoffnungen und Wünsche erfüllen könnte, fand sie sich am Anfang einer völlig anderen Zukunft wieder. Einer Zukunft, die sie nicht geplant hatte. Mit einem Stöhnen schlug sie die Hände vors Gesicht. Sie wußte, was sie tun wollte, aber sie mußte gegen das ankämpfen, was sie glaubte, tun zu müssen, und was ihr Vater und andere von ihr erwarteten. Sie blickte auf, als ihr Großvater ihre Hände nahm und sagte: »In jedem von uns liegt die Macht, Veränderungen in unserem Leben herbeizuführen. Niemand sonst kann uns sagen, wie wir leben sollen, außer wir geben ihm diese Macht, doch auch dann nur so lange, bis wir sie wieder zurückfordern.« Mit einem tiefen Seufzer fragte Sarah: »Wie war es denn bei dir? Wann hast du die Entscheidung getroffen, dein Leben so zu leben, wie du es für richtig hieltest?« Ihr Großvater saß einige Momente schweigend da, bevor er antwortete: »Es war kurz nachdem ich aus dem Krieg nach Hause kam. Ich hatte ein paar Tage mit meiner Familie und
Freunden verbracht, als meine Mutter begann, verschiedene Mädchen zum Essen einzuladen, von denen sie meinte, sie gäben passende Schwiegertöchter ab. Gleichzeitig verkündete mein Vater, er hätte mir einen Arbeitsplatz bei sich in der Mine beschafft.« Er fuhr mit den Fingern leicht über das Tagebuch und sagte gedankenverloren: »Als ich von zu Hause fort in den Krieg ging, war ich noch ein naiver Junge gewesen. Doch nachdem ich den Tod so vieler Freunde miterlebt hatte und wußte, wie vergänglich und kostbar das Leben ist, konnte ich es einfach nicht mehr ertragen, mich in die vorgegebene Bahn einzufügen. Ich wußte, dann würde ich irgendwann nach vielen Jahren aufwachen als alter Mann, der vieles zu bereuen hat. Jemand, der nie gewagt hatte, irgend etwas Außergewöhnliches zu versuchen, der nie gewagt hatte, seine Träume zu leben. Am nächsten Morgen ging ich fort, ohne zu wissen, wohin, nur in dem Bewußtsein, daß ich gehen mußte.« Sarah war klar, welchen Mut eine solche Entscheidung erfordert haben mußte, und sie schüttelte bewundernd den Kopf. Mit steifen Gliedern stand sie auf, massierte sich kurz die Schläfen und sagte: »Ich kann nicht mehr richtig denken.« Sie atmete tief durch, dann beugte sie sich vor und küßte ihren Großvater auf die Wange. »Ich komme dich morgen vormittag besuchen, sobald ich ein wenig nachdenken konnte.« »Vergiß das hier nicht.« Sarah hatte das Tagebuch auf den Tisch neben dem Bett ihres Großvaters gelegt, wo es sonst immer lag. Lächelnd nahm sie es, klemmte es unter den Arm und ging, ohne noch etwas zu erwidern. Joseph blickte auf die nackten Wände und verzog das Gesicht. Das unablässig flackernde Neonlicht an der Decke
störte ihn. Er seufzte tief, und bevor er einschlief, dachte er an den Feldwebel, der sein Leben so sehr beeinflußt hatte. Wie üblich erwachte er, noch bevor die ersten Sonnenstrahlen Farbtupfer in die Dunkelheit setzten. Zu seiner Überraschung sah er seine Enkelin auf dem Stuhl neben sich sitzen. Als sie merkte, daß er wach war, holte sie tief Luft und sagte: »Also gut, gehen wir.«
Während ihr Großvater sich mit den Ärzten wegen seiner Entlassung auseinandersetzte, fuhr Sarah zu ihm nach Hause, um noch einige Dinge zu holen, die er benötigte. Er wohnte in einem alten, aber sehr gut erhaltenen und weiträumigen Haus am Palm Beach, ungefähr fünfundzwanzig Minuten nördlich von Cairns. In den letzten Jahren war das ganze Gebiet fast völlig saniert und in eine exklusive Wohngegend verwandelt worden, aber hier und da hatten noch ein paar alte Häuser die Pläne der Stadtentwickler überlebt. Die Veranda ihres Großvaters ging direkt auf den Strand hinaus und bot einen unglaublichen Ausblick auf das Meer und die vielen Boote, mit denen die Touristen hinaus zum »Great Barrier Reef«, dem riesigen Korallenriff, befördert wurden. Große Fenster ließen während der schwülen Monate die kühle Ozeanbrise ins Haus und machten die Wohnbereiche hell und luftig. Sarah parkte ihren Wagen hinter dem Haus und nahm ein Taxi, um das Auto abzuholen, das ihr Großvater telefonisch reserviert hatte. Zu ihrer Überraschung stellte es sich als ein großes Fahrzeug mit Allradantrieb heraus. Sie quittierte dem Angestellten den Empfang samt Camping-Ausstattung und betrachtete nervös das große, kompakte Fahrzeug. Bis jetzt hatte sie hauptsächlich kleine Autos gefahren, und zudem meist mit Automatik.
Sie kletterte auf den Fahrersitz und starrte verständnislos auf den zweiten Schaltknüppel. »Was zum Teufel soll ich denn damit anfangen?« murrte sie vor sich hin. Sie beschloß, ihn vorläufig zu ignorieren, und fuhr los. Das Auto tat einen Satz nach vorne, und der Motor starb ab. »Kuppeln!« erinnerte sie sich an ihre Fahrstunde. Mit einem verlegenen Grinsen winkte sie dem besorgt aussehenden Angestellten zu. Ohne weitere Zwischenfälle kam sie am Krankenhaus an, wo sie ihren Großvater immer noch im Streit mit einem Arzt vorfand. »Ich selbst entscheide, was in meinem Interesse ist! Sie alle haben mir gesagt, daß es nichts gibt, was Sie tun können. Warum also sollte ich hierbleiben und Ihre Medikamente nehmen, von denen mir nur übel wird und die mich müde machen? Lieber möchte ich noch ein paar wenige Wochen gut leben als ein ganzes Jahr im Bett liegen und mich krank fühlen. Was würden Sie denn an meiner Stelle tun?« fragte er zum Schluß bittend. Der Arzt kapitulierte schließlich und nickte. Er stellte ein Rezept aus und wurde dann noch einmal sehr ernst. »Ich möchte, daß Sie das hier zweimal täglich nehmen, Mr. Williams.« Als der Arzt seinen sturen Blick sah, fuhr er ihn energisch an: »Keine Einwände mehr! Dieses Medikament ist nicht so stark wie das, was Sie bisher genommen haben, also werden auch die Nebenwirkungen nicht die gleichen sein, aber es wird zumindest ein wenig helfen. Ich verschreibe Ihnen auch ein starkes Schmerzmittel«, fügte er hinzu, und seine Stimme wurde sanfter. »Ich hoffe, Sie werden es nicht allzubald brauchen.« Der Arzt wünschte Joseph viel Glück und schüttelte ihm die Hand. Dann ging er, um sich um seine anderen Patienten zu kümmern.
Sarahs Großvater drehte sich mit einem strahlenden Lächeln zu ihr und rief aufgeregt: »Also los!« Sie schüttelte den Kopf und erwiderte fest: »Nicht bevor du dein Rezept abgeholt hast.« Joseph verzog enttäuscht das Gesicht. Sarah blickte über seine Schulter und blinzelte der lächelnden Schwester hinter ihm verschwörerisch zu. Auf dem Parkplatz betrachtete ihr Großvater begeistert den Geländewagen. »Ja, der ist perfekt. Bis vor ein paar Jahren hatte ich genau so einen Toyota.« Er öffnete die Tür und setzte sich auf den Beifahrersitz. » Laß uns erst noch irgendwo frühstücken und dabei die Reise planen«, schlug er dann vor. »Ich habe seit mindestens sechs Monaten kein anständiges Essen mehr bekommen.« »Na los!« drängte er, als sie sich nicht schnell genug bewegte. »Ich werde schließlich auch nicht jünger, weißt du.« »Mach nur so weiter, alter Mann«, murrte Sarah düster, »und du kannst den restlichen Weg nach Südaustralien zu Fuß gehen!«
Sie schoben die Reste ihres Frühstücks auf dem Tisch zur Seite und tranken ihren Kaffee, während sie die Karte von Australien studierten. »Wir haben bis zur Sonnenfinsternis noch fast drei Wochen Zeit, also dachte ich, wir könnten unterwegs ein paar kleine Abstecher machen. Was meinst du?« fragte Sarahs Großvater. Sarah nickte begeistert. »Unbedingt! Ich habe bisher ja noch nicht viel von Australien gesehen, weil ich immer nur in Cairns studiert und gearbeitet habe.« » Gut.« Er deutete auf die Karte. »Ich würde vorschlagen, daß wir zuerst nach Westen zum Kakadu National Park fahren, danach Richtung Süden nach Ayers Rock und dann erst runter nach Ceduna. Ist dir das recht?«
»Aber klar, warum denn nicht?« »Tja, du wirst schließlich die ganze Strecke hinter dem Steuer sitzen müssen.« »Was!« rief Sarah protestierend aus. »Was ist denn mit dir?« »Mit mir?« Er schaute sie unschuldig an. »Tut mir leid, fahren kann ich nicht. Ich nehme schließlich Medikamente, das weißt du doch.« Er grinste sie schelmisch an. »Aber ich bin noch nie mit einem Geländewagen gefahren, und schon gar nicht querfeldein!« »Tja, irgendwann ist immer das erste Mal.« Er lächelte sie an und tätschelte ihre Hand. » Mach dir nur keine Sorgen, du schaffst das schon.« Nachdem er die Karte zusammengefaltet hatte, stand er mit einem Anflug seiner früheren Lebhaftigkeit auf und sagte: »Wir haben einen langen Weg vor uns, meine Liebe, also was ist, brechen wir auf?« Bei dem Funkeln in seinen Augen mußte Sarah lächeln. Und so nahm sie den Arm, den er ihr anbot, und erwiderte lachend: »Ja, warum denn nicht.«
Am ersten Tag, als Sarah sich noch mit dem Fahrzeug vertraut machte, unterhielten sie sich über all das, was sie sehen würden, und ihr Großvater belohnte sie mit Geschichten von Abenteuern aus der Zeit vor ihrer Geburt. Während sie zuhörte und durch die scheinbar völlig unberührte Wildnis von Australiens Outback fuhr, spürte sie, wie in ihr ein kleines Saatkorn der Sehnsucht keimte, der Sehnsucht nach einem Leben, wie ihr Großvater es geführt hatte. Es schien, als gäbe es keinen Ort, den er nicht besucht hatte, manche sogar mehrmals. Als sie ihn darauf ansprach, erwiderte er: »Und warum kannst du das nicht auch?«
»Wir leben jetzt in einer völlig anderen und viel komplizierteren Welt als damals, als du auf deinen Abenteuerreisen unterwegs warst, Großvater«, antwortete sie. »Unsinn!« entgegnete er nachdrücklich. » Das einzige, was sich geändert hat, ist, daß die Leute jetzt ausgefallenere Entschuldigungen vorbringen.« Nachdenklich blickte er aus dem Fenster, und nach einer Weile fuhr er fort: »Als ich zu reisen begann, sagten die Leute genau das gleiche. Doch damals wie heute ging es eigentlich um Ängste. Die Vorstellung einer solchen Veränderung war einfach zuviel für sie. Sie hatten es sich bequem gemacht in der Vertrautheit ihres Lebens, sich selbst an die Dinge gewöhnt, die sie eigentlich gar nicht mochten. Ein unglückliches Leben, das sie kannten, war weniger furchteinflößend als die Aussicht auf eine schönere Zukunft, die erst geschaffen werden mußte und mit unbekannten Risiken behaftet war. Oftmals sagten mir Bekannte, sie wünschten, sie könnten mit mir kommen, und ich antwortete, sie könnten es doch durchaus. Ich war nichts Besonderes, ich unterschied mich gar nicht so sehr von ihnen, aber wenn die Zeit zum Handeln kam, schreckten sie zurück. Ich will damit nicht sagen, daß ich weniger von ihnen hielt. Sie waren eben nur einfach nicht bereit, ihr Lebensmuster zu ändern.« Er seufzte und sah sie ein wenig traurig an. »Der Jammer dabei ist, daß viele von ihnen zugaben, überhaupt keine Freude an ihrer Arbeit zu haben. Es war nur die Furcht vor dem Unbekannten, die sie festhielt.« »So einfach ist es nun auch wieder nicht«, protestierte Sarah. »Die meisten Leute können eben nicht einfach so abhauen und aus einer Laune heraus ihre Arbeit hinschmeißen.« »Natürlich nicht«, stimmte ihr Großvater zu, »aber wenn du dein halbes Leben mit Arbeit verbringst, weshalb dann mit
einer Arbeit, die du nicht magst oder die dich nicht befriedigt?« fragte er und schüttelte den Kopf. »So oft versuchte ich meinen Freunden eines klarzumachen: Wenn du schon arbeiten mußt, dann sollte es auch etwas sein, was du gerne tust. Etwas, was dir Befriedigung verschafft.« »Aber viele Menschen haben gar nicht die Fähigkeiten, das zu ändern«, wandte Sarah ein. »Was hält sie davon ab, sich diese Fähigkeiten anzueignen?« fragte ihr Großvater. »Nichts! Wenn du fünf Jahre lang Abendkurse belegen müßtest, um dein Ziel zu erreichen, würdest du es denn nicht tun? Nach fünf Jahren könntest du dann in deinem Traumberuf arbeiten oder so leben, wie du es dir gewünscht hast. Natürlich gibt es keine Garantien, und genau das hält auch die meisten Leute davon ab. Aber was hast du denn schon zu verlieren? Wenn du es nicht schaffst, bist du in fünf Jahren lediglich mehr oder weniger da, wo du jetzt ohnehin bist.« Sarah gingen die Einwände aus. Sie lächelte wehmütig, da sie bei sich selbst ein ähnliches Abwehrmuster erkannte, und war in Gedanken versunken, als ihr Großvater fortfuhr: »Wir sollten keine Angst vor Veränderungen haben, denn das Leben wird von Veränderungen bestimmt. Statt dessen sollten wir uns davor fürchten, uns nie zu verändern.« Als die Sonne sich allmählich dem Horizont näherte, schlugen sie ein paar hundert Meter von der Straße entfernt ihre Zelte auf. Der donnernde Lärm der riesigen Schwerlaster war dort kaum mehr zu hören. Ihr Großvater machte aus einigen herumliegenden trockenen Ästen ein ordentliches Feuer, und sie ließen sich davor nieder – mehr wegen des fröhlichen Flackerns, als um sich zu wärmen. Während Sarah die Zelte aufstellte, erfreut, unter der Camping-Ausrüstung zwei Luftmatratzen zu entdecken, sorgte Joseph fürs Essen. Es erschreckte ihn, wie geschwächt er von
den Nachwirkungen der Medikamente war. Zwischendurch mußte er sich immer wieder setzen, denn er zitterte und schwitzte unter der Anstrengung, die Kochausrüstung auszupacken. Glücklicherweise war Sarah beschäftigt und hatte nicht bemerkt, wie schwer ihm diese kleine Aufgabe gefallen war. Als sie sich schließlich zu ihm gesellte, hatte er sich bereits wieder erholt, und sie plauderten, während er kochte. Nach dem Essen erklärte Joseph, bald schlafen gehen zu wollen. Seine Enkelin sollte nicht merken, wie erschöpft er war. Als er sich erhob, schlug er ihr vor, doch noch ein wenig aufzubleiben und die Sterne zu betrachten, sobald das Feuer aus wäre. »Du wirst es nicht bereuen. Ich wette, so etwas hast du in der Stadt noch nie gesehen.« Er gab ihr einen Kuß auf die Stirn und wünschte ihr eine gute Nacht. Ziemlich lange starrte Sarah in die hypnotisierenden Tiefen der Flammen und dachte über all das nach, worüber sie heute gesprochen hatten. Das Feuer war schon beinahe ausgegangen, als sie schließlich das Tagebuch ihres Großvaters herauszog. Schnell fachte sie es mit ein paar Zweigen wieder an, um ausreichend Licht zu haben, und blätterte durch die Seiten, bis ihr ein eigenartiger Name ins Auge stach. Auf einer Seite stand ganz oben in der Ecke das Wort Machhapuchhare, daneben das Jahr 1957. Nachdem Sarah ein Stück gelesen hatte, wurde ihr klar, daß es der Bericht über den Versuch war, einen Berg in Nepal zu besteigen, und es dauerte nicht lange, da war sie so vertieft in die Geschichte, als wäre sie selbst dabei.
Machhapuchhare 1957 »Beeile dich!« rief ich. »Ich kann nicht mehr länger halten.« Der Wind, der um die zerklüfteten Felsen und das Eis heulte, trug meine verzweifelten Schreie davon, so daß der Mann, der etwa zehn Meter unter mir hing, sie über das Wüten des plötzlich wie aus dem Nichts aufgekommenen Sturmes hinweg kaum hören konnte. Meine Finger verkrampften sich, und wieder schlüpften ein paar Zentimeter Seil durch meinen Griff und schürften die Haut auf, so daß sie wie Feuer brannte. Vor Schmerz sog ich scharf die Luft ein. Mit einem Blick über den Rand der Felswand, gegen die ich mich stemmte, riskierte ich, kopfüber hinabgezogen zu werden. Doch ich mußte herausfinden, ob mein Partner wieder Halt am Fels gefunden hatte. Seit zwei Monaten hatte ich mich mit fünf anderen an die dünne Luft an den Hängen des Machhapuchhare gewöhnt, der als einer der schönsten Berge in Nepal gilt. Auch wenn er mit einer Höhe von nur siebentausend Metern nicht der höchste Berg in der Region war, hatte die nepalesische Regierung nie vorher die Erlaubnis zur Besteigung erteilt, und es schien auch höchst ungewiß, ob sie es je wieder tun würde. Es war also eine einmalige Gelegenheit, zu der Handvoll Männer zu gehören, die diesen Berg überhaupt ersteigen konnten. Aber jetzt, so nahe am Gipfel, schien es, als würde uns diese Möglichkeit noch genommen. Ich spürte die Spannung des Seils nachlassen und blickte nach unten. Mit Erleichterung sah ich, daß mein Partner sich wieder an der eisigen Wand festgemacht hatte, von der er kurz zuvor abgerutscht war. Erschöpft sank ich auf die Knie. Es kam mir vor, als wäre eine ganze Stunde vergangen, nicht nur eine einzige Minute, und ich holte mehrere Male tief Luft, um
mich zu beruhigen. Ohne Erfolg. Die Höhenluft und die Kälte zehrten an meinen Kräften in gleichem Maße, wie sie zurückkehrten. Als ich über meine Schulter schaute, erhaschte ich durch den wirbelnden Schnee kurze Blicke auf den Gipfel, der nur etwa dreißig Meter über uns aufragte. Doch der Berg hatte uns besiegt. Unter diesen Bedingungen würden wir den Gipfel nie erreichen. Der Versuch würde uns das Leben kosten. Wir benötigten jetzt jede Sekunde, um in den Schutz unseres Lagers zurückzukehren, bevor die wahre Wucht des Sturmes uns erfaßte. Mein Partner erreichte den sicheren Vorsprung, wo ich abwartete, bis er sich vom Schock des Beinahesturzes erholt hatte. Er schenkte mir ein verzerrtes Lächeln. Worte waren nicht nötig, er hatte mich ebenfalls schon einige Male vor dem Absturz gerettet. Wir berieten uns kurz und beschlossen, über den Kamm abzusteigen. Es würde zwar länger dauern, aber dadurch hätten wir ein wenig Schutz vor dem Wind, und es war weitaus sicherer als die Route über die vereiste Felswand, die wir gerade bezwungen hatten. Wir warfen einen letzten Blick auf den Gipfel, dann machten wir uns resigniert auf den langen Weg nach unten zu unserem Lager. Mit der Dunkelheit stellten sich neue Probleme ein. Nicht nur, daß wir achtgeben mußten, keinen falschen Schritt zu tun, es würde auch gar nicht so einfach sein, im einförmigen Grau des Schneesturmes unser Lager zu finden. Als wir endlich das Plateau erreichten, wo wir unsere Zelte aufgeschlagen hatten, riefen wir nach unseren Freunden, in der Hoffnung, daß sie unsere Rufe hören und uns leiten würden. Wir wurden zusehends verzweifelter, und fast sah es aus, als müßten wir nur wenige Meter vom rettenden Unterschlupf entfernt
erfrieren. Da stolperte ich über etwas und fiel mit dem Gesicht voran in den Schnee. Als ich so dalag, genoß ich es, die Kälte nicht mehr zu spüren, und fühlte, wie eine angenehme Trägheit sich in mir ausbreitete. Mein Partner drehte mich um, griff in mein Haar und zog schmerzhaft daran, mit der anderen Hand schlug er mich fest ins Gesicht. Meine Augen brannten von dem stechenden Schmerz, und die Kälte wurde wieder spürbar. »Mein Gott!« rief ich und rieb mir die Wange. »Mußt du so fest zuschlagen?« In seiner Stimme schwang ein Grinsen mit. »Du wirst mir später noch danken. Sieh doch mal genau hin!« Er deutete auf das, was mich zu Fall gebracht hatte. Zwischen den Zelten im Lager hatten wir Drähte gespannt, damit wir uns bei schlechtem Wetter nicht verliefen, und genau so ein Draht war es, über den ich gestolpert war. Närrisch vor Erleichterung lachte ich und versprach: »Ich gebe dir einen dicken fetten Kuß, wenn wir erst im Zelt sind.« Als Antwort hielt er mir warnend eine Faust vor die Nase. Wir lachten beide und folgten dem Draht zurück zu unserem Zelt. Unterwegs gaben wir den anderen Bescheid, daß wir wieder zurück waren.
Der Sturm wütete immer noch, als wir erwachten. Wir konnten nichts tun, außer uns gegen den Zeltrahmen zu stemmen, damit der Wind es nicht umwehte. Während der Sturm draußen tobte, sprachen wir über viele Dinge, und je weiter der Tag fortschritt, desto mehr redeten wir auch über uns selbst. »Ich kann nicht glauben, daß wir so weit gekommen sind, nur um am Ende doch zu versagen«, sagte ich mit einem Seufzer. Dies war mein erster Berg, und während der vergangenen
beiden Monate hatte ich von nichts anderem geträumt, als auf dem Gipfel zu stehen und auf die Welt unter mir zu blicken. Mein Partner sah mich verständnisvoll an. Francis war ein erfahrener Bergsteiger, und wir hatten die letzten Monate viel Zeit zusammen verbracht. Jetzt sagte er: »Es wird immer etwas geben, worauf du keinen Einfluß hast, aber einen echten Fehlschlag erleidest du nur dann, wenn du dich dadurch davon abhalten läßt, es überhaupt zu versuchen. Wenn du nichts wagst, erreichst du auch nichts. Es ist besser, es zu versuchen und zu versagen, als mit dem Bewußtsein zu leben, daß du Angst vor dem Versuch hattest.« Ich schwieg eine Weile und verarbeitete das, was er gesagt hatte. Mir wurde klar, daß mehr Tiefe in diesen Worten lag als in den beiläufigen Unterhaltungen, die wir bisher geführt hatten. Er blickte nach oben, als könne er durch das Zeltdach und den tosenden Sturm hindurch zum unendlichen Sternenhimmel über uns sehen, dann sagte er: »Manche Menschen gehen durchs ganze Leben, ohne jemals irgend etwas zu versuchen, weil sie Angst haben, dabei zu versagen. Damit versagen sie allerdings in der Erkenntnis, daß die Mutigen vielleicht nicht ewig leben mögen, die Vorsichtigen jedoch gar nicht.« Als hätte ihn diese Überzeugung mit unserem Schicksal versöhnt, schloß er die Augen und schlief ein, noch während er, gegen die Zeltstange gelehnt, dasaß. Gedankenverloren betrachtete ich ihn eine Weile, dann zog ich dieses Tagebuch heraus, um die Einsichten aufzuschreiben, die mich berührt hatten. In dieser Einsamkeit dachte ich über das heben nach und darüber, wie viele von uns abgestumpft vor sich hinleben. Beim flackernden Licht einer Kerze versuche ich nun, die Quintessenz der Einstellung festzuhalten, in die wir allzuoft verfallen, um mich selbst daran zu erinnern, daß es irgendwann eben kein Morgen mehr geben wird.
Morgen, ja morgen…
werde ich ein besserer Vater sein
und mehr Zeit mit meinen Kindern verbringen;
dann wird meine Familie vor meiner Arbeit kommen.
Ich werde besser auf meine Ernährung achten
und anfangen, Sport zu treiben,
weil ich weiß, daß es nötig ist.
Ich werde seltener mit meinen Freunden ausgehen,
und mich statt dessen öfter mit meiner Frau unterhalten.
Ich werde daran denken, meine Großeltern anzurufen,
und lernen, mehr Geduld mit anderen zu haben.
Ich werde endlich das Rauchen aufgeben
und weniger Alkohol trinken.
Ich werde fliegen lernen, wie ich es mir
immer gewünscht habe,
und mir vor Augen führen, daß alles möglich ist,
wenn ich nur hart genug arbeite,
um meine Träume wahr werden zu lassen.
Ich werde jeden Tag eine gute Tat vollbringen,
damit die Welt ein besserer Ort wird.
Ich werde nur noch die Wahrheit sagen,
selbst wenn es zu meinen Lasten geht,
weil es einfach richtig ist.
Aber heute noch nicht.
Heute muß ich zu viele Rechnungen bezahlen,
heute habe ich zuviel dringende Arbeit zu beenden.
Heute waren die Kinder unartig,
und ich brauche eine Zigarette,
um meine Nerven zu beruhigen. Heute habe ich einfach nicht die Zeit. Aber morgen, ja morgen, da werde ich all die Dinge tun, die ich tun sollte, und alles wird besser sein. Morgen werde ich mir für all das die Zeit nehmen, denn tief im Inneren weiß ich, daß alles, was ich nicht sofort in Angriff nehme, gar nicht passieren wird, denn heißt es nicht immer: Morgen ist auch noch ein Tag? Aber heute noch nicht.
Ich habe mein Tagebuch durchgeblättert und über all das nachgedacht, was ich seit meinem Aufbruch von zu Hause aufgeschrieben habe. Daraufhin habe ich mir vorgenommen, meine Familie zu besuchen. Ich habe sie seit Jahren nicht mehr gesehen. Sie schätzen das von mir gewählte Leben nicht und wünschten, ich hätte mich statt dessen niedergelassen, wie »achtbare« Leute es eben tun. Der tiefe Graben zwischen uns ist teilweise meine Schuld. Ich hatte nicht die Geduld, nach einem Weg zu suchen, um ihnen die Beweggründe für mein Fortgehen verständlich zu machen. Doch während ich meinen letzten Eintrag noch einmal las, habe ich beschlossen, diese Kluft zwischen uns nicht länger bestehen zu lassen.
Sarah schloß das Tagebuch und starrte ins Feuer, bis es nur noch ein Häufchen Glut war. Sie erinnerte sich an den
Vorschlag ihres Großvaters, blickte zum Himmel und staunte voller Ehrfurcht. Zu Hause im Zentrum von Cairns schluckten die Lichter der Stadt fast alle Sterne, bis auf die hellsten. Aber selbst wenn es nicht so gewesen wäre, hätte sie diese dort wohl nie gesehen. Wie so viele andere Menschen, die sich auf das unmittelbar vor ihnen Liegende konzentrierten, war es ihr nie in den Sinn gekommen, einfach nur den Kopf in den Nacken zu legen und den Blick gen Himmel zu richten, nicht einmal für einen Moment. Als Sarah nun den breiten Streifen von Sternen betrachtete, der den Himmel teilte, kehrte vorübergehend das kindliche Erstaunen über die Welt zurück, das uns allen viel zu früh verlorengeht. Hier draußen verstand sie endlich, warum diese Sternenkonstellation Milchstraße genannt wurde. Die Sterne waren so zahlreich, und es schien beinahe so, als könnte man die Hand ausstrecken und sie berühren. Lockende Umrisse schwebten gerade außerhalb ihrer Sicht, verschwanden jedoch, sobald sie direkt darauf blickte. Sie beschloß, sich im nächsten Ort ein Fernglas zu kaufen, um diesem Geheimnis auf den Grund zu gehen. Was sie am meisten überraschte, waren die Farben. Sie hatte immer gedacht, Sterne wären einfach weiß, aber hier draußen, fern von den Lichtern und der Luftverschmutzung der Städte, erkannte sie, daß sie rot und orange waren, und einige schimmerten sogar in einem schwachen Blau und Grün. Sarah war so hingerissen von dem Anblick, der sich ihr bot, daß sie völlig verblüfft war, als der Himmel im Osten heller wurde und den neuen Tag ankündigte. »Warst du die ganze Nacht hier draußen?« fragte ihr Großvater und stocherte in den Überresten des Feuers, während er sich setzte. Als Sarah nickte, lächelte er erfreut. »Ich wußte, daß dieses Leben dir im Blut liegt. Bei mir war es
das gleiche. Wenn du es einmal geschmeckt hast, willst du es nie mehr aufgeben. Aber mach doch jetzt noch ein Nickerchen, bevor wir frühstücken. Es ist ein langer Weg nach Kakadu, und wir werden ein rauhes Land durchqueren, um dorthin zu gelangen.«
Die Schmerzen wurden jeden Tag schlimmer. Seine Hände zitterten, als er den Verschluß des Fläschchens mit den Schmerztabletten öffnen wollte. In den letzten Tagen hatte er sie zweimal täglich nehmen müssen, statt nur am Morgen. Er wußte, hier draußen würde er schneller sterben. Sie hatten vier Tage damit verbracht, den KakaduNationalpark zu erkunden, hatten dabei unglaubliche und unerwartete Sehenswürdigkeiten entdeckt und darüber hinaus viel über die kulturelle Bedeutung des Gebiets für die Aborigines erfahren. Sarah hatte ihre neue Digitalkamera bereits gut brauchen können und mußte sogar einige weitere Speicherkarten für die vielen Fotos, die sie gemacht hatte, kaufen. Außerdem war sie zu einer begeisterten Offroad-Fahrerin geworden, nachdem sie ihre anfänglichen Ängste überwunden hatte. Jetzt pflügte sie nur so zum Spaß durch einen Bach oder über einen groben Schotterweg, und ihr Grinsen wurde immer breiter, je größer die Hindernisse wurden. Dennoch hatten sie lediglich einen winzigen Teil der 20 000 Quadratkilometer geschafft, die dieses Naturschutzgebiet umfaßte. Schließlich mußten sie sich einfach dem Zeitdruck beugen, wenn sie Ceduna vor der Sonnenfinsternis erreichen wollten. Bevor Sarah den Park verließ, sah sie sich ein letztes Mal um und wußte, sie würde eines Tages, in nicht zu weiter Ferne, hierher zurückkehren.
Beim Einsteigen in das Fahrzeug durchfuhr Joseph ein besonders stechender Schmerz, und er mußte tief Luft holen. Er hielt sich am Türrahmen fest, um nicht zu stürzen, und ließ dabei das Pillenfläschchen fallen, das er gerade geöffnet hatte, so daß der Inhalt über den roten Boden kullerte. »Großvater? Alles in Ordnung?« rief Sarah besorgt von der anderen Seite des Wagens. Er riß sich zusammen, während sie ums Auto ging, und lächelte sie an. »Alles bestens. Meine Finger sind nur nicht mehr so beweglich wie früher.« Er bückte sich, um die Pillen wieder aufzuheben, und ignorierte dabei die Schmerzen, die in seinem Bauch wüteten. »Fahren wir«, sagte er dann. »Ich möchte morgen abend in Ayers Rock sein, damit wir dort den Sonnenuntergang sehen können. Das ist etwas ganz Besonderes. Da kannst du ein herrliches Farbenspiel auf dem roten Sandstein beobachten.« Während er sich aufrichtete, holte er zitternd Luft und wischte sich mit dem Ärmel den feuchten Schweiß vom Gesicht. »Heh Mann, halt noch ein klein wenig durch«, sagte er leise zu sich selbst. » Nur noch ein klein wenig.«
Als sich die weite Ebene mit ihrer trockenen roten Erde vor ihnen in allen Richtungen erstreckte, aufgelockert nur durch niedrige Büsche und Pflanzen, fragte Sarah über das Dröhnen des Motors hinweg: »Wohin bist du denn eigentlich als erstes, als du angefangen hast zu reisen, Großvater?… Was war der erste Ort, wo du mehr als ein paar Tage verbracht hast.« Er schloß die Augen und lächelte, als die Erinnerungen zurückkehrten. Daß sein Erinnerungsvermögen nie nachgelassen hatte, dafür war er besonders dankbar. Er konnte sich an die meisten Dinge in seinem Leben erinnern. Da fiel ihm ein, daß dies vielleicht gar nicht stimmte, und er mußte
insgeheim lachen. Womöglich war ihm all das, was er vergessen hatte, ja nur nicht bewußt. Trotz der Schmerzen, die inzwischen zum ständigen Begleiter geworden waren, belustigte ihn der Gedanke, als er antwortete: »Ich glaube, ich habe es vergessen, aber um sicher zu sein, müßte ich mich erinnern.« Vor seinem geistigen Auge verwandelten sich die trockene rote Erde und der strahlend blaue Himmel in ein Land von Eis und Schnee. Rauhe kalte Winde wehten unablässig, saugten die Wärme aus jedem ungeschützten Teil des Körpers, und schiefergraue Wolken zogen über den Himmel. Turmhohe Eisberge stießen im Treibeis vor ihm aneinander. Einige Kilometer entfernt schob sich ein Gletscher ins Meer hinaus, und man meinte fast, die Kälte, die von ihm ausging, auf der Haut zu spüren. Bei Einbruch der Nacht und klarem Himmel funkelten die Sterne mit einer unglaublichen Intensität. Dieses Naturschauspiel bot sich jede Nacht, außer es wurde von den wechselnden Leuchterscheinungen des Nordlichts übertrumpft. Der alte Mann kehrte nun wieder in die Gegenwart zurück und berichtete Sarah von seiner ersten Reise nach Ellesmere Island, der Insel im Nordosten des Kanadisch-Arktischen Archipels, und von einigen seiner Abenteuer in dieser Eiswüste. Er mußte lächeln, als er die Gänsehaut auf seinen Armen bemerkte, und erzählte fast eine Stunde lang, bevor die Anstrengung, die Stimme über das Motorengeräusch zu erheben, ihn heiser werden ließ. »Es steht mehr darüber im Tagebuch, wenn es dich interessiert. Viel mehr als das, was ich dir erzählt habe. Aber sei vorsichtig«, fügte er hinzu. »Vielleicht findest du dich eines Tages selbst dort wieder und willst nie mehr weg.« Sarah versuchte sich vorzustellen, wie es dort sein mochte, und konnte den Abend kaum erwarten, um mehr darüber zu
erfahren. Sie empfand eine tiefe Genugtuung, wenn sie im Tagebuch ihres Großvaters von seinen Erlebnissen lesen konnte. Sie fühlte sich ihm dadurch näher als ihrem eigenen Vater, und seine niedergeschriebenen Erkenntnisse brachten sie dazu, über ihr eigenes Leben und ihre Pläne für die Zukunft nachzudenken. Als sie an diesem Abend ihr Lager aufschlugen, servierte sie ihre neueste kulinarische Kreation. Ihr Großvater schnüffelte mißtrauisch daran, denn er hatte gelernt, nicht so unvorsichtig zu sein und einfach alles zu essen. Während seine Enkelin sich seiner Meinung nach im rauhen Outback in vielen Dingen weiterentwickelt hatte, galt das jedoch nicht für ihre Kochkunst. »Was soll das denn sein?« Mit stolzem Blick antwortete sie: »Versuch es einfach. Es wird dir garantiert schmecken.« Da er die Ursachen ihrer meisten Fehlschläge kannte, fragte er: »Hast du es beim Kochen mal abgeschmeckt?« »Das war nicht nötig«, antwortete sie überheblich. »Ich wußte schon von Anfang an genau, wie es schmecken würde.« Und mit einem gespielt strengen Blick fügte sie hinzu: »Und jetzt iß schon, bevor ich dir einen Nachschlag gebe.« Mit einem resignierten Seufzer nahm er einen Mundvoll und mußte sich sehr zusammennehmen, um es nicht gleich wieder auszuspucken. Irgendwie zwang er sich, das Zeug hinunterzuschlucken, dann schüttete er ungefähr einen halben Liter Wasser hinterher. »Also komm«, beschwerte sich Sarah, »so schlimm kann es doch auch wieder nicht sein. Männer sind solche Memmen!« Sie nahm eine Gabel voll und kaute ungefähr fünf Sekunden andächtig. Dann – unfähig, es noch länger auszuhalten – gab sie auf und spuckte es ins Feuer.
Er lachte so herzhaft, daß er sich die Seite halten mußte und ihm Tränen übers Gesicht liefen. Zwischendurch stieß er hervor: »Ich hab es dir ja gesagt.« Sie versuchte, beleidigt dreinzusehen, doch es gelang ihr nicht, und so stimmte sie in sein Gelächter ein. »Vielleicht sollte ich beim Kochen tatsächlich mal einen Löffel voll probieren. Es schmeckt wirklich ziemlich einmalig, oder?« Joseph stand auf, um seine Enkelin zu umarmen, während sie gerade eine Dose Bohnen hervorholte. »Ich danke dir, Sarah. Ich habe schon lange nicht mehr so gelacht. Das letzte Mal war deine Großmutter noch am Leben.« Sie ließ die Dose fallen und umarmte ihn auch ganz fest. Als ihr Tränen über die Wangen liefen, wischte er sie fort. »Weine doch nicht«, bat er leise und deutete auf das sie umgebende Land. »Du hast mir ein so einzigartiges Geschenk gemacht. Du hast mir geholfen, wieder frei zu sein. Laß uns diese Reise vom Anfang bis zum Ende genießen.« Er hob die Dose auf. »Aber wenn du nichts dagegen hast, würde ich die Bohnen lieber selbst zubereiten.« Sie wischte die restlichen Tränen fort und meinte lächelnd: »Das wäre vielleicht gar keine so schlechte Idee.« Später in der Nacht, als sie allein am Lagerfeuer saß, kamen die Tränen auf einmal wieder. Schniefend fuhr sie sich zwischendurch immer wieder übers Gesicht und suchte Trost in den Erlebnissen und Weisheiten des Tagebuchs. Gleich auf der ersten Seite hielt sie inne. Ihr Großvater hatte ihr nie erzählt, wie genau er zu dem aufgeklebten Papierstück gekommen war, aber sie fühlte, daß es ihm viel bedeutete. Als sie die Worte noch einmal las, wurde ihr klar, wie sehr sie auf ihr eigenes Leben paßten.
Als ich jung war, hatte ich allerlei Ideen. Während sie dann durch das Buch blätterte, fiel ihr ein anderer Satz auf, der oben auf eine Seite geschrieben stand. Wenn wir all das wegnehmen, was wir sein sollen, was bleibt dann übrig?
Craig Harbour, Ellesmere Island, am Nördlichen Polarkreis, im Jahre 1947 Ich bin nun schon fast fünf Monate hier. Einen Großteil dieser Zeit blieb die Sonne hinter dem Horizont verschwunden, vertrieben von der Polarnacht. Dieser Ort ist anders als alles, was ich je gesehen habe. Wochenlang beobachtete ich fasziniert, wie die Sonne über den Horizont glitt und immer niedriger sank. Sie war nur wenige Stunden am Tag sichtbar und tauchte das Land in einen fortwährenden Sonnenuntergang. Jetzt ist sie gar nicht mehr zu sehen, aber um die Mittagszeit kann ich ihren Verlauf am Hellerwerden des Himmels am Horizont erkennen. Ehe ich hierherkam, war ich nie lang stehengeblieben, um die Sterne zu betrachten, aber in diesem Land der Dunkelheit ertappe ich mich auf einmal dabei, viele Dinge zu tun und zu entdecken, die ich nie vorher für möglich gehalten hätte. Ich bin hier als Verwalter des Stützpunktes der Königlich Kanadischen Polizei. Dieser Außenposten ist seit 1940 geschlossen und war zuvor während der letzten fünfzehn Jahre bereits mehrfach geschlossen und wieder eröffnet worden. Auch derzeit ist der Stützpunkt nicht besetzt, obwohl man es anscheinend vorhat. Ich wollte mir die Gelegenheit einfach nicht entgehen lassen, in einem so kalten und einsamen
Land zu leben, das so ganz anders ist als mein Zuhause. Schon die vergangenen zwei Jahre habe ich nach einem Ort gesucht, der sich von allem unterschied, was ich kannte. Ich wollte an einem Ort leben, den ich mit nichts vergleichen könnte. Sobald ich in dieser unwirtlichen Gegend ankam, wo Eisberge hoch über unserem Schiff aufragten und Walrosse ihre Empörung über unser Eindringen laut grunzend bekundeten, wußte ich, daß meine Suche endlich erfolgreich gewesen war. Nachdem wir die Vorräte vom Schiff abgeladen hatten, wünschte der Kapitän mir viel Glück für das nächste Jahr. Die meisten Leute hielten es hier nicht viel länger aus. Die Einsamkeit und Dunkelheit wurden ihnen unerträglich. Es gab jedoch auch einige wenige, die gerade diese Bedingungen zu schätzen wußten und die hier richtiggehend aufblühten. Als ich mein neues Domizil erkundete, entdeckte ich einen herrlichen Gletscher, der unaufhaltsam ins Meer hinausglitt. Ich sah ehrfürchtig zu, wie ein großer Eisblock sich vom Hauptgletscher mit einem langen traurigen Stöhnen löste, als sei diese Teilung schmerzhaft für ihn. Dröhnendes Krachen, so laut wie Kanonenfeuer, hallte über den Hafen. Als dieser neueste Eisberg schließlich ins Wasser stürzte, schwappte eine riesige Welle hoch und erschreckte die vielen Vögel, die zwischen dem Treibeis nach Nahrung suchten. Kreischend stiegen sie in riesigen Schwärmen in den Himmel. Als ich so alleine am menschenleeren Ufer stand, begriff ich, welche Anziehung solche Orte auf jene ausüben, die vor den geschäftigen Menschenmassen und dem unablässigen Lärm unserer Gesellschaft Zuflucht suchen.
Letzte Nacht war ich Augenzeuge der furchtbaren und wilden Schönheit der Natur.
Ich lief einen Strand entlang, der von Millionen von runden Steinen übersät war, als ich die Kolonie der Walrosse laut grunzen und röhren hörte. Neugierig ging ich in ihre Richtung, bis ich den Grund für ihre Unruhe sah. Ein junges Walroß hatte den Schutz der Herde verlassen und wurde jetzt von einem besonders großen Polarbären bedroht. Man hatte mich davor gewarnt, mich jemals mit diesen Tieren anzulegen, und so ging ich in die Hocke, um seine Aufmerksamkeit nicht zu erregen. Dem Walroß gelang es, den Bären mit seinen langen und dolchähnlichen Eckzähnen abzuwehren, doch der Bär hatte sich zwischen ihm und der Herde in Stellung gebracht. Das junge Tier wurde immer nervöser, und schließlich verließ es der Mut, und es versuchte zu fliehen. Darauf hatte der Bär offensichtlich nur gewartet, denn mit einer unglaublichen Geschwindigkeit, die ich ihm nie zugetraut hätte, sprang er das Walroß an und tötete es mit einem einzigen geübten Schlag. Nach einem verächtlichen Brüllen in Richtung der Herde zog er den Kadaver des Jungtieres fort, um ungestört fressen zu können. Dieser Vorfall erinnerte mich daran, daß die Natur oft rauh und mitleidslos ist und wir die Welt um uns herum immer mit Respekt behandeln müssen. Wir sind gleichgültig geworden und nicht mehr im Einklang mit unserer Umwelt, in der Meinung, wir könnten sie jederzeit unseren Launen entsprechend ändern. Und wenn die Natur uns daran erinnert, daß dies eben nicht immer so geht, sind wir stets überrascht und fragen schockiert: »Wie konnte das nur passieren?« Hier in dieser Einsamkeit habe ich angefangen, viele Dinge, die ich für gegeben betrachtet habe, mit anderen Augen zu sehen, und jetzt frage ich: » Wie hätte es denn nicht passieren sollen?«
Mehr und mehr habe ich mich an die Stille gewöhnt. Seit mir niemand mehr sagt, wie ich leben soll und was ich brauche, um glücklich zu sein, mache ich mir immer mehr so meine eigenen Gedanken. Wie oft definieren wir uns doch durch die Dinge, die wir besitzen. Wenn wir ein neues Auto und ein großes Haus haben, sind wir dann nicht erfolgreich? Wenn wir etwas haben, was sich jeder wünscht, sind wir dann nicht zu beneiden? Hier habe ich nichts von all jenen Dingen, die auch ich einst für so wertvoll hielt, aber es kümmert mich nicht. Denn in Ermangelung all der anderen Dinge habe ich mich selbst gefunden. Von Geburt an werden wir mit Lärm und Ablenkungen bombardiert, ist es denn bei all diesem Tumult verwunderlich, wenn wir aufwachsen, ohne je unsere eigene Stimme zu hören? Von klein auf durch raffinierte Verkaufsstrategien geformt, geprägt durch ganze Generationen von Erwartungen, und geschliffen durch die täglichen Gewohnheiten, wachsen wir in das hinein, was andere Leute von uns erwarten. Selten, wenn überhaupt, erkennen wir unsere eigene Persönlichkeit und unsere Fähigkeiten. In der Sehnsucht nach Anerkennung opfern wir unsere geheimen Träume und Wünsche, um die Erwartungen der Menschen zu erfüllen, deren Beifall wir suchen. Wir fürchten die Einsamkeit, doch ist sie wirklich so furchtbar? Durch meinen Aufenthalt hier erkenne ich, daß sie das nicht ist. Mir wird jetzt klar, wie wichtig es ist, sich seine eigenen Gedanken zu machen und Entscheidungen selbst zu treffen. Es ist UNSER Leben. Sollten WIR es nicht leben? Viel zu oft vergessen wir, daß wir ein Teil in der Planung anderer werden, wenn wir unsere Zukunft nicht selbst planen.
Wir sind ja so stolz auf unsere Individualität und doch bemühen wir uns, zu dem zu werden,
was andere von uns erwarten.
Auf der Suche nach Anerkennung verzichten wir darauf,
unser Leben selbst zu bestimmen, und gestatten anderen,
über unser Schicksal zu entscheiden.
Um uns zu trösten, schaffen wir die tollsten Dinge,
die uns unterhalten, beschäftigen,
ja sogar glücklich machen sollen die uns vor allem davon abhalten sollen,
über all das nachzudenken, was wir verloren haben.
Wir sehen uns als Meister aller Schöpfung haben wir jedoch nicht die Kraft,
für uns selbst zu entscheiden,
dann sind wir niemandes Meister.
Wir leben in einem Käfig,
geschmiedet aus Erwartungen, Regeln und Gewohnheiten,
so lange schon leben wir innerhalb dieser Grenzen,
daß wir unsere Gefangenschaft vergessen haben.
Wenn wir all das wegnehmen, was wir sein sollen,
was bleibt dann übrig?
Bleibt überhaupt etwas übrig? Sarah blickte vom Tagebuch auf und rieb sich über die Arme. So vertraut war ihr mancher Gedanke, daß sie eine regelrechte Gänsehaut bekommen hatte. Es schien ihr immer wieder, als ob dieses Tagebuch für sie geschrieben worden sei. Doch wenn sie darüber nachdachte, erkannte sie, daß es genausogut auf die meisten Leute paßte, die sie kannte.
Sie hatte sich immer für eine unabhängige Frau gehalten, aber jetzt kamen ihr Zweifel. Wieviel von dem Menschen, der sie war, hatte sie selbst gewählt? Und wieviel war ihr aufgedrängt worden? Je mehr sie darüber nachdachte, desto unangenehmer schien die Antwort. Seufzend rieb sie sich übers Gesicht und legte sich, das Tagebuch an die Brust gedrückt, neben das Feuer. Den Blick auf die Sterne gerichtet, lag sie tief in Gedanken da, bevor der Schlaf sie überkam.
Sarahs Großvater richtete sich steif auf, gähnte und streckte sich in dem stahlgrauen Licht der Morgendämmerung. Er schnitt eine Grimasse, als seine Knie laut knackten, und ging hinüber zum Feuer, um es wieder anzufachen und Kaffee zu kochen. Als er Sarah dort schlafend vorfand, sein Tagebuch eng an die Brust gedrückt, setzte er sich ihr gegenüber, kümmerte sich leise um das Feuer und betrachtete sie dabei nachdenklich. Während der letzten eineinhalb Wochen hatte sie sich ziemlich verändert. Ihre ganze Kindheit hindurch hatte er bei ihr immer eine gewisse Unentschlossenheit wahrgenommen. Seit sie jedoch zum erstenmal mit dem Geländewagen querfeldein gefahren war, hatte er davon nichts mehr bemerkt. Sarah hatte sich jeder Herausforderung gestellt, und zwar so begeistert, daß er bei manchem gewagten Fahrmanöver fast fürchtete, das Auto würde umkippen. Doch sie hatte immer alles im Griff behalten. War es richtig gewesen, ihr das Tagebuch zu geben? Abgesehen von seiner Frau war sie der einzige Mensch, der es hatte lesen dürfen, denn viele Dinge darin waren äußerst persönlich. Aber wenn er seine Enkelin jetzt so ansah, war er sich sicher, daß sie verstand, was er geschrieben hatte, und war
glücklich, daß es nach seinem Tod an jemanden überginge, der es zu schätzen wußte. Die Gesichtszüge im Schlaf entspannt, erinnerte Sarah ihn an ihre Großmutter. Er lächelte über diese Ähnlichkeit und wurde zurückgetragen in die Zeit, als er seine Frau zum erstenmal an Bord der »Seraphim« gesehen hatte. Erst das Geräusch von kochendem Wasser und der Duft von frischem Kaffee holte ihn in die Gegenwart zurück. »Woran hast du denn gedacht?« fragte Sarah neugierig. » Du hast gelächelt.« »Ich dachte an deine Großmutter und wie sehr du mich an sie erinnerst.« Sarah wurde rot vor Stolz. Sie hatte ihre Großmutter immer als besonders selbständige und patente Frau geachtet und hätte nie gewagt, sich mit ihr zu vergleichen. Ihre Großmutter hatte stets einen gelassenen Eindruck gemacht und es verstanden, in jeder Situation angemessen zu reagieren. Sarah hatte sich oft gewünscht, so wie sie zu sein. »Das sagst du jetzt nur so«, erwiderte sie. »Du glaubst mir nicht? Ich denke, nicht einmal Marie hätte sich zugetraut, was du mit dem Geländewagen alles fertiggebracht hast. Mir hast du jedenfalls ein paarmal ganz schöne Angst eingejagt.« Sarah wußte, daß er übertrieb, war aber dennoch stolz auf das Kompliment. Sie sagte nichts mehr, sondern schenkte ihm eine Tasse Kaffee ein. Während sie beide tranken, plauderten sie über dies und das. »Bis Alice Springs sind es zweihundert Kilometer, dann noch einmal gut vierhundertfünfzig Kilometer nach Ayers Rock. Wir müßten eigentlich rechtzeitig zum Sonnenuntergang dort sein. Ich habe dir ja schon erzählt, was für ein unvergleichliches Erlebnis das dort ist.«
»Ich denke, ich sollte Dad anrufen«, erklärte Sarah plötzlich. Ihre überstürzte Abreise belastete sie, denn sie hatte ihren Eltern lediglich eine kurze Nachricht hinterlassen. Sie wollte sich wenigstens einmal melden, damit sie sich keine Sorgen machten. »Das ist sicher eine gute Idee«, meinte ihr Großvater und nickte. »In ein paar Stunden sind wir in Alice Springs, von dort aus kannst du ja anrufen.« Sie beugte sich vor und drückte seine Hand, dankbar für sein Verständnis. »Danke.« Er winkte ab. »Tja, dann laß uns mal den Kram hier einpacken und uns auf den Weg machen, einverstanden?«
»Wo zum Teufel bist du denn?« schrie ihr Vater, und seine Stimme klang durch das öffentliche Telefon leicht blechern. » Du hinterläßt irgendeine obskure Nachricht über eine Reise und bist fort, noch ehe dich jemand zur Vernunft bringen kann. Du hast wirklich überhaupt kein Verantwortungsgefühl, nicht das geringste!« Sarah hatte gehofft, ihr Vater sei schon bei der Arbeit und sie hätte nur mit ihrer Mutter sprechen können. Allerdings war ihr auch klar, daß dieses Gespräch unvermeidbar war, und so stellte sie sich mit einem Seufzer darauf ein, die Tirade ihres Vaters über sich ergehen zu lassen. Es hatte gar keinen Sinn, auch nur zu versuchen, ihm etwas zu erklären. In diesem Augenblick zählte für ihren Vater nur eines, und das war seine eigene Meinung. Schließlich mußte sie ihn aber doch unterbrechen: »Dad, ich rufe von einem öffentlichen Fernsprecher aus an, und ich habe gleich kein Geld mehr.« »Wo bist du denn überhaupt?« fragte er noch einmal und wartete diesmal auch tatsächlich auf ihre Antwort.
»Ich bin jetzt in Alice Springs, und in zwei bis drei Wochen bin ich auf jeden Fall wieder zu Hause.« »Alice Springs?« wiederholte er. »Ich möchte, daß du sofort das erste Flugzeug nach Hause nimmst, junges Fräulein! Hast du überhaupt eine Ahnung, wie sehr du mich in Verlegenheit gebracht hast? Also hör endlich auf, so egoistisch zu sein, und komm auf der Stelle heim!« Bei diesen Vorwürfen schüttelte sie ungläubig den Kopf und spürte heiße Wut in sich aufsteigen. Entschieden antwortete sie: »Nein, Dad! Ich bin schließlich erwachsen und kann selbst entscheiden, was ich tun soll. Ich gebe dir Bescheid, wenn ich wieder zu Hause bin.« »Was? Wie kannst du es wagen, so mit mir zu sprechen?« empörte sich ihr Vater am anderen Ende der Leitung. »Der alte Mann ist schuld, stimmt’s?« vermutete er. »Er hat dir das eingeredet.« »Niemand hat mir etwas eingeredet«, erwiderte sie zunehmend gereizt. » Es ist meine eigene Entscheidung.« Früher hatte sich Sarah bei solchen Szenen stets geschämt und geglaubt, es sei ihr Fehler, daß ihr Vater wütend auf sie war. Sie hatte immer das Gefühl gehabt, ihn auf die ein oder andere Weise enttäuscht zu haben. Aber jetzt war sie es einfach nur leid zuzuhören, wie er sie beschimpfte. »Ich muß jetzt Schluß machen, Daddy. Grüße Mum ganz lieb von mir.« Sie hängte ein, ohne auf eine Antwort zu warten. Als sie zu ihrem Großvater zurückkehrte, fragte er vorsichtig: »Alles in Ordnung?« Sie lächelte nachdenklich, und mit einem Nicken antwortete sie langsam: »Ich denke schon.« Entschlossen ließ sie den Motor an. »Also los, dann schauen wir uns mal diesen berühmten Felsen an, okay?«
Ayers Rock, der Inselberg aus rotem Sandstein im Nationalpark Uluru-Kata Tjuta, ragte vor Sarah auf, als sie einem Führer ein ganzes Stück um den Fuß des Berges herum folgte. Der Führer – selbst ein Ureinwohner – benutzte den Namen, den der Berg bei den Aborigines hatte: »Uluru«. Erst nannte er der Touristengruppe die wichtigsten Fakten über den Monolithen, dann erzählte er etwas von der Mythologie der Aborigines, die damit verbunden war. » Das Land wurde erschaffen von den Vorfahren, die übernatürliche Wesen waren und sowohl etwas von Tieren als auch von Menschen hatten. Zum Zeitpunkt der Schöpfung, als die Ahnen ihre Taten vollbrachten, verwandelte sich ein großer Sandhügel in Stein und wurde Uluru. Die Kuniya, die Riesenschlangenwesen, lagerten hier an seinem Fuße. Eines Tages griffen die Liru, die Giftschlangenmänner, das Lager der Kuniya an. Eine mächtige Riesenschlangenfrau namens Pulari wollte ihr Neugeborenes schützen, und sie spie die Essenz des Todes und brachte dadurch viele Liru um. Kulikudgeri wiederum, der kriegerische Kämpfer der Liru, tötete einen jungen Gegner. Dessen Mutter war darüber vor Gram so außer sich, daß sie Kulikudgeri mit einem Stock, der sonst zum Graben benutzt wurde, auf den Kopf schlug, und daraufhin starb er voller Schmerzen.« Während der Führer seine Geschichte erzählte, deutete er auf die besonderen Merkmale im Felsen – Linien, Einkerbungen und Flecken – als Zeugnisse dieser Überlieferung. Am Ende bekam er einen kräftigen Applaus. Sarah kehrte zu ihrem Großvater zurück, der die Führung nicht hatte mitmachen wollen, und berichtete ihm alles. »Und willst du ihn noch besteigen?« fragte er und blickte auf einige der Unerschütterlichen, die sich trotz der Hitze den Pfad hinaufkämpften. »Du weißt, die Aborigines sehen das nicht so gern, weil es eigentlich eine Verletzung ihres Heiligtums ist.«
Nachdenklich antwortete Sarah: »Ja, ich weiß, aber sie haben es nicht verboten, und ich würde zu gern von dort oben ein paar Fotos machen.« »Das kann ich verstehen«, erwiderte ihr Großvater lächelnd. »Aber denke daran, dir ein paar Liter Wasser mitzunehmen. Bei diesem steilen Aufstieg bekommst du schneller einen Hitzschlag, als du dir vorstellen kannst.«
Oben auf dem Felsen angekommen, schüttete Sarah sich Wasser über den Kopf und schnappte nach Luft. Das ist ja lächerlich, dachte sie. Ich bin doch normalerweise topfit. Unter ihr lag das Kulturzentrum der Aborigines, und sie konnte gerade noch die Menschen als kleine Punkte sehen. Sie winkte zu ihnen hinunter, obwohl sie nicht wußte, ob ihr Großvater sie erkennen konnte. Beim Blick durch den Sucher ihrer Kamera konnte sie gar nicht fassen, wie strahlend hell der blaue Himmel war. Der Kontrast zu der roten Erde gab ein wundervolles Bild ab. Sie merkte, daß sie neue Speicherkarten besorgen mußte. Sie konnte es kaum erwarten, zu Hause alles auf ihren Computer herunterzuladen und genau zu sehen, wie die Bilder geworden waren. Joseph schaute seiner Enkelin beim Aufstieg zu, auch wenn er sie zwischen den vielen Touristen bald nicht mehr ausmachen konnte. Er wollte sich eben etwas zu trinken kaufen, als sich alles vor ihm zu drehen begann. Er schaffte es gerade noch, sich am Rand eines Tisches festzuhalten, um nicht umzukippen. Einige besorgte Leute versammelten sich um ihn und fragten, was ihm fehlte. Nach einer Weile gewann er sein Gleichgewicht wieder und antwortete, es sei wahrscheinlich
nur die Hitze. Ein guter Samariter brachte ihm etwas Wasser, und nachdem er getrunken hatte, versicherte er allen, es ginge ihm schon wieder besser. Als er allein war, schluckte er noch ein paar von den Tabletten, um den Schmerz zu stillen, der sich in seinem linken Innenohr festgesetzt hatte. Den restlichen Tag nahm er alles sehr langsam und bedächtig in Angriff und ging zeitig zu Bett, um Sarah nicht zu beunruhigen. Er wollte nicht vor der Sonnenfinsternis im Krankenhaus landen. Denn dann, das wußte er, würde er es nicht mehr verlassen.
Sarahs Großvater stieß einen zufriedenen Seufzer aus. Sie hatten den Vormittag damit verbracht, das Zentrum des australischen Opalabbaus, die Bergbausiedlung Coober Pedy, zu erkunden, etwas mehr als 600 Kilometer nördlich von Ceduna. Hier war das Land so gnadenlos der australischen Sonne ausgesetzt, daß die Bewohner ihre Häuser zum Teil in die Erde gebaut hatten. Die Einheimischen erzählten gern die Geschichte von so manchem Glückspilz, der reich wurde, weil er während der Vergrößerung seines Wohnzimmers Opale fand. In einem halb unterirdischen Cafe nahmen sie ein zeitiges Mittagessen ein, bevor sie weiter nach Süden, Richtung Ceduna, fuhren. Es waren nur noch drei Tage bis zur Sonnenfinsternis, und kein Wölkchen trübte den strahlend blauen Himmel. Joseph bemerkte etwas über ihnen, schirmte die Augen mit der Hand gegen die blendende Sonne ab und blinzelte in den Himmel. Hoch oben kreisten zwei Adler im warmen Aufwind, bis sie kaum noch zu erkennen waren, dann flogen sie mit Höchstgeschwindigkeit nach Osten, in Richtung der Berge. Joseph nahm es als gutes Omen und lächelte. Es schien, als ob diesmal nichts seinem Wunsch, eine totale Sonnenfinsternis zu sehen, im Wege stände. Seine einzige Sorge war, ob sie sich einen guten Beobachtungsposten sichern könnten. Bei dem großen Menschenandrang wäre der kleine Küstenort sicher brechend voll und ein freier Platz nicht leicht zu finden.
Sicherheitshalber sollten sie am besten so früh wie möglich dort ankommen, um sich eine gute Stelle aussuchen zu können. Er wollte Sarah gerade seine Überlegungen mitteilen, da schlug eine Welle der Erinnerungen über ihm zusammen wie eine Flut und schnitt ihm mitten im Satz das Wort ab. »Großvater?« hörte er Sarah noch wie aus weiter Ferne besorgt ausrufen, als sie sah, wie die Farbe aus seinem Gesicht wich und er die Augen nach oben verdrehte. »Großvater!«
Während die sanfte Wärme Tahitis Joseph bis auf die Knochen durchdrang, ließ endlich das Frösteln nach, das sich in ihm in den letzten Monaten bei der Besteigung des Machha-puchhare in Nepal breitgemacht hatte. Manche seiner Bergkameraden trafen bereits Vorbereitungen für ihre nächste Bergtour, aber Joseph hatte genug von der Kälte gehabt. Es kam ihm so vor, als hätte er den größten Teil der vergangenen zehn Jahre in den unwirtlichsten Gebieten der Welt verbracht. Während eines Blizzards, der sie zwang, drei Tage im Zelt Zuflucht zu suchen, hatte er von seinem Kameraden eine interessante Geschichte gehört. Francis hatte davon erzählt, wie er während seiner Jugend in Französisch-Polynesien nach schwarzen Perlen getaucht hatte. Der Gedanke an warme tropische Gewässer hatte ihn während ihres Aufstiegs in Schnee und Eis aufrechterhalten, und das exotische Land war bald zum Ziel seiner nächsten Reise geworden. Bei seinem Aufenthalt in Kanada hatte er genug Französisch gelernt, um sich auf einfachem Niveau unterhalten zu können. Jetzt warf er seinen Seesack über die Schulter und erkundigte sich im Hafen von Papeete nach Arbeitsmöglichkeiten als Perlentaucher. Man schickte ihn zu einem Büro der ansässigen Geschäftsleute. Als sein Gegenüber merkte, daß er weder
etwas von Perlen verstand noch Erfahrung im Tauchen hatte, wies er ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung aus seinem Büro. Unwirsch schimpfte er, daß er zu viel zu tun hätte, um noch mehr von seiner wertvollen Zeit zu verschwenden. Von diesem ersten Fehlschlag ließ Joseph sich jedoch nicht entmutigen, sondern begab sich auf Zimmersuche. Er beschloß, sich erst einmal auf den Inseln umzusehen, bevor er mit der Arbeitssuche fortfuhr. Am folgenden Morgen buchte er eine Passage auf einem schnittigen Segelschiff namens Seraphim, das einige der zahlreichen kleinen Inseln anfuhr. Er hatte dieses Schiff gewählt, weil es so wunderschön restauriert war und seine schlanke Form Geschwindigkeit und gleichzeitig Stabilität versprach. Allerdings gab es etwas, was ihm bereits seit seiner Kindheit zu schaffen machte, und zwar die Seekrankheit. Sobald er den Fuß auf ein kleineres Schiff setzte, krampfte sich sein Magen zusammen, und ihm wurde übel. Trotz vieler gutgemeinter Ratschläge, wie »Das ist nur eine Frage der Konzentration« oder »Schau einfach zum Horizont, und dir geht es bestens«, war er nie in der Lage gewesen, die Sache ganz in den Griff zu bekommen. Bei Schiffsfahrten mußte er immer noch damit rechnen, einen Großteil der Zeit mit starker Übelkeit über die Reling gebeugt zu verbringen. Als er den Kapitän des Schiffes kennenlernte, stand er auch gerade so jämmerlich da und fragte sich, was in ihn gefahren war, diese Fahrt zu buchen. Er hing schlaff über der Reling, die Stirn auf dem kühlen Holz, und beim Klang von sich nähernden Schritten drehte er leicht den Kopf. Eine große, attraktive Frau kam auf ihn zu und betrachtete ihn mit einem Ausdruck, der zwischen Amüsement und Mitgefühl schwankte. »Trinken Sie etwas Wasser«, sagte sie und hielt ihm eine Flasche hin. » Dann werden Sie sich besser fühlen.«
Er schloß die Augen und schauderte bei dem Gedanken, seinem gequälten Magen noch irgend etwas zuzumuten. Langsam schüttelte er den Kopf zu einem Nein. »Trinken Sie!« befahl sie stirnrunzelnd und hielt die Wasserflasche unter seine Nase. »Ich kenne mich aus, denn ich sehe ständig Leute seekrank werden. Sie haben zuviel Flüssigkeit verloren, also trinken Sie jetzt!« Es ging ihm zu schlecht, als daß er sich hätte streiten können, und so seufzte er lediglich. Er warf ihr einen düsteren Blick zu und trank in langsamen Schlucken. Bald fühlte er sich, als würde er doch überleben. Mit einem langen, tiefen Atemzug richtete er sich auf und drehte zur Erfrischung sein Gesicht in den Wind. »Na also, das war doch gar nicht so schlimm, oder?« stellte sie mit spöttischer Nachsicht fest. »Fühlen Sie sich nicht schon viel besser?« Er sah sie an und wollte gerade antworten, als sich sein Magen erneut hob. Rasch beugte er sich über die Reling und gab das eben getrunkene Wasser wieder von sich – zur Freude der Fische, die unten warteten. Da schüttelte die Frau den Kopf und zuckte mit den Schultern. »Man kann nicht alle heilen«, murmelte sie mehr für sich. Sie tätschelte ihm zwischen seinen Krämpfen den Rük-ken. »Ich habe noch zu tun. Wir unterhalten uns später weiter.« Als er abermals würgte, fügte sie zweifelnd hinzu: »Vielleicht.« Später an diesem Abend, als er sich schließlich langsam an die Bewegung des Meeres gewöhnte, kamen sie erneut ins Gespräch. Er trank lediglich eine leichte Brühe, um seinen empfindlichen Magen nicht wieder in Aufruhr zu versetzen. Aufmerksam hörte er zu, wie Marie Dupre, die Kapitän des Schiffes war, ihm aus ihrem Leben erzählte. Sie hatte es satt gehabt, ständig gegen die Vorurteile anzukämpfen, die einer
Frau an der Spitze eines erfolgreichen Unternehmens entgegenschlugen, und so hatte sie ihr früheres Leben in Paris gegen das auf dem Meer getauscht. Mit dem dringenden Wunsch, ihr Leben zu vereinfachen, hatte sie sich überlegt, welche Dinge ihr am wichtigsten waren, und eine Entscheidung getroffen. »Und jetzt befehlige ich mein Schiff, genieße den Wind und die Sonne und war nie im Leben glücklicher.« Beeindruckt von ihrer mutigen Entscheidung, begann Joseph ihr einiges aus seinem eigenen Leben zu erzählen. Irgendwann bemerkte er, daß die Reste seiner Brühe schon lange kalt geworden waren, und er stellte sie weg. Niemals vorher hatte er sich bei jemandem so ungezwungen gefühlt, und er erzählte ihr von seiner Idee, nach Perlen zu tauchen. Zu seiner Überraschung ließ sie ein herzhaftes Lachen hören. Als er leicht beleidigt reagierte, wurde sie schließlich wieder ernst, beugte sich zu ihm und drückte seine Hand. »Schmollen Sie nicht. Es tut mir leid.« Aber das Lachen in ihren Augen strafte ihre entschuldigenden Worte Lügen. Ein Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. »Ich hatte mir nur gerade vorgestellt, wie es Ihnen in einem der winzigen Boote erginge, in denen die Taucher den ganzen Tag verbringen«, erklärte sie. »Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so hartnäckig seekrank war wie Sie. Und wenn es Ihnen hier schon so übel wird«, sie deutete auf die geräumige Kabine, »können Sie sich dann vorstellen, wie es Ihnen in einem dieser kleinen Boote geht, noch dazu bei hohem Seegang?« Allein bei dem Gedanken daran regte sich sein Magen gleich wieder, und Joseph konnte nicht anders, als mit Marie zu grinsen. »Vielleicht habe ich das nicht so sorgfältig durchdacht, wie ich es hätte tun sollen«, gestand er verschwörerisch flüsternd.
Er lehnte sich gegen das Schott und verschränkte die Arme. »Tja, wenn ich nun nicht nach Perlen tauche, dann muß ich mir wohl einen anderen Job suchen«, meinte er nachdenklich. Sie sah zu, wie der Lichtschein auf seinem Gesicht tanzte, und sagte: »In vierzehn Tagen wird bei mir ein Posten in der Mannschaft frei, wenn Sie interessiert sind?« Er blickte sie neugierig an, und mit einem ironischen Lächeln meinte er: »Sie möchten, daß ich für Sie arbeite? Und was ist mit der Tatsache, daß ich fast nicht zu gebrauchen bin, sobald ich den Fuß auf ein Schiff setze?« » Geben Sie mir zwei Wochen Zeit, und ich habe Sie geheilt, dann werden Sie nicht aufzuhalten sein«, versprach sie. Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Was sagen Sie?« Ohne zu zögern, nahm er ihre Hand und hielt sie ganz fest. »Ich bin Ihr Mann«, erwiderte er und sah ihr dabei in die Augen. Sie errötete leicht und blickte beiseite. »Gut, dann fangen wir gleich morgen an.« »Großvater!« rief Sarah, als sie sah, wie er ohnmächtig zusammensank. Sie fuhr an den Straßenrand, hielt an und rannte ums Auto. Vorsichtig öffnete sie die Beifahrertür und klappte die Rückenlehne seines Sitzes nach hinten, damit er so flach wie möglich lag. Nachdem sie seinen Puls fühlen konnte und hörte, daß sein Atem gleichmäßig ging, seufzte sie erleichtert auf. Doch als sie versuchte, ihn wach zu bekommen, und er sich dennoch nicht bewegte, spürte sie Panik in sich aufsteigen. Sie zwang sich, sich zu beherrschen, und erinnerte sich an das, was er bei ihrer Abreise gesagt hatte: »Wenn wir jemals irgendwelche Schwierigkeiten haben, können wir überall mit dem Funkgerät Hilfe rufen.«
Nervös wühlte sie im Handschuhfach nach der Liste von Notfrequenzen, die er aufgeschrieben hatte. Mit dieser Liste in der Hand stellte sie das Funkgerät an und drehte zum Flugrettungsdienst. »Hallo? Hört mich jemand? Ich brauche Hilfe!« »Hier spricht RFDS Port Augusta. Bitte nennen Sie Ihren Namen und die Art Ihres Notfalls.« »Oh, Gott sei Dank! Mein Name ist Sarah Williams. Mein Großvater ist bewußtlos, und ich kann ihn nicht mehr wach bekommen.« Man stellte ihr nun verschiedene Fragen, und sie mußte eine knappe Zusammenfassung der Krankengeschichte ihres Großvaters geben. Zum Schluß lotste die Rettungsleitstelle sie zu einem kleinen Behelfsflugplatz, etwa sechzig Kilometer südöstlich von Coober Pedy. Kurz nach ihrer Ankunft begann ihr Großvater, sich unruhig zu bewegen, zeigte jedoch keine Anzeichen, das Bewußtsein zu erlangen. Es kam Sarah wie eine halbe Ewigkeit vor, bis sie schließlich das entfernte Dröhnen eines Flugzeugs hörte. Als es über sie hinwegflog, winkte sie dem Piloten zu, der auf sie hinunterspähte. Nachdem der Arzt ihren Großvater untersucht hatte, fragte er Sarah: »Möchten Sie mit uns kommen, oder wollen Sie selbst nach Port Augusta fahren?« Sarah blickte unschlüssig von ihrem Großvater zum Auto. Der Arzt bemerkte ihre Unentschlossenheit und meinte: »Auch wenn Sie mit uns zum Krankenhaus fliegen, wird es eine Weile dauern, bis Sie Ihren Großvater wiedersehen können. Also ist es vielleicht doch besser, Sie fahren selbst. Bis Sie ankommen, haben wir dann wahrscheinlich unsere Untersuchungen beendet, und Sie können gleich zu ihm.« Es gefiel ihr gar nicht, ihren Großvater allein zu lassen, doch sie wußte, daß der Vorschlag des Arztes sinnvoll war. Also nickte sie unter Tränen. Wenig später sah sie zu, wie das
Flugzeug abhob und Richtung Südküste verschwand. Sie begann, sich Vorwürfe zu machen, und sagte sich, daß sie ihn niemals einer so anstrengenden Reise hätte aussetzen dürfen. Als sie ins Auto stieg, wünschte sie, sie hätte dieser Reise nie zugestimmt. Joseph erwachte aus den Tiefen der Bewußtlosigkeit und kniff die Augen zusammen, als die helle Lampe über ihm ihn blendete. Während seine empfindlichen Augen sich an das Licht gewöhnten, nahm er seine Umgebung mit einem Gefühl zunehmender Beklommenheit wahr. Allein schon die gedämpften Geräusche und die geflüsterten Bruchstücke einer Unterhaltung reichten aus, um ihm zu verraten, daß er wieder einmal in einem Krankenhaus lag. Es war so unfair, daß es ihm einen regelrechten Stich versetzte. Er hatte sich doch nur gewünscht, Zeuge eines wunderbaren Ereignisses sein zu können und dann sein Leben unter offenem Himmel zu beenden. Er spürte, wie ihm die Tränen kamen, doch er schaffte es, sie zurückzuhalten, und gab sich lediglich mit einem müden Seufzer geschlagen. » Großvater?« Er blickte zur Seite und sah Sarah neben dem Bett sitzen. Dunkle Ringe unter den Augen und ihr ernstes Gesicht verrieten, wie besorgt sie um ihn war. Eine einzelne Träne lief über ihre Wange, und im nächsten Moment umarmte sie ihn weinend. »Es tut mir leid. Ich hätte niemals in diese Reise einwilligen dürfen. Es ist alles meine Schuld!« Joseph spürte ihre Verzweiflung, und sein eigenes Leid schwand dahin. Er hielt sie in den Armen, strich ihr übers Haar und sprach leise und beruhigend auf sie ein, bis sie ihren schlimmsten Kummer überwunden hatte. Sie schniefte laut, setzte sich auf und wischte sich die Tränen mit dem Handrücken fort.
Bevor sie sich erneut Vorwürfe machen konnte, sagte er so fest er konnte: »Es war meine Entscheidung, Sarah, nicht deine. Ich hätte diese Reise in jedem Fall unternommen, ob du nun mitgekommen wärst oder nicht.« Seine Stimme wurde sanfter: »Aber ich bin froh, daß du mitgekommen bist. Ich bin froh, daß ich die Gelegenheit bekam, die Frau kennenzulernen, die du geworden bist. Und ich bin froh, daß ich die Gelegenheit hatte, unter freiem Himmel zu schlafen und einige Orte, an denen ich als junger Mann war, noch einmal zu besuchen.« Joseph nahm die Hand seiner Enkelin. Er lächelte sie an und sagte aus ganzem Herzen: »Ich hatte ein gutes Leben. Ich bedauere nichts, und du solltest das auch nicht.« Er sah sich im Zimmer um und fragte: »Wie lange bin ich schon hier?« »Du warst über einen Tag lang bewußtlos und bist seit gestern mittag hier.« Seine Augen blitzten auf, als er dies hörte. »Dann ist sie noch gar nicht vorbei? Wir haben die Sonnenfinsternis noch nicht versäumt?« »Großvater«, antwortete Sarah sanft, »du wirst leider nicht rechtzeitig hier herauskommen, um die Sonnenfinsternis sehen zu können. Sie ist morgen.« »Das ist mir klar«, erwiderte er geduldig. »Aber ich möchte, daß du hinfährst und sie fotografierst. Dann kannst du mir die Bilder zeigen und mir beschreiben, wie es war.« Als sie anfing zu protestieren und einwendete, sie wolle lieber bei ihm bleiben, fiel er ihr ins Wort, und der verzweifelte Klang seiner Stimme brachte sie dazu, ihm auch wirklich zuzuhören. »Bitte!« bat er. »Ich weiß, daß ich dieses Krankenhaus wahrscheinlich nicht mehr verlassen werde. Du mußt es ganz einfach für mich tun. Es ist das einzige, was ich nie im Leben
geschafft habe. Wenn du hinfährst und zurückkommst und mir alles erzählst, dann ist es fast so, als sei ich selbst dort gewesen.« Sie schüttelte den Kopf. Die Tränen flossen nun ungehindert über ihre Wangen. »Es tut mir leid. Ich kann nicht«, schluchzte sie. »Dad hatte recht. Ich hätte nie mit dir kommen sollen. Wenn ich nach Hause gefahren wäre, als er es sagte, hättest du auch umdrehen müssen und lägst jetzt nicht in diesem Krankenhaus.« »Das ist richtig«, sagte er, und seine Stimme wurde rauh vor Enttäuschung. »Ich läge immer noch im anderen Krankenhaus und würde darauf warten, wie das Leben in mir langsam erlischt. Zumindest hatte ich noch einmal die Chance, wieder wie ein normaler Mensch zu leben. Wenn du das nicht verstehst, dann hast du dich vielleicht doch nicht so sehr verändert.« Er drehte sein Gesicht weg, als er die Tränen nicht länger zurückhalten konnte. »Ich bin müde. Ich möchte jetzt eine Weile alleine sein.« Sarah schloß die Tür zum Zimmer ihres Großvaters hinter sich. Sie ließ sich auf den nächsten Stuhl fallen, stützte die Ellbogen auf den Knien ab und schlug sich die Hände vors Gesicht. Sie wollte ihrem Großvater ja gern seinen Wunsch erfüllen, aber sie konnte einfach nicht anders, als sich für seine Lage verantwortlich zu fühlen. Jedesmal, wenn sie darüber nachdachte, hörte sie im Hinterkopf die Stimme ihres Vaters mahnen, es sei alles ihre Schuld. Sobald Sarah sich wieder etwas gefangen hatte, versuchte sie, ihren Entschluß vor sich selbst zu rechtfertigen. Manchmal verliefen die Dinge eben nicht so, wie man sie gern gehabt hätte. So ist das Leben nun mal, sagte sie sich und führte sich zur eigenen Bestätigung den mißglückten Versuch ihres Großvaters zur Besteigung des Machhapuchhare vor Augen.
Nicht alles entwickelt sich so, wie wir es gern hätten, und wir müssen eben das Beste daraus machen. Während sie ihre Wangen mit einem Taschentuch abtupfte, atmete sie erst einmal tief durch. Sie hatte die ganze Nacht am Bett ihres Großvaters gesessen und merkte nun, daß sie noch nichts gegessen hatte. Also stand sie auf und ging in die Cafeteria. Mißtrauisch betrachtete sie das angebotene Essen und entschied sich für einen Salat. Damit kann man nicht viel falsch machen, dachte sie. Sie wählte einen Tisch neben einer großen Zimmerpflanze, der zumindest ein gewisses Maß an Abgeschiedenheit ermöglichte, setzte sich und stocherte halbherzig in ihrem Salat herum, bevor sie ihn beinahe unangetastet zur Seite schob. Mit dem Aufenthalt im Krankenhaus stellte sich bei ihr wieder dieses flaue Gefühl ein, und um sich abzulenken, zog sie das Tagebuch heraus und begann, es durchzublättern. Fast am Ende angelangt, hielt sie an. In einer eleganten und offensichtlich weiblichen Handschrift standen da einige Zeilen, die sie bisher noch nicht entdeckt hatte. In der unteren Ecke der Seite las sie den Namen der Verfasserin: Marie Dupre, die Jahreszahl 1958 und die Bemerkung: Damit ich nie vergesse, daß wir selbst uns ändern müssen, wenn sich etwas ändern soll. Ich wünschte, mein Leben wäre anders, so viele Dinge müßten sich ändern. Wenn mir nur meine Arbeit nicht so viel abforderte, dann könnte ich mehr Zeit mit meiner Familie verbringen. Wenn nur die andern weniger kritisch wären,
dann würden sie sich nicht über mein Tun beschweren.
Wenn nur das Leben leichter wäre, dann könnte ich all meine Träume erfüllen. Ich wünschte, mein Leben wäre anders. Aber nie ändert sich etwas, also bin ich immer noch die gleiche. Sarah fuhr mit dem Finger über die Zeilen und hatte endlich begriffen. Sie hörte auf, ständig der Stimme ihres Vaters zu lauschen, und begann, auf ihre eigene zu hören.
Als Sarah das Zimmer ihres Großvaters betrat, ging sie sofort zum Fenster, durch das die orangefarbenen Lichtstrahlen eines wundervollen australischen Sonnenunterganges hereinfielen. Sie spähte hinaus und sagte: » Du müßtest eigentlich auch von hier aus die Sonnenfinsternis sehen können, meinst du nicht?« »Ja, es wird zwar keine totale Finsternis sein, aber doch ziemlich nahe daran.« Sie drehte sich zu ihm und lächelte. »Es wird reichen müssen, bis ich mit meinen Fotos zurück bin.« Sein Gesicht hellte sich auf. »Dann fährst du also doch?« Als sie nickte, fragte er: »Was hat dich dazu gebracht, deine Meinung zu ändern? Du warst doch so entschlossen hierzubleiben.« Sie holte das Tagebuch heraus und zeigte ihm den Eintrag ihrer Großmutter. Eine große Zärtlichkeit breitete sich beim Anblick dieser Zeilen auf seinem Gesicht aus, und Sarah wünschte sich, daß eines Tages jemand sie selbst so ansehen würde. »Deine Großmutter war eine bemerkenswerte Frau. Ich wünschte, du hättest sie besser kennenlernen können.« Sarah setzte sich neben ihn und holte den braunen Umschlag mit den Fotos heraus. »Dadurch und durch das Tagebuch fange ich langsam an zu verstehen.« Sarah machte die Fotos entsprechend seinen Wünschen an der Wand neben dem Bett fest, und sie unterhielten sich noch bis spät in die Nacht über Freunde, Erlebnisse und das Leben
an sich. Als Sarah sah, wie die Lider ihres Großvaters immer schwerer wurden, räumte sie alles weg, küßte ihn sanft auf die Wange und sagte: »Ich komme morgen früh noch mal, um mich zu verabschieden, bevor ich nach Ceduna fahre.« Doch er schlief bereits tief und fest. Sie drehte das Licht aus, schloß leise die Tür und ging zu dem Notbett, welches das Krankenhauspersonal für sie bereitgestellt hatte.
Joseph lag erschöpft in seinem Bett. Er wußte, daß der Tod auf leisen Sohlen kam. Er spürte es aufgrund der wachsenden Müdigkeit und einer merkwürdigen Betäubung, die sich den ganzen Vormittag über in ihm breitmachte. Gerade hatte er einen Brief an Sarah beendet und ihn ins Tagebuch gelegt. Am Morgen hatte er sie gebeten, es bei ihm zu lassen, während sie nach Ceduna fuhr; er brauchte dessen tröstende Gegenwart. Das Krankenhauspersonal hatte sein Bett umgestellt, damit er aus dem Fenster sehen konnte. Beim Anblick einer tiefhängenden Wolkendecke, die sich festgesetzt hatte und die Sonnenfinsternis zu verdecken drohte, runzelte er besorgt die Stirn. Bis zur Finsternis war jedoch noch Zeit, und er nützte sie, um sich seinen Sichtschutz zu basteln. Das Betrachten einer Sonnenfinsternis durch ein Fernglas oder Teleskop ohne entsprechenden Filter oder mit bloßem Auge konnte ernsthafte Schäden, ja sogar Blindheit verursachen, das wußte er. Um also gefahrlos mit ansehen zu können, wie der Mond sich über die Sonne schob, benutzte er die Nadelöhr-Methode. Dazu machte er ein Loch von etwa zwei Millimetern in ein großes Stück Kartonage. Obwohl seine Sicht natürlich etwas eingeschränkt wäre, konnte er so die Finsternis problemlos betrachten. Schon früher hatte er mehrmals eine partielle Finsternis unter den Blättern von
Bäumen hervor betrachtet, wo die Lücken zwischen den Blättern selbst kleine Nadelöhre gebildet hatten. Nun blieb dem alten Mann nichts anderes übrig, als zu warten. Mit dem Tagebuch im Arm legte er sich zurück und schöpfte daraus Trost, während er sich seiner letzten Reise näherte.
Sarah war froh, daß sie frühzeitig losgefahren war. Der Eyre Highway von Port Augusta nach Ceduna war bekannt als vielbefahrene Straße. Heute jedoch war diese Strecke völlig überfüllt. Es schien, als sei die halbe Welt nach Ceduna unterwegs, um die Sonnenfinsternis zu beobachten. Während Sarah die letzten zwanzig Kilometer im Schrittempo zurücklegte, blickte sie besorgt zu der schweren Wolkendecke am Himmel. Gelegentlich rissen die Wolken auf und ließen vereinzelte Lichtstrahlen hindurch, aber ansonsten war der Himmel grau. Das Problem war, daß die Sonne während der Finsternis sehr niedrig stehen würde. Zum Zeitpunkt der totalen Sonnenfinsternis stünde die Sonne nur knapp über dem Horizont und ginge somit teilverfinstert unter. Bei diesen momentan sehr tief hängenden Wolken war die Wahrscheinlichkeit, daß die niedrigstehende Sonne während der Finsternis von ihnen verdeckt würde, viel größer. Der Verkehr in Ceduna selbst war noch schlimmer als der auf dem Highway. Das Küstenstädtchen barst beinahe unter der Flut von Menschen, die in der Hoffnung, das bevorstehende Naturspektakel sehen zu können, gekommen waren. Sarah wußte, daß die sogenannte Totalitätszone, die Zone der völligen Finsternis, sechsunddreißig Kilometer breit war und ihr Zentrum fast genau im örtlichen Postamt lag. Daher nutzte
sie die Vorzüge ihres Geländewagens aus und ließ die Straßen hinter sich, um eine abseits gelegenere Stelle zu finden. Eine kleine Anhöhe nicht weit vom Strand lockte sie. Nur noch ein paar andere einfallsreiche Seelen hatten hierher gefunden, also parkte sie, stieg aus und begann ihre Kamera zu überprüfen. Sie reinigte die Linse ein letztes Mal und brachte den Sonnenfilter an. Die Fotos für ihren Großvater sollten so perfekt wie möglich sein. Die nächste völlige Sonnenfinsternis wäre erst 2012, und natürlich konnte ihr Großvater nicht mehr so lange warten. Als alles vorbereitet war, steckte Sarah die Kamera weg und sah zurück zu dem ständig wachsenden Meer von Menschen in der Stadt. Der Gemeinderat hatte alles mögliche getan, um die Finsternis zu einem denkwürdigen Ereignis zu machen, selbst wenn Wolken den Blick verdecken sollten. In der Hauptstraße spielten Rockbands, am Strand gab es Partys, und Sportflieger vollführten am Himmel Luftakrobatik. Einige Pyrotechniker liefen gebückt zwischen Abschußröhren für ein nach Sonnenuntergang geplantes Feuerwerk umher, und die für den motorisierten Verkehr gesperrte Stadtmitte war in eine riesige Fußgängerzone verwandelt worden. Ein kalter Wind begann vom Meer her zu blasen, brach die dichte Wolkendecke auf und schob sie Richtung Inland. Einige der Wartenden sprangen daraufhin in ihre Autos und rasten los, um sich einen Platz weiter weg von der Küste zu suchen, in der Hoffnung, der Himmel wäre dort klarer. Sarah schaute sich um und sah, daß fast alle, die bereits Teleskope aufgestellt hatten, blieben, also beschloß sie, ebenfalls zu bleiben. Die Wolken schienen sich aufzulösen. Es machte keinen Sinn, sich durch die Menschenmassen zu drängen, um einen besseren Platz zu finden, von dem aus die Sicht später vielleicht genauso verdeckt wäre.
Um sechs Uhr vierzig ging ein aufgeregtes Raunen durch die Menge, als der Mond den Rand der Sonnenscheibe zum erstenmal berührte. Sarah blinzelte kurz in die Sonne und war nicht in der Lage, irgend etwas zu sehen. Daraufhin machte sie es sich bequem und wartete ab, bis der Zeitpunkt der totalen Sonnenfinsternis um sieben Uhr vierzig näher rückte.
In Port Augusta nahm Sarahs Großvater seine präparierte Kartonage und sah zu, wie der Mond sich langsam über die Sonne schob. Von seinem jetzigen Beobachtungspunkt außerhalb der Totalitätszone aus würde die Sonne zu über neunzig Prozent verdeckt sein – zwar keine Totalfinsternis, aber immer noch eine Sehenswürdigkeit. Ab und zu blickte er ohne sein Hilfsmittel aus dem Fenster. Doch seine Bemühungen, einen Blick auf die teilweise verdeckte Sonne zu erhaschen, verursachten nur ein Flimmern vor seinen Augen. Er seufzte und griff wieder nach dem Stück Karton.
Während der Anfangsphase der Finsternis blieb die Sonne die meiste Zeit von Wolken verschont, und voller Faszination verfolgte Sarah, wie das Licht merklich schwächer wurde. Alles ging gut, und die Hoffnung auf weiterhin klaren Himmel stieg. Dann, ein paar Minuten vor der Totalfinsternis, schob sich ein schwarzer Wolkenfinger vor die verbliebene schmale Sonnensichel.
Ein Stöhnen ging durch die Reihen, und wieder sprangen vereinzelte Zuschauer auf, setzten sich in ihre Autos und rasten die Straße hinunter zu einer Stelle, von der aus die Sicht vielleicht besser wäre. Die Wolke bewegte sich ziemlich rasch, und so hielt Sarah ihre Kamera bereit, in der Hoffnung, daß die Wolke rechtzeitig vorbeiziehen würde. Die Totalität war erst in über einer Minute fällig und würde nur dreiunddreißig Sekunden andauern. Die große Menschenmenge in der Stadt war nun geradezu unheimlich still, als alle schweigend auf die verdeckte Sonne starrten und die Wolke fortwünschten. Im unheimlichen, falschen Zwielicht der Sonnenfinsternis war die Sonne als hauchdünne Sichel noch einmal zu sehen, doch eine weitere Wolke segelte bereits auf sie zu. Sarah hörte, wie manche Zuschauer den Mond anfeuerten, sich zu beeilen, bevor die andere Wolke käme. Während der Fahrt hatte ihr Großvater ihr all die Dinge eingeschärft, die sie während der Finsternis sehen würden. Der Perlschnur- und der Diamantring-Effekt seien nur kurz vor und nach der Totalfinsternis zu sehen. Da der Mond die Sonne genau abdeckte, hatte ihr der alte Mann erklärt, war die Sonne kurz vor diesem Moment nur in den Mondtälern zu sehen, so daß es aussähe wie schillernde Perlen auf einer Halskette. Meist halte sich bei der dicksten Perle für ein paar Augenblicke noch gleißendhelles Sonnenlicht in einem der Krater, was man als Diamantring bezeichnete. Auch die schon im Zeitungsartikel erwähnten Protuberanzen und die Korona hatte er ihr noch einmal erläutert. Im gleichen Moment, in dem die Wolke vorbeigezogen war, tauchte die Perlschnur auf, genau wie er es ihr beschrieben hatte. Strahlend hing sie am verdunkelten Himmel, an dem nun die ersten Sterne auftauchten. Eine Perle nach der anderen
verschwand, und plötzlich funkelte der Diamantring auf. Kurz darauf waren die Korona und etliche Protuberanzen zu sehen. Die Menschen spielten regelrecht verrückt. Sie lachten und jubelten und weinten gleichzeitig. Sarah sah ihnen wie hypnotisiert zu. Es schien wie etwas Unwirkliches, geradewegs aus einem Science-fiction-Film. Sie zuckte erschrocken zusammen, griff nach ihrer Kamera und begann im Eiltempo, ein Foto nach dem anderen zu machen. Als der Mond sich weiter über die Sonne schob, wurden neue Protuberanzen enthüllt, und Sarah gelangen einige Nahaufnahmen von einer besonders großen am Sonnenrand. Sie riskierte einen schnellen Blick zur Seite und sah all die Sterne und Sternenkonstellationen so deutlich sichtbar, als sei es Nacht. Das einzige Licht kam vom Schein der Korona. Als die dreiunddreißig Sekunden um waren, blitzte ein weiterer Diamantring auf, hing nur wenige Grad über dem Horizont, und ihm folgte dann wieder die Perlschnur, welche das Ende der Finsternis ankündigte. Sarah schaffte es, noch ein paar Fotos von der langsam auftauchenden Sonnensichel zu schießen, ehe sich die nächste Wolke heranschob und die Sonne wieder verdunkelte. Zutiefst bewegt ließ Sarah sich gegen ihr Auto fallen und verstand endlich, warum ihr Großvater schon die ganze Welt bereist hatte, um eine völlige Sonnenfinsternis mitzuerleben. Während sie zusah, wie die immer noch teilweise verdeckte Sonne in der Ferne über dem Horizont unterging, erkannte Sarah, daß sie niemals freiwillig zu ihrem alten Leben zurückkehren konnte. Der Gedanke, soviel Zeit ihres Lebens in geschlossenen Räumen zu verbringen, schien ihr fremd nach dem, was sie gerade mit angesehen hatte. Sie wußte noch nicht, was genau sie tun würde, aber das konnte warten, bis sie ihr Erlebnis mit ihrem Großvater geteilt hatte.
Erneut erfaßte ihn eine Welle der Müdigkeit. Es war das zweite Mal innerhalb von Minuten, und er wußte, die ihm verbleibende Zeit war kurz. Eine große Ruhe hatte sich in ihm ausgebreitet, und das einzige, was ihn noch davon abhielt, der Müdigkeit nachzugeben, war sein Wunsch, die Sonnenfinsternis zu sehen. Als die Sonne maximal verdeckt war, starrte er hinaus in das falsche Zwielicht von Port Augusta. Knapp über dem Horizont war nur noch der flammende Halbmond der Sonne sichtbar, den er immer als » Gottes Daumennagel« bezeichnet hatte. Als das Flüstern der Vergangenheit in ihm aufstieg, lächelte er, denn die Stimme, die er hörte, gehörte seiner geliebten Marie. Sie stand lächelnd neben ihm und streckte die Hand aus. Mit einem zufriedenen Seufzer und leichten Herzens ergriff er sie und folgte seiner Frau in die Ewigkeit.
Sarah stürmte aufgeregt ins Zimmer. Beim Anblick des Fremden, der im Bett ihres Großvaters schlief, blieb sie verblüfft stehen. Rasch ging sie zum Schwesternzimmer und fragte: »Mein Großvater, Joseph Williams, war in Zimmer Nummer 314. Können Sie mir sagen, wohin er verlegt wurde?« »Ich sehe sofort nach«, erwiderte die Schwester und rief die Daten im Computer auf. Daraufhin führte sie ein kurzes Telefonat. »Der zuständige Arzt ist auf dem Weg. Nehmen Sie doch bitte Platz«, sagte sie dann zu Sarah und deutete auf eine Reihe von Stühlen an der Wand. Sarah setzte sich. Sie wartete angsterfüllt und rang voller Verzweiflung die Hände. Als sie einen Arzt auf sich zukommen sah, sprang sie auf, doch er warf ihr nur einen neugierigen Blick zu und ging weiter. Sie setzte sich erneut. Jede Minute kam ihr vor wie eine Stunde. Als sie sich schließlich gerade entschlossen hatte, die Schwester noch einmal anzusprechen, blieb ein Arzt vor ihr stehen. »Miss Williams?« »Ja. Ist mit meinem Großvater alles in Ordnung?« fragte Sarah sofort und fürchtete gleichzeitig die Antwort. Er führte sie zu einer abgeschirmten Ecke. » Es tut mir leid, Miss Williams, Ihr Großvater ist gestern nachmittag verstorben. Er ist friedlich eingeschlafen. Die Schwester, die ihn fand, sagte, er hätte ein Lächeln auf dem Gesicht gehabt.«
Als Sarah in ihrer Trauer aufschluchzte, legte er einen Arm um ihre Schultern. »Kann ich noch irgend etwas für Sie tun? Soll ich jemanden anrufen, der Sie abholt?« fragte er mitfühlend. Sie schüttelte wie betäubt den Kopf. »Nein, meine Familie wohnt in Queensland.« Sie wischte sich mit dem Taschentuch, das der Arzt ihr gegeben hatte, über die Augen und sagte: »Mein Großvater hatte ein Tagebuch. Wenn ich es bitte haben könnte.« »Aber selbstverständlich. Ich lasse sofort all seine Besitztümer zu Ihnen bringen.« Er reichte ihr eine Visitenkarte und bat sie: »Bitte geben Sie mir Bescheid, welche Verfügungen Ihre Familie hinsichtlich Ihres Großvaters treffen will, und rufen Sie mich an, wenn Sie in der Zwischenzeit noch irgend etwas benötigen.« Er lächelte sie teilnahmsvoll an, dann ging er und überließ sie ihren Gedanken.
Mit dem Tagebuch auf dem Sitz neben sich fuhr Sarah einfach ziellos durch die Gegend, nur um vom Krankenhaus wegzukommen. Sie hatte Krankenhäuser nie gemocht und fürchtete den Tag, an dem sie selbst in einem enden würde, wie es jetzt ihrem Großvater geschehen war. Stunden später, als der Kummer nicht mehr zu unterdrücken war, hielt sie auf einem verlassenen Stück des Highway an. Ihre Schultern zuckten, als sie ihren ganzen Schmerz herausließ. Zusammengesunken im Sitz ruhte sie sich aus, völlig erschöpft von all ihren Gefühlen. Sie nahm das Tagebuch in die Hand, das ganz besondere Vermächtnis ihres Großvaters. Als sie es öffnete, fiel der Brief heraus, den ihr Großvater dort für sie hinterlassen hatte.
Meine liebe Sarah! Wenn du diesen Brief liest, weine bitte nicht um mich! Mein Leben war ausgefüllter und reicher, als ich je hätte hoffen können. Ich habe Dinge gesehen und erlebt, die wenige Menschen sich überhaupt vorstellen können, und ich begreife es als eine Gnade. Sei meinetwegen nicht traurig, denn ich bin es auch nicht, ich bedauere nichts. Statt in Traurigkeit und Kummer zu versinken, weil du mich verloren hast, ehre mich, indem du deine Zukunft selbst bestimmst und nach deinen eigenen Grundsätzen und Werten lebst. Strebe nach mehr als nur nach Sicherheit. Greif nach den Sternen! Die letzten Wochen gehören zu den glücklichsten in meinem Leben. Ich habe gesehen, wie du weit über die engen Grenzen hinausgewachsen bist, in welchen du gelebt hattest, bevor du mit mir kamst. Ich bin stolz darauf, die Frau gesehen zu haben, die zu werden du im Begriff bist. Du erinnerst mich wirklich sehr an deine Großmutter. Bitte versuche, während deines zukünftigen Lebens nie zu vergessen, daß Geld – auch wenn es nötig sein mag – nicht wichtig ist. Es ist das Leben selbst, auf das es ankommt. Leider ist es mir nicht gelungen, dies deinem Vater zu vermitteln, und ich weiß, er wird gegen diesen Grundsatz ankämpfen. Doch urteile nicht zu streng über ihn, denn erst mein Versagen als Vorbild hat ihn zu dem gemacht, was er ist. Führe dir stets vor Augen, was du vom Leben willst, und dann verfolge beharrlich dieses Ziel. Nur DU hast die Macht, es zu erreichen, und auch nur du bist für Fehlschläge verantwortlich, niemand sonst. Entscheide, was du willst, und arbeite daran, es zu verwirklichen. Verliere dich nicht so sehr in Träumen, daß du vergißt zu leben. Sei wachsam, um nicht der Verlockung von »Morgen ist auch noch ein Tag« zu erliegen. Wenn du merkst, daß du die Dinge,
die du dir vorgenommen hast, um einen weiteren Tag aufschiebst, dann denk daran, daß es irgendwann eben kein Morgen mehr geben wird. Ich hinterlasse dir dieses Tagebuch, Sarah. Es war mein Wegweiser durchs Leben, und ich habe immer versucht, an den Idealen darin festzuhalten. Ich weiß, du verstehst das und wirst seine Worte zu schätzen wissen. Vergieße nun keine Tränen mehr um mich. Statt dessen lache und lebe und werde glücklich! In großer Liebe Dein Großvater
Einige Wochen später war Sarah gerade damit fertig, die letzten Stücke ihrer Besitztümer in das Haus am Palm Cove zu bringen, das ihr Großvater ihr vermacht hatte. Sie setzte sich in einen alten bequemen Korbsessel auf der Veranda und blickte hinaus auf das klare blaue Wasser des Meeres. Den ganzen Vormittag hatte sie sich in einem Zustand ungläubigen Staunens befunden, und vielleicht zum hundertstenmal las sie den kurzen Brief, den sie in ihrer Hand zusammengefaltet mit sich trug.
Sehr geehrte Ms. Williams, ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, daß Ihre Fotos von der totalen Sonnenfinsternis in Südaustralien am 4. Dezember angenommen wurden und für eine Veröffentlichung in der Februarausgabe unseres Magazins NATIONAL GEOGRAPHIC vorgesehen sind. Anbei finden Sie einen Scheck. Wir würden uns freuen, auch in Zukunft weitere Arbeiten von Ihnen zur Prüfung und möglichen Veröffentlichung zu erhalten.
Nach dem Begräbnis ihres Großvaters schrieb Sarah sich für das Studium der Fotografie ein. Ihren bisherigen Job gab sie auf und nahm statt dessen einen an, in dem sie weniger Geld verdiente, aber flexiblere Arbeitszeiten hatte, um gleichzeitig studieren zu können. Ihr Vater war – wie nicht anders zu erwarten – unglaublich wütend. Aber er hatte nicht mehr die Macht, sie einzuschüchtern, jetzt, wo sie beschlossen hatte, auf ihr eigenes Herz zu hören. Sarah ging ins Haus und legte den Brief in ihren wertvollsten Besitz – das abgegriffene Tagebuch, das ihr Leben so sehr verändert hatte. Versonnen lächelte sie bei der Erinnerung an die gemeinsame Zeit, blickte aus dem Fenster in den strahlend blauen Himmel und flüsterte: »Danke, Großvater!«